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-Project Gutenberg's Drei Erzählungen für junge Mädchen, by Clementine Helm
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Drei Erzählungen für junge Mädchen
-
-Author: Clementine Helm
-
-Release Date: December 1, 2017 [EBook #56098]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DREI ERZÄHLUNGEN FÜR JUNGE MÄDCHEN ***
-
-
-
-
-Produced by Jens Sadowski, Pál Haragos and the Online
-Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This
-file was produced from images generously made available
-by The Internet Archive)
-
-
-
-
-
-
-
-
-
- Drei Erzählungen
-
- für junge Mädchen
-
- von
-
- Clementine Helm.
-
-(Verfasserin von Backfischchens Leiden und Freuden, Lilli's Jugend &c.)
-
-
- Leipzig,
- Georg Wigand's Verlag
- 1873.
-
-
-
-
-Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten.
-
-
-
-
- Inhalt.
-
-
- Seite
-
- 1. Esther Wieburg 1
-
- 2. Verwaist 129
-
- 3. Neue Wege 199
-
-
-
-
- Esther Wieburg.
-
-
-»Wie gesagt, Herr Pastor, darin kann ich Ihnen nicht Recht geben, das
-=ist= keine Erziehung für ein Mädchen! Einen Jungen mögen Sie alle
-diese Dinge lernen lassen, meinetwegen; aber ein Mädchen kann in ihrem
-ganzen Leben nichts damit anfangen. Das ist meine Meinung, und dabei
-bleibe ich, sowahr ich Friederike Booland heiße!«
-
-Frau Friederike Booland, die Sprecherin dieser energischen Worte,
-bekräftigte den Schluß ihrer Rede damit, daß sie ihre große, knochige
-Hand laut schallend auf den Schreibtisch niederfallen ließ, neben
-welchem sie stand. An diesem Schreibtische aber saß derjenige, dem ihre
-Rede galt, Pastor Wieburg, der Geistliche im Dorfe Rahmstedt. Seit
-Jahren schon lebte Frau Booland hier im Hause, nachdem ihr eigener
-Gatte, der Schulmeister des Dorfes, gestorben, und von jenem Tage
-an führte sie die Zügel des Haushaltes mit ebensoviel Energie als
-Gewissenhaftigkeit. Pastor Wieburg hätte keine bessere Haushälterin
-finden können und so überließ er ihr getrost alle Regierungssorgen. Nur
-ein Departement hatte er sich vorbehalten, und das war die Erziehung
-seines einzigen Kindes, eines kleinen, dunkeläugigen Mädchens. So
-großen Respect Frau Booland nun auch vor allen Meinungen und Ansichten
-ihres Brodherrn hatte, in diesem Punkte war sie seine stete Gegnerin,
-und sie scheute sich nicht, dies immer wieder gegen ihn auszusprechen,
-so wenig Erfolg ihre Worte auch haben mochten. Pastor Wieburg hörte
-ihre Reden geduldig an, ohne den Fluß derselben durch Widerspruch zu
-hemmen, so lange seine Pfeife brannte. War diese jedoch zu Ende, so
-stand er ruhig von seinem Stuhle auf, ging nach dem Ofen, die Asche aus
-der Pfeife zu klopfen, und dann sagte er gleichmüthig: »Schon recht,
-Frau Booland; aber jetzt möchte ich Ruhe haben, meine Predigt fertig zu
-arbeiten. Sie sind wohl so gut, und kommen ein andermal wieder.«
-
-Frau Booland blieb alsdann freilich nichts übrig, als sich mit einem
-Knix zu empfehlen. Aber ihr sonst gutmüthiges Gesicht war dann durchaus
-nicht sonnenhell, und leise vor sich hin brummend ging sie die Treppe
-hinunter, um sie nach einiger Zeit von Neuem zu ersteigen und abermals
-ihre Vorwürfe anzubringen.
-
-»Er ist und bleibt unverbesserlich!« rief sie auch heute voll Aerger,
-als sie die Thür der Studirstube etwas kräftiger als gewöhnlich
-geschlossen hatte und zu ihrem Haushalte zurückkehrte. »Es ist, als ob
-ich zur Wand redete, so wenig Eindruck machen meine Worte auf ihn! Wenn
-er nur wenigstens mit mir stritte oder mir seine Meinung sagte. Aber
-nein, steif und ruhig sitzt er in seinem Stuhle und läßt mich reden und
-reden, und am Ende muß ich wieder abziehen und alles bleibt beim Alten.
-O diese Männer!«
-
-Als Frau Booland in ihrem gerechten Grimme das Wohnzimmer im
-Untergeschoß des Pfarrhauses betrat, flogen ihre Blicke nach einer Ecke
-in der Nähe des Fensters, wo ein niedriger Arbeitstisch stand, an dem
-ein kleines Mädchen schrieb. Es war Esther, ihre junge Pflegebefohlene,
-für deren Wohl und Wehe die brave Frau soeben vergeblich gekämpft hatte.
-
-»Schreiben und schreiben, und nichts als lesen und schreiben den
-ganzen Tag!« rief Frau Booland verdrießlich. »Bist du denn noch nicht
-bald fertig für heute, Estherchen? Du sollst noch ein Bischen in
-die Luft, Kind, ich denke, du hast genug gelernt. Hast den ganzen
-Nachmittag schon studirt, der Kopf muß dir ja brummen von all' der
-grausamen Gelehrsamkeit, du armer kleiner Fisch.«
-
-»Ich bin bald fertig, Tante, nur noch dies eine =Verbum= muß ich zu
-Ende schreiben,« entgegnete das kleine Mädchen aufsehend. »Vater schilt
-sonst, denn er sagt ohnehin immer, ich sei nicht fleißig genug!«
-
-»Das Gott erbarm! Noch nicht fleißig genug!« rief die Wittwe, ihre
-Hände zusammenschlagend. »Es ist ein Elend, daß du kein Junge geworden
-bist, dann hätte dies Gelerne einen Sinn, aber so? Was in aller Welt
-willst =du= damit anfangen?«
-
-»Ich wollte auch lieber, ich wär' ein Junge, das weißt du ja, Tante!
-Und Vater will gewiß einen aus mir machen, daß er mich so viel lernen
-läßt,« rief Esther lachend und nickte der erzürnten Frau begütigend
-zu. »Aber bitte, Tante, ich möchte das Bischen Tageslicht noch gern
-benutzen, um meine Arbeit fertig zu machen. Ich komme dann auch gleich
-zu dir in den Garten.« Und ohne sich weiter stören zu lassen, schrieb
-das Kind eifrig weiter, während die letzten Strahlen der Herbstsonne
-über ihr dunkles Haar forthuschten und ihre blassen Wangen vom
-Abendroth leise geröthet wurden.
-
-Frau Booland hatte von ihrem Standpunkte aus allerdings guten Grund,
-sich über die Art und Weise zu beklagen, in welcher ihre kleine
-Pflegebefohlene von ihrem Vater erzogen wurde. Pastor Wieburg war ein
-durch und durch braver, rechtschaffener Mann und für seine Gemeinde
-ein trefflicher Seelsorger; außerdem aber ein ernster, ja strenger und
-verschlossener Gelehrter, der den Verkehr mit der Außenwelt mied und
-nur seinem Amte und seiner Wissenschaft lebte. So lange Esther, das
-einzige Kind seiner früh verstorbenen Gattin, noch zu klein war, um
-lernen zu können, hatte er sich sehr wenig um sie bekümmert, und sie
-völlig der Sorge Frau Booland's überlassen. Das schüchterne, kleine
-Mädchen war auch viel lieber in der Gesellschaft dieser guten Frau, als
-in der des ernsthaften, schweigsamen Vaters, der nur immer Ruhe gebot,
-wenn sie in seiner Nähe spielte und ihre Puppen stets sehr unsanft in
-die Ecke warf, hatte sich ja einmal eine in die Nähe seiner Bücher
-verirrt.
-
-Als Esther jedoch älter ward und ihr Vater bemerkte, daß in dem kleinen
-Körperchen eine starke Seele und viel Verstand wohnte, da wuchs sein
-Interesse für das Kind. Er hatte sich einen Sohn gewünscht, um auf
-ihn all' sein Wissen und seine Gelehrsamkeit zu übertragen; nun hatte
-er statt dessen eine kluge kleine Tochter bekommen, sie sollte ihm
-den Sohn ersetzen. Wirklich lernte die kleine Esther bald mit so viel
-Eifer und Erfolg, daß ihr Vater immer mehr Gefallen an ihr fand und sie
-wie einen Knaben unterrichtete. In der Zeit, wo andere kleine Mädchen
-mühsam einzelne Worte zusammen buchstabiren, und mit dem Schieferstifte
-unsichere Kritzeleien auf die Tafel malen, konnte unsere kleine Esther
-schon recht geläufig lesen und schreiben, und nicht etwa nur in ihrer
-Muttersprache, sondern auch in den Anfangsgründen des Lateinischen,
-dem sich später sogar das Griechische zugesellte. Bei diesem eifrigen
-Lernen und Studiren blieb freilich zum steten Leidwesen der braven Frau
-Booland wenig Zeit übrig zur Erlernung all' der weiblichen Künste und
-Kenntnisse, welche diese häusliche Frau in der Erziehung eines Mädchens
-für unerläßlich hielt. Esther zeigte leider auch wenig Vorliebe für
-dergleichen Dinge, und die Geheimnisse der fünf Stricknadeln blieben
-ihr sehr lange Zeit ein Buch mit sieben Siegeln. Tante Booland strickte
-und nähte ja den ganzen Tag, was sollte Esther sich damit quälen, und
-die kleinen Dienste in Küche und Kammer, wozu ihre Erzieherin sie
-anzuleiten sich abmühte, erschienen Esther ebenfalls erstaunlich
-überflüssig. Was kam denn darauf an, ob ein Kleid drinnen im Schranke
-hing oder draußen, ob die Schuhe absolut im Kasten stecken mußten,
-und Kamm und Bürste nicht mit der reinen Wäsche Gemeinschaft halten
-durften. Wenn Esther nur fand, was sie suchte, so war sie zufrieden;
-für alles andere mochte Tante Booland sorgen, die immerfort hinter ihr
-her lief, um wieder aufzuräumen, was ihr kleiner Wildfang in Unordnung
-gebracht hatte. Wenn dann Frau Booland böse werden und darauf dringen
-wollte, daß die leichtfertige kleine Dirne selbst Ordnung schaffe, dann
-hatte Esther immer Nöthigeres zu thun und absolut gar keine Zeit für
-dergleichen.
-
-»Aber Tante, ich =muß= doch jetzt lernen, Papa wird sonst zu böse!
-Bitte bitte, mache du es doch nur, das nächste Mal will ich es gewiß
-thun!« So hieß es stets, wenn das kleine Fräulein etwas vornehmen
-sollte, was ihr nicht behagte, und da Frau Booland nicht beurtheilen
-konnte, in wieweit Esther's Entschuldigung begründet war, sondern nur
-immer mit stillem Grauen des Kindes Gelehrsamkeit anstaunte, so wagte
-sie auch nie, energisch gegen Esther's Unarten einzuschreiten. Beim
-Vater fand die arme Frau für derartige Klagen auch kein Gehör; denn
-dieser hatte jene wunderlichen Ideen über Freiheit in der Erziehung,
-wie sie Rousseau einst lehrte, und ihm war es ganz recht, wenn seine
-Tochter frei und ungebunden und nicht geleckt und geschniegelt
-aufwuchs. »Sie soll mir ein tüchtiges Frauenzimmer werden ohne
-weibische Faxen und Narrheiten!« pflegte er auf Frau Booland's Klagen
-zu antworten. »Solche hausbackne Tugenden lernt sie noch zeitig genug!
-Jetzt laßt mir das Mädel damit in Ruhe, sie kann ihre Zeit besser
-anwenden.«
-
-So wuchs die kleine Esther denn heran mit allen Neigungen und
-Beschäftigungen eines Knaben, und kräftig wie ihr Geist entwickelte
-sich auch ihr Körper bei dieser Lebensweise. Obwohl sie weder blühende
-Farben, noch besonders kräftigen Körperbau besaß, so war sie doch
-ein gesundes, frisches Kind, und ihre feinen Glieder besaßen eine
-auffallend große Gewandheit und Festigkeit. Sie sprang und turnte,
-lief und kletterte wie der tollste Junge, und für sie war kein Baum zu
-hoch und kein Graben zu breit. Freilich in welchem Zustande Kleider
-und Schuhwerk nach solchen Thaten vor den entsetzten Blicken der Frau
-Booland erschienen, das kümmerte Esther wenig, ihr thaten nie die
-Finger weh vom Ausbessern dieser Sachen, denn wie hätte =sie= dazu Zeit
-gehabt! Tante Booland schalt und brummte zwar stets bei jedem neuen
-Riß, aber im Grunde freute sie sich doch, wenn ihr blasser Schützling
-lieber in Feld und Wald umhersprang, statt immer über den bösen Büchern
-zu sitzen. Deshalb, wenn Esther ihrer Ansicht nach genug studirt hatte,
-nahm Frau Booland des Kindes Strohhütchen vom Nagel, drückte ihr ihn
-auf die schwarzen Flechten und sagte: »Basta für heute, mein kleiner
-Fisch! Jetzt lauf' hinüber zum Bertel. Aber zum Nachtessen sei wieder
-hier, du weißt, dein Vater liebt die Pünktlichkeit!«
-
-Dann blitzten Esthers tiefschwarze Augen in heller Freude auf, und wie
-ein Pfeil sprang sie empor. Gewöhnlich nahm sie noch einige Bücher
-unter den Arm, wenn ihre Arbeiten noch nicht fertig waren, dann aber
-jagte sie wie ein Reh durch die Laubgänge ihres Gartens, und weiter
-hinaus über die Dorfstraße, Wiesen und Felder. Sie hatte nur ein Ziel
-und das war der Gutshof ihres Dorfes Rahmstedt.
-
-Aus den Fenstern des Gutshofes konnte man den ganzen Weg bis zur
-Pfarre übersehen. Sobald nun Esthers leichte Gestalt daher geflogen
-kam, dauerte es nicht lange, da knarrte die Gartenthür, und ein
-mächtig großer schwarzer Neufundländer sprang laut bellend in langen
-Sätzen über Hecken und Zäune, der kleinen Esther entgegen, die er
-fast umrannte. Hinter dem Hunde drein aber kam athemlos ein blonder
-Knabe daher, der Esther fröhlich anlachte. Dann faßten die beiden
-Kinder sich an den Händen, und lustig ging's nun zusammen in die
-weite Welt hinein, bis sie zuletzt den Hafen aufsuchten, nämlich
-den Blumengarten im Gutshofe. Auf der Freitreppe am Hause saß dann
-zuweilen eine stattliche junge Frau, welcher Esther freundlich die
-Hand zum Gruß entgegenstreckte, und dann verließ das kleine Mädchen
-ihren Spielgefährten, um sich neben die Dame zu setzen, welche gern
-mit der Kleinen plauderte. Auch ein großer, freundlicher Herr kam dann
-wohl seitwärts über den Hof geschritten, wo er mit den Dienstleuten
-gesprochen oder in den Ställen nachgesehen hatte, und begrüßte das
-Kind. Das war Herr von Ihlefeld, der Gutsherr von Rahmstedt, die
-schöne, junge Dame aber seine Frau und Hubert, auch Bertel genannt, das
-einzige Kind der Beiden. Ein behagliches, glückliches Familienleben
-herrschte in dem Hause, und die kleine Esther war ein täglicher, gern
-gesehener Gast in demselben. Man rechnete sie so zur Familie, daß stets
-ein Gedeck mit für sie aufgelegt wurde, und jederzeit ein Bett für
-sie bereit stand, besonders im Winter, wenn die Kleine Abends nicht
-in Wind und Wetter den Weg nach Hause machen sollte. Und wie Esther
-hier, so war auch Bertel täglich der Gast im Pfarrhause. Pastor Wieburg
-hatte es übernommen, den Knaben zu unterrichten, und so war derselbe
-neben Esther sein täglicher Schüler. Bertel war zwei Jahr älter als
-Esther; das kleine Mädchen lernte aber so rasch und war so eifrig
-und ehrgeizig, daß sie vielen Unterricht mit dem Knaben gemeinsam
-hatte, und das waren für Esther die herrlichsten Stunden. »Die kleinen
-Gelehrten,« nannte man die Kinder in der Umgegend, denn nirgends wußten
-andere Kinder ihres Alters so viel, als diese Beiden.
-
-»Ich werde einmal ein Gelehrter, wie du, Onkel Pastor,« pflegte Bertel
-zu sagen, und wirklich schien er auch dauernd Freude am Lernen zu
-haben. Esther aber lernte eigentlich nur darum so eifrig, weil Bertel
-lernte und sie eben nichts thun und denken mochte, was dieser nicht
-auch that. Hätte ihr junger Spielgefährte angefangen, Seil zu tanzen
-oder Schuhe zu nähen, Esther wäre ohne Zögern auch mit auf das Seil
-gestiegen, oder hätte sich hingesetzt, Schuhe zu flicken, denn Bertel
-that es ja. Wenn sie früh aufwachte, so flogen ihre Gedanken hinüber
-nach dem Gutshofe, und ihre Blicke wanderten beim Ankleiden fortwährend
-nach dem Gartensteg woher Bertel ja nun kommen mußte. Der Tag bestand
-für sie eigentlich nur aus zwei Hälften: der, wo sie =mit= Bertel,
-und der, wo sie =ohne= ihn war. Die letzte Hälfte suchte sie immer
-möglichst abzukürzen, denn es war ja die Schattenseite ihres Tages,
-die Zeit =mit= Bertel aber das Licht, die Sonne, dem ihre junge Seele
-zustrebte mit allem Denken und Fühlen. Und wie Esther, so ging es ihrem
-kleinen Freunde. Auch er kannte keine Freude, keinen Genuß ohne seine
-junge Gespielin, und am liebsten wäre er oft den ganzen Tag auf dem
-Pfarrhofe geblieben. Er nannte Esther seinen besten Kameraden, und wie
-Kameraden verkehrten die beiden Kinder auch mit einander.
-
-Man konnte nicht schöner und liebenswürdiger sein, als es der schlanke
-Bertel war, das gestand Jeder, der den Knaben sah, und für Esther aber
-war ihr Kamerad der Inbegriff alles Schönen, Guten und Ausgezeichneten.
-Das dunkeläugige und tief brünette Mädchen bildete einen ganz
-eigenthümlichen Contrast zu dem rosigen Knaben, dessen feines,
-mädchenhaft zartes Gesicht von einer Fülle dichter blonder Locken
-umgeben wurde. Esther war kaum hübsch zu nennen; denn etwas scharfe,
-unregelmäßige Züge und die bräunliche Haut hätten sie wenig anziehend
-gemacht, wenn nicht die großen schwarzen Augen mit strahlendem Feuer
-aus diesem Gesichtchen geleuchtet und dicke, seidenweiche schwarze
-Flechten den kleinen Kopf umkränzt hätten. Und verschieden wie im
-Aeußeren waren die beiden Kinder auch an Charakter und Temperament.
-Die braune Esther war Feuer und Leben bis in die kleinste Fingerspitze
-hinein, furchtlos und unternehmend, rasch und leicht erregbar. Ihr
-warmes Herz bestand harte Kämpfe mit ihrem Eigensinn und ihrem sehr
-energischen Willen; aber wenn dieser Wille sich beugte, dann war sie
-sanft und weich und gut. Der blonde Hubert hingegen hatte bei einem
-äußerst scharfen Verstande ruhigere Besonnenheit und Ueberlegung und
-einen weichen, fügsamen Sinn, der sich durch fremde Einflüsse sogar
-allzuleicht bestimmen ließ. Etwas Scheues und Abgeschlossenes im
-Charakter des Knaben wurde durch die eigenthümliche Erziehung, welche
-der ernste Pastor Wieburg ihm ertheilte, noch vermehrt, und außer
-Esther besaß der kleine Gelehrte eigentlich keinen nennenswerthen
-Umgang. Aber lebendig und kraftvoll wie sein kleiner Kamerad Esther
-war auch Hubert trotz dieser Gelehrsamkeit und trotz seines schlanken,
-mädchenhaften Körpers. Doch war er nicht so wild und ungestüm als
-jene, ja zuweilen erschien er mit dieser Besonnenheit sogar feige und
-zaghaft. Erreichte seine Geduld aber die Grenze, dann konnte er heftig
-und leidenschaftlich aufflammen mit Esther um die Wette.
-
-Esther hingegen gab sich der augenblicklichen Regung ganz hin, und
-besonders, wenn es galt, für Bertel etwas zu thun, da gab es kein
-Ueberlegen. Die Liebe zu ihrem kleinen Freunde war für sie schon in
-den ersten Jahren ihres Beisammenseins der Punkt, um den sich alles
-bewegte, was sie dachte und that, und für ihn schien ihr kein Opfer zu
-schwer. Das Beste, was sie bekam an Naschwerk, oder Obst oder sonstigen
-Dingen legte sie stets für ihn zurück; alles was ihm lästig oder
-unangenehm war, nahm sie in ihre Hand, und wo sie dem älteren Knaben
-mit ihren schwachen Kräften Hülfe leisten konnte, that sie es ohne
-Zagen. Bekam er Schelte, so klagte sie sich oft auch als Missethäterin
-an, um ihn nicht allein leiden zu lassen, und sie konnte ganz außer
-sich gerathen, wenn er Schmerzen litt und sie ihm nicht helfen konnte.
-In den Unterrichtsstunden, die sie gemeinsam hatten, freute sie sich
-vielmehr über ein Lob, das Bertel gespendet wurde, als über ihr
-eigenes, und wenn Bertel, wie es in den Naturwissenschaftsstunden oft
-geschah, für die der Knabe am wenigsten Interesse zeigte, eine Arbeit
-schlecht gemacht hatte oder Fragen verfehlte, da setzte Esther oft
-absichtlich in ihre nächste Arbeit auch Fehler, oder stellte sich
-unwissend, nur um nicht besser zu sein als Bertel.
-
-Eines Tages war Hubert krank geworden und konnte nicht zum Pfarrhause
-kommen. Esther wollte natürlich gleich zu ihm eilen, Tante Booland
-aber ließ sie nicht fort, denn der Arzt hatte ihr gesagt, Bertel werde
-das Scharlachfieber bekommen, sie möge Esther's Zusammensein mit dem
-Kranken verhüten, damit sie nicht angesteckt würde. Esther war außer
-sich, daß man sie nicht zu Bertel lassen wollte. Drei Tage hielt sie
-es aus, ging aber jammernd und klagend umher; als sie nun aber hörte,
-Bertel läge im Fieber, sie dürfe unter Wochen nicht zu ihm, sonst
-bekomme sie auch diese Krankheit, da sah sie Frau Booland stumm und
-thränenlos an. Dann ging sie hinaus in den Garten, in der Dämmerung
-aber rannte sie in einem unbewachten Augenblicke mit Blitzeseile nach
-dem Gutshofe. Hier schlich sie leise die Treppe hinauf, ohne gesehen zu
-werden und versteckte sich hinter einem Schranke, der neben der Thür
-von Bertels Krankenstube stand. Dort wartete sie lange geduldig, bis
-sie sah, daß die Wärterin und dann auch Frau von Ihlefeld das Zimmer
-verlassen hatten; da huschte sie zur Thür hinein. Wirklich war in
-diesem Augenblicke niemand als der Kranke in der Stube, und mit einem
-leisen Jubelrufe stürzte Esther zu Bertel hin, der ihr voll Entzücken
-die Arme entgegenstreckte. »Nun bleibe ich bei dir, Bertel!« sagte
-Esther, ihm das heiße Gesicht streichelnd, »ich halte es nicht aus ohne
-dich, und wenn du krank bist, will ich es auch werden!«
-
-Frau von Ihlefeld sah bei ihrem Eintritt voll Schrecken, wer an Bertels
-Bett saß. »Kind,« sagte sie, Esther zurückziehend, »wer hat dir
-erlaubt, herzukommen, und wer hat dich hier hereingelassen? Willst du
-auch das Scharlachfieber bekommen?«
-
-»Ja, wenn Bertel krank ist mag ich nicht gesund sein,« rief Esther
-und schmiegte sich an den Kranken. In demselben Augenblicke kam Frau
-Booland herein, ganz außer sich vor Angst und Schrecken. Sie schalt
-Esther wegen ihres Ungehorsams und wollte sie sogleich wieder mit sich
-fort nehmen. Esther aber weinte und sträubte sich und wollte bei Bertel
-bleiben, den sie umschlungen hielt. Da trat der Arzt herein und Esther
-flog auf ihn zu und bat, er möge erlauben, daß sie hier bleibe.
-
-Frau Booland aber rief angstvoll: »Nein, ich leide es nicht! Wenn du
-noch länger bei dem Kranken bleibst, wirst du unfehlbar angesteckt, und
-mich trifft dann die Verantwortung für deine Thorheiten. Gleich komm
-mit mir, ehe es zu spät ist!«
-
-»Es ist schon zu spät, Frau Booland,« sagte der Arzt leise.
-»Esther hielt den Kranken umschlungen, als ich eintrat, da ist der
-Krankheitsstoff bereits in sie übergegangen, wenn sie überhaupt dafür
-empfänglich ist. Ein längeres Bleiben schadet jetzt nicht, lassen wir
-die Kinder ruhig beisammen; Bertel kann es nur zuträglich sein, Esther
-um sich zu haben.«
-
-Frau Booland war leichenblaß geworden, denn sie sah schon ihren
-Liebling von der Krankheit ergriffen in Fieberphantasien liegen; aber
-zu ändern war hier nichts mehr. Esther erhielt die Erlaubniß, auf dem
-Gutshofe zu bleiben und war glückselig. Sie wich nicht von Bertels
-Lager, und sobald der Kranke nur wieder Unterhaltung haben durfte, war
-sie unermüdlich, ihm vorzulesen, mit ihm zu spielen, oder ihm sonst
-wie die Zeit zu vertreiben. Freilich dauerte es nicht lange, da mußte
-auch sie sich legen, von der Krankheit ergriffen, und nun stellte man
-die Betten der Kinder neben einander. Frau Booland kam, ihren kleinen
-Liebling zu pflegen, und nach kurzer Zeit war es dann der genesene
-Hubert, der Esther unterhielt, wie sie es erst an seinem Bette gethan.
-Aber so sehr Esther auch zu leiden hatte, denn sie wurde bedeutend
-kränker als Bertel, keine Klage kam über ihre Lippen. Sie hatte es ja
-so gewollt und war bei Bertel, da war alles gut!
-
-Und wie sie hier keine Furcht kannte, so zeigte sie kurze Zeit darauf
-abermals ihre muthige, selbstvergessende Liebe zu Hubert. Pastor
-Wieburg kam eines Tages sehr erregt in das Zimmer und sagte: »Frau
-Booland, lassen Sie Esther nicht auf die Straße; ich höre soeben von
-unserem Knechte, daß sich ein fremder, toller Hund auf dem Felde vor
-dem Gutshofe herumtreiben soll. Die Bauern sammeln sich eben im Dorfe,
-Jagd auf ihn zu machen.« Esther blickte bei diesen Worten nach der Uhr.
-Die Zeit war ganz nahe, in der Bertel zu den Stunden kommen mußte. Wenn
-er nun von dem tollen Hunde nichts wußte und ihm vielleicht gerade in
-den Weg lief! Auf dem Felde beim Gutshofe trieb sich das Thier herum,
-er =mußte= es ja treffen! Kaum hatte Pastor Wieburg und Frau Booland
-den Rücken gewendet, als Esther in den Garten flog und durch den Garten
-hindurch auf die Landstraße, den Weg nach dem Gutshofe einschlagend. In
-athemloser Hast stürzte sie vorwärts, damit sie noch auf dem Gutshofe
-ankam, ehe Bertel ihn verließ. Und wenn nun gar vielleicht Hector mit
-ihm kam, wie gewöhnlich, dann war die Gefahr eine doppelte; denn dieser
-würde unfehlbar den fremden Hund angreifen, wenn er in der Nähe war.
-
-Schon war Esther über ein Stück jenes Feldes gelaufen, auf dem der Hund
-sich heruntertreiben sollte. Sie sah nichts Verdächtiges und rannte dem
-Hofthore zu, das vor ihr lag und aus dem jeden Augenblick Bertel treten
-konnte. Da plötzlich hörte sie es hinter sich schnaufen und röcheln,
-und als sie sich umblickte, rannte der tolle Hund hinter ihr drein. Zur
-Seite springen, einen dicken Pfahl ergreifen, der am Wege lag, und mit
-diesem dem Hunde einen wuchtigen Hieb über den Kopf versetzen, war das
-Werk eines Augenblickes. Der Hund taumelte, bellte dumpf und schlich
-dann in der Richtung fort, in der er gekommen, Esther aber stürzte
-in Todesangst ohne umzuschauen nach dem Hofthore, das sie aufriß und
-blitzschnell hinter sich wieder zuwarf. Die Leute des Gutes, die hier
-auf dem Hofe versammelt waren, um sich zur Jagd auf den Hund zu rüsten,
-sahen voll Schrecken auf Esther, deren einzige Worte beim Hereinfliegen
-waren: »Ist Bertel noch zu Haus?« Erst als er ihr selbst entgegentrat
-gab sie sich zufrieden und sank erschöpft auf eine Bank im Hofe, sich
-den Angstschweis von der Stirn trocknend. Nun umringte man sie und ließ
-sich von ihr erzählen, daß der tolle Hund ihr ganz in der Nähe des
-Hauses begegnet sei, und während die Knechte hinauseilten, Jagd auf das
-unglückliche Geschöpf zu machen, zog Bertel sie in das Haus hinein,
-sie mit Vorwürfen überschüttend, daß sie sich um seinetwillen solcher
-Gefahr ausgesetzt habe.
-
-Esther blickte den Knaben lachend an und sagte: »Daran, daß =mich=
-der Hund beißen konnte, habe ich gar nicht gedacht, als ich vom Hause
-fortgerannt bin. Aber jetzt wird sich Tante Booland schön um mich
-ängstigen, nun will ich nur schnell wieder nach Haus laufen.« »Nicht
-eher, als bis der Hund unschädlich gemacht ist!« rief Bertel sie
-zurückhaltend. Da aber hörte man einen Schuß in der Nähe, und gleich
-darauf kamen die Leute zurück und erzählten, daß man den Hund getödet
-habe, der wie betrunken umher getaumelt sei. »Daran ist der Schlag
-Schuld, den ich ihm mit dem Pfahle gegeben habe,« lachte Esther, und
-dann lief sie eiligen Schrittes wieder zu Frau Booland zurück, die in
-Todesangst nach ihr ausschaute. --
-
-So wuchsen die beiden Kinder mit einander auf Jahr um Jahr, und von
-Liebe umgeben und glücklich durch stetes Beisammensein, vergingen
-ihnen die sorglos frohen Jugendjahre wie ein heller Sommertag. Während
-der blonde Bertel zu einem schönen schlanken Burschen emporwuchs, war
-Esther noch immer das braune Mädchen mit den feurigen Augen und dunklem
-Haar; aber ihre Gesichtszüge wurden weicher und anmuthiger, und mit
-ihrem schlanken, graziösen Körperchen war sie ein allerliebstes Mädel
-geworden. Aber ein Wildfang blieb sie trotz ihrer 13 Jahre, und Frau
-Booland hatte oft ihre Noth mit ihr; böse freilich konnte niemand
-ihr sein. Aber auch geistig entwickelten sich beide Kinder sehr zur
-Zufriedenheit der Ihren, und den »kleinen Professor« besonders, wie man
-Bertel nannte, war Pastor Wieburg mit unermüdlichem Eifer bestrebt,
-immer mehr zu fördern, so lange er seiner Leitung anvertraut blieb,
-denn er war ein selten begabter Knabe. Aber endlich mußte man sich doch
-zu einer Aenderung entschließen, um so mehr, da Pastor Wieburg anfing
-zu kränkeln und den Unterricht oft unterbrechen mußte. Das Gymnasium
-der nächsten Stadt war vortrefflich, und so entschlossen sich Hubert's
-Eltern schweren Herzens, den Knaben künftige Ostern dorthin zu geben.
-
-Das war das erste große Ereigniß in dem Leben der beiden Kinder. Sie
-hatten die Trennung, so oft auch davon die Rede war, doch immer in so
-ferne Zeiten verschoben, daß es wie ein entsetzlicher Donnerschlag
-über sie kam, als sie erfuhren, daß in wenig Wochen Hubert's Abreise
-erfolgen sollte.
-
-»Ich gehe mit dir nach H..,« sagte Esther entschlossen und stellte sich
-an Bertel's Seite. »Vater hat gewiß nichts dagegen; ich werde ja dann
-studiren wie du, und ohne dich lerne ich hier keine Zeile mehr, das
-weiß ich. Was sollst du denn ohne mich anfangen, Bertel?«
-
-Hubert sah das kecke Mädchen nachdenklich an.
-
-»Ich glaube, das wird doch nicht gehen, Esther,« sagte er traurig,
-»denn ich werde ja auf ein Gymnasium kommen, wo lauter Knaben sind, da
-paßt kein Mädchen hinein.«
-
-»So ziehe ich Knabenkleider an, das ist köstlich, das habe ich mir ja
-immer gewünscht!« jubelte Esther und klatschte in die Hände.
-
-»Aber deine langen Zöpfe?« sagte Bertel kopfschüttelnd.
-
-»O die schneide ich ab,« rief Esther fröhlich. »Da habe ich doch
-endlich Ruhe vor Tante Booland, die früh Morgens immer so lange daran
-kämmt und flicht, daß mir die Geduld oft ausgeht und ich ihr davon
-laufe. Da sieh', das ist bald geschehen!« Rasch ergriff sie eine
-Scheere und that einen tiefen Schnitt in ihr prachtvolles Haar. Aber da
-trat Frau Booland in das Zimmer und riß ihr die Scheere aus der Hand.
-
-»Bist du unklug, Kind? Was treibst du denn wieder?« rief sie heftig.
-
-»Ich gehe mit Bertel auf das Gymnasium nach H., da kann ich die dummen
-Zöpfe nicht brauchen,« entgegnete Esther, an den Flechten reißend.
-
-»Mit auf's Gymnasium?« sagte Frau Booland lachend. »Nun damit hat es
-gute Wege, da laß nur deine Zöpfe in Ruhe, mein Kind. Mädchen kommen da
-nicht hin.«
-
-»Ich gehe auch als Junge mit, versteht sich!« rief Esther rasch. »Tante
-Ihlefeld giebt mir gewiß von Bertels Kleidern, damit ich gleich mit
-kommen kann.« Frau Booland fing herzlich an zu lachen über Esthers
-Pläne, die sie für Scherz hielt. Als sie dann aber sah, daß ihr junger
-Wildfang wirklich im Ernst solchen Gedanken Raum gab, war sie still und
-sagte leise vor sich hin: »Im Stande wäre sie's, glaub' ich. Das hat
-ihr Vater von =der= Erziehung!«
-
-Als sie mit ihrem Schützling dann am Abend allein im Schlafzimmer war,
-zog sie Esther auf ihre Knie, was sie selten that und sprach mild und
-freundlich: »Mein liebes Mädchen, ich muß dir einmal etwas sagen.
-Du bist jetzt schon 13 Jahre alt, da wird es wirklich Zeit, daß du
-den Jungen ausziehst. Thust du es nicht selbst, so thun es dir andere
-Leute, und das ist ein schlimmes Ding. Dein Vater hat dich studiren und
-aufwachsen lassen, wie einen Knaben; aber du bist und bleibst trotz
-alledem =doch= ein Mädchen. Siehst du, ich bin nur eine einfache Frau;
-aber das, was sich schickt, besonders für ein junges Mädchen, das du
-nun bald sein wirst, weiß ich so gut als jede große Dame, da folge mir
-nur getrost. Bertel geht fort, er ist eben ein Knabe und muß sich für
-seine zukünftige Laufbahn vorbereiten; aber mit ihm gehen kannst du
-nicht, denn das schickt sich nicht. Wozu auch? Ein Mädchen hat einen
-anderen Lebenslauf vor sich, als ein Knabe. Er muß in die Welt, das
-Mädchen gehört in das Haus. Bis jetzt warst du ein Kind, da paßte sich
-alles; aber nun wird das anders, das hilft einmal nichts und mußt du
-dir gefallen lassen. Für junge Mädchen schickt sich vieles nicht, was
-sich für junge Männer schickt; so will es die Sitte, und ihr müssen
-wir uns Alle beugen. Ueber kurz oder lang mußten sich eure Wege doch
-scheiden, das ist so der Lauf der Welt und die Bestimmung des Menschen.
-Und nun sei verständig und mache Bertel das Herz nicht schwer mit
-Weinen und Klagen; denn dann wird ihm das Fortgehen noch viel saurer.
-Nicht wahr, Esther, daran willst du denken, ihm zu lieb?«
-
-Esther hatte schweigend zugehört, denn Tante Booland sprach selten so
-ernst und zusammenhängend mit ihr. Sie machte zuerst ein finsteres
-Gesicht, denn ihr Eigenwille bäumte sich arg in ihr empor; nach und
-nach aber wurde sie nachdenklich, und ein tiefes Roth zog sich ihr über
-Stirn und Nacken. Sie biß die Lippen fest auf einander, wie sie immer
-that, wenn sie von einem neuen Gedanken überrascht wurde, sagte aber
-kein Wort. Auf die letzte Frage von Tante Booland nickte sie rasch
-und ernst mit dem Kopfe; dann lehnte sie ihre Stirn eine lange Weile
-still an die Brust ihrer treuen Pflegerin, die ihr leise über das Haar
-strich. Endlich aber brach sie in einen Strom von Thränen aus und rief
-jammernd: »Ach Tante Booland, ohne Bertel kann ich ja aber nicht leben!«
-
-»Einmal mußt du es lernen, Kind, es geht nicht anders,« sagte Frau
-Booland sanft. »Der liebe Gott giebt uns so manches Schwere zu tragen,
-und du wirst noch manchesmal in deinem Leben sagen: >ich kann es
-nicht!< Und doch wirst du es lernen; denn der himmlische Vater legt
-uns keine größere Last auf die Schultern, als wir zu tragen im Stande
-sind. Dir hat Gott ein starkes Herz gegeben, deshalb wirst du dem armen
-Bertel die Trennung leicht machen, wozu wärst du sonst seine brave,
-kleine Esther?«
-
-Das kindliche Mädchen wischte sich entschlossen die Thränen aus den
-Augen und lächelte zuversichtlich. »Ich will ihm helfen, Tante!« sagte
-sie fest, und dann legte sie sich still und ergeben in ihr Bettchen.
-Lange noch bewegten sich ihre Lippen im Gebet und baten um Muth und
-Kraft für die schwere vor ihr liegende Zeit, dann aber schloß der
-Schlaf ihr die müden Augen.
-
-Am andern Tage war mit Esther sichtlich eine Veränderung vorgegangen.
-Sie war bleicher und ruhiger als sonst, und auf ihrem Gesicht lag ein
-nachdenklicher Zug. Als Hubert zum Unterricht kam, und Esther ihm im
-Garten entgegen lief, geschah es mit etwas zögernden Schritten, und
-ein brennendes Roth flog einen Augenblick über ihre Stirn. Dann aber
-rief sie in ihrer alten muntern Weise: »Ach Bertel, unsere schönen
-Pläne werden doch zu Wasser, mit dir ziehen kann ich nicht. Die andern
-Jungens würden doch merken, daß ich ein Mädchen bin, und dann bissen
-sie mich sicher zum Neste hinaus, wo ich mich einschleichen wollte,
-wie's neulich die Schwalben mit dem Spatz machten, weißt du wohl noch?«
-
-Hubert sah sehr bleich aus. Er nickte still mit dem Kopfe und sagte:
-»Ich wußte es gleich und wollte es dir nur nicht sagen, Esther. Aber
-ich glaube, ich komme bald wieder; denn so allein ohne dich und ohne
-euch alle, -- ich =kann= es nicht ertragen!«
-
-Mit einem lauten Stöhnen warf er sich auf eine Bank nieder und weinte
-so ungestüm und leidenschaftlich, wie Esther es noch nie von ihm
-gesehen hatte. Erschrocken setzte sie sich zu ihm und lehnte ihren
-Kopf an seine Schulter. Dicke Thränen rollten auch über ihr Gesicht,
-und ihre Brust arbeitete heftig. Aber entschlossen richtete sie sich
-bald empor, preßte die Hände fest aufeinander und sagte leise: »Bertel,
-sei ruhig, einmal mußtest du ja fort, hier auf unserem Dorfe kannst
-du ja doch kein großer Gelehrter werden. Aber das sollst du, denn ich
-will stolz auf dich sein, und alle sollen es.« Und nun malte sie dem
-Knaben in heiterer Weise aus, wie schön es sein müsse, wenn er nun zu
-den Ferien nach Hause kommen und ihnen erzählen werde, wie er dort in
-der Stadt lebe, wie viel er jetzt lerne und studire, und welches seine
-Kameraden sein würden. Bertel hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt
-und schluchzte leise.
-
-»Kameraden?« rief er jetzt heftig. »Sprich mir nicht von Kameraden! Bis
-jetzt habe ich noch keinen Jungen gefunden, der mir zugesagt hätte, und
-ich werde sicher auch keinen finden. Du bist mein liebster und einziger
-Kamerad, Esther, und du sollst es mir bleiben, das gelobe ich dir, wenn
-auch tausend andere um mich sein werden; dich ersetzt mir keiner!«
-
-Er ergriff Esthers Hand und blickte finster vor sich nieder, Esther
-aber saß strahlenden Auges neben ihm. Ihre Lippen zitterten, aber sie
-sprach nicht. Sie sah ihren blonden Bertel im Geiste unter der Schaar
-anderer Knaben, und wie viel schöner er sein würde, als alle anderen,
-und wie viel klüger. Und doch war und blieb er =ihr= Bertel, ihr
-Kamerad wie bisher. Nun wollte sie auch nicht mehr daran denken, wie
-allein, ach so trostlos allein sie sein würde!
-
-Esther hatte in Gedanken einen Zweig des Fliederbusches herabgezogen,
-unter dem sie saßen und dessen Büschel noch kahl und ohne Knospen
-standen.
-
-»Wenn die blühen, bist du wieder hier, Bertel,« rief sie plötzlich und
-schüttelte den Zweig. »Ostern ist in diesem Jahr so früh, gerade zu
-Pfingsten wird dann alles blühen, Flieder, Goldregen, Schneeballen,
-alles, alles. Und die ersten Veilchen schicke ich dir in die Stadt,
-Bertel, denn da kannst du gewiß keine pflücken. Von den Erdbeeren aber
-und den Stachel- und Himbeeren in unserem Garten soll kein Mensch etwas
-bekommen, die schicke ich dir auch alle oder hebe sie dir auf, und
-auch die Haselnüsse unten am Wasser. Komm, wir wollen geschwind einmal
-nachsehen, Bertel, am Ende sind unten am Wasser schon Veilchen heraus,
-oder _Primula veris_. Weißt du auch noch, wie die braune Pflanze heißt,
-die zuerst im Frühjahr auf der Wiese blüht?«
-
-Bertel's trübes Gesicht war unter dem Plaudern Esthers wieder hell
-geworden; jetzt lachte er und sagte: »Ach was, Botanik ist einmal nicht
-mein Steckenpferd, ich kann mir das Zeug nicht merken. Verrathe mich
-aber nicht bei deinem Vater.«
-
-»So komm, ich will dein Mentor sein, _Tussilago_ heißt das Pflänzchen,
-mein kluger Herr,« rief Esther lustig und zog ihn mit sich fort; denn
-was sie gewollt, hatte sie durch ihr Plaudern erreicht, Bertel vergaß
-seine trüben Gedanken. Und in dieser Weise gelang es ihr von jetzt an
-stets, ihren Kameraden zu erheitern, ob ihr selbst auch oft das arme
-junge Herz zerspringen wollte vor Weh. Bertel durfte nicht sehen, wie
-schwer ihr die Trennung wurde, sonst wäre er mit noch traurigerem
-Herzen von ihnen gegangen. Und wie gut hatte sie es doch im Vergleich
-mit ihm: Sie blieb zurück in ihrem schönen Garten und traulichen
-Hause, hatte Vater und Tante Booland um sich, und dort drüben den
-Gutshof mit Onkel und Tante Ihlefeld. Alles, ihre Blumen und Bücher,
-ihre Hühner, Hunde, Katzen, die Ziegen und Kaninchen im Stall und die
-Vögel im Walde draußen, alles blieb ihr, während der arme Bertel alles
-verlassen und allein hinaus mußte unter lauter fremde Menschen. War
-es da nicht ihre Pflicht, heiter zu sein und ihm das Herz nicht auch
-noch schwer zu machen? O Tante Booland hatte recht, =sie= durfte Bertel
-nichts vorklagen!
-
-Aber trotz alledem wurden ihre Wangen immer blässer, und ihre Augen
-blickten immer angstvoller um sich, je näher der Tag der Abreise
-kam. Endlich hatten die beiden Kinder den letzten Unterricht beim
-Vater gehabt, und Bertel hatte Abschied genommen. In einigen Stunden
-fuhren seine Eltern mit ihm nach der Stadt. Esther hatte mitfahren
-sollen; aber Frau Booland meinte, für Bertel sei es besser, sie thäte
-es nicht, und so blieb sie zurück, willig und sanft, wie sonst nie,
-wenn etwas gegen ihren Willen war. Sie setzte sich mit einem Buche
-in die Fliederlaube, in der sie neulich mit Bertel gesessen, ihre
-Augen waren aber so roth, als sie dann zum Essen in das Zimmer kam,
-daß Frau Booland sie mit innigem Mitleiden anblickte. Vor ihrem Vater
-aber verbarg Esther, daß sie geweint, denn er konnte »weinerliche
-Frauenzimmer« nicht leiden. Es war gut, daß er viel von der Schule und
-den Lehrern sprach, wo Bertel jetzt Unterricht haben werde, da bemerkte
-er doch Esthers Kummer nicht, von dessen Größe er keine Idee hatte. Die
-einfache Frau Booland wußte das besser, als der gelehrte Herr Pastor.
-
-Es waren traurige Tage für Esther, diese ersten nach Bertel's Abreise.
-Wohl hatte sie sich alles vorgeführt, was sie an Glück vor Bertel
-voraus habe, da sie zu Hause blieb, während er unter fremde Menschen
-und Verhältnisse kam; aber jetzt, nachdem er fort war, fühlte sie
-erst, =was= sie verloren. Wie im wachen Traume ging sie daher, sie
-meinte immer, jetzt müsse jemand kommen und sie wecken. War denn die
-Sonne nicht mehr am Himmel, daß so wenig Glanz über Garten und Wiese
-lag? Und waren denn das ihre lieben Blumen, die so wenig Farbe und Duft
-hatten, das ihre lustigen Thiere, die mit ihr sonst so fröhlich durch
-den Hof und Garten sprangen? Und ihre Bücher, wie langweilig sahen
-diese Buchstaben sie an, das Lernen war ja eine Strafe statt wie bisher
-eine Lust. Und wie endlos war so ein Tag! Sonst kamen die Mittag- und
-Abendstunden, wo sie zum Essen gerufen wurde, immer viel zu früh,
-jetzt sah sie fort und fort nach der Uhr, ob denn die Stunden noch
-immer nicht rascher davongehen wollten. Nach dem Stege aber, auf dem
-Bertel jeden Morgen gekommen war, konnte sie vor Jammer gar nicht mehr
-hinsehen, und nach dem Gutshofe zog sie jetzt so wenig. Onkel und Tante
-Ihlefeld waren zwar sehr gut und lieb zu ihr, wie bisher; aber es war
-so öde in dem Hause und Hofe, und auch Bertel's Neufundländer sah so
-traurig aus und heulte laut auf, wenn Esther ihn streichelte und leise
-sagte: »Ach Hektor, unser Bertel ist fort!«
-
-Hubert war jetzt unter eine ziemlich große Zahl von Pensionairen
-aufgenommen, welche bei einem der Professoren des Gymnasiums wohnten.
-Der zarte, scheue Knabe fühlte sich anfangs unsäglich unbehaglich
-unter all' den fremden Gesichtern, und das laute Treiben seiner
-Stubengenossen war ihm sehr zuwider. Auch in der Klasse, unter deren
-Schülern er einer der jüngsten war, kam er sich wie verloren vor;
-denn niemand achtete weiter auf ihn, und die Lehrer hatten ihre
-Aufmerksamkeit der ganzen Klasse zu schenken. Wie anders war das,
-als bisher bei seinem Lehrer! Aber eigentlich lernte es sich gut in
-Gemeinschaft mit so vielen, die alle dasselbe Ziel verfolgten. Und hier
-waren einige so kluge, eifrige Mitschüler in der Klasse, da galt es
-fleißig sein, wenn er es ihnen gleich thun wollte! Und das wollte und
-mußte er, das war ohne Frage.
-
-So lernte er denn mit unverdrossenem Eifer und vergaß dabei, wie
-einsam er unter den vielen Mitschülern dastand, denen er sich, wie es
-seine Neigung war und wie er Esther versprochen, nicht anschließen
-mochte. Aber dieses Abschließen reizte die andren Knaben zu Neckereien
-und Spottreden und bereitete ihm bald manchen Verdruß. Man gab ihm
-allerlei Spitznamen, nannte ihn Jungfer Bertel, Muttersöhnchen,
-Blondel, Mehlweißchen und suchte ihn zu Zank und Streit aufzustacheln.
-Bertel that, als merke er nichts und kämpfte seinen Aerger tapfer
-nieder; denn ihm war aller wüste Zank und Lärm in der Seele verhaßt.
-Das reizte seine Kameraden doppelt, die solche Selbstüberwindung für
-Feigheit hielten. Mit einem Feigling aber meinte man sich ungestraft
-alles erlauben zu können. Nun erhielt Bertel eines Tages einen langen
-Brief von Esther. Zwei seiner Stubenkameraden, die dabei zugegen waren,
-sahen, wie freudig er denselben las.
-
-»Von wem ist der Brief?« fragte Franz Reichard.
-
-»Von Esther!« entgegnete Bertel zerstreut und las eifrig weiter.
-
-»Esther? Wer ist Esther?« forschte Franz weiter. »Ist das eine
-Schwester von dir?«
-
-»Nein doch, laß mich in Ruh'! Esther ist -- nun Esther ist Esther!«
-sagte Bertel kurz abweisend und kehrte Franz den Rücken.
-
-»Esther ist Esther! Eine schöne Erklärung!« rief dieser spöttisch.
-»Du, Walter,« fuhr er dann lachend fort und winkte seinem Kameraden
-verständnißvoll zu, »weißt du schon, Jungfer Bertel ist mit einer
-alttestamentarischen Freundschaft behaftet. Königin Esther heißt seine
-Coeurdame.«
-
-»I was tausend, Mehlweißchen!« rief Walter. »Du bist ja ein Mordskerl!
-Und ein Jüdchen hast du zur Freundin? Da heißt's wohl:
-
-
- Ihrer Augen schwarze Kohlen
- Haben mir das Herz gestohlen?
-
-
-Wahrhaftig, du bist ja ganz vernarrt in ihren Brief, laß doch 'mal
-sehen, was die schwarzhaarige Schöne dir schreibt!« Und dabei blickte
-er frech in Esthers Brief, als wollte er ihn lesen. Bertel wurde
-dunkelroth vor Aerger, bekämpfte seinen Verdruß aber und sagte nur,
-sich rasch abwendend: »Ach Unsinn, Esther ist eine Predigertochter und
-keine Jüdin.« Unwillkürlich aber blickten ihn dabei seiner Freundin
-schwarze Augen aus dem Briefe an, die allerdings einer kleinen Jüdin
-alle Ehre gemacht hätten, und er achtete bei diesem Gedankengange
-so wenig auf seine Umgebung, daß er nicht bemerkte, wie Franz sich
-herbeischlich und plötzlich einen raschen Griff nach dem Briefe that.
-Bertel jedoch hielt fest, und so bekam der Brief einen großen Riß. Nun
-aber war Huberts Geduld zu Ende. Mit dem Rufe: »Wart', das sollst du
-büßen!« flog er wie ein Pfeil auf den schlechten Kameraden los, faßte
-ihn um den Leib und warf ihn zu Boden. Franz war einer der stärksten
-Burschen der Stube, und nachdem er sich von der ersten Ueberraschung
-erholt hatte, fing er an mit Bertel zu ringen. Ein heißer Kampf
-entspann sich, denn Franz war stärker als sein Angreifer; Bertel aber
-besaß trotz seines zarten, schlanken Körpers eine große Zähigkeit und
-Gewandtheit, und mit Vorsicht wußte er sich stets gegen alle Angriffe
-zu decken. Er hatte zu Hause viel geturnt und oft mit den Dorfkindern
-gerungen, denn sein Vater pflegte zu sagen, ohne richtige Balgerei
-wird keiner ein rechter Junge. So gelang es ihm endlich, den Gegner zu
-bezwingen und ihm das Knie auf die Brust zu setzen.
-
-»Jetzt versprichst du mir, mich ungeschoren zu lassen!« rief er mit
-funkelnden Augen. »Ich dulde eure Flegeleien nicht länger, daß ihr es
-nur wißt. Wer mich nicht in Ruhe läßt, dem zeige ich, daß ich Fäuste
-habe.« Und damit schlug er auf den großen Burschen so tapfer los, daß
-es schallte, und Walter ganz verblüfft daneben stand. Franz knirschte
-vor Aerger, konnte sich aber nicht rühren, und da er ein weicher Junge
-war trotz seiner groben Glieder, so bat er schließlich himmelhoch,
-Bertel möchte ihn loslassen, er verspräche auch alles, was er verlange.
-Hubert sprang auf und ließ ihn frei, Franz aber schüttelte sich, strich
-sich die Haare glatt und dann trat er zu seinem Gegner heran. »Du hast
-mich gut verarbeitet, Bertel,« sagte er stöhnend und reckte seine
-langen Glieder. »Bis jetzt dachte ich, du wärst feige, weil du dir
-alles gefallen ließest; aber nun habe ich Respect vor dir. Wer Courage
-hat, den lasse ich in Ruhe. Wollen wir Frieden schließen?«
-
-Hubert sah dem ehrlichen Burschen ganz erstaunt in das feuerrothe
-Gesicht; es war ein guter Zug darin, und Bertel ergriff ohne Zögern die
-dargebotene Hand. »Recht gern, Franz«, sagte er herzlich, »mir soll's
-recht sein; ich bin kein Freund von Zank und Streit.«
-
-So hatte die Schlägerei ein gutes Ende und in ihren Folgen trug sie
-vortreffliche Früchte. »Bertel hat den Franz gezwungen!« hieß es bald
-in der ganzen Anstalt, und das war wie ein Orden; denn Franz war für
-einen tüchtigen Raufer bekannt und also nicht gut mit ihm anzubinden.
-Niemand hielt den blonden Bertel ferner für einen Feigling und wagte
-ihn böswillig zu foppen; hatte derselbe doch auch jetzt an dem älteren
-Franz einen Kameraden zur Seite, der sich des jüngeren in allen
-Dingen annahm, denn er hing dem neuen Schüler mit immer wachsender
-Freundschaft an. Hubert war diese Freundschaft zwar ganz angenehm
-und schmeichelhaft, eigentlich aber wagte er nicht recht, dieselbe
-anzunehmen; hatte er nicht Esther gelobt, sie allein solle sein Kamerad
-sein und bleiben? Und war es nicht Wortbruch, wenn er hier nun doch
-eine neue Freundschaft schloß? Lange aber hielten solche Gedanken nicht
-vor; es war doch eben gar zu angenehm, nicht allein dazustehen unter
-so viel Schülern, und Esther selbst hatte sicher nichts dagegen. Sie
-konnte doch einmal nicht bei ihm sein, warum sollte er sich da nicht an
-jemand aus seiner jetzigen Umgebung anschließen? Esther blieb ihm ja
-doch immer so lieb, als sie ihm je gewesen war, das verstand sich von
-selbst. --
-
-Trotz dieser Ueberzeugung sprach er in seinen Briefen an Esther doch
-nicht viel von seinem neuen Freunde. Die Scene aber, welche ihr Brief
-veranlaßt hatte, berichtete er ihr getreulich, und Esther glühte vor
-Wonne und Stolz, daß ihr Bertel sich so tapfer gehalten hatte, und
-tief innen im Herzen regte sich etwas, wie ein Jauchzen, daß =sie= der
-Anlaß zu diesem ersten Kampfe Bertels gewesen war. Davon sagte sie aber
-Tante Booland nichts, als sie den Brief vorgelesen, sie wußte selbst
-nicht warum. Freilich ahnte Esther nicht, daß Bertel gerade in Folge
-davon, daß sie es war, die jenen Kampf veranlaßt hatte, von jetzt an
-sorgfältig vermied, wieder von ihr zu sprechen. Er fürchtete abermalige
-Neckereien seiner Kameraden, die ohnehin nicht ganz ausblieben; denn
-ab und zu erkundigte man sich nach seiner jungen Freundin, welche für
-die Knaben durch jene Schlägerei einen geheimnißvollen Reiz erhalten
-hatte. Bertel gab aber immer verlegene ausweichende Antworten, und
-wenn er Esther auch nicht völlig verleugnete, so wünschte er doch, die
-Sache todt zu schweigen, um die Neckereien der Jungens los zu werden.
-»Mädchen passen einmal nicht in eine Jungenpension, nicht einmal in
-Gedanken!« entschuldigte er sich heimlich, und wirklich verging jetzt
-mancher Tag, wo Bertel so von seinen Arbeiten und seinen Kameraden
-in Anspruch genommen wurde, daß er seiner kleinen Esther gar nicht
-gedachte. Dann aber fiel ihm sein Unrecht plötzlich wieder schwer
-auf die Seele, und nun schickte er ihr, wie um vor sich selbst sein
-Erkalten wieder gut zu machen, einen so herzlichen, kameradschaftlichen
-Brief, erzählte ihr so getreulich von seinem Lernen und Leben
-und Treiben, daß Esther voll Entzücken ihres lieben getreuen
-Kameraden gedachte, der sie unter all' den neuen Verhältnissen nicht
-vernachlässigte. Sie wollte ihm auch zeigen, daß sie seiner in treuer
-Anhänglichkeit gedachte, und trotz ihrer Abneigung gegen weibliche
-Handarbeiten mühte sie sich jetzt häufig ab, um für Bertel irgend etwas
-anzufertigen. Zum ersten Male im Leben zeigte sie Geduld und Ausdauer
-bei diesen Arbeiten. Die Knaben in der Pension trugen hellblaue Mützen
-mit roth und silbernen Bändern, und wenn das Band besonders schön war,
-so bestanden die silbernen Streifen aus kleinen gestickten Blätterchen.
-Eine solche Mütze hatte Bertel sich gewünscht, und Esther saß nun mit
-eiserner Geduld und nähte mit ihren kleinen ungeschickten Fingern
-unermüdlich Blättchen um Blättchen, so sauer ihr auch die ungewohnte
-Arbeit wurde. Endlich war das Werk vollendet und zu seinem nächsten
-Geburtstage prangte die Mütze unter Bertels Geschenken, die ihm nach
-der Pension gesandt wurden. Ein feuriger Dankesbrief lohnte Esther
-die gewaltige Mühe, und von nun an war sie immer mit irgend einer
-Arbeit für ihren kleinen Freund beschäftigt, zur stillen Freude Tante
-Boolands, die ihr getreulich beistand, wo die Schwierigkeiten gar zu
-groß wurden. Aber gut war es, daß Esther nicht erfuhr, wie Bertel alle
-solche Arbeiten vor seinen Schulkameraden verleugnete, um sich nicht
-neuen Neckereien auszusetzen. Die Mütze machte den Anfang. Als seine
-Geburtstagsgeschenke bewundert wurden, betrachtete sein neuer Freund
-Franz mit etwas neidischen Blicken den zierlichen Streifen an der Mütze.
-
-»Wer hat dies gestickt, Bertel?« fragte er neugierig. Bertel wurde
-roth und wandte sich ab. »Deine Mutter?« forschte Franz weiter. »Ja!«
-sagte Bertel kurz und fing ein anderes Gespräch an. Aber die Lüge
-brannte wie Feuer auf seiner Seele, und er schalt sich selbst wegen
-seiner Feigheit, die ihm nicht erlaubte, dem Spotte der Mitschüler zu
-trotzen. »Sie würden mir nimmer Ruhe lassen, und ich könnte die Mütze
-nie tragen ohne gefoppt zu werden!« rechtfertigte er sich vor sich
-selbst; aber gegen Esther hätte er diese Untreue nie eingestehen mögen.
-Aber freilich folgten diesem ersten Verleugnen bald andere, bis er
-sich schließlich gar kein Gewissen mehr daraus machte, alle Geschenke
-Esthers vor seinen Kameraden zu verheimlichen, nur um Ruhe zu haben.
-
- * * * * *
-
-Esther war seit Bertels Fortgang viel stiller und ernster geworden.
-»Die wilde Hummel,« wie man sie im Hause nannte, saß jetzt oft
-stundenlang bei Tante Booland, ihr vorlesend oder auch wohl bei einer
-kleinen häuslichen Beschäftigung helfend. Nur manchmal sprang sie
-plötzlich rasch auf, rannte durch Hof und Garten oder hinüber nach dem
-Gutshofe, und dann kam sie mit roth geweinten Augen zurück. Aber selten
-nur sprach sie es aus, wie unsäglich Bertel ihr fehle, und wenn irgend
-jemand sie fragte, ob sie den Kameraden nicht sehr vermisse, dann
-zuckten ihre dunkeln Augenbrauen leise und sie sagte stolz: »Ein Junge
-kann nicht ewig mit Mädchen spielen, er muß fort und lernen, wenn er
-ein Gelehrter werden will.«
-
-Am liebsten hörte sie es, wenn ihr Vater über Bertel sprach. Jetzt,
-nachdem sein Schüler ihn verlassen, wagte der Prediger erst es
-auszusprechen, wie große Erwartungen er von Bertel hege, und was er
-für ein kluger, talentvoller Knabe sei. Seine Eltern lobten den Sohn
-zwar auch in unbegrenzter Weise, aber das hatten sie auch bisher schon
-gethan. Von Pastor Wieburg aber, dem strengen, schweigsamen Manne
-fiel ein Lob viel schwerer in die Wagschaale, als von allen anderen
-Menschen. Ihre eigenen Lehrstunden hatten für Esther allen Reiz
-verloren, seit sie allein lernte, und sie sah es nicht ungern, daß ihr
-Vater, durch körperliche Leiden belästigt, diese Stunden jetzt sehr
-beschränkte. Nur wenn sie dem Vater bei seinen Arbeiten helfen konnte,
-wozu die gelehrte Erziehung, welche sie erhalten, sie wohl befähigte,
-dann war sie eifrig und fleißig; und so verging ihr manche Stunde mit
-Vorlesen griechischer oder lateinischer Bücher, mit Nachschlagen oder
-Abschreiben, oder mit Niederschreiben von Dictaten, da der Vater seine
-schwachen Augen in dieser Weise gern schonte. Immerhin aber blieb für
-Esther jetzt viel mehr freie Zeit übrig als früher.
-
-»Nun wird das kleine Ding wohl endlich einmal ein Frauenzimmer werden!«
-sagte Frau Booland oft still für sich, wenn sie ihres Zöglings häufige
-Musestunden mit Behagen bemerkte. »Jetzt kann man doch mit gutem
-Gewissen noch andere Dinge von ihr verlangen.« Aber der Geschmack an
-diesen anderen Dingen wollte bei Esther noch gar nicht kommen trotz
-dieser freieren Zeit, und Frau Booland sah nun wohl, daß ein Kind
-in späteren Jahren schwer etwas lernt, wozu es nicht von früh auf
-angehalten wurde. Esther lag trotz ihrer 13 Jahre mit der Ordnung und
-Sauberkeit noch immer in ewiger Fehde, und alles andere war ihr lieber,
-als stricken und nähen oder sonstige weibliche Beschäftigungen; die
-Arbeit für Bertel ausgenommen. Hart konnte Tante Booland unmöglich
-zu ihrem Herzblättchen sein, und so that sie selbst lieber nach wie
-vor alle die Dinge, die Esther zukamen, um nur das arme Kind nicht
-allzusehr zu quälen. »Sie wird es schon von selbst machen, wenn sie
-einmal verständiger ist,« tröstete sie sich selbst, »ich kann ihr die
-liebe Jugend unmöglich dadurch verbittern.« Und so blieb alles so
-ziemlich beim Alten.
-
-Da brachte der Winter ein schweres Leid über die Bewohner des
-Pfarrhauses. Pastor Wieburg wurde von einem Schlagfluß zur Hälfte
-gelähmt und war unfähig, sich zu bewegen, ja fast zu sprechen und zu
-denken. Nun aber zeigte die wilde Esther plötzlich, daß ein braver
-Kern in ihr verborgen lag, und sie auch still und geduldig sein
-konnte. Vereint mit Frau Booland pflegte und versorgte sie unermüdlich
-den hülflosen Vater und übernahm Geschäfte, welche ihr bis dahin
-unerträglich oder langweilig gewesen waren. Stundenlang konnte sie
-still an dem Bette des Kranken sitzen, oder alles um ihn her ordnen
-und zurechtmachen, ohne ungeduldig zu werden, und oft stand sie selbst
-am Heerdfeuer, um ein Gericht zu überwachen, das sie ihm nach Frau
-Boolands Anweisung bereitete. Die wilden Sprünge und das ungestüme
-Davonstürmen vertauschte sie mit leisem Tritt und vorsichtigen
-Bewegungen, und wer die besonnene, sanfte Esther hier am Bette des
-Vaters sah, der hätte das wilde Kind aus Wald und Wiese nicht wieder
-erkannt. Frau Booland stand oft mit gefaltenen Händen still neben dem
-Lager und beobachtete ihren jungen Liebling, und eine Thräne stahl sich
-dann in ihr gutes Auge. »Gott segne und schütze das arme Herzchen!«
-sagte sie leise und seufzte tief auf, denn unwillkürlich schweiften
-ihre sorgenden Gedanken in die Zukunft.
-
-Und nur zu bald sollten diese Sorgen Begründung finden. Statt der
-Genesung nahte ein sanfter Tod dem Erkrankten, und Esther weinte schon
-nach wenig Wochen am Sarge ihres geliebten Vaters. Das früh verwaiste
-Mädchen schmiegte sich in ihrem Kummer jetzt mit doppelter Innigkeit an
-das treue Herz, das ihre Kindheit behütet und bewahrt hatte.
-
-»O Tante Booland,« rief sie weinend, als sie an der Seite dieser braven
-Frau vom Friedhofe zurückkehrte und das einsame Pfarrhaus wieder
-betrat, aus dem man ihren Vater zur ewigen Ruhe hinweggetragen, »nicht
-wahr, du verläßt mich nicht auch, sondern bleibst bei deiner armen
-kleinen Esther?«
-
-»Nein, mein liebes Herzenskind, ich verlasse dich nicht, wenn's
-der liebe Gott nicht anders bestimmt,« sagte Frau Booland sanft
-und streichelte die Wange des Mädchens. Dabei aber flogen ihre
-Blicke unruhig und sorgenvoll hinüber nach dem Gutshofe, und eine
-erwartungsvolle Spannung trieb sie rastlos umher, so daß sie zum ersten
-Male im Leben selbst bei ihrer Näharbeit keine Ruhe fand. Rasch fuhr
-sie oft empor, als höre sie jemand kommen, und immer wieder blickte sie
-nach dem Wege hinaus, der durch das Dorf führte.
-
-Endlich steigerte sich die Erwartung der braven Frau bis zum
-Aeußersten; denn sie hörte draußen im Hofe Schritte und sah gleich
-darauf Frau von Ihlefelds schlanke Gestalt in das Haus eintreten.
-
-Herr und Frau von Ihlefeld hatten mit dem Pfarrhause stets freundlichen
-Verkehr gepflogen, so lange Pastor Wieburg Pfarrer ihres Dorfes
-Rahmstadt gewesen, und die Freundschaft der Kinder hatte die beiden
-Häuser in mannigfache Verbindung gebracht. Der ernste, abgeschlossene
-Pfarrer besuchte den Gutshof zwar nur selten; aber er war jederzeit
-dort ein geehrter und lieber Gast. Herr von Ihlefeld besaß wirkliche
-Hochachtung für ihn und auch die Gutsherrin, obwohl sie vor dem ernsten
-Manne eine kleine Scheu nicht überwinden konnte, ehrte in demselben
-den würdigen Geistlichen und langjährigen Freund. Beide Gatten aber
-waren vom tiefsten Danke beseelt für die treue Liebe und Hingebung, mit
-welcher Pastor Wieburg jahrelang ihren einzigen Sohn unterrichtete und
-ihm der sorgsamste Lehrer und liebevollste Erzieher gewesen war.
-
-Aber trotz dieses freundschaftlichen Verkehrs und trotz der
-steten Freundlichkeit, welche Esther im Gutshofe genoß, konnte
-man doch bemerken, daß Herr und Frau von Ihlefeld jederzeit etwas
-Zurückhaltendes im Umgang mit den Gliedern des Pfarrhauses behielten.
-Sie waren und blieben stets die adlige Herrschaft von Rahmstedt, und
-ihre Freundlichkeit glich nur zu häufig der Gunstbezeugung eines
-Höheren gegen Niedriggestellte. Besonders die einfache Frau Booland
-hatte oft von dem Stolze der Gutsherrin zu leiden; aber in ihrer
-Demuth klagte sie nie über derartige Kränkungen. Der Pfarrer bemerkte
-dergleichen Schwächen bei seinen Freunden kaum, oder lächelte nur
-im Stillen darüber, Esther aber war viel zu sehr sorgloses Kind, um
-dergleichen zu empfinden.
-
-Bei der Erkrankung des Pfarrers aber hatten sich Herr und Frau von
-Ihlefeld theilnehmend und wahrhaft freundschaftlich bewiesen, und
-mehr als einmal hatte die Gutsherrin, wenn sie auf den leider zu
-erwartenden Trauerfall Bezug nahm, mit inniger Theilnahme zu Frau
-Booland gesagt: »Um Esthers Zukunft soll der Kranke keine Sorge haben,
-dieses lieben Kindes werden wir uns annehmen, das versteht sich von
-selbst.« Aber in welcher Weise dies geschehen würde, darüber sprach
-sie sich nie weiter aus, und so war es natürlich, daß Frau Booland
-der jetzigen Entscheidung mit lebhafter Unruhe entgegensah. Drohte
-der braven Pflegerin ja doch die Trennung von ihrem Lieblinge, der
-sie mit wirklich mütterlicher Liebe anhing. Und doch wagte sie nicht
-zu klagen und solche Gedanken laut werden zu lassen; denn was konnte
-es für Esther's Zukunft denn Besseres geben, als im Hause von Bertels
-Eltern liebevolle Aufnahme zu finden? Ihre Phantasie wob dann in reger
-Geschäftigkeit weiter an den herrlichen Zukunftsträumen für ihren
-jungen Pflegling, und wenn ihr auch die hellen Thränen dabei über
-das ehrliche Gesicht tropften, dachte sie an die Trennung und an ihr
-eigenes einsames Leben, so schalt sie sich doch immer wieder selbst
-über solchen Egoismus, der noch an das eigene Glück neben dem der
-geliebten Esther denken konnte.
-
-Und nun war der Augenblick gekommen, der ihr die Kunde bringen
-mußte, daß Esther jetzt mit Frau von Ihlefeld gehen und sie allein
-zurücklassen sollte! Die brave Frau Booland hatte all' ihre Kraft
-zusammen zu nehmen, um Frau von Ihlefeld ruhig und mit der
-gewöhnlichen höflichen Ergebenheit entgegen zu gehen. Die Gutsherrin
-war ein seltener Gast in dem Pfarrhause, nur während der Krankheit
-Pastor Wieburgs hatte sie dasselbe häufiger besucht, um Esther ihre
-Theilnahme zu beweisen; der Kranke selbst erkannte sie kaum noch.
-Hubert begleitete heute seine Mutter; denn zur Beerdigung seines
-theuren Lehrers war er auf einige Tage aus der Pension nach Hause
-gekommen. Während die beiden Kinder nun in Esthers Stübchen beisammen
-waren, und Bertel seine junge Freundin zu trösten und zu zerstreuen
-suchte, saß im Wohnzimmer Frau von Ihlefeld der erregten Frau Booland
-gegenüber und sagte nach einer kleinen Pause, während welcher das
-Herz der ehemaligen Frau Schulmeisterin fast hörbar klopfte: »Meine
-gute Frau Booland, ich habe Ihnen schon mehrfach angedeutet, daß
-nach Herrn Pastor Wieburgs Tode die Sorge für dessen Tochter mein
-und meines Mannes Sache sein wird; das sind wir demjenigen schuldig,
-der unserem Sohne ein so treuer, väterlicher Freund gewesen ist.
-Wir haben vielfach nachgedacht, was für Esther wohl das Beste sein
-möchte. Wollten wir sie zur Lehrerin ausbilden lassen, so müßte sie
-noch lange Zeit in eine Pensionsanstalt gehen; denn sonderbarer Weise
-hat sie gerade die Dinge, welche eine Erzieherin wissen muß, nicht
-gelernt trotz aller Gelehrsamkeit. Moderne Sprachen kann sie nicht
-und mit Musik und Zeichnen ist es auch nicht viel geworden. Aber bei
-der Eigenthümlichkeit Esthers würde sie ein solcher Aufenthalt sehr
-unglücklich machen, denke ich mir. Das Einfachste wäre, sie zu uns in
-das Haus zu nehmen. Aber auch dagegen spricht vieles. Esther ist ein
-armes Mädchen, eines schlichten Landpredigers Tochter, angewiesen auf
-eine Zukunft voll bescheidener Aussichten und einfacher Lebensstellung.
-In unserem Hause aber würde sie sehr verwöhnt werden, würde Ansprüche
-lernen, welche für ein Mädchen bürgerlicher Herkunft und ohne Vermögen
-nicht passend wären. Und doch würde es, glaube ich, kränkend für
-sie sein, wollte ich, um diese Uebelstände zu vermeiden, ihr eine
-untergeordnete Stellung in unserem Hause zuweisen.
-
-So haben wir denn beschlossen, ihr ein kleines Eigenthum zu schenken,
-in dem sie mit dem mütterlichen Vermögen, welches ihr geblieben ist,
-eine bescheidene selbständige Existenz finden kann. Sie, meine brave
-Frau Booland, würden ein gutes Werk thun, wenn Sie Esther zur Seite
-blieben, wie bisher. Das kleine Haus, das neben der Försterei liegt,
-und ein Stückchen Garten und Feld soll Esthers Eigenthum werden. Ich
-denke, das wird ihr lieb sein, besonders wenn sie hört, daß es Bertels
-Idee war, ihr dies zu schenken; er glaubt, der nahe Wald wird für
-Esther einen besonderen Reiz haben. Er ist immer so sinnig und gut,
-unser braver Sohn, und möchte jedem eine Freude machen, und wir kommen
-seinen Wünschen immer gern nach, wenn es möglich ist. Ich denke, Esther
-wird sich gegen uns und gegen Hubert auch stets dankbar beweisen, denn
-sie ist ja ein liebes, bescheidnes Mädchen und wird es hoffentlich auch
-stets bleiben. Nun aber rufen Sie mir Esther, liebe Booland, damit ich
-mit ihr über diese Sachen sprechen kann.
-
-Frau Booland war froh, daß sie einen Grund hatte, hinaus zu gehen;
-denn in ihr jagten und überstürzten sich tausend Gedanken und Gefühle,
-und doch wagte die bescheidene Frau nicht, dieselben gegen die stolze
-Gutsherrin auszusprechen. Mit einer leichten Verbeugung erhob sie sich
-vom Stuhle und schritt dann rasch zum Zimmer hinaus.
-
-»Gott sei Dank, daß ich fort konnte!« sagte sie tief aufathmend und
-legte die große Hand wie beruhigend auf ihr weißes Brusttuch. »Ist
-das eine Welt! Sind das Menschen! Hochmuth, Hochmuth und nichts als
-Hochmuth! Ja, sorgen wollen sie für das arme, herzige Kindchen; aber
-mit welcher Miene, welcher beleidigenden Art und Weise! Die Füße soll
-sie ihnen wo möglich dafür küssen, und daß sie sich nur ja nicht etwa
-untersteht, sich jemals ihres Gleichen zu dünken! Und da muß Bertel
-erst noch kommen und ihnen den Weg zeigen, und eigentlich ist's nur,
-um ihm einen Wunsch zu erfüllen, sonst hätten sie es sicher gar nicht
-gethan. Nun Gott sei Dank, daß es so gekommen ist, da kann ich doch
-bei meinem Herzblättchen bleiben! Mir konnte ja kein größeres Glück
-passiren. Aber für Esther! Nein, nein, auch für Esther ist es besser
-so, als um Gotteswillen in einer Familie zu leben, die ihr hochmüthig
-das Bürgerblut vorwirft und sie wohl gar zum Hauspudel herabwürdigen
-möchte. Was? Meine Esther, dies kluge, liebreizende Geschöpfchen,
-meine Wonne und mein Augentrost, die Gespielin des braven Bertel, soll
-die etwa Kammerjungfer der gnädigen Frau werden, damit sie nur nicht
-vergißt, daß sie kein =von= vor ihrem Namen hat und also nicht werth
-ist, in Gemeinschaft mit solchen hochgebornen Leuten die Füße unter den
-Tisch zu stecken? Nein, mein Goldkind, das litte ich nun und nimmer,
-da wollte ich mir lieber die Hände abarbeiten, um dich vor solcher
-Existenz zu bewahren. Aber so sind sie nun, diese vornehmen Leute! Den
-Sohn herzuschicken Tag für Tag, daß er von unserem Herrn Pastor die
-schönsten gelehrtesten Dinge lernt, von denen sie sich alle zusammen
-kein Tütelchen können träumen lassen, dazu sind sie nicht zu vornehm,
-das nehmen sie von dem armen bürgerlichen Pfarrer recht gern an Jahr
-für Jahr. Aber der Dank dafür, wenn er auch schließlich gegeben wird,
-hat einen gar unangenehmen Beigeschmack. Nun Estherchen soll's aber
-nicht merken, das liebe unschuldige Herz; sie soll nur die Freude von
-dem Geschenk haben, mir zähen Alten kann der Beigeschmack doch nichts
-mehr schaden.«
-
-Unter derartigen Worten und Gedanken hatte Frau Booland das Zimmer
-erreicht, in dem Hubert und Esther beisammen saßen. Bertel hatte
-seiner kleinen Freundin bereits den Plan mitgetheilt, den seine Mutter
-Frau Booland eröffnete; aber freilich in sehr anderer Weise, als
-Frau von Ihlefeld es gethan. So fand denn Tante Booland ihren jungen
-Liebling mit freudig strahlenden Augen und glühenden Wangen an Bertels
-Seite sitzend, und voll Entzücken flog sie ihrer braven Pflegemutter
-entgegen und verkündete ihr die erfreuliche Neuigkeit. Frau Booland
-lachte mit ihr durch ihre Thränen hindurch, dann aber führte sie beide
-Kinder zu Frau von Ihlefeld hinab. Hier hatte sie die Genugthuung, zu
-bemerken, daß Hubert, als seine Mutter anfing, auch gegen Esther von
-der bescheidenen Lebensstellung und Herkunft zu sprechen, an welche
-sie allein Ansprüche machen könne, plötzlich feuerroth wurde und
-heftig sagte: »Mama, laß doch, das ist ja alles ganz egal. Ich bin
-Esthers Bruder, und also ist Esther ebensoviel als ich. Sie hat mir
-versprochen, sie will als meine Schwester alles von mir annehmen, wenn
-sie etwas braucht, und als erstes Geschenk gebe ich ihr das hübsche
-kleine Haus, niemand anders, nicht wahr? So hast du's mir wenigstens
-versprochen, Mama. Esther hat sich auch schon bei mir bedankt; aber
-eigentlich braucht sie das gar nicht, da sie meine Schwester ist.«
-
-Frau von Ihlefeld war sehr roth geworden bei dem kindischen Gespräch
-ihres Sohnes; doch lächelte sie und sagte ausweichend: »Schon gut,
-lieber Bertel! Esther wird sich hoffentlich recht wohl in der neuen
-Heimath fühlen und ihr Vaterhaus nicht zu schmerzlich entbehren. Wir
-aber, mein liebes Kind, wollen dir auch ferner treu zur Seite stehen,
-das verspreche ich dir.«
-
-Dabei küßte sie das junge Mädchen liebevoll, und Esther weinte bald,
-bald lachte sie wieder, innig aber dankte sie für alle Liebe und Güte,
-die ihr zu Theil wurde. Und wie viel Grund hatte sie zu Glück und
-Freude! Der Gedanke, ihr liebes Dorf nicht verlassen zu müssen, in der
-Nähe von Bertel und dessen Eltern zu bleiben, und bei der Pflegerin
-ihrer Kindheit, der treuen Tante Booland, ferner leben zu können -- es
-war eine schöne, beglückende Aussicht mitten in ihrer Trübsal, und sie
-gab sich diesem Glücke mit vollem Herzen hin.
-
- * * * * *
-
-So sehen wir denn mit dem beginnenden Frühjahr unsere kleine Esther
-als Bewohnerin eines hübschen, freundlichen Häuschens, das rings von
-einem netten Gärtchen umgeben ist. Unmittelbar hinter dem Hause erhebt
-sich der dichte Laubwald, und in einiger Entfernung davon liegen
-die Häuser des Dorfes und der Gutshof. In nächster Nachbarschaft
-steht das Haus des Försters, und Esther sowohl als ihre treue Tante
-Booland sind hier wie im ganzen Dorfe liebe, gern gesehene Gäste. Ein
-harmlos glückliches, friedliches Dasein erblühte für Esther in dieser
-traulichen Häuslichkeit, sie selbst aber wuchs heran zu einem frischen,
-schönen, fröhlichen Mädchen, das alle Menschen lieb hatten.
-
-Mehr als ein Jahr war so vergangen, da durchlief eine schreckliche
-Kunde das Dorf Rahmstedt. Oft schon hatte man sonderbare Gestalten auf
-dem Gutshofe ein- und ausgehen sehen, schäbig gekleidete, jüdische
-Männer. Man sprach vom Verkauf des Gutes und von großen Verlusten,
-welche Herr von Ihlefeld gehabt habe, eines Morgens aber fand man
-den unglücklichen Gutsherrn erschossen in seinem Zimmer. Ein Brief
-an seine Gattin sagte dieser, daß sie am Bettelstabe wären in Folge
-unglücklicher Speculationen, in welche er sich eingelassen habe, und
-daß er nicht im Stande sei, diesen Schlag zu überleben. Auch sie und
-seinen armen Sohn habe er durch seinen Leichtsinn unglücklich gemacht,
-das könne er nicht mit ansehen. Dem Todten würden sie eher verzeihen
-als dem Lebenden, darum scheide er lieber von ihnen.
-
-Es war ein furchtbarer Schlag für die unglückliche Frau. Sie, die
-so stolz und erhaben über all' denen gestanden hatte, welche sie
-umgaben, sie mußte es nun ertragen, daß man sie von ihrer Höhe stürzte
-und sie hinausstieß in die Welt, arm und hülflos wie das ärmste Weib
-ihres Dorfes. Das ganze prachtvolle Gut ging in andere Hände über,
-und die arme Frau rettete von der ganzen Habe kaum so viel, sich vor
-der bittersten Noth zu schützen. Wie verzweifelt irrte sie durch die
-wüsten Zimmer des schönen Hauses, nicht wissend, wohin sie sich wenden
-sollte in ihrem grenzenlosen Elend; denn erbarmungslos achteten die
-hartherzigen Gläubiger wenig ihres Kummers. Suchte doch jeder so
-schnell wie möglich sich für seine Verluste an dem hinterlassenen
-Besitzthum schadlos zu halten, und obwohl der Todte noch nicht
-bestattet, wühlten doch schon fremde Hände in seinen Papieren und
-versiegelten die ganze Hinterlassenschaft. Da flogen hastige Schritte
-die Stufen der Freitreppe hinauf, und an das Herz der trostlosen Wittwe
-schmiegte sich weinend und zärtlich ein schlankes Mädchen. Es war
-Esther. Noch zitterte das Entsetzen über die fürchterliche Nachricht
-in allen ihren Gliedern; aber der unglücklichen Frau gedenkend kämpfte
-sie alle andern Gefühle nieder und gab nur dem einen Raum: der Mutter
-Bertels Hülfe und Trost zu bringen so viel in ihren Kräften stand. Und
-sie konnte es ja, dem Himmel sei Dank, konnte es durch die einstige
-Güte derer, denen sie nun helfen wollte. Jetzt war sie ja die Reiche
-ihren ehemaligen Wohlthätern gegenüber und konnte ihnen den Zins
-abtragen für so viele Güte und Liebe. O wie glücklich machte sie der
-Gedanke, und mit welchem Entzücken erfüllte sie diese Aussicht!
-
-Frau von Ihlefeld umschlang Esther mit einem Schrei der Verzweiflung,
-und dann brach sie in einen Strom von Thränen aus. Bis dahin hatte
-das Entsetzen über das furchtbare Schicksal, das sie betroffen, wie
-eine Felsenlast auf ihr gelegen und sie aller Thränen und aller
-klaren Gedanken beraubt. Beim Anblick des Kindes aber, das weinend
-an ihr Herz sank, wich der Bann, der auf ihr lastete, und sie fand
-erlösende Thränen. Als die arme Frau endlich ruhiger wurde, da schlang
-Esther ihre Arme um sie und zog sie mit sich hinaus aus den wüsten,
-unheimlichen Räumen, in denen so Schreckliches über sie gekommen war,
-und führte sie schweigend nach ihrem eigenen kleinen Hause am Walde.
-
-»Hier ist jetzt Ihre Heimath, liebe Tante Ihlefeld,« sagte Esther
-freudig. »Bertel hat mich seine Schwester genannt, so habe ich also ein
-Recht, unsere theure Mutter in meinem Hause zu haben und zu pflegen,
-denn es ist ja auch das Ihre. Nicht wahr, Tante Ihlefeld, Sie bleiben
-bei uns?«
-
-Frau von Ihlefeld verbarg ihr Gesicht in den Händen und weinte
-bitterlich. »O Kind, Kind,« schluchzte sie, »Gott segne dich, du bist
-ein braves Mädchen! O, was wird Bertel sagen!« Und wieder brach das
-unglückliche Weib unter der Last ihres Jammers zusammen. Aber in der
-jetzigen Umgebung fand sie doch eher Ruhe und Fassung, und Esther, wie
-auch die gute, einfache Frau Booland verstanden es, ihr das schwere
-Schicksal zu erleichtern.
-
-Und nun kam Hubert. Man hatte ihm erst nach und nach das schreckliche
-Schicksal mitgetheilt, das über ihn und seine Mutter hereingebrochen
-war, und der arme Knabe war wie vernichtet von der Nachricht. Einer
-seiner Lehrer begleitete ihn nach Rahmstedt, da er den Fassungslosen
-nicht allein lassen wollte, und es war ihm gelungen, den armen Bertel
-wenigstens so weit zu beruhigen, daß er der Mutter gegenüber seinen
-Kummer zu beherrschen versprach, um dieselbe nicht noch unglücklicher
-zu machen. Esther hatte mit großer Umsicht dafür gesorgt, daß Hubert
-bei seiner Ankunft den Gutshof gar nicht betrat. In ihrem Häuschen fand
-das erschütternde Wiedersehen statt zwischen Mutter und Sohn, und hier
-bereitete Esther auch für Bertel die Wohnung. So klein das Haus war,
-die unteren Räume genügten für sie und für Tante Booland, die oberen
-aber gehörten Frau von Ihlefeld und Bertel.
-
-Ein ganz neues Leben begann nun für unsere Esther. Sie hatte die Sorge
-für zwei geliebte Wesen übernommen, das forderte all' ihre Kräfte
-heraus sowohl des Geistes als des Körpers. Die Mittel zum täglichen
-Unterhalt waren sehr beschränkt; denn Frau von Ihlefeld rettete aus
-den Trümmern ihres Besitzthums nur einen ganz unbedeutenden Rest.
-Und doch galt es, die arme verwöhnte Frau nicht allzuschmerzlich
-fühlen zu lassen, was sie alles zu entbehren hatte, vor allem aber
-galt es, Bertels Pension weiter zu bezahlen, damit er seine Studien
-nicht unterbrechen mußte. Und doch besaß Esther nur das kleine
-mütterliche Vermögen, welches gerade für ihre eigenen bescheidnen
-Bedürfnisse ausreichte. Aber sie blickte mit frohem Muthe all' diesen
-Schwierigkeiten in das Antlitz. Sie hatte versprochen, für Bertel und
-dessen Mutter zu sorgen, und nun mußte sie auch die Mittel dazu finden.
-
-»Ich bin gesund und kann arbeiten, Tante,« sagte sie entschlossen zu
-Frau Booland, als diese bedenklich hin und her überlegte, wie man sich
-einzurichten habe. »Bis jetzt habe ich dir und andern überlassen, für
-mich zu arbeiten, nun will ich selbst mit angreifen, dadurch ersparen
-wir gewiß manche Ausgabe. Für fremde Hülfe dürfen wir jetzt nichts mehr
-bezahlen, denn du sollst sehen, deine faule, kleine Esther wird die
-Hände besser rühren als bisher.«
-
-Wirklich fing das junge Mädchen jetzt mit energischem Entschlusse an,
-sich des Hauswesens und aller sonstigen Geschäfte anzunehmen. Nur die
-groben Arbeiten in Haus, Hof und Garten überließ sie einer jungen Magd,
-bei allen andern Geschäften in Küche und Haus aber und allen Arbeiten
-der Nadel stand sie der fleißigen Frau Booland jetzt unermüdlich zur
-Seite. Die frühe Morgenstunde fand Esther schon in voller Thätigkeit;
-denn früh müßte sie anfangen, wollte sie mit allem fertig werden, was
-sie übernommen hatte. Mit wahrhaftem Heroismus griff sie in den vor
-ihr stehenden hochaufgepackten Korb, in dem die Wäsche Bertels und
-seiner Mutter ihrer ausbessernden Hand wartete, und wenn die ungewohnte
-Arbeit sie auch manchen Seufzer und manchen Schweistropfen kostete,
-das brave Kind verlor die Ausdauer nicht. Sie hatte die Pflichten
-einmal übernommen, so wollte sie auch nicht als Feigling der Fahne
-wieder entfliehen, der sie Treue gelobt. Die sorglose Esther früherer
-Tage, welche leichtsinnig alle Mühe des Ordnens und Aufräumens ihrer
-nachsichtigen Pflegemutter überließ, sie trippelte schon von früh ab
-geschäftig im Hause herum, für Tante Ihlefeld alles fertig zu machen,
-was diese bedurfte. Mit dem Morgenkaffee erschien Esthers lachendes
-Gesichtchen in dem stillen Zimmer ihres Gastes und verscheuchte die
-traurigen Gedanken, welche auf der gebeugten Frau lasteten. Geschäftig
-räumte sie die beiden Zimmer auf, welche Frau von Ihlefeld bewohnte;
-denn es war ihr Stolz, dies selbst zu machen; niemand durfte ihr das
-abnehmen. Dann half sie derselben bei ihrem Anzuge, kämmte ihr das
-schöne blonde Haar, das Bertel von der Mutter geerbt, und verrichtete
-freiwillig und eifrig alle Dienste einer Kammerjungfer bei der
-verwöhnten Frau, welche nie im Leben selbst dergleichen Dinge gethan
-hatte. Was Frau Booland einst mit Zorn und Unwillen erfüllte, der
-Gedanke, daß ihr Goldkind Esther eine dienende Stellung bei Frau von
-Ihlefeld einnehmen könnte, das war jetzt etwas so Selbstverständliches
-geworden, daß auch Tante Booland es nur loben konnte. Aber freilich,
-unter wie andern Verhältnissen geschah es jetzt!
-
-»Es ist wirklich ein Prachtmädel, die Esther!« dachte Frau Booland
-eines Tages und blickte voll Stolz in das frische, bräunliche Gesicht
-ihres Lieblings, das von Eifer und Freudigkeit glühte, während es
-sich über einen feinen Kuchenteig bückte, zu dessen Bereitung ihre
-Pflegemutter sie angeleitet hatte.
-
-»Wenn sie etwas ordentlich will, dann kann sie es auch. Für sich
-selbst hätte sie nie einen Finger gerührt und lieber nie einen Bissen
-Kuchen gegessen, wenn sie ihn hätte selbst backen sollen. Aber wen sie
-lieb hat, für den thut sie alles und ginge durch's Feuer.«
-
-»Tante Ihlefeld wird einmal staunen, wenn ich ihr morgen früh mit dem
-Kaffee diesen Lieblingskuchen bringe!« rief Esther fröhlich. »Dem
-Bertel möchte ich auch davon schicken, er ißt ihn auch so gern, und
-eine kleine Freude würde ihm jetzt so gut thun, dem armen Jungen.
-Meinst du nicht auch, Tante?«
-
-»Gewiß, mein Goldkind, thue es nur!« entgegnete Frau Booland. »Aber
-streiche die Butter nicht gar zu dick darauf, mein Schatz, es ist
-unnütz und Butter ist theuer.«
-
-Esther blickte betroffen auf. »Da ist wohl eigentlich mein ganzer
-Gedanke unklug gewesen, Tante,« sagte sie nachdenklich. »Kuchenbacken
-kostet Geld, daran dachte ich nicht, wir müssen ja sparsam sein.«
-
-»Laß nur, Kind,« beruhigte Frau Booland, »du wolltest der gnädigen
-Frau eine Freude machen und sie mit etwas aufheitern, da sind die paar
-Groschen keine Verschwendung. Wir wollen sie schon anderweitig wieder
-ersparen.«
-
-»Tante, was meinst du!« rief Esther, »ich werde mir den Kaffee
-abgewöhnen, er erhitzt mich doch nur und das ist gleich eine Ersparniß.
-Was ich bisher an Kaffee und Zucker verbrauchte, bringe ich jetzt Tante
-Ihlefeld, da kostet es nicht mehr als bisher. Und meine Weißbrodchen
-können wir auch sparen. Ich trinke ein Glas Milch, wenn's hoch kommt,
-und dazu schmeckt Schwarzbrod vortrefflich. Besinne dich einmal, was
-könnte man denn noch weiter sparen. Du hast mich so verwöhnt, liebste
-Tante, daß ich gar nicht weiß, was entbehren heißt. Und doch wäre es
-mir eine so große Wonne, für Tante Ihlefeld und Bertel mir =recht=
-große Entbehrungen aufzuerlegen.«
-
-In dieser Opferfreudigkeit fand sie denn noch tausend kleine Dinge,
-welche sie als unnütz aufgab; bald die Butter auf dem Vesperbrode,
-bald Obst oder Honnig oder Fleischwerk. Dann opferte sie auch allerlei
-überflüssige Kleinigkeiten an ihrer Kleidung, um Ersparungen zu machen:
-das farbige Band ihres schwarzen Haares und die bunte Schleife am
-Kragen wurden für festliche Gelegenheiten in den Kasten gelegt, und die
-seidene Schürze ersetzte jetzt eine von Kattun oder Wolle. Wo sie in
-ihrer Lebendigkeit sich bisher wenig darum gesorgt hatte, wenn ein Riß
-ihr Kleid verdarb, oder Schmutzflecke es unbrauchbar machten, da wachte
-sie jetzt mit ängstlicher Sorgfalt darüber, ihren Anzug zu schonen,
-damit er um so länger hielt und die Ausgaben für neue Sachen erspart
-blieben. Was sie aber Schönes oder Zierliches besaß und geschenkt
-bekam, das trug sie hinauf zu ihrer lieben Tante Ihlefeld, um dieser
-ein Lächeln oder einen freundlichen Blick zu entlocken. Jeden Morgen
-stellte sie frische Blumen auf den Tisch des Wohnzimmers, brachte
-die blühenden Pflanzen, welche ihr Fenster schmückten, hinauf in das
-Stübchen der Wittwe, und immer fand sie irgend eine kleine Gabe, welche
-sie mit dem Frühstück auf den Tisch stellte. Den weichen Lehnstuhl
-ihrer verstorbenen Mutter setzte sie in Frau von Ihlefelds Fenster, und
-ihren eigenen zierlichen Nähtisch davor. Gestickte Kissen und Fußbänke,
-ihren kleinen Teppich und ihre feinsten Gardinen, alles brachte sie
-herbei, die Wohnung freundlich auszuschmücken, und selbst ihr zahmer
-Kanarienvogel erhielt dort am Fenster sein Plätzchen und zwitscherte
-der traurigen Frau seine fröhlichen Lieder zu, als wollte er auch
-helfen ihre trüben Gedanken zu verscheuchen.
-
-Frau von Ihlefeld dankte Esther für diese liebende Sorge mit
-wehmüthigem Lächeln und thränendem Auge. In der ersten Zeit, welche
-ihrem Unglück folgte, war sie wie betäubt von dem entsetzlichen Schlage
-und unfähig, für sich selbst zu denken und zu sorgen. So wurde Esthers
-Liebe für sie ein doppelter Segen. Nach und nach aber begann sie,
-selbst zu sorgen und zu überlegen, in welcher Weise sich ihre und
-ihres Sohnes Zukunft gestalten sollte. Ihr Gatte hatte ihr stets alles
-fern gehalten, was die Sorge für das tägliche Leben betraf, und hatte
-der zarten Frau nie Einblick in seine Geschäfte und Unternehmungen
-gestattet, um sie nicht zu beunruhigen. So stand sie denn doppelt
-hülflos ihrem Schicksale gegenüber. Nahe Verwandte besaß sie selbst
-nicht, und denen ihres Gatten hatte sie stets ziemlich fern gestanden.
-Jetzt jedoch wandte sie sich an dieselben, Hülfe und Rath von ihnen
-erbittend. Nun aber erfuhr sie erst, daß auch diese Verwandten durch
-den Ruin ihres Gatten bedeutende Verluste erlitten hatten und in Folge
-davon wenig geneigt waren, noch weitere Opfer zu bringen. Frau von
-Ihlefelds Stolz sträubte sich unter diesen Verhältnissen auch dagegen,
-von denen Hülfe anzunehmen, welche ihrem Gatten zürnen mußten, und
-so legte sie allein Gott ihre und ihres Sohnes Zukunft an das Herz.
-Von Esther Opfer anzunehmen, kränkte sie nicht; denn sie fühlte nur
-zu sehr, daß es einzig Liebe und Dankbarkeit war, welche diese zu
-allem antrieb, und so war und blieb das junge Mädchen nach wie vor die
-einzige Versorgerin der einst so stolzen Frau.
-
-Das Verhältniß zwischen Esther und Frau von Ihlefeld gestaltete
-sich mehr und mehr so herzlich und innig, als es unter den früheren
-Umständen nie der Fall gewesen wäre, und auch die brave Frau Booland
-hatte jetzt keinen Grund mehr, sich über den Stolz der gnädigen Frau zu
-beklagen.
-
-Um Esther doch auch etwas Freundliches zu erzeigen, unterwies Frau von
-Ihlefeld dieselbe jetzt im Französischen, was Esther bei ihrem Vater
-nicht gelernt hatte. »Man kann nicht wissen, wozu du es im Leben noch
-brauchst, mein Kind,« sagte sie, und Esther lernte mit Freuden, schon
-um ihrer Lehrerin willen.
-
-So ging die Zeit hin und auch diese Wunden schlossen sich nach und
-nach. Bertel war seit dem Unglücksfalle stiller und ernster geworden
-und hatte sich mit doppeltem Eifer dem Studium gewidmet. »Ich habe
-jetzt keine anderen Hülfsquellen mehr im Leben,« sagte er zu Esther,
-als diese eines Tages seine bleichen Wangen sorgenvoll ansah und ihm
-wegen des zu großen Fleißes Vorwürfe machte. »Aber Gott weiß,« fügte er
-düster hinzu, »ob ich überhaupt einmal studiren kann, ich habe ja kein
-Geld dazu!« Da fuhr Esther angstvoll empor und blickte Bertel in das
-Gesicht. »Es =muß= dazu da sein, Bertel,« entgegnete sie fest. Bertel
-sah gedankenvoll vor sich nieder. »Esther,« sagte er tonlos, »meine
-Mutter und ich nehmen jetzt schon zu viel von dir an, ich weiß, du
-entbehrst selbst dabei. Aber zum Studiren reicht es doch nicht.«
-
-»Es =muß= aber geschafft werden, Bertel, denn studiren mußt du,«
-rief Esther abermals entschieden. »Und was meine sonstigen Ausgaben
-betrifft, darüber mache dir nur keine Gedanken. Bin ich nicht deine
-Schwester, Bertel? Und würdest du nicht dasselbe für mich thun?«
-
-Bertel nickte stumm mit dem Kopfe. »Du hast recht,« sagte er nach einer
-Pause, »von niemand anderm würde ich solche Opfer annehmen, von dir
-thue ich es mit Freuden.«
-
-Esther blickte ihren jungen Freund mit glücklichem Stolze in das feine
-Gesicht. »Leider bin ich ja kein Junge wie du,« sagte sie nachdenklich,
-»und kann nicht mit dir studiren; da mußt du es nun für uns Beide thun.
-Damit ich mein Schärflein aber auch beitrage, arbeite ich nun für dich,
-dann habe ich doch auch meinen Antheil an deinem Ruhme. Und habe nur
-keine Angst, ich werde schon die Mittel finden, wenn die Zeit da ist,
-wo du studiren sollst.«
-
-Bertel war von jeher so daran gewöhnt, Esther in allen praktischen
-Dingen für sich eingreifen zu lassen, daß er auch jetzt sich
-vertrauensvoll aller weiteren Sorgen entschlug. Schon als kleines
-Mädchen hatte sie dem Knaben alles abgenommen, was ihm unbequem oder
-lästig war; denn dem kleinen Gelehrten hatten alle praktischen Dinge
-von jeher schon Schwierigkeiten bereitet, und die rührige Esther griff
-überall zu. War für die Stunden ein Buch zu heften, oder Tafelstifte
-zu spitzen, Tinte einzugießen oder Linien zu ziehen, immer war Esther
-die geschäftige Martha. Und wenn sie dann beim Spiel in Wasser oder
-Koth gerathen waren, oder beim Klettern und Haselnüssesuchen sich das
-Haar zerzausten, so wußte Esther immer rasch dem Uebel abzuhelfen. Denn
-wenn sie selbst auch an Tante Booland eine gar nachsichtige Erzieherin
-hatte, so fand doch Bertel mit beschmutzten Kleidern oder wüstem
-Aussehen weniger gute Aufnahme bei seiner Mutter. »Esther wird schon
-helfen,« das war Bertels Trostspruch in allen Verlegenheiten seiner
-Kindertage, und »Esther wird schon helfen,« so hieß es auch jetzt,
-das verstand sich ganz von selbst, darüber brauchte Bertel sich keine
-Sorgen zu machen.
-
- * * * * *
-
-Esther stand nach diesem letzten Gespräch lange am Fenster und war
-in tiefe Gedanken verloren. Als Kind hatte sie nie viel Worte darum
-gemacht, wenn sie Bertel die kleinen Sorgen abnahm, sondern eben
-einfach zugegriffen. Auch jetzt galt es, nicht erst lange mit ihm zu
-überlegen, wie sie ihm helfen sollte. Genug, daß sie es versprochen
-hatte. Es war Dämmerstunde und die Abendglocke läutete im Dorfe. Esther
-trat mit Hut und Tuch unter die Hausthüre und sagte zu Frau Booland,
-welche erstaunt fragte, wohin sie denn gehe: »Ich will der Frau
-Pastorin eine Probe des neuen Gestrickes bringen, Tante, ich komme bald
-wieder.« Und rasch eilte sie die Dorfstraße hinab dem Pfarrhause zu.
-
-Der neue Prediger von Rahmstedt war ein freundlicher, leutseliger Mann,
-der sich Esthers sowohl, als der unglücklichen Frau von Ihlefeld sehr
-thätig angenommen hatte. Auch seine Frau war herzlich und liebevoll
-zu Esther, und mit Frau Booland hatte sie sogar innige Freundschaft
-geschlossen. Gern weilte das junge Mädchen denn auch jetzt noch in
-dem ihr so theuren Pfarrhause. Auch die Kinder Pastor Krauses, zwei
-Knaben und ein Mädchen, hingen mit großer Liebe an Esther und empfingen
-dieselbe immer mit lautem Jubel; denn das junge, heitere Mädchen
-verschmähte es nicht, sich ihnen in Garten und Wald zu lustigen Spielen
-anzuschließen.
-
-Als Esther heute Abend das Pfarrhaus betrat, sagte sie der Frau
-Pastorin und den Kindern nur flüchtig guten Abend und eilte auf das
-Studirzimmer des Pfarrers. Die kleine Studirlampe brannte schon auf dem
-Schreibtische, der Geistliche aber ging in Gedanken verloren in seinem
-Zimmer auf und ab.
-
-»Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie störe, Herr Pastor,« sagte Esther
-eintretend, »aber ich möchte Ihnen heute eine große Bitte vortragen,
-die ich nicht aufschieben darf.«
-
-»Bitte, meine liebe Esther, sprechen Sie, Sie stören mich nicht,«
-entgegnete der Pfarrer freundlich, indem er des jungen Mädchens Hand
-ergriff und sie nach dem Sopha führte, wo er sich erwartungsvoll neben
-sie setzte.
-
-»Lieber Herr Pastor,« sagte nun Esther etwas zaghaft, »Sie sagten mir,
-daß Sie bald einige Knaben erwarten, die Sie mit Ihren Söhnen erziehen
-und unterrichten lassen wollen. Haben Sie für diese schon einen Lehrer
-engagirt?«
-
-»Nein Esther, noch nicht bestimmt, ich bin noch in Unterhandlung mit
-einem jungen Manne. Aber warum? Wollten Sie mir vielleicht einen
-vorschlagen?« entgegnete der Pfarrer.
-
-»Ja, Herr Pastor, das wollte ich allerdings und zwar mich selbst!«
-sagte Esther erröthend.
-
-»Wie, Sie selbst, liebe Esther? Wie soll ich das verstehen?« erwiederte
-Jener lächelnd.
-
-»Sie wissen vielleicht, daß mein Vater mich im Lateinischen und
-Griechischen, sowie in den Wissenschaften sehr sorgfältig unterrichtet
-hat,« sagte Esther nun muthig aufschauend. »Ich bin genöthigt, mir
-jetzt Geld zu verdienen, und durch Unterricht vermöchte ich das doch
-wohl am besten. Aber bei Mädchen könnte ich nicht Erzieherin oder
-Lehrerin werden; alte Sprachen lernen diese nicht, neue Sprachen aber
-sind mir fremd, und diese werden von einer Erzieherin gefordert. Knaben
-jedoch kann ich das lehren, was ich gelernt habe. Deshalb kam mir der
-Gedanke, mich Ihnen als Lehrerin anzubieten, vielleicht versuchen Sie
-es mit mir. Geht es nicht, so ist ein Wechsel ja bald gemacht. Sie
-würden mich unendlich glücklich machen, wollten Sie den Versuch wagen,
-Herr Pastor.«
-
-Pastor Krause blickte ganz erstaunt in Esthers brennend rothes
-Gesichtchen, das sich ihm erwartungsvoll zuwandte. »Mein liebes
-Kind,« sagte er sanft, »es ist eine Riesenaufgabe, für welche Sie,
-ein Mädchen, sich melden. Abgesehen davon, daß ich bezweifle, Ihre
-Kenntnisse würden ausreichen, so ist so ein Rudel wilder Jungen kein
-Spaß; ein zartes Mädchen ist dem nicht gewachsen.«
-
-»Ich bin kein zartes Mädchen, Herr Pastor,« sagte Esther lachend,
-»mein Vater hat mich nicht nur im Unterricht wie einen Jungen erzogen.
-Ich bin eigentlich immer ein wilder Bursche gewesen und würde mit den
-Jungens sicher auskommen.«
-
-Der Prediger sah von Neuem überrascht in Esthers flammendes Auge,
-und zum ersten Male fiel ihm der feste, energische Zug auf, der auf
-ihren Lippen ruhte. Er schüttelte nun lächelnd den Kopf und sagte:
-»Ja, liebe Esther, ein solcher Lehrer muß sich aber erst einer Prüfung
-unterziehen.«
-
-»Natürlich, ich bitte dringend darum,« entgegnete Esther rasch.
-
-»Gut, so mag es gleich geschehen, liebes Kind,« rief Pastor Krause
-und holte Bücher und Schreibzeug herbei, denn die Sache fing an,
-ihn aufs Aeußerste zu interessiren. Er ließ nun Esther lesen und
-übersetzen, richtete eine lange Reihe Kreuz- und Querfragen an sie,
-ließ sich kleine Vorträge über allerlei wissenschaftliche Gegenstände
-halten, und schließlich gab er ihr einige schriftliche Aufgaben, welche
-sie zu Hause ausarbeiten sollte. Sein Gesicht nahm während dieser
-Prüfung mehr und mehr den Ausdruck freudigen Staunens an, und als
-er endlich Esther entließ, reichte er ihr die Hand und sagte ernst:
-»Sie haben mich wahrhaft überrascht, Esther. Ich weiß nicht, was ich
-mehr anstaunen soll: Ihre trefflichen Kenntnisse oder Ihren verehrten
-Lehrer. Jedenfalls kann ich wegen Ihres =Wissens= die Knaben Ihnen
-überantworten; aber wir wollen uns Beide die Sache doch noch weiter
-überlegen. Wenn Sie mir die Arbeiten bringen, sprechen wir weiter
-davon.«
-
-Aber als Esther einige Tage darauf das Studirzimmer mit ihren
-Ausarbeitungen wieder betrat, kam ihr Pastor Krause äußerst herzlich
-entgegen und sagte: »Esther, ich glaube, ich engagire Sie auf der
-Stelle. Ich habe noch viel über Sie nachgedacht und ich meine, Sie sind
-der Sache gewachsen. Alles, was ich über Sie gehört, zeigt mir, daß Sie
-ein Mädchen sind, stark an Seele und Geist, und ein solcher Lehrer ist
-einer Schaar Knaben wohl gewachsen. Sie werden schon mit den Bürschchen
-fertig werden, und im Uebrigen stehe ich Ihnen ja zur Seite.«
-
-So trat Esther denn wenig Wochen darauf ihr neues Amt im Pfarrhause
-an. Drei fremde Knaben waren mit den beiden Söhnen des Pastors ihre
-Schüler, und der Unterricht ging vortrefflich. Pastor Krause hatte
-einige Stunden übernommen, die übrigen aber gab Esther. Die Knaben
-machten zwar Anfangs große Augen zu ihrer jugendlichen Lehrmeisterin,
-bald aber bekamen sie den höchsten Respect vor ihr; denn nicht nur, daß
-sie im Unterricht eifrig und tüchtig war, sie verstand auch, die oft
-unbändigen, übermüthigen Burschen vortrefflich im Zaume zu halten.
-Gerade daß sie selbst der tollen und wilden Streiche eine solche Menge
-gemacht hatte, schärfte ihren Blick für die Streiche ihrer Zöglinge,
-die oft ganz verblüfft waren, wie schnell Esther ihre Pläne und
-Absichten durchschaute. Für sie selbst aber erschloß sich eine reiche
-Quelle der Freude durch diese Thätigkeit, und lehrend lernte sie selbst
-alles das wieder, was im Laufe der Jahre ihrem Gedächtnisse entschlüpft
-war.
-
-Und mit welch' freudigem Stolze empfing sie dann die Einnahmen, die ihr
-aus ihrer Lehrerthätigkeit erwuchsen! Mit leuchtenden Blicken zeigte
-sie eines Tages Frau von Ihlefeld ihren kleinen Schatz, den sie in
-Jahresfrist für Bertel gesammelt hatte.
-
-»Du gutes Kind, welche Opfer bringst du!« seufzte die Wittwe traurig.
-»Wenn ich selbst doch nur nicht so gänzlich aller Mittel beraubt wäre!
-Immer habe ich noch gehofft, eine alte Schuld, die mein armer Mann
-ausstehen hatte, würde noch einmal einlaufen; aber auch diese Hoffnung
-ist sicher vergebens.«
-
-»Eine Schuld, liebe Tante?« fragte Esther erstaunt. »Warum fordern Sie
-dieselbe denn nicht ein? Wer ist denn der Schuldner?«
-
-»Das ist ja eben das Unglück,« entgegnete Frau von Ihlefeld klagend.
-»Der Schuldner ist todt, und durch ein unbegreifliches Versehen
-ist der Schein verschwunden, der die Schuld bestätigt. Ein Vetter
-meines Mannes, der uns vor einigen Jahren besuchte, bedurfte zu einem
-Unternehmen eines Kapitals, das mein Mann ihm vorschoß. Ich selbst war
-dabei, als sie es in meinem Zimmer besprachen und ich sah, wie der
-Vetter die Schuldverschreibung aufsetzte. Wo dies Papier dann aber
-hingekommen ist, weiß ich nicht; mein Mann suchte oft danach, besonders
-nachdem die Nachricht vom plötzlichen Tode des Vetters eintraf. O mein
-Gott, jenes Kapital von 15 Tausend Thalern hätte meinen unglücklichen
-Mann vielleicht gerettet! Aber da der Schuldschein verschwunden war,
-hat er nicht gewagt, von dem Erben des Vetters jene Summe zu fordern.
-Und so ist alles Wünschen vergebens, das Geld ist und bleibt verloren.«
-
-»Wer ist denn der Erbe dieses Vetters, Tante?« fragte Esther. »Ein
-Kaufmann in Südfrankreich, in Nîmes glaube ich,« entgegnete Frau von
-Ihlefeld. »Er heißt Richard und ist ein Neffe unseres Vetters Etienne
-de Villemaud.«
-
-»Und Sie glauben, er wisse nichts von der Schuld?« forschte Esther.
-
-»Augenscheinlich hat der Vetter die Summe nicht als Schuld verzeichnet,
-und sein schneller Tod hat alle Mittheilungen über seine Verhältnisse
-unmöglich gemacht,« sagte Frau von Ihlefeld niedergeschlagen. »Herrn
-Richard kann niemand die Summe abfordern, der den Schuldschein nicht
-vorzeigt. Aber während wir im Wohlstand lebten, sorgte ich mich
-wegen solchen Verlustes wenig, und mein Mann hat mir bis zum letzten
-Augenblick alles verborgen gehalten, was ihn bekümmerte. Ich ahnte ja
-nie, daß mit dem unseligen Gelde so viel Glück und Frieden zu Grunde
-gehen könne.«
-
-Esther suchte das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken,
-denn Frau von Ihlefeld wurde durch solche Erinnerungen stets von
-Neuem aufgeregt. Im Stillen aber konnte sie den Gedanken an jenen
-verschwundenen Schuldschein nicht los werden. Fast das ganze Besitzthum
-der Ihlefeld'schen Familie war in fremde Hände übergegangen. Wenn
-der Schein in irgend einem Schranke oder Fache verborgen lag, so war
-er unwiederbringlich für Bertel und dessen Mutter verloren. Und doch
-welcher Besitz wäre für Bertel eine solche Geldsumme! Aber es war eine
-Thorheit, sich mit solchen Gedanken abzugeben. Wäre der Schein nur
-irgendwie zu finden gewesen, so hätte Herr von Ihlefeld in seiner Noth
-und Verzweiflung sicher alles daran gesetzt, ihn zu entdecken. Das
-Verschwinden des Scheines war eben ein Unglück wie alles andere, was
-über die Familie hereingebrochen. Es war das Beste, nicht mehr daran
-zu denken. --
-
-Jetzt bezog Hubert die Universität, und Esther übergab ihm mit
-freudigem Stolze ihre so tapfer erworbenen Schätze.
-
-»Du bist und bleibst eben mein bester Kamerad, Esther,« sagte Bertel,
-die Summe freudig annehmend. »Ich kann dir nicht besser danken, als
-indem ich alle meine Kräfte opfere, um das schöne Ziel zu erreichen,
-das mir vorschwebt. Aber nie, und wenn ich hundert Jahr alt werde, will
-ich vergessen, welche Hand es war, die mir zu dem Ziele verhalf. Ich
-weiß, mein Glück ist auch das deine, darum nehme ich deine Opfer ohne
-Zögern an. Gott segne dich für alles, was du an mir thust, Esther!«
-
-Die Einzige, die sich mit all' diesen Arbeiten, Mühen und Opfern
-Esthers nicht ganz einverstanden erklärte, war Frau Booland. Sonst
-fand sie immer alles vortrefflich, was ihr Liebling unternahm; aber
-die jetzige Thätigkeit ging doch etwas gegen ihren Sinn. »Das arme
-junge Blut quält sich da Tag für Tag mit den wilden Jungens ab, statt
-ihre Jugend in Ruhe und Freude zu genießen,« sagte sie eines Tages
-in einer traulichen Stunde zu ihrer jetzigen Freundin, der Pastorin
-Krause. »Ihre Söhne sind freilich auch dabei, liebe Pastorin, und ich
-selbst bin wohl mit daran Schuld, daß der Herr Pastor dem braven Kinde
-das Amt anvertraute; warum lobte ich sie auch immerfort so gegen ihn,
-besonders nachdem Esther sich um die Stelle bemüht hatte, und er mich
-über das Kind ausforschte. Aber lügen kann ich einmal nicht und weß
-das Herz voll ist, deß geht der Mund über. Aber jetzt geht er mir auch
-wieder über, denn mein Herz ist voll Jammer um das liebe Goldkind, das
-noch nichts als Arbeit in seinem jungen Leben kennen gelernt hat. Und
-Gott weiß, ob ihr all' ihre Mühe und Quälerei einmal ordentlich gedankt
-wird; denn wenn das Unglück die arme Frau von Ihlefeld auch ordentlich
-gebeugt hat, die gnädige Frau bleibt sie noch immer bis in die kleine
-Fußzehe hinab, und da habe ich so meine Gedanken. Estherchen ist und
-bleibt halt eben Bürgerblut, das aber erkennt =die= Frau nie für
-Ihresgleichen, und wenn das Kind noch tausend Mal mehr für sie thäte.«
-
-»Aber Hubert denkt doch nicht so, liebe Frau Booland, das sollte Sie
-trösten,« entgegnete die Pastorin.
-
-»Nein, =stolz= ist der nicht, das muß wahr sein!« sagte Frau Booland
-den Kopf erhebend. »Aber, aber, so wie er sollte, ist er doch auch
-nicht. Alles was Esther für ihn thut, nimmt er ruhig hin, als verstände
-sich das ganz von selbst so. Danken mag er ihr wohl, denn er ist ein
-lieber, weicher Junge; aber er hat keine Idee, und frägt auch weiter
-nicht danach, =was= Esther alles opfert, nur um ihm das Leben leicht
-zu machen. Das Mädchen ginge mit Freuden für ihn durch das Feuer, und
-er? Nun ja, wenn er dadurch Nutzen hätte, würde er sie auch ruhig
-gehen lassen. Lieb hat er sie, das ist gewiß; aber immer nur, wie man
-einen guten Kameraden lieb hat, und so nennt er sie ja auch immer. Die
-leidenschaftliche Liebe aber, die meine kleine Esther von Kindesbeinen
-an schon für den hübschen Jungen gehabt hat, und die jetzt wie ein
-stilles Feuer das ganze Mädchen durchglüht, davon hat der junge Herr
-keine Ahnung. Ach ich weiß es nicht, aber mir ist das Herz oft gar zu
-schwer, denke ich an Esthers Zukunft. So ein Prachtmädchen verdiente
-ein herrliches Schicksal; aber, aber, wie wird das einmal werden? Ich
-hörte neulich einige Worte, als Esther dem Bertel das Ersparte mitgab;
-es war so recht bezeichnend. »Ich weiß, Esther,« sagte Bertel, »mein
-Glück ist auch das deine, darum nehme ich deine Opfer ruhig an.«
-
-»Nun ja, =mein= Glück ist auch das =deine=! Da liegt's. Aber ob =ihr=
-Glück auch das =seine= ist? Davon schweigt die Geschichte, und erst die
-Zukunft kann es lehren.«
-
-»Legen wir alles in Gottes Hände, meine liebe Frau Booland,« sagte
-die Pastorin tröstend. Die brave Schullehrerswittwe nickte still mit
-dem Kopfe und eilte ihrem kleinen Waldhause zu, an dessen Thür sie ihr
-Goldkind, wie gewöhnlich, wenn sie ausgegangen war, freudig erwartete.
-
-Ein Jahr verstrich Esther noch in gewohnter Thätigkeit, da rief sie
-eines Tages Pastor Krause in sein Studirzimmer. »Meine liebe Tochter,«
-sagte er freundlich, »Sie haben den Ihnen anvertrauten Posten während
-der ganzen Zeit mit seltener Treue und Tüchtigkeit ausgefüllt, so
-daß Sie stolz auf Ihre Schüler sein können. Aber jetzt muß ich das
-Amt leider aus Ihren Händen nehmen, denn die Knaben sollen auf das
-Gymnasium in der Stadt, für dessen Oberklassen sie jetzt reif sind.
-Nun will ich Sie aber trotzdem doch nicht zu Athem kommen lassen,
-mein liebes Kind. Ich habe eine Aufforderung aus England erhalten,
-einen jungen Lehrer dorthin zu schicken, welcher in einer vornehmen
-Familie einige Knaben zu unterrichten versteht. Auf meine Anfrage,
-ob der Lehrer nicht ein junges Mädchen sein könnte, welches so viel
-Kenntnisse besitzt, daß sie meine Söhne zum Gymnasium vorbereitet
-hätte, erhielt ich eine Antwort, welche sich außerordentlich erfreut
-über solches Anerbieten ausspricht. Eine sehr bedeutende Summe ist der
-jungen Lehrerin zugesichert, und so ergeht denn die Anfrage an Sie,
-liebe Esther, ob Sie diese Stelle annehmen wollen. Aber freilich, eine
-Bedingung ist dabei, welche Ihnen vielleicht Schwierigkeiten machen
-wird: man wünscht, daß Sie auch fertig französisch sprechen. Doch auch
-das wird sich einrichten lassen. Die Stelle ist erst in einem halben
-Jahre anzutreten, bis dahin lernen Sie alles. Die Schwester meiner
-Frau hat eine französische Pension in Genf und wird Sie mit Freuden
-als lieben Gast bei sich aufnehmen. Den Ausfall, den Ihre Einnahmen in
-dieser Zeit erleiden, deckt die Aussicht auf baldige größere Summen,
-die Ihnen in England zufließen werden. So denke ich, sind die Wege
-gebahnt, und Sie sind mit mir zufrieden, liebe Esther. Habe ich Recht?«
-
-»O sehr, sehr, lieber, guter Herr Pastor,« rief Esther, welche jetzt
-wie aus einem Traum erwachte. Hastig ergriff sie die dargebotene Hand
-Pastor Krauses. »Verzeihen Sie mir nur, daß ich nicht augenblicklich
-mit Entzücken aufjuble,« sagte sie und eine Thräne glänzte in ihrem
-Auge. »Aber eine Trennung von meinen Lieben ist mir ein gar zu
-beängstigender Gedanke. Ich war ja noch nie auch nur einen Tag vom
-Hause fort, und nun.... Aber haben Sie Geduld mit mir, Herr Pastor!
-Ich werde schon alles in mir verarbeiten und Ihnen dann Ehre machen,
-das verspreche ich Ihnen. Jetzt aber muß ich zuerst mit Tante Booland
-sprechen, früher kann und darf ich nichts bestimmen.«
-
-Aber Frau Booland nahm die Nachricht freudiger auf, als Esther
-gefürchtet hatte. Muthig bekämpfte das brave Weib allen Jammer ihres
-Herzens, den eine lange Trennung ihr verursachen mußte, nur um Esther
-den Abschied leicht zu machen. Die Pastorin Krause hatte schon seit
-einiger Zeit geheime Besprechungen mit Frau Booland gehabt und ihr
-alle diese Pläne mitgetheilt, welche ihr Gatte Esther darlegte. So
-überraschten sie Esthers Mittheilungen denn nicht mehr, sondern fanden
-schon ein vielfach bearbeitetes Terrain vor sich.
-
-»Ich bin froh, daß du einmal ein Stückchen von Gottes schöner Welt
-sehen sollst, meine kleine Esther,« sagte Frau Booland heiter. »Hier in
-unserem Dorfe versauerst du ja ganz und gar, und Arbeit hast du hier
-wie anderswo. Die Schwester unserer lieben Pastorin freut sich schon
-auf dich, da wirst du eine schöne, vergnügte Zeit verleben, und was
-die Sache mit England betrifft, nun, gute Menschen sollen es ja auch
-sein, zu denen du kommst, sagt der Herr Pastor. Du lernst dort ein
-Bischen von der großen Welt kennen, das ist auch gut, und für alles
-andere lassen wir den lieben Gott sorgen. Deine alte Tante Booland
-wird dir dein Häuschen indessen gut versorgen, daß du jeden Augenblick
-wieder in dein warmes Nest zurückkommen kannst. Mit bösen Gedanken über
-die Trennung wollen wir uns das Herz nicht unnütz schwer machen, mein
-Goldkind; denn wir haben ja alle Beide starke Herzen und sind nicht aus
-Wachs oder aus Marzipan gemacht.«
-
-Aber Esther hatte noch eine andere Trennung zu überwinden, mit welcher
-ihr junges Herz noch viel schwerer kämpfte. Ihren Bertel sollte sie
-verlassen! Und doch war er es ja gerade, der sie hinaustrieb in die
-Welt; denn für wen sonst hätte sie diese Opfer gebracht, für wen sonst
-das friedliche Stillleben ihrer Heimath aufgeben mögen? Nur damit ihr
-junger Freund sorglos und unbekümmert seinen Studien obliegen, noch
-Jahr für Jahr ungetheilt der Wissenschaft leben konnte, ohne für sein
-tägliches Brod sorgen zu müssen, unterwarf sie sich all' diesen Dingen
-freudig und unverdrossen. Deshalb, wie sehr ihr auch das Herz blutete,
-schrieb sie dennoch einen jubelnden Brief an Bertel, der ihm alle diese
-Pläne mittheilte. Er durfte ja nicht ahnen, wie schwer ihr das Opfer
-wurde. Ein letzter Besuch Bertels vor Esthers Abreise war das Einzige,
-was sie sich von ihm erbat, und in vollen Zügen genossen Beide noch
-einmal das Glück ihres Beisammenseins.
-
- * * * * *
-
-So sagte denn Esther eines Morgens der lieben, traulichen Heimath
-Lebewohl, von ihren Freunden im kleinen Waldhause wie von Pastor
-Krauses bis zur nächsten Stadt begleitet, von wo die Eisenbahn sie gen
-Süden weiter führte. Sie war einer befreundeten Dame anvertraut worden,
-die nach der Schweiz reiste, und bald vertrieben die stets neuen
-Eindrücke, welche Esther auf dieser ersten Reise fast überstürzten, die
-Schmerzen des Abschiedes.
-
-Die großen Städte, in denen sie übernachteten, erregten ihr Staunen
-und ihre Neugierde; als sich aber endlich die hohe Kette der Alpen
-vor ihren Blicken ausbreitete mit ihren majestätischen Häuptern, auf
-denen Eis und Schnee lagerte, während saftig grüne Matten und Wälder
-die Vorberge deckten, und unzählige Ortschaften wie Spielzeug auf der
-Ebene verstreut lagen, da jubelte Esther auf vor Wonne und Entzücken,
-und ihr junges Herz gab sich rückhaltlos den Eindrücken hin, die sie
-bestürmten. Und nun gar der herrliche Genfersee, der schimmernd blau
-zu ihren Füßen ruhte, rings umkränzt von köstlichen Bergen, grünen
-Fluren und lachenden Dörfern, hoch oben alles überragend, aber die
-Jungfrau mit ihren ewigen Eisfeldern und der leichten Wolke, welche
-fast immer ihren höchsten Gipfel krönt. Es war so namenlos herrlich,
-daß Esther fromm ihre Hände in einander legte und thränenden Auges Gott
-dankte, der sie in diese Wunderwelt geleitet. Denn hier am Fuße dieser
-herrlichen Jungfrau, am Rande dieses köstlichen Sees sollte sie ja
-leben und Tag für Tag diese Wunder vor Augen haben! Welch eine Aussicht
-war dies, und wie schlug ihr das Herz bei diesem Gedanken voll Freude
-und Wonne.
-
-Genf selbst freilich, die alte Stadt mit ihren vielen engen Straßen
-gefiel Esther weniger; aber das Haus Madame Gautier's lag vor dem
-Thore mitten in einem hübschen Garten, da hatte man die schönste
-Aussicht gleich vom Fenster aus vor sich. Man empfing Esther mit großer
-Freundlichkeit, und besonders Madame Gautier war so herzlich und gut,
-als sei die neue Hausgenossin die Tochter ihrer Schwester. Eine Menge
-fröhlicher junger Mädchen umgab sie früh und spät, und diese schienen
-sich förmlich den Rang streitig zu machen, ihr Angenehmes zu erzeigen.
-
-So fühlte sich Esther denn wie in eine neue herrliche Welt versetzt und
-ihre Briefe, die sie nach Hause schickte, athmeten nichts als Glück und
-Behagen.
-
-Esther war bereits einige Monate im Hause Madame Gautier's und ihr
-eifriges Bestreben war, die französische Sprache möglichst schnell und
-gründlich zu erlernen. Sie machte auch bald die besten Fortschritte,
-hatte ja doch Frau von Ihlefeld schon vortrefflich vorgearbeitet,
-als sie Esther Unterricht ertheilte, dem das junge Mädchen freilich
-wegen ihrer anderweitigen Beschäftigungen wenig Zeit hatte widmen
-können. Frau von Ihlefeld hatte Esther einige französische Bücher zur
-Lectüre mitgegeben, welche sie aus ihrem einstigen Besitzthum mit sich
-genommen, und Esther war erfreut, so gute Fortschritte zu machen, daß
-sie diese Bücher bald selbständig lesen konnte. Eines Tages wagte sie
-sich sogar an Gedichte und griff nach einem Buche, das längst schon ihr
-lebhaftes Interesse erweckt hatte. Es war sehr elegant eingebunden und
-von ziemlich großem Format, auf dem inneren Deckel aber standen die
-Worte: »_A son cousin Oscar de Ihlefeld Etienne de Villemaud. Auteur._«
-
-Esther kam beim Anblick dieses Namens das Gespräch wieder in den
-Sinn, das sie mit Frau von Ihlefeld gehabt hatte, und die Erinnerung
-an jenen unglücklichen verschwundenen Schuldschein. Jener Etienne
-war also Dichter und hatte dies sein Werk dem Vetter als Geschenk
-hinterlassen. Zerstreut ließ Esther die Blätter des Buches durch
-ihre Finger gleiten und überblickte die Ueberschriften der Gedichte.
-Dabei schob sich ein zusammengefaltetes Papier aus dem Buche, und
-Esther schlug es gleichgültig auseinander, irgend ein abgeschriebenes
-Gedicht vermuthend. Aber wer beschreibt ihre Ueberraschung -- das
-zusammengefaltete Papier war der verloren geglaubte Schuldschein!
-
-Esther zitterten die Kniee von dem freudigen Schreck, und lange wollte
-sie ihren Augen nicht trauen. Aber da stand ja alles, wie Frau von
-Ihlefeld es ihr mitgetheilt: Oscar von Ihlefeld, Besitzer vom Rittergut
-Rahmstedt, hatte am 6. Mai 18.... an Etienne de Villemaud eine Summe
-von fünfzehntausend Thalern übergeben; die Zinsen sollten zum Kapital
-geschlagen werden. Unterzeichnet war der Schein von den beiden Vettern
-und alles in voller Ordnung und Richtigkeit.
-
-Wahrscheinlich lag das Buch als Geschenk Etienne's auf dem Tische, und
-Herr von Ihlefeld hatte in Gedanken den Schein da hinein gelegt, als er
-ihn in sein Zimmer trug; denn Frau von Ihlefeld sagte ja, die Sache sei
-in ihrer Gegenwart und ihrem Zimmer verhandelt worden.
-
-O welch ein Fund war das! Und wie gut, daß der Schuldschein bis jetzt
-verborgen gewesen, sonst wäre das Geld sicher auch noch verloren
-gegangen wie alles andere. Nun hatte ja alle Noth und Sorge ein Ende!
-Nun konnte Bertel studiren und reisen nach Herzenslust, wie er so
-sehnlich wünschte, und die arme Frau von Ihlefeld sah nun wieder
-bessere Tage. Esther schwindelte der Kopf von der Fülle der Gedanken,
-und lange saß sie sinnend und Pläne schmiedend an ihrem Fenster. Zum
-erstenmale schaute ihr Auge theilnahmlos auf die wunderschöne Welt,
-die sich vor ihr ausbreitete, und ihr Herz jubelte nicht auf über die
-Pracht und Herrlichkeit, in welcher die Abendsonne das stolze Haupt der
-Jungfrau umkleidete, deren Gipfel in Gluth getaucht in den glänzenden
-Abendhimmel hinein ragte, während der See zu Füßen des Berges wie ein
-rosiger Spiegel blitzte und schimmerte.
-
-»Und du, was willst du denn nun noch länger im fremden Lande, fern
-von deinen Lieben?« dachte Esther mit leuchtenden Blicken. »Nun ist
-es ja nicht mehr nöthig, Geld zu verdienen; denn nun hat Bertel ja
-mehr, als du in deinem ganzen Leben für ihn zusammenscharren könntest.
-Ade Freunde, ade Schweiz und England, nun geht's wieder heim in mein
-kleines Waldhaus, dem schönsten Orte der Welt trotz Alpen und Gletscher
-und Seen.«
-
-Eben wollte sich Esther an den Schreibtisch setzen, um einen jubelnden
-Brief nach Hause zu senden mit der herrlichen Botschaft, da trat Frau
-von Gautier in ihr Zimmer.
-
-»Meine liebe Esther,« sagte sie dann freundlich, »obwohl Sie mir ein
-gar lieber Gast sind, und ich Sie ungern wieder fort lassen möchte,
-so gebietet mir doch die Rücksicht auf Ihre Verhältnisse, von denen
-meine Schwester mir einiges mitgetheilt hat, Ihnen ein Anerbieten
-zu machen, welches soeben an mich gerichtet ist. Die Vorsteherin
-eines Pensionates in Süd-Frankreich, in le Vigan bei Nîmes, wünscht
-eine junge Dame für ihr Institut zu engagiren und bietet ihr sehr
-annehmbare Bedingungen. Wollen Sie diese Stelle annehmen, so erreichen
-Sie Ihren Zweck, französisch zu lernen, dort ebensogut, verdienen in
-dieser Zeit noch nebenbei etwas und lernen ein neues Land und andere
-Verhältnisse kennen, was immer ein Vortheil ist für jedermann. Aber
-besinnen freilich dürfen Sie sich nicht lange; denn schon übermorgen
-will Mademoiselle Bertin wieder abreisen und Sie dann natürlich gleich
-mitnehmen, denn für ein junges Mädchen ist eine so weite Reise allein
-nicht sehr rathsam.«
-
-Esther hatte bei den ersten Worten Madame Gautier's gleich sagen
-wollen, daß es mit ihren Plänen jetzt überhaupt ein Ende habe und
-sie so bald als möglich wieder nach Hause reisen werde. Aber als
-sie hörte, wohin sie mit jener Dame gehen sollte, da schwieg sie
-plötzlich betroffen. Das war ja wie eine Sendung vom Himmel gerade
-im entscheidenden Momente! Süd-Frankreich, Nîmes, dahin sollte sie?
-Und war es nicht gerade dort, wo jener Herr Richard wohnte, der Erbe
-jenes Etienne und jener Schuld? Wie, wenn sie diesem Winke folgte und
-in dem Orte selbst diesen Mann aufsuchte? Eine Reihe von Jahren war
-seit jener Zeit verstrichen, wenn nun der Mann nicht mehr dort lebte?
-Eine schriftliche Erfahrung konnte große Schwierigkeiten bereiten,
-während man an Ort und Stelle sicher leicht zum Ziele gelangte. Und
-wie, wenn auch dieser Mann vielleicht todt war und man wieder neue
-Personen vor sich hatte? Wie viel Zeit und Mühe war vielleicht nöthig,
-um an's Ziel zu kommen, wo persönliches Eingreifen rasch alles in
-Ordnung bringen konnte! Und besser, sie sagte erst gar nichts von der
-Auffindung des Scheines, sondern trat ihren Freunden gleich mit dem
-glücklichen Resultate entgegen. Warum ihnen erst vorher so unruhige
-Stunden bereiten, ehe sie ihr Ziel erreichen konnte? Nein, rasch ohne
-Besinnen und Zögern wollte sie mit dieser Französin reisen, rasch dort
-in Frankreich diesen Herrn Richard oder seine Erben aufsuchen und erst
-dann mit der vollen, glücklichen Lösung hervortreten. Zeit zum Fragen,
-ob sie reisen sollte, hatte sie ja auch gar nicht, d'rum lieber ganz
-schweigen, bis alles glücklich erreicht war. Dann war die Freude voll
-und ungetheilt, und wie im Triumphe wollte sie dann wieder nach der
-Heimath ziehen, beladen mit Schätzen für ihren geliebten Bertel.
-
-Ein so unerfahrenes junges Mädchen, als Esther war, konnte wohl solchen
-Plan schmieden und auf dessen glückliche Ausführung rechnen. Welches
-nun aber die Erfolge ihrer Bemühungen waren, das wollen wir weiter
-sehen.
-
-Ueber den Quai de Bergue eilten in Genf zwei Tage darauf eine ältliche
-und eine junge Dame der Messagerie zu, von wo aus die Posten nach
-Frankreich abfahren. Es war Mademoiselle Bertin und unsere Esther.
-Schon von Weitem sahen sie das hochgebaute und hochbepackte gelbe
-Gebäude, Postwagen genannt, das sie über die Grenze führen sollte.
-Die Französin traf bei der Post einen alten Herrn, Monsieur Martin,
-welcher mit ihnen reiste. Eben wollte dieser im Innern des Wagens Platz
-nehmen, als Mademoiselle plötzlich mit Schrecken bemerkte, daß ihre
-Postbillets aus Versehen Plätze auf der »Banquette« bezeichneten. Mit
-aller Lebendigkeit einer Südländerin fuhr sie auf den sie begleitenden
-Diener los, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, dieser sagte aber ganz
-phlegmatisch: »Mademoiselle wollte doch absolument heute reisen,
-andere Plätze aber gab's nicht mehr.« La banquette war allerdings
-für eine ältliche Dame ein etwas bedenklicher Sitz, denn er befand
-sich in höchster Höhe der ohnehin schon himmelhohen Kutsche. Ihrer
-Verzweiflung machte jedoch ihr alter Freund bald ein Ende; denn sehr
-froh, seinen heißen Innenplatz mit dem luftigen auf der Banquette zu
-vertauschen, kroch er vergnügt wieder aus dem Wagen heraus und überließ
-der Dame sein Billet. Nun brachte der Knecht eine hohe Leiter herbei,
-und leicht wie ein Eichkätzchen kletterte Esther die Sprossen empor,
-ihrer ehemaligen Turnkünste sich erinnernd. Langsamer folgte ihr alter
-Nachbar, und während Esther auf der schmalen Banquette sich's möglichst
-behaglich zu machen suchte, bestieg der alte Herr einen bequemeren Sitz
-zur Seite, eine Art Lehnstuhl. Vergnügt hüllte er sich in einen weichen
-Schafpelz, der auf dem Sitze lag, und der ihm bei der rauhen Herbstluft
-sehr willkommen war; er freute sich seines köstlichen Platzes. Eben
-wollten die sechs starkknochigen Pferde ihr beschwerliches Tagewerk
-beginnen, da klimmte noch ein Passagier zur Banquette empor. »_Oh, à la
-bonheur_,« rief er, sich zu dem alten Herrn wendend, »Monsieur wollen
-den Hemmschuh führen?« »Was Hemmschuh?« rief dieser verwundert. »Nun
-ja, das ist der Platz für denjenigen, der dies Geschäft übernimmt,«
-sagte der Conducteur lachend und zeigte auf die Schraube, welche der
-Alte ganz gemüthlich als Stütze für seine Arme benutzt hatte. Mit sehr
-saurer Miene wickelte sich dieser nun aus seinem warmen Schafpelze
-heraus und kletterte auf die Banquette zu Esther, die ihm herzlich
-lachend neben sich Platz machte. Dies kleine Ereigniß hatte die ganze
-Gesellschaft der Außenkutsche einander näher gebracht; denn auch der
-Postillion auf seinem Sitz zu Füßen Esthers nahm an der allgemeinen
-Heiterkeit Theil, und unter Lachen und Scherzen fuhr man über Genf's
-holpriges Straßenpflaster und überschritt endlich die französische
-Grenze. Esther war kindlich vergnügt, von ihrem hohen Sitz aus die
-herrliche Gegend gemächlich überschauen zu können, und ihr alter
-Nachbar stimmte herzlich in diese Freude mit ein, denn auch er war ein
-großer Naturfreund. Bald erzählte er Esther, er sei eigentlich ein
-geborener Deutscher, lebe aber nun schon seit vielen Jahren in Nîmes.
-
-»In Nîmes?« rief Esther hoch erfreut aus. »O kennen Sie da vielleicht
-einen Herrn Richard?«
-
-»Richard?« sagte Herr Martin nachdenklich. »Welchen Richard, mein
-Fräulein? Es giebt deren eine ganze Menge in Nîmes.«
-
-»Ich meine den Neffen eines Herrn Etienne de Villemaud, der vor einigen
-Jahren gestorben ist,« entgegnete Esther.
-
-»Hm, da kann ich wirklich nicht dienen,« sagte der Alte kopfschüttelnd.
-»Haben Sie eine Empfehlung an ihn, so bin ich gern bereit, Ihnen
-behülflich zu sein, den richtigen Richard aufsuchen zu helfen.«
-
-»O Sie sind sehr gütig,« rief Esther erfreut, »das wäre mir in der That
-sehr lieb, denn ich habe allerdings ein Anliegen an ihn.«
-
-»Ich werde Ihnen die nähere Adresse des Herrn schreiben, mein Fräulein,
-wenn Sie es mir erlauben,« sagte Herr Martin verbindlich. Esther sprach
-nochmals ihre Dankbarkeit aus und fühlte ihr Herz sehr erleichtert,
-daß sie gleich im ersten Augenblick eine Hand gefunden hatte, die
-ihr den Weg zu bahnen versprach. Voll froher Hoffnungen schaute sie
-dem Gelingen ihres Unternehmens entgegen und genoß nun mit doppeltem
-Vergnügen die so mannigfachen Freuden, welche diese interessante Reise
-ihr darbot.
-
-Ueberall, wo während der Postfahrt der Wagen hielt, umdrängte eine
-Schaar bettelnder elender Kinder die Reisenden, ihre zerfetzten Hüte
-hinhaltend mit dem Rufe: »_Charité, s'il vous plaît, charité!_«
-Esther mußte bei diesem Elend immer an die sauberen Schweizer Dörfer
-zurückdenken, die sie jetzt gesehen, und an ihr eignes freundliches
-Dorf Rahmstedt, in dem solche Armuth etwas Unbekanntes war.
-
-Der schwerfällige Postwagen brachte seine Passagiere bis zu der
-Eisenbahnstation Seyßel, und von da aus flog Esther auf Dampfesflügeln
-ihrem Ziele zu, zur Rechten die Berge des Jura, links Savoyen mit
-seinen wilden, romantischen Landschaften und verfallenen Dörfern.
-
-Die Gegend bis Lyon war unendlich schön. Das reizende Thal der Rhone
-nahm die Reisenden auf, und zu beiden Seiten erhoben sich anmuthige
-Berge. Schäumend und rauschend schoß das Wasser der Rhone neben der
-Eisenbahn hin, ihre blauen Wellen wie schwere Atlasfalten auf- und
-abrollend. Leichte Kettenbrücken schwebten hoch oben darüber, und
-auf felsigem Ufer, zackige Bergspitzen im Hintergrunde, erhoben sich
-terrassenförmig unzählige kleine Ortschaften. Es war äußerst malerisch.
-Lyon, das sie Abends erreichten, interessirte Esther lebhaft, und
-muthig durcheilte sie am Morgen vor der Weiterreise allein einige
-Straßen. Prachtvolle Läden fesselten ihr Auge, und schöne Quais, aber
-auch viel Verfallenheit; doch jedes, auch das verfallenste Häuschen,
-hatte seinen Balcon und seine Blumen. Von Lyon ab wurde die Landschaft
-lieblicher: Maulbeerbäume mit ihrem frischen, saftigen Grün deckten die
-Felder, echte Kastanien standen dazwischen, Weinstöcke rankten ihre
-Reben am Boden hin, wie es dort Sitte, und dunkle Cypressen erhoben
-ihre düsteren schlanken Zweige gen Himmel. Große Heerden grauer und
-schwarzer Schafe weideten zu vielen Tausenden in der Ebene, unzählige
-Maulesel hoben dazwischen ihre großen Köpfe empor, und abenteuerlich
-aussehende Hirten mit zottigen Fellen um die Schulter bewachten die
-Heerden. In der Gegend von Avignon erinnerten zahlreiche Ruinen an die
-ehemalige Herrlichkeit dieser Gegenden. Esther hätte wohl gewünscht,
-hier weitere Ausflüge in die Umgegend machen und sich dies interessante
-Stück Land näher ansehen zu können; aber ihre Begleiterin drängte zur
-Weiterreise. Sie fuhren den ganzen Tag immer weiter in das Land hinein,
-bis endlich am Abend Nîmes erreicht war. Wie gern wäre Esther mit dem
-freundlichen Herrn Martin gegangen, der sich hier von ihnen trennte;
-ihr Herz klopfte freudig bei dem Gedanken, dem Manne vielleicht ganz
-nahe zu sein, den sie suchte, und wegen dessen sie eigentlich die
-ganze Reise unternommen. Aber sie hatte sich Mademoiselle Bertin
-verpflichtet, und so mußte sie mit ihr weiter. Im Vorbeigehen sah sie
-die mächtigen Trümmer einer alten römischen Arena in die Luft hinein
-ragen; die Säulen des berühmten Maisen carée warfen im Mondschein
-breite Schatten hernieder, und wundervolle Baumgänge umsäumten einen
-freien Platz, in dessen Mitte hohe Fontainen ihre Wasser im Mondlicht
-funkeln ließen.
-
-Esther eilte mit ihrer Gefährtin an all' diesem Zauber vorüber, denn
-ihr Ziel lag noch vor ihnen. Eine lange Postfahrt die Nacht hindurch
-brachte sie nach dem kleinen Städtchen le Vigan, das sie am Morgen
-erreichten. Obwohl es schon spät im November war, zeigte doch die
-warme Nacht, daß man sich im Süden befand, und Esther athmete mit
-Behagen die angenehme Nachtluft. Mit neugierigen Blicken schaute sie
-sich dann in dem Orte um, der sie aufnehmen sollte; aber der Anblick
-dieses Städtchens war äußerst wenig erfreulich. Die Lage des Ortes
-zwar war höchst romantisch zwischen Felsen und Bergen; aber die Stadt
-selbst hatte graue, düstere, steinerne Häuser, viele davon elend
-und verfallen. Schweine und anderes Vieh trieb sich in den Straßen
-umher, und der Haupteindruck des Ganzen war überall Armuth, Koth und
-Verfallenheit. Es war Sonntag und die Straßen wenig lebhaft; aber als
-die Postkutsche hielt, sah Esther, daß eine ganze Schaar junger Mädchen
-und Kinder den Wagen umringten.
-
-Kaum hatte Madame Bertin den Fuß an die Erde gesetzt, so wurde sie
-mit lautem Jubel von dieser Schaar begrüßt, und es war gar kein Ende
-zu finden mit Küssen und Umarmungen. Esther stand still zur Seite und
-betrachtete sich voll Staunen diese Welt, in die sie eintreten sollte;
-denn es waren in der That die Pensionairinnen Madame Bertin's, die sie
-hier vor sich sah. Aber welch ein Anblick! Welch ein Schmutz und welch
-ein Gelumpe unter diesen jungen Mädchen, und das sogar am Sonntage!
-Ueber großen Reifröcken elende, schmutzige Kleider, zerrissene Schuhe
-an den Füßen, die im Straßenkothe umherhüpften, daß das Wasser hoch
-aufspritzte, und auf dem schwarzen, wirren Haar wunderliche Mützchen
-von unaussprechlicher Unsauberkeit. Dabei aber die niedlichsten
-Gesichterchen mit feurigen schwarzen Augen, lachenden Mäulerchen und
-blendend weißen Zähnen, und alle graziös und zierlich, vergnügt und
-glückselig, als feierten sie das herrlichste aller Feste.
-
-Esther wurde nun vorgestellt und gleich mitten im Straßenkoth von
-all' den schmutzigen jungen Wesen so herzlich umarmt und geküßt, als
-wäre sie eine liebe, alte Bekannte. Es kostete Esther eine wahrhafte
-Ueberwindung, die Arme dieser kleinen, unsauberen Mädchen und diese
-schmutzigen Hände mit den schwarzen Nägeln nicht von sich zu stoßen,
-und lächelnd mußte sie ihrer guten Tante Booland gedenken, welcher ein
-einziger Riß oder Schmutzfleck in Esthers Kleidern schon so großes
-Entsetzen erregt hatte. Was würde sie wohl zu dieser jungen Schaar
-sagen! Aber trotz alledem mußte man diesen lustigen, gutherzigen
-Kindern gut sein, und getrosten Muthes folgte ihnen Esther nach der
-Wohnung Madame Bertin's.
-
-Aber auch hier war der Eindruck: Schmutz und Verfall wohin man
-blickte. Hinter einer zerbröckelten Mauer versteckte sich ein altes
-steinernes Gebäude, in dessen unteren Räumen die Pensionsanstalt sich
-befand. Steinerne von Schmutz bedeckte Fußböden in allen Zimmern,
-finstere verwahrloste Kamine, Spinneweben an den lichtlosen Fenstern,
-und unbehaglich düstere Möbel überall -- das war der Anblick, der
-sich Esther beim Eintritt in das Haus darbot. Nur der sogenannte
-Salon war mit rothseidenen Sophas und Fauteuils ausstaffirt, welche
-aber auch von Staub überzogen waren und sich überhaupt wohl wundern
-mochten, wie sie in diese Räume gerathen konnten. Esthers eigenes
-kleines Zimmer bestand in einem Raum, der einen Durchgang bildete für
-die ganze Pensionsgesellschaft, und außerdem vollgepfropft war von
-allem möglichen Hausgeräth, so daß es einen unsäglich unbehaglichen
-Aufenthalt bildete. Das waren denn nun freilich keine schönen
-Aussichten für Esther, die an ein behagliches Leben gewöhnt war, und
-das Herz schlug dem armen Kinde etwas bange in dieser Umgebung. Aber
-war es nicht ihr Bertel, für den sie alles zu ertragen hatte? Wie
-leicht wurde bei diesem Gedanken jede Last! Ihr frischer Jugendmuth
-erhielt bald wieder die Oberhand, und ihr Humor regte sich und half
-ihr über die tausend Unannehmlichkeiten fort, die sich ihr sonst noch
-entgegenstellten.
-
-Höchst fremdartig und unangenehm war ihr vor allem auch die
-südfranzösische Kost. Gleich am ersten Morgen sah Esther mit Staunen,
-daß das Frühstück der jungen Mädchen aus nichts bestand, als aus einer
-Scheibe harten grauen Brodes, das Einige sich am Heerdfeuer rösteten,
-und einigen Zwiebeln, Salatblättern oder Kohlrabistücken. Für Esther
-hatte man rücksichtsvoll ein unaussprechliches Gebräu aus einer Art
-Kaffee bereitet, und seufzend weichte sie ihre Scheibe gerösteten
-Brodes darin auf, zufrieden, daß sie wenigstens mit dem Genuß jener
-Zwiebeln und Kohlrabi verschont blieb. Aber beim Mittagsessen konnte
-sie sich auch diesen Freuden nicht entziehen. Einer steifen Suppe von
-Brod und Kohlrabi folgte eine Art Salat von dicken Zwiebelstücken,
-und Hammelfleisch, das außen verkohlt, innen aber ganz roh war, und
-mit dem Esther sich durchaus nicht befreunden konnte trotz ihres
-jugendlichen Appetits. Ein Beigeschmack von Knoblauch und ranzigem Oel
-umschwebte alle Gerichte; denn bekanntlich wird im Süden das Oel statt
-der Butter zur Bereitung der Speisen benutzt, und so wohlschmeckend
-solches Oel in frischem Zustande ist, so widerlich wird es in etwas
-verdorbenem, wie man es hier benutzte. In einer Pension nimmt man nicht
-immer das Beste und darf eben nicht sehr wählerisch sein.
-
-Esther aß stets mit heftigem Widerwillen, und in ihrem ersten Briefe
-an Frau Booland ergötzte sie sich damit, dieser einen südfranzösischen
-Speisezettel mit einigen für eine Deutsche grauenvollen Gerichten zur
-Disposition zu stellen. -- »Zuerst also, liebe Tante,« schrieb sie,
-»erscheint eine dicke Suppe von Weinbergschnecken mit einem Zusatz von
-Knoblauch, Oel und Brod. Dann als _entre-met_, den Appetit zu reizen,
-giebt es rohe Zwiebeln, als Fleischspeise ein Ragout von Kaninchen
-mit Cichoriensalat, und zum Dessert rohe Saubohnen und ein Dutzend
-großer, lebender Schnecken. Was meinst du zu diesen Delikatessen, mein
-Tantelchen? Wie sehne ich mich unter diesen Knoblauch- und Oelgerichten
-nach meiner lieben deutschen Kost, zu welcher ihrerseits aber die
-jungen Französinnen die Köpfe schütteln, erzähle ich ihnen davon.
-Ueberhaupt komme ich mir hier, liebe Tante Booland, vor, wie verbannt,
-und oft ist mir, als ob ich in Afrika unter den Wilden wäre, denn ich
-lerne die wunderbarsten Zustände hier kennen. Die kleine Schaar hier
-ist so unreinlich, so ungebildet, so wild und fremdartig, wie ich mir
-nie junge Mädchen gedacht hätte. Freilich sind hier in dieser Pension
-keine Kinder aus feinen Häusern; in vornehmeren Erziehungsanstalten
-mag es ganz anders sein, und ich bedauere, daß ich so schlimm ankommen
-mußte. Bei uns hier sind meist Töchter von Bürgern, Handwerkern und
-Weinbauern, die alle keine Ansprüche an eine Erziehung machen, wie
-wir sie gewöhnt sind, denn wie viel wohlerzogener und gebildeter sind
-Mädchen solchen Standes bei uns in Deutschland. Ich weiß oft nicht,
-über was ich mehr staunen soll: ob über diese verwahrlosten Kinder
-oder über diejenigen, die sie erziehen und belehren; denn deren
-Bildung und Lebensweise läßt eben auch gar viel zu wünschen übrig. Die
-ganze Mädchenschaar von einigen 30 solcher lebendigen, plappernden,
-schwarzbraunen und unsauberen Geschöpfchen sehr verschiedenen Alters,
-hat meist in einer einzigen Klasse Unterricht, jedoch in zwei
-Abtheilungen, und da kannst Du Dir nun eine Vorstellung von diesem
-Unterricht machen! Auf einer Seite des Saales spreche ich auf die
-kleinen, unruhigen Geister ein, auf der andern ein Lehrer; aber wie
-wenig da wirklich verstanden und gelernt wird, ist begreiflich. Es
-kommt aber hierauf auch herzlich wenig an, wie mir scheint; über
-Elementarkenntnisse kommen diese Kinder sicher nie weit heraus, man
-verlangt das aber auch gar nicht. Sobald sie die Pension verlassen
-und nach Hause zurückkehren, arrangirt man eine Heirath für sie,
-und wozu nützen dann noch die Kenntnisse? Das Wissen scheint einer
-solchen kleinen Französin erstaunlich unnützer Ballast für das Leben.
-Wenn sie nur recht munter zu plaudern und zu lachen versteht und sich
-recht graziös und zierlich bewegt, mehr verlangt niemand von ihr.
-Aber freilich, von dieser Anmuth und Grazie der Bewegungen, dieser
-steten verbindlichen Freundlichkeit, dieser ewigen und unverwüstlichen
-Heiterkeit haben wir steifen, groben, ernsthaften Norddeutschen
-keinen Begriff, und so sehr mein Herz sich oft empört über diese
-unbeschreiblichen Zustände, immer wieder versöhnt mich die hinreißende
-Liebenswürdigkeit dieser Kinder des südlichen Frankreichs. Du solltest
-nur einmal sehen, liebste Tante, mit welcher unnachahmlichen Grazie
-unsere doch schon ältliche Mademoiselle Bertin bei dem Dîner an der
-Spitze der Tafel präsidirt. Für Jeden hat sie ein Lächeln, ein
-verbindliches Wort, eine gefällige Handreichung. Anmuthig erfaßt sie
-mit ihren höchst unsaubern Fingern ihr Glas, noch anmuthiger führt sie
-es an den ewig lächelnden, ewig freundlich plaudernden Mund, und mit
-reizender Grazie reicht sie hier einem Kinde süß lächelnd ein Stück
-des schauerlich harten Brodes, dort einem andern einen winzigen Bissen
-verkohlten Cotteletts, als seien es seltene Kostbarkeiten. Am Ende des
-wundervollen Mittagmahles säubert sie voll lächelnder Anmuth mit ihren
-Lippen Gabel, Messer und Löffel, die sie alsdann in ihre Serviette
-einwickelt; die ganze Tischgesellschaft thut das Gleiche, und bei der
-nächsten Mahlzeit benutzt man diese also gereinigten Geräthschaften von
-Neuem, ohne jemals eine andere Säuberung für nothwendig zu halten! --
-Und wie spaßhaft sehen alle diese jungen Mädchen aus mit ihren großen
-weißen oder schwarzen Mützen auf dem Kopfe! Sie sind nämlich viel zu
-träge, sich täglich ihr Haar zu kämmen und zu flechten, das geschieht
-höchstens ein Mal in der Woche; die übrigen Tage steckt man die wirren
-schwarzen Flechten und Locken unter eine solche Mütze, die deckt alles.
-Aber wie sieht die aus! Würdig des ganzen Anzuges! Als ich mir am
-ersten Morgen Gesicht und Nacken in frischem Wasser badete, sah meine
-junge Stubengenossin mich ganz erstaunt an und sagte: »Waschen Sie sich
-immer so, Mademoiselle?« »Natürlich, Louison,« erwiederte ich, »thun
-Sie es denn nicht auch?« »_O mon dieu non!_« rief sie ganz entsetzt
-aus, »ich würde sicher den Tod davon haben!« Und wirklich sah ich nun,
-daß sie nur eben die Zipfel eines Tuches in's Wasser tauchte und sich
-die Augen damit anfeuchtete, das war die ganze Wäsche. Daß man sich
-auch Mund und Zähne reinigt, daß Nagel- und Kleiderbürsten existiren
-und benutzt werden, daß Seife schmutzigen Händen ein Bedürfniß ist,
-alles das sind Dinge, welche nicht zur Kenntniß dieser jungen Mädchen
-gehören. Und doch wäre in diesem Lande, wo der Sommer so heiß und lang
-ist, Reinlichkeit ein doppeltes Bedürfniß. Ich sehne mich ordentlich
-danach, einmal einen Blick in andere Pensionen und andere Häuser zu
-thun; denn unmöglich kann doch solche Unsauberkeit allgemein verbreitet
-sein. Was ich jedoch hier in dem kleinen Orte sehe, gleicht freilich
-alles mehr oder weniger unserer theuren Pensionsanstalt! Aber wenn
-ich nun an den Menschen und deren Sitten auch vieles anders wünsche,
-wie köstlich ist dafür die Natur, die mich umgiebt! Ein so entzückend
-schönes Thal, wie das ist, in dem unser altes kleines Städtchen liegt,
-kann man so bald nicht wieder finden. Von den Bergen rauschen frische
-Quellen hernieder und bilden tausend kleine Cascaden; das üppigste
-Grün, durchzogen von blühenden Büschen und Bäumen, deckt trotz der Nähe
-des Winters noch überall Höhen und Tiefen, und von einzelnen nackten
-Felsspitzen schauen prächtig zerfallene Ruinen herab in das Thal, von
-ehemaliger Größe und Herrlichkeit erzählend. Pflanzen, von denen wir
-kleine Zweige zu Hause als kostbare Schätze im Fenster stehen haben,
-blühen und wuchern hier als riesige Büsche und Sträucher, und was
-üppiger Pflanzenwuchs ist, davon habe ich jetzt erst einen Begriff
-bekommen. Wie würdest Du, beste Tante, die Du die Blumen so liebst,
-Dein Herz erfreuen an all' den köstlichen Gewächsen, welche mich hier
-umgeben und welche die Verfallenheit und Unsauberkeit so reizend
-verhüllen, daß man beinahe mit derselben ausgesöhnt wird.« --
-
-So verstand es Esther, die Augen für das Schöne zu öffnen, das sie
-umgab, und für die unerquickliche Existenz, in welche das Schicksal sie
-geführt, sich möglichst reiche Entschädigung zu suchen. Ihr heiterer
-Sinn erfreute sich mehr und mehr an der Liebenswürdigkeit ihrer
-Umgebung, und die lustige junge Schaar hing bald mit feuriger Verehrung
-an der neuen Lehrerin.
-
-Mit sehnsüchtiger Erwartung hoffte Esther von Tag zu Tag auf eine
-Nachricht von Herrn Martin aus Nîmes; aber Woche auf Woche verging
-und noch immer kam kein Brief. Esther glaubte, der alte Herr werde
-sein Versprechen wohl vergessen haben, und es werde ihr nichts übrig
-bleiben, als die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Dazu aber mußte
-sie das Weihnachtsfest abwarten, wo einige Tage Ferien den täglichen
-Unterricht unterbrachen und ihr eine Reise nach Nîmes ermöglichten. Da
-aber brachte der Briefträger ihr eines Morgens doch noch den sehnlich
-erwarteten Brief, und erwartungsvoll öffnete Esther denselben. Ihr
-alter Freund schrieb ihr sehr verbindlich und freundlich und bat um
-Verzeihung, daß er sie so lange auf Nachricht habe warten lassen; aber
-er sei durch Krankheit verhindert worden, sein Versprechen zu erfüllen.
-Nun freue er sich, ihr über den betreffenden Herrn Richard Bescheid
-sagen zu können. Derselbe sei Kaufmann und habe vor Jahr und Tag eine
-überseeische Reise angetreten. Wann er von derselben zurückkommen
-werde, sei ungewiß, wahrscheinlich im kommenden Frühjahr. Da der Herr
-unverheirathet sei und auch keine sonstigen Anverwandten in Nîmes habe,
-bedauere Herr Martin, nichts Genaueres weiter über ihn erfahren zu
-können.
-
-Diese Nachricht war für Esther sehr betrübend. Alle ihre schönen Pläne,
-Hoffnungen und Wünsche schienen für jetzt scheitern zu sollen; denn
-wenn derjenige, von dem Esther die Schuld einfordern wollte, fern war,
-und niemand weder seinen Aufenthalt noch die Zeit seiner Rückkehr
-angeben konnte, so war ja alles vergebens. Selbst wenn sie Frau von
-Ihlefeld von der Auffindung des Scheines sagen wollte, erreichte
-sie damit weiter nichts, als diese unnöthig aufzuregen, denn in der
-Ferne hätte dieselbe ja noch weniger wirken können. Esthers hatte
-doch wenigstens noch immer die Hoffnung, daß Herr Richard während
-ihres Aufenthaltes in Frankreich zurückkommen würde. Sie prüfte
-lange, was das Beste sein möchte, und sehnlichst wünschte sie, sich
-mit jemand berathen zu können. Nach reiflicher Ueberlegung war sie
-entschlossen, ruhig in ihrer jetzigen Stellung zu bleiben und ihr
-Geheimniß wie bisher für sich zu behalten, bis sie dennoch vielleicht
-bald mit dem glücklichen Resultat vor ihre Lieben hintreten konnte.
-Das Opfer, welches sie brachte, war groß; denn die Existenz, in der
-sie auszuharren beschloß, wurde mit dem herankommenden Winter immer
-unerfreulicher. Frühe Kälte und sogar Schnee kamen Mitte December
-über die Berge gezogen und machten sich in dem kleinen hochgelegenen
-Städtchen, das im Sommer seiner kühlern Temperatur wegen als angenehmer
-Aufenthalt besucht wurde, ziemlich unangenehm fühlbar. Und man litt in
-diesen Gegenden vielmehr durch die Kälte, als im Norden, wo man sich
-dagegen zu schützen versteht. Aber hier besonders, in dieser wüsten
-Pensionsanstalt, wurde der Aufenthalt durch Kälte und Schnee fast
-unerträglich. Die steinernen Fußböden, durch keinen Teppich geschützt,
-waren ohnehin schon kalt wie Eis; aber mit ihren dicken Holzschuhen,
-Sabots genannt und wie kleine Kähne gestaltet, trugen die unruhigen
-Füße der quecksilberigen jungen Schaar unablässig alle Nässe und allen
-Schnee von Hof und Straße mit herein, so daß der Fußboden sich binnen
-Kurzem in einen wahren Sumpf verwandelte. Keine Thüre schloß und kein
-Fenster hielt Wind und Kälte ab, und wenn es dem schwarzen Kamin auch
-wirklich endlich gelungen war, nach unsäglichem Rauchen und Qualmen
-etwas Wärme um sich her zu verbreiten, der erste Windstoß warf diese
-oder jene Thür wieder auf, und aus dem offenen Hausflur strömte dann
-die ganze Winterkälte wie im Triumphe herein, denn niemand beeilte
-sich, ihr den Eingang wieder abzuschneiden. Besonders wenn der Mistrâl
-wehte, ein Wind, der dort heimisch und von markdurchdringender Schärfe
-und Intensität ist, wußte man sich mitten im Zimmer und selbst im Bett
-kaum zu retten vor Zugluft und Unbehagen. Dieser Wind dauert stets
-mehrere Tage, der Himmel ist dabei tiefblau und die Sonne blitzend,
-aber die Luft von einer Schärfe, daß nichts vor ihrem Eindringen
-schützt, und Thüren und Fensterrahmen Spalten bekommen, so trocknet der
-Wind sie aus.
-
-Aber so sehr Esther durch diese Zustände litt, die muntern Französinnen
-ließen sich dadurch wenig aus ihrer guten Laune bringen, und wenn der
-Wind recht eisig durch Thür und Fenster pfiff, dann trappelten sie
-desto lustiger mit ihren hölzernen Sabots auf dem steinernen Fußboden
-umher, daß man meinen konnte, eine Schwadron Cürassire komme über das
-Steinpflaster geritten. Es war ein unaussprechlicher Spectakel; aber
-den lebendigen Kindern machte das gerade Vergnügen. Gut, daß Esthers
-Nerven von solider Stärke waren, sonst hätte sie diesen Lärm und dieses
-Treiben nicht lange ertragen. -- So kam das Weihnachtsfest heran, und
-Esther's Herz übermannte jetzt eine so unsägliche Sehnsucht, daß sie
-all' ihrer tapfern Entschlossenheit bedurfte, um nicht die Flinte in
-das Korn zu werfen und auf und davon zu gehen, der lieben Heimath
-wieder zu, mit den Ihren das schönste aller Feste zu feiern. Hier in
-Frankreich hatte man keine Idee von der Feier des Weihnachtsfestes, wie
-Esther es kannte; Geschenke gab man sich am Neujahrstage, aber ohne
-besondere Festlichkeit.
-
-Der Arzt der Pension, dessen Frau eine Deutsche war, hatte sich sehr
-freundlich gegen Esther bewiesen und das junge Mädchen durfte diese
-Familie zuweilen besuchen. O wie athmete sie hier auf in dieser
-sauberen, geordneten Häuslichkeit, und hier fühlte sie erst, wie leicht
-man bei verständiger Vorsorge den dortigen Winter ertragen konnte, der
-trotz Mistrâl doch unendlich viel milder war als ein deutscher. Von
-dieser Familie wurde Esther eingeladen, das Weihnachtsfest mit ihnen
-zu feiern, und freudig folgte das junge Mädchen dieser Aufforderung.
-Am Nachmittage schon machte sie sich auf den Weg, und bei köstlich
-warmem Sonnenschein, wie er in der Heimath etwa im Mai die Erde wärmt,
-durcheilte sie die Straßen. Ihr Weg führte sie durch einen großen
-öffentlichen Garten, auf dessen Terrassen eine Menge Frauen bei ihrer
-Spindel saßen, gerade wie im Sommer, die Kinder zu ihren Füßen spielend.
-
-Aber wie köstlich war auch noch alles grün trotz Winter und Schnee!
-Ueppiges Moos deckte überall die ruinenhaften Mauern, saftig grüne
-Wiesen zogen sich weithin, Cypressen und Lorbeer und immergrüne
-Eichen standen mit vollem Laube in dichten Gruppen, Oliven mit ihrem
-matten Grün breiteten sich dazwischen aus. Eine Menge wundervoller
-fremdartiger Bäume wölbten ihr Laubdach über Esther, von denen
-besonders einer mit brennend rothen Früchten ihr Auge entzückte, man
-nannte ihn Arbousier. Dichte Hecken von hohem Oleander und in weißen
-Dolden blühenden Gewächsen zogen sich ringsum, üppige Schlingpflanzen
-rankten sich hernieder, und überall blühte die Monatsrose in Fülle,
-von Veilchen, Narcissen, Tazetten und tausend anderen Blumen umringt.
-Es war eine Pracht und ein Reichthum in der Natur, daß Esthers
-Herz laut jubelte und sie sich nicht satt sehen konnte an all' dem
-Schönen. Wie herrlich mußte diese Natur erst im Frühjahr sein, wenn am
-Weihnachtsabend, mitten im Winter, schon alles in dieser Weise blühte
-und duftete!
-
-Die Doktorin empfing Esther mit großer Herzlichkeit, und das junge
-Mädchen verlebte den Abend so angenehm, daß ihr Heimweh fast gänzlich
-Abschied nahm. Mit Jubel begrüßte sie eine schöne grüne Tanne, den
-lieben nordischen Weihnachtsbaum, der in vollem Lichterglanze ihr
-entgegenlachte, als wäre sie zu Hause in ihrem trauten Waldhause. Man
-hatte den Baum in eine riesige Vase gepflanzt, und statt der Aepfel
-lachten goldene Apfelsinen aus dem grünen Laube. Eine dicke Guirlande
-von frischen rothen Rosen, die man am Morgen im Weinberge gepflückt,
-zog sich um den Rand der Vase; hohe silberne Candelaber waren mit
-Gewinden von Lorbeer und Oleander umschlungen und durch Rosenketten
-verbunden, und an diesen Guirlanden wie an dem Tannenbaum hing eine
-Menge buntes Zuckerwerk und silberne und goldene Kugeln. Es war ein
-reizender Anblick. Für Esther lagen einige hübsche Geschenke unter dem
-Baume, und als beste Gabe ein dicker Brief aus der Heimath, den der
-Doktor heimlich dem Briefträger abgenommen hatte. Esthers Dank und
-Freude war namenlos, einen so herrlichen Weihnachtsabend hätte sie
-nimmer in der Fremde erwartet, und diese Freude stärkte sie wieder für
-all' die vielen unangenehmen Tage, welche noch vor ihr lagen.
-
-Unter wenig erfreulichen Verhältnissen, in welche Esther ihr Geschick
-geführt, verging der Winter, und ein Frühjahr kam herbei, so warm und
-wonnig und so reich an Blüthen und Düften ringsum, daß Esther alles
-Ungemach vergaß und mit vollem Herzen diese Zauberwelt genoß. Sie
-schrieb glückselige Briefe an ihre Lieben in der Heimath, bei denen
-der Winter noch mit all' seinen rauhen Lüften und mit Kälte und Schnee
-regierte, während es rings um Esther schon blühte und duftete.
-
-Als dann aber auch in Deutschland das Frühjahr gekommen war, da brannte
-die Sonne schon so heiß und sengend auf die Fluren hernieder, in denen
-Esther umherwanderte, daß sich diese gar oft ihren nordischen Himmel
-herbei wünschte.
-
-Mit dem Frühjahr sollte sich ja vielleicht Esthers Hoffen und
-Harren belohnen, so glaubte sie sicher, und ihr alter Freund hatte
-ihr versprochen, sobald er Kunde über die Rückkehr Herrn Richard's
-erhalten könne, wolle er sie sogleich benachrichtigen. Aber Woche um
-Woche verging abermals, und kein Brief kam. Die warmen Frühlingstage
-verwandelten sich in heißen Sommer, unter dessen sengender Sonnengluth
-alles verdorrte und verbrannte, so daß statt der saftigen Fluren eine
-gelbbraune Decke sich überall ausbreitete, und Menschen und Thiere nach
-Kühlung schmachteten.
-
-Jetzt bot das eisig kalte Steinhaus, in dem Esther wohnte, allerdings
-angenehmen Schutz vor der Sonnengluth; aber doch freute sich das junge
-Mädchen, daß einige Wochen Ferien die Stunden unterbrechen sollten,
-denn sie fühlte sich oft unendlich müde und angegriffen. Das stete
-vergebliche Hoffen machte sie nervös und niedergeschlagen, sie sah
-ja, daß ihr Opfer vergebens sein und sie ohne das Geld nach Hause
-zurückkehren mußte. Sie hatte gehofft, die Erlangung dieses Schatzes
-werde ihr die Stellung in England ersparen, und sie könne wieder zurück
-in ihr Waldhaus. Nun schwand auch diese Freude; denn wenn sie nichts
-verdiente, litt Bertel Mangel und konnte nicht weiter studiren. So
-mußte sie also jene Stelle binnen Kurzem antreten; man wollte dort
-nicht länger warten, wie Pastor Krause ihr schrieb. Schon beabsichtigte
-Esther, gleich beim Beginn der Ferien nach Hause zurück zu kehren,
-da schrieb ihr Herr Martin, seine Frau wollte für einige Wochen in
-das Seebad nach Cette gehen und würde sich freuen, wenn Esther sie
-begleiten wolle. Er bitte sie, vorher für einige Tage in Nîmes ihr Gast
-sein zu wollen. Esther zögerte anfangs, dies Anerbieten anzunehmen,
-ihre angegriffene Gesundheit aber bedurfte allerdings der Stärkung
-durch Seebäder; denn neue Pflichten erwarteten sie ja, für welche sie
-eines kräftigen Körpers bedurfte. So nahm sie denn Abschied von ihren
-liebenswürdigen Pensionsgefährtinnen, die ihr trotz aller Mängel und
-Fehler herzlich lieb geworden waren, und eilte unter das gastliche Dach
-ihres guten alten Freundes in Nîmes.
-
-Hier wurde sie mit großer Herzlichkeit aufgenommen und fand eine
-angenehmere Häuslichkeit, wenn auch ein deutsches Hauswesen diese
-südlichen Zustände bedeutend an Behagen übertraf. Frau Martin war
-eine lebendige, liebenswürdige, alte Dame, und die beiden guten Alten
-machten es sich zur Aufgabe, Esther alle Sehenswürdigkeiten von Stadt
-und Umgegend zu zeigen.
-
-Es traf sich gerade, daß man einen Geburtstag in der kaiserlichen
-Familie feierte, wozu die ganze Stadt sich mit Fahnen, Guirlanden und
-Teppichen geschmückt hatte, was den Straßen einen äußerst freundlichen
-Anblick verlieh. Große Processionen durchzogen die Stadt, Abends war
-brillantes Feuerwerk und Illumination, das Schönste aber war am andern
-Tage ein Volksfest in den alten Mauern der Arena, wozu jedermann
-freien Zutritt hatte. Unser altes Pärchen führte natürlich seinen Gast
-auch dahin, und mit Staunen und Entzücken sah Esther dieses prächtige
-Schauspiel mit an. Die vortrefflich erhaltenen Ruinen der einst durch
-die Römer erbauten Arena waren jetzt von oben bis unten überdeckt von
-vielen Tausend Menschen, und jedes Plätzchen, so klein oder gefährlich
-es auch sein mochte, war besetzt. Alle diese Terrassen, Bogen, Arkaden,
-ja selbst der oberste Rand der Umfassungsmauer, alles stand gedrängt
-voll Menschen, und da war kein Stein, kein Pfeiler, der nicht seine
-interessante Gruppe aufwies. Auf einzelnen losgebrochenen Mauerresten
-standen und hingen kühne Burschen, und während ihre braunen Gesichter
-vor Vergnügen leuchteten, baumelten sie lustig mit den nackten Beinen
-über dem Abgrunde und lachten der ängstlichen Rufe und Blicke um
-sie her. Männer und Weiber, Kinder und Greise, zerrissene Bettler
-und elegante Damen, alles drängte sich dicht an einander, sitzend,
-stehend, hängend, kauernd oder liegend, wie es eben ging; aber alles
-jubelnd, schreiend, lachend und hoch oben darüber der tiefblaue Himmel,
-wie ihn eben nur der Süden aufzuweisen hat. Während unten in der
-Arena Seiltänzer und Jongleure ihre Künste zeigten, ein Luftballon
-emporgelassen wurde und bei laut kreischender Musik allerlei Tänze
-und Scherze aufgeführt wurden, wanderten auf der untersten Terrasse
-eine Menge Verkäufer umher, die Zuschauer mit Früchten und Gebäck zu
-versorgen. Mit wahrhafter Virtuosität schleuderten diese Händler ihre
-Waaren bis hoch zu den obersten Sitzen hinauf, und gelbe Citronen,
-goldene Apfelsinen, lange Weißbrode, Feigen, Pfirsiche, Stücke Melonen,
-alles flog und schwirrte durch die Luft und wurde ebenso geschickt
-aufgefangen als geschleudert. Verfehlte aber ein unglückliches Gebäck
-oder eine leckere Frucht einmal ihr Ziel und rollte in ein Gebüsch oder
-in das lose Steingeröll, dann zitterte die Luft von endlosem Jubel, und
-tausend Hände und Füße waren in Bewegung, den Schatz zu erobern. Esther
-war ganz hingerissen von dem Zauber dieses echt südlichen Festes, und
-feurig und lebendig wie auch ihr Temperament war, jubelte sie mit ihren
-französischen Nachbarn um die Wette und vergaß es vollständig, daß von
-allen Seiten der verhaßte Knoblauchgeruch sie einhüllte, und eine Menge
-höchst uncivilisirter Beine über ihrem Kopfe baumelten.
-
-Nach einigen in Nîmes froh verlebten Tagen reiste Esther in
-Gesellschaft der alten Frau Martin nach Cette ab, das prächtig am
-Gestade des Mittelmeeres sich hinzog. Von dort gedachte sie einige
-Wochen später in die Heimath zurückzukehren, und Frau von Ihlefeld dann
-selbst die Erlangung jenes Kapitals zu überlassen, da ihr diese Freude
-nicht vergönnt ward. Der Anblick des Meeres war ein neuer Genuß für
-Esther, und mit Entzücken badete sie ihre Glieder in dieser herrlichen
-Fluth. Sie fühlte sich durch die Bäder bald wunderbar gestärkt und
-belebt, und da auch das Zusammensein mit Frau Martin durchaus angenehm
-war, so freute sich Esther aus voller Seele dieser schönen Tage. Leider
-aber war Frau Martin schon nach Kurzem genöthigt, wieder nach Hause
-zurückzukehren, da ihr Mann heftig erkrankte; da sie aber hoffte, bald
-wieder nach Cette kommen zu können, blieb Esther zurück, durch die alte
-Dame den braven Hauswirthen warm empfohlen.
-
-In dieser Zeit war es, wo eine junge Dame Esthers Bekanntschaft
-erneuerte, welche schon in Nîmes in der Arena neben ihr gesessen und
-sie mehrfach angesprochen hatte. Esther freute sich, Gesellschaft zu
-haben, und obwohl sie eigentlich keinen großen Gefallen an der Dame
-fand, kam sie doch täglich mit derselben zusammen. Sie nannte sich
-Mademoiselle Lasson, war sehr heiter und gesprächig, und Esther vergaß
-in ihrer Gesellschaft alle trüben Sehnsuchtsgedanken. Dies veranlaßte
-sie, häufiger mit Mademoiselle Lasson zusammen zu sein, als sie sonst
-wohl gethan hätte.
-
-An einem herrlichen Sommerabend ging Esther auch wieder mit ihrer
-neuen Freundin am Meeresstrande spazieren, und mit ihnen noch viele
-andere Badegäste. Man hatte in der Ferne das Herankommen eines Schiffes
-gesehen, und das Einlaufen eines solchen in den Hafen war stets ein
-Vergnügen für die Fremden. Auch Esther freute sich des Anblicks, wie
-das schöne, stolze Schiff auf den Wellen daher segelte, und als dann
-die Ankommenden ausstiegen, betrachtete sie dieselben voll natürlicher
-Neugierde. Da ging einer der angekommenen Herren an ihr vorüber.
-Mademoiselle Lasson begrüßte denselben und zwar mit so lauten Worten
-und fröhlichem Lachen, daß Esther etwas scheu zurücktrat. Der Herr
-blickte auf und schien über die Begrüßung durchaus nicht erfreut; denn
-mit einem kurzen Seitenblick auf Esther ging er leicht grüßend davon.
-
-»Wer war der Herr, Mademoiselle?« fragte Esther rasch.
-
-»O, ein alter Bekannter von mir, Monsieur Richard; er schien mich nicht
-recht zu erkennen,« sagte die Dame achselzuckend.
-
-»Herr Richard?« rief Esther freudestrahlend. »Herr Richard aus Nîmes?
-Der Neffe des Herrn Etienne de Villemaud?«
-
-»Wie seine Verwandten alle heißen, weiß ich wahrlich nicht,« lachte
-Jene, »ich glaube aber, den Namen gehört zu haben. Er that diesem
-Herrn hier den Gefallen, zu sterben und ihm sein schönes Geld zu
-hinterlassen, wenn ich nicht irre. Was wissen Sie denn von diesem Kauz,
-liebe Kleine?«
-
-Esther war so aufgeregt vor Freude, Glück und Wonne, daß sie zitterte
-und ihrer Begleiterin in kurzen Worten sagte, daß es für sie von
-unendlicher Wichtigkeit sei, diesen Herrn zu treffen. »O bitte, wir
-wollen ihm schnell nacheilen, daß er nicht abreist, ehe ich ihn
-gesprochen habe!« rief sie glühend und zog Mademoiselle Lasson mit sich
-fort.
-
-»Halt, liebe Kleine, nicht so hitzig!« lachte diese und machte ein so
-sonderbares Gesicht, daß Esther verlegen stehen blieb.
-
-»Sie sind ja sehr eilig hinter dem Herrn her, der wenig von uns wissen
-zu wollen schien. Ich weiß, er kehrt hier bei einem Bekannten ein,
-da werden Sie ihn zeitig genug treffen auch ohne so große Eile. Aber
-hingehen wollen wir, da Ihnen so viel daran zu liegen scheint. Ich darf
-doch mit Ihnen gehen?«
-
-Esther dankte ihrer Begleiterin herzlich, daß sie ihr zur Seite bleiben
-und sie zu der Wohnung Herrn Richard's führen wollte. Zuerst aber
-eilte sie nach Hause, das wichtige Papier zu holen, das ihr bisher
-so viel Angst und Sorge, Hoffnung und Enttäuschung gebracht hatte.
-Ihre Begleiterin führte sie bis zu dem betreffenden Hause, dann aber
-verabschiedete sie sich, was Esther im Grunde nicht unlieb war, sollte
-doch niemand weiter von ihrem Geheimniß erfahren.
-
-Als sie Herrn Richard gegenüber stand, schlug ihr doch das Herz
-gewaltig vor banger Erwartung, besonders da jener Herr ihr sehr kalt
-und erstaunt entgegentrat und sie mit wenig freundlichen Blicken
-anschaute und nach ihrem Begehr fragte. Esther nannte ihren Namen und
-versicherte sich zuerst, daß sie auch die gesuchte Persönlichkeit vor
-sich habe; dann aber nahm sie mit zitternder Hand den Schuldschein aus
-ihrer Brieftasche und sagte: »Mein Herr, wissen Sie von dieser Schuld?«
-
-Herr Richard blickte das Blatt voll Staunen an und sagte: »Der Empfang
-der Summe ist in den Büchern meines Vetters notirt, aber kein Name.
-Ich habe bisher umsonst gewartet, daß der Gläubiger sich melden solle.
-Aber mein Fräulein, wie kommen =Sie= zu dem Schuldscheine?« Und wieder
-blickte er Esther prüfend in das glühende Gesicht.
