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-The Project Gutenberg EBook of Freiland, by Theodor Hertzka
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-
-
-Title: Freiland
- Ein sociales Zukunftsbild
-
-Author: Theodor Hertzka
-
-Release Date: August 8, 2017 [EBook #55301]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FREILAND ***
-
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-
-
-Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This file was
-produced from images generously made available by The
-Internet Archive.
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- Freiland.
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- Freiland.
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- Ein sociales Zukunftsbild
- von
- Theodor Hertzka.
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- Vierte durchgesehene Auflage.
-
-
- Dresden und Leipzig.
- E. Pierson's Verlag.
-
- Alle Rechte vorbehalten.
-
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-
- Vorrede zur vierten Auflage.
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-
-Auch die dritte Auflage ist vergriffen, kaum daß sie die Presse zu
-verlassen vermochte, und so übergebe ich denn meinen Lesern diese
-vierte. Möge sie vereint mit ihren Vorgängerinnen dahin wirken, daß der
-Gedanke, dem ich in den nachfolgenden Blättern Worte leihe, möglichst
-rasch zur That werde.
-
-_Wien_ im August 1890.
-
- Theodor Hertzka.
-
-
-
-
- Inhalt.
-
-
- Erstes Buch.
- 1. Kapitel 3
- 2. Kapitel 9
- 3. Kapitel 21
- 4. Kapitel 34
- 5. Kapitel 47
- 6. Kapitel 58
- 7. Kapitel 69
- Zweites Buch.
- 8. Kapitel 79
- 9. Kapitel 94
- 10. Kapitel 105
- 11. Kapitel 110
- 12. Kapitel 127
- Drittes Buch.
- 13. Kapitel 143
- 14. Kapitel 155
- 15. Kapitel 169
- 16. Kapitel 181
- 17. Kapitel 192
- 18. Kapitel 200
- 19. Kapitel 209
- 20. Kapitel 222
- 21. Kapitel 240
- 22. Kapitel 251
- Viertes Buch.
- 23. Kapitel 267
- 24. Kapitel 283
- 25. Kapitel 295
- 26. Kapitel 307
- 27. Kapitel 321
- Schlußwort 334
-
-
-
-
- Erstes Buch.
-
-
-
-
- 1. Kapitel.
-
-
-Um die Mitte des Monats Juli des Jahres 18.. war in den angesehensten
-Zeitungen Europas und Amerikas folgende Ankündigung zu lesen:
-
- »Internationale freie Gesellschaft.
-
-Eine Anzahl von Männern aus allen Teilen der civilisierten Welt hat sich
-zu dem Zwecke vereinigt, einen praktischen Versuch zur Lösung des
-socialen Problems ins Werk zu setzen.
-
-Diese Lösung suchen und finden dieselben in der Schaffung eines
-Gemeinwesens auf Grundlage vollkommenster Freiheit und wirtschaftlicher
-Gerechtigkeit zugleich, d. i. eines solchen, welches, bei unbedingter
-Wahrung des individuellen Selbstbestimmungsrechtes, jedem Arbeitenden
-den ganzen und ungeschmälerten Genuß der Früchte seiner eigenen Arbeit
-gewährleistet.
-
-Zum Zwecke der Gründung eines solchen Gemeinwesens soll auf bisher
-herrenlosem aber fruchtbarem und zur Besiedelung wohlgeeignetem Gebiete
-ein größerer Landstrich besetzt werden.
-
-Auf diesem ihrem Gebiete wird die freie Gesellschaft keinerlei Eigentum
-an Grund und Boden anerkennen, ebensowenig dasjenige eines Einzelnen,
-als ein solches der Gesamtheit.
-
-Behufs Bearbeitung des Bodens, wie überhaupt zum Zwecke jeglicher
-Produktion, werden sich Associationen bilden, deren jede sich nach
-eigenem Gutdünken selber verwalten und den Ertrag ihrer Produktion unter
-ihre eigenen Mitglieder je nach deren Leistung verteilen wird. Jedermann
-hat das Recht, sich einer beliebigen Association anzuschließen und
-dieselbe nach freier Willkür zu verlassen.
-
-Die Arbeitskapitalien werden den Produzenten zinslos von
-Gesellschaftswegen zur Verfügung gestellt, müssen jedoch von denselben
-zurückerstattet werden.
-
-Arbeitsunfähige und Frauen haben das Recht auf auskömmlichen Unterhalt
-von Gesellschaftswegen.
-
-Die zu obigen Zwecken, sowie zu sonstigen gemeinnützigen Ausgaben
-erforderlichen Geldmittel werden durch eine auf das Reineinkommen
-jeglicher Produktion gelegte Abgabe beschafft.
-
-Die Internationale freie Gesellschaft verfügt derzeit schon über eine
-Mitgliederzahl und über Kapitalien, die zur Durchführung ihres Planes --
-wenn auch nur in bescheidenem Maßstabe -- ausreichen. Da sie jedoch
-einerseits der Ansicht ist, daß der Erfolg ihres Versuches desto
-sicherer und durchgreifender ausfallen muß, mit je größeren Mitteln
-derselbe ins Werk gesetzt wird, andererseits etwaigen Gesinnungsgenossen
-Gelegenheit geboten werden soll, sich an dem Unternehmen zu beteiligen,
-so tritt sie hiermit vor die Öffentlichkeit und giebt bekannt, daß
-Anfragen oder Mitteilungen, welcher Art immer, an das Bureau der
-Gesellschaft: Haag, Boschstraße 57 zu richten sind. Auch wird die
-Internationale freie Gesellschaft am 20. Oktober l. J. im Haag eine
-öffentliche Versammlung abhalten, in welcher die letzten Beschlüsse vor
-praktischer Inangriffnahme des Werkes gefaßt werden sollen.
-
- Für den geschäftsführenden Ausschuß der
- Internationalen freien Gesellschaft.
- _Karl Strahl._
-
-Haag, im Juli 18..«
-
- * * * * *
-
-Diese Ankündigung rief in der gesamten Presse eine nicht geringe
-Aufregung hervor. Der Name des für den geschäftsführenden Ausschuß
-Unterschriebenen beseitigte von vornherein den sonst so naheliegenden
-Gedanken an irgend eine Mystifikation oder Unlauterkeit, denn Dr. Karl
-Strahl war nicht bloß als Mann von geachteter socialer Stellung, sondern
-auch als einer der ersten volkswirtschaftlichen Schriftsteller
-Deutschlands rühmlichst bekannt. Man mußte also das seltsame Projekt
-ernst nehmen und die Zeitungen verschiedenster Parteirichtung
-bemächtigten sich alsbald desselben mit größtem Eifer. Lange vor dem 20.
-Oktober gab es diesseits wie jenseits des atlantischen Ozeans kein
-Journal, das nicht zu der Frage Stellung genommen hätte, ob die
-Verwirklichung der von der Freien Gesellschaft angekündigten Pläne in
-den Bereich des Möglichen oder des Utopischen gehöre; diese Gesellschaft
-selbst aber mengte sich nicht in den Kampf der Zeitungen. Es war
-offenbar zunächst nicht ihre Absicht, die Gegner durch theoretische
-Beweise zu gewinnen; sie wollte allfällige Gesinnungsgenossen an sich
-ziehen und dann handeln.
-
-Als der 20. Oktober herannahte, zeigte es sich, daß selbst der größte im
-Haag vorhandene öffentliche Saal nicht genügen würde, die Menge der
-erschienenen Mitglieder, Gäste und Neugierigen zu fassen; es erwies sich
-daher als notwendig, zum mindesten die letztere Kategorie des
-Auditoriums durch irgend ein Mittel einzuschränken, welches Mittel denn
-auch darin gefunden wurde, daß die von fernher zugereisten Gäste zwar
-unentgeltlich, die Ortsansässigen dagegen bloß gegen Erlegung von 20
-holländischen Gulden Eintrittskarten erhielten. (Der Erlös dieser Karten
-wurde dem Haager Krankenhause zugewiesen.) Nichtsdestoweniger war der
-2000 Personen fassende Versammlungssaal am Morgen des 20. Oktober bis in
-den letzten Winkel gefüllt.
-
-Unter atemloser Spannung aller Anwesenden nahm der Vorsitzende -- Dr.
-Strahl -- das Wort, um die Versammlung zu eröffnen und zu begrüßen. Die
-alle Erwartungen der Einberufer überflügelnde Zahl der neuen Mitglieder
-und die Höhe der gezeichneten Beiträge zeuge dafür, daß die Bedeutung
-des von der Internationalen freien Gesellschaft beabsichtigten
-Unternehmens heute schon, noch bevor die Thatsachen gesprochen, vollauf
-erkannt worden sei von Tausenden aus allen Teilen der bewohnten Erde
-ohne Unterschied des Geschlechtes und der Lebensstellung. »Die
-Überzeugung, daß das Gemeinwesen, an dessen Gründung wir nunmehr
-schreiten,« so fuhr Redner fort -- »bestimmt ist, Armut und Elend an der
-Wurzel zu fassen und mit diesen zugleich auch all jenen Jammer und die
-Reihe von Lastern zu vernichten, die als Folgeübel des Elends anzusehen
-sind, sie drückt sich nicht bloß in den Worten, sondern auch in der
-Handlungsweise des größten Teiles unserer Mitglieder aus, in der hohen,
-opferfrohen Begeisterung, mit der sie -- ein Jedes nach seinen Kräften
--- zur Verwirklichung des gemeinsamen Zieles beigesteuert haben. Als wir
-unseren Aufruf erließen, waren wir unser 84, das Vermögen, über welches
-wir verfügten, betrug 11400 Pfund Sterling; heute besteht die
-Gesellschaft aus 5650 Mitgliedern, ihr Vermögen beträgt 205620 Pfd.
-Sterling.« (Hier wurde der Vorsitzende von minutenlangem Applaus
-unterbrochen.) »Es ist selbstverständlich, daß eine solche Summe nicht
-von jenen Elendesten der Elenden allein aufgebracht werden konnte, die
-man gemeinhin als bei der Lösung des socialen Problems ausschließlich
-interessiert anzusehen gewohnt ist. Noch deutlicher wird das, wenn man
-die Liste unserer Mitglieder im Einzelnen durchmustert. Unwiderstehlich
-drängt sich dabei die Erkenntnis auf, daß Ekel und Grauen vor den
-socialen Zuständen der Gesellschaft allgemach auch jene Kreise ergriffen
-hat, die scheinbar Vorteil ziehen aus den Entbehrungen ihrer enterbten
-Mitmenschen. Denn -- und darauf möchte ich besonderen Nachdruck legen --
-diese Wohlhabenden und Reichen, die zum Teil mit vielen Tausenden von
-Pfunden an unserer Kasse erscheinen, sie sind bis auf geringe Ausnahmen
-nicht bloß als Helfer, sondern zugleich als Hilfesuchende beigetreten,
-sie wollen das neue Gemeinwesen nicht bloß für ihre darbenden Mitbrüder,
-sondern zugleich für sich selber gründen. Und daraus mehr als aus allem
-Anderen schöpfen wir die felsenfeste Überzeugung vom Gelingen unseres
-Werkes.«
-
-Neuerdings unterbrach langandauernder, jubelnder Applaus den
-Vorsitzenden; als die Ruhe wieder hergestellt war, schloß dieser
-folgendermaßen seinen kurzen Vortrag:
-
-»In Ausführung unseres Programms soll ein annoch herrenloser größerer
-Landstrich zum Zwecke der Gründung eines unabhängigen Gemeinwesens
-erworben werden. Es fragt sich nunmehr, welchen Teil der Erde wir zu
-solchem Vorhaben wählen wollen. Europäisches Gebiet kann aus
-naheliegenden Gründen nicht in Frage kommen; auch in Asien würden wir
-überall, zum mindesten dort, wo Ansiedler kaukasischer Rasse gedeihen
-könnten, leicht in Kollision mit alten Rechts- und Gesellschaftsformen
-geraten. In Amerika und Australien ist zwar zu erwarten, daß die
-dortigen Staaten uns bereitwillig Raum und Freiheit der Bewegung
-einräumen würden, aber auch dort könnte unser junges Gemeinwesen nur
-schwer jene ungestörte Ruhe und Sicherheit vor feindlichen Angriffen
-gewährleistet erhalten, die insbesondere für den Anfang eine der
-Voraussetzungen raschen und ungetrübten Erfolges ist. Bleibt also nur
-Afrika, der älteste und doch der jüngstentdeckte Weltteil. Dessen
-centrales Innere ist der Hauptsache nach herrenlos, dort finden wir
-nicht bloß schrankenlosen Raum und ungestörte Ruhe zur Entfaltung,
-sondern bei richtiger Wahl auch die denkbar günstigsten Verhältnisse des
-Klimas und der Bodenbeschaffenheit. Gewaltige Hochländer, welche die
-Vorzüge der Tropen und unserer Alpenwelt in sich vereinigen, harren dort
-noch der Besiedelung. Die Verbindung mit diesen, tief im Inneren des
-dunklen Weltteiles gelegenen Bergländern ist allerdings schwierig, aber
-gerade das ist's, was uns für den Anfang notthut. Wir schlagen Ihnen
-daher vor, die neue Heimat im äquatorialen Innerafrika zu suchen. Und
-zwar denken wir zunächst an das Hochgebirge des Kenia, das ist an das
-Land östlich vom Ukerewesee, zwischen dem 1. Grade südlicher bis zum 1.
-Grade nördlicher Breite und zwischen dem 34. bis 38. Grade östlicher
-Länge. Dort glauben wir die geeignetsten Gebiete für unsere Zwecke
-finden zu können. Ist die Versammlung mit dieser Wahl einverstanden?«
-
-Allgemeine Zustimmung folgte und stürmische Rufe: »Vorwärts, lieber
-heute als morgen!« wurden laut. Unverkennbar zeigte sich, daß die
-Mehrzahl gewillt war, sofort aufzubrechen. Neuerdings nahm jetzt der
-Vorsitzende das Wort:
-
-»So rasch geht dies denn doch nicht, meine Freunde. Die neue Heimat muß
-erst gesucht und erworben werden; das aber ist ein schwieriges und
-gefahrvolles Unternehmen. Durch Wüsteneien und unwirtliche Wälder führt
-der Weg, Kämpfe mit feindseligen wilden Stämmen werden vielleicht nicht
-zu vermeiden sein, und zu all dem taugen nur kräftige Männer, nicht
-Frauen, Kinder und Greise. Auch die Verpflegung eines viele Tausende
-umfassenden Auswandererzuges durch jene Gebiete muß erst noch organisirt
-werden, kurzum: es ist durchaus notwendig, daß der Masse der Unseren
-eine Schar erlesener Pfadfinder vorausgehe. Erst wenn diese ihre Aufgabe
-gelöst haben, können die Anderen nachfolgen.
-
-»Damit nun alles Erforderliche mit möglichster Kraft, Umsicht und
-Raschheit ins Werk gesetzt werde, ist einheitliche, zielbewußte Leitung
-vonnöten. Bisher lagen die Geschäfte der Gesellschaft in den Händen
-eines Zehnerausschusses; da die Mitgliederzahl inzwischen so stark
-gestiegen ist und noch fernerhin steigen wird, so wäre eine Erneuerung
-oder zum Mindesten eine Ergänzung der Geschäftsleitung durch die
-neuhinzugetretenen Elemente im Wege freier Wahl höchst wünschenswert;
-trotzdem können wir Ihnen eine solche jetzt nicht empfehlen, und zwar
-aus dem Grunde, weil die neuen Mitglieder einander nicht kennen, und so
-rasch auch nicht genügend kennen lernen werden, um Wahlen vorderhand als
-etwas anders, denn als ein bloßes Spiel des Zufalls erscheinen zu
-lassen. Wir verlangen vielmehr von Ihnen eine Bestätigung unserer
-Vollmacht, verbunden mit der Befugnis, uns durch Cooptirungen aus Ihrer
-Mitte nach unserem Ermessen verstärken zu dürfen. Und zwar bitten wir um
-diese Vollmachten, die übrigens durch Beschluß Ihrer Vollversammlung
-jederzeit widerrufbar sein sollen, für die Dauer von zwei Jahren. Nach
-Ablauf dieser Frist werden wir, das ist unsere feste Zuversicht, die
-neue Heimat nicht blos gefunden, sondern in ihr auch genügend lange
-miteinander gelebt haben, um uns einigermaßen kennen zu lernen.«
-
-Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen.
-
-Der Vorsitzende teilte hierauf noch mit, daß alle Kundmachungen des
-geschäftsführenden Ausschusses den Mitgliedern sowohl in den Zeitungen
-als durch besondere Zirkulare bekannt gegeben würden und schloß die
-Versammlung, welche in gehobenster Stimmung auseinanderging.
-
-Die erste That des von der Generalversammlung bestätigten Ausschusses
-der Internationalen freien Gesellschaft war, daß er für die Leitung des
-nach Centralafrika zu entsendenden Zuges der Pfadfinder zwei
-Persönlichkeiten ernannte und mit umfassenden Vollmachten ausstattete.
-Diese zwei Führer der Expedition sollten sich in ihre Aufgabe derart
-teilen, daß der eine die Expedition bis in das zur ersten Ansiedelung zu
-erwählende Gebiet leiten, der andere die Organisation der eigentlichen
-Ansiedelungsarbeiten zu unternehmen habe. Der eine sollte gleichsam der
-Heerführer, der andere der Staatsmann des Expeditionskorps sein. Zu
-ersterem Amte wählte der Ausschuß den bekannten Afrikareisenden Thomas
-Johnston, der insbesondere das Gebiet zwischen dem Kilima Ndscharo und
-Kenia, das sogenannte Massaï-Land wiederholt durchquert hatte. Johnston
-war ein jüngeres Mitglied der Gesellschaft und wurde vom Ausschusse erst
-aus Anlaß seiner Ernennung zum Führer des Pfadfinderzuges kooptirt. Zur
-Leitung der Expedition nach deren Ankunft an ihrem Ziele designirte der
-Ausschuß einen jungen Ingenieur, Namens Henri Ney, der als innigster
-Freund des Gründers und geistigen Führers der Gesellschaft -- Dr. Strahl
--- der Geeignetste war, diesen während der ersten Epoche der Gründung zu
-vertreten.
-
-Dr. Strahl hatte allerdings ursprünglich die Absicht, sich
-den Pfadfindern selber anzuschließen und gleich die ersten
-Organisationsarbeiten in der neuen Heimat persönlich zu leiten; die
-anderen Mitglieder des Ausschusses erhoben jedoch dagegen Einsprache.
-Sie konnten nicht zugeben, daß der Mann, von dessen fernerem Wirken das
-Gedeihen der Gesellschaft in so hohem Maße abhing, sich Gefahren
-aussetze, die für ihn um so bedrohlicher waren, als seine Gesundheit
-nicht eben die festeste schien. Auch mußte er bei reiflichem Erwägen
-selber zugeben, daß für die nächsten Monate seine Anwesenheit in Europa
-weit nützlicher und notwendiger sei, als in Centralafrika. Kurzum: Dr.
-Strahl willigte ein, zu bleiben, den Pfadfindern erst mit dem großen
-Auswandererzuge nachzufolgen und Henri Ney trat an seine Stelle.
-
-
-
-
- 2. Kapitel.
-
-
-Wir überlassen nunmehr dem vom Ausschusse der Internationalen freien
-Gesellschaft zum eigentlichen Leiter der afrikanischen Expedition
-erwählten Freunde des Dr. Strahl das Wort, indem wir sowohl die
-Vorbereitungen des Zuges, als auch dessen glückliche Durchführung und
-die ersten Kulturarbeiten in den Hochländern des Kenia nach Auszügen aus
-dessen Tagebuch mitteilen.
-
- * * * * *
-
-Meine Ernennung zum provisorischen Stellvertreter unseres verehrten
-Führers hatte mich anfangs mit Schrecken erfüllt. Der Gedanke, daß von
-meinen Fähigkeiten zu nicht geringem Teile die glückliche Einleitung
-eines Werkes abhängen solle, welches wir alle als das bedeutsamste
-und folgenreichste im bisherigen Verlaufe der menschlichen
-Entwickelungsgeschichte zu betrachten uns gewöhnt hatten, erfüllte mich
-mit einer Art Schwindel. Doch dieser Zustand der Mutlosigkeit währte
-nicht lange; ich hatte kein Recht, mich einer Verantwortlichkeit zu
-entziehen, zu deren Übernahme die Genossen mich als den Passendsten
-erachteten, und als vollends mein väterlicher Freund Strahl mich fragte,
-ob ich ein Mißlingen für möglich hielte, wenn die meiner Leitung
-Unterstellten von gleicher Begeisterung erfüllt wären wie ich, und ob
-ich mich berechtigt glaube, daran zu zweifeln, daß diese Voraussetzung
-zutreffen würde, da trat hoher Mut und felsenfestes Vertrauen auf das
-Gelingen des Werkes an die Stelle der anfänglichen Verzagtheit, eine
-Stimmung, die mich fürderhin keinen Augenblick verlassen hat.
-
-Die ersten Vorbereitungen zur Organisierung des Zuges der Pfadfinder
-wurden übrigens gemeinschaftlich vom gesamten Ausschusse der
-Internationalen freien Gesellschaft beraten und beschlossen. Zunächst
-galt es festzustellen, aus wieviel Mitgliedern die Expedition bestehen
-solle. Dieselbe durfte nicht zu schwach sein, da gerade jener
-Volksstamm, inmitten dessen wir uns niederzulassen beabsichtigten -- die
-zwischen dem Kilima und Kenia nomadisierenden Massai --, der
-kriegerischeste von allen des äquatorialen Afrika ist und ihm nur durch
-kräftiges, machtvolles Auftreten imponiert werden kann. Aber auch allzu
-zahlreich durfte die Expedition nicht sein, wollte sie sich nicht der
-Gefahr aussetzen, durch Schwierigkeiten der Verproviantierung
-aufgehalten zu werden. Schließlich einigte man sich darüber, daß
-zweihundert »Pfadfinder« mitgenommen werden sollten. Natürlich mußten
-diese aus den kräftigsten, zur Überwindung von Anstrengungen,
-Entbehrungen und Gefahren am besten geeigneten Mitgliedern der
-Gesellschaft erwählt werden. Auch jenes Ausmaß von Intelligenz wurde bei
-jedem Teilnehmer der Expedition für notwendig erachtet, welches dazu
-gehört, um den vollen Umfang der Verantwortlichkeit und Bedeutung der
-übernommenen Mission zu erfassen.
-
-In Verfolgung dieses Zweckes wendete sich der Ausschuß an die
-Zweigvereine, die er inzwischen allerorten gebildet hatte, wo Mitglieder
-der Gesellschaft wohnten, mit der Bitte, ihm eine Liste jener sich zur
-Expedition Meldenden einzusenden, für deren Gesundheit, kräftige
-Konstitution und Intelligenz der betreffende Zweigverein glaube
-einstehen zu können. Zugleich sollte angegeben werden, welche
-Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten die Vorgeschlagenen besäßen.
-Daraufhin liefen binnen wenigen Wochen die Anerbietungen von 870
-wärmstens empfohlenen Mitgliedern ein. Von diesen wurden zunächst
-hundert ausgewählt, deren Qualifikation dem Ausschusse unter allen
-Umständen in erster Linie berücksichtigenswert erschien. Dieses erlesene
-Hundert enthielt 4 Naturforscher (darunter 2 Geologen), 3 Ärzte, 8
-Ingenieure, 4 Vertreter anderer technischer Wissenszweige und 6
-theoretisch geschulte Land- und Forstwirte; ferner 30 solche
-Gewerbsleute, die man der Expedition für alle Fälle sichern wollte und
-schließlich 45 als besonders treffliche Schützen oder als ausnehmend
-kräftig gerühmte Männer. Sonach blieben noch 100 Mitglieder, deren
-Auslese den Zweigvereinen in der Weise überlassen wurde, daß jedem
-derselben für angemeldete 7 bis 8 Pfadfinder die Wahl je eines solchen
-zufiel. Die solcherart Auserlesenen wurden aufgefordert, thunlichst
-rasch in Alexandrien, dem vorläufigen Versammlungsorte der Expedition,
-einzutreffen; das erforderliche Reisegeld wurde ihnen sofort angewiesen
-(im übrigen, wie nebenbei bemerkt werden mag, von ungefähr der Hälfte,
-welche die Reisekosten aus Eigenem bestritt, dankend abgelehnt).
-
-Darüber verging der Monat November. Der Ausschuß aber hatte inzwischen
-nicht gefeiert. Die Ausrüstung der Expedition wurde nach allen Seiten
-gründlich erörtert, festgestellt und für die Beschaffung aller
-Erfordernisse vorgesorgt. Für jedes der 200 Mitglieder wurden sechs
-komplete Unterkleider aus leichtem elastischem Wollenstoff, sogenannte
-Jägerwäsche, ein leichter und ein schwerer Wollenanzug, ferner zwei Paar
-wasserdichte und zwei Paar leichtere Stiefel, je zwei Korkhelme und je
-ein wasserdichter Regenanzug bestellt. An Waffen erhielt jedes Mitglied
-ein Repetiergewehr bester Konstruktion für zwölf Schüsse, einen
-Taschenrevolver und ein amerikanisches Bowiemesser. Außerdem wurden 100
-Jagdgewehre verschiedensten Kalibers, von den vierlötige Sprengkugeln
-schießenden Elefantenflinten bis zur leichtesten Schrotbüchse
-angeschafft, selbstverständlich ausreichende Munition nicht vergessen.
-
-Die hierauf zu erörternde wichtigste Frage war, ob die Expedition
-beritten gemacht werden solle oder nicht, und ob die Beförderung der
-mitzunehmenden Lasten von der Zanzibarküste ab durch Träger, sogenannte
-Pagazis, oder durch Lasttiere zu erfolgen habe. Johnston hatte anfangs
-die Absicht gehabt, bloß 80 Pferde und Esel, teils zum Tragen der
-schwereren Laststücke, teils zur Beförderung etwaiger Kranker oder
-Maroder anzukaufen und als Träger des von ihm auf 400 Zentner
-veranschlagten Gesamtgepäcks 800 Pagazis in Zanzibar und Mombas
-anzuwerben. Diesen Plan ließ er jedoch sofort fallen, als ich seiner
-Gepäckliste, die der Hauptsache nach bloß die zum Unterhalte der
-Expedition für sechs Monate berechnenden Bedarfs- und Tauschartikel
-umfaßte, meine Anforderungen hinzufügte. Ich verlangte vor allem die
-Mitnahme von Werkzeugen, Maschinenbestandteilen und sonstigen
-Gegenständen, die uns -- am Ziele angelangt -- in den Stand setzen
-sollten, möglichst rasch rationellen Feldbau und die Selbsterzeugung der
-notwendigsten Bedarfsartikel für viele Tausend uns nachfolgender
-Ansiedler in Angriff zu nehmen. Zu diesem Behufe brauchten wir eine
-Reihe landwirtschaftlicher Geräte oder doch jene Bestandteile derselben,
-die sich ohne komplizierte, zeitraubende Vorrichtungen nicht herstellen
-lassen, ähnliche Bestandteile für eine Feldschmiede und Schlosserei,
-sowie für eine Mahl- und Sägemühle; ferner Sämereien und Setzlinge in
-nicht geringer Menge, desgleichen einige Materialien, auf deren rasche
-Beschaffung im inneren Afrika nicht zu rechnen wäre. Schließlich machte
-ich darauf aufmerksam, daß zum Zwecke der vollkommenen Sicherung des
-Weges für die uns nachfolgenden Karawanen die Abschließung fester
-Freundschaftsbündnisse, insbesondere mit den kriegerischen Massai sich
-empfehlen würde, wozu wieder weit zahlreichere und wertvollere Geschenke
-erforderlich seien, als er sie präliminiert habe.
-
-Johnston hatte gegen all dies nichts einzuwenden, meinte aber, daß damit
-die zu befördernde Last sich mindestens verdoppeln, wahrscheinlich
-verdreifachen würde und daß die sohin erforderlichen 1600 bis 2400
-Pagazis den Zug allzu schwerfällig gestalten würden. Da schlug Dr.
-Strahl vor, von der Beförderung durch Pagazis gänzlich abzugehen und
-ausschließlich Lasttiere zu verwenden. Er wisse wohl, daß in den
-Niederungen des äquatorialen Afrika die Tsetsefliege und das schlechte
-Wasser insbesondere den Pferden tötlich werde; auf unserer Route sei
-aber solches nicht zu befürchten, da dieselbe sehr bald das den Tieren
-ganz zuträgliche Hochland erreiche. Ebenso lasse sich die in der
-Beschaffenheit der innerafrikanischen Wege gelegene Schwierigkeit wohl
-überwinden. Dieselben besitzen -- wie er unter anderem auch aus
-Johnstons Reiseberichten wisse -- überall, wo sie Dickicht oder Gestrüpp
-durchziehen, eine Breite von knapp zwei Fuß, zu wenig für Packtiere, die
-deshalb an solchen Stellen oft abgeladen werden müßten, wobei
-menschliche Träger zeitweilig die Lastenbeförderung zu übernehmen haben.
-Letzteres wäre nun allerdings bei einer ausschließlich aus Tragtieren
-bestehenden Karawane mit verhältnismäßig nur wenigen Treibern und
-Begleitern entweder ganz unmöglich oder doch mit unberechenbarem
-Zeitverluste verbunden. Er glaube aber, daß es gelingen müsse, mittels
-einer entsprechenden Anzahl gut ausgerüsteter Eclaireure den Weg überall
-auch für Tragtiere frei zu machen. Johnston stimmte dem zu; wenn man ihm
-etwa 100 mit Äxten und Faschinenmessern versehene Eingeborene, die er
-sich unter der Küstenbevölkerung aussuchen würde, zur Disposition
-stelle, so mache er sich anheischig, auch eine Karawane von Tragtieren
-ohne nennenswerten Aufenthalt bis an den Kenia zu führen.
-
-Nachdem diese Frage erledigt war, regte Dr. Strahl des ferneren die Idee
-an, auch die sämtlichen 200 Mitglieder der Expedition beritten zu
-machen. Er habe dabei einen doppelten Zweck im Auge. Erstlich -- und das
-habe teilweise auch zu seinem obigen Vorschlage den Anstoß gegeben,
-müsse für die Einführung und dauernde Akklimatisierung von Trag- und
-Zugtieren in der künftigen Heimat gesorgt werden, wo es zwar derzeit
-Rinder, Schafe und Ziegen, nicht aber Pferde, Esel oder Kamele gebe, und
-zwar sei es am besten, diese nützlichen Tiere in thunlichst großer Zahl
-schon von Anbeginn mitzunehmen; sodann glaube er, daß wir beritten uns
-viel rascher bewegen könnten. Er fügte hinzu, daß er sowohl bei den
-Last- als bei den Reittieren auf die Anschaffung erlesener, zur
-Fortzucht geeigneter Exemplare Gewicht legen würde, insbesondere bei den
-Pferden, da doch von der Beschaffenheit dieses ersten Materials auch die
-der späterhin zu erzielenden Nachzucht abhänge. Auch dem wurde
-zugestimmt; nur gab Johnston zu bedenken, daß sich durch all dies die
-Kosten der Expedition ganz außerordentlich verteuern würden. So wie er
-sie ursprünglich geplant habe, wären mit höchstens 12000 Pfd. Sterl. die
-Kosten zu decken gewesen, jetzt müsse mit ungefähr der vierfachen Summe
-gerechnet werden. Letzterer Umstand wurde nicht bestritten und die
-Rechnung erwies sich auch nachträglich insofern richtig, als die
-Expedition in Wahrheit 52500 £ verschlang; aber übereinstimmend wurde
-hervorgehoben, daß es eine nützlichere Verwendung der doch so reichlich
-zu Gebote stehenden und fortwährend in raschem Wachsen begriffenen
-Geldmittel gar nicht geben könne, als den Aufwand für alles, was
-geeignet sei, den Erfolg der Expedition zu beschleunigen und das neu zu
-gründende Gemeinwesen auf möglichst gedeihlicher Grundlage einzurichten.
-
-Hierauf wurde zu einer detaillierten Beratung und Feststellung des
-gesamten anzuschaffenden Materials geschritten. Als alles verzeichnet
-und seinem Gewichte nach abgeschätzt war, zeigte sich, daß wir ungefähr
-1200 Zentner würden zu befördern haben und zwar:
-
- 150 Ztr. verschiedene Lebensmittel und Getränke;
- 120 " Reisegeräte (darunter 50 wasserdichte Zelte für je 4
- Mann);
- 160 " verschiedene Sämereien und Materialien;
- 220 " Werkzeuge, Maschinenbestandteile und Instrumente;
- 400 " Tauschwaren und Geschenke;
- 120 " Munition und Sprengstoffe.
-
-Außerdem wurden auf Johnstons besonderen Wunsch bei Krupp in Essen 4
-leichte stählerne Gebirgskanonen für Sprenggeschosse bestellt. Seine
-Absicht bei dieser Anschaffung war keineswegs, diese Mordwaffen
-ernstlich gegen etwaige Feinde zu gebrauchen; aber er rechnete darauf,
-durch den Schrecken, den dieselben erforderlichenfalls erregen mußten,
-den Frieden desto sicherer erhalten zu können. Dazu kamen im letzten
-Momente 300 Werndlgewehre samt entsprechenden Patronen, sehr gute
-Hinterlader, die wir billig von der österreichischen Regierung erstanden
-und teils als Reserve, teils zur Ausrüstung eines Teiles der in Zanzibar
-anzuwerbenden Neger gebrauchen konnten.
-
-Diese ansehnliche Last sollte auf 100 Saumpferde, 200 Esel und Maultiere
-und 80 Kamele verladen werden. Da wir außerdem 200 Pferde brauchten, um
-uns beritten zu machen und auch eine kleine Reserve zum Ersatze
-unterwegs eingehender Tiere wünschenswert war, so wurde beschlossen, in
-allem 320 Pferde, 210 Esel und 85 Kamele zu kaufen, die Pferde teils in
-Ägypten, teils in Arabien, die Kamele in Ägypten, die Esel in Zanzibar.
-
-Alle erforderlichen Anschaffungen wurden sofort gemacht. Unsere
-Bevollmächtigten wählten und bestellten alles an erster Quelle; nach
-Jemen in Arabien und nach Zanzibar wurde je ein Einkäufer für Pferde und
-Esel gesendet, und nachdem dies besorgt oder angeordnet war, machten
-Johnston und ich -- die wir inzwischen innige Freundschaft geschlossen
-hatten -- uns auf den Weg nach Alexandrien.
-
-Bevor ich jedoch zur Schilderung unserer dortigen Thätigkeit übergehe,
-muß ich einen Zwischenfall erwähnen, den wir im Ausschusse mit einer
-jungen Amerikanerin hatten, die durchaus in die Expedition aufgenommen
-werden wollte. Die Dame war reich, schön und exzentrisch, eine
-schwärmerische Anhängerin unserer Ideen und sichtlich nicht gewöhnt, an
-die Möglichkeit irgend eines ernstlichen Widerstandes ihren Wünschen
-gegenüber zu glauben. Sie hatte der Gesellschaft eine sehr bedeutende
-Summe gewidmet und sich jetzt in den Kopf gesetzt, mit unter den Ersten
-zu sein, welche die neue afrikanische Heimat betreten würden. Ich muß
-gestehen, daß mich das herrliche Mädchen dauerte, das sichtlich von
-verzehrendem Thatendrange erfüllt war und die seinem Geschlechte
-gegenüber an den Tag gelegte ängstliche Schonung als beschämende
-Zurücksetzung empfand. Allein es ließ sich nichts thun; wir hatten
-mehreren Frauen, die in Begleitung ihrer als Pfadfinder acceptierten
-Ehemänner die Expedition mitmachen wollten, dies abgeschlagen und
-konnten jetzt keine Ausnahme machen. Die junge Miß wandte sich hierauf,
-da ihr Drängen bei uns Männern vom Ausschusse nichts half, an unsere
-weiblichen Angehörigen, die sie rasch ausgekundschaftet hatte; allein
-auch dort erntete sie geringen Erfolg. Sie wurde zwar von den Damen
-herzlich und liebenswürdig aufgenommen, denn sie war in der That reizend
-in ihrer Schwärmerei; aber das war in den Augen der Frauen nur ein Grund
-mehr, den Männern darin Recht zu geben, daß so zarte Geschöpfe nicht in
-die Gefahren und Entbehrungen einer Forschungsreise gehören. Man
-hätschelte und schmeichelte ihr wie einem verzogenen Kinde, welches
-Unmögliches fordere, und das brachte Fräulein Ellen Fox -- so hieß die
-Amerikanerin -- vollends außer sich.
-
-Plötzlich schien sie beruhigt und zwar auffallenderweise kurze Zeit
-nachdem sie die Bekanntschaft einer anderen Dame gemacht, die
-gleichfalls, wenn auch aus anderen Gründen, unsere Expedition mitmachen
-wollte. Diese andere Dame war meine Schwester Klara. Wollte jene aus
-Begeisterung für unsere Ideen mit nach Afrika, so war diese aus Abscheu
-und Angst vor diesen selben Ideen zu dem gleichen Entschlusse gelangt.
-Meine Schwester -- um zwölf Jahre älter als ich und ledig geblieben,
-weil sie keinen Mann zu finden vermocht, der ihren Vorstellungen von
-Distinktion und vornehmem Wesen genügend entsprochen hätte -- war eine
-der besten, im innersten Herzen edelsten, aber von den mannigfaltigsten
-Vorurteilen fest eingesponnenen Frauen, auf die ich während der 26 Jahre
-meines bisherigen Lebens gestoßen. Sie war nicht kaltherzig, ihre Hand
-jedem Hilfsbedürftigen gegenüber stets offen, aber vor allem, was nicht
-den sogenannten höheren, gebildeten Ständen angehörte, hatte sie eine
-unüberwindliche Mißachtung. Als sie durch mich zum ersten Male von der
-socialen Frage Näheres erfuhr, flößte es ihr Grauen ein, daß vernünftige
-Menschen ernstlich glauben könnten, sie und ihre Küchenmagd seien von
-Natur aus mit gleichem Rechte ausgestattet, und da ich wußte, daß hier
-alle Bekehrungsversuche eitel wären, teilte ich der Guten Jahre hindurch
-nichts mit von meinen Verbindungen mit Dr. Strahl, nichts von der
-Gründung der freien Gesellschaft und von der Rolle, die ich in dieser
-spielte. Ich wollte ihr den Kummer über meine »Verirrung« möglichst
-lange ersparen, denn ich liebe diese Schwester zärtlich, deren Abgott
-hinwieder ich bin. Seit langen, langen Jahren war meine Betreuung, die
-ängstliche Sorge um mich, ihr einziger Lebenszweck. Ich wohnte bei ihr
-und sie behandelte mich stets als kleinen Jungen, dessen Erziehung ihre
-Sache sei. Daß ich ihrer Hut entrückt länger als höchstens zwei bis drei
-Tage existieren könne, ohne das Opfer meiner kindlichen Unerfahrenheit
-und der Bosheit schlechter Menschen zu werden, erschien ihr stets als
-ein Ding der baren Unmöglichkeit. Nun denke man sich das namenlose
-Entsetzen dieser meiner Vormünderin, als ich ihr endlich doch die
-Eröffnung machen mußte, daß ich nicht nur einer socialistischen
-Gesellschaft beigetreten, nicht nur mein ganzes, bescheidenes Vermögen
-deren Zwecken geweiht, sondern überdies dazu ausersehen sei, 200
-Socialisten in das Innere von Afrika zu führen. Es dauerte mehrere Tage,
-bis sie das Ungeheure begreifen, glauben lernte; dann kamen Bitten,
-Thränen, verzweifelte Vorwürfe und Vorstellungen. Ich möge den
-»Strolchen« mein Geld, auf welches sie es doch allein abgesehen hätten,
-ruhig überlassen und nur ums Himmels willen redlich im Lande bleiben;
-sie konsultierte unseren Hausarzt über meine Zurechnungsfähigkeit, kam
-aber dabei übel weg, denn dieser war auch einer der Unsrigen, ja sogar
-Mitglied der Expedition. Schließlich, da alles nichts fruchtete,
-eröffnete sie mir, daß sie, wenn ich partout in mein Verderben rennen
-wolle, mich begleiten werde. Als ich ihr erklärte, dies gehe nicht an,
-da Frauen nicht mitgenommen würden, führte sie ihr schwerstes Geschütz
-ins Treffen, sie erinnerte mich an unsere verstorbene Mutter, die ihr
-noch auf dem Totenbette aufgetragen habe, mich nicht zu verlassen, eine
-letztwillige Anordnung, der ich mich fügen müsse; und als ich auch dem
-gegenüber hartnäckig blieb, zum ersten Mal in meinem Leben die Bemerkung
-wagend, die gute Mutter habe mich damit offenbar bloß während der Zeit
-meiner Kindheit ihrer Obhut empfehlen wollen, verfiel sie in
-hoffnungslose Verzweiflung, aus der nichts sie herauszureißen vermochte.
-Vergebens nannte ich sie mein liebes kleines Mütterchen, vergebens
-versicherte ich ihr, daß unter unseren 200 Pfadfindern immerhin einige
-ganz erträgliche Kerle seien, die wohl ein menschliches Rühren mit mir
-haben würden, vergebens versprach ich ihr, daß sie in Halbjahrsfrist
-etwa mir nachfolgen könne -- es half alles nichts, sie gab mich
-verloren, und ich begann nachgerade, als der Tag meiner Abreise
-herannahte, ernstlich in Sorge zu geraten, was diesem ebenso rührenden
-als närrischen Schmerze gegenüber wohl zu beginnen sei.
-
-Da besuchte Miß Ellen meine Schwester; ich mußte, von Geschäften
-gerufen, die Beiden allein lassen, und als ich zurückkam, fand ich Klara
-wunderbar getröstet. Sie jammerte und stöhnte nicht mehr, ja sie konnte
-sogar, ohne in Thränen auszubrechen, von dem Schrecklichen sprechen.
-Offenbar hatte Miß Ellens Exaltation wohlthuend auf ihre kindische Angst
-gewirkt und ich segnete um deswillen die schöne Amerikanerin, umsomehr,
-da auch sie uns von da ab durch ihr Drängen nicht mehr quälte. Sie war
-plötzlich abgereist und ich beglückwünschte mich höchlichst, einer
-doppelten Verlegenheit so rasch ledig geworden zu sein.
-
-Am 3. trafen Johnston und ich in Alexandrien ein, von der Mehrzahl
-unserer Expeditionsgenossen bereits erwartet. Es fehlten nur noch 23,
-die teils aus zu entfernten Weltgegenden herbeieilten, um schon
-eingetroffen sein zu können, teils durch irgendwelche unvorhergesehene
-Zwischenfälle noch zurückgehalten waren. Johnston schritt ohne Zögern an
-die Equipierung, Einübung und Organisierung der Schar. Zu diesem Behufe
-wurde die Stadt verlassen und zehn Kilometer entfernt vom Weichbilde
-derselben, an den Ufern des Mariut-Sees, ein Zeltlager bezogen. Die
-Verpflegung besorgte unter meiner Leitung ein aus 6 Mitgliedern
-gebildeter Wirtschaftsausschuß; jeder Mann erhielt vollständige
-Beköstigung und außerdem -- sofern er nicht ausdrücklich darauf
-verzichtete -- 2 £ in Bargeld monatlichen Zuschuß. Dieselbe Summe wurde
-auch später während der Dauer des eigentlichen Zuges bezahlt, nur
-selbstverständlich nicht in der Form von Gold- oder Silbermünze, die im
-äquatorialen Afrika nutzlos ist, sondern in der von mitgenommenen
-Bedarfsgegenständen oder Tauschwaren zum Kostenpreise. Nachdem die
-Ausrüstungsgegenstände -- Kleider und Waffen -- ausgepackt waren,
-begannen die Übungen. Täglich wurde acht Stunden lang manövriert,
-marschiert, geschwommen, geritten, gefochten und nach der Scheibe
-geschossen. Später veranstaltete Johnston größere auf mehrere Tage
-ausgedehnte Märsche bis nach Gizeh und an den Pyramiden vorbei nach
-Kairo. Inzwischen lernten wir uns genauer kennen, Johnston ernannte
-seine Unterbefehlshaber, denen gleich ihm militärischer Gehorsam
-geleistet werden mußte, eine Notwendigkeit, die von allen ohne Ausnahme
-freudig anerkannt wurde. Das mag vielleicht manchem sonderbar erscheinen
-angesichts der Thatsache, daß wir doch auszogen, ein Gemeinwesen zu
-gründen, in welchem unbedingte Gleichberechtigung und schrankenloses
-individuelles Selbstbestimmungsrecht herrschen sollte; aber wir
-begriffen eben alle, daß dieser Endzweck unseres Unternehmens und die
-Expedition, die uns dahin führen sollte, zwei verschiedene Dinge seien;
-es kam während des ganzen Zuges auch nicht ein Fall von
-Widersetzlichkeit vor, wogegen allerdings auch von Seiten der Offiziere
-kein Fall überflüssigen barschen Befehlens bemerkt werden konnte.
-
-Als der Zeitpunkt unserer Weiterreise nach Zanzibar herannahte, waren
-wir eine vollkommen eingeübte Elitetruppe. Im Manövrieren konnten wir es
-mit jedem Gardekorps aufnehmen -- natürlich nur hinsichtlich jener
-Übungen, die Schlagfertigkeit und Beweglichkeit einem etwaigen Feinde
-gegenüber, nicht aber den Parademarsch und die s. g. militärischen
-Honneurs zum Gegenstande haben. In letzterer Beziehung waren und blieben
-wir so unwissend wie die Hottentotten; dafür konnten wir ohne Beschwer
-24 Stunden lang mit bloß sehr kurzen Unterbrechungen marschieren oder im
-Sattel sein, unser Schnellfeuer ergab schon auf 1000 Meter Distanz eine
-ganz respektable Zahl von Treffern; auch unser Granatenfeuer wäre im
-Bedarfsfalle nicht zu verachten gewesen und ebenso trefflich wußten wir
-mit einer kleinen Batterie Congrève'scher Raketen umzugehen, die
-Johnston auf den Rat eines im Sudan bedienstet gewesenen ägyptischen
-Offiziers, eines geborenen Österreichers, der sich in Alexandrien häufig
-als Zuschauer bei unseren Übungen eingefunden, aus Triest hatte
-nachsenden lassen.
-
-Am 30. März schifften wir uns auf der »Aurora«, einem prächtigen
-Schraubendampfer von 3000 Tonnen ein, den der Ausschuß von der
-englischen P. & O.-Company gechartert hatte und der, nachdem er zuvor in
-Liverpool, Marseille und Genua die für uns bestimmten Waren an Bord
-genommen, am 22. März in Alexandrien eingetroffen war. Die Einschiffung
-und sichere Unterbringung von 200 Pferden und 60 Kamelen, die in Ägypten
-gekauft worden waren, nahm mehrere Tage in Anspruch; doch hatten wir
-keinen Grund zur Eile, da der eigentliche Zug ins Innere Afrikas der
-Regenzeit wegen ohnehin nicht vor dem Monat Mai angetreten werden
-sollte. Von Alexandrien bis Zanzibar aber rechneten wir -- den
-Aufenthalt in Aden behufs Einschiffung der noch notwendigen Pferde und
-Kamele eingerechnet -- höchstens 20 Tage. Es blieben uns also noch immer
-reichlich zwei Wochen für Zanzibar und für die Überfahrt nach Mombas,
-von wo aus wir den Weg zum Kilima Ndscharo und Kenia antreten wollten
-und wo wir uns, der an der Küste angeblich herrschenden Fiebergefahr
-wegen, keinen Tag länger als notwendig aufzuhalten gedachten.
-
-Es ging auch alles ganz programmgemäß von statten. In Aden trafen wir
-unseren Agenten mit 120 der prachtvollsten edelsten Jemener Pferde und
-mit 25 Kamelen, nicht minder vorzüglicher Rasse; ebenso wurden hier 115
-Esel eingeschifft, die gleich den Kamelen infolge geänderter
-Dispositionen in Arabien statt in Zanzibar, resp. Ägypten angeschafft
-worden waren. Am 16. April warf die »Aurora« im Hafen von Zanzibar
-Anker.
-
-Die halbe Bevölkerung der Insel hatte sich aufgemacht, uns zu begrüßen.
-Der Ruf war uns voraufgegangen, und wie es schien, kein schlechter Ruf,
-denn nicht bloß die hier lebende, während der letzten Jahre auf nahezu
-200 Köpfe angewachsene europäische Kolonie, sondern auch Araber, Hindu
-und Neger wetteiferten an Freundlichkeit und Entgegenkommen. Die erste
-Persönlichkeit, die uns in Empfang nahm, war natürlich unser Zanzibarer
-Bevollmächtigter, der uns auch sofort die erfreuliche Versicherung gab,
-daß er alles ihm Aufgetragene vollbracht habe und daß angesichts der uns
-gegenüber herrschenden Stimmung die Anwerbung der erforderlichen
-eingeborenen Mannschaften mit größter Leichtigkeit von statten gehen
-werde.
-
-Am 26. April verließen wir mit der Aurora Zanzibar und kamen am Morgen
-des nächsten Tages wohlbehalten in Mombas an. Unsere sämtlichen Tiere
-und den größten Teil der Waren hatten wir schon sieben Tage vorher in
-Begleitung eines Trupps der in Zanzibar aufgenommenen Wärter und unter
-Aufsicht von 10 Mann der Unsrigen -- gleichfalls mit der Aurora -- dahin
-gesendet, wo wir sie alle in sehr guter Verfassung und zumeist auch
-schon erholt von den Strapazen der Seereise antrafen. Um die
-aufgenommenen Leute zu mustern und jeglichem seine Obliegenheiten
-zuzuteilen, bezogen wir außerhalb der Stadt Mombas in einem kleinen
-Palmenhaine mit herrlicher Aussicht auf das Meer ein Lager. Für je 2
-Handpferde oder Kamele und für je 4 Esel wurde je ein Treiber und Wärter
-bestellt, so daß zu diesem Behufe von unseren 280 Suahelileuten 145
-beansprucht waren; 35 wurden zum Tragen leichter und zerbrechlicher oder
-solcher Gegenstände ausersehen, die jederzeit zur Hand sein mußten; 100
--- unter diesen selbstverständlich die Wegführer und zwei Dolmetscher --
-dienten als Eclaireure. Am 2. Mai war all dies organisiert und
-durchgeführt, die Lasten verteilt, jedem Manne sein Platz angewiesen;
-der Zug ins Innere konnte angetreten werden.
-
-Da wir aber programmgemäß nicht vor dem 5. Mai abmarschieren durften, um
-zuvor noch das am 3. oder 4. in Zanzibar eintreffende europäische
-Postschiff abzuwarten, welches uns die letzten Nachrichten von unseren
-Freunden und allenfallsige Anordnungen des Ausschusses überbringen
-sollte, so hatten wir einige Tage der Muße vor uns, die wir dazu
-benutzen konnten, die Gegend um Mombas zu besichtigen.
-
-Der Ort selber liegt auf einem Inselchen, welches hier von einem sich
-ins Meer ergießenden und zu einer mächtigen Bucht sich ausweitenden
-Flusse gebildet wird, dessen Ufer einige dichte Mangrovesümpfe umgeben.
-Der Aufenthalt unmittelbar an der Küste und auf Mombas selber ist daher
-nicht ganz gesund und keineswegs für längere Zeit rätlich. Aber schon
-wenige Kilometer landeinwärts finden sich sanftgeschwungene Hügel,
-bestanden mit prachtvollen Gruppen von Kokospalmen, die sich inmitten
-smaragdgrüner Grasmatten erheben und unter denen die von Gemüsebeeten
-umgebenen Hütten der Wanjika, der hiesigen Küstenbewohner,
-hervorlauschen, welche Hügel selbst während der Regenzeit einen ganz
-gesunden Aufenthalt bieten. Allerdings wäre es für einen Europäer
-gefährlich, hier jahrelang zu wohnen, da die während der Hitzemonate --
-Oktober bis Januar -- herrschende Temperatur ihm auf die Dauer schädlich
-wird. Im Mai jedoch, wo die großen Regen, die in den Monaten Februar bis
-April niedergehen, den Boden und die Atmosphäre tüchtig erfrischt haben,
-ist die Hitze nicht eben lästig.
-
-Das Eilschiff der französischen Messagerie hatte sich zwar um einen Tag
-verspätet, so daß es in Zanzibar erst am 4. spät Nachts eintraf; wir
-aber erhielten, Dank der Liebenswürdigkeit des Kapitäns die für uns
-bestimmten Sendungen trotzdem einen Tag früher als wir erwartet hatten.
-Dieser nämlich, der in Aden erfahren hatte, daß und wo wir auf die von
-ihm beförderte Post warteten, hielt auf der Höhe von Mombas, das er
-zeitlich am Morgen des 4. passierte, eine gerade vorbeisegelnde
-arabische Dhau an und übergab ihr die für uns bestimmten Pakete, die wir
-demzufolge noch am selben Vormittag empfingen, während wir andernfalls
-bis zum Abend des nächsten Tages hätten auf sie warten müssen. Von den
-uns solcherart unmittelbar vor unserem Aufbruche erreichenden
-Nachrichten, sind nur zwei hervorzuheben; erstlich die Anzeige, daß der
-Ausschuß unseren Bevollmächtigten in Zanzibar beauftragt habe, während
-der ganzen Dauer unseres Zuges engste Fühlung mit Mombas zu unterhalten
-und dort für alle Fälle einige Eilboten nebst einem schnellsegelnden
-Kutter bereit zu halten; zum zweiten die Mitteilung, daß bis zum 18.
-April, dem Tage der Postabfertigung, die Zahl der gesellschaftlichen
-Mitglieder auf 8460, das Vermögen auf nahezu 400000 £ gestiegen sei.
-
-Und noch eine kleine Überraschung kam in Begleitung dieser letzten
-Nachrichten aus der Heimat. Zugleich mit den Postpaketen hatte das
-Postschiff der Dhau ein Koppel von nicht weniger als 32 Hunden
-übergeben, geführt von 2 Wärtern, welch letztere uns Grüße von ihrem
-Auftraggeber, Lord Clinton, vermeldeten, der als warmer Freund unserer
-Ideen und großer Hundeliebhaber dies Geschenk eigens aus York übersende,
-überzeugt, daß uns dasselbe auf der Reise sowohl als am Ziele derselben
-vortrefflich zu statten kommen werde. Die Tiere waren prachtvoll, 12
-Doggen und 20 Schäferhunde von jener langbeinigen und langhaarigen
-Rasse, die ein Mittelding zwischen Windspiel und Bernhardiner zu sein
-scheint. Die kleinste der Doggen war vom Kreuz gemessen 70 Zentimeter
-hoch, die Schäferhunde nicht sonderlich kleiner, wie sich bald erwies,
-alles wohlgesittete, anstellige Kreaturen, die denn auch allseitig mit
-größter Freude begrüßt wurden. Die beiden Wärter erklärten, daß ihnen
-zwar unsere Pläne und Ideen höchst gleichgültig seien, da sie »von all
-dem Zeug nichts verstünden«, daß sie aber, wenn wir es gestatteten, in
-Begleitung ihrer lieben vierfüßigen Freunde sehr gerne mit uns zögen. Da
-sie sich als kräftige, gesunde und trotz aller Einfalt ganz anstellige
-Kerle zeigten, überdies versicherten, im Reiten und Schießen leidlich
-bewandert, in der Dressur mannigfaltigen Getiers aber geradezu Virtuosen
-zu sein, so nahmen wir sie gerne mit. An Lord Clinton wurde ein
-herzliches Dankschreiben adressiert, und nachdem die Post mit diesem und
-den anderen für Europa bestimmten Nachrichten über Zanzibar expediert
-und die Anordnungen für morgen getroffen waren, umfing uns die letzte
-Nacht vor unserem Aufbruche in das dunkle Innere der afrikanischen Welt.
-
-
-
-
- 3. Kapitel.
-
-
-Am Morgen des 5. Mai weckten uns die Horn- und Trommelsignale der
-Kirangozis (Karawanenführer), wie angeordnet war, um 3 Uhr aus dem
-Schlafe. Große, schon Abends vorher bereit gelegte Lagerfeuer wurden
-angezündet, an denen das Frühstück -- Thee oder Kaffee mit Eiern und
-kaltem Fleisch für uns Weiße, eine Fleisch- und Gemüsesuppe für die
-Suahelis -- gekocht und bei deren Schein die Vorbereitungen für den
-Abmarsch getroffen wurden. Der Vortrab, bestehend aus den 100
-Eclaireuren und 20 leichtbeladenen Packpferden, brach, begleitet von 30
-Berittenen, schon eine Stunde später auf. Ihm war die Aufgabe
-zugewiesen, den Weg, wo er durch Dschungel oder dichtes Gehölz führte,
-mit Axt, Faschinenmesser und Haue soweit zu lichten, daß unsere
-umfangreichsten Gepäckstücke ungefährdet auf dem Rücken der Tragtiere
-passieren könnten, Gewässer nach Thunlichkeit zu überbrücken und die
-Lagerplätze für das nachrückende Hauptkorps vorzubereiten. Zu diesem
-Behufe mußte diese Truppe -- je nach der Beschaffenheit der vor uns
-liegenden Wegstrecke -- einige Stunden bis zu einigen Tagen Vorsprung
-nehmen. Für den Anfang, wo nach Aussage der wegekundigen Führer
-sonderliche Hindernisse nicht zu erwarten waren, genügte ein Vorsprung
-von wenigen Stunden.
-
-Der Hauptzug war erst um 8 Uhr in Ordnung. Die Tête nahmen hier 150 von
-uns Weißen, voran Johnston und ich; dann folgten in langer Linie zuerst
-die Handpferde, dann die Esel, zum Schluß die Kamele; der Nachtrab war
-durch 20 Weiße gebildet. So verließen wir endlich, als die Sonne schon
-heiß herniederbrannte, unseren Lagerplatz, warfen einen letzten Blick
-nach dem malerisch hinter uns gelegenen Mombas zurück, sandten unsere
-Scheidegrüße dem da unten brandenden Meere zu, dessen dumpfes Grollen
-trotz der Entfernung von mindestens 7 Kilometern in der Luftlinie
-deutlich zu hören war -- und vorwärts ging es unter Hörnerklang und
-Trommelwirbel die ziemlich steilen, doch nicht eben ansehnlichen Höhen
-hinan, die uns von der am Eingange ins Innere liegenden sogenannten
-Wüste trennten. Diesen Namen verdient jedoch dieser alsbald von uns
-erreichte Landstrich offenbar nur in der heißen Jahreszeit; jetzt, wo
-die dreimonatliche Regenepoche kaum erst abgeschlossen war, fanden wir
-die Landschaft eher parkähnlich. Schönes, wenn auch nicht eben hohes
-Gras wechselte ab mit Gebüschen von Mimosen oder Zwergpalmen und mit
-kleinen Akaziengruppen. Als wir nach zwei Stunden die letzten Ausläufer
-des Küstengebirges hinter uns hatten, wurde das Gras noch üppiger, die
-Bäume häufiger und höher, zahlreiche Antilopen zeigten sich in der
-Ferne, waren aber sehr scheu und wurden alsbald von den Hunden, denen
-das nutzlose Jagen noch nicht abgewöhnt war, verscheucht. Gegen 11 Uhr
-wurde unter dem Schatten eines von dichten Schlingpflanzen zu einem
-förmlichen Riesenbaldachin umgestalteten Palmenhaines Rast gemacht und
-abgekocht. Wir alle, Menschen und Tiere, waren trotz des bloß
-dreistündigen Marsches sehr erschöpft; das vorangegangene vierstündige
-Rennen und Laufen im Lager war eben auch gerade keine Erholung gewesen
-und die Hitze hatte von 10 Uhr ab angefangen höchst unangenehm zu
-werden.
-
-Durch eine reichliche Mahlzeit, deren Hauptbestandteil zwei fette,
-unterwegs gekaufte Ochsen waren, und die erquickende Ruhe im Schatten
-des dichten Lianen-Baldachins gestärkt, brachen wir schon um 4 Uhr
-nachmittags wieder auf und erreichten nach sehr anstrengendem, nahezu
-fünfstündigem Marsche den von unserer Avantgarde bereiteten Lagerplatz,
-in der Nähe eines Wakambadorfes zwischen Kwale und Mkinga. Die
-Avantgarde selber trafen wir nicht mehr; sie hatte hier Mittagsrast
-gehalten und war mehrere Stunden vor unserer Ankunft weiter marschiert,
-um ihren Vorsprung nicht zu verlieren. Dafür hinterließ sie uns unter
-der Obhut eines der Ihrigen elf verschiedene Antilopen, die ihre Jäger
-unterwegs geschossen, zum Abendimbiß.
-
-Am Morgen des zweiten Marschtages befanden wir uns -- eingedenk der
-Qualen des gestrigen Vormittags -- schon um 4½ Uhr unterwegs. Das Land
-war anfangs recht offen; schon nach zwei Stunden aber erreichten wir das
-Gebiet von Duruma, wo unser Vortrab sichtlich heiße Arbeit gefunden
-hatte. Kilometerweit zog sich der Pfad durch dornige Gestrüppe
-abscheulichster Art, in denen ohne die Beile und Messer unserer wackeren
-Eclaireure an ein Fortkommen mit Packtieren nicht zu denken gewesen
-wäre. Da jene jedoch tüchtig aufgeräumt hatten, so kamen wir überall
-rasch und ohne Hindernis hindurch. Gegen acht Uhr wurde der Weg wieder
-besser und das wechselte dann so ab, bis wir am Abend des dritten Tages
-Durumaland hinter uns hatten und die große Wüste betraten, die sich von
-da nahezu ununterbrochen bis Teita ausdehnt.
-
-Sonst ist über diese Marschtage nichts zu berichten, als daß wir stets
-ziemlich pünktlich um 4½ Uhr aufbrachen, nach 9 Uhr morgens eine erste
-Station machten, vor 5 Uhr nachmittags uns wieder in Marsch setzten und
-zwischen 8 und 9 Uhr abends das Nachtlager bezogen. Die
-Verproviantierung in Duruma-Land war nicht eben leicht, aber es gelang
-uns doch, von den Viehzucht und Landbau treibenden Bewohnern genügende
-Lebensmittel an Vegetabilien und Fleisch, von letzterem auch einen
-ausreichenden Vorrat für den Durchzug durch die Duruma-Wüste
-einzuhandeln. Das Land scheint von großer natürlicher Fruchtbarkeit zu
-sein, ist aber gerade an seinen besten Stellen unangebaut und verlassen,
-da die Bewohner der unablässigen Einfälle der Massai halber sich aus
-ihren unzugänglichen Dschungeldickichten kaum hervorwagen. Allenthalben
-hörten wir Klagen über die Missethaten jener ritterlichen Räuber, die
-erst vor einigen Wochen einen Stamm überfallen, die Männer
-niedergemacht, Weiber, Kinder und Vieh weggetrieben hatten und jetzt
-schon wieder unterwegs sein sollten, um nach neuer Beute auszuspähen.
-Unsere Versicherung, daß wir ihr Gebiet sowohl als dasjenige aller
-Stämme, mit denen wir Freundschaft geschlossen oder noch zu schließen
-gedächten, von dieser Plage demnächst befreien würden, nahmen die
-Wa-Duruma mit starkem Zweifel entgegen; hatte doch selbst der Sultan von
-Zanzibar gegen die Massai, die zeitweilig bis Mombas und Pangani
-streiften und brandschatzten, nichts auszurichten vermocht. Indessen
-verbreitete sich doch dieses unser Versprechen sehr rasch überall in der
-Umgegend.
-
-Am Morgen unseres vierten Marschtages, als wir uns eben zum Eintritte in
-die Wüste anschickten, wurden wir durch atemlos unter allen Anzeichen
-des Entsetzens und der Angst herbeieilende Eingeborene benachrichtigt,
-daß ein starker Schwarm Massai wieder da sei, in der Nacht ansehnliche
-Beute an Sklaven und Rindern gemacht habe und sich im Anzuge gegen uns
-befinde. Wir änderten darauf unsere Dispositionen, ließen das Gepäck und
-die Treiber im Lager und formirten uns, da das Terrain günstig war,
-sofort zum Gefecht. Die Geschütze wurden auf ihre Lafetten gesetzt und
-bespannt, die Raketen bereit gemacht; erstere kamen in das Centrum,
-letztere in die beiden Flügel unserer in einer langen Linie sich
-ausdehnenden Front. Das Alles war das Werk von kaum zehn Minuten und es
-verstrich auch keine fernere Viertelstunde, daß wir die Massais, die
-ungefähr 600 Mann stark sein mochten, im Laufschritt nahen sahen. Wir
-ließen sie ruhig bis auf etwa einen Kilometer herankommen; dann
-schmetterten die Trompeten und unsere ganze Linie jagte im Galopp den
-Massai entgegen. Diese stutzten und hielten, als sich ihnen der
-ungewohnte Anblick einer ansprengenden Kavalleriemasse darbot, worauf
-auch wir unser Tempo mäßigten und langsam bis auf hundert Meter
-heranritten. Nun machten wir Halt und Johnston, der den Massaidialekt
-leidlich spricht, ritt einige Schritte vor die Front, mit lauter Stimme
-fragend, was sie wollten. Darauf gab es unter den Massai eine kurze
-Beratung, dann trat auch ihrerseits ein Mann vor die Front, und fragte,
-ob wir Tribut zahlen oder kämpfen wollten? »Ist das _Euer_ Land«, war
-die Gegenfrage, »daß Ihr Tribut verlangt? Wir zahlen Niemand Tribut; wir
-haben Geschenke für unsere Freunde, schreckliche Waffen für unsere
-Feinde. Ob die Massai unsere Freunde werden wollen, werden wir sehen,
-wenn wir sie in ihrem Lande besuchen. Mit den Wa-Duruma aber haben wir
-schon Freundschaft geschlossen und wir erlauben daher Niemand, sie zu
-berauben. Gebt die Gefangenen und die Beute freiwillig heraus und kehret
-zurück in Eure Krals, damit wir nicht genötigt seien, unsere Waffen und
-Medizinen (Zaubermittel) gegen Euch zu gebrauchen, was uns sehr leid
-thäte, denn wir wünschen, Freundschaft auch mit Euch zu halten.«
-
-Letztere Versicherung wurde offenbar für ein Zeichen der Schwäche
-angesehen, denn die Massai, die anfangs etwas eingeschüchtert schienen,
-schwangen nun drohend unter gewaltigem Geschrei ihre Speere und setzten
-sich neuerdings gegen uns in Bewegung. Da erklangen abermals unsere
-Trompeten, und während wir Reiter vorsprengten, eröffneten die Kanonen
-und Raketen ihr Feuer -- nicht auf die Gegner, in deren dichtgedrängten
-Massen sie eben so schreckliche als überflüssige Verheerungen
-angerichtet hätten, sondern über deren Köpfe hinweg. Die Massai hielten
-nur einer einzigen Salve Stand; als die Geschütze donnerten, die Raketen
-zischend und knatternd über sie hinfegten und überdies die unheimlichen
-Geschöpfe mit vier Füßen und zwei Köpfen -- wir Reiter nämlich -- auf
-sie zustürmten, wandten sie sich augenblicklich heulend zu wilder
-Flucht. Unsere Artillerie sandte ihnen noch einige Salven nach, um ihre
-Panik womöglich zu steigern, während die Reiter sich damit
-beschäftigten, Gefangene zu machen und die in der Ferne sichtbar
-werdenden, von den Massai erbeutet gewesenen Sklaven und Rinder in
-unsere Gewalt zu bringen.
-
-Beides gelang; nach kaum einer halben Stunde hatten wir 43 Massais und
-die ganze Beute in der Hand. Die in Sklaverei gefallenen Durumaweiber
-und Kinder zu befreien, wäre uns, nebenbei bemerkt, kaum so vollständig
-gelungen, wenn dieselben nicht in einer Weise gefesselt gewesen wären,
-die ihnen rasches Laufen unmöglich machte. Als nämlich diese armen
-Geschöpfe den Lärm des Gefechts sahen und hörten, machten sie
-verzweifelte Anstrengungen, davon- und zwar den fliehenden Massai
-nachzulaufen. Klüger benahmen sich die Rinder, die durch die Schüsse und
-Raketenschläge zwar auch in hochgradige Unruhe versetzt waren, sich aber
-trotzdem von uns und unseren Hunden, die bei dieser Arbeit sich als
-ausnehmend verwendbar erwiesen, ohne sonderliche Beschwer auf unser
-Lager zutreiben ließen.
-
-Die gefangenen Massai waren prächtige, verwegen aussehende Kerle, die
-trotz des Schreckens, der ihnen noch sichtlich in allen Gliedern lag und
-trotzdem sie offenbar erwarteten, kurzen Weges niedergemacht zu werden,
-doch eine gewisse Haltung behaupteten. Unter ihnen befand sich -- ein
-sehr glücklicher Umstand -- auch der Leitunu, d. i. der oberste,
-unumschränkte Anführer der Bande, ein bronce-farbener Apoll von
-reichlich 2 Meter Höhe, der ganz darnach aussah, als ob er sich am
-liebsten sein kurzes Schwert, die »Sime«, in die eigene Brust gestoßen
-hätte, insbesondere, als die von weither zusammengelaufenen Wa-Duruma
-ihn und die Seinen zu verhöhnen und grimmig schreiend, ihren Tod zu
-verlangen begannen. Johnston verwies ihnen dies mit großer Strenge.
-Laut, daß es die Gefangenen hören konnten, erklärte er, auch die Massai
-sollten unsere Freunde werden, wir hätten sie blos deshalb gezüchtigt,
-weil sie sich hier schlecht benommen; ob sie denn glaubten, daß wir
-ihrer, der Duruma, oder sonstwessen Hülfe bedürften, um jene zu tödten,
-wenn wir es wollten; ob sie denn nicht gesehen hätten, wie wir in die
-Luft schossen, wo doch ein paar ernstlich gemeinte Schüsse aus unseren
-gewaltigen Maschinen genügt hätten, um alle Massai in Stücke zu reißen?
-Um ihnen -- mehr aber noch den Massai -- die Wahrheit dieser ohnehin mit
-tiefem Grausen und ohne die geringste Spur eines Zweifels angehörten
-Worte zu zeigen, ließ Johnston eine volle Lage unserer sämtlichen
-Geschütze und Raketen auf eine etwa 1000 Meter entfernte verfallene,
-strohgedeckte Lehmhütte abgeben. Natürlich brach diese sofort zusammen
-und geriet unmittelbar in Brand, ein Schauspiel, das auf die Wilden den
-gewaltigsten Eindruck machte.
-
-»Jetzt geht«, wandte sich hierauf Johnston, der bei all dem so that, als
-merke er gar nicht, wie gespannt unsere Gefangenen zuhörten und zusahen,
-zu den Wa-Duruma, »nehmt Euere Weiber, Kinder und Rinder, die wir
-befreit haben, und laßt die Massai in Ruhe. Wir werden dafür sorgen, daß
-sie Euch in Zukunft nicht mehr belästigen, aber vergesset nicht, daß in
-wenigen Wochen auch sie unsere Freunde sein werden«.
-
-Die Wa-Duruma gehorchten, obwohl sie nicht recht wußten, was sie aus der
-Sache machen sollten. Nachdem sie sich entfernt hatten, ließ Johnston
-den gefangenen Massai ihre Waffen zurückgeben und forderte sie auf, sich
-gleichfalls zu entfernen; binnen höchstens 2 Wochen gedenke er sie in
-Leitok-i-tok, dem südöstlichen Grenzdistrikte Massailands, zu besuchen;
-um ihnen das mitzuteilen, habe er sie vor sich bringen lassen. Statt
-jedoch dieser Erlaubnis sofort zu entsprechen, zögerten die El Moran
-(der Name für Massaikrieger); schließlich trat Mdango, ihr Leitunu, vor
-und erklärte, jetzt durch das aufgeregte Duruma-Land, versprengt von den
-Ihrigen, heimzuziehen, wäre für eine so kleine Massai-Schaar der sichere
-Tod, und wenn sie schon sterben müßten, so sei es ihnen größere Ehre,
-von der Hand so gewaltiger weißer Leibons (Zauberer), als durch feige
-Wa-Duruma oder Wateita zu fallen. Da wir die Absicht hätten, sie
-demnächst zu besuchen, so mögen wir ihnen gestatten, mit uns zu ziehen.
-
-Johnstons Gesicht strahlte bei dieser Eröffnung vor innerer Genugthuung;
-den Massai gegenüber jedoch bewahrte er seine gemessene Ruhe und
-erklärte feierlichen Tones, das sei eine so große Gunst, die sie da
-verlangten, und deren sie sich durch ihr bisheriges Benehmen so wenig
-würdig erwiesen, daß er zuerst ein Schauri (eine Ratsversammlung) mit
-den Seinigen abhalten müsse, bevor er ihnen Bescheid geben könne. Damit
-ließ er sie stehen, rief unserer zwanzig die wir ihm zunächst zu Pferde
-hielten, beiseite, und teilte uns den Inhalt des Gespräches mit. »Daß
-wir, den Wunsch des Leitunu, der nach der großen Zahl der von ihm
-geführten El Moran zu schließen, einer der einflußreicheren sein dürfte,
-erfüllen, versteht sich von selbst; der Mann muß vollständig gewonnen
-werden, und gewinnt uns dann seine Landleute. So, jetzt werde ich ihm
-das Ergebnis unseres »Schauri« mitteilen.«
-
-»Höre« -- so wandte er sich an Mdango, »wir haben beschlossen, Deinen
-Wunsch zu erfüllen, denn Euere Brüder in Leitok-i-tok sollen nicht
-sagen, daß wir Euch einem schimpflichen Tode entgegengejagt hätten. Aber
-nachdem wir einmal -- wenn auch ohne Blutvergießen -- unsere Waffen
-gegen Euch gerichtet, können wir Euch -- das verbieten unsere Gebräuche
--- nicht als Gäste in unser Lager und an unseren Tisch lassen, bevor der
-Frevel, durch den Ihr uns gereizt habt, vollständig gesühnt ist. Dies
-wird nur dann geschehen sein, wenn jeder von Euch mit demjenigen unter
-uns Blut-Brüderschaft schließt, der ihn zum Gefangenen gemacht hat.
-Wollt Ihr das, und werdet Ihr den Bund ehrlich halten?«
-
-Die El Moran bejahten dies mit großer Bereitwilligkeit; hierauf neues
-»Schauri« unter uns, dem dann die 43fache Verbrüderung nach den
-eigentümlichen Gebräuchen der Massai folgte, und wir hatten 43 Freunde
-gewonnen, die sich -- wie Johnston versicherte -- eher in Stücke hauen
-lassen, als zugeben würden, daß uns ein Leides geschehe, wo sie es
-irgend verhindern könnten.
-
-Über all dem war es 9 Uhr geworden und da der Tag glühend heiß zu werden
-versprach, so hatten wir keine Lust, die sengende Duruma-Wüste zu
-betreten, so lange die Sonne hoch am Horizonte stand. Wir kehrten daher
-in das von unseren Tragtieren ohnehin noch nicht verlassene Lager zurück
-und rüsteten das Mittagmahl. Zur Feier des unblutig erfochtenen Sieges
-wurde dasselbe besonders reich, vornehmlich mit Fleisch nebst Milch, der
-einzigen Nahrung der Massai-Elmoran -- bereitet, und zum Schlusse eine
-riesige Bowle aus Rum, Honig, Limonen und heißem Wasser gespendet, die
-allen unseren Leuten trefflich mundete, die Massai aber geradezu in
-Begeisterung versetzte. Diese Begeisterung überschritt alle Grenzen, als
-die diversen 43 Blutbrüder nach genossenem Punsche mit einer
-Freundschaftsgabe von je einer -- roten Hose bedacht wurden. Der Leitunu
-erhielt ein Extrageschenk in Form eines goldgestickten Scharlachmantels.
-
-Die Duruma-Wüste, in die wir um 5 Uhr nachmittag eintraten, ist gänzlich
-unbewohnt und während der trockenen Monate berüchtigt wegen ihres
-beinahe absoluten Wassermangels. Jetzt, unmittelbar nach der Regenzeit,
-fanden wir in den zahlreichen Bodenspalten und brunnenartig oft bis zu 2
-und 3 Metern vertieften natürlichen Löchern erträgliches Wasser in
-genügender Menge. Von der Hitze aber hatten wir bis Sonnenuntergang viel
-zu leiden, was uns veranlaßte, mit Preisgebung unserer Nachtruhe in
-einem Gewaltmarsche bis Taro vorzudringen, einem recht ansehnlichen,
-durch angesammeltes Regenwasser gebildeten Teich, den wir gegen Morgen
-erreichten. Hier hielten wir einen halben Rasttag, d. h. wir brachen
-nicht des Morgens, sondern des Abends auf, unsere Kräfte für den nun
-folgenden bösesten Teil des Weges schonend. Die Wasserlöcher wurden von
-da ab seltener, das Aussehen der Landschaft besonders trostlos:
-eintönige, flache Steinfelder, abwechselnd besetzt mit häßlichem
-Dornendickicht. Doch Menschen und Tiere hielten die schlimmen 3 Tage
-wacker aus und am 12. Mai erreichten wir wohlbehalten, obwohl arg
-durchnäßt durch einen uns plötzlich überraschenden Platzregen, das
-liebliche Land der Wateita am herrlichen Ndaragebirge.
-
-Hier lernten wir zum ersten Male die entzückende Pracht äquatorialen
-Hochlandes kennen. Das Ndara-Gebirge erreicht eine Höhe bis zu 1550
-Metern, ist vom Gipfel bis zum Fuße mit üppiger Vegetation bedeckt,
-zahlreiche silberhelle Bäche und Flüsse rauschen und tosen an seinen
-Abhängen zu Thale und die Rundschau von günstiger situierten
-Aussichtspunkten ist geradezu entzückend. Da wir hier einen vollen
-Rasttag hielten, so benützten die meisten von uns die Gelegenheit zu
-Ausflügen rings in der wundervollen Landschaft, wobei uns einige zu
-Handels- und Missionszwecken angesiedelte Engländer in liebenswürdigster
-Weise als Führer dienten. Ich selber konnte nicht allzutief in das
-Gewirr köstlicher, schattenreicher Thäler und Gipfel, das uns rings
-umgab, eindringen, da ich die Verproviantierung der Karawane sowohl in
-Teita als auch für die jenseits desselben bis zum Kilima-Ndscharo sich
-erstreckende Wüstenei durchführen mußte. Aber meine glücklicheren
-Genossen erstiegen die umliegenden Höhen, übernachteten zumeist auf oder
-dicht unter denselben, erquickten sich an der kühlen Luft derselben und
-kamen zurück trunken von all der Schönheit die sie genossen. Im übrigen
-war es auch am Fuße der Teitaberge kaum minder entzückend. Das Bad unter
-einem der plätschernden Wasserfälle, umfächelt von den milden Lüften und
-Düften die der Abend brachte, würde stets zu den schönsten Erinnerungen
-meines Lebens zählen -- wenn mir Afrika nicht noch weit herrlichere
-Naturscenen geboten hätte.
-
-Am 14. und 15. wanderten wir in nicht zu anstrengenden Märschen weiter
-durch dies Paradies, in welchem auch unsere Jäger reiche Beute an
-Giraffen und verschiedenen Antilopen machten, schlossen überall
-mit den Stämmen und Häuptlingen durch Geschenke besiegelte
-Freundschaftsbündnisse, arbeiteten uns dann in zwei weiteren Tagen durch
-die menschenleere, dafür aber desto wildreichere Wüste von Taweta, die
-im übrigen gar nicht so schlimm ist, als ihr Name, und hatten am
-Nachmittag des 17. die kühlen Wälder der Vorberge des Kilima vor uns --
-wo uns eine seltsame Überraschung erwartete.
-
-Wir waren Taweta auf wenige Kilometer nahe gekommen und unsere
-Gewehrsalven hatten -- wie dies in Afrika üblich -- dort soeben die
-Ankunft einer Karawane verkündigt, als Johnston und ich, die wir an der
-Spitze des Zuges ritten, einen Mann mit verhängtem Zügel auf uns
-zusprengen sahen, in welchem wir alsbald den Führer unseres Vortrabs,
-Ingenieur Demestre, erkannten. Anfangs machte uns die rasende Eile, mit
-der er auf uns zujagte, einigermaßen besorgt, dann aber zeigte uns sein
-lachendes Gesicht, daß es kein Unfall sei, was ihn uns entgegenführe. Er
-winkte mir schon von Weitem zu und rief, sein Pferd vor uns parierend:
-»Deine Schwester und Miß Fox sind in Taweta!«
-
-Wir beide, Johnston und ich, müssen auf diese unerwartete Botschaft hin
-erklecklich alberne Gesichter gemacht haben, denn Demestre brach jetzt
-in ein tolles Gelächter aus, in welches endlich auch wir einstimmten.
-Dann erzählte er, die beiden Damen hätten ihn und die Seinen, die
-gestern Abend in Taweta anlangten, ganz harmlos, als träfen sie sich
-daheim auf der Straße, begrüßt, ihre Verblüffung gänzlich ignoriert und
-auf Befragen im gleichmütigsten Tone erzählt, sie wären am 30. April,
-also während wir in Mombas saßen, von Aden kommend, in Zanzibar
-eingetroffen, nach kurzem Aufenthalte nach Pangani übergefahren und von
-dort über Mkumbara und am Jipe-See vorbei schon am 14. in Taweta
-angelangt, wo sie sich mitsamt ihrem Diener oder Freunde Sam, einem
-alten ehrwürdigen Neger, der Miß Fox überall begleite, und ihren vier
-Elefanten -- denn auf dem Rücken solcher Tiere wären sie zu grenzenlosem
-Erstaunen der Neger gereist -- ganz ausnehmend wohl befänden. »Fräulein
-Klara läßt Dich grüßen und Dir sagen, sie sehne sich schon recht sehr,
-Dich an ihr schwesterliches Herz zu drücken.«
-
-Da ich sah, daß Demestre nicht scherze, so gab ich meinem Pferde die
-Sporen, befand mich schon nach wenigen Minuten in einem der
-tiefschattigen, laubenartigen Waldwege, die vom offenen Lande nach
-Taweta hineinführen, und sah auch bald darauf die beiden Damen, von
-denen die eine mit ausgebreiteten Armen auf mich zueilte und mich, kaum
-daß ich den Boden berührt hatte, laut weinend ans Herz drückte. Nachdem
-der erste Sturm des Wiedersehens vorüber war, suchte ich von meiner
-Schwester nähere Aufklärung über die Art ihres Erscheinens hier mitten
-unter den Wilden zu erlangen; allein das war ein vergebliches Bemühen;
-so oft die Gute auch zu einem Berichte ansetzte, unterbrachen sie
-Thränen und Ausrufe der Freude über unser Wiedersehen sowie des
-nachträglichen Entsetzens über all die Gefahren, vor denen mich
-leichtsinnigen Knaben sicherlich nur mein gutes Glück bewahrt.
-Inzwischen hatten wir uns Miß Fox genähert, die meinen Gruß zwar etwas
-spöttisch, aber deßhalb nicht minder herzlich erwiderte und aus deren
-Munde ich endlich alles Wissenswerte erfuhr.
-
-Darnach hatten sich also die Beiden gleich bei ihrer ersten Begegnung
-verständigt und das Komplott in seinen Grundzügen angelegt, die näheren
-Vereinbarungen der Zeit nach meiner Abreise aus Europa vorbehaltend.
-Meine Schwester hatte in Miß Fox die Energie und die erforderlichen
-pekuniären Mittel zur Inscenierung einer gegen den Willen der Männer auf
-eigene Faust durchzusetzenden Expedition, Miß Fox dagegen in meiner
-Schwester die Gefährtin und ältere Beschützerin gefunden, ohne welche
-auch sie vor einem solchen Geniestreich zurückschreckte. Da insbesondere
-Miß Fox die Dispositionen unserer Reise ganz genau kannte, so ahmte sie
-dieselben dem Wesen nach im Kleinen nach; sie bestellte bei denselben
-Fabrikanten und Lieferanten, von denen wir unsere Vorräte, Tauschwaren
-und Reisegeräte bezogen, auch die ihrigen, entschied sich gleich uns für
-Tragtiere statt für Pagazis, wählte aber, um wenigstens in Einem Punkte
-originell zu sein, Elefanten statt der Pferde, Kamele oder Esel. Da es
-überall dort, wo wir hin wollten, wilde, wenn auch bisher niemals
-gezähmte Elefanten in Menge gebe, so mußten -- das war ihr Kalkül,
-indische Elefanten auch überall im äquatorialen Afrika fortkommen. Ein
-Geschäftsfreund ihres verstorbenen Vaters in Kalkutta, hatte ihr vier
-Prachtexemplare dieser Dickhäuter verschafft, diese mitsamt acht
-erprobten indischen Führern und Wärtern nach Aden expediert, wo sie
-dieselben angetroffen und nach Zanzibar genommen. Hier wurden einige
-Wegführer und Dolmetscher geworben und um nicht etwa zu nahe an der
-Küste mit uns zusammenzutreffen, der Weg über Pangani genommen, auf
-welchem ihnen zwar die Neugier der Eingeborenen hie und da lästig
-geworden, im übrigen aber, insbesondere Dank der liebenswürdigen
-Fürsorge der in Pangani, Mkumbana, Membe und Taweta stationierten
-deutschen Agenten nicht der geringste Unfall zugestoßen sei. Ihre
-Suaheli-Leute hätten sie sofort nach ihrer Ankunft entlassen, mit den
-Elefanten und Indern gedächten sie sich uns anzuschließen -- es sei
-denn, daß wir sie allein in Taweta zurücklassen wollten.
-
-Was war unter so bewandten Umständen zu thun? Es verstand sich von
-selbst, daß die beiden Amazonen von da ab zu den Unsrigen gehörten und
-was mich anlangt, so müßte ich die Unwahrheit sagen, wollte ich
-behaupten, ich sei meiner Schwester oder Miß Fox ob ihrer Hartnäckigkeit
-gram geworden. Die ärgsten Gefahren konnten nach der Affaire mit den
-Massai in Duruma als beschworen gelten; die Beschwerden des Weges waren
--- wie ja der Erfolg zeigte -- auch von Frauen recht gut zu überwinden;
-ich gab mich also der Freude des unverhofften Wiedersehens ungetrübt
-hin. Aber auch die anderen Mitglieder der Expedition waren -- wie ich
-mit Genugthuung bemerkte -- mit dem Zuwachse, der uns in Taweta
-geworden, durchaus einverstanden und so erhielten denn die Elefanten
-mitsamt ihrer schönen Last -- denn nebenbei bemerkt ist auch meine
-Schwester trotz ihrer 38 Jahre noch immer ein schönes Weib -- ihren
-Platz in der Karawane angewiesen.
-
-Vor Taweta verabschiedeten sich unsere Massai-Freunde. Sie nahmen den
-Auftrag mit, ihren Landsleuten mitzuteilen, daß wir in 8-10 Tagen an den
-Grenzen von Leitok-i-tok eintreffen würden, daß es unsere Absicht sei,
-ganz Massai-Land zu durchreisen, um uns dort, wo es uns am besten
-gefallen würde, dauernd niederzulassen. Diese unsere Ansiedelung werde
-dem Stamme, in dessen Nachbarschaft wir Hütten bauen würden, zum größten
-Vorteil gereichen, denn wir würden ihn reich und unbesiegbar allen
-Feinden gegenüber machen. Uns aufzunehmen und Gebiete abzutreten würden
-wir Niemand zwingen, obwohl wir, wie sie bezeugen könnten, dazu
-genügende Macht besäßen und noch viele Tausende unserer weißen Brüder
-nur auf Nachricht von uns warteten, um uns nachzufolgen; den freien
-Durchzug aber würden wir, wenn er uns nicht friedlich gewährt werde,
-überall zu erkämpfen wissen. Schließlich banden wir unseren Blutbrüdern
-noch ans Herz, dafür zu sorgen, daß bei den Verhandlungen möglichst
-zahlreiche Stämme erscheinen, insbesondere diejenigen, welche längs des
-Weges nach dem Naiwascha-See -- unserer Route an den Kenia -- wohnen,
-und schieden unter beiderseitigen herzlich gemeinten Wünschen von
-einander. Als letztes Angedenken gaben wir den ganz zuthunlich
-gewordenen Kerlen eine Reihe in ihren Augen überaus kostbarer Geschenke
-für ihre Herzallerliebsten, die sogenannten »Dittos« mit, als da sind,
-Messingdraht, messingene Armbänder und Ringe mit falschen Steinen,
-Handspiegel, auf Schnüre gereihte Glasperlen, Baumwollzeuge und Bänder.
-Der Tauschwert dieser Geschenke, obwohl sie uns in Europa insgesamt
-keine 200 Mark gekostet hatten, betrug nach Massai-Währung, wie wir uns
-später zu überzeugen Gelegenheit hatten, reichlich den von 100 fetten
-Ochsen, und die El Moran waren auch ganz sprachlos über unsere
-Freigebigkeit. Geradezu unschätzbar aber war in ihren Augen das
-Geschenk, mit welchem Johnston zum Schlusse herausrückte: ein
-Kavalleriesäbel mit eiserner Scheide und guter Solinger Klinge für jeden
-der sich verabschiedenden Helden. Um ihnen die Vortrefflichkeit dieser
-Waffe _ad oculos_ zu demonstrieren, ließ Johnston durch einen in solchen
-Kunststücken bewanderten Belgier den mächtigsten der Massaispeere,
-dessen Klinge gut 12 Centimeter breit war, mit einem Hiebe durchhauen,
-und wies dann den zu Bildsäulen erstarrten Kriegern die völlig
-unversehrte Schwertklinge vor. »So schneiden _unsere_ »Siemes,« sagte
-er, wenn sie in gerechtem Kampfe gebraucht werden; hütet Euch aber, sie
-bei Raubzügen oder Mordthaten zu ziehen, sie würden Euch in der Hand
-zerspringen wie Glas und Unheil über Eure Köpfe bringen.« Damit winkten
-wir ihnen nochmals freundlich zu und hatten sie bald aus den Augen
-verloren.
-
-In Taweta weilten wir 5 Tage, um den Tieren nach den anstrengenden
-Märschen Ruhe zu gönnen und uns an den über alle Beschreibung
-entzückenden Reizen dieses an Lieblichkeit und tropischer Pracht sowohl
-als an Großartigkeit der Gebirgsformen alles bis dahin Gesehene weitaus
-übertreffenden Landes zu erlaben, und schließlich um unsere Ausrüstung
-mit Hilfe der hier und im benachbarten Moschi residierenden deutschen
-Agenten einigermaßen zu ergänzen. Diese Herren, wie nicht minder die
-freundlichen Eingeborenen, informierten uns bereitwilligst über jene
-Waren, nach denen augenblicklich im Massai-Lande besonderer Begehr
-herrsche und da sich ergab, daß wir von einer derzeit bei den Dittos
-modernen blauen Perlenart sehr wenig, von einer als haute Nouveauté
-geltenden Sorte Baumwolltücher vollends auch nicht einen Ballen besaßen,
-so kauften wir in Taweta mehrere Traglasten von diesen Kostbarkeiten.
-
-Auf unseren Streifungen in Taweta sahen wir zum ersten Male den Kilima
-Ndscharo in seiner vollen überwältigenden Majestät. Nahe an 4000 Meter
-steil aus dem umliegenden Hochlande emporragend, trägt dieser
-zweizinkige, sich zu 5700 Metern über die Meeresfläche erhebende Riese
-auf seinem breiten, wuchtigen Rücken ein Schneefeld, mit dessen Wirkung
-sich nicht die Gletscher unserer europäischen Alpenriesen, ja in
-gewissem Sinne nicht einmal die der Anden und des Himalaja vergleichen
-lassen. Denn nirgend sonst auf unserer Erde bietet die Natur so
-unvermittelt nebeneinander den Kontrast der üppigsten, saftigsten
-Tropenwelt und der schauerlichen Öde zerrissenen Geklüftes und ewigen
-Eises, wie hier im äquatorialen Afrika. Die Flora und Fauna am Fuße des
-Himalaja z. B. ist zwar kaum minder herrlich, wie im Wald- und
-Quell-Lande von Taweta; aber während die schneebedeckten Gipfel des
-Central-Asiatischen Gebirgsstockes sich Hunderte von Kilometern entfernt
-vom Fuße desselben erheben und es daher dem Menschen nicht vergönnt ist,
-die Reize beider zugleich zu genießen und durch den Kontrast zu
-steigern, kann man hier, beschattet von einer wildwachsenden Banane oder
-Mangopalme mit einem guten Fernrohre die unergründlichen Schlünde der
-Gletscherspalten zählen, so zum Greifen nahe ist die Welt des ewigen
-Eises der des ewigen Sommers gerückt. Und welchen Sommers! Eines
-Sommers, der seine reichsten Schätze an Schönheit und Fruchtbarkeit
-gewährt, ohne unsere Nerven durch seinen Gluthauch zu erschlaffen. Man
-muß diese schattigen und doch lichten Wälder, diese allenthalben durch
-den blumenduftenden Boden hüpfenden krystallklaren Bäche gesehen, diese
-kühlenden Lüfte, die beinahe ununterbrochen von den nahen Eisfeldern
-herabwehen und sich unterwegs durch den Blumenatem der tiefer gelegenen
-Bergabhänge würzen, um seine Schläfen empfunden haben, um zu wissen, was
-Taweta ist.
-
-An materiellen Genüssen greifbarer Art bietet dieses gesegnete Ländchen
-eine überreiche Fülle. Fette Rinder, Schafe und Ziegen, Hühner,
-köstliche Fische aus dem nahen Jipe-See und dem Lumi-Flusse, einige
-besonders delikate aus den rings vom Kilima-Ndscharo herabschäumenden
-kleineren Gebirgswässern, Wildpret in tausenderlei Varietäten,
-befriedigen selbst den unersättlichen Hunger nach Fleisch; das
-Pflanzenreich schüttet ein nicht minder reiches Füllhorn fast aller in
-den Tropen irgend gedeihenden Feldfrüchte, Gemüse und Obstarten aus.
-Dabei ist alles so wohlfeil, daß selbst der übermütigste Schlemmer nicht
-im Stande ist, mehr als wenige Pfennige täglich auszugeben -- falls die
-liebenswürdigen, gastfreundlichen Wataweta überhaupt Zahlung annehmen,
-was z. B. uns gegenüber fast niemals der Fall war. Allerdings kam uns
-dabei der Ruhm unserer Heldenthaten gegen die Massai und insbesondere
-unsere Versicherung zu statten, daß wir auch Taweta von diesen bösen
-Gästen befreien würden, die bisher zwar noch bei jedem Angriffe von den
-uneinnehmbaren Waldfestungen des Kilima abgeschlagen worden waren, deren
-Nachbarschaft sich aber bisher doch sehr lästig erwiesen hatte. Auch war
-unsere Hand den Taweta-Männern und mehr noch den Weibern gegenüber stets
-offen. Europäische Geräte aller Art, Kleidungsstücke, primitive
-Schmucksachen, und hauptsächlich eine Auslese von Photographien und
-bemalten Münchener Bilderbogen gewannen uns die Herzen unserer schwarzen
-Gastfreunde, so daß, als wir am Morgen des 23. Mai endlich aufbrachen,
-wir ebenso ungern diesen herrlichen Waldwinkel verließen, als die
-Wataweta uns ungern scheiden sahen. Bis über die Grenze ihres Gebietes
-begleiteten uns diese guten, einfachen Menschen, und gar manches der
-keineswegs unschönen Tawetafräulein, das sein Herz an einen der weißen,
-oder wohl auch der Suaheli-Gäste verloren haben mochte, vergoß bittere
-Thränen und klagte sein Leid mit Vorliebe -- unseren beiden Damen, die
-glücklicher Weise von diesen Ergüssen und Eröffnungen tawetanischer
-Mädchen-Seelen kein Wort verstanden. Prüderie ist im äquatorialen Afrika
-eine gänzlich unbekannte Sache und die Taweta-Schönen würden ebensowenig
-begriffen haben, daß irgend Jemand Übles darin finden könne, wenn man
-einem Gaste ohne weiteres sein Herz entgegenträgt, als ihre weißen
-Schwestern begriffen hätten, daß man derlei Dinge in aller Unschuld
-ausplaudern könne, ohne daß Freunde und Verwandte daran den geringsten
-Anstoß nähmen.
-
-
-
-
- 4. Kapitel.
-
-
-Nach Massailand führen von Taweta zwei Wege, der eine westlich vorbei am
-Kilima durch das Gebiet der Wakwafi; der andere am Ostabhange des
-Gebirgsstockes durch die verschiedenen Tribus der Wadjagga.
-
-Das Land ist fruchtbar und schön auf beiden Seiten; wir wählten aber die
-letztere Route, weil die Wakwafi eben im Kriege waren mit den Massai und
-wir uns in keine überflüssigen Händel mengen wollten, auch ganz im
-allgemeinen der Verkehr mit den friedfertigen und schüchternen Wadjagga
-dem mit den rauflustigen Wakwafi vorzuziehen ist. In kleinen
-Tagemärschen zogen wir vorbei an dem wildromantischen, von düsteren,
-senkrecht abfallenden Felsen eingefaßten Dschallasee, durch die waldigen
-Bergabhänge von Rombo und durch die Hochebenen von Useri, übersetzten
-dabei drei nicht unansehnliche, wasserreiche Bäche, die vereint den
-Tsabofluß bilden, und zahllose Quellen, die allenthalben vom Kilima
-herunterrieselnd, die parkartigen Wiesen und die wohlangebauten Felder
-der Eingeborenen bewässern. Überall tauschten wir reiche Geschenke und
-schlossen Freundschaftsbündnisse. Nebenbei wurde auch der Jagd gepflegt,
-die Antilopen, Zebras, Giraffen und Rhinoceros in großer Menge ergab.
-
-Am 28. Mai trafen wir an der Grenze von Leitok-i-tok, dem südöstlichen
-Grenzdistrikt von Massailand ein. Als wir den Rongeibach überschritten,
-stieß unser Freund Mdango in Begleitung zahlreicher seiner Krieger zu
-uns. Sein Bericht war befriedigend. Die ihm aufgetragene Botschaft hatte
-er nicht bloß den Alten und den Kriegern des eigenen Stammes, sondern
-allen Stämmen von Leitok-i-tok bis an die Grenzen von Kapte übermittelt
-und sie zu einem großen Schauri am Minjenjeberge -- einen halben
-Tagmarsch von der Grenze gegen Useri -- eingeladen. Sie waren zahlreich
-erschienen, El-Morun und El-Moran, d. i. verheiratete Männer und
-Krieger, letztere in einer Gesamtstärke von über 3000 Mann, und
-vorgestern hatten sie vom Morgen bis Abend verhandelt. Das Ergebnis war
-der einstimmige Beschluß, uns ein Freundschaftsbündnis anzutragen.
-
-Bald darauf nahten die Massai in hellen Haufen. Wir luden sie in unser
-Lager, wo wir sie Mann für Mann reichlich beschenkten. Zuerst bekam
-Mdango für seine diplomatischen Bemühungen ein buntes, goldgesticktes
-Ehrenkleid (wo bei Geschenken von »Gold« die Rede ist, welches die
-Centralafrikaner nicht kennen und nicht schätzen, muß überall unechte
-Waare verstanden werden), eine silberne Taschenuhr, ein Eßbesteck aus
-Weißblech und einige Zinnteller. Die Verwendung und Behandlung der
-letztgenannten Dinge mußte ihm allerdings erst mühsam beigebracht
-werden, doch sei bemerkt, daß Mdangos Uhr von da ab stets in gutem Gange
-blieb und daß er sich bei feierlichen Gelegenheiten des Messers und der
-Gabel mit angemessener Würde bediente.
-
-Andere Massaigrößen wurden gleichfalls, wenn auch nicht so
-verschwenderisch wie der vielbeneidete Mdango, mit auserlesenen Dingen
-bedacht; alle El-Moran aber erhielten außer Perlenschnüren und Tüchern
-für ihre Mädchen, die vielbegehrte rote Hose, die verheirateten Männer
-farbige Mäntel, und jedes Weib -- Frau oder Mädchen -- das unser Lager
-mit seinem Besuche beehrte, ward durch Bilder, Perlen, Zeuge und
-allerlei broncenen und gläsernen Tand erfreut. Das Verteilen dieser
-Gaben nahm viele Stunden in Anspruch, trotzdem etwa fünfzig von uns
-damit beschäftigt waren. Es hielt eben schwer, in dieser entzückt
-durcheinander schwatzenden und wogenden Masse Ordnung zu halten. Erst
-als die Sonne sich ihrem Untergange zuneigte, verließen die letzten
-Massaimänner unser Lager, während gerade die hübschesten der jungen
-Mädchen und Frauen keine Miene machten, die heimischen Penaten
-aufzusuchen. Die Männer bemerkten es, fanden es jedoch sichtlich in der
-Ordnung, daß ihre Frauen und Töchter so freigebigen Fremden auch nach
-Sonnenuntergang Gesellschaft leisten. So will es die Sitte in
-Massailand, und wir hatten Mühe, uns vor deren Konsequenzen zu bewahren,
-ohne die zwar nach ranzigem Fett duftenden, sonst aber selbst nach
-europäischen Begriffen wohlgebildet zu nennenden braunen Damen zu
-beleidigen.
-
-Am nächsten Vormittag schritten wir zum Abschlusse des Friedens- und
-Freundschaftsvertrages. Johnston forderte jeglichen Kral -- es waren
-deren 17 aus Leitok-i-tok und 4 aus Kapte vertreten -- auf, den Leitunu
-und Leigonani der El-Moran und je zwei der El-Morun zu designieren, die
-den Vertragsabschluß mit uns vollziehen sollten. Dieser Wahlakt ging
-merkwürdig rasch von statten und schon eine Stunde später war die
-Ratsversammlung, an welcher unsererseits bloß Johnston, ich und 6
-Offiziere teilnahmen, unter allerlei Zeremonien eröffnet. Zuerst gab es
-einige Reden, in denen unsererseits die Vorteile auseinandergesetzt
-wurden, die den Massai aus unserer bevorstehenden Ansiedelung in ihrer
-Mitte oder an ihren Grenzen erwachsen würden, von Seiten der
-Massaisprecher hinwieder Versicherungen der Bewunderung und Liebe den
-weißen Freunden gegenüber, die Hauptrolle spielten. Dann legte Johnston
-die Punktationen des Vertrages vor. Dieselben lauteten wie folgt:
-
-1. Die Massai werden uns und unseren Bundesgenossen gegenüber, als da
-sind: die Bewohner von Duruma, Teita, Taweta, Dschalla und Useri,
-unverbrüchlich Frieden und Freundschaft einhalten.
-
-2. Die Massai werden von keiner von Weißen geführten Karawane unter
-irgend welchem Vorgeben Hongo verlangen, versprechen vielmehr, dem
-Durchzuge derselben in jeder Weise behülflich zu sein, insbesondere, so
-weit ihre Vorräte reichen, gegen billige Bezahlung Lebensmittel
-beizustellen.
-
-3. Die Massai werden auf unser Verlangen jederzeit El-Moran in jeder
-beliebigen Zahl zu unserer Verfügung stellen, die Geleits- und
-Wachdienste zu leisten haben und uns während der Dauer ihrer Verwendung
-militärischen Gehorsam schuldig sind.
-
-4. Dagegen verpflichten wir uns, die Massai als unsere Freunde
-anzuerkennen, sie in ihren Rechten zu schützen und ihnen gegen fremde
-Angriffe beizustehen.
-
-5. Die El-Moran jedes am Bunde teilnehmenden Stammes erhalten von uns
-alljährlich Mann für Mann je zwei Beinkleider aus gutem Baumwollstoff
-und je 50 Schnüre Glasperlen, deren Auswahl ihnen überlassen bleibt,
-oder auf Wunsch andere Waren im gleichen Werte. Die El-Morun erhalten je
-einen Baumwollmantel, die Leitunu und Leigonani Beinkleid, Perlen und
-Mantel.
-
-6. Die zu Dienstleistungen herangezogenen El-Moran erhalten außer voller
-Verpflegung an Fleisch und Milch je 5 Perlenschnüre oder deren Wert als
-tägliche Besoldung.
-
-Dieses, von den anwesenden Massai mit den Zeichen unverhohlener
-Befriedigung aufgenommene Aktenstück wurde durch eine symbolische
-Blutverbrüderung zwischen den beiderseitigen Kontrahenten unter vielen
-Feierlichkeiten bekräftigt. Da die in achtungsvoller Ferne lauschende
-Menge dasselbe, als es ihr verlesen ward, mit lautem Freudengeschrei
-aufnahm, so wußten wir, daß die öffentliche Meinung von Leitok-i-tok und
-eines Teiles von Kapte vollkommen gewonnen sei.
-
-Wir teilten nun unseren neuen Bundesgenossen mit, daß es unsere Absicht
-sei, über Matumbato und Kapte an den Naiwascha-See zu ziehen, die
-unterwegs wohnenden Massaistämme womöglich alle in den Bund aufzunehmen
-und dann entweder über Kikuja oder über Leikipia an den Kenia
-vorzudringen. Behufs rascherer Herstellung der freundschaftlichen
-Beziehungen mit jenen Stämmen, deren Gebiete wir zu durchziehen hätten,
-verlangten wir die Beistellung einer 50 Mann starken Schar El-Moran, die
-unter Führung unseres -- inzwischen unter seinen Landsleuten zu hohem
-Ansehen gelangten -- Freundes Mdango, uns voraufziehen solle. Es geschah
-wie wir wünschten und Mdango fühlte sich durch die auf ihn gefallene
-Wahl nicht wenig geschmeichelt. Aus den 50 El-Moran, die wir forderten,
-wurden übrigens mehr als 500, da sich die jungen Krieger um die Ehre
-stritten, uns dienlich zu sein. Vom Wege über Kikuja aber rieten uns die
-Massai ab. Die Wa-Kikuja sind kein Massaistamm, sondern gehören einer
-ganz anderen Rasse an, die von altersher mit ihnen in steter Fehde lebt.
-Sie wurden uns als verräterisch, feige und grausam zugleich geschildert,
-als Leute ohne Treu und Glauben, mit denen ein ehrlicher Bund ganz
-unmöglich sei. Da wir indessen aus unserer civilisierten Heimat her
-wußten, welches Vertrauen man auf das gegenseitige Urteil einander
-bekämpfender »Nationen« legen dürfe, so machte obige Schilderung
-vorderhand weiter keinen Eindruck auf uns, als daß wir derselben
-entnahmen, die Wakikuja seien »Erbfeinde« der Massai. Wie sehr im Rechte
-wir mit unserer Skepsis waren, sollte die Folge lehren. Mdango wurde
-bedeutet, daß es bei der ursprünglichen Abrede sein Bewenden habe. Er
-solle uns in Eilmärschen voranziehen, wo möglich bis an die Grenzen von
-Leikipia, dann aber umkehren und uns am Ostufer des Naiwascha-Sees
-erwarten, wo wir drei Wochen von heute an gerechnet das große
-Bundes-Schauri mit den von ihm unterwegs verständigten und berufenen
-Massai-Stämmen abzuhalten gedächten. Was es mit den Wakikuja, die das
-Gebiet östlich vom Naiwascha bewohnen, auf sich habe, würden wir selber
-untersuchen.
-
-Am ersten Juni um 4 Uhr Morgens brachen wir von Miveruni auf. Nach
-mehrstündigem Marsche lagen die letzten Waldstreifen der Kilima-Vorberge
-hinter uns und wir betraten die kahlen Flächen der Ngiriwüste. Der Weg
-durch diese und an den Limgeriningbergen vorbei durch das Hochplateau
-von Motumbuto bot wenig des Bemerkenswerten. Am 6. Juni erreichten wir
-die Berge von Kapte, längs deren Westabhang wir in einer Seehöhe von
-1200 bis 1700 Metern dahinzogen, zur Linken unter uns die eintönige
-unabsehbare Dogilaniebene, zur Rechten die bis zu 3000 Metern
-aufsteigenden Kapteberge, an den Abhängen meist grasreiches Parkland,
-auf den Kuppen dunkle Wälder zeigend. Zahlreiche Bäche, die stellenweise
-malerische Wasserfälle bilden, rauschen von ihnen hernieder und
-vereinigen sich im Dogilaniland zu größeren Flüssen, die, soweit das
-Auge sie verfolgen kann, allesamt nach Westen ihren Lauf nehmen und in
-den Ukerewe, diesen größten unter den Riesenseen Centralafrikas, münden.
-Alle Stämme unterwegs nahmen uns wie alte Freunde auf, selbst
-diejenigen, mit denen wir noch kein Bündnis geschlossen hatten. Zu ihnen
-allen war die Wundermär von den weißen Männern gedrungen, die sich bei
-ihnen ansiedeln wollen und die so mächtig und freigebig zugleich seien;
-Mdangos Einladung zum Schauri am Naiwaschasee war überall freudig
-aufgenommen worden, große Scharen waren schon unterwegs. Andere
-schlossen sich uns an oder versprachen nachzufolgen. Von »Hongo« nirgend
-die Rede, kurzum, wir hatten gewonnenes Spiel in allen Gauen des Landes.
-
-Am 12. erreichten wir die Grenze des Kikujalandes, dem entlang der
-weitere Weg an den Naiwascha sich hinzieht. Die schlimmen Berichte über
-den heimtückischen, häßlichen Charakter dieses Volkes waren uns von den
-Kapte-Massai, ihren unmittelbaren Nachbarn, in verstärkter Form
-wiederholt worden; inzwischen aber hatten wir von anderer Seite durchaus
-verschieden klingende Darstellung erhalten. Unsere beiden Damen führten
-nämlich ein Andorobomädchen mit sich, welches sie in Taweta aufgenommen
-hatten. Die Andorobo sind ein Jägervolk, welches ohne festen Wohnsitz
-durch das ganze ungeheure Gebiet zwischen dem Ukerewesee und der
-Zanzibarküste hin zu finden ist; aus einem Stamme dieses Volkes, welcher
-die Gegenden am Fuße des Kenia, nördlich von Kikuja nach Elefanten
-durchstreift, war Sakemba -- so hieß das fragliche ungefähr 18 Jahre
-zählende Mädchen -- vor zwei Jahren von Massai geraubt worden; diese
-verhandelten sie an eine Suahelikarawane, mit welcher sie nach Taweta
-kam. Das Mädchen hatte -- eine Seltenheit bei diesen Rassen -- eine
-unbesiegliche Sehnsucht nach ihrer Heimat, und da meine Schwester und
-Miß Ellen, in Taweta vor uns angelangt, auf Befragen erzählten, sie
-warteten auf eine nach dem Kenia ziehende Karawane, so wandte sich jene
-mit der flehenden Bitte an die Beiden, sie ihrem gegenwärtigen Herrn
-abzukaufen und in ihre Heimat mitzunehmen; dort würden ihre Angehörigen
-gern einige schöne Elefantenzähne an ihre Auslösung wenden. Durch das
-inständige Flehen des Negermädchens gerührt, bewilligten Klara und Miß
-Fox sofort diese Bitte, d. h. sie bezahlten den Herrn, schenkten der
-Andorobo die Freiheit und versprachen ihr, sie mitzunehmen. Dieses, als
-sehr intelligent und über die Verhältnisse ihres Heimatlandes
-wohlunterrichtet sich erweisende Mädchen hatte schon in Miveruni gehört,
-wie schlecht die Massai von den Wakikuja sprachen und bei nächster
-Gelegenheit seinen Beschützerinnen versichert, daß die Sache lange nicht
-so schlimm sei. Massai und Wakikuja seien alte Feinde und da sie
-einander demzufolge gegenseitig möglichst viel Übles zufügen, so
-glaubten und erzählten sie auch alles erdenkliche Böse über einander.
-Wahr wäre allerdings, daß die Wakikuja lieber aus dem Hinterhalt als in
-offener Feldschlacht kämpften, und so tapfer, als die Massai seien sie
-auch nicht; verräterisch und grausam aber wären sie nur gegen ihre
-Feinde und wer ihr Vertrauen einmal gewonnen habe, der könne sich so gut
-auf sie verlassen, als auf Angehörige irgend eines anderen Volkes. Die
-Andorobo zögen den Verkehr mit den Wakikuja dem mit den Massai sogar
-weit vor, denn sie seien friedfertiger und nicht so übermütig wie diese.
-Der direkte Weg an den Kenia aber führe für uns über Kikuja, während die
-Straße über Leikipia wegen des in weitem Bogen zu umgehenden
-Aberdargebirges um mindestens 6 Tagereisen länger wäre.
-
-Da wir keinen Grund hatten, an der Glaubhaftigkeit dieses Berichtes zu
-zweifeln, dessen letzten, für uns wichtigsten Teil zudem ein Blick auf
-die Karte vollauf bestätigte, so beschlossen wir, es jedenfalls mit
-Kikuja zu versuchen. Während also der größere Teil der Expedition unter
-Johnstons Führung die Straße nördlich an den Naiwaschasee weiter
-verfolgte, schwenkte ich mit 50 Mann und einigem Gepäck bei dem
-Grenzorte Ngongo-a-Bagas östlich ab. Meine Absicht war, bloß Sakemba,
-als Kennerin von Land und Volk, mitzunehmen und die zwei Damen bis zu
-meiner Rückkehr der Obhut Johnstons zu übergeben. Allein meine Schwester
-erklärte, mich um keinen Preis zu verlassen und da das Andorobomädchen
-nicht mir, sondern den Frauen gehorchte, überdies aber versicherte, daß
-für diese schon ganz und gar nicht an Gefahr zu denken sei, indem
-zwischen Massai und Wakikuja seit unvordenklicher Zeit der niemals
-verletzte Brauch bestehe, die Weiber gegenseitig selbst mitten im Kriege
-zu respektieren, eine Versicherung, die allseitig -- auch von den Massai
--- bekräftigt wurde, so waren meine Schwester und Miß Ellen mit von der
-Partie.
-
-Sowie wir die Grenze von Kikuja überschritten, nahmen uns gewaltige
-schattige Wälder auf, die jedoch keineswegs »undurchdringlich« genannt
-werden können, vielmehr das Eigentümliche haben, daß sie an sehr
-zahlreichen Stellen von breiten Durchschlägen durchschnitten sind, die
-geradezu den Eindruck machen, als wären sie von einem geschickten
-Gärtner zur Bequemlichkeit und Erquickung Lustwandelnder angelegt. Die
-Breite dieser nicht eben schnurgeraden, doch in der Regel eine bestimmte
-Richtung einhaltenden Wege schwankt zwischen einem und sechs Metern;
-stellenweise erweitern sich dieselben zu umfangreichen Lichtungen, die
-jedoch mit den eigentlichen Wegen gemein haben, daß der Boden mit dem
-schönsten, dichtesten, kurzen Grase bedeckt ist, und daß schattige Kühle
-in ihnen herrscht. Wodurch diese Durchschläge entstanden sind, war und
-blieb mir rätselhaft. Seitlich von denselben giebt es Unterholz zwischen
-den hochstämmigen Bäumen, stellenweise sogar sehr dichtes, und wir
-konnten ganz gut bemerken, daß dunkle Gestalten zu beiden Seiten uns
-folgten, jede unserer Bewegungen beobachtend und offenbar nicht ganz im
-Reinen darüber, was sie aus uns machen sollten. Daß wir aus dem
-feindlichen Massailande kamen, mochte wohl Mißtrauen erregen, denn wir
-waren schon zwei Stunden lang solcher Art marschiert, ohne daß unsere
-Begleiter sich hervorwagten.
-
-Dem mußte ein Ende gemacht werden, da irgend ein unvorhergesehener
-Zwischenfall leicht zu Mißverständnissen und daraus sich ergebenden
-Feindseligkeiten führen konnte; ich fragte daher Sakemba, ob sie sich
-getraue, allein unter die Wakikuja zu gehen. »Warum nicht«, meinte sie,
-»dabei ist so wenig Gefahr für mich, als wenn ich allein in die Hütte
-meiner Eltern träte«. Ich ließ also Halt machen, die Andorobo schritt
-furchtlos auf die Büsche zu, hinter denen wir die Wakikuja wußten und
-hinter denen sie alsbald verschwand. Nach Verlauf einer halben Stunde
-kam sie in Begleitung einiger Wakikujaweiber zurück, die abgesandt
-worden waren, die Glaubhaftigkeit von Sakembas Aussagen zu untersuchen,
-d. h. zu sehen, ob wir wirklich allesamt bis auf einige Treiber Weiße
-seien und ob sich -- der sicherste Beweis unserer friedlichen Absichten
--- wirklich auch zwei weiße Mädchen unter uns befänden. Dunkle Gerüchte
-über uns waren zwar schon bis zu den Wakikuja gelangt, allein da die
-feindlichen Massai die Quelle derselben gewesen, so wußten sie nicht,
-was sie davon glauben sollten. Mit der Entsendung der Weiberkommission
-waren aber die guten Beziehungen zwischen uns eingeleitet; einige
-verschwenderisch gespendete Kostbarkeiten gewannen uns sehr bald die
-Herzen und das volle Zutrauen der schwarzen Schönen. Unsere
-Besucherinnen nahmen sich gar nicht Zeit, zu den Männern zurückzukehren,
-sondern winkten und riefen dieselben herbei, welchem Rufe diese denn
-auch Folge leisteten, so daß wir im Handumdrehen von einigen Hundert uns
-verwundert und noch immer etwas scheu anglotzender Wakikuja umgeben
-waren.