-
-»Der Schein war seit Jahren verloren, durch einen Zufall kam er in
-meine Hände,« sagte Esther ruhig, aber unwillkürlich noch tiefer
-erröthend.
-
-»So, durch einen Zufall? Und Sie wünschen, ich soll das Geld an Sie
-auszahlen?« entgegnete der Kaufmann scharf.
-
-»Ja, natürlich wünsche ich das,« sagte Esther unbefangen.
-
-»So besitzen Sie eine Vollmacht, welche Sie berechtigt, die Summe von
-mir zu fordern im Namen des Gläubigers?« entgegnete Herr Richard.
-
-»Eine Vollmacht?« sagte Esther betroffen. »Nein, wozu bedürfte es einer
-solchen? Herr von Ihlefeld ist todt, seiner Familie aber stehe ich so
-nahe, daß Sie mir das Geld getrost ohne solche Vollmacht einhändigen
-können. Ich bin mit dem Sohne des Hauses erzogen und besitze das volle
-Vertrauen der Mutter, welcher ich mit der Ueberbringung des Geldes eine
-unerwartete Freude machen will, da sie in sehr dürftigen Umständen
-lebt. Ich habe ihr die Auffindung des Schuldscheines, den ich in
-einem Buche fand, welches sie mir geliehen, nicht mitgetheilt, um ihr
-unnöthige Unruhe zu ersparen. Mein Weg führte mich nach Frankreich, und
-so nahm ich Gelegenheit, den Erben jenes Herrn Etienne von Villemaud
-aufzusuchen, um Frau von Ihlefeld bei meiner Heimkehr das Geld statt
-des Scheines zu überreichen. Schon glaubte ich meine Hoffnungen
-betrogen, da Sie für unbestimmte Zeit von der Heimath abwesend waren;
-da führte ein günstiger Zufall mich heute in Ihre Nähe, und so ist der
-Zweck meines Aufenthaltes in Frankreich doch nicht vergebens.«
-
-Herr Richard hatte Esther's Erzählung mit einiger Ungeduld angehört;
-jetzt sagte er kalt: »Darf ich um Ihre Legitimation bitten, mein
-Fräulein?«
-
-»Mein Paß liegt in Nîmes bei Herrn Martin,« sagte Esther unbefangen,
-»ich glaubte ihn hier nicht zu brauchen.«
-
-»So?« entgegnete der Kaufmann ironisch. »Ich weiß nicht, mein Fräulein,
-über was ich mich mehr wundern soll: über Ihre Dreistigkeit, ohne
-jegliche Vollmacht und Legitimation eine solche Forderung zu stellen,
-oder über die Naivität, mir jenes Märchen zu erzählen, den Schein
-betreffend. Haben Sie in der That geglaubt, irgend jemand würde Ihnen
-ohne Sicherheit und ohne Vollmacht jene Summe auszahlen? Wer bürgt denn
-dafür, daß Sie das Geld auch den Erben bringen, da diese gar nichts
-davon wissen, daß der Schein gefunden ist?«
-
-»Mein Herr!« fuhr Esther empört auf, »wie können Sie mich so
-beleidigen? Ich bin die Tochter eines Predigers und keine Diebin.«
-
-»Wenigstens wären Sie eine sehr ungewitzigte Diebin, mein Fräulein,«
-sagte Jener trocken. »Denn ohne Vollmacht würde Ihnen schwerlich jemand
-das Geld geben, ich wenigstens bin kein solcher Thor. Aber da Sie
-glaubten, das Geld werde Ihnen ausgezahlt werden ohne Vorzeigung des
-Scheines, so entstand diese Hoffnung vielleicht schon bei Erlangung
-desselben. Gerade daß Sie der Familie so nahe standen, ermöglichte ja
-die Erwerbung jenes Papieres. Jene Dame, in deren Gesellschaft ich Sie
-soeben am Strande sah, ist eine sehr schlechte Empfehlung für Ihre
-Solidität und Ehrlichkeit, mein Fräulein. Sie selbst habe ich nicht die
-Ehre zu kennen, ich gestehe Ihnen aber ehrlich, daß ich Ihnen gleich
-mit Mißtrauen entgegen kam, denn Sie werden das Sprichwort kennen:
-»_Dis-moi que tu hantes, et je te dirai que tu es._«
-
-Esther war außer sich. »Mein Herr!« rief sie, in Thränen ausbrechend,
-»Sie beschimpfen ein ehrliches, schutzloses Mädchen! Meine
-Unerfahrenheit hat mich in eine böse Situation gebracht; aber gerade
-diese sollte Ihnen dafür bürgen, daß ich unschuldig bin. Jene Dame
-kenne ich kaum und habe keine Ahnung davon, daß sie für ein ehrliches
-Mädchen keine passende Gesellschaft ist. Uebrigens verlange ich jetzt,
-daß Sie augenblicklich an Frau von Ihlefeld schreiben und sich nach
-Esther Wieburgs Ruf erkundigen; ich selbst werde ein Gleiches thun und
-die Auffindung des Scheines und alles andere berichten. Sie haben die
-unbescholtene Tochter eines Predigers tödtlich beleidigt; Gott verzeihe
-es ihnen.« Dann schrieb sie rasch Frau von Ihlefelds Adresse auf einen
-Zettel und wandte sich stolz nach der Thür; mit einem kalten Gruß ging
-sie hinaus. Zu Hause angekommen sank sie weinend auf ihre Knie. Lange
-schluchzte sie krampfhaft und leidenschaftlich; denn der Gedanke, hier
-als eine Diebin, als eine schamlose Betrügerin behandelt worden zu
-sein, war ihr entsetzlich. Wenn auch nach kurzer Zeit der Verdacht von
-ihr genommen wurde, der Schatten hatte doch auf ihr geruht und ihr war,
-als sei sie nun für ewig gebrandmarkt. »O Bertel, Bertel, deinetwegen
-habe ich alles das zu ertragen!« rief sie, das Gesicht in den Händen
-verbergend.
-
-Aber endlich ermannte sie sich und eilte nach ihrem Schreibtische. Sie
-mußte Herrn Martin brieflich bitten, ihren Paß ihr zu übersenden, den
-sie bei ihm deponirt hatte, damit sie sich durch diesen legitimiren
-konnte. Dann aber schrieb sie an Frau von Ihlefeld, dieser ihr ganzes
-Wünschen und Hoffen darlegend, und wie sie vergebens durch die
-Auffindung jenes Schuldscheines und die Erwartung, gleich selbst die
-Geldsumme erheben zu können, zu der Reise nach Frankreich bestimmt
-worden sei. Dann erzählte sie ihr die Behandlung, welche sie durch
-Herrn Richard erlitten und bat dringend um jene wichtige Vollmacht,
-damit sie das Geld erheben könne, und ihre Ehre wieder hergestellt
-werde. Als sie das Schreiben fortgetragen, fand sie bei ihrer Rückkehr
-einen Brief in ihrem Zimmer. Er war aus der Heimath. Welch ein
-herrlicher Trost in aller Trübsal und Kränkung. Voll Freude öffnete
-sie das Schreiben, es war ein Brief von Bertel und ein kurzer von Frau
-Booland. Esther las den kurzen Brief zuerst, er lautete:
-
-
- »Mein liebes theures Kind!
-
- Heute schreibe ich Dir nicht viel, obwohl mir das Herz zum Zerspringen
- voll ist. Bertels Brief enthält das Weitere. Ich habe es immer
- gedacht, so werde es einmal kommen; denn Adel bleibt Adel, und Geld
- hat einen schönen Klang. Bertel ist ein guter Sohn, er will seine
- Mutter nicht betrüben, indem er ihrem Willen entgegen ist, er ist ja
- so leicht zu etwas zu bestimmen. Ob er dadurch freilich den Dolch in
- =das= Herz stößt, das ihm anhängt mit unerschütterlicher Treue, und
- dessen dieser Undankbare nie und nimmer würdig war, das kommt nicht
- in seinen Sinn. Aber genug, mein Herzblatt, ich will meine bittern
- Thränen still für mich weinen und Dir dein armes Herzchen nicht noch
- schwerer machen. Nun gehst Du nicht nach England, sondern bleibst bei
- mir, Deiner ewig und unwandelbar getreusten
-
- Friederike Booland.«
-
-
-Mit zitternder Hand faltete nun Esther Bertels Brief von einander.
-Was konnte er enthalten, daß Tante Booland so gegen ihn erzürnte?
-Die Buchstaben schwammen vor ihren Augen, lange Zeit konnte sie
-die geliebten Schriftzüge nicht festhalten. Endlich aber las sie,
-was Bertel schrieb. Nach einigen unwichtigeren Notizen erzählte er
-ihr, daß er seit einiger Zeit ein häufiger Gast in seinem einstigen
-Vaterhause in Rahmstedt sei, das jetzt in den Besitz eines entfernten
-Anverwandten, eines Herrn von Sassen, übergegangen sei. Die Frau sei
-todt, eine ältliche Cousine vertrete ihre Stelle im Hause. Er sei hier
-mit großer Freundlichkeit aufgenommen worden, und auch seine Mutter
-sei, nachdem sie den ersten Schmerz überwunden, in das Haus wieder
-eingetreten, wo sie so Schreckliches erlebt. Nun verkehrten sie Beide
-häufig mit diesen Verwandten, welche früher im Auslande lebten, und
-es habe sich ein sehr inniges Verhältniß zwischen beiden Familien
-gebildet. Die höchst anmuthige junge Tochter Susanne, das einzige
-Kind des Onkels, sei ihm wie eine Schwester entgegengekommen, und er
-sei dem hübschen Kinde herzlich zugethan. Mit Esther freilich dürfe
-er sie nicht vergleichen, aber wer käme dieser überhaupt gleich? --
-Seine Mutter habe ihm nun vor einigen Stunden gesagt, daß der Onkel
-eine Verbindung ihrer beiden Familien sehr wünsche, und Bertel ihm
-trotz seiner Armuth einst ein willkommner Gatte für sein Kind sein
-werde. Frau von Ihlefeld habe keinen höhern Wunsch, als daß ihr Sohn
-zu diesem Plane die Hand reiche, und auch Susanne werde sich sicher
-damit einverstanden erklären, das dürfe er erwarten; denn sie sei ein
-gutes, fügsames Kind, das dem Willen des Vaters schwerlich entgegen
-sein würde. »Der Reichthum des Onkels,« schrieb Bertel weiter,
-»sichert meiner Mutter eine sorgenfreie Zukunft, und für mich selbst
-erschließt sich eine neue Welt. Mein einstiges Vaterhaus nimmt mich
-wieder auf als Sohn und Erben, und der Besitz dieses lieben Mädchens
-giebt mir zugleich die Mittel in die Hand, die Träume meiner Jugend zu
-verwirklichen und im Dienste meiner Wissenschaft Reisen zu machen. Ein
-Archäolog, zu dem ich mich bilden will, ist nichts ohne Reisen, und so
-verschafft dieser Bund allen Theilen Glück und Vortheil. Aber so sehr
-ich entschlossen bin, einen so wichtigen Schritt zu thun,« schrieb
-Hubert weiter, »so muß ich doch wissen, wie Du darüber denkst, meine
-gute Esther. Schreibe es mir ganz ehrlich; denn einen bessern Freund
-als Dich habe ich ja nie besessen, und nie im Leben habe ich etwas
-Wichtiges ohne Deinen Rath und Deine Billigung unternommen. Wohl weiß
-ich es, meine liebe theure Schwester, mein Glück ist auch immer das
-Deine gewesen, das hast Du mir bewiesen, seit wir als kleine Kinder
-schon alles Leid und alle Freuden mit einander getheilt haben. Doch ich
-möchte ein Wort von Deiner lieben Hand sehen, möchte von Dir selbst
-hören, daß Du mein Vorhaben billigst, sonst kann ich meines Glückes
-nicht froh werden. Lange war ich unschlüssig, ob ich mich in dieser
-Weise binden sollte; aber meine Mutter drängt, und ich sehe ja selbst
-ein, daß diese Verbindung große Vortheile für uns hat. Aber dennoch
--- ach Esther, mein lieber, getreuer Kamerad, sage auch Du, daß ich
-recht thue, daß Du es vernünftig und gut findest, und daß Du auch
-ferner meine liebe, treue Schwester bleiben willst. Dann erst bin ich
-ruhig darüber, daß ich dem Drängen meiner Mutter nachgegeben und will
-das innere Unbehagen überwinden, das mich peinigt, ich weiß selbst
-nicht, weshalb. Ohne Dich bin ich ja immer nur ein halber Mensch, immer
-stützest und ergänzest Du mich, Du mein besseres Ich, der Schutzengel
-meines Lebens!«
-
-Esther saß nach Beendigung dieses Briefes bleich und still auf ihrem
-Sessel. Die Hände waren in ihren Schoos gesunken und hielten den Brief
-noch fest, ihre Augen waren geschlossen und die Lippen zitterten leise.
-Endlich entrang sich ein Ton ihrer Brust, die angstvoll athmete. Es
-war wie der Schrei eines Versinkenden. Heftig warf sie plötzlich beide
-Arme empor und sprang vom Sitze auf. Eine furchtbare Angst trieb sie
-umher, und wie verzweifelt durcheilte sie fort und fort ihr Zimmer, die
-Hände fest in einander gekrampft und leise stöhnend. Aber keine Thräne
-kam in die heißen Augen und erleichterte ihrer gepreßten Brust den
-entsetzlichen Kampf, den sie zu bestehen hatte.
-
-O was ging in diesem jungen Herzen vor, während ihr Fuß angstvoll im
-Zimmer auf und nieder eilte! Ihr war, als hätte eine grausame Hand
-mit einem Wurfe plötzlich alles in Trümmer geschlagen, was das Wesen
-ihres ganzen Lebens ausgemacht hatte; als hätte sie bis jetzt in süßen
-Träumen gelegen, und nun sei sie mit einemmale geweckt worden zu einem
-Dasein, so furchtbar, so grauenvoll, daß das Herz ihr davor erbebte.
-Was war es nur, das man ihr zertrümmert? Was war es, das man ihr so
-plötzlich entrissen? War es das Herz in ihrer Brust oder ihr Fühlen,
-ihr Denken? Ein Schmerz durchdrang sie so entsetzlich, wie sie ihn noch
-nie im Leben empfunden, und doch wußte sie nicht, war es der Körper
-oder der Geist, der so grausam litt. »O Bertel, Bertel!« rief sie
-endlich verzweifelt und schlug die Hände vor das Gesicht, und jetzt
-brach ein Strom Thränen hervor, so leidenschaftlich und überwältigend,
-als wollte sich ihr ganzer Körper in Thränen auflösen.
-
-Schwach und gebrochen ruhte Esther endlich im Lehnstuhle, und ihre
-Augen blickten hinauf zum Himmel, von woher Hülfe und Trost allein noch
-kommen konnte. Ihre Gedanken waren klarer geworden, und jetzt erst
-wußte sie, was ihr zertrümmert worden. Es war der Traum ihrer Zukunft.
-Ohne daß sie sich je davon Rechenschaft gegeben, hatte sie ihr Leben
-mit all' seinem Hoffen und Wünschen, Denken und Fühlen so völlig mit
-dem ihres geliebten Bertel zusammengeschmolzen, daß es für sie eben
-eine Unmöglichkeit war, sich ihre Existenz von der ihres Spielgefährten
-getrennt zu denken. Vom ersten Tage ihres Zusammenseins an hatte sie
-nur an ihn gedacht und für ihn gelebt und gesorgt, und so war es
-geblieben bis zu dieser Stunde. Was fragte sie je nach ihrem eigenen
-Wohlbehagen, ihren eigenen Bedürfnissen, wenn nur Bertel zufrieden
-war! Wie sie als kleines Mädchen nur um seinetwillen gelernt, nur an
-den Spielen Freude hatte, die ihm lieb waren, und für alles gesorgt
-hatte, was er bedurfte, so war es bis heute noch geblieben. Für wen
-mühte sie sich Tag für Tag mit den Schülern bei Pastor Krause? Für
-wen hatte sie sich die Schmerzen der Trennung auferlegt und wollte
-in England Erzieherin werden, und für wen war sie endlich hier nach
-Frankreich gegangen, hatte alles Ungemach in jener Pension und heute
-selbst Schmähungen und Verdächtigungen ertragen? Ach für ihn, für ihn
-allein, der ihr Gedanke war früh und spät, und dem sie den Weg bahnen
-wollte zu Glück und Ehre und Ruhm. O und welcher Jubel hatte ihr Herz
-erfüllt beim Auffinden des Scheines! Nun ward er ja wohlhabend und die
-Sorgen hatten ein Ende, und sie, sie hatte es ihm verschafft! Aber nun
-war alles aus! Nun bedurfte er ihrer nicht mehr und ihrer Arbeit und
-Mühe; nun gaben ihm Andere mit vollen Händen, was er brauchte und mehr
-als er brauchte. Aber nun gehörte er auch diesen Anderen, und sie hatte
-keine Rechte mehr an ihn. Sie war allein, allein mit ihrem Herzen, das
-er verschmäht hatte, eine Andere trat nun an diese Stelle!
-
-Weiter konnte Esther mit ihren Gedanken nicht kommen, es kam wieder wie
-ein Krampf über sie, und leise wimmernd sank sie zusammen. Hätte sie
-nur wenigstens jemand gehabt, der mit ihr sprechen konnte; aber diese
-trostlose Einsamkeit, es war zu schrecklich!
-
-Endlich jedoch trat ein Friedensengel zu dem armen, einsamen Kinde.
-»Und Du wirst ihm doch noch immer lieb und theuer sein, trotz aller
-neuen Bande! Er wird Deiner bedürfen nach wie vor trotz alles
-Reichthums und alles Wohlbehagens!« so tönte es in ihrer Brust.
-»Ich will ihm bleiben, was ich ihm bis jetzt gewesen, seine treue,
-helfende Freundin, das kann ihm weder Geld noch Gut noch sonst etwas
-auf der Welt ersetzen. O möchte er nur glücklich werden, möchte diese
-Susanne ihn lieben! Doch wie sollte sie nicht, wie sollte man Bertel
-nicht lieben, den schönen, herrlichen Bertel! Aber warum er nur nicht
-glücklicher schreibt? Ein Unbehagen peinigt ihn und läßt ihn nicht
-froh werden. Liebt er denn Susanne nicht? Ist es =nur= der Wunsch
-seiner Mutter, der ihn bestimmte und die Aussicht auf Reichthum und
-Wohlbehagen? O, das wäre schrecklich! Daß seine Mutter ihn drängt, ist
-doch sehr unrecht; aber sie meint freilich, Bertels Glück dadurch zu
-sichern.
-
-Aber das Geld allein ist's wohl nicht, was Tante Ihlefeld zu dem
-Wunsche treibt, Bertel soll diese Cousine heirathen! Wie schreibt Tante
-Booland? Adel bleibt Adel! Tante Ihlefeld hat mich ja immer fühlen
-lassen, daß ich nicht ihresgleichen bin, ich weiß es recht wohl, wenn
-ich auch nie darüber sprach. Wußte ich ja doch, daß Bertel nicht so
-stolz war und seine kleine Esther wirklich wie eine Schwester liebte.
-Und die will ich ihm bleiben! Ach jetzt erst weiß ich ja, daß ich noch
-andere Wünsche im Herzen für uns Beide hatte; aber er hat wohl an mich
-nie anders gedacht, als an eine treue Schwester.
-
-»O mein Gott, mein Gott,« rief Esther flehend und hob die Hände zum
-Himmel empor, »o gieb mir die Kraft und die Selbstüberwindung, ihm auch
-ferner diese treue Schwester zu bleiben! Ich muß es -- und ich will es!«
-
-Dann setzte sie sich nieder, Bertel einige Zeilen auf seinen Brief
-zu antworten, wie er gebeten. Es war ein schweres Werk; aber Esther
-vollendete es mit ihrem starkem Herzen und starken Willen. Sie schrieb
-Bertel, daß er sie richtig beurtheilt, =sein= Glück sei auch das Ihre,
-und Gott möge den Schritt segnen, den er thun wolle, oder nun wohl
-bereits gethan habe. Sie aber verspreche, ihm und seiner Frau ihr
-ganzes Lebenlang eine treue Schwester und Freundin zu bleiben.
-
-Weiter schrieb sie nichts, sie konnte es nicht. Und nun war ihr, als
-habe sie ihr Lebensglück in das Grab gelegt, nun war alles, alles
-vorüber. Eine Müdigkeit und Gleichgültigkeit kam über sie, wie
-sie nie im Leben noch erfahren. Was kümmerte sie es jetzt, was aus
-ihr wurde, wohin sie ging, was die nächste Zeit nun bringen würde?
-Es war ihr alles gleich. Sollte sie hier bleiben oder nach England
-gehen oder wo sonst hin. Nur jetzt nicht nach Hause, nur nicht sehen,
-daß Bertel durch den Besitz dieser Susanne glücklich war und andern
-angehörte, als ihr. Nach Hause in das stille Waldhäuschen, ohne Arbeit
-und Zerstreuung, in steter Nähe jener grausamen Frau, die ihr Bertel
-entrissen, durch deren Willen er zu diesem Schritte gedrängt worden --
-nein, das war unmöglich! Tante Booland mußte dies einsehen trotz aller
-ihrer sehnsüchtigen Liebe. Nein, lieber fort unter fremde Menschen, wo
-sie arbeiten und ihre Gedanken ableiten konnte! -- Hier wollte sie nur
-noch so lange bleiben, bis die Vollmacht ankam. Dann wollte sie Herrn
-Richard bitten, das Geld an Frau von Ihlefeld zu senden, sie selbst
-aber wollte sich direct nach England in die Familie begeben, welche sie
-mit Ungeduld erwartete.
-
-Es waren traurige Tage für die arme Esther, die bis zur Ankunft dieses
-Briefes vergehen mußten. Sie blieb fast immer zu Hause; denn am Strande
-fürchtete sie entweder Herrn Richard zu begegnen, oder jener Dame,
-welche ihr so unsäglich geschadet hatte. Esther begriff nun wohl, hätte
-Herr Richard sie nicht mit dieser Begleiterin gesehen, so wäre er
-ihr nicht gleich so mißtrauisch entgegen getreten, sondern würde sie
-höchstens für ein sehr unerfahrenes Mädchen gehalten haben, aber nicht
-für eine mögliche Diebin und Betrügerin.
-
- * * * * *
-
-Während für Esther die Tage trübe und langsam dahin schlichen,
-verlassen wir sie für einige Zeit und kehren zurück nach dem kleinen
-Waldhause zu Rahmstedt.
-
-Kurze Zeit nach Absendung jenes Briefes von Esther war Bertel der
-Verlobte von Susanne von Sassen. Die Verlobung sollte jetzt noch ein
-Geheimniß bleiben, bis Bertel promovirt hatte. Susanne war fast
-noch ein Kind und auch Bertel noch zu jung für eine Heirath; so traf
-alles passend zusammen. Bertel ward aber auch jetzt schon als Sohn
-des Hauses aufgenommen, und das jugendliche Brautpaar lernte sich
-jetzt im täglichen Beisammensein erst näher kennen. Susanne war eine
-bildhübsche, kleine Blondine, gut und weichherzig und von fröhlichem
-Gemüth; aber weder besonders klug noch auch sehr gebildet. Ein hübsches
-Kleid war ihr tausendmal lieber als ein gutes Buch, und Vergnügen
-und Tanz ging ihr über alles. Sie hatte ihre sechzehn Lebensjahre in
-süßem Nichtsthun und steter Fröhlichkeit vertändelt, unter Spielen und
-Tanzen, Lachen und Schwatzen. Verwöhnt als einziges Kind reicher Eltern
-kannte sie keinen andern Willen, als den ihren, und kein Wunsch blieb
-ihr versagt. Daß man auch für Andere leben, sich auch nützlich machen
-konnte in der Welt, das war ihr ebenso fremd, wie alles, was Ernst oder
-Arbeit hieß. Aber bei alledem war sie ein gutes, fügsames Kind, und als
-der Vater ihr sagte, er wünsche, daß sie den hübschen, liebenswürdigen
-Hubert von Ihlefeld heirathen solle, da war sie nicht unzufrieden
-damit, obwohl sie eigentlich vor dem klugen, gelehrten jungen Vetter,
-von dem alle Welt mit so großer Bewunderung sprach, etwas Furcht hatte.
-Er war oft gar so ernsthaft, und an Tanzen und hübschen Kleidern
-fand er gar kein Vergnügen. Er sah es gar nicht einmal, wenn sie
-ein schönes neues Kleid ihm zu Ehren angezogen hatte und unterhielt
-sich eigentlich immer viel mehr mit ihrem Vater über so schrecklich
-ernsthafte Sachen, statt daß er mit ihr schwatzte und lachte. Aber er
-war so ein bildhübscher Junge, und es war eine so große Ehre, mit einem
-so gelehrten Manne verlobt zu sein; vielleicht lernte er bei ihr noch
-Lachen und Tanzen und Freude an all' dem, was sie liebte. Nun war sie
-eine Braut, das klang doch zu hübsch! Wenn sie es nur erst öffentlich
-wäre! Wie würden ihre Freundinnen sie beneiden! --
-
-Und so tanzte und lachte und spielte sie um Bertel her, wenn dieser bei
-ihr war und trieb tausend Tollheiten, sobald er versuchte, ein ernstes
-Wort mit ihr zu sprechen.
-
-Bis dahin hatte Bertel nur das reizende Kind in ihr gesehen, jetzt
-erst bemerkte er, wie oberflächlich und unbedeutend sie war. Das Bild
-Esthers trat unwillkürlich daneben, und Bertel, der wenig Mädchen
-kennen gelernt, hatte geglaubt, alle müßten so viel wissen und so klug
-und strebsam sein, als sie. Ein Unbehagen, wie er es neben Esther nie
-empfunden, kam über ihn, wenn er längere Zeit mit Susanne verkehrte,
-und obwohl er alles auf die große Jugend seiner Braut schob und von
-der Zukunft erwartete, daß sie ernster und gediegener werden möchte,
-so konnte er doch nicht recht froh neben ihr werden. Oft schon hatte
-er ihr von Esther erzählt, und jetzt that er es noch häufiger in der
-Hoffnung, Susanne solle fühlen, wie sehr er wünsche, sie möge Esther
-ähnlich werden. Aber der lustigen Susanne lag nichts ferner, als
-solcher Wunsch. Sie staunte Esthers Vortrefflichkeiten und Wissen an
-wie etwas höchst Sonderbares und Merkwürdiges, der Wunsch aber, selbst
-so zu sein, kam ihr nie, im Gegentheil, ihr graute bei dem Gedanken, so
-viel lernen und arbeiten zu müssen und so ernsthaft und fleißig zu sein.
-
-Hätte Bertel sich aus Liebe mit ihr verlobt, so würde er Susanne's
-Fehler kaum bemerkt haben; denn Liebe umgiebt alles mit einem sonnigen
-Glanze, und selbst kleine Fehler erscheinen an einem geliebten Wesen
-als etwas Anziehendes. Jetzt aber, ohne eine so innige Neigung
-traten ihm Susannes Mängel mit jedem Tage unangenehmer entgegen; die
-Folge davon aber war, daß auch er seiner leichtherzigen jungen Braut
-weniger gefiel, die immer daran gewöhnt war, daß alles ihr huldigte
-und schmeichelte. Daß aber ihr Bräutigam dies nicht nur unterließ,
-sondern sie sogar zuweilen tadelte, das war dem verwöhnten Kinde höchst
-empfindlich. Schon in den ersten Tagen ihres Brautstandes schmollte
-ihr hübscher kleiner Mund mehrfach, und warf sie das blonde Köpfchen
-ärgerlich in den Nacken. Ein solch' kindisches Benehmen war Bertel aber
-etwas ganz Fremdes und mißfiel ihm in hohem Grade; Esther war ja nie
-launisch gewesen.
-
-So waren die ersten Tage von Bertels Brautstand vergangen. Seine Mutter
-überhäufte ihn mit Liebkosungen und Zärtlichkeit, denn sie war ihm
-innig dankbar, daß er sich ihrem Willen so bald gefügt trotz seines
-ersten Widerstrebens. Aber Frau Booland, die alte treue Freundin aus
-Bertels Kinderjahren, sie hatte jetzt kein gutes Wort und keinen
-freundlichen Blick mehr für ihren einstigen Liebling. Finster schaute
-sie drein, wenn Bertel bei ihr eintrat, wie er gewöhnt war, und bei
-all' seinen Schmeichelworten und Erzählungen blieb ihr sonst so
-gesprächiger Mund fest verschlossen.
-
-»Tante Booland, du bist mir sehr böse, sage es nur,« rief Bertel
-endlich, nachdem er mehrmals vergebens versucht, ihr einen freundlichen
-Blick abzuschmeicheln. »Gönnst du deinem armen Bertel wirklich gar kein
-Wort mehr?«
-
-»Wer mir keins gönnt verdient es nicht besser!« entgegnete Frau Booland
-kurz. »Die Zeiten sind vorbei, wo man Tante Booland noch um Rath
-fragte. Jetzt ist sie für gewisse Leute gar nicht mehr in der Welt. O
-Undank, Undank!« Dann aber seufzte sie tief auf und schwieg beharrlich,
-und Bertel versuchte umsonst, seine alte Freundin milder zu stimmen, es
-ging nicht. Aber ihre rothgeweinten Augen gaben ihm viel zu denken und
-vermehrten das Unbehagen, das auf seinem Gemüthe lastete.
-
-Da kam Esthers Brief an mit der Erzählung dessen, was sie nach
-Frankreich getrieben und was sie um dieses Schuldscheines willen hatte
-ertragen müssen. Auch Herrn Richards Brief mit der Anfrage, welche
-Bewandniß es mit Esthers Erzählung habe, folgte gleich darauf. Welch'
-eine Nachricht war das!
-
-Frau von Ihlefeld überreichte Bertel Esthers Brief mit zitternder Hand,
-als dieser in das Zimmer trat. Die Thränen perlten über ihr bleiches
-Gesicht, und mit leiser Stimme sagte sie nichts als: »Lies, Bertel!«
-Dieser blickte seine Mutter überrascht an und durchflog Esthers Zeilen.
-Dann sank er auf einen Stuhl und bedeckte schweigend sein Gesicht mit
-den Händen. Auch Frau von Ihlefeld schwieg, aber sie weinte leise in
-ihr Tuch. Endlich stand sie auf, trat zu ihrem Sohne heran und legte
-ihre Arme um seinen Hals.
-
-»Mein lieber, lieber Sohn!« sagte sie weich und küßte seine Stirn,
-auf der dicke Schweistropfen standen. Bertel aber erwiederte ihre
-Zärtlichkeit nicht, sondern ließ die Hände schlaff herabsinken und
-schaute düster vor sich nieder. »Rede doch, Bertel, sprich mit mir!«
-flehte die Mutter, aber Bertel hörte sie kaum. Es arbeitete furchtbar
-in seiner Brust; endlich stand er rasch auf und eilte zur Thüre. »Wo
-willst du hin, Bertel?« rief Frau von Ihlefeld angstvoll.
-
-»Laß mich, Mutter, ich muß allein sein!« stöhnte er leise und schob die
-Mutter zur Seite. Dann stürzte er zum Zimmer hinaus.
-
-Frau von Ihlefeld blickte ihm bestürzt nach, wie er schnellen Schrittes
-in den Wald hinein eilte. Dann aber nahm sie Esthers Brief und den des
-Herrn Richard und ging zu Frau Booland hinab. Diese staunte nicht wenig
-über den seltenen Besuch; denn seitdem Bertel mit Susanne verlobt war,
-hatte sich Frau von Ihlefeld mehr von ihr zurückgezogen und wieder
-ihren ehemaligen hochmüthigen Ton gegen sie angeschlagen. Und nun kam
-sie sogar zu ihr herab und hatte Thränen im Auge. Als dann aber Frau
-Booland Esthers Brief gelesen, da brachen die Wellen der Erregung über
-der alten treuen Pflegerin zusammen, und sie zitterte und flog wie ein
-Blatt im Winde, während sie weinend und schluchzend in ihren Stuhl
-zurücksank.
-
-»O das Kind, das Kind!« stöhnte sie immerfort schluchzend, weiter
-aber konnte sie nichts hervor bringen. Frau von Ihlefeld versuchte,
-mit der erschütterten alten Frau zu reden; denn ihr Herz war ihr zum
-Zerspringen voll. Aber Frau Booland schwieg bei allen ihren Reden und
-schien sie kaum zu hören, und so verließ Jene nach einiger Zeit das
-Zimmer, müde der vergeblichen Versuche. »Sie wird wahrlich stumpf und
-alt,« murmelte Frau von Ihlefeld verdrießlich, »zu reden ist gar nicht
-mehr mit der armen Person.«
-
-Frau Booland saß noch eine lange Weile still und in sich versunken
-am Fenster und schaute in das flammende Abendroth, das den Himmel in
-seltener Pracht überzog. Ihr Zimmerchen lag nach dem Walde hinaus,
-und die verschwindende Sonnengluth tauchte die Wipfel der Bäume in
-wundervolle Farbentöne. Die Abendluft zog weich und würzig zum Fenster
-herein und spielte um die faltige Stirn der Matrone, welche das weiße
-Haar mild und freundlich umrahmte. Ihr Auge schweifte wehmüthig in die
-Ferne, als wollte es den Raum durchdringen, der sie von ihrem lieben
-Kinde trennte. Banger und banger legte die Sehnsucht sich um ihr altes
-Herz, und endlich konnte sie es im Zimmer nicht länger aushalten. Dort
-drüben im Walde stand eine kleine Bank, da hatte sie so oft mit ihrer
-Esther gesessen, da zog es sie hin, als könnte sie ihren Liebling dort
-wieder finden, wie früher.
-
-Als Frau Booland langsamen Schrittes in die Nähe dieser Lieblingsbank
-kam, sah sie, daß schon jemand dort saß. Ihre alten Augen konnten
-aus der Ferne nicht erkennen, wer es war, und so trat sie unbemerkt
-näher heran. Es war Bertel. Er hatte den Kopf in beide Hände gestützt
-und das Gesicht verhüllt und schien so in sich versunken, daß er die
-Herantretende nicht bemerkte, selbst als sie dicht vor ihm stand.
-
-»Bertel, du bist's?« rief Frau Booland verwundert, und erschrocken fuhr
-der junge Mann bei dieser Anrede empor. Nun sah die alte Frau, daß
-Bertels Gesicht ganz verstört war und von Thränen überfluthet. Kaum
-erkannte er die vor ihm Stehende, als er laut weinend an ihre Brust
-sank.
-
-»O Tante Booland, was hab' ich gethan!« rief er ganz außer sich und
-schluchzte wie ein Kind. Die große, stattliche Alte schlang ihre Arme
-fest und zärtlich um die schlanke Gestalt, als sei es wieder der kleine
-Bertel, den sie in früheren Jahren so oft beruhigt und getröstet,
-wenn ein kindliches Leid ihn zu ihr geführt. Liebevoll strich sie
-wie ehemals über sein weiches, blondes Haar und gab ihm sanfte
-Schmeichelworte, um ihn zu beruhigen. Bertel ließ sich alles gefallen;
-es war ihm ein Trost, sich an dieser treuen Brust ausweinen zu können.
-Frau Booland setzte sich endlich auf die Bank, und Bertel ließ sich
-neben ihr nieder, den Kopf immer noch an ihre breite Schulter lehnend,
-denn ihm war so wohl im Schutze dieser alten treuen Freundin. Die Alte
-sah bewegt in ihres Lieblings schönes Gesicht, und indem sie ihm die
-prachtvollen Haarlocken von der Stirn strich, die in wilder Unordnung
-darüber gefallen waren, sagte sie mild: »Nun, mein armer Junge, was
-quält dich denn so? Sprich dich doch aus, du weißt, ich meinte es immer
-gut mit dir.«
-
-»Ja, ich weiß es!« rief Bertel und küßte die breite, derbe Hand, die
-so zärtlich um ihn bemüht war. »O Tante Booland, aber auch du kannst
-mir nicht mehr helfen, es ist ja zu spät. O mein Gott, mein Gott,
-welch' ein Thor bin ich gewesen, welch' ein verblendeter Narr!« Und in
-wildem Grimm ballte er die Hände und schlug sich damit vor die Stirn.
-Frau Booland schüttelte den Kopf, und die Hände ihm vom Gesicht herab
-ziehend sagte sie ernst: »Mit Klagen und Jammern hat noch nie jemand
-einen Grashalm bewegt, laß das jetzt, Bertel. Was bereust du denn und
-was erkennst du jetzt erst?«
-
-»Was ich erkenne?« rief Bertel heftig, »daß ich nicht werth bin, Esther
-die Füße zu küssen! O =was= hat sie gethan, was ertragen für mich und
-um meinetwillen! O Tante Booland, sage mir nur das Eine, nicht wahr,
-Esther liebt mich?«
-
-»Esther hat dich geliebt, seit ihr zusammen als kleine Kinder gespielt
-habt,« entgegnete Frau Booland und eine Thräne rollte über ihre
-gefurchte Wange.
-
-»O das meine ich nicht, Tante,« rief Bertel, »nicht wie eine Schwester
-und nicht als mein lieber bester Kamerad, wie ich sie immer nannte.
-Ich meine, glaubst du, daß sie mich noch lieber hat, -- o so lieb, wie
-=ich= sie habe? So unsäglich, so unaussprechlich lieb, daß ich für sie
-sterben könnte, wenn ich wüßte, sie würde glücklich dadurch!«
-
-»Wie Bertel? Du liebst Esther, und doch willst du eine Andere
-heirathen?« sagte Frau Booland tief verletzt und blickte voll Erstaunen
-in Bertels erregtes Gesicht.
-
-»O das ist ja eben das Entsetzliche!« rief Bertel in Verzweiflung und
-verhüllte wieder sein Gesicht. »Kannst du es denn glauben, daß mir
-soeben erst die Binde von den Augen gefallen ist? Daß es soeben erst,
-als ich Esthers Brief an meine Mutter gelesen, wie ein Blitz durch
-meine Seele ging und mir die Tiefen meines eigenen Herzens enthüllte?
-O niemand, niemand wohnt ja in diesem Herzen, als meine Esther, dies
-theure, geliebte Mädchen, die all' ihr Glück und all' ihre Ruhe
-hingegeben seit ich denken kann, nur damit ich glücklich sein konnte.
-O das muß ja Liebe sein, ja sie =muß= mich lieben! Und ich Thor habe
-diese Liebe hingenommen wie etwas, das sich von selbst versteht, o und
-jetzt, jetzt -- habe ich ihre Liebe verrathen!«
-
-Frau Booland saß schweigend neben dem unglücklichen Jüngling; denn auch
-sie wußte ja nicht zu rathen und zu helfen!
-
-»Meine Mutter hat die Schuld!« sprach Bertel weiter. »Sie hat mir keine
-Ruhe gelassen, bis ich auf ihren Plan einging, und jetzt weiß ich erst,
-was es war, das mich zurückhielt und mir immer zurief: »Thu' es nicht,
-thu' es nicht!« Aber wenn eine Mutter bittet und fleht, dann giebt der
-Sohn doch endlich nach, ich wenigstens konnte nicht anders! Und ich
-deckte ja mir den Abgrund selbst zu mit so herrlichen Blumen, sagte mir
-immer wieder, welche Vortheile aus dieser Heirath entstehen würden, so
-daß ich wirklich zuletzt selbst daran glaubte. Aber jetzt ist mir die
-Binde von den Augen gerissen, und ich sehe erst ganz, was ich gethan!
-Mich selbst habe ich unglücklich gemacht, o und was noch viel tausend
-Mal schlimmer ist, auch Esther! Das ist der Dank für alle ihre Liebe,
-alle ihre jahrelangen Opfer! Und für wen opferte ich dieses herrliche
-Mädchen? Für eine leichtfertige, eitle Puppe, die mich ewig unglücklich
-machen wird und ich sie; denn wir werden nie zu einander passen, o nie,
-nie!«
-
-»Aber mein Gott, Bertel, =so= sprichst du von deiner schönen Braut!«
-rief Frau Booland in höchstem Erstaunen.
-
-»Ja, es ist nicht anders, ich sehe es mit jeder Stunde deutlicher,
-es war ein entsetzlicher Irrthum, mich mit ihr zu verloben!« sagte
-Bertel vor sich hin brütend. »Aber es ist einmal geschehen; meine Ehre
-verlangt, daß ich das Wort einlöse, das ich gegeben, denn ich gab es
-freiwillig. O es ist entsetzlich!«
-
-Wieder brach Bertel unter der Last seines Jammers zusammen, und Frau
-Booland stützte sinnend den Kopf auf ihre Hand; ihre Lippen schlossen
-sich immer fester und energischer auf einander, und ihre Augen wurden
-immer lebendiger. »Bertel,« sagte sie endlich und legte ihre Hand auf
-des jungen Mannes Schulter, »höre mich einmal an. Ich bin eine alte
-Frau und habe auf der ganzen Welt kein anderes Glück, als das meiner
-Esther und auch deines, mein lieber Sohn. Was es mir für ein Kummer
-gewesen ist, als ich sah, wie man dich zu diesem Bunde zu bestimmen
-suchte, das hat der liebe Gott allein erfahren. Wußte ich ja doch, daß
-meiner Esther Glück und Leben damit zu Grunde ging. Denn Bertel, das
-sage ich dir jetzt: du magst Esther sehr lieb haben; aber was Esther
-für dich fühlt, davon hast du doch keine Idee. Die Liebe zu dir ist
-der Lebensodem des Kindes; nimm ihr diese, und du nimmst ihr auch das
-Leben, oder wenigstens das beste Theil davon; denn der schale Rest, der
-dann noch übrig bleibt, ist meine herrliche Esther nicht mehr. Aber
-auch dein Unglück geht mir nahe, mein armer Junge. Freilich hast du
-dein Wort gegeben, das ist richtig, und ehrenvoll wäre es nicht, nun
-zurückzutreten, gerade jetzt, wo du selbst Geld hast und das Ihre nicht
-mehr brauchst. Aber daß darum drei junge Herzen unglücklich werden
-sollen, -- denn die arme kleine Susanne thut mir auch leid, sie ist
-ein gutes kleines Herze, für dich aber scheint sie freilich keine Frau
-zu sein, -- ja, warum ihr alle zusammen unglücklich werden sollt, das
-sehe ich denn doch auch nicht ein. »Bist du es zufrieden, Bertel, wenn
-ich für dich eintrete, und die Sache in die Hand nehme? Ein leichtes
-Werk wird es wohl nicht sein, das sage ich mir; aber was wäre mir für
-meine Esther zu schwer? Und im schlimmsten Falle, wenn meine Versuche
-mißglücken, kräht kein Hahn darum, daß die alte Frau sich blamirt hat
-mit ihren Vorschlägen. Nun also, Bertel, sage, ist dir's recht, soll
-ich mein Heil versuchen?«
-
-»Was willst du denn thun, Tante Booland?« sagte Bertel zerstreut und
-theilnahmlos.
-
-»Das laß mein Geheimniß sein!« entgegnete die Alte aufstehend. »Wenn
-mein Plan gelingt, wirst du schon zufrieden sein, gelingt er nicht --
-nun dann ist's überhaupt einerlei. Aber deine Zustimmung muß ich haben,
-sonst kann ich nicht handeln. Willst du sie mir geben?«
-
-»Meinetwegen alles, was du willst, Tante,« sagte der junge Mann trübe,
-»Hoffnung habe ich für mich keine mehr auf der Welt. Ich habe mein
-Glück mit eigenen Füßen zertreten, nun muß ich die Folgen tragen. O
-wenn nur =sie= nicht auch dadurch leiden müßte; das ist der Fluch, der
-mich zu Boden drückt!«
-
-»Nur Muth und Gottvertrauen, mein Junge! Es wird vielleicht noch alles
-gut,« tröstete Frau Booland, noch einmal liebevoll über Bertels Backen
-streichend. Dann ging sie nach dem Hause zurück, setzte sich ihre
-Sonntagshaube auf und nahm ihr bestes Umschlagetuch um die Schultern.
-Mit ihren großen, festen Schritten durcheilte die rüstige Alte alsdann
-die Dorfstraße, und nach einiger Zeit betrat sie den Gutshof.
-
-Die Sonne war bereits untergegangen, und matte Dämmerung lag auf
-Haus und Garten, als Frau Booland die breite Terrasse überschritt
-und den herbeieilenden Diener fragte, ob sie das gnädige Fräulein
-sprechen könne. Fräulein Susanne war im Garten, die übrige Herrschaft
-jedoch ausgefahren. Frau Booland sagte, sie wolle das Fräulein selbst
-aufsuchen, und so durchwanderte sie den schon leise dunkelnden Park,
-bis sie endlich Susannes helles Kleid erblickte, das rasch hier
-und dort zwischen dem Gebüsch auftauchte. Fröhliches Gelächter und
-Gekreisch drang bis zu Frau Booland, welche lauschend näher trat.
-
-Nun sah sie, wie sich die leichte Gestalt Susannes soeben auf einem
-niedern Baumstamme schaukelte, während über ihr auf einem Zweige ein
-bunter Papagei saß und heftig kreischend mit den Flügeln schlug.
-Mit dem Schnabel hackte er wüthend in die Schnur, die um seinen Fuß
-geschlungen war und welche Susanne in ihrer Hand hielt. Das Geschrei
-und der Aerger des Vogels schienen des jungen Mädchens Heiterkeit
-immer mehr zu erregen, und sie rief lustig, indem sie die Schnur bald
-fester, bald loser hielt: »Peterchen, Papchen, kleiner Trotzkopf,
-ärgere dich doch nicht so, los lasse ich dich doch nicht. Mußt auch
-fühlen, wie's thut, einen Faden um's Bein zu haben, an dem immerfort
-gezogen und gezerrt wird; 's ist abscheulich, nicht wahr, Papchen? O
-ganz abscheulich!« Und wieder zerrte sie und lachte und schwang sich
-auf dem Aste hin und her, während der Papagei aus Leibeskräften schrie
-und flatterte.
-
-Frau Booland sah dem kindischen Treiben still eine Weile zu und hatte
-dabei ihre Gedanken. »So, die Schnur drückt dich also ganz abscheulich,
-mein Püppchen?« sagte sie leise und runzelte die Stirn. »Denkst wohl,
-ich weiß nicht, welche Fessel du meinst? Und das ist ein Gegenstand zu
-Possen und Vergnügen? Armer Bertel, gut, daß du es nicht siehst! Nein,
-nein, das ist nichts für meinen ernsten, lieben Jungen; dies Kind paßt
-für ihn sicherlich nicht, das glaube ich gern.«
-
-Dann aber schlug sie das Gebüsch zurück und trat auf Susanne zu. »Guten
-Abend, Fräulein Susanne!« sagte sie mit einem höflichen Knix und ging
-noch näher auf das junge Mädchen zu. Diese sprang rasch von ihrem
-schwankenden Sitze herab und riß dabei auch den Papagei von seinem
-Zweige nieder, der nun kreischend auf ihre Schulter flog und sich dort
-lebhaft hin und her schaukelte. Susanne lachte laut auf, und indem sie
-Frau Booland die Hand zum Gruß reichte, rief sie fröhlich: »Gut, daß
-jemand kommt, mich besser zu unterhalten, als mein dummer Peter. Er
-will absolut nicht sprechen lernen, ich mag mich noch so viel mit ihm
-quälen. Er ist gerade so dumm als ich, ich spiele auch lieber, als daß
-ich lerne.«
-
-»Fräulein Susanne,« sagte Frau Booland jetzt höflich, »hätten Sie wohl
-ein halbes Stündchen Zeit für mich übrig? Ich möchte gern etwas mit
-Ihnen sprechen.«
-
-»Ach mein Gott, doch nichts Ernsthaftes?« rief Susanne in komischem
-Schrecken. »Sie machen ein so feierliches Gesicht, liebe gute Tante
-Booland, Bertel schickt Sie doch nicht etwa, um mich auszuschelten?
-Ach lieber Gott, ich bin den ganzen Tag in Angst, daß ich wieder etwas
-Dummes oder Kindisches gemacht habe. Bertel ist so furchtbar streng,
-gerade wie unser alter Schulmeister drüben in der Dorfschule, vor dem
-die Kinder auch solche Furcht haben. Liebe, einzige Tante Booland,
-sagen Sie doch nur, wollen Sie mich wirklich schelten?«
-
-»Nein, nein, Fräulein Susanne,« lächelte die Alte, »das fällt mir nicht
-ein. Setzen Sie Ihren Papagei dort auf den Baum, daß er uns nicht mit
-seinem Geschrei stört, und dann kommen Sie ein Bischen drüben in die
-Laube; ich habe eine Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, das freut
-Sie ja immer so, nicht wahr, Kindchen?«
-
-»Ach ja, ja, das ist reizend von Ihnen, Tante Booland!« rief das junge
-Mädchen und hob den Papagei auf den nächsten Baum, wo sie ihn mit der
-Schnur festband, indem sie noch mehrmals kosend mit der Hand über
-seinen Kopf und Rücken fuhr. »So Papchen, nun langweile dich nicht
-zu sehr,« sagte sie dann fortgehend und nickte dem Vogel noch einmal
-freundlich zu, dann hing sie sich an Frau Boolands Arm und folgte
-dieser in die nahestehende Laube. Hier war es schon ziemlich dunkel;
-aber da plaudert es sich am Besten, sagte Susanne und rückte dicht an
-die Alte heran, für welche sie eine ganz besondere Zuneigung gefaßt
-hatte. Frau Booland war jederzeit freundlich, gefällig und nachsichtig
-gegen das harmlose Kind gewesen und wußte ihr immer allerlei Neues oder
-auch Altes zu erzählen, was der heiteren Susanne Spaß machte. Heut
-nun war es freilich keine fröhliche Erzählung, welche die Alte für
-Susanne bereit hielt. Aber doch hörte diese still zu, ganz gegen ihre
-Gewohnheit, obwohl Frau Booland lange und ernst sprach, und endlich
-klang es sogar, wie leises Weinen aus dem Innern der Laube. Aber die
-Dunkelheit verhinderte zu erkennen, aus wessen Augen die Thränen
-flossen. Nach langer Zeit traten die beiden Gestalten in den dunkeln
-Laubgang heraus, die Hände fest in einander geschlungen. Die Alte
-küßte dann rasch die schöne weiße Stirn des jungen Mädchens und eilte
-davon, Susanne aber ging zu ihrem Vogel und nahm ohne ihr gewöhnliches
-Scherzen und Lachen den schreienden Papagei auf die Hand. »Wir wollen
-die Fessel lösen, nicht wahr, mein Papchen?« sagte sie unterwegs zu
-dem Vogel, indem sie die Schnur von seinem Fuße knüpfte und ihn
-streichelte. Still kehrte sie dann in das Haus zurück. Hier setzte
-sie sich sogleich an ihren Schreibtisch, ergriff Feder und Papier und
-schrieb folgenden Brief:
-
-
- »=Liebe Esther!=
-
- Sie müssen mir schon erlauben, daß ich Sie so nenne, wie wir Alle
- es hier thun, obwohl Sie uns nicht kennen. Wir aber kennen Sie sehr
- gut, und besonders ich habe mir so viel von Ihnen erzählen lassen,
- daß mir ist, als sähe ich Sie vor mir. Daß ich jedoch einen Brief an
- Sie schreibe, liebe Esther, hat heute einen ganz besonderen Grund;
- eigentlich bin ich ein sehr faules Mädchen, dem Briefeschreiben
- eine große Last ist. Ich habe nämlich eine sehr, sehr große Bitte
- an Sie. Liebe, gute Esther, aber Sie müssen mir nicht böse sein --
- bitte, bitte, heirathen Sie doch Bertel an meiner Stelle! -- Wissen
- Sie, liebe Esther, ich bin ein gar zu dummes, kindisches, kleines
- Mädchen, über das sich der kluge Bertel seit den wenigen Tagen unserer
- geheimen Verlobung schon so sehr viel geärgert hat, und ich kann doch
- wirklich nichts dafür. Wir hätten uns lieber gar nicht mit einander
- verloben sollen; denn wenn ich Ihnen ganz heimlich etwas sagen darf,
- (aber verrathen Sie es nicht!) ich fürchte mich vor dem gelehrten,
- ernsthaften Bertel! Und das ist doch gar nicht hübsch; denn ich traue
- mich gar nicht mehr zu lachen und vergnügt zu sein, weil Bertel dann
- immer schilt. Er ist der einzige Mensch, dem ich nicht gefalle, und
- das ist doch zu ärgerlich für mich! Ich weiß gar nicht, warum Papa
- es so gern wollte, daß ich Bertels Braut werden sollte, für einen
- gelehrten Mann passe ich doch gar nicht. Mir gefällt ein hübscher
- Officier viel tausendmal besser, und der junge Graf Redern, der immer
- so liebenswürdig zu mir ist und so fröhlich mit mir lacht, sieht
- viel prächtiger aus in seiner glänzenden Uniform und dem schwarzen
- Schnurrbart, als Bertel in seinem dunklen Röckchen, obwohl Bertel
- zehn Mal schöner ist als er. Sehen Sie, liebe, gute Esther, Sie sind
- so furchtbar klug und gelehrt, Sie gefallen Bertel hundert tausend
- Mal besser, als ich kleines Gänschen, und Sie haben ihn ja auch so
- sehr lieb, sonst hätten Sie gewiß nicht alles das für ihn gethan und
- ertragen, was Tante Booland mir erzählt hat. Ich weiß, Bertel möchte
- mich jetzt so gern wieder los sein, und mir wäre es auch viel lieber,
- er heirathete eine Andere, als mich. Ich werde ihm das sagen, sobald
- er zu mir kommt, und dann müßt Ihr Beide ein Paar werden. O wie ich
- mich darauf freue! Und nicht wahr, liebe Esther, wir werden dann recht
- gute Freunde? Denn wenn ich Sie nicht jetzt schon so lieb hätte,
- gönnte ich Ihnen meinen lieben, schönen, klugen Bertel doch nicht!
- Kommen Sie recht recht bald zu uns Allen, es erwartet Sie mit offenen
- Armen
-
- Ihre =Susanne=.
-
- _P. S._ Ich habe gehört, daß Sie tief brünett sind, das paßt herrlich
- zu dem blonden Bertel! Ich meine, ein blonder Mann muß immer eine
- brünette Frau haben und umgekehrt. Ich bin ein Blondkopf, also? -- --«
-
-
-Nun siegelte das junge Mädchen den Brief rasch, schrieb die Adresse
-darauf und steckte ihn in die Postmappe, welche jeden Abend nach der
-nächsten Poststation getragen wurde. Als sie dies Geschäft beendet,
-seufzte sie tief auf, strich sich die blonden Löckchen aus der Stirn,
-die bei der ungewohnten Anstrengung herabgefallen waren, und sah in
-den Mond, der eben über den Bäumen des Parkes heraufstieg. Aber ihre
-Gedanken wurden schnell durch das Rollen eines Wagens abgezogen. Herr
-von Sassen und seine Cousine kehrten zurück. Susanne lauschte, bis ihr
-Vater in seinem Zimmer war, dann trippelte sie eilig zu ihm. Als sie
-bei ihm eintrat, nahm sie eine sehr ernsthafte Miene an, und indem sie
-ihre zierliche kleine Figur so hoch aufrichtete, als ihr überhaupt
-möglich war, stellte sie sich vor ihren Vater.
-
-»Papa, ich habe etwas sehr Ernsthaftes mit dir zu sprechen!« sagte sie
-feierlich und zog das weiche Kindergesichtchen in ernste Falten.
-
-»Wie? Etwas Ernsthaftes, meine lustige, kleine Lachtaube?« sagte Herr
-von Sassen fröhlich. »Da bin ich aber wirklich neugierig zu hören,
-was das sein mag.« Dabei nahm er den Lockenkopf seines hübschen
-Töchterchens zwischen beide Hände und sah ihr lustig in die braunen
-Rehaugen. Susanne entzog sich aber den Liebkosungen des Vaters und
-sagte schmollend: »Papa, du denkst immer, ich kann niemals ernsthaft
-sein. Aber ich bin wirklich kein kleines Kind mehr, und damit du
-siehst, ich kann auch einmal etwas ganz Ernsthaftes denken, so will ich
-dir nur sagen, daß ich mir überlegt habe, ich will Bertel lieber nicht
-heirathen.«
-
-Herr von Sassen fuhr überrascht auf. »Und das nennst du ernsthaft
-sprechen, kleine Suse?« lachte er, blickte dabei aber sein Töchterchen
-doch etwas schärfer an; denn sie sah allerdings nicht aus, als scherze
-sie. Sie stand mit gesenkten Augen vor ihm, und als sie dieselben
-aufschlug, waren sie voll Thränen.
-
-»Suschen, mein Herzenskind, was ist denn vorgefallen?« rief Herr von
-Sassen erschrocken; denn Thränen in des fröhlichen Kindes Augen, das
-war etwas ganz Unerhörtes. Susanne fiel dem Vater plötzlich um den
-Hals, und ihr blondes Köpfchen in den dunklen Vollbart desselben
-schmiegend schluchzte sie bitterlich.
-
-»O Papa, Papa!« rief sie endlich flehend, »erlaube doch nur, daß ich
-Bertel nicht heirathe! Wir Beiden passen wirklich nicht zusammen. Wenn
-du deine kleine Susanne lieb hast, Papa, zwinge mich nicht, und sei
-mein guter, lieber kleiner Papa, der du immer gewesen bist!«
-
-Und nun schlang sie ihre vollen weichen Arme von Neuem zärtlich um
-seinen Hals und küßte seinen Mund und seine Augen so stürmisch, daß er
-gar nicht im Stande war, sogleich zu antworten. Endlich aber machte er
-sich frei und blickte sein Kind kopfschüttelnd an.
-
-»Ich begreife dich nicht, Susanne,« sagte er ernst. »Den braven,
-schönen Bertel, auf den jedes Mädchen stolz sein würde, willst du nicht
-haben? Ich denke, du bist die glücklichste Braut unter der Sonne? Aus
-euch Mädchen werde ein Anderer klug! Und das jetzt so wie aus der
-Pistole geschossen? Weiß denn Bertel, daß du andern Sinnes geworden
-bist? Wie kränkend ist das für ihn. Und ich freute mich so, einen so
-ausgezeichneten Schwiegersohn zu bekommen. Ich begreife dich wirklich
-nicht, Susanne.«
-
-Das junge Mädchen zog den Vater zum Sopha, und sich dicht an ihn
-schmiegend sagte sie leise: »Papa, komm, ich will dir alles erzählen!«
-Und dann legte sie ihren Kopf an seine Schulter, nahm seine große Hand
-zärtlich zwischen ihre kleinen, feinen Fingerchen und erzählte ihm die
-Geschichte, die sie soeben in der dunklen Laube im Garten gehört hatte.
-
-Als sie zu Ende war, saß Herr von Sassen noch eine lange Weile
-schweigend neben seiner Tochter. Endlich küßte er ihre Stirn und sagte
-sanft: »Und du, kleine Susanne, an dich selbst denkst du gar nicht
-dabei?«
-
-»O Papa,« rief das junge Mädchen lebhaft, »an mich denke ich wohl.
-Soll ich es dir gestehen? Mir ist zu Muthe, wie meinem Papagei vorhin.
-Nachdem ich die Schnur abgelöst, die ich um sein Bein gebunden, um ihn
-fest zu halten, schlug er fröhlich mit den Flügeln und war so vergnügt,
-wieder frei zu sein. Mich hat meine Fessel schon in den paar Tagen so
-gedrückt, daß ich gar nicht mehr recht lustig sein konnte. Bertel ist
-so schön und gut, das ist wahr; aber er ist dabei so furchtbar klug und
-gelehrt -- und das Papa, das paßt nicht für mich, und ich passe nicht
-für ihn. Es ist mir ein wahrer Trost, daß ich es jetzt weiß, er wird
-froh sein, wenn ich ihm sein Wort zurückgebe. Nun kann ich doch auch
-wieder lachen und jubeln wie früher, ich glaube, bei Bertel hätte ich
-das ganz und gar verlernt.«
-
-»Wenn es so steht, mein Kind, und nicht der Edelmuth allein dich
-bestimmt, so ist es freilich besser, wir lösen das Band,« sagte Herr
-von Sassen ernst, Susanne aber blickte ihn lachend an und rief: »Nein
-Papa, zu einer Tugendheldin ist deine kleine Suse verdorben. Hätte ich
-Bertel wirklich lieb, so wie ich denke, daß man seinen Bräutigam lieb
-haben =muß=, dann hätten tausend Esthers kommen können, ich wäre nicht
-zurückgetreten.«
-
-»Ich will gleich einige Worte an Bertel schreiben, das sind wir ihm
-schuldig,« sagte Herr von Sassen aufstehend.
-
-»Ja, ja, thue das, Papa,« rief Susanne und küßte den Vater noch einmal
-herzlich, dann hüpfte sie fröhlich trällernd zur Thür hinaus. Herr
-von Sassen blickte ihr sinnend nach, dann stützte er den Kopf in die
-Hand und seufzte. »Sie mag recht haben, dies Kind ist nicht für Hubert
-geschaffen,« sagte er traurig. »=Mir= geht es an das Herz, diesen
-lieben Jungen nicht Sohn nennen zu können, =sie= jubelt und singt, daß
-sie ihn los ist. O ihr Mädchen, was seid ihr für ein wunderlich Volk!«
-Dann griff er zur Feder und schrieb:
-
-
- »=Lieber Hubert!=
-
- Soeben macht mir meine kleine Susanne das Geständniß, daß sie trotz
- aller Liebe und Bewunderung, die sie für Dich hege, doch nicht deine
- Frau werden wolle und mich bitte, Dir das mitzutheilen. Sie behauptet,
- Ihr Beiden paßtet nicht für einander, und da ich mein einzig Kind
- nicht zu einem Bunde zwingen will, dem ihr Herz widerspricht, so
- bitte ich Dich, sie frei zu geben. Ein inniger Wunsch meines Herzens
- geht freilich damit zu Grabe; denn ich hätte Dich so gern meinen Sohn
- genannt! Aber, lieber Bertel, wenn auch meine wunderliche kleine
- Tochter anderen Sinnes geworden ist, mir wirst Du immer so lieb sein
- und bleiben, als wärest Du mein Sohn. Sieh' auch ferner noch mein Haus
- als das Deine an, und wie sich auch Deine Zukunft gestalten möge, Du
- wirst jederzeit einen treuen, väterlichen Freund besitzen in
-
- Deinem =Adolph von Sassen=.«
-
-
-Diesen Brief in der Hand stürzte Hubert in das Zimmer seiner alten
-Freundin, Frau Booland.
-
-»Das ist dein Werk, Du Zauberin, sieh' hier!« rief er und warf das
-Blatt Papier der Alten in den Schooß; dann umschlang er sie mit beiden
-Armen und erdrückte sie fast vor ungestümer Freude.
-
-»Ich bin ja frei, Tante, frei wie der Vogel in der Luft. O Dank, Dank!
-Nicht wahr, du bist es, die mich gerettet hat?«
-
-Die Alte schob den Ungestümen sanft von sich, um den Brief zu lesen,
-der so verhängnißvolle Worte enthielt. Dann nickte sie mit dem Kopfe
-und sagte bewegt: »Braves, liebes Kind! Sie hätte es sicher auch
-gethan, selbst wenn sie dich lieb gehabt hätte! O Bertel, dies liebe
-Herz ist besser als du denkst! In diesem leichtherzigen, sorglosen
-Kinde ruht ein tief gefühlvolles, edles Gemüth. Du hast sie nicht
-geliebt, sonst hättest du den Schatz wohl erkannt, und sie hätte sich
-an deiner Seite herrlich entwickelt; Gott gebe ihr ein anderes Herz,
-das es versteht, sie glücklich zu machen; denn wahrlich sie verdient
-es!«
-
-Nun hatten die Beiden noch eine lange Unterredung, und die Folge
-derselben war ein äußerst geschäftiges Kramen und Gehen und Bedenken
-von Seiten unserer guten alten Dame Booland, die einen riesenhaften
-Entschluß gefaßt hatte. Am andern Morgen wanderte sie schon in früher
-Stunde eilig durch das Dorf, dem Pfarrhause zu, um ihrer lieben
-Pastorin das volle Herz auszuschütten, während Hubert indessen eine
-wichtige Zwischensprache mit seiner Mutter hielt. Frau von Ihlefelds
-Herz hatten in der ganzen letztvergangenen Zeit tausend widerstreitende
-Gefühle und Gedanken bestürmt; denn wenn bisher einerseits ihr
-sehnlichstes Wünschen und Hoffen dahin gerichtet war, ihrem Sohne
-durch die Verbindung mit der Familie von Sassen den Weg zu Reichthum
-und Wohlbehagen zu bahnen, so fühlte sie andererseits doch gar wohl,
-welches Unrecht sie dadurch an der großherzigen Esther beging, und mit
-welchem Undank sie die Opfer dieses edlen Mädchens lohnte, deren Liebe
-zu Bertel ihrem scharfsichtigen Frauenauge nicht entgangen war. Aber
-Hubert schien Esther nicht zu lieben, sonst hätte er sich schwerlich
-den Bitten seiner Mutter gefügt. Das war für Frau von Ihlefeld eine
-große Beruhigung; jetzt mußte man suchen, sich Esther auf irgend eine
-Weise dankbar zu erzeigen für alles, was sie gethan hatte. Die Mittel
-dazu mußten sich finden, es konnte nicht allzu schwer sein; denn
-Esther war ja ein einfaches, anspruchsloses Mädchen. Aber als jetzt
-nach Ankunft von Esthers letztem Briefe ihr Sohn so aufgeregt davon
-stürmte, da schlug auch Frau von Ihlefelds Herz unruhiger. Was hatte
-Bertels Gemüth so heftig bewegt, als er diesen Brief las? Ahnte er
-Esthers Liebe zu ihm, die ja nicht mehr zu verkennen war? Jetzt aber
-war ja die Brücke abgebrochen, an Esther durfte er nicht mehr denken!
-Wie gut, daß dieser Brief erst jetzt kam, nachdem alles fertig und
-Bertels Zukunft gesichert war; wäre er früher gekommen, Hubert wäre
-schwerlich auf ihre Pläne eingegangen! Während Frau von Ihlefeld noch
-ihren Gedanken nachhing, trat ihr Sohn mit dem Briefe Herrn von Sassens
-zu ihr, freilich ohne zu gestehen, wer diese Wandlung in Susannes Seele
-hervorgerufen. Da aber erwachte der ganze Stolz in dem Herzen der
-noch immer vornehmen Frau; zornig fuhr sie auf und rief heftig: »Wie?
-Das bietet man uns? O wahrlich, in früheren Tagen hätte man das nicht
-gewagt! Erst weiß man nicht Wege genug, dich heran zu ziehen, und jetzt
-wirft man dich wieder fort, wie ein Spielzeug, das der albernen kleinen
-Prinzessin nicht mehr gefällt! Und der schwache Vater leidet solche
-Thorheit? O sie ist deiner gar nicht werth, das leichtsinnige Ding!
-Dich so zu behandeln, es ist ja empörend. Gut denn, laß sie laufen,
-sie verdient es nicht besser! Gott sei Dank, wir haben jetzt nicht
-mehr nöthig, durch andere unsre Lage zu verbessern. Wenn es auch kein
-großes Vermögen ist, das wir erhalten, so genügt es doch, bis du einmal
-eine Anstellung bekommst. Und weißt du, was du jetzt thun solltest,
-Bertel, gerade um der hochmüthigen Susanne zu zeigen, daß du dir aus
-ihrem Korbe nichts machst? Verlobe dich mit unserer Esther! Sie liebt
-dich, dessen bin ich sicher, und wenn ich es recht bedenke, kannst du
-eigentlich nie ein Mädchen finden, das besser zu dir paßt. Freilich,
-sie ist nur ein Bürgerkind, und unser alter Adel wird arg dadurch
-geschädigt; -- aber lieber Gott, wir sind dem guten Mädchen doch sehr
-viel Dank schuldig, und sie wird dich und mich sicher stets mehr in
-Ehren halten, als es jene leichtfertige Susanne gethan hätte.«
-
-Hubert hatte seine Mutter ruhig ausreden lassen; denn das Herz war ihm
-so übervoll, daß er jeden Augenblick in Gefahr war, sein Geheimniß zu
-verrathen. Seine Mutter aber durfte nicht ahnen, daß er selbst die Hand
-zu dem Bruche mit Susanne geboten, sie hätte ihm das nie vergeben.
-Rastlos schritt er während ihrer Rede in dem kleinen Zimmer auf und
-nieder. Als aber Frau von Ihlefeld von dem neuen Verlobungsplane
-sprach, da trat er rasch an das Fenster, seine Bewegung zu verbergen.
-So freudig überrascht er auch war, von seiner Mutter selbst eine
-Aufforderung zu erhalten, von der er sich gefürchtet hatte, ihr zu
-sprechen, so verletzte es ihn doch, daß sie glauben konnte, sein Herz
-sei so rascher Wandelung fähig. Wie, wenn er nun Susanne wirklich
-geliebt hätte, wie sie geglaubt? Konnte er dann augenblicklich eine
-Andere an ihre Stelle setzen? Und seine Mutter gestand jetzt, sie
-habe gewußt, daß Esther ihn liebte; trotz alledem überredete sie ihn
-zu der Verbindung mit Susanne! In Huberts Seele stritten tausend
-Gedanken mit einander, und er fühlte, daß sein Herz mehr und mehr von
-bittren Gefühlen gegen seine Mutter erfüllt wurde, in deren Händen er
-wie Wachs bald so bald so geformt werden sollte, gerade wie es ihren
-Zwecken entsprach. Aber endlich verwandelte sich diese Bitterkeit in
-Zorn gegen sein eigenes, schwaches Gemüth, das diesen Anmuthungen so
-wenig eigene Willenskraft entgegengesetzt hatte. Seine Mutter, so
-wenig er auch deren Handlungsweise billigen konnte, war doch nur durch
-die Liebe zu ihrem Sohne dazu getrieben worden; ihr durfte er nicht
-zürnen. So gab er denn keinem jener bittern Gedanken Worte, sondern
-sich zu seiner Mutter wendend, sagte er weich: »Liebe Mutter, es ist
-mir lieb, daß Susanne mir ihr Wort zurückgegeben. Ich hätte sie nie
-glücklich machen können; denn seit der Ankunft von Esthers Brief weiß
-ich erst, wie sehr ich Esther liebe und immer geliebt habe. Ich danke
-Gott für diese Lösung, und ich bin glücklich, daß dein Wunsch mit dem
-meinen zusammentrifft. Eine bessere Tochter, als Esther könnte ich dir
-nie zuführen.« Dann küßte Hubert mit Innigkeit seiner Mutter, die ihn
-betroffen anblickte, die Hand; aber Beide schwiegen, denn sie fühlten
-wohl, daß es besser sei, alles Weitere unerörtert zu lassen.
-
-Frau von Ihlefeld wandte das Gespräch auf den Brief, den sie soeben im
-Begriff war, sowohl an Esther, als auch an Herrn Richard zu schreiben,
-um Esther aus der peinlichen Situation zu erlösen, in welcher das brave
-Kind sich befand.
-
-»Nur an Herrn Richard schreibe sogleich, liebe Mutter; alles andere
-übernehme ich selbst,« sagte Hubert freudig erröthend. »Morgen früh
-reise ich selbst zu Esther.«
-
-Frau von Ihlefeld blickte erstaunt auf ihren Sohn, dessen rasches
-entschlossenes Wesen ihr etwas ganz Neues war. Sein Gesicht war
-plötzlich so strahlend schön geworden, von Wonne und Glückseligkeit,
-daß sie ihr Auge fast erschrocken auf ihm ruhen ließ; denn jetzt erst
-erkannte sie, was in ihrem Sohne vorging. »Bertel, mein liebes, theures
-Kind!« rief sie unwillkürlich und streckte ihm die Arme entgegen, und
-mit dem jubelnden Ruf: »O meine Mutter!« hielt der Sohn seine Mutter
-umschlungen.
-
-Für Esther war indessen die Zeit mit bleiernem Flügelschlage
-dahingeflogen. Ein unsägliches Weh erfüllte ihre Brust; sie hätte sich
-am liebsten nieder gelegt, um nie wieder aufzustehen; denn was sollte
-sie noch hier auf Erden, wo Glück und Freude für sie verschwunden
-waren. Müde und gleichgültig saß sie eines Abends am Fenster ihres
-Zimmerchens und schaute in die fast unheimliche Gluth, welche die
-sinkende Sonne über Himmel und Meer verbreitete, als solle die ganze
-Erde von dem glühenden Feuer verzehrt werden. Endlich verblichen die
-brennenden Tinten; kalte Abendschatten legten sich über Land und
-Meer, und der Zauber von Licht und Glanz, der soeben noch die Welt
-in wonniger Pracht erstrahlen ließ, er war geschwunden; graue Nebel
-stiegen empor, und erloschen war aller Reiz und alle Schönheit.
-
-»Wie mein Leben!« seufzte Esther, die trüben Blicke über das Meer
-hinübersendend. »Seine Liebe war die Sonne, in deren goldnem Scheine
-mein armes Leben in wunderbarer Herrlichkeit lachte -- nun ist meine
-Sonne erloschen, mein Leben todt und reizlos und von grauen Nebeln
-umhüllt!«
-
-Sie legte ihren Kopf gegen die kalten Scheiben des Fensters, denn ihre
-Stirn brannte und suchte Kühlung. Da wurde an die Thür geklopft. »Ein
-Brief, mein Fräulein!« Hastig griff Esther nach demselben. Er war auf
-der Heimath, aber die Schrift kannte sie nicht. Mit fliegender Hand riß
-sie ihn auf; es war Susannes Brief.
-
-Als Esther das Schreiben gelesen, strich sie langsam über ihre Stirn.
-War es denn Wirklichkeit, was sie soeben durchlebte, oder trieben
-muthwillige Träume ihr Spiel mit ihr? Sie trat näher an das Fenster,
-den Brief noch einmal zu lesen; aber ihr armer Kopf, der in den letzten
-Tagen so Furchtbares durchdacht und durchkämpft, schwindelte heftig,
-und die Buchstaben schwammen durch einander. Esther zündete Licht an,
-ging einige Male im Zimmer auf und nieder, um sich zu sammeln, und dann
-setzte sie sich still in den Lehnstuhl, den Brief noch einmal ruhig zu
-lesen. Während ihre Augen diese Zeilen jetzt von Neuem durcheilten,
-flog mehrere Male ein Lächeln über ihre Züge, und endlich schüttelte
-sie wehmüthig den Kopf. »Liebes, herziges Kind,« seufzte sie leise, »du
-ahnst nicht, was deine Worte mir für Schmerzen bereiten! Gott, mein
-Gott, was heißt das alles nur? Sie weiß von meiner Liebe zu Bertel,
-die mir bis vor Kurzem selbst noch ein Geheimniß war? Sollte Tante
-Booland mit ihr davon gesprochen haben? aber ich selbst habe ja nie
-etwas gesagt, das sie dazu berechtigte, und diese treue Seele würde
-mein heiligstes Geheimniß doch nicht preisgeben. Und wem preisgeben!
-Der Braut dessen, den ich liebe. O nein, nein, das ist unmöglich. Aber
-woher sonst sollte Susanne es wissen? Und Bertel? O wenn er dieses
-holde, kleine Geschöpf wirklich liebt, wie trostlos muß er sein, daß
-sie ihm sein Wort zurückgiebt und den Bund wieder löst, der ihn so
-zu beglücken schien. In welches Wirrsal stürzt mich dieser kindische
-Brief! Und dabei keine Nachricht von den Meinen! Jetzt könnte doch nun
-Antwort hier sein; warum schreibt nur niemand?
-
-Es war für Esther eine traurige Nacht, welche der Ankunft dieses
-Briefes folgte. Schlaflos wälzte sie sich auf ihrem Lager umher,
-und tausend Gedanken durchkreuzten ihren heißen, schmerzenden Kopf.
-Hoffnung, Liebe und Zuversicht kämpften mit Schmerz und Zweifeln,
-und erst der heraufdämmernde Morgen brachte ihr Schlaf und Ruhe.
-Sie schlief schwer und tief viele Stunden lang; es war als ob ihr
-erschöpfter Körper Kräfte sammeln wollte für die bevorstehenden
-Wonnetage, welche leise und sonnig, aber ungeahnt fern am Horizonte
-heraufzogen.
-
-Die Sonne stand schon hoch im Mittag, als Esther erwachte. Ueberrascht
-fuhr sie empor und rieb sich die Augen; ihr war, als hätte sich etwas
-Besonderes zugetragen, aber lange konnte sie keinen klaren Gedanken
-fassen. Ein Klopfen an der Thür schreckte sie auf. Hastig sprang sie
-empor und öffnete. Es war die Hauswirthin, welche ihr mittheilte, ein
-Herr habe vor einiger Zeit nach ihr gefragt, da Mademoiselle aber auf
-öfteres Klopfen nicht geantwortet, so sei der Herr wieder fortgegangen
-mit dem Versprechen, in einigen Stunden wieder vorzufragen.
-
-Esther forschte nach dem Aeußeren des Fremden, und aus der Beschreibung
-schien ihr hervorzugehen, daß Herr Richard sie besucht habe. Ihr Herz
-schlug stürmisch. Schnell kleidete sie sich an, und kaum war sie
-fertig, da sah sie wirklich Herrn Richard auf das Haus zuschreiten und
-gleich darauf bei ihr eintreten.
-
-»Mein Fräulein,« sagte der Kaufmann, indem er zögernd an der Thür
-stehen blieb, »darf ich es wagen, Sie aufzusuchen, nachdem Sie neulich
-so tief beleidigt von mir schieden? Ich komme, Sie um Verzeihung zu
-bitten, daß ich Sie so bitter kränkte. Aber die Umstände, unter denen
-ich Sie kennen lernte, müssen mein Betragen gegen Sie entschuldigen;
-ich kann jetzt eben nichts weiter thun, als die Bitte an Sie richten:
-Verzeihen Sie mir, denn ich kannte Sie nicht.«
-
-»Warum sind Sie jetzt andrer Meinung geworden, mein Herr?« fragte
-Esther mit leise zitternder Stimme, ohne jedoch ihrem Gaste einen
-Schritt entgegen zu treten.
-
-»Hier diese Zeilen sagen mir, welches edle Herz ich beleidigt und
-gekränkt habe!« rief Herr Richard und hielt dem jungen Mädchen einen
-Brief hin. Esther trat jetzt schnell näher und erkannte Frau von
-Ihlefelds Handschrift.
-
-»Frau von Ihlefeld hat Ihnen geschrieben, mein Herr?« sagte sie hoch
-erröthend. »Sind Sie angewiesen, mir das Geld zu übergeben?«
-
-»Wenn ich recht verstehe, so wird Herr von Ihlefeld in diesen
-Tagen selbst kommen, die Schuld einzufordern,« entgegnete Herr
-Richard sorglos, erschrak aber über die Wirkung, welche diese Worte
-hervorbrachten.
-
-»Selbst? Er will selbst kommen?« stammelte Esther erbleichend, und
-plötzlich vergingen ihr die Sinne. Mit einem leisen Stöhnen sank sie
-zusammen, und fiel dem rasch zuspringenden Herrn Richard bewußtlos in
-die Arme.
-
-Als sie sich endlich erholte, blickte sie scheu und erschrocken um
-sich; bald aber war sie wieder das starke Mädchen, und hörte jetzt
-ruhig an, was Herr Richard ihr mitzutheilen hatte. Dieser erzählte nun,
-daß Frau von Ihlefeld ihm geschrieben, Esther Wieburg sei der gute
-Engel ihres Hauses; was sie für ihren Sohn und sie selbst gethan, könne
-nur Gott dem edlen Kinde vergelten, und wer ihr wehe thue, kränke ein
-Herz, das immer nur für das Glück Anderer geschlagen.
-
-»Und ich habe dies Herz so tief gekränkt!« schloß Herr Richard, der
-erglühenden Esther herabhängende Hand an seine Lippen führend. »Sagen
-Sie mir, Fräulein Esther, wollen Sie mir verzeihen?«
-
-Das junge Mädchen blickte ernst vor sich hin. »Sie kannten mich ja
-nicht, Herr Richard,« sagte sie sanft, »und ich glaube, es war sehr
-thöricht von mir, jene Forderung ohne Beweisgründe an Sie zu stellen.
-Es mag in der Welt wohl so viel schlechte Menschen geben, daß man
-sich vorsehen muß. Lassen wir das jetzt. Mein Zürnen war vielleicht
-ganz ungerecht; Sie konnten wohl kaum anders handeln, als Sie gethan,
-das sehe ich mehr und mehr ein, da ich ruhiger darüber nachgedacht
-habe. Aber nun lesen Sie mir die Worte vor, die Sie zu der Vermuthung
-veranlassen, Hubert werde selbst kommen.«
-
-Herr Richard faltete den Brief und überlas ihn schnell. »Hier ist's,«
-sagte er dann und las: »Was nun die Geldsumme betrifft, von welcher
-der Schuldschein meines Vetters spricht, so soll diese Sache der
-braven Esther keine Mühe mehr verursachen. Mein Sohn wird selbst....«
-In diesem Augenblicke aber hörte man eine Stimme in dem Hausflur.
-Esther stieß einen lauten Schrei aus und sprang empor; aber ihre Füße
-zitterten so heftig, daß sie kraftlos auf ihren Sitz zurückfiel. Da
-hörte man rasche Schritte; die Thür flog auf, und Bertel stand in dem
-Zimmer. »Esther!« rief er jubelnd und in demselben Augenblicke lag das
-geliebte Mädchen an seiner Brust.
-
-Lange fanden die beiden glücklichen Menschen kein Wort für das
-Entzücken ihres Herzens. Esther war so erschüttert von diesem
-plötzlichem Wiedersehen, daß sie kraftlos und weinend in ihres Freundes
-Armen lag, der ihren lieben Kopf zärtlich küßte und immer von Neuem an
-seine Brust drückte. Die süßesten Schmeichelnamen, wie sie nie über
-seine Lippen gekommen, flüsterte er dem vor Freude erbebenden Mädchen
-in das Ohr, und endlich erhob diese unter Thränen lächelnd ihr Gesicht.
-Nie hatte Bertel bis jetzt so zu ihr gesprochen, nie hatte sie noch an
-seiner Brust gelegen wie jetzt, und noch nie war sie ihm gegenüber so
-schwach und weichmüthig gewesen.
-
-»Verzeih' mir, Bertel; die Freude, Dich wiederzusehen, macht mich ganz
-hinfällig!« sagte sie, die Thränen aus den Augen trocknend. Dann schrak
-sie plötzlich etwas zusammen, machte sich aus Huberts Armen los und
-flüsterte, sich verlegen umschauend: »Aber wir sind ja nicht allein,
-erlaube daß ich dir Herrn Richard....«
-
-Doch kein Herr Richard war mehr in dem Zimmer; an seiner Stelle aber
-stand eine andere Person, welche still, die hellen Thränen auf dem
-guten, alten Gesicht, auf die beiden Kinder ihres Herzens schaute. Es
-war Frau Booland.
-
-»Tante, liebe, gute Tante!« jubelte Esther und flog zu der Alten, die
-ihre großen Arme weit nach ihr ausbreitete und sie dann so energisch
-über ihrem Herzblättchen schloß, als sollten sie sich nie wieder öffnen.
-
-»Aber liebe, einzige Tante Booland, solche Reise hast du zu unternehmen
-gewagt!« rief Esther endlich, als sie wieder auf eigenen Füßen stand;
-denn die große, starke Frau hatte das schlanke Mädchen wie ein kleines
-Kind zu sich empor gehoben, als könne sie nur so ihrer stürmischen
-Zärtlichkeit Genüge leisten. »Du mußt ja Tag und Nacht gefahren sein,
-um schon heute hier anzukommen.«
-
-Die Alte schob die zerknickte Haube zurecht, die im Sturme des
-Entzückens auf und davon zu fliegen drohte, und dann mit ihren großen
-Händen Bertel drohend, der lachend und von Glück strahlend neben Esther
-stand, rief sie ärgerlich: »Hat der Bengel da mir armen, alten Frau
-denn Ruhe gegönnt unterwegs? Durfte ich meine alten Knochen denn auf
-der ganzen heillosen Hetzparthie nur ein einzig Mal ordentlich in ein
-Bett legen? War's nicht immer, als stände einer mit der Hetzpeitsche
-hinter uns und triebe uns vorwärts? Weiß Gott, wie's der Bursche fertig
-gebracht hat, mich ganzbeinig bis hierher zu schleifen, nun aber
-bringen mich keine zehn Pferde von hier wieder fort, ehe ich nicht
-ordentlich einmal wieder ausgeschlafen habe!«
-
-»Aber Tante Booland, die Betten hier zu Lande, bedenke doch! Du hast
-dich ja verschworen, dich in keins wieder zu legen, so lange du in
-diesem heillosen Franzosenlande bist,« rief Bertel lachend.
-
-»Herr du mein Gott, ja da hast du Recht, Kind!« rief Frau Booland
-entrüstet. »Hat man je so etwas von einem Nachtlager erlebt, wie da in
-dem Neste,.... na wie hieß es denn gleich?« »Avignon,« ergänzte Hubert.
-
-»Ja, diesem Avignon! Und das haben sie noch die Frechheit, =Betten=
-zu nennen! Nicht eine einzige Feder ist ja in so einem harten,
-entsetzlichen Dinge von einem Bette! Mein armer Kopf rollte zum
-Verzweifeln immer von einer Seite zur andern auf diesen harten
-Rollkissen, gerade als wälzte ich mich im Fieber. Na und überhaupt,
-ist das ein Land! Solch ein Schmutz, solches Ungeziefer, solche Hitze
-und solcher Staub, und dann.... puh, so entsetzliches Essen! Du armer
-Wurm, wie hast du es denn nur drei Tage hier aushalten können! Ich
-wäre schon am ersten Morgen wieder auf und davon gelaufen. Und dann
-diese Eisenbahnen! O mein Gott, dieser Lärm, dies Getreibe, diese
-Wirthschaft! Wäre es nicht mein Herzblättchen gewesen, das ich mir hier
-aus dem Heidenlande wieder holen wollte, schon in der ersten Stunde
-wäre ich umgekehrt nach meinem lieben, stillen Waldhause! Und solches
-Reisen, solch' Umhertreiben auf Eisenbahnen und Landstraßen, solch'
-Umherwälzen in fremden, himmelschreienden Betten, solch' gräßliches
-Essen und Trinken, Schmachten und sich todt müde und elend machen
-nennen die Leute nun Vergnügen! Na, wenn ich erst wieder glücklich
-in meinem Waldhause auf unserem lieben Dorfe bin, da soll mich Gott
-bewahren, wieder solche Thorheiten zu begehen und mich einem verrückten
-Liebhaber als Reisebegleiter anzubieten!«
-
-Während Frau Booland ihren Gefühlen in dieser Weise Luft machte, hatte
-Bertel Esther neben sich auf das Sopha gezogen, und während er beide
-Hände des jungen Mädchens ergriffen, ruhte sein Auge forschend auf
-ihren Zügen.
-
-»Warst du krank, Esther?« fragte er jetzt angstvoll, und erschrocken
-wandte nun auch Frau Booland ihre Blicke auf ihres Lieblings Gesicht,
-das allerdings von der Anstrengung und dem unbehaglichen Leben der
-vergangenen Monate, und nun gar von den durchkämpften, schweren Tagen
-der letzten Woche schmal und bleich geworden war, wie nie zuvor. Esther
-beruhigte die beiden geliebten Menschen, saß aber unbeschreiblich
-ängstlich und unbehaglich an Bertels Seite, immerfort bestrebt, ihm
-ihre Hände zu entziehen, die er jedoch nicht frei gab. Da erhob sich
-Frau Booland rasch von ihrem Stuhle, auf den sie sich erschöpft
-niedergelassen hatte und sagte, sich die Stirn mit dem Tuche abwischend
-und dann den Staub von ihrem Kleide schüttelnd: »Aber mein Gott, wie
-sieht man nach so einer Reise aus! Es ist ja ganz grauenvoll, solchen
-Schmutz mit sich herum zu tragen. Estherchen, da nebenan ist wohl dein
-Schlafstübchen? Ich will mich dort nur ein Bischen zurecht machen; laßt
-euch die Zeit indessen nicht lang werden, ihr Kinderchen!«
-
-Und eilig huschte sie in das anstoßende, kleine Zimmer, dessen Thür
-nur halb geschlossen war, ihren beiden Lieblingen im Hinausgehen noch
-schelmisch zulächend. Sie klinkte das Thürschloß fest hinter sich zu,
-und Esther war allein mit ihrem Freunde.
-
-»Esther, nicht wahr, du hast einen Brief von Susanne erhalten?« fragte
-Bertel, sobald Frau Booland das Zimmer verlassen.
-
-»Ja Bertel, gestern,« erwiederte Esther und tiefe Gluth flog über ihr
-blasses, bräunliches Gesicht.
-
-»So weißt du, daß wir nicht mehr verlobt sind?«
-
-Esther schüttelte den Kopf und sagte scheu: »Ich kann nicht glauben,
-daß es Susanne Ernst mit diesem kindlichen Briefe gewesen ist. Wenn du
-sie liebst, wird sie sich bald anders besinnen.«
-
-»Aber ich liebe sie ja nicht, Esther!« rief Bertel, das junge Mädchen
-wieder bei beiden Händen ergreifend. »Ich liebe ja niemanden, als
-dich, Esther, du mein Glück, mein Stolz, der gute Engel meines ganzen,
-ganzen Lebens! O, jetzt erst weiß ich es ja, daß ich dich geliebt habe,
-seit wir als kleine Kinder zusammen in Wald und Wiese spielten, und
-ich danke Gott auf meinen Knieen dafür, daß es endlich klar in mir
-geworden ist!« Und nun erzählte Bertel alles, was er seit der Ankunft
-von Esthers letztem Briefe durchlebt und durchkämpft hatte, und wie er
-jetzt nur noch einen Wunsch auf der Welt habe, -- Esthers Liebe.
-
-»Darf ich Undankbarer, Verblendeter denn noch hoffen, daß du mich
-lieben kannst, Esther?« fragte er endlich weich, und seine Stimme
-zitterte. Esther aber schlang ihre Arme um seinen Hals, und das Gesicht
-an seine Wange schmiegend, schluchzte sie: »Mein Bertel, mein lieber,
-ewig geliebter Bertel!«
-
-Im Zimmer war es sehr still geworden, und man hörte nichts, als ein
-merkwürdig lebhaftes Rumoren und Umhergehen in der anstoßenden Kammer.
-Frau Booland mußte eine äußerst umfangreiche Toilette machen, denn es
-dauerte erstaunlich lange, ehe sie damit zu Ende war und wieder in
-dem Zimmer bei Esther und Hubert erschien. Diesen aber war die Zeit
-indessen so wenig lang geworden, daß sie die alte, treue Freundin
-völlig vergessen hatten. Als Frau Booland endlich zu ihnen hereintrat,
-führte Bertel seine Esther zu ihr und sagte: »Hier unserer treuen Tante
-Booland danken wir die glückliche Lösung. Ohne sie wäre ich nicht hier
-und wir Beiden nicht das glücklichste Brautpaar unter Gottes Sonne.«
-
-»Na, Gott sei Dank, daß wir endlich am Ziele sind!« jubelte die Alte,
-ihre beiden Kinder an die breite Brust ziehend, wo sie alle Beide
-reichlich Platz hatten. »Nun aber macht, daß wir von hier fort kommen;
-der Boden brennt mir unter den Füßen.«
-
-Ehe man jedoch an die Abreise denken konnte, mußte die
-Geldangelegenheit mit Herrn Richard in Ordnung gebracht werden. Hubert
-übernahm jetzt diese Sache und war erfreut, in dem neuen Vetter einen
-unendlich liebenswürdigen Mann zu finden. Die Geldsumme, welche sein
-Onkel von Huberts Vater geliehen, hatte gute Zinsen getragen; denn
-jenes Unternehmen, wozu es gegeben worden, glückte über Erwarten. Aus
-den 15 Tausend Thalern waren im Laufe der Jahre zwanzig geworden, und
-Herr Richard, welcher ein ungewöhnlich großes Vermögen erworben hatte,
-war hoch erfreut, durch Rückerstattung jenes Kapitals zum Glücke so
-lieber Anverwandter beitragen zu können. Das fröhliche Lächeln, mit
-dem Esther jetzt den Vetter ihres geliebten Bertel empfing, als dieser
-kam, sie als die Braut seines Anverwandten zu begrüßen, sagte demselben
-besser, als Worte es thun konnten, daß Esther die peinliche Scene,
-welche zwischen ihnen vorgefallen, vergessen habe. »Aber zu unserer
-Hochzeit müssen Sie kommen, lieber Vetter!« rief Bertel in fröhlichem
-Uebermuthe beim Abschiede, »nur dann verzeiht Ihnen Esther ganz.«
-
-Mit wie frohem Herzen sagte jetzt Esther dem Lande Lebewohl, in
-dem sie so viel schwere Stunden durchlebt hatte! In Nîmes sprach
-sie noch bei dem braven, alten Ehepaar Martin vor, um ihnen alles
-Erlebte mitzutheilen und sie mit Hubert und Tante Booland bekannt zu
-machen. Nach le Vigan jedoch führte sie ihre Lieben nicht, so sehr
-sie auch gewünscht hätte, den guten Doktorsleutchen mündlich von
-ihrem Glücke zu erzählen. Aber Tante Booland hätte nie wieder Ruhe
-im Herzen gefunden, hätten ihre eigenen Augen jene Zustände in der
-Pension gesehen, in denen ihr Herzblättchen so lange Zeit leben mußte.
-Aber alle jene herrlichen Gegenden, jene schönen Städte mit all' den
-Sehenswürdigkeiten, woran das Land so reich war, sah und genoß Esther
-jetzt, wie sie es auf der Herreise so sehnlich gewünscht hatte; denn
-langsam und in kleinen Stationen traten sie die Rückkehr in die Heimath
-an, um die alte Frau Booland nicht zu ermüden. Die Behaglichkeit dieser
-Art zu reisen, sowie das Glück ihrer Kinder, das sie umgab, versöhnte
-Frau Booland jetzt auch mit allem, was Reisen hieß, und vergnügt ließ
-sie sich überall herumführen und alles Sehenswerthe zeigen, so daß sie
-nun eine etwas bessere Meinung von dem Lande erhielt, in dem Esther so
-lange gelebt hatte.
-
-Eine unaussprechlich tiefe, stille Glückseligkeit ruhte auf Esthers
-Antlitz, als sie in ihr liebes Dorf einfuhr, und Hand in Hand saßen
-die beiden glücklichen Jugendgespielen nebeneinander, ohne ein Wort zu
-sprechen.
-
-Aber als sie jetzt in die Nähe der Kirche und der ehemaligen Wohnung
-Esthers kamen, da ertönte plötzlich Glockenschall und froher Gesang.
-Blumenkränze in den Händen und bunte Fahnen in der Luft schwingend,
-eilten die Kinder des Dorfes dem Brautpaare entgegen, und jubelnder
-Zuruf begrüßte die Ankommenden, welche unter einem festlich prangenden
-Triumphbogen umringt und angehalten wurden. Pfarrer Krause schritt mit
-seiner Familie an der Spitze des Zuges, und als derselbe den Wagen
-erreichte, hielt der Geistliche im Namen seiner Gemeinde eine kurze,
-freudige Ansprache an Hubert und Esther, in welcher er die Glückwünsche
-aller derer darbrachte, in deren Mitte die Beiden aufgewachsen waren
-und welche bisher alles Leid und alle Freude mit ihnen getheilt
-hatten. Ein lautes Hurrah folgte dieser Ansprache; die Glocken tönten,
-die Fahnen flatterten, und bedeckt von Blumen und Kränzen fuhr das
-junge Paar durch das Dorf, von dessen Einwohnern bis zu dem Waldhause
-geleitet. Auch dies Häuschen war festlich geschmückt; als aber jetzt
-Esther und Bertel an die Brust der Mutter sanken, welche sie in der
-Thür empfing, da blieb kein Auge trocken, und in stiller Rührung
-umstanden die Dorfbewohner das Häuschen.
-
-In ihr Wohnzimmer eingetreten, erblickte Esther eine Menge Blumen und
-Geschenke, welche ihr hier von den Freunden zur Begrüßung dargebracht
-wurden. Zwischen diesen Geschenken stand eine große, geschlossene
-Kiste, welche Tags zuvor erst angekommen war. Sie kam aus Frankreich
-und war an Esther adressirt. Verwundert öffnete das junge Mädchen
-dieselbe und fand eine Fülle der schönsten Stoffe darinnen in Seide,
-Leinen und Battist, wie sie eine junge Hausfrau nur je zur Ausstattung
-ihrer neuen Haushaltung wünschen konnte. Ein kleines Kästchen lag
-obenauf, mit der Inschrift »Esther,« und in demselben ruhte ein
-kostbarer Schmuck nebst einem kleinen Briefe von der Hand des Herrn
-Richard. In den verbindlichsten Worten bat er seine neue Cousine,
-diese Sendung von ihm anzunehmen, als einen Beweis seiner unbegrenzten
-Verehrung für das edelste, tapferste, weibliche Herz, das ihm je
-begegnet sei.
-
-Während Esther mit diesem Briefchen noch ganz bestürzt vor der
-prachtvollen Gabe stand, und Frau Booland in hellem Entzücken bald die
-Steine des Schmuckes im Lichte funkeln ließ, bald wieder die köstlichen
-Stoffe aus einander faltete, wurde auch Bertel ein Briefchen übergeben.
-Es kam von Herrn von Sassen und lautete folgendermaaßen:
-
-
- »Mein lieber Hubert!
-
- Wo alles Dich und Deine liebe Braut mit Jubel empfängt, da will auch
- ich nicht zurückbleiben. Bald hoffe ich Euch persönlich begrüßen zu
- können; für's Erste nur die Nachricht, daß unser verehrter Kronprinz
- soeben die Anfrage an Dich ergehen läßt, ob Du für seine Reise nach
- Italien, Griechenland und dem Orient, welche er in einigen Monaten
- antreten wird, sein Begleiter sein willst. Die Anerbietungen, welche
- außerdem hinzugefügt sind, versprechen so viel Genuß und Vortheile,
- daß ich gewiß bin, Dein Herz jubelt ihnen zu, wenn Dir auch eine neue
- Trennung von Deiner Braut für's Erste wenig lockend sein mag. Eine
- Professur für Archäologie soll im Laufe der nächsten Zeit an der
- Universität B. besetzt werden, und ich müßte mich sehr irren, wenn
- unser gnädiger Kronprinz nicht im Sinne hätte, seinen Reisebegleiter
- für diese Stelle vorzuschlagen, wenn er diesen als einen tüchtigen
- Gelehrten erkannt hat. Daß dem so sein wird, dafür ist mir nicht
- bange, falls Du dieser Reisegefährte bist. Ich freue mich sehr, daß
- meine Dienste, welche ich in früheren Jahren dem Hofe geleistet habe,
- jetzt noch so gute Früchte tragen. Deiner verehrten Braut meinen
- besten Gruß und die Bitte, mir nicht zu zürnen, daß ich ihr den
- Geliebten wieder entführen will, nachdem sie kaum die Schwelle ihres
- Hauses betreten. Meine kleine Susanne sendet Esther aus der Ferne ihre
- Grüße und freut sich, bei ihrer Heimkehr aus B., wohin sie für einige
- Monate durch meinen Bruder entführt worden, eine liebe Freundin in ihr
- begrüßen zu dürfen. Bald umarmt Dich in väterlicher Liebe
-
- Dein =Adolph von Sassen=.«
-
-
-Das waren denn wundervolle Neuigkeiten! Der höchste Wunsch Bertels,
-eine Reise nach jenen Ländern unternehmen zu können, auf deren
-klassischen Boden so reiche Schätze für seine Wissenschaft ruhten,
-sollten sich ihm erfüllen, und unter welch' verlockenden Bedingungen!
-Esther war es zuerst, welche aufjubelte und keinem Zögern Raum gab,
-obwohl sie sich von Neuem von dem Geliebten trennen sollte. »Gehören
-wir uns denn jetzt nicht für ewig, mein lieber Bertel?« rief sie
-freudestrahlend, als Hubert sie etwas trübselig anschaute in dem
-Gedanken abermaliger Trennung.
-
-»Reise in Gottes Namen, mein Geliebter, und wenn du dann heimkehrst,
-laß dir zum Schluß die schöne Professur von deinem Kronprinzen
-schenken; dann wissen wir gleich, wo wir eines Tages, so Gott will,
-unsere Hütte bauen werden.«
-
-Und so geschah es denn auch. Hubert erwarb vor allem den Titel eines
-Doktors der Philosophie, und als solcher begleitete er dann mit
-noch einigen andern strebsamen, jungen Gelehrten den Kronprinzen
-nach jenen schönen Ländern, reiche Schätze sammelnd an Kenntnissen
-und Erfahrungen. Ein ganzes Jahr verging, ehe die kleine Expedition
-heimkehrte, und diese Zeit verlebte Esther in ihrem Waldhause in
-stillem, glücklichen Seelenfrieden. Tante Booland war unermüdlich, an
-der Ausstattung des jungen, künftigen Haushaltes zu arbeiten; Frau von
-Ihlefeld aber fühlte täglich von Neuem, welchen Schatz sie an Esther
-gewonnen. Keine andere Tochter hätte ihr je mit größerer Liebe und
-Verehrung anhängen, keine ihr je die Tage mehr verschönern können, als
-dieses Mädchen, das so brav und klug, so selbstvergessend und treu
-stets für die Ihren lebte und dachte.
-
-Als dann endlich das Trennungsjahr vorüber und Bertel heimgekehrt war
-von seiner Reise, da schaute die Morgensonne eines Tages mit ganz
-besonderem Glanze in die freundliche, reich geschmückte Dorfkirche
-von Rahmstedt. Hier stand Pastor Krause am Altare, und seine tief
-bewegten Worte erklangen feierlich in dem kleinen Gotteshause, das die
-Menge der Andächtigen kaum fassen konnte. Zu den Füßen des Geistlichen
-aber kniete ein junges Paar, deren Ehebund seine Hand einsegnete; es
-war Hubert und Esther. An dem Schicksale dieser braven Kinder des
-Dorfes Rahmstedt nahm Alt und Jung den innigsten Antheil, und es war
-ein langer, fröhlicher Zug, welcher das junge Paar nach dem reich
-bekränzten Waldhause geleitete, in dem Tante Booland ein festliches
-Hochzeitmahl hergerichtet hatte. Am selben Tage führte Bertel dann
-seine Esther als stattliche Frau Professorin nach B., der neuen Heimath
-des glücklichen Paares, denn hier hatte der talentvolle, junge Mann
-in der That jene Stelle an der Universität erhalten, von der Herr von
-Sassen gesprochen.
-
-Wenige Monate später begrüßte ein anderes junges Ehepaar auf der
-Durchreise unsere Freunde in B. Die blonde Susanne lag bald lachend,
-bald weinend an Esthers Halse, ihr hübscher junger Gatte aber, jener
-schwarzbärtige Graf Redern, dem das junge Mädchen bald nach Esthers
-damaliger Rückkehr Herz und Hand geschenkt hatte, stand ungeduldig
-daneben, um auch seinerseits die hübsche Frau Professorin zu begrüßen,
-an der seine kleine Frau mit so schwärmerischer Liebe hing. Bald darauf
-flog das schöne, junge Paar dem herrlichen Italien zu, lustig und
-fröhlich wie ein paar glückliche Kinder, welche für einander geschaffen
-schienen zu heiterer Lebenslust. Auch Frau von Ihlefeld folgte ihren
-Kindern bald nach, und an dem häuslichen Heerde derselben, an dem nur
-Friede und Freude waltete, erblühten der schwer geprüften Frau noch
-einmal frohe, glückliche Tage. In diesem Hafen konnte sie ausruhen
-von allen Stürmen, die über sie dahin gezogen, und einen frohen
-Lebensabend genießen, den die Liebe ihrer Kinder verschönte. Tante
-Booland aber hütete stillen und fröhlichen Sinnes das kleine Waldhaus
-in Rahmstedt, in dem Esther in jedem Sommer einige Wochen oder Monate
-verlebte, dankbaren Herzens ihrer Kindheit gedenkend und all' der
-wechselvollen Schicksale, welche ihr jetziges Glück an der Seite ihres
-Bertel begründete. Die wissenschaftliche Ausbildung, welche sie einst
-gemeinsam mit ihrem Spielkameraden erhalten, befähigte sie jetzt, den
-Arbeiten Bertels mit Interesse und Verständniß zu folgen, und was sie
-einst so sehnlich gewünscht: ein Knabe zu sein, um Antheil nehmen zu
-können an ihres Gespielen ehrenvoller Laufbahn, das wurde ihr nun in
-=der= Weise zu Theil, wie es eben für ein weibliches Wesen am besten
-und wünschenswerthesten ist. Wie früher das Kind Esther, so kannte auch
-jetzt Bertels Gattin kein schöneres Ziel und keine bessere Aufgabe,
-als Huberts Lebensglück und keinen höheren Stolz, als den Ruhm ihres
-Gatten.
-
-
-
-
- Verwaist.
-
-
-
-
- Erstes Kapitel.
-
- Der Abschied.
-
-
-»Dacht' ich's doch! Da sitzt sie wieder bei ihren Büchern und lernt,
-als sollte sie morgen gleich noch ein Examen bestehen! O du Nimmersatt,
-hast du denn immer noch nicht genug Weisheit?« so rief Fanny, ein
-junges Mädchen von 16 Jahren, indem sie in ein großes Zimmer trat,
-dessen ganze Einrichtung den Charakter einer Schulstube trug. Mitten an
-einem der kahlen Arbeitstische, die mit Büchern und Schreibmaterialien
-bedeckt waren, neigte sich ein anderes junges Mädchen über ihre Bücher
-und ließ sich durch den Eintritt Fanny's in ihrer Arbeit wenig stören.
-Diese aber trat hinter den Stuhl der Freundin, schlug ihr neckend das
-Buch zu, und indem sie die Arme um den Hals derselben schlang, fuhr sie
-scheltend fort: »Nein, Agathe, ich lasse dir keine Ruhe, bis du mit mir
-hinaus in den Garten kommst, wo wir Alle beisammen sind. Hier in der
-abscheulichen Schulstube ist es so dumpf und enge, und du bist wieder
-so bleich, daß ich es nicht länger leide, dich hier sitzen zu sehen.
-Du liebe Gelehrsamkeit, ich dächte, heute könntest du dir wahrlich
-Ruhe gönnen! Du hast uns ja beim Examen Alle durch deine Antworten
-überflügelt, und es ist nur eine Stimme darüber, daß du die beste
-Schülerin der Anstalt bist.«
-
-Die Angeredete blickte still vor sich hin und schüttelte den Kopf.
-
-»Du glaubst es nicht, Agathe?« rief Fanny lebhaft. »So geh' und frage
-alle Lehrer, besonders Herrn Lobner; da wirst du erfahren, ob ich Recht
-habe! Aber statt daß du dich darüber freuen solltest, machst du so
-große, traurige Augen, daß mir wahrhaftig selbst ganz bange dabei wird.
-Du bist doch gar zu ernst für deine 16 Jahre, Mädchen!«
-
-Agathe seufzte, und Thränen traten ihr in das Auge. »Kann ich dafür,
-wenn ich ernster bin, als all' ihr andern?« sagte sie sanft. »Ist nicht
-auch meine Zukunft ernst und trübe, und muß ich da nicht doppelt eifrig
-sein, mir so viel Kenntnisse, als möglich, zu erwerben? Was soll denn
-aus mir werden, wenn ich mir nicht selbst in der Welt forthelfen kann?
-Ich habe ja keinen Vater, ach und jetzt auch keine Mutter mehr, die für
-mich sorgt, wie du, beste Fanny! Ach daß =sie= noch lebte!«
-
-Heiße Thränen stürzten bei diesen Worten aus Agathes Augen, und Fanny
-zog die schluchzende Freundin liebevoll an ihr Herz und strich ihr
-sanft über das dunkle Haar. »Du sollst ja in dem Hause deines Onkels
-eine zweite Heimath finden, liebe Agathe!« sprach sie tröstend. »Sei
-doch guten Muthes; deine Zukunft wird sich gewiß besser gestalten, als
-du jetzt fürchtest!«
-
-»O, bei meinem Onkel, Fanny,« schluchzte Agathe; »das ist es ja eben,
-wovor ich mich fürchte! Ich kenne weder ihn, noch die Tante, und obwohl
-meine Mutter immer sehr gut von ihrem Bruder sprach, so ist er mir
-doch ein Fremder, und das Herz schlägt mir so unaussprechlich bange
-bei der Aussicht, in jenem Hause zu leben! Gott mag es mir verzeihen;
-denn gewiß sind solche Gedanken eine große Sünde, und ich sollte lieber
-dankbar dafür sein, daß sie die arme Waise bei sich aufnehmen.«
-
-»Du bist noch zu unglücklich über den Tod deiner guten Mutter und
-siehst alle Dinge deshalb so trübe und schwer an, liebes Herz,«
-tröstete Fanny; Agathe aber schüttelte wehmüthig den Kopf und weinte
-still noch eine Weile am Herzen der Freundin. Endlich aber richtete sie
-sich auf, und getrost die Blicke zum Himmel aufschlagend, sprach sie
-ruhig: »Wie der liebe Gott es will, so mag es geschehen! Diese Thränen
-haben mein Herz erleichtert; nun ist mir wohl. Habe Dank, meine liebe
-Fanny, du treue Seele, daß ich mich gegen dich aussprechen durfte. Aber
-auch von dir soll ich ja scheiden, o von allem, was mir lieb und theuer
-ist!«
-
-»Wir wollen uns recht oft schreiben, Agathe, das wird ein neuer Genuß
-sein, den uns die Freundschaft giebt,« rief Fanny heiter. »Aber nun
-komm' in den Garten; die Luft wird dir gut thun. Von dem vielen Lernen
-wirst du nur noch schwermüthiger.«
-
-»Dürfte ich nur noch hier in der Pension bleiben, bis ich so weit
-ausgebildet wäre, um als Erzieherin mich nützlich zu machen!« seufzte
-Agathe, der Freundin folgend. »Mein größter Kummer wäre es, könnte ich
-beim Onkel meine Studien nicht fortsetzen, was ich fast fürchte.«
-
-»Warte es doch nur erst ruhig ab, du kleinmüthiges Kind! Warum machst
-du dir nur im Voraus solche Skrupel?« scherzte Fanny und nach und nach
-gelang es ihr wirklich, die traurige Freundin zu erheitern und ihr
-die Zukunft in weniger düstern Farben erscheinen zu lassen. Traulich
-plaudernd gingen die beiden jungen Mädchen in dem Garten auf und
-nieder, bis die Hausglocke sie zum Abendbrod rief, und sie im Verein
-mit den übrigen Schülerinnen der Anstalt dem Hause zueilten.
-
-»Kommst du mit mir, Agathe, Herrn Lobner Lebewohl zu sagen?« fragte
-am andern Morgen Fanny, indem sie schnell bei ihrer Freundin eintrat.
-»Sieh, diesen schönen Blumenstrauß und die reizende Tasse hat mir Mama
-für ihn geschickt; ich hoffe, er wird sich freuen. Hast du auch etwas
-für ihn, Agathe?«
-
-»Ich? Nein, Fanny. Was könnte ich armes Mädchen bringen; ich habe ja
-nichts!« sagte Agathe traurig.
-
-»O dann gieb du ihm die Blumen, bestes Herz!« drängte Fanny, Agathen
-den Strauß in die Hand drückend; diese aber gab ihn der Freundin sanft
-zurück und sagte leise: »Nein, Fanny, ich danke dir für deine Liebe.
-Aber ich denke, daß unser liebster Lehrer mir auch ohne dies sein
-freundliches Andenken bewahren wird, wenn ich ihm lieb geworden bin,
-und wäre dies nicht der Fall, so wird ihm mein Geschenk auch keine
-Freude machen.«
-
-»So schenke ich ihm auch nichts!« rief Fanny ärgerlich.
-
-»Das wäre sehr unrecht, da deine Mutter ihm dies Geschenk bestimmt,«
-sagte Agathe. »Komm, komm, es wird ihm gewiß Freude machen.«
-
-Bald traten die beiden jungen Mädchen in das Zimmer des ersten Lehrers
-der Anstalt, Herrn Lobner, einem zwar noch jungen Manne, der sich aber
-durch seinen vortrefflichen Unterricht, wie durch die milde und doch
-ernste Weise, in welcher er den Schülerinnen gegenüber trat, die Liebe
-und Verehrung aller dieser jungen Herzen erworben hatte.
-
-Mit Freude und Rührung empfing er den Dank der beiden jungen Mädchen,
-welche ihm jetzt schon Lebewohl sagten, obwohl sie noch einige Tage in
-der Pension blieben; aber seinen Unterricht sollten sie jetzt nicht
-mehr genießen. Der Tag ihrer Einsegnung lag vor ihnen und mit diesem
-die Trennung von dem Hause, das besonders Agathen unbeschreiblich lieb
-geworden war.
-
-Milde ermahnende Worte gab Herr Lobner den jungen Mädchen mit auf den
-Weg: die lebhafte, etwas leichtsinnige Fanny ermahnte er zu Ernst und
-größerer Besonnenheit; der stillen Agathe sprach er Muth und heitere
-Zuversicht in die Seele. Mit unbeschreiblicher Wehmuth ruhte sein Auge
-auf der einsamen Waise, und wie segnend legte er seine Hand auf das
-Haupt des armen Kindes. Fanny's Geschenk nahm er freundlich dankend
-an, dann ergriff er Agathes Hand, und sein kleines Heft von dem Tische
-nehmend, sagte er bewegt: »Willst du mir wohl diese Arbeit als Andenken
-zurücklassen, Agathe? Es ist dein letzter Aufsatz; ich möchte mir ihn
-zur Erinnerung an meine fleißigste Schülerin aufbewahren.«
-
-Agathe erröthete tief und vermochte nicht zu antworten; aber mit beiden
-Händen des theuren Lehrers Hand ergreifend, drückte sie dieselben
-inbrünstig an ihre Brust; dann eilte sie schnell zum Zimmer hinaus,
-denn Freude und Wehmuth bestürmten ihr Herz so mächtig, daß sie ihre
-Thränen nicht länger zurück halten konnte.
-
- * * * * *
-
-Palmsonntag war gekommen, und feierlich zitterten die Glockentöne durch
-die sonnige Frühlingsluft. Drinnen im Gotteshause stand andächtig
-eine Schaar junger Mädchen und Knaben an den Stufen des festlich
-geschmückten Altares und empfing die Weihe als Christen. Mit ihren
-eigenen Lippen sprachen sie jetzt das Gelübde aus, das sie in den Bund
-der Gemeinde Christi einführte, und tief bewegt erklang der Segen des
-Geistlichen am Schluß der Feier.
-
-Auch Agathe war unter der Zahl jener festlich gekleideten Mädchen,
-welche jetzt vom Altar hinweg gingen, und die Augen mit dem Tuche
-verhüllend, sah sie nicht, wie sie einsam auf ihrem Stuhle zurück
-blieb, als Freunde und Verwandte herbei kamen, die Confirmanden aus der
-Kirche zu führen. -- »Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber
-der Herr nimmt mich auf!« das waren die Worte, die der Geistliche ihr
-als Zuspruch mit in die Welt gegeben, und tief erschüttert fühlte sie
-die ganze Gewalt derselben. Sie hatte niemanden, als Gott im Himmel,
-den Vater der Waisen, an dem sie halten konnte; aber war Er nicht der
-festeste Stab, der treuste Helfer in Noth und in Kummer?
-
-Still und getrost wollte das einsame Kind eben die Kirche verlassen,
-den Gefährtinnen folgend, da fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter,
-und eine sanfte Stimme sprach: »Gott segne dich, mein theures Kind!«
-Agathe wandte sich überrascht um und blickte in das treue Auge ihres
-Lehrers, welcher ihr innig die Hand drückte und dann tief bewegt an
-ihrer Seite blieb. Erst am Ausgange der Kirche trennte er sich von dem
-jungen Mädchen; denn hier wartete dieser ein zweites Herz, das treu und
-liebevoll für sie schlug. Es war die alte Anne Sommer, die Dienerin
-ihrer Mutter, welche Agathe seit ihrer frühesten Jugend gekannt,
-und dem einzigen Kinde ihrer theuren Herrin stets die wärmste Liebe
-bewahrt hatte. Frau Sommer war die Wittwe eines Corporals und eine gar
-wunderliche Alte; groß und kräftig von Gestalt, und doch so grau und
-runzlich wie ein alter verwitterter Ulmenbaum. Aber ihre Gutmüthigkeit
-und ihre frische Laune machten sie zum Liebling aller ihrer Bekannten,
-und trotz ihrer etwas auffallenden Manieren konnte niemand der alten
-Soldatenfrau böse sein. Agathe hing mit unendlicher Zärtlichkeit an
-dieser treuen Seele und ließ sich willig von ihr auf offner Straße
-herzen und küssen.
-
-»Mein Herzchen, mein Vögelchen, meine arme, kleine Blume!« rief die
-Alte ganz hingerissen von Zärtlichkeit und streichelte Agathes bleiche
-Wangen mit ihren großen, rauhen Händen; dann schlang sie wieder ihre
-Arme um des Mädchens feine Gestalt, so daß diese ganz in den Kleidern
-der lebhaften Alten verschwand.
-
-»Ach Anne, könntest du wenigstens mit mir ziehen, wenn ich hier fort
-gehe, dann fürchtete ich mich nicht so sehr,« seufzte Agathe. »Aber so
-allein in die fremde Stadt, zu diesen fremden Verwandten; ach Anne, es
-drückt mir fast das Herz ab!«
-
-»Nur Courage, mein Goldkäferchen, nur immer stramm dem Feinde in's
-Auge gesehen, und Carée formirt, daß er dir nichts anhaben kann!«
-sagte die Alte fest und machte eine Bewegung, als schultre sie das
-Gewehr. »Wir Soldatenkinder fürchten uns vor keinem Popanz, und käme
-er selbst in Gestalt deiner Frau Tante! »Nur nicht ängstlich!« das war
-meines guten Corporals Sprüchwort, und das hat ihm zuletzt denn auch
-den Soldatentod gebracht, der alten braven Seele, Gott segne ihn!«
-»Wer weiß, wer weiß, mein Vögelchen, wie die Sachen kommen!« fuhr sie
-dann nach einer Pause geheimnißvoll fort, und in ihrem Kopfe zog Plan
-auf Plan vorüber, wie sie es wohl bewerkstelligen könnte, ihrem lieben
-Kinde nach Leipzig zu folgen, wohin dieses in wenig Tagen abreiste.
-
-Noch einmal betete Agathe an den Gräbern ihrer theuren Eltern, von
-denen sie mit traurigem Herzen Abschied nahm; noch einmal umarmte sie
-ihre Schulfreundinnen, und vor allem die treue Fanny, und noch einmal
-blickte sie in die treuen Augen ihres geliebten Lehrers, -- dann
-führte der fortrollende Wagen die junge Waise hinaus aus den lieben,
-bekannten Umgebungen, hinaus in die weite, fremde Welt. -- Agathe hatte
-sich weinend in die Ecke des Wagens gedrückt, um sich den Blicken der
-Mitreisenden zu entziehen; da hörte sie ängstlich ihren Namen rufen und
-erkannte in der Morgendämmerung die große Gestalt ihrer treuen Anne,
-welche mit mächtigen Schritten neben dem Wagen herlief, der gemächlich
-über das Steinpflaster polterte.
-
-»Hier, hier, mein Liebling, mein Goldkind!« rief Frau Sommer athemlos
-und warf Agathen ein Päckchen in den Wagen. »Hier nimm das hinein in
-dein Nestchen, mein armer, kleiner Vogel; es sind Pfefferkuchen, die
-du so gern knupperst; die alte Anne hat sie dir gebacken, daß du eine
-kleine Gesellschaft unterwegs hast. Der liebe Gott gehe mit dir, mein
-Herzblatt, mein süßes, armes Kindchen! Sei nicht gar zu traurig, sollst
-sehen, ich bin bald wieder bei dir. Adieu, adieu, mein Herzchen; behüt
-dich Gott, behüt dich Gott!«
-
-Die letzten Sätze rief die treue Seele unter heftigen Schluchzen in
-den Wagen hinein, an dessen Fenster sie sich fest angeklammert hatte,
-und trotz des schnelleren Fahrens trabte sie athemlos noch eine Weile
-nebenher, bis endlich der Kutscher über das alte Weibergewinsel
-schimpfte und die Pferde zu schnellem Trabe anfeuerte. Da nickte
-die Alte ihrem Lieblinge noch einmal zu; die Finger lösten sich vom
-Kutschenschlage, und mit gefalteten Händen blickte Anne Sommer dem
-Wagen nach, ein Gebet für das Wohl der armen Waise auf den Lippen.
-
-
-
-
- Zweites Kapitel.
-
- Die neue Heimath.
-
-
-Es war schon völlig dunkel geworden, als Agathe in Leipzig ankam, dem
-Orte ihrer Bestimmung, und die Fahrt während des ganzen Tages in dem
-engen Wagen war ihr zuletzt so lästig geworden, daß sie sich freute,
-endlich am Ziele zu sein, so bange ihr auch das Herz vor Erwartung
-klopfte. -- Vor einem alten düstern Eckhause in der Hainstraße hielt
-der Wagen, und schläfrig kam der Hausknecht mit der Laterne herbei, dem
-Kutscher zu leuchten, der hier einige Passagiere seines Lohnfuhrwerkes
-abzusetzen hatte. Die engen, finstern Straßen mit den hohen Häusern,
-deren Giebel und Erker weit vorsprangen und dem Himmel noch weniger
-Einblick gewährten, bedrückten Agathes Herz unbeschreiblich. Sie
-schaute in der völlig fremden Umgebung ängstlich um sich; da hörte
-sie plötzlich, wie eine grobe Stimme fragte: »Is Freiln Wiggers mit
-gekommen?«
-
-»Ja ja, hier ist sie!« rief Agathe schnell und hätte den schmutzigen
-Lastträger vor Entzücken um den Hals fallen mögen, daß er unter all'
-den fremden Menschen sich ihrer annehmen wollte. Schnell sprang sie
-aus dem Wagen, und der Kutscher reichte den kleinen Koffer des jungen
-Mädchens herab, welchen der große Packträger wie einen leichten Ball
-auffing.
-
-»Is das alles?« fragte er dabei verwundert, als Agathe sich zum
-Fortgehen anschickte. Auf deren bejahende Antwort blickte der Mann
-ordentlich mitleidig auf den kleinen Koffer, und gab einem Rollwagen,
-der neben ihm stand, einen Tritt, daß er zur Seite fuhr. »Na, der war
-von Ueberfluß!« murmelte er dabei lachend und rief einen Knecht herbei,
-der den Karren bis zu seiner Rückkehr in Verwahrung nahm. Dann schwang
-er den Koffer auf die Schulter, und schritt schnell vor Agathen her,
-Straße auf, Straße ab, bis sie vor einem Hause des Thomaskirchhofes
-Halt machten.
-
-»Gehen Sie nur da 'nauf, liebes Mamsellchen,« sagte er auf die
-erleuchtete Treppe deutend. »Se kennen nich fehlen, die erste Thür
-rechts is es! Ich muß mit dem Kofferchen die Hintertreppe rauf, sonst
-giebts e Donnerwetter da oben!«
-
-Er schob grüßend die Mütze zur Seite und verschwand im dunkeln Hofraum;
-Agathe aber stand bald vor der bezeichneten Thür, an welcher der Name
-Niedrer in goldner Schrift zu lesen war. Ach diese Thür allein trennte
-sie ja jetzt von der neuen Heimath! Was mochte alles hinter derselben
-auf sie warten; wie mochten diejenigen ihr entgegen treten, die ihr
-nun Vater und Mutter ersetzen sollten! Noch einmal wandte sie ihr Auge
-zu dem empor, der ihr Muth und Hoffnung gegeben, wenn sie verzagen
-wollte, und getrost streckte sie ihre Hand nach dem verhängnißvollen
-Klingelzuge aus.
-
-Eine nette, freundliche Dienerin öffnete die Thür, und Agathe trat in
-den Vorflur. Auf ihre Frage nach Onkel und Tante sagte das Mädchen
-verlegen, der Herr sei verreist, und Madame eben im Begriff, in
-Gesellschaft zu gehen; sie wolle das Fräulein aber anmelden. Agathe
-ging es wie ein Frost durch die Glieder; das war ein sonderbarer
-Empfang. Sie hatte sich so unsäglich danach gesehnt, diesen Verwandten
-an das Herz zu sinken, diesen guten Menschen, die sich der armen Waise
-erbarmten; aber konnte sie das nun? Mit klopfendem Herzen folgte sie
-endlich der zurückkehrenden Dienerin, welche sie in ein elegantes
-Zimmer führte, mit der Weisung, sich etwas zu gedulden, Madame werde
-gleich kommen.
-
-Agathe harrte bangen Herzens; die Erwartung wollte ihr den Athem fast
-rauben. Endlich ging die Thür auf, und eine große, stattliche Dame
-in eleganter Toilette trat rauschend in das Zimmer. Sie blieb einen
-Augenblick stehen, dann streckte sie dem jungen Mädchen ihre mit vielen
-Ringen bedeckte Hand hin und sagte mit etwas schleppendem, affectirten
-Tone: »So, bist du da? Guten Tag, liebe.... Wie heißt du doch?«
-
-»Agathe, liebe Tante!« flüsterte diese ängstlich und kam zaghaft
-herbei, der Dame die dargebotene Hand zu küssen. Doch noch hatte sie
-sich der Tante nicht ganz genähert, als sich plötzlich ein wüthendes
-Hundegebell erhob, und ein kleiner Bologneserhund zähnefletschend auf
-Agathe losfuhr. Erschrocken sprang diese einige Schritte zurück; die
-Tante aber lachte laut auf und hob den kleinen Hund auf den Arm, indem
-sie ihn herzte und küßte.
-
-»Du spaßhafter, kleiner Bursche, willst wohl nicht leiden, daß man
-deiner Herrin die Hand küßt?« rief sie, den Hund von Neuem liebkosend.
-»Denkst, du hast allein das Recht dazu, mein kleiner Liebling? Soll
-dich wohl wieder gut machen für den Kummer, den ich dir verursacht,
-nicht wahr, kleines Bellochen? Nun so komm, weißt ja, wo's was Gutes
-für dich giebt, du Schelm!«
-
-Dabei ging sie nach einem Glasschranke, und holte eine Hand voll
-des schönsten Confectes heraus, das sie dem Hunde darbot. Dieser
-beschnupperte es, wählte sich einige Stücke davon aus, und ließ
-sich dann beruhigt nach einem zierlichen Korbe tragen, in welchem
-von rothseidenen Betten sein Lager bereitet war, über das sich ein
-ebensolcher Baldachin wölbte.
-
-Agathe hatte all' dem staunend und mit weit geöffneten Augen
-zugeschaut; sie glaubte zu träumen. Die Tante jedoch unterbrach ihre
-Reflexionen, indem sie sich jetzt wieder zu ihr wandte und sagte: »Du
-siehst, ich habe den kleinen Kerl etwas verwöhnt; aber er ist mir so
-lieb, daß ich ihm nichts verweigern kann. Ich hoffe, ihr werdet auch
-gute Freunde werden; denn ich will ja meinen kleinen Liebling deiner
-speciellen Sorge anvertrauen. Meine alte Cousine, die ihn bis jetzt
-versorgte, versteht ihn nicht richtig zu behandeln; deshalb ist es mir
-ganz lieb, daß du zu uns kommst! Aber jetzt muß ich fort, liebes Kind,«
-schloß die Dame, einen prachtvoll türkischen Shawl um die Schultern
-schlingend; »laß dir in der Leutestube etwas zu essen geben, wenn du
-Hunger hast!«
-
-Dabei ging sie mit affectirt vornehmer und majestätischer Haltung an
-Agathen vorüber, und nickte ihr einen leichten Gruß zu; dann war sie
-fort. Agathe stand lange wie gelähmt noch immer an derselben Stelle
-und blickte der Tante mit starren, verwunderten Augen nach. Sie also
-war es, die ihr die Mutter ersetzen sollte! Wieder lief es dem jungen
-Mädchen wie Eis durch die Adern, und voll Schrecken überdachte sie
-die Worte, welche sie gehört hatte. Unfreundlich war die Tante nicht
-gewesen, das mußte sich Agathe gestehen; aber doch hatte sie ihr nicht
-ein Wort gesagt, das sie freundlich im Hause willkommen geheißen, nicht
-eines, das ihr warm zum Herzen gesprochen hätte. »Ich will meinen
-kleinen Liebling deiner Sorge anvertrauen; deshalb ist es mir ganz
-lieb, daß du zu uns kommst!« Das war eigentlich der Inhalt der Rede,
-die sie begrüßt hatte. »Also Hundewärterin!« sprach Agathe leise vor
-sich hin und blickte nach der Wiege des Schooshundes. »Deshalb bin ich
-hier willkommen, nur deshalb!« -- »Aber nein, ich thue der Tante gewiß
-Unrecht,« dachte sie dann wieder; »ich bin so reizbar, so empfindlich,
-hatte einen so anderen Empfang erwartet! Es wird gewiß anders, wenn
-ich erst hier bekannt bin. Die Tante ist gewiß gut, sonst wäre sie
-zu dem Hunde auch nicht freundlich.« Lange stand das junge Mädchen
-und überdachte in dieser Weise alles, was sie gehört und gesehen; da
-endlich öffnete sich die Thür, und ein altes, gutes Gesicht blickte
-herein.
-
-»Willst du nicht etwas Warmes genießen, liebes Kind?« sprach
-eine sanfte Stimme, und Agathe sah nun eine kleine, verwachsene
-Frauengestalt neben sich, deren unregelmäßiges, altes Gesicht mit
-gewinnender Freundlichkeit zu dem jungen Mädchen aufblickte.
-
-»Ich bin die Cousine, liebes Kind!« sprach sie zutraulich, Agathes
-fragende Blicke verstehend. »Ich besorge das Hauswesen und habe dir
-etwas Warmbier zurecht gemacht. Ich denke, es soll dir gut thun. Willst
-du mit mir kommen?«
-
-Agathe folgte ihrer gutherzigen Führerin nach einem kleinen Zimmer,
-das neben der Küche lag, und das ganz hübsch und behaglich aussah, so
-einfach auch die Einrichtung desselben war. Ein kleiner, gedeckter
-Tisch stand am Fenster, und bald füllte der Duft des würzigen Warmbiers
-die Stube und erregte in Agathen lebhafte Eßlust, denn sie hatte den
-Tag über wenig genossen. Die Cousine leistete ihr Gesellschaft, und
-gemüthlich saßen sie in traulichem Geplauder beisammen. Agathe war
-glücklich, ein Wesen hier zu finden, das ihr Theilnahme bewies, und
-gegen das sie sich aussprechen konnte.
-
-»Ja, es ist ein wunderliches Haus, in das du hier eintrittst, liebes
-Kind!« sagte die Cousine seufzend, nachdem Agathe ihre Verwunderung
-über den sonderbaren Empfang ausgesprochen hatte; »du wirst dich noch
-über vieles verwundern.«
-
-»Aber der Onkel, liebe Cousine, wie ist denn der?« sprach das junge
-Mädchen gespannt.
-
-»Mein Vetter! Hm, der möchte freilich wohl manches anders haben!«
-erwiederte die Kleine; »aber was kann das helfen! Er ist ein guter,
-lieber Mann; aber seine Schwäche erlaubt ihm nicht, der Frau zu wehren,
-wenn sie launisch und böse ist, und so bleibt es beim Alten. Sie
-regiert, er gehorcht, das ist das Ende von allen Dingen.«
-
-»Wo ist er denn? Ich hatte gehofft, ihn sogleich kennen zu lernen!«
-seufzte Agathe.
-
-»Mein Vetter freute sich auch darauf; aber die Cousine brauchte
-allerlei für das Geschäft; da mußte er fort, er mochte wollen oder
-nicht!« sagte Jene. »Aber morgen früh kommt er zurück.«
-
-»Für das Geschäft? Was denn für ein Geschäft?« entgegnete Agathe. »Ich
-glaubte, der Onkel sei Buchhalter des Hauses F. und habe selbst kein
-Geschäft?«
-
-»Er nicht, aber sie!« sagte die Cousine. »Es ist ein Putzgeschäft,
-das Madame als Mädchen schon gehabt hat, und da es ihr selbst keine
-Mühe macht, aber Geld einbringt, so setzt sie es fort: denn Geld
-braucht sie zu ihrem Staate mehr, als er ihr geben kann. Unter den
-Nätherinnen wirst du nun wohl auch dein Plätzchen bekommen, liebe
-Agathe; Madame hat schon davon gesprochen.« »Ich soll Putzmacherin
-werden?« rief Agathe auffahrend, und helle Gluth bedeckte ihr bleiches
-Gesicht. »Wenigstens weiß ich es nicht anders!« entgegnete die Cousine
-achselzuckend.
-
-Agathen entsank der Bissen Brod, den sie zum Munde führte, und Thränen
-stürzten aus ihren Augen. »O meine schönen Träume!« rief sie traurig
-und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Die gute Alte blickte
-mitleidig auf das junge Mädchen und seufzte leise, dann aber suchte
-sie ihr Muth und Trost zuzusprechen. Sie irre sich vielleicht; die
-Tante habe es vielleicht ganz anders im Sinne, als sie sich denke,
-und am Ende könne es einem jungen Mädchen ja nicht schaden, wenn sie
-etwas Putzmachen lerne; es sei eine gar gute und nützliche Zugabe
-für's Leben. Agathe war gern bereit, Trostgründen Gehör zu leihen,
-auch konnte sie den vernünftigen Worten ihrer Gefährtin nicht so ganz
-Unrecht geben. Sie sprachen noch eine lange Zeit mit einander; endlich
-aber fielen Agathen die Augen vor Müdigkeit zu, und die Cousine führte
-sie in ein Nebenzimmerchen, in welchem außer wenigen Meubel zwei Betten
-standen.
-
-»Wir schlafen hier zusammen, liebes Kind,« sagte die gute Alte
-freundlich; dann half sie dem jungen Mädchen beim Auskleiden, und trotz
-der vielen Gedanken, welche auf Agathe einstürmten, schloß der Schlaf
-dennoch bald ihr müdes Auge, und führte sie zurück in den lieben,
-schönen Kreis, den sie verlassen. --
-
-
-
-
- Drittes Kapitel.
-
- Erster Morgen.
-
-
-Als Agathe am folgenden Morgen erwachte, konnte sie sich lange Zeit
-gar nicht besinnen, wo sie denn sei und was mit ihr vorgegangen. Das
-freundliche Gesicht der alten Cousine, das zur Thür herein schaute,
-rief ihr jedoch sogleich alles Erlebte zurück, und schnell erhob sie
-sich, um sich anzukleiden.
-
-»Der Onkel ist soeben zurück gekommen,« sagte die Cousine. »Er erwartet
-dich vorn im Zimmer; eile dich, liebes Kind!«
-
-Agathe kleidete sich so schnell als möglich an, und bald hatte sie ihre
-Toilette beendet. Sie trug noch Trauerkleider; denn ihre Mutter war
-erst kürzlich gestorben.
-
-In dem kleinen Zimmer nebenan, dessen Thür Agathe zögernd öffnete, kam
-ihr der Onkel, ein kleiner, starker Mann, mit ausgebreiteten Armen
-entgegen.
-
-»Sei mir willkommen, mein liebes Kind!« sagte er sanft und zog das
-junge Mädchen in seine Arme. Agathe schmiegte sich bewegt und glücklich
-an die Brust des lieben Mannes, den sie zwar noch nie gesehen, aber
-der sie so herzlich begrüßte, als sie nur hoffen und wünschen konnte.
-Nun stellte dieser das junge Mädchen vor sich hin und betrachtete sie
-prüfend von oben bis unten.
-
-»Ganz wie meine liebe, gute Schwester, als sie so jung war!« rief er
-dann bewegt und streichelte Agathes Wange. Ganz ihre lieben, blauen
-Augen und das weiche, braune Haar! »Sei nur auch so fromm und brav, als
-sie es war, mein Kind, so wird es dir gut gehen.« Das junge Mädchen
-küßte die Hand das Onkels, dieser aber sagte etwas hastig: »Jetzt komm
-aber zu meiner Frau, sie erwartet dich, und -- und wenn sie vielleicht
-manchmal etwas streng gegen dich ist, so denke immer, sie meint es gut
-mit dir, und verliere den Muth nicht; es wird alles schon ganz gut
-werden.« Agathe folgte dem Onkel und fand in dem Zimmer, in welchem die
-Tante sie gestern empfangen, einen reich besetzten Frühstückstisch, an
-dem Madame in Gesellschaft ihres Hundes das Frühstück einnahm.
-
-Agathes freundlichen Morgengruß erwiederte sie mit leichtem Kopfnicken;
-dann aber wandte sie sich zu ihrem Gatten und sagte verdrießlich:
-»Du läßt mich lange warten, Albert! Ich dächte, Agathe konnte zu dir
-kommen, statt daß du sie aufsuchtest!«
-
-»Nein, liebe Marie, ich hatte sie gestern bei ihrer Ankunft nicht
-begrüßen können, darum ging ich gleich jetzt zu ihr,« sagte Herr
-Niedrer sanft. »Uebrigens brauchtest du ja nicht mit dem Frühstück auf
-uns zu warten.«
-
-»Das habe ich auch nicht! Aber du weißt, daß ich Bellochen die Milch
-nicht gern selbst gebe, das ist deine Sache!« sagte Madame ärgerlich.
-»Das arme, kleine Thier stirbt fast vor Hunger.«
-
-Der gehorsame Gatte ergriff schnell die zierliche Schale mit Milch,
-blies, daß sie sich abkühlte, und neigte sich dann zu dem Hunde herab,
-der knurrend den Morgentrunk zu sich nahm. Den Kuchen, aus welchem
-ferner das Frühstück des Kleinen bestand, reichte ihm die Hand seiner
-Herrin. Bellochen beliebte es jedoch, von demselben nur die oberste
-Zuckerdecke abzulecken; den darunter liegenden Kuchenteig stieß er
-knurrend mit der Schnauze von sich, und Madame griff schnell nach einem
-andern Stück Kuchen, das der liebe Hund dann abermals in gleicher Weise
-beknabberte. Darauf streckte sich das Thier gähnend und mit der Zunge
-die Schnauze beleckend und legte sich endlich mit geschlossenen Augen
-auf dem Sopha zurecht, an der Seite Madames.
-
-Agathe hatte belustigt zusehen; aber sie wußte nicht, ob sie es wagen
-durfte, sich an den Tisch zu setzen, da die Tante gar keine Notiz von
-ihr nahm. Sie zupfte ängstlich an ihrem Taschentuche, strich sich den
-kleinen Kragen glatt und trat verlegen von einem Fuße auf den andern.
-
-»Aber so komm doch näher, du schüchternes Kind, und frühstücke mit
-uns!« rief jetzt der Onkel, der ihre Verlegenheit bemerkte, und schob
-einen Stuhl herbei, auf dessen äußerster Ecke Agathe schüchtern Platz
-nahm.
-
-»Ich dächte, sie könnte sich den Stuhl wohl selbst holen; junge Mädchen
-müssen sich nicht bedienen lassen!« sagte Madame scharf. Ein peinliches
-Schweigen entstand, das nur durch das Geklapper von Tassen und Löffeln
-unterbrochen wurde, und Agathen stand der Angstschweiß auf der Stirn.
-Sie dachte mit Sehnsucht an die frohe Frühstücksstunde in der Pension,
-wo sie zwar nur Milch und trocknes Weißbrod erhielten; aber wie viel
-tausend Mal besser hatte ihr dies geschmeckt, als hier in diesem
-eleganten Zimmer der süße Kaffee und das leckere Gebäck, welches der
-Onkel ihr reichlich zuertheilte. Die Tante kümmerte sich um nichts, als
-um ihren Hund, der etwas verstimmt schien, denn er fing an zu knurren
-und sich unruhig hin und her zu werfen. Wahrscheinlich litt er an
-Verdauungsbeschwerden.
-
-»Wie sehr Agathe meiner Schwester gleicht, Marie!« sagte der Onkel
-endlich, die Stille unterbrechend. -- »Ich glaubte, deine Schwester sei
-schön gewesen,« erwiederte Frau Marie gleichgültig.
-
-»Ja, das war sie auch, und Agathe hat ganz diese hellblauen Augen. Sie
-wird ihr gewiß noch viel ähnlicher werden, wenn sie älter ist,« sagte
-der Onkel.
-
-»So? Nun meinetwegen; aber so lange sie dieses blasse Gesicht hat, ist
-von Schönheit keine Rede,« entgegnete die Tante und streckte sich auf
-dem Sopha. »Aber laß mich jetzt in Ruhe; ich bin wieder so furchtbar
-angegriffen.«
-
-»Ach leiden Sie auch an den Nerven, wie meine Mama?« wagte jetzt Agathe
-zu sagen. »Sie sehen so wohl aus; ich hätte es nicht gedacht!«
-
-Das war ein schlimmes Wort, das schlimmste fast, was sie hätte sagen
-können! Es berührte den unangenehmsten Punkt in den Empfindungen
-Madames; denn niemand durfte daran zweifeln, daß sie schwach und
-leidend sei, obwohl sie nur aus Bequemlichkeit und Ziererei die Kranke
-spielte.
-
-Unwillig blickte sie deshalb Agathe bei diesen Worten an, und das
-helle, blaue Auge erhielt etwas so Stechendes, daß Agathes Herz
-erzitterte.
-
-»Denkst du etwa, ich verstelle mich?« rief sie, dunkelroth vor Aerger.
-»Das sind oft gerade die schlimmsten Uebel, bei denen man wohl und
-blühend aussieht!« -- »Aber,« fuhr sie dann streng fort, »jetzt mein
-Kind, steh' auf, und mache dich nützlich! Hier, übernimm gleich zuerst
-dein tägliches Geschäft, meinen kleinen Bello zu waschen und ihm dann
-die Locken zu kämmen. Aber daß du ihm ja nicht weh thust, wie die
-Cousine, die immer so furchtbar unzart mit dem armen Thierchen umgeht!«
-
-Agathe war sehr erschrocken über den Verweis, den sie erhalten, und
-verschluckte nur mit Mühe die Thränen. Schnell stand sie vom Stuhle
-auf und näherte sich dem Hunde, um ihn auf den Arm zu nehmen. Aber
-knurrend fletschte ihr dieser die Zähne entgegen und drohte zu beißen.
-Das brachte der Tante ihre gute Laune zurück; lachend gab sie Agathen
-ein Stück Zucker und sagte: »Du mußt dir erst seine Gunst erwerben. Da,
-gieb ihm das, dann wird er nicht beißen.«
-
-Agathe that, wie ihr geboten, und wirklich ließ sich der verzogene,
-kleine Hund jetzt ruhig auf den Arm nehmen.
-
-»Geh' nur zur Cousine, die wird dir zeigen, was du zu thun hast; aber
-eile dich, es wartet noch andere Arbeit!« rief die Tante, und Agathe
-war froh, auf diese Weise wenigstens wieder zum Zimmer hinaus zu
-kommen; ihr Schutzgeist, der Onkel, war schon vor ihr fortgegangen,
-seinen Geschäften nach, die ihn bis Mittag vom Hause fern hielten.
-
-Aber welch' böse Arbeit war diese Hundetoilette! Mit warmem Wasser
-und feiner Seife wurden die langen Haare des Thieres erst wieder und
-wieder gebadet, dann säuberlich abgerieben und endlich mit Kamm und
-Bürste gekämmt und geglättet, als wären es die Locken eines kleinen
-Kindes. Aber Bello betrug sich bei seiner Toilette viel schlimmer, als
-das unartigste Kind; denn er zappelte und bellte und biß um sich, da
-ihm Agathe eine fremde Wärterin war, so daß diese ohne die Hülfe der
-Cousine nimmermehr damit zu Stande gekommen wäre. In Schweiß gebadet,
-mit verschobenen Kleidern und zerkratzten Händen trug sie das kleine
-Ungethüm endlich zu seiner Herrin zurück, welche noch immer behaglich
-auf dem Sopha ruhte, und in die Lectüre eines Romanes vertieft war.
-
-»Hier, gieb dem Thierchen sein zweites Frühstück!« rief nun Madame,
-Agathen Semmel, Butter und feine Wurst hinschiebend. Das junge Mädchen
-schnitt ein zierliches Brödchen ab, bestrich es mit Butter und legte
-eine Wurstscheibe darauf.
-
-»Mein Gott, schmiere doch nicht so mager!« rief Madame entrüstet,
-»und ich glaube gar, du verlangst, daß Bellochen die Schale mitessen
-soll!« -- Still lächend verbesserte Agathe die Fehler und hielt dem
-Hunde das Frühstück hin. Das Thier knurrte verdrießlich, fraß erst die
-Wurstscheibe vom Brode, dann leckte er die Butter ab; mehr aber mochte
-er nicht, er war entschieden nicht bei Laune. »Das arme, kleine Thier!«
-rief Madame ängstlich; »wenn er nur nicht krank wird! Lege ihm sein
-Bettchen glatt, er wird schlafen wollen.«
-
-Als Agathe den Hund auf sein Lager möglichst sanft gebettet hatte,
-sagte die Tante, sich vom Sopha erhebend: »Nun komm mit mir; ich will
-dir zeigen, was du weiter thun sollst, denn ein junges Mädchen muß
-immer fleißig sein, und wer essen will, muß auch arbeiten.«
-
-Sie ging schnell voraus, durchschritt ein Nebenzimmer und öffnete
-endlich die Thür eines großen Gemaches, in dem eine Anzahl junger
-Mädchen eifrig bei der Arbeit saßen. Vor ihnen auf großen Tischen lag
-eine Menge Draht, Stroh, Seidenzeug, Band und Blumen, sowie angefangene
-Hüte und Hauben, und lustig flogen die Finger mit der Nadel durch die
-Arbeit. Als Madame Niedrer eintrat, erhoben sich die jungen Mädchen
-grüßend und setzten um so eifriger ihre Näherei fort.
-
-»Hier bringe ich Ihnen eine neue Schülerin, Fräulein Schneider,« sagte
-Madame und wandte sich zu einer etwas ältlichen Dame, welche den jungen
-Mädchen zur Seite auf einem erhöhten Stuhle saß.
-
-»Meine Nichte Agathe wird jetzt hier mit arbeiten; haben Sie die Güte,
-sie anzuleiten. Komm Agathe,« sprach sie dann zu dem zaghaft um sich
-blickenden Mädchen, »hier ist Fräulein Schneider, die Directrice des
-Geschäfts. Sie wird dir zeigen, was du zu thun hast; gieb dir ja rechte
-Mühe, etwas zu lernen.«
-
-Nach diesen Worten wandte sie sich zu den jungen Näherinnen und
-betrachtete deren Arbeit. Mit einigen war sie zufrieden, an vielen aber
-hatte sie etwas zu tadeln, und besonders lange sprach sie mit Fräulein
-Schneider über die Garnirung der Hüte, welche sie anders wünschte.
-Agathe bewunderte im Stillen, wie gut die Tante mit all' diesen
-Sachen Bescheid wußte, und besonders, wie schön und geschmackvoll die
-Anordnungen waren, welche sie für die Zusammenstellungen der einzelnen
-Theile gab. Aber der Ton, in welchen sie mit den Damen redete, war
-nicht angenehm. Kurz und bestimmt gab sie ihre Befehle, zwar nicht
-unfreundlich, aber kalt und scharf, wie Nordwind. Alles athmete auf,
-als sie sich endlich wieder entfernte. Die jungen Mädchen blickten
-sich bedeutungsvoll an und zischelten lachend unter einander, und auch
-Fräulein Schneider schaute froher d'rein, als vorher. Sie bat Agathe,
-neben ihr Platz zu nehmen und gab ihr eine leichte Arbeit in die Hand.
-
-»Haben Sie schon etwas Putzmachen gelernt, Fräulein?« sagte sie dabei
-freundlich.
-
-»Nein, niemals,« entgegnete Agathe. »Ich komme eben aus der Pension und
-da hatten wir zu Handarbeiten wenig Zeit.«
-
-»Ist es Ihr Wunsch, das Putzmachen zu lernen?« fragte die gute Dame
-theilnehmend weiter.
-
-»Ach nein, mein Wunsch ist es bis jetzt nie gewesen,« sagte Agathe
-unbefangen. »Ich wollte ja so gern Erzieherin werden.«
-
-»Erzieherin?« rief Fräulein Schneider verwundert. »Welche sonderbare
-Idee! Da muß man ja so viel lernen! Nein, liebes Kind, werden Sie
-lieber Putzmacherin; das ist eine leichte, angenehme Beschäftigung, so
-recht etwas für uns Damen, und wer sein Fach gut versteht, der findet
-immer sein Brod dabei. Das sehen Sie am Besten an Madame Niedrer,
-unserer Frau Principalin. Sie hat sich als Mädchen schon damit ihren
-guten Unterhalt verdient, und jetzt ist es ihr immer noch eine schöne
-Erwerbsquelle, denn sie hat gar vornehme Kundschaft. Aber freilich,
-einen bessern Geschmack, als Madame, hat auch niemand unter den
-Modisten in ganz Leipzig; das muß man sagen! Obwohl sie jetzt nicht
-mehr selbst arbeitet, so versteht sie die Sachen doch besser, als
-wir Alle, und ehe sie nicht gesehen hat, wie ein Hut oder eine Haube
-garnirt ist, schicke ich nichts nach dem Verkaufszimmer. -- Da sehen
-Sie z. B. diese Capotte!« fuhr die gesprächige Dame lebhaft fort und
-hob einen violetten Sammthut empor. »Ich wollte sie mit grünen Blättern
-und weißen Knospen garniren; es sah recht hübsch aus. Aber Madame warf
-nur =einen= Blick darauf, und da sah ich wohl, wie wenig ihr mein
-Arrangement gefiel. Und ich muß ihr Recht geben; denn kann man wohl
-etwas Geschmackvolleres finden, als diese dunklen Stiefmütterchen mit
-dem feinen goldnen Rande, welche sie statt der Blätter und Knospen
-wählte? Der Hut ist dadurch so fein, so vornehm geworden, daß ihn
-eine Prinzessin aufsetzen könnte, ohne sich der Arbeit zu schämen.
-Nun wer weiß, was kommt. Es wäre nicht das erste Mal, daß der Hof
-uns mit seinen Aufträgen beehrte; denn in Dresden hat man gar keinen
-Geschmack. Leipzig ist klein Paris, und Madame Niedrer's Geschäft kann
-es mit jedem Pariser Modistenladen aufnehmen; das weiß ich so sicher,
-als ich schon seit 10 Jahren hier auf diesem Stuhle sitze!« Sie sprach
-dies alles mit einem unaussprechlichem Stolze und Selbstbewußtsein,
-und ihre kleine Gestalt wuchs ordentlich auf dem hohen Stuhle. Agathe
-aber blickte mit stillem Entsetzen zu der gesprächigen Dame auf, denn
-der Gedanke, zehn Jahre hindurch hier zu sitzen, Tag für Tag, Sommer
-und Winter, von Morgens früh bis Abends spät, erregte ihr förmlich ein
-Grauen.
-
-»Zehn Jahre? Das ist ja schrecklich! Ist Ihnen das Putzmachen denn da
-nicht unerträglich geworden?« rief sie unwillkürlich und seufzte tief
-auf.
-
-Die jungen Mädchen stießen sich mit dem Ellbogen gegenseitig an und
-lachten heimlich; Fräulein Schneider aber sah mit strengen Blicken von
-ihrem Throne herab und rief: »Lassen Sie das alberne Lachen, meine
-jungen Damen. Fräulein Agathe wird bald selbst finden, wie angenehm
-unsere Arbeit ist, sobald sie sich näher damit befreundet.«
-
-Agathe dachte im Herzen, zu dieser Ueberzeugung werde sie wohl nie
-kommen; denn wenn weibliche Arbeiten ihr auch nie unangenehm gewesen
-waren, so sah sie es doch als ein großes Mißgeschick an, sich nur mit
-der Nadel, nie aber mit Lesen, Schreiben und Zeichnen beschäftigen zu
-können. Aber sie behielt ihre Gedanken für sich und arbeitete ruhig
-weiter.
-
-Die jungen Mädchen durften nicht viel sprechen, weil sie dies von ihrer
-Arbeit abzog, und da jetzt auch Fräulein Schneider schwieg, hörte man
-nichts, als das Rascheln des Seidenzeuges und das Pfeifen der vielen
-Fäden, welche mit der Nadel durch die Arbeit fuhren. So verging Stunde
-um Stunde. Nur einmal, als die Glocke elf schlug, entsank die Nadel
-den Händen. Jedes der jungen Mädchen zog eine trockene Semmel aus
-der Tasche, und ein allgemeines frugales Frühstück, bei dem ein Glas
-Wasser das Getränk abgab, unterbrach den rastlosen Eifer. In dieser
-Arbeitspause durften sich auch die Zungen rühren, und nun schwatzte und
-lachte und zischelte es durcheinander, daß es eine Lust war. Agathe
-arbeitete still weiter, denn sie hatte kein Frühstück, und sie war
-während ihrer stillen Arbeit, bei der sie ungestört denken konnte, so
-traurig geworden, daß sie auch gar keine Lust zum Essen hatte.
-
-Aber da öffnete sich die Thür, und die alte Cousine kam freundlich
-grüßend herein.
-
-»Ich bringe dir das Frühstück, liebe Agathe,« sagte sie, dem jungen
-Mädchen eine Semmel reichend. »Verzeih', daß ich sie dir trocken gebe;
-aber fette Speisen dürfen nicht hier in das Arbeitszimmer kommen; es
-würde gar zu leicht etwas dadurch verdorben.«
-
-»O, ich kenne es nicht anders; in der Pension gab es auch keine
-Butter,« entgegnete Agathe und griff dankend nach dem Weißbrod.
-Unwillkürlich schweiften ihre Gedanken hin nach der lieben Pension, in
-der jetzt auch gerade Freistunde war und Semmeln verzehrt wurden. O,
-könnte sie dort sein, nur eine Viertelstunde, dort unter den lieben,
-fröhlichen Freundinnen; könnte sie, wie sonst, von ihren Stunden, ihren
-Arbeiten, ihren Lehrern mit ihnen plaudern, ein paar Mal durch den
-Garten laufen, um frische Luft zu schöpfen; es war so eng, so schwül,
-so drückend hier in dem Arbeitszimmer! Aber was half das alles; sie saß
-hier, und mußte hier bleiben. Die Frühstückszeit war jetzt vorüber, und
-eifrig ging es nun wieder an die Arbeit. Bald fuhren wieder die Nadeln
-wie Blitze durch die Luft, und Schweigen breitete sich wie vorher über
-die fleißigen Arbeiterinnen. Zwei Stunden vergingen noch so; aber als
-es ein Uhr schlug, erhob sich Fräulein Schneider, legte die Arbeit
-fort, verneigte sich und verschwand. Dies war das Lösungszeichen für
-die junge Schaar. Die Arbeit flog zur Seite, und nicht fünf Minuten
-vergingen, so war das Zimmer leer, und Agathe blieb allein zurück. Aber
-auch sie warf jetzt schnell die Arbeit aus der Hand und seufzte tief
-auf; denn noch nie in ihrem Leben hatte sie so viele Stunden hinter
-einander genäht. Der Kopf war ihr ganz dumm davon geworden; er hatte
-so gar keinen Theil an der Arbeit der Hände nehmen können. Die Finger
-thaten ihr weh, der Rücken schmerzte, und sie war so müde, als hätte
-sie drei Tage hinter einander genäht. »Lieber zwölf Stunden schreiben
-und lesen, als zwei hinter einander nähen!« seufzte sie und blickte
-zum Fenster hinaus, wo sie einige der jungen Mädchen eilig die Straße
-hinauf trippeln sah.
-
-»O, die sind doch frei und können fort aus diesem Hause!« dachte Agathe
-sehnsüchtig. »Aber ich, ich bin hier fest gebannt, kann nicht fort, muß
-Hunde warten, Hüte nähen und mich schelten lassen; -- o mein Gott, mein
-Gott, ich bin doch zu unglücklich!«
-
-Sie drückte das Gesicht in beide Hände und weinte bitterlich. Die
-Thränen erleichterten ihr Herz, und bald kamen ruhigere Gedanken.
-»Könnte es nicht noch viel schlimmer sein, du thörichtes Kind?« tönte
-es in ihrer Brust. »Was bist du denn, daß du so große Ansprüche machen
-kannst? Die Tante ist nicht zärtlich, aber doch auch nicht gerade
-unfreundlich gegen dich. Du hast ihren Hund zu besorgen; das ist nicht
-sehr angenehm, aber doch auch kein großer Kummer, und daß du wie diese
-anderen jungen Mädchen viele Stunden bei der Näharbeit sitzen mußt,
-geschieht ja, damit du etwas lernst. Das ist doch eigentlich sehr
-vernünftig von der Tante gehandelt; denn sie will dir die Mittel geben,
-dir später selbst fortzuhelfen. Du wünschtest dies freilich in einer
-andern Weise zu thun, aber das kostet wieder Geld; denn zum Lernen
-braucht man Unterricht, und wer soll den bezahlen?«
-
-Solche Gedanken kamen der guten Agathe noch gar viele; aber so sehr
-sie sich auch bestrebte, ihr Geschick ruhig hinzunehmen, es wollte und
-wollte nicht gehen! »O wenn ich nur lernen dürfte, um Erzieherin werden
-zu können, dann wollte ich alles, alles ertragen!« das war immer wieder
-der Schluß aller ihrer Gedanken und Betrachtungen.
-
-Endlich wurde sie von der Cousine zum Mittagessen gerufen, und ihr
-trauriges Gesichtchen in ein möglichst heiteres verwandelnd, verließ
-sie mit der guten Führerin das Arbeitszimmer.
-
-
-
-
- Viertes Kapitel.
-
- Schooßhund und Zughüte.
-
-
-Die Tante hatte bestimmt, daß Agathe mit der Cousine zusammen das
-Mittagbrod einnahm; sie selbst aß später, denn Herr Niedrer kam erst um
-drei Uhr aus dem Comptoir nach Haus. Um diese Zeit aber sollte Agathe
-schon wieder mit den Arbeiterinnen fleißig sein, deren Arbeitsstunden
-von Morgens neun bis Mittag ein Uhr währten, dann Nachmittag von zwei
-bis sieben Uhr. Agathe freute sich, daß sie mit der guten Cousine so
-traulich allein an dem kleinen Eßtisch im Fenster, wo sie gleich am
-ersten Abend mit ihr gesessen, ihr Mittagbrod verzehren konnte; leider
-aber war die freie Stunde bald vorüber, und Schlag zwei Uhr mußte sie
-wieder in das Arbeitszimmer. Da fing der Fleiß wie des Morgens von
-Neuem an und dauerte ohne bedeutende Unterbrechung bis sieben Uhr.
-Fröhlich packte die junge Gesellschaft dann alles zusammen; lachend
-und scherzend ging es zum Hause hinaus, und Agathe war wieder allein,
-beneidete wieder die forteilenden Mädchen, welche doch jetzt am Abend
-wenigstens frei waren und ihrem Familienkreise zueilen konnten. =Sie=
-hatte ja keine Eltern, keine Geschwister, die sie freudig erwarteten;
-ungeliebt und unbeachtet stand sie allein in der Welt; niemand sehnte
-sich nach ihr, niemand bedurfte ihrer, niemand fragte nach ihrem Wohl
-und nach ihrem Weh! O es war zu traurig, zu niederdrückend. Die trüben
-Gedanken kamen wieder über sie, stärker und banger als je; denn die
-langanhaltende, ungewohnte Arbeit war ihr unerträglich und hatte ihr
-allen Muth und alle Hoffnung genommen. Mit Grauen dachte sie daran, daß
-es so einen Tag wie den andern fortgehen sollte. Sie blickte in ihre
-Zukunft wie in einen dunklen, erschreckenden Nebel, der sie einhüllen
-und alle Hoffnungen ersticken würde.
-
-»Aber meine freie Zeit soll wenigstens meinen armen lieben Büchern
-gehören!« rief sie endlich froh auffahrend und eilte nach ihrer Kammer.
-Die gute Cousine hatte ihre wenigen Sachen nett und sauber in Schrank
-und Komode geordnet, und mit wahrem Jubel griff Agathe nach einem Werke
-Schillers, ihres Lieblingsdichters, dessen Schriften sie noch von ihrer
-Mutter zum letzten Geburtstage erhalten hatte. Sie verlor sich schon
-nach kurzer Zeit so sehr in die wundervolle Sprache des Trauerspiels:
-»Die Jungfrau von Orleans,« in welches sie sich vertiefte, daß sie
-den Eintritt der Tante gar nicht bemerkte, welche plötzlich neben ihr
-stand. Agathe fuhr empor, als hätte sie ein Unrecht begangen und legte
-das Buch schnell zur Seite. »Befehlen Sie etwas, liebe Tante?« fragte
-sie hastig.
-
-»Ich wollte wissen, was du treibst,« sagte diese kalt. »Du hast den
-ganzen Tag gesessen; es ist nöthig, daß du dir jetzt einige Bewegung
-machst, du wirst sonst noch bleicher. Geh' aus, und sieh dir die Stadt
-an, und nimm Bello mit dir; er ist heute auch noch nicht an die Luft
-gekommen.«
-
-»Ja wohl, liebe Tante!« entgegnete Agathe, blickte aber ängstlich zum
-Fenster hin, denn es war schon fast ganz dunkel, und sie völlig fremd
-in der Stadt.
-
-»Die Cousine kann dich heute ein Stück begleiten, damit du dich nicht
-verläufst,« sagte Madame Niedrer, indem sie sich wieder entfernte.
-
-»Die Tante ist doch sehr gut, daß sie so für meine Gesundheit sorgt,«
-dachte Agathe und kleidete sich schnell an, so ungern sie ihrem
-Buche Lebewohl sagte. Dann lockte sie den Hund mit einem Stück Kuchen
-an sich, nahm ihn auf den Arm und eilte, von der Cousine begleitet,
-in's Freie. Sie ergötzte sich an dem bunten Treiben, das die Straßen
-dieser Handelsstadt belebte; aber das Gewirr in denselben, die hohen,
-überhängenden Häuser, die dunkeln Höfe und Gäßchen, durch welche sie
-gingen, und die in der Dämmerung noch unheimlicher aussahen, bedrückten
-das Herz des jungen Mädchens mehr und mehr. Dazu kam, daß Bello unruhig
-wurde und weder auf Agathes Arm, noch auf dem der Cousine bleiben
-wollte, und doch wagte Agathe nicht, ihn auf den Boden zu setzen; denn
-in dem Gewühl und der Dunkelheit hätte sie ihn sicher verloren.
-
-»Warte, wir wollen ihn anbinden!« sagte die Cousine und zog eine Schnur
-durch das Halsband des Hundes. Aber damit war nichts gebessert; denn
-nun wollte das Thier nicht vom Fleck, bellte und stemmte sich, Agathe
-mochte ziehen, so viel sie wollte. Die Vorübergehenden lachten und
-neckten die junge Hundewärterin, so daß diese dem Weinen nahe war. Aber
-die Cousine tröstete und half treulich, indem sie den Widerspenstigen
-von hinten mit dem Fuße vorwärts stieß, und so, ziehend und stoßend
-gingen sie ein Stück Weges weiter. Aber endlich trat ein muthwilliger
-Bursche dem Hunde auf eine Pfote, und nun war nichts mehr mit dem
-Thiere anzufangen. Winselnd warf es sich zu Boden, und als ihn Agathe
-wieder auf den Arm nahm, war er so bissig und bösartig, daß der
-Spaziergang möglichst schnell beendigt werden mußte.
-
-Die Tante war sehr ärgerlich, sowohl über den Unfall, der ihrem
-Lieblinge widerfahren war, als über die schnelle Rückkehr Agathes.
-»Mein armes Hundchen bedurfte der frischen Luft so sehr,« sagte sie,
-»du hättest ihn wohl noch eine Weile führen können.«
-
-»Aber liebe Tante, es war ja nicht möglich; laufen wollte er nicht, und
-auf dem Arme blieb er auch nicht!« entschuldigte sich Agathe.
-
-»Ach du verstehst das liebe Thier nur nicht zu behandeln!« rief die
-Tante heftig und streichelte die verletzte Pfote ihres Lieblings. »So
-unaufmerksam, ihn treten zu lassen!«
-
-Das junge Mädchen wollte sich schüchtern zurückziehen, da sagte die
-Tante: »Bleib nur hier, Agathe; du sollst mit mir Karte spielen. Ich
-bleibe heute Abend zu Hause, denn ich bin so sehr angegriffen.«
-
-»Karte, liebe Tante? Das kann ich nicht; ich habe nie Karte gespielt,«
-erwiederte Agathe erstaunt.
-
-»So? Nun so geh' zur Cousine, sie soll es dir beibringen, damit du
-morgen mit mir spielen kannst,« sagte die Tante. »Die alte Person mag
-ich nicht mehr um mich haben, sie spielt auch gar zu schlecht! Gieb dir
-rechte Mühe, daß du es morgen schon kannst; ich langweile mich sonst zu
-schrecklich.«
-
-»Ich will Ihnen vorlesen, liebe Tante, das ist doch hübscher
-als Kartenspiel,« wagte Agathe zu sagen, aber Madame entgegnete
-verdrießlich: »Nein, laß mich damit in Ruhe, das greift meine Nerven an
-und ist zum Einschlafen langweilig. Geh' nur, und lerne Kartenspiel.«
-
-So blieb denn Agathen nichts anderes übrig, als den Befehlen der Tante
-zu gehorchen, und die alte Cousine um Unterricht in dieser völlig
-unbekannten Kunst zu bitten.
-
-Es wurde ihr sehr schwer, alles das zu merken, was nöthig war, und der
-ganze schöne Abend verging, ehe sie Boston, das Lieblingsspiel der
-Tante, begriffen hatte, der schöne Abend, an dem sie sich so unsäglich
-gern mit ihren Büchern beschäftigt, ihren früheren wissenschaftlichen
-Arbeiten einige Zeit gewidmet hätte!
-
-Den Onkel sah sie beim Abendbrod erst wieder. Er war freundlich wie am
-Morgen, aber um die Beschäftigungen Agathes bekümmerte er sich nicht;
-das war die Sache seiner Frau, dahinein durfte er sich nicht mischen.
-
-Aber doch übertrug er ihr auch ein Geschäft, das Agathen mit der
-Zeit sehr angenehm wurde; es war das Vorlesen der Zeitung nach dem
-Abendbrode. Bald bestand in dieser Lectüre Agathes einzige geistige
-Beschäftigung; denn so wie dieser erste Tag, vergingen alle übrigen,
-nur mit dem Unterschiede, daß Agathe den Hund am Tage spazieren
-führen mußte, statt Abends, und zwar in der einzig freien Zeit von
-eins bis zwei Uhr, sobald sie ihr Mittagbrod verzehrt hatte. Doch war
-die Tante so gütig, ihr noch eine halbe Stunde länger zu bewilligen,
-ob zum Vortheil Agathes oder Bello's blieb freilich unentschieden.
-Bald hieß das junge Mädchen bei der fröhlichen Straßenjugend, welche
-sich um die Mittagszeit zum Spielen in der Nähe einfand, nur noch
-das »Hundefreiln.« Aber statt sie, wie im Anfange, zu necken, half
-ihr bald dieser, bald jener gutherzige Junge, den Hund zu beruhigen,
-wenn derselbe seine bösen Mucken bekam, und oft genug wurde er von
-solch' kecker Hand tapfer durchgeprügelt für seine Unarten, was Agathe
-durchaus nicht verwehrte; denn Bellochen lernte jetzt ordentlich, was
-es heißt, ein artiger Hund zu sein.
-
-So vergingen Agathen die Tage in ihrer neuen Heimath. Am Morgen begann
-sie ihr Tagewerk mit der Toilette des Hundes, dann nähte sie bis ein
-Uhr, aß geschwind, und führte alsdann ihren Schutzbefohlenen an die
-Luft, was ihr freilich selbst sehr zuträglich war. Dann wurde wieder
-genäht bis sieben Uhr, und regelmäßiges Kartenspiel mit Onkel und Tante
-sowie schließlich die Zeitungslectüre beschloß den Tag und raubte ihr
-jegliche freie Minute. Wohl versuchte sie bis in die Nacht hinein zu
-lesen und zu studiren; aber dies duldete die alte Cousine mit Recht
-niemals; denn Agathes zarter Körper bedurfte nach der Arbeit des Tages
-unbedingt der Ruhe. Die einzige freie Zeit hatte Agathe nur, wenn die
-Tante Abends ausgegangen war; aber sie ging dann auch immer so spät,
-daß nur noch wenige Stunden bis zum Schlafengehen übrig blieben. Aber
-doch waren diese Stunden die Freude und Wonne des eifrigen Kindes, und
-an ihnen richtete sich ihr Herz auf, wenn sie oft unter der Last ihrer
-geisttödtenden Arbeiten zu erliegen meinte.
-
-Auch an den Sonntagen gehörten einige Stunden ihr selbst, und nie
-waren ihr diese Feiertage so lieb und werthvoll gewesen, als jetzt.
-Regelmäßig besuchte sie dann des Morgens die Kirche, und hier fand
-sie Trost für alles, was ihr Herz bedrückte, und frischen Muth, der
-Zukunft hoffend entgegen zu sehen. Auch am Nachmittage blieb sie sich
-einige Stunden selbst überlassen, ehe der Abend mit dem Kartenspiel
-heran kam, und daß sie diese schöne Freiheit benutzte, um zu ihren
-Büchern zu flüchten und Briefe an ihre lieben Freundinnen zu schreiben,
-versteht sich von selbst. -- Aber wäre dem schönen Sonntage nur nicht
-das Erwachen am Montag früh gefolgt, das war gar zu traurig! Wie
-eine lange Kette von sechs schweren, drückenden Bleigewichten lagen
-diese kommenden Wochentage vor ihr, und nie begann sie ihr Tagewerk
-ohne Seufzer, sie mochte sich selbst noch so sehr deshalb schelten.
-Leider zeigte sie zu den feinen Arbeiten, die sie jetzt erlernte, sehr
-wenig Geschick. Es gehörten gewandte, flinke Finger dazu, und große
-Leichtigkeit der Hand, um all' die Tausend Fältchen und Kniffchen und
-niedlichen Zierlichkeiten hervorzubringen, wodurch aus Nichts etwas
-Hübsches entsteht, und dazu war Agathe ganz und gar nicht gemacht. Sie
-hatte eine schwerfällige Hand, arbeitete langsam und gewissenhaft, und
-machte so kleine zierliche Stiche, als nähte sie feine Wäsche. Schon
-bei dem ABC der Putzmacherkunst war sie in Verzweiflung, und Fräulein
-Schneider mit ihr; was sollte erst werden, wenn die schweren Aufgaben
-daran kamen. Das ABC, das jede Schülerin erst lernen mußte, um dann zu
-den höheren Graden zu gelangen, war nämlich das Nähen von Millionen
-dicht an einander stoßenden, kleinen Säumen, in welche Fischbeine
-geschoben wurden, um dann die sogenannten Zughüte zu geben, in denen
-Madame Niedrers Geschäft eine besondere Berühmtheit erlangt hatte,
-weshalb denn diese massenhaften Säume auch nimmermehr ein Ende nahmen.
-Staunend hatte Agathe gleich am ersten Morgen gesehen, mit welcher
-Blitzesschnelle die Nadeln der jungen Mädchen bei dieser Arbeit durch
-das Seidenzeug fuhren. Nun sollte sie es ebenso machen; aber damit kam
-sie nun und nimmer zu Stande. Vorsichtig nähte sie Stich um Stich,
-und solch Zughütchen, von ihrer Hand gefertigt, würde vielleicht am
-jüngsten Tage einmal fertig geworden sein. Und wie mit dieser Arbeit,
-so ging es ihr mit allen andern. Einst die beste Schülerin der ganzen
-Pension, war und blieb sie die schlechteste hier in der Arbeitsstube.
-Fräulein Schneider war zum Glück eine sehr gutherzige Dame und sah
-wohl, wie viel Mühe sich die arme Agathe gab. Sie verschwieg ihrer
-Principalin die Ungeschicklichkeit des jungen Mädchens; aber freilich
-änderte sie dadurch in der Sache nichts, und Agathe fühlte sich von
-Tage zu Tage muthloser. Dazu kam, daß Bello krank wurde und sie diesem
-unleidlichen Gesellen jetzt jede ihrer freien Stunden opfern mußte. Das
-Thier litt zuweilen an Krämpfen, und wenn diese sich einstellten, dann
-gerieth das ganze Haus in Aufregung. Madame Niedrer lag schluchzend im
-Sopha, unfähig ihren Schmerz zu überwinden, oder sie kniete neben dem
-Lager des Hundes, Agathen zusehend, wie sie nach Angabe des Thierarztes
-den Kranken mit aller Anstrengung frottirte, daß ihr der Schweiß von
-der Stirn rann, oder das Thier in warme Decken einhüllte, die immer neu
-erwärmt werden mußten. Bei solchen Krankheitszufällen hatte Agathe auch
-in der Nacht keine Ruhe; denn alsdann stand das Bett des Hundes neben
-dem ihren, und sie mußte viele Male in der Nacht aufstehen, dem Thiere
-auf der Spirituslampe süße Milch zu erwärmen und ihm dieselbe dann
-einzuflößen. Die Cousine half dabei natürlich gern und nahm Agathen die
-Hälfte der Arbeit ab; aber Agathe war doch immer in Angst und Sorge;
-denn ihr war der Hund anvertraut, und passirte ihm etwas, so bekam sie
-die Vorwürfe. Bello war gewöhnt, stets bei der Nachtlampe zu schlafen,
-und so brannte dieselbe natürlich auch jetzt neben Agathes Bett. In
-einer Nacht aber war das Licht ausgegangen, und Bello bekam in Folge
-davon wieder seine Krämpfe; denn das zarte Geschöpf hatte sich über
-die ungewohnte Finsterniß alterirt, die es umgab. Kein Mittel wollte
-helfen, und am nächsten Tage war Bello so krank, daß Madame Niedrer
-fassungslos umherirrte.
-
-»Fahre mit ihm nach der Klinik, Agathe,« rief sie weinend, »ich kann es
-nicht, ich bin zu trostlos!«
-
-So holte sich denn Agathe einen Wagen, nahm Bello auf den Schoos und
-fuhr nach der Thierarzneischule. Es war eine entsetzliche Fahrt,
-denn jeden Augenblick dachte sie, das Thier würde sterben. In der
-Klinik wurde sie von einer Menge junger Aerzte umringt, welche sich
-des Hundes anzunehmen schienen, hierbei aber Agathen mehr ansahen,
-als den armen Bello. Das junge Mädchen wurde von Minute zu Minute
-unruhiger; tödtliche Verlegenheit und Angst färbte ihre zarten Wangen
-immer tiefer; aber gerade dies erhöhte ihre Schönheit, und beifälliges
-Flüstern erhob sich rings um sie her. Sie fühlte, wie unpassend es
-war, daß sie allein hier unter den jungen Aerzten stand; aber was
-sollte sie thun? Den Hund konnte und durfte sie nicht verlassen, und
-ein älterer Mann, der sich mit ihm beschäftigte, fand gar kein Ende in
-seinen Untersuchungen. »Lassen Sie den Hund hier, und holen Sie ihn
-morgen wieder ab, meine Dame, falls er da noch lebt!« sagte endlich
-der alte Herr, und froh aufathmend eilte Agathe davon, umringt von den
-jungen Aerzten, die ihr die Thür öffnen, ihr einen Wagen herbeirufen,
-sie begleiten, kurz ihr alle möglichen Dienste erzeigen wollten.
-Schluchzend kam Agathe zu Hause an; denn das schüchterne Kind war außer
-sich über das, was sie hatte ertragen müssen, und ihre Aufregung war so
-groß, daß Madame Niedrer's Vorwürfe darüber, daß sie den Hund in der
-Klinik gelassen, gar keinen Eindruck auf sie machten. Als aber Madame
-am andern Tage verlangte, sie solle wieder hingehen und Bello abholen,
-da erklärte sie mit einer für die Tante völlig neuen Entschiedenheit,
-das thue sie nicht, die Cousine möge hingehen. Trotz Madames Zorn ob
-solcher Opposition ließ sich Agathe nicht bestimmen, und so wurde
-wirklich die Cousine an ihrer Stelle abgeschickt. Zum Glück war Bello
-wieder gesund; Agathe aber haßte ihn jetzt nur doppelt, denn die Angst
-und Sorge um ihren Liebling ließ Frau Niedrer gar nicht mehr zu Ruhe
-kommen, und Agathe hatte schlimmere Tage als je. Heulte und wimmerte
-das Thier, so sollte sie dafür einstehen; denn die Tante behauptete,
-sie besorge ihn schlecht. Lief er in plötzlicher Laune zur Thür hinaus,
-so mußte sie von der Arbeit fort hinter ihm d'rein springen, um ihn
-zurück zu holen, damit er sich nicht wieder erkälte, und kam sie dann
-athemlos zurück, so zitterten ihr die Hände von dem Kampfe mit dem
-widerspenstigen Thiere, und die Arbeit wollte noch weniger gehen, als
-bisher schon. So verging Woche um Woche; ihre Lage wurde nur schlimmer
-statt besser. Zum Lesen und Lernen kam sie jetzt gar nicht mehr, und
-ein schwerer, stiller Trübsinn lagerte sich auf ihr Herz. Es war ihr
-alles gleichgültig; am liebsten wäre sie im Grabe bei ihrer lieben,
-theuren Mutter gewesen, denn das Leben hatte trotz ihrer Jugend gar
-keinen Reiz mehr für sie.
-
-
-
-
- Fünftes Kapitel.
-
- Wiedersehn.
-
-
-Still und in sich gekehrt ging Agathe eines Tages vor einem der Thore
-Leipzigs spazieren. Der Sommer war in voller Pracht in das Land
-gezogen; in den Gärten standen Rosen und Lilien in voller Pracht, und
-die blühenden Lindenbäume neigten ihre duftenden Zweige zu dem jungen
-Mädchen herab, als wollten sie ihr Liebes und Freundliches erzeigen.
-In dem frischgrünen Laube der schattigen Baumgänge, unter denen Agathe
-dahin schritt, sangen die Vögel fröhliche Lieder, und die Sonne blickte
-mild und warm vom blauen Himmel hernieder. Aber Agathe hatte heute für
-gar nichts Sinn. Allerlei Verdruß und Aerger bedrückte ihr Herz mehr
-als gewöhnlich, und sie fühlte sich so einsam, so allein in der Welt,
-daß sie sich wie verstoßen vorkam. Thräne auf Thräne rollte über ihre
-Wange, und müde setzte sie sich endlich auf eine der Bänke, welche
-unter den Bäumen standen. Bello war ungewöhnlich artig und legte sich
-ruhig zu ihren Füßen nieder, und so wurde sie durch nichts von ihren
-Gedanken abgezogen.
-
-Aber plötzlich fuhr sie zusammen; der Ton einer Stimme schlug an ihr
-Ohr, und wie träumend starrte sie in ein liebes, treues, nur gar zu
-wohl bekanntes Gesicht.
-
-»Mein Goldkind, bist du es denn wirklich? Muß ich dich gleich hier
-finden, mein armes kleines Vögelchen?« so rief schon von Weitem die
-bekannte Stimme der alten Soltatenfrau, und in ihrer ganzen gewichtigen
-Höhe und Breite stürmte sie mit großen Schritten auf Agathe los.
-
-»Anne, meine Anne!« jubelte das junge Mädchen und flog mit offenen
-Armen an die Brust der alten, treuen Seele, und laut schluchzend
-umschlang diese ihren Liebling.
-
-»Ach Anne, dich schickt mir der liebe Gott!« sagte endlich Agathe.
-»Gerade heute wollte ich ganz verzagen, und aller Muth war mir
-entschwunden. Aber nun ist alles gut, nun bist du hier, nun habe ich
-jemanden, der mich lieb hat. Nicht wahr, du bleibst hier, Anne? Du
-ziehst hierher und läßt dein armes Kind nicht mehr allein? Ach Anne,
-wenn du wüßtest, wie traurig ich bin, du verließest mich nicht wieder!«
-
-»Nun will ich denn das, mein Herzkäferchen? Will ich denn wieder fort?
-Habe ich nicht meine ganze Bagage im Train, damit ich hier Quartier
-nehme?« rief die Alte fröhlich und lachte mit ihrer lauten, rauhen
-Stimme, daß die Vorübergehenden verwundert auf das sonderbare Pärchen
-blickten. Die alte Soltatenfrau war eine geborne Schlesierin und
-hatte heute den großen Staat ihrer Heimath angelegt, welche Tracht
-sich allerdings unter den glatten, weißen Mützchen und den modischen
-Kleidern der Leipziger Stubenmädchen gar wunderlich ausnahm. Sie trug
-einen feuerrothen Rock mit weiter Schürze und Mieder, darüber den
-rothen schlesischen Frießmantel, welcher, wie der blaue Regenschirm,
-Sommer und Winter den Schlesier begleitet, und den Kopf deckte eine
-Mütze mit langen Bändern, von einem großen, schwarzseidenem Tuche
-umschlungen, dessen Schleifen wie ein Paar mächtige Fächer über der
-Stirn schwebten.
-
-Agathe war so glücklich über das Wiedersehen ihrer treuen Anne, daß
-ihr alle Traurigkeit entschwunden war. Froh, der braven Freundin ihr
-Herz öffnen zu können, erzählte sie alles, was ihr begegnet, und alles
-Leid, das sie zu tragen hatte. Anne begleitete die Erzählung mit den
-theilnehmendsten Zeichen und Ausrufungen, indem sie wie ein =Telegraph=
-mit ihren langen Armen in der Luft umher focht; glückselig aber war
-sie, daß sie Agathe wenigstens den Trost geben konnte, sie werde sich
-ihrer nun aus allen Kräften annehmen, da sie ihr so nahe sei.
-
-»Ach gute Anne, du kannst mir ja doch nicht helfen!« seufzte Agathe.
-Aber im Herzen hoffte sie doch wieder von Neuem, seit sie diese treue
-Seele neben sich wußte.
-
-»Wer weiß, ob ich dir nicht einmal beistehen kann, wo du es am
-wenigsten denkst,« sagte die Alte, und schritt gedankenvoll neben
-Agathe her, die sich bei diesem Wiedersehen schon sehr verspätet hatte
-und nun eilte, nach Hause zu kommen.
-
-»Besuche mich morgen ganz früh, Anne, den Tag über habe ich keine
-Zeit,« rief Agathe noch beim Abschied; dann winkte sie der Alten noch
-einmal zu und flog die Treppe hinauf.
-
-»Du armes, armes Vögelchen! Das ist kein Ort für dich!« sprach Anne
-leise, indem sie ihr nachblickte und dann still ihres Weges ging.
-
-»Wie sie bleich aussieht und mager. Diese Tante muß gar kein Herz im
-Leibe haben, sonst könnte sie solche kleine, blasse Blume nicht von
-früh bis Abend an die Näherei schmieden, wie einen Galeerensträfling!«
-
-Das Wiedersehen ihrer alten treuen Freundin hatte Agathen so fröhlich
-gestimmt, daß die Cousine ganz verwundert drein schaute, sich aber
-herzlich mit dem jungen Mädchen freute, als sie den Grund zu deren
-Frohsinn erfuhr.
-
-»Gegen die Tante sprich aber lieber nicht davon; sie liebt solche
-Besuche nicht,« sagte die Cousine, und da Agathe überhaupt in Gegenwart
-der Tante sehr wenig sprach, so wurde es ihr nicht schwer, gegen
-dieselbe zu schweigen. Dem Onkel aber theilte sie die Anwesenheit der
-Alten mit, sobald sie einmal mit ihm allein war, und in seiner milden
-Weise nahm auch er herzlichen Antheil an der Freude des guten Kindes.
-
-Anne kam am folgenden Morgen, wie sie versprochen, ihren Liebling zu
-besuchen, und aus den weiten Taschen ihres rothen Frießrockes holte sie
-eine Menge Briefe und kleine Geschenke heraus, welche die Freundinnen
-der Pension an Agathe schickten. O, was für eine Freude war das, welch
-ein herrlicher, glücklicher Tag! Das junge Mädchen lachte und weinte
-vor Entzücken, und fiel ihrer Anne immer wieder dankend um den Hals.