-
-Nun trat aber ich, begleitet bloß von einem Dolmetsch mitten unter sie
-und fragte, wo ihr Sultan oder ihre Ältesten wären. Sultan hätten sie
-keinen, war die Antwort, sie seien unabhängige Männer; ihre Ältesten
-dagegen seien anwesend, mitten unter ihnen. »Dann laßt uns sofort ein
-Schauri halten, denn ich habe Euch Wichtiges mitzuteilen«. Der
-Aufforderung zu einem Schauri kann kein Afrikaner widerstehen, und so
-saßen wir denn alsbald im Kreise und ich konnte mein Anliegen
-vorbringen. Zunächst berichtete ich von unseren Heldenthaten bei den
-Massai und wie wir diese zum Friedenhalten mit uns sowohl als mit allen
-unseren Freunden gezwungen, wie nicht minder von unserer späterhin
-bethätigten Freigebigkeit. Darauf versicherte ich, daß wir auch die
-Wakikuja uns zu Freunden zu machen wünschten, woraus für sie Ruhe vor
-den Massai und großer Gewinn von uns sich ergeben würde. Wir aber
-verlangten nichts, als freundliche Aufnahme und ruhigen Durchzug durch
-ihr Gebiet. Sodann ließ ich einen, für solchen Anlaß bereitgelegten
-Ballen unterschiedlicher Waren herbeischaffen, öffnen und erklärte: »Das
-gehört Euch, damit Ihr Euch dieser Stunde, in der Ihr uns zum ersten
-Male gesehen, erinnern möget. Niemand soll sagen: »»Ich saß bei den
-weißen Männern und hielt Schauri mit ihnen und meine Hand blieb leer««.«
-
-Die Wirkung dieser oratorischen Leistung und mehr noch der
-ausgebreiteten Geschenke ließ nichts zu wünschen übrig. Wegen Verteilung
-der Letzteren entstand zwar eine ausgiebige Balgerei unter unseren
-zukünftigen Freunden, als aber diese glücklich ohne ernsten Unfall
-vorüber war, ging es an Beteuerungen überschwänglicher Zärtlichkeit und
-Dienstbeflissenheit uns gegenüber. Zunächst wurden wir eingeladen, ihre
-sehr geschickt in den Dickungen des Waldes versteckten Hütten mit
-unserer Gegenwart zu beehren, eine Aufforderung, der wir bereitwilligst
-Folge leisteten, vorsichtshalber aber doch darauf achteten, in einer
-möglichst dominierenden Position und nicht all zu sehr zerstreut
-einquartiert zu werden. Auch sorgte ich dafür, daß unausgesetzt einige
-von unseren Leuten in unauffälliger Weise Wache standen. Das Gepäck ließ
-ich unter der Obhut von vier riesigen Doggen, die wir mitgenommen
-hatten. Im übrigen erwies sich der eine Teil dieser Vorsichtsmaßregeln
-als überflüssig; Niemand führte Böses gegen uns im Schilde und auch die
-in den ersten Stunden noch immer hervortretende Ängstlichkeit der
-Wakikuja machte rasch vollkommenster Zutraulichkeit Platz, wobei --
-nebenbei bemerkt -- die Weiber in sehr entschiedener Weise vorangingen.
-Dagegen zeigte sich die Bewachung der Waren als höchst ersprießlich, wie
-uns alsbald das verzweifelte Zeter- und Hülfegeschrei eines
-Wakikujajünglings bewies, der unsere Ballen, unbewacht wähnend, sich mit
-einem Messer an einen derselben herangeschlichen hatte, dabei aber von
-einer der Doggen kunstgerecht gestellt worden war. Wir befreiten den zu
-Tode Erschrockenen, im übrigen jedoch gänzlich Unverletzten, aus den
-Fängen des gewaltigen Tieres und hatten fernerhin auch kein Attentat auf
-unsere Güter zu besorgen.
-
-Am nächsten Morgen forderten wir unsere Gastfreunde auf, uns noch einige
-Tagmärsche weit in das Innere ihres Landes in der Richtung nach dem
-Kenia hin zu begleiten und dabei ihre Stammesgenossen, soweit sie diese
-in so kurzer Zeit mit einer Botschaft erreichen könnten, zu einem
-Schauri mit uns zu laden, da wir einen festen Freundschaftsbund
-vereinbaren wollten. Dem wurde bereitwilligst entsprochen und so zogen
-wir denn in Gesellschaft mehrerer Hundert Wakikuja noch zwei Tage lang
-durch den herrlichen Wald, in welchem die Mannigfaltigkeit und Pracht
-der Flora mit jener der Fauna wetteiferte. Unsere Verpflegung besorgten
-dabei die Wakikuja ohne Bezahlung für irgend etwas zu nehmen in wahrhaft
-verschwenderischer Weise. Wir schwammen förmlich in Milch, Honig,
-Butter, allerlei Fleisch- und Geflügelsorten, Mtamakuchen, Bananen,
-süßen Kartoffeln, Yams und einer großen Auswahl sehr wohlschmeckender
-Früchte. Dabei wunderten wir uns, von wo dieser unerschöpfliche Überfluß
-insbesondere an Feldfrüchten wohl stammen möge, denn in den Lichtungen
-der Wälder, die wir bis nun durchzogen hatten, wurde neben Viehzucht
-zwar auch Feldbau betrieben, aber sichtlich doch nur nebenbei. Am Ende
-des zweiten Tagmarsches aber wurde uns das Rätsel gelöst, denn sowie wir
-den »Guaso Amboni« genannten, nach dem indischen Ocean hin abfallenden
-recht ansehnlichen Fluß erreicht hatten, dehnte sich ein unabsehbares
-Hochplateau vor uns, das, soweit unser Auge reichen konnte, den
-Charakter eines offenen Parklandes trug, in welchem, insbesondere am
-Saume des von uns soeben verlassenen Waldlandes, alle Anzeichen eines
-sehr intensiven Feldbaues zu bemerken waren. Von hier bezieht offenbar
-Kikuja seinen unerschöpflichen Körnerreichtum. Ganz fern im Norden
-dieses Plateaus sahen wir eine mächtige Gebirgsgruppe blauen, in der
-Luftlinie wohl 80 bis 90 Kilometer entlegen, die unsere Führer und
-Sakemba als den Gebirgsstock des Kenia bezeichneten. Man könne von hier
-aus, so versicherten sie, bei klarem Himmel auch den Schneegipfel des
-Hauptberges sehen; derzeit aber sei er in jenen Wolken dort verborgen.
-
-Hier lag es also vor uns, das Ziel unserer Wanderung, und mächtige
-Rührung ergriff uns Alle, als wir, wenn auch vorläufig nur aus weiter
-Ferne, die zukünftige Heimat zum ersten male erschauten. Der Keniagipfel
-aber blieb unsichtbar in Wolken gehüllt während der zwei Tage unseres
-Aufenthaltes an der Ostlisière des Kikujawaldes. Wir machten dort in
-einem entzückenden Haine riesiger Brotbäume Halt, wo gastfreie Wakikuja
-uns ihre Hütten einräumten. Der Ort heißt Semba und war als
-Versammlungsplatz für das große Schauri verabredet worden. Wir fanden
-denn auch eine große Zahl Eingeborener bereits versammelt und am
-nächsten Tage wurde Alles zu größter beiderseitiger Zufriedenheit
-zwischen uns geordnet und festgemacht, so daß wir schon am 16. Juni den
-Rückmarsch antreten konnten, den wir jedoch nicht über Ngongo, sondern,
-einen Nebenfluß des Amboni bis zu dessen nahe an 2200 Meter über dem
-Meeresspiegel gelegenen Quellgebiet verfolgend und dann vom Rande der
-Kikujatafelberge jäh hinabsteigend, direkt auf den Naiwascha zu nahmen.
-Diesen erreichten wir am 19. Abends zwar etwas erschöpft, aber
-wohlbehalten und in köstlichster Stimmung. Wir hatten die Sicherheit
-erlangt, den Kenia um eine gute Woche rascher erreichen zu können, als
-auf dem ursprünglich in Aussicht genommenen Wege über Leikipia möglich
-gewesen wäre.
-
-Am Naiwascha -- einem von malerischen Bergzügen, deren höchste Gipfel
-sich zu 2800 Meter erheben, umsäumten schönen See von ungefähr 80
-Quadratkilometer Flächenraum, dessen charakteristische Eigenschaft ein
-fabelhafter Reichtum an Federwild aller Art ist, hatte inzwischen
-Johnston umfassende Vorkehrungen zu dem großen Friedens- und
-Freudenfeste getroffen, das wir den Massai zu geben gedachten. Die
-Botschaft, daß sie von nun ab auch die Wakikuja als in den Kreis unserer
-Freunde gehörig zu betrachten hätten, wurde zwar von den El-Moran mit
-gemischten Gefühlen entgegengenommen; indessen fügten sie sich doch ohne
-Murren und bei dem nun folgenden Feste, an welchem auch 50 mit uns
-angelangte angesehene Wakikuja teilnahmen, wurden die neugeknüpften
-Freundschaftsbande zwischen den Beiden etwas inniger gestaltet.
-
-Dieses Fest aber bestand aus einer zweitägigen großen Schmauserei, bei
-welcher wir nicht weniger als 6000 Gäste -- Weiber und Kinder
-ungerechnet -- mit riesigen Quantitäten Fleisch, Backwerk, Früchten und
-Punsch bewirteten, und dessen Glanzpunkt ein splendides Feuerwerk war.
-150 fette Stierkälber, 260 verschiedene Antilopen, 25 Giraffen,
-unzählbares Federwild, und gar nicht zu übersehende Mengen von
-Vegetabilien wurden in diesen zwei Tagen vertilgt, der Punsch aber in
-160 je 30 Liter fassenden Töpfen gebraut, die im Durchschnitt nicht
-weniger als viermal frisch gefüllt werden mußten. Nichtsdestoweniger
-kostete uns diese kolossale Gastfreundschaft -- vom Feuerwerke abgesehen
--- fast gar nichts. Denn die Rinder waren Geschenke -- und zwar nur ein
-Teil der uns von zahlreichen Stämmen als Zeichen dankbarer Wertschätzung
-dargebrachten -- das Wild hatten wir natürlich nicht gekauft, sondern
-geschossen, und die Vegetabilien waren hier an der Grenze von Kikuja so
-billig, daß man die Preise eigentlich nur nominelle nennen konnte; was
-dagegen den Punsch anlangt, dessen wichtigster Bestandteil bekanntlich
-Rum ist, ein Saft, der in Massai- und Kikujaland -- glücklicherweise --
-nicht heimisch ist, so hatten unsere Techniker auch diesen dadurch
-verschafft, ohne unsere ohnehin zur Neige gehenden mitgebrachten Vorräte
-anzugreifen, daß sie denselben an Ort und Stelle brannten. Unter den
-mitgenommenen Maschinen und Geräten befand sich nämlich auch eine
-Destillierblase. Diese wurde ausgepackt, wildwachsendes Zuckerrohr war
-in Menge vorhanden und so gab es alsbald Rum in Fülle. Nur wurde dafür
-Sorge getragen, daß diese Prozedur nicht etwa von den Eingeborenen
-erlauscht und späterhin nachgeahmt werde, denn die Rumflasche -- diese
-Pest der Negerländer -- wollten wir nicht unter unseren Nachbarn
-einbürgern. Den Punsch, den wir ihnen servierten, erhielten sie zwar
-heiß, aber anständig verdünnt, etwa 10 Teile Wasser auf einen Teil Rum,
-was übrigens nicht hinderte, daß während der zwei Festtage 18 Hektoliter
-dieses edlen Nasses in den improvisierten Bowlen verschwanden. Der
-Jubel, insbesondere während des Feuerwerkes, war unbeschreiblich, und
-als wir vollends, nachdem ein Trompetentusch Stillschweigen geboten
-hatte, durch stimmkräftige Herolde ausrufen ließen, das Volk der Massai
-sei von nun an _alljährlich_ für den 19. und 20. Juni hier an dieser
-Stelle von uns zu Gaste geladen, wären wir aus purer Begeisterung
-beinahe in Stücke gerissen worden.
-
-Den 21. Juni weihten wir der Erholung von den Strapazen des Festes und
-der Ordnung des Gepäcks; am 22. wurde der Marsch nach Kikuja angetreten.
-Da wir mit den Lasttieren den von mir auf dem Rückwege gewählten Pfad
-über die steilen Abhänge der das Naiwaschathal umsäumenden Berge
-vermeiden wollten, kehrten wir vorerst nach Ngongo-a-Bagas zurück,
-welches am 24. erreicht wurde. Von hier aus beschlossen wir eine
-Eilbotenverbindung mit dem Meere herzustellen, damit die Nachricht von
-unserem Eintreffen am Ziele, dem wir binnen wenigen Tagen entgegensahen,
-so rasch als möglich nach Mombas und von da an den Ausschuß der
-Internationalen freien Gesellschaft gelangen könne. Von Mombas nach
-Ngongo hatten unsere Ingenieure 802 Kilometer verzeichnet; wir rechneten
-nun, daß unsere arabischen Hengste, wenn ihnen immer bloß je eine
-eintägige Anstrengung zugemutet würde, während eines solchen Tages
-bequem 100 Kilometer, demnach in 8 Etappen den ganzen Weg in 8 Tagen
-zurücklegen könnten. Es wurden also 16 unserer besten Reiter mit 24 der
-ausdauerndsten Renner zurückbeordert; diese Kuriere erhielten die
-Anweisung, sich zu zweien und zweien in Distanzen von circa 100
-Kilometern -- wo böse Wegestrecken sind, etwas weniger, wo der Weg
-leicht ist, etwas mehr -- zu verteilen. An Gepäck bekamen sie nebst
-Waffen und Munition bloß so viel europäische Bedarfsartikel und
-Tauschwaren auf den Weg, als die 8 überzähligen Pferde, die zugleich als
-Reserve dienen sollten, leicht zu tragen vermochten. Im übrigen konnten
-wir uns jetzt darauf verlassen, daß sie überall, wo sie längs der von
-uns durchzogenen Straße auf Eingeborene stoßen, mit offenen Armen
-aufgenommen und reichlich verpflegt werden würden. Der gleiche
-Etappendienst wurde selbstverständlich auch zwischen Ngongo und dem
-Kenia eingerichtet; da diese Wegestrecke 193 Kilometer maß, so genügten
-hier zwei Etappen, so daß ihrer im ganzen zehn waren; dabei wurde also
-vorausgesetzt, daß eine Nachricht vom Kenia nach Mombas in zehn Tagen
-gelangen werde -- was sich denn auch als richtig erwies.
-
-Der Marsch durch das Waldland von Kikuja, der am 25. Juni angetreten
-wurde, vollzog sich ohne jeden Zwischenfall. Als wir zeitlich am Morgen
-des 27. in das offene Land eintraten, umfing uns zuerst dichter Nebel,
-der von uns Kaukasiern bloß insofern unangenehm empfunden wurde, als er
-uns jegliche Aussicht benahm, unsere Suahelileute dagegen, die eine
-Temperatur von 12 Grad Celsius, verbunden mit Feuchtigkeit noch niemals
-erlebt hatten, zum Zähneklappern brachte. Für die Nordländer und
-insbesondere für die Gebirgsbewohner unter unter uns hatten die
-wallenden, vom Dufte balsamischer Bäume und Sträucher durchtränkten
-Nebelmassen sogar etwas anheimelndes. Da -- es war gegen 8 Uhr -- erhob
-sich plötzlich eine von Norden her wehende leichte warme Brise, mit
-zauberhafter Schnelle teilten sich die Nebel, und vor uns lag im
-strahlenden Glanze des sieghaften Tagesgestirnes eine Landschaft, deren
-überwältigende Großartigkeit jeder Beschreibung spottet. Hinter uns und
-seitlich zu unserer Linken der wundervolle Wald, den wir erst kürzlich
-verlassen; unmittelbar vor uns ein sanft abfallendes Gelände, in welchem
-smaragdne Wiesen mit dunkeln Bananenhainen und kleinen Flecken wogender
-Saat abwechselten. Der Boden überall mit leuchtenden Blumen bedeckt,
-deren süßen Duft uns die laue Brise in berauschender Fülle
-entgegentrieb; kleine Gruppen hoher Palmen, einzelne riesenhaft sich
-ausbreitende Feigen, Platanen, Sykomoren da und dort zerstreut, und all
-das belebt von zahlreichen Herden des verschiedensten Wildes. Hier
-tummelt sich übermütig eine Schar von Zebras, dort weiden ruhig einige
-Giraffen zwischen zierlichen Antilopen; links jagen sich grunzend zwei
-ungeschlachte Nashörner, ein Rudel von 20 Elefanten zieht einige tausend
-Meter von uns dem Walde zu, und in noch größerer Ferne trottet eine nach
-Hunderten zählende Herde Büffel dem gleichen Ziele entgegen.
-
-Unabsehbar dehnt sich dieses herrliche Land nach Ost und Südost,
-durchschnitten von einem breiten Silberbande, dem Guaso Amboni, der etwa
-8 Kilometer vor uns und vielleicht 100 Meter tiefer gelegen als unser
-Standplatz, seine Fluten nach Osten trägt und soweit wir es übersehen
-können, mindestens ein Dutzend von Quellbächen von beiden Seiten der ihn
-einfassenden Abdachung aufnimmt. Die von der Südseite -- auf welcher wir
-uns befinden -- entsprungen aus dem Kikujawalde, sind die kleineren; die
-von der Nordseite sind unvergleichlich wasserreicher und mächtiger, denn
-ihr Quellland ist der Kenia. Und dieser Riese unter den Bergen Afrikas,
-dessen Massiv ein Areale von reichlich 2000 Quadratkilometern deckt, und
-dessen Gipfel nahezu 6000 Meter hoch gen Himmel ragt, zeigt sich jetzt
-zum ersten Male unseren trunkenen Blicken, ein trotz der Entfernung von
-gut 80 Kilometern in der Luftlinie sich vom tiefdunkeln Firmament scharf
-abhebendes riesiges Eisfeld und darüber hinausragend zwei krystallklare
-Spitzen.
-
-Selbst unsere Suahelis, die sonst Naturschönheiten gegenüber stumpf
-sind, brechen bei diesem Anblicke in betäubendes Jubelgeschrei aus; wir
-Weißen aber stehen in Entzücken versunken, drücken uns stumm die Hände
-und gar Mancher wischt verstohlen eine Thräne aus dem Auge. Das Land der
-Verheißung liegt vor uns, schöner, herrlicher, als wir zu träumen
-gewagt, die Wiege einer beglückenden Zukunft für uns und, wenn unser
-Hoffen und Wollen nicht eitel ist, noch für die spätesten Geschlechter.
-
-Von da ab war's, als ob unsere Füße und die unserer Tiere Flügel
-bekommen hätten. Die reine, erquickende Luft dieses schönen Tafellandes,
-erfrischt durch die vom Kenia kommenden Winde, der angenehme Weg auf
-weichem kurzem Grase und die vortreffliche leichte Verpflegung
-ermöglichten uns bisher unerreichte Marschleistungen. Am Abend des 27.
-überschritten wir die Ostgrenze von Kikuja, wo wir uns reichlich
-verproviantieren mußten, weil von da ab gänzlich unbewohntes Gebiet
-begann, durchstreift bloß von wandernden Andorobo. Das Land glich, so
-weit das Auge reichte, einem Garten, aber der Mensch hatte noch nicht
-Besitz ergriffen von diesem Paradiese. Den 28. und die größere Hälfte
-des 29. zogen wir dahin durch blumige Wiesen und malerische Wäldchen,
-über murmelnde Bäche und ansehnliche Flüsse; aber Giraffen, Elefanten,
-Nashörner, Büffel, Zebras, Antilopen und Strauße, an den Flußufern
-Nilpferde und Flamingos waren die einzigen lebenden Wesen, denen wir
-begegneten. Die meisten dieser Tiere waren so wenig scheu, daß sie
-unserem Zuge kaum auswichen, ja einige übermütige Zebras begleiteten uns
-unter Kapriolen und herausforderndem Gewieher eine Strecke weit. Am
-Nachmittag des 29. betraten wir den gewaltigen, in unabsehbarer Linie
-vor uns sich dehnenden Hochwald, durch dessen dichtes Unterholz die Axt
-unserer Pioniere uns Bahn hauen mußte. Das Terrain, schon seit zwei
-Tagen, seitdem wir nämlich den Amboni überschritten hatten, allmählich
-ansteigend, wurde jetzt steiler; wir waren am Fuße der Keniaberge
-angelangt. Die Waldzone erwies sich jedoch als ein bloßer Gürtel von
-verhältnismäßig geringer Breite, jenseits dessen wir schon am Vormittag
-des 30. wieder offenes welliges Vorland betraten. Als wir den Rücken
-einer der vor uns gelagerten Erhöhungen erreicht hatten, lag vor uns,
-fast mit Händen zu greifen, der Kenia in der ganzen eisigen Pracht
-seiner Gletscherwelt.
-
-Wir waren am Ziele!
-
-
-
-
- 5. Kapitel.
-
-
-Am Morgen nach unserer Ankunft am Kenia war meine erste Sorge -- denn
-von da ab überging die Leitung der Expedition in meine Hände -- das
-ausführliche, die bisherigen Ereignisse schildernde Tagebuch und einen
-kurzen Schlußbericht an unsere Freunde in Europa zu expedieren. Ich
-erklärte in diesem Berichte, daß wir dafür einstehen könnten, bis zur
-nächsten Ernte, d. i. also nach afrikanischem Kalender bis Ende Oktober
-dieses Jahres, alles zum Empfange von vielen Tausenden unserer Brüder
-vorbereitet zu haben; ebenso könnten wir versprechen, von Mombas zum
-Kenia einen für langsam fahrendes Fuhrwerk vollkommen geeigneten Weg bis
-längstens Ende September fertig zu stellen und Zugochsen in genügender
-Zahl herbeizuschaffen. Ich forderte die Gesellschaftsleitung auf,
-ihrerseits den rechtzeitigen Bau geeigneter und genügender Wagen zu
-veranlassen und machte mich anheischig, jede beliebige, uns rechtzeitig
-angekündete Zahl einwandernder Mitglieder, vom 1. Oktober angefangen,
-gefahrlos und so bequem, als angesichts der gebotenen Transportmittel
-nur immer möglich, in die neue Heimat zu befördern. Zum Schlusse bat ich
-um sofortige Nachsendung einiger hundert Zentner verschiedener Waren in
-Begleitung einer neuen Schar kräftiger junger Mitglieder.
-
-Die zwei Kuriere mit dieser Depesche -- die Kuriere hatten nämlich
-überall zu zweien zu reisen -- ritten am 1. Juli vor Morgengrauen ab;
-pünktlich am 10. Juli war die Depesche in Mombas, am 11. in Zanzibar, am
-selben Tage noch hatte der Ausschuß meinen ihm von Zanzibar
-telegraphisch durch unseren Bevollmächtigten weiterbeförderten Bericht
-in Händen, während er das per Postschiff gehende Tagebuch allerdings
-erst zwanzig Tage später erhielt; noch am Abend des gleichen Tages war
-die Rückantwort in Zanzibar und am 22. Juli schon konnte ich dieselbe
-den gleich mir über dieses erste Lebenszeichen von den fernen Freunden
-seltsam bewegten Brüdern vorlesen. Sie war sehr kurz: »Dank für
-hocherfreuliche Nachricht; Mitgliederzahl derzeit 10000 überschritten;
-Wagen für je 10 Personen und 20 Zentner Last nach Bedarf bestellt;
-werden von Ende September ab successive in Mombas eintreffen; 260 Reiter
-mit 300 Tragtieren und 800 Zentner Waren gehen Ende Juli ab. Bitten um
-möglichst häufige Nachricht.« Letzterem Wunsche war inzwischen
-meinerseits schon entsprochen worden, denn nicht weniger als fünf
-fernere Depeschen hatte ich zwischen dem 6. und 21. Juli expediert. Was
-dieselben enthielten, wird sich am besten aus dem weiteren Laufe der
-Erzählung über unsere Erlebnisse und Arbeiten ergeben. Und zwar sind von
-da ab zweierlei Vorgänge zu unterscheiden: Kulturarbeiten zur
-Installierung der neuen Heimat am Kenia, und Vorkehrungen behufs
-Sicherstellung und Erleichterung des Verkehrs mit der Küste.
-
-Unser Lager hatten wir am Abend des letzten Juni am Ufer eines
-ansehnlichen Flusses aufgeschlagen, des wasserreichsten, den wir bisher
-getroffen. Die Breite desselben betrug 30 bis 40 Meter, seine Tiefe
-schwankte zwischen 1 und 3 Metern. Seine Fluten waren klar und kühl,
-sein Gefäll jedoch ein auffallend mäßiges. Er durchströmte von Nordwest
-nach Südost ein muldenartig sanft eingebuchtetes Plateau von nahezu 30
-Kilometer Länge, welches sich halbmondförmig an die Vorberge des Kenia
-schmiegte; dessen größte Breite in der Mitte betrug 14 Kilometer,
-während es sich am Westende bis auf 1½, am Ostende bis auf 4 Kilometer
-verengte. Diese etwa 260 Quadratkilometer bedeckende Mulde war durchweg
-saftiges Grasland, bestanden von zahlreichen kleinen Palmen-, Bananen-
-und Sykomorenhainen. Begrenzt war dieselbe im Süden von den
-grasbedeckten Hügeln, die wir überschritten hatten, im Westen von
-schroffen Felswänden, im Norden teils von dunkeln Waldbergen, teils
-gleichfalls von kahlen, himmelanstrebenden Felsen, welche die Aussicht
-nach dem hinter ihnen liegenden Kenia-Massiv benahmen; im Osten zeigte
-sich zwischen den Hügeln des Südens und den Felsen des Nordrandes eine
-Lücke, durch welche der Fluß seinen Abzug fand, und zwar, wie von
-dorther trotz der großen Entfernung herübertönendes Donnern und Brausen
-anzeigte, in Form eines mächtigen Wasserfalls, der sich als ein solcher
-von 95 Metern Fallhöhe ergab. Seinen westlichen Eintritt in das Plateau
-fand dieser Fluß, der sich späterhin als der Oberlauf des an der
-Wituküste in den indischen Ozean mündenden Dana erwies, durch ein enges
-Felsenthor, durch welches wir vorerst nicht weiter vorzudringen
-vermochten. Vom Norden her, den Abhängen der Keniavorberge entlang,
-eilten dem Dana vier größere und zahlreiche kleinere Bäche zu, die
-während ihres Laufes über die Felsenschroffen eine Menge mehr oder
-minder malerischer Kaskaden bildeten. Die Seehöhe dieses, einem großen
-Tierparke gleichenden Plateaus war, an seinem tiefsten Punkte, dem
-Spiegel des Flusses gemessen, 1740 Meter.
-
-Noch während wir uns mit der näheren Untersuchung dieser Hochebene
-beschäftigten, sandte ich mehrere Expeditionen aus mit der Aufgabe,
-möglichst tief in das Keniagebirge einzudringen, um von beherrschenden
-Höhen aus genauen Einblick in die Gestaltung und Beschaffenheit des vor
-uns liegenden Gebietes zu erlangen. Denn so ausnehmend uns allen auch
-die Landschaft gefiel, in deren Mitte wir lagerten, so wollte ich mich
-doch nicht entschließen, den Grundstein zu unserer ersten Ansiedelung zu
-legen, bevor ich zum mindesten oberflächlichen Überblick über das
-Gesamtgebiet des Kenia gewonnen hätte. Die Auskünfte, die uns
-diesbezüglich Sakemba erteilen konnte, erwiesen sich als dürftig und
-ungenügend. Wir waren daher sehr erfreut, als sich acht Eingeborene, die
-wir als Andorobo erkannten, vor unserem Lager zeigten. Sie hatten in der
-vorigen Nacht unsere Lagerfeuer bemerkt und wollten nun sehen, wer wir
-seien. Sakemba, die ihnen entgegenging, machte sie rasch zutraulich und
-nun hatten wir ortskundige Führer, wie wir sie nur wünschen konnten. Was
-wir zunächst von ihnen verlangten, war ihnen mit Hilfe Sakembas bald
-begreiflich gemacht, acht verschiedene Expeditionen unter Führung je
-eines Andorobo zogen aus und kehrten -- die erste schon am Abend des
-nächsten Tages, die letzte erst nach Verlauf von sieben Tagen, mit
-ziemlich erschöpfenden Berichten zurück.
-
-Dem Gipfel des Kenia war keine auch nur nahe gekommen. Dagegen hatten
-sie von verschiedenen leichter zugänglichen Punkten des Hauptstockes,
-zum Teil aus Höhen von nahezu 5000 Metern, großartige Rundsichten
-erlangt. Danach war die offenste, für Viehzucht und Ackerbau günstigste
-Seite des Kenia gerade diejenige, von welcher wir uns genaht hatten.
-Auch im Osten und Norden dehnte sich anscheinend sehr fruchtbares
-Vorland, doch war dasselbe im Osten recht monoton, ohne jene nicht bloß
-malerische, sondern auch mannigfache praktische Vorteile bietende
-Abwechselung von offenem Land und Wald, Hügel und Ebene, die wir im
-Süden getroffen; das Land im Norden hinwieder schien zu feucht; im
-Westen dehnten sich endlose, nur von wenig offenem Land unterbrochene
-Wälder. All das konnte späterhin ohne Zweifel in üppiges Kulturland
-umgewandelt werden; vorläufig aber war selbstverständlich bereits
-kulturfähiger Boden vorzuziehen. Das Innere der Gebirgswelt vor uns
-erfüllten hohe Waldberge und Felsen, durchkreuzt von zahllosen Thälern
-und Schluchten. Diese Vorberge treten von allen Seiten nahe an das
-schroff emporsteigende Hauptmassiv des Kenia heran; nur im Südwesten,
-etwa fünf Kilometer entfernt vom Westende unseres Plateaus, treten die
-Vorberge zurück, den Raum freilassend für eine ausgedehnte offene
-Thalmulde, in deren Mitte auch ein See sich befindet, dessen Abfluß der
-Dana ist. Den Flächeninhalt dieses Thales schätzten unsere Kundschafter
-auf ungefähr 150 Quadratkilometer und alle stimmten darin überein, daß
-es sehr fruchtbar und seiner Lage nach ein wahres Wunder an Schönheit
-wäre. Zugänglich aber sei dieses Thal am besten durch die Schlucht, aus
-welcher der Dana hervorbreche, nur müsse dieselbe, so lange geeignete
-Wasserfahrzeuge fehlen, nicht unmittelbar von unserem Plateau aus,
-sondern auf dem Umwege über ein südlich einmündendes kleines Seitenthal
-betreten werden.
-
-Diese Nachricht empfing ich am 3. Juli. Am nächsten Tage schon war ich,
-ohne die Rückkehr zweier noch fehlender Expeditionen abzuwarten,
-unterwegs nach diesem vielgepriesenen Seethale. Der bezeichnete und in
-der That sehr praktikabel sich erweisende Weg führte von unserem
-Lagerplatze zunächst an das Westende des Plateaus, dann südlich
-ausbiegend und einen kleinen felsigen Waldberg umgehend, zu einem nach
-Nordosten ziehenden engen Thale, welches seinerseits in die vom Dana
-durchflossene Schlucht mündete, die jedoch hier weder so eng, noch so
-ungangbar war, wie beim Austritte in die Hochebene. Diese Schlucht
-aufwärts verfolgend, standen wir nach einer Stunde plötzlich inmitten
-des gesuchten Thales.
-
-Der Anblick, der sich uns hier bot, war geradezu unbeschreiblich. Man
-denke sich ein 18 Kilometer langes, an seiner breitesten Stelle 12
-Kilometer messendes, mit beinahe geometrischer Regelmäßigkeit
-aufgebautes Amphitheater, dessen Halbkreis durch einen Kranz sanft
-aufsteigender, 100 bis 150 Meter hoher Waldhügel, dessen Grundlinie
-dagegen durch die jäh und schroff sich emportürmenden Felswände des
-Kenia gebildet wird, von deren Höhe, die Wolken überragend, die
-schneeigen Firnen herniederleuchten. Den Boden dieses majestätischen
-Amphitheaters deckt auf der einen, dem Kenia zugewandten Seite, ein
-tiefblauer, klarer See, zur anderen ein blumiges Park- und Wiesenland.
-Das Publikum, welches diese Arena füllt, sind zahllose Elefanten,
-Giraffen, Zebras, Antilopen; und das Stück, welches in demselben zur
-Aufführung gelangt, betitelt sich: Die Kaskaden des Keniagletschers.
-Hoch oben, in unerreichbarer Höhe, entspringen unter dem Kuß der
-glühenden Sonne zahllose Wasseradern den bläulich und grünlich
-strahlenden Eisklüften; schäumend und funkelnd, bald zerstäubt in alle
-Farben des Regenbogens, bald vereint in weißlichem Glaste, eilen sie
-hernieder, stets kräftiger anwachsend, stets unbändiger tobend, bis
-endlich der gesamte Schwall sich vereinigt zu _einem_ mächtigen Flusse,
-der nun mit donnerndem Tosen, das bei günstiger Windrichtung selbst da
-unten, in einer Entfernung von gut 10 Kilometern, deutlich zu hören ist,
-seiner Gletscherheimat enteilt und den Felsschroffen zustürmt; dort
-angelangt aber stürzt die ganze kolossale Wassermasse, dieselbe, die
-wenige Kilometer weiter den Dana bildet, 500 Meter tief jäh herab, in
-Atome zerstäubend, zu einer Regenbogenwolke umgestaltet. Der Fluß ist
-urplötzlich in den Lüften verschwunden, vergebens sucht dein Auge die
-Fortsetzung seines Laufes auf den schwarz gleißenden Klippen; erst 500
-Meter weiter unten sammeln sich die fallenden Nebelmassen wieder zu
-fließendem Wasser, um von da ab in kleineren Absätzen dumpf brausend und
-grollend dem See auf gewundenen Umwegen zuzueilen.
-
-In sprachloses Entzücken versunken standen wir lange vor diesem
-Naturwunder sonder gleichen, dessen unsägliche Majestät und Schönheit
-Worte nicht schildern können. Gierig sog das Auge die Flut von Licht und
-Farbenglanz, gierig das Ohr den aus märchenhafter Höhe herabklingenden
-Ton der Wässer, gierig die Brust das duftgeschwängerte Labsal ein,
-welches als Atmosphäre dieses Zauberthal durchfächelt. Zuerst fand das
-Weib in unserer Mitte, Ellen Fox, wieder Worte. Einer verzückten Seherin
-gleich hatte sie lange dem Spiel der Wässer zugeschaut; da rief sie
-plötzlich, als ein stärkerer Windhauch den Nebelschleier des
-Wasserfalles, der soeben noch einen schillernden, schwertähnlich
-geschwungenen Streifen gebildet hatte, vollends verwehte: »Seht hin, das
-Flammenschwert des Erzengels, welches den Eingang zum Paradiese bewacht
-hat, ist bei unserem Erscheinen zerstäubt; »Eden« laßt uns diesen Ort
-nennen!«
-
-Daß dieses Thal -- der Name Eden wurde für dasselbe einhellig acceptiert
--- unser zukünftiger Wohnort sein müsse, stand bei uns allen sofort
-fest. Eine nähere Untersuchung desselben ergab, daß dessen Gesamtfläche
-160 Quadratkilometer betrug. Davon entfallen auf den, in Form einer
-langgestreckten Ellipse unter dem Keniaabhange sich ausdehnenden See 35,
-auf den die Höhen umsäumenden Wald 40 Kilometer; 95 Kilometer sind
-offenes Parkland, welches den See bis auf einige Stellen, wo die
-Keniafelsen unmittelbar in ihn abfallen, rings umgiebt, im Nordosten,
-dem Kenia zu, in schmalen Streifen, auf den anderen drei Seiten in einer
-Breite von 1 bis 7 Kilometern. Der den Abfluß des Keniagletschers
-bildende Dana mündet am Nordwestende des Sees in diesen und verläßt ihn
-am Südostende. Seine Wasser, schon vor ihrem Eintritt in den See nicht
-so kalt, als man nach ihrem Ursprunge unmittelbar aus dem Gletscher da
-oben vermuten sollte, erwärmen sich hier mit merkwürdiger Raschheit; die
-Temperatur des Sees erreicht an heißen Tagen bis zu 24 Grad Celsius.
-Außer dem Dana münden in den Edensee noch mehrere Quellen, die teils den
-Keniaklippen, teils den Abhängen der seitlich und gegenüber gelagerten
-Berge entspringen. Wir zählten deren nicht weniger als elf, darunter
-eine heiße, deren Temperatur 52 Grad Celsius betrug.
-
-Daß wir in den vier Tagen bis zur Entdeckung von Edenthal nicht müßig
-gewesen, versteht sich von selbst. Zunächst hatten sich schon am 1.
-Juli, wenige Stunden nach den mit den ersten Depeschen entsandten
-Kurieren, die zur Herstellung geregelter Verbindung mit Mombas
-bestimmten Expeditionen auf den Weg gemacht. Es waren deren zwei; die
-eine unter Leitung Demestres' und dreier anderer Ingenieure, sollte die
-Straße bauen, die andere unter Leitung Johnstons, das erforderliche
-Zugvieh -- dessen Menge einstweilen auf 5000 Stück Ochsen präliminiert
-war -- auftreiben und die Verproviantierung längs der ganzen Wegstrecke
-sicherstellen. Ersterer wurden 20 unserer Mitglieder und 200 unserer
-Suahelileute nebst einem Train von 50 Tragtieren mitgegeben; Johnston
-bekam bloß 10 der Unseren, 20 Tragtiere und 10 Schäferhunde mit. Wie
-diese Expeditionen ihre Aufgabe lösten, davon später.
-
-Bei mir am Kenia blieben, da ich bis nun insgesamt 53 der Unseren, 200
-Suahelis und 131 Reit- und Tragtiere entsendet hatte, von letzteren
-überdies auf dem Marsche 9 zugrunde gegangen waren, 149 Weiße, 80
-Suahelis und 475 Tiere -- die Hunde und Elefanten ungerechnet. Außerdem
-waren uns aber einige hundert Wakikuja gefolgt, die sich bereitwilligst
-zu beliebigen Dienstleistungen erboten. Von diesen behielt ich 150 der
-anstelligsten zurück, die anderen sandte ich -- begleitet von fünf der
-Unserigen -- noch am 1. Juli in ihre Heimat, mit dem Auftrage, 300
-kräftige Zugochsen, 150 Kühe, 400 Schlachtochsen und einige tausend
-Zentner verschiedener Sämereien und Nahrungsmittel einzukaufen und
-successive an den Kenia zu befördern. Nachdem ich dies erledigt,
-verteilte und übergab ich die mannigfaltigen Arbeiten, die uns nun
-zunächst zu beschäftigen hatten, sachverständigen Händen. Einer unserer
-Techniker erhielt die Feldschmiede und Schlosserei, ein anderer die
-Sägemühle zugewiesen -- dazu selbstverständlich die entsprechenden
-Arbeitskräfte; zum Holzfällen war eine besondere Sektion bestimmt, eine
-andere sollte die landwirtschaftlichen Geräte in Stand setzen und
-ergänzen. Einer der am Kenia zurückgebliebenen Ingenieure hatte mit 100
-Schwarzen die Herstellung geeigneter Kommunikationen in dem zu
-besiedelnden Gebiete, insbesondere den Bau von Brücken über den Dana zu
-bewerkstelligen.
-
-Am 5. Juli fand die Übersiedelung in das Edenthal statt. Das Terrain
-wurde genau vermessen und zuvörderst rings um den See die zukünftige
-Stadt abgesteckt, mit ihren Straßen und Plätzen, öffentlichen Gebäuden
-und Belustigungsorten. Dieser -- zunächst allerdings bloß in unserem
-Geiste existierenden Stadt -- reservierten wir vorerst einen Raum für
-25000 Familienhäuser, deren jedem auch ein ansehnliches Gärtchen
-zugedacht war, was insgesamt 35 Quadratkilometer beanspruchte. Außerhalb
-dieses Bauareals -- das späterhin nach Bedarf beliebig ausgedehnt werden
-mochte -- wurden 1000 Hektaren als vorläufiger Ackergrund ausgesucht;
-sie erhielten ein Netz kleiner Bewässerungskanäle und sollten so bald
-als möglich eingefriedigt werden, zum Schutze gegen die Invasion des
-zahllos umherschwärmenden Wildes, wie nicht minder unserer Haustiere,
-die bei Nacht in einem starken Pferch untergebracht, bei Tag dagegen,
-sofern man ihrer nicht bedurfte, unter der Hut einiger Suaheli und der
-Hunde im Freien weideten.
-
-Inzwischen hatte die Sägemühle, die wir nicht mit nach Eden genommen,
-sondern am Danaplateau belassen und dort unter Benutzung der Wasserkraft
-eines der vom Gebirge herniederrauschenden Bäche hart am Flusse
-errichtet hatten, ihre Arbeit begonnen. Die ersten Bretter und Pfosten,
-welche sie lieferte, wurden zur Erbauung zweier größerer Flachboote
-benutzt, auf denen dann sofort der Transport des gewonnenen Bauholzes
-den Fluß aufwärts nach dem Edensee begann. Wenige Wochen später erhoben
-sich an dessen Ufern vierzig geräumige Holzbaracken, in welche nun wir
-Weiße aus den bisher bewohnten engen Lagerzelten übersiedelten; die
-Neger zogen es vor, in den Grashütten zu bleiben, die sie sich unter dem
-Schutze eines Wäldchens errichtet. Gleichzeitig bekam das Vieh seinen
-Pferch, der hoch und stark genug war, um jeder vierfüßigen Invasion
-unübersteigliche Schranken zu ziehen. Dieser Pferch bot Raum für
-ungefähr zweitausend Tiere und war überdies mit einem gedeckten Raume
-versehen, der bei Regenwetter Schutz gewährte.
-
-Schon am 9. Juli hatten unsere Schmiede, Wagner und Zimmerleute zehn von
-den mitgebrachten Pflugscharen zu Pflügen ergänzt; gleichzeitig war aus
-Kikuja der erste Viehtransport -- 120 Ochsen und 50 Kühe samt 200
-Schafen und zahllosem Geflügel eingetroffen. Sofort wurden unter
-Anleitung unserer Ackerbauer Pflügeversuche gemacht. Die Kikujaochsen
-sträubten sich zwar ein wenig gegen das Joch und auch das Gehen in der
-Ackerfurche leuchtete ihnen anfangs nicht ein; binnen drei Tagen aber
-hatten wir sie doch so weit, daß sich mit ihnen, zu achten vor den Pflug
-gespannt, leidlich ackern ließ. Dieser Kraftaufwand war notwendig, da
-der schwarze, fette Boden, gebunden überdies durch die üppige Grasnarbe,
-sich außerordentlich schwer aufbrechen ließ. Jedes Ochsenpaar mußte zwar
-anfangs seinen eigenen Treiber haben und die Ackerfurchen liefen
-trotzdem nicht so schnurgerade, wie von civilisierten Ochsen gefordert
-wird; aber umgebrochen wurde der Boden doch und binnen verhältnismäßig
-kurzer Zeit hatten die Tiere weg, worauf es bei ihrer Arbeit ankam und
-leisteten dieselbe von da ab zur vollsten Zufriedenheit. Am 15. Juli
-kamen mit Hilfe inzwischen neu angelangter Ochsen fünfzehn fernere
-Pflüge in Verwendung, ebensoviel am 20. Mit diesen vierzig Pflügen waren
-bis zu Ende des Monats 300 Hektaren gepflügt, die sodann geeggt und
-gewalzt, soweit der Vorrat reichte mit unseren mitgebrachten Sämereien
--- hauptsächlich Weizen und Gerste, zu reichlich drei Vierteilen dagegen
-mit afrikanischem Weizen und Mtamakorn bestellt, und schließlich wieder
-eingewalzt wurden. In der zweiten Augusthälfte war diese Arbeit gethan,
-kurze Zeit darauf das ganze Ackerareal eingehegt, und wir konnten
-getrost der nun beginnenden kleinen Regenzeit entgegensehen.
-
-Inzwischen war auch ein -- vorläufig bloß 10 Hektare umfassender --
-Garten angelegt worden, etwas entfernter vom Weichbilde der zukünftigen
-Stadt als das Ackerland, denn während letzteres bei dem zu gewärtigenden
-Wachstume der Stadt leicht weiter hinaus verlegt werden konnte, mußte
-für den Garten ein möglichst dauernder Standort gesucht werden, also ein
-solcher, der außerhalb des Weges der zukünftigen städtischen
-Entwickelung lag. Da wir nicht weniger als achtzehn geschickte Gärtner
-besaßen und diesen Suaheli und Wakikuja als Gehilfen nach Bedarf an die
-Hand gegeben wurden, so gelang es, binnen wenigen Monaten die ganzen 10
-Hektaren mit den erlesensten Obst- und Beerenarten, Gemüsen, Blumen,
-kurzum mit Nutz- und Zierpflanzen aller Art zu besetzen, die wir teils
-aus der alten Heimat herübergebracht, teils unterwegs vorgefunden und
-mitgenommen, teils am Kenia und in dessen Umgebung angetroffen hatten.
-Auch der Garten wurde mit einem Netze kleiner Bewässerungskanäle
-versehen und durch einen starken hohen Zaun gegen unliebsame Besuche
-gesichert.
-
-Die Bestellung der Felder, Gartenbau und Jagd hatten nicht alle uns zur
-Verfügung stehenden Kräfte absorbiert. Es waren gleichzeitig mehrere
-praktikable Fahrwege rings um den Edensee, längs des Flusses bis zum
-Ostende des Plateaus und von diesem Hauptstrange aus abzweigend nach
-mehreren anderen Richtungen unseres Gebietes hergestellt worden. Man
-darf sich darunter keine Kunststraßen vorstellen, es waren eben
-Feldwege, die jedoch die Beförderung ganz ansehnlicher Lasten ohne
-sonderliche Kraftverschwendung ermöglichten. Der Dana wurde an drei
-Stellen für Fuhrwerk und an zwei anderen für Fußgänger überbrückt; sonst
-waren nur an zwei kurzen Strecken Kunstbauten erforderlich gewesen: am
-Ende der Schlucht, die den Dana aus Edenthal nach dem großen Plateau
-führt, und an einer der in den See abfallenden Keniaklippen. An diesen
-beiden Orten mußten mehrere Kubikmeter Felsen weggesprengt werden, damit
-am Ufer Raum für einen Weg geschaffen werde.
-
-Da inzwischen auch Wagnerei und Feldschmiede nicht stille gestanden
-hatten, so waren gleichzeitig mit den Wegen auch mehrere tüchtige Wagen
-und Karren fertig geworden, die alsbald nützliche Verwendung fanden.
-
-Größere Arbeit beanspruchte die Herstellung der Mahlmühle. Dieselbe
-wurde mit zehn kompleten Mahlgängen am Oberlaufe des Dana, einen
-Kilometer vor dessen Einfluß in den Edensee, errichtet. Diese Stelle
-wurde aus dem Grunde gewählt, weil dicht oberhalb derselben eine große
-Stromschnelle ist, von da ab jedoch der Dana jenes ruhige, geringe
-Gefälle hat, das erst am großen Wasserfall, am Ostende des Plateaus,
-unterbrochen ist. Wir hatten also durch das ganze vorläufig okkupierte
-Gebiet hindurch eine vortreffliche Wasserstraße zur Mühle und konnten
-für dieselbe trotzdem den raschen Lauf des oberen Dana ausnützen. Die
-komplicierteren, feineren Bestandteile dieser Mühle hatten wir aus
-Europa mitgebracht; die Räder, Wellen und die zehn Mühlsteine dagegen
-erzeugten wir uns selber. Auch diese Mühle war -- vorläufig zwar nur aus
-Holz und Fachwerk erbaut -- Ende September fertig, allerdings schon mit
-Hilfe jenes Nachschubs der Unseren, der während der ersten Hälfte des
-gleichen Monats in zwei Kolonnen zu uns gestoßen war.
-
-Ich habe bereits erzählt, daß ich sofort nach unserem Eintreffen am
-Kenia neue Vorräte und eine Schar neuer Pioniere vom Ausschusse verlangt
-und daß dieser den mit Ende des Monats Juli erfolgenden Abgang einer
-Expedition von 260 Reitern und 800 Zentner Waren auf 300 Tieren
-angezeigt hatte. Diese Expedition traf am 16. August in Mombas ein;
-hier teilte sie sich in zwei Gruppen; die eine, die besten,
-unternehmungslustigsten 145 Reiter enthaltend, machte sich schon am 18.
-August mit bloß 50 sehr leicht bepackten Handpferden -- die 300
-Tragtiere waren, nebenbei bemerkt, sämtlich Pferde -- auf den Weg, ohne,
-von einem Dolmetscher abgesehen, auch nur einen einzigen Eingeborenen
-mitzunehmen; sie verließ sich beinahe gänzlich auf die Aushülfe von
-seiten unserer unterwegs beschäftigten Wegbauer und der uns freundlich
-gesinnten Bevölkerung, nicht zum mindesten aber auf ihren Entschluß,
-alle etwa zu gewärtigenden Entbehrungen und Strapazen ohne Murren zu
-ertragen. Ein Gewaltritt von zwanzig Tagen mit bloß eintägiger
-Unterbrechung in Taweta brachte diese Wackeren am 9. September in unsere
-Mitte. Fünf Pferde waren den Anstrengungen erlegen, sieben andere mußten
-unterwegs marod zurückgelassen werden; sie selber aber trafen sämtlich
-bis auf einen, der bei einem Sturze das Bein gebrochen und unter guter
-Pflege in Miveruni geblieben war, zwar etwas erschöpft, im übrigen aber
-in bester Verfassung ein und beteiligten sich schon zwei Tage später
-rüstig an unseren Arbeiten. Die 115 anderen folgten mit 250 Lastpferden,
-zu denen sie 100 Suaheli-Treiber aufgenommen hatten, erst zehn Tage
-später. Die größere Hälfte der mitgenommenen Waren hatten sie unterwegs
-an Johnston abgegeben, auf den sie in Useri gestoßen waren und der
-darauf schon sehnsüchtig gewartet hatte. Die an den Kenia gebrachten
-neuen Vorräte -- in allem etwas über 300 Zentner -- enthielten auch
-mancherlei Werkzeuge und Maschinen; diese und mehr noch der ansehnliche
-Kräftezuwachs beflügelten unsere Kulturarbeiten in nicht geringem Maße.
-
-Die Mahlmühle wurde -- wie schon erzählt -- noch Ende September fertig.
-Sie fand sofort vollauf Beschäftigung. Zwar unsere eigene Ernte war noch
-nicht eingebracht; aber von den Wakikuja hatten wir inzwischen
-allmählich 10000 Zentner verschiedener Getreidearten gekauft und in
-Speichern am Seeufer eingelagert, zu denen die Sägemühle reichlich
-Baumaterial geliefert hatte. Bis Ende Oktober waren diese 10000 Zentner
-zu Mehl vermahlen; selbst wenn wir eine Mißernte hatten, brauchten die
-ersten paar Tausend fernerer Ankömmlinge nicht Hunger zu leiden.
-
-Wir hatten aber keine Fehlernte, vielmehr brachte uns, wenige Wochen
-nach Beginn der mit dem Oktober anhebenden heißen Jahreszeit, der
-üppige, durch unser Bewässerungsnetz mit reichlicher Feuchtigkeit
-regelmäßig versehene Boden einen Segen, der aller europäischen
-Vorstellungen spottet. Hundertzwanzigfache Frucht gab im Durchschnitt
-jedes gesäete Korn; wir ernteten von unseren 300 Hektaren 42000 Zentner
-verschiedener Getreidearten, denn nicht in einzelnen mageren Ähren,
-sondern in dichten, mächtigen Ährenbüscheln endete jeglicher Halm, der
-europäische Weizen und unsere Gerste nicht minder als die afrikanischen
-Sorten. Bei Bergung dieses Segens kam uns besonders zu statten, daß
-schon gegen Ende August auch eine Maschinenschlosserei einige hundert
-Meter oberhalb der Mahlmühle eingerichtet worden war, die alsbald unter
-Benutzung von Wasserkraft zu arbeiten begann und teils aus mitgebrachten
-Bestandteilen, hauptsächlich aber aus selbsterzeugten Materialien einige
-Erntemaschinen und zwei mit Pferdegöpel zu treibende Dreschmaschinen
-geliefert hatte.
-
-Zu solcher Leistung aber war diese Werkstätte befähigt, weil unsere
-Geologen neben anderen wertvollen mineralischen Schätzen auch Eisen und
-Kohle auf unserem Gebiete entdeckt hatten. Die Kohle lag in einem der
-Keniavorberge auf dem Danaplateau, drei Kilometer vom Flusse; das Eisen
-in einem der Vorberge, die der Dana in seinem Oberlauf durchschneidet,
-zwei Kilometer oberhalb des Edenthals. Die Kohle war mittelguter
-Anthracit, das Eisenerz vortrefflicher, 40prozentiger Manganeisenstein.
-Es wurde in der Nähe des Eisenfundortes sofort ein Schmelz- und
-Raffinierofen und ein Hammerwerk errichtet, provisorisch und primitiv,
-aber doch genügend, um ganz brauchbares Guß- und Schmiedeeisen zu
-liefern, das uns in unseren Ausführungen sofort unabhängig machte von
-den aus Europa mitgebrachten Vorräten. Nun erst besaßen wir eine, wenn
-auch kleine, so doch auf eigenen Füßen stehende Maschinenindustrie, und
-diese setzte uns in den Stand, die unverhofft reiche Ernte binnen
-wenigen Wochen einzuheimsen und zu verarbeiten.
-
-Ein fernerer Gebrauch, den wir sofort von unserer gesteigerten
-Leistungsfähigkeit machten, war die Errichtung zweier neuer Sägemühlen
-und einer Bierbrauerei. Die Sägemühlen brauchten wir, um für die stetig
-anschwellende Menge der angekündigten Ankömmlinge bequeme Unterkunft zu
-schaffen, die Brauerei sollte dazu dienen, sie durch einen
-Willkommentrunk des von den meisten sicherlich schwer entbehrten
-heimischen Getränks zu überraschen. Sowie die Gerste geschnitten und
-gedroschen war, ging's ans Malzen; den Hopfen hatten unsere Gärtner an
-den Hängen der Kenia-Vorberge in sehr annehmbarer Güte gezogen, und bald
-füllten zahlreiche Fässer des edlen Getränkes einen unter Benutzung
-natürlicher Höhlungen angelegten kühlen Felsenkeller.
-
-Als der Oktober seinem Ende entgegenging, durften wir mit Beruhigung und
-Genugthuung auf unsere viermonatliche Thätigkeit im Keniagebiete
-zurückblicken. Sechshundert nette Blockhäuser für ebensoviel Familien
-harrten ihrer Bewohner; 50000 Zentner Getreide und Mehl, reiche Vorräte
-an Schlacht- und Zugvieh, Baumaterialien und Werkzeuge zur Unterbringung
-und Ausrüstung vieler Tausende waren aufgespeichert. Der Garten hatte
-sich nicht minder schön entwickelt und seine köstlichen Gaben waren
-teilweise schon zum Genusse bereit. Zwar hier genügte unsere eigene
-Produktion vorläufig noch nicht zur Deckung des voraussichtlichen
-Bedarfes; aber dem ließ sich, wie bisher, durch den sich stets lebhafter
-gestaltenden Tauschverkehr mit den Wakikuja abhelfen. Diesen hatten wir
-regelmäßig einmal in der Woche einen Markt in Edenthal veranstaltet,
-welchen sie jedesmal zu vielen Hunderten beschickten, ihre Waren auf
-Ochsenkarren mit sich führend, deren Gebrauch wir ihnen beigebracht und
-durch Herstellung des inzwischen durch unsere Ingenieure vollendeten,
-ihr Land durchziehenden Weges auch praktisch ermöglicht hatten. Seitdem
-wir unsere Eisenhütten besaßen, suchten die Wakikuja bei uns vornehmlich
-Eisen, entweder roh oder in Form von allerlei Werkzeugen. Dafür brachten
-sie uns anfangs Vieh und Vegetabilien, dann, als wir deren vorläufig
-nicht mehr bedurften, hauptsächlich Elfenbein, von welchem wir, teils
-durch diesen Handel, teils durch die Andorobo, teils durch das Ergebnis
-unserer eigenen Jagden successive schon 140000 Kilogramm aufgespeichert
-hatten. Denn Elfenbein ist hier wohlfeil wie Brombeeren; für unser
-Schmiedeeisen geben uns die Wakikuja und Andorobo mit Vergnügen das
-doppelte Gewicht jenes im Abendlande so geschätzten Materials, und jedes
-eiserne Werkzeug, es sei nun Hammer, Nagel oder Messer, wird mit dem
-zehn- bis zwanzigfachen Elfenbeingewichte aufgewogen. Der ganze
-Kostenbetrag unserer Expedition war also schon nahezu in Elfenbein
-bezahlt; das Vieh und die Vorräte, die Werkzeuge und Maschinen -- vom
-Lande gar nicht zu reden -- gingen gratis drein.
-
-
-
-
- 6. Kapitel.
-
-
-Während wir am Kenia solcherart damit beschäftigt waren, den aus der
-alten Welt erwarteten Brüdern das neue Heim behaglich einzurichten,
-arbeiteten unsere Genossen unter Demestres und Johnstons Führung nicht
-minder erfolgreich an den ihnen zugeteilten Aufgaben.
-
-Die Herstellung der Wege innerhalb des eigentlichen Keniagebietes ging
-Demestre nichts an; sein Geschäft begann erst am Saume der die
-Keniaregion umgürtenden großen Wälder. Von hier bis zur Grenze zwischen
-Kikuja und Massailand bei Ngongo übergab er die Ausführung des Werkes
-dem Ingenieur Frank, einem Amerikaner; die zweite Sektion von Ngongo bis
-Masimani im Massailande, mittwegs zwischen Ngongo und Taweta, erhielt
-der Ingenieur Möllendorf, ein Deutscher, die dritte Sektion,
-Masimani-Taweta, Lermanoff, wie sein Name verrät, ein Russe; die letzte
-und schwierigste Sektion, Taweta-Mombas zwei der bösesten Einöden
-enthaltend, behielt sich Demestre selber vor. Jeder der vier Sektionen
-waren 5 Weiße zugeteilt; seine 200 Suahelis, verstärkt durch die
-doppelte Zahl auf dem Marsche durch ihr Land angeworbener Wakikuja, wies
-Demestre den beiden ersten Sektionen zu, und zwar der ersten in
-Kikujaland 50 Suaheli und 300 Wakikuja, der zweiten in Massai-Land 150
-Suaheli und 100 Wakikuja. Die dritte Sektion wurde von Taweta aus
-organisiert; dahin ritt Lermanoff mit einem Begleiter unter Benützung
-unserer Kurieretappen vom Kenia binnen 6 Tagen, engagierte in Taweta, wo
-sich stets Suahelikarawanen finden, 100 Suahelileute, in Useri und
-Dschagga 250 der dortigen Eingeborenen und begann, nachdem inzwischen
-auch seine anderen vier Begleiter eingetroffen waren und auch die ihm
-wie jeder Sektion, zugeteilten Packpferde mitgebracht hatten, schon am
-15. Juli von Taweta und Useri zugleich die Arbeiten. Demestre dagegen
-ritt, gleichfalls unter Benutzung der Kurieretappen, in einer nur von
-Nachtruhen unterbrochenen Tour zuerst nach Teita, warb dort 400 Wateita
-an, die er unter Leitung eines seiner Begleiter sofort die Strecke
-Teita-Taweta in Angriff nehmen ließ, eilte dann weiter nach Mombas und
-brachte es zuwege, schon am 20. Juli mit 500 Küstenleuten auf der
-schwierigsten Strecke, Mombas-Teita, die Arbeiten zu beginnen.
-
-Diese Arbeiten waren überall dreifacher Art. Zunächst mußten an den
-wasserarmen Stellen, deren es auf den unteren Sektionen mehrere gab,
-insbesondere aber in den Wüsten von Duruma, Teita und Ngiri, Brunnen,
-und wo sich kein Grundwasser fand, Cisternen gegraben werden, ergiebig
-genug, um nicht nur die Arbeiter während der Bauzeit, sondern späterhin
-Menschen und Vieh der durchziehenden Karawanen ausreichend mit Wasser zu
-versorgen. Da es im äquatorialen Afrika zu allen Jahreszeiten heftige
-Regengüsse giebt, die in den sogenannten trockenen Zeiten eben nur um
-vieles seltener sind, als in der sogenannten Regenzeit, so war nicht zu
-besorgen, daß große Cisternen, denen das Regenwasser aus genügend weitem
-Umkreise zufloß, selbst in den heißen Monaten erschöpft werden könnten;
-nur mußten diese Cisternen sowohl gegen den unmittelbaren Sonnenbrand
-als auch gegen Schmutz geschützt werden. Ersteres geschah durch
-Eindeckung und Überdachung, letzteres durch Einfriedigung der Cisternen
-sowie dadurch, daß das Regenwasser, bevor es in die Gruben gelangen
-konnte, durch eine mehrere Meter mächtige Sand- und Schotterschicht
-hindurchgeleitet wurde. Die natürlichen, jedoch in Zeiten anhaltender
-Dürre austrocknenden Wasserlöcher, die sich in allen Einöden vorfanden,
-zeigten die Stellen an, wo diese Cisternen am praktischesten anzulegen
-seien, denn es waren das selbstverständlich die tiefsten Punkte, nach
-denen zu das Regenwasser seinen natürlichen Abfluß nahm. Die
-bedeutendsten dieser Wasserlöcher brauchten blos entsprechend vertieft,
-gegen Verdunstung des ihnen zuströmenden Wassers geschützt und mit den
-oben erwähnten natürlichen Filtern umgeben zu werden, und die Cisternen
-waren fertig. Von diesen wurden in den verschiedenen Sektionen 25
-gegraben, mit einer Tiefe von 8 bis 15 und mit einem Durchmesser von 2
-bis 8 Metern. Gewöhnliche Brunnen mit Grundwasser wurden 39 hergestellt.
-An jedem dieser künstlichen Wasserbehälter ward zur Überwachung gegen
-Verunreinigung ein Wächter angesiedelt.
-
-In zweiter Reihe kamen die eigentlichen Wegbauten. Im allgemeinen wurde
-dabei die schon beim Zuge von Mombas aufwärts hergestellte Straße
-benutzt, bloß von Hindernissen etwas sorgfältiger befreit und wo sie
-durch den Busch gehauen werden mußte, um mehr als das Doppelte
-erweitert. An einzelnen Stellen jedoch, insbesondere wo steilere Höhen
-zu überschreiten waren, mußte eine neue, minder jäh ansteigende Trace
-gesucht werden. Daß auch einige Brücken zu bauen waren, bedarf wohl
-keiner Erwähnung.
-
-Der dritte Teil der Arbeit bestand in der Herstellung von primitiven
-Unterkunftshäusern für Menschen und Vieh an geeigneten Orten. Speise-
-und Schlafräume für einige Hundert Menschen, Pferche für zahlreiche
-Rinder und Magazine für Lebensmittel wurden in Abständen von 12 bis 20
-Kilometern, im ganzen 65 an der Zahl errichtet.
-
-Alle diese Arbeiten waren auf der Strecke Mombas-Teita Ende September,
-auf allen anderen Sektionen 14 Tage später vollendet. Die aufgenommenen
-Arbeiter wurden jedoch nicht entlassen, da ein Teil derselben zur
-Überwachung und Instandhaltung des Weges und der Baulichkeiten, ein
-anderer Teil dagegen zu Zwecken des Transportdienstes auf der
-neugeschaffenen Strecke Verwendung fand. Der Kostenaufwand für das
-wahrlich nicht kleine Werk betrug 14500 Pfd. Sterling, zur Hälfte in
-Löhnen, zur Hälfte in Subsistenzmitteln für die Arbeiter; zu bezahlendes
-Baumaterial gab es nicht.
-
-In der gleichen Zeit vollbrachte Johnston den Einkauf des zum Transporte
-erforderlichen Zugviehes und die Organisation des Verpflegwesens der
-Karawane. Seine Massai-Freunde verschafften ihm binnen wenigen Wochen
-die ursprünglich bestellten 5000 Rinder, aus denen schließlich, da die
-Zahl der zu transportierenden Mitglieder sich in jeder neuen, vom
-Ausschusse der freien Gesellschaft anlangenden Depesche größer und
-größer angegeben fand, nicht weniger als 9000 wurden. Ein Rind stellte
-sich auf durchschnittlich etwas über 8 Schill. (Mark), wobei jedoch
-reichlich die Hälfte auf die Nebenspesen entfiel; der nackte
-Einkaufspreis betrug im Durchschnitt nicht einmal ganze 4 Schilling per
-Stück.
-
-Den Transportdienst organisierte Johnston in der Weise, daß von Mombas
-täglich 25 Wagen abgehen und unterwegs auf jeder der 65 Stationen
-frische Zugochsen finden sollten. In Edenthal angelangt, hatten dann die
-Wagen wieder umzukehren, um von den Ochsengespannen Etappe um Etappe
-zurückbefördert zu werden. Im Sinne dieser ebenso einfachen als
-praktischen Anordnung durchliefen also alle Wagen einen ununterbrochenen
-Kreislauf von Mombas nach dem Kenia und von dort wieder nach Mombas,
-während die Zugochsen in gleichen Abteilungen immer bloß zwischen je
-zwei benachbarten Stationen hin und her wanderten. Es konnten solcher
-Art täglich 250 Personen befördert werden, und um die sämtlichen, vom
-Ausschusse signalisierten 20000 Mitglieder aufzunehmen, waren 80 Tage
-erforderlich, es sei denn, daß ein Teil derselben den Weg zu Pferde
-zurücklegte.
-
-Die in England, Amerika und Deutschland konstruierten Wagen trafen
-rechtzeitig in Mombas ein. Sie waren in jeder Beziehung Musterbilder
-sinnreicher Konstruktion, solid und im Verhältnis zu ihrer Größe doch
-leicht gebaut, eine Menge von Bequemlichkeiten bietend und doch einfach.
-10 Personen fanden in jedem derselben bei Tag gute Sitzplätze, bei Nacht
-ein erträgliches Lager. Eine höchst einfache Vorrichtung ermöglichte
-eine derartige Veränderung in der Anordnung der Sitze, daß _unter_
-denselben für 6, _auf_ denselben für 4 andere Personen genügender Raum
-zum Liegen gewonnen wurde. Solide Federn milderten die Stöße des
-Gefährtes, ein bewegliches Lederdach bot im Bedarfsfalle Deckung gegen
-Regen wie Sonnenbrand, und die -- des Nachts zur Lagerstätte dienenden
--- Matratzen waren tagsüber derart unterhalb des Lederdaches
-angeschnallt, daß dieses doppelten Schutz gegen die Sonnenhitze
-gewährte. Auch für die Unterbringung des Gepäcks war in sehr praktischer
-Weise gesorgt.
-
-Am 30. September langte das erste Schiff mit 900 Mitgliedern an -- und
-zwar war dasselbe gleich allen folgenden Eigentum der Gesellschaft. In
-der Voraussicht, daß der Zuzug von Einwanderern sobald nicht aufhören,
-ja wahrscheinlich stetig zunehmen werde, und von der Absicht geleitet,
-diese Einwanderung soweit nur irgend möglich in eigener Hand zu
-behalten, hatte sie 12 große, schnellfahrende Dampfer von
-durchschnittlich 3500 Tonnen Tragkraft angekauft und ihren Zwecken
-entsprechend umgestalten lassen. Klassenunterschiede gab es auf den
-Schiffen der Gesellschaft nicht; es wurde von Niemand Bezahlung
-genommen, weder für den Transport noch für die Verpflegung auf der
-ganzen Reise, dafür mußte sich auch Jedermann mit dem gleichen,
-allerdings nicht geringen, Ausmaße von Komfort begnügen. Auf Deck waren
-große Speise- und Gesellschaftsräume, unter Deck zwar kleine, aber für
-jede Familie gesonderte, bequem ausgestattete und durchweg ausgezeichnet
-ventilierte Schlafkabinen. Die Aufnahme geschah in der Reihenfolge der
-Beitrittserklärungen zur Gesellschaft; die älteren Mitglieder hatten die
-Priorität. Natürlich blieb es jedermann freigestellt, die Seereise auch
-auf fremden Schiffen zu machen, ohne dadurch in Mombas seines Platzes in
-der Reihe der zu Befördernden verlustig zu werden.
-
-In Mombas angelangt, stand es Jedermann frei, die Weiterreise zu Pferd
-oder zu Wagen zu wählen. Die Reiter ihrerseits konnten entweder die
-Wagenkarawanen begleiten oder in beliebig eingeteilten Märschen
-voraneilen; nur der jeweilige Vorrat an Pferden zum Wechseln in den 65
-Stationen mußte beachtet werden; doch war thunlichst dafür gesorgt, daß
-der erforderliche Pferdebestand nirgends ausging. Die Fahrenden hatten
-gleichfalls die Wahl, ob sie ununterbrochen Tag und Nacht, bloß mit den
-zum Wechseln der Gespanne nötigen Pausen, oder bedächtiger, unter
-Einhaltung beliebig ausgedehnter Mittags- oder Nachtstationen sich
-fortbewegen wollten. Ersterenfalls konnten sie bei günstigem Wetter in
-14 Tagen, ja sogar rascher in Edenthal anlangen, letzterenfalls waren
-dazu 20 Tage und darüber erforderlich.
-
-Alle getroffenen Anordnungen bewähren sich aufs vollständigste. Nirgends
-gab es Aufenthalt, die Verpflegung ließ nichts zu wünschen übrig; eine
-Massaieskorte, die Johnston in der Stärke von 10 Mann für jede Station
-organisiert hatte, sorgte während der Nachtreisen für Sicherheit gegen
-wilde Tiere, hatte überhaupt als Beistand in etwaigen Verlegenheiten zu
-dienen, und 4 aus der Mitte der Unseren entsendete Kommissare mit dem
-Sitze in Teita, Tawete, Miveruni und Ngongo überwachten das Ganze. Die
-Eingeborenen kamen den ersten Wagenzügen mit staunendem Jubel, Allen
-aber mit größter Freundlichkeit und Dienstbeflissenheit entgegen.
-Insbesondere die Wataweta, der Sultan von Useri und die Massaistämme
-ließen es sich nicht nehmen, unsere Reisenden mit den Beweisen ihrer
-Verehrung und Liebe für die »am großen Berge angesiedelten« weißen
-Brüder zu überhäufen.
-
-Die ersten neuen Ankömmlinge -- unter ihnen unser geliebter Meister --
-trafen am 14. Oktober in Edenthal ein; ihnen folgten in ununterbrochener
-Reihe stets neue und neue Scharen. Doch bevor über die damit anhebende
-neue Ära der Geschichte unseres Unternehmens berichtet wird, mag noch
-kurz erzählt werden, was in der letzten Zeit am Kenia geschah.
-
-Zunächst ist zu erwähnen, daß noch im Monat August eine zahlreiche
-Gesandtschaft von Massaistämmen aus Leikipia -- das ist das Land
-nordwestlich von Kenia -- und aus den Distrikten nördlich vom Naiwascha-
-bis zum Baringosee in Edenthal eingetroffen war, uns Gruß und
-Freundschaft entbietend und die Bitte an uns richtend, sie in den mit
-den anderen Massai abgeschlossenen Bundesvertrag mit aufzunehmen. Die
-Gewährung dieser sehr beweglich und nicht ohne einige Empfindlichkeit
-vorgetragenen Bitte legte uns nun allerdings erhebliche neue Lasten auf;
-trotzdem besann ich mich keinen Augenblick, dieselbe zu gewähren und
-alle Mitglieder stimmten mir einhellig zu. Denn mit dem Opfer von
-einigen tausend Pfd. Sterling jährlich war die vollständige
-Pacifizierung des streitbarsten und zweifellos tüchtigsten unter allen
-Volksstämmen der ganzen Äquatorialzone wahrlich nicht zu teuer erkauft.
-Wir hatten nunmehr genügende Sicherheit, allmählich wachsende Kultur in
-diesen bisher von unaufhörlichen Fehden und Raubzügen heimgesuchten
-Gegenden einziehen zu sehen, stets brauchbarere Genossen unseres großen
-Werkes in den schwarzen und braunen Eingeborenen zu erziehen, und indem
-wir sie lehrten, Wohlstand und Überfluß für sich selber zu erzeugen, die
-Quellen unseres eigenen Wohlstandes zu vermehren. Ich hielt also den
-braunen Recken eine sehr schmeichelhafte Lobrede, erklärte mich gerührt
-über die an den Tag gelegte gute Gesinnung und versprach behufs
-Ausfertigung des Vertrages, wie nicht minder, um sie zu ehren, demnächst
-eine Gesandtschaft an sie zu senden. Reich beschenkt wurden die,
-übrigens auch ihrerseits nicht mit leeren Händen erschienenen Massai --
-sie hatten 100 erlesene Rinder und 200 fettschwänzige Schafe als
-Ehrengabe mitgebracht -- entlassen. Johnston, den ich sofort von dem
-Vorgefallenen verständigte, übernahm die Ausführung des gegebenen
-Versprechens. Daß er sich zu diesem Behufe aus den Waren der im
-September am Kenia angelangten Expedition, auf die er in Miveruni
-gestoßen, reichlich mit Hülfsmitteln versorgte, habe ich schon
-berichtet; als seine Aufgabe an der Etappenstraße erfüllt war, zog er --
-zu Anfang des Monats Oktober -- an den Naiwaschasee, von da weiter durch
-die mächtige, meist überaus fruchtbare Hochebene von 1800 Meter Seehöhe,
-die, eingerahmt von 1000-2000 Meter höheren Randbergen, die Hochseen von
-Massailand enthält, nämlich außer dem Naiwascha-, dem wunderbaren
-Elmetaita- und dem Salzsee von Nakuro noch eine Reihe kleinerer Becken,
-und erreichte am 20. Oktober den etwa 200 Quadratkilometer deckenden, in
-einer bloß 980 Meter hohen Bodensenkung gelegenen Baringosee, an der
-Nordgrenze von Massailand. Von da westlich wieder aufwärts steigend
-durchzog er, vorbei an den gewaltigen Thomsonfällen, das wald- und
-wasserreiche Leikipia und traf in der zweiten Novemberwoche bei uns am
-Kenia ein, nachdem er mit allen unterwegs wohnenden Massaistämmen, wie
-nicht minder mit den »Ndemps« am Baringosee, Bündnisverträge geschlossen
-hatte.
-
-In zweiter Linie ist von den erfolgreichen Zähmungsversuchen zu
-berichten, die auf Anregung unserer beiden Damen mit mehreren der am
-Kenia heimischen Tierarten angestellt wurden. Die Idee hiezu ging
-ursprünglich von Miß Fox aus, der dabei in erster Reihe bloß die Absicht
-vorschwebte, den Frauen und Kindern der neuen Ankömmlinge Freude zu
-bereiten. Für diese Idee gewann sie meine Schwester, eine große
-Tierfreundin, und so warben denn die Beiden einige Andorobo und Wakikuja
-zunächst dafür, Affen und Papageien zu fangen, deren es im Edenthal und
-Umgebung einige sehr reizende Arten gab. Als die Zähmungsversuche mit
-diesen Tierchen über Erwarten rasch und gut gelangen, so daß schon nach
-Verlauf weniger Wochen die ihrer Haft entlassenen Gefangenen den
-Herrinnen freiwillig nachsprangen und nachflatterten, wuchs Beider
-Ehrgeiz und die Andorobo erhielten den Auftrag, einige Exemplare einer
-besonders niedlichen Antilopenart einzufangen, die unsere Naturforscher
-als eine Abart der hauptsächlich in Westafrika vorkommenden
-Schopfantilope (_Cephalophus rufilatus_) bestimmten. Auch dieser Versuch
-war von Erfolg begleitet; zwar die alten Tiere erwiesen sich so scheu
-und ungeberdig, daß man sie schließlich laufen ließ; aber mehrere Junge
-gewöhnten sich überraschend schnell an ihre Wärterinnen und liefen
-denselben nach, wie die Hündchen. Diese Antilopengattung wird nicht
-größer, als etwa ein mittelgroßes Schaf, insbesondere die jungen Tiere
-nehmen sich mit ihren rötlichen Schöpfen überaus putzig aus und geberden
-sich in allen Stücken wie übermütige Zicklein. Miß Ellen und meine
-Schwester hatten bald eine ganze Menagerie von Antilopen, Äffchen,
-Papageien um sich versammelt, die zu Nutz und Frommen der erwarteten
-Kinderwelt zu allerlei Kunststücken dressiert wurden.
-
-So standen die Dinge, als einer der indischen Elefantenwärter, die Miß
-Ellen mit an den Kenia genommen hatte und die nicht daran dachten,
-jemals wieder in ihre Heimat zurückzukehren, seiner »Herrin« gegenüber
--- denn die Inder konnten sich noch nicht daran gewöhnen, sich als
-vollkommen unabhängige Männer zu fühlen -- die Frage wagte, ob sie nicht
-auch ein Elefanten-Baby als Schoßtierchen wünsche? Als diese bejaht
-wurde, machte er sich anheischig, eines oder mehrere zu fangen, falls
-ihm erlaubt werde, mit den vier Elefanten und ihren Führern für einige
-Tage in die Wälder zu ziehen. Da Miß Ellen ihre Elefanten zum Baudienste
-hergegeben hatte, wo die intelligenten Kolosse von geradezu
-unschätzbarem Nutzen waren, und eines Spielzeugs halber die Arbeit nicht
-stören mochte, sagte sie dies dem Inder und erklärte, auf die Erfüllung
-ihres Wunsches verzichten oder wenigstens so lange damit warten zu
-wollen, bis man die Elefanten bei der Arbeit leichter entbehren könne.
-Der Inder ging; aber die Idee, daß seine geliebte Herrin sich etwas
-versagen sollte, was ihr -- das hatte er sofort bemerkt -- großes
-Vergnügen bereitet hätte, rüttelte ihn aus seiner gewohnten
-fatalistischen Indolenz auf; er grübelte über die Sache zwei Tage lang
-und erschien am dritten mit dem Vorschlage, die Zeitversäumnis der vier
-Elefanten dadurch gut zu machen, daß er und die anderen Kornaks nebst
-dem Elefanten-Jungen auch einige Elefanten-Alte fangen und zur Arbeit
-dressieren wollten. »Aber afrikanische Elefanten lassen sich nicht
-dressieren, gleich den indischen«, wandte Miß Ellen ein. Der Inder
-erlaubte sich, das zu bezweifeln, und seine 7 Kollegen waren sämtlich
-der gleichen Meinung. Elefant sei Elefant; sie möchten das Rüsseltier
-sehen, das sie nicht binnen wenigen Wochen kirre bekämen, wenn es erst
-einmal in ihrer Gewalt wäre. »Wenn dem wirklich so ist, warum habt Ihr
-das früher nicht gesagt, da Ihr doch sehen mußtet, wie gut man hier
-Elefanten gebrauchen kann?« forschte die Amerikanerin weiter, erhielt
-jedoch darauf bloß ein lakonisches »Weil Du uns nicht gefragt hast« zur
-Antwort.
-
-Miß Ellen wußte sich nicht zu raten; der Gedanke, die Kolonie von
-Edenthal mit Herden gezähmter Elefanten zu versehen -- denn wenn sich
-diese Tiere überhaupt zähmen ließen, dann konnte man hier ebensogut
-Tausende als Einen zur Stelle schaffen -- ließ sie nicht zur Ruhe
-kommen; aber andererseits erinnerte sie sich, in ihrer Naturgeschichte
-gelesen zu haben, der afrikanische Elefant sei unzähmbar, und wir alle,
-die sie diesfalls befragte, mußten ihr bestätigen, daß es nirgends in
-Afrika gezähmte Elefanten gebe. Sie wurde über dieses Problem nachgerade
-beinahe trübsinnig; sichtlich gelüstete es sie, es auf einen Versuch
-ankommen zu lassen; aber die Inder blieben dabei, ohne Mitwirkung der
-zahmen keinen wilden Elefanten einbringen zu können, und erstere in der
-Zeit dringendster Arbeiten zu problematischen Versuchen zu verwenden,
-das zu beantragen, scheute sie sich um so mehr -- als die Elefanten
-_ihr_ Eigentum waren und sie daher eigentlich nach Gutdünken über
-dieselben verfügen konnte. Da kehrte unser Zoologe, Signor Michaele
-Faënze, von einem längeren Ausfluge nach dem Kenia-Massiv zurück und
-stellte sich, als ihn Miß Fox ins Vertrauen zog, ohne weiteres auf die
-Seite der Inder. Zwar auch er gab zu, daß es thatsächlich keine zahmen
-afrikanischen Elefanten gebe, behauptete aber geradezu, dies müsse bloß
-daran liegen, daß die Afrikaner verlernt hätten, dies edle Tier dem
-Menschen dienstbar zu machen. An der Rasse liege es ganz gewiß nicht,
-was schon daraus hervorgehe, daß zur Römerzeit dressierte Elefanten in
-Afrika gerade so gut bekannt waren, wie in Asien. Man solle die Inder
-nur machen lassen; wenn sie ihre Kunst verstünden, werde ihnen dieselbe
-hier so gut gelingen wie in Indien.
-
-Und so geschah's. Die 8 Kornaks mit ihren 4 Elefanten zogen in einen der
-nahen Wälder, und als sie dort, was gar nicht lange dauerte, eine Herde
-wilder Elefanten gefunden hatten, machten sie es mit diesen genau so,
-wie sie es in ihrer Heimat erlernt hatten. Die zahmen Elefanten wurden
-führerlos in die Herde der wilden gelassen, von denen sie zwar anfangs
-mit einigem Befremden empfangen, schließlich aber in aller Freundschaft
-aufgenommen wurden. Einmal so weit, machten sich die listigen Tiere
-zunächst mit dem Führer der Herde, dem stärksten und schönsten Bullen,
-zu schaffen, liebkosten ihn, wedelten ihm die Fliegen weg, fesselten
-aber dabei mit mitgenommenen starken Stricken einen seiner Füße an einen
-starken Baumstamm. Nachdem dies geschehen war, stießen sie ihren
-Angstruf -- einen scharfen Trompetenton -- aus, als ob sie irgendeine
-Gefahr bemerkt hätten und stürmten davon, auf welches Signal hin die
-Inder unter Geschrei und Flintenschüssen hervorstürzten, was die ganze
-Herde veranlaßte, den Zahmen in größter Eile nachzufolgen. Der arme
-Gefesselte konnte natürlich nicht mithalten, so verzweifelt er auch an
-dem Stricke zerrte, und die Inder ließen ihn trampeln und trompeten,
-ohne sich vorläufig um ihn zu kümmern. Ihre nächste Sorge war, die Spur
-der enteilten Herde zu finden. Nach etwa einer Stunde hatten sie sich an
-diese neuerlich herangeschlichen, wo inzwischen die vier Zahmen das
-vorige Spiel mit einem neuen Opfer wiederholten; auch dieses wurde
-gefesselt und dann unter großem Spektakel verlassen. Noch drei weitere
-Elefanten teilten im Laufe des Tages dies Schicksal; dann schien die
-Herde argwöhnisch geworden zu sein, denn die berüsselten Verräter
-kehrten nach einer Weile allein zu ihren Treibern zurück.
-
-Nunmehr erst wurde jedem der fünf Gefesselten -- unter ihnen ein
-Weibchen mit einem etwa einjährigen Jungen in der Größe eines mittleren
-Kalbes -- ein Besuch abgestattet. Die zahmen Elefanten gingen ohne
-weiteres auf die verzweifelt am Stricke Zerrenden los und banden ihnen
-die Vorderfüße eng aneinander. Das gelang zwar nicht, ohne daß die
-Betrogenen wütenden Widerstand leisteten, aber dieser wurde in höchst
-brutaler Weise durch Rüsselschläge und Zahnstöße bewältigt. Hierauf
-machten sich die erbarmungslosen Schergen daran, rings um ihre Opfer
-alles für Elefantengaumen Genießbare -- also Gras, Büsche und Baumzweige
-zu entfernen; wo dazu die Rüssel nicht ausreichten, drängten sie die
-Gefesselten auf die Seite und ermöglichten es den Treibern, mit Axt und
-Beil das Werk zu vollenden.
-
-Als der Abend anbrach, waren alle fünf Gefangenen geknebelt und jeder
-Möglichkeit beraubt, sich Nahrung zu verschaffen. Nunmehr mußten sie
-aber auch bewacht werden, damit nicht etwa Löwen oder Leoparden die
-Gelegenheit wahrnähmen, die wehrlos Gemachten anzufallen. Am anderen
-Morgen statteten die zahmen Elefanten ihren gefesselten Brüdern der
-Reihe nach Besuche ab, halfen den bei ihrem nächtlichen Toben
-Umgefallenen sich aufrichten, was wieder nicht ohne ausgiebige Prügel
-und Stöße vollbracht ward und überließen sie dann abermals ihrem
-Schicksale.
-
-Das ging so drei Tage hindurch; die armen Gefesselten litten Hunger und
-Durst und bekamen, so oft ihre verräterischen Brüder nach ihnen sahen,
-jämmerliche Schläge. Am vierten Tage waren sie so schwach und kleinlaut,
-daß sie gar nicht mehr tobten, sondern kläglich brüllten, als sich ihre
-Peiniger nahten, die aber nichtsdestoweniger mit Rüsseln und Zähnen über
-sie herfielen. Da erschien nun den Mißhandelten ein rettender Engel --
-in Gestalt des Menschen. Dieser verjagte zunächst unter drohenden
-Geberden und einigen schallenden Schlägen die Schergen von ihrem Opfer
-und hielt diesem dann ein Gefäß Wasser hin. Stutzte darauf der wilde
-Elefant und nahm sich Zeit, die Sachlage zu überblicken, so war die
-Tragikomödie aus, das Tier gebändigt. Denn es acceptierte in diesem
-Falle nach einigem Bedenken den gebotenen Trunk, nach diesem einige
-Nahrungsmittel, konnte dann gefahrlos vollständig getränkt und gefüttert
-und unter Eskorte der zahmen Elefanten zu weiterer Ausbildung
-heimgeführt werden. Wurde es dagegen beim Anblicke des Menschen erst
-recht rabiat -- was allerdings bei dreien von den Fünfen der Fall war --
-so mußte mit der Prügel- und Hungerkur so lange fortgefahren werden, bis
-der Elefant zu begreifen begann, Erlösung aus seiner Lage könne hier nur
-das schreckliche zweibeinige Geschöpf spenden.
-
-Schließlich ergab sich jeder der Gefangenen in sein Schicksal. Die
-einzige Gefahr dieser Jagd bestand bloß darin, daß der Jäger sich auf
-die Sicherheit seines Urteils über den Charakter des Gefesselten
-verlassen mußte in dem Augenblicke, wo er ihm zum ersten Male nahte.
-Zwar standen die zahmen Elefanten hülfsbereit und aufmerksam dabei; da
-jedoch ein einziger Rüsselhieb des gereizten Tieres genügen kann, einen
-Menschen zu töten, so gehört immerhin viel Geistesgegenwart und Mut zu
-der Sache. Die Inder versicherten übrigens, daß ein halbwegs an den
-Umgang mit Elefanten Gewöhnter aus dem Blick des Tieres ganz zuverlässig
-auf dessen Absichten schließen könne; man brauche daher bloß die
-Vorsicht zu beachten, keinem Gefangenen völlig nahe zu treten, bevor man
-in dessen Auge die Ergebung in das Unvermeidliche gelesen, und es sei
-überhaupt nichts zu fürchten.
-
-Schon nach sechs Tagen kehrte die Expedition mit ihren fünf Gefangenen
-zurück, die zwar noch nicht dressiert und zur Arbeit brauchbar, aber
-doch schon insoweit »zahm« waren, daß sie sich ruhig einsperren,
-füttern, tränken und unterrichten ließen. Nach Verlauf fernerer zwei
-Wochen waren sie der Hauptsache nach »fertig«, d. h. brauchbar zu
-allerlei Arbeiten, insbesondere wenn ihnen einer der Veteranen an die
-Seite gegeben wurde. Miß Ellen feierte einen doppelten Triumph: sie
-besaß ein herziges Elefantenbaby, das zwar für ein Schoßtierchen etwas
-zu plump, aber nichtsdestoweniger das drolligste Wesen war, das es geben
-mag und sich rasch zum erklärten Liebling von ganz Edenthal aufschwang;
-und sie hatte des ferneren der Gesellschaft eine unerschöpfliche Quelle
-sehr schätzbarer Arbeitskraft eröffnet, auf welche ohne sie niemand
-geraten wäre. Denn hätte sie sich nicht seinerzeit in den Kopf gesetzt,
-die Expedition mitzumachen, so wären wohl schwerlich so rasch indische
-Elefanten und Elefantenführer an den Kenia gekommen, und ohne diese
-wären die Elefanten Afrikas vielleicht von den Elfenbeinjägern
-ausgerottet gewesen, bevor an ihre Zähmung auch nur jemand gedacht
-hätte.
-
-Von da ab fuhren wir mit dem Elefantenfange rüstig fort, so daß binnen
-kurzem der Elefant das hauptsächlichste _Tragtier_ am Kenia wurde und
-überall dort verwendet werden konnte, wo schwere Lasten auf kurze
-Entfernungen oder auf Gebieten, die für Wagen unpassierbar waren,
-bewältigt werden sollten.
-
-Das so vortrefflich gelungene Experiment mit den Elefanten legte uns
-aber auch den Gedanken nahe, es mit der Zähmung anderer Tiere nicht bloß
-zu Zwecken der Belustigung, sondern um des Nutzens willen zu versuchen.
-Zunächst kam das Zebra an die Reihe und es gelang auch mit diesem. Zwar
-die alten Tiere waren unbrauchbar; aber die Füllen erwiesen sich -- wenn
-sehr jung eingefangen -- als leidlich gelehrig und nicht sonderlich
-scheu und in den zweiten Generationen unterschieden sich später unsere
-zahmen Zebras in nichts, als in der Hautfarbe von den besten Maultieren.
-Strauß und Giraffe wurden der Reihe unserer Haustiere angereiht; den
-größten Triumph aber feierten unsere Dresseure mit der Zähmung des
-afrikanischen Büffels. Es ist das das bösartigste, unbändigste und
-gefährlichste unter allen afrikanischen Tieren und dennoch wurde es so
-vollständig gezähmt, daß es im Verlaufe der Jahre das gemeine Rind als
-Zugtier vollständig verdrängte. Zwar in Freiheit aufgewachsene Bullen
-waren und blieben wahre Teufel; doch schon die gefangenen Kühe konnte
-man wenigstens so weit bringen, daß sie dem Wärter aus der Hand fraßen,
-und was die in Gefangenschaft aufgezogenen Büffel anlangt, so zeigten
-diese genau den nämlichen Charakter wie das gewöhnliche Rind. Die Bullen
-blieben, insbesondere wenn sie alt wurden, immer etwas unverläßlich, die
-Kühe und die verschnittenen Ochsen dagegen waren so sanft und gelehrig
-wie nur irgend ein Wiederkäuer. Als Milchkühe wurden sie bei uns niemals
-geschätzt, da sie zwar fette, aber nicht reichliche Milch gaben; als
-Zugtiere aber waren unsere Büffelochsen unvergleichlich. Es gibt für
-diese riesigen Tiere -- sie überragen das größte Hausrind um reichlich ½
-Fuß, ihr Nacken hat eine Breite bis zu 2 Fuß und ihre Hörner lassen sich
-an der Wurzel mit zwei Händen nicht umspannen -- keine zu schweren
-Lasten; wo vier gewöhnliche Ochsen erlahmen, gehen zwei Büffel ihren
-gleichmäßigen Schritt weiter, als wären sie ledig. Dabei vertragen sie
-Hunger, Durst Hitze und Regen besser als ihre längst gezähmten
-Verwandten -- kurzum sie erweisen sich in einem Lande, wo gute Chausseen
-noch nicht überall zu finden sind, als geradezu unschätzbar.
-
-Das dritte Ereignis -- doch dieses geht eigentlich direkt nur mich
-persönlich an und gehört bloß insofern in den Rahmen dieser Erzählung,
-als es mit der Lebensweise und mit den socialen Zuständen in Edenthal
-zusammenhing. Es wird also am besten sein, wenn ich zunächst erzähle,
-wie wir vor dem Eintreffen der Hauptmasse unserer Brüder in der neuen
-Heimat lebten, uns einrichteten und arbeiteten.
-
-
-
-
- 7. Kapitel.
-
-
-Die Kolonisten auf Edenthal betrachteten mich, den Bevollmächtigten der
-Gesellschaft, der unseren Zug an den Kenia veranstaltet und die Mittel
-zu demselben beschafft hatte, als ihren Vorgesetzten im
-gemeingebräuchlichen Sinne des Wortes: ich hätte befehlen können und es
-wäre gehorcht worden. Anderseits aber handelte ich nicht bloß meinen
-eigenen Neigungen, sondern den offenbaren Intentionen des Ausschusses
-gemäß, wenn ich mich dem Wesen nach als den Vorsitzenden einer
-Versammlung frei über sich selber verfügender Männer benahm. Wo immer
-möglich, befragte ich vor meinen Anordnungen die Genossen, fügte mich
-der Meinung der Mehrheit und traf selbständige Verfügungen bloß in
-dringenden Fällen oder wenn es sich um Zuweisung von Aufträgen an
-Abwesende handelte. Sonst geschah die Zuteilung der verschiedenen
-Arbeiten an verschiedene Gruppen stets im Einverständnisse mit allen
-betreffenden Mitgliedern, die Vorsteher dieser Arbeitszweige wurden von
-ihren speziellen Genossen selber gewählt, und wenn dabei auch in allen
-wesentlichen Fragen stets meiner und meiner engeren Vertrauten Ansichten
-und Vorschläge zur Ausführung gelangten, (so daß -- wenn im Bisherigen
-zumeist der Kürze halber gesagt wurde: »ich ordnete an, ich designierte«
--- damit dem Wesen nach die Wahrheit erzählt wurde) so geschah dies doch
-nur aus dem Grunde, weil diese meine Vertrauten eben die geistigen
-Spitzen der Kolonie waren und die anderen sich diesen freiwillig
-unterordneten. Dabei wußten wir alle, daß dies keine auf Dauer
-berechnete Organisation sei. Niemand arbeitete einstweilen für sich,
-alles was wir erzeugten, gehörte nicht dem Erzeuger, auch nicht der
-Gesamtheit von uns Erzeugern, sondern dem Unternehmen, aus dessen
-Mitteln wir hinwieder allesamt zehrten. Mit einem Worte, die »freie
-Gesellschaft«, die wir gründen wollten, war noch nicht gegründet, sie
-befand sich noch unterwegs und inzwischen waren wir ihr gegenüber nichts
-anderes, als Angestellte nach altem Recht, die sich von gewöhnlichen
-Lohnarbeitern bloß dadurch unterschieden, daß ihnen selber überlassen
-war, was sie zu ihrem Unterhalte vorweg nehmen und was sie als
-»Unternehmergewinn« für die Auftraggeberin zurücklegen mochten. Hätte
-mich böser Wille einzelner Genossen dazu genötigt, so war ich nicht bloß
-im Rechte, sondern auch entschlossen, den »Bevollmächtigten«
-hervorzukehren; daß ich es vermeiden konnte, trug nicht wenig dazu bei,
-das Behagen, das uns alle erfüllte, zu steigern und war auch insofern
-von großem Werte, als dadurch der Übergang zu den späteren endgültigen
-Organisationsformen wesentlich erleichtert wurde, ändert aber nichts an
-dem Sachverhalt, daß unser Leben und Wirken unterwegs wie am Kenia sich
-noch innerhalb der sozialen Formen der alten Welt bewegte.
-
-Die Arbeitszeit war in Edenthal einstweilen für jedermann -- ob
-Arbeitsvorsteher oder simpler Arbeiter, Weißer oder Neger -- die
-gleiche, von 5 bis 10 Uhr vormittags und von 4 bis 6 Uhr nachmittags;
-nur in der Erntezeit waren ein bis zwei Stunden zugegeben worden. Am
-Sonntag ruhte ebenso gleichmäßig alle Arbeit.
-
-Die Tagesordnung war die folgende: Gegen 4 Uhr wurde aufgestanden, im
-Edensee -- es waren zu diesem Behufe mehrere Badehütten errichtet -- ein
-Bad genommen und hierauf Toilette gemacht. Das Reinigen und etwa
-notwendige Ausbessern der Kleider besorgte unter Anleitung eines in
-solchen Künsten bewanderten Mitgliedes eine Gruppe von Suaheli, welcher
-diese Arbeit als alleinige Verrichtung zugewiesen worden war. Da wir
-Kleidungsstücke zum Wechseln besaßen, so wurden des Morgens immer die
-während des gestrigen Tages gereinigten gebracht, dafür die gestern
-gebrauchten abgeholt, um im Laufe des Tages für den morgigen Gebrauch in
-Stand gesetzt zu werden. Hierauf kam das Frühstück, gleich allen
-Mahlzeiten wieder das Werk einer damit betrauten anderen Schar von
-Suahelis -- um deren Einweihung in mehrfache Geheimnisse französischer
-Kochkunst sich meine Schwester große Verdienste erworben hatte. Dieses
-erste Frühstück bestand je nach dem Geschmacke eines Jeden aus Thee,
-Schokolade, schwarzem oder mit Milch gemengtem Kaffee, Milch oder irgend
-einer Suppe; dazu ebenso nach Wahl Butter, Käse, Honig, Eier, kalter
-Braten nebst Brot oder anderem Gebäck. Nach diesem ersten Frühstück
-wurde bis 8 Uhr gearbeitet, um welche Zeit ein zweites Frühstück kam,
-bestehend aus irgend einer substantiellen warmen Speise -- Omelette,
-Fisch oder Braten mit Brot, etwas Käse und Früchten, dazu als Getränk
-entweder das köstliche Quellwasser unserer Berge, oder der sehr
-erfrischende, wohlschmeckende Bananenwein, den die Eingeborenen zu
-bereiten verstehen. Nach diesem Frühstück, welches in der Regel 15 bis
-20 Minuten in Anspruch nahm, wurde bis 10 Uhr weiter gearbeitet, worauf
-die große Mittagspause folgte. Diese wurde, insbesondere in den heißeren
-Monaten, von den Meisten zunächst zu einem zweiten Bade im See benutzt,
-welchem irgendeine häusliche Zerstreuung, Lektüre, Konversation oder
-Spiel folgte. Die Hitze war um diese Zeit in der Regel groß; während der
-heißen Monate stieg das Thermometer häufig auf 35 Grad Celsius im
-Schatten. Zwar verhüteten kühle Brisen, die bei schönem Wetter
-regelmäßig zwischen 11 Uhr vormittags und 5 Uhr nachmittags vom Kenia
-her wehten und zwar desto stärker, je heißer der Tag sich anließ, daß
-der Aufenthalt im Freien jemals unerträglich wurde; aber am angenehmsten
-und zuträglichsten war während der Mittagsstunden jedenfalls das
-Verweilen in gedeckten Räumen. Um 1 Uhr wurde die Hauptmahlzeit
-gehalten, bestehend aus Suppe, einem Fleisch- oder Fischgericht mit
-Gemüsen, süßem Backwerk und Früchten der mannigfachsten Art, dazu
-abermals Bananenwein oder, nachdem unsere Brauerei zu arbeiten
-angefangen hatte, Bier. Nach dem Speisen wurde von Einzelnen ein halbes
-Stündchen geschlafen, hierauf gab es wieder Konversation, Lektüre,
-Spiel, worauf, nachdem die ärgste Hitze vorüber war, die zweistündige
-Nachmittagsarbeit erledigt ward. Dieser ließen Einzelne ein drittes
-kurzes Bad folgen. Um 7 Uhr nahm man wieder eine dem ersten Frühstück
-ähnliche Mahlzeit, sofern es nicht regnete, im Freien und zu größeren
-Gesellschaften vereinigt. Zu bemerken ist dabei, daß hinsichtlich aller
-Mahlzeiten, wie überhaupt aller Genußmittel als Regel galt, daß
-Jedermann wählen konnte, was und soviel ihm beliebte. Nur bezüglich der
-geistigen Getränke hielten wir es anders -- aus leicht begreiflichen
-Gründen. Späterhin, wenn Jedermann auf eigenen Füßen stand, mochte er es
-auch mit diesen halten, wie ihm beliebte; solange wir von
-Gesellschaftswegen verpflegt wurden, mußten wir schon mit Rücksicht auf
-unsere Neger Beschränkung üben.
-
-Des Abends wurde meist Musik gemacht. Wir hatten einige sehr tüchtige
-Musiker, ein ganz artiges, 45 Mann zählendes Orchester von Blas- und
-Streichinstrumenten und einen vortrefflichen Chor, die sich, so oft es
-das Wetter erlaubte, hören ließen. Zwei oder drei Stunden nach
-Sonnenuntergang pflegte es kühl zu werden; in wenigen Nächten behauptete
-sich das Thermometer über 22 Grad, sank aber bisweilen bis auf 15 Grad
-Celsius, so daß die Nachtruhe stets erquickend war.
-
-An den Sonntagen gab es mannigfaltige Veranstaltungen zu Zwecken der
-Belustigung sowohl als der Belehrung: Ausflüge in die benachbarten
-Wälder, Jagden, Konzerte, Vorlesungen, Vorträge.
-
-Die von uns bewohnten Blockhäuser waren eigentlich dazu bestimmt, je
-einer Familie als zukünftiges, wenn auch bloß provisorisches Heim zu
-dienen. Ein jedes lag inmitten eines tausend Quadratmeter umfassenden
-Gärtchens und deckte mit seinen 6 Räumen: Vorzimmer, Küche und 4 Stuben,
-selber ein Areal von 150 Quadratmetern. Jedes solcher Häuschen nun wurde
-einstweilen von Vieren der Unseren besetzt; den beiden Frauen mit
-Sakemba, die inzwischen den Besuch ihrer Eltern und Geschwister erhalten
-und diese bewogen hatten, ihre Grashütten gleichfalls in Edenthal
-aufzuschlagen, war selbstverständlich auch ein besonderes Häuschen
-eingeräumt.
-
-Letztere Anordnung aber gefiel meiner Schwester ganz und gar nicht.
-Während der Reise hatte sie sich notgedrungen darein gefunden, getrennt
-von mir, dem ihr von unserer verewigten Mutter ans Herz gelegten
-Pfleglinge, zu kampieren; in Edenthal angelangt, gedachte sie jedoch
-ihre alten Vormundschaftsrechte und -Pflichten wieder zu beanspruchen,
-sah sich aber durch die Rücksicht auf einen zweiten Schützling, der
-inzwischen auch zu einem Liebling geworden war, durch die auf Ellen Fox
-nämlich, in der Ausführung ihrer Vorsätze gehindert. Sie konnte doch
-unmöglich dies junge Mädchen inmitten so vieler Männer allein lassen;
-ebenso wenig aber konnte sie uns beide -- obwohl wir in ihren Augen die
-reinen Kinder waren -- Thür an Thür im selben Häuschen unterbringen. Was
-hätten ihre Freunde und Freundinnen in Paris dazu gesagt! Zwar brachte
-ich all meine freie Zeit bei den Frauen zu, wo mich, ohne daß ich es
-bemerkte, die aus geistreichen theoretischen Kontroversen und
-unbefangenem Geplauder eigentümlich gemengte Konversation der jungen
-Amerikanerin nicht minder als ihr Harfenspiel und ihre glockenhelle
-Altstimme, stets mehr und mehr fesselten; aber das genügte Schwester
-Klara nicht und sie geriet schließlich auf den Gedanken, uns zu
-verheiraten. Schon wegen unserer gemeinsamen »Narrheit« -- unserer
-sozialen Ideen nämlich -- paßten wir ganz gut zu einander, und wenn auch
--- ihrer Meinung nach -- außer Zweifel stand, daß in dieser Ehe
-gesunder, hausbackener Menschenverstand gänzlich fehlen würde, so war ja
-_sie_ dazu da, für die beiden Kindsköpfe zu sorgen und zu handeln.
-
-Nachdem sie diesen Vorsatz einmal gefaßt, legte sie sich als
-vorsichtige, diskrete Person, die ganz richtig voraussah, daß in diesem
-Punkte weder bei mir, noch bei Miß Ellen auf unbedingten Gehorsam zu
-rechnen wäre, zunächst aufs Beobachten, und dabei machte sie denn
-ungeachtet ihrer in Sachen der Liebe höchst mangelhaften eigenen
-Erfahrungen, ausgerüstet bloß mit dem keinem Weibe fehlenden
-instinktiven Feingefühle, die überraschende Entdeckung -- daß wir beiden
-bereits bis über die Ohren ineinander verliebt seien. Anfangs war sie
-über diese Wahrnehmung so erstaunt, daß sie ihren Augen keinen Glauben
-schenken wollte. Aber die Sache war zu klar, als daß eine Täuschung
-möglich gewesen wäre. Wir beiden Liebenden ahnten zwar selber nicht im
-entferntesten, wie es um uns stand; aber wer Miß Fox so genau kannte,
-wie dies bei meiner Schwester nach mehrmonatlichem ununterbrochenen
-Zusammenleben mit der offenherzigen und freimütigen Amerikanerin
-selbstverständlich war, der konnte sich nicht darüber täuschen, was es
-zu bedeuten habe, wenn ein Mädchen, das bisher nur seinen Idealen:
-Freiheit und Gerechtigkeit, gelebt, deren Abgott die Menschheit gewesen
-und das keinem Manne gegenüber anderes Interesse gezeigt, als dasjenige
-für die Ideen, denen er diente -- wenn dieses selbe Mädchen in Aufregung
-geriet, so oft es eines gewissen Mannes Schritte hörte, und im
-vertrauten Umgange mit meiner Schwester statt von der Herrlichkeit
-unserer Prinzipien mit Vorliebe von den Vorzügen dessen sprach, der hier
-in Edenthal der erste Diener dieser Prinzipien war. Und was meine
-Gefühle anlangt, so wußte Schwester Klara allzu genau, daß mir am Weibe
-bisher dessen Stellung in der menschlichen Gesellschaft das einzig
-Interessante gewesen, als daß es ihr nicht wie Schuppen von den Augen
-hätte fallen sollen, als ich sie kürzlich, nachdem ich Miß Fox, die eben
-abseits mit etwas beschäftigt war, lange und andächtig betrachtet hatte,
-mit den Worten apostrophierte: »Ist nicht jede Bewegung dieses Mädchens
-Musik?«
-
-Sie nahm uns daher beide einzeln beiseite und erklärte, daß wir uns
-heiraten müßten. Aber da kam sie hier und dort schlecht an. Miß Ellen
-wurde zwar auf diesen Antrag hin abwechselnd purpurrot und leichenblaß,
-erklärte aber sofort, lieber sterben zu wollen, als mich zu heiraten.
-»Würden diese übermütigen Männer, die uns Frauen allen Sinn für das
-Ideale, jede Fähigkeit rein sachlichen Strebens absprechen und als
-Sklavinnen unserer egoistischen Triebe betrachten, nicht triumphierend
-behaupten, daß meine vorgebliche Begeisterung für unser soziales
-Unternehmen nichts anderes gewesen, als Leidenschaft für einen Mann, daß
-ich nicht um einer Idee, sondern um dieses Mannes willen nach Afrika bis
-an den Äquator gelaufen? Nein, -- ich liebe Deinen Bruder nicht -- ich
-werde überhaupt niemals lieben und noch weniger heiraten!« Dieser
-heroischen Apostrophe folgte zwar ein Strom von Thränen, die jedoch --
-als Schwester Klara sie zu meinen Gunsten auslegen wollte -- für Zeugen
-der Empörung ob des kränkenden Verdachtes ausgegeben wurden. Nicht viel
-anders machte ich es; als Klara mir auf den Kopf zusagte, ich sei in Miß
-Fox verliebt, lachte ich sie aus und erklärte die mir vorgehaltenen
-Symptome meiner Leidenschaft als bloße Zeichen psychologischen
-Interesses an einem weiblichen Geschöpfe, welches echter Begeisterung
-für abstrakte Ideen fähig sei.
-
-Doch eine mütterliche Schwester, die einmal den Vorsatz gefaßt, ihren
-Bruder -- und noch dazu an ihre Freundin -- zu verheiraten, ist nicht so
-leicht aus dem Felde zu schlagen, am allerwenigsten, wenn sie so gute
-und mannigfache Gründe hat, auf ihrem Willen zu beharren. Da es auf
-geradem Wege nicht ging, wählte sie einen krummen -- keinen neuen, aber
-einen oft bewährten: sie machte uns beide eifersüchtig. Jedem von uns
-erzählte sie im Vertrauen, es sei nichts mit ihrem »dummen Plane«, da
-der andere Teil nicht mehr frei wäre. Da sie mir gegenüber schlauerweise
-hinzufügte, sie habe ihr Projekt bloß ersonnen, um zugleich mit der
-jungen Frau in mein Haus ziehen und die ihr von rechtswegen gebührenden
-Mutterpflichten mir gegenüber neuerlich übernehmen zu können, so glaubte
-ich ihr um dieser offenbaren Wahrheit willen auch die Erfindung, daß
-Ellen einen Verlobten in Amerika zurückgelassen, welcher demnächst schon
-hier eintreffen werde. »Denke Dir nur, Ellen ist mit diesem Bekenntnisse
-erst herausgerückt, als ich ihr gleich Dir mit meiner Heiratsidee
-zusetzte. Es ist nur ein Glück, daß Du mein Junge Dir nichts aus der
-kleinen Duckmäuserin machst; das wäre jetzt eine schöne Bescherung, wenn
-Du Dir Ellen in den Kopf gesetzt hättest.«
-
-Ich erklärte mich mit dieser Wendung der Dinge höchlich zufrieden, hatte
-aber das Gefühl dabei, als ob mir ein Messer im Herzen umgewendet würde.
-Deutlich und klar stand jetzt plötzlich meine Liebe vor meinem inneren
-Auge, eine glühende grenzenlose Leidenschaft, wie sie nur der empfinden
-kann, dessen Herz 26 Jahre lang jungfräulich geblieben. Ich konnte
-hinfort -- das ward mir zu unumstößlicher Gewißheit -- noch leben und
-kämpfen -- mich des Lebens und des Erkämpften freuen, nimmermehr! Aber
-war es denn auch gewiß und unabwendbar? Gab es denn keine Möglichkeit,
-diesen Verlobten, der seine Braut allen Gefahren einer abenteuerlichen
-Reise, allen Versuchungen der Schutzlosigkeit preisgab und der jetzt
-plötzlich hier auftauchen soll, um mir aus meinem Eden die Seligkeit zu
-rauben, gab es keine Möglichkeit, ihn aus dem Felde zu schlagen? Doch
-ist es überhaupt denkbar, daß Ellen, diese Ellen, wie ich sie seit
-Monaten kenne, einen solchen Jammermenschen lieben würde? Hin zu ihr,
-mir Klarheit zu verschaffen, um jeden Preis!
-
-Damit stürmte ich hinüber ins Nachbarhaus. Dort hatte inzwischen meine
-Schwester ein ähnlich Märchen auch Ellen erzählt. Sie habe sich nun
-einmal in den Kopf gesetzt gehabt, aus uns ein Paar zu machen, und daher
-in der Hoffnung, daß meine Werbung ihren (Ellens) Widerstand brechen
-würde, auch mir von ihrem Plane gesprochen, wäre, als auch ich mich
-weigerte, dringender geworden, und da hätte ich ihr endlich gestanden,
-mich hinter ihrem Rücken in Europa verlobt zu haben; die Braut werde mit
-dem nächsten Einwanderzuge hier eintreffen ... So weit war Klara
-gelangt, als mein Erscheinen ihre Erzählung unterbrach.
-
-Totenbleich wankte Ellen auf mich zu; sie wollte sprechen, doch ihre
-Stimme versagte; erst meine halb angst-, halb zornerfüllten Fragen nach
-dem amerikanischen Bräutigam gaben ihr die Sprache wieder. Zugleich aber
-hatte sie auch den Schlüssel der Situation gefunden: daß ich sie liebe,
-daß meine Schwester uns beide getäuscht. Was weiter folgte, läßt sich
-leicht erraten. So kam es, daß Ellen meine Braut war, als Dr. Strahl in
-Edenthal anlangte -- und dieses ist das dritte Ereignis, von welchem ich
-vorher noch erzählen wollte.
-
-Ob das Entzücken, mit welchem ich das Weib meiner Liebe zum ersten Male
-ans Herz drückte, das größere gewesen oder jenes, mit welchem ich den
-Freund meiner Seele, den Abgott meines Geistes einführte in jenes
-irdische Paradies, zu welchem er uns den Weg gewiesen -- das wage ich
-nicht zu entscheiden.
-
-Als ich im Auge des verehrten Freundes beim Erschauen der Herrlichkeit
-unserer neuen Heimat und des kräftig pulsierenden fröhlichen Lebens, das
-sie bereits erfüllte, Thränen der Freude, in diesen aber die sichere
-Bürgschaft unmittelbar bevorstehenden Erfolges erblickte, da erfaßte
-mich zwar nicht jene überschwängliche, für die Brust, die ihr zum ersten
-Male sich öffnet, schier unerträgliche Wonne, wie wenige Tage zuvor, als
-die Geliebte mir in Küssen das Geheimnis ihres Herzens offenbarte; aber
-wenn einst mein Haar weiß und mein Nacken gebeugt sein wird, dürfte wohl
-die Erinnerung an jene bräutlichen Küsse mein Blut nicht mehr so
-siedendheiß durch die Adern jagen, wie heute, während der Gedanke an die
-Stunde, in der ich Hand in Hand mit dem Freunde die stolze und doch
-reine Freude empfand, den ersten, schwersten Schritt zur
-Erlösung unserer leidenden, enterbten Mitbrüder aus den Martern
-vieltausendjähriger Knechtschaft vollbracht zu haben, niemals seine
-beseligende Kraft einbüßen wird, so lange ich unter den Lebenden wandle
-und mein Geist nicht von Nacht umfangen ist.
-
-Lange, lange stand der Meister auf den Höhen vor Edenthal, jede
-Einzelheit des entzückenden Bildes andächtig in sich aufnehmend; dann zu
-uns sich wendend, die wir ihn rings umgaben, fragte er, ob wir dem
-Lande, das unabsehbar nach allen Seiten sich ausdehnt und welches unsere
-Heimat werden solle, schon den Namen gegeben hätten. Als ich dies
-verneinte, mit dem Beifügen, daß ihm, der dem Gedanken Worte lieh,
-welcher uns hierher geführt, auch das Amt gebühre, das Wort für das Land
-zu finden, in welchem dieser Gedanke zuerst verwirklicht werden soll, da
-rief er: »Die Freiheit wird in diesem Lande ihre Geburtsstätte finden:
-»_Freiland_« wollen wir es nennen!«
-
-
-
-
- Zweites Buch.
-
-
-
-
- 8. Kapitel.
-
-
-Wir nehmen nunmehr den Faden der Erzählung dort auf, wo ihn das Tagebuch
-Ney's verlassen.
-
-Zugleich mit dem Vorsitzenden waren 3 Mitglieder des dirigierenden
-Ausschusses in Edenthal eingetroffen; 5 andere folgten binnen wenigen
-Tagen mit der ersten Wagenkarawane aus Mombas nach, so daß deren -- Ney,
-Johnston, und den auf dieser Beiden Vorschlag kooptierten Demestre
-eingerechnet, in Freiland 12 anwesend waren. Da es im ganzen derzeit 15
-Ausschußmitglieder gab, so waren ihrer noch drei zurückgeblieben und
-zwar je eins in London, Triest und Mombas, wo sie bis auf Weiteres als
-Bevollmächtigte des Ausschusses den abendländischen Geschäften der
-Gesellschaft vorstehen sollten. Ihr Amt war die Aufnahme neuer
-Mitglieder, die Einkassierung und provisorische Verwaltung der
-einfließenden Gelder und die Überwachung der Auswanderungen nach
-Edenthal.
-
-Ihre Instruktion bezüglich der Aufnahme neuer Mitglieder ging vorerst
-dahin, jeden sich darum Bewerbenden aufzunehmen, sofern er kein
-rückfälliger Verbrecher und des Lesens und Schreibens kundig wäre.
-Erstere Einschränkung bedarf wohl keiner eingehenden Motivierung. Wir
-hatten allerdings unbedingtes Vertrauen in die veredelnden, weil das
-treibende Motiv der meisten Laster beseitigenden Folgewirkungen unserer
-socialen Reformen; wir waren vollkommen beruhigt darüber, daß Freiland
-keine Verbrecher erzeugen und selbst durch Elend und Unwissenheit da
-draußen zu Verbrechern Gewordene, wenn nur irgend möglich, dem Laster
-entreißen werde; für den Anfang aber wollten wir es vermeiden, von
-schlimmen Elementen überschwemmt zu werden, und angesichts des
-verzeihlichen Bestrebens einzelner Staaten, sich ihrer rückfälligen
-Verbrecher in irgend welcher Weise zu entledigen, mußten wir von
-Anbeginn vorbauen.
-
-Härter mag erscheinen, daß wir der Einwanderung von gänzlich Unwissenden
-eine Schranke zogen. Doch gerade das war ein notwendiges
-Erfordernis unseres Programms. Wir wollten das absolute, freie
-Selbstbestimmungsrecht des Individuums auch auf dem Gebiete der
-Arbeit an die Stelle des Jahrtausende hindurch geltenden
-Knechtschaftsverhältnisses setzen; wir wollten den unter der
-Botmäßigkeit der Brotherren stehenden Arbeiter zum selbständigen in
-freier Vereinbarung mit freien Genossen auf eigene Gefahr thätigen
-Produzenten umgestalten -- es ist daher selbstverständlich, daß wir zu
-diesem unserem Werke blos solche Arbeiter gebrauchen konnten, die zum
-mindesten über die unterste Stufe der Brutalität und Unwissenheit hinaus
-waren. Daß wir damit gerade die Elendesten der Elenden zurückstießen,
-ist wahr; aber abgesehen davon, daß dem Unwissenden zumeist das klare
-Bewußtsein seines Unglücks und seiner Entwürdigung fehlt, seine Leiden
-daher in der Regel blos physischer und nicht auch moralischer Natur
-sind, wie die des mit Intelligenz gepaarten Elends, abgesehen davon
-durften wir uns auch durch weichliches Mitleid nicht dazu verleiten
-lassen, den Erfolg unseres Werkes zu gefährden. Der Unwissende muß
-beherrscht werden und da wir unsere Mitglieder nicht erst allmählich zu
-freien Produzenten erziehen, sondern unmittelbar in die freie Produktion
-einführen wollten, so _mußten_ wir uns, wie gegen das Verbrechen, auch
-gegen die Unwissenheit schützen.