-Die ganze unaussprechliche Sehnsucht ihres Herzens nach den vergangenen
-Zeiten war durch diese Boten aus der Heimath ihrer Kinderjahre über sie
-gekommen.
-
-Anne versprach, Agathen recht oft zu besuchen, und sie hielt Wort;
-öfter aber noch traf sie mit ihrem Lieblinge auf deren täglichen
-Spaziergängen zusammen, wodurch dieselben nicht wenig an Reiz gewannen.
-
-Wieder verging Woche um Woche; der Herbst vertrieb den Sommer, und
-die fallenden Blätter deckten die Laubgänge vor der Stadt, in denen
-Agathe so gern auf und nieder wandelte. Aber wenn auch die Natur um sie
-her ein anderes Ansehen gewann, die Lage Agathes blieb dieselbe. Kein
-freundlicher Hoffnungsstern wollte an ihrem Himmel aufgehen, wie sehr
-sie ihn auch ersehnte und Plan auf Plan schmiedete und selbst an den
-Eisenstäben zu rütteln versuchte, die sie umschlossen.
-
-Eines Tages jedoch schritt ihr die alte Soldatenfrau in großer
-Aufregung entgegen, und kaum erreichte ihre rauhe Stimme Agathen, als
-sie fröhlich ausrief: »Hurrah, mein Goldkind, ich sehe Licht! Helles
-Licht, sage ich dir!« Dabei focht sie mit ihren großen Händen gewaltig
-in der Luft umher, als risse sie dunkle Schleier herab, die besagtes
-Licht verhüllten. »Die Bresche ist geschossen, nun muß auch die Festung
-bald fallen; denn die Bresche ist die Hauptsache, sagte mein Corporal,
-wenn er sich vor einer Attaque den Schnurrbart strich,« schloß sie
-dann und fuhr sich über die Lippen, um zu zeigen, wo der Schnurrbart
-gesessen, der so regen Antheil an den Berathungen ihres Corporals hatte.
-
-»Aber was giebt's denn nur, Anne, was hast du nur?« rief Agathe
-neugierig und zog die Alte auf eine Bank.
-
-»Was es giebt? Eine Stelle giebt es für dich, mein Vögelchen!« jubelte
-die Alte. »Aber wie gesagt, Sturm müssen wir laufen, sonst kommt uns
-ein Anderer zuvor, oder deine Frau Tante bekommt gar Wind und verrennt
-uns den Weg.«
-
-»Eine Stelle? Du träumst wohl, Anne; für mich eine Stelle?« rief Agathe
-ungläubig. »Was soll ich armes Ding denn für eine Stelle ausfüllen!
-Ich kann ja nichts als Hunde warten und Karte spielen! Nicht einmal
-Putzmachen begreife ich; ich bin ja zu gar nichts zu gebrauchen!«
-
-»Das wird sich finden!« sagte die Alte stolz und schüttelte den grauen
-Kopf, daß die Fächer ihrer Mütze hin und her schwankten. »Jeder
-soll thun, was für ihn paßt! Putzmachen ist eine gute, ehrenwerthe
-Beschäftigung, das versteht sich; aber wer kein Geschick dazu hat,
-sondern Kopf zu was anderm, der soll sich damit nicht abquälen, sondern
-lieber das thun, was ihm leichter wird! Ich kenne dich besser und weiß,
-wer in der Pension stets die beste Schülerin gewesen ist! Es ist mir
-ganz egal, was du seitdem gethan hast; in dir steckt mehr, das muß ich
-wissen. Ich kenne mein liebes Kind vom ersten Tage an, als es auf die
-Welt kam, damit Basta!«
-
-»Aber so sag' doch, was hast du denn für eine Stelle?« lachte Agathe
-und ergriff zärtlich die schwielige Hand der braven Freundin.
-
-»Nun du weißt doch, daß ich die Aufwartung bei Madame Groß übernommen
-habe,« hub die Alte geheimnißvoll an. »Diese hat jetzt Besuch von ihrem
-Bruder, der mit seiner kranken Frau nach Frankreich oder Italien, oder
-wo es ist, gehen will. Da kam mir denn ein Gedanke: »Wenn sie für die
-arme, kranke Dame nur eine weibliche Begleitung hätten, liebe Madame
-Groß,« sagte ich gestern Abend zu meiner Herrin, und hatte so meine
-Absichten. »Eine Kranke bedarf so manches, was der Mann nicht versteht,
-und die liebe, kranke Dame wird das gewiß später empfinden. Sehen Sie,
-Madame,« sagte ich weiter, »mein Corporal war der beste Mann in der
-ganzen Welt; aber wenn ich krank im Bett lag, da war er wie ein kleines
-Kind; es fehlte an allen Ecken; denn er verstand gar nichts, was nicht
-zum Dienste gehörte.« Was meinst du nun, mein Goldkind, was ich bei
-den Worten im Sinne hatte? Nichts anderes, als daß du die Leute als
-Gesellschafterin begleiten solltest!« schloß die Alte mit glänzenden
-Augen, »und ich glaube, es wird was draus, denn Madame Groß fand meine
-Gedanken vortrefflich.«
-
-»Ich, Anne, Gesellschafterin? Ach, mein Gott, wo denkst du hin!« rief
-Agathe ganz erschrocken.
-
-»Aber warum denn nicht?« sagte die Alte eifrig. »Ist es nicht besser,
-du pflegst eine gute, kranke Dame (denn sehr gut ist sie, das habe
-ich gemerkt), als daß du Hunde wartest und dich zu Tode stichelst?
-Denke doch, sie gehen vielleicht nach Frankreich; da kannst du ja noch
-was lernen und siehst dich in der Welt um! Hier bei deiner elenden
-Putzmacherei verkümmerst du ganz; ich kann das nicht länger mit
-ansehen. Gelt, Schäfchen, du gehst darauf ein?«
-
-Agathe begriff nur zu wohl, wie Recht die treue Seele hatte, und die
-Aussicht, in fremde Länder zu gehen, und dort noch vieles zu sehen und
-zu lernen, was für ihre Ausbildung nützlich sein mußte, tauchte wie ein
-Strahl freudiger Hoffnung vor ihren Blicken empor.
-
-»Aber sie werden mich nicht nehmen, Anne,« seufzte sie traurig.
-
-»Dafür laß mich sorgen, das wird sich finden,« sagte die Alte. »Meine
-Bresche ist gut angelegt, ich werde schon siegen, da ist mir nicht
-bange. Aber deine Tante, das ist die Hauptsache, die wird nicht
-wollen. Sie hat von dir wenig Kosten; du lieber Gott, was braucht denn
-so ein armes, kleines Vögelchen; aber Hülfe hat sie von dir in Menge,
-und gewiß denkt sie, du sollst einmal Directrice in ihrem Geschäft
-werden, damit sie die jetzige nicht mehr zu bezahlen braucht. Die alte
-Cousine hat neulich so was gesagt, und die Sache wäre freilich für sie
-bequem.«
-
-»Ach, mein Gott, das wäre ja schrecklich!« rief Agathe, und dachte mit
-Entsetzen an die zehn Jahre, in welchen Fräulein Schneider bereits
-jenen hohen Directricensitz einnahm, und der ihrer wartete, um sie ihr
-ganzes Lebenlang dort fest zu halten.
-
-»Aber wie soll ich es der Tante sagen? ich werde dazu nie den Muth
-haben!« fuhr Agathe ängstlich fort.
-
-»Nun laß mich nur machen; es soll schon alles gut gehen!« tröstete
-Anne. »Morgen gehst du mit mir zu Madame Groß, ihr lernt euch
-gegenseitig kennen, und das andere findet sich dann.«
-
-Am andern Tage trat denn die gute Anne Sommer getrost mit ihrem
-Liebling in das Zimmer ihrer Herrin, und mit einem fröhlichen: »Na, da
-ist das Goldkind, Madame!« schob sie militärisch grüßend, zwei Finger
-an die Fächer ihrer Haube gelegt, die schüchterne Agathe vor Madame
-Groß hin.
-
-»So jung noch, und so zart?« konnte sich die Dame nicht enthalten,
-auszurufen, als sie Agathen betrachtete. »Sie wird sich für diese
-Stelle nicht eignen, liebe Sommer.«
-
-»Soll sie denn die kranke Madame heben und tragen?« sagte die
-Soldatenfrau barsch.
-
-»Nein, das soll sie nicht!« entgegnete Madame Groß. »Aber sie würde
-doch zuweilen des Nachts aufstehen müssen, oder dergleichen Dinge thun,
-und wenn sie schwach und kränklich ist, so hält sie das nicht aus; denn
-das Leben bei einer Kranken ist angreifend.«
-
-»Aber ich bin nicht schwach, wenn ich auch bleich aussehe,« sagte
-Agathe jetzt angstvoll, denn sie fürchtete so sehr, abgewiesen zu
-werden.
-
-»Kommen Sie mit zu meiner Schwägerin, liebes Kind; sie mag selbst
-entscheiden,« sagte endlich Madame Groß nach einigem Zögern, und
-bald stand Agathe vor der Kranken, einer sanften, jungen Frau, deren
-durchsichtige Farbe die böse Krankheit verkündete, welche ihren zarten
-Körper zerstörte. Sie blickte Agathen mit sanftem, seelenvollem Blicke
-an, und dieser traten Thränen in das Auge; denn unwillkürlich dachte
-sie an ihre geliebte Mutter, die ja auch so zart und leidend ausgesehen
-hatte, ehe sie von der Erde schied. Frau von Menzel, so hieß die
-Kranke, bat Agathen, sich neben sie zu setzen und erkundigte sich nach
-ihren Verhältnissen. Agathe erzählte anfangs zaghaft und schüchtern;
-aber die rege Theilnahme der Kranken flößte ihr bald großes Vertrauen
-ein, und offen legte sie derselben nun ihre ganze Lage dar und
-verhehlte nicht, wie innig sie wünschte, bei ihr bleiben und mit ihr
-gehen zu können. -- Frau von Menzel reichte dem jungen Mädchen endlich
-die Hand und sagte freundlich, sie gefalle ihr sehr wohl, und herzlich
-wünsche sie ihre Begleitung. Deshalb, wenn sie mit ihnen gehen wollte,
-so möge sie nur mit ihren Verwandten darüber Rücksprache nehmen. Aber
-freilich sei nicht viel Zeit zu verlieren, denn schon in drei Wochen
-wollten sie abreisen.
-
-Agathe küßte voll des innigsten Dankes die Hand der gütigen Dame.
-Ihr Herz fühlte sich unbeschreiblich zu ihr hingezogen, und mit
-aufrichtiger Freude versprach sie, alles zu thun, um die Zufriedenheit
-derselben zu verdienen. Mit frohem Herzen kehrte sie dann zu ihrer Anne
-zurück, und diese war so glücklich über das Gelingen ihres Planes, daß
-sie wie ein Kind sprang und tanzte.
-
-»Aber nun die Tante; ach, wäre das erst überstanden!« jammerte Agathe.
-»Wenn ich es nur dem Onkel sagen könnte; aber ich sehe ihn ja nie
-allein. Und was hilft das auch; er schickt mich doch zu der Tante, denn
-er fürchtet sich, ihr etwas Unangenehmes zu sagen.«
-
-»So nimm das Herz in die Hand, und geh' gleich zu ihr,« sagte Anne.
-»Ich warte in der Küche draußen auf die Antwort; zu Hause läßt es mir
-doch keine Ruhe.«
-
-Agathe that, wie Anne ihr gerathen, und nun stand sie vor der Thür,
-die zu dem Zimmer der Tante führte. Sie hörte ihr Herz ordentlich
-klopfen und kämpfte nach Athem; endlich aber drückte sie muthig auf die
-Thürklinke, und nun war sie im Zimmer.
-
-»Liebe Tante, wenn ich Sie nicht störe, möchte ich Ihnen etwas sagen,«
-begann sie ziemlich kühn.
-
-»Was willst du? Warum bist du nicht bei der Arbeit?« sagte die Tante
-streng und blickte nach der Uhr, welche Arbeitszeit verkündete.
-
-»Ich.. ich werde das Putzmachen doch nie lernen, verzeihen Sie, liebe
-Tante!« stotterte Agathe, ihre muthige Haltung schon etwas verlierend.
-
-»Du wirst es nie lernen? Was soll das heißen? Du willst nicht, bist
-faul, ich weiß es lange!« fuhr die Tante auf. »Aber es hilft dir alles
-nichts, du sollst dein Brod hier nicht umsonst essen, sondern es dir
-verdienen; verstehst du mich? Jetzt geh' und bessere dich, und laß mich
-solche Reden nicht wieder hören! Du bist ein armes Mädchen; du mußt
-daran denken, dir dein Brod später selbst zu verdienen.«
-
-»Ja wohl, liebe Tante, das will ich auch,« stammelte Agathe. »Wenn Sie
-es mir erlauben, so möchte ich eine Stelle annehmen.«
-
-»Eine Stelle?« rief die Tante staunend. »Ich glaube, du weißt nicht,
-was du sprichst! Was willst du ungeschicktes Mädchen denn für eine
-Stelle annehmen?«
-
-»Ich soll eine kranke Dame nach Italien begleiten,« sagte Agathe
-wieder muthiger. »Sie will mich mitnehmen, wenn Sie es mir erlauben.«
-
-»Will dich mitnehmen? Also alles schon fix und fertig verabredet?«
-rief die Tante jetzt, und ihr Zorn loderte empor. »Also hinter meinem
-Rücken schmiedest du solche Ränke, du falsches Mädchen? Ohne mir vorher
-ein Wort zu sagen, läßt du dich von andern Leuten engagiren! Aber,
-mein liebes Kind, daraus kann ein für alle Mal nichts werden! Du wirst
-hier bleiben und nach wie vor dich beschäftigen, wie bisher; denn
-ich sehe wohl, es ist Faulheit, was dich forttreibt! Du denkst, als
-Gesellschafterin wirst du ein bequemes Leben führen und in der Welt
-umher reisen. Laß es dir lieb sein, daß ich dich davon zurück halte,
-denn du würdest gar bald sehen, wie sehr du dich geirrt hast.«
-
-»Aber liebe Tante, ich würde französisch lernen und vielleicht dann
-Erzieherin werden können, wenn ich die Dame begleite. O bitte, bitte,
-erlauben Sie es mir doch?« flehte Agathe weinend und mit dem Muthe der
-Verzweiflung.
-
-»Nein, sage ich dir! Meine Erlaubniß bekommst du nicht!« fuhr die Tante
-heftig auf. »Erzieherin! Glaubst du, die wird man so mir nichts, dir
-nichts durch ein Bischen französisch schwatzen? Dummes Zeug! Schweig
-jetzt, und geh an die Arbeit! Das ist mein letztes Wort über die Sache!«
-
-Weinend eilte Agathe zu ihrer alten Anne, die ihrer in der Küche
-harrte. Aber kaum hatte sie der treuen Seele ihr Leid geklagt, als sie
-die Stimme der Tante hörte. Geschwind schob sie die alte Soldatenfrau
-die Hintertreppe hinab und flog in das Arbeitszimmer, um neuer Schelte
-zu entgehen. Aber wie viel stille Thränen, wie viel Seufzer und wie
-viel Gedanken begleiteten nun jeden Stich, den ihre Nadel langsamer und
-schwerfälliger als je zu Stande brachte.
-
-
-
-
- Sechstes Kapitel.
-
- Treue Hülfe.
-
-
-Frau Anne Sommer war zwar die Hintertreppe hinab gegangen, da Agathe es
-so gewollt; aber gedankenvoll und leise vor sich hin brummend, trabte
-sie die Treppe im Vorderhause wieder herauf, klingelte, und ließ sich
-bei Madame Niedrer anmelden.
-
-»Bitte um Entschuldigung, wenn ich störe!« sagte die Alte mit ihrer
-rauhen Stimme und schritt auf Madame Niedrer zu, welche mit höchster
-Verwunderung diesen sonderbaren Besuch eintreten sah.
-
-»Ich bin Fräulein Agathes frühere Dienerin, Madame!« fuhr die Alte
-weiter fort, »und habe eine große Bitte an Sie.«
-
-»Mein Gott, nicht einmal in seinem Zimmer ist man vor Betteleien
-sicher!« rief die Angeredete unwillig und ergriff den Klingelzug.
-
-»O bitte, ich bettle nicht!« sagte die Alte stolz und richtete sich in
-ihrer ganzen Länge auf. »Ich komme nur, um für Fräulein Agathe etwas zu
-bitten.«
-
-»Was will Sie? Ich habe keine Zeit; rede Sie schnell!« rief Madame
-Niedrer heftig.
-
-»Madame, Ihre Nichte wünscht eine Stelle anzunehmen; ich bitte Sie
-flehentlich, erlauben Sie ihr das!« sprach die Alte nun laut und
-dringend, aber immer noch bescheiden, wie bisher.
-
-»Was geht das Sie an; damit hat Sie gar nichts zu schaffen!« rief
-Madame zornig. »Sie ist es gewiß, die ihr die Stelle suchte und das
-undankbare Mädchen gegen ihre eigenen Verwandten aufhetzte. Auf der
-Stelle gehe Sie, oder ich klingle, daß man Sie hinaus bringt!«
-
-»Hoho, Madame, sprechen Sie so, so brauche ich auch nicht hinter dem
-Berge zu halten!« brach nun Anne Sommer los und athmete schwer und
-tief. »Ja, ich bin es, da haben Sie recht; aber ich bin es auch, der
-das arme Kind lieber ist, als irgend jemanden in der ganzen Welt. Und
-darum will ich, daß sie glücklich wird. Hier aber geht sie ganz und gar
-zu Grunde, und d'rum soll sie fort. Sind Sie denn von Stein, Madame,
-daß Sie es mit ansehen können, wie das arme, zarte Kind leidet an
-Körper und auch an ihrem Geiste? Denn sie arbeitet sich elend und grämt
-sich zu Tode, daß sie nicht noch etwas lernen und sich weiter ausbilden
-kann. Darum, Madame, entweder Sie erlauben ihr, daß sie lernt statt zu
-nähen, oder Sie lassen sie fort.«
-
-Die Alte hatte in ihrem Eifer die Hand empor gehoben; ihre Augen
-blitzten, und drohend stand sie vor der Frau des Hauses. Diese
-war zuerst etwas überrascht; bald aber faßte sie sich und sagte,
-die Klingel ziehend: »Augenblicklich verläßt Sie mein Haus, Sie
-unverschämte Person! Meine Nichte bleibt hier und wird Putzmacherin,
-damit Punktum; Sie aber läßt sich nie wieder blicken!«
-
-Dabei gebot sie der eintretenden Dienerin, das Weib fortzubringen; sie
-selbst aber verließ stolz und heftig das Zimmer.
-
-»So also geht's nicht!« brummte Anne vor sich hin, als sie wieder auf
-der Straße war. »Du hast dem armen Kinde mehr geschadet, als genützt;
-das war dumm von dir, Anne. Jetzt strenge deinen alten Kopf an; denn
-fort muß sie, nun erst recht. Jetzt hat sie's nun gewiß doppelt
-schlimm, die arme, kleine Maus.«
-
-Das war allerdings der Fall. Die Tante war so unfreundlich und streng
-gegen Agathe und gönnte ihr so wenig freie Zeit, daß das arme Mädchen
-es kaum geduldig ertragen konnte. Und was sollte aus ihrer Stelle
-werden! Die Tante gab nie ihre Einwilligung, das wußte sie jetzt nur
-zu gut, und ohne dieselbe konnte sie natürlich nicht fort. Den Onkel
-um Hülfe zu bitten, war auch nutzlos; denn wo die Tante so entschieden
-gesprochen, verhallte sein Wort und Wille wie ein Ton im Winde. Und
-doch verging die Zeit, und konnte sie diese Stelle nicht annehmen, wer
-weiß, wann sich wieder etwas so Passendes finden würde.
-
-Agathe fand Tag und Nacht keine Ruhe, und die gute Cousine, der sie ihr
-Herz ausschüttete, wußte auch weder Rath noch Hülfe. Auch Anne Sommer
-war Anfangs sehr aufgeregt und sorgenvoll gewesen, seit einiger Zeit
-jedoch schwieg sie, schien aber so sicher und guten Muthes zu sein,
-daß Agathe sie nicht begriff; denn ihr war jede Hoffnung entschwunden.
-»Sage nur der guten Frau von Menzel, wie sehr ich ihr danke und wie ich
-bedaure, sie nicht begleiten zu können, Anne,« sagte Agathe weinend,
-und Anne nickte still mit dem Kopfe, sah aber ganz heiter dabei aus,
-als lache sie in sich hinein.
-
-So waren zwei Wochen von der Zeit verstrichen, welche bis zur Abreise
-Frau von Menzel's noch vergehen sollten. Agathe gab sich Mühe, gar
-nicht mehr an ihre schönen Hoffnungen zu denken; aber natürlich wollte
-ihr das nicht gelingen, sie wurde nur immer trauriger.
-
-In ihre Gedanken verloren, schritt sie eines Tages wieder unter
-den Linden auf und nieder, und unwillkürlich verglich sie das
-gelbe, trockene Laub am Boden, das unter ihrem Fuße rauschte, mit
-den gestorbenen Hoffnungen ihrer Jugend. Da sah sie Anne Sommer in
-ungewöhnlicher Hast auf sich zukommen; sie hatte einen Zettel in der
-Hand und sagte freudig: »Nun ist's gut; jetzt hab' ich alles, was ich
-brauche. Nun kommt es nur auf dich an, ob du willst oder nicht, mein
-Herzkind!«
-
-»Was soll ich denn wieder, Anne; was hast du denn wieder im Sinn?«
-sagte Agathe niedergeschlagen.
-
-»Ob du mit Frau von Menzel reisen willst!« rief Anne lebhaft.
-
-»Ach laß doch nur dies unglückliche Thema!« sagte Agathe sich
-abwendend, denn die Thränen brachen ihr wieder hervor. »Du weißt ja,
-ich darf nicht.«
-
-»Ja du darfst! Hier steht es schwarz auf weiß!« jubelte Anne und hielt
-ihren Zettel triumphirend empor. »Madame freilich erlaubt es nicht, das
-steht fest; aber was thut uns das? Dein Vormund ist der Onkel, und der
-hat es mir hier drauf geschrieben, daß er nichts dagegen hat. Na, Mühe
-freilich hat's gekostet, ehe er sich dazu entschloß; denn seine böse
-Frau durfte nichts davon wissen. Aber ich habe ihm keine Ruhe gelassen,
-habe ihm das Herz so weich gemacht, daß er dir doch endlich seine
-Erlaubniß gab. Denn gut ist er und helfen möchte er dir, das muß ich
-sagen; aber die Furcht vor der Frau läßt ja alles das nicht aufkommen!«
-
-»Wie? Du hast die Erlaubniß des Onkels?« rief Agathe in in höchster
-Verwunderung »Wo hast du ihn denn gesprochen?«
-
-»In seinem Comptoir, mein Schäfchen! Drei Mal bin ich bei ihm gewesen
-und habe ihn bestürmt, bis ich den Zettel hatte!« rief die Alte und
-rieb sich vergnügt die harten Hände, daß es raschelte. »Aber Abschied
-zu Hause darfst du freilich nicht nehmen, dann wäre alles umsonst.
-Madame sperrte dich sicher ein; darum entschließe dich nur und komm
-gleich mit mir, das ist das Allerbeste; es ist alles schon vorbereitet.«
-
-»Wie? Ich soll gleich mit dir kommen?« rief Agathe, die Augen weit
-öffnend. »So ohne Abschied, ohne alles, ohne....«
-
-»Ja den Abschied von deiner zärtlichen Tante, den mußt du freilich dran
-geben,« lachte die Alte; »alles andere aber ist besorgt, da sei ruhig.
-Die alte Cousine packt eben deine Sachen zusammen, die ich in der
-Dämmerung abhole; sie weiß um alles, ist aber verschwiegen und freut
-sich, daß du fort kommst. In meiner Wohnung bleibst du bis zur Abreise
-von Menzels. Auch sie wissen um unsern Plan und reisen deshalb einige
-Tage früher; die guten Menschen, sie haben dich so lieb gewonnen.«
-
-»Aber das ist ja eine wahre Entführung! Ich laufe ja davon, als wäre
-ich ein Verbrecher rief Agathe ganz außer sich vor Bestürzung.
-
-»Nun ja, was bleibt denn anders übrig, wenn dein Onkel seine Frau nicht
-zwingen kann und will?« lachte die Alte. »Er hat ja eine Furcht vor
-ihr, als wäre sie Napoleon seine größte Kanone!«
-
-»Aber dem Onkel muß ich Lebewohl sagen; von ihm kann ich nicht so
-fortlaufen, es wäre zu abscheulich!« sagte Agathe.
-
-»Nun dann komm schnell, und besuche ihn in seinem Comptoir,« drängte
-die Alte. »Bis zwei Uhr ist er dort allein; das trifft sich gut.«
-
-Eilig gingen die beiden Freundinnen nach dem Arbeitszimmer des Onkels,
-der in großer Unruhe in demselben auf und nieder ging.
-
-»Agathe!« rief er freudig, als das junge Mädchen schnell bei ihm
-eintrat, und zog dasselbe an die Brust.
-
-»O mein lieber, lieber Onkel!« schluchzte Agathe, »verzeihe mir!«
-
-»Ich habe dir nichts zu verzeihen, Kind!« sagte Herr Niedrer sanft.
-»Ich sehe ein, daß es besser für dich ist, du verläßt unser Haus und
-nimmst die Stelle bei jenen braven Leuten an. Deshalb habe ich auch
-meine Einwilligung dazu gegeben. Gehe mit Gott, mein gutes Kind, und
-bleibe gut und brav. Alles andere laß dich nicht kümmern; ich weiß, was
-ich thue. Du kannst ruhig sein, sowohl was dich selbst, als auch was
-mich betrifft. Bist du in Noth, so wende dich getrost an mich; mein
-Herz wird dir immer offen sein, wenn es auch mein Haus in Zukunft nicht
-mehr sein kann.«
-
-Agathe konnte sich schwer von dem Onkel trennen; aber Fremde kamen,
-und nach einer letzten innigen Umarmung eilte sie fort. Die treue Anne
-hatte in ihrem Stübchen alles zum Empfange des lieben Gastes bereitet,
-und bald schloß sie die Thür hinter der Entführten.
-
-»Hier bist du sicher, mein Vögelchen!« rief sie fröhlich. »Hier finden
-dich selbst die scharfen Augen deiner Frau Tante nicht.«
-
-Agathe saß stumm und traurig da, und alle Fröhlichkeit der guten
-Soldatenfrau war nicht im Stande, sie zu erheitern. Ihre Gedanken
-flogen nach dem Hause, das sie verlassen; sie kam sich wie eine
-Verbrecherin vor. Im Geiste sah sie den furchtbaren Zorn der Tante,
-die jetzt schon ihr Ausbleiben bemerken mußte. Dann kam die Stunde,
-in welcher der Onkel heimkehrte, und in Todesangst dachte sie daran,
-daß er vielleicht eben jetzt der Tante ihre Flucht mittheilte; denn er
-hatte versprochen, sich ihrer treu anzunehmen, und sie zu vertheidigen
-und zu schützen.
-
-»Unsinn! Er ist der Generalfeldmarschall seiner Truppen; was er will,
-muß in seinem Hause geschehen, so gehört sich's!« sagte Anne Sommer mit
-grimmigem Ernst, als Agathe ihre Sorge aussprach, der Onkel werde um
-ihretwillen gewiß viel Aerger und Verdruß zu leiden haben. »Hätte er
-es dir nicht erlaubt, würdest du natürlich nicht desertirt sein. Aber
-jetzt beruhige dich, und sei kein Närrchen. Heute Abend werde ich ja
-erfahren, wie es dort steht.«
-
-In der Dämmerstunde holte Anne Agathes Koffer ab, den die alte Cousine
-heimlich gepackt hatte, und durch sie erfuhr denn die Alte, daß es
-freilich einen sehr heftigen Auftritt zwischen Herrn und Madame Niedrer
-gegeben habe. Der Herr sei aber so fest und bestimmt bei seinem Willen
-geblieben, daß Madame sich schließlich beruhigt und sich vor den
-Leuten das Ansehen gegeben habe, als sei Agathes Entfernung mit ihrer
-Zustimmung erfolgt.
-
-Unter den jungen Arbeiterinnen des Putzgeschäfts hatte Agathes Flucht
-große Heiterkeit hervor gerufen; denn alle hatten das innigste Mitleid
-mit ihr gehabt. Selbst Fräulein Schneider lächelte, als sie den ersten
-Schreck überwunden und gestand seufzend, sie habe jetzt eine Sorge
-weniger; denn zu einer Putzmacherin hätte sie Fräulein Agathen doch
-nimmermehr heran bilden können.
-
-
-
-
- Siebentes Kapitel.
-
- Im fremden Lande.
-
-
-Es war an einem schönen, sonnigen Herbsttage, als eine blasse Frau, auf
-den Arm ihres Mannes gestützt, eines der Eisenbahncoupé's bestieg und
-sich freundlich nach einem jungen Mädchen umschaute, das an dem Halse
-einer großen Frau hing, deren bunte Bauerntracht wunderlich gegen die
-dunkle Reisekleidung des Mädchens abstach.
-
-»O Anne, behalte mich lieb, und habe ewig Dank für alles!« schluchzte
-Agathe, denn sie war es. Die alte Soldatenfrau fand keine Worte und
-streichelte nur immer wieder die Wangen des jungen Mädchens, indem ihr
-einzelne, dicke Thränen über das gute Gesicht liefen.
-
-»Ich muß fort, lebe wohl, meine Anne; vergiß deine Agathe nicht!« rief
-diese endlich, rasch davon stürzend, und eilte, ohne zurück zu blicken,
-nach dem Wagen. Aber hier erwartete sie noch ein anderer Abschied.
-Der Onkel war es, welcher ihr noch Lebewohl sagen und ihr mittheilen
-wollte, daß zu Hause alles gut stehe, die Tante ihr sogar einen Gruß
-schicke. Das erleichterte Agathes Herz unbeschreiblich; denn sie machte
-sich wegen ihrer Flucht doch unsägliche Vorwürfe. Nun konnte sie ruhig
-abreisen, und trotz der Thränen, die ihr Auge trübten, als sie dem
-guten Onkel zum letzten Male die Hand reichte, schlug ihr Herz doch
-froh und hoffend der Zukunft entgegen.
-
-Die Reise war schön und genußreich, und da man wegen der Kranken
-nur kleine Tagestouren machen konnte, auch durchaus für Agathe
-nicht anstrengend. Die Geschäfte, welche sie zu besorgen hatte,
-wurden ihr sehr leicht, und die große Milde und Freundlichkeit der
-Kranken berührten Agathen um so angenehmer, als sie von der Tante nur
-strenge, kalte Behandlung erfahren hatte. Herr von Menzel, ein reicher
-Gutsbesitzer, war ein heiterer, freundlicher Mann, der die junge
-Gesellschafterin wie eine Tochter behandelte, und bald fühlte sich
-Agathe so glücklich, wie noch nie in ihrem Leben. Die Aerzte hatten es
-für gerathen gehalten, die Kranke nach Nizza zu schicken, dessen warme,
-geschützte Lage ihrer kranken Brust vielleicht noch Heilung bringen
-konnte. Die weiche Seeluft des Mittelmeeres, an dessen Ufern sich diese
-schöne Stadt hinzieht, umwehte die Kranke mit ihrem schmeichelnden
-Hauche und that ihr bald so wohl, daß sie in Agathes Begleitung
-täglich einen kleinen Spaziergang machen konnte. Die eifrige, kleine
-Gesellschafterin suchte der sanften Kranken alle Wünsche vom Auge zu
-lesen, und diese wieder dachte immer daran, das gute, junge Mädchen
-möglichst zu schonen und ihr Gelegenheit zu geistigen Beschäftigungen
-zu verschaffen, wonach sich, wie sie wußte, Agathes Herz so innig
-sehnte. Sie selbst war eine fein gebildete Frau und ließ sich von
-Agathe oft durch Vorlesen guter Bücher unterhalten; bessere Fortbildung
-aber fand sich für das junge Mädchen bald noch durch den Verkehr mit
-einem würdigen Geistlichen aus der französischen Schweiz, welcher
-dasselbe Haus mit ihnen bewohnte. Er hatte Agathes eifrige Lernbegierde
-bemerkt, und freundlich bot er ihr an, sie sowohl in der französischen
-Sprache als auch in einigen Wissenschaften zu unterrichten, da er, wie
-er sagte, seine Musestunden nicht besser ausfüllen könne. Gern gab die
-Kranke ihre Einwilligung, und mit innigem Entzücken widmete sich nun
-Agathe all den Dingen, nach denen sie im Hause des Onkels so vergebens
-verlangt hatte.
-
-Diese innere Freudigkeit, verbunden mit der herrlich reinen Luft der
-Berge und der üppigen, kräftigen Kost, welche ihr jetzt geboten wurde,
-ließen auf Agathes Wangen bald frische Rosen erblühen. Das zarte,
-blasse Kind wuchs zur schönen, frischen Jungfrau heran, und voll
-wahrhaft mütterlicher Liebe verfolgte Frau von Menzel die körperliche
-wie geistige Entwickelung des jungen Mädchens. Schön und genußreich
-schwanden die Tage wie Stunden dahin, und die Liebe der Menschen, mit
-denen sie lebte, erwärmten Agathes Herz eben so sehr, als die herrliche
-Natur, welche sie umgab.
-
-Der Herbst verging, und der Winter mit seinen rauhen Tagen zog in das
-Land. Aber die Lage Nizza's, welches im Norden und Osten geschützt und
-von milder Seeluft umgeben ist, verhindert die scharfen Winde, diesen
-Zufluchtsort der Kranken zu erreichen, an welchem sich die kleine
-Familie glücklich und wohl fühlte. Herr von Menzel hatte für einige
-Zeit nach der Heimath zurückkehren müssen, und da er die Kranke in
-Agathes treuen Händen wußte, verließ er sie mit ruhigem Herzen. Agathe
-schloß sich in dieser Zeit um so enger an die sanfte Frau an, die ihr
-immer mehr Freundin wurde und sie nie wieder von sich lassen wollte.
-Aber wenn die Kranke auch an keine Trennung dachte, so mußte es Agathe
-im Stillen nur zu häufig thun, denn sie bemerkte nur zu gut, wie die
-Krankheit der theuren Frau immer größere Fortschritte machte. Das milde
-Klima konnte das Leiden nur hinziehen, nicht heben, und mit tiefem,
-geheimen Kummer, aber heiterem Auge hörte sie, wie die Kranke Pläne
-auf Pläne entwarf, welch schönes Leben sie ferner mit einander führen
-wollten. Agathe küßte dann in dankbarer Liebe die schmale, abgezehrte
-Hand ihrer gütigen Freundin; aber in ihrem Herzen konnte sie solchen
-schönen Träumen keinen Glauben schenken. Der Winter war vorüber und
-für den nahenden Frühling und Sommer wählte die Familie einen anderen,
-den heißen Sonnenstrahlen weniger ausgesetzten Aufenthalt in den
-Schweizer Alpen. Agathe hatte die Freude, daß auch ihr Freund, der
-Geistliche, für einige Zeit mit ihnen zog; denn er hatte die Familie
-so lieb gewonnen, daß er sich nicht so schnell von ihnen trennen
-mochte. -- Aber war es nun der Wechsel des Ortes, oder war es die,
-allen Brustkranken gefährliche Frühlingsluft, Frau von Menzel wurde
-bald so leidend, daß ihr Ende schneller herannahte, als selbst Agathe
-in den bangsten Stunden gefürchtet hatte. Mit stiller Ergebung trug
-der unglückliche Gatte die herannahende Trübsal, und Agathe wurde
-ihm sowohl durch ihre treue Pflege, als durch den tiefen Ernst ihres
-Gemüthes unendlich lieb und trostbringend. Die Kranke selbst ahnte
-ihren Zustand nicht. Sie wurde schwächer und schwächer; aber indem ihr
-blaues Auge wunderbar glänzte, sprach sie lächelnd von der schönen
-Zeit, in welcher sie wieder gekräftigt sein und sich der herrlichen
-Natur werde erfreuen können.
-
-»Wie sehne ich mich, wieder in die warme Sonne zu kommen und den
-weiten, blauen Himmel sehen zu können!« sprach sie eines Tages freudig
-und wendete ihr Auge nach dem Fenster. »Tragt mich in's Freie, ich
-möchte der schönen Gotteswelt näher sein,« bat sie dann sanft, und
-langsam rollte ihr Gatte und Agathe das Ruhebett der Kranken an die
-offene Thür der Veranda.
-
-»O wie wird mir so wohl, mir ist, als öffne sich mir der Himmel!« sagte
-sie begeistert und breitete die Arme aus; dann schloß sie die Augen
-und sank leise zurück. Eine selige Verklärung ruhte auf ihrem Antlitz;
-der Himmel hatte sich ihr wirklich geöffnet, sie schwebte empor zu der
-ewigen himmlischen Herrlichkeit.
-
-Der Kummer des einsamen Gatten war so unsäglich tief und ergreifend,
-daß Agathe den eigenen Schmerz zu bekämpfen suchte, um den
-unglücklichen Mann trostreich zur Seite stehen zu können. Aber war sie
-allein, so stürzte Leid und Jammer um so mächtiger über ihr zusammen,
-und schluchzend kniete sie an der Hülle der lieben Verklärten, die
-ihr Freundin und Mutter geworden war. »O Gott, mein Gott!« betete sie
-inbrünstig, »was soll nun aus mir werden! Verlaß Du mich nicht; nimm
-mich in Deinen treuen Schutz, und führe mich gnädig weiter an Deiner
-Vaterhand. Allein bin ich nun wieder, allein und obdachlos; o nimm Du
-dich ferner der armen Waise liebend an!«
-
-Und sie hoffte nicht vergebens. Wohl war jetzt ihres Bleibens nicht
-mehr in den bisherigen Verhältnissen; denn Herr von Menzel kehrte so
-schnell als möglich wieder nach der Heimath zurück, um die theure Hülle
-seiner Gattin in dem dortigen Erbbegräbniß der Familie beisetzen zu
-lassen. Aber ehe der Sarg der Verklärten geschlossen wurde, ergriff der
-Trauernde Agathes Hand und sprach mit tiefer Bewegung: »Meine liebe
-Agathe, Sie sind meiner Gattin theurer gewesen, als Sie glauben können.
-In Ihnen hat sie bis zu ihrem letzten Augenblicke eine treue Freundin
-und Tochter besessen. Welchen Trost auch mir Ihre Gegenwart gewährt
-hat, davon lassen Sie mich schweigen; aber es ist mir ein inniges
-Herzensbedürfniß, Ihnen zu zeigen, wie dankbar ich Ihnen bin und mein
-ganzes Leben hindurch sein werde. Ich glaube Ihnen davon einen, wenn
-auch nur geringen Beweis geben zu können, indem ich Sie bitte, mir die
-Sorge für Ihre weitere geistige Ausbildung zu überlassen. Sie wünschen
-sehr, Erzieherin werden zu können, das weiß ich, und Ihre schönen
-Anlagen befähigen Sie auch völlig dazu. Wollen Sie nun für ein Jahr als
-Zögling in das treffliche Erziehungsinstitut in Neufchâtel eintreten,
-um daselbst noch die letzte Ausbildung zu erhalten, so wird es mich
-freuen, einen Ihrer Wünsche erfüllt zu sehen. Alle Vorbereitungen zu
-Ihrer Aufnahme sind getroffen, und der Geistliche, Ihr würdiger Freund
-und Lehrer, wird Sie gern dahin begleiten, sobald Sie es wünschen.«
-
-Agathe war wie in einem Taumel von Glück und Wonne. In demselben
-Momente, wo wieder alle schönen Hoffnungen entschwanden, und sie
-abermals angstvoll einer unsichern Zukunft entgegen blickte, stand
-sie am Ziele ihrer sehnlichsten Wünsche. Sie fand keine Worte, ihren
-Dank und ihre Freude auszudrücken; aber aus ihrem Auge leuchtete eine
-bessere Antwort, als der Mund zu geben vermochte. Ueber dem verklärten
-Antlitz der Entseelten reichte sie ihrem Freunde und Beschützer die
-Hand, und im stummen Danke zitterten ihre Lippen.
-
-Herr von Menzel war abgereist, und traurig kehrte Agathe an der Seite
-des Geistlichen von dem Bahnhofe zurück, wo sie dem theuren Manne und
-seiner stillen, verklärten Begleiterin das letzte Lebewohl gesagt
-hatte. Der Geistliche hatte ihr gleich nach dem Tode der Kranken in
-freundlichster Weise angeboten, sein Haus in Genf und seine Familie
-für's Erste ganz als die ihrige zu betrachten, und Agathe hatte diese
-Zufluchtsstätte dankbar angenommen, bis sich eine andere Stelle für sie
-finden würde. Jetzt aber wünschte sie natürlich, sobald als möglich in
-jenes Pensionat einzutreten, und der Geistliche versprach schon andern
-Tages mit ihr nach Neufchâtel abzureisen.
-
-Madame Reutin, die Vorsteherin der Anstalt, war von Agathe's Ankunft
-bereits unterrichtet und empfing das junge Mädchen mit großer
-Herzlichkeit. Agathe war eine der ältesten Pensionairinnen, und
-da Madame Reutin an den Schicksalen ihres neuen Zöglings großen
-Antheil nahm, und bald bemerkte, welchen Eifer dieselbe besaß, um
-sich möglichst viel Kenntnisse zu erwerben, so widmete sie ihr ganz
-besondere Aufmerksamkeit. Sie suchte das stille, sinnige Mädchen
-viel in ihrer Umgebung zu beschäftigen und zeigte ihr so viel Liebe,
-daß Agathe bald ihre Schüchternheit verlor und sich in den fremden
-Verhältnissen ungemein wohl fühlte. Der Unterricht war vortrefflich,
-und so reifte die begabte Agathe schnell zu einem geistig fein
-gebildeten Mädchen heran, welches nach Verlauf eines Jahres gar wohl
-befähigt war, die Stelle einer Erzieherin auszufüllen.
-
-Herr von Menzel, mit dem Agathe in stetem brieflichen Verkehr war,
-bot ihr an, noch länger in der Anstalt zu bleiben, und Madame Reutin
-schlug ihr vor, die Stelle einer Hülfslehrerin zu übernehmen, da
-sie das sanfte Mädchen ungern von sich ließ. So entschloß sich denn
-Agathe, noch einige Zeit im fremden Lande zu bleiben, obwohl ihr Herz
-unbeschreiblich nach ihrer treuen Anne verlangte, welche ihr rührend
-zärtliche Briefe schrieb, zwar auf merkwürdig dickem Papier, und mit
-heftiger Verschwendung von Dinte, da die Buchstaben groß und gewaltig
-auftraten, und schwer zu entziffernde Hieroglyphen bildeten, aber
-nichts desto weniger die innigste Liebe und Anhänglichkeit aussprachen.
-Auch der Onkel und ihre Freundinnen aus der Pension schrieben Agathen
-fleißig, und jeder Brief erregte ihr so tiefes, gewaltiges Heimweh,
-daß nur der Wunsch nach fernerer Ausbildung sie noch von der Rückkehr
-in die Heimath abhielt. Ja Heimath, hatte sie denn überhaupt eine? Sie
-wußte ja gar nicht, wohin sie gehen sollte, verließ sie ihren jetzigen
-Aufenthalt. Dieser Gedanke hing sich immer wie ein Bleigewicht an ihren
-Wunsch, nach Deutschland zurück zu kehren, und sie hatte deshalb an
-Anne Sommer wie an ihre Freunde geschrieben, sich nach einer Stelle für
-sie umzusehen.
-
-Fast zwei volle Jahre waren jetzt seit Agathes Abreise von Leipzig
-verstrichen, da erhielt sie eines Tages einen Brief von ihrer Freundin
-Fanny, welcher die frohe Kunde brachte von deren Verlobung mit einem
-jungen Gutsbesitzer. Mit dieser freudigen Botschaft aber verband sich
-noch eine zweite, welche Agathen betraf.
-
-»Jetzt zu Dir, meine beste Agathe!« lautete Fanny's fröhlicher Brief.
-»Mein Bräutigam ist der älteste Sohn einer zahlreichen Familie, und
-seine beiden jüngsten Schwestern, Mädchen von 10 und 12 Jahren, können
-meiner Ansicht nach nicht länger ohne specielle Aufsicht bleiben.
-Auch ihr Schulunterricht scheint mir mehr als mangelhaft, was auf
-dem Lande freilich kein Wunder ist. Meine gute Schwiegermutter hat
-durchaus nichts dagegen einzuwenden, die jungen Springinsfelde unter
-die Zucht einer Erzieherin zu stellen, falls ich ihr eine verschaffen
-könnte, die, wie sie sagte, nicht gar zu störend in das Familienleben
-eingriffe. Sie hat etwas sonderbare Vorstellungen von allem, was
-Erzieherin heißt, und da ich sie von ihrem Vorurtheil gern kuriren
-möchte, so würde dies allein schon mich bestimmen, Dich, meine gute
-Agathe, dringend aufzufordern, diese Stelle bei meinen kleinen
-Schwägerinnen zu übernehmen. Tausend andere Gründe aber drängen sich
-außerdem noch herbei, um Dich mit Bitten zu bestürmen, vor allem meine
-grenzenlose Sehnsucht nach meiner liebsten Freundin. Komm, komm, so
-bald als möglich, meine Agathe; Du wirst von all' meinen Lieben mit
-offenen Armen erwartet und wirst Dich glücklich unter uns fühlen, dafür
-bürgt dir deine treuste Fanny.«
-
-Ein Postscriptum fehlte dem Briefe nach junger Mädchen Art natürlich
-auch nicht; es lautete: »Uebrigens wirst Du Dich freuen, ein liebes,
-bekanntes Gesicht hier in unserer Nähe zu finden. Wem das aber
-zugehört, sage ich nicht; Du magst selbst kommen, es dir anzusehen.«
-
-Das war denn allerdings eine so wundervolle Kunde, daß Agathe mit
-glühenden Wangen zu Madame Reutin eilte, ihr alles mitzutheilen und sie
-um Erlaubniß zur Heimkehr zu bitten.
-
-Freudig willigte die gute Dame sogleich in Agathes Wünsche, und so
-ungern sie das brave Mädchen von sich ließ, so sehr freute sie sich
-doch andrerseits über die gute Wendung, welche deren Schicksal abermals
-genommen. Nicht ohne die tiefste Bewegung schied Agathe kurze Zeit
-darauf aus der Anstalt, wo ihr so viel Gutes zu Theil geworden, sowie
-aus dem herrlichen Lande, in dem sie eine reiche, glückliche Zeit
-verlebt hatte.
-
-
-
-
- Achtes Kapitel.
-
- Die Heimath.
-
-
-In dem Herrenhause des Dorfes Schönfelde waren die jüngern Glieder
-der Familie seit dem frühen Morgen in großer Bewegung. Geschäftig
-liefen sie die breiten Treppen auf und nieder und hielten wichtige
-Zwiegespräche mit Gärtner und Stubenmädchen, die Kränze und Guirlanden
-aus den wenigen Blumen des Gartens zusammenwanden, welche die
-Herbstkälte noch übrig gelassen hatte. Bald thronte über der Hausthür
-ein mächtiger Kranz, in dessen Mitte das Wort »Willkommen« prangte,
-und frische Guirlanden umzogen die Thür des Wohnzimmers, in dem einige
-Kinder in großer Aufregung um ein blühendes, junges Mädchen versammelt
-waren, das sie mit Fragen bestürmten.
-
-»Nicht wahr, Fanny, sie trägt keine Brille, wie die alte Fräulein
-Danton, Lucie Bülow's Erzieherin?« rief Marie, ein zwölfjähriges
-Mädchen.
-
-»Und auch keine Schnupftabaksdose, nicht wahr?« setzte Hannchen hinzu,
-die jüngere Schwester. »Die Mama behauptet es.«
-
-»Ob sie wohl Pferd mit mir spielen wird, Fanny? Ich will sie auch nicht
-so derb mit meiner Peitsche schlagen, als gestern den Anton; aber dann
-muß sie auch nicht heulen, wie der immer gleich thut!« rief der kleine
-Max und fuhr knallend mit der Peitsche durch die Luft.
-
-»Ihr werdet's ja sehen, Kinder, macht mich doch nur nicht todt mit
-euren Fragen,« lachte das junge Mädchen. »Aber jetzt adieu; Friedrich
-fährt eben vor, und ihr wißt, die Pferde stehen nicht ruhig. Seid
-hübsch artig, daß meine liebe Agathe nicht gleich eine gar zu
-schlechte Meinung von euch bekommt. Adieu, adieu, ihr lustiges Corps!«
-
-Fort flog der Wagen, in dessen Mitte das junge Mädchen fröhlich lachend
-thronte, noch lange gefolgt von dem gellenden Hurrah der kleinen
-Gesellschaft. Einige Stunden vergingen, und sie kehrte zurück, Freude
-und Glück in den lieblichen Zügen, denn an ihrer Seite saß die Freundin
-ihrer Jugend, unsere Agathe.
-
-Was Fanny verheißen, das fand die Ankommende bestätigt. Offene Arme
-empfingen die neue Hausgenossin, gute treffliche Menschen hießen
-sie freudig in ihrer Mitte willkommen. Man kam ihr als der liebsten
-Freundin der Schwiegertochter mit Vertrauen und Herzlichkeit entgegen
-und dankte es ihr aufrichtig, daß sie die Erziehung der jüngsten Kinder
-zu übernehmen versprochen hatte, und so begrüßte man in ihr nicht die
-gefürchtete Erzieherin, sondern ein liebes, neues Glied der Familie.
-Agathe war unsäglich glücklich über solche Aufnahme; denn oft hatte ihr
-Herz gezittert, ob wohl die Erzieherin in dem vornehmen Hause auch gern
-gesehen und nicht vielleicht als fremder Eindringling behandelt oder
-gar als eine Art Dienstbote kalt und vornehm aufgenommen sein würde.
-Aber schon das Willkommen, das ihr von fern so freundlich entgegen
-leuchtete, sagte ihr, daß sie nichts zu fürchten habe, und all die
-guten, frohen Gesichter, welche sie umdrängten, sprachen gar wohlthuend
-zu ihrem zagenden Herzen. Frau von Wedell, die Herrin des Hauses,
-umarmte sie gleich beim Eintritt, und bald erschien auch der Gutsherr
-selbst, Agathen in einfach herzlicher Weise willkommen zu heißen.
-
-Bald war die junge Erzieherin in dem Familienkreise heimisch, und
-nun begann ein Leben voll Lust und freudiger Arbeit. Mit regem
-Eifer machte sich Agathe an die Aufgabe, die ihr gestellt war, die
-Erziehung der beiden Mädchen Marie und Hannchen. Aber auch der wilde
-Max wurde von ihr mit Beschlag belegt, und den Fleiß ihrer Schüler
-belohnte die fröhliche junge Lehrerin gern damit, daß sie sich an
-den Spielen betheiligte, welche sowohl Max als die kleinen Mädchen
-in den Freistunden vornahmen. Ueberhaupt war Agathe jetzt so heiter
-und frisch, daß man das einst so traurige, blasse Mädchen gar nicht
-wieder erkannte. Frau von Wedell gestand lachend, daß sie freilich eine
-ganz andere Vorstellung von einer Erzieherin gehabt habe, da sie sich
-dieselbe nie anders als keifend und verbissen, und mit den wunderlichen
-Attributen einer alter Jungfer versehen, habe denken können.
-
-Agathe hatte in der ersten Zeit die Freude, ihre liebe Fanny, die für
-einige Wochen zum Besuch ihrer Schwiegereltern gekommen war, im Hause
-zu sehen. Der Bräutigam war ein frischer, liebenswürdiger junger Mann,
-der im kommenden Jahre ein zweites Gut des Vaters bewirthschaften
-sollte, und mit Ungeduld dieser Zeit entgegen sah, da er alsdann seine
-Fanny als junge Frau daselbst einführen wollte.
-
-»Aber das liebe, bekannte Gesicht, von dem du mir geschrieben, Fanny,
-wo ist das?« sagte Agathe bald nach ihrer Ankunft und spähte suchend
-überall umher. -- »Du hast doch nicht etwa meine alte Anne hierher
-entführt, da du weißt, sie schwärmt für Entführungen?« fuhr sie
-scherzend fort, denn im Stillen hatte sie jetzt keinen größeren Wunsch,
-als dies treue Wesen wiederzusehen.
-
-»Nein, Agathe, die alte Soldatenfrau holen wir nächstens einmal auf
-ein paar Wochen zu uns; Leipzig ist ja nur drei Stunden von Schönfelde
-entfernt,« sagte Fanny, welche sich diese Erlaubniß schon von ihrer
-Schwiegermutter erbeten hatte, da sie wußte, welche Freude sie dadurch
-Agathen bereitete.
-
-»Nein, mein Schätzchen, du mußt besser rathen!« fuhr sie neckend fort.
-»Giebt es denn gar kein liebes Gesicht mehr unter der Sonne, als das
-alte, verwitterte Antlitz deiner Frau Corporalin? Besinne dich doch!«
-
-Aber Agathe besann sich nicht; sie wußte ja gar nicht, wohin sie ihre
-Gedanken wenden sollte. Sinnend blickte sie zum Fenster hinaus, das
-von schönen alten Linden beschattet wurde. Da schrak sie plötzlich
-zusammen, und ein Ausruf freudiger Ueberraschung kam über ihre Lippen.
-
-»Fanny, ist das nicht unser Lehrer, Herr Lobner?« rief sie, auf einen
-Herren deutend, der eben in einiger Entfernung an dem Hause vorüber
-ging.
-
-»Nun ja, erkennst du ihn wirklich?« lachte Fanny fröhlich. »Ich dachte
-schon, du hättest deine besten Freunde vergessen, du leichtsinniges
-Kind!«
-
-»Aber wie kommt der hierher, liebste Fanny?« rief Agathe, freudig
-erglühend.
-
-»Um deinetwillen nicht, mein Töchterchen, denn er hat von deinem
-Hiersein keine Ahnung,« neckte Fanny. »Er ist wohlbestallter Prediger
-im Pfarrdorf Schönfelde, und wird die Ehre haben, Seelsorger seiner
-einstigen, liebsten Schülerin von nun an zu werden. Wie gefällt dir
-das, Schätzchen?«
-
-»Fanny, ist das wahr? Ist unser lieber, lieber Herr Lobner wirklich
-hier Prediger?« rief Agathe jetzt strahlend vor Freude und ergriff
-Fanny's Hand.
-
-»Meinst du, er tauge nicht dazu? Nun dann geh morgen in die Kirche, und
-überzeuge dich selbst. Es ist Sonntag; um 9 Uhr hält er die Predigt,«
-sagte Fanny.
-
-»Aber das ist ja herrlich!« jubelte Agathe, Fanny umarmend. »Wie ist
-das denn nur gekommen? Wer hat ihn denn hierher gezogen?«
-
-»Nun Papa Wedell, dem er so gefiel, als er sich um die Stelle bewarb,
-daß er ihn auch ohne meine Fürsprache in die leerstehende Pfarre
-eingesetzt hätte,« rief Fanny. »Aber wie gesagt, daß er hier seine
-kleine, blasse Freundin aus der Pension ebenfalls in Amt und Würden
-finden sollte, davon hat er bis jetzt keine Ahnung. Der Anblick dieser
-Ueberraschung soll mein Lohn für all die Mühe sein, die ich mir um euch
-alle Beide gemacht habe.«
-
-Wessen Freude über das Wiedersehen größer war, ob die Agathes oder die
-ihres einstigen Lehrers, wäre freilich schwer zu entscheiden gewesen.
-Die schelmische Fanny, der Herr Lobner seine Stelle verdankte, hatte
-demselben wirklich Agathes Ankunft verheimlicht, und kaum traute dieser
-seinen Augen, als ihm das junge Mädchen an der Seite ihrer Freundin
-entgegen kam.
-
-Es war ein frohes Wiedersehen, und doch voll tief innerlicher Bewegung;
-denn an Agathe's Seele zog all das vorüber, was sie in der Zeit erlebt,
-welche zwischen jenem Abschiede in dem Zimmer des theuren Lehrers und
-dem jetzigen Augenblicke lag.
-
-»Gott hat seine Hand wunderbar über Ihnen gehalten, liebe Agathe!«
-sagte der junge Geistliche freundlich, als das junge Mädchen ihm ihre
-Schicksale mitgetheilt hatte. »Ich hätte nicht geglaubt, daß mir so
-bald die Freude werden würde, Sie wieder zu sehen, und nun gar unter so
-erfreulichen Verhältnissen. Irre ich nicht, so haben Sie wie ich, Ihren
-jetzigen Wirkungskreis Ihrer gütigen Freundin zu danken, durch deren
-Fürsprache auch ich meine Stelle erhalten.«
-
-Fanny wies allen Dank von sich und behauptete, sie habe nur aus purem
-Eigennutz sich für ihre alten Freunde verwendet; denn da sie selbst nun
-bald in der Nähe residiren werde, so wollte sie doch im Voraus schon
-für freundliche Nachbarschaft sorgen.
-
-Jetzt begann eine so reiche, wundervolle Zeit für Agathe, daß diese
-Gott nicht genug dafür danken konnte, der sie in dies Haus geführt
-hatte. Ihr Wirkungskreis befriedigte sie täglich mehr und mehr; die
-etwas verwilderten Zöglinge gewannen unter Agathes milder und kluger
-Leitung sichtlich an gutem Betragen wie an Kenntnissen, und alle
-Bewohner des Hauses betrachteten die junge Erzieherin als liebes
-Familienglied. Mehrere Abende der Woche verbrachte Herr Lobner in der
-Familie des Gutsherrn, und diese Stunden waren für Agathe unschätzbar.
-Ihr einstiger Lehrer war ihr jetzt ein treuer Freund geworden, der ihr
-als kluger und besonnener Rathgeber in allen den schwierigen Fragen zur
-Seite stand, über welche ein so junges, unerfahrenes Mädchen bei der
-Erziehung verschiedenartiger Kinder zweifelhaft sein mußte.
-
-Bald kam denn nun auch die alte, treue Anne Sommer in das Herrenhaus,
-und das war ein Fest nicht nur für Agathe, sondern auch für die ganze
-übrige Familie; denn jeder gewann die brave, wunderliche Alte lieb, und
-ergötzte sich an der Soldatensprache, wie an den handfesten Manieren
-derselben. Die Kinder besonders hingen wie die Kletten an ihrem rothen
-Frießrock und konnten nie müde werden, die prächtigen Geschichten
-anzuhören, die sie ihnen erzählte, und die stets von Krieg und
-Soldatenwesen handelten.
-
-An ihrem Goldkinde Agathe hing die Alte, wenn es möglich war, noch viel
-zärtlicher, als früher, und die Freude über deren blühendes Aussehen,
-wie über das Glück, das aus ihren schönen Zügen sprach, machte sie
-ordentlich wieder jung. »Hätte das nur ihre arme Mutter noch erlebt,«
-sagte sie oft leise vor sich hin, »dann wäre sie ruhiger zum großen
-Appell gegangen, zu dem sie der große Kriegsherr im Himmel so zeitig
-abgerufen, die liebe Seele! Aber ihr Segen ruht auf dem Kinde, das ist
-sicher!«
-
-Die Alte kehrte nach einigen Wochen wieder nach Leipzig zurück, doch
-blieb sie ein häufig wiederkehrender und immer gern gesehener Gast in
-Schönfelde. Die Nachrichten, die sie Agathen aus dem Hause des Onkels
-brachte, zeigten, daß dort noch alles seinen ehemaligen, stillen
-Fortgang hatte, bis auf eine große, erschütternde Begebenheit -- Bello
-war gestorben! -- Auf seinen rothseidnen Kissen lag er eines Morgens
-kalt und todt, und keine heiße Thräne seiner trostlosen Herrin konnte
-den geliebten Freund wieder ins Leben zurück rufen. Ein kleines Grab,
-von Blumen überdeckt, bezeichnete im Garten einer Freundin die Stelle,
-an welcher die geliebte Hülle ruhte. Noch vermochte kein Nachfolger
-seine Stelle zu ersetzen, und Agathe dachte mit Freuden daran, daß die
-alte, gute Cousine dadurch für einige Zeit eine lästige Arbeit weniger
-hatte.
-
-In angenehmer Weise vergingen Agathen die langen Wintertage, und wieder
-schaute endlich der fröhliche Lenz zum Fenster herein und verkündigte
-seine Ankunft durch weiche Luft und duftende Blumenglocken, welche
-unter dem schmelzenden Schnee zum Vorschein kamen.
-
-Aber mit der überall erwachenden Fröhlichkeit zog abermals eine Fülle
-neuer Freuden in das Herz unserer Agathe. Werfen wir einen Blick zum
-Fenster hinaus, und sehen wir die lange Kastanienallee hinab, in
-welcher die Baumzweige schon große, braune Knospen tragen, so zeigen
-sich uns zwei Personen, die still und schweigend neben einander gehen.
-Ihr Mund ist jetzt stumm, aber was er soeben gesprochen, das leuchtet
-noch wunderbar in den Augen der Beiden, welche mit unaussprechlicher
-Liebe auf einander blicken. Agathe ist soeben die Braut ihres Freundes
-und Lehrers, des braven Pfarrers Lobner geworden. Was damals schon die
-Seelen Beider verband, als Lobner von Agathe Abschied nahm und als
-einziges Andenken das kleine Schreibebuch von der Schülerin erbat, das
-war fort und fort lebendig in ihnen geblieben, und hatte nun, da sie
-sich auf ihrem Lebenswege so bald wieder begegneten, feste, dauernde
-Gestalt erhalten. Längst schon ahnten Beide, daß sie einander theuer
-waren; jetzt wußten sie es, jetzt gehörten sie einander für das Leben.
-
-»Also das wäre mir geglückt!« rief Fanny, voll Freude in die Hände
-schlagend, als sie die Verlobung ihrer beiden Freunde erfuhr. »Ich
-bitte mir die Ehre der Anerkennung aus; mir kommt das Verdienst zu,
-euch Beide zusammen gebracht zu haben. Denn, meine liebe Agathe,
-nimm mir's nicht übel, allen Respect vor deinen Talenten in der
-Erziehungskunst, aber wahrlich, es war mir viel mehr darum zu thun,
-dich wieder in die Nähe unseres lieben Freundes Lobner zu bringen, als
-meinen kleinen Rangen von Schwägerinnen eine Erzieherin zu verschaffen.
-Deshalb hätte ich dich nicht so knall und fall aus der Schweiz
-hercitirt. Aber Gelegenheit macht Diebe. Mit meiner Pfarrerwahl war
-mir's so trefflich gelungen, nun fehlte nur noch eine nette, kleine
-Pfarrfrau dazu. Und wen hätte ich meinen neuen Herrn Pastor, sowie mir
-selbst besser dazu wählen können, als die Verfasserin jenes kleinen,
-ominösen Schreibebuchs, das in der Bibel unseres sehr ehrenwerthen
-Herrn Pastor Lobner seinen Platz erhielt, als das Heiligste, was
-besagter Herr im Besitz hat?«
-
-Der glückliche Pfarrer zog seine erglühende Braut an das Herz; der
-schelmischen Fanny aber drohte er mit dem Finger und sagte lachend:
-»Warten Sie nur, Sie Schelm; das ist gewiß die Rache dafür, daß die
-schöne Tasse nicht mehr lebt, die eine leichtsinnige Schülerin mir
-einst als Andenken schenkte. Aber nur Geduld, jetzt werde ich die
-Scherben all' wieder zusammen suchen, und als ewige Erinnerung sollen
-diese Reste unter dem Bilde der Freundin aufgestellt werden, welches
-einst über dem Nähtischchen der jungen Frau Pastorin Lobner hängen
-wird«.
-
- * * * * *
-
-Wieder blühten die Rosen und Lilien in den Gärten, und die Linden
-neigten ihre vollen Blüthenbüschel zur Erde herab, gerade wie an jenem
-Tage, an dem einst Agathe verlassen und einsam in den Baumgängen
-Leipzigs dahinschritt, bis sie von den Armen ihrer treuen Anne
-umfangen wurde, und neue Freude und Hoffnung in ihr Herz einzog. Auch
-heute schaute das alte Gesicht der Soldatenfrau in die glänzenden
-Augen ihres Lieblings, und ihre rauhe Hand strich schmeichelnd über
-die zarte Wange des Mädchens. Aber Muth und Trost brauchte die alte,
-treue Seele ihrem Goldkinde heute nicht zuzusprechen, denn das reinste
-Glück spiegelte sich auf dem holden Gesicht derselben. Die blühende
-Myrthe schmückte Agathes dunkle Locken, und Brautkleid und Schleier
-verkündeten, daß der schönste Tag ihres Lebens gekommen war.
-
-Man feierte in Schönfelde heut eine Doppelhochzeit; Fanny sowohl als
-Agathe sollten als junge Frauen in die neue Heimath einziehen, welche
-die Liebe ihnen bereitete. Es war ein schönes Fest, das die Familie
-feierte; denn trat Fanny jetzt als wirkliche Tochter in das Haus
-ihrer neuen Eltern, so zählte man auch Agathe durch die innigsten
-Herzensbande zu den Kindern des Hauses und freute sich, sie als die
-Frau des braven Predigers im Orte zu behalten.
-
-Fanny hatte die Freude, von ihrer Mutter, welche ihre Tage in der
-Nähe der einzigen Tochter zu beschließen gedachte, an den Traualtar
-begleitet zu werden; aber auch Agathe stand nicht einsam. Der Onkel
-Niedrer war der Einladung Agathes gefolgt und führte die geliebte
-Nichte ihrem Gatten zu, und zu Agathes unaussprechlicher Freude gehörte
-auch Herr von Menzel zu den Hochzeitgästen, die Schönfelde beherbergte.
-Die Tante Niedrer freilich konnte es nicht über sich gewinnen, ihren
-Gatten zu begleiten; aber einige schöne Geschenke, welche sie Agathen
-schickte, zeigten doch, daß sie ihr vergeben hatte.
-
-Das freundliche Pfarrhaus, in das wir unsere Agathe nun zum Schluß noch
-begleiten, war durch die Güte aller ihrer Freunde höchst behaglich und
-nett eingerichtet worden. Denn sowohl der Onkel Niedrer, als auch Herr
-von Menzel und die Gutsherrschaft waren bemüht gewesen, alle Schränke
-und Kasten der jungen Hausfrau zu füllen und ihr ein wohlausgestattetes
-Häuschen zu übergeben. Aber neben dem blühenden Gesichtchen der jungen
-Frau Pastorin zog noch ein altes, verwittertes mit in das Haus, dem mit
-Agathen zugleich eine schöne, stille Heimath geworden war. Wer es ist,
-brauche ich nicht erst zu sagen. Der neue, rothe Frießrock glänzt nicht
-herrlicher, als das glückliche Gesicht der Alten, die ihn trägt, und
-obwohl das neue schwarze Kopftuch von untadelhaft starkem Seidenzeug
-ist, so können die mächtigen Schleifen doch kaum ihre steife Würde
-bewahren, denn der Kopf, den sie zieren, schwankt und zittert heut in
-nie erlebter Aufregung.
-
-»Dir danke ich ja alles, meine Anne, mein Glück und meine Heimath, und
-nie mehr lasse ich dich von mir!« sagte die junge Frau mit Thränen im
-Auge, als sie gemeinsam mit ihrem Gatten die alte Anne Sommer in das
-trauliche Hinterstübchen einführte, das sie ihr behaglich eingerichtet
-hatten. »Wärst du nicht gekommen, mir die Wege zu bahnen, wer weiß, wie
-es jetzt mit mir stände!«
-
-»Du säßest als Directrice auf dem hohen Stuhle und nähetest
-Zughüte, daß sich die Königin selbst nicht zu schämen brauchte, sie
-aufzusetzen,« neckte der Pfarrer fröhlich. »Und in den Freistunden
-exercirtest du junge Bello's als Rekruten ein!« lachte die Alte, daß es
-dröhnte.
-
-»Ach um alles, schweigt mir nur davon!« seufzte Agathe in komischer
-Angst. »Zwei Dinge in der Welt sind es, die nie in unser Haus kommen
-sollen, das sind Schooßhunde und Zughüte.«
-
-»Halt, dergleichen Bedingungen darf man nie im Leben stellen, wie es im
-Sprüchlein heißt:
-
-
- »Du sollst dich nie mit Schwur vermessen,
- Von dieser Speise will ich nicht essen!«
-
-
-rief der Geistliche schelmisch. »Wer weiß denn, was in dem Kasten
-steckt, den ich soeben für dich aus Leipzig erhalten habe!« Dabei
-holte er eine kleine Kiste herbei, deren schon losen Deckel er schnell
-öffnete und sie dann Agathen überreichte.
-
-Die junge Frau blickte verwundert hinein und zog ein Tuch fort, das den
-Inhalt noch verhüllte. Und was lag nun vor ihr? Ein wunderniedliches,
-weißseidenes Zughütchen, in dessen Höhlung sich ein zierlicher
-Schooßhund verkroch, zwar nur aus Wachs, und in verkleinertem
-Maaßstabe, aber dem theuren Bello so ähnlich, wie das Kind der Mutter.
-Ein Brief begleitete die Sendung; er war von der guten, alten Cousine
-und enthielt nebst tausend herzlichen Glückwünschen von ihr und allen
-Bewohnern der Arbeitsstube die Bitte, beifolgenden Scherz freundlich
-aufzunehmen. Das Hundchen war ein Abbild dessen, den sich Madame
-Niedrer zu Erinnerung an ihren theuren Bello verfertigen ließ, und
-dessen Doppelgänger sich die Cousine für Agathen verschafft hatte. An
-dem Hute aber hatten alle Mitglieder der Arbeitsstube einige jener
-furchtbaren, kleinen Säume genäht, welche einst den Schrecken und
-die Verzweiflung Agathes ausmachten. Fräulein Schneider garnirte das
-Kunstwerk schließlich mit zierlichen Maiblumen, und dieses Hütchen war
-in der ganzen langjährigen Praxis der würdigen Directrice das Erste und
-Einzige gewesen, das ohne vorherige Prüfung ihrer Principalin in die
-Welt hinaus wanderte.
-
-»Also nun birgt unsere Pfarre dennoch gerade jene beiden verpönten
-Gegenstände, Schooßhund und Zughut! O du arme Agathe!« rief der Pfarrer
-lustig und hielt die beiden Geschenke hoch empor. Agathe aber hatte
-Thränen im Auge, während ihr Mund lächelte, und innig bewegt sagte sie:
-»Ja, es ist recht so! Gerade diese beiden Dinge sollen mir immer vor
-Augen stehen; denn sie werden mir eine stete Mahnung daran sein, wie
-gütig Gott die arme Waise aus Trübsal zu Glück und Frieden führte.«
-
-
-
-
- Neue Wege.
-
-
-
-
-Auf dem weichen Teppich eines kleinen, behaglichen Zimmers schritt ein
-schlanker Mann in mittleren Jahren unruhig auf und nieder und wühlte
-mit seiner Hand oft ungeduldig in dem vollen, dunkelblonden Haar, das
-sein angenehmes Gesicht beschattete. Zuweilen blieb er stehen und
-schaute aufmerksam nach der hübschen Frau, welche sich leicht in die
-Kissen des Sophas zurücklehnte und mit einer Handarbeit beschäftigt
-war. Während das Gesicht des Mannes sich immer lebhafter röthete und
-Spuren des Verdrusses zeigte, ruhte auf den Zügen der noch ziemlich
-jung aussehenden Frau eine milde Freundlichkeit, und ihr Auge blickte
-ab und zu mit einem ungemein sanften Ausdrucke von der Arbeit auf.
-
-»Du bist zu gut und nachsichtig gegen sie, Gertrud, und dadurch
-erreichst du einmal nichts bei dem verwöhnten Mädchen,« sagte
-Geheimerath Seebald, jener blonde Mann, endlich unwillig und blieb vor
-seiner Frau stehen, welche soeben eine längere Mittheilung gemacht zu
-haben schien und ihren Gatten nun fragend anblickte.
-
-»Aber, lieber Gustav, bedenke, wie frei und unabhängig Frida in diesen
-letzten Jahren gewesen ist,« entgegnete die Frau sanft. »Es ist
-für jedes junge Mädchen eine schwere Sache, sich einer Stiefmutter
-unterzuordnen; für Frida aber ist es doppelt schwer, da du sie so
-völlig ungehindert schalten und walten ließest. Nun soll das arme Kind
-mit einemmale ein Muster von Ordnung und Vortrefflichkeit sein; aber
-du vergißt, daß gerade in dem so wichtigen Uebergange vom Kinde zur
-Jungfrau ihr niemand zur Seite stand, der sie leitete und sie eines
-Bessern belehrte, sobald sie Fehler beging.«
-
-»Niemand?« rief der Geheimerath lebhaft. »Habe ich ihr nicht eine
-Gouvernante gehalten und Dienstleute und alles was sie sonst brauchte?«
-
-»Ja, lieber Gustav, nur eben allzuviel!« entgegnete Frau Gertrud still
-lächelnd. »Die Gouvernante war vielleicht keine ganz glückliche Wahl;
-ihre Erziehungsresultate wenigstens sprechen für wenig Geschick und
-Klugheit. Ich bitte dich heut nur, habe Geduld mit Frida; es wird schon
-besser werden. Ich verberge mir nicht, daß ich keinen leichten Stand
-ihr gegenüber habe, da sie mich als unwillkommenen Eindringling eher
-hassen als lieben mag. Aber ich vertraue auf ihren Verstand und ihr
-gutes Herz und auf meine geduldige Liebe zu dem Kinde.«
-
-»Ich tadle an Frida weniger ihre schlechten Eigenschaften, als vielmehr
-ihr Benehmen gegen dich, liebe Gertrud,« sagte der Geheimerath
-verstimmt. »Ist es nicht empörend, daß meine älteste Tochter dir mit
-Mißtrauen und Kälte entgegentritt, wo sie doch vielmehr froh sein
-sollte, eine liebevolle Mutter und Freundin in dir zur Seite zu haben,
-die ihr alle die Lasten abnimmt, welchen ein so junges Mädchen ja noch
-gar nicht gewachsen ist. Und daß Frida auch dafür kein Verständniß hat,
-was du für mich bist, der ich lange Jahre hindurch einsam und freudlos
-dagestanden habe, und vor allem, welche treue Mutter ich in dir für
-ihre kleinen Geschwister gewonnen, die so unsäglich einer andern Pflege
-und Liebe bedurften, als sie ihnen Wärterinnen geben konnten, -- siehst
-du, Gertrud, alles das ist's, was mich so sehr gegen Frida aufbringt.
-Sollte ich sie etwa erst um Erlaubniß fragen, ehe ich einen neuen
-Ehebund schloß? Wahrlich, das verwöhnte Kind scheint es beansprucht zu
-haben.«
-
-»Eben =weil= sie ein verwöhntes Kind ist, Gustav!« sagte Gertrud sanft.
-»Vielleicht wäre es in der That besser gewesen, du hättest vorher mit
-ihr gesprochen und ihr deine Lage und die der Kinder vorgestellt. Du
-hättest ihr damit ein Vertrauen bewiesen, das ihr schmeichelte, hättest
-an ihr Herz und ihren Verstand appellirt und uns Allen die Situation
-dadurch erleichtert. Indem du ihr mit der fertigen Thatsache gegenüber
-tratest, reiztest du ihren Trotz und ihre Opposition ganz unnöthig;
-denn jetzt hat sie absolut keinen Antheil an dem, was du für gut und
-nöthig fandest und kommt mir mit Abneigung und Mißtrauen entgegen. Daß
-ich unter diesen Umständen für's Erste sehr vorsichtig sein muß und sie
-vor allem wegen ihrer Fehler jetzt noch nicht tadeln mag, ist wohl ganz
-natürlich. Aber wenn Frida erst einsehen wird, daß ich nur ihr Bestes
-will und daß sie nur Erleichterung und Annehmlichkeiten durch meinen
-Eintritt in die Familie hat, dann wird sich das alles bald ändern.«
-
-»Gebe es Gott; es lastet wie ein Alp auf mir und läßt mich des Glückes
-gar nicht froh werden, das du mir in das Haus gebracht hast, meine
-geliebte Gertrud!« sagte der Geheimerath seufzend, indem er den Arm um
-seine Gattin legte, die jetzt an seiner Seite stand. »Aber das sage
-ich dir: wenn Frida sich noch ein einzig Mal so beleidigend und so
-über alles Maaß hochfahrend gegen dich beträgt, wie es heut Vormittag
-der Fall gewesen, dann muß ich auf eine Aenderung denken. Dergleichen
-Unbilden sollst du nicht durch das thörichte Mädchen ausgesetzt sein;
-das darf ich nicht leiden.«
-
-»Laß doch nur jetzt gut sein, liebster Gustav,« entgegnete Gertrud
-tief erröthend. »Mich kränken solche Ausbrüche von Frida's Laune nicht
-nachhaltig. Wenn ich mich in ihre Stelle versetze, wäre ich gegen meine
-unwillkommene Stiefmutter vielleicht auch nicht sehr liebenswürdig.«
-
-»Nein, nein, Gertrud, es liegt tiefer; es ist nicht blos
-augenblickliche, üble Laune, glaube es mir,« sagte der Geheimerath
-düster. »Es wäre für Frida vielleicht auf alle Fälle gut, sie käme eine
-zeitlang aus dem Hause, in andre, einfachere Verhältnisse. Es sprechen
-auch noch einige andre Gründe für einen solchen Wechsel, welcher sie
-dem Einfluß einiger unklugen Freundinnen, sowie allerlei Thorheiten
-entzöge, die sie sich, wie ich sehr stark vermuthe, in den Kopf gesetzt
-hat.«
-
-»Aber nur jetzt nicht, nicht gleich nach meinem Eintritt in deine
-Familie,« bat Gertrud dringend. »Welche Gründe dich auch für einen
-solchen Wunsch bestimmen mögen, warte noch damit, ich bitte dich.
-Bedenke doch, welches Licht es auf deine Frau werfen würde, die die
-älteste Tochter aus dem Hause treibt, sobald sie nur den Fuß in
-dasselbe setzte.«
-
-»Wenn es nöthig wäre, würde niemand meine sanfte, engelsgute Frau
-beschuldigen, sondern nur meine stolze, trotzige Tochter, das glaube
-mir, Gertrud,« erwiederte der Geheimerath milde und küßte die schmale,
-weiße Stirn seiner Gattin. »Aber du magst Recht haben. Besser,
-wir schieben die Sache noch etwas hinaus, vorausgesetzt aber, wie
-gesagt, daß Frida solche Auftritte vermeidet, wie ich heute Morgen
-im Nebenzimmer mit anhörte. Dergleichen =darf= in meinem Hause nicht
-vorkommen; das leide ich nicht.«
-
-Nach diesem Gespräche trennten sich die beiden Gatten; der Geheimerath
-ging an seine Geschäfte, Gertrud in das Zimmer ihrer beiden kleinen
-Stiefkinder, einem Knaben von sechs und einem Mädchen von vier Jahren.
-Es waren blasse, kränklich aussehende Kinder, welche die Stiefmutter
-mit ziemlich gleichgültiger Miene anblickten, als dies zu ihnen
-herantrat.
-
-»Zeigst du Käthchen Bilder, lieber Franz?« sagte Gertrud freundlich und
-strich dem Knaben über das glatte, dunkle Haar.
-
-»Ja, Mama, die Bilder sind aber so langweilig; ich kenne sie schon
-alle so sehr,« klagte Franz, mit seinen schwimmenden, dunklen Augen zu
-Gertrud aufschauend.
-
-»So kommt mit in mein Zimmer, Kinder; ich will euch heute einmal
-wieder die hübschen Kupferstiche zeigen, die euch neulich so gut
-gefielen,« sagte die Mutter freundlich. Ein leises Roth der Freude zog
-über des Knaben blasse Wange, und rasch sprang er vom Stuhle auf, der
-voranschreitenden Gertrud zu folgen. Die kleine Katharine trippelte
-eilig hinterdrein, und bald neigten sich die beiden Kindergesichter
-über einen Band schöner, großer Kupferstiche, welchen die Mutter ihnen
-auf den Tisch gelegt.
-
-»Erkläre Käthchen die Bilder, wenn sie nicht alles versteht; du bist
-ja schon ein verständiger Junge,« sagte Gertrud lächelnd zu Franz,
-der ernsthaft mit dem Kopfe nickte und ganz stolz sein Amt eines
-Informators antrat, indem er sich Geschichten zu den bildlichen
-Darstellungen erfand, denen Käthchen mit gespannter Aufmerksamkeit
-lauschte. Gertrud setzte sich indeß still an ihre Arbeit und ließ ihren
-Gedanken freien Lauf, bis nach einer Weile die Thür des Nebenzimmers
-heftig aufgerissen wurde, und ein junges Mädchen rasch eintrat.
-
-»Franz, du unartiger Junge, du hast mir gewiß wieder mein Buch
-fortgenommen,« rief sie ärgerlich und kam zu den Kindern. »Bilder
-beseh'n, und immer und ewig Bilder beseh'n, weiter treibst du den
-ganzen Tag nichts. Meine Bücher =sollst= du aber nicht nehmen; das
-weißt du doch?«
-
-Franz war feuerroth geworden und antwortete nichts; Gertrud aber sagte
-milde: »Welches Buch fehlt dir denn, Frida?«
-
-Das junge Mädchen wandte den Kopf nur halb nach der Fragenden um und
-sagte kurz: »Ein Dumas'scher Roman, in dem Franz einige Bilder gesehen
-hat, die ich hineingelegt.«
-
-»Das Buch liegt in deines Vaters Zimmer, liebe Frida,« entgegnete
-Gertrud. »Er hielt die Lectüre für nicht ganz passend für ein so junges
-Mädchen und nahm das Buch an sich. Ich will dir bessere Bücher geben,
-liebes Kind, als diese leichtfertigen, französischen Romane. Hast du z.
-B. die Bücher von Jeremias Gotthelf schon gelesen?«
-
-Frida blickte ihrer Stiefmutter jetzt voll in das Gesicht. Es war
-ein feines, schönes Köpfchen, das auf den jungen, siebzehnjährigen
-Schultern saß, der edlen Bildung ihres Vaters sehr ähnlich und von
-vollem, blonden Haar umwogt. Aber die maaßlos moderne Frisur verdarb
-das prachtvolle Haar ebensosehr, wie der stolze Ausdruck des Gesichtes
-der Schönheit dieser Züge schadete. Bei Gertruds Worten warf sie den
-Kopf hochmüthig zurück und sagte scharf: »Wer hat denn in meinem Zimmer
-herumspionirt und Papa meine Bücher zugetragen?«
-
-»Nicht in deiner Stube lag das Buch, Frida,« entgegnete Gertrud ruhig,
-»sondern im Eßzimmer trieb es sich herum. Dein Vater sah es dort liegen
-und blätterte darin.«
-
-»Papa hat sich doch sonst nicht um meine Lectüre bekümmert, warum denn
-jetzt auf einmal?« sagte Frida spitz. »Von selbst ist er sicher nicht
-darauf verfallen, und ich möchte doch sehr bitten, mich auch ferner mit
-dergleichen in Ruhe zu lassen. Solche Hetzereien sind gräßlich.«
-
-»Du bist noch zu jung, liebe Frida, um jedes Buch lesen zu können,
-das dir in die Hand kommt,« erwiederte die Mutter immer noch ruhig,
-obwohl ihr zartes Gesicht bei Frida's bösen Worten abwechselnd bleich
-und roth wurde. »Böse gemeint ist dabei nichts, im Gegentheil bin
-ich gern bereit, dir viel bessere Lectüre zu geben, als du in deiner
-natürlichen Unkenntniß dir aussuchst. Du weißt, ich habe eine sehr
-reiche Bibliothek sie steht dir gern zu Diensten.«
-
-»Ich danke, ich bin in der Leihbibliothek abonnirt,« sagte Frida kurz
-und ging hinaus, die Thür sehr unsanft in das Schloß werfend. Gertrud
-strich sich mit der Hand langsam über das Gesicht und seufzte. Dann
-aber blickte sie heiter nach den beiden Kindern, welche fröhlich über
-ein spashaftes Bild lachten, das sie soeben aufgeschlagen, und Franz
-brachte das Buch zu der Mutter, damit diese ihnen die Geschichte
-erzählte, die herrlich sein mußte. Gertrud erfüllte bereitwillig die
-Bitte und vergaß in dieser Weise einigermaßen den häßlichen Auftritt,
-den Frida veranlaßt hatte. Sie fürchtete aber freilich trotz aller
-Sanftmuth und trotz der unablässigen Mühe, die sie sich gab, Frida für
-sich zu gewinnen, daß ihr dies nicht gelingen werde, und einige Tage
-später brach denn auch wirklich die Katastrophe herein, welche Gertrud
-trotz aller Liebe und Milde nicht abwenden konnte.
-
-Gertrud hatte sich zum Ausgehen fertig gemacht und sagte, in das
-Zimmer tretend, zu Frida, welche am Clavier saß: »Aber willst du dich
-nicht anziehen, mein Kind? Ich sagte dir ja, wir wollten bei Präsident
-Wehrmann und Regierungsrath Keller Besuche machen. Dein Vater wird
-gleich eintreten, uns abzuholen; beeile dich etwas.«
-
-Frida wandte in ihrer beliebten Weise den Kopf nur halb herum und
-spielte weiter. Die Mutter wartete einige Augenblicke, dann forderte
-sie das junge Mädchen von Neuem auf, nur mühsam ihre Ungeduld
-verbergend; denn sie wußte, wie ungern ihr Gatte wartete, wenn er
-ausgehen wollte. Frida aber spielte noch immer und sagte nur leichthin:
-»Ich gehe nicht mit!«
-
-»Du gehst nicht mit, Frida? Warum nicht?« rief Gertrud erstaunt.
-
-»Weil ich keine Lust habe,« entgegnete Frida schnippisch. »Ich kann das
-Volk nicht ausstehen.«
-
-»Wen meinst du eigentlich, liebes Kind?« sagte Gertrud betreten, und
-ihre Stirn röthete sich vor Unwillen.
-
-»Wen ich meine?« rief Frida nachlässig; »nun deine Präsident Wehrmanns
-und Kellers und wie sie alle heißen. Eine langweiligere Gesellschaft
-kenne ich nicht. Ich habe meinen eigenen Bekanntenkreis; jene Leute
-besuche ich nicht.«
-
-»Du wirst dich doch wohl dazu entschließen müssen, liebe Frida,« sagte
-Gertrud ruhig, »denn jene Familien gehören zu dem Kreis der Freunde
-deines Vaters, und da schickt es sich nicht anders, als daß die Tochter
-des Hauses mit uns Besuche bei ihnen macht.«
-
-»Das sind wieder einmal solche herrlichen Neuerungen, wie sie jetzt
-massenhaft ins Haus kommen!« rief Frida trotzig. »Es ist doch
-mindestens sonderbar, daß mir jetzt fortwährend geboten wird, das thu,
-und das laß, wo ich doch bisher ganz gut selbst wußte, was ich zu thun
-und zu lassen hatte.«
-
-»Dein =Vater= will es so, mein Kind,« sagte Gertrud kurz.
-
-»Papa will es nur, weil =du es= willst; sonst fiele es ihm gar nicht
-ein, mir Dinge zuzumuthen, die mir unerträglich sind!« fuhr Frida
-leidenschaftlich auf. »Aber ich werde deshalb doch thun, was mir
-beliebt, wie ich es bisher gethan habe; ich bin alt genug und bedarf
-keiner Gouvernante mehr. Und wenn Papa kommt, will ich es ihm selbst
-sagen; warum hat er mir Situationen octroyirt, die mich empören
-müssen!« Dabei warf sie ein Notenheft so stürmisch auf den Flügel,
-daß die losen Blätter weit im Zimmer umherflogen, und stieß den
-Clavierschemel mit dem Fuße zur Seite, daß er umstürzte.
-
-»Augenblicklich schweigst du, und möge deine Mutter die bösen
-Reden vergessen, die du führtest!« rief jetzt aber die Stimme des
-Geheimeraths, welcher rasch in das Zimmer eintrat. »Ich habe alles mit
-angehört, was du gesagt hast, du unartiges Mädchen; aber jetzt hat das
-Spiel ein Ende. In dieser Weise dulde ich es nicht länger, daß meine
-Tochter ihrer Mutter gegenübertritt. Geh' jetzt auf dein Zimmer und
-erwarte dort das Weitere.«
-
-Frida warf den Kopf trotzig zurück und ging hinaus. Gertrud aber
-verbarg schluchzend ihr Gesicht in dem Tuche.
-
-»Gräme dich nicht, liebe Gertrud,« sagte ihr Gatte weich. »Ich fühle
-deutlich, ich habe einen großen Fehler begangen, daß ich Frida so
-völlig zügellos aufwachsen ließ. Gebe Gott, daß es noch nicht zu spät
-ist, sie zu ändern. Ich kenne sie in der That kaum wieder. Eigentlich
-ist sie ein gutes, fröhliches Geschöpf; aber jetzt ist sie wie
-ausgetauscht, und mir scheint, es wird immer schlimmer statt besser.
-Was ich dir neulich schon sagte, das wiederhole ich: das Beste ist, sie
-kommt eine Weile aus dem Hause. Wir entziehen sie dadurch auch zugleich
-dem Einfluß einer ihrer nächsten Freundinnen, die in hohem Grade
-ungünstig auf ihr weiches Gemüth einwirkt, wie ich fürchte. Ich kann
-ihr den Umgang mit dieser Familie nicht untersagen; auch würde ich die
-Sache dadurch nicht bessern, sondern nur Heimlichkeiten hervorrufen.«
-
-»Du erwähntest neulich schon etwas der Art,« sagte Gertrud; »welche
-Freundin meinst du?«
-
-»Franziska von Froreich, ein eitles, leichtsinniges, aber kluges und
-angenehmes Mädchen,« entgegnete der Geheimerath. »Sie hat den Kopf voll
-Phantastereien und Thorheiten, und leider steckt sie meine empfängliche
-Frida sehr damit an. Durch unsere würdige Geheimeräthin Gerold, eine
-mütterliche Freundin meines Hauses, habe ich einige Dinge erfahren,
-die mich in der That beunruhigen. Im Hause dieser Froreich's hat
-Frida einen jungen Mann kennen gelernt, der ganz das Zeug dazu hat,
-einen phantastischen siebzehnjährigen Mädchenkopf zu verdrehen; denn
-er ist schön, elegant, witzig und angenehm, gerade wie es ein Held
-der Romane sein muß, die sie lesen. Dieser junge Herr scheint alle
-Künste zu verstehen, die Herzen unerfahrener Mädchen zu gewinnen. Mit
-dieser singt und musicirt er, mit jener schwärmt er für Literatur und
-bringt ihr Gedichte, dann wieder treibt er Blumensprache oder sonstige
-Fadaisen mit ihnen, tanzt vortrefflich, zeichnet etwas, kurz, es giebt
-eben nichts, was er nicht verstände und wüßte. Aeltere Frauen schütteln
-die Köpfe, den Männern ist er gleichgültig oder im Wege. Niemand aber
-weiß recht, wer er ist und was er eigentlich treibt. Meiner hübschen
-Frida aber hat er das Köpfchen augenscheinlich gründlich mit seinen
-Süßigkeiten verdreht, und wenn ich etwas sorglicher die Augen offen
-gehalten hätte, als ich leider gethan, so würde ich wohl selbst gesehen
-haben, worauf mich liebe Freunde jetzt aufmerksam machen. Ich denke
-jedoch, Frida ist noch ein solches Kind, daß ihr die Sache aus dem
-Kopfe kommt, lebt sie einige Monate in anderen Kreisen, und besonders
-auch fern von Franziska, die sich darin scheint gefallen zu haben, als
-Beschützerin dieser keimenden Liebe eine interessante Rolle zu spielen.«
-
-»Hast du gegen Frida etwas über diese Sache erwähnt?« sagte Gertrud
-nachdenkend.
-
-»Thörichter Weise allerdings!« entgegnete der Geheimerath
-achselzuckend. »Ich glaubte, ihr klar machen zu können, daß an einem
-jungen Manne elegantes und einschmeichelndes Wesen etwas Gefährliches
-sei, und daß es verdienstvollere Eigenschaften gäbe und würdigere,
-um die Achtung und Liebe eines Mädchens zu gewinnen. Aber das war
-nur Oel in's Feuer. Sie vertheidigte ihren jungen Verehrer mit
-flammenden Augen, und ich bin sicher, hätte ich ihr den Verkehr mit
-demselben jetzt untersagt, die Sache wäre bei Frida's Heftigkeit wohl
-zu einer bösen Wendung gekommen. Ich zog es daher vor, sie mit ihrer
-jugendlichen Schwärmerei zu necken und das Ganze scherzhaft und leicht
-zu nehmen. Aber ich kann dir sagen, liebe Gertrud, ich bin froh, dich
-jetzt zur Seite zu haben, damit du über das Kind mit treuen Mutteraugen
-wachest und mit vorsichtiger Frauenhand den Knoten lösest, der sich da
-etwa zu schlingen droht. An dem jungen Galan ist nichts, davon bin ich
-überzeugt, seit ich ihn etwas näher beobachtet; aber mein Männerkopf
-versteht es nicht, da das Rechte zu ergreifen.«
-
-Gertrud sah ernst sinnend vor sich nieder. »Du kannst auf meine Hülfe
-rechnen, Gustav,« sagte sie sanft. »Aber die Aufgabe ist keine leichte.
-Wie ich Frida beurtheile, wird sie sich schwer von einer ernsten
-Neigung zurückbringen lassen, und Widerstand ihr die Sache vielleicht
-noch anziehender machen. Sie glaubt dann wohl eine jener Romanheldinnen
-zu sein, die für ihre Liebe schwere Opfer zu bringen haben, wie sie
-in den Büchern gelesen. Lassen wir für jetzt die ganze Angelegenheit
-unberührt, vielleicht wirkt Zeit und Entfernung günstig auf ihr Gemüth.
-Wenn du sie unter recht einfache, frische und brave Menschen bringen
-könntest, so wäre dies wohl das beste Mittel, das Kind zu ändern und zu
-bessern; aber wo finden wir solche?«
-
-»Ich denke, ich habe sie schon gefunden,« entgegnete der Geheimerath
-heiter. »Die Sache liegt mir länger schon im Sinn; denn seit jener
-Mittheilung unserer lieben, alten Freundin, Frida's keimende
-Neigung betreffend, war ich entschlossen, das Kind für eine Weile
-anderen Händen anzuvertrauen und sie aus den hiesigen Verhältnissen
-fortzuschicken. Seitdem aber kam durch dich, meine Gertrud, neues
-Glück über mich, und ich hoffte, auch über Frida, und so gab ich den
-Gedanken jener Trennung auf. Nun aber ist dieselbe nöthiger als je,
-nöthig für alle Theile, und so zögere ich nicht länger. Ich werde Frida
-meiner Schwägerin anvertrauen, der Schwester ihrer Mutter. Das ist
-eine einfache, gute und tüchtige Frau, und ihre Töchter liebe, nette
-Mädchen. Bei ihnen ist unser Kind wohlaufgehoben. Mein Schwager, ein
-braver, trefflicher Mann, hat eine Pachtung in Mecklenburg übernommen,
-und das Landleben wird Frida mit vielem aussöhnen, was ihr in den sehr
-einfachen Verhältnissen sicher nicht gefallen wird. Ich habe bereits
-früher schon einmal angefragt, ob meine Schwägerin mir das Opfer
-bringen will, Frida für einige Zeit in ihr Haus zu nehmen, und sie ist
-gern dazu bereit. Du bist wohl so freundlich, liebe Gertrud, in Frida's
-Sachen nachzusehen, was sie etwa bedarf. Staat wird sie überflüssig
-genug haben, für alles andere aber übernimm, bitte, die Sorge.«
-
-Während Frida's Eltern noch Weiteres mit einander besprachen, lag das
-junge Mädchen in ihrem Zimmer auf dem Sopha, das Gesicht in die Kissen
-gedrückt, und ihre Brust athmete heftig. Aber Thränen flossen trotz
-aller Leidenschaft nicht aus den heißen Augen. Mit ihren kleinen,
-weißen Zähnen biß sie fest in das feine Taschentuch, das sie vor die
-Lippen drückte, und riß so heftig daran herum, daß es in Stücken flog.
-Da ballte sie die Fetzen grimmig in der kleinen Hand zusammen und
-schleuderte den Knäul in die Ecke; ihre hübschen Füße aber stampften
-nun so energisch den Boden, daß die höchst eleganten Stiefelchen,
-welche sie umschlossen, in allen Nähten krachten.
-
-»Unerträglich! Unerträglich!« rief sie ungestüm und schlug die Hände
-vor das Gesicht. »Mich so zu behandeln, mir das zu bieten, und in ihrer
-Gegenwart! O, ich möchte ersticken vor Aerger. Und was nun seine Worte
-heißen sollten? >Erwarte dort das Weitere!< Was soll ich erwarten? Will
-man mich etwa einschließen, mich gefangen halten bei Wasser und Brod,
-bis ich kirre werde und der Frau Mutter zu Füßen liege? O da können sie
-lange warten; aber es ist abscheulich, ganz abscheulich vom Papa. Bis
-jetzt war er immer so gut und that alles, was ich wollte; nun ist er
-wie verwandelt. Und an allem ist =sie= allein schuld, ich weiß es wohl,
-sie mag sich verstellen wie sie will. Aber ich dulde es nicht, nein,
-absolut nicht!«
-
-In dieser Weise trieb es das heftige Mädchen noch eine lange Weile,
-ohne dabei ruhiger zu werden. Da öffnete sich die Thür und ihr Vater
-trat herein.
-
-»Frida,« sagte er ruhig und ernst, »ich denke, es wird für alle
-Theile besser sein, wir versuchen es, eine Aenderung dadurch im Hause
-eintreten zu lassen, daß du deine Tante Marie, die dich lange schon
-so freundlich eingeladen hat, für einige Zeit besuchst. Ich habe dich
-zu sehr verzogen, ich sehe es jetzt wohl ein; der Schaden jedoch läßt
-sich nicht so schnell gutmachen. Aber deine treffliche Mutter soll
-nicht durch dich leiden. Ich hoffe, bei Tante Marie wirst du etwas
-vernünftiger werden und als ein verständigeres Mädchen heimkehren.
-Suche deine Sachen zusammen, übermorgen bringe ich dich nach Dahme.«
-
-»Also eine Verbannung!« sagte Frida kalt. »Gut, ich gehe und mache
-Platz; es mag das Beste sein, du hast Recht, Papa. Zwei Willen das geht
-nicht. Schade nur, daß du das jetzt erst merkst, und ich darunter so
-bitter leiden muß. Aber es mag drum sein; ich danke dir, daß du mich
-fortschickst.«
-
-Es war kein guter Geist, der aus Frida in diesem Augenblicke sprach.
-Ihr Vater stand ihr traurig und rathlos gegenüber und wußte nicht, wie
-er den Weg zu ihrem Herzen finden sollte. Da fiel sein Blick auf ein
-Bild, das über Frida's Nähtischchen hing. Leise ergriff er die Hand
-seiner Tochter und führte sie zu diesem Bilde. Es war das ihrer Mutter.
-
-»Frida,« sagte der Vater weich, »was würde sie dazu sagen, wenn sie
-hörte, wie ihr Kind mit ihrem Vater spricht!«
-
-Das junge Mädchen zuckte leise zusammen und erblaßte. Einen Augenblick
-stand sie mit gesenkten Lidern vor dem Bilde, dann rief sie: »Papa!«
-und laut schluchzend sank sie an ihres Vaters Brust. Still hielt dieser
-sein Kind in den Armen, sprechen konnte er nicht, und auch Frida
-weinte nur heftig ohne zu sprechen. Endlich aber stammelte sie erregt:
-»Verzeih mir, Papa! O ich bin zu, zu unglücklich!« Und wieder weinte
-sie leidenschaftlich.
-
-»Ich verstehe dich nicht, Kind,« sagte der Vater sanft und streichelte
-ihre Wange, »du bist mir völlig räthselhaft; denn wenn du nur wolltest,
-so würde dir aus deiner jetzigen Situation unendlich viel Glück und
-Freude erwachsen; aber erzwingen kann ich es freilich nicht. Machen
-wir deshalb den Versuch einer Trennung in aller Liebe, Frida, hörst
-du wohl? ohne von Verbannung oder dergleichen Thorheiten zu sprechen.
-Ein Landaufenthalt wird dir in allen Fällen gut thun; der letzte
-Winter hat dich etwas blaß und nervös gemacht. Tante Marie hat dich
-lieb und freut sich lange schon auf dein Kommen, und ihre Töchter
-werden dir ein angenehmer Umgang sein. Scheiden wir in aller Liebe und
-Herzlichkeit für eine Weile von einander, und wenn du dann wieder zu
-uns zurückkommst, wirst du alles mit anderen Augen ansehen, deß bin ich
-sicher.«
-
-Frida schüttelte zwar leise und ungläubig den Kopf; aber der gute
-Geist, den ihr Vater heraufbeschworen, breitete seine Hände über sie.
-
-»Wie du willst, Papa. Ich glaube, du hast Recht, und es ist gut für
-alle Theile,« sagte sie weich und ergeben. »Ich werde meine Sachen
-zusammen suchen, dann können wir fort, je eher je lieber.«
-
-Der Geheimerath küßte sein Kind liebevoll und sagte leise: »So ist's
-recht, Frida, mache deinem armen Vater das Herz nicht gar zu traurig.
-Ich danke dir, und =sie= wird dich dafür segnen.« Dabei blickte der
-weiche Mann noch einmal feuchten Auges nach dem Bilde seiner ersten,
-unsäglich geliebten und betrauerten Gattin, dann verließ er still das
-Zimmer.
-
-Frida setzte sich wie gebrochen diesem lieben Bilde gegenüber, und
-leise rannen noch einige Thränen über ihre Wangen. Aber es waren
-gute Gedanken, welche jetzt durch ihre Seele zogen. Sie gedachte
-jener traurigen Zeit, als diese treue Mutter von den Ihren schied,
-nachdem sie noch dem kleinen Käthchen das Leben geschenkt hatte, und
-welche Zerstörung dieser Tod in die Familie brachte. Ihr Vater war
-wie vernichtet von Kummer und Leid; das schwache, neugeborne Kindchen
-lag kraftlos und still in seiner Wiege, und das matte Lebenslicht
-schien verlöschen zu wollen. Sich selbst überlassen, trieben sich
-die andern Kinder im Hause umher, Frida selbst erst 12 Jahre alt und
-unfähig, die jüngeren Geschwister zu zügeln. Wohl kamen dann Fremde
-in das Haus, sich der Kinder und des Hauswesens anzunehmen; aber es
-war ein zerfahrener Geist in dem Ganzen, und der Hausherr besaß nicht
-Kraft und Umsicht genug, es zu ändern. Summen wurden verschwendet,
-die Leute gewechselt, bald Strenge, bald Güte versucht, die Dinge
-anders zu gestalten, es war vergebens. Dann erkrankten die Kinder am
-Scharlachfieber, zwei von ihnen, welche vielleicht bei sorgsamerer
-Pflege gerettet werden konnten, erlagen der Krankheit, und die beiden
-Jüngsten blieben kränklich und blaß, nachdem sie genesen waren. Endlich
-übernahm Frida die Oberleitung des Hauswesens, sie war ja sechzehn
-Jahr alt und also ein erwachsenes Mädchen. Aber statt besser, wurde es
-nur schlimmer. Frida fühlte das wohl, wußte es aber nicht zu ändern.
-Sie war sich selbst nicht klar, daß ohne Anleitung und ernsten Sinn,
-nur voll Interesse für ihr Vergnügen, ihren Putz und ihre Freundinnen,
-sie einer solchen Aufgabe nicht gewachsen war. Frei und ohne jegliche
-Schranke ließ der Vater sie schalten und walten, that alles, was Frida
-wollte, gab ihr Geld über Geld und bewilligte alle Vorschläge, nur um
-Ruhe und Frieden im Hause zu haben. Und doch erreichte er damit wenig,
-Frida aber brachte er großen Schaden. Ein dunkles Gefühl sagte dies dem
-jungen Mädchen gar wohl; aber doch war es gar zu schön, so unbeschränkt
-leben und befehlen zu können, sie wünschte es nicht anders.
-
-Welch ein Donnerschlag war da für sie die Nachricht, ihr Vater
-werde wieder heirathen! Tiefe Entrüstung ergriff Frida über solches
-Unterfangen, und mit lebhaftem Mißtrauen und starker Abneigung trat sie
-der unwillkommnen Stiefmutter entgegen. Mit innerer Empörung übergab
-sie den Händen der neuen Hausfrau alle Pflichten, welche jetzt ihr
-obgelegen, und denen sie freilich nur allzu lässig nachgekommen war.
-Die Uebergabe dieser Geschäfte konnte sie nicht ändern und mußte sie
-schweigend ertragen. Aber eines stand fest: sie selbst wollte nie etwas
-mit dieser Stiefmutter gemein haben und sich nie und nimmer ihrer Macht
-unterwerfen. Freilich suchte diese neue Mutter durch unsägliche Geduld
-und Milde solche Entschlüsse zu stürzen und Frida's Herz zu erobern,
-Frida jedoch stemmte sich mit aller Macht dagegen, und wie sie ihre
-vermeintlichen Rechte glaubte schützen zu müssen, das haben wir selbst
-gesehen. Aber es war ihr nicht wohl dabei. Sie fühlte Tag täglich,
-welchen Schatz ihr Vater mit dieser Mutter in das Haus geführt, und wie
-wohl geordnet jetzt alles seine stillen Wege ging. Wie froh und heiter
-blickte ihr Vater jetzt in die Welt hinein, wie wohl versorgt waren
-die kleinen Geschwister, und wie ordentlich und gesittet thaten die
-Dienstleute ohne Lärm und ohne Widerspenstigkeit ihre Pflichten. Aber
-trotz dieser Einsicht konnte sie die Erbitterung und den Verdruß nicht
-aus ihrem Herzen scheuchen, und so war es besser, sie ging. Mochte
-ihr Vater Recht haben oder nicht, mochte Zeit und Entfernung günstig
-wirken oder nicht, für jetzt =konnte= es nicht so bleiben, das sah und
-begriff sie. Der vorige Trotz ihres ungebändigten, kindischen Herzens
-hatte jetzt ruhigerer Einsicht Platz gemacht, ja endlich behauptete
-die Jugend so sehr ihr Recht, daß die bevorstehende Reise mit ihren
-neuen Verhältnissen und Eindrücken ihr sehr lockend erschien, und sie
-sich von Herzen auf den Landaufenthalt freute, den sie sich lange schon
-gewünscht. So machte sie denn gute Miene zum bösen Spiel, erzählte
-ihren Freundinnen von der bevorstehenden frohen Aussicht und war ganz
-heiter und guter Dinge. Gertrud ging auf diese Stimmung Frida's nur zu
-gern ein und half ihr eifrig, für die Reise alles in Stand zu setzen,
-wobei sie freilich wünschte, gar vieles von dem Putz und Staat aus den
-Koffern wieder heraus zu legen, den die eitle Frida einpackte, welche
-sich einen sonderbaren Begriff von den Bedürfnissen ihres Landlebens zu
-machen schien.
-
-So war denn einige Tage später der Schritt geschehen und Frida im
-Hause der Tante Marie. Ihr Vater war wieder abgereist, Frida aber saß
-bald nach ihrer Ankunft bei einem Briefe an ihre liebste Freundin, und
-damit wir sehen, wie es ihr in der neuen Umgebung gefällt, blicken
-wir über die Schulter der Schreiberin und nehmen Kenntniß von ihren
-Freundschaftsergüssen.
-
-
- »Liebste, beste Franziska!
-
- Drei Tage sind schon darüber hingegangen, daß ich meinem Papa
- Lebewohl gesagt habe und hier in das Haus von Onkel und Tante Bremer
- eingetreten bin. Wie voll ist mir das Herz, und wie sehr verlangt mich
- danach, Dir, meiner besten, liebsten Freundin, von meinem Ergehen und
- meiner hiesigen Situation Kunde zu geben. Aber bis jetzt kam ich nicht
- dazu; denn ich kann Dir sagen, daß ich völlig benommen bin von der
- Neuheit meines Aufenthaltes. Eine Sehnsucht und ein Verlangen nach
- meinem himmlisch behaglichen Vaterhause, nach Dir und meinen anderen
- geliebten Freundinnen erfüllt mich von früh bis spät, und wenn ich
- mich nicht schämte, ich packte am liebsten wieder ein und eilte zurück
- zu Euch Allen, trotz der unerträglichen Verhältnisse im Vaterhause.
-
- Ach Deinem Herzen, mein Fränzchen, als dem meiner intimsten Freundin,
- habe ich ja allein den wahren Sachverhalt anvertraut, Du allein weißt
- ja, was und wer mich aus dem Vaterhause hinaus getrieben. Die, die
- sich jetzt meine Mutter nennt, ist es, ich weiß es wohl, und wenn ich
- auch um Papa's willen heiteren Auges geschieden bin, Du weißt besser,
- wie es in mir aussieht. Ach eines nur beruhigt und tröstet mich trotz
- allem -- daß ich diese Reise nicht schon einige Monate früher antreten
- mußte. Du ahnest und weißt warum, meine süße Freundin! Die himmlischen
- Stunden in Eurem Hause, wo ich =ihn= sehen und sprechen durfte, ach
- sie sind ja doch ohnehin jetzt vorüber, seit er fort ist. Aber wo ist
- er, warum sagte er es nicht, und warum ging er so plötzlich fort ohne
- unser Wissen? Zum Winter aber, wenn ich wieder bei Dir bin, dann will
- ja auch er wiederkommen, das hoffte er so sicher, als ich ihn zum
- letzten Male sprach. O dieses letzte Mal, Fränzchen, es wird mir ewig
- in der Seele bleiben!
-
- Wie oft hast Du mir versichert, ich sei ihm nicht gleichgültig, Du,
- liebe, treue Freundin, ach immer und immer konnte ich nicht daran
- glauben. Aber beim Abschied, da habe ich es wohl glauben müssen, (o
- und =wie= gern!) denn daß ich es Dir jetzt nur gestehe, er hat es mir
- nur allzudeutlich gesagt. Aber nicht blos in trocknen, prosaischen
- Worten, wie ein Anderer es wohl an seiner Stelle gethan hätte; o nein,
- das wäre dieses genialen, poetischen Kopfes nicht würdig! Nein, er hat
- mir in einigen entzückenden Versen seine Gefühle gestanden. Denke nur,
- Verse von ihm selbst. O ich müßte ein Herz von Eis oder Stein haben,
- wenn mich diese Worte nicht gerührt hätten, und der Blick, von dem
- sie begleitet waren. Ich muß Dir wirklich als Sühne für mein spätes
- Vertrauen dieses Gedichtchen hersetzen; urtheile selbst, =was= ich
- dabei fühlte.
-
-
- In einem stillen Thale
- Blüht eine Rose hold,
- Die Blätter glühn und glänzen
- Wie süßer Minne Sold.
-
- Da kommt mit müdem Schritte
- Ein Wandersmann daher,
- Sein Aug' ist matt und trübe,
- Sein Herz ist bang und schwer.
-
- Doch wie mit holdem Zauber
- Weht's um ihn wunderbar,
- Und weiche Rosendüfte
- Umspielen Stirn und Haar.
-
- Und wie ein Himmelsbote
- Schaut ihn das Röslein an:
- »Wohl kann ich Heilung bringen,
- »Du armer, kranker Mann.«
-
- »Wem ich am Herzen ruhe
- »In stiller Lieb' und Treu',
- »Dem lächelt Freud' und Wonne
- »Und süßes Glück aufs Neu.
-
- »»O Rose, holde Rose,
- »»So sei auf ewig mein!
- »»Des Herzens banges Sehnen,
- »»Das stillest du allein!
-
- »»An treuer Brust geborgen
- »»Blühst du in sichrer Huth;
- »»O Rose, sei mein eigen,
- »»Nur dann ist alles gut!««
-
-
- O wenn Papa dies läse, dann würde er eine andere, höhere Meinung
- von den Gaben dieses herrlichen Mannes bekommen! Aber um alles in
- der Welt, ihm darf ich es nicht sagen, er würde mir nie verzeihen,
- daß ich solche Dinge angenommen habe von einem jungen Manne, der
- ihm ganz fremd, und, wie ich mit blutendem Herzen bemerkt, durchaus
- nicht willkommen ist. So mag es denn ein süßes Geheimniß zwischen uns
- bleiben, mein Fränzchen, und wenn er wieder zurückkehrt, dann geht
- hoffentlich die Sonne heller für uns auf. Was kümmert es mich, wer
- und was er ist, wonach Papa so sorglich forschte! Er ist Deiner Mama
- von einem Jugendfreunde empfohlen, das genügt mir, und wer so edel
- und vornehm in seiner Erscheinung, so fein und ritterlich in seinem
- Benehmen ist, der kann kein untergeordnetes Menschenkind sein. Der
- Stempel edler Abkunft ist ja seiner schönen Stirn aufgeprägt! -- Doch
- genug; ich verliere mich in meine süßen wonnigen Träume, und doch muß
- ich ihnen hier so ganz Lebewohl sagen und der rauhen Wirklichkeit um
- mich her leben. Laß Dir jetzt hiervon ein Wenig erzählen und bedaure
- mich, Du Getreue!
-
- Franziska, was giebt es doch für Existenzen, und was das Wunderbarste
- ist, wie glücklich scheinen mir hier die Leute alle in diesen mehr als
- einfachen Existenzen. Mir steht der Verstand still, und Dein scharfer
- Humor fände hier nur allzureichen Stoff für Witz und Spöttereien.
-
- Also mit dem Anfang zu beginnen, das heißt, mit unserer Ankunft hier
- in Dahme. Auf der Eisenbahnstation erwartete uns die Tante Marie
- selbst, eine große, brünette Frau mit starken Zügen und einer derben
- Art und Weise, sich auszudrücken. Ich kannte sie jedoch schon, obwohl
- ich sie damals mit Kinderaugen anblickte, denen alles Neue schön
- erscheint. Leider sehen diese Kinderaugen jetzt auch noch anderes,
- an der Tante z. B. gleich einen mehr als einfachen Anzug und einen
- Hut, den Noah's Eheweib füglich hätte tragen können, so uralt war
- er und bot Schutz vor Sonne, Wind und Regenwetter. Sie schloß mich
- stürmisch in ihre großen, starken Arme und schüttelte mir die Hände
- so energisch, daß meine feinen, blaßgrauen Josephinenhandschuhe, die
- ich mir zur Reise frisch angeschafft, sogleich in einem breiten Riß
- auseinander platzten. »Zieh die Dinger herunter, Kind!« rief sie
- lachend, als sie sah, was sie angerichtet; aber das ließ ich wohl
- bleiben, die scharfe Sonne hätte mir die Haut gleich abscheulich
- verbrannt. Eine breitbauchige, schwerfällige Kalesche nahm uns dann
- auf, vor welche ein paar lächerlich plumpe Ackergäule gespannt waren,
- die ein roher Knecht vom Kutschbocke aus dirigirte. Meine hohen
- Koffer blickte die Tante mit starrem Schrecken an, auf der Kalesche
- hatten =die= keinen Platz. »Wir müssen einen Leiterwagen herschicken,
- anders geht's nicht,« sagte die Tante achselzuckend. »Was schleppst du
- denn alles mit dir in der Welt herum?« fragte sie lachend, »in solchen
- Koffern hat ja ganz Dahme Platz.« Aber dann zogen Knecht und Pferde
- Tante's Aufmerksamkeit auf sich, und wir waren kaum zum Bahnhofe
- hinaus, da rief sie gebieterisch: »Stillhalten, Michel!« Wie der Blitz
- schwang sie sich dann auf den Bock, griff dem tölpelhaften Knechte in
- die Leine und kutschirte nun selbst.
-
- »Ich bitte um Verzeihung, lieber Schwager,« sagte sie dabei äußerst
- munter, »mein Mann brauchte unsern Kutscher heut anderweitig, ich
- mußte den Michel nehmen. Da der aber gewöhnlich nur Arbeitswagen
- fährt, will ich ihm den ungewohnten Posten lieber abnehmen.«
-
- »Du fährst selbst, Tante?« rief ich erstaunt, sie nickte aber blos
- und schnalzte mit der Zunge, und in raschem Trabe führten die plumpen
- Gäule uns und die alte Kalesche durch Wiesen und Felder. Auf einige
- Worte und Zeichen der Tante sprang nach einer Weile der Michel
- vom Wagen herunter und lief zu einem Trupp Arbeiter, die im Acker
- beschäftigt waren.
-
- »Das ist schon Dahme'scher Grund und Boden!« rief die Tante stolz und
- deutete mit der Peitsche hinüber. »Sie sind gerade beim Düngen.«
-
- Auch ohne ihre Erklärung hätten meine Geruchsnerven mir das verrathen;
- es war ein gräulicher Gestank, und erschrocken hielt ich mir das Tuch
- vor's Gesicht. Die Tante sah es und lachte. »Ja ja, Kindchen, nach
- Rosenöl riecht's gerade nicht; aber ich sage dir, für einen rechten
- Landwirth giebt's auf der ganzen Welt keinen schöneren Duft, als
- solchen frischen Dünger. Wirst dich schon daran gewöhnen, wenn du ein
- Weilchen bei uns bist. Der glatte Misthaufen inmitten unseres Hofes
- ist unserer Augen Trost und Freude.«
-
- Ich blickte Papa betroffen an, denn ich war entsetzt über solche
- Reden. Papa aber lachte und fing an mit der Tante über die Ländereien
- zu sprechen, durch welche wir fuhren, und zwar mit einem Interesse
- und einer Sachkenntniß, daß ich ganz erstaunt zuhörte. Ich hatte
- nie gewußt, daß mein feiner, eleganter Papa, der sich in seinem
- Arbeitszimmer und im Kabinet des Ministers nur mit Akten und Zahlen
- beschäftigt, auch davon etwas verstand.
-
- Nun endlich waren wir in Dahme. Ein spitzer Kirchthurm schaute lange
- schon über eine Anzahl Dächer herüber, und umgeben von einem weiten,
- bäuerlich aussehenden Garten stand ein schlichtes, großes Haus vor
- uns, vor dem der Wagen still hielt.
-
- »So, da wären wir glücklich!« rief die Tante und sprang vom Bock
- herunter, mit der Peitsche ein Paar große Hunde abwehrend, welche mit
- wüthendem Gebell zum Hofthore herausstürzten, das ein Knecht öffnete.
-
- Hinter dem Knechte erschienen zwei junge Mädchen, welche ich für
- Dienerinnen hielt und ihnen schweigend meine Sachen zu tragen gab, die
- ich im Wagen hatte. Da stellte Tante Marie sie mir plötzlich als ihre
- Töchter Lottchen und Hannchen vor. Denke Dir meinen Schrecken! Ganz
- verdutzt über meine so äußerst simpel aussehenden Cousinen folgte ich
- denselben nun in den Hof, der das Haus von drei Seiten umgab, und in
- dem ich wirklich, wie Tante Marie gesagt, in der Mitte einen mächtig
- breiten, glatten, wohlgepflegten und umzäumten Misthaufen erblickte,
- auf dem sich eine Masse Hühner, Enten und Gänse, Futter suchend,
- umhertrieben. Rings im Hofe, der von Wirthschaftsgebäuden umgeben
- ist, standen eine Menge Pflüge, Wagen und was weiß ich alles, und
- eine Anzahl Arbeiter waren dabei, Pferde an- und abzuschirren. Tante
- Marie lief sogleich zu diesen Leuten hinüber und gab einige Befehle,
- und wenige Minuten darauf rasselte ein Leiterwagen zum Thore hinaus,
- wahrscheinlich um meine unglücklichen Koffer von der Bahn zu holen.
-
- Als wir in das Haus eingetreten waren, umarmte Tante Marie mich noch
- einmal und begrüßte mich als lieben Gast. Auch meine Cousinen kamen
- jetzt ganz zutraulich herbei und nahmen mir Hut und Mäntelchen ab, mit
- höchst verwunderten Blicken meine Frisur und Toilette betrachtend,
- wie ich wohl merkte. Ich kam mir in meinem Anzuge, der doch nur
- eben modern und gewiß nicht übertrieben elegant ist, hier in dieser
- grenzenlos einfachen, ja ich möchte sagen, ärmlichen Umgebung aber
- auch selbst höchst eigenthümlich vor, wie eine Prinzessin im Kreise
- von schlichten Bürgersleuten. Und doch ist Tante Marie die Schwester
- meiner Mutter, also bin ich doch gar nicht vornehmer als meine
- Cousinen, wenn mein Papa auch ein hoher Staatsbeamter ist. Uebrigens
- sind diese meine Cousinen ganz hübsche Mädchen, nur freilich zu roth
- und zu gesund aussehend für unsere Cirkel. Das glatt gescheitelte
- Haar, wie es bekanntlich jetzt nur noch die Engel tragen, bei
- Charlotte dunkel, bei Hannchen weich und blond, umrahmt angenehme
- Züge, und die blauen Kornblumenaugen blicken ohne Falsch in die Welt
- hinein. Aber denke Dir, daß meine Cousinen in dunkeln Kattun gekleidet
- sind, wie ihn unsere Dienstleute tragen, ohne einen Schatten von
- Ueberwurf oder Garnierung, und helle, bunte Kattunschürzen liegen
- darüber zum Schutz dieser kostbaren Gewänder. Und welcher Schnitt von
- Taille und Aermel! Wahrhaft lächerlich einfach. Der Onkel, der jetzt
- rasch und laut in das Zimmer trat und uns wie ein rechter Biedermann
- begrüßte, ist der Typus eines schlichten Landmannes vom Kopf bis
- zur Zehe. Seine blonden, krausen Haarlocken und das feuerrothe
- Gesicht, aus dem die hellen, blauen Augen ordentlich spashaft bunt
- herausleuchten, werden von ein Paar mächtig breiten Schultern
- getragen, und der ganze prachtvolle Mann steht so fest und sicher mit
- seinen Füßen in den riesigen Stulpenstiefeln, als gehörte ihm die
- ganze Welt. Aber wenn Du denkst, das ist nun die ganze Familie, da
- irrst Du Dich sehr. Jene beiden Cousinen sind nur die Aeltesten einer
- ganzen Reihe von Kindern. Zuerst präsentirte sich noch ein halbreifer
- Backfisch in ausgewachsenen Kleidern, mit einem schüchternen Gesicht
- und linkischem Benehmen; dann ein Bursche von etwa 13 Jahren, der
- gerade zu den Ferien hier ist, ein richtiger Schlagtodt, und endlich
- kommen noch ein Mädel und zwei kleine Jungen, der Jüngste etwa 3-1/2
- Jahr alt. Und das ist alles roth und dick und kräftig und gesund,
- bald schwarz wie die Mutter, bald blond wie Papa, und lacht und
- schwatzt und läuft durcheinander, daß einem der Kopf schwirren möchte.
- Lieber Gott, wenn ich an meine beiden blassen, stillen Geschwister
- zu Hause denke, wie wird mir da! Die hätte Papa herschicken sollen,
- daß sie frisch und gesund hier werden, =ich= mag ja gar nicht solche
- unverschämt rothen Backen haben, wie Hannchen und Lottchen, das ist
- ja so schrecklich gewöhnlich. Nun ich denke, ich werde mich wohl
- davor hüten können. Aber freilich, diese Kost, welche hier täglich
- genossen wird, ist dazu angethan, den Körper robust und derb zu
- machen. Was wird hier alles aufgetragen! Von diesen Riesenschinken,
- diesen armstarken Würsten, diesen mächtigen Fleischstücken, welche
- hier geräuchert, gekocht und gebraten die Tafel möchten brechen
- machen, hast Du gar keine Idee. Und diese Butter, dieser Honig, diese
- Milch und Sahne und diese Fülle von Obst -- ich meine oft, ich bin
- im Lande Kanaan, und Onkel Bremer lacht immer über sein ganzes,
- hübsches Gesicht, wenn er mein Staunen über solche Fülle mit ansieht.
- Welche Ueberwindung kostet es da, nicht frisch drauf los zu schmausen,
- sondern an seine zierliche Figur zu denken, für welche solche Kost
- ewiger Ruin wäre. Denke Dir, wenn ich als derbe, plumpe, feuerrothe
- Landdirne mit dicker Taille und braunem Gesicht und Händen wieder zu
- Dir käme! Was würde wohl Baron L. dazu sagen? Und wie würde Lieutenant
- v. F. verächtlich sein bleiches Bärtchen drehen und mit einem hm, hm,
- ei wie Schade! seinen Augenkneifer eilig wieder herabfallen lassen,
- durch den er die ehemalige »Rosenknospe« bewundern wollte.
-
- Aber ich schreibe alles durcheinander und wollte Dir doch von dem
- Leben hier noch etwas erzählen. Den nächsten Tag, als Papa noch hier
- blieb, war das Treiben im Hause noch etwas festlich und aus dem
- Geleise gebracht, dann aber ging alles wieder seinen regelmäßigen
- Gang, gerade wie ein Uhrwerk, und da bin ich denn mitten hinein
- gefallen, ohne daß irgend Jemand sich in seinen täglichen Arbeiten
- stören läßt oder besondere Notiz von mir nimmt. Jedermann ist herzlich
- und freundlich gegen mich, wie man denn den ganzen Tag kein böses
- Wort hört, trotz der vielen Kinder. Aber ich fühle mich doch im
- höchsten Grade unbehaglich; denn was soll =ich= unter diesen Menschen,
- die den ganzen Tag vom frühesten Morgengrauen, (o mein Gott, =wie=
- entsetzlich früh!!) bis in die Nacht hinein nichts thun als arbeiten,
- arbeiten! Am ersten Tage meinte ich, man habe etwas Besonderes vor,
- daß alles so unablässig thätig war; aber nun merke ich wohl, man
- treibt es nie anders. Mir schwindelt ordentlich, wenn ich sehe, wie
- meine Cousinen immerfort nähen, stricken, kochen, plätten, im Hof und
- Garten, Küche und Keller wirthschaften, und die Tante an der Spitze;
- denn sie arbeitet wie ein Mann und hat die Wirthschaft und die
- Leute in fabelhafter Zucht und Ordnung. Man hat mir einen Einblick
- gegeben, wie alles im Hause eingetheilt ist und wie jeder seine Arbeit
- zugewiesen erhält. In dieser Woche hat Hannchen die Küche und Lottchen
- die Milchwirthschaft und die Nähereien, und selbst Martha, der
- Backfisch, hat sein Revier meist in der Kinderstube. In nächster Woche
- wechselt die Eintheilung wieder: Lottchen bekommt Hannchens Arbeit
- und umgekehrt Hannchen die Lottchens. Tante führt die Oberleitung
- und steht sogar oft dem Onkel bei; denn sie besitzt Kenntnisse und
- Verstand wie ein Landwirth. Sogar die kleinen Kinder helfen schon
- in ihrer Weise, indem sie ihre Sachen selbst aufräumen, sich unter
- einander beim Anziehen beistehen, im Garten oder der Küche kleine
- Dienste thun, kurz, wie kleine Sclaven schon ganz wacker ihre Kette
- nachschleppen. Du kannst denken, wie mir bei solchem Leben zu Muthe
- ist. Kennt man denn in diesem Hause keine besseren Beschäftigungen? Wo
- bleibt da Bildung und Sinn für edlere Dinge? Und von irgend welchem
- Vergnügen ist nie und nimmer die Rede. Heißt das Jugendglück, heißt
- das Lebensgenuß für ein junges Mädchen? O wie froh bin ich, daß ich
- anderes kennen gelernt, daß ich anders erzogen und aufgewachsen bin,
- als meine armen Cousinen, die mir schrecklich Leid thun würden, wenn
- sie nicht so äußerst zufrieden und froh in die Welt hinein blickten
- und nichts anderes wünschen. Aber wie ich es hier lange aushalten
- soll, das mag Gott wissen. Bedaure mich etwas, meine theure Franziska,
- und schreibe bald
-
- Deiner Frida.«
-
-
-Was Frida in großen Zügen ihrer Freundin mitgetheilt, das war
-allerdings Wahrheit. Der Geist, der dieses Haus beherrschte, war der
-Geist der Arbeit, und Jedermann schien sich dabei äußerst wohl zu
-fühlen. Frida freilich kam sich in dieser Welt unsäglich überflüssig
-vor. Ueberall war sie im Wege und fühlte sich einsam mitten unter
-den vielen Bewohnern des Hauses. Bisher war sie stets die Bewunderte
-und Tonangebende gewesen; ihre Freundinnen hatten ihr gehuldigt und
-geschmeichelt, der Vater alles gut und schön gefunden, was sie that,
-und ihr Wille wurde Gebot für das ganze Haus. Hier war sie ein Glied
-einer langen Kette, und niemand dachte daran, daß sie im Herzen
-andere Ansprüche machte. Der Vater hatte sie hergebracht, damit sie
-wie eine Tochter des Hauses in der Familie leben sollte, und wie eine
-solche wurde sie in dem Kreise aufgenommen und gehalten, gerade so
-und nicht anders, nur daß man eben keine Arbeiten von ihr verlangte.
-Aber Umstände machte man freilich auch nicht mit ihr. Ihr Zimmerchen
-lag neben dem von Charlotte und Hannchen. Es war eben so einfach,
-wie alles sonst im Hause, und Frida meinte zuerst, hier =könne= sie
-es nicht aushalten. Das verzärtelte Kind setzte zu Haus den Fuß auf
-weiche Teppiche, sowie sie das Bett verließ, und tausend zierliche
-und üppige Bequemlichkeiten umgaben sie, welche sie von jeher als
-etwas Selbstverständliches betrachtet hatte. Mit flinker Hand stand
-die Jungfer schon beim ersten Erwachen des jungen Dämchens bereit,
-ihre Dienste anzubieten, und ohne daß sie selbst es wußte war Frida
-ein unsäglich verwöhntes und verzärteltes Prinzeßchen geworden. Was
-Wunder, wenn ihr die so äußerst einfachen Zustände in dem Pächterhause
-als abschreckend und unerträglich vorkamen. Am ersten Abend hatten
-die Cousinen bereitwillig ihre Dienste angeboten, als Frida sich
-auskleidete; war es ja doch für die einfachen Mädchen ein wahres Fest,
-Frida's zierliche und elegante Toilette so Stück für Stück in der Hand
-mustern und bewundern zu können. Achtlos warf Frida all die kostbaren
-Dinge auf Stühlen und Fußboden umher, denn sie war nicht daran gewöhnt,
-selbst etwas aufzuräumen. Die Cousinen flogen eilfertig hierhin und
-dorthin zu ihrer Bedienung, räumten und ordneten, falteten und
-glätteten mit geschäftigen Händen, und Frida nahm ruhig alles hin, als
-gehöre sich das so. Endlich löste sie ihr reiches, blondes Haar auf,
-das die Jungfer ihr vor dem Schlafengehen stets sorgfältig kämmte und
-bürstete. Beim Losstecken desselben fielen einige Locken und Toupé's
-zur Erde, welche den hohen modernen Aufbau der Frisur noch höher und
-reicher gemacht hatten, wie es bei den jungen Modedamen so Sitte ist.
-Laut auflachend hob Hannchen diese Trophäen der Eitelkeit empor und
-hielt sie staunend in den Händen.
-
-»Aber Frida, warum packst du dir denn solch' falsches Zeug auf deinen
-Kopf?« rief sie verwundert. »Du hast ja so schönes Haar; das fremde
-möchte ich nicht tragen, wer weiß, wer das auf dem Kopfe gehabt hat!«
-Frida nahm ihr die Dinge verdrießlich aus der Hand und sagte: »Das
-verstehst du nicht; in der Stadt kleidet man sich eben wie die Mode es
-fordert. Mein eigenes Haar ist mir oft sogar im Wege, fremdes frisirt
-sich viel besser. Aber hier freilich scheint es mir unnütz, denn wer
-soll mich hier frisiren?« Aergerlich griff sie bei diesen Worten zum
-Kamm und fuhr sich hastig und ungeschickt durch das lange, dichte Haar,
-da sie in Abwesenheit ihrer Jungfer dies Geschäft selbst machen mußte.
-Da es ihr aber nicht gelang, warf sie den Kamm verdrießlich wieder hin
-und wollte das Haar ungekämmt aufstecken. Sie verfitzte es dabei jedoch
-so arg, daß Lottchen endlich zugriff und rief: »O das schöne Haar!
-Warum verwirrst du es denn so? Soll ich es dir auskämmen, Cousinchen?«
-
-Und flink huschte der Kamm bei den Worten schon durch das weiche Haar,
-was das junge Mädchen ruhig geschehen ließ.
-
-»Mein Gott, warum Papa nur nicht wollte, daß ich meine Jungfer
-mitnahm!« klagte Frida verstimmt, »wie soll ich denn mit meiner
-Toilette allein fertig werden?«
-
-»O wir helfen dir, liebe Cousine,« riefen die jungen Mädchen.
-
-»Aber habt ihr denn keine Jungfer, die euch anzieht?« fragte Frida
-erstaunt, und ein schallendes Gelächter antwortete ihr.
-
-»Eine Jungfer? Wir?« rief Lottchen belustigt. »Ja was sollten wir denn
-mit der? Wir machen alles selbst, und ich wüßte gar nicht wie spaßig
-ich mich dabei anstellen würde, wenn ich mich sollte in allen Stücken
-bedienen lassen. Seit wir erwachsen sind, Hannchen und ich, haben wir
-der Mutter alles abgenommen, im Hause und in der Wirthschaft. Vater hat
-einen sehr hohen Pachtzins zu zahlen, da müssen wir alle sparen helfen,
-und Gott hat uns ja gesunde Glieder gegeben, die arbeiten können.
-Unnütze Dienstleute kosten Geld; so haben wir jetzt auch für die
-Milchwirthschaft keine Mamsell mehr, sondern besorgen diese Geschäfte
-abwechselnd. Diese Woche bin ich an der Reihe, und wenn ich morgen früh
-um 3 Uhr aufstehe, um in den Kuhstall zu gehen, so erschrick nicht über
-die Störung; beim Melken muß ich dabei sein.«
-
-»Was, um drei willst du aufstehen?« rief Frida entsetzt. »Das ist ja
-fürchterlich! Bist du denn da nicht den ganzen Tag nervös und müde?«
-
-»Nervös niemals, ich weiß gar nicht, was das ist,« sagte Lottchen.
-»Müde jedoch bin ich natürlich oft rechtschaffen; aber das schadet
-nichts, da schläft sich's um so schöner. Und wenn man seine Arbeit
-hat, vergißt man die Müdigkeit. Ich denke, du wirst schon Gefallen am
-Landleben bekommen, und ich freue mich darauf, dir unsere sauberen
-Ställe zu zeigen mit dem schmucken Vieh; die schönen Milchkeller mit
-den vielen Milchschüsseln und Butterfässern und dann die anderen
-Wirthschaftsräume alle -- o ich sage dir, es ist eine wahre Lust, darin
-thätig zu sein. Um keinen Preis möchte ich unser Leben mit einem in der
-Stadt vertauschen, obwohl ich gar keine rechte Vorstellung habe, was
-ihr in der Stadt eigentlich treibt ohne Vieh und ohne Landwirthschaft.«
-
-Frida verzog bei diesen Worten ihr Mündchen etwas höhnisch und
-zuckte mit den Schultern. »Jeder lobt sich seine Existenz als die
-Beste,« sagte sie herbe. »Für ein Leben, wie ihr es führt, müßte ich
-meinerseits nun wieder danken. Ich stürbe in den ersten acht Tagen
-dabei.«
-
-Die Cousinen lachten herzlich und versicherten, es käme nur auf
-Gewöhnung an; Frida aber ließ sich innerlich schaudernd über solche
-Gewöhnung von Lottchen das gestickte Nachthemd überwerfen, und die
-Bewunderung über dies Kleidungsstück, das den jungen Mädchen etwas ganz
-Neues war, führte die Gedanken wieder auf andere Dinge. Das zierliche
-Nachthäubchen barg die vollen Flechten kaum, welche Hannchen bewundernd
-darunter schob, und die feinen, seidenen Pantöffelchen brachten
-Lottchen ganz in Ekstase.
-
-»Du bist wie eine kleine Prinzessin im Märchen,« rief sie entzückt.
-»Solche reizenden Sachen habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen!
-Aber ich möchte sie nicht an mir haben; ich würde mich immer ängstigen,
-etwas davon zu zerreißen.«
-
-»Nun was schadet das?« sagte Frida müde, »ewig kann man das Zeug doch
-nicht tragen, dann kauft man anderes.«
-
-»Wir können das nicht, wir müssen sparsam sein und unsere Sachen lange
-tragen, sagt die Mutter,« erwiederte Hannchen. »Viel Kinder kosten
-Geld, für unsere Garderobe darf nicht viel ausgegeben werden. Aber bei
-unserm Leben hier auf dem Lande denkt auch niemand an Putz und Staat,
-das entbehren wir nie.«
-
-»Aber kommt ihr denn nie in Gesellschaft oder auf Bälle und in
-Concerte?« sagte Frida.
-
-»In Gesellschaft? O ja, zuweilen,« rief Lottchen stolz. »Pastor Werders
-und unsere Nachbarn in Hermsbach besuchen wir häufig, besonders an
-Festtagen, und das ist dann prachtvoll. Ich freue mich schon darauf,
-dich ihnen vorzustellen. Manchmal wird dann auch wohl ein Tänzchen
-gemacht, besonders wenn die Söhne in den Ferien da sind, jedoch wir
-Mädchen tanzen auch unter einander. Am schönsten aber ist's, wenn wir
-Geschwister unter uns sind, und Vater seine drei alten Tänze aufspielt,
-nach denen wir in der großen Unterstube tanzen. Du sollst nur einmal
-dies Vergnügen der Kinder mit ansehen; sogar unsere Mutter dreht sich
-da mit uns herum, wir lassen ihr keine Ruhe. Und nun kommt bald Kirmes,
-da tanzt das ganze Dorf und die ganze Umgegend unter unsern Linden. Das
-ist ein Fest, sage ich dir, wie du es dir gar nicht vorstellen kannst.
-Unser Großknecht ist ein prachtvoller Tänzer; du sollst sehen, mit
-ihm tanzt sich's so schön, wie mit deinem trefflichsten Cavalier im
-Tanzsaal.«
-
-»Ich soll mit euren Knechten tanzen?« rief Frida erschrocken, »thut ihr
-denn das?«
-
-»Nun natürlich, das ist ja eine Ehre, die wir den Leuten nicht
-abschlagen dürfen,« entgegnete Hannchen. »Wir würden es aber auch
-selbst gar nicht entbehren mögen; denn auf den Kirmestanz freuen wir
-uns schon das ganze Jahr, es ist gar zu lustig.«
-
-Frida schüttelte ungläubig den Kopf und war im Herzen außerordentlich
-indignirt über den Geschmack ihrer Cousinen. Mit den Knechten aber
-je zu tanzen, dazu sollte sie sicher nichts bewegen. Es wäre ja eine
-Schmach für das feine Fräulein, das sich bisher nur in aristokratischen
-Kreisen bewegt hatte. Aber sie behielt ihre Gedanken für sich und sagte
-ihren Cousinen gute Nacht, denn sie war müde von all dem Neuen, was sie
-umgab.
-
-Als sie am andern Tage erwachte, hörte sie schon viel reges Leben im
-Hause, und doch war es für Frida noch eine so frühe Stunde, daß sie
-im Vaterhause sich noch ruhig auf die andere Seite gelegt hätte, um
-weiter zu schlafen. Hier jedoch fing der Tag früher an, wie sie merkte,
-und seufzend wickelte sie sich aus dem schweren Federbett heraus, das
-sie am Abend aufgenommen hatte. Aber mit welchem Seufzer dachte sie
-nun daran, daß sie sich ganz allein anziehen müsse und keine helfende
-Jungfer zur Seite habe. Jetzt erst merkte sie, wie verwöhnt sie war,
-und wie Recht ihre Stiefmutter hatte, welche ihr freundlich gerathen,
-ihren Anzug möglichst selbst zu besorgen und sich nicht von Anderen
-abhängig zu machen, was oft sehr unbequem werden könne. Ach jetzt =war=
-es entsetzlich unbequem, sie sah es wohl ein; denn fast weinend vor
-Verdruß gerieth sie mit Kämmen und Bürsten, Bändern und Haken und allen
-andern Gegenständen der Toilette in Krieg und Feindschaft. Endlich
-schaute Hannchens frisches Gesicht zur Thür herein.
-
-»Gut geschlafen, Cousinchen?« rief sie fröhlich.
-
-»Danke, leidlich,« erwiederte Frida verstimmt.
-
-»Ich will dir bei der Toilette ein Bischen helfen, wenn du erlaubst,«
-fuhr Hannchen freundlich fort und griff gleich nach all den
-Gegenständen, welchen Frida Urfehde geschworen hatte. Aber freilich die
-Toilette einer eleganten Stadtdame war für Hannchen ein Buch mit sieben
-Siegeln. Fragend hob sie bald dies, bald jenes empor, dessen Zweck ihr
-fremd war, vor allem aber wußte sie mit den Chignons und Locken, welche
-Frida's Haarputz vervollständigen sollten, absolut nichts anzufangen.
-
-»Wirf die Dinger in den Kasten, was willst du hier damit!« rief sie
-endlich, und Frida wußte auch keinen andern Rath. Dann schlang Hannchen
-das schöne Haar ihrer Cousine in zwei lange, glatte Flechten, wand
-dieselben einfach um deren Kopf und führte Frida nun triumphirend vor
-den Spiegel.
-
-»Du siehst zum Verlieben hübsch aus mit diesem glatten Köpfchen!« rief
-Hannchen bewundernd; Frida aber mochte ihr Spiegelbild kaum eines
-Blickes würdigen, denn sie fand sich abscheulich. Was kam hier jedoch
-darauf an, wie sie aussah? Für diese altmodische, einfache Familie war
-sie gut genug, und selbst im Morgenrock noch zu elegant, und von ihren
-städtischen Bekannten sah sie ja zum Glück niemand in solchem Aufzuge.
-
-Mit wahrem Hohn dachte sie jetzt an all die zierlichen, eleganten
-Anzüge, welche ihre hohen Koffer bargen, und die sie gar nicht
-auspacken mochte. Die waren freilich hier von Ueberfluß, das wußte sie
-jetzt und bedachte dies mit stillem Seufzen. Sie wählte unter all den
-schönen Dingen ein einfaches Kleid aus, das freilich immer noch viel
-zu elegant für dies Haus war, und folgte dann Hannchen zu den übrigen
-Gliedern der Familie.
-
-Ihr Vater saß ganz behaglich mit Onkel Bremer in der Sophaecke und
-rauchte sein Pfeifchen, und Frida hörte voll Staunen, daß er schon seit
-zwei Stunden in Feld und Wald mit dem Schwager umhergestrichen war.
-Lächelnd nickte er seinem Töchterchen zu und rief: »Sieh da, Frida, wie
-schmuck und nett du heut aussiehst. Diese glatten Zöpfe sind hübscher
-als deine hohe städtische Frisur, das gefällt mir gut.«
-
-Frida erröthete und Hannchen blickte triumphirend auf ihr Werk.
-Dann gingen die jungen Mädchen zum Frühstück, mit dem man auf Frida
-gewartet hatte, und alles begrüßte das neue Glied des Hauses mit einem
-fröhlichen »guten Morgen!«
-
-Es war ein guter Geist, der in diesem Hause lebte, das sah und empfand
-Frida gar bald, und trotz allem, was ihr hier unerträglich erschien,
-fühlte sie sich durch den Zauber dieses Geistes schon in kurzer Zeit
-gefesselt. Wie lebendig und laut es auch oft um sie her war, nie hörte
-sie unfreundliche oder lieblose Worte, und selbst die unbändigen,
-kleinen Knaben gehorchten schnell und ohne Murren, wenn die Eltern
-oder die älteren Geschwister sie zurechtwiesen. Besonders schön
-aber war das Verhältniß zwischen den erwachsenen Töchtern und ihrer
-Mutter, und mit tiefer Beschämung gedachte Frida ihres Betragens im
-Vaterhause, wenn sie sah, mit welcher Verehrung und Liebe, welcher
-dienstfertigen Aufmerksamkeit Charlotte und Hannchen den Wünschen der
-Mutter entgegen kamen, und wie dankbar sie jede kleine Zurechtweisung
-aufnahmen. »Ja, es ist ihre rechte Mutter, mit einer Stiefmutter wäre
-es gewiß auch anders,« seufzte Frida wohl im Stillen, um sich selbst zu
-entschuldigen; daß sie sich aber auch gegen ihren Vater oft unartig und
-launisch betrug, obwohl es ihr »rechter Vater« war, das mochte sie sich
-kaum eingestehen.
-
-Schon kurze Zeit nach ihrem Eintritte in das Haus ihrer Verwandten
-beklagte sich Frida bitter gegen Tante Marie über das Leid, das Papa
-ihr angethan, indem er wieder geheirathet hatte. Aber voll Verwunderung
-hörte sie, daß Tante Marie diesen Schritt des Schwagers vollständig
-billigte.
-
-»Aber Tante, meine Mutter war ja doch deine Schwester; wie kannst du
-dich freuen, daß ihre Stelle durch eine Andere ersetzt worden ist?«
-rief Frida verletzt.
-
-»Gerade weil ich meine Schwester so innig liebte!« entgegnete Tante
-Marie. »Könntest du deine theure Mutter selbst fragen, meine liebe
-Frida, so würdest du hören, wie glücklich es sie machte, ihren Mann
-wieder ruhig und zufrieden, ihre armen, kleinen Kinder in treuer
-Obhut, und ihre heranwachsende Tochter an der Seite einer erfahrenen,
-liebevollen Freundin zu wissen. Ich bin keine sentimentale Natur,
-mein liebes Kind, welche sich nur unpraktischen Wünschen und Gefühlen
-hingiebt, und obwohl ich recht wohl weiß, daß einem Manne nichts in der
-Welt die erste Jugendliebe ersetzen kann, und die Wunde, welche der Tod
-ihm da schlägt, ewig bluten wird, so bin ich doch der Ansicht, es ist
-sowohl für ihn selbst wie für seine jungen Kinder ein Glück, wenn er
-ein treues, weibliches Wesen findet, das ihm in Herz und Haus wieder
-Glück und Frieden bringt. Und wie ich deine zweite Mutter kenne, so ist
-sie ganz dazu geschaffen, das schöne Amt, das Gott ihr anvertraut,
-treu zu erfüllen. Und auch du, meine liebe Frida, wirst dich mit dem
-Gedanken aussöhnen, das weiß ich sicher, so traurig du auch jetzt den
-Kopf dazu schüttelst. Wäre Gertrud jung und unerfahren, so würde ich um
-deinetwillen die Wahl deines Vaters mißbilligt haben; denn einer fast
-erwachsenen Tochter muß der Vater keine junge Stiefmutter bringen, das
-thut nimmer gut aus tausend Gründen. Aber Gertrud könnte den Jahren
-nach ja deine eigne Mutter sein, und sie hat so viel Trübes im Leben
-erfahren, daß sie gereiften und ernsten Sinnes zu euch kommt. Vertraue
-ihr nur getrost, mein liebes Kind; du kannst keine bessere Freundin
-erhalten, als dein Vater dir in dieser zweiten Mutter gegeben hat.«
-
-Frida wagte auf diese Worte nichts zu entgegnen, denn sie fühlte
-wohl, daß es unlautre Gründe waren, welche sie gegen ihre Stiefmutter
-einnahmen, und daß besonders die Beschränkung ihrer Launen und ihres
-übermäßig freien Willens sie so dauernd empörte. Sie hatte gehofft,
-an der Schwester ihrer Mutter eine Bundesgenossin zu finden, welche
-völlig so eingenommen gegen Gertrud war, als sie selbst. Da sie nun
-aber sah, wie anders Tante Marie den Schritt des Vaters beurtheilte,
-nahm sie sich vor, solch Gespräch nie wieder in Anregung zu bringen,
-sondern ihren Verdruß im Herzen zu verschließen; verstanden wurde
-sie ja doch nicht. Auch gegen ihre Cousinen mochte sie über diesen
-Gegenstand nicht sprechen, sie kannten ja die Verhältnisse nicht. Wie
-anders freilich war das zu Haus, wo sie gegen ihre Freundinnen ihr Herz
-ausschütten konnte und bei diesen zehnfaches Echo fand! Wie wurde sie
-von diesen bedauert wegen des Unrechtes, das ihr geschehen, und wie
-bestärkten sie diese klugen, jungen Mädchen in der Opposition, welche
-sie der unwillkommnen Stiefmutter entgegen zu bringen entschlossen war.
-Im Kreise dieser jungen Backfischchen hatte Frida stets neue Nahrung
-für ihre Gefühle gesucht und gefunden, und wenn Gertruds sanfte,
-liebevolle Weise oft schon auf Frida's Herz ihren günstigen Einfluß
-geübt, dann waren es die leidenschaftlichen Rathschläge und Ansichten
-dieser Freundinnen, und besonders Franziska's, welche alles wieder
-verdarben. Gertrud ahnte das wohl, denn sie kannte einige dieser jungen
-Mädchen; aber dennoch wagte sie nicht, Frida den Umgang mit denselben
-zu verbieten, die Sache wäre dadurch nur schlimmer geworden.
-
-Hier nun im Hause der Tante machte das friedliche Leben bald seine
-Rechte auf das junge Mädchen geltend, und da jene leidenschaftlichen
-Empfindungen nirgends Anklang und Nahrung fanden, wurden sie stiller
-und stiller, und endlich dachte Frida gar nicht mehr mit jener
-Abneigung an Gertrud, welche sie bis dahin erfüllt hatte. Die Briefe
-aus der Heimath waren Boten der Freude; das Vaterhaus strahlte aus
-der Ferne bald wieder in freundlichem Glanze zu ihr herüber, und der
-Gedanke, bei ihrer Rückkehr wieder in jenes verhaßte Verhältniß zur
-Stiefmutter einzutreten, nahm mehr und mehr eine andere Färbung an, je
-länger Frida vom Hause fort war.
-
-Als am ersten Tage gleich früh Morgens alles an die Arbeit eilte,
-wie es in diesem Hause Sitte war, sagte Tante Marie in ihrer
-schlichten Weise zu Frida: »Nun, mein liebes Töchterchen, da du ganz
-als Familienglied und Kind des Hauses bei uns sein sollst, versteht
-es sich auch, daß wir keine Umstände mit dir machen. Jeder geht an
-seine Geschäfte wie alle Tage. Charlotte hat heut die Küche unter
-ihrer Leitung, Hannchen ist seit dem frühen Morgen schon in der
-Milchwirthschaft beschäftigt, Martha besorgt soeben die Hühner und dann
-nimmt sie sich der Kleinen an, während ich mit Hermann im Keller Bier
-auf Flaschen füllen will. Magst du einem von uns Gesellschaft leisten,
-so soll es uns lieb sein; willst du aber lieber lesen oder musiciren,
-oder dich im Garten ergehen, so findest du hier Bücher und Noten und
-manch hübsches Plätzchen draußen im Freien. Ich will dir die Kinder zur
-Gesellschaft schicken, wenn Martha ihnen Urlaub giebt; denn bei ihr
-haben sie Schule. Das Mädel ist ein geborner Schulmeister, sage ich
-dir.«
-
-Frida zog es vor, im Zimmer bei Büchern und Clavier zu bleiben, und so
-verließ sie die Tante, um den tausend Geschäften nachzugehen, welche
-ihrer harrten. Das junge Mädchen sah sich nun allein mitten unter
-all den vielen thätigen Menschen, welche sie umgaben und kam sich
-unendlich überflüssig in diesem Hause vor. Sie ergriff ein Buch und
-las ein Wenig; aber ihre Gedanken flogen davon fort, bald zurück in
-die Heimath, bald den Stimmen nach, welche sie hier und dort hörte.
-Dann versuchte sie die Noten, welche auf dem Clavier lagen; aber sie
-fand dieselben altmodisch und langweilig und das Instrument gar zu
-klanglos. Es war ja ein Jammer, daß sie ihre Uebungen auf solchem
-»Rumpelkasten« halten sollte; zu Hause hatte sie einen so prachtvollen
-Flügel von Papa erhalten. Sie stand ärgerlich auf und suchte andere
-Unterhaltung; aber alles mißfiel ihr. Ein Gefühl von Verdruß überkam
-sie mehr und mehr, daß niemand sich um sie bekümmerte, gerade als wäre
-sie gar nicht in der Welt! Und sie war doch Gast hier im Hause und an
-Vernachlässigungen überdies in keiner Weise gewöhnt. Was in aller Welt
-sollte sie hier anfangen, wo jeder nur an sich selbst dachte, jeder
-seiner Arbeit nachging, ohne danach zu fragen, ob sie sich indessen zu
-Tode langweilte? Das war ja wirklich nicht zu ertragen!
-
-Frida's Verstimmung wuchs von Minute zu Minute, bis endlich die
-Langeweile sie bewog, da man sich nicht um sie bekümmerte, selbst
-den ersten Schritt zu thun und zu ihren Cousinen zu gehen. Sehr
-verlockend freilich war es nicht, sie bei ihren Arbeiten aufzusuchen;
-aber was thut man nicht, um sich die Zeit zu vertreiben! Sie ging in
-die Kinderstube, wo Martha beschäftigt war, ihren beiden kleinen
-Geschwistern Lesestunde zu geben, während das dreijährige Brüderchen
-daneben spielte und sich aus Bausteinen einen Palast erbaute.
-
-Bei Frida's Eintritt blickten die Kinder von ihren Beschäftigungen auf,
-und die kleine Marie sprang dem jungen Mädchen fröhlich entgegen.
-
-»Wo steckt ihr denn nur alle?« sagte Frida gereizt, »und wo ist
-Hannchen und Charlotte geblieben?«
-
-»Ich dachte, du wärest bei ihnen, liebe Cousine,« entgegnete Martha
-etwas schüchtern. »Ich muß die Kinder einige Stunden beschäftigen;
-Hannchen ist im Milchkeller und Lottchen in der Küche. Sie denken wohl,
-da ist keine Unterhaltung für dich. Willst du bei uns bleiben?«
-
-»Ich werde Hannchen aufsuchen,« sagte Frida kurz; denn sie fand es
-schon bei ihren kleinen Geschwistern zu Hause unter ihrer Würde, sich
-mit diesen abzugeben, wie viel mehr noch diesen kleinen Bauernkindern
-gegenüber; denn etwas anderes als Bauernkinder waren die dicken,
-kleinen Posaunenengel doch wirklich nicht.
-
-»Mariechen, lauf und zeige Frida den Milchkeller!« rief Martha der
-kleinen Schwester zu, und diese ergriff zutraulich die Hand der Cousine
-und zog sie mit sich fort. Sie hatten den großen Hof zu durchschreiten,
-den allerlei Federvieh und anderes Gethier belebte. Es hatte in
-der Nacht geregnet, und in Folge davon war der Hof etwas unsauber,
-besonders in der Nähe einiger Ställe, an denen sie vorüber schritten.
-
-»O Gott, meine Stiefeln! Ist das ein Koth hier bei euch!« rief
-Frida und blickte voll Entsetzen auf ihre hellfarbigen, zierlichen
-Stiefelchen, welche in diesem unvermeidlichen Unrath schon nach
-wenig Minuten feucht und unsauber geworden waren. »Warte, ich hole
-dir Holzpantoffeln!« rief Marie und kam sogleich mit einem solchen
-Paar zurück, während ein zweites lustig an ihren eigenen, kleinen
-Füßen klapperte. Frida versuchte darin zu gehen, unmöglich! Sie ging
-wie auf Stelzen und fiel nun erst recht in die Pfützen. Aergerlich
-erreichte sie endlich ihr Ziel und kroch die Stufen hinab, welche in
-den Milchkeller führten. Hannchen kam ihr hier fröhlich entgegen, das
-Kleid aufgeschürzt und in der Hand einen breiten Löffel, mit dem sie
-soeben die Sahne von den zahllosen Milchschüsseln abrahmte, welche
-ringsum im Keller standen. Frida trippelte zaghaft näher, denn ihr
-war sehr unbehaglich zu Muthe. Für ihre dünnen, nassen Stiefelchen
-war dieser feuchte, von Milch hier und dort getränkte Fußboden noch
-schlimmer, als draußen der schmutzige Hof; auch umgab sie hier eine so
-kalte Kellerluft, es roch so unangenehm nach Milch und Molken, sie wäre
-am liebsten gleich wieder fortgelaufen. Hannchen ging ruhig weiter von
-Schüssel zu Schüssel, ohne sich in der Arbeit stören zu lassen, und
-das verdroß Frida auch. Was sollte sie hier, sie war ja nur im Wege
-und erkältete sich am Ende noch bis auf den Tod. Aber jetzt lächelte
-Hannchen ihr so freundlich zu und schien so erfreut, sie hier zu sehen,
-da durfte sie doch nicht gleich wieder davon laufen. So hob sie denn
-ihr helles, reichgarnirtes Kleid sorgfältig auf und trippelte hinter
-Hannchen drein von einer Milchsatte zur andern.
-
-»Was machst du nur eigentlich, Hannchen?« rief sie nach einer Weile,
-als sie sah, wie jene überall sorgfältig mit dem breiten Löffel die
-dicke Sahne von der geronnenen Milch abschöpfte. »Du verdirbst ja
-die ganze saure Milch! Wer soll die denn genießen, wenn du die Sahne
-herunternimmst?«
-
-Hannchen lachte herzlich und sagte: »Die Schweine, Cousinchen! Etwas
-bleibt zur Bereitung von Käse, das Uebrige wird Viehfutter. Auf den
-Tisch kommt solche abgerahmte Milch nicht, habe keine Furcht!«
-
-»Aber wer soll denn all die Sahne essen, die du da sammelst?« fragte
-Frida weiter.
-
-»Essen? Gott bewahre, das wäre schön!« rief Hannchen. »Daraus soll ja
-die Butter für's ganze Haus gemacht werden.«
-
-»Die Butter? =Daraus= macht ihr Butter?« fragte Frida verwundert.
-
-»Nun ja, woraus denn sonst?« lachte Hannchen. »Komm und sieh dir das
-Buttern einmal mit an; du hast es wohl noch nie gesehen?«
-
-Frida folgte der Cousine in den Nebenraum, und hier sah sie mehrere
-hohe Butterfässer, welche von einigen derben Mägden in Bewegung gesetzt
-wurden. Das war für die kleine Stadtdame ein völlig neuer Anblick, und
-erstaunt sah sie dann, daß das Fett der Sahne sich bei der Bewegung
-im Faß von den Milch- und Wassertheilen trennte und sich zu kleinen
-Butterklümpchen verwandelte. Hannchen bot ihr ein Glas frischer
-Buttermilch an, welche aus dem Fasse gegossen wurde, und Frida genoß
-mit Vergnügen den unbekannten Trank, der ihr sehr mundete.
-
-»Heute Abend kostest du gewiß mit doppeltem Appetit von der Butter, die
-du hier entstehen sahst,« sagte Hannchen, auf die leckere, weiße Masse
-zeigend, welche nach und nach aus den Fässern wanderte. »Ueberhaupt
-denke ich, wenn du erst allerlei hier kennen gelernt hast, wirst du
-Geschmack an unserm Leben finden. Aber nun soll Mariechen dich ein
-Bischen umherführen, ich muß zu den Leuten!«
-
-Frida folgte der kleinen Marie etwas zaghaft nach dem Hofe, der ihr als
-ein äußerst unangenehmer Aufenthalt erschien. Aber die kleine Cousine
-ruhte nicht, bis sie dem jungen Mädchen all ihre Lieblinge gezeigt
-hatte, und kroch aus einem Stalle in den andern, bald hier eine Ziege
-an den Hörnern hervorziehend, bald dort weiße Kaninchen oder ein junges
-Lämmchen, oder besonders hübsche Hühner und Tauben. Frida kam sich vor
-wie ein Opferlamm und ließ sich geduldig von einem Stall zum andern,
-von einer Hütte oder einem Verschlag zum andern führen. Ihre schönen
-Stiefelchen waren ja doch einmal für ewig verdorben, und in welchen
-Zustand ihr feines Kleid auf dieser Wanderung gerieth, das sollte sie
-nicht länger beunruhigen; sie hatte doch wenigstens etwas Unterhaltung
-bei diesen Streifzügen.
-
-»Aber das Kälbchen von unserer guten Bleß mußt du noch sehen, Frida, es
-ist zu niedlich!« rief Mariechen, abermals eine Stallthür öffnend und
-das junge Mädchen hereinziehend.
-
-»Aber hier riecht es ja so schrecklich und ist zu fürchterlich
-schmutzig,« sagte Frida und blieb zögernd in der Thür des Kuhstalles
-stehen, ängstliche Blicke auf die Kühe heftend, welche brummend die
-dicken Köpfe nach ihr umdrehten. Sie mochte es nicht gestehen, daß sie
-sich vor den Thieren fürchtete, in deren nächster Nähe sie noch niemals
-gewesen war. »Sie werden dich stoßen, Mariechen, nimm dich in Acht!«
-rief Frida ängstlich, als sie sah, wie das kleine Mädchen furchtlos
-zwischen den schrecklichen Thieren umherkroch und sie mit ihren kleinen
-Händen zur Seite schob, um sich Platz zu dem Kälbchen zu machen, das
-neben einer hellbraunen Kuh in der Ecke am Boden lag.
-
-»Mich stoßen?« lachte die Kleine. »Das wäre schön, alte Bleß, nicht
-wahr? Wir kennen uns besser. Alle Kühe in den Ställen kennen mich,
-Frida, sie sind nicht böse. Komm doch einmal her und sieh dir das
-Kälbchen an; es hat einen weißen Stern auf der Stirn, gerade wie seine
-Mutter, die Bleß.«
-
-Aber Frida blieb ängstlich in der Thür stehen; sie hätte sich um die
-Welt nicht zwischen diesen Ungeheuern durchgedrängt, die sie alle mit
-ihren Hörnern zu bedrohen schienen.
-
-»Nein nein, es riecht so sehr schlecht im Stalle,« sagte sie und
-wollte eben zurücktreten, da wurde sie von außenher hineingedrängt.
-
-»O der Duft vom Kuhstall ist sehr gesund, Cousinchen, nur immer hinein
-und zier dich nicht!« rief eine etwas rauhe Stimme, und Frida sah
-Hermann neben sich, welcher, ein Paar hohe Stulpenstiefeln an den
-Füßen, sich an ihr vorbei drängte. Dann ging er pfeifend die Reihe
-entlang und klopfte bald dies, bald jenes der Thiere auf den glatten
-Schenkel, sie liebkosend und beim Namen nennend, und ein leises
-Brummen war die Antwort der gehörnten Freunde. Zögernd folgte Frida,
-indem sie sich ängstlich von den Thieren fern hielt, und sie seufzte
-froh auf, als sie die andere Seite erreicht hatte und durch die Thür
-hinausschlüpfen konnte.
-
-»Hast du unsere Ferkel schon gesehen, Cousinchen?« sagte Hermann jetzt.
-
-»Schweine?« rief Frida entsetzt. »Pfui, in den Schweinestall soll ich
-doch nicht etwa auch kriechen?«
-
-»Hoho,« lachte Hermann, »da ist nicht pfui zu sagen! Unsere Schweine
-wohnen höchst appetitlich; komm nur mit, es ist da eine ganz prächtige
-Gesellschaft beisammen.«
-
-Frida verzog den Mund spöttisch, folgte aber doch dem etwas ungalanten
-Vetter, der sie zu seinen Schützlingen führte. Aber sich abwendend
-hielt sie sich hier schnell das Tuch vor's Gesicht und wollte davon
-laufen. Hermann ergriff jedoch rasch ihre Hand und zog sie vorwärts.
-»Narrenspossen, ich lasse dich nicht fort, die Ferkelchen mußt du
-sehen, sie sind zu prachtvoll!« rief er eifrig. Dabei öffnete er
-einen der Bretterverschläge, und sogleich kamen eine ganze Menge
-kleiner, weißer Schweinchen herausgesprungen, welche quiekend um
-Frida herumliefen. Diese schrie laut auf vor Schrecken und Angst und
-klammerte sich mit den Händen an Hermanns Arm, besonders als das alte
-Mutterschwein jetzt grunzend mit seiner Schnauze ihre Füße berührte
-und sich nach ihren muntern Sprößlingen umschaute. Hermann lachte
-aus vollem Halse über Frida's Angst, und der alten Sau einen Tritt
-gebend, daß sie zur Seite fuhr, rief er lustig: »Bist du aber ein
-Hasenfuß, Cousinchen! Die Thiere thun dir alle nichts, das sind keine
-Löwen und Tiger. Sieh dir nur einmal die schmucken Ferkelchen an,
-hast du so was Niedliches dein Lebtag schon gesehen? Sind sie nicht
-weiß und lecker wie kleine Leberwürstchen? Und sieh nur, was sie für
-possirliche Sprünge machen und für allerliebste Schwänzchen haben! So
-ein Ferkelschwänzchen könntest du als Cravatte um den Hals tragen;
-so niedlich und zierlich kannst du keinen Knoten schlingen, sieh
-nur einmal!« Und rasch fing er eins der glatten, flinken Thiere und
-legte es Frida auf die Arme, das zierlich zu einer Schleife gewundene
-Schwänzchen hoch emporhebend.
-
-Frida warf das völlig haarlose, fette, kleine Wesen voll Grauen zur
-Erde und rief beleidigt: »Behalte dein Viehzeug für dich, ich danke
-bestens! Pfui, wie ich nun rieche und aussehe!«
-
-Hermann schlug mit seiner Reitpeitsche, die er in der Hand hielt,
-lachend unter die kleinen, quiekenden Thiere, daß sie über einander
-sprangen und sich kugelnd umher wälzten wie Gummibälle. »Bist du aber
-zimperlich!« rief er spottend. »Ihr Stadtleute seid komisches Volk.
-Einen Schweinsbraten, oder einen leckeren Schinken und frische Wurst
-verachtet ihr doch wahrlich nicht, obwohl es von diesen armen Thieren
-herstammt. Aber die Narrenspossen wirst du schon verlernen, hoffe ich,
-Fridelchen, ich werde dafür sorgen; dann nimmst du so ein Ferkel mit
-Entzücken in deine Arme und herzt es wie ein Schooßhündchen, das sollst
-du sehen.«
-
-Frida hatte jetzt aber genug. Sie war dem ungalanten Vetter böse und
-wandte ihm rasch davongehend, den Rücken. Dieser pfiff lustig hinter
-ihr drein in echter Jungensweise; dann sang er in äußerst unmelodischen
-Tönen und mit der Reitpeitsche in der Luft umherfuchtelnd: »Hans mit
-den Pluderhosen sprang über'n Kachelofen -- wutsch! war er weg.« Darauf
-verschwand er wieder in den Ställen, die zimperliche Cousine sich
-selbst überlassend.
-
-Frida wollte eben ihr Zimmer aufsuchen, um sich von allem Schmutz
-dieser ersten ländlichen Inspectionsreise zu befreien, da kam Charlotte
-vom Hause her und sagte: »Ich will meine Glucken besuchen, Frida,
-kommst du mit mir? Vier habe ich gesetzt, wir wollen einmal sehen, was
-sie machen.«
-
-Frida verstand von dieser Rede eben nur, daß die Reise nach dem
-Hühnerstalle gehen sollte, und da Federvieh ihr noch das Liebste von
-all dem Gethier auf dem Hofe war und ihr auch am wenigsten Furcht
-erregte, so begleitete sie Charlotten, denn schmutziger konnte sie
-ja doch jetzt nicht mehr werden, als sie nach diesen vorhergehenden
-Besuchen schon war.
-
-»Hier sind nur einige von unsern Glucken,« sagte Charlotte, einen
-engen, dunklen Stall betretend, in dem einige Hennen still in Körben
-saßen, die mit Stroh ausgefüllt waren. »Der eigentliche Brütstall steht
-unter Mutters Leitung, du mußt dich einmal von ihr mit dahin nehmen
-lassen. Das hier ist mein Privatbesitz; die Hennen schenkte mir der
-Herr Pastor an meinem Geburtstage, und er soll nun auch die ersten
-Küken davon haben.«
-
-Vorsichtig hob Charlotte nun eine Henne nach der andern empor und
-untersuchte die unter ihr liegenden Eier. »Die gelbe Kronenhenne sitzt
-am längsten, unter ihr scheint es mir lebendig zu werden,« sagte sie
-mit leuchtenden Augen und kniete neben derselben nieder »Sieh da, zwei
-Kleine sind glücklich an's Tageslicht gekommen!« rief sie freudig und
-zog Frida zu dem Korbe herab, von dem sie die laut gackernde Glucke
-an den Flügeln empor gehoben hatte. Zwei kleine Küken krabbelten
-da vergnüglich im Stroh herum, und das Eine hatte noch ein Stück
-Eierschale auf dem Kopfe.
-
-»Faß einmal das Ei da an, Frida, aber vorsichtig,« sagte Charlotte,
-auf eines der im Neste liegenden Eier zeigend. Frida blickte hin und
-nahm das Ei zögernd in die Hand, legte es aber sogleich wieder hin,
-einen leisen Ruf der Ueberraschung ausstoßend. Aus der Schale des Eies
-sah nämlich ein kleiner, spitzer Schnabel hervor, dem gleich darauf
-ein dunkles Köpfchen folgte, das sich durch die Eierschale hindurch
-arbeitete.
-
-Die Federchen lagen feucht und zusammengeklebt auf dem runden Köpfchen,
-die Aeugelchen blickten aber ganz vergnügt daraus hervor. Nach einer
-Weile hatte sich das ganze Körperchen aus der Schale herausgearbeitet
-und zappelte mit den Resten seines kleinen Gefängnisses in Gesellschaft
-der andern Kükel im Stroh umher. An einem daneben liegenden andern Ei
-war auch schon ein großer Sprung; man hörte leise picken und sah, wie
-von innen ein spitzes Schnäbelchen an der Umhüllung bohrte, um sie
-zu durchbrechen. Frida war außer sich vor Entzücken und wollte gar
-nicht fort von dem Korbe, denn so etwas Reizendes war ihr noch nie
-vorgekommen. Charlotte aber nahm die Küken heraus und setzte dann die
-Glucke vorsichtig wieder auf den Korb. »Länger darf ich das Nest nicht
-unzugedeckt lassen, die Eier werden sonst kalt,« sagte sie. »Die Kükel
-aber thun wir hier in den Federtopf, daß die Alte sie nicht zertritt,
-bis alle heraus sind.«
-
-Frida war glücklich wie ein Kind, als Charlotte ihr die kleinen
-Hühnchen in die Hand gab, damit sie dieselben in den Federtopf tragen
-sollte. Als Charlotte ihr aber sogar versprach, die Kükel der nächsten
-Glucke wollte sie ihr schenken, diese ersten müsse der Herr Pastor
-haben, da sprang sie jubelnd in dem engen Stalle umher und umarmte
-und küßte Charlotte vor Wonne. Kein kostbarer Schmuck und kein neues
-Kleid hätte dem jungen Mädchen eben jetzt solche Freude machen können,
-als der Besitz solch kleiner, spashafter Küken, wie diese, die leise
-piepsend in dem Federtopfe über einander kugelten.
-
-»Wann kommen denn wieder welche aus, Lottchen?« rief sie ungeduldig und
-lief von einem Brütkorbe zum andern.
-
-»In den nächsten Tagen, hoffe ich,« sagte Charlotte, »sie sitzen fast
-alle schon drei Wochen.«
-
-»Was, so lange muß solch arme Henne sitzen?« rief Frida, die Hände
-zusammenschlagend. »Das ist ja ganz schrecklich! Muß =die= sich
-langweilen!«
-
-Charlotte lachte herzlich. »Ja, und denke nur, das arme Thier frißt
-und säuft nicht einmal zu ihrer Unterhaltung, während sie brütet. Früh
-Morgens kommt sie vom Nest herunter und frißt sich satt, und dann
-fastet sie den ganzen übrigen Tag. Es ist keine Kleinigkeit für eine
-gute Glucke, ihre Eierchen sich auszubrüten.«
-
-Frida blickte ordentlich mit Respect nach den treuen, pflichteifrigen
-Hennen -- der Hühnerstall hatte ihr Herz gewonnen. Das war der erste
-Schritt zu ihrer Aussöhnung mit dem ihr so schrecklich erscheinenden
-Landleben, und täglich folgte sie Charlotten oder Tante Marie zu dem
-Federvieh, dessen Leben und Treiben ihr bald ganz bekannt war, und
-das sie mit regstem Interesse verfolgte. Die jungen, frisch aus dem
-Ei gekommenen Kükel aus dem Federtopf zu nehmen, sie dann auf den
-Tisch zu setzen und mit klein gehacktem Ei oder Hirse zu füttern,
-war ihre liebste Unterhaltung. Wenn dann die täppischen, kleinen
-Wesen ungeschickt über einander kugelten und vorn überfallend das
-Gleichgewicht verloren, sobald sie die Körnchen aufpicken wollten, dann
-jubelte Frida laut auf vor Vergnügen und konnte sich keine hübschere
-Unterhaltung denken. Und um Hühner- oder Enteneier zu suchen und
-einzusammeln, scheute sie bald keinen Stallgeruch und keine unsauberen
-Winkel mehr; ja selbst enge Treppen und Leitern kletterte sie eifrig
-hinauf, wenn sie irgend ein Huhn dort gackern hörte und es in Verdacht
-hatte, seine Eier verschleppt zu haben.
-
-»Unser Fridchen wird noch eine ganz leidenschaftliche Landwirthin
-werden, gebt Acht!« rief Onkel Bremer oft vergnügt, wenn er die
-hübsche Nichte in ihrem Eifer beobachtete, und Tante Marie behauptete
-ganz ernsthaft, noch nie solch reichen Eiersegen gehabt zu haben, als
-seitdem Frida die Hühner unter ihren Schutz genommen; sie besitze gewiß
-ein Geheimmittel, womit sie die Hühner bezaubere.
-
-Onkel und Tante waren überhaupt von einer Güte und Herzlichkeit gegen
-das verwöhnte Nichtchen, daß diese es nicht besser hätte wünschen
-können. Alle die kleinen Thorheiten des jungen Mädchens, das sich für
-etwas Besseres hielt und Hochmuth und Eitelkeit in Fülle kund gab,
-wurden von Allen im Hause ohne Empfindlichkeit und Verdruß hingenommen.
-An den einfachen, frischen Naturen Charlottens und Hannchens glitten
-Frida's Unliebenswürdigkeiten völlig ab, und bereitwillig spendeten
-sie der Cousine den Weihrauch, den diese beanspruchte, und bewunderten
-deren Talente und Kenntnisse, welche die ihren weit übertrafen. Aber
-wäre Frida weniger von sich eingenommen gewesen, sie hätte schon in den
-ersten Tagen ihres Landaufenthalts erkannt, was sie später recht wohl
-einsah: daß sie selbst trotz ihrer glänzenden Eigenschaften an wahrhaft
-innerer Bildung diesen ihren beiden Cousinen gar sehr nachstand. Je
-länger sie unter diesen Verwandten lebte, desto mehr dämmerte in ihrem
-Herzen diese Einsicht empor. Bald empfand sie, wie lächerlich und
-thöricht es sei, daß sie sich besser dünkte als Alle, und bald fing
-sie an, bescheidner aufzutreten und sich dem schlichten Wesen ihrer
-Umgebung mehr anzupassen, der alles fremd war, was Ueberhebung und
-Eitelkeit hieß. Wußten und verstanden doch ihre einfachen Cousinen
-tausend Dinge, von denen die kleine Stadtdame keine Idee hatte!
-Und wie fleißig waren sie und wie pflichttreu, was schafften diese
-Mädchen alles den Tag über, und wie nützlich waren sie dem Hauswesen,
-während sie selbst die Hände in den Schooß legte, oder ein Bischen
-las, schrieb oder musicirte, Dinge, mit denen sie nur sich selbst
-Nutzen brachte. In diesem Hause vergrub niemand das ihm anvertraute
-Pfund, sondern ein Jeder verwandte die ihm von Gott gegebenen Kräfte
-zum Wohle des Ganzen, still, anspruchslos und bescheiden, als etwas,
-das sich ganz von selbst verstand. Was war und wirkte sie dagegen,
-die sich so vortrefflich und so hoch über diesen Mädchen stehend
-erschien? Was hatte sie ihrem vereinsamten Vater, was ihren kleinen
-Geschwistern genützt, was dem Hause und allem, das ihr anvertraut
-gewesen? Hatte sie nicht immer nur an sich selbst und an ihr Behagen
-gedacht? Waren die Pflichten, die freilich allzufrüh auf ihre Schultern
-gelegt wurden, ihr nicht unerträglich gewesen, und hatte sie sich
-denselben nicht stets entzogen, so viel sie nur immer konnte? Ach sie
-mochte gar nicht daran denken, in welchem Zustande alles gewesen war,
-als ihr Vater die Stiefmutter in das Haus führte, -- was mußte diese
-von ihr gedacht haben? Und doch, welche Güte, welche Nachsicht hatte
-Gertrud ihr entgegengebracht; wie hatte sie stets alles zum Besten
-gekehrt, was Frida Thörichtes gethan, und wie hatte sie ihr diese Liebe
-gelohnt? -- Immer und immer kamen Frida solche Gedanken, wenn sie die
-thätigen, liebreichen und demüthigen Menschen beobachtete, von denen
-sie hier umgeben war. O es sollte anders werden! Auch sie wollte brav
-und tüchtig und ein brauchbares Glied ihres Hauses sein, wenn sie erst
-wieder bei den Eltern war, und Gertrud sollte sehen, daß sie auch gut
-und liebenswürdig sein könnte und dankbar für die ihr erwiesene Liebe.
-
-So übte schon in kurzer Zeit der Segen eines harmonisch schönen,
-thätigen Familienlebens seinen wohlthätigen Einfluß auf das junge
-Mädchen aus, und mit Freuden bemerkten ihre Eltern diesen Wechsel,
-welcher mehr und mehr in den Briefen erkennbar wurde, die Frida in
-die Heimath sandte. »Laßt mich ja noch eine Weile hier, ich muß noch
-so viel lernen und es gefällt mir so gut!« so schrieb sie schon nach
-einigen Wochen nach Hause, und nur zu gern kamen die Eltern diesem
-Wunsche entgegen.
-
-Und zu lernen hatte Frida allerdings noch so viel in dieser ihr völlig
-fremden Welt, daß sie noch Jahre hätte da bleiben können. Alles war ihr
-neu und unbekannt, die kleinen Kinder des Hauses wußten zehn Mal mehr
-Bescheid als sie, und ihre Unwissenheit, die sie stets offen bekannte,
-war häufig die Veranlassung zu großer Heiterkeit.
-
-»Marie, kannst du ein Paar schöne Enten gebrauchen, die der Förster
-geschossen hat?« fragte Onkel Bremer eines Tages seine Frau.
-
-»Geschossen?« rief Frida erstaunt, »warum schießt er denn die Enten vom
-Hofe weg, Onkel? Das kann er doch bequemer haben.«
-
-Ein schallendes Gelächter vom Onkel war die Antwort; Frida meinte,
-der Förster habe nicht wilde Enten geschossen, sondern die zahmen des
-Hofes. Sie hatte in der Stadt ja nie andere gesehen und ebensowenig
-gegessen.
-
-»O welch eine Menge schöner blauer Blumen!« rief Frida dann wieder,
-als sie an einem Flachsfelde vorbeiging und war höchst erstaunt, als
-sie erfuhr, daß ihr Leinenzeug eines Tages in Gestalt ebensolch blauer
-Blümchen auf dem Felde gestanden habe. Natürlich hatte sie auch keine
-Idee davon, wie die einzelnen Getreidesorten hießen, welche auf den
-Feldern standen, und der Onkel, der mit Leib und Seele Landwirth
-war, entsetzte sich vollständig, wenn Frida einen Spaziergang mit
-ihm machte, und den schönen Hafer bewunderte, wo sie Gerste vor sich
-sah, oder ein Roggenfeld für Weizen erklärte, und über die Unmasse
-schöner Kornblumen und Kornraden jubelte, welche unter dem Getreide
-standen und den Aerger des Landwirthes ausmachten. Von der Existenz
-und Anwendung landwirthschaftlicher Geräthschaften hatte sie ebenfalls
-keine Vorstellung. Eine Egge war für sie ein vollständiges Räthsel,
-und wie man eigentlich mit einem Pfluge arbeite, war ihr bisher auch
-noch ein Geheimniß gewesen. Als man Klee schnitt zum Futter für das
-Vieh, fragte sie ganz erstaunt, warum man die Thiere nicht lieber
-gleich in das Kleefeld trieb, damit sie sich da satt fressen, es sei
-doch viel einfacher; und verwundert sah sie zu, wie man den schmutzigen
-Dünger der Ställe sorgfältig aufbewahrte, statt das häßliche Zeug
-fortzuwerfen, da es so garstig roch. Das Waschen der Schafe vor der
-Schur erregte ihr höchstes Erstaunen, das Scheeren selbst aber konnte
-sie vor Mitleid mit den armen Thieren gar nicht mit ansehen.
-
-In ganz entschiedener Feindschaft aber lebte sie tagtäglich mit dem
-Rindvieh, das ihr gleich in den ersten Tagen solche Furcht erregte,
-und doch war es an jenem Tage im Stalle angebunden. Welcher Schrecken
-aber war es für das arme Stadtkind, wenn sie mitten durch eine Wiese
-schreiten mußte, auf der Kühe und Ochsen frei weideten. Allein und
-ohne ihre Cousinen hätte sie es nie gewagt; aber auch in Begleitung
-richtete sie verzweifelte Blicke auf die gehörnten Ungeheuer, welche
-gar nicht daran dachten, sie zu belästigen, sondern ruhig grasend
-die dicken Köpfe auf und ab senkten. Wenn am Abend die Heerden in
-das Dorf hereinzogen, ein wahres Fest für die ganze Dorfjugend, da
-flüchtete Frida gewöhnlich furchtsam in's Innere des Hauses, damit
-nur ja keiner ihrer persönlichen Feinde etwa einen Angriff auf sie
-wagte. Alle Neckereien des Onkels und der Cousinen, aller Spott des
-ungalanten Hermann, nichts konnte sie bewegen, ihre Furcht abzulegen,
-und als sie nun gar einmal die Bekanntschaft eines Stieres gemacht
-hatte, der seiner Heerde dumpf brüllend vorauf schritt, den mächtig
-breiten Kopf tief zur Erde gesenkt, und mit den blutunterlaufenen Augen
-böse und drohend zur Seite blickend, da war es vollends aus mit ihrer
-Herzhaftigkeit. Sie behauptete, lieber einem Löwen allein im Felde
-begegnen zu wollen, als solchem Ungeheuer, und der kleine Hirtenbube,
-der dies furchtbare Geschöpf mit seinem langen Stock regierte, war für
-sie ein größerer Held, als Blücher oder Ziethen.
-
-Der Onkel nahm Frida häufig mit sich hinaus auf''s Feld oder in Wald
-und Wiese, um ihre bodenlose Unkenntniß in allen landwirthschaftlichen
-Dingen einigermaßen zu heben. Da lernte sie denn nach und nach nicht
-nur die Früchte des Feldes, dessen Art der Bestellung und dergleichen
-mehr kennen, wovon ein Stadtkind in seinem Häusermeer keine Ahnung
-bekommt, sondern bald auch die einzelnen Bäume des Waldes, die Stimmen
-und die Gestalt der Vögel, die Insecten und Würmchen, welche Wald und
-Wiese beleben, und alle die tausend herrlichen Einzelheiten, welche
-sich dem beobachtenden Auge so unendlich mannigfaltig darstellen und
-den Genuß und die Freude an der schönen Gotteswelt erst ganz und voll
-machen. Es war ordentlich, als ob Frida jetzt erst recht sehen lernte,
-und der Onkel war ein trefflicher Lehrer, der mit Liebe und Sorgfalt
-beobachtete. Die Natur war seine Freundin gewesen von Kindheit an,
-und wenn er einerseits als tüchtiger Landwirth sich ihr praktisch in
-Dienst gestellt hatte, so versäumte er darüber doch nicht, auch für
-ihre schönen und idealen Seiten das Auge offen zu halten. Besonders
-für den Wald gewann Frida eine immer größere Vorliebe, je mehr sie an
-der Bildung von Stamm und Blättern die einzelnen Bäume von einander
-unterscheiden lernte. Buche und Eiche, Birke und Pappel, Erle und
-Esche, das alles waren für Frida bisher Bäume, von denen sie freilich
-gehört, und die sie auch wohl gesehen und gezeichnet hatte, die rechte
-Gestalt und Eigenthümlichkeit aber eines jeden Baumes, und wodurch
-man ihn schon von fern erkennen konnte, das lernte sie jetzt erst.