-
-Sollte hinwieder geltend gemacht werden, daß Kenntnis des Lesens und
-Schreibens allein denn doch kein genügendes Kennzeichen jenes Ausmaßes
-von Bildung und Intelligenz sei, welches bei Menschen, die ihre Arbeit
-selber regieren sollen, vorausgesetzt werden müsse; so ist darauf zu
-erwidern, daß zu diesem Behufe allerdings ein sehr hoher Grad der
-Intelligenz erforderlich ist, aber nicht bei allen, sondern bloß bei
-verhältnismäßig nicht sehr zahlreichen der solcherart sich selber
-organisierenden Arbeiter, während bei der Majorität jenes Mittelmaß von
-Geisteskräften und Geistesausbildung durchaus genügt, dessen es zu
-richtiger Erkenntnis des eigenen Interesses bedarf. Wenn hundert oder
-tausend Arbeiter sich zusammenthun, um für gemeinsame Rechnung und
-Gefahr zu arbeiten, so kann und muß nicht jeder derselben die
-Fähigkeiten zur Organisation und Leitung dieser gemeinsamen Produktion
-besitzen; dieses höhere Ausmaß von Intelligenz wird bloß bei einigen
-Wenigen unerläßlich sein, während es für die Majorität genügt, daß sie
-richtig beurteilen könne, was mit der gemeinsam zu betreibenden
-Produktion erzielt werden soll und kann und welche Eigenschaften
-Diejenigen besitzen müssen, in deren Hände die Wahrung dieses
-gemeinsamen Interesses gelegt wird. Gerade in diesem Punkte aber ist die
-Kenntnis der Schrift von ausschlaggebender Bedeutung, denn das gedruckte
-Wort allein ist es, welches den Menschen und sein Urteil unabhängig
-macht von den zufälligen Einflüssen der unmittelbaren Umgebung, seinen
-Verstand der Belehrung erst öffnet. Es wird sich später zeigen, in wie
-hohem Maße die ausgedehnteste, lediglich durch Schrift und Druck zu
-vermittelnde Öffentlichkeit aller Vorgänge auf dem Gebiete jeglicher
-produktiven Thätigkeit zum Gelingen unseres Werkes beitrug.
-
-Es versteht sich von selbst, daß diese beiden Bedingungen für
-aufzunehmende Mitglieder auch bisher schon vom Ausschusse gefordert
-wurden, und zwar das zweitgenannte ursprünglich in ziemlich strenger
-Form. Da sich jedoch gezeigt hatte, daß das geistige Niveau der meisten
-Bewerber ein überraschend hohes war, indem der Hauptsache nach von den
-körperlich arbeitenden Klassen sich blos die Elite in ausgedehnterem
-Maße für unser Unternehmen interessierte, und da nunmehr, wo die Zahl
-der Mitglieder 20000 überschritten hatte, die mitunterlaufende
-Unwissenheit nicht mehr so gefährlich sein konnte, so begnügte sich der
-Ausschuß mit der Forderung, daß die Anmeldungen eigenhändig und
-schriftlich geschehen müßten.
-
-Die Zahl der sich meldenden Mitglieder -- es ist zu bemerken, daß Frauen
-und Kinder stets mitgerechnet sind -- war in stetigem Wachstume
-begriffen, insbesondere seit Veröffentlichung der ersten Berichte über
-die am Kenia angelegte Kolonie. Als der Ausschuß sich unter
-Hinterlassung seiner Delegierten in Triest einschiffte, hatte der
-Mitgliederzuwachs 1200 in der Woche erreicht; drei Monate später war er
-auf 1800 wöchentlich gestiegen. Die Aufgabe der europäischen
-Bevollmächtigten war es nun, die neuen Mitglieder -- gleichwie dies
-vorher schon mit den alten geschehen -- sorgfältig nach Geschlecht,
-Alter und Beruf zu registrieren und mit jeder Schiffsgelegenheit die
-entsprechenden Listen nach Freiland zu expedieren; sie hatten den --
-nach wie vor unentgeltlich erfolgenden -- Transport bis Mombas zu
-organisieren und zu überwachen und waren mit Vollmacht versehen, alle zu
-diesem Behufe erforderlichen Ausgaben, im Bedarfsfalle auch den Ankauf
-neuer Schiffe, gegen nachträgliche Verrechnung und Genehmigung zu
-bestreiten. Sache der Bevollmächtigten war es ferner, den sich zur Reise
-rüstenden Mitgliedern mit Rat und That an die Hand zu gehen; auch hatten
-sie Vollmacht, hilfsbedürftigen Genossen materiell beizuspringen. Die
-Mitgliederbeiträge zeigten ähnlich wachsende Tendenz, wie die
-Mitgliederzahl; es wuchs eben offenbar das Interesse und Verständnis für
-unser Unternehmen nicht blos in den arbeitenden, sondern auch in den
-besitzenden Klassen; der Wochenzufluß steigerte sich in der Zeit von
-Ende September bis Ende Dezember von rund 20,000 £ auf 30,000 £. Über
-diese Gelder war, nach Bestreitung der den Delegirten eingeräumten
-Kredite, dem Ausschusse die Verfügung vorbehalten, dessen Vollzugsorgan
-übrigens auch in diesem Punkte bei allen in der alten Welt zu
-bestreitenden Auslagen die zurückgelassenen Delegierten waren.
-
-Am 20. Oktober hielt der Ausschuß seine erste Sitzung in Edenthal, um
-über die geeignetesten Vollzugsmaßregeln zur Konstituierung jener freien
-Vergesellschaftungen schlüssig zu werden, deren Sache von da ab die
-Produktion in Freiland sein sollte. Die Ausschußsitzungen waren von
-jeher öffentlich gewesen, d. h. jedes Mitglied der Gesellschaft hatte
-Zutritt zu denselben und so sollte es auch fernerhin bleiben; eine bloß
-provisorisch eingeführte Neuerung dagegen war es, daß die Zuhörerschaft
-auch eingeladen wurde, an den Verhandlungen -- allerdings nur mit
-beratender Stimme, teilzunehmen. Diese Maßregel hat die Bestimmung, in
-der Zwischenzeit, bis die Presse ihre informierende und kontrollierende
-Wirksamkeit beginnen konnte, deren Rolle zu übernehmen.
-
-Die Grundlage des zur Durchführung gelangenden Organisationsplanes war
-schrankenlose Öffentlichkeit in Verbindung mit ebenso schrankenloser
-Freiheit der Bewegung. Jedermann in ganz Freiland mußte jederzeit
-wissen, nach welcherlei Produkten jeweilig der größere oder geringere
-Bedarf und in welchen Produktionszweigen jeweilig der größere oder
-geringere Ertrag vorhanden sei. Ebenso aber mußte Jedermann in Freiland
-jederzeit das Recht und die Macht haben, sich -- soweit seine
-Fähigkeiten und Fertigkeiten reichen -- den jeweilig rentabelsten
-Produktionszweigen zuzuwenden.
-
-Die zu treffenden Maßnahmen hatten also zunächst diese zwei Punkte ins
-Auge zu fassen. Eine sorgfältige Statistik hatte in übersichtlicher, und
-was die Hauptsache ist, in denkbar raschester Weise jede Bewegung der
-Produktion auf der einen, des Consums auf der anderen Seite zu
-registrieren; ebenso galt es, die Preisbewegung aller Produkte zur
-allgemeinen Kenntnis zu bringen. Angesichts der entscheidenden
-Wichtigkeit dieser Veröffentlichungen mußte Vorsorge getroffen werden,
-daß Täuschungen oder unbeabsichtigte Irrungen bei denselben von
-vornherein ausgeschlossen seien -- ein Problem, welches wie im
-Nachfolgenden gezeigt werden wird, in vollkommenster und doch
-einfachster Weise gelöst wurde.
-
-Und damit nun die solcherart erlangte Kenntnis auch von Jedermann
-praktisch zum eigenen Vorteile ausgenutzt werden könne, was nur möglich
-ist, wenn Jedermann in die Lage versetzt wird, sich jenem seinen
-Fähigkeiten entsprechenden Arbeitszweige zuzuwenden, der jeweilig die
-höchste Rente bietet, mußte dafür gesorgt werden, daß Jedermann
-jederzeit in den Besitz der hierzu erforderlichen Produktionsmittel
-gelangen könne. Dieser Produktionsmittel giebt es zweierlei: Naturkräfte
-und Kapitalien. Ohne diese Beiden nützt die genaueste Kenntnis jener
-Arbeitszweige, nach deren Erzeugnissen gerade der dringendste Bedarf
-vorhanden ist und die deshalb die höchsten Erträge liefern, eben so
-wenig, als die vollendetste Geschicklichkeit in diesen Produktionen. Der
-Mensch kann seine Arbeitskraft nur verwerten, wenn er über die von der
-Natur gebotenen Stoffe und Kräfte, wie nicht minder über entsprechende
-Instrumente und Maschinen verfügt; und zwar muß er, um mit seinen
-Mitbewerbern konkurrieren zu können, Beides in gleich guter und
-vollkommener Beschaffenheit besitzen, wie diese. Man muß nicht bloß
-Boden zur Verfügung haben, um Weizen zu bauen, sondern auch gleich
-ergiebigen Weizenboden wie die anderen Weizenbauer, sonst wird man mit
-geringerem Nutzen, ja möglicherweise sogar mit Schaden arbeiten; und der
-Besitz des ergiebigsten Bodens wird die Arbeit noch nicht ermöglichen,
-oder doch nicht gleich ertragreich machen, wenn man die erforderlichen
-landwirtschaftlichen Geräte nicht, oder doch nicht in jener
-Vollkommenheit besitzt, wie die Konkurrenten.
-
-Was nun die Kapitalien anlangt, so machte sich die freie Gesellschaft
-anheischig, sie Jedermann nach Wunsch zur Verfügung zu stellen, und zwar
-zinslos, gegen Rückzahlung in gewissen Fristen, deren Ausmaß je nach der
-Natur der beabsichtigten Anlagen in der Weise festgestellt wurde, daß
-die Abtragung aus den Produktionsergebnissen stattfand. Da die
-Arbeitsinstrumente und sonstigen kapitalistischen Arbeitsbehelfe in
-beliebigem Umfange und in beliebiger Qualität hergestellt werden können,
-so wäre damit der eine Teil des Problems gelöst gewesen.
-
-Anders verhält sich die Sache mit den Naturkräften, als deren
-Repräsentanten wir den Boden, an den sie doch gebunden sind, gelten
-lassen wollen. Den Boden hat Niemand erzeugt, es hat also Niemand
-Eigentumsanspruch auf ihn und Jedermann hat das Recht, ihn zu benutzen;
-aber den Boden hat nicht bloß Niemand erzeugt, es kann ihn auch
-fernerhin Niemand erzeugen; Boden ist daher bloß in beschränkter Menge
-vorhanden und außerdem ist auch der vorhandene Boden nicht von gleicher
-Güte. Wie soll es nun trotzdem möglich sein, nicht bloß Jedermanns
-Anspruch auf Boden, sondern sogar auf gleich ertragreichen Boden zur
-Geltung zu bringen?
-
-Um dies zu erklären, muß zunächst noch die dritte und in Wahrheit
-fundamentalste Voraussetzung der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-dargelegt werden. Wenn in deren Sinne jedem Arbeitenden der
-ungeschmälerte Ertrag der eigenen Arbeit zugesprochen wird, so ist dies
-nur insofern und unter der Voraussetzung wirklich gerecht, daß
-angenommen wird, der Arbeitende sei selber und ausschließlich der
-Erzeuger dieses ganzen Ertrages. Das war er aber nach der alten
-Wirtschaftsordnung mit nichten. Der Arbeitende erzeugte als solcher nur
-einen Teil des Produkts, während ein anderer Teil vom Arbeitgeber --
-derselbe sei nun Grundbesitzer, Kapitalist oder Unternehmer --
-hervorgebracht wurde. Ohne den organisatorischen, disciplinierenden
-Einfluß dieses Letzteren wäre die Mühe der Arbeitenden unfruchtbar, oder
-doch weit minder fruchtbar gewesen; der Arbeiter lieferte bisher stets
-nur die zusammenhanglose Kraft, während der ordnende Geist Sache des
-Arbeitgebers war.
-
-Damit soll nicht gesagt sein, daß die größere geistige Kraft bisher
-ausnahmslos oder notwendiger Weise auf Seite des Letzteren sich
-befunden; auch die Techniker und Direktoren, die den großen
-Produktionsanstalten vorstehen, gehören dem Wesen nach zu den
-Lohnarbeitern und ganz im allgemeinen kann ohne weiteres zugegeben
-werden, daß die höhere Intelligenz in zahlreichen Fällen nicht bei den
-Arbeitgebern, sondern bei den Arbeitern sich gefunden haben mag.
-Trotzdem ist es der Arbeitgeber, dessen Verdienst überall dort, wo es
-galt, mehrere Arbeitende zu gemeinsamem Werke zu vereinigen und zu
-disciplinieren, diese Vereinigung und Disciplinierung gewesen. Für sich
-zu produzieren, vermochten die Arbeitenden bisher stets nur vereinzelt;
-sowie ihrer Mehrere unter einen Hut gebracht werden sollten, war ein
-»Herr« notwendig, ein Herr, der mit der Peitsche -- dieselbe mag nun aus
-Riemen, oder aus den Paragraphen einer Fabrikordnung geflochten sein --
-die Widerstrebenden beisammenhält und _dafür_ -- nicht für seine höhere
-Intelligenz, den Ertrag der Arbeit einstreicht, den Arbeitenden, sie
-mögen nun dem Proletariate oder der sogenannten Intelligenz angehören,
-nur so viel einräumend, als zu ihrem Unterhalte erforderlich ist. Noch
-niemals bisher haben die Arbeitenden den Versuch gewagt, ohne Herrn, als
-freie eigenberechtigte Männer und nicht als Knechte -- dabei aber mit
-vereinten Kräften zu produzieren. Die Benützung jener gewaltigen, den
-Ertrag der menschlichen Thätigkeit so unendlich vervielfältigenden
-Instrumente und Einrichtungen, die Wissenschaft und Erfindungsgeist der
-Menschheit an die Hand gegeben, setzt vereintes Wirken Vieler voraus,
-und dieses hat sich bisher nur Hand in Hand mit der Knechtschaft
-bewerkstelligen lassen. Man spreche nicht von den Produktivassociationen
-eines Schulze-Delitzsch und Anderer; sie haben am Wesen der Knechtschaft
-nichts geändert, bloß der Name der Herren ist ein anderer geworden. Auch
-in diesen Associationen gibt es nach wie vor Arbeitgeber und Arbeiter;
-Ersteren gehört der Ertrag, Letztere erhalten Stall und gefüllte
-Futterraufe gleich den zweibeinigen Arbeitstieren des Einzelunternehmers
-oder der gewöhnlichen Aktiengesellschaft, deren Aktionäre zufällig keine
-Arbeiter sind. Damit die Arbeit frei und eigenberechtigt werde, müssen
-sich die Arbeitenden als solche, nicht aber als kleine Kapitalisten
-zusammenthun; sie dürfen keinen wie immer genannten oder gearteten
-Arbeitgeber über sich setzen, also auch keinen solchen, der aus einer
-Genossenschaft von Ihresgleichen besteht; sie müssen sich als Arbeitende
-und nur als solche organisieren, dann erst haben sie auch als solche
-Anspruch auf den vollen Arbeitsertrag. Und diese Organisation der Arbeit
-ohne jeglichen Rückstand des altererbten Herrschaftsverhältnisses irgend
-eines Arbeitgebers ist das Grundproblem der socialen Befreiung; ist
-dieses glücklich gelöst, so folgt alles Andere ganz von selbst.
-
-Diese Organisation aber war mit nichten so schwierig, als auf den ersten
-Blick scheinen mag. Der Ausschuß ging von dem Grundsatze aus, daß die
-richtigen Organisationsformen freier Arbeit sich am besten durch das
-freie Zusammenwirken sämtlicher an dieser Organisation Beteiligten werde
-finden lassen. Besondere Schwierigkeiten vermochte er dabei nicht zu
-entdecken. Handelte es sich dabei doch dem Wesen nach um höchst einfache
-Dinge. Um z. B. ein Eisenwerk zu errichten, brauchten die Arbeiter den
-Gesamtmechanismus der Eisenfabrikation keineswegs sämtlich zu verstehen;
-was notthat, war bloß zweierlei: erstlich daß sie wußten, welcherlei
-Leute sie an die Spitze ihrer Fabrik zu stellen hätten und zweitens, daß
-sie diesen Leuten einerseits genügende Gewalt einräumten, um die Arbeit
-in Ordnung zu erhalten, anderseits aber auch sie genügend
-kontrollierten, um jederzeit das Heft über ihr Unternehmen in eigenen
-Händen zu behalten. Dabei konnten ohne Zweifel sehr ernste Fehler
-begangen werden; man konnte sich in der Organisation der leitenden
-sowohl als der überwachenden Organe, im Ausmaße der erteilten
-Vollmachten arg vergreifen; aber gerade die einmal bereits erwähnte,
-schrankenlose Öffentlichkeit aller Produktionsvorgänge, die von
-Gesamtheitswegen auch aus anderen Gründen gefordert werden mußte,
-erleichterte den Arbeiterschaften ihr Werk wesentlich, und da alle
-Genossen einer jeden Produktiv-Association im entscheidenden Punkte
-genau die gleichen Interessen hatten, und ihre gesammelte Aufmerksamkeit
-jederzeit auf diese Interessen gerichtet war, so lernten sie wunderbar
-rasch die gemachten Fehler verbessern, so daß schon nach wenigen Monaten
-der neue Apparat leidlich arbeitete und in merkwürdig kurzer Zeit einen
-hohen Grad von Vollkommenheit erreichte. Fleiß und Emsigkeit aller
-Genossen aber ließen von Anbeginn nichts zu wünschen übrig, was
-angesichts der vollkommen entfesselten Eigeninteressen, sowie der
-unablässigen gegenseitigen Anfeuerung und Kontrolle Gleichberechtigter
-und Gleichinteressierter eigentlich selbstverständlich ist.
-
-Der Ausschuß arbeitete daher zum Gebrauche der Associationen zwar ein
-sogenanntes »Musterstatut« aus, jedoch keineswegs in der Meinung, daß
-dasselbe sich wirklich mustergiltig erweisen werde oder auch nur könne,
-sondern bloß um einen Anfang zu machen, den Genossenschaften gleichsam
-ein Formular zu bieten, das sie als Gerippe ihrer eigenen, durch
-Erfahrung allmählich entstehenden Organisationsentwürfe gebrauchen
-könnten. Thatsächlich war dieses »Musterstatut«, anfangs von allen
-Genossenschaften beinahe unverändert angenommen, nach kaum einem Jahre
-überall so gründlich geändert und ergänzt, daß von seinen ursprünglichen
-Bestimmungen meist nur die leitenden Prinzipien übrig blieben. Diese
-aber waren die folgenden:
-
-1. Der Beitritt in jede Association steht Jedermann frei, gleichviel ob
-er zugleich Mitglied anderer Associationen ist, oder nicht; auch kann
-Jedermann jede Association jederzeit verlassen.
-
-2. Jedes Mitglied hat Anspruch auf einen, seiner Arbeitsleistung
-entsprechenden Anteil am Nettoertrage der Association.
-
-3. Die Arbeitsleistung wird jedem Mitgliede im Verhältnisse der
-geleisteten Arbeitsstunden berechnet, mit der Maßgabe jedoch, daß
-älteren Mitgliedern für jedes Jahr, um welches sie der Gesellschaft
-länger angehören, als die später Beigetretenen, ein Präcipuum von x
-Procent eingeräumt ist. Ebenso kann für qualifizierte Arbeit im Wege
-freier Vereinbarung ein Präcipuum bedungen werden.
-
-4. Die Arbeitsleistung der Vorsteher oder Direktoren wird im Wege einer,
-mit jedem Einzelnen derselben zu treffenden freien Vereinbarung, einer
-bestimmten Anzahl täglich geleisteter Arbeitsstunden gleichgesetzt.
-
-5. Der gesellschaftliche Ertrag wird erst am Schlusse eines jeden
-Betriebsjahres berechnet und nach Abzug der Kapitalrückzahlungen und der
-an das freiländische Gemeinwesen zu leistenden Abgaben zur Verteilung
-gebracht. Inzwischen erhalten die Mitglieder Vorschüsse in der Höhe von
-x Procent des vorjährigen Reinertrags für jede geleistete oder
-angerechnete Arbeitsstunde.
-
-6. Die Mitglieder haften für den Fall der Auflösung oder Liquidation der
-Association nach dem Verhältnisse ihrer Gewinnbeteiligung für die
-kontrahierten Darlehn, welche Haftung sich bezüglich der noch
-aushaftenden Beträge auch auf neueintretende Mitglieder überträgt. Auch
-erlischt mit dem Austritte eines Mitgliedes dessen Haftung für die schon
-kontrahiert gewesenen Darlehn nicht. Dieser Haftbarkeit für die Schulden
-der Association entspricht im Falle der Auflösung oder Liquidation der
-Anspruch der haftenden Mitglieder an das vorhandene Vermögen.
-
-7. Oberste Behörde der Association ist die Generalversammlung, in
-welcher jedes Mitglied das gleiche aktive und passive Wahlrecht ausübt.
-Die Generalversammlung faßt ihre Beschlüsse mit einfacher
-Stimmenmehrheit; zu Statutenänderungen und zur Auflösung und Liquidation
-der Association ist ¾ Majorität erforderlich.
-
-8. Die Generalversammlung übt ihre Rechte entweder direkt als solche,
-oder durch ihre gewählten Funktionäre aus, die ihr jedoch verantwortlich
-sind.
-
-9. Die Leitung der gesellschaftlichen Geschäfte ist einem Direktorium
-von x Mitgliedern übertragen, die von der Generalversammlung auf x Jahre
-gewählt werden, deren Bestallung jedoch jederzeit widerruflich ist. Die
-untergeordneten Funktionäre der Geschäftsleitung werden von den
-Direktoren ernannt; doch geschieht die Feststellung des Gehaltes dieser
-Funktionäre -- bemessen in Arbeitsstunden -- auf Vorschlag der
-Direktoren durch die Generalversammlung.
-
-10. Die Generalversammlung wählt jährlich einen aus x Mitgliedern
-bestehenden Aufsichtsrat, der die Bücher sowie das Gebahren der
-Geschäftsleitung zu überwachen und darüber periodischen Bericht zu
-erstatten hat.
-
-Es fällt sofort auf, daß in diesem Statut bloß für den Fall der
-Auflösung der Association (Absatz 6) von dem die Rede ist, was scheinbar
-doch als Hauptsache angesehen werden sollte, nämlich vom »Vermögen« der
-Associationen und von den Ansprüchen der Mitglieder an dieses Vermögen.
-Der Grund liegt aber darin, daß ein Vermögen der Association im
-gemeingebräuchlichen Sinne gar nicht existiert. Die Mitglieder besitzen
-allerdings das Nutznießungsrecht der vorhandenen Produktivkapitalien; da
-sie aber dieses Recht mit jedem beliebigen Neueintretenden jederzeit
-teilen und selber durch nichts anderes, als durch das Interesse am
-Ertrage ihrer Arbeit an die Association gebunden sein sollen, so darf es
-Vermögensinteressen bei den Associationen gar nicht geben, so lange
-dieselben im Betriebe sind. Und in der That ist ein -- sei es auch noch
-so nützlicher -- Gegenstand, den Jedermann benutzen kann, kein
-Vermögensbestandteil. Es giebt keine Eigentümer, bloß Nutznießer der
-Associationskapitalien. Und sollte darin vielleicht ein Widerspruch mit
-jener Bestimmung erblickt werden, wonach die dargeliehenen
-Produktivkapitalien von den Associationen zurückgezahlt werden müssen,
-so darf nicht übersehen werden, daß auch diese Kapitalrückzahlung -- den
-bereits erwähnten Fall der Liquidation ausgenommen -- von den
-Mitgliedern bloß in ihrer Eigenschaft als Nutznießer der
-Produktionsmittel geleistet wird. Da die Kapitalrückzahlungen von den
-Erträgen in Abzug gebracht, diese aber je nach der Arbeitsleistung unter
-die Mitglieder verteilt werden, so leistet eben auch jedes Mitglied
-Abzahlung je nach seiner Arbeitsleistung. Und wenn man noch genauer
-zusieht, so wird man finden, daß diese Abzahlungen in letzter Linie
-eigentlich von den Verbrauchern der von den Associationen erzeugten
-Güter getragen werden; sie bilden -- selbstverständlich -- einen Teil
-der Betriebskosten und müssen notwendigerweise im Preise des Produkts
-Deckung finden. Daß dies auch überall vollkommen geschehe, dafür sorgt
-mit unfehlbarer Sicherheit die freie Beweglichkeit der Arbeitskräfte.
-Eine Produktion, bei welcher diese Abzahlungen im Preise der Erzeugnisse
-nicht vollkommen Deckung gefunden hätten, wäre solange von
-Arbeitskräften teilweise verlassen worden, bis das sinkende Angebot die
-Preise entsprechend erhöht hätte. Ist hinwieder die Abzahlung geleistet,
-so entfällt dieser Bestandteil der Betriebskosten; die betreffenden
-Gesellschaftskapitalien können als amortisiert angesehen werden und
-nunmehr sinken -- wieder unter dem Einflusse der Freizügigkeit der
-Arbeitskräfte -- die Preise des Produkts, so daß die Mitglieder der
-Association ebensowenig einen Sondervorteil aus der Benützung
-lastenloser Kapitalien ziehen, als sie früher einen Sondernachteil aus
-der Abtragung dieser Lasten hatten. Vorteil und Nachteil verteilt sich
--- immer Dank der freien Beweglichkeit der Arbeitskräfte -- stets
-gleichmäßig auf die Gesamtheit aller Arbeitenden Freilands.
-
-Man sieht, die Produktivkapitalien sind infolge dieser einfach und
-unfehlbar funktionierenden Einrichtung streng genommen ebenso herrenlos,
-als der Boden; sie gehören Jedermann und daher eigentlich Niemand. Die
-Gemeinschaft der Produzenten giebt sie her und benützt sie, beides genau
-nach Maßgabe der Arbeitsleistung jedes Einzelnen; und Zahlung für den
-gemachten Aufwand leistet die Gemeinschaft aller Konsumenten, abermals
-ein Jeder genau nach Maßgabe seines Konsums.
-
-Daß mit der absoluten Freizügigkeit der Arbeit weder beabsichtigt, noch
-jemals erreicht wurde, daß der Ertrag überall das _absolut_ gleiche
-Niveau einhielt, ist selbstverständlich. Abgesehen davon, daß ja die
-Ungleichheiten oft erst nachträglich, bei Gelegenheit der
-Bilanzabschlüsse, sich zeigen, also auch erst nachträglich durch Zu- und
-Abfluß von Arbeitskräften ausgeglichen werden können, giebt es eine
-nicht unerhebliche, dauernde, jeder Ausgleichung entrückte
-Verschiedenheit der Gewinne, die in der Verschiedenheit der mit den
-unterschiedlichen Arbeitszweigen verknüpften Anstrengungen und
-Unannehmlichkeiten ihre naturgemäße Begründung hat. Nur ist es
-allerdings in Freiland anders, als in der alten Welt, wo nur zu oft die
-Last der Arbeit im umgekehrten Verhältnisse steht zu ihrem Ertrage; bei
-uns müssen schwierige, lästige, unangenehme Arbeiten ausnahmslos höheren
-Gewinn abwerfen, als die leichteren, angenehmeren -- sofern Letztere
-keine besonderen Fähigkeiten voraussetzen -- sonst würde man Jene sofort
-verlassen und sich Diesen zuwenden. Außerdem ist auch das im 3. Absatze
-den älteren Mitgliedern eingeräumte Präcipuum -- dasselbe schwankt bei
-verschiedenen Gesellschaften zwischen 1 und 3 Prozent per Jahr, summiert
-sich also bei längerer Arbeitszeit zu ganz respektabler Höhe und ist
-dazu bestimmt, die erprobten Arbeitsveteranen an das Unternehmen zu
-binden, -- ein Hindernis absoluter Gewinnausgleichung selbst bei ganz
-gleichgearteten Associationen.
-
-Einer kurzen Erläuterung bedarf Punkt 5 der Statuten. Für das
-erste Betriebsjahr war natürlich die Berechnung der den
-Associationsmitgliedern zu leistenden Gewinnvorschüsse in Prozenten des
-vorjährigen Reinertrags nicht möglich, und der Ausschuß schlug daher für
-dieses erste Jahr ein Fixum von 1 Shilling (1 Mark) per Stunde vor. Man
-wird vielleicht erstaunen über die -- insbesondere unter
-Berücksichtigung der am Kenia herrschenden Preisverhältnisse --
-auffallende Höhe dieses Ansatzes und billig fragen, von wo der Ausschuß
-den Mut schöpfte, auf derartige Erträge zu hoffen, daß solche
-Gewinnanteile, und noch dazu »vorschußweise« ausbezahlt werden könnten.
-Es gehörte aber dazu keine besondere Kühnheit, vielmehr war dieser
-Ansatz in Wahrheit mit äußerster Vorsicht bemessen. Das Ergebnis der bis
-dahin in Gang gesetzten gesellschaftlichen Produktionen war nämlich
-thatsächlich ein wesentlich günstigeres gewesen. Die Körnerwirtschaft z.
-B. hatte bei einem Arbeitsaufwande von insgesamt 44,500 Arbeitsstunden
-einen Rohertrag von 42,000 Centnern verschiedener Sämereien ergeben.
-Deren Preis in Edenthal betrug derzeit im Durchschnitt allerdings nicht
-ganz 3 Schilling per Centner, da wir mehr davon erzeugen konnten, als
-wir brauchten, der Export über Mombas aber, der einstweilen noch recht
-primitiven Transportmittel halber, keinen größeren Ertrag, als eben
-diese 3 Schilling ergab. Wir hatten also rund 6,000 Pfd. Sterling
-landwirtschaftlichen Rohertrag. An Produktionskosten hierfür waren zu
-berechnen: 400 Pfd. Sterling für Materialien, 300 Pfd. Sterling als
-Amortisation der investierten Kapitalien (Werkzeuge und Vieh), so daß
-5300 Pfd. Sterling Netto-Gewinn verbleiben werden. Da zur Deckung all
-der gemeinnützigen Ausgaben, die im Sinne unseres Programms Sache des
-gesamten Gemeinwesens sind, und von denen später noch gesprochen werden
-soll, eine Abgabe von nicht weniger als 35 Prozent in Aussicht genommen
-war, so verblieben rund 3400 Pfd. Sterling als verfügbarer Gewinn.
-Repartiert man nun diesen auf die geleisteten 44,500 Arbeitsstunden, so
-berechnet sich die Arbeitsstunde mit 1,5 Schilling. Das war aber auch
-annähernd der Durchschnittsertrag der anderen bislang betriebenen
-Produktionen gewesen, soweit sich derselbe für die Vergangenheit, in
-welcher es einen regelmäßigen Markt für alle Waren am Kenia noch nicht
-gab, überhaupt feststellen ließ; so viel war mit größter Beruhigung
-anzunehmen, daß für den Fall, als wir den Preis jedes Arbeitsprodukts
-durch Angebot und Nachfrage hätten regulieren können, im Durchschnitt
-für jedes derselben mindestens jener Preis hätte bezahlt oder
-angerechnet werden müssen, der dem landwirtschaftlichen Ertrage
-entsprach. Denn Körnerfrüchte, zu 3 Schilling ab Edenthal gerechnet,
-hätten wir doch vorerst erzeugen und absetzen können, so weit unsere
-Arbeitskraft reichte; es hätte also in der hinter uns liegenden
-Betriebsperiode Jedermann mindestens 1,5 Schilling für eine
-Arbeitsstunde erwerben können. Der nächsten Betriebsepoche schon gingen
-wir aber -- wie man bald sehen wird -- mit wesentlich verbesserten
-Hülfsmitteln entgegen, es mußte also, von unvorhergesehenen
-Unglücksfällen abgesehen, die Ergiebigkeit unserer Arbeit sehr namhaft
-steigen, so daß, als wir 1 Schilling Vorschuß für die Arbeitsstunde
-beantragten, unsere Meinung dahin ging, kaum die Hälfte des wirklichen
-Verdienstes vorweg zahlen zu lassen -- eine Voraussetzung, der die
-Erfahrung durchaus entsprach. In den späteren Betriebsepochen wurde es
-bei den meisten Associationen üblich, 90 Prozent des vorjährigen
-Reinertrages als zu bezahlenden Vorschuß zu bestimmen.
-
-Die Honorierung der Direktoren anlangend, ist zu bemerken, daß dieselbe
-bei den verschiedenen Gesellschaften von Anbeginn höchst verschieden
-war. Wo zur Leitung keine ausnahmsweisen Kenntnisse und kein besonderer
-Scharfblick erforderlich war, begnügten sich die Vorsteher damit, daß
-ihre Mühewaltung einer Arbeitsleistung von täglich 8-10 Stunden
-gleichgesetzt wurde; es gab aber auch Direktoren, die bis zu 24 Stunden
-täglich angerechnet erhielten, was schon im ersten Jahre einem
-Jahresgehalt von ungefähr 850 £ entsprach. Den Funktionären minderen
-Grades wurden in der Regel zwischen 8 und 10 Arbeitsstunden angerechnet;
-die kontrollierenden Aufsichtsräte erhielten für ihre Funktion meist
-keinerlei Extravergütung.
-
-Die den Associationen gewährten Kredite erreichten im ersten
-Betriebsjahre durchschnittlich 145 £ per Kopf der beteiligten
-Arbeiterschaft -- und wenn nun die Frage auftaucht, von wo wir diese
-Beträge für die Gesammtzahl unserer Mitglieder aufbrachten, so ist die
-Antwort: eben durch die Mitglieder. Und zwar sind hier nicht blos die
-von den Mitgliedern anläßlich ihres Beitritts zur Internationalen freien
-Gesellschaft gezahlten freiwilligen Beiträge gemeint, denn diese waren
-in erster Reihe dem Transportdienste zwischen Triest und Freiland
-geweiht, und hätten, auch wenn sie allesammt zur Ausstattung unserer
-Associationen mit Kapitalien herbeigezogen worden wären, zu diesem
-Behufe nicht genügt; die im Laufe des ersten Jahres beanspruchten
-Kredite umfaßten die Gesamtsumme von nahezu 2 Millionen Pfd. Sterling,
-während die gleichzeitig eingelaufenen freiwilligen Beiträge nur
-unwesentlich 1,5 Mill. Pfd. Sterling überstiegen. Die hauptsächlichen
-Mittel, die wir zu obigen Krediten an unsere Mitglieder gebrauchten,
-lieferte uns einerseits das durch die verfügbaren Vorräte repräsentierte
-gesellschaftliche Vermögen, andererseits die von den Mitgliedern
-gezahlte Steuer.
-
-Nicht unerwähnt darf hier bleiben, daß sich der Ausschuß für die ersten
-Jahre die Entscheidung über Ausmaß und Reihenfolge der zu gewährenden
-Kredite vorbehielt. Diese -- wenn auch blos negative -- Einmischung in
-die Betriebsverhältnisse der Associationen stand allerdings nicht im
-Einklange mit dem Prinzipe des unbedingten Selbstbestimmungsrechtes der
-Produzenten, war aber insolange unvermeidlich, als unser Gemeinwesen
-jene hohe Stufe der Ergiebigkeit der Arbeit noch nicht thatsächlich
-erreicht hatte, welche eben die Voraussetzung vollkommener Durchführung
-aller ihm zu Grunde liegenden Prinzipien ist. Späterhin, als die
-Ausrüstung mit auf der Höhe des technischen Fortschritts stehenden
-Produktionsmitteln der Hauptsache nach bei uns vollbracht war und es
-sich folglich nurmehr darum handelte, das Vorhandene fortlaufend zu
-ergänzen und zu verbessern, konnte niemals die Frage sein, ob die
-Überschüsse der laufenden Produktion auch genügen würden, selbst den
-weitestgehenden neu auftauchenden Kapitalansprüchen zu genügen. Anders
-zu Beginn, wo die Kapitalbedürfnisse unbegrenzt und die Hülfsmittel noch
-unentwickelt waren. Mehr, als es zu leisten vermochte, konnte das freie
-Gemeinwesen nicht bieten, und es mußte sich daher eine Auslese der zu
-bewilligenden Investionskredite vorbehalten. Dank der durch die freie
-Beweglichkeit der Arbeitskräfte sich geltend machenden durchgreifenden
-Interessensolidarität konnte dies geschehen, ohne daß damit auch nur
-vorübergehend eine gefährliche Bevorzugung oder Benachteiligung der
-verschiedenen Produzenten in ihren wesentlichen materiellen Interessen
-verknüpft gewesen wäre. Denn wenn -- wie dies kaum zu vermeiden war --
-durch die gewährten oder verweigerten Kredite einzelne Produktionen
-begünstigt oder benachteiligt wurden, so hatte dies unmittelbar und
-selbstverständlich ein derartiges Zu- und Abströmen von Arbeitskraft zur
-Folge, daß die auf die gleichen Arbeitsleistungen entfallenden Erträge
-sich alsbald wieder ins Gleichgewicht setzten.
-
-Doch wie gesagt, nur auf Ausmaß und Reihenfolge der zu gewährenden
-Kredite erstreckte sich diese in den ersten Jahren geübte Einmischung,
-nicht aber auf die Art der Verwendung derselben. Diesbezüglich wurde von
-Anbeginn das Prinzip der Selbstverantwortlichkeit der Produzenten zu
-vollständiger Durchführung gebracht. Da die Produzenten für die
-Rückzahlung der empfangenen Kapitalien aufzukommen hatten, so blieb es
-ihre Sache, für die nützliche Verwendung derselben Sorge zu tragen.
-Allerdings sind es -- wie früher erwähnt -- die Konsumenten, welche in
-letzter Linie die Kosten der gemachten Anlagen bezahlen; aber das thun
-sie selbstverständlich nur, wenn und insoweit diese Anlagen nützlich und
-notwendig sind. Hätte eine Association überflüssige oder schlechte
-Maschinen angeschafft, so wäre es ihr unmöglich gewesen, die für
-dieselben zu leistenden Abzahlungen auf die Käufer ihrer Erzeugnisse
-abzuwälzen, sie hätte durch solche Investionen ihren Gewinn nicht
-erhöht, sondern geschmälert, und man durfte es daher füglich dem
-Eigeninteresse der bei den Associationen Beteiligten überlassen, dafür
-Sorge zu tragen, daß derartige Kapitalvergeudung unterbleibe.
-
-Wir kommen nun zu der Frage, wie es möglich war, das gleiche Anrecht
-Aller auf gleich ergiebigen Boden zur Wahrheit zu machen. -- Auch dieses
-Problem löste sich in einfachster Weise durch die im Prinzipe der freien
-Vergesellschaftung enthaltene freie Beweglichkeit der Arbeitskräfte.
-Zwar gab es auch in Freiland besseren und minder guten Boden wie überall
-in der Welt; aber da dem besseren Boden mehr Arbeiter zuströmten, als
-dem schlechten und da einem bekannten ökonomischen Gesetze zufolge der
-Mehraufwand von Arbeitskraft auf gleicher Bodenfläche mit
-_verhältnismäßig sinkendem_ Ertrage verknüpft ist, so entfiel für den
-einzelnen Arbeiter, respektive für die einzelne Arbeitsstunde auf bestem
-Boden kein höherer Reinertrag, als auf überhaupt noch in Arbeit
-genommenem schlechtesten.
-
-Im Danaplateau z. B. konnten mit einem Arbeitsaufwande von 80 Stunden
-120 Centner Weizen vom Hektar gewonnen werden, in Edenthal mit dem
-gleichen Arbeitsaufwande bloß 90 Centner. Die Bodenassociation im
-Danaplateau hatte daher, da der Centner Weizen 3-1/8 Schilling galt und
-1/8 Schilling zur Deckung aller Spesen ausreichte, am Schlusse des
-Jahres 4½ Schilling pro Arbeitsstunde als Gewinn und konnte von diesem
-nach Abzug der Steuer und der Kapitalrückzahlungen 2¾ Schilling zur
-Verteilung bringen. Die Mitglieder der Edenthal-Association dagegen
-erhielten bloß 2 Schilling pro Arbeitsstunde Gewinnanteil, und da nähere
-Untersuchung ergab, daß dieser Unterschied nicht in zufälligen
-Witterungsverschiedenheiten und auch nicht in minderer Arbeit, sondern
-in der Beschaffenheit des Bodens zu suchen sei, so war die Folge, daß im
-nächsten Jahre die neu eingewanderten Feldarbeiter mit Vorliebe den
-besseren Boden des Danaplateaus aufsuchten. Dort kamen jetzt
-durchschnittlich 105 Arbeitsstunden auf den Hektar, in Edenthal bloß 60;
-die mehraufgewendeten 25 Stunden ergaben aber auf Ersterem keinen
-Rohertrag von je 1½ Centner, wie im Durchschnitt die früher
-aufgewendeten 80 Stunden, sondern bloß einen solchen von knapp ¾
-Centner, d. h. der Ertrag stieg nicht von 120 auf 157½ sondern bloß auf
-138 Centner, sank also per geleisteter Arbeitsstunde auf 1,34 Centner,
-was zur Folge hatte, daß der Gewinn, ungeachtet der inzwischen wegen
-Verbesserung der Kommunikationsmittel eingetretenen namhaften
-Preissteigerung des Getreides, sich bloß auf 5 Schilling erhöhte, wovon
-3 Schilling pro Stunde zur Verteilung gelangten. In Edenthal dagegen
-verminderte sich der Rohertrag durch den Entgang von 20 Arbeitsstunden
-per Hektar bloß um je 8 Centner; er betrug also jetzt für 60
-Arbeitsstunden 82 Centner oder 1,27 Centner per Arbeitsstunde. Die
-Edenassociation zahlte also eine Kleinigkeit mehr als die von Dana und
-da zudem der Aufenthalt in Edenthal mit größeren Annehmlichkeiten
-verknüpft war, als der im Danaplateau, so wandte sich nun der Zuzug von
-Ackerbauern wieder insolange nach Edenthal, bis endlich -- nach 2
-ferneren Betriebsepochen -- eine ungefähr fünfprocentige Gewinndifferenz
-zu Gunsten Danas hervortrat, bei welcher es dann, von kleinen
-Schwankungen abgesehen, auch sein Bewenden hatte.
-
-Ebenso aber, wie das durch die Freizügigkeit der Arbeitskräfte
-verwirklichte Prinzip der Interessensolidarität Denjenigen, der
-thatsächlich schlechteren Boden bearbeitet, in den Mitgenuß der Vorteile
-besseren Bodens setzt, so partizipiert auch jeder, in welchem
-Produktionszweige immer Beschäftigte an allen wie immer gearteten
-Vorteile des besten Bodens und umgekehrt zieht auch der Bodenbebauer,
-wie überhaupt jeglicher Produzent, Gewinn aus sämmtlichen
-Produktionsvorteilen, die in welchem Arbeitszweige unseres Gemeinwesens
-immer erzielt werden, gerade so, als ob er bei demselben unmittelbar
-beteiligt wäre. _Alle_ Produktionsmittel sind Gemeingut; über das Ausmaß
-des Nutzens, den ein jeglicher von uns von diesem gemeinsamen Eigentume
-ziehen mag, entscheidet nicht der Zufall des Besitzes -- aber auch nicht
-die Fürsorge einer Alles bevormundenden kommunistischen Obrigkeit,
-sondern einzig die Fähigkeit und der Fleiß eines Jeden.
-
-
-
-
- 9. Kapitel.
-
-
-Ausgedehnteste Öffentlichkeit aller wirtschaftlichen Vorgänge war -- wie
-bereits erwähnt -- die oberste Voraussetzung des richtigen
-Funktionierens der im Vorherigen geschilderten überaus einfachen
-Organisation, die in Wahrheit in nichts anderem, als in der
-Hinwegräumung aller, der freien Bethätigung von weisem Eigennutze
-geleiteter individueller Willkür im Wege stehenden Hindernisse bestand.
-Um so notwendiger war es, diese souveräne Willkür wohl zu beraten, dem
-Eigennutze alle Handhaben zu richtigem und raschem Erfassen seines
-wahren Vorteils zu bieten.
-
-Kein wie immer geartetes Geschäftsgeheimnis! Das war gleichsam mit eines
-der Grundgesetze von Edenthal. Da draußen, wo der Kampf ums Dasein darin
-gipfelt, einander nicht blos auszubeuten und zu verknechten, sondern
-überdies wirtschaftlich zu vernichten, wo infolge der allgemeinen, aus
-Unterkonsum hervorgehenden Überproduktion konkurrieren gleichbedeutend
-ist mit: einander die Kunden abjagen; da draußen in der alten Welt wäre
-Preisgebung der Geschäftsgeheimnisse gleichbedeutend mit Preisgebung
-mühsam ergatterten, erlisteten Absatzes, also mit Untergang. Wo die
-ungeheure Mehrzahl der Menschen kein Anrecht auf steigende
-Produktionserträge besitzt, sondern sich -- unbekümmert um die
-Ergiebigkeit der Arbeit -- mit »Arbeitslohn«, d. i. mit dem zur
-Lebensfristung Erforderlichen begnügen muß, dort kann es auch keine
-Verwendung für die Gesammterträge hochproduktiver Arbeit geben. Denn die
-wenigen Besitzenden können unmöglich die stetig wachsenden Überschüsse
-verzehren und ihr Bestreben, solche zu kapitalisieren, d. h. in
-Arbeitsinstrumente zu verwandeln, scheitert an der Unmöglichkeit der
-Verwendung von Produktionsmitteln, für deren Produkte es keine
-Verwendung giebt. Es herrscht also in der ausbeuterischen Welt ein
-stetiges Mißverhältnis zwischen Produktivkraft und Konsum, zwischen
-Angebot und Nachfrage, und die selbstverständliche Folge ist, daß der
-Absatz Gegenstand eines eben so stetigen und schonungslosen Kampfes
-zwischen den verschiedenen Produzenten ist. Nicht möglichst viel und gut
-zu erzeugen, sondern für einen möglichst großen Teil der eigenen
-Erzeugnisse einen Markt zu erobern, ist die vornehmste Sorge der
-ausbeuterischen Produzenten, und da dieser Absatzmarkt angesichts des
-oben klargelegten Mißverhältnisses stets nur auf Kosten anderer
-Produzenten erlangt und behauptet werden kann, so besteht hier
-notwendigerweise ein dauernder und unversöhnlicher Interessenkonflikt.
-Anders bei uns. Wir können des Absatzes jederzeit sicher sein, denn bei
-uns kann nicht mehr erzeugt werden, als gebraucht wird, da ja der
-gesamte Produktionsertrag dem Arbeitenden gehört und der Verbrauch, die
-Befriedigung irgendeines realen Bedürfnisses, die ausschließliche
-Triebfeder der Arbeit ist; bei uns kann also durch Preisgebung seiner
-Absatzquellen niemand um seine Kunden kommen, da ihm für die eventuell
-verlorenen notwendigerweise andere zufallen müßten.
-
-Und welchen Anlaß hätte anderseits der Produzent da draußen, seine
-Erfahrungen Anderen mitzuteilen? Können sie von der erlangten Kenntnis
-überhaupt anderen Gebrauch machen, als einen auf seinen Nachteil
-abzielenden? Kann er die ihm ihrerseits mitgeteilte Kunde zu etwas
-anderem benützen, als wieder zu ihrer Schädigung? Läßt er den Anderen
-heran zur Teilnahme an seinem Geschäfte, wenn dieses das ertragreichere
-ist, oder läßt ihn Jener in das seine, wenn es sich umgekehrt verhält?
-Steigt die Nachfrage nach den Erzeugnissen eines Produzenten, so steht
-ihm der Arbeits-»Markt« offen, wo er stets Knechte in Hülle findet, die
-zur Arbeit bereit sind, ohne nach deren Ertrag zu fragen, sofern sie nur
-ihren »Lohn« erhalten. Also nicht einmal die Konsumenten sind da draußen
-an der Öffentlichkeit der Geschäftsführung interessiert, die übrigens,
-wie schon gesagt, ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Ganz anders auch dies
-bei uns in Freiland. Wir lassen Jedermann teilnehmen an unseren
-Geschäftsvorteilen, können dafür aber auch teilnehmen an Jedermanns
-Geschäftsvorteilen, und wir _müssen_ diese veröffentlichen, weil Mangels
-eines Marktes willen- und interesseloser Arbeiter, diese
-Veröffentlichung der einzige Weg ist, bei steigender Nachfrage
-entsprechende Arbeitskräfte heranzuziehen.
-
-Und was die Hauptsache ist: während da draußen Niemand ein wirkliches
-Interesse daran hat, daß die Produktion Anderer sich hebe, ist bei uns
-Jedermann aufs lebhafteste dabei interessiert, daß Jedermann möglichst
-leicht und gut produziere. Denn die klassische Phrase von der
-Solidarität aller wirtschaftlichen Interessen ist zwar bei uns zur
-Wahrheit geworden, da draußen aber nichts anderes, als eine jener
-zahlreichen Selbsttäuschungen, aus denen sich die nationalökonomische
-Doktrin der ausbeuterischen Welt zusammengesetzt. _Allgemeine_
-Steigerung der Produktion, des Reichtums ist dort wo die alte
-Wirtschaftsordnung herrscht, ein Unding. Wo der Massenkonsum nicht
-zunehmen kann, dort können auch Produktion und Reichtum nicht wachsen,
-sondern nur verschoben werden, Ort und Eigner wechseln; um was die
-Produktion des Einen zunimmt, genau um das nämliche muß die irgendeines
-Anderen abnehmen -- es sei denn, daß auch der Verbrauch einigermaßen
-gewachsen ist, was jedoch, wo die Massen ausgeschlossen sind vom Genusse
-wachsender Arbeitserträge, nur zufällig und keineswegs schritthaltend
-mit der gewachsenen Arbeitsergiebigkeit geschehen kann. Bei uns in
-Freiland dagegen, wo die Produktion -- angesichts der mit ihr
-naturnotwendig genau proportional wachsenden Konsumtionskraft -- ins
-Ungemessene steigen kann und steigt, soweit nur unsere Fertigkeiten und
-Künste es gestatten, bei uns ist es das oberste, absoluteste Interesse
-der Gesamtheit, jedermanns Arbeitskraft verwertet zu sehen, wo jeweilig
-die höchsten Erträge für ihn zu erzielen sind, und niemand giebt es, der
-nicht Vorteil daraus zöge, wenn dies in möglichst vollkommener Weise
-überall geschieht. Der Einzelne oder die einzelnen Associationen, die
-vermöge unserer Organisation genötigt sind, einen zufällig erlangten
-Vorteil mit anderen zu teilen, erleiden durch dieses einzelne Faktum für
-sich betrachtet allerdings einen Gewinnentgang; aber unendlich größer
-ist für alle Fälle der Vorteil, den sie davon haben, daß Ähnliches
-überall geschieht, daß die Produktivität unablässig wächst, und ihr
-eigener Nutzen gebietet also, daß es überall -- sohin selbstverständlich
-auch bei ihnen -- geschehe. In wie ungeahnt hohem Maße dies der Fall
-ist, wird die fernere Geschichte von Freiland sattsam zeigen.
-
-Über die zu ausgedehntester Öffentlichkeit der wirtschaftlichen Vorgänge
-abzielenden Maßnahmen ist folgendes zu sagen. Wir gehen von dem
-Grundsatze aus, daß die Gesamtheit sich so wenig als möglich hindernd
-oder anordnend, dagegen so viel als möglich orientierend und belehrend
-in das Thun und Lassen der Individuen zu mengen habe. Jedermann mag
-handeln, wie ihm beliebt, sofern er nur die Rechte anderer nicht kränkt;
-aber wie er immer handle, sein Thun muß vor jedermann offen daliegen. In
-Gemäßheit dieses Grundsatzes wurde schon in der alten Heimat bei
-Anmeldung des neuen Mitgliedes dessen wirtschaftliche Eignung
-festgestellt und die betreffenden Listen gelangten -- wie einmal schon
-erwähnt -- mit möglichster Beschleunigung an den Ausschuß. Dem lag weder
-müßige Neugier, noch polizeiliche Bevormundungssucht zu Grunde, vielmehr
-wurden diese Daten ausschließlich zu Nutz und Frommen der
-Produktionsgenossenschaften sowohl als der Neuangemeldeten selber
-veröffentlicht. Die Folge davon war, daß Letztere in der Regel schon bei
-ihrer Ankunft am Kenia auf sie vorbereitete und eingerichtete
-Arbeitsstätten vorfanden, und zwar allemal diejenigen, an denen sie die
-jeweilig beste Verwertung ihrer Arbeitskraft fanden. Niemand zwang sie,
-sich diesen ohne ihr Zuthun getroffenen Vorbereitungen anzubequemen,
-aber da dieselben in denkbar bester Weise ihrem eigenen Vorteile
-dienten, so thaten sie es -- von vereinzelten Ausnahmen abgesehen -- mit
-der größten Freude.
-
-Der zweite und wichtigste Gegenstand der Publikationen waren die
-Betriebsausweise der Produzenten -- der Associationen sowohl als der --
-in geringer Zahl stets vorhandenen -- Einzelproduzenten. Von ersteren,
-als den weitaus wichtigeren und überdies ihrer Natur nach schon zu
-sorgfältiger Buchführung genötigten, wurde sehr viel, in Wahrheit die
-Bloßlegung ihres gesamten Gebahrens verlangt. Rohertrag, Spesen,
-Reinertrag, Einkauf und Verkauf, Arbeitsleistung, Verwendung des
-Reinertrags, alles mußte fortlaufend veröffentlicht werden und zwar je
-nach der Beschaffenheit der betreffenden Daten einmal jährlich, anderes
-in kürzeren Abständen, der gemachte Arbeitsaufwand z. B. allwöchentlich.
-Von Seite der wenigen Einzelproduzenten begnügte man sich mit dem, was
-infolge der nunmehr zu beschreibenden Einrichtung auch ohne ihr Zuthun
-über sie bekannt wurde.
-
-Einkauf und Verkauf aller erdenklichen Produkte und Handelsartikel
-Freilands war nämlich in großen Warenhallen und -lagern konzentriert,
-deren Leitung und Überwachung von Gesamtheitswegen geschah. Es war zwar
-niemand verboten, zu kaufen und zu verkaufen, wo ihm beliebte, diese
-öffentlichen Magazine boten aber so gewaltige Vorteile, daß Jedermann,
-der sich nicht selber schädigen wollte, sie in Anspruch nahm. Gebühren
-für Einlagerung und Manipulation wurden nicht berechnet, da wir von der
-Anschauung ausgingen, daß es ganz gleichgültig sei, ob man in einem
-Lande, wo Jedermann einen seiner Produktion entsprechenden Verbrauch
-hat, diese Manipulationsgebühren von den Konsumenten als solchen, oder
-in Form eines minimalen Steuerzuschlages von ihnen in ihrer Eigenschaft
-als Produzenten einhebe. Als reiner Gewinn verblieb die Ersparnis aus
-der Vereinfachung des Verrechnungswesens.
-
-Die oberste Verwaltung von Freiland war aber zugleich auch der Bankier
-der gesamten Bevölkerung. Nicht bloß jede Association, sondern Jedermann
-hatte sein Konto in den Büchern der Centralbank, diese besorgte die
-Inkassi und die Auszahlungen, von den Millionen Pfunden angefangen, die
-späterhin gar manche Genossenschaft im Inlande wie im Auslande zu
-fordern und zu entrichten hatte, bis hinab zu den auf die
-Arbeitsleistung des Einzelnen entfallenden Gewinnanteilen und dessen
-Kleider- oder Küchenrechnungen. Ein in Wahrheit »alles« umfassendes
-Clearingsystem ermöglichte die Durchführung dieser zahllosen Geld- und
-Kreditoperationen beinahe ohne jeden Aufwand wirklichen Geldes,
-lediglich durch Zu- und Abschreibungen in den Büchern. Niemand zahlte
-bar, sondern gab Anweisungen auf sein Konto bei der Centralbank, die ihm
-seine Forderungen gutschrieb, die Ausgaben zu seinen Lasten buchte und
-ihm allmonatlich mitteilte, mit welchem Betrage er bei ihr aktiv oder
-passiv sei. Denn auch die von Gesamtheitswegen gewährten, zu
-kapitalistischer Ausrüstung der Produktion dienenden, im vorigen Kapitel
-erwähnten Kredite gingen selbstverständlich durch die Bücher der Bank.
-Diese war solcherart über jede wie immer geartete geschäftliche
-Beziehung im ganzen Lande fortlaufend bis ins kleinste Detail
-unterrichtet. Sie wußte nicht bloß, wo und wie teuer die Produzenten
-ihre Vorräte und Rohstoffe einkaufen, ihre Erzeugnisse absetzen, sie
-kannte auch die Haushaltungsbilanz, das Einkommen und den Küchenzettel
-jeder Familie. Selbst der Kleinhandel konnte an der Allgegenwart dieser
-Kontrolle nichts ändern. Die meisten Lebensmittel und zahlreiche andere
-Bedarfsartikel wurden von diesen Geschäftszweig betreibenden
-Associationen den Kunden ins Haus gestellt; auch diesen konnte die Bank
-auf den Heller nachrechnen, wieviel sie verdient hätten, denn auch deren
-Einkäufe wie Verkäufe gingen durch die Bücher dieses Instituts. Die
-Konti der Bank aber mußten mit den Ausweisen des statistischen Amtes
-stimmen, und so besaßen denn alle Veröffentlichungen eine nicht bloß
-annähernd und schätzungsweise, sondern absolut sichere Grundlage; selbst
-wer es gewollt hätte, wäre schlechterdings außer stande gewesen, irgend
-etwas zu verheimlichen oder zu fälschen.
-
-Diese allumfassende, automatisch sich ergebende Durchsichtigkeit der
-gesamten Produktions- und Erwerbsverhältnisse bot nun auch für die in
-Freiland eingehobenen Abgaben eine vollkommen verläßliche Grundlage.
-Grundsatz war, daß alle Ausgaben des Gemeinwesens von jedem Einzelnen
-genau nach Maßgabe seines Reineinkommens gedeckt werden sollen, und da
-es in Freiland anderes Einkommen als das von Arbeit nicht gab, dieses
-aber genau bekannt war, so machte die Verteilung der Abgaben nicht die
-geringsten Schwierigkeiten. Dieselben wurden ganz einfach schon bei
-Entstehung des Einkommens erfaßt, und zwar durch Vermittlung der Bank
-nicht bloß bei den Associationen, sondern auch bei den wenigen
-Einzelproduzenten. In Wahrheit hatte ja das Gemeinwesen durch seine Bank
-jegliches Einkommen früher in Händen als der Bezugsberechtigte selber,
-und es brauchte diesem daher die Abgabe bloß in Rechnung zu stellen,
-unter den Passiven zu buchen, und die Steuer war einkassiert. Man
-betrachtete daher in Freiland diese Steuer gar nicht als Abzug vom
-Reineinkommen, sondern gleichsam als eine vom Bruttoertrage in
-Abrechnung kommende Auslage, etwa gleich den Betriebsspesen. Niemand
-empfand sie, trotz ihrer sehr bedeutenden Höhe, als Last, schon aus dem
-Grunde nicht, weil Jedermann wußte, daß der größte Teil derselben ihm
-oder den Seinen wieder zurückfließen werde, jeder Heller derselben aber
-ausschließlich gemeinnützigen Zwecken gewidmet sei, deren Früchte ihm
-mittelbar zu Gute kämen. Die Auffassung war also durchaus berechtigt,
-zwischen den durch Vermittlung der Gesamtheit und den im engeren Kreise
-vorgenommenen fruchtbringenden Ausgaben keinerlei Unterschied zu machen.
-
-Diese Abgaben aber waren sehr hoch; sie betrugen im ersten Jahre 35
-Prozent des Reinertrages und sanken niemals unter 30 Prozent, trotzdem
-das Einkommen, von welchem die Abgabe erhoben wurde, den gewaltigsten
-Aufschwung nahm. Denn die Aufgaben, welche sich das Gemeinwesen in
-Freiland gerade zu dem Zwecke gesteckt hatte, um diesen Aufschwung des
-Reichtums zu ermöglichen, waren sehr umfassend und beanspruchten die
-kolossalsten Beträge.
-
-Die eine dieser Aufgaben war die Beistellung der zu Zwecken der
-Produktion erforderlichen Kapitalien. Doch mußte bloß im Anfang dieser
-Bedarf seinem ganzen Umfang nach aus der laufenden Steuer gedeckt
-werden, während späterhin die Rückzahlungen der Schuldner dem neuen
-Bedarfe teilweise die Wage hielten.
-
-Eine stetig wachsende Ausgabenpost bildete das Erziehungswesen, welches
-Summen verschlang, von denen man außerhalb Freilands keine Vorstellung
-besitzt.
-
-Ebenso beanspruchte das Kommunikationswesen einen in riesigen
-Dimensionen zunehmenden Aufwand und das nämliche gilt vom öffentlichen
-Bauwesen.
-
-Die Hauptpost des freiländischen Ausgabenbudgets aber bildete der Titel
-»Versorgungswesen«, unter welchem die Ansprüche all jener zu verstehen
-sind, denen wegen thatsächlicher Arbeitsunfähigkeit, oder weil sie im
-Sinne unserer Grundsätze von Arbeit entbunden werden sollten, ein Recht
-auf auskömmlichen Unterhalt eingeräumt war. Zu diesen gehörten alle
-Frauen, alle Kinder, alle Männer über 60 Jahre und selbstverständlich
-alle Kranken oder Invaliden. Die Bezüge dieser verschiedenen
-Versorgungsberechtigten waren sämtlich so hoch bemessen, daß nicht bloß
-der dringenden Notdurft, sondern auch höheren Ansprüchen, wie sie nach
-dem jeweiligen Stande des allgemeinen Reichtums in Freiland gebräuchlich
-waren, Genüge geschah; zu diesem Behufe mußten sie derart berechnet
-sein, daß sie parallel mit dem Einkommen der arbeitenden Bevölkerung
-stiegen, waren daher nicht in festen Summen, sondern in Teilbeträgen vom
-Durchschnittseinkommen ausgeworfen. Der Jahr für Jahr erhobene, im
-Durchschnitt aller im Lande betriebenen Produktionen auf den einzelnen
-Produzenten entfallene Reinertrag war die Versorgungseinheit, und von
-dieser Einheit entfiel nun auf jede alleinstehende Jungfrau oder Witwe
--- sofern sie nicht das Lehreramt oder Krankenpflege ausübten und
-hierfür entsprechend bezahlt wurden -- 30 Prozent; verheirateten sie
-sich, so sank ihr Anspruch auf 15 Prozent der Einheit; auf die drei
-ersten Kinder jedes Haushalts entfielen je 5 Prozent. Vater- und
-mutterlose Waisen wurden in öffentliche Verpflegung genommen und
-erforderten einen Aufwand von durchschnittlich 12 Prozent der Einheit.
-Männer über 60 Jahre und Kranke oder Invaliden erhielten 40 Prozent.
-
-Es mag hier sofort bemerkt werden, daß diese sämtlichen
-Versorgungsbeträge nach außerfreiländischen Begriffen geradezu horrend
-zu nennen wären; schon im ersten Jahre betrug die Einheit 180 Pfd.
-Sterling, es bekam also eine Jungfrau oder Witwe 48 Pfd. Sterling, eine
-verheiratete Frau 24 Pfd. Sterling, eine Familie mit drei Kindern und
-Frau wieder 48 Pfd. Sterling, ein Greis oder Invalide 54 Pfd. Sterling,
-was angesichts der bei uns damals herrschenden Preise mehr war, als die
-meisten europäischen Staaten ihren höchsten Funktionären oder deren
-Witwen und Waisen an Pension zahlen. Denn ein Zentner feines Mehl
-kostete in jenem ersten Jahre am Kenia 7 Shilling oder Mark, ein fetter
-Ochse 12 Shilling, Butter, Honig, das köstlichste Obst waren zu
-ähnlichen Preisen zu haben, Wohnung beanspruchte nicht mehr als
-höchstens 2 Pfd. Sterling im Jahr, kurzum mit ihren 48 Pfd. Sterling
-konnte bei uns eine ledige Frau in Überfluß leben und brauchte sich
-nichts Wesentliches von jenen Annehmlichkeiten und Vergnügungen zu
-versagen, die zu jener Zeit in Edenthal überhaupt erreichbar waren. Und
-späterhin, als die Preise in Freiland denn doch einigermaßen stiegen,
-eilte das Steigen der Arbeitserträge, d. i. also auch der
-Versorgungsbeträge dem gewaltig voran, so daß der in diesen gewährte
-Überfluß stets ausgesprochener wurde. Allein das lag eben in der Absicht
-des Volkes von Freiland. Warum? Davon wird an geeigneter Stelle noch die
-Rede sein, insbesondere auch davon, warum den Frauen ausnahmslos
-Versorgungsrecht zugesprochen wurde und warum bloß das Lehramt und die
-Krankenpflege als ihnen zugedachter Beruf erwähnt ist. Auch von den
-Ansprüchen der Kinder wird noch gesprochen werden. Hier sei nur
-konstatiert, daß die Deckung all dieser Ansprüche selbstverständlich
-stetig wachsende Summen erforderte.
-
-Recht namhafte Ausgabeposten waren auch die für Statistik, Lagerhaus-
-und Bankwesen; indessen nahmen die Kosten dieser Verwaltungszweige --
-trotz ihres großen absoluten Wachstums -- relativ, nämlich im
-Verhältnisse zu dem steuerbaren Einkommen, so rasch ab, daß sie schon
-nach wenigen Jahren auf einen minimalen Prozentsatz der Gesamtausgaben
-gesunken waren.
-
-Dagegen kosteten Justiz, Polizei, Militär und Finanzverwaltung, die in
-anderen Ländern reichlich Neun-Zehnteile des Gesamtbudgets verschlingen,
-in Freiland nichts. Wir hatten keine Richter und Polizeiorgane, unsere
-Steuern flossen von selber ein und Soldaten kannten wir auch nicht.
-Nichtsdestoweniger wurde bei uns nicht gestohlen, geraubt oder gemordet,
-gab es keine Steuerrückstände und wehrlos waren wir, wie sich aus dem
-Späteren ergeben wird, keineswegs. Im übrigen mögen unsere Waffen- und
-Munitionsvorräte sowie unsere an die kriegerischen Massai gezahlten
-Subsidien immerhin als Surrogat für ein Militärbudget gelten. In Bezug
-auf das Justizwesen waren wir so arge Barbaren, daß wir nicht einmal
-einen Zivil- oder Kriminalkodex für nötig hielten, nebenbei bemerkt,
-einstweilen auch keinerlei geschriebenes Verfassungsrecht besaßen. Der
-Ausschuß, immer noch im Besitze der ihm im Haag erteilten Vollmacht,
-begnügte sich, alle seine Maßnahmen in öffentlichen Versammlungen
-darzulegen und die Zustimmung der Gemeine zu verlangen, die ihm auch
-einstimmig gewährt wurde. Zur Schlichtung etwa auftauchender
-Streitigkeiten unter den Mitgliedern wurden -- einstweilen gleichfalls
-vom Ausschusse empfohlene -- Schiedsrichter gewählt, die einzeln in
-mündlichem Verfahren nach bestem Wissen ihre Entscheidungen treffen
-sollten und von denen der Appell an das Schiedsrichter-Kollegium offen
-stand; sie hatten aber allesamt so gut wie nichts zu thun. Gegen Laster
-und deren gemeingefährliche Folgen maßten wir uns kein _Straf_-, sondern
-bloß ein _Schutz_recht an, und zwar erachteten wir die _Besserung_ als
-das beste und wirksamste Schutzmittel. Da geistig und moralisch normal
-veranlagte Menschen in einem Gemeinwesen, welches alle berechtigten
-Interessen jedes seiner Mitglieder gleichmäßig berücksichtigt, sich
-unmöglich gewaltsam gegen fremdes Recht vergehen können, so betrachteten
-wir allenfallsige Verbrecher als geistig oder moralisch Kranke, deren
-Heilung eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses sei. Sie wurden
-daher -- je nach dem Grade ihrer Gemeingefährlichkeit -- in Beobachtung
-oder in Gewahrsam genommen und insolange geeigneter Behandlung
-unterzogen, als dies nach dem Urteile kompetenter Fachmänner im
-Interesse der allgemeinen Sicherheit rätlich erschien. Fachmänner im
-obigen Sinne waren aber nicht die Friedensrichter, welche bloß darüber
-zu entscheiden hatten, _ob_ das verklagte Individuum dem
-Besserungsverfahren zu unterziehen sei, sondern besondere, zu diesem
-Behufe eigens erwählte Ärzte. Dem in Beobachtung oder Gewahrsam
-Genommenen stand es frei, an das _Kollegium_ der vereinigten Ärzte und
-Friedensrichter zu appellieren und seine Sache vor demselben öffentlich
-zu vertreten, wenn er sich durch das Verfahren des ihm vorgesetzten
-Arztes gekränkt erachtete.
-
-Die Anstellungen der sämtlichen Beamten für öffentliches Bauwesen,
-Kommunikationswesen, Statistik, Lagerhaus und Centralbank,
-Unterrichtswesen etc. gingen provisorisch vom Ausschusse aus. Die
-Gehalte wurden in Stundenäquivalenten angesetzt, gleich denen der
-genossenschaftlichen Funktionäre, und zwar betrugen diese Gehalte den
-Durchschnittswert von 1200 bis zu 5000 Arbeitsstunden jährlich, was im
-ersten Jahre schon 150 bis 600 Pfd. Sterling ausmachte. Die
-Bevollmächtigten in London, Triest und Mombas wurden mit je 800 Pfd.
-Sterling im Jahre bezahlt. Bemerkt muß hier werden, daß diese
-Delegierten bloß 2 Jahre lang auf ihrem auswärtigen Posten verharrten
-und dann Anspruch auf entsprechende Verwendung in Freiland hatten.
-Seinen eigenen Mitgliedern bestimmte der Ausschuß einen Gehalt von je
-5000 Stundenäquivalenten.
-
-Jedes Ausschußmitglied stand einem der 12 Verwaltungszweige vor, in
-welche die sämtlichen öffentlichen Geschäfte Freilands provisorisch
-geteilt wurden. Die Verwaltungszweige waren:
-
- 1. _Das Präsidium_
- 2. _Versorgungswesen_
- 3. _Unterricht_
- 4. _Kunst und Wissenschaft_
- 5. _Statistik_
- 6. _Straßenbau und Kommunikationsmittel_
- 7. _Post_, dazu später Telegraph
- 8. _Auswärtige Angelegenheiten_
- 9. _Lagerhaus_
- 10. _Centralbank_
- 11. _Gemeinnützige Unternehmungen_
- 12. _Sanitätswesen und Justiz._
-
-Hiermit wären in großen Zügen die für den Anfang in Freiland geltenden
-Verwaltungs- und Organisationsprinzipien geschildert. Dieselben
-bewährten sich allseitig aufs vortrefflichste. Die Bildung der
-Genossenschaften ging ohne den geringsten Anstand vor sich. Da die
-Mehrzahl der successive anlangenden Mitglieder gegenseitig einander
-fremd war, mußte man sich bei Besetzung der leitenden Stellen vorläufig
-auf die Empfehlungen des Ausschusses verlassen, begnügte sich deshalb
-auch zumeist mit provisorischen Wahlen, die jedoch ziemlich rasch durch
-definitive ersetzt werden konnten. Die schon vorgefundenen Produktionen:
-Landwirtschaft, Gartenkultur, Viehzucht, Mahlmühle, Sägmühle,
-Bierbrauerei, Kohlengruben und Eisenwerke, wurden nach Maßgabe des
-täglich mit den Mombas-Karawanen einlangenden Kräftezuwachses namhaft
-erweitert und mit wesentlichen Verbesserungen ausgestattet. Eine
-stattliche Zahl neuer Industrien reihte sich unmittelbar daran. Eine der
-ersten war eine -- der Hauptsache nach schon fertig importierte und nur
-zu adjustierende Druckerei mit 2 Rotations- und 5 Schnellpressen, und
-gestützt auf diese eine täglich erscheinende Zeitung; diesen reihten
-sich in rascher Folge eine Maschinenfabrik, eine Glashütte, eine
-Ziegelei, eine Ölmühle, eine chemische Fabrik, eine Näh- und
-Schuhfabrik, eine Bautischlerei und eine Eisfabrik an. Am 1. Januar des
-neuen Jahres wurde der erste kleine Schraubendampfer für den
-Remorquierdienst im Edensee und Danaflusse vom Stapel gelassen, welchem
-die ihres ausgezeichneten Verdienstes halber außerordentlich rasch
-anwachsende Betriebs-Association in kurzen Intervallen zahlreiche andere
-und größere Lasten- und Personendampfer folgen ließ.
-
-Gleichzeitig nahm auch der Ausschuß einen nicht unbedeutenden Teil der
-neu eintreffenden Kräfte für mehrere auf öffentliche Kosten zu
-bewerkstelligende Arbeiten und Einrichtungen in Anspruch; den dabei
-beschäftigten Arbeitern mußte selbstverständlich ein, der
-Durchschnittshöhe des allgemeinen Arbeitsertrages entsprechender -- und
-wo es sich um besonders anstrengende Leistungen handelte, ein diesen
-Durchschnitt entsprechend übersteigender, Verdienst gesichert werden.
-Diese Arbeiten waren in erster Reihe die provisorischen Hausbauten für
-die neu eintreffenden Mitglieder. Dabei wurde daran festgehalten, daß
-jede Familie je ein eigenes Häuschen erhalte, während für die
-alleinstehenden Ankömmlinge mehrere große Hotels eingerichtet wurden.
-Die Familienhäuser waren der Größe nach verschieden -- von 4 bis zu 10
-Wohnräumen, jedes mit einem Garten von 1000 Quadratmeter Fläche
-ausgestattet. Jeder Ankömmling konnte ein ihm nach Größe und Lage
-passend erscheinendes wählen, selbstverständlich gegen je nach Belieben
-ratenweise oder sofortige Abzahlung. Solcher Häuschen mußten im
-Monatsdurchschnitt nicht weniger als 1500 fertiggestellt werden; sie
-waren aus starken Bohlen in doppelter Lage solid gefügt und der
-Bauaufwand stellte sich auf durchschnittlich 8½ Pfd. Sterling für jeden
-Wohnraum. Für die Benutzung der Hotelzimmer wurde eine zur Amortisation
-der Baukosten und Deckung der Regie genügende Wochengebühr von ½ Sh.
-berechnet.
-
-Gleichzeitig mit diesen Wohnhäusern wurde der Bau von Schulen in Angriff
-genommen, und zwar mußte, da bis auf weiteres dem Eintreffen von 1000
-bis 1200 Schulkindern im Monatsdurchschnitt entgegenzusehen war,
-fortlaufend für genügende Räume zu entsprechender Unterbringung
-dieser so rasch anwachsenden Menge Vorsorge getroffen werden.
-Selbstverständlich waren auch diese -- gleich den Wohnhäusern -- teils
-im Edenthale, teils auf dem Danaplateau errichteten Schulräume nur
-provisorische Barackenbauten, dabei aber licht, luftig und geräumig.
-
-In der Lebensweise am Kenia hatte sich im übrigen einstweilen noch wenig
-verändert, mit Ausnahme des Umstandes, daß Edenthal, vor Eintreffen der
-ersten Wagenkarawane ein mäßiges Dorf, binnen wenigen Monaten zu einer
-mehr als 20000 Seelen zählenden ansehnlichen Stadt herangewachsen war.
-Auf dem Danaplateau, wo sich zuvor nur einige Hütten gefunden hatten,
-waren zwei ansehnliche Dörfer entstanden, das eine mit den
-Arbeiterschaften einiger Fabriken am Ostende, hart neben dem großen
-Wasserfalle, das andere, näher zu Edenthal gelegen, der Sitz einer
-Ackerbaukolonie. Gemeinsam war all diesen Bewohnern von Freiland ein
-ausgesprochener Zug sorgloser Fröhlichkeit und unverkennbaren Behagens.
-Die Lebensweise blieb, was die Wohnungs- und Kleidungsverhältnisse
-anlangt, noch sehr primitiv, dagegen herrschte in Speisen und Getränken
-Überfluß, ja Luxus. Mit den Mahlzeiten wurde es der Hauptsache nach so
-gehalten, wie einige Monate zuvor von den ersten Ankömmlingen; nur
-hatten die Frauen gar bald eine ganze Reihe neuer und sinnreicher
-Verwendungsarten der vielen köstlichen Landesprodukte herausgefunden.
-Das Register der erreichbaren ästhetischen und geistigen Genüsse hatte
-vorerst keine sonderliche Bereicherung erfahren. Die Zeitung, eine von
-der Unterrichtsverwaltung angelegte Bibliothek, die beinahe Tag für Tag
-durch neueintreffende Bücherkisten bereichert wurde, zu Neujahr aber
-doch erst 18000 Bände zählte, die dem insbesondere während der heißen
-Mittagsstunden sehr lebhaften Lesebedürfnisse keineswegs voll genügen
-konnten, mehrere neue Sing- und Orchestervereine, Lese- oder
-Debattierzirkel und zwei Dutzend Klaviere -- das war alles, was zu dem
-ursprünglich Vorhandenen gekommen war. Daneben wurde in den herrlichen
-Wäldern fleißig gejagt, Ausflüge nach nicht allzu schwierig erreichbaren
-Aussichtspunkten waren an der Tagesordnung -- kurz man suchte sich das
-Leben so angenehm als möglich zu machen, ohne jedoch einstweilen große
-Abwechslung in das Programm der Vergnügungen und geistigen Genüsse
-bringen zu können. Das hinderte aber nicht, daß Glück und Zufriedenheit
-in jedem Hause herrschten.
-
-Auch hinsichtlich der Arbeitseinteilung war im großen Ganzen das
-ursprünglich beobachtete System beibehalten worden. Die Männer
-arbeiteten meist zwischen 5 und 10 Uhr morgens und zwischen 4 und 6 Uhr
-abends; die Frauen -- im Bedarfsfalle unterstützt von Eingeborenen --
-versahen inzwischen das Haus und die Kinder, sofern diese nicht in der
-Schule waren. Doch erachtete sich niemand gerade an diese Zeiteinteilung
-gebunden; jedermann arbeitete wann und so lange es ihm beliebte; auch
-hatten einige Associationen, deren Betrieb die gänzliche Unterbrechung
-der Arbeit während der Mittagszeit schwer vertrug, einen Turnus
-eingeführt, der während der heißen Tagesstunden dem Werke einige Hände
-sicherte. Da auch hierzu niemand gezwungen werden konnte, wurde es
-üblich, die lästigere Mittagsarbeit höher anzurechnen, als die zu der
-übrigen Tageszeit, wonach dann die erforderlichen Freiwilligen sich
-fanden. Dasselbe gilt für die in einzelnen Etablissements notwendige
-Nachtarbeit.
-
-
-
-
- 10. Kapitel.
-
-
-Als das erste Jahr unseres Aufenthaltes am Kenia vergangen war, zählte
-Freiland 95000 Seelen, wovon 27000 arbeitsfähige Männer, die, zu 218
-Associationen vereinigt, 87 verschiedene Gewerbe betrieben. Die letzte
-Ernte -- es gibt nämlich hier zwei Ernten im Jahr, die eine nach der
-kleinen Regenzeit im Oktober, die andere nach der großen im Juni --
-hatte von 14500 Hektaren angebauten Ackerlandes nahezu 2 Millionen
-Centner Getreide getragen, die einen Wert von 300000 Pfd. Sterling
-repräsentierten und den dabei beschäftigten 10800 Arbeitern im
-Durchschnitt nahe an 2½ Schilling Gewinn für jede darangewendete
-Arbeitsstunde ergaben. Doch darf man nicht etwa glauben, daß diese
-sämtlichen Arbeiter ihre gesamte Zeit durch landwirtschaftliche
-Beschäftigung ausfüllten; das war blos während der Saat- und Erntetage
-der Fall gewesen, während in der ganzen übrigen Zeit stets zahlreiche
-Landbauer in den benachbarten industriellen Etablissements lohnende
-Verwendung ihrer im Ackerbau gerade überschüssigen Arbeitskraft fanden.
-Der Durchschnittsertrag der Industrien stellte sich um eine Kleinigkeit
-höher, als der der Landwirtschaft, und da im Mittel 40 Stunden
-wöchentlich gearbeitet wurde, so betrug der Wochenverdienst eines
-gewöhnlichen Handarbeiters von mäßigem Fleiße in dieser zweiten
-Jahreshälfte durchschnittlich 5¼ Pfd. Sterling.
-
-Nächst der Landwirtschaft beanspruchte die Eisen- und
-Maschinenfabrikation die zahlreichsten Arbeitskräfte, ja, wenn man nicht
-die zeitweilig in Verwendung kommende Arbeiterzahl, sondern die
-überhaupt aufgewendeten Arbeitsstunden zum Maßstabe nimmt, so war diese
-Industrie der Landwirtschaft sogar stark voraus. Und dies ist nicht zum
-Verwundern, denn Maschinen verlangten und bestellten alle Associationen,
-um ihren Betrieb möglichst zu verbessern. In der alten Welt, wo
-Arbeitslohn und Arbeitsertrag grundverschiedene Dinge sind, besteht auch
-zwischen Rentabilität und theoretischer Vollkommenheit von Maschinen ein
-fundamentaler Unterschied. Um theoretisch brauchbar zu sein, muß eine
-Maschine bloß Arbeitskraft ersparen, d. h. die zu ihrer Herstellung und
-Betriebführung erforderliche Arbeit muß geringer sein, als die durch
-ihren Gebrauch zu ersparende. Der Dampfpflug z. B. ist dann eine
-theoretisch gute und nützliche Maschine, wenn die Fabrikation eines
-Dampfpfluges mit samt der Erzeugung des zu seiner Heizung erforderlichen
-Kohlenquantums weniger menschliche Arbeit verschlingt, als auf der
-anderen Seite beim Pflügen mit Dampf gegen das Pflügen mit Rindern
-gewonnen wird. Etwas anderes aber ist die Rentabilität einer Maschine --
-wohlverstanden außerhalb Freilands. Um rentabel zu sein, muß der
-Dampfpflug nicht Arbeitskraft, sondern Wert oder Geld ersparen, d. h. er
-muß weniger kosten, als die durch ihn ersparte Arbeitskraft gekostet
-hätte. Das ist aber da draußen mit nichten schon deshalb der Fall, weil
-die ersparte Arbeitskraft größer ist, als die zur Herstellung des
-Pfluges und der Kohle erforderliche. Denn während die Arbeit, die der
-verbesserte Pflug erspart, blos ihren »Lohn« erhält, muß bei dem
-gekauften Pfluge und der gekauften Kohle neben der zu ihrer Herstellung
-erforderlich gewesenen Arbeit auch noch der aus drei Bestandteilen
-bestehende »Gewinn«, nämlich Grundrente, Kapitalzins und
-Unternehmerlohn, bezahlt werden. So kann es kommen, daß der Dampfpflug
-von seiner Entstehung bis zu seiner Abnützung 1 Million Arbeitsstunden
-erspart, selber aber mitsamt dem ganzen, zu seinem Betriebe
-erforderlichen Kohlenquantum bloß 100000 Arbeitsstunden verschluckt
-hätte -- und dennoch höchst unrentabel ist, d. h. denjenigen, der
-gestützt auf die Sicherheit so riesiger Kraftersparnis ihn kaufen und
-benutzen wollte, den größten Schaden verursachte. Denn die Million
-ersparter Arbeitsstunden bedeutet eben nicht mehr, als eine Million
-ersparter Stunden_löhne_, also beispielsweise ersparte 10000 Pfd.
-Sterling, wenn der Arbeitslohn bloß 1 Pfund für 100 Arbeitsstunden
-beträgt. An den zur Herstellung des Pfluges und der Betriebsmittel
-erforderlichen 100000 Arbeitsstunden, die für sich allein allerdings
-bloß 1000 Pfd. Sterling beansprucht haben mögen, haftet aber außerdem
-noch die Rente, welche die Besitzer der Eisen- und Kohlengruben
-einheben, der Zins, der für die investierten Kapitalien gezahlt werden
-muß und schließlich der Gewinn der Eisenfabrikanten und Kohlenerzeuger;
-all dies kann unter Umständen mehr betragen, als die Differenz von 9000
-Pfd. Sterling zwischen den hier und dort aufgewendeten Arbeitslöhnen,
-und wenn es der Fall ist, verliert der abendländische _Arbeitgeber_ Geld
-daran, daß er eine Maschine kauft, die tausend Prozent Arbeit erspart.
-Ganz anders bei uns; die lebendige Arbeit, die der Dampfpflug _uns_
-erspart, ist Stunde für Stunde genau so viel wert, als die im Pfluge und
-in der Kohle steckende, bereits in Warenform verwandelte Arbeitszeit;
-denn in Freiland giebt es keinen Unterschied zwischen Arbeitsertrag und
-Arbeitslohn; in Freiland ist daher jede theoretisch brauchbare, d. i.
-jede wirklich Kraft ersparende Maschine zugleich notwendigerweise
-rentabel. Dies der Grund, warum in Freiland die Maschinenindustrie von
-so enormer, stetig zunehmender Bedeutung sein mußte. Die eine Hälfte
-unseres Volkes war damit beschäftigt, jene stählernen, von Dampf,
-Elektricität, Wasser, komprimierter oder verdünnter Luft in Bewegung
-gesetzten sinnreichen Werkzeuge herzustellen, mittels deren die andere
-Hälfte ihre Leistungsfähigkeit verhundertfachte, und notwendigerweise
-mußte sich daher bei uns in der Verwendung von Maschinenkraft eine
-Vielseitigkeit und Vollkommenheit entwickeln, von welcher man außerhalb
-der Grenzen unseres Landes keinerlei Vorstellung besitzt.
-
-Die wichtigsten Einrichtungen, die noch vor Ablauf dieses ersten Jahres
-in Angriff genommen wurden, waren erstlich die Herstellung von
-Dampfpflügen und -- vorläufig noch durch tierische Kraft bewegten --
-Säe- und Erntemaschinen, genügend zur Bearbeitung von 26000 Hektaren,
-die für die Oktoberernte unter den Pflug genommen werden sollten. Wir
-rechneten dabei, durch einmaligen Aufwand von 3½ Mill. Arbeitsstunden
-mindestens 3 Millionen Arbeitsstunden jährlich zu ersparen. Das wäre da
-draußen in der alten Welt für die solcherart überflüssig werdenden
-Arbeiter ein großes Unglück gewesen, ohne daß die Gesamtheit davon den
-geringsten Vorteil gehabt hätte; wir dagegen wußten für derart ersparte
-Arbeitsstunden vortreffliche Verwendung; sie wurden zu allerlei
-Veredlungsindustrien frei, für deren Produkte eben infolge der
-gewachsenen Ergiebigkeit der Arbeit die Abnehmer sofort gegeben waren.
-
-Eine zweite, noch im Laufe des nächsten Jahres zu vollendende Arbeit war
-die Verbesserung der Kommunikationsmittel durch Ausbaggerung des
-Danaflusses von der Mahlmühle oberhalb des Edensees bis zum großen
-Wasserfall am Danaplateau, und durch Anlage einer das Danaplateau
-durchziehenden Eisenbahn. Daran sollten sich Seilbahnen auf einige der
-Keniavorberge zu Zwecken des Bergwerks- und Forstbetriebs schließen.
-
-Daß alle bestehenden Industrien neuerlich vergrößert und eine stattliche
-Reihe neuer eingerichtet wurden, versteht sich von selbst. Erwähnt mag
-dabei werden, daß nur solche Fabriken in Edenthal oder am Oberlaufe des
-Dana angelegt wurden, die weder die Luft, noch das Wasser verdarben; die
-minder reinlichen Betriebe siedelten sich entweder am Ostende des
-Danaplateaus, hart am Wasserfalle, oder auch unterhalb desselben an.
-Später wurden Einrichtungen getroffen, die der Vergiftung der Wässer
-durch industrielle Abfälle ganz im Allgemeinen ein Ende machten.
-
-Die Stadt Edenthal war auf 48000 Seelen angewachsen und deckte mit ihren
-10600 Häuschen und Gärten, ihren zahlreichen großen, wenn auch immer
-noch im Holzbarackenstil gehaltenen öffentlichen Bauten, mehr als 16
-Quadratkilometer. Die zu riesiger Zahl angewachsenen Rinderherden wie
-nicht minder die Pferde, Esel, Kamele, Elefanten und die neu
-importierten Schweine und feinen Schafsorten übersiedelten zum größeren
-Teile nach dem Danaplateau.
-
-Schon zu Beginn des zweiten Jahres hatten uns unsere europäischen
-Bevollmächtigten angezeigt, daß die bei ihnen einlaufenden Anmeldungen
-sich in gewaltigen Dimensionen vermehrten. Die in den Zeitungen
-veröffentlichten Berichte aus Freiland -- es waren inzwischen
-Korrespondenten einiger der größten europäischen und amerikanischen
-Journale bei uns eingetroffen -- hatten die Auswanderungslust
-selbstverständlich in hohem Grade entfacht und wenn nicht alle Anzeichen
-trogen, hatten wir uns für das zweite Jahr unseres Aufenthalts am Kenia
-auf einen Zuzug von mindestens dem doppelten, wahrscheinlich aber von
-dreifachem Umfange, wie im ersten Jahre, gefaßt zu machen. Es mußte also
-für Beschaffung der erforderlichen Kommunikationsmittel Vorsorge
-getroffen werden. Da zahlreiche der bemittelten neuen Mitglieder
-einstweilen die Schiffe fremder Gesellschaften gegen Zahlung benutzten,
-anstatt darauf zu warten, bis auf unseren Schiffen die Reihe an sie
-käme, so war das Dringendste, für Vermehrung der Fahrgelegenheiten von
-Mombas ab zu sorgen. Es wurden daher schleunigst 1000 neue Wagen nebst
-der entsprechenden Anzahl von Zugtieren gekauft und successive vom März
-ab in Betrieb gesetzt. Gleichzeitig aber kaufte unser Londoner
-Bevollmächtigter sechs und kurze Zeit darauf noch vier weitere Dampfer
-von 4000-10000 Tonnen Laderaum, die zu unseren Zwecken umgebaut, je 1000
-bis 3000 Passagiere faßten. Mit Hülfe dieser neuen Dampfer wurde
-zunächst der Verkehr über Triest verstärkt; die größten Schiffe kamen an
-dieses, zum Transport über Suez für ganz Mitteleuropa günstigst gelegene
-Ausfallthor; daneben aber wurde zweimal in der Woche eine Fahrt ab
-Marseille und einmal im Monat eine Fahrt ab San Franzisko über den
-stillen Ocean eingerichtet. Nachdem noch für alle Fälle eine dritte
-Serie von 1000 Wagen bestellt worden war, erachteten wir uns den
-Anforderungen des bevorstehenden zweiten Jahres gegenüber ausreichend
-gerüstet.
-
-So standen die Dinge, als Demestre mit der Erklärung vor den Ausschuß
-trat, daß die primitive Art der Beförderung von Mombas ab angesichts der
-voraussichtlich auch in Zukunft anhaltenden gewaltigen Einwanderung
-unmöglich genügen könne. Wir müßten sofort an den Bau einer Eisenbahn
-von Edenthal an die Küste denken.
-
-Alles, was Demestre zur Begründung seines Vorschlages sagte, war so
-richtig und einleuchtend, daß derselbe ohne Debatte einhellig angenommen
-wurde, ja, daß sich Jedermann insgeheim wunderte, ihn nicht schon längst
-selber gemacht zu haben. Es handelte sich jetzt nurmehr darum, die Trace
-der zukünftigen Eisenbahn festzustellen. In erster Reihe stand der alte
-Weg, durch Kikuja ins Massailand, durch dieses, den Kilima östlich
-umgehend über Tawenta und Teita nach Mombas. Eine zweite, möglicherweise
-viel günstigere Trace, ließ sich zwei Längengrade weiter östlich, aber
-gleichfalls nach Süden gerichtet und in Mombas die Küste erreichend,
-durch Kikuja ins Land der Ukumbani und dort das Flußthal des Athi bis
-Teita verfolgend, denken. Diese Trace konnte günstigenfalls eine
-Distanzverkürzung von nahe an 200 Kilometern mit sich bringen. Die
-dritte, kürzeste Route an den Ocean aber wäre die in streng östlicher
-Richtung, den Dana verfolgend, durch die Gallaländer an die Wituküste
-gewesen; hier konnte eventuell nahezu die Hälfte der Distanz erspart
-werden, denn in der Luftlinie waren wir östlich keine 450 Kilometer vom
-Meere entfernt.
-
-Diese drei Alternativlinien sollten also näher untersucht werden, so
-genau, als es binnen wenigen Monaten möglich wäre; denn länger als
-höchstens ein halbes Jahr sollte mit dem Beginne der Bauarbeiten nicht
-gezögert werden. Die Tracierung der alten Route, die er schon ziemlich
-genau kannte, behielt sich Demestre vor; nach dem Athi und dem Dana
-wurden zwei andere tüchtige Ingenieure, begleitet gleich Demestre von
-einem Stabe nicht minder tüchtiger Kollegen, entsendet. Außerdem aber
-mußten diese beiden letzteren Expeditionen, da sie noch gänzlich
-unbekannte Gebiete mit wahrscheinlich feindlichen Einwohnern zu
-durchziehen hatten, wehrhaft gemacht werden. Sie waren je 300 Mann stark
-und hatten außer entsprechenden Repetirgewehren auch einige
-Kriegselefanten, Kanonen und Raketen mit sich. Überdies waren alle drei
-Expeditionen von einer kleinen Schar Naturforscher -- unter diesen
-hauptsächlich Geologen -- begleitet. Anfangs Mai zogen diese
-Expeditionen aus; womöglich noch vor der kleinen Regenzeit -- im August
--- sollten sie zurück sein.
-
-
-
-
- 11. Kapitel.
-
-
-Die Haager Versammlung der »Internationalen freien Gesellschaft« hatte,
-wie man sich erinnern wird, dem Ausschusse Generalvollmacht für die
-Dauer von zwei Jahren erteilt. Am 20. Oktober lief diese Frist zu Ende,
-und bis dahin mußte sich die Gesellschaft eine neue, endgiltige
-Verfassung geben, eine frei durch das Volk von Freiland gewählte Behörde
-die bisherigen Vollmachten des Ausschusses übernehmen. Dieser berief
-daher schon für den 15. September eine constituierende Versammlung, und
-zwar, da die Zahl der Bewohner Freilands zu groß war, als daß allesamt
-zu einer Beratung hätten vereinigt werden können, indem er das Land in
-500, der Einwohnerzahl nach gleiche Sektionen teilte und jede Sektion
-zur Wahl eines Abgeordneten aufforderte. Diese derart zustande gekommene
-Repräsentantenversammlung erklärte er sofort zur vorläufigen Trägerin
-der obersten souveränen Gewalt und forderte sie auf, das Weitere zu
-verfügen, es ihr anheim stellend, ob sie ihn bis zu Ausarbeitung der
-Verfassung noch vorläufig in Funktion belassen, oder irgend eine neue,
-sofort zu schaffende Behörde mit der Geschäftsführung von Freiland
-betrauen wolle. Die Versammlung entschied sich nach kurzer Debatte
-einstimmig für das Erstere und beauftragte überdies den Ausschuß, einen
-Verfassungsentwurf vorzulegen. Da ein solcher für alle Fälle bereits
-fertig ausgearbeitet war, so konnte dieser Forderung sofort willfahrt
-werden. Dr. Strahl legte den Verfassungsentwurf namens des Ausschusses
-»auf den Tisch des Hauses«, dieses beschloß dessen Drucklegung und trat
-schon nach drei Tagen in die Beratung der neuen Verfassung. Auch diese
-Beratungen waren, angesichts der großen Einfachheit der vorgeschlagenen
-Grundgesetze und Ausführungsbestimmungen nicht sehr langatmig und schon
-am 2. Oktober konnten diese, einhellig approbiert, als solche verkündet,
-und in ihrem Geiste die neue Verwaltung in Kraft gesetzt werden.
-
-Die Grundgesetze lauteten:
-
-l. Jeder Bewohner Freilands hat das gleiche unveräußerliche Anrecht auf
-den gesamten Boden und auf die von der Gesamtheit beigestellten
-Produktionsmittel.
-
-2. Frauen, Kinder, Greise und Arbeitsunfähige haben Anspruch auf
-auskömmlichen, der Höhe des allgemeinen Reichtums billig entsprechenden
-Unterhalt.
-
-3. Niemand kann, sofern er nicht in die Rechtssphäre eines Anderen
-greift, in der Bethätigung seines freien individuellen Willens gehindert
-werden.
-
-4. Die öffentlichen Angelegenheiten werden nach den Entschließungen
-aller volljährigen (mehr als 20jährigen) Bewohner Freilands ohne
-Unterschied des Geschlechts verwaltet, die sämtlich in allen, das
-gemeine Wesen betreffenden Angelegenheiten das gleiche aktive und
-passive Stimm- und Wahlrecht besitzen.
-
-5. Die beschließende sowohl als die ausübende Gewalt ist nach
-Geschäftszweigen geteilt und zwar in der Weise, daß die Gesamtheit der
-Stimmberechtigten für die hauptsächlichen öffentlichen Geschäftszweige
-gesonderte Vertreter wählt, die gesondert ihre Beschlüsse fassen und das
-Gebahren der den fraglichen Geschäftszweigen vorstehenden
-Verwaltungsorgane überwachen.
-
-In diesen fünf Punkten ist das Um und Auf des öffentlichen Rechts von
-Freiland niedergelegt; alles weitere ist nichts anderes, als das
-selbstverständliche Ergebnis oder die nähere Ausführung derselben. So
-ergeben sich die Prinzipien, auf denen die Associationen sich aufbauten
--- Anrecht des Arbeiters am Ertrage, Verteilung desselben nach der
-Arbeitsleistung und freie Vereinbarung mit höherwertigen Arbeitskräften
--- naturgemäß und notwendigerweise aus dem ersten und dritten
-Grundgesetze. Da jedermann über sämtliche Arbeitsmittel verfügte, so
-konnte niemand sich gedrängt sehen, auf den Ertrag der eigenen Arbeit zu
-verzichten, und da niemand gezwungen werden konnte, seine höheren
-Fähigkeiten anderen zur Verfügung zu stellen, so mußten diese höheren
-Fähigkeiten, sofern man ihrer zur Leitung der Produktion bedurfte, im
-Wege freier Vereinbarung entsprechende Verwertung finden.
-
-Mit Bezug auf das im zweiten Absatze ausgesprochene Versorgungsrecht der
-Frauen, Kinder, Greise und Arbeitsunfähigen ist zu bemerken, daß dieses
-im Sinne unserer Grundsätze als Ausfluß der Wahrheit angesehen wurde,
-daß der Reichtum des Kulturmenschen nicht Produkt seiner eigenen,
-individuellen Fähigkeiten, sondern das Ergebnis der geistigen Arbeit
-zahlloser vorangegangener Generationen sei, _deren Erbe dem Schwachen
-und Arbeitsunfähigen gerade so gebühre, wie dem Starken und Tüchtigen_.
-Alles, was wir genießen, verdanken wir nur zu unendlich geringem Teile
-unserer eigenen Intelligenz und Kraft; auf diese allein angewiesen,
-wären wir arme, in tiefstem, tierischem Elend vegetierende Wilde; die
-reiche Hinterlassenschaft unserer Vorfahren seit unvordenklicher Zeit
-ist es, von welcher wir zehren, der wir neunundneunzig Hundertteile
-all unserer Genüsse verdanken. Ist dem aber so -- und kein
-Zurechnungsfähiger hat dies jemals in Abrede gestellt -- dann haben all
-unsere Geschwister Anrecht auf Mitgenuß der Erbschaft. Daß diese
-Erbschaft ohne unsere, der Starken, Arbeit unfruchtbar wäre, ist
-allerdings richtig, und unbillig, ja thöricht und undurchführbar wäre
-daher das Verlangen der schwächeren Geschwister nach _gleicher_ Teilung.
-Aber geschwisterlichen, nicht auf das bloße Erbarmen, sondern auf
-Anerkennung ihres Erbrechts gestützten Anteil des dem gemeinsamen
-Erbgute -- und es sei immerhin bloß durch _unsere_ Arbeit --
-abgewonnenen reichen Ertrages können sie fordern; sie stehen uns nicht
-als bettelnde Fremdlinge, sondern als erbberechtigte Familiengenossen
-gegenüber. Und unser, der stärkeren Geschwister eigenes wohlverstandenes
-Interesse verlangt die rückhaltlose Anerkennung dieses guten Rechtes
-jedes Angehörigen der menschlichen Familie. Denn unser eigenes Glück
-kann nicht gedeihen, wenn wir Geschöpfe, die Unseresgleichen sind,
-entwürdigen, zu Not und Schmach verurteilen. Gesunder Egoismus verbietet
-uns, dem Elend und seinen Kindern, den Lastern, irgend einen
-Schlupfwinkel inmitten von Unseresgleichen offen zu halten. Frei und
-»edelgeboren«, ein König und Herr dieses Planeten muß jeder sein, dessen
-Mutter ein menschliches Weib gewesen, sonst wird seine Not zu einem
-fressenden Geschwüre, welches um sich greifend den stolzen Bau auch
-unserer, der Starken, Herrlichkeit vergiftet.
-
-So viel über das Versorgungsrecht im allgemeinen. Was aber speziell das
-den Frauen zugesprochene anlangt, so war bei diesem die fernere Erwägung
-maßgebend, daß das Weib seiner physischen und psychischen Beschaffenheit
-nach nicht zu aktivem Kampfe ums Dasein, sondern einerseits zu dessen
-Fortpflanzung, anderseits zu dessen Verschönerung und Veredlung bestimmt
-ist. So lange wir alle, oder doch die ungeheuere Mehrheit von uns allen,
-in unablässigem, jammervollem Kampfe mit des Lebens gemeinster,
-tierischer Notdurft uns quälten, konnte von Rücksicht auf die Schwäche
-und auf den Adel des Weibes keine Rede sein; die Schwäche konnte --
-gleich der jedes anderen Schwachen -- nicht der Rechtstitel auf
-Schonung, sondern mußte zu einem Anreize der Unterjochung werden; der
-Adel des Weibes war geschändet -- abermals gleich dem jedes rein
-menschlichen, wirklichen Adels. Eine Sklavin und ein käufliches Werkzeug
-der Lüste war das Weib ungezählte Jahrtausende hindurch -- und die
-vielgerühmte Civilisation der letzten Jahrhunderte hatte daran dem Wesen
-nach nichts geändert. Auch unter den sogenannten Kulturnationen der
-Gegenwart blieb das Weib rechtlos, und was schrecklicher ist, es blieb,
-um sein Dasein zu fristen, angewiesen darauf, sich dem ersten Besten zu
-verkaufen, der um seiner Reize willen die Verpflichtung übernahm, es zu
-»versorgen«. Diese von Recht und Sitte geheiligte Prostitution ist in
-ihren Wirkungen verheerender, als jene andere, ihr Wesen unverhüllt zur
-Schau tragende, die sich von ihr bloß dadurch unterscheidet, daß hier
-der schmähliche Handel nicht auf Lebenszeit, sondern für kürzere Frist
-geschlossen wird, für Jahre, Wochen, Stunden. Gemeinsam ist beiden, daß
-das süßeste, heiligste Kleinod der Menschheit, das Herz des Weibes, zum
-Gegenstande gemeinen Schachers, zu einem Mittel des Lebensunterhalts
-gemacht wird, und schrecklicher als die Prostitution der Straße ist die
-von Gesetz und Sitte geheiligte der Versorgungsehe, weil unter ihrem
-verpestenden Gifthauche nicht bloß Würde und Glück der jeweilig
-lebenden, sondern auch Saft und Mark der zukünftigen Geschlechter
-verdorren. Da die Liebe, jener geheiligte Instinkt, der bestimmt ist,
-das Weib in die Arme jenes Gatten zu führen, mit dem vereint es der
-kommenden Generation die tüchtigsten Mitglieder schenken könnte, zum
-Erwerbsmittel, dem einzigen das ihm offen stand, geworden, so mußte das
-Weib, um zu leben, sich -- in sich aber die Zukunft der Rasse schänden.
-
-Glück und Würde, wie das zukünftige Heil der Menschheit, erfordern daher
-im gleichen Maße, daß das Weib der entehrenden Notwendigkeit enthoben
-werde, im Gatten zugleich den Versorger, in der Ehe das einzige
-Rettungsmittel gegen materielle Not zu sehen. Aber auch gemeiner Arbeit
-darf das Weib nicht überwiesen werden. Auch das verbietet das Glück der
-jeweilig lebenden und die Tüchtigkeit der zukünftigen Generation in
-gleicher Weise. Die Gleichberechtigung des Weibes dadurch verwirklichen
-wollen, daß man ihm gestattet, im Broterwerb mit dem Manne zu
-konkurrieren, ist eben so nutzlos als verderblich; nutzlos, weil dem
-weiblichen Geschlechte als Ganzes genommen eine solche Befugnis, von
-welcher es nur in Ausnahmefällen wirklichen Gebrauch machen kann, doch
-nicht hilft; verderblich, weil das Weib mit dem Manne hier nicht
-konkurrieren darf, ohne seinen edleren schöneren Aufgaben untreu zu
-werden. Und diese Aufgaben liegen nicht etwa in der Verfolgung von Küche
-und Wäschespinde, sondern in der Pflege des Schönen in der gegenwärtigen
-Generation einerseits und der geistigen wie körperlichen Entwickelung
-des Nachwuchses anderseits. Das Weib muß daher nicht bloß in seinem
-eigenen, sondern ebenso im Interesse des Mannes und insbesondere in
-jenem der zukünftigen Geschlechter dem Kampf um des Lebens Notdurft
-gänzlich entrückt werden; es darf kein Rad im Getriebe des Broterwerbs,
-es muß ein Juwel am Herzen der Menschheit sein. Nur eine »Arbeit« ist
-dem Weibe angemessen: die der Kindererziehung und allenfalls noch die
-Pflege von Kranken und Gebrechlichen. In der Schule und am Siechbett
-kann weibliche Zärtlichkeit und Vorsorge eine passende Vorschule für die
-Pflichten des späteren eigenen Hauses finden, und hier mag die
-alleinstehende Frau zugleich Erwerb suchen, sofern sie es wünscht. Als
-selbstverständlich darf gelten, daß im Sinne unserer Prinzipien jeder
-dem Weibe gegenüber geübte abwehrende Zwang durchaus verpönt war.
-_Verboten_ war der Frau nicht, welches Gewerbe immer zu ergreifen, was
-denn in vereinzelten Fällen auch jederzeit geschah, insbesondere auf dem
-Gebiete der geistigen Berufe; aber die öffentliche Meinung in Freiland
-billigte dies eben auch nur in Ausnahmefällen, d. h. wenn hervorragende
-Fähigkeiten solches Thun rechtfertigten und es muß bemerkt werden, daß
-unsere Frauen in erster Reihe es waren, welche sich auf die Seite dieser
-öffentlichen Meinung stellten.
-
-Daß der Versorgungsanspruch der Frauen um ein Vierteil geringer bemessen
-wurde, als derjenige der Männer -- die konstituierende Versammlung
-bestätigte nämlich nicht bloß das Prinzip, sondern auch das bereits
-mitgeteilte Ausmaß der verschiedenen Versorgungsrechte -- hat nicht in
-einer Minderbewertung des weiblichen _Anspruches_ seine Motivierung,
-sondern lediglich in der Thatsache, daß die _Bedürfnisse_ des Weibes
-geringer sind, als die des Mannes. Wir gingen von der Ansicht aus, daß
-die Frau mit ihren dreißig Hundertteilen des durchschnittlichen
-Arbeitsertrages eines freiländischen Produzenten ebenso reichliches
-Auslangen finden werde, als ein versorgungsbedürftiger Mann mit seinen
-vierzig Hundertteilen; und die Erfahrung hat dies vollauf bestätigt.
-
-Es hatte jedoch nicht bloß die alleinstehende Jungfrau oder Witwe,
-sondern auch die Ehefrau -- wenn auch bloß den halben --
-Versorgungsanspruch. Das begründete sich dadurch, daß auch das
-verheiratete Weib nicht auf die Versorgung des Mannes angewiesen und
-dadurch in ein materielles Abhängigkeitsverhältnis zu diesem gebracht
-sein sollte. Da im Haushalte die Thätigkeit der Frau immerhin mit einem
-Teile ihres Eigenbedarfs zu veranschlagen ist, so bedurfte es, um dem
-Ehemanne die Versorgungslast abzunehmen, auch nur einer teilweisen
-Versorgung von Gesamtheitswegen. Mit dem beginnenden Kindersegen
-vermehrt sich die Familienlast neuerlich, und da diese abermals durch
-das Weib erwächst, so steigerten wir den Versorgungszuschuß insolange,
-bis er wieder die volle Höhe des Versorgungsanspruches der Frau, d. i.
-30 Prozent erreichte.
-
-Das vierte Grundgesetz, das allgemeine, auf volljährige Frauen
-ausgedehnte Stimmrecht, bedarf wohl keiner besonderen Erläuterung. Zu
-bemerken wäre hier nur, daß sich diese Bestimmung auch auf die in
-Freiland wohnenden Neger erstreckte, mit dem Beifügen jedoch, daß des
-Lesens und Schreibens Unkundige insofern von der thatsächlichen Ausübung
-politischer Rechte ausgeschlossen waren, als alle Abstimmungen durch
-eigenhändig auszufüllende Stimmzettel vorgenommen wurden. Wir gaben uns
-übrigens redlich Mühe, unseren Negern nicht bloß das Lesen und
-Schreiben, sondern auch eine Reihe anderer Kenntnisse beizubringen, und
-da dies im allgemeinen von gutem Erfolge begleitet war, so nahmen unsere
-schwarzen Brüder allmählich an allen unseren Rechten teil.
-
-Näherer Erklärung bedarf dagegen Punkt 5 der Grundrechte, wonach die
-Gemeine ihr Beschluß- und Kontrollrecht über alle öffentlichen
-Angelegenheiten nicht durch _eine_, sondern durch mehrere, nach
-Verwaltungszweigen geordnete Körperschaften ausübte, die von der Gemeine
-auch ebenso gesondert gewählt wurden. Dieser Bestimmung verdankt die
-Verwaltung von Freiland ihre geradezu erstaunliche Sachkenntnis, das
-öffentliche Leben Freilands seine nicht minder beispiellose Ruhe und das
-Fehlen aller tiefergehenden, leidenschaftlichen Parteiungen. In den
-Staaten Europas und Amerikas besteht bloß die vollziehende Gewalt aus
-Männern, die unter Rücksicht auf ihre Sachkenntnis und Befähigung für
-jenen Zweig des öffentlichen Dienstes ernannt, respektive gewählt sein
-_sollten_, dem vorzustehen ihres Amtes ist. Selbst das ist nur mit sehr
-großen Einschränkungen der Fall, ja insbesondere den sogenannten
-parlamentarischen Verfassungen Europas und Amerikas gegenüber muß mit
-Recht behauptet werden, daß sie gerade an die Spitze der verschiedenen
-Verwaltungszweige Männer stellen, die nur zu oft von den wichtigen
-Angelegenheiten, denen sie vorstehen sollen, sehr wenig verstehen. Die
-Versammlungen, aus deren Mitte und durch deren Willen parlamentarische
-Minister zur Macht gelangen, sind in der Regel gänzlich außer Stande,
-durchweg sachkundige Männer zu berufen, schon aus _dem_ Grunde nicht,
-weil sie solche häufig gar nicht in ihrer Mitte besitzen. Damit soll
-nicht gesagt sein, daß nicht selbst parlamentarische Schönredner und
-Berufspolitiker in der Regel immer noch mehr von ihrem Amte verstehen,
-als jene Günstlinge der Macht und des blinden Glücks, die in
-nichtparlamentarischen Ländern das Ruder führen -- aber Sachverständige
-sind sie nicht, können sie nicht immer sein. Doch wie gesagt, die Organe
-der Exekutive _sollten_ es doch zum mindesten sein, es besteht die
-Fiktion, daß sie es seien, und ein Mann, der sich in irgend einem Fache
-rühmlich hervorthut, hat damit wenigstens einen -- wenn auch
-thatsächlich ziemlich untergeordneten -- Anspruch mehr, in diesem Fache
-Verwendung im öffentlichen Dienste zu finden. Für die _gesetzgebenden_
-Körperschaften des Abendlandes dagegen ist Sach- und Fachkenntnis nicht
-einmal prinzipiell ein Grund der Wahl. Die Männer, welche Gesetze
-erlassen und deren Ausübung zu kontrollieren haben, brauchen
-grundsätzlich von all den Angelegenheiten, auf welche sich diese Gesetze
-beziehen, nicht das Geringste zu verstehen. Das Vertrauen ihrer Wähler
-ist vom Grade dieses ihres Verständnisses in der Regel unabhängig, sie
-werden nicht als Fachmänner, sondern als »_gesinnungstüchtige_« Männer
-gewählt.
-
-Das aber hat einen doppelten Übelstand im Gefolge; es macht zunächst den
-öffentlichen Dienst mehr als irgend eine Privatangelegenheit zum
-Spielballe menschlicher Unwissenheit und Unklugheit; das Wort
-Oxenstiernas: »Du weißt nicht, mein Sohn, mit wie wenig Verstand die
-Welt regiert wird«, ist in weit höherem Maße, als allgemein geglaubt
-wird, ein wahres Wort; der durchschnittliche Grad von Klugheit und
-Sachkenntnis in zahlreichen öffentlichen Verwaltungszweigen der
-sogenannten civilisierten Welt, steht tief unter dem in den
-Privatgeschäften der nämlichen Länder gemeinhin anzutreffenden
-Durchschnittsniveau. Zum zweiten aber gestaltet diese, zugleich
-centralisierte und kenntnislose Organisation der öffentlichen
-Verwaltungszweige das Parteigetriebe zu einem leidenschaftlichen und
-erbitterten Kampfe, in welchem stets alles an alles gesetzt werden muß
-und in welchem beinahe niemals sachliche Erwägungen, sondern stets nur
-die vorgefaßten politischen Meinungen entscheiden. Unablässiger Kampf,
-stete, leidenschaftliche Erregung ist also die zweite, notwendige Folge
-dieser verkehrten Einrichtung.
-
-Eine Änderung derselben ist aber schlechthin unmöglich, so lange die
-geltende soziale Ordnung in Kraft bleibt. Denn solange dies der Fall
-ist, fährt das allgemeine Wohl noch immer besser, wenn die öffentlichen
-Angelegenheiten von Unwissenden, ohne Rücksicht auf ihre Fachkenntnis
-Gewählten, verwaltet und kontrolliert werden, als wenn Fachleute von
-Beruf die Macht erhielten, in Sachen ihres Faches namens der Gesamtheit
-zu handeln. Das Interesse dieser wirklichen Fachmänner ist nämlich in
-der ausbeuterischen Gesellschaft dem der großen Masse nicht bloß häufig,
-sondern in der Regel entgegengesetzt. Man denke sich einen europäischen
-oder amerikanischen Staat, in welchem die Fabrikanten über Fabrikation,
-die Landwirte über Bodenproduktion, die Eisenbahnleute über
-Transportwesen, und so fort die sachkundigen Vertreter jedes
-Interessen-Zweiges über das sie zunächst interessierende Gebiet Gesetze
-machen, ausführen und überwachen könnten! Da in der ausbeuterischen
-Gesellschaft der Kampf ums Dasein auf gegenseitige Unterdrückung und
-Verdrängung gerichtet ist, so müßten die Folgen einer solchen
-»Verfassung« für sie geradezu schrecklich sein, und in jenen, unter dem
-Sammelnamen der politischen Korruption bekannten Fällen, wo es
-vereinzelten Interessenkreisen gelang, ihren Willen dem der Gesamtheit
-unterzuschieben, überschritt auch thatsächlich die Schamlosigkeit der
-Ausbeutung alle Grenzen.
-
-Anders in Freiland; bei uns giebt es keine dem Gesamtinteresse
-entgegenstehenden oder auch nur nicht vollkommen mit diesem
-harmonierenden Sonderinteressen. Produzenten z. B., die in Freiland auf
-den Gedanken gerieten, ihren Gewinn dadurch zu erhöhen, daß sie den
-Import mit Zöllen belegten, müßten Blödsinnige sein; denn daß sie die
-Konsumenten zwängen, ihre Fabrikate höher zu bezahlen, würde ihnen
-nichts nützen -- da sofort der Zufluß von Arbeitskraft ihren Gewinn
-wieder auf sein Durchschnittsniveau herabbrächte -- dagegen würde ihnen
-allerdings schaden, daß sie allen andern Produzenten das Produzieren
-erschwert hätten, denn dadurch würde eben jenes Durchschnittsniveau der
-Gewinne, über welches sich ihr eigener niemals dauernd erheben kann,
-herabgedrückt worden sein. Und genau das nämliche gilt für alle unsere
-Interessenkreise. Dadurch, daß jeder derselben Jedem zugänglich ist, und
-daß Niemand das Recht und die Macht hat, einen irgendwo erwachsenden
-Vorteil für sich allein zu beanspruchen, sind wir in der glücklichen
-Lage, in allen Interessenfragen Jenen die Entscheidung anzuvertrauen,
-welche die _zunächst_ Interessierten, also die Sachkundigsten sind.
-Dadurch aber gestalten sich Gesetzgebung und Verwaltung nicht bloß
-sachkundig im höchsten Grade, es verschwindet auch aus dem öffentlichen
-Leben jene leidenschaftliche Voreingenommenheit, die da draußen das
-charakteristische Merkmal des Parteigetriebes ist. Da überall
-wohlverstandenes gemeinsames Interesse und Vernunft entscheiden, so
-haben wir niemals Grund, uns zu erhitzen. Bei unseren Wahlen handelt es
-sich gar nicht darum, »einen Gesinnungsgenossen durchzubringen«, sondern
-höchstens um Meinungsverschiedenheiten darüber, welcher der Kandidaten
-wohl der Erfahrenste, Klügste sein möge. Und da die Fähigkeiten eines
-Jeden unter uns wegen der Organisation unserer gesamten Arbeit auf die
-Dauer unmöglich verborgen bleiben können, so sind Irrtümer in diesem,
-für unser öffentliches Leben allein maßgebenden Punkte kaum möglich.