-Ihr Tannenbaum am Weihnachtsabend, der, wie sie jetzt lernte, eine
-Rothtanne oder Fichte war; da seine Nadeln nicht nach den Seiten,
-sondern rund um den Zweig herum standen, dieser war ihr fast allein
-der Bote aus dem fernen Walde gewesen. Wenn Frida sonst ja einmal
-in Gesellschaft ihrer Freundinnen eine Spazierfahrt in der Umgegend
-ihrer Stadt gemacht hatte und ein Stündchen in dem dortigen, schmalen
-Waldstrich verweilte, so gab es dann immer so viel mit den Freundinnen
-zu plaudern, so große Aufmerksamkeit auf ihre elegante Toilette zu
-verwenden, oder zierliche Gesellschaftsspiele vorzunehmen, daß sie über
-diesen Dingen alles andere vergaß, und es ihr gar nicht aufgefallen
-war, wie schön so ein Wald doch eigentlich sei. Sie begriff jetzt
-nicht, wie sie in der Stadt mitten unter lauter Häusern ohne ihre
-lieben Bäume und Wiesen und Felder sich so wohl befinden konnte, und
-Charlottes Worte am ersten Abend, worin sie das Landleben als das
-Schönste hingestellt hatte, was sie sich denken konnte, fing jetzt an,
-ihr verständlich zu werden.
-
-Bei solchen Spaziergängen, sowie bei dem Umhertreiben in Hof und Garten
-war Frida im steten Kampfe mit ihrer eleganten, zierlichen Toilette,
-welche für solches Landleben, wie sie es hier führte, vollständiger
-Unsinn war. An jeder Hecke blieb sie mit den dünnen Falbeln ihres
-Kleides hängen; jeder Busch trug ein Zeichen, wenn die elegante, junge
-Dame mit ihren Spitzen und Frangen und Stickereien hindurch gekrochen
-war, und nie kam sie nach Hause, ohne sich irgend etwas zerrissen,
-beschmutzt oder sonst verdorben zu haben. Die Cousinen schlüpften in
-ihren kurzen, einfachen Kleidern rasch und unbehindert überall durch,
-ohne den geringsten Schaden zu leiden, während Frida mit ihrer langen
-Schleppe und den dünnen, bauschigen Stoffen unsäglichen Aerger und
-tausend Mühe und Beschwerde hatte. Brachte sie dann solch schmutziges
-oder zerrissenes Kleid nach Hause, da hing sie es, wie sie immer
-gewöhnt war, ruhig fort, ohne daran zu denken, daß es wieder sauber
-und ganz werden mußte. Mit Verwunderung sah sie dann, daß Tante Marie
-oder eine der Cousinen sich des armen Kleidungstückes annahm und es
-bürstete und plättete, stopfte und nähte, bis es wieder in Ordnung war.
-Und nun gar die dünnen Waschkleider, die sie so gern im warmen Sommer
-trug! Zu Hause hatte die Wäscherin der jungen Dame solch zierlich
-Kunstwerk stets fix und fertig überliefert, und die Jungfer sorgte
-für die tägliche Herstellung des Anzuges. Hier aber waren es wieder
-die Hände von Tante und Cousinen, welche diese Aufgabe übernahmen
-und oft einen halben Vormittag damit zubrachten, eine einzige dieser
-luftigen Hüllen auf dem Plättbrete wieder in Stand zu setzen, und
-diese zierlichen Falbeln und Striche, diese Ueberwürfe und Frisuren
-zu plätten und zu kniffen, welche Frida oft binnen einer einzigen
-Stunde in unbrauchbaren Zustand versetzt hatte. Ein Gefühl von Scham,
-wie es das verzogne Kind nie gekannt, kam bei solchem Anblick über
-Frida. Sie wollte den Cousinen die Arbeit abnehmen; aber sie hatte
-ja keine Ahnung weder vom Waschen, noch Plätten, noch sonst einer
-der häuslichen Arbeiten, in denen diese jungen Mädchen Meisterinnen
-waren. Bei Frida's Entschuldigungen lachten sie und behaupteten, es sei
-ein großes Vergnügen, solche allerliebste Sachen unter den Händen zu
-haben, so gut sei es ihnen noch niemals geworden. Aber jetzt wünschte
-Frida nichts sehnlicher, als einfache, derbe Kleidung, mit der sie
-unbehindert umherlaufen konnte, ohne ihrer Umgebung so viel unnütze
-Arbeit zu bereiten. Eines Morgens hatte sie einen ganzen Koffer mit
-ihren unpraktischen, eleganten Kleidern gefüllt und bat den Onkel, den
-nach Hause zu senden. Die Mutter aber flehte sie an, ihr so schnell als
-möglich einige recht einfache, derbe Kleider zu schicken, sowie auch
-feste Lederstiefeln; denn ihr zierliches Stadtschuhwerk sei schon nach
-einigen Wochen in völlig unbrauchbarem Zustande.
-
-Und so wie Frida sich in diesen Dingen immer mehr ihrer Umgebung
-anpaßte, so auch in vielen andern. Manches, was ihr zu Hause als
-etwas Entwürdigendes erschienen war, und was man eben den Dienstboten
-überließ, das machte sie jetzt mit ihren eigenen, feinen Händchen
-selbst, ohne einen Anstoß daran zu nehmen; denn Charlotte und
-Hannchen, Martha und vor allem die Tante selbst, alle thaten ohne
-Zögern derartige Dinge. Wenn Frida sich das Kleid beschmutzt, Bänder
-und Haken abgerissen, oder die Schuhe bestäubt hatte, so litt sie es
-bald nicht mehr, daß Tante Marie Bürste oder Nadel für sie ergriff,
-oder Hannchen herbeieilte, die Schäden auszubessern. Fröhlich ließ sie
-selbst ihre Nadel durch die Stoffe fliegen und die Bürste über Schuhe
-und Kleider, ohne ihre Umgebung wie bisher zu bemühen, und bald fand
-sie auch Gefallen an allerlei häuslichen Arbeiten, in denen sie sich
-von den Cousinen unterweisen ließ. Zuweilen betrachtete sie dann wohl
-mit etwas sorglicher Miene ihre feinen Fingerchen, welche beim Kochen
-oder Plätten oder Früchte schälen bedenkliche Farben annahmen und rauhe
-Stellen zeigten. Aber lachend trösteten sie dann die Cousinen, und
-Frida selbst spottete endlich über ihre Eitelkeit, von der sie bisher
-tyrannisirt worden war, und in deren Banne sie gelegen hatte. Die
-Zeiten waren glücklich vorüber, in denen sie in Furcht und Angst vor
-der kräftigen Kost des Hauses gelebt hatte. Jetzt dachte sie nicht mehr
-daran, ob sie auch von den nahrhaften Gerichten, unter denen die Tische
-seufzten, wohl eine plumpe Taille oder zu gesunde Farben erhalten
-könne; ob auch ihre Hände verbrennen oder der Taint verderben werde,
-wenn sie ohne Handschuh hinauslief und sogar oft den schützenden Hut
-verschmähte. Tante Marie mußte sie jetzt sogar manchmal daran erinnern,
-sich der Sonne doch nicht zu sehr auszusetzen; denn Frida selbst vergaß
-häufig solche Sorgen, wenn sie sich auf der Wiese im frischen Heu
-lagerte, oder im Walde auf weichem Moosteppiche behaglich ihre Glieder
-streckte.
-
-»Papa wird mich gar nicht wieder erkennen!« rief sie oft lachend, wenn
-sie ihr frisches Gesicht im Spiegel sah, das jetzt seine kränkliche
-Blässe und die bläulichen Ringe unter den Augen verloren hatte. Was
-aber ihre zierlichen Freundinnen dazu sagen, und ob sie vielleicht
-die Näschen über die einst so elegante Frida rümpfen würden, wenn
-sie zurück kam, kräftig und blühend wie eine volle, rothe Rose, das
-kümmerte das junge Mädchen wenig mehr; denn von diesen Thorheiten war
-sie so ziemlich geheilt. Auch überflüssig fühlte sie sich jetzt nicht
-mehr im Hause, wie im Anfange; denn sie half, wo sie konnte: bald in
-Küche und Garten, bald in der Schul- oder Kinderstube, wie sie es von
-ihren Cousinen sah, und der Segen der Arbeit machte ihr Gemüth heiter
-und sorglos. Ist man ja doch nie glücklicher, als wenn man mit sich
-selbst zufrieden sein kann, und das konnte Frida jetzt wie noch nie
-zuvor in ihrem Leben. Eine große Befriedigung gewährte es ihr, daß
-sie Martha einigen Unterricht ertheilen konnte. Dies strebsame, junge
-Mädchen hatte große Lust am Lernen und doch im Dorfe selbst nicht
-viel Gelegenheit, und so unterrichtete Frida sie in neueren Sprachen,
-Musik und Zeichnen, worin diese vortreffliche Unterweisung erhalten
-hatte. Auch Hannchen und Charlotte nahmen Theil an diesem Unterricht,
-so viel ihre Zeit es eben erlaubte, und besonders die Musik vertrieb
-ihnen gemeinsam manche Stunde; denn die jungen Mädchen hatten helle,
-frische Stimmen, welche sich unter Frida's Anleitung ganz allerliebst
-entwickelten.
-
-So lebte Frida behaglich, fleißig und glücklich von Tag zu Tage und von
-Woche zu Woche, und je länger sie hier im Hause verweilte, desto lieber
-war sie dort. Die große Welt, in die sie wieder eintreten sollte,
-kehrte sie nach Hause zurück, und von der sie mit so schwerem Seufzer
-geschieden, sie hatte kaum halb noch den Reiz, den sie früher auf das
-Gemüth Frida's ausgeübt, und wirkliche Sehnsucht fühlte sie nur oft
-nach ihrem Vater und den Geschwistern, ja, sie gestand es sich kaum
-selbst, auch nach Gertrud. Nach ihr freilich mit dem immer lebhafteren
-Wunsche, wieder gut zu machen, was sie einst Thörichtes gethan, und zu
-zeigen, daß sie auch brav und gut sein könne und nicht nur das eitle,
-hochfahrende Mädchen von ehemals.
-
-Im Laufe der Zeit hatte Frida auch die andern Familien kennen gelernt,
-welche den Umgang der Familie Bremer bildeten, und wir kehren noch
-einmal zu den ersten Tagen zurück, welche Frida im Hause des Onkels
-verlebte und treten mit ihr in diesen Freundeskreis ein. Eines Morgens
-erschien in dem Wohnzimmer eine große, mächtige Männergestalt, deren
-frisches Gesicht von dichtem, weißen Haar umgeben war, und den man als
-den Herrn Pastor äußerst freudig begrüßte. Die kleinen Kinder hingen
-sich an seine langen Rockschöße, Hannchen schob ihm gleich Vaters
-großen Lehnstuhl herbei, und Onkel Bremer schüttelte ihm so gewaltig
-die große, breite Hand, daß sie ordentlich in ihren Gelenken krachte.
-Pastor Werder hatte ein breites, offnes Gesicht mit freundlichen,
-grauen Augen, und seine Art und Weise war so fröhlich, und mit jedem
-hatte er so viel Scherz und Neckereien, daß Frida ganz verwundert drein
-schaute; einen Landprediger hatte sie sich so ganz anders vorgestellt.
-Auch mit ihr fing er gleich ein heitres Gespräch an, und war so
-zutraulich und herzlich, als kenne er das junge Mädchen schon seit
-Jahren.
-
-»Nun, Kinderchen,« sagte er dann zu Hannchen und Charlotte, »Sonntag
-Nachmittag kommt mein Justus, da bitte ich mir aus, daß ihr euch hübsch
-macht und die Pfarre von oben bis unten umkehrt. Mein Lenchen hat schon
-alle Blumen im Garten zu riesigen Sträußen und Kränzen gebunden, und
-die Mutter eine Unmasse Kuchen gebacken, alle Tische liegen voll davon.
-Meine morgende Predigt rettete ich gerade vom Untergange, als sie
-eben zu Butterpapier benutzt und unter einen prächtigen Zuckerkuchen
-gebreitet werden sollte. Ich glaube, der Just bringt seine beiden
-Zöglinge und einen Freund mit, da soll's um so vergnügter werden. Ich
-denke ja, die Hermsbacher werden auch alle kommen und wohl noch der
-oder jener aus der Nachbarschaft. Da sieht unser schönes, kleines
-Mamsellchen hier doch auch einmal, daß man auf dem Dorfe vergnügt sein
-kann; denn Kinder, das bitte ich mir aus, bringt euch alle Taschen voll
-Fröhlichkeit mit zur Pfarre.«
-
-Diese Nachricht erregte große Freude. Justus war ebensosehr der
-Liebling aller, wie es sein Vater war, und ein Nachmittag im
-Pastorhause schien für jedermann ein Fest zu sein. Ein Sonntag auf
-dem Dorfe hat etwas gar Feierliches und Stilles, und als Frida am
-Vormittage ihre Cousinen und Onkel und Tante in die Kirche begleitete,
-stimmte die ganze Umgebung sie so festlich, wie es ihr an den
-Sonntagen im Vaterhause nie geschehen. Sie war ganz erstaunt, von
-dem alten, fröhlichen Geistlichen nun eine so gehaltvolle, schöne
-Predigt zu hören, welche tief zum Herzen sprach. Auch bemerkte sie,
-mit welch großer Andacht und Innigkeit die bäuerliche Gemeinde zu
-ihrem weißhaarigen Prediger emporblickte, und wie er von Jung und Alt
-geliebt und geehrt wurde. In der Stadt war Frida keine sehr eifrige
-Kirchgängerin gewesen; nur die Zeit ihrer Einsegnung machte eine
-Ausnahme. Aber auch von dieser schönen Zeit ward ein großer Theil
-durch Eitelkeiten und Thorheiten ausgefüllt, wie sie nur in so jungen
-Mädchenköpfen hausen können, denen keine ernste, liebevolle Mutter oder
-Freundin zur Seite steht, welche die Schlacken von dem edlen Metall
-sondert, das gerade in diesen ernsten Zeiten in die empfänglichen
-jungen Gemüther gelegt wird. Frida hatte eben niemand zur Seite,
-und so dachte sie bei den Vorbereitungen zu ihrer Confirmation eben
-so viel an den modernen Schnitt ihres neuen Kleides, an den schönen
-Schmuck und den Sammetpaletot, den Papa ihr geschenkt, und der die
-ihrer Freundinnen an Eleganz noch übertraf, als an die ernste, schöne
-Feier selbst. Diese bewegte dann ihr empfängliches Gemüth nichts desto
-weniger tief und innig und rief eine Fülle edler und guter Gedanken
-und Vorsätze in ihrer Seele wach. Kaum aber war diese ernste Zeit
-vorüber, so schlugen die Wellen des täglichen Lebens über ihrem Kopfe
-wieder zusammen; Rührung und gute Vorsätze klangen nur noch in leisen
-Accorden zu ihr herüber, und ohne gerade tadelnswerther zu sein, als
-hundert Andere ihres Alters, konnte man Frida doch durchaus kein
-musterhaftes junges Mädchen nennen. Aber als sie jetzt hier in der
-stillen Dorfkirche den Worten des alten Geistlichen lauschte, da zogen
-diese ernsten Gedanken auf's Neue durch ihre Seele. Eine Ahnung von
-dem, was ihr bisher gefehlt, schlich sich leise und unmerkbar in ihre
-Brust, und als sie die frommen, seelenvollen Blicke sah, mit denen ihre
-Cousinen an dem Antlitz ihres Seelsorgers hingen, da wußte sie, daß
-in diesen Gemüthern anderer Ernst und andere Frömmigkeit lebte, als
-jemals in ihrem eigenen. Aber noch lagen Herz und Sinn zu sehr in den
-Banden ihres bisherigen Lebens gefangen; noch mancher Tag gehörte dazu,
-ehe diese Einsicht ganz und voll in ihr wurde und noch manche Stunde
-stiller Andacht zu den Füßen des würdigen Geistlichen. Aber sie kam
-doch, und mit ihr eine Demuth und Bescheidenheit, wie man sie früher
-nie an dem jungen Mädchen gekannt hatte.
-
-»O Tante,« sagte sie eines Tages leise, als sie neben dieser das
-Gotteshaus verließ, »o warum bin ich nicht früher zu euch gekommen, ich
-wäre ein besseres Mädchen geworden!«
-
-Tante Marie drückte Frida's Hand voll Innigkeit und erwiederte sanft:
-»Zum Gutsein ist es keinen Tag zu spät, mein liebes Kind; wolle es nur
-ernstlich, dann kannst du's auch, dazu ist man nie zu alt.«
-
-»Ja Tante, wenn du mir hilfst und ihr Alle!« sagte Frida bewegt. Die
-Tante aber nickte ihr ernst lächelnd zu, und von dem Tage an war ohne
-weitere Worte ein Bund zwischen Frida und der Tante geschlossen, dessen
-Segen dem jungen Mädchen immer fühlbarer wurde, je länger sie in diesem
-Hause lebte.
-
-Aber kehren wir zu dem Feste zurück, zu dem Pastor Werder das ganze
-Bremer'sche Haus eingeladen hatte. Charlotte, Hannchen und Martha
-hatten sich »hübsch« gemacht, wie der Gastgeber es sich ausgebeten,
-das heißt, sie hatten saubere, helle Battistkleider angelegt, jedoch
-keinen anderen Schmuck, als den ihrer frischen, rothen Wangen und
-ihres sorglich gescheitelten Haares. Frida blickte betroffen auf
-diese so unendlich einfachen Toiletten. Sie selbst hatte einen ihrer
-elegantesten Anzüge gewählt, wie sie es bei festlichen Gelegenheiten
-zu thun pflegte. Nun aber kam sie sich höchst unpassend gekleidet
-vor, und sie wollte das kostbare Gewand wieder in den Kasten werfen.
-Die Cousinen jedoch litten das nicht, fanden sie allerliebst und
-behaupteten, Onkel Pastor sehe elegante Damen sehr gern. Da suchte
-Frida denn rasch aus der Ueberfülle von Bändern, Spitzen und Schleifen
-einige prächtige, farbige Schärpen aus, welche sie Hannchen und
-Lottchen um die Taille schlang; Martha steckte sie eine schöne Schleife
-vor die Brust, und die Cousinen mochten wollen oder nicht, sie mußten
-sich so schmücken lassen. Frida jubelte über ihren Einfall, und
-fröhlich zog die ganze Gesellschaft endlich dem Pfarrhause zu.
-
-Dies war ein großes, altes Gebäude mit weiten, etwas dunklen Räumen,
-durch dicht herumstehende Bäume noch düstrer gemacht. Aber Thüren und
-Fenster waren mit Blumen geschmückt, und auf der steinernen Außentreppe
-stand Pastor Werder mit den Seinen zum Empfang der Gäste. Die Pastorin,
-eine rasche, rüstige Frau mit lebhaften, dunklen Augen, lief den
-Ankommenden, ihre kleine Tochter Gretchen an der Hand, ungeduldig ein
-Stück entgegen, und ihr folgte die zierliche Gestalt ihrer älteren
-Tochter Helene, ein auffallend zartes, liebliches Mädchen mit vollem,
-dunklen Haar und schwärmerischen, braunen Augen. An der Seite des
-Pastors aber stand sein einziger Sohn, groß und schön und stattlich wie
-er selbst, nur daß die lang herabfallenden Locken des jungen Mannes
-von schöner hellbrauner Färbung und die Züge des Gesichtes frisch und
-jugendlich waren. Zwei Knaben von 13 und 14 Jahren, die Zöglinge Justus
-Werder's, und sein Freund, ein junger Arzt, begrüßten mit ihnen die
-Ankommenden als liebe, alte Freunde. Kaum aber hatte man sich die Hände
-geschüttelt und das Haus betreten, da rollte ein Wagen vor.
-
-»Das sind die Hermsbacher!« tönte es fröhlich, und abermals
-öffnete sich die gastliche Pforte. Herr und Frau von Helldorf, ein
-freundliches, behagliches Ehepaar, wurde im Triumph hereingeführt,
-und mit ihnen kam Sophie, des Gutsherrn Nichte, ein großes, blondes,
-aber sehr unscheinbares Mädchen. Ihnen folgten zwei junge Männer, sehr
-verschieden in ihrer Erscheinung. Walter, der Sohn des Gutsherrn, war
-stämmig und kräftig gebaut, und sein Gesicht trug den Stempel großer
-Güte und Milde; aber etwas Schüchternes, ja Linkisches that seiner
-sonst angenehmen Erscheinung einigen Abbruch. Sein Begleiter jedoch,
-der sich seit Kurzem als Volontair auf dem Gute aufhielt, besaß alle
-die Eigenschaften, welche einen jungen Mann zu einer hervortretend
-gewinnenden Erscheinung machen. Elegant in Manieren und Kleidung, schön
-an Gesicht und Gestalt, und angenehm in der Art und Weise zu sprechen
-und sich zu bewegen, machte er auf Jedermann einen äußerst günstigen
-Eindruck.
-
-Frida hatte mit stiller Verwunderung ihre Blicke in dem Kreise
-umhergeschickt, in dem sie sich hier befand; denn diese biedre, ja
-derbe Art und Weise, mit welcher die Freunde hier mit einander
-verkehrten, war für die feine, junge Dame etwas völlig Neues. Sie
-verglich soeben im Stillen diese derbe Redeweise, welche häufig mit
-plattdeutschen Worten vermischt war, und dies Händeschütteln und
-laute, ungenirte Wesen der Gäste mit den graziösen, feinen Formen
-der eleganten Welt, in der sie sich bis jetzt bewegt hatte. Da trat
-sie aus dem Nebenzimmer, in das sie für einige Augenblicke gegangen,
-wieder zu der Gesellschaft, und ihre Blicke fielen jetzt auf den jungen
-Volontair, welcher von den breiten, mecklenburger Schultern der andern
-Herren für sie bisher verdeckt worden war.
-
-Ein leiser Ausruf der Verwunderung entschlüpfte bei diesem Anblick
-ihren Lippen; tiefe Röthe überzog ihr Gesicht, und unwillkürlich
-trat sie einige Schritte vor. Herr von Gablenz, wie dieser junge
-Mann genannt wurde, war in seiner leichten, gewandten Manier von
-Einem zum Andern geschritten, indem er jeder der älteren Damen etwas
-Verbindliches sagte und sich soeben in sehr sichrer, anmuthiger Haltung
-dem Kreise der jungen Mädchen näherte, sein krauses, dunkles Bärtchen
-mit leisem Lächeln über den Finger drehend. Da erblickte er Frida.
-Höchstes Erstaunen in den Zügen hemmte er plötzlich den leichten
-Schritt, und etwas wie Schrecken oder Verdruß beschattete für einen
-Augenblick seine Züge. Aber auch nur für einen Augenblick. Im nächsten
-schon blitzte sein dunkles Auge hell auf, und das beglückteste Lächeln
-auf der Lippe trat er mit freudigem Gruß auf das junge Mädchen zu, das
-ihm zum Willkommen die Hand entgegenstreckte.
-
-»Mein gnädiges Fräulein, welche freudige Ueberraschung, Sie hier zu
-sehen!« sagte er halblaut und küßte Frida's bebende Hand, die er einen
-Augenblick in der seinen hielt und wie zum stillen Einverständniß
-leise drückte. Frida konnte ihrer freudigen Bewegung nur mit Mühe Herr
-werden; aber sie fühlte, wie nöthig es sei, daß sie ruhig blieb, und
-so sagte sie möglichst unbefangen, denn Hannchen trat eben zu ihnen:
-»Herr von Gablenz, ich freue mich sehr, Sie hier zu begrüßen. Sie haben
-ihre Freunde in B. so schnell verlassen, daß wir Alle nicht wußten,
-wohin Sie abgereist waren. Liebes Hannchen,« wandte sie sich dann
-unbefangen zu ihrer Cousine, »Herr von Gablenz ist ein Freund unsres
-Kreises in B., es ist eine große Ueberraschung für mich, ihn hier
-wieder zu sehen.«
-
-»Ein Glück, das ich mir nicht träumen ließ, mein gnädigstes Fräulein!«
-fuhr Herr von Gablenz fort und fügte ein so bedeutsames Lächeln hinzu,
-daß Frida sich schnell abwandte und Hannchens Aufmerksamkeit auf
-etwas anderes zu lenken suchte. Diese war aber weit davon entfernt,
-den wahren Sachverhalt zu ahnen, sondern drückte nur in ihrer sanften
-Weise ihre herzliche Befriedigung aus, daß Frida die Freude habe,
-einen Bekannten aus ihrer lieben Heimath wiederzusehen. Bald aber ließ
-sie die Beiden allein, die sich nun schnell in ein lebhaftes Gespräch
-vertieften. Als man hörte, daß Frida und Herr von Gablenz gute Bekannte
-seien, verwunderte sich auch niemand, daß sie den Tag über viel mit
-einander sprachen und verkehrten; was aber Frida fühlte und dachte,
-das mögen uns wieder einige Zeilen sagen, welche sie ihrer Freundin am
-Morgen nach diesem für sie so ereignißreichen Tage sandte.
-
-
- »Liebste, theuerste Franziska!
-
- Was habe ich Dir heute mitzutheilen! O Fränzchen, wie glücklich,
- wie selig bin ich, denke nur, ich habe =ihn= gesehen! Ja, staune
- immerhin, ich habe auch gestaunt, und im ersten Augenblicke meinte
- ich zu träumen, als seine schöne, edle Gestalt vor mir stand, und
- sein herrliches, dunkles Auge mich anschaute, mit dem bekannten, ach
- nur =mir= bekannten, strahlenden Blicke! O was so ein Blick alles
- sagen kann und so ein Lächeln, wie es bei meinem Anblick um seinen
- Mund schwebte! Ich hätte jubeln, aufjauchzen mögen vor Wonne, und
- doch durfte ich es nicht, mußte stumm und still mein Glück im Herzen
- verschließen, damit niemand es ahnte; ja ich durfte selbst den süßen
- Händedruck nicht erwiedern, mit dem er mich begrüßte, denn meiner
- Cousine Augen ruhten verwundert auf uns. Aber wenn wir auch den
- ganzen Tag nur gleichgültige Dinge mit einander gesprochen haben, was
- schadet es, wir sind uns doch wieder nah', ich kann doch wieder ab und
- zu dieselbe Luft mit ihm einathmen; denn ich werde ihn wiedersehen,
- hoffentlich oft und lange. Er ist als Volontair für einige Zeit hier
- in der Nähe auf einem der Güter, und er sagte mir zur Entschuldigung
- für seine schnelle Abreise, die Sache habe sich so rasch gemacht,
- und sein Aufenthalt auf Hermsbach sei keineswegs eine so fest
- abgeschlossene Sache, daß er davon gegen uns im Voraus hätte sprechen
- mögen. Ach für mich bedurfte es ja dieser Entschuldigungen nicht, mir
- genügte damals das Schreckliche: er war fort; aber die Wonne, ihn nun
- hier wieder gefunden zu haben, wiegt alles auf. Nun will ich gern in
- meines Onkels Hause bleiben, so lange sie mich behalten mögen, nun
- sehe ich =ihn= doch zuweilen, das läßt alle Entbehrungen und alles
- Unbehagen vergessen, das ich dort zu ertragen habe. O wie er dasteht
- unter diesen derben, massigen, mecklenburger Gestalten! Wie ein Prinz
- im Märchen! Ich würde mich nicht wundern, wenn eine goldene Krone
- in seinen glänzenden, schwarzen Locken blitzte; denn wie ein Fürst
- schreitet er unter diesen derben, simplen Leuten hier einher, und
- in der That scheint auch alles ihm zu huldigen und das Uebergewicht
- seiner geistigen wie körperlichen Gaben anzuerkennen. Die alten Damen
- werden ordentlich wieder jung, wenn er ihnen in seiner anmuthigen
- Weise den Hof macht, was ihnen von den hiesigen hölzernen, jungen
- Herren nicht geboten wird. Und nun gar die jungen! Sie hängen alle
- mit wahrhaft schwärmerischen Blicken an ihm, wie an einem Zauberer,
- und selbst meine beiden schlichten, blöden Cousinen können ihre
- Kornblumenaugen nicht von ihm abwenden, wenn er in ihre Nähe kommt.
- Die kleine, reizende Pastorentochter ist ganz bestimmt schrecklich
- in ihn verliebt, oder ich müßte mich wenig auf dergleichen Dinge
- verstehen. Das Spashafteste aber ist die Schwärmerei eines großen,
- blassen Mädchens, die über die erste Blüthe hinaus ist, wenn sie
- überhaupt je eine hatte. Es ist die Nichte des Herrn von Helldorf, in
- dessen Hause Gablenz sich aufhält, und die, wie ich höre, sehr reich
- sein soll. Das stete Beisammensein mit dem jungen Volontair scheint
- das arme Wesen ganz bezaubert und verwirrt zu haben. Es ist wahrhaft
- jämmerlich, wie sie die blassen Augen verdreht und die Lippen zum
- süßesten Lächeln spitzt, wenn er sie einiger Worte würdigt, und dann
- sitzt sie wie verzückt da und schaut ihm nach, wenn er ihr den Rücken
- gewandt. Und nun zu wissen, dieser herrliche Mann, den alle lieben,
- alle verehren, alle besitzen möchten, er gehört mir, mir allein;
- keine von allen, denen er in seiner gewandten Weise oft angenehme
- Dinge sagt, besitzt seine Liebe, sondern nur allein ich, ich, die
- Glückliche, Beneidenswerthe; -- o Franziska, das ist ein Gefühl, ein
- Gedanke, überwältigend schön und beglückend. Wenn ich nicht wüßte,
- wie theuer ich ihm bin, so könnte ich hier unter den vielen jungen
- Mädchen ganz eifersüchtig werden, da sie ihn alle so verehren und
- lieben. Den ungeleckten, jungen Bären der hiesigen Gesellschaft
- gegenüber wirkt sein einnehmendes Wesen mit doppeltem Zauber auf die
- schlichten Landmädchen, und der lose Gablenz scheint sich ein wahres
- Vergnügen daraus zu machen, diesen Zauber möglichst auszubeuten.
- Einige Worte, die er mir lachend zuflüsterte, als er mit der schönen,
- schwärmerischen Pfarrerstochter zwei schmelzende Duette gesungen und
- der blassen Frl. von Helldorf eine zarte Rose mit einigen schelmischen
- Worten überreicht hatte, bestätigten meine Vermuthung. Mich liebt
- er; aber den andern jungen Damen macht er ebensosehr den Hof, als
- mir selbst, und das ist mir ganz recht, so merkt eben niemand, wie
- die Sachen eigentlich stehen. O wenn Papa erführe, daß er hier ist!
- Ich glaube wirklich, er holte mich gleich zurück. Aber er weiß ja
- glücklicherweise nicht, daß Gablenz überhaupt B. verlassen hat, und
- nun gar, daß er sich hier in dieser Gegend aufhält.
-
- Doch nun genug, mein Fränzchen. Du kannst jetzt wieder ruhig und froh
- an mich denken; denn jetzt ist alles gut. Uebrigens muß ich meinen
- Verwandten zum Lobe nachsagen, sie sind von einer außerordentlichen
- Liebe und Güte gegen mich, und das Landleben ist überhaupt nicht so
- schlimm, als ich erst dachte. An dem gestrigen Tage haben wir auf dem
- kleinen See bei Pastors herrliche Stunden verlebt unter Gesang und
- tausend Scherzen, und dann auf der Wiese prächtig gespielt. Aber sind
- die Mädchen hier plump und blöde, es ist zum Todtlachen. Sie wissen
- alle nicht um die Ecke, wie Graf Salm immer sagt. Gablenz war immer
- der Mittelpunkt, um den sich alles schaarte; er leitete und ordnete
- alles, und Du kannst denken, daß ich ihm treulich zur Seite stand. O
- es war himmlisch! In Liebe und Glück
-
- Deine =Frida=.«
-
-
-Aber auch Herr von Gablenz schrieb an dem Morgen, der dem
-Zusammentreffen Frida's mit ihm folgte und das schwärmerische junge
-Mädchen so unendlich beglückt hatte, einen Brief, der uns einen Blick
-geben mag, wie es eigentlich mit diesem Herrn bestellt war, dem Frida
-in ihrer Unerfahrenheit und Schwärmerei bereits nur allzuviel Raum in
-ihrem Herzen eingeräumt hatte.
-
-
- »Bester Eduard!« schrieb er mit fliegender Feder. »Vor Kurzem theilte
- ich Dir mit, wie weise ich Deine Rathschläge mir zu Herzen genommen,
- und wie gut sich alles zu gestalten scheint. Dank Deiner Fürsorge habe
- ich zur rechten Zeit noch in B. den Staub von meinen Füßen schütteln
- und der Stätte Lebewohl sagen können, wo mir das Pflaster zu heiß
- unter den Füßen wurde, und meine Gläubiger anfingen, gar zu scharf
- die Zähne zu zeigen. Wie ein Meteor kam ich und verschwand ich in
- jenen angenehmen Kreisen, um hier von Neuem aufzutauchen und mir jene
- Erbin zu sichern, von der Deine Freundschaft für mich Errettung hofft
- aus dem Drangsale, das mein edles Haupt umgarnt. O Himmel ja, meine
- Schulden fressen an mir wie hungrige Ungethüme, und nur eine Erbschaft
- oder eine reiche Heirath kann mich retten. Da mir für Erstere aber
- nirgends ein Stern dämmern will, denn das Geschlecht der Goldonkel
- hat mir Aermsten nie geblüht, so bleibt nur das Zweite noch übrig. In
- B. gab es hübsche Mädchen genug; aber alle mit würdigen Vätern und
- Müttern versehen und von zahllosen Geschwistern umringt, also für
- meine Zwecke nicht geschaffen. Ich muß disponibles Vermögen vor mir
- sehen, um meiner Schwachheit hülfreich beistehen zu können; ferne
- Aussichten, oder Abhängigkeit von der Güte barmherziger Schwiegerväter
- kann mich nicht retten, und wenn die Töchter Engel an Schönheit wären.
- Solch ein blondes Engelchen hätte mich edlen Ritter sonst sicher nicht
- verschmäht; ich las es in ihren veilchenblauen Aeuglein und ahnte
- wohl, daß mein Verschwinden ihr Herzchen bitter kränken würde, da sie
- gewaltig Feuer gefangen. Aber lieber Himmel, wer kann an so etwas
- denken, wenn das Feuer auf den Nägeln brennt! Ich war ihr entschlüpft
- zur rechten Stunde, und alles schien im besten Gange. Ich wurde als
- Volontair in Hermsbach angenommen, die Erbin ist blaß und häßlich
- und gründlich langweilig; -- aber was hilft das alles, ihr Geld muß
- die Schäden zudecken. Sie ist bereits zum Sterben in mich Ausbund von
- Liebenswürdigkeit und Anmuth verliebt; denn das bei dieser simplen
- Landpommeranze zu erreichen, war für mich keine Herkulesarbeit. Leider
- haben Onkel und Tante aber ein Wort mitzusprechen, und die mir günstig
- zu stimmen, bedarf noch einiger Geschicklichkeit. Uebrigens scheint
- dies Mecklenburg eine wahre Fundgrube von hübschen Mädchen zu sein;
- (leider macht nur meine Erbin eine traurige Ausnahme!) denn wie die
- Amoretten in Thorwaldsens Neste voll Liebesgötter sitzen sie hier
- dicht bei einander, so daß man sich die Zeit gut vertreiben kann.
- Besonders eine kleine, schwarzäugige Pfarrerstochter könnte mich alle
- hübschen Blondinen zeitlebens vergessen machen. Höchst unbequemer
- Weise aber, und während ich im besten Zuge bin, den Liebenswürdigen
- bei all den hübschen Mädels zu spielen, taucht plötzlich meine holde
- Blondine aus B. vor mir auf, aus deren Banden ich glücklich entflohen
- war, als Deine Weisung kam, mir den hiesigen Goldfisch zu fangen.
- Sie war strahlend vor Entzücken, mich Ausreißer hier zu finden, und
- ich? Nun ich müßte nicht Alfred von Gablenz sein, hätte ich nicht
- augenblicklich ebenso strahlend in ihr holdes Augenpaar geblickt
- und das Lied fortgesungen, das ich in B. begonnen. Ach Lied! Das
- war ein unglückliches Bild; denn ein Lied ist's, was allein mich
- bei der Geschichte etwas beunruhigt. Jetzt ist's nun eine köstliche
- Komödie, die ich zu spielen habe; denn die kleine, schwarzlockige
- Pfarrerstochter, deren schöne Augen mich für die blassen meines
- Goldfischchens etwas entschädigen müssen, glaubt mich ebenfalls zu
- ihren Füßen, und es gehört die ganze Gewandtheit Deines Freundes dazu,
- mein Schifflein hier geschickt so zu steuern, daß Jede die Beglückte
- zu sein scheint, bis ich meines Zieles ganz sicher bin. Aber das
- gerade ist mein Element, drum Glückauf und ein fröhlich Gelingen
- Deiner Pläne, Du kluger Pfadfinder.
-
- Dein getreuer
- =Alfred von Gablenz=.«
-
-
-Woche um Woche verging; Frida aber hatte keine Ahnung von der
-Treulosigkeit und dem doppelten Spiele des leichtsinnigen Mannes, dem
-sie mit der ganzen schwärmerischen Liebe eines jungen Herzens anhing.
-Obwohl er sich hütete, mit Frida in bestimmteren Worten von seiner
-Liebe zu sprechen, so behielt er doch gegen sie den Ton der Hingebung
-und Verehrung bei, den er bisher schon angeschlagen, und nährte dadurch
-Frida's stilles Träumen und Hoffen. Wohl sah und hörte sie, daß er
-auch gegen Helene eine wärmere Sprache führte, und daß er Sophie von
-Helldorf oft in auffallender Weise auszeichnete; aber ihr Herz ward nie
-ernstlich hiervon beunruhigt. Glaubte sie doch immer, es geschehe nur,
-um die Aufmerksamkeiten gegen sie selbst dadurch zu verdecken, und kein
-Schatten eines Mißtrauens zog in ihr junges, unerfahrenes Gemüth.
-
-Das Glück und die Freude machten Frida noch lieblicher, als sie
-ohnehin schon war, und ihre Anmuth gewann ihr schnell die Herzen all
-dieser braven, einfachen Menschen, mit denen sie hier verkehrte. Ihr
-launisches und trotziges Wesen, wie sie es zu Hause so oft gegen
-die Ihren zeigte, schien ganz verschwunden; denn das Beispiel ihrer
-bescheidenen Cousinen, denen derartige Unarten etwas völlig Fremdes
-waren, wirkte unendlich vortheilhaft auf das weiche, leichtempfängliche
-Gemüth Frida's. Immer mehr und mehr wurde sie der Liebling von Jung
-und Alt; denn sie gehörte zu jenen glücklichen Naturen, welche von
-jedermann verzogen und gehätschelt werden. Die jungen Mädchen wagten
-sich in ihrer blöden, zaghaften Weise zwar Anfangs nicht recht an
-die so elegante, junge Dame heran, die mit so viel Gewandtheit und
-Sicherheit unter sie trat; Frida aber zeigte ihnen ein so herzliches
-und unbefangenes Entgegenkommen, daß alle Scheu entschwand, und sie
-mit allen bald gute Freundschaft schloß. Die jungen Herren hingegen
-hatte Frida's Anmuth gleich von Anfang an gewonnen. Durch ihr leichtes,
-gewandtes Benehmen, verbunden mit Witz und Heiterkeit, zeichnete sie
-sich so vortheilhaft aus vor den schwerfälligen, schüchternen und
-zaghaften jungen Mädchen, unter welchen sie auftrat, daß jeder sich
-am liebsten mit ihr unterhielt. Sie verstand es vortrefflich, den
-Ton zu treffen, der für jeden Einzelnen paßte, und selbst der scheue
-und steife Walter Helldorf überwand mit der Zeit seine ängstliche
-Blödigkeit, wenn die muntere Frida mit ihm scherzte. Justus Werder aber
-und sein Freund, der lustige, junge Arzt, und mit ihnen noch einige
-andere junge Leute der Nachbarschaft, schwärmten bald sämmtlich für
-die bezaubernde junge Dame und brachten ihr jeder in seiner Weise die
-wärmsten Huldigungen dar. Zur großen Verwunderung ihrer Cousinen nahm
-Frida diese allgemeine Verehrung äußerst ruhig und sorglos hin; sie
-hatte es ja auch zu Haus nicht anders gekannt, und ihr Herz wurde in
-keiner Weise dadurch beunruhigt. Sie scherzte und lachte mit allen um
-so sorgloser, da sie eigentlich dabei nur immer an den dachte, der ihr
-die ganze Seele erfüllte. Er war ja fast immer unter den jungen Leuten,
-mit denen sie verkehrte, und das belebte ihr ganzes Wesen. Ihm allein
-galten ja eigentlich ihre Worte und ihre witzigen, munteren Reden, und
-ein rascher Blick seines Auges, eine flüchtige Anspielung, nur für sie
-verständlich, waren völlig hinreichend, Frida für viele Tage froh und
-glücklich zu machen.
-
-Wenn Frida jetzt nach Hause schrieb, daß sie sich wohl und zufrieden
-bei Onkel und Tante fühle, so hatte natürlich die Anwesenheit dessen,
-den sie im Herz und Sinn trug, einen großen Antheil hieran. Aber
-der alleinige Grund ihres Wohlseins war es dennoch nicht; Frida
-lebte sich in der That von Tage zu Tage mehr ein in dem Kreise,
-der sie aufgenommen. Jugend ist so empfänglich für alles Neue, und
-hier waren es zu Frida's Glück nur edle und gute Elemente, welche
-auf sie einwirkten. Die Freundschaft, die sie bald mit Hannchen und
-Charlotte verknüpfte, war viel tieferer und besserer Art, als alle
-ihre bisherigen Freundschaften, und Frida war selbst oft verwundert,
-daß junge Mädchen so wenig von Putz und Aeußerlichkeiten mit einander
-sprachen, als sie und ihre Cousinen, und sich dennoch ganz vortrefflich
-dabei unterhielten. Auch mit Helene Werder, der braunäugigen
-Pfarrerstochter, war Frida bald herzlich befreundet, und selbst Sophie
-Helldorf zeigte für die bedeutend jüngere Frida eine warme Zuneigung
-wenn auch ihre Blicke oft mit ängstlicher Spannung die Huldigungen
-verfolgten, welche der schöne Volontair dem reizenden Mädchen
-darbrachte.
-
-So war eine geraume Zeit vergangen, da bemerkte Frida zuweilen, daß ihr
-liebes Hannchen mit roth geweinten Augen umherging, und auch Charlotte
-oft niedergeschlagen und trübäugig dreinschaute. Auf ihre Fragen
-erhielt Frida ausweichende Antworten, sie machte sich deshalb keine
-weiteren Sorgen darüber.
-
-Eines Tages aber, als man wieder im Hause Pastor Werders fröhlich
-zusammen gewesen, nahm Charlotte Frida unter den Arm und ging mit ihr
-in eine der verstecktesten Lauben des Gartens.
-
-»Ich möchte dich gern einmal etwas fragen, liebe Frida; aber sei mir
-drum nicht böse,« sagte Lottchen dort schüchtern und malte mit einem
-Stöckchen, das im Wege lag, verlegen Figuren in den Sand.
-
-»Warum sollte ich böse sein, Lottchen? Was hast du?« entgegnete Frida
-verwundert.
-
-»Es ist nur,« fuhr Charlotte zögernd fort, »ich wollte dich nur fragen,
-liebst du das Leben auf dem Lande jetzt sehr?«
-
-»Ei gewiß liebe ich es, mehr als ich je dachte!« rief Frida lebhaft.
-
-»So möchtest du wohl ganz gern dort leben, vielleicht einmal als
-Pastorenfrau?« stotterte Lottchen jetzt tief erröthend und wühlte mit
-dem Stöckchen aufgeregt im Fußboden umher.
-
-»Als Pastorenfrau?« sagte Frida staunend. »Wie kommst du denn darauf,
-Lottchen? Das ist ja eine merkwürdige Idee. Findest du denn, daß ich
-=dazu= passe?«
-
-»Nein, ehrlich gestanden finde ich eben, daß du gar nicht dazu paßt,
-Frida; aber nimm es mir nur nicht übel,« entgegnete Lottchen immer
-befangener werdend.
-
-»Nun warum in aller Welt frägst du mich denn da so sonderbar?« lachte
-Frida.
-
-»Weil -- nun weil ich dachte, du möchtest den Justus heirathen,« rief
-Lottchen nun fassungslos und warf das Stöckchen weit von sich.
-
-»Den Justus Werder? Ich den Justus Werder heirathen? Lottchen, ich
-glaube du träumst!« sagte Frida, die Augen weit öffnend. »Wie kommst du
-denn darauf? Das würde mir ja nun und nimmer in die Gedanken gekommen
-sein! Der Justus und ich, welch eine unglückliche Zusammenstellung!«
-
-Charlotte war von ihrem Sitze aufgesprungen und hatte Frida's beide
-Hände ergriffen.
-
-»Du denkst nicht daran und hast den Justus nicht lieb, Frida?« rief sie
-mit strahlenden Blicken.
-
-»Nein doch, nein, ich bin so weit davon entfernt, als man es nur sein
-kann!« entgegnete Frida von Herzen lachend. »Ich gäbe eine schöne
-Predigerfrau ab! Du komisches Mädchen, wenn du dir darum Gedanken
-gemacht hast, dann beruhige dich. =Ich= nehme dir Justus Werder nicht
-weg, und er will mich auch gar nicht.«
-
-»Ach ich ließe ihn dir gern, Frida,« sagte Lottchen leise. »Wenn =ich=
-ihn liebte, hätte ich diese Fragen nicht an dich richten können. Aber
-siehst du, ich kann es nicht mit ansehen, daß Hannchen sich so abhärmt,
-um ihretwillen ist's.«
-
-»Hannchen liebt den Justus?« rief Frida voller Entzücken. »O das ist ja
-köstlich, das muß ein Paar werden! Hannchen mit ihrem frommen, blonden
-Gesichtchen giebt eine wundervolle Pastorsfrau ab. Hat Justus denn eine
-Ahnung davon, und glaubst du, daß er sie auch liebt?«
-
-»Das ist's ja eben, was mich quält!« sagte Charlotte niedergeschlagen
-»Früher, ehe -- nun daß ich es dir ehrlich sage, Cousinchen, ehe =du=
-kamst, zeichnete Justus unser Hannchen ganz entschieden aus. Das
-sahen auch seine Eltern, die es sehr wünschen; denn Hannchen ist ihr
-Liebling. Aber jetzt ist er so anders geworden. Jetzt gilt seine ganze
-Aufmerksamkeit dir, und das ist ja so natürlich, Hannchen verschwindet
-ja neben dir vollständig, wie wir alle. Da du nun so sehr freundlich
-gegen Justus bist und ihn so sehr auszeichnest, so -- -- --«
-
-»Ja ja, so dachtet ihr, ich wollte ihn deshalb gleich heirathen!« rief
-Frida lachend. »O ihr guten, lieben Kinder! Wenn ich alle die heirathen
-wollte, die mir den Hof machen, dann hätte ich eine schöne Auswahl.
-Courmachen und Heirathen sind zwei himmelweit verschiedene Dinge,
-Liebchen!«
-
-Charlotte war sehr ernst geworden. »Frida,« sagte sie, »weißt du, es
-ist vielleicht sehr altmodisch und ländlich von mir; aber mir scheint,
-man müßte nur demjenigen so freundlich entgegen kommen, als du es mit
-Justus gethan, den man wirklich lieb hat, sonst thut man ein Unrecht.
-Wenn Justus nun deine Liebenswürdigkeit anders auslegt und sich
-einbildet, du magst ihn leiden? Er würde dir dann vielleicht einen
-argen Vorwurf daraus machen, sobald er erführe, er habe sich geirrt.«
-
-»Aber Lottchen, bin ich denn gegen Justus wirklich freundlicher, als
-gegen alle andern jungen Leute?« sagte Frida kopfschüttelnd.
-
-»Ich weiß es nicht, Cousinchen,« entgegnete Charlotte plötzlich
-sehr roth werdend. »Aber es muß wohl so sein, sonst könnte Hannchen
-sich nicht so sehr grämen. Aber freilich, du bist so ganz anders
-erzogen, als wir. Bei dir ist alles Grazie und Anmuth; wir sind wahre
-Perückenstöcke neben dir, da mag solche Liebenswürdigkeit wohl anders
-beurtheilt werden. Niemand von uns hätte den Muth und die Gewandtheit,
-so unbefangen über alles zu scherzen, als du es thust, und so ungerührt
-sich die süßesten Schmeicheleien sagen zu lassen.«
-
-Frida erröthete. »Gestehe es nur, Lottchen,« sagte sie schelmisch,
-»eigentlich findet ihr alle zusammen, daß ich eine ausgemachte, eitle
-Coquette bin, nicht wahr?«
-
-»O nein, nein, Frida, um alles in der Welt, denke das nicht!« rief
-Lottchen eifrig.
-
-»Nun, wenn auch nicht ganz so schlimm, so doch ein Bischen, nicht wahr,
-Schatz?« sagte Frida, Charlotten umschlingend und ihr herzlich in die
-Augen schauend.
-
-»Nun ein Wenig zurückhaltender könntest du allerdings wohl sein, Frida,
-das ist richtig,« entgegnete Charlotte ehrlich. »Aber sei nicht böse
-drum. Ich las kürzlich ein Verschen in den Gedichten von Friedrich
-Rückert, die du mir geborgt hast; das fällt mir jetzt manchmal ein,
-wenn ich dich so sicher und selbstbewußt unter den jungen Leuten sehe.«
-
-»Und wie ist dieser Vers, meine kleine Lotte?« fragte ihre Cousine
-lächelnd.
-
-»Er heißt, aber sei nicht böse:
-
-
- Schön bist du,
- Das weißt du
- Nur leider zu sehr;
- O wüßtest du's minder,
- So wär'st du es mehr.«
-
-
-»Du ganz abscheuliches Mädchen!« lachte Frida tief erröthend, »du sagst
-mir da bittere Süßigkeiten. Aber ich danke dir dafür, ich werde daran
-denken. Bis jetzt hat mir kein Mensch gesagt, daß ich anders sein
-sollte; es ist aber möglich, du hast nicht unrecht.«
-
-»Und du bist mir wirklich nicht böse, Frida?« sagte Charlotte flehend,
-ihre Cousine schüttelte aber halb lächelnd, halb ernsthaft den Kopf und
-küßte die hübsche Tadlerin herzlich. Dann versprach sie ihr, besonders
-gegen Justus zurückhaltender zu sein, damit er sähe, sie denke nicht
-daran, ihn für sich zu gewinnen.
-
-Charlotte schien zwar noch etwas sagen zu wollen, schloß aber die schon
-geöffneten Lippen wieder mit einem kleinen Seufzer und folgte Frida,
-welche sie fröhlich plaudernd den Baumgang hinabführte.
-
-Aber kaum waren die beiden Cousinen wieder in das Haus zurückgekehrt,
-so merkte Frida, daß Hannchen auch gern etwas mit ihr sprechen wollte,
-die Gelegenheit dazu sich aber immer nicht fand.
-
-»Hannchen,« sagte Frida endlich unbefangen, »du hast gewiß wieder
-einmal deine bösen Kopfweh; komm ein Bischen mit mir in den Garten, mir
-ist heut auch gar nicht recht wohl.«
-
-Hannchen war schnell bereit dazu, und bald umschattete jene ferne
-Laube, welche kurz zuvor Lottchens Geständnisse aufgenommen hatte, nun
-auch Hannchens Wangen, welche sich plötzlich sehr dunkel färbten.
-
-»Weißt du, liebe Frida,« sagte sie plötzlich mit ihrer weichen,
-lieblichen Stimme und preßte die Hände fest in einander. »Es ist mir so
-lieb, daß ich einmal allein mit dir sprechen kann.«
-
-Frida konnte ein Lächeln nicht unterdrücken; denn sie ahnte, von wem
-ihr sanftes Hannchen mit ihr sprechen wollte. Sie versuchte ihrer
-Cousine auf halbem Wege entgegen zu kommen und sagte vertraulich:
-
-»Du hast etwas auf deinem Herzen, Hannchen, ich habe es wohl gemerkt,
-was ist's? Welcher Bösewicht hat es gewagt, den Frieden deines sanften
-Gemüthes zu stören, mein schüchterner, kleiner Vogel?«
-
-»Nicht doch, Frida, sag' doch so etwas nicht,« entgegnete Hannchen und
-schlug bang die Augen nieder, damit ihr Blick nicht die Worte strafen
-möchte. »Ich wollte dich gern etwas fragen, einen unsrer Nachbarn
-betreffend.«
-
-»Sagt' ich's nicht?« rief Frida schelmisch, »ein Nachbar macht deinem
-sanften Herzchen zu schaffen! Heißt er mit dem ersten Anfangsbuchstaben
-etwa Justus Werder?«
-
-Hannchen schrak leicht zusammen und blickte Frida scheu an.
-
-»Wie kommst du darauf, von =ihm= so zu sprechen?« sagte sie herber, als
-sonst ihre Art war. Dann aber strich sie leicht mit der Hand über ihre
-Augen, und als bereue sie ihre Unfreundlichkeit fuhr sie in sanftem
-Tone fort: »Nicht von mir ist die Rede, liebe Cousine, sondern von
-jemand ganz andrem. Sage mir, Frida, meinst du nicht auch, daß jemand
-dich sehr, sehr gern zu haben scheint?«
-
-»Mich? Von mir sprichst du, Hannchen?« rief Frida lachend. »Nun ich
-hoffe, ihr alle habt mich sehr, sehr gern.«
-
-»Ach so meine ich es ja nicht, das versteht sich ja von selbst,« sagte
-Hannchen ausweichend. »Wie soll ich mich nur deutlich machen, ich
-bin so ungeschickt! Ich meine, hast du nicht gemerkt, daß jemand in
-Hermsbach dich sehr, sehr gern hat?«
-
-Jetzt war es an Frida, zusammenzuschrecken und erröthend die Augen
-niederzuschlagen. Rasch aber faßte sie sich und sagte: »Ach die
-Galanterien der jungen Leute sind nicht so ernsthaft zu nehmen, liebes
-Hannchen. Herr von Gablenz hat ja für uns alle stets etwas Angenehmes
-auf den Lippen; mich zeichnet er wirklich nicht mehr aus, als jede von
-euch.«
-
-»Ich meine auch gar nicht den Herrn von Gablenz,« fuhr Hannchen zögernd
-fort, »ich meine einen Anderen, der dich so auszeichnet, wie sonst
-niemanden. Erräthst du ihn nicht?«
-
-Frida athmete froh auf und rief lachend: »Ich glaube gar, du sprichst
-von Walter Helldorf! Hab' ich's errathen, Cousinchen?«
-
-Hannchen nickte ernst und sah vor sich nieder.
-
-»Nun? Und warum beunruhigt es dich, daß ich den armen, blöden Jungen
-ein Bischen munter gemacht und ihm die Zunge gelöst habe? Ich denke,
-für deine Augen giebt es doch einen anderen Magnet, als Walters
-ehrliches Gesicht, oder ich müßte auf ganz falschem Wege sein.«
-
-»Ach bitte, laß =mich= doch nur aus dem Spiele,« sagte jetzt Hannchen
-fast weinend. »Ich hätte dies Gespräch ja gar nicht begonnen, wenn
-nicht..... Ach siehst du, Frida, sage doch ehrlich, liebst du Walter
-Helldorf?«
-
-Frida lachte hell auf. »Ihr seid ein paar wundervolle Kinder, du und
-Lottchen um die Wette. Die Eine denkt, ich..... Doch halt, das wollte
-ich nicht sagen. Nun Hannchen, und =wenn= ich ihn nun gern hätte, den
-guten, ehrlichen Jungen, was dann? =Dir= käme ich ja doch nicht in's
-Gehege damit, Kleine?«
-
-Hannchen brach plötzlich in Thränen aus. »O Frida, ist es wahr, liebst
-du ihn wirklich?« rief sie angstvoll. »O bitte, bitte, sage die
-Wahrheit!«
-
-Frida wurde jetzt ganz ernst und sagte weich: »Nein, nein, Hannchen,
-beunruhige dich nicht; Walter paßte so wenig zu mir, als etwa Justus
-Werder. Die brauchen alle Beide ganz andere Frauen, als ich eine
-abgäbe. Aber nun sage mir auch, was deine Frage zu bedeuten hat; denn
-ehrlich gestanden, ich werde nicht klug aus dir. Ist dir wirklich so
-viel an Walter gelegen, daß dich der Gedanke so unruhig macht, ich
-könnte ihn gern haben?«
-
-»O nein, nicht meinetwegen ist's, Frida!« rief Hannchen jetzt durch
-ihre Thränen lächelnd. »Wäre dies der Fall, dann hätte ich nie den Muth
-gehabt, dich danach zu fragen. Nein, es ist wegen Lottchen. Ich weiß,
-sie hängt mit inniger Liebe an Walter, und ich glaube, er hatte sie
-wohl auch recht gern, ehe....«
-
-»Aha, ich merke schon,« rief Frida rasch, »ehe die abscheuliche Frida
-zu euch kam, und mit ihrer unerträglichen Coquetterie sein armes,
-braves Herz umgarnte, ist's nicht so, Cousinchen? O gestehe es nur,
-so ist's! Seine blauen, ehrlichen Augen sind seitdem etwas aus ihrem
-Cours gewichen und meiner Spur gefolgt, statt daß sie den beiden
-Kornblumenäuglein nachschauen, die bis dahin ihr Ziel bildeten. Nicht
-wahr, mein armes Hannchen, das war's, was dich gekränkt hat?«
-
-Hannchen blickte mit sanftem Flehen auf und wußte nichts zu erwiedern,
-Frida aber fuhr mit ironischem Lachen fort: »Jetzt fehlt nur noch, daß
-Helene und Sophie kommen und mich anklagen, ich bestricke den jungen
-Doktor und Herrn von Gablenz, die sie für sich bestimmt haben. O!« rief
-sie heftig und sprang vom Sitze auf, »warum jagt ihr die abscheuliche
-Coquette denn nicht zum Hause hinaus? Besseres verdient sie ja nicht
-für ihr schamloses Betragen.«
-
-Hannchen umschlang das leidenschaftliche Mädchen weinend mit ihren
-Armen, denn sie verstand nicht recht, was Frida so heftig erregt hatte.
-
-»O verzeih mir, Cousinchen, verzeih mir,« bat sie schluchzend, »es
-war unrecht von mir, dich durch meine Fragen so zu kränken, ich sehe
-es jetzt erst ein. Nur meine Sorge und Liebe für Lottchen ließen mich
-alle Rücksicht vergessen, sonst hätte ich nie den Muth gehabt, so etwas
-zu sagen. O nun bist du mir so böse, und wahrlich, ich habe es nicht
-anders verdient!«
-
-Und bitterlich weinend sank sie wieder auf die Bank, das Gesicht mit
-den Händen bedeckend.
-
-Frida, deren Heftigkeit so plötzlich hervorgebrochen war, nachdem
-sie eben noch über Hannchens Idee gescherzt, schämte sich ihrer
-Leidenschaft und setzte sich still neben Hannchen, ihr die Hände
-streichelnd und bemüht, sie zu beruhigen. Als ihr dies endlich
-gelungen, sagte sie, mit Gewalt ihre Aufregung bei der Frage
-niederkämpfend: »Nun sollst du mir zur Sühne aber noch etwas gestehen,
-liebes Hannchen. Was ich vorhin mit bitterem Hohn sagte, will ich jetzt
-noch einmal ruhig und gleichmüthig fragen, damit ich weiß, daß ich
-weiter niemanden unter euch mit meinem Betragen kränke. Glaubst du, daß
-auch Helene oder Sophie oder sonst jemand der Freunde Grund hat, mein
-Benehmen in ähnlicher Weise zu tadeln? Bitte, sage es mir ehrlich; ich
-will nicht wieder heftig werden, ich verspreche es dir!«
-
-»Nein, das glaube ich kaum,« entgegnete Hannchen nachdenkend. »Helene
-und Sophie sind sich gegenseitig wohl mehr im Wege, als du es ihnen
-bist, das fürchte ich seit einiger Zeit.«
-
-»Sich gegenseitig?« fragte Frida aufhorchend. »Wobei denn?«
-
-»O sie sind Beide thöricht!« rief Hannchen ungewöhnlich streng, »mir
-scheint -- aber nein, ich will lieber nicht davon sprechen. Sie werden
-selbst bald genug sehen, daß nicht alles Gold ist, was glänzt, und daß
-so ein glatter Herr nicht gemacht ist für uns simple Dorfmädchen.«
-
-»Sprichst du von Herr von Gablenz, Hannchen?« stammelte Frida leise.
-
-»Freilich spreche ich von ihm,« sagte Hannchen achselzuckend. »Es
-verdrießt mich, daß ihr alle den eitlen Mann so vergöttert und ihn
-dadurch nur noch mehr verderbt, als er so schon ist.«
-
-»Verdorben nennst du ihn?« rief Frida empört. »Was berechtigt dich
-sanftes Wesen denn zu einem so ungerechten und harten Urtheil über
-diesen so ungewöhnlich liebenswürdigen, jungen Mann?«
-
-»Eben seine ungewöhnliche Liebenswürdigkeit,« entgegnete Hannchen
-ernst. »Ich bin einmal ein sehr ruhiges und nüchternes Mädchen und in
-einfachen Verhältnissen aufgewachsen; mir gefällt Herr von Gablenz ganz
-und gar nicht, und wenn ich es ehrlich sagen soll, ich traue ihm nicht.«
-
-»Aber warum denn in aller Welt, Hannchen? Was giebt dir denn nur Grund
-zu solcher Härte und solchem Mißtrauen?« rief Frida bebend; denn sie
-konnte ihren Zorn und ihre Aufregung kaum verbergen, den Mann von
-Hannchen schmähen zu hören, den sie so verehrte und liebte.
-
-»Er ist glatt wie ein Aal,« sagte diese achselzuckend. »Er entschlüpft
-jedem ernsteren Gespräch, wie ich von den Herren gehört habe, und da
-er allen jungen Mädchen so übertrieben den Hof macht, meint er es mit
-keiner ernst. So etwas mag für die große Welt passen, für unser stilles
-Dorf paßt es nicht. Es geht das Gerücht, er werde Sophie Helldorf
-heirathen. Ich glaube es nicht. Aber wenn er es thun will, so kann er
-es nur wegen ihres Reichthums wünschen; denn ein so eleganter Herr wird
-sich nicht gerade die Unscheinbarste aussuchen; ihren hohen, innern
-Werth kennt er schwerlich. Sophie wäre eine große Thörin, wenn sie
-seine Werbung annähme. Gott mag wissen, wie es möglich ist, aber er hat
-es ihr mit seinem glatten Wesen angethan, wie auch der schwärmerischen
-Helene, ich habe es wohl gemerkt. Dich freilich ficht ein derartiges
-einschmeichelndes Wesen nicht an, Frida, du bist von zu Haus daran
-gewöhnt und weißt, daß nicht viel auf dergleichen zu geben ist. Bei
-uns schlichten Dorfkindern aber ist das anders. Helene und Sophie
-nehmen alle die schönen Reden als baare Münze und lassen sich den
-Kopf damit verdrehen. Warnen oder Schelten hilft nichts, sie sind wie
-bezaubert.«
-
-Frida hatte stumm zugehört, denn jede Aeußerung würde sie verrathen
-haben. Aber ihr Herz klopfte so ungestüm, daß sie kaum athmen konnte.
-Jetzt stand sie rasch auf und sagte: »Du bist härter, als ich dich
-noch je gesehen habe, Hannchen. Aber ich will mich darüber nicht mit
-dir streiten. Ich glaube, wir müssen jetzt zum Abendbrod, es ist spät
-geworden. Was unser voriges Gespräch betrifft, Lottchen und Walter
-angehend, so verspreche ich dir, du sollst mit mir zufrieden sein, ich
-werde an deine Mahnung denken.«
-
-Dann gingen die beiden jungen Mädchen schnell dem Hause zu. Aber ein
-unruhiges, gespanntes Wesen war seit diesem Gespräche über Frida
-gekommen. Hannchens klares, nüchternes Urtheil hatte sie aufmerksamer
-auf das Benehmen ihres Verehrers gemacht, und sie konnte ihrer Cousine
-in einigen Punkten nicht Unrecht geben. Vor allem aber beunruhigte
-sie das Gerücht, Gablenz werde Sophie von Helldorf heirathen und zwar
-um ihres Reichthums willen. Sie warf den Gedanken als abscheulich und
-unwürdig weit von sich; aber doch kam er immer von Neuem wieder in
-ihren Sinn und quälte sie unaussprechlich. Sie mußte wissen, ob auch
-nur der Schatten von Wahrheit an dem Gerücht war, und nur von Sophie
-allein konnte sie etwas darüber erfahren. Sie überwand deshalb ihre
-innere Abneigung und Eifersucht und suchte häufiger mit dem jungen
-Mädchen zusammenzutreffen.
-
-Sophie von Helldorf war erst seit einiger Zeit im Hause ihres Onkels,
-der dem verwaisten Mädchen eine neue Heimath in seiner Familie gegeben,
-und ihre Unbekanntschaft mit den Freunden ihrer Verwandten sowohl,
-als auch etwas Scheues und Steifes in ihrem Benehmen, hatten sie
-bisher den andern jungen Mädchen etwas fern gehalten. Obwohl sie in
-ihrer äußeren Erscheinung unbehülflich und ungraziös erschien, so war
-der Kern ihres Wesens doch durchaus trefflich und edel, und bei einer
-äußerst abgeschlossenen Erziehung hatte sie eine sorgfältige innere
-Ausbildung erhalten. Obwohl sonst schüchtern und ängstlich, zeigte sie
-bei Gelegenheit ein entschlossenes, festes Wesen, das gar wohl seinen
-eigenen Weg zu finden wußte.
-
-Bisher hatte sie ein ganz zurückgezogenes Leben geführt, durch die
-Krankheit ihres Vaters bedingt. Nach dessen Tode trat sie als Erbin
-eines großen Vermögens in des Onkels Haus und fing erst hier an, ihrer
-Jugend froh zu werden. Die Huldigungen, welche der einnehmende Herr von
-Gablenz ihr widmete, umstrickten ihr unerfahrnes Herz mächtig, waren es
-doch die ersten, welche ihr überhaupt je im Leben dargebracht wurden.
-Der Wunsch, die Seine zu werden, befestigte sich mehr und mehr in ihr
-trotz des Widerstrebens ihrer Angehörigen, welche dem gewandten, jungen
-Weltmanne nicht sehr günstig waren und gar wohl ahnten, was denselben
-so schnell und mächtig an das unscheinbare Mädchen fesselte.
-
-Frida hatte es bald verstanden, sich das Vertrauen Sophie's zu
-erwerben, und allerlei gemeinsame Interessen verknüpften sie mehr und
-mehr. Lange Zeit aber, so oft auch Frida das Gespräch auf Herrn von
-Gablenz brachte, wurde Sophie ernst und einsilbig; denn eine stille
-Eifersucht, welche immer wieder lebendig wurde, sobald Sophie Herrn
-von Gablenz in Frida's Gesellschaft sah, schloß dieser gerade Frida
-gegenüber die Lippen doppelt fest.
-
-Der Sommer war mit seinen warmen Tagen in das Land gezogen und hatte
-die Früchte der Felder in so reicher Fülle gereift, daß man einer
-gesegneten Ernte entgegenging. Diese für den Landmann so wichtige
-und bewegte Zeit brachte denn unendlich viel neues und reges Leben
-mit sich, und Frida griff wacker mit in das Räderwerk ein, das jetzt
-doppelte Geschäftigkeit und Arbeit für alle Hausbewohner brachte. Dies
-rege Treiben und diese Arbeit vom frühen Morgen bis zum späten Abend
-ward gerade jetzt zum unendlichen Segen für Frida. Es war unmöglich,
-den Tag über den eignen Gedanken nachzuhängen, oder über Dinge still zu
-grübeln, welche das Herz bewegten; denn unter doppelter Fröhlichkeit
-schaffte und wirkte jedermann von früh bis spät zum Wohle des Ganzen,
-und Abends war Frida so müde und erschöpft von der ungewohnten
-Thätigkeit, daß sie sogleich von den Armen des Schlafes umschlungen
-und in dessen stilles Reich getragen wurde, sobald sie nur die Augen
-geschlossen hatte.
-
-Der Ernte folgte alsdann in den verschiedenen Dorfschaften die
-fröhliche Kirchweih, und es war eine alte Sitte, daß die Nachbarschaft
-zur Feier dieser Feste einander besuchte. Da gab es denn ein munteres
-Treiben bald in Dahme, bald in Hermsbach oder einigen anderen
-befreundeten Nachbardörfern, und die jungen Mädchen hatten nicht mit
-Unrecht Frida gleich am ersten Abend von dieser fröhlichen Zeit, als
-der schönsten des ganzen Jahres, erzählt. Tanz und Jubel und fröhliche
-Spiele vereinigten Jung und Alt unter den weiten Lauben, die überall
-zu diesem größten Feste der Dorfbewohner errichtet wurden. Herrschaft
-und Gesinde verkehrte in gemüthlicher, ungebundener Weise mit einander,
-und wenn sich die anmuthige Frida jetzt lustig im Arme des stattlichen
-Großknechtes im Rundtanz drehte, so dachte sie nicht im Entferntesten
-mehr daran, daß sie einst solche Zumuthung als eine Beleidigung stolz
-von sich gewiesen hatte.
-
-Seit Frida's geheimen Gesprächen mit ihren beiden Cousinen in
-jener fernen Laube des Gartens achtete das junge Mädchen fast mit
-Aengstlichkeit darauf, ihr Benehmen zu ändern und besonders gegen
-die jungen Herren vorsichtiger und zurückhaltender zu sein, als sie
-es bisher gewesen. Einestheils wurde sie hierzu durch den Wunsch
-bestimmt, sowohl Justus als Walter ihren Cousinen weniger zu entziehen;
-anderentheils aber war es Charlottens leise Mißbilligung ihres zu
-freien Benehmens, was sie beeinflußte; denn bei ihrer wachsenden Liebe
-und Achtung für ihre Cousinen hatte auch deren Urtheil einen größeren
-Einfluß auf Frida, als ehemals aller Tadel und alle Vorstellungen von
-Seiten ihres Vaters oder ihrer Stiefmutter. In dem stillen Wunsche,
-Hannchens und Lottchens Glück ihrerseits möglichst zu fördern, gelang
-es ihr zwar häufig, Walter und Justus an die Seite ihrer Cousinen zu
-führen; aber ihrer Ungeduld gingen die Sachen viel zu langsam. Freilich
-waren Hannchen und Charlotte auch von einer peinlichen Zurückhaltung,
-und um keinen Preis hätten sie ahnen lassen, was ihr Herz bewegte.
-Aber eben so wenig verstanden es auch ihre gar steifen, schwerfälligen
-Verehrer, die Gelegenheit beim Schopf zu erfassen, um den Sternen näher
-zu kommen, die augenscheinlich das Ziel ihrer Wünsche bildeten.
-
-Dies Interesse für ihre Cousinen zog Frida jetzt häufig von den
-Beobachtungen ab, welche ihre eigne Herzensneigung betrafen. Herr
-von Gablenz war in unveränderter Weise ihr ergeben; aber in ebenso
-unveränderter Weise umschwärmte er auch die andern jungen Mädchen,
-deren durch diese ländlichen Feste eine noch größere Anzahl zugegen
-waren. Den Schluß der Vergnügungen sollte die Feier des Geburtstages
-des alten Herrn von Helldorf bilden, und die ganze Umgegend war
-eingeladen, derselben beizuwohnen.
-
-»Helfen Sie mir, Fräulein Frida, etwas Abwechslung in die Freuden
-dieses Tages zu bringen,« sagte Herr von Gablenz halblaut. »Wenn wir
-Beide die Sache nicht in die Hand nehmen, wird sie langweilig wie die
-ganze liebe Gesellschaft hier zu Lande.«
-
-Frida erröthete froh, denn der Vorzug, den Gablenz ihr vor all den
-Andern einräumte, machte für sie ja wieder alle Gerüchte und alle
-Befürchtungen zu Schanden.
-
-»Von Herzen gern,« entgegnete sie hellen Blickes. »Aber wie fangen wir
-es an?«
-
-»Was meinen Sie zu einem improvisirten Valentinstage,« sagte Gablenz
-leise. »Mir scheint, das würde unserm Verkehr einen pikanteren
-Beigeschmack geben. Ein _tête à tête_ mit meiner holden Valentine, nach
-dem mich seit langen schon so unaussprechlich verlangt, wäre das Ziel
-meiner Wünsche.«
-
-Frida schlug erglühend das Auge nieder vor dem kecken Blick des jungen
-Mannes, dessen Sprache sie nicht mißdeuten konnte. Während sie nach
-Fassung rang, fuhr Gablenz vertraulich fort: »Blumen sind, wie die
-schöne Frida von früher weiß, die besten Dolmetscher unsrer Gefühle.
-Wie wäre es, wenn wir sie auch hier sprechen ließen?«
-
-Frida preßte mit klopfendem Herzen ihr Tuch an die Lippen; dann sagte
-sie, den Kopf leicht abwendend: »Gewiß, das wäre ein hübscher Gedanke.
-Bringen Sie die Sache in Vorschlag und hören wir, ob unsere zaghaften
-Damen sich den kleinen Freiheiten auszusetzen wagen, welche das
-Verhältniß zu ihrem Valentin mit sich bringt.«
-
-Anfangs schien es allerdings, als ob der Vorschlag Bedenken erregte;
-die jungen Männer aber waren Feuer und Flamme für diesen Plan, und
-so wurde er schließlich angenommen. Für den Abend bereitete Herr von
-Gablenz ein brillantes Feuerwerk vor, vorher aber sollte Tanz im
-Freien, sowie allerlei Spiel und Scherz die Gäste unterhalten.
-
-Am Morgen dieses Festtages fand Justus Werder, welcher, wie gar
-oft, zum Besuch in das Vaterhaus gekommen war, eine frische blaue
-Kornblume auf seiner Tasse, als Helene sie ihm beim Kaffee überreichte.
-Verwundert schaute er auf, sah aber, daß seine hübsche Schwester rasch
-den Finger auf die Lippen legte. Justus nahm die Blume schweigend an
-sich; da fiel ein Streifchen Papier herab, das am Stiel derselben
-gehangen. Unbemerkt öffnete es der junge Mann und las folgende Worte:
-
-
- »Kornblume und blau Aeugelein
- »Sie harren heut im Stillen dein.«
-
-
-Ein glückliches Lächeln flog über Justus frisches Gesicht, und Blume
-und Zettelchen zu sich steckend nickte er seiner Schwester dankend zu;
-denn was die Botschaft heißen sollte, ahnte er recht wohl.
-
-Eine ähnliche hatte auch Walter Helldorf an diesem Morgen erhalten, er
-wußte nur nicht von wem; sein Zeichen aber war ein rothes Tausendschön,
-das ihm die Worte zuflüsterte:
-
-
- »Von tausend Schönen gieb den Preis
- »Ihr, die dein Herz zu finden weiß.«
-
-
-Während Walter die Deutung dieser Blumensprache noch überlegte und
-unschwer zu entziffern wußte, ging in den entferntesten Wegen des
-Hermsbacher Parkes ein schlankes Mädchen langsam und gedankenvoll an
-der Seite eines jungen Mannes, der eifrig auf sie einsprach. Er hatte
-eine rothe Nelke in der Hand, und indem er dieselbe in dem Knopfloch
-seines Rockes befestigte, sagte er halblaut: »Wenn ich Ihre Zustimmung
-habe, theure Sophie, so kann Ihr Onkel sie mir nicht entziehen. Sie
-sind seit Kurzem mündig, wie Sie sagen, also wer kann Ihnen verwehren,
-selbst Ihre Angelegenheiten zu ordnen?«
-
-»Die Rücksicht auf meine gütigen Verwandten, sonst allerdings
-nichts,« entgegnete Sophie leise. »Aber ich hoffe ihr Widerstreben
-zu überwinden, da ich keinen Grund ihrer Abneigung weiß, und im
-schlimmsten Falle....«
-
-»Im schlimmsten Falle läßt du die Liebe den Sieg davon tragen, nicht
-wahr, geliebtes, himmlisches Mädchen?« rief Herr von Gablenz, denn er
-war der junge Mann, mit stürmischer Zärtlichkeit, indem er den Arm um
-Sophie von Helldorf schlang und die nur leise Widerstrebende an seine
-Brust drückte.
-
-»Aber heut schweigen Sie noch, ich bitte dringend darum,« sagte Sophie,
-sich ängstlich aus des jungen Mannes Armen losmachend. »Heut kann ich
-dem Onkel unmöglich sein Fest mit dieser Nachricht trüben; denn trüben
-würde ich es dadurch, ich kann mir kein Hehl daraus machen.«
-
-»Heut und so lange du willst, Geliebte!« rief Gablenz, Sophie's Hand
-küssend. »Diese Hand ist mein, und niemand soll sie mir streitig
-machen, das gelobe ich. Aber theure Sophie, wenn ich meine Rechte noch
-nicht in Anspruch nehmen darf, so ist es auch besser, ich bin heut
-nicht dein Valentin, meine Leidenschaft würde mich verrathen. Nimm
-deshalb die Nelke zurück, ich werde sie nicht wählen. Aber welches der
-anderen jungen Mädchen auch meine Valentine sein wird, glaube mir,
-Geliebte, die Huldigungen alle, die ich derselben spende, sie gelten
-eigentlich allein dir, der Königin meines Herzens, der Valentine meines
-ganzen künftigen Lebens.«
-
-Sophie's bleiches Gesicht war von Purpurgluth bedeckt, und das Glück
-strahlte aus ihren Augen. Aengstlich aber wandte sie jetzt ihre Blicke
-dem fernen Wohnhause zu und sagte: »Länger darf ich nicht hier bleiben,
-die Tante wird mich ohnehin schon vermissen. Folgen Sie mir nicht
-gleich, ich bitte Sie, Alfred.«
-
-»Noch eins, geliebte Sophie,« sagte Gablenz rasch. »Ist es dir recht,
-wenn ich die kleine Helene zur Valentine wähle? Welche Blume trägt sie
-heute Nachmittag?«
-
-Sophie erröthete wieder und sagte lebhaft: »Wählen Sie die rothe Rose,
-es ist Helene's Blume.« Dann eilte sie schnell davon, sehr zufrieden,
-daß ihr Geliebter nicht Frida zur Valentine wünschte, wie sie geglaubt
-hatte. Sie wußte nicht warum, aber ihr Herz war voll banger Eifersucht,
-wenn sie an die schöne Frida dachte. Helene war wohl auch schön; mit
-ihrem schüchternen, zurückhaltenden Wesen erschien sie ihr jedoch nicht
-halb so gefährlich, als die weltgewandte, bewunderte Frida.
-
-So kam der Nachmittag heran und mit ihm die Gäste in Menge. Wie
-verabredet führte Sophie die jungen Mädchen nach einer Weile in ein
-besonderes Zimmer, und Walter die jungen Männer. Dann öffneten sich
-die Thüren; aus der einen traten die mit Blumenkränzen geschmückten
-Jungfrauen, aus der andern die Herren, jeder eine Blume in der Hand,
-die ihm seine Valentine zuführen sollte. Ein Kichern und Drängen
-entstand jetzt unter der Mädchenwelt, denn jede scheute sich, von ihrem
-Valentin begrüßt zu werden. Aber sicher schritt Herr von Gablenz, eine
-rothe Rose in der Hand, auf den Kreis zu und zwar Frida entgegen. Erst
-als er dicht vor ihr stand schrak er zusammen und flüsterte hastig: »O
-Gott, welch ein Irrthum Sie haben nicht die =rothe= Rose, die Blume
-seliger Stunden?«
-
-Frida war schon beim Eintritt der Herren blaß geworden; denn sie hatte
-augenblicklich gesehen, daß Gablenz nicht ihre Blume, die weiße Rose,
-erwählt hatte. Ein freudiger Schreck durchzuckte sie aber, als er
-nichts desto weniger doch auf sie zuschritt; also hatte er sie doch
-zur Valentine wählen wollen. Jetzt war sie nur froh, daß auch Sophie
-es nicht wurde; denn neue Gerüchte hatten ihr Ohr in den letzten Tagen
-erreicht und sie auf's Neue bang und mißtrauisch gemacht.
-
-Unter allgemeiner Heiterkeit begrüßten nun die jungen Herren mit
-einem Handkuß ihre Valentinen, in ihr Recht eintretend, welches sie
-als getreue Ritter für den ganzen Tag an der Seite ihrer Erwählten
-festhielt. Jeder Dienst lag ihnen ob, und für alles, was ihre
-Valentine bedurfte, hatten sie zu sorgen, beim Tanz aber konnte
-ohne ihre Einwilligung kein Anderer ihre Stelle ausfüllen. Nur der
-Geburtstäger machte hiervon eine Ausnahme, und der fröhliche, alte Herr
-von Helldorf benutzte dieselbe mit Freuden und schwenkte sich in seiner
-steifen, altmodischen Weise mit so vielen der hübschen Valentinen unter
-den Linden am Hause, als zähle er nur die Hälfte der Jahre, die sein
-kahler Schädel schon gesehen hatte.
-
-Auch der gemüthliche, alte Pastor Werner mischte sich häufig unter die
-muntere Jugend und brachte mit seinen harmlosen Neckereien manches
-Lächeln und manches tiefere Roth auf die frischen Mädchengesichter.
-Jetzt kam er auf seinen Liebling, das blonde Hannchen zu, welche mit
-ihrem blauen Kornblumenkranze ganz allerliebst aussah.
-
-»Das nenn' ich aber einen Treffer, mein Söhnchen!« sagte er schelmisch
-zu Justus, der an Hannchens Seite saß. »So eine Valentine hätte ich
-mir auch wählen mögen, du Glückspilz. Nutz die Stunden eh' sie fliehn,
-morgen ist nicht heut! So gut wird dir's vielleicht so bald nicht
-wieder.«
-
-Und Hannchen mit einem frohen Lächeln die frischen Backen streichelnd
-ging er im Kreise weiter. Als er zu Lottchen kam, mit der Walter
-Helldorf soeben ein merkwürdig lebhaftes Gespräch führte, sagte er
-schmunzelnd: »Sieh da, hm, hm, wie der Zufall spielt! 's ist doch
-ein hübsches Ding um so einen Valentin. Das löst die Zunge und macht
-Courage, nicht wahr, Lottchen? Nun nun, ich will nicht stören, Glück
-zu, ihr Leutchen!« Dann aber kam er an seinem schönen Töchterchen
-vorüber, welches soeben mit ihrem Valentin getanzt hatte und nun mit
-glühenden Wangen an dessen Arme hing, in Folge des Tanzes oder der
-leisen Worte, die Gablenz ihr soeben gesagt hatte, rascher athmend und
-aufgeregt ihrem Sitze zuschreitend.
-
-»Lenchen, tanz nicht so viel und so rasch!« sagte der Vater mit einem
-unwilligen Seitenblicke auf ihren Tänzer; dann strich er seinem Kinde
-ernst über das schöne, dunkle Haar und schien noch etwas sagen zu
-wollen, schwieg aber doch und ging weiter, seine Heiterkeit jedoch war
-für eine Weile verschwunden. »Sieh, daß du den frechen Patron, den
-Junker Gablenz bald wieder los wirst, Helldorf,« sagte er verdrießlich
-zu dem Geburtstäger. »Der Mensch gehört nicht unter uns schlichte
-Leute, und den Mädels verdreht er mit seinen glatten Reden die Köpfe.«
-
-»Hast recht, Bruder, 's ist mir lang schon nicht lieb, daß er da ist,«
-entgegnete Herr von Helldorf beistimmend, »aber ihn hinausjagen ohne
-Grund, das kann ich doch nicht, obwohl der windige Monsieur in der
-Wirthschaft gar nicht zu brauchen ist; Walter muß immer hinter ihm
-drein sein. Bei mir säet er ganz sicher Drachenzähne, ich möchte darauf
-wetten.«
-
-In derselben Zeit gingen Frida und Sophie eine Weile Arm in Arm durch
-die Gänge des Gartens.
-
-»Das ist mir prächtig geglückt!« rief Frida lachend, »und ich danke
-dir und Helene für euren treuen Beistand. Wie erstaunt Hannchen und
-Charlotte aus ihren guten, blauen Augen blickten, als sie ihre Blumen
-in der Hand ihrer still Geliebten sahen, es war köstlich!«
-
-»Aber ahnen dürfen sie nicht, daß wir Justus und Walter verrathen
-haben, welche Blume sie trügen; das würden sie uns nicht verzeihen,«
-entgegnete Sophie.
-
-»O =wir= thaten es ja gar nicht, die Blumen sprachen ja selbst!« lachte
-Frida.
-
-»Du bist eine kleine Sophistin,« sagte Sophie. Dann seufzte sie leise
-und pflückte im Vorbeigehen eine rothe Rose vom Strauch.
-
-»Was hast du, Sophie?« fragte Frida.
-
-»O nichts weiter, es fiel mir nur eben ein, daß die Blumen gar oft als
-Dolmetscher dienen,« entgegnete Sophie.
-
-Frida dachte an ihr Gedicht von der Rose und sagte lächelnd: »Besonders
-die Rosen. Ich glaube, so lange es Rosen gegeben, so lange haben sie
-auch der Liebe als Dolmetscher gedient und Stoff zu Liebesliedern
-gegeben. Keine Blume ist wohl je so viel besungen worden, als die Rose.«
-
-Sophie wurde dunkelroth und vergrub ihr Gesicht in der Blume, die sie
-in der Hand trug. »Ich kenne ein Gedicht an eine Rose,« sagte sie
-zögernd, »das gehört zu den schönsten, die ich je gelesen. Freilich
-kommt wohl auch dazu, daß der Dichter mir bekannt und lieb ist.«
-
-»Und wie lautet es?« entgegnete Frida ziemlich gleichgültig; denn ihre
-Gedanken waren weit fort von hier. Da aber schlugen Worte an ihr Ohr,
-welche das Blut zu ihrem Herzen trieben.
-
-Sophie sagte mit etwas bebender Stimme:
-
-
- »In einem stillen Thale
- »Blüht eine Rose hold,
- »Die Blätter glühn und glänzen
- »Wie süßer Minne Sold.«
-
-
-»Um Gottes Willen, Sophie, woher kennst du diese Verse?« rief jetzt
-Frida und legte zitternd die Hand auf der Freundin Arm.
-
-»Woher?« sagte Sophie sich abwendend und zögerte mit der Antwort. »Nun,
-daß ich es dir nur gestehe,« fuhr sie dann verlegen lächelnd fort,
-»Herr von Gablenz hat sie gedichtet und mir gegeben.«
-
-»Er hat sie =dir= gegeben, Sophie?« rief Frida heftig und blickte
-verstört in Sophies Gesicht. »Dir? Und wann?«
-
-»O schon bald nach seiner Herkunft,« sagte diese lächelnd. »Aber warum
-bist du denn so bleich und sonderbar, Frida? Mein Gott, was fehlt dir?
-Bist du unwohl?«
-
-»Nein, nein,« stotterte Frida. »Ich.... ich. O Sophie, sage mir, ich
-flehe dich an, sollten diese Verse mehr für dich sein, als eben nur ein
-schönes Gedicht?«
-
-Sophie erschrak über den Ausdruck von Angst und Spannung, den
-Frida's Züge trugen. »Wenn es nun so wäre, und die Verschen mir mehr
-aussprechen sollten, warum frägst du mich danach, Frida?« sagte sie
-beklommen.
-
-»O weil er kurz zuvor mit demselben Gedicht =mir= seine Liebe gestanden
-hat!« rief Frida fassungslos und barg das Gesicht in beiden Händen.
-
-»Dir, Frida? Gott im Himmel, so sind wir Beide betrogen!« sagte Sophie
-tonlos. »Gestern hat er sich mit mir verlobt.«
-
-Mit einem Aufschrei sank Frida auf eine Bank nieder, und lange saßen
-die beiden unglücklichen, jungen Mädchen still und sprachlos neben
-einander. Jede rang nach Fassung. Frida weinte krampfhaft in ihr
-Tuch, das in ihrer Hand zitterte; denn ihr armes, junges Herz war
-wie vernichtet von dem Schlage, der sie getroffen. Eine ganze Welt
-von Glück und Hoffnungen war für sie in einem einzigen Augenblicke
-zusammengestürzt, und das Bitterste, was ein Herz erfahren kann,
-war über sie gekommen: getäuschtes Vertrauen, verrathene Liebe. --
-Sophie war viel ruhiger und gefaßter, als ihre viel jüngere und viel
-leidenschaftlichere Freundin. Bleich und wie gelähmt saß sie da und
-blickte düster zu Boden.
-
-»Hat dich Gablenz noch während dieser letzten Zeit in dem Glauben
-erhalten, daß er dich liebe?« sagte sie endlich matt.
-
-»O heut noch, heut noch!« schluchzte Frida. »Er schien außer sich zu
-sein, als ich nicht seine Valentine wurde. Er hatte eine rothe Rose in
-der Hand und erschrak, als er meine weiße sah.«
-
-»O dieser Komödiant!« rief Sophie emporspringend. »Ich selbst habe ihm
-gesagt, rothe Rosen trage Helene, die er zur Valentine wählen wollte.
-So hat er dreifaches Spiel getrieben und umstrickt auch die arme
-Helene. O mein Gott, mein Gott, und ich habe der Stimme meiner Vernunft
-nicht hören wollen, die mich immer wieder vor ihm warnte, habe mir
-wirklich eingebildet, er könne mich häßliches, unscheinbares Mädchen
-lieben! Wie bitter bin ich für meine Eitelkeit und Thorheit bestraft
-worden. O Frida, wie entsetzlich ist's doch, ein reiches Mädchen zu
-sein!«
-
-»Du meinst wirklich, daß er dich deshalb heirathen wollte, weil du
-reich bist?« rief Frida empört.
-
-»Nur deshalb, ich sehe es nur zu deutlich!« entgegnete Sophie spöttisch
-lachend. »O daß ich dem Onkel nicht glaubte! Aber ihm will ich die
-Sache jetzt anvertrauen; er soll uns von dieser Natter befreien, die
-sich bei uns eingeschlichen, ich mag ihn nicht wiedersehen.«
-
-»O um alles in der Welt, auch ich nicht!« schluchzte Frida in neue
-Thränen ausbrechend. Dann warf sie ein Blättchen Papier, das sie wie
-ein Heiligthum still in einem goldenen Medaillon am Herzen getragen,
-voll Ingrimm zu Boden, und mit dem Fuße darauf tretend sagte sie
-heftig: »Fort mit dir, du Zeuge meiner Thorheit und Leichtgläubigkeit.
-O könnte ich mich selbst zur Strafe auch so mit Füßen treten!«
-
-Sophie aber bückte sich und nahm das Papier auf; es war Gablenz
-Rosengedicht. »Laß es mir, Frida,« sagte sie bitter, »es soll uns
-rächen.«
-
-Jetzt hörte man Stimmen in der Nähe; es waren die der jungen Männer,
-welche kamen, ihre Valentinen zu suchen.
-
-»Ich kann nicht, ich bin krank!« rief Frida zitternd und klammerte sich
-an Sophie fest.
-
-»Sei ruhig und laß mich nur machen,« entgegnete Sophie, welche seit der
-traurigen Entdeckung etwas so Energisches, Entschlossenes in ihrem
-Wesen hatte, daß die arme; schwache Frida, die wie zerschmettert war
-von Jammer und Weh, sich unwillkürlich von ihr leiten ließ.
-
-»Verzeihen Sie, meine Herren,« sagte Sophie, den jungen Leuten
-entgegengehend, »Fräulein Frida war so unwohl, daß wir die Stille
-aufsuchten, und jetzt sogar auf mein Zimmer gehen müssen; Sie
-entschuldigen uns wohl freundlichst noch für eine Stunde.«
-
-Mit lebhaftem Bedauern zogen sich die Herren zurück, die jungen Mädchen
-aber eilten durch eine Seitenthür in das Haus auf Sophie's Zimmer; denn
-Frida bedurfte in der That der Ruhe und Einsamkeit. Sophie selbst hatte
-noch keine Thräne vergossen; Scham und Empörung waren so heftig in ihr,
-daß sie den Schmerz übertäubten, und in dieser Stimmung eilte sie zu
-ihrem Onkel.
-
-»Hm, hm, das ist ja eine saubere Geschichte!« sagte der alte Herr
-nachdenklich, als Sophie ihre Mittheilung beendet hatte. »Laß mich nur
-machen, mein Kindchen! Hat er Komödie gespielt, laß sehn, ob wir es
-nicht noch besser können.«
-
-»Was willst du thun, lieber Onkel?« rief Sophie ängstlich.
-
-»Nichts weiter, als dir ganz die Augen öffnen. Sorge dich nur nicht
-und laß mich machen!« entgegnete der Alte, sich vergnügt die Hände
-reibend. »=Den= Junker wollen wir heut los werden; eine bessere
-Geburtstagsbescheerung konntest du mir nicht machen, mein Töchterchen.
-Da, stell dich dort in das tiefe Fenster, da hörst du die ganze
-Geschichte mit an, ohne gesehen zu werden.«
-
-Kaum hatte Sophie sich zurückgezogen, als Herr von Gablenz in seiner
-sorglosen, eleganten Manier in das Zimmer trat.
-
-»Sie wünschen mich zu sprechen, Herr von Helldorf?« sagte er, sich
-leicht verbeugend.
-
-»Allerdings, mein lieber Herr,« entgegnete dieser leutselig. »Meine
-Nichte sagte mir soeben, daß sie sich mit Ihnen verlobt habe, und da
-wollte ich doch der Erste sein, der Ihnen Glück dazu wünscht.«
-
-Gablenz war sehr roth geworden und verbeugte sich tief, um seine
-Ueberraschung zu verbergen. Aber ehe er noch ein Wort des Dankes
-hervorbringen konnte, fuhr der alte Herr freundlich fort: »Es freut
-mich das für Sophie um so mehr, als ich dadurch über ihre unsichre
-Zukunft beruhigt bin; denn bei so wenig Vermögen ist die Lage einer
-Waise oft trübe genug.«
-
-Gablenz fuhr bei diesen Worten leicht auf und umfaßte krampfhaft die
-Lehne des Stuhles, an dem er stand.
-
-»Ich glaubte,« sagte er halblaut, »die Verhältnisse Ihrer Fräulein
-Nichte seien bessere.«
-
-»Ja, so denken die Leute,« entgegnete der alte Herr, eine Prise
-nehmend. »Aber das ist ein Irrthum. Wer meine Nichte heirathet, muß
-sich schon mit ihren andern guten Eigenschaften begnügen. Aber ich
-denke ja, das versteht sich von selbst bei einer rechten Neigung. Also,
-mein lieber Herr, Sophie hat Ihnen gestern schon das Jawort gegeben,
-wenn ich nicht irre, nicht wahr?«
-
-»O so bestimmt doch noch nicht, mein verehrter Herr von Helldorf,«
-sagte Gablenz, der jetzt wieder seine sichre Haltung gewonnen hatte.
-»Sie wissen ja, wie das bei jungen Leuten so geht! Man läßt sich im
-Augenblick oft wohl hinreißen und ein Wort entschlüpfen, das der Moment
-geboren; aber zu einer ernsteren oder gar bindenden Entscheidung ist
-es bis jetzt noch nicht gekommen. Auch würde ich einen solchen Schritt
-jetzt kaum wagen dürfen, so sehr mich Ihr Vertrauen ehrt, theurer Herr
-von Helldorf. Meine Lage ist durchaus im Augenblick derart, daß ich an
-keine ernstere Verbindung denken kann. Auch fürchte ich sehr, Fräulein
-Sophie nicht länger meine Verehrung darbringen zu können, da ich leider
-genöthigt bin, morgen schon Ihr werthes Haus zu verlassen, wie ein
-Brief mir heut die Nachricht bringt. Ich bin....«
-
-»Halt, ich kann das nicht länger ertragen!« rief jetzt Sophie rasch,
-welche bleich und bebend aus der Fensternische hervortrat. »Wozu
-die Komödie, Onkel? Es ist unwürdig und ganz überflüssig. Herr von
-Gablenz,« wandte sie sich stolz an den jungen Mann, der wie vom Blitz
-getroffen vor ihr stand, »nicht Sie, sondern =ich= löse hiermit ein
-Verhältniß auf, das Sie die Dreistigkeit haben, als nicht bestehend
-anzusehen. Mein Vermögen habe ich =nicht= verloren, wie mein Onkel
-sagte, indessen....«
-
-»Aber theure Sophie, höre mich doch erst!« rief Gablenz schnell, der
-wieder Leben erhielt, sowie Sophie die letzten Worte ausgesprochen
-hatte. »Ich meinte ja nur....«
-
-»Was Sie meinen und denken, habe ich leider schon zu lange mit
-angehört!« rief Sophie sich hochaufrichtend. »Sie würden vielleicht
-besser thun, heut schon Hermsbach zu verlassen, es möchten sonst noch
-mehr peinliche Augenblicke für Sie eintreten.«
-
-»Und bitte, nehmen Sie doch gefälligst diese Verschen auch wieder
-mit, die sich im Duplikat vorgefunden haben!« sagte Herr von Helldorf
-schmunzelnd, indem er Gablenz die beiden verhängnißvollen Gedichte
-überreichte. »Ich würde Ihnen rathen,« fügte er, abermals eine Prise
-nehmend, hinzu, »das Dingelchen gleich lithographiren zu lassen, da
-vertheilt es sich noch schneller an leichtgläubige Schönen. Und damit
-guten Tag, mein lieber Herr! Ihre plötzliche Abreise wird Sie wohl
-verhindern, sich bei der Gesellschaft zu verabschieden, ich übernehme
-das von Herzen gern. Empfehl' mich, empfehl' mich, glückliche Reise!«
-
-Mit diesen Worten schloß er die Thür hinter dem bestürzten jungen Mann,
-dessen Dreistigkeit und Sicherheit während der letzten Augenblicke
-in der That völlig Schiffbruch gelitten hatten, und der nichts
-Eiligeres zu thun wußte, als sich schnell aus dem Staube zu machen.
-Bald hörte man einen Wagen zum Hofthore hinausfahren, der den lockern
-Patron davonführte. Sophie aber war jetzt von Schmerz und Aufregung
-überwältigt und lag weinend im Arme ihres braven Onkels, der ihr bald
-lachend, bald tröstend die Backen streichelte.
-
-»Wein' doch nicht, mein herziges Kindchen!« sagte er schmeichelnd, »der
-schuftige Patron ist ja gar nicht werth, daß so liebe Guckaugen darum
-roth werden. Danke Gott, daß wir ihn los sind, ehe er noch mehr Unheil
-stiftete.«
-
-Und dasselbe sagte Sophie, welche endlich wieder ihre Fassung erlangte,
-zu der trostlosen Frida, die ganz außer sich gerieth, als sie das
-weitere Benehmen dessen erfuhr, der ihr so unsäglich theuer gewesen
-war. Sie konnte sich nicht entschließen, wieder in der Gesellschaft
-zu erscheinen, und so dauerte es nicht lange, da kam Hannchen zu ihr,
-welche von ihrem Unwohlsein gehört hatte.
-
-Frida sank ihr schluchzend in die Arme. »O Hannchen, Hannchen!« rief
-sie trostlos, »warum habe ich deine Warnungen verachtet und die meines
-Vaters; nun bin ich grausam dafür bestraft worden!« --
-
-Wir verlassen jetzt unsere Frida für eine Weile und übergeben sie noch
-für einige Wochen der treuen Liebe und Sorge ihrer Cousinen und Tante,
-welche in ihrer liebevollen und zartfühlenden Weise es vortrefflich
-verstanden, das tief gekränkte junge Herz wieder mit Welt und Menschen
-zu versöhnen. Dann aber folgen wir ihr wieder nach dem Vaterhause, in
-welches sie nach langer Abwesenheit endlich zurückkehrte. Wir finden
-sie an der Seite Gertruds, mit der sie soeben ein langes, ernstes
-Gespräch gehabt hat, das sich noch immer auf Frida's lieblichem
-Gesicht wiederspiegelt. Das junge Mädchen blickt unendlich viel
-ernster und sinniger aus ihren schönen Augen, seit wir sie an jenem
-verhängnißvollen Tage in Hermsbach verließen, und ein ruhigeres,
-gehaltneres Wesen spricht aus ihrer ganzen Haltung. Das eitle,
-thörichte Kind, das der Vater einst seiner Schwägerin vertrauensvoll
-übergab, es ist seitdem zur verständigen Jungfrau herangereift, und
-auch ihr Aeußeres trägt den Stempel dieser Sinnesänderung.
-
-Statt in der so äußerst eleganten Kleidung und übertriebenen
-Haartracht, in der wir sie zuerst kennen lernten, finden wir sie
-jetzt zwar zierlich und gut, aber doch höchst einfach gekleidet, und
-ihr reiches, blondes Haar in der Art um ihren Kopf geschlungen, wie
-Hannchen es an jenem ersten Morgen in Dahme geordnet hatte. Jetzt
-blickte sie auf, und plötzlich Gertruds Hand an ihre Lippen ziehend,
-sagte sie leise: »O Mama, nun aber ist alles, alles gut, und ich will
-ein neues Leben beginnen. Es war eine harte Schule, durch welche Gott
-mich zur Einsicht geführt; aber ich danke ihm jetzt dafür. Diese
-entsetzliche Täuschung hat mich viel älter und ernster, aber auch viel
-besser gemacht. Ich wollte meine eignen Wege gehen in diesen wie in
-allen andren Dingen, und widerstrebte sowohl meines Vaters Wünschen,
-als auch deiner liebevollen Führung, und daraus konnte nichts Gutes für
-mich erwachsen. Verzeih mir und habe Geduld, jetzt soll alles anders
-werden.«
-
-Gertrud zog ihre Tochter liebevoll an sich und sprach gute Worte zu ihr
-voll Sanftmuth und Anerkennung. Da trat der Diener in das Zimmer mit
-einem Briefchen an Frida. Das junge Mädchen öffnete es, und ein Zug des
-Mißvergnügens flog über ihr Gesicht.
-
-»Es ist eine Einladung von Franziska,« sagte sie mit einem leisen
-Seufzer.
-
-»Willst du nicht zusagen, liebe Frida?« fragte Gertrud.
-
-»Nein, Mama, ich möchte es nicht,« entgegnete Frida ernst.
-
-»Es ist aber schon das zweite Mal, daß du es ihr abschlägst,« sagte
-Gertrud. »Sie wird es dir gewiß übel nehmen.«
-
-»Mag sie doch, ich werde ihr einige Zeilen schreiben,« rief Frida rasch
-entschlossen und stand vom Stuhle auf. »Warum soll ich ein Verhältniß
-aufrecht erhalten, das mir in so hohem Grade unerträglich wird.
-Franziska hat es fast als eine Beleidigung ihrer Familie angesehen, daß
-Gablenz in dieser Weise aus Hermsbach entlassen wurde, da er selbst es
-ihnen als seinen freien Entschluß darzustellen wußte. Sie hat in dieser
-unglücklichen Geschichte, welche hauptsächlich durch ihr Zuthun so weit
-gedeihen konnte, jetzt nur spitze Reden für mich, die ich nicht länger
-ertragen will, und seit ich nicht mehr so viel Sinn wie einst für ihre
-Eitelkeiten und Thorheiten zeige, muß ich nichts als Spöttereien mit
-anhören über ländliche Einfalt und Tugend. Das kann und mag ich nicht
-länger, Mama, darum will ich ihr lieber klar und ehrlich gestehen,
-daß unsre Wege verschieden sind. Ueber lang oder kurz käme es doch zu
-einem Bruche, und ich begreife jetzt blos nicht, wie es zwischen uns
-überhaupt jemals zu solcher Freundschaft kommen konnte.«
-
-Während Frida dies Briefchen schrieb, trat ihr Vater in's Zimmer.
-
-»Hier, mein Töchterchen,« sagte er heiter, Frida ein Blatt Papier
-reichend, »da kommt Tante Marie's vorläufige Einladung zur Hochzeit.
-Hannchen schreibt dir wohl selbst das Nähere, sieh einmal nach.«
-
-Mit leuchtenden Augen öffnete Frida das Briefchen.
-
-»O es soll ja eine Doppelhochzeit sein, Papa,« rief sie jubelnd.
-»Justus und Hannchen hatten erst noch warten sollen, bis die neue
-Pfarre in Hermsbach fertig würde, die Papa Helldorf seinem neuen Pastor
-bauen läßt. Walter und Lottchen wollen aber absolut nicht allein
-heirathen. Auf dem Vorwerk, das Walter übernimmt, sei so schrecklich
-viel Platz, daß da zwei junge Ehepaare bequem hausen können, behaupten
-sie, und so soll ich mich eilen, meinen Hochzeitsstaat fertig zu
-machen, denn lange wollen sie nun nicht mehr warten. Sophie und Helene,
-Martha und ich sind die Brautjungfern. O wie köstlich, Papa, und wir
-sind alle, alle eingeladen, du und Mama und die Kinder, alle, alle.
-Aber da liegt ja noch ein Zettelchen im Briefe, was ist denn das?«
-
-Neugierig entfaltete Frida einen schmalen Streifen Papier und las die
-Worte:
-
-
- »Was du gewünscht, es ist geschehn,
- Und Ernst entsproß den Scherzen;
- Kornblümchen blau und Tausendschön
- Blühn jetzt an treuen Herzen.
- Nun schlinge selbst die Myrthe ein,
- Die Valentinen harren dein!«
-
-
-Frida lachte herzlich, als sie das Verschen gelesen hatte. »Das ist
-sicher ohne Hannchens Vorwissen zu mir gewandert,« sagte sie dann
-nachdenkend. »Aber es bestätigt mir endlich, was ich lange schon
-gedacht habe: Jener unselige Valentinstag hat zur Verlobung der beiden
-lieben Paare geführt, wie ich im Stillen so innig wünschte. Sie haben
-es nur nicht eingestehen wollen, da dieser Tag für andre so unheilvoll
-wurde. Aber wie Herr von Helldorf zu Pastor Werder beim Abschied leise
-sagte, so können wir schließlich alle sprechen: »Gott sei Dank, das war
-ein gesegneter Tag für mich!« --
-
-Und rasch eine Thräne zerdrückend, welche gegen ihren Willen noch
-einmal ihr helles Auge trübte, reichte Frida ihren Eltern beide Hände.
-»Auch ihr sollt so sagen können, das verspreche ich euch! Eure Frida
-ist an jenem Tage und in jener Zeit von mehr als dieser einen Thorheit
-geheilt worden.«
-
-[Illustration]
-
-
-
-
- Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.
-
-
-
-
- Transcriber's Note:
-
-
-Antiqua are indicated by _underscores_.
-Gesperred are indicated by =equal signs=.
-A number of minor spelling errors have been corrected without note.
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Drei Erzählungen für junge Mädchen, by
-Clementine Helm
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DREI ERZÄHLUNGEN FÜR JUNGE MÄDCHEN ***
-
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- The Project Gutenberg eBook of Drei Erz&auml;hlungen, by Clementine Helm.
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-<pre>
-
-Project Gutenberg's Drei Erzählungen für junge Mädchen, by Clementine Helm
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
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-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
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-
-Title: Drei Erzählungen für junge Mädchen
-
-Author: Clementine Helm
-
-Release Date: December 1, 2017 [EBook #56098]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DREI ERZÄHLUNGEN FÜR JUNGE MÄDCHEN ***
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-
-Produced by Jens Sadowski, Pál Haragos and the Online
-Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This
-file was produced from images generously made available
-by The Internet Archive)
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-<h1>Drei Erz&auml;hlungen<br />
-<small><small>f&uuml;r junge M&auml;dchen</small></small></h1>
-
-<p class="p2c"><small>von</small></p>
-
-<p class="p2c">Clementine Helm.</p>
-
-<p class="p26c">(Verfasserin von Backfischchens Leiden und Freuden, Lilli's Jugend &amp;c.)</p>
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-<p class="p2c">Leipzig,</p>
-<p class="center"><em class="gesperrt">Georg Wigand's Verlag</em></p>
-<p class="center">1873.</p>
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-<hr class="chap" />
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-<p class="p26c">Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten.</p>
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-<hr class="chap" />
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-<h2><a name="Inhalt" id="Inhalt">Inhalt.</a></h2>
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-<table class="toc" summary="Contents">
-<tr>
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- <th class="toctit"></th>
- <th class="tocpag">Seite</th>
-</tr><tr>
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-</tr><tr>
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- <td class="toctit"><em class="gesperrt"><a href="#Neue_Wege">Neue Wege</a></em></td>
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-</tr>
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-<hr class="chap" />
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-
-<h2><a name="Esther_Wieburg" id="Esther_Wieburg">Esther Wieburg.</a></h2>
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-
-<p>&raquo;Wie gesagt, Herr Pastor, darin kann ich Ihnen nicht Recht
-geben, das <em class="gesperrt">ist</em> keine Erziehung f&uuml;r ein M&auml;dchen! Einen
-Jungen m&ouml;gen Sie alle diese Dinge lernen lassen, meinetwegen;
-aber ein M&auml;dchen kann in ihrem ganzen Leben nichts damit anfangen.
-Das ist meine Meinung, und dabei bleibe ich, sowahr ich
-Friederike Booland hei&szlig;e!&laquo;</p>
-
-<p>Frau Friederike Booland, die Sprecherin dieser energischen
-Worte, bekr&auml;ftigte den Schlu&szlig; ihrer Rede damit, da&szlig; sie ihre gro&szlig;e,
-knochige Hand laut schallend auf den Schreibtisch niederfallen lie&szlig;,
-neben welchem sie stand. An diesem Schreibtische aber sa&szlig; derjenige,
-dem ihre Rede galt, Pastor Wieburg, der Geistliche im Dorfe Rahmstedt.
-Seit Jahren schon lebte Frau Booland hier im Hause, nachdem
-ihr eigener Gatte, der Schulmeister des Dorfes, gestorben, und
-von jenem Tage an f&uuml;hrte sie die Z&uuml;gel des Haushaltes mit ebensoviel
-Energie als Gewissenhaftigkeit. Pastor Wieburg h&auml;tte keine
-bessere Haush&auml;lterin finden k&ouml;nnen und so &uuml;berlie&szlig; er ihr getrost
-alle Regierungssorgen. Nur ein Departement hatte er sich vorbehalten,
-und das war die Erziehung seines einzigen Kindes, eines
-kleinen, dunkel&auml;ugigen M&auml;dchens. So gro&szlig;en Respect Frau Booland
-nun auch vor allen Meinungen und Ansichten ihres Brodherrn
-<span class="pagenum"><a name="Page_4" id="Page_4">[Pg 4]</a></span>hatte, in diesem Punkte war sie seine stete Gegnerin, und sie scheute
-sich nicht, dies immer wieder gegen ihn auszusprechen, so wenig Erfolg
-ihre Worte auch haben mochten. Pastor Wieburg h&ouml;rte ihre
-Reden geduldig an, ohne den Flu&szlig; derselben durch Widerspruch zu
-hemmen, so lange seine Pfeife brannte. War diese jedoch zu Ende,
-so stand er ruhig von seinem Stuhle auf, ging nach dem Ofen, die
-Asche aus der Pfeife zu klopfen, und dann sagte er gleichm&uuml;thig:
-&raquo;Schon recht, Frau Booland; aber jetzt m&ouml;chte ich Ruhe haben, meine
-Predigt fertig zu arbeiten. Sie sind wohl so gut, und kommen ein
-andermal wieder.&laquo;</p>
-
-<p>Frau Booland blieb alsdann freilich nichts &uuml;brig, als sich mit
-einem Knix zu empfehlen. Aber ihr sonst gutm&uuml;thiges Gesicht war
-dann durchaus nicht sonnenhell, und leise vor sich hin brummend
-ging sie die Treppe hinunter, um sie nach einiger Zeit von Neuem
-zu ersteigen und abermals ihre Vorw&uuml;rfe anzubringen.</p>
-
-<p>&raquo;Er ist und bleibt unverbesserlich!&laquo; rief sie auch heute voll Aerger,
-als sie die Th&uuml;r der Studirstube etwas kr&auml;ftiger als gew&ouml;hnlich
-geschlossen hatte und zu ihrem Haushalte zur&uuml;ckkehrte. &raquo;Es ist, als
-ob ich zur Wand redete, so wenig Eindruck machen meine Worte
-auf ihn! Wenn er nur wenigstens mit mir stritte oder mir seine
-Meinung sagte. Aber nein, steif und ruhig sitzt er in seinem Stuhle
-und l&auml;&szlig;t mich reden und reden, und am Ende mu&szlig; ich wieder abziehen
-und alles bleibt beim Alten. O diese M&auml;nner!&laquo;</p>
-
-<p>Als Frau Booland in ihrem gerechten Grimme das Wohnzimmer
-im Untergescho&szlig; des Pfarrhauses betrat, flogen ihre Blicke nach einer
-Ecke in der N&auml;he des Fensters, wo ein niedriger Arbeitstisch stand,
-an dem ein kleines M&auml;dchen schrieb. Es war Esther, ihre junge
-Pflegebefohlene, f&uuml;r deren Wohl und Wehe die brave Frau soeben
-vergeblich gek&auml;mpft hatte.</p>
-
-<p>&raquo;Schreiben und schreiben, und nichts als lesen und schreiben den<span class="pagenum"><a name="Page_5" id="Page_5">[Pg 5]</a></span>
-ganzen Tag!&laquo; rief Frau Booland verdrie&szlig;lich. &raquo;Bist du denn noch
-nicht bald fertig f&uuml;r heute, Estherchen? Du sollst noch ein Bischen
-in die Luft, Kind, ich denke, du hast genug gelernt. Hast den ganzen
-Nachmittag schon studirt, der Kopf mu&szlig; dir ja brummen von all' der
-grausamen Gelehrsamkeit, du armer kleiner Fisch.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich bin bald fertig, Tante, nur noch dies eine <em class="gesperrt">Verbum</em> mu&szlig;
-ich zu Ende schreiben,&laquo; entgegnete das kleine M&auml;dchen aufsehend.
-&raquo;Vater schilt sonst, denn er sagt ohnehin immer, ich sei nicht flei&szlig;ig
-genug!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Das Gott erbarm! Noch nicht flei&szlig;ig genug!&laquo; rief die Wittwe,
-ihre H&auml;nde zusammenschlagend. &raquo;Es ist ein Elend, da&szlig; du kein
-Junge geworden bist, dann h&auml;tte dies Gelerne einen Sinn, aber
-so? Was in aller Welt willst <em class="gesperrt">du</em> damit anfangen?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich wollte auch lieber, ich w&auml;r' ein Junge, das wei&szlig;t du ja,
-Tante! Und Vater will gewi&szlig; einen aus mir machen, da&szlig; er mich
-so viel lernen l&auml;&szlig;t,&laquo; rief Esther lachend und nickte der erz&uuml;rnten Frau
-beg&uuml;tigend zu. &raquo;Aber bitte, Tante, ich m&ouml;chte das Bischen Tageslicht
-noch gern benutzen, um meine Arbeit fertig zu machen. Ich komme
-dann auch gleich zu dir in den Garten.&laquo; Und ohne sich weiter st&ouml;ren
-zu lassen, schrieb das Kind eifrig weiter, w&auml;hrend die letzten Strahlen
-der Herbstsonne &uuml;ber ihr dunkles Haar forthuschten und ihre
-blassen Wangen vom Abendroth leise ger&ouml;thet wurden.</p>
-
-<p>Frau Booland hatte von ihrem Standpunkte aus allerdings
-guten Grund, sich &uuml;ber die Art und Weise zu beklagen, in welcher
-ihre kleine Pflegebefohlene von ihrem Vater erzogen wurde. Pastor
-Wieburg war ein durch und durch braver, rechtschaffener Mann und
-f&uuml;r seine Gemeinde ein trefflicher Seelsorger; au&szlig;erdem aber ein
-ernster, ja strenger und verschlossener Gelehrter, der den Verkehr
-mit der Au&szlig;enwelt mied und nur seinem Amte und seiner Wissenschaft
-lebte. So lange Esther, das einzige Kind seiner fr&uuml;h ver<span class="pagenum"><a name="Page_6" id="Page_6">[Pg 6]</a></span>storbenen
-Gattin, noch zu klein war, um lernen zu k&ouml;nnen, hatte
-er sich sehr wenig um sie bek&uuml;mmert, und sie v&ouml;llig der Sorge Frau
-Booland's &uuml;berlassen. Das sch&uuml;chterne, kleine M&auml;dchen war auch
-viel lieber in der Gesellschaft dieser guten Frau, als in der des
-ernsthaften, schweigsamen Vaters, der nur immer Ruhe gebot, wenn
-sie in seiner N&auml;he spielte und ihre Puppen stets sehr unsanft in die
-Ecke warf, hatte sich ja einmal eine in die N&auml;he seiner B&uuml;cher verirrt.</p>
-
-<p>Als Esther jedoch &auml;lter ward und ihr Vater bemerkte, da&szlig; in dem
-kleinen K&ouml;rperchen eine starke Seele und viel Verstand wohnte, da
-wuchs sein Interesse f&uuml;r das Kind. Er hatte sich einen Sohn gew&uuml;nscht,
-um auf ihn all' sein Wissen und seine Gelehrsamkeit zu
-&uuml;bertragen; nun hatte er statt dessen eine kluge kleine Tochter bekommen,
-sie sollte ihm den Sohn ersetzen. Wirklich lernte die kleine
-Esther bald mit so viel Eifer und Erfolg, da&szlig; ihr Vater immer
-mehr Gefallen an ihr fand und sie wie einen Knaben unterrichtete.
-In der Zeit, wo andere kleine M&auml;dchen m&uuml;hsam einzelne Worte
-zusammen buchstabiren, und mit dem Schieferstifte unsichere Kritzeleien
-auf die Tafel malen, konnte unsere kleine Esther schon recht gel&auml;ufig
-lesen und schreiben, und nicht etwa nur in ihrer Muttersprache,
-sondern auch in den Anfangsgr&uuml;nden des Lateinischen, dem sich sp&auml;ter
-sogar das Griechische zugesellte. Bei diesem eifrigen Lernen und
-Studiren blieb freilich zum steten Leidwesen der braven Frau Booland
-wenig Zeit &uuml;brig zur Erlernung all' der weiblichen K&uuml;nste und
-Kenntnisse, welche diese h&auml;usliche Frau in der Erziehung eines
-M&auml;dchens f&uuml;r unerl&auml;&szlig;lich hielt. Esther zeigte leider auch wenig
-Vorliebe f&uuml;r dergleichen Dinge, und die Geheimnisse der f&uuml;nf Stricknadeln
-blieben ihr sehr lange Zeit ein Buch mit sieben Siegeln.
-Tante Booland strickte und n&auml;hte ja den ganzen Tag, was sollte
-Esther sich damit qu&auml;len, und die kleinen Dienste in K&uuml;che und
-Kammer, wozu ihre Erzieherin sie anzuleiten sich abm&uuml;hte, erschienen<span class="pagenum"><a name="Page_7" id="Page_7">[Pg 7]</a></span>
-Esther ebenfalls erstaunlich &uuml;berfl&uuml;ssig. Was kam denn darauf
-an, ob ein Kleid drinnen im Schranke hing oder drau&szlig;en, ob die
-Schuhe absolut im Kasten stecken mu&szlig;ten, und Kamm und B&uuml;rste
-nicht mit der reinen W&auml;sche Gemeinschaft halten durften. Wenn
-Esther nur fand, was sie suchte, so war sie zufrieden; f&uuml;r alles
-andere mochte Tante Booland sorgen, die immerfort hinter ihr her
-lief, um wieder aufzur&auml;umen, was ihr kleiner Wildfang in Unordnung
-gebracht hatte. Wenn dann Frau Booland b&ouml;se werden und
-darauf dringen wollte, da&szlig; die leichtfertige kleine Dirne selbst Ordnung
-schaffe, dann hatte Esther immer N&ouml;thigeres zu thun und
-absolut gar keine Zeit f&uuml;r dergleichen.</p>
-
-<p>&raquo;Aber Tante, ich <em class="gesperrt">mu&szlig;</em> doch jetzt lernen, Papa wird sonst zu b&ouml;se!
-Bitte bitte, mache du es doch nur, das n&auml;chste Mal will ich es
-gewi&szlig; thun!&laquo; So hie&szlig; es stets, wenn das kleine Fr&auml;ulein etwas
-vornehmen sollte, was ihr nicht behagte, und da Frau Booland
-nicht beurtheilen konnte, in wieweit Esther's Entschuldigung begr&uuml;ndet
-war, sondern nur immer mit stillem Grauen des Kindes Gelehrsamkeit
-anstaunte, so wagte sie auch nie, energisch gegen Esther's
-Unarten einzuschreiten. Beim Vater fand die arme Frau f&uuml;r
-derartige Klagen auch kein Geh&ouml;r; denn dieser hatte jene wunderlichen
-Ideen &uuml;ber Freiheit in der Erziehung, wie sie Rousseau einst lehrte,
-und ihm war es ganz recht, wenn seine Tochter frei und ungebunden
-und nicht geleckt und geschniegelt aufwuchs. &raquo;Sie soll mir ein
-t&uuml;chtiges Frauenzimmer werden ohne weibische Faxen und Narrheiten!&laquo;
-pflegte er auf Frau Booland's Klagen zu antworten.
-&raquo;Solche hausbackne Tugenden lernt sie noch zeitig genug! Jetzt la&szlig;t
-mir das M&auml;del damit in Ruhe, sie kann ihre Zeit besser anwenden.&laquo;</p>
-
-<p>So wuchs die kleine Esther denn heran mit allen Neigungen
-und Besch&auml;ftigungen eines Knaben, und kr&auml;ftig wie ihr Geist
-entwickelte sich auch ihr K&ouml;rper bei dieser Lebensweise. Obwohl sie<span class="pagenum"><a name="Page_8" id="Page_8">[Pg 8]</a></span>
-weder bl&uuml;hende Farben, noch besonders kr&auml;ftigen K&ouml;rperbau besa&szlig;, so
-war sie doch ein gesundes, frisches Kind, und ihre feinen Glieder
-besa&szlig;en eine auffallend gro&szlig;e Gewandheit und Festigkeit. Sie sprang
-und turnte, lief und kletterte wie der tollste Junge, und f&uuml;r sie war
-kein Baum zu hoch und kein Graben zu breit. Freilich in welchem
-Zustande Kleider und Schuhwerk nach solchen Thaten vor den entsetzten
-Blicken der Frau Booland erschienen, das k&uuml;mmerte Esther
-wenig, ihr thaten nie die Finger weh vom Ausbessern dieser Sachen,
-denn wie h&auml;tte <em class="gesperrt">sie</em> dazu Zeit gehabt! Tante Booland schalt und
-brummte zwar stets bei jedem neuen Ri&szlig;, aber im Grunde freute
-sie sich doch, wenn ihr blasser Sch&uuml;tzling lieber in Feld und Wald
-umhersprang, statt immer &uuml;ber den b&ouml;sen B&uuml;chern zu sitzen. Deshalb,
-wenn Esther ihrer Ansicht nach genug studirt hatte, nahm
-Frau Booland des Kindes Strohh&uuml;tchen vom Nagel, dr&uuml;ckte ihr
-ihn auf die schwarzen Flechten und sagte: &raquo;Basta f&uuml;r heute, mein
-kleiner Fisch! Jetzt lauf' hin&uuml;ber zum Bertel. Aber zum Nachtessen
-sei wieder hier, du wei&szlig;t, dein Vater liebt die P&uuml;nktlichkeit!&laquo;</p>
-
-<p>Dann blitzten Esthers tiefschwarze Augen in heller Freude auf,
-und wie ein Pfeil sprang sie empor. Gew&ouml;hnlich nahm sie noch
-einige B&uuml;cher unter den Arm, wenn ihre Arbeiten noch nicht fertig
-waren, dann aber jagte sie wie ein Reh durch die Laubg&auml;nge ihres
-Gartens, und weiter hinaus &uuml;ber die Dorfstra&szlig;e, Wiesen und Felder.
-Sie hatte nur ein Ziel und das war der Gutshof ihres Dorfes
-Rahmstedt.</p>
-
-<p>Aus den Fenstern des Gutshofes konnte man den ganzen Weg
-bis zur Pfarre &uuml;bersehen. Sobald nun Esthers leichte Gestalt daher
-geflogen kam, dauerte es nicht lange, da knarrte die Gartenth&uuml;r, und
-ein m&auml;chtig gro&szlig;er schwarzer Neufundl&auml;nder sprang laut bellend in
-langen S&auml;tzen &uuml;ber Hecken und Z&auml;une, der kleinen Esther entgegen,
-die er fast umrannte. Hinter dem Hunde drein aber kam athemlos<span class="pagenum"><a name="Page_9" id="Page_9">[Pg 9]</a></span>
-ein blonder Knabe daher, der Esther fr&ouml;hlich anlachte. Dann fa&szlig;ten
-die beiden Kinder sich an den H&auml;nden, und lustig ging's nun zusammen
-in die weite Welt hinein, bis sie zuletzt den Hafen aufsuchten,
-n&auml;mlich den Blumengarten im Gutshofe. Auf der Freitreppe am
-Hause sa&szlig; dann zuweilen eine stattliche junge Frau, welcher Esther
-freundlich die Hand zum Gru&szlig; entgegenstreckte, und dann verlie&szlig;
-das kleine M&auml;dchen ihren Spielgef&auml;hrten, um sich neben die Dame
-zu setzen, welche gern mit der Kleinen plauderte. Auch ein gro&szlig;er,
-freundlicher Herr kam dann wohl seitw&auml;rts &uuml;ber den Hof geschritten,
-wo er mit den Dienstleuten gesprochen oder in den St&auml;llen nachgesehen
-hatte, und begr&uuml;&szlig;te das Kind. Das war Herr von Ihlefeld,
-der Gutsherr von Rahmstedt, die sch&ouml;ne, junge Dame aber seine
-Frau und Hubert, auch Bertel genannt, das einzige Kind der Beiden.
-Ein behagliches, gl&uuml;ckliches Familienleben herrschte in dem Hause,
-und die kleine Esther war ein t&auml;glicher, gern gesehener Gast in demselben.
-Man rechnete sie so zur Familie, da&szlig; stets ein Gedeck
-mit f&uuml;r sie aufgelegt wurde, und jederzeit ein Bett f&uuml;r sie bereit stand,
-besonders im Winter, wenn die Kleine Abends nicht in Wind und
-Wetter den Weg nach Hause machen sollte. Und wie Esther hier,
-so war auch Bertel t&auml;glich der Gast im Pfarrhause. Pastor Wieburg
-hatte es &uuml;bernommen, den Knaben zu unterrichten, und so war derselbe
-neben Esther sein t&auml;glicher Sch&uuml;ler. Bertel war zwei Jahr
-&auml;lter als Esther; das kleine M&auml;dchen lernte aber so rasch und war
-so eifrig und ehrgeizig, da&szlig; sie vielen Unterricht mit dem Knaben gemeinsam
-hatte, und das waren f&uuml;r Esther die herrlichsten Stunden.
-&raquo;Die kleinen Gelehrten,&laquo; nannte man die Kinder in der Umgegend,
-denn nirgends wu&szlig;ten andere Kinder ihres Alters so viel, als diese
-Beiden.</p>
-
-<p>&raquo;Ich werde einmal ein Gelehrter, wie du, Onkel Pastor,&laquo; pflegte
-Bertel zu sagen, und wirklich schien er auch dauernd Freude am<span class="pagenum"><a name="Page_10" id="Page_10">[Pg 10]</a></span>
-Lernen zu haben. Esther aber lernte eigentlich nur darum so eifrig,
-weil Bertel lernte und sie eben nichts thun und denken mochte, was
-dieser nicht auch that. H&auml;tte ihr junger Spielgef&auml;hrte angefangen,
-Seil zu tanzen oder Schuhe zu n&auml;hen, Esther w&auml;re ohne Z&ouml;gern
-auch mit auf das Seil gestiegen, oder h&auml;tte sich hingesetzt, Schuhe zu
-flicken, denn Bertel that es ja. Wenn sie fr&uuml;h aufwachte, so flogen
-ihre Gedanken hin&uuml;ber nach dem Gutshofe, und ihre Blicke wanderten
-beim Ankleiden fortw&auml;hrend nach dem Gartensteg woher Bertel ja
-nun kommen mu&szlig;te. Der Tag bestand f&uuml;r sie eigentlich nur aus
-zwei H&auml;lften: der, wo sie <em class="gesperrt">mit</em> Bertel, und der, wo sie <em class="gesperrt">ohne</em> ihn war.
-Die letzte H&auml;lfte suchte sie immer m&ouml;glichst abzuk&uuml;rzen, denn es war
-ja die Schattenseite ihres Tages, die Zeit <em class="gesperrt">mit</em> Bertel aber das
-Licht, die Sonne, dem ihre junge Seele zustrebte mit allem Denken
-und F&uuml;hlen. Und wie Esther, so ging es ihrem kleinen Freunde.
-Auch er kannte keine Freude, keinen Genu&szlig; ohne seine junge Gespielin,
-und am liebsten w&auml;re er oft den ganzen Tag auf dem Pfarrhofe
-geblieben. Er nannte Esther seinen besten Kameraden, und
-wie Kameraden verkehrten die beiden Kinder auch mit einander.</p>
-
-<p>Man konnte nicht sch&ouml;ner und liebensw&uuml;rdiger sein, als es der
-schlanke Bertel war, das gestand Jeder, der den Knaben sah, und f&uuml;r
-Esther aber war ihr Kamerad der Inbegriff alles Sch&ouml;nen, Guten
-und Ausgezeichneten. Das dunkel&auml;ugige und tief br&uuml;nette M&auml;dchen
-bildete einen ganz eigenth&uuml;mlichen Contrast zu dem rosigen Knaben,
-dessen feines, m&auml;dchenhaft zartes Gesicht von einer F&uuml;lle dichter
-blonder Locken umgeben wurde. Esther war kaum h&uuml;bsch zu nennen;
-denn etwas scharfe, unregelm&auml;&szlig;ige Z&uuml;ge und die br&auml;unliche Haut
-h&auml;tten sie wenig anziehend gemacht, wenn nicht die gro&szlig;en schwarzen
-Augen mit strahlendem Feuer aus diesem Gesichtchen geleuchtet und
-dicke, seidenweiche schwarze Flechten den kleinen Kopf umkr&auml;nzt h&auml;tten.
-Und verschieden wie im Aeu&szlig;eren waren die beiden Kinder auch an<span class="pagenum"><a name="Page_11" id="Page_11">[Pg 11]</a></span>
-Charakter und Temperament. Die braune Esther war Feuer und
-Leben bis in die kleinste Fingerspitze hinein, furchtlos und unternehmend,
-rasch und leicht erregbar. Ihr warmes Herz bestand harte
-K&auml;mpfe mit ihrem Eigensinn und ihrem sehr energischen Willen;
-aber wenn dieser Wille sich beugte, dann war sie sanft und weich
-und gut. Der blonde Hubert hingegen hatte bei einem &auml;u&szlig;erst
-scharfen Verstande ruhigere Besonnenheit und Ueberlegung und
-einen weichen, f&uuml;gsamen Sinn, der sich durch fremde Einfl&uuml;sse sogar
-allzuleicht bestimmen lie&szlig;. Etwas Scheues und Abgeschlossenes im
-Charakter des Knaben wurde durch die eigenth&uuml;mliche Erziehung,
-welche der ernste Pastor Wieburg ihm ertheilte, noch vermehrt, und
-au&szlig;er Esther besa&szlig; der kleine Gelehrte eigentlich keinen nennenswerthen
-Umgang. Aber lebendig und kraftvoll wie sein kleiner Kamerad
-Esther war auch Hubert trotz dieser Gelehrsamkeit und trotz
-seines schlanken, m&auml;dchenhaften K&ouml;rpers. Doch war er nicht so wild
-und ungest&uuml;m als jene, ja zuweilen erschien er mit dieser Besonnenheit
-sogar feige und zaghaft. Erreichte seine Geduld aber die Grenze,
-dann konnte er heftig und leidenschaftlich aufflammen mit Esther um
-die Wette.</p>
-
-<p>Esther hingegen gab sich der augenblicklichen Regung ganz hin,
-und besonders, wenn es galt, f&uuml;r Bertel etwas zu thun, da gab es
-kein Ueberlegen. Die Liebe zu ihrem kleinen Freunde war f&uuml;r sie
-schon in den ersten Jahren ihres Beisammenseins der Punkt, um
-den sich alles bewegte, was sie dachte und that, und f&uuml;r ihn schien
-ihr kein Opfer zu schwer. Das Beste, was sie bekam an Naschwerk,
-oder Obst oder sonstigen Dingen legte sie stets f&uuml;r ihn zur&uuml;ck;
-alles was ihm l&auml;stig oder unangenehm war, nahm sie in ihre Hand,
-und wo sie dem &auml;lteren Knaben mit ihren schwachen Kr&auml;ften H&uuml;lfe
-leisten konnte, that sie es ohne Zagen. Bekam er Schelte, so klagte
-sie sich oft auch als Misseth&auml;terin an, um ihn nicht allein leiden zu<span class="pagenum"><a name="Page_12" id="Page_12">[Pg 12]</a></span>
-lassen, und sie konnte ganz au&szlig;er sich gerathen, wenn er Schmerzen
-litt und sie ihm nicht helfen konnte. In den Unterrichtsstunden,
-die sie gemeinsam hatten, freute sie sich vielmehr &uuml;ber ein Lob, das
-Bertel gespendet wurde, als &uuml;ber ihr eigenes, und wenn Bertel,
-wie es in den Naturwissenschaftsstunden oft geschah, f&uuml;r die der
-Knabe am wenigsten Interesse zeigte, eine Arbeit schlecht gemacht
-hatte oder Fragen verfehlte, da setzte Esther oft absichtlich in ihre
-n&auml;chste Arbeit auch Fehler, oder stellte sich unwissend, nur um nicht
-besser zu sein als Bertel.</p>
-
-<p>Eines Tages war Hubert krank geworden und konnte nicht zum
-Pfarrhause kommen. Esther wollte nat&uuml;rlich gleich zu ihm eilen, Tante
-Booland aber lie&szlig; sie nicht fort, denn der Arzt hatte ihr gesagt, Bertel
-werde das Scharlachfieber bekommen, sie m&ouml;ge Esther's Zusammensein
-mit dem Kranken verh&uuml;ten, damit sie nicht angesteckt w&uuml;rde.
-Esther war au&szlig;er sich, da&szlig; man sie nicht zu Bertel lassen wollte. Drei
-Tage hielt sie es aus, ging aber jammernd und klagend umher; als
-sie nun aber h&ouml;rte, Bertel l&auml;ge im Fieber, sie d&uuml;rfe unter Wochen
-nicht zu ihm, sonst bekomme sie auch diese Krankheit, da sah sie Frau
-Booland stumm und thr&auml;nenlos an. Dann ging sie hinaus in den
-Garten, in der D&auml;mmerung aber rannte sie in einem unbewachten
-Augenblicke mit Blitzeseile nach dem Gutshofe. Hier schlich sie leise
-die Treppe hinauf, ohne gesehen zu werden und versteckte sich hinter
-einem Schranke, der neben der Th&uuml;r von Bertels Krankenstube stand.
-Dort wartete sie lange geduldig, bis sie sah, da&szlig; die W&auml;rterin und
-dann auch Frau von Ihlefeld das Zimmer verlassen hatten; da
-huschte sie zur Th&uuml;r hinein. Wirklich war in diesem Augenblicke
-niemand als der Kranke in der Stube, und mit einem leisen Jubelrufe
-st&uuml;rzte Esther zu Bertel hin, der ihr voll Entz&uuml;cken die Arme
-entgegenstreckte. &raquo;Nun bleibe ich bei dir, Bertel!&laquo; sagte Esther,
-ihm das hei&szlig;e Gesicht streichelnd, &raquo;ich halte es nicht aus ohne dich,
-und wenn du krank bist, will ich es auch werden!&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_13" id="Page_13">[Pg 13]</a></span></p>
-
-<p>Frau von Ihlefeld sah bei ihrem Eintritt voll Schrecken, wer
-an Bertels Bett sa&szlig;. &raquo;Kind,&laquo; sagte sie, Esther zur&uuml;ckziehend, &raquo;wer
-hat dir erlaubt, herzukommen, und wer hat dich hier hereingelassen?
-Willst du auch das Scharlachfieber bekommen?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ja, wenn Bertel krank ist mag ich nicht gesund sein,&laquo; rief
-Esther und schmiegte sich an den Kranken. In demselben Augenblicke
-kam Frau Booland herein, ganz au&szlig;er sich vor Angst und
-Schrecken. Sie schalt Esther wegen ihres Ungehorsams und wollte
-sie sogleich wieder mit sich fort nehmen. Esther aber weinte und
-str&auml;ubte sich und wollte bei Bertel bleiben, den sie umschlungen hielt.
-Da trat der Arzt herein und Esther flog auf ihn zu und bat, er
-m&ouml;ge erlauben, da&szlig; sie hier bleibe.</p>
-
-<p>Frau Booland aber rief angstvoll: &raquo;Nein, ich leide es nicht!
-Wenn du noch l&auml;nger bei dem Kranken bleibst, wirst du unfehlbar
-angesteckt, und mich trifft dann die Verantwortung f&uuml;r deine Thorheiten.
-Gleich komm mit mir, ehe es zu sp&auml;t ist!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Es ist schon zu sp&auml;t, Frau Booland,&laquo; sagte der Arzt leise.
-&raquo;Esther hielt den Kranken umschlungen, als ich eintrat, da ist der
-Krankheitsstoff bereits in sie &uuml;bergegangen, wenn sie &uuml;berhaupt
-daf&uuml;r empf&auml;nglich ist. Ein l&auml;ngeres Bleiben schadet jetzt nicht,
-lassen wir die Kinder ruhig beisammen; Bertel kann es nur zutr&auml;glich
-sein, Esther um sich zu haben.&laquo;</p>
-
-<p>Frau Booland war leichenbla&szlig; geworden, denn sie sah schon
-ihren Liebling von der Krankheit ergriffen in Fieberphantasien liegen;
-aber zu &auml;ndern war hier nichts mehr. Esther erhielt die Erlaubni&szlig;,
-auf dem Gutshofe zu bleiben und war gl&uuml;ckselig. Sie wich nicht
-von Bertels Lager, und sobald der Kranke nur wieder Unterhaltung
-haben durfte, war sie unerm&uuml;dlich, ihm vorzulesen, mit ihm zu
-spielen, oder ihm sonst wie die Zeit zu vertreiben. Freilich dauerte
-es nicht lange, da mu&szlig;te auch sie sich legen, von der Krankheit<span class="pagenum"><a name="Page_14" id="Page_14">[Pg 14]</a></span>
-ergriffen, und nun stellte man die Betten der Kinder neben einander.
-Frau Booland kam, ihren kleinen Liebling zu pflegen, und nach kurzer
-Zeit war es dann der genesene Hubert, der Esther unterhielt, wie
-sie es erst an seinem Bette gethan. Aber so sehr Esther auch zu
-leiden hatte, denn sie wurde bedeutend kr&auml;nker als Bertel, keine
-Klage kam &uuml;ber ihre Lippen. Sie hatte es ja so gewollt und war
-bei Bertel, da war alles gut!</p>
-
-<p>Und wie sie hier keine Furcht kannte, so zeigte sie kurze Zeit darauf
-abermals ihre muthige, selbstvergessende Liebe zu Hubert. Pastor
-Wieburg kam eines Tages sehr erregt in das Zimmer und sagte:
-&raquo;Frau Booland, lassen Sie Esther nicht auf die Stra&szlig;e; ich h&ouml;re
-soeben von unserem Knechte, da&szlig; sich ein fremder, toller Hund auf
-dem Felde vor dem Gutshofe herumtreiben soll. Die Bauern sammeln
-sich eben im Dorfe, Jagd auf ihn zu machen.&laquo; Esther blickte bei
-diesen Worten nach der Uhr. Die Zeit war ganz nahe, in der Bertel
-zu den Stunden kommen mu&szlig;te. Wenn er nun von dem tollen Hunde
-nichts wu&szlig;te und ihm vielleicht gerade in den Weg lief! Auf dem
-Felde beim Gutshofe trieb sich das Thier herum, er <em class="gesperrt">mu&szlig;te</em> es
-ja treffen! Kaum hatte Pastor Wieburg und Frau Booland den
-R&uuml;cken gewendet, als Esther in den Garten flog und durch den
-Garten hindurch auf die Landstra&szlig;e, den Weg nach dem Gutshofe
-einschlagend. In athemloser Hast st&uuml;rzte sie vorw&auml;rts, damit sie
-noch auf dem Gutshofe ankam, ehe Bertel ihn verlie&szlig;. Und wenn
-nun gar vielleicht Hector mit ihm kam, wie gew&ouml;hnlich, dann war
-die Gefahr eine doppelte; denn dieser w&uuml;rde unfehlbar den fremden
-Hund angreifen, wenn er in der N&auml;he war.</p>
-
-<p>Schon war Esther &uuml;ber ein St&uuml;ck jenes Feldes gelaufen, auf
-dem der Hund sich heruntertreiben sollte. Sie sah nichts Verd&auml;chtiges
-und rannte dem Hofthore zu, das vor ihr lag und aus dem
-jeden Augenblick Bertel treten konnte. Da pl&ouml;tzlich h&ouml;rte sie es hinter<span class="pagenum"><a name="Page_15" id="Page_15">[Pg 15]</a></span>
-sich schnaufen und r&ouml;cheln, und als sie sich umblickte, rannte der tolle
-Hund hinter ihr drein. Zur Seite springen, einen dicken Pfahl ergreifen,
-der am Wege lag, und mit diesem dem Hunde einen wuchtigen
-Hieb &uuml;ber den Kopf versetzen, war das Werk eines Augenblickes.
-Der Hund taumelte, bellte dumpf und schlich dann in der
-Richtung fort, in der er gekommen, Esther aber st&uuml;rzte in Todesangst
-ohne umzuschauen nach dem Hofthore, das sie aufri&szlig; und blitzschnell
-hinter sich wieder zuwarf. Die Leute des Gutes, die hier
-auf dem Hofe versammelt waren, um sich zur Jagd auf den Hund
-zu r&uuml;sten, sahen voll Schrecken auf Esther, deren einzige Worte beim
-Hereinfliegen waren: &raquo;Ist Bertel noch zu Haus?&laquo; Erst als er ihr
-selbst entgegentrat gab sie sich zufrieden und sank ersch&ouml;pft auf eine
-Bank im Hofe, sich den Angstschweis von der Stirn trocknend. Nun
-umringte man sie und lie&szlig; sich von ihr erz&auml;hlen, da&szlig; der tolle Hund
-ihr ganz in der N&auml;he des Hauses begegnet sei, und w&auml;hrend die
-Knechte hinauseilten, Jagd auf das ungl&uuml;ckliche Gesch&ouml;pf zu machen,
-zog Bertel sie in das Haus hinein, sie mit Vorw&uuml;rfen &uuml;bersch&uuml;ttend,
-da&szlig; sie sich um seinetwillen solcher Gefahr ausgesetzt habe.</p>
-
-<p>Esther blickte den Knaben lachend an und sagte: &raquo;Daran, da&szlig;
-<em class="gesperrt">mich</em> der Hund bei&szlig;en konnte, habe ich gar nicht gedacht, als ich
-vom Hause fortgerannt bin. Aber jetzt wird sich Tante Booland
-sch&ouml;n um mich &auml;ngstigen, nun will ich nur schnell wieder nach Haus
-laufen.&laquo; &raquo;Nicht eher, als bis der Hund unsch&auml;dlich gemacht ist!&laquo;
-rief Bertel sie zur&uuml;ckhaltend. Da aber h&ouml;rte man einen Schu&szlig; in der
-N&auml;he, und gleich darauf kamen die Leute zur&uuml;ck und erz&auml;hlten, da&szlig;
-man den Hund get&ouml;det habe, der wie betrunken umher getaumelt
-sei. &raquo;Daran ist der Schlag Schuld, den ich ihm mit dem Pfahle
-gegeben habe,&laquo; lachte Esther, und dann lief sie eiligen Schrittes wieder
-zu Frau Booland zur&uuml;ck, die in Todesangst nach ihr ausschaute. &mdash;</p>
-
-<p>So wuchsen die beiden Kinder mit einander auf Jahr um Jahr,<span class="pagenum"><a name="Page_16" id="Page_16">[Pg 16]</a></span>
-und von Liebe umgeben und gl&uuml;cklich durch stetes Beisammensein,
-vergingen ihnen die sorglos frohen Jugendjahre wie ein heller Sommertag.
-W&auml;hrend der blonde Bertel zu einem sch&ouml;nen schlanken
-Burschen emporwuchs, war Esther noch immer das braune M&auml;dchen
-mit den feurigen Augen und dunklem Haar; aber ihre Gesichtsz&uuml;ge
-wurden weicher und anmuthiger, und mit ihrem schlanken, grazi&ouml;sen
-K&ouml;rperchen war sie ein allerliebstes M&auml;del geworden. Aber ein
-Wildfang blieb sie trotz ihrer 13 Jahre, und Frau Booland hatte
-oft ihre Noth mit ihr; b&ouml;se freilich konnte niemand ihr sein. Aber
-auch geistig entwickelten sich beide Kinder sehr zur Zufriedenheit der
-Ihren, und den &raquo;kleinen Professor&laquo; besonders, wie man Bertel
-nannte, war Pastor Wieburg mit unerm&uuml;dlichem Eifer bestrebt,
-immer mehr zu f&ouml;rdern, so lange er seiner Leitung anvertraut blieb,
-denn er war ein selten begabter Knabe. Aber endlich mu&szlig;te man
-sich doch zu einer Aenderung entschlie&szlig;en, um so mehr, da Pastor
-Wieburg anfing zu kr&auml;nkeln und den Unterricht oft unterbrechen
-mu&szlig;te. Das Gymnasium der n&auml;chsten Stadt war vortrefflich, und
-so entschlossen sich Hubert's Eltern schweren Herzens, den Knaben
-k&uuml;nftige Ostern dorthin zu geben.</p>
-
-<p>Das war das erste gro&szlig;e Ereigni&szlig; in dem Leben der beiden
-Kinder. Sie hatten die Trennung, so oft auch davon die Rede war,
-doch immer in so ferne Zeiten verschoben, da&szlig; es wie ein entsetzlicher
-Donnerschlag &uuml;ber sie kam, als sie erfuhren, da&szlig; in wenig Wochen
-Hubert's Abreise erfolgen sollte.</p>
-
-<p>&raquo;Ich gehe mit dir nach H..,&laquo; sagte Esther entschlossen und stellte
-sich an Bertel's Seite. &raquo;Vater hat gewi&szlig; nichts dagegen; ich werde
-ja dann studiren wie du, und ohne dich lerne ich hier keine Zeile
-mehr, das wei&szlig; ich. Was sollst du denn ohne mich anfangen, Bertel?&laquo;</p>
-
-<p>Hubert sah das kecke M&auml;dchen nachdenklich an.</p>
-
-<p>&raquo;Ich glaube, das wird doch nicht gehen, Esther,&laquo; sagte er traurig,
-<span class="pagenum"><a name="Page_17" id="Page_17">[Pg 17]</a></span>&raquo;denn ich werde ja auf ein Gymnasium kommen, wo lauter Knaben
-sind, da pa&szlig;t kein M&auml;dchen hinein.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;So ziehe ich Knabenkleider an, das ist k&ouml;stlich, das habe ich
-mir ja immer gew&uuml;nscht!&laquo; jubelte Esther und klatschte in die H&auml;nde.</p>
-
-<p>&raquo;Aber deine langen Z&ouml;pfe?&laquo; sagte Bertel kopfsch&uuml;ttelnd.</p>
-
-<p>&raquo;O die schneide ich ab,&laquo; rief Esther fr&ouml;hlich. &raquo;Da habe ich doch
-endlich Ruhe vor Tante Booland, die fr&uuml;h Morgens immer so lange
-daran k&auml;mmt und flicht, da&szlig; mir die Geduld oft ausgeht und ich ihr
-davon laufe. Da sieh', das ist bald geschehen!&laquo; Rasch ergriff sie
-eine Scheere und that einen tiefen Schnitt in ihr prachtvolles Haar.
-Aber da trat Frau Booland in das Zimmer und ri&szlig; ihr die Scheere
-aus der Hand.</p>
-
-<p>&raquo;Bist du unklug, Kind? Was treibst du denn wieder?&laquo; rief
-sie heftig.</p>
-
-<p>&raquo;Ich gehe mit Bertel auf das Gymnasium nach H., da kann
-ich die dummen Z&ouml;pfe nicht brauchen,&laquo; entgegnete Esther, an den
-Flechten rei&szlig;end.</p>
-
-<p>&raquo;Mit auf's Gymnasium?&laquo; sagte Frau Booland lachend. &raquo;Nun
-damit hat es gute Wege, da la&szlig; nur deine Z&ouml;pfe in Ruhe, mein
-Kind. M&auml;dchen kommen da nicht hin.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich gehe auch als Junge mit, versteht sich!&laquo; rief Esther rasch.
-&raquo;Tante Ihlefeld giebt mir gewi&szlig; von Bertels Kleidern, damit ich
-gleich mit kommen kann.&laquo; Frau Booland fing herzlich an zu lachen
-&uuml;ber Esthers Pl&auml;ne, die sie f&uuml;r Scherz hielt. Als sie dann aber sah,
-da&szlig; ihr junger Wildfang wirklich im Ernst solchen Gedanken Raum
-gab, war sie still und sagte leise vor sich hin: &raquo;Im Stande w&auml;re
-sie's, glaub' ich. Das hat ihr Vater von <em class="gesperrt">der</em> Erziehung!&laquo;</p>
-
-<p>Als sie mit ihrem Sch&uuml;tzling dann am Abend allein im
-Schlafzimmer war, zog sie Esther auf ihre Knie, was sie selten that
-und sprach mild und freundlich: &raquo;Mein liebes M&auml;dchen, ich mu&szlig;<span class="pagenum"><a name="Page_18" id="Page_18">[Pg 18]</a></span>
-dir einmal etwas sagen. Du bist jetzt schon 13 Jahre alt, da wird
-es wirklich Zeit, da&szlig; du den Jungen ausziehst. Thust du es nicht
-selbst, so thun es dir andere Leute, und das ist ein schlimmes Ding.
-Dein Vater hat dich studiren und aufwachsen lassen, wie einen
-Knaben; aber du bist und bleibst trotz alledem <em class="gesperrt">doch</em> ein M&auml;dchen.
-Siehst du, ich bin nur eine einfache Frau; aber das, was sich
-schickt, besonders f&uuml;r ein junges M&auml;dchen, das du nun bald sein
-wirst, wei&szlig; ich so gut als jede gro&szlig;e Dame, da folge mir nur
-getrost. Bertel geht fort, er ist eben ein Knabe und mu&szlig; sich f&uuml;r
-seine zuk&uuml;nftige Laufbahn vorbereiten; aber mit ihm gehen kannst
-du nicht, denn das schickt sich nicht. Wozu auch? Ein M&auml;dchen hat
-einen anderen Lebenslauf vor sich, als ein Knabe. Er mu&szlig; in die
-Welt, das M&auml;dchen geh&ouml;rt in das Haus. Bis jetzt warst du ein
-Kind, da pa&szlig;te sich alles; aber nun wird das anders, das hilft
-einmal nichts und mu&szlig;t du dir gefallen lassen. F&uuml;r junge M&auml;dchen
-schickt sich vieles nicht, was sich f&uuml;r junge M&auml;nner schickt; so will
-es die Sitte, und ihr m&uuml;ssen wir uns Alle beugen. Ueber kurz oder
-lang mu&szlig;ten sich eure Wege doch scheiden, das ist so der Lauf der
-Welt und die Bestimmung des Menschen. Und nun sei verst&auml;ndig
-und mache Bertel das Herz nicht schwer mit Weinen und Klagen;
-denn dann wird ihm das Fortgehen noch viel saurer. Nicht wahr,
-Esther, daran willst du denken, ihm zu lieb?&laquo;</p>
-
-<p>Esther hatte schweigend zugeh&ouml;rt, denn Tante Booland sprach
-selten so ernst und zusammenh&auml;ngend mit ihr. Sie machte zuerst ein
-finsteres Gesicht, denn ihr Eigenwille b&auml;umte sich arg in ihr empor;
-nach und nach aber wurde sie nachdenklich, und ein tiefes Roth zog
-sich ihr &uuml;ber Stirn und Nacken. Sie bi&szlig; die Lippen fest auf einander,
-wie sie immer that, wenn sie von einem neuen Gedanken &uuml;berrascht
-wurde, sagte aber kein Wort. Auf die letzte Frage von Tante
-Booland nickte sie rasch und ernst mit dem Kopfe; dann lehnte sie<span class="pagenum"><a name="Page_19" id="Page_19">[Pg 19]</a></span>
-ihre Stirn eine lange Weile still an die Brust ihrer treuen Pflegerin,
-die ihr leise &uuml;ber das Haar strich. Endlich aber brach sie in einen
-Strom von Thr&auml;nen aus und rief jammernd: &raquo;Ach Tante Booland,
-ohne Bertel kann ich ja aber nicht leben!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Einmal mu&szlig;t du es lernen, Kind, es geht nicht anders,&laquo; sagte
-Frau Booland sanft. &raquo;Der liebe Gott giebt uns so manches Schwere
-zu tragen, und du wirst noch manchesmal in deinem Leben sagen:
-&gt;ich kann es nicht!&lt; Und doch wirst du es lernen; denn der himmlische
-Vater legt uns keine gr&ouml;&szlig;ere Last auf die Schultern, als wir zu
-tragen im Stande sind. Dir hat Gott ein starkes Herz gegeben,
-deshalb wirst du dem armen Bertel die Trennung leicht machen,
-wozu w&auml;rst du sonst seine brave, kleine Esther?&laquo;</p>
-
-<p>Das kindliche M&auml;dchen wischte sich entschlossen die Thr&auml;nen
-aus den Augen und l&auml;chelte zuversichtlich. &raquo;Ich will ihm helfen,
-Tante!&laquo; sagte sie fest, und dann legte sie sich still und ergeben in
-ihr Bettchen. Lange noch bewegten sich ihre Lippen im Gebet und
-baten um Muth und Kraft f&uuml;r die schwere vor ihr liegende Zeit,
-dann aber schlo&szlig; der Schlaf ihr die m&uuml;den Augen.</p>
-
-<p>Am andern Tage war mit Esther sichtlich eine Ver&auml;nderung
-vorgegangen. Sie war bleicher und ruhiger als sonst, und auf
-ihrem Gesicht lag ein nachdenklicher Zug. Als Hubert zum Unterricht
-kam, und Esther ihm im Garten entgegen lief, geschah es mit
-etwas z&ouml;gernden Schritten, und ein brennendes Roth flog einen
-Augenblick &uuml;ber ihre Stirn. Dann aber rief sie in ihrer alten
-muntern Weise: &raquo;Ach Bertel, unsere sch&ouml;nen Pl&auml;ne werden doch
-zu Wasser, mit dir ziehen kann ich nicht. Die andern Jungens
-w&uuml;rden doch merken, da&szlig; ich ein M&auml;dchen bin, und dann bissen
-sie mich sicher zum Neste hinaus, wo ich mich einschleichen wollte,
-wie's neulich die Schwalben mit dem Spatz machten, wei&szlig;t du
-wohl noch?&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_20" id="Page_20">[Pg 20]</a></span></p>
-
-<p>Hubert sah sehr bleich aus. Er nickte still mit dem Kopfe und
-sagte: &raquo;Ich wu&szlig;te es gleich und wollte es dir nur nicht sagen, Esther.
-Aber ich glaube, ich komme bald wieder; denn so allein ohne dich
-und ohne euch alle, &mdash; ich <em class="gesperrt">kann</em> es nicht ertragen!&laquo;</p>
-
-<p>Mit einem lauten St&ouml;hnen warf er sich auf eine Bank nieder
-und weinte so ungest&uuml;m und leidenschaftlich, wie Esther es noch
-nie von ihm gesehen hatte. Erschrocken setzte sie sich zu ihm und
-lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Dicke Thr&auml;nen rollten auch
-&uuml;ber ihr Gesicht, und ihre Brust arbeitete heftig. Aber entschlossen
-richtete sie sich bald empor, pre&szlig;te die H&auml;nde fest aufeinander und
-sagte leise: &raquo;Bertel, sei ruhig, einmal mu&szlig;test du ja fort, hier auf
-unserem Dorfe kannst du ja doch kein gro&szlig;er Gelehrter werden. Aber
-das sollst du, denn ich will stolz auf dich sein, und alle sollen
-es.&laquo; Und nun malte sie dem Knaben in heiterer Weise aus, wie
-sch&ouml;n es sein m&uuml;sse, wenn er nun zu den Ferien nach Hause kommen
-und ihnen erz&auml;hlen werde, wie er dort in der Stadt lebe,
-wie viel er jetzt lerne und studire, und welches seine Kameraden
-sein w&uuml;rden. Bertel hatte das Gesicht mit den H&auml;nden bedeckt und
-schluchzte leise.</p>
-
-<p>&raquo;Kameraden?&laquo; rief er jetzt heftig. &raquo;Sprich mir nicht von
-Kameraden! Bis jetzt habe ich noch keinen Jungen gefunden, der
-mir zugesagt h&auml;tte, und ich werde sicher auch keinen finden. Du bist
-mein liebster und einziger Kamerad, Esther, und du sollst es mir
-bleiben, das gelobe ich dir, wenn auch tausend andere um mich sein
-werden; dich ersetzt mir keiner!&laquo;</p>
-
-<p>Er ergriff Esthers Hand und blickte finster vor sich nieder, Esther
-aber sa&szlig; strahlenden Auges neben ihm. Ihre Lippen zitterten, aber
-sie sprach nicht. Sie sah ihren blonden Bertel im Geiste unter der
-Schaar anderer Knaben, und wie viel sch&ouml;ner er sein w&uuml;rde, als alle
-anderen, und wie viel kl&uuml;ger. Und doch war und blieb er <em class="gesperrt">ihr</em><span class="pagenum"><a name="Page_21" id="Page_21">[Pg 21]</a></span>
-Bertel, ihr Kamerad wie bisher. Nun wollte sie auch nicht mehr
-daran denken, wie allein, ach so trostlos allein sie sein w&uuml;rde!</p>
-
-<p>Esther hatte in Gedanken einen Zweig des Fliederbusches
-herabgezogen, unter dem sie sa&szlig;en und dessen B&uuml;schel noch kahl und
-ohne Knospen standen.</p>
-
-<p>&raquo;Wenn die bl&uuml;hen, bist du wieder hier, Bertel,&laquo; rief sie pl&ouml;tzlich
-und sch&uuml;ttelte den Zweig. &raquo;Ostern ist in diesem Jahr so fr&uuml;h,
-gerade zu Pfingsten wird dann alles bl&uuml;hen, Flieder, Goldregen,
-Schneeballen, alles, alles. Und die ersten Veilchen schicke ich dir in
-die Stadt, Bertel, denn da kannst du gewi&szlig; keine pfl&uuml;cken. Von den
-Erdbeeren aber und den Stachel- und Himbeeren in unserem Garten
-soll kein Mensch etwas bekommen, die schicke ich dir auch alle oder
-hebe sie dir auf, und auch die Haseln&uuml;sse unten am Wasser. Komm,
-wir wollen geschwind einmal nachsehen, Bertel, am Ende sind unten
-am Wasser schon Veilchen heraus, oder <span class="antiqua">Primula veris</span>. Wei&szlig;t du
-auch noch, wie die braune Pflanze hei&szlig;t, die zuerst im Fr&uuml;hjahr auf
-der Wiese bl&uuml;ht?&laquo;</p>
-
-<p>Bertel's tr&uuml;bes Gesicht war unter dem Plaudern Esthers wieder
-hell geworden; jetzt lachte er und sagte: &raquo;Ach was, Botanik ist einmal
-nicht mein Steckenpferd, ich kann mir das Zeug nicht merken.
-Verrathe mich aber nicht bei deinem Vater.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;So komm, ich will dein Mentor sein, <span class="antiqua">Tussilago</span> hei&szlig;t das
-Pfl&auml;nzchen, mein kluger Herr,&laquo; rief Esther lustig und zog ihn mit
-sich fort; denn was sie gewollt, hatte sie durch ihr Plaudern erreicht,
-Bertel verga&szlig; seine tr&uuml;ben Gedanken. Und in dieser Weise gelang
-es ihr von jetzt an stets, ihren Kameraden zu erheitern, ob ihr
-selbst auch oft das arme junge Herz zerspringen wollte vor Weh.
-Bertel durfte nicht sehen, wie schwer ihr die Trennung wurde, sonst
-w&auml;re er mit noch traurigerem Herzen von ihnen gegangen. Und wie
-gut hatte sie es doch im Vergleich mit ihm: Sie blieb zur&uuml;ck in ihrem<span class="pagenum"><a name="Page_22" id="Page_22">[Pg 22]</a></span>
-sch&ouml;nen Garten und traulichen Hause, hatte Vater und Tante Booland
-um sich, und dort dr&uuml;ben den Gutshof mit Onkel und Tante
-Ihlefeld. Alles, ihre Blumen und B&uuml;cher, ihre H&uuml;hner, Hunde,
-Katzen, die Ziegen und Kaninchen im Stall und die V&ouml;gel im
-Walde drau&szlig;en, alles blieb ihr, w&auml;hrend der arme Bertel alles verlassen
-und allein hinaus mu&szlig;te unter lauter fremde Menschen. War
-es da nicht ihre Pflicht, heiter zu sein und ihm das Herz nicht auch
-noch schwer zu machen? O Tante Booland hatte recht, <em class="gesperrt">sie</em> durfte
-Bertel nichts vorklagen!</p>
-
-<p>Aber trotz alledem wurden ihre Wangen immer bl&auml;sser, und ihre
-Augen blickten immer angstvoller um sich, je n&auml;her der Tag der Abreise
-kam. Endlich hatten die beiden Kinder den letzten Unterricht
-beim Vater gehabt, und Bertel hatte Abschied genommen. In einigen
-Stunden fuhren seine Eltern mit ihm nach der Stadt. Esther hatte
-mitfahren sollen; aber Frau Booland meinte, f&uuml;r Bertel sei es besser,
-sie th&auml;te es nicht, und so blieb sie zur&uuml;ck, willig und sanft, wie sonst
-nie, wenn etwas gegen ihren Willen war. Sie setzte sich mit einem
-Buche in die Fliederlaube, in der sie neulich mit Bertel gesessen, ihre
-Augen waren aber so roth, als sie dann zum Essen in das Zimmer
-kam, da&szlig; Frau Booland sie mit innigem Mitleiden anblickte. Vor
-ihrem Vater aber verbarg Esther, da&szlig; sie geweint, denn er konnte
-&raquo;weinerliche Frauenzimmer&laquo; nicht leiden. Es war gut, da&szlig; er viel
-von der Schule und den Lehrern sprach, wo Bertel jetzt Unterricht
-haben werde, da bemerkte er doch Esthers Kummer nicht, von dessen
-Gr&ouml;&szlig;e er keine Idee hatte. Die einfache Frau Booland wu&szlig;te das
-besser, als der gelehrte Herr Pastor.</p>
-
-<p>Es waren traurige Tage f&uuml;r Esther, diese ersten nach Bertel's
-Abreise. Wohl hatte sie sich alles vorgef&uuml;hrt, was sie an Gl&uuml;ck vor
-Bertel voraus habe, da sie zu Hause blieb, w&auml;hrend er unter fremde
-Menschen und Verh&auml;ltnisse kam; aber jetzt, nachdem er fort war,
-<span class="pagenum"><a name="Page_23" id="Page_23">[Pg 23]</a></span>f&uuml;hlte sie erst, <em class="gesperrt">was</em> sie verloren. Wie im wachen Traume ging sie
-daher, sie meinte immer, jetzt m&uuml;sse jemand kommen und sie wecken.
-War denn die Sonne nicht mehr am Himmel, da&szlig; so wenig Glanz
-&uuml;ber Garten und Wiese lag? Und waren denn das ihre lieben
-Blumen, die so wenig Farbe und Duft hatten, das ihre lustigen
-Thiere, die mit ihr sonst so fr&ouml;hlich durch den Hof und Garten
-sprangen? Und ihre B&uuml;cher, wie langweilig sahen diese Buchstaben
-sie an, das Lernen war ja eine Strafe statt wie bisher eine Lust.
-Und wie endlos war so ein Tag! Sonst kamen die Mittag- und
-Abendstunden, wo sie zum Essen gerufen wurde, immer viel zu fr&uuml;h,
-jetzt sah sie fort und fort nach der Uhr, ob denn die Stunden noch
-immer nicht rascher davongehen wollten. Nach dem Stege aber,
-auf dem Bertel jeden Morgen gekommen war, konnte sie vor Jammer
-gar nicht mehr hinsehen, und nach dem Gutshofe zog sie jetzt
-so wenig. Onkel und Tante Ihlefeld waren zwar sehr gut und lieb
-zu ihr, wie bisher; aber es war so &ouml;de in dem Hause und Hofe, und
-auch Bertel's Neufundl&auml;nder sah so traurig aus und heulte laut
-auf, wenn Esther ihn streichelte und leise sagte: &raquo;Ach Hektor, unser
-Bertel ist fort!&laquo;</p>
-
-<p>Hubert war jetzt unter eine ziemlich gro&szlig;e Zahl von Pensionairen
-aufgenommen, welche bei einem der Professoren des Gymnasiums
-wohnten. Der zarte, scheue Knabe f&uuml;hlte sich anfangs
-uns&auml;glich unbehaglich unter all' den fremden Gesichtern, und das
-laute Treiben seiner Stubengenossen war ihm sehr zuwider. Auch
-in der Klasse, unter deren Sch&uuml;lern er einer der j&uuml;ngsten war, kam
-er sich wie verloren vor; denn niemand achtete weiter auf ihn, und
-die Lehrer hatten ihre Aufmerksamkeit der ganzen Klasse zu schenken.
-Wie anders war das, als bisher bei seinem Lehrer! Aber eigentlich
-lernte es sich gut in Gemeinschaft mit so vielen, die alle dasselbe Ziel
-verfolgten. Und hier waren einige so kluge, eifrige Mitsch&uuml;ler in<span class="pagenum"><a name="Page_24" id="Page_24">[Pg 24]</a></span>
-der Klasse, da galt es flei&szlig;ig sein, wenn er es ihnen gleich thun
-wollte! Und das wollte und mu&szlig;te er, das war ohne Frage.</p>
-
-<p>So lernte er denn mit unverdrossenem Eifer und verga&szlig; dabei,
-wie einsam er unter den vielen Mitsch&uuml;lern dastand, denen er sich,
-wie es seine Neigung war und wie er Esther versprochen, nicht anschlie&szlig;en
-mochte. Aber dieses Abschlie&szlig;en reizte die andren Knaben
-zu Neckereien und Spottreden und bereitete ihm bald manchen Verdru&szlig;.
-Man gab ihm allerlei Spitznamen, nannte ihn Jungfer
-Bertel, Mutters&ouml;hnchen, Blondel, Mehlwei&szlig;chen und suchte ihn zu
-Zank und Streit aufzustacheln. Bertel that, als merke er nichts und
-k&auml;mpfte seinen Aerger tapfer nieder; denn ihm war aller w&uuml;ste
-Zank und L&auml;rm in der Seele verha&szlig;t. Das reizte seine Kameraden
-doppelt, die solche Selbst&uuml;berwindung f&uuml;r Feigheit hielten.
-Mit einem Feigling aber meinte man sich ungestraft alles erlauben
-zu k&ouml;nnen. Nun erhielt Bertel eines Tages einen langen Brief
-von Esther. Zwei seiner Stubenkameraden, die dabei zugegen
-waren, sahen, wie freudig er denselben las.</p>
-
-<p>&raquo;Von wem ist der Brief?&laquo; fragte Franz Reichard.</p>
-
-<p>&raquo;Von Esther!&laquo; entgegnete Bertel zerstreut und las eifrig weiter.</p>
-
-<p>&raquo;Esther? Wer ist Esther?&laquo; forschte Franz weiter. &raquo;Ist das
-eine Schwester von dir?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nein doch, la&szlig; mich in Ruh'! Esther ist &mdash; nun Esther ist
-Esther!&laquo; sagte Bertel kurz abweisend und kehrte Franz den R&uuml;cken.</p>
-
-<p>&raquo;Esther ist Esther! Eine sch&ouml;ne Erkl&auml;rung!&laquo; rief dieser sp&ouml;ttisch.
-&raquo;Du, Walter,&laquo; fuhr er dann lachend fort und winkte seinem Kameraden
-verst&auml;ndni&szlig;voll zu, &raquo;wei&szlig;t du schon, Jungfer Bertel ist mit
-einer alttestamentarischen Freundschaft behaftet. K&ouml;nigin Esther hei&szlig;t
-seine Coeurdame.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;I was tausend, Mehlwei&szlig;chen!&laquo; rief Walter. &raquo;Du bist ja ein
-Mordskerl! Und ein J&uuml;dchen hast du zur Freundin? Da hei&szlig;t's wohl:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_25" id="Page_25">[Pg 25]</a></span></p>
-
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">Ihrer Augen schwarze Kohlen<br /></span>
-<span class="i0">Haben mir das Herz gestohlen?<br /></span>
-</div></div>
-
-
-<p>Wahrhaftig, du bist ja ganz vernarrt in ihren Brief, la&szlig; doch
-'mal sehen, was die schwarzhaarige Sch&ouml;ne dir schreibt!&laquo; Und dabei
-blickte er frech in Esthers Brief, als wollte er ihn lesen. Bertel wurde
-dunkelroth vor Aerger, bek&auml;mpfte seinen Verdru&szlig; aber und sagte
-nur, sich rasch abwendend: &raquo;Ach Unsinn, Esther ist eine Predigertochter
-und keine J&uuml;din.&laquo; Unwillk&uuml;rlich aber blickten ihn dabei seiner
-Freundin schwarze Augen aus dem Briefe an, die allerdings einer
-kleinen J&uuml;din alle Ehre gemacht h&auml;tten, und er achtete bei diesem
-Gedankengange so wenig auf seine Umgebung, da&szlig; er nicht bemerkte,
-wie Franz sich herbeischlich und pl&ouml;tzlich einen raschen Griff nach dem
-Briefe that. Bertel jedoch hielt fest, und so bekam der Brief einen
-gro&szlig;en Ri&szlig;. Nun aber war Huberts Geduld zu Ende. Mit dem
-Rufe: &raquo;Wart', das sollst du b&uuml;&szlig;en!&laquo; flog er wie ein Pfeil auf den
-schlechten Kameraden los, fa&szlig;te ihn um den Leib und warf ihn zu
-Boden. Franz war einer der st&auml;rksten Burschen der Stube, und
-nachdem er sich von der ersten Ueberraschung erholt hatte, fing er
-an mit Bertel zu ringen. Ein hei&szlig;er Kampf entspann sich, denn
-Franz war st&auml;rker als sein Angreifer; Bertel aber besa&szlig; trotz seines
-zarten, schlanken K&ouml;rpers eine gro&szlig;e Z&auml;higkeit und Gewandtheit,
-und mit Vorsicht wu&szlig;te er sich stets gegen alle Angriffe zu decken.
-Er hatte zu Hause viel geturnt und oft mit den Dorfkindern gerungen,
-denn sein Vater pflegte zu sagen, ohne richtige Balgerei wird
-keiner ein rechter Junge. So gelang es ihm endlich, den Gegner
-zu bezwingen und ihm das Knie auf die Brust zu setzen.</p>
-
-<p>&raquo;Jetzt versprichst du mir, mich ungeschoren zu lassen!&laquo; rief er
-mit funkelnden Augen. &raquo;Ich dulde eure Flegeleien nicht l&auml;nger,
-da&szlig; ihr es nur wi&szlig;t. Wer mich nicht in Ruhe l&auml;&szlig;t, dem zeige ich,
-<span class="pagenum"><a name="Page_26" id="Page_26">[Pg 26]</a></span>da&szlig; ich F&auml;uste habe.&laquo; Und damit schlug er auf den gro&szlig;en Burschen
-so tapfer los, da&szlig; es schallte, und Walter ganz verbl&uuml;fft daneben
-stand. Franz knirschte vor Aerger, konnte sich aber nicht r&uuml;hren,
-und da er ein weicher Junge war trotz seiner groben Glieder, so bat
-er schlie&szlig;lich himmelhoch, Bertel m&ouml;chte ihn loslassen, er verspr&auml;che
-auch alles, was er verlange. Hubert sprang auf und lie&szlig; ihn frei,
-Franz aber sch&uuml;ttelte sich, strich sich die Haare glatt und dann trat
-er zu seinem Gegner heran. &raquo;Du hast mich gut verarbeitet, Bertel,&laquo;
-sagte er st&ouml;hnend und reckte seine langen Glieder. &raquo;Bis jetzt dachte
-ich, du w&auml;rst feige, weil du dir alles gefallen lie&szlig;est; aber nun habe
-ich Respect vor dir. Wer Courage hat, den lasse ich in Ruhe. Wollen
-wir Frieden schlie&szlig;en?&laquo;</p>
-
-<p>Hubert sah dem ehrlichen Burschen ganz erstaunt in das feuerrothe
-Gesicht; es war ein guter Zug darin, und Bertel ergriff ohne
-Z&ouml;gern die dargebotene Hand. &raquo;Recht gern, Franz&laquo;, sagte er herzlich,
-&raquo;mir soll's recht sein; ich bin kein Freund von Zank und Streit.&laquo;</p>
-
-<p>So hatte die Schl&auml;gerei ein gutes Ende und in ihren Folgen
-trug sie vortreffliche Fr&uuml;chte. &raquo;Bertel hat den Franz gezwungen!&laquo;
-hie&szlig; es bald in der ganzen Anstalt, und das war wie ein Orden;
-denn Franz war f&uuml;r einen t&uuml;chtigen Raufer bekannt und also nicht
-gut mit ihm anzubinden. Niemand hielt den blonden Bertel ferner
-f&uuml;r einen Feigling und wagte ihn b&ouml;swillig zu foppen; hatte derselbe
-doch auch jetzt an dem &auml;lteren Franz einen Kameraden zur Seite, der
-sich des j&uuml;ngeren in allen Dingen annahm, denn er hing dem neuen
-Sch&uuml;ler mit immer wachsender Freundschaft an. Hubert war diese
-Freundschaft zwar ganz angenehm und schmeichelhaft, eigentlich aber
-wagte er nicht recht, dieselbe anzunehmen; hatte er nicht Esther
-gelobt, sie allein solle sein Kamerad sein und bleiben? Und war
-es nicht Wortbruch, wenn er hier nun doch eine neue Freundschaft
-schlo&szlig;? Lange aber hielten solche Gedanken nicht vor; es war doch<span class="pagenum"><a name="Page_27" id="Page_27">[Pg 27]</a></span>
-eben gar zu angenehm, nicht allein dazustehen unter so viel Sch&uuml;lern,
-und Esther selbst hatte sicher nichts dagegen. Sie konnte doch einmal
-nicht bei ihm sein, warum sollte er sich da nicht an jemand aus
-seiner jetzigen Umgebung anschlie&szlig;en? Esther blieb ihm ja doch immer
-so lieb, als sie ihm je gewesen war, das verstand sich von selbst. &mdash;</p>
-
-<p>Trotz dieser Ueberzeugung sprach er in seinen Briefen an
-Esther doch nicht viel von seinem neuen Freunde. Die Scene
-aber, welche ihr Brief veranla&szlig;t hatte, berichtete er ihr getreulich,
-und Esther gl&uuml;hte vor Wonne und Stolz, da&szlig; ihr Bertel sich so
-tapfer gehalten hatte, und tief innen im Herzen regte sich etwas,
-wie ein Jauchzen, da&szlig; <em class="gesperrt">sie</em> der Anla&szlig; zu diesem ersten Kampfe
-Bertels gewesen war. Davon sagte sie aber Tante Booland nichts,
-als sie den Brief vorgelesen, sie wu&szlig;te selbst nicht warum. Freilich
-ahnte Esther nicht, da&szlig; Bertel gerade in Folge davon, da&szlig; sie es
-war, die jenen Kampf veranla&szlig;t hatte, von jetzt an sorgf&auml;ltig vermied,
-wieder von ihr zu sprechen. Er f&uuml;rchtete abermalige Neckereien
-seiner Kameraden, die ohnehin nicht ganz ausblieben; denn ab
-und zu erkundigte man sich nach seiner jungen Freundin, welche f&uuml;r
-die Knaben durch jene Schl&auml;gerei einen geheimni&szlig;vollen Reiz erhalten
-hatte. Bertel gab aber immer verlegene ausweichende Antworten,
-und wenn er Esther auch nicht v&ouml;llig verleugnete, so w&uuml;nschte er
-doch, die Sache todt zu schweigen, um die Neckereien der Jungens
-los zu werden. &raquo;M&auml;dchen passen einmal nicht in eine Jungenpension,
-nicht einmal in Gedanken!&laquo; entschuldigte er sich heimlich, und
-wirklich verging jetzt mancher Tag, wo Bertel so von seinen Arbeiten
-und seinen Kameraden in Anspruch genommen wurde, da&szlig; er seiner
-kleinen Esther gar nicht gedachte. Dann aber fiel ihm sein Unrecht
-pl&ouml;tzlich wieder schwer auf die Seele, und nun schickte er ihr, wie
-um vor sich selbst sein Erkalten wieder gut zu machen, einen so
-herzlichen, kameradschaftlichen Brief, erz&auml;hlte ihr so getreulich von<span class="pagenum"><a name="Page_28" id="Page_28">[Pg 28]</a></span>
-seinem Lernen und Leben und Treiben, da&szlig; Esther voll Entz&uuml;cken
-ihres lieben getreuen Kameraden gedachte, der sie unter all' den
-neuen Verh&auml;ltnissen nicht vernachl&auml;ssigte. Sie wollte ihm auch zeigen,
-da&szlig; sie seiner in treuer Anh&auml;nglichkeit gedachte, und trotz ihrer
-Abneigung gegen weibliche Handarbeiten m&uuml;hte sie sich jetzt h&auml;ufig
-ab, um f&uuml;r Bertel irgend etwas anzufertigen. Zum ersten Male
-im Leben zeigte sie Geduld und Ausdauer bei diesen Arbeiten. Die
-Knaben in der Pension trugen hellblaue M&uuml;tzen mit roth und silbernen
-B&auml;ndern, und wenn das Band besonders sch&ouml;n war, so
-bestanden die silbernen Streifen aus kleinen gestickten Bl&auml;tterchen.
-Eine solche M&uuml;tze hatte Bertel sich gew&uuml;nscht, und Esther sa&szlig; nun
-mit eiserner Geduld und n&auml;hte mit ihren kleinen ungeschickten Fingern
-unerm&uuml;dlich Bl&auml;ttchen um Bl&auml;ttchen, so sauer ihr auch die
-ungewohnte Arbeit wurde. Endlich war das Werk vollendet und
-zu seinem n&auml;chsten Geburtstage prangte die M&uuml;tze unter Bertels
-Geschenken, die ihm nach der Pension gesandt wurden. Ein feuriger
-Dankesbrief lohnte Esther die gewaltige M&uuml;he, und von nun an
-war sie immer mit irgend einer Arbeit f&uuml;r ihren kleinen Freund
-besch&auml;ftigt, zur stillen Freude Tante Boolands, die ihr getreulich
-beistand, wo die Schwierigkeiten gar zu gro&szlig; wurden. Aber gut
-war es, da&szlig; Esther nicht erfuhr, wie Bertel alle solche Arbeiten vor
-seinen Schulkameraden verleugnete, um sich nicht neuen Neckereien
-auszusetzen. Die M&uuml;tze machte den Anfang. Als seine Geburtstagsgeschenke
-bewundert wurden, betrachtete sein neuer Freund Franz
-mit etwas neidischen Blicken den zierlichen Streifen an der M&uuml;tze.</p>
-
-<p>&raquo;Wer hat dies gestickt, Bertel?&laquo; fragte er neugierig. Bertel
-wurde roth und wandte sich ab. &raquo;Deine Mutter?&laquo; forschte Franz weiter.
-&raquo;Ja!&laquo; sagte Bertel kurz und fing ein anderes Gespr&auml;ch an. Aber
-die L&uuml;ge brannte wie Feuer auf seiner Seele, und er schalt sich selbst
-wegen seiner Feigheit, die ihm nicht erlaubte, dem Spotte der Mit<span class="pagenum"><a name="Page_29" id="Page_29">[Pg 29]</a></span>sch&uuml;ler
-zu trotzen. &raquo;Sie w&uuml;rden mir nimmer Ruhe lassen, und ich
-k&ouml;nnte die M&uuml;tze nie tragen ohne gefoppt zu werden!&laquo; rechtfertigte
-er sich vor sich selbst; aber gegen Esther h&auml;tte er diese Untreue nie eingestehen
-m&ouml;gen. Aber freilich folgten diesem ersten Verleugnen bald
-andere, bis er sich schlie&szlig;lich gar kein Gewissen mehr daraus machte,
-alle Geschenke Esthers vor seinen Kameraden zu verheimlichen, nur
-um Ruhe zu haben.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Esther war seit Bertels Fortgang viel stiller und ernster geworden.
-&raquo;Die wilde Hummel,&laquo; wie man sie im Hause nannte, sa&szlig; jetzt oft
-stundenlang bei Tante Booland, ihr vorlesend oder auch wohl bei
-einer kleinen h&auml;uslichen Besch&auml;ftigung helfend. Nur manchmal
-sprang sie pl&ouml;tzlich rasch auf, rannte durch Hof und Garten oder
-hin&uuml;ber nach dem Gutshofe, und dann kam sie mit roth geweinten
-Augen zur&uuml;ck. Aber selten nur sprach sie es aus, wie uns&auml;glich
-Bertel ihr fehle, und wenn irgend jemand sie fragte, ob sie den
-Kameraden nicht sehr vermisse, dann zuckten ihre dunkeln Augenbrauen
-leise und sie sagte stolz: &raquo;Ein Junge kann nicht ewig mit
-M&auml;dchen spielen, er mu&szlig; fort und lernen, wenn er ein Gelehrter
-werden will.&laquo;</p>
-
-<p>Am liebsten h&ouml;rte sie es, wenn ihr Vater &uuml;ber Bertel sprach.