-
-Da die Konstituante die Zwölfteilung der Verwaltung beibehalten hatte,
-so gab es von da ab in Freiland neben den zwölf verschiedenen
-Exekutivbehörden -- die in ihrem Wirkungskreise etwa mit den
-abendländischen Ministerien in Parallele zu stellen wären -- zwölf
-verschiedene beratende, beschließende und überwachende, aus der
-allgemeinen Wahl hervorgegangene Versammlungen an Stelle der
-einheitlichen abendländischen Parlamente. Diese zwölf Versammlungen
-wurden sämtlich von der Gesamtheit aller Wähler gewählt, es hatte zum
-Mindesten jeder Wähler das Recht, bei allen Wahlen seine
-gleichgewichtige Stimme abzugeben; aber die Einteilung der Wahlkörper
-war verschieden, und die Wahlen fanden für jeden der zwölf
-Vertretungskörper gesondert statt; ein Teil derselben, nämlich die für
-die Geschäfte des Verwaltungspräsidiums und der Finanzen, für
-Versorgungswesen, Unterricht, Kunst und Wissenschaft, Sanitätswesen und
-Justiz, fand nach Wohnbezirken, die Wahlen in die anderen
-Vertretungskörper fanden nach Berufskategorien statt. Zu letzterem
-Zwecke waren die sämtlichen Einwohner Freilands je nach ihren
-Berufsgeschäften in zahlreiche größere oder geringere Wahlkörper
-geteilt, deren jeder, je nach der Zahl seiner Angehörigen einen oder
-mehrere Abgeordnete wählte; von ganz kleinen Berufsklassen waren je
-einige möglichst gleichartige zu je einem Wahlkörper zusammengelegt; die
-Zugehörigkeit zu den verschiedenen Wahlkörpern hing vom Belieben jedes
-Wählers ab, d. h. es konnte sich Jedermann -- und ebenso
-selbstverständlich auch jede Frau -- in eine ihm oder ihr genehme
-Berufsklasse eintragen lassen, und übte dann in dieser das Wahlrecht für
-die von diesen Klassen gewählten Vertretungskörper aus.
-
-Die obersten Beamten der zwölf Verwaltungszweige wurden sodann je von
-den zwölf Vertretungskörpern ernannt; die Ernennung der anderen Beamten
-war Sache der Verwaltungschefs. In allen wichtigeren Fällen hatten diese
-alle den Vertretungskörpern vorzulegenden Maßnahmen vorher gemeinsam
-untereinander zu beraten.
-
-Die Beratungen der verschiedenen Vertretungskörper fanden in der Regel
-gesondert und meist auch in verschiedenen Sessionsperioden statt;
-einzelne derselben waren in Permanenz, andere traten bloß einigemal im
-Jahr für wenige Tage zusammen; auch die Mitgliederzahl dieser
-Fachparlamente war verschieden; das schwächste derselben, das für
-Statistik, bestand bloß aus 30 Mitgliedern, die vier zahlreichsten
-zählten je 120 Mitglieder. Wenn Angelegenheiten, die mehrere
-Vertretungskörper gemeinsam interessierten, zur Sprache kamen, so traten
-die betreffenden Körperschaften zu gemeinsamen Sitzungen zusammen.
-Kompetenzstreitigkeiten waren unmöglich, da der bloße von Seiten welches
-Vertretungskörpers immer ausgesprochene Wunsch, an den Beratungen irgend
-eines anderen Teil zu nehmen, dazu genügte, um die betreffende
-Angelegenheit zu einer gemeinsamen zu machen.
-
-Das naturgemäße Ergebnis dieser Organisation war, daß jeder Bewohner
-Freilands bloß an jenen öffentlichen Angelegenheiten teilnahm, von denen
-er etwas verstand oder doch zu verstehen glaubte, und daß er in jedem
-Verwaltungszweige jenem Kandidaten seine Stimme gab, der seiner Meinung
-nach der berufenste und befähigteste gerade für den fraglichen
-Verwaltungszweig war, was wieder zu naturgemäßen -- abendländischem
-Begriffe nach allerdings schier unglaublichen -- Folge hatte, daß jeder
-öffentliche Verwaltungszweig von den sachverständigsten und berufensten
-Männern in ganz Freiland verwaltet wurde. Und dabei entwickelte sich
-sehr bald eine höchst eigentümliche Art politischer Ehre, die
-gleichfalls sehr verschieden war von der überall anderwärts geltenden.
-Gilt es da draußen für »gesinnungstüchtig,« der einmal erwählten Partei
-unterschiedlos durch Dick und Dünn zu folgen, ihr seine Stimme und
-seinen Einfluß zu leihen, gleichviel ob man von der Sache, um die es
-sich gerade handelt, etwas versteht oder nicht, so verlangt die
-politische Ehre eines Bürgers von Freiland zwar noch viel entschiedener,
-daß er seine Aufmerksamkeit und seinen Eifer den öffentlichen
-Angelegenheiten widme; die öffentliche Meinung verübelt es ihm aber
-höchlich, wenn er -- gleichviel aus welchen Rücksichten -- sich in
-solche Angelegenheiten mengt, von denen er offenbar nichts versteht, so
-daß streng genommen schon vom Wähler verlangt wird, daß er in jenen
-Verwaltungszweigen, bei denen er das Gewicht seiner Stimme geltend
-macht, einigermaßen Fachmann sei. Die Wahlen befinden sich daher
-durchweg in sehr guter Hand, Beeinflussung der Wählerschaften durch
-phantastische Vorspiegelungen oder Versprechungen wären, selbst wenn
-versucht, niemals von Erfolg. Es giebt keinen Wähler, der für sämtliche
-zwölf Vertretungskörper wählen würde; speziell die Frauen halten sich
-mit verschwindenden Ausnahmen fern von allen Wahlen, die nach
-Berufsklassen vorgenommen wurden; dagegen beteiligen sie sich sehr
-lebhaft an den nach Wohnbezirken stattfindenden; speciell bei denen für
-Unterrichtswesen geben ihre Stimmen den Ausschlag. Auch ihr passives
-Wahlrecht kommt zur Geltung und in den Vertretungskörpern für
-Versorgungswesen, Kunst und Wissenschaft, Sanitätswesen und Justiz
-sitzen häufig, in dem für Unterricht stets mehrere Frauen. An der
-Exekutive beteiligen sie sich niemals. Der Vollständigkeit halber mag
-noch erwähnt werden, daß die gewählten Abgeordneten für ihre Thätigkeit
-bezahlt werden und zwar erhalten sie für jeden Tag der Sessionsdauer je
-acht Stundenäquivalente.
-
-Nachdem die Verfassung von der Konstituante angenommen worden war, löste
-sich diese auf und es wurden sofort die Wahlen für die zwölf
-Vertretungskörper vorgenommen. Pünktlich am 20. Oktober traten diese
-zusammen und der Ausschuß legte in deren Hände seine Gewalten nieder.
-Die alten Ausschußmitglieder wurden jedoch als Chefs der verschiedenen
-Verwaltungszweige wiedergewählt, mit Ausnahme von Vieren, welche
-erklärten, kein öffentliches Amt mehr anzunehmen und an deren Stelle
-neue Männer traten. Die Regierung von Freiland war endgiltig
-konstituiert.
-
-Inzwischen waren die drei zur Feststellung der geeignetsten Trace für
-eine Eisenbahn an die Küste entsendeten Expeditionen zurückgekehrt. Die
-eine derselben, die auf der kürzesten Route, im Danathale an die
-Wituküste, operiert hatte, war zwar auf keine ungewöhnlichen
-Terrainschwierigkeiten gestoßen und die Voraussicht, daß diese weitaus
-kürzeste Strecke sich als die technisch empfehlenswerteste erweisen
-werde, hatte sich bewährt; auch im übrigen hatte sich bis zu einer
-Entfernung von 200 Kilometern vom Kenia keinerlei ernstliche
-Schwierigkeit ergeben; aber von da ab bis an die Küste setzten die jenes
-Gebiet bewohnenden Gallastämme der Expedition einen so hartnäckigen und
-bösartigen Widerstand entgegen, daß die Feindseligkeiten zwei Monate
-lang kein Ende nahmen, zahlreiche Gefechte bestanden werden mußten, in
-denen sich die Gallas zwar stets schwere Züchtigungen holten, die aber
-doch nicht bewirken konnten, daß die Expedition anders, als in stetem
-Kriegszustande ihre doch durchaus friedliche Mission zu erfüllen
-vermochte. Der Eisenbahnbau durch jenes Gebiet hätte durch einen
-förmlichen Feldzug zur Pacifizierung oder Vertreibung der Galla
-eingeleitet werden müssen und wäre auch dann nur unter dauernder
-Kriegsbereitschaft zu vollenden gewesen. Diese Linie mußte also --
-vorläufig zum mindesten -- fallen gelassen werden.
-
-Nicht minder gewichtige Gründe sprachen gegen die Linie über Ukumbani
-längs des Athiflusses. Die Trace durch das Flußthal wäre zwar ohne
-sonderliche technische Schwierigkeiten gewesen, aber sie durchzog,
-insbesondere in der zweiten Hälfte, ungesundes Sumpf- und Dschungelland,
-welches in nächster Zukunft nicht kulturfähig zu machen war. Entschied
-man sich dagegen für eine, das eigentliche Flußthal verlassende, die
-begleitenden Höhenzüge durchquerende Nebenvariante, so waren die
-technischen Verhältnisse nicht günstiger und die voraussichtlichen
-Baukosten nicht geringer, als bei der dritten Linie, der längs unserer
-alten Straße nach Mombas nämlich, die denn auch einhellig gewählt wurde.
-Zu ihren Gunsten sprach der gewichtige Umstand, daß sie befreundete
-Gebiete durchzog, die in nicht zu ferner Zukunft höchst wahrscheinlich
-von freiländischen Kolonisten zum Wohnplatze erkoren werden durften; daß
-sie die längste und kostspieligste von allen war, konnte daher, wenn der
-Kostenunterschied nicht allzusehr in die Wagschale fiel -- was, wie sich
-zeigte, thatsächlich nicht der Fall war -- nicht abhalten, ihr den
-Vorzug zu geben.
-
-Der Bau wurde unverzüglich begonnen. Mächtige, neuartige Maschinen aller
-Art waren inzwischen in großer Zahl durch unsere freiländischen
-Maschinenfabriken konstruiert worden, und mit diesen ausgerüstet,
-griffen 5000 freiländische und 8000 Negerarbeiter das Werk an 18 Punkten
-zugleich an, wobei die 11 größeren und 32 kleineren Tunnels in einer
-Gesamtlänge von 38 Kilometern, die auf der Strecke vorkamen, und die
-jeder für sich ein eigenes Bauobjekt bildeten, gar nicht mitgezählt
-sind. Die Schienen -- bestes Bessemermaterial -- lieferten teils unsere
-eigenen Fabriken, teils -- und zwar für die Strecke Mombas-Taweta --
-kamen sie aus Europa. Zwei Jahre nach Beginn des ersten Spatenstiches
-wurde die Teilstrecke Edenthal-Ngongo, drei Monate später die Strecke
-Mombas-Taweta und abermals ¾ Jahre später das Mittelstück Ngongo-Taweta
-dem Verkehr übergeben, so daß genau fünf Jahre, nachdem unsere Pioniere
-zum erstenmale den Boden von Freiland betreten hatten, die erste
-Lokomotive, die den Tag zuvor noch die Brandung des indischen Oceans an
-die Ufer von Mombas schlagen gesehen, die Gletscher des Kenia mit
-gellendem Pfiff begrüßte.
-
-Daß dieses gewaltige Werk in so kurzer Frist und mit verhältnismäßig so
-geringem Arbeitsaufwande vollendet werden konnte, verdankten wir unseren
-Maschinen, auf deren Rechnung es auch zu stellen ist, daß der
-Kostenaufwand sich innerhalb verhältnismäßig billiger Grenzen hielt,
-trotzdem wir unseren Arbeitern -- selbstverständlich -- Löhne zahlen
-mußten, wie sie wohl noch bei keinem Eisenbahnbaue jemals vorgekommen.
-Unsere freiländischen Eisenbahnbauer -- sie hatten sich natürlich sofort
-zu einer Anzahl von Associationen zusammengethan -- bezogen im ersten
-Baujahre einen Tagesverdienst von je 22 Sh., im dritten einen solchen
-von 28 Sh. -- und arbeiteten dabei bloß je 7 Stunden täglich. Trotzdem
-kosteten die gesamten 1082 Kilometer, meist ziemlich schwieriger
-Gebirgsbahn, bloß 9½ Millionen Pfd. Sterling, d. i. nicht ganz 9000 Pfd.
-Sterling per Kilometer. Unsere 13000 Arbeiter leisteten eben mit ihren
-großartigen kraftersparenden Maschinen mehr, als 100000 gewöhnliche
-Arbeiter mit Haue, Krampe und Karren auszurichten vermocht hätten: und
-die Verwendung dieses kolossalen, mehr als 4 Millionen Pfd. Sterling
-verschlingenden »Kapitals« war »rentabel,« gerade weil die Arbeit so
-hohen Lohn empfing.
-
-Daß zugleich mit dieser -- zweigeleisigen -- Eisenbahn auch ein
-Telegraph zwischen Edenthal und Mombas gelegt wurde, ist
-selbstverständlich.
-
-Während aber diese Arbeiten im Zuge waren, und die unaufhaltsam
-anwachsende Bevölkerung von Freiland in engere Berührung mit der alten
-Heimat trat, hatten sich in den Beziehungen zu unseren eingeborenen
-afrikanischen Nachbarn wichtige Veränderungen vollzogen, teils
-friedlicher, teils kriegerischer Natur, die von nicht minder bedeutsamem
-Einflusse auf den Entwickelungsgang unseres Gemeinwesens waren.
-
-Zunächst hatten die Massai von Leikipia und aus dem Seengebiete zwischen
-Naiwascha und Baringo aus eigener Initiative und auf eigene Kosten, wenn
-auch unter Anleitung von ihnen erbetener freiländischer Ingenieure, eine
-gute, 380 Kilometer lange Fahrstraße durch ihr ganzes Gebiet vom
-Naiwaschasee erst nördlich und dann östlich durch Leikipia bis nach
-Edenthal gebaut. Sie erklärten, es gehe wider ihre Ehre und ihren Stolz,
-daß sie durch fremdes Gebiet von uns getrennt seien und wenn sie uns
-oder wir sie besuchen wollten, der einzige praktikable Weg über das Land
-der Wakikuja genommen werden müsse. So groß war der eifersüchtige Wunsch
-nach unmittelbarem Anschlusse an unser Gebiet, daß die Massai, als sie
-ein Teil der angeworbenen Wataweta-Straßenarbeiter irgend einer
-Mißhelligkeit halber während der besten Bauzeit plötzlich im Stiche
-ließ, selber zugriffen und abwechselnd in der Zahl von 3000 das Werk mit
-einer Energie förderten, die Niemand bei diesem noch vor kurzem so
-arbeitsscheuen Volke für möglich gehalten hätte. Wir beschlossen denn
-auch, diesen Beweis ungewöhnlicher Anhänglichkeit und Tüchtigkeit durch
-einen ebenso hervorragenden Akt der Anerkennung zu belohnen. Als die
-Massaistraße fertig war und eine aus den Ältesten und Führern aller
-Stämme bestehende Massaideputation auf derselben freude- und
-triumphstrahlend ihren Einzug in Edenthal hielt, wurde dieselbe mit
-großen Ehren empfangen, und mit Geschenken für das ganze Massaivolk
-bedacht, die dem Bauwerte der neuen Straße ungefähr gleichkamen.
-
-Die damit bewerkstelligte innigere Verbindung mit den nördlichen und
-westlichen Massaistämmen brachte uns bald darauf in Berührung mit den am
-Ostufer des Ukerewe-Sees wohnenden Kawirondo. Diese, ein sehr
-zahlreicher und friedlich von Ackerbau und Viehzucht lebender
-Volksstamm, grenzten im Norden ihres Gebietes an Uganda, wo in den
-letzten Jahren mannigfache innere Kämpfe und Umwälzungen vor sich
-gegangen waren. Unähnlich den anderen Völkern, die wir bis dahin kennen
-gelernt und die sämtlich in unabhängigen, nur lose verbundenen kleinen
-Stämmen, meist unter freigewählten Häuptlingen mit geringem Einflusse
-lebten, waren die Wangwana (der Name für die Bewohner von Uganda) schon
-seit Jahrhunderten zu einem größeren, despotisch regierten Staate unter
-einem Kabaka oder Kaiser vereinigt. Ihr Reich, dessen Stammland sich
-längs des Nordufers des Ukerewe erstreckt, war von wechselndem Umfange,
-je nachdem die wilde Eroberungspolitik des jeweiligen Kabaka den
-umliegenden Völkerschaften gegenüber von größerem oder geringerem
-Erfolge begleitet war; stets aber blieb Uganda eine Geißel für alle
-Nachbarn, die unter den unaufhörlichen Beutezügen, Erpressungen und
-Grausamkeiten der Wangwana litten. Weite, fruchtbare Landstriche
-verödeten unter dieser Plage, und als vollends seit einer Reihe von
-Jahren der Kabaka es verstanden hatte, sich durch Vermittelung
-arabischer Händler in den Besitz einiger tausend -- wenn auch recht
-miserabler -- Gewehre und einiger Geschütze zu setzen, mit welch
-Letzteren er mangels geeigneter Munition allerdings wenig auszurichten
-vermochte, wuchs der Schrecken vor dem grausamen Raubstaate in riesigen
-Dimensionen. Gerade in die Zeit unserer Ankunft am Kenia war eine Epoche
-vorübergehender Ruhe gefallen, weil die Wangwana, durch innere
-Streitigkeiten allzusehr beschäftigt, ihren Nachbarn geringere
-Aufmerksamkeit schenken konnten. Nach des letzten Kabaka Tod machten
-sich dessen zahlreiche Söhne die Herrschaft in Kriegen streitig, die,
-mit bestialischer Wut geführt, das Land schrecklich verheerten, bis
-endlich einer der Prätendenten, der den Namen des durch seine unerhörte
-Grausamkeit wie durch sein Kriegsglück berühmten großen Ahnen Suna
-führte, sich im Vorjahre durch Verräterei der Mehrzahl seiner Brüder
-entledigte. Von da ab konzentrierte sich die Macht mehr und mehr in
-dieses Kabaka Händen und sofort begannen auch die Überfälle und
-Brandschatzungen der benachbarten Stämme. Insbesondere richtete sich
-Sunas Zorn gegen die Kawirondo, weil diese einen seiner Brüder, der zu
-ihnen geflüchtet, ihm nicht ausgeliefert, sondern hatten entwischen
-lassen. Wiederholt waren einige tausend Wangwana in Kawirondo
-eingefallen, hatten Menschen und Vieh geraubt, die Dörfer angezündet,
-die Bananen umgehauen, die Ernten verwüstet und sich dabei unmenschliche
-Grausamkeit zu schulden kommen lassen. Die Kawirondo wandten sich in
-ihrer Not an die nördlichen Massaistämme um Hülfe. Es war die Kunde zu
-ihnen gedrungen, daß wir den Massai Gewehre und Pferde geschenkt hätten,
-und sie baten nun diese, ihnen eine Schar europäisch ausgerüsteter
-Krieger zur Bewachung ihrer Grenze gegen Uganda zu senden; als Lohn
-versprachen sie jedem ihnen zu Hülfe ziehenden Massaikrieger neben
-vollständiger reichlicher Verpflegung einen Ochsen monatlich, den
-Reitern zwei.
-
-Weniger dieses Lohnes halber, als um ihrer Abenteuerlust zu genügen,
-sagten die Massai zu. 2500 El-Moran machten sich nach Kawirondo auf und
-bezogen dort -- es war das im März des vierten Jahres von Freiland, an
-der Grenze gegen Uganda eine Reihe von Kantonnements.
-
-Anfangs ging auch alles vortrefflich; die Wangwanaräuber wurden, wo sie
-sich zeigten, mit blutigen Köpfen heimgeschickt, auch wenn sie mit
-bedeutender Übermacht auftraten und es schien nach einigen Monaten fast,
-als ob man in Uganda, durch die empfangenen herben Lektionen gewitzigt,
-Kawirondo künftighin in Frieden zu lassen gedenke, denn es verlautete
-geraume Zeit nichts mehr von neuen Einfällen. Da plötzlich, wir waren in
-Freiland eben mit Einbringung der Oktoberernte beschäftigt, traf uns die
-erschütternde Kunde von einer schrecklichen Katastrophe, die über unsere
-Massaifreunde in Kawirondo hereingebrochen. Der Kabaka Suna hatte nur
-Ruhe gehalten, um zu einem größeren, vernichtenden Schlage auszuholen.
-Während die bisherigen Einfälle nach Kawirondo immer nur mit wenigen
-tausend Mann versucht worden waren, vereinigte er diesmal 30000 Mann,
-darunter 5000 Flintenträger, und überfiel mit diesen persönlich die
-ahnungslosen Kawirondo und Massai. Es gelang ihm, die 900 Mann mit 300
-Pferden zählende Massaibesatzung eines Grenzlagers beinahe im Schlafe zu
-überfallen und bevor sie sich noch zu ernstem Widerstande zu sammeln
-vermochte, niederzumetzeln. Dadurch waren die Massai nicht bloß um mehr
-als ein Drittel ihrer Stärke reduziert, sondern außerdem in zwei
-zusammenhanglose Teile getrennt, denn das überfallene Lager lag gerade
-im Centrum ihres Grenzkordons. Statt nun aber schleunigst den Rückzug
-anzutreten und bestenfalls erst nach vollzogener Vereinigung ihrer
-getrennten Streitkräfte die Offensive zu ergreifen, ließ sich einer der
-Massaiführer, kaum daß er 500 Mann zusammengerafft hatte, in der Wut
-über den Untergang so vieler seiner Kameraden zu einem tollkühnen
-Angriffe auf die ungeheuere Überzahl der Feinde verleiten, fiel dabei in
-einen Hinterhalt und wurde, nachdem er seine Patronen nur zu rasch
-verschossen hatte, mitsamt den Seinen, von denen nur wenige Mann
-entkamen, nach heldenmütigem Widerstande gleichfalls niedergemetzelt.
-Nur 1100-1200 Massai vermochte unser nunmehr das Oberkommando
-übernehmende Freund Mdango auf dem andern Flügel zu vereinen und mit
-diesen gelang es ihm auch, einen ziemlich geordneten Rückzug ins Innere
-von Kawirondo anzutreten, wenig verfolgt von Suna, dessen Hauptaugenmerk
-auf die Bergung der kolossalen Beute gerichtet war.
-
-Noch am nämlichen Tage, an welchem uns Massai- und Kawirondo-Eilboten
-diese Trauerkunde überbrachten, ging unser Ultimatum an Suna ab. Den
-Massai, die sich erboten hatten, ihre gesamten Krieger gegen Uganda zu
-senden, ließen wir sagen, 1000 Mann zu den noch in Kawirondo stehenden
-1200 seien mehr als genug; diese 2200 Massai stellten wir unter
-freiländische Offiziere, nahmen aus unserer Mitte 900 Freiwillige,
-darunter 500 Reiter, dazu 12 Geschütze und 16 Raketen nebst 30
-Elefanten, und schon am 24. Oktober brach Johnston, der Führer dieses
-Kriegszuges, unter Benutzung der Massaistraße nach Kawirondo auf.
-
-Dort traf er rings um das -- jetzt, wo es zu spät war, sehr vorsichtig
-verschanzte und bewachte -- Lager der El-Moran ungezählte Tausende mit
-Speer und Bogen bewaffneter Kawirondo und Nangi, die er aber allesamt
-als unnützen Troß heimschickte. Am 10. November überschritt er die
-Ugandagrenze, sechs Tage später wurde Suna in einem kurzen Gefecht in
-der Nähe der Riponfälle total auf's Haupt geschlagen, sein 110000 Mann
-zählendes Heer in alle Winde zerstreut und er selbst nebst einigen
-tausend Mann seiner von Küstenarabern geführten, mit Flinten bewaffneten
-Leibgarde gefangen genommen.
-
-Schon am zweiten Tage nach der Schlacht besetzten die Unseren Rubaga,
-die Hauptstadt von Uganda. Dort stellten sich in rascher Folge die
-sämtlichen Häuptlinge des Landes ein, bedingungslose Unterwerfung
-gelobend und bereit, jede ihnen auferlegte Forderung zu erfüllen.
-Johnston aber bot ihnen an, sie in den großen Bund all der bisher mit
-uns in Berührung getretenen eingeborenen Völker aufzunehmen, worauf die
-Wangwana selbstverständlich mit größter Freude eingingen. Die ihnen
-auferlegten Bedingungen waren: Freigebung aller Sklaven, friedliche
-Aufnahme freiländischer Kolonisten und Instruktoren und Ersatz alles den
-Kawirondo und Massai zugefügten Schadens. In letzterer Beziehung war
-übrigens das Wangwanavolk gar nicht in Mitleidenschaft gezogen, denn die
-unermeßlichen Rinderherden ihres Kabaka, die uns als gute Beute in die
-Hände gefallen waren, genügten reichlich zu vollem Ersatz des in
-Kawirondo gemachten Raubes und als Buße für die getöteten Kawirondo- und
-Massaikrieger. Suna selber wurde als Gefangener abgeführt und am
-Naiwaschasee interniert.
-
-Der fernere Verlauf der Ereignisse war dann ein friedlicher, nur von
-einem vereinzelten Empörungsversuche im Lande verbliebener Araber
-unterbrochener, welchen Versuch aber die Wangwana selber energisch und
-prompt unterdrückten, ohne daß unsere Intervention notwendig gewesen
-wäre. Allerdings trug eine gute Heerstraße, welche die Kawirondo und
-Nangi vom Ukerewe bis zum Anschlusse an die Massaistraße am Baringosee
-ausbauten, und eine an der Grenze zwischen Kawirondo und Uganda
-angesiedelte Massaikolonie von 3000 El-Moran einigermaßen dazu bei, die
-Wangwana in gehörigem Respekt zu erhalten. Doch genügte der Hauptsache
-nach seit der Schlacht an den Riponfällen der bloße Klang unseres
-Namens, uns auch in diesem Teile des äquatorialen Innerafrika Ruhe und
-Frieden zu gewährleisten. Rings um den Ukerewe, dessen Ufer seit
-unvordenklicher Zeit der Schauplatz grimmigen, erbarmungslosen Krieges
-Aller gegen Alle gewesen, stellten sich allmählich Gesittung und
-Menschlichkeit ein, und verhältnismäßig rasch entwickelte sich in deren
-Gefolge, selbst unter den bis dahin wildesten der umwohnenden Stämme,
-nicht unerheblicher Wohlstand.
-
-Der Ukerewe ist, auch abgesehen von seiner Größe, unter den Riesenseen
-des centralen Afrika der bedeutsamste. Sein Spiegel deckt eine Fläche
-von circa 50000 Quadratkilometern, er ist also, außer dem Kaspisee, dem
-Aralsee und der großen nordamerikanischen Seegruppe, das größte
-Binnenwasser der Erde. Diese ganze das Königreich Bayern an Umfang
-übertreffende Wassermasse, deren Tiefe in gutem Verhältnisse zu ihrer
-Flächenausdehnung steht, denn das Senkblei erreicht stellenweise erst
-bei 480 Metern den Grund, befindet sich in einer Höhe von 1350 Metern
-über dem Meeresniveau, d. i. 200 Meter über dem Gipfel des Brocken, des
-höchsten der Berge Mitteldeutschlands. Umrahmt aber wird dieser Hochsee
-meist von Gebirgszügen, die sich noch 500-1500 Meter über seinen Spiegel
-erheben, so daß das Klima seiner -- ausnahmslos gesunden, von Sümpfen
-freien -- Uferlandschaften überall gemildert, stellenweise geradezu
-arkadisch ist. Und dieser gewaltige, malerische, an vielen Stellen
-hochromantische See ist das Quellenbassin des heiligen Nil, der, ihn am
-äußersten Nordende über die Riponfälle verlassend, von hier aus dem 450
-Meter tiefer gelegenen Albert Njanza zuströmt und von dort aus als
-weißer Nil seinen Lauf fortsetzt.
-
-Schon zwei Monate nachdem wir uns in Kawirondo und Uganda festgesetzt,
-durchfurchte ein Schraubendampfer von 500 Tonnen die meeresgleichen
-Wogen des Ukerewe und vor Schluß des nächsten Jahres bestand unsere
-Seeflotille aus 5 Schiffen. Dieselben wurden überall an der Küste
-freundlich aufgenommen und der von ihnen entfachte lebhafte Handel
-erwies sich als eines der kräftigsten Beförderungsmittel rasch
-zunehmender Civilisation. Die Fruchtbarkeit der Uferlandschaften dieses
-herrlichen Sees ist geradezu grenzenlos; wenige hundert Quadratmeter gut
-bewässerten Bodens genügen, um alle Bedürfnisse einer noch so
-zahlreichen Familie zu decken, und als wir die Eingebornen erst einmal
-mit brauchbaren Geräten der Bodenkultur bekannt und vertraut gemacht
-hatten, war der überall erzeugte Überfluß der erlesensten Garten- und
-Feldfrüchte beispiellos. Merkwürdigerweise blieb das Wachstum der
-Bedürfnisse, insbesondere unter den am Westufer des Sees wohnenden
-Volksstämmen, lange Zeit hinter der Verbesserung der Produktionsmittel
-erheblich zurück. Diese einfachen Völkchen erzeugten beinahe ohne
-Arbeitsaufwand, oft aus bloßer Neugierde nach der Wirksamkeit der zu
-ihnen gebrachten verbesserten Werkzeuge, wesentlich mehr als sie
-gebrauchten und da sie den Begriff des Grundeigentums nicht kannten, der
-unverwendbare Überfluß also bei ihnen nicht wie sonst unfraglich
-geschehen wäre, Massenelend erzeugen konnte, so wurde hier Jahre
-hindurch das Märchen vom Schlaraffenlande zur Wahrheit. Der
-Eigentumsbegriff verlor beinahe seinen ganzen Inhalt, Lebensmittel
-wurden wertlos, jedermann konnte sich davon nehmen so viel er mochte;
-durchreisende Fremde fanden überall gedeckten Tisch, kurzum, das goldene
-Zeitalter schien seinen Einzug am Ukerewe halten zu wollen. Indessen
-erwies sich diese gänzliche Bedürfnislosigkeit ebenso auch als Hindernis
-vermehrten Fortschritts und wir gaben uns daher -- wenn auch nicht ganz
-ohne Bedauern -- ernstliche Mühe, diesen paradiesischen Zustand insofern
-zu stören, als wir den Leutchen Geschmack an vermehrten Bedürfnissen
-beizubringen suchten, was langsam zwar, aber schließlich doch gelang.
-Erst zugleich mit diesen schlugen dann höhere Gesittung und geistige
-Kultur in jenem Erdenwinkel tiefere Wurzeln.
-
-
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- 12. Kapitel.
-
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-Eine der Hauptaufgaben der freiländischen Verwaltung, zu deren
-Durchführung in der Regel die Ministerien für Kunst und Wissenschaft und
-für öffentliche Arbeiten einander die Hände reichten, war die gründliche
-Erforschung unserer neuen Heimat und zwar zunächst des engeren
-Keniagebietes, dann aber weiter ausgreifend auch aller benachbarten
-Landschaften, mit denen wir successive in stets engere Berührung traten.
-Das oro- und hydrographische System des ganzen Landes wurde
-festgestellt, Bodenbeschaffenheit und Klima genau untersucht und dabei
-sowohl der höhere wissenschaftliche, als der prosaische
-Nützlichkeitsstandpunkt gleichmäßig vor Augen gehalten. Ersteren
-anlangend kam zunächst eine genaue, wenn auch noch nicht alle Details
-umfassende Terrainkarte des ganzen Massai- und Kikujalandes zu stande;
-alle hervorragenden Berghöhen wurden genau vermessen und -- der
-Keniagipfel nicht ausgenommen -- erstiegen.
-
-Der Ausblick vom Kenia ist großartig über alle Maßen, bietet aber --
-abgesehen vom Kenia und seinem Gletscher selber -- wenig Abwechslung.
-Rings im Umkreise, so weit der Blick reichen mag, dehnt sich
-fruchtbarstes, üppigstes Land, durchzogen von zahllosen Flußläufen, die
-jedoch nirgend, mit Ausnahme einer etwa 5000 Quadratkilometer großen
-Bodenmulde im Nordwesten, zur Versumpfung des Bodens führen. Der
-hervorstechende Charakter des ganzen Gebietes ist der eines in
-zahlreichen Terrassen abfallenden, von mäßigen Bergrücken durchbrochenen
-Tafellandes. Erst von der obersten Terrasse ab beginnen die eigentlichen
-Vorberge des Kenia, die rings um das aus einem Gusse steil und
-unvermittelt aufsteigende eigentliche Keniamassiv einen Gebirgsgürtel
-von verschiedener Breiten- und Höhenentwickelung schließen. Dieses
-Massiv trägt in einer Höhe von 5000 bis 5500 Metern eine Reihe riesiger
-Gletscherfelder, aus deren Mitte dann steil der Gipfel des Berges
-emporsteigt, in einiger Entfernung flankiert von einem noch steileren,
-kleinen Horne.
-
-Durchaus verschiedenen Charakter zeigt die zweitwichtigste der zum
-Gebiete von Freiland gehörigen Gebirgsbildungen, nämlich die 70
-Kilometer westlich vom Kenia in einer Längenausdehnung von reichlich 100
-Kilometern und in einer Breite von durchschnittlich 20 Kilometern von
-Norden nach Süden streichende Aberdarebergkette. Die höchsten Gipfel
-dieses Gebirgszuges erreichen 4500 Meter Seehöhe, und während der Kenia
-überall das Gepräge des Großartigen zeigt, ist bestrickende Lieblichkeit
-der hervorstechende Charakterzug der Aberdarelandschaften. Zwar fehlt es
-auch hier nicht an Bergkolossen von überwältigendem Eindrucke, aber das
-Charakteristische sind die in reizvollster Abwechslung sich
-aneinanderschließenden romantischen, sanftgeschwungenen Berge und weiten
-Thäler, teils von üppigen, aber durchschnittlich nicht allzu dichten
-Wäldern, teils von smaragdenen, blumigen Wiesen bestanden, überall
-bespült von zahllosen kristallklaren Bächen und Flüssen, Seen und
-Teichen. Einem einzigen, herrlichen Parke gleicht dieses 2000
-Quadratkilometer bedeckende Gebirgsland, von dessen Höhen aus gen Osten
-überall das überwältigende Schneemeer des Kenia, gen Westen die Smaragd-
-und Saphirflächen der großen Massaiseen -- Naiwascha, Elmeteita und
-Nakuro -- sichtbar sind. Und diese wunderliebliche Landschaft, die in
-sich alle Reize der Schweiz und Indiens vereinigt, birgt zugleich im
-Schoße ihrer Berge überschwengliche mineralische Schätze. Hier und nicht
-am Kenia, das hatten unsere Geologen bald festgestellt, war der
-zukünftige Sitz der freiländischen Industrie, insbesondere der
-metallurgischen. Kohlenlager, die an Mächtigkeit und Güte den besten
-englischen mindestens ebenbürtig sind, Magneteisenstein mit einem
-Eisengehalte von 50 bis 70 Prozent, Kupfer, Blei, Wismut, Antimon,
-Schwefel in reichen Gängen, an der Westabdachung, gerade oberhalb des
-Salzsees von Nakuro, ein großes Steinsalzlager, und noch eine Menge
-anderer Schätze wurden in rascher Reihenfolge entdeckt und die
-bestgelegenen sofort in Ausbeutung genommen. Insbesondere die
-neueröffneten Kupferminen fanden unmittelbar bei Anlage des Telegraphen
-an die Küste umfassende Verwendung, die jedoch an Ausdehnung von
-derjenigen zu Zwecken elektrischer Kraftleitungen alsbald übertroffen
-wurde.
-
-Denn am Kenia hatte sich inzwischen mancherlei verändert. Die
-Bevölkerung von Freiland war, da der Zuzug unaufhaltsam sich steigerte,
-schon gegen Schluß des vierten Jahres auf 780000 Seelen gestiegen. Ein
-großer Teil des Edenthals war zu einer einzigen, 102 Quadratkilometer
-bedeckenden und 58000 Wohnhäuser zählenden Villenstadt geworden, deren
-270000 Einwohner dem Gartenbau, industriellen Gewerben oder geistiger
-Beschäftigung oblagen. Aber auch die auf 140000 Seelen angewachsene
-Bevölkerung des Danaplateaus betrieb neben der Kultur des dort noch
-verfügbaren Ackerlandes zum weitaus überwiegenden Teil gleichfalls
-verschiedenartige Industrieen, während die Landwirtschaft der Hauptsache
-nach hinabgerückt war in die jenseits der umgrenzenden Waldzone um 200
-Meter tiefer gelegene Hochebene, die -- mit mannigfaltigen
-Unterbrechungen allerdings -- rings um den ganzen Gebirgsstock sich
-erstreckend, auf ihrem 8000 Quadratkilometer umfassenden fruchtbaren
-Boden bis auf weiteres genügenden Raum zur Ausdehnung bot.
-
-Hier wurden zunächst 96000 Hektaren (960 Quadratkilometer) unter den
-Pflug genommen, nachdem sie zuvor -- gleich allem Kulturboden in ganz
-Freiland -- durch einen tüchtigen Balkenzaun gegen die Besuche lästigen
-Wildes geschützt worden waren. Kleineres Wild, welches durch Einhegung
-von den Saaten nicht fernzuhalten war, hielten die Hunde in Respekt,
-die, in großer Menge gezüchtet, darauf dressiert waren, diese
-Feldeinzäunungen und ebenso die Hürden des Viehs fleißig zu umkreisen.
-Dieser Schutz erwies sich gegen alles den Saaten nachstellende Getier
-als vollkommen ausreichend, die Affen etwa ausgenommen, unter die
-zeitweise geschossen werden mußte, wenn sie sich auf ihren nächtlichen
-Raubzügen durch noch so wütendes Gekläffe der vierbeinigen Wächter nicht
-vollständig verscheuchen ließen.
-
-Zum Betriebe der in dieser Landwirtschaft in Gebrauch stehenden
-Maschinen wurde zwar vorläufig noch Dampfkraft verwendet; es war aber
-die Herstellung einer großartigen elektrischen Kraftanlage im Werke, die
-künftighin die Dampfmotoren überflüssig machen sollte. Die Triebkraft
-für die elektrischen Dynamos lieferte der Danafluß, der, verstärkt durch
-zwei mächtige Gebirgsbäche, die sich unterhalb des großen Wasserfalls
-mit ihm vereinen, am unteren Ende des Tafellandes, welches wir seiner
-Bestimmung entsprechend, Kornland genannt hatten, in einer Reihe
-gewaltiger Stromschnellen und Katarakte dem Tieflande zueilt. Und zwar
-wurde zu Zwecken der Betriebe von Kornland nicht etwa der große
-Wasserfall von 90 Meter Fallhöhe am Ausgange des Danaplateaus benutzt,
-sondern eben jene Stromschnellen und kleineren, aber zahlreichen
-Katarakte, von denen soeben die Rede gewesen. Diese ergeben insgesamt
-eine Fallhöhe von 265 Metern, und da der Fluß hier bereits gewaltige
-Wassermassen führt, so war durch entsprechende Kombination von Turbinen
-und elektrischen Kraftmaschinen ein Gesamteffekt von 5 bis 600000
-Pferdekräften zu erzielen, weit mehr, als zur Bewirtschaftung des
-gesamten Bodens von Kornland selbst bei intensivster Kultur erforderlich
-sein konnte. Die für das nächste Jahr veranschlagten Kraftanlagen waren
-auf 40,000 indizierte Pferdekräfte berechnet. Gut isolierte, starke
-Kupferstränge sollten die von 20 riesigen Turbinen auf 200
-Dynamomaschinen erzeugten elektrischen Ströme in die Wirtschaftsgebäude
-und über den zu bewirtschaftenden Boden leiten, wo die in diesen Strömen
-abgelagerte Kraft alle landwirtschaftlichen Arbeiten -- vom Pflügen
-angefangen bis zum Dreschen, Reinigen und Transportieren des Getreides
--- zu vollbringen hatte. Denn auch ein Netz elektrischer Bahnen gehörte
-mit zum Systeme dieser landwirtschaftlichen Anlage.
-
-Der große Danakatarakt aber mit seiner, auf 124000 indizierte
-Pferdekräfte berechneten Wasserkraft diente zunächst elektrischen
-Beleuchtungszwecken in Edenthal und in den am Danaplateau gelegenen
-Städten. Einstweilen genügten zu öffentlichen Beleuchtungszwecken 5000,
-auf 35 Meter hohen Masten angebrachte Kontaktlampen von je 2000 Kerzen
-Lichtstärke, die insgesamt 12000 Pferdekräfte erforderten; zur
-Beleuchtung der Wohnhäuser und einzelner, auch bei Nacht in Betrieb
-stehender Fabriketablissements standen 420000 Glühlampen in Verwendung,
-die 40000 Pferdekräfte beanspruchten, so daß insgesamt 52000
-Pferdekräfte von den elektrischen Kraftmaschinen am großen Katarakte
-erzeugt werden mußten, die jedoch tagsüber auch zum Betriebe eines
-Eisenbahnnetzes von insgesamt 340 Kilometer Ausdehnung Verwendung
-fanden, welches die Hauptverkehrsadern und belebteren Straßenzüge im
-Danaplateau und in Edenthal durchzog. Bloß abends und nachts, wenn die
-Beleuchtung funktionierte, mußte der Eisenbahnbetrieb aus besonderen,
-einige tausend Pferdekraft abgebenden Dynamos gespeist werden. Im ganzen
-waren solcherart nahezu zwei Fünfteile der verfügbaren Gesamtkraft bis
-zum Schlusse des fünften Jahres von Freiland zur Ausnutzung gelangt; die
-noch erübrigenden drei Fünfteile blieben vorläufig noch unverwendet und
-bildeten die Reserve für zukünftige Verwendungsarten der gleichen
-Kraftquelle.
-
-Ebenfalls in das vierte und fünfte Jahr Freilands fiel der Ausbau eines
-Kanalnetzes und mehrerer Wasserleitungen, für Edenthal sowohl als für
-das Danaplateau. Ersteres diente bloß zur Abfuhr der Meteorwässer in den
-Dana, während das Spülwasser und der Unrat durch ein System
-pneumatischer Aufsaugung vermittelst mächtiger Saugwerke in gußeisernen
-Röhren abgeleitet, dann desinfiziert und als Dünger verwertet wurden.
-Die Wasserleitungen wurden unter Benutzung der besten Hochgebirgsquellen
-mit einer Leistungsfähigkeit von vorläufig 1 Million Hektoliter täglich
-angelegt und sowohl zur Speisung zahlreicher öffentlicher Brunnen, als
-auch zur Einleitung in sämtliche Privathäuser benutzt. Durch
-Einbeziehung neuer Quellen war die Ergiebigkeit dieser Leitung in kurzer
-Frist zu verdoppeln und zu verdreifachen. Gleichzeitig waren alle
-Straßen makadamisiert worden, so daß nach jeder Richtung für die
-Reinlichkeit und Gesundheit der jungen Städte bestens vorgesorgt war.
-
-Die Unterrichtsverwaltung hatte inzwischen nicht minder gewaltige
-Anstrengungen gemacht. Es hatte sich eine dahingehende öffentliche
-Meinung entwickelt, daß die Jugend von Freiland ohne Unterschied des
-Geschlechts und späteren Berufs einen Unterricht zu genießen habe, der
-mit Ausnahme der lateinischen und griechischen Sprachstudien demjenigen
-ungefähr entsprechen solle, der beispielsweise in den sechs ersten
-Gymnasialklassen Deutschlands erteilt wird. Zu diesem Behufe sollten
-Knaben wie Mädchen vom 6. bis 16. Jahre die Schule besuchen, wo sie nach
-Erledigung der Elementarkenntnisse in Sprachlehre, Litteraturgeschichte,
-Geschichte, Kulturgeschichte, Physik, Naturgeschichte, Geometrie und
-Algebra unterwiesen wurden.
-
-Nicht minderes Gewicht als auf die geistige und moralische wurde auf die
-körperliche Ausbildung gelegt, ja es war Grundsatz in Freiland, daß
-letztere vorauszugehen habe, indem ein gesunder harmonisch entwickelter
-Körper die Voraussetzung eines gesunden, harmonisch entwickelten Geistes
-sei. Und auch bei der geistigen Ausbildung wurde weniger auf die
-Ansammlung von Kenntnissen, als auf die Anregung des jungen Geistes zu
-selbständigem Denken gesehen, daher nichts ängstlicher und sorgfältiger
-gemieden ward, als Überbürdung mit geistiger Arbeit. Kein Kind sollte --
-die häuslichen Repetitionen mit eingerechnet -- länger als höchstens 6
-Stunden täglich geistig beschäftigt sein; die Unterrichtsstunden für
-alle geistigen Lehrfächer waren daher auf 3 Stunden täglich beschränkt,
-während 2 andere Schulstunden täglich körperlichen Übungen -- dem
-Turnen, Laufen, Tanzen, Schwimmen, Reiten, bei Knaben außerdem dem
-Fechten, Ringen und Schießen -- gewidmet wurden. Ein fernerer Grundsatz
-des freiländischen Unterrichtswesens war, daß auch die Kinder so wenig
-wie die Erwachsenen zur Thätigkeit gezwungen werden sollten; einer
-zielbewußten, konsequenten und in ihren Mitteln nicht beschränkten
-Pädagogik -- so meinten wir -- könne es unmöglich schwer fallen, das
-lenkbare Kindergemüt zu freiwilliger und freudiger Erfüllung vernünftig
-bemessener Pflichten zu bringen. Und auch darin gab uns die Erfahrung
-Recht. Unsere Unterrichtsleitung mußte es sich zwar in hohem Grade
-angelegen sein lassen, den Unterricht anregend zu gestalten; nachdem ihr
-dies aber einmal gelungen war, lernten unsere Jungen und Mädchen in der
-halben Zeit doppelt so viel und gründlich, als ihre physisch und geistig
-mißhandelten europäischen Altersgenossen. Der Unterricht wurde --
-abermals aus Rücksichten der Gesundheit -- so weit nur immer möglich im
-Freien erteilt. Die Schulhäuser waren daher sämtlich entweder
-inmitten großer Gärten oder am Waldessaum errichtet, und die
-naturwissenschaftlichen Disziplinen wurden regelmäßig, andere häufig,
-mit Ausflügen in die Umgebung in Verbindung gebracht. Dafür bot aber
-auch unsere Schuljugend ein anderes Bild, als wir es in der alten Heimat
-und insbesondere in deren Großstädten zu sehen gewohnt waren. Rosige,
-von Gesundheit, Kraft und Lebensfreude strotzende Gesichter und
-Gestalten, Selbstvertrauen und sichere Intelligenz aus jeder Miene, aus
-jeder Geberde hervorleuchtend -- so traten unsere Kinder in den Ernst
-des Lebens ein.
-
-Natürlich erforderte eine derartige Organisation des Unterrichts ein
-sehr zahlreiches und tüchtiges Lehrpersonal. In der That kam in Freiland
-durchschnittlich schon auf je 15 Schulkinder je eine Lehrkraft, und um
-die Auswahl unter den besten Intelligenzen des Landes zu haben, mußten
-hohe Gehalte gezahlt werden. Für die vier ersten Klassen -- in denen
-überwiegend Mädchen oder junge Witwen unterrichteten -- betrug der
-Jahresgehalt zwischen 1400 bis 1800, für die sechs anderen Klassen -- in
-denen hinwieder die männlichen Lehrkräfte überwogen -- 1800 bis 2400
-Stundenäquivalente; im fünften Jahre der Gründung waren das, in Geld
-umgerechnet, Gehalte zwischen 350 und 600 Pfd. Sterling.
-
-Aber auch mit seinem sehr umfangreichen Bedarfe an höheren Intelligenzen
-wollte Freiland auf eigenen Füßen stehen. Es wurde daher schon im
-dritten Jahre eine Hochschule errichtet, an welcher sämtliche
-Wissenszweige, die in Europa an Universitäten, Akademien und technischen
-Lehranstalten gelehrt werden, gesammelt vertreten waren. Alle Lehrfächer
-waren mit einer Freigebigkeit ausgestattet, von welcher man außerhalb
-Freilands kaum eine Vorstellung besitzt. Unsere Sternwarte, unsere
-Laboratorien und Sammlungen verfügten über geradezu unbegrenzte Mittel
-und kein Gehalt war zu hoch, um eine glänzende Lehrkraft heranzuziehen
-und festzuhalten. Das nämliche gilt von den technischen und nicht minder
-von den landwirtschaftlichen und merkantilistischen Lehrkanzeln und
-Lehrmitteln unserer Hochschule. Der Unterricht an dieser war in allen
-Fächern durchaus frei und, gleich demjenigen in den unteren Schulen,
-unentgeltlich. Im fünften Jahre der Gründung Freilands besuchten 7500
-Hörer die Hochschule; die Zahl ihrer Lehrkanzeln war 215, ihr
-Jahresbudget hatte die Höhe von 2½ Millionen Pfd. Sterling erreicht und
-war andauernd in rapidem Wachstum begriffen.
-
-Die Mittel zu all diesen gewaltigen Ausgaben lieferte überreichlich die
-vom Gesamteinkommen aller Produzenten erhobene prozentuelle Abgabe, denn
-dieses Gesamteinkommen wuchs unter dem verdoppelten Einflusse der
-Bevölkerungszunahme und der steigenden Arbeitsergiebigkeit in riesigem
-Maße. Als die Eisenbahn zur Küste fertig war und ihre Wirkung sich
-fühlbar zu machen begann, stieg der Wert des durchschnittlichen Ertrags
-einer Arbeitsstunde rasch auf 6 Sh., und da um diese Zeit -- zu Ende des
-fünften Jahres von Freiland -- 280000 Arbeiter im Tagesdurchschnitt
-während 6 Stunden, d. i. 1800 Stunden im Jahre produktiv beschäftigt
-waren, so bezifferte sich in jenem Jahre der Gesamtwert des
-Arbeitsertrages von Freiland auf 280000 × 1800 × 6 Sh., d. i. auf rund
-150 Millionen Pfd. Sterling. Davon reservierte sich nun das Gemeinwesen
-eine Abgabe in der Höhe von 35 Prozent, d. i. in runder Summe 52½
-Millionen Pfd. Sterling und dieses war die Quelle, aus welcher nach
-Abzug der zur Deckung der Versorgungsansprüche erforderlichen,
-allerdings die größere Hälfte beanspruchenden Beträge, die als
-wünschenswert erkannten Ausgaben bestritten wurden.
-
-Ja, das Wachstum der Einnahmen war ein so gesichertes und hatte so
-bedeutenden Umfang erreicht, daß die Verwaltung von Freiland sich am
-Ende dieses fünften Jahres entschloß, den Vertretungskörpern, die zu
-diesem Behufe zu einer gemeinsamen Sitzung einberufen wurden, zwei
-Maßregeln von entscheidender Bedeutung vorzuschlagen: erstlich, die den
-Associationen einzuräumenden Kredite hinfort von der Zustimmung der
-Zentralbehörde unabhängig zu machen; und zum zweiten die sämtlichen, bis
-dahin von neueintretenden Mitgliedern freiwillig gezahlten Beiträge
-zurückzuerstatten und künftighin derlei Beiträge nicht mehr
-entgegenzunehmen.
-
-Aus den im 8. Kapitel dargelegten Gründen waren bisher Umfang und
-Reihenfolge der Produktivkredite von der Entscheidung der
-Zentralverwaltung abhängig gewesen; jetzt, da die Ausrüstung mit
-kapitalistischen Arbeitsbehelfen und damit die Leistungsfähigkeit des
-Gemeinwesens eine genügend hohe Stufe erreicht hatte, wurde auch diese
-Schranke des freien Selbstbestimmungsrechtes für unnötig erachtet; die
-Associationen mochten fordern, was ihnen nützlich dünkte, die
-Kapitalkraft des Landes schien auch den umfangreichsten, irgend zu
-erwartenden Kreditansprüchen gewachsen. Und in der That erwies sich
-diese Zuversicht als wohlbegründet. In den diesem Beschlusse unmittelbar
-folgenden Jahren ereignete es sich zwar zu zwei verschiedenen Malen, daß
-infolge unvermittelt eintretender großartiger Kapitalbedürfnisse der zur
-Deckung derselben bestimmte Teil der öffentlichen Abgaben um einige
-Prozente über das normale Maß gesteigert werden mußte; das wurde jedoch
-angesichts des stetigen Wachstums aller Produktionserträge ohne die
-geringste Beschwerde ertragen und späterhin genügten die vom Gemeinwesen
-angelegten Reserven, um selbst dieses Element der Schwankung aus dem
-Verhältnisse zwischen Kapitalbedarf und öffentlichem Einkommen zu
-beseitigen.
-
-Dagegen gab dieser Beschluß den Anstoß zu einem ganz merkwürdigen
-Versuche, die damit eingeräumte vollkommene Freiheit der Kreditgewährung
-zu einer großartigen gegen das Gemeinwesen gerichteten Schwindelei zu
-mißbrauchen. In Amerika hatte sich ein Konsortium unternehmender
-»Geschäftsleute« gebildet, eigens zu dem Zwecke, die Vertrauensseligkeit
-von uns »dummen Freiländern« gehörig auszubeuten, und zwar in der Weise,
-daß unserer Zentralbank unter der Maske einer zu solchem Behufe zu
-gründenden beliebigen Association, eine möglichst große Summe entlockt
-werden sollte. 46 der geriebensten und skrupellosesten Yankees
-vereinigten sich zu diesem Feldzuge gegen unsere Taschen; wie sie es
-anstellten und was sie dabei erreichten, entnehmen wir am einfachsten
-der nachträglich zum Besten gegebenen Erzählung ihres damaligen
-Anführers, gegenwärtig ehrsamen Werkmeisters in der großen Salzsiederei
-am Nakuro-See:
-
-»Wir waren also in Edenthal angelangt und beschlossen fürs erste, das
-Terrain genau zu sondieren, ehe wir an die Ausführung unseres Geschäftes
-schritten. Dabei bemerkten wir sofort zu unserer großen Genugthuung, daß
-Mißtrauen der Freiländer uns wenig zu schaffen machen werde. Das
-Gasthaus, in welchem wir abgestiegen, gab Alles auf Kredit, ohne daß man
-uns auch nur fragte, wer wir seien. Als ich dem Wirt gegenüber in
-väterlichem Tone bemerkte, solch unterschiedsloser Pump für jeden
-Hergelaufenen sei doch großer Leichtsinn, lachte mir der Wirt, will
-sagen der Direktor der Edenthaler Hotel-Association, ins Gesicht und
-meinte zuversichtlich, hier brenne Niemand durch, wer da sei, denke
-nicht daran, Freiland wieder zu verlassen. »Schon gut«, dachte ich mir;
-fragte aber weiter, was die Hotel-Gesellschaft mache, wenn ein Gast
-nicht zahlen _könne_? »Unsinn«, sagte der Direktor, »hier kann jeder
-zahlen, sowie er zu arbeiten anfängt«. »Und wenn er nicht arbeiten
-kann?« »Dann erhält er Unterstützung vom Gemeinwesen.« »Und wenn er
-nicht arbeiten will?« Da klopfte mir der Mann lächelnd auf die Schulter
-und meinte: »Nichtwollen hält bei uns nicht lange vor, verlaßt Euch
-darauf. Übrigens, wenn Einer durchaus mit gesunden Gliedern faullenzen
-will -- Bett und gedeckten Tisch findet er bei uns trotzdem allezeit.
-Macht Euch also wegen Berichtigung der Zeche in keinem Fall Sorge; Ihr
-werdet zahlen wann Ihr könnt und wollt.«
-
-»Machte auf uns einen ganz curiosen Eindruck, dieser Direktor; wir
-sagten aber nichts, sondern beschlossen, den Freiländern weiter auf den
-Zahn zu fühlen. Wir kamen in die große Warenhalle und versuchten
-Kleider, Wäsche u. dgl. auf Borg zu nehmen. Es ging vortrefflich. Die
-Verkäufer -- es waren, wie sich herausstellte, Kommis der Anstalt --
-verlangten zwar eine Zahlungsanweisung an die Centralbank, als wir
-jedoch entgegneten, daß wir dort noch kein Konto besäßen, meinten sie,
-das thäte auch nichts; sie begnügten sich einstweilen mit schriftlicher
-Bestätigung der Kaufsumme, welche die Bank ihnen seinerzeit, wenn wir
-unser Konto hätten, schon gutschreiben werde. So ging's überall. Mackay
-oder Gould kann in New-York nicht bereitwilliger Kredit finden, als wir
-in Edenthal fanden.
-
-»Nach einigen Tagen schon schritten wir an unsere »Gründung«. Mißtrauen
-war, wie gesagt, fürs erste nicht zu besorgen, unangenehm blieb aber
-trotzdem, daß die freiländischen Einrichtungen die Öffentlichkeit aller
-auf Geschäfte bezüglichen Akte, Daten und Umstände verlangen. Wir wußten
-zwar, daß von Polizei oder Gerichten nichts zu befürchten sei; was aber
-wollten wir thun, wenn das freiländische Publikum der vorgeschützten
-Gründung Geschmack abgewinnt und unserer Association beizutreten
-wünscht? Wir konnten natürlich Kompagnons nicht brauchen, sondern mußten
-hübsch unter uns bleiben, sonst war unser ganzer Plan ins Wasser
-gefallen. Wir forschten überall, ob es kein Mittel gäbe, die Zahl der
-Teilnehmer zu begrenzen, hatten über diesen Gegenstand eingehende
-Besprechungen mit gutunterrichteten Freiländern, beklagten uns über das
-himmelschreiende Unrecht, daß wir gezwungen sein sollten, den Nutzen der
-ausgezeichneten »Idee«, die wir gefaßt, hier mit aller Welt zu teilen,
-unsere Geschäftsgeheimnisse preiszugeben u. s. w.; es half aber alles
-nichts. Die Freiländer blieben in diesem Punkte verstockt und meinten,
-Niemand zwinge uns, unsere Geheimnisse preiszugeben, wenn wir selbe aus
-eigenen Kräften fruktifizieren wollten; wenn wir aber hierzu
-freiländischen Boden und freiländisches Kapital brauchten, so müsse
-selbstverständlich ganz Freiland wissen, worum es sich handelt. »Und
-wenn unser Geschäft nur eine kleine Anzahl von Arbeitern brauchen kann,
-wenn z. B. die Ware, die wir fabrizieren wollen, zwar großen Gewinn
-abwirft, aber doch nur beschränkten Absatz hat, müssen wir auch dann
-alle Welt beitreten lassen? »In diesem Fall« -- so war die Antwort --
-werden freiländische Arbeiter nicht so dumm sein, sich Euch massenhaft
-aufzudrängen.« »Schön!« rief ich mit verbissenem Zorn, »wenn aber doch
-mehr beitreten, als wir gerade brauchen können?« Doch auch darauf wußten
-die Leute eine Antwort; dann, so meinten sie, würden die zuviel
-Beigetretenen eben nachträglich austreten, oder wenn sie partout dabei
-blieben, so müßten wir alle die Arbeitszeit etwas einschränken, etwa
-einen Turnus einführen, oder dergleichen; an Gelegenheit, unsere dadurch
-frei werdende Zeit nützlich anderweitig zu verwerten, fehle es in
-Freiland nirgend.
-
-»Was ließ sich da machen? Wir mußten unser Plänchen so einkleiden, daß
-den freiländischen Arbeitern ganz von selbst die Lust verginge, sich zu
-beteiligen. Aber auch allzu plump durfte anderseits die Sache nicht
-gemacht werden, sonst witterten die Leute am Ende doch Unrat, oder
-beteiligten sich vielleicht gar aus purer Menschenliebe, um unserer
-Thorheit mit gutem Rat zu Hilfe zu kommen. Schließlich einigten wir uns
-dahin, eine Nähnadelfabrik zu errichten; eine solche war nach der ganzen
-Geschäftslage offenbar unrentabel, der Plan klang aber doch nicht allzu
-abenteuerlich, um uns Neugierige an den Hals zu ziehen. Wir
-konstituierten uns also und hatten in der That die Genugthuung,
-vorläufig außer zwei Dummköpfen, welche die Nähnadelfabrikation aus
-irgend einem Grunde für ein gutes Geschäft halten mochten, und mit denen
-fertig zu werden, nicht allzu schwer fallen konnte, keine Genossen zu
-erhalten. Jetzt handelte es sich um die Festsetzung des
-Gründungskapitals, will sagen um die Höhe des bei der Centralbank zu
-fordernden Kredits. Natürlich hätten wir am liebsten gleich eine Million
-Pfd. Sterling verlangt; das ging aber nicht, da wir, wie gesagt, angeben
-mußten, wozu wir das Geld brauchten und eine Nähnadelfabrik für 48
-Arbeiter doch unmöglich so viel verschlingen durfte, ohne uns sofort
-eine ganze Legion von Untersuchungsrichtern in Gestalt beitretender
-Arbeiter auf den Nacken zu setzen. Wir beschränkten uns also
-notgedrungen auf 130000 Pfd. Sterling, was zwar auch einiges Aufsehen
-erregte, von uns aber damit motiviert wurde, daß die neuartigen
-Maschinen, die wir anzuwenden gedächten, sehr teuer wären.
-
-»Jetzt kam aber die Hauptsorge; wie sollten diese 130000 Pfd. Sterling
-oder doch der größte Teil derselben in unsere Taschen geleitet werden?
-Mich hatten unsere Jungens zum Direktor der »ersten Edenthaler
-Nähnadel-Fabriks-Association« gewählt und als solcher begab ich mich
-anderntags zu der Bank, um uns dort unser Konto eröffnen zu lassen und
-gleichzeitig alle erforderlichen Informationen einzuholen. Der Kassierer
-versicherte mir zwar auf Befragen, daß alle von mir angewiesenen
-Auszahlungen ohne weiteres durchgeführt werden sollten, als ich aber
-daraufhin um ein »kleines Akonto« von einigen tausend Pfunden bat,
-fragte er mich verwundert, was es damit solle. »Je nun, wir müssen doch
-gewisse kleine Zahlungen leisten.« -- »Unnötig«, war die Antwort, »alle
-Zahlungen werden hier bei der Bank ausgeglichen.« -- »Ja, aber wovon
-soll denn ich mit meinen Leuten inzwischen, bis die Nähnadelfabrik zu
-arbeiten anfängt, leben?« fragte ich gereizt. »Nun, von Ihrer Arbeit bei
-anderen Unternehmungen, oder von Ihren Ersparnissen, wenn sie welche
-haben. Auch an Kredit wird es Ihnen nirgend fehlen -- wir aber, die
-Centralbank -- geben bloß Produktivkredite; was Sie verzehren, können
-wir Ihnen nicht vorstrecken.«
-
-»Da standen wir nun mit unserem Kredite von 130000 Pfd. Sterling und
-fingen an zu begreifen, daß derselbe doch nicht so leicht davonzutragen
-sei. Allerdings konnten wir bauen lassen und bestellen, so viel und was
-wir wollten. Was hatten wir aber davon, Geld auf unnütze Dinge
-auszugeben?
-
-»Das ärgerlichste war, daß wir ehrlich zu arbeiten beginnen mußten,
-wollten wir das allgemeine Mißtrauen nicht doch schließlich gegen uns
-erwecken, und so traten wir denn verschiedenen Unternehmungen bei.
-Überwunden aber wollten wir uns noch immer nicht geben und nach
-reiflichem Nachdenken fiel mir folgendes als die allein mögliche Methode
-des von uns geplanten Schwindels ein. Die Centralbank vermittelt zwar
-alle Käufe und Verkäufe, hindert aber, wie ich bald herausbekam, den
-Käufer oder Besteller nicht im geringsten in der Wahl der ihm passend
-erscheinenden Güter. Wir hatten also das Recht, für unsere
-Nähnadelfabrik Maschinen in Europa oder Amerika bei beliebigen
-Fabrikanten zu bestellen, für welche dann die Centralbank Zahlung
-leisten würde. Wir mußten also bloß mit einer geeigneten europäischen
-oder amerikanischen Schwindelfirma in Verbindung treten und den zu
-erzielenden Nutzen mit dieser teilen, um schließlich doch eine recht
-ansehnliche Beute wegtragen zu können.
-
-»Aber zugleich mit diesem Auskunftsmittel fiel mir auch ein, wie
-grenzenlos dumm es wäre, von demselben Gebrauch zu machen. Sehr viel,
-das leuchtete mir ein, war mit demselben nicht zu gewinnen; aber selbst
-wenn es möglich gewesen wäre, für jeden Einzelnen von uns ein Vermögen
-herauszuschwindeln, hatte ich doch die Lust verloren, Freiland wieder zu
-verlassen. Die Rechnung stand für alle Fälle zu ungleich. Ich war in
-ehrlicher Arbeit ein Neuling und sonderliche Anstrengungen sagten meinem
-damaligen Geschmack nicht zu; trotzdem hatte ich es auf einen
-Tagesverdienst von 12 Shillingen gebracht, das sind 180 Pfd. Sterling im
-Jahr, mit denen sich hier mindestens so gut leben ließ, wie mit dem
-Doppelten in Amerika oder England; selbst wenn ich in der bisherigen
-Weise, gleichsam bloß, um mir die Langeweile zu kürzen, fortarbeitete,
-mußte sich dieses Einkommen sehr bald steigern, ich konnte hier
-schlimmstenfalls ein Leben führen, wie da draußen im Besitze einer
-Jahresrente von 400-500 Pfd. Sterling; auch nur annähernd so viel zu
-stehlen, war nun nicht die geringste Aussicht vorhanden. Doch wenn auch!
-Ich wäre doch nicht weggegangen. Erstlich weil es mir hier zu gut
-gefiel; der Umgang gleich und gleich mit anständigen Menschen hat etwas
-Lockendes selbst für Spitzbuben, wie ich damals einer war. Und dann --
-es kam mir damals komisch vor -- begann ich mich meines Gaunertums zu
-schämen. Auch die Spitzbuben haben ihre Ehre. Da draußen, wo _Jeder_ dem
-Nebenmanne das Fell über die Ohren zieht, wenn er nur kann, erachtete
-ich mich im Wesen nicht schlechter, als die sog. ehrlichen Leute; ich
-hielt mich nicht so genau an das Gesetz, als diese, das war aber auch
-der ganze Unterschied. Auf der Jagd nach dem lieben Nebenmenschen
-befinden sie sich da draußen Alle; daß ich ohne Jagdkarte zu jagen mir
-erlaubte, beschwerte mir das Gewissen nicht sonderlich, umsoweniger, da
-ich doch nur die Wahl hatte, zu jagen, oder gejagt zu werden. Hier aber
-jagte Niemand dem Nebenmenschen das Seine ab, hier mußte sich jeder
-Gauner selber gestehen, daß er schlechter sei, als die Anderen alle, und
-zwar ein schlechter Kerl ohne Not, aus purer Freude am Schlechten. Und
-wenn man dabei noch den Reiz der Gefahr gehabt hätte, der da draußen die
-Jagd mit einer gewissen Poesie umgiebt! aber auch davon keine Spur!
-Nicht einmal verfolgt hätten uns die Freiländer, wenn wir uns mit der
-erschwindelten Beute aus dem Staube gemacht hätten; sie hätten uns
-laufen lassen wie räudige Hunde. Nein, hier wollte und konnte ich kein
-Spitzbube sein. Ich rief die Genossen zusammen, um ihnen anzuzeigen, daß
-ich meine Würde als ihr Anführer niederlege, mich überhaupt von der
-Kompagnie lossage und es hier mit anständiger Arbeit versuchen wolle.
-Nicht einer war, der mir nicht zugestimmt hätte. Zwar mit der
-Arbeitslust sah es bei einigen noch windig aus, aber hier bleiben
-wollten sie Alle. Ein besonders zäher Kerl warf zwar die Frage auf, ob
-es, da wir doch einmal so hübsch beisammen seien, wie später wohl nicht
-wieder, nicht vielleicht doch ganz nett wäre, ein paar Tausend Pfund
-herauszuschwindeln und dann erst ehrliche Leute zu werden; aber schon
-bedurfte es des Hinweises auf die Haftpflicht der Associationsmitglieder
-für die von ihnen kontrahierten Kredite nicht, um den Vorschlag dieses
-Nachzüglers unserer ehemaligen Gaunerei zu beseitigen. Nicht bloß hier
-bleiben, sondern ehrlich werden wollten sie, diese hartgesottenen
-Schelme, die wenige Wochen früher ehrlich und dumm als gleichbedeutende
-Worte zu gebrauchen pflegten. So kam's, daß das feine Plänchen, an
-welchem die »smartesten fellows« von Neu-England ihren Witz erschöpft
-hatten, klanglos fallen gelassen wurde und wenn ich gut berichtet bin,
-so hat nachher keiner von uns 46 je zu ernstlicher Klage Anlaß gegeben.«
-
-Der zweite, vor die Gesamtvertretung von Freiland gebrachte Antrag --
-die Rückzahlung der bis dahin von den meisten Mitgliedern bei
-Gelegenheit ihres Eintrittes in die Gesellschaft geleisteten größeren
-oder geringeren Beiträge betreffend, bedeutete die Aufbringung einer
-Gesamtsumme von nicht weniger als 43 Millionen Pfd. Sterling. Nun hatte
-man allerdings den Mitgliedern jederzeit gesagt, daß die Beiträge nicht
-rückzahlbar, sondern ein den gesellschaftlichen Zwecken gebrachtes Opfer
-seien; nichtsdestoweniger erachtete es die Verwaltung von Freiland der
-Billigkeit entsprechend, daß nunmehr, wo das neue Gemeinwesen eines
-solchen Opfers nicht mehr bedurfte, auf dasselbe für die Zukunft sowohl
-als für die Vergangenheit verzichtet werde. Die großmütigen Spender
-hatten zwar niemals aus ihrer den ärmeren Mitgliedern so reichlich
-geleisteten Hülfe irgendwelchen Rechtstitel auf besondere Anerkennung
-oder höhere Ehre abgeleitet, ja die meisten hatten es sich sogar
-verbeten, namentlich als Schenker angeführt zu werden; auch widersprach
-diese Hülfeleistung keineswegs den Prinzipien, auf denen das neue
-Gemeinwesen begründet war, ja im Sinne derselben durfte das Eintreten
-der Bemittelten für die Hülflosen gerad zu als eine Forderung des
-gesunden, vernünftigen Eigennutzes angesehen werden. Aber mit dem
-Momente, wo gerade infolge dieses so ausgiebig bethätigten vernünftigen
-Egoismus das Gemeinwesen kräftig genug wurde, um außergewöhnliche
-Hülfeleistungen entbehren und die vordem dargebrachten zurückerstatten
-zu können, erschien es uns wieder billig, daß dies auch sofort geschehe.
-
-Auch dieser Antrag wurde debattelos einstimmig angenommen und sofort zur
-Ausführung gebracht. Den sämtlichen Beitragleistenden wurden die
-eingezahlten Beträge zurückerstattet, resp. in den Büchern der
-Centralbank gutgeschrieben, wo sie nach Gefallen über dieselben verfügen
-mochten.
-
-Damit aber kann auch die zweite Epoche der Geschichte von Freiland als
-abgeschlossen betrachtet werden. Die Gründung des Gemeinwesens -- die
-erste Epoche ausfüllend -- vollzog sich gänzlich durch freiwillige Opfer
-einzelner seiner Mitglieder; in der zweiten Periode war diese
-Hülfeleistung, wenn auch nicht mehr durchaus notwendig, doch ein
-nützliches und wirksames Beförderungsmittel des raschen Wachstums
-gewesen; von jetzt ab wies die zu einem Riesen erstarkte freie
-Gemeinschaft jeden wie immer gearteten, nicht aus ihren regelmäßigen
-Hülfsquellen geschöpften Beistand ab, und die einst empfangene
-Unterstützung tausendfach vergeltend, war nun sie es, auf deren stets
-unerschöpflicher fließende Mittel Not und Elend, sie mochten sich in
-welchem Teile der bewohnten Erde immer zeigen, mit Sicherheit zählen
-durften.
-
-
-
-
- Drittes Buch.
-
-
-
-
- 13. Kapitel.
-
-
-Abermals sind zwanzig Jahre verflossen, fünfundzwanzig Jahre, seitdem
-unsere Pfadfinder den Kenia erreichten. Die Prinzipien, nach denen sich
-Freiland regiert und verwaltet, sind die gleichen geblieben und auch der
-Erfolg hat nicht gewechselt, nur daß das Wachstum von geistiger und
-materieller Kultur, von Einwohnerzahl und Reichtum sich in unablässig
-steigender Progression bewegte. Die Einwanderung, vermittelt durch 54
-der größten Ozeandampfer von zusammen 495000 Registertonnen, hatte im
-letzten Jahre die Ziffer von 1152000 Köpfen erreicht. Um diesen, aus
-allen Weltteilen anlangenden Zuzug an den afrikanischen Küsten
-aufzunehmen und mit möglichster Beschleunigung in das Herz des
-Kontinents zu befördern, war das Eisenbahnnetz von Freiland an vier
-verschiedenen Punkten bis an den Ozean, resp. bis an die zum Ozean
-führenden fremden Anschlußbahnen vorgedrungen. Der eine dieser
-Schienenstränge ist der noch in der vorigen Epoche vollendete von
-Edenthal nach Mombas; diesem folgte vier Jahre später, nachdem die
-Pacifizierung der Gallasstämme gelungen war, die Eisenbahn im Danathale
-an die Wituküste; nach neun ferneren Jahren war ein -- gleich allen
-freiländischen Hauptbahnen zweigeleisiger -- Schienenstrang längs des
-ganzen Nilthales, vom Ukerewe und Albert-Njanza über die ägyptischen
-Äquatorialprovinzen, Dongola, den Sudan und Nubien bis zum Anschlusse an
-das ägyptische Bahnnetz fertig und solcherart die Verbindung der
-Mittelmeerküste mit Freiland bewerkstelligt; im Vorjahre endlich war der
-letzte Spatenstich der großen äquatorialen »Transversalbahn« gemacht
-worden, die von Uganda am Ukerewe ausgehend und den Nil bei dessen
-Austritt aus dem Albert-Njanza überbrückend, von hier den Aruwhimi und
-Kongo entlang den atlantischen Ozean erreichte. Wir besaßen also zwei
-direkte Schienenverbindungen mit dem indischen und je eine mit dem
-mittelländischen und atlantischen Meere. Die Mombaslinie war durch die
-weitaus kürzere Danabahn selbstverständlich in den Hintergrund gedrängt;
-die 580 Kilometer der letzteren durchflogen unsere Passagierzüge in 9
-Stunden, während die Mombasstrecke, trotz ihrer inzwischen erfolgten
-Abkürzung durch die Athizweigbahn, nahezu die doppelte Zeit erforderte.
-Auf der Nilbahn waren von Alexandrien bis Edenthal 6452 Kilometer zu
-durchmessen, deren Betrieb von Assuan -- der Grenze Oberägyptens -- ab
-in unseren Händen war; die Reise beanspruchte hier -- wegen des
-langsameren Betriebes auf der ägyptischen Linie -- 6½ Tage; trotzdem war
-diese Route die meistbenutzte, da sie allen über das Mittelmeer gehenden
-Einwanderern, also allen europäischen und den meisten amerikanischen,
-die Reise nahezu um zwei Wochen verkürzte. Die im Einvernehmen mit dem
-Kongostaate, jedoch beinahe ausschließlich auf unsere Kosten ausgebaute
-und durchweg in freiländischem Betrieb stehende äquatoriale
-Transversalbahn endlich hatte eine Länge von 4874 Kilometern und auf ihr
-konnte man in nicht ganz 4 Tagen von der Kongomündung in Edenthal
-anlangen.
-
-Edenthal, wie überhaupt das Keniagebiet, hatten schon seit langer Zeit
-aufgehört, den ganzen Zuzug der Einwanderer in sich aufzunehmen. Zwar
-die dichteste Menge der freiländischen Bevölkerung war noch immer in den
-Hochgebirgslandschaften zwischen dem Ukerewe und dem indischen Ozean zu
-suchen, der Sitz der obersten Verwaltung war nach wie vor in Edenthal,
-Freiland aber hatte seither seine Grenzen nach allen Seiten,
-insbesondere nach Westen zu mächtig ausgedehnt. Über ganz Massailand,
-Kawirondo und Uganda, rings um die Ufer des Ukerewe, Mwutan-Nzige und
-Albert-Njanza hatten sich freiländische Ansiedler ausgebreitet, so weit
-gesunde, hohe Lage und fruchtbarer Boden zu finden war. Im Südosten
-bilden die paradiesischen Gebirgslandschaften von Teita, im Norden die
-Höhenzüge zwischen dem Baringo und Ukerewe und den Gallaländern, im
-Westen die äußersten Ausläufer der am Albertsee beginnenden Mondberge,
-im Süden endlich die bis zum Tanganikasee streichenden Gebirgszüge die
-vorläufigen Grenzen unserer Ausbreitung, ein Gesamtareal von 1½
-Millionen Quadratkilometern umfassend, welches jedoch nicht überall von
-kompakten Massen freiländischer Bevölkerung besiedelt ist, vielmehr
-unsere Kolonisten an vielen Stellen zerstreut unter den Eingeborenen
-sitzen, dieselben überall zu höherer, freier Kultur erziehend. Die
-Gesamtbevölkerung des derzeit unter freiländischem Einflusse stehenden
-Gebietes beträgt 42 Millionen Seelen, davon 26 Millionen Weiße und 16
-Millionen schwarze oder braune Eingeborene. Von ersteren wohnen 12½
-Millionen im Stammlande am Kenia und Aberdaregebirge; 1½ Millionen sind
-im übrigen Massailand, am Nordabhange des Kilima-Ndscharo und in Teita
-zerstreut; die Berge westlich und nördlich vom Baringosee haben eine
-weiße Bevölkerung von 2 Millionen; rings um den Ukerewe sitzen 3½
-Millionen, in den Bergen zwischen diesem und dem Mwutan-Nzige und
-Albertsee 1½ Millionen, in den Mondgebirgen westlich vom Albert-Njanza 3
-Millionen und endlich südlich von diesen beiden Seen bis zum Tanganika
-zerstreut 2 Millionen.
-
-Die freiländische Produktion hat sich auf nahezu alle Bedarfsartikel des
-Kulturmenschen ausgedehnt, der hauptsächlichste Produktionszweig aber
-ist die Maschinenindustrie geblieben. Sie erzeugt vornehmlich für den
-inländischen Gebrauch, trotzdem ihre Leistungsfähigkeit schon seit
-Jahren die aller Maschinenfabriken der ganzen übrigen Welt
-zusammengenommen sehr wesentlich übertrifft; Freiland hat eben für mehr
-Maschinen Verwendung, als die ganze übrige Welt zusammengenommen, denn
-die Arbeit seiner Maschinen ersetzt ihm die Sklaven- oder Knechtesarbeit
-der Anderen und da unser -- die civilisierten Neger gar nicht gerechnet
--- 26 Millionen »Arbeitgeber« sind, so brauchen wir sehr viel stählerne
-und eiserne Knechte, um unseren mit jedem Fortschritte unserer
-Kunstfertigkeit stetig Schritt haltenden Bedürfnissen zu genügen. Von
-unseren Maschinen also geht -- mit Ausnahme einiger Specialitäten --
-verhältnismäßig wenig über unsere Grenzen; dafür arbeitet die
-Landwirtschaft überwiegend für den Export, ja es kann füglich behauptet
-werden, daß die Gesamtproduktion des freiländischen Körnerbaues für den
-Export verfügbar ist, da die zur Deckung des eigenen Bedarfs
-erforderlichen Mengen im Durchschnitt kaum so groß sind, als die auf
-unsere Märkte gelangenden Überschüsse der Negerproduktion. Im letzten
-Jahre waren 9 Millionen Hektaren Ackerland bestellt gewesen, die in zwei
-Ernten einen Ertrag von 2100 Millionen Zentner Körner- und sonstiger
-Feldfrüchte im Werte von rund 600 Millionen Pfd. Sterling ergaben. Zu
-diesem Getreidequantum kamen nun noch für 550 Millionen anderweitige
-Ausfuhrgüter, so daß der Gesamtexport 1150 Millionen Pfd. Sterling
-betrug. Unter den Importartikeln dagegen nimmt weitaus die erste Stelle
-der Posten: »Bücher und andere Drucksachen« ein, diesen zunächst folgen
-Kunst- und Luxusgegenstände. Von den, anderwärts als sogenannte
-Massenartikel des Außenhandels anzutreffenden Waren, zeigen die
-freiländischen Importlisten bloß Baumwollwaren, die im Lande selbst fast
-gar nicht erzeugt, im Gesamtbetrage von 57 Millionen Pfd. Sterling zur
-Einfuhr gelangten. Der Bücherimport -- Zeitungen eingeschlossen --
-betrug im letzten Jahre 138 Millionen Pfd. Sterling -- nicht
-unwesentlich mehr, als im gleichen Jahre die ganze übrige Welt für
-Bücher ausgegeben hatte. Und dabei darf man nicht etwa glauben, daß
-Freiland seinen Bücherbedarf gänzlich oder auch nur zum größeren Teile
-vom Auslande her gedeckt hätte; mehr als zweimal so viel, als an
-ausländische Verleger hatten im selben Jahre die freiländischen Leser an
-ihre einheimischen zu bezahlen; sie lesen eben zur Zeit, bei welcher wir
-angelangt sind, mehr als dreimal so viel, als das ganze Lesepublikum
-außerhalb Freilands.
-
-Diese Ziffern schon lassen auf die Höhe des Reichtums schließen, zu
-welchem Freiland gediehen. In der That, der Gesamtwert der von 7½
-Millionen Produzenten im letzten Jahre hervorgebrachten Erzeugnisse
-hatte den Betrag von nahezu 7 Milliarden Pfd. Sterling erreicht, wovon
-nach Abzug von 2½ Milliarden zur Deckung der Ausgaben des Gemeinwesens,
-4½ Milliarden als Gewinn der Produzenten verblieben, aus welchem im
-Durchschnitt 600 Pfd. Sterling auf den einzelnen Arbeiter entfielen. Und
-dabei hatten wir im Mittel bloß 5 Stunden täglich oder 1500 Stunden im
-Jahre zu arbeiten gebraucht, so daß der durchschnittliche Nettowert der
-Arbeitsstunde 8 Schilling erreichte, kaum weniger, als in gar manchen
-Teilen Europas der durchschnittliche Wochenlohn gewöhnlicher
-Handarbeiter.
-
-Die Preise fast aller Bedarfsartikel in ganz Freiland sind dabei immer
-noch wesentlich billiger, als sonst in einem Teile der civilisierten
-Welt. Ein Zentner Weizen kostet durchschnittlich 6 Schilling, ein
-Kilogramm Rindfleisch nicht ganz ½ Schilling, ein Hektoliter Lagerbier
-oder leichten Weines 10 Schilling, ein kompletter Anzug aus gutem
-Schafwollstoff 20-30 Schilling, ein Pferd vorzüglicher arabischer
-Vollblutzucht 15 Pfd. Sterling, eine gute Milchkuh 2 Pfd. Sterling u. s.
-w. Teuer sind bloß einige vom Ausland bezogene Luxusartikel, z. B.
-einige Weine und alle nur durch Handarbeit produzierbaren Dinge, deren
-es aber äußerst wenig giebt. Letztere werden sämtlich aus dem Auslande
-importiert, mit welchem in Handarbeit zu konkurrieren, einem Freiländer
-natürlich nicht in den Sinn kommen kann. Denn obwohl die harmonisch
-ausgebildeten, vollkräftigen und intelligenten Arbeiter unseres Landes
-auch an Kraft und Geschicklichkeit ihrer Muskeln den entnervten,
-ausgemergelten Knechten des Abendlandes sicherlich mindestens zwei- und
-dreifach überlegen sind, so vermögen sie doch nicht zu konkurrieren mit
-einer Arbeitskraft, die fünfzig- und hundertfach wohlfeiler ist, als die
-ihrige. Ihre Überlegenheit beginnt erst, wo sie den ausländischen
-Knechten aus Menschenfleisch und Bein ihre stählernen entgegenstellen
-können; mit diesen arbeiten sie dann billiger noch, als jene, denn diese
-von Dampf, Elektrizität und Wasser in Bewegung erhaltenen Sklaven sind
-noch genügsamer, als die Lohnarbeiter des »freien« Europa. Verlangen
-diese doch immerhin Kartoffeln zur Füllung ihres Magens und einige
-Lumpen zur Verhüllung ihrer Blöße, während Kohle oder ein Wasserstrahl
-den Hunger jener stillt und ein wenig Schmieröl hinreicht, um ihre
-Glieder geschmeidig zu erhalten.
-
-Im übrigen bestätigt diese Überlegenheit Freilands im Maschinenwesen und
-die des Auslandes in Handarbeit bloß einen alten Erfahrungssatz, der
-deshalb nicht minder richtig ist, weil er der Erkenntnis der sogenannten
-»Kulturnationen« noch immer entgeht. Daß nur die verhältnismäßig reichen
-Nationen, d. h. jene, deren Massen verhältnismäßig am besten gestellt
-sind, zugleich eine unter starker Verwendung von Maschinenkraft
-betriebene Produktion besitzen, konnte selbst dem blödesten Auge auf die
-Dauer unmöglich entgehen, nur erklärte man sich dieses unleugbare
-Phänomen umgekehrt; man glaubte, daß das englische oder amerikanische
-Volk deshalb menschenwürdiger existiere, als z. B. das chinesische oder
-russische, weil es reicher sei und daß aus dem gleichen Grunde, weil
-nämlich die erforderlichen Kapitalien reichlicher vorhanden seien, dort
-mit Maschinenkraft, hier mit menschlicher Muskelkraft gearbeitet werde.
-Das läßt allerdings die Hauptfrage, nämlich woher denn eigentlich diese
-Unterschiede des Reichtums rühren, unerledigt und schlägt anderseits den
-Thatsachen ganz ungeniert ins Antlitz, denn dem Chinesen oder Russen
-nützt alles ihm noch so freigebig und billig angebotene Kapital nichts;
-die Maschinenarbeit bleibt bei ihm unrentabel, so lange sich seine
-Lohnarbeiter mit einer Handvoll Reis oder mit halbverfaulten Kartoffeln
-und etwas Schnaps begnügen -- aber es gehört einmal ins Kredo der
-orthodoxen Nationalökonomie und wird deshalb unbesehen geglaubt. Wer
-jedoch seine Augen nicht bloß dazu hat, um sie den Thatsachen gegenüber
-zu verschließen, seinen Verstand nicht bloß dazu, um einmal angenommene
-Vorurteile hartnäckig festzuhalten, der muß endlich begreifen, daß der
-Reichtum der Nationen nichts anderes ist, als ihr Besitz an
-Produktionsmitteln, daß dieser Reichtum groß oder gering ist, je nachdem
-zahlreiche und mächtige, oder wenige und kleinliche Produktionsmittel
-vorhanden sind und daß man viele oder geringfügige Produktionsmittel
-braucht, nach Maßgabe des großen oder geringen Verbrauches jener Dinge,
-die mittels dieser Produktionsmittel erzeugt werden sollen -- also
-ausschließlich nach Maßgabe des großen oder geringen Konsums. Wo man
-wenig gebraucht, kann man wenig erzeugen, kann also auch wenig
-Instrumente der Erzeugung besitzen, _muß_ also arm bleiben.
-
-Auch der Außenhandel vermag daran nichts zu ändern; denn für die Dinge,
-die man ausführt, muß man doch irgend etwas -- sei es nun ein
-Genußmittel, ein Arbeitsinstrument, bares Geld oder sonst ein Gut --
-wieder einführen, und für dieses eingeführte Etwas muß man Verwendung
-haben, was jedoch, wenn der Konsum fehlt, unmöglich ist, da in diesem
-Falle auch importierte so wenig als im Inlande erzeugte Dinge Verwendung
-finden können. Allenfalls könnte man noch jene Güter, die man erzeugt,
-ohne weder sie selber noch etwas anderes an ihrer Statt gebrauchen zu
-können, dem Auslande leihweise überlassen; aber das hängt wieder davon
-ab, ob das Ausland Verwendung für solche im Inlande unverwendbare
-Überschüsse hat, und da dies natürlich in der Regel ebenso wenig der
-Fall ist, so bleibt es ein für allemal dabei: Jedes Volk vermag nur so
-viel zu erzeugen, für wie viel es Verwendung hat und die Höhe seines
-Reichtums ist daher bedingt durch die Höhe seiner Bedürfnisse.
-
-Natürlich ist hier nur von jenen Völkern die Rede, deren Kultur so weit
-vorgeschritten ist, daß der Verwendung hochentwickelter
-Arbeitsinstrumente nicht ihre Unwissenheit, sondern lediglich ihre
-socialpolitische Hülflosigkeit im Wege steht. Für diese aber gilt ihrem
-vollen Umfange noch die Wahrheit, daß sie arm sind lediglich aus dem
-Grunde, weil sie sich nicht satt essen _dürfen_ und daß die Zunahme
-ihres Reichtums durch nichts anderes bedingt ist, als durch das Ausmaß
-der Energie, mit welcher die arbeitenden Klassen sich gegen ihr Elend
-aufbäumen. Die Engländer und Amerikaner _wollen_ Fleisch essen, sie
-lassen ihren Arbeitslohn nicht so weit herabdrücken; das ist der einzige
-Grund, warum England und Amerika mehr Maschinen verwenden, als China und
-Rußland, wo sich das Volk mit Reis oder Kartoffeln begnügt; wir in
-Freiland aber haben es zuwege gebracht, unseren arbeitenden Klassen den
-Genuß des ganzen Ertrages ihrer Arbeit zu sichern, dieser Ertrag mag
-noch so hoch wachsen -- was ist selbstverständlicher, als daß wir so
-viel Maschinen verwenden, als unsere Techniker nur immer zu ersinnen
-vermögen.
-
-Nichts kann auf die Dauer der Wirksamkeit dieses obersten Gesetzes der
-Volkswirtschaft widerstehen. Die Produktion ist einzig um des Konsums
-Willen da und muß daher -- das hätte man sich längst sagen sollen -- in
-ihrem Maße sowohl als in der Art ihres Betriebes vom Ausmaße des Konsums
-abhängen. Und wenn morgen ein mutwilliger Kobold all unseren Reichtum,
-all unsere Maschinen über Nacht nach irgend einem europäischen Lande
-versetzte, dabei aber diesem Lande unsere socialen Institutionen nicht
-mit als Angebinde brächte, so wäre dieses Land damit so gewiß nicht um
-eines Hellers Wert reicher als zuvor, als es gewiß ist, daß China nicht
-reicher würde, wenn man die Reichtümer Englands und Amerikas dahin
-versetzte, ohne den chinesischen Arbeitern mehr als abgebrühten Reis zur
-Nahrung und mehr als ein Lendentuch zur Kleidung zu gewähren. Gleichwie
-in diesem Falle die englischen und amerikanischen Maschinen in China
-sofort zu nutzlosem alten Eisen würden, ebenso erginge es in jenem Falle
-unseren Maschinen in Europa oder Amerika. Und gleichwie umgekehrt die
-Engländer und Amerikaner das ihnen durch Koboldstücke nach China
-verzauberte Maschinenkapital -- beharrten ihre arbeitenden Klassen nur
-bei ihren derzeitigen Lebensgewohnheiten -- sehr rasch wieder ersetzen
-und damit die frühere Stufe ihres Reichtums wieder erklommen haben
-würden, so könnte es auch uns nicht schwer fallen, zu wiederholen, was
-wir einmal vollbracht, nämlich uns neuerlich in den Besitz all jener
-Reichtümer zu setzen, die _unseren_ Lebensgewohnheiten entsprechen. Denn
-diese letzteren, die socialen Einrichtungen Freilands, sind die wahre
-und einzige Quelle unseres Reichtums: daß wir sie _gebrauchen_ können,
-ist der Seinsgrund unserer ganzen Maschinenkraft.
-
-Diese Kraft aber, wir fassen hier überall unter dem Sammelbegriff
-Maschine alles zusammen, was einerseits kein freies Geschenk der Natur,
-sondern Erzeugnis menschlichen Fleißes, und anderseits dazu bestimmt
-ist, die Ergiebigkeit menschlicher Arbeit zu steigern -- diese Kraft ist
-in Freiland zu kollosalen Dimensionen erwachsen. Unser Eisenbahnnetz --
-die oben genannten Linien umfassen bloß die vier großen, dem Außenhandel
-dienenden Bahnen -- hat eine Gesamtausdehnung von 575000 Kilometer
-erreicht, wovon allerdings bloß 180000 Kilometer Hauptbahnen, während
-nahezu 400000 Kilometer landwirtschaftliche und industrielle
-Schienenanlagen sind. Unser Kanalsystem dient hauptsächlich Be- und
-Entwässerungszwecken und die Ausdehnung seines in unzähligen tausenden
-von Adern und Äderchen sich verzweigenden Netzes entzieht sich jeder
-Berechnung; schiffbar aber sind diese Kanäle in einer Länge von 57000
-Kilometern. Außer den bereits erwähnten Passagierschiffen schwimmen auf
-allen Meeren nahezu 3000 unserer Frachtendampfer mit einem Laderaume von
-15 Millionen Registertonnen; auf den Seen und Flüssen Afrikas besitzen
-wir 17800 größere und kleinere Dampfer von insgesamt 5½ Millionen
-Tonnen. Die motorische Kraft aber, die all diese Verkehrsmittel und die
-zahllosen Maschinen unserer Landwirtschaft und unserer Fabriken, unserer
-öffentlichen und privaten Anlagen, in Bewegung erhält, beträgt nicht
-weniger als 245 Millionen indizierter Pferdekräfte, d. i. reichlich das
-Doppelte der mechanischen Kraft, über welche derzeit die ganze übrige
-Welt verfügt. Es kommen sohin in Freiland nahezu 9½ Pferdekraft
-mechanischer Arbeitsenergie auf den Kopf der Bevölkerung, und da eine
-indizierte Pferdekraft die Leistungsfähigkeit von 12 bis 13 Männern
-entwickelt, so ist der Arbeitseffekt der nämliche, als ob jeder
-Freiländer Kopf für Kopf ungefähr 120 Sklaven zu seiner Verfügung hätte.
-Was Wunder, daß wir ein Herrendasein zu führen vermögen, trotzdem es in
-Freiland keine menschlichen Knechte gibt.
-
-Der Wert jener ungeheuren Investitionen aller Art läßt sich angesichts
-der wunderbaren Durchsichtigkeit unseres ganzen wirtschaftlichen
-Getriebes auf Heller und Pfennig berechnen. Das freiländische
-Gemeinwesen als solches hat in den 25 Jahren seines Bestandes in runder
-Summe 11 Milliarden zu Investitionszwecken ausgegeben; der Aufwand durch
-Vermittlung der Associationen und einzelner Individuen (letztere
-allerdings bloß mit relativ verschwindenden Ziffern vertreten) hatte 23
-Milliarden -- alles Pfund Sterling -- betragen, so daß die
-Gesamtinvestitionen einen Reichtum von 34 Milliarden repräsentieren,
-durchweg vorzüglich rentierendes Kapital, trotzdem, oder richtiger
-gerade weil es keinen bestimmten Herrn hat, denn eben diese
-Herrenlosigkeit der gesamten Produktionskapitalien ist die Ursache, daß
-jede Arbeitskraft sich jener Betriebsmittel bedienen kann, durch deren
-Anwendung sie jeweilig die höchsten Erträge zu erzielen vermag. Jeder
-Freiländer ist Mitbesitzer dieses ganzen ungeheueren Reichtums, von
-welchem -- den unschätzbaren Wert des Kulturbodens gar nicht gerechnet
--- auf den Kopf der Gesamtbevölkerung rund 1300 Pfd. Sterl., auf die
-Familie rund 6000 Pfd. Sterl. entfallen. Wir sind also in diesen 25
-Jahren allesamt gewissermaßen ganz behäbige »Kapitalisten« geworden;
-»Zinsen« trägt uns dieses Kapital allerdings nicht, dafür aber verdanken
-wir ihm den Arbeitsertrag von 7 Milliarden, der, umgerechnet auf die 26
-Millionen Seelen Freilands, rund 270 Pfd. Sterl. per Kopf ergibt.
-
-Ehe wir jedoch einer Schilderung des auf Grundlage dieser Fülle von
-Reichtum und Kraft sich entwickelnden Lebens Freilands Raum geben, wird
-es notwendig sein, in kurzen Zügen einen Abriß der freiländischen
-Geschichte während der letzten 20 Jahre zu bieten.
-
-Wir sind im vorigen Abschnitte bis zur Eröffnung der ersten
-Schienenverbindung mit dem indischen Ozean auf der einen Seite und bis
-zu dem Feldzuge gegen Uganda und der damit beginnenden Besiedelung der
-Uferlandschaften des Ukerewe anderseits gelangt. Die Aufmerksamkeit
-unserer Forscher war von da ab zunächst auf das hochinteressante
-Gebirgsland nördlich und nordwestlich vom Baringosee gerichtet, wo
-insbesondere das Gebiet des nahezu 4300 Meter hohen, an der Grenze
-Ugandas gelegenen Elgon ihren Eifer nach mehr als einer Richtung
-herausforderte. Hier war ersichtlich ein großes, den Kenia- und
-Aberdarebergen an Fruchtbarkeit, klimatischen Vorzügen und
-landschaftlicher Schönheit ebenbürtiges Feld zukünftiger Besiedelung
-vorhanden. Die Aussicht vom Gipfel des Elgon übertraf sogar, was
-Mannigfaltigkeit der gebotenen Eindrücke anlangt, alles bisher Gesehene;
-im Südosten reichte der Blick bis zu der meerartig sich in unabsehbarer
-Ferne verlierenden Fläche des Ukerewe; im Norden ragten, 65 Kilometer
-entfernt, die mit ewigem Schnee bedeckten Gipfel des Lekakisera gen
-Himmel; im Osten streifte das Auge über mächtige Waldgebirge, während im
-Westen sich endlos das lachende Hügelland von Uganda erstreckte.
-
-Doch unaufhaltsam weiter drangen unsere Pioniere; Platz war zwar noch im
-Überfluß an den alten Wohnsitzen vorhanden; aber der Forschungstrieb in
-Verbindung mit dem Zauber der Neuheit, der die ferner liegenden
-Landschaften umgab, lockte stets neue Scharen tiefer und tiefer hinein
-in den »dunklen Erdteil«. Nachdem die Ufer des Ukerewe nichts
-Unbekanntes mehr boten, drangen unsere Pfadfinder in die Urwaldungen der
-Zwischenseegebirge gegen den Muta-Nzige und Albertsee. Hier stießen wir
-zum ersten Mal auf menschenfressende Stämme, deren Bändigung keine
-geringe Arbeit bot und auch keineswegs ganz ohne Blutvergießen abging.
-Am Albert-Njanza angelangt, dessen Ostufer meist kahl und unwirtlich
-sind, erblickte man von jenseits verführerisch die Mondberge, deren
-höchste, 4000 Meter überragende Gipfel in der kühlen Jahreszeit häufig
-eine Schneedecke zeigen und von deren malerisch gegen den See
-abfallenden Hängen zahlreiche Katarakte von ganz unglaublicher Fallhöhe
-und gewaltigem Wasserreichtum zur Tiefe stürzen, angenehme Rückschlüsse
-auf die Beschaffenheit ihrer Quellgebiete gestattend. Selbstverständlich
-blieben sie nicht lange unbesucht und der Ruf der neuen Wunder
-großartiger Naturpracht, die dort gefunden wurden, lenkte bald den
-Schritt vieler Hunderttausende dahin. Auch dort gab es Kämpfe mit
-anthropophagen Stämmen, die zum Teil heute noch ihren schlimmen
-Gewohnheiten im Geheimen fröhnen. Von hier aus wandten sich die Pioniere
-mehr südwärts, überall die Gebirgszüge als Heerstraße benutzend. Vor
-sechs Jahren langten unsere ersten Vorposten am Tanganika an, wo sie mit
-Vorliebe die sich im Westen erhebenden Höhenzüge wählten, welche
-stellenweise den 900 Meter über dem Meere gelegenen Seespiegel um 1500
-Meter überragen; jetzt sitzen schon Hunderttausende in den lieblichen
-Uferlandschaften dieses wenn auch nur zweitgrößten, so doch weitaus
-längsten der Äquatorialseen. Der Tanganika hat nicht ganz den halben
-Flächeninhalt des Ukerewe, er ist nirgends so breit, daß ein gutes Auge
-nicht die jenseitigen Uferberge zu sehen vermöchte; seine Länge aber
-beträgt 580 Kilometer, also ziemlich genau drei Vierteile derjenigen des
-adriatischen Meeres, und der schnellste von den 286 Dampfern, die ihn
-derzeit für unsere Rechnung befahren, braucht nahezu 24 Stunden, um von
-seinem Nordende zum Südende zu gelangen.
-
-Jetzt war aber auch die Zeit gekommen, wo wir mehr und mehr mit
-europäischen, resp. unter europäischem Einfluß stehenden Kolonien in
-unmittelbare Berührung gerieten. Im Süden und Osten stießen wir auf
-deutsche und englische Interessensphären, im Nordosten teils direkt,
-teils indirekt auf französische und italienische, im Norden auf
-ägyptische, im Westen an den mächtig aufstrebenden Kongostaat. Dabei
-waren die sich ergebenden Wechselbeziehungen zwar überall von den
-besten, entgegenkommendsten Absichten geleitet, es tauchte aber doch
-eine Menge von Fragen auf, die nachgerade dringend einer endgültigen
-Lösung bedurften. Für die benachbarten Kolonien stellte sich nämlich der
-Übelstand heraus, daß sie nirgend die unmittelbare Nähe freiländischer
-Ansiedelungen auf die Dauer zu ertragen vermochten; ihre Bevölkerung
-wurde von uns angezogen, wie Eisenfeilstäbchen durch einen Magnet; wo
-sich eine freiländische Association in der Nähe etablierte, blieb von
-fremden Kolonien binnen kürzester Frist nichts übrig, als die verödeten
-Wohnstätten, die verlassenen Plantagen; die Kolonisten waren zu uns
-übersiedelt und Freiländer geworden. Dagegen konnten die fremden
-Regierungen nichts thun, wollten es wohl auch nicht, da doch das
-Interesse ihrer Unterthanen dabei wahrlich nicht schlecht fuhr; aber mit
-Rücksicht auf die Machtstellung ihrer betreffenden Länder mußte ihnen
-diese Unmöglichkeit, sich in unserer Nähe zu behaupten, unbequem werden
-und sie zum Nachdenken anregen.
-
-Doch auch wir mußten die Frage in Erwägung ziehen, was denn geschehen
-werde, wenn freiländische Ansiedler irgendwo fremdes, einem
-abendländischen Volke gehöriges Gebiet betreten sollten. Bisher hatten
-wir dies absichtlich vermieden; auf die Dauer war es jedoch
-unvermeidlich. Was würde dann geschehen? Sollten wir, im Besitze der
-stärkeren Civilisationsform, vor der zurückgebliebenen zurückweichen?
-Konnten wir es, selbst wenn wir wollten? Freiland ist kein Staat im
-gemeingebräuchlichen Sinne des Wortes; sein Wesen liegt nicht in der
-Herrschaft über ein bestimmtes Territorium, sondern in seinen socialen
-Einrichtungen; diese sind an sich mit fremden Regierungsformen ganz gut
-vereinbar, und wir mußten im Interesse friedlichen Zusammenlebens mit
-unseren Nachbarn bestrebt sein, diesen Einrichtungen gesetzliche
-Anerkennung -- zunächst in den benachbarten Kolonialgebieten -- zu
-verschaffen.
-
-Und nicht bloß auf dem afrikanischen Kontinente, sondern auch in den
-anderen Weltteilen häuften sich die einer Erledigung dringend
-bedürftigen »Fragen« zwischen uns und unterschiedlichen Regierungen. Wir
-mengten uns zwar grundsätzlich nicht in die politischen Angelegenheiten
-des Auslandes, aber für unser Recht und unsere Pflicht hielten wir es,
-aus der Fülle unseres Reichtums und unserer Macht unseren notleidenden
-Brüdern, in welchem Teile der bewohnten Erde immer, beizuspringen.
-Freiländisches Geld war überall zur Hand, wo es galt, irgend welche Not
-zu lindern, den Enterbten und Elenden in welchem Winkel der Erde immer
-gegen Ausbeutung Hülfe zu bringen. Unsere Anmeldebureaux und Schiffe
-standen jedermann zur unentgeltlichen Verfügung bereit, der sich aus dem
-Jammer der alten Weltordnung zu uns herüberretten wollte, und wir ließen
-es an Bemühungen nicht fehlen, die Segnungen unserer Einrichtungen
-unseren leidenden Mitbrüdern in stets ausgedehnterem Maße zugänglich zu
-machen. Das alles betrachteten wir, wie gesagt, als unsere Pflicht und
-unser Recht zugleich; wir waren daher nicht gesonnen, uns in der
-Ausübung dieser Mission durch den Einspruch ausländischer Machthaber
-beirren zu lassen. Damit aber gerieten wir -- auf die Dauer ließ sich
-das unmöglich verkennen -- mehr und mehr in Kollision mit den
-Anschauungen einzelner europäischer und asiatischer Regierungen. Zwar im
-demokratischen Westen Europas, in Amerika und Australien sprach die
-öffentliche Meinung zu mächtig zu unseren Gunsten, als daß von dorther
-irgendwelcher -- und sei es auch bloß passiver -- Widerstand unseren
-Bestrebungen gegenüber zu besorgen gewesen wäre; anders aber verhielt es
-sich in einzelnen Staaten des Ostens, und insbesondere seitdem unsere
-Mittel und mit diesen unsere propagandistische Thätigkeit die kolossalen
-Dimensionen der letzten Jahre erreicht hatten und eine stetige Zunahme
-voraussehen ließen, begann man sich hie und da ganz ernstlich mit der
-Frage zu beschäftigen, ob und durch Anwendung welcher Mittel es thunlich
-wäre, freiländischem Gelde und freiländischem Einflusse die Wege zu
-verlegen. Zwar scheuten einstweilen jene Regierungen noch den offenen
-Bruch mit uns, teils aus Rücksicht auf die auch bei ihnen sich geltend
-machende öffentliche Meinung, teils aus Respekt vor den gewaltigen
-finanziellen Hülfsmitteln, über welche wir verfügten. Man wollte uns
-nicht gerne zu erklärten Feinden haben, aber man wollte freiländische
-Geldsendungen und deren Zwecke kontrollieren und die Auswanderung nach
-Freiland einschränken.
-
-Wir waren nun durchaus nicht gewillt, derartigen Bestrebungen mit
-verschränkten Armen zuzusehen; das Recht, unseren geknechteten
-Mitmenschen beizuspringen oder ihnen die Zuflucht nach Freiland offen zu
-halten, waren wir fest entschlossen, zu verteidigen, so weit unsere
-Kräfte reichten, und Niemand in Freiland zweifelte daran, daß wir stark
-genug seien, um die Absperrungsgelüste der fremden Machthaber im
-Notfalle gewaltsam niederzuschlagen. Nur war man in Freiland ebenso
-einig darüber, daß zuvor jedes erdenkliche friedliche Mittel versucht
-werden müsse, ehe man an die Waffen appellieren dürfe. Und die
-Schwierigkeit einer unblutigen Einigung lag eben darin, daß ersichtlich
-im Punkte der Anschauungen über die kriegerische Stärke Freilands ein
-Gegensatz zwischen unserer freiländischen und der außerfreiländischen
-öffentlichen Meinung bestand; während wir -- wie gesagt -- der
-Überzeugung waren, jedem Militärstaate der Welt, ja selbst mehreren
-zugleich durchaus gewachsen zu sein, hielten uns insbesondere jene
-Regierungen, mit denen wir diesfalls zu thun hatten, für militärisch
-durchaus ohnmächtig. Wir mußten also darauf gefaßt sein, daß eine
-eventuell drohende Sprache unserer Bevollmächtigten gar nicht ernst
-genommen werden dürfte und daß gerade deshalb jeder Versuch, unseren
-Standpunkt energisch zu vertreten, nur durch einen thatsächlichen Krieg
-den erforderlichen Nachdruck erlangen könnte. Und ein Krieg war es denn
-auch, der unseren Standpunkt allenthalben im Auslande zur Geltung
-bringen sollte, nur allerdings nicht ein Krieg mit einer europäischen
-oder asiatischen, sondern ein solcher mit einer afrikanischen Großmacht,
-ein Krieg zudem, der mit den soeben erörterten Fragen höchstens indirekt
-etwas gemein hatte, trotzdem aber auch diese zur Entscheidung brachte.
-
-Wie dies kam, darüber sollen die in den nachfolgenden Kapiteln
-mitgeteilten Briefe Aufschluß geben. Dieselben haben den Prinzen Carlo
-Falieri, einen jungen italienischen Diplomaten zum Verfasser, der
-nachmals nach Freiland übersiedelte, in jener Zeit jedoch, von welcher
-die Briefe handeln, im Auftrage seiner Regierung Edenthal aufsuchte.
-Zugleich werden diese Korrespondenzen ein lebhaftes Bild der
-freiländischen Zustände und der Lebensweise im fünfundzwanzigsten Jahre
-der Gründung bieten.
-
-
-
-
- 14. Kapitel.
-
-
- Edenthal, den 12. Juli ..
-
-Ich schreibe Dir diese Zeilen nach mehrmonatlichem Stillschweigen aus
-der Hauptstadt von Freiland, die mich und meinen Vater seit einigen
-Tagen beherbergt. Was uns ins Land der socialen Freiheit gebracht hat?
-Du weißt, oder weißt vielleicht auch nicht, daß meine Chefs auf Monte
-Citorio sich in letzter Zeit gegen den braunen Napoleon an der Ostküste
-Afrikas, den Negus Johannes V. von Abyssinien, keinen Rat mehr wissen,
-und da ihnen solcher von unseren guten Freunden in London und Paris, wo
-man sich in gleichen Nöten befindet, auch nicht erteilt werden kann, so
-einigten sich die drei westmächtlichen Kabinette schließlich dahin,
-gegen die gemeinsame afrikanische Krankheit ein afrikanisches Heilmittel
-zu suchen; diesem nachzuspüren sind wir nun hier, von seiten Englands
-die Herren Lord Elgin und Sir Bartelet, von seiten Frankreichs Mrs.
-Charles Delpart und Henri de Pons, von seiten unseres Italien Principe
-Falieri und dessen Sohn, meine Wenigkeit nämlich. Beauftragt sind wir
-insgesamt, den Freiländern nahezulegen, daß es in ihrem wie in unserem
-gemeinsamen Besten gelegen wäre, wenn sie ihr Land zum Kriegsschauplatze
-gegen Abyssinien hergeben wollten.
-
-Der Negus nämlich, der uns Europäern, die wir Besitzungen an den
-afrikanischen Küsten des Roten Meeres und südlich der Straße von
-Bab-el-Mandeb unser eigen nennen, auch bisher schon viel zu schaffen
-machte und gelegentlich des letzten Krieges die verbündeten
-englisch-französisch-italienischen Armeen in Schach hielt, ja ohne die
-Intervention unserer Flotten denselben um ein kleines das Schicksal
-jenes ägyptischen Heeres bereitet hätte, welches nach biblischen
-Berichten vor 3300 Jahren im Roten Meere ertränkt wurde, der Negus, sage
-ich, hat den fünfjährigen, für uns nicht gerade rühmlichen Frieden --
-offenbar mit Hülfe gewisser guter Freunde in Europa -- dazu benützt, um
-seine auch vorher schon Achtung gebietende Armee vollkommen nach
-abendländischem Muster zu organisieren. Er besitzt jetzt 300000 Mann,
-durchweg mit Waffen bester, modernster Konstruktion versehen, eine
-vorzügliche Kavallerie von mindestens 40000 Köpfen, und eine Artillerie
-von 106 Batterien, die es, unseren Militärbevollmächtigten zufolge, mit
-jeder europäischen an Tüchtigkeit aufnehmen soll. Die Absichten aber,
-die Johannes mit diesen für das arme Abyssinien geradezu ungeheuerlichen
-Rüstungen verfolgt, können -- insbesondere nach den Erfahrungen des
-vergangenen Lustrums -- nicht zweifelhaft sein. Er will uns und den
-Engländern die Küstenplätze am Roten Meere, den Franzosen ihr Gebiet
-südlich von Bab-el-Mandeb abnehmen. Unsere Küstenfestungen und Flotten
-werden dies auf die Dauer nicht verhindern, falls es uns nicht gelingt,
-die Abyssinier in offener Feldschlacht zu schlagen. Wie aber Armeen, die
-der reorganisierten abyssinischen gewachsen wären, an jenen unwirtlichen
-Küsten erhalten, wie einen Feldzug mit dem Meere als einziger
-Rückzugslinie gegen einen Feind wagen, dessen furchtbare Offensivkraft
-wir auch bisher schon sattsam kennen gelernt haben? Und doch muß dem
-Negus begegnet werden, koste es, was es wolle, da mit dem Preisgeben der
-Küstenorte die Verbindung mit Ostasien und dem seit den letzten zwei
-Dezennien in die erste Linie des Welthandels gerückten Ostafrika für
-alle europäischen Mächte verloren wäre. Ist uns doch nur zu wohl
-bekannt, daß Johannes V. sich diesbezüglich mit den weitestgehenden
-Plänen trägt. Heute schon werben seine Agenten in Griechenland,
-Dalmatien und selbst in Nordamerika Matrosen zu Tausenden, die offenbar
-bestimmt sind, eine Kriegsflotte zu bemannen, sowie der Besitz der
-Küstenpunkte es den Abyssiniern ermöglicht, eine solche zu halten. Ob er
-diese Flotte im Auslande kaufen, oder selber bauen will, ist annoch ein
-Rätsel. Wäre ersteres der Fall, so könnte es den Nachforschungen der von
-dieser Zukunftsflotte bedrohten Mächte unmöglich entgehen; aber keine
-der bekannten Schiffswerften der Welt hat derzeit Kriegsfahrzeuge
-unbekannter Bestimmung in Bau. Soll die abyssinische Flotte aber am
-Roten Meere gebaut werden, erst nachdem dessen Küsten in abyssinische
-Gewalt geraten sind, wozu braucht der Negus jetzt schon die vielen
-Matrosen? Keineswegs ist dieses Geheimnis geeignet, über die
-Endabsichten Abyssiniens zu beruhigen -- kurzum, man hat in London,
-Paris und Rom beschlossen, den Stier an den Hörnern zu fassen und gegen
-den ostafrikanischen Eroberer offensiv vorzugehen. Die drei Kabinette
-wollen gemeinsam ein Expeditionskorps von mindestens 300000 Mann
-ausrüsten, und mit diesem sofort nach Ablauf des fünfjährigen Friedens
--- das wäre also Ende September dieses Jahres -- gegen Abyssinien
-vorgehen. Als Operationsbasis aber sind diesmal nicht unsere eigenen
-Küstenorte -- sondern Freiland ausersehen. Dieses würde den verbündeten
-Armeen eine gesicherte Verpflegungs- und Rückzugslinie gewähren, und
-Aufgabe von uns Diplomaten ist es nun, die freiländische Verwaltung für
-dieses Projekt zu gewinnen. Wir verlangen nichts, als passive
-Mitwirkung, d. h. freien Durchzug für unsere Truppen. Ob unsere
-Instruktionen dahin gehen, diese passive Assistenz im Notfalle zu
-erzwingen, weiß ich nicht, denn nicht ich, bloß mein Vater ist
-eingeweiht in die letzten Hintergedanken der Leiter unserer auswärtigen
-Politik, und wenn meine bekannte Schwärmerei für dies Land der
-Socialisten unsere Regierung auch nicht hinderte, mich meinem Vater
-beizugeben, so vermute ich doch, daß mir die intimeren Geheimnisse
-unserer Diplomatie vorenthalten werden.
-
-Du weißt also jetzt, Freund meiner Seele, _warum_ wir nach Freiland
-reisten. Bist Du zu erfahren begierig, _wie_ wir die Reise
-bewerkstelligten, so diene Dir, daß wir dazu von Brindisi bis
-Alexandrien den »Uranus«, eines der Riesenschiffe benützten, die
-Freiland zum Zwecke des Post- und Passagierdienstes auf allen Meeren
-laufen läßt. Zugleich mit uns machten 2300 Einwanderer nach Freiland die
-Seereise, und wenn diesen die neue Heimat nur einen Teil dessen hält,
-was sie sich von ihr versprechen, so muß sie ein wahres Paradies sein.
-Mein Vater, der anfangs einige Bedenken hegte, sich einem freiländischen
-Dampfer anzuvertrauen, auf welchem keinerlei Überfahrtgebühr angenommen,
-dafür aber auch, wie männiglich bekannt ist, keinerlei Unterschiede in
-der Behandlung der Passagiere gemacht werden, gestand mir schon am
-zweiten Tage der Fahrt, daß er nicht bereue, meinem Drängen nachgegeben
-zu haben. Die Kabine, die wir erhielten, war nicht zu klein, komfortabel
-und von peinlichster Sauberkeit, Küche und Verpflegung ließen nichts zu
-wünschen übrig und -- was uns am meisten wunderte -- der Umgang mit den
-buntzusammengewürfelten Auswanderern erwies sich als keineswegs
-unangenehm. Zwar waren unter unseren 2300 Reisegenossen alle Stände und
-Berufsklassen, vom Gelehrten bis zum Handarbeiter, vertreten; allein
-auch die letzteren erwiesen sich von dem Bewußtsein, einer neuen Heimat
-entgegenzueilen, in welcher unbedingte Gleichberechtigung aller Menschen
-herrschen sollte, dermaßen gehoben, daß während der ganzen Fahrt
-keinerlei Roheit oder gemeine Ausschreitung vorkam.
-
-In Alexandrien benützten wir den nächsten nach dem Sudan abgehenden
-Kurierzug, der jedoch bis Assuan, so lange nämlich ägyptische
-Kondukteure und Maschinisten ihn führten, von einem solchen wenig mehr
-als den Namen hatte. In Assuan nahm uns ein freiländischer Eisenbahnzug
-auf, und nunmehr ging es mit einer Accuratesse und Raschheit vorwärts,
-wie man sie sonst nur in England oder Amerika antrifft. Mit
-raffiniertester Bequemlichkeit eingerichtete Schlaf-, Speise- und
-Konversationswagen führten uns in rasendem Fluge den Nil aufwärts, den
-Riesenstrom bis Dongola zweimal übersetzend. Charakteristisch ist, daß
-von Assuan ab keinerlei Fahrtaxe berechnet wurde. Die im Speisewagen
-oder auf den Stationen verzehrten Speisen und Getränke mußten zwar
-bezahlt werden -- auf der Urania waren auch die Mahlzeiten unentgeltlich
-gewesen -- die Beförderung aber besorgte das freiländische Gemeinwesen
-unentgeltlich zu Land wie zu Wasser.