-Jetzt, nachdem sein Sch&uuml;ler ihn verlassen, wagte der Prediger erst
-es auszusprechen, wie gro&szlig;e Erwartungen er von Bertel hege, und
-was er f&uuml;r ein kluger, talentvoller Knabe sei. Seine Eltern lobten
-den Sohn zwar auch in unbegrenzter Weise, aber das hatten sie
-auch bisher schon gethan. Von Pastor Wieburg aber, dem strengen,
-schweigsamen Manne fiel ein Lob viel schwerer in die Wagschaale,
-als von allen anderen Menschen. Ihre eigenen Lehrstunden hatten
-f&uuml;r Esther allen Reiz verloren, seit sie allein lernte, und sie sah es
-nicht ungern, da&szlig; ihr Vater, durch k&ouml;rperliche Leiden bel&auml;stigt, diese<span class="pagenum"><a name="Page_30" id="Page_30">[Pg 30]</a></span>
-Stunden jetzt sehr beschr&auml;nkte. Nur wenn sie dem Vater bei seinen
-Arbeiten helfen konnte, wozu die gelehrte Erziehung, welche sie erhalten,
-sie wohl bef&auml;higte, dann war sie eifrig und flei&szlig;ig; und so
-verging ihr manche Stunde mit Vorlesen griechischer oder lateinischer
-B&uuml;cher, mit Nachschlagen oder Abschreiben, oder mit Niederschreiben
-von Dictaten, da der Vater seine schwachen Augen in dieser
-Weise gern schonte. Immerhin aber blieb f&uuml;r Esther jetzt viel mehr
-freie Zeit &uuml;brig als fr&uuml;her.</p>
-
-<p>&raquo;Nun wird das kleine Ding wohl endlich einmal ein Frauenzimmer
-werden!&laquo; sagte Frau Booland oft still f&uuml;r sich, wenn sie
-ihres Z&ouml;glings h&auml;ufige Musestunden mit Behagen bemerkte. &raquo;Jetzt
-kann man doch mit gutem Gewissen noch andere Dinge von ihr verlangen.&laquo;
-Aber der Geschmack an diesen anderen Dingen wollte bei
-Esther noch gar nicht kommen trotz dieser freieren Zeit, und Frau
-Booland sah nun wohl, da&szlig; ein Kind in sp&auml;teren Jahren schwer
-etwas lernt, wozu es nicht von fr&uuml;h auf angehalten wurde. Esther
-lag trotz ihrer 13 Jahre mit der Ordnung und Sauberkeit noch
-immer in ewiger Fehde, und alles andere war ihr lieber, als stricken
-und n&auml;hen oder sonstige weibliche Besch&auml;ftigungen; die Arbeit f&uuml;r
-Bertel ausgenommen. Hart konnte Tante Booland unm&ouml;glich zu
-ihrem Herzbl&auml;ttchen sein, und so that sie selbst lieber nach wie vor
-alle die Dinge, die Esther zukamen, um nur das arme Kind nicht
-allzusehr zu qu&auml;len. &raquo;Sie wird es schon von selbst machen, wenn
-sie einmal verst&auml;ndiger ist,&laquo; tr&ouml;stete sie sich selbst, &raquo;ich kann ihr die
-liebe Jugend unm&ouml;glich dadurch verbittern.&laquo; Und so blieb alles so
-ziemlich beim Alten.</p>
-
-<p>Da brachte der Winter ein schweres Leid &uuml;ber die Bewohner des
-Pfarrhauses. Pastor Wieburg wurde von einem Schlagflu&szlig; zur
-H&auml;lfte gel&auml;hmt und war unf&auml;hig, sich zu bewegen, ja fast zu sprechen
-und zu denken. Nun aber zeigte die wilde Esther pl&ouml;tzlich, da&szlig; ein<span class="pagenum"><a name="Page_31" id="Page_31">[Pg 31]</a></span>
-braver Kern in ihr verborgen lag, und sie auch still und geduldig
-sein konnte. Vereint mit Frau Booland pflegte und versorgte sie
-unerm&uuml;dlich den h&uuml;lflosen Vater und &uuml;bernahm Gesch&auml;fte, welche
-ihr bis dahin unertr&auml;glich oder langweilig gewesen waren. Stundenlang
-konnte sie still an dem Bette des Kranken sitzen, oder alles um
-ihn her ordnen und zurechtmachen, ohne ungeduldig zu werden, und
-oft stand sie selbst am Heerdfeuer, um ein Gericht zu &uuml;berwachen,
-das sie ihm nach Frau Boolands Anweisung bereitete. Die wilden
-Spr&uuml;nge und das ungest&uuml;me Davonst&uuml;rmen vertauschte sie mit leisem
-Tritt und vorsichtigen Bewegungen, und wer die besonnene, sanfte
-Esther hier am Bette des Vaters sah, der h&auml;tte das wilde Kind aus
-Wald und Wiese nicht wieder erkannt. Frau Booland stand oft mit
-gefaltenen H&auml;nden still neben dem Lager und beobachtete ihren jungen
-Liebling, und eine Thr&auml;ne stahl sich dann in ihr gutes Auge.
-&raquo;Gott segne und sch&uuml;tze das arme Herzchen!&laquo; sagte sie leise und
-seufzte tief auf, denn unwillk&uuml;rlich schweiften ihre sorgenden Gedanken
-in die Zukunft.</p>
-
-<p>Und nur zu bald sollten diese Sorgen Begr&uuml;ndung finden.
-Statt der Genesung nahte ein sanfter Tod dem Erkrankten, und Esther
-weinte schon nach wenig Wochen am Sarge ihres geliebten Vaters.
-Das fr&uuml;h verwaiste M&auml;dchen schmiegte sich in ihrem Kummer
-jetzt mit doppelter Innigkeit an das treue Herz, das ihre Kindheit
-beh&uuml;tet und bewahrt hatte.</p>
-
-<p>&raquo;O Tante Booland,&laquo; rief sie weinend, als sie an der Seite dieser
-braven Frau vom Friedhofe zur&uuml;ckkehrte und das einsame Pfarrhaus
-wieder betrat, aus dem man ihren Vater zur ewigen Ruhe hinweggetragen,
-&raquo;nicht wahr, du verl&auml;&szlig;t mich nicht auch, sondern
-bleibst bei deiner armen kleinen Esther?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nein, mein liebes Herzenskind, ich verlasse dich nicht, wenn's
-der liebe Gott nicht anders bestimmt,&laquo; sagte Frau Booland sanft und<span class="pagenum"><a name="Page_32" id="Page_32">[Pg 32]</a></span>
-streichelte die Wange des M&auml;dchens. Dabei aber flogen ihre Blicke
-unruhig und sorgenvoll hin&uuml;ber nach dem Gutshofe, und eine erwartungsvolle
-Spannung trieb sie rastlos umher, so da&szlig; sie zum ersten
-Male im Leben selbst bei ihrer N&auml;harbeit keine Ruhe fand. Rasch
-fuhr sie oft empor, als h&ouml;re sie jemand kommen, und immer wieder
-blickte sie nach dem Wege hinaus, der durch das Dorf f&uuml;hrte.</p>
-
-<p>Endlich steigerte sich die Erwartung der braven Frau bis zum
-Aeu&szlig;ersten; denn sie h&ouml;rte drau&szlig;en im Hofe Schritte und sah
-gleich darauf Frau von Ihlefelds schlanke Gestalt in das Haus
-eintreten.</p>
-
-<p>Herr und Frau von Ihlefeld hatten mit dem Pfarrhause stets
-freundlichen Verkehr gepflogen, so lange Pastor Wieburg Pfarrer
-ihres Dorfes Rahmstadt gewesen, und die Freundschaft der Kinder
-hatte die beiden H&auml;user in mannigfache Verbindung gebracht. Der
-ernste, abgeschlossene Pfarrer besuchte den Gutshof zwar nur selten;
-aber er war jederzeit dort ein geehrter und lieber Gast. Herr von
-Ihlefeld besa&szlig; wirkliche Hochachtung f&uuml;r ihn und auch die Gutsherrin,
-obwohl sie vor dem ernsten Manne eine kleine Scheu nicht &uuml;berwinden
-konnte, ehrte in demselben den w&uuml;rdigen Geistlichen und
-langj&auml;hrigen Freund. Beide Gatten aber waren vom tiefsten Danke
-beseelt f&uuml;r die treue Liebe und Hingebung, mit welcher Pastor Wieburg
-jahrelang ihren einzigen Sohn unterrichtete und ihm der sorgsamste
-Lehrer und liebevollste Erzieher gewesen war.</p>
-
-<p>Aber trotz dieses freundschaftlichen Verkehrs und trotz der steten
-Freundlichkeit, welche Esther im Gutshofe geno&szlig;, konnte man doch
-bemerken, da&szlig; Herr und Frau von Ihlefeld jederzeit etwas Zur&uuml;ckhaltendes
-im Umgang mit den Gliedern des Pfarrhauses behielten.
-Sie waren und blieben stets die adlige Herrschaft von Rahmstedt,
-und ihre Freundlichkeit glich nur zu h&auml;ufig der Gunstbezeugung
-eines H&ouml;heren gegen Niedriggestellte. Besonders die einfache Frau
-<span class="pagenum"><a name="Page_33" id="Page_33">[Pg 33]</a></span>Booland hatte oft von dem Stolze der Gutsherrin zu leiden; aber
-in ihrer Demuth klagte sie nie &uuml;ber derartige Kr&auml;nkungen. Der
-Pfarrer bemerkte dergleichen Schw&auml;chen bei seinen Freunden kaum,
-oder l&auml;chelte nur im Stillen dar&uuml;ber, Esther aber war viel zu sehr
-sorgloses Kind, um dergleichen zu empfinden.</p>
-
-<p>Bei der Erkrankung des Pfarrers aber hatten sich Herr und Frau
-von Ihlefeld theilnehmend und wahrhaft freundschaftlich bewiesen,
-und mehr als einmal hatte die Gutsherrin, wenn sie auf den leider
-zu erwartenden Trauerfall Bezug nahm, mit inniger Theilnahme
-zu Frau Booland gesagt: &raquo;Um Esthers Zukunft soll der Kranke
-keine Sorge haben, dieses lieben Kindes werden wir uns annehmen,
-das versteht sich von selbst.&laquo; Aber in welcher Weise dies geschehen
-w&uuml;rde, dar&uuml;ber sprach sie sich nie weiter aus, und so war es nat&uuml;rlich,
-da&szlig; Frau Booland der jetzigen Entscheidung mit lebhafter
-Unruhe entgegensah. Drohte der braven Pflegerin ja doch die
-Trennung von ihrem Lieblinge, der sie mit wirklich m&uuml;tterlicher Liebe
-anhing. Und doch wagte sie nicht zu klagen und solche Gedanken
-laut werden zu lassen; denn was konnte es f&uuml;r Esther's Zukunft
-denn Besseres geben, als im Hause von Bertels Eltern liebevolle
-Aufnahme zu finden? Ihre Phantasie wob dann in reger Gesch&auml;ftigkeit
-weiter an den herrlichen Zukunftstr&auml;umen f&uuml;r ihren jungen Pflegling,
-und wenn ihr auch die hellen Thr&auml;nen dabei &uuml;ber das ehrliche Gesicht
-tropften, dachte sie an die Trennung und an ihr eigenes einsames
-Leben, so schalt sie sich doch immer wieder selbst &uuml;ber solchen
-Egoismus, der noch an das eigene Gl&uuml;ck neben dem der geliebten
-Esther denken konnte.</p>
-
-<p>Und nun war der Augenblick gekommen, der ihr die Kunde
-bringen mu&szlig;te, da&szlig; Esther jetzt mit Frau von Ihlefeld gehen und
-sie allein zur&uuml;cklassen sollte! Die brave Frau Booland hatte all'
-ihre Kraft zusammen zu nehmen, um Frau von Ihlefeld ruhig und
-<span class="pagenum"><a name="Page_34" id="Page_34">[Pg 34]</a></span>mit der gew&ouml;hnlichen h&ouml;flichen Ergebenheit entgegen zu gehen. Die
-Gutsherrin war ein seltener Gast in dem Pfarrhause, nur w&auml;hrend
-der Krankheit Pastor Wieburgs hatte sie dasselbe h&auml;ufiger besucht,
-um Esther ihre Theilnahme zu beweisen; der Kranke selbst erkannte
-sie kaum noch. Hubert begleitete heute seine Mutter; denn zur Beerdigung
-seines theuren Lehrers war er auf einige Tage aus der
-Pension nach Hause gekommen. W&auml;hrend die beiden Kinder nun in
-Esthers St&uuml;bchen beisammen waren, und Bertel seine junge Freundin
-zu tr&ouml;sten und zu zerstreuen suchte, sa&szlig; im Wohnzimmer Frau
-von Ihlefeld der erregten Frau Booland gegen&uuml;ber und sagte nach
-einer kleinen Pause, w&auml;hrend welcher das Herz der ehemaligen Frau
-Schulmeisterin fast h&ouml;rbar klopfte: &raquo;Meine gute Frau Booland, ich
-habe Ihnen schon mehrfach angedeutet, da&szlig; nach Herrn Pastor Wieburgs
-Tode die Sorge f&uuml;r dessen Tochter mein und meines Mannes
-Sache sein wird; das sind wir demjenigen schuldig, der unserem Sohne
-ein so treuer, v&auml;terlicher Freund gewesen ist. Wir haben vielfach
-nachgedacht, was f&uuml;r Esther wohl das Beste sein m&ouml;chte. Wollten
-wir sie zur Lehrerin ausbilden lassen, so m&uuml;&szlig;te sie noch lange Zeit
-in eine Pensionsanstalt gehen; denn sonderbarer Weise hat sie gerade
-die Dinge, welche eine Erzieherin wissen mu&szlig;, nicht gelernt trotz
-aller Gelehrsamkeit. Moderne Sprachen kann sie nicht und mit
-Musik und Zeichnen ist es auch nicht viel geworden. Aber bei der
-Eigenth&uuml;mlichkeit Esthers w&uuml;rde sie ein solcher Aufenthalt sehr ungl&uuml;cklich
-machen, denke ich mir. Das Einfachste w&auml;re, sie zu uns
-in das Haus zu nehmen. Aber auch dagegen spricht vieles. Esther
-ist ein armes M&auml;dchen, eines schlichten Landpredigers Tochter, angewiesen
-auf eine Zukunft voll bescheidener Aussichten und einfacher
-Lebensstellung. In unserem Hause aber w&uuml;rde sie sehr verw&ouml;hnt
-werden, w&uuml;rde Anspr&uuml;che lernen, welche f&uuml;r ein M&auml;dchen b&uuml;rgerlicher
-Herkunft und ohne Verm&ouml;gen nicht passend w&auml;ren. Und doch
-<span class="pagenum"><a name="Page_35" id="Page_35">[Pg 35]</a></span>w&uuml;rde es, glaube ich, kr&auml;nkend f&uuml;r sie sein, wollte ich, um diese
-Uebelst&auml;nde zu vermeiden, ihr eine untergeordnete Stellung in
-unserem Hause zuweisen.</p>
-
-<p>So haben wir denn beschlossen, ihr ein kleines Eigenthum
-zu schenken, in dem sie mit dem m&uuml;tterlichen Verm&ouml;gen, welches ihr
-geblieben ist, eine bescheidene selbst&auml;ndige Existenz finden kann. Sie,
-meine brave Frau Booland, w&uuml;rden ein gutes Werk thun, wenn
-Sie Esther zur Seite blieben, wie bisher. Das kleine Haus, das
-neben der F&ouml;rsterei liegt, und ein St&uuml;ckchen Garten und Feld soll
-Esthers Eigenthum werden. Ich denke, das wird ihr lieb sein,
-besonders wenn sie h&ouml;rt, da&szlig; es Bertels Idee war, ihr dies zu
-schenken; er glaubt, der nahe Wald wird f&uuml;r Esther einen besonderen
-Reiz haben. Er ist immer so sinnig und gut, unser braver Sohn,
-und m&ouml;chte jedem eine Freude machen, und wir kommen seinen
-W&uuml;nschen immer gern nach, wenn es m&ouml;glich ist. Ich denke, Esther
-wird sich gegen uns und gegen Hubert auch stets dankbar beweisen,
-denn sie ist ja ein liebes, bescheidnes M&auml;dchen und wird es hoffentlich
-auch stets bleiben. Nun aber rufen Sie mir Esther, liebe Booland,
-damit ich mit ihr &uuml;ber diese Sachen sprechen kann.</p>
-
-<p>Frau Booland war froh, da&szlig; sie einen Grund hatte, hinaus
-zu gehen; denn in ihr jagten und &uuml;berst&uuml;rzten sich tausend Gedanken
-und Gef&uuml;hle, und doch wagte die bescheidene Frau nicht, dieselben
-gegen die stolze Gutsherrin auszusprechen. Mit einer leichten Verbeugung
-erhob sie sich vom Stuhle und schritt dann rasch zum Zimmer
-hinaus.</p>
-
-<p>&raquo;Gott sei Dank, da&szlig; ich fort konnte!&laquo; sagte sie tief aufathmend
-und legte die gro&szlig;e Hand wie beruhigend auf ihr wei&szlig;es Brusttuch.
-&raquo;Ist das eine Welt! Sind das Menschen! Hochmuth, Hochmuth
-und nichts als Hochmuth! Ja, sorgen wollen sie f&uuml;r das arme,
-herzige Kindchen; aber mit welcher Miene, welcher beleidigenden<span class="pagenum"><a name="Page_36" id="Page_36">[Pg 36]</a></span>
-Art und Weise! Die F&uuml;&szlig;e soll sie ihnen wo m&ouml;glich daf&uuml;r k&uuml;ssen,
-und da&szlig; sie sich nur ja nicht etwa untersteht, sich jemals ihres Gleichen
-zu d&uuml;nken! Und da mu&szlig; Bertel erst noch kommen und ihnen
-den Weg zeigen, und eigentlich ist's nur, um ihm einen Wunsch zu
-erf&uuml;llen, sonst h&auml;tten sie es sicher gar nicht gethan. Nun Gott sei
-Dank, da&szlig; es so gekommen ist, da kann ich doch bei meinem Herzbl&auml;ttchen
-bleiben! Mir konnte ja kein gr&ouml;&szlig;eres Gl&uuml;ck passiren.
-Aber f&uuml;r Esther! Nein, nein, auch f&uuml;r Esther ist es besser so, als
-um Gotteswillen in einer Familie zu leben, die ihr hochm&uuml;thig das
-B&uuml;rgerblut vorwirft und sie wohl gar zum Hauspudel herabw&uuml;rdigen
-m&ouml;chte. Was? Meine Esther, dies kluge, liebreizende Gesch&ouml;pfchen,
-meine Wonne und mein Augentrost, die Gespielin des
-braven Bertel, soll die etwa Kammerjungfer der gn&auml;digen Frau
-werden, damit sie nur nicht vergi&szlig;t, da&szlig; sie kein <em class="gesperrt">von</em> vor ihrem
-Namen hat und also nicht werth ist, in Gemeinschaft mit solchen hochgebornen
-Leuten die F&uuml;&szlig;e unter den Tisch zu stecken? Nein, mein
-Goldkind, das litte ich nun und nimmer, da wollte ich mir lieber
-die H&auml;nde abarbeiten, um dich vor solcher Existenz zu bewahren.
-Aber so sind sie nun, diese vornehmen Leute! Den Sohn herzuschicken
-Tag f&uuml;r Tag, da&szlig; er von unserem Herrn Pastor die sch&ouml;nsten
-gelehrtesten Dinge lernt, von denen sie sich alle zusammen kein T&uuml;telchen
-k&ouml;nnen tr&auml;umen lassen, dazu sind sie nicht zu vornehm, das
-nehmen sie von dem armen b&uuml;rgerlichen Pfarrer recht gern an Jahr
-f&uuml;r Jahr. Aber der Dank daf&uuml;r, wenn er auch schlie&szlig;lich gegeben
-wird, hat einen gar unangenehmen Beigeschmack. Nun Estherchen
-soll's aber nicht merken, das liebe unschuldige Herz; sie soll nur die
-Freude von dem Geschenk haben, mir z&auml;hen Alten kann der Beigeschmack
-doch nichts mehr schaden.&laquo;</p>
-
-<p>Unter derartigen Worten und Gedanken hatte Frau Booland
-das Zimmer erreicht, in dem Hubert und Esther beisammen sa&szlig;en.<span class="pagenum"><a name="Page_37" id="Page_37">[Pg 37]</a></span>
-Bertel hatte seiner kleinen Freundin bereits den Plan mitgetheilt,
-den seine Mutter Frau Booland er&ouml;ffnete; aber freilich in sehr anderer
-Weise, als Frau von Ihlefeld es gethan. So fand denn Tante
-Booland ihren jungen Liebling mit freudig strahlenden Augen und
-gl&uuml;henden Wangen an Bertels Seite sitzend, und voll Entz&uuml;cken flog
-sie ihrer braven Pflegemutter entgegen und verk&uuml;ndete ihr die erfreuliche
-Neuigkeit. Frau Booland lachte mit ihr durch ihre Thr&auml;nen
-hindurch, dann aber f&uuml;hrte sie beide Kinder zu Frau von Ihlefeld
-hinab. Hier hatte sie die Genugthuung, zu bemerken, da&szlig; Hubert,
-als seine Mutter anfing, auch gegen Esther von der bescheidenen
-Lebensstellung und Herkunft zu sprechen, an welche sie allein Anspr&uuml;che
-machen k&ouml;nne, pl&ouml;tzlich feuerroth wurde und heftig sagte:
-&raquo;Mama, la&szlig; doch, das ist ja alles ganz egal. Ich bin Esthers Bruder,
-und also ist Esther ebensoviel als ich. Sie hat mir versprochen,
-sie will als meine Schwester alles von mir annehmen, wenn sie etwas
-braucht, und als erstes Geschenk gebe ich ihr das h&uuml;bsche kleine Haus,
-niemand anders, nicht wahr? So hast du's mir wenigstens versprochen,
-Mama. Esther hat sich auch schon bei mir bedankt; aber
-eigentlich braucht sie das gar nicht, da sie meine Schwester ist.&laquo;</p>
-
-<p>Frau von Ihlefeld war sehr roth geworden bei dem kindischen
-Gespr&auml;ch ihres Sohnes; doch l&auml;chelte sie und sagte ausweichend:
-&raquo;Schon gut, lieber Bertel! Esther wird sich hoffentlich recht wohl in
-der neuen Heimath f&uuml;hlen und ihr Vaterhaus nicht zu schmerzlich
-entbehren. Wir aber, mein liebes Kind, wollen dir auch ferner treu
-zur Seite stehen, das verspreche ich dir.&laquo;</p>
-
-<p>Dabei k&uuml;&szlig;te sie das junge M&auml;dchen liebevoll, und Esther weinte
-bald, bald lachte sie wieder, innig aber dankte sie f&uuml;r alle Liebe und
-G&uuml;te, die ihr zu Theil wurde. Und wie viel Grund hatte sie zu
-Gl&uuml;ck und Freude! Der Gedanke, ihr liebes Dorf nicht verlassen
-zu m&uuml;ssen, in der N&auml;he von Bertel und dessen Eltern zu bleiben,<span class="pagenum"><a name="Page_38" id="Page_38">[Pg 38]</a></span>
-und bei der Pflegerin ihrer Kindheit, der treuen Tante Booland,
-ferner leben zu k&ouml;nnen &mdash; es war eine sch&ouml;ne, begl&uuml;ckende Aussicht
-mitten in ihrer Tr&uuml;bsal, und sie gab sich diesem Gl&uuml;cke mit vollem
-Herzen hin.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>So sehen wir denn mit dem beginnenden Fr&uuml;hjahr unsere kleine
-Esther als Bewohnerin eines h&uuml;bschen, freundlichen H&auml;uschens, das
-rings von einem netten G&auml;rtchen umgeben ist. Unmittelbar hinter
-dem Hause erhebt sich der dichte Laubwald, und in einiger Entfernung
-davon liegen die H&auml;user des Dorfes und der Gutshof. In
-n&auml;chster Nachbarschaft steht das Haus des F&ouml;rsters, und Esther sowohl
-als ihre treue Tante Booland sind hier wie im ganzen Dorfe
-liebe, gern gesehene G&auml;ste. Ein harmlos gl&uuml;ckliches, friedliches Dasein
-erbl&uuml;hte f&uuml;r Esther in dieser traulichen H&auml;uslichkeit, sie selbst
-aber wuchs heran zu einem frischen, sch&ouml;nen, fr&ouml;hlichen M&auml;dchen,
-das alle Menschen lieb hatten.</p>
-
-<p>Mehr als ein Jahr war so vergangen, da durchlief eine schreckliche
-Kunde das Dorf Rahmstedt. Oft schon hatte man sonderbare Gestalten
-auf dem Gutshofe ein- und ausgehen sehen, sch&auml;big gekleidete,
-j&uuml;dische M&auml;nner. Man sprach vom Verkauf des Gutes und von gro&szlig;en
-Verlusten, welche Herr von Ihlefeld gehabt habe, eines Morgens
-aber fand man den ungl&uuml;cklichen Gutsherrn erschossen in seinem Zimmer.
-Ein Brief an seine Gattin sagte dieser, da&szlig; sie am Bettelstabe
-w&auml;ren in Folge ungl&uuml;cklicher Speculationen, in welche er sich eingelassen
-habe, und da&szlig; er nicht im Stande sei, diesen Schlag zu &uuml;berleben.
-Auch sie und seinen armen Sohn habe er durch seinen Leichtsinn
-ungl&uuml;cklich gemacht, das k&ouml;nne er nicht mit ansehen. Dem Todten
-w&uuml;rden sie eher verzeihen als dem Lebenden, darum scheide er lieber
-von ihnen.</p>
-
-<p>Es war ein furchtbarer Schlag f&uuml;r die ungl&uuml;ckliche Frau. Sie,
-die so stolz und erhaben &uuml;ber all' denen gestanden hatte, welche sie<span class="pagenum"><a name="Page_39" id="Page_39">[Pg 39]</a></span>
-umgaben, sie mu&szlig;te es nun ertragen, da&szlig; man sie von ihrer H&ouml;he
-st&uuml;rzte und sie hinausstie&szlig; in die Welt, arm und h&uuml;lflos wie das
-&auml;rmste Weib ihres Dorfes. Das ganze prachtvolle Gut ging in
-andere H&auml;nde &uuml;ber, und die arme Frau rettete von der ganzen Habe
-kaum so viel, sich vor der bittersten Noth zu sch&uuml;tzen. Wie verzweifelt
-irrte sie durch die w&uuml;sten Zimmer des sch&ouml;nen Hauses, nicht
-wissend, wohin sie sich wenden sollte in ihrem grenzenlosen Elend;
-denn erbarmungslos achteten die hartherzigen Gl&auml;ubiger wenig ihres
-Kummers. Suchte doch jeder so schnell wie m&ouml;glich sich f&uuml;r seine
-Verluste an dem hinterlassenen Besitzthum schadlos zu halten, und
-obwohl der Todte noch nicht bestattet, w&uuml;hlten doch schon fremde
-H&auml;nde in seinen Papieren und versiegelten die ganze Hinterlassenschaft.
-Da flogen hastige Schritte die Stufen der Freitreppe hinauf,
-und an das Herz der trostlosen Wittwe schmiegte sich weinend und
-z&auml;rtlich ein schlankes M&auml;dchen. Es war Esther. Noch zitterte das
-Entsetzen &uuml;ber die f&uuml;rchterliche Nachricht in allen ihren Gliedern;
-aber der ungl&uuml;cklichen Frau gedenkend k&auml;mpfte sie alle andern Gef&uuml;hle
-nieder und gab nur dem einen Raum: der Mutter Bertels
-H&uuml;lfe und Trost zu bringen so viel in ihren Kr&auml;ften stand. Und sie
-konnte es ja, dem Himmel sei Dank, konnte es durch die einstige
-G&uuml;te derer, denen sie nun helfen wollte. Jetzt war sie ja die Reiche
-ihren ehemaligen Wohlth&auml;tern gegen&uuml;ber und konnte ihnen den Zins
-abtragen f&uuml;r so viele G&uuml;te und Liebe. O wie gl&uuml;cklich machte sie
-der Gedanke, und mit welchem Entz&uuml;cken erf&uuml;llte sie diese Aussicht!</p>
-
-<p>Frau von Ihlefeld umschlang Esther mit einem Schrei der Verzweiflung,
-und dann brach sie in einen Strom von Thr&auml;nen aus.
-Bis dahin hatte das Entsetzen &uuml;ber das furchtbare Schicksal, das sie
-betroffen, wie eine Felsenlast auf ihr gelegen und sie aller Thr&auml;nen
-und aller klaren Gedanken beraubt. Beim Anblick des Kindes aber,
-das weinend an ihr Herz sank, wich der Bann, der auf ihr lastete,<span class="pagenum"><a name="Page_40" id="Page_40">[Pg 40]</a></span>
-und sie fand erl&ouml;sende Thr&auml;nen. Als die arme Frau endlich ruhiger
-wurde, da schlang Esther ihre Arme um sie und zog sie mit sich
-hinaus aus den w&uuml;sten, unheimlichen R&auml;umen, in denen so Schreckliches
-&uuml;ber sie gekommen war, und f&uuml;hrte sie schweigend nach ihrem
-eigenen kleinen Hause am Walde.</p>
-
-<p>&raquo;Hier ist jetzt Ihre Heimath, liebe Tante Ihlefeld,&laquo; sagte Esther
-freudig. &raquo;Bertel hat mich seine Schwester genannt, so habe ich also
-ein Recht, unsere theure Mutter in meinem Hause zu haben und zu
-pflegen, denn es ist ja auch das Ihre. Nicht wahr, Tante Ihlefeld,
-Sie bleiben bei uns?&laquo;</p>
-
-<p>Frau von Ihlefeld verbarg ihr Gesicht in den H&auml;nden und
-weinte bitterlich. &raquo;O Kind, Kind,&laquo; schluchzte sie, &raquo;Gott segne dich, du
-bist ein braves M&auml;dchen! O, was wird Bertel sagen!&laquo; Und wieder
-brach das ungl&uuml;ckliche Weib unter der Last ihres Jammers zusammen.
-Aber in der jetzigen Umgebung fand sie doch eher Ruhe und
-Fassung, und Esther, wie auch die gute, einfache Frau Booland verstanden
-es, ihr das schwere Schicksal zu erleichtern.</p>
-
-<p>Und nun kam Hubert. Man hatte ihm erst nach und nach das
-schreckliche Schicksal mitgetheilt, das &uuml;ber ihn und seine Mutter
-hereingebrochen war, und der arme Knabe war wie vernichtet von
-der Nachricht. Einer seiner Lehrer begleitete ihn nach Rahmstedt,
-da er den Fassungslosen nicht allein lassen wollte, und es war ihm
-gelungen, den armen Bertel wenigstens so weit zu beruhigen, da&szlig;
-er der Mutter gegen&uuml;ber seinen Kummer zu beherrschen versprach,
-um dieselbe nicht noch ungl&uuml;cklicher zu machen. Esther hatte mit
-gro&szlig;er Umsicht daf&uuml;r gesorgt, da&szlig; Hubert bei seiner Ankunft den
-Gutshof gar nicht betrat. In ihrem H&auml;uschen fand das ersch&uuml;tternde
-Wiedersehen statt zwischen Mutter und Sohn, und hier bereitete Esther
-auch f&uuml;r Bertel die Wohnung. So klein das Haus war, die unteren
-R&auml;ume gen&uuml;gten f&uuml;r sie und f&uuml;r Tante Booland, die oberen aber
-geh&ouml;rten Frau von Ihlefeld und Bertel.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_41" id="Page_41">[Pg 41]</a></span></p>
-
-<p>Ein ganz neues Leben begann nun f&uuml;r unsere Esther. Sie hatte
-die Sorge f&uuml;r zwei geliebte Wesen &uuml;bernommen, das forderte all' ihre
-Kr&auml;fte heraus sowohl des Geistes als des K&ouml;rpers. Die Mittel
-zum t&auml;glichen Unterhalt waren sehr beschr&auml;nkt; denn Frau von Ihlefeld
-rettete aus den Tr&uuml;mmern ihres Besitzthums nur einen ganz
-unbedeutenden Rest. Und doch galt es, die arme verw&ouml;hnte Frau
-nicht allzuschmerzlich f&uuml;hlen zu lassen, was sie alles zu entbehren
-hatte, vor allem aber galt es, Bertels Pension weiter zu bezahlen,
-damit er seine Studien nicht unterbrechen mu&szlig;te. Und doch besa&szlig;
-Esther nur das kleine m&uuml;tterliche Verm&ouml;gen, welches gerade f&uuml;r ihre
-eigenen bescheidnen Bed&uuml;rfnisse ausreichte. Aber sie blickte mit frohem
-Muthe all' diesen Schwierigkeiten in das Antlitz. Sie hatte versprochen,
-f&uuml;r Bertel und dessen Mutter zu sorgen, und nun mu&szlig;te
-sie auch die Mittel dazu finden.</p>
-
-<p>&raquo;Ich bin gesund und kann arbeiten, Tante,&laquo; sagte sie entschlossen
-zu Frau Booland, als diese bedenklich hin und her &uuml;berlegte, wie
-man sich einzurichten habe. &raquo;Bis jetzt habe ich dir und andern &uuml;berlassen,
-f&uuml;r mich zu arbeiten, nun will ich selbst mit angreifen, dadurch
-ersparen wir gewi&szlig; manche Ausgabe. F&uuml;r fremde H&uuml;lfe d&uuml;rfen wir
-jetzt nichts mehr bezahlen, denn du sollst sehen, deine faule, kleine
-Esther wird die H&auml;nde besser r&uuml;hren als bisher.&laquo;</p>
-
-<p>Wirklich fing das junge M&auml;dchen jetzt mit energischem Entschlusse
-an, sich des Hauswesens und aller sonstigen Gesch&auml;fte anzunehmen.
-Nur die groben Arbeiten in Haus, Hof und Garten &uuml;berlie&szlig; sie
-einer jungen Magd, bei allen andern Gesch&auml;ften in K&uuml;che und Haus
-aber und allen Arbeiten der Nadel stand sie der flei&szlig;igen Frau Booland
-jetzt unerm&uuml;dlich zur Seite. Die fr&uuml;he Morgenstunde fand
-Esther schon in voller Th&auml;tigkeit; denn fr&uuml;h m&uuml;&szlig;te sie anfangen,
-wollte sie mit allem fertig werden, was sie &uuml;bernommen hatte. Mit
-wahrhaftem Heroismus griff sie in den vor ihr stehenden hochauf<span class="pagenum"><a name="Page_42" id="Page_42">[Pg 42]</a></span>gepackten
-Korb, in dem die W&auml;sche Bertels und seiner Mutter ihrer
-ausbessernden Hand wartete, und wenn die ungewohnte Arbeit sie
-auch manchen Seufzer und manchen Schweistropfen kostete, das
-brave Kind verlor die Ausdauer nicht. Sie hatte die Pflichten einmal
-&uuml;bernommen, so wollte sie auch nicht als Feigling der Fahne
-wieder entfliehen, der sie Treue gelobt. Die sorglose Esther fr&uuml;herer
-Tage, welche leichtsinnig alle M&uuml;he des Ordnens und Aufr&auml;umens
-ihrer nachsichtigen Pflegemutter &uuml;berlie&szlig;, sie trippelte schon von fr&uuml;h
-ab gesch&auml;ftig im Hause herum, f&uuml;r Tante Ihlefeld alles fertig zu
-machen, was diese bedurfte. Mit dem Morgenkaffee erschien Esthers
-lachendes Gesichtchen in dem stillen Zimmer ihres Gastes und verscheuchte
-die traurigen Gedanken, welche auf der gebeugten Frau
-lasteten. Gesch&auml;ftig r&auml;umte sie die beiden Zimmer auf, welche Frau
-von Ihlefeld bewohnte; denn es war ihr Stolz, dies selbst zu machen;
-niemand durfte ihr das abnehmen. Dann half sie derselben bei
-ihrem Anzuge, k&auml;mmte ihr das sch&ouml;ne blonde Haar, das Bertel von
-der Mutter geerbt, und verrichtete freiwillig und eifrig alle Dienste
-einer Kammerjungfer bei der verw&ouml;hnten Frau, welche nie im Leben
-selbst dergleichen Dinge gethan hatte. Was Frau Booland einst
-mit Zorn und Unwillen erf&uuml;llte, der Gedanke, da&szlig; ihr Goldkind
-Esther eine dienende Stellung bei Frau von Ihlefeld einnehmen
-k&ouml;nnte, das war jetzt etwas so Selbstverst&auml;ndliches geworden, da&szlig;
-auch Tante Booland es nur loben konnte. Aber freilich, unter wie
-andern Verh&auml;ltnissen geschah es jetzt!</p>
-
-<p>&raquo;Es ist wirklich ein Prachtm&auml;del, die Esther!&laquo; dachte Frau
-Booland eines Tages und blickte voll Stolz in das frische, br&auml;unliche
-Gesicht ihres Lieblings, das von Eifer und Freudigkeit gl&uuml;hte,
-w&auml;hrend es sich &uuml;ber einen feinen Kuchenteig b&uuml;ckte, zu dessen Bereitung
-ihre Pflegemutter sie angeleitet hatte.</p>
-
-<p>&raquo;Wenn sie etwas ordentlich will, dann kann sie es auch. F&uuml;r sich<span class="pagenum"><a name="Page_43" id="Page_43">[Pg 43]</a></span>
-selbst h&auml;tte sie nie einen Finger ger&uuml;hrt und lieber nie einen Bissen
-Kuchen gegessen, wenn sie ihn h&auml;tte selbst backen sollen. Aber wen
-sie lieb hat, f&uuml;r den thut sie alles und ginge durch's Feuer.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Tante Ihlefeld wird einmal staunen, wenn ich ihr morgen
-fr&uuml;h mit dem Kaffee diesen Lieblingskuchen bringe!&laquo; rief Esther fr&ouml;hlich.
-&raquo;Dem Bertel m&ouml;chte ich auch davon schicken, er i&szlig;t ihn auch
-so gern, und eine kleine Freude w&uuml;rde ihm jetzt so gut thun, dem
-armen Jungen. Meinst du nicht auch, Tante?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Gewi&szlig;, mein Goldkind, thue es nur!&laquo; entgegnete Frau Booland.
-&raquo;Aber streiche die Butter nicht gar zu dick darauf, mein Schatz,
-es ist unn&uuml;tz und Butter ist theuer.&laquo;</p>
-
-<p>Esther blickte betroffen auf. &raquo;Da ist wohl eigentlich mein ganzer
-Gedanke unklug gewesen, Tante,&laquo; sagte sie nachdenklich. &raquo;Kuchenbacken
-kostet Geld, daran dachte ich nicht, wir m&uuml;ssen ja sparsam
-sein.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;La&szlig; nur, Kind,&laquo; beruhigte Frau Booland, &raquo;du wolltest der
-gn&auml;digen Frau eine Freude machen und sie mit etwas aufheitern,
-da sind die paar Groschen keine Verschwendung. Wir wollen sie
-schon anderweitig wieder ersparen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Tante, was meinst du!&laquo; rief Esther, &raquo;ich werde mir den Kaffee
-abgew&ouml;hnen, er erhitzt mich doch nur und das ist gleich eine Ersparni&szlig;.
-Was ich bisher an Kaffee und Zucker verbrauchte, bringe ich
-jetzt Tante Ihlefeld, da kostet es nicht mehr als bisher. Und meine
-Wei&szlig;brodchen k&ouml;nnen wir auch sparen. Ich trinke ein Glas Milch,
-wenn's hoch kommt, und dazu schmeckt Schwarzbrod vortrefflich. Besinne
-dich einmal, was k&ouml;nnte man denn noch weiter sparen. Du hast
-mich so verw&ouml;hnt, liebste Tante, da&szlig; ich gar nicht wei&szlig;, was entbehren
-hei&szlig;t. Und doch w&auml;re es mir eine so gro&szlig;e Wonne, f&uuml;r Tante Ihlefeld
-und Bertel mir <em class="gesperrt">recht</em> gro&szlig;e Entbehrungen aufzuerlegen.&laquo;</p>
-
-<p>In dieser Opferfreudigkeit fand sie denn noch tausend kleine
-<span class="pagenum"><a name="Page_44" id="Page_44">[Pg 44]</a></span>Dinge, welche sie als unn&uuml;tz aufgab; bald die Butter auf dem
-Vesperbrode, bald Obst oder Honnig oder Fleischwerk. Dann
-opferte sie auch allerlei &uuml;berfl&uuml;ssige Kleinigkeiten an ihrer Kleidung,
-um Ersparungen zu machen: das farbige Band ihres schwarzen
-Haares und die bunte Schleife am Kragen wurden f&uuml;r festliche Gelegenheiten
-in den Kasten gelegt, und die seidene Sch&uuml;rze ersetzte
-jetzt eine von Kattun oder Wolle. Wo sie in ihrer Lebendigkeit sich
-bisher wenig darum gesorgt hatte, wenn ein Ri&szlig; ihr Kleid verdarb,
-oder Schmutzflecke es unbrauchbar machten, da wachte sie jetzt mit
-&auml;ngstlicher Sorgfalt dar&uuml;ber, ihren Anzug zu schonen, damit er um
-so l&auml;nger hielt und die Ausgaben f&uuml;r neue Sachen erspart blieben.
-Was sie aber Sch&ouml;nes oder Zierliches besa&szlig; und geschenkt bekam,
-das trug sie hinauf zu ihrer lieben Tante Ihlefeld, um dieser ein
-L&auml;cheln oder einen freundlichen Blick zu entlocken. Jeden Morgen
-stellte sie frische Blumen auf den Tisch des Wohnzimmers, brachte
-die bl&uuml;henden Pflanzen, welche ihr Fenster schm&uuml;ckten, hinauf in das
-St&uuml;bchen der Wittwe, und immer fand sie irgend eine kleine Gabe,
-welche sie mit dem Fr&uuml;hst&uuml;ck auf den Tisch stellte. Den weichen
-Lehnstuhl ihrer verstorbenen Mutter setzte sie in Frau von Ihlefelds
-Fenster, und ihren eigenen zierlichen N&auml;htisch davor. Gestickte Kissen
-und Fu&szlig;b&auml;nke, ihren kleinen Teppich und ihre feinsten Gardinen,
-alles brachte sie herbei, die Wohnung freundlich auszuschm&uuml;cken,
-und selbst ihr zahmer Kanarienvogel erhielt dort am Fenster sein
-Pl&auml;tzchen und zwitscherte der traurigen Frau seine fr&ouml;hlichen Lieder
-zu, als wollte er auch helfen ihre tr&uuml;ben Gedanken zu verscheuchen.</p>
-
-<p>Frau von Ihlefeld dankte Esther f&uuml;r diese liebende Sorge mit
-wehm&uuml;thigem L&auml;cheln und thr&auml;nendem Auge. In der ersten Zeit,
-welche ihrem Ungl&uuml;ck folgte, war sie wie bet&auml;ubt von dem entsetzlichen
-Schlage und unf&auml;hig, f&uuml;r sich selbst zu denken und zu sorgen.
-So wurde Esthers Liebe f&uuml;r sie ein doppelter Segen. Nach und<span class="pagenum"><a name="Page_45" id="Page_45">[Pg 45]</a></span>
-nach aber begann sie, selbst zu sorgen und zu &uuml;berlegen, in welcher
-Weise sich ihre und ihres Sohnes Zukunft gestalten sollte. Ihr Gatte
-hatte ihr stets alles fern gehalten, was die Sorge f&uuml;r das t&auml;gliche
-Leben betraf, und hatte der zarten Frau nie Einblick in seine Gesch&auml;fte
-und Unternehmungen gestattet, um sie nicht zu beunruhigen.
-So stand sie denn doppelt h&uuml;lflos ihrem Schicksale gegen&uuml;ber. Nahe
-Verwandte besa&szlig; sie selbst nicht, und denen ihres Gatten hatte sie
-stets ziemlich fern gestanden. Jetzt jedoch wandte sie sich an dieselben,
-H&uuml;lfe und Rath von ihnen erbittend. Nun aber erfuhr sie erst,
-da&szlig; auch diese Verwandten durch den Ruin ihres Gatten bedeutende
-Verluste erlitten hatten und in Folge davon wenig geneigt waren,
-noch weitere Opfer zu bringen. Frau von Ihlefelds Stolz str&auml;ubte
-sich unter diesen Verh&auml;ltnissen auch dagegen, von denen H&uuml;lfe anzunehmen,
-welche ihrem Gatten z&uuml;rnen mu&szlig;ten, und so legte sie
-allein Gott ihre und ihres Sohnes Zukunft an das Herz. Von Esther
-Opfer anzunehmen, kr&auml;nkte sie nicht; denn sie f&uuml;hlte nur zu sehr,
-da&szlig; es einzig Liebe und Dankbarkeit war, welche diese zu allem antrieb,
-und so war und blieb das junge M&auml;dchen nach wie vor die
-einzige Versorgerin der einst so stolzen Frau.</p>
-
-<p>Das Verh&auml;ltni&szlig; zwischen Esther und Frau von Ihlefeld gestaltete
-sich mehr und mehr so herzlich und innig, als es unter den fr&uuml;heren
-Umst&auml;nden nie der Fall gewesen w&auml;re, und auch die brave Frau
-Booland hatte jetzt keinen Grund mehr, sich &uuml;ber den Stolz der
-gn&auml;digen Frau zu beklagen.</p>
-
-<p>Um Esther doch auch etwas Freundliches zu erzeigen, unterwies
-Frau von Ihlefeld dieselbe jetzt im Franz&ouml;sischen, was Esther bei
-ihrem Vater nicht gelernt hatte. &raquo;Man kann nicht wissen, wozu du
-es im Leben noch brauchst, mein Kind,&laquo; sagte sie, und Esther lernte
-mit Freuden, schon um ihrer Lehrerin willen.</p>
-
-<p>So ging die Zeit hin und auch diese Wunden schlossen sich nach<span class="pagenum"><a name="Page_46" id="Page_46">[Pg 46]</a></span>
-und nach. Bertel war seit dem Ungl&uuml;cksfalle stiller und ernster
-geworden und hatte sich mit doppeltem Eifer dem Studium gewidmet.
-&raquo;Ich habe jetzt keine anderen H&uuml;lfsquellen mehr im Leben,&laquo; sagte er
-zu Esther, als diese eines Tages seine bleichen Wangen sorgenvoll
-ansah und ihm wegen des zu gro&szlig;en Flei&szlig;es Vorw&uuml;rfe machte.
-&raquo;Aber Gott wei&szlig;,&laquo; f&uuml;gte er d&uuml;ster hinzu, &raquo;ob ich &uuml;berhaupt einmal
-studiren kann, ich habe ja kein Geld dazu!&laquo; Da fuhr Esther angstvoll
-empor und blickte Bertel in das Gesicht. &raquo;Es <em class="gesperrt">mu&szlig;</em> dazu da
-sein, Bertel,&laquo; entgegnete sie fest. Bertel sah gedankenvoll vor sich
-nieder. &raquo;Esther,&laquo; sagte er tonlos, &raquo;meine Mutter und ich nehmen
-jetzt schon zu viel von dir an, ich wei&szlig;, du entbehrst selbst dabei.
-Aber zum Studiren reicht es doch nicht.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Es <em class="gesperrt">mu&szlig;</em> aber geschafft werden, Bertel, denn studiren mu&szlig;t
-du,&laquo; rief Esther abermals entschieden. &raquo;Und was meine sonstigen
-Ausgaben betrifft, dar&uuml;ber mache dir nur keine Gedanken. Bin ich
-nicht deine Schwester, Bertel? Und w&uuml;rdest du nicht dasselbe f&uuml;r
-mich thun?&laquo;</p>
-
-<p>Bertel nickte stumm mit dem Kopfe. &raquo;Du hast recht,&laquo; sagte er
-nach einer Pause, &raquo;von niemand anderm w&uuml;rde ich solche Opfer annehmen,
-von dir thue ich es mit Freuden.&laquo;</p>
-
-<p>Esther blickte ihren jungen Freund mit gl&uuml;cklichem Stolze in das
-feine Gesicht. &raquo;Leider bin ich ja kein Junge wie du,&laquo; sagte sie nachdenklich,
-&raquo;und kann nicht mit dir studiren; da mu&szlig;t du es nun f&uuml;r
-uns Beide thun. Damit ich mein Sch&auml;rflein aber auch beitrage,
-arbeite ich nun f&uuml;r dich, dann habe ich doch auch meinen Antheil an
-deinem Ruhme. Und habe nur keine Angst, ich werde schon die
-Mittel finden, wenn die Zeit da ist, wo du studiren sollst.&laquo;</p>
-
-<p>Bertel war von jeher so daran gew&ouml;hnt, Esther in allen praktischen
-Dingen f&uuml;r sich eingreifen zu lassen, da&szlig; er auch jetzt sich
-vertrauensvoll aller weiteren Sorgen entschlug. Schon als kleines<span class="pagenum"><a name="Page_47" id="Page_47">[Pg 47]</a></span>
-M&auml;dchen hatte sie dem Knaben alles abgenommen, was ihm unbequem
-oder l&auml;stig war; denn dem kleinen Gelehrten hatten alle praktischen
-Dinge von jeher schon Schwierigkeiten bereitet, und die r&uuml;hrige
-Esther griff &uuml;berall zu. War f&uuml;r die Stunden ein Buch zu heften,
-oder Tafelstifte zu spitzen, Tinte einzugie&szlig;en oder Linien zu ziehen,
-immer war Esther die gesch&auml;ftige Martha. Und wenn sie dann beim
-Spiel in Wasser oder Koth gerathen waren, oder beim Klettern und
-Haseln&uuml;ssesuchen sich das Haar zerzausten, so wu&szlig;te Esther immer
-rasch dem Uebel abzuhelfen. Denn wenn sie selbst auch an Tante
-Booland eine gar nachsichtige Erzieherin hatte, so fand doch Bertel
-mit beschmutzten Kleidern oder w&uuml;stem Aussehen weniger gute Aufnahme
-bei seiner Mutter. &raquo;Esther wird schon helfen,&laquo; das war
-Bertels Trostspruch in allen Verlegenheiten seiner Kindertage, und
-&raquo;Esther wird schon helfen,&laquo; so hie&szlig; es auch jetzt, das verstand sich ganz
-von selbst, dar&uuml;ber brauchte Bertel sich keine Sorgen zu machen.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Esther stand nach diesem letzten Gespr&auml;ch lange am Fenster und
-war in tiefe Gedanken verloren. Als Kind hatte sie nie viel Worte
-darum gemacht, wenn sie Bertel die kleinen Sorgen abnahm, sondern
-eben einfach zugegriffen. Auch jetzt galt es, nicht erst lange mit ihm
-zu &uuml;berlegen, wie sie ihm helfen sollte. Genug, da&szlig; sie es versprochen
-hatte. Es war D&auml;mmerstunde und die Abendglocke l&auml;utete
-im Dorfe. Esther trat mit Hut und Tuch unter die Hausth&uuml;re und
-sagte zu Frau Booland, welche erstaunt fragte, wohin sie denn gehe:
-&raquo;Ich will der Frau Pastorin eine Probe des neuen Gestrickes bringen,
-Tante, ich komme bald wieder.&laquo; Und rasch eilte sie die Dorfstra&szlig;e
-hinab dem Pfarrhause zu.</p>
-
-<p>Der neue Prediger von Rahmstedt war ein freundlicher, leutseliger
-Mann, der sich Esthers sowohl, als der ungl&uuml;cklichen Frau
-von Ihlefeld sehr th&auml;tig angenommen hatte. Auch seine Frau war<span class="pagenum"><a name="Page_48" id="Page_48">[Pg 48]</a></span>
-herzlich und liebevoll zu Esther, und mit Frau Booland hatte sie sogar
-innige Freundschaft geschlossen. Gern weilte das junge M&auml;dchen
-denn auch jetzt noch in dem ihr so theuren Pfarrhause. Auch die
-Kinder Pastor Krauses, zwei Knaben und ein M&auml;dchen, hingen mit
-gro&szlig;er Liebe an Esther und empfingen dieselbe immer mit lautem
-Jubel; denn das junge, heitere M&auml;dchen verschm&auml;hte es nicht, sich
-ihnen in Garten und Wald zu lustigen Spielen anzuschlie&szlig;en.</p>
-
-<p>Als Esther heute Abend das Pfarrhaus betrat, sagte sie der Frau
-Pastorin und den Kindern nur fl&uuml;chtig guten Abend und eilte auf das
-Studirzimmer des Pfarrers. Die kleine Studirlampe brannte schon
-auf dem Schreibtische, der Geistliche aber ging in Gedanken verloren
-in seinem Zimmer auf und ab.</p>
-
-<p>&raquo;Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie st&ouml;re, Herr Pastor,&laquo; sagte
-Esther eintretend, &raquo;aber ich m&ouml;chte Ihnen heute eine gro&szlig;e Bitte
-vortragen, die ich nicht aufschieben darf.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Bitte, meine liebe Esther, sprechen Sie, Sie st&ouml;ren mich nicht,&laquo;
-entgegnete der Pfarrer freundlich, indem er des jungen M&auml;dchens
-Hand ergriff und sie nach dem Sopha f&uuml;hrte, wo er sich erwartungsvoll
-neben sie setzte.</p>
-
-<p>&raquo;Lieber Herr Pastor,&laquo; sagte nun Esther etwas zaghaft, &raquo;Sie
-sagten mir, da&szlig; Sie bald einige Knaben erwarten, die Sie mit
-Ihren S&ouml;hnen erziehen und unterrichten lassen wollen. Haben
-Sie f&uuml;r diese schon einen Lehrer engagirt?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nein Esther, noch nicht bestimmt, ich bin noch in Unterhandlung
-mit einem jungen Manne. Aber warum? Wollten Sie mir vielleicht
-einen vorschlagen?&laquo; entgegnete der Pfarrer.</p>
-
-<p>&raquo;Ja, Herr Pastor, das wollte ich allerdings und zwar mich selbst!&laquo;
-sagte Esther err&ouml;thend.</p>
-
-<p>&raquo;Wie, Sie selbst, liebe Esther? Wie soll ich das verstehen?&laquo;
-erwiederte Jener l&auml;chelnd.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_49" id="Page_49">[Pg 49]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Sie wissen vielleicht, da&szlig; mein Vater mich im Lateinischen
-und Griechischen, sowie in den Wissenschaften sehr sorgf&auml;ltig unterrichtet
-hat,&laquo; sagte Esther nun muthig aufschauend. &raquo;Ich bin gen&ouml;thigt,
-mir jetzt Geld zu verdienen, und durch Unterricht verm&ouml;chte ich das doch
-wohl am besten. Aber bei M&auml;dchen k&ouml;nnte ich nicht Erzieherin oder
-Lehrerin werden; alte Sprachen lernen diese nicht, neue Sprachen
-aber sind mir fremd, und diese werden von einer Erzieherin gefordert.
-Knaben jedoch kann ich das lehren, was ich gelernt habe.
-Deshalb kam mir der Gedanke, mich Ihnen als Lehrerin anzubieten,
-vielleicht versuchen Sie es mit mir. Geht es nicht, so ist ein Wechsel
-ja bald gemacht. Sie w&uuml;rden mich unendlich gl&uuml;cklich machen, wollten
-Sie den Versuch wagen, Herr Pastor.&laquo;</p>
-
-<p>Pastor Krause blickte ganz erstaunt in Esthers brennend rothes
-Gesichtchen, das sich ihm erwartungsvoll zuwandte. &raquo;Mein liebes
-Kind,&laquo; sagte er sanft, &raquo;es ist eine Riesenaufgabe, f&uuml;r welche Sie,
-ein M&auml;dchen, sich melden. Abgesehen davon, da&szlig; ich bezweifle, Ihre
-Kenntnisse w&uuml;rden ausreichen, so ist so ein Rudel wilder Jungen
-kein Spa&szlig;; ein zartes M&auml;dchen ist dem nicht gewachsen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich bin kein zartes M&auml;dchen, Herr Pastor,&laquo; sagte Esther lachend,
-&raquo;mein Vater hat mich nicht nur im Unterricht wie einen Jungen
-erzogen. Ich bin eigentlich immer ein wilder Bursche gewesen und
-w&uuml;rde mit den Jungens sicher auskommen.&laquo;</p>
-
-<p>Der Prediger sah von Neuem &uuml;berrascht in Esthers flammendes
-Auge, und zum ersten Male fiel ihm der feste, energische Zug auf,
-der auf ihren Lippen ruhte. Er sch&uuml;ttelte nun l&auml;chelnd den Kopf und
-sagte: &raquo;Ja, liebe Esther, ein solcher Lehrer mu&szlig; sich aber erst einer
-Pr&uuml;fung unterziehen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nat&uuml;rlich, ich bitte dringend darum,&laquo; entgegnete Esther rasch.</p>
-
-<p>&raquo;Gut, so mag es gleich geschehen, liebes Kind,&laquo; rief Pastor Krause
-und holte B&uuml;cher und Schreibzeug herbei, denn die Sache fing an,<span class="pagenum"><a name="Page_50" id="Page_50">[Pg 50]</a></span>
-ihn aufs Aeu&szlig;erste zu interessiren. Er lie&szlig; nun Esther lesen und
-&uuml;bersetzen, richtete eine lange Reihe Kreuz- und Querfragen an sie,
-lie&szlig; sich kleine Vortr&auml;ge &uuml;ber allerlei wissenschaftliche Gegenst&auml;nde
-halten, und schlie&szlig;lich gab er ihr einige schriftliche Aufgaben, welche
-sie zu Hause ausarbeiten sollte. Sein Gesicht nahm w&auml;hrend dieser
-Pr&uuml;fung mehr und mehr den Ausdruck freudigen Staunens an, und
-als er endlich Esther entlie&szlig;, reichte er ihr die Hand und sagte ernst:
-&raquo;Sie haben mich wahrhaft &uuml;berrascht, Esther. Ich wei&szlig; nicht, was
-ich mehr anstaunen soll: Ihre trefflichen Kenntnisse oder Ihren verehrten
-Lehrer. Jedenfalls kann ich wegen Ihres <em class="gesperrt">Wissens</em> die
-Knaben Ihnen &uuml;berantworten; aber wir wollen uns Beide die Sache
-doch noch weiter &uuml;berlegen. Wenn Sie mir die Arbeiten bringen,
-sprechen wir weiter davon.&laquo;</p>
-
-<p>Aber als Esther einige Tage darauf das Studirzimmer mit ihren
-Ausarbeitungen wieder betrat, kam ihr Pastor Krause &auml;u&szlig;erst herzlich
-entgegen und sagte: &raquo;Esther, ich glaube, ich engagire Sie auf der
-Stelle. Ich habe noch viel &uuml;ber Sie nachgedacht und ich meine, Sie
-sind der Sache gewachsen. Alles, was ich &uuml;ber Sie geh&ouml;rt, zeigt
-mir, da&szlig; Sie ein M&auml;dchen sind, stark an Seele und Geist, und ein
-solcher Lehrer ist einer Schaar Knaben wohl gewachsen. Sie werden
-schon mit den B&uuml;rschchen fertig werden, und im Uebrigen stehe ich
-Ihnen ja zur Seite.&laquo;</p>
-
-<p>So trat Esther denn wenig Wochen darauf ihr neues Amt im
-Pfarrhause an. Drei fremde Knaben waren mit den beiden S&ouml;hnen
-des Pastors ihre Sch&uuml;ler, und der Unterricht ging vortrefflich. Pastor
-Krause hatte einige Stunden &uuml;bernommen, die &uuml;brigen aber gab
-Esther. Die Knaben machten zwar Anfangs gro&szlig;e Augen zu ihrer
-jugendlichen Lehrmeisterin, bald aber bekamen sie den h&ouml;chsten Respect
-vor ihr; denn nicht nur, da&szlig; sie im Unterricht eifrig und t&uuml;chtig
-war, sie verstand auch, die oft unb&auml;ndigen, &uuml;berm&uuml;thigen Burschen<span class="pagenum"><a name="Page_51" id="Page_51">[Pg 51]</a></span>
-vortrefflich im Zaume zu halten. Gerade da&szlig; sie selbst der tollen
-und wilden Streiche eine solche Menge gemacht hatte, sch&auml;rfte ihren
-Blick f&uuml;r die Streiche ihrer Z&ouml;glinge, die oft ganz verbl&uuml;fft waren,
-wie schnell Esther ihre Pl&auml;ne und Absichten durchschaute. F&uuml;r sie
-selbst aber erschlo&szlig; sich eine reiche Quelle der Freude durch diese
-Th&auml;tigkeit, und lehrend lernte sie selbst alles das wieder, was im
-Laufe der Jahre ihrem Ged&auml;chtnisse entschl&uuml;pft war.</p>
-
-<p>Und mit welch' freudigem Stolze empfing sie dann die Einnahmen,
-die ihr aus ihrer Lehrerth&auml;tigkeit erwuchsen! Mit leuchtenden Blicken
-zeigte sie eines Tages Frau von Ihlefeld ihren kleinen Schatz, den
-sie in Jahresfrist f&uuml;r Bertel gesammelt hatte.</p>
-
-<p>&raquo;Du gutes Kind, welche Opfer bringst du!&laquo; seufzte die Wittwe
-traurig. &raquo;Wenn ich selbst doch nur nicht so g&auml;nzlich aller Mittel
-beraubt w&auml;re! Immer habe ich noch gehofft, eine alte Schuld, die
-mein armer Mann ausstehen hatte, w&uuml;rde noch einmal einlaufen;
-aber auch diese Hoffnung ist sicher vergebens.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Eine Schuld, liebe Tante?&laquo; fragte Esther erstaunt. &raquo;Warum
-fordern Sie dieselbe denn nicht ein? Wer ist denn der Schuldner?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Das ist ja eben das Ungl&uuml;ck,&laquo; entgegnete Frau von Ihlefeld
-klagend. &raquo;Der Schuldner ist todt, und durch ein unbegreifliches
-Versehen ist der Schein verschwunden, der die Schuld best&auml;tigt.
-Ein Vetter meines Mannes, der uns vor einigen Jahren besuchte,
-bedurfte zu einem Unternehmen eines Kapitals, das mein Mann
-ihm vorscho&szlig;. Ich selbst war dabei, als sie es in meinem Zimmer
-besprachen und ich sah, wie der Vetter die Schuldverschreibung aufsetzte.
-Wo dies Papier dann aber hingekommen ist, wei&szlig; ich nicht;
-mein Mann suchte oft danach, besonders nachdem die Nachricht vom
-pl&ouml;tzlichen Tode des Vetters eintraf. O mein Gott, jenes Kapital
-von 15 Tausend Thalern h&auml;tte meinen ungl&uuml;cklichen Mann vielleicht
-gerettet! Aber da der Schuldschein verschwunden war, hat er nicht<span class="pagenum"><a name="Page_52" id="Page_52">[Pg 52]</a></span>
-gewagt, von dem Erben des Vetters jene Summe zu fordern. Und
-so ist alles W&uuml;nschen vergebens, das Geld ist und bleibt verloren.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wer ist denn der Erbe dieses Vetters, Tante?&laquo; fragte Esther.
-&raquo;Ein Kaufmann in S&uuml;dfrankreich, in N&icirc;mes glaube ich,&laquo; entgegnete
-Frau von Ihlefeld. &raquo;Er hei&szlig;t Richard und ist ein Neffe unseres
-Vetters Etienne de Villemaud.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Und Sie glauben, er wisse nichts von der Schuld?&laquo; forschte
-Esther.</p>
-
-<p>&raquo;Augenscheinlich hat der Vetter die Summe nicht als Schuld
-verzeichnet, und sein schneller Tod hat alle Mittheilungen &uuml;ber seine
-Verh&auml;ltnisse unm&ouml;glich gemacht,&laquo; sagte Frau von Ihlefeld niedergeschlagen.
-&raquo;Herrn Richard kann niemand die Summe abfordern, der
-den Schuldschein nicht vorzeigt. Aber w&auml;hrend wir im Wohlstand
-lebten, sorgte ich mich wegen solchen Verlustes wenig, und mein
-Mann hat mir bis zum letzten Augenblick alles verborgen gehalten,
-was ihn bek&uuml;mmerte. Ich ahnte ja nie, da&szlig; mit dem unseligen Gelde
-so viel Gl&uuml;ck und Frieden zu Grunde gehen k&ouml;nne.&laquo;</p>
-
-<p>Esther suchte das Gespr&auml;ch auf einen anderen Gegenstand zu
-lenken, denn Frau von Ihlefeld wurde durch solche Erinnerungen
-stets von Neuem aufgeregt. Im Stillen aber konnte sie den Gedanken
-an jenen verschwundenen Schuldschein nicht los werden.
-Fast das ganze Besitzthum der Ihlefeld'schen Familie war in fremde
-H&auml;nde &uuml;bergegangen. Wenn der Schein in irgend einem Schranke
-oder Fache verborgen lag, so war er unwiederbringlich f&uuml;r Bertel
-und dessen Mutter verloren. Und doch welcher Besitz w&auml;re f&uuml;r
-Bertel eine solche Geldsumme! Aber es war eine Thorheit, sich mit
-solchen Gedanken abzugeben. W&auml;re der Schein nur irgendwie zu finden
-gewesen, so h&auml;tte Herr von Ihlefeld in seiner Noth und Verzweiflung
-sicher alles daran gesetzt, ihn zu entdecken. Das Verschwinden des
-Scheines war eben ein Ungl&uuml;ck wie alles andere, was &uuml;ber die Familie<span class="pagenum"><a name="Page_53" id="Page_53">[Pg 53]</a></span>
-hereingebrochen. Es war das Beste, nicht mehr daran zu denken. &mdash;</p>
-
-<p>Jetzt bezog Hubert die Universit&auml;t, und Esther &uuml;bergab ihm
-mit freudigem Stolze ihre so tapfer erworbenen Sch&auml;tze.</p>
-
-<p>&raquo;Du bist und bleibst eben mein bester Kamerad, Esther,&laquo; sagte
-Bertel, die Summe freudig annehmend. &raquo;Ich kann dir nicht besser
-danken, als indem ich alle meine Kr&auml;fte opfere, um das sch&ouml;ne Ziel
-zu erreichen, das mir vorschwebt. Aber nie, und wenn ich hundert
-Jahr alt werde, will ich vergessen, welche Hand es war, die mir zu
-dem Ziele verhalf. Ich wei&szlig;, mein Gl&uuml;ck ist auch das deine, darum
-nehme ich deine Opfer ohne Z&ouml;gern an. Gott segne dich f&uuml;r alles,
-was du an mir thust, Esther!&laquo;</p>
-
-<p>Die Einzige, die sich mit all' diesen Arbeiten, M&uuml;hen und
-Opfern Esthers nicht ganz einverstanden erkl&auml;rte, war Frau Booland.
-Sonst fand sie immer alles vortrefflich, was ihr Liebling
-unternahm; aber die jetzige Th&auml;tigkeit ging doch etwas gegen ihren
-Sinn. &raquo;Das arme junge Blut qu&auml;lt sich da Tag f&uuml;r Tag mit den
-wilden Jungens ab, statt ihre Jugend in Ruhe und Freude zu genie&szlig;en,&laquo;
-sagte sie eines Tages in einer traulichen Stunde zu ihrer
-jetzigen Freundin, der Pastorin Krause. &raquo;Ihre S&ouml;hne sind freilich
-auch dabei, liebe Pastorin, und ich selbst bin wohl mit daran Schuld,
-da&szlig; der Herr Pastor dem braven Kinde das Amt anvertraute; warum
-lobte ich sie auch immerfort so gegen ihn, besonders nachdem
-Esther sich um die Stelle bem&uuml;ht hatte, und er mich &uuml;ber das Kind
-ausforschte. Aber l&uuml;gen kann ich einmal nicht und we&szlig; das Herz
-voll ist, de&szlig; geht der Mund &uuml;ber. Aber jetzt geht er mir auch wieder
-&uuml;ber, denn mein Herz ist voll Jammer um das liebe Goldkind,
-das noch nichts als Arbeit in seinem jungen Leben kennen gelernt
-hat. Und Gott wei&szlig;, ob ihr all' ihre M&uuml;he und Qu&auml;lerei einmal
-ordentlich gedankt wird; denn wenn das Ungl&uuml;ck die arme Frau von
-Ihlefeld auch ordentlich gebeugt hat, die gn&auml;dige Frau bleibt sie noch<span class="pagenum"><a name="Page_54" id="Page_54">[Pg 54]</a></span>
-immer bis in die kleine Fu&szlig;zehe hinab, und da habe ich so meine
-Gedanken. Estherchen ist und bleibt halt eben B&uuml;rgerblut, das aber
-erkennt <em class="gesperrt">die</em> Frau nie f&uuml;r Ihresgleichen, und wenn das Kind noch
-tausend Mal mehr f&uuml;r sie th&auml;te.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber Hubert denkt doch nicht so, liebe Frau Booland, das sollte
-Sie tr&ouml;sten,&laquo; entgegnete die Pastorin.</p>
-
-<p>&raquo;Nein, <em class="gesperrt">stolz</em> ist der nicht, das mu&szlig; wahr sein!&laquo; sagte Frau
-Booland den Kopf erhebend. &raquo;Aber, aber, so wie er sollte, ist er doch
-auch nicht. Alles was Esther f&uuml;r ihn thut, nimmt er ruhig hin, als
-verst&auml;nde sich das ganz von selbst so. Danken mag er ihr wohl,
-denn er ist ein lieber, weicher Junge; aber er hat keine Idee, und
-fr&auml;gt auch weiter nicht danach, <em class="gesperrt">was</em> Esther alles opfert, nur um ihm
-das Leben leicht zu machen. Das M&auml;dchen ginge mit Freuden f&uuml;r
-ihn durch das Feuer, und er? Nun ja, wenn er dadurch Nutzen
-h&auml;tte, w&uuml;rde er sie auch ruhig gehen lassen. Lieb hat er sie, das ist
-gewi&szlig;; aber immer nur, wie man einen guten Kameraden lieb hat,
-und so nennt er sie ja auch immer. Die leidenschaftliche Liebe aber,
-die meine kleine Esther von Kindesbeinen an schon f&uuml;r den h&uuml;bschen
-Jungen gehabt hat, und die jetzt wie ein stilles Feuer das ganze
-M&auml;dchen durchgl&uuml;ht, davon hat der junge Herr keine Ahnung. Ach
-ich wei&szlig; es nicht, aber mir ist das Herz oft gar zu schwer, denke ich
-an Esthers Zukunft. So ein Prachtm&auml;dchen verdiente ein herrliches
-Schicksal; aber, aber, wie wird das einmal werden? Ich h&ouml;rte
-neulich einige Worte, als Esther dem Bertel das Ersparte mitgab;
-es war so recht bezeichnend. &raquo;Ich wei&szlig;, Esther,&laquo; sagte Bertel, &raquo;mein
-Gl&uuml;ck ist auch das deine, darum nehme ich deine Opfer ruhig an.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nun ja, <em class="gesperrt">mein</em> Gl&uuml;ck ist auch das <em class="gesperrt">deine</em>! Da liegt's. Aber ob
-<em class="gesperrt">ihr</em> Gl&uuml;ck auch das <em class="gesperrt">seine</em> ist? Davon schweigt die Geschichte,
-und erst die Zukunft kann es lehren.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Legen wir alles in Gottes H&auml;nde, meine liebe Frau Booland,&laquo;
-<span class="pagenum"><a name="Page_55" id="Page_55">[Pg 55]</a></span>sagte die Pastorin tr&ouml;stend. Die brave Schullehrerswittwe nickte
-still mit dem Kopfe und eilte ihrem kleinen Waldhause zu, an dessen
-Th&uuml;r sie ihr Goldkind, wie gew&ouml;hnlich, wenn sie ausgegangen war,
-freudig erwartete.</p>
-
-<p>Ein Jahr verstrich Esther noch in gewohnter Th&auml;tigkeit, da rief
-sie eines Tages Pastor Krause in sein Studirzimmer. &raquo;Meine liebe
-Tochter,&laquo; sagte er freundlich, &raquo;Sie haben den Ihnen anvertrauten
-Posten w&auml;hrend der ganzen Zeit mit seltener Treue und T&uuml;chtigkeit
-ausgef&uuml;llt, so da&szlig; Sie stolz auf Ihre Sch&uuml;ler sein k&ouml;nnen. Aber
-jetzt mu&szlig; ich das Amt leider aus Ihren H&auml;nden nehmen, denn die
-Knaben sollen auf das Gymnasium in der Stadt, f&uuml;r dessen Oberklassen
-sie jetzt reif sind. Nun will ich Sie aber trotzdem doch nicht
-zu Athem kommen lassen, mein liebes Kind. Ich habe eine Aufforderung
-aus England erhalten, einen jungen Lehrer dorthin zu
-schicken, welcher in einer vornehmen Familie einige Knaben zu unterrichten
-versteht. Auf meine Anfrage, ob der Lehrer nicht ein junges
-M&auml;dchen sein k&ouml;nnte, welches so viel Kenntnisse besitzt, da&szlig; sie meine
-S&ouml;hne zum Gymnasium vorbereitet h&auml;tte, erhielt ich eine Antwort,
-welche sich au&szlig;erordentlich erfreut &uuml;ber solches Anerbieten ausspricht.
-Eine sehr bedeutende Summe ist der jungen Lehrerin zugesichert, und
-so ergeht denn die Anfrage an Sie, liebe Esther, ob Sie diese Stelle
-annehmen wollen. Aber freilich, eine Bedingung ist dabei, welche
-Ihnen vielleicht Schwierigkeiten machen wird: man w&uuml;nscht, da&szlig;
-Sie auch fertig franz&ouml;sisch sprechen. Doch auch das wird sich einrichten
-lassen. Die Stelle ist erst in einem halben Jahre anzutreten,
-bis dahin lernen Sie alles. Die Schwester meiner Frau hat eine
-franz&ouml;sische Pension in Genf und wird Sie mit Freuden als lieben
-Gast bei sich aufnehmen. Den Ausfall, den Ihre Einnahmen in
-dieser Zeit erleiden, deckt die Aussicht auf baldige gr&ouml;&szlig;ere Summen,
-die Ihnen in England zuflie&szlig;en werden. So denke ich, sind die<span class="pagenum"><a name="Page_56" id="Page_56">[Pg 56]</a></span>
-Wege gebahnt, und Sie sind mit mir zufrieden, liebe Esther. Habe
-ich Recht?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O sehr, sehr, lieber, guter Herr Pastor,&laquo; rief Esther, welche jetzt
-wie aus einem Traum erwachte. Hastig ergriff sie die dargebotene
-Hand Pastor Krauses. &raquo;Verzeihen Sie mir nur, da&szlig; ich nicht augenblicklich
-mit Entz&uuml;cken aufjuble,&laquo; sagte sie und eine Thr&auml;ne gl&auml;nzte
-in ihrem Auge. &raquo;Aber eine Trennung von meinen Lieben ist mir ein
-gar zu be&auml;ngstigender Gedanke. Ich war ja noch nie auch nur einen
-Tag vom Hause fort, und nun.... Aber haben Sie Geduld mit
-mir, Herr Pastor! Ich werde schon alles in mir verarbeiten und
-Ihnen dann Ehre machen, das verspreche ich Ihnen. Jetzt aber
-mu&szlig; ich zuerst mit Tante Booland sprechen, fr&uuml;her kann und darf
-ich nichts bestimmen.&laquo;</p>
-
-<p>Aber Frau Booland nahm die Nachricht freudiger auf, als Esther
-gef&uuml;rchtet hatte. Muthig bek&auml;mpfte das brave Weib allen Jammer
-ihres Herzens, den eine lange Trennung ihr verursachen mu&szlig;te,
-nur um Esther den Abschied leicht zu machen. Die Pastorin Krause
-hatte schon seit einiger Zeit geheime Besprechungen mit Frau Booland
-gehabt und ihr alle diese Pl&auml;ne mitgetheilt, welche ihr Gatte Esther
-darlegte. So &uuml;berraschten sie Esthers Mittheilungen denn nicht
-mehr, sondern fanden schon ein vielfach bearbeitetes Terrain vor sich.</p>
-
-<p>&raquo;Ich bin froh, da&szlig; du einmal ein St&uuml;ckchen von Gottes sch&ouml;ner
-Welt sehen sollst, meine kleine Esther,&laquo; sagte Frau Booland heiter.
-&raquo;Hier in unserem Dorfe versauerst du ja ganz und gar, und Arbeit
-hast du hier wie anderswo. Die Schwester unserer lieben Pastorin
-freut sich schon auf dich, da wirst du eine sch&ouml;ne, vergn&uuml;gte Zeit verleben,
-und was die Sache mit England betrifft, nun, gute Menschen
-sollen es ja auch sein, zu denen du kommst, sagt der Herr Pastor.
-Du lernst dort ein Bischen von der gro&szlig;en Welt kennen, das ist
-auch gut, und f&uuml;r alles andere lassen wir den lieben Gott sorgen.<span class="pagenum"><a name="Page_57" id="Page_57">[Pg 57]</a></span>
-Deine alte Tante Booland wird dir dein H&auml;uschen indessen gut versorgen,
-da&szlig; du jeden Augenblick wieder in dein warmes Nest zur&uuml;ckkommen
-kannst. Mit b&ouml;sen Gedanken &uuml;ber die Trennung wollen
-wir uns das Herz nicht unn&uuml;tz schwer machen, mein Goldkind; denn
-wir haben ja alle Beide starke Herzen und sind nicht aus Wachs oder
-aus Marzipan gemacht.&laquo;</p>
-
-<p>Aber Esther hatte noch eine andere Trennung zu &uuml;berwinden,
-mit welcher ihr junges Herz noch viel schwerer k&auml;mpfte. Ihren Bertel
-sollte sie verlassen! Und doch war er es ja gerade, der sie hinaustrieb
-in die Welt; denn f&uuml;r wen sonst h&auml;tte sie diese Opfer gebracht,
-f&uuml;r wen sonst das friedliche Stillleben ihrer Heimath aufgeben m&ouml;gen?
-Nur damit ihr junger Freund sorglos und unbek&uuml;mmert seinen
-Studien obliegen, noch Jahr f&uuml;r Jahr ungetheilt der Wissenschaft
-leben konnte, ohne f&uuml;r sein t&auml;gliches Brod sorgen zu m&uuml;ssen, unterwarf
-sie sich all' diesen Dingen freudig und unverdrossen. Deshalb,
-wie sehr ihr auch das Herz blutete, schrieb sie dennoch einen jubelnden
-Brief an Bertel, der ihm alle diese Pl&auml;ne mittheilte. Er durfte
-ja nicht ahnen, wie schwer ihr das Opfer wurde. Ein letzter Besuch
-Bertels vor Esthers Abreise war das Einzige, was sie sich von ihm
-erbat, und in vollen Z&uuml;gen genossen Beide noch einmal das Gl&uuml;ck
-ihres Beisammenseins.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>So sagte denn Esther eines Morgens der lieben, traulichen
-Heimath Lebewohl, von ihren Freunden im kleinen Waldhause wie
-von Pastor Krauses bis zur n&auml;chsten Stadt begleitet, von wo die
-Eisenbahn sie gen S&uuml;den weiter f&uuml;hrte. Sie war einer befreundeten
-Dame anvertraut worden, die nach der Schweiz reiste, und bald
-vertrieben die stets neuen Eindr&uuml;cke, welche Esther auf dieser ersten
-Reise fast &uuml;berst&uuml;rzten, die Schmerzen des Abschiedes.</p>
-
-<p>Die gro&szlig;en St&auml;dte, in denen sie &uuml;bernachteten, erregten ihr<span class="pagenum"><a name="Page_58" id="Page_58">[Pg 58]</a></span>
-Staunen und ihre Neugierde; als sich aber endlich die hohe Kette
-der Alpen vor ihren Blicken ausbreitete mit ihren majest&auml;tischen
-H&auml;uptern, auf denen Eis und Schnee lagerte, w&auml;hrend saftig gr&uuml;ne
-Matten und W&auml;lder die Vorberge deckten, und unz&auml;hlige Ortschaften
-wie Spielzeug auf der Ebene verstreut lagen, da jubelte Esther auf
-vor Wonne und Entz&uuml;cken, und ihr junges Herz gab sich r&uuml;ckhaltlos
-den Eindr&uuml;cken hin, die sie best&uuml;rmten. Und nun gar der herrliche
-Genfersee, der schimmernd blau zu ihren F&uuml;&szlig;en ruhte, rings umkr&auml;nzt
-von k&ouml;stlichen Bergen, gr&uuml;nen Fluren und lachenden D&ouml;rfern,
-hoch oben alles &uuml;berragend, aber die Jungfrau mit ihren ewigen Eisfeldern
-und der leichten Wolke, welche fast immer ihren h&ouml;chsten Gipfel
-kr&ouml;nt. Es war so namenlos herrlich, da&szlig; Esther fromm ihre
-H&auml;nde in einander legte und thr&auml;nenden Auges Gott dankte, der sie
-in diese Wunderwelt geleitet. Denn hier am Fu&szlig;e dieser herrlichen
-Jungfrau, am Rande dieses k&ouml;stlichen Sees sollte sie ja leben und
-Tag f&uuml;r Tag diese Wunder vor Augen haben! Welch eine Aussicht
-war dies, und wie schlug ihr das Herz bei diesem Gedanken voll
-Freude und Wonne.</p>
-
-<p>Genf selbst freilich, die alte Stadt mit ihren vielen engen Stra&szlig;en
-gefiel Esther weniger; aber das Haus Madame Gautier's lag
-vor dem Thore mitten in einem h&uuml;bschen Garten, da hatte man die
-sch&ouml;nste Aussicht gleich vom Fenster aus vor sich. Man empfing Esther
-mit gro&szlig;er Freundlichkeit, und besonders Madame Gautier war so
-herzlich und gut, als sei die neue Hausgenossin die Tochter ihrer
-Schwester. Eine Menge fr&ouml;hlicher junger M&auml;dchen umgab sie
-fr&uuml;h und sp&auml;t, und diese schienen sich f&ouml;rmlich den Rang streitig zu
-machen, ihr Angenehmes zu erzeigen.</p>
-
-<p>So f&uuml;hlte sich Esther denn wie in eine neue herrliche Welt versetzt
-und ihre Briefe, die sie nach Hause schickte, athmeten nichts als
-Gl&uuml;ck und Behagen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_59" id="Page_59">[Pg 59]</a></span></p>
-
-<p>Esther war bereits einige Monate im Hause Madame Gautier's
-und ihr eifriges Bestreben war, die franz&ouml;sische Sprache m&ouml;glichst
-schnell und gr&uuml;ndlich zu erlernen. Sie machte auch bald die besten
-Fortschritte, hatte ja doch Frau von Ihlefeld schon vortrefflich vorgearbeitet,
-als sie Esther Unterricht ertheilte, dem das junge M&auml;dchen
-freilich wegen ihrer anderweitigen Besch&auml;ftigungen wenig Zeit
-hatte widmen k&ouml;nnen. Frau von Ihlefeld hatte Esther einige franz&ouml;sische
-B&uuml;cher zur Lect&uuml;re mitgegeben, welche sie aus ihrem einstigen
-Besitzthum mit sich genommen, und Esther war erfreut, so gute
-Fortschritte zu machen, da&szlig; sie diese B&uuml;cher bald selbst&auml;ndig lesen
-konnte. Eines Tages wagte sie sich sogar an Gedichte und griff
-nach einem Buche, das l&auml;ngst schon ihr lebhaftes Interesse erweckt
-hatte. Es war sehr elegant eingebunden und von ziemlich gro&szlig;em
-Format, auf dem inneren Deckel aber standen die Worte: &raquo;<span class="antiqua">A son
-cousin Oscar de Ihlefeld Etienne de Villemaud. Auteur.</span>&laquo;</p>
-
-<p>Esther kam beim Anblick dieses Namens das Gespr&auml;ch wieder
-in den Sinn, das sie mit Frau von Ihlefeld gehabt hatte, und die
-Erinnerung an jenen ungl&uuml;cklichen verschwundenen Schuldschein.
-Jener Etienne war also Dichter und hatte dies sein Werk dem Vetter
-als Geschenk hinterlassen. Zerstreut lie&szlig; Esther die Bl&auml;tter des Buches
-durch ihre Finger gleiten und &uuml;berblickte die Ueberschriften der Gedichte.
-Dabei schob sich ein zusammengefaltetes Papier aus dem
-Buche, und Esther schlug es gleichg&uuml;ltig auseinander, irgend ein
-abgeschriebenes Gedicht vermuthend. Aber wer beschreibt ihre Ueberraschung &mdash;
-das zusammengefaltete Papier war der verloren geglaubte
-Schuldschein!</p>
-
-<p>Esther zitterten die Kniee von dem freudigen Schreck, und lange
-wollte sie ihren Augen nicht trauen. Aber da stand ja alles, wie
-Frau von Ihlefeld es ihr mitgetheilt: Oscar von Ihlefeld, Besitzer
-vom Rittergut Rahmstedt, hatte am 6. Mai 18.... an Etienne<span class="pagenum"><a name="Page_60" id="Page_60">[Pg 60]</a></span>
-de Villemaud eine Summe von f&uuml;nfzehntausend Thalern &uuml;bergeben;
-die Zinsen sollten zum Kapital geschlagen werden. Unterzeichnet
-war der Schein von den beiden Vettern und alles in voller Ordnung
-und Richtigkeit.</p>
-
-<p>Wahrscheinlich lag das Buch als Geschenk Etienne's auf dem
-Tische, und Herr von Ihlefeld hatte in Gedanken den Schein da
-hinein gelegt, als er ihn in sein Zimmer trug; denn Frau von
-Ihlefeld sagte ja, die Sache sei in ihrer Gegenwart und ihrem
-Zimmer verhandelt worden.</p>
-
-<p>O welch ein Fund war das! Und wie gut, da&szlig; der Schuldschein
-bis jetzt verborgen gewesen, sonst w&auml;re das Geld sicher auch
-noch verloren gegangen wie alles andere. Nun hatte ja alle Noth und
-Sorge ein Ende! Nun konnte Bertel studiren und reisen nach
-Herzenslust, wie er so sehnlich w&uuml;nschte, und die arme Frau von
-Ihlefeld sah nun wieder bessere Tage. Esther schwindelte der Kopf
-von der F&uuml;lle der Gedanken, und lange sa&szlig; sie sinnend und Pl&auml;ne
-schmiedend an ihrem Fenster. Zum erstenmale schaute ihr Auge
-theilnahmlos auf die wundersch&ouml;ne Welt, die sich vor ihr ausbreitete,
-und ihr Herz jubelte nicht auf &uuml;ber die Pracht und Herrlichkeit, in
-welcher die Abendsonne das stolze Haupt der Jungfrau umkleidete,
-deren Gipfel in Gluth getaucht in den gl&auml;nzenden Abendhimmel
-hinein ragte, w&auml;hrend der See zu F&uuml;&szlig;en des Berges wie ein
-rosiger Spiegel blitzte und schimmerte.</p>
-
-<p>&raquo;Und du, was willst du denn nun noch l&auml;nger im fremden Lande,
-fern von deinen Lieben?&laquo; dachte Esther mit leuchtenden Blicken.
-&raquo;Nun ist es ja nicht mehr n&ouml;thig, Geld zu verdienen; denn nun hat
-Bertel ja mehr, als du in deinem ganzen Leben f&uuml;r ihn zusammenscharren
-k&ouml;nntest. Ade Freunde, ade Schweiz und England, nun
-geht's wieder heim in mein kleines Waldhaus, dem sch&ouml;nsten Orte
-der Welt trotz Alpen und Gletscher und Seen.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_61" id="Page_61">[Pg 61]</a></span></p>
-
-<p>Eben wollte sich Esther an den Schreibtisch setzen, um einen
-jubelnden Brief nach Hause zu senden mit der herrlichen Botschaft,
-da trat Frau von Gautier in ihr Zimmer.</p>
-
-<p>&raquo;Meine liebe Esther,&laquo; sagte sie dann freundlich, &raquo;obwohl Sie mir
-ein gar lieber Gast sind, und ich Sie ungern wieder fort lassen
-m&ouml;chte, so gebietet mir doch die R&uuml;cksicht auf Ihre Verh&auml;ltnisse, von
-denen meine Schwester mir einiges mitgetheilt hat, Ihnen ein Anerbieten
-zu machen, welches soeben an mich gerichtet ist. Die Vorsteherin
-eines Pensionates in S&uuml;d-Frankreich, in le Vigan bei
-N&icirc;mes, w&uuml;nscht eine junge Dame f&uuml;r ihr Institut zu engagiren
-und bietet ihr sehr annehmbare Bedingungen. Wollen Sie diese
-Stelle annehmen, so erreichen Sie Ihren Zweck, franz&ouml;sisch zu lernen,
-dort ebensogut, verdienen in dieser Zeit noch nebenbei etwas
-und lernen ein neues Land und andere Verh&auml;ltnisse kennen, was
-immer ein Vortheil ist f&uuml;r jedermann. Aber besinnen freilich d&uuml;rfen
-Sie sich nicht lange; denn schon &uuml;bermorgen will Mademoiselle
-Bertin wieder abreisen und Sie dann nat&uuml;rlich gleich mitnehmen,
-denn f&uuml;r ein junges M&auml;dchen ist eine so weite Reise allein nicht
-sehr rathsam.&laquo;</p>
-
-<p>Esther hatte bei den ersten Worten Madame Gautier's gleich
-sagen wollen, da&szlig; es mit ihren Pl&auml;nen jetzt &uuml;berhaupt ein Ende
-habe und sie so bald als m&ouml;glich wieder nach Hause reisen werde.
-Aber als sie h&ouml;rte, wohin sie mit jener Dame gehen sollte, da schwieg
-sie pl&ouml;tzlich betroffen. Das war ja wie eine Sendung vom Himmel
-gerade im entscheidenden Momente! S&uuml;d-Frankreich, N&icirc;mes, dahin
-sollte sie? Und war es nicht gerade dort, wo jener Herr Richard
-wohnte, der Erbe jenes Etienne und jener Schuld? Wie, wenn sie
-diesem Winke folgte und in dem Orte selbst diesen Mann aufsuchte?
-Eine Reihe von Jahren war seit jener Zeit verstrichen, wenn nun
-der Mann nicht mehr dort lebte? Eine schriftliche Erfahrung konnte<span class="pagenum"><a name="Page_62" id="Page_62">[Pg 62]</a></span>
-gro&szlig;e Schwierigkeiten bereiten, w&auml;hrend man an Ort und Stelle
-sicher leicht zum Ziele gelangte. Und wie, wenn auch dieser Mann
-vielleicht todt war und man wieder neue Personen vor sich hatte?
-Wie viel Zeit und M&uuml;he war vielleicht n&ouml;thig, um an's Ziel zu
-kommen, wo pers&ouml;nliches Eingreifen rasch alles in Ordnung bringen
-konnte! Und besser, sie sagte erst gar nichts von der Auffindung
-des Scheines, sondern trat ihren Freunden gleich mit dem gl&uuml;cklichen
-Resultate entgegen. Warum ihnen erst vorher so unruhige Stunden
-bereiten, ehe sie ihr Ziel erreichen konnte? Nein, rasch ohne Besinnen
-und Z&ouml;gern wollte sie mit dieser Franz&ouml;sin reisen, rasch dort
-in Frankreich diesen Herrn Richard oder seine Erben aufsuchen und
-erst dann mit der vollen, gl&uuml;cklichen L&ouml;sung hervortreten. Zeit zum
-Fragen, ob sie reisen sollte, hatte sie ja auch gar nicht, d'rum lieber
-ganz schweigen, bis alles gl&uuml;cklich erreicht war. Dann war die Freude
-voll und ungetheilt, und wie im Triumphe wollte sie dann wieder nach
-der Heimath ziehen, beladen mit Sch&auml;tzen f&uuml;r ihren geliebten Bertel.</p>
-
-<p>Ein so unerfahrenes junges M&auml;dchen, als Esther war, konnte
-wohl solchen Plan schmieden und auf dessen gl&uuml;ckliche Ausf&uuml;hrung
-rechnen. Welches nun aber die Erfolge ihrer Bem&uuml;hungen waren,
-das wollen wir weiter sehen.</p>
-
-<p>Ueber den Quai de Bergue eilten in Genf zwei Tage darauf eine
-&auml;ltliche und eine junge Dame der Messagerie zu, von wo aus die
-Posten nach Frankreich abfahren. Es war Mademoiselle Bertin
-und unsere Esther. Schon von Weitem sahen sie das hochgebaute und
-hochbepackte gelbe Geb&auml;ude, Postwagen genannt, das sie &uuml;ber die
-Grenze f&uuml;hren sollte. Die Franz&ouml;sin traf bei der Post einen alten
-Herrn, Monsieur Martin, welcher mit ihnen reiste. Eben wollte
-dieser im Innern des Wagens Platz nehmen, als Mademoiselle
-pl&ouml;tzlich mit Schrecken bemerkte, da&szlig; ihre Postbillets aus Versehen
-Pl&auml;tze auf der &raquo;Banquette&laquo; bezeichneten. Mit aller Lebendigkeit einer<span class="pagenum"><a name="Page_63" id="Page_63">[Pg 63]</a></span>
-S&uuml;dl&auml;nderin fuhr sie auf den sie begleitenden Diener los, ihn zur
-Rechenschaft zu ziehen, dieser sagte aber ganz phlegmatisch: &raquo;Mademoiselle
-wollte doch absolument heute reisen, andere Pl&auml;tze aber gab's
-nicht mehr.&laquo; La banquette war allerdings f&uuml;r eine &auml;ltliche Dame
-ein etwas bedenklicher Sitz, denn er befand sich in h&ouml;chster H&ouml;he der
-ohnehin schon himmelhohen Kutsche. Ihrer Verzweiflung machte
-jedoch ihr alter Freund bald ein Ende; denn sehr froh, seinen hei&szlig;en
-Innenplatz mit dem luftigen auf der Banquette zu vertauschen,
-kroch er vergn&uuml;gt wieder aus dem Wagen heraus und &uuml;berlie&szlig; der
-Dame sein Billet. Nun brachte der Knecht eine hohe Leiter herbei,
-und leicht wie ein Eichk&auml;tzchen kletterte Esther die Sprossen empor,
-ihrer ehemaligen Turnk&uuml;nste sich erinnernd. Langsamer folgte ihr
-alter Nachbar, und w&auml;hrend Esther auf der schmalen Banquette
-sich's m&ouml;glichst behaglich zu machen suchte, bestieg der alte Herr einen
-bequemeren Sitz zur Seite, eine Art Lehnstuhl. Vergn&uuml;gt h&uuml;llte er
-sich in einen weichen Schafpelz, der auf dem Sitze lag, und der ihm
-bei der rauhen Herbstluft sehr willkommen war; er freute sich
-seines k&ouml;stlichen Platzes. Eben wollten die sechs starkknochigen
-Pferde ihr beschwerliches Tagewerk beginnen, da klimmte noch ein
-Passagier zur Banquette empor. &raquo;<span class="antiqua">Oh, &agrave; la bonheur</span>,&laquo; rief er, sich
-zu dem alten Herrn wendend, &raquo;Monsieur wollen den Hemmschuh
-f&uuml;hren?&laquo; &raquo;Was Hemmschuh?&laquo; rief dieser verwundert. &raquo;Nun ja,
-das ist der Platz f&uuml;r denjenigen, der dies Gesch&auml;ft &uuml;bernimmt,&laquo;
-sagte der Conducteur lachend und zeigte auf die Schraube, welche
-der Alte ganz gem&uuml;thlich als St&uuml;tze f&uuml;r seine Arme benutzt hatte.
-Mit sehr saurer Miene wickelte sich dieser nun aus seinem warmen
-Schafpelze heraus und kletterte auf die Banquette zu Esther, die
-ihm herzlich lachend neben sich Platz machte. Dies kleine Ereigni&szlig;
-hatte die ganze Gesellschaft der Au&szlig;enkutsche einander n&auml;her gebracht;
-denn auch der Postillion auf seinem Sitz zu F&uuml;&szlig;en Esthers nahm<span class="pagenum"><a name="Page_64" id="Page_64">[Pg 64]</a></span>
-an der allgemeinen Heiterkeit Theil, und unter Lachen und Scherzen
-fuhr man &uuml;ber Genf's holpriges Stra&szlig;enpflaster und &uuml;berschritt endlich
-die franz&ouml;sische Grenze. Esther war kindlich vergn&uuml;gt, von ihrem
-hohen Sitz aus die herrliche Gegend gem&auml;chlich &uuml;berschauen zu k&ouml;nnen,
-und ihr alter Nachbar stimmte herzlich in diese Freude mit ein, denn
-auch er war ein gro&szlig;er Naturfreund. Bald erz&auml;hlte er Esther, er sei
-eigentlich ein geborener Deutscher, lebe aber nun schon seit vielen
-Jahren in N&icirc;mes.</p>
-
-<p>&raquo;In N&icirc;mes?&laquo; rief Esther hoch erfreut aus. &raquo;O kennen Sie
-da vielleicht einen Herrn Richard?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Richard?&laquo; sagte Herr Martin nachdenklich. &raquo;Welchen Richard,
-mein Fr&auml;ulein? Es giebt deren eine ganze Menge in N&icirc;mes.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich meine den Neffen eines Herrn Etienne de Villemaud, der
-vor einigen Jahren gestorben ist,&laquo; entgegnete Esther.</p>
-
-<p>&raquo;Hm, da kann ich wirklich nicht dienen,&laquo; sagte der Alte kopfsch&uuml;ttelnd.
-&raquo;Haben Sie eine Empfehlung an ihn, so bin ich gern bereit,
-Ihnen beh&uuml;lflich zu sein, den richtigen Richard aufsuchen zu helfen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O Sie sind sehr g&uuml;tig,&laquo; rief Esther erfreut, &raquo;das w&auml;re mir in
-der That sehr lieb, denn ich habe allerdings ein Anliegen an ihn.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich werde Ihnen die n&auml;here Adresse des Herrn schreiben, mein
-Fr&auml;ulein, wenn Sie es mir erlauben,&laquo; sagte Herr Martin verbindlich.
-Esther sprach nochmals ihre Dankbarkeit aus und f&uuml;hlte
-ihr Herz sehr erleichtert, da&szlig; sie gleich im ersten Augenblick eine
-Hand gefunden hatte, die ihr den Weg zu bahnen versprach. Voll
-froher Hoffnungen schaute sie dem Gelingen ihres Unternehmens
-entgegen und geno&szlig; nun mit doppeltem Vergn&uuml;gen die so mannigfachen
-Freuden, welche diese interessante Reise ihr darbot.</p>
-
-<p>Ueberall, wo w&auml;hrend der Postfahrt der Wagen hielt, umdr&auml;ngte
-eine Schaar bettelnder elender Kinder die Reisenden, ihre zerfetzten H&uuml;te
-hinhaltend mit dem Rufe: &raquo;<span class="antiqua">Charit&eacute;, s'il vous pla&icirc;t, charit&eacute;!</span>&laquo; Esther
-<span class="pagenum"><a name="Page_65" id="Page_65">[Pg 65]</a></span>mu&szlig;te bei diesem Elend immer an die sauberen Schweizer D&ouml;rfer zur&uuml;ckdenken,
-die sie jetzt gesehen, und an ihr eignes freundliches Dorf
-Rahmstedt, in dem solche Armuth etwas Unbekanntes war.</p>
-
-<p>Der schwerf&auml;llige Postwagen brachte seine Passagiere bis zu der
-Eisenbahnstation Sey&szlig;el, und von da aus flog Esther auf Dampfesfl&uuml;geln
-ihrem Ziele zu, zur Rechten die Berge des Jura, links
-Savoyen mit seinen wilden, romantischen Landschaften und verfallenen
-D&ouml;rfern.</p>
-
-<p>Die Gegend bis Lyon war unendlich sch&ouml;n. Das reizende Thal
-der Rhone nahm die Reisenden auf, und zu beiden Seiten erhoben
-sich anmuthige Berge. Sch&auml;umend und rauschend scho&szlig; das Wasser
-der Rhone neben der Eisenbahn hin, ihre blauen Wellen wie schwere
-Atlasfalten auf- und abrollend. Leichte Kettenbr&uuml;cken schwebten hoch
-oben dar&uuml;ber, und auf felsigem Ufer, zackige Bergspitzen im Hintergrunde,
-erhoben sich terrassenf&ouml;rmig unz&auml;hlige kleine Ortschaften. Es
-war &auml;u&szlig;erst malerisch. Lyon, das sie Abends erreichten, interessirte
-Esther lebhaft, und muthig durcheilte sie am Morgen vor der Weiterreise
-allein einige Stra&szlig;en. Prachtvolle L&auml;den fesselten ihr Auge, und
-sch&ouml;ne Quais, aber auch viel Verfallenheit; doch jedes, auch das
-verfallenste H&auml;uschen, hatte seinen Balcon und seine Blumen. Von
-Lyon ab wurde die Landschaft lieblicher: Maulbeerb&auml;ume mit ihrem
-frischen, saftigen Gr&uuml;n deckten die Felder, echte Kastanien standen
-dazwischen, Weinst&ouml;cke rankten ihre Reben am Boden hin, wie es dort
-Sitte, und dunkle Cypressen erhoben ihre d&uuml;steren schlanken Zweige
-gen Himmel. Gro&szlig;e Heerden grauer und schwarzer Schafe weideten
-zu vielen Tausenden in der Ebene, unz&auml;hlige Maulesel hoben dazwischen
-ihre gro&szlig;en K&ouml;pfe empor, und abenteuerlich aussehende
-Hirten mit zottigen Fellen um die Schulter bewachten die Heerden.
-In der Gegend von Avignon erinnerten zahlreiche Ruinen an die
-ehemalige Herrlichkeit dieser Gegenden. Esther h&auml;tte wohl gew&uuml;nscht,<span class="pagenum"><a name="Page_66" id="Page_66">[Pg 66]</a></span>
-hier weitere Ausfl&uuml;ge in die Umgegend machen und sich dies interessante
-St&uuml;ck Land n&auml;her ansehen zu k&ouml;nnen; aber ihre Begleiterin dr&auml;ngte
-zur Weiterreise. Sie fuhren den ganzen Tag immer weiter in das
-Land hinein, bis endlich am Abend N&icirc;mes erreicht war. Wie gern
-w&auml;re Esther mit dem freundlichen Herrn Martin gegangen, der sich
-hier von ihnen trennte; ihr Herz klopfte freudig bei dem Gedanken,
-dem Manne vielleicht ganz nahe zu sein, den sie suchte,
-und wegen dessen sie eigentlich die ganze Reise unternommen. Aber
-sie hatte sich Mademoiselle Bertin verpflichtet, und so mu&szlig;te sie mit ihr
-weiter. Im Vorbeigehen sah sie die m&auml;chtigen Tr&uuml;mmer einer alten
-r&ouml;mischen Arena in die Luft hinein ragen; die S&auml;ulen des ber&uuml;hmten
-Maisen car&eacute;e warfen im Mondschein breite Schatten hernieder, und
-wundervolle Baumg&auml;nge ums&auml;umten einen freien Platz, in dessen
-Mitte hohe Fontainen ihre Wasser im Mondlicht funkeln lie&szlig;en.</p>
-
-<p>Esther eilte mit ihrer Gef&auml;hrtin an all' diesem Zauber vor&uuml;ber,
-denn ihr Ziel lag noch vor ihnen. Eine lange Postfahrt die Nacht
-hindurch brachte sie nach dem kleinen St&auml;dtchen le Vigan, das sie
-am Morgen erreichten. Obwohl es schon sp&auml;t im November war,
-zeigte doch die warme Nacht, da&szlig; man sich im S&uuml;den befand, und
-Esther athmete mit Behagen die angenehme Nachtluft. Mit neugierigen
-Blicken schaute sie sich dann in dem Orte um, der sie aufnehmen
-sollte; aber der Anblick dieses St&auml;dtchens war &auml;u&szlig;erst wenig
-erfreulich. Die Lage des Ortes zwar war h&ouml;chst romantisch zwischen
-Felsen und Bergen; aber die Stadt selbst hatte graue, d&uuml;stere, steinerne
-H&auml;user, viele davon elend und verfallen. Schweine und anderes
-Vieh trieb sich in den Stra&szlig;en umher, und der Haupteindruck des
-Ganzen war &uuml;berall Armuth, Koth und Verfallenheit. Es war
-Sonntag und die Stra&szlig;en wenig lebhaft; aber als die Postkutsche
-hielt, sah Esther, da&szlig; eine ganze Schaar junger M&auml;dchen und Kinder
-den Wagen umringten.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_67" id="Page_67">[Pg 67]</a></span></p>
-
-<p>Kaum hatte Madame Bertin den Fu&szlig; an die Erde gesetzt, so
-wurde sie mit lautem Jubel von dieser Schaar begr&uuml;&szlig;t, und es war
-gar kein Ende zu finden mit K&uuml;ssen und Umarmungen. Esther
-stand still zur Seite und betrachtete sich voll Staunen diese Welt,
-in die sie eintreten sollte; denn es waren in der That die Pensionairinnen
-Madame Bertin's, die sie hier vor sich sah. Aber welch
-ein Anblick! Welch ein Schmutz und welch ein Gelumpe unter diesen
-jungen M&auml;dchen, und das sogar am Sonntage! Ueber gro&szlig;en
-Reifr&ouml;cken elende, schmutzige Kleider, zerrissene Schuhe an den F&uuml;&szlig;en,
-die im Stra&szlig;enkothe umherh&uuml;pften, da&szlig; das Wasser hoch aufspritzte,
-und auf dem schwarzen, wirren Haar wunderliche M&uuml;tzchen von
-unaussprechlicher Unsauberkeit. Dabei aber die niedlichsten Gesichterchen
-mit feurigen schwarzen Augen, lachenden M&auml;ulerchen und
-blendend wei&szlig;en Z&auml;hnen, und alle grazi&ouml;s und zierlich, vergn&uuml;gt
-und gl&uuml;ckselig, als feierten sie das herrlichste aller Feste.</p>
-
-<p>Esther wurde nun vorgestellt und gleich mitten im Stra&szlig;enkoth
-von all' den schmutzigen jungen Wesen so herzlich umarmt und gek&uuml;&szlig;t,
-als w&auml;re sie eine liebe, alte Bekannte. Es kostete Esther eine wahrhafte
-Ueberwindung, die Arme dieser kleinen, unsauberen M&auml;dchen
-und diese schmutzigen H&auml;nde mit den schwarzen N&auml;geln nicht
-von sich zu sto&szlig;en, und l&auml;chelnd mu&szlig;te sie ihrer guten Tante Booland
-gedenken, welcher ein einziger Ri&szlig; oder Schmutzfleck in Esthers
-Kleidern schon so gro&szlig;es Entsetzen erregt hatte. Was w&uuml;rde sie wohl
-zu dieser jungen Schaar sagen! Aber trotz alledem mu&szlig;te man diesen
-lustigen, gutherzigen Kindern gut sein, und getrosten Muthes folgte
-ihnen Esther nach der Wohnung Madame Bertin's.</p>
-
-<p>Aber auch hier war der Eindruck: Schmutz und Verfall wohin
-man blickte. Hinter einer zerbr&ouml;ckelten Mauer versteckte sich ein
-altes steinernes Geb&auml;ude, in dessen unteren R&auml;umen die Pensionsanstalt
-sich befand. Steinerne von Schmutz bedeckte Fu&szlig;b&ouml;den in<span class="pagenum"><a name="Page_68" id="Page_68">[Pg 68]</a></span>
-allen Zimmern, finstere verwahrloste Kamine, Spinneweben an den
-lichtlosen Fenstern, und unbehaglich d&uuml;stere M&ouml;bel &uuml;berall &mdash; das war
-der Anblick, der sich Esther beim Eintritt in das Haus darbot. Nur
-der sogenannte Salon war mit rothseidenen Sophas und Fauteuils
-ausstaffirt, welche aber auch von Staub &uuml;berzogen waren und sich
-&uuml;berhaupt wohl wundern mochten, wie sie in diese R&auml;ume gerathen
-konnten. Esthers eigenes kleines Zimmer bestand in einem Raum,
-der einen Durchgang bildete f&uuml;r die ganze Pensionsgesellschaft, und
-au&szlig;erdem vollgepfropft war von allem m&ouml;glichen Hausger&auml;th, so da&szlig;
-es einen uns&auml;glich unbehaglichen Aufenthalt bildete. Das waren
-denn nun freilich keine sch&ouml;nen Aussichten f&uuml;r Esther, die an ein
-behagliches Leben gew&ouml;hnt war, und das Herz schlug dem armen
-Kinde etwas bange in dieser Umgebung. Aber war es nicht ihr
-Bertel, f&uuml;r den sie alles zu ertragen hatte? Wie leicht wurde bei
-diesem Gedanken jede Last! Ihr frischer Jugendmuth erhielt bald
-wieder die Oberhand, und ihr Humor regte sich und half ihr &uuml;ber
-die tausend Unannehmlichkeiten fort, die sich ihr sonst noch entgegenstellten.</p>
-
-<p>H&ouml;chst fremdartig und unangenehm war ihr vor allem auch die
-s&uuml;dfranz&ouml;sische Kost. Gleich am ersten Morgen sah Esther mit Staunen,
-da&szlig; das Fr&uuml;hst&uuml;ck der jungen M&auml;dchen aus nichts bestand,
-als aus einer Scheibe harten grauen Brodes, das Einige sich am
-Heerdfeuer r&ouml;steten, und einigen Zwiebeln, Salatbl&auml;ttern oder Kohlrabist&uuml;cken.
-F&uuml;r Esther hatte man r&uuml;cksichtsvoll ein unaussprechliches
-Gebr&auml;u aus einer Art Kaffee bereitet, und seufzend weichte sie
-ihre Scheibe ger&ouml;steten Brodes darin auf, zufrieden, da&szlig; sie wenigstens
-mit dem Genu&szlig; jener Zwiebeln und Kohlrabi verschont blieb.
-Aber beim Mittagsessen konnte sie sich auch diesen Freuden nicht
-entziehen. Einer steifen Suppe von Brod und Kohlrabi folgte
-eine Art Salat von dicken Zwiebelst&uuml;cken, und Hammelfleisch, das<span class="pagenum"><a name="Page_69" id="Page_69">[Pg 69]</a></span>
-au&szlig;en verkohlt, innen aber ganz roh war, und mit dem Esther sich
-durchaus nicht befreunden konnte trotz ihres jugendlichen Appetits.
-Ein Beigeschmack von Knoblauch und ranzigem Oel umschwebte
-alle Gerichte; denn bekanntlich wird im S&uuml;den das Oel statt der
-Butter zur Bereitung der Speisen benutzt, und so wohlschmeckend
-solches Oel in frischem Zustande ist, so widerlich wird es in etwas
-verdorbenem, wie man es hier benutzte. In einer Pension nimmt
-man nicht immer das Beste und darf eben nicht sehr w&auml;hlerisch sein.</p>
-
-<p>Esther a&szlig; stets mit heftigem Widerwillen, und in ihrem ersten
-Briefe an Frau Booland erg&ouml;tzte sie sich damit, dieser einen s&uuml;dfranz&ouml;sischen
-Speisezettel mit einigen f&uuml;r eine Deutsche grauenvollen
-Gerichten zur Disposition zu stellen. &mdash; &raquo;Zuerst also, liebe Tante,&laquo;
-schrieb sie, &raquo;erscheint eine dicke Suppe von Weinbergschnecken mit
-einem Zusatz von Knoblauch, Oel und Brod. Dann als <span class="antiqua">entre-met</span>,
-den Appetit zu reizen, giebt es rohe Zwiebeln, als Fleischspeise ein
-Ragout von Kaninchen mit Cichoriensalat, und zum Dessert rohe
-Saubohnen und ein Dutzend gro&szlig;er, lebender Schnecken. Was
-meinst du zu diesen Delikatessen, mein Tantelchen? Wie sehne ich
-mich unter diesen Knoblauch- und Oelgerichten nach meiner lieben
-deutschen Kost, zu welcher ihrerseits aber die jungen Franz&ouml;sinnen
-die K&ouml;pfe sch&uuml;tteln, erz&auml;hle ich ihnen davon. Ueberhaupt komme ich
-mir hier, liebe Tante Booland, vor, wie verbannt, und oft ist mir,
-als ob ich in Afrika unter den Wilden w&auml;re, denn ich lerne die wunderbarsten
-Zust&auml;nde hier kennen. Die kleine Schaar hier ist so unreinlich,
-so ungebildet, so wild und fremdartig, wie ich mir nie
-junge M&auml;dchen gedacht h&auml;tte. Freilich sind hier in dieser Pension
-keine Kinder aus feinen H&auml;usern; in vornehmeren Erziehungsanstalten
-mag es ganz anders sein, und ich bedauere, da&szlig; ich so schlimm
-ankommen mu&szlig;te. Bei uns hier sind meist T&ouml;chter von B&uuml;rgern,
-Handwerkern und Weinbauern, die alle keine Anspr&uuml;che an eine
-<span class="pagenum"><a name="Page_70" id="Page_70">[Pg 70]</a></span>Erziehung machen, wie wir sie gew&ouml;hnt sind, denn wie viel wohlerzogener
-und gebildeter sind M&auml;dchen solchen Standes bei uns in
-Deutschland. Ich wei&szlig; oft nicht, &uuml;ber was ich mehr staunen soll:
-ob &uuml;ber diese verwahrlosten Kinder oder &uuml;ber diejenigen, die sie erziehen
-und belehren; denn deren Bildung und Lebensweise l&auml;&szlig;t eben
-auch gar viel zu w&uuml;nschen &uuml;brig. Die ganze M&auml;dchenschaar von
-einigen 30 solcher lebendigen, plappernden, schwarzbraunen und
-unsauberen Gesch&ouml;pfchen sehr verschiedenen Alters, hat meist in einer
-einzigen Klasse Unterricht, jedoch in zwei Abtheilungen, und da
-kannst Du Dir nun eine Vorstellung von diesem Unterricht machen!
-Auf einer Seite des Saales spreche ich auf die kleinen, unruhigen
-Geister ein, auf der andern ein Lehrer; aber wie wenig da wirklich
-verstanden und gelernt wird, ist begreiflich. Es kommt aber hierauf
-auch herzlich wenig an, wie mir scheint; &uuml;ber Elementarkenntnisse
-kommen diese Kinder sicher nie weit heraus, man verlangt das aber
-auch gar nicht. Sobald sie die Pension verlassen und nach Hause
-zur&uuml;ckkehren, arrangirt man eine Heirath f&uuml;r sie, und wozu n&uuml;tzen
-dann noch die Kenntnisse? Das Wissen scheint einer solchen kleinen
-Franz&ouml;sin erstaunlich unn&uuml;tzer Ballast f&uuml;r das Leben. Wenn sie
-nur recht munter zu plaudern und zu lachen versteht und sich recht
-grazi&ouml;s und zierlich bewegt, mehr verlangt niemand von ihr. Aber
-freilich, von dieser Anmuth und Grazie der Bewegungen, dieser
-steten verbindlichen Freundlichkeit, dieser ewigen und unverw&uuml;stlichen
-Heiterkeit haben wir steifen, groben, ernsthaften Norddeutschen
-keinen Begriff, und so sehr mein Herz sich oft emp&ouml;rt &uuml;ber
-diese unbeschreiblichen Zust&auml;nde, immer wieder vers&ouml;hnt mich die
-hinrei&szlig;ende Liebensw&uuml;rdigkeit dieser Kinder des s&uuml;dlichen Frankreichs.
-Du solltest nur einmal sehen, liebste Tante, mit welcher
-unnachahmlichen Grazie unsere doch schon &auml;ltliche Mademoiselle Bertin
-bei dem D&icirc;ner an der Spitze der Tafel pr&auml;sidirt. F&uuml;r Jeden hat<span class="pagenum"><a name="Page_71" id="Page_71">[Pg 71]</a></span>
-sie ein L&auml;cheln, ein verbindliches Wort, eine gef&auml;llige Handreichung.
-Anmuthig erfa&szlig;t sie mit ihren h&ouml;chst unsaubern Fingern ihr Glas,
-noch anmuthiger f&uuml;hrt sie es an den ewig l&auml;chelnden, ewig freundlich
-plaudernden Mund, und mit reizender Grazie reicht sie hier
-einem Kinde s&uuml;&szlig; l&auml;chelnd ein St&uuml;ck des schauerlich harten Brodes,
-dort einem andern einen winzigen Bissen verkohlten Cotteletts, als
-seien es seltene Kostbarkeiten. Am Ende des wundervollen Mittagmahles
-s&auml;ubert sie voll l&auml;chelnder Anmuth mit ihren Lippen Gabel,
-Messer und L&ouml;ffel, die sie alsdann in ihre Serviette einwickelt; die
-ganze Tischgesellschaft thut das Gleiche, und bei der n&auml;chsten Mahlzeit
-benutzt man diese also gereinigten Ger&auml;thschaften von Neuem,
-ohne jemals eine andere S&auml;uberung f&uuml;r nothwendig zu halten! &mdash;
-Und wie spa&szlig;haft sehen alle diese jungen M&auml;dchen aus mit ihren
-gro&szlig;en wei&szlig;en oder schwarzen M&uuml;tzen auf dem Kopfe! Sie sind
-n&auml;mlich viel zu tr&auml;ge, sich t&auml;glich ihr Haar zu k&auml;mmen und zu flechten,
-das geschieht h&ouml;chstens ein Mal in der Woche; die &uuml;brigen Tage
-steckt man die wirren schwarzen Flechten und Locken unter eine solche
-M&uuml;tze, die deckt alles. Aber wie sieht die aus! W&uuml;rdig des ganzen
-Anzuges! Als ich mir am ersten Morgen Gesicht und Nacken in
-frischem Wasser badete, sah meine junge Stubengenossin mich ganz
-erstaunt an und sagte: &raquo;Waschen Sie sich immer so, Mademoiselle?&laquo;
-&raquo;Nat&uuml;rlich, Louison,&laquo; erwiederte ich, &raquo;thun Sie es denn nicht auch?&laquo;
-&raquo;<span class="antiqua">O mon dieu non!</span>&laquo; rief sie ganz entsetzt aus, &raquo;ich w&uuml;rde sicher den
-Tod davon haben!&laquo; Und wirklich sah ich nun, da&szlig; sie nur eben die
-Zipfel eines Tuches in's Wasser tauchte und sich die Augen damit
-anfeuchtete, das war die ganze W&auml;sche. Da&szlig; man sich auch Mund
-und Z&auml;hne reinigt, da&szlig; Nagel- und Kleiderb&uuml;rsten existiren und
-benutzt werden, da&szlig; Seife schmutzigen H&auml;nden ein Bed&uuml;rfni&szlig; ist,
-alles das sind Dinge, welche nicht zur Kenntni&szlig; dieser jungen M&auml;dchen
-geh&ouml;ren. Und doch w&auml;re in diesem Lande, wo der Sommer so<span class="pagenum"><a name="Page_72" id="Page_72">[Pg 72]</a></span>
-hei&szlig; und lang ist, Reinlichkeit ein doppeltes Bed&uuml;rfni&szlig;. Ich sehne
-mich ordentlich danach, einmal einen Blick in andere Pensionen und
-andere H&auml;user zu thun; denn unm&ouml;glich kann doch solche Unsauberkeit
-allgemein verbreitet sein. Was ich jedoch hier in dem kleinen
-Orte sehe, gleicht freilich alles mehr oder weniger unserer theuren
-Pensionsanstalt! Aber wenn ich nun an den Menschen und deren
-Sitten auch vieles anders w&uuml;nsche, wie k&ouml;stlich ist daf&uuml;r die Natur,
-die mich umgiebt! Ein so entz&uuml;ckend sch&ouml;nes Thal, wie das ist, in
-dem unser altes kleines St&auml;dtchen liegt, kann man so bald nicht
-wieder finden. Von den Bergen rauschen frische Quellen hernieder
-und bilden tausend kleine Cascaden; das &uuml;ppigste Gr&uuml;n, durchzogen
-von bl&uuml;henden B&uuml;schen und B&auml;umen, deckt trotz der N&auml;he des Winters
-noch &uuml;berall H&ouml;hen und Tiefen, und von einzelnen nackten
-Felsspitzen schauen pr&auml;chtig zerfallene Ruinen herab in das Thal, von
-ehemaliger Gr&ouml;&szlig;e und Herrlichkeit erz&auml;hlend. Pflanzen, von denen
-wir kleine Zweige zu Hause als kostbare Sch&auml;tze im Fenster stehen
-haben, bl&uuml;hen und wuchern hier als riesige B&uuml;sche und Str&auml;ucher,
-und was &uuml;ppiger Pflanzenwuchs ist, davon habe ich jetzt erst einen
-Begriff bekommen. Wie w&uuml;rdest Du, beste Tante, die Du die
-Blumen so liebst, Dein Herz erfreuen an all' den k&ouml;stlichen Gew&auml;chsen,
-welche mich hier umgeben und welche die Verfallenheit und
-Unsauberkeit so reizend verh&uuml;llen, da&szlig; man beinahe mit derselben
-ausges&ouml;hnt wird.&laquo; &mdash;</p>
-
-<p>So verstand es Esther, die Augen f&uuml;r das Sch&ouml;ne zu &ouml;ffnen,
-das sie umgab, und f&uuml;r die unerquickliche Existenz, in welche das
-Schicksal sie gef&uuml;hrt, sich m&ouml;glichst reiche Entsch&auml;digung zu suchen.
-Ihr heiterer Sinn erfreute sich mehr und mehr an der Liebensw&uuml;rdigkeit
-ihrer Umgebung, und die lustige junge Schaar hing bald mit
-feuriger Verehrung an der neuen Lehrerin.</p>
-
-<p>Mit sehns&uuml;chtiger Erwartung hoffte Esther von Tag zu Tag<span class="pagenum"><a name="Page_73" id="Page_73">[Pg 73]</a></span>
-auf eine Nachricht von Herrn Martin aus N&icirc;mes; aber Woche auf
-Woche verging und noch immer kam kein Brief. Esther glaubte,
-der alte Herr werde sein Versprechen wohl vergessen haben, und es
-werde ihr nichts &uuml;brig bleiben, als die Sache selbst in die Hand zu
-nehmen. Dazu aber mu&szlig;te sie das Weihnachtsfest abwarten, wo
-einige Tage Ferien den t&auml;glichen Unterricht unterbrachen und ihr
-eine Reise nach N&icirc;mes erm&ouml;glichten. Da aber brachte der Brieftr&auml;ger
-ihr eines Morgens doch noch den sehnlich erwarteten Brief, und
-erwartungsvoll &ouml;ffnete Esther denselben. Ihr alter Freund schrieb
-ihr sehr verbindlich und freundlich und bat um Verzeihung, da&szlig; er
-sie so lange auf Nachricht habe warten lassen; aber er sei durch
-Krankheit verhindert worden, sein Versprechen zu erf&uuml;llen. Nun
-freue er sich, ihr &uuml;ber den betreffenden Herrn Richard Bescheid sagen
-zu k&ouml;nnen. Derselbe sei Kaufmann und habe vor Jahr und Tag
-eine &uuml;berseeische Reise angetreten. Wann er von derselben zur&uuml;ckkommen
-werde, sei ungewi&szlig;, wahrscheinlich im kommenden Fr&uuml;hjahr.
-Da der Herr unverheirathet sei und auch keine sonstigen Anverwandten
-in N&icirc;mes habe, bedauere Herr Martin, nichts Genaueres
-weiter &uuml;ber ihn erfahren zu k&ouml;nnen.</p>
-
-<p>Diese Nachricht war f&uuml;r Esther sehr betr&uuml;bend. Alle ihre
-sch&ouml;nen Pl&auml;ne, Hoffnungen und W&uuml;nsche schienen f&uuml;r jetzt scheitern
-zu sollen; denn wenn derjenige, von dem Esther die Schuld einfordern
-wollte, fern war, und niemand weder seinen Aufenthalt noch
-die Zeit seiner R&uuml;ckkehr angeben konnte, so war ja alles vergebens.
-Selbst wenn sie Frau von Ihlefeld von der Auffindung des Scheines
-sagen wollte, erreichte sie damit weiter nichts, als diese unn&ouml;thig aufzuregen,
-denn in der Ferne h&auml;tte dieselbe ja noch weniger wirken
-k&ouml;nnen. Esthers hatte doch wenigstens noch immer die Hoffnung, da&szlig;
-Herr Richard w&auml;hrend ihres Aufenthaltes in Frankreich zur&uuml;ckkommen
-w&uuml;rde. Sie pr&uuml;fte lange, was das Beste sein m&ouml;chte, und<span class="pagenum"><a name="Page_74" id="Page_74">[Pg 74]</a></span>
-sehnlichst w&uuml;nschte sie, sich mit jemand berathen zu k&ouml;nnen. Nach
-reiflicher Ueberlegung war sie entschlossen, ruhig in ihrer jetzigen
-Stellung zu bleiben und ihr Geheimni&szlig; wie bisher f&uuml;r sich zu behalten,
-bis sie dennoch vielleicht bald mit dem gl&uuml;cklichen Resultat
-vor ihre Lieben hintreten konnte. Das Opfer, welches sie brachte,
-war gro&szlig;; denn die Existenz, in der sie auszuharren beschlo&szlig;, wurde
-mit dem herankommenden Winter immer unerfreulicher. Fr&uuml;he
-K&auml;lte und sogar Schnee kamen Mitte December &uuml;ber die Berge gezogen
-und machten sich in dem kleinen hochgelegenen St&auml;dtchen,
-das im Sommer seiner k&uuml;hlern Temperatur wegen als angenehmer
-Aufenthalt besucht wurde, ziemlich unangenehm f&uuml;hlbar. Und man
-litt in diesen Gegenden vielmehr durch die K&auml;lte, als im Norden,
-wo man sich dagegen zu sch&uuml;tzen versteht. Aber hier besonders, in
-dieser w&uuml;sten Pensionsanstalt, wurde der Aufenthalt durch K&auml;lte und
-Schnee fast unertr&auml;glich. Die steinernen Fu&szlig;b&ouml;den, durch keinen
-Teppich gesch&uuml;tzt, waren ohnehin schon kalt wie Eis; aber mit ihren
-dicken Holzschuhen, Sabots genannt und wie kleine K&auml;hne gestaltet,
-trugen die unruhigen F&uuml;&szlig;e der quecksilberigen jungen Schaar unabl&auml;ssig
-alle N&auml;sse und allen Schnee von Hof und Stra&szlig;e mit herein,
-so da&szlig; der Fu&szlig;boden sich binnen Kurzem in einen wahren Sumpf
-verwandelte. Keine Th&uuml;re schlo&szlig; und kein Fenster hielt Wind und
-K&auml;lte ab, und wenn es dem schwarzen Kamin auch wirklich endlich gelungen
-war, nach uns&auml;glichem Rauchen und Qualmen etwas W&auml;rme
-um sich her zu verbreiten, der erste Windsto&szlig; warf diese oder jene Th&uuml;r
-wieder auf, und aus dem offenen Hausflur str&ouml;mte dann die ganze
-Winterk&auml;lte wie im Triumphe herein, denn niemand beeilte sich, ihr
-den Eingang wieder abzuschneiden. Besonders wenn der Mistr&acirc;l
-wehte, ein Wind, der dort heimisch und von markdurchdringender
-Sch&auml;rfe und Intensit&auml;t ist, wu&szlig;te man sich mitten im Zimmer und
-selbst im Bett kaum zu retten vor Zugluft und Unbehagen. Dieser<span class="pagenum"><a name="Page_75" id="Page_75">[Pg 75]</a></span>
-Wind dauert stets mehrere Tage, der Himmel ist dabei tiefblau und
-die Sonne blitzend, aber die Luft von einer Sch&auml;rfe, da&szlig; nichts vor
-ihrem Eindringen sch&uuml;tzt, und Th&uuml;ren und Fensterrahmen Spalten
-bekommen, so trocknet der Wind sie aus.</p>
-
-<p>Aber so sehr Esther durch diese Zust&auml;nde litt, die muntern Franz&ouml;sinnen
-lie&szlig;en sich dadurch wenig aus ihrer guten Laune bringen,
-und wenn der Wind recht eisig durch Th&uuml;r und Fenster pfiff, dann
-trappelten sie desto lustiger mit ihren h&ouml;lzernen Sabots auf dem steinernen
-Fu&szlig;boden umher, da&szlig; man meinen konnte, eine Schwadron
-C&uuml;rassire komme &uuml;ber das Steinpflaster geritten. Es war ein unaussprechlicher
-Spectakel; aber den lebendigen Kindern machte das gerade
-Vergn&uuml;gen. Gut, da&szlig; Esthers Nerven von solider St&auml;rke waren,
-sonst h&auml;tte sie diesen L&auml;rm und dieses Treiben nicht lange ertragen. &mdash;
-So kam das Weihnachtsfest heran, und Esther's Herz &uuml;bermannte
-jetzt eine so uns&auml;gliche Sehnsucht, da&szlig; sie all' ihrer tapfern Entschlossenheit
-bedurfte, um nicht die Flinte in das Korn zu werfen und auf
-und davon zu gehen, der lieben Heimath wieder zu, mit den Ihren
-das sch&ouml;nste aller Feste zu feiern. Hier in Frankreich hatte man
-keine Idee von der Feier des Weihnachtsfestes, wie Esther es kannte;
-Geschenke gab man sich am Neujahrstage, aber ohne besondere Festlichkeit.</p>
-
-<p>Der Arzt der Pension, dessen Frau eine Deutsche war, hatte
-sich sehr freundlich gegen Esther bewiesen und das junge M&auml;dchen
-durfte diese Familie zuweilen besuchen. O wie athmete sie hier auf
-in dieser sauberen, geordneten H&auml;uslichkeit, und hier f&uuml;hlte sie erst,
-wie leicht man bei verst&auml;ndiger Vorsorge den dortigen Winter ertragen
-konnte, der trotz Mistr&acirc;l doch unendlich viel milder war als
-ein deutscher. Von dieser Familie wurde Esther eingeladen, das
-Weihnachtsfest mit ihnen zu feiern, und freudig folgte das junge
-M&auml;dchen dieser Aufforderung. Am Nachmittage schon machte sie sich<span class="pagenum"><a name="Page_76" id="Page_76">[Pg 76]</a></span>
-auf den Weg, und bei k&ouml;stlich warmem Sonnenschein, wie er in der
-Heimath etwa im Mai die Erde w&auml;rmt, durcheilte sie die Stra&szlig;en.
-Ihr Weg f&uuml;hrte sie durch einen gro&szlig;en &ouml;ffentlichen Garten, auf dessen
-Terrassen eine Menge Frauen bei ihrer Spindel sa&szlig;en, gerade wie
-im Sommer, die Kinder zu ihren F&uuml;&szlig;en spielend.</p>
-
-<p>Aber wie k&ouml;stlich war auch noch alles gr&uuml;n trotz Winter und
-Schnee! Ueppiges Moos deckte &uuml;berall die ruinenhaften Mauern,
-saftig gr&uuml;ne Wiesen zogen sich weithin, Cypressen und Lorbeer und
-immergr&uuml;ne Eichen standen mit vollem Laube in dichten Gruppen,
-Oliven mit ihrem matten Gr&uuml;n breiteten sich dazwischen aus.
-Eine Menge wundervoller fremdartiger B&auml;ume w&ouml;lbten ihr Laubdach
-&uuml;ber Esther, von denen besonders einer mit brennend rothen
-Fr&uuml;chten ihr Auge entz&uuml;ckte, man nannte ihn Arbousier. Dichte
-Hecken von hohem Oleander und in wei&szlig;en Dolden bl&uuml;henden
-Gew&auml;chsen zogen sich ringsum, &uuml;ppige Schlingpflanzen rankten sich
-hernieder, und &uuml;berall bl&uuml;hte die Monatsrose in F&uuml;lle, von Veilchen,
-Narcissen, Tazetten und tausend anderen Blumen umringt. Es
-war eine Pracht und ein Reichthum in der Natur, da&szlig; Esthers Herz
-laut jubelte und sie sich nicht satt sehen konnte an all' dem Sch&ouml;nen.
-Wie herrlich mu&szlig;te diese Natur erst im Fr&uuml;hjahr sein, wenn am
-Weihnachtsabend, mitten im Winter, schon alles in dieser Weise
-bl&uuml;hte und duftete!</p>
-
-<p>Die Doktorin empfing Esther mit gro&szlig;er Herzlichkeit, und das
-junge M&auml;dchen verlebte den Abend so angenehm, da&szlig; ihr Heimweh
-fast g&auml;nzlich Abschied nahm. Mit Jubel begr&uuml;&szlig;te sie eine sch&ouml;ne gr&uuml;ne
-Tanne, den lieben nordischen Weihnachtsbaum, der in vollem Lichterglanze
-ihr entgegenlachte, als w&auml;re sie zu Hause in ihrem trauten
-Waldhause. Man hatte den Baum in eine riesige Vase gepflanzt,
-und statt der Aepfel lachten goldene Apfelsinen aus dem gr&uuml;nen
-Laube. Eine dicke Guirlande von frischen rothen Rosen, die man am<span class="pagenum"><a name="Page_77" id="Page_77">[Pg 77]</a></span>
-Morgen im Weinberge gepfl&uuml;ckt, zog sich um den Rand der Vase;
-hohe silberne Candelaber waren mit Gewinden von Lorbeer und
-Oleander umschlungen und durch Rosenketten verbunden, und an
-diesen Guirlanden wie an dem Tannenbaum hing eine Menge
-buntes Zuckerwerk und silberne und goldene Kugeln. Es war ein
-reizender Anblick. F&uuml;r Esther lagen einige h&uuml;bsche Geschenke unter
-dem Baume, und als beste Gabe ein dicker Brief aus der Heimath,
-den der Doktor heimlich dem Brieftr&auml;ger abgenommen hatte. Esthers
-Dank und Freude war namenlos, einen so herrlichen Weihnachtsabend
-h&auml;tte sie nimmer in der Fremde erwartet, und diese Freude
-st&auml;rkte sie wieder f&uuml;r all' die vielen unangenehmen Tage, welche noch
-vor ihr lagen.</p>
-
-<p>Unter wenig erfreulichen Verh&auml;ltnissen, in welche Esther ihr
-Geschick gef&uuml;hrt, verging der Winter, und ein Fr&uuml;hjahr kam
-herbei, so warm und wonnig und so reich an Bl&uuml;then und D&uuml;ften
-ringsum, da&szlig; Esther alles Ungemach verga&szlig; und mit vollem Herzen
-diese Zauberwelt geno&szlig;. Sie schrieb gl&uuml;ckselige Briefe an ihre
-Lieben in der Heimath, bei denen der Winter noch mit all' seinen
-rauhen L&uuml;ften und mit K&auml;lte und Schnee regierte, w&auml;hrend es
-rings um Esther schon bl&uuml;hte und duftete.</p>
-
-<p>Als dann aber auch in Deutschland das Fr&uuml;hjahr gekommen
-war, da brannte die Sonne schon so hei&szlig; und sengend auf die Fluren
-hernieder, in denen Esther umherwanderte, da&szlig; sich diese gar oft
-ihren nordischen Himmel herbei w&uuml;nschte.</p>
-
-<p>Mit dem Fr&uuml;hjahr sollte sich ja vielleicht Esthers Hoffen und
-Harren belohnen, so glaubte sie sicher, und ihr alter Freund hatte
-ihr versprochen, sobald er Kunde &uuml;ber die R&uuml;ckkehr Herrn Richard's
-erhalten k&ouml;nne, wolle er sie sogleich benachrichtigen. Aber Woche
-um Woche verging abermals, und kein Brief kam. Die warmen
-Fr&uuml;hlingstage verwandelten sich in hei&szlig;en Sommer, unter dessen<span class="pagenum"><a name="Page_78" id="Page_78">[Pg 78]</a></span>
-sengender Sonnengluth alles verdorrte und verbrannte, so da&szlig; statt
-der saftigen Fluren eine gelbbraune Decke sich &uuml;berall ausbreitete,
-und Menschen und Thiere nach K&uuml;hlung schmachteten.</p>
-
-<p>Jetzt bot das eisig kalte Steinhaus, in dem Esther wohnte, allerdings
-angenehmen Schutz vor der Sonnengluth; aber doch freute
-sich das junge M&auml;dchen, da&szlig; einige Wochen Ferien die Stunden
-unterbrechen sollten, denn sie f&uuml;hlte sich oft unendlich m&uuml;de und angegriffen.
-Das stete vergebliche Hoffen machte sie nerv&ouml;s und niedergeschlagen,
-sie sah ja, da&szlig; ihr Opfer vergebens sein und sie ohne
-das Geld nach Hause zur&uuml;ckkehren mu&szlig;te. Sie hatte gehofft, die
-Erlangung dieses Schatzes werde ihr die Stellung in England ersparen,
-und sie k&ouml;nne wieder zur&uuml;ck in ihr Waldhaus. Nun schwand
-auch diese Freude; denn wenn sie nichts verdiente, litt Bertel Mangel
-und konnte nicht weiter studiren. So mu&szlig;te sie also jene Stelle
-binnen Kurzem antreten; man wollte dort nicht l&auml;nger warten,
-wie Pastor Krause ihr schrieb. Schon beabsichtigte Esther, gleich
-beim Beginn der Ferien nach Hause zur&uuml;ck zu kehren, da schrieb ihr
-Herr Martin, seine Frau wollte f&uuml;r einige Wochen in das Seebad
-nach Cette gehen und w&uuml;rde sich freuen, wenn Esther sie begleiten
-wolle. Er bitte sie, vorher f&uuml;r einige Tage in N&icirc;mes ihr Gast sein
-zu wollen. Esther z&ouml;gerte anfangs, dies Anerbieten anzunehmen,
-ihre angegriffene Gesundheit aber bedurfte allerdings der St&auml;rkung
-durch Seeb&auml;der; denn neue Pflichten erwarteten sie ja, f&uuml;r welche
-sie eines kr&auml;ftigen K&ouml;rpers bedurfte. So nahm sie denn Abschied
-von ihren liebensw&uuml;rdigen Pensionsgef&auml;hrtinnen, die ihr trotz aller
-M&auml;ngel und Fehler herzlich lieb geworden waren, und eilte unter
-das gastliche Dach ihres guten alten Freundes in N&icirc;mes.</p>
-
-<p>Hier wurde sie mit gro&szlig;er Herzlichkeit aufgenommen und fand
-eine angenehmere H&auml;uslichkeit, wenn auch ein deutsches Hauswesen
-diese s&uuml;dlichen Zust&auml;nde bedeutend an Behagen &uuml;bertraf. Frau<span class="pagenum"><a name="Page_79" id="Page_79">[Pg 79]</a></span>
-Martin war eine lebendige, liebensw&uuml;rdige, alte Dame, und die
-beiden guten Alten machten es sich zur Aufgabe, Esther alle Sehensw&uuml;rdigkeiten
-von Stadt und Umgegend zu zeigen.</p>
-
-<p>Es traf sich gerade, da&szlig; man einen Geburtstag in der kaiserlichen
-Familie feierte, wozu die ganze Stadt sich mit Fahnen, Guirlanden
-und Teppichen geschm&uuml;ckt hatte, was den Stra&szlig;en einen
-&auml;u&szlig;erst freundlichen Anblick verlieh. Gro&szlig;e Processionen durchzogen
-die Stadt, Abends war brillantes Feuerwerk und Illumination, das
-Sch&ouml;nste aber war am andern Tage ein Volksfest in den alten
-Mauern der Arena, wozu jedermann freien Zutritt hatte. Unser
-altes P&auml;rchen f&uuml;hrte nat&uuml;rlich seinen Gast auch dahin, und mit
-Staunen und Entz&uuml;cken sah Esther dieses pr&auml;chtige Schauspiel mit
-an. Die vortrefflich erhaltenen Ruinen der einst durch die R&ouml;mer
-erbauten Arena waren jetzt von oben bis unten &uuml;berdeckt von vielen
-Tausend Menschen, und jedes Pl&auml;tzchen, so klein oder gef&auml;hrlich es
-auch sein mochte, war besetzt. Alle diese Terrassen, Bogen, Arkaden,
-ja selbst der oberste Rand der Umfassungsmauer, alles stand gedr&auml;ngt
-voll Menschen, und da war kein Stein, kein Pfeiler, der nicht seine
-interessante Gruppe aufwies. Auf einzelnen losgebrochenen Mauerresten
-standen und hingen k&uuml;hne Burschen, und w&auml;hrend ihre braunen
-Gesichter vor Vergn&uuml;gen leuchteten, baumelten sie lustig mit den
-nackten Beinen &uuml;ber dem Abgrunde und lachten der &auml;ngstlichen Rufe
-und Blicke um sie her. M&auml;nner und Weiber, Kinder und Greise,
-zerrissene Bettler und elegante Damen, alles dr&auml;ngte sich dicht an
-einander, sitzend, stehend, h&auml;ngend, kauernd oder liegend, wie es eben
-ging; aber alles jubelnd, schreiend, lachend und hoch oben dar&uuml;ber
-der tiefblaue Himmel, wie ihn eben nur der S&uuml;den aufzuweisen hat.
-W&auml;hrend unten in der Arena Seilt&auml;nzer und Jongleure ihre K&uuml;nste
-zeigten, ein Luftballon emporgelassen wurde und bei laut kreischender
-Musik allerlei T&auml;nze und Scherze aufgef&uuml;hrt wurden, wanderten<span class="pagenum"><a name="Page_80" id="Page_80">[Pg 80]</a></span>
-auf der untersten Terrasse eine Menge Verk&auml;ufer umher, die Zuschauer
-mit Fr&uuml;chten und Geb&auml;ck zu versorgen. Mit wahrhafter
-Virtuosit&auml;t schleuderten diese H&auml;ndler ihre Waaren bis hoch zu den
-obersten Sitzen hinauf, und gelbe Citronen, goldene Apfelsinen, lange
-Wei&szlig;brode, Feigen, Pfirsiche, St&uuml;cke Melonen, alles flog und
-schwirrte durch die Luft und wurde ebenso geschickt aufgefangen als
-geschleudert. Verfehlte aber ein ungl&uuml;ckliches Geb&auml;ck oder eine leckere
-Frucht einmal ihr Ziel und rollte in ein Geb&uuml;sch oder in das lose
-Steinger&ouml;ll, dann zitterte die Luft von endlosem Jubel, und tausend
-H&auml;nde und F&uuml;&szlig;e waren in Bewegung, den Schatz zu erobern.
-Esther war ganz hingerissen von dem Zauber dieses echt s&uuml;dlichen
-Festes, und feurig und lebendig wie auch ihr Temperament war,
-jubelte sie mit ihren franz&ouml;sischen Nachbarn um die Wette und verga&szlig;
-es vollst&auml;ndig, da&szlig; von allen Seiten der verha&szlig;te Knoblauchgeruch
-sie einh&uuml;llte, und eine Menge h&ouml;chst uncivilisirter Beine &uuml;ber
-ihrem Kopfe baumelten.</p>
-
-<p>Nach einigen in N&icirc;mes froh verlebten Tagen reiste Esther in
-Gesellschaft der alten Frau Martin nach Cette ab, das pr&auml;chtig am
-Gestade des Mittelmeeres sich hinzog. Von dort gedachte sie einige
-Wochen sp&auml;ter in die Heimath zur&uuml;ckzukehren, und Frau von Ihlefeld
-dann selbst die Erlangung jenes Kapitals zu &uuml;berlassen, da ihr diese
-Freude nicht verg&ouml;nnt ward. Der Anblick des Meeres war ein
-neuer Genu&szlig; f&uuml;r Esther, und mit Entz&uuml;cken badete sie ihre Glieder
-in dieser herrlichen Fluth. Sie f&uuml;hlte sich durch die B&auml;der bald
-wunderbar gest&auml;rkt und belebt, und da auch das Zusammensein mit
-Frau Martin durchaus angenehm war, so freute sich Esther aus
-voller Seele dieser sch&ouml;nen Tage. Leider aber war Frau Martin
-schon nach Kurzem gen&ouml;thigt, wieder nach Hause zur&uuml;ckzukehren, da
-ihr Mann heftig erkrankte; da sie aber hoffte, bald wieder nach Cette
-kommen zu k&ouml;nnen, blieb Esther zur&uuml;ck, durch die alte Dame den
-braven Hauswirthen warm empfohlen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_81" id="Page_81">[Pg 81]</a></span></p>
-
-<p>In dieser Zeit war es, wo eine junge Dame Esthers Bekanntschaft
-erneuerte, welche schon in N&icirc;mes in der Arena neben ihr
-gesessen und sie mehrfach angesprochen hatte. Esther freute sich,
-Gesellschaft zu haben, und obwohl sie eigentlich keinen gro&szlig;en Gefallen
-an der Dame fand, kam sie doch t&auml;glich mit derselben zusammen.
-Sie nannte sich Mademoiselle Lasson, war sehr heiter
-und gespr&auml;chig, und Esther verga&szlig; in ihrer Gesellschaft alle tr&uuml;ben
-Sehnsuchtsgedanken. Dies veranla&szlig;te sie, h&auml;ufiger mit Mademoiselle
-Lasson zusammen zu sein, als sie sonst wohl gethan h&auml;tte.</p>
-
-<p>An einem herrlichen Sommerabend ging Esther auch wieder
-mit ihrer neuen Freundin am Meeresstrande spazieren, und mit
-ihnen noch viele andere Badeg&auml;ste. Man hatte in der Ferne das
-Herankommen eines Schiffes gesehen, und das Einlaufen eines solchen
-in den Hafen war stets ein Vergn&uuml;gen f&uuml;r die Fremden. Auch
-Esther freute sich des Anblicks, wie das sch&ouml;ne, stolze Schiff auf den
-Wellen daher segelte, und als dann die Ankommenden ausstiegen,
-betrachtete sie dieselben voll nat&uuml;rlicher Neugierde. Da ging einer
-der angekommenen Herren an ihr vor&uuml;ber. Mademoiselle Lasson
-begr&uuml;&szlig;te denselben und zwar mit so lauten Worten und fr&ouml;hlichem
-Lachen, da&szlig; Esther etwas scheu zur&uuml;cktrat. Der Herr blickte auf und
-schien &uuml;ber die Begr&uuml;&szlig;ung durchaus nicht erfreut; denn mit einem
-kurzen Seitenblick auf Esther ging er leicht gr&uuml;&szlig;end davon.</p>
-
-<p>&raquo;Wer war der Herr, Mademoiselle?&laquo; fragte Esther rasch.</p>
-
-<p>&raquo;O, ein alter Bekannter von mir, Monsieur Richard; er schien
-mich nicht recht zu erkennen,&laquo; sagte die Dame achselzuckend.</p>
-
-<p>&raquo;Herr Richard?&laquo; rief Esther freudestrahlend. &raquo;Herr Richard aus
-N&icirc;mes? Der Neffe des Herrn Etienne de Villemaud?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wie seine Verwandten alle hei&szlig;en, wei&szlig; ich wahrlich nicht,&laquo; lachte
-Jene, &raquo;ich glaube aber, den Namen geh&ouml;rt zu haben. Er that
-diesem Herrn hier den Gefallen, zu sterben und ihm sein sch&ouml;nes<span class="pagenum"><a name="Page_82" id="Page_82">[Pg 82]</a></span>
-Geld zu hinterlassen, wenn ich nicht irre. Was wissen Sie denn
-von diesem Kauz, liebe Kleine?&laquo;</p>
-
-<p>Esther war so aufgeregt vor Freude, Gl&uuml;ck und Wonne, da&szlig; sie
-zitterte und ihrer Begleiterin in kurzen Worten sagte, da&szlig; es f&uuml;r sie
-von unendlicher Wichtigkeit sei, diesen Herrn zu treffen. &raquo;O bitte,
-wir wollen ihm schnell nacheilen, da&szlig; er nicht abreist, ehe ich ihn
-gesprochen habe!&laquo; rief sie gl&uuml;hend und zog Mademoiselle Lasson
-mit sich fort.</p>
-
-<p>&raquo;Halt, liebe Kleine, nicht so hitzig!&laquo; lachte diese und machte ein
-so sonderbares Gesicht, da&szlig; Esther verlegen stehen blieb.</p>
-
-<p>&raquo;Sie sind ja sehr eilig hinter dem Herrn her, der wenig von
-uns wissen zu wollen schien. Ich wei&szlig;, er kehrt hier bei einem Bekannten
-ein, da werden Sie ihn zeitig genug treffen auch ohne so
-gro&szlig;e Eile. Aber hingehen wollen wir, da Ihnen so viel daran zu
-liegen scheint. Ich darf doch mit Ihnen gehen?&laquo;</p>
-
-<p>Esther dankte ihrer Begleiterin herzlich, da&szlig; sie ihr zur Seite
-bleiben und sie zu der Wohnung Herrn Richard's f&uuml;hren wollte. Zuerst
-aber eilte sie nach Hause, das wichtige Papier zu holen, das ihr
-bisher so viel Angst und Sorge, Hoffnung und Entt&auml;uschung gebracht
-hatte. Ihre Begleiterin f&uuml;hrte sie bis zu dem betreffenden Hause,
-dann aber verabschiedete sie sich, was Esther im Grunde nicht unlieb
-war, sollte doch niemand weiter von ihrem Geheimni&szlig; erfahren.</p>
-
-<p>Als sie Herrn Richard gegen&uuml;ber stand, schlug ihr doch das Herz
-gewaltig vor banger Erwartung, besonders da jener Herr ihr sehr
-kalt und erstaunt entgegentrat und sie mit wenig freundlichen Blicken
-anschaute und nach ihrem Begehr fragte. Esther nannte ihren
-Namen und versicherte sich zuerst, da&szlig; sie auch die gesuchte Pers&ouml;nlichkeit
-vor sich habe; dann aber nahm sie mit zitternder Hand den
-Schuldschein aus ihrer Brieftasche und sagte: &raquo;Mein Herr, wissen
-Sie von dieser Schuld?&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_83" id="Page_83">[Pg 83]</a></span></p>
-
-<p>Herr Richard blickte das Blatt voll Staunen an und sagte:
-&raquo;Der Empfang der Summe ist in den B&uuml;chern meines Vetters notirt,
-aber kein Name. Ich habe bisher umsonst gewartet, da&szlig; der
-Gl&auml;ubiger sich melden solle. Aber mein Fr&auml;ulein, wie kommen <em class="gesperrt">Sie</em>
-zu dem Schuldscheine?&laquo; Und wieder blickte er Esther pr&uuml;fend in das
-gl&uuml;hende Gesicht.</p>
-
-<p>&raquo;Der Schein war seit Jahren verloren, durch einen Zufall kam
-er in meine H&auml;nde,&laquo; sagte Esther ruhig, aber unwillk&uuml;rlich noch
-tiefer err&ouml;thend.</p>
-
-<p>&raquo;So, durch einen Zufall? Und Sie w&uuml;nschen, ich soll das Geld
-an Sie auszahlen?&laquo; entgegnete der Kaufmann scharf.</p>
-
-<p>&raquo;Ja, nat&uuml;rlich w&uuml;nsche ich das,&laquo; sagte Esther unbefangen.</p>
-
-<p>&raquo;So besitzen Sie eine Vollmacht, welche Sie berechtigt, die
-Summe von mir zu fordern im Namen des Gl&auml;ubigers?&laquo; entgegnete
-Herr Richard.</p>
-
-<p>&raquo;Eine Vollmacht?&laquo; sagte Esther betroffen. &raquo;Nein, wozu bed&uuml;rfte
-es einer solchen? Herr von Ihlefeld ist todt, seiner Familie aber
-stehe ich so nahe, da&szlig; Sie mir das Geld getrost ohne solche Vollmacht
-einh&auml;ndigen k&ouml;nnen. Ich bin mit dem Sohne des Hauses erzogen
-und besitze das volle Vertrauen der Mutter, welcher ich mit der
-Ueberbringung des Geldes eine unerwartete Freude machen will, da
-sie in sehr d&uuml;rftigen Umst&auml;nden lebt. Ich habe ihr die Auffindung
-des Schuldscheines, den ich in einem Buche fand, welches sie mir
-geliehen, nicht mitgetheilt, um ihr unn&ouml;thige Unruhe zu ersparen.
-Mein Weg f&uuml;hrte mich nach Frankreich, und so nahm ich Gelegenheit,
-den Erben jenes Herrn Etienne von Villemaud aufzusuchen,
-um Frau von Ihlefeld bei meiner Heimkehr das Geld statt des
-Scheines zu &uuml;berreichen. Schon glaubte ich meine Hoffnungen betrogen,
-da Sie f&uuml;r unbestimmte Zeit von der Heimath abwesend
-waren; da f&uuml;hrte ein g&uuml;nstiger Zufall mich heute in Ihre N&auml;he,<span class="pagenum"><a name="Page_84" id="Page_84">[Pg 84]</a></span>
-und so ist der Zweck meines Aufenthaltes in Frankreich doch nicht
-vergebens.&laquo;</p>
-
-<p>Herr Richard hatte Esther's Erz&auml;hlung mit einiger Ungeduld
-angeh&ouml;rt; jetzt sagte er kalt: &raquo;Darf ich um Ihre Legitimation bitten,
-mein Fr&auml;ulein?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Mein Pa&szlig; liegt in N&icirc;mes bei Herrn Martin,&laquo; sagte Esther
-unbefangen, &raquo;ich glaubte ihn hier nicht zu brauchen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;So?&laquo; entgegnete der Kaufmann ironisch. &raquo;Ich wei&szlig; nicht, mein
-Fr&auml;ulein, &uuml;ber was ich mich mehr wundern soll: &uuml;ber Ihre Dreistigkeit,
-ohne jegliche Vollmacht und Legitimation eine solche Forderung
-zu stellen, oder &uuml;ber die Naivit&auml;t, mir jenes M&auml;rchen zu
-erz&auml;hlen, den Schein betreffend. Haben Sie in der That geglaubt,
-irgend jemand w&uuml;rde Ihnen ohne Sicherheit und ohne Vollmacht
-jene Summe auszahlen? Wer b&uuml;rgt denn daf&uuml;r, da&szlig; Sie das Geld
-auch den Erben bringen, da diese gar nichts davon wissen, da&szlig; der
-Schein gefunden ist?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Mein Herr!&laquo; fuhr Esther emp&ouml;rt auf, &raquo;wie k&ouml;nnen Sie mich so
-beleidigen? Ich bin die Tochter eines Predigers und keine Diebin.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wenigstens w&auml;ren Sie eine sehr ungewitzigte Diebin, mein
-Fr&auml;ulein,&laquo; sagte Jener trocken. &raquo;Denn ohne Vollmacht w&uuml;rde Ihnen
-schwerlich jemand das Geld geben, ich wenigstens bin kein solcher
-Thor. Aber da Sie glaubten, das Geld werde Ihnen ausgezahlt
-werden ohne Vorzeigung des Scheines, so entstand diese Hoffnung
-vielleicht schon bei Erlangung desselben. Gerade da&szlig; Sie der Familie
-so nahe standen, erm&ouml;glichte ja die Erwerbung jenes Papieres.
-Jene Dame, in deren Gesellschaft ich Sie soeben am Strande sah,
-ist eine sehr schlechte Empfehlung f&uuml;r Ihre Solidit&auml;t und Ehrlichkeit,
-mein Fr&auml;ulein. Sie selbst habe ich nicht die Ehre zu kennen, ich
-gestehe Ihnen aber ehrlich, da&szlig; ich Ihnen gleich mit Mi&szlig;trauen
-entgegen kam, denn Sie werden das Sprichwort kennen: &raquo;<span class="antiqua">Dis-moi
-que tu hantes, et je te dirai que tu es.</span>&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_85" id="Page_85">[Pg 85]</a></span></p>
-
-<p>Esther war au&szlig;er sich. &raquo;Mein Herr!&laquo; rief sie, in Thr&auml;nen ausbrechend,
-&raquo;Sie beschimpfen ein ehrliches, schutzloses M&auml;dchen! Meine
-Unerfahrenheit hat mich in eine b&ouml;se Situation gebracht; aber gerade
-diese sollte Ihnen daf&uuml;r b&uuml;rgen, da&szlig; ich unschuldig bin. Jene
-Dame kenne ich kaum und habe keine Ahnung davon, da&szlig; sie f&uuml;r
-ein ehrliches M&auml;dchen keine passende Gesellschaft ist. Uebrigens verlange
-ich jetzt, da&szlig; Sie augenblicklich an Frau von Ihlefeld schreiben
-und sich nach Esther Wieburgs Ruf erkundigen; ich selbst werde ein
-Gleiches thun und die Auffindung des Scheines und alles andere
-berichten. Sie haben die unbescholtene Tochter eines Predigers
-t&ouml;dtlich beleidigt; Gott verzeihe es ihnen.&laquo; Dann schrieb sie rasch
-Frau von Ihlefelds Adresse auf einen Zettel und wandte sich stolz
-nach der Th&uuml;r; mit einem kalten Gru&szlig; ging sie hinaus. Zu
-Hause angekommen sank sie weinend auf ihre Knie. Lange schluchzte
-sie krampfhaft und leidenschaftlich; denn der Gedanke, hier als eine
-Diebin, als eine schamlose Betr&uuml;gerin behandelt worden zu sein,
-war ihr entsetzlich. Wenn auch nach kurzer Zeit der Verdacht von
-ihr genommen wurde, der Schatten hatte doch auf ihr geruht und
-ihr war, als sei sie nun f&uuml;r ewig gebrandmarkt. &raquo;O Bertel, Bertel,
-deinetwegen habe ich alles das zu ertragen!&laquo; rief sie, das Gesicht in
-den H&auml;nden verbergend.</p>
-
-<p>Aber endlich ermannte sie sich und eilte nach ihrem Schreibtische.
-Sie mu&szlig;te Herrn Martin brieflich bitten, ihren Pa&szlig; ihr zu &uuml;bersenden,
-den sie bei ihm deponirt hatte, damit sie sich durch diesen
-legitimiren konnte. Dann aber schrieb sie an Frau von Ihlefeld,
-dieser ihr ganzes W&uuml;nschen und Hoffen darlegend, und wie sie vergebens
-durch die Auffindung jenes Schuldscheines und die Erwartung,
-gleich selbst die Geldsumme erheben zu k&ouml;nnen, zu der Reise nach
-Frankreich bestimmt worden sei. Dann erz&auml;hlte sie ihr die Behandlung,
-welche sie durch Herrn Richard erlitten und bat dringend um<span class="pagenum"><a name="Page_86" id="Page_86">[Pg 86]</a></span>
-jene wichtige Vollmacht, damit sie das Geld erheben k&ouml;nne, und ihre
-Ehre wieder hergestellt werde. Als sie das Schreiben fortgetragen, fand
-sie bei ihrer R&uuml;ckkehr einen Brief in ihrem Zimmer. Er war aus der
-Heimath. Welch ein herrlicher Trost in aller Tr&uuml;bsal und Kr&auml;nkung.
-Voll Freude &ouml;ffnete sie das Schreiben, es war ein Brief von Bertel
-und ein kurzer von Frau Booland. Esther las den kurzen Brief zuerst,
-er lautete:</p>
-
-
-
-<blockquote>
-<p class="center">&raquo;Mein liebes theures Kind!<br />
-</p>
-
-<p>Heute schreibe ich Dir nicht viel, obwohl mir das Herz zum
-Zerspringen voll ist. Bertels Brief enth&auml;lt das Weitere. Ich
-habe es immer gedacht, so werde es einmal kommen; denn Adel
-bleibt Adel, und Geld hat einen sch&ouml;nen Klang. Bertel ist ein
-guter Sohn, er will seine Mutter nicht betr&uuml;ben, indem er ihrem
-Willen entgegen ist, er ist ja so leicht zu etwas zu bestimmen.
-Ob er dadurch freilich den Dolch in <em class="gesperrt">das</em> Herz st&ouml;&szlig;t, das ihm
-anh&auml;ngt mit unersch&uuml;tterlicher Treue, und dessen dieser Undankbare
-nie und nimmer w&uuml;rdig war, das kommt nicht in seinen
-Sinn. Aber genug, mein Herzblatt, ich will meine bittern
-Thr&auml;nen still f&uuml;r mich weinen und Dir dein armes Herzchen nicht
-noch schwerer machen. Nun gehst Du nicht nach England, sondern
-bleibst bei mir, Deiner ewig und unwandelbar getreusten</p>
-
-<p class="right">Friederike Booland.&laquo;<br />
-</p></blockquote>
-
-
-<p>Mit zitternder Hand faltete nun Esther Bertels Brief von einander.
-Was konnte er enthalten, da&szlig; Tante Booland so gegen ihn
-erz&uuml;rnte? Die Buchstaben schwammen vor ihren Augen, lange Zeit
-konnte sie die geliebten Schriftz&uuml;ge nicht festhalten. Endlich aber
-las sie, was Bertel schrieb. Nach einigen unwichtigeren Notizen
-erz&auml;hlte er ihr, da&szlig; er seit einiger Zeit ein h&auml;ufiger Gast in seinem
-einstigen Vaterhause in Rahmstedt sei, das jetzt in den Besitz eines
-entfernten Anverwandten, eines Herrn von Sassen, &uuml;bergegangen<span class="pagenum"><a name="Page_87" id="Page_87">[Pg 87]</a></span>
-sei. Die Frau sei todt, eine &auml;ltliche Cousine vertrete ihre Stelle im
-Hause. Er sei hier mit gro&szlig;er Freundlichkeit aufgenommen worden,
-und auch seine Mutter sei, nachdem sie den ersten Schmerz &uuml;berwunden,
-in das Haus wieder eingetreten, wo sie so Schreckliches
-erlebt. Nun verkehrten sie Beide h&auml;ufig mit diesen Verwandten, welche
-fr&uuml;her im Auslande lebten, und es habe sich ein sehr inniges Verh&auml;ltni&szlig;
-zwischen beiden Familien gebildet. Die h&ouml;chst anmuthige
-junge Tochter Susanne, das einzige Kind des Onkels, sei ihm wie
-eine Schwester entgegengekommen, und er sei dem h&uuml;bschen Kinde
-herzlich zugethan. Mit Esther freilich d&uuml;rfe er sie nicht vergleichen,
-aber wer k&auml;me dieser &uuml;berhaupt gleich? &mdash; Seine Mutter habe ihm
-nun vor einigen Stunden gesagt, da&szlig; der Onkel eine Verbindung
-ihrer beiden Familien sehr w&uuml;nsche, und Bertel ihm trotz seiner
-Armuth einst ein willkommner Gatte f&uuml;r sein Kind sein werde. Frau
-von Ihlefeld habe keinen h&ouml;hern Wunsch, als da&szlig; ihr Sohn zu
-diesem Plane die Hand reiche, und auch Susanne werde sich sicher
-damit einverstanden erkl&auml;ren, das d&uuml;rfe er erwarten; denn sie sei ein
-gutes, f&uuml;gsames Kind, das dem Willen des Vaters schwerlich entgegen
-sein w&uuml;rde. &raquo;Der Reichthum des Onkels,&laquo; schrieb Bertel
-weiter, &raquo;sichert meiner Mutter eine sorgenfreie Zukunft, und f&uuml;r
-mich selbst erschlie&szlig;t sich eine neue Welt. Mein einstiges Vaterhaus
-nimmt mich wieder auf als Sohn und Erben, und der Besitz dieses
-lieben M&auml;dchens giebt mir zugleich die Mittel in die Hand, die
-Tr&auml;ume meiner Jugend zu verwirklichen und im Dienste meiner
-Wissenschaft Reisen zu machen. Ein Arch&auml;olog, zu dem ich mich
-bilden will, ist nichts ohne Reisen, und so verschafft dieser Bund
-allen Theilen Gl&uuml;ck und Vortheil. Aber so sehr ich entschlossen bin,
-einen so wichtigen Schritt zu thun,&laquo; schrieb Hubert weiter, &raquo;so mu&szlig; ich
-doch wissen, wie Du dar&uuml;ber denkst, meine gute Esther. Schreibe
-es mir ganz ehrlich; denn einen bessern Freund als Dich habe ich ja<span class="pagenum"><a name="Page_88" id="Page_88">[Pg 88]</a></span>
-nie besessen, und nie im Leben habe ich etwas Wichtiges ohne Deinen
-Rath und Deine Billigung unternommen. Wohl wei&szlig; ich es, meine
-liebe theure Schwester, mein Gl&uuml;ck ist auch immer das Deine gewesen,
-das hast Du mir bewiesen, seit wir als kleine Kinder schon
-alles Leid und alle Freuden mit einander getheilt haben. Doch ich
-m&ouml;chte ein Wort von Deiner lieben Hand sehen, m&ouml;chte von Dir
-selbst h&ouml;ren, da&szlig; Du mein Vorhaben billigst, sonst kann ich meines
-Gl&uuml;ckes nicht froh werden. Lange war ich unschl&uuml;ssig, ob ich mich
-in dieser Weise binden sollte; aber meine Mutter dr&auml;ngt, und ich
-sehe ja selbst ein, da&szlig; diese Verbindung gro&szlig;e Vortheile f&uuml;r uns hat.
-Aber dennoch &mdash; ach Esther, mein lieber, getreuer Kamerad, sage
-auch Du, da&szlig; ich recht thue, da&szlig; Du es vern&uuml;nftig und gut findest,
-und da&szlig; Du auch ferner meine liebe, treue Schwester bleiben
-willst. Dann erst bin ich ruhig dar&uuml;ber, da&szlig; ich dem Dr&auml;ngen
-meiner Mutter nachgegeben und will das innere Unbehagen &uuml;berwinden,
-das mich peinigt, ich wei&szlig; selbst nicht, weshalb. Ohne Dich
-bin ich ja immer nur ein halber Mensch, immer st&uuml;tzest und erg&auml;nzest
-Du mich, Du mein besseres Ich, der Schutzengel meines Lebens!&laquo;</p>
-
-<p>Esther sa&szlig; nach Beendigung dieses Briefes bleich und still auf
-ihrem Sessel. Die H&auml;nde waren in ihren Schoos gesunken und
-hielten den Brief noch fest, ihre Augen waren geschlossen und die
-Lippen zitterten leise. Endlich entrang sich ein Ton ihrer Brust, die
-angstvoll athmete. Es war wie der Schrei eines Versinkenden.
-Heftig warf sie pl&ouml;tzlich beide Arme empor und sprang vom Sitze
-auf. Eine furchtbare Angst trieb sie umher, und wie verzweifelt
-durcheilte sie fort und fort ihr Zimmer, die H&auml;nde fest in einander
-gekrampft und leise st&ouml;hnend. Aber keine Thr&auml;ne kam in die hei&szlig;en
-Augen und erleichterte ihrer gepre&szlig;ten Brust den entsetzlichen Kampf,
-den sie zu bestehen hatte.</p>
-
-<p>O was ging in diesem jungen Herzen vor, w&auml;hrend ihr Fu&szlig;<span class="pagenum"><a name="Page_89" id="Page_89">[Pg 89]</a></span>
-angstvoll im Zimmer auf und nieder eilte! Ihr war, als h&auml;tte eine
-grausame Hand mit einem Wurfe pl&ouml;tzlich alles in Tr&uuml;mmer geschlagen,
-was das Wesen ihres ganzen Lebens ausgemacht hatte;
-als h&auml;tte sie bis jetzt in s&uuml;&szlig;en Tr&auml;umen gelegen, und nun sei sie mit
-einemmale geweckt worden zu einem Dasein, so furchtbar, so grauenvoll,
-da&szlig; das Herz ihr davor erbebte. Was war es nur, das man
-ihr zertr&uuml;mmert? Was war es, das man ihr so pl&ouml;tzlich entrissen?
-War es das Herz in ihrer Brust oder ihr F&uuml;hlen, ihr Denken? Ein
-Schmerz durchdrang sie so entsetzlich, wie sie ihn noch nie im Leben
-empfunden, und doch wu&szlig;te sie nicht, war es der K&ouml;rper oder der
-Geist, der so grausam litt. &raquo;O Bertel, Bertel!&laquo; rief sie endlich
-verzweifelt und schlug die H&auml;nde vor das Gesicht, und jetzt brach
-ein Strom Thr&auml;nen hervor, so leidenschaftlich und &uuml;berw&auml;ltigend,
-als wollte sich ihr ganzer K&ouml;rper in Thr&auml;nen aufl&ouml;sen.</p>
-
-<p>Schwach und gebrochen ruhte Esther endlich im Lehnstuhle, und
-ihre Augen blickten hinauf zum Himmel, von woher H&uuml;lfe und
-Trost allein noch kommen konnte. Ihre Gedanken waren klarer
-geworden, und jetzt erst wu&szlig;te sie, was ihr zertr&uuml;mmert worden.
-Es war der Traum ihrer Zukunft. Ohne da&szlig; sie sich je davon
-Rechenschaft gegeben, hatte sie ihr Leben mit all' seinem Hoffen und
-W&uuml;nschen, Denken und F&uuml;hlen so v&ouml;llig mit dem ihres geliebten
-Bertel zusammengeschmolzen, da&szlig; es f&uuml;r sie eben eine Unm&ouml;glichkeit
-war, sich ihre Existenz von der ihres Spielgef&auml;hrten getrennt zu
-denken. Vom ersten Tage ihres Zusammenseins an hatte sie nur
-an ihn gedacht und f&uuml;r ihn gelebt und gesorgt, und so war es geblieben
-bis zu dieser Stunde. Was fragte sie je nach ihrem eigenen Wohlbehagen,
-ihren eigenen Bed&uuml;rfnissen, wenn nur Bertel zufrieden
-war! Wie sie als kleines M&auml;dchen nur um seinetwillen gelernt,
-nur an den Spielen Freude hatte, die ihm lieb waren, und f&uuml;r alles
-gesorgt hatte, was er bedurfte, so war es bis heute noch geblieben.<span class="pagenum"><a name="Page_90" id="Page_90">[Pg 90]</a></span>
-F&uuml;r wen m&uuml;hte sie sich Tag f&uuml;r Tag mit den Sch&uuml;lern bei Pastor
-Krause? F&uuml;r wen hatte sie sich die Schmerzen der Trennung auferlegt
-und wollte in England Erzieherin werden, und f&uuml;r wen war
-sie endlich hier nach Frankreich gegangen, hatte alles Ungemach in
-jener Pension und heute selbst Schm&auml;hungen und Verd&auml;chtigungen
-ertragen? Ach f&uuml;r ihn, f&uuml;r ihn allein, der ihr Gedanke war fr&uuml;h
-und sp&auml;t, und dem sie den Weg bahnen wollte zu Gl&uuml;ck und Ehre
-und Ruhm. O und welcher Jubel hatte ihr Herz erf&uuml;llt beim Auffinden
-des Scheines! Nun ward er ja wohlhabend und die Sorgen
-hatten ein Ende, und sie, sie hatte es ihm verschafft! Aber nun
-war alles aus! Nun bedurfte er ihrer nicht mehr und ihrer Arbeit
-und M&uuml;he; nun gaben ihm Andere mit vollen H&auml;nden, was er
-brauchte und mehr als er brauchte. Aber nun geh&ouml;rte er auch diesen
-Anderen, und sie hatte keine Rechte mehr an ihn. Sie war allein,
-allein mit ihrem Herzen, das er verschm&auml;ht hatte, eine Andere trat
-nun an diese Stelle!</p>
-
-<p>Weiter konnte Esther mit ihren Gedanken nicht kommen, es kam
-wieder wie ein Krampf &uuml;ber sie, und leise wimmernd sank sie zusammen.
-H&auml;tte sie nur wenigstens jemand gehabt, der mit ihr sprechen
-konnte; aber diese trostlose Einsamkeit, es war zu schrecklich!</p>
-
-<p>Endlich jedoch trat ein Friedensengel zu dem armen, einsamen
-Kinde. &raquo;Und Du wirst ihm doch noch immer lieb und theuer sein,
-trotz aller neuen Bande! Er wird Deiner bed&uuml;rfen nach wie vor
-trotz alles Reichthums und alles Wohlbehagens!&laquo; so t&ouml;nte es in ihrer
-Brust. &raquo;Ich will ihm bleiben, was ich ihm bis jetzt gewesen, seine
-treue, helfende Freundin, das kann ihm weder Geld noch Gut noch
-sonst etwas auf der Welt ersetzen. O m&ouml;chte er nur gl&uuml;cklich
-werden, m&ouml;chte diese Susanne ihn lieben! Doch wie sollte sie nicht,
-wie sollte man Bertel nicht lieben, den sch&ouml;nen, herrlichen Bertel!
-Aber warum er nur nicht gl&uuml;cklicher schreibt? Ein Unbehagen peinigt<span class="pagenum"><a name="Page_91" id="Page_91">[Pg 91]</a></span>
-ihn und l&auml;&szlig;t ihn nicht froh werden. Liebt er denn Susanne nicht?
-Ist es <em class="gesperrt">nur</em> der Wunsch seiner Mutter, der ihn bestimmte und die
-Aussicht auf Reichthum und Wohlbehagen? O, das w&auml;re schrecklich!
-Da&szlig; seine Mutter ihn dr&auml;ngt, ist doch sehr unrecht; aber sie meint
-freilich, Bertels Gl&uuml;ck dadurch zu sichern.</p>
-
-<p>Aber das Geld allein ist's wohl nicht, was Tante Ihlefeld zu
-dem Wunsche treibt, Bertel soll diese Cousine heirathen! Wie schreibt
-Tante Booland? Adel bleibt Adel! Tante Ihlefeld hat mich ja
-immer f&uuml;hlen lassen, da&szlig; ich nicht ihresgleichen bin, ich wei&szlig; es recht
-wohl, wenn ich auch nie dar&uuml;ber sprach. Wu&szlig;te ich ja doch, da&szlig;
-Bertel nicht so stolz war und seine kleine Esther wirklich wie eine
-Schwester liebte. Und die will ich ihm bleiben! Ach jetzt erst wei&szlig;
-ich ja, da&szlig; ich noch andere W&uuml;nsche im Herzen f&uuml;r uns Beide hatte;
-aber er hat wohl an mich nie anders gedacht, als an eine treue
-Schwester.</p>
-
-<p>&raquo;O mein Gott, mein Gott,&laquo; rief Esther flehend und hob die
-H&auml;nde zum Himmel empor, &raquo;o gieb mir die Kraft und die Selbst&uuml;berwindung,
-ihm auch ferner diese treue Schwester zu bleiben! Ich
-mu&szlig; es &mdash; und ich will es!&laquo;</p>
-
-<p>Dann setzte sie sich nieder, Bertel einige Zeilen auf seinen Brief
-zu antworten, wie er gebeten. Es war ein schweres Werk; aber
-Esther vollendete es mit ihrem starkem Herzen und starken Willen.
-Sie schrieb Bertel, da&szlig; er sie richtig beurtheilt, <em class="gesperrt">sein</em> Gl&uuml;ck sei auch
-das Ihre, und Gott m&ouml;ge den Schritt segnen, den er thun wolle,
-oder nun wohl bereits gethan habe. Sie aber verspreche, ihm und
-seiner Frau ihr ganzes Lebenlang eine treue Schwester und Freundin
-zu bleiben.</p>
-
-<p>Weiter schrieb sie nichts, sie konnte es nicht. Und nun war ihr,
-als habe sie ihr Lebensgl&uuml;ck in das Grab gelegt, nun war alles,
-alles vor&uuml;ber. Eine M&uuml;digkeit und Gleichg&uuml;ltigkeit kam &uuml;ber sie,<span class="pagenum"><a name="Page_92" id="Page_92">[Pg 92]</a></span>
-wie sie nie im Leben noch erfahren. Was k&uuml;mmerte sie es jetzt, was
-aus ihr wurde, wohin sie ging, was die n&auml;chste Zeit nun bringen
-w&uuml;rde? Es war ihr alles gleich. Sollte sie hier bleiben oder nach
-England gehen oder wo sonst hin. Nur jetzt nicht nach Hause, nur
-nicht sehen, da&szlig; Bertel durch den Besitz dieser Susanne gl&uuml;cklich war
-und andern angeh&ouml;rte, als ihr. Nach Hause in das stille Waldh&auml;uschen,
-ohne Arbeit und Zerstreuung, in steter N&auml;he jener grausamen
-Frau, die ihr Bertel entrissen, durch deren Willen er zu diesem
-Schritte gedr&auml;ngt worden &mdash; nein, das war unm&ouml;glich! Tante
-Booland mu&szlig;te dies einsehen trotz aller ihrer sehns&uuml;chtigen Liebe.
-Nein, lieber fort unter fremde Menschen, wo sie arbeiten und ihre
-Gedanken ableiten konnte! &mdash; Hier wollte sie nur noch so lange
-bleiben, bis die Vollmacht ankam. Dann wollte sie Herrn Richard
-bitten, das Geld an Frau von Ihlefeld zu senden, sie selbst aber
-wollte sich direct nach England in die Familie begeben, welche sie
-mit Ungeduld erwartete.</p>
-
-<p>Es waren traurige Tage f&uuml;r die arme Esther, die bis zur Ankunft
-dieses Briefes vergehen mu&szlig;ten. Sie blieb fast immer zu Hause;
-denn am Strande f&uuml;rchtete sie entweder Herrn Richard zu begegnen,
-oder jener Dame, welche ihr so uns&auml;glich geschadet hatte. Esther
-begriff nun wohl, h&auml;tte Herr Richard sie nicht mit dieser Begleiterin
-gesehen, so w&auml;re er ihr nicht gleich so mi&szlig;trauisch entgegen getreten,
-sondern w&uuml;rde sie h&ouml;chstens f&uuml;r ein sehr unerfahrenes M&auml;dchen
-gehalten haben, aber nicht f&uuml;r eine m&ouml;gliche Diebin und Betr&uuml;gerin.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>W&auml;hrend f&uuml;r Esther die Tage tr&uuml;be und langsam dahin schlichen,
-verlassen wir sie f&uuml;r einige Zeit und kehren zur&uuml;ck nach dem kleinen
-Waldhause zu Rahmstedt.</p>
-
-<p>Kurze Zeit nach Absendung jenes Briefes von Esther war
-Bertel der Verlobte von Susanne von Sassen. Die Verlobung
-sollte jetzt noch ein Geheimni&szlig; bleiben, bis Bertel promovirt hatte.<span class="pagenum"><a name="Page_93" id="Page_93">[Pg 93]</a></span>
-Susanne war fast noch ein Kind und auch Bertel noch zu jung f&uuml;r
-eine Heirath; so traf alles passend zusammen. Bertel ward aber auch
-jetzt schon als Sohn des Hauses aufgenommen, und das jugendliche
-Brautpaar lernte sich jetzt im t&auml;glichen Beisammensein erst n&auml;her
-kennen. Susanne war eine bildh&uuml;bsche, kleine Blondine, gut und
-weichherzig und von fr&ouml;hlichem Gem&uuml;th; aber weder besonders klug
-noch auch sehr gebildet. Ein h&uuml;bsches Kleid war ihr tausendmal
-lieber als ein gutes Buch, und Vergn&uuml;gen und Tanz ging ihr &uuml;ber
-alles. Sie hatte ihre sechzehn Lebensjahre in s&uuml;&szlig;em Nichtsthun und
-steter Fr&ouml;hlichkeit vert&auml;ndelt, unter Spielen und Tanzen, Lachen
-und Schwatzen. Verw&ouml;hnt als einziges Kind reicher Eltern kannte
-sie keinen andern Willen, als den ihren, und kein Wunsch blieb ihr
-versagt. Da&szlig; man auch f&uuml;r Andere leben, sich auch n&uuml;tzlich machen
-konnte in der Welt, das war ihr ebenso fremd, wie alles, was Ernst
-oder Arbeit hie&szlig;. Aber bei alledem war sie ein gutes, f&uuml;gsames Kind,
-und als der Vater ihr sagte, er w&uuml;nsche, da&szlig; sie den h&uuml;bschen, liebensw&uuml;rdigen
-Hubert von Ihlefeld heirathen solle, da war sie nicht
-unzufrieden damit, obwohl sie eigentlich vor dem klugen, gelehrten
-jungen Vetter, von dem alle Welt mit so gro&szlig;er Bewunderung
-sprach, etwas Furcht hatte. Er war oft gar so ernsthaft, und an
-Tanzen und h&uuml;bschen Kleidern fand er gar kein Vergn&uuml;gen. Er sah
-es gar nicht einmal, wenn sie ein sch&ouml;nes neues Kleid ihm zu Ehren
-angezogen hatte und unterhielt sich eigentlich immer viel mehr mit
-ihrem Vater &uuml;ber so schrecklich ernsthafte Sachen, statt da&szlig; er mit ihr
-schwatzte und lachte. Aber er war so ein bildh&uuml;bscher Junge, und
-es war eine so gro&szlig;e Ehre, mit einem so gelehrten Manne verlobt
-zu sein; vielleicht lernte er bei ihr noch Lachen und Tanzen und
-Freude an all' dem, was sie liebte. Nun war sie eine Braut, das
-klang doch zu h&uuml;bsch! Wenn sie es nur erst &ouml;ffentlich w&auml;re! Wie
-w&uuml;rden ihre Freundinnen sie beneiden! &mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_94" id="Page_94">[Pg 94]</a></span></p>
-
-<p>Und so tanzte und lachte und spielte sie um Bertel her, wenn
-dieser bei ihr war und trieb tausend Tollheiten, sobald er versuchte,
-ein ernstes Wort mit ihr zu sprechen.</p>
-
-<p>Bis dahin hatte Bertel nur das reizende Kind in ihr gesehen,
-jetzt erst bemerkte er, wie oberfl&auml;chlich und unbedeutend sie war.
-Das Bild Esthers trat unwillk&uuml;rlich daneben, und Bertel, der wenig
-M&auml;dchen kennen gelernt, hatte geglaubt, alle m&uuml;&szlig;ten so viel wissen
-und so klug und strebsam sein, als sie. Ein Unbehagen, wie er es
-neben Esther nie empfunden, kam &uuml;ber ihn, wenn er l&auml;ngere Zeit
-mit Susanne verkehrte, und obwohl er alles auf die gro&szlig;e Jugend seiner
-Braut schob und von der Zukunft erwartete, da&szlig; sie ernster und
-gediegener werden m&ouml;chte, so konnte er doch nicht recht froh neben ihr
-werden. Oft schon hatte er ihr von Esther erz&auml;hlt, und jetzt that
-er es noch h&auml;ufiger in der Hoffnung, Susanne solle f&uuml;hlen, wie sehr
-er w&uuml;nsche, sie m&ouml;ge Esther &auml;hnlich werden. Aber der lustigen
-Susanne lag nichts ferner, als solcher Wunsch. Sie staunte Esthers
-Vortrefflichkeiten und Wissen an wie etwas h&ouml;chst Sonderbares und
-Merkw&uuml;rdiges, der Wunsch aber, selbst so zu sein, kam ihr nie, im
-Gegentheil, ihr graute bei dem Gedanken, so viel lernen und arbeiten
-zu m&uuml;ssen und so ernsthaft und flei&szlig;ig zu sein.</p>
-
-<p>H&auml;tte Bertel sich aus Liebe mit ihr verlobt, so w&uuml;rde er Susanne's
-Fehler kaum bemerkt haben; denn Liebe umgiebt alles mit einem
-sonnigen Glanze, und selbst kleine Fehler erscheinen an einem geliebten
-Wesen als etwas Anziehendes. Jetzt aber, ohne eine so innige
-Neigung traten ihm Susannes M&auml;ngel mit jedem Tage unangenehmer
-entgegen; die Folge davon aber war, da&szlig; auch er seiner leichtherzigen
-jungen Braut weniger gefiel, die immer daran gew&ouml;hnt war,
-da&szlig; alles ihr huldigte und schmeichelte. Da&szlig; aber ihr Br&auml;utigam
-dies nicht nur unterlie&szlig;, sondern sie sogar zuweilen tadelte, das war
-dem verw&ouml;hnten Kinde h&ouml;chst empfindlich. Schon in den ersten Tagen<span class="pagenum"><a name="Page_95" id="Page_95">[Pg 95]</a></span>
-ihres Brautstandes schmollte ihr h&uuml;bscher kleiner Mund mehrfach, und
-warf sie das blonde K&ouml;pfchen &auml;rgerlich in den Nacken. Ein solch'
-kindisches Benehmen war Bertel aber etwas ganz Fremdes und mi&szlig;fiel
-ihm in hohem Grade; Esther war ja nie launisch gewesen.</p>
-
-<p>So waren die ersten Tage von Bertels Brautstand vergangen.
-Seine Mutter &uuml;berh&auml;ufte ihn mit Liebkosungen und Z&auml;rtlichkeit, denn
-sie war ihm innig dankbar, da&szlig; er sich ihrem Willen so bald gef&uuml;gt
-trotz seines ersten Widerstrebens. Aber Frau Booland, die alte treue
-Freundin aus Bertels Kinderjahren, sie hatte jetzt kein gutes Wort
-und keinen freundlichen Blick mehr f&uuml;r ihren einstigen Liebling.
-Finster schaute sie drein, wenn Bertel bei ihr eintrat, wie er gew&ouml;hnt
-war, und bei all' seinen Schmeichelworten und Erz&auml;hlungen blieb ihr
-sonst so gespr&auml;chiger Mund fest verschlossen.</p>
-
-<p>&raquo;Tante Booland, du bist mir sehr b&ouml;se, sage es nur,&laquo; rief
-Bertel endlich, nachdem er mehrmals vergebens versucht, ihr einen
-freundlichen Blick abzuschmeicheln. &raquo;G&ouml;nnst du deinem armen Bertel
-wirklich gar kein Wort mehr?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wer mir keins g&ouml;nnt verdient es nicht besser!&laquo; entgegnete
-Frau Booland kurz. &raquo;Die Zeiten sind vorbei, wo man Tante Booland
-noch um Rath fragte. Jetzt ist sie f&uuml;r gewisse Leute gar nicht
-mehr in der Welt. O Undank, Undank!&laquo; Dann aber seufzte sie
-tief auf und schwieg beharrlich, und Bertel versuchte umsonst, seine
-alte Freundin milder zu stimmen, es ging nicht. Aber ihre rothgeweinten
-Augen gaben ihm viel zu denken und vermehrten das Unbehagen,
-das auf seinem Gem&uuml;the lastete.</p>
-
-<p>Da kam Esthers Brief an mit der Erz&auml;hlung dessen, was sie nach
-Frankreich getrieben und was sie um dieses Schuldscheines willen
-hatte ertragen m&uuml;ssen. Auch Herrn Richards Brief mit der Anfrage,
-welche Bewandni&szlig; es mit Esthers Erz&auml;hlung habe, folgte gleich darauf.