-
-Die Schilderung von Land und Leuten in Ägypten und dessen Dependenzen
-wirst Du mir erlassen; es hat sich zwar diesbezüglich im letzten
-Decennium, und insbesondere seit Vollendung der freiländischen Nilbahn
-einiges zum Besseren geändert; aber im großen Ganzen fand ich das Elend
-der Fellachen noch sehr arg und nur dem Grade, nicht dem Wesen nach
-verschieden von jenen Schilderungen, die den zahlreichen älteren
-Reiseberichten über diese Gegenden zu entnehmen sind. Ein durchaus
-anderes Bild bot sich dem Auge, sowie wir uns dem Albert-Njanza näherten
-und freiländisches Gebiet erreichten. Ich traute meinen Sinnen kaum, als
-ich am Morgen des fünften Tages der Eisenbahnreise erwachend, zum
-Waggonfenster hinausblickte und statt der bisherigen Landschaft von
-üppigen Gärten und lachenden Hainen anmutig unterbrochene endlose
-Fruchtfelder erblickte, aus deren Mitte elegante Villen, teils
-zerstreut, teils zu größeren Ortschaften vereinigt, hervorleuchteten.
-Als der Zug bald darauf in einer Station -- sie hieß, ein freundliches
-Omen für uns Italiener, Garibaldi -- hielt, sahen wir auch zum
-erstenmale Freiländer in ihrer eigentümlichen und, wie ich auf den
-ersten Blick erkannte, überaus zweckmäßig den Anforderungen des Klimas
-angepaßten, ebenso einfachen als kleidsamen Tracht.
-
-Diese ist der antik griechischen sehr ähnlich, selbst die Sandalen an
-Stelle der Schuhe fehlten nicht, nur daß dieselben nicht auf bloßem
-Fuße, sondern über Strümpfe getragen werden. Die Kleider der
-Freiländerinnen sind zumeist farbenprächtiger, als jene der Männer, die
-jedoch auch keineswegs jene düsteren monotonen Tinten zur Schau tragen,
-wie die abendländische Männertracht. Insbesondere die freiländischen
-Jünglinge lieben heitere, helle Farben, die jüngeren Damen bevorzugen
-Weiß mit farbigen Ornamenten. Der Eindruck, den die Freiländer auf mich
-machten, war ein geradezu blendender. Strotzend von Kraft und
-Gesundheit, bewegten sie sich in heiterer Anmut unter den schattigen
-Bäumen des Bahnhofgartens, mit einer vornehmen Sicherheit des Benehmens,
-die mich anfangs glauben ließ, daß sich hier die Spitzen der
-ortsansässigen Gesellschaft Stelldichein gegeben hätten. Diese Meinung
-wurde noch verstärkt, als späterhin einige Freiländer den Zug bestiegen
-und ich aus den Gesprächen während der Weiterfahrt entnahm, daß deren
-Bildungsgrad durchaus dem äußeren Eindrucke entsprach; und doch waren es
-gewöhnliche Landleute, Ackerbauer und Gärtner mit ihren Frauen, Söhnen
-und Töchtern, mit denen wir es zu thun hatten.
-
-Nicht minder überraschend war das Behagen der unter den Weißen zerstreut
-auftretenden und mit diesen unbefangen verkehrenden Neger. Deren
-Kleidung war zwar noch leichter und luftiger als die der Weißen -- meist
-Baumwollzeuge an Stelle der von diesen ausschließlich benützten
-Schafwolle; im übrigen aber machten diese Eingeborenen den Eindruck
-durchaus civilisierter Menschen, und wie ich mich aus dem Gespräche mit
-einem der den Zug gleichfalls zur Weiterfahrt benützenden Neger
-überzeugen konnte, stand ihre Bildung auf einer ziemlich hohen Stufe,
-jedenfalls auf einer weit höheren, als die der Landbevölkerung in den
-meisten Gegenden Europas. Der Schwarze, mit dem ich mich unterhielt,
-sprach ein fließendes, korrektes Englisch, hielt eine freiländische
-Zeitung, in welcher er während der Fahrt eifrig las und erwies sich
-nicht nur in den Angelegenheiten des eigenen Landes, sondern auch über
-europäische Verhältnisse sehr gut unterrichtet.
-
-Gegen Mittag erreichten wir mit der Station Baker den Albert-See, genau
-an jener Stelle, wo ihm der weiße Nil entströmt. Hier erwartete mich
-eine sehr angenehme Überraschung. Du wirst Dich noch David Neys, jenes
-jungen freiländischen Bildhauers erinnern, mit welchem wir während des
-letzten Herbstes in Rom zusammentrafen, und an welchen insbesondere ich
-mich damals so innig anschloß, weil der herrliche Jüngling es mir durch
-den Adel seiner äußeren Erscheinung sowohl, als seiner Gesinnung
-angethan hatte. Was Du wahrscheinlich nicht weißt, ist, daß wir, nachdem
-David nach Abschluß seiner Kunststudien Rom und Europa verlassen hatte,
-wiederholt Briefe wechselten, so daß er von meiner bevorstehenden
-Ankunft genau unterrichtet war. Mein Freund hatte nun die
-dreißigstündige Reise von Edenthal, wo er bei seinen Eltern -- sein
-Vater ist, wie Du weißt, einer der Regenten Freilands -- wohnt, an den
-Albert-Njanza nicht gescheut, war mir bis Baker entgegen geeilt, und das
-erste, was ich, in die Station eingefahren, bemerkte, war sein liebes,
-mir freudig zulächelndes Antlitz. Er brachte meinem Vater und mir eine
-Einladung der Seinen, während unseres Aufenthaltes in Edenthal ihre
-Gäste zu sein. »Wenn Sie, Herr Herzog -- sagte er -- mit der Wohnung und
-Bewirtung, die Ihnen ein Bürger von Freiland zu bieten vermag, zufrieden
-sein wollen, würden Sie uns alle, insbesondere aber mich, dem damit das
-Glück ungestörten Beisammenseins mit Ihrem Sohne zu teil würde, zu
-höchstem Danke verpflichten. Den Glanz und die Pracht, an welche Sie
-daheim gewöhnt sind, werden Sie allerdings in unserem Hause vermissen,
-welches sich nur wenig von denen der einfachsten Arbeiter unseres Landes
-unterscheidet; aber diese Entbehrung wäre Ihnen überall in Freiland
-auferlegt, und ich glaube Ihnen versprechen zu können, daß Ihnen auch
-bei uns keinerlei wirkliche Bequemlichkeit fehlen wird.« Zu meiner
-großen Genugthuung acceptierte mein Vater nach kurzem Besinnen dieses
-herzliche Anerbieten mit lebhaftem Danke.
-
-Über das während der eineinhalbtägigen Fahrt vom Albert-See nach
-Edenthal Gesehene will ich mich für heute kurz fassen, da ja noch
-Gelegenheit sein wird, ausführlich darauf zurückzukommen, und schon
-dieser erste meiner freiländischen Reisebriefe ohnehin zu ungebührlichem
-Umfange anschwellen wird, wenn ich Dir über das mich zunächst
-Interessierende, die Lebensweise der Freiländer nämlich, auch nur
-oberflächlich Bericht abstatten will. Unser Kurierzug durchflog in
-rasender Eile die von Saatfeldern und Plantagen bedeckten Ebenen Unjoros
-und Hügellandschaften Ugandas, lief hierauf einige Stunden längs der
-Ufer des mächtig brandenden Ukerewe durch liebliches, einem einzigen
-Garten gleichendes Hügel- und Bergland; bei den Riponfällen den See
-verlassend, wandten wir uns in das wildromantische Gebirgsland des Elgon
-mit seinen zahllosen Herden und reichen Fabrikstädten, umkreisten den
-gärtenumsäumten Baringo-See und drangen durch Leikipia in die
-Alpenlandschaften des Kenia ein. Gegen 9 Uhr Abend des sechsten Tages
-der Eisenbahnreise erreichten wir endlich Edenthal.
-
-Es war eine herrliche Mondnacht, als wir, den Bahnhof verlassend, die
-Stadt betraten; überdies glänzte diese im Scheine zahlloser mächtiger
-elektrischer Bogenlampen, so daß dem neugierig forschenden Blicke nichts
-entging. Selbst wenn ich es jetzt schon wollte, ich könnte Dir den
-Eindruck, den diese erste freiländische Stadt, deren Inneres wir
-betraten, auf mich machte, nicht im einzelnen schildern. Denke Dir einen
-etwa hundert Quadratkilometer bedeckenden Feengarten, erfüllt von
-zehntausenden reizender, geschmackvoller Häuschen und hunderten
-märchenhaft prächtiger Paläste; dazu den berauschenden Duft aller
-erdenklichen Blumenarten und den Gesang zahlloser Nachtigallen --
-dieselben wurden in den ersten Jahren der Gründung des Gemeinwesens aus
-Europa und Asien importiert, haben sich aber seither unglaublich
-vermehrt -- und fasse all' das in den Rahmen einer Landschaft, wie sie
-großartiger und pittoresker kein Teil der Erde aufweist -- so kannst Du
-Dir, wenn Deine Phantasie lebendig ist, eine matte Vorstellung des
-Entzückens machen, mit welchem mich diese Wunderstadt erfüllte, und je
-länger ich sie kennen lerne, mehr und mehr erfüllt. Die Straßen und
-Plätze, durch die wir kamen, waren ziemlich menschenleer, doch
-versicherte uns David, daß rings um den Edensee allabendlich bis
-Mitternacht reges Leben flute. Und auch in zahlreichen Häusern, an denen
-wir vorbeifuhren, herrschte geräuschvolles, heiteres Treiben. Auf
-breiten, luftigen Terrassen und in den Gärten rings um dieselben saßen
-und lustwandelten die Bewohner, zu kleineren oder größeren
-Gesellschaften vereint; Becherklang, Musik, silberhelles Lachen schlugen
-an unser Ohr, kurzum, alles deutete darauf hin, daß hier die Abende
-fröhlichster Geselligkeit geweiht seien.
-
-Nach ungefähr halbstündiger rascher Fahrt langten wir bei der so
-ziemlich im Centrum der Stadt, nicht weit vom Edensee gelegenen
-Behausung unserer Gastfreunde an. Die Familie Ney empfing uns in der
-herzlichsten, liebenswürdigsten Weise, trotzdem aber imponierte die
-sichere Würde ihres Benehmens selbst meinem stolzen Vater aufs
-Gründlichste. Insbesondere die Damen des Hauses glichen so sehr
-verkleideten Prinzessinnen, daß mein Vater sich sofort in den galanten
-Paladin von unerreichter Ritterlichkeit verwandelte, als welchen Du ihn
-von den Hoffesten in Rom, London und Wien her kennst. Vater Ney verrät
-auf den ersten Blick den tiefen, an ernste Arbeit gewöhnten Denker, dem
-jedoch heitere Sicherheit des Benehmens keineswegs fehlt. Er dürfte,
-nach seiner sechsundzwanzigjährigen Thätigkeit im Dienste des
-freiländischen Gemeinwesens zu schließen, mindestens 50 Jahre zählen,
-seinem Äußeren nach aber würdest Du ihm keine 40 geben. Der jüngere der
-Söhne, Emanuel, Techniker von Beruf, ist Davids vollkommenes Ebenbild,
-nur etwas dunkler und kräftiger noch als dieser, der, wie Du wissen
-wirst, auch gerade kein Schwächling ist. Die Hausfrau, Ellen genannt,
-eine geborene Amerikanerin, die mir, Dank offenbar den Berichten meines
-David, sofort mit wahrhaft mütterlichem Wohlwollen begegnete, muß nach
-dem Alter ihrer Kinder zu schließen, etwa 45 Jahre zählen, macht
-indessen vermöge ihrer Jugendfrische mehr den Eindruck einer Schwester,
-als einer Mutter ihrer Kinder. Sie ist von blendender Schönheit,
-bezaubert aber insbesondere durch die Güte und Geisteshoheit, die ihren
-Zügen aufgeprägt sind. Als ihre Töchter stellte sie uns drei junge Damen
-im Alter zwischen 18 und 20 Jahren vor, von denen jedoch nur eine,
-Bertha genannt, ihr und den Söhnen ähnlich ist. Diese, das verjüngte
-Ebenbild ihrer Mutter, verwirrte mich geradezu durch den unsäglichen
-Reiz ihrer Erscheinung, glich aber so wenig den beiden anderen, Leonore
-und Klementine, daß ich mich einer Bemerkung hierüber vor David nicht
-enthalten konnte. »Diese zwei sind auch nicht blutsverwandt mit uns,
-sondern die Ziehtöchter meiner Mutter; was das zu bedeuten hat, erzähle
-ich Dir später«, lautete die Antwort.
-
-Da wir -- wie Du begreiflich finden wirst -- von der sechstägigen
-Eisenbahnreise trotz allen Comforts freiländischer Waggons ziemlich
-erschöpft waren, baten wir, nach kurzem Geplauder mit unseren herrlichen
-Wirten, um die Erlaubnis, uns in die uns bestimmten Gemächer
-zurückziehen zu dürfen. David machte unseren Führer. Nachdem wir von der
-geräumigen Gartenterrasse aus, auf welcher wir bis dahin geweilt hatten,
-einen mit einfachem, aber gediegenem Geschmack eingerichteten
-Gesellschaftsraum und einen stattlichen Speisesaal durchschritten
-hatten, an welchen sich, wie ich bemerkte, rechts ein großer als
-Bibliothek dienender Saal und links zwei kleinere Gemächer anschlossen,
-die, wie mir David auf Befragen mitteilte, seinen Eltern als
-Arbeitsstuben dienten; betraten wir eine zierliche Vorhalle, von welcher
-aus eine Treppe in das obere Stockwerk mit den Schlafräumen führte. Hier
-wies uns unser Führer zwei Schlafzimmer mit gemeinsamem Empfangzimmer
-an.
-
-Dann ging es an eine kurze Erklärung der mannigfachen, zur
-Bequemlichkeit der Bewohner dienenden Einrichtungen. »Ein Druck auf
-diesen Knopf hier, rechter Hand neben dem Thürstock -- demonstrierte
-David -- bringt den elekrischen Lustre zum Brennen, ein gleicher dort
-neben dem Nachttischchen den Wandkandelaber oberhalb des Bettes. Hier
-das Telephon No. 1 ist ausschließlich dem Verkehr im Hause selbst und
-mit der benachbarten Wachtstube der »Association für persönliche
-Dienstleistungen« bestimmt; bloßes Klingeln -- so, in diesem Rhythmus --
-bedeutet, daß sich Jemand aus der Wachtstube herbemühen möge; alle diese
-Knöpfe -- sie sind durch die eigentümliche Kerbung kenntlich -- hier und
-dort an den Wänden, da am Schreibtische und dort neben den Betten,
-stehen mit dieser Telephonklingel in Verbindung; Sie brauchen sich also
-aus dem Lehnstuhl, den Sie jetzt inne haben, nachts oder morgens aus dem
-Bette, in dem Sie ruhen, gar nicht zu erheben, wenn Sie ein Mitglied
-dieser allezeit dienstbereiten Gesellschaft zu sich citieren wollen.
-Jedes Telephon und jedes Läutewerk hat seine Nummer in der Wachtstube
-sowohl, als an einer Tafel im Vestibul, das wir soeben verlassen haben;
-längstens zwei Minuten, nachdem Sie geklingelt haben, steht der auf dem
-Flügelrad herbeigeeilte Abgesandte der Gesellschaft zu Ihren Diensten.«
-
-»Das ist eine wunderbare Einrichtung«, bemerkte ich, »die Euch die
-Annehmlichkeit eines jeden Winkes gewärtigen Kammerdieners gewährt, ohne
-daß Ihr den Ärger mit in den Kauf nehmen müßtet, den uns Abendländern
-unsere Kammerdiener bereiten; nur dürfte dieser Luxus ziemlich
-kostspielig und deshalb nicht allgemein üblich sein.«
-
-»Die Kosten sind sehr bescheiden, gerade weil hier alle Welt Gebrauch
-von diesen öffentlichen Dienstleistungen macht«, antwortete mein Freund.
-»Für je 600 bis 800 Häuser ist je eine derartige Wachtstube mit je drei
-Wachthabenden errichtet; es wird nun jede geforderte Dienstleistung nach
-der Zeit bezahlt, richtiger gesagt, angerechnet, und zwar, wie dies nun
-einmal bei uns üblich ist, nach Maßgabe des von unserer Centralbank am
-Schlusse jedes Bilanzjahres veröffentlichten Durchschnittswertes der
-Arbeitsstunde. Im abgelaufenen Jahre, wo der Stundenwert 8 Shilling
-betrug, mußten wir für je 3 Minuten -- denn das ist die Einheit, nach
-welcher diese Gesellschaft rechnet -- 40 Pfennige bezahlen; wer nun
-häufig klingelt und die Association stark in Atem erhält, auf den
-entfällt am Jahresschluß ein stärkerer, wer dies seltener thut, ein
-geringerer Beitrag: für alle Fälle aber muß die Association auf ihre
-Kosten, d. h. auf ihre Ausgaben kommen und auf den Verdienst für ihre 9
-wachthabenden Mitglieder -- denn die drei Wächter wechseln morgens,
-mittags und abends. Diese für je eine Wachtstube erforderliche Summe
-berechnete sich im Vorjahre mit rund 6000 Pfd. Sterling, und da
-beispielsweise die Zeitrechnungen der sämtlichen 720 Familien unseres
-Rayons nicht ganz zwei Dritteile dieser Summe ergeben hatten, so wurden
-die restlichen 2000 Pfd. Sterling nach Maßgabe des von jeder Familie
-gemachten Gebrauches nachgetragen. Unsere Familie hat verhältnismäßig
-geringen Bedarf nach den guten Diensten dieser Wachtstuben; wir zahlten
-z. B. im Vorjahre alles in allem 6 Pfd. Sterling, nämlich 4 Pfd.
-Sterling direkte Zeittaxen und 2 Pfd. Sterling nachträglichen Zuschlag,
-denn wir hatten binnen Jahresfrist bloß zweihundertmal 3 Minuten der
-fraglichen Dienste bedurft.«
-
-»Warum« -- so fragte mein Vater -- »wird in Ihrem Hause verhältnismäßig
-weniger geklingelt, als anderwärts?«
-
-»Weil unser Haushalt beständig zwei oder drei junge Damen beherbergt,
-die es sich zur angenehmen Pflicht machen, meinen Eltern all' jene
-persönlichen Dienste zu leisten, die sich mit der Würde wohlerzogener,
-gebildeter Frauenzimmer vertragen. Diese -- seit einem Jahre auch von
-meiner Schwester unterstützten -- Mädchen sind junge Freiländerinnen,
-wie man sie in jeder freiländischen Familie findet, wo die Hausfrau im
-Rufe besonderer Intelligenz und feiner Sitte steht -- Sie entschuldigen,
-daß ich meine Mutter so ohne weiteres zu diesen Auserwählten zähle.
-Jedes junge Mädchen Freilands rechnet es sich zur besonderen Ehre und zu
-großem Vorteile an, in einem solchen Hause mindestens für ein Jahr
-Aufnahme zu erlangen, weil allgemein die Ansicht besteht, daß nichts den
-Geist und die Sitte heranwachsender weiblicher Geschöpfe mehr veredle,
-als möglichst intimer Umgang mit hervorragenden Frauen.
-Selbstverständlich ist, daß derartige junge Damen durchaus wie Kinder
-vom Hause angesehen und behandelt werden; aber sie leisten ihren
-Adoptiveltern auch durchweg die nämlichen Dienste, wie aufmerksame,
-liebevolle Töchter. Vater und Mutter können einen Wunsch kaum im
-Gedanken fassen, so ist er schon erraten und erfüllt.«
-
-»Ei, das ist ja ganz das Institut unserer königlichen Ehrenfräulein«,
-meinte lächelnd mein Vater.
-
-»Allerdings; und ich zweifle sehr, ob Ihr Königspaar so gut, und
-insbesondere ob es so zärtlich betraut ist, wie mein Elternpaar
-jederzeit von diesen Ziehtöchtern der Mutter, deren seit 18 Jahren --
-denn so alt ist diese Einrichtung in Freiland -- nicht weniger als 24
-durch unser Haus gegangen sind, die aber sämtlich heute noch in durchaus
-kindlichem Verhältnisse zu meinen Eltern und in geschwisterlichem zu uns
-stehen. Unsere gegenwärtigen Ziehschwestern Leonore und Klementine haben
-Sie soeben kennen gelernt.«
-
-»Sie sagten vorhin«, nahm wieder mein Vater das Wort, »daß Ihr gesamtes
-Haus -- also vier Damen und drei Herren -- während eines ganzen Jahres
-bloß zweihundertmal 3 Minuten hindurch die durch diese Klingel citierten
-dienstbaren Geister in Anspruch genommen hätte; außerdem erwähnten Sie
-die Dienste der reizenden Ehrenfräulein -- wer aber verrichtet jene
-gröberen Hantierungen, welche binnen 600 Minuten oder zehn Stunden
-jährlich kaum der Geist aus Aladins Lampe in einem Hause wie dieses hier
-zu vollbringen vermöchte. Sie haben, wie mir scheint, etwa zehn bis
-zwölf Wohnräume; das Estrich ist zwar aus Marmor -- aber sie müssen doch
-gefegt werden. Ich sehe überall schwere Teppiche, wer reinigt diese? Mit
-einem Worte, wer verrichtet die gröbere Arbeit in diesem, wie der
-oberflächlichste Augenschein zeigt, mit peinlichster Sorgsamkeit instand
-gehaltenen, komfortabel eingerichteten Hause?«
-
-Die nämliche Association, mit deren Wachtstube ich Sie soeben bekannt
-gemacht habe; nur brauchen wir nicht zu klingeln, um diese, zum
-regelmäßigen Bedarfe gehörigen Verrichtungen besorgen zu lassen,
-vielmehr geschieht dieses auf Grund eines vereinbarten Tarifs, ohne daß
-man sich fernerhin darum zu kümmern hätte, mit einer Pünktlichkeit, die
-nichts zu wünschen übrig läßt. Die Association besitzt Haus- und
-Stubenschlüssel der mit ihr in Akkord stehenden Häuser. Zeitlich
-morgens, wir schlafen meist noch alle, erscheinen geräuschlos ihre
-Sendlinge, nehmen die zu reinigenden Kleider -- richtiger die zu
-wechselnden, denn wir Freiländer tragen niemals ein Kleidungsstück an
-zwei aufeinander folgenden Tagen -- von den Orten, wo sie des Abends
-hinterlegt wurden, thun die gereinigten an die dazu bestimmte Stelle,
-bereiten die Bäder -- denn in den meisten freiländischen Häusern hat
-jedes Familienglied sein besonderes Bad, das täglich genommen wird, es
-sei denn, daß man ein See- oder Flußbad vorzöge -- reinigen die Vorräume
-und einen Teil der Stuben, entfernen die Teppiche und sind verschwunden,
-ohne daß man zumeist auch nur eine Ahnung ihrer Anwesenheit besitzt. Und
-zu all dem genügen wenige Minuten. Es wird nämlich fast durchweg mit
-Maschinen gearbeitet. Sehen Sie jenen kleinen Apparat dort hinten im
-Korridor? Das ist eine Wasserkraftmaschine, in Gang gebracht durch das
-Öffnen jenes Hahnes dort, der sie mit der großen, von den Keniakaskaden
-gespeisten Hochdruckleitung in Verbindung setzt. (In anderen Städten, wo
-Wasserdruck bis zu 35 Atmosphären nicht so leicht zu beschaffen ist,
-thun elektrische oder atmosphärische Kraftleitungen den nämlichen
-Dienst.) Hier die stählerne Welle in der mit dem zierlichen Gitter
-verdeckten Höhlung am Boden, und dort oben am Plafond die broncene, die
-dem Gestänge zum Aufhängen der Spiegel und Bilder zum Verwechseln
-ähnlich sieht -- es sind alles Transmissionen, welche die Bewegung der
-Wassermaschine in jeden Raum des ganzen Hauses, von den Kellern
-angefangen bis zu den Gelassen unter dem Dache, übertragen. Und dort in
-jener Kammer findet sich eine Anzahl von Maschinen, deren Bedeutung ich
-Ihnen schwer erklären kann, wenn Sie sie nicht in Funktion sehen. Eine
-Reihe anderer Geräte führen die 3-4 Leute der Association bei ihren
-Besuchen mit sich, und wenn diese Maschinen mit dem Gestänge da oben
-oder da unten in Verbindung gebracht sind und der Hahn des Wassermotors
-geöffnet wird, so ist solch ein Raum im Handumdrehen gefegt, gewaschen,
-die schwerste Last an ihren Ort gebracht, kurz alles mit Zauberschnelle
-geräuschlos verrichtet, was Menschenhände nur langsam und meist mit
-unangenehmem Gepolter zuwege brächten.
-
-»Einige Zeit später erscheinen die Arbeiter der Association neuerlich,
-um die noch übrigen Stuben zu reinigen, die früher entfernten Teppiche
-an ihren Ort zu geben, in Küche und Frühstückszimmer alles zum Frühstück
-Erforderliche herzurichten. Und so kommen und gehen diese Leute tagsüber
-mehrmals, so oft es eben vereinbart ist, um nach dem Rechten zu sehen.
-Alles geschieht unaufgefordert, unhörbar, mit Blitzesschnelle. Unser
-Haus gehört zu den größeren, unsere Einrichtung zu den besseren in
-Edenthal; die Association hat also in wenigen Häusern mehr zu thun, als
-bei uns; trotzdem rechnete sie uns für all' diese Dienste im Vorjahre
-nicht mehr als 180 Stunden an, für welche wir nach dem bereits erwähnten
-Tarife jenes Jahres 72 Pfd. Sterling zu zahlen hatten. Ich bezweifle,
-daß irgend ein Haus gleich dem unsrigen in Europa oder Amerika um das
-Doppelte und Dreifache dieses Betrages in gleich gutem Stande erhalten
-werden könnte. Und dabei haben wir statt mit den leidigen »Domestiken«,
-mit intelligenten, höflichen, diensteifrigen Geschäftsleuten zu thun,
-die schon durch die Konkurrenz -- denn wir haben in Edenthal sechs
-solche Associationen -- genötigt sind, ihr Äußerstes zur Befriedigung
-der sie beschäftigenden Familien zu thun. Die Mitglieder dieser
-Associationen sind Gentleman, mit denen man füglich an der gleichen
-Tafel Platz nehmen kann, die sie soeben selber hergerichtet, und weder
-unsere zwei »Ehrenfräulein«, noch meine Schwester, würden den geringsten
-Anstand nehmen, bei Tische mit anderen Gästen auch Mitgliedern der
-Association für persönliche Dienstleistungen aufzuwarten.
-
-»Sie werden übrigens die Herren der Association heute noch kennen
-lernen, denn die unser Haus versorgenden Mitglieder werden sofort
-eintreffen, um sich mit peinlicher Genauigkeit über jeden Ihrer
-speziellen Wünsche zu unterrichten. Sie dürfen nicht ungeduldig werden,
-wenn _Sie_ dabei einem etwas umständlichen Verhöre unterzogen werden; es
-geschieht zu Ihrem Besten und nur dies eine Mal. Haben Sie einmal den
-keine Kleinigkeit übersehenden Fragen der Association Stand gehalten, so
-wird es Ihnen, so lange Sie in Freiland sind, gewiß nicht widerfahren,
-des morgens ein anderes als das gewünschte Kleid an der bezeichneten
-Stelle, Ihr Bad um einige Grade zu kalt oder zu warm, Ihr Bett nicht in
-der gewohnten Weise bereitet zu finden, oder was dergleichen kleine
-Ungehörigkeiten mehr sind, aus deren Vermeidung zu nicht geringem Teile
-das häusliche Behagen besteht.
-
-»Mit der Association für persönliche Dienstleistungen wären wir fertig.
-Ich kann also mit der Erklärung unserer häuslichen Einrichtungen
-fortfahren. Hier dieses andere Telephon hat die auch in Europa
-gebräuchliche Bestimmung, mit dem Unterschiede allerdings, daß
-hierzulande Jedermann sein Telephon besitzt. Jene Schraube dort hat den
-Zweck die Kaltluftleitung zu öffnen, welche künstlich gekühlte und
-zugleich ein wenig ozonisierte Luft in jeden Raum leitet, falls die
-Hitze unangenehm werden sollte; da dieses ausnahmsweise -- wenn nämlich
-in den heißen Monaten ein nächtliches Gewitter am Horizonte heraufzieht
--- auch des Nachts vorzukommen pflegt, so ist die Schraube
-vorsichtshalber in der Nähe des Bettes angebracht.«
-
-Ich teile Dir all' diese Details mit, weil ich glaube, daß sie Dich als
-Beweise dafür interessieren werden, wie wunderbar es diese Freiländer
-verstanden haben, unsere abendländischen Haussklaven durch ihre
-»eisernen Sklaven« zu ersetzen. Bemerken will ich nur noch, daß die
-»Association für persönliche Dienstleistungen« selbst meines Vaters
-weitgehenden Ansprüchen durchaus zu genügen vermochte; er versichert, im
-Hotel Bristol zu Paris keine bessere Bedienung gefunden zu haben.
-
-Um Dich nicht zu ermüden, erlasse ich Dir die Schilderung des ersten und
-zweiten Frühstücks am nächsten Tage, und will Dir nur nach der
-Hauptmahlzeit, die um 6 Uhr genommen wird, den Mund wässern machen.
-
-David gestand mir auf Befragen, daß man uns zu Ehren den sonst
-gebräuchlichen vier Gängen einen fünften zugelegt habe; aber nicht in
-der Mannigfaltigkeit, sondern in der Vorzüglichkeit der Gerichte, wie
-nicht minder in der Abwesenheit nicht zur Gesellschaft gehöriger und
-deshalb störender Dienerschaft bestand der Reiz des Mahles. Ohne
-Übertreibung kann ich versichern, selten so vorzügliche Bereitung,
-niemals zuvor aber so erlesenes Material vereinigt gesehen zu haben. Das
-Fleisch der auf den würzigen Hochalpen gemästeten jungen Ochsen und
-zahmen Antilopen hat nirgend anderwärts seines Gleichen; die Gemüse
-stellen die seltensten Schaustücke einer Pariser Ausstellung in den
-Schatten; insbesondere aber ist die Pracht und Mannigfaltigkeit seiner
-Frucht- und Obstsorten der Stolz Freilands. Und nun die mysteriöse Art
-des Servierens! Ein in der Wand des Speisegemachs angebrachter Schrank
-entwickelte aus seinem Innern eine scheinbar unerschöpfliche Reihe von
-Eßwaren. Zunächst entnahm Fräulein Bertha diesem Schrank eine Terrine,
-welche sie vorsichtig an den elfenbeinenen Henkeln anfassen mußte -- als
-der Deckel gehoben wurde, präsentierte sich eine köstlich dampfende
-Suppe. Dann gab ein anderes Fach des gleichen Schrankes einen Fisch
-heraus -- derselbe war kalt, als ob er frisch vom Eise gekommen wäre.
-Nun folgte -- wieder aus einem anderen Fache -- ein warmes Ragout,
-diesem ein ditto Braten mit mannigfaltigen Gemüsen und Salat -- dann kam
-Eis mit Backwerk, Obst, Käse. Den Schluß bildete ein schwarzer Kaffee,
-der aber vor den Augen der Gäste bereitet wurde, nebst erlesenen
-Cigarren -- alles gleich dem Biere und den Weinen freiländisches Gewächs
-und Fabrikat. Dienerschaft war während der ganzen Mahlzeit nicht
-sichtbar; die drei reizenden Mädchen holten alles aus dem
-geheimnisvollen Schranke oder von einem in dessen Nachbarschaft
-befindlichen Serviertische.
-
-Frau Ney machte jetzt den Cicerone. »Dieser Wandschrank« -- erklärte sie
--- »ist zur einen Hälfte Eiskeller, d. h. von gekälteter Luft
-durchströmt, zur anderen Hälfte Herd, d. h. mit elektrischen
-Heizvorkehrungen ausgestattet; in der Mitte zwischen diesen beiden
-Extremen befindet sich -- durch schlechtleitende Wände von beiden
-getrennt -- eine neutrale Abteilung von gewöhnlicher Zimmertemperatur.
-Außerdem hat dieser Schrank die Eigenheit, sich nach zwei Seiten zu
-öffnen, hier herein in den Speisesaal, und hinaus in den Korridor.
-Während wir nun tafelten, brachte die »Speiseassociation« in rascher
-Reihenfolge die bei ihr bestellten Gerichte, teils vollkommen bereitet,
-teils, wie z. B. den Braten und einige Gemüse, fertig adjustiert, aber
-noch roh. Die fertigen Speisen wurden vom Korridor aus in die
-verschiedenen Fächer des Schrankes eingeschoben; Braten und Gemüse
-kochte ein Mitglied der Association in der rückwärts befindlichen Küche
-mit gleichfalls elektrischem Herde gar. Das ist übrigens nicht die
-gewöhnliche Ordnung; wenn wir allein sind, wird in der Regel auch das
-Geschäft des Garkochens hier am Schranke besorgt und zwar von meinen
-Töchtern; das nimmt bloß kurze Zeit in Anspruch und Küchendünste sind
-dabei niemals zu spüren, denn dieser Speiseschrank, der Herd- und
-Eiskeller zugleich ist, vereinigt damit auch noch die Eigenschaften
-eines guten Ventilators. Das Reinigen der Geräte ist Sache der
-Association, die übrigens, wenn es gewünscht wird, auch das Geschäft des
-Servierens bei Tisch übernimmt.
-
-Der Kaffee wurde im Freien auf einer der Terrassen genommen; dann sangen
-die Damen zur Harfe und zum Klavier einige Lieder. Inzwischen machte uns
-Herr Ney mit den Familienverhältnissen der beiden Ziehtöchter seiner
-Frau bekannt. Die eine derselben -- Leonore -- ist eines Ackerbauers
-Kind aus Leikipia, die andere -- Klementine -- die Tochter eines seiner
-Departementschefs. Letzteres befremdete uns. »Warum« -- so fragte ich --
-»verläßt diese zweite Dame das elterliche Haus, das doch auch ein
-vornehmes, hochgebildetes sein muß?« Herr Ney erklärte nun, daß die
-Ziehtöchter nicht sowohl das vornehme gebildete »Haus«, sondern
-ausschließlich die gebildete, geistreiche _Frau_ des Hauses suchen. Der
-Mann mag noch so berühmt und gelehrt sein, wenn die Hausfrau ein
-gewöhnliches Geschöpf ist, betritt niemals eine Ziehtochter ihre
-Schwelle. Diese Institution hat eben bloß den Zweck, den betreffenden
-Jungfrauen den Vorteil eines höheren Beispiels, eines veredelnden
-weiblichen Umganges, nicht aber den Glanz günstiger äußerer Verhältnisse
-zu gewähren, was, nebenbei bemerkt, angesichts der hier herrschenden
-Zustände auch keinen rechten Sinn hätte, da im großen Ganzen jede
-freiländische Familie dem Wesen nach auf gleichem Fuße lebt. Die Mutter
-Klementinens nun ist eine herzensgute brave Dame, aber schließlich doch
-nur eine tüchtige Hausfrau; »deshalb bat sie meine Ellen, die«, so fügte
-er leuchtenden Auges hinzu, »den edelsten Frauen unseres an herrlichen
-Weibern so reichen Landes zugezählt wird, um die Gunst, sich ihrer
-Klementine für zwei Jahre anzunehmen.«
-
-Ich muß für heute schließen, denn Müdigkeit überwältigt mich, trotzdem
-ich Dir noch vielerlei über meine Erfahrungen sowohl innerhalb als
-außerhalb des Ney'schen Hauses zu erzählen hätte ....
-
-
-
-
- 15. Kapitel.
-
-
- Edenthal, den 18. Juli.
-
-Erst heute komme ich dazu, den vor Wochenfrist unterbrochenen Bericht
-über unsere hiesigen Erlebnisse wieder aufzunehmen. Begreiflich wirst Du
-finden, daß wir beide, mein Vater und ich, vor Begierde brannten, die
-Stadt zu besichtigen, welchen Wunsch erratend, uns Herr Ney schon am
-Morgen des ersten Tages einlud, unter seiner und seines Sohnes Führung
-eine Rundfahrt durch Edenthal zu unternehmen. Der Wagen warte schon.
-
-Es war das ein leicht und elegant gebautes Gefährte auf stählernen,
-denen eines Velocipeds ähnlichen Rädern, mit zwei bequemen, für je zwei
-Personen ausreichenden Sitzen. Da wir beide Davids zum Einsteigen
-auffordernde Handbewegung mit betretenen Mienen aufnahmen und keine
-Anstalt machten, der Einladung Folge zu leisten, bemerkte dieser erst,
-daß wir die -- Pferde vermißten. Er sah sich also bemüßigt, uns zu
-erklären, daß man hierzulande aus mancherlei Gründen im Wagenverkehr,
-insbesondere im städtischen, die animalische Zugkraft durch mechanische
-ersetzt habe. Das sei sicherer, reinlicher und nebenbei auch billiger.
-Der Lenker dieser Gefährte, einer Art Draisinen, dessen Platz rechts auf
-dem vorderen Sitze ist und dessen Amt keinerlei Kraftaufwand oder
-besondere Kunstfertigkeit erfordert, setzt durch einen leichten Druck
-nach abwärts auf eine zur rechten Hand angebrachte kleine Hebelstange
-den Wagen in Bewegung, und zwar in desto raschere, je stärker gedrückt
-wird; ein Druck nach aufwärts verlangsamt den Gang oder bringt das
-Gefährte zum Stillstand; das Ausweichen oder Umlenken nach rechts oder
-links wird durch entsprechende Drehbewegungen desselben Hebels
-hervorgebracht. Die Kraft, welche die Räder in Bewegung setzt, ist weder
-Dampf noch Elektricität, sondern die Elasticität einer Spiralfeder, die
-jedoch nicht fix mit dem Wagen verbunden, sondern nach Bedarf
-einzuschalten oder zu entfernen ist.
-
-»Die oberhalb der vorderen Achse angebrachte, etwa ½ Meter lange und 20
-Centimeter tiefe cylindrische Kapsel hier«, so demonstrierte mein Freund
--- »ist zur Aufnahme der Spiralfeder bestimmt. Vor dem Gebrauche wird
-die Feder »aufgezogen«, d. h. in Spannung gebracht und zwar in sehr
-hochgradige, ein Geschäft, welches Dampfmaschinen in den Ateliers der
-»Association für Transportwesen« besorgen, und solcherart einen
-entsprechenden Teil ihrer in Form von Dampfspannung vorhandenen
-Arbeitsenergie in die Form von Federnspannung umwandeln. Dieses in den
-Spiralen niedergelegte Quantum lebendiger Kraft genügt, um -- durch
-einen sehr einfachen Mechanismus auf die Achse des Rades übertragen --
-ein solches Rad zehntausend Umdrehungen machen zu lassen, auch wenn der
-Wagen ziemlich schwer beladen ist, und da der Radumfang 2 Meter beträgt,
-so reicht der Kraftvorrat der Spirale zur Durchmessung eines Weges von
-20 Kilometern hin. Die Schnelligkeit der Fortbewegung hängt einerseits
-von der Belastung des Wagens, anderseits von der mehr oder minder
-vollständigen Auslösung der Hemmvorrichtung -- reguliert durch den Druck
-des oben erwähnten Hebels -- ab; das zu erreichende Maximum bei mäßiger
-Belastung und gutem Wege beträgt bei diesen gewöhnlichen Draisinen 2½
-Radumdrehungen, d. i. eine Fortbewegung um 5 Meter in der Sekunde oder
-18 Kilometer in der Stunde: doch besitzen wir auch sogenannte Rennwagen,
-mit denen nahezu die doppelte Geschwindigkeit erreicht werden kann. Die
-Kraft der Spirale ist erschöpft, sowie das Rad seine 10000 Umdrehungen
-gemacht hat, was auch bei langsamerem Fahren binnen 1¼-1½ Stunden
-eintritt; es muß daher bei länger dauernden oder rascheren Fahrten für
-angemessene Reserven gesorgt werden, was in mannigfaltiger Weise
-geschieht. Zunächst kann man eine oder mehrere aufgezogene Spiralen --
-denn wenn die Hemmung geschlossen bleibt, bewahren dieselben Monate und
-Jahre lang ihre Spannung -- für welche hinten im Wagen eigene
-Reservebehälter angebracht sind, auf die Fahrt mitnehmen. Da jedoch jede
-Spirale mindestens 35 Kilogramm wiegt, so hat auch diese Art
-Kraftverlängerung ihre Grenzen; außerdem ist das Auswechseln der
-Spiralen immerhin keine angenehme Arbeit; man zieht daher in der Regel
-die zweite Methode der Kraftverlängerung vor, die darin besteht, daß man
-nach Verlauf einer gewissen Zeit bei einer der zahlreichen, auch anderen
-Zwecken dienenden Stationshäuschen der Transportassociation, die sich
-auf allen belebteren Straßen finden und durch weithin sichtbare Flaggen
-kenntlich sind, Halt macht und die Spirale wechseln läßt. Jede Station
-besitzt jederzeit einen genügenden Vorrat gespannter Spiralen und so
-kann man jede beliebige Zeit hindurch umherkutschieren, ohne stecken zu
-bleiben, zumal wenn man die Vorsicht gebraucht, für den Fall des
-Übersehens einer notwendig gewordenen Auswechslung eine Reservespirale
-mit sich zu führen. Solche Auswechslungsstationen aber giebt es nicht
-bloß in und um Edenthal, sondern in und um alle Städte Freilands und
-außerdem auf allen belebteren Landstraßen, und da die unterschiedlichen
-Associationen des gleichen Geschäftszweiges im ganzen Lande so klug
-waren, überall Spiralen von genau den gleichen Maßen einzuführen, so
-kann man das ganze Land bereisen und mit einiger Bestimmtheit darauf
-rechnen, überall entsprechende Relais zu finden. Will man jedoch völlig
-sicher gehen, so kann man sich durch seine Association die
-Relaisspiralen für eine vorher angegebene Route eigens bestellen, in
-welch letzterem Falle auch nichts hindert, die großen Straßen zu
-verlassen und minder frequentierte Nebenwege einzuschlagen, sofern
-dieselben nur nicht allzuschlecht und steil sind, was aber angesichts
-der hohen Vollendung des freiländischen Straßennetzes nur bei ganz
-entlegenen Gebirgswegen zu besorgen ist. Unsere Familie hat solcherart
-vor zwei Jahren das ganze Aberdare- und Baringo-Gebiet bereist, dabei
-1700 Kilometer zurückgelegt und zu der ganzen Reise in aller
-Bequemlichkeit bloß 14 Tage gebraucht.«
-
-Wir entschlossen uns endlich kopfschüttelnd, den automatischen Wagen zu
-besteigen. Mein Vater mit Herrn Ney nahm den ersten, ich mit David den
-zweiten Sitz ein; ein Druck Ney's auf den Leithebel, und geräuschlos
-setzte sich die Maschine in Bewegung, unserem ersten Ziele, dem Edensee
-zu. Dessen Ufer sind mit Ausnahme der Nordwestseite, wo in einer
-Ausdehnung von 5 Kilometern die Quais für den Waarenverkehr sich
-erstrecken, sämtlich von vierfachen Palmenreihen umsäumt und bestehen
-teils aus breiten, bis zum Wasserspiegel hinabreichenden Marmorstufen,
-teils aus in den See vorspringenden Molen, bedeckt von säulengetragenen
-Wandelbahnen. An letzteren landen die zahlreichen, den See nach allen
-Richtungen durchfurchenden Passagierdampfer, die jedoch, um die
-balsamische Luft nicht zu verderben, mit vollkommen funktionierenden
-Rauchverzehrern versehen sein müssen. Auch das mißtönige Pfeifen der
-Dampfventile ist in Edenthal verpönt. Denn der Edensee ist nur nebenbei
-Verkehrsstraße; seine hauptsächliche Bestimmung ist die eines gewaltigen
-Zier- und Lustteiches. Ein großer Teil der Ufer wird von den luxuriös
-ausgestatteten Badeanstalten eingenommen, die weit in den See
-hineinreichen und zu jeder Tageszeit von tausenden Badender benützt
-werden. Neben diesen, zumeist von schattigen Lusthainen umgebenen Bädern
-haben sich auch die sämtlichen Theater-, Opern- und Konzerthäuser
-Edenthals, im Ganzen 16 an der Zahl, angesiedelt, die wir jedoch
-einstweilen nur von außen in Augenschein nahmen. Unsere Gastfreunde
-machten uns darauf aufmerksam, daß der Edensee seine Hauptreize erst bei
-Monden- oder Elektrodenschein entfalte, und daher an einem der nächsten
-Abende von uns aufgesucht werden solle.
-
-Wir wendeten den Wagen und bogen in eine der Radialstraßen, die vom See
-zu den halbkreisförmig das Edenthal umgrenzenden Höhen führen. Hier
-leuchtete uns sofort, wenn auch noch reichlich 3 Kilometer entfernt, ein
-Riesenbau entgegen, der selbst den dieses Anblicks Gewohnten stets aufs
-neue mit staunender Bewunderung erfüllen muß, uns Fremden aber geradezu
-die Sinne verwirrte. Er ist ebenso unerreicht an Größe, wie
-unvergleichlich an Ebenmaß und harmonischer Vollendung all seiner
-Bestandteile. Er macht gleichzeitig den Eindruck des überwältigend
-Majestätischen und des märchenhaft Lieblichen. Dieses, vor 5 Jahren
-vollendete Wunderwerk ist der Volkspalast von Freiland, der Sitz der
-zwölf obersten Verwaltungsbehörden und der zwölf Vertretungskörper. Er
-ist durchwegs aus weißem und gelbem Marmor gebaut, übertrifft an
-Flächenausdehnung den Vatikan, seine luftigen Kuppeln sind höher als der
-Petersdom; daß er mit einem Kostenaufwande von 9½ Millionen Pfd.
-Sterling hergestellt werden konnte, erklärt sich bloß dadurch, daß alle
-Baugewerke wie nicht minder die hervorragendsten Künstler des Landes
-sich dazu drängten, bei dem Baue irgendwie verwendet zu werden. Und --
-so belehrte mich David -- das geschah nicht etwa aus patriotischer,
-sondern aus rein künstlerischer Begeisterung. Freiland ist reich genug,
-um sein Volkshaus wie hoch immer zu bezahlen; um den Bau billiger zu
-gestalten, hätte sich also Niemand in Aufregung versetzt; aber die aus
-dem Entwurfe hervorleuchtende eigenartige, überwältigende Schönheit des
-Werkes hatte es allen Künstlern angethan. Er erinnere sich noch der
-fieberhaften Erregung, mit der schon die Mitglieder jener
-Prüfungskommission, welche über die vorgelegten Bauentwürfe zu
-entscheiden hatte, allenthalben erzählten, es sei ein Plan eingelaufen,
-von einem bis dahin unbekannten jungen Architekten, der Unsagbares
-biete; eine neue Ära der Baukunst sei angebrochen, ein neuer Baustil
-erfunden, der an Adel der Form die besten griechischen, an Großartigkeit
-die gewaltigsten ägyptischen Denkmale erreiche. Und diese Begeisterung
-teilte sich allen mit, die den Entwurf sahen; die Konkurrenten -- es
-waren deren nicht weniger als 84, denn in Edenthal wurde damals schon
-viel und schön gebaut -- zogen ausnahmslos ihre Entwürfe zurück, und
-huldigten freiwillig dem neuaufgegangenen Stern am Kunsthimmel.
-
-Wir waren sobald nicht dazu zu bewegen, uns der Besichtigung anderer
-Bauwerke zuzuwenden. Endlich, nachdem wir dreimal die Runde um den
-Volkspalast gemacht, willigten wir ein, demselben den Rücken zu kehren.
-Mit der Aufzählung der zahllosen Prachtbauten, an denen wir flüchtig
-vorbeirollten, will ich Dich verschonen; nur soviel lasse Dir sagen, daß
-die Mannigfaltigkeit und Großartigkeit der den unterschiedlichen
-wissenschaftlichen und künstlerischen Zwecken dienenden öffentlichen
-Anstalten auf mich durchaus verblüffend wirkte. Die Akademien, Museen,
-Laboratorien, Versuchsanstalten u. dergl. wollten gar kein Ende nehmen
-und allen sah man es auf den ersten Blick an, daß sie mit
-verschwenderischer Munifizenz ausgestattet seien.
-
-Nachdem wir schon an zahllosen öffentlichen Gebäuden vorbeigefahren
-waren, deren Bestimmung mir zum Teil nur schwer begreiflich gemacht
-werden konnte, da unser »civilisiertes« Europa nichts ihnen Ähnliches
-besitzt -- ich nenne Dir beispielsweise bloß das Institut für
-»animalische Zuchtversuche«, welches den Zweck hat, durch Experiment und
-Beobachtung festzustellen, welchen Einfluß Erblichkeit, Lebensweise,
-Nahrung auf die Entwickelung des menschlichen Organismus äußern -- fiel
-es mir auf, daß wir noch an keinem Spital vorbeigekommen. Da ich nun
-begierig war zu sehen, wie die weltberühmte freiländische Humanität, die
-seit Jahren mindestens die Hälfte aller Spitäler der Welt mit reichen
-Mitteln ausstattet, daheim im eigenen Lande sich der armen Kranken
-annehme, bat ich David, uns doch in ein solches zu führen. »Ich kann Dir
-ebensowenig ein Spital, als einen Kerker oder eine Kaserne in Edenthal
-zeigen, aus dem sehr einfachen Grunde, weil wir deren in ganz Freiland
-keines besitzen«, war dessen Antwort.
-
-»»Den Mangel von Kerker und Kaserne lasse ich gelten; man weiß ja, daß
-Ihr Freiländer Euch ohne Kriminal- und Militärwesen behelft; aber -- so
-meinte ich -- Krankheiten muß es doch auch hier geben, diese haben doch
-mit Euren socialen Einrichtungen nichts zu thun!««
-
-»Letzteres kann ich zwar nicht so unbedingt zugeben«, mengte sich hier
-Herr Ney ins Gespräch; »auch die Krankheiten haben unter dem Einflusse
-unserer socialen Institutionen abgenommen; aber verschwunden sind sie
-allerdings nicht; wir haben Kranke auch in Freiland -- aber keine
-_armen_ Kranken, weil wir eben keine Armen haben, weder kranke, noch
-gesunde. Wir besitzen daher auch nicht jene Sammelstellen des
-Massensiechtums, die man da draußen mit dem Namen »Spital« bezeichnet.
-Anstalten, in denen sich Kranke unter besonderer Aufsicht gegen gute
-Bezahlung verpflegen lassen können, haben wir allerdings und sie werden
-insbesondere in Fällen schwierigerer chirurgischer Operationen häufig
-aufgesucht; aber das sind Privatanstalten und sie gleichen in ihrer
-Einrichtung wie in ihrem Gebaren durchwegs Ihren feinsten Sanatorien für
-»distinguierte Patienten«.«
-
-Wir waren inzwischen des Fahrens müde geworden, was nach nahezu
-vierstündiger Rundfahrt trotz des sanften Ganges und der bequemen
-Einrichtung der Wagen erklärlich erscheint. Neys machten daher den
-Vorschlag, den automatischen Wagen heimzuschicken und den Rückweg zu
-Fuße anzutreten, was von uns gern angenommen wurde. Wir hielten vor
-einem der Stationshäuschen der Transportassociation, ließen dort das
-Gefährte zurück und durchschritten die schattigen Alleen, von denen jede
-Edenthaler Straße eingesäumt ist. Jetzt hatten wir Muße, die zierlichen
-Privathäuser näher zu betrachten, die zwar alle den eigentümlichen, halb
-an den maurischen, halb an den griechischen erinnernden Edenthaler
-Baustil zeigen, im übrigen aber weder an Größe noch an Ausstattung
-gleich sind. Den vornehmsten Reiz dieser Villen bilden deren
-wunderliebliche Gärten mit ihren erlesenen Bäumen, ihrer unglaublichen
-Blumenpracht, den weißen Marmorstatuen, Fontänen und den mannigfaltigen
-zahmen Tieren -- insbesondere Äffchen, Papageien, Prachtfinken und
-allerlei Singvögeln -- die sich in ihnen neben jauchzenden Kindern
-tummeln. Des weiteren überraschte uns die außerordentliche Reinlichkeit
-der Straßen, als deren Hauptgrund uns angegeben wurde, daß seit
-Erfindung der automatischen Wagen keinerlei Zugtiere in den Straßen
-freiländischer Städte Staub aufwühlen und Unrat hinterlassen.
-
-»Giebt es also keinerlei Pferde hier?« fragte ich, worauf mir die
-Erklärung ward, daß deren allerdings und zwar in bedeutender Anzahl und
-von edelster Zucht vorhanden seien; dieselben würden jedoch nur
-außerhalb des eigentlichen Weichbildes der Stadt zu Promenaderitten
-durch die benachbarten Wiesen, Haine und Wälder benützt. »Das muß aber
-hierzulande ein sehr teurer Luxus sein«, meinte ich. »Das Pferd selber
-und was es frißt, mag billig sein; aber da Menschenkraft in Freiland das
-teuerste von allen Dingen ist, so kann ich nicht begreifen, wie ein
-freiländischer Haushalt die Kosten eines Pferdewärters zu erschwingen
-vermag. Oder erhält diese Klasse Bediensteter hierzulande ausnahmsweise
-geringeren Lohn?«
-
-»Letzteres wäre bei uns wohl kaum möglich«, -- antwortete lächelnd Herr
-Ney -- »denn wer würde dann in Freiland Pferdewärter sein wollen? Wir
-müssen auch dem Stallpersonal denselben Durchschnittsverdienst gewähren,
-wie anderen Arbeitern, und wenn ich für die sieben Reitpferde, die ich
-zum Gebrauche meiner Familie in den Ställen der Transport-Association
-halte, ein Wartepersonal nach abendländischem Zuschnitt bezahlen wollte,
-so würden die Kosten mein gesamtes Einkommen überschreiten. Aber das
-Rätsel löst sich sehr einfach dadurch, daß auch die Arbeit im
-Pferdestall mit Hülfe von Maschinen verrichtet wird, derart, daß
-durchschnittlich ein Mann für je 50 Tiere vollkommen genügt. Sie
-schütteln ungläubig den Kopf? Wenn Sie gesehen haben werden, binnen wie
-wenigen Minuten unsere durch mechanische Kraft in Rotation versetzten
-riesigen cylinderförmigen Bürsten ein Pferd spiegelblank putzen; binnen
-welch kurzer Zeit unsere Kehrmaschinen und Wasserleitungen den größten
-Stall von Mist und jeglicher Unreinlichkeit säubern; wie das Futter den
-Tieren automatisch zugeteilt wird: so dürfte Ihnen nicht bloß das,
-sondern ebenso die Thatsache einleuchten, daß in Freiland auch die
-»Stallknechte« gebildete Gentlemen sind, Geschäftsleute so ehrenwert und
-geachtet, wie alle anderen«.
-
-Unter solchen Gesprächen waren wir daheim angelangt, wo ein ausgiebiger
-Imbiß genommen ward und einige Geschäfte Erledigung fanden. Nach dem
-bereits letzthin geschilderten Diner fuhren wir mit unseren Gastfreunden
-abermals zum Edensee und besuchten zunächst die große Oper, wo an diesem
-Tage das Werk eines freiländischen Kompositeurs gegeben wurde. Dasselbe
-war uns nicht neu, da es eines jener zahlreichen freiländischen Tonwerke
-ist, die auch im Auslande großen Anklang finden und häufig aufgeführt
-werden. Dagegen überraschte uns die eigenartige -- allen freiländischen
-Theatern gemeinsame -- Anordnung des Zuschauerraums. Die Sitzreihen
-bauen sich amphitheatralisch bis zu bedeutender Höhe auf; das Dach ruht
-auf Säulen, durch welche die äußere Luft frei hereinstreichen kann. Bis
-zu 10000 Personen finden solcherart in den größeren dieser Theater
-bequem Platz, ohne daß jemals Hitze oder verdorbene Luft sich in
-denselben ansammeln könnte.
-
-Die Darstellung war eine vorzügliche, die Ausstattung in jeder Beziehung
-glänzend; trotzdem waren die Preise der -- durch keinerlei Rangordnung
-unterschiedenen -- Plätze nach abendländischen Begriffen lächerlich
-mäßig. Der Sitz kostete einen halben Schilling -- doch wohlverstanden
-bloß hier, in der großen Oper; die anderen Theater sind alle noch
-wesentlich wohlfeiler. Unternehmer sind überall die städtischen
-Kommunen, als deren Angestellte die ausübenden Künstler sowohl als das
-Regiepersonal fungieren; als ökonomischer Grundsatz gilt dabei
-allgemein, daß die Kosten des Baues und Unterhalts der Gebäude vom
-allgemeinen Kommunalbudget zu tragen seien, und daß die Eintrittspreise
-bloß die Gehalte und Tantiemen des angestellten Personals und die
-Ausstattung zu decken haben.
-
-Von David erfuhr ich, daß Edenthal außer der großen Oper noch eine
-Spieloper und vier Schauspielhäuser besitze, ferner drei Konzerthäuser,
-in denen allabendlich Orchester-, Kammermusik und Chöre sich hören
-ließen. Als freiländische Specialität aber nannte er mir fünf
-verschiedene »Lehrtheater«, in denen astronomische, archäologische,
-geologische, paläontologische, physikalische, geschichtliche,
-geographische, naturgeschichtliche, kurz alle erdenklichen
-wissenschaftlichen Vorträge mit dem umfassendsten Aufwande plastischer
-Darstellungskunst den Hörern vorgeführt werden. Die Vorträge sind von
-den geistreichsten Gelehrten verfaßt, von den gewandtesten Rednern
-vorgetragen, von den tüchtigsten Ingenieuren und Dekorateuren in Scene
-gesetzt. Diese Art Theater seien die besuchtesten; in der Regel genügen
-die vorhandenen Plätze nicht, so daß die Kommune kürzlich zwei neue
-derartige Darstellungshäuser bauen ließ, die binnen wenigen Monaten
-eröffnet werden dürften. Die Großartigkeit dieser Vorführungen, die ich
-an den nächsten Abenden kennen lernte, ist in der That staunenerregend
-und wenn auch die Jugend bei den meisten derselben den größeren Teil des
-Auditoriums stellt, so werden dieselben doch von Erwachsenen sehr
-fleißig besucht.
-
-Nach dem Theater mieteten Neys am Ufer eine der zahllosen dort von einer
-Association bereit gehaltenen Gondeln mit mechanischer Triebkraft (von
-elastischen Federn getriebene Propellerschrauben) und wir steuerten in
-den See hinaus. Derselbe war von gewaltigen, rings am Ufer in
-beträchtlicher Höhe angebrachten elektrischen Reflektoren taghell
-erleuchtet und es stand uns heute ein ganz besonderer Genuß bevor, denn
-Walter, der berühmteste Liederkomponist Freilands, ließ an diesem Abend
-eine neue Kantate durch die Mitglieder des Edenthaler Choralvereins zur
-ersten Aufführung bringen. Dieser Verein, welcher zu seinen
-allwöchentlichen Vorträgen in der Regel den Edensee als Schauplatz
-wählt, verfügt zu solchen Zwecken über mehrere der großartigsten
-Prachtbarken, deren bisweilen geradezu märchenhafte Ausstattung durch
-freiwillige Beiträge seiner zahlreichen Mitglieder und Verehrer gedeckt
-wird.
-
-War es die Wirkung der ganz eigenartigen Scenerie, war es die Schönheit
-des Tonstückes an sich -- der Effekt, den die Kantate auf mich machte,
-war ein überwältigender. Als wir uns auf den Heimweg machten, gestand
-ich David, daß mir niemals zuvor die gleichsam transcendentale Gewalt
-der Töne so deutlich geworden, wie während dieser Vorstellung am See;
-ich hatte durchaus den Eindruck, als ob der Weltgeist in diesen Klängen
-zu meiner Seele spräche und als ob diese auch ganz genau seine Sprache
-verstünde und nur unvermögend sei, dieselbe in gewöhnliches Italienisch
-oder Englisch zu übersetzen. Zugleich aber äußerte ich mein Erstaunen
-darüber, daß ein so junges Gemeinwesen, wie das freiländische, in allen
-Kunstarten Anerkennenswertes, in zweien aber, in Architektur und
-Tonkunst, den besten Vorbildern aller Zeiten Ebenbürtiges leiste.
-
-Frau Ney gab hierüber ihre Meinung dahin ab, daß dies die schlechthin
-notwendige Konsequenz der Gesamtrichtung des freiländischen Geistes sei.
-Wo fröhlicher Lebensgenuß mit ruhiger Muße sich paarten, dort müßten die
-Künste gedeihen, die ja in Wahrheit nichts anderes seien, als Produkte
-des Reichtums und edler Muße. Und daß gerade Architektur und Musik den
-Anfang der Kunstblüte machten, lasse sich ganz ungezwungen erklären.
-Erstere mußte durch die, dem neuartigen großartigen Gemeinwesen
-entsprungenen Bedürfnisse in erster Reihe mächtig angeregt werden; auch
-der Einfluß der gewaltigen und doch lieblichen Natur des Landes sei hier
-unverkennbar. Die Musik dagegen sei die unmittelbarste aller
-Kunstformen, diejenige, deren sich der Genius der Menschheit stets in
-erster Reihe bediene, wenn eine neue Ära künstlerischen Schaffens durch
-neue Arten des Fühlens und Denkens eingeleitet worden sei.
-
-»Bei dem so überaus regen Sinne Ihres Volkes für das Schöne« -- so
-wandte sich mein Vater an Frau Ney -- »nimmt es mich nur Wunder, daß zum
-Schmucke der schönsten Zierde Freilands, seiner königlich gearteten
-Frauen nämlich, so wenig aufgewendet wird. Zwar die Tracht ist kleidsam,
-und nirgend bisher habe ich noch so erlesenen Geschmack in der Wahl der
-geeignetsten Formen und Farben getroffen; aber eigentliches Geschmeide
-sieht man nicht. Hie und da Goldreifen im Haar, da und dort goldene oder
-silberne Spangen an den Kleidern, das ist alles; Edelsteine und Perlen
-scheinen bei den hiesigen Damen verpönt zu sein. Woran liegt das?«
-
-»Der Grund liegt darin« -- so antwortete Frau Ney -- »daß uns
-Freiländern jene ausschließliche Triebfeder fehlt, die den anderen
-Völkern die Geschmeide eigentlich begehrenswert macht. Eitelkeit ist
-auch hierzulande heimisch, unter Männern sowohl als Frauen; aber sie
-findet in der Schaustellung von sogenannten »Kostbarkeiten«, deren
-alleiniger Vorzug vor ähnlichen Dingen lediglich darin besteht, daß sie
-teuer sind, kein Genüge. Glauben Sie wirklich, daß es die _Schönheit_
-der Diamanten ist, was gar manche unserer bedauernswerten Schwestern da
-draußen Glück und Ehre in die Schanze schlagen läßt, um in den Besitz
-solch glitzernder Steinchen zu gelangen? Warum stieße dann dasselbe
-Weib, welches sich um echter Steine willen verkaufte, unechte, die es in
-Wahrheit von jenen gar nicht zu unterscheiden vermag, achtlos beiseite?
-Und zweifeln Sie daran, daß auch der echte Diamant sofort zum
-unbeachteten Kiesel würde, den keine »Dame von Geschmack« fernerhin
-eines Blickes würdigte, sowie dieser Stein aus irgend einem Grunde
-seinen hohen Preis verlöre? Die Geschmeide gefallen also nicht, weil sie
-schön, sondern weil sie kostbar sind. Sie schmeicheln der Eitelkeit
-nicht durch ihren Glanz, sondern durch das Bewußtsein, welches sie in
-ihrem Eigner erwecken, in diesen unscheinbaren Dingerchen den Extrakt so
-und so vieler Menschenleben zu besitzen. »»Seht her, hier an meinem
-Halse trage ich einen Talisman, um den Hunderte von Knechten Jahre lang
-ihr bestes Mark vergeuden mußten und dessen Gewalt auch Euch, die Ihr
-die netten Dingerchen ehrfurchtsvoll anstaunt, mir als Sklaven zu Füßen
-legen, allen meinen Launen dienstbar machen könnte! Seht her, ich bin
-mehr als Ihr, ich bin die Herrin, die auf nichtigen Tand vergeuden kann,
-wonach Ihr vergeblich giert um Euren Hunger zu stillen!«« Das etwa
-ist's, was das Diamantenkollier aller Welt verkündet, und _darum_ hat
-seine Besitzerin vielleicht sich und andere verraten, elend gemacht, um
-es als ihr Eigen um den Nacken schlingen zu können. Denn beachten Sie
-wohl, das Geschmeide schmückt nur, wenn es Eigentum des Trägers ist;
-entliehenes Geschmeide zu tragen ist ignobel, gilt als unanständig, und
-mit Recht, denn entliehenes Geschmeide lügt, es ist eine Krone, die
-ihrem Träger den Schein einer Macht verleihen soll, die er in Wahrheit
-nicht besitzt.
-
-»Die Macht nun, deren legitimen Anspruch das Geschmeide zur Schau tragen
-soll, die Macht über fremdes Leben und fremde Leiber existiert in
-Freiland nicht. Zwar wer einen Diamanten von beispielsweise 600 Pfund
-Wert besäße, der hätte damit auch hierzulande das Verfügungsrecht über
-einjährigen Ertrag menschlicher Arbeit; aber wer ihn deshalb erwürbe und
-zur Schau trüge, würde sich damit -- angesichts unserer Institutionen --
-doch nur lächerlich machen; denn _seine eigene Arbeit_ wäre es, deren
-Ertrag er solcherart festlegte, gleich gegen gleich müßte er mit Jedem,
-dessen Arbeit er sich um den Stein dienstbar machen wollte, tauschen und
-statt ehrfurchtsvollen Staunens könnte er bloß bedauerndes Mitleid
-erwecken, Mitleid darüber, daß er sich bessere Genüsse versagt, oder
-nutzlose Anstrengungen auferlegt, um den albernen Kiesel zu erwerben. Es
-wäre das gleichsam, als ob der Besitzer des Diamanten aller Welt
-verkünden wollte; »»Seht her, während Ihr genosset oder ruhtet, habe ich
-gedarbt und gearbeitet, um den Tand zu gewinnen««! Nicht der Mächtigere,
-der Thörichtere wäre er in Jedermanns Augen -- der Stein, dessen
-fascinierende Kraft an die Vorstellung geknüpft ist, daß sein Besitzer
-zu den Herren der Erde gehöre, die über fremde Arbeit verfügen und
-_deshalb_ sich den Scherz erlauben dürfen, das Produkt so großen
-Schweißes in nutzlosen Sächelchen anzulegen -- der Stein kann für ihn
-keinen Reiz mehr haben. Wer ihn in Freiland kauft, der gliche Jenem, der
-sein Leben an den Besitz einer Krone setzt, die aufgehört hat, das
-Symbol der Herrschaft zu sein.«
-
-»Sie sprechen also dem Geschmeide alle wirklich schmückende Kraft ab?
-Sie leugnen, daß Perlen oder Diamanten geeignet sind, die Reize eines
-schönen Körpers noch wesentlich hervorzuheben?« entgegnete mein Vater.
-
-»Das thue ich allerdings«, war die Antwort. »Nicht daß ich die
-dekorative Wirkung an sich überall bestreiten wollte; nur leugne ich,
-daß sich nicht genau der nämliche, ja in der Regel ein weit besserer
-Effekt durch andere Mittel auch erreichen läßt. Im allgemeinen aber
-schmückt der, seiner ganzen Beschaffenheit nach gar nicht zum
-menschlichen Körper passende Tand durchaus nicht, entstellt vielmehr in
-neunundneunzig unter hundert Fällen den stolzen Besitzer. Daß ein
-diamantengeschmücktes Weib Euch Herren da draußen besser gefällt, als
-ein blumengeschmücktes, hat genau den nämlichen Grund, aus welchem Euch
--- Ihr mögt noch so starre Republikaner sein -- eine Königin schöner
-erscheinen wird, als ihre vor dem Richterstuhle unbefangener Ästhetik
-vielleicht schöneren Rivalinnen. Ein gewisses Etwas, ein eigentümlicher
-Zauber umschwebt sie -- der Zauber -- Sie entschuldigen das harte Wort
--- des Knechtsinnes; dieser, nicht Euer ästhetisches Urteil ist es, was
-Euch weismacht, das Diadem verleihe höheren Reiz, als der Kranz von
-Rosen; lasset die Rose zum Symbol der Herrschaft werden, dessen sich nur
-Königinnen bedienen dürfen, und Ihr werdet jetzt ohne Zweifel finden,
-daß die Rosen es sind, die wahre Majestät zur Geltung bringen.«
-
-»Eitel sind wir Freiländerinnen deshalb doch. Wir wollen nicht bloß
-schön sein, sondern auch schön erscheinen und die Männer bestärken uns
-nach Kräften in diesem Bestreben; nur bitte ich wohl im Auge zu
-behalten: wir wollen nicht prunken, sondern gefallen. Deshalb sind Kleid
-und Zierat einer Freiländerin nie Selbstzweck, sondern Mittel zum
-Zwecke. Eine richtige Modedame in Europa entstellt sich oft in der
-greulichsten Weise, weil es ihr weniger auf den Effekt ihrer Person, als
-auf den ihrer Kleider, ihres Putzes ankommt; sie wählt nicht das Gewand,
-welches ihre persönlichen Reize am günstigsten hervorhebt, sondern das
-kostbarste, welches ihre Mittel ihr gestatten. Wir halten es anders;
-schon unsere eigenen ästhetischen Anschauungen bewahren uns vor der
-Thorheit, einem Kleiderkünstler zu Liebe andere Gewänder anzulegen, als
-jene, von welchen wir vermuten oder wissen, daß sie unsere Gestalt am
-vorteilhaftesten zur Geltung bringen. Außerdem aber steht uns
-diesbezüglich jederzeit der Rat künstlerisch gebildeter Männer zur
-Seite. Kein hervorragender Maler verschmäht es, jungen Damen Aufschluß
-über die passendste Wahl ihrer Toilette zu gewähren, ja es werden
-besondere Vorträge über diesen wichtigen Punkt gehalten. Natürlich kann
-es eine strenge Mode bei uns nicht geben, da Zusammenstellung,
-Faltenwurf und Farbe der Kleidung durchweg der Individualität der
-Trägerin angepaßt sind; daß Hagere und Wohlbeleibte, Große und Kleine,
-Blonde und Brünette, Imposante und Niedliche, sich nach der gleichen
-Schablone tragen sollten, gälte hier zu Lande als Gipfel der
-Abgeschmacktheit. Ebenso lächerlich aber fände es eine Freiländerin, die
-gefallen will, mutete man ihr zu, ein Kleid, eine Haartracht, die sie
-als für sich passend einmal erprobt, zu wechseln, bloß aus dem Grunde,
-weil man sie in dieser Tracht schon zu oft gesehen. Wir begreifen es
-nicht, daß man, um zu gefallen, am besten thue, sich möglichst
-mannigfaltig zu entstellen; insbesondere aber halten wir, darin abermals
-unterstützt von unseren Männern, zähe fest an dem Glauben, daß die
-menschliche Gestalt durch das Kleid zwar bedeckt und verhüllt, aber
-nicht verzerrt werden dürfe.«
-
-Wir erklärten galant, diese Toiletteprinzipien durchaus zu billigen. Die
-Wahrheit ist, daß der an die Excentricitäten abendländischer Moden
-gewohnte Fremde in Freiland angelangt, die nach künstlerischen
-Grundsätzen zusammengestellte hiesige Frauentracht anfangs etwas zu
-einfach, dann aber die Rückkehr zu den abendländischen Zerrbildern
-schlechterdings unerträglich findet. Du wirst Dich erinnern, daß David
-uns in Rom versicherte, die europäischen Moden machten ihm genau den
-nämlichen Eindruck, wie die der afrikanischen Wilden; nach kaum
-einwöchentlichem Aufenthalte hier beginne ich diese Auffassung zu
-teilen.
-
-Doch ich sehe, daß ich abermals schließen muß, ohne meinen Bericht
-erschöpft zu haben. Mit dem Versprechen, das Versäumte nachzuholen
-
- Dein .....
- .....
-
-
-
-
- 16. Kapitel.
-
-
- Edenthal, den 28. Juli.
-
-Ich konnte mein Versprechen, Dir bald zu schreiben, nicht halten, weil
-die vergangene Woche einer Reihe kürzerer oder längerer Ausflüge
-gewidmet war, die ich mit David teils zu Pferde oder mittels
-automatischer Draisinen in die unmittelbare Umgebung Edenthals und der
-benachbarten Danastadt, teils mit der Eisenbahn bis an die Ufer des
-Ukerewe unternahm. Ich lernte solcherart eine ziemliche Anzahl
-freiländischer Städte und ebenso mehrere zerstreute Industrie- und
-Ackerbaukolonien kennen. Ich sah die lieblichen, in schattigen Wäldern
-eingebetteten Orte des Aberdaregebirges mit ihrer gewaltigen
-Metallindustrie; Naiwaschacity, das Emporium der Lederindustrieen und
-des Fleischexports, dessen Villenreihen den ganzen Naiwaschasee in einer
-Längenausdehnung von 64 Kilometern umrahmen; die Ansiedelungen in den
-Bergen nördlich vom Baringosee mit ihren zahllosen Herden edler Pferde,
-Rinder, Schweine, Schafe, zahmer Elefanten, Büffel, Zebras, mit ihren
-Gold- und Silberbergwerken, und Ripon, das Centrum der Mühlenindustrie
-und des Ukerwehandels. In allen Städten fand ich dem Wesen nach die
-nämlichen Einrichtungen wie in Edenthal; elektrische Eisenbahnen in den
-Hauptstraßen, elektrische Beleuchtung und Beheizung, Bibliotheken,
-Theater u. s. w. Was mich jedoch zumeist überraschte, war, daß auch die
-ländlichen Ansiedelungen mit sehr geringen Ausnahmen eines
-hochentwickelten städtischen Comforts nicht entbehrten. Elektrische
-Bahnen zogen auch an ihnen vorüber und setzten sie mit den
-Hauptverkehrslinien in Verbindung; wo nur 5-6 Villen -- denn der
-Villenstil herrscht ausnahmslos durch ganz Freiland -- nebeneinander
-standen, fanden sich elektrische Beleuchtung und Beheizung; Telegraph
-und Telephon fehlten selbst dem entlegensten Gebirgsthale nicht, ebenso
-keinem Hause das Bad; und wo einige hundert Villen in nicht gar zu
-großer Entfernung zerstreut lagen, war sicherlich ein Theater für sie
-gebaut, in welchem abwechselnd Schauspiele, Concerte, Vorträge
-abgehalten wurden. An Schulen gab es allenthalben Überfluß, und wo
-irgend ein Ansiedler sich allzu einsam angebaut hatte, als daß die
-Kinder eine in der Nähe gelegene Schule hätten besuchen können, dort
-waren diese bei befreundeten Familien untergebracht, denn der
-Jugendunterricht darf in Freiland unter keinen Umständen leiden.
-
-Daß ich die Gelegenheit nicht versäumte, mir das freiländische Volk an
-seiner Arbeit -- auf dem Felde und in der Fabrik -- zu betrachten, ist
-selbstverständlich. Hier wurde mir die Größe Freilands erst offenbar.
-Ungeheuer, überwältigend war, was ich allenthalben sah. Von der
-Großartigkeit der maschinellen Einrichtungen, von der unermeßlichen
-Kraftfülle, welche die gebändigten Elemente hier dem Menschen zur
-Verfügung stellen, kann sich der Abendländer ebensowenig eine
-Vorstellung machen, als von dem raffinierten, ich möchte fast sagen
-aristokratischen Komfort, mit welchem die Arbeit überall umgeben ist.
-Keine schmutzige, aufreibende Handlangung verrichtet der Mensch; die
-sinnreichsten Apparate entheben ihn jedes wirklich unangenehmen
-Geschäftes; er hat der Hauptsache nach bloß seine unermüdlichen eisernen
-Sklaven zu überwachen. Und nicht einmal durch ihr Klappern, Stöhnen und
-Rasseln dürfen diese überall geschäftigen Diener das Ohr ihrer Herren
-beleidigen. Ich bewegte mich in den Stampfwerken von Leikipia, die den
-mineralischen Dünger für die dortige Bodenassociation bereiten, zwischen
-Steinzermalmern von tausenden Centnern Stoßkraft, und kein lästiges
-Geräusch war zu hören, kein Atom Staub zu sehen. Ich durchschritt
-Eisenwerke, in denen Stahlhämmer bis zu 3000 Tonnen Fallgewicht
-verwendet werden; die gleiche Ruhe herrschte in den lichten freundlichen
-Fabriksälen, kein Ruß auf Händen oder Gesichtern der Arbeiter störte den
-Eindruck, daß man es mit Gentlemen zu thun habe, die sich dazu
-herbeilassen, die Schmiedearbeit der Elemente zu überwachen. Ich sah auf
-den Feldern ackern und säen -- wieder dieselbe Erscheinung des Herrn der
-Schöpfung, der durch den Druck eines Fingers die Riesen »Dampf« oder
-»Elektricität« nach seinem Willen lenkt, wohin und wozu es ihm nützlich
-dünkt. Ich war _unter_ der Erde in den Kohlengruben und in den
-Eisenminen; auch dort fand ich es nicht anders: keinen Schmutz, keine
-aufreibende Plage für den Menschen, der in vornehmer Ruhe zusieht, wie
-seine gehorsamen Geschöpfe aus Stahl und Eisen für ihn schaffen ohne zu
-ermüden und zu murren, von ihm nichts anderes verlangend, als daß er sie
-lenke.
-
-Während der nämlichen Ausflüge lernte ich auch eine Reihe besonderer in
-Freiland üblicher Vergnügungen näher kennen; ich besuchte mit David die
-mannigfaltigen entzückenden Aussichtspunkte des Kenia und der
-Aberdareberge, auf denen es allsonntäglich Gesang und Tanz der jungen
-Leute gibt, gewürzt in der Regel durch eine Überraschung, welche die
-Vergnügungskomitees -- eine ständige Institution in jedem freiländischen
-Orte -- zur Feier eines beliebigen Anlasses veranstalten. Mir waren die
-Eisfeste auf dem großen Eislaufteiche am Keniagletscher das
-Überraschendste. Dort hatten vor fünf Jahren die vereinigten
-Vergnügungskomitees von Edenthal, Danastadt und Oberleikipia ein 2400
-Hektaren messendes, 4250 Meter über dem Meeresspiegel gelegenes Plateau
-in einen Teich verwandeln lassen, der von den Wässern der unmittelbar
-daran grenzenden großen Eisfelder gespeist wird. Von Ende Mai bis Mitte
-August gibt es nun in dieser Höhe stets sehr empfindliche Nachtfröste,
-die das ohnehin dem Gefrierpunkte nahe Gletscherwasser des Teiches sehr
-rasch in eine solide Eisbahn verwandeln. Nachdem hierauf dieser
-großartige Eislaufplatz seinem ganzen Umfange nach mit luxuriösen
-heizbaren Warte-, Toilette und Speise-Sälen umgeben, des ferneren
-mittels einer leistungsfähigen Zahnradbahn mit dem Fuße des Berges in
-Verbindung gebracht worden war, übergaben die vereinigten Komitees ihr
-Werk der Öffentlichkeit zur unentgeltlichen Benutzung. Die, wie sich
-denken läßt, sehr beträchtlichen Anlagekosten waren mit Leichtigkeit im
-Wege freiwilliger Subskriptionen aufgebracht worden, und ebenso decken
-sich die Erfordernisse der Instandhaltung überreichlich durch
-freiwillige Beiträge der zahlreichen Besucher. Denn die ganze kühle
-Jahreszeit hindurch ist die Riesenfläche des Eisteiches von
-Schlittschuhläufern und insbesondere von Schlittschuhläuferinnen nicht
-bloß aus der Umgebung des Kenia auf hundert Kilometer in der Runde,
-sondern aus allen Teilen Freilands bedeckt. Selbst von den Gestaden des
-indischen Ozeans und der großen Seen kommen Freunde und Freundinnen
-dieses gesunden Sports hierher, um an den zeitweilig veranstalteten
-glänzenden Eisfesten teilzunehmen. Gegenwärtig beschäftigt man sich mit
-dem Plane, unmittelbar am Eislaufplatze ein großartiges Hotel zu
-errichten, das besonders ausdauernden Verehrern dieser ebenso graziösen
-als gesunden Leibesübung Gelegenheit geben soll, in 4200 Meter Seehöhe
-zu übernachten. Des ferneren hat die große Beliebtheit des
-Kenia-Eisteiches den Anlaß gegeben, auch am Kilima-Ndscharo, und zwar
-dort in einer noch um 500 Meter höheren Lage ein ähnliches Unternehmen
-ins Werk zu setzen, welches gegenwärtig seiner Vollendung nahe ist; ein
-drittes, in den Mondbergen am Albertsee, hat einstweilen das
-Versuchsstadium nicht überschritten, da dem dortigen Komitee die
-Auffindung eines zu solchem Zwecke genügend hoch gelegenen und dabei
-ausreichend großen Platzes bisher nicht recht gelungen sein soll.
-
-Mehr als all' diese Vergnügungseinrichtungen aber erregte die
-ungetrübte, im besten Sinne des Wortes kindliche Lust und Fröhlichkeit
-meine Bewunderung, mit denen nicht bloß diese Veranstaltungen, sondern
-das ganze Leben in Freiland genossen werden. Man gewinnt durchaus den
-Eindruck, als ob die Sorge hierzulande unbekannt wäre. Jene unbefangene
-Heiterkeit, die bei uns in Europa der beneidenswerte Vorzug bloß der
-ersten Jugendjahre ist, thront hier auf jeder Stirne, strahlt aus
-Jedermanns Auge. Durchwandere welches civilisierte Land der Welt immer,
-Du wirst selten, ja ich möchte fast behaupten niemals, einen Erwachsenen
-finden, auf dessen Antlitz behagliches Glück, ungetrübter Lebensgenuß zu
-lesen wäre; mit sorgenschweren, meist sogar kummervollen Mienen hasten
-oder schleichen bei uns daheim die Menschen aneinander vorüber, und
-zeigt sich irgendwo wirkliche, nicht bloß erkünstelte Fröhlichkeit, so
-ist es beinahe ausnahmslos die der Gedankenlosigkeit. Glücklich sind bei
-uns höchstens die »Armen an Geist«; die Reflexion scheint uns nur
-gegeben, um über des Lebens Not und Qual nachzudenken. Hier zum
-erstenmale finde ich Menschengesichter, die den Stempel bewußten Denkens
-und unbefangenen Glückes zugleich zur Schau tragen. Und dieses
-Schauspiel allgemein glücklicher Zufriedenheit ist für mich erhebender
-als alles, was wir hier zu sehen bekamen; freier und wohliger atmet die
-Brust; es ist, als ob ich zum erstenmale aus der beängstigenden
-Atmosphäre eines mit erstickenden Dünsten geschwängerten Kerkers
-hinausgelangt wäre in die freie Natur, wo balsamische reine Lüfte mich
-umfächeln. »Woher kommt Euch allen, allen dieser Abglanz sonniger
-Heiterkeit?« fragte ich David.
-
-»Sie ist das naturgemäße Ergebnis der heiteren Sorglosigkeit, in der wir
-alle leben«, war seine Antwort. »Denn es scheint nicht bloß, es ist
-wirklich an dem, daß die Sorge hierzulande unbekannt ist, zum mindesten
-jene häßlichste, erniedrigendste aller Sorgen, die um das tägliche Brot.
-Nicht daß wir reicher sind, und auch nicht, daß wir es alle sind, ist
-diesbezüglich das Entscheidende, sondern daß wir, und zwar
-wohlverstanden jeder Einzelne unter uns, die absolute Sicherheit
-besitzen, es stets zu bleiben. Hier _kann_ niemand verarmen, denn
-unveräußerlich ist ihm sein Anteil am unermeßlichen Vermögen der
-Gesamtheit. Heiter und lachend liegt das »Morgen« vor uns; es kann uns
-nichts Schlimmes bringen, denn Gewähr und Sicherheit für das Wohlergehen
-auch des Letzten unter uns ist eine Macht, so stark und dauerhaft, wie
-der Bestand unserer Rasse auf diesem Planeten, die Macht des
-menschlichen Fortschritts. Wir gleichen in diesem Punkte wirklich den
-Kindern, denen Schirm und Hort des elterlichen Hauses jede materielle
-Sorge fernhält.«
-
-»Und befürchtet Ihr nicht« -- so warf ich ein -- »daß diese
-Sorglosigkeit schließlich gerade dem ein Ende bereiten wird, worauf sie
-sich stützt, dem Fortschritte nämlich? Bisher zum mindesten waren noch
-stets Not und Sorge die besten Triebfedern menschlicher Betriebsamkeit;
-erlahmen diese beiden, hat die quälende Angst um das Morgen ihr Ende, so
-wird auch der Fortschritt erlahmen, Stillstand, dann Rückschritt werden
-ihm folgen und zugleich mit der dadurch notwendigerweise eintretenden
-Verarmung werden auch Not und Sorge wieder ihren Einzug halten. Daß
-bisher unter Euch nichts von alledem zu bemerken ist, muß ich zugeben;
-aber es kann mich dies nicht beruhigen. Denn einstweilen genießt Ihr in
-Freiland noch die Früchte des Fortschritts Anderer. Was unter Not und
-Qual ungezählter Jahrtausende ersonnen und erfunden wurde, unter Not und
-Qual ungezählter Millionen außerhalb der Grenzen Eures Landes auch heute
-noch ersonnen und erfunden wird, das ist's, was Euer Glück einstweilen
-ermöglicht. Wie aber dann, wenn dereinst -- was Ihr ja offenbar anstrebt
--- die _ganze_ Menschheit sich zu Euren Prinzipien bekehrt? Glaubt Ihr,
-daß die Not gänzlich von der Erdoberfläche verschwinden kann, ohne den
-Fortschritt mit sich zu nehmen?«
-
-»Das glauben wir nicht bloß« -- war seine Antwort -- »wir wissen es, und
-jedermann, der unbeirrt durch überkommene Vorurteile die Thatsachen
-prüft, muß unsere Erkenntnis teilen. Kampf ums Dasein ist das
-unerbittliche Gebot, an welches die Natur den Fortschritt, ja die
-Existenz jeglichen lebenden Wesens geknüpft hat -- das begreifen wir
-besser, als irgend jemand da draußen. Aber daß dieser Kampf gerade durch
-den Hunger gestachelt werden muß, leugnen wir, und ebenso, daß er
-notwendigerweise als ein gegenseitiger Kampf der Individuen der
-nämlichen Art aufzufassen ist. Auch wir kämpfen den Kampf ums Dasein,
-denn mühe- und arbeitslos fällt auch uns der Genuß nicht in den Schoß.
-Aber nicht _gegeneinander_, sondern _miteinander_ stehen wir in unserem
-Streben, und gerade deshalb ist uns der Erfolg desselben niemals
-zweifelhaft. Wir könnten uns, wenn auf das Beispiel des in der Tierwelt
-herrschenden Kampfes verwiesen wird, darauf berufen, daß der Mensch, dem
-andere Kampfmittel zu Gebote stehen, als seinen niedriger stehenden
-animalischen Vettern, den Entwickelungskampf auch in anderer Weise
-auszutragen vermöchte, als diese; aber das wäre eine ebenso schlechte,
-als überflüssige Ausflucht. Denn in Wahrheit verhält sich die Sache
-umgekehrt; Not und materielle Sorge sind -- von höchst vereinzelten
-Ausnahmen abgesehen -- keine natürlichen Kampfmittel im Mitbewerbe ums
-Dasein; die weitaus überwiegende Mehrzahl aller Tiere leidet niemals
-Mangel, sorgt niemals und in keinerlei wie immer gearteter Form um das
-Morgen, und ist trotzdem von Uranfang aller Dinge dem großen
-ausnahmslosen Gesetze des Fortschritts unterworfen gewesen. Am
-allerwenigsten aber ist im Tierreiche gegenseitiger Kampf der
-Angehörigen der nämlichen Art die Regel; die Individuen der gleichen Art
-leben friedlich und der Hauptsache nach kampflos untereinander, ihre
-Waffen sind nach außen gekehrt, gegen andersgeartete Feinde. Gegen den
-Löwen und den Panther ficht die Gazelle den Daseinskampf durch
-Wachsamkeit und Schnelligkeit, nicht gegen ihresgleichen; gegen die
-Gazelle und den Büffel, Löwe und Panther den ihrigen durch List und
-Stärke, nicht aber gegen Mit-Löwen und Mit-Panther. Der Kampf unter uns
-und gegen uns selber war und ist unser, der menschlichen Rasse,
-Privilegium gewesen. Entsprungen aber ist dies traurige Privilegium
-allerdings einer Kulturnotwendigkeit; um uns zu dem zu entwickeln, was
-wir geworden sind, mußten wir von der Natur mehr verlangen, als sie
-freiwillig zu bieten in der Lage ist; um es zu erlangen, blieb lange
-Jahrtausende hindurch kein anderer Ausweg, als das zur Befriedigung
-unserer höheren Bedürfnisse Erforderliche uns gegenseitig abzujagen und
-abzupressen. Und dadurch erst gestaltete sich die Not zu einem
-Kampfmittel im menschlichen Daseinskampfe. Also wohlgemerkt, daß der
-Mensch gegen den Menschen kämpfte, und daß in diesem Kampfe die
-materielle Sorge den empfindlichsten Stachel bildete, war und ist nicht
-die einfache Übertragung eines in der ganzen belebten Natur geltenden
-Gesetzes auf die menschliche Gesellschaft, sondern eine ausnahmsweise
-Verzerrung dieses großen Naturgesetzes unter dem Einflusse einer
-menschlichen Entwickelungsphase. Wir litten Not, nicht weil die Natur es
-durchaus so verlangt, sondern weil wir uns gegenseitig beraubten, und
-wir beraubten uns gegenseitig, weil mit der beginnenden Kultur ein
-Mißverhältnis unserer Bedürfnisse und unserer natürlichen Mittel zur
-Befriedigung derselben entstand. Jetzt aber hat die bis zur Herrschaft
-über die Naturkräfte gediehene Kultur dieses Mißverhältnis wieder
-ausgeglichen; um Überfluß und Muße zu genießen, müssen wir uns fürderhin
-nicht mehr gegenseitig ausbeuten, und wenn nunmehr der Kampf des
-Menschen gegen den Menschen, und damit zugleich die materielle Not ihr
-Ende finden, so bedeutet das nicht die Abwendung von den natürlichen
-Formen des Daseinskampfes, sondern in Wahrheit Rückkehr zu denselben.
-Nicht der Kampf ist damit zu Ende, sondern bloß die unnatürliche Form
-desselben. In ihrem Ringen, sich über die rein tierische Natur zu
-erheben, geriet die Menschheit in einen Jahrtausende währenden
-Widerstreit mit der Natur selber, und dieser Widerstreit war die Quelle
-all der unsäglichen Marter und Pein, der Verbrechen und
-Scheußlichkeiten, deren ununterbrochene Kette die Geschichte unserer
-ganzen Rasse ist, von den ersten Anfängen ihrer beginnenden Kultur bis
-zur Gegenwart. Jetzt aber ist der schreckliche Widerstreit durch den
-glorreichsten Sieg beendet, wir sind geworden, was wir Jahrtausende
-hindurch erstrebten, ein Geschlecht, das der Natur Überfluß und Muße
-für alle seine Angehörigen abzugewinnen vermag und gerade
-durch diese wiedererlangte Harmonie unserer Bedürfnisse und
-Bedürfnisbefriedigungsmittel haben wir den Einklang mit der Natur wieder
-hergestellt. Unterworfen bleiben wir ihrem unwandelbaren Gesetze des
-Kampfes ums Dasein, aber wir werden diesen Kampf hinfort in der
-nämlichen Weise führen, wie alle anderen Naturwesen, nach außen, nicht
-nach innen gegen die Genossen der eigenen Art, und entledigt des
-Stachels materieller Not.«
-
-»Was aber« -- so fragte ich -- »soll hinfort den Menschen zu ferneren
-Kämpfen im Dienste des Fortschritts anspornen, wenn die Not ihren
-Stachel verloren hat?«
-
-»Sonderbare Frage! Sie zeigt so recht deutlich, wie schwer es ist, Dinge
-zu sehen, die jenen Anschauungen widersprechen, die wir mit der
-Muttermilch eingesogen haben und die wir als Grundpfeiler der Ordnung
-und Gesittung anzusehen uns gewöhnt haben, auch wenn diese Anschauungen
-den offenbarsten Thatsachen aufs augenscheinlichste widersprechen. Als
-ob jemals Not die ausschließliche, oder auch nur die vornehmste
-Triebfeder menschlichen Fortschrittes gewesen wäre! Der Widerstreit zur
-Natur, in welchen das Mißverhältnis zwischen Kulturbedürfnissen und
-Kulturkräften die Menschheit in den Jahrtausenden des Übergangs von
-Barbarei zu wirklich menschenwürdiger Kultur brachte, hatte zwar zur
-Folge, daß der Kampf ums Dasein neben seinen natürlichen auch
-widernatürliche, der tiefinnersten Eigenart der meisten Naturwesen Hohn
-sprechende Formen annahm; doch zur Alleinherrschaft gelangten diese
-niemals, ja die Natur erwies sich in der Regel doch mächtiger, als die
-ihr widerstrebenden Menschensatzungen, und alle Epochen der
-Kulturgeschichte hindurch haben wir die besten Errungenschaften des
-menschlichen Geistes nicht der Not, sondern jenen anderen Impulsen zu
-verdanken, die unserer Rasse eigentümlich sind und bleiben werden, so
-lange sie als herrschende die Erde bevölkert. Dreimal blind, wer dies
-nicht sehen will! Die großen Denker, Erfinder und Entdecker aller Zeiten
-und aller Nationen, sie wurden nicht durch Hunger angespornt, ja man
-kann in der Mehrzahl der Fälle behaupten, daß sie sannen und dachten,
-forschten und fanden, nicht _weil_, sondern _trotzdem_ sie hungerten.
-»Doch« -- so könnte man einwenden -- »das waren eben die wenigen
-Erlesenen unseres Geschlechts; die große Masse der Alltagsmenschen aber
-kann nur durch gemeinen, prosaischen Hunger angespornt werden, nach
-besten Kräften zu gebrauchen, was jene fanden und ersannen.« Wer so
-urteilt, geht abermals von einem höchst merkwürdigen Übersehen aus.
-Welche Voreingenommenheit gehört dazu, sich der Thatsache zu
-verschließen, daß es gerade die Besitzenden sind, die Nichthungernden,
-die am emsigsten vorwärts streben. Der Hunger ist zwar ein Stachel zur
-Arbeit, aber ein entnervender, verderblicher, und wer triumphierend auf
-jene Elenden weist, die thatsächlich nur durch bitterste Not zur
-Thätigkeit angespornt werden können und sofort wieder in träge Apathie
-versinken, sowie der nagendste Hunger gestillt ist, der vergißt, daß es
-eben das Elend ist, was Schuld an dieser Entartung trägt. Der
-Kulturmensch, der höhere Bedürfnisse einmal kennen gelernt, wird desto
-emsiger deren Befriedigung anstreben, je weniger ihm entwürdigende Not
-die Spannkraft des Geistes und Körpers gebrochen hat und je zweifelloser
-der Erfolg seines Strebens ist. Denn nicht in der hoffnungslosen Not,
-sondern im vernünftigen, auf ein sicheres Ziel fröhlich zusteuernden
-Eigennutze muß jeder Unbefangene den wirksamsten Sporn der
-Betriebsamkeit erkennen. Diesen Eigennutz aber hat _unsere_ sociale
-Ordnung -- weit entfernt, ihn abzustumpfen -- in Wahrheit erst zu voller
-Entfaltung gebracht. Du kannst also vollkommen beruhigt darüber sein:
-was Du bisher bei uns wahrzunehmen Gelegenheit hattest, daß wir nämlich
-an Erfindungskraft und geistiger Regsamkeit den anderen Nationen
-voranschreiten, es ist kein zufälliges Ergebnis irgendwelcher
-vorübergehender Einflüsse, sondern die notwendige Konsequenz unserer
-Institutionen, und jedes Volk, welches diese letztere nachahmt, wird die
-gleichen Konsequenzen verspüren. So wenig als wir der quälenden Not
-bedürfen, um Erfindungen und Verbesserungen zu ersinnen, welche die
-Menge und Mannigfaltigkeit unserer materiellen wie geistigen Genüsse zu
-vermehren geeignet sind, ebensowenig wird bei irgend einem anderen Volke
-der Fortschritt aus dem Grunde erlahmen, weil dieses Volk gleich uns in
-die glückliche Lage gerät, die Früchte des Fortschritts zu genießen.«
-
-Ich konnte mich nicht enthalten dem gleich einem begeisterten Seher
-sprechenden Freunde um den Hals zu fallen. »Wenn ich es bei Lichte
-betrachte« -- erklärte ich -- »so läuft die gegenteilige Auffassung
-darauf hinaus, als ob der Fortschritt nur dort gedeihen könne, wo er der
-Hauptsache nach nutzlos ist. Denn der fundamentale Unterschied zwischen
-Euch Freiländern und uns anderen liegt doch darin, daß Ihr die Früchte
-jeden Fortschritts genießet, während wir mit demselben eigentlich bloß
-in das Danaidenfaß der Überproduktion schöpfen. Niemand bezweifelt, daß
-Stuart Mill Recht hatte, als er beklagte, daß alle Entdeckungen und
-Erfindungen bisher nicht vermochten, die Plage und Not auch nur _eines_
-arbeitenden Menschen zu lindern; welch schrecklicher Wahnsinn jedoch, zu
-glauben, daß gerade _das_ notwendig sei, damit fernerhin entdeckt und
-erfunden werde!«
-
-»Doch, um wieder auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen«, fuhr ich
-fort, »so ist mir mit alledem die geradezu wunderbare, herzerquickende
-Heiterkeit, die alles hier in diesem Lande der Glücklichen atmet, noch
-immer nicht ganz erklärlich. Not und materielle Sorge sind hier
-unbekannt, zugegeben. Aber es gibt ja auch außerhalb Freilands
-Hunderttausende und Millionen, die jeder drückenden Sorge enthoben sind;
-warum fehlt diesen die wirkliche Heiterkeit? Vergleiche doch einmal
-unsere beiderseitigen Väter. Der meinige ist unstreitig der reichere,
-und doch, welch' tiefe Furchen hat die Sorge in seine Stirn gegraben,
-welch' herben Zug schmerzlicher Reflexion um seine Mundwinkel; und
-welch' froher Glanz ewiger Jugend leuchtet aus jedem Zuge Deines Vaters.
-Ich möchte beinahe vermuten, daß die Luft, die man in diesem Lande
-atmet, sehr wesentlich mit im Spiele ist; denn die Falten und Furchen in
-Vaters Zügen, von denen ich soeben sprach, haben sich schon in den zwei
-Wochen unseres Aufenthaltes hier merklich geglättet, und ich selber
-fühle mich heiterer, glücklicher als jemals zuvor.«
-
-»Du hast«, entgegnete mir David, »das Wichtigste vergessen, den Einfluß
-des Gesamtgefühls auf das Gefühl des Einzelnen. Der Mensch ist ein
-geselliges Wesen, das seine Gedanken und Empfindungen nur zum Teile dem
-eigenen Kopfe und dem eigenen Herzen entnimmt, während ein anderer,
-nicht minder wichtiger Teil, ich möchte sagen die Grundstimmung, die den
-individuellen Geistes- und Gemütsregungen Farbe und Inhalt verleiht, in
-der jeweilig existierenden Gesamtgesellschaft ihren Ursprung hat. Jeder
-Einzelne steht mit seinen Mitlebenden nicht bloß äußerlich, sondern
-ebenso auch innerlich in unlöslicher Berührung; er glaubt zu denken, zu
-fühlen und zu handeln, bloß wie seine Individualität es erheischt,
-fühlt, denkt und handelt aber der Hauptsache nach unter dem
-unentrinnbaren Banne einer alle Köpfe, Herzen und Handlungen
-umschlingenden Zeitströmung. Der aufgeklärte, humane Freidenker der
-Gegenwart hätte -- wäre er drei Jahrhunderte früher geboren worden,
-um der kleinlichsten, ihm heute lächerlich erscheinenden
-Glaubensdifferenzen willen Andersdenkende mit demselben grimmigen Hasse
-verfolgt, wie dazumal alle anderen Lebenden auch; und hätte er noch um
-einige Jahrhunderte früher, etwa unter den heidnischen Sachsen zur Zeit
-Karls des Großen das Sonnenlicht gesehen, so wären ihm Menschenopfer so
-wenig ein Greuel gewesen, als den andern Verehrern der Göttin Hertha.
-Derselbe Mann aber, welcher als heidnischer Sachse in den Wäldern der
-Weser und Elbe aufgewachsen, Ruhm und Preis darin gefunden hätte, das
-Blut geschlachteter Gefangener vom Herthastein gen Himmel dampfen zu
-lassen, wäre dazumal schon von unüberwindlichem Grauen vor solchem Thun
-geschüttelt worden, wenn ihn -- begabt mit genau den nämlichen
-individuellen Anlagen -- der Zufall im kaiserlichen Byzanz, statt unter
-germanischen Barbaren hätte geboren werden lassen; hier dagegen hätte er
-skrupellos Lug und Verrat geübt, während er -- im übrigen vom Wirbel bis
-zur Zehe derselbe Mann -- umgeben von den trotzigen Germanenhelden,
-solch weichlicher Laster ganz und gar unfähig geblieben wäre. Da dem
-aber so ist, da die Tugenden und Laster, die Gedanken und Gefühle jener
-unserer Zeitgenossen, in deren Mitte wir geboren und erzogen worden, die
-Grundstimmung unseres eigenen Wesens bilden, so ist es schlechterdings
-unmöglich, daß der Angehörige einer von wahnsinnigster Angst vor dem
-Hunger bis ins innerste Mark gerüttelten Gesellschaft, jemals in
-ungetrübter Sorglosigkeit seines Lebens sich freue. Wo die ungeheure
-Mehrzahl der Zeitgenossen niemals weiß, was der morgige Tag bringen mag,
-ob eine fernere Fristung des jammervollen Daseins oder den völligen
-wirtschaftlichen Untergang, unter dem Obwalten einer socialen Ordnung,
-die den eigenen Erfolg im Daseinskampfe davon abhängig macht, daß es uns
-gelinge, dem gierig nach unserem Brote lechzenden, gleich uns von
-fiebernder Angst gerüttelten Konkurrenten sein Brot aus den Zähnen zu
-reißen; in einer Gesellschaft, wo jedermann jedermanns Feind ist, von
-wirklich heiterem Lebensgenusse zu sprechen, ist der Gipfel des Unsinns.
-Kein individueller Reichtum gewährt Schutz gegen den zermalmenden Jammer
-der Gesamtheit aller Mitlebenden. Dem hundertfachen Millionär, der nicht
-den hundertsten Teil der Zinsen seiner Zinsen in Wirklichkeit verzehren
-kann, ihm greift das schreckliche Hungergespenst mit ebenso scharfen
-Krallen ins Gemüt, wie dem elendesten der Elenden, der obdachlos,
-frierend und hungernd durch die Straßen Eurer Großstädte irrt. Der
-Unterschied zwischen beiden liegt nicht im Hirn und im Herzen, sondern
-lediglich in den Magennerven; der zweite empfindet auch physisch, was
-der erste bloß seelisch und geistig empfindet. Die seelischen und
-geistigen Leiden aber sind die dauernden und deshalb wirksameren.
-Betrachtet ihn doch, Eueren vom wahnwitzigen Hungerfieber besessenen
-Krösus, wie er atemlos nach immer neuem und neuem Erwerbe hastet, wie er
-sich und der Seinen Glück und Ehre, Genuß und Frieden dem Götzen
-schlachtet, von welchem er sich Hilfe in der allgemeinen Not erwartet,
-dem Götzen des Mammons. Denn nicht besitzt er seinen Reichtum, er ist
-von ihm besessen. Besitz auf Besitz will er häufen, vermeinend, daß er
-hoch oben auf dem schwindelnden Gipfel zahlloser Millionen Sicherheit
-erlangen könnte gegen das Meer von Elend, das ihn grauenerregend rings
-umbrandet; ja, so verblendet ist der Thor, daß er nicht einmal bemerkt,
-wie nur dieser Ozean des allgemeinen Elends es ist, was ihm Grauen
-einjagt, vielmehr des traurigen Wahnes lebt, seine Angst werde sich
-mindern, wenn nur der Abgrund da unten noch tiefer und schauerlicher
-sich abhebt von seinem schwindelnden Sitze da oben. Und man glaube nicht
-etwa, daß unter dieser abergläubischen Angst vor dem Hunger bloß die
-Thorheit Einzelner gemeint sei. Das ganze Zeitalter ist davon besessen,
-und gerade die besten Naturen am meisten. Denn je empfänglicher Kopf und
-Herz sind, zu desto schrankenloserer Vorherrschaft gelangt das
-Gemeingefühl der allgemeinen Not dem vorübergehenden individuellen
-Behagen gegenüber; bloß vollkommen kaltherzige Egoisten oder vollendete
-Idioten machen hie und da eine Ausnahme; bloß sie können sich, unbeirrt
-durch das Hungergespenst, welches die Millionen ihrer Brüder würgt, mit
-wirklichem Behagen ihres Reichtums freuen.
-
-»Das ist's, o mein Karlo, was Euch allen den hippokratischen Leidenszug
-ins Antlitz prägt; Ihr könnt Euch unbefangenem Lebensgenusse nimmermehr
-hingeben, so lange Ihr inmitten einer Atmosphäre des Elends, des Jammers
-und der Angst atmet. Und das ist's auch, dieses Gemeingefühl, welches
-jeden Menschen mit seiner Umgebung verbindet, was Euch hier, kaum
-angelangt inmitten einer Gesellschaft, der dieses Elend, dieser Jammer,
-diese Angst gänzlich unbekannt sind, zu jener Heiterkeit des Denkens und
-Empfindens erwachen läßt, die jedem gesunden Naturwesen ureigentümlich
-ist. Und vollends wir, die wir seit einem Menschenalter uns inmitten
-dieser, des Elends sowohl als der Furcht vor dem Elend entledigten
-Gesellschaft bewegen, wir haben die düstere Auffassung des
-Menschenschicksals, von welcher auch wir befangen waren, solange die
-alte Welt mit ihrem selbstauferlegten Martyrium uns umfing, beinahe
-vollständig überwunden. Ich gebrauche das einschränkende »beinahe« für
-diejenigen unter uns, die erst im Mannesalter Freiländer geworden sind.
-Wir jüngeren, die wir hier im Lande geboren und aufgewachsen sind, ohne
-das Elend jemals gesehen zu haben, unterscheiden uns in diesem Punkte
-nicht unerheblich von den älteren, die in ihrer Jugend das Medusenhaupt
-der Knechtschaft von Angesicht zu Angesicht geschaut. Fünfundzwanzig
-Jahre sind es her, daß mein Vater und meine Mutter, die beide unter den
-ersten hier am Kenia anlangten, der Stickluft des Massenelends, der
-Entwürdigung des Menschen durch den Menschen entrückt sind; aber die
-Erinnerung des Entsetzlichen, das sie vorher miterlebt, dessen
-Teilnehmer sie gewesen, ohne es hindern zu können, sie wird bis zu ihrem
-Ende nicht gänzlich aus ihrem Gemüte schwinden und nimmermehr kann jene
-göttergleiche Ruhe und Heiterkeit völlig von ihrem Herzen Besitz
-ergreifen, die das selbstverständliche Erbteil ihrer Kinder ist, an
-deren Händen niemals Schweiß und Mark geknechteter Menschen haftete, die
-um zu genießen, niemals die Früchte fremder Arbeit sich aneigneten,
-niemals vor der grausamen Alternative standen, Hammer oder Ambos im
-Daseinskampfe zu sein.«
-
-Damit schloß David für diesmal seine Belehrungen und ich will es ihm
-nachthun.
-
-
-
-
- 17. Kapitel.
-
-
- Edenthal, 2. August.
-
-Längst schon hatte mich die Frage der hiesigen Jugenderziehung in hohem
-Maße interessiert; der vorgestrige Tag nun war dem Studium dieses
-Gegenstandes gewidmet. Zunächst besuchte ich in Davids Gesellschaft
-einen der zahlreichen Kindergärten, die in Edenthal ziemlich gleichmäßig
-über die Stadt verteilt sind. In einer teils aus sonnigen Grasmatten,
-teils aus schattigen Baumpflanzungen gebildeten Anlage tummelten sich
-hier unter der Leitung zweier Mädchen im Alter von 18-20 Jahren und
-einer jungen Witwe etwa 50 Bübchen und Mädchen im Alter zwischen 4 und 6
-Jahren. Es wurde gesungen, getanzt, allerlei Possen getrieben,
-dazwischen Bilderbücher besehen und erklärt, Märchen abwechselnd mit
-belehrenden Geschichten erzählt, Spiele gespielt, die gleicherweise
-teils bloßer Unterhaltung, teils der Belehrung dienten. Unter dem
-kleinen Volke, das sich königlich amüsierte, war ein ziemlich starkes
-Kommen und Gehen; die eine Mutter brachte ihre Sprößlinge herbei, eine
-andere holte die ihrigen ab. Im allgemeinen ziehen es nämlich die
-freiländischen Mütter vor, ihre Kinder um sich zu haben; nur wenn sie
-das Haus verlassen, um einen Besuch zu machen oder etwas zu besorgen,
-werden die Kleinen dem nächsten Kindergarten übergeben und bei der
-Heimkehr wieder abgeholt -- es sei denn, daß das junge Volk selber darum
-bettelt, dortgelassen resp. dahin gebracht zu werden, und die Mutter den
-Bitten zu willfahren geneigt ist. Doch das sind wie gesagt
-Ausnahmefälle; in der Regel tummeln sich die Kinder daheim unter den
-Augen der Eltern, und die Leitung der ersten Erziehung ist insbesondere
-Sache der Mutter. Belehrung darüber, wie diese am besten anzustellen
-sei, braucht eine freiländische Frau selten; im Bedarfsfalle ist
-übrigens der benachbarte Kindergarten, später das Pädagogium zur Hand,
-wo guter Rat jederzeit geholt werden kann. Als Thatsache wurde mir
-mitgeteilt, daß jedes in Freiland aufgewachsene sechsjährige Kind des
-Lesens, Kopfrechnens und einer ganz artigen Summe nützlichen Wissens
-kundig sei, ohne bis dahin ein anderes als ein Bilderbuch gesehen zu
-haben.
-
-Nach dem Kindergarten kam die Elementarschule an die Reihe. Auch diese
-Schulen sind möglichst gleichförmig über Edenthal zerstreut und liegen
-gleicherweise in größeren Gärten. Sie sind vierklassig, und der
-Unterricht wird Mädchen und Knaben gemeinsam erteilt. Das Lehramt liegt
-durchweg in Händen junger Mädchen und Frauen; nur Turnen und Schwimmen
-der Knaben leiten männliche Lehrer. Die beiden letzteren Übungen
-beanspruchen bei Knaben und Mädchen täglich je eine Stunde; mindestens
-dreimal wöchentlich werden unter Leitung je einer Lehrerin von jeder
-Klasse mehrstündige Ausflüge in die benachbarten Wälder und Berge
-unternommen, bei denen allerlei Anschauungsunterricht getrieben wird.
-Ich beobachtete die Zöglinge beim Buche und am Turnplatz, in der
-Schwimmschule und auf den Bergen und hatte dabei Gelegenheit, mich zu
-überzeugen, daß die Kinder mindestens so viel und so systematisches
-Wissen besaßen, als europäische Altersgenossen, dabei sich aber auf Reck
-und Barren, Kletterstange und Hängeseil bewegten wie die Eichhörnchen,
-im Wasser schwammen wie die Fische, und nach dreistündigem Marsche über
-Berg und Thal so munter umhersprangen wie die Rehe.
-
-Hierauf besuchten wir die Mittelschulen, in denen Knaben und Mädchen
-gesondert vom 10. bis 16. Jahre unterrichtet wurden, erstere durch
-männliche, letztere teilweise durch weibliche Lehrkräfte. Hier war den
-Leibesübungen mannigfaltigster Art noch weit größere Beachtung
-geschenkt, und um den hierfür erforderlichen Raum zu gewinnen, befanden
-sich diese Schulen im Umkreise der Stadt, in der Nachbarschaft der diese
-umgebenden Wälder. Ich hatte Gelegenheit, die Ausdauer, Kraft und Grazie
-der Knaben und Mädchen im Turnen, Laufen, Springen, Tanzen und Reiten zu
-bewundern, die ersteren überdies bei ihren Ring-, Fecht- und
-Schießübungen zu sehen. Einige Gänge auf Stoßdegen und Säbel mit
-verschiedenen der jungen Leute belehrten mich zu meinem Erstaunen, daß
-dieselben mir nicht bloß ebenbürtig, sondern in manchen Punkten
-überlegen seien, obwohl Dir bekannt ist, daß ich zu den besseren
-Fechtern unseres in dieser Kunst so vielgepriesenen Italien gehöre. Die
-beim Ringen und Turnen hervortretende Muskulatur der halbwüchsigen
-Recken erregte in nicht minderem Grade meine Bewunderung, als die
-spielende Leichtigkeit, mit welcher dieselben ein Pferd im vollen Galopp
-einholten und sich auf dessen Rücken schwangen. Besonders überrascht
-aber war ich von der Sicherheit, mit welcher die Knaben ihre Schußwaffen
-handhabten. Auf 500 Meter Distanz wurde die kaum tellergroße Scheibe
-selten verfehlt, und nicht wenige der jungen Schützen sandten Kugel auf
-Kugel ins Schwarze. Alles in allem machten insbesondere die obersten
-Klassen dieser Mittelschulen dem Äußeren der Zöglinge nach zu urteilen
-den Eindruck einer Schar erlesener junger Athleten; dabei erwiesen sich
-jedoch diese Athleten auch in allen Wissenszweigen wohlbewandert, die an
-den besten europäischen Mittelschulen getrieben werden.
-
-Bis dahin ist, wie ich erfuhr, der Unterricht für alle Kinder Freilands
-der gleiche, mit dem alleinigen Unterschiede, daß bei den Mädchen etwas
-geringerer Nachdruck auf die Leibesübungen, dafür desto größerer auf
-musikalische Ausbildung gelegt wird. Von da ab jedoch trennen sich die
-Berufe. Die jungen Mädchen bleiben entweder im elterlichen Hause, um
-sich dort in jenen Künsten und Wissenszweigen, zu denen sie bis dahin
-den Grundstein gelegt, weiter auszubilden, oder sie ziehen als
-Ziehtöchter zu gleichem Zwecke in das Haus irgend einer als hochgebildet
-und geistreich bekannten Frau. Ein anderer Teil bezieht die
-pädagogischen Lehranstalten, um sich für das Lehramt auszubilden, hört
-einen Kursus über Krankenpflege oder über Ästhetik, Kunstgeschichte u.
-dergl.
-
-Die Knaben dagegen zerstreuen sich insgesamt in die verschiedenen
-höheren Lehranstalten. Die Mehrzahl besucht die gewerblichen und
-geschäftlichen Fachschulen, in denen ein oder zwei Jahre hindurch
-wissenschaftliche und praktische Anleitung zu den verschiedenartigsten
-Geschäfts- und Produktionsarten erteilt wird. Durch eine dieser
-Fachschulen geht jeder freiländische Arbeiter, er mag späterhin als
-Landbauer, als Spinner, als Bergmann oder in welcher Eigenschaft immer
-seinen Verdienst suchen. Dabei wird ein doppelter Zweck verfolgt:
-erstens der, jeden Arbeiter ohne Unterschied in den Zusammenhang des
-ganzen Getriebes seiner Produktion einzuweihen und zweitens, ihn in den
-Stand zu setzen, seinen Erwerb nach Wahl auch in mehreren
-Produktionszweigen zu suchen. Der simple Spinner, der nichts anderes zu
-thun hat, als den Gang seiner Spindeln zu überwachen, weiß hier zu Lande
-auch über die Einrichtung und den Betrieb der ganzen Spinnerei, über
-Bezugsquellen und Absatzgebiete einigen Bescheid, was zur Folge hat, daß
-solch ein Arbeiter, wenn es gilt die Leiter seiner Association zu
-wählen, seine Stimme mit einer Sachkenntnis abgiebt, die Mißgriffe bei
-der Auslese der geeignetsten Persönlichkeiten nahezu unmöglich macht.
-Zum zweiten aber ist dieser einfache Spinner in Freiland kein Automat,
-dessen Wissen und Können mit den Handgriffen und Kenntnissen seines
-engeren Faches erschöpft wäre; er ist jedenfalls noch in einem oder
-einigen anderen Erwerbszweigen zu Hause und das hat wieder zur Folge,
-daß unser Mann jede in diesem anderen Erwerbszweige sich zeigende
-günstige Konjunktur sofort ausnutzen, die Spinnmaschine mit dem Pfluge,
-mit dem Hammer oder mit der Drehbank, wohl auch mit dem Schreibpulte
-oder der Rechentafel zu vertauschen in der Lage ist, wodurch eben jenes
-wundervolle Gleichgewicht der verschiedenartigsten Einkommenszweige
-ermöglicht wird, welches die Grundlage der socialen Ordnung des Landes
-ist.
-
-Junge Leute, die Beruf zu höherer geistiger Thätigkeit in sich
-verspüren, wenden sich den eigentlichen Hochschulen zu, in denen
-Freilands Professoren, höhere Verwaltungsbeamte, Ärzte, Techniker u. s.