-Welch' eine Nachricht war das!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_96" id="Page_96">[Pg 96]</a></span></p>
-
-<p>Frau von Ihlefeld &uuml;berreichte Bertel Esthers Brief mit zitternder
-Hand, als dieser in das Zimmer trat. Die Thr&auml;nen perlten &uuml;ber
-ihr bleiches Gesicht, und mit leiser Stimme sagte sie nichts als:
-&raquo;Lies, Bertel!&laquo; Dieser blickte seine Mutter &uuml;berrascht an und durchflog
-Esthers Zeilen. Dann sank er auf einen Stuhl und bedeckte
-schweigend sein Gesicht mit den H&auml;nden. Auch Frau von Ihlefeld
-schwieg, aber sie weinte leise in ihr Tuch. Endlich stand sie auf, trat
-zu ihrem Sohne heran und legte ihre Arme um seinen Hals.</p>
-
-<p>&raquo;Mein lieber, lieber Sohn!&laquo; sagte sie weich und k&uuml;&szlig;te seine
-Stirn, auf der dicke Schweistropfen standen. Bertel aber erwiederte
-ihre Z&auml;rtlichkeit nicht, sondern lie&szlig; die H&auml;nde schlaff herabsinken und
-schaute d&uuml;ster vor sich nieder. &raquo;Rede doch, Bertel, sprich mit mir!&laquo;
-flehte die Mutter, aber Bertel h&ouml;rte sie kaum. Es arbeitete furchtbar
-in seiner Brust; endlich stand er rasch auf und eilte zur Th&uuml;re.
-&raquo;Wo willst du hin, Bertel?&laquo; rief Frau von Ihlefeld angstvoll.</p>
-
-<p>&raquo;La&szlig; mich, Mutter, ich mu&szlig; allein sein!&laquo; st&ouml;hnte er leise und
-schob die Mutter zur Seite. Dann st&uuml;rzte er zum Zimmer hinaus.</p>
-
-<p>Frau von Ihlefeld blickte ihm best&uuml;rzt nach, wie er schnellen
-Schrittes in den Wald hinein eilte. Dann aber nahm sie Esthers
-Brief und den des Herrn Richard und ging zu Frau Booland hinab.
-Diese staunte nicht wenig &uuml;ber den seltenen Besuch; denn seitdem
-Bertel mit Susanne verlobt war, hatte sich Frau von Ihlefeld
-mehr von ihr zur&uuml;ckgezogen und wieder ihren ehemaligen hochm&uuml;thigen
-Ton gegen sie angeschlagen. Und nun kam sie sogar zu ihr
-herab und hatte Thr&auml;nen im Auge. Als dann aber Frau Booland
-Esthers Brief gelesen, da brachen die Wellen der Erregung &uuml;ber der
-alten treuen Pflegerin zusammen, und sie zitterte und flog wie ein Blatt
-im Winde, w&auml;hrend sie weinend und schluchzend in ihren Stuhl zur&uuml;cksank.</p>
-
-<p>&raquo;O das Kind, das Kind!&laquo; st&ouml;hnte sie immerfort schluchzend,<span class="pagenum"><a name="Page_97" id="Page_97">[Pg 97]</a></span>
-weiter aber konnte sie nichts hervor bringen. Frau von Ihlefeld
-versuchte, mit der ersch&uuml;tterten alten Frau zu reden; denn ihr Herz
-war ihr zum Zerspringen voll. Aber Frau Booland schwieg bei allen
-ihren Reden und schien sie kaum zu h&ouml;ren, und so verlie&szlig; Jene nach
-einiger Zeit das Zimmer, m&uuml;de der vergeblichen Versuche. &raquo;Sie
-wird wahrlich stumpf und alt,&laquo; murmelte Frau von Ihlefeld verdrie&szlig;lich,
-&raquo;zu reden ist gar nicht mehr mit der armen Person.&laquo;</p>
-
-<p>Frau Booland sa&szlig; noch eine lange Weile still und in sich versunken
-am Fenster und schaute in das flammende Abendroth, das den
-Himmel in seltener Pracht &uuml;berzog. Ihr Zimmerchen lag nach dem
-Walde hinaus, und die verschwindende Sonnengluth tauchte die Wipfel
-der B&auml;ume in wundervolle Farbent&ouml;ne. Die Abendluft zog weich und
-w&uuml;rzig zum Fenster herein und spielte um die faltige Stirn der
-Matrone, welche das wei&szlig;e Haar mild und freundlich umrahmte. Ihr
-Auge schweifte wehm&uuml;thig in die Ferne, als wollte es den Raum durchdringen,
-der sie von ihrem lieben Kinde trennte. Banger und banger
-legte die Sehnsucht sich um ihr altes Herz, und endlich konnte sie es
-im Zimmer nicht l&auml;nger aushalten. Dort dr&uuml;ben im Walde stand eine
-kleine Bank, da hatte sie so oft mit ihrer Esther gesessen, da zog es
-sie hin, als k&ouml;nnte sie ihren Liebling dort wieder finden, wie fr&uuml;her.</p>
-
-<p>Als Frau Booland langsamen Schrittes in die N&auml;he dieser
-Lieblingsbank kam, sah sie, da&szlig; schon jemand dort sa&szlig;. Ihre alten
-Augen konnten aus der Ferne nicht erkennen, wer es war, und so
-trat sie unbemerkt n&auml;her heran. Es war Bertel. Er hatte den
-Kopf in beide H&auml;nde gest&uuml;tzt und das Gesicht verh&uuml;llt und schien so
-in sich versunken, da&szlig; er die Herantretende nicht bemerkte, selbst als
-sie dicht vor ihm stand.</p>
-
-<p>&raquo;Bertel, du bist's?&laquo; rief Frau Booland verwundert, und erschrocken
-fuhr der junge Mann bei dieser Anrede empor. Nun sah
-die alte Frau, da&szlig; Bertels Gesicht ganz verst&ouml;rt war und von<span class="pagenum"><a name="Page_98" id="Page_98">[Pg 98]</a></span>
-Thr&auml;nen &uuml;berfluthet. Kaum erkannte er die vor ihm Stehende, als
-er laut weinend an ihre Brust sank.</p>
-
-<p>&raquo;O Tante Booland, was hab' ich gethan!&laquo; rief er ganz au&szlig;er
-sich und schluchzte wie ein Kind. Die gro&szlig;e, stattliche Alte schlang
-ihre Arme fest und z&auml;rtlich um die schlanke Gestalt, als sei es wieder
-der kleine Bertel, den sie in fr&uuml;heren Jahren so oft beruhigt und
-getr&ouml;stet, wenn ein kindliches Leid ihn zu ihr gef&uuml;hrt. Liebevoll
-strich sie wie ehemals &uuml;ber sein weiches, blondes Haar und gab
-ihm sanfte Schmeichelworte, um ihn zu beruhigen. Bertel lie&szlig; sich
-alles gefallen; es war ihm ein Trost, sich an dieser treuen Brust
-ausweinen zu k&ouml;nnen. Frau Booland setzte sich endlich auf die Bank,
-und Bertel lie&szlig; sich neben ihr nieder, den Kopf immer noch an ihre
-breite Schulter lehnend, denn ihm war so wohl im Schutze dieser alten
-treuen Freundin. Die Alte sah bewegt in ihres Lieblings sch&ouml;nes
-Gesicht, und indem sie ihm die prachtvollen Haarlocken von der Stirn
-strich, die in wilder Unordnung dar&uuml;ber gefallen waren, sagte sie
-mild: &raquo;Nun, mein armer Junge, was qu&auml;lt dich denn so? Sprich
-dich doch aus, du wei&szlig;t, ich meinte es immer gut mit dir.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ja, ich wei&szlig; es!&laquo; rief Bertel und k&uuml;&szlig;te die breite, derbe Hand,
-die so z&auml;rtlich um ihn bem&uuml;ht war. &raquo;O Tante Booland, aber auch
-du kannst mir nicht mehr helfen, es ist ja zu sp&auml;t. O mein Gott,
-mein Gott, welch' ein Thor bin ich gewesen, welch' ein verblendeter
-Narr!&laquo; Und in wildem Grimm ballte er die H&auml;nde und schlug
-sich damit vor die Stirn. Frau Booland sch&uuml;ttelte den Kopf, und
-die H&auml;nde ihm vom Gesicht herab ziehend sagte sie ernst: &raquo;Mit
-Klagen und Jammern hat noch nie jemand einen Grashalm bewegt,
-la&szlig; das jetzt, Bertel. Was bereust du denn und was erkennst du
-jetzt erst?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Was ich erkenne?&laquo; rief Bertel heftig, &raquo;da&szlig; ich nicht werth bin,
-Esther die F&uuml;&szlig;e zu k&uuml;ssen! O <em class="gesperrt">was</em> hat sie gethan, was ertragen<span class="pagenum"><a name="Page_99" id="Page_99">[Pg 99]</a></span>
-f&uuml;r mich und um meinetwillen! O Tante Booland, sage mir nur
-das Eine, nicht wahr, Esther liebt mich?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Esther hat dich geliebt, seit ihr zusammen als kleine Kinder gespielt
-habt,&laquo; entgegnete Frau Booland und eine Thr&auml;ne rollte &uuml;ber
-ihre gefurchte Wange.</p>
-
-<p>&raquo;O das meine ich nicht, Tante,&laquo; rief Bertel, &raquo;nicht wie eine
-Schwester und nicht als mein lieber bester Kamerad, wie ich sie immer
-nannte. Ich meine, glaubst du, da&szlig; sie mich noch lieber hat, &mdash; o so
-lieb, wie <em class="gesperrt">ich</em> sie habe? So uns&auml;glich, so unaussprechlich lieb, da&szlig; ich
-f&uuml;r sie sterben k&ouml;nnte, wenn ich w&uuml;&szlig;te, sie w&uuml;rde gl&uuml;cklich dadurch!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wie Bertel? Du liebst Esther, und doch willst du eine Andere
-heirathen?&laquo; sagte Frau Booland tief verletzt und blickte voll Erstaunen
-in Bertels erregtes Gesicht.</p>
-
-<p>&raquo;O das ist ja eben das Entsetzliche!&laquo; rief Bertel in Verzweiflung
-und verh&uuml;llte wieder sein Gesicht. &raquo;Kannst du es denn glauben, da&szlig;
-mir soeben erst die Binde von den Augen gefallen ist? Da&szlig; es soeben
-erst, als ich Esthers Brief an meine Mutter gelesen, wie ein Blitz
-durch meine Seele ging und mir die Tiefen meines eigenen Herzens
-enth&uuml;llte? O niemand, niemand wohnt ja in diesem Herzen, als meine
-Esther, dies theure, geliebte M&auml;dchen, die all' ihr Gl&uuml;ck und all' ihre
-Ruhe hingegeben seit ich denken kann, nur damit ich gl&uuml;cklich sein
-konnte. O das mu&szlig; ja Liebe sein, ja sie <em class="gesperrt">mu&szlig;</em> mich lieben! Und ich
-Thor habe diese Liebe hingenommen wie etwas, das sich von selbst
-versteht, o und jetzt, jetzt &mdash; habe ich ihre Liebe verrathen!&laquo;</p>
-
-<p>Frau Booland sa&szlig; schweigend neben dem ungl&uuml;cklichen J&uuml;ngling;
-denn auch sie wu&szlig;te ja nicht zu rathen und zu helfen!</p>
-
-<p>&raquo;Meine Mutter hat die Schuld!&laquo; sprach Bertel weiter. &raquo;Sie
-hat mir keine Ruhe gelassen, bis ich auf ihren Plan einging, und
-jetzt wei&szlig; ich erst, was es war, das mich zur&uuml;ckhielt und mir immer
-zurief: &raquo;Thu' es nicht, thu' es nicht!&laquo; Aber wenn eine Mutter bittet<span class="pagenum"><a name="Page_100" id="Page_100">[Pg 100]</a></span>
-und fleht, dann giebt der Sohn doch endlich nach, ich wenigstens
-konnte nicht anders! Und ich deckte ja mir den Abgrund selbst zu
-mit so herrlichen Blumen, sagte mir immer wieder, welche Vortheile
-aus dieser Heirath entstehen w&uuml;rden, so da&szlig; ich wirklich zuletzt selbst
-daran glaubte. Aber jetzt ist mir die Binde von den Augen gerissen,
-und ich sehe erst ganz, was ich gethan! Mich selbst habe ich ungl&uuml;cklich
-gemacht, o und was noch viel tausend Mal schlimmer ist, auch
-Esther! Das ist der Dank f&uuml;r alle ihre Liebe, alle ihre jahrelangen
-Opfer! Und f&uuml;r wen opferte ich dieses herrliche M&auml;dchen? F&uuml;r eine
-leichtfertige, eitle Puppe, die mich ewig ungl&uuml;cklich machen wird und
-ich sie; denn wir werden nie zu einander passen, o nie, nie!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber mein Gott, Bertel, <em class="gesperrt">so</em> sprichst du von deiner sch&ouml;nen
-Braut!&laquo; rief Frau Booland in h&ouml;chstem Erstaunen.</p>
-
-<p>&raquo;Ja, es ist nicht anders, ich sehe es mit jeder Stunde deutlicher,
-es war ein entsetzlicher Irrthum, mich mit ihr zu verloben!&laquo; sagte
-Bertel vor sich hin br&uuml;tend. &raquo;Aber es ist einmal geschehen; meine
-Ehre verlangt, da&szlig; ich das Wort einl&ouml;se, das ich gegeben, denn ich
-gab es freiwillig. O es ist entsetzlich!&laquo;</p>
-
-<p>Wieder brach Bertel unter der Last seines Jammers zusammen,
-und Frau Booland st&uuml;tzte sinnend den Kopf auf ihre Hand; ihre
-Lippen schlossen sich immer fester und energischer auf einander, und
-ihre Augen wurden immer lebendiger. &raquo;Bertel,&laquo; sagte sie endlich
-und legte ihre Hand auf des jungen Mannes Schulter, &raquo;h&ouml;re mich
-einmal an. Ich bin eine alte Frau und habe auf der ganzen Welt
-kein anderes Gl&uuml;ck, als das meiner Esther und auch deines, mein
-lieber Sohn. Was es mir f&uuml;r ein Kummer gewesen ist, als ich sah,
-wie man dich zu diesem Bunde zu bestimmen suchte, das hat der liebe
-Gott allein erfahren. Wu&szlig;te ich ja doch, da&szlig; meiner Esther Gl&uuml;ck
-und Leben damit zu Grunde ging. Denn Bertel, das sage ich dir
-jetzt: du magst Esther sehr lieb haben; aber was Esther f&uuml;r dich f&uuml;hlt,
-<span class="pagenum"><a name="Page_101" id="Page_101">[Pg 101]</a></span>davon hast du doch keine Idee. Die Liebe zu dir ist der Lebensodem
-des Kindes; nimm ihr diese, und du nimmst ihr auch das Leben,
-oder wenigstens das beste Theil davon; denn der schale Rest, der
-dann noch &uuml;brig bleibt, ist meine herrliche Esther nicht mehr. Aber
-auch dein Ungl&uuml;ck geht mir nahe, mein armer Junge. Freilich hast
-du dein Wort gegeben, das ist richtig, und ehrenvoll w&auml;re es nicht,
-nun zur&uuml;ckzutreten, gerade jetzt, wo du selbst Geld hast und das
-Ihre nicht mehr brauchst. Aber da&szlig; darum drei junge Herzen ungl&uuml;cklich
-werden sollen, &mdash; denn die arme kleine Susanne thut mir
-auch leid, sie ist ein gutes kleines Herze, f&uuml;r dich aber scheint sie
-freilich keine Frau zu sein, &mdash; ja, warum ihr alle zusammen ungl&uuml;cklich
-werden sollt, das sehe ich denn doch auch nicht ein. &raquo;Bist du es
-zufrieden, Bertel, wenn ich f&uuml;r dich eintrete, und die Sache in die
-Hand nehme? Ein leichtes Werk wird es wohl nicht sein, das
-sage ich mir; aber was w&auml;re mir f&uuml;r meine Esther zu schwer?
-Und im schlimmsten Falle, wenn meine Versuche mi&szlig;gl&uuml;cken, kr&auml;ht
-kein Hahn darum, da&szlig; die alte Frau sich blamirt hat mit ihren Vorschl&auml;gen.
-Nun also, Bertel, sage, ist dir's recht, soll ich mein Heil
-versuchen?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Was willst du denn thun, Tante Booland?&laquo; sagte Bertel zerstreut
-und theilnahmlos.</p>
-
-<p>&raquo;Das la&szlig; mein Geheimni&szlig; sein!&laquo; entgegnete die Alte aufstehend.
-&raquo;Wenn mein Plan gelingt, wirst du schon zufrieden sein, gelingt er
-nicht &mdash; nun dann ist's &uuml;berhaupt einerlei. Aber deine Zustimmung
-mu&szlig; ich haben, sonst kann ich nicht handeln. Willst du sie mir geben?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Meinetwegen alles, was du willst, Tante,&laquo; sagte der junge
-Mann tr&uuml;be, &raquo;Hoffnung habe ich f&uuml;r mich keine mehr auf der Welt.
-Ich habe mein Gl&uuml;ck mit eigenen F&uuml;&szlig;en zertreten, nun mu&szlig; ich die
-Folgen tragen. O wenn nur <em class="gesperrt">sie</em> nicht auch dadurch leiden m&uuml;&szlig;te;
-das ist der Fluch, der mich zu Boden dr&uuml;ckt!&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_102" id="Page_102">[Pg 102]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Nur Muth und Gottvertrauen, mein Junge! Es wird vielleicht
-noch alles gut,&laquo; tr&ouml;stete Frau Booland, noch einmal liebevoll &uuml;ber
-Bertels Backen streichend. Dann ging sie nach dem Hause zur&uuml;ck,
-setzte sich ihre Sonntagshaube auf und nahm ihr bestes Umschlagetuch
-um die Schultern. Mit ihren gro&szlig;en, festen Schritten durcheilte
-die r&uuml;stige Alte alsdann die Dorfstra&szlig;e, und nach einiger Zeit betrat
-sie den Gutshof.</p>
-
-<p>Die Sonne war bereits untergegangen, und matte D&auml;mmerung
-lag auf Haus und Garten, als Frau Booland die breite Terrasse
-&uuml;berschritt und den herbeieilenden Diener fragte, ob sie das gn&auml;dige
-Fr&auml;ulein sprechen k&ouml;nne. Fr&auml;ulein Susanne war im Garten, die
-&uuml;brige Herrschaft jedoch ausgefahren. Frau Booland sagte, sie
-wolle das Fr&auml;ulein selbst aufsuchen, und so durchwanderte sie den
-schon leise dunkelnden Park, bis sie endlich Susannes helles Kleid
-erblickte, das rasch hier und dort zwischen dem Geb&uuml;sch auftauchte.
-Fr&ouml;hliches Gel&auml;chter und Gekreisch drang bis zu Frau Booland,
-welche lauschend n&auml;her trat.</p>
-
-<p>Nun sah sie, wie sich die leichte Gestalt Susannes soeben auf
-einem niedern Baumstamme schaukelte, w&auml;hrend &uuml;ber ihr auf einem
-Zweige ein bunter Papagei sa&szlig; und heftig kreischend mit den Fl&uuml;geln
-schlug. Mit dem Schnabel hackte er w&uuml;thend in die Schnur, die
-um seinen Fu&szlig; geschlungen war und welche Susanne in ihrer Hand
-hielt. Das Geschrei und der Aerger des Vogels schienen des jungen
-M&auml;dchens Heiterkeit immer mehr zu erregen, und sie rief lustig, indem
-sie die Schnur bald fester, bald loser hielt: &raquo;Peterchen, Papchen,
-kleiner Trotzkopf, &auml;rgere dich doch nicht so, los lasse ich dich doch nicht.
-Mu&szlig;t auch f&uuml;hlen, wie's thut, einen Faden um's Bein zu haben,
-an dem immerfort gezogen und gezerrt wird; 's ist abscheulich,
-nicht wahr, Papchen? O ganz abscheulich!&laquo; Und wieder zerrte
-sie und lachte und schwang sich auf dem Aste hin und her, w&auml;hrend
-der Papagei aus Leibeskr&auml;ften schrie und flatterte.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_103" id="Page_103">[Pg 103]</a></span></p>
-
-<p>Frau Booland sah dem kindischen Treiben still eine Weile zu und
-hatte dabei ihre Gedanken. &raquo;So, die Schnur dr&uuml;ckt dich also ganz
-abscheulich, mein P&uuml;ppchen?&laquo; sagte sie leise und runzelte die Stirn.
-&raquo;Denkst wohl, ich wei&szlig; nicht, welche Fessel du meinst? Und das ist ein
-Gegenstand zu Possen und Vergn&uuml;gen? Armer Bertel, gut, da&szlig; du
-es nicht siehst! Nein, nein, das ist nichts f&uuml;r meinen ernsten, lieben
-Jungen; dies Kind pa&szlig;t f&uuml;r ihn sicherlich nicht, das glaube ich gern.&laquo;</p>
-
-<p>Dann aber schlug sie das Geb&uuml;sch zur&uuml;ck und trat auf Susanne
-zu. &raquo;Guten Abend, Fr&auml;ulein Susanne!&laquo; sagte sie mit einem h&ouml;flichen
-Knix und ging noch n&auml;her auf das junge M&auml;dchen zu. Diese
-sprang rasch von ihrem schwankenden Sitze herab und ri&szlig; dabei auch
-den Papagei von seinem Zweige nieder, der nun kreischend auf ihre
-Schulter flog und sich dort lebhaft hin und her schaukelte. Susanne
-lachte laut auf, und indem sie Frau Booland die Hand zum Gru&szlig;
-reichte, rief sie fr&ouml;hlich: &raquo;Gut, da&szlig; jemand kommt, mich besser zu
-unterhalten, als mein dummer Peter. Er will absolut nicht sprechen
-lernen, ich mag mich noch so viel mit ihm qu&auml;len. Er ist gerade
-so dumm als ich, ich spiele auch lieber, als da&szlig; ich lerne.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Fr&auml;ulein Susanne,&laquo; sagte Frau Booland jetzt h&ouml;flich, &raquo;h&auml;tten
-Sie wohl ein halbes St&uuml;ndchen Zeit f&uuml;r mich &uuml;brig? Ich m&ouml;chte
-gern etwas mit Ihnen sprechen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ach mein Gott, doch nichts Ernsthaftes?&laquo; rief Susanne in
-komischem Schrecken. &raquo;Sie machen ein so feierliches Gesicht, liebe
-gute Tante Booland, Bertel schickt Sie doch nicht etwa, um mich
-auszuschelten? Ach lieber Gott, ich bin den ganzen Tag in Angst,
-da&szlig; ich wieder etwas Dummes oder Kindisches gemacht habe. Bertel
-ist so furchtbar streng, gerade wie unser alter Schulmeister dr&uuml;ben
-in der Dorfschule, vor dem die Kinder auch solche Furcht haben. Liebe,
-einzige Tante Booland, sagen Sie doch nur, wollen Sie mich wirklich
-schelten?&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_104" id="Page_104">[Pg 104]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Nein, nein, Fr&auml;ulein Susanne,&laquo; l&auml;chelte die Alte, &raquo;das f&auml;llt
-mir nicht ein. Setzen Sie Ihren Papagei dort auf den Baum, da&szlig;
-er uns nicht mit seinem Geschrei st&ouml;rt, und dann kommen Sie ein
-Bischen dr&uuml;ben in die Laube; ich habe eine Geschichte, die ich Ihnen
-erz&auml;hlen will, das freut Sie ja immer so, nicht wahr, Kindchen?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ach ja, ja, das ist reizend von Ihnen, Tante Booland!&laquo; rief
-das junge M&auml;dchen und hob den Papagei auf den n&auml;chsten Baum,
-wo sie ihn mit der Schnur festband, indem sie noch mehrmals kosend
-mit der Hand &uuml;ber seinen Kopf und R&uuml;cken fuhr. &raquo;So Papchen,
-nun langweile dich nicht zu sehr,&laquo; sagte sie dann fortgehend und
-nickte dem Vogel noch einmal freundlich zu, dann hing sie sich an
-Frau Boolands Arm und folgte dieser in die nahestehende Laube.
-Hier war es schon ziemlich dunkel; aber da plaudert es sich am Besten,
-sagte Susanne und r&uuml;ckte dicht an die Alte heran, f&uuml;r welche sie
-eine ganz besondere Zuneigung gefa&szlig;t hatte. Frau Booland war
-jederzeit freundlich, gef&auml;llig und nachsichtig gegen das harmlose Kind
-gewesen und wu&szlig;te ihr immer allerlei Neues oder auch Altes zu
-erz&auml;hlen, was der heiteren Susanne Spa&szlig; machte. Heut nun war
-es freilich keine fr&ouml;hliche Erz&auml;hlung, welche die Alte f&uuml;r Susanne
-bereit hielt. Aber doch h&ouml;rte diese still zu, ganz gegen ihre Gewohnheit,
-obwohl Frau Booland lange und ernst sprach, und endlich
-klang es sogar, wie leises Weinen aus dem Innern der Laube.
-Aber die Dunkelheit verhinderte zu erkennen, aus wessen Augen die
-Thr&auml;nen flossen. Nach langer Zeit traten die beiden Gestalten in
-den dunkeln Laubgang heraus, die H&auml;nde fest in einander geschlungen.
-Die Alte k&uuml;&szlig;te dann rasch die sch&ouml;ne wei&szlig;e Stirn des jungen
-M&auml;dchens und eilte davon, Susanne aber ging zu ihrem Vogel und
-nahm ohne ihr gew&ouml;hnliches Scherzen und Lachen den schreienden
-Papagei auf die Hand. &raquo;Wir wollen die Fessel l&ouml;sen, nicht wahr,
-mein Papchen?&laquo; sagte sie unterwegs zu dem Vogel, indem sie die<span class="pagenum"><a name="Page_105" id="Page_105">[Pg 105]</a></span>
-Schnur von seinem Fu&szlig;e kn&uuml;pfte und ihn streichelte. Still kehrte
-sie dann in das Haus zur&uuml;ck. Hier setzte sie sich sogleich an ihren
-Schreibtisch, ergriff Feder und Papier und schrieb folgenden Brief:</p>
-
-
-
-<blockquote>
-<p class="center">
-&raquo;<em class="gesperrt">Liebe Esther!</em><br />
-</p>
-
-<p>Sie m&uuml;ssen mir schon erlauben, da&szlig; ich Sie so nenne, wie
-wir Alle es hier thun, obwohl Sie uns nicht kennen. Wir aber
-kennen Sie sehr gut, und besonders ich habe mir so viel von Ihnen
-erz&auml;hlen lassen, da&szlig; mir ist, als s&auml;he ich Sie vor mir. Da&szlig; ich
-jedoch einen Brief an Sie schreibe, liebe Esther, hat heute einen
-ganz besonderen Grund; eigentlich bin ich ein sehr faules M&auml;dchen,
-dem Briefeschreiben eine gro&szlig;e Last ist. Ich habe n&auml;mlich eine
-sehr, sehr gro&szlig;e Bitte an Sie. Liebe, gute Esther, aber Sie
-m&uuml;ssen mir nicht b&ouml;se sein &mdash; bitte, bitte, heirathen Sie doch
-Bertel an meiner Stelle! &mdash; Wissen Sie, liebe Esther, ich bin
-ein gar zu dummes, kindisches, kleines M&auml;dchen, &uuml;ber das sich der
-kluge Bertel seit den wenigen Tagen unserer geheimen Verlobung
-schon so sehr viel ge&auml;rgert hat, und ich kann doch wirklich nichts
-daf&uuml;r. Wir h&auml;tten uns lieber gar nicht mit einander verloben
-sollen; denn wenn ich Ihnen ganz heimlich etwas sagen darf,
-(aber verrathen Sie es nicht!) ich f&uuml;rchte mich vor dem gelehrten,
-ernsthaften Bertel! Und das ist doch gar nicht h&uuml;bsch; denn ich
-traue mich gar nicht mehr zu lachen und vergn&uuml;gt zu sein, weil
-Bertel dann immer schilt. Er ist der einzige Mensch, dem ich
-nicht gefalle, und das ist doch zu &auml;rgerlich f&uuml;r mich! Ich wei&szlig;
-gar nicht, warum Papa es so gern wollte, da&szlig; ich Bertels Braut
-werden sollte, f&uuml;r einen gelehrten Mann passe ich doch gar nicht.
-Mir gef&auml;llt ein h&uuml;bscher Officier viel tausendmal besser, und der
-junge Graf Redern, der immer so liebensw&uuml;rdig zu mir ist und
-so fr&ouml;hlich mit mir lacht, sieht viel pr&auml;chtiger aus in seiner gl&auml;n<span class="pagenum"><a name="Page_106" id="Page_106">[Pg 106]</a></span>zenden
-Uniform und dem schwarzen Schnurrbart, als Bertel in
-seinem dunklen R&ouml;ckchen, obwohl Bertel zehn Mal sch&ouml;ner ist
-als er. Sehen Sie, liebe, gute Esther, Sie sind so furchtbar
-klug und gelehrt, Sie gefallen Bertel hundert tausend Mal besser,
-als ich kleines G&auml;nschen, und Sie haben ihn ja auch so sehr lieb,
-sonst h&auml;tten Sie gewi&szlig; nicht alles das f&uuml;r ihn gethan und ertragen,
-was Tante Booland mir erz&auml;hlt hat. Ich wei&szlig;, Bertel
-m&ouml;chte mich jetzt so gern wieder los sein, und mir w&auml;re es auch
-viel lieber, er heirathete eine Andere, als mich. Ich werde ihm
-das sagen, sobald er zu mir kommt, und dann m&uuml;&szlig;t Ihr Beide
-ein Paar werden. O wie ich mich darauf freue! Und nicht wahr,
-liebe Esther, wir werden dann recht gute Freunde? Denn wenn
-ich Sie nicht jetzt schon so lieb h&auml;tte, g&ouml;nnte ich Ihnen meinen
-lieben, sch&ouml;nen, klugen Bertel doch nicht! Kommen Sie recht recht
-bald zu uns Allen, es erwartet Sie mit offenen Armen</p>
-
-<p class="right">
-Ihre <em class="gesperrt">Susanne</em>.<br />
-</p>
-
-<p><span class="antiqua">P. S.</span> Ich habe geh&ouml;rt, da&szlig; Sie tief br&uuml;nett sind, das pa&szlig;t
-herrlich zu dem blonden Bertel! Ich meine, ein blonder Mann
-mu&szlig; immer eine br&uuml;nette Frau haben und umgekehrt. Ich bin
-ein Blondkopf, also? &mdash; &mdash;&laquo;</p></blockquote>
-
-
-
-<p>Nun siegelte das junge M&auml;dchen den Brief rasch, schrieb die
-Adresse darauf und steckte ihn in die Postmappe, welche jeden Abend
-nach der n&auml;chsten Poststation getragen wurde. Als sie dies Gesch&auml;ft
-beendet, seufzte sie tief auf, strich sich die blonden L&ouml;ckchen aus der
-Stirn, die bei der ungewohnten Anstrengung herabgefallen waren,
-und sah in den Mond, der eben &uuml;ber den B&auml;umen des Parkes heraufstieg.
-Aber ihre Gedanken wurden schnell durch das Rollen eines
-Wagens abgezogen. Herr von Sassen und seine Cousine kehrten
-zur&uuml;ck. Susanne lauschte, bis ihr Vater in seinem Zimmer war,<span class="pagenum"><a name="Page_107" id="Page_107">[Pg 107]</a></span>
-dann trippelte sie eilig zu ihm. Als sie bei ihm eintrat, nahm sie
-eine sehr ernsthafte Miene an, und indem sie ihre zierliche kleine
-Figur so hoch aufrichtete, als ihr &uuml;berhaupt m&ouml;glich war, stellte sie
-sich vor ihren Vater.</p>
-
-<p>&raquo;Papa, ich habe etwas sehr Ernsthaftes mit dir zu sprechen!&laquo;
-sagte sie feierlich und zog das weiche Kindergesichtchen in ernste Falten.</p>
-
-<p>&raquo;Wie? Etwas Ernsthaftes, meine lustige, kleine Lachtaube?&laquo;
-sagte Herr von Sassen fr&ouml;hlich. &raquo;Da bin ich aber wirklich neugierig
-zu h&ouml;ren, was das sein mag.&laquo; Dabei nahm er den Lockenkopf seines
-h&uuml;bschen T&ouml;chterchens zwischen beide H&auml;nde und sah ihr lustig in die
-braunen Rehaugen. Susanne entzog sich aber den Liebkosungen des
-Vaters und sagte schmollend: &raquo;Papa, du denkst immer, ich kann niemals
-ernsthaft sein. Aber ich bin wirklich kein kleines Kind mehr,
-und damit du siehst, ich kann auch einmal etwas ganz Ernsthaftes
-denken, so will ich dir nur sagen, da&szlig; ich mir &uuml;berlegt habe, ich will
-Bertel lieber nicht heirathen.&laquo;</p>
-
-<p>Herr von Sassen fuhr &uuml;berrascht auf. &raquo;Und das nennst du
-ernsthaft sprechen, kleine Suse?&laquo; lachte er, blickte dabei aber sein
-T&ouml;chterchen doch etwas sch&auml;rfer an; denn sie sah allerdings nicht aus,
-als scherze sie. Sie stand mit gesenkten Augen vor ihm, und als
-sie dieselben aufschlug, waren sie voll Thr&auml;nen.</p>
-
-<p>&raquo;Suschen, mein Herzenskind, was ist denn vorgefallen?&laquo; rief
-Herr von Sassen erschrocken; denn Thr&auml;nen in des fr&ouml;hlichen Kindes
-Augen, das war etwas ganz Unerh&ouml;rtes. Susanne fiel dem Vater
-pl&ouml;tzlich um den Hals, und ihr blondes K&ouml;pfchen in den dunklen
-Vollbart desselben schmiegend schluchzte sie bitterlich.</p>
-
-<p>&raquo;O Papa, Papa!&laquo; rief sie endlich flehend, &raquo;erlaube doch nur,
-da&szlig; ich Bertel nicht heirathe! Wir Beiden passen wirklich nicht zusammen.
-Wenn du deine kleine Susanne lieb hast, Papa, zwinge
-mich nicht, und sei mein guter, lieber kleiner Papa, der du immer
-gewesen bist!&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_108" id="Page_108">[Pg 108]</a></span></p>
-
-<p>Und nun schlang sie ihre vollen weichen Arme von Neuem z&auml;rtlich
-um seinen Hals und k&uuml;&szlig;te seinen Mund und seine Augen so
-st&uuml;rmisch, da&szlig; er gar nicht im Stande war, sogleich zu antworten.
-Endlich aber machte er sich frei und blickte sein Kind kopfsch&uuml;ttelnd an.</p>
-
-<p>&raquo;Ich begreife dich nicht, Susanne,&laquo; sagte er ernst. &raquo;Den braven,
-sch&ouml;nen Bertel, auf den jedes M&auml;dchen stolz sein w&uuml;rde, willst du
-nicht haben? Ich denke, du bist die gl&uuml;cklichste Braut unter der
-Sonne? Aus euch M&auml;dchen werde ein Anderer klug! Und das jetzt
-so wie aus der Pistole geschossen? Wei&szlig; denn Bertel, da&szlig; du andern
-Sinnes geworden bist? Wie kr&auml;nkend ist das f&uuml;r ihn. Und ich freute
-mich so, einen so ausgezeichneten Schwiegersohn zu bekommen. Ich
-begreife dich wirklich nicht, Susanne.&laquo;</p>
-
-<p>Das junge M&auml;dchen zog den Vater zum Sopha, und sich dicht
-an ihn schmiegend sagte sie leise: &raquo;Papa, komm, ich will dir alles
-erz&auml;hlen!&laquo; Und dann legte sie ihren Kopf an seine Schulter, nahm
-seine gro&szlig;e Hand z&auml;rtlich zwischen ihre kleinen, feinen Fingerchen
-und erz&auml;hlte ihm die Geschichte, die sie soeben in der dunklen Laube
-im Garten geh&ouml;rt hatte.</p>
-
-<p>Als sie zu Ende war, sa&szlig; Herr von Sassen noch eine lange
-Weile schweigend neben seiner Tochter. Endlich k&uuml;&szlig;te er ihre Stirn
-und sagte sanft: &raquo;Und du, kleine Susanne, an dich selbst denkst du
-gar nicht dabei?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O Papa,&laquo; rief das junge M&auml;dchen lebhaft, &raquo;an mich denke ich
-wohl. Soll ich es dir gestehen? Mir ist zu Muthe, wie meinem
-Papagei vorhin. Nachdem ich die Schnur abgel&ouml;st, die ich um sein
-Bein gebunden, um ihn fest zu halten, schlug er fr&ouml;hlich mit den
-Fl&uuml;geln und war so vergn&uuml;gt, wieder frei zu sein. Mich hat meine
-Fessel schon in den paar Tagen so gedr&uuml;ckt, da&szlig; ich gar nicht mehr
-recht lustig sein konnte. Bertel ist so sch&ouml;n und gut, das ist wahr;
-aber er ist dabei so furchtbar klug und gelehrt &mdash; und das Papa,<span class="pagenum"><a name="Page_109" id="Page_109">[Pg 109]</a></span>
-das pa&szlig;t nicht f&uuml;r mich, und ich passe nicht f&uuml;r ihn. Es ist mir ein
-wahrer Trost, da&szlig; ich es jetzt wei&szlig;, er wird froh sein, wenn ich ihm
-sein Wort zur&uuml;ckgebe. Nun kann ich doch auch wieder lachen und
-jubeln wie fr&uuml;her, ich glaube, bei Bertel h&auml;tte ich das ganz und
-gar verlernt.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wenn es so steht, mein Kind, und nicht der Edelmuth allein
-dich bestimmt, so ist es freilich besser, wir l&ouml;sen das Band,&laquo; sagte
-Herr von Sassen ernst, Susanne aber blickte ihn lachend an und
-rief: &raquo;Nein Papa, zu einer Tugendheldin ist deine kleine Suse verdorben.
-H&auml;tte ich Bertel wirklich lieb, so wie ich denke, da&szlig; man
-seinen Br&auml;utigam lieb haben <em class="gesperrt">mu&szlig;</em>, dann h&auml;tten tausend Esthers
-kommen k&ouml;nnen, ich w&auml;re nicht zur&uuml;ckgetreten.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich will gleich einige Worte an Bertel schreiben, das sind wir
-ihm schuldig,&laquo; sagte Herr von Sassen aufstehend.</p>
-
-<p>&raquo;Ja, ja, thue das, Papa,&laquo; rief Susanne und k&uuml;&szlig;te den Vater
-noch einmal herzlich, dann h&uuml;pfte sie fr&ouml;hlich tr&auml;llernd zur Th&uuml;r
-hinaus. Herr von Sassen blickte ihr sinnend nach, dann st&uuml;tzte er
-den Kopf in die Hand und seufzte. &raquo;Sie mag recht haben, dies
-Kind ist nicht f&uuml;r Hubert geschaffen,&laquo; sagte er traurig. &raquo;<em class="gesperrt">Mir</em> geht
-es an das Herz, diesen lieben Jungen nicht Sohn nennen zu k&ouml;nnen,
-<em class="gesperrt">sie</em> jubelt und singt, da&szlig; sie ihn los ist. O ihr M&auml;dchen,
-was seid ihr f&uuml;r ein wunderlich Volk!&laquo; Dann griff er zur Feder
-und schrieb:</p>
-
-<blockquote>
-<p class="center">
-&raquo;<em class="gesperrt">Lieber Hubert!</em><br />
-</p>
-
-<p>Soeben macht mir meine kleine Susanne das Gest&auml;ndni&szlig;, da&szlig;
-sie trotz aller Liebe und Bewunderung, die sie f&uuml;r Dich hege, doch
-nicht deine Frau werden wolle und mich bitte, Dir das mitzutheilen.
-Sie behauptet, Ihr Beiden pa&szlig;tet nicht f&uuml;r einander,
-und da ich mein einzig Kind nicht zu einem Bunde zwingen will,
-dem ihr Herz widerspricht, so bitte ich Dich, sie frei zu geben.
-<span class="pagenum"><a name="Page_110" id="Page_110">[Pg 110]</a></span>Ein inniger Wunsch meines Herzens geht freilich damit zu Grabe;
-denn ich h&auml;tte Dich so gern meinen Sohn genannt! Aber, lieber
-Bertel, wenn auch meine wunderliche kleine Tochter anderen Sinnes
-geworden ist, mir wirst Du immer so lieb sein und bleiben,
-als w&auml;rest Du mein Sohn. Sieh' auch ferner noch mein Haus als
-das Deine an, und wie sich auch Deine Zukunft gestalten m&ouml;ge,
-Du wirst jederzeit einen treuen, v&auml;terlichen Freund besitzen in<br /></p>
-
-<p class="right">
-Deinem <em class="gesperrt">Adolph von Sassen</em>.&laquo;<br />
-</p></blockquote>
-
-<p>Diesen Brief in der Hand st&uuml;rzte Hubert in das Zimmer seiner
-alten Freundin, Frau Booland.</p>
-
-<p>&raquo;Das ist dein Werk, Du Zauberin, sieh' hier!&laquo; rief er und
-warf das Blatt Papier der Alten in den Schoo&szlig;; dann umschlang
-er sie mit beiden Armen und erdr&uuml;ckte sie fast vor ungest&uuml;mer Freude.</p>
-
-<p>&raquo;Ich bin ja frei, Tante, frei wie der Vogel in der Luft. O
-Dank, Dank! Nicht wahr, du bist es, die mich gerettet hat?&laquo;</p>
-
-<p>Die Alte schob den Ungest&uuml;men sanft von sich, um den Brief
-zu lesen, der so verh&auml;ngni&szlig;volle Worte enthielt. Dann nickte sie
-mit dem Kopfe und sagte bewegt: &raquo;Braves, liebes Kind! Sie
-h&auml;tte es sicher auch gethan, selbst wenn sie dich lieb gehabt h&auml;tte!
-O Bertel, dies liebe Herz ist besser als du denkst! In diesem leichtherzigen,
-sorglosen Kinde ruht ein tief gef&uuml;hlvolles, edles Gem&uuml;th.
-Du hast sie nicht geliebt, sonst h&auml;ttest du den Schatz wohl erkannt,
-und sie h&auml;tte sich an deiner Seite herrlich entwickelt; Gott gebe ihr
-ein anderes Herz, das es versteht, sie gl&uuml;cklich zu machen; denn
-wahrlich sie verdient es!&laquo;</p>
-
-<p>Nun hatten die Beiden noch eine lange Unterredung, und die
-Folge derselben war ein &auml;u&szlig;erst gesch&auml;ftiges Kramen und Gehen
-und Bedenken von Seiten unserer guten alten Dame Booland, die
-einen riesenhaften Entschlu&szlig; gefa&szlig;t hatte. Am andern Morgen<span class="pagenum"><a name="Page_111" id="Page_111">[Pg 111]</a></span>
-wanderte sie schon in fr&uuml;her Stunde eilig durch das Dorf, dem
-Pfarrhause zu, um ihrer lieben Pastorin das volle Herz auszusch&uuml;tten,
-w&auml;hrend Hubert indessen eine wichtige Zwischensprache mit
-seiner Mutter hielt. Frau von Ihlefelds Herz hatten in der ganzen
-letztvergangenen Zeit tausend widerstreitende Gef&uuml;hle und Gedanken
-best&uuml;rmt; denn wenn bisher einerseits ihr sehnlichstes W&uuml;nschen
-und Hoffen dahin gerichtet war, ihrem Sohne durch die Verbindung
-mit der Familie von Sassen den Weg zu Reichthum und Wohlbehagen
-zu bahnen, so f&uuml;hlte sie andererseits doch gar wohl, welches
-Unrecht sie dadurch an der gro&szlig;herzigen Esther beging, und mit welchem
-Undank sie die Opfer dieses edlen M&auml;dchens lohnte, deren Liebe
-zu Bertel ihrem scharfsichtigen Frauenauge nicht entgangen war.
-Aber Hubert schien Esther nicht zu lieben, sonst h&auml;tte er sich schwerlich
-den Bitten seiner Mutter gef&uuml;gt. Das war f&uuml;r Frau von Ihlefeld
-eine gro&szlig;e Beruhigung; jetzt mu&szlig;te man suchen, sich Esther auf
-irgend eine Weise dankbar zu erzeigen f&uuml;r alles, was sie gethan
-hatte. Die Mittel dazu mu&szlig;ten sich finden, es konnte nicht allzu
-schwer sein; denn Esther war ja ein einfaches, anspruchsloses M&auml;dchen.
-Aber als jetzt nach Ankunft von Esthers letztem Briefe ihr
-Sohn so aufgeregt davon st&uuml;rmte, da schlug auch Frau von Ihlefelds
-Herz unruhiger. Was hatte Bertels Gem&uuml;th so heftig bewegt, als
-er diesen Brief las? Ahnte er Esthers Liebe zu ihm, die ja nicht mehr
-zu verkennen war? Jetzt aber war ja die Br&uuml;cke abgebrochen, an
-Esther durfte er nicht mehr denken! Wie gut, da&szlig; dieser Brief erst
-jetzt kam, nachdem alles fertig und Bertels Zukunft gesichert war;
-w&auml;re er fr&uuml;her gekommen, Hubert w&auml;re schwerlich auf ihre Pl&auml;ne
-eingegangen! W&auml;hrend Frau von Ihlefeld noch ihren Gedanken
-nachhing, trat ihr Sohn mit dem Briefe Herrn von Sassens zu
-ihr, freilich ohne zu gestehen, wer diese Wandlung in Susannes
-Seele hervorgerufen. Da aber erwachte der ganze Stolz in dem<span class="pagenum"><a name="Page_112" id="Page_112">[Pg 112]</a></span>
-Herzen der noch immer vornehmen Frau; zornig fuhr sie auf und
-rief heftig: &raquo;Wie? Das bietet man uns? O wahrlich, in fr&uuml;heren
-Tagen h&auml;tte man das nicht gewagt! Erst wei&szlig; man nicht Wege
-genug, dich heran zu ziehen, und jetzt wirft man dich wieder fort,
-wie ein Spielzeug, das der albernen kleinen Prinzessin nicht mehr
-gef&auml;llt! Und der schwache Vater leidet solche Thorheit? O sie ist deiner
-gar nicht werth, das leichtsinnige Ding! Dich so zu behandeln, es
-ist ja emp&ouml;rend. Gut denn, la&szlig; sie laufen, sie verdient es nicht besser!
-Gott sei Dank, wir haben jetzt nicht mehr n&ouml;thig, durch andere unsre
-Lage zu verbessern. Wenn es auch kein gro&szlig;es Verm&ouml;gen ist, das wir
-erhalten, so gen&uuml;gt es doch, bis du einmal eine Anstellung bekommst.
-Und wei&szlig;t du, was du jetzt thun solltest, Bertel, gerade um der
-hochm&uuml;thigen Susanne zu zeigen, da&szlig; du dir aus ihrem Korbe
-nichts machst? Verlobe dich mit unserer Esther! Sie liebt dich,
-dessen bin ich sicher, und wenn ich es recht bedenke, kannst
-du eigentlich nie ein M&auml;dchen finden, das besser zu dir pa&szlig;t.
-Freilich, sie ist nur ein B&uuml;rgerkind, und unser alter Adel wird
-arg dadurch gesch&auml;digt; &mdash; aber lieber Gott, wir sind dem guten
-M&auml;dchen doch sehr viel Dank schuldig, und sie wird dich und mich
-sicher stets mehr in Ehren halten, als es jene leichtfertige Susanne
-gethan h&auml;tte.&laquo;</p>
-
-<p>Hubert hatte seine Mutter ruhig ausreden lassen; denn das Herz
-war ihm so &uuml;bervoll, da&szlig; er jeden Augenblick in Gefahr war, sein
-Geheimni&szlig; zu verrathen. Seine Mutter aber durfte nicht ahnen,
-da&szlig; er selbst die Hand zu dem Bruche mit Susanne geboten, sie
-h&auml;tte ihm das nie vergeben. Rastlos schritt er w&auml;hrend ihrer Rede in
-dem kleinen Zimmer auf und nieder. Als aber Frau von Ihlefeld von
-dem neuen Verlobungsplane sprach, da trat er rasch an das Fenster,
-seine Bewegung zu verbergen. So freudig &uuml;berrascht er auch war,
-von seiner Mutter selbst eine Aufforderung zu erhalten, von der er<span class="pagenum"><a name="Page_113" id="Page_113">[Pg 113]</a></span>
-sich gef&uuml;rchtet hatte, ihr zu sprechen, so verletzte es ihn doch, da&szlig; sie
-glauben konnte, sein Herz sei so rascher Wandelung f&auml;hig. Wie, wenn
-er nun Susanne wirklich geliebt h&auml;tte, wie sie geglaubt? Konnte
-er dann augenblicklich eine Andere an ihre Stelle setzen? Und seine
-Mutter gestand jetzt, sie habe gewu&szlig;t, da&szlig; Esther ihn liebte; trotz
-alledem &uuml;berredete sie ihn zu der Verbindung mit Susanne! In
-Huberts Seele stritten tausend Gedanken mit einander, und er
-f&uuml;hlte, da&szlig; sein Herz mehr und mehr von bittren Gef&uuml;hlen gegen
-seine Mutter erf&uuml;llt wurde, in deren H&auml;nden er wie Wachs bald so
-bald so geformt werden sollte, gerade wie es ihren Zwecken entsprach.
-Aber endlich verwandelte sich diese Bitterkeit in Zorn gegen sein
-eigenes, schwaches Gem&uuml;th, das diesen Anmuthungen so wenig eigene
-Willenskraft entgegengesetzt hatte. Seine Mutter, so wenig er auch
-deren Handlungsweise billigen konnte, war doch nur durch die Liebe
-zu ihrem Sohne dazu getrieben worden; ihr durfte er nicht z&uuml;rnen.
-So gab er denn keinem jener bittern Gedanken Worte, sondern sich
-zu seiner Mutter wendend, sagte er weich: &raquo;Liebe Mutter, es ist mir
-lieb, da&szlig; Susanne mir ihr Wort zur&uuml;ckgegeben. Ich h&auml;tte sie nie
-gl&uuml;cklich machen k&ouml;nnen; denn seit der Ankunft von Esthers Brief
-wei&szlig; ich erst, wie sehr ich Esther liebe und immer geliebt habe. Ich
-danke Gott f&uuml;r diese L&ouml;sung, und ich bin gl&uuml;cklich, da&szlig; dein Wunsch
-mit dem meinen zusammentrifft. Eine bessere Tochter, als Esther
-k&ouml;nnte ich dir nie zuf&uuml;hren.&laquo; Dann k&uuml;&szlig;te Hubert mit Innigkeit
-seiner Mutter, die ihn betroffen anblickte, die Hand; aber Beide
-schwiegen, denn sie f&uuml;hlten wohl, da&szlig; es besser sei, alles Weitere
-uner&ouml;rtert zu lassen.</p>
-
-<p>Frau von Ihlefeld wandte das Gespr&auml;ch auf den Brief, den sie
-soeben im Begriff war, sowohl an Esther, als auch an Herrn Richard
-zu schreiben, um Esther aus der peinlichen Situation zu erl&ouml;sen, in
-welcher das brave Kind sich befand.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_114" id="Page_114">[Pg 114]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Nur an Herrn Richard schreibe sogleich, liebe Mutter; alles
-andere &uuml;bernehme ich selbst,&laquo; sagte Hubert freudig err&ouml;thend. &raquo;Morgen
-fr&uuml;h reise ich selbst zu Esther.&laquo;</p>
-
-<p>Frau von Ihlefeld blickte erstaunt auf ihren Sohn, dessen rasches
-entschlossenes Wesen ihr etwas ganz Neues war. Sein Gesicht war
-pl&ouml;tzlich so strahlend sch&ouml;n geworden, von Wonne und Gl&uuml;ckseligkeit,
-da&szlig; sie ihr Auge fast erschrocken auf ihm ruhen lie&szlig;; denn jetzt erst
-erkannte sie, was in ihrem Sohne vorging. &raquo;Bertel, mein liebes,
-theures Kind!&laquo; rief sie unwillk&uuml;rlich und streckte ihm die Arme entgegen,
-und mit dem jubelnden Ruf: &raquo;O meine Mutter!&laquo; hielt der
-Sohn seine Mutter umschlungen.</p>
-
-<p>F&uuml;r Esther war indessen die Zeit mit bleiernem Fl&uuml;gelschlage
-dahingeflogen. Ein uns&auml;gliches Weh erf&uuml;llte ihre Brust; sie h&auml;tte
-sich am liebsten nieder gelegt, um nie wieder aufzustehen; denn was
-sollte sie noch hier auf Erden, wo Gl&uuml;ck und Freude f&uuml;r sie verschwunden
-waren. M&uuml;de und gleichg&uuml;ltig sa&szlig; sie eines Abends am
-Fenster ihres Zimmerchens und schaute in die fast unheimliche Gluth,
-welche die sinkende Sonne &uuml;ber Himmel und Meer verbreitete, als
-solle die ganze Erde von dem gl&uuml;henden Feuer verzehrt werden.
-Endlich verblichen die brennenden Tinten; kalte Abendschatten legten
-sich &uuml;ber Land und Meer, und der Zauber von Licht und Glanz,
-der soeben noch die Welt in wonniger Pracht erstrahlen lie&szlig;, er war
-geschwunden; graue Nebel stiegen empor, und erloschen war aller
-Reiz und alle Sch&ouml;nheit.</p>
-
-<p>&raquo;Wie mein Leben!&laquo; seufzte Esther, die tr&uuml;ben Blicke &uuml;ber das
-Meer hin&uuml;bersendend. &raquo;Seine Liebe war die Sonne, in deren
-goldnem Scheine mein armes Leben in wunderbarer Herrlichkeit
-lachte &mdash; nun ist meine Sonne erloschen, mein Leben todt und
-reizlos und von grauen Nebeln umh&uuml;llt!&laquo;</p>
-
-<p>Sie legte ihren Kopf gegen die kalten Scheiben des Fensters, denn<span class="pagenum"><a name="Page_115" id="Page_115">[Pg 115]</a></span>
-ihre Stirn brannte und suchte K&uuml;hlung. Da wurde an die Th&uuml;r
-geklopft. &raquo;Ein Brief, mein Fr&auml;ulein!&laquo; Hastig griff Esther nach demselben.
-Er war auf der Heimath, aber die Schrift kannte sie nicht.
-Mit fliegender Hand ri&szlig; sie ihn auf; es war Susannes Brief.</p>
-
-<p>Als Esther das Schreiben gelesen, strich sie langsam &uuml;ber ihre
-Stirn. War es denn Wirklichkeit, was sie soeben durchlebte, oder
-trieben muthwillige Tr&auml;ume ihr Spiel mit ihr? Sie trat n&auml;her an
-das Fenster, den Brief noch einmal zu lesen; aber ihr armer Kopf,
-der in den letzten Tagen so Furchtbares durchdacht und durchk&auml;mpft,
-schwindelte heftig, und die Buchstaben schwammen durch einander.
-Esther z&uuml;ndete Licht an, ging einige Male im Zimmer auf und
-nieder, um sich zu sammeln, und dann setzte sie sich still in den Lehnstuhl,
-den Brief noch einmal ruhig zu lesen. W&auml;hrend ihre Augen
-diese Zeilen jetzt von Neuem durcheilten, flog mehrere Male ein
-L&auml;cheln &uuml;ber ihre Z&uuml;ge, und endlich sch&uuml;ttelte sie wehm&uuml;thig den
-Kopf. &raquo;Liebes, herziges Kind,&laquo; seufzte sie leise, &raquo;du ahnst nicht, was
-deine Worte mir f&uuml;r Schmerzen bereiten! Gott, mein Gott, was
-hei&szlig;t das alles nur? Sie wei&szlig; von meiner Liebe zu Bertel, die mir
-bis vor Kurzem selbst noch ein Geheimni&szlig; war? Sollte Tante Booland
-mit ihr davon gesprochen haben? aber ich selbst habe ja nie etwas
-gesagt, das sie dazu berechtigte, und diese treue Seele w&uuml;rde mein
-heiligstes Geheimni&szlig; doch nicht preisgeben. Und wem preisgeben!
-Der Braut dessen, den ich liebe. O nein, nein, das ist unm&ouml;glich.
-Aber woher sonst sollte Susanne es wissen? Und Bertel? O wenn
-er dieses holde, kleine Gesch&ouml;pf wirklich liebt, wie trostlos mu&szlig; er
-sein, da&szlig; sie ihm sein Wort zur&uuml;ckgiebt und den Bund wieder l&ouml;st,
-der ihn so zu begl&uuml;cken schien. In welches Wirrsal st&uuml;rzt mich dieser
-kindische Brief! Und dabei keine Nachricht von den Meinen! Jetzt
-k&ouml;nnte doch nun Antwort hier sein; warum schreibt nur niemand?</p>
-
-<p>Es war f&uuml;r Esther eine traurige Nacht, welche der Ankunft
-<span class="pagenum"><a name="Page_116" id="Page_116">[Pg 116]</a></span>dieses Briefes folgte. Schlaflos w&auml;lzte sie sich auf ihrem Lager umher,
-und tausend Gedanken durchkreuzten ihren hei&szlig;en, schmerzenden
-Kopf. Hoffnung, Liebe und Zuversicht k&auml;mpften mit Schmerz und
-Zweifeln, und erst der heraufd&auml;mmernde Morgen brachte ihr Schlaf
-und Ruhe. Sie schlief schwer und tief viele Stunden lang; es war
-als ob ihr ersch&ouml;pfter K&ouml;rper Kr&auml;fte sammeln wollte f&uuml;r die bevorstehenden
-Wonnetage, welche leise und sonnig, aber ungeahnt fern
-am Horizonte heraufzogen.</p>
-
-<p>Die Sonne stand schon hoch im Mittag, als Esther erwachte.
-Ueberrascht fuhr sie empor und rieb sich die Augen; ihr war, als
-h&auml;tte sich etwas Besonderes zugetragen, aber lange konnte sie keinen
-klaren Gedanken fassen. Ein Klopfen an der Th&uuml;r schreckte sie auf.
-Hastig sprang sie empor und &ouml;ffnete. Es war die Hauswirthin,
-welche ihr mittheilte, ein Herr habe vor einiger Zeit nach ihr gefragt,
-da Mademoiselle aber auf &ouml;fteres Klopfen nicht geantwortet,
-so sei der Herr wieder fortgegangen mit dem Versprechen, in einigen
-Stunden wieder vorzufragen.</p>
-
-<p>Esther forschte nach dem Aeu&szlig;eren des Fremden, und aus der
-Beschreibung schien ihr hervorzugehen, da&szlig; Herr Richard sie besucht
-habe. Ihr Herz schlug st&uuml;rmisch. Schnell kleidete sie sich an, und
-kaum war sie fertig, da sah sie wirklich Herrn Richard auf das Haus
-zuschreiten und gleich darauf bei ihr eintreten.</p>
-
-<p>&raquo;Mein Fr&auml;ulein,&laquo; sagte der Kaufmann, indem er z&ouml;gernd an der
-Th&uuml;r stehen blieb, &raquo;darf ich es wagen, Sie aufzusuchen, nachdem
-Sie neulich so tief beleidigt von mir schieden? Ich komme, Sie
-um Verzeihung zu bitten, da&szlig; ich Sie so bitter kr&auml;nkte. Aber die
-Umst&auml;nde, unter denen ich Sie kennen lernte, m&uuml;ssen mein Betragen
-gegen Sie entschuldigen; ich kann jetzt eben nichts weiter thun, als
-die Bitte an Sie richten: Verzeihen Sie mir, denn ich kannte Sie
-nicht.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_117" id="Page_117">[Pg 117]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Warum sind Sie jetzt andrer Meinung geworden, mein Herr?&laquo;
-fragte Esther mit leise zitternder Stimme, ohne jedoch ihrem Gaste
-einen Schritt entgegen zu treten.</p>
-
-<p>&raquo;Hier diese Zeilen sagen mir, welches edle Herz ich beleidigt
-und gekr&auml;nkt habe!&laquo; rief Herr Richard und hielt dem jungen M&auml;dchen
-einen Brief hin. Esther trat jetzt schnell n&auml;her und erkannte
-Frau von Ihlefelds Handschrift.</p>
-
-<p>&raquo;Frau von Ihlefeld hat Ihnen geschrieben, mein Herr?&laquo; sagte
-sie hoch err&ouml;thend. &raquo;Sind Sie angewiesen, mir das Geld zu &uuml;bergeben?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wenn ich recht verstehe, so wird Herr von Ihlefeld in diesen
-Tagen selbst kommen, die Schuld einzufordern,&laquo; entgegnete Herr
-Richard sorglos, erschrak aber &uuml;ber die Wirkung, welche diese Worte
-hervorbrachten.</p>
-
-<p>&raquo;Selbst? Er will selbst kommen?&laquo; stammelte Esther erbleichend,
-und pl&ouml;tzlich vergingen ihr die Sinne. Mit einem leisen St&ouml;hnen
-sank sie zusammen, und fiel dem rasch zuspringenden Herrn Richard
-bewu&szlig;tlos in die Arme.</p>
-
-<p>Als sie sich endlich erholte, blickte sie scheu und erschrocken um sich;
-bald aber war sie wieder das starke M&auml;dchen, und h&ouml;rte jetzt ruhig
-an, was Herr Richard ihr mitzutheilen hatte. Dieser erz&auml;hlte nun,
-da&szlig; Frau von Ihlefeld ihm geschrieben, Esther Wieburg sei der gute
-Engel ihres Hauses; was sie f&uuml;r ihren Sohn und sie selbst gethan,
-k&ouml;nne nur Gott dem edlen Kinde vergelten, und wer ihr wehe thue,
-kr&auml;nke ein Herz, das immer nur f&uuml;r das Gl&uuml;ck Anderer geschlagen.</p>
-
-<p>&raquo;Und ich habe dies Herz so tief gekr&auml;nkt!&laquo; schlo&szlig; Herr Richard,
-der ergl&uuml;henden Esther herabh&auml;ngende Hand an seine Lippen f&uuml;hrend.
-&raquo;Sagen Sie mir, Fr&auml;ulein Esther, wollen Sie mir verzeihen?&laquo;</p>
-
-<p>Das junge M&auml;dchen blickte ernst vor sich hin. &raquo;Sie kannten
-mich ja nicht, Herr Richard,&laquo; sagte sie sanft, &raquo;und ich glaube, es war<span class="pagenum"><a name="Page_118" id="Page_118">[Pg 118]</a></span>
-sehr th&ouml;richt von mir, jene Forderung ohne Beweisgr&uuml;nde an Sie
-zu stellen. Es mag in der Welt wohl so viel schlechte Menschen
-geben, da&szlig; man sich vorsehen mu&szlig;. Lassen wir das jetzt. Mein
-Z&uuml;rnen war vielleicht ganz ungerecht; Sie konnten wohl kaum anders
-handeln, als Sie gethan, das sehe ich mehr und mehr ein, da ich
-ruhiger dar&uuml;ber nachgedacht habe. Aber nun lesen Sie mir die
-Worte vor, die Sie zu der Vermuthung veranlassen, Hubert werde
-selbst kommen.&laquo;</p>
-
-<p>Herr Richard faltete den Brief und &uuml;berlas ihn schnell. &raquo;Hier
-ist's,&laquo; sagte er dann und las: &raquo;Was nun die Geldsumme betrifft,
-von welcher der Schuldschein meines Vetters spricht, so soll diese
-Sache der braven Esther keine M&uuml;he mehr verursachen. Mein
-Sohn wird selbst....&laquo; In diesem Augenblicke aber h&ouml;rte man eine
-Stimme in dem Hausflur. Esther stie&szlig; einen lauten Schrei aus und
-sprang empor; aber ihre F&uuml;&szlig;e zitterten so heftig, da&szlig; sie kraftlos auf
-ihren Sitz zur&uuml;ckfiel. Da h&ouml;rte man rasche Schritte; die Th&uuml;r flog
-auf, und Bertel stand in dem Zimmer. &raquo;Esther!&laquo; rief er jubelnd und
-in demselben Augenblicke lag das geliebte M&auml;dchen an seiner Brust.</p>
-
-<p>Lange fanden die beiden gl&uuml;cklichen Menschen kein Wort f&uuml;r
-das Entz&uuml;cken ihres Herzens. Esther war so ersch&uuml;ttert von diesem
-pl&ouml;tzlichem Wiedersehen, da&szlig; sie kraftlos und weinend in ihres
-Freundes Armen lag, der ihren lieben Kopf z&auml;rtlich k&uuml;&szlig;te und immer
-von Neuem an seine Brust dr&uuml;ckte. Die s&uuml;&szlig;esten Schmeichelnamen,
-wie sie nie &uuml;ber seine Lippen gekommen, fl&uuml;sterte er dem vor Freude
-erbebenden M&auml;dchen in das Ohr, und endlich erhob diese unter
-Thr&auml;nen l&auml;chelnd ihr Gesicht. Nie hatte Bertel bis jetzt so zu ihr
-gesprochen, nie hatte sie noch an seiner Brust gelegen wie jetzt, und
-noch nie war sie ihm gegen&uuml;ber so schwach und weichm&uuml;thig gewesen.</p>
-
-<p>&raquo;Verzeih' mir, Bertel; die Freude, Dich wiederzusehen, macht
-<span class="pagenum"><a name="Page_119" id="Page_119">[Pg 119]</a></span>mich ganz hinf&auml;llig!&laquo; sagte sie, die Thr&auml;nen aus den Augen trocknend.
-Dann schrak sie pl&ouml;tzlich etwas zusammen, machte sich aus
-Huberts Armen los und fl&uuml;sterte, sich verlegen umschauend: &raquo;Aber
-wir sind ja nicht allein, erlaube da&szlig; ich dir Herrn Richard....&laquo;</p>
-
-<p>Doch kein Herr Richard war mehr in dem Zimmer; an seiner
-Stelle aber stand eine andere Person, welche still, die hellen Thr&auml;nen
-auf dem guten, alten Gesicht, auf die beiden Kinder ihres Herzens
-schaute. Es war Frau Booland.</p>
-
-<p>&raquo;Tante, liebe, gute Tante!&laquo; jubelte Esther und flog zu der Alten,
-die ihre gro&szlig;en Arme weit nach ihr ausbreitete und sie dann so
-energisch &uuml;ber ihrem Herzbl&auml;ttchen schlo&szlig;, als sollten sie sich nie
-wieder &ouml;ffnen.</p>
-
-<p>&raquo;Aber liebe, einzige Tante Booland, solche Reise hast du zu
-unternehmen gewagt!&laquo; rief Esther endlich, als sie wieder auf eigenen
-F&uuml;&szlig;en stand; denn die gro&szlig;e, starke Frau hatte das schlanke M&auml;dchen
-wie ein kleines Kind zu sich empor gehoben, als k&ouml;nne sie nur
-so ihrer st&uuml;rmischen Z&auml;rtlichkeit Gen&uuml;ge leisten. &raquo;Du mu&szlig;t ja Tag
-und Nacht gefahren sein, um schon heute hier anzukommen.&laquo;</p>
-
-<p>Die Alte schob die zerknickte Haube zurecht, die im Sturme des
-Entz&uuml;ckens auf und davon zu fliegen drohte, und dann mit ihren
-gro&szlig;en H&auml;nden Bertel drohend, der lachend und von Gl&uuml;ck strahlend
-neben Esther stand, rief sie &auml;rgerlich: &raquo;Hat der Bengel da
-mir armen, alten Frau denn Ruhe geg&ouml;nnt unterwegs? Durfte ich
-meine alten Knochen denn auf der ganzen heillosen Hetzparthie nur
-ein einzig Mal ordentlich in ein Bett legen? War's nicht immer,
-als st&auml;nde einer mit der Hetzpeitsche hinter uns und triebe uns
-vorw&auml;rts? Wei&szlig; Gott, wie's der Bursche fertig gebracht hat, mich
-ganzbeinig bis hierher zu schleifen, nun aber bringen mich keine
-zehn Pferde von hier wieder fort, ehe ich nicht ordentlich einmal
-wieder ausgeschlafen habe!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber Tante Booland, die Betten hier zu Lande, bedenke doch!<span class="pagenum"><a name="Page_120" id="Page_120">[Pg 120]</a></span>
-Du hast dich ja verschworen, dich in keins wieder zu legen, so lange
-du in diesem heillosen Franzosenlande bist,&laquo; rief Bertel lachend.</p>
-
-<p>&raquo;Herr du mein Gott, ja da hast du Recht, Kind!&laquo; rief Frau
-Booland entr&uuml;stet. &raquo;Hat man je so etwas von einem Nachtlager
-erlebt, wie da in dem Neste,.... na wie hie&szlig; es denn gleich?&laquo;
-&raquo;Avignon,&laquo; erg&auml;nzte Hubert.</p>
-
-<p>&raquo;Ja, diesem Avignon! Und das haben sie noch die Frechheit,
-<em class="gesperrt">Betten</em> zu nennen! Nicht eine einzige Feder ist ja in so einem
-harten, entsetzlichen Dinge von einem Bette! Mein armer Kopf
-rollte zum Verzweifeln immer von einer Seite zur andern auf diesen
-harten Rollkissen, gerade als w&auml;lzte ich mich im Fieber. Na und
-&uuml;berhaupt, ist das ein Land! Solch ein Schmutz, solches Ungeziefer,
-solche Hitze und solcher Staub, und dann.... puh, so entsetzliches
-Essen! Du armer Wurm, wie hast du es denn nur drei Tage hier
-aushalten k&ouml;nnen! Ich w&auml;re schon am ersten Morgen wieder auf
-und davon gelaufen. Und dann diese Eisenbahnen! O mein Gott,
-dieser L&auml;rm, dies Getreibe, diese Wirthschaft! W&auml;re es nicht mein
-Herzbl&auml;ttchen gewesen, das ich mir hier aus dem Heidenlande wieder
-holen wollte, schon in der ersten Stunde w&auml;re ich umgekehrt nach
-meinem lieben, stillen Waldhause! Und solches Reisen, solch' Umhertreiben
-auf Eisenbahnen und Landstra&szlig;en, solch' Umherw&auml;lzen in
-fremden, himmelschreienden Betten, solch' gr&auml;&szlig;liches Essen und Trinken,
-Schmachten und sich todt m&uuml;de und elend machen nennen die
-Leute nun Vergn&uuml;gen! Na, wenn ich erst wieder gl&uuml;cklich in meinem
-Waldhause auf unserem lieben Dorfe bin, da soll mich Gott bewahren,
-wieder solche Thorheiten zu begehen und mich einem verr&uuml;ckten
-Liebhaber als Reisebegleiter anzubieten!&laquo;</p>
-
-<p>W&auml;hrend Frau Booland ihren Gef&uuml;hlen in dieser Weise Luft
-machte, hatte Bertel Esther neben sich auf das Sopha gezogen, und
-w&auml;hrend er beide H&auml;nde des jungen M&auml;dchens ergriffen, ruhte sein
-Auge forschend auf ihren Z&uuml;gen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_121" id="Page_121">[Pg 121]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Warst du krank, Esther?&laquo; fragte er jetzt angstvoll, und erschrocken
-wandte nun auch Frau Booland ihre Blicke auf ihres Lieblings
-Gesicht, das allerdings von der Anstrengung und dem unbehaglichen
-Leben der vergangenen Monate, und nun gar von den
-durchk&auml;mpften, schweren Tagen der letzten Woche schmal und bleich
-geworden war, wie nie zuvor. Esther beruhigte die beiden geliebten
-Menschen, sa&szlig; aber unbeschreiblich &auml;ngstlich und unbehaglich an
-Bertels Seite, immerfort bestrebt, ihm ihre H&auml;nde zu entziehen, die
-er jedoch nicht frei gab. Da erhob sich Frau Booland rasch von
-ihrem Stuhle, auf den sie sich ersch&ouml;pft niedergelassen hatte und sagte,
-sich die Stirn mit dem Tuche abwischend und dann den Staub von
-ihrem Kleide sch&uuml;ttelnd: &raquo;Aber mein Gott, wie sieht man nach so
-einer Reise aus! Es ist ja ganz grauenvoll, solchen Schmutz mit
-sich herum zu tragen. Estherchen, da nebenan ist wohl dein Schlafst&uuml;bchen?
-Ich will mich dort nur ein Bischen zurecht machen; la&szlig;t
-euch die Zeit indessen nicht lang werden, ihr Kinderchen!&laquo;</p>
-
-<p>Und eilig huschte sie in das ansto&szlig;ende, kleine Zimmer, dessen
-Th&uuml;r nur halb geschlossen war, ihren beiden Lieblingen im Hinausgehen
-noch schelmisch zul&auml;chend. Sie klinkte das Th&uuml;rschlo&szlig; fest hinter
-sich zu, und Esther war allein mit ihrem Freunde.</p>
-
-<p>&raquo;Esther, nicht wahr, du hast einen Brief von Susanne erhalten?&laquo;
-fragte Bertel, sobald Frau Booland das Zimmer verlassen.</p>
-
-<p>&raquo;Ja Bertel, gestern,&laquo; erwiederte Esther und tiefe Gluth flog
-&uuml;ber ihr blasses, br&auml;unliches Gesicht.</p>
-
-<p>&raquo;So wei&szlig;t du, da&szlig; wir nicht mehr verlobt sind?&laquo;</p>
-
-<p>Esther sch&uuml;ttelte den Kopf und sagte scheu: &raquo;Ich kann nicht
-glauben, da&szlig; es Susanne Ernst mit diesem kindlichen Briefe gewesen
-ist. Wenn du sie liebst, wird sie sich bald anders besinnen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber ich liebe sie ja nicht, Esther!&laquo; rief Bertel, das junge
-<span class="pagenum"><a name="Page_122" id="Page_122">[Pg 122]</a></span>M&auml;dchen wieder bei beiden H&auml;nden ergreifend. &raquo;Ich liebe ja niemanden,
-als dich, Esther, du mein Gl&uuml;ck, mein Stolz, der gute
-Engel meines ganzen, ganzen Lebens! O, jetzt erst wei&szlig; ich es ja,
-da&szlig; ich dich geliebt habe, seit wir als kleine Kinder zusammen in
-Wald und Wiese spielten, und ich danke Gott auf meinen Knieen
-daf&uuml;r, da&szlig; es endlich klar in mir geworden ist!&laquo; Und nun erz&auml;hlte
-Bertel alles, was er seit der Ankunft von Esthers letztem Briefe
-durchlebt und durchk&auml;mpft hatte, und wie er jetzt nur noch einen
-Wunsch auf der Welt habe, &mdash; Esthers Liebe.</p>
-
-<p>&raquo;Darf ich Undankbarer, Verblendeter denn noch hoffen, da&szlig; du
-mich lieben kannst, Esther?&laquo; fragte er endlich weich, und seine Stimme
-zitterte. Esther aber schlang ihre Arme um seinen Hals, und das
-Gesicht an seine Wange schmiegend, schluchzte sie: &raquo;Mein Bertel,
-mein lieber, ewig geliebter Bertel!&laquo;</p>
-
-<p>Im Zimmer war es sehr still geworden, und man h&ouml;rte nichts,
-als ein merkw&uuml;rdig lebhaftes Rumoren und Umhergehen in der
-ansto&szlig;enden Kammer. Frau Booland mu&szlig;te eine &auml;u&szlig;erst umfangreiche
-Toilette machen, denn es dauerte erstaunlich lange, ehe sie
-damit zu Ende war und wieder in dem Zimmer bei Esther und
-Hubert erschien. Diesen aber war die Zeit indessen so wenig lang
-geworden, da&szlig; sie die alte, treue Freundin v&ouml;llig vergessen hatten.
-Als Frau Booland endlich zu ihnen hereintrat, f&uuml;hrte Bertel seine
-Esther zu ihr und sagte: &raquo;Hier unserer treuen Tante Booland danken
-wir die gl&uuml;ckliche L&ouml;sung. Ohne sie w&auml;re ich nicht hier und wir
-Beiden nicht das gl&uuml;cklichste Brautpaar unter Gottes Sonne.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Na, Gott sei Dank, da&szlig; wir endlich am Ziele sind!&laquo; jubelte die
-Alte, ihre beiden Kinder an die breite Brust ziehend, wo sie alle
-Beide reichlich Platz hatten. &raquo;Nun aber macht, da&szlig; wir von hier
-fort kommen; der Boden brennt mir unter den F&uuml;&szlig;en.&laquo;</p>
-
-<p>Ehe man jedoch an die Abreise denken konnte, mu&szlig;te die Geldangelegenheit
-mit Herrn Richard in Ordnung gebracht werden.<span class="pagenum"><a name="Page_123" id="Page_123">[Pg 123]</a></span>
-Hubert &uuml;bernahm jetzt diese Sache und war erfreut, in dem neuen
-Vetter einen unendlich liebensw&uuml;rdigen Mann zu finden. Die
-Geldsumme, welche sein Onkel von Huberts Vater geliehen, hatte
-gute Zinsen getragen; denn jenes Unternehmen, wozu es gegeben
-worden, gl&uuml;ckte &uuml;ber Erwarten. Aus den 15 Tausend Thalern waren
-im Laufe der Jahre zwanzig geworden, und Herr Richard, welcher
-ein ungew&ouml;hnlich gro&szlig;es Verm&ouml;gen erworben hatte, war hoch erfreut,
-durch R&uuml;ckerstattung jenes Kapitals zum Gl&uuml;cke so lieber Anverwandter
-beitragen zu k&ouml;nnen. Das fr&ouml;hliche L&auml;cheln, mit dem Esther
-jetzt den Vetter ihres geliebten Bertel empfing, als dieser kam, sie als
-die Braut seines Anverwandten zu begr&uuml;&szlig;en, sagte demselben besser,
-als Worte es thun konnten, da&szlig; Esther die peinliche Scene, welche
-zwischen ihnen vorgefallen, vergessen habe. &raquo;Aber zu unserer Hochzeit
-m&uuml;ssen Sie kommen, lieber Vetter!&laquo; rief Bertel in fr&ouml;hlichem Uebermuthe
-beim Abschiede, &raquo;nur dann verzeiht Ihnen Esther ganz.&laquo;</p>
-
-<p>Mit wie frohem Herzen sagte jetzt Esther dem Lande Lebewohl,
-in dem sie so viel schwere Stunden durchlebt hatte! In N&icirc;mes
-sprach sie noch bei dem braven, alten Ehepaar Martin vor, um ihnen
-alles Erlebte mitzutheilen und sie mit Hubert und Tante Booland
-bekannt zu machen. Nach le Vigan jedoch f&uuml;hrte sie ihre Lieben nicht,
-so sehr sie auch gew&uuml;nscht h&auml;tte, den guten Doktorsleutchen m&uuml;ndlich
-von ihrem Gl&uuml;cke zu erz&auml;hlen. Aber Tante Booland h&auml;tte nie wieder
-Ruhe im Herzen gefunden, h&auml;tten ihre eigenen Augen jene Zust&auml;nde
-in der Pension gesehen, in denen ihr Herzbl&auml;ttchen so lange Zeit
-leben mu&szlig;te. Aber alle jene herrlichen Gegenden, jene sch&ouml;nen St&auml;dte
-mit all' den Sehensw&uuml;rdigkeiten, woran das Land so reich war, sah
-und geno&szlig; Esther jetzt, wie sie es auf der Herreise so sehnlich gew&uuml;nscht
-hatte; denn langsam und in kleinen Stationen traten sie die
-R&uuml;ckkehr in die Heimath an, um die alte Frau Booland nicht zu
-erm&uuml;den. Die Behaglichkeit dieser Art zu reisen, sowie das Gl&uuml;ck<span class="pagenum"><a name="Page_124" id="Page_124">[Pg 124]</a></span>
-ihrer Kinder, das sie umgab, vers&ouml;hnte Frau Booland jetzt auch mit
-allem, was Reisen hie&szlig;, und vergn&uuml;gt lie&szlig; sie sich &uuml;berall herumf&uuml;hren
-und alles Sehenswerthe zeigen, so da&szlig; sie nun eine etwas bessere
-Meinung von dem Lande erhielt, in dem Esther so lange gelebt hatte.</p>
-
-<p>Eine unaussprechlich tiefe, stille Gl&uuml;ckseligkeit ruhte auf Esthers
-Antlitz, als sie in ihr liebes Dorf einfuhr, und Hand in Hand sa&szlig;en
-die beiden gl&uuml;cklichen Jugendgespielen nebeneinander, ohne ein Wort
-zu sprechen.</p>
-
-<p>Aber als sie jetzt in die N&auml;he der Kirche und der ehemaligen
-Wohnung Esthers kamen, da ert&ouml;nte pl&ouml;tzlich Glockenschall und froher
-Gesang. Blumenkr&auml;nze in den H&auml;nden und bunte Fahnen in der
-Luft schwingend, eilten die Kinder des Dorfes dem Brautpaare entgegen,
-und jubelnder Zuruf begr&uuml;&szlig;te die Ankommenden, welche
-unter einem festlich prangenden Triumphbogen umringt und angehalten
-wurden. Pfarrer Krause schritt mit seiner Familie an der
-Spitze des Zuges, und als derselbe den Wagen erreichte, hielt der
-Geistliche im Namen seiner Gemeinde eine kurze, freudige Ansprache
-an Hubert und Esther, in welcher er die Gl&uuml;ckw&uuml;nsche aller derer
-darbrachte, in deren Mitte die Beiden aufgewachsen waren und
-welche bisher alles Leid und alle Freude mit ihnen getheilt hatten.
-Ein lautes Hurrah folgte dieser Ansprache; die Glocken t&ouml;nten, die
-Fahnen flatterten, und bedeckt von Blumen und Kr&auml;nzen fuhr das
-junge Paar durch das Dorf, von dessen Einwohnern bis zu dem
-Waldhause geleitet. Auch dies H&auml;uschen war festlich geschm&uuml;ckt;
-als aber jetzt Esther und Bertel an die Brust der Mutter sanken,
-welche sie in der Th&uuml;r empfing, da blieb kein Auge trocken, und in
-stiller R&uuml;hrung umstanden die Dorfbewohner das H&auml;uschen.</p>
-
-<p>In ihr Wohnzimmer eingetreten, erblickte Esther eine Menge
-Blumen und Geschenke, welche ihr hier von den Freunden zur Begr&uuml;&szlig;ung
-dargebracht wurden. Zwischen diesen Geschenken stand eine<span class="pagenum"><a name="Page_125" id="Page_125">[Pg 125]</a></span>
-gro&szlig;e, geschlossene Kiste, welche Tags zuvor erst angekommen war.
-Sie kam aus Frankreich und war an Esther adressirt. Verwundert
-&ouml;ffnete das junge M&auml;dchen dieselbe und fand eine F&uuml;lle der sch&ouml;nsten
-Stoffe darinnen in Seide, Leinen und Battist, wie sie eine junge
-Hausfrau nur je zur Ausstattung ihrer neuen Haushaltung w&uuml;nschen
-konnte. Ein kleines K&auml;stchen lag obenauf, mit der Inschrift &raquo;Esther,&laquo;
-und in demselben ruhte ein kostbarer Schmuck nebst einem kleinen
-Briefe von der Hand des Herrn Richard. In den verbindlichsten
-Worten bat er seine neue Cousine, diese Sendung von ihm anzunehmen,
-als einen Beweis seiner unbegrenzten Verehrung f&uuml;r das
-edelste, tapferste, weibliche Herz, das ihm je begegnet sei.</p>
-
-<p>W&auml;hrend Esther mit diesem Briefchen noch ganz best&uuml;rzt vor
-der prachtvollen Gabe stand, und Frau Booland in hellem Entz&uuml;cken
-bald die Steine des Schmuckes im Lichte funkeln lie&szlig;, bald wieder
-die k&ouml;stlichen Stoffe aus einander faltete, wurde auch Bertel ein
-Briefchen &uuml;bergeben. Es kam von Herrn von Sassen und lautete
-folgendermaa&szlig;en:</p>
-
-
-<blockquote>
-<p class="center">&raquo;Mein lieber Hubert!<br />
-</p>
-
-<p>Wo alles Dich und Deine liebe Braut mit Jubel empf&auml;ngt,
-da will auch ich nicht zur&uuml;ckbleiben. Bald hoffe ich Euch pers&ouml;nlich
-begr&uuml;&szlig;en zu k&ouml;nnen; f&uuml;r's Erste nur die Nachricht, da&szlig; unser
-verehrter Kronprinz soeben die Anfrage an Dich ergehen l&auml;&szlig;t, ob
-Du f&uuml;r seine Reise nach Italien, Griechenland und dem Orient,
-welche er in einigen Monaten antreten wird, sein Begleiter sein
-willst. Die Anerbietungen, welche au&szlig;erdem hinzugef&uuml;gt sind,
-versprechen so viel Genu&szlig; und Vortheile, da&szlig; ich gewi&szlig; bin, Dein
-Herz jubelt ihnen zu, wenn Dir auch eine neue Trennung von
-Deiner Braut f&uuml;r's Erste wenig lockend sein mag. Eine Professur
-f&uuml;r Arch&auml;ologie soll im Laufe der n&auml;chsten Zeit an der
-Universit&auml;t B. besetzt werden, und ich m&uuml;&szlig;te mich sehr irren,
-<span class="pagenum"><a name="Page_126" id="Page_126">[Pg 126]</a></span>wenn unser gn&auml;diger Kronprinz nicht im Sinne h&auml;tte, seinen
-Reisebegleiter f&uuml;r diese Stelle vorzuschlagen, wenn er diesen
-als einen t&uuml;chtigen Gelehrten erkannt hat. Da&szlig; dem so sein
-wird, daf&uuml;r ist mir nicht bange, falls Du dieser Reisegef&auml;hrte
-bist. Ich freue mich sehr, da&szlig; meine Dienste, welche ich in fr&uuml;heren
-Jahren dem Hofe geleistet habe, jetzt noch so gute Fr&uuml;chte tragen.
-Deiner verehrten Braut meinen besten Gru&szlig; und die Bitte, mir
-nicht zu z&uuml;rnen, da&szlig; ich ihr den Geliebten wieder entf&uuml;hren will,
-nachdem sie kaum die Schwelle ihres Hauses betreten. Meine
-kleine Susanne sendet Esther aus der Ferne ihre Gr&uuml;&szlig;e und
-freut sich, bei ihrer Heimkehr aus B., wohin sie f&uuml;r einige Monate
-durch meinen Bruder entf&uuml;hrt worden, eine liebe Freundin
-in ihr begr&uuml;&szlig;en zu d&uuml;rfen. Bald umarmt Dich in v&auml;terlicher Liebe</p>
-
-<p class="right">
-Dein <em class="gesperrt">Adolph von Sassen</em>.&laquo;
-</p></blockquote>
-
-
-<p>Das waren denn wundervolle Neuigkeiten! Der h&ouml;chste Wunsch
-Bertels, eine Reise nach jenen L&auml;ndern unternehmen zu k&ouml;nnen,
-auf deren klassischen Boden so reiche Sch&auml;tze f&uuml;r seine Wissenschaft
-ruhten, sollten sich ihm erf&uuml;llen, und unter welch' verlockenden Bedingungen!
-Esther war es zuerst, welche aufjubelte und keinem
-Z&ouml;gern Raum gab, obwohl sie sich von Neuem von dem Geliebten
-trennen sollte. &raquo;Geh&ouml;ren wir uns denn jetzt nicht f&uuml;r ewig, mein
-lieber Bertel?&laquo; rief sie freudestrahlend, als Hubert sie etwas tr&uuml;bselig
-anschaute in dem Gedanken abermaliger Trennung.</p>
-
-<p>&raquo;Reise in Gottes Namen, mein Geliebter, und wenn du dann
-heimkehrst, la&szlig; dir zum Schlu&szlig; die sch&ouml;ne Professur von deinem
-Kronprinzen schenken; dann wissen wir gleich, wo wir eines Tages,
-so Gott will, unsere H&uuml;tte bauen werden.&laquo;</p>
-
-<p>Und so geschah es denn auch. Hubert erwarb vor allem den
-Titel eines Doktors der Philosophie, und als solcher begleitete er
-dann mit noch einigen andern strebsamen, jungen Gelehrten den<span class="pagenum"><a name="Page_127" id="Page_127">[Pg 127]</a></span>
-Kronprinzen nach jenen sch&ouml;nen L&auml;ndern, reiche Sch&auml;tze sammelnd
-an Kenntnissen und Erfahrungen. Ein ganzes Jahr verging, ehe
-die kleine Expedition heimkehrte, und diese Zeit verlebte Esther in
-ihrem Waldhause in stillem, gl&uuml;cklichen Seelenfrieden. Tante Booland
-war unerm&uuml;dlich, an der Ausstattung des jungen, k&uuml;nftigen
-Haushaltes zu arbeiten; Frau von Ihlefeld aber f&uuml;hlte t&auml;glich von
-Neuem, welchen Schatz sie an Esther gewonnen. Keine andere
-Tochter h&auml;tte ihr je mit gr&ouml;&szlig;erer Liebe und Verehrung anh&auml;ngen,
-keine ihr je die Tage mehr versch&ouml;nern k&ouml;nnen, als dieses M&auml;dchen,
-das so brav und klug, so selbstvergessend und treu stets f&uuml;r die
-Ihren lebte und dachte.</p>
-
-<p>Als dann endlich das Trennungsjahr vor&uuml;ber und Bertel heimgekehrt
-war von seiner Reise, da schaute die Morgensonne eines
-Tages mit ganz besonderem Glanze in die freundliche, reich geschm&uuml;ckte
-Dorfkirche von Rahmstedt. Hier stand Pastor Krause am Altare,
-und seine tief bewegten Worte erklangen feierlich in dem kleinen
-Gotteshause, das die Menge der And&auml;chtigen kaum fassen konnte.
-Zu den F&uuml;&szlig;en des Geistlichen aber kniete ein junges Paar, deren
-Ehebund seine Hand einsegnete; es war Hubert und Esther. An
-dem Schicksale dieser braven Kinder des Dorfes Rahmstedt nahm
-Alt und Jung den innigsten Antheil, und es war ein langer, fr&ouml;hlicher
-Zug, welcher das junge Paar nach dem reich bekr&auml;nzten Waldhause
-geleitete, in dem Tante Booland ein festliches Hochzeitmahl
-hergerichtet hatte. Am selben Tage f&uuml;hrte Bertel dann seine Esther
-als stattliche Frau Professorin nach B., der neuen Heimath des
-gl&uuml;cklichen Paares, denn hier hatte der talentvolle, junge Mann in
-der That jene Stelle an der Universit&auml;t erhalten, von der Herr von
-Sassen gesprochen.</p>
-
-<p>Wenige Monate sp&auml;ter begr&uuml;&szlig;te ein anderes junges Ehepaar
-auf der Durchreise unsere Freunde in B. Die blonde Susanne lag<span class="pagenum"><a name="Page_128" id="Page_128">[Pg 128]</a></span>
-bald lachend, bald weinend an Esthers Halse, ihr h&uuml;bscher junger
-Gatte aber, jener schwarzb&auml;rtige Graf Redern, dem das junge M&auml;dchen
-bald nach Esthers damaliger R&uuml;ckkehr Herz und Hand geschenkt
-hatte, stand ungeduldig daneben, um auch seinerseits die h&uuml;bsche
-Frau Professorin zu begr&uuml;&szlig;en, an der seine kleine Frau mit so
-schw&auml;rmerischer Liebe hing. Bald darauf flog das sch&ouml;ne, junge
-Paar dem herrlichen Italien zu, lustig und fr&ouml;hlich wie ein paar
-gl&uuml;ckliche Kinder, welche f&uuml;r einander geschaffen schienen zu heiterer
-Lebenslust. Auch Frau von Ihlefeld folgte ihren Kindern bald nach,
-und an dem h&auml;uslichen Heerde derselben, an dem nur Friede und
-Freude waltete, erbl&uuml;hten der schwer gepr&uuml;ften Frau noch einmal
-frohe, gl&uuml;ckliche Tage. In diesem Hafen konnte sie ausruhen von
-allen St&uuml;rmen, die &uuml;ber sie dahin gezogen, und einen frohen Lebensabend
-genie&szlig;en, den die Liebe ihrer Kinder versch&ouml;nte. Tante Booland
-aber h&uuml;tete stillen und fr&ouml;hlichen Sinnes das kleine Waldhaus
-in Rahmstedt, in dem Esther in jedem Sommer einige Wochen oder
-Monate verlebte, dankbaren Herzens ihrer Kindheit gedenkend und
-all' der wechselvollen Schicksale, welche ihr jetziges Gl&uuml;ck an der
-Seite ihres Bertel begr&uuml;ndete. Die wissenschaftliche Ausbildung,
-welche sie einst gemeinsam mit ihrem Spielkameraden erhalten, bef&auml;higte
-sie jetzt, den Arbeiten Bertels mit Interesse und Verst&auml;ndni&szlig;
-zu folgen, und was sie einst so sehnlich gew&uuml;nscht: ein Knabe zu
-sein, um Antheil nehmen zu k&ouml;nnen an ihres Gespielen ehrenvoller
-Laufbahn, das wurde ihr nun in <em class="gesperrt">der</em> Weise zu Theil, wie es eben
-f&uuml;r ein weibliches Wesen am besten und w&uuml;nschenswerthesten ist.
-Wie fr&uuml;her das Kind Esther, so kannte auch jetzt Bertels Gattin kein
-sch&ouml;neres Ziel und keine bessere Aufgabe, als Huberts Lebensgl&uuml;ck
-und keinen h&ouml;heren Stolz, als den Ruhm ihres Gatten.</p>
-
-
-
-<div class="figcenter" style="width: 50%" >
-<img src="images/endoc.jpg" alt="Cover" style="width: 40%" />
-</div>
-
-
-
-
-
-<h2><a name="Verwaist" id="Verwaist">Verwaist.</a></h2>
-
-
-
-
-<h3 class="no-break"><a name="Erstes_Kapitel" id="Erstes_Kapitel">Erstes Kapitel.</a><br />
-
-Der Abschied.</h3>
-
-
-<p>&raquo;Dacht' ich's doch! Da sitzt sie wieder bei ihren B&uuml;chern und
-lernt, als sollte sie morgen gleich noch ein Examen bestehen!
-O du Nimmersatt, hast du denn immer noch nicht genug Weisheit?&laquo;
-so rief Fanny, ein junges M&auml;dchen von 16 Jahren, indem sie in
-ein gro&szlig;es Zimmer trat, dessen ganze Einrichtung den Charakter
-einer Schulstube trug. Mitten an einem der kahlen Arbeitstische,
-die mit B&uuml;chern und Schreibmaterialien bedeckt waren, neigte sich
-ein anderes junges M&auml;dchen &uuml;ber ihre B&uuml;cher und lie&szlig; sich durch den
-Eintritt Fanny's in ihrer Arbeit wenig st&ouml;ren. Diese aber trat
-hinter den Stuhl der Freundin, schlug ihr neckend das Buch zu,
-und indem sie die Arme um den Hals derselben schlang, fuhr sie
-scheltend fort: &raquo;Nein, Agathe, ich lasse dir keine Ruhe, bis du mit
-mir hinaus in den Garten kommst, wo wir Alle beisammen sind.
-Hier in der abscheulichen Schulstube ist es so dumpf und enge, und
-du bist wieder so bleich, da&szlig; ich es nicht l&auml;nger leide, dich hier sitzen
-zu sehen. Du liebe Gelehrsamkeit, ich d&auml;chte, heute k&ouml;nntest du dir
-wahrlich Ruhe g&ouml;nnen! Du hast uns ja beim Examen Alle durch
-deine Antworten &uuml;berfl&uuml;gelt, und es ist nur eine Stimme dar&uuml;ber,
-da&szlig; du die beste Sch&uuml;lerin der Anstalt bist.&laquo;</p>
-
-<p>Die Angeredete blickte still vor sich hin und sch&uuml;ttelte den Kopf.</p>
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_132" id="Page_132">[Pg 132]</a></span></p>
-<p>&raquo;Du glaubst es nicht, Agathe?&laquo; rief Fanny lebhaft. &raquo;So geh'
-und frage alle Lehrer, besonders Herrn Lobner; da wirst du erfahren,
-ob ich Recht habe! Aber statt da&szlig; du dich dar&uuml;ber freuen solltest,
-machst du so gro&szlig;e, traurige Augen, da&szlig; mir wahrhaftig selbst ganz
-bange dabei wird. Du bist doch gar zu ernst f&uuml;r deine 16 Jahre,
-M&auml;dchen!&laquo;</p>
-
-<p>Agathe seufzte, und Thr&auml;nen traten ihr in das Auge. &raquo;Kann
-ich daf&uuml;r, wenn ich ernster bin, als all' ihr andern?&laquo; sagte sie sanft.
-&raquo;Ist nicht auch meine Zukunft ernst und tr&uuml;be, und mu&szlig; ich da nicht
-doppelt eifrig sein, mir so viel Kenntnisse, als m&ouml;glich, zu erwerben?
-Was soll denn aus mir werden, wenn ich mir nicht selbst in der
-Welt forthelfen kann? Ich habe ja keinen Vater, ach und jetzt auch
-keine Mutter mehr, die f&uuml;r mich sorgt, wie du, beste Fanny! Ach
-da&szlig; <em class="gesperrt">sie</em> noch lebte!&laquo;</p>
-
-<p>Hei&szlig;e Thr&auml;nen st&uuml;rzten bei diesen Worten aus Agathes Augen,
-und Fanny zog die schluchzende Freundin liebevoll an ihr Herz und
-strich ihr sanft &uuml;ber das dunkle Haar. &raquo;Du sollst ja in dem Hause
-deines Onkels eine zweite Heimath finden, liebe Agathe!&laquo; sprach sie
-tr&ouml;stend. &raquo;Sei doch guten Muthes; deine Zukunft wird sich gewi&szlig;
-besser gestalten, als du jetzt f&uuml;rchtest!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O, bei meinem Onkel, Fanny,&laquo; schluchzte Agathe; &raquo;das ist es
-ja eben, wovor ich mich f&uuml;rchte! Ich kenne weder ihn, noch die
-Tante, und obwohl meine Mutter immer sehr gut von ihrem Bruder
-sprach, so ist er mir doch ein Fremder, und das Herz schl&auml;gt mir so
-unaussprechlich bange bei der Aussicht, in jenem Hause zu leben!
-Gott mag es mir verzeihen; denn gewi&szlig; sind solche Gedanken eine
-gro&szlig;e S&uuml;nde, und ich sollte lieber dankbar daf&uuml;r sein, da&szlig; sie die
-arme Waise bei sich aufnehmen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Du bist noch zu ungl&uuml;cklich &uuml;ber den Tod deiner guten Mutter
-und siehst alle Dinge deshalb so tr&uuml;be und schwer an, liebes Herz,&laquo;<span class="pagenum"><a name="Page_133" id="Page_133">[Pg 133]</a></span>
-tr&ouml;stete Fanny; Agathe aber sch&uuml;ttelte wehm&uuml;thig den Kopf und
-weinte still noch eine Weile am Herzen der Freundin. Endlich aber
-richtete sie sich auf, und getrost die Blicke zum Himmel aufschlagend,
-sprach sie ruhig: &raquo;Wie der liebe Gott es will, so mag es geschehen!
-Diese Thr&auml;nen haben mein Herz erleichtert; nun ist mir wohl. Habe
-Dank, meine liebe Fanny, du treue Seele, da&szlig; ich mich gegen dich
-aussprechen durfte. Aber auch von dir soll ich ja scheiden, o von
-allem, was mir lieb und theuer ist!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wir wollen uns recht oft schreiben, Agathe, das wird ein neuer
-Genu&szlig; sein, den uns die Freundschaft giebt,&laquo; rief Fanny heiter.
-&raquo;Aber nun komm' in den Garten; die Luft wird dir gut thun. Von
-dem vielen Lernen wirst du nur noch schwerm&uuml;thiger.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;D&uuml;rfte ich nur noch hier in der Pension bleiben, bis ich so weit
-ausgebildet w&auml;re, um als Erzieherin mich n&uuml;tzlich zu machen!&laquo; seufzte
-Agathe, der Freundin folgend. &raquo;Mein gr&ouml;&szlig;ter Kummer w&auml;re es,
-k&ouml;nnte ich beim Onkel meine Studien nicht fortsetzen, was ich fast
-f&uuml;rchte.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Warte es doch nur erst ruhig ab, du kleinm&uuml;thiges Kind! Warum
-machst du dir nur im Voraus solche Skrupel?&laquo; scherzte Fanny
-und nach und nach gelang es ihr wirklich, die traurige Freundin zu
-erheitern und ihr die Zukunft in weniger d&uuml;stern Farben erscheinen
-zu lassen. Traulich plaudernd gingen die beiden jungen M&auml;dchen
-in dem Garten auf und nieder, bis die Hausglocke sie zum Abendbrod
-rief, und sie im Verein mit den &uuml;brigen Sch&uuml;lerinnen der
-Anstalt dem Hause zueilten.</p>
-
-<p>&raquo;Kommst du mit mir, Agathe, Herrn Lobner Lebewohl zu sagen?&laquo;
-fragte am andern Morgen Fanny, indem sie schnell bei ihrer Freundin
-eintrat. &raquo;Sieh, diesen sch&ouml;nen Blumenstrau&szlig; und die reizende
-Tasse hat mir Mama f&uuml;r ihn geschickt; ich hoffe, er wird sich freuen.
-Hast du auch etwas f&uuml;r ihn, Agathe?&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_134" id="Page_134">[Pg 134]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Ich? Nein, Fanny. Was k&ouml;nnte ich armes M&auml;dchen bringen;
-ich habe ja nichts!&laquo; sagte Agathe traurig.</p>
-
-<p>&raquo;O dann gieb du ihm die Blumen, bestes Herz!&laquo; dr&auml;ngte Fanny,
-Agathen den Strau&szlig; in die Hand dr&uuml;ckend; diese aber gab ihn der
-Freundin sanft zur&uuml;ck und sagte leise: &raquo;Nein, Fanny, ich danke
-dir f&uuml;r deine Liebe. Aber ich denke, da&szlig; unser liebster Lehrer mir
-auch ohne dies sein freundliches Andenken bewahren wird, wenn ich
-ihm lieb geworden bin, und w&auml;re dies nicht der Fall, so wird ihm
-mein Geschenk auch keine Freude machen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;So schenke ich ihm auch nichts!&laquo; rief Fanny &auml;rgerlich.</p>
-
-<p>&raquo;Das w&auml;re sehr unrecht, da deine Mutter ihm dies Geschenk
-bestimmt,&laquo; sagte Agathe. &raquo;Komm, komm, es wird ihm gewi&szlig; Freude
-machen.&laquo;</p>
-
-<p>Bald traten die beiden jungen M&auml;dchen in das Zimmer des
-ersten Lehrers der Anstalt, Herrn Lobner, einem zwar noch jungen
-Manne, der sich aber durch seinen vortrefflichen Unterricht, wie durch
-die milde und doch ernste Weise, in welcher er den Sch&uuml;lerinnen
-gegen&uuml;ber trat, die Liebe und Verehrung aller dieser jungen Herzen
-erworben hatte.</p>
-
-<p>Mit Freude und R&uuml;hrung empfing er den Dank der beiden
-jungen M&auml;dchen, welche ihm jetzt schon Lebewohl sagten, obwohl sie
-noch einige Tage in der Pension blieben; aber seinen Unterricht
-sollten sie jetzt nicht mehr genie&szlig;en. Der Tag ihrer Einsegnung
-lag vor ihnen und mit diesem die Trennung von dem Hause, das
-besonders Agathen unbeschreiblich lieb geworden war.</p>
-
-<p>Milde ermahnende Worte gab Herr Lobner den jungen M&auml;dchen
-mit auf den Weg: die lebhafte, etwas leichtsinnige Fanny ermahnte
-er zu Ernst und gr&ouml;&szlig;erer Besonnenheit; der stillen Agathe
-sprach er Muth und heitere Zuversicht in die Seele. Mit unbeschreiblicher
-Wehmuth ruhte sein Auge auf der einsamen Waise, und<span class="pagenum"><a name="Page_135" id="Page_135">[Pg 135]</a></span>
-wie segnend legte er seine Hand auf das Haupt des armen Kindes.
-Fanny's Geschenk nahm er freundlich dankend an, dann ergriff er
-Agathes Hand, und sein kleines Heft von dem Tische nehmend,
-sagte er bewegt: &raquo;Willst du mir wohl diese Arbeit als Andenken
-zur&uuml;cklassen, Agathe? Es ist dein letzter Aufsatz; ich m&ouml;chte mir ihn
-zur Erinnerung an meine flei&szlig;igste Sch&uuml;lerin aufbewahren.&laquo;</p>
-
-<p>Agathe err&ouml;thete tief und vermochte nicht zu antworten; aber
-mit beiden H&auml;nden des theuren Lehrers Hand ergreifend, dr&uuml;ckte sie
-dieselben inbr&uuml;nstig an ihre Brust; dann eilte sie schnell zum Zimmer
-hinaus, denn Freude und Wehmuth best&uuml;rmten ihr Herz so m&auml;chtig,
-da&szlig; sie ihre Thr&auml;nen nicht l&auml;nger zur&uuml;ck halten konnte.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Palmsonntag war gekommen, und feierlich zitterten die Glockent&ouml;ne
-durch die sonnige Fr&uuml;hlingsluft. Drinnen im Gotteshause
-stand and&auml;chtig eine Schaar junger M&auml;dchen und Knaben an den
-Stufen des festlich geschm&uuml;ckten Altares und empfing die Weihe als
-Christen. Mit ihren eigenen Lippen sprachen sie jetzt das Gel&uuml;bde
-aus, das sie in den Bund der Gemeinde Christi einf&uuml;hrte, und tief
-bewegt erklang der Segen des Geistlichen am Schlu&szlig; der Feier.</p>
-
-<p>Auch Agathe war unter der Zahl jener festlich gekleideten M&auml;dchen,
-welche jetzt vom Altar hinweg gingen, und die Augen mit dem
-Tuche verh&uuml;llend, sah sie nicht, wie sie einsam auf ihrem Stuhle
-zur&uuml;ck blieb, als Freunde und Verwandte herbei kamen, die Confirmanden
-aus der Kirche zu f&uuml;hren. &mdash; &raquo;Mein Vater und meine
-Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf!&laquo; das waren
-die Worte, die der Geistliche ihr als Zuspruch mit in die Welt gegeben,
-und tief ersch&uuml;ttert f&uuml;hlte sie die ganze Gewalt derselben.
-Sie hatte niemanden, als Gott im Himmel, den Vater der Waisen,
-an dem sie halten konnte; aber war Er nicht der festeste Stab, der
-treuste Helfer in Noth und in Kummer?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_136" id="Page_136">[Pg 136]</a></span></p>
-
-<p>Still und getrost wollte das einsame Kind eben die Kirche verlassen,
-den Gef&auml;hrtinnen folgend, da f&uuml;hlte sie eine Hand auf ihrer
-Schulter, und eine sanfte Stimme sprach: &raquo;Gott segne dich, mein
-theures Kind!&laquo; Agathe wandte sich &uuml;berrascht um und blickte in das
-treue Auge ihres Lehrers, welcher ihr innig die Hand dr&uuml;ckte und
-dann tief bewegt an ihrer Seite blieb. Erst am Ausgange der Kirche
-trennte er sich von dem jungen M&auml;dchen; denn hier wartete dieser
-ein zweites Herz, das treu und liebevoll f&uuml;r sie schlug. Es war die
-alte Anne Sommer, die Dienerin ihrer Mutter, welche Agathe seit
-ihrer fr&uuml;hesten Jugend gekannt, und dem einzigen Kinde ihrer
-theuren Herrin stets die w&auml;rmste Liebe bewahrt hatte. Frau Sommer
-war die Wittwe eines Corporals und eine gar wunderliche Alte;
-gro&szlig; und kr&auml;ftig von Gestalt, und doch so grau und runzlich wie
-ein alter verwitterter Ulmenbaum. Aber ihre Gutm&uuml;thigkeit und
-ihre frische Laune machten sie zum Liebling aller ihrer Bekannten,
-und trotz ihrer etwas auffallenden Manieren konnte niemand der
-alten Soldatenfrau b&ouml;se sein. Agathe hing mit unendlicher Z&auml;rtlichkeit
-an dieser treuen Seele und lie&szlig; sich willig von ihr auf offner
-Stra&szlig;e herzen und k&uuml;ssen.</p>
-
-<p>&raquo;Mein Herzchen, mein V&ouml;gelchen, meine arme, kleine Blume!&laquo;
-rief die Alte ganz hingerissen von Z&auml;rtlichkeit und streichelte Agathes
-bleiche Wangen mit ihren gro&szlig;en, rauhen H&auml;nden; dann schlang sie
-wieder ihre Arme um des M&auml;dchens feine Gestalt, so da&szlig; diese ganz
-in den Kleidern der lebhaften Alten verschwand.</p>
-
-<p>&raquo;Ach Anne, k&ouml;nntest du wenigstens mit mir ziehen, wenn ich
-hier fort gehe, dann f&uuml;rchtete ich mich nicht so sehr,&laquo; seufzte Agathe.
-&raquo;Aber so allein in die fremde Stadt, zu diesen fremden Verwandten;
-ach Anne, es dr&uuml;ckt mir fast das Herz ab!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nur Courage, mein Goldk&auml;ferchen, nur immer stramm dem
-<span class="pagenum"><a name="Page_137" id="Page_137">[Pg 137]</a></span>Feinde in's Auge gesehen, und Car&eacute;e formirt, da&szlig; er dir nichts anhaben
-kann!&laquo; sagte die Alte fest und machte eine Bewegung, als
-schultre sie das Gewehr. &raquo;Wir Soldatenkinder f&uuml;rchten uns vor
-keinem Popanz, und k&auml;me er selbst in Gestalt deiner Frau Tante!
-&raquo;Nur nicht &auml;ngstlich!&laquo; das war meines guten Corporals Spr&uuml;chwort,
-und das hat ihm zuletzt denn auch den Soldatentod gebracht, der
-alten braven Seele, Gott segne ihn!&laquo; &raquo;Wer wei&szlig;, wer wei&szlig;, mein
-V&ouml;gelchen, wie die Sachen kommen!&laquo; fuhr sie dann nach einer
-Pause geheimni&szlig;voll fort, und in ihrem Kopfe zog Plan auf Plan
-vor&uuml;ber, wie sie es wohl bewerkstelligen k&ouml;nnte, ihrem lieben Kinde
-nach Leipzig zu folgen, wohin dieses in wenig Tagen abreiste.</p>
-
-<p>Noch einmal betete Agathe an den Gr&auml;bern ihrer theuren Eltern,
-von denen sie mit traurigem Herzen Abschied nahm; noch einmal
-umarmte sie ihre Schulfreundinnen, und vor allem die treue Fanny,
-und noch einmal blickte sie in die treuen Augen ihres geliebten
-Lehrers, &mdash; dann f&uuml;hrte der fortrollende Wagen die junge Waise
-hinaus aus den lieben, bekannten Umgebungen, hinaus in die weite,
-fremde Welt. &mdash; Agathe hatte sich weinend in die Ecke des Wagens
-gedr&uuml;ckt, um sich den Blicken der Mitreisenden zu entziehen; da
-h&ouml;rte sie &auml;ngstlich ihren Namen rufen und erkannte in der Morgend&auml;mmerung
-die gro&szlig;e Gestalt ihrer treuen Anne, welche mit m&auml;chtigen
-Schritten neben dem Wagen herlief, der gem&auml;chlich &uuml;ber das
-Steinpflaster polterte.</p>
-
-<p>&raquo;Hier, hier, mein Liebling, mein Goldkind!&laquo; rief Frau Sommer
-athemlos und warf Agathen ein P&auml;ckchen in den Wagen. &raquo;Hier
-nimm das hinein in dein Nestchen, mein armer, kleiner Vogel; es
-sind Pfefferkuchen, die du so gern knupperst; die alte Anne hat sie
-dir gebacken, da&szlig; du eine kleine Gesellschaft unterwegs hast. Der
-liebe Gott gehe mit dir, mein Herzblatt, mein s&uuml;&szlig;es, armes Kindchen!
-Sei nicht gar zu traurig, sollst sehen, ich bin bald wieder bei
-dir. Adieu, adieu, mein Herzchen; beh&uuml;t dich Gott, beh&uuml;t dich Gott!&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_138" id="Page_138">[Pg 138]</a></span></p>
-
-<p>Die letzten S&auml;tze rief die treue Seele unter heftigen Schluchzen
-in den Wagen hinein, an dessen Fenster sie sich fest angeklammert
-hatte, und trotz des schnelleren Fahrens trabte sie athemlos noch eine
-Weile nebenher, bis endlich der Kutscher &uuml;ber das alte Weibergewinsel
-schimpfte und die Pferde zu schnellem Trabe anfeuerte.
-Da nickte die Alte ihrem Lieblinge noch einmal zu; die Finger l&ouml;sten
-sich vom Kutschenschlage, und mit gefalteten H&auml;nden blickte Anne
-Sommer dem Wagen nach, ein Gebet f&uuml;r das Wohl der armen
-Waise auf den Lippen.</p>
-
-
-
-<hr class="chap" />
-
-
-<h3 class="no-break"><a name="Zweites_Kapitel" id="Zweites_Kapitel">Zweites Kapitel.</a><br />
-
-Die neue Heimath.</h3>
-
-
-<p>Es war schon v&ouml;llig dunkel geworden, als Agathe in Leipzig
-ankam, dem Orte ihrer Bestimmung, und die Fahrt w&auml;hrend des
-ganzen Tages in dem engen Wagen war ihr zuletzt so l&auml;stig geworden,
-da&szlig; sie sich freute, endlich am Ziele zu sein, so bange ihr auch
-das Herz vor Erwartung klopfte. &mdash; Vor einem alten d&uuml;stern Eckhause
-in der Hainstra&szlig;e hielt der Wagen, und schl&auml;frig kam der
-Hausknecht mit der Laterne herbei, dem Kutscher zu leuchten, der
-hier einige Passagiere seines Lohnfuhrwerkes abzusetzen hatte. Die
-engen, finstern Stra&szlig;en mit den hohen H&auml;usern, deren Giebel und
-Erker weit vorsprangen und dem Himmel noch weniger Einblick
-gew&auml;hrten, bedr&uuml;ckten Agathes Herz unbeschreiblich. Sie schaute
-in der v&ouml;llig fremden Umgebung &auml;ngstlich um sich; da h&ouml;rte sie
-pl&ouml;tzlich, wie eine grobe Stimme fragte: &raquo;Is Freiln Wiggers mit
-gekommen?&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_139" id="Page_139">[Pg 139]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Ja ja, hier ist sie!&laquo; rief Agathe schnell und h&auml;tte den schmutzigen
-Lasttr&auml;ger vor Entz&uuml;cken um den Hals fallen m&ouml;gen, da&szlig; er unter
-all' den fremden Menschen sich ihrer annehmen wollte. Schnell
-sprang sie aus dem Wagen, und der Kutscher reichte den kleinen
-Koffer des jungen M&auml;dchens herab, welchen der gro&szlig;e Packtr&auml;ger
-wie einen leichten Ball auffing.</p>
-
-<p>&raquo;Is das alles?&laquo; fragte er dabei verwundert, als Agathe sich
-zum Fortgehen anschickte. Auf deren bejahende Antwort blickte der
-Mann ordentlich mitleidig auf den kleinen Koffer, und gab einem
-Rollwagen, der neben ihm stand, einen Tritt, da&szlig; er zur Seite
-fuhr. &raquo;Na, der war von Ueberflu&szlig;!&laquo; murmelte er dabei lachend und
-rief einen Knecht herbei, der den Karren bis zu seiner R&uuml;ckkehr in
-Verwahrung nahm. Dann schwang er den Koffer auf die Schulter,
-und schritt schnell vor Agathen her, Stra&szlig;e auf, Stra&szlig;e ab, bis
-sie vor einem Hause des Thomaskirchhofes Halt machten.</p>
-
-<p>&raquo;Gehen Sie nur da 'nauf, liebes Mamsellchen,&laquo; sagte er auf
-die erleuchtete Treppe deutend. &raquo;Se kennen nich fehlen, die erste
-Th&uuml;r rechts is es! Ich mu&szlig; mit dem Kofferchen die Hintertreppe
-rauf, sonst giebts e Donnerwetter da oben!&laquo;</p>
-
-<p>Er schob gr&uuml;&szlig;end die M&uuml;tze zur Seite und verschwand im dunkeln
-Hofraum; Agathe aber stand bald vor der bezeichneten Th&uuml;r,
-an welcher der Name Niedrer in goldner Schrift zu lesen war. Ach
-diese Th&uuml;r allein trennte sie ja jetzt von der neuen Heimath! Was
-mochte alles hinter derselben auf sie warten; wie mochten diejenigen
-ihr entgegen treten, die ihr nun Vater und Mutter ersetzen sollten!
-Noch einmal wandte sie ihr Auge zu dem empor, der ihr Muth und
-Hoffnung gegeben, wenn sie verzagen wollte, und getrost streckte sie
-ihre Hand nach dem verh&auml;ngni&szlig;vollen Klingelzuge aus.</p>
-
-<p>Eine nette, freundliche Dienerin &ouml;ffnete die Th&uuml;r, und Agathe
-trat in den Vorflur. Auf ihre Frage nach Onkel und Tante sagte<span class="pagenum"><a name="Page_140" id="Page_140">[Pg 140]</a></span>
-das M&auml;dchen verlegen, der Herr sei verreist, und Madame eben
-im Begriff, in Gesellschaft zu gehen; sie wolle das Fr&auml;ulein aber
-anmelden. Agathe ging es wie ein Frost durch die Glieder; das
-war ein sonderbarer Empfang. Sie hatte sich so uns&auml;glich danach
-gesehnt, diesen Verwandten an das Herz zu sinken, diesen guten
-Menschen, die sich der armen Waise erbarmten; aber konnte sie
-das nun? Mit klopfendem Herzen folgte sie endlich der zur&uuml;ckkehrenden
-Dienerin, welche sie in ein elegantes Zimmer f&uuml;hrte, mit der
-Weisung, sich etwas zu gedulden, Madame werde gleich kommen.</p>
-
-<p>Agathe harrte bangen Herzens; die Erwartung wollte ihr den
-Athem fast rauben. Endlich ging die Th&uuml;r auf, und eine gro&szlig;e,
-stattliche Dame in eleganter Toilette trat rauschend in das Zimmer.
-Sie blieb einen Augenblick stehen, dann streckte sie dem jungen
-M&auml;dchen ihre mit vielen Ringen bedeckte Hand hin und sagte mit
-etwas schleppendem, affectirten Tone: &raquo;So, bist du da? Guten
-Tag, liebe.... Wie hei&szlig;t du doch?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Agathe, liebe Tante!&laquo; fl&uuml;sterte diese &auml;ngstlich und kam zaghaft
-herbei, der Dame die dargebotene Hand zu k&uuml;ssen. Doch noch hatte
-sie sich der Tante nicht ganz gen&auml;hert, als sich pl&ouml;tzlich ein w&uuml;thendes
-Hundegebell erhob, und ein kleiner Bologneserhund z&auml;hnefletschend
-auf Agathe losfuhr. Erschrocken sprang diese einige Schritte zur&uuml;ck;
-die Tante aber lachte laut auf und hob den kleinen Hund auf den
-Arm, indem sie ihn herzte und k&uuml;&szlig;te.</p>
-
-<p>&raquo;Du spa&szlig;hafter, kleiner Bursche, willst wohl nicht leiden, da&szlig;
-man deiner Herrin die Hand k&uuml;&szlig;t?&laquo; rief sie, den Hund von Neuem
-liebkosend. &raquo;Denkst, du hast allein das Recht dazu, mein kleiner
-Liebling? Soll dich wohl wieder gut machen f&uuml;r den Kummer, den
-ich dir verursacht, nicht wahr, kleines Bellochen? Nun so komm,
-wei&szlig;t ja, wo's was Gutes f&uuml;r dich giebt, du Schelm!&laquo;</p>
-
-<p>Dabei ging sie nach einem Glasschranke, und holte eine Hand<span class="pagenum"><a name="Page_141" id="Page_141">[Pg 141]</a></span>
-voll des sch&ouml;nsten Confectes heraus, das sie dem Hunde darbot.
-Dieser beschnupperte es, w&auml;hlte sich einige St&uuml;cke davon aus, und
-lie&szlig; sich dann beruhigt nach einem zierlichen Korbe tragen, in welchem
-von rothseidenen Betten sein Lager bereitet war, &uuml;ber das sich ein
-ebensolcher Baldachin w&ouml;lbte.</p>
-
-<p>Agathe hatte all' dem staunend und mit weit ge&ouml;ffneten Augen
-zugeschaut; sie glaubte zu tr&auml;umen. Die Tante jedoch unterbrach
-ihre Reflexionen, indem sie sich jetzt wieder zu ihr wandte und sagte:
-&raquo;Du siehst, ich habe den kleinen Kerl etwas verw&ouml;hnt; aber er
-ist mir so lieb, da&szlig; ich ihm nichts verweigern kann. Ich hoffe, ihr
-werdet auch gute Freunde werden; denn ich will ja meinen kleinen
-Liebling deiner speciellen Sorge anvertrauen. Meine alte Cousine,
-die ihn bis jetzt versorgte, versteht ihn nicht richtig zu behandeln;
-deshalb ist es mir ganz lieb, da&szlig; du zu uns kommst! Aber jetzt
-mu&szlig; ich fort, liebes Kind,&laquo; schlo&szlig; die Dame, einen prachtvoll t&uuml;rkischen
-Shawl um die Schultern schlingend; &raquo;la&szlig; dir in der Leutestube
-etwas zu essen geben, wenn du Hunger hast!&laquo;</p>
-
-<p>Dabei ging sie mit affectirt vornehmer und majest&auml;tischer Haltung
-an Agathen vor&uuml;ber, und nickte ihr einen leichten Gru&szlig; zu;
-dann war sie fort. Agathe stand lange wie gel&auml;hmt noch immer an
-derselben Stelle und blickte der Tante mit starren, verwunderten
-Augen nach. Sie also war es, die ihr die Mutter ersetzen sollte!
-Wieder lief es dem jungen M&auml;dchen wie Eis durch die Adern, und
-voll Schrecken &uuml;berdachte sie die Worte, welche sie geh&ouml;rt hatte.
-Unfreundlich war die Tante nicht gewesen, das mu&szlig;te sich Agathe
-gestehen; aber doch hatte sie ihr nicht ein Wort gesagt, das sie
-freundlich im Hause willkommen gehei&szlig;en, nicht eines, das ihr warm
-zum Herzen gesprochen h&auml;tte. &raquo;Ich will meinen kleinen Liebling
-deiner Sorge anvertrauen; deshalb ist es mir ganz lieb, da&szlig; du zu
-uns kommst!&laquo; Das war eigentlich der Inhalt der Rede, die sie<span class="pagenum"><a name="Page_142" id="Page_142">[Pg 142]</a></span>
-begr&uuml;&szlig;t hatte. &raquo;Also Hundew&auml;rterin!&laquo; sprach Agathe leise vor sich
-hin und blickte nach der Wiege des Schooshundes. &raquo;Deshalb bin
-ich hier willkommen, nur deshalb!&laquo; &mdash; &raquo;Aber nein, ich thue der
-Tante gewi&szlig; Unrecht,&laquo; dachte sie dann wieder; &raquo;ich bin so reizbar,
-so empfindlich, hatte einen so anderen Empfang erwartet! Es wird
-gewi&szlig; anders, wenn ich erst hier bekannt bin. Die Tante ist gewi&szlig;
-gut, sonst w&auml;re sie zu dem Hunde auch nicht freundlich.&laquo; Lange
-stand das junge M&auml;dchen und &uuml;berdachte in dieser Weise alles, was
-sie geh&ouml;rt und gesehen; da endlich &ouml;ffnete sich die Th&uuml;r, und ein
-altes, gutes Gesicht blickte herein.</p>
-
-<p>&raquo;Willst du nicht etwas Warmes genie&szlig;en, liebes Kind?&laquo; sprach
-eine sanfte Stimme, und Agathe sah nun eine kleine, verwachsene
-Frauengestalt neben sich, deren unregelm&auml;&szlig;iges, altes Gesicht mit
-gewinnender Freundlichkeit zu dem jungen M&auml;dchen aufblickte.</p>
-
-<p>&raquo;Ich bin die Cousine, liebes Kind!&laquo; sprach sie zutraulich, Agathes
-fragende Blicke verstehend. &raquo;Ich besorge das Hauswesen und habe
-dir etwas Warmbier zurecht gemacht. Ich denke, es soll dir gut
-thun. Willst du mit mir kommen?&laquo;</p>
-
-<p>Agathe folgte ihrer gutherzigen F&uuml;hrerin nach einem kleinen
-Zimmer, das neben der K&uuml;che lag, und das ganz h&uuml;bsch und behaglich
-aussah, so einfach auch die Einrichtung desselben war. Ein
-kleiner, gedeckter Tisch stand am Fenster, und bald f&uuml;llte der Duft
-des w&uuml;rzigen Warmbiers die Stube und erregte in Agathen lebhafte
-E&szlig;lust, denn sie hatte den Tag &uuml;ber wenig genossen. Die Cousine
-leistete ihr Gesellschaft, und gem&uuml;thlich sa&szlig;en sie in traulichem
-Geplauder beisammen. Agathe war gl&uuml;cklich, ein Wesen hier zu
-finden, das ihr Theilnahme bewies, und gegen das sie sich aussprechen
-konnte.</p>
-
-<p>&raquo;Ja, es ist ein wunderliches Haus, in das du hier eintrittst,
-<span class="pagenum"><a name="Page_143" id="Page_143">[Pg 143]</a></span>liebes Kind!&laquo; sagte die Cousine seufzend, nachdem Agathe ihre Verwunderung
-&uuml;ber den sonderbaren Empfang ausgesprochen hatte;
-&raquo;du wirst dich noch &uuml;ber vieles verwundern.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber der Onkel, liebe Cousine, wie ist denn der?&laquo; sprach das
-junge M&auml;dchen gespannt.</p>
-
-<p>&raquo;Mein Vetter! Hm, der m&ouml;chte freilich wohl manches anders
-haben!&laquo; erwiederte die Kleine; &raquo;aber was kann das helfen! Er ist
-ein guter, lieber Mann; aber seine Schw&auml;che erlaubt ihm nicht, der
-Frau zu wehren, wenn sie launisch und b&ouml;se ist, und so bleibt es
-beim Alten. Sie regiert, er gehorcht, das ist das Ende von allen
-Dingen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wo ist er denn? Ich hatte gehofft, ihn sogleich kennen zu lernen!&laquo;
-seufzte Agathe.</p>
-
-<p>&raquo;Mein Vetter freute sich auch darauf; aber die Cousine brauchte
-allerlei f&uuml;r das Gesch&auml;ft; da mu&szlig;te er fort, er mochte wollen oder
-nicht!&laquo; sagte Jene. &raquo;Aber morgen fr&uuml;h kommt er zur&uuml;ck.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;F&uuml;r das Gesch&auml;ft? Was denn f&uuml;r ein Gesch&auml;ft?&laquo; entgegnete
-Agathe. &raquo;Ich glaubte, der Onkel sei Buchhalter des Hauses F. und
-habe selbst kein Gesch&auml;ft?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Er nicht, aber sie!&laquo; sagte die Cousine. &raquo;Es ist ein Putzgesch&auml;ft,
-das Madame als M&auml;dchen schon gehabt hat, und da es ihr selbst
-keine M&uuml;he macht, aber Geld einbringt, so setzt sie es fort: denn
-Geld braucht sie zu ihrem Staate mehr, als er ihr geben kann.
-Unter den N&auml;therinnen wirst du nun wohl auch dein Pl&auml;tzchen bekommen,
-liebe Agathe; Madame hat schon davon gesprochen.&laquo; &raquo;Ich
-soll Putzmacherin werden?&laquo; rief Agathe auffahrend, und helle Gluth
-bedeckte ihr bleiches Gesicht. &raquo;Wenigstens wei&szlig; ich es nicht anders!&laquo;
-entgegnete die Cousine achselzuckend.</p>
-
-<p>Agathen entsank der Bissen Brod, den sie zum Munde f&uuml;hrte,
-und Thr&auml;nen st&uuml;rzten aus ihren Augen. &raquo;O meine sch&ouml;nen Tr&auml;ume!&laquo;
-rief sie traurig und bedeckte das Gesicht mit den H&auml;nden. Die gute<span class="pagenum"><a name="Page_144" id="Page_144">[Pg 144]</a></span>
-Alte blickte mitleidig auf das junge M&auml;dchen und seufzte leise, dann
-aber suchte sie ihr Muth und Trost zuzusprechen. Sie irre sich
-vielleicht; die Tante habe es vielleicht ganz anders im Sinne, als sie
-sich denke, und am Ende k&ouml;nne es einem jungen M&auml;dchen ja nicht
-schaden, wenn sie etwas Putzmachen lerne; es sei eine gar gute und
-n&uuml;tzliche Zugabe f&uuml;r's Leben. Agathe war gern bereit, Trostgr&uuml;nden
-Geh&ouml;r zu leihen, auch konnte sie den vern&uuml;nftigen Worten ihrer
-Gef&auml;hrtin nicht so ganz Unrecht geben. Sie sprachen noch eine lange
-Zeit mit einander; endlich aber fielen Agathen die Augen vor M&uuml;digkeit
-zu, und die Cousine f&uuml;hrte sie in ein Nebenzimmerchen, in welchem
-au&szlig;er wenigen Meubel zwei Betten standen.</p>
-
-<p>&raquo;Wir schlafen hier zusammen, liebes Kind,&laquo; sagte die gute Alte
-freundlich; dann half sie dem jungen M&auml;dchen beim Auskleiden,
-und trotz der vielen Gedanken, welche auf Agathe einst&uuml;rmten, schlo&szlig;
-der Schlaf dennoch bald ihr m&uuml;des Auge, und f&uuml;hrte sie zur&uuml;ck in
-den lieben, sch&ouml;nen Kreis, den sie verlassen. &mdash;</p>
-
-
-
-<hr class="chap" />
-
-
-<h3 class="no-break"><a name="Drittes_Kapitel" id="Drittes_Kapitel">Drittes Kapitel.</a><br />
-
-Erster Morgen.</h3>
-
-
-<p>Als Agathe am folgenden Morgen erwachte, konnte sie sich lange
-Zeit gar nicht besinnen, wo sie denn sei und was mit ihr vorgegangen.
-Das freundliche Gesicht der alten Cousine, das zur Th&uuml;r
-herein schaute, rief ihr jedoch sogleich alles Erlebte zur&uuml;ck, und schnell
-erhob sie sich, um sich anzukleiden.</p>
-
-<p>&raquo;Der Onkel ist soeben zur&uuml;ck gekommen,&laquo; sagte die Cousine.
-&raquo;Er erwartet dich vorn im Zimmer; eile dich, liebes Kind!&laquo;</p>
-
-<p>Agathe kleidete sich so schnell als m&ouml;glich an, und bald hatte sie
-ihre Toilette beendet. Sie trug noch Trauerkleider; denn ihre
-Mutter war erst k&uuml;rzlich gestorben.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_145" id="Page_145">[Pg 145]</a></span></p>
-
-<p>In dem kleinen Zimmer nebenan, dessen Th&uuml;r Agathe z&ouml;gernd
-&ouml;ffnete, kam ihr der Onkel, ein kleiner, starker Mann, mit ausgebreiteten
-Armen entgegen.</p>
-
-<p>&raquo;Sei mir willkommen, mein liebes Kind!&laquo; sagte er sanft und
-zog das junge M&auml;dchen in seine Arme. Agathe schmiegte sich bewegt
-und gl&uuml;cklich an die Brust des lieben Mannes, den sie zwar noch
-nie gesehen, aber der sie so herzlich begr&uuml;&szlig;te, als sie nur hoffen
-und w&uuml;nschen konnte. Nun stellte dieser das junge M&auml;dchen vor
-sich hin und betrachtete sie pr&uuml;fend von oben bis unten.</p>
-
-<p>&raquo;Ganz wie meine liebe, gute Schwester, als sie so jung war!&laquo;
-rief er dann bewegt und streichelte Agathes Wange. Ganz ihre lieben,
-blauen Augen und das weiche, braune Haar! &raquo;Sei nur auch so
-fromm und brav, als sie es war, mein Kind, so wird es dir gut
-gehen.&laquo; Das junge M&auml;dchen k&uuml;&szlig;te die Hand das Onkels, dieser aber
-sagte etwas hastig: &raquo;Jetzt komm aber zu meiner Frau, sie erwartet
-dich, und &mdash; und wenn sie vielleicht manchmal etwas streng gegen
-dich ist, so denke immer, sie meint es gut mit dir, und verliere den
-Muth nicht; es wird alles schon ganz gut werden.&laquo; Agathe folgte dem
-Onkel und fand in dem Zimmer, in welchem die Tante sie gestern
-empfangen, einen reich besetzten Fr&uuml;hst&uuml;ckstisch, an dem Madame
-in Gesellschaft ihres Hundes das Fr&uuml;hst&uuml;ck einnahm.</p>
-
-<p>Agathes freundlichen Morgengru&szlig; erwiederte sie mit leichtem
-Kopfnicken; dann aber wandte sie sich zu ihrem Gatten und sagte
-verdrie&szlig;lich: &raquo;Du l&auml;&szlig;t mich lange warten, Albert! Ich d&auml;chte,
-Agathe konnte zu dir kommen, statt da&szlig; du sie aufsuchtest!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nein, liebe Marie, ich hatte sie gestern bei ihrer Ankunft nicht
-begr&uuml;&szlig;en k&ouml;nnen, darum ging ich gleich jetzt zu ihr,&laquo; sagte Herr Niedrer
-sanft. &raquo;Uebrigens brauchtest du ja nicht mit dem Fr&uuml;hst&uuml;ck auf uns
-zu warten.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Das habe ich auch nicht! Aber du wei&szlig;t, da&szlig; ich Bellochen<span class="pagenum"><a name="Page_146" id="Page_146">[Pg 146]</a></span>
-die Milch nicht gern selbst gebe, das ist deine Sache!&laquo; sagte Madame
-&auml;rgerlich. &raquo;Das arme, kleine Thier stirbt fast vor Hunger.&laquo;</p>
-
-<p>Der gehorsame Gatte ergriff schnell die zierliche Schale mit
-Milch, blies, da&szlig; sie sich abk&uuml;hlte, und neigte sich dann zu dem
-Hunde herab, der knurrend den Morgentrunk zu sich nahm. Den
-Kuchen, aus welchem ferner das Fr&uuml;hst&uuml;ck des Kleinen bestand, reichte
-ihm die Hand seiner Herrin. Bellochen beliebte es jedoch, von demselben
-nur die oberste Zuckerdecke abzulecken; den darunter liegenden
-Kuchenteig stie&szlig; er knurrend mit der Schnauze von sich, und Madame
-griff schnell nach einem andern St&uuml;ck Kuchen, das der liebe Hund
-dann abermals in gleicher Weise beknabberte. Darauf streckte sich
-das Thier g&auml;hnend und mit der Zunge die Schnauze beleckend und
-legte sich endlich mit geschlossenen Augen auf dem Sopha zurecht, an
-der Seite Madames.</p>
-
-<p>Agathe hatte belustigt zusehen; aber sie wu&szlig;te nicht, ob sie es
-wagen durfte, sich an den Tisch zu setzen, da die Tante gar keine
-Notiz von ihr nahm. Sie zupfte &auml;ngstlich an ihrem Taschentuche,
-strich sich den kleinen Kragen glatt und trat verlegen von einem
-Fu&szlig;e auf den andern.</p>
-
-<p>&raquo;Aber so komm doch n&auml;her, du sch&uuml;chternes Kind, und fr&uuml;hst&uuml;cke
-mit uns!&laquo; rief jetzt der Onkel, der ihre Verlegenheit bemerkte, und
-schob einen Stuhl herbei, auf dessen &auml;u&szlig;erster Ecke Agathe sch&uuml;chtern
-Platz nahm.</p>
-
-<p>&raquo;Ich d&auml;chte, sie k&ouml;nnte sich den Stuhl wohl selbst holen; junge
-M&auml;dchen m&uuml;ssen sich nicht bedienen lassen!&laquo; sagte Madame scharf.
-Ein peinliches Schweigen entstand, das nur durch das Geklapper
-von Tassen und L&ouml;ffeln unterbrochen wurde, und Agathen stand der
-Angstschwei&szlig; auf der Stirn. Sie dachte mit Sehnsucht an die frohe
-Fr&uuml;hst&uuml;cksstunde in der Pension, wo sie zwar nur Milch und trocknes
-Wei&szlig;brod erhielten; aber wie viel tausend Mal besser hatte ihr dies<span class="pagenum"><a name="Page_147" id="Page_147">[Pg 147]</a></span>
-geschmeckt, als hier in diesem eleganten Zimmer der s&uuml;&szlig;e Kaffee und
-das leckere Geb&auml;ck, welches der Onkel ihr reichlich zuertheilte. Die
-Tante k&uuml;mmerte sich um nichts, als um ihren Hund, der etwas verstimmt
-schien, denn er fing an zu knurren und sich unruhig hin und
-her zu werfen. Wahrscheinlich litt er an Verdauungsbeschwerden.</p>
-
-<p>&raquo;Wie sehr Agathe meiner Schwester gleicht, Marie!&laquo; sagte der
-Onkel endlich, die Stille unterbrechend. &mdash; &raquo;Ich glaubte, deine
-Schwester sei sch&ouml;n gewesen,&laquo; erwiederte Frau Marie gleichg&uuml;ltig.</p>
-
-<p>&raquo;Ja, das war sie auch, und Agathe hat ganz diese hellblauen
-Augen. Sie wird ihr gewi&szlig; noch viel &auml;hnlicher werden, wenn sie
-&auml;lter ist,&laquo; sagte der Onkel.</p>
-
-<p>&raquo;So? Nun meinetwegen; aber so lange sie dieses blasse Gesicht
-hat, ist von Sch&ouml;nheit keine Rede,&laquo; entgegnete die Tante und streckte
-sich auf dem Sopha. &raquo;Aber la&szlig; mich jetzt in Ruhe; ich bin wieder so
-furchtbar angegriffen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ach leiden Sie auch an den Nerven, wie meine Mama?&laquo; wagte
-jetzt Agathe zu sagen. &raquo;Sie sehen so wohl aus; ich h&auml;tte es nicht
-gedacht!&laquo;</p>
-
-<p>Das war ein schlimmes Wort, das schlimmste fast, was sie h&auml;tte
-sagen k&ouml;nnen! Es ber&uuml;hrte den unangenehmsten Punkt in den
-Empfindungen Madames; denn niemand durfte daran zweifeln, da&szlig;
-sie schwach und leidend sei, obwohl sie nur aus Bequemlichkeit und
-Ziererei die Kranke spielte.</p>
-
-<p>Unwillig blickte sie deshalb Agathe bei diesen Worten an, und
-das helle, blaue Auge erhielt etwas so Stechendes, da&szlig; Agathes Herz
-erzitterte.</p>
-
-<p>&raquo;Denkst du etwa, ich verstelle mich?&laquo; rief sie, dunkelroth vor
-Aerger. &raquo;Das sind oft gerade die schlimmsten Uebel, bei denen man
-wohl und bl&uuml;hend aussieht!&laquo; &mdash; &raquo;Aber,&laquo; fuhr sie dann streng fort,
-&raquo;jetzt mein Kind, steh' auf, und mache dich n&uuml;tzlich! Hier, &uuml;bernimm<span class="pagenum"><a name="Page_148" id="Page_148">[Pg 148]</a></span>
-gleich zuerst dein t&auml;gliches Gesch&auml;ft, meinen kleinen Bello zu
-waschen und ihm dann die Locken zu k&auml;mmen. Aber da&szlig; du ihm
-ja nicht weh thust, wie die Cousine, die immer so furchtbar unzart
-mit dem armen Thierchen umgeht!&laquo;</p>
-
-<p>Agathe war sehr erschrocken &uuml;ber den Verweis, den sie erhalten,
-und verschluckte nur mit M&uuml;he die Thr&auml;nen. Schnell stand sie vom
-Stuhle auf und n&auml;herte sich dem Hunde, um ihn auf den Arm zu
-nehmen. Aber knurrend fletschte ihr dieser die Z&auml;hne entgegen und
-drohte zu bei&szlig;en. Das brachte der Tante ihre gute Laune zur&uuml;ck;
-lachend gab sie Agathen ein St&uuml;ck Zucker und sagte: &raquo;Du mu&szlig;t
-dir erst seine Gunst erwerben. Da, gieb ihm das, dann wird er
-nicht bei&szlig;en.&laquo;</p>
-
-<p>Agathe that, wie ihr geboten, und wirklich lie&szlig; sich der verzogene,
-kleine Hund jetzt ruhig auf den Arm nehmen.</p>
-
-<p>&raquo;Geh' nur zur Cousine, die wird dir zeigen, was du zu thun hast;
-aber eile dich, es wartet noch andere Arbeit!&laquo; rief die Tante, und
-Agathe war froh, auf diese Weise wenigstens wieder zum Zimmer
-hinaus zu kommen; ihr Schutzgeist, der Onkel, war schon vor ihr
-fortgegangen, seinen Gesch&auml;ften nach, die ihn bis Mittag vom Hause
-fern hielten.</p>
-
-<p>Aber welch' b&ouml;se Arbeit war diese Hundetoilette! Mit warmem
-Wasser und feiner Seife wurden die langen Haare des Thieres erst
-wieder und wieder gebadet, dann s&auml;uberlich abgerieben und endlich
-mit Kamm und B&uuml;rste gek&auml;mmt und gegl&auml;ttet, als w&auml;ren es die
-Locken eines kleinen Kindes. Aber Bello betrug sich bei seiner Toilette
-viel schlimmer, als das unartigste Kind; denn er zappelte und
-bellte und bi&szlig; um sich, da ihm Agathe eine fremde W&auml;rterin war, so
-da&szlig; diese ohne die H&uuml;lfe der Cousine nimmermehr damit zu Stande
-gekommen w&auml;re. In Schwei&szlig; gebadet, mit verschobenen Kleidern
-und zerkratzten H&auml;nden trug sie das kleine Ungeth&uuml;m endlich zu seiner<span class="pagenum"><a name="Page_149" id="Page_149">[Pg 149]</a></span>
-Herrin zur&uuml;ck, welche noch immer behaglich auf dem Sopha ruhte,
-und in die Lect&uuml;re eines Romanes vertieft war.</p>
-
-<p>&raquo;Hier, gieb dem Thierchen sein zweites Fr&uuml;hst&uuml;ck!&laquo; rief nun
-Madame, Agathen Semmel, Butter und feine Wurst hinschiebend.
-Das junge M&auml;dchen schnitt ein zierliches Br&ouml;dchen ab, bestrich es
-mit Butter und legte eine Wurstscheibe darauf.</p>
-
-<p>&raquo;Mein Gott, schmiere doch nicht so mager!&laquo; rief Madame
-entr&uuml;stet, &raquo;und ich glaube gar, du verlangst, da&szlig; Bellochen die
-Schale mitessen soll!&laquo; &mdash; Still l&auml;chend verbesserte Agathe die
-Fehler und hielt dem Hunde das Fr&uuml;hst&uuml;ck hin. Das Thier knurrte
-verdrie&szlig;lich, fra&szlig; erst die Wurstscheibe vom Brode, dann leckte er
-die Butter ab; mehr aber mochte er nicht, er war entschieden nicht bei
-Laune. &raquo;Das arme, kleine Thier!&laquo; rief Madame &auml;ngstlich; &raquo;wenn
-er nur nicht krank wird! Lege ihm sein Bettchen glatt, er wird
-schlafen wollen.&laquo;</p>
-
-<p>Als Agathe den Hund auf sein Lager m&ouml;glichst sanft gebettet hatte,
-sagte die Tante, sich vom Sopha erhebend: &raquo;Nun komm mit mir; ich
-will dir zeigen, was du weiter thun sollst, denn ein junges M&auml;dchen
-mu&szlig; immer flei&szlig;ig sein, und wer essen will, mu&szlig; auch arbeiten.&laquo;</p>
-
-<p>Sie ging schnell voraus, durchschritt ein Nebenzimmer und
-&ouml;ffnete endlich die Th&uuml;r eines gro&szlig;en Gemaches, in dem eine Anzahl
-junger M&auml;dchen eifrig bei der Arbeit sa&szlig;en. Vor ihnen auf gro&szlig;en
-Tischen lag eine Menge Draht, Stroh, Seidenzeug, Band und
-Blumen, sowie angefangene H&uuml;te und Hauben, und lustig flogen die
-Finger mit der Nadel durch die Arbeit. Als Madame Niedrer eintrat,
-erhoben sich die jungen M&auml;dchen gr&uuml;&szlig;end und setzten um so
-eifriger ihre N&auml;herei fort.</p>
-
-<p>&raquo;Hier bringe ich Ihnen eine neue Sch&uuml;lerin, Fr&auml;ulein Schneider,&laquo;
-sagte Madame und wandte sich zu einer etwas &auml;ltlichen Dame, welche
-den jungen M&auml;dchen zur Seite auf einem erh&ouml;hten Stuhle sa&szlig;.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_150" id="Page_150">[Pg 150]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Meine Nichte Agathe wird jetzt hier mit arbeiten; haben Sie
-die G&uuml;te, sie anzuleiten. Komm Agathe,&laquo; sprach sie dann zu dem
-zaghaft um sich blickenden M&auml;dchen, &raquo;hier ist Fr&auml;ulein Schneider,
-die Directrice des Gesch&auml;fts. Sie wird dir zeigen, was du zu
-thun hast; gieb dir ja rechte M&uuml;he, etwas zu lernen.&laquo;</p>
-
-<p>Nach diesen Worten wandte sie sich zu den jungen N&auml;herinnen
-und betrachtete deren Arbeit. Mit einigen war sie zufrieden, an
-vielen aber hatte sie etwas zu tadeln, und besonders lange sprach sie
-mit Fr&auml;ulein Schneider &uuml;ber die Garnirung der H&uuml;te, welche sie
-anders w&uuml;nschte. Agathe bewunderte im Stillen, wie gut die Tante
-mit all' diesen Sachen Bescheid wu&szlig;te, und besonders, wie sch&ouml;n und
-geschmackvoll die Anordnungen waren, welche sie f&uuml;r die Zusammenstellungen
-der einzelnen Theile gab. Aber der Ton, in welchen sie
-mit den Damen redete, war nicht angenehm. Kurz und bestimmt
-gab sie ihre Befehle, zwar nicht unfreundlich, aber kalt und scharf,
-wie Nordwind. Alles athmete auf, als sie sich endlich wieder entfernte.
-Die jungen M&auml;dchen blickten sich bedeutungsvoll an und
-zischelten lachend unter einander, und auch Fr&auml;ulein Schneider
-schaute froher d'rein, als vorher. Sie bat Agathe, neben ihr Platz
-zu nehmen und gab ihr eine leichte Arbeit in die Hand.</p>
-
-<p>&raquo;Haben Sie schon etwas Putzmachen gelernt, Fr&auml;ulein?&laquo; sagte
-sie dabei freundlich.</p>
-
-<p>&raquo;Nein, niemals,&laquo; entgegnete Agathe. &raquo;Ich komme eben aus der
-Pension und da hatten wir zu Handarbeiten wenig Zeit.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ist es Ihr Wunsch, das Putzmachen zu lernen?&laquo; fragte die gute
-Dame theilnehmend weiter.</p>
-
-<p>&raquo;Ach nein, mein Wunsch ist es bis jetzt nie gewesen,&laquo;
-sagte Agathe unbefangen. &raquo;Ich wollte ja so gern Erzieherin
-werden.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Erzieherin?&laquo; rief Fr&auml;ulein Schneider verwundert. &raquo;Welche<span class="pagenum"><a name="Page_151" id="Page_151">[Pg 151]</a></span>
-sonderbare Idee! Da mu&szlig; man ja so viel lernen! Nein, liebes
-Kind, werden Sie lieber Putzmacherin; das ist eine leichte, angenehme
-Besch&auml;ftigung, so recht etwas f&uuml;r uns Damen, und wer sein
-Fach gut versteht, der findet immer sein Brod dabei. Das sehen
-Sie am Besten an Madame Niedrer, unserer Frau Principalin.
-Sie hat sich als M&auml;dchen schon damit ihren guten Unterhalt verdient,
-und jetzt ist es ihr immer noch eine sch&ouml;ne Erwerbsquelle,
-denn sie hat gar vornehme Kundschaft. Aber freilich, einen bessern
-Geschmack, als Madame, hat auch niemand unter den Modisten in
-ganz Leipzig; das mu&szlig; man sagen! Obwohl sie jetzt nicht mehr
-selbst arbeitet, so versteht sie die Sachen doch besser, als wir Alle,
-und ehe sie nicht gesehen hat, wie ein Hut oder eine Haube garnirt
-ist, schicke ich nichts nach dem Verkaufszimmer. &mdash; Da sehen Sie
-z. B. diese Capotte!&laquo; fuhr die gespr&auml;chige Dame lebhaft fort und
-hob einen violetten Sammthut empor. &raquo;Ich wollte sie mit gr&uuml;nen
-Bl&auml;ttern und wei&szlig;en Knospen garniren; es sah recht h&uuml;bsch aus.
-Aber Madame warf nur <em class="gesperrt">einen</em> Blick darauf, und da sah ich wohl,
-wie wenig ihr mein Arrangement gefiel. Und ich mu&szlig; ihr Recht
-geben; denn kann man wohl etwas Geschmackvolleres finden, als
-diese dunklen Stiefm&uuml;tterchen mit dem feinen goldnen Rande, welche
-sie statt der Bl&auml;tter und Knospen w&auml;hlte? Der Hut ist dadurch so
-fein, so vornehm geworden, da&szlig; ihn eine Prinzessin aufsetzen k&ouml;nnte,
-ohne sich der Arbeit zu sch&auml;men. Nun wer wei&szlig;, was kommt. Es
-w&auml;re nicht das erste Mal, da&szlig; der Hof uns mit seinen Auftr&auml;gen
-beehrte; denn in Dresden hat man gar keinen Geschmack. Leipzig
-ist klein Paris, und Madame Niedrer's Gesch&auml;ft kann es mit jedem
-Pariser Modistenladen aufnehmen; das wei&szlig; ich so sicher, als ich
-schon seit 10 Jahren hier auf diesem Stuhle sitze!&laquo; Sie sprach dies
-alles mit einem unaussprechlichem Stolze und Selbstbewu&szlig;tsein, und
-ihre kleine Gestalt wuchs ordentlich auf dem hohen Stuhle. Agathe<span class="pagenum"><a name="Page_152" id="Page_152">[Pg 152]</a></span>
-aber blickte mit stillem Entsetzen zu der gespr&auml;chigen Dame auf,
-denn der Gedanke, zehn Jahre hindurch hier zu sitzen, Tag f&uuml;r Tag,
-Sommer und Winter, von Morgens fr&uuml;h bis Abends sp&auml;t, erregte
-ihr f&ouml;rmlich ein Grauen.</p>
-
-<p>&raquo;Zehn Jahre? Das ist ja schrecklich! Ist Ihnen das Putzmachen
-denn da nicht unertr&auml;glich geworden?&laquo; rief sie unwillk&uuml;rlich und
-seufzte tief auf.</p>
-
-<p>Die jungen M&auml;dchen stie&szlig;en sich mit dem Ellbogen gegenseitig
-an und lachten heimlich; Fr&auml;ulein Schneider aber sah mit strengen
-Blicken von ihrem Throne herab und rief: &raquo;Lassen Sie das alberne
-Lachen, meine jungen Damen. Fr&auml;ulein Agathe wird bald selbst
-finden, wie angenehm unsere Arbeit ist, sobald sie sich n&auml;her damit
-befreundet.&laquo;</p>
-
-<p>Agathe dachte im Herzen, zu dieser Ueberzeugung werde sie wohl
-nie kommen; denn wenn weibliche Arbeiten ihr auch nie unangenehm
-gewesen waren, so sah sie es doch als ein gro&szlig;es Mi&szlig;geschick an,
-sich nur mit der Nadel, nie aber mit Lesen, Schreiben und Zeichnen
-besch&auml;ftigen zu k&ouml;nnen. Aber sie behielt ihre Gedanken f&uuml;r sich und
-arbeitete ruhig weiter.</p>
-
-<p>Die jungen M&auml;dchen durften nicht viel sprechen, weil sie dies
-von ihrer Arbeit abzog, und da jetzt auch Fr&auml;ulein Schneider schwieg,
-h&ouml;rte man nichts, als das Rascheln des Seidenzeuges und das Pfeifen
-der vielen F&auml;den, welche mit der Nadel durch die Arbeit fuhren.
-So verging Stunde um Stunde. Nur einmal, als die Glocke elf
-schlug, entsank die Nadel den H&auml;nden. Jedes der jungen M&auml;dchen
-zog eine trockene Semmel aus der Tasche, und ein allgemeines frugales
-Fr&uuml;hst&uuml;ck, bei dem ein Glas Wasser das Getr&auml;nk abgab,
-unterbrach den rastlosen Eifer. In dieser Arbeitspause durften sich auch
-die Zungen r&uuml;hren, und nun schwatzte und lachte und zischelte es
-durcheinander, da&szlig; es eine Lust war. Agathe arbeitete still weiter,<span class="pagenum"><a name="Page_153" id="Page_153">[Pg 153]</a></span>
-denn sie hatte kein Fr&uuml;hst&uuml;ck, und sie war w&auml;hrend ihrer stillen Arbeit,
-bei der sie ungest&ouml;rt denken konnte, so traurig geworden, da&szlig;
-sie auch gar keine Lust zum Essen hatte.</p>
-
-<p>Aber da &ouml;ffnete sich die Th&uuml;r, und die alte Cousine kam freundlich
-gr&uuml;&szlig;end herein.</p>
-
-<p>&raquo;Ich bringe dir das Fr&uuml;hst&uuml;ck, liebe Agathe,&laquo; sagte sie, dem
-jungen M&auml;dchen eine Semmel reichend. &raquo;Verzeih', da&szlig; ich sie dir
-trocken gebe; aber fette Speisen d&uuml;rfen nicht hier in das Arbeitszimmer
-kommen; es w&uuml;rde gar zu leicht etwas dadurch verdorben.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O, ich kenne es nicht anders; in der Pension gab es auch keine
-Butter,&laquo; entgegnete Agathe und griff dankend nach dem Wei&szlig;brod.
-Unwillk&uuml;rlich schweiften ihre Gedanken hin nach der lieben Pension,
-in der jetzt auch gerade Freistunde war und Semmeln verzehrt wurden.
-O, k&ouml;nnte sie dort sein, nur eine Viertelstunde, dort unter den
-lieben, fr&ouml;hlichen Freundinnen; k&ouml;nnte sie, wie sonst, von ihren
-Stunden, ihren Arbeiten, ihren Lehrern mit ihnen plaudern, ein
-paar Mal durch den Garten laufen, um frische Luft zu sch&ouml;pfen; es
-war so eng, so schw&uuml;l, so dr&uuml;ckend hier in dem Arbeitszimmer! Aber
-was half das alles; sie sa&szlig; hier, und mu&szlig;te hier bleiben. Die Fr&uuml;hst&uuml;ckszeit
-war jetzt vor&uuml;ber, und eifrig ging es nun wieder an die
-Arbeit. Bald fuhren wieder die Nadeln wie Blitze durch die Luft,
-und Schweigen breitete sich wie vorher &uuml;ber die flei&szlig;igen
-Arbeiterinnen. Zwei Stunden vergingen noch so; aber als es ein
-Uhr schlug, erhob sich Fr&auml;ulein Schneider, legte die Arbeit fort, verneigte
-sich und verschwand. Dies war das L&ouml;sungszeichen f&uuml;r die junge
-Schaar. Die Arbeit flog zur Seite, und nicht f&uuml;nf Minuten vergingen,
-so war das Zimmer leer, und Agathe blieb allein zur&uuml;ck.
-Aber auch sie warf jetzt schnell die Arbeit aus der Hand und seufzte
-tief auf; denn noch nie in ihrem Leben hatte sie so viele Stunden
-hinter einander gen&auml;ht. Der Kopf war ihr ganz dumm davon<span class="pagenum"><a name="Page_154" id="Page_154">[Pg 154]</a></span>
-geworden; er hatte so gar keinen Theil an der Arbeit der H&auml;nde
-nehmen k&ouml;nnen. Die Finger thaten ihr weh, der R&uuml;cken schmerzte,
-und sie war so m&uuml;de, als h&auml;tte sie drei Tage hinter einander gen&auml;ht.
-&raquo;Lieber zw&ouml;lf Stunden schreiben und lesen, als zwei hinter einander
-n&auml;hen!&laquo; seufzte sie und blickte zum Fenster hinaus, wo sie einige
-der jungen M&auml;dchen eilig die Stra&szlig;e hinauf trippeln sah.</p>
-
-<p>&raquo;O, die sind doch frei und k&ouml;nnen fort aus diesem Hause!&laquo;
-dachte Agathe sehns&uuml;chtig. &raquo;Aber ich, ich bin hier fest gebannt, kann
-nicht fort, mu&szlig; Hunde warten, H&uuml;te n&auml;hen und mich schelten lassen;
-&mdash; o mein Gott, mein Gott, ich bin doch zu ungl&uuml;cklich!&laquo;</p>
-
-<p>Sie dr&uuml;ckte das Gesicht in beide H&auml;nde und weinte bitterlich.
-Die Thr&auml;nen erleichterten ihr Herz, und bald kamen ruhigere Gedanken.
-&raquo;K&ouml;nnte es nicht noch viel schlimmer sein, du th&ouml;richtes
-Kind?&laquo; t&ouml;nte es in ihrer Brust. &raquo;Was bist du denn, da&szlig; du so
-gro&szlig;e Anspr&uuml;che machen kannst? Die Tante ist nicht z&auml;rtlich, aber
-doch auch nicht gerade unfreundlich gegen dich. Du hast ihren Hund
-zu besorgen; das ist nicht sehr angenehm, aber doch auch kein gro&szlig;er
-Kummer, und da&szlig; du wie diese anderen jungen M&auml;dchen viele
-Stunden bei der N&auml;harbeit sitzen mu&szlig;t, geschieht ja, damit du etwas
-lernst. Das ist doch eigentlich sehr vern&uuml;nftig von der Tante gehandelt;
-denn sie will dir die Mittel geben, dir sp&auml;ter selbst fortzuhelfen.
-Du w&uuml;nschtest dies freilich in einer andern Weise zu thun, aber das
-kostet wieder Geld; denn zum Lernen braucht man Unterricht, und
-wer soll den bezahlen?&laquo;</p>
-
-<p>Solche Gedanken kamen der guten Agathe noch gar viele; aber
-so sehr sie sich auch bestrebte, ihr Geschick ruhig hinzunehmen, es
-wollte und wollte nicht gehen! &raquo;O wenn ich nur lernen d&uuml;rfte, um
-Erzieherin werden zu k&ouml;nnen, dann wollte ich alles, alles ertragen!&laquo;
-das war immer wieder der Schlu&szlig; aller ihrer Gedanken und Betrachtungen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_155" id="Page_155">[Pg 155]</a></span></p>
-
-<p>Endlich wurde sie von der Cousine zum Mittagessen gerufen,
-und ihr trauriges Gesichtchen in ein m&ouml;glichst heiteres verwandelnd,
-verlie&szlig; sie mit der guten F&uuml;hrerin das Arbeitszimmer.</p>
-
-
-
-<hr class="chap" />
-<h3 class="no-break"><a name="Viertes_Kapitel" id="Viertes_Kapitel">Viertes Kapitel.</a><br />
-
-Schoo&szlig;hund und Zugh&uuml;te.</h3>
-
-
-<p>Die Tante hatte bestimmt, da&szlig; Agathe mit der Cousine zusammen
-das Mittagbrod einnahm; sie selbst a&szlig; sp&auml;ter, denn Herr
-Niedrer kam erst um drei Uhr aus dem Comptoir nach Haus. Um
-diese Zeit aber sollte Agathe schon wieder mit den Arbeiterinnen
-flei&szlig;ig sein, deren Arbeitsstunden von Morgens neun bis Mittag ein
-Uhr w&auml;hrten, dann Nachmittag von zwei bis sieben Uhr. Agathe freute
-sich, da&szlig; sie mit der guten Cousine so traulich allein an dem kleinen
-E&szlig;tisch im Fenster, wo sie gleich am ersten Abend mit ihr gesessen, ihr
-Mittagbrod verzehren konnte; leider aber war die freie Stunde bald
-vor&uuml;ber, und Schlag zwei Uhr mu&szlig;te sie wieder in das Arbeitszimmer.
-Da fing der Flei&szlig; wie des Morgens von Neuem an und dauerte
-ohne bedeutende Unterbrechung bis sieben Uhr. Fr&ouml;hlich packte die
-junge Gesellschaft dann alles zusammen; lachend und scherzend ging
-es zum Hause hinaus, und Agathe war wieder allein, beneidete
-wieder die forteilenden M&auml;dchen, welche doch jetzt am Abend wenigstens
-frei waren und ihrem Familienkreise zueilen konnten. <em class="gesperrt">Sie</em>
-hatte ja keine Eltern, keine Geschwister, die sie freudig erwarteten;
-ungeliebt und unbeachtet stand sie allein in der Welt; niemand sehnte
-sich nach ihr, niemand bedurfte ihrer, niemand fragte nach ihrem
-Wohl und nach ihrem Weh! O es war zu traurig, zu niederdr&uuml;ckend.
-Die tr&uuml;ben Gedanken kamen wieder &uuml;ber sie, st&auml;rker und
-banger als je; denn die langanhaltende, ungewohnte Arbeit war ihr<span class="pagenum"><a name="Page_156" id="Page_156">[Pg 156]</a></span>
-unertr&auml;glich und hatte ihr allen Muth und alle Hoffnung genommen.
-Mit Grauen dachte sie daran, da&szlig; es so einen Tag wie den andern
-fortgehen sollte. Sie blickte in ihre Zukunft wie in einen dunklen,
-erschreckenden Nebel, der sie einh&uuml;llen und alle Hoffnungen ersticken
-w&uuml;rde.</p>
-
-<p>&raquo;Aber meine freie Zeit soll wenigstens meinen armen lieben
-B&uuml;chern geh&ouml;ren!&laquo; rief sie endlich froh auffahrend und eilte nach
-ihrer Kammer. Die gute Cousine hatte ihre wenigen Sachen nett
-und sauber in Schrank und Komode geordnet, und mit wahrem Jubel
-griff Agathe nach einem Werke Schillers, ihres Lieblingsdichters,
-dessen Schriften sie noch von ihrer Mutter zum letzten Geburtstage
-erhalten hatte. Sie verlor sich schon nach kurzer Zeit so sehr in
-die wundervolle Sprache des Trauerspiels: &raquo;Die Jungfrau von
-Orleans,&laquo; in welches sie sich vertiefte, da&szlig; sie den Eintritt der Tante
-gar nicht bemerkte, welche pl&ouml;tzlich neben ihr stand. Agathe fuhr
-empor, als h&auml;tte sie ein Unrecht begangen und legte das Buch schnell
-zur Seite. &raquo;Befehlen Sie etwas, liebe Tante?&laquo; fragte sie hastig.</p>
-
-<p>&raquo;Ich wollte wissen, was du treibst,&laquo; sagte diese kalt. &raquo;Du hast
-den ganzen Tag gesessen; es ist n&ouml;thig, da&szlig; du dir jetzt einige Bewegung
-machst, du wirst sonst noch bleicher. Geh' aus, und sieh dir
-die Stadt an, und nimm Bello mit dir; er ist heute auch noch nicht
-an die Luft gekommen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ja wohl, liebe Tante!&laquo; entgegnete Agathe, blickte aber &auml;ngstlich
-zum Fenster hin, denn es war schon fast ganz dunkel, und sie
-v&ouml;llig fremd in der Stadt.</p>
-
-<p>&raquo;Die Cousine kann dich heute ein St&uuml;ck begleiten, damit du dich
-nicht verl&auml;ufst,&laquo; sagte Madame Niedrer, indem sie sich wieder
-entfernte.</p>
-
-<p>&raquo;Die Tante ist doch sehr gut, da&szlig; sie so f&uuml;r meine Gesundheit
-sorgt,&laquo; dachte Agathe und kleidete sich schnell an, so ungern sie ihrem<span class="pagenum"><a name="Page_157" id="Page_157">[Pg 157]</a></span>
-Buche Lebewohl sagte. Dann lockte sie den Hund mit einem St&uuml;ck
-Kuchen an sich, nahm ihn auf den Arm und eilte, von der Cousine
-begleitet, in's Freie. Sie erg&ouml;tzte sich an dem bunten Treiben,
-das die Stra&szlig;en dieser Handelsstadt belebte; aber das Gewirr in
-denselben, die hohen, &uuml;berh&auml;ngenden H&auml;user, die dunkeln H&ouml;fe und
-G&auml;&szlig;chen, durch welche sie gingen, und die in der D&auml;mmerung noch
-unheimlicher aussahen, bedr&uuml;ckten das Herz des jungen M&auml;dchens
-mehr und mehr. Dazu kam, da&szlig; Bello unruhig wurde und weder
-auf Agathes Arm, noch auf dem der Cousine bleiben wollte, und doch
-wagte Agathe nicht, ihn auf den Boden zu setzen; denn in dem
-Gew&uuml;hl und der Dunkelheit h&auml;tte sie ihn sicher verloren.</p>
-
-<p>&raquo;Warte, wir wollen ihn anbinden!&laquo; sagte die Cousine und zog
-eine Schnur durch das Halsband des Hundes. Aber damit war
-nichts gebessert; denn nun wollte das Thier nicht vom Fleck, bellte
-und stemmte sich, Agathe mochte ziehen, so viel sie wollte. Die
-Vor&uuml;bergehenden lachten und neckten die junge Hundew&auml;rterin, so
-da&szlig; diese dem Weinen nahe war. Aber die Cousine tr&ouml;stete und
-half treulich, indem sie den Widerspenstigen von hinten mit dem
-Fu&szlig;e vorw&auml;rts stie&szlig;, und so, ziehend und sto&szlig;end gingen sie ein
-St&uuml;ck Weges weiter. Aber endlich trat ein muthwilliger Bursche dem
-Hunde auf eine Pfote, und nun war nichts mehr mit dem Thiere
-anzufangen. Winselnd warf es sich zu Boden, und als ihn Agathe
-wieder auf den Arm nahm, war er so bissig und b&ouml;sartig, da&szlig; der
-Spaziergang m&ouml;glichst schnell beendigt werden mu&szlig;te.</p>
-
-<p>Die Tante war sehr &auml;rgerlich, sowohl &uuml;ber den Unfall, der
-ihrem Lieblinge widerfahren war, als &uuml;ber die schnelle R&uuml;ckkehr
-Agathes. &raquo;Mein armes Hundchen bedurfte der frischen Luft so sehr,&laquo;
-sagte sie, &raquo;du h&auml;ttest ihn wohl noch eine Weile f&uuml;hren k&ouml;nnen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber liebe Tante, es war ja nicht m&ouml;glich; laufen wollte er nicht,
-und auf dem Arme blieb er auch nicht!&laquo; entschuldigte sich Agathe.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_158" id="Page_158">[Pg 158]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Ach du verstehst das liebe Thier nur nicht zu behandeln!&laquo; rief
-die Tante heftig und streichelte die verletzte Pfote ihres Lieblings.
-&raquo;So unaufmerksam, ihn treten zu lassen!&laquo;</p>
-
-<p>Das junge M&auml;dchen wollte sich sch&uuml;chtern zur&uuml;ckziehen, da sagte die
-Tante: &raquo;Bleib nur hier, Agathe; du sollst mit mir Karte spielen. Ich
-bleibe heute Abend zu Hause, denn ich bin so sehr angegriffen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Karte, liebe Tante? Das kann ich nicht; ich habe nie Karte
-gespielt,&laquo; erwiederte Agathe erstaunt.</p>
-
-<p>&raquo;So? Nun so geh' zur Cousine, sie soll es dir beibringen, damit
-du morgen mit mir spielen kannst,&laquo; sagte die Tante. &raquo;Die alte
-Person mag ich nicht mehr um mich haben, sie spielt auch gar zu
-schlecht! Gieb dir rechte M&uuml;he, da&szlig; du es morgen schon kannst;
-ich langweile mich sonst zu schrecklich.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich will Ihnen vorlesen, liebe Tante, das ist doch h&uuml;bscher als
-Kartenspiel,&laquo; wagte Agathe zu sagen, aber Madame entgegnete
-verdrie&szlig;lich: &raquo;Nein, la&szlig; mich damit in Ruhe, das greift meine Nerven
-an und ist zum Einschlafen langweilig. Geh' nur, und lerne
-Kartenspiel.&laquo;</p>
-
-<p>So blieb denn Agathen nichts anderes &uuml;brig, als den Befehlen
-der Tante zu gehorchen, und die alte Cousine um Unterricht in dieser
-v&ouml;llig unbekannten Kunst zu bitten.</p>
-
-<p>Es wurde ihr sehr schwer, alles das zu merken, was n&ouml;thig
-war, und der ganze sch&ouml;ne Abend verging, ehe sie Boston, das
-Lieblingsspiel der Tante, begriffen hatte, der sch&ouml;ne Abend, an dem
-sie sich so uns&auml;glich gern mit ihren B&uuml;chern besch&auml;ftigt, ihren fr&uuml;heren
-wissenschaftlichen Arbeiten einige Zeit gewidmet h&auml;tte!</p>
-
-<p>Den Onkel sah sie beim Abendbrod erst wieder. Er war
-freundlich wie am Morgen, aber um die Besch&auml;ftigungen Agathes
-bek&uuml;mmerte er sich nicht; das war die Sache seiner Frau, dahinein
-durfte er sich nicht mischen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_159" id="Page_159">[Pg 159]</a></span></p>
-
-<p>Aber doch &uuml;bertrug er ihr auch ein Gesch&auml;ft, das Agathen mit
-der Zeit sehr angenehm wurde; es war das Vorlesen der Zeitung
-nach dem Abendbrode. Bald bestand in dieser Lect&uuml;re Agathes
-einzige geistige Besch&auml;ftigung; denn so wie dieser erste Tag, vergingen
-alle &uuml;brigen, nur mit dem Unterschiede, da&szlig; Agathe den
-Hund am Tage spazieren f&uuml;hren mu&szlig;te, statt Abends, und zwar in
-der einzig freien Zeit von eins bis zwei Uhr, sobald sie ihr Mittagbrod
-verzehrt hatte. Doch war die Tante so g&uuml;tig, ihr noch eine halbe
-Stunde l&auml;nger zu bewilligen, ob zum Vortheil Agathes oder Bello's
-blieb freilich unentschieden. Bald hie&szlig; das junge M&auml;dchen bei der
-fr&ouml;hlichen Stra&szlig;enjugend, welche sich um die Mittagszeit zum Spielen
-in der N&auml;he einfand, nur noch das &raquo;Hundefreiln.&laquo; Aber statt sie,
-wie im Anfange, zu necken, half ihr bald dieser, bald jener gutherzige
-Junge, den Hund zu beruhigen, wenn derselbe seine b&ouml;sen Mucken
-bekam, und oft genug wurde er von solch' kecker Hand tapfer durchgepr&uuml;gelt
-f&uuml;r seine Unarten, was Agathe durchaus nicht verwehrte;
-denn Bellochen lernte jetzt ordentlich, was es hei&szlig;t, ein artiger
-Hund zu sein.</p>
-
-<p>So vergingen Agathen die Tage in ihrer neuen Heimath. Am
-Morgen begann sie ihr Tagewerk mit der Toilette des Hundes,
-dann n&auml;hte sie bis ein Uhr, a&szlig; geschwind, und f&uuml;hrte alsdann ihren
-Schutzbefohlenen an die Luft, was ihr freilich selbst sehr zutr&auml;glich
-war. Dann wurde wieder gen&auml;ht bis sieben Uhr, und regelm&auml;&szlig;iges
-Kartenspiel mit Onkel und Tante sowie schlie&szlig;lich die Zeitungslect&uuml;re
-beschlo&szlig; den Tag und raubte ihr jegliche freie Minute. Wohl
-versuchte sie bis in die Nacht hinein zu lesen und zu studiren; aber
-dies duldete die alte Cousine mit Recht niemals; denn Agathes
-zarter K&ouml;rper bedurfte nach der Arbeit des Tages unbedingt der
-Ruhe. Die einzige freie Zeit hatte Agathe nur, wenn die Tante
-Abends ausgegangen war; aber sie ging dann auch immer so sp&auml;t,<span class="pagenum"><a name="Page_160" id="Page_160">[Pg 160]</a></span>
-da&szlig; nur noch wenige Stunden bis zum Schlafengehen &uuml;brig blieben.
-Aber doch waren diese Stunden die Freude und Wonne des eifrigen
-Kindes, und an ihnen richtete sich ihr Herz auf, wenn sie oft unter
-der Last ihrer geistt&ouml;dtenden Arbeiten zu erliegen meinte.</p>
-
-<p>Auch an den Sonntagen geh&ouml;rten einige Stunden ihr selbst,
-und nie waren ihr diese Feiertage so lieb und werthvoll gewesen,
-als jetzt. Regelm&auml;&szlig;ig besuchte sie dann des Morgens die Kirche,
-und hier fand sie Trost f&uuml;r alles, was ihr Herz bedr&uuml;ckte, und frischen
-Muth, der Zukunft hoffend entgegen zu sehen. Auch am Nachmittage
-blieb sie sich einige Stunden selbst &uuml;berlassen, ehe der Abend
-mit dem Kartenspiel heran kam, und da&szlig; sie diese sch&ouml;ne Freiheit
-benutzte, um zu ihren B&uuml;chern zu fl&uuml;chten und Briefe an ihre lieben
-Freundinnen zu schreiben, versteht sich von selbst. &mdash; Aber w&auml;re
-dem sch&ouml;nen Sonntage nur nicht das Erwachen am Montag fr&uuml;h
-gefolgt, das war gar zu traurig! Wie eine lange Kette von sechs
-schweren, dr&uuml;ckenden Bleigewichten lagen diese kommenden Wochentage
-vor ihr, und nie begann sie ihr Tagewerk ohne Seufzer, sie
-mochte sich selbst noch so sehr deshalb schelten. Leider zeigte sie zu
-den feinen Arbeiten, die sie jetzt erlernte, sehr wenig Geschick. Es
-geh&ouml;rten gewandte, flinke Finger dazu, und gro&szlig;e Leichtigkeit der
-Hand, um all' die Tausend F&auml;ltchen und Kniffchen und niedlichen
-Zierlichkeiten hervorzubringen, wodurch aus Nichts etwas H&uuml;bsches
-entsteht, und dazu war Agathe ganz und gar nicht gemacht. Sie
-hatte eine schwerf&auml;llige Hand, arbeitete langsam und gewissenhaft,
-und machte so kleine zierliche Stiche, als n&auml;hte sie feine W&auml;sche.
-Schon bei dem ABC der Putzmacherkunst war sie in Verzweiflung,
-und Fr&auml;ulein Schneider mit ihr; was sollte erst werden, wenn die
-schweren Aufgaben daran kamen. Das ABC, das jede Sch&uuml;lerin
-erst lernen mu&szlig;te, um dann zu den h&ouml;heren Graden zu gelangen,
-war n&auml;mlich das N&auml;hen von Millionen dicht an einander sto&szlig;enden,<span class="pagenum"><a name="Page_161" id="Page_161">[Pg 161]</a></span>
-kleinen S&auml;umen, in welche Fischbeine geschoben wurden, um dann
-die sogenannten Zugh&uuml;te zu geben, in denen Madame Niedrers
-Gesch&auml;ft eine besondere Ber&uuml;hmtheit erlangt hatte, weshalb
-denn diese massenhaften S&auml;ume auch nimmermehr ein Ende nahmen.
-Staunend hatte Agathe gleich am ersten Morgen gesehen,
-mit welcher Blitzesschnelle die Nadeln der jungen M&auml;dchen bei dieser
-Arbeit durch das Seidenzeug fuhren. Nun sollte sie es ebenso
-machen; aber damit kam sie nun und nimmer zu Stande. Vorsichtig
-n&auml;hte sie Stich um Stich, und solch Zugh&uuml;tchen, von ihrer
-Hand gefertigt, w&uuml;rde vielleicht am j&uuml;ngsten Tage einmal fertig geworden
-sein. Und wie mit dieser Arbeit, so ging es ihr mit allen
-andern. Einst die beste Sch&uuml;lerin der ganzen Pension, war und blieb
-sie die schlechteste hier in der Arbeitsstube. Fr&auml;ulein Schneider war
-zum Gl&uuml;ck eine sehr gutherzige Dame und sah wohl, wie viel M&uuml;he
-sich die arme Agathe gab. Sie verschwieg ihrer Principalin die
-Ungeschicklichkeit des jungen M&auml;dchens; aber freilich &auml;nderte sie dadurch
-in der Sache nichts, und Agathe f&uuml;hlte sich von Tage zu Tage
-muthloser. Dazu kam, da&szlig; Bello krank wurde und sie diesem unleidlichen
-Gesellen jetzt jede ihrer freien Stunden opfern mu&szlig;te. Das
-Thier litt zuweilen an Kr&auml;mpfen, und wenn diese sich einstellten,
-dann gerieth das ganze Haus in Aufregung. Madame Niedrer lag
-schluchzend im Sopha, unf&auml;hig ihren Schmerz zu &uuml;berwinden, oder
-sie kniete neben dem Lager des Hundes, Agathen zusehend, wie sie
-nach Angabe des Thierarztes den Kranken mit aller Anstrengung
-frottirte, da&szlig; ihr der Schwei&szlig; von der Stirn rann, oder das Thier
-in warme Decken einh&uuml;llte, die immer neu erw&auml;rmt werden mu&szlig;ten.
-Bei solchen Krankheitszuf&auml;llen hatte Agathe auch in der Nacht keine
-Ruhe; denn alsdann stand das Bett des Hundes neben dem ihren,
-und sie mu&szlig;te viele Male in der Nacht aufstehen, dem Thiere auf
-der Spirituslampe s&uuml;&szlig;e Milch zu erw&auml;rmen und ihm dieselbe dann<span class="pagenum"><a name="Page_162" id="Page_162">[Pg 162]</a></span>
-einzufl&ouml;&szlig;en. Die Cousine half dabei nat&uuml;rlich gern und nahm
-Agathen die H&auml;lfte der Arbeit ab; aber Agathe war doch immer in
-Angst und Sorge; denn ihr war der Hund anvertraut, und passirte
-ihm etwas, so bekam sie die Vorw&uuml;rfe. Bello war gew&ouml;hnt, stets
-bei der Nachtlampe zu schlafen, und so brannte dieselbe nat&uuml;rlich
-auch jetzt neben Agathes Bett. In einer Nacht aber war das Licht
-ausgegangen, und Bello bekam in Folge davon wieder seine Kr&auml;mpfe;
-denn das zarte Gesch&ouml;pf hatte sich &uuml;ber die ungewohnte Finsterni&szlig;
-alterirt, die es umgab. Kein Mittel wollte helfen, und am n&auml;chsten
-Tage war Bello so krank, da&szlig; Madame Niedrer fassungslos umherirrte.</p>
-
-<p>&raquo;Fahre mit ihm nach der Klinik, Agathe,&laquo; rief sie weinend, &raquo;ich
-kann es nicht, ich bin zu trostlos!&laquo;</p>
-
-<p>So holte sich denn Agathe einen Wagen, nahm Bello auf den
-Schoos und fuhr nach der Thierarzneischule. Es war eine entsetzliche
-Fahrt, denn jeden Augenblick dachte sie, das Thier w&uuml;rde sterben.
-In der Klinik wurde sie von einer Menge junger Aerzte umringt,
-welche sich des Hundes anzunehmen schienen, hierbei aber Agathen
-mehr ansahen, als den armen Bello. Das junge M&auml;dchen wurde
-von Minute zu Minute unruhiger; t&ouml;dtliche Verlegenheit und Angst
-f&auml;rbte ihre zarten Wangen immer tiefer; aber gerade dies erh&ouml;hte
-ihre Sch&ouml;nheit, und beif&auml;lliges Fl&uuml;stern erhob sich rings um sie her.
-Sie f&uuml;hlte, wie unpassend es war, da&szlig; sie allein hier unter den
-jungen Aerzten stand; aber was sollte sie thun? Den Hund konnte
-und durfte sie nicht verlassen, und ein &auml;lterer Mann, der sich mit
-ihm besch&auml;ftigte, fand gar kein Ende in seinen Untersuchungen.
-&raquo;Lassen Sie den Hund hier, und holen Sie ihn morgen wieder ab,
-meine Dame, falls er da noch lebt!&laquo; sagte endlich der alte Herr,
-und froh aufathmend eilte Agathe davon, umringt von den jungen
-Aerzten, die ihr die Th&uuml;r &ouml;ffnen, ihr einen Wagen herbeirufen, sie<span class="pagenum"><a name="Page_163" id="Page_163">[Pg 163]</a></span>
-begleiten, kurz ihr alle m&ouml;glichen Dienste erzeigen wollten. Schluchzend
-kam Agathe zu Hause an; denn das sch&uuml;chterne Kind war au&szlig;er
-sich &uuml;ber das, was sie hatte ertragen m&uuml;ssen, und ihre Aufregung
-war so gro&szlig;, da&szlig; Madame Niedrer's Vorw&uuml;rfe dar&uuml;ber, da&szlig; sie
-den Hund in der Klinik gelassen, gar keinen Eindruck auf sie machten.
-Als aber Madame am andern Tage verlangte, sie solle wieder hingehen
-und Bello abholen, da erkl&auml;rte sie mit einer f&uuml;r die Tante
-v&ouml;llig neuen Entschiedenheit, das thue sie nicht, die Cousine m&ouml;ge
-hingehen. Trotz Madames Zorn ob solcher Opposition lie&szlig; sich
-Agathe nicht bestimmen, und so wurde wirklich die Cousine an ihrer
-Stelle abgeschickt. Zum Gl&uuml;ck war Bello wieder gesund; Agathe
-aber ha&szlig;te ihn jetzt nur doppelt, denn die Angst und Sorge um
-ihren Liebling lie&szlig; Frau Niedrer gar nicht mehr zu Ruhe kommen,
-und Agathe hatte schlimmere Tage als je. Heulte und wimmerte
-das Thier, so sollte sie daf&uuml;r einstehen; denn die Tante behauptete,
-sie besorge ihn schlecht. Lief er in pl&ouml;tzlicher Laune zur Th&uuml;r hinaus,
-so mu&szlig;te sie von der Arbeit fort hinter ihm d'rein springen, um ihn
-zur&uuml;ck zu holen, damit er sich nicht wieder erk&auml;lte, und kam sie dann
-athemlos zur&uuml;ck, so zitterten ihr die H&auml;nde von dem Kampfe mit
-dem widerspenstigen Thiere, und die Arbeit wollte noch weniger
-gehen, als bisher schon. So verging Woche um Woche; ihre Lage
-wurde nur schlimmer statt besser. Zum Lesen und Lernen kam sie
-jetzt gar nicht mehr, und ein schwerer, stiller Tr&uuml;bsinn lagerte sich
-auf ihr Herz. Es war ihr alles gleichg&uuml;ltig; am liebsten w&auml;re sie
-im Grabe bei ihrer lieben, theuren Mutter gewesen, denn das Leben
-hatte trotz ihrer Jugend gar keinen Reiz mehr f&uuml;r sie.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_164" id="Page_164">[Pg 164]</a></span></p>
-
-
-
-
-<h3 class="no-break"><a name="Funftes_Kapitel" id="Funftes_Kapitel">F&uuml;nftes Kapitel.</a><br />
-
-Wiedersehn.</h3>
-
-
-<p>Still und in sich gekehrt ging Agathe eines Tages vor einem
-der Thore Leipzigs spazieren. Der Sommer war in voller Pracht
-in das Land gezogen; in den G&auml;rten standen Rosen und Lilien in
-voller Pracht, und die bl&uuml;henden Lindenb&auml;ume neigten ihre duftenden
-Zweige zu dem jungen M&auml;dchen herab, als wollten sie ihr Liebes
-und Freundliches erzeigen. In dem frischgr&uuml;nen Laube der schattigen
-Baumg&auml;nge, unter denen Agathe dahin schritt, sangen die
-V&ouml;gel fr&ouml;hliche Lieder, und die Sonne blickte mild und warm vom
-blauen Himmel hernieder. Aber Agathe hatte heute f&uuml;r gar nichts
-Sinn. Allerlei Verdru&szlig; und Aerger bedr&uuml;ckte ihr Herz mehr als
-gew&ouml;hnlich, und sie f&uuml;hlte sich so einsam, so allein in der Welt, da&szlig;
-sie sich wie versto&szlig;en vorkam. Thr&auml;ne auf Thr&auml;ne rollte &uuml;ber ihre
-Wange, und m&uuml;de setzte sie sich endlich auf eine der B&auml;nke, welche
-unter den B&auml;umen standen. Bello war ungew&ouml;hnlich artig und
-legte sich ruhig zu ihren F&uuml;&szlig;en nieder, und so wurde sie durch nichts
-von ihren Gedanken abgezogen.</p>
-
-<p>Aber pl&ouml;tzlich fuhr sie zusammen; der Ton einer Stimme schlug
-an ihr Ohr, und wie tr&auml;umend starrte sie in ein liebes, treues, nur
-gar zu wohl bekanntes Gesicht.</p>
-
-<p>&raquo;Mein Goldkind, bist du es denn wirklich? Mu&szlig; ich dich gleich
-hier finden, mein armes kleines V&ouml;gelchen?&laquo; so rief schon von Weitem
-die bekannte Stimme der alten Soltatenfrau, und in ihrer ganzen
-gewichtigen H&ouml;he und Breite st&uuml;rmte sie mit gro&szlig;en Schritten auf
-Agathe los.</p>
-
-<p>&raquo;Anne, meine Anne!&laquo; jubelte das junge M&auml;dchen und flog mit<span class="pagenum"><a name="Page_165" id="Page_165">[Pg 165]</a></span>
-offenen Armen an die Brust der alten, treuen Seele, und laut schluchzend
-umschlang diese ihren Liebling.</p>
-
-<p>&raquo;Ach Anne, dich schickt mir der liebe Gott!&laquo; sagte endlich Agathe.