-w. ausgebildet werden, oder den mit großartigen Mitteln ausgestatteten
-verschiedenartigen Kunstakademien, aus denen die Architekten, Bildhauer,
-Maler, Musiker des Landes hervorgehen. Doch auch in allen diesen
-Unterrichtsanstalten wird fortlaufend neben der geistigen auf die
-körperliche Fortbildung der größte Nachdruck gelegt. Die gewerblichen
-und kaufmännischen Fachschulen haben ihre Turn-, Ring- und Reitbahnen,
-ihre Schieß- und Fechtplätze so gut wie die Hochschulen und Akademien,
-und da die Jünglinge, welche hier ihre Fortbildung suchen, nicht so
-unmittelbar unter dem Einflusse ihrer Lehrer stehen, wie die Knaben der
-Mittelschulen, so ist durch das Institut der öffentlichen Gau- und
-Landesübungen dafür gesorgt, ihren Eifer für körperliche Ausbildung
-nicht erlahmen zu lassen. Alle Jünglinge zwischen dem vollendeten 16.
-und 22. Jahre sind nämlich je nach ihrem Wohnsitze in Tausendschaften
-geteilt, die unter selbstgewählten Führern allmonatlich Übungen halten,
-bei denen sie ihre körperlichen Kräfte und Fähigkeiten erproben. Einmal
-im Jahre findet in jedem der 48 Distrikte, in welche zu
-Verwaltungs-Zwecken ganz Freiland geteilt ist, vor einem
-Preisrichterkollegium, welches aus den Siegern früherer Jahre gebildet
-wird, eine große Preisübung statt, bei welcher erstlich von jeder
-Tausendschaft gestellte Champions -- es sind das natürlich die
-tüchtigsten Recken, über die jede Tausendschaft verfügt -- als
-Einzel-Fechter, -Schützen, -Reiter, -Ringer und -Läufer sich messen;
-sodann kämpfen die Tausendschaften als solche, d. h. in Gesamtübungen um
-verschiedene Preise. Die Sieger bei diesen Gauübungen bewerben sich dann
-bei dem wenige Wochen später in einem zu solchen Zwecken besonders
-eingerichteten Thale des Aberdaregebirges stattfindenden Landesfeste um
-die Ehre der Meisterschaft für ganz Freiland und man versicherte mir,
-daß kein griechischer Jüngling aus der Blütezeit von Hellas in heißerem
-Bemühen um den Ölzweig bei den Isthmischen Spielen warb, als die
-freiländischen Jünglinge um die Ehrenpreise bei diesen Aberdarespielen,
-obwohl auch hier die Preise in nichts anderem, als in schlichten
-Blätterkronen, daneben aber allerdings in dem vom Indischen Ocean bis zu
-den Mondbergen und vom Tanganika bis zum Baringosee wiederhallenden
-Ruhmesfanfaren und in dem begeisterten Jubel jenes Gaues und jener Stadt
-bestehen, die so glücklich sind, die Sieger die Ihren zu nennen.
-Hunderttausende strömen aus allen Landesteilen zu diesen Preisübungen
-zusammen und die Mutterstadt der Sieger, insbesondere die der siegenden
-Tausendschaft, empfängt ausnahmslos die heimkehrenden Jünglinge mit
-einer Reihe der erlesensten Feste.
-
-Ich konnte mich, als mir dies berichtet wurde, der Bemerkung nicht
-enthalten, daß mir solcher Enthusiasmus aus Anlaß eines bloßen Spieles
-denn doch übertrieben erscheine; insbesondere äußerte ich darüber mein
-Erstaunen, daß Freiland, die Heimat der socialen Gerechtigkeit, sich für
-Leistungen zu begeistern vermöge, die im kriegerischen Hellas von
-besonderem Werte erscheinen mochten, hier aber, wo alles
-unverbrüchlichen Frieden atmet, keine andere Bedeutung haben könnten,
-als die einer harmlosen Leibesübung.
-
-»Sehr richtig« -- bemerkte David -- »nur daß die Tüchtigkeit in diesen
-harmlosen Leibesübungen es eben ist, was uns Freiländern die
-Unverbrüchlichkeit des Friedens verbürgt, dessen wir uns zu erfreuen
-haben. Wir besitzen keinerlei militärische Einrichtungen und wären, wenn
-wir uns nicht auf unsere Überlegenheiten in allem, was körperliche Kraft
-und Gewandtheit betrifft, verlassen könnten, die leichte Beute jedes
-Militärstaates, dem es nach unseren Reichtümern gelüstete.«
-
-»Du glaubst doch nicht etwa« -- rief ich nicht ohne ein sarkastisches
-Lächeln -- »mit euern fechtenden und schießenden Knaben und mit den
-Siegern eurer Isthmischen Spiele einer großen Militärmacht gewachsen zu
-sein, die es wirklich auf Euch abgesehen haben sollte? Meines Erachtens
-liegt Euer Schutz in der gegenseitigen Eifersucht der europäischen
-Staaten, die eine solche Beute keinem einzelnen gönnt, und mehr noch in
-der weiten Entfernung, dem Meere und den Bergen, die Euch so gefährliche
-Besuche vom Leibe halten. Für alle Fälle aber glaube ich, daß einige
-militärische Vorsorge, etwa die Aufstellung einer tüchtigen Miliz und
-insbesondere eine starke Flotte, deren Kosten doch bei Eurem Reichtume
-gar nicht in Betracht kämen, sehr heilsam wäre.«
-
-»Wir sind anderer Ansicht« -- erklärte David. »Nicht unsere Kampfspiele,
-wohl aber die überlegene körperliche Tüchtigkeit, die in ihnen zu Tage
-tritt, sichern uns unseres Dafürhaltens vollkommen gegen jeden, selbst
-den mächtigsten Feind, der gegen unsere harmonisch ausgebildeten, im
-Gebrauche jeglicher Waffe bis zur höchsten Vollendung geübten Jünglinge
-und Männer doch nichts anderes ins Feld stellen könnte, als verkommene,
-ihre Waffen kaum notdürftig handhabende Proletarier. Wir glauben, daß es
-im Kriege weniger auf die Anzahl der Schüsse, als auf die Anzahl der
-Treffer, weniger auf die Masse, als auf die Leistungsfähigkeit der
-Kämpfenden ankommt. Wenn Du gleich mir Zeuge gewesen wärest, in welcher
-Weise bei dem vorjährigen Landesfeste die siegende Tausendschaft ihren
-Preis herausschoß, so würdest Du vielleicht zugeben, daß eine Truppe,
-die aus solchen, oder doch annähernd solchen Schützen gebildet wäre,
-keine europäische Armee zu fürchten brauchte.«
-
-»Wie wollt Ihr Euch aber gegen die Kanonen europäischer Armeen
-verteidigen?« fragte ich.
-
-»Ei, eben auch durch Kanonen«, entgegnete David. »Da wir nun einmal mit
-diesen Einrichtungen den Doppelzweck verfolgen, den Eifer für
-körperliche Ausbildung zu fördern und zugleich Sicherheit gegen
-feindliche Angriffe zu erlangen, so nehmen unter unseren Schießübungen
-auch solche mit Kanonen des verschiedensten Kalibers einen ausgedehnten
-Platz ein. Und zwar geschieht auch das schon von der Schule aus. Von der
-vierten Mittelklasse an werden jene Knaben, die sich auf den anderen
-Gebieten hervorgethan haben, zu Geschützübungen herangezogen -- was
-sich, nebenbei bemerkt, als ganz besonderer Ansporn des Fleißes bewährt
-hat. Daß Du diese Geschütze nicht zu Gesicht bekamst, hat seinen Grund
-darin, daß der Schießplatz für dieselben ziemlich weit außerhalb des
-Bannkreises der Stadt liegt, was um so notwendiger ist, als sich unter
-diesen Übungskanonen Ungetüme bis zu 200 Tonnen Gewicht befinden, deren
-Donner nur schlecht zur idyllischen Ruhe unseres Edenthals passen würde.
-Die Jünglinge aber werden mit diesem artigen Spielzeug so vertraut und
-zahlreiche bringen es nach eingehenderen ballistischen Studien zu so
-großer Vollendung in Handhabung desselben, daß sie sich meines Erachtens
-auch auf diesem Gebiete europäischen Gegnern ebenso überlegen erweisen
-würden, wie auf demjenigen des Schützenwesens. Genau dasselbe gilt von
-unseren Reitern. Kurzum, wir haben keine Armee, aber unsere Jünglinge
-und Männer handhaben alle Waffen, deren eine Armee bedarf, unendlich
-vollkommener, als die Soldaten welcher Armee immer, und da überdies zu
-Zwecken der großen Preisspiele auch eine Organisation geschaffen ist,
-kraft deren aus der Mitte 2½ Millionen waffengeübter Jünglinge und
-Männer, welche Freiland zur Stunde besitzt, die gewandtesten und
-tüchtigsten 2-300000 jederzeit verfügbar sind, so meinen wir, daß es uns
-ein Leichtes wäre, die größte Invasionsarmee abzuwehren -- eine Gefahr,
-die wir jedoch im Ernste keineswegs besorgen, denn wir bezweifeln, daß
-irgend ein europäisches Volk dazu zu haben wäre, uns anzugreifen. Gegen
-uns gesammelte Gewehre und Kanonen dürften sich, auch ohne daß wir etwas
-dazu thun, sehr rasch wider diejenigen kehren, die Feindseliges gegen
-uns sinnen.«
-
-Dem stimmte ich zu. Wir besprachen hierauf noch einige andere
-Gegenstände der Jugenderziehung, bei welcher Gelegenheit die Rede auf
-das freiländische Erbrecht kam.
-
-»Dürfte ich Dich fragen, wie Ihr es mit dem Erbrecht im allgemeinen und
-mit dem Erbrecht an liegendem Besitz im besonderen haltet. Denn hier, im
-Eigentum an Häusern, scheint mir eine Klippe zu liegen, an welcher Eure
-allgemeinen Prinzipien über Grundbesitz Schiffbruch leiden können. Eine
-der Grundlagen Eurer Organisation ist doch, daß Grund und Boden niemand
-eigentümlich gehören dürfe; Häuser aber stehen -- wenn ich recht
-unterrichtet bin -- im Privateigentum. Wie vereinbart sich das?«
-
-»Jedermann«, so antwortete David, »verfügt für den Todesfall wie im
-Leben vollkommen frei über sein gesamtes Eigentum. Die Testierfreiheit
-ist eine unbedingte, nur ist dabei zu beachten, daß unter den Ehegatten
-vollständige Gütergemeinschaft besteht, woraus hervorgeht, daß nur der
-überlebende Teil über das gemeinsame Vermögen letztwillig verfügen kann.
-Das Eigentum am Hause jedoch kann nicht geteilt werden und ebensowenig
-ist es gestattet, auf einem Haus- resp. Gartengrunde mehr als _ein_
-Wohnhaus zu errichten. Schließlich darf das Wohnhaus nur vom Eigentümer
-bewohnt, nicht aber vermietet werden. Geschieht von diesen drei Dingen
-eines, wird überhaupt der Hausgrund zu irgend einem anderen Zwecke, als
-zu Errichtung der Wohnstätte des Eigentümers verwendet, so trifft den
-Zuwiderhandelnden zwar keinerlei besondere Strafe und es wird auch
-keinerlei besonderer Zwang gegen ihn geübt, die unmittelbare Folge aber
-ist der Verlust des ausschließlichen Nutzungsanspruchs am Hausgrunde.
-Die Baufläche wird damit zu Boden gewöhnlicher Art, an welchem es kein
-Sonderrecht giebt, an welches jedermann das gleiche ungeteilte Anrecht
-hat. Denn nach unseren Anschauungen giebt es überhaupt kein Eigentum am
-Boden, also auch nicht am Baugrund des Hauses, und das Recht, solchen
-Boden abzusondern und für sich allein zu benutzen, ist lediglich ein zu
-bestimmten Zwecken eingeräumtes Nutznießungsrecht. Gleichwie z. B. der
-Eisenbahnreisende ein Anrecht auf den Platz hat, den er zuerst
-occupierte, jedoch nur zu dem Zwecke, um darauf zu sitzen, nicht aber,
-um dort seine Gepäckstücke abzuladen oder um ihn gegen Entgelt an Andere
-zu überlassen; so habe ich das Recht, den Platz auf Erden, auf welchem
-ich mein Heim gründen will, durch bloße Occupation für mich zu
-reservieren, und Niemand darf sich auf meinem Baugrunde neben mir
-ansiedeln, so wenig, als es ihm gestattet ist, auf der Eisenbahn neben
-mir auf meinem Sitze Platz zu nehmen, auch wenn im Notfalle Raum für
-zwei vorhanden wäre. Aber es liegt auch nicht in meinem Belieben, auf
-meinem Polster guten Freunden ein Plätzchen neben mir einzuräumen, denn
-die Mitreisenden brauchen sich die dadurch für sie erwachsenden
-Unbequemlichkeiten nicht gefallen zu lassen; sie können dagegen
-protestieren, daß die Beine und Ellbogen meines Sitzpartners ihnen zu
-nahe kommen und daß der nur für eine bestimmte Personenzahl berechnete
-Luftraum des Wagens durch meine Eigenmacht zahlreicheren Lungen
-zugeteilt werde. Ebenso brauchen es sich meine Hausnachbarn nicht
-gefallen zu lassen, daß ihnen meine Mauern und Dachfirste zu nahe an den
-Leib rücken und daß ich eigenmächtig den Luftraum einer Stadt dichter
-fülle, als dem allgemeinen Übereinkommen entspricht.
-
-»Nun habe ich aber in Ausübung meines mir auf eine bestimmte
-Bodenparzelle eingeräumten Nutzungsrechtes diese Parzelle untrennbar mit
-einem Dinge verbunden, auf welches mir nicht bloß Nutzungs-, sondern
-Eigentumsrecht zusteht, dem Hause nämlich. Daraus ziehen wir die
-Konsequenz, daß mein Nutzungsrecht auf denjenigen übergeht, dem ich --
-sei es entgeltlich oder unentgeltlich -- das Eigentumsrecht an meinem
-Hause überlasse. Ich kann daher mein Haus verkaufen, vererben,
-verschenken, ohne daß ich daran durch den Umstand gehindert würde, daß
-mir am Baugrunde des Hauses kein Eigentum zusteht.«
-
-
-
-
- 18. Kapitel.
-
-
- Edenthal, 6. August.
-
-Gestern besichtigten wir in Begleitung der beiden englischen
-Geschäftsträger die freiländische Centralbank, deren allumfassendes und
-gerade wegen dieser seiner Allgemeinheit verhältnismäßig so überaus
-einfaches Clearingsystem die höchste Bewunderung der sachverständigen
-beiden Herren erntete. Die Erkenntnis, mit wie verschwindend geringen
-Barbeträgen sich hier die Ausgleichung des gesamten riesigen Umsatzes
-vollzog, regte Lord Elgin zu der Frage an, wozu Freiland überhaupt das
-Gold als Wertmesser beibehalte; er sprach die Meinung aus, es wäre, da
-man ohnehin die wichtigsten Leistungen nach dem Werte der Arbeitszeit
-berechne, das Einfachste, diese Rechnungsmethode zu verallgemeinern, d.
-h. die Arbeitsstunde als Wertmesser, als Geldeinheit zu gebrauchen. Dies
-würde -- so glaube er -- auch der gesamten socialen Ordnung Freilands
-weit besser entsprechen, in welcher doch die Arbeit Quelle und Grundlage
-allen Wertes sei.
-
-»Das ist«, entgegnete der Direktor des Instituts, Herr Clark, »eine von
-Fremden wiederholt schon geteilte Anschauung, sie beruht aber lediglich
-auf einer Verwechslung des _Wertmaßes_ mit der _Quelle_ des
-_Einkommens_. Wir in Freiland haben der Arbeit das Recht auf den ganzen
-mit ihrer Hülfe hervorgebrachten Ertrag gesichert; wir begründen dies
-aber nicht durch die unwahre Behauptung, daß Arbeit die einzige Quelle
-des Wertes dieser Erträge sei, sondern dadurch, daß wir behaupten, der
-Arbeitende habe auch auf jene anderweitigen Faktoren, nämlich Kapital
-und Naturstoffe oder -Kräfte, die zur Wertbildung erforderlich sind, den
-gleichen Anspruch wie auf seine Arbeitskraft selber. Doch das nur
-nebenbei. Selbst wenn Arbeit die einzige Wert_quelle_ und der einzige
-Wert_bestandteil_ wäre, ist sie doch der denkbar schlechteste
-Wert_maßstab_, denn sie ist unter allen Dingen, die überhaupt Wert
-besitzen, jenes, dessen Wert den größten Veränderungen ausgesetzt ist.
-Mit jedem Fortschritte menschlicher Kunstfertigkeit und Betriebsamkeit
-wächst ihr Wert, d. h. ein Arbeitstag oder eine Arbeitsstunde setzt sich
-fortlaufend in eine größere Menge aller erdenklichen anderen Werte um.
-Daß der Wert des Arbeitsproduktes verschieden ist, je nachdem die
-Arbeitskraft gut oder schlecht ausgerüstet, gut oder schlecht angewendet
-wird, kann gar keinem Zweifel unterliegen und wurde auch niemals
-ernstlich in Zweifel gezogen. Nun ist bei uns in Freiland allerdings
-_alle_ Arbeitskraft möglichst gut ausgerüstet und verwendet, weil eben
-die vollkommene und schrankenlose Freiheit, sich der jeweilig besten, d.
-h. die höchsten Werte erzeugenden Arbeitsgelegenheit zuzuwenden, diese
-wenn auch nicht absolute, so doch relative Gleichartigkeit zuwege
-bringt; aber damit sie zuwege gebracht werde, ist eben ein fester und
-verläßlicher Maßstab erst recht vonnöten, an welchem der Wert der durch
-Arbeit erzeugten Dinge gemessen werden kann. Daß die auf Schuhwaren und
-auf Gespinste, auf Getreide und auf Eisenwaren gewendete Arbeit bei uns
-gleichwertig ist, zeigt sich ja erst dadurch, daß die in der gleichen
-Zeit erzeugten Schuhe, Gespinste, Körnerfrüchte und Eisenwaren gleichen
-Wert besitzen, welch letzteren Umstand aber nimmermehr die Vergleichung
-mit der aufgewendeten Arbeitszeit, sondern bloß die mit einer an sich
-wertbeständigen Sache anzeigen kann. Würden wir die in gleicher Zeit
-erzeugten Dinge schon deshalb allein für gleichwertig halten, weil sie
-eben in gleicher Zeit erzeugt sind, so würden wir sehr bald dahin
-gelangen, Schuhe zu erzeugen, die Niemand braucht, dafür aber Mangel an
-Gespinst zu leiden, und wir könnten unbekümmert um die Überfülle von
-Eisenwaren deren Erzeugung steigern, während vielleicht alle verfügbaren
-Hände erforderlich wären, um empfindlichem Getreidemangel abzuhelfen.
-Mit dem Arbeitstage als Wertmaß vermöchte -- wenn er aus anderen Gründen
-nicht unmöglich wäre -- nur der Kommunismus zu wirtschaften, der die
-Herstellung des richtigen Wechselverhältnisses zwischen Angebot und
-Nachfrage nicht dem freien Verkehre überläßt, sondern von
-Obrigkeitswegen bewerkstelligt, dies aber selbstverständlich nur in der
-Weise zu Wege bringt, daß er Niemand fragt, was er genießen und was er
-arbeiten will, vielmehr Genuß und Arbeit Jedermann von Obrigkeitswegen
-vorschreibt.
-
-»Wir in Freiland dagegen, die wir das Gegenteil des Kommunismus, nämlich
-absolute individuelle Freiheit, verwirklicht haben, wir brauchen
-notwendiger als irgendwer ein möglichst genaues, verläßliches Wertmaß,
-das ist ein solches, dessen Tauschkraft allen anderen Dingen gegenüber
-möglichst geringen Abweichungen und Schwankungen ausgesetzt ist. Dieses
-möglichst beste, möglichst wertkonstante Maß nun hat die Kulturwelt mit
-Recht seit jeher im Golde erblickt. Diese Thatsache ist nicht etwa das
-Ergebnis irgend einer geheimnisvollen Eigenschaft dieses Metalles,
-sondern das seiner hochgradigen Dauerbarkeit, in deren Folge im Laufe
-der Jahrhunderte und Jahrtausende Goldmengen aufgestapelt und der
-Nachfrage zur Verfügung gehalten wurden, im Vergleiche zu welchen die
-gewaltigsten Veränderungen der jeweiligen Produktion gar nicht in die
-Wagschale fallen. Während eine gute oder schlechte Weizenernte von
-ausschlaggebender Bedeutung für den jeweiligen Weizenwert ist, weil die
-alten Weizenvorräte im Verhältnis zum Ergebnisse der neuen Ernte nur von
-nebensächlicher Bedeutung sind, bleibt der Goldwert von noch so großen
-Schwankungen selbst mehrerer Produktionsjahre verhältnismäßig unberührt,
-weil die alten Goldvorräte für alle Fälle ganz außerordentlich größer
-sind, als das Ergebnis selbst der reichsten Ausbeute eines einzelnen
-Jahres. Alle Goldminen der Welt könnten mit einem Schlage vollständig
-versiegen, ohne daß dies auf die Menge des verfügbaren Goldes sofort von
-sonderlichem Einflusse wäre, während eine einzige allgemeine
-Getreidemißernte fürchterlichsten Getreidemangel zur sofortigen und
-unvermeidlichen Folge hätte. Dies also ist der Grund, warum Gold der
-bestmögliche, wenn auch keineswegs ein absolut guter Wertmaßstab ist.
-Die Arbeitszeit aber wäre unter allen denkbaren der schlechteste
-Wertmaßstab, denn weder sind zwei gleiche Arbeitszeiten notwendig
-wertgleich, noch behält die Arbeitszeit im allgemeinen unveränderten
-Wert, vielmehr wächst ihre Tauschkraft allen anderen Dingen gegenüber
-mit jedem zur Geltung gelangenden Fortschritte der Arbeitsmethoden.«
-
-Wir waren alle überzeugt; nur konnte Lord Elgin die Bemerkung nicht
-unterdrücken, daß die Freiländer denn doch eine Reihe von Leistungen
-nach Arbeitsäquivalenten berechneten. Sofort erhielt er aber von meinem
-Vater die treffende Antwort, daß dies nach allem bisher Gehörten nur
-dort geschehe, wo eine mit der Steigerung des Wertes der Arbeit parallel
-laufende Erhöhung einer Zahlung geradezu beabsichtigt sei. Gehalte und
-Versorgungsansprüche _sollen_ steigen, wenn der Ertrag von Arbeit und
-damit der allgemeine Verbrauch steige, und zwar genau im selben Maße,
-wie diese, und nur weil dies beabsichtigt ist, kann man sie nach
-Arbeitsäquivalenten bemessen.
-
-Herr Clark machte uns jetzt darauf aufmerksam, welch' weitgehende, alles
-durchdringende Offenheit und Übersichtlichkeit zufolge der durch die
-Bank geübten Klarstellung aller Verkehrs- und Erwerbsverhältnisse in
-allen pekuniären Angelegenheiten Freilands herrsche. Niemand kann weder
-sich noch andere über seine Mittel täuschen und eine der in socialer
-Beziehung wichtigsten Folgen davon ist, daß es Niemand beifällt, durch
-ungehörigen Aufwand glänzen zu wollen. Die Verschwendung entspringt nur
-zu häufig dem Bestreben, sich in den Augen der Welt als reicher
-darzustellen, als man thatsächlich ist; ein solcher Versuch könnte hier
-zu Lande nur Lächeln erwecken. Doch auch wer aus übertriebenem Hange zu
-Luxus mehr ausgeben wollte, als er einnimmt, vermöchte dies nicht, da
-die Bank zu solchen Zwecken natürlich keine Kredite gewährt, und ohne
-diese der Verschwender geradezu auf die Mildthätigkeit seiner Mitbürger
-angewiesen wäre, um seinem Hange zu fröhnen. Die Höhe aller Einnahmen
-und Ausgaben liegt klar zu Tage, alle Welt weiß, was jedermann hat und
-woher er es hat. Und da es zudem jedermann freisteht, jeden beliebigen
-Erwerbszweig zu ergreifen, so können Unterschiede des Einkommens auch
-Niemandes Neid erwecken.
-
-Nun warf aber Lord Elgin die Frage auf, ob sich aus den bei Feststellung
-von Honoraren unterschiedlicher Art, z. B. von Beamtengehalten,
-unvermeidlichen Willkür keinerlei Widerspruch zu dem sonst geltenden
-Prinzipe der unbeschränkten freien Berufswahl und dem gerade aus dieser
-Freiheit hervorgehenden Gleichgewichte der verschiedenen Arbeitserträge
-ergebe. »Wenn der Ertrag aus Wollenweberei aus irgendwelchem Grunde
-höher ist, als der aus Getreidebau, so werden neue Arbeitskräfte
-insolange zur Weberei übergehen, bis der beiderseitige Ertrag sich ins
-Gleichgewicht gesetzt hat; sollte sich etwa ein dauernder Mehrertrag bei
-einem dieser beiden Produktionszweige zeigen, so kann dies angesichts
-Ihrer Institutionen offenbar nur daher rühren, daß die Arbeit in diesem
-ertragreicheren die unangenehmere, anstrengendere, eventuell auch die
-höhere, seltenere Kenntnisse oder Fähigkeiten erfordernde ist; Niemand
-kann sich über die geringste Benachteiligung beklagen und insofern ist
-die im Wege der Freiheit hergestellte Harmonie geradezu
-bewunderungswürdig. Aber sowie es sich um Ernennungen und Gehalte
-handelt, muß doch diese Gleichheit aufhören. Sie als Chef eines
-Verwaltungszweiges verdienen 1400, Ihr Nachbar Handarbeiter bloß 600
-Pfund; woher wissen Sie, daß letzterer sich darob nicht benachteiligt
-fühlt?«
-
-»Wenn Sie, Mylord«, -- meinte lächelnd Herr Clark -- »darunter
-verstehen, woher ich wisse, ob sich mein Nachbar nicht dadurch _von der
-Natur_ benachteiligt fühlt, daß er außer stande ist, gleich mir 1400
-Pfund jährlich zu verdienen, so muß ich Ihnen antworten, daß ich darüber
-thatsächlich bloß Vermutungen, aber keine sichere Wissenschaft besitze;
-wenn Sie aber meinen, daß dieser mein Nachbar oder sonst jemand in
-Freiland in diesem meinem höheren Gehalte einen mir durch behördliche
-Willkür oder Gunst der Wähler zugewendeten, möglicherweise auch
-überflüssigen Vorteil erblicken könnte, so kann ich dies entschieden
-bestreiten. Denn mein Gehalt ist in letzter Auflösung gerade so das
-Ergebnis der freien Konkurrenz, wie der Arbeitsertrag meines fraglichen
-Nachbars. Ob ich der richtige Mann auf meinem Posten sei, darüber
-entscheidet allerdings die freie, durch keinerlei automatisch wirkende
-Einrichtung zu ersetzende oder zu kontrollierende Meinung jener
-Körperschaften, von denen meine Wahl abhängt; mit welchem Gehalte jedoch
-mein Amt bedacht werden muß, damit geeignete, oder sagen wir als
-geeignet geltende Männer für dasselbe sich finden, das regelt sich genau
-nach den nämlichen automatischen Gesetzen, wie der Arbeitsertrag eines
-Webers oder Landbauers. Und zwar gilt dies vom Gehalte des jüngsten
-Postbeamten angefangen bis hinauf zu uns Chefs der freiländischen
-Verwaltungszweige. Die Ernennungen hängen überall vom freien Ermessen
-der Vorgesetzten oder der Wahlkollegien ab; aber diese Vorgesetzten und
-Wahlkollegien müssen die Gehalte so bestimmen, daß jederzeit eine
-genügende Anzahl geeignet befundener Bewerber vorhanden sei. Natürlich
-kann es dabei auf ein Pfund mehr oder weniger im Jahre nicht ankommen;
-es gilt als Grundsatz, daß die Gehalte stets so bemessen sein müssen,
-daß eher ein kleiner Überfluß als ein Mangel an Bewerbern sich
-einstelle; aber wenn der Überfluß ein gewisses Maß übersteigt, so
-reduziert man eben die Gehalte, während bei drohendem Mangel an
-Bewerbern mit Gehalterhöhungen vorgegangen würde. Als selbstverständlich
-will ich hier bloß einschalten, daß unter abgewiesenen Bewerbern in
-Freiland nicht brotlose Aspiranten zu verstehen sind; Ernennung oder
-Ablehnung sind niemals Existenz-, sondern bloß Neigungs-, allenfalls
-auch Eitelkeitsfragen. Ebenso verläßt man ein Amt, wenn anderwärts
-lohnendere oder angenehmere Beschäftigung winkt. Die Staatsämter werden
-auch nicht in jedem Dienstzweige gleich hoch bezahlt; besonders
-anstrengende, oder besondere Kenntnisse verlangende Arbeit setzt auch
-hier höheren Ertrag voraus, gerade wie bei den unterschiedlichen
-Gewerben. Und während der Arbeitsertrag gewöhnlicher Handarbeit das
-Richtmaß der niederen Beamtengehalte ist, wirken die Honorare der
-unterschiedlichen Associationsleiter bestimmend auf die Gehalte der
-oberen Stellen zurück. Dabei hat sich die auch bei Ihnen gemachte
-Erfahrung wiederholt, daß der Reiz mit öffentlicher Thätigkeit
-verbundener Stellungen die Gehalte von Verwaltungsbeamten, Professoren
-u. dergl. nicht unerheblich unter das Niveau jener Bezüge hinabdrückt,
-welche in den leitenden Stellen der Associationen zu erlangen sind.
-Im allgemeinen macht sich mit steigender Intelligenz ein
-_verhältnismäßiges_ -- beileibe kein absolutes -- Sinken der obersten
-Gehalte überall geltend. Aber während die Direktoren einzelner großer
-Associationen noch immer bis zu 5000 Stundenwerte im Jahre beziehen,
-erhalten die obersten Chefs der freiländischen Centralverwaltung derzeit
-nur mehr 3600, und auch das nur, weil die Parlamente der von uns
-unablässig beantragten Ermäßigung der oberen Gehalte ebenso unablässig
-zähen Widerstand entgegensetzen und sich nur zögernd und widerwillig
-dazu verstehen. Um gerecht zu sein, muß man übrigens hinzufügen, daß
-sich bei den Associationen das nämliche Spiel wiederholt. Die Direktoren
-würden sich mit weit geringeren Gehalten begnügen, und von oben
-ausgehende Anträge auf Gehaltsreduktion sind, insbesondere in den
-letzten zehn Jahren, seitdem der Wert der Stundenäquivalente so sehr
-gestiegen ist, in den meisten Generalversammlungen geradezu stehende
-Formeln geworden. Ich wiederhole, daß diese Reduktion immer nur
-verhältnismäßig, d. h. mit Bezug auf den Ansatz in Stundenäquivalenten
-zu verstehen ist; der Wert der Arbeitsstunde hat sich binnen 20 Jahren
-vervierfacht; wer also, wie z. B. wir öffentlichen Verwaltungschefs, um
-28 Procent weniger Stundenwerte erhält, als ursprünglich, dessen
-Einkommen hat sich, in Geld berechnet, doch nahezu verdreifacht. Die
-Associationen aber wollen in der Regel auch von einer so verstandenen
-Gehaltermäßigung nichts wissen. Sie besorgen, daß trotz aller von ihren
-Direktoren an den Tag gelegten Geneigtheit, sich mit geringeren Bezügen
-zu begnügen, denn doch der eine oder andere sich von einer
-konkurrierenden, höhere Bezüge zahlenden Gesellschaft ihnen werde
-abspenstig machen lassen, und da thatsächlich angesichts der
-Riesensummen, die solch eine große Association im Jahre umsetzt, einige
-hundert Pfund auf oder ab gar nicht der Rede wert sind, so geht es bei
-den Associationen mit der Gehaltsreduktion nur langsam vorwärts.
-Trotzdem gleicht sich der Abstand zwischen höchstem und geringstem
-Verdienste durchweg immer mehr aus, da wir in Folge der steigenden
-allgemeinen Bildung dem Gleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage
-auch in den höheren, besondere Fähigkeiten voraussetzenden Berufen stets
-näher kommen. Sollte dies Gleichgewicht dereinst vollkommen erreicht
-werden, was mit der Ausdehnung unserer Institutionen auf die gesamte
-Menschheit und dem damit verknüpften gänzlichen Verschwinden
-ungebildeter Massen unzweifelhaft stattfinden dürfte, so ist es unsere
-Meinung, daß auch die Unterschiede der Gehalte gänzlich verschwinden,
-oder doch auf ein Minimum sinken werden.«
-
-Lord Elgin dankte für diese Aufklärung. Jetzt aber trat Sir Bartelet mit
-einer weitaus wichtigeren Frage hervor. »Was mir bei Besichtigung des
-bewältigenden Getriebes Ihrer Centralbank neuerlich und ganz besonders
-aufgefallen ist«, meinte er, »und worüber ich mir noch immer keine volle
-Rechenschaft zu geben vermag, das ist die Frage, wie es ohne Willkür und
-kommunistische Einrichtungen möglich ist, Kapitalien und zwar so
-ungeheure Kapitalien, wie sie bei Ihnen erforderlich sind, aufzubringen,
-ohne daß Kapitalzins gezahlt oder berechnet wird. Daß der Zins die
-notwendige und gerechte Belohnung des Kapitalisten für die
-»Entbehrungen« sei, die er sich auferlegte, glaube ich zwar nicht; aber
-ich hielt ihn für den Tribut, den man dem Sparer dafür zahlen müsse, daß
-seine freiwillige Sparsamkeit die Gesellschaft der Notwendigkeit
-ungerechten Sparzwanges enthebt, der sonst von Obrigkeitswegen ausgeübt
-werden müßte. Was ich nun endlich wissen möchte, wäre eine genaue
-Darlegung der Gründe, die Sie veranlaßten, den Kapitalzins zu verbieten.
-Oder teilen Sie in Freiland die Ansicht, daß es Unrecht sei, dem Sparer
-einen Anteil an den Früchten seiner Sparsamkeit zu gönnen?«
-
-»Diese Ansicht teilen wir nicht«, war des Direktors Antwort. »Aber
-zunächst muß ich konstatieren, daß Sie von einer ganz falschen
-Voraussetzung ausgehen. Wir _verbieten_ den Kapitalzins ebenso wenig,
-als wir den Gewinn des Arbeitgebers oder die Grundrente »verbieten«.
-Diese drei Einkommenzweige existieren hier zu Lande bloß aus dem Grunde
-nicht, weil Niemand in der Notlage ist, sie bezahlen zu müssen. Niemand
-wird Sie hindern, wenn Sie hier eine Fabrik eröffnen und zu deren
-Betrieb Lohnarbeiter anwerben wollen; nur allerdings müßten Sie diesen
-erstlich mindestens so viel bieten, als durchschnittlich in Freiland die
-Arbeit trägt, und zum zweiten würde es trotzdem fraglich sein, ob Sie
-überhaupt Leute fänden, die sich Ihrem Kommando unterordnen. Ähnlich
-verhält es sich mit der Grundrente. Bei uns ist der Boden -- sofern er
-nicht zu Wohnstätten, sondern als Produktionsmittel dient -- gänzlich
-herrenlos, frei gleich der Luft; er gehört weder Einzelnen, noch Vielen;
-Jedermann, der Boden bebauen will, steht es frei, dies zu thun, wo ihm
-beliebt, und seinen Anteil am Ertrage einzuheimsen. Damit entfällt
-natürlich alle Grundrente, die nichts anderes ist, als der Herrenzins
-für die Benutzung des Bodens; aber ein »Verbot« wird man hier vergeblich
-suchen. Darin, daß ich kein Recht habe, anderen etwas zu verbieten,
-liegt doch wahrlich kein Verbot; man kann nicht einmal sagen, daß mir
-»verboten« ist, etwas zu verbieten; mag ich es doch immerhin thun,
-Niemand wird mich hindern, nur auslachen wird mich alle Welt, genau so
-auslachen, als ob ich den Leuten das Atmen verbieten wollte, behauptend,
-die atmosphärische Luft sei mein Eigentum. Wo die Macht zur Durchsetzung
-solcher Prätensionen fehlt, braucht Niemand dieselben zu verbieten; sie
-dürfen nur nicht künstlich hervorgerufen und unterstützt werden, dann
-unterbleiben sie ganz von selbst. Diese Macht aber besitzt in Freiland
-Niemand, weil hier Niemand dazu gebraucht wird, den Boden mit Beschlag
-zu belegen, damit er bebaut werden könne. Das Zaubermittel aber, welches
-uns dazu verhalf, herrenlosen Boden zu kultivieren, ohne uns darob in
-die Haare zu geraten, ist das nämliche, welches uns auch zur Produktion
-ohne Arbeitgeber befähigte: die freie Association.
-
-»Ebenso wenig aber verbieten wir den Kapitalzins. Niemand wird Sie in
-Freiland hindern, so hohe Kapitalzinsen zu fordern, als Ihnen nur immer
-beliebt; nur werden Sie allerdings Niemand finden, der sie Ihnen zahlt,
-weil Jedermann zinsloses Kapital in Hülle zur Verfügung steht. Nun
-fragen Sie aber, ob in dieser Verfügung über die Ersparnisse der
-Gesamtheit zu Gunsten der Kapitalbedürftigen kein Unrecht liege? Ob das
-nicht Kommunismus sei? Und zugeben will ich, daß hier die Sache nicht so
-einfach liegt, wie bei Unternehmergewinn und Grundrente. Der Kapitalzins
-wird nämlich für eine wirkliche greifbare Leistung entrichtet, die sich
-von derjenigen des Arbeitgebers und Grundrentners sehr wesentlich
-unterscheidet. Während nämlich die wirtschaftliche Leistung der beiden
-Letzteren in nichts anderem, als in der Geltendmachung eines
-Herrschaftsverhältnisses besteht, welches überflüssig wird in dem
-Momente, wo sich die arbeitenden Massen aus erzwungen gehorchenden
-Knechten in frei vergesellschaftete Männer verwandelt haben, bietet der
-Kapitalist dem Arbeiter ein Instrument, welches unter allen Umständen
-dessen Thätigkeit befruchtet. Und während ohne weiteres ersichtlich ist,
-daß mit der Etablierung der wirtschaftlichen Freiheit Arbeitgeber und
-Grundrentner nicht bloß überflüssig, sondern geradezu gegenstandlos
-werden, könnte bezüglich des Kapitalisten, des Besitzers von
-Ersparnissen, sogar behauptet werden, daß gerade die freie Gesellschaft
-in unendlich höherem Maße auf ihn angewiesen sei, als die geknechtete,
-weil sie viel mehr Kapital verwenden könne und müsse, als diese. Die zur
-Aufbringung der Kapitalien dienenden Abgaben werden nun gleichmäßig auf
-alle Produzenten verteilt; der Kapitalbedarf dagegen ist ein sehr
-ungleicher; wie kamen wir nun dazu, aus den Abgaben von Leuten, die
-vielleicht wenig Kapital brauchen, die Produktion anderer auszustatten,
-die zufällig starken Kapitalbedarf haben? Welchen Vorteil boten wir
-ersteren für die ihnen aufgenötigte Sparsamkeit?
-
-»Und doch liegt die Antwort nahe genug. _In der ausbeuterischen
-Gesellschaft hat allerdings der Gläubiger nicht den geringsten Vorteil
-von der, kraft seiner Ersparnisse durch den Schuldner bewerkstelligten
-Verbesserung der Produktion; in der auf socialer Freiheit und
-Gerechtigkeit beruhenden dagegen genau den nämlichen wie dieser._ Wo --
-wie bei uns -- jeder Produktionsvorteil sich gleichmäßig auf Alle
-verteilen muß, erledigt sich die Frage nach dem Anteil des Sparers am
-Nutzen seines Kapitals ganz von selbst. Der Maschinenschlosser oder
-Weber, dessen Abgabe beispielsweise zur Anschaffung oder Vervollkommnung
-landwirtschaftlicher Maschinen verwendet wird, hat davon -- bei uns --
-genau den nämlichen Vorteil wie der betreffende Landwirt, denn Dank
-unseren Institutionen überträgt sich die in welcher Produktion immer
-erzielte Ertragssteigerung mittelbar auf alle Produktionsorte und
-Produktionsarten.
-
-»Sollte man aber fragen, mit welchem Rechte ein den Kommunismus
-verwerfendes, auf freier Selbstbestimmung des Individuums gegründetes
-Gemeinwesen seine Mitglieder überhaupt zur Sparsamkeit zwingen könne, so
-ist die Antwort, daß solcher Zwang in Wahrheit gar nicht geübt wird. Die
-Abgabe, aus welcher die Kapitalisation bestritten wird, zahlt doch
-Jedermann nur nach Maßgabe seiner Arbeitsleistung. Zur Arbeit wird nun
-Niemand gezwungen; so weit er aber thatsächlich arbeitet, nimmt er ja
-die Kapitalien selbst in Anspruch; es wird von ihm nur verlangt und zwar
-genau proportional verlangt, was er selber gebraucht; der Gerechtigkeit
-sowohl als dem Selbstbestimmungsrechte geschieht also in jedem Punkte
-volles Genüge.
-
-»Sie sehen, es gilt vom Kapitalzinse genau das nämliche, was bezüglich
-des Unternehmergewinnes und der Grundrente steht: die erlangte Fähigkeit
-der Association enthebt den Arbeitenden der Notwendigkeit, unter welchem
-Titel immer irgend einen Teil des Ertrages seiner Produktion an dritte
-Personen abzutreten. Der Zins verschwindet ganz von selbst, wie Gewinn
-und Rente, aus dem allein entscheidenden Grunde, weil der frei
-vergesellschaftete Arbeiter sein eigener Kapitalist so gut, wie sein
-eigener Arbeitgeber und Grundherr wird. Oder wenn man so will: _Zins,
-Gewinn und Rente bleiben, sie verlieren nur ihr vom Arbeitslohne
-losgelöstes Sonderdasein; sie verschmelzen mit diesem zum einigen und
-unteilbaren Arbeitsertrage._«
-
-Und damit gute Nacht für heute.
-
-
-
-
- 19. Kapitel.
-
-
- Edenthal, den 11. August.
-
-Die Mitteilungen und Aufklärungen des Direktors der freiländischen
-Centralbank beschäftigten meinen Vater und mich noch lange aufs
-lebhafteste. Da dieser zu den Intimen des Ney'schen Hauses zählende hohe
-Funktionär für den nächsten Tag dort speiste, so bewegte sich das
-Tischgespräch um verwandte Themata. Zunächst wurde von meinem Vater die
-Frage aufgeworfen, in welcher Weise das freiländische Gemeinwesen der
-Gefahr von _Krisen_ begegnet, die seines Erachtens hier viel
-verhängnisvoller sein müßten als irgend anderwärts.
-
-»Krisen welcher Art immer -- war die Antwort -- müßten allerdings den
-ganzen Komplex der freiländischen Institutionen geradezu in die Luft
-sprengen; aber sie sind hierzulande eben unmöglich, die Quelle, aus
-welcher sie anderwärts entspringen, ist verschüttet. Denn die Ursache
-aller Krisen, sie mögen nun Produktions- oder Kapitalkrisen heißen,
-liegt einzig in der Überproduktion, d. h. in dem Mißverhältnisse
-zwischen Produktiv- und Konsumtionskraft und dieses Mißverhältnis
-existiert bei uns nicht. Allerdings behaupteten auch in der alten,
-ausbeuterischen Welt die Nationalökonomen, es gebe gar keine wirkliche
-Überproduktion, d. h. keine allgemeine Unverwendbarkeit von Produkten,
-denn, so führten sie aus, der Mensch arbeitet nur, sofern ihn irgend ein
-Bedürfnis dazu antreibt und es ist daher der Natur der Sache nach
-ausgeschlossen, daß jemals mehr Güter erzeugt, als gebraucht werden
-könnten. Das ist auch, unter einer Voraussetzung, auf die ich sofort zu
-sprechen kommen werde, vollkommen richtig. Jedermann will das, was er
-erzeugt, zur Deckung irgend eines Bedarfs gebrauchen; er will sein
-Produkt entweder selber verwenden oder gegen das Erzeugnis eines anderen
-Produzenten austauschen; was dieses andere Erzeugnis sei, ist
-gleichgültig, irgend ein Produkt ist es jedenfalls, und es sollte daher
-niemals die Frage sein, ob überhaupt, sondern allemal nur, welche Art
-von Produkten gerade gesucht wird. Nehmen wir an, die Weizenproduktion
-habe eine Verbesserung erfahren, so ist es allerdings möglich, daß damit
-der Weizenbedarf noch immer nicht, oder doch nicht gerade im
-Verhältnisse der gebotenen Möglichkeit der Produktionssteigerung wachse,
-denn daß die Weizenproduzenten ihren Mehrertrag gerade zu Mehrgebrauch
-von Weizen benutzen werden, ist allerdings nicht notwendig; aber dann
-sollte, so scheint es, die Nachfrage nach etwas anderem entsprechend
-zunehmen, z. B. nach Kleidern oder nach Werkzeugen, und wenn man dies
-nur allemal rechtzeitig vorher wüßte und die Produktion darauf
-einrichten könnte, so sollte es niemals eine Störung des
-Tauschverhältnisses der einzelnen Güterarten geben. Also nicht aus einem
-Zuviel von Produkten im allgemeinen, nicht aus einem Mißverhältnisse
-zwischen Produktivkraft und Verbrauch schlechthin, sondern aus
-vorübergehenden Störungen des richtigen Verhältnisses zwischen den
-einzelnen Produktionen erklärt die orthodoxe Doktrin die Krisen, indem
-sie noch hinzufügt, daß angesichts des in der ganzen Welt herrschenden
-Elends von mangelndem Bedarf zu reden, geradezu widersinnig sei.
-
-»Bei dieser, im übrigen schlechthin unanfechtbaren Gedankenkette, ist
-nur _Eines_ vergessen worden, nämlich die Grundeinrichtung der gesamten
-ausbeuterischen Gesellschaft. Allerdings ist es ein grauenerregender
-Widersinn, angesichts des grenzenlosen Elends von allgemein mangelndem
-Bedarfe reden zu müssen; wo aber die ungeheure Majorität der Menschen
-kein Anrecht auf die Früchte ihrer Arbeit besitzt, da erlangt dieser
-Widersinn eine fürchterliche Bedeutung. Was nützt es dem darbenden
-Arbeiter, daß er ganz vortreffliche und überaus dringende Verwendung für
-jene Produkte wüßte, die er hervorgebracht, wenn diese nicht ihm
-gehören? Bleiben wir bei dem Beispiel mit der durch verbesserte
-Kulturmethoden gesteigerten Weizenproduktion. Wenn es die
-landwirtschaftlichen Arbeiter wären, denen das Verfügungsrecht über das
-mehr erzeugte Getreide zustünde, so würden sie allerdings mehr oder
-feineres Brot essen, also einen Teil des Mehrprodukts selber verzehren;
-mit einem anderen Teile würden sie verstärkte Nachfrage nach Kleidern,
-mit einem dritten Teile ebenso verstärkte Nachfrage nach Werkzeugen
-hervorrufen, die ja notwendig wären, um das Mehr an Getreide und
-Kleidungsstoffen zu erzeugen. Hier würde es sich wirklich bloß darum
-handeln, das richtige Verhältnis zwischen Weizen-, Kleider- und
-Werkzeugproduktion, welches durch eine, lediglich bei Weizen eintretende
-Vermehrung allerdings gestört wäre, wieder herzustellen, und vermehrte
-Produktion, gesteigerter Wohlstand für Alle, wäre nach vorübergehenden
-Schwankungen die unvermeidliche Folge. Da aber der Mehrertrag von
-Weizenproduktion nicht den Arbeitern gehört, da diese für alle Fälle nur
-das zur Fristung ihres Lebens Erforderliche erhalten, so können sie
-infolge des auf ihrem Produktionsgebiete eingetretenen Fortschritts
-weder mehr Getreide, noch mehr Kleidungsstücke verbrauchen, und da dies
-nicht der Fall ist, so kann auch kein verstärkter Bedarf nach Werkzeugen
-zur Erzeugung von Weizen und Geweben entstehen.«
-
-»Aber -- so wendete ich ein -- damit, daß den Arbeitern der Mehrertrag
-der Produktion vorenthalten bleibt, ist doch dieser Mehrertrag nicht
-herrenlos; er gehört den Arbeitgebern und diese sind doch auch Menschen,
-die ihren Gewinn zur Deckung irgend eines Bedürfnisses verwenden wollen;
-die Arbeitgeber werden ihren Gebrauch steigern, und abermals -- so
-sollte man meinen -- wird es unmöglich sein, daß ein allgemeines
-Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage einträte. Nur werden es
-allerdings andere Bedarfsartikel sein, auf welche sich die Produktion
-werfen muß, um das gestörte Gleichgewicht der einzelnen Arbeitszweige
-herzustellen. Gehörte der Mehrertrag den Arbeitern, so würde man mehr
-Getreide, ordinäre Gewebe und Werkzeuge brauchen; da er den wenigen
-Arbeitgebern gehört, so wird sich die Nachfrage bloß bei feinen
-Leckerbissen, Spitzen, Equipagen und bei Werkzeugen steigern, die zur
-Erzeugung dieser Luxuswaren erforderlich sind.«
-
-»Vortrefflich!« mengte sich hier David in das Gespräch, »nur daß die
-Arbeitgeber keineswegs gewillt sind, die Überschüsse, welche ihnen der
-Mehrertrag ihrer Produktion liefert, in sonderlichem Maße zur Steigerung
-ihres Luxuskonsums zu verwenden, sondern der Hauptsache nach
-kapitalisieren, d. h. den Mehrertrag in Werkzeugen der Produktion
-anlegen wollen. Ja, unter Umständen ist der »Arbeitgeber«, wie wir
-gestern schon gehört, gar kein Mensch, der menschliche Bedürfnisse
-besitzt, sondern ein Popanz, der nichts genießt und alles
-kapitalisiert.«
-
-»Desto besser!« meinte ich, »desto rascher kann der Reichtum zunehmen,
-denn rasch wachsende Kapitalien bedeuten rasch wachsende Produktion und
-diese ist an sich gleichbedeutend mit rasch wachsendem Reichtume.«
-
-»Herrlich!« rief David. »Also weil die arbeitenden Massen ihren Konsum
-nicht steigern können, die Arbeitgeber den ihrigen nicht entsprechend
-steigern wollen, weil man demnach von keinerlei menschlichen
-Bedarfsartikeln mehr gebrauchen kann, als zuvor, so benützt man die
-überschüssige Produktivkraft zur Vermehrung der Produktionsmittel. D. h.
-mit anderen Worten: Niemand braucht mehr Getreide -- folglich bauen wir
-neue Pflüge; niemand braucht mehr Gewebe -- folglich errichten wir neue
-Spinnereien und Webereien! Ermissest du noch nicht den Gipfel des
-Unsinnes, zu welchem Eure Doktrin führt?«
-
-Ich glaube, Luigi, Du wirst gleich mir zugeben, daß sich gegen dieses
-ebenso einfache als überzeugende Raisonnement schlechterdings nichts
-einwenden ließ. Eine Wirtschaftsordnung, die den Produkten des
-menschlichen Fleißes und Erfindungsgeistes die einzige Verwendung, der
-sie in letzter Linie alle dienen, nämlich die bessere Befriedigung
-irgendwelcher menschlicher Bedürfnisse, abschneidet und sich dann
-wundert, daß dieselben nicht verwendet werden können, ist thatsächlich
-an der Grenze des Blödsinns angelangt. Und daß die Dinge bei uns in
-Europa und Amerika wirklich so liegen, muß schließlich jedermann
-einleuchten.
-
-»Aber was geschieht -- um des Himmels willen -- mit der solcherart bei
-uns unverwendbar gewordenen Produktivkraft?« fragte ich weiter. »Wir
-sind der Hauptsache nach in Künsten, Wissenschaften und technischen
-Fertigkeiten so vorgeschritten, als Ihr in Freiland; ich muß also
-glauben, daß wir, besäßen wir nur Verwendung für alle Erträge unserer
-Produktion, so reich, oder doch annähernd so reich sein könnten, wie
-Ihr. Nun besitzen wir aber thatsächlich lange nicht den zehnten Teil
-Eures Reichtums und trotzdem wird bei uns ungefähr doppelt so
-angestrengt gearbeitet, als hier. Denn wenn auch bei Euch alles
-arbeitet, während es bei uns einige Müssiggänger gibt, die lediglich von
-fremder Arbeit leben, so fällt dies doch angesichts des Umstandes, daß
-unsere arbeitenden Massen acht bis zehn Stunden und darüber ins Joch
-gespannt sind, während hier durchschnittlich bloß fünf Stunden lang
-gearbeitet wird, gar nicht ins Gewicht. Es gibt bei uns zahlreiche
-Millionen feiernder Arbeiter, allerdings; aber auch das wird
-überreichlich aufgewogen durch Weiber- und Kinderarbeit, die Ihr nicht
-kennt; wo also -- ich wiederhole es -- liegt der unermeßliche
-Unterschied in der Ausnutzung unserer und Eurer Produktivkräfte?«
-
-»In der _Ausrüstung_ der Arbeitskräfte«, war die Antwort. »Wir
-Freiländer arbeiten weniger angestrengt als Ihr, aber wir benutzen dazu
-alle Behelfe der Wissenschaft und Technik in vollstem Umfange, während
-Ihr dies nur ausnahmsweise und nirgends so vollkommen als wir, vermögt.
-Alle Erfindungen und Entdeckungen der großen Geister der Menschheit sind
-Euch so gut bekannt, als uns; in allgemeinem Gebrauche aber stehen sie
-nur bei uns. Da Euch Eure herrlichen socialen Einrichtungen den Genuß
-jener Dinge verwehren, zu deren erleichterter Erzeugung doch all jene
-Erfindung einzig dienen -- nun so bedient Ihr Euch ihrer eben nicht,
-oder doch nur entsprechend jenem geringen Maße, in welchem Eure
-Einrichtungen Euch den Genuß zumessen.«
-
-Selbst mein Vater war von dieser vernichtenden Beleuchtung eines
-Systems, das als höchsten Ausfluß ewiger Weisheit zu verehren er von
-jeher gewöhnt gewesen, aufs tiefste erschüttert. »Unglaublich!
-Schrecklich!« murmelte er, nur mir verständlich.
-
-Herr Clark aber fuhr fort: »Bei uns hingegen ist der Lehrsatz der sog.
-klassischen Ökonomie, daß ein allgemeines Zuviel an Produkten unmöglich
-sei, allerdings zur Wahrheit geworden, denn in Freiland decken sich
-Konsum und Produktivität thatsächlich aufs vollkommenste. Hier könnte es
-also wirklich bloß geschehen, daß vorübergehend zu viel von _einzelnen_
-Dingen erzeugt, d. h. daß das Gleichgewicht der verschiedenen
-Produktionsarten zeitweilig gestört würde. Doch auch diese, an sich
-geringfügige Gefahr brauchen wir nicht zu fürchten. Der durch unsere
-Einrichtungen bewerkstelligte innige Zusammenhang aller
-Produktionsinteressen gewährleistet von vornherein das Gleichgewicht
-aller Produktionserträge. Genauer besehen ist ganz Freiland eine einzige
-große Produktionsgenossenschaft, deren einzelne Mitglieder unabhängig
-von einander sind in allen Dingen, in einem Punkte jedoch
-zusammenhängen, im Ertrage ihrer Arbeit nämlich. Gerade weil jedermann
-arbeiten kann wo und was ihm beliebt, jedermanns Arbeit aber in dem
-einen Zwecke der Erzielung möglichst hohen Nutzens zusammenläuft, so ist
-es, von vorübergehenden nebensächlichen Irrungen abgesehen, anders gar
-nicht möglich, als daß der bei gleicher Arbeit erzielbare Nutzen überall
-der gleiche sei. Alle unsere Einrichtungen gipfeln in diesem _einen_
-Punkte. Anfangs, so lange unser Gemeinwesen noch im Werden begriffen
-war, kam es vor, daß ziemlich bedeutende Ungleichheiten erst
-nachträglich ausgeglichen werden konnten; die Produzenten wußten oft
-erst nach Abschluß der Jahresbilanzen, was sie und was andere verdient
-hatten. Das ist ein längst überwundenes Stadium der Kindheit; heute weiß
-jeder Freiländer bis auf geringfügige, durch unvorhergesehene kleinere
-Zufälle herbeigeführte Abweichungen ganz genau, was er und alle anderen
-nicht bloß verdient haben, sondern was sie aller Voraussicht nach in
-nächster Zukunft verdienen werden; er wartet nicht erst, bis
-Ungleichheiten eingetreten sind, um sie dann auszugleichen, sondern er
-sorgt dafür, daß Ungleichheiten gar nicht eintreten. Da unsere Statistik
-jederzeit mit untrüglicher Sicherheit angibt, was in jedem
-Produktionszweige jeweilig erzeugt wird und der Bedarf sowohl, als
-dessen Einfluß auf die Preise überall aus sorgfältiger Beobachtung
-früherer Jahre genau bekannt ist, so läßt sich die Rentabilität nicht
-bloß jedes Produktionszweiges, sondern jedes einzelnen Etablissements so
-verläßlich vorherberechnen, daß namhaftere Irrtümer nur im Falle
-elementarer Katastrophen möglich sind. Ereignen sich solche, nun dann
-greift eben die wechselseitige Versicherung helfend ein; im übrigen
-giebt es hierzulande nicht bloß keine Krisen, sondern nicht einmal
-sonderliche Ertragsschwankungen der verschiedenen Produktionen.
-Unser statistisches Amt veröffentlicht ununterbrochen genaue
-Zusammenstellungen, aus denen jederzeit zu ersehen ist, wo in nächster
-Zukunft Bedarf, wo Überfluß an Arbeitskraft herrschen wird; nach diesen
-Ausweisen richtet sich unser Arbeiternachwuchs und das genügt, von
-höchst seltenen Ausnahmen abgesehen, vollkommen zur Erhaltung des
-Gleichgewichts der Erträge. Daß da oder dort ein neueingerichtetes
-Etablissement verunglückt, kommt manchmal, insbesondere bei der
-Minenindustrie vor. Aber dieses Verunglücken darf man sich nicht etwa
-als Bankerott vorstellen -- wie sollen Unternehmer bankerottieren, die
-weder Grundrente, noch Kapitalzins, noch Arbeitslohn zu bezahlen haben
-und denen für alle Fälle ihre hochwertige Arbeitskraft bleibt -- sondern
-schlimmstenfalls als getäuschte Erwartung. Und verliert in einem ganz
-besonderen Falle das Gemeinwesen oder irgend eine Association durch den
-vorzeitigen Tod eines Schuldners wirklich die dargeliehene Summe -- was
-kann das angesichts der gefahrlos umgesetzten Riesensummen unseres
-Verkehrs zu bedeuten haben? Sollte man zur Deckung solcher Verluste ein
-Delcredere einheben, es würde kaum Tausendteile eines Prozents betragen
-und wäre die seinetwegen verspritzte Tinte nicht wert.«
-
-»Und stören auswärtige Katastrophen nicht zeitweilig den ruhigen
-Gleichgang Ihrer freiländischen Produktion? Werden Ihre Märkte nicht
-durch ausländische Überproduktion mit Waren überflutet, für die
-entsprechende Verwendung fehlt?« fragte ich.
-
-»Daß die durch die anarchische Gestaltung der ausbeuterischen
-Produktionsverhältnisse so häufig eintretenden heftigen
-Preisschwankungen der Welthandelsgüter nicht auch für uns mit
-empfindlichen Unannehmlichkeiten verknüpft wären, kann allerdings nicht
-behauptet werden. Wir sehen uns dadurch nur zu oft genötigt, einzelne
-Produktionen einzuschränken und die damit frei werdenden Arbeitskräfte
-anderen Erzeugungsarten zuzuwenden, ohne daß ein wirklicher Wechsel in
-den Produktionskosten oder in den Bedarfsverhältnissen dies begründen
-würde. Thatsächlich sind diese fremden, plötzlichen und unberechenbaren
-Einflüsse bisweilen Schuld daran, daß zur Erhaltung des Gleichgewichts
-der Erträge wirkliche Auswanderung von Arbeitskräften aus einer
-Produktion in die andere notwendig wird, während zu Ausgleichung der aus
-natürlichen Gründen eintretenden Verschiebungen des Angebots und der
-Nachfrage fast immer die planmäßige Zu- oder Ableitung des
-Arbeiternachwuchses genügt. Eine tiefergehende Erschütterung unserer
-Erwerbsverhältnisse aber vermögen auch diese sprunghaften ausländischen
-Ereignisse nicht herbeizuführen. Gleichwie es unmöglich ist, eine
-Flüssigkeit, die jedem Drucke oder Stoße nachgibt und ausweicht, aus dem
-Gleichgewichte zu bringen, so kann auch unsere Wirtschaft, gerade wegen
-ihrer absoluten freien Beweglichkeit, nie ihr Gleichgewicht verlieren.
-In unnütze, störende Bewegung mag sie gebracht werden, aber die
-natürliche Schwerkraft stellt sofort das Gleichmaß aller Verhältnisse
-wieder her.«
-
-Nach beendeter Mahlzeit lud uns Herr Ney ein, ihn in den Volkspalast zu
-begleiten, wo heute das Fachparlament für öffentliche Arbeiten eine
-Nachtsitzung halten werde, um über ein von ihm vorgelegtes großes
-Kanalprojekt sich schlüssig zu machen. Er glaube, daß der Gegenstand
-auch uns interessieren werde. Wir nahmen mit Dank an.
-
-Das Fachparlament für öffentliche Arbeiten besteht aus 120 Mitgliedern;
-die meisten derselben sind, wie mir David, der mit von der Partie war,
-erklärte, Direktoren großer Associationen, insbesondere der das
-Baugewerbe betreibenden; doch sitzen auch Professoren technischer
-Hochschulen und andere Fachmänner in demselben. Laien, die von
-öffentlichen Arbeiten nichts verstehen, giebt es in dieser Körperschaft
-nicht, und ohne weiteres kann behauptet werden, daß dieselbe die Blüte
-und Quintessenz des technischen Wissens und Könnens von ganz Freiland in
-sich schließt.
-
-Das Projekt, welches gegenwärtig vorlag, war vor Jahresfrist seitens der
-Direktoren der Wasser- und Hochbau-Associationen von Edenthal,
-Nordbaringo, Ripon und Strahlstadt, in Verbindung mit zwei Professoren
-der technischen Hochschule von Ripon angeregt worden. Es handelte sich
-bei demselben um nichts geringeres, als um die Herstellung einer für
-Schiffe bis zu 2000 Tonnen fahrbaren Wasserstraße vom Tanganika über den
-Muta-Nzige und Albert-Njanza unter Benutzung des Nillaufes bis an das
-Mittelländische Meer einerseits und von der Kongomündung den Kongo
-aufwärts über den Aruwhimi in den Albertsee, von dort unter Benützung
-einiger kleinerer Ströme über den Baringosee an den Unterlauf des Dana
-und von hier an den indischen Ocean. Es waren das also zwei Wasserwege,
-deren einer die großen centralafrikanischen Seen mit dem Mittelmeere,
-der andere, quer durch den ganzen Weltteil, den atlantischen mit dem
-indischen Ocean verbinden sollte. Da ein Teil der zu diesem Behufe
-erforderlichen gewaltigen Arbeiten auf fremdem Gebiete -- dem des
-Kongostaates und Ägyptens -- durchgeführt werden mußte, so waren
-Verträge mit diesen Staaten abgeschlossen worden, die Freiland alle
-notwendigen Rechte einräumten. Die Bereitwilligkeit der fremden
-Regierungen, auf die Wünsche der Edenthaler Verwaltung einzugehen, wird
-man begreiflich finden, wenn man erwägt, daß Freiland keinerlei Gebühr
-für die Benutzung seiner Kanäle einzuheben, den Nachbarn also ein freies
-Geschenk mit seinen kolossalen Arbeiten zu machen gedachte. Im
-Zusammenhange mit diesem Projekte stand auch das auf Erwerbung des
-Suez-Kanals, der zu doppelter Breite und Tiefe ausgebaggert und dem
-Verkehre gleichfalls zu unentgeltlicher Benutzung übergeben werden
-sollte. Die englische Regierung, welcher der größte Teil der Kanalaktien
-gehörte, war den Freiländern mit weitgehender Liberalität
-entgegengekommen; sie überließ ihnen ihre Aktien zu einem sehr mäßigen
-Preise, so daß diese es nur mit den kleineren Aktionären zu thun hatten,
-welche allerdings die Situation weidlich auszunützen verstanden. Die
-britische Regierung verlangte Sicherheit für die unantastbare
-Neutralität des Kanals und förderte im übrigen das Unternehmen nach
-Kräften.
-
-Die präliminierten Kosten waren die folgenden:
-
- Süd-Nordkanal (Gesamtlänge 6250 Kilometer) 385 Mill. Pfund,
- Ost-Westkanal (Gesamtlänge 5460 Kilometer) 412 Mill. Pfund,
- Suez-Kanal (für Ankauf und Erweiterung) 280 Mill. Pfund.
- Zusammen 1077 Mill. Pfund.
-
-Die Bauzeit war mit 6 Jahren in Aussicht genommen, so daß im
-Jahresdurchschnitt rund 180 Millionen erforderlich schienen. Nach den
-bisherigen Erfahrungen glaubte die freiländische Verwaltung darauf
-rechnen zu dürfen, daß die jährlichen Gesamteinkünfte des Landes sich im
-Laufe der nächsten sechs Jahre von 7 Milliarden -- ihrem vorjährigen
-Stande -- successive auf mindestens 10½ Milliarden steigern und 8½
-Milliarden im Durchschnitte der sechs Jahre betragen würden; der
-Bauaufwand beanspruchte also bloß 2-1/8 Prozent des zu erwartenden
-Nationaleinkommens und konnte gedeckt werden, ohne daß eine Erhöhung der
-auf dieses Einkommen gelegten öffentlichen Abgaben über ihr
-normales Maß erforderlich gewesen wäre. Dem Kostenvoranschlage
-waren die detaillierten Baupläne beigelegt, desgleichen eine
-Rentabilitätsberechnung, nach welcher die Kanäle schon im ersten Jahre
-ihrer Inbetriebsetzung eine voraussichtliche Transportkostenersparnis
-von 32 Millionen Pfund im Gefolge haben, also schon dadurch allein und
-unter Berücksichtigung der voraussichtlichen Frachtenzunahme in ungefähr
-30 Jahren sich bezahlt machen würden; außerdem aber sollten diese
-künstlichen Wasserstraßen teilweise auch als Be- und Entwässerungskanäle
-dienen und der hieraus sich ergebende Nutzen war mit 45 Millionen Pfund
-im Jahresdurchschnitte berechnet, so daß die Kosten der sämtlichen
-Anlagen binnen längstens 14 Jahren getilgt sein mußten, wobei überall
-bloß der auf Freiland entfallende, nicht aber der dem Auslande mit
-eingeräumte Nutzen in Rechnung gestellt war.
-
-Da die sämtlichen Vorlagen schon seit einigen Wochen in Händen des
-Fachparlamentes und von diesem sorgfältig studiert worden waren, so ging
-dasselbe unmittelbar in die Beratung derselben ein. Prinzipieller
-Widerspruch wurde von keiner Seite erhoben; die Verhandlung bewegte sich
-der Hauptsache nach bloß um zwei Fragen: erstlich, ob es nicht möglich
-wäre, die Bauzeit zu verkürzen, zweitens, ob nicht eine gleichfalls
-tracierte und mit allen Detailplänen vorgelegte Alternativlinie der von
-der Verwaltung empfohlenen vorzuziehen wäre. In ersterer Beziehung
-stellte sich heraus, daß durch ein von gewiegten Fachmännern
-vorgeschlagenes, ganz neues System der Baggerung thatsächlich ein halbes
-Jahr Bauzeit erspart werden könnte; es wurde also beschlossen, dem
-entsprechend vorzugehen; bezüglich der zu wählenden Trace dagegen
-entschied sich die Versammlung infolge der von Herrn Ney geltend
-gemachten Gründe einstimmig für den Plan der Centralverwaltung. Die
-ganze Debatte währte keine drei Stunden; nach Verlauf derselben hatte
-die Verwaltung die Ermächtigung, 1077 Millionen Pfund Sterling, etwas
-mehr als die Anlagekosten sämtlicher Kanäle der übrigen civilisierten
-Welt betragen, binnen 5½ Jahren zu dem Zwecke auszugeben, damit
-Oceandampfer den afrikanischen Kontinent von Ost nach West durchqueren,
-aus dem Mittelmeere bis 10 Breitengrade südlich vom Äquator eindringen
-und den Weg vom Mittelmeere ins rote Meer gebührenfrei und ohne jeden
-Aufenthalt zurücklegen könnten.
-
-Ich war von all dem geradezu konsterniert. »Wenn ich mir nicht
-vorgenommen hätte, das Wort >unmöglich< hier aus meinem Wörtervorrate zu
-streichen, so würde ich es jetzt anwenden«, meinte ich auf dem Heimwege
-Herrn Ney gegenüber. Bemerken will ich noch, daß in den freiländischen
-Parlamenten alle Vorlagen auch unter das anwesende Publikum verteilt
-werden, so daß ich Gelegenheit gehabt hatte, die Details des soeben zur
-Annahme gelangten Projektes oberflächlich einzusehen. Du weißt, daß ich
-von derlei Dingen Einiges verstehe und so war ich denn in der Lage, den
-Plänen zu entnehmen, daß die beiden Binnenschiffahrtkanäle mehrere
-Wasserscheiden passieren. Eine dieser Wasserscheiden kenne ich nun
-zufällig ziemlich genau, da wir sie teils auf unserer Reise, teils bei
-unseren Ausflügen erst kürzlich passiert hatten; sie erhebt sich meiner
-Schätzung nach mindestens 500 Meter über die Kanalsohle; ich fragte nun
-Herrn Ney, ob er denn wirklich mit einem Wasserwege für
-Zweitausendtonnen-Schiffe 500 Meter auf- und abwärts klimmen wolle; das
-sei doch bau- und betriebstechnisch gleich unausführbar.
-
-»Natürlich!« gab dieser lächelnd zu. »Wenn Sie jedoch die Detailpläne
-genauer einsehen wollen, so werden Sie finden, daß wir solche
-Wasserscheiden nicht vermittels zahlreicher Schleußen _übersteigen_,
-sondern vermittels eines oder mehrerer Tunnels _unterfahren_.«
-
-Jetzt blickte ich ihn aber erst recht ungläubig an und auch mein Vater
-machte ein nicht minder erstauntes Gesicht.
-
-»Was finden Sie daran gar so merkwürdiges, meine werten Gäste? Warum
-soll bei Kanälen unpraktisch sein, was bei Eisenbahnen, die doch immer
-noch viel leichter _über_ Berg und Thal zu führen wären, schon so lange
-und in so ausgedehntem Maße geübt wird?« fragte Herr Ney. »Unsere
-Kanaltunnels sind sehr teuer, das gebe ich Ihnen zu; da sie uns aber
-beim Betriebe das kostbarste von allen Dingen, d. i. menschliche Arbeit,
-ersparen, so sind sie für unsere Verhältnisse überaus praktisch. Zudem
-hatten wir ja in zahlreichen Fällen keine andere Wahl, als die Kanäle
-fallen zu lassen, oder Tunnels zu bauen. Die Wasserscheide, von der Sie
-sprachen, ist gar nicht die bedeutendste von allen; unser größter
-Durchbruch -- er verknüpft das Flußgebiet des Ukerewe mit dem des
-Indischen Oceans -- geht in einer Länge von 17 Kilometern 1200 Meter
-unter der Wasserscheide, und alles in allem haben wir in diesem neuen
-Projekte nicht weniger als 132 Kilometer Tunnelbauten. Dieselben sind
-übrigens durchaus nichts ganz neues; auch in Frankreich giebt es -- wie
-Sie wissen -- einige, wenn auch sehr kurze Wassertunnels; wir besitzen
-deren schon in unserem alten Kanalsysteme mehrere ganz respektable, nur
-können sie sich allerdings weder an Längenentwicklung noch an
-Mächtigkeit mit diesen neuen vergleichen, auf denen große Oceanfahrer --
-mit zurückgelegten Masten natürlich -- durch die Eingeweide ganzer
-Gebirgszüge hindurchdampfen werden. Das kostet Riesensummen, aber
-bedenken Sie doch, daß jede Stunde Zeitgewinn eines freiländischen
-Matrosen heute schon ihre 8 Schilling wert ist und von Jahr zu Jahr an
-Wert gewinnt.«
-
-»Unbegreiflich aber bleibt mir trotz alledem die Raschheit, ich möchte
-fast sagen die Nonchalance, mit welcher diese Milliarde Ihnen votiert
-wurde, als handle es sich um die nächstbeste Kleinigkeit«, meinte mein
-Vater. »Ich will der Ehrenhaftigkeit sämtlicher Mitglieder Ihres
-Fachparlamentes für öffentliche Bauten beileibe nicht nahe treten; aber
-verschweigen kann ich nicht, daß mir die ganze Versammlung den Eindruck
-machte, als verspräche sie sich den größten persönlichen Vorteil aus der
-möglichst raschen und großartigen Durchführung des Werkes.«
-
-»Dieser Eindruck war auch ganz der richtige«, gab Herr Ney zur Antwort.
-»Doch bitte ich hinzuzufügen, daß jeder Bewohner Freilands genau den
-nämlichen persönlichen Gewinn aus der Verwirklichung dieses
-Kanalprojekts ziehen muß und wird. Nur weil dem so ist, weil bei uns
-jene Solidarität der Interessen Wahrheit ist, von welcher man außerhalb
-Freilands fälschlich spricht, nur deshalb können wir so ungeheure Summen
-für jede Anlage ausgeben, von welcher nachzuweisen ist, daß ihr Nutzen
-den Kostenaufwand überragt. Wird bei Ihnen ein Kanal gebaut, der die
-Ertragsfähigkeit weiter Landstrecken erhöht, so dociert Ihre
-Schulökonomie zwar auch, daß er den Wohlstand Aller befördere; richtig
-ist dies aber nur für die Besitzer der betreffenden Grundstücke, während
-den großen Massen der Bevölkerung solch ein Kanal nicht das geringste
-nützt, den Besitzern anderer, konkurrierender Grundstücke vielleicht
-geradezu schadet. Die Ermäßigung der Getreidepreise -- so behaupten Ihre
-Staatswirte -- komme den nichtbesitzenden Massen zu statten; sie
-vergessen dabei die Kleinigkeit, daß der >Arbeitslohn< sich auf die
-Dauer nicht zu behaupten pflegt, wenn die Getreidepreise sinken. Dem
-steht allerdings als Trost auf der andren Seite gegenüber, daß die
-nichtbesitzenden Massen auch durch die Abgabenerhöhung, welche solche
-öffentliche Bauten beanspruchen, nicht dauernd geschädigt werden können;
-denn wer nicht mehr Lohn bezieht, als zur Lebensfristung notwendig ist,
-dem kann auf die Dauer auch nicht viel entzogen werden; ihm auferlegte
-Abgaben müssen also in letzter Linie auf den Arbeitgeber oder den
-Consumenten abgewälzt werden. Der Streit um solche Anlagen ist daher bei
-Ihnen zu Hause ein Interessenkonflikt, einzelner Grundeigentümer und
-Arbeitgeber, von denen ein Teil gewinnt, während andere leer ausgehen
-oder geradezu geschädigt werden. Bei uns dagegen ist jedermann
-gleichmäßig nach Maßgabe seiner Arbeitsleistung am Nutzen
-fruchtbringender Investitionen interessiert, und da ebenso jedermann
-gleichmäßig nach Maßgabe seiner Arbeitsleistungen zur Kostendeckung
-herangezogen wird, so ist hier ein Interessenkonflikt, oder auch nur
-eine Unverhältnismäßigkeit des Vorteils schlechterdings ausgeschlossen.
-7 Millionen Hektaren Landes werden durch die neuen Kanäle aus Sümpfen in
-fruchtbaren Ackerboden verwandelt werden; wer wird den Vorteil davon
-haben, wenn dieser jungfräuliche, dicht an so vortrefflicher
-Wasserstraße gelegene Boden um etliche Pfd. Sterling pro Hektar jährlich
-mehr trägt, als anderer? Nun offenbar jedermann in Freiland und zwar
-jedermann gleichmäßig, er mag Landbauer, Industrieller, Professor oder
-Beamter sein. Wer zieht Gewinn aus der Ermäßigung der Frachten? Etwa
-bloß die Associationen und Arbeiter, welche die neuen Wasserstraßen zum
-Transporte thatsächlich benutzen? Keineswegs; denn jeden Vorteil,
-welchen sie solcherart erlangen, müssen sie, Dank der unbeschränkten
-Beweglichkeit unserer Arbeitskräfte, mit jedermann in ganz Freiland
-teilen. Wir überlassen daher mit der größten Seelenruhe die Entscheidung
-über derlei Fragen jenen, die dabei am unmittelbarsten interessiert
-sind. Diese wissen am besten, was ihnen nützt, und da ihr Nutzen sich
-vollkommen mit jedermanns Nutzen deckt, so steht ihnen jedermanns, d. h.
-des Gemeinwesens, Kasse so weit und frei geöffnet, wie nur immer ihre
-eigene. Mögen sie nur hineingreifen -- je tiefer, desto besser! Wir
-haben nicht zu untersuchen, _wem_ die Investition nützt, sondern bloß,
-_ob_ sie überhaupt nützlich ist, d. h. Arbeitskraft erspart.«
-
-»Wunderbar, aber wahr!« mußte mein Vater zugeben. »Da dem aber so ist,
-da hierzulande wirklich die vollkommenste Interessensolidarität besteht,
-so ist mir hinwieder unerklärlich, warum sie die Rückzahlung jener
-Kapitalien verlangen, die das Gemeinwesen den einzelnen Associationen
-vorstreckt.«
-
-»Weil das Gegenteil der Kommunismus mit allen seinen unvermeidlichen
-Konsequenzen wäre«, war die Antwort. »Der eventuelle Vorteil aus
-derartiger unentgeltlicher Kapitalzuwendung käme zwar auch hier Allen
-gleichmäßig zugute, wer aber könnte in diesem Falle dafür einstehen,
-_ob_ solche Kapitalanlagen vorteilhaft oder schädlich wären. Denn
-vorteilhaft ist eine Kapitalanlage doch nur in dem Falle, wenn mit deren
-Hilfe mehr Arbeit erspart wird, als die Herstellung der Kapitalien
-selber kostet. Eine Maschine, die mehr Arbeit fordert, als hereinbringt,
-ist schädlich. Derzeit nun sind wir gegen solche Vergeudung, zum
-mindesten gegen absichtliche Vergeudung von Kapitalien gesichert. Das
-Gemeinwesen sowohl, als die Einzelnen können sich in ihren Berechnungen
-täuschen, sie können eine Anlage für rentabel halten, die sich
-nachträglich als unrentabel erweist, d. h. die auf ihre Herstellung
-verwendete Arbeit nicht hereinbringt; die _Absicht_ bei allen Anlagen
-jedoch kann immer nur auf Kraftersparnisse gerichtet sein, denn das
-Gemeinwesen sowohl als die Einzelnen müssen ein jeder seine Anlagen
-bezahlen. Wenn aber das Gemeinwesen auch für die Kapitalanlagen der
-Einzelnen, respektive der Associationen, aufzukommen hätte, dann läge
-für die einzelne Association kein Grund vor, nicht auch solche
-Einrichtungen zu fordern, die weniger Kraft ersparen, als zu ihrer
-Herstellung beanspruchen; die notwendige Ergänzung dieser Liberalität
-des Gemeinwesens wäre daher, daß sich dieses ein Recht der Überwachung
-und Bevormundung den Kapitalbedürftigen gegenüber herausnähme, welches
-mit Freiheit und Fortschritt unvereinbar wäre. Alles Gefühl der
-Selbstverantwortung ginge verloren, das Gemeinwesen müßte sich in
-Verhältnisse mengen, denen es nicht gewachsen ist, und Verluste wären
-trotz aller beengenden Willkür von Oben unvermeidlich.«
-
-»Das ist wieder so einleuchtend und einfach, als nur immer möglich«,
-meinte mein Vater. »Ich erbitte mir aber für einen ferneren Punkt nähere
-Erklärung. Kraft der bei Ihnen herrschenden Interessensolidarität nimmt
-jedermann an den Vorteilen aller wo immer eintretenden Verbesserungen
-teil; dies geschieht in der Weise, daß jedermann das Recht hat, einen
-minderergiebigen Produktionszweig oder Produktionsort mit einem sich
-ergiebiger erweisenden zu vertauschen. Welches Interesse hat also der
-_einzelne_ Produzent, respektive die _einzelne_ Association,
-Verbesserungen einzuführen, da es doch viel einfacher, bequemer und
-gefahrloser erscheinen muß, Andere vorangehen zu lassen und sich ihnen
-erst anzuschließen, wenn der Erfolg gesichert ist? Nun sehe ich aber,
-daß es ihren Associationen an Regsamkeit und Unternehmungsgeist
-keineswegs fehlt; wie erklärt sich dies? was veranlaßt Ihre Produzenten,
-sich Gefahren -- sie mögen noch so gering sein -- auszusetzen, wenn der
-damit erreichte Gewinn so rasch mit aller Welt geteilt werden muß?«
-
-»Sie übersehen erstlich«, entgegnete Herr Ney, »daß die Höhe des zu
-erzielenden Gewinnes denn doch nicht der alleinige Beweggrund ist, von
-welchem sich arbeitende Menschen, insbesondere aber unsere
-freiländischen Arbeiter, leiten lassen. Der Ehrgeiz, das Etablissement,
-an welchem man beteiligt ist, an der Spitze und nicht im Nachtrabe aller
-anderen einherschreiten zu sehen, darf bei intelligenten, von starkem
-Gemeingeiste beseelten Menschen nicht eben unterschätzt werden. Aber
-abgesehen davon, bitte ich Sie zu bedenken, daß die an den Associationen
-Beteiligten auch sehr lebhafte _materielle_ Interessen am Gedeihen
-gerade ihrer speciellen Unternehmung haben. Freiländische Arbeiter
-besitzen ausnahmslos recht behagliche, ja luxuriöse Heimstätten --
-naturgemäß meist in der Nähe der von ihnen gewählten Arbeitsstätten; sie
-sind in Gefahr, dieselben verlassen zu müssen, falls ihr Unternehmen
-sich nicht auf gleicher Höhe mit anderen erhält. Zum zweiten genießen
-die älteren, d. h. durch längere Zeit bei einem Unternehmen beteiligten
-Arbeiter ein stetig wachsendes Präcipium; ihre Arbeitszeit wird ihnen um
-einige Prozente höher angerechnet, als den Neueintretenden.
-Die Mitglieder jeder Association müssen also trotz aller
-Interessensolidarität sehr lebhaft darauf bedacht sein, daß ihr
-Etablissement nicht überflügelt werde, und da das Risiko neuer
-Verbesserungen ein verschwindend geringes ist, so regt sich der
-Erfindungs- und Unternehmungsgeist nirgends in der Welt so kühn und
-mächtig, wie bei uns. Die Associationen wetteifern aufs lebhafteste um
-den Vorrang, nur daß dies allerdings ein friedlicher Wettbewerb, kein
-ingrimmiger, auf gegenseitige Schädigung abzielender Konkurrenzkampf
-ist.«
-
-Es war inzwischen sehr spät geworden; mein Vater und ich hätten
-allerdings gerne noch längere Zeit den hochinteressanten Aufklärungen
-unseres freundlichen Wirtes gelauscht; doch wir durften die
-Liebenswürdigkeit unserer Gastfreunde nicht mißbrauchen und so trennten
-wir uns -- was mir denn auch Anlaß giebt, von Dir, mein Luigi, für heute
-Abschied zu nehmen.
-
-
-
-
- 20. Kapitel.
-
-
- Edenthal, den 16. August.
-
-Du äußerst in Deinem letzten Briefe einige Verwunderung darüber, daß
-unser Gastfreund aus seinem bloß 1440 Pfund betragenden Gehalte als
-Regent von Freiland einen Hausstand gleich dem Dir beschriebenen zu
-führen, eine elegante Villa mit zwölf Wohnräumen zu bewohnen, feine
-Küche zu führen, Wagen und Reitpferde zu halten, kurzum einen Luxus zu
-treiben vermöge, den sich bei uns daheim nur die Reichsten gönnen
-dürfen. Die Erklärung liegt darin, daß Dank der wunderbaren Organisation
-von Arbeit und Verkehr hier eben alles fabelhaft billig ist, ja
-zahlreiche Dinge, die in Europa und Amerika recht viel Geld
-verschlingen, den freiländischen Haushalt überhaupt nicht belasten, da
-sie vom Gemeinwesen unentgeltlich beigestellt werden und ihre Deckung
-schon in den vom Reineinkommen vorweg abgezogenen Steuern finden. So
-erscheinen z. B. bei den Reisekosten die Fahrpreise auf Eisenbahnen und
-Dampfschiffen auch nicht mit einem Heller, da, wie Du schon aus meinen
-früheren Briefen entnommen haben kannst, das freiländische Gemeinwesen
-den Personentransport unentgeltlich besorgt. Das Gleiche gilt, wie ich
-ebenfalls schon erwähnt zu haben glaube, bei allen Telegraphen,
-Telephonanstalten, Briefpost, elektrischer Beleuchtung, mechanischer
-Kraftabgabe u. dergl. Beim Frachtentransporte zu Lande und Wasser
-dagegen läßt sich die freiländische Verwaltung die Selbstkosten
-ersetzen. Bemerken will ich bei diesem Anlasse noch, daß beinahe jede
-freiländische Familie durchschnittlich zwei Monate des Jahres auf Reisen
-wendet, die meist den wundervollen und mannigfaltigen Naturschönheiten
-des eigenen Landes gelten, teils auch -- dies jedoch seltener -- bis ins
-entfernte Ausland sich erstrecken. Jeder Freiländer nimmt alljährlich
-mindestens sechs, bisweilen aber auch zehn Wochen Urlaub von allen
-Geschäften und sucht während dieser Zeit Erholung, Vergnügen und
-Belehrung als Tourist. Insbesondere in den Hochlanden des
-Kilima-Ndscharo, Kenia und Elgon, des Aberdare und Mondgebirges, sowie
-an den Gestaden der sämtlichen großen Seen wimmelt es mit Ausnahme der
-beiden Regenepochen jederzeit von fahrenden, reitenden, wandernden,
-rudernden und segelnden Männern, Frauen und Kindern, die in vollen Zügen
-jegliche Lust des Reisens genießen.
-
-Überhaupt gehört sinnige, herzliche Freude an der Natur und ihren
-Schönheiten zu den charakteristischen Eigenschaften der Freiländer. Sie
-sind eben allesamt Eigentümer ihres gesamten Landes, und inniges Behagen
-an diesem ihrem köstlichsten Eigentum tritt überall zu Tage. So halte
-ich es z. B. für bezeichnend, daß nirgend in Freiland Bäche und Flüsse
-durch Abfallwässer vergiftet, nirgend malerische Berghänge durch wahllos
-angebrachte Steinbrüche verunstaltet werden, oder sonst ein Frevel gegen
-die landschaftliche Schönheit zu rügen ist. Warum auch sollten diese
-selbstherrlichen Arbeiter um geringer Ersparnisse willen -- die sie
-zudem sehr bald mit aller Welt teilen müßten -- sich selber eines so
-wesentlichen Genusses berauben, wie es eine möglichst gesunde und schöne
-Landschaft ist? Natürlich kommt diese verständige Pflege aller
-landschaftlichen Reize auch den Reisenden zu gute. Allenthalben sind
-Straßen sowohl als Eisenbahnen von mehrfachen Alleen prächtiger Palmen
-eingesäumt, deren schlanke astlose Stämme nirgend die Aussicht
-behindern, während ihre dichten Kronen erquickenden Schatten gewähren.
-Man hat infolge dieser ebenso einfachen als wirksamen Einrichtung beim
-Reisen hier unter dem Äquator von Hitze und Staub weit weniger zu
-leiden, als im »gemäßigten« Europa, wo während der Sommermonate eine
-mehrstündige Eisenbahn- oder Wagenfahrt häufig zur Tortur wird. An allen
-schön und romantisch gelegenen Punkten haben die zahlreichen, mit den
-gewaltigsten Mitteln arbeitenden Hôtel- und Vergnügungsassociationen
-sowohl riesige Gasthöfe als eine Menge kleiner Villen angelegt, in denen
-die Touristen und Sommerfrischler je nach Laune und Geschmack für
-Stunden, Tage, Wochen oder Monate gemeinsam zu Hunderten und Tausenden
-oder allein in ländlicher Zurückgezogenheit Unterkunft und allen
-erdenklichen Comfort finden.
-
-Wunderst Du Dich schon über den Luxus im Neyschen Hause, was wirst Du
-erst sagen, wenn ich Dir erzähle, daß hierzulande dem Wesen nach jeder
-einfache Arbeiter so lebt, wie unsere Gastfreunde. Die Villen haben
-einige Wohnräume weniger, die Möbel sind einfacher, statt eigene
-Reitpferde in den Ställen der Transportassociation zu halten, werden
-Mietpferde benützt, auf Kunstgegenstände, Bücher und zu wohlthätigen
-Zwecken wird weniger ausgegeben, das ist aber auch der ganze
-Unterschied. Da ist z. B. unser Nachbar Moro. Derselbe, ein gewöhnlicher
-Werkführer der Edenthaler Farbwarenassociation, gehört samt seiner
-reizenden Frau zu den Intimen des Neyschen Hauses, und wir haben schon
-einigemale vortrefflich in seinem netten und komfortabel eingerichteten
-7 Wohnräume enthaltenden Heim gespeist. Ja selbst die »Ziehtöchter«
-fehlen -- nebenbei bemerkt -- in seinem Hause nicht, denn auch seine
-Gattin genießt -- und, wie ich hinzufügen will, nicht mit Unrecht -- den
-Ruf einer hervorragenden Geistes- und Herzensbildung, und die
-Ziehtöchter suchen, wie Du weißt, nicht das große Haus, sondern die
-bedeutende Frau auf. Und sollte Dir besonders auffallend erscheinen, daß
-solch ein Phönix von Frau Gattin eines gewöhnlichen Fabrikarbeiters ist,
-so bedenke, daß freiländische Arbeiter etwas anderes sind, als
-europäische. Gediegene Mittelschulbildung genießt hier alle Welt, und
-daß ein junger Mann Handwerker und nicht Lehrer, Arzt, Ingenieur oder
-dergl. wird, hat darin seinen Grund, daß er eben keinerlei
-_hervorragende_ geistige Fähigkeiten in sich entdeckt oder vermutet.
-Denn hierzulande kann sich den geistigen Berufszweigen nur ein geistig
-hervorragend Befähigter mit Aussicht auf Erfolg zuwenden, da der
-Minderbefähigte angesichts der Konkurrenz _aller_ wirklich Befähigten
-unmöglich aufzukommen vermag. Bei uns da draußen, wo nur eine
-verschwindende Minderzahl die materiellen Mittel zum Studium hat,
-gewährt diese Mittellosigkeit einer ungeheuern Mehrzahl auch den
-Dummköpfen unter den Bemittelten ein Privilegium. Die Reichen können
-eben nicht alle talentiert sein -- so wenig als die Armen alle es sind;
-da wir aber trotzdem unseren Bedarf an geistigen Arbeitern -- von
-Ausnahmen, die ja überall vorkommen, muß dabei natürlich abgesehen
-werden -- bloß aus der kleinen Menge von Söhnen reicher Familien decken,
-so kommen bei uns -- günstig gerechnet -- auf je einen fähigen
-Studierenden zehn Unfähige, von welchen Zehnen aber, da wir mit dem
-einen Fähigen natürlich nicht den ganzen Bedarf decken können, höchstens
-die zwei oder drei Allerdümmsten Schiffbruch leiden. Hier dagegen, wo
-Jedermann die Mittel zum Studium hat, giebt es selbstverständlich
-unendlich mehr befähigte Studierende, folglich brauchen die Freiländer
-bei Deckung ihres geistigen Bedarfes lange nicht so tief zu greifen, als
-wir. Ihre Tüchtigsten sind nicht notwendig tüchtiger, als die unsrigen,
-aber unsere Unfähigsten -- unter den Studierenden -- sind viel, viel
-unfähiger, als ihre überhaupt noch möglichen Unfähigsten. Was bei uns
-noch mittelgut wäre, ist hier schon lange aussichtslos. Freund Moro z.
-B. hätte es in Europa oder Amerika vielleicht auch zu keiner »Leuchte
-der Wissenschaft« oder »Zierde des Barreau« gebracht, doch ein ganz
-annehmbarer Durchschnittslehrer, Advokat oder Beamter wäre er immerhin
-geworden. Hier aber mußte er -- nach absolvierten Mittelschulen --
-gewissenhafter mit seinen geistigen Fähigkeiten zu Rate zu gehen und
-gelangte dabei zu dem Resultate, daß es ersprießlicher für ihn sei, ein
-tüchtiger Fabrikwerkführer, als ein mittelmäßiger Lehrer oder Beamter zu
-werden. Und er konnte diesem Ratschlage strenger -- vielleicht
-allzustrenger -- Selbstprüfung Folge geben, ohne sich gesellschaftlich
-zu degradieren, denn in Freiland schändet Handarbeit wirklich nicht, zum
-Unterschiede von Europa und Amerika, wo dies zwar auch behauptet wird,
-jedoch lediglich eine der vielen konventionellen Lügen ist, mit denen
-wir uns selber hinters Licht zu führen versuchen. Arbeit ist bei uns --
-trotz aller demokratischen Redensarten -- ganz im Allgemeinen eine
-Schande, denn der Arbeitende ist ein höriger Mann, ein ausgebeuteter
-Knecht, er hat einen Herrn über sich, der ihn kommandiert, für sich
-ausnützt gleich dem arbeitenden Tiere -- keine Moraltheorie der Welt
-wird die Ehre des Knechtes der des Herrn gleichsetzen. Hier aber ist das
-anders. Um dies voll zu ermessen, brauchst Du bloß einmal gesellige
-Vereinigungen in Freiland besucht zu haben. Zwar liegt es in der Natur
-der Sache, daß Personen des gleichen Interessenkreises sich zunächst
-aufsuchen und anziehen, doch darf dies beileibe nicht so aufgefaßt
-werden, als ob damit auch nur im entferntesten eine Sonderung
-verschiedener Gesellschaftsschichten nach Berufen verbunden wäre. Das
-allgemeine Bildungsniveau ist ein so hohes, das Interesse an den
-erhabensten Problemen der Menschheit auch unter den Handarbeitern so
-verbreitet, daß Gelehrte, Künstler, hohe Beamte die mannigfaltigsten
-geistigen und gemütlichen Berührungspunkte auch mit Fabrik- oder
-Feldarbeitern finden.
-
-Dies ist umsomehr der Fall, als eigentlich eine Scheidung von Kopf- und
-Handarbeitern sich hierzulande gar nicht streng durchführen läßt. Der
-Handarbeiter von heute kann morgen durch die Wahl seiner Genossen
-Betriebsleiter, also Kopfarbeiter werden, und umgekehrt gibt es unter
-den Handarbeitern ungezählte Tausende, die ursprünglich einen anderen
-Beruf gewählt und die für diesen erforderlichen höheren Studien
-absolviert hatten, dann aber -- sei es, weil ihre geistigen Fähigkeiten
-sich als nicht vollkommen ausreichend erwiesen, sei es, weil ihre
-Geschmacksrichtung wechselte -- die Feder mit dem Werkzeug vertauschten.
-So hat z. B. ein anderer Hausfreund der Familie Ney sein mehrere Jahre
-hindurch zu allgemeiner Zufriedenheit verwaltetes Amt als Arzt
-niedergelegt und sich der Gärtnerei gewidmet, weil er fand, daß dieser
-ruhige Beruf ihn weniger von seinem Lieblingsstudium, der Astronomie
-abziehe, als die ärztliche Thätigkeit. Um sich als Astronom zu ernähren,
-dazu reichten seine Kenntnisse und Fähigkeiten nicht aus, und da ihm
-einigemal widerfahren war, von interessanten Beobachtungen zu plötzlich
-des Nachts erkrankten Kindern abberufen zu werden, so zog er es vor,
-seinen Haushalt durch den Ertrag von Gartenarbeit zu decken und des
-Nachts ungestört seinen lieben Sternen nachzuspüren. Ein anderer Mann,
-den ich hier kennen gelernt, vertauschte seine Carrière als Bankbeamter
-mit der Maschinenschlosserei, lediglich weil ihm auf die Dauer die
-sitzende Thätigkeit nicht behagte; er wäre wiederholt schon von den
-Mitgliedern seiner Association in die Oberleitung gewählt worden, lehnte
-aber stets ab, da seine Abneigung gegen Bureauarbeiten noch immer nicht
-überwunden ist. Insbesondere aber ist die Zahl derjenigen sehr groß, die
-irgendwelche Handarbeit mit Kopfarbeit verbinden. So allgemein
-verbreitet ist in Freiland die Abneigung gegen _ausschließliche_
-Kopfarbeit, daß sich die sämtlichen höheren Berufe, ja sogar die
-öffentlichen Ämter darauf einrichten mußten, ihren Angehörigen
-zeitweilig körperliche Berufsthätigkeit zu gestatten. Die Buchhalter und
-Korrespondenten der Associationen sowohl als der Centralbank, die
-Lehrer, Beamten und sonstigen Angestellten welcher Art immer, haben das
-Recht, außer den der Erholung gegönnten zweimonatlichen Ferien auch noch
-beliebigen Urlaub von längerer oder kürzerer Dauer zu verlangen und die
-Zeit desselben durch anderweitige Erwerbsthätigkeit auszufüllen.
-Natürlich wird diese außerordentliche Urlaubszeit vom Gehalte in Abzug
-gebracht, was jedoch die weitaus größere Hälfte all' dieser
-Bureauarbeiter nicht hindert, in Zwischenpausen von zwei bis drei Jahren
-je einige Monate hindurch als Fabrikarbeiter, Bergleute, Landbauer,
-Gärtner u. dgl. sich vom Einerlei ihrer gewohnten Berufsthätigkeit zu
-erholen. Ein mir bekannter Bureauchef der Centralverwaltung arbeitet
-jedes zweite Jahr acht Wochen lang in einer anderen Mine des Aberdare-
-oder Baringo-Distrikts; er hat -- wie er mir erzählte -- bis jetzt den
-Kohlen-, Eisen-, Zinn-, Kupfer- und Schwefelbau praktisch durchgenommen
-und freut sich jetzt auf den bevorstehenden Kursus in den Salzwerken von
-Elmeteita.
-
-Angesichts dieser allgemeinen und durchgängigen wechselseitigen
-Durchdringung von gewöhnlichster körperlicher und höchster geistiger
-Thätigkeit kann selbstverständlich von irgendwelchen Standes- oder
-Klassenunterschieden nirgend die Rede sein. Die hiesigen Ackerbauer sind
-gerade so geachtete, selbstbewußte Gentlemen, wie die Gelehrten,
-Künstler oder hohen Beamten, und nichts steht dem im Wege, sie im Salon
-als gute Kameraden zu behandeln, sofern die Charaktere und die
-Geistesrichtungen harmonieren.
-
-Insbesondere aber sind die Frauen -- anderwärts die hauptsächlichen
-Vertreterinnen aristokratischer Absonderung -- hierzulande Förderinnen
-vollständiger Verschmelzung aller Bevölkerungsschichten. Die
-freiländische Frau steht beinahe ausnahmslos auf einer sehr hohen Stufe
-ethischer und geistiger Bildung. Losgelöst von jeglicher materiellen
-Sorge und Arbeit, ist es ihr alleiniger Beruf, sich zu veredeln, ihr
-Verständnis für alles Gute und Erhabene zu schärfen. Da sie sich der
-entwürdigenden Notwendigkeit enthoben sieht, im Manne einen Ernährer zu
-suchen, mit ihrem Werte auf sich selber gestellt und nicht von der
-äußeren Lebensstellung des Mannes abhängig ist, so fehlt ihr jener
-exklusive Hochmut, der überall dort sich einfindet, wo wirkliche Vorzüge
-fehlen. Sind doch die Frauen der sog. besseren Stände bei uns daheim
-meist nur deshalb so schroff abweisend ihren vom Glücke minder
-begünstigten Schwestern gegenüber, weil sie des instinktiven Gefühls
-nicht ledig werden, daß diese sehr gut ihren Platz ausfüllen und sie
-selber mitunter in deren dienende Stelle passen würden, wenn sie die
-Ehegatten vertauscht hätten. Und auch, wenn dem nicht so ist, wenn die
-europäische »Dame« wirklich höheren ethischen und geistigen Wert
-besitzt, so muß sie sich doch sagen, daß ihre Stellung im Urteile der
-Welt weniger von diesen ihren eigenen Eigenschaften, als von Rang und
-Stellung des Mannes abhänge, also vom Werte eines Dritten, der ebensogut
-jede Andere auf den erborgten Thron hätte setzen können. Schopenhauer
-hat nicht ganz Unrecht: die Frauen betreiben zumeist das gleiche
-Gewerbe: die Männerjagd, und Konkurrenzneid ist es, was ihrem Hochmut zu
-Grunde liegt. Nur vergißt er hinzuzufügen, oder vielmehr er weiß wohl
-selber nicht, daß dieses den Frauen gemeinsame, von ihm mit so herbem
-Spotte gegeißelte Gewerbe mit all seinen häßlichen Folgeübeln ihnen
-durch ihre Rechtlosigkeit aufgenötigt und keineswegs mit ihrer Natur
-untrennbar verknüpft ist.
-
-Die hiesigen Frauen, die frei und gleichberechtigt sind in der
-höchsten Bedeutung des Wortes, kennen diesen Hochmut auf äußere
-Lebensverhältnisse nicht. Selbst wenn Beruf oder Reichtum des Gatten
-hierzulande irgendwelche Standesunterschiede begründen könnten, sie
-würden dieselben niemals anerkennen, sondern sich in ihrem Umgange
-lediglich von persönlichen Eigenschaften bestimmen lassen. Die
-geistreichste, liebenswürdigste Frau ist es, deren Freundschaft von
-ihnen am eifrigsten gesucht wird, gleichviel, welche Stellung der Gatte
-einnehmen mag. Du begreifst also, daß Frau Moro ihren Mann wählen
-konnte, ohne sich in der hiesigen »Gesellschaft« das Geringste zu
-vergeben.
-
-Da wir gerade mit diesem Thema beschäftigt sind, laß mich die
-Gelegenheit benützen, einige Worte über das Wesen der hiesigen
-Geselligkeit nachzutragen. Dieselbe ist überaus lebhaft; die bekannten
-Familien versammeln sich beinahe jeden Abend in zwanglosen Cirkeln, in
-denen geplaudert, musiciert, vom jungen Volke wohl auch getanzt wird.
-Soweit wäre dabei nichts besonderes; ihren ganz eigentümlichen, dem
-Fremden anfangs schier unbegreiflichen Reiz aber erhält diese
-Geselligkeit durch den sie durchwehenden Ton höchster Freiheit im
-Vereine mit reinstem Adel und tadelloser Feinheit. Nachdem ich sie
-einigemale gekostet, dürstete ich förmlich nach den Freuden dieser
-Zusammenkünfte, ohne mir anfangs Rechenschaft geben zu können über die
-Natur des Zaubers, den sie auf mich übten. Schließlich bin ich zu der
-Überzeugung gelangt, daß es in erster Linie jene Atmosphäre wahrer
-Menschenliebe sein müsse, die in Freiland alles umfängt, was hier den
-geselligen Verkehr zu einem so genußreichen gestaltet.
-
-Europäische Gesellschaften sind im Grunde doch nichts anderes, als
-Maskeraden, bei denen alle Welt sich gegenseitig belügt; Zusammenkünfte
-von Feinden, die das Böse, das sie sich gegenseitig wünschen, unter
-höflichen Grimassen zu verbergen suchen, ohne jedoch dadurch irgendwen
-ernstlich zu täuschen. Und dies ist in einer ausbeuterischen
-Gesellschaft anders gar nicht möglich, denn in dieser ist
-Interessengegensatz die Regel, wahre Interessensolidarität eine höchst
-seltene und bloß zufällige Ausnahme; seinen Nebenmenschen wirklich zu
-lieben, ist bei uns eine Tugend, zu deren Übung ein nicht gerade
-alltägliches Maß von Selbstverleugnung gehört, und Jedermann weiß daher,
-daß neun Zehnteile dieser verbindlich grinsenden Masken sofort in
-bitterem Hasse über einander herfallen würden, wenn die angeborene und
-anerzogene Dressur der wohlanständigen Sitte sie auch nur einen Moment
-im Stiche ließe. Man hat also inmitten solcher Gesellschaften stets ein
-Gefühl, welches etwa dem der unterschiedlichen Bestien gleichen mag,
-welche in den Menagerien zum Ergötzen des schaulustigen Publikums in
-einen gemeinsamen Käfig gesperrt, sich wohl oder übel miteinander
-vertragen müssen. Der Unterschied liegt bloß darin, daß die Dressur von
-uns zweibeinigen Tigern, Panthern, Luchsen, Wölfen, Bären und Hyänen
-vollkommener ist, als die unserer vierbeinigen Ebenbilder; diese
-umschleichen einander, ingrimmig knurrend, ihre Rauf- und Mordlust
-sichtlich nur mühsam unter scheuen Seitenblicken auf die Peitsche des
-Tierbändigers unterdrückend; während wir den im Herzen lauernden bösen
-Willen höchstens dem aufmerksamen Beobachter durch ein tückisches
-Blinzeln des Auges oder sonst eine kaum zu bemerkende Kleinigkeit
-verraten. Ja, so mächtig ist die Dressur von uns zweibeinigen
-Raubtieren, daß wir uns durch dieselbe zeitweilig selber täuschen
-lassen; die Hyäne unter uns hat Momente, wo sie allen Ernstes glaubt,
-ihr verbindliches Grinsen dem Tiger gegenüber sei ehrlich gemeint, und
-wo der Tiger sich einbildet, hinter seinem leisen Knurren verberge sich
-eitel Liebe und Freundschaft mit seinen Mitbestien. Aber das sind eben
-nur vorübergehende Momente holden Selbstbetrugs, und im allgemeinen wird
-man der Empfindung nicht ledig, sich unter natürlichen Feinden zu
-befinden, die nur äußerer Zwang hindert, uns des lieben Futters halber
-an die Kehle zu springen. Die Freiländer dagegen sehen sich unter
-wahren, aufrichtigen Freunden, wenn sie unter Menschen sind. Sie haben
-einander nichts zu verbergen, sie wollen einander weder übervorteilen,
-noch gegenseitig ausnützen. Wetteifer findet allerdings auch unter ihnen
-statt, aber dieser kann das Gefühl kameradschaftlichen Wohlwollens nicht
-beeinträchtigen, da der Erfolg des Siegers allemal auch dem Besiegten
-gute Früchte trägt. Harmlose Offenheit, ein geradezu kindliches
-Sichgehenlassen ist daher allenthalben unter ihnen heimisch und das in
-Verbindung mit der heiteren Lebensanschauung und geistigen
-Vielseitigkeit ist es, was der hiesigen Geselligkeit so wunderbaren Reiz
-verleiht.
-
-Doch jetzt laß mich fortfahren in meinen Berichten über unsere hiesigen
-Erlebnisse. Gestern sahen wir hier den ersten -- Betrunkenen. Wir -- d.
-h. mein Vater und ich -- hatten in Begleitung Davids nach dem Diner eine
-kleine Promenade am Edensee gemacht, an dessen Ufern bekanntlich die
-meisten der Edenthaler Hotels gelegen sind; eben als wir wieder
-heimkehren wollten, begegnete uns ein Trunkener, der wankend auf uns
-zukam und lallend nach einem der Gasthöfe fragte. Es war sichtlich ein
-erst kürzlich eingetroffener Einwanderer. David bat uns, die wenigen
-Schritte nach Hause allein zurückzulegen, nahm den Betrunkenen unter den
-Arm und führte ihn nach seinem Gasthofe; ich schloß mich diesem
-Liebeswerke an, während mein Vater heimkehrte. Als auch wir anlangten,
-fanden wir ihn im lebhaftesten Gespräche mit Frau Ney über dieses kleine
-Abenteuer. »Denke nur,« rief er mir zu, »Madame behauptet, wir könnten
-uns rühmen, einer der in diesem Lande seltensten Sehenswürdigkeiten
-begegnet zu sein; sie ihrerseits habe während der 25 Jahre ihres
-Aufenthalts in Freiland bloß drei Trunkene bemerkt, und sie sei
-überzeugt, daß Edenthal zur Stunde sicherlich keinen zweiten Menschen in
-seinen Mauern beherberge, der jemals bis zur Sinnlosigkeit tränke! Ihr
-Freiländer« -- so wandte er sich nun an David -- »seid doch sicherlich
-keine Temperenzler; Euer Bier und Palmwein ist vorzüglich, Euere Weine
-lassen nichts zu wünschen übrig, und Ihr scheint mir nicht die Leute,
-diese guten Dinge bloß zum Gebrauche etwaiger Gäste in Bereitschaft zu
-halten; sollte es Euch also wirklich niemals widerfahren, daß Ihr ein
-klein wenig über den Durst tränket?«
-
-»Und doch ist dem so, wie meine Mutter sagt. Wir trinken gern einen
-guten Tropfen und gönnen uns einen solchen nicht gerade selten; auch
-will ich nicht leugnen, daß bei festlichen Gelegenheiten die
-Begeisterung des Weines hie und da in ziemlich hellen Flammen
-emporschlägt; ein sinnlos trunkener Freiländer gehört aber trotzdem zu
-den allerseltensten Erscheinungen. Wenn Sie das gar so sehr Wunder
-nimmt, so werfen Sie sich doch die Frage auf, ob denn in Europa und
-Amerika gesittete und gebildete Menschen sich zu betrinken pflegen. Das
-geschieht, wie ich weiß, auch bei Ihnen bloß in den seltensten Fällen,
-obwohl dort die öffentliche Meinung in diesem Punkte minder streng ist,
-als hierzulande. In Freiland aber gibt es keinen Pöbel, der im Rausche
-Vergessenheit seines Elendes suchen müßte, und das Beispiel dieses
-Pöbels kann daher auch nicht dazu dienen, an den Anblick dieses
-erniedrigendsten aller Laster zu gewöhnen.«
-
-»Daß ihr Freiländer gegen dieses Laster gefeit seid, nimmt uns auch
-nicht gar so sehr Wunder,« entgegnete mein Vater. »Aber ihre verehrte
-Mama erklärte uns, daß auch unter den Eingewanderten Trunkenbolde so rar
-sind, wie weiße Raben. Nun ist mir nicht bekannt, daß an den Grenzen
-Ihres Landes Mäßigkeitsapostel Wache halten; die Einwanderer gehören zum
-Teil jedenfalls solchen Rassen und Klassen an, die in ihrer alten Heimat
-dem Trunke -- und zwar dem Trunke in seiner häßlichsten Bedeutung --
-keineswegs abgeneigt sind; was veranlaßt diese Leute hier, sich solcher
-Enthaltsamkeit zu befleißigen?«
-
-»Zunächst der Wegfall jener Gründe, die in Europa und Amerika zum Trunke
-verleiten. Ich habe mich gelegentlich meiner europäischen Studienreise,
-die nicht bloß der Kunst, sondern auch dem Leben Ihres Landes gewidmet
-war, in den Höhlen der Armut umgesehen und dort Verhältnisse gefunden,
-die es geradezu wunderbar erscheinen ließen, wenn die inmitten derselben
-Lebenden nicht in der Schnapsflasche Vergessenheit ihrer Marter, ihrer
-Schmach, ihrer Entwürdigung gesucht hätten. Ich sah Menschen, die zu
-zwanzig und dreißig -- alle Altersklassen und Geschlechter bunt
-durcheinander gewürfelt -- in _einem_ Gemache schliefen, welches gerade
-nur soviel Raum bot, daß die Insassen dichtgedrängt auf der eklen, den
-Boden bedeckenden Streu Unterkunft fanden; Menschen, die tagsüber kein
-anderes Heim hatten, als den Fabriksaal -- oder die Schenke. Und das
-waren nicht etwa brotlose, sondern in regelmäßiger Arbeit stehende
-Leute, und nicht vereinzelte Ausnahmen, sondern Typen der Arbeiterschaft
-großer Landstriche. Daß solche Menschen in viehischer Betäubung Rettung
-suchen gegen die Erinnerungen ihrer Entbehrungen, der Schande ihrer
-Weiber und Töchter, daß sie das Bewußtsein ihrer Menschenwürde
-verlieren, das hat mich niemals in Erstaunen und noch weniger in
-Entrüstung versetzt; diese beiden Gefühle kehrten sich bloß gegen den
-Unverstand, der solchen Jammer ruhig gewähren läßt, als wäre er in
-Wahrheit der Ausfluß eines unwandelbaren Naturgesetzes. Und eben so
-natürlich finde ich, daß diese selben Menschen hier, wo sie ihre Würde
-und ihr Recht zurückerlangt haben, wo ihnen sorglose, schöne
-Lebensfreude allenthalben entgegenlacht, zugleich mit dem Elend auch das
-Laster des Elends abstreifen. Diese neuen Ankömmlinge stürzen sich alle
-mit wollüstiger Gier in den Umgang mit uns; sie können es meist gar
-nicht erwarten, ganz und vollständig unseresgleichen zu werden; je
-elender, entwürdigter sie zuvor gewesen, desto grenzenloser ist ihr
-Entzücken, ihr Dankgefühl, sich hier von Jedermann als Seinesgleichen
-betrachtet zu sehen; um keinen Preis würden sie der Achtung ihrer neuen
-Genossen verlustig werden, und da diese den Trunk allgemein meiden, so
-trinken sie eben auch nicht.«
-
-»Du hast uns erklärt, warum Ihr keine Trunkenbolde hierzulande habet« --
-nahm nunmehr ich das Wort. »Aber noch um vieles wunderbarer erscheint
-mir, daß Euer Grundsatz, jedem Arbeitsunfähigen -- er mag es aus welchem
-Grunde immer sein -- einen Versorgungsanspruch einzuräumen, Euch nicht
-mit Krüppeln und Greisen sonder Zahl überflutet. Oder gibt es
-irgendwelche, uns noch unbekannte Einrichtungen, welche Euch gegen
-solche Gäste schützen? Und in welcher Weise erwehrt Ihr Euch, ohne
-peinlich inquisitorische Kontrolle, jener Trägen, die das
-Versorgungsrecht der wirklich Arbeitsunfähigen erschleichen wollen, um
-dem Müssiggange fröhnen zu können? Werden hinsichtlich der
-Versorgungsansprüche vielleicht Unterschiede zwischen Einheimischen und
-Eingewanderten gemacht, und was ist zur Geltendmachung eines solchen
-Anspruches vonnöten?«
-
-»Hinsichtlich der Versorgungsansprüche wird keinerlei Unterschied
-gemacht, und zu deren Geltendmachung genügt das Krankheitszeugnis eines
-unserer Ärzte, oder der Ausweis des zurückgelegten 60. Jahres. Bei
-Ausstellung der Krankheitsatteste wird prinzipiell mit der größten
-Liberalität vorgegangen, ja es hat Jedermann das Recht, für den Fall,
-daß ihm der eine Arzt das Zeugnis verweigern sollte, sich nach Belieben
-einen anderen auszusuchen, da wir es grundsätzlich vorziehen, lieber
-zehn träge Simulanten zu füttern, als einen wirklich Kranken abzuweisen.
-Trotzdem gibt es bei uns ebensowenig fremde, als einheimische
-Müssiggänger von Beruf. Auch hier erweist sich der Einfluß unserer
-Institutionen als genügend mächtig, um alle derartigen Gelüste im Keime
-zu ersticken. Beachte vor allem, daß der Neueingewanderte den obersten
-Ehrgeiz hat, Unseresgleichen zu werden, sich uns anzuschließen; zu
-diesem Behufe muß er, ist er anders gesund und kräftig, an unseren
-Geschäften teilnehmen. Der kennt die menschliche Natur schlecht, der da
-glaubt, Proletarier, die sich noch einen Rest von Menschenwürde
-gerettet, würden, wenn sie Gelegenheit haben, als gleichberechtigte,
-selbstherrliche Männer in blühende, mächtige Geschäfte einzutreten,
-darauf verzichten und es vorziehen, sich von Gesamtheitswegen füttern zu
-lassen. Die Ankömmlinge _wollen_ an allem teilnehmen, was hierzulande zu
-erlangen und zu leisten ist; es bedarf in neunundneunzig unter hundert
-Fällen keines anderen Anreizes zur Arbeit für sie. Jene Wenigen aber,
-denen dieser Sporn nicht genügt, finden sich, ist erst einmal die erste
-Zeit des Schauens und Hörens vorbei, sehr rasch durch Langeweile und
-Vereinsamung genötigt, irgend eine fruchtbare Thätigkeit zu wählen. Wir
-haben hier kein Wirtshausleben im abendländischen Sinne, keine
-Geselligkeit gewohnheitsmäßiger Müssiggänger; man _muß_ hier eben
-arbeiten, um sich behaglich zu fühlen, und so arbeitet denn Alles, was
-arbeitsfähig ist. Die verstockteste Trägheit und Indolenz kann höchstens
-durch einige Wochen dem Zauber des Gedankens Stand halten, daß man, um
-den Ersten des Landes als Seinesgleichen die Hand schütteln zu dürfen,
-keines anderen Ehren- und Machttitels bedürfe, als einiger ehrlicher
-Arbeit. Kräftige, gesunde Müssiggänger sind also auch unter den
-Eingewanderten geradezu verschwindende Ausnahmen, die wir resigniert als
-eine Art geistiger Krankheitsfälle über uns ergehen lassen. Darben aber
-dürfen bei uns auch diese Trägen nicht. Sie erhalten, ohne daß ihnen ein
-besonderes Recht eingeräumt wird, alles, was sie brauchen und zwar nach
-europäischen Begriffen überreichlich.
-
-»Was nun die Frage anlangt, ob das Institut der Versorgungsrechte nicht
-geradezu alles ins Land locke, was die übrige Welt an körperlich und
-geistig Invaliden, an Krüppeln und Greisen besitze, so kann ich darauf
-nur antworten, daß Freiland Jedermann unwiderstehlich anlockt, der
-nähere Kunde von seinen Einrichtungen erhalten hat, und daß daher das
-Verhältnis zwischen arbeitstüchtigen und arbeitsuntüchtigen Einwanderern
-lediglich davon abhängt, ob solche Kunde leichter und rascher zu
-ersteren oder zu letzteren gelangt. Wir weisen niemand zurück und
-befördern den lahmen Krüppel ebenso unentgeltlich in unser Land, wie den
-rüstigsten Arbeiter; aber es liegt in der Natur der Sache, daß die
-Tüchtigsten, Regsamsten sich in stärkerer Zahl melden, als die Armen an
-Geist und Körper.
-
-»Auf der Forderung, daß jeder Einwanderer des Lesens und Schreibens
-kundig sein müsse, um all' unserer Rechte teilhaftig zu werden, bestehen
-wir seit Gründung des Gemeinwesens. Freiheit und Gleichberechtigung
-setzen ein gewisses Ausmaß von Kenntnissen voraus, welche wir niemand
-erlassen _können_. Freilich bliebe uns der Ausweg, die Unwissenden zu
-bevormunden; aber damit wäre den Behörden ein Wirkungskreis eingeräumt,
-den wir für unvereinbar mit wahrer Freiheit halten, und wir behandeln
-daher Einwanderer, die Analphabeten sind, als Fremdlinge, oder wenn man
-so will, als Gäste, die nach Möglichkeit zu fördern jedermanns
-Menschenpflicht ist, die in materieller Beziehung, sofern sie sich
-leistungsfähig erweisen, den Einheimischen gegenüber keineswegs verkürzt
-werden, die jedoch keinerlei politisches Recht auszuüben vermögen.«
-
-»Wie aber«, so fragte mein Vater, »konstatieren Sie diese geistige
-Beschaffenheit Ihrer unwissenden Landesgenossen? Existiert zu diesem
-Behufe eine besondere Behörde, und ergeben sich keine Unzukömmlichkeiten
-bei solcher Inquisition?«
-
-»Wir inquirieren nicht, und keine Behörde kümmert sich um das Wissen der
-Leute. Anfänglich übten wir, um nicht von fremder Unwissenheit
-überflutet zu werden, die Vorsicht, Analphabeten von der unentgeltlichen
-Beförderung nach Freiland auszuschließen; wir haben vor 19 Jahren auch
-das fallen gelassen. Jedermann, ohne jegliche Ausnahme, wird seither
-unentgeltlich bis an jeden ihm beliebigen Punkt Freilands befördert;
-niemand befragt ihn auch hier um den Stand seines Wissens; es steht ihm
-frei, von allen unseren Einrichtungen vollen Gebrauch zu machen, alle
-unsere Rechte auszuüben -- nur muß er dies in derselben Weise thun, wie
-wir -- und das ist dem Analphabeten eben unmöglich. Wohin er sich wenden
-mag, bei der Centralbank, bei allen Associationen, in allen Wahlbureaus,
-muß er lesen, schreiben -- und zwar der Natur der Sache nach meist mit
-Verstand schreiben -- sich in Gedrucktem und Geschriebenem
-zurechtfinden, kurz, ein gewisses Maß von Bildung haben, welches wir ihm
-nicht erlassen könnten, auch wenn wir wollten.«
-
-»Dann ist aber«, meinte mein Vater, »Ihre berühmte Gleichberechtigung
-doch nur für einigermaßen gebildete Leute vorhanden?«
-
-»Selbstverständlich« -- erklärte nun Frau Ney. »Oder glauben Sie
-wirklich, daß vollkommen Unwissende die Fähigkeit besitzen, sich selber
-zu regieren? Jawohl, wirkliche Freiheit und Gleichberechtigung hat einen
-gewissen Grad von Civilisation zur unerläßlichen Voraussetzung. Die
-Freiheit und Gleichberechtigung der Armut und Barbarei, diese allerdings
-lassen sich auch von unwissenden Horden ins Werk setzen; Reichtum und
-Muße aber sind Produkte hoher Kunst und Kultur, sie können nur von
-wirklichen Kulturmenschen genossen werden. Wer die Menschen frei und
-reich machen will, der muß ihnen zuvor Wissen beibringen -- das liegt
-nun einmal in der Natur der Sache, und nicht unsere, sondern Euere
-Schuld ist es, daß so Viele Eurer Volksgenossen zur Freiheit erst noch
-erzogen werden müssen.«
-
-»Da haben Sie abermals Recht«, seufzte mein Vater. »Nun, und welche
-Erfahrungen machen Sie mit diesen eingewanderten Analphabeten?«
-
-»Die Erfahrung, daß diese Ausschließung von vollkommener
-Gleichberechtigung, gerade weil sie mit keinerlei materieller
-Benachteiligung verknüpft ist, als schlechthin unwiderstehlicher Antrieb
-zu möglichst raschem Nachholen des in der alten Heimat Versäumten wirkt.
-Wir haben zu Nutz und Frommen solcher Einwanderer besondere Schulen für
-Erwachsene eingerichtet; auch Nachbarn und gute Freunde nehmen sich
-ihrer an und die Leute lernen mit geradezu rührendem Eifer. Sie begnügen
-sich keineswegs mit der mechanischen Aneignung jenes Ausmaßes von
-Kenntnissen, dessen sie zu Ausübung aller freiländischen Rechte gerade
-bedürfen, sondern sind redlich bemüht, sich möglichst vollständiges
-Wissen zu erwerben, und es sind wenige Fälle bekannt, wo aus solchen
-Einwanderern in kurzer Zeit nicht ganz gebildete Menschen geworden
-wären.«
-
-»Und was schließlich die hier wirklich als Invaliden anlangenden
-Einwanderer betrifft«, nahm jetzt wieder David das Wort, »so üben wir
-diesen gegenüber die Versorgungspflicht in der nämlichen Weise, als ob
-sie in freiländischen Werkstätten alt und schwach geworden wären. Eine
-merkliche Belastung unseres Budgets haben wir davon nicht verspürt.
-Charakteristisch ist übrigens, daß die invaliden Eingewanderten meist
-nur unvollständigen Gebrauch von dem ihnen eingeräumten
-Versorgungsrechte machen; diese Bedauernswerten gewöhnen sich in der
-Regel nur allmählich an das sich ihnen hier bietende Ausmaß höherer
-Genüsse, und sie wissen daher anfangs keine Verwendung für den auf sie
-einstürmenden Reichtum.«
-
-»Jetzt bitte ich Sie, noch _ein_ Bedenken zu zerstreuen, wie mir
-scheint, das wichtigste. -- Was ist's mit Verbrechern, gegen deren
-Einwanderung Sie doch auch nicht geschützt sind? Erscheint mir schon
-höchst merkwürdig, daß Sie ohne Polizei und Strafeinrichtungen mit den
-Millionen Ihrer freiländischen Bevölkerung auskommen, so kann ich
-vollends nicht begreifen, wie Sie mit jenen Strolchen und Verbrechern
-fertig werden wollen, welche durch die ihnen hier winkende Milde, die
-auch den Verbrecher nicht strafen, bloß bessern will, doch angelockt
-werden sollten, wie Wespen vom Honig. Nun haben Sie uns allerdings
-erzählt, daß die zur Entscheidung der Civilstreitfälle eingesetzten
-Friedensrichter auch in Criminalsachen als erste Instanz zu fungieren
-haben, und daß von diesen der Appell an höhere Richterkollegien zulässig
-sei; Sie fügten jedoch hinzu, daß diese Richter allesamt so gut wie
-nichts zu thun haben und nur in höchst seltenen Ausnahmefällen das
-hierzulande übliche Besserungsverfahren zu verhängen in die Lage kommen.
-Wirken thatsächlich Ihre Institutionen so besänftigend auch auf
-verstockte Verbrechergemüter?«
-
-»Allerdings«, antwortete Frau Ney. »Und wenn Sie ruhig erwägen, welches
-die eigentliche und letzte Quelle aller Verbrechen ist, so werden Sie
-das auch ganz begreiflich finden. Vergessen Sie doch nicht, daß Recht
-und Gesetz in der ausbeuterischen Gesellschaft Anforderungen an das
-Individuum stellen, die der menschlichen Natur geradezu entgegenlaufen.
-Der Hungernde und Frierende soll vorübergehen an fremdem Überflusse,
-ohne sich davon anzueignen, wessen er zur Befriedigung seines
-unabweislichen Bedürfnisses bedarf, ja ohne Neid und Mißgunst gegen die
-Glücklicheren zu empfinden, die reichlich besitzen, was er so grausam
-entbehrt! Er soll seinen Nebenmenschen lieben, trotzdem dieser gerade
-auf jenem Gebiete, wo Interessenkonflikte am unversöhnlichsten sind,
-weil sie die Grundlagen der ganzen Existenz berühren, sein Nebenbuhler,
-sein Zwingherr oder sein Sklave, für alle Fälle aber sein Feind ist, aus
-dessen Nachteil er Vorteil zieht und aus dessen Vorteil ihm Nachteil
-erwächst! Daß all' dies Jahrtausende hindurch unerbittliche
-Notwendigkeiten waren, läßt sich freilich nicht leugnen; aber thöricht
-wäre es, zu übersehen, daß derselbe grausame Zusammenhang, welcher die
-Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, also das Unrecht, zur
-Voraussetzung des Kulturfortschrittes machte, auch das Verbrechen, d. h.
-die Auflehnung des gemarterten Individuums gegen die zum Wohle der
-Gesamtheit unerläßliche schreckliche Ordnung, erst ins Leben rief. Die
-ausbeuterische Weltordnung verlangt vom Individuum, daß es thue, was ihm
-schadet, weil das Wohl der Gesamtheit es so erfordert, und sie verlangt
-dies nicht etwa als besonders anerkennenswerte, hervorragende Leistung,
-die bloß einzelnen edlen Naturen zugemutet werden dürfe, in denen der
-Gemeinsinn jegliche Regung des Egoismus unterdrückt hat, sondern als
-etwas bei jedermann stets und überall Selbstverständliches, dessen Übung
-nicht Tugend, sondern dessen Unterlassung Verbrechen genannt wird. Auch
-der Held, der sein Leben dem Vaterlande, der Menschheit opfert,
-unterordnet sein Einzelinteresse dem Wohle einer höheren Gesamtheit, und
-niemals wird die Menschheit auf solche Opferthaten verzichten können,
-immer wird sie von ihren Edelsten verlangen, daß die Liebe zur Gattung
-den Sieg davon trage über die Liebe zum eigenen kleinen Ich, ja es darf
-ohne weiteres als logisches Ergebnis fortschreitender Kultur bezeichnet
-werden, daß diese Forderung stets gebieterischer im Busen des Menschen
-sich geltend machen und dort stets freudigeren Gehorsam finden wird.
-Aber der Name dieses Gehorsams ist »Heroismus«, sein Mangel noch kein
-Verbrechen; er kann nicht erzwungen werden, sondern ist ein freiwilliger
-Liebestribut groß angelegter Naturen. Auf wirtschaftlichem Gebiete aber
-wird ähnlicher, ja schwerer zu übender Heldenmut dem Letzten und
-Elendesten, ja diesem in erster Reihe zugemutet, muß ihm, so lange
-Ausbeutung die Grundlage der Gesellschaft ist, zugemutet werden, und
-»Verbrecher« heißen dann alle Jene, die sich minder groß erweisen, als
-ein Leonidas, Curtius oder Winkelried auf dem Schlachtfelde, oder als
-jene meist ungenannten Heroen der Menschenliebe, die ihr Leben im Kampfe
-gegen feindliche Naturmächte zaglos zum Opfer brachten, wenn die heilige
-Stimme in ihnen, die Stimme der Nächstenliebe, es forderte.
-
-»Wir in Freiland aber verlangen von niemand zwangsweise solchen
-Heldenmut. Auf wirtschaftlichem Gebiete muten wir dem Individuum nichts
-zu, was seinem eigenen Interesse widerspricht, es ist daher nur
-selbstverständlich, daß es sich niemals gegen unsere Rechtsordnung
-empört. Bei uns ist Wahrheit, was unter der Herrschaft der alten Ordnung
-bloß selbstgefällige Gedankenlosigkeit behaupten konnte, daß nämlich
-wirtschaftliche Moral nichts anderes sei, als vernünftiger Egoismus. Sie
-werden es also begreiflich finden, daß _vernünftige_ Menschen unsere
-Rechtsordnung nicht verletzen können. Wir haben einige Dutzend
-unverbesserlicher Übelthäter im Lande, dieselben sind aber ohne Ausnahme
--- unheilbare Idioten.«
-
-Nachdem auch dieser Punkt erledigt war, erbat sich mein Vater eine
-letzte Aufklärung. Er erklärte, nunmehr vollständig zu begreifen, daß
-die freiländischen Institutionen, gerade weil sie nichts anderes seien,
-als die konsequente Durchführung des Prinzipes der wirtschaftlichen
-Gerechtigkeit, durchaus geeignet wären, jeglichem billigen und
-vernünftigen Anspruche zu genügen. Nichtsdestoweniger drückte er seine
-Verwunderung über die sichtlich herrschende allgemeine und ausnahmslose
-Zufriedenheit mit denselben aus. Ob denn _unvernünftige_ Parteiungen
-Freiland keinerlei Schwierigkeiten bereiteten? Insbesondere wollte er
-wissen, ob Kommunismus und Nihilismus, die in Europa stets drohender ihr
-Haupt erheben, hierzulande gar nicht zu schaffen machten. »In den Augen
-eines echten Kommunisten«, so rief er, »seid Ihr hier doch nichts
-weiter, als arge Aristokraten. Von absoluter Gleichheit keine Spur bei
-Euch! Welchen Wert kann Euere vielberühmte Gleich_berechtigung_ in den
-Augen von Leuten haben, die von dem Grundsatze ausgehen, daß jeder
-Bissen Brot, den einer dem andern gegenüber voraus hat, Diebstahl sei,
-und die daher, damit niemand mehr besitze, als der andere, alles
-Eigentum aufheben? Und dabei keine Polizei, keine Soldaten, um diese
-Tollhäusler im Zaume zu halten! Teilt doch auch uns das Recept mit, nach
-welchem sich der nihilistische und kommunistische Fanatismus so
-unschädlich machen läßt!«
-
-»Nichts leichter als das« -- antwortete Frau Ney. »Machen Sie, daß
-jedermann satt werde, und niemand wird dem anderen die Bissen vorzählen
-wollen. Die absolute Gleichheit ist eine Hallucination des
-Hungerfiebers, weiter nichts. Die Menschen sind einander _nicht_ gleich,
-weder in ihren Fähigkeiten, noch in ihren Bedürfnissen; Ihr Appetit ist
-stärker, als der meinige; Sie lieben vielleicht hübsche Kleider -- ich
-gebe keinen Heller für dieselben; dafür bin ich vielleicht ein
-Leckermaul, während Sie grobe Kost vorziehen, und so fort ohne Ende.
-Welcher Menschenverstand soll nun darin liegen, unsere beiderseitigen
-Bedürfnisse über denselben Leisten zu schlagen! Ich will gar nicht
-untersuchen, ob es möglich ist, ob über den davon unzertrennlichen Zwang
-nicht Freiheit und Fortschritt zu Grunde gehen müßten; der Zweck an sich
-ist so unsinnig, daß absolut unbegreiflich wäre, wie zurechnungsfähige
-Menschen auf derartige Gedanken geraten können, wenn nicht _eines_
-dazwischen träte, nämlich, daß der eine von uns weder seinen starken,
-noch seinen schwachen Appetit, seine Vorliebe weder für feine noch für
-ordinäre Kleidung, weder für leckere noch für gewöhnliche Speisen
-befriedigen kann, sondern grimmiges, brutales Elend leidet. Kommt dazu
-noch der Irrtum, daß mein Überfluß an Ihren Entbehrungen die Schuld
-trägt, so wird es begreiflich, daß Sie und diejenigen, die Mitleid mit
-Ihren Leiden haben, nach Teilung, nach vollkommen gleichmäßiger Teilung
-rufen. Mit einem Worte, der Kommunismus hat keine andere Quelle, als die
-Erkenntnis des grenzenlosen Elends der überwiegenden Mehrzahl aller
-Menschen, verknüpft mit der falschen Anschauung, daß es der thatsächlich
-vorhandene Reichtum Einzelner sei, aus welchem allein die Linderung
-dieses Elends geschöpft werden könne. Diese letztere Meinung ist nun
-allerdings eine unbegreifliche Thorheit, denn man braucht nur die Augen
-zu öffnen, um zu sehen, welch kümmerlicher Gebrauch von den so reichlich
-vorhandenen Fähigkeiten, Reichtümer zu erzeugen, gemacht wird; aber
-nicht die Kommunisten sind es, welche diese Thorheit ausheckten; Euere
-orthodoxe Ökonomie hat die Lehre in Umlauf gebracht, daß gesteigerte
-Ergiebigkeit der Arbeit die vorhandenen Werte nicht zu vermehren
-vermöge, sie, nicht der Kommunismus war es, was die Menschheit blind
-machte gegen den wahren Zusammenhang der wirtschaftlichen Vorgänge;
-Kommunisten sind in Wirklichkeit nichts anderes, als gläubige Anhänger
-der sogenannten »Grundwahrheiten« orthodoxer Ökonomie und der einzige
-Unterschied zwischen der bei Euch herrschenden Partei und ihnen liegt
-lediglich darin, daß sie hungrig sind, während jene satt ist. Mit der
-Erkenntnis, daß es nur der vollkommenen Gleich_berechtigung_ bedürfe,
-_um Überfluß für alle zu schaffen_, verfliegt der Kommunismus ganz von
-selbst wie ein böser, beängstigender Traum. Man kann verlangen -- wenn
-auch nicht durchführen -- daß alle Menschen auf gleiche Brotrationen
-gesetzt werden, so lange man glaubt, daß der gemeinsame Reichtum, von
-dem wir alle zehren müssen, eben nicht weiter als fürs liebe Brot
-reiche; denn satt werden wollen wir doch alle. Zu verlangen, daß jedem
-die gleiche Sorte und Menge Braten, Backwerk und Konfekt aufgezwungen
-werde, nachdem sich herausgestellt hat, daß genug für alle auch von
-diesen guten Dingen vorhanden sein könnte, wäre schlechthin läppisch. Es
-gibt daher bei uns keine Kommunisten und kann keine geben.
-
-»Aber auch der Nihilismus ist aus dem gleichen Grunde in Freiland
-unmöglich, denn auch er ist nichts anderes, als eine durch die
-Verzweiflung des Hungers hervorgerufene Hallucination, die nur auf dem
-Boden der orthodoxen Weltanschauung gedeihen kann. Ist der Kommunismus
-die Nutzanwendung, welche der Hunger aus dem Lehrsatze zieht, daß die
-Arbeit der Menschheit nicht ausreiche, um Überfluß für Alle zu erzeugen,
-so kann man den Nihilismus als die Schlußfolgerung der Verzweiflung aus
-jener anderen Lehre ziehen, daß Kultur und Civilisation unvereinbar
-seien mit wirtschaftlicher Gleichberechtigung. Die Orthodoxie ist's,
-welche auch dieses Dogma in Umlauf gebracht hat; allerdings hält sie,
-als die Wortführerin der Satten, auch hier keine andere Schlußfolgerung
-für denkbar, als diejenige, daß die auf ewig enterbten Massen sich im
-Interesse der Civilisation resigniert in ihr Schicksal fügen müßten; die
-Partei der Hungrigen aber wendet sich in wütendem Grimme gegen diese
-Civilisation, von welcher selbst ihre Anhänger behaupten, daß sie der
-ungeheuern Mehrzahl der Menschen niemals helfen könne und die deshalb
-für diese keinen anderen Effekt hat, als den einer Steigerung der
-_Empfindung_ des Elends. _Wir_ haben den Beweis erbracht, daß
-Civilisation nicht bloß vereinbar, sondern geradezu die Voraussetzung
-der wirtschaftlichen Gleichberechtigung ist -- auch der Nihilismus muß
-also hierzulande unbekannt sein.«
-
-»Sie glauben also«, nahm ich das Wort, »daß die Gleichheit des
-thatsächlichen Einkommens mit der Gleich_berechtigung_ nichts zu thun
-habe? Ich meinerseits muß gestehen, daß mir jene nutzlose Anhäufung
-überflüssiger Reichtümer, die wir in unserer abendländischen
-Gesellschaft zu beobachten Gelegenheit haben, an und für sich
-widerwärtig geworden ist, auch wenn ich mich überzeugt habe, daß das
-Elend der Massen weder in diesem Überflusse einer kleinen Minderzahl
-seinen letzten Grund habe, noch sich durch Verteilung dieses Überflusses
-wesentlich lindern ließe. Eine gesellschaftliche Ordnung, welche diese
-geilen Überschüsse nicht beseitigt, wird in meinen Augen immer
-unvollkommen bleiben, mag sie im übrigen noch so ausreichend für den
-Wohlstand Aller Sorge tragen.«
-
-»Auch ich kann dieses Gefühles nicht ganz Herr werden«, meinte mein
-Vater. »Aber ich bin der Ansicht, daß in dieser Auflehnung gegen die
-Ungleichheit an sich, denn doch nichts anderes zu suchen sein dürfte,
-als die sittliche Empörung, welche in jedem unbefangen denkenden
-Menschen gegen die bisherigen _Ursachen_ der Ungleichheit Wurzel
-geschlagen hat. Wir sehen bei uns zu Hause, daß große Vermögen fast
-niemals in hervorragenden individuellen Anlagen, sondern regelmäßig bloß
-in der Ausbeutung der Nebenmenschen ihren Entstehungsgrund haben, und
-daß sie ebenso regelmäßig zu neuer Ausbeutung benutzt werden. Das ist's,
-was uns dagegen einnimmt. Könnten noch so große Vermögen bloß durch
-hervorragende persönliche Fähigkeiten entstehen und vermöchte man sie zu
-nichts anderem zu gebrauchen, als zur Steigerung der individuellen
-Genüsse, wie dies in Freiland alles zutrifft, so würde auch die nicht
-hinwegzuleugnende Abneigung gegen dieselben rasch aufhören. Was ist
-übrigens die Meinung unserer liebenswürdigen Wirtin über diesen Punkt?«
-
-»Der Widerwille gegen übergroße Vermögen« -- erklärte diese -- »ist
-meines Erachtens nicht bloß in der ungerechten Quelle und Verwendung
-derselben zu suchen, sondern liegt tiefer, in der Erkenntnis nämlich,
-daß von sehr vereinzelten Ausnahmen abgesehen, die Verschiedenheiten in
-den Fähigkeiten der Menschen nicht so einschneidend sind, um so
-gewaltige Differenzen des Reichtums genügend zu rechtfertigen. Der
-Reichtum einer hochkultivierten Gesellschaft besteht zu derart
-überwiegendem Teile aus den Hinterlassenschaften der Vergangenheit und
-zu verhältnismäßig so geringem Teile aus den ureigenen Leistungen der
-einzelnen Individuen, daß ein gewisser Grad der Gleichheit -- nicht bloß
-der Rechte, sondern auch der thatsächlichen Genüsse -- allerdings im
-Wesen der Sache begründet und ein Gebot der Gerechtigkeit ist. Jeder
-Fortschritt der Kultur ist gleichbedeutend mit fortschreitender
-Ausgleichung der Differenzen der Leistungsfähigkeit. Denken Sie sich
-zurück in den Urzustand, wo das Individuum den Kampf ums Dasein der
-Hauptsache nach mit den ihm angeborenen Hilfsmitteln zu Ende führen
-mußte, so werden Sie finden, daß die Unterschiede sehr groß waren: bloß
-der Kräftige, Gewandte, Schlaue vermochte sich zu erhalten; der minder
-Begabte mußte untergehen. Als dann späterhin wachsende Kultur die
-Hilfsmittel der Menschen vermehrte, dermaßen, daß auch dem minder
-Fähigen möglich wurde, das zur Lebensfristung erforderliche zu erzeugen,
-blieb doch der Unterschied der individuellen Leistungen anfangs sehr
-groß. Der geschickte Jäger wird um ein Vielfaches reichlichere Beute
-haben, als der minder geschickte; der kräftige, gewandte Ackerbauer wird
-mit dem Spaten vielfach mehr richten, als der schwächliche,
-schwerfällige. Schon mit Erfindung des Pfluges verringert sich diese
-Verschiedenheit der Leistungen sehr wesentlich, und sie wird -- was
-körperliche Fähigkeiten anlangt -- mit der Erfindung der Kraftmaschinen
-beinahe auf Null reduciert. Mehr und mehr ersetzt die Maschine die
-Energie der menschlichen Muskeln, mehr und mehr aber gleichzeitig auch
-Witz und Erfahrung der Vorfahren die individuelle Findigkeit. Zwar so
-vollständig wie auf körperlichem Gebiete treten auf geistigem die
-individuellen Unterschiede nicht in den Hintergrund, aber auch sie
-rechtfertigen mit nichten jene kolossalen Differenzen des Reichtums, an
-welche man zu denken pflegt, wenn von »großen Vermögen« die Rede ist.
-Der Arbeiter am Dampfpfluge leistet -- er mag ein Riese oder ein
-Schwächling sein -- so ziemlich das nämliche; Klugheit und Umsicht der
-Leitung des Produktionsprozesses kann den Ertrag noch immer
-vervielfachen; eine Leistung aber, die hundertfach und tausendfach den
-Wert gewöhnlicher Durchschnittsleistung überträfe, ist heutzutage nur
-mehr -- dem Genie möglich, und diesem allein würde sie dem entsprechend
-auch unser Billigkeitsgefühl zuerkennen.«
-
-Damit schloß dieses Gespräch, welches mir aus dem Grunde ewig denkwürdig
-bleiben wird, weil es meinen Entschluß, Freiländer zu werden, zur Reife
-gebracht hat.
-
-
-
-
- 21. Kapitel.
-
-
- Edenthal, den 20. August.
-
-Du schreibst in Deinem Letzten, es komme Dir nicht ganz geheuer vor, daß
-in meinen Briefen so gar keine Rede mehr von den jungen Damen sei, mit
-denen ich seit nunmehr sechs Wochen unter einem Dache weile. Wenn ein
-junger Italiener -- so argumentiert Deine unerbittliche Logik -- von
-schönen Mädchen, mit denen er verkehrt, darunter eines, dessen erster
-Anblick ihn -- eigenem Geständnis zufolge -- »geradezu verwirrt« habe,
-nichts zu erzählen wisse, so habe er sich entweder einen Korb von der
-bewußten Einen geholt oder sei doch im Begriffe, es darauf ankommen zu
-lassen. Die Logik hat Recht, Luigi; ich bin verliebt, d. h. ich war es
-vom ersten Blicke an, und zwar in Bertha, meines David herrliches
-Schwesterlein, und auch mit dem Korbe hätte es um ein Kleines seine
-Richtigkeit gehabt. Nicht, daß die Geliebte meine Gefühle unerwidert
-gelassen hätte; Bertha gestand mir mit jener unbefangenen Offenheit, die
-ihr -- richtiger, die allen Freiländerinnen -- so entzückend steht, beim
-ersten Anlasse, wo ich mir zu einem Geständnisse den Mut faßte, daß auch
-sie mich sofort in ihr Herz geschlossen, daß sie noch am ersten Abend
-unseres Beisammenseins gewußt, mir oder niemand werde sie als Gattin
-angehören -- und trotzdem bekam ich auf meine Werbung zunächst ein
-»Nein« zu hören, das an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig ließ.
-Bertha vermochte sich nämlich nicht zu entschließen, italienische
-Herzogin zu werden, und mein Vater, der -- höre und staune --
-den Brautwerber für mich machte, hatte von ihr als etwas
-selbstverständliches gefordert, sie solle mir nach Italien auf unsere
-dortigen fürstlichen Besitzungen folgen, das Herzogsdiadem in ihre
-Locken -- sie sind von einem entzückenden Blond -- flechten und im
-Vereine mit mir die Fortpflanzung des erlauchten Geschlechts der Falieri
-zu ihrer Lebensaufgabe zu machen. Meinen Wunsch, mich als Freiländer in
-Freiland anzusiedeln, betrachtete mein Vater als überspannte Narrheit.
-Du kennst seine Anschauungen, die ein seltsames Gemengsel von
-aufrichtigem Freisinn und aristokratischem Stolze sind, richtiger waren;
-hier in Freiland hatte die demokratische Seite seiner Anschauungen sich
-allgemach gewaltig ins Breite und Tiefe entwickelt; er begann sogar aufs
-feurigste für die freiländischen Institutionen zu schwärmen; wenn es
-einen anderen Zweig der Falieri gäbe, dem man die Erhaltung der
-fürstlichen Familientraditionen hätte anvertrauen können -- _per baccho_
--- mein Vater hätte mich sofort gewähren lassen. Aber um einer -- und
-sei es auch noch so edlen -- Schwärmerei willen, die Axt an den
-Stammbaum eines Hauses zu legen, dessen Ahnen unter den ersten
-Kreuzfahrern gekämpft und späterhin als italienische Duodez-Fürsten die
-Welt mit ihren (Schand-) Thaten erfüllt -- das war mehr, als er mir zu
-gewähren vermochte. Gegen die Liebe zu Bertha aber hatte er nichts
-einzuwenden; wirklich und wahrhaftig, lieber Freund, nicht das
-geringste. Im Gegenteil, er war ordentlich stolz auf mich, als ich ihm
-die Frage, ob ich denn der Gegenliebe des Mädchens sicher sei, mit einem
-zuversichtlichen »Ja« beantworten konnte. »Blitzjunge« rief er, »dieses
-Prachtgeschöpf so im Handumdrehen erobern! Das soll uns Falieris jemand
-nachmachen!« Bertha hatte es meinem Vater geradeso angethan, wie mir,
-und da dieser ganz im allgemeinen vor den freiländischen Frauen den
-größten Respekt empfindet, so war ihm die »bürgerliche« Schwiegertochter
-ganz recht. Aber nur unter der Bedingung, daß ich den »tollen« Gedanken
-des Hierbleibens aufgebe. »Das Mädchen ist im kleinen Finger klüger als
-Du«, rief er; »sie würde sich schön bedanken, wenn ihr der Bräutigam die
-Herzogskrone zerbrochen vor die Füße würfe. Freiländerin sein ist recht
-schön -- aber, glaube mir, Fürstin zu sein, ist noch schöner. Zudem kann
-man ja diese beiden Vorteile recht wohl vereinigen. Den Winter und
-Frühling verbringt Ihr in unseren Palästen in Rom und Venedig; Sommer
-und Herbst hindurch könnt Ihr dann -- wenn es Euch recht ist, in meiner
-Begleitung -- hier an Euren Seen und in Euren Bergen die Freiheit
-genießen. Also es bleibt dabei; ich werbe für Dich um Bertha -- aber von
-dauernder Ansiedelung hier kein Wort weiter!«
-
-Mir gefiel die Sache nicht; den Vorsatz, Freiländer zu werden, hatte ich
--- Du darfst es mir glauben -- nicht der Geliebten halber gefaßt, aber
-deren Lichtgestalt vermochte ich mir nun einmal weder mit dem
-Fürstendiadem, noch in den Prunkgemächern unserer Schlösser zu denken.
-Indessen mußte ich mich dem Willen des Vaters einstweilen fügen und so
-brachte nun dieser seine Werbung an den Mann, indem er in meinem und
-Berthas Beisein deren Eltern um die Hand ihrer Tochter für seinen Sohn,
-den Prinzen Carlo Falieri bat, hinzufügend, daß er sofort nach
-vollzogener Heirat die Güter in der Romagna, im Toskanischen und
-Venetianischen, sowie die Paläste in Rom, Florenz, Mailand, Verona und
-Venedig an mich übergeben und sich bloß unsere sicilianischen
-Besitzungen -- als »Altenteil«, wie er scherzend meinte -- vorbehalten
-werde. Die alten Neys nahmen diese grandiosen Zusagen mit einer nichts
-Gutes verkündenden eisigen Zurückhaltung entgegen; nach minutenlangem
-Schweigen und nachdem er auf Gattin und Tochter einen langen, prüfenden,
-auf mich aber einen vorwurfsvollen Blick geworfen, erklärte Herr Ney:
-»Wir Freiländer sind nicht die Tyrannen, bloß die Berater unserer
-Töchter; in _diesem_ Falle aber bedarf unser Kind des Rates nicht; wenn
-Bertha Ihnen als Fürstin Falieri nach Italien folgen will, wir werden es
-ihr nicht verwehren.«
-
-Hochaufgerichtet, einem erzürnten Cherub vergleichbar, wandte sich nun
-Bertha an meinen Vater: »Niemals! Niemals!« rief sie mit zuckenden
-Lippen. »Mehr als mein Leben liebe ich Ihren Sohn; ich werde sterben,
-wenn er, um Ihnen zu gehorchen, mir entsagt; aber Freiland verlassen,
-als _Fürstin_ verlassen? Niemals! Niemals! Lieber tausendmal den Tod!«
-
-»Aber unseliges Kind,« entgegnete ganz entsetzt über diesen unerwarteten
-Effekt seines Antrages mein Vater, »Sie sprechen ja das Wort >Fürstin<
-aus, als wäre es für Sie der Inbegriff des Schrecklichen. Jawohl,
-Fürstin sollen Sie werden, eine der reichsten, stolzesten Fürstinnen
-Europas, d. h. Sie sollen fürderhin keinen Wunsch haben, den zu erfüllen
-nicht Tausende wetteifern würden; Sie sollen Gelegenheit und Macht
-erlangen, Tausende zu beglücken; Millionen werden Sie beneiden«
-
-»und verfluchen und hassen« -- unterbrach ihn mit bebenden Lippen
-Bertha. »Wie, sechs Wochen leben Sie unter uns und begreifen nicht, was
-eine freie Tochter Freilands empfinden muß bei dem Ansinnen, diese
-glücklichen Gefilde, die Heimstätte der Gerechtigkeit und der
-Menschenliebe zu verlassen, um fern in Ihrem traurigen Vaterlande --
-nicht etwa die Thränen Unterdrückter zu stillen, sondern zu erpressen,
-nicht etwa die Scheußlichkeiten Ihrer Sklaverei zu bekämpfen, sondern
-sie selber zu üben? Ich liebe Carlo so über alle Maßen, daß ich bereit
-wäre, an seiner Seite dies Land des Glückes mit dem des Elends zu
-vertauschen, wenn irgend eine unlösliche Pflicht ihn dahin riefe; aber
-nur unter der Bedingung, daß seine und meine Hand frei bliebe von
-fremdem Gute, daß wir in ehrlicher Arbeit selber verdienten, was wir zum
-Leben brauchen; aber _Fürstin_ soll ich werden, _Fürstin_! Tausende von
-Knechten sollen das Mark ihrer Knochen hergeben, damit ich im Überfluß
-schwelge, tausende von Flüchen zu Tode gequälter Menschen sollen haften
-an der Speise, die ich genieße, an der Kleidung, die meine Glieder
-umhüllt! (Bei diesen Worten verbarg sie ihr Antlitz schaudernd in den
-Händen; dann aber, sich gewaltsam aufraffend, fuhr sie fort): Bedenken
-Sie doch, wenn Sie eine Tochter hätten und man würde von ihr verlangen,
-unter die menschenfressenden Njam-Njam zu gehen, um dort Königin zu
-werden, und der Vater des Bräutigams würde ihr versprechen, es sollten
-ihr recht zahlreiche und fette Sklaven geschlachtet werden -- was würde
-das arme Kind, das unüberwindliches Grauen vor Menschenfleisch mit der
-Muttermilch eingesogen hat, dazu sagen? Nun, sehen Sie, wir in Freiland
-empfinden Grauen vor Menschenfleisch, auch wenn das Schlachtopfer ohne
-Blutvergießen, Zoll um Zoll und Glied um Glied langsam getötet wird, uns
-flößt das allmähliche Aussaugen und Verzehren eines Nebenmenschen nicht
-minderes Entsetzen ein, als Ihnen das buchstäbliche Auffressen
-desselben, und so wenig Sie an den Mahlzeiten der Kannibalen Teil zu
-nehmen im Stande sind, so unmöglich ist es uns, von der Ausbeutung
-geknechteter Mitmenschen zu leben. Ich _kann_ nicht Fürstin werden, ich
-kann nicht! O, trennen Sie mich nicht von Carlo, denn wir werden beide
-darüber zu Grunde gehen, und -- das weiß ich nicht erst seit heute --
-Sie lieben nicht nur ihn, sondern auch mich.«
-
-Dieser Appell, verbunden mit den rührendsten Blicken und einem sanften
-Erfassen seiner Hände, war mehr, als mein Vater -- aus solchem Munde --
-ungerührt zu ertragen vermochte. »Mädchen, Du hast mir ja ordentlich
-Entsetzen vor mir selber eingejagt! Also Menschenfresser sind wir, mit
-dem Unterschiede bloß von Euern liebenswürdigen Njam-Njam, daß wir
-unsere Schlachtopfer nicht mit _einem_ herzhaften Keulenschlage erlegen
-und dann sofort verschlingen, sondern stückweise, Zoll um Zoll uns zu
-Gemüte führen! Nun, Du magst so Unrecht nicht haben und keineswegs will
-ich Dich zu den Freuden einer Fürstlichkeit zwingen, bezüglich deren Du
-solche Anschauungen hegst. Auch mein entarteter Sohn scheint in diesem
-Punkte mehr Deiner als meiner -- bisherigen Geschmacksrichtung zu
-huldigen. Nehmt einander also und werdet glücklich nach Eurer Façon. Was
-mich anlangt, so werde ich über Mittel und Wege nachsinnen, um mich in
-den Augen meines neuen Töchterchens einigermaßen vom Geruche des
-Kannibalismus zu befreien.«
-
-Meine Bertha flog jetzt zuerst mir, dann meinem Vater, dann der Reihe
-nach ihren Eltern und Geschwistern, dann aber wieder meinem Vater an den
-Hals. Das Küssen und Umarmen des Schwiegerpapas geriet so begeistert und
-stürmisch, daß ich um ein Haar eifersüchtig geworden wäre. Mein Vater
-aber war nun derart Feuer und Flamme für unsere bevorstehende
-Verbindung, daß er Neys aufforderte, sofort alle erforderlichen
-Formalitäten dieses erfreulichen Aktes einzuleiten. Binnen Monatsfrist
-ungefähr glaube er -- vorübergehend -- nach Europa zurückkehren zu
-müssen, und es wäre ihm eine große Freude, uns bis dahin schon vereint
-zu wissen. So wurde nun festgestellt, daß unsere Vermählung nach Ablauf
-von 14 Tagen, d. i. am 3. September stattfinden solle.
-
- Ungama, den 24. August.
-
- »Zwischen Lipp' und Bechers Rand ........«
-
-Als ich vor vier Tagen meinen Brief geschlossen hatte und zum Zwecke
-eines Nachtrags, den Bertha hinzufügen wollte (sie erklärte sich
-verpflichtet, »meinem besten Freunde« einige Worte der Entschuldigung ob
-des Raubes zu sagen, den sie an ihm begangen), einstweilen noch
-zurückbehielt -- da ahnte ich nicht, daß gewaltige Ereignisse sich
-zwischen mich und die sofortige Erfüllung meiner glühenden Wünsche
-drängen könnten. Der Krieg, dem wir entgegengehen, läßt zwar mein neues
-Vaterland merkwürdig ruhig, und befände ich mich nicht in Ungama, so
-würde nichts verraten, daß es den Kampf mit einem Gegner gilt, der
-mehreren der mächtigsten kriegsgeübten Staaten Europas wiederholt schon
-schwere Sorge bereitet; aber ich bin noch nicht lange genug Freiländer,
-um die bittere Schmach und das schwere Unglück, von welchen mein
-Geburtsland neuerlich betroffen wurde, nicht schmerzlich zu empfinden,
-und für alle Fälle -- in meiner Eigenschaft sowohl als ehemaliger
-Italiener, wie als gegenwärtiger Freiländer -- halte ich es für meine
-Pflicht, den Kampf persönlich mitzumachen; bis dieser beendet ist, kann
-ich an Hochzeit und Ehe natürlich nicht denken. Einstweilen hat mich das
-Würfelspiel des Krieges von Edenthal weg, hierher, an die Küste des
-indischen Oceans verschlagen. Doch laß mich ordnungsgemäß der Reihe nach
-berichten.
-
-Zunächst also wisse, daß -- es ist dies ja jetzt kein »diplomatisches
-Geheimnis« mehr -- meines Vaters und seiner englischen wie französischen
-Kollegen Bemühungen, für 300000 bis 350000 Mann anglo-franco-italischer
-Truppen Durchzug durch Freiland zu erlangen, von vollständigstem
-Mißerfolge begleitet waren. Freiland lebe mit Abyssinien in Frieden, so
-erklärten die Edenthaler Regenten und habe vorerst kein Recht, sich in
-dessen Händel mit den Westmächten zu mischen. Anders stünden allerdings
-die Sachen, wenn letztere sich entschließen wollten, auf ihren
-afrikanischen Territorien freiländisches Recht einzuführen, in welchem
-Falle diese als freiländisches Gebiet angesehen und als solches dann
-selbstverständlich von Freiland geschützt werden müßten. Aber dann wäre
-die geforderte Militärkonvention erst recht überflüssig, denn in diesem
-Falle würde Freiland jeden Angriff auf seine Verbündeten als _casus
-belli_ für sich selber auffassen und Abyssinien aus eigenen Kräften zur
-Ruhe bringen. Darüber nun flossen die Verhandlungen seit Wochen
-resultatlos hin und wider. Sichtlich nahmen die Kabinette von London,
-Paris und Rom letztere Zusage Freilands nicht recht ernst, trotzdem ihre
-Gesandten, insbesondere mein Vater, redlich das ihre thaten, ihnen mehr
-Vertrauen in die kriegerische Kraft Freilands einzuflößen; die
-europäischen Mächte waren nicht abgeneigt, die von Freiland als
-Bedingung eines Bündnisses geforderte Anerkennung des freiländischen
-Rechts für die Kolonien am roten und indischen Meere zuzugestehen,
-beharrten aber trotzdem auf der Forderung nach Abschluß einer
-Militärkonvention, worauf jedoch Freiland nicht eingehen wollte. So
-standen die Sachen bis in die letzten Tage.
-
-Am Morgen nach meiner Verlobung saßen wir eben beim Frühstück, als für
-meinen Vater eine chiffrierte Depesche aus Ungama -- dem großen
-Hafenplatze Freilands am indischen Ocean -- eintraf, nach deren
-Entzifferung derselbe, von seiner gewohnten diplomatischen Ruhe gänzlich
-im Stiche gelassen, totenbleich aufsprang und Papa Ney bat, sofort eine
-Sitzung der sämtlichen Regenten der freiländischen Centralverwaltung
-einzuberufen, er habe eine Mitteilung von entscheidender Bedeutung zu
-machen. Den teilnahmsvollen Schrecken unserer Freunde bemerkend,
-erklärte mein Vater: »Geheimnis kann die Sache ohnehin nicht bleiben, so
-erfahret denn aus meinem Munde die Unglücksbotschaft. Die mir von
-Commodore Cialdini, dem Kapitän eines unserer in Massaua stationiert
-gewesenen Panzerschiffe zugekommene Depesche lautet: »Ungama, den 21.
-August 8 Uhr Morgens. Bin soeben mit Panzerfregatte Erebus und zwei
-Avisodampfern -- einem eigenen und einem französischen --
-schwerbeschädigt und flüchtig aus Massaua hier eingetroffen. Johannes
-von Abyssinien hat vorgestern Nachts unter Bruch des bestehenden
-Friedens Massaua verräterisch überfallen und fast ohne Schwertstreich
-eingenommen. Unsere im Hafen liegenden und ebenso die englischen und
-französischen Schiffe, 17 an der Zahl, wurden gleichfalls überrumpelt
-und genommen, nur mir und den zwei Avisos gelang es zu entkommen. Die
-kleineren Küstenfestungen, an denen wir vorbeikamen, sind auch sämtlich
-in den Händen der Abyssinier. Da uns der Cours nach Aden durch mehrere
-uns verfolgende feindliche Dampfer abgeschnitten wurde und der Erebus
-kampfunfähig ist, suchten wir Zuflucht in Ungama, um unsere Havarien
-auszubessern. Finden uns hier die Abyssinier, so sprenge ich unsere
-Schiffe in die Luft.«
-
-Das war in der That eine üble Botschaft, nicht bloß für die Verbündeten,
-sondern auch für Freiland, denn sie bedeutete Krieg mit Abyssinien, den
-man hier zu vermeiden gehofft hatte. Zwar war man -- wie gesagt -- von
-Anbeginn gefaßt darauf gewesen, den europäischen Mächten als präsumtiven
-Bundesbrüdern, Ruhe vor Abyssinien zu verschaffen, aber man hatte sich
--- im Vertrauen auf die hohe Achtung, welche Freiland bei allen
-Nachbarvölkern genoß -- mit der Erwartung geschmeichelt, dem trotzigen
-Halbbarbaren durch festes Auftreten imponieren und ihn in friedlichem
-Wege zur Ruhe verhalten zu können. Der verräterische Überfall gerade zu
-einer Zeit, wo die Unterhändler der Angegriffenen eben in Edenthal
-weilten, zerstörte jedoch diese Hoffnung.
-
-Im Volkspalaste fanden wir die freiländischen Verwaltungschefs schon
-vollzählig versammelt, und bald nach uns trafen auch die englischen und
-französischen Bevollmächtigten ein. Den Franzosen sahen wir es sofort an
-den verstörten Mienen an, daß ihnen die Unglücksbotschaft schon
-zugekommen war; die Engländer erhielten erst einige Stunden später
-direkte Nachricht, als ihre Panzerkorvette »Nelson«, die unterwegs mit
-zweien der in abyssinische Hände gefallenen Schiffe ein mörderisches
-Gefecht bestanden und eines derselben in den Grund gebohrt hatte, als
-halbes Wrack ebenfalls in Ungama anlangte. Inzwischen waren aber auch an
-das freiländische auswärtige Amt aus verschiedenen Küstenorten nähere
-und ausführliche Nachrichten eingetroffen, die das Unglück seinem ganzen
-Umfange nach bestätigten. Der mit sehr überlegener Macht unternommene
-und offenbar von Verrat begünstigte Überfall war den Abyssiniern
-vollständig gelungen. Da der Frieden mit Abyssinien noch mehrere Wochen
-zu gelten hatte, so waren die Garnisonen der meist ungesunden Küstenorte
-weder sehr zahlreich, noch sonderlich wachsam gewesen; die Abyssinier
-hatten zur nämlichen Stunde -- gegen 2 Uhr nach Mitternacht -- Massaua,
-Arkiko und Obok, die Hauptfestungen der Italiener, Engländer und
-Franzosen, und sämtliche acht Küstenforts derselben erstiegen, die im
-Schlafe überraschten Garnisonen teils niedergemetzelt, teils gefangen
-genommen und sich gleichzeitig auch der in den Häfen liegenden Schiffe
-bis auf die schon erwähnten vier bemächtigt. Daß sie einige derselben
-schon am nächsten Morgen segelfertig machen und mit ihnen in See stechen
-konnten, erklärt sich aus den früher schon erwähnten Matrosenwerbungen
-des Negus, welch letztere aber auch ein bezeichnendes Licht darauf
-werfen, wie lange geplant und wohlvorbereitet der Überfall gewesen. So
-vortrefflich funktionierte das Getriebe des Verrats, daß die vier
-geretteten Schiffe wenige Minuten nachdem der Überfall auf die anderen
-gelungen war, aus Schiffsgeschützen sehr wirksam und heftig beschossen
-werden konnten. Die den Abyssiniern in den sämtlichen drei Häfen in die
-Hände gefallenen Fahrzeuge waren 7 englische, 5 französische und 4
-italienische Panzerschiffe, darunter mehrere erster Größe, und 11
-englische, 8 französische und 4 italienische Kanonenbote und Avisos; die
-in den Festungen und Schiffen gefangenen oder gefallenen Truppen
-betrugen in runder Zahl 24000 Mann.
-
-Die Bevollmächtigten aller drei Mächte hatten sofort, nachdem sie die
-Hiobsbotschaften empfangen, an ihre Regierungen telegraphiert und um
-Verhaltungsmaßregeln gebeten. Der freiländischen Verwaltung gegenüber
-erklärten sie, daß nunmehr aller Wahrscheinlichkeit nach mit größter
-Energie auf dem Abschluß der Militärkonvention bestanden werden dürfte.
-Jetzt, da die Festungen gefallen, wäre es vollends unmöglich, an den
-unwirtlichen Küsten des roten Meeres ein so großes Heer zu sammeln, wie
-es gegen den Negus nun erst recht notwendig sei. In der That war das
-auch die ziemlich kategorisch lautende, noch im Laufe des nämlichen
-Tages einlangende Kollektivforderung der drei Mächte. Ebenso kategorisch
-aber war die Ablehnung, begleitet von der Erklärung, daß man den, aller
-Voraussicht nach für Freiland allerdings unvermeidlichen Krieg mit
-Abyssinien allein auszufechten gedenke. Im übrigen, so gab man den
-Alliierten zu bedenken, kämen doch ihre Armeen ohnehin viel zu spät.
-Wäre der Suezkanal für ihre Truppensendungen auch praktikabel, so
-könnten ihre 350000 Mann -- für so viel lautete die nun geforderte
-Durchzugsbewilligung -- frühestens binnen 2 Monaten bei uns konzentriert
-sein, und es hieße fürwahr dem Negus Johannes sehr wenig zutrauen,
-wollte man sich darauf verlassen, daß er bis dahin nicht längst schon
-versucht haben sollte, sich in den Besitz aller strategischen Positionen
-Freilands zu setzen. Nunmehr vollends, wo die den Abyssiniern in die
-Hände gefallenen Schiffe von diesen in erster Linie dazu benutzt werden
-dürften, den Suezkanal zu sperren, kämen die Alliierten, selbst wenn man
-sie rufen wollte, jedenfalls zu spät. Denn auch der Landweg über Ägypten
-könne von den Abyssiniern so leicht verlegt werden, daß der zur
-Operationsbasis zu wählen schlechthin unsinnig wäre. Bliebe also nur der
-Weg ums Kap der guten Hoffnung, und wie lange es brauchen würde, bis von
-dorther 350000 Mann Hülfstruppen bei uns einträfen, das möge man sich in
-Paris, Rom und London doch selber beantworten. Unsere Freunde möchten im
-übrigen vollkommen beruhigt sein; rascher als sie zu glauben schienen
-und vollständiger sollte ihnen Genugthuung werden. Ehe man in England,
-Frankreich und Italien auch nur mit der Ausrüstung eines so großen
-Expeditionsheeres fertig sein könnte, würden wir mit dem Negus
-abgerechnet haben. Inzwischen möchten die Alliierten ihre neuen, nach
-den Küstenorten des roten und indischen Meeres bestimmten Garnisonen
-segelfertig machen; sie könnten für dieselben ohne weiteres den
-gewohnten Weg über den Suezkanal in Aussicht nehmen, denn bis ihre
-Transportschiffe vor demselben angelangt sein dürften -- woran vor Ende
-des nächsten Monats kaum zu denken sei -- würde Freiland den Abyssiniern
-ihre gestohlene Flotte genommen oder vernichtet haben.
-
-Insbesondere die letztere Zusage erregte in hohem Grade das Befremden
-der verbündeten Regierungen und ihrer Gesandten, und ich muß gestehen,
-daß auch ich nicht recht abzusehen vermochte, wie wir es, ohne auch nur
-ein Kriegsfahrzeug zu besitzen, anstellen wollten, eine aus 16 der
-besten Schlachtschiffe und 23 kleineren Fahrzeugen bestehende Flotte vom
-Meere wegzublasen. Nicht ohne Bitterkeit meinten die Gesandten, statt so
-großartige Pläne zu verfolgen, wäre es vielleicht praktischer, ihren im
-Hafen von Ungama liegenden jämmerlich zugerichteten vier Schiffen dazu
-zu verhelfen, daß sie ihre Schäden möglichst rasch ausbessern und dann
-mit thunlichster Schnelligkeit das Weite suchen könnten. Beruhe doch die
-Möglichkeit, sie vor der so unendlich überlegenen feindlichen Flotte zu
-retten, angesichts der vollständigen Wehrlosigkeit Ungamas lediglich auf
-der höchst unsicheren Hoffnung, daß der Feind nicht sofort auf den
-Gedanken geraten werde, sie dort zu suchen.
-
-»Für den Moment« -- so tröstete einer der Verwaltungschefs die
-geängstigten Diplomaten -- »d. h. für wenige Stunden noch haben Sie
-allerdings Recht. Wenn heute vor einbrechender Dunkelheit eine
-abyssinische Übermacht vor Ungama erscheint und den Kampf mit Ihren
-Schiffen sofort aufnimmt, sind diese allerdings menschlicher Voraussicht
-nach verloren. Allein das gilt eben nur für heute. Zeigt sich morgen die
-abyssinische Flotte, so haben wir einen Empfang vorbereitet, der sie
-sicherlich nicht zur Wiederkehr einladen wird.«
-
-»Wie das?« fragten jene wie aus einem Munde. »Was thaten Sie, was
-konnten Sie thun zum Schutze der traurigen Überreste unserer kürzlich
-noch so stolzen verbündeten Flotte?« Dabei hingen die Blicke dieser in
-ihrem Patriotismus so tief verwundeten Männer mit ängstlicher Spannung
-an den Zügen ihrer Gastfreunde, und trotz meiner jungen Zugehörigkeit
-nach Freiland teilte ich nur zu sehr ihre Empfindungen. Du wirst
-begreifen, daß es uns nicht um die paar Schiffe allein zu thun war; aber
-endlich einen Punkt des Widerstandes gegen den frechen Barbaren gefunden
-zu haben, die Unseren der fernern Notwendigkeit beschämender Flucht
-enthoben zu wissen, das war es, was uns als süße Verheißung in den Ohren
-klang. Man beeilte sich uns vollständige Aufklärung zu geben.
-
-Wie ich Dir bereits erzählte, besitzt die freiländische
-Unterrichtsverwaltung zum Gebrauche der Jugend eine stattliche Anzahl
-von Geschützen verschiedensten Kalibers in allen Teilen des Landes. Die
-größten derselben durchschlagen den stärksten der derzeit in Gebrauch
-befindlichen Schiffspanzer wie ein Kartenblatt; 84 dieser
-Riesengeschütze aus den zunächst der Seeküste gelegenen Distrikten hatte
-man nun, sofort nachdem die ersten Nachrichten eingelaufen, nach Ungama
-in Bewegung gesetzt. Da alle diese Ungetüme ohnehin auf Schienen laufen,
-die mit dem freiländischen Eisenbahnnetze in Verbindung gesetzt sind, so
-waren sie allesamt noch am gleichen Vormittage in Begleitung der mit
-ihrer Behandlung vertrauten Jünglinge unterwegs nach ihrem
-Bestimmungsorte und mußten dort successive am Abend und im Laufe der
-Nacht eintreffen. Da ebenso in Ungama zu Zwecken des gewöhnlichen
-Hafendienstes mehrere mit dem Eisenbahnnetze in Verbindung stehende
-Schienenstränge längs der Seeküste hinlaufen, so können die anlangenden
-Geschütze ohne weiteres sofort in die für sie bestimmten Stellungen
-einfahren, die inzwischen -- gleichfalls noch im Laufe des nämlichen
-Tages -- mit provisorischen Erdwerken versehen werden. Späterhin sollen
-diese Werke auch Panzerdeckung erhalten; fürs erste aber, so rechnete
-die Centralverwaltung, mußten 84 Geschütze erster Größe, denen die auf
-ihnen eingeschossenen besten Kanoniere mitgegeben waren, auch ohne
-sonderliche Deckung genügen, um von zusammengelaufenen Abenteurern
-bemannte Panzerschiffe in respektvoller Entfernung zu halten.
-
-Mich litt es nun nicht länger in Edenthal; nach kurzem Abschiede von
-meinem Vater, nach etwas längerem von meiner Bertha, eilte ich nach
-Ungama, und schon der zweitnächste Tag zeigte, daß die getroffenen
-Schutzmaßregeln weder überflüssig noch ungenügend gewesen waren. Am 23.
-August erschienen 5 abyssinische Panzerfregatten und 4 Kanonenboote vor
-Ungama und versuchten, da sie den Ort für wehrlos hielten, ohne weiteres
-in den Hafen einzulaufen, um die dort liegenden Wracks der Verbündeten
-vollends zu zerstören. Ein auf sie aus 10000 Meter Entfernung
-abgegebener scharfer Schuß des größten unserer Panzerbrecher, der einen
-der Schornsteine der vordersten Panzerfregatte wegnahm, veranlaßte sie
-zwar zu etwas größerer Vorsicht, hielt sie jedoch in ihrem Laufe nicht
-auf. Jetzt ließen unsere jungen Kanoniere den einmal gewarnten Gegner
-bis auf 7 Kilometer Distanz herandampfen, ohne ein Lebenszeichen von
-sich zu geben; dann eröffneten sie aus 37 Geschützen zugleich das Feuer,
-welches jedoch nur kurze Zeit währte. Schon die erste Salve brachte ein
-Kanonenboot zum sofortigen Sinken und beschädigte die sämtlichen Schiffe
-so stark, daß die ganze feindliche Schlachtlinie in sichtliche Unordnung
-geriet. Einige Schiffe machten Miene, das Feuer der Unseren zu erwidern,
-andere legten sofort eine sichtliche Neigung zum Stoppen und
-Rückwärtsdampfen an den Tag. Zwei Minuten später fegte unsere zweite
-Salve über die Wogen; deutlich konnte man verfolgen, daß diesmal keiner
-der 37 Schüsse fehlgegangen war; alle feindlichen Schiffe zeigten
-schwere Havarien und insgesamt hatten sie die Lust verloren, den
-ungleichen Kampf weiterzuspinnen. Sie gaben Kontredampf und suchten mit
-möglichster Beschleunigung das Weite. Eine dritte und vierte Salve wurde
-ihnen nachgesandt, worauf ein zweites Kanonenboot und die größte der
-Panzerfregatten sank; noch drei weitere Salven fügten dem fliehenden
-Feinde zwar beträchtlichen ferneren Schaden zu, vermochten aber kein
-Schiff mehr zu sofortigem Sinken zu bringen; nur erfuhren wir durch den
-italienischen Aviso, der den abyssinischen Schiffen von weitem
-nachfolgte, daß noch ein drittes Kanonenboot eine Stunde nach Abbruch
-des Kampfes unterging, und daß eine der Panzerfregatten ins Schlepptau
-genommen werden mußte, um den Kugeln unserer Strandbatterien zu
-entgehen. Diese selbst hatten bloß zwei Mann verloren.
-
-Mit dem Berichte dieser ersten freiländischen Waffenthat, an welcher ich
-jedoch lediglich als staunender Zuschauer teilzunehmen vermochte,
-schließe ich diesen Brief. Wann, wo -- und ob ich Dir einen nächsten
-schreiben werde, weiß allein der Kriegsgott.
-
-
-
-
- 22. Kapitel.
-
-
- Massaua, 25. September.
-
-Wenn ich mich recht entsinne, sind es genau ein Monat und ein Tag, daß
-ich mein letztes Schreiben an Dich sandte; binnen dieser kurzen Frist
-haben sich Ereignisse abgespielt, welche Euch drüben im alten Europa gar
-mancherlei Überraschungen gebracht haben dürften und die -- täusche ich
-mich über die Absichten meiner neuen Landsleute nicht -- in ihren
-mittelbaren Konsequenzen für die ganze bewohnte Erde von entscheidender
-Tragweite sein werden. Die Freiheit der Welt ist es -- so glaube ich --
-die auf den Schlachtfeldern des Roten Meeres und der Gallaländer gesiegt
-hat -- nicht bloß über den unseligen Johannes von Abyssinien, sondern
-auch über gar mancherlei Tyrannei, die inmitten Euerer sogen.
-civilisierten Welt geknechtete Völker darniederhält. Doch wozu sich in
-Vermutungen ergehen über Dinge, welche die nächste Zukunft schon zur
-Entscheidung bringen muß; mein heutiger Brief dient dem Zwecke, Dich
-meines ungetrübten Wohlbefindens zu versichern und Dir den
-freiländisch-abyssinischen Feldzug zu schildern, den ich vom ersten bis
-zum letzten Kanonenschusse mitgemacht.
-
-Am 25. August, also zwei Tage, nachdem der erste Kampf stattgefunden,
-erhielt die Edenthaler Zentralbehörde das Ultimatum des Negus, in
-welchem dieser erklärte, daß er gegen Freiland nichts Böses im Schilde
-führe, sondern die Waffen nur deshalb ergriffen habe, um sich und --
-Freiland gegen eine europäische Invasion zu schützen, die diesem, wie er
-erfahren habe, aufgenötigt worden sei. Da wir nicht die Macht besäßen,
-seine Feinde von unseren Grenzen fernzuhalten, so gebiete ihm die
-Pflicht der Selbsterhaltung, von uns die Auslieferung einiger
-strategisch wichtiger Punkte zu verlangen. Fügten wir uns diesem
-Begehren, so wolle er unsere Freiheiten und Rechte im übrigen schonen,
-auch den seinen Schiffen bei Ungama zugefügten Schaden verzeihen;
-widersetzten wir uns, so werde er uns mit Krieg überziehen, und da er
-dafür gesorgt, daß uns so rasch keine Hilfe aus Europa zu erreichen
-vermöge, so könne der Ausgang wohl nicht zweifelhaft sein. Er habe sich
-mit einem Occupationsheere von 300000 Mann bereits in Bewegung gegen
-unsere Nordgrenze gesetzt und werde längstens binnen Wochenfrist an
-derselben eintreffen; an uns sei es, ob wir ihn als Freund oder Feind
-empfangen wollten.
-
-Die Antwort an den Negus lautete dahin, daß er sich zwar in seiner
-Voraussetzung, daß Freiland fremde Truppen aufzunehmen gedachte,
-täusche, da dieses den Engländern, Franzosen und Italienern ebensowenig
-als ihm zu kriegerischen Zwecken die Grenzen offen zu halten gesonnen
-sei; in Frieden mit ihm könnten wir jedoch trotzdem nur dann leben, wenn
-er sich entschließe, auch den genannten europäischen Mächten gegenüber
-Frieden zu halten, und für das ihnen zugefügte Unrecht volle Sühne zu
-leisten. Nicht verschweigen wolle man nämlich, daß Freiland im Begriffe
-sei, mit dessen europäischen Staaten einen Freundschaftsvertrag zu
-schließen, in dessen Sinne es sich dann verpflichtet halten würde, die
-Feinde seiner Freunde auch als die seinigen anzusehen. Man warne ihn,
-Freilands stets an den Tag gelegte Friedfertigkeit als Mutlosigkeit oder
-Schwäche auszulegen. Eine Woche Frist solle ihm gelassen werden, um
-seine drohende Haltung aufzugeben und Bürgschaften des Friedens und der
-Sühne zu stellen. Sollten diese bis dahin nicht geboten worden sein, so
-würde Freiland ihn angreifen, wo immer es ihn fände.
-
-Selbstverständlich gab sich niemand über den Erfolg dieses Notenwechsels
-einer Täuschung hin und mit aller Beschleunigung wurden die Rüstungen
-zum Kriege betrieben.
-
-Kaum daß Telegraph und Zeitungen die erste Kunde von dem abyssinischen
-Überfalle durch Freiland getragen, trafen von allen Seiten Meldungen und
-Anfragen bei der Zentralverwaltung ein, die Jedermann den vollgültigen
-Beweis lieferten, daß die Bevölkerung des ganzen Landes nicht bloß
-sofort begriffen hatte, ein Krieg sei bevorstehend, sondern daß sich
-auch unmittelbar ohne jeden bevormundenden Eingriff von oben, alle jene
-Faktoren des Widerstandes ganz von selbst in Aktion setzten, welche eine
-auf den Krieg jederzeit gerüstete Militärverwaltung nur immer hätte
-aufbieten können. Freiland mobilisierte sich selber und es erwies sich,
-daß diese selbstdenkende Thätigkeit von Millionen intelligenter, dabei
-aber an durchgreifendes Zusammenwirken gewohnter Köpfe, vollkommenere
-Ergebnisse lieferte, als durch einen noch so weislich erwogenen und
-vorbereiteten behördlichen Mobilisierungsplan auch nur entfernt möglich
-gewesen wäre. Von allen Tausendschaften des Landes langten schon im
-Laufe des ersten Tages Anfragen ein, ob die Zentralstelle ihre
-Mitwirkung für wünschenswert hielte; die Tausendschaften erster Klasse
-aus den zwölf Nord- und Nordostdistrikten, die Baringoländer und
-Leikipia umfassend, zeigten zugleich an, daß sie schon am nächsten Tage
-vollzählig -- bis auf die zufällig verreisten Mitglieder -- versammelt
-sein würden, da sie von der Voraussetzung ausgingen, daß die Ausfechtung
-des Kampfes mit Abyssinien zunächst ihre Sache sein werde. Man war
-nämlich ziemlich allgemein in Freiland der Ansicht, daß zur Bekämpfung
-der Abyssinier zwischen 40000 und 50000 Mann vollauf genügen würden, und
-da die Norddistrikte bekanntermaßen 85 der aus den Distriktsübungen als
-Sieger hervorgegangene Tausendschaften besaßen, so war von Anbeginn
-Niemand in Zweifel darüber, daß diesen allein die Kriegsarbeit zufallen
-würde. Zwar regte sich sicherlich in der Brust gar manchen Jünglings
-auch in den anderen Landesteilen der Thatendrang, aber nirgend zeigte
-sich das Gelüste, durch dessen Geltendmachung dem Lande mehr als nötig
-Arbeitskräfte zu entziehen oder unter Störung des naturgemäßen
-Mobilisierungsplanes entferntere Tausendschaften in den Vordergrund zu
-schieben. Und eben so bereitwillig, als die anderen zurücktraten, als
-ebenso selbstverständlich erachteten es die Norddistrikte, daß sie in
-Aktion zu treten hätten. Nur jene Tausendschaften, die während der
-letzten Jahre bei den großen Aberdarespielen Sieger gewesen waren,
-äußerten, auch sofern sie nicht zu den mobilisierenden Distrikten
-gehörten, den Wunsch, in die Mobilisierung mit einbezogen zu werden;
-ebenso ersuchten alle Sieger in den Einzelübungen der letztjährigen
-Distrikts- und Landesspiele um die Vergünstigung, in die mobilisierten
-Tausendschaften eingeteilt zu werden. Beides wurde bewilligt und es
-vermehrte sich solcherart das zur Verfügung gestellte Material um vier
-Tausendschaften und 960 Einzelne. Damit wären insgesamt 90000 Mann
-verfügbar gewesen, der im Lande herrschenden Ansicht zufolge ungefähr
-doppelt so viel als erforderlich war. Doch auch darauf nahmen die
-betreffenden Tausendschaften sofort aus eigener Initiative Bedacht,
-indem sie sich durch Vermittlung der Zentralverwaltung schon am nächsten
-Tage darüber einigten, bloß die vier letzten Jahrgänge zwischen 22 und
-26 Jahren und in diesen bloß die Unverheirateten ins Feld zu stellen.
-Dadurch reducierte sich der Mannschaftsstand auf 48000 Mann -- darunter
-9500 Berittene -- und 180 Geschütze; letzteren wurden nachträglich noch
-80 Stücke aus dem oberen Naiwaschadistrikt hinzugefügt.
-
-Diese Truppe besaß von Haus aus schon ihre Anführer bis zum Range der
-Tausendführer. Zwar waren zahlreiche dieser Offiziere verheiratet, doch
-wurde übereinstimmend beschlossen, sie nichtsdestoweniger beizubehalten.
-Die Wahlen der Oberoffiziere fanden, nachdem auch die Hundert- und
-Tausendführer der vier auswärtigen Tausendschaften in dem zu diesem
-Behufe bestimmten Vereinigungspunkte Nordleikipias eingetroffen waren,
-am 23. August statt. Das Oberkommando trugen die versammelten
-Offiziere keinem aus ihrer Mitte, sondern einem als Chef der
-Ukerewebaugesellschaft in Ripon lebenden jungen Ingenieur Namens Arago
-an, der selbstverständlich annahm, sich aber einen der Oberbeamten des
-Verkehrsressorts der Centralverwaltung als Generalstabschef ausbat. An
-diesen wandte ich mich, aus Ungama direkt nach Nordleikipia geeilt, mit
-der Bitte um Aufnahme in den Generalstab, die mir, da ich mich über die
-entsprechenden Kenntnisse auszuweisen vermochte, mit Rücksicht auf meine
-erst kürzlich aufgegebene italienische Staatsbürgerschaft bereitwillig
-zugestanden wurde. Gleichzeitig mit mir war auch David eingetroffen, der
-mir die zärtlichsten Grüße und die freudige Zustimmung meiner Braut zu
-meinem Entschlusse brachte, und zugleich erklärte, daß er während des
-Feldzuges nicht von meiner Seite weichen werde.
-
-Mit Waffen und Munition waren alle Tausendschaften ohnehin reichlich
-versehen; ebensowenig fehlte es an gut eingerittenen und geschulten
-Pferden.
-
-Die Verpflegung des Heeres wurde den Approvisionierungsgesellschaften
-von Edenthal und Danastadt übergeben. Den technischen Dienst --
-Pionierwesen, Brückenbau, Feldtelegraphie u. dergl. -- übernahmen zwei
-Associationen aus Central- und Ostbaringo, den Transportdienst endlich
-besorgte die freiländische Centralstelle für diesen Verwaltungszweig.
-Innerhalb der Grenzen Freilands konnte bei der hohen Vollendung des
-Kommunikationsnetzes die Beförderung und Verpflegung einer so kleinen
-Armee natürlich nicht die geringsten Schwierigkeiten machen. Da man
-jedoch keineswegs gesonnen war, die Abyssinier zu erwarten, sondern den
-Krieg in die Gallaländer und nach Habesch hinüberzuspielen gedachte, so
-wurden 5000 Elefanten, 8000 Kamele, 20000 Pferde und 15000 Büffelochsen
-für den Lastendienst aufgebracht. Zelte, Feldkochgeräte, Konserven u.
-dergl. mußten herbeigeschafft, kurzum Vorsorge getroffen werden, daß die
-Armee auch in den unwirtlichen Gegenden außerhalb Freilands an nichts
-Mangel leide.
-
-Alle diese Vorbereitungen waren am 29. August vollendet; schon zwei Tage
-vorher hatte Arago 4000 Reiter mit 28 Geschützen über den Konsopaß ins
-benachbarte Wakwafiland gesendet, mit dem Auftrage, sich fächerförmig
-ausbreitend, Fühlung mit den Abyssiniern zu suchen, deren Anzug wir auf
-dieser Seite erwarteten. Um für alle Eventualitäten gesichert zu sein,
-sandte er kleinere Streifkorps von 1200 und 900 Mann mit je 8 und 4
-Geschützen zur Bewachung der sich nordöstlich und nordwestlich von
-dieser seiner Operationslinie erstreckenden Gebirgszüge von Endika und
-Silali. Am Konsopaß hinterließ er des ferneren eine Reserve von 6000
-Mann und 20 Geschützen und überschritt am 30. August mit 36000 Mann und
-200 Geschützen die Gallagrenze. Um möglichst große Marschleistungen zu
-erzielen und die Mannschaft trotzdem zu schonen, war das Handgepäck aufs
-äußerste reduciert. Es bestand außer den Waffen -- Repetiergewehr,
-Repetierpistole und kurzem, auch als Haubajonett zu gebrauchendem
-Schwert -- nur aus 80 Patronen, einer Feldflasche und kleinem, zur
-Aufnahme _einer_ Mahlzeit bestimmten Ranzen. Alle anderen Gepäckstücke
-trugen Handpferde, die den Marschkolonnen unmittelbar folgten und deren
-auf jede Hundertschaft 25 kamen. Dieser der Mannschaft jederzeit zur
-Verfügung stehende sehr bewegliche Train führte wasserdichte Zelte,
-komplette Anzüge und Schuhwerk zum wechseln, Regenmäntel, Konserven und
-Getränke für einige Tage, und eine Patronenreserve für 200 Schuß per
-Mann mit sich. Unsere jungen Leute waren solcherart mit allem Nötigen
-versehen, ohne selber überlastet zu sein und sie legten daher an
-einzelnen Tagen bis zu 40 Kilometer zurück, ohne daß es Marode gegeben
-hätte.
-
-Die freiländische Centralverwaltung hatte der Armee einen Kommissar
-beigegeben, dessen Amt es war, etwaige Wünsche der Heeresleitung, soweit
-deren Erfüllung Sache der Centralstelle sein sollte, entgegenzunehmen;
-ferner für den Fall, als der Negus sich zu Friedensverhandlungen geneigt
-zeigen sollte, dieselben zu führen; schließlich für Sicherheit und
-Bequemlichkeit der fremden Militärbevollmächtigten und Zeitungsreporter
-Sorge zu tragen, die unseren Kriegszug mitmachten. Ein Teil dieser
-Herren begleitete uns zu Pferde, ein anderer Teil war auf Elefanten
-bequem untergebracht; die meisten folgten dem Hauptquartier, welches
-dieselben über alle Vorkommnisse auf dem Laufenden erhielt.
-
-Am dritten Marschtage, dem zweiten September, verständigte uns unsere
-vorausschwärmende Reiterei, daß sie auf den Feind gestoßen sei. Da
-Arago, bevor er einen entscheidenden Kampf annahm, zuvor praktisch
-erproben wollte, ob er und wir alle nicht etwa doch in einer
-verhängnisvollen Täuschung bezüglich der vorausgesetzten Überlegenheit
-unserer Mannschaften über die feindlichen befangen wären, gab er der
-Vorhut Auftrag, eine forcierte Rekognoscierung vorzunehmen, d. h. den
-Gegner zu möglichst vollständiger Entfaltung seiner Kräfte zu nötigen
-und erst zurückzuweichen, wenn über die Marschrichtung der feindlichen
-Hauptmacht Sicherheit erlangt sei.
-
-Am 3. September bei grauendem Morgen griffen wir -- ich war nämlich auf
-meinen Wunsch dieser Truppe beigegeben worden -- die abyssinische Vorhut
-bei Ardeb im Flußthale des Dschub an. Diese, der unsrigen nicht stark an
-Zahl überlegen, wurde im ersten Anlauf über den Haufen gerannt, ihr
-sämtliches Geschütz -- 36 Stücke -- nebst 1800 Gefangenen abgenommen,
-ohne daß die Unsrigen mehr als fünf Mann verloren. Die ganze Affaire
-dauerte kaum 40 Minuten. Unsere Artillerie war der schon auf 6000 Meter
-Distanz ein wirkungsloses Feuer gegen unsere sich entwickelnden Linien
-eröffnenden abyssinischen ohne einen Schuß abzugeben bis auf 2500 Meter
-entgegengefahren, hatte sie von hier aus mit wenigen Salven zum
-Schweigen gebracht, 19 Stücke demontiert und die übrigen zum Rückzuge
-genötigt. Sich hierauf gegen die tollkühn heransprengende feindliche
-Kavallerie wendend, hatte sie diese durch einige wohlgezielte
-Granatschüsse auseinander gesprengt, so daß unsere Eskadronen nurmehr
-die in regelloser Flucht Davoneilenden zu verfolgen und die schwache,
-von der eigenen flüchtenden Kavallerie ohnehin schon in heillose
-Unordnung gebrachte Infanterie niederzureiten hatten. Der Rest war dann
-Verfolgung und Einbringung der von panischem Schreck gejagten Gegner,
-deren Verluste an Toten und Verwundeten, wenn auch die unserigen namhaft
-überragend, im Ganzen verhältnismäßig doch nur gering waren.
-
-Doch damit war bloß das Vorspiel des blutigen Dramas zu Ende. Unsere
-Reiter hatten sich eben gesammelt, und die Gefangenen mitsamt den
-erbeuteten Geschützen unter geringer Bedeckung dem Hauptquartiere
-zugesandt, als sich in der Ferne dichte und immer dichtere Massen des
-Feindes zeigten. Es war dies der gesamte, 65000 Mann mit 120 Kanonen
-zählende, linke Flügel der Abyssinier. Zwanzig von unseren Kanonen waren
-auf einer kleinen, die Marschlinie des Feindes dominierenden Höhe
-aufgefahren und gaben von dort um 7 Uhr morgens den ersten Schuß auf den
-Gegner ab. Alsbald sah man die feindlichen Infanteriemassen seitlich
-abbiegen, während unserer Artillerie gegenüber successive 90 der
-abyssinischen Geschütze auffuhren. Der sich nun entspinnende Kampf der
-Kanonen währte eine Stunde, ohne unserer Artillerie sonderlichen Schaden
-zuzufügen, denn die abyssinischen Artilleristen trafen auf so große
-Distanz -- es waren gut 5000 Meter -- nur sehr schlecht, während die
-Granaten der unserigen nach und nach 34 feindliche Stücke zum Schweigen
-brachten. Zweimal versuchten es die Abyssinier, näher an unsere Position
-heranzufahren, mußten aber beidemal schon nach wenigen Minuten wieder
-zurückweichen, so mörderisch räumten unsere Geschosse bei dieser
-Annäherung unter ihnen auf. Da es so nicht ging, versuchte der Feind
-unsere Position zu stürmen. Seine Infanterie- und Kavalleriemassen
-hatten sich längs unserer ganzen, sehr dünn gestreckten Front entwickelt
-und kurze Zeit nach 8 Uhr setzte sich die gesamte kolossale Übermacht
-gegen uns in Bewegung.
-
-Was sich nunmehr abspielte, hätte ich nimmermehr für möglich gehalten,
-trotzdem ich über die Waffengewandtheit der freiländischen
-Elite-Tausendschaften schon so Manches vernommen und auch der spielend
-erfochtene Sieg über die feindliche Vorhut zu hochgespannten Erwartungen
-berechtigte. Ich gestehe, daß ich es für unverantwortlichen Leichtsinn
-und für eine gänzliche Verkennung der ihm vom Oberkommando zugeteilten
-Aufgabe hielt, daß Oberst Ruppert, der Führer unserer kleinen Schar, den
-Kampf annahm und zwar nicht etwa in Form eines Rückzugsgefechtes,
-sondern als regelrechte Schlacht, die, wenn verloren, unfehlbar mit der
-Vernichtung seiner 4000 Mann enden mußte. Denn in einer fünf Kilometer
-umfassenden, die feindlichen Linien sogar um ein Geringes überflügelnden
-dünnen Aufstellung mit nur schwachen Reserven im Rücken, hatte er seine
-Reiter -- sie waren sämtlich abgesessen und schossen mit ihren
-vortrefflichen Karabinern -- entwickelt und erwartete die Abyssinier,
-als ob diese als Tirailleure und nicht in kompakten Sturmkolonnen
-heranrückten. Und diese Sturmkolonnen kannte ich sehr wohl, sie hatten
-bei Erdeb und vor Obok die ihnen an Zahl gleichen indischen Veteranen
-Englands, die bretonischen Grenadiere Frankreichs und die Bersaglieri
-Italiens geworfen, ihre Waffen waren den Freiländischen gleichwertig,
-ihre militärische Disziplin mußte ich der meiner gegenwärtigen
-Kampfgenossen überlegen halten; wie sollte unsere dünne Linie dem
-Ansturme dieser, uns an Zahl sechzehnfach überlegenen kampfgewohnten
-Krieger widerstehen? Sie mußte -- das war meine felsenfeste Überzeugung
--- in der nächsten Viertelstunde zerreißen, wie ein Bindfaden, der einer
-Lokomotive den Weg versperren will; und dann, das konnte jedes Kind
-sehen, war nach einem Gemetzel von wenigen Minuten alles vorbei. Ich
-nahm im Geiste Abschied von der fernen Geliebten, vom Vater -- und auch
-Deiner, mein Luigi, gedachte ich in dieser Stunde, die für meine letzte
-zu halten ich damals vollen Grund zu haben wähnte.
-
-Und was mich am meisten Wunder nahm: die Freiländer schienen insgesamt
-meine Empfindungen zu teilen; nichts von jener wilden Kampflust war in
-ihren Mienen zu finden, die man doch bei denjenigen voraussetzen sollte,
-die -- überflüssiger Weise -- Einer gegen sechzehn den Kampf aufnehmen.
-Tiefen, düsteren Ernst, ja Widerwillen und Schrecken las ich in den
-sonst so klaren, heiteren Augen dieser freiländischen Jünglinge und
-Männer; es war als sähen sie allesamt gleich mir sicherem Tode entgegen.
-Auch die Offiziere, ja selbst der kommandierende Oberst, teilten
-sichtlich diese unerfreulichen Gefühle -- warum um des Himmelswillen
-nahmen sie dann die Schlacht an? Wenn sie Übles vorher sahen, warum
-zogen sie sich nicht rechtzeitig zurück? Wie sehr aber hatte ich diesen
-Männern Unrecht gethan, wie gründlich Anlaß und Richtung ihrer
-Besorgnisse verkannt! So unglaublich es klingen mag: meine
-Kriegskameraden waren nicht für ihre, sondern für des Gegners Haut
-besorgt, ihnen graute vor dem Gemetzel, das -- nicht ihnen, den Feinden
-bevorstand. Der Gedanke, daß sie, die freien Männer, von armseligen
-Knechten besiegt werden könnten, lag ihnen so fern, als etwa dem Jäger
-der Gedanke, die Hasen könnten ihm gefährlich werden; aber sie sahen
-sich vor der Notwendigkeit, Tausende dieser Bejammernswerten kaltblütig
-niederschießen zu müssen und das erregte ihnen, denen der Mensch das
-Heiligste und Höchste ist, unsäglichen Widerwillen. Hätte man mir das
-_vor_ der Schlacht gesagt, ich hätte es nicht begriffen und jedenfalls
-für Renommisterei gehalten; jetzt, nach dem was ich schaudernd mit
-erlebt, finde ich es begreiflich. Denn, daß ich es nur gleich sage: eine
-gegen freiländische Linien anstürmende und von deren Feuer zerrissene
-Kolonne bietet einen Anblick, der selbst an Massenmord einigermaßen
-gewöhnten Männern, wie mir, das Blut zu Eis gerinnen macht. Ich habe den
-Würgengel des Schlachtfeldes einigemal an der Arbeit gesehen und durfte
-mich daher gegen dessen Schrecken gefeit halten. Hier aber ...
-
-Doch ich will ja nicht meine Gefühle, sondern die Ereignisse schildern.
-Als die Abyssinier uns auf etwa 1½ Kilometer nahe gekommen waren,
-sprengten ein letztesmal Rupperts Adjutanten die Front entlang und
-riefen den Unseren die Losung zu: Schonung! keinen Schuß, sobald sie
-weichen! Dann war es bei uns totenstill, während von jenseits stets
-lauter der Klang der Trommeln und einer wilden Musik, unterbrochen
-zeitweilig von dem gellenden Schlachtrufe der Abyssinier, herübertönte.
-Als die Feinde bis auf 700 Meter etwa herangerückt waren, gab unsere
-Schützenlinie eine einzige Salve ab; als ob ein Pesthauch in sie
-gefahren wäre, so brach die Stirnlinie des Feindes zusammen, seine
-Reihen wankten und mußten sich neu formieren. Kein Schuß wurde
-inzwischen von den Freiländern abgefeuert; als aber die Abyssinier unter
-wildem Schlachtgeschrei abermals, jetzt im Laufschritte vorrückten,
-donnerte eine zweite und da die todeskühnen braunen Krieger diesmal über
-ihr zerschmettertes erstes Glied hinweg den Ansturm fortsetzten, eine
-dritte Salve über das Feld. Mit dieser aber hatten Jene einstweilen
-genug; sie wandten sich zu wilder Flucht, und hielten erst, als sie sich
-außerhalb unserer Schußweite wußten. Auch jetzt hörte unser Feuer
-augenblicklich auf, sowie der Feind sich gewandt hatte, aber es war auch
-hohe Zeit gewesen. Nicht als ob die geringste Gefahr für unsere
-Stellungen aus einer Fortsetzung des Sturmes hätte entstehen können; die
-Abyssinier hatten kaum 100 Meter gewonnen gehabt, waren also immer noch
-gute 600 Meter entfernt gewesen und die Gewißheit, daß Keiner von ihnen
-unsere Front erreicht hätte, erwies sich als augenscheinlich; aber
-gerade diese eigene, jede eigentliche Kampfeserregung ausschließende
-Unnahbarkeit ließ die Gräßlichkeit des unter den Gegnern wütenden
-Gemetzels mit so elementarer Gewalt hervortreten, daß mehr als
-menschliche Nerven dazu gehört hätten, dies Schauspiel längere Zeit zu
-ertragen. Nahe an 1000 Abyssinier waren binnen wenigen Minuten tot oder
-verwundet gefallen und zahlreiche der freiländischen Schützen erklärten
-mir später, sie hätten beim Anblicke der reihenweise zusammenbrechenden
-und am Boden zuckenden Feinde Ohnmachtsanfälle gehabt -- was ich
-vollkommen begreife, da auch mir ernstlich übel dabei wurde.
-
-Die freiländischen Ärzte und Sanitätstruppen waren eben an der Arbeit,
-die verwundeten Gegner vom Schlachtfelde aufzulesen, als die
-abyssinische Artillerie neuerlich den Kampf aufnahm und alsbald auch die
-Infanterie ein rasendes Schnellfeuer eröffnete. Da Letztere sich jedoch
-diesmal vorsichtig in der respektablen Entfernung von ungefähr 2000
-Metern hielt, so war ihr Feuer anfangs ganz ungefährlich und wurde daher
-von den Unseren nicht erwidert; nachgerade aber verirrte sich doch die
-eine oder andere Kugel in unsere Reihen und Oberst Ruppert gab daher
-Befehl, die Zehntführer möchten den Feinden deutlich sichtbar mehrere
-Schritte aus der Front hervortreten und eine Salve abgeben. Dieser Wink
-wurde drüben verstanden; das feindliche Infanteriefeuer hörte sofort
-auf, da die Abyssinier aus der Wirkung dieser einen kleinen Salve
-ersahen, daß die freiländischen Schützen auch auf so große Distanz allzu
-unangenehm werden könnten, als daß es rätlich wäre, sie durch ohnehin
-wirkungsloses Feuer zum Antworten herauszufordern. Die zähen Burschen,
-die offenbar den Gedanken nicht zu ertragen vermochten, vor einer so
-kleinen Minderzahl das Feld zu räumen, formierten nun neuerlich einige
-Sturmkolonnen, diesmal mit schmaler Front und von beträchtlicher Tiefe.
-Doch auch diesen ging es nicht besser als ihren Vorgängern, nur daß
-gegen sie etwas rascheres Feuer abgegeben werden mußte; sie wurden mit
-einem neuerlichen Verluste von 800 Mann nach wenigen Minuten zum Weichen
-gebracht und waren nunmehr zu abermaligem Vorgehen nicht mehr zu
-bewegen. Um die verwundeten Abyssinier, die in freiländischer
-Verpflegung weitaus besser versorgt waren, als in der ihrer Landsleute,
-zu bergen, ließ jetzt Ruppert einen Vorstoß bewerkstelligen, vor welchem
-sich der Gegner eilfertig zurückzog, so daß wir unbestritten Herren des
-Schlachtfeldes blieben. Unsere Verluste betrugen 8 Tote und 47
-Verwundete; die Abyssinier hatten 360 Tote, 1480 Verwundete und 39
-Kanonen zurückgelassen. Die erste Sorge der Unseren war, die Verwundeten
--- Freund und Feind mit gleich liebevoller Sorgfalt -- in den reichlich
-vorhandenen und mit sinnreichstem Komfort ausgestatteten Sanitätswagen
-unterzubringen und nach Freiland zu in Bewegung zu setzen. Dann wurden
-die Geschütze und sonstigen erbeuteten Waffen geborgen, die Toten
-begraben.
-
-Letztere Arbeit war eben vollendet und der Rückzug aufs Hauptquartier
-sollte angetreten werden, als von Westen starke abyssinische Heersäulen
-auftauchten, während gleichzeitig auch der nach Norden abgezogene linke
-Flügel des Feindes wieder sichtbar wurde. Ruppert ließ sich dadurch in
-seiner Absicht nicht beirren. Feindliche Kavalleriemassen machten einen
-stürmischen Versuch, uns zu verfolgen, wurden aber von unserer
-Artillerie rasch zurückgeworfen, und fernerhin unbehelligt
-bewerkstelligten wir unseren Rückzug auf das Hauptkorps.
-
-Wir wußten nun aus Erfahrung, daß die von uns vorausgesetzte
-Überlegenheit freiländischer Männer über Gegner welcher Art immer eine
-Thatsache sei. Die Abyssinier hatten sich gegen uns so brav geschlagen,
-als je zuvor gegen europäische Truppen; ihre Bewaffnung, Disziplin und
-Schulung, das vieljährige Werk eines ausschließlich diesem Zwecke
-gewidmeten rücksichtslosen Despotismus, ließ -- nach europäischen
-Begriffen -- nichts zu wünschen übrig und thatsächlich hatten diese
-braunen Soldaten sich gleichstarken abendländischen Heeren im offenen
-Felde stets ebenbürtig gezeigt. Wir aber hatten eine sechzehnfache
-Übermacht zum Weichen gebracht, ohne daß dabei das Zünglein der Wage
-auch nur einen Moment geschwankt hätte. Daß der Kampf überhaupt so lange
-währte und nicht viel früher schon mit vollständiger Niederlage der
-Abyssinier endete, lag nur daran, daß der Führer der Vorhut sich an die
-Ordre hielt: den Feind zur Entfaltung seiner Kräfte zu nötigen. Hätte er
-sich statt dessen mit voller Wucht sofort auf den Gegner geworfen, ihm
-_nicht_ Zeit zur Entwicklung gelassen, und jeden erlangten Vorteil
-energisch ausgebeutet, so wären die 65000 Mann des linken Flügels der
-Feinde längst zersprengt gewesen, bevor das Zentrum in die Aktion
-eingreifen konnte. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß Oberst Ruppert
-Unrecht that, den Kampf hinhaltend und mehr defensiv zu führen. Ganz
-abgesehen davon, daß doch auch ihm erst im Laufe des Gefechtes der bis
-dahin bloß vermutete hohe Grad freiländischer Überlegenheit zur
-absoluten Gewißheit werden konnte, war es, je zweifelloser der
-schließliche Sieg unserer Sache erschien, desto entschiedener die
-Pflicht jedes gewissenhaften Führers, das Blut unserer freiländischen
-Jünglinge nicht überflüssigerweise um eines Heldenstückleins willen zu
-vergießen. Er mußte gleich uns allen annehmen, daß diese erste Lektion
-vollkommen genügen werde, den Negus darüber aufzuklären, daß eine
-Fortsetzung des Kampfes seinerseits Thorheit wäre.
-
-Wir hatten aber unsere Rechnung ohne Rücksicht auf den Dünkel eines
-barbarischen Despoten gemacht. Als der dem Hauptquartier folgende
-Kommissär der Centralverwaltung am nächsten Tage Parlamentäre ins
-abyssinische Hauptquartier sandte, um Johannes erklären zu lassen, daß
-Freiland gegen Rückgabe der überrumpelten Festungen und Schiffe und
-gegen Leistung zu vereinbarender Friedensbürgschaften noch immer bereit
-sei, sich mit ihm zu vertragen, empfing dieser die Abgesandten hochmütig
-mit der Frage, ob sie gekommen seien, Unterwerfung anzubieten. Weil
-unsere Vorhut sich schließlich zurückgezogen, gab er die Affaire des
-gestrigen Tages für einen abyssinischen Sieg aus. Die Offiziere der
-zurückgeworfenen 5 Brigaden seines Heeres seien Feiglinge, meinte er,
-wir sollten sehen, wie _er_ sich schlagen werde -- kurzum der
-Verblendete wollte von Nachgiebigkeit nichts hören.
-
-Am 8. September griffen wir die am Dschubflusse verschanzte abyssinische
-Hauptarmee an. Nach zweistündigem Kampfe war der Feind geschlagen,
-167000 Mann streckten die Waffen, der Rest eilte in wilder, regelloser
-Flucht den abyssinischen Bergen zu. 10 Tage später lagen wir vor den
-Mauern Massauas, in welche sich der Negus mit den Trümmern seines Heeres
-geworfen.
-
-Die Zentralverwaltung von Freiland hatte unmittelbar nachdem sie die
-Nachricht von der Wegnahme der Küstenfestungen und der Schiffe erhalten,
-den Bau einer Flotte beschlossen und keine Stunde mit der Verwirklichung
-gezögert. Eine Panzerflotte herzustellen, dazu fehlte allerdings die
-Zeit; sie hielt aber dafür, einer solchen nicht zu bedürfen. Was sie
-plante, war die Konstruktion sehr schnellfahrender Fahrzeuge mit so weit
-tragenden Geschützen, daß ihre Geschosse die fremden Panzerschiffe
-zerstören könnten, ohne daß die Geschosse der Letzteren unsere Schiffe
-zu erreichen vermöchten. Dabei rechnete sie allerdings nicht bloß auf
-die größere Schnelligkeit der Fahrzeuge und die weitere Flugbahn der
-Geschosse, sondern hauptsächlich auf die Überlegenheit unserer
-Artilleristen. Wenn unsere Schiffsmaschinen den Feind immer nur auf die
-uns passend erscheinende Distanz heranließen, so mußte -- das war der
-Kalkül -- den Unseren gelingen, das stärkste feindliche Schiff zu
-vernichten, ehe unsere Fahrzeuge auch nur getroffen werden könnten. Um
-Schiffe von 2000 bis 3500 Tonnen -- so groß sollten unsere Kanonenbote
-sein -- in beliebiger Zahl binnen wenigen Wochen vollkommen auszurüsten,
-dazu genügten, wenn nur mit entsprechender Energie daran gegangen wurde
-und alles gehörig ineinander griff, die freiländischen Rhedereien und
-sonstigen Industrien vollkommen. Schon am 23. August wurde daher in
-Ungama der Kiel zu 36 Schiffen gelegt; Schiffsmaschinen zwischen 2000
-und 3000 Pferdekräften -- von denen die größeren Kriegsdampfer bis zu
-vieren erhalten sollten -- waren genügend in den Maschinenwerkstätten
-Ungamas vorrätig. Aus allen freiländischen Schießplätzen wurden die
-vorzüglichsten und größten Geschütze herbeigezogen, 24 neue, alles
-bisher Erreichte in den Schatten stellende Ungetüme in den
-Gußstahlwerkstätten von Danastadt konstruiert und solchergestalt
-ermöglicht, daß binnen 22 Tagen der letzte Hammerschlag und Feilenstrich
-an der letzten der 36 schwimmenden Kriegsmaschinen gethan werden konnte.
-Die Eleganz der Ausstattung ließ in einzelnen Punkten zu wünschen übrig;
-die Vollkommenheit der technischen Ausführung aber war tadellos. Die
-Fahrzeuge, ziemlich flachbordig um den feindlichen Kugeln ein möglichst
-geringes Ziel zu bieten, waren in wasserdichte Kammern geteilt, um
-selbst durch einige unter der Wasserlinie einschlagende Granaten nicht
-zum Sinken gebracht zu werden; da jedes Schiff mindestens zwei
-vollkommen unabhängig funktionierende Maschinen besaß, so war auch eine
-Lähmung seiner Beweglichkeit nicht so leicht zu besorgen; gepanzert, und
-zwar mit Platten der stärksten Art, waren bloß die Pulverkammern. Die
-verwendeten, durchwegs frei beweglich an Deck angebrachten Geschütze
-wogen zwischen 95 und 245 Tonnen, und waren den einzelnen Schiffen teils
-einzeln, teils zu zweien und dreien zugeteilt; insgesamt besaßen die 36
-Fahrzeuge deren 78. Das Maximum der Fahrgeschwindigkeit betrug bei den
-verschiedenen Schiffen zwischen 23 und 27 Knoten in der Stunde.
-
-Da wir den Westmächten versprochen hatten, die den Suezkanal sperrende
-Flotte vor Eintreffen der europäischen Expeditionskorps unschädlich zu
-machen, so mußte geeilt werden, dieses gegebene Wort einzulösen. Am 19.
-September abends bekamen unsere Schiffe eine bei Bab-el-Mandeb kreuzende
-abyssinische Eskadre von 5 Panzern in Sicht. Diese, die scharfgebauten
-Schiffe für Passagierdampfer nehmend, machte sofort Jagd auf sie und
-wunderte sich nicht wenig, daß die so harmlos aussehenden Fahrzeuge
-ihren Kurs unbeirrt fortsetzten. Erst als die Abyssinier sich auf 14000
-Meter Distanz genähert und nunmehr einige der gröbsten Brocken aus
-unseren Feuerschlünden zu kosten bekamen, erkannten sie ihren Irrtum und
-machten augenblicklich kehrt. Das Gros unserer Flotte hielt sich auch
-mit ihrer Verfolgung nicht auf, sondern setzte die Fahrt ins Rote Meer
-fort; bloß 6 unserer größten und zugleich als schnellste Fahrer
-geltenden Kriegsdampfer eilten den Fliehenden nach, brachten deren zwei
-durch eine Reihe wohlgezielter Schüsse, die von den Abyssiniern der
-großen Distanz halber wirksam gar nicht erwidert werden konnten, zum
-Sinken, und jagten die andern auf den Strand. Unsere Schaluppen nahmen
-von den im Wasser treibenden Mannschaften auf, so viel sie nur immer
-erreichen konnten und setzten dann -- die Affaire mit der
-Bab-el-Mandeb-Eskadre hatte bloß 2½ Stunden beansprucht -- den Weg nach
-Suez fort.
-
-An Massaua dampfte das Gros unserer Flotte in der Nacht vom 19. und 20.
-unbemerkt vorbei; die nachfolgenden 6 Schiffe aber wurden im
-Morgengrauen von einem feindlichen Kreuzer gesehen und verfolgt. Da es
-weder in der Absicht der Unseren lag, sich vor Massaua jetzt schon
-aufzuhalten, noch die dort liegenden abyssinischen Schiffe durch eine,
-ihrem Kreuzer im Vorbeifahren erteilte Lektion vorzeitig zu warnen, so
-beantworteten sie dessen Schüsse nicht, trotzdem einige derselben
-trafen, sondern suchten bloß so rasch als möglich an ihm vorbei zu
-kommen, was auch ohne ernstlichen Schaden gelang. Wie wir später
-erfuhren, wurden sie in Massaua gleichfalls für Postschiffe gehalten,
-die unbegreiflicherweise den Suez bewachenden Kreuzern in die Hände
-liefen. Alles, was der Negus that, war, daß er in den nächsten Nächten
-vor Massaua fleißig kreuzen ließ, um die vermeintlichen 6 Postdampfer,
-wenn sie vor Suez etwa rechtzeitig kehrt machen sollten, diesmal nicht
-entschlüpfen zu lassen.
-
-Am 22. nachmittags erschien unsere Flotte vor Suez, griff die den Kanal
-bewachenden abyssinischen Schiffe unverzüglich an und bohrte drei
-derselben nach kurzem Gefechte in den Grund. Die anderen, darunter drei
-Panzerfregatten, liefen auf den Strand, wo die Bemannung von den
-ägyptischen Truppen gefangen genommen wurde. Denselben Ägyptern lieferte
-unser Admiral auch die aufgefischten abyssinischen Matrosen und
-Seesoldaten provisorisch aus, wandte sich sofort wieder nach Süden und
-langte am 24. September vor Massaua an.
-
-Dort waren wir inzwischen unthätig geblieben; wir wußten, daß das
-Eingreifen unserer Schiffe genügen werde, die Feste in kurzem Wege zu
-Falle zu bringen. Als diese auf der Höhe von Massaua erschienen,
-näherten sich ihnen einige kleinere abyssinische Kriegsfahrzeuge. Wenige
-Schüsse jagten sie in die Flucht und nun erst begriff der Negus die
-Situation. Zwar hoffte er noch immer, mit unseren Schiffen fertig zu
-werden; die schreckliche Wirkung der ersten Lagen aus unseren
-Riesengeschützen belehrte ihn und seine Admiralität eines Besseren. Vor
-den herandampfenden schwerfälligen Panzerkolossen stetig zurückweichend
-gaben unsere unerreichbaren Vernichtungsmaschinen ihre Geschosse ab und
-zwei der Fregatten sanken in die Tiefe, bevor nur _eine_ abyssinische
-Kugel ein freiländisches Schiff getroffen hätte. Nun wandten sich die
-Abyssinier zum Rückzuge, aber die Unseren blieben ihnen -- stets in der
-gleichen unnahbaren Distanz -- auf den Fersen und bevor die feindliche
-Flotte den Hafen erreicht hatte, fuhr ein drittes Panzerschiff zu
-Grunde. Doch im Hafen fanden sie so wenig Sicherheit, als auf offenem
-Meere; die schrecklichen Panzerzerschmetterer sandten Kugel auf Kugel
-hinein; ein viertes Schiff versank und ein fünftes; gleichzeitig
-hämmerten unsere Riesengeschosse zermalmend an den Steinquadern der
-Hafenbastionen -- wir erwarteten jeden Moment die weiße Fahne, das
-Zeichen der Ergebung, in Massaua flattern zu sehen. Statt dessen machte
-der Negus, die Unhaltbarkeit der Feste einsehend, von uns jedoch keine
-Gnade erwartend, plötzlich einen verzweifelten Ausfall, um sich in die
-Berge durchzuschlagen. Doch nur unsere äußerste Vorpostenkette gelang es
-ihm zu durchbrechen; vor der ersten freiländischen Linie angelangt,
-brachten einige Salven den Ansturm der Seinen zum Stehen, ihm aber den
-Tod. Die Abyssinier warfen die Waffen weg, der Krieg war beendet.
-
- * * * * *
-
-Hiermit schließen die freiländischen Briefe unseres neuen Landsmannes
-Carlo Falieri an seinen Freund, den Architekten Luigi Cavalotti. Die
-beiden Freunde haben inzwischen den Aufenthalt getauscht; Cavalotti ist
-zu uns nach Freiland übersiedelt, Falieri dagegen wurde, kaum daß er mit
-seinem jungen Weibe einige Wochen seligster Zurückgezogenheit auf einer
-der paradiesischen Ukerewe-Inseln genossen, uns zeitweilig wieder
-entführt. Er folgte einem Rufe seines Geburtslandes, welches seiner zu
-Durchführung jener Reformen zu bedürfen glaubte, die in Konsequenz der
-soeben von ihm geschilderten und der diesen folgenden Ereignisse dort
-wie fast überall in der bewohnten Welt ins Werk gesetzt werden sollen.
-Seine Gattin begleitet ihn auf dieser Mission, zu deren Durchführung ihm
-seitens unserer Centralverwaltung die unbegrenzten Hülfsquellen
-Freilands zur Verfügung gestellt sind. Doch damit geraten wir schon in
-den Bereich jener Begebenheiten, deren Darstellung das folgende Buch
-gewidmet sein soll.
-
-
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-
- Viertes Buch.
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-
- 23. Kapitel.
-
-
-Die moralische Wirkung unseres abyssinischen Feldzuges war eine
-ungeheure, soweit civilisierte und halbcivilisierte Völker die Kunde
-davon empfingen. Wir selber hatten uns heilsame Folgen davon versprochen
-insofern, als wir voraussahen, daß die vor aller Welt abgelegte
-glänzende Kraftprobe unseren Widersachern Vorsicht und größere
-Geneigtheit beibringen werde, auf unsere gerechten Wünsche einzugehen.
-Doch der Erfolg übertraf unsere kühnsten Erwartungen weitaus. Nicht
-eingeschüchtert, sondern bekehrt wurden die bisherigen Gegner der
-wirtschaftlichen Gerechtigkeit, was indessen mehr uns Freiländer, als
-unsere auswärtigen Freunde zu überraschen schien. Wir vermochten nicht
-recht zu begreifen, warum Leute, die Jahrzehnte lang unsere socialen und
-wirtschaftlichen Bestrebungen für thöricht oder verwerflich gehalten
-hatten, aus der Thatsache, daß unsere jungen Leute sich als treffliche
-Krieger erwiesen, urplötzlich die Schlußfolgerung zogen, es sei möglich
-und nützlich, jedem Arbeitenden den vollen Ertrag seines Fleißes
-zuzuwenden. Uns, die wir unter der Herrschaft der Vernunft und
-Gerechtigkeit lebten, wollte der Zusammenhang zwischen Letzterem und der
-Wirkung unserer Gewehre und Geschütze nicht einleuchten; außerhalb
-Freilands jedoch, wo immer noch physische Gewalt die letzte Quelle allen
-Rechtes war, hielt es ersichtlich Jedermann -- selbst der prinzipielle
-Anhänger unserer Ideen -- für selbstverständlich, daß die blitzartig
-zerschmetternden Schläge, unter deren elementarer Gewalt der Negus von
-Abyssinien erlegen, das untrüglichste _Argumentum ad hominem_ für die
-Vorzüglichkeit unserer gesamten Einrichtungen seien. Insbesondere das
-urplötzliche siegreiche Auftreten unserer Flotte wirkte da draußen
-gleichwie ein entscheidendes Beweismittel dafür, daß die wirtschaftliche
-Gerechtigkeit keine wesenlose Utopie, sondern sehr reelle Wirklichkeit
-sei -- kurzum, unsere kriegerischen Erfolge gestalteten sich zu einem
-Triumphe unserer socialen Einrichtungen. Eine gewaltige fieberhafte
-Bewegung ergriff alle Geister, und mit _einem_ Schlage wollte man nun
-überall verwirklichen, was bis dahin bloß von verhältnismäßig Wenigen
-schüchtern als dereinst zu erreichendes Ideal aufgestellt, von Vielen
-mit Abneigung betrachtet, von den großen Massen aber zumeist gänzlich
-ignoriert worden war.
-
-Und dabei erwies sich -- was uns nun allerdings wieder _nicht_
-überraschte -- daß die Ungeduld und das Revolutionsfieber desto heftiger
-waren, je weniger man sich zuvor mit unseren Ideen beschäftigt hatte.
-Die fortgeschrittensten freisinnigsten Völker, deren leitende
-Staatsmänner auch zuvor schon mit uns sympathisiert und gutgemeinte,
-wenn auch zusammenhanglose Versuche unternommen hatten, ihre arbeitenden
-Massen zu wirtschaftlicher Freiheit heranzuziehen, schickten sich in
-verhältnismäßiger Ruhe an, die große ökonomische und sociale Revolution
-unter möglichster Wahrung aller bestehenden Interessen einzuleiten.
-England, Frankreich und Italien, die schon vor Ausbruch des
-abyssinischen Krieges bereit gewesen waren, unsere Einrichtungen -- wenn
-auch vorläufig bloß in ihren ostafrikanischen Besitzungen -- zuzulassen,
-beschlossen nunmehr, ohne daß dazu besondere politische Umwälzungen bei
-ihnen notwendig gewesen wären, sich wegen Überführung ihrer bestehenden
-Institutionen in den unsrigen ähnliche, mit Freiland ins Einvernehmen zu
-setzen, und mehrere andere europäische Staaten, sowie ganz Amerika und
-Australien schlossen sich ihnen unmittelbar an. Dieses Ereignis war in
-den betreffenden Staaten allenthalben von stürmischen Ausbrüchen der
-Volksbegeisterung begleitet; aber mit Ausnahme einiger Fensterscheiben
-litt Niemand Schaden dabei. Gewaltthätiger schon ging es in den
-»konservativen« Staaten Europas und in einzelnen Ländern Asiens her;
-dort kam es zu heftigen Krawallen, ernstlichen Verfolgungen verhaßter
-Staatsmänner, die vergebens beteuerten, daß nunmehr auch sie gegen die
-wirtschaftliche Gleichberechtigung nichts einzuwenden hätten,
-stellenweise zu Blutvergießen und Vermögenskonfiskationen. Die
-arbeitenden Massen mißtrauten dort den besitzenden Ständen, waren aber
-selber uneinig über den einzuschlagenden Weg, so daß drohender stets und
-gehässiger die Parteien einander entgegentraten. Vollends schlimm aber
-gestalteten sich die Ereignisse dort, wo die Regierungen früher wirklich
-und bewußt volksfeindlich gehandelt, die Besitzenden gegen die Massen
-ausgespielt und Letztere vorsätzlich in Unwissenheit und Verkommenheit
-darniedergehalten hatten. Dort gab es keine intelligente Volksklasse,
-die genügenden Einfluß besessen hätte, sich den Ausbrüchen wütenden und
-unvernünftigen Hasses entgegenzuwerfen; dort wurden Grausamkeiten und
-Scheußlichkeiten aller Art begangen, die einstigen Unterdrücker
-massenhaft abgeschlachtet und es wäre kein Ende der sinn- und zwecklosen
-Gräuel abzusehen gewesen, wenn nicht zum Glücke auch für diese Länder
-unser Ansehen und unsere Autorität schließlich die wütenden Massen
-beruhigt und die Bewegung in geregelte Bahnen geleitet hätte. Nachdem
-eine der in diesen Gebieten sich ohne ersichtliches Ziel zerfleischenden
-Parteien auf den Gedanken geraten war, unsere Intervention anzurufen,
-fand dieses Beispiel allgemeine Nachahmung. Allenthalben aus dem Osten
-Europas, aus Asien und aus einigen afrikanischen Staaten richteten die
-der Anarchie Verfallenen die Bitte an uns, ihnen Kommissäre zu senden,
-denen man unumschränkte Gewalt einräumen wolle. Wir willfahrteten dem
-natürlich aufs bereitwilligste und diese freiländischen Kommissäre
-begegneten thatsächlich allenthalben jenem ungeteilten Vertrauen, das
-zur Herstellung der Ruhe erforderlich war.
-
-Inzwischen hatten sich aber auch jene Staaten, die von Anbeginn besonnen
-vorgegangen waren, freiländische Vertrauensmänner erbeten, die ihren
-Regierungen bei Anbahnung der beabsichtigten Reformen mit Rat und That
-behülflich sein sollten. Wir sagen nicht ohne Grund: mit Rat und _That_,
-denn das freiländische Volk hatte, sowie es erkannt, daß man seine
-Mitwirkung in Anspruch nehmen werde, den Beschluß gefaßt, seinen
-Delegierten -- sie mochten nun als beratende Mitglieder einer fremden
-Regierung oder als mit unumschränkter Gewalt ausgerüstete Kommissäre
-auftreten, das Verfügungsrecht über die materiellen Hülfsquellen
-Freilands zu Gunsten der sie berufenden Völker einzuräumen, denen diese
-Summen übrigens nicht schenkungs-, sondern leihweise zufließen sollten.
-Der Edenthaler Centralverwaltung wurde zwar formell das Recht
-vorbehalten, von Fall zu Fall über die von diesen Delegierten
-angemeldeten Geldforderungen zu entscheiden; da jedoch als Prinzip
-aufgestellt war, daß jede notwendige Hülfe zu gewähren sei, über die
-Notwendigkeit der Hülfeleistung aber zumeist doch nur die an Ort und
-Stelle Befindlichen urteilen konnten, so lag thatsächlich in Händen
-dieser Kommissäre und Vertrauensmänner das diskretionäre Verfügungsrecht
-über die flüssig gemachten Kapitalien.
-
-Daß wir aber in der Lage waren, einem solchen, binnen wenigen Monaten
-nahe an 2 Milliarden Pfd. Sterling erreichenden Bedarfe sofort zu
-entsprechen, erklärt sich daraus, daß unsere freiländische
-Versicherungsabteilung ungefähr den fünften Teil ihrer derzeit 10
-Milliarden überschreitenden Reserven in allezeit flüssiger Form zur
-Disposition hatte. Die anderen vier Fünftel waren arbeitend angelegt, d.
-h. den Associationen sowohl als dem Gemeinwesen zu mannigfaltigen
-Investitionen leihweise überlassen; ein Fünftel aber wurde als für alle
-Fälle bereiter Stock in den Magazinen der Bank zurückgelegt und konnte
-jetzt dem plötzlich aufgetauchten Kapitalbedarfe dienen.
-Selbstverständlich ist, daß diese Reserve nicht in Form von Gold oder
-Silber hinterlegt war, da sie sich in diesem Falle als unbrauchbar in
-der Stunde eines eventuellen Bedarfs erwiesen hätte. Nicht Gold oder
-Silber, sondern ganz andere Dinge sind es, die in Zeiten der Not
-gefordert werden; die Edelmetalle können bloß als geeignete Mittel
-dienen, um diese eigentlich benötigten Dinge sich zu verschaffen; damit
-Letzteres jedoch geschehen könne, wird vorausgesetzt, daß sie in
-entsprechender Menge überhaupt irgendwo vorhanden seien, was bei einem
-plötzlich auftretenden Bedarfe von außergewöhnlichem Umfange eben
-_nicht_ angenommen werden darf. Wer plötzlich Waren im Gesamtwerte von
-Milliarden braucht, der wird dieselben nirgend _kaufen_ können, weil sie
-nirgend vorrätig sein werden; will er auch im Falle solchen Bedarfes vor
-Not geschützt sein, so muß er nicht das Geld zum Einkaufe, sondern die
-voraussichtlich erforderlichen Güter selber vorrätig halten. Was hätte
-es z. B. den Russen, welche die Getreidespeicher ihrer Gutsherren, die
-Warenmagazine ihrer Kaufleute, die Maschinen in ihren Fabriken verbrannt
-und zerstört hatten, genützt, wenn wir ihnen die Milliarden Rubel, deren
-sie zur Ersetzung sowohl als zur Vermehrung dieser vernichteten Dinge
-bedurften, in Form von Geld zur Verfügung gestellt hätten? Nirgend gab
-es entbehrliche Vorräte, die sie hätten kaufen können; wären sie mit
-unserem Gelde auf den Märkten erschienen, so hätte dies zum
-ausschließlichen Erfolge gehabt, daß alle Preise gestiegen und ihre Not
-sich allen Nachbarvölkern mitgeteilt hätte. Und ebenso bedurften auch
-alle andere Nationen, die wir in ihrem Bestreben unterstützen wollten,
-möglichst rasch aus ihrem bisherigen Elend zu einem dem unsrigen
-ähnlichen Reichtume zu gelangen, nicht vermehrter Geldmittel, sondern
-vermehrter Nahrungsmittel, Rohstoffe, Werkzeuge. Und in Form solcher
-Dinge hatten wir denn auch unsere Reserven angelegt. Ungefähr die Hälfte
-derselben bestand stets aus Getreide, die andere Hälfte aus
-verschiedenen Rohmaterialien, insbesondere Webestoffen und Metallen. Als
-daher unser Kommissär in Rußland successive 285 Millionen Pfund
-forderte, erhielt er von uns nicht einen Heller Geld, wohl aber 3040
-Schiffsladungen Weizen, Wolle, Eisen, Kupfer, Hölzer u. dgl. zugesendet,
-was zur Folge hatte, daß das verwüstete Land an nichts Mangel litt,
-vielmehr schon wenige Monate nachher -- allerdings weniger infolge
-dieser ihm dargeliehenen Schätze, als vielmehr der in freiländischem
-Geiste durchgeführten Verwendung derselben -- sich eines Wohlstandes
-erfreute, den man dort noch vor kurzem kaum im Traume für möglich
-gehalten hätte. In ähnlicher Weise machten wir auch anderen Nationen der
-Erde unsere Vorräte nutzbar und waren für den Fall, als diese nicht
-genügen sollten, entschlossen, aus den Erträgen der kommenden Jahre das
-Fehlende zu ersetzen.
-
-Doch gedachten wir keineswegs diese uns zugefallene Rolle der
-ökonomischen und socialen Vorsehung der Brudervölker länger als
-unumgänglich notwendig zu bewahren. Nicht weil wir die Verantwortung
-oder Last scheuten, sondern weil wir es in jeder Beziehung und im
-allseitigen Interesse für das Beste hielten, wenn der soziale
-Umgestaltungsprozeß, welchem nunmehr die gesamte Menschheit
-entgegenging, von dieser auch mit gesammelten Kräften nach gemeinsam
-wohl erwogenem Plane ins Werk gesetzt werde, beschlossen wir, ungesäumt
-die Nationen der Erde zu einer Beratung nach Edenthal einzuladen, in
-welcher erörtert werden solle, was nunmehr zu geschehen habe. Unsere
-Meinung dabei war nicht, daß dieser Kongreß bindende Beschlüsse zu
-fassen hätte; es möge, so beantragten wir, jedem Volke unbenommen
-bleiben, aus den Beratungen des Kongresses die ihm beliebigen
-Konsequenzen zu ziehen; nützlich aber, das war unsere Ansicht, würde es
-für alle Fälle sein, zu wissen, wie die Gesamtheit über die im Zuge
-befindliche Bewegung dächte.
-
-Auf ernstlichen Widerstand stieß diese Anregung nirgend. Insbesondere
-bei den zurückgebliebeneren Völkern des Ostens machte sich zwar eine
-starke dahingehende Strömung geltend, man möge die Zeit nicht mit
-nutzlosen Reden vertrödeln, sondern einfach thun, was wir Freiländer
-vorschlagen würden; sie ihrerseits, so thaten uns die konstituierenden
-Versammlungen mehrerer -- und nicht gerade der kleinsten -- Nationen zu
-wissen, würden doch nur auf uns hören, der Kongreß möge sagen, was er
-wolle. Doch bedurfte es bloß des Hinweises darauf, daß wir, um ihnen zu
-raten, sie doch auch hören müßten und daß uns hierzu der Kongreß das
-geeignetste Forum scheine, um sie zu dessen Beschickung zu veranlassen.
-Auch konnten wir nicht verhindern, daß viele von den nach Edenthal
-entsendeten Delegierten die bindende Instruktion auf den Weg erhielten,
-bei allen Abstimmungen unbedingt mit uns Freiländern zu gehen, welche
-Instruktion sich jedoch insofern gegenstandlos erwies, als der Kongreß
-überhaupt nur über Formfragen abstimmte, sonst aber bloß beriet, es
-Jedermann anheimgebend, sich die Diskussionsresultate selber zu bilden.