-&raquo;Gerade heute wollte ich ganz verzagen, und aller Muth war mir
-entschwunden. Aber nun ist alles gut, nun bist du hier, nun habe
-ich jemanden, der mich lieb hat. Nicht wahr, du bleibst hier, Anne?
-Du ziehst hierher und l&auml;&szlig;t dein armes Kind nicht mehr allein? Ach
-Anne, wenn du w&uuml;&szlig;test, wie traurig ich bin, du verlie&szlig;est mich nicht
-wieder!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nun will ich denn das, mein Herzk&auml;ferchen? Will ich denn
-wieder fort? Habe ich nicht meine ganze Bagage im Train, damit
-ich hier Quartier nehme?&laquo; rief die Alte fr&ouml;hlich und lachte mit ihrer
-lauten, rauhen Stimme, da&szlig; die Vor&uuml;bergehenden verwundert auf
-das sonderbare P&auml;rchen blickten. Die alte Soltatenfrau war eine
-geborne Schlesierin und hatte heute den gro&szlig;en Staat ihrer Heimath
-angelegt, welche Tracht sich allerdings unter den glatten, wei&szlig;en
-M&uuml;tzchen und den modischen Kleidern der Leipziger Stubenm&auml;dchen
-gar wunderlich ausnahm. Sie trug einen feuerrothen Rock mit
-weiter Sch&uuml;rze und Mieder, dar&uuml;ber den rothen schlesischen Frie&szlig;mantel,
-welcher, wie der blaue Regenschirm, Sommer und Winter
-den Schlesier begleitet, und den Kopf deckte eine M&uuml;tze mit langen
-B&auml;ndern, von einem gro&szlig;en, schwarzseidenem Tuche umschlungen,
-dessen Schleifen wie ein Paar m&auml;chtige F&auml;cher &uuml;ber der Stirn
-schwebten.</p>
-
-<p>Agathe war so gl&uuml;cklich &uuml;ber das Wiedersehen ihrer treuen
-Anne, da&szlig; ihr alle Traurigkeit entschwunden war. Froh, der braven
-Freundin ihr Herz &ouml;ffnen zu k&ouml;nnen, erz&auml;hlte sie alles, was ihr begegnet,
-und alles Leid, das sie zu tragen hatte. Anne begleitete die
-Erz&auml;hlung mit den theilnehmendsten Zeichen und Ausrufungen, indem
-sie wie ein <em class="gesperrt">Telegraph</em> mit ihren langen Armen in der Luft<span class="pagenum"><a name="Page_166" id="Page_166">[Pg 166]</a></span>
-umher focht; gl&uuml;ckselig aber war sie, da&szlig; sie Agathe wenigstens den
-Trost geben konnte, sie werde sich ihrer nun aus allen Kr&auml;ften annehmen,
-da sie ihr so nahe sei.</p>
-
-<p>&raquo;Ach gute Anne, du kannst mir ja doch nicht helfen!&laquo; seufzte
-Agathe. Aber im Herzen hoffte sie doch wieder von Neuem, seit sie
-diese treue Seele neben sich wu&szlig;te.</p>
-
-<p>&raquo;Wer wei&szlig;, ob ich dir nicht einmal beistehen kann, wo du es am
-wenigsten denkst,&laquo; sagte die Alte, und schritt gedankenvoll neben
-Agathe her, die sich bei diesem Wiedersehen schon sehr versp&auml;tet hatte
-und nun eilte, nach Hause zu kommen.</p>
-
-<p>&raquo;Besuche mich morgen ganz fr&uuml;h, Anne, den Tag &uuml;ber habe ich
-keine Zeit,&laquo; rief Agathe noch beim Abschied; dann winkte sie der
-Alten noch einmal zu und flog die Treppe hinauf.</p>
-
-<p>&raquo;Du armes, armes V&ouml;gelchen! Das ist kein Ort f&uuml;r dich!&laquo; sprach
-Anne leise, indem sie ihr nachblickte und dann still ihres Weges ging.</p>
-
-<p>&raquo;Wie sie bleich aussieht und mager. Diese Tante mu&szlig; gar kein
-Herz im Leibe haben, sonst k&ouml;nnte sie solche kleine, blasse Blume
-nicht von fr&uuml;h bis Abend an die N&auml;herei schmieden, wie einen Galeerenstr&auml;fling!&laquo;</p>
-
-<p>Das Wiedersehen ihrer alten treuen Freundin hatte Agathen so
-fr&ouml;hlich gestimmt, da&szlig; die Cousine ganz verwundert drein schaute,
-sich aber herzlich mit dem jungen M&auml;dchen freute, als sie den Grund
-zu deren Frohsinn erfuhr.</p>
-
-<p>&raquo;Gegen die Tante sprich aber lieber nicht davon; sie liebt solche
-Besuche nicht,&laquo; sagte die Cousine, und da Agathe &uuml;berhaupt in Gegenwart
-der Tante sehr wenig sprach, so wurde es ihr nicht schwer,
-gegen dieselbe zu schweigen. Dem Onkel aber theilte sie die Anwesenheit
-der Alten mit, sobald sie einmal mit ihm allein war, und
-in seiner milden Weise nahm auch er herzlichen Antheil an der Freude
-des guten Kindes.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_167" id="Page_167">[Pg 167]</a></span></p>
-
-<p>Anne kam am folgenden Morgen, wie sie versprochen, ihren Liebling
-zu besuchen, und aus den weiten Taschen ihres rothen Frie&szlig;rockes
-holte sie eine Menge Briefe und kleine Geschenke heraus,
-welche die Freundinnen der Pension an Agathe schickten. O, was
-f&uuml;r eine Freude war das, welch ein herrlicher, gl&uuml;cklicher Tag! Das
-junge M&auml;dchen lachte und weinte vor Entz&uuml;cken, und fiel ihrer Anne
-immer wieder dankend um den Hals. Die ganze unaussprechliche
-Sehnsucht ihres Herzens nach den vergangenen Zeiten war durch
-diese Boten aus der Heimath ihrer Kinderjahre &uuml;ber sie gekommen.</p>
-
-<p>Anne versprach, Agathen recht oft zu besuchen, und sie hielt
-Wort; &ouml;fter aber noch traf sie mit ihrem Lieblinge auf deren t&auml;glichen
-Spazierg&auml;ngen zusammen, wodurch dieselben nicht wenig an Reiz
-gewannen.</p>
-
-<p>Wieder verging Woche um Woche; der Herbst vertrieb den
-Sommer, und die fallenden Bl&auml;tter deckten die Laubg&auml;nge vor der
-Stadt, in denen Agathe so gern auf und nieder wandelte. Aber
-wenn auch die Natur um sie her ein anderes Ansehen gewann, die
-Lage Agathes blieb dieselbe. Kein freundlicher Hoffnungsstern wollte
-an ihrem Himmel aufgehen, wie sehr sie ihn auch ersehnte und Plan
-auf Plan schmiedete und selbst an den Eisenst&auml;ben zu r&uuml;tteln versuchte,
-die sie umschlossen.</p>
-
-<p>Eines Tages jedoch schritt ihr die alte Soldatenfrau in gro&szlig;er
-Aufregung entgegen, und kaum erreichte ihre rauhe Stimme Agathen,
-als sie fr&ouml;hlich ausrief: &raquo;Hurrah, mein Goldkind, ich sehe Licht! Helles
-Licht, sage ich dir!&laquo; Dabei focht sie mit ihren gro&szlig;en H&auml;nden
-gewaltig in der Luft umher, als risse sie dunkle Schleier herab, die
-besagtes Licht verh&uuml;llten. &raquo;Die Bresche ist geschossen, nun mu&szlig; auch
-die Festung bald fallen; denn die Bresche ist die Hauptsache, sagte
-mein Corporal, wenn er sich vor einer Attaque den Schnurrbart
-strich,&laquo; schlo&szlig; sie dann und fuhr sich &uuml;ber die Lippen, um zu zeigen,<span class="pagenum"><a name="Page_168" id="Page_168">[Pg 168]</a></span>
-wo der Schnurrbart gesessen, der so regen Antheil an den Berathungen
-ihres Corporals hatte.</p>
-
-<p>&raquo;Aber was giebt's denn nur, Anne, was hast du nur?&laquo; rief
-Agathe neugierig und zog die Alte auf eine Bank.</p>
-
-<p>&raquo;Was es giebt? Eine Stelle giebt es f&uuml;r dich, mein V&ouml;gelchen!&laquo;
-jubelte die Alte. &raquo;Aber wie gesagt, Sturm m&uuml;ssen wir
-laufen, sonst kommt uns ein Anderer zuvor, oder deine Frau Tante
-bekommt gar Wind und verrennt uns den Weg.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Eine Stelle? Du tr&auml;umst wohl, Anne; f&uuml;r mich eine Stelle?&laquo;
-rief Agathe ungl&auml;ubig. &raquo;Was soll ich armes Ding denn f&uuml;r eine
-Stelle ausf&uuml;llen! Ich kann ja nichts als Hunde warten und Karte
-spielen! Nicht einmal Putzmachen begreife ich; ich bin ja zu gar
-nichts zu gebrauchen!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Das wird sich finden!&laquo; sagte die Alte stolz und sch&uuml;ttelte den
-grauen Kopf, da&szlig; die F&auml;cher ihrer M&uuml;tze hin und her schwankten.
-&raquo;Jeder soll thun, was f&uuml;r ihn pa&szlig;t! Putzmachen ist eine gute,
-ehrenwerthe Besch&auml;ftigung, das versteht sich; aber wer kein Geschick
-dazu hat, sondern Kopf zu was anderm, der soll sich damit nicht abqu&auml;len,
-sondern lieber das thun, was ihm leichter wird! Ich kenne
-dich besser und wei&szlig;, wer in der Pension stets die beste Sch&uuml;lerin gewesen
-ist! Es ist mir ganz egal, was du seitdem gethan hast; in dir
-steckt mehr, das mu&szlig; ich wissen. Ich kenne mein liebes Kind vom
-ersten Tage an, als es auf die Welt kam, damit Basta!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber so sag' doch, was hast du denn f&uuml;r eine Stelle?&laquo; lachte
-Agathe und ergriff z&auml;rtlich die schwielige Hand der braven Freundin.</p>
-
-<p>&raquo;Nun du wei&szlig;t doch, da&szlig; ich die Aufwartung bei Madame
-Gro&szlig; &uuml;bernommen habe,&laquo; hub die Alte geheimni&szlig;voll an. &raquo;Diese
-hat jetzt Besuch von ihrem Bruder, der mit seiner kranken Frau nach
-Frankreich oder Italien, oder wo es ist, gehen will. Da kam mir
-denn ein Gedanke: &raquo;Wenn sie f&uuml;r die arme, kranke Dame nur eine<span class="pagenum"><a name="Page_169" id="Page_169">[Pg 169]</a></span>
-weibliche Begleitung h&auml;tten, liebe Madame Gro&szlig;,&laquo; sagte ich gestern
-Abend zu meiner Herrin, und hatte so meine Absichten. &raquo;Eine Kranke
-bedarf so manches, was der Mann nicht versteht, und die liebe, kranke
-Dame wird das gewi&szlig; sp&auml;ter empfinden. Sehen Sie, Madame,&laquo; sagte
-ich weiter, &raquo;mein Corporal war der beste Mann in der ganzen Welt;
-aber wenn ich krank im Bett lag, da war er wie ein kleines Kind;
-es fehlte an allen Ecken; denn er verstand gar nichts, was nicht zum
-Dienste geh&ouml;rte.&laquo; Was meinst du nun, mein Goldkind, was ich bei
-den Worten im Sinne hatte? Nichts anderes, als da&szlig; du die Leute
-als Gesellschafterin begleiten solltest!&laquo; schlo&szlig; die Alte mit gl&auml;nzenden
-Augen, &raquo;und ich glaube, es wird was draus, denn Madame Gro&szlig;
-fand meine Gedanken vortrefflich.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich, Anne, Gesellschafterin? Ach, mein Gott, wo denkst du
-hin!&laquo; rief Agathe ganz erschrocken.</p>
-
-<p>&raquo;Aber warum denn nicht?&laquo; sagte die Alte eifrig. &raquo;Ist es nicht
-besser, du pflegst eine gute, kranke Dame (denn sehr gut ist sie, das
-habe ich gemerkt), als da&szlig; du Hunde wartest und dich zu Tode stichelst?
-Denke doch, sie gehen vielleicht nach Frankreich; da kannst du ja
-noch was lernen und siehst dich in der Welt um! Hier bei deiner
-elenden Putzmacherei verk&uuml;mmerst du ganz; ich kann das nicht l&auml;nger
-mit ansehen. Gelt, Sch&auml;fchen, du gehst darauf ein?&laquo;</p>
-
-<p>Agathe begriff nur zu wohl, wie Recht die treue Seele hatte, und
-die Aussicht, in fremde L&auml;nder zu gehen, und dort noch vieles zu
-sehen und zu lernen, was f&uuml;r ihre Ausbildung n&uuml;tzlich sein mu&szlig;te,
-tauchte wie ein Strahl freudiger Hoffnung vor ihren Blicken empor.</p>
-
-<p>&raquo;Aber sie werden mich nicht nehmen, Anne,&laquo; seufzte sie traurig.</p>
-
-<p>&raquo;Daf&uuml;r la&szlig; mich sorgen, das wird sich finden,&laquo; sagte die Alte.
-&raquo;Meine Bresche ist gut angelegt, ich werde schon siegen, da ist mir
-nicht bange. Aber deine Tante, das ist die Hauptsache, die wird<span class="pagenum"><a name="Page_170" id="Page_170">[Pg 170]</a></span>
-nicht wollen. Sie hat von dir wenig Kosten; du lieber Gott, was
-braucht denn so ein armes, kleines V&ouml;gelchen; aber H&uuml;lfe hat sie von
-dir in Menge, und gewi&szlig; denkt sie, du sollst einmal Directrice in
-ihrem Gesch&auml;ft werden, damit sie die jetzige nicht mehr zu bezahlen
-braucht. Die alte Cousine hat neulich so was gesagt, und die Sache
-w&auml;re freilich f&uuml;r sie bequem.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ach, mein Gott, das w&auml;re ja schrecklich!&laquo; rief Agathe, und
-dachte mit Entsetzen an die zehn Jahre, in welchen Fr&auml;ulein Schneider
-bereits jenen hohen Directricensitz einnahm, und der ihrer wartete,
-um sie ihr ganzes Lebenlang dort fest zu halten.</p>
-
-<p>&raquo;Aber wie soll ich es der Tante sagen? ich werde dazu nie den
-Muth haben!&laquo; fuhr Agathe &auml;ngstlich fort.</p>
-
-<p>&raquo;Nun la&szlig; mich nur machen; es soll schon alles gut gehen!&laquo; tr&ouml;stete
-Anne. &raquo;Morgen gehst du mit mir zu Madame Gro&szlig;, ihr lernt
-euch gegenseitig kennen, und das andere findet sich dann.&laquo;</p>
-
-<p>Am andern Tage trat denn die gute Anne Sommer getrost mit
-ihrem Liebling in das Zimmer ihrer Herrin, und mit einem fr&ouml;hlichen:
-&raquo;Na, da ist das Goldkind, Madame!&laquo; schob sie milit&auml;risch
-gr&uuml;&szlig;end, zwei Finger an die F&auml;cher ihrer Haube gelegt, die sch&uuml;chterne
-Agathe vor Madame Gro&szlig; hin.</p>
-
-<p>&raquo;So jung noch, und so zart?&laquo; konnte sich die Dame nicht enthalten,
-auszurufen, als sie Agathen betrachtete. &raquo;Sie wird sich f&uuml;r
-diese Stelle nicht eignen, liebe Sommer.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Soll sie denn die kranke Madame heben und tragen?&laquo; sagte die
-Soldatenfrau barsch.</p>
-
-<p>&raquo;Nein, das soll sie nicht!&laquo; entgegnete Madame Gro&szlig;. &raquo;Aber
-sie w&uuml;rde doch zuweilen des Nachts aufstehen m&uuml;ssen, oder dergleichen
-Dinge thun, und wenn sie schwach und kr&auml;nklich ist, so h&auml;lt sie das
-nicht aus; denn das Leben bei einer Kranken ist angreifend.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber ich bin nicht schwach, wenn ich auch bleich aussehe,&laquo; sagte<span class="pagenum"><a name="Page_171" id="Page_171">[Pg 171]</a></span>
-Agathe jetzt angstvoll, denn sie f&uuml;rchtete so sehr, abgewiesen zu
-werden.</p>
-
-<p>&raquo;Kommen Sie mit zu meiner Schw&auml;gerin, liebes Kind; sie mag
-selbst entscheiden,&laquo; sagte endlich Madame Gro&szlig; nach einigem Z&ouml;gern,
-und bald stand Agathe vor der Kranken, einer sanften, jungen Frau,
-deren durchsichtige Farbe die b&ouml;se Krankheit verk&uuml;ndete, welche ihren
-zarten K&ouml;rper zerst&ouml;rte. Sie blickte Agathen mit sanftem, seelenvollem
-Blicke an, und dieser traten Thr&auml;nen in das Auge; denn unwillk&uuml;rlich
-dachte sie an ihre geliebte Mutter, die ja auch so zart und
-leidend ausgesehen hatte, ehe sie von der Erde schied. Frau von
-Menzel, so hie&szlig; die Kranke, bat Agathen, sich neben sie zu setzen
-und erkundigte sich nach ihren Verh&auml;ltnissen. Agathe erz&auml;hlte anfangs
-zaghaft und sch&uuml;chtern; aber die rege Theilnahme der Kranken
-fl&ouml;&szlig;te ihr bald gro&szlig;es Vertrauen ein, und offen legte sie derselben
-nun ihre ganze Lage dar und verhehlte nicht, wie innig sie w&uuml;nschte,
-bei ihr bleiben und mit ihr gehen zu k&ouml;nnen. &mdash; Frau von Menzel
-reichte dem jungen M&auml;dchen endlich die Hand und sagte freundlich,
-sie gefalle ihr sehr wohl, und herzlich w&uuml;nsche sie ihre Begleitung.
-Deshalb, wenn sie mit ihnen gehen wollte, so m&ouml;ge sie nur mit
-ihren Verwandten dar&uuml;ber R&uuml;cksprache nehmen. Aber freilich sei
-nicht viel Zeit zu verlieren, denn schon in drei Wochen wollten sie
-abreisen.</p>
-
-<p>Agathe k&uuml;&szlig;te voll des innigsten Dankes die Hand der g&uuml;tigen
-Dame. Ihr Herz f&uuml;hlte sich unbeschreiblich zu ihr hingezogen, und
-mit aufrichtiger Freude versprach sie, alles zu thun, um die Zufriedenheit
-derselben zu verdienen. Mit frohem Herzen kehrte sie
-dann zu ihrer Anne zur&uuml;ck, und diese war so gl&uuml;cklich &uuml;ber das
-Gelingen ihres Planes, da&szlig; sie wie ein Kind sprang und tanzte.</p>
-
-<p>&raquo;Aber nun die Tante; ach, w&auml;re das erst &uuml;berstanden!&laquo; jammerte
-Agathe. &raquo;Wenn ich es nur dem Onkel sagen k&ouml;nnte; aber ich sehe<span class="pagenum"><a name="Page_172" id="Page_172">[Pg 172]</a></span>
-ihn ja nie allein. Und was hilft das auch; er schickt mich doch zu
-der Tante, denn er f&uuml;rchtet sich, ihr etwas Unangenehmes zu sagen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;So nimm das Herz in die Hand, und geh' gleich zu ihr,&laquo; sagte
-Anne. &raquo;Ich warte in der K&uuml;che drau&szlig;en auf die Antwort; zu Hause
-l&auml;&szlig;t es mir doch keine Ruhe.&laquo;</p>
-
-<p>Agathe that, wie Anne ihr gerathen, und nun stand sie vor der
-Th&uuml;r, die zu dem Zimmer der Tante f&uuml;hrte. Sie h&ouml;rte ihr Herz
-ordentlich klopfen und k&auml;mpfte nach Athem; endlich aber dr&uuml;ckte sie
-muthig auf die Th&uuml;rklinke, und nun war sie im Zimmer.</p>
-
-<p>&raquo;Liebe Tante, wenn ich Sie nicht st&ouml;re, m&ouml;chte ich Ihnen etwas
-sagen,&laquo; begann sie ziemlich k&uuml;hn.</p>
-
-<p>&raquo;Was willst du? Warum bist du nicht bei der Arbeit?&laquo; sagte
-die Tante streng und blickte nach der Uhr, welche Arbeitszeit verk&uuml;ndete.</p>
-
-<p>&raquo;Ich.. ich werde das Putzmachen doch nie lernen, verzeihen
-Sie, liebe Tante!&laquo; stotterte Agathe, ihre muthige Haltung schon
-etwas verlierend.</p>
-
-<p>&raquo;Du wirst es nie lernen? Was soll das hei&szlig;en? Du willst nicht,
-bist faul, ich wei&szlig; es lange!&laquo; fuhr die Tante auf. &raquo;Aber es hilft
-dir alles nichts, du sollst dein Brod hier nicht umsonst essen, sondern
-es dir verdienen; verstehst du mich? Jetzt geh' und bessere dich, und
-la&szlig; mich solche Reden nicht wieder h&ouml;ren! Du bist ein armes M&auml;dchen;
-du mu&szlig;t daran denken, dir dein Brod sp&auml;ter selbst zu verdienen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ja wohl, liebe Tante, das will ich auch,&laquo; stammelte Agathe.
-&raquo;Wenn Sie es mir erlauben, so m&ouml;chte ich eine Stelle annehmen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Eine Stelle?&laquo; rief die Tante staunend. &raquo;Ich glaube, du wei&szlig;t
-nicht, was du sprichst! Was willst du ungeschicktes M&auml;dchen denn
-f&uuml;r eine Stelle annehmen?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich soll eine kranke Dame nach Italien begleiten,&laquo; sagte Agathe<span class="pagenum"><a name="Page_173" id="Page_173">[Pg 173]</a></span>
-wieder muthiger. &raquo;Sie will mich mitnehmen, wenn Sie es mir erlauben.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Will dich mitnehmen? Also alles schon fix und fertig verabredet?&laquo;
-rief die Tante jetzt, und ihr Zorn loderte empor. &raquo;Also
-hinter meinem R&uuml;cken schmiedest du solche R&auml;nke, du falsches M&auml;dchen?
-Ohne mir vorher ein Wort zu sagen, l&auml;&szlig;t du dich von andern
-Leuten engagiren! Aber, mein liebes Kind, daraus kann ein f&uuml;r
-alle Mal nichts werden! Du wirst hier bleiben und nach wie vor
-dich besch&auml;ftigen, wie bisher; denn ich sehe wohl, es ist Faulheit,
-was dich forttreibt! Du denkst, als Gesellschafterin wirst du ein
-bequemes Leben f&uuml;hren und in der Welt umher reisen. La&szlig; es dir
-lieb sein, da&szlig; ich dich davon zur&uuml;ck halte, denn du w&uuml;rdest gar bald
-sehen, wie sehr du dich geirrt hast.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber liebe Tante, ich w&uuml;rde franz&ouml;sisch lernen und vielleicht
-dann Erzieherin werden k&ouml;nnen, wenn ich die Dame begleite. O
-bitte, bitte, erlauben Sie es mir doch?&laquo; flehte Agathe weinend und
-mit dem Muthe der Verzweiflung.</p>
-
-<p>&raquo;Nein, sage ich dir! Meine Erlaubni&szlig; bekommst du nicht!&laquo;
-fuhr die Tante heftig auf. &raquo;Erzieherin! Glaubst du, die wird man
-so mir nichts, dir nichts durch ein Bischen franz&ouml;sisch schwatzen?
-Dummes Zeug! Schweig jetzt, und geh an die Arbeit! Das ist
-mein letztes Wort &uuml;ber die Sache!&laquo;</p>
-
-<p>Weinend eilte Agathe zu ihrer alten Anne, die ihrer in der K&uuml;che
-harrte. Aber kaum hatte sie der treuen Seele ihr Leid geklagt, als
-sie die Stimme der Tante h&ouml;rte. Geschwind schob sie die alte Soldatenfrau
-die Hintertreppe hinab und flog in das Arbeitszimmer,
-um neuer Schelte zu entgehen. Aber wie viel stille Thr&auml;nen, wie
-viel Seufzer und wie viel Gedanken begleiteten nun jeden Stich,
-den ihre Nadel langsamer und schwerf&auml;lliger als je zu Stande brachte.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_174" id="Page_174">[Pg 174]</a></span></p>
-
-
-
-
-<h3 class="no-break"><a name="Sechstes_Kapitel" id="Sechstes_Kapitel">Sechstes Kapitel.</a><br />
-
-Treue H&uuml;lfe.</h3>
-
-
-<p>Frau Anne Sommer war zwar die Hintertreppe hinab gegangen,
-da Agathe es so gewollt; aber gedankenvoll und leise vor sich hin
-brummend, trabte sie die Treppe im Vorderhause wieder herauf,
-klingelte, und lie&szlig; sich bei Madame Niedrer anmelden.</p>
-
-<p>&raquo;Bitte um Entschuldigung, wenn ich st&ouml;re!&laquo; sagte die Alte mit
-ihrer rauhen Stimme und schritt auf Madame Niedrer zu, welche
-mit h&ouml;chster Verwunderung diesen sonderbaren Besuch eintreten sah.</p>
-
-<p>&raquo;Ich bin Fr&auml;ulein Agathes fr&uuml;here Dienerin, Madame!&laquo; fuhr
-die Alte weiter fort, &raquo;und habe eine gro&szlig;e Bitte an Sie.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Mein Gott, nicht einmal in seinem Zimmer ist man vor Betteleien
-sicher!&laquo; rief die Angeredete unwillig und ergriff den Klingelzug.</p>
-
-<p>&raquo;O bitte, ich bettle nicht!&laquo; sagte die Alte stolz und richtete sich
-in ihrer ganzen L&auml;nge auf. &raquo;Ich komme nur, um f&uuml;r Fr&auml;ulein
-Agathe etwas zu bitten.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Was will Sie? Ich habe keine Zeit; rede Sie schnell!&laquo; rief
-Madame Niedrer heftig.</p>
-
-<p>&raquo;Madame, Ihre Nichte w&uuml;nscht eine Stelle anzunehmen; ich
-bitte Sie flehentlich, erlauben Sie ihr das!&laquo; sprach die Alte nun
-laut und dringend, aber immer noch bescheiden, wie bisher.</p>
-
-<p>&raquo;Was geht das Sie an; damit hat Sie gar nichts zu schaffen!&laquo;
-rief Madame zornig. &raquo;Sie ist es gewi&szlig;, die ihr die Stelle suchte
-und das undankbare M&auml;dchen gegen ihre eigenen Verwandten aufhetzte.
-Auf der Stelle gehe Sie, oder ich klingle, da&szlig; man Sie
-hinaus bringt!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Hoho, Madame, sprechen Sie so, so brauche ich auch nicht
-hinter dem Berge zu halten!&laquo; brach nun Anne Sommer los und<span class="pagenum"><a name="Page_175" id="Page_175">[Pg 175]</a></span>
-athmete schwer und tief. &raquo;Ja, ich bin es, da haben Sie recht; aber
-ich bin es auch, der das arme Kind lieber ist, als irgend jemanden
-in der ganzen Welt. Und darum will ich, da&szlig; sie gl&uuml;cklich wird.
-Hier aber geht sie ganz und gar zu Grunde, und d'rum soll sie fort.
-Sind Sie denn von Stein, Madame, da&szlig; Sie es mit ansehen k&ouml;nnen,
-wie das arme, zarte Kind leidet an K&ouml;rper und auch an ihrem Geiste?
-Denn sie arbeitet sich elend und gr&auml;mt sich zu Tode, da&szlig; sie nicht
-noch etwas lernen und sich weiter ausbilden kann. Darum, Madame,
-entweder Sie erlauben ihr, da&szlig; sie lernt statt zu n&auml;hen, oder Sie
-lassen sie fort.&laquo;</p>
-
-<p>Die Alte hatte in ihrem Eifer die Hand empor gehoben; ihre
-Augen blitzten, und drohend stand sie vor der Frau des Hauses.
-Diese war zuerst etwas &uuml;berrascht; bald aber fa&szlig;te sie sich und sagte,
-die Klingel ziehend: &raquo;Augenblicklich verl&auml;&szlig;t Sie mein Haus, Sie
-unversch&auml;mte Person! Meine Nichte bleibt hier und wird Putzmacherin,
-damit Punktum; Sie aber l&auml;&szlig;t sich nie wieder blicken!&laquo;</p>
-
-<p>Dabei gebot sie der eintretenden Dienerin, das Weib fortzubringen;
-sie selbst aber verlie&szlig; stolz und heftig das Zimmer.</p>
-
-<p>&raquo;So also geht's nicht!&laquo; brummte Anne vor sich hin, als sie
-wieder auf der Stra&szlig;e war. &raquo;Du hast dem armen Kinde mehr geschadet,
-als gen&uuml;tzt; das war dumm von dir, Anne. Jetzt strenge
-deinen alten Kopf an; denn fort mu&szlig; sie, nun erst recht. Jetzt hat
-sie's nun gewi&szlig; doppelt schlimm, die arme, kleine Maus.&laquo;</p>
-
-<p>Das war allerdings der Fall. Die Tante war so unfreundlich
-und streng gegen Agathe und g&ouml;nnte ihr so wenig freie Zeit, da&szlig;
-das arme M&auml;dchen es kaum geduldig ertragen konnte. Und was
-sollte aus ihrer Stelle werden! Die Tante gab nie ihre Einwilligung,
-das wu&szlig;te sie jetzt nur zu gut, und ohne dieselbe konnte sie nat&uuml;rlich
-nicht fort. Den Onkel um H&uuml;lfe zu bitten, war auch nutzlos;
-denn wo die Tante so entschieden gesprochen, verhallte sein Wort und<span class="pagenum"><a name="Page_176" id="Page_176">[Pg 176]</a></span>
-Wille wie ein Ton im Winde. Und doch verging die Zeit, und
-konnte sie diese Stelle nicht annehmen, wer wei&szlig;, wann sich wieder
-etwas so Passendes finden w&uuml;rde.</p>
-
-<p>Agathe fand Tag und Nacht keine Ruhe, und die gute Cousine,
-der sie ihr Herz aussch&uuml;ttete, wu&szlig;te auch weder Rath noch H&uuml;lfe.
-Auch Anne Sommer war Anfangs sehr aufgeregt und sorgenvoll
-gewesen, seit einiger Zeit jedoch schwieg sie, schien aber so sicher und
-guten Muthes zu sein, da&szlig; Agathe sie nicht begriff; denn ihr war
-jede Hoffnung entschwunden. &raquo;Sage nur der guten Frau von Menzel,
-wie sehr ich ihr danke und wie ich bedaure, sie nicht begleiten zu
-k&ouml;nnen, Anne,&laquo; sagte Agathe weinend, und Anne nickte still mit dem
-Kopfe, sah aber ganz heiter dabei aus, als lache sie in sich hinein.</p>
-
-<p>So waren zwei Wochen von der Zeit verstrichen, welche bis zur
-Abreise Frau von Menzel's noch vergehen sollten. Agathe gab sich
-M&uuml;he, gar nicht mehr an ihre sch&ouml;nen Hoffnungen zu denken; aber
-nat&uuml;rlich wollte ihr das nicht gelingen, sie wurde nur immer trauriger.</p>
-
-<p>In ihre Gedanken verloren, schritt sie eines Tages wieder unter
-den Linden auf und nieder, und unwillk&uuml;rlich verglich sie das gelbe,
-trockene Laub am Boden, das unter ihrem Fu&szlig;e rauschte, mit den
-gestorbenen Hoffnungen ihrer Jugend. Da sah sie Anne Sommer
-in ungew&ouml;hnlicher Hast auf sich zukommen; sie hatte einen Zettel
-in der Hand und sagte freudig: &raquo;Nun ist's gut; jetzt hab' ich alles,
-was ich brauche. Nun kommt es nur auf dich an, ob du willst oder
-nicht, mein Herzkind!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Was soll ich denn wieder, Anne; was hast du denn wieder im
-Sinn?&laquo; sagte Agathe niedergeschlagen.</p>
-
-<p>&raquo;Ob du mit Frau von Menzel reisen willst!&laquo; rief Anne lebhaft.</p>
-
-<p>&raquo;Ach la&szlig; doch nur dies ungl&uuml;ckliche Thema!&laquo; sagte Agathe sich
-abwendend, denn die Thr&auml;nen brachen ihr wieder hervor. &raquo;Du wei&szlig;t
-ja, ich darf nicht.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_177" id="Page_177">[Pg 177]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Ja du darfst! Hier steht es schwarz auf wei&szlig;!&laquo; jubelte Anne
-und hielt ihren Zettel triumphirend empor. &raquo;Madame freilich erlaubt
-es nicht, das steht fest; aber was thut uns das? Dein Vormund
-ist der Onkel, und der hat es mir hier drauf geschrieben, da&szlig;
-er nichts dagegen hat. Na, M&uuml;he freilich hat's gekostet, ehe er sich
-dazu entschlo&szlig;; denn seine b&ouml;se Frau durfte nichts davon wissen. Aber
-ich habe ihm keine Ruhe gelassen, habe ihm das Herz so weich gemacht,
-da&szlig; er dir doch endlich seine Erlaubni&szlig; gab. Denn gut ist er
-und helfen m&ouml;chte er dir, das mu&szlig; ich sagen; aber die Furcht vor
-der Frau l&auml;&szlig;t ja alles das nicht aufkommen!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wie? Du hast die Erlaubni&szlig; des Onkels?&laquo; rief Agathe in
-in h&ouml;chster Verwunderung &raquo;Wo hast du ihn denn gesprochen?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;In seinem Comptoir, mein Sch&auml;fchen! Drei Mal bin ich bei
-ihm gewesen und habe ihn best&uuml;rmt, bis ich den Zettel hatte!&laquo; rief
-die Alte und rieb sich vergn&uuml;gt die harten H&auml;nde, da&szlig; es raschelte.
-&raquo;Aber Abschied zu Hause darfst du freilich nicht nehmen, dann w&auml;re
-alles umsonst. Madame sperrte dich sicher ein; darum entschlie&szlig;e dich
-nur und komm gleich mit mir, das ist das Allerbeste; es ist alles
-schon vorbereitet.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wie? Ich soll gleich mit dir kommen?&laquo; rief Agathe, die Augen
-weit &ouml;ffnend. &raquo;So ohne Abschied, ohne alles, ohne....&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ja den Abschied von deiner z&auml;rtlichen Tante, den mu&szlig;t du freilich
-dran geben,&laquo; lachte die Alte; &raquo;alles andere aber ist besorgt, da sei
-ruhig. Die alte Cousine packt eben deine Sachen zusammen, die ich
-in der D&auml;mmerung abhole; sie wei&szlig; um alles, ist aber verschwiegen
-und freut sich, da&szlig; du fort kommst. In meiner Wohnung bleibst
-du bis zur Abreise von Menzels. Auch sie wissen um unsern Plan
-und reisen deshalb einige Tage fr&uuml;her; die guten Menschen, sie
-haben dich so lieb gewonnen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber das ist ja eine wahre Entf&uuml;hrung! Ich laufe ja davon,<span class="pagenum"><a name="Page_178" id="Page_178">[Pg 178]</a></span>
-als w&auml;re ich ein Verbrecher rief Agathe ganz au&szlig;er sich vor Best&uuml;rzung.</p>
-
-<p>&raquo;Nun ja, was bleibt denn anders &uuml;brig, wenn dein Onkel seine
-Frau nicht zwingen kann und will?&laquo; lachte die Alte. &raquo;Er hat ja eine
-Furcht vor ihr, als w&auml;re sie Napoleon seine gr&ouml;&szlig;te Kanone!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber dem Onkel mu&szlig; ich Lebewohl sagen; von ihm kann ich
-nicht so fortlaufen, es w&auml;re zu abscheulich!&laquo; sagte Agathe.</p>
-
-<p>&raquo;Nun dann komm schnell, und besuche ihn in seinem Comptoir,&laquo;
-dr&auml;ngte die Alte. &raquo;Bis zwei Uhr ist er dort allein; das trifft sich gut.&laquo;</p>
-
-<p>Eilig gingen die beiden Freundinnen nach dem Arbeitszimmer
-des Onkels, der in gro&szlig;er Unruhe in demselben auf und nieder ging.</p>
-
-<p>&raquo;Agathe!&laquo; rief er freudig, als das junge M&auml;dchen schnell bei
-ihm eintrat, und zog dasselbe an die Brust.</p>
-
-<p>&raquo;O mein lieber, lieber Onkel!&laquo; schluchzte Agathe, &raquo;verzeihe
-mir!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich habe dir nichts zu verzeihen, Kind!&laquo; sagte Herr Niedrer
-sanft. &raquo;Ich sehe ein, da&szlig; es besser f&uuml;r dich ist, du verl&auml;&szlig;t unser
-Haus und nimmst die Stelle bei jenen braven Leuten an. Deshalb
-habe ich auch meine Einwilligung dazu gegeben. Gehe mit Gott,
-mein gutes Kind, und bleibe gut und brav. Alles andere la&szlig; dich
-nicht k&uuml;mmern; ich wei&szlig;, was ich thue. Du kannst ruhig sein, sowohl
-was dich selbst, als auch was mich betrifft. Bist du in Noth, so
-wende dich getrost an mich; mein Herz wird dir immer offen sein,
-wenn es auch mein Haus in Zukunft nicht mehr sein kann.&laquo;</p>
-
-<p>Agathe konnte sich schwer von dem Onkel trennen; aber Fremde
-kamen, und nach einer letzten innigen Umarmung eilte sie fort. Die
-treue Anne hatte in ihrem St&uuml;bchen alles zum Empfange des lieben
-Gastes bereitet, und bald schlo&szlig; sie die Th&uuml;r hinter der Entf&uuml;hrten.</p>
-
-<p>&raquo;Hier bist du sicher, mein V&ouml;gelchen!&laquo; rief sie fr&ouml;hlich. &raquo;Hier
-finden dich selbst die scharfen Augen deiner Frau Tante nicht.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_179" id="Page_179">[Pg 179]</a></span></p>
-
-<p>Agathe sa&szlig; stumm und traurig da, und alle Fr&ouml;hlichkeit der
-guten Soldatenfrau war nicht im Stande, sie zu erheitern. Ihre
-Gedanken flogen nach dem Hause, das sie verlassen; sie kam sich wie
-eine Verbrecherin vor. Im Geiste sah sie den furchtbaren Zorn der
-Tante, die jetzt schon ihr Ausbleiben bemerken mu&szlig;te. Dann kam
-die Stunde, in welcher der Onkel heimkehrte, und in Todesangst
-dachte sie daran, da&szlig; er vielleicht eben jetzt der Tante ihre Flucht
-mittheilte; denn er hatte versprochen, sich ihrer treu anzunehmen,
-und sie zu vertheidigen und zu sch&uuml;tzen.</p>
-
-<p>&raquo;Unsinn! Er ist der Generalfeldmarschall seiner Truppen; was
-er will, mu&szlig; in seinem Hause geschehen, so geh&ouml;rt sich's!&laquo; sagte Anne
-Sommer mit grimmigem Ernst, als Agathe ihre Sorge aussprach,
-der Onkel werde um ihretwillen gewi&szlig; viel Aerger und Verdru&szlig; zu
-leiden haben. &raquo;H&auml;tte er es dir nicht erlaubt, w&uuml;rdest du nat&uuml;rlich nicht
-desertirt sein. Aber jetzt beruhige dich, und sei kein N&auml;rrchen. Heute
-Abend werde ich ja erfahren, wie es dort steht.&laquo;</p>
-
-<p>In der D&auml;mmerstunde holte Anne Agathes Koffer ab, den die
-alte Cousine heimlich gepackt hatte, und durch sie erfuhr denn die
-Alte, da&szlig; es freilich einen sehr heftigen Auftritt zwischen Herrn und
-Madame Niedrer gegeben habe. Der Herr sei aber so fest und bestimmt
-bei seinem Willen geblieben, da&szlig; Madame sich schlie&szlig;lich beruhigt und
-sich vor den Leuten das Ansehen gegeben habe, als sei Agathes Entfernung
-mit ihrer Zustimmung erfolgt.</p>
-
-<p>Unter den jungen Arbeiterinnen des Putzgesch&auml;fts hatte Agathes
-Flucht gro&szlig;e Heiterkeit hervor gerufen; denn alle hatten das innigste
-Mitleid mit ihr gehabt. Selbst Fr&auml;ulein Schneider l&auml;chelte, als sie
-den ersten Schreck &uuml;berwunden und gestand seufzend, sie habe jetzt
-eine Sorge weniger; denn zu einer Putzmacherin h&auml;tte sie Fr&auml;ulein
-Agathen doch nimmermehr heran bilden k&ouml;nnen.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_180" id="Page_180">[Pg 180]</a></span></p>
-
-
-
-
-<h3 class="no-break"><a name="Siebentes_Kapitel" id="Siebentes_Kapitel">Siebentes Kapitel.</a><br />
-
-Im fremden Lande.</h3>
-
-
-<p>Es war an einem sch&ouml;nen, sonnigen Herbsttage, als eine blasse
-Frau, auf den Arm ihres Mannes gest&uuml;tzt, eines der Eisenbahncoup&eacute;'s
-bestieg und sich freundlich nach einem jungen M&auml;dchen umschaute,
-das an dem Halse einer gro&szlig;en Frau hing, deren bunte
-Bauerntracht wunderlich gegen die dunkle Reisekleidung des M&auml;dchens
-abstach.</p>
-
-<p>&raquo;O Anne, behalte mich lieb, und habe ewig Dank f&uuml;r alles!&laquo;
-schluchzte Agathe, denn sie war es. Die alte Soldatenfrau fand
-keine Worte und streichelte nur immer wieder die Wangen des
-jungen M&auml;dchens, indem ihr einzelne, dicke Thr&auml;nen &uuml;ber das gute
-Gesicht liefen.</p>
-
-<p>&raquo;Ich mu&szlig; fort, lebe wohl, meine Anne; vergi&szlig; deine Agathe
-nicht!&laquo; rief diese endlich, rasch davon st&uuml;rzend, und eilte, ohne zur&uuml;ck
-zu blicken, nach dem Wagen. Aber hier erwartete sie noch ein
-anderer Abschied. Der Onkel war es, welcher ihr noch Lebewohl
-sagen und ihr mittheilen wollte, da&szlig; zu Hause alles gut stehe, die
-Tante ihr sogar einen Gru&szlig; schicke. Das erleichterte Agathes Herz
-unbeschreiblich; denn sie machte sich wegen ihrer Flucht doch uns&auml;gliche
-Vorw&uuml;rfe. Nun konnte sie ruhig abreisen, und trotz der Thr&auml;nen,
-die ihr Auge tr&uuml;bten, als sie dem guten Onkel zum letzten Male
-die Hand reichte, schlug ihr Herz doch froh und hoffend der Zukunft
-entgegen.</p>
-
-<p>Die Reise war sch&ouml;n und genu&szlig;reich, und da man wegen der
-Kranken nur kleine Tagestouren machen konnte, auch durchaus f&uuml;r
-Agathe nicht anstrengend. Die Gesch&auml;fte, welche sie zu besorgen
-hatte, wurden ihr sehr leicht, und die gro&szlig;e Milde und Freundlichkeit<span class="pagenum"><a name="Page_181" id="Page_181">[Pg 181]</a></span>
-der Kranken ber&uuml;hrten Agathen um so angenehmer, als sie von der
-Tante nur strenge, kalte Behandlung erfahren hatte. Herr von
-Menzel, ein reicher Gutsbesitzer, war ein heiterer, freundlicher
-Mann, der die junge Gesellschafterin wie eine Tochter behandelte,
-und bald f&uuml;hlte sich Agathe so gl&uuml;cklich, wie noch nie in ihrem Leben.
-Die Aerzte hatten es f&uuml;r gerathen gehalten, die Kranke nach Nizza
-zu schicken, dessen warme, gesch&uuml;tzte Lage ihrer kranken Brust vielleicht
-noch Heilung bringen konnte. Die weiche Seeluft des Mittelmeeres,
-an dessen Ufern sich diese sch&ouml;ne Stadt hinzieht, umwehte
-die Kranke mit ihrem schmeichelnden Hauche und that ihr bald so
-wohl, da&szlig; sie in Agathes Begleitung t&auml;glich einen kleinen Spaziergang
-machen konnte. Die eifrige, kleine Gesellschafterin suchte der
-sanften Kranken alle W&uuml;nsche vom Auge zu lesen, und diese wieder
-dachte immer daran, das gute, junge M&auml;dchen m&ouml;glichst zu schonen
-und ihr Gelegenheit zu geistigen Besch&auml;ftigungen zu verschaffen,
-wonach sich, wie sie wu&szlig;te, Agathes Herz so innig sehnte. Sie
-selbst war eine fein gebildete Frau und lie&szlig; sich von Agathe oft
-durch Vorlesen guter B&uuml;cher unterhalten; bessere Fortbildung aber
-fand sich f&uuml;r das junge M&auml;dchen bald noch durch den Verkehr mit
-einem w&uuml;rdigen Geistlichen aus der franz&ouml;sischen Schweiz, welcher
-dasselbe Haus mit ihnen bewohnte. Er hatte Agathes eifrige Lernbegierde
-bemerkt, und freundlich bot er ihr an, sie sowohl in der
-franz&ouml;sischen Sprache als auch in einigen Wissenschaften zu unterrichten,
-da er, wie er sagte, seine Musestunden nicht besser ausf&uuml;llen
-k&ouml;nne. Gern gab die Kranke ihre Einwilligung, und mit innigem
-Entz&uuml;cken widmete sich nun Agathe all den Dingen, nach denen
-sie im Hause des Onkels so vergebens verlangt hatte.</p>
-
-<p>Diese innere Freudigkeit, verbunden mit der herrlich reinen Luft
-der Berge und der &uuml;ppigen, kr&auml;ftigen Kost, welche ihr jetzt geboten
-wurde, lie&szlig;en auf Agathes Wangen bald frische Rosen erbl&uuml;hen.<span class="pagenum"><a name="Page_182" id="Page_182">[Pg 182]</a></span>
-Das zarte, blasse Kind wuchs zur sch&ouml;nen, frischen Jungfrau heran,
-und voll wahrhaft m&uuml;tterlicher Liebe verfolgte Frau von Menzel
-die k&ouml;rperliche wie geistige Entwickelung des jungen M&auml;dchens.
-Sch&ouml;n und genu&szlig;reich schwanden die Tage wie Stunden dahin,
-und die Liebe der Menschen, mit denen sie lebte, erw&auml;rmten Agathes
-Herz eben so sehr, als die herrliche Natur, welche sie umgab.</p>
-
-<p>Der Herbst verging, und der Winter mit seinen rauhen Tagen
-zog in das Land. Aber die Lage Nizza's, welches im Norden und
-Osten gesch&uuml;tzt und von milder Seeluft umgeben ist, verhindert die
-scharfen Winde, diesen Zufluchtsort der Kranken zu erreichen, an
-welchem sich die kleine Familie gl&uuml;cklich und wohl f&uuml;hlte. Herr von
-Menzel hatte f&uuml;r einige Zeit nach der Heimath zur&uuml;ckkehren m&uuml;ssen,
-und da er die Kranke in Agathes treuen H&auml;nden wu&szlig;te, verlie&szlig; er
-sie mit ruhigem Herzen. Agathe schlo&szlig; sich in dieser Zeit um so
-enger an die sanfte Frau an, die ihr immer mehr Freundin wurde
-und sie nie wieder von sich lassen wollte. Aber wenn die Kranke
-auch an keine Trennung dachte, so mu&szlig;te es Agathe im Stillen nur
-zu h&auml;ufig thun, denn sie bemerkte nur zu gut, wie die Krankheit
-der theuren Frau immer gr&ouml;&szlig;ere Fortschritte machte. Das milde
-Klima konnte das Leiden nur hinziehen, nicht heben, und mit tiefem,
-geheimen Kummer, aber heiterem Auge h&ouml;rte sie, wie die Kranke
-Pl&auml;ne auf Pl&auml;ne entwarf, welch sch&ouml;nes Leben sie ferner mit einander
-f&uuml;hren wollten. Agathe k&uuml;&szlig;te dann in dankbarer Liebe die
-schmale, abgezehrte Hand ihrer g&uuml;tigen Freundin; aber in ihrem
-Herzen konnte sie solchen sch&ouml;nen Tr&auml;umen keinen Glauben schenken.
-Der Winter war vor&uuml;ber und f&uuml;r den nahenden Fr&uuml;hling und
-Sommer w&auml;hlte die Familie einen anderen, den hei&szlig;en Sonnenstrahlen
-weniger ausgesetzten Aufenthalt in den Schweizer Alpen.
-Agathe hatte die Freude, da&szlig; auch ihr Freund, der Geistliche, f&uuml;r
-<span class="pagenum"><a name="Page_183" id="Page_183">[Pg 183]</a></span>einige Zeit mit ihnen zog; denn er hatte die Familie so lieb gewonnen,
-da&szlig; er sich nicht so schnell von ihnen trennen mochte. &mdash; Aber
-war es nun der Wechsel des Ortes, oder war es die, allen Brustkranken
-gef&auml;hrliche Fr&uuml;hlingsluft, Frau von Menzel wurde bald
-so leidend, da&szlig; ihr Ende schneller herannahte, als selbst Agathe in
-den bangsten Stunden gef&uuml;rchtet hatte. Mit stiller Ergebung trug
-der ungl&uuml;ckliche Gatte die herannahende Tr&uuml;bsal, und Agathe wurde
-ihm sowohl durch ihre treue Pflege, als durch den tiefen Ernst ihres
-Gem&uuml;thes unendlich lieb und trostbringend. Die Kranke selbst ahnte
-ihren Zustand nicht. Sie wurde schw&auml;cher und schw&auml;cher; aber
-indem ihr blaues Auge wunderbar gl&auml;nzte, sprach sie l&auml;chelnd von
-der sch&ouml;nen Zeit, in welcher sie wieder gekr&auml;ftigt sein und sich der
-herrlichen Natur werde erfreuen k&ouml;nnen.</p>
-
-<p>&raquo;Wie sehne ich mich, wieder in die warme Sonne zu kommen
-und den weiten, blauen Himmel sehen zu k&ouml;nnen!&laquo; sprach sie eines
-Tages freudig und wendete ihr Auge nach dem Fenster. &raquo;Tragt
-mich in's Freie, ich m&ouml;chte der sch&ouml;nen Gotteswelt n&auml;her sein,&laquo;
-bat sie dann sanft, und langsam rollte ihr Gatte und Agathe das
-Ruhebett der Kranken an die offene Th&uuml;r der Veranda.</p>
-
-<p>&raquo;O wie wird mir so wohl, mir ist, als &ouml;ffne sich mir der Himmel!&laquo;
-sagte sie begeistert und breitete die Arme aus; dann schlo&szlig;
-sie die Augen und sank leise zur&uuml;ck. Eine selige Verkl&auml;rung ruhte
-auf ihrem Antlitz; der Himmel hatte sich ihr wirklich ge&ouml;ffnet, sie
-schwebte empor zu der ewigen himmlischen Herrlichkeit.</p>
-
-<p>Der Kummer des einsamen Gatten war so uns&auml;glich tief und
-ergreifend, da&szlig; Agathe den eigenen Schmerz zu bek&auml;mpfen suchte,
-um den ungl&uuml;cklichen Mann trostreich zur Seite stehen zu k&ouml;nnen.
-Aber war sie allein, so st&uuml;rzte Leid und Jammer um so m&auml;chtiger
-&uuml;ber ihr zusammen, und schluchzend kniete sie an der H&uuml;lle der
-lieben Verkl&auml;rten, die ihr Freundin und Mutter geworden war.
-&raquo;O Gott, mein Gott!&laquo; betete sie inbr&uuml;nstig, &raquo;was soll nun aus<span class="pagenum"><a name="Page_184" id="Page_184">[Pg 184]</a></span>
-mir werden! Verla&szlig; Du mich nicht; nimm mich in Deinen treuen
-Schutz, und f&uuml;hre mich gn&auml;dig weiter an Deiner Vaterhand. Allein
-bin ich nun wieder, allein und obdachlos; o nimm Du dich ferner
-der armen Waise liebend an!&laquo;</p>
-
-<p>Und sie hoffte nicht vergebens. Wohl war jetzt ihres Bleibens
-nicht mehr in den bisherigen Verh&auml;ltnissen; denn Herr von Menzel
-kehrte so schnell als m&ouml;glich wieder nach der Heimath zur&uuml;ck, um
-die theure H&uuml;lle seiner Gattin in dem dortigen Erbbegr&auml;bni&szlig; der
-Familie beisetzen zu lassen. Aber ehe der Sarg der Verkl&auml;rten
-geschlossen wurde, ergriff der Trauernde Agathes Hand und sprach
-mit tiefer Bewegung: &raquo;Meine liebe Agathe, Sie sind meiner Gattin
-theurer gewesen, als Sie glauben k&ouml;nnen. In Ihnen hat sie bis zu
-ihrem letzten Augenblicke eine treue Freundin und Tochter besessen.
-Welchen Trost auch mir Ihre Gegenwart gew&auml;hrt hat, davon lassen
-Sie mich schweigen; aber es ist mir ein inniges Herzensbed&uuml;rfni&szlig;,
-Ihnen zu zeigen, wie dankbar ich Ihnen bin und mein ganzes Leben
-hindurch sein werde. Ich glaube Ihnen davon einen, wenn auch
-nur geringen Beweis geben zu k&ouml;nnen, indem ich Sie bitte, mir
-die Sorge f&uuml;r Ihre weitere geistige Ausbildung zu &uuml;berlassen. Sie
-w&uuml;nschen sehr, Erzieherin werden zu k&ouml;nnen, das wei&szlig; ich, und Ihre
-sch&ouml;nen Anlagen bef&auml;higen Sie auch v&ouml;llig dazu. Wollen Sie nun
-f&uuml;r ein Jahr als Z&ouml;gling in das treffliche Erziehungsinstitut in
-Neufch&acirc;tel eintreten, um daselbst noch die letzte Ausbildung zu erhalten,
-so wird es mich freuen, einen Ihrer W&uuml;nsche erf&uuml;llt zu
-sehen. Alle Vorbereitungen zu Ihrer Aufnahme sind getroffen, und
-der Geistliche, Ihr w&uuml;rdiger Freund und Lehrer, wird Sie gern
-dahin begleiten, sobald Sie es w&uuml;nschen.&laquo;</p>
-
-<p>Agathe war wie in einem Taumel von Gl&uuml;ck und Wonne. In
-demselben Momente, wo wieder alle sch&ouml;nen Hoffnungen entschwanden,
-und sie abermals angstvoll einer unsichern Zukunft entgegen<span class="pagenum"><a name="Page_185" id="Page_185">[Pg 185]</a></span>
-blickte, stand sie am Ziele ihrer sehnlichsten W&uuml;nsche. Sie fand
-keine Worte, ihren Dank und ihre Freude auszudr&uuml;cken; aber aus
-ihrem Auge leuchtete eine bessere Antwort, als der Mund zu geben
-vermochte. Ueber dem verkl&auml;rten Antlitz der Entseelten reichte sie
-ihrem Freunde und Besch&uuml;tzer die Hand, und im stummen Danke
-zitterten ihre Lippen.</p>
-
-<p>Herr von Menzel war abgereist, und traurig kehrte Agathe an
-der Seite des Geistlichen von dem Bahnhofe zur&uuml;ck, wo sie dem
-theuren Manne und seiner stillen, verkl&auml;rten Begleiterin das letzte
-Lebewohl gesagt hatte. Der Geistliche hatte ihr gleich nach dem
-Tode der Kranken in freundlichster Weise angeboten, sein Haus in
-Genf und seine Familie f&uuml;r's Erste ganz als die ihrige zu betrachten,
-und Agathe hatte diese Zufluchtsst&auml;tte dankbar angenommen, bis
-sich eine andere Stelle f&uuml;r sie finden w&uuml;rde. Jetzt aber w&uuml;nschte
-sie nat&uuml;rlich, sobald als m&ouml;glich in jenes Pensionat einzutreten, und
-der Geistliche versprach schon andern Tages mit ihr nach Neufch&acirc;tel
-abzureisen.</p>
-
-<p>Madame Reutin, die Vorsteherin der Anstalt, war von Agathe's
-Ankunft bereits unterrichtet und empfing das junge M&auml;dchen mit
-gro&szlig;er Herzlichkeit. Agathe war eine der &auml;ltesten Pensionairinnen,
-und da Madame Reutin an den Schicksalen ihres neuen Z&ouml;glings
-gro&szlig;en Antheil nahm, und bald bemerkte, welchen Eifer dieselbe besa&szlig;,
-um sich m&ouml;glichst viel Kenntnisse zu erwerben, so widmete sie
-ihr ganz besondere Aufmerksamkeit. Sie suchte das stille, sinnige
-M&auml;dchen viel in ihrer Umgebung zu besch&auml;ftigen und zeigte ihr so
-viel Liebe, da&szlig; Agathe bald ihre Sch&uuml;chternheit verlor und sich in
-den fremden Verh&auml;ltnissen ungemein wohl f&uuml;hlte. Der Unterricht
-war vortrefflich, und so reifte die begabte Agathe schnell zu einem
-geistig fein gebildeten M&auml;dchen heran, welches nach Verlauf eines Jahres
-gar wohl bef&auml;higt war, die Stelle einer Erzieherin auszuf&uuml;llen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_186" id="Page_186">[Pg 186]</a></span></p>
-
-<p>Herr von Menzel, mit dem Agathe in stetem brieflichen Verkehr
-war, bot ihr an, noch l&auml;nger in der Anstalt zu bleiben, und Madame
-Reutin schlug ihr vor, die Stelle einer H&uuml;lfslehrerin zu &uuml;bernehmen,
-da sie das sanfte M&auml;dchen ungern von sich lie&szlig;. So entschlo&szlig;
-sich denn Agathe, noch einige Zeit im fremden Lande zu
-bleiben, obwohl ihr Herz unbeschreiblich nach ihrer treuen Anne
-verlangte, welche ihr r&uuml;hrend z&auml;rtliche Briefe schrieb, zwar auf
-merkw&uuml;rdig dickem Papier, und mit heftiger Verschwendung von
-Dinte, da die Buchstaben gro&szlig; und gewaltig auftraten, und schwer
-zu entziffernde Hieroglyphen bildeten, aber nichts desto weniger die
-innigste Liebe und Anh&auml;nglichkeit aussprachen. Auch der Onkel und
-ihre Freundinnen aus der Pension schrieben Agathen flei&szlig;ig, und
-jeder Brief erregte ihr so tiefes, gewaltiges Heimweh, da&szlig; nur der
-Wunsch nach fernerer Ausbildung sie noch von der R&uuml;ckkehr in die
-Heimath abhielt. Ja Heimath, hatte sie denn &uuml;berhaupt eine? Sie
-wu&szlig;te ja gar nicht, wohin sie gehen sollte, verlie&szlig; sie ihren jetzigen
-Aufenthalt. Dieser Gedanke hing sich immer wie ein Bleigewicht
-an ihren Wunsch, nach Deutschland zur&uuml;ck zu kehren, und sie hatte
-deshalb an Anne Sommer wie an ihre Freunde geschrieben, sich nach
-einer Stelle f&uuml;r sie umzusehen.</p>
-
-<p>Fast zwei volle Jahre waren jetzt seit Agathes Abreise von Leipzig
-verstrichen, da erhielt sie eines Tages einen Brief von ihrer
-Freundin Fanny, welcher die frohe Kunde brachte von deren Verlobung
-mit einem jungen Gutsbesitzer. Mit dieser freudigen Botschaft
-aber verband sich noch eine zweite, welche Agathen betraf.</p>
-
-<p>&raquo;Jetzt zu Dir, meine beste Agathe!&laquo; lautete Fanny's fr&ouml;hlicher
-Brief. &raquo;Mein Br&auml;utigam ist der &auml;lteste Sohn einer zahlreichen
-Familie, und seine beiden j&uuml;ngsten Schwestern, M&auml;dchen von
-10 und 12 Jahren, k&ouml;nnen meiner Ansicht nach nicht l&auml;nger ohne
-specielle Aufsicht bleiben. Auch ihr Schulunterricht scheint mir mehr<span class="pagenum"><a name="Page_187" id="Page_187">[Pg 187]</a></span>
-als mangelhaft, was auf dem Lande freilich kein Wunder ist. Meine
-gute Schwiegermutter hat durchaus nichts dagegen einzuwenden,
-die jungen Springinsfelde unter die Zucht einer Erzieherin zu stellen,
-falls ich ihr eine verschaffen k&ouml;nnte, die, wie sie sagte, nicht gar zu
-st&ouml;rend in das Familienleben eingriffe. Sie hat etwas sonderbare
-Vorstellungen von allem, was Erzieherin hei&szlig;t, und da ich sie von
-ihrem Vorurtheil gern kuriren m&ouml;chte, so w&uuml;rde dies allein schon
-mich bestimmen, Dich, meine gute Agathe, dringend aufzufordern,
-diese Stelle bei meinen kleinen Schw&auml;gerinnen zu &uuml;bernehmen.
-Tausend andere Gr&uuml;nde aber dr&auml;ngen sich au&szlig;erdem noch herbei, um
-Dich mit Bitten zu best&uuml;rmen, vor allem meine grenzenlose Sehnsucht
-nach meiner liebsten Freundin. Komm, komm, so bald als m&ouml;glich,
-meine Agathe; Du wirst von all' meinen Lieben mit offenen Armen
-erwartet und wirst Dich gl&uuml;cklich unter uns f&uuml;hlen, daf&uuml;r b&uuml;rgt dir
-deine treuste Fanny.&laquo;</p>
-
-<p>Ein Postscriptum fehlte dem Briefe nach junger M&auml;dchen Art
-nat&uuml;rlich auch nicht; es lautete: &raquo;Uebrigens wirst Du Dich freuen,
-ein liebes, bekanntes Gesicht hier in unserer N&auml;he zu finden. Wem
-das aber zugeh&ouml;rt, sage ich nicht; Du magst selbst kommen, es dir
-anzusehen.&laquo;</p>
-
-<p>Das war denn allerdings eine so wundervolle Kunde, da&szlig; Agathe
-mit gl&uuml;henden Wangen zu Madame Reutin eilte, ihr alles mitzutheilen
-und sie um Erlaubni&szlig; zur Heimkehr zu bitten.</p>
-
-<p>Freudig willigte die gute Dame sogleich in Agathes W&uuml;nsche,
-und so ungern sie das brave M&auml;dchen von sich lie&szlig;, so sehr freute
-sie sich doch andrerseits &uuml;ber die gute Wendung, welche deren Schicksal
-abermals genommen. Nicht ohne die tiefste Bewegung schied Agathe
-kurze Zeit darauf aus der Anstalt, wo ihr so viel Gutes zu Theil
-geworden, sowie aus dem herrlichen Lande, in dem sie eine reiche,
-gl&uuml;ckliche Zeit verlebt hatte.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_188" id="Page_188">[Pg 188]</a></span></p>
-
-
-
-
-<h3 class="no-break"><a name="Achtes_Kapitel" id="Achtes_Kapitel">Achtes Kapitel.</a><br />
-
-Die Heimath.</h3>
-
-
-<p>In dem Herrenhause des Dorfes Sch&ouml;nfelde waren die j&uuml;ngern
-Glieder der Familie seit dem fr&uuml;hen Morgen in gro&szlig;er Bewegung.
-Gesch&auml;ftig liefen sie die breiten Treppen auf und nieder und hielten
-wichtige Zwiegespr&auml;che mit G&auml;rtner und Stubenm&auml;dchen, die Kr&auml;nze
-und Guirlanden aus den wenigen Blumen des Gartens zusammenwanden,
-welche die Herbstk&auml;lte noch &uuml;brig gelassen hatte. Bald
-thronte &uuml;ber der Hausth&uuml;r ein m&auml;chtiger Kranz, in dessen Mitte
-das Wort &raquo;Willkommen&laquo; prangte, und frische Guirlanden umzogen
-die Th&uuml;r des Wohnzimmers, in dem einige Kinder in gro&szlig;er Aufregung
-um ein bl&uuml;hendes, junges M&auml;dchen versammelt waren, das
-sie mit Fragen best&uuml;rmten.</p>
-
-<p>&raquo;Nicht wahr, Fanny, sie tr&auml;gt keine Brille, wie die alte Fr&auml;ulein
-Danton, Lucie B&uuml;low's Erzieherin?&laquo; rief Marie, ein zw&ouml;lfj&auml;hriges
-M&auml;dchen.</p>
-
-<p>&raquo;Und auch keine Schnupftabaksdose, nicht wahr?&laquo; setzte Hannchen
-hinzu, die j&uuml;ngere Schwester. &raquo;Die Mama behauptet es.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ob sie wohl Pferd mit mir spielen wird, Fanny? Ich will sie
-auch nicht so derb mit meiner Peitsche schlagen, als gestern den
-Anton; aber dann mu&szlig; sie auch nicht heulen, wie der immer gleich
-thut!&laquo; rief der kleine Max und fuhr knallend mit der Peitsche durch
-die Luft.</p>
-
-<p>&raquo;Ihr werdet's ja sehen, Kinder, macht mich doch nur nicht todt
-mit euren Fragen,&laquo; lachte das junge M&auml;dchen. &raquo;Aber jetzt adieu;
-Friedrich f&auml;hrt eben vor, und ihr wi&szlig;t, die Pferde stehen nicht ruhig.
-Seid h&uuml;bsch artig, da&szlig; meine liebe Agathe nicht gleich eine gar zu<span class="pagenum"><a name="Page_189" id="Page_189">[Pg 189]</a></span>
-schlechte Meinung von euch bekommt. Adieu, adieu, ihr lustiges
-Corps!&laquo;</p>
-
-<p>Fort flog der Wagen, in dessen Mitte das junge M&auml;dchen fr&ouml;hlich
-lachend thronte, noch lange gefolgt von dem gellenden Hurrah
-der kleinen Gesellschaft. Einige Stunden vergingen, und sie kehrte
-zur&uuml;ck, Freude und Gl&uuml;ck in den lieblichen Z&uuml;gen, denn an ihrer
-Seite sa&szlig; die Freundin ihrer Jugend, unsere Agathe.</p>
-
-<p>Was Fanny verhei&szlig;en, das fand die Ankommende best&auml;tigt.
-Offene Arme empfingen die neue Hausgenossin, gute treffliche Menschen
-hie&szlig;en sie freudig in ihrer Mitte willkommen. Man kam ihr
-als der liebsten Freundin der Schwiegertochter mit Vertrauen und
-Herzlichkeit entgegen und dankte es ihr aufrichtig, da&szlig; sie die Erziehung
-der j&uuml;ngsten Kinder zu &uuml;bernehmen versprochen hatte, und so
-begr&uuml;&szlig;te man in ihr nicht die gef&uuml;rchtete Erzieherin, sondern ein
-liebes, neues Glied der Familie. Agathe war uns&auml;glich gl&uuml;cklich
-&uuml;ber solche Aufnahme; denn oft hatte ihr Herz gezittert, ob wohl die
-Erzieherin in dem vornehmen Hause auch gern gesehen und nicht vielleicht
-als fremder Eindringling behandelt oder gar als eine Art
-Dienstbote kalt und vornehm aufgenommen sein w&uuml;rde. Aber schon
-das Willkommen, das ihr von fern so freundlich entgegen leuchtete,
-sagte ihr, da&szlig; sie nichts zu f&uuml;rchten habe, und all die guten, frohen
-Gesichter, welche sie umdr&auml;ngten, sprachen gar wohlthuend zu ihrem
-zagenden Herzen. Frau von Wedell, die Herrin des Hauses, umarmte
-sie gleich beim Eintritt, und bald erschien auch der Gutsherr
-selbst, Agathen in einfach herzlicher Weise willkommen zu hei&szlig;en.</p>
-
-<p>Bald war die junge Erzieherin in dem Familienkreise heimisch,
-und nun begann ein Leben voll Lust und freudiger Arbeit. Mit regem
-Eifer machte sich Agathe an die Aufgabe, die ihr gestellt war, die
-Erziehung der beiden M&auml;dchen Marie und Hannchen. Aber auch
-der wilde Max wurde von ihr mit Beschlag belegt, und den Flei&szlig;<span class="pagenum"><a name="Page_190" id="Page_190">[Pg 190]</a></span>
-ihrer Sch&uuml;ler belohnte die fr&ouml;hliche junge Lehrerin gern damit, da&szlig;
-sie sich an den Spielen betheiligte, welche sowohl Max als die kleinen
-M&auml;dchen in den Freistunden vornahmen. Ueberhaupt war Agathe
-jetzt so heiter und frisch, da&szlig; man das einst so traurige, blasse M&auml;dchen
-gar nicht wieder erkannte. Frau von Wedell gestand lachend,
-da&szlig; sie freilich eine ganz andere Vorstellung von einer Erzieherin gehabt
-habe, da sie sich dieselbe nie anders als keifend und verbissen,
-und mit den wunderlichen Attributen einer alter Jungfer versehen,
-habe denken k&ouml;nnen.</p>
-
-<p>Agathe hatte in der ersten Zeit die Freude, ihre liebe Fanny,
-die f&uuml;r einige Wochen zum Besuch ihrer Schwiegereltern gekommen
-war, im Hause zu sehen. Der Br&auml;utigam war ein frischer, liebensw&uuml;rdiger
-junger Mann, der im kommenden Jahre ein zweites Gut
-des Vaters bewirthschaften sollte, und mit Ungeduld dieser Zeit
-entgegen sah, da er alsdann seine Fanny als junge Frau daselbst
-einf&uuml;hren wollte.</p>
-
-<p>&raquo;Aber das liebe, bekannte Gesicht, von dem du mir geschrieben,
-Fanny, wo ist das?&laquo; sagte Agathe bald nach ihrer Ankunft und
-sp&auml;hte suchend &uuml;berall umher. &mdash; &raquo;Du hast doch nicht etwa meine
-alte Anne hierher entf&uuml;hrt, da du wei&szlig;t, sie schw&auml;rmt f&uuml;r Entf&uuml;hrungen?&laquo;
-fuhr sie scherzend fort, denn im Stillen hatte sie jetzt
-keinen gr&ouml;&szlig;eren Wunsch, als dies treue Wesen wiederzusehen.</p>
-
-<p>&raquo;Nein, Agathe, die alte Soldatenfrau holen wir n&auml;chstens einmal
-auf ein paar Wochen zu uns; Leipzig ist ja nur drei Stunden von
-Sch&ouml;nfelde entfernt,&laquo; sagte Fanny, welche sich diese Erlaubni&szlig; schon
-von ihrer Schwiegermutter erbeten hatte, da sie wu&szlig;te, welche
-Freude sie dadurch Agathen bereitete.</p>
-
-<p>&raquo;Nein, mein Sch&auml;tzchen, du mu&szlig;t besser rathen!&laquo; fuhr sie neckend
-fort. &raquo;Giebt es denn gar kein liebes Gesicht mehr unter der Sonne,
-als das alte, verwitterte Antlitz deiner Frau Corporalin? Besinne
-dich doch!&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_191" id="Page_191">[Pg 191]</a></span></p>
-
-<p>Aber Agathe besann sich nicht; sie wu&szlig;te ja gar nicht, wohin
-sie ihre Gedanken wenden sollte. Sinnend blickte sie zum Fenster
-hinaus, das von sch&ouml;nen alten Linden beschattet wurde. Da schrak
-sie pl&ouml;tzlich zusammen, und ein Ausruf freudiger Ueberraschung kam
-&uuml;ber ihre Lippen.</p>
-
-<p>&raquo;Fanny, ist das nicht unser Lehrer, Herr Lobner?&laquo; rief sie, auf
-einen Herren deutend, der eben in einiger Entfernung an dem Hause
-vor&uuml;ber ging.</p>
-
-<p>&raquo;Nun ja, erkennst du ihn wirklich?&laquo; lachte Fanny fr&ouml;hlich. &raquo;Ich
-dachte schon, du h&auml;ttest deine besten Freunde vergessen, du leichtsinniges
-Kind!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber wie kommt der hierher, liebste Fanny?&laquo; rief Agathe,
-freudig ergl&uuml;hend.</p>
-
-<p>&raquo;Um deinetwillen nicht, mein T&ouml;chterchen, denn er hat von
-deinem Hiersein keine Ahnung,&laquo; neckte Fanny. &raquo;Er ist wohlbestallter
-Prediger im Pfarrdorf Sch&ouml;nfelde, und wird die Ehre haben, Seelsorger
-seiner einstigen, liebsten Sch&uuml;lerin von nun an zu werden.
-Wie gef&auml;llt dir das, Sch&auml;tzchen?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Fanny, ist das wahr? Ist unser lieber, lieber Herr Lobner
-wirklich hier Prediger?&laquo; rief Agathe jetzt strahlend vor Freude
-und ergriff Fanny's Hand.</p>
-
-<p>&raquo;Meinst du, er tauge nicht dazu? Nun dann geh morgen in
-die Kirche, und &uuml;berzeuge dich selbst. Es ist Sonntag; um 9 Uhr
-h&auml;lt er die Predigt,&laquo; sagte Fanny.</p>
-
-<p>&raquo;Aber das ist ja herrlich!&laquo; jubelte Agathe, Fanny umarmend.
-&raquo;Wie ist das denn nur gekommen? Wer hat ihn denn hierher
-gezogen?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nun Papa Wedell, dem er so gefiel, als er sich um die Stelle
-bewarb, da&szlig; er ihn auch ohne meine F&uuml;rsprache in die leerstehende
-Pfarre eingesetzt h&auml;tte,&laquo; rief Fanny. &raquo;Aber wie gesagt, da&szlig; er hier<span class="pagenum"><a name="Page_192" id="Page_192">[Pg 192]</a></span>
-seine kleine, blasse Freundin aus der Pension ebenfalls in Amt und
-W&uuml;rden finden sollte, davon hat er bis jetzt keine Ahnung. Der
-Anblick dieser Ueberraschung soll mein Lohn f&uuml;r all die M&uuml;he sein,
-die ich mir um euch alle Beide gemacht habe.&laquo;</p>
-
-<p>Wessen Freude &uuml;ber das Wiedersehen gr&ouml;&szlig;er war, ob die Agathes
-oder die ihres einstigen Lehrers, w&auml;re freilich schwer zu entscheiden
-gewesen. Die schelmische Fanny, der Herr Lobner seine Stelle verdankte,
-hatte demselben wirklich Agathes Ankunft verheimlicht, und
-kaum traute dieser seinen Augen, als ihm das junge M&auml;dchen an
-der Seite ihrer Freundin entgegen kam.</p>
-
-<p>Es war ein frohes Wiedersehen, und doch voll tief innerlicher
-Bewegung; denn an Agathe's Seele zog all das vor&uuml;ber, was sie
-in der Zeit erlebt, welche zwischen jenem Abschiede in dem Zimmer
-des theuren Lehrers und dem jetzigen Augenblicke lag.</p>
-
-<p>&raquo;Gott hat seine Hand wunderbar &uuml;ber Ihnen gehalten, liebe
-Agathe!&laquo; sagte der junge Geistliche freundlich, als das junge M&auml;dchen
-ihm ihre Schicksale mitgetheilt hatte. &raquo;Ich h&auml;tte nicht geglaubt,
-da&szlig; mir so bald die Freude werden w&uuml;rde, Sie wieder zu sehen,
-und nun gar unter so erfreulichen Verh&auml;ltnissen. Irre ich nicht,
-so haben Sie wie ich, Ihren jetzigen Wirkungskreis Ihrer g&uuml;tigen
-Freundin zu danken, durch deren F&uuml;rsprache auch ich meine Stelle
-erhalten.&laquo;</p>
-
-<p>Fanny wies allen Dank von sich und behauptete, sie habe nur
-aus purem Eigennutz sich f&uuml;r ihre alten Freunde verwendet; denn
-da sie selbst nun bald in der N&auml;he residiren werde, so wollte sie
-doch im Voraus schon f&uuml;r freundliche Nachbarschaft sorgen.</p>
-
-<p>Jetzt begann eine so reiche, wundervolle Zeit f&uuml;r Agathe, da&szlig;
-diese Gott nicht genug daf&uuml;r danken konnte, der sie in dies Haus
-gef&uuml;hrt hatte. Ihr Wirkungskreis befriedigte sie t&auml;glich mehr und
-mehr; die etwas verwilderten Z&ouml;glinge gewannen unter Agathes<span class="pagenum"><a name="Page_193" id="Page_193">[Pg 193]</a></span>
-milder und kluger Leitung sichtlich an gutem Betragen wie an Kenntnissen,
-und alle Bewohner des Hauses betrachteten die junge Erzieherin
-als liebes Familienglied. Mehrere Abende der Woche verbrachte
-Herr Lobner in der Familie des Gutsherrn, und diese Stunden
-waren f&uuml;r Agathe unsch&auml;tzbar. Ihr einstiger Lehrer war ihr jetzt
-ein treuer Freund geworden, der ihr als kluger und besonnener
-Rathgeber in allen den schwierigen Fragen zur Seite stand, &uuml;ber
-welche ein so junges, unerfahrenes M&auml;dchen bei der Erziehung verschiedenartiger
-Kinder zweifelhaft sein mu&szlig;te.</p>
-
-<p>Bald kam denn nun auch die alte, treue Anne Sommer in das
-Herrenhaus, und das war ein Fest nicht nur f&uuml;r Agathe, sondern
-auch f&uuml;r die ganze &uuml;brige Familie; denn jeder gewann die brave,
-wunderliche Alte lieb, und erg&ouml;tzte sich an der Soldatensprache, wie
-an den handfesten Manieren derselben. Die Kinder besonders hingen
-wie die Kletten an ihrem rothen Frie&szlig;rock und konnten nie m&uuml;de
-werden, die pr&auml;chtigen Geschichten anzuh&ouml;ren, die sie ihnen erz&auml;hlte,
-und die stets von Krieg und Soldatenwesen handelten.</p>
-
-<p>An ihrem Goldkinde Agathe hing die Alte, wenn es m&ouml;glich
-war, noch viel z&auml;rtlicher, als fr&uuml;her, und die Freude &uuml;ber deren
-bl&uuml;hendes Aussehen, wie &uuml;ber das Gl&uuml;ck, das aus ihren sch&ouml;nen
-Z&uuml;gen sprach, machte sie ordentlich wieder jung. &raquo;H&auml;tte das nur
-ihre arme Mutter noch erlebt,&laquo; sagte sie oft leise vor sich hin, &raquo;dann
-w&auml;re sie ruhiger zum gro&szlig;en Appell gegangen, zu dem sie der gro&szlig;e
-Kriegsherr im Himmel so zeitig abgerufen, die liebe Seele! Aber
-ihr Segen ruht auf dem Kinde, das ist sicher!&laquo;</p>
-
-<p>Die Alte kehrte nach einigen Wochen wieder nach Leipzig zur&uuml;ck,
-doch blieb sie ein h&auml;ufig wiederkehrender und immer gern gesehener
-Gast in Sch&ouml;nfelde. Die Nachrichten, die sie Agathen aus dem
-Hause des Onkels brachte, zeigten, da&szlig; dort noch alles seinen ehemaligen,
-stillen Fortgang hatte, bis auf eine gro&szlig;e, ersch&uuml;tternde<span class="pagenum"><a name="Page_194" id="Page_194">[Pg 194]</a></span>
-Begebenheit &mdash; Bello war gestorben! &mdash; Auf seinen rothseidnen
-Kissen lag er eines Morgens kalt und todt, und keine hei&szlig;e Thr&auml;ne
-seiner trostlosen Herrin konnte den geliebten Freund wieder ins
-Leben zur&uuml;ck rufen. Ein kleines Grab, von Blumen &uuml;berdeckt,
-bezeichnete im Garten einer Freundin die Stelle, an welcher die
-geliebte H&uuml;lle ruhte. Noch vermochte kein Nachfolger seine Stelle
-zu ersetzen, und Agathe dachte mit Freuden daran, da&szlig; die alte, gute
-Cousine dadurch f&uuml;r einige Zeit eine l&auml;stige Arbeit weniger hatte.</p>
-
-<p>In angenehmer Weise vergingen Agathen die langen Wintertage,
-und wieder schaute endlich der fr&ouml;hliche Lenz zum Fenster herein
-und verk&uuml;ndigte seine Ankunft durch weiche Luft und duftende Blumenglocken,
-welche unter dem schmelzenden Schnee zum Vorschein
-kamen.</p>
-
-<p>Aber mit der &uuml;berall erwachenden Fr&ouml;hlichkeit zog abermals eine
-F&uuml;lle neuer Freuden in das Herz unserer Agathe. Werfen wir einen
-Blick zum Fenster hinaus, und sehen wir die lange Kastanienallee
-hinab, in welcher die Baumzweige schon gro&szlig;e, braune Knospen
-tragen, so zeigen sich uns zwei Personen, die still und schweigend
-neben einander gehen. Ihr Mund ist jetzt stumm, aber was er soeben
-gesprochen, das leuchtet noch wunderbar in den Augen der
-Beiden, welche mit unaussprechlicher Liebe auf einander blicken.
-Agathe ist soeben die Braut ihres Freundes und Lehrers, des braven
-Pfarrers Lobner geworden. Was damals schon die Seelen Beider
-verband, als Lobner von Agathe Abschied nahm und als einziges
-Andenken das kleine Schreibebuch von der Sch&uuml;lerin erbat, das war
-fort und fort lebendig in ihnen geblieben, und hatte nun, da sie sich
-auf ihrem Lebenswege so bald wieder begegneten, feste, dauernde
-Gestalt erhalten. L&auml;ngst schon ahnten Beide, da&szlig; sie einander theuer
-waren; jetzt wu&szlig;ten sie es, jetzt geh&ouml;rten sie einander f&uuml;r das
-Leben.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_195" id="Page_195">[Pg 195]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Also das w&auml;re mir gegl&uuml;ckt!&laquo; rief Fanny, voll Freude in die
-H&auml;nde schlagend, als sie die Verlobung ihrer beiden Freunde erfuhr.
-&raquo;Ich bitte mir die Ehre der Anerkennung aus; mir kommt das Verdienst
-zu, euch Beide zusammen gebracht zu haben. Denn, meine
-liebe Agathe, nimm mir's nicht &uuml;bel, allen Respect vor deinen Talenten
-in der Erziehungskunst, aber wahrlich, es war mir viel mehr
-darum zu thun, dich wieder in die N&auml;he unseres lieben Freundes
-Lobner zu bringen, als meinen kleinen Rangen von Schw&auml;gerinnen
-eine Erzieherin zu verschaffen. Deshalb h&auml;tte ich dich nicht so knall
-und fall aus der Schweiz hercitirt. Aber Gelegenheit macht Diebe.
-Mit meiner Pfarrerwahl war mir's so trefflich gelungen, nun fehlte
-nur noch eine nette, kleine Pfarrfrau dazu. Und wen h&auml;tte ich meinen
-neuen Herrn Pastor, sowie mir selbst besser dazu w&auml;hlen k&ouml;nnen, als
-die Verfasserin jenes kleinen, omin&ouml;sen Schreibebuchs, das in der
-Bibel unseres sehr ehrenwerthen Herrn Pastor Lobner seinen Platz
-erhielt, als das Heiligste, was besagter Herr im Besitz hat?&laquo;</p>
-
-<p>Der gl&uuml;ckliche Pfarrer zog seine ergl&uuml;hende Braut an das Herz;
-der schelmischen Fanny aber drohte er mit dem Finger und sagte
-lachend: &raquo;Warten Sie nur, Sie Schelm; das ist gewi&szlig; die Rache
-daf&uuml;r, da&szlig; die sch&ouml;ne Tasse nicht mehr lebt, die eine leichtsinnige
-Sch&uuml;lerin mir einst als Andenken schenkte. Aber nur Geduld, jetzt
-werde ich die Scherben all' wieder zusammen suchen, und als ewige
-Erinnerung sollen diese Reste unter dem Bilde der Freundin aufgestellt
-werden, welches einst &uuml;ber dem N&auml;htischchen der jungen Frau
-Pastorin Lobner h&auml;ngen wird&laquo;.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Wieder bl&uuml;hten die Rosen und Lilien in den G&auml;rten, und die
-Linden neigten ihre vollen Bl&uuml;thenb&uuml;schel zur Erde herab, gerade
-wie an jenem Tage, an dem einst Agathe verlassen und einsam in
-den Baumg&auml;ngen Leipzigs dahinschritt, bis sie von den Armen ihrer<span class="pagenum"><a name="Page_196" id="Page_196">[Pg 196]</a></span>
-treuen Anne umfangen wurde, und neue Freude und Hoffnung in
-ihr Herz einzog. Auch heute schaute das alte Gesicht der Soldatenfrau
-in die gl&auml;nzenden Augen ihres Lieblings, und ihre rauhe Hand
-strich schmeichelnd &uuml;ber die zarte Wange des M&auml;dchens. Aber Muth
-und Trost brauchte die alte, treue Seele ihrem Goldkinde heute nicht
-zuzusprechen, denn das reinste Gl&uuml;ck spiegelte sich auf dem holden
-Gesicht derselben. Die bl&uuml;hende Myrthe schm&uuml;ckte Agathes dunkle
-Locken, und Brautkleid und Schleier verk&uuml;ndeten, da&szlig; der sch&ouml;nste
-Tag ihres Lebens gekommen war.</p>
-
-<p>Man feierte in Sch&ouml;nfelde heut eine Doppelhochzeit; Fanny sowohl
-als Agathe sollten als junge Frauen in die neue Heimath
-einziehen, welche die Liebe ihnen bereitete. Es war ein sch&ouml;nes Fest,
-das die Familie feierte; denn trat Fanny jetzt als wirkliche Tochter
-in das Haus ihrer neuen Eltern, so z&auml;hlte man auch Agathe durch
-die innigsten Herzensbande zu den Kindern des Hauses und freute
-sich, sie als die Frau des braven Predigers im Orte zu behalten.</p>
-
-<p>Fanny hatte die Freude, von ihrer Mutter, welche ihre Tage
-in der N&auml;he der einzigen Tochter zu beschlie&szlig;en gedachte, an den
-Traualtar begleitet zu werden; aber auch Agathe stand nicht einsam.
-Der Onkel Niedrer war der Einladung Agathes gefolgt und f&uuml;hrte
-die geliebte Nichte ihrem Gatten zu, und zu Agathes unaussprechlicher
-Freude geh&ouml;rte auch Herr von Menzel zu den Hochzeitg&auml;sten,
-die Sch&ouml;nfelde beherbergte. Die Tante Niedrer freilich konnte es
-nicht &uuml;ber sich gewinnen, ihren Gatten zu begleiten; aber einige
-sch&ouml;ne Geschenke, welche sie Agathen schickte, zeigten doch, da&szlig; sie ihr
-vergeben hatte.</p>
-
-<p>Das freundliche Pfarrhaus, in das wir unsere Agathe nun zum
-Schlu&szlig; noch begleiten, war durch die G&uuml;te aller ihrer Freunde h&ouml;chst
-behaglich und nett eingerichtet worden. Denn sowohl der Onkel
-Niedrer, als auch Herr von Menzel und die Gutsherrschaft waren<span class="pagenum"><a name="Page_197" id="Page_197">[Pg 197]</a></span>
-bem&uuml;ht gewesen, alle Schr&auml;nke und Kasten der jungen Hausfrau zu
-f&uuml;llen und ihr ein wohlausgestattetes H&auml;uschen zu &uuml;bergeben. Aber
-neben dem bl&uuml;henden Gesichtchen der jungen Frau Pastorin zog noch
-ein altes, verwittertes mit in das Haus, dem mit Agathen zugleich eine
-sch&ouml;ne, stille Heimath geworden war. Wer es ist, brauche ich nicht erst
-zu sagen. Der neue, rothe Frie&szlig;rock gl&auml;nzt nicht herrlicher, als das
-gl&uuml;ckliche Gesicht der Alten, die ihn tr&auml;gt, und obwohl das neue
-schwarze Kopftuch von untadelhaft starkem Seidenzeug ist, so k&ouml;nnen
-die m&auml;chtigen Schleifen doch kaum ihre steife W&uuml;rde bewahren, denn der
-Kopf, den sie zieren, schwankt und zittert heut in nie erlebter Aufregung.</p>
-
-<p>&raquo;Dir danke ich ja alles, meine Anne, mein Gl&uuml;ck und meine
-Heimath, und nie mehr lasse ich dich von mir!&laquo; sagte die junge Frau
-mit Thr&auml;nen im Auge, als sie gemeinsam mit ihrem Gatten die alte
-Anne Sommer in das trauliche Hinterst&uuml;bchen einf&uuml;hrte, das sie ihr
-behaglich eingerichtet hatten. &raquo;W&auml;rst du nicht gekommen, mir die
-Wege zu bahnen, wer wei&szlig;, wie es jetzt mit mir st&auml;nde!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Du s&auml;&szlig;est als Directrice auf dem hohen Stuhle und n&auml;hetest Zugh&uuml;te,
-da&szlig; sich die K&ouml;nigin selbst nicht zu sch&auml;men brauchte, sie aufzusetzen,&laquo;
-neckte der Pfarrer fr&ouml;hlich. &raquo;Und in den Freistunden exercirtest
-du junge Bello's als Rekruten ein!&laquo; lachte die Alte, da&szlig; es dr&ouml;hnte.</p>
-
-<p>&raquo;Ach um alles, schweigt mir nur davon!&laquo; seufzte Agathe in
-komischer Angst. &raquo;Zwei Dinge in der Welt sind es, die nie in unser
-Haus kommen sollen, das sind Schoo&szlig;hunde und Zugh&uuml;te.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Halt, dergleichen Bedingungen darf man nie im Leben stellen,
-wie es im Spr&uuml;chlein hei&szlig;t:</p>
-
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">&raquo;Du sollst dich nie mit Schwur vermessen,<br /></span>
-<span class="i0">Von dieser Speise will ich nicht essen!&laquo;<br /></span>
-</div></div>
-
-
-<p>rief der Geistliche schelmisch. &raquo;Wer wei&szlig; denn, was in dem Kasten
-steckt, den ich soeben f&uuml;r dich aus Leipzig erhalten habe!&laquo; Dabei holte
-er eine kleine Kiste herbei, deren schon losen Deckel er schnell &ouml;ffnete
-und sie dann Agathen &uuml;berreichte.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_198" id="Page_198">[Pg 198]</a></span></p>
-
-<p>Die junge Frau blickte verwundert hinein und zog ein Tuch fort,
-das den Inhalt noch verh&uuml;llte. Und was lag nun vor ihr? Ein
-wunderniedliches, wei&szlig;seidenes Zugh&uuml;tchen, in dessen H&ouml;hlung sich
-ein zierlicher Schoo&szlig;hund verkroch, zwar nur aus Wachs, und in
-verkleinertem Maa&szlig;stabe, aber dem theuren Bello so &auml;hnlich, wie das
-Kind der Mutter. Ein Brief begleitete die Sendung; er war von
-der guten, alten Cousine und enthielt nebst tausend herzlichen Gl&uuml;ckw&uuml;nschen
-von ihr und allen Bewohnern der Arbeitsstube die Bitte,
-beifolgenden Scherz freundlich aufzunehmen. Das Hundchen war
-ein Abbild dessen, den sich Madame Niedrer zu Erinnerung an ihren
-theuren Bello verfertigen lie&szlig;, und dessen Doppelg&auml;nger sich die Cousine
-f&uuml;r Agathen verschafft hatte. An dem Hute aber hatten alle
-Mitglieder der Arbeitsstube einige jener furchtbaren, kleinen S&auml;ume
-gen&auml;ht, welche einst den Schrecken und die Verzweiflung Agathes
-ausmachten. Fr&auml;ulein Schneider garnirte das Kunstwerk schlie&szlig;lich
-mit zierlichen Maiblumen, und dieses H&uuml;tchen war in der ganzen
-langj&auml;hrigen Praxis der w&uuml;rdigen Directrice das Erste und Einzige
-gewesen, das ohne vorherige Pr&uuml;fung ihrer Principalin in die Welt
-hinaus wanderte.</p>
-
-<p>&raquo;Also nun birgt unsere Pfarre dennoch gerade jene beiden verp&ouml;nten
-Gegenst&auml;nde, Schoo&szlig;hund und Zughut! O du arme Agathe!&laquo;
-rief der Pfarrer lustig und hielt die beiden Geschenke hoch empor. Agathe
-aber hatte Thr&auml;nen im Auge, w&auml;hrend ihr Mund l&auml;chelte, und innig
-bewegt sagte sie: &raquo;Ja, es ist recht so! Gerade diese beiden Dinge
-sollen mir immer vor Augen stehen; denn sie werden mir eine stete
-Mahnung daran sein, wie g&uuml;tig Gott die arme Waise aus Tr&uuml;bsal
-zu Gl&uuml;ck und Frieden f&uuml;hrte.&laquo;</p>
-
-
-
-<div class="figcenter" style="width: 50%" >
-<img src="images/endoc.jpg" alt="Cover" style="width: 40%" />
-</div>
-
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-
-<h2><a name="Neue_Wege" id="Neue_Wege">Neue Wege.</a></h2>
-
-
-
-
-<p>Auf dem weichen Teppich eines kleinen, behaglichen Zimmers
-schritt ein schlanker Mann in mittleren Jahren unruhig auf
-und nieder und w&uuml;hlte mit seiner Hand oft ungeduldig in dem vollen,
-dunkelblonden Haar, das sein angenehmes Gesicht beschattete. Zuweilen
-blieb er stehen und schaute aufmerksam nach der h&uuml;bschen
-Frau, welche sich leicht in die Kissen des Sophas zur&uuml;cklehnte und
-mit einer Handarbeit besch&auml;ftigt war. W&auml;hrend das Gesicht des
-Mannes sich immer lebhafter r&ouml;thete und Spuren des Verdrusses
-zeigte, ruhte auf den Z&uuml;gen der noch ziemlich jung aussehenden Frau
-eine milde Freundlichkeit, und ihr Auge blickte ab und zu mit einem
-ungemein sanften Ausdrucke von der Arbeit auf.</p>
-
-<p>&raquo;Du bist zu gut und nachsichtig gegen sie, Gertrud, und dadurch
-erreichst du einmal nichts bei dem verw&ouml;hnten M&auml;dchen,&laquo; sagte
-Geheimerath Seebald, jener blonde Mann, endlich unwillig und blieb
-vor seiner Frau stehen, welche soeben eine l&auml;ngere Mittheilung gemacht
-zu haben schien und ihren Gatten nun fragend anblickte.</p>
-
-<p>&raquo;Aber, lieber Gustav, bedenke, wie frei und unabh&auml;ngig Frida
-in diesen letzten Jahren gewesen ist,&laquo; entgegnete die Frau sanft.
-&raquo;Es ist f&uuml;r jedes junge M&auml;dchen eine schwere Sache, sich einer Stiefmutter
-unterzuordnen; f&uuml;r Frida aber ist es doppelt schwer, da du
-sie so v&ouml;llig ungehindert schalten und walten lie&szlig;est. Nun soll das
-arme Kind mit einemmale ein Muster von Ordnung und Vortrefflichkeit
-<span class="pagenum"><a name="Page_202" id="Page_202">[Pg 202]</a></span>sein; aber du vergi&szlig;t, da&szlig; gerade in dem so wichtigen Uebergange
-vom Kinde zur Jungfrau ihr niemand zur Seite stand, der
-sie leitete und sie eines Bessern belehrte, sobald sie Fehler beging.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Niemand?&laquo; rief der Geheimerath lebhaft. &raquo;Habe ich ihr nicht
-eine Gouvernante gehalten und Dienstleute und alles was sie sonst
-brauchte?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ja, lieber Gustav, nur eben allzuviel!&laquo; entgegnete Frau Gertrud
-still l&auml;chelnd. &raquo;Die Gouvernante war vielleicht keine ganz gl&uuml;ckliche
-Wahl; ihre Erziehungsresultate wenigstens sprechen f&uuml;r wenig
-Geschick und Klugheit. Ich bitte dich heut nur, habe Geduld mit
-Frida; es wird schon besser werden. Ich verberge mir nicht, da&szlig;
-ich keinen leichten Stand ihr gegen&uuml;ber habe, da sie mich als unwillkommenen
-Eindringling eher hassen als lieben mag. Aber ich vertraue
-auf ihren Verstand und ihr gutes Herz und auf meine geduldige
-Liebe zu dem Kinde.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich tadle an Frida weniger ihre schlechten Eigenschaften, als vielmehr
-ihr Benehmen gegen dich, liebe Gertrud,&laquo; sagte der Geheimerath
-verstimmt. &raquo;Ist es nicht emp&ouml;rend, da&szlig; meine &auml;lteste Tochter
-dir mit Mi&szlig;trauen und K&auml;lte entgegentritt, wo sie doch vielmehr
-froh sein sollte, eine liebevolle Mutter und Freundin in dir zur
-Seite zu haben, die ihr alle die Lasten abnimmt, welchen ein so
-junges M&auml;dchen ja noch gar nicht gewachsen ist. Und da&szlig; Frida
-auch daf&uuml;r kein Verst&auml;ndni&szlig; hat, was du f&uuml;r mich bist, der ich lange
-Jahre hindurch einsam und freudlos dagestanden habe, und vor
-allem, welche treue Mutter ich in dir f&uuml;r ihre kleinen Geschwister
-gewonnen, die so uns&auml;glich einer andern Pflege und Liebe bedurften,
-als sie ihnen W&auml;rterinnen geben konnten, &mdash; siehst du, Gertrud,
-alles das ist's, was mich so sehr gegen Frida aufbringt. Sollte
-ich sie etwa erst um Erlaubni&szlig; fragen, ehe ich einen neuen Ehebund
-schlo&szlig;? Wahrlich, das verw&ouml;hnte Kind scheint es beansprucht zu
-haben.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_203" id="Page_203">[Pg 203]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Eben <em class="gesperrt">weil</em> sie ein verw&ouml;hntes Kind ist, Gustav!&laquo; sagte Gertrud
-sanft. &raquo;Vielleicht w&auml;re es in der That besser gewesen, du h&auml;ttest
-vorher mit ihr gesprochen und ihr deine Lage und die der Kinder
-vorgestellt. Du h&auml;ttest ihr damit ein Vertrauen bewiesen, das ihr
-schmeichelte, h&auml;ttest an ihr Herz und ihren Verstand appellirt und
-uns Allen die Situation dadurch erleichtert. Indem du ihr mit
-der fertigen Thatsache gegen&uuml;ber tratest, reiztest du ihren Trotz und
-ihre Opposition ganz unn&ouml;thig; denn jetzt hat sie absolut keinen
-Antheil an dem, was du f&uuml;r gut und n&ouml;thig fandest und kommt mir
-mit Abneigung und Mi&szlig;trauen entgegen. Da&szlig; ich unter diesen Umst&auml;nden
-f&uuml;r's Erste sehr vorsichtig sein mu&szlig; und sie vor allem wegen
-ihrer Fehler jetzt noch nicht tadeln mag, ist wohl ganz nat&uuml;rlich.
-Aber wenn Frida erst einsehen wird, da&szlig; ich nur ihr Bestes will
-und da&szlig; sie nur Erleichterung und Annehmlichkeiten durch meinen
-Eintritt in die Familie hat, dann wird sich das alles bald &auml;ndern.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Gebe es Gott; es lastet wie ein Alp auf mir und l&auml;&szlig;t mich des
-Gl&uuml;ckes gar nicht froh werden, das du mir in das Haus gebracht
-hast, meine geliebte Gertrud!&laquo; sagte der Geheimerath seufzend, indem
-er den Arm um seine Gattin legte, die jetzt an seiner Seite stand.
-&raquo;Aber das sage ich dir: wenn Frida sich noch ein einzig Mal so
-beleidigend und so &uuml;ber alles Maa&szlig; hochfahrend gegen dich betr&auml;gt,
-wie es heut Vormittag der Fall gewesen, dann mu&szlig; ich auf eine
-Aenderung denken. Dergleichen Unbilden sollst du nicht durch das
-th&ouml;richte M&auml;dchen ausgesetzt sein; das darf ich nicht leiden.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;La&szlig; doch nur jetzt gut sein, liebster Gustav,&laquo; entgegnete Gertrud
-tief err&ouml;thend. &raquo;Mich kr&auml;nken solche Ausbr&uuml;che von Frida's Laune
-nicht nachhaltig. Wenn ich mich in ihre Stelle versetze, w&auml;re ich
-gegen meine unwillkommene Stiefmutter vielleicht auch nicht sehr
-liebensw&uuml;rdig.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_204" id="Page_204">[Pg 204]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Nein, nein, Gertrud, es liegt tiefer; es ist nicht blos augenblickliche,
-&uuml;ble Laune, glaube es mir,&laquo; sagte der Geheimerath d&uuml;ster.
-&raquo;Es w&auml;re f&uuml;r Frida vielleicht auf alle F&auml;lle gut, sie k&auml;me eine zeitlang
-aus dem Hause, in andre, einfachere Verh&auml;ltnisse. Es sprechen auch
-noch einige andre Gr&uuml;nde f&uuml;r einen solchen Wechsel, welcher sie dem
-Einflu&szlig; einiger unklugen Freundinnen, sowie allerlei Thorheiten
-entz&ouml;ge, die sie sich, wie ich sehr stark vermuthe, in den Kopf gesetzt
-hat.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber nur jetzt nicht, nicht gleich nach meinem Eintritt in deine
-Familie,&laquo; bat Gertrud dringend. &raquo;Welche Gr&uuml;nde dich auch f&uuml;r
-einen solchen Wunsch bestimmen m&ouml;gen, warte noch damit, ich bitte
-dich. Bedenke doch, welches Licht es auf deine Frau werfen w&uuml;rde,
-die die &auml;lteste Tochter aus dem Hause treibt, sobald sie nur den Fu&szlig;
-in dasselbe setzte.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wenn es n&ouml;thig w&auml;re, w&uuml;rde niemand meine sanfte, engelsgute
-Frau beschuldigen, sondern nur meine stolze, trotzige Tochter,
-das glaube mir, Gertrud,&laquo; erwiederte der Geheimerath milde und
-k&uuml;&szlig;te die schmale, wei&szlig;e Stirn seiner Gattin. &raquo;Aber du magst
-Recht haben. Besser, wir schieben die Sache noch etwas hinaus,
-vorausgesetzt aber, wie gesagt, da&szlig; Frida solche Auftritte vermeidet,
-wie ich heute Morgen im Nebenzimmer mit anh&ouml;rte. Dergleichen
-<em class="gesperrt">darf</em> in meinem Hause nicht vorkommen; das leide ich nicht.&laquo;</p>
-
-<p>Nach diesem Gespr&auml;che trennten sich die beiden Gatten; der
-Geheimerath ging an seine Gesch&auml;fte, Gertrud in das Zimmer ihrer
-beiden kleinen Stiefkinder, einem Knaben von sechs und einem
-M&auml;dchen von vier Jahren. Es waren blasse, kr&auml;nklich aussehende
-Kinder, welche die Stiefmutter mit ziemlich gleichg&uuml;ltiger Miene
-anblickten, als dies zu ihnen herantrat.</p>
-
-<p>&raquo;Zeigst du K&auml;thchen Bilder, lieber Franz?&laquo; sagte Gertrud
-freundlich und strich dem Knaben &uuml;ber das glatte, dunkle Haar.</p>
-
-<p>&raquo;Ja, Mama, die Bilder sind aber so langweilig; ich kenne sie<span class="pagenum"><a name="Page_205" id="Page_205">[Pg 205]</a></span>
-schon alle so sehr,&laquo; klagte Franz, mit seinen schwimmenden, dunklen
-Augen zu Gertrud aufschauend.</p>
-
-<p>&raquo;So kommt mit in mein Zimmer, Kinder; ich will euch heute
-einmal wieder die h&uuml;bschen Kupferstiche zeigen, die euch neulich so
-gut gefielen,&laquo; sagte die Mutter freundlich. Ein leises Roth der
-Freude zog &uuml;ber des Knaben blasse Wange, und rasch sprang er
-vom Stuhle auf, der voranschreitenden Gertrud zu folgen. Die
-kleine Katharine trippelte eilig hinterdrein, und bald neigten sich die
-beiden Kindergesichter &uuml;ber einen Band sch&ouml;ner, gro&szlig;er Kupferstiche,
-welchen die Mutter ihnen auf den Tisch gelegt.</p>
-
-<p>&raquo;Erkl&auml;re K&auml;thchen die Bilder, wenn sie nicht alles versteht; du
-bist ja schon ein verst&auml;ndiger Junge,&laquo; sagte Gertrud l&auml;chelnd zu
-Franz, der ernsthaft mit dem Kopfe nickte und ganz stolz sein Amt
-eines Informators antrat, indem er sich Geschichten zu den bildlichen
-Darstellungen erfand, denen K&auml;thchen mit gespannter Aufmerksamkeit
-lauschte. Gertrud setzte sich inde&szlig; still an ihre Arbeit und lie&szlig;
-ihren Gedanken freien Lauf, bis nach einer Weile die Th&uuml;r des
-Nebenzimmers heftig aufgerissen wurde, und ein junges M&auml;dchen
-rasch eintrat.</p>
-
-<p>&raquo;Franz, du unartiger Junge, du hast mir gewi&szlig; wieder mein
-Buch fortgenommen,&laquo; rief sie &auml;rgerlich und kam zu den Kindern.
-&raquo;Bilder beseh'n, und immer und ewig Bilder beseh'n, weiter treibst
-du den ganzen Tag nichts. Meine B&uuml;cher <em class="gesperrt">sollst</em> du aber nicht
-nehmen; das wei&szlig;t du doch?&laquo;</p>
-
-<p>Franz war feuerroth geworden und antwortete nichts; Gertrud
-aber sagte milde: &raquo;Welches Buch fehlt dir denn, Frida?&laquo;</p>
-
-<p>Das junge M&auml;dchen wandte den Kopf nur halb nach der Fragenden
-um und sagte kurz: &raquo;Ein Dumas'scher Roman, in dem Franz
-einige Bilder gesehen hat, die ich hineingelegt.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_206" id="Page_206">[Pg 206]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Das Buch liegt in deines Vaters Zimmer, liebe Frida,&laquo; entgegnete
-Gertrud. &raquo;Er hielt die Lect&uuml;re f&uuml;r nicht ganz passend f&uuml;r
-ein so junges M&auml;dchen und nahm das Buch an sich. Ich will dir
-bessere B&uuml;cher geben, liebes Kind, als diese leichtfertigen, franz&ouml;sischen
-Romane. Hast du z. B. die B&uuml;cher von Jeremias Gotthelf
-schon gelesen?&laquo;</p>
-
-<p>Frida blickte ihrer Stiefmutter jetzt voll in das Gesicht. Es
-war ein feines, sch&ouml;nes K&ouml;pfchen, das auf den jungen, siebzehnj&auml;hrigen
-Schultern sa&szlig;, der edlen Bildung ihres Vaters sehr &auml;hnlich und
-von vollem, blonden Haar umwogt. Aber die maa&szlig;los moderne
-Frisur verdarb das prachtvolle Haar ebensosehr, wie der stolze Ausdruck
-des Gesichtes der Sch&ouml;nheit dieser Z&uuml;ge schadete. Bei Gertruds
-Worten warf sie den Kopf hochm&uuml;thig zur&uuml;ck und sagte scharf:
-&raquo;Wer hat denn in meinem Zimmer herumspionirt und Papa meine
-B&uuml;cher zugetragen?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nicht in deiner Stube lag das Buch, Frida,&laquo; entgegnete
-Gertrud ruhig, &raquo;sondern im E&szlig;zimmer trieb es sich herum. Dein
-Vater sah es dort liegen und bl&auml;tterte darin.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Papa hat sich doch sonst nicht um meine Lect&uuml;re bek&uuml;mmert,
-warum denn jetzt auf einmal?&laquo; sagte Frida spitz. &raquo;Von selbst ist
-er sicher nicht darauf verfallen, und ich m&ouml;chte doch sehr bitten, mich
-auch ferner mit dergleichen in Ruhe zu lassen. Solche Hetzereien
-sind gr&auml;&szlig;lich.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Du bist noch zu jung, liebe Frida, um jedes Buch lesen zu
-k&ouml;nnen, das dir in die Hand kommt,&laquo; erwiederte die Mutter immer
-noch ruhig, obwohl ihr zartes Gesicht bei Frida's b&ouml;sen Worten
-abwechselnd bleich und roth wurde. &raquo;B&ouml;se gemeint ist dabei nichts,
-im Gegentheil bin ich gern bereit, dir viel bessere Lect&uuml;re zu
-geben, als du in deiner nat&uuml;rlichen Unkenntni&szlig; dir aussuchst.
-Du wei&szlig;t, ich habe eine sehr reiche Bibliothek sie steht dir gern zu
-Diensten.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_207" id="Page_207">[Pg 207]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Ich danke, ich bin in der Leihbibliothek abonnirt,&laquo; sagte Frida
-kurz und ging hinaus, die Th&uuml;r sehr unsanft in das Schlo&szlig; werfend.
-Gertrud strich sich mit der Hand langsam &uuml;ber das Gesicht und
-seufzte. Dann aber blickte sie heiter nach den beiden Kindern, welche
-fr&ouml;hlich &uuml;ber ein spashaftes Bild lachten, das sie soeben aufgeschlagen,
-und Franz brachte das Buch zu der Mutter, damit diese
-ihnen die Geschichte erz&auml;hlte, die herrlich sein mu&szlig;te. Gertrud
-erf&uuml;llte bereitwillig die Bitte und verga&szlig; in dieser Weise einigerma&szlig;en
-den h&auml;&szlig;lichen Auftritt, den Frida veranla&szlig;t hatte. Sie
-f&uuml;rchtete aber freilich trotz aller Sanftmuth und trotz der unabl&auml;ssigen
-M&uuml;he, die sie sich gab, Frida f&uuml;r sich zu gewinnen, da&szlig;
-ihr dies nicht gelingen werde, und einige Tage sp&auml;ter brach denn
-auch wirklich die Katastrophe herein, welche Gertrud trotz aller Liebe
-und Milde nicht abwenden konnte.</p>
-
-<p>Gertrud hatte sich zum Ausgehen fertig gemacht und sagte, in
-das Zimmer tretend, zu Frida, welche am Clavier sa&szlig;: &raquo;Aber
-willst du dich nicht anziehen, mein Kind? Ich sagte dir ja, wir
-wollten bei Pr&auml;sident Wehrmann und Regierungsrath Keller Besuche
-machen. Dein Vater wird gleich eintreten, uns abzuholen; beeile dich
-etwas.&laquo;</p>
-
-<p>Frida wandte in ihrer beliebten Weise den Kopf nur halb herum
-und spielte weiter. Die Mutter wartete einige Augenblicke, dann
-forderte sie das junge M&auml;dchen von Neuem auf, nur m&uuml;hsam ihre
-Ungeduld verbergend; denn sie wu&szlig;te, wie ungern ihr Gatte wartete,
-wenn er ausgehen wollte. Frida aber spielte noch immer und sagte
-nur leichthin: &raquo;Ich gehe nicht mit!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Du gehst nicht mit, Frida? Warum nicht?&laquo; rief Gertrud
-erstaunt.</p>
-
-<p>&raquo;Weil ich keine Lust habe,&laquo; entgegnete Frida schnippisch. &raquo;Ich
-kann das Volk nicht ausstehen.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_208" id="Page_208">[Pg 208]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Wen meinst du eigentlich, liebes Kind?&laquo; sagte Gertrud betreten,
-und ihre Stirn r&ouml;thete sich vor Unwillen.</p>
-
-<p>&raquo;Wen ich meine?&laquo; rief Frida nachl&auml;ssig; &raquo;nun deine Pr&auml;sident
-Wehrmanns und Kellers und wie sie alle hei&szlig;en. Eine langweiligere
-Gesellschaft kenne ich nicht. Ich habe meinen eigenen Bekanntenkreis;
-jene Leute besuche ich nicht.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Du wirst dich doch wohl dazu entschlie&szlig;en m&uuml;ssen, liebe Frida,&laquo;
-sagte Gertrud ruhig, &raquo;denn jene Familien geh&ouml;ren zu dem Kreis der
-Freunde deines Vaters, und da schickt es sich nicht anders, als da&szlig;
-die Tochter des Hauses mit uns Besuche bei ihnen macht.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Das sind wieder einmal solche herrlichen Neuerungen, wie sie
-jetzt massenhaft ins Haus kommen!&laquo; rief Frida trotzig. &raquo;Es ist
-doch mindestens sonderbar, da&szlig; mir jetzt fortw&auml;hrend geboten wird,
-das thu, und das la&szlig;, wo ich doch bisher ganz gut selbst wu&szlig;te, was
-ich zu thun und zu lassen hatte.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Dein <em class="gesperrt">Vater</em> will es so, mein Kind,&laquo; sagte Gertrud kurz.</p>
-
-<p>&raquo;Papa will es nur, weil <em class="gesperrt">du es</em> willst; sonst fiele es ihm gar
-nicht ein, mir Dinge zuzumuthen, die mir unertr&auml;glich sind!&laquo; fuhr
-Frida leidenschaftlich auf. &raquo;Aber ich werde deshalb doch thun, was
-mir beliebt, wie ich es bisher gethan habe; ich bin alt genug und
-bedarf keiner Gouvernante mehr. Und wenn Papa kommt, will ich
-es ihm selbst sagen; warum hat er mir Situationen octroyirt, die
-mich emp&ouml;ren m&uuml;ssen!&laquo; Dabei warf sie ein Notenheft so st&uuml;rmisch
-auf den Fl&uuml;gel, da&szlig; die losen Bl&auml;tter weit im Zimmer umherflogen,
-und stie&szlig; den Clavierschemel mit dem Fu&szlig;e zur Seite, da&szlig; er
-umst&uuml;rzte.</p>
-
-<p>&raquo;Augenblicklich schweigst du, und m&ouml;ge deine Mutter die b&ouml;sen
-Reden vergessen, die du f&uuml;hrtest!&laquo; rief jetzt aber die Stimme des
-Geheimeraths, welcher rasch in das Zimmer eintrat. &raquo;Ich habe
-alles mit angeh&ouml;rt, was du gesagt hast, du unartiges M&auml;dchen;<span class="pagenum"><a name="Page_209" id="Page_209">[Pg 209]</a></span>
-aber jetzt hat das Spiel ein Ende. In dieser Weise dulde ich es
-nicht l&auml;nger, da&szlig; meine Tochter ihrer Mutter gegen&uuml;bertritt. Geh'
-jetzt auf dein Zimmer und erwarte dort das Weitere.&laquo;</p>
-
-<p>Frida warf den Kopf trotzig zur&uuml;ck und ging hinaus. Gertrud
-aber verbarg schluchzend ihr Gesicht in dem Tuche.</p>
-
-<p>&raquo;Gr&auml;me dich nicht, liebe Gertrud,&laquo; sagte ihr Gatte weich. &raquo;Ich
-f&uuml;hle deutlich, ich habe einen gro&szlig;en Fehler begangen, da&szlig; ich Frida
-so v&ouml;llig z&uuml;gellos aufwachsen lie&szlig;. Gebe Gott, da&szlig; es noch nicht zu
-sp&auml;t ist, sie zu &auml;ndern. Ich kenne sie in der That kaum wieder.
-Eigentlich ist sie ein gutes, fr&ouml;hliches Gesch&ouml;pf; aber jetzt ist sie wie
-ausgetauscht, und mir scheint, es wird immer schlimmer statt besser.
-Was ich dir neulich schon sagte, das wiederhole ich: das Beste ist,
-sie kommt eine Weile aus dem Hause. Wir entziehen sie dadurch
-auch zugleich dem Einflu&szlig; einer ihrer n&auml;chsten Freundinnen, die in
-hohem Grade ung&uuml;nstig auf ihr weiches Gem&uuml;th einwirkt, wie ich
-f&uuml;rchte. Ich kann ihr den Umgang mit dieser Familie nicht untersagen;
-auch w&uuml;rde ich die Sache dadurch nicht bessern, sondern nur
-Heimlichkeiten hervorrufen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Du erw&auml;hntest neulich schon etwas der Art,&laquo; sagte Gertrud;
-&raquo;welche Freundin meinst du?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Franziska von Froreich, ein eitles, leichtsinniges, aber kluges
-und angenehmes M&auml;dchen,&laquo; entgegnete der Geheimerath. &raquo;Sie hat
-den Kopf voll Phantastereien und Thorheiten, und leider steckt sie
-meine empf&auml;ngliche Frida sehr damit an. Durch unsere w&uuml;rdige
-Geheimer&auml;thin Gerold, eine m&uuml;tterliche Freundin meines Hauses,
-habe ich einige Dinge erfahren, die mich in der That beunruhigen.
-Im Hause dieser Froreich's hat Frida einen jungen Mann kennen
-gelernt, der ganz das Zeug dazu hat, einen phantastischen siebzehnj&auml;hrigen
-M&auml;dchenkopf zu verdrehen; denn er ist sch&ouml;n, elegant,
-witzig und angenehm, gerade wie es ein Held der Romane sein mu&szlig;,<span class="pagenum"><a name="Page_210" id="Page_210">[Pg 210]</a></span>
-die sie lesen. Dieser junge Herr scheint alle K&uuml;nste zu verstehen,
-die Herzen unerfahrener M&auml;dchen zu gewinnen. Mit dieser singt
-und musicirt er, mit jener schw&auml;rmt er f&uuml;r Literatur und bringt ihr
-Gedichte, dann wieder treibt er Blumensprache oder sonstige Fadaisen
-mit ihnen, tanzt vortrefflich, zeichnet etwas, kurz, es giebt eben nichts,
-was er nicht verst&auml;nde und w&uuml;&szlig;te. Aeltere Frauen sch&uuml;tteln die
-K&ouml;pfe, den M&auml;nnern ist er gleichg&uuml;ltig oder im Wege. Niemand
-aber wei&szlig; recht, wer er ist und was er eigentlich treibt. Meiner
-h&uuml;bschen Frida aber hat er das K&ouml;pfchen augenscheinlich gr&uuml;ndlich
-mit seinen S&uuml;&szlig;igkeiten verdreht, und wenn ich etwas sorglicher die
-Augen offen gehalten h&auml;tte, als ich leider gethan, so w&uuml;rde ich wohl
-selbst gesehen haben, worauf mich liebe Freunde jetzt aufmerksam
-machen. Ich denke jedoch, Frida ist noch ein solches Kind, da&szlig; ihr
-die Sache aus dem Kopfe kommt, lebt sie einige Monate in anderen
-Kreisen, und besonders auch fern von Franziska, die sich darin
-scheint gefallen zu haben, als Besch&uuml;tzerin dieser keimenden Liebe
-eine interessante Rolle zu spielen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Hast du gegen Frida etwas &uuml;ber diese Sache erw&auml;hnt?&laquo; sagte
-Gertrud nachdenkend.</p>
-
-<p>&raquo;Th&ouml;richter Weise allerdings!&laquo; entgegnete der Geheimerath
-achselzuckend. &raquo;Ich glaubte, ihr klar machen zu k&ouml;nnen, da&szlig; an
-einem jungen Manne elegantes und einschmeichelndes Wesen etwas
-Gef&auml;hrliches sei, und da&szlig; es verdienstvollere Eigenschaften g&auml;be
-und w&uuml;rdigere, um die Achtung und Liebe eines M&auml;dchens zu
-gewinnen. Aber das war nur Oel in's Feuer. Sie vertheidigte
-ihren jungen Verehrer mit flammenden Augen, und ich bin sicher,
-h&auml;tte ich ihr den Verkehr mit demselben jetzt untersagt, die Sache
-w&auml;re bei Frida's Heftigkeit wohl zu einer b&ouml;sen Wendung gekommen.
-Ich zog es daher vor, sie mit ihrer jugendlichen Schw&auml;rmerei zu
-necken und das Ganze scherzhaft und leicht zu nehmen. Aber ich<span class="pagenum"><a name="Page_211" id="Page_211">[Pg 211]</a></span>
-kann dir sagen, liebe Gertrud, ich bin froh, dich jetzt zur Seite
-zu haben, damit du &uuml;ber das Kind mit treuen Mutteraugen wachest
-und mit vorsichtiger Frauenhand den Knoten l&ouml;sest, der sich da etwa
-zu schlingen droht. An dem jungen Galan ist nichts, davon bin
-ich &uuml;berzeugt, seit ich ihn etwas n&auml;her beobachtet; aber mein M&auml;nnerkopf
-versteht es nicht, da das Rechte zu ergreifen.&laquo;</p>
-
-<p>Gertrud sah ernst sinnend vor sich nieder. &raquo;Du kannst auf meine
-H&uuml;lfe rechnen, Gustav,&laquo; sagte sie sanft. &raquo;Aber die Aufgabe ist keine
-leichte. Wie ich Frida beurtheile, wird sie sich schwer von einer
-ernsten Neigung zur&uuml;ckbringen lassen, und Widerstand ihr die Sache
-vielleicht noch anziehender machen. Sie glaubt dann wohl eine jener
-Romanheldinnen zu sein, die f&uuml;r ihre Liebe schwere Opfer zu bringen
-haben, wie sie in den B&uuml;chern gelesen. Lassen wir f&uuml;r jetzt die ganze
-Angelegenheit unber&uuml;hrt, vielleicht wirkt Zeit und Entfernung g&uuml;nstig
-auf ihr Gem&uuml;th. Wenn du sie unter recht einfache, frische und
-brave Menschen bringen k&ouml;nntest, so w&auml;re dies wohl das beste
-Mittel, das Kind zu &auml;ndern und zu bessern; aber wo finden wir
-solche?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich denke, ich habe sie schon gefunden,&laquo; entgegnete der Geheimerath
-heiter. &raquo;Die Sache liegt mir l&auml;nger schon im Sinn; denn
-seit jener Mittheilung unserer lieben, alten Freundin, Frida's
-keimende Neigung betreffend, war ich entschlossen, das Kind f&uuml;r eine
-Weile anderen H&auml;nden anzuvertrauen und sie aus den hiesigen Verh&auml;ltnissen
-fortzuschicken. Seitdem aber kam durch dich, meine
-Gertrud, neues Gl&uuml;ck &uuml;ber mich, und ich hoffte, auch &uuml;ber Frida,
-und so gab ich den Gedanken jener Trennung auf. Nun aber ist
-dieselbe n&ouml;thiger als je, n&ouml;thig f&uuml;r alle Theile, und so z&ouml;gere ich nicht
-l&auml;nger. Ich werde Frida meiner Schw&auml;gerin anvertrauen, der
-Schwester ihrer Mutter. Das ist eine einfache, gute und t&uuml;chtige
-Frau, und ihre T&ouml;chter liebe, nette M&auml;dchen. Bei ihnen ist unser<span class="pagenum"><a name="Page_212" id="Page_212">[Pg 212]</a></span>
-Kind wohlaufgehoben. Mein Schwager, ein braver, trefflicher
-Mann, hat eine Pachtung in Mecklenburg &uuml;bernommen, und das
-Landleben wird Frida mit vielem auss&ouml;hnen, was ihr in den sehr
-einfachen Verh&auml;ltnissen sicher nicht gefallen wird. Ich habe bereits
-fr&uuml;her schon einmal angefragt, ob meine Schw&auml;gerin mir das Opfer
-bringen will, Frida f&uuml;r einige Zeit in ihr Haus zu nehmen, und
-sie ist gern dazu bereit. Du bist wohl so freundlich, liebe Gertrud,
-in Frida's Sachen nachzusehen, was sie etwa bedarf. Staat wird
-sie &uuml;berfl&uuml;ssig genug haben, f&uuml;r alles andere aber &uuml;bernimm, bitte,
-die Sorge.&laquo;</p>
-
-<p>W&auml;hrend Frida's Eltern noch Weiteres mit einander besprachen,
-lag das junge M&auml;dchen in ihrem Zimmer auf dem Sopha, das
-Gesicht in die Kissen gedr&uuml;ckt, und ihre Brust athmete heftig. Aber
-Thr&auml;nen flossen trotz aller Leidenschaft nicht aus den hei&szlig;en Augen.
-Mit ihren kleinen, wei&szlig;en Z&auml;hnen bi&szlig; sie fest in das feine Taschentuch,
-das sie vor die Lippen dr&uuml;ckte, und ri&szlig; so heftig daran herum, da&szlig;
-es in St&uuml;cken flog. Da ballte sie die Fetzen grimmig in der kleinen
-Hand zusammen und schleuderte den Kn&auml;ul in die Ecke; ihre h&uuml;bschen
-F&uuml;&szlig;e aber stampften nun so energisch den Boden, da&szlig; die
-h&ouml;chst eleganten Stiefelchen, welche sie umschlossen, in allen N&auml;hten
-krachten.</p>
-
-<p>&raquo;Unertr&auml;glich! Unertr&auml;glich!&laquo; rief sie ungest&uuml;m und schlug die
-H&auml;nde vor das Gesicht. &raquo;Mich so zu behandeln, mir das zu bieten,
-und in ihrer Gegenwart! O, ich m&ouml;chte ersticken vor Aerger. Und
-was nun seine Worte hei&szlig;en sollten? &gt;Erwarte dort das Weitere!&lt;
-Was soll ich erwarten? Will man mich etwa einschlie&szlig;en, mich gefangen
-halten bei Wasser und Brod, bis ich kirre werde und der
-Frau Mutter zu F&uuml;&szlig;en liege? O da k&ouml;nnen sie lange warten;
-aber es ist abscheulich, ganz abscheulich vom Papa. Bis jetzt war
-<span class="pagenum"><a name="Page_213" id="Page_213">[Pg 213]</a></span>er immer so gut und that alles, was ich wollte; nun ist er wie verwandelt.
-Und an allem ist <em class="gesperrt">sie</em> allein schuld, ich wei&szlig; es wohl, sie
-mag sich verstellen wie sie will. Aber ich dulde es nicht, nein, absolut
-nicht!&laquo;</p>
-
-<p>In dieser Weise trieb es das heftige M&auml;dchen noch eine lange
-Weile, ohne dabei ruhiger zu werden. Da &ouml;ffnete sich die Th&uuml;r und
-ihr Vater trat herein.</p>
-
-<p>&raquo;Frida,&laquo; sagte er ruhig und ernst, &raquo;ich denke, es wird f&uuml;r alle
-Theile besser sein, wir versuchen es, eine Aenderung dadurch im Hause
-eintreten zu lassen, da&szlig; du deine Tante Marie, die dich lange
-schon so freundlich eingeladen hat, f&uuml;r einige Zeit besuchst. Ich
-habe dich zu sehr verzogen, ich sehe es jetzt wohl ein; der Schaden
-jedoch l&auml;&szlig;t sich nicht so schnell gutmachen. Aber deine treffliche
-Mutter soll nicht durch dich leiden. Ich hoffe, bei Tante Marie
-wirst du etwas vern&uuml;nftiger werden und als ein verst&auml;ndigeres
-M&auml;dchen heimkehren. Suche deine Sachen zusammen, &uuml;bermorgen
-bringe ich dich nach Dahme.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Also eine Verbannung!&laquo; sagte Frida kalt. &raquo;Gut, ich gehe
-und mache Platz; es mag das Beste sein, du hast Recht, Papa.
-Zwei Willen das geht nicht. Schade nur, da&szlig; du das jetzt erst
-merkst, und ich darunter so bitter leiden mu&szlig;. Aber es mag drum
-sein; ich danke dir, da&szlig; du mich fortschickst.&laquo;</p>
-
-<p>Es war kein guter Geist, der aus Frida in diesem Augenblicke
-sprach. Ihr Vater stand ihr traurig und rathlos gegen&uuml;ber und
-wu&szlig;te nicht, wie er den Weg zu ihrem Herzen finden sollte. Da
-fiel sein Blick auf ein Bild, das &uuml;ber Frida's N&auml;htischchen hing.
-Leise ergriff er die Hand seiner Tochter und f&uuml;hrte sie zu diesem
-Bilde. Es war das ihrer Mutter.</p>
-
-<p>&raquo;Frida,&laquo; sagte der Vater weich, &raquo;was w&uuml;rde sie dazu sagen,
-wenn sie h&ouml;rte, wie ihr Kind mit ihrem Vater spricht!&laquo;</p>
-
-<p>Das junge M&auml;dchen zuckte leise zusammen und erbla&szlig;te. Einen<span class="pagenum"><a name="Page_214" id="Page_214">[Pg 214]</a></span>
-Augenblick stand sie mit gesenkten Lidern vor dem Bilde, dann rief
-sie: &raquo;Papa!&laquo; und laut schluchzend sank sie an ihres Vaters Brust.
-Still hielt dieser sein Kind in den Armen, sprechen konnte er nicht,
-und auch Frida weinte nur heftig ohne zu sprechen. Endlich aber
-stammelte sie erregt: &raquo;Verzeih mir, Papa! O ich bin zu, zu
-ungl&uuml;cklich!&laquo; Und wieder weinte sie leidenschaftlich.</p>
-
-<p>&raquo;Ich verstehe dich nicht, Kind,&laquo; sagte der Vater sanft und
-streichelte ihre Wange, &raquo;du bist mir v&ouml;llig r&auml;thselhaft; denn wenn
-du nur wolltest, so w&uuml;rde dir aus deiner jetzigen Situation unendlich
-viel Gl&uuml;ck und Freude erwachsen; aber erzwingen kann ich
-es freilich nicht. Machen wir deshalb den Versuch einer Trennung
-in aller Liebe, Frida, h&ouml;rst du wohl? ohne von Verbannung oder
-dergleichen Thorheiten zu sprechen. Ein Landaufenthalt wird dir
-in allen F&auml;llen gut thun; der letzte Winter hat dich etwas bla&szlig; und
-nerv&ouml;s gemacht. Tante Marie hat dich lieb und freut sich lange
-schon auf dein Kommen, und ihre T&ouml;chter werden dir ein angenehmer
-Umgang sein. Scheiden wir in aller Liebe und Herzlichkeit
-f&uuml;r eine Weile von einander, und wenn du dann wieder zu uns
-zur&uuml;ckkommst, wirst du alles mit anderen Augen ansehen, de&szlig; bin
-ich sicher.&laquo;</p>
-
-<p>Frida sch&uuml;ttelte zwar leise und ungl&auml;ubig den Kopf; aber der
-gute Geist, den ihr Vater heraufbeschworen, breitete seine H&auml;nde
-&uuml;ber sie.</p>
-
-<p>&raquo;Wie du willst, Papa. Ich glaube, du hast Recht, und es ist
-gut f&uuml;r alle Theile,&laquo; sagte sie weich und ergeben. &raquo;Ich werde meine
-Sachen zusammen suchen, dann k&ouml;nnen wir fort, je eher je lieber.&laquo;</p>
-
-<p>Der Geheimerath k&uuml;&szlig;te sein Kind liebevoll und sagte leise:
-&raquo;So ist's recht, Frida, mache deinem armen Vater das Herz nicht
-gar zu traurig. Ich danke dir, und <em class="gesperrt">sie</em> wird dich daf&uuml;r segnen.&laquo;
-Dabei blickte der weiche Mann noch einmal feuchten Auges nach dem<span class="pagenum"><a name="Page_215" id="Page_215">[Pg 215]</a></span>
-Bilde seiner ersten, uns&auml;glich geliebten und betrauerten Gattin,
-dann verlie&szlig; er still das Zimmer.</p>
-
-<p>Frida setzte sich wie gebrochen diesem lieben Bilde gegen&uuml;ber,
-und leise rannen noch einige Thr&auml;nen &uuml;ber ihre Wangen. Aber es
-waren gute Gedanken, welche jetzt durch ihre Seele zogen. Sie gedachte
-jener traurigen Zeit, als diese treue Mutter von den Ihren
-schied, nachdem sie noch dem kleinen K&auml;thchen das Leben geschenkt
-hatte, und welche Zerst&ouml;rung dieser Tod in die Familie brachte.
-Ihr Vater war wie vernichtet von Kummer und Leid; das schwache,
-neugeborne Kindchen lag kraftlos und still in seiner Wiege, und das
-matte Lebenslicht schien verl&ouml;schen zu wollen. Sich selbst &uuml;berlassen,
-trieben sich die andern Kinder im Hause umher, Frida selbst erst
-12 Jahre alt und unf&auml;hig, die j&uuml;ngeren Geschwister zu z&uuml;geln.
-Wohl kamen dann Fremde in das Haus, sich der Kinder und des
-Hauswesens anzunehmen; aber es war ein zerfahrener Geist in dem
-Ganzen, und der Hausherr besa&szlig; nicht Kraft und Umsicht genug, es
-zu &auml;ndern. Summen wurden verschwendet, die Leute gewechselt,
-bald Strenge, bald G&uuml;te versucht, die Dinge anders zu gestalten,
-es war vergebens. Dann erkrankten die Kinder am Scharlachfieber,
-zwei von ihnen, welche vielleicht bei sorgsamerer Pflege
-gerettet werden konnten, erlagen der Krankheit, und die beiden
-J&uuml;ngsten blieben kr&auml;nklich und bla&szlig;, nachdem sie genesen waren.
-Endlich &uuml;bernahm Frida die Oberleitung des Hauswesens, sie war
-ja sechzehn Jahr alt und also ein erwachsenes M&auml;dchen. Aber statt
-besser, wurde es nur schlimmer. Frida f&uuml;hlte das wohl, wu&szlig;te es
-aber nicht zu &auml;ndern. Sie war sich selbst nicht klar, da&szlig; ohne Anleitung
-und ernsten Sinn, nur voll Interesse f&uuml;r ihr Vergn&uuml;gen,
-ihren Putz und ihre Freundinnen, sie einer solchen Aufgabe nicht
-gewachsen war. Frei und ohne jegliche Schranke lie&szlig; der Vater sie
-schalten und walten, that alles, was Frida wollte, gab ihr Geld<span class="pagenum"><a name="Page_216" id="Page_216">[Pg 216]</a></span>
-&uuml;ber Geld und bewilligte alle Vorschl&auml;ge, nur um Ruhe und Frieden
-im Hause zu haben. Und doch erreichte er damit wenig, Frida aber
-brachte er gro&szlig;en Schaden. Ein dunkles Gef&uuml;hl sagte dies dem
-jungen M&auml;dchen gar wohl; aber doch war es gar zu sch&ouml;n, so unbeschr&auml;nkt
-leben und befehlen zu k&ouml;nnen, sie w&uuml;nschte es nicht anders.</p>
-
-<p>Welch ein Donnerschlag war da f&uuml;r sie die Nachricht, ihr Vater
-werde wieder heirathen! Tiefe Entr&uuml;stung ergriff Frida &uuml;ber solches
-Unterfangen, und mit lebhaftem Mi&szlig;trauen und starker Abneigung
-trat sie der unwillkommnen Stiefmutter entgegen. Mit innerer
-Emp&ouml;rung &uuml;bergab sie den H&auml;nden der neuen Hausfrau alle Pflichten,
-welche jetzt ihr obgelegen, und denen sie freilich nur allzu l&auml;ssig
-nachgekommen war. Die Uebergabe dieser Gesch&auml;fte konnte sie nicht
-&auml;ndern und mu&szlig;te sie schweigend ertragen. Aber eines stand fest:
-sie selbst wollte nie etwas mit dieser Stiefmutter gemein haben
-und sich nie und nimmer ihrer Macht unterwerfen. Freilich suchte
-diese neue Mutter durch uns&auml;gliche Geduld und Milde solche Entschl&uuml;sse
-zu st&uuml;rzen und Frida's Herz zu erobern, Frida jedoch
-stemmte sich mit aller Macht dagegen, und wie sie ihre vermeintlichen
-Rechte glaubte sch&uuml;tzen zu m&uuml;ssen, das haben wir selbst gesehen.
-Aber es war ihr nicht wohl dabei. Sie f&uuml;hlte Tag t&auml;glich, welchen
-Schatz ihr Vater mit dieser Mutter in das Haus gef&uuml;hrt, und wie
-wohl geordnet jetzt alles seine stillen Wege ging. Wie froh und
-heiter blickte ihr Vater jetzt in die Welt hinein, wie wohl versorgt
-waren die kleinen Geschwister, und wie ordentlich und gesittet thaten
-die Dienstleute ohne L&auml;rm und ohne Widerspenstigkeit ihre Pflichten.
-Aber trotz dieser Einsicht konnte sie die Erbitterung und den Verdru&szlig;
-nicht aus ihrem Herzen scheuchen, und so war es besser, sie ging.
-Mochte ihr Vater Recht haben oder nicht, mochte Zeit und Entfernung
-g&uuml;nstig wirken oder nicht, f&uuml;r jetzt <em class="gesperrt">konnte</em> es nicht so
-<span class="pagenum"><a name="Page_217" id="Page_217">[Pg 217]</a></span>bleiben, das sah und begriff sie. Der vorige Trotz ihres ungeb&auml;ndigten,
-kindischen Herzens hatte jetzt ruhigerer Einsicht Platz gemacht,
-ja endlich behauptete die Jugend so sehr ihr Recht, da&szlig; die bevorstehende
-Reise mit ihren neuen Verh&auml;ltnissen und Eindr&uuml;cken ihr
-sehr lockend erschien, und sie sich von Herzen auf den Landaufenthalt
-freute, den sie sich lange schon gew&uuml;nscht. So machte sie denn gute
-Miene zum b&ouml;sen Spiel, erz&auml;hlte ihren Freundinnen von der bevorstehenden
-frohen Aussicht und war ganz heiter und guter Dinge.
-Gertrud ging auf diese Stimmung Frida's nur zu gern ein und
-half ihr eifrig, f&uuml;r die Reise alles in Stand zu setzen, wobei sie
-freilich w&uuml;nschte, gar vieles von dem Putz und Staat aus den
-Koffern wieder heraus zu legen, den die eitle Frida einpackte, welche
-sich einen sonderbaren Begriff von den Bed&uuml;rfnissen ihres Landlebens
-zu machen schien.</p>
-
-<p>So war denn einige Tage sp&auml;ter der Schritt geschehen und
-Frida im Hause der Tante Marie. Ihr Vater war wieder abgereist,
-Frida aber sa&szlig; bald nach ihrer Ankunft bei einem Briefe an
-ihre liebste Freundin, und damit wir sehen, wie es ihr in der neuen
-Umgebung gef&auml;llt, blicken wir &uuml;ber die Schulter der Schreiberin und
-nehmen Kenntni&szlig; von ihren Freundschaftserg&uuml;ssen.</p>
-
-<blockquote>
-<p class="center">
-&raquo;Liebste, beste Franziska!<br />
-</p>
-
-<p>Drei Tage sind schon dar&uuml;ber hingegangen, da&szlig; ich meinem
-Papa Lebewohl gesagt habe und hier in das Haus von Onkel
-und Tante Bremer eingetreten bin. Wie voll ist mir das Herz,
-und wie sehr verlangt mich danach, Dir, meiner besten, liebsten
-Freundin, von meinem Ergehen und meiner hiesigen Situation
-Kunde zu geben. Aber bis jetzt kam ich nicht dazu; denn ich kann
-Dir sagen, da&szlig; ich v&ouml;llig benommen bin von der Neuheit meines
-Aufenthaltes. Eine Sehnsucht und ein Verlangen nach meinem
-himmlisch behaglichen Vaterhause, nach Dir und meinen anderen
-geliebten Freundinnen erf&uuml;llt mich von fr&uuml;h bis sp&auml;t, und wenn
-<span class="pagenum"><a name="Page_218" id="Page_218">[Pg 218]</a></span>ich mich nicht sch&auml;mte, ich packte am liebsten wieder ein und eilte
-zur&uuml;ck zu Euch Allen, trotz der unertr&auml;glichen Verh&auml;ltnisse im
-Vaterhause.</p>
-
-<p>Ach Deinem Herzen, mein Fr&auml;nzchen, als dem meiner intimsten
-Freundin, habe ich ja allein den wahren Sachverhalt anvertraut,
-Du allein wei&szlig;t ja, was und wer mich aus dem Vaterhause
-hinaus getrieben. Die, die sich jetzt meine Mutter nennt,
-ist es, ich wei&szlig; es wohl, und wenn ich auch um Papa's willen
-heiteren Auges geschieden bin, Du wei&szlig;t besser, wie es in mir
-aussieht. Ach eines nur beruhigt und tr&ouml;stet mich trotz allem &mdash;
-da&szlig; ich diese Reise nicht schon einige Monate fr&uuml;her antreten mu&szlig;te.
-Du ahnest und wei&szlig;t warum, meine s&uuml;&szlig;e Freundin! Die himmlischen
-Stunden in Eurem Hause, wo ich <em class="gesperrt">ihn</em> sehen und sprechen
-durfte, ach sie sind ja doch ohnehin jetzt vor&uuml;ber, seit er fort ist.
-Aber wo ist er, warum sagte er es nicht, und warum ging er so
-pl&ouml;tzlich fort ohne unser Wissen? Zum Winter aber, wenn ich
-wieder bei Dir bin, dann will ja auch er wiederkommen, das
-hoffte er so sicher, als ich ihn zum letzten Male sprach. O dieses
-letzte Mal, Fr&auml;nzchen, es wird mir ewig in der Seele bleiben!</p>
-
-<p>Wie oft hast Du mir versichert, ich sei ihm nicht gleichg&uuml;ltig,
-Du, liebe, treue Freundin, ach immer und immer konnte ich nicht
-daran glauben. Aber beim Abschied, da habe ich es wohl glauben
-m&uuml;ssen, (o und <em class="gesperrt">wie</em> gern!) denn da&szlig; ich es Dir jetzt nur gestehe,
-er hat es mir nur allzudeutlich gesagt. Aber nicht blos in trocknen,
-prosaischen Worten, wie ein Anderer es wohl an seiner Stelle
-gethan h&auml;tte; o nein, das w&auml;re dieses genialen, poetischen Kopfes
-nicht w&uuml;rdig! Nein, er hat mir in einigen entz&uuml;ckenden Versen
-seine Gef&uuml;hle gestanden. Denke nur, Verse von ihm selbst. O ich
-m&uuml;&szlig;te ein Herz von Eis oder Stein haben, wenn mich diese
-Worte nicht ger&uuml;hrt h&auml;tten, und der Blick, von dem sie begleitet
-<span class="pagenum"><a name="Page_219" id="Page_219">[Pg 219]</a></span>waren. Ich mu&szlig; Dir wirklich als S&uuml;hne f&uuml;r mein sp&auml;tes Vertrauen
-dieses Gedichtchen hersetzen; urtheile selbst, <em class="gesperrt">was</em> ich dabei
-f&uuml;hlte.</p>
-
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">In einem stillen Thale<br /></span>
-<span class="i0">Bl&uuml;ht eine Rose hold,<br /></span>
-<span class="i0">Die Bl&auml;tter gl&uuml;hn und gl&auml;nzen<br /></span>
-<span class="i0">Wie s&uuml;&szlig;er Minne Sold.<br /></span>
-</div><div class="stanza">
-<span class="i0">Da kommt mit m&uuml;dem Schritte<br /></span>
-<span class="i0">Ein Wandersmann daher,<br /></span>
-<span class="i0">Sein Aug' ist matt und tr&uuml;be,<br /></span>
-<span class="i0">Sein Herz ist bang und schwer.<br /></span>
-</div><div class="stanza">
-<span class="i0">Doch wie mit holdem Zauber<br /></span>
-<span class="i0">Weht's um ihn wunderbar,<br /></span>
-<span class="i0">Und weiche Rosend&uuml;fte<br /></span>
-<span class="i0">Umspielen Stirn und Haar.<br /></span>
-</div><div class="stanza">
-<span class="i0">Und wie ein Himmelsbote<br /></span>
-<span class="i0">Schaut ihn das R&ouml;slein an:<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;Wohl kann ich Heilung bringen,<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;Du armer, kranker Mann.&laquo;<br /></span>
-</div><div class="stanza">
-<span class="i0">&raquo;Wem ich am Herzen ruhe<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;In stiller Lieb' und Treu',<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;Dem l&auml;chelt Freud' und Wonne<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;Und s&uuml;&szlig;es Gl&uuml;ck aufs Neu.<br /></span>
-</div><div class="stanza">
-<span class="i0">&raquo;&raquo;O Rose, holde Rose,<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;&raquo;So sei auf ewig mein!<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;&raquo;Des Herzens banges Sehnen,<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;&raquo;Das stillest du allein!<br /></span>
-</div><div class="stanza">
-<span class="i0">&raquo;&raquo;An treuer Brust geborgen<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;&raquo;Bl&uuml;hst du in sichrer Huth;<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;&raquo;O Rose, sei mein eigen,<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;&raquo;Nur dann ist alles gut!&laquo;&laquo;<br /></span>
-</div></div>
-
-
-<p>O wenn Papa dies l&auml;se, dann w&uuml;rde er eine andere, h&ouml;here
-Meinung von den Gaben dieses herrlichen Mannes bekommen!
-Aber um alles in der Welt, ihm darf ich es nicht sagen, er w&uuml;rde
-mir nie verzeihen, da&szlig; ich solche Dinge angenommen habe von
-einem jungen Manne, der ihm ganz fremd, und, wie ich mit
-blutendem Herzen bemerkt, durchaus nicht willkommen ist. So
-mag es denn ein s&uuml;&szlig;es Geheimni&szlig; zwischen uns bleiben, mein
-Fr&auml;nzchen, und wenn er wieder zur&uuml;ckkehrt, dann geht hoffentlich
-die Sonne heller f&uuml;r uns auf. Was k&uuml;mmert es mich, wer und
-was er ist, wonach Papa so sorglich forschte! Er ist Deiner
-Mama von einem Jugendfreunde empfohlen, das gen&uuml;gt mir,
-und wer so edel und vornehm in seiner Erscheinung, so fein und
-<span class="pagenum"><a name="Page_220" id="Page_220">[Pg 220]</a></span>ritterlich in seinem Benehmen ist, der kann kein untergeordnetes
-Menschenkind sein. Der Stempel edler Abkunft ist ja seiner
-sch&ouml;nen Stirn aufgepr&auml;gt! &mdash; Doch genug; ich verliere mich in
-meine s&uuml;&szlig;en wonnigen Tr&auml;ume, und doch mu&szlig; ich ihnen hier so
-ganz Lebewohl sagen und der rauhen Wirklichkeit um mich her
-leben. La&szlig; Dir jetzt hiervon ein Wenig erz&auml;hlen und bedaure
-mich, Du Getreue!</p>
-
-<p>Franziska, was giebt es doch f&uuml;r Existenzen, und was das
-Wunderbarste ist, wie gl&uuml;cklich scheinen mir hier die Leute alle in
-diesen mehr als einfachen Existenzen. Mir steht der Verstand
-still, und Dein scharfer Humor f&auml;nde hier nur allzureichen Stoff
-f&uuml;r Witz und Sp&ouml;ttereien.</p>
-
-<p>Also mit dem Anfang zu beginnen, das hei&szlig;t, mit unserer Ankunft
-hier in Dahme. Auf der Eisenbahnstation erwartete uns die
-Tante Marie selbst, eine gro&szlig;e, br&uuml;nette Frau mit starken Z&uuml;gen
-und einer derben Art und Weise, sich auszudr&uuml;cken. Ich kannte
-sie jedoch schon, obwohl ich sie damals mit Kinderaugen anblickte,
-denen alles Neue sch&ouml;n erscheint. Leider sehen diese Kinderaugen
-jetzt auch noch anderes, an der Tante z. B. gleich einen mehr als
-einfachen Anzug und einen Hut, den Noah's Eheweib f&uuml;glich
-h&auml;tte tragen k&ouml;nnen, so uralt war er und bot Schutz vor Sonne,
-Wind und Regenwetter. Sie schlo&szlig; mich st&uuml;rmisch in ihre gro&szlig;en,
-starken Arme und sch&uuml;ttelte mir die H&auml;nde so energisch, da&szlig; meine
-feinen, bla&szlig;grauen Josephinenhandschuhe, die ich mir zur Reise
-frisch angeschafft, sogleich in einem breiten Ri&szlig; auseinander
-platzten. &raquo;Zieh die Dinger herunter, Kind!&laquo; rief sie lachend, als
-sie sah, was sie angerichtet; aber das lie&szlig; ich wohl bleiben, die
-scharfe Sonne h&auml;tte mir die Haut gleich abscheulich verbrannt.
-Eine breitbauchige, schwerf&auml;llige Kalesche nahm uns dann auf,
-vor welche ein paar l&auml;cherlich plumpe Ackerg&auml;ule gespannt waren,
-<span class="pagenum"><a name="Page_221" id="Page_221">[Pg 221]</a></span>die ein roher Knecht vom Kutschbocke aus dirigirte. Meine hohen
-Koffer blickte die Tante mit starrem Schrecken an, auf der Kalesche
-hatten <em class="gesperrt">die</em> keinen Platz. &raquo;Wir m&uuml;ssen einen Leiterwagen herschicken,
-anders geht's nicht,&laquo; sagte die Tante achselzuckend. &raquo;Was
-schleppst du denn alles mit dir in der Welt herum?&laquo; fragte sie
-lachend, &raquo;in solchen Koffern hat ja ganz Dahme Platz.&laquo; Aber
-dann zogen Knecht und Pferde Tante's Aufmerksamkeit auf sich,
-und wir waren kaum zum Bahnhofe hinaus, da rief sie gebieterisch:
-&raquo;Stillhalten, Michel!&laquo; Wie der Blitz schwang sie sich
-dann auf den Bock, griff dem t&ouml;lpelhaften Knechte in die Leine und
-kutschirte nun selbst.</p>
-
-<p>&raquo;Ich bitte um Verzeihung, lieber Schwager,&laquo; sagte sie dabei
-&auml;u&szlig;erst munter, &raquo;mein Mann brauchte unsern Kutscher heut
-anderweitig, ich mu&szlig;te den Michel nehmen. Da der aber gew&ouml;hnlich
-nur Arbeitswagen f&auml;hrt, will ich ihm den ungewohnten
-Posten lieber abnehmen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Du f&auml;hrst selbst, Tante?&laquo; rief ich erstaunt, sie nickte aber
-blos und schnalzte mit der Zunge, und in raschem Trabe f&uuml;hrten
-die plumpen G&auml;ule uns und die alte Kalesche durch Wiesen und
-Felder. Auf einige Worte und Zeichen der Tante sprang nach
-einer Weile der Michel vom Wagen herunter und lief zu einem
-Trupp Arbeiter, die im Acker besch&auml;ftigt waren.</p>
-
-<p>&raquo;Das ist schon Dahme'scher Grund und Boden!&laquo; rief die
-Tante stolz und deutete mit der Peitsche hin&uuml;ber. &raquo;Sie sind gerade
-beim D&uuml;ngen.&laquo;</p>
-
-<p>Auch ohne ihre Erkl&auml;rung h&auml;tten meine Geruchsnerven mir
-das verrathen; es war ein gr&auml;ulicher Gestank, und erschrocken hielt
-ich mir das Tuch vor's Gesicht. Die Tante sah es und lachte.
-&raquo;Ja ja, Kindchen, nach Rosen&ouml;l riecht's gerade nicht; aber ich
-sage dir, f&uuml;r einen rechten Landwirth giebt's auf der ganzen Welt
-<span class="pagenum"><a name="Page_222" id="Page_222">[Pg 222]</a></span>keinen sch&ouml;neren Duft, als solchen frischen D&uuml;nger. Wirst dich
-schon daran gew&ouml;hnen, wenn du ein Weilchen bei uns bist. Der
-glatte Misthaufen inmitten unseres Hofes ist unserer Augen Trost
-und Freude.&laquo;</p>
-
-<p>Ich blickte Papa betroffen an, denn ich war entsetzt &uuml;ber
-solche Reden. Papa aber lachte und fing an mit der Tante &uuml;ber
-die L&auml;ndereien zu sprechen, durch welche wir fuhren, und zwar
-mit einem Interesse und einer Sachkenntni&szlig;, da&szlig; ich ganz erstaunt
-zuh&ouml;rte. Ich hatte nie gewu&szlig;t, da&szlig; mein feiner, eleganter Papa,
-der sich in seinem Arbeitszimmer und im Kabinet des Ministers
-nur mit Akten und Zahlen besch&auml;ftigt, auch davon etwas verstand.</p>
-
-<p>Nun endlich waren wir in Dahme. Ein spitzer Kirchthurm
-schaute lange schon &uuml;ber eine Anzahl D&auml;cher her&uuml;ber, und umgeben
-von einem weiten, b&auml;uerlich aussehenden Garten stand ein
-schlichtes, gro&szlig;es Haus vor uns, vor dem der Wagen still hielt.</p>
-
-<p>&raquo;So, da w&auml;ren wir gl&uuml;cklich!&laquo; rief die Tante und sprang
-vom Bock herunter, mit der Peitsche ein Paar gro&szlig;e Hunde abwehrend,
-welche mit w&uuml;thendem Gebell zum Hofthore herausst&uuml;rzten,
-das ein Knecht &ouml;ffnete.</p>
-
-<p>Hinter dem Knechte erschienen zwei junge M&auml;dchen, welche
-ich f&uuml;r Dienerinnen hielt und ihnen schweigend meine Sachen zu
-tragen gab, die ich im Wagen hatte. Da stellte Tante Marie sie
-mir pl&ouml;tzlich als ihre T&ouml;chter Lottchen und Hannchen vor. Denke
-Dir meinen Schrecken! Ganz verdutzt &uuml;ber meine so &auml;u&szlig;erst
-simpel aussehenden Cousinen folgte ich denselben nun in den Hof,
-der das Haus von drei Seiten umgab, und in dem ich wirklich,
-wie Tante Marie gesagt, in der Mitte einen m&auml;chtig breiten,
-glatten, wohlgepflegten und umz&auml;umten Misthaufen erblickte, auf
-dem sich eine Masse H&uuml;hner, Enten und G&auml;nse, Futter suchend,
-umhertrieben. Rings im Hofe, der von Wirthschaftsgeb&auml;uden
-<span class="pagenum"><a name="Page_223" id="Page_223">[Pg 223]</a></span>umgeben ist, standen eine Menge Pfl&uuml;ge, Wagen und was wei&szlig;
-ich alles, und eine Anzahl Arbeiter waren dabei, Pferde an- und
-abzuschirren. Tante Marie lief sogleich zu diesen Leuten hin&uuml;ber
-und gab einige Befehle, und wenige Minuten darauf rasselte ein
-Leiterwagen zum Thore hinaus, wahrscheinlich um meine ungl&uuml;cklichen
-Koffer von der Bahn zu holen.</p>
-
-<p>Als wir in das Haus eingetreten waren, umarmte Tante
-Marie mich noch einmal und begr&uuml;&szlig;te mich als lieben Gast. Auch
-meine Cousinen kamen jetzt ganz zutraulich herbei und nahmen
-mir Hut und M&auml;ntelchen ab, mit h&ouml;chst verwunderten Blicken
-meine Frisur und Toilette betrachtend, wie ich wohl merkte. Ich
-kam mir in meinem Anzuge, der doch nur eben modern und gewi&szlig;
-nicht &uuml;bertrieben elegant ist, hier in dieser grenzenlos einfachen,
-ja ich m&ouml;chte sagen, &auml;rmlichen Umgebung aber auch selbst h&ouml;chst
-eigenth&uuml;mlich vor, wie eine Prinzessin im Kreise von schlichten
-B&uuml;rgersleuten. Und doch ist Tante Marie die Schwester meiner
-Mutter, also bin ich doch gar nicht vornehmer als meine Cousinen,
-wenn mein Papa auch ein hoher Staatsbeamter ist. Uebrigens
-sind diese meine Cousinen ganz h&uuml;bsche M&auml;dchen, nur freilich zu
-roth und zu gesund aussehend f&uuml;r unsere Cirkel. Das glatt gescheitelte
-Haar, wie es bekanntlich jetzt nur noch die Engel tragen,
-bei Charlotte dunkel, bei Hannchen weich und blond, umrahmt
-angenehme Z&uuml;ge, und die blauen Kornblumenaugen blicken ohne
-Falsch in die Welt hinein. Aber denke Dir, da&szlig; meine Cousinen
-in dunkeln Kattun gekleidet sind, wie ihn unsere Dienstleute tragen,
-ohne einen Schatten von Ueberwurf oder Garnierung, und helle,
-bunte Kattunsch&uuml;rzen liegen dar&uuml;ber zum Schutz dieser kostbaren
-Gew&auml;nder. Und welcher Schnitt von Taille und Aermel! Wahrhaft
-l&auml;cherlich einfach. Der Onkel, der jetzt rasch und laut in das
-Zimmer trat und uns wie ein rechter Biedermann begr&uuml;&szlig;te, ist
-<span class="pagenum"><a name="Page_224" id="Page_224">[Pg 224]</a></span>der Typus eines schlichten Landmannes vom Kopf bis zur Zehe.
-Seine blonden, krausen Haarlocken und das feuerrothe Gesicht,
-aus dem die hellen, blauen Augen ordentlich spashaft bunt herausleuchten,
-werden von ein Paar m&auml;chtig breiten Schultern getragen,
-und der ganze prachtvolle Mann steht so fest und sicher
-mit seinen F&uuml;&szlig;en in den riesigen Stulpenstiefeln, als geh&ouml;rte ihm
-die ganze Welt. Aber wenn Du denkst, das ist nun die ganze
-Familie, da irrst Du Dich sehr. Jene beiden Cousinen sind nur
-die Aeltesten einer ganzen Reihe von Kindern. Zuerst pr&auml;sentirte
-sich noch ein halbreifer Backfisch in ausgewachsenen Kleidern,
-mit einem sch&uuml;chternen Gesicht und linkischem Benehmen; dann
-ein Bursche von etwa 13 Jahren, der gerade zu den Ferien hier
-ist, ein richtiger Schlagtodt, und endlich kommen noch ein M&auml;del
-und zwei kleine Jungen, der J&uuml;ngste etwa 3-1/2 Jahr alt. Und
-das ist alles roth und dick und kr&auml;ftig und gesund, bald schwarz
-wie die Mutter, bald blond wie Papa, und lacht und schwatzt und
-l&auml;uft durcheinander, da&szlig; einem der Kopf schwirren m&ouml;chte. Lieber
-Gott, wenn ich an meine beiden blassen, stillen Geschwister zu
-Hause denke, wie wird mir da! Die h&auml;tte Papa herschicken sollen,
-da&szlig; sie frisch und gesund hier werden, <em class="gesperrt">ich</em> mag ja gar nicht solche
-unversch&auml;mt rothen Backen haben, wie Hannchen und Lottchen,
-das ist ja so schrecklich gew&ouml;hnlich. Nun ich denke, ich werde mich
-wohl davor h&uuml;ten k&ouml;nnen. Aber freilich, diese Kost, welche hier
-t&auml;glich genossen wird, ist dazu angethan, den K&ouml;rper robust und
-derb zu machen. Was wird hier alles aufgetragen! Von diesen
-Riesenschinken, diesen armstarken W&uuml;rsten, diesen m&auml;chtigen
-Fleischst&uuml;cken, welche hier ger&auml;uchert, gekocht und gebraten die
-Tafel m&ouml;chten brechen machen, hast Du gar keine Idee. Und
-diese Butter, dieser Honig, diese Milch und Sahne und diese
-F&uuml;lle von Obst &mdash; ich meine oft, ich bin im Lande Kanaan, und
-<span class="pagenum"><a name="Page_225" id="Page_225">[Pg 225]</a></span>Onkel Bremer lacht immer &uuml;ber sein ganzes, h&uuml;bsches Gesicht,
-wenn er mein Staunen &uuml;ber solche F&uuml;lle mit ansieht. Welche
-Ueberwindung kostet es da, nicht frisch drauf los zu schmausen,
-sondern an seine zierliche Figur zu denken, f&uuml;r welche solche Kost
-ewiger Ruin w&auml;re. Denke Dir, wenn ich als derbe, plumpe,
-feuerrothe Landdirne mit dicker Taille und braunem Gesicht und
-H&auml;nden wieder zu Dir k&auml;me! Was w&uuml;rde wohl Baron L. dazu
-sagen? Und wie w&uuml;rde Lieutenant v. F. ver&auml;chtlich sein bleiches
-B&auml;rtchen drehen und mit einem hm, hm, ei wie Schade! seinen
-Augenkneifer eilig wieder herabfallen lassen, durch den er die
-ehemalige &raquo;Rosenknospe&laquo; bewundern wollte.</p>
-
-<p>Aber ich schreibe alles durcheinander und wollte Dir doch von
-dem Leben hier noch etwas erz&auml;hlen. Den n&auml;chsten Tag, als
-Papa noch hier blieb, war das Treiben im Hause noch etwas
-festlich und aus dem Geleise gebracht, dann aber ging alles wieder
-seinen regelm&auml;&szlig;igen Gang, gerade wie ein Uhrwerk, und da
-bin ich denn mitten hinein gefallen, ohne da&szlig; irgend Jemand
-sich in seinen t&auml;glichen Arbeiten st&ouml;ren l&auml;&szlig;t oder besondere Notiz
-von mir nimmt. Jedermann ist herzlich und freundlich gegen
-mich, wie man denn den ganzen Tag kein b&ouml;ses Wort h&ouml;rt,
-trotz der vielen Kinder. Aber ich f&uuml;hle mich doch im h&ouml;chsten
-Grade unbehaglich; denn was soll <em class="gesperrt">ich</em> unter diesen Menschen,
-die den ganzen Tag vom fr&uuml;hesten Morgengrauen, (o mein Gott,
-<em class="gesperrt">wie</em> entsetzlich fr&uuml;h!!) bis in die Nacht hinein nichts thun als
-arbeiten, arbeiten! Am ersten Tage meinte ich, man habe etwas
-Besonderes vor, da&szlig; alles so unabl&auml;ssig th&auml;tig war; aber nun
-merke ich wohl, man treibt es nie anders. Mir schwindelt
-ordentlich, wenn ich sehe, wie meine Cousinen immerfort n&auml;hen,
-stricken, kochen, pl&auml;tten, im Hof und Garten, K&uuml;che und Keller
-wirthschaften, und die Tante an der Spitze; denn sie arbeitet wie
-<span class="pagenum"><a name="Page_226" id="Page_226">[Pg 226]</a></span>ein Mann und hat die Wirthschaft und die Leute in fabelhafter
-Zucht und Ordnung. Man hat mir einen Einblick gegeben, wie
-alles im Hause eingetheilt ist und wie jeder seine Arbeit zugewiesen
-erh&auml;lt. In dieser Woche hat Hannchen die K&uuml;che und
-Lottchen die Milchwirthschaft und die N&auml;hereien, und selbst Martha,
-der Backfisch, hat sein Revier meist in der Kinderstube. In
-n&auml;chster Woche wechselt die Eintheilung wieder: Lottchen bekommt
-Hannchens Arbeit und umgekehrt Hannchen die Lottchens. Tante
-f&uuml;hrt die Oberleitung und steht sogar oft dem Onkel bei; denn sie
-besitzt Kenntnisse und Verstand wie ein Landwirth. Sogar die
-kleinen Kinder helfen schon in ihrer Weise, indem sie ihre Sachen
-selbst aufr&auml;umen, sich unter einander beim Anziehen beistehen, im
-Garten oder der K&uuml;che kleine Dienste thun, kurz, wie kleine
-Sclaven schon ganz wacker ihre Kette nachschleppen. Du kannst
-denken, wie mir bei solchem Leben zu Muthe ist. Kennt man
-denn in diesem Hause keine besseren Besch&auml;ftigungen? Wo bleibt
-da Bildung und Sinn f&uuml;r edlere Dinge? Und von irgend welchem
-Vergn&uuml;gen ist nie und nimmer die Rede. Hei&szlig;t das Jugendgl&uuml;ck,
-hei&szlig;t das Lebensgenu&szlig; f&uuml;r ein junges M&auml;dchen? O wie froh bin
-ich, da&szlig; ich anderes kennen gelernt, da&szlig; ich anders erzogen und
-aufgewachsen bin, als meine armen Cousinen, die mir schrecklich
-Leid thun w&uuml;rden, wenn sie nicht so &auml;u&szlig;erst zufrieden und froh
-in die Welt hinein blickten und nichts anderes w&uuml;nschen. Aber
-wie ich es hier lange aushalten soll, das mag Gott wissen. Bedaure
-mich etwas, meine theure Franziska, und schreibe bald</p>
-
-<p class="right">
-Deiner Frida.&laquo;<br />
-</p></blockquote>
-
-<p>Was Frida in gro&szlig;en Z&uuml;gen ihrer Freundin mitgetheilt, das
-war allerdings Wahrheit. Der Geist, der dieses Haus beherrschte,
-war der Geist der Arbeit, und Jedermann schien sich dabei &auml;u&szlig;erst
-wohl zu f&uuml;hlen. Frida freilich kam sich in dieser Welt uns&auml;glich<span class="pagenum"><a name="Page_227" id="Page_227">[Pg 227]</a></span>
-&uuml;berfl&uuml;ssig vor. Ueberall war sie im Wege und f&uuml;hlte sich einsam
-mitten unter den vielen Bewohnern des Hauses. Bisher war sie
-stets die Bewunderte und Tonangebende gewesen; ihre Freundinnen
-hatten ihr gehuldigt und geschmeichelt, der Vater alles gut und sch&ouml;n
-gefunden, was sie that, und ihr Wille wurde Gebot f&uuml;r das ganze
-Haus. Hier war sie ein Glied einer langen Kette, und niemand
-dachte daran, da&szlig; sie im Herzen andere Anspr&uuml;che machte. Der
-Vater hatte sie hergebracht, damit sie wie eine Tochter des Hauses
-in der Familie leben sollte, und wie eine solche wurde sie in dem
-Kreise aufgenommen und gehalten, gerade so und nicht anders, nur
-da&szlig; man eben keine Arbeiten von ihr verlangte. Aber Umst&auml;nde
-machte man freilich auch nicht mit ihr. Ihr Zimmerchen lag neben
-dem von Charlotte und Hannchen. Es war eben so einfach, wie
-alles sonst im Hause, und Frida meinte zuerst, hier <em class="gesperrt">k&ouml;nne</em> sie es
-nicht aushalten. Das verz&auml;rtelte Kind setzte zu Haus den Fu&szlig; auf
-weiche Teppiche, sowie sie das Bett verlie&szlig;, und tausend zierliche und
-&uuml;ppige Bequemlichkeiten umgaben sie, welche sie von jeher als etwas
-Selbstverst&auml;ndliches betrachtet hatte. Mit flinker Hand stand die
-Jungfer schon beim ersten Erwachen des jungen D&auml;mchens bereit,
-ihre Dienste anzubieten, und ohne da&szlig; sie selbst es wu&szlig;te war
-Frida ein uns&auml;glich verw&ouml;hntes und verz&auml;rteltes Prinze&szlig;chen geworden.
-Was Wunder, wenn ihr die so &auml;u&szlig;erst einfachen Zust&auml;nde
-in dem P&auml;chterhause als abschreckend und unertr&auml;glich vorkamen.
-Am ersten Abend hatten die Cousinen bereitwillig ihre Dienste angeboten,
-als Frida sich auskleidete; war es ja doch f&uuml;r die einfachen
-M&auml;dchen ein wahres Fest, Frida's zierliche und elegante Toilette
-so St&uuml;ck f&uuml;r St&uuml;ck in der Hand mustern und bewundern zu k&ouml;nnen.
-Achtlos warf Frida all die kostbaren Dinge auf St&uuml;hlen und Fu&szlig;boden
-umher, denn sie war nicht daran gew&ouml;hnt, selbst etwas aufzur&auml;umen.
-Die Cousinen flogen eilfertig hierhin und dorthin zu ihrer<span class="pagenum"><a name="Page_228" id="Page_228">[Pg 228]</a></span>
-Bedienung, r&auml;umten und ordneten, falteten und gl&auml;tteten mit gesch&auml;ftigen
-H&auml;nden, und Frida nahm ruhig alles hin, als geh&ouml;re
-sich das so. Endlich l&ouml;ste sie ihr reiches, blondes Haar auf, das die
-Jungfer ihr vor dem Schlafengehen stets sorgf&auml;ltig k&auml;mmte und
-b&uuml;rstete. Beim Losstecken desselben fielen einige Locken und Toup&eacute;'s
-zur Erde, welche den hohen modernen Aufbau der Frisur noch h&ouml;her
-und reicher gemacht hatten, wie es bei den jungen Modedamen so
-Sitte ist. Laut auflachend hob Hannchen diese Troph&auml;en der Eitelkeit
-empor und hielt sie staunend in den H&auml;nden.</p>
-
-<p>&raquo;Aber Frida, warum packst du dir denn solch' falsches Zeug auf
-deinen Kopf?&laquo; rief sie verwundert. &raquo;Du hast ja so sch&ouml;nes Haar;
-das fremde m&ouml;chte ich nicht tragen, wer wei&szlig;, wer das auf dem
-Kopfe gehabt hat!&laquo; Frida nahm ihr die Dinge verdrie&szlig;lich aus
-der Hand und sagte: &raquo;Das verstehst du nicht; in der Stadt kleidet
-man sich eben wie die Mode es fordert. Mein eigenes Haar ist mir
-oft sogar im Wege, fremdes frisirt sich viel besser. Aber hier freilich
-scheint es mir unn&uuml;tz, denn wer soll mich hier frisiren?&laquo; Aergerlich
-griff sie bei diesen Worten zum Kamm und fuhr sich hastig und
-ungeschickt durch das lange, dichte Haar, da sie in Abwesenheit ihrer
-Jungfer dies Gesch&auml;ft selbst machen mu&szlig;te. Da es ihr aber nicht
-gelang, warf sie den Kamm verdrie&szlig;lich wieder hin und wollte das
-Haar ungek&auml;mmt aufstecken. Sie verfitzte es dabei jedoch so arg,
-da&szlig; Lottchen endlich zugriff und rief: &raquo;O das sch&ouml;ne Haar! Warum
-verwirrst du es denn so? Soll ich es dir ausk&auml;mmen, Cousinchen?&laquo;</p>
-
-<p>Und flink huschte der Kamm bei den Worten schon durch das
-weiche Haar, was das junge M&auml;dchen ruhig geschehen lie&szlig;.</p>
-
-<p>&raquo;Mein Gott, warum Papa nur nicht wollte, da&szlig; ich meine
-Jungfer mitnahm!&laquo; klagte Frida verstimmt, &raquo;wie soll ich denn mit
-meiner Toilette allein fertig werden?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O wir helfen dir, liebe Cousine,&laquo; riefen die jungen M&auml;dchen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_229" id="Page_229">[Pg 229]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Aber habt ihr denn keine Jungfer, die euch anzieht?&laquo; fragte
-Frida erstaunt, und ein schallendes Gel&auml;chter antwortete ihr.</p>
-
-<p>&raquo;Eine Jungfer? Wir?&laquo; rief Lottchen belustigt. &raquo;Ja was sollten
-wir denn mit der? Wir machen alles selbst, und ich w&uuml;&szlig;te gar nicht
-wie spa&szlig;ig ich mich dabei anstellen w&uuml;rde, wenn ich mich sollte in
-allen St&uuml;cken bedienen lassen. Seit wir erwachsen sind, Hannchen
-und ich, haben wir der Mutter alles abgenommen, im Hause und
-in der Wirthschaft. Vater hat einen sehr hohen Pachtzins zu zahlen,
-da m&uuml;ssen wir alle sparen helfen, und Gott hat uns ja gesunde
-Glieder gegeben, die arbeiten k&ouml;nnen. Unn&uuml;tze Dienstleute kosten
-Geld; so haben wir jetzt auch f&uuml;r die Milchwirthschaft keine Mamsell
-mehr, sondern besorgen diese Gesch&auml;fte abwechselnd. Diese Woche
-bin ich an der Reihe, und wenn ich morgen fr&uuml;h um 3 Uhr aufstehe,
-um in den Kuhstall zu gehen, so erschrick nicht &uuml;ber die St&ouml;rung;
-beim Melken mu&szlig; ich dabei sein.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Was, um drei willst du aufstehen?&laquo; rief Frida entsetzt. &raquo;Das
-ist ja f&uuml;rchterlich! Bist du denn da nicht den ganzen Tag nerv&ouml;s und
-m&uuml;de?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nerv&ouml;s niemals, ich wei&szlig; gar nicht, was das ist,&laquo; sagte Lottchen.
-&raquo;M&uuml;de jedoch bin ich nat&uuml;rlich oft rechtschaffen; aber das schadet
-nichts, da schl&auml;ft sich's um so sch&ouml;ner. Und wenn man seine Arbeit
-hat, vergi&szlig;t man die M&uuml;digkeit. Ich denke, du wirst schon Gefallen
-am Landleben bekommen, und ich freue mich darauf, dir unsere
-sauberen St&auml;lle zu zeigen mit dem schmucken Vieh; die sch&ouml;nen
-Milchkeller mit den vielen Milchsch&uuml;sseln und Butterf&auml;ssern und dann
-die anderen Wirthschaftsr&auml;ume alle &mdash; o ich sage dir, es ist eine
-wahre Lust, darin th&auml;tig zu sein. Um keinen Preis m&ouml;chte ich unser
-Leben mit einem in der Stadt vertauschen, obwohl ich gar keine
-rechte Vorstellung habe, was ihr in der Stadt eigentlich treibt ohne
-Vieh und ohne Landwirthschaft.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_230" id="Page_230">[Pg 230]</a></span></p>
-
-<p>Frida verzog bei diesen Worten ihr M&uuml;ndchen etwas h&ouml;hnisch
-und zuckte mit den Schultern. &raquo;Jeder lobt sich seine Existenz als
-die Beste,&laquo; sagte sie herbe. &raquo;F&uuml;r ein Leben, wie ihr es f&uuml;hrt, m&uuml;&szlig;te
-ich meinerseits nun wieder danken. Ich st&uuml;rbe in den ersten acht
-Tagen dabei.&laquo;</p>
-
-<p>Die Cousinen lachten herzlich und versicherten, es k&auml;me nur auf
-Gew&ouml;hnung an; Frida aber lie&szlig; sich innerlich schaudernd &uuml;ber solche
-Gew&ouml;hnung von Lottchen das gestickte Nachthemd &uuml;berwerfen, und
-die Bewunderung &uuml;ber dies Kleidungsst&uuml;ck, das den jungen M&auml;dchen
-etwas ganz Neues war, f&uuml;hrte die Gedanken wieder auf andere
-Dinge. Das zierliche Nachth&auml;ubchen barg die vollen Flechten kaum,
-welche Hannchen bewundernd darunter schob, und die feinen, seidenen
-Pant&ouml;ffelchen brachten Lottchen ganz in Ekstase.</p>
-
-<p>&raquo;Du bist wie eine kleine Prinzessin im M&auml;rchen,&laquo; rief sie entz&uuml;ckt.
-&raquo;Solche reizenden Sachen habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen!
-Aber ich m&ouml;chte sie nicht an mir haben; ich w&uuml;rde mich immer
-&auml;ngstigen, etwas davon zu zerrei&szlig;en.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nun was schadet das?&laquo; sagte Frida m&uuml;de, &raquo;ewig kann man das
-Zeug doch nicht tragen, dann kauft man anderes.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Wir k&ouml;nnen das nicht, wir m&uuml;ssen sparsam sein und unsere
-Sachen lange tragen, sagt die Mutter,&laquo; erwiederte Hannchen. &raquo;Viel
-Kinder kosten Geld, f&uuml;r unsere Garderobe darf nicht viel ausgegeben
-werden. Aber bei unserm Leben hier auf dem Lande denkt auch
-niemand an Putz und Staat, das entbehren wir nie.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber kommt ihr denn nie in Gesellschaft oder auf B&auml;lle und
-in Concerte?&laquo; sagte Frida.</p>
-
-<p>&raquo;In Gesellschaft? O ja, zuweilen,&laquo; rief Lottchen stolz. &raquo;Pastor
-Werders und unsere Nachbarn in Hermsbach besuchen wir h&auml;ufig,
-besonders an Festtagen, und das ist dann prachtvoll. Ich freue
-mich schon darauf, dich ihnen vorzustellen. Manchmal wird dann<span class="pagenum"><a name="Page_231" id="Page_231">[Pg 231]</a></span>
-auch wohl ein T&auml;nzchen gemacht, besonders wenn die S&ouml;hne in den
-Ferien da sind, jedoch wir M&auml;dchen tanzen auch unter einander.
-Am sch&ouml;nsten aber ist's, wenn wir Geschwister unter uns sind, und
-Vater seine drei alten T&auml;nze aufspielt, nach denen wir in der gro&szlig;en
-Unterstube tanzen. Du sollst nur einmal dies Vergn&uuml;gen der Kinder
-mit ansehen; sogar unsere Mutter dreht sich da mit uns herum, wir
-lassen ihr keine Ruhe. Und nun kommt bald Kirmes, da tanzt das
-ganze Dorf und die ganze Umgegend unter unsern Linden. Das ist ein
-Fest, sage ich dir, wie du es dir gar nicht vorstellen kannst. Unser
-Gro&szlig;knecht ist ein prachtvoller T&auml;nzer; du sollst sehen, mit ihm tanzt
-sich's so sch&ouml;n, wie mit deinem trefflichsten Cavalier im Tanzsaal.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich soll mit euren Knechten tanzen?&laquo; rief Frida erschrocken,
-&raquo;thut ihr denn das?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nun nat&uuml;rlich, das ist ja eine Ehre, die wir den Leuten nicht
-abschlagen d&uuml;rfen,&laquo; entgegnete Hannchen. &raquo;Wir w&uuml;rden es aber
-auch selbst gar nicht entbehren m&ouml;gen; denn auf den Kirmestanz
-freuen wir uns schon das ganze Jahr, es ist gar zu lustig.&laquo;</p>
-
-<p>Frida sch&uuml;ttelte ungl&auml;ubig den Kopf und war im Herzen au&szlig;erordentlich
-indignirt &uuml;ber den Geschmack ihrer Cousinen. Mit den
-Knechten aber je zu tanzen, dazu sollte sie sicher nichts bewegen. Es
-w&auml;re ja eine Schmach f&uuml;r das feine Fr&auml;ulein, das sich bisher nur
-in aristokratischen Kreisen bewegt hatte. Aber sie behielt ihre Gedanken
-f&uuml;r sich und sagte ihren Cousinen gute Nacht, denn sie war
-m&uuml;de von all dem Neuen, was sie umgab.</p>
-
-<p>Als sie am andern Tage erwachte, h&ouml;rte sie schon viel reges
-Leben im Hause, und doch war es f&uuml;r Frida noch eine so fr&uuml;he
-Stunde, da&szlig; sie im Vaterhause sich noch ruhig auf die andere Seite
-gelegt h&auml;tte, um weiter zu schlafen. Hier jedoch fing der Tag fr&uuml;her
-an, wie sie merkte, und seufzend wickelte sie sich aus dem schweren
-Federbett heraus, das sie am Abend aufgenommen hatte. Aber mit<span class="pagenum"><a name="Page_232" id="Page_232">[Pg 232]</a></span>
-welchem Seufzer dachte sie nun daran, da&szlig; sie sich ganz allein anziehen
-m&uuml;sse und keine helfende Jungfer zur Seite habe. Jetzt erst
-merkte sie, wie verw&ouml;hnt sie war, und wie Recht ihre Stiefmutter
-hatte, welche ihr freundlich gerathen, ihren Anzug m&ouml;glichst selbst
-zu besorgen und sich nicht von Anderen abh&auml;ngig zu machen, was
-oft sehr unbequem werden k&ouml;nne. Ach jetzt <em class="gesperrt">war</em> es entsetzlich unbequem,
-sie sah es wohl ein; denn fast weinend vor Verdru&szlig; gerieth
-sie mit K&auml;mmen und B&uuml;rsten, B&auml;ndern und Haken und allen
-andern Gegenst&auml;nden der Toilette in Krieg und Feindschaft. Endlich
-schaute Hannchens frisches Gesicht zur Th&uuml;r herein.</p>
-
-<p>&raquo;Gut geschlafen, Cousinchen?&laquo; rief sie fr&ouml;hlich.</p>
-
-<p>&raquo;Danke, leidlich,&laquo; erwiederte Frida verstimmt.</p>
-
-<p>&raquo;Ich will dir bei der Toilette ein Bischen helfen, wenn du erlaubst,&laquo;
-fuhr Hannchen freundlich fort und griff gleich nach all den
-Gegenst&auml;nden, welchen Frida Urfehde geschworen hatte. Aber freilich
-die Toilette einer eleganten Stadtdame war f&uuml;r Hannchen ein Buch
-mit sieben Siegeln. Fragend hob sie bald dies, bald jenes empor,
-dessen Zweck ihr fremd war, vor allem aber wu&szlig;te sie mit den Chignons
-und Locken, welche Frida's Haarputz vervollst&auml;ndigen sollten,
-absolut nichts anzufangen.</p>
-
-<p>&raquo;Wirf die Dinger in den Kasten, was willst du hier damit!&laquo;
-rief sie endlich, und Frida wu&szlig;te auch keinen andern Rath. Dann
-schlang Hannchen das sch&ouml;ne Haar ihrer Cousine in zwei lange, glatte
-Flechten, wand dieselben einfach um deren Kopf und f&uuml;hrte Frida
-nun triumphirend vor den Spiegel.</p>
-
-<p>&raquo;Du siehst zum Verlieben h&uuml;bsch aus mit diesem glatten K&ouml;pfchen!&laquo;
-rief Hannchen bewundernd; Frida aber mochte ihr Spiegelbild
-kaum eines Blickes w&uuml;rdigen, denn sie fand sich abscheulich. Was
-kam hier jedoch darauf an, wie sie aussah? F&uuml;r diese altmodische,
-einfache Familie war sie gut genug, und selbst im Morgenrock noch<span class="pagenum"><a name="Page_233" id="Page_233">[Pg 233]</a></span>
-zu elegant, und von ihren st&auml;dtischen Bekannten sah sie ja zum Gl&uuml;ck
-niemand in solchem Aufzuge.</p>
-
-<p>Mit wahrem Hohn dachte sie jetzt an all die zierlichen, eleganten
-Anz&uuml;ge, welche ihre hohen Koffer bargen, und die sie gar nicht auspacken
-mochte. Die waren freilich hier von Ueberflu&szlig;, das wu&szlig;te
-sie jetzt und bedachte dies mit stillem Seufzen. Sie w&auml;hlte unter all
-den sch&ouml;nen Dingen ein einfaches Kleid aus, das freilich immer noch
-viel zu elegant f&uuml;r dies Haus war, und folgte dann Hannchen zu
-den &uuml;brigen Gliedern der Familie.</p>
-
-<p>Ihr Vater sa&szlig; ganz behaglich mit Onkel Bremer in der Sophaecke
-und rauchte sein Pfeifchen, und Frida h&ouml;rte voll Staunen, da&szlig;
-er schon seit zwei Stunden in Feld und Wald mit dem Schwager
-umhergestrichen war. L&auml;chelnd nickte er seinem T&ouml;chterchen zu und
-rief: &raquo;Sieh da, Frida, wie schmuck und nett du heut aussiehst.