-
-Dagegen hatte sich gerade inmitten der vorgeschrittensten Länder eine,
-wenn auch der Zahl nach geringe, Opposition wiedereingestellt, die zwar
-das Prinzip der wirtschaftlichen Gerechtigkeit in seiner Allgemeinheit
-anerkannte, jedoch eine ganze Reihe angeblich »praktischer« Bedenken
-gegen dessen durchgreifende Verwirklichung geltend machte. Diese
-Opposition hätte, auf ihre eigenen Kräfte angewiesen, nirgend vermocht,
-ein Mandat für den Welt-Kongreß zu erlangen; sie fand aber allerorten
-kräftige Fürsprecher -- in den freiländischen Vertrauensmännern und
-Kommissären, die, durchaus im Einklang mit der öffentlichen Meinung
-Freilands, das Bestreben verfolgten, wo möglich jeder namhafteren
-Parteirichtung eine Vertretung zu sichern, damit selbst die etwa
-vorhandenen offenen Anhänger der überlebten, alten Wirtschaftsordnung
-kein Recht hätten, darüber Klage zu führen, daß man sie nicht hätte zu
-Worte kommen lassen. 68 Nationen waren zur Teilnahme am Kongresse
-geladen worden; die Anzahl der zu entsendenden Delegierten blieb dem
-Belieben der Geladenen überlassen, nur wurde gebeten, die Zahl von je
-zehn Abgesandten nicht zu überschreiten; thatsächlich wählten die 68
-Länder insgesamt 425 Delegierte, was mit den 12 am Kongresse gleichfalls
-teilnehmenden Chefs der freiländischen Verwaltung eine Gesamtzahl von
-437 Kongreßmitgliedern ergab.
-
-Am 3. März des 26. Jahres nach der Gründung von Freiland versammelte
-sich der Kongreß im großen Saale des Edenthaler Volkspalastes. Auf der
-Rechten saßen die Zweifler an der allgemeinen Durchführbarkeit der im
-Zuge befindlichen Reformen, im Centrum die Anhänger Freilands, auf der
-Linken die Radikalen, denen die gewaltsamsten Mittel die besten
-schienen. Den Vorsitz führte der Chef der freiländischen
-Präsidialabteilung, welches Amt seit Gründung des Gemeinwesens
-ununterbrochen Dr. Strahl verwaltet hatte. Wir lassen nunmehr den
-Verlauf der fünftägigen Diskussion auszugsweise an der Hand der
-Sitzungsprotokolle folgen.
-
- Erster Verhandlungstag.
-
-Der _Vorsitzende_ begrüßt namens des freiländischen Volkes die auf
-dessen Einladung herbeigeeilten Abgesandten der sämtlichen
-Brudernationen der Erde und fährt dann fort:
-
-»Um einiges, wenn auch nicht gerade strenges und starres System in den
-Gang der Beratungen zu bringen, schlage ich vor, daß wir von Anbeginn
-eine gewisse Reihenfolge der zu behandelnden Fragen feststellen;
-Abschweifungen von dieser Reihenfolge werden allerdings nicht immer zu
-vermeiden sein; aber als nützlich dürfte es sich für alle Fälle
-erweisen, wenn die Redner zum mindesten das Bestreben zeigen, möglichst
-nur zu dem gerade in Verhandlung stehenden Gegenstande zu sprechen. Um
-die Diskussion dieser Formfrage abzukürzen, hat die freiländische
-Verwaltung sich erlaubt, eine Art Tagesordnung auszuarbeiten, die Sie
-annehmen, amendieren oder auch verwerfen können; die in diese
-Tagesordnung aufgenommenen Diskussionsstoffe sind jedoch, wie ich sofort
-bemerken will, nicht unserer hierortigen Initiative entsprungen, sondern
-wurden uns von den Führern der verschiedenen ausländischen Parteien als
-näherer Aufklärung bedürftig bezeichnet; wir unserseits begnügten uns
-damit, System in diese uns vorgelegten Fragen zu bringen. Wir schlagen
-also folgende Reihenfolge der Verhandlungsgegenstände vor:
-
-1. Wie erklärt sich die Thatsache, daß es im geschichtlichen Verlaufe
-vor Gründung Freilands noch niemals gelungen ist, ein Gemeinwesen auf
-den Prinzipien der wirtschaftlichen Gerechtigkeit und Freiheit
-einzurichten?
-
-2. Ist der Erfolg der freiländischen Institutionen nicht etwa bloß auf
-das ausnahmsweise und daher vielleicht vorübergehende Zusammenwirken
-besonders günstiger Verhältnisse zurückzuführen oder beruhen dieselben
-auf überall vorhandenen, in der menschlichen Natur begründeten
-Voraussetzungen?
-
-3. Sind Not und Elend nicht etwa Naturnotwendigkeiten und müßte nicht
-Übervölkerung eintreten, wenn es vorübergehend gelänge, das Elend
-allgemein zu beseitigen?
-
-4. Ist es möglich, die Institutionen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-überall unter Schonung der erworbenen Rechte und überkommener Interessen
-zur Durchführung zu bringen; und wenn dies möglich ist, welches sind die
-geeigneten Mittel hierzu?
-
-Hat jemand zu diesem unserem Vorschlage eine Bemerkung zu machen? Es ist
-nicht der Fall. Ich setze also Punkt 1 auf die Tagesordnung und erteile
-dem Abgeordneten Erasmus Kraft das Wort.
-
-_Erasmus Kraft_ (Rechte). Wir schicken uns allenthalben, so weit
-denkende Menschen den Erdball bewohnen, an, den Zustand der Knechtschaft
-und des Elends, in welchem, so weit menschliche Erinnerung zurückreicht,
-unsere Rasse gefangen war, mit einer glücklicheren Ordnung der Dinge zu
-vertauschen. Das leuchtende Beispiel, welches wir hier in Freiland vor
-Augen haben, scheint dafür zu sprechen, daß der Versuch gelingen werde,
-gelingen müsse. Doch je deutlicher sich diese Perspektive uns darstellt,
-desto dringender, unabweislicher wird die Frage, warum das, was sich
-jetzt vollziehen soll, nicht schon längst geschehen, warum der Genius
-der Menschlichkeit so lange geschlafen, ehe er sich zur Vollbringung
-dieses segensreichen Werkes aufraffte. Wir sehen, daß es genügt,
-Jedermann den vollen Genuß dessen, was er erzeugt, zu gönnen, um
-Jedermann Überfluß zu verschaffen, und trotzdem hat man ungezählte
-Jahrtausende hindurch grenzenloses Elend mit all seinem Gefolge von
-Jammer und Verbrechen geduldig ertragen, als wären sie unabweisliche
-Naturnotwendigkeiten. Woran liegt das? Sind wir klüger, weiser,
-gerechter als alle unsere Vorfahren, oder befinden wir uns trotz all der
-scheinbar untrüglichen Beweise, die für das Gelingen unseres Werkes
-sprechen, nicht vielleicht doch im Irrtume? Die zum größten, wichtigsten
-Teile allerdings in das Dunkel der Urzeit gehüllte Geschichte der
-Menschheit ist so alt, daß schwerlich anzunehmen ist, eine so wichtige,
-dem brennendsten Wunsche jeglicher Kreatur entsprechende Bestrebung, wie
-diejenige nach materiellem Wohlbefinden aller, trete jetzt zum ersten
-Male in die Erscheinung; sie muß nicht _einmal_, wiederholt schon
-hervorgetreten sein, auch wenn keinerlei Überlieferung uns darüber
-Verläßliches erzählt. Wo aber sind ihre Erfolge? Oder waren vielleicht
-solche Erfolge vorhanden, auch wenn wir nichts davon wissen, ist die
-Erzählung vom goldenen Zeitalter mehr als eine fromme Fabel und sind wir
-etwa im Begriffe, neuerdings ein solches heraufzubeschwören? Dann aber
-taucht wieder die Frage auf, von welcher Dauer dieses Zeitalter sein, ob
-ihm nicht abermals das eherne und eiserne folgen werden -- vielleicht in
-traurigerer schrecklicherer Gestalt als jenes gezeigt, von welchem
-Abschied zu nehmen wir uns eben anschicken. Ich will es, dem Winke des
-verehrten Vorsitzenden gehorchend, vermeiden, jetzt schon die möglichen
-Ursachen eines solchen Rückfalls in verdoppeltes Elend zu untersuchen,
-da dies das Thema des dritten Punktes der Tagesordnung sein wird; auch
-glaube ich, daß, bevor wir an die Klarlegung aller denkbaren
-Konsequenzen eines Gelingens unserer Bestrebungen schreiten, sehr
-zweckentsprechend zunächst festgestellt werden sollte, _ob_ diese denn
-auch wirklich und in vollem Umfange gelingen werden, zu welchem Behufe
-hinwieder die Klarlegung der Frage ersprießlich ist, warum dieselbe
-bisher niemals gelungen, ja vielleicht niemals versucht worden sind.
-
-_Christian Castor_ (Centrum). Der Vorredner irrt, wenn er behauptet, im
-geschichtlichen Verlaufe der letzten Jahrtausende sei es zu keinerlei
-ernsthaftem Versuche einer Verwirklichung des Prinzips der
-wirtschaftlichen Gerechtigkeit gekommen. Einer der großartigsten
-Versuche dieser Art ist das Christentum. Wer die Evangelien kennt, muß
-wissen, daß Christus und seine Apostel die Ausbeutung des Menschen durch
-den Menschen verdammen; das Wort der Schrift: »Wehe dem, der sich mästet
-vom Schweiße seines Bruders« enthält schon im Keime den ganzen Kodex des
-freiländischen Rechts und alles, was wir nunmehr ins Werk zu setzen
-bestrebt sind. Daß das offizielle Christentum späterhin seine sociale
-Befreiungsarbeit fallen ließ, ist allerdings richtig, aber einzelne
-Kirchenväter haben immer und immer wieder, gestützt auf die heiligen
-Texte, die ursprünglichen Absichten Christi zu verwirklichen gestrebt.
-Und daß es im ganzen Verlaufe des Mittelalters wie später in der Neuzeit
-an zum Teil sehr energischen Versuchen zur Verwirklichung des
-christlichen Ideals niemals gefehlt hat, ist gleichfalls bekannt. Das
-wollte ich zunächst hervorheben. Die Beleuchtung der Frage, warum alle
-diese Versuche Schiffbruch litten, überlasse ich anderen bewährteren
-Kräften.
-
-_Wladimir Ossip_ (Linke). Fern sei es von mir, den edlen Stifter des
-Christentums mit dem, was später aus seiner Lehre gemacht wurde, zu
-verwechseln; aber unser Freund aus der amerikanischen Union geht meines
-Erachtens doch zu weit, wenn er ihn und seine Nachfolger als _unsere_
-Vorgänger hinstellen will. Wir verkünden das Glück und die Freiheit,
-Christus predigte Entsagung und Demut; wir wollen den Reichtum, er die
-Armut Aller; wir beschäftigen uns mit den Dingen dieser Erde, er hat das
-Jenseits vor Augen; wir sind -- um es kurz zu sagen -- Revolutionäre,
-wenn auch friedliche, er ist ein Religionsstifter. Lassen wir die
-Religion; ich glaube, es kann zu nichts führen, sich in Fragen des Mein
-und Dein auf das Christentum zu berufen.
-
-_Lionel Acosta_ (Centrum). Ich bin diesfalls durchaus anderer Meinung
-als mein geehrter Herr Vorredner und schließe mich dem Kollegen aus
-Nordamerika an. Die Lehre Christi ist die reinste, edelste, wenn auch
-über Mittel und Ziele noch nicht klar bewußte Verkündigung der socialen
-Freiheit, die bisher gehört worden ist, und diese Verkündigung der
-socialen Befreiung, nicht religiöse Neuerungen, sind der Inhalt der
-»guten Botschaft«; Christus für einen Religionsstifter statt für einen
-socialen Reformator auszugeben, eine Lehre, die im Fluge die Herzen der
-unterdrückten Massen gewonnen, weil sie ihnen Abhülfe ihrer Leiden
-versprach, zu einem Einschläferungsmittel ihrer erwachenden Energie zu
-gebrauchen, war das Meisterstück der Verknechtungskunst. Christus hat
-sich mit Religion gar nicht beschäftigt, keine Zeile der Evangelien
-enthält auch nur eine Spur davon, daß er an den alten religiösen
-Satzungen seines Landes rüttelte; der frömmste, eifrigste Jude kann
-seinen Kindern unbedenklich die Evangelien zu lesen geben, sie werden
-nichts darin finden, was ihr religiöses Gefühl verletzt. (Eine Stimme:
-Warum wurde aber dann Christus ans Kreuz geschlagen?) Man fragt mich,
-warum Christus von den Juden gekreuzigt wurde, wenn er nichts gegen das
-mosaische Gesetz unternommen hatte. Ja mordet man denn _bloß_ aus
-religiösen Gründen? Christus wurde zum Tode geschleift, weil er ein
-_socialer_, nicht weil er ein religiöser Neuerer war, und nicht die
-Frommen, sondern die Mächtigen unter den Juden haben seinen Tod
-gefordert. Darüber auch nur ein Wort zu verlieren ist in den Augen all
-jener durchaus überflüssig, welche die weltbewegenden Begebenheiten
-jener traurigsten und doch zugleich glorreichsten Tage Israels, in denen
-der edelste seiner Söhne den freiwillig gesuchten Märtyrertod fand,
-unbefangen betrachten. Zunächst ist es eine wohlbeglaubigte
-geschichtliche Thatsache, daß im Judäa der damaligen Zeit für religiöse
-Sektirerei ebenso wenig auf Tod erkannt wurde, wie etwa in Europa des
-letzten Jahrhunderts. Zum zweiten spricht die Art der Hinrichtung, das
-den Juden ganz unbekannte Kreuz, dafür, daß Christus nach römischem,
-nicht nach jüdischem Recht gerichtet wurde; die Römer, dieses in
-religiöser Beziehung toleranteste aller Völker, hätten aber erst recht
-wegen religiöser Neuerungen Niemand zum Tode gebracht; sie hätten die
-Hinrichtung keineswegs geduldet, geschweige denn selber das Urteil
-gesprochen und in ihrer Art vollzogen; das Kreuz war bei ihnen die
-Strafe _aufrührerischer Sklaven_ oder ihrer _Verführer_.
-
-Ich sage das nicht, um die Verantwortung für Christi Tod von Juda
-abzuwälzen; es ist jedes Volkes trauriges Privilegium, der Henker seiner
-Edelsten zu sein, und gleichwie Niemand anders als die Athener Sokrates
-tötete, so hat auch Niemand anders als die Juden Christus getötet; der
-Römer war nur das Werkzeug des jüdischen Hasses, doch wohlverstanden des
-Hasses der um ihre Besitztümer zitternden Reichen unter den damaligen
-Juden, die den »Verführer des Volkes« dem Statthalter denunzierten. Ja,
-es ist auch durchaus glaubhaft, daß dieser letztere sich nicht
-bereitwillig zeigte, auf die Wünsche der geängstigten Denunzianten
-einzugehen, denn er, der Römer, der im niemals erschütterten Glauben an
-seine starre Eigentumsordnung Aufgewachsene, verstand die Bedeutung und
-Tragweite der socialen Lehre Christi gar nicht. Er hielt ihn -- die
-Evangelien lassen darüber kaum einen Zweifel und es wäre im Grunde
-genommen anders auch schwer zu begreifen -- für einen harmlosen
-Schwärmer, den man mit ein paar Rutenstreichen laufen lassen könnte.
-Generationen mußten vergehen, bis die _römische_ Welt erkennen lernte,
-was die Lehre Christi eigentlich zu bedeuten habe -- dann aber fiel sie
-auch mit einer Wut sonder gleichen über ihre Anhänger her, kreuzigte
-sie, warf sie den Bestien vor, kurz that alles, was Rom niemals gegen
-abweichende Religionen, stets aber gegen die Feinde seiner Rechts- und
-Eigentumsordnung that. Anders die _jüdische_ Aristokratie; diese begriff
-Sinn und Tragweite der christlichen Propaganda sofort, denn im
-Pentateuch wie in den Lehren der früheren Propheten hatte sie längst
-schon die Keime dieser socialen Forderungen kennen gelernt. Das
-Jubeljahr, welches neuerliche Grundverteilung nach je 49 Jahren
-forderte, die Bestimmung, daß alle Knechte im siebenten Jahre
-freizulassen seien, was waren sie anderes, als die Vorläufer der von
-Christus verlangten allgemeinen Gleichheit. Ob all diese in den heiligen
-Schriften des alten Juda niedergelegten socialen Gedanken jemals zu
-praktischer Durchführung gelangt waren, ist mehr als zweifelhaft, aber
-bekannt und geläufig waren sie längst jedem Juden, und als Christus
-daher den Versuch machte, sie ins praktische Leben einzuführen, als er
-in gewaltigen, hinreißenden Reden Wehe über den Reichen rief, der sich
-vom Schweiße seines Bruders mäste, da erkannten die Mächtigen in
-Jerusalem sofort die ihren Interessen drohende Gefahr, welche ihren
-nicht jüdischen Standesgenossen erst viel später klar wurde. Es
-unterliegt auch nicht dem geringsten Zweifel, daß sie dem römischen
-Statthalter gegenüber aus der wahren Beschaffenheit ihrer Besorgnisse
-kein Hehl machten, denn nicht als Sektierer, als Aufwiegler wurde
-Christus hingerichtet.
-
-Dem Volke aber konnte ebenso selbstverständlich nicht gesagt werden, daß
-man den Tod Christi fordere, weil er die in den heiligen Büchern
-niedergelegte und von den Propheten oft genug geforderte Gleichheit
-praktisch verwirklichen wolle; diesem mußte das Märlein von den
-religiösen Ketzereien des Nazareners aufgetischt werden, welches Märlein
-indessen -- abgesehen von dem bei der Hinrichtung zusammengelaufenen
-urteilslosen Pöbel -- lange Zeit nirgend Glauben fand. Als gut jüdisch
-galten die ersten Christengemeinden allenthalben in Israel, als »judaei«
-werden sie uns von allen römischen Schriftstellern genannt, in denen
-ihrer Erwähnung geschieht. Was sie wirklich waren, wodurch allein sie
-sich von den anderen Judengemeinden unterschieden, darüber ist -- trotz
-aller anfangs aus leicht begreiflichen Gründen beobachteten Vorsicht und
-trotz der später, aus ebenso begreiflichen Gründen geübten Fälschungen
--- in den Apostelgeschichten Genügendes auf uns gekommen. Socialisten,
-ja zum Teil Kommunisten waren sie; absolute wirtschaftliche Gleichheit,
-Gütergemeinschaft wurde in ihnen geübt. Später erst, als die christliche
-Kirche unter Preisgebung ihres socialen Inhalts Frieden mit der
-Staatsgewalt geschlossen, aus einer grausam verfolgten Märtyrerin der
-Gleichheit, sich in ein Werkzeug der Herrschaft und zwar vielleicht
-gerade wegen dieses Renegatentums, doppelt verfolgungssüchtiger
-Herrschaft, umgewandelt hatte, erst von da ab suchte sie selber die
-tückische Verleumdung ihrer einstigen Ankläger hervor, spielte sich
-selber als neue Religion aus -- was sie seither in der That auch
-geworden ist. Und daß es ihr gelang, durch länger als anderthalb
-Jahrtausende diese ihre neue Rolle mit dem Namen Christi in Verbindung
-zu erhalten, ist zum weitaus überwiegenden Teile allerdings die Schuld
-des jüdischen Stammes, der durch die blutigen Verfolgungen, die unter
-Berufung auf den milden Dulder von Golgata gegen ihn verübt wurden, sich
-zu blindem, thörichtem Hasse gegen diesen seinen größten und edelsten
-Sohn verleiten ließ.
-
-Aber deshalb bleibt es nicht minder wahr, daß Christus für die Idee der
-socialen Gerechtigkeit und nur für diese den Tod erlitten, ja daß diese
-Idee schon vor ihm dem Judentume nicht unbekannt war. Und ebenso wahr
-ist, daß trotz aller nachträglichen Verdunkelung und Fälschung dieser
-welterlösenden Idee, die Propaganda der wirtschaftlichen Befreiung
-niemals wieder völlig erstickt werden konnte. Vergebens untersagte die
-Kirche der Laienwelt die Lektüre jener Bücher, welche angeblich nichts
-anderes, als ihre, der Kirche, Lehren enthalten sollten; immer und immer
-wieder holten sich die in tiefster Erniedrigung schmachtenden
-europäischen Völker aus diesen verfehmten Schriften Mut und Begeisterung
-zu Versuchen der Befreiung.
-
-_Darja-Sing_ (Centrum). Ich möchte das soeben Gehörte dahin ergänzen,
-daß auch noch ein anderes Volk und zwar 600 Jahre vor Christus, die Idee
-der Freiheit und Gerechtigkeit aus sich gebar -- es ist das indische.
-Der eigentliche Kern auch des Buddhismus ist die Lehre von der
-Gleichheit aller Menschen und von der Sündhaftigkeit der Unterdrückung
-und Ausbeutung. Ja, ich wage sogar die Vermutung zu äußern, daß die
-bereits erwähnten socialen Freiheitsgedanken des Pentateuch wie der
-Propheten und folglich mittelbar auch die Christi, auf indische Anregung
-zurückzuführen sind. Das scheint auf den ersten Blick ein arger
-Anachronismus zu sein, denn Buddha lebte wie gesagt 600 Jahre vor
-Christus, während die jüdische Legende die Abfassung der fünf Bücher in
-das 14. Jahrhundert v. Chr. verlegt. Allein es ist mir bekannt, daß
-neuere Forschungen mit nahezu absoluter Sicherheit festgestellt haben,
-daß diese angeblichen Bücher Mosis frühestens im sechsten Jahrhundert,
-und jedenfalls erst nach der Rückkehr aus der sogenannten babylonischen
-Gefangenschaft verfaßt wurden. Gerade zur Zeit aber, als die Elite des
-damaligen Juda nach Babylon verpflanzt war, sandte Buddha seine Apostel
-durch ganz Asien, und daß die »an den Wassern Babels Weinenden« gegen
-solche Lehren damals besonders empfänglich gewesen sein mußten, liegt
-auf der Hand.
-
-Wenn also einige germanische Schriftsteller die Behauptung aufstellten,
-das Christentum sei ein fremder Blutstropfen im Körper des arischen
-Volkstums, so haben sie insofern allerdings Recht, als ihnen das
-Christentum thatsächlich als Semitismus, nämlich dem Judentum
-entsprossen, zukam; nichtsdestoweniger kann die arische Welt den
-Grundgedanken des Christentums für sich reklamieren, da
-höchstwahrscheinlich sie es war, welche die ersten Keime hierzu dem
-Semitentume übergab. Ich sage das nicht, um das Verdienst des großen
-semitischen Freiheitsmärtyrers zu schmälern. Ich kann leider nicht
-leugnen, daß wir Arier mit dem unserem Schoße entsprossenen göttlichen
-Gedanken aus eigener Kraft nichts anzufangen verstanden. Gleichwie es
-wahrscheinlich ist, daß gerade die Scheußlichkeit des indischen
-Kastenwesens, jener schändlichsten Blüte, die jemals dem blut- und
-thränengedüngten Boden der Knechtschaft entsprossen, Ursache gewesen,
-daß in Indien zuerst die geistige Reaktion gegen diese Geißel der
-Menschheit sich zeigte, ebenso sicher ist es auf der anderen Seite, daß
-das nämliche Kastenwesen die Spannkraft unseres indischen Volkes
-allzusehr gebrochen, als daß dieses die empfangene Anregung selber hätte
-fruchtbringend verarbeiten können. Der Buddhismus erlosch in Indien und
-wurde außerhalb Indiens sehr bald seines socialen Inhalts gänzlich
-entkleidet. Jene transcendenten Spekulationen, auf welche man auch im
-Abendlande das Christentum zu beschränken _versuchte_, sie sind im Osten
-Asiens thatsächlich der einzige Effekt des Buddhismus gewesen. Ja schon
-im Geiste der Stifter gestaltet sich der Freiheitsgedanke anders bei
-dem, trotz aller Erhabenheit doch den Stempel seines Volkstumes
-tragenden »Avatar« Indiens und anders bei dem Messias in Juda, der
-inmitten eines von nie gebändigtem Gleichheitsdrange durchglühten Volkes
-das Licht der Welt erblickte. Buddha konnte sich die Freiheit wirklich
-nur in Form jener hoffnungslosen Entsagung vorstellen, die dem
-christlichen Freiheitsgedanken bloß fälschlich von Jenen untergeschoben
-wurde, die durch fremde Ansprüche im eigenen Genusse nicht gestört zu
-werden wünschten.
-
-Ja ich bin überzeugt, daß auch unsere kräftigeren, nach dem Westen
-ausgewanderten Verwandten den Freiheits- und Gleichheitsgedanken nicht
-hätten verwerten können, wenn wir -- die indische Welt -- ihnen
-denselben unverändert, wie wir ihn schufen, übergeben hätten. Denn auch
-ihnen steckte, als sie nach Europa kamen und noch ein Jahrtausend
-später, das Kastengefühl im Blute; daß alle Menschen gleich, wirklich
-schon hier auf Erden gleich seien, wäre dem germanischen Edeling sowohl,
-als dem germanischen Knechte ebenso unfaßbar geblieben, als es dem
-indischen Paria oder Sudra und dem Brahmanen oder Ksatrija unfaßbar
-geblieben ist. Dieser Gedanke mußte zuerst von dem streng demokratisch
-gesinnten kleinen semitischen Volksstamme an den Ufern des Jordan in
-feste, fürderhin nicht mehr zu verdunkelnde Formen gebracht und von der
-freien nüchternen Forschung Roms und Griechenlands in grelle -- wenn
-auch vorläufig ablehnende -- Untersuchung gezogen worden sein, ehe er,
-zu rein arischen Volksstämmen verpflanzt, Früchte zu tragen vermochte.
-Nahmen doch die bekehrten germanischen Könige das Christentum ganz
-ersichtlich nur an, weil sie es für ein passendes Werkzeug der
-Herrschaft hielten. Was die neue Lehre den Knechten etwa sagen mochte,
-war ihnen vorerst gleichgiltig, denn der Knecht, der in scheuer
-Ehrfurcht zu den »Abkömmlingen der Asen«, seinen Herren, emporsah,
-erschien für alle Ewigkeit ungefährlich; gegen wen es sich zu wappnen
-galt, das waren die Mitherren, die Großen und Edlen, die bisher nur der
-faktischen Macht, nicht dem Wesen nach, von den Königen verschieden
-waren. Das Herrenrecht kam -- nach arischer Anschauung -- von Gott, sehr
-wohl; aber das des kleinsten Edeln in der nämlichen Weise, wie das des
-Königs; sie alle stammten von den Göttern ab. In Christus nun fanden die
-Könige den _einen_ obersten Herrn, der ihnen, ihnen allein, die Macht
-verliehen hatte; abermals besaßen sie eine göttliche Quelle des
-Herrenrechts, aber für sich allein und deshalb erzählt uns die
-Geschichte überall, daß die Könige gegen den -- oft verzweifelten --
-Widerstand der Großen das Christentum einführten, nirgends, daß die
-Großen ohne, oder gar gegen den Willen der Könige sich bekehrt hätten.
-Die Volksmassen, die Knechte -- wo werden diese jemals überhaupt
-gefragt? Sie haben zu thun und zu glauben, was die Herren für gut finden
--- und sie thun es ausnahmslos, ohne den geringsten Widerstand, lassen
-sich gleich den Schafen herdenweise zur Taufe ins Wasser treiben und
-glauben nunmehr auf Befehl, daß alle Macht von _einem_ Gotte komme, der
-sie _einem_ Herrn verliehen. Denn der arische Knecht ist eine willenlose
-Sache, die zu eigenem Denken erst erzogen werden muß. Dieses
-Erziehungswerk nun hat allerdings ziemlich lange gedauert, aber wie der
-Vorredner richtig bemerkte, geschlafen hat der Gedanke der Freiheit
-nicht.
-
-_Erich Holm_ (Rechte). Ich glaube, es läßt sich gegen den Nachweis, daß
-der Gedanke der wirtschaftlichen Gerechtigkeit in seiner Allgemeinheit
-schon Jahrtausende alt ist und niemals vollständig entschlief, nichts
-stichhaltiges sagen. Aber es fragt sich, ob denn dieser allgemeine
-Gleichberechtigungs- und Freiheitsgedanke mit jenem speciellen, an
-dessen Verwirklichung wir jetzt schreiten, viel des Gemeinsamen hat,
-nicht vielleicht in manchen Stücken das Gegenteil desselben besagt; und
-zum zweiten muß nun erst recht Bedenken erregen, daß dieser, wie wir
-gehört haben, 2½ Jahrtausende alte Gedanke bisher noch nie und nirgend
-verwirklicht werden konnte.
-
-Ersteres anlangend muß ich zugeben, daß Christus -- im Gegensatze zu
-Buddha -- die Gleichheit nicht transcendent und metaphysisch, sondern
-sehr materiell und buchstäblich verstanden hat. Er pries zwar auch die
-Armen an Geist selig, aber unter den Reichen, die ihm zufolge schwerer
-ins Himmelreich eingehen sollen, als ein Schiffsseil aus Kamelhaaren
-durch ein Nadelöhr, verstand er ganz gewiß nicht die Reichen im Geiste,
-sondern die an irdischen Gütern Reichen. Auch ist es richtig, daß er
-sagte, »mein Reich ist nicht von dieser Welt« und dem Kaiser geben hieß,
-was des Kaisers sei; allein, wer diese Stellen nicht aus dem
-Zusammenhange reißt, kann unmöglich übersehen, daß er damit lediglich
-jede Einmischung in die politischen Angelegenheiten ablehnt, nicht um
-politischer, sondern um transcendenter _Zwecke_, um der ewigen Seligkeit
-willen, der socialen Gerechtigkeit zum Siege verhelfen will. Ob Rom oder
-Israel herrscht, ist ihm gleichgiltig, wenn nur Gerechtigkeit geübt
-wird; doch daß er diese nicht erst im Jenseits, sondern schon hinieden
-geübt wissen will, kann nur fromme Beschränktheit leugnen. Aber ist das,
-was Christus unter Gerechtigkeit versteht, wirklich dasselbe, was wir
-darunter meinen? Zwar das von ihm gleich anderen jüdischen Lehrern
-verkündete »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst« wäre eine sinnlose
-Phrase, wenn es nicht wirtschaftliche Gleichberechtigung zur
-Voraussetzung hätte. Den Menschen, den man ausbeutet, liebt man wie sein
-Haustier, nicht aber wie sich selbst; wahrhaft »christliche
-Nächstenliebe« in einer ausbeuterischen Gesellschaft verlangen, wäre
-einfach albern, und was dabei herauskommen kann, haben wir bisher
-sattsam erfahren. Im übrigen nimmt uns ja der Apostel hierüber den
-letzten Rest von Zweifel, denn er verdammt ausdrücklich, sich vom
-Schweiße des Nächsten zu mästen, d. h. ihn auszubeuten. Insoweit also
-wären wir mit Christus vollkommen eines Strebens. Aber er verdammt
-ebenso ausdrücklich den Reichtum, preist die Armut, während wir den
-Reichtum zum Gemeingute Aller machen, also alle unsere Mitmenschen in
-einen Zustand versetzen wollen, in dem sie -- um mit Christus zu reden
--- schwerer als ein Schiffstau durchs Nadelöhr, ins Himmelreich eingehen
-könnten. Hier ist ein Gegensatz, dessen Überbrückung mir schwer möglich
-erscheint. Wir halten das Elend, Christus den Reichtum für die Quelle
-des Lasters, der Sünde; unsere Gleichheit ist die des Reichtums, die
-seinige die der Armut; das bitte ich fürs erste festzuhalten.
-
-Zum zweiten aber hat ja Christus -- trotz des, wie man zugeben wird,
-viel bescheidenen Zieles, welches er sich steckte, dasselbe _nicht_
-erreicht. Ist sohin die Berufung auf diesen erhabensten aller Geister,
-statt uns in Verfolgung unserer Ziele zu stärken, nicht vielmehr
-geeignet, uns zu entmutigen?
-
-_Emilio Lerma_ (Freiland). Die Verbindung, in welche der Vorredner die
-von Christus gepriesene und geforderte Armut mit dem -- angeblichen --
-Mißlingen seines Befreiungswerkes gebracht hat, ist eine verfehlte.
-Nicht trotzdem, sondern _weil_ Christus die Gleichheit auf Grundlage der
-Armut herstellen wollte, ist dies fürs erste mißlungen. Die Gleichheit
-der Armut läßt sich nicht herstellen, denn sie wäre gleichbedeutend mit
-Stillstand der Kultur; wohl aber ist es nicht bloß möglich, sondern
-notwendig, die Gleichheit des Reichtums ins Werk zu setzen -- sowie die
-Voraussetzungen dafür vorhanden sind -- weil dies mit Fortschritt der
-Kultur gleichbedeutend ist. Allerdings -- so werden Sie sagen -- so
-verhält es sich nach unserer Auffassung; nach derjenigen Christi aber
-ist der Reichtum ein Übel. Sehr wahr. Nur kann uns bei unbefangenem
-Eingehen in die Sache unmöglich entgehen, _daß Christus den Reichtum nur
-verwarf, weil er seine Quelle in der Ausbeutung hatte_. Nichts im ganzen
-Laufe des Lebens Jesu deutet darauf hin, daß er jener finstere Ascet
-gewesen, der er hätte sein müssen, wenn er den Reichtum als solchen für
-sündhaft gehalten hätte; zahllose Stellen der Evangelien legen
-unzweideutiges Zeugnis für das Gegenteil ab. Christi Bedürfnisse waren
-allerdings einfach; aber er genoß stets mit Behagen, was ihm etwaiger
-Reichtum seiner Anhänger bot und sah nirgends ein Übles darin, vom Leben
-soviel anzunehmen, als sich mit der Gerechtigkeit verträgt. Auch der
-Haß, mit welchem ihn die Reichen Jerusalems verfolgen, änderte diese
-seine Anschauung nicht, wie denn überhaupt das oft citierte
-Verdammungsurteil gegen die Reichen etwas geradezu verletzendes, dem
-Geiste der Evangelien zuwiderlaufendes hat, wenn wir es außer
-Zusammenhang halten mit dem »Wehe, wer sich mästet vom Schweiße seines
-Bruders«. Im Reichtum verdammt Christus bloß dessen Quelle; nur weil
-Reichtum anders, als durch Ausnützung des Schweißes der Brüder nicht
-erworben werden konnte, deshalb und nur deshalb allein war ihm das
-Himmelreich verschlossen. Kein Zweifel, daß Christus gleich uns sich mit
-dem Reichtume versöhnt hätte, wäre damals wie zu unserer Zeit Reichtum
-auch ohne Ausbeutung, ja ohne diese erst recht möglich gewesen. Aus
-welchen Gründen dies zu Christi Zeiten und noch viele Jahrhunderte
-nachher unmöglich war, darüber werden wir uns noch ausführlich zu
-verbreiten haben; vorläufig sei bloß konstatiert, _daß_ es unmöglich
-war, daß die Wahl bloß zwischen Armut oder Reichtum durch Ausbeutung
-stand.
-
-Diese Alternative schärfer als je zuvor ein Anderer erkannt und sich mit
-hinreißender Glut gegen die Ausbeutung gewendet zu haben, ist eben die
-unsterbliche That Christi. Er mußte dafür am Kreuze sterben, denn im
-Gegensatze von Gerechtigkeit und Kulturnotwendigkeit wird stets die
-erstere unterliegen; er mußte sterben, weil er nahezu zwei Jahrtausende
-zu früh das Banner wahrer Menschenliebe, Freiheit und Gleichheit, kurz
-aller edelsten Gefühle des menschlichen Herzens entrollte -- zu früh,
-wohlverstanden für ihn, nicht für uns, denn die träge Menschheit
-bedurfte dieser zwei Jahrtausende, um voll zu begreifen, was ihr
-Märtyrer gemeint, für _sie_ starb er keinen Tag zu früh. Es gibt also
-keinen Gegensatz der christlichen Ideen mit unseren Bestrebungen; der
-Unterschied beider liegt bloß darin, daß jene, die erste Verkündigung
-des Gedankens der Gleichheit, in eine Zeit fallen, wo die materiellen
-Voraussetzungen der Verwirklichung dieser göttlichen Idee noch nicht
-vorhanden waren, während diese die »Fleischwerdung des Wortes« zu
-bedeuten haben, die Frucht des damals in den Geist der Menschheit
-niedergelegten Samenkorns. Auch von einem wirklichen »Mißlingen« des
-christlichen Befreiungswerkes kann daher eigentlich nicht die Rede sein:
-es liegen bloß zwei Jahrtausende zwischen dem Beginn und dem Abschluß
-des von Christus unternommenen Werkes.
-
-Hiermit schloß der vorgerückten Stunde halber der Präsident die Sitzung,
-die Erledigung der auf der Tagesordnung stehenden Frage auf den morgigen
-Tag verschiebend.
-
-
-
-
- 24. Kapitel.
-
-
- Zweiter Verhandlungstag.
- (Fortsetzung der Verhandlungen über Punkt 1 der Tagesordnung.)
-
-Das Wort erhält _Leopold Stockau_ (Centrum): Ich glaube, daß die
-Vorfrage des ersten Punktes der Tagesordnung, nämlich ob unsere
-gegenwärtigen Bemühungen im Interesse der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-wirklich ohne jedes wie immer geartete weltgeschichtliche Präcedens
-dastehen, am gestrigen Tage erschöpfend, und zwar im verneinenden Sinne
-erledigt worden ist. Zum mindesten bin ich von den gestrigen Wortführern
-der Gegenpartei ermächtigt, zu erklären, daß sie vollkommen davon
-überzeugt worden seien, die Lehre Christi unterscheide sich in keinem
-wesentlichen Punkte von dem, was in Freiland verwirklicht ist und was
-wir nunmehr zum Gemeingute des ganzen Erdkreises machen wollen. Wir
-kommen jetzt zum Hauptgegenstande des ersten Fragepunktes, zu der
-Erörterung nämlich, warum diese früheren Versuche, Gerechtigkeit und
-Freiheit zur Grundlage der menschlichen Wirtschaft zu machen, erfolglos
-bleiben mußten.
-
-Die Antwort auf diese Frage ist durch den letzten Redner des gestrigen
-Tages schon angedeutet worden. Die früheren Versuche mißlangen, weil sie
-die Gleichheit der Armut etablieren wollten, der unsere wird gelingen,
-weil er die Gleichheit des Reichtums bedeutet. Gleichheit der Armut wäre
-Stillstand der Kultur gewesen. Kunst und Wissenschaft, diese beiden
-Triebfedern des Fortschritts, haben Überfluß und Muße zur Voraussetzung;
-sie können nicht bestehen, geschweige denn sich entwickeln, wenn es
-Niemand giebt, der mehr besäße, als zur Stillung der tierischen Notdurft
-hinreicht. In früheren Epochen menschlicher Kultur war es jedoch
-unmöglich, Überfluß und Muße für Alle zu schaffen; es war unmöglich,
-weil die Hilfsmittel der Produktion nicht hinreichten, Überfluß für Alle
-zu erzeugen, selbst wenn Alle unausgesetzt unter Einsatz ihrer gesamten
-physischen Kraft gearbeitet, geschweige denn, wenn sie sich zugleich
-jene Muße gegönnt hätten, die zur Entfaltung der höheren geistigen
-Kräfte ebenso notwendig ist, wie der Überfluß zur Zeitigung der höheren
-geistigen Bedürfnisse. Und da es nicht möglich war, Allen ein vollkommen
-menschenwürdiges Dasein zu gewähren, so blieb es eine traurige zwar,
-aber darum nicht minder unerschütterliche Kulturnotwendigkeit, die
-Mehrzahl der Menschen auch in dem Wenigen, das ihr Teil gewesen wäre, zu
-verkürzen und mit dem, den Massen entzogenen Beutestücken eine
-Minderzahl auszustatten, die solcherart zu Überfluß und Muße gelangen
-konnte. Die Knechtschaft war eine Kulturnotwendigkeit, weil sie allein
-zum mindesten in einzelnen Menschen Kulturbedürfnisse und
-Kulturfähigkeiten zur Entfaltung zu bringen vermochte, während ohne sie
-Barbarei das Los Aller gewesen wäre.
-
-Falsch ist übrigens die Meinung, als ob die Knechtschaft so alt wäre,
-als das Menschengeschlecht; sie ist nur so alt, als die menschliche
-Kultur. Es gab einst eine Zeit, in der sie unbekannt war, in der es
-keine Herren und Knechte gab und niemand die Arbeit seiner Nebenmenschen
-auszubeuten vermochte; nur war das nicht das goldene, sondern das
-barbarische Zeitalter unserer Rasse. So lange der Mensch die Kunst noch
-nicht erlernt hatte, seine Bedürfnisse zu _erzeugen_, sondern sich damit
-begnügen mußte, die freiwilligen Gaben der Natur zu sammeln, zu erjagen;
-so lange daher jeder Mitkonkurrent als Feind angesehen wurde, der nach
-demselben Gute trachtete, welches jeder Einzelne als die ihm bestimmte
-Beute ansah; so lange richtete sich der Daseinskampf unter den Menschen
-notwendigerweise auf gegenseitige _Vernichtung_, statt auf Unterjochung
-und Ausbeutung. Es nützt dem Stärkeren, Schlaueren noch nichts, die
-Schwächeren zu unterjochen; der Konkurrent im Daseinskampfe muß getötet
-werden, und da der Kampf von Haß und Aberglauben begleitet ist, so
-gelangt man bald dahin, den Getöteten auch zu fressen. Ausrottungskrieg
-Aller gegen Alle, gefolgt in der Regel von Kannibalismus, war daher der
-Urzustand unseres Geschlechts.
-
-Überwunden aber wurde diese erste sociale Ordnung nicht durch moralische
-oder philosophische Erwägungen, sondern durch einen Wandel im Wesen der
-Arbeit. Der Mann, welcher zuerst auf den Gedanken geriet, ein Samenkorn
-in die Erde zu legen, es zu pflegen und Früchte heranzuziehen, war der
-Erlöser der Menschheit aus der niedrigsten, blutigsten Stufe der
-Barbarei, denn er schuf die erste Produktion, die Kunst, Nahrungsmittel
-nicht bloß zu sammeln, sondern zu erzeugen; und als diese Kunst sich in
-dem Maße verbessert hatte, daß es möglich wurde, dem Arbeitenden einen
-Teil seines Ertrages zu entziehen, ohne ihn geradezu dem Hungertode zu
-überantworten, zeigte es sich allgemach, daß es nützlicher sei, den
-Besiegten als Arbeitstier und nicht wie bisher, als Schlachttier zu
-gebrauchen. Und da dem so war, da die Sklaverei zum erstenmal die
-Möglichkeit bot, Überfluß und Muße zum mindesten für eine bevorzugte
-Minderheit zu schaffen, so war sie die erste Anregerin höherer Kultur.
-Kultur aber ist Macht und so kam es denn, daß Sklaverei oder
-Knechtschaft in irgend welcher Form allgemach den Erdball eroberten.
-
-Daraus folgt aber mit nichten, daß die Dauer ihrer Herrschaft eine ewige
-sein muß oder auch nur sein kann. Gleichwie Menschenfresserei das
-Ergebnis jenes geringsten Ausmaßes der Ergiebigkeit menschlicher Arbeit
-gewesen, bei welchem die angestrengteste Thätigkeit eben nur zur
-Fristung des nackten tierischen Lebens ausreichte, und der Knechtschaft
-weichen mußte, sowie die erste Möglichkeit des Überflusses infolge
-wachsender Arbeitsergiebigkeit sich zeigte, so ist auch diese nichts
-anderes, als das sociale Ergebnis jenes mittleren Ausmaßes von
-Ergiebigkeit, bei welchem die Arbeit zwar genügt, um Einzelnen, nicht
-aber, um Allen Überfluß und Muße zugleich zu gewähren, und auch sie
-_muß_ einer anderen, höheren socialen Ordnung weichen, sowie dieses
-mittlere Maß der Ergiebigkeit überschritten ist, denn von da ab ist sie
-aus einer Kulturnotwendigkeit ein Kulturhindernis geworden.
-
-Das ist seit Generationen thatsächlich geschehen. Seitdem es dem
-Menschen gelungen ist, die Naturkräfte seiner Produktion dienstbar zu
-machen, seitdem er die Fähigkeit erlangt hat, an Stelle der Kraft seiner
-Muskeln die unbegrenzten Elementarkräfte eintreten zu lassen, hindert
-ihn nichts, Überfluß und Muße für Alle zu erzeugen -- nichts als jene
-überlebte sociale Einrichtung, die Knechtschaft nämlich, welche den
-Massen den Genuß dieser Güter vorenthält. Wir können nicht bloß, wir
-müssen die soziale Gerechtigkeit verwirklichen, weil die neue Form der
-Arbeit dies ebenso gebieterisch fordert, als die alten Formen der Arbeit
-gebieterisch die Knechtschaft gefordert haben. Diese, einst das Werkzeug
-des Kulturfortschrittes, ist zu einem Hindernisse der Kultur geworden,
-denn sie vereitelt den vollen Gebrauch der uns zu Gebote stehenden
-Kulturmittel. Dadurch, daß sie die Genüsse der großen Majorität unserer
-Brüder auf ein äußerst geringes Maß reduziert, auf ein Maß, zu dessen
-Erfüllung der Gebrauch der modernen Produktionsbehelfe keineswegs
-erforderlich ist, zwingt sie uns, in unserer Arbeit weit hinter jenem
-Umfange und hinter jener Vollkommenheit zurückzubleiben, die wir sofort
-erreichen würden, sowie nur einmal Verwendung für die dann
-unvermeidliche Fülle aller Reichtümer vorhanden wäre.
-
-Ich resumiere also: die wirtschaftliche Gleichberechtigung konnte in
-früheren Kulturepochen aus dem Grunde nicht verwirklicht werden, weil
-menschliche Arbeit in jenen Epochen nicht hinreichend ergiebig war, um
-Reichtum für Alle zu ermöglichen, die Gleichheit also Armut für Alle
-bedeutet, diese aber gleichbedeutend mit Barbarei gewesen wäre; sie kann
-nicht nur, sie _muß_ jetzt zur Wahrheit werden, weil Dank der erlangten
-Kulturmittel unerschöpflicher Reichtum für alle produzierbar wäre, die
-thatsächliche Produktion dieses dem Kulturfortschritte entsprechenden
-Reichtums aber zudem an die Bedingung geknüpft ist, daß jedermann
-genieße, was das Ergebnis seines Fleißes ist.
-
-Der _Vorsitzende_ fragt hierauf, ob niemand fernerhin zu Punkt 1 der
-Tagesordnung das Wort ergreifen wolle und erklärt, da dies nicht
-geschieht, die Diskussion über dieses Thema für geschlossen.
-
-Zur Debatte gelangt nun Punkt 2:
-
-_Ist der Erfolg der freiländischen Institutionen nicht etwa bloß auf das
-ausnahmsweise und daher vielleicht vorübergehende Zusammenwirken
-besonders günstiger Verhältnisse zurückzuführen, oder beruhen dieselben
-auf überall vorhandenen, in der menschlichen Natur begründeten
-Voraussetzungen?_
-
-Das Wort hat _George Dare_ (Rechte): Wir haben den großartigen Erfolg
-eines ersten Versuches der Etablierung wirtschaftlicher Gerechtigkeit in
-Freiland so handgreiflich vor uns, daß die Frage, ob ein solcher Versuch
-gelingen _kann_, gegenstandlos geworden ist. Ein anderes ist jedoch die
-Frage, ob er gelingen _muß_, überall gelingen muß, weil er in diesem
-einen Falle gelungen ist. Denn die Verhältnisse Freilands sind
-exceptionelle in mehr als einer Beziehung. Von den hervorragenden
-Fähigkeiten, dem Feuereifer und Opfermute jener Männer ganz zu
-schweigen, welche dieses glückliche Gemeinwesen gründeten und zum Teil
-heute noch an dessen Spitze stehen, Männer, wie wir sie mit Sicherheit
-nicht überall zur Hand haben werden, darf auch nicht übersehen werden,
-daß dieses Land von der Natur so verschwenderisch ausgestattet ist, wie
-wenige andere, und daß ein breiter Gürtel von Wüste und Wildnis es --
-anfangs zum mindesten -- vor jedem störenden fremden Einflusse bewahrte.
-Wenn geniale, von unbedingtem Vertrauen ihrer Mitbürger getragene
-Männer, auf einem Boden, wo jedes Samenkorn hundertfältige Frucht trägt,
-das Wunder vollbringen, unerschöpflichen Reichtum für Millionen aus dem
-Nichts hervorzuzaubern, Elend und Laster auszurotten, den Fortschritt
-der Künste und Wissenschaften auf die Spitze zu treiben, so beweist das
-meines Erachtens noch immer nicht, daß gewöhnliche Menschen, die zudem
-vielleicht miteinander hadern, einander mißtrauen werden, auf mageren
-Boden und mitten im Gewühle des Konkurrenzkampfes der Welt, die gleichen
-oder auch nur ähnliche Resultate erzielen werden. Und daß ich in diesem
-Punkte einige Zweifel hege, wird um so erklärlicher erscheinen, wenn man
-bedenkt, daß wir in Amerika Zeugen hunderter und aber hunderter von
-socialen Experimenten waren, die jedoch alle entweder mehr oder minder
-kläglich Fiasko litten, oder günstigen Falls die Bedeutung eines
-gelungenen industriellen Einzelunternehmens zu erlangen vermochten. Es
-ist wahr, einzelne dieser unserer Versuche zu socialer Revolutionierung
-der modernen Gesellschaft haben ganz hübsche pekuniäre Erfolge gehabt;
-das war aber auch alles; eine neue, ersprießliche Grundlage der socialen
-Ordnung haben sie nicht geschaffen, nicht einmal im Keime. Das möchte
-ich zu bedenken geben und bevor wir uns am Beispiele Freilands
-berauschen, zu nüchterner Erwägung der Frage auffordern, ob alles, was
-für Freiland Geltung hat, auch für die ganze übrige Welt Geltung haben
-muß.
-
-_Thomas Johnston_ (Freiland): Der Vorredner irrt, wenn er in
-ausnahmsweise günstigen Verhältnissen den Grund des Gelingens des
-freiländischen Unternehmens zu finden glaubt. Zwar daß unser Boden
-fruchtbarer ist, als in den meisten Teilen der übrigen Welt, ist ein
-dauernder Vorteil, der uns jedoch bloß mit dem Betrage der
-Frachtdifferenz zugute kommt, denn wenn Sie diesen in Abrechnung
-bringen, können Sie überall, wohin Eisenbahn und Dampfschiff reichen, am
-Gewinne dieser Fruchtbarkeit vollständig teilnehmen. Die Getrenntheit
-vom Weltmarkte durch weite Wüsten war anfangs ein Vorteil, wäre aber
-jetzt ein Nachteil, wenn wir ihrer nicht Herr geworden wären, und was
-schließlich die Fähigkeiten der freiländischen Verwaltung anlangt, so
-muß ich -- nicht aus Bescheidenheit, sondern der Wahrheit entsprechend
--- die uns gemachten Komplimente ablehnen. Wir sind nicht klüger als
-andere, die Sie zu Dutzenden in jedem civilisierten Lande finden werden.
-
-Daß aber jene Versuche, von denen der geschätzte Vorredner sprach,
-allesamt mißglückten, erklärt sich daraus, daß sie allesamt auf
-verkehrter Grundlage unternommen wurden. Mit dem, was wir in Freiland
-vollführten und was Sie jetzt nachahmen wollen, haben sie alle bloß ganz
-im Allgemeinen das Bestreben gemein, Abhilfe gegen das Elend der
-ausbeuterischen Welt zu finden; ein anderes aber ist die Abhilfe, die
-wir, eins die, anderes die, welche jene suchten, und darin, nicht in
-exceptionellen Vorteilen, die wir voraus gehabt hätten, liegt die
-Ursache des Gelingens bei uns, des Mißlingens bei jenen.
-
-Denn es war nicht die wirtschaftliche Gerechtigkeit, mit deren Hilfe
-jene zum Ziele gelangen wollten; sie suchten Rettung aus dem Kerker der
-Ausbeutung, sei es auf einem Wege, der gar nicht hinausführt, sei es auf
-einem solchen, der zwar aus diesem hinaus, dafür aber in einen anderen,
-noch abscheulicheren Kerker hineinführt. Bei keinem dieser
-amerikanischen oder sonstigen socialen Experimente, von den Kolonien der
-Quäker bis zu dem Ikarien Cabets wurde jemals der volle und
-ungeschmälerte Arbeitsertrag dem Arbeitenden als solchem zugewiesen,
-vielmehr gehörte der Ertrag entweder kleinen, sich am Unternehmen
-zugleich als Arbeiter beteiligenden Arbeitgebern nach Maßgabe ihrer
-Kapitaleinlage, oder der Gesamtheit, die als solche über die
-Arbeitskraft sowohl als über den Arbeitsertrag jedes Einzelnen
-despotisch zu disponieren hatte. Associierte kleine Kapitalisten oder
-Kommunisten waren ohne Ausnahme alle diese Reformer. Sie mochten, wenn
-sie besonderes Glück hatten, oder unter besonders fähiger Leitung
-standen, vorübergehende Erfolge erzielen; an einen Umschwung der
-geltenden Wirtschaftsordnung durch sie war nicht zu denken.
-
-_Johann Storm_ (Rechte). Ich glaube, daß das Fehlen jeglicher Analogie
-zwischen den wiederholt unternommenen kleinkapitalistischen oder
-kommunistischen Gesellschaftsrettungsversuchen und den freiländischen
-Institutionen keines ferneren Beweises bedarf. Auch darüber erachte ich
-die Akten als geschlossen, daß die exceptionellen äußeren Vorteile, die
-den Erfolg jener letzteren allenfalls begünstigt und erleichtert haben
-mögen, nicht von der Art sind, daß zu besorgen wäre, unser nunmehr
-beabsichtigtes Werk könnte wegen deren Mangel scheitern. Aber damit
-wissen wir immer noch nicht, ob wirklich tief im Wesen der menschlichen
-Natur gelegene, also mit Sicherheit überall zu erwartende
-Voraussetzungen für das Gelingen der Socialreform Gewähr leisten. Wir
-haben allerdings schon bei Gelegenheit der Diskussion des ersten Punktes
-de Tagesordnung festgestellt, daß die Ausbeutung, Dank der über die
-Naturkräfte erlangten Herrschaft, zu einer Kulturwidrigkeit, ihre
-Beseitigung also zu einer Kulturnotwendigkeit geworden ist. Die strenge
-Kritik kann sich jedoch damit noch nicht beruhigen. Ist denn alles, was
-behufs Förderung des Kulturfortschrittes notwendig wäre, damit zugleich
-auch möglich? Wie, wenn die wirtschaftliche Gerechtigkeit zwar ein ganz
-außerordentliches Kulturvehikel, leider aber aus irgend einem Grunde
-undurchführbar wäre? Wie, wenn jener wunderbare Aufschwung, den wir in
-Freiland staunend wahrnehmen, doch nur eine vorübergehende Erscheinung
-wäre, trotz aller, ja vielleicht gerade wegen seiner märchenhaften Größe
-den Keim des Unterganges schon in sich trüge, mit einem Worte, wenn die
-Menschheit als Ganzes und auf die Dauer jenes Fortschrittes _nicht_
-teilhaftig werden könnte, dessen Voraussetzung allerdings die
-wirtschaftliche Gerechtigkeit ist?
-
-Der bisher vernommene Beweis des Gegenteils gipfelt in dem Satze, daß
-Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bloß insolange notwendig war,
-als der Ertrag menschlicher Arbeit nicht genügte, um Überfluß und Muße
-für alle zu ermöglichen. Wie aber, wenn auch noch andere Motive die
-Ausbeutung, die Knechtschaft zur Notwendigkeit machten, Motive, deren
-zwingende Wirkung mit der gestiegenen Ergiebigkeit der Arbeit noch nicht
-beseitigt wäre, vielleicht gar niemals beseitigt werden könnte? Als
-gewaltigstes Hindernis dauernder Etablierung eines Zustandes
-wirtschaftlicher Gerechtigkeit mit seinem Gefolge von Glück und Reichtum
-bietet sich dem vorsorglich in die Zukunft blickenden Sinne die Gefahr
-der Übervölkerung dar; doch da die Erörterung dieses Bedenkens einen
-besonderen Punkt unserer Tagesordnung bildet, so will auch ich gleich
-jenen meiner Gesinnungsgenossen, die vor mir das Wort ergriffen,
-vorläufig die sich unter diesem Gesichtspunkte aufdrängenden Argumente
-bei Seite lassen; es gibt deren aber noch einige andere, nicht minder
-gewichtige. Kann auf die Dauer eine Gesellschaft bestehen und
-fortschreiten, welcher die Triebfeder des Eigennutzes fehlt, vermögen
-Gemeinsinn und vernünftige Erwägung letztere durchweg und mit gleicher
-Wirksamkeit zu ersetzen? Gilt nicht dasselbe vom Eigentume? Eigennutz
-und Eigentum aber sind meines Erachtens durch die freiländischen
-Institutionen zwar nicht gänzlich bei Seite geschoben -- das will ich
-gern zugeben -- aber doch sehr wesentlich eingeengt. Auch unter dem
-Walten der wirtschaftlichen Gerechtigkeit ist das Individuum immerhin
-für das geringere oder größere Maß seines Wohlergehens selber
-verantwortlich, der Zusammenhang zwischen dem eigenen Thun und dem
-eigenen Nutzen ist nicht vollständig aufgehoben; aber indem das
-Gemeinwesen jedermann und für alle Fälle gegen Not, also gegen die
-letzte Konsequenz eigener Fehler oder Unterlassungen unbedingt schützt,
-ist doch der Stachel der Selbstverantwortlichkeit sehr wesentlich
-abgestumpft. Ebenso sehen wir das Eigentum zwar nicht gänzlich, aber
-doch in seinen wichtigsten Bestandteilen abgeschafft. Die ganze Erde mit
-allen an ihr haftenden Kräften ist herrenlos erklärt; die
-Produktionsmittel sind Gemeingut; wird das, kann das überall und
-allezeit ohne schädliche Konsequenzen bleiben? Wird der Gemeinsinn auf
-die Dauer jene liebevolle, alle Eventualitäten sinnreich abwägende
-Vorsorge ersetzen, die der Eigentümer dem ihm allein überantworteten
-Gute angedeihen läßt? Wird die heitere Sorglosigkeit, die bisher in
-Freiland allerdings bloß ihre Lichtseiten hervorgekehrt hat, nicht
-schließlich in Leichtsinn und Mißachtung dessen umschlagen, was
-Niemandes spezieller Verantwortlichkeit übergeben ist? Die Thatsache,
-daß es bisher nicht geschehen, erklärt sich vielleicht nur durch die
-noch immer -- es ist ja noch kein Menschenalter über die Gründung dieses
-Gemeinwesens dahingegangen -- vorwaltende Begeisterung des ersten
-Anfanges. Neue Besen, sagt man, kehren gut. Der Freiländer sieht das
-Auge einer ganzen Welt auf sich und sein Thun gerichtet; er fühlt sich
-noch als Bahnbrecher der neuen Einrichtungen; er ist stolz auf dieselben
-und der letzte Arbeiter hier mag sich solcherart noch verantwortlich
-fühlen für die Art und Weise, wie er das ihm zugefallene Apostolat der
-Weltfreiheit ausübt. Wird das auf die Dauer vorhalten, wird insbesondere
-die gesamte Menschheit ähnlich fühlen und handeln? Ich bezweifle es, bin
-zum mindesten nicht vollkommen von der Notwendigkeit überzeugt, daß es
-geschehen werde. Und was dann, wenn es nicht geschieht, wenn sich zeigen
-sollte, daß -- sagen wir nicht alle, aber doch zahlreiche -- Völker des
-Stachels von Not getriebenen Eigennutzes, des Lockmittels vollen und
-ganzen Eigentums nicht entbehren können, ohne in Stumpfsinn und Trägheit
-zu verfallen? Das sind die Fragen, auf die wir zunächst Antwort
-erbitten.
-
-_Richard Held_ (Centrum). Der Vorredner findet, daß Eigennutz und
-Eigentum so wichtige Beförderungsmittel der Betriebsamkeit sind, daß
-ohne deren volle und uneingeschränkte Wirksamkeit menschlicher
-Fortschritt auf die Dauer kaum denkbar und deren Ersatz durch den
-Gemeinsinn höchst unverläßlich wäre. Ich gehe viel weiter. Ich behaupte,
-daß ohne diese beiden Vehikel der Betriebsamkeit an materielles Gedeihen
-irgend welchen Gemeinwesens gar nicht zu denken ist, zum mindesten
-insolange nicht, bis die menschliche Natur sich nicht radikal geändert,
-oder die Arbeit aufgehört hat, eine Plage zu sein. Jeder Versuch, auf
-wirtschaftlichem Gebiete den Eigennutz durch Gemeinsinn oder
-anderweitige ethische Triebfedern zu ersetzen, müßte schmählich Fiasko
-leiden. Das eigens zu beweisen, halte ich für ganz überflüssig; aber
-gerade weil dem so ist, gerade weil der Eigennutz und sein Korrelat, das
-Eigentum, die besten, durch keinerlei Surrogat gleich wirksam zu
-ersetzenden Triebfedern der Arbeit sind, gerade deshalb, so sollte ich
-meinen, verdienen die Institutionen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-auch in diesem Betracht ganz ausgesprochener Maßen den Vorzug vor denen
-der ausbeuterischen Wirtschaftsordnung. Denn sie erst bringen Eigennutz
-und Eigentum wirklich zur Geltung, während die ausbeuterische Ordnung
-sich dieses Verdienst nur fälschlich anmaßt.
-
-Die Knechtschaft ist doch in Wahrheit geradezu die Verneinung des
-Eigennutzes. Dieser setzt voraus, daß der Arbeitende durch seine Mühe
-dem »eigenen Nutzen« diene -- trifft dies unter dem Walten der
-Ausbeutung zu, arbeitet der Knecht zu _eigenem_ Nutzen? Wollte man mit
-Rücksicht auf die Frage des Eigennutzes einen Nachteil der
-wirtschaftlichen Gerechtigkeit der Knechtschaft gegenüber ableiten, so
-müßte man behaupten, die Arbeit gehe dann am fruchtbarsten und
-erfolgreichsten von statten, wenn der Arbeitende _nicht_ zu eigenem,
-sondern zu fremdem Nutzen produciere. Aber der Arbeitgeber produciert
-doch zu eigenem Nutzen, wird man vielleicht einwenden. Richtig. Doch
-abgesehen davon, daß auch das streng genommen mit der Wirkung des
-Eigennutzes _der Arbeit_ gegenüber nichts zu thun hat, denn hier ist es
-wieder nicht der Nutzen eigener, sondern fremder Arbeit, der in Frage
-kommt; so ist es doch klar, daß ein System, welches bloß einer
-Minderzahl Nutzen an der Arbeit einräumt, unendlich minder wirksam sein
-muß, als jenes andere, von uns beabsichtigte, welches diesen Nutzen
-_jedem_ Arbeitenden einräumt. In Wahrheit kennt die ausbeuterische Welt
--- von geringfügigen Ausnahmen abgesehen -- nur Menschen, welche ohne
-eigenen Nutzen arbeiten und Menschen, welche ohne eigene Arbeit Nutzen
-von der Arbeit haben; Arbeit zu eigenem Nutzen kommt in ihr höchstens
-nebensächlich vor. Mit welchem Scheine von Recht darf sich also die
-Ausbeutung damit brüsten, den _Eigen_nutz als Triebfeder der Arbeit zu
-gebrauchen? _Fremd_nutzen ist der richtige Name des bei ihr ins Spiel
-kommenden Arbeitmotivs, und daß dieser Fremdnutzen sich wirksamer
-erweisen sollte, als der Eigennutz, den die wirtschaftliche
-Gerechtigkeit erst als Neuerung in die moderne Welt einführen muß, wäre
-denn doch einigermaßen schwer zu beweisen.
-
-Nicht viel anders verhält es sich mit dem Eigentume. Welch grenzenlose
-Voreingenommenheit gehört dazu, einem Systeme, welches neunundneunzig
-Hundertteile der Menschheit aller und jeglicher Sicherheit des Eigentums
-beraubt, ihnen außer der Luft, die sie atmen, nichts läßt, was sie ihr
-eigen nennen dürften, nachzurühmen, daß es das Eigentum als
-Beförderungsmittel menschlicher Betriebsamkeit gebrauche, und dies einem
-anderen Systeme gegenüber, welches alle Menschen ohne Ausnahme zu
-Eigentümern, und zwar zu unverkürzten unbedingten Eigentümern all dessen
-macht, was sie nur immer hervorbringen mögen! Oder soll vielleicht der
-Vorzug des ausbeuterischen »Eigentums« darin liegen, daß es sich auf
-Dinge erstreckt, die der Eigentümer _nicht_ hervorgebracht hat? Keine
-Frage, die Anhänger des Alten haben schlechthin keine klare Vorstellung
-über den Begriff des Mein und Dein. Was gehört denn eigentlich _mir_?
-»Alles, was Du Irgendwem wegnimmst«, wäre -- wenn sie aufrichtig sein
-wollten -- ihre einzige Antwort. Weil diese Aneignung _fremden_
-Eigentums im Laufe der Jahrtausende in gewisse feste, durch grausame
-Notwendigkeit geheiligte Formen gebracht worden ist, kam ihnen der
-unlöslich mit dem Wesen der Sache verknüpfte, natürliche Begriff des
-Eigentums gänzlich abhanden. Es geht über ihr Begriffsvermögen, daß die
-Gewalt zwar in Besitz und Genuß erhalten kann, wen ihr beliebt, daß aber
-der freie ungehinderte Gebrauch der eigenen Kräfte Jedermanns
-ureigenstes Eigentum ist, und daß folglich jede staatliche oder
-gesellschaftliche Ordnung, welche sich über dieses Urrecht jedes
-Menschen hinwegsetzt, nicht das Eigentum, sondern -- den Raub zur
-Grundlage hat. Dieser Raub mag immerhin notwendig, ja nützlich sein --
-wir haben gesehen, daß er es Jahrtausende hindurch thatsächlich gewesen
--- »Eigentum« wird er darum doch niemals, und wer ihn dafür hält, der
-hat eben vergessen, was Eigentum ist.
-
-Es erscheint mir nach dem Gesagten kaum noch nötig, viel Worte über
-jenes Bedenken zu verlieren, daß mangels vollkommenen Eigentums
-Leichtsinn oder liebloses Verfahren mit den Produktionsmitteln einreißen
-könne. Ersteres anlangend, genügt es wohl zu fragen, ob denn
-hoffnungsloses Elend sich als gar so vorzügliches Beförderungsmittel
-wirtschaftlicher Voraussicht erwiesen habe, daß dessen Ersatz durch eine
-dieses Stachels allerdings beraubte, im übrigen aber vollkommen
-durchgeführte Selbstverantwortlichkeit sich als gefährlich erweisen
-könnte. Und was das zweite Bedenken betrifft, so hätte dieses nur dann
-Berechtigung, wenn in der bisherigen Ordnung die Arbeitenden Eigentümer
-der Produktionsmittel gewesen wären. Sondereigentum an diesen wird ihnen
-zwar auch die neue Ordnung nicht einräumen, dafür aber den
-ungeschmälerten Fruchtgenuß derselben, und wessen Begeisterung für die
-Schönheiten der bestehenden Ordnung nicht so weit geht, daß er den Stock
-des Herrn für ein wirksameres Beförderungsmittel auch der liebevollen
-Vorsorge hält, als den Nutzen der Arbeitenden, der mag beruhigt darüber
-sein, daß es auch in dieser Beziehung nicht schlimmer, sondern nur
-besser werden kann.
-
-_Charles Prud_ (Rechte). Ich begreife durchaus nicht, wie der geehrte
-Vorredner bestreiten kann, daß in der bisherigen Ordnung Eigennutz es
-ist, was die Massen zur Arbeit nötigt. Wer wollte leugnen, daß sie einen
-Teil des Nutzens ihrer Arbeit abgeben müssen; aber ein anderer Teil
-verbleibt doch jedenfalls auch ihnen, sie arbeiten daher, zwar nicht
-ausschließlich, wohl aber mit zu ihrem eigenen Nutzen. Und jedenfalls
-_müssen_ sie arbeiten, wollen sie dem Hunger entgehen, und man sollte
-meinen, daß dieser Sporn der wirksamste von allen ist. Soviel über die
-Leugnung des Eigennutzes als Triebfeder der sogenannten ausgebeuteten
-Arbeit. Was aber den Ausfall gegen den Eigentumsbegriff von uns
-Verteidigern -- nicht etwa der bestehenden Übelstände, aber doch einer
-besonnenen, maßhaltenden Reform derselben -- anlangt, so möchte ich mir
-in aller Bescheidenheit die Bemerkung erlauben, daß unser Rechtsgefühl
-sich dabei beruhigte, daß den Arbeitenden Niemand zwang, mit dem
-Arbeitgeber zu teilen. Er schloß als freier Mann einen Vertrag mit
-demselben ... (allgemeine Heiterkeit). Lachen Sie immerhin, es ist doch
-so. In politisch freien Ländern hindert den Arbeiter nichts, ungeteilt
-für eigene Rechnung zu arbeiten; den Anteil, den er dem Unternehmer
-abtritt, Raub zu nennen, ist daher jedenfalls ungerecht.
-
-_Béla Székely_ (Centrum). Mir will scheinen, daß es ein müßiger Streit
-um Worte ist, den mein Vorredner zu entfesseln sich anschickt. Er nennt
-den Arbeitslohn einen Teil des Nutzens der Produktion -- mag sein, daß
-hie und da die Arbeiter wirklich einen Teil des Nutzens als Lohn oder
-als Zugabe zu diesem empfangen; bei uns und, wenn ich recht unterrichtet
-bin, auch im Lande des Redners war das im allgemeinen nicht üblich,
-vielmehr zahlten wir den Arbeitern, ganz unbekümmert um den Nutzen ihrer
-Arbeit, eine zur Fristung ihres Lebens dienende Summe; Nutzen --
-eventuell auch Schaden -- der Produktion gehörte ausschließlich uns, den
-Unternehmern. Mit ungefähr demselben Rechte könnte er behaupten, daß
-seine Ochsen oder Pferde am »Nutzen« der Produktion teilhaben. Wenn ich
-sage, mit »ungefähr« demselben Rechte, so meine ich damit, daß dies von
-Ochsen und Pferden in der Regel mit etwas _besserem_ Rechte gesagt
-werden könnte, denn während diese nützlichen Kreaturen zumeist besseres
-und reichlicheres Futter erhielten, wenn ihre Arbeit den Herrn reich
-gemacht hatte, geschah dies bei unseren zweibeinigen, vernunftbegabten
-Arbeitskreaturen höchstens in sehr seltenen Ausnahmefällen.
-
-Dann identificiert der Herr Vorredner vollends den Hunger mit dem
-Eigennutze. Die Massen _müssen_ arbeiten, sonst verhungern sie.
-Allerdings. Aber der Sklave muß auch arbeiten, sonst erhält er Prügel --
-folglich, so sollten wir nach dieser seltsamen Logik sagen, wird auch
-der Sklave durch Eigennutz zur Arbeit getrieben. Oder will man sich
-vielleicht darauf steifen, daß Eigennutz sich nur auf die Erlangung
-materieller Güter beziehe? Das wäre zwar falsch, denn Prügel vermeiden
-ist schließlich nicht mehr und nicht minder eine Forderung des
-Eigennutzes, als den Hunger stillen; aber ich will um solche
-Kleinigkeiten nicht streiten; lassen wir also den Stock und die Peitsche
-als Symbole vom Eigennutz beflügelter Betriebsamkeit fallen. Wie aber
-steht es dann mit jenen Sklavenhaltern, die -- wahrscheinlich im
-Interesse der >Freiheit der Arbeit< -- ihre faulen Sklaven nicht
-prügelten, sondern hungern ließen? Unter deren Regime wurde -- dem
-Vorredner nach -- offenbar der Eigennutz als Triebfeder der Arbeit auf
-den Thron gesetzt? Daß der Hunger ein sehr wirksames _Zwangs_mittel ist,
-ein wirksameres, als die Peitsche -- wer wollte das leugnen; er hat
-daher letztere auch überall und sehr zum Vorteile der Arbeitgeber
-verdrängt. Aber Eigennutz? Dazu gehört, das sagt schon der Klang des
-Wortes, daß der Nutzen der Arbeit Eigen des Arbeitenden sei. Soviel über
-den Eigennutz.
-
-Und was nun vollends die Verwahrung gegen das Unrecht der Ausbeutung
-anlangt, so verstehe ich dieselbe schon ganz und gar nicht. >Frei< waren
-die Arbeiter, nichts zwang sie, zu fremdem Vorteil zu producieren?
-Jawohl, nichts als die Kleinigkeit, der Hunger. Sie mochten es immerhin
-bleiben lassen, wenn sie verhungern wollten! Wieder genau dieselbe
->Freiheit<, die auch der Sklave hat. Wenn ihn die Peitsche nicht
-geniert, nötigt ihn nichts zur Arbeit für seinen Herrn. Die Fesseln, in
-denen die >freien< Massen der ausbeuterischen Gesellschaft schmachten,
-sind enger, peinigender, als die Ketten des Sklaven. Das Wort >Raub<
-gefällt dem Vorredner nicht? Es ist in der That ein hartes, häßliches
-Wort; aber der >Räuber< ist ja nicht der einzelne Ausbeuter, sondern die
-ausbeuterische Gesellschaft und diese war einst, in der bitteren Not des
-Daseinskampfes, zu diesem Raube genötigt. Ist das Töten im Kriege
-deshalb weniger Todschlag, weil nicht der Einzelne, sondern der Staat,
-und dieser häufig notgedrungen, die Veranlassung dazu giebt? Man wird
-sagen, daß diese Art des Tötens durch das Strafgesetz nicht verboten, ja
-von der Pflicht gegen das Vaterland geboten sei und daß >Todschlag< nur
-verbotene Arten des Tötens genannt werden dürfen. Das ist _juristisch_
-sehr richtig, und wenn sich jemand beifallen ließe, das Töten im Kriege
-vor den Strafrichter zu ziehen, so würde man ihn mit Fug auslachen. Aber
-ebenso verlachen müßte man Jenen, der, weil Töten im Kriege erlaubt ist,
-bestreiten wollte, dasselbe sei Todschlag, wenn es sich nicht um die
-juristische Strafbarkeit, sondern um die Begriffsbestimmung des
-Totschlags als einer Handlungsweise handelte, bei welcher ein Mensch
-gewaltsam vom Leben zum Tode gebracht wird. So ist auch die Ausbeutung
-kein Raub im strafrechtlichen Sinne; wenn aber jede Aneignung fremden
-Eigentums Raub genannt werden darf -- und nur darum handelt es sich im
-vorliegenden Falle -- dann ist Raub und nichts anderes die Grundlage
-jeder ausbeuterischen Gesellschaft, der modernen >freien< nicht minder,
-als der auf Sklaverei oder Hörigkeit gestützten antiken oder
-mittelalterlichen. (Lang andauernder Applaus, in welchen auch die Herren
-Johann Storm und Charles Prud einstimmen).
-
- (Schluß des zweiten Verhandlungstages.)
-
-
-
-
- 25. Kapitel.
-
-
- Dritter Verhandlungstag.
- (Fortsetzung der Debatte über Punkt 2 der Tagesordnung.)
-
-_James Brown_ (Rechte). Unser Kollege aus Ungarn hat gestern die wahre
-Beschaffenheit des Eigennutzes und des Eigentums in der ausbeuterischen
-Gesellschaft mit so markigen Worten gekennzeichnet, daß davon fürderhin
-wohl nicht mehr die Rede sein wird. Aber wenn es auch richtig ist, daß
-erst die wirtschaftliche Gerechtigkeit diese beiden Triebfedern der
-Arbeit in ihr Recht einzusetzen vermöchte, so muß immer noch gefragt
-werden, ob der einzige Weg, der zu diesem Ziele führt, nämlich die
-Organisation freier, selbstherrlicher, unausgebeuteter Arbeit sich
-überall und ausnahmslos praktikabel erweisen wird. Mit der noch so
-feierlichen Proklamierung des Grundsatzes, daß jeder Arbeitende sein
-eigener Herr sei und mit noch so vollständiger Einräumung des
-Verfügungsrechtes über die Produktionsmittel an alle Arbeitenden, wäre
-wenig gewonnen, wenn letztere sich unfähig erweisen sollten, von diesen
-Rechten den entsprechenden Gebrauch zu machen. Worauf es in letzter
-Linie ankommt, das ist also die Frage, ob die Arbeiter der Zukunft
-allezeit und überall jene Disciplin, jene Mäßigung und Weisheit an den
-Tag legen werden, die zur Organisierung wahrhaft fruchtbringender,
-fortschrittlicher Produktion erforderlich sind? Die ausbeuterische
-Wirtschaft hat eine vieltausendjährige Routine hinter sich; wie es
-anzustellen sei, um eine Schar zu stummem Gehorsam gezwungener Knechte
-in Ordnung zu erhalten, das sagt dem Arbeitgeber nach altem Rechte die
-gesammelte Erfahrung unzähliger Generationen. Trotzdem begeht auch er
-häufig Mißgriffe und nur zu oft scheitern seine Pläne an der
-Widersetzlichkeit der Untergebenen. Die Leiter der Arbeiterassociationen
-der Zukunft haben so gut wie keinerlei Erfahrungen hinter sich, wenn es
-sich um die Organisationsformen handelt, welche sie anzuwenden haben;
-sie werden diejenigen zu Herren erhalten, denen sie befehlen sollen --
-und trotzdem, so sagt man uns, kann ihnen der Erfolg nicht fehlen, ja er
-darf nicht fehlen, soll die associierte freie Gesellschaft nicht in
-ihren Grundfesten erschüttert werden. Denn während die ausbeuterische
-Gesellschaft die Verantwortlichkeit für das Schicksal der einzelnen
-Unternehmungen ausschließlich diesen Unternehmungen selber überläßt,
-hängt vermöge der so oft hervorgehobenen Interessensolidarität der
-freien Gesellschaft das Wohl und Wehe der Gesamtheit aufs unlöslichste
-mit dem jeder einzelnen Unternehmung zusammen. Ich will mich gern eines
-Besseren belehren lassen; aber insolange dies nicht geschehen ist, kann
-ich nicht umhin, in dem soeben Gesagten Bedenken zu erblicken, welche
-durch die bisherigen Erfahrungen Freilands mit nichten völlig zerstreut
-sind. Die freiländischen Arbeiter haben es verstanden, sich zu
-disciplinieren; folgt daraus, daß dies die Arbeiter überall verstehen
-werden?
-
-_Miguel Spada_ (Linke). Ich beschränke mich darauf, eine kurze Antwort
-auf jene Frage zu erteilen, mit welcher der Vorredner geschlossen. Nein,
-sicherlich, daraus, daß den Freiländern die Organisierung und
-Disciplinierung der Arbeit ohne herrische Arbeitgeber gelungen ist und
-daraus, daß sie ganz unfraglich noch zahlreichen anderen Völkern
-gelingen wird, folgt mit nichten, daß sie _allen_ Völkern
-notwendigerweise gelingen muß. Möglich, ja sagen wir immerhin
-wahrscheinlich, daß einzelne Völker sich unfähig erweisen werden, von
-dieser höchsten Art des Selbstbestimmungsrechtes Gebrauch zu machen; um
-so schlimmer für diese. Aber daraus, das will ich hoffen, wird doch
-Niemand die Folgerung ableiten, daß auch jene Völker, und befänden sie
-sich selbst in der Minderzahl, denen diese Fähigkeit nicht abgeht, auf
-die Anwendung derselben verzichten sollen. Diese Fähigeren werden dann
-die Lehrmeister der Unfähigeren werden. Sollten sich aber diese nicht
-nur unfähig, sondern auch als ungelehrig erweisen -- je nun, dann werden
-sie eben so von dem Erdboden verschwinden, wie ungelehrige Kannibalen
-verschwinden müssen, wo sie mit Kulturnationen in Berührung treten. Daß
-die Nation, welcher der Fragesteller angehört, diesen unfähigen Nationen
-_nicht_ beigezählt werden muß, darauf mag er sich getrost verlassen.
-
-_Wladimir Tonof_ (Freiland). Das geehrte Mitglied aus England (Brown)
-hat eine unrichtige Vorstellung sowohl von den Schwierigkeiten der hier
-in Frage kommenden Organisation und Disciplin, als von der Bedeutung
-eventueller Mißerfolge einzelner Unternehmungen in einem freien
-Gemeinwesen. Erstere anlangend will ich darauf hinweisen, daß in der
-Organisation associierter Kapitalien, die bekanntlich Jahrhunderte alt
-ist, eine keineswegs zu verachtende Vorschule der Arbeitsassociation
-gegeben ist, soweit es sich um die dabei zu wählenden Formen der Leitung
-und Überwachung handelt. Zwar giebt es Verschiedenheiten
-tiefeingreifender Art, die wohl beachtet sein wollen; es liegt aber im
-Wesen der Sache, daß die Unterschiede alle zu Gunsten der
-Arbeitsassociation sich geltend machen. Bei diesen sind nämlich die
-Hauptgebrechen der Kapitalsassociation, das sind Unkenntnis und
-Gleichgiltigkeit der Genossen den Aufgaben des Unternehmens gegenüber,
-nicht zu besorgen und es ist daher hier auch jener peinliche, die
-Aktionsfreiheit der Leitung lähmende und trotzdem nutzlose
-Kontrollapparat, welcher den Statuten der Kapitalsvergesellschaftungen
-als Ballast anhaftet, vollkommen entbehrlich. Der einzelne Aktionär
-versteht in der Regel nichts von den Geschäften seiner Gesellschaft und
-hat ebenso in der Regel gar nicht die Absicht, sich um den Geschäftsgang
-anders, als durch Empfangnahme der Dividenden zu kümmern. Trotzdem ist
-_er_ der Herr des Unternehmens, von seinem Votum hängt dessen Schicksal
-in letzter Linie ab; welche Umsicht ist daher vonnöten,
-um diesen Aktionär vor den möglichen Folgen der eigenen
-Unkenntnis, Leichtgläubigkeit und Nachlässigkeit zu schützen! Die
-vergesellschafteten Arbeiter dagegen sind mit dem Wesen ihres
-Unternehmens sehr wohl vertraut, dessen Gedeihen ist ihr vornehmstes
-materielles Interesse und wird von ihnen auch ausnahmslos als solches
-erkannt. Das sind ausschlaggebende Vorteile. Oder will man darin eine
-besondere Schwierigkeit sehen, daß die Arbeiter sich der Leitung von
-Personen unterwerfen sollen, deren Stellung von ihrem, der zu Leitenden,
-Votum abhängt? Dann könnte man mit demselben Rechte die Autorität aller
-aus Wahl hervorgehenden politischen und sonstigen Behörden anzweifeln.
-Den Leitern fehlt jegliches Mittel, Gehorsam zu _erzwingen_? Falsch; es
-fehlt ihnen nur eines, das Recht, den Unbotmäßigen willkürlich zu
-entlassen. Aber dieses Recht fehlte auch gar mancher anderen, auf
-Disciplin und vernünftige Fügsamkeit der Mitglieder angewiesenen
-Körperschaft, die nichtsdestoweniger, oder gerade deshalb weitaus
-bessere Disciplin hielt, als jene Vereinigungen, deren Gehorsam durch
-die weitestgehenden Zwangsmittel gewährleistet war. Zwar kann, wo der
-äußere Zwang fehlt, die Disciplin schwerer in Tyrannei ausarten, aber
-das ist doch wahrlich kein Übel. Zudem steht den Leitern freier
-Arbeitervergesellschaftungen ein Zwangsmittel der Disciplin zur
-Verfügung, dessen Gewalt schrankenloser und unbedingter ist, als die der
-schonungslosesten Tyrannei: die alles umfassende gegenseitige Kontrolle
-der Genossen, deren Einfluß selbst der Hartnäckigste auf die Dauer nicht
-widerstehen kann. Allerdings ist zu all dem unerläßlich, daß die
-Arbeitenden insgesamt, oder doch zu weitaus überwiegendem Teile
-vernünftige Männer seien, deren Intelligenz zu nüchterner Abwägung des
-eigenen Vorteils ausreicht. Allein das ist ja ganz im Allgemeinen die
-erste und oberste Voraussetzung der Etablierung wirtschaftlicher
-Gerechtigkeit. Daß diese -- das Endergebnis des bisherigen
-Entwicklungsganges der Menschheit -- nur für Menschen paßt, die sich aus
-dem untersten Stadium der Brutalität herausgearbeitet haben, unterliegt
-in keinem Betracht einer Frage. Daraus folgt, daß Völker und Individuen,
-welche diese Stufe der Entwicklung noch nicht erreicht haben, zu
-derselben erzogen werden müssen, welches Erziehungswerk bei nur einigem
-guten Willen durchaus nicht schwer ist. Daß es, ernstlich in Angriff
-genommen, irgendwo gänzlich mißlingen könnte, bezweifeln wir.
-
-Und nun besehen wir uns die zweite Seite der aufgeworfenen Frage. Ist es
-richtig, daß vermöge der im freien Gemeinwesen waltenden
-Interessensolidarität das Wohl und Wehe der Gesamtheit unlöslich mit dem
-jeder einzelnen Unternehmung zusammenhänge? Versteht man darunter, daß
-in einem solchen Gemeinwesen Jedermann an Jedermanns Wohl, also auch am
-Gedeihen jeder Unternehmung interessirt ist, so entspricht dies
-vollkommen dem Sachverhalte; soll aber -- und das war ersichtlich die
-Meinung des geehrten Redners -- damit gesagt sein, daß das Wohl eines
-solchen Gemeinwesens vom Gedeihen jedes einzelnen Unternehmens seiner
-Angehörigen abhänge, so ist dies durchaus grundlos. Geht es einem
-Unternehmen schlecht, so verlassen es seine Mitglieder und wenden sich
-einem besser gedeihenden zu, das ist alles. Wohl aber schützt umgekehrt
-diese mit der Interessensolidarität verknüpfte Beweglichkeit der
-Arbeitskräfte das freie Gemeinwesen vor tiefergehenden Folgen etwa
-wirklich begangener Mißgriffe. Kommt es irgendwo zu übelberatenen
-Wahlen, so können die ungeschickten Geschäftsleiter verhältnismäßig
-geringes Unheil stiften; sie sehen sich, d. h. das von ihnen geleitete
-Unternehmen, sehr rasch von Arbeitern verlassen, die Verluste bleiben
-bedeutungslos, weil auf einen kleinen Kreis beschränkt. Ja, diese
-Beweglichkeit erweist sich in letzter Linie als wirksamstes Korrektiv
-aller wie immer gearteten Fehler, als das Mittel, welches überall die
-mangelhaften Organisationsformen und schwachen Intelligenzen verdrängt
-und gleichsam automatisch durch tüchtigere ersetzt. Denn die aus welchem
-Grunde immer schlecht gedeihenden Unternehmungen werden stets in
-verhältnismäßig kurzer Zeit von den besseren aufgesogen, ohne daß dies,
-wie in der ausbeuterischen Gesellschaft, zum Ruine der bei ersteren
-Beteiligten führen könnte. Es ist daher auch nicht nötig, daß diese
-freien Organisationen überall gleich im ersten Anlaufe das Beste
-treffen, damit schließlich allenthalben Ordnung und Tüchtigkeit
-herrsche; denn im friedlichen Wettbewerbe verschwindet das Mangelhafte
-rasch vom Schauplatze, indem es in die als tüchtig erprobten
-Unternehmungen aufgeht, die dann allein das Feld behaupten.
-
-_Miguel-Diego_ (Rechte). Wir wissen nunmehr, daß die neue Ordnung alle
-natürlichen Erfordernisse des Gelingens in sich vereinigt; daß ihre
-Einführung ein Erfordernis des Kulturfortschrittes sei, wurde früher
-schon nachgewiesen. Wie kommt es trotz alledem, daß dieselbe nicht als
-das Ergebnis des Zusammenwirkens elementarer, gleichsam automatisch
-eintretender geschichtlicher Vorgänge, sondern vielmehr als eine Art
-Kunstprodukt, als planmäßig eingeleitetes Resultat der Bestrebungen
-einzelner Männer ihren Einzug in die Welt hielt? Wie, wenn die
-»Internationale freie Gesellschaft« sich nicht gebildet hätte, oder wenn
-ihr Aufruf erfolglos geblieben, wenn ihr Werk gleich im Keime gewaltsam
-erstickt worden, oder wenn es aus irgend einem anderen Grunde
-fehlgeschlagen wäre? Man wird zugeben, daß dies immerhin denkbare
-Eventualitäten sind. Wie stände es um die wirtschaftliche Gerechtigkeit,
-wenn eine dieser Möglichkeiten Thatsache geworden wäre? Wenn die
-Socialreform in Wahrheit eine unvermeidliche Notwendigkeit ist, dann
-müßte sie sich schließlich auch gegen den Widerstand einer ganzen Welt
-durchsetzen, dann müßte sich zeigen lassen, daß und kraft welcher
-unlöslich mit ihr verknüpften Gewalten, sie den Sieg über Vorurteil,
-bösen Willen und Mißgeschick davongetragen hätte. Erst damit wäre der
-Beweis erbracht, daß das Werk, um welches wir uns bemühen, mehr ist, als
-die ephemere Frucht unsicheren Menschenwitzes, daß vielmehr jene Männer,
-die den ersten Anlaß dazu gaben und seine Entwickelung überwachten,
-damit lediglich als Werkzeuge jenes Weltgeistes handelten, der -- hätten
-_sie_ ihm versagt -- um andere Werkzeuge und Wege zu dem unvermeidlichen
-Ziele nicht verlegen gewesen wäre.
-
-_Henri Ney_ (Freiland). In der That, wenn die wirtschaftliche
-Gerechtigkeit auf unser, der Gründer von Freiland, Eingreifen angewiesen
-wäre, um Thatsache zu werden, dann stünde es schlecht nicht bloß um ihre
-Notwendigkeit, sondern auch um ihre Sicherheit. Denn was einzelne
-Menschen schaffen, können demnächst andere Menschen wieder rückgängig
-machen. Zwar sind äußerlich betrachtet alle geschichtlichen Vorgänge
-Menschenwerk; aber die großen geschichtlichen Notwendigkeiten
-unterscheiden sich dadurch von den bloß zufälligen Ereignissen, daß sich
-bei ihnen allemal erkennen läßt, ihre Akteure seien lediglich die
-Werkzeuge des Schicksals, Werkzeuge, die der Genius der Menschheit
-hervorbringt, wenn er ihrer bedarf. Wir wissen nicht, wer die Sprache,
-das erste Werkzeug, die Schrift, erfunden hat; aber wer es auch sei, wir
-wissen, daß er in dem Sinne ein bloßes Werkzeug des Fortschritts
-gewesen, als wir mit der nämlichen Sicherheit, mit welcher wir irgend
-ein anderes Naturgesetz aussprechen, die Behauptung wagen können,
-Sprache, Werkzeug, Schrift wären erfunden worden, auch wenn ihre
-zufälligen Erfinder niemals das Licht der Welt erblickt hätten. Das
-nämliche nun gilt auch von der wirtschaftlichen Freiheit; sie wäre
-gefunden worden, auch wenn keiner von uns, die wir sie thatsächlich
-zuerst fanden, existiert hätte. Nur freilich wäre in diesem Falle die
-Form ihres Eintritts in die Welt der geschichtlichen Thatsachen
-wahrscheinlich eine andere geworden, vielleicht eine friedlichere,
-erfreulichere noch, als jene, deren Zeugen wir sind, vielleicht aber
-auch eine gewaltthätige und schreckliche.
-
-Um das in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise zu zeigen, muß
-zunächst erwiesen werden, daß der Fortbestand der modernen Gesellschaft,
-so wie sie sich im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt hat, ein
-Ding innerer Unmöglichkeit ist. Zu diesem Behufe werden Sie mir
-gestatten, etwas weiter auszuholen.
-
-In der ursprünglichen barbarischen Gesellschaft, wo die Ergiebigkeit der
-Arbeit so gering war, daß der Schwächere durch den Stärkeren nicht
-ausgebeutet und das eigene Gedeihen nur durch Verdrängung und
-Vernichtung der Mitkonkurrenten gefördert werden konnte, waren Blutgier,
-Grausamkeit, Hinterlist, durchaus erforderlich nicht bloß zum Fortkommen
-des Individuums, sondern sie dienten auch ersichtlich zum Vorteile jener
-Gesellschaft, der das Individuum angehörte. Sie waren deshalb nicht bloß
-allgemein verbreitet, sondern galten ganz offenbar als Tugenden. Der
-erfolgreichste, erbarmungsloseste Menschenschlächter war der
-geehrteste seiner Horde und wurde sicherlich in Wort und Lied als
-nachahmenswürdiges Beispiel gepriesen.
-
-Als dann die Ergiebigkeit der Arbeit wuchs, verloren diese »Tugenden«
-zwar viel von ihrer ursprünglichen Bedeutung, in ihr Gegenteil aber
-verkehrten sie sich erst, als die Sklaverei erfunden wurde und nunmehr
-die Möglichkeit sich einstellte, statt des Fleisches die Arbeitskraft
-des besiegten Konkurrenten sich und der eigenen Gemeinschaft nutzbar zu
-machen. Nun erst wurde blutgierige Grausamkeit, die bis dahin immer noch
-nützlich gewesen, schädlich, denn sie beraubte um eines vorübergehenden
-Genusses -- des Menschenfleischgenusses -- willen das siegende
-Individuum sowohl, als die Gesellschaft, welcher es angehörte, des
-dauernden Vorteils vermehrten Wohlstandes und gewachsener Macht. Die
-bestialische Blutgier mußte daher in der neuen Form des Daseinskampfes
-allmählich schwinden, aus einer bewunderten und gehegten Tugend zu einer
-mehr und mehr der allgemeinen Mißbilligung unterworfenen Eigenschaft, d.
-i. also zu einem Laster werden. Sie _mußte_ dazu werden, weil nur jene
-Horden, in denen dieser moralische Umwandlungsproceß Platz griff, der
-Vorteile der neuen Formen der Arbeit und der neuen socialen Institution
--- der Sklaverei -- in vollem Maße teilhaft werden konnten, dadurch an
-Kultur und Macht zunahmen und ihre gewachsene Macht dann dazu benützten,
-die auf ihren alten kannibalischen Sitten beharrenden Stämme auszurotten
-oder sich zu unterwerfen. Eine neue Moral setzte sich solcherart im
-Laufe der Jahrtausende unter den Menschen fest, eine Moral, die in ihren
-Grundzügen sich bis auf unsere Tage erhalten hat, die der Ausbeutung.
-
-Eine der seltsamsten Täuschungen aber ist es, diese Ethik
-»Menschenliebe« zu nennen. Zwar der wilde, blutdürstige Haß gegen den
-Nebenmenschen war milderen Gefühlen gewichen, aber von diesen bis zu
-wirklicher Menschenliebe, unter welcher wir die Wertschätzung des
-Nebenmenschen als _Unseresgleichen_ verstehen, zum Unterschiede von
-jenem kalten Wohlwollen, welches wir allenfalls auch dem Tiere
-entgegenbringen, ist noch ein weiter Schritt. Wirkliche Menschenliebe
-verträgt sich mit der Ausbeutung so wenig, als mit dem Kannibalismus.
-Denn die neue Form des Daseinskampfes verdammt zwar das Töten des
-Besiegten, macht aber an dessen Statt die Unterdrückung und
-Vergewaltigung des Nebenmenschen zu einem gebieterischen Erfordernisse
-des eigenen Gedeihens. Und man verstehe wohl: wahre, vollkommene
-Menschenliebe kann bei jener Art des Daseinskampfes, wie ihn die
-ausbeuterische Gesellschaft führt, nicht bloß nicht gefördert werden,
-sie erweist sich als geradezu schädlich und vermag -- als allgemein
-verbreiteter Gattungsinstinkt -- gar nicht zu bestehen. Einzelne
-Individuen mögen immerhin den Nebenmenschen als Ihresgleichen lieben;
-sie bleiben, solange die Ausbeutung in Kraft ist, seltene und von der
-öffentlichen Meinung keineswegs geschätzte Sonderlinge. Nur Heuchelei
-oder grobe Selbsttäuschung werden das in Zweifel ziehen. Allerdings
-haben die sogenannten civilisierten Nationen des Abendlandes seit länger
-als einem Jahrtausend das Wort: »Liebe Deinen Nächsten _wie dich
-selbst_« auf ihre Fahnen geschrieben und ohne Scheu behauptet, sich an
-dasselbe zu halten, oder doch zum mindesten bestrebt zu sein, diesem
-Worte nachzuleben. In Wahrheit aber liebten sie den Nebenmenschen --
-bestenfalls -- wie ein nützliches Haustier, zogen ohne den geringsten
-Skrupel Vorteil aus seiner Plage, seiner Marter, und schreckten auch vor
-dessen kaltblütiger Tötung nicht entfernt zurück, wenn ihr wirklicher
-oder vermeintlicher Vorteil sie dazu antrieb. Und das waren nicht etwa
-die Gesinnungen und Gefühle einzelner, besonders hartherziger
-Individuen, sondern die der Gesellschaft als solcher; sie wurden von der
-öffentlichen Meinung nicht mißbilligt, sondern gebieterisch gefordert,
-unter allerlei wohlklingenden Namen als Tugenden gepriesen, und ihr
-Widerspiel, die wirkliche Menschenliebe, galt, sowie statt leerer
-Phrasen Thaten in Frage kamen, günstigenfalls als bemitleidenswerte
-Thorheit, in der Regel aber als todeswürdiges Verbrechen. Er, der jenes
-Wort gesprochen und zu dem sie in ihren Kirchen beteten, wäre von ihnen
-allen abermals ans Kreuz geschlagen, verbrannt, gerädert, gehängt -- in
-der jüngsten Vergangenheit vielleicht bloß eingekerkert worden, hätte er
-es abermals, wie vor neunzehn Jahrhunderten, gewagt, auf offenem Markte
-und in zündender, nicht mißzuverstehender, lebendiger Rede zu predigen,
-was ihr blödes Auge und ihr durch Jahrtausende alten Selbstbetrug
-verwirrter Sinn in den Schriften seiner Jünger wohl las, aber nicht
-begriff.
-
-Und das Entscheidende dabei ist, daß die Menschheit in der Epoche der
-Ausbeutung anders gar nicht fühlen und denken, geschweige denn handeln
-konnte. Sie _mußte_ auf der Ausbeutung beharren, solange diese eine
-Kulturnotwendigkeit war, sie _konnte_ daher keine Menschenliebe
-empfinden und üben, denn diese verträgt sich mit Ausbeutung so wenig,
-als Widerwille vor dem Totschlag mit Kannibalismus. Gleichwie in der
-ersten barbarischen Menschheitsepoche schon das, was die Ausbeutung
-»Humanität« nennt, ein Nachteil im Daseinskampfe gewesen wäre, so hätte
-späterhin das, was _wir_ Humanität nennen, die wahre Menschenliebe, jede
-davon befallene Nation in Nachteil versetzt. Fressen oder gefressen
-werden -- das war die Alternative in der Epoche des Kannibalismus;
-unterdrücken oder unterdrückt werden, in der Epoche der Ausbeutung.
-
-Nun hat sich ein neuerlicher Wandel in der Form und Ergiebigkeit der
-Arbeit vollzogen; die socialen Einrichtungen sowohl, als die moralischen
-Empfindungen der Menschheit können davon nicht unberührt bleiben. Aber
--- und damit bin ich zum letzten entscheidenden Punkte gekommen -- es
-sind dabei allerdings mehrere Formen der Entwickelung denkbar. Die erste
-ist diejenige, mit welcher wir uns bisher ausschließlich beschäftigt
-haben: die socialen Einrichtungen unterziehen sich dem durch die neue
-Arbeitsform bedingten Wandel, und entsprechend der damit bewirkten
-Änderung des Daseinskampfes vollzieht sich auch der Umschwung in den
-moralischen Gefühlen; friedlicher Wettbewerb, vollkommene
-Interessensolidarität löst die wechselseitige Ausnutzung, vollkommene
-Menschenliebe die Menschennutzung aus.
-
-Wollen wir nun den letzten Zweifel über die bedingungslose Notwendigkeit
-dieses Entwickelungsganges ein für allemal beseitigen, so setzen wir den
-Fall, daß es anders käme: die Anpassung der socialen Einrichtungen an
-die geänderte Arbeitsform vollziehe sich _nicht_. _Denken_ läßt sich
-eine solche Möglichkeit immerhin, und ich halte es -- bis zu diesem
-Punkte der Beweisführung gediehen -- auch für ganz überflüssig, die
-Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit derselben abzuwägen; wir
-nehmen einfach an, daß sie sich verwirkliche. Unsinnig und undenkbar
-aber wäre in diesem Falle die fernere Annahme, daß dieses Beharren der
-socialen Einrichtungen auf den alten Formen stattfinden könne, ohne daß
-sehr wesentliche Rückwirkungen sowohl auf die Formen der Arbeit als die
-moralischen Instinkte der Menschheit die notwendige Folge wären. Jene
-überaus orthodoxen, aber nicht minder gedankenlosen Socialpolitiker, die
-solches annehmen, halten es für möglich, daß eine Ursache von so
-überwältigender Tragweite, wie es die bis zur Möglichkeit des
-Überflusses und der Muße für alle Menschen gediehene Produktivität der
-Arbeit ist, überhaupt ohne irgend welche, wie immer geartete Wirkung auf
-den Entwickelungsgang der Menschheit bleiben könne. Sie übersehen, daß
-der Daseinskampf innerhalb der menschlichen Gesellschaft sich unter dem
-Einflusse dieses Faktors für alle Fälle ändern muß, gleichviel, ob die
-socialen Einrichtungen sich einer entsprechenden Anpassung unterziehen
-oder nicht, und daß demnach ebenso für alle Fälle untersucht werden muß,
-welche Rückwirkung diese geänderte Form des Daseinskampfes auf die
-Gesamtheit der menschlichen Institutionen äußern könne oder müsse.
-
-Und worin besteht nun die Änderung des Daseinskampfes für den oben
-gekennzeichneten Fall? _Ganz einfach in einem teilweisen Rückfalle in
-die Kampfesformen der ersten, der kannibalischen Menschheitsepoche!_
-
-Wir haben gesehen, daß die Ausbeutung den früher auf Vernichtung des
-Konkurrenten abzielenden Kampf in einen auf Unterjochung desselben
-gerichteten umgewandelt hat; nun denn, mit dem Momente, wo die
-Produktivität der Arbeit so groß wird, daß der -- durch die Ausbeutung
-darniedergehaltene -- Konsum ihr nicht mehr zu folgen vermag, wird
-abermals die Verdrängung, die -- wenn auch nicht physische, so doch
-wirtschaftliche -- Vernichtung des Konkurrenten zu einer Voraussetzung
-des eigenen Gedeihens, der Daseinskampf muß die Formen der Unterjochung
-und Vernichtung zugleich annehmen. Wenig nützt nunmehr auf
-wirtschaftlichem Gebiete die noch so schonungslose Herrschaft über noch
-so zahlreiche menschliche Ausbeutungsobjekte; sofern es dem Ausbeuter
-nicht gelingt, den Mitausbeuter vom Markte zu verdrängen, muß er im
-Daseinskampfe unterliegen. Und ebenso haben nunmehr die Ausgebeuteten
-sich nicht bloß der Härten ihrer Zwingherren zu erwehren, sie müssen,
-wollen sie dem Hunger entgehen, sich gegenseitig die unzureichend
-gewordenen Stellen an den Futterkrippen des »Arbeitsmarktes« mit Zähnen
-und Klauen streitig machen.
-
-Ist es nun denkbar, daß eine so fürchterliche Änderung der Grundlagen
-des Daseinskampfes ohne Wirkung auf die Moral der Menschheit bleibe? Die
-gleiche Ursache _muß_ von der gleichen Wirkung begleitet sein, die Ethik
-der kannibalischen Epoche _muß_ ihre siegreiche Wiederkehr feiern. Zwar
-den veränderten Modalitäten des Vernichtungskampfes entsprechend werden
-auch die einstigen grausamen, bösartigen Instinkte eine Modifikation
-erleiden, aber die Grundstimmung, die schonungslose Feindseligkeit gegen
-den Nebenmenschen, muß wiederkehren. In den Jahrtausenden, in denen der
-Kampf nur der Ausnützung des Nächsten galt, war, insbesondere wenn der
-Ausgenützte sich gewöhnt hatte, im Ausbeuter ein höheres Wesen zu
-verehren, zwischen Herr und Knecht zum mindesten jener Grad der
-Anhänglichkeit möglich, wie er zwischen Mensch und Haustier besteht.
-Herren oder Knechte unter sich hatten vollends keinen notwendigen Anlaß
-einander zu hassen. Wechselseitige Schonung, Großmut, Milde, Dankbarkeit
-konnten als -- allerdings sehr kärgliche -- Surrogate der Menschenliebe
-bei einem solchen Zustande gedeihen. Nunmehr jedoch, wo Ausbeutung und
-Verdrängung zugleich die Losung des Kampfes sind, müssen sich die
-obgenannten Tugenden mehr und mehr als verderbliche Hindernisse
-erfolgreichen Daseinskampfes erweisen, sie müssen folglich verschwinden
-und der Erbarmungslosigkeit, Hinterlist, Grausamkeit, Tücke Platz
-machen. Und wohlverstanden, all diese schändlichen Eigenschaften müssen
-nicht bloß allgemein verbreitet, sie müssen auch allgemein geschätzt,
-aus dem Inbegriffe schmählichster Niedertracht zum Inbegriffe der
-»Tugend« werden. Ebenso wenig, als ein »humaner« Menschenfresser oder
-ein von wirklicher Menschenliebe erfüllter Ausbeuter denkbar sind,
-ebenso wenig läßt sich ein großmütiger, im bisherigen Sinne tugendhafter
-Ausbeuter unter dem Alpdrucke der Überproduktion auf die Dauer auch nur
-denken; und ebenso sicher, als die kannibalische Gesellschaft tückische
-Mordgier als preiswürdigste aller Tugenden anerkennen mußte, ebenso
-sicher müßte die von Überproduktion heimgesuchte ausbeuterische
-Gesellschaft dahin gelangen, den hinterlistigsten Betrüger als ihr
-Tugendideal zu verehren.
-
-Aber, so wird man einwenden, das widerspricht denn doch, trotz aller
-logischen Unanfechtbarkeit, den Thatsachen allzusehr, als daß es richtig
-sein könnte. Die Überproduktion, der Zwiespalt zwischen der
-Produktivität der Arbeit und der durch die socialen Einrichtungen
-bedingten Konsumtionsfähigkeit, bestehen thatsächlich seit Generationen
-und trotzdem wäre es zum mindesten eine arge Übertreibung, wollte man
-behaupten, daß die moralischen Empfindungen der civilisierten Menschheit
-die im obigen gekennzeichnete schreckliche Verschlimmerung erfahren
-hätten. Daß mancherlei Nichtswürdigkeit infolge des stets schonungsloser
-sich gestaltenden wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes mehr und mehr an
-Verbreitung gewinne, ja daß allgemach eine gewisse Verwirrung sich der
-öffentlichen Meinung zu bemächtigen beginne, die den Unterschied
-zwischen wahrem Verdienst und erfolgreicher Schurkerei nicht überall
-mehr festzuhalten vermöge, sei allerdings wahr; ebenso wahr aber
-umgekehrt, daß niemals zuvor Humanität in allen Formen so hoch geschätzt
-und stark verbreitet gewesen, wie eben in der Gegenwart.
-
-Diese unleugbaren Thatsachen aber besagen nicht, daß Überproduktion auf
-die Dauer zu anderen, als den oben gekennzeichneten Ergebnissen führen
-könnte -- sie zeigen nur, daß einerseits diese schreckliche
-Krankheitserscheinung im wirtschaftlichen Getriebe der Menschheit noch
-nicht lange genug wirksam ist, um ihre Früchte schon voll gezeitigt zu
-haben, und daß anderseits der moralische Instinkt der Menschheit den
-richtigen Ausweg aus dem ökonomischen Zwiespalte geahnt hat, lange bevor
-die menschliche Erkenntnis ihn zu betreten vermochte. Bloß wenige
-Generationen ist es her, daß das Mißverhältnis zwischen Produktivität
-und Konsum äußerlich in die Erscheinung getreten; was aber sind einige
-Generationen im Leben der Menschheit? Auch die Ethik der Ausbeutung
-bedurfte sicherlich sehr vieler Jahrhunderte, ehe sie diejenige des
-Kannibalismus überwand; warum sollte der Rückfall in die kannibalische
-Ethik sich um so vieles rascher vollziehen? Die instinktive Ahnung aber,
-daß wachsende Kultur nicht mit socialem Stillstande und moralischem
-Rückschritte, sondern mit dem Fortschritte beider verknüpft sein werde,
-diese der abendländischen Menschheit trotz aller Thorheiten und aller
-Greuel, in denen sie sich zwischenzeitig erging, unausrottbar
-eingeimpfte Sehnsucht nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sie
-ist eben jener »fremde Blutstropfen im Körper der europäischen
-Völkerfamilie«, der semitisch-christliche Sauerteig, der sie, als die
-Zeit der Knechtschaft um war, davor bewahrte, auch nur vorübergehend dem
-Verwesungsprozeß von Knechtschaft und Barbarei zugleich zu verfallen.
-Die Dinge werden eben die zuletzt gekennzeichnete Entwickelung _nicht_
-nehmen, die Ausbeutung wird sich neben der gesteigerten Produktivität
-_nicht_ erhalten, und das ist der Grund, warum auch die gekennzeichneten
-moralischen Folgen nicht hervortraten. Wollte man aber materiellen
-Fortschritt und Ausbeutung zugleich als das zukünftige Los der
-Menschheit voraussetzen, so ließe sich dies logischer Weise anders, als
-verknüpft mit vollständigem moralischen Rückfalle gar nicht denken.
-
-Und noch eine dritte Entwickelungsform ließe sich als denkbar
-hinstellen: in dem Zwiespalte, in welchen die Produktivität der Arbeit
-mit dem geltenden socialen Rechte geraten, könnte erstere, die neue Form
-der Arbeit, unterliegen; vor die Unmöglichkeit gestellt, von den
-erlangten wirtschaftlichen Fähigkeiten den vollen Gebrauch zu machen,
-könnte die Menschheit diese Fähigkeiten wieder verlieren. In diesem
-Falle wäre der Einklang zwischen Produktivität und Konsum, Arbeit und
-Recht, auf der alten Grundlage zurückgewonnen und dem entsprechend
-könnte auch die Moral der Menschheit im alten Geleise verharren. Der
-Fortschritt zu wahrer Menschenliebe müßte zwar unterbleiben, denn nach
-wie vor würde der Kampf ums Dasein auf Unterdrückung des Nebenmenschen
-beruhen, aber die Notwendigkeit des Vernichtungskampfes wäre vermieden.
-Auch die Ahnung der Möglichkeit einer solchen Entwickelung war der
-abendländischen Menschheit nicht fremd; es hat, insbesondere während der
-jüngsten Generationen, an teils bewußten, teils unbewußten Versuchen
-nicht gefehlt, sie in diese Richtung hinüberzuleiten. Von der würgenden
-Umklammerung der Überproduktion geängstigt, dem Wahnsinne nahe gebracht,
-rüttelten zeitweise ganze Nationen an den Grundpfeilern der
-Produktivität, suchten die Quelle der Arbeitsergiebigkeit zu verschütten
-und verfolgten mit verbissenem Hasse den Kulturfortschritt, dessen
-Früchte zeitweise so bitter waren. Die Angriffe gegen die Volksbildung,
-gegen die unterschiedlichen Arten der Arbeitsteilung, gegen das
-Maschinenwesen, sind nicht anders zu verstehen, als eben durch dieses
-zeitweilige Bestreben, den Zwiespalt, in welchen die Gütererzeugung zur
-Güterverteilung geraten, durch Zurückschraubung ersterer zu überwinden.
-Daß solcherart auch die Moral vor einer Ausartung bewahrt werden sollte,
-deren eigentlich treibende Ursache diese Sorte von Reformatoren
-allerdings nicht begriff, die aber als düstere Ahnung vor ihrem
-geistigen Auge schwebte, läßt sich desgleichen nicht verkennen.
-
-Und nun, nachdem wir alle drei überhaupt denkbaren Entwickelungsformen
-der Reihe nach betrachtet: 1. die Anpassung des socialen Rechts an die
-neue, höhere Arbeitsform und dem entsprechende Entwickelung einer neuen,
-höheren Moral; 2. den dauernden Gegensatz zwischen Arbeitsform und Recht
-und dem entsprechende Rückbildung der Moral; 3. die Anpassung der
-Arbeitsform an das bisherige sociale Recht durch Preisgebung der höheren
-Produktivität und dem entsprechenden Fortbestand der bisherigen Moral --
-nunmehr fragen wir uns, ob im Kampfe dieser drei Richtungen eine andere
-als die erste Siegerin sein kann. Denkbar sind sie, wie gesagt, alle
-drei; ist aber auch denkbar, daß materieller oder moralischer Verfall
-sich neben moralischem zugleich und materiellem Fortschritt behaupten,
-oder vollends über diesen endgültig triumphieren würden? Möglich, sagen
-wir sogar wahrscheinlich, daß ohne unser vor 25 Jahren erfolgreich
-durchgeführtes Unternehmen die Menschheit zunächst noch längere Zeit
-hindurch sich vorwiegend auf den Bahnen der sittlichen Verwilderung
-einerseits, der Attentate gegen den Fortschritt anderseits fortbewegt
-hätte; an Versuchen nach der Richtung der socialen Befreiung hin hätte
-es deshalb doch niemals gänzlich gefehlt, und der schließliche Triumph
-derselben konnte stets nur eine Zeitfrage sein. Nein, die Menschheit ist
-uns nichts schuldig, was sie nicht auch ohne uns für alle Fälle erlangt
-hätte; wenn wir ein Verdienst beanspruchen, so beschränkt es sich
-darauf, das, was kommen mußte, rascher und wahrscheinlich unblutiger
-herbeigeführt zu haben, als ohne uns geschehen wäre. (Stürmischer, lang
-andauernder Applaus und jubelnde Zurufe von allen Bänken. Die Wortführer
-der Opposition drücken der Reihe nach dem Redner die Hände und
-versichern ihn ihrer Zustimmung.)
-
- (Schluß des dritten Verhandlungstages.)
-
-
-
-
- 26. Kapitel.
-
-
-Da zahlreiche Congreßmitglieder den Wunsch geäußert hatten, sich
-eingehender davon zu überzeugen, daß thatsächlich die anscheinend so
-wunderbare harmonische Organisation des gesamten wirtschaftlichen
-Getriebes in Freiland nichts anderes, als das selbstverständliche
-Ergebnis wohlberatenen und wahrhaft freien Eigennutzes sei, wurden die
-Sitzungen des Congresses für zwei Tage unterbrochen und diese dazu
-benützt, um eine Reihe größerer Edenthaler und Danastädter
-Etablissements zu besichtigen und bei diesem Anlasse im Wege des
-Gedankenaustausches mit den sich zu diesem Behufe bereitwilligst zur
-Verfügung der fremden Gäste stellenden Direktoren der fraglichen
-Anstalten sowohl, als des Leiters der freiländischen Centralbank alle
-etwa auftauchenden Zweifel gründlich zu erörtern.
-
-Das erste Bedenken, welches geltend gemacht wurde, betraf die Frage,
-woher denn all die zahllosen Arbeiter allesamt die erforderliche
-Sachkenntnis und Intelligenz hernähmen, um jederzeit genau beurteilen zu
-können, wo man ihrer gerade am nötigsten bedürfe. »Sie haben,« so meinte
-einer der Besucher, »eine allumfassende, pünktliche Statistik, die jede
-Regung Ihres wirtschaftlichen Lebens mit peinlichster Genauigkeit
-verzeichnet -- sehr wohl; aber welch hohes Verständnis gehört dazu, um
-sich in einer solchen Statistik zu orientieren!«
-
-»Dazu gehört in Wahrheit ein überaus bescheidenes Maß von Verständnis,
-kein höheres, als es bei jedem vernünftigen Menschen ohne weiteres
-vorausgesetzt werden kann,« war die Antwort. »Denn kein Arbeiter braucht
-sich um anderes zu kümmern, als lediglich um den auf die einzelne Stunde
-seiner Arbeit entfallenden Ertrag. Hätten wir keinen freien Markt, auf
-welchem Angebot und Nachfrage die Preise regeln, so wäre es allerdings
-eine nicht bloß schwierige, sondern eine in Wahrheit ganz und gar
-unlösliche Aufgabe, herauszufinden, nach welcherlei Produkten jeweilig
-stärkerer oder geringerer Bedarf vorhanden und wo dementsprechend
-vermehrte Zuwendung von Arbeitskraft wünschenswert sei. Da sich aber bei
-uns jede Veränderung der Verhältnisse zwischen Angebot und Nachfrage, im
-Preise der Produkte ausdrückt, so ist es ganz selbstverständlich, daß
-der in Gemäßheit dieser Preise auf die einzelne Arbeitsstunde
-entfallende Nettoertrag in untrüglichster Weise anzeigt, ob der
-Produktionszweig oder das einzelne Etablissement, um welches es sich
-handelt, im Vergleiche zu anderen Produktionszweigen oder Etablissements
-einer Vermehrung oder Verminderung der Arbeitskraft bedarf. Daß z. B.
-die Maschinenfabrik, in deren Räumen wir uns momentan befinden, ihren
-Betrieb ausdehnen soll, ist in letzter Linie allerdings darauf
-zurückzuführen, daß deren Erzeugnisse derzeit besonders gesucht sind,
-eine Thatsache, die an und für sich zu konstatieren in der That höchst
-kompliziert und schwierig wäre; da aber diese gesteigerte Nachfrage nach
-hier erzeugten Maschinen insolange, als die Produktion ihr nicht
-vollkommen nachgefolgt ist, notwendiger Weise das Erträgnis aller hier
-beschäftigten Arbeiter entsprechend vermehrt, so genügt es vollkommen,
-letzteren Umstand zur allgemeinen Kenntnis zu bringen, damit das im
-Interesse der Consumenten gelegene