-Diese glatten Z&ouml;pfe sind h&uuml;bscher als deine hohe st&auml;dtische Frisur,
-das gef&auml;llt mir gut.&laquo;</p>
-
-<p>Frida err&ouml;thete und Hannchen blickte triumphirend auf ihr Werk.
-Dann gingen die jungen M&auml;dchen zum Fr&uuml;hst&uuml;ck, mit dem man
-auf Frida gewartet hatte, und alles begr&uuml;&szlig;te das neue Glied des
-Hauses mit einem fr&ouml;hlichen &raquo;guten Morgen!&laquo;</p>
-
-<p>Es war ein guter Geist, der in diesem Hause lebte, das sah und
-empfand Frida gar bald, und trotz allem, was ihr hier unertr&auml;glich
-erschien, f&uuml;hlte sie sich durch den Zauber dieses Geistes schon in
-kurzer Zeit gefesselt. Wie lebendig und laut es auch oft um sie her
-war, nie h&ouml;rte sie unfreundliche oder lieblose Worte, und selbst die
-unb&auml;ndigen, kleinen Knaben gehorchten schnell und ohne Murren,
-wenn die Eltern oder die &auml;lteren Geschwister sie zurechtwiesen. Besonders
-sch&ouml;n aber war das Verh&auml;ltni&szlig; zwischen den erwachsenen
-T&ouml;chtern und ihrer Mutter, und mit tiefer Besch&auml;mung gedachte
-Frida ihres Betragens im Vaterhause, wenn sie sah, mit welcher<span class="pagenum"><a name="Page_234" id="Page_234">[Pg 234]</a></span>
-Verehrung und Liebe, welcher dienstfertigen Aufmerksamkeit Charlotte
-und Hannchen den W&uuml;nschen der Mutter entgegen kamen, und
-wie dankbar sie jede kleine Zurechtweisung aufnahmen. &raquo;Ja, es ist
-ihre rechte Mutter, mit einer Stiefmutter w&auml;re es gewi&szlig; auch
-anders,&laquo; seufzte Frida wohl im Stillen, um sich selbst zu entschuldigen;
-da&szlig; sie sich aber auch gegen ihren Vater oft unartig und
-launisch betrug, obwohl es ihr &raquo;rechter Vater&laquo; war, das mochte sie
-sich kaum eingestehen.</p>
-
-<p>Schon kurze Zeit nach ihrem Eintritte in das Haus ihrer Verwandten
-beklagte sich Frida bitter gegen Tante Marie &uuml;ber das Leid,
-das Papa ihr angethan, indem er wieder geheirathet hatte. Aber
-voll Verwunderung h&ouml;rte sie, da&szlig; Tante Marie diesen Schritt des
-Schwagers vollst&auml;ndig billigte.</p>
-
-<p>&raquo;Aber Tante, meine Mutter war ja doch deine Schwester; wie
-kannst du dich freuen, da&szlig; ihre Stelle durch eine Andere ersetzt
-worden ist?&laquo; rief Frida verletzt.</p>
-
-<p>&raquo;Gerade weil ich meine Schwester so innig liebte!&laquo; entgegnete
-Tante Marie. &raquo;K&ouml;nntest du deine theure Mutter selbst fragen, meine
-liebe Frida, so w&uuml;rdest du h&ouml;ren, wie gl&uuml;cklich es sie machte, ihren
-Mann wieder ruhig und zufrieden, ihre armen, kleinen Kinder in
-treuer Obhut, und ihre heranwachsende Tochter an der Seite einer
-erfahrenen, liebevollen Freundin zu wissen. Ich bin keine sentimentale
-Natur, mein liebes Kind, welche sich nur unpraktischen
-W&uuml;nschen und Gef&uuml;hlen hingiebt, und obwohl ich recht wohl wei&szlig;,
-da&szlig; einem Manne nichts in der Welt die erste Jugendliebe ersetzen
-kann, und die Wunde, welche der Tod ihm da schl&auml;gt, ewig bluten
-wird, so bin ich doch der Ansicht, es ist sowohl f&uuml;r ihn selbst wie
-f&uuml;r seine jungen Kinder ein Gl&uuml;ck, wenn er ein treues, weibliches
-Wesen findet, das ihm in Herz und Haus wieder Gl&uuml;ck und Frieden
-bringt. Und wie ich deine zweite Mutter kenne, so ist sie ganz dazu<span class="pagenum"><a name="Page_235" id="Page_235">[Pg 235]</a></span>
-geschaffen, das sch&ouml;ne Amt, das Gott ihr anvertraut, treu zu erf&uuml;llen.
-Und auch du, meine liebe Frida, wirst dich mit dem Gedanken
-auss&ouml;hnen, das wei&szlig; ich sicher, so traurig du auch jetzt den
-Kopf dazu sch&uuml;ttelst. W&auml;re Gertrud jung und unerfahren, so w&uuml;rde
-ich um deinetwillen die Wahl deines Vaters mi&szlig;billigt haben; denn
-einer fast erwachsenen Tochter mu&szlig; der Vater keine junge Stiefmutter
-bringen, das thut nimmer gut aus tausend Gr&uuml;nden. Aber
-Gertrud k&ouml;nnte den Jahren nach ja deine eigne Mutter sein, und
-sie hat so viel Tr&uuml;bes im Leben erfahren, da&szlig; sie gereiften und
-ernsten Sinnes zu euch kommt. Vertraue ihr nur getrost, mein
-liebes Kind; du kannst keine bessere Freundin erhalten, als dein
-Vater dir in dieser zweiten Mutter gegeben hat.&laquo;</p>
-
-<p>Frida wagte auf diese Worte nichts zu entgegnen, denn sie f&uuml;hlte
-wohl, da&szlig; es unlautre Gr&uuml;nde waren, welche sie gegen ihre Stiefmutter
-einnahmen, und da&szlig; besonders die Beschr&auml;nkung ihrer Launen
-und ihres &uuml;berm&auml;&szlig;ig freien Willens sie so dauernd emp&ouml;rte. Sie
-hatte gehofft, an der Schwester ihrer Mutter eine Bundesgenossin
-zu finden, welche v&ouml;llig so eingenommen gegen Gertrud war, als sie
-selbst. Da sie nun aber sah, wie anders Tante Marie den Schritt
-des Vaters beurtheilte, nahm sie sich vor, solch Gespr&auml;ch nie wieder
-in Anregung zu bringen, sondern ihren Verdru&szlig; im Herzen zu verschlie&szlig;en;
-verstanden wurde sie ja doch nicht. Auch gegen ihre Cousinen
-mochte sie &uuml;ber diesen Gegenstand nicht sprechen, sie kannten
-ja die Verh&auml;ltnisse nicht. Wie anders freilich war das zu Haus, wo
-sie gegen ihre Freundinnen ihr Herz aussch&uuml;tten konnte und bei
-diesen zehnfaches Echo fand! Wie wurde sie von diesen bedauert
-wegen des Unrechtes, das ihr geschehen, und wie best&auml;rkten sie diese
-klugen, jungen M&auml;dchen in der Opposition, welche sie der unwillkommnen
-Stiefmutter entgegen zu bringen entschlossen war. Im
-Kreise dieser jungen Backfischchen hatte Frida stets neue Nahrung<span class="pagenum"><a name="Page_236" id="Page_236">[Pg 236]</a></span>
-f&uuml;r ihre Gef&uuml;hle gesucht und gefunden, und wenn Gertruds sanfte,
-liebevolle Weise oft schon auf Frida's Herz ihren g&uuml;nstigen Einflu&szlig;
-ge&uuml;bt, dann waren es die leidenschaftlichen Rathschl&auml;ge und Ansichten
-dieser Freundinnen, und besonders Franziska's, welche alles wieder
-verdarben. Gertrud ahnte das wohl, denn sie kannte einige dieser
-jungen M&auml;dchen; aber dennoch wagte sie nicht, Frida den Umgang
-mit denselben zu verbieten, die Sache w&auml;re dadurch nur schlimmer
-geworden.</p>
-
-<p>Hier nun im Hause der Tante machte das friedliche Leben bald
-seine Rechte auf das junge M&auml;dchen geltend, und da jene leidenschaftlichen
-Empfindungen nirgends Anklang und Nahrung fanden,
-wurden sie stiller und stiller, und endlich dachte Frida gar nicht mehr
-mit jener Abneigung an Gertrud, welche sie bis dahin erf&uuml;llt hatte.
-Die Briefe aus der Heimath waren Boten der Freude; das Vaterhaus
-strahlte aus der Ferne bald wieder in freundlichem Glanze zu ihr
-her&uuml;ber, und der Gedanke, bei ihrer R&uuml;ckkehr wieder in jenes verha&szlig;te
-Verh&auml;ltni&szlig; zur Stiefmutter einzutreten, nahm mehr und mehr
-eine andere F&auml;rbung an, je l&auml;nger Frida vom Hause fort war.</p>
-
-<p>Als am ersten Tage gleich fr&uuml;h Morgens alles an die Arbeit
-eilte, wie es in diesem Hause Sitte war, sagte Tante Marie in ihrer
-schlichten Weise zu Frida: &raquo;Nun, mein liebes T&ouml;chterchen, da du
-ganz als Familienglied und Kind des Hauses bei uns sein sollst,
-versteht es sich auch, da&szlig; wir keine Umst&auml;nde mit dir machen. Jeder
-geht an seine Gesch&auml;fte wie alle Tage. Charlotte hat heut die K&uuml;che
-unter ihrer Leitung, Hannchen ist seit dem fr&uuml;hen Morgen schon in
-der Milchwirthschaft besch&auml;ftigt, Martha besorgt soeben die H&uuml;hner
-und dann nimmt sie sich der Kleinen an, w&auml;hrend ich mit Hermann
-im Keller Bier auf Flaschen f&uuml;llen will. Magst du einem von uns
-Gesellschaft leisten, so soll es uns lieb sein; willst du aber lieber
-lesen oder musiciren, oder dich im Garten ergehen, so findest du hier<span class="pagenum"><a name="Page_237" id="Page_237">[Pg 237]</a></span>
-B&uuml;cher und Noten und manch h&uuml;bsches Pl&auml;tzchen drau&szlig;en im Freien.
-Ich will dir die Kinder zur Gesellschaft schicken, wenn Martha ihnen
-Urlaub giebt; denn bei ihr haben sie Schule. Das M&auml;del ist ein
-geborner Schulmeister, sage ich dir.&laquo;</p>
-
-<p>Frida zog es vor, im Zimmer bei B&uuml;chern und Clavier zu
-bleiben, und so verlie&szlig; sie die Tante, um den tausend Gesch&auml;ften
-nachzugehen, welche ihrer harrten. Das junge M&auml;dchen sah sich
-nun allein mitten unter all den vielen th&auml;tigen Menschen, welche sie
-umgaben und kam sich unendlich &uuml;berfl&uuml;ssig in diesem Hause vor.
-Sie ergriff ein Buch und las ein Wenig; aber ihre Gedanken flogen
-davon fort, bald zur&uuml;ck in die Heimath, bald den Stimmen nach,
-welche sie hier und dort h&ouml;rte. Dann versuchte sie die Noten, welche
-auf dem Clavier lagen; aber sie fand dieselben altmodisch und langweilig
-und das Instrument gar zu klanglos. Es war ja ein Jammer,
-da&szlig; sie ihre Uebungen auf solchem &raquo;Rumpelkasten&laquo; halten sollte; zu
-Hause hatte sie einen so prachtvollen Fl&uuml;gel von Papa erhalten.
-Sie stand &auml;rgerlich auf und suchte andere Unterhaltung; aber alles
-mi&szlig;fiel ihr. Ein Gef&uuml;hl von Verdru&szlig; &uuml;berkam sie mehr und mehr,
-da&szlig; niemand sich um sie bek&uuml;mmerte, gerade als w&auml;re sie gar nicht
-in der Welt! Und sie war doch Gast hier im Hause und an Vernachl&auml;ssigungen
-&uuml;berdies in keiner Weise gew&ouml;hnt. Was in aller
-Welt sollte sie hier anfangen, wo jeder nur an sich selbst dachte, jeder
-seiner Arbeit nachging, ohne danach zu fragen, ob sie sich indessen
-zu Tode langweilte? Das war ja wirklich nicht zu ertragen!</p>
-
-<p>Frida's Verstimmung wuchs von Minute zu Minute, bis endlich
-die Langeweile sie bewog, da man sich nicht um sie bek&uuml;mmerte, selbst
-den ersten Schritt zu thun und zu ihren Cousinen zu gehen. Sehr
-verlockend freilich war es nicht, sie bei ihren Arbeiten aufzusuchen;
-aber was thut man nicht, um sich die Zeit zu vertreiben! Sie
-ging in die Kinderstube, wo Martha besch&auml;ftigt war, ihren beiden<span class="pagenum"><a name="Page_238" id="Page_238">[Pg 238]</a></span>
-kleinen Geschwistern Lesestunde zu geben, w&auml;hrend das dreij&auml;hrige
-Br&uuml;derchen daneben spielte und sich aus Bausteinen einen Palast
-erbaute.</p>
-
-<p>Bei Frida's Eintritt blickten die Kinder von ihren Besch&auml;ftigungen
-auf, und die kleine Marie sprang dem jungen M&auml;dchen fr&ouml;hlich entgegen.</p>
-
-<p>&raquo;Wo steckt ihr denn nur alle?&laquo; sagte Frida gereizt, &raquo;und wo
-ist Hannchen und Charlotte geblieben?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich dachte, du w&auml;rest bei ihnen, liebe Cousine,&laquo; entgegnete
-Martha etwas sch&uuml;chtern. &raquo;Ich mu&szlig; die Kinder einige Stunden besch&auml;ftigen;
-Hannchen ist im Milchkeller und Lottchen in der K&uuml;che.
-Sie denken wohl, da ist keine Unterhaltung f&uuml;r dich. Willst du bei
-uns bleiben?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich werde Hannchen aufsuchen,&laquo; sagte Frida kurz; denn sie
-fand es schon bei ihren kleinen Geschwistern zu Hause unter ihrer
-W&uuml;rde, sich mit diesen abzugeben, wie viel mehr noch diesen kleinen
-Bauernkindern gegen&uuml;ber; denn etwas anderes als Bauernkinder
-waren die dicken, kleinen Posaunenengel doch wirklich nicht.</p>
-
-<p>&raquo;Mariechen, lauf und zeige Frida den Milchkeller!&laquo; rief Martha
-der kleinen Schwester zu, und diese ergriff zutraulich die Hand der
-Cousine und zog sie mit sich fort. Sie hatten den gro&szlig;en Hof zu
-durchschreiten, den allerlei Federvieh und anderes Gethier belebte.
-Es hatte in der Nacht geregnet, und in Folge davon war der Hof
-etwas unsauber, besonders in der N&auml;he einiger St&auml;lle, an denen
-sie vor&uuml;ber schritten.</p>
-
-<p>&raquo;O Gott, meine Stiefeln! Ist das ein Koth hier bei euch!&laquo; rief
-Frida und blickte voll Entsetzen auf ihre hellfarbigen, zierlichen
-Stiefelchen, welche in diesem unvermeidlichen Unrath schon nach
-wenig Minuten feucht und unsauber geworden waren. &raquo;Warte, ich
-hole dir Holzpantoffeln!&laquo; rief Marie und kam sogleich mit einem<span class="pagenum"><a name="Page_239" id="Page_239">[Pg 239]</a></span>
-solchen Paar zur&uuml;ck, w&auml;hrend ein zweites lustig an ihren eigenen,
-kleinen F&uuml;&szlig;en klapperte. Frida versuchte darin zu gehen, unm&ouml;glich!
-Sie ging wie auf Stelzen und fiel nun erst recht in die Pf&uuml;tzen.
-Aergerlich erreichte sie endlich ihr Ziel und kroch die Stufen hinab,
-welche in den Milchkeller f&uuml;hrten. Hannchen kam ihr hier fr&ouml;hlich
-entgegen, das Kleid aufgesch&uuml;rzt und in der Hand einen breiten
-L&ouml;ffel, mit dem sie soeben die Sahne von den zahllosen Milchsch&uuml;sseln
-abrahmte, welche ringsum im Keller standen. Frida trippelte zaghaft
-n&auml;her, denn ihr war sehr unbehaglich zu Muthe. F&uuml;r ihre d&uuml;nnen,
-nassen Stiefelchen war dieser feuchte, von Milch hier und dort getr&auml;nkte
-Fu&szlig;boden noch schlimmer, als drau&szlig;en der schmutzige Hof;
-auch umgab sie hier eine so kalte Kellerluft, es roch so unangenehm
-nach Milch und Molken, sie w&auml;re am liebsten gleich wieder fortgelaufen.
-Hannchen ging ruhig weiter von Sch&uuml;ssel zu Sch&uuml;ssel, ohne
-sich in der Arbeit st&ouml;ren zu lassen, und das verdro&szlig; Frida auch.
-Was sollte sie hier, sie war ja nur im Wege und erk&auml;ltete sich am
-Ende noch bis auf den Tod. Aber jetzt l&auml;chelte Hannchen ihr so
-freundlich zu und schien so erfreut, sie hier zu sehen, da durfte sie
-doch nicht gleich wieder davon laufen. So hob sie denn ihr helles,
-reichgarnirtes Kleid sorgf&auml;ltig auf und trippelte hinter Hannchen
-drein von einer Milchsatte zur andern.</p>
-
-<p>&raquo;Was machst du nur eigentlich, Hannchen?&laquo; rief sie nach einer
-Weile, als sie sah, wie jene &uuml;berall sorgf&auml;ltig mit dem breiten L&ouml;ffel
-die dicke Sahne von der geronnenen Milch absch&ouml;pfte. &raquo;Du verdirbst
-ja die ganze saure Milch! Wer soll die denn genie&szlig;en, wenn du
-die Sahne herunternimmst?&laquo;</p>
-
-<p>Hannchen lachte herzlich und sagte: &raquo;Die Schweine, Cousinchen!
-Etwas bleibt zur Bereitung von K&auml;se, das Uebrige wird Viehfutter.
-Auf den Tisch kommt solche abgerahmte Milch nicht, habe keine
-Furcht!&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_240" id="Page_240">[Pg 240]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Aber wer soll denn all die Sahne essen, die du da sammelst?&laquo;
-fragte Frida weiter.</p>
-
-<p>&raquo;Essen? Gott bewahre, das w&auml;re sch&ouml;n!&laquo; rief Hannchen.
-&raquo;Daraus soll ja die Butter f&uuml;r's ganze Haus gemacht werden.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Die Butter? <em class="gesperrt">Daraus</em> macht ihr Butter?&laquo; fragte Frida verwundert.</p>
-
-<p>&raquo;Nun ja, woraus denn sonst?&laquo; lachte Hannchen. &raquo;Komm und
-sieh dir das Buttern einmal mit an; du hast es wohl noch nie gesehen?&laquo;</p>
-
-<p>Frida folgte der Cousine in den Nebenraum, und hier sah sie
-mehrere hohe Butterf&auml;sser, welche von einigen derben M&auml;gden in
-Bewegung gesetzt wurden. Das war f&uuml;r die kleine Stadtdame ein
-v&ouml;llig neuer Anblick, und erstaunt sah sie dann, da&szlig; das Fett der
-Sahne sich bei der Bewegung im Fa&szlig; von den Milch- und Wassertheilen
-trennte und sich zu kleinen Butterkl&uuml;mpchen verwandelte.
-Hannchen bot ihr ein Glas frischer Buttermilch an, welche aus dem
-Fasse gegossen wurde, und Frida geno&szlig; mit Vergn&uuml;gen den unbekannten
-Trank, der ihr sehr mundete.</p>
-
-<p>&raquo;Heute Abend kostest du gewi&szlig; mit doppeltem Appetit von der
-Butter, die du hier entstehen sahst,&laquo; sagte Hannchen, auf die leckere,
-wei&szlig;e Masse zeigend, welche nach und nach aus den F&auml;ssern wanderte.
-&raquo;Ueberhaupt denke ich, wenn du erst allerlei hier kennen gelernt hast,
-wirst du Geschmack an unserm Leben finden. Aber nun soll
-Mariechen dich ein Bischen umherf&uuml;hren, ich mu&szlig; zu den Leuten!&laquo;</p>
-
-<p>Frida folgte der kleinen Marie etwas zaghaft nach dem Hofe,
-der ihr als ein &auml;u&szlig;erst unangenehmer Aufenthalt erschien. Aber die
-kleine Cousine ruhte nicht, bis sie dem jungen M&auml;dchen all ihre
-Lieblinge gezeigt hatte, und kroch aus einem Stalle in den andern,
-bald hier eine Ziege an den H&ouml;rnern hervorziehend, bald dort wei&szlig;e
-Kaninchen oder ein junges L&auml;mmchen, oder besonders h&uuml;bsche H&uuml;hner<span class="pagenum"><a name="Page_241" id="Page_241">[Pg 241]</a></span>
-und Tauben. Frida kam sich vor wie ein Opferlamm und lie&szlig; sich
-geduldig von einem Stall zum andern, von einer H&uuml;tte oder einem
-Verschlag zum andern f&uuml;hren. Ihre sch&ouml;nen Stiefelchen waren ja
-doch einmal f&uuml;r ewig verdorben, und in welchen Zustand ihr feines
-Kleid auf dieser Wanderung gerieth, das sollte sie nicht l&auml;nger
-beunruhigen; sie hatte doch wenigstens etwas Unterhaltung bei
-diesen Streifz&uuml;gen.</p>
-
-<p>&raquo;Aber das K&auml;lbchen von unserer guten Ble&szlig; mu&szlig;t du noch
-sehen, Frida, es ist zu niedlich!&laquo; rief Mariechen, abermals eine
-Stallth&uuml;r &ouml;ffnend und das junge M&auml;dchen hereinziehend.</p>
-
-<p>&raquo;Aber hier riecht es ja so schrecklich und ist zu f&uuml;rchterlich
-schmutzig,&laquo; sagte Frida und blieb z&ouml;gernd in der Th&uuml;r des Kuhstalles
-stehen, &auml;ngstliche Blicke auf die K&uuml;he heftend, welche brummend
-die dicken K&ouml;pfe nach ihr umdrehten. Sie mochte es nicht gestehen,
-da&szlig; sie sich vor den Thieren f&uuml;rchtete, in deren n&auml;chster N&auml;he
-sie noch niemals gewesen war. &raquo;Sie werden dich sto&szlig;en, Mariechen,
-nimm dich in Acht!&laquo; rief Frida &auml;ngstlich, als sie sah, wie das kleine
-M&auml;dchen furchtlos zwischen den schrecklichen Thieren umherkroch und
-sie mit ihren kleinen H&auml;nden zur Seite schob, um sich Platz zu
-dem K&auml;lbchen zu machen, das neben einer hellbraunen Kuh in der
-Ecke am Boden lag.</p>
-
-<p>&raquo;Mich sto&szlig;en?&laquo; lachte die Kleine. &raquo;Das w&auml;re sch&ouml;n, alte Ble&szlig;,
-nicht wahr? Wir kennen uns besser. Alle K&uuml;he in den St&auml;llen
-kennen mich, Frida, sie sind nicht b&ouml;se. Komm doch einmal her und
-sieh dir das K&auml;lbchen an; es hat einen wei&szlig;en Stern auf der Stirn,
-gerade wie seine Mutter, die Ble&szlig;.&laquo;</p>
-
-<p>Aber Frida blieb &auml;ngstlich in der Th&uuml;r stehen; sie h&auml;tte sich um
-die Welt nicht zwischen diesen Ungeheuern durchgedr&auml;ngt, die sie alle
-mit ihren H&ouml;rnern zu bedrohen schienen.</p>
-
-<p>&raquo;Nein nein, es riecht so sehr schlecht im Stalle,&laquo; sagte sie<span class="pagenum"><a name="Page_242" id="Page_242">[Pg 242]</a></span>
-und wollte eben zur&uuml;cktreten, da wurde sie von au&szlig;enher hineingedr&auml;ngt.</p>
-
-<p>&raquo;O der Duft vom Kuhstall ist sehr gesund, Cousinchen, nur
-immer hinein und zier dich nicht!&laquo; rief eine etwas rauhe Stimme,
-und Frida sah Hermann neben sich, welcher, ein Paar hohe Stulpenstiefeln
-an den F&uuml;&szlig;en, sich an ihr vorbei dr&auml;ngte. Dann ging er
-pfeifend die Reihe entlang und klopfte bald dies, bald jenes der
-Thiere auf den glatten Schenkel, sie liebkosend und beim Namen
-nennend, und ein leises Brummen war die Antwort der geh&ouml;rnten
-Freunde. Z&ouml;gernd folgte Frida, indem sie sich &auml;ngstlich von den
-Thieren fern hielt, und sie seufzte froh auf, als sie die andere Seite
-erreicht hatte und durch die Th&uuml;r hinausschl&uuml;pfen konnte.</p>
-
-<p>&raquo;Hast du unsere Ferkel schon gesehen, Cousinchen?&laquo; sagte Hermann
-jetzt.</p>
-
-<p>&raquo;Schweine?&laquo; rief Frida entsetzt. &raquo;Pfui, in den Schweinestall
-soll ich doch nicht etwa auch kriechen?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Hoho,&laquo; lachte Hermann, &raquo;da ist nicht pfui zu sagen! Unsere
-Schweine wohnen h&ouml;chst appetitlich; komm nur mit, es ist da eine
-ganz pr&auml;chtige Gesellschaft beisammen.&laquo;</p>
-
-<p>Frida verzog den Mund sp&ouml;ttisch, folgte aber doch dem etwas
-ungalanten Vetter, der sie zu seinen Sch&uuml;tzlingen f&uuml;hrte. Aber sich
-abwendend hielt sie sich hier schnell das Tuch vor's Gesicht und wollte
-davon laufen. Hermann ergriff jedoch rasch ihre Hand und zog sie
-vorw&auml;rts. &raquo;Narrenspossen, ich lasse dich nicht fort, die Ferkelchen
-mu&szlig;t du sehen, sie sind zu prachtvoll!&laquo; rief er eifrig. Dabei &ouml;ffnete
-er einen der Bretterverschl&auml;ge, und sogleich kamen eine ganze Menge
-kleiner, wei&szlig;er Schweinchen herausgesprungen, welche quiekend um
-Frida herumliefen. Diese schrie laut auf vor Schrecken und Angst
-und klammerte sich mit den H&auml;nden an Hermanns Arm, besonders
-als das alte Mutterschwein jetzt grunzend mit seiner Schnauze ihre<span class="pagenum"><a name="Page_243" id="Page_243">[Pg 243]</a></span>
-F&uuml;&szlig;e ber&uuml;hrte und sich nach ihren muntern Spr&ouml;&szlig;lingen umschaute.
-Hermann lachte aus vollem Halse &uuml;ber Frida's Angst, und der alten
-Sau einen Tritt gebend, da&szlig; sie zur Seite fuhr, rief er lustig: &raquo;Bist
-du aber ein Hasenfu&szlig;, Cousinchen! Die Thiere thun dir alle nichts,
-das sind keine L&ouml;wen und Tiger. Sieh dir nur einmal die schmucken
-Ferkelchen an, hast du so was Niedliches dein Lebtag schon gesehen?
-Sind sie nicht wei&szlig; und lecker wie kleine Leberw&uuml;rstchen? Und sieh
-nur, was sie f&uuml;r possirliche Spr&uuml;nge machen und f&uuml;r allerliebste
-Schw&auml;nzchen haben! So ein Ferkelschw&auml;nzchen k&ouml;nntest du als Cravatte
-um den Hals tragen; so niedlich und zierlich kannst du keinen
-Knoten schlingen, sieh nur einmal!&laquo; Und rasch fing er eins der
-glatten, flinken Thiere und legte es Frida auf die Arme, das zierlich
-zu einer Schleife gewundene Schw&auml;nzchen hoch emporhebend.</p>
-
-<p>Frida warf das v&ouml;llig haarlose, fette, kleine Wesen voll Grauen
-zur Erde und rief beleidigt: &raquo;Behalte dein Viehzeug f&uuml;r dich, ich
-danke bestens! Pfui, wie ich nun rieche und aussehe!&laquo;</p>
-
-<p>Hermann schlug mit seiner Reitpeitsche, die er in der Hand hielt,
-lachend unter die kleinen, quiekenden Thiere, da&szlig; sie &uuml;ber einander
-sprangen und sich kugelnd umher w&auml;lzten wie Gummib&auml;lle. &raquo;Bist
-du aber zimperlich!&laquo; rief er spottend. &raquo;Ihr Stadtleute seid komisches
-Volk. Einen Schweinsbraten, oder einen leckeren Schinken und
-frische Wurst verachtet ihr doch wahrlich nicht, obwohl es von diesen
-armen Thieren herstammt. Aber die Narrenspossen wirst du schon
-verlernen, hoffe ich, Fridelchen, ich werde daf&uuml;r sorgen; dann nimmst
-du so ein Ferkel mit Entz&uuml;cken in deine Arme und herzt es wie ein
-Schoo&szlig;h&uuml;ndchen, das sollst du sehen.&laquo;</p>
-
-<p>Frida hatte jetzt aber genug. Sie war dem ungalanten Vetter
-b&ouml;se und wandte ihm rasch davongehend, den R&uuml;cken. Dieser pfiff
-lustig hinter ihr drein in echter Jungensweise; dann sang er in
-&auml;u&szlig;erst unmelodischen T&ouml;nen und mit der Reitpeitsche in der Luft<span class="pagenum"><a name="Page_244" id="Page_244">[Pg 244]</a></span>
-umherfuchtelnd: &raquo;Hans mit den Pluderhosen sprang &uuml;ber'n Kachelofen
-&mdash; wutsch! war er weg.&laquo; Darauf verschwand er wieder in den
-St&auml;llen, die zimperliche Cousine sich selbst &uuml;berlassend.</p>
-
-<p>Frida wollte eben ihr Zimmer aufsuchen, um sich von allem
-Schmutz dieser ersten l&auml;ndlichen Inspectionsreise zu befreien, da kam
-Charlotte vom Hause her und sagte: &raquo;Ich will meine Glucken besuchen,
-Frida, kommst du mit mir? Vier habe ich gesetzt, wir wollen
-einmal sehen, was sie machen.&laquo;</p>
-
-<p>Frida verstand von dieser Rede eben nur, da&szlig; die Reise nach
-dem H&uuml;hnerstalle gehen sollte, und da Federvieh ihr noch das Liebste
-von all dem Gethier auf dem Hofe war und ihr auch am wenigsten
-Furcht erregte, so begleitete sie Charlotten, denn schmutziger konnte
-sie ja doch jetzt nicht mehr werden, als sie nach diesen vorhergehenden
-Besuchen schon war.</p>
-
-<p>&raquo;Hier sind nur einige von unsern Glucken,&laquo; sagte Charlotte,
-einen engen, dunklen Stall betretend, in dem einige Hennen still in
-K&ouml;rben sa&szlig;en, die mit Stroh ausgef&uuml;llt waren. &raquo;Der eigentliche
-Br&uuml;tstall steht unter Mutters Leitung, du mu&szlig;t dich einmal von ihr
-mit dahin nehmen lassen. Das hier ist mein Privatbesitz; die
-Hennen schenkte mir der Herr Pastor an meinem Geburtstage, und
-er soll nun auch die ersten K&uuml;ken davon haben.&laquo;</p>
-
-<p>Vorsichtig hob Charlotte nun eine Henne nach der andern empor
-und untersuchte die unter ihr liegenden Eier. &raquo;Die gelbe Kronenhenne
-sitzt am l&auml;ngsten, unter ihr scheint es mir lebendig zu werden,&laquo;
-sagte sie mit leuchtenden Augen und kniete neben derselben nieder
-&raquo;Sieh da, zwei Kleine sind gl&uuml;cklich an's Tageslicht gekommen!&laquo; rief
-sie freudig und zog Frida zu dem Korbe herab, von dem sie die laut
-gackernde Glucke an den Fl&uuml;geln empor gehoben hatte. Zwei kleine
-K&uuml;ken krabbelten da vergn&uuml;glich im Stroh herum, und das Eine
-hatte noch ein St&uuml;ck Eierschale auf dem Kopfe.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_245" id="Page_245">[Pg 245]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Fa&szlig; einmal das Ei da an, Frida, aber vorsichtig,&laquo; sagte Charlotte,
-auf eines der im Neste liegenden Eier zeigend. Frida blickte
-hin und nahm das Ei z&ouml;gernd in die Hand, legte es aber sogleich
-wieder hin, einen leisen Ruf der Ueberraschung aussto&szlig;end. Aus
-der Schale des Eies sah n&auml;mlich ein kleiner, spitzer Schnabel hervor,
-dem gleich darauf ein dunkles K&ouml;pfchen folgte, das sich durch die
-Eierschale hindurch arbeitete.</p>
-
-<p>Die Federchen lagen feucht und zusammengeklebt auf dem runden
-K&ouml;pfchen, die Aeugelchen blickten aber ganz vergn&uuml;gt daraus hervor.
-Nach einer Weile hatte sich das ganze K&ouml;rperchen aus der Schale
-herausgearbeitet und zappelte mit den Resten seines kleinen Gef&auml;ngnisses
-in Gesellschaft der andern K&uuml;kel im Stroh umher. An einem
-daneben liegenden andern Ei war auch schon ein gro&szlig;er Sprung;
-man h&ouml;rte leise picken und sah, wie von innen ein spitzes Schn&auml;belchen
-an der Umh&uuml;llung bohrte, um sie zu durchbrechen. Frida war au&szlig;er
-sich vor Entz&uuml;cken und wollte gar nicht fort von dem Korbe, denn
-so etwas Reizendes war ihr noch nie vorgekommen. Charlotte aber
-nahm die K&uuml;ken heraus und setzte dann die Glucke vorsichtig wieder
-auf den Korb. &raquo;L&auml;nger darf ich das Nest nicht unzugedeckt lassen, die
-Eier werden sonst kalt,&laquo; sagte sie. &raquo;Die K&uuml;kel aber thun wir hier in
-den Federtopf, da&szlig; die Alte sie nicht zertritt, bis alle heraus sind.&laquo;</p>
-
-<p>Frida war gl&uuml;cklich wie ein Kind, als Charlotte ihr die kleinen
-H&uuml;hnchen in die Hand gab, damit sie dieselben in den Federtopf tragen
-sollte. Als Charlotte ihr aber sogar versprach, die K&uuml;kel der n&auml;chsten
-Glucke wollte sie ihr schenken, diese ersten m&uuml;sse der Herr Pastor haben,
-da sprang sie jubelnd in dem engen Stalle umher und umarmte und
-k&uuml;&szlig;te Charlotte vor Wonne. Kein kostbarer Schmuck und kein neues
-Kleid h&auml;tte dem jungen M&auml;dchen eben jetzt solche Freude machen
-k&ouml;nnen, als der Besitz solch kleiner, spashafter K&uuml;ken, wie diese, die
-leise piepsend in dem Federtopfe &uuml;ber einander kugelten.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_246" id="Page_246">[Pg 246]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Wann kommen denn wieder welche aus, Lottchen?&laquo; rief sie ungeduldig
-und lief von einem Br&uuml;tkorbe zum andern.</p>
-
-<p>&raquo;In den n&auml;chsten Tagen, hoffe ich,&laquo; sagte Charlotte, &raquo;sie sitzen
-fast alle schon drei Wochen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Was, so lange mu&szlig; solch arme Henne sitzen?&laquo; rief Frida, die
-H&auml;nde zusammenschlagend. &raquo;Das ist ja ganz schrecklich! Mu&szlig; <em class="gesperrt">die</em>
-sich langweilen!&laquo;</p>
-
-<p>Charlotte lachte herzlich. &raquo;Ja, und denke nur, das arme Thier
-fri&szlig;t und s&auml;uft nicht einmal zu ihrer Unterhaltung, w&auml;hrend sie br&uuml;tet.
-Fr&uuml;h Morgens kommt sie vom Nest herunter und fri&szlig;t sich satt, und
-dann fastet sie den ganzen &uuml;brigen Tag. Es ist keine Kleinigkeit f&uuml;r
-eine gute Glucke, ihre Eierchen sich auszubr&uuml;ten.&laquo;</p>
-
-<p>Frida blickte ordentlich mit Respect nach den treuen, pflichteifrigen
-Hennen &mdash; der H&uuml;hnerstall hatte ihr Herz gewonnen. Das
-war der erste Schritt zu ihrer Auss&ouml;hnung mit dem ihr so schrecklich
-erscheinenden Landleben, und t&auml;glich folgte sie Charlotten oder Tante
-Marie zu dem Federvieh, dessen Leben und Treiben ihr bald ganz
-bekannt war, und das sie mit regstem Interesse verfolgte. Die jungen,
-frisch aus dem Ei gekommenen K&uuml;kel aus dem Federtopf zu nehmen,
-sie dann auf den Tisch zu setzen und mit klein gehacktem Ei oder Hirse
-zu f&uuml;ttern, war ihre liebste Unterhaltung. Wenn dann die t&auml;ppischen,
-kleinen Wesen ungeschickt &uuml;ber einander kugelten und vorn &uuml;berfallend
-das Gleichgewicht verloren, sobald sie die K&ouml;rnchen aufpicken wollten,
-dann jubelte Frida laut auf vor Vergn&uuml;gen und konnte sich keine
-h&uuml;bschere Unterhaltung denken. Und um H&uuml;hner- oder Enteneier
-zu suchen und einzusammeln, scheute sie bald keinen Stallgeruch und
-keine unsauberen Winkel mehr; ja selbst enge Treppen und Leitern
-kletterte sie eifrig hinauf, wenn sie irgend ein Huhn dort gackern
-h&ouml;rte und es in Verdacht hatte, seine Eier verschleppt zu haben.</p>
-
-<p>&raquo;Unser Fridchen wird noch eine ganz leidenschaftliche Landwirthin<span class="pagenum"><a name="Page_247" id="Page_247">[Pg 247]</a></span>
-werden, gebt Acht!&laquo; rief Onkel Bremer oft vergn&uuml;gt, wenn er die
-h&uuml;bsche Nichte in ihrem Eifer beobachtete, und Tante Marie behauptete
-ganz ernsthaft, noch nie solch reichen Eiersegen gehabt zu
-haben, als seitdem Frida die H&uuml;hner unter ihren Schutz genommen;
-sie besitze gewi&szlig; ein Geheimmittel, womit sie die H&uuml;hner bezaubere.</p>
-
-<p>Onkel und Tante waren &uuml;berhaupt von einer G&uuml;te und Herzlichkeit
-gegen das verw&ouml;hnte Nichtchen, da&szlig; diese es nicht besser h&auml;tte
-w&uuml;nschen k&ouml;nnen. Alle die kleinen Thorheiten des jungen M&auml;dchens,
-das sich f&uuml;r etwas Besseres hielt und Hochmuth und Eitelkeit in F&uuml;lle
-kund gab, wurden von Allen im Hause ohne Empfindlichkeit und
-Verdru&szlig; hingenommen. An den einfachen, frischen Naturen Charlottens
-und Hannchens glitten Frida's Unliebensw&uuml;rdigkeiten v&ouml;llig
-ab, und bereitwillig spendeten sie der Cousine den Weihrauch, den
-diese beanspruchte, und bewunderten deren Talente und Kenntnisse,
-welche die ihren weit &uuml;bertrafen. Aber w&auml;re Frida weniger von
-sich eingenommen gewesen, sie h&auml;tte schon in den ersten Tagen ihres
-Landaufenthalts erkannt, was sie sp&auml;ter recht wohl einsah: da&szlig; sie
-selbst trotz ihrer gl&auml;nzenden Eigenschaften an wahrhaft innerer
-Bildung diesen ihren beiden Cousinen gar sehr nachstand. Je l&auml;nger
-sie unter diesen Verwandten lebte, desto mehr d&auml;mmerte in ihrem
-Herzen diese Einsicht empor. Bald empfand sie, wie l&auml;cherlich und
-th&ouml;richt es sei, da&szlig; sie sich besser d&uuml;nkte als Alle, und bald fing sie
-an, bescheidner aufzutreten und sich dem schlichten Wesen ihrer Umgebung
-mehr anzupassen, der alles fremd war, was Ueberhebung und
-Eitelkeit hie&szlig;. Wu&szlig;ten und verstanden doch ihre einfachen Cousinen
-tausend Dinge, von denen die kleine Stadtdame keine Idee hatte!
-Und wie flei&szlig;ig waren sie und wie pflichttreu, was schafften diese
-M&auml;dchen alles den Tag &uuml;ber, und wie n&uuml;tzlich waren sie dem Hauswesen,
-w&auml;hrend sie selbst die H&auml;nde in den Schoo&szlig; legte, oder
-ein Bischen las, schrieb oder musicirte, Dinge, mit denen sie nur<span class="pagenum"><a name="Page_248" id="Page_248">[Pg 248]</a></span>
-sich selbst Nutzen brachte. In diesem Hause vergrub niemand das
-ihm anvertraute Pfund, sondern ein Jeder verwandte die ihm von
-Gott gegebenen Kr&auml;fte zum Wohle des Ganzen, still, anspruchslos
-und bescheiden, als etwas, das sich ganz von selbst verstand. Was
-war und wirkte sie dagegen, die sich so vortrefflich und so hoch &uuml;ber diesen
-M&auml;dchen stehend erschien? Was hatte sie ihrem vereinsamten Vater,
-was ihren kleinen Geschwistern gen&uuml;tzt, was dem Hause und allem,
-das ihr anvertraut gewesen? Hatte sie nicht immer nur an sich selbst
-und an ihr Behagen gedacht? Waren die Pflichten, die freilich allzufr&uuml;h
-auf ihre Schultern gelegt wurden, ihr nicht unertr&auml;glich gewesen,
-und hatte sie sich denselben nicht stets entzogen, so viel sie
-nur immer konnte? Ach sie mochte gar nicht daran denken, in welchem
-Zustande alles gewesen war, als ihr Vater die Stiefmutter in das
-Haus f&uuml;hrte, &mdash; was mu&szlig;te diese von ihr gedacht haben? Und doch,
-welche G&uuml;te, welche Nachsicht hatte Gertrud ihr entgegengebracht;
-wie hatte sie stets alles zum Besten gekehrt, was Frida Th&ouml;richtes
-gethan, und wie hatte sie ihr diese Liebe gelohnt? &mdash; Immer und
-immer kamen Frida solche Gedanken, wenn sie die th&auml;tigen, liebreichen
-und dem&uuml;thigen Menschen beobachtete, von denen sie hier
-umgeben war. O es sollte anders werden! Auch sie wollte brav
-und t&uuml;chtig und ein brauchbares Glied ihres Hauses sein, wenn sie
-erst wieder bei den Eltern war, und Gertrud sollte sehen, da&szlig; sie
-auch gut und liebensw&uuml;rdig sein k&ouml;nnte und dankbar f&uuml;r die ihr
-erwiesene Liebe.</p>
-
-<p>So &uuml;bte schon in kurzer Zeit der Segen eines harmonisch
-sch&ouml;nen, th&auml;tigen Familienlebens seinen wohlth&auml;tigen Einflu&szlig; auf
-das junge M&auml;dchen aus, und mit Freuden bemerkten ihre Eltern
-diesen Wechsel, welcher mehr und mehr in den Briefen erkennbar
-wurde, die Frida in die Heimath sandte. &raquo;La&szlig;t mich ja noch eine
-Weile hier, ich mu&szlig; noch so viel lernen und es gef&auml;llt mir so gut!&laquo;<span class="pagenum"><a name="Page_249" id="Page_249">[Pg 249]</a></span>
-so schrieb sie schon nach einigen Wochen nach Hause, und nur zu
-gern kamen die Eltern diesem Wunsche entgegen.</p>
-
-<p>Und zu lernen hatte Frida allerdings noch so viel in dieser ihr
-v&ouml;llig fremden Welt, da&szlig; sie noch Jahre h&auml;tte da bleiben k&ouml;nnen.
-Alles war ihr neu und unbekannt, die kleinen Kinder des Hauses
-wu&szlig;ten zehn Mal mehr Bescheid als sie, und ihre Unwissenheit, die
-sie stets offen bekannte, war h&auml;ufig die Veranlassung zu gro&szlig;er
-Heiterkeit.</p>
-
-<p>&raquo;Marie, kannst du ein Paar sch&ouml;ne Enten gebrauchen, die der
-F&ouml;rster geschossen hat?&laquo; fragte Onkel Bremer eines Tages seine
-Frau.</p>
-
-<p>&raquo;Geschossen?&laquo; rief Frida erstaunt, &raquo;warum schie&szlig;t er denn die
-Enten vom Hofe weg, Onkel? Das kann er doch bequemer haben.&laquo;</p>
-
-<p>Ein schallendes Gel&auml;chter vom Onkel war die Antwort; Frida
-meinte, der F&ouml;rster habe nicht wilde Enten geschossen, sondern die
-zahmen des Hofes. Sie hatte in der Stadt ja nie andere gesehen
-und ebensowenig gegessen.</p>
-
-<p>&raquo;O welch eine Menge sch&ouml;ner blauer Blumen!&laquo; rief Frida dann
-wieder, als sie an einem Flachsfelde vorbeiging und war h&ouml;chst
-erstaunt, als sie erfuhr, da&szlig; ihr Leinenzeug eines Tages in Gestalt
-ebensolch blauer Bl&uuml;mchen auf dem Felde gestanden habe. Nat&uuml;rlich
-hatte sie auch keine Idee davon, wie die einzelnen Getreidesorten
-hie&szlig;en, welche auf den Feldern standen, und der Onkel, der mit
-Leib und Seele Landwirth war, entsetzte sich vollst&auml;ndig, wenn Frida
-einen Spaziergang mit ihm machte, und den sch&ouml;nen Hafer bewunderte,
-wo sie Gerste vor sich sah, oder ein Roggenfeld f&uuml;r Weizen
-erkl&auml;rte, und &uuml;ber die Unmasse sch&ouml;ner Kornblumen und Kornraden
-jubelte, welche unter dem Getreide standen und den Aerger des Landwirthes
-ausmachten. Von der Existenz und Anwendung landwirthschaftlicher
-Ger&auml;thschaften hatte sie ebenfalls keine Vorstellung. Eine<span class="pagenum"><a name="Page_250" id="Page_250">[Pg 250]</a></span>
-Egge war f&uuml;r sie ein vollst&auml;ndiges R&auml;thsel, und wie man eigentlich
-mit einem Pfluge arbeite, war ihr bisher auch noch ein Geheimni&szlig;
-gewesen. Als man Klee schnitt zum Futter f&uuml;r das Vieh, fragte sie
-ganz erstaunt, warum man die Thiere nicht lieber gleich in das Kleefeld
-trieb, damit sie sich da satt fressen, es sei doch viel einfacher;
-und verwundert sah sie zu, wie man den schmutzigen D&uuml;nger der
-St&auml;lle sorgf&auml;ltig aufbewahrte, statt das h&auml;&szlig;liche Zeug fortzuwerfen,
-da es so garstig roch. Das Waschen der Schafe vor der Schur
-erregte ihr h&ouml;chstes Erstaunen, das Scheeren selbst aber konnte sie
-vor Mitleid mit den armen Thieren gar nicht mit ansehen.</p>
-
-<p>In ganz entschiedener Feindschaft aber lebte sie tagt&auml;glich mit
-dem Rindvieh, das ihr gleich in den ersten Tagen solche Furcht
-erregte, und doch war es an jenem Tage im Stalle angebunden.
-Welcher Schrecken aber war es f&uuml;r das arme Stadtkind, wenn sie
-mitten durch eine Wiese schreiten mu&szlig;te, auf der K&uuml;he und Ochsen
-frei weideten. Allein und ohne ihre Cousinen h&auml;tte sie es nie gewagt;
-aber auch in Begleitung richtete sie verzweifelte Blicke auf die geh&ouml;rnten
-Ungeheuer, welche gar nicht daran dachten, sie zu bel&auml;stigen,
-sondern ruhig grasend die dicken K&ouml;pfe auf und ab senkten. Wenn
-am Abend die Heerden in das Dorf hereinzogen, ein wahres Fest
-f&uuml;r die ganze Dorfjugend, da fl&uuml;chtete Frida gew&ouml;hnlich furchtsam
-in's Innere des Hauses, damit nur ja keiner ihrer pers&ouml;nlichen Feinde
-etwa einen Angriff auf sie wagte. Alle Neckereien des Onkels und
-der Cousinen, aller Spott des ungalanten Hermann, nichts konnte
-sie bewegen, ihre Furcht abzulegen, und als sie nun gar einmal die
-Bekanntschaft eines Stieres gemacht hatte, der seiner Heerde dumpf
-br&uuml;llend vorauf schritt, den m&auml;chtig breiten Kopf tief zur Erde gesenkt,
-und mit den blutunterlaufenen Augen b&ouml;se und drohend zur Seite
-blickend, da war es vollends aus mit ihrer Herzhaftigkeit. Sie behauptete,
-lieber einem L&ouml;wen allein im Felde begegnen zu wollen,<span class="pagenum"><a name="Page_251" id="Page_251">[Pg 251]</a></span>
-als solchem Ungeheuer, und der kleine Hirtenbube, der dies furchtbare
-Gesch&ouml;pf mit seinem langen Stock regierte, war f&uuml;r sie ein
-gr&ouml;&szlig;erer Held, als Bl&uuml;cher oder Ziethen.</p>
-
-<p>Der Onkel nahm Frida h&auml;ufig mit sich hinaus auf's Feld oder
-in Wald und Wiese, um ihre bodenlose Unkenntni&szlig; in allen landwirthschaftlichen
-Dingen einigerma&szlig;en zu heben. Da lernte sie denn
-nach und nach nicht nur die Fr&uuml;chte des Feldes, dessen Art der Bestellung
-und dergleichen mehr kennen, wovon ein Stadtkind in seinem
-H&auml;usermeer keine Ahnung bekommt, sondern bald auch die einzelnen
-B&auml;ume des Waldes, die Stimmen und die Gestalt der V&ouml;gel, die
-Insecten und W&uuml;rmchen, welche Wald und Wiese beleben, und alle
-die tausend herrlichen Einzelheiten, welche sich dem beobachtenden
-Auge so unendlich mannigfaltig darstellen und den Genu&szlig; und die
-Freude an der sch&ouml;nen Gotteswelt erst ganz und voll machen. Es
-war ordentlich, als ob Frida jetzt erst recht sehen lernte, und der
-Onkel war ein trefflicher Lehrer, der mit Liebe und Sorgfalt beobachtete.
-Die Natur war seine Freundin gewesen von Kindheit an,
-und wenn er einerseits als t&uuml;chtiger Landwirth sich ihr praktisch in
-Dienst gestellt hatte, so vers&auml;umte er dar&uuml;ber doch nicht, auch f&uuml;r
-ihre sch&ouml;nen und idealen Seiten das Auge offen zu halten. Besonders
-f&uuml;r den Wald gewann Frida eine immer gr&ouml;&szlig;ere Vorliebe,
-je mehr sie an der Bildung von Stamm und Bl&auml;ttern die einzelnen
-B&auml;ume von einander unterscheiden lernte. Buche und Eiche, Birke
-und Pappel, Erle und Esche, das alles waren f&uuml;r Frida bisher
-B&auml;ume, von denen sie freilich geh&ouml;rt, und die sie auch wohl gesehen
-und gezeichnet hatte, die rechte Gestalt und Eigenth&uuml;mlichkeit aber
-eines jeden Baumes, und wodurch man ihn schon von fern erkennen
-konnte, das lernte sie jetzt erst. Ihr Tannenbaum am Weihnachtsabend,
-der, wie sie jetzt lernte, eine Rothtanne oder Fichte war;
-da seine Nadeln nicht nach den Seiten, sondern rund um den Zweig<span class="pagenum"><a name="Page_252" id="Page_252">[Pg 252]</a></span>
-herum standen, dieser war ihr fast allein der Bote aus dem fernen
-Walde gewesen. Wenn Frida sonst ja einmal in Gesellschaft ihrer
-Freundinnen eine Spazierfahrt in der Umgegend ihrer Stadt gemacht
-hatte und ein St&uuml;ndchen in dem dortigen, schmalen Waldstrich
-verweilte, so gab es dann immer so viel mit den Freundinnen
-zu plaudern, so gro&szlig;e Aufmerksamkeit auf ihre elegante Toilette zu
-verwenden, oder zierliche Gesellschaftsspiele vorzunehmen, da&szlig; sie
-&uuml;ber diesen Dingen alles andere verga&szlig;, und es ihr gar nicht aufgefallen
-war, wie sch&ouml;n so ein Wald doch eigentlich sei. Sie begriff
-jetzt nicht, wie sie in der Stadt mitten unter lauter H&auml;usern ohne
-ihre lieben B&auml;ume und Wiesen und Felder sich so wohl befinden
-konnte, und Charlottes Worte am ersten Abend, worin sie das
-Landleben als das Sch&ouml;nste hingestellt hatte, was sie sich denken
-konnte, fing jetzt an, ihr verst&auml;ndlich zu werden.</p>
-
-<p>Bei solchen Spazierg&auml;ngen, sowie bei dem Umhertreiben in Hof
-und Garten war Frida im steten Kampfe mit ihrer eleganten, zierlichen
-Toilette, welche f&uuml;r solches Landleben, wie sie es hier f&uuml;hrte,
-vollst&auml;ndiger Unsinn war. An jeder Hecke blieb sie mit den d&uuml;nnen
-Falbeln ihres Kleides h&auml;ngen; jeder Busch trug ein Zeichen, wenn
-die elegante, junge Dame mit ihren Spitzen und Frangen und
-Stickereien hindurch gekrochen war, und nie kam sie nach Hause,
-ohne sich irgend etwas zerrissen, beschmutzt oder sonst verdorben zu
-haben. Die Cousinen schl&uuml;pften in ihren kurzen, einfachen Kleidern
-rasch und unbehindert &uuml;berall durch, ohne den geringsten Schaden
-zu leiden, w&auml;hrend Frida mit ihrer langen Schleppe und den d&uuml;nnen,
-bauschigen Stoffen uns&auml;glichen Aerger und tausend M&uuml;he und Beschwerde
-hatte. Brachte sie dann solch schmutziges oder zerrissenes
-Kleid nach Hause, da hing sie es, wie sie immer gew&ouml;hnt war, ruhig
-fort, ohne daran zu denken, da&szlig; es wieder sauber und ganz werden
-mu&szlig;te. Mit Verwunderung sah sie dann, da&szlig; Tante Marie oder<span class="pagenum"><a name="Page_253" id="Page_253">[Pg 253]</a></span>
-eine der Cousinen sich des armen Kleidungst&uuml;ckes annahm und
-es b&uuml;rstete und pl&auml;ttete, stopfte und n&auml;hte, bis es wieder in Ordnung
-war. Und nun gar die d&uuml;nnen Waschkleider, die sie so gern
-im warmen Sommer trug! Zu Hause hatte die W&auml;scherin der
-jungen Dame solch zierlich Kunstwerk stets fix und fertig &uuml;berliefert,
-und die Jungfer sorgte f&uuml;r die t&auml;gliche Herstellung des Anzuges. Hier
-aber waren es wieder die H&auml;nde von Tante und Cousinen, welche
-diese Aufgabe &uuml;bernahmen und oft einen halben Vormittag damit
-zubrachten, eine einzige dieser luftigen H&uuml;llen auf dem Pl&auml;ttbrete
-wieder in Stand zu setzen, und diese zierlichen Falbeln und Striche,
-diese Ueberw&uuml;rfe und Frisuren zu pl&auml;tten und zu kniffen, welche
-Frida oft binnen einer einzigen Stunde in unbrauchbaren Zustand
-versetzt hatte. Ein Gef&uuml;hl von Scham, wie es das verzogne Kind
-nie gekannt, kam bei solchem Anblick &uuml;ber Frida. Sie wollte den
-Cousinen die Arbeit abnehmen; aber sie hatte ja keine Ahnung weder
-vom Waschen, noch Pl&auml;tten, noch sonst einer der h&auml;uslichen Arbeiten,
-in denen diese jungen M&auml;dchen Meisterinnen waren. Bei Frida's
-Entschuldigungen lachten sie und behaupteten, es sei ein gro&szlig;es Vergn&uuml;gen,
-solche allerliebste Sachen unter den H&auml;nden zu haben, so
-gut sei es ihnen noch niemals geworden. Aber jetzt w&uuml;nschte Frida
-nichts sehnlicher, als einfache, derbe Kleidung, mit der sie unbehindert
-umherlaufen konnte, ohne ihrer Umgebung so viel unn&uuml;tze
-Arbeit zu bereiten. Eines Morgens hatte sie einen ganzen Koffer
-mit ihren unpraktischen, eleganten Kleidern gef&uuml;llt und bat den
-Onkel, den nach Hause zu senden. Die Mutter aber flehte sie an,
-ihr so schnell als m&ouml;glich einige recht einfache, derbe Kleider zu
-schicken, sowie auch feste Lederstiefeln; denn ihr zierliches Stadtschuhwerk
-sei schon nach einigen Wochen in v&ouml;llig unbrauchbarem
-Zustande.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_254" id="Page_254">[Pg 254]</a></span></p>
-
-<p>Und so wie Frida sich in diesen Dingen immer mehr ihrer Umgebung
-anpa&szlig;te, so auch in vielen andern. Manches, was ihr zu
-Hause als etwas Entw&uuml;rdigendes erschienen war, und was man eben
-den Dienstboten &uuml;berlie&szlig;, das machte sie jetzt mit ihren eigenen,
-feinen H&auml;ndchen selbst, ohne einen Ansto&szlig; daran zu nehmen; denn
-Charlotte und Hannchen, Martha und vor allem die Tante selbst,
-alle thaten ohne Z&ouml;gern derartige Dinge. Wenn Frida sich das
-Kleid beschmutzt, B&auml;nder und Haken abgerissen, oder die Schuhe
-best&auml;ubt hatte, so litt sie es bald nicht mehr, da&szlig; Tante Marie
-B&uuml;rste oder Nadel f&uuml;r sie ergriff, oder Hannchen herbeieilte, die
-Sch&auml;den auszubessern. Fr&ouml;hlich lie&szlig; sie selbst ihre Nadel durch die
-Stoffe fliegen und die B&uuml;rste &uuml;ber Schuhe und Kleider, ohne ihre
-Umgebung wie bisher zu bem&uuml;hen, und bald fand sie auch Gefallen
-an allerlei h&auml;uslichen Arbeiten, in denen sie sich von den Cousinen
-unterweisen lie&szlig;. Zuweilen betrachtete sie dann wohl mit etwas
-sorglicher Miene ihre feinen Fingerchen, welche beim Kochen oder
-Pl&auml;tten oder Fr&uuml;chte sch&auml;len bedenkliche Farben annahmen und
-rauhe Stellen zeigten. Aber lachend tr&ouml;steten sie dann die Cousinen,
-und Frida selbst spottete endlich &uuml;ber ihre Eitelkeit, von der sie bisher
-tyrannisirt worden war, und in deren Banne sie gelegen hatte. Die
-Zeiten waren gl&uuml;cklich vor&uuml;ber, in denen sie in Furcht und Angst
-vor der kr&auml;ftigen Kost des Hauses gelebt hatte. Jetzt dachte sie nicht
-mehr daran, ob sie auch von den nahrhaften Gerichten, unter denen
-die Tische seufzten, wohl eine plumpe Taille oder zu gesunde Farben
-erhalten k&ouml;nne; ob auch ihre H&auml;nde verbrennen oder der Taint verderben
-werde, wenn sie ohne Handschuh hinauslief und sogar oft
-den sch&uuml;tzenden Hut verschm&auml;hte. Tante Marie mu&szlig;te sie jetzt sogar
-manchmal daran erinnern, sich der Sonne doch nicht zu sehr auszusetzen;
-denn Frida selbst verga&szlig; h&auml;ufig solche Sorgen, wenn sie sich
-auf der Wiese im frischen Heu lagerte, oder im Walde auf weichem
-Moosteppiche behaglich ihre Glieder streckte.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_255" id="Page_255">[Pg 255]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Papa wird mich gar nicht wieder erkennen!&laquo; rief sie oft lachend,
-wenn sie ihr frisches Gesicht im Spiegel sah, das jetzt seine kr&auml;nkliche
-Bl&auml;sse und die bl&auml;ulichen Ringe unter den Augen verloren hatte.
-Was aber ihre zierlichen Freundinnen dazu sagen, und ob sie vielleicht
-die N&auml;schen &uuml;ber die einst so elegante Frida r&uuml;mpfen w&uuml;rden,
-wenn sie zur&uuml;ck kam, kr&auml;ftig und bl&uuml;hend wie eine volle, rothe Rose,
-das k&uuml;mmerte das junge M&auml;dchen wenig mehr; denn von diesen Thorheiten
-war sie so ziemlich geheilt. Auch &uuml;berfl&uuml;ssig f&uuml;hlte sie sich jetzt
-nicht mehr im Hause, wie im Anfange; denn sie half, wo sie konnte:
-bald in K&uuml;che und Garten, bald in der Schul- oder Kinderstube,
-wie sie es von ihren Cousinen sah, und der Segen der Arbeit machte
-ihr Gem&uuml;th heiter und sorglos. Ist man ja doch nie gl&uuml;cklicher, als
-wenn man mit sich selbst zufrieden sein kann, und das konnte Frida
-jetzt wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Eine gro&szlig;e Befriedigung
-gew&auml;hrte es ihr, da&szlig; sie Martha einigen Unterricht ertheilen konnte.
-Dies strebsame, junge M&auml;dchen hatte gro&szlig;e Lust am Lernen und
-doch im Dorfe selbst nicht viel Gelegenheit, und so unterrichtete Frida
-sie in neueren Sprachen, Musik und Zeichnen, worin diese vortreffliche
-Unterweisung erhalten hatte. Auch Hannchen und Charlotte
-nahmen Theil an diesem Unterricht, so viel ihre Zeit es eben erlaubte,
-und besonders die Musik vertrieb ihnen gemeinsam manche Stunde;
-denn die jungen M&auml;dchen hatten helle, frische Stimmen, welche
-sich unter Frida's Anleitung ganz allerliebst entwickelten.</p>
-
-<p>So lebte Frida behaglich, flei&szlig;ig und gl&uuml;cklich von Tag zu Tage
-und von Woche zu Woche, und je l&auml;nger sie hier im Hause verweilte,
-desto lieber war sie dort. Die gro&szlig;e Welt, in die sie wieder eintreten
-sollte, kehrte sie nach Hause zur&uuml;ck, und von der sie mit so
-schwerem Seufzer geschieden, sie hatte kaum halb noch den Reiz, den
-sie fr&uuml;her auf das Gem&uuml;th Frida's ausge&uuml;bt, und wirkliche Sehnsucht
-f&uuml;hlte sie nur oft nach ihrem Vater und den Geschwistern, ja,<span class="pagenum"><a name="Page_256" id="Page_256">[Pg 256]</a></span>
-sie gestand es sich kaum selbst, auch nach Gertrud. Nach ihr freilich
-mit dem immer lebhafteren Wunsche, wieder gut zu machen, was
-sie einst Th&ouml;richtes gethan, und zu zeigen, da&szlig; sie auch brav und
-gut sein k&ouml;nne und nicht nur das eitle, hochfahrende M&auml;dchen
-von ehemals.</p>
-
-<p>Im Laufe der Zeit hatte Frida auch die andern Familien kennen
-gelernt, welche den Umgang der Familie Bremer bildeten, und wir
-kehren noch einmal zu den ersten Tagen zur&uuml;ck, welche Frida im
-Hause des Onkels verlebte und treten mit ihr in diesen Freundeskreis
-ein. Eines Morgens erschien in dem Wohnzimmer eine
-gro&szlig;e, m&auml;chtige M&auml;nnergestalt, deren frisches Gesicht von dichtem,
-wei&szlig;en Haar umgeben war, und den man als den Herrn Pastor
-&auml;u&szlig;erst freudig begr&uuml;&szlig;te. Die kleinen Kinder hingen sich an seine
-langen Rocksch&ouml;&szlig;e, Hannchen schob ihm gleich Vaters gro&szlig;en Lehnstuhl
-herbei, und Onkel Bremer sch&uuml;ttelte ihm so gewaltig die gro&szlig;e,
-breite Hand, da&szlig; sie ordentlich in ihren Gelenken krachte. Pastor
-Werder hatte ein breites, offnes Gesicht mit freundlichen, grauen
-Augen, und seine Art und Weise war so fr&ouml;hlich, und mit jedem
-hatte er so viel Scherz und Neckereien, da&szlig; Frida ganz verwundert
-drein schaute; einen Landprediger hatte sie sich so ganz anders vorgestellt.
-Auch mit ihr fing er gleich ein heitres Gespr&auml;ch an, und
-war so zutraulich und herzlich, als kenne er das junge M&auml;dchen
-schon seit Jahren.</p>
-
-<p>&raquo;Nun, Kinderchen,&laquo; sagte er dann zu Hannchen und Charlotte,
-&raquo;Sonntag Nachmittag kommt mein Justus, da bitte ich mir aus,
-da&szlig; ihr euch h&uuml;bsch macht und die Pfarre von oben bis unten umkehrt.
-Mein Lenchen hat schon alle Blumen im Garten zu riesigen
-Str&auml;u&szlig;en und Kr&auml;nzen gebunden, und die Mutter eine Unmasse
-Kuchen gebacken, alle Tische liegen voll davon. Meine morgende Predigt
-rettete ich gerade vom Untergange, als sie eben zu Butterpapier<span class="pagenum"><a name="Page_257" id="Page_257">[Pg 257]</a></span>
-benutzt und unter einen pr&auml;chtigen Zuckerkuchen gebreitet werden
-sollte. Ich glaube, der Just bringt seine beiden Z&ouml;glinge und
-einen Freund mit, da soll's um so vergn&uuml;gter werden. Ich denke
-ja, die Hermsbacher werden auch alle kommen und wohl noch
-der oder jener aus der Nachbarschaft. Da sieht unser sch&ouml;nes,
-kleines Mamsellchen hier doch auch einmal, da&szlig; man auf dem Dorfe
-vergn&uuml;gt sein kann; denn Kinder, das bitte ich mir aus, bringt
-euch alle Taschen voll Fr&ouml;hlichkeit mit zur Pfarre.&laquo;</p>
-
-<p>Diese Nachricht erregte gro&szlig;e Freude. Justus war ebensosehr der
-Liebling aller, wie es sein Vater war, und ein Nachmittag im Pastorhause
-schien f&uuml;r jedermann ein Fest zu sein. Ein Sonntag auf dem
-Dorfe hat etwas gar Feierliches und Stilles, und als Frida am
-Vormittage ihre Cousinen und Onkel und Tante in die Kirche begleitete,
-stimmte die ganze Umgebung sie so festlich, wie es ihr an
-den Sonntagen im Vaterhause nie geschehen. Sie war ganz erstaunt,
-von dem alten, fr&ouml;hlichen Geistlichen nun eine so gehaltvolle, sch&ouml;ne
-Predigt zu h&ouml;ren, welche tief zum Herzen sprach. Auch bemerkte sie,
-mit welch gro&szlig;er Andacht und Innigkeit die b&auml;uerliche Gemeinde zu
-ihrem wei&szlig;haarigen Prediger emporblickte, und wie er von Jung und
-Alt geliebt und geehrt wurde. In der Stadt war Frida keine sehr
-eifrige Kirchg&auml;ngerin gewesen; nur die Zeit ihrer Einsegnung machte
-eine Ausnahme. Aber auch von dieser sch&ouml;nen Zeit ward ein gro&szlig;er
-Theil durch Eitelkeiten und Thorheiten ausgef&uuml;llt, wie sie nur in so
-jungen M&auml;dchenk&ouml;pfen hausen k&ouml;nnen, denen keine ernste, liebevolle
-Mutter oder Freundin zur Seite steht, welche die Schlacken von dem
-edlen Metall sondert, das gerade in diesen ernsten Zeiten in die
-empf&auml;nglichen jungen Gem&uuml;ther gelegt wird. Frida hatte eben niemand
-zur Seite, und so dachte sie bei den Vorbereitungen zu ihrer
-Confirmation eben so viel an den modernen Schnitt ihres neuen
-Kleides, an den sch&ouml;nen Schmuck und den Sammetpaletot, den Papa<span class="pagenum"><a name="Page_258" id="Page_258">[Pg 258]</a></span>
-ihr geschenkt, und der die ihrer Freundinnen an Eleganz noch &uuml;bertraf,
-als an die ernste, sch&ouml;ne Feier selbst. Diese bewegte dann ihr
-empf&auml;ngliches Gem&uuml;th nichts desto weniger tief und innig und rief
-eine F&uuml;lle edler und guter Gedanken und Vors&auml;tze in ihrer Seele
-wach. Kaum aber war diese ernste Zeit vor&uuml;ber, so schlugen die
-Wellen des t&auml;glichen Lebens &uuml;ber ihrem Kopfe wieder zusammen;
-R&uuml;hrung und gute Vors&auml;tze klangen nur noch in leisen Accorden zu
-ihr her&uuml;ber, und ohne gerade tadelnswerther zu sein, als hundert
-Andere ihres Alters, konnte man Frida doch durchaus kein musterhaftes
-junges M&auml;dchen nennen. Aber als sie jetzt hier in der stillen
-Dorfkirche den Worten des alten Geistlichen lauschte, da zogen diese
-ernsten Gedanken auf's Neue durch ihre Seele. Eine Ahnung von
-dem, was ihr bisher gefehlt, schlich sich leise und unmerkbar in ihre
-Brust, und als sie die frommen, seelenvollen Blicke sah, mit denen
-ihre Cousinen an dem Antlitz ihres Seelsorgers hingen, da wu&szlig;te
-sie, da&szlig; in diesen Gem&uuml;thern anderer Ernst und andere Fr&ouml;mmigkeit
-lebte, als jemals in ihrem eigenen. Aber noch lagen Herz und Sinn
-zu sehr in den Banden ihres bisherigen Lebens gefangen; noch
-mancher Tag geh&ouml;rte dazu, ehe diese Einsicht ganz und voll in ihr
-wurde und noch manche Stunde stiller Andacht zu den F&uuml;&szlig;en des
-w&uuml;rdigen Geistlichen. Aber sie kam doch, und mit ihr eine Demuth
-und Bescheidenheit, wie man sie fr&uuml;her nie an dem jungen M&auml;dchen
-gekannt hatte.</p>
-
-<p>&raquo;O Tante,&laquo; sagte sie eines Tages leise, als sie neben dieser das
-Gotteshaus verlie&szlig;, &raquo;o warum bin ich nicht fr&uuml;her zu euch gekommen,
-ich w&auml;re ein besseres M&auml;dchen geworden!&laquo;</p>
-
-<p>Tante Marie dr&uuml;ckte Frida's Hand voll Innigkeit und erwiederte
-sanft: &raquo;Zum Gutsein ist es keinen Tag zu sp&auml;t, mein liebes Kind;
-wolle es nur ernstlich, dann kannst du's auch, dazu ist man nie
-zu alt.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_259" id="Page_259">[Pg 259]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Ja Tante, wenn du mir hilfst und ihr Alle!&laquo; sagte Frida bewegt.
-Die Tante aber nickte ihr ernst l&auml;chelnd zu, und von dem Tage
-an war ohne weitere Worte ein Bund zwischen Frida und der Tante
-geschlossen, dessen Segen dem jungen M&auml;dchen immer f&uuml;hlbarer
-wurde, je l&auml;nger sie in diesem Hause lebte.</p>
-
-<p>Aber kehren wir zu dem Feste zur&uuml;ck, zu dem Pastor Werder
-das ganze Bremer'sche Haus eingeladen hatte. Charlotte, Hannchen
-und Martha hatten sich &raquo;h&uuml;bsch&laquo; gemacht, wie der Gastgeber es
-sich ausgebeten, das hei&szlig;t, sie hatten saubere, helle Battistkleider
-angelegt, jedoch keinen anderen Schmuck, als den ihrer frischen,
-rothen Wangen und ihres sorglich gescheitelten Haares. Frida blickte
-betroffen auf diese so unendlich einfachen Toiletten. Sie selbst hatte
-einen ihrer elegantesten Anz&uuml;ge gew&auml;hlt, wie sie es bei festlichen
-Gelegenheiten zu thun pflegte. Nun aber kam sie sich h&ouml;chst unpassend
-gekleidet vor, und sie wollte das kostbare Gewand wieder in den
-Kasten werfen. Die Cousinen jedoch litten das nicht, fanden sie allerliebst
-und behaupteten, Onkel Pastor sehe elegante Damen sehr
-gern. Da suchte Frida denn rasch aus der Ueberf&uuml;lle von B&auml;ndern,
-Spitzen und Schleifen einige pr&auml;chtige, farbige Sch&auml;rpen aus, welche
-sie Hannchen und Lottchen um die Taille schlang; Martha steckte sie
-eine sch&ouml;ne Schleife vor die Brust, und die Cousinen mochten wollen
-oder nicht, sie mu&szlig;ten sich so schm&uuml;cken lassen. Frida jubelte &uuml;ber
-ihren Einfall, und fr&ouml;hlich zog die ganze Gesellschaft endlich dem
-Pfarrhause zu.</p>
-
-<p>Dies war ein gro&szlig;es, altes Geb&auml;ude mit weiten, etwas dunklen
-R&auml;umen, durch dicht herumstehende B&auml;ume noch d&uuml;strer gemacht.
-Aber Th&uuml;ren und Fenster waren mit Blumen geschm&uuml;ckt, und auf
-der steinernen Au&szlig;entreppe stand Pastor Werder mit den Seinen
-zum Empfang der G&auml;ste. Die Pastorin, eine rasche, r&uuml;stige Frau
-mit lebhaften, dunklen Augen, lief den Ankommenden, ihre kleine<span class="pagenum"><a name="Page_260" id="Page_260">[Pg 260]</a></span>
-Tochter Gretchen an der Hand, ungeduldig ein St&uuml;ck entgegen, und
-ihr folgte die zierliche Gestalt ihrer &auml;lteren Tochter Helene, ein auffallend
-zartes, liebliches M&auml;dchen mit vollem, dunklen Haar und
-schw&auml;rmerischen, braunen Augen. An der Seite des Pastors aber
-stand sein einziger Sohn, gro&szlig; und sch&ouml;n und stattlich wie er selbst,
-nur da&szlig; die lang herabfallenden Locken des jungen Mannes von
-sch&ouml;ner hellbrauner F&auml;rbung und die Z&uuml;ge des Gesichtes frisch und
-jugendlich waren. Zwei Knaben von 13 und 14 Jahren, die Z&ouml;glinge
-Justus Werder's, und sein Freund, ein junger Arzt, begr&uuml;&szlig;ten
-mit ihnen die Ankommenden als liebe, alte Freunde. Kaum
-aber hatte man sich die H&auml;nde gesch&uuml;ttelt und das Haus betreten,
-da rollte ein Wagen vor.</p>
-
-<p>&raquo;Das sind die Hermsbacher!&laquo; t&ouml;nte es fr&ouml;hlich, und abermals
-&ouml;ffnete sich die gastliche Pforte. Herr und Frau von Helldorf, ein
-freundliches, behagliches Ehepaar, wurde im Triumph hereingef&uuml;hrt,
-und mit ihnen kam Sophie, des Gutsherrn Nichte, ein gro&szlig;es,
-blondes, aber sehr unscheinbares M&auml;dchen. Ihnen folgten zwei junge
-M&auml;nner, sehr verschieden in ihrer Erscheinung. Walter, der Sohn
-des Gutsherrn, war st&auml;mmig und kr&auml;ftig gebaut, und sein Gesicht
-trug den Stempel gro&szlig;er G&uuml;te und Milde; aber etwas Sch&uuml;chternes,
-ja Linkisches that seiner sonst angenehmen Erscheinung einigen Abbruch.
-Sein Begleiter jedoch, der sich seit Kurzem als Volontair
-auf dem Gute aufhielt, besa&szlig; alle die Eigenschaften, welche einen
-jungen Mann zu einer hervortretend gewinnenden Erscheinung
-machen. Elegant in Manieren und Kleidung, sch&ouml;n an Gesicht und
-Gestalt, und angenehm in der Art und Weise zu sprechen und
-sich zu bewegen, machte er auf Jedermann einen &auml;u&szlig;erst g&uuml;nstigen
-Eindruck.</p>
-
-<p>Frida hatte mit stiller Verwunderung ihre Blicke in dem Kreise
-umhergeschickt, in dem sie sich hier befand; denn diese biedre, ja derbe<span class="pagenum"><a name="Page_261" id="Page_261">[Pg 261]</a></span>
-Art und Weise, mit welcher die Freunde hier mit einander verkehrten,
-war f&uuml;r die feine, junge Dame etwas v&ouml;llig Neues. Sie
-verglich soeben im Stillen diese derbe Redeweise, welche h&auml;ufig mit
-plattdeutschen Worten vermischt war, und dies H&auml;ndesch&uuml;tteln und
-laute, ungenirte Wesen der G&auml;ste mit den grazi&ouml;sen, feinen Formen
-der eleganten Welt, in der sie sich bis jetzt bewegt hatte. Da trat
-sie aus dem Nebenzimmer, in das sie f&uuml;r einige Augenblicke gegangen,
-wieder zu der Gesellschaft, und ihre Blicke fielen jetzt auf den jungen
-Volontair, welcher von den breiten, mecklenburger Schultern der
-andern Herren f&uuml;r sie bisher verdeckt worden war.</p>
-
-<p>Ein leiser Ausruf der Verwunderung entschl&uuml;pfte bei diesem
-Anblick ihren Lippen; tiefe R&ouml;the &uuml;berzog ihr Gesicht, und unwillk&uuml;rlich
-trat sie einige Schritte vor. Herr von Gablenz, wie dieser
-junge Mann genannt wurde, war in seiner leichten, gewandten
-Manier von Einem zum Andern geschritten, indem er jeder der
-&auml;lteren Damen etwas Verbindliches sagte und sich soeben in sehr
-sichrer, anmuthiger Haltung dem Kreise der jungen M&auml;dchen n&auml;herte,
-sein krauses, dunkles B&auml;rtchen mit leisem L&auml;cheln &uuml;ber den Finger
-drehend. Da erblickte er Frida. H&ouml;chstes Erstaunen in den Z&uuml;gen
-hemmte er pl&ouml;tzlich den leichten Schritt, und etwas wie Schrecken
-oder Verdru&szlig; beschattete f&uuml;r einen Augenblick seine Z&uuml;ge. Aber
-auch nur f&uuml;r einen Augenblick. Im n&auml;chsten schon blitzte sein dunkles
-Auge hell auf, und das begl&uuml;ckteste L&auml;cheln auf der Lippe trat er mit
-freudigem Gru&szlig; auf das junge M&auml;dchen zu, das ihm zum Willkommen
-die Hand entgegenstreckte.</p>
-
-<p>&raquo;Mein gn&auml;diges Fr&auml;ulein, welche freudige Ueberraschung, Sie
-hier zu sehen!&laquo; sagte er halblaut und k&uuml;&szlig;te Frida's bebende Hand,
-die er einen Augenblick in der seinen hielt und wie zum stillen Einverst&auml;ndni&szlig;
-leise dr&uuml;ckte. Frida konnte ihrer freudigen Bewegung
-nur mit M&uuml;he Herr werden; aber sie f&uuml;hlte, wie n&ouml;thig es sei, da&szlig;<span class="pagenum"><a name="Page_262" id="Page_262">[Pg 262]</a></span>
-sie ruhig blieb, und so sagte sie m&ouml;glichst unbefangen, denn Hannchen
-trat eben zu ihnen: &raquo;Herr von Gablenz, ich freue mich sehr, Sie
-hier zu begr&uuml;&szlig;en. Sie haben ihre Freunde in B. so schnell verlassen,
-da&szlig; wir Alle nicht wu&szlig;ten, wohin Sie abgereist waren.
-Liebes Hannchen,&laquo; wandte sie sich dann unbefangen zu ihrer Cousine,
-&raquo;Herr von Gablenz ist ein Freund unsres Kreises in B., es ist
-eine gro&szlig;e Ueberraschung f&uuml;r mich, ihn hier wieder zu sehen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ein Gl&uuml;ck, das ich mir nicht tr&auml;umen lie&szlig;, mein gn&auml;digstes
-Fr&auml;ulein!&laquo; fuhr Herr von Gablenz fort und f&uuml;gte ein so bedeutsames
-L&auml;cheln hinzu, da&szlig; Frida sich schnell abwandte und Hannchens Aufmerksamkeit
-auf etwas anderes zu lenken suchte. Diese war aber
-weit davon entfernt, den wahren Sachverhalt zu ahnen, sondern
-dr&uuml;ckte nur in ihrer sanften Weise ihre herzliche Befriedigung aus,
-da&szlig; Frida die Freude habe, einen Bekannten aus ihrer lieben Heimath
-wiederzusehen. Bald aber lie&szlig; sie die Beiden allein, die sich nun
-schnell in ein lebhaftes Gespr&auml;ch vertieften. Als man h&ouml;rte, da&szlig;
-Frida und Herr von Gablenz gute Bekannte seien, verwunderte sich
-auch niemand, da&szlig; sie den Tag &uuml;ber viel mit einander sprachen und
-verkehrten; was aber Frida f&uuml;hlte und dachte, das m&ouml;gen uns wieder
-einige Zeilen sagen, welche sie ihrer Freundin am Morgen nach
-diesem f&uuml;r sie so ereigni&szlig;reichen Tage sandte.</p>
-
-
-<blockquote>
-<p class="center">
-&raquo;Liebste, theuerste Franziska!<br />
-</p>
-
-<p>Was habe ich Dir heute mitzutheilen! O Fr&auml;nzchen, wie
-gl&uuml;cklich, wie selig bin ich, denke nur, ich habe <em class="gesperrt">ihn</em> gesehen!
-Ja, staune immerhin, ich habe auch gestaunt, und im ersten
-Augenblicke meinte ich zu tr&auml;umen, als seine sch&ouml;ne, edle Gestalt
-vor mir stand, und sein herrliches, dunkles Auge mich anschaute,
-mit dem bekannten, ach nur <em class="gesperrt">mir</em> bekannten, strahlenden Blicke!
-O was so ein Blick alles sagen kann und so ein L&auml;cheln, wie es
-<span class="pagenum"><a name="Page_263" id="Page_263">[Pg 263]</a></span>bei meinem Anblick um seinen Mund schwebte! Ich h&auml;tte jubeln,
-aufjauchzen m&ouml;gen vor Wonne, und doch durfte ich es nicht, mu&szlig;te
-stumm und still mein Gl&uuml;ck im Herzen verschlie&szlig;en, damit niemand
-es ahnte; ja ich durfte selbst den s&uuml;&szlig;en H&auml;ndedruck nicht
-erwiedern, mit dem er mich begr&uuml;&szlig;te, denn meiner Cousine Augen
-ruhten verwundert auf uns. Aber wenn wir auch den ganzen
-Tag nur gleichg&uuml;ltige Dinge mit einander gesprochen haben, was
-schadet es, wir sind uns doch wieder nah', ich kann doch wieder
-ab und zu dieselbe Luft mit ihm einathmen; denn ich werde ihn
-wiedersehen, hoffentlich oft und lange. Er ist als Volontair f&uuml;r
-einige Zeit hier in der N&auml;he auf einem der G&uuml;ter, und er sagte
-mir zur Entschuldigung f&uuml;r seine schnelle Abreise, die Sache habe
-sich so rasch gemacht, und sein Aufenthalt auf Hermsbach sei keineswegs
-eine so fest abgeschlossene Sache, da&szlig; er davon gegen uns
-im Voraus h&auml;tte sprechen m&ouml;gen. Ach f&uuml;r mich bedurfte es ja
-dieser Entschuldigungen nicht, mir gen&uuml;gte damals das Schreckliche:
-er war fort; aber die Wonne, ihn nun hier wieder gefunden
-zu haben, wiegt alles auf. Nun will ich gern in meines
-Onkels Hause bleiben, so lange sie mich behalten m&ouml;gen, nun sehe
-ich <em class="gesperrt">ihn</em> doch zuweilen, das l&auml;&szlig;t alle Entbehrungen und alles
-Unbehagen vergessen, das ich dort zu ertragen habe. O wie er
-dasteht unter diesen derben, massigen, mecklenburger Gestalten!
-Wie ein Prinz im M&auml;rchen! Ich w&uuml;rde mich nicht wundern,
-wenn eine goldene Krone in seinen gl&auml;nzenden, schwarzen Locken
-blitzte; denn wie ein F&uuml;rst schreitet er unter diesen derben, simplen
-Leuten hier einher, und in der That scheint auch alles ihm zu
-huldigen und das Uebergewicht seiner geistigen wie k&ouml;rperlichen
-Gaben anzuerkennen. Die alten Damen werden ordentlich wieder
-jung, wenn er ihnen in seiner anmuthigen Weise den Hof macht,
-was ihnen von den hiesigen h&ouml;lzernen, jungen Herren nicht ge<span class="pagenum"><a name="Page_264" id="Page_264">[Pg 264]</a></span>boten
-wird. Und nun gar die jungen! Sie h&auml;ngen alle mit
-wahrhaft schw&auml;rmerischen Blicken an ihm, wie an einem Zauberer,
-und selbst meine beiden schlichten, bl&ouml;den Cousinen k&ouml;nnen ihre
-Kornblumenaugen nicht von ihm abwenden, wenn er in ihre N&auml;he
-kommt. Die kleine, reizende Pastorentochter ist ganz bestimmt
-schrecklich in ihn verliebt, oder ich m&uuml;&szlig;te mich wenig auf dergleichen
-Dinge verstehen. Das Spashafteste aber ist die Schw&auml;rmerei
-eines gro&szlig;en, blassen M&auml;dchens, die &uuml;ber die erste Bl&uuml;the
-hinaus ist, wenn sie &uuml;berhaupt je eine hatte. Es ist die Nichte
-des Herrn von Helldorf, in dessen Hause Gablenz sich aufh&auml;lt,
-und die, wie ich h&ouml;re, sehr reich sein soll. Das stete Beisammensein
-mit dem jungen Volontair scheint das arme Wesen ganz bezaubert
-und verwirrt zu haben. Es ist wahrhaft j&auml;mmerlich,
-wie sie die blassen Augen verdreht und die Lippen zum s&uuml;&szlig;esten
-L&auml;cheln spitzt, wenn er sie einiger Worte w&uuml;rdigt, und dann sitzt
-sie wie verz&uuml;ckt da und schaut ihm nach, wenn er ihr den R&uuml;cken
-gewandt. Und nun zu wissen, dieser herrliche Mann, den alle
-lieben, alle verehren, alle besitzen m&ouml;chten, er geh&ouml;rt mir, mir
-allein; keine von allen, denen er in seiner gewandten Weise oft
-angenehme Dinge sagt, besitzt seine Liebe, sondern nur allein ich,
-ich, die Gl&uuml;ckliche, Beneidenswerthe; &mdash; o Franziska, das ist ein
-Gef&uuml;hl, ein Gedanke, &uuml;berw&auml;ltigend sch&ouml;n und begl&uuml;ckend. Wenn
-ich nicht w&uuml;&szlig;te, wie theuer ich ihm bin, so k&ouml;nnte ich hier unter
-den vielen jungen M&auml;dchen ganz eifers&uuml;chtig werden, da sie ihn
-alle so verehren und lieben. Den ungeleckten, jungen B&auml;ren der
-hiesigen Gesellschaft gegen&uuml;ber wirkt sein einnehmendes Wesen
-mit doppeltem Zauber auf die schlichten Landm&auml;dchen, und der
-lose Gablenz scheint sich ein wahres Vergn&uuml;gen daraus zu machen,
-diesen Zauber m&ouml;glichst auszubeuten. Einige Worte, die er mir
-lachend zufl&uuml;sterte, als er mit der sch&ouml;nen, schw&auml;rmerischen
-<span class="pagenum"><a name="Page_265" id="Page_265">[Pg 265]</a></span>Pfarrerstochter zwei schmelzende Duette gesungen und der blassen
-Frl. von Helldorf eine zarte Rose mit einigen schelmischen Worten
-&uuml;berreicht hatte, best&auml;tigten meine Vermuthung. Mich liebt er;
-aber den andern jungen Damen macht er ebensosehr den Hof,
-als mir selbst, und das ist mir ganz recht, so merkt eben niemand,
-wie die Sachen eigentlich stehen. O wenn Papa erf&uuml;hre, da&szlig; er
-hier ist! Ich glaube wirklich, er holte mich gleich zur&uuml;ck. Aber
-er wei&szlig; ja gl&uuml;cklicherweise nicht, da&szlig; Gablenz &uuml;berhaupt B. verlassen
-hat, und nun gar, da&szlig; er sich hier in dieser Gegend aufh&auml;lt.</p>
-
-<p>Doch nun genug, mein Fr&auml;nzchen. Du kannst jetzt wieder
-ruhig und froh an mich denken; denn jetzt ist alles gut. Uebrigens
-mu&szlig; ich meinen Verwandten zum Lobe nachsagen, sie sind von
-einer au&szlig;erordentlichen Liebe und G&uuml;te gegen mich, und das Landleben
-ist &uuml;berhaupt nicht so schlimm, als ich erst dachte. An dem
-gestrigen Tage haben wir auf dem kleinen See bei Pastors herrliche
-Stunden verlebt unter Gesang und tausend Scherzen, und dann
-auf der Wiese pr&auml;chtig gespielt. Aber sind die M&auml;dchen hier
-plump und bl&ouml;de, es ist zum Todtlachen. Sie wissen alle nicht
-um die Ecke, wie Graf Salm immer sagt. Gablenz war immer
-der Mittelpunkt, um den sich alles schaarte; er leitete und ordnete
-alles, und Du kannst denken, da&szlig; ich ihm treulich zur Seite stand.
-O es war himmlisch! In Liebe und Gl&uuml;ck</p>
-
-<p class="right">
-Deine <em class="gesperrt">Frida</em>.&laquo;<br />
-</p></blockquote>
-
-
-<p>Aber auch Herr von Gablenz schrieb an dem Morgen, der dem
-Zusammentreffen Frida's mit ihm folgte und das schw&auml;rmerische
-junge M&auml;dchen so unendlich begl&uuml;ckt hatte, einen Brief, der uns
-einen Blick geben mag, wie es eigentlich mit diesem Herrn bestellt
-war, dem Frida in ihrer Unerfahrenheit und Schw&auml;rmerei bereits
-nur allzuviel Raum in ihrem Herzen einger&auml;umt hatte.</p>
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_266" id="Page_266">[Pg 266]</a></span></p>
-
-
-<blockquote>
-
-<p>&raquo;Bester Eduard!&laquo; schrieb er mit fliegender Feder. &raquo;Vor
-Kurzem theilte ich Dir mit, wie weise ich Deine Rathschl&auml;ge mir
-zu Herzen genommen, und wie gut sich alles zu gestalten scheint.
-Dank Deiner F&uuml;rsorge habe ich zur rechten Zeit noch in B. den
-Staub von meinen F&uuml;&szlig;en sch&uuml;tteln und der St&auml;tte Lebewohl
-sagen k&ouml;nnen, wo mir das Pflaster zu hei&szlig; unter den F&uuml;&szlig;en
-wurde, und meine Gl&auml;ubiger anfingen, gar zu scharf die Z&auml;hne zu
-zeigen. Wie ein Meteor kam ich und verschwand ich in jenen
-angenehmen Kreisen, um hier von Neuem aufzutauchen und mir
-jene Erbin zu sichern, von der Deine Freundschaft f&uuml;r mich Errettung
-hofft aus dem Drangsale, das mein edles Haupt umgarnt.
-O Himmel ja, meine Schulden fressen an mir wie hungrige Ungeth&uuml;me,
-und nur eine Erbschaft oder eine reiche Heirath kann
-mich retten. Da mir f&uuml;r Erstere aber nirgends ein Stern d&auml;mmern
-will, denn das Geschlecht der Goldonkel hat mir Aermsten
-nie gebl&uuml;ht, so bleibt nur das Zweite noch &uuml;brig. In B. gab
-es h&uuml;bsche M&auml;dchen genug; aber alle mit w&uuml;rdigen V&auml;tern und
-M&uuml;ttern versehen und von zahllosen Geschwistern umringt, also
-f&uuml;r meine Zwecke nicht geschaffen. Ich mu&szlig; disponibles Verm&ouml;gen
-vor mir sehen, um meiner Schwachheit h&uuml;lfreich beistehen
-zu k&ouml;nnen; ferne Aussichten, oder Abh&auml;ngigkeit von der G&uuml;te
-barmherziger Schwiegerv&auml;ter kann mich nicht retten, und wenn
-die T&ouml;chter Engel an Sch&ouml;nheit w&auml;ren. Solch ein blondes Engelchen
-h&auml;tte mich edlen Ritter sonst sicher nicht verschm&auml;ht; ich las
-es in ihren veilchenblauen Aeuglein und ahnte wohl, da&szlig; mein
-Verschwinden ihr Herzchen bitter kr&auml;nken w&uuml;rde, da sie gewaltig
-Feuer gefangen. Aber lieber Himmel, wer kann an so etwas
-denken, wenn das Feuer auf den N&auml;geln brennt! Ich war ihr
-entschl&uuml;pft zur rechten Stunde, und alles schien im besten Gange.
-Ich wurde als Volontair in Hermsbach angenommen, die Erbin
-<span class="pagenum"><a name="Page_267" id="Page_267">[Pg 267]</a></span>ist bla&szlig; und h&auml;&szlig;lich und gr&uuml;ndlich langweilig; &mdash; aber was hilft
-das alles, ihr Geld mu&szlig; die Sch&auml;den zudecken. Sie ist bereits
-zum Sterben in mich Ausbund von Liebensw&uuml;rdigkeit und Anmuth
-verliebt; denn das bei dieser simplen Landpommeranze zu erreichen,
-war f&uuml;r mich keine Herkulesarbeit. Leider haben Onkel und Tante
-aber ein Wort mitzusprechen, und die mir g&uuml;nstig zu stimmen,
-bedarf noch einiger Geschicklichkeit. Uebrigens scheint dies Mecklenburg
-eine wahre Fundgrube von h&uuml;bschen M&auml;dchen zu sein;
-(leider macht nur meine Erbin eine traurige Ausnahme!) denn
-wie die Amoretten in Thorwaldsens Neste voll Liebesg&ouml;tter sitzen
-sie hier dicht bei einander, so da&szlig; man sich die Zeit gut vertreiben
-kann. Besonders eine kleine, schwarz&auml;ugige Pfarrerstochter k&ouml;nnte
-mich alle h&uuml;bschen Blondinen zeitlebens vergessen machen. H&ouml;chst
-unbequemer Weise aber, und w&auml;hrend ich im besten Zuge bin,
-den Liebensw&uuml;rdigen bei all den h&uuml;bschen M&auml;dels zu spielen,
-taucht pl&ouml;tzlich meine holde Blondine aus B. vor mir auf, aus
-deren Banden ich gl&uuml;cklich entflohen war, als Deine Weisung
-kam, mir den hiesigen Goldfisch zu fangen. Sie war strahlend
-vor Entz&uuml;cken, mich Ausrei&szlig;er hier zu finden, und ich? Nun ich
-m&uuml;&szlig;te nicht Alfred von Gablenz sein, h&auml;tte ich nicht augenblicklich
-ebenso strahlend in ihr holdes Augenpaar geblickt und das Lied
-fortgesungen, das ich in B. begonnen. Ach Lied! Das war ein
-ungl&uuml;ckliches Bild; denn ein Lied ist's, was allein mich bei der
-Geschichte etwas beunruhigt. Jetzt ist's nun eine k&ouml;stliche Kom&ouml;die,
-die ich zu spielen habe; denn die kleine, schwarzlockige Pfarrerstochter,
-deren sch&ouml;ne Augen mich f&uuml;r die blassen meines Goldfischchens
-etwas entsch&auml;digen m&uuml;ssen, glaubt mich ebenfalls zu
-ihren F&uuml;&szlig;en, und es geh&ouml;rt die ganze Gewandtheit Deines
-Freundes dazu, mein Schifflein hier geschickt so zu steuern,
-da&szlig; Jede die Begl&uuml;ckte zu sein scheint, bis ich meines Zieles
-<span class="pagenum"><a name="Page_268" id="Page_268">[Pg 268]</a></span>ganz sicher bin. Aber das gerade ist mein Element, drum
-Gl&uuml;ckauf und ein fr&ouml;hlich Gelingen Deiner Pl&auml;ne, Du kluger
-Pfadfinder.</p>
-
-<p class="center">Dein getreuer</p>
-
-<p class="right"><em class="gesperrt">Alfred von Gablenz</em>.&laquo;<br /></p>
-</blockquote>
-
-
-<p>Woche um Woche verging; Frida aber hatte keine Ahnung
-von der Treulosigkeit und dem doppelten Spiele des leichtsinnigen
-Mannes, dem sie mit der ganzen schw&auml;rmerischen Liebe eines jungen
-Herzens anhing. Obwohl er sich h&uuml;tete, mit Frida in bestimmteren
-Worten von seiner Liebe zu sprechen, so behielt er doch gegen sie den
-Ton der Hingebung und Verehrung bei, den er bisher schon angeschlagen,
-und n&auml;hrte dadurch Frida's stilles Tr&auml;umen und Hoffen.
-Wohl sah und h&ouml;rte sie, da&szlig; er auch gegen Helene eine w&auml;rmere
-Sprache f&uuml;hrte, und da&szlig; er Sophie von Helldorf oft in auffallender
-Weise auszeichnete; aber ihr Herz ward nie ernstlich hiervon beunruhigt.
-Glaubte sie doch immer, es geschehe nur, um die Aufmerksamkeiten
-gegen sie selbst dadurch zu verdecken, und kein Schatten
-eines Mi&szlig;trauens zog in ihr junges, unerfahrenes Gem&uuml;th.</p>
-
-<p>Das Gl&uuml;ck und die Freude machten Frida noch lieblicher, als
-sie ohnehin schon war, und ihre Anmuth gewann ihr schnell die
-Herzen all dieser braven, einfachen Menschen, mit denen sie hier
-verkehrte. Ihr launisches und trotziges Wesen, wie sie es zu Hause
-so oft gegen die Ihren zeigte, schien ganz verschwunden; denn das
-Beispiel ihrer bescheidenen Cousinen, denen derartige Unarten etwas
-v&ouml;llig Fremdes waren, wirkte unendlich vortheilhaft auf das weiche,
-leichtempf&auml;ngliche Gem&uuml;th Frida's. Immer mehr und mehr wurde
-sie der Liebling von Jung und Alt; denn sie geh&ouml;rte zu jenen gl&uuml;cklichen
-Naturen, welche von jedermann verzogen und geh&auml;tschelt
-werden. Die jungen M&auml;dchen wagten sich in ihrer bl&ouml;den, zaghaften
-Weise zwar Anfangs nicht recht an die so elegante, junge Dame<span class="pagenum"><a name="Page_269" id="Page_269">[Pg 269]</a></span>
-heran, die mit so viel Gewandtheit und Sicherheit unter sie trat;
-Frida aber zeigte ihnen ein so herzliches und unbefangenes Entgegenkommen,
-da&szlig; alle Scheu entschwand, und sie mit allen bald gute
-Freundschaft schlo&szlig;. Die jungen Herren hingegen hatte Frida's
-Anmuth gleich von Anfang an gewonnen. Durch ihr leichtes, gewandtes
-Benehmen, verbunden mit Witz und Heiterkeit, zeichnete sie sich so
-vortheilhaft aus vor den schwerf&auml;lligen, sch&uuml;chternen und zaghaften
-jungen M&auml;dchen, unter welchen sie auftrat, da&szlig; jeder sich am liebsten
-mit ihr unterhielt. Sie verstand es vortrefflich, den Ton zu treffen,
-der f&uuml;r jeden Einzelnen pa&szlig;te, und selbst der scheue und steife
-Walter Helldorf &uuml;berwand mit der Zeit seine &auml;ngstliche Bl&ouml;digkeit,
-wenn die muntere Frida mit ihm scherzte. Justus Werder aber und
-sein Freund, der lustige, junge Arzt, und mit ihnen noch einige
-andere junge Leute der Nachbarschaft, schw&auml;rmten bald s&auml;mmtlich
-f&uuml;r die bezaubernde junge Dame und brachten ihr jeder in seiner
-Weise die w&auml;rmsten Huldigungen dar. Zur gro&szlig;en Verwunderung
-ihrer Cousinen nahm Frida diese allgemeine Verehrung &auml;u&szlig;erst ruhig
-und sorglos hin; sie hatte es ja auch zu Haus nicht anders gekannt,
-und ihr Herz wurde in keiner Weise dadurch beunruhigt. Sie scherzte
-und lachte mit allen um so sorgloser, da sie eigentlich dabei nur
-immer an den dachte, der ihr die ganze Seele erf&uuml;llte. Er war ja
-fast immer unter den jungen Leuten, mit denen sie verkehrte, und
-das belebte ihr ganzes Wesen. Ihm allein galten ja eigentlich ihre
-Worte und ihre witzigen, munteren Reden, und ein rascher Blick
-seines Auges, eine fl&uuml;chtige Anspielung, nur f&uuml;r sie verst&auml;ndlich,
-waren v&ouml;llig hinreichend, Frida f&uuml;r viele Tage froh und gl&uuml;cklich
-zu machen.</p>
-
-<p>Wenn Frida jetzt nach Hause schrieb, da&szlig; sie sich wohl und
-zufrieden bei Onkel und Tante f&uuml;hle, so hatte nat&uuml;rlich die Anwesenheit
-dessen, den sie im Herz und Sinn trug, einen gro&szlig;en Antheil<span class="pagenum"><a name="Page_270" id="Page_270">[Pg 270]</a></span>
-hieran. Aber der alleinige Grund ihres Wohlseins war es dennoch
-nicht; Frida lebte sich in der That von Tage zu Tage mehr ein in
-dem Kreise, der sie aufgenommen. Jugend ist so empf&auml;nglich f&uuml;r
-alles Neue, und hier waren es zu Frida's Gl&uuml;ck nur edle und gute
-Elemente, welche auf sie einwirkten. Die Freundschaft, die sie bald
-mit Hannchen und Charlotte verkn&uuml;pfte, war viel tieferer und besserer
-Art, als alle ihre bisherigen Freundschaften, und Frida war selbst
-oft verwundert, da&szlig; junge M&auml;dchen so wenig von Putz und Aeu&szlig;erlichkeiten
-mit einander sprachen, als sie und ihre Cousinen, und sich
-dennoch ganz vortrefflich dabei unterhielten. Auch mit Helene
-Werder, der braun&auml;ugigen Pfarrerstochter, war Frida bald herzlich
-befreundet, und selbst Sophie Helldorf zeigte f&uuml;r die bedeutend
-j&uuml;ngere Frida eine warme Zuneigung wenn auch ihre Blicke oft
-mit &auml;ngstlicher Spannung die Huldigungen verfolgten, welche der
-sch&ouml;ne Volontair dem reizenden M&auml;dchen darbrachte.</p>
-
-<p>So war eine geraume Zeit vergangen, da bemerkte Frida zuweilen,
-da&szlig; ihr liebes Hannchen mit roth geweinten Augen umherging,
-und auch Charlotte oft niedergeschlagen und tr&uuml;b&auml;ugig dreinschaute.
-Auf ihre Fragen erhielt Frida ausweichende Antworten,
-sie machte sich deshalb keine weiteren Sorgen dar&uuml;ber.</p>
-
-<p>Eines Tages aber, als man wieder im Hause Pastor Werders
-fr&ouml;hlich zusammen gewesen, nahm Charlotte Frida unter den Arm
-und ging mit ihr in eine der verstecktesten Lauben des Gartens.</p>
-
-<p>&raquo;Ich m&ouml;chte dich gern einmal etwas fragen, liebe Frida; aber sei
-mir drum nicht b&ouml;se,&laquo; sagte Lottchen dort sch&uuml;chtern und malte mit
-einem St&ouml;ckchen, das im Wege lag, verlegen Figuren in den Sand.</p>
-
-<p>&raquo;Warum sollte ich b&ouml;se sein, Lottchen? Was hast du?&laquo; entgegnete
-Frida verwundert.</p>
-
-<p>&raquo;Es ist nur,&laquo; fuhr Charlotte z&ouml;gernd fort, &raquo;ich wollte dich nur
-fragen, liebst du das Leben auf dem Lande jetzt sehr?&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_271" id="Page_271">[Pg 271]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Ei gewi&szlig; liebe ich es, mehr als ich je dachte!&laquo; rief Frida
-lebhaft.</p>
-
-<p>&raquo;So m&ouml;chtest du wohl ganz gern dort leben, vielleicht einmal
-als Pastorenfrau?&laquo; stotterte Lottchen jetzt tief err&ouml;thend und w&uuml;hlte
-mit dem St&ouml;ckchen aufgeregt im Fu&szlig;boden umher.</p>
-
-<p>&raquo;Als Pastorenfrau?&laquo; sagte Frida staunend. &raquo;Wie kommst du
-denn darauf, Lottchen? Das ist ja eine merkw&uuml;rdige Idee. Findest
-du denn, da&szlig; ich <em class="gesperrt">dazu</em> passe?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nein, ehrlich gestanden finde ich eben, da&szlig; du gar nicht dazu
-pa&szlig;t, Frida; aber nimm es mir nur nicht &uuml;bel,&laquo; entgegnete Lottchen
-immer befangener werdend.</p>
-
-<p>&raquo;Nun warum in aller Welt fr&auml;gst du mich denn da so sonderbar?&laquo;
-lachte Frida.</p>
-
-<p>&raquo;Weil &mdash; nun weil ich dachte, du m&ouml;chtest den Justus heirathen,&laquo;
-rief Lottchen nun fassungslos und warf das St&ouml;ckchen weit von sich.</p>
-
-<p>&raquo;Den Justus Werder? Ich den Justus Werder heirathen? Lottchen,
-ich glaube du tr&auml;umst!&laquo; sagte Frida, die Augen weit &ouml;ffnend.
-&raquo;Wie kommst du denn darauf? Das w&uuml;rde mir ja nun und nimmer
-in die Gedanken gekommen sein! Der Justus und ich, welch eine
-ungl&uuml;ckliche Zusammenstellung!&laquo;</p>
-
-<p>Charlotte war von ihrem Sitze aufgesprungen und hatte Frida's
-beide H&auml;nde ergriffen.</p>
-
-<p>&raquo;Du denkst nicht daran und hast den Justus nicht lieb, Frida?&laquo;
-rief sie mit strahlenden Blicken.</p>
-
-<p>&raquo;Nein doch, nein, ich bin so weit davon entfernt, als man es
-nur sein kann!&laquo; entgegnete Frida von Herzen lachend. &raquo;Ich g&auml;be
-eine sch&ouml;ne Predigerfrau ab! Du komisches M&auml;dchen, wenn du dir
-darum Gedanken gemacht hast, dann beruhige dich. <em class="gesperrt">Ich</em> nehme dir
-Justus Werder nicht weg, und er will mich auch gar nicht.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ach ich lie&szlig;e ihn dir gern, Frida,&laquo; sagte Lottchen leise. &raquo;Wenn<span class="pagenum"><a name="Page_272" id="Page_272">[Pg 272]</a></span>
-<em class="gesperrt">ich</em> ihn liebte, h&auml;tte ich diese Fragen nicht an dich richten k&ouml;nnen.
-Aber siehst du, ich kann es nicht mit ansehen, da&szlig; Hannchen sich so
-abh&auml;rmt, um ihretwillen ist's.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Hannchen liebt den Justus?&laquo; rief Frida voller Entz&uuml;cken. &raquo;O
-das ist ja k&ouml;stlich, das mu&szlig; ein Paar werden! Hannchen mit ihrem
-frommen, blonden Gesichtchen giebt eine wundervolle Pastorsfrau
-ab. Hat Justus denn eine Ahnung davon, und glaubst du, da&szlig; er
-sie auch liebt?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Das ist's ja eben, was mich qu&auml;lt!&laquo; sagte Charlotte niedergeschlagen
-&raquo;Fr&uuml;her, ehe &mdash; nun da&szlig; ich es dir ehrlich sage, Cousinchen,
-ehe <em class="gesperrt">du</em> kamst, zeichnete Justus unser Hannchen ganz entschieden
-aus. Das sahen auch seine Eltern, die es sehr w&uuml;nschen;
-denn Hannchen ist ihr Liebling. Aber jetzt ist er so anders geworden.
-Jetzt gilt seine ganze Aufmerksamkeit dir, und das ist ja so nat&uuml;rlich,
-Hannchen verschwindet ja neben dir vollst&auml;ndig, wie wir alle. Da
-du nun so sehr freundlich gegen Justus bist und ihn so sehr auszeichnest,
-so &mdash; &mdash; &mdash;&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ja ja, so dachtet ihr, ich wollte ihn deshalb gleich heirathen!&laquo;
-rief Frida lachend. &raquo;O ihr guten, lieben Kinder! Wenn ich alle
-die heirathen wollte, die mir den Hof machen, dann h&auml;tte ich eine
-sch&ouml;ne Auswahl. Courmachen und Heirathen sind zwei himmelweit
-verschiedene Dinge, Liebchen!&laquo;</p>
-
-<p>Charlotte war sehr ernst geworden. &raquo;Frida,&laquo; sagte sie, &raquo;wei&szlig;t
-du, es ist vielleicht sehr altmodisch und l&auml;ndlich von mir; aber mir
-scheint, man m&uuml;&szlig;te nur demjenigen so freundlich entgegen kommen,
-als du es mit Justus gethan, den man wirklich lieb hat, sonst thut
-man ein Unrecht. Wenn Justus nun deine Liebensw&uuml;rdigkeit
-anders auslegt und sich einbildet, du magst ihn leiden? Er w&uuml;rde
-dir dann vielleicht einen argen Vorwurf daraus machen, sobald er
-erf&uuml;hre, er habe sich geirrt.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_273" id="Page_273">[Pg 273]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Aber Lottchen, bin ich denn gegen Justus wirklich freundlicher,
-als gegen alle andern jungen Leute?&laquo; sagte Frida kopfsch&uuml;ttelnd.</p>
-
-<p>&raquo;Ich wei&szlig; es nicht, Cousinchen,&laquo; entgegnete Charlotte pl&ouml;tzlich
-sehr roth werdend. &raquo;Aber es mu&szlig; wohl so sein, sonst k&ouml;nnte Hannchen
-sich nicht so sehr gr&auml;men. Aber freilich, du bist so ganz anders
-erzogen, als wir. Bei dir ist alles Grazie und Anmuth; wir sind
-wahre Per&uuml;ckenst&ouml;cke neben dir, da mag solche Liebensw&uuml;rdigkeit
-wohl anders beurtheilt werden. Niemand von uns h&auml;tte den Muth
-und die Gewandtheit, so unbefangen &uuml;ber alles zu scherzen, als du
-es thust, und so unger&uuml;hrt sich die s&uuml;&szlig;esten Schmeicheleien sagen zu
-lassen.&laquo;</p>
-
-<p>Frida err&ouml;thete. &raquo;Gestehe es nur, Lottchen,&laquo; sagte sie schelmisch,
-&raquo;eigentlich findet ihr alle zusammen, da&szlig; ich eine ausgemachte, eitle
-Coquette bin, nicht wahr?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O nein, nein, Frida, um alles in der Welt, denke das nicht!&laquo;
-rief Lottchen eifrig.</p>
-
-<p>&raquo;Nun, wenn auch nicht ganz so schlimm, so doch ein Bischen,
-nicht wahr, Schatz?&laquo; sagte Frida, Charlotten umschlingend und ihr
-herzlich in die Augen schauend.</p>
-
-<p>&raquo;Nun ein Wenig zur&uuml;ckhaltender k&ouml;nntest du allerdings wohl sein,
-Frida, das ist richtig,&laquo; entgegnete Charlotte ehrlich. &raquo;Aber sei nicht
-b&ouml;se drum. Ich las k&uuml;rzlich ein Verschen in den Gedichten von
-Friedrich R&uuml;ckert, die du mir geborgt hast; das f&auml;llt mir jetzt manchmal
-ein, wenn ich dich so sicher und selbstbewu&szlig;t unter den jungen
-Leuten sehe.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Und wie ist dieser Vers, meine kleine Lotte?&laquo; fragte ihre Cousine
-l&auml;chelnd.</p>
-
-<p>&raquo;Er hei&szlig;t, aber sei nicht b&ouml;se:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_274" id="Page_274">[Pg 274]</a></span></p>
-
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">Sch&ouml;n bist du,<br /></span>
-<span class="i0">Das wei&szlig;t du<br /></span>
-<span class="i0">Nur leider zu sehr;<br /></span>
-<span class="i0">O w&uuml;&szlig;test du's minder,<br /></span>
-<span class="i0">So w&auml;r'st du es mehr.&laquo;<br /></span>
-</div></div>
-
-
-<p>&raquo;Du ganz abscheuliches M&auml;dchen!&laquo; lachte Frida tief err&ouml;thend,
-&raquo;du sagst mir da bittere S&uuml;&szlig;igkeiten. Aber ich danke dir daf&uuml;r, ich
-werde daran denken. Bis jetzt hat mir kein Mensch gesagt, da&szlig; ich
-anders sein sollte; es ist aber m&ouml;glich, du hast nicht unrecht.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Und du bist mir wirklich nicht b&ouml;se, Frida?&laquo; sagte Charlotte
-flehend, ihre Cousine sch&uuml;ttelte aber halb l&auml;chelnd, halb ernsthaft den
-Kopf und k&uuml;&szlig;te die h&uuml;bsche Tadlerin herzlich. Dann versprach sie
-ihr, besonders gegen Justus zur&uuml;ckhaltender zu sein, damit er s&auml;he,
-sie denke nicht daran, ihn f&uuml;r sich zu gewinnen.</p>
-
-<p>Charlotte schien zwar noch etwas sagen zu wollen, schlo&szlig; aber
-die schon ge&ouml;ffneten Lippen wieder mit einem kleinen Seufzer und
-folgte Frida, welche sie fr&ouml;hlich plaudernd den Baumgang hinabf&uuml;hrte.</p>
-
-<p>Aber kaum waren die beiden Cousinen wieder in das Haus
-zur&uuml;ckgekehrt, so merkte Frida, da&szlig; Hannchen auch gern etwas mit
-ihr sprechen wollte, die Gelegenheit dazu sich aber immer nicht
-fand.</p>
-
-<p>&raquo;Hannchen,&laquo; sagte Frida endlich unbefangen, &raquo;du hast gewi&szlig;
-wieder einmal deine b&ouml;sen Kopfweh; komm ein Bischen mit mir in
-den Garten, mir ist heut auch gar nicht recht wohl.&laquo;</p>
-
-<p>Hannchen war schnell bereit dazu, und bald umschattete jene
-ferne Laube, welche kurz zuvor Lottchens Gest&auml;ndnisse aufgenommen
-hatte, nun auch Hannchens Wangen, welche sich pl&ouml;tzlich sehr dunkel
-f&auml;rbten.</p>
-
-<p>&raquo;Wei&szlig;t du, liebe Frida,&laquo; sagte sie pl&ouml;tzlich mit ihrer weichen,<span class="pagenum"><a name="Page_275" id="Page_275">[Pg 275]</a></span>
-lieblichen Stimme und pre&szlig;te die H&auml;nde fest in einander. &raquo;Es ist
-mir so lieb, da&szlig; ich einmal allein mit dir sprechen kann.&laquo;</p>
-
-<p>Frida konnte ein L&auml;cheln nicht unterdr&uuml;cken; denn sie ahnte, von
-wem ihr sanftes Hannchen mit ihr sprechen wollte. Sie versuchte ihrer
-Cousine auf halbem Wege entgegen zu kommen und sagte vertraulich:</p>
-
-<p>&raquo;Du hast etwas auf deinem Herzen, Hannchen, ich habe es
-wohl gemerkt, was ist's? Welcher B&ouml;sewicht hat es gewagt, den
-Frieden deines sanften Gem&uuml;thes zu st&ouml;ren, mein sch&uuml;chterner,
-kleiner Vogel?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nicht doch, Frida, sag' doch so etwas nicht,&laquo; entgegnete Hannchen
-und schlug bang die Augen nieder, damit ihr Blick nicht die Worte
-strafen m&ouml;chte. &raquo;Ich wollte dich gern etwas fragen, einen unsrer
-Nachbarn betreffend.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Sagt' ich's nicht?&laquo; rief Frida schelmisch, &raquo;ein Nachbar macht
-deinem sanften Herzchen zu schaffen! Hei&szlig;t er mit dem ersten
-Anfangsbuchstaben etwa Justus Werder?&laquo;</p>
-
-<p>Hannchen schrak leicht zusammen und blickte Frida scheu an.</p>
-
-<p>&raquo;Wie kommst du darauf, von <em class="gesperrt">ihm</em> so zu sprechen?&laquo; sagte sie
-herber, als sonst ihre Art war. Dann aber strich sie leicht mit der
-Hand &uuml;ber ihre Augen, und als bereue sie ihre Unfreundlichkeit fuhr
-sie in sanftem Tone fort: &raquo;Nicht von mir ist die Rede, liebe Cousine,
-sondern von jemand ganz andrem. Sage mir, Frida, meinst du
-nicht auch, da&szlig; jemand dich sehr, sehr gern zu haben scheint?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Mich? Von mir sprichst du, Hannchen?&laquo; rief Frida lachend.
-&raquo;Nun ich hoffe, ihr alle habt mich sehr, sehr gern.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ach so meine ich es ja nicht, das versteht sich ja von selbst,&laquo;
-sagte Hannchen ausweichend. &raquo;Wie soll ich mich nur deutlich machen,
-ich bin so ungeschickt! Ich meine, hast du nicht gemerkt, da&szlig; jemand
-in Hermsbach dich sehr, sehr gern hat?&laquo;</p>
-
-<p>Jetzt war es an Frida, zusammenzuschrecken und err&ouml;thend die<span class="pagenum"><a name="Page_276" id="Page_276">[Pg 276]</a></span>
-Augen niederzuschlagen. Rasch aber fa&szlig;te sie sich und sagte: &raquo;Ach
-die Galanterien der jungen Leute sind nicht so ernsthaft zu nehmen,
-liebes Hannchen. Herr von Gablenz hat ja f&uuml;r uns alle stets etwas
-Angenehmes auf den Lippen; mich zeichnet er wirklich nicht mehr
-aus, als jede von euch.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ich meine auch gar nicht den Herrn von Gablenz,&laquo; fuhr Hannchen
-z&ouml;gernd fort, &raquo;ich meine einen Anderen, der dich so auszeichnet,
-wie sonst niemanden. Err&auml;thst du ihn nicht?&laquo;</p>
-
-<p>Frida athmete froh auf und rief lachend: &raquo;Ich glaube gar, du
-sprichst von Walter Helldorf! Hab' ich's errathen, Cousinchen?&laquo;</p>
-
-<p>Hannchen nickte ernst und sah vor sich nieder.</p>
-
-<p>&raquo;Nun? Und warum beunruhigt es dich, da&szlig; ich den armen, bl&ouml;den
-Jungen ein Bischen munter gemacht und ihm die Zunge gel&ouml;st habe?
-Ich denke, f&uuml;r deine Augen giebt es doch einen anderen Magnet, als
-Walters ehrliches Gesicht, oder ich m&uuml;&szlig;te auf ganz falschem Wege
-sein.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ach bitte, la&szlig; <em class="gesperrt">mich</em> doch nur aus dem Spiele,&laquo; sagte jetzt
-Hannchen fast weinend. &raquo;Ich h&auml;tte dies Gespr&auml;ch ja gar nicht begonnen,
-wenn nicht..... Ach siehst du, Frida, sage doch ehrlich,
-liebst du Walter Helldorf?&laquo;</p>
-
-<p>Frida lachte hell auf. &raquo;Ihr seid ein paar wundervolle Kinder,
-du und Lottchen um die Wette. Die Eine denkt, ich..... Doch
-halt, das wollte ich nicht sagen. Nun Hannchen, und <em class="gesperrt">wenn</em> ich ihn
-nun gern h&auml;tte, den guten, ehrlichen Jungen, was dann? <em class="gesperrt">Dir</em>
-k&auml;me ich ja doch nicht in's Gehege damit, Kleine?&laquo;</p>
-
-<p>Hannchen brach pl&ouml;tzlich in Thr&auml;nen aus. &raquo;O Frida, ist es
-wahr, liebst du ihn wirklich?&laquo; rief sie angstvoll. &raquo;O bitte, bitte, sage
-die Wahrheit!&laquo;</p>
-
-<p>Frida wurde jetzt ganz ernst und sagte weich: &raquo;Nein, nein,
-Hannchen, beunruhige dich nicht; Walter pa&szlig;te so wenig zu mir,<span class="pagenum"><a name="Page_277" id="Page_277">[Pg 277]</a></span>
-als etwa Justus Werder. Die brauchen alle Beide ganz andere
-Frauen, als ich eine abg&auml;be. Aber nun sage mir auch, was deine
-Frage zu bedeuten hat; denn ehrlich gestanden, ich werde nicht klug
-aus dir. Ist dir wirklich so viel an Walter gelegen, da&szlig; dich der
-Gedanke so unruhig macht, ich k&ouml;nnte ihn gern haben?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O nein, nicht meinetwegen ist's, Frida!&laquo; rief Hannchen jetzt
-durch ihre Thr&auml;nen l&auml;chelnd. &raquo;W&auml;re dies der Fall, dann h&auml;tte ich
-nie den Muth gehabt, dich danach zu fragen. Nein, es ist wegen
-Lottchen. Ich wei&szlig;, sie h&auml;ngt mit inniger Liebe an Walter, und ich
-glaube, er hatte sie wohl auch recht gern, ehe....&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aha, ich merke schon,&laquo; rief Frida rasch, &raquo;ehe die abscheuliche
-Frida zu euch kam, und mit ihrer unertr&auml;glichen Coquetterie sein
-armes, braves Herz umgarnte, ist's nicht so, Cousinchen? O gestehe
-es nur, so ist's! Seine blauen, ehrlichen Augen sind seitdem etwas
-aus ihrem Cours gewichen und meiner Spur gefolgt, statt da&szlig; sie
-den beiden Kornblumen&auml;uglein nachschauen, die bis dahin ihr Ziel
-bildeten. Nicht wahr, mein armes Hannchen, das war's, was dich
-gekr&auml;nkt hat?&laquo;</p>
-
-<p>Hannchen blickte mit sanftem Flehen auf und wu&szlig;te nichts zu
-erwiedern, Frida aber fuhr mit ironischem Lachen fort: &raquo;Jetzt fehlt
-nur noch, da&szlig; Helene und Sophie kommen und mich anklagen, ich
-bestricke den jungen Doktor und Herrn von Gablenz, die sie f&uuml;r sich
-bestimmt haben. O!&laquo; rief sie heftig und sprang vom Sitze auf,
-&raquo;warum jagt ihr die abscheuliche Coquette denn nicht zum Hause
-hinaus? Besseres verdient sie ja nicht f&uuml;r ihr schamloses Betragen.&laquo;</p>
-
-<p>Hannchen umschlang das leidenschaftliche M&auml;dchen weinend mit
-ihren Armen, denn sie verstand nicht recht, was Frida so heftig
-erregt hatte.</p>
-
-<p>&raquo;O verzeih mir, Cousinchen, verzeih mir,&laquo; bat sie schluchzend,
-&raquo;es war unrecht von mir, dich durch meine Fragen so zu kr&auml;nken,<span class="pagenum"><a name="Page_278" id="Page_278">[Pg 278]</a></span>
-ich sehe es jetzt erst ein. Nur meine Sorge und Liebe f&uuml;r Lottchen
-lie&szlig;en mich alle R&uuml;cksicht vergessen, sonst h&auml;tte ich nie den Muth
-gehabt, so etwas zu sagen. O nun bist du mir so b&ouml;se, und wahrlich,
-ich habe es nicht anders verdient!&laquo;</p>
-
-<p>Und bitterlich weinend sank sie wieder auf die Bank, das Gesicht
-mit den H&auml;nden bedeckend.</p>
-
-<p>Frida, deren Heftigkeit so pl&ouml;tzlich hervorgebrochen war, nachdem
-sie eben noch &uuml;ber Hannchens Idee gescherzt, sch&auml;mte sich ihrer Leidenschaft
-und setzte sich still neben Hannchen, ihr die H&auml;nde streichelnd
-und bem&uuml;ht, sie zu beruhigen. Als ihr dies endlich gelungen, sagte
-sie, mit Gewalt ihre Aufregung bei der Frage niederk&auml;mpfend:
-&raquo;Nun sollst du mir zur S&uuml;hne aber noch etwas gestehen, liebes
-Hannchen. Was ich vorhin mit bitterem Hohn sagte, will ich jetzt
-noch einmal ruhig und gleichm&uuml;thig fragen, damit ich wei&szlig;, da&szlig; ich
-weiter niemanden unter euch mit meinem Betragen kr&auml;nke. Glaubst
-du, da&szlig; auch Helene oder Sophie oder sonst jemand der Freunde
-Grund hat, mein Benehmen in &auml;hnlicher Weise zu tadeln? Bitte,
-sage es mir ehrlich; ich will nicht wieder heftig werden, ich verspreche
-es dir!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Nein, das glaube ich kaum,&laquo; entgegnete Hannchen nachdenkend.
-&raquo;Helene und Sophie sind sich gegenseitig wohl mehr im Wege, als
-du es ihnen bist, das f&uuml;rchte ich seit einiger Zeit.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Sich gegenseitig?&laquo; fragte Frida aufhorchend. &raquo;Wobei denn?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O sie sind Beide th&ouml;richt!&laquo; rief Hannchen ungew&ouml;hnlich streng,
-&raquo;mir scheint &mdash; aber nein, ich will lieber nicht davon sprechen.
-Sie werden selbst bald genug sehen, da&szlig; nicht alles Gold ist, was
-gl&auml;nzt, und da&szlig; so ein glatter Herr nicht gemacht ist f&uuml;r uns simple
-Dorfm&auml;dchen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Sprichst du von Herr von Gablenz, Hannchen?&laquo; stammelte
-Frida leise.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_279" id="Page_279">[Pg 279]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Freilich spreche ich von ihm,&laquo; sagte Hannchen achselzuckend.
-&raquo;Es verdrie&szlig;t mich, da&szlig; ihr alle den eitlen Mann so verg&ouml;ttert und
-ihn dadurch nur noch mehr verderbt, als er so schon ist.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Verdorben nennst du ihn?&laquo; rief Frida emp&ouml;rt. &raquo;Was berechtigt
-dich sanftes Wesen denn zu einem so ungerechten und harten Urtheil
-&uuml;ber diesen so ungew&ouml;hnlich liebensw&uuml;rdigen, jungen Mann?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Eben seine ungew&ouml;hnliche Liebensw&uuml;rdigkeit,&laquo; entgegnete Hannchen
-ernst. &raquo;Ich bin einmal ein sehr ruhiges und n&uuml;chternes M&auml;dchen
-und in einfachen Verh&auml;ltnissen aufgewachsen; mir gef&auml;llt Herr
-von Gablenz ganz und gar nicht, und wenn ich es ehrlich sagen soll,
-ich traue ihm nicht.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber warum denn in aller Welt, Hannchen? Was giebt dir
-denn nur Grund zu solcher H&auml;rte und solchem Mi&szlig;trauen?&laquo; rief
-Frida bebend; denn sie konnte ihren Zorn und ihre Aufregung kaum
-verbergen, den Mann von Hannchen schm&auml;hen zu h&ouml;ren, den sie so
-verehrte und liebte.</p>
-
-<p>&raquo;Er ist glatt wie ein Aal,&laquo; sagte diese achselzuckend. &raquo;Er entschl&uuml;pft
-jedem ernsteren Gespr&auml;ch, wie ich von den Herren geh&ouml;rt
-habe, und da er allen jungen M&auml;dchen so &uuml;bertrieben den Hof macht,
-meint er es mit keiner ernst. So etwas mag f&uuml;r die gro&szlig;e Welt
-passen, f&uuml;r unser stilles Dorf pa&szlig;t es nicht. Es geht das Ger&uuml;cht,
-er werde Sophie Helldorf heirathen. Ich glaube es nicht. Aber
-wenn er es thun will, so kann er es nur wegen ihres Reichthums
-w&uuml;nschen; denn ein so eleganter Herr wird sich nicht gerade die Unscheinbarste
-aussuchen; ihren hohen, innern Werth kennt er schwerlich.
-Sophie w&auml;re eine gro&szlig;e Th&ouml;rin, wenn sie seine Werbung ann&auml;hme.
-Gott mag wissen, wie es m&ouml;glich ist, aber er hat es ihr mit seinem
-glatten Wesen angethan, wie auch der schw&auml;rmerischen Helene, ich
-habe es wohl gemerkt. Dich freilich ficht ein derartiges einschmeichelndes
-Wesen nicht an, Frida, du bist von zu Haus daran gew&ouml;hnt<span class="pagenum"><a name="Page_280" id="Page_280">[Pg 280]</a></span>
-und wei&szlig;t, da&szlig; nicht viel auf dergleichen zu geben ist. Bei uns
-schlichten Dorfkindern aber ist das anders. Helene und Sophie
-nehmen alle die sch&ouml;nen Reden als baare M&uuml;nze und lassen sich den
-Kopf damit verdrehen. Warnen oder Schelten hilft nichts, sie sind
-wie bezaubert.&laquo;</p>
-
-<p>Frida hatte stumm zugeh&ouml;rt, denn jede Aeu&szlig;erung w&uuml;rde sie
-verrathen haben. Aber ihr Herz klopfte so ungest&uuml;m, da&szlig; sie kaum
-athmen konnte. Jetzt stand sie rasch auf und sagte: &raquo;Du bist h&auml;rter,
-als ich dich noch je gesehen habe, Hannchen. Aber ich will mich
-dar&uuml;ber nicht mit dir streiten. Ich glaube, wir m&uuml;ssen jetzt zum
-Abendbrod, es ist sp&auml;t geworden. Was unser voriges Gespr&auml;ch
-betrifft, Lottchen und Walter angehend, so verspreche ich dir, du sollst
-mit mir zufrieden sein, ich werde an deine Mahnung denken.&laquo;</p>
-
-<p>Dann gingen die beiden jungen M&auml;dchen schnell dem Hause zu.
-Aber ein unruhiges, gespanntes Wesen war seit diesem Gespr&auml;che
-&uuml;ber Frida gekommen. Hannchens klares, n&uuml;chternes Urtheil hatte
-sie aufmerksamer auf das Benehmen ihres Verehrers gemacht, und
-sie konnte ihrer Cousine in einigen Punkten nicht Unrecht geben.
-Vor allem aber beunruhigte sie das Ger&uuml;cht, Gablenz werde Sophie
-von Helldorf heirathen und zwar um ihres Reichthums willen. Sie
-warf den Gedanken als abscheulich und unw&uuml;rdig weit von sich; aber
-doch kam er immer von Neuem wieder in ihren Sinn und qu&auml;lte sie
-unaussprechlich. Sie mu&szlig;te wissen, ob auch nur der Schatten von
-Wahrheit an dem Ger&uuml;cht war, und nur von Sophie allein konnte
-sie etwas dar&uuml;ber erfahren. Sie &uuml;berwand deshalb ihre innere Abneigung
-und Eifersucht und suchte h&auml;ufiger mit dem jungen M&auml;dchen
-zusammenzutreffen.</p>
-
-<p>Sophie von Helldorf war erst seit einiger Zeit im Hause ihres
-Onkels, der dem verwaisten M&auml;dchen eine neue Heimath in seiner
-Familie gegeben, und ihre Unbekanntschaft mit den Freunden ihrer<span class="pagenum"><a name="Page_281" id="Page_281">[Pg 281]</a></span>
-Verwandten sowohl, als auch etwas Scheues und Steifes in ihrem
-Benehmen, hatten sie bisher den andern jungen M&auml;dchen etwas fern
-gehalten. Obwohl sie in ihrer &auml;u&szlig;eren Erscheinung unbeh&uuml;lflich
-und ungrazi&ouml;s erschien, so war der Kern ihres Wesens doch durchaus
-trefflich und edel, und bei einer &auml;u&szlig;erst abgeschlossenen Erziehung
-hatte sie eine sorgf&auml;ltige innere Ausbildung erhalten. Obwohl sonst
-sch&uuml;chtern und &auml;ngstlich, zeigte sie bei Gelegenheit ein entschlossenes,
-festes Wesen, das gar wohl seinen eigenen Weg zu finden wu&szlig;te.</p>
-
-<p>Bisher hatte sie ein ganz zur&uuml;ckgezogenes Leben gef&uuml;hrt, durch
-die Krankheit ihres Vaters bedingt. Nach dessen Tode trat sie als
-Erbin eines gro&szlig;en Verm&ouml;gens in des Onkels Haus und fing erst
-hier an, ihrer Jugend froh zu werden. Die Huldigungen, welche der
-einnehmende Herr von Gablenz ihr widmete, umstrickten ihr unerfahrnes
-Herz m&auml;chtig, waren es doch die ersten, welche ihr &uuml;berhaupt
-je im Leben dargebracht wurden. Der Wunsch, die Seine zu
-werden, befestigte sich mehr und mehr in ihr trotz des Widerstrebens
-ihrer Angeh&ouml;rigen, welche dem gewandten, jungen Weltmanne nicht
-sehr g&uuml;nstig waren und gar wohl ahnten, was denselben so schnell
-und m&auml;chtig an das unscheinbare M&auml;dchen fesselte.</p>
-
-<p>Frida hatte es bald verstanden, sich das Vertrauen Sophie's zu
-erwerben, und allerlei gemeinsame Interessen verkn&uuml;pften sie mehr
-und mehr. Lange Zeit aber, so oft auch Frida das Gespr&auml;ch auf
-Herrn von Gablenz brachte, wurde Sophie ernst und einsilbig; denn
-eine stille Eifersucht, welche immer wieder lebendig wurde, sobald
-Sophie Herrn von Gablenz in Frida's Gesellschaft sah, schlo&szlig; dieser
-gerade Frida gegen&uuml;ber die Lippen doppelt fest.</p>
-
-<p>Der Sommer war mit seinen warmen Tagen in das Land gezogen
-und hatte die Fr&uuml;chte der Felder in so reicher F&uuml;lle gereift,
-da&szlig; man einer gesegneten Ernte entgegenging. Diese f&uuml;r den Landmann
-so wichtige und bewegte Zeit brachte denn unendlich viel neues<span class="pagenum"><a name="Page_282" id="Page_282">[Pg 282]</a></span>
-und reges Leben mit sich, und Frida griff wacker mit in das R&auml;derwerk
-ein, das jetzt doppelte Gesch&auml;ftigkeit und Arbeit f&uuml;r alle Hausbewohner
-brachte. Dies rege Treiben und diese Arbeit vom fr&uuml;hen
-Morgen bis zum sp&auml;ten Abend ward gerade jetzt zum unendlichen
-Segen f&uuml;r Frida. Es war unm&ouml;glich, den Tag &uuml;ber den eignen
-Gedanken nachzuh&auml;ngen, oder &uuml;ber Dinge still zu gr&uuml;beln, welche
-das Herz bewegten; denn unter doppelter Fr&ouml;hlichkeit schaffte und
-wirkte jedermann von fr&uuml;h bis sp&auml;t zum Wohle des Ganzen, und
-Abends war Frida so m&uuml;de und ersch&ouml;pft von der ungewohnten
-Th&auml;tigkeit, da&szlig; sie sogleich von den Armen des Schlafes umschlungen
-und in dessen stilles Reich getragen wurde, sobald sie nur die Augen
-geschlossen hatte.</p>
-
-<p>Der Ernte folgte alsdann in den verschiedenen Dorfschaften die
-fr&ouml;hliche Kirchweih, und es war eine alte Sitte, da&szlig; die Nachbarschaft
-zur Feier dieser Feste einander besuchte. Da gab es denn
-ein munteres Treiben bald in Dahme, bald in Hermsbach oder
-einigen anderen befreundeten Nachbard&ouml;rfern, und die jungen
-M&auml;dchen hatten nicht mit Unrecht Frida gleich am ersten Abend von
-dieser fr&ouml;hlichen Zeit, als der sch&ouml;nsten des ganzen Jahres, erz&auml;hlt.
-Tanz und Jubel und fr&ouml;hliche Spiele vereinigten Jung und Alt
-unter den weiten Lauben, die &uuml;berall zu diesem gr&ouml;&szlig;ten Feste der
-Dorfbewohner errichtet wurden. Herrschaft und Gesinde verkehrte
-in gem&uuml;thlicher, ungebundener Weise mit einander, und wenn sich
-die anmuthige Frida jetzt lustig im Arme des stattlichen Gro&szlig;knechtes
-im Rundtanz drehte, so dachte sie nicht im Entferntesten mehr daran,
-da&szlig; sie einst solche Zumuthung als eine Beleidigung stolz von sich
-gewiesen hatte.</p>
-
-<p>Seit Frida's geheimen Gespr&auml;chen mit ihren beiden Cousinen
-in jener fernen Laube des Gartens achtete das junge M&auml;dchen fast
-mit Aengstlichkeit darauf, ihr Benehmen zu &auml;ndern und besonders<span class="pagenum"><a name="Page_283" id="Page_283">[Pg 283]</a></span>
-gegen die jungen Herren vorsichtiger und zur&uuml;ckhaltender zu sein,
-als sie es bisher gewesen. Einestheils wurde sie hierzu durch den
-Wunsch bestimmt, sowohl Justus als Walter ihren Cousinen weniger
-zu entziehen; anderentheils aber war es Charlottens leise Mi&szlig;billigung
-ihres zu freien Benehmens, was sie beeinflu&szlig;te; denn bei
-ihrer wachsenden Liebe und Achtung f&uuml;r ihre Cousinen hatte auch
-deren Urtheil einen gr&ouml;&szlig;eren Einflu&szlig; auf Frida, als ehemals aller
-Tadel und alle Vorstellungen von Seiten ihres Vaters oder ihrer
-Stiefmutter. In dem stillen Wunsche, Hannchens und Lottchens
-Gl&uuml;ck ihrerseits m&ouml;glichst zu f&ouml;rdern, gelang es ihr zwar h&auml;ufig,
-Walter und Justus an die Seite ihrer Cousinen zu f&uuml;hren; aber
-ihrer Ungeduld gingen die Sachen viel zu langsam. Freilich waren
-Hannchen und Charlotte auch von einer peinlichen Zur&uuml;ckhaltung,
-und um keinen Preis h&auml;tten sie ahnen lassen, was ihr Herz bewegte.
-Aber eben so wenig verstanden es auch ihre gar steifen, schwerf&auml;lligen
-Verehrer, die Gelegenheit beim Schopf zu erfassen, um den
-Sternen n&auml;her zu kommen, die augenscheinlich das Ziel ihrer W&uuml;nsche
-bildeten.</p>
-
-<p>Dies Interesse f&uuml;r ihre Cousinen zog Frida jetzt h&auml;ufig von den
-Beobachtungen ab, welche ihre eigne Herzensneigung betrafen.
-Herr von Gablenz war in unver&auml;nderter Weise ihr ergeben; aber
-in ebenso unver&auml;nderter Weise umschw&auml;rmte er auch die andern
-jungen M&auml;dchen, deren durch diese l&auml;ndlichen Feste eine noch gr&ouml;&szlig;ere
-Anzahl zugegen waren. Den Schlu&szlig; der Vergn&uuml;gungen sollte die
-Feier des Geburtstages des alten Herrn von Helldorf bilden, und die
-ganze Umgegend war eingeladen, derselben beizuwohnen.</p>
-
-<p>&raquo;Helfen Sie mir, Fr&auml;ulein Frida, etwas Abwechslung in die
-Freuden dieses Tages zu bringen,&laquo; sagte Herr von Gablenz halblaut.
-&raquo;Wenn wir Beide die Sache nicht in die Hand nehmen, wird sie
-langweilig wie die ganze liebe Gesellschaft hier zu Lande.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_284" id="Page_284">[Pg 284]</a></span></p>
-
-<p>Frida err&ouml;thete froh, denn der Vorzug, den Gablenz ihr vor
-all den Andern einr&auml;umte, machte f&uuml;r sie ja wieder alle Ger&uuml;chte
-und alle Bef&uuml;rchtungen zu Schanden.</p>
-
-<p>&raquo;Von Herzen gern,&laquo; entgegnete sie hellen Blickes. &raquo;Aber wie
-fangen wir es an?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Was meinen Sie zu einem improvisirten Valentinstage,&laquo; sagte
-Gablenz leise. &raquo;Mir scheint, das w&uuml;rde unserm Verkehr einen
-pikanteren Beigeschmack geben. Ein <span class="antiqua">t&ecirc;te &agrave; t&ecirc;te</span> mit meiner holden
-Valentine, nach dem mich seit langen schon so unaussprechlich verlangt,
-w&auml;re das Ziel meiner W&uuml;nsche.&laquo;</p>
-
-<p>Frida schlug ergl&uuml;hend das Auge nieder vor dem kecken Blick
-des jungen Mannes, dessen Sprache sie nicht mi&szlig;deuten konnte.
-W&auml;hrend sie nach Fassung rang, fuhr Gablenz vertraulich fort:
-&raquo;Blumen sind, wie die sch&ouml;ne Frida von fr&uuml;her wei&szlig;, die besten
-Dolmetscher unsrer Gef&uuml;hle. Wie w&auml;re es, wenn wir sie auch hier
-sprechen lie&szlig;en?&laquo;</p>
-
-<p>Frida pre&szlig;te mit klopfendem Herzen ihr Tuch an die Lippen;
-dann sagte sie, den Kopf leicht abwendend: &raquo;Gewi&szlig;, das w&auml;re ein
-h&uuml;bscher Gedanke. Bringen Sie die Sache in Vorschlag und h&ouml;ren
-wir, ob unsere zaghaften Damen sich den kleinen Freiheiten auszusetzen
-wagen, welche das Verh&auml;ltni&szlig; zu ihrem Valentin mit sich
-bringt.&laquo;</p>
-
-<p>Anfangs schien es allerdings, als ob der Vorschlag Bedenken
-erregte; die jungen M&auml;nner aber waren Feuer und Flamme f&uuml;r
-diesen Plan, und so wurde er schlie&szlig;lich angenommen. F&uuml;r den
-Abend bereitete Herr von Gablenz ein brillantes Feuerwerk vor,
-vorher aber sollte Tanz im Freien, sowie allerlei Spiel und Scherz
-die G&auml;ste unterhalten.</p>
-
-<p>Am Morgen dieses Festtages fand Justus Werder, welcher, wie
-gar oft, zum Besuch in das Vaterhaus gekommen war, eine frische<span class="pagenum"><a name="Page_285" id="Page_285">[Pg 285]</a></span>
-blaue Kornblume auf seiner Tasse, als Helene sie ihm beim Kaffee
-&uuml;berreichte. Verwundert schaute er auf, sah aber, da&szlig; seine h&uuml;bsche
-Schwester rasch den Finger auf die Lippen legte. Justus nahm die
-Blume schweigend an sich; da fiel ein Streifchen Papier herab, das
-am Stiel derselben gehangen. Unbemerkt &ouml;ffnete es der junge Mann
-und las folgende Worte:</p>
-
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">&raquo;Kornblume und blau Aeugelein<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;Sie harren heut im Stillen dein.&laquo;<br /></span>
-</div></div>
-
-
-<p>Ein gl&uuml;ckliches L&auml;cheln flog &uuml;ber Justus frisches Gesicht, und
-Blume und Zettelchen zu sich steckend nickte er seiner Schwester
-dankend zu; denn was die Botschaft hei&szlig;en sollte, ahnte er recht wohl.</p>
-
-<p>Eine &auml;hnliche hatte auch Walter Helldorf an diesem Morgen
-erhalten, er wu&szlig;te nur nicht von wem; sein Zeichen aber war ein
-rothes Tausendsch&ouml;n, das ihm die Worte zufl&uuml;sterte:</p>
-
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">&raquo;Von tausend Sch&ouml;nen gieb den Preis<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;Ihr, die dein Herz zu finden wei&szlig;.&laquo;<br /></span>
-</div></div>
-
-
-<p>W&auml;hrend Walter die Deutung dieser Blumensprache noch &uuml;berlegte
-und unschwer zu entziffern wu&szlig;te, ging in den entferntesten
-Wegen des Hermsbacher Parkes ein schlankes M&auml;dchen langsam und
-gedankenvoll an der Seite eines jungen Mannes, der eifrig auf sie
-einsprach. Er hatte eine rothe Nelke in der Hand, und indem er
-dieselbe in dem Knopfloch seines Rockes befestigte, sagte er halblaut:
-&raquo;Wenn ich Ihre Zustimmung habe, theure Sophie, so kann Ihr
-Onkel sie mir nicht entziehen. Sie sind seit Kurzem m&uuml;ndig, wie
-Sie sagen, also wer kann Ihnen verwehren, selbst Ihre Angelegenheiten
-zu ordnen?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Die R&uuml;cksicht auf meine g&uuml;tigen Verwandten, sonst allerdings
-nichts,&laquo; entgegnete Sophie leise. &raquo;Aber ich hoffe ihr Widerstreben
-zu &uuml;berwinden, da ich keinen Grund ihrer Abneigung wei&szlig;, und
-<span class="pagenum"><a name="Page_286" id="Page_286">[Pg 286]</a></span>im schlimmsten Falle....&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Im schlimmsten Falle l&auml;&szlig;t du die Liebe den Sieg davon tragen,
-nicht wahr, geliebtes, himmlisches M&auml;dchen?&laquo; rief Herr von Gablenz,
-denn er war der junge Mann, mit st&uuml;rmischer Z&auml;rtlichkeit, indem
-er den Arm um Sophie von Helldorf schlang und die nur leise
-Widerstrebende an seine Brust dr&uuml;ckte.</p>
-
-<p>&raquo;Aber heut schweigen Sie noch, ich bitte dringend darum,&laquo; sagte
-Sophie, sich &auml;ngstlich aus des jungen Mannes Armen losmachend.
-&raquo;Heut kann ich dem Onkel unm&ouml;glich sein Fest mit dieser Nachricht
-tr&uuml;ben; denn tr&uuml;ben w&uuml;rde ich es dadurch, ich kann mir kein Hehl
-daraus machen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Heut und so lange du willst, Geliebte!&laquo; rief Gablenz, Sophie's
-Hand k&uuml;ssend. &raquo;Diese Hand ist mein, und niemand soll sie mir
-streitig machen, das gelobe ich. Aber theure Sophie, wenn ich meine
-Rechte noch nicht in Anspruch nehmen darf, so ist es auch besser, ich
-bin heut nicht dein Valentin, meine Leidenschaft w&uuml;rde mich verrathen.
-Nimm deshalb die Nelke zur&uuml;ck, ich werde sie nicht w&auml;hlen.
-Aber welches der anderen jungen M&auml;dchen auch meine Valentine sein
-wird, glaube mir, Geliebte, die Huldigungen alle, die ich derselben
-spende, sie gelten eigentlich allein dir, der K&ouml;nigin meines Herzens,
-der Valentine meines ganzen k&uuml;nftigen Lebens.&laquo;</p>
-
-<p>Sophie's bleiches Gesicht war von Purpurgluth bedeckt, und das
-Gl&uuml;ck strahlte aus ihren Augen. Aengstlich aber wandte sie jetzt ihre
-Blicke dem fernen Wohnhause zu und sagte: &raquo;L&auml;nger darf ich nicht
-hier bleiben, die Tante wird mich ohnehin schon vermissen. Folgen
-Sie mir nicht gleich, ich bitte Sie, Alfred.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Noch eins, geliebte Sophie,&laquo; sagte Gablenz rasch. &raquo;Ist es dir
-recht, wenn ich die kleine Helene zur Valentine w&auml;hle? Welche
-Blume tr&auml;gt sie heute Nachmittag?&laquo;</p>
-
-<p>Sophie err&ouml;thete wieder und sagte lebhaft: &raquo;W&auml;hlen Sie die
-rothe Rose, es ist Helene's Blume.&laquo; Dann eilte sie schnell davon,<span class="pagenum"><a name="Page_287" id="Page_287">[Pg 287]</a></span>
-sehr zufrieden, da&szlig; ihr Geliebter nicht Frida zur Valentine w&uuml;nschte,
-wie sie geglaubt hatte. Sie wu&szlig;te nicht warum, aber ihr Herz war
-voll banger Eifersucht, wenn sie an die sch&ouml;ne Frida dachte. Helene
-war wohl auch sch&ouml;n; mit ihrem sch&uuml;chternen, zur&uuml;ckhaltenden Wesen
-erschien sie ihr jedoch nicht halb so gef&auml;hrlich, als die weltgewandte,
-bewunderte Frida.</p>
-
-<p>So kam der Nachmittag heran und mit ihm die G&auml;ste in Menge.
-Wie verabredet f&uuml;hrte Sophie die jungen M&auml;dchen nach einer Weile
-in ein besonderes Zimmer, und Walter die jungen M&auml;nner. Dann
-&ouml;ffneten sich die Th&uuml;ren; aus der einen traten die mit Blumenkr&auml;nzen
-geschm&uuml;ckten Jungfrauen, aus der andern die Herren, jeder eine
-Blume in der Hand, die ihm seine Valentine zuf&uuml;hren sollte. Ein
-Kichern und Dr&auml;ngen entstand jetzt unter der M&auml;dchenwelt, denn
-jede scheute sich, von ihrem Valentin begr&uuml;&szlig;t zu werden. Aber sicher
-schritt Herr von Gablenz, eine rothe Rose in der Hand, auf den
-Kreis zu und zwar Frida entgegen. Erst als er dicht vor ihr stand
-schrak er zusammen und fl&uuml;sterte hastig: &raquo;O Gott, welch ein Irrthum
-Sie haben nicht die <em class="gesperrt">rothe</em> Rose, die Blume seliger Stunden?&laquo;</p>
-
-<p>Frida war schon beim Eintritt der Herren bla&szlig; geworden; denn
-sie hatte augenblicklich gesehen, da&szlig; Gablenz nicht ihre Blume, die
-wei&szlig;e Rose, erw&auml;hlt hatte. Ein freudiger Schreck durchzuckte sie
-aber, als er nichts desto weniger doch auf sie zuschritt; also hatte er
-sie doch zur Valentine w&auml;hlen wollen. Jetzt war sie nur froh, da&szlig;
-auch Sophie es nicht wurde; denn neue Ger&uuml;chte hatten ihr Ohr in
-den letzten Tagen erreicht und sie auf's Neue bang und mi&szlig;trauisch
-gemacht.</p>
-
-<p>Unter allgemeiner Heiterkeit begr&uuml;&szlig;ten nun die jungen Herren
-mit einem Handku&szlig; ihre Valentinen, in ihr Recht eintretend, welches
-sie als getreue Ritter f&uuml;r den ganzen Tag an der Seite ihrer Erw&auml;hlten
-festhielt. Jeder Dienst lag ihnen ob, und f&uuml;r alles, was ihre<span class="pagenum"><a name="Page_288" id="Page_288">[Pg 288]</a></span>
-Valentine bedurfte, hatten sie zu sorgen, beim Tanz aber konnte
-ohne ihre Einwilligung kein Anderer ihre Stelle ausf&uuml;llen. Nur
-der Geburtst&auml;ger machte hiervon eine Ausnahme, und der fr&ouml;hliche,
-alte Herr von Helldorf benutzte dieselbe mit Freuden und schwenkte
-sich in seiner steifen, altmodischen Weise mit so vielen der h&uuml;bschen
-Valentinen unter den Linden am Hause, als z&auml;hle er nur die H&auml;lfte
-der Jahre, die sein kahler Sch&auml;del schon gesehen hatte.</p>
-
-<p>Auch der gem&uuml;thliche, alte Pastor Werner mischte sich h&auml;ufig
-unter die muntere Jugend und brachte mit seinen harmlosen
-Neckereien manches L&auml;cheln und manches tiefere Roth auf die frischen
-M&auml;dchengesichter. Jetzt kam er auf seinen Liebling, das blonde
-Hannchen zu, welche mit ihrem blauen Kornblumenkranze ganz
-allerliebst aussah.</p>
-
-<p>&raquo;Das nenn' ich aber einen Treffer, mein S&ouml;hnchen!&laquo; sagte er
-schelmisch zu Justus, der an Hannchens Seite sa&szlig;. &raquo;So eine Valentine
-h&auml;tte ich mir auch w&auml;hlen m&ouml;gen, du Gl&uuml;ckspilz. Nutz die
-Stunden eh' sie fliehn, morgen ist nicht heut! So gut wird dir's
-vielleicht so bald nicht wieder.&laquo;</p>
-
-<p>Und Hannchen mit einem frohen L&auml;cheln die frischen Backen
-streichelnd ging er im Kreise weiter. Als er zu Lottchen kam, mit
-der Walter Helldorf soeben ein merkw&uuml;rdig lebhaftes Gespr&auml;ch
-f&uuml;hrte, sagte er schmunzelnd: &raquo;Sieh da, hm, hm, wie der Zufall
-spielt! 's ist doch ein h&uuml;bsches Ding um so einen Valentin. Das
-l&ouml;st die Zunge und macht Courage, nicht wahr, Lottchen? Nun
-nun, ich will nicht st&ouml;ren, Gl&uuml;ck zu, ihr Leutchen!&laquo; Dann aber
-kam er an seinem sch&ouml;nen T&ouml;chterchen vor&uuml;ber, welches soeben mit
-ihrem Valentin getanzt hatte und nun mit gl&uuml;henden Wangen an
-dessen Arme hing, in Folge des Tanzes oder der leisen Worte,
-die Gablenz ihr soeben gesagt hatte, rascher athmend und aufgeregt
-ihrem Sitze zuschreitend.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_289" id="Page_289">[Pg 289]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Lenchen, tanz nicht so viel und so rasch!&laquo; sagte der Vater
-mit einem unwilligen Seitenblicke auf ihren T&auml;nzer; dann strich er
-seinem Kinde ernst &uuml;ber das sch&ouml;ne, dunkle Haar und schien noch
-etwas sagen zu wollen, schwieg aber doch und ging weiter, seine
-Heiterkeit jedoch war f&uuml;r eine Weile verschwunden. &raquo;Sieh, da&szlig; du
-den frechen Patron, den Junker Gablenz bald wieder los wirst,
-Helldorf,&laquo; sagte er verdrie&szlig;lich zu dem Geburtst&auml;ger. &raquo;Der Mensch
-geh&ouml;rt nicht unter uns schlichte Leute, und den M&auml;dels verdreht er
-mit seinen glatten Reden die K&ouml;pfe.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Hast recht, Bruder, 's ist mir lang schon nicht lieb, da&szlig; er da
-ist,&laquo; entgegnete Herr von Helldorf beistimmend, &raquo;aber ihn hinausjagen
-ohne Grund, das kann ich doch nicht, obwohl der windige
-Monsieur in der Wirthschaft gar nicht zu brauchen ist; Walter mu&szlig;
-immer hinter ihm drein sein. Bei mir s&auml;et er ganz sicher Drachenz&auml;hne,
-ich m&ouml;chte darauf wetten.&laquo;</p>
-
-<p>In derselben Zeit gingen Frida und Sophie eine Weile Arm
-in Arm durch die G&auml;nge des Gartens.</p>
-
-<p>&raquo;Das ist mir pr&auml;chtig gegl&uuml;ckt!&laquo; rief Frida lachend, &raquo;und ich
-danke dir und Helene f&uuml;r euren treuen Beistand. Wie erstaunt
-Hannchen und Charlotte aus ihren guten, blauen Augen blickten,
-als sie ihre Blumen in der Hand ihrer still Geliebten sahen, es war
-k&ouml;stlich!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber ahnen d&uuml;rfen sie nicht, da&szlig; wir Justus und Walter verrathen
-haben, welche Blume sie tr&uuml;gen; das w&uuml;rden sie uns nicht
-verzeihen,&laquo; entgegnete Sophie.</p>
-
-<p>&raquo;O <em class="gesperrt">wir</em> thaten es ja gar nicht, die Blumen sprachen ja selbst!&laquo;
-lachte Frida.</p>
-
-<p>&raquo;Du bist eine kleine Sophistin,&laquo; sagte Sophie. Dann seufzte
-sie leise und pfl&uuml;ckte im Vorbeigehen eine rothe Rose vom Strauch.</p>
-
-<p>&raquo;Was hast du, Sophie?&laquo; fragte Frida.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_290" id="Page_290">[Pg 290]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;O nichts weiter, es fiel mir nur eben ein, da&szlig; die Blumen
-gar oft als Dolmetscher dienen,&laquo; entgegnete Sophie.</p>
-
-<p>Frida dachte an ihr Gedicht von der Rose und sagte l&auml;chelnd:
-&raquo;Besonders die Rosen. Ich glaube, so lange es Rosen gegeben, so
-lange haben sie auch der Liebe als Dolmetscher gedient und Stoff zu
-Liebesliedern gegeben. Keine Blume ist wohl je so viel besungen
-worden, als die Rose.&laquo;</p>
-
-<p>Sophie wurde dunkelroth und vergrub ihr Gesicht in der Blume,
-die sie in der Hand trug. &raquo;Ich kenne ein Gedicht an eine Rose,&laquo;
-sagte sie z&ouml;gernd, &raquo;das geh&ouml;rt zu den sch&ouml;nsten, die ich je gelesen.
-Freilich kommt wohl auch dazu, da&szlig; der Dichter mir bekannt und
-lieb ist.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Und wie lautet es?&laquo; entgegnete Frida ziemlich gleichg&uuml;ltig; denn
-ihre Gedanken waren weit fort von hier. Da aber schlugen Worte
-an ihr Ohr, welche das Blut zu ihrem Herzen trieben.</p>
-
-<p>Sophie sagte mit etwas bebender Stimme:</p>
-
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">&raquo;In einem stillen Thale<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;Bl&uuml;ht eine Rose hold,<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;Die Bl&auml;tter gl&uuml;hn und gl&auml;nzen<br /></span>
-<span class="i0">&raquo;Wie s&uuml;&szlig;er Minne Sold.&laquo;<br /></span>
-</div></div>
-
-
-<p>&raquo;Um Gottes Willen, Sophie, woher kennst du diese Verse?&laquo;
-rief jetzt Frida und legte zitternd die Hand auf der Freundin Arm.</p>
-
-<p>&raquo;Woher?&laquo; sagte Sophie sich abwendend und z&ouml;gerte mit der
-Antwort. &raquo;Nun, da&szlig; ich es dir nur gestehe,&laquo; fuhr sie dann verlegen
-l&auml;chelnd fort, &raquo;Herr von Gablenz hat sie gedichtet und mir gegeben.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Er hat sie <em class="gesperrt">dir</em> gegeben, Sophie?&laquo; rief Frida heftig und blickte
-verst&ouml;rt in Sophies Gesicht. &raquo;Dir? Und wann?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O schon bald nach seiner Herkunft,&laquo; sagte diese l&auml;chelnd. &raquo;Aber
-warum bist du denn so bleich und sonderbar, Frida? Mein Gott,
-was fehlt dir? Bist du unwohl?&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_291" id="Page_291">[Pg 291]</a></span></p>
-
-<p>&raquo;Nein, nein,&laquo; stotterte Frida. &raquo;Ich.... ich. O Sophie, sage
-mir, ich flehe dich an, sollten diese Verse mehr f&uuml;r dich sein, als eben
-nur ein sch&ouml;nes Gedicht?&laquo;</p>
-
-<p>Sophie erschrak &uuml;ber den Ausdruck von Angst und Spannung,
-den Frida's Z&uuml;ge trugen. &raquo;Wenn es nun so w&auml;re, und die Verschen
-mir mehr aussprechen sollten, warum fr&auml;gst du mich danach, Frida?&laquo;
-sagte sie beklommen.</p>
-
-<p>&raquo;O weil er kurz zuvor mit demselben Gedicht <em class="gesperrt">mir</em> seine Liebe
-gestanden hat!&laquo; rief Frida fassungslos und barg das Gesicht in
-beiden H&auml;nden.</p>
-
-<p>&raquo;Dir, Frida? Gott im Himmel, so sind wir Beide betrogen!&laquo;
-sagte Sophie tonlos. &raquo;Gestern hat er sich mit mir verlobt.&laquo;</p>
-
-<p>Mit einem Aufschrei sank Frida auf eine Bank nieder, und lange
-sa&szlig;en die beiden ungl&uuml;cklichen, jungen M&auml;dchen still und sprachlos
-neben einander. Jede rang nach Fassung. Frida weinte krampfhaft
-in ihr Tuch, das in ihrer Hand zitterte; denn ihr armes, junges
-Herz war wie vernichtet von dem Schlage, der sie getroffen. Eine
-ganze Welt von Gl&uuml;ck und Hoffnungen war f&uuml;r sie in einem einzigen
-Augenblicke zusammengest&uuml;rzt, und das Bitterste, was ein Herz
-erfahren kann, war &uuml;ber sie gekommen: get&auml;uschtes Vertrauen, verrathene
-Liebe. &mdash; Sophie war viel ruhiger und gefa&szlig;ter, als ihre
-viel j&uuml;ngere und viel leidenschaftlichere Freundin. Bleich und wie
-gel&auml;hmt sa&szlig; sie da und blickte d&uuml;ster zu Boden.</p>
-
-<p>&raquo;Hat dich Gablenz noch w&auml;hrend dieser letzten Zeit in dem
-Glauben erhalten, da&szlig; er dich liebe?&laquo; sagte sie endlich matt.</p>
-
-<p>&raquo;O heut noch, heut noch!&laquo; schluchzte Frida. &raquo;Er schien au&szlig;er
-sich zu sein, als ich nicht seine Valentine wurde. Er hatte eine rothe
-Rose in der Hand und erschrak, als er meine wei&szlig;e sah.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O dieser Kom&ouml;diant!&laquo; rief Sophie emporspringend. &raquo;Ich selbst
-habe ihm gesagt, rothe Rosen trage Helene, die er zur Valentine<span class="pagenum"><a name="Page_292" id="Page_292">[Pg 292]</a></span>
-w&auml;hlen wollte. So hat er dreifaches Spiel getrieben und umstrickt
-auch die arme Helene. O mein Gott, mein Gott, und ich habe der
-Stimme meiner Vernunft nicht h&ouml;ren wollen, die mich immer wieder
-vor ihm warnte, habe mir wirklich eingebildet, er k&ouml;nne mich h&auml;&szlig;liches,
-unscheinbares M&auml;dchen lieben! Wie bitter bin ich f&uuml;r meine
-Eitelkeit und Thorheit bestraft worden. O Frida, wie entsetzlich
-ist's doch, ein reiches M&auml;dchen zu sein!&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Du meinst wirklich, da&szlig; er dich deshalb heirathen wollte, weil
-du reich bist?&laquo; rief Frida emp&ouml;rt.</p>
-
-<p>&raquo;Nur deshalb, ich sehe es nur zu deutlich!&laquo; entgegnete Sophie
-sp&ouml;ttisch lachend. &raquo;O da&szlig; ich dem Onkel nicht glaubte! Aber ihm
-will ich die Sache jetzt anvertrauen; er soll uns von dieser Natter befreien,
-die sich bei uns eingeschlichen, ich mag ihn nicht wiedersehen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O um alles in der Welt, auch ich nicht!&laquo; schluchzte Frida in
-neue Thr&auml;nen ausbrechend. Dann warf sie ein Bl&auml;ttchen Papier,
-das sie wie ein Heiligthum still in einem goldenen Medaillon am
-Herzen getragen, voll Ingrimm zu Boden, und mit dem Fu&szlig;e darauf
-tretend sagte sie heftig: &raquo;Fort mit dir, du Zeuge meiner Thorheit
-und Leichtgl&auml;ubigkeit. O k&ouml;nnte ich mich selbst zur Strafe auch so
-mit F&uuml;&szlig;en treten!&laquo;</p>
-
-<p>Sophie aber b&uuml;ckte sich und nahm das Papier auf; es war
-Gablenz Rosengedicht. &raquo;La&szlig; es mir, Frida,&laquo; sagte sie bitter, &raquo;es
-soll uns r&auml;chen.&laquo;</p>
-
-<p>Jetzt h&ouml;rte man Stimmen in der N&auml;he; es waren die der jungen
-M&auml;nner, welche kamen, ihre Valentinen zu suchen.</p>
-
-<p>&raquo;Ich kann nicht, ich bin krank!&laquo; rief Frida zitternd und klammerte
-sich an Sophie fest.</p>
-
-<p>&raquo;Sei ruhig und la&szlig; mich nur machen,&laquo; entgegnete Sophie, welche
-seit der traurigen Entdeckung etwas so Energisches, Entschlossenes
-<span class="pagenum"><a name="Page_293" id="Page_293">[Pg 293]</a></span>in ihrem Wesen hatte, da&szlig; die arme; schwache Frida, die wie zerschmettert
-war von Jammer und Weh, sich unwillk&uuml;rlich von ihr
-leiten lie&szlig;.</p>
-
-<p>&raquo;Verzeihen Sie, meine Herren,&laquo; sagte Sophie, den jungen Leuten
-entgegengehend, &raquo;Fr&auml;ulein Frida war so unwohl, da&szlig; wir die Stille
-aufsuchten, und jetzt sogar auf mein Zimmer gehen m&uuml;ssen; Sie
-entschuldigen uns wohl freundlichst noch f&uuml;r eine Stunde.&laquo;</p>
-
-<p>Mit lebhaftem Bedauern zogen sich die Herren zur&uuml;ck, die jungen
-M&auml;dchen aber eilten durch eine Seitenth&uuml;r in das Haus auf Sophie's
-Zimmer; denn Frida bedurfte in der That der Ruhe und Einsamkeit.
-Sophie selbst hatte noch keine Thr&auml;ne vergossen; Scham und
-Emp&ouml;rung waren so heftig in ihr, da&szlig; sie den Schmerz &uuml;bert&auml;ubten,
-und in dieser Stimmung eilte sie zu ihrem Onkel.</p>
-
-<p>&raquo;Hm, hm, das ist ja eine saubere Geschichte!&laquo; sagte der alte
-Herr nachdenklich, als Sophie ihre Mittheilung beendet hatte. &raquo;La&szlig;
-mich nur machen, mein Kindchen! Hat er Kom&ouml;die gespielt, la&szlig;
-sehn, ob wir es nicht noch besser k&ouml;nnen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Was willst du thun, lieber Onkel?&laquo; rief Sophie &auml;ngstlich.</p>
-
-<p>&raquo;Nichts weiter, als dir ganz die Augen &ouml;ffnen. Sorge dich nur
-nicht und la&szlig; mich machen!&laquo; entgegnete der Alte, sich vergn&uuml;gt die
-H&auml;nde reibend. &raquo;<em class="gesperrt">Den</em> Junker wollen wir heut los werden; eine
-bessere Geburtstagsbescheerung konntest du mir nicht machen, mein
-T&ouml;chterchen. Da, stell dich dort in das tiefe Fenster, da h&ouml;rst du die
-ganze Geschichte mit an, ohne gesehen zu werden.&laquo;</p>
-
-<p>Kaum hatte Sophie sich zur&uuml;ckgezogen, als Herr von Gablenz
-in seiner sorglosen, eleganten Manier in das Zimmer trat.</p>
-
-<p>&raquo;Sie w&uuml;nschen mich zu sprechen, Herr von Helldorf?&laquo; sagte er,
-sich leicht verbeugend.</p>
-
-<p>&raquo;Allerdings, mein lieber Herr,&laquo; entgegnete dieser leutselig.
-&raquo;Meine Nichte sagte mir soeben, da&szlig; sie sich mit Ihnen verlobt habe,
-und da wollte ich doch der Erste sein, der Ihnen Gl&uuml;ck dazu w&uuml;nscht.&laquo;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Page_294" id="Page_294">[Pg 294]</a></span></p>
-
-<p>Gablenz war sehr roth geworden und verbeugte sich tief, um
-seine Ueberraschung zu verbergen. Aber ehe er noch ein Wort des
-Dankes hervorbringen konnte, fuhr der alte Herr freundlich fort:
-&raquo;Es freut mich das f&uuml;r Sophie um so mehr, als ich dadurch &uuml;ber
-ihre unsichre Zukunft beruhigt bin; denn bei so wenig Verm&ouml;gen
-ist die Lage einer Waise oft tr&uuml;be genug.&laquo;</p>
-
-<p>Gablenz fuhr bei diesen Worten leicht auf und umfa&szlig;te krampfhaft
-die Lehne des Stuhles, an dem er stand.</p>
-
-<p>&raquo;Ich glaubte,&laquo; sagte er halblaut, &raquo;die Verh&auml;ltnisse Ihrer Fr&auml;ulein
-Nichte seien bessere.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Ja, so denken die Leute,&laquo; entgegnete der alte Herr, eine Prise
-nehmend. &raquo;Aber das ist ein Irrthum. Wer meine Nichte heirathet,
-mu&szlig; sich schon mit ihren andern guten Eigenschaften begn&uuml;gen.
-Aber ich denke ja, das versteht sich von selbst bei einer rechten
-Neigung. Also, mein lieber Herr, Sophie hat Ihnen gestern schon
-das Jawort gegeben, wenn ich nicht irre, nicht wahr?&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;O so bestimmt doch noch nicht, mein verehrter Herr von Helldorf,&laquo;
-sagte Gablenz, der jetzt wieder seine sichre Haltung gewonnen
-hatte. &raquo;Sie wissen ja, wie das bei jungen Leuten so geht! Man
-l&auml;&szlig;t sich im Augenblick oft wohl hinrei&szlig;en und ein Wort entschl&uuml;pfen,
-das der Moment geboren; aber zu einer ernsteren oder gar bindenden
-Entscheidung ist es bis jetzt noch nicht gekommen. Auch
-w&uuml;rde ich einen solchen Schritt jetzt kaum wagen d&uuml;rfen, so sehr
-mich Ihr Vertrauen ehrt, theurer Herr von Helldorf. Meine Lage
-ist durchaus im Augenblick derart, da&szlig; ich an keine ernstere Verbindung
-denken kann. Auch f&uuml;rchte ich sehr, Fr&auml;ulein Sophie nicht
-l&auml;nger meine Verehrung darbringen zu k&ouml;nnen, da ich leider gen&ouml;thigt
-bin, morgen schon Ihr werthes Haus zu verlassen, wie ein
-Brief mir heut die Nachricht bringt. Ich bin....&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Halt, ich kann das nicht l&auml;nger ertragen!&laquo; rief jetzt Sophie<span class="pagenum"><a name="Page_295" id="Page_295">[Pg 295]</a></span>
-rasch, welche bleich und bebend aus der Fensternische hervortrat.
-&raquo;Wozu die Kom&ouml;die, Onkel? Es ist unw&uuml;rdig und ganz &uuml;berfl&uuml;ssig.
-Herr von Gablenz,&laquo; wandte sie sich stolz an den jungen Mann, der
-wie vom Blitz getroffen vor ihr stand, &raquo;nicht Sie, sondern <em class="gesperrt">ich</em> l&ouml;se
-hiermit ein Verh&auml;ltni&szlig; auf, das Sie die Dreistigkeit haben, als nicht
-bestehend anzusehen. Mein Verm&ouml;gen habe ich <em class="gesperrt">nicht</em> verloren, wie
-mein Onkel sagte, indessen....&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Aber theure Sophie, h&ouml;re mich doch erst!&laquo; rief Gablenz schnell,
-der wieder Leben erhielt, sowie Sophie die letzten Worte ausgesprochen
-hatte. &raquo;Ich meinte ja nur....&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Was Sie meinen und denken, habe ich leider schon zu lange
-mit angeh&ouml;rt!&laquo; rief Sophie sich hochaufrichtend. &raquo;Sie w&uuml;rden vielleicht
-besser thun, heut schon Hermsbach zu verlassen, es m&ouml;chten
-sonst noch mehr peinliche Augenblicke f&uuml;r Sie eintreten.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Und bitte, nehmen Sie doch gef&auml;lligst diese Verschen auch wieder
-mit, die sich im Duplikat vorgefunden haben!&laquo; sagte Herr von Helldorf
-schmunzelnd, indem er Gablenz die beiden verh&auml;ngni&szlig;vollen
-Gedichte &uuml;berreichte. &raquo;Ich w&uuml;rde Ihnen rathen,&laquo; f&uuml;gte er, abermals
-eine Prise nehmend, hinzu, &raquo;das Dingelchen gleich lithographiren
-zu lassen, da vertheilt es sich noch schneller an leichtgl&auml;ubige Sch&ouml;nen.
-Und damit guten Tag, mein lieber Herr! Ihre pl&ouml;tzliche Abreise
-wird Sie wohl verhindern, sich bei der Gesellschaft zu verabschieden,
-ich &uuml;bernehme das von Herzen gern. Empfehl' mich, empfehl' mich,
-gl&uuml;ckliche Reise!&laquo;</p>
-
-<p>Mit diesen Worten schlo&szlig; er die Th&uuml;r hinter dem best&uuml;rzten
-jungen Mann, dessen Dreistigkeit und Sicherheit w&auml;hrend der letzten
-Augenblicke in der That v&ouml;llig Schiffbruch gelitten hatten, und der
-nichts Eiligeres zu thun wu&szlig;te, als sich schnell aus dem Staube
-zu machen. Bald h&ouml;rte man einen Wagen zum Hofthore hinausfahren,
-der den lockern Patron davonf&uuml;hrte. Sophie aber war jetzt<span class="pagenum"><a name="Page_296" id="Page_296">[Pg 296]</a></span>
-von Schmerz und Aufregung &uuml;berw&auml;ltigt und lag weinend im Arme
-ihres braven Onkels, der ihr bald lachend, bald tr&ouml;stend die Backen
-streichelte.</p>
-
-<p>&raquo;Wein' doch nicht, mein herziges Kindchen!&laquo; sagte er schmeichelnd,
-&raquo;der schuftige Patron ist ja gar nicht werth, da&szlig; so liebe Guckaugen
-darum roth werden. Danke Gott, da&szlig; wir ihn los sind, ehe er noch
-mehr Unheil stiftete.&laquo;</p>
-
-<p>Und dasselbe sagte Sophie, welche endlich wieder ihre Fassung
-erlangte, zu der trostlosen Frida, die ganz au&szlig;er sich gerieth, als sie
-das weitere Benehmen dessen erfuhr, der ihr so uns&auml;glich theuer
-gewesen war. Sie konnte sich nicht entschlie&szlig;en, wieder in der Gesellschaft
-zu erscheinen, und so dauerte es nicht lange, da kam Hannchen
-zu ihr, welche von ihrem Unwohlsein geh&ouml;rt hatte.</p>
-
-<p>Frida sank ihr schluchzend in die Arme. &raquo;O Hannchen, Hannchen!&laquo;
-rief sie trostlos, &raquo;warum habe ich deine Warnungen verachtet
-und die meines Vaters; nun bin ich grausam daf&uuml;r bestraft
-worden!&laquo; &mdash;</p>
-
-<p>Wir verlassen jetzt unsere Frida f&uuml;r eine Weile und &uuml;bergeben
-sie noch f&uuml;r einige Wochen der treuen Liebe und Sorge ihrer Cousinen
-und Tante, welche in ihrer liebevollen und zartf&uuml;hlenden Weise
-es vortrefflich verstanden, das tief gekr&auml;nkte junge Herz wieder mit
-Welt und Menschen zu vers&ouml;hnen. Dann aber folgen wir ihr wieder
-nach dem Vaterhause, in welches sie nach langer Abwesenheit endlich
-zur&uuml;ckkehrte. Wir finden sie an der Seite Gertruds, mit der sie
-soeben ein langes, ernstes Gespr&auml;ch gehabt hat, das sich noch
-immer auf Frida's lieblichem Gesicht wiederspiegelt. Das junge
-M&auml;dchen blickt unendlich viel ernster und sinniger aus ihren sch&ouml;nen
-Augen, seit wir sie an jenem verh&auml;ngni&szlig;vollen Tage in Hermsbach
-verlie&szlig;en, und ein ruhigeres, gehaltneres Wesen spricht aus ihrer
-ganzen Haltung. Das eitle, th&ouml;richte Kind, das der Vater einst<span class="pagenum"><a name="Page_297" id="Page_297">[Pg 297]</a></span>
-seiner Schw&auml;gerin vertrauensvoll &uuml;bergab, es ist seitdem zur verst&auml;ndigen
-Jungfrau herangereift, und auch ihr Aeu&szlig;eres tr&auml;gt den
-Stempel dieser Sinnes&auml;nderung.</p>
-
-<p>Statt in der so &auml;u&szlig;erst eleganten Kleidung und &uuml;bertriebenen
-Haartracht, in der wir sie zuerst kennen lernten, finden wir sie jetzt
-zwar zierlich und gut, aber doch h&ouml;chst einfach gekleidet, und ihr
-reiches, blondes Haar in der Art um ihren Kopf geschlungen, wie
-Hannchen es an jenem ersten Morgen in Dahme geordnet hatte.
-Jetzt blickte sie auf, und pl&ouml;tzlich Gertruds Hand an ihre Lippen
-ziehend, sagte sie leise: &raquo;O Mama, nun aber ist alles, alles gut,
-und ich will ein neues Leben beginnen. Es war eine harte Schule,
-durch welche Gott mich zur Einsicht gef&uuml;hrt; aber ich danke ihm
-jetzt daf&uuml;r. Diese entsetzliche T&auml;uschung hat mich viel &auml;lter und
-ernster, aber auch viel besser gemacht. Ich wollte meine eignen
-Wege gehen in diesen wie in allen andren Dingen, und widerstrebte
-sowohl meines Vaters W&uuml;nschen, als auch deiner liebevollen
-F&uuml;hrung, und daraus konnte nichts Gutes f&uuml;r mich erwachsen.
-Verzeih mir und habe Geduld, jetzt soll alles anders werden.&laquo;</p>
-
-<p>Gertrud zog ihre Tochter liebevoll an sich und sprach gute Worte
-zu ihr voll Sanftmuth und Anerkennung. Da trat der Diener in
-das Zimmer mit einem Briefchen an Frida. Das junge M&auml;dchen
-&ouml;ffnete es, und ein Zug des Mi&szlig;vergn&uuml;gens flog &uuml;ber ihr Gesicht.</p>
-
-<p>&raquo;Es ist eine Einladung von Franziska,&laquo; sagte sie mit einem
-leisen Seufzer.</p>
-
-<p>&raquo;Willst du nicht zusagen, liebe Frida?&laquo; fragte Gertrud.</p>
-
-<p>&raquo;Nein, Mama, ich m&ouml;chte es nicht,&laquo; entgegnete Frida ernst.</p>
-
-<p>&raquo;Es ist aber schon das zweite Mal, da&szlig; du es ihr abschl&auml;gst,&laquo;
-sagte Gertrud. &raquo;Sie wird es dir gewi&szlig; &uuml;bel nehmen.&laquo;</p>
-
-<p>&raquo;Mag sie doch, ich werde ihr einige Zeilen schreiben,&laquo; rief Frida
-rasch entschlossen und stand vom Stuhle auf. &raquo;Warum soll ich ein<span class="pagenum"><a name="Page_298" id="Page_298">[Pg 298]</a></span>
-Verh&auml;ltni&szlig; aufrecht erhalten, das mir in so hohem Grade unertr&auml;glich
-wird. Franziska hat es fast als eine Beleidigung ihrer Familie
-angesehen, da&szlig; Gablenz in dieser Weise aus Hermsbach entlassen
-wurde, da er selbst es ihnen als seinen freien Entschlu&szlig; darzustellen
-wu&szlig;te. Sie hat in dieser ungl&uuml;cklichen Geschichte, welche haupts&auml;chlich
-durch ihr Zuthun so weit gedeihen konnte, jetzt nur spitze
-Reden f&uuml;r mich, die ich nicht l&auml;nger ertragen will, und seit ich nicht
-mehr so viel Sinn wie einst f&uuml;r ihre Eitelkeiten und Thorheiten
-zeige, mu&szlig; ich nichts als Sp&ouml;ttereien mit anh&ouml;ren &uuml;ber l&auml;ndliche
-Einfalt und Tugend. Das kann und mag ich nicht l&auml;nger, Mama,
-darum will ich ihr lieber klar und ehrlich gestehen, da&szlig; unsre Wege
-verschieden sind. Ueber lang oder kurz k&auml;me es doch zu einem Bruche,
-und ich begreife jetzt blos nicht, wie es zwischen uns &uuml;berhaupt jemals
-zu solcher Freundschaft kommen konnte.&laquo;</p>
-
-<p>W&auml;hrend Frida dies Briefchen schrieb, trat ihr Vater in's
-Zimmer.</p>
-
-<p>&raquo;Hier, mein T&ouml;chterchen,&laquo; sagte er heiter, Frida ein Blatt Papier
-reichend, &raquo;da kommt Tante Marie's vorl&auml;ufige Einladung zur Hochzeit.
-Hannchen schreibt dir wohl selbst das N&auml;here, sieh einmal
-nach.&laquo;</p>
-
-<p>Mit leuchtenden Augen &ouml;ffnete Frida das Briefchen.</p>
-
-<p>&raquo;O es soll ja eine Doppelhochzeit sein, Papa,&laquo; rief sie jubelnd.
-&raquo;Justus und Hannchen hatten erst noch warten sollen, bis die neue
-Pfarre in Hermsbach fertig w&uuml;rde, die Papa Helldorf seinem neuen
-Pastor bauen l&auml;&szlig;t. Walter und Lottchen wollen aber absolut nicht
-allein heirathen. Auf dem Vorwerk, das Walter &uuml;bernimmt, sei
-so schrecklich viel Platz, da&szlig; da zwei junge Ehepaare bequem hausen
-k&ouml;nnen, behaupten sie, und so soll ich mich eilen, meinen Hochzeitsstaat
-fertig zu machen, denn lange wollen sie nun nicht mehr warten.
-Sophie und Helene, Martha und ich sind die Brautjungfern. O wie<span class="pagenum"><a name="Page_299" id="Page_299">[Pg 299]</a></span>
-k&ouml;stlich, Papa, und wir sind alle, alle eingeladen, du und Mama
-und die Kinder, alle, alle. Aber da liegt ja noch ein Zettelchen im
-Briefe, was ist denn das?&laquo;</p>
-
-<p>Neugierig entfaltete Frida einen schmalen Streifen Papier und
-las die Worte:</p>
-
-
-<div class="poem"><div class="stanza">
-<span class="i0">&raquo;Was du gew&uuml;nscht, es ist geschehn,<br /></span>
-<span class="i0">Und Ernst entspro&szlig; den Scherzen;<br /></span>
-<span class="i0">Kornbl&uuml;mchen blau und Tausendsch&ouml;n<br /></span>
-<span class="i0">Bl&uuml;hn jetzt an treuen Herzen.<br /></span>
-<span class="i0">Nun schlinge selbst die Myrthe ein,<br /></span>
-<span class="i0">Die Valentinen harren dein!&laquo;<br /></span>
-</div></div>
-
-
-<p>Frida lachte herzlich, als sie das Verschen gelesen hatte. &raquo;Das
-ist sicher ohne Hannchens Vorwissen zu mir gewandert,&laquo; sagte sie
-dann nachdenkend. &raquo;Aber es best&auml;tigt mir endlich, was ich lange
-schon gedacht habe: Jener unselige Valentinstag hat zur Verlobung
-der beiden lieben Paare gef&uuml;hrt, wie ich im Stillen so innig w&uuml;nschte.
-Sie haben es nur nicht eingestehen wollen, da dieser Tag f&uuml;r andre
-so unheilvoll wurde. Aber wie Herr von Helldorf zu Pastor Werder
-beim Abschied leise sagte, so k&ouml;nnen wir schlie&szlig;lich alle sprechen:
-&raquo;Gott sei Dank, das war ein gesegneter Tag f&uuml;r mich!&laquo; &mdash;</p>
-
-<p>Und rasch eine Thr&auml;ne zerdr&uuml;ckend, welche gegen ihren Willen
-noch einmal ihr helles Auge tr&uuml;bte, reichte Frida ihren Eltern beide
-H&auml;nde. &raquo;Auch ihr sollt so sagen k&ouml;nnen, das verspreche ich euch!
-Eure Frida ist an jenem Tage und in jener Zeit von mehr als
-dieser einen Thorheit geheilt worden.&laquo;</p>
-
-
-
-<div class="figcenter" style="width: 50%" >
-<img src="images/endoc.jpg" alt="Cover" style="width: 40%" />
-</div>
-
-
-<p class="center">Druck von Breitkopf und H&auml;rtel in Leipzig.</p>
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Drei Erzählungen für junge Mädchen, by
-Clementine Helm
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DREI ERZÄHLUNGEN FÜR JUNGE MÄDCHEN ***
-
-***** This file should be named 56098-h.htm or 56098-h.zip *****
-This and all associated files of various formats will be found in:
- http://www.gutenberg.org/5/6/0/9/56098/
-
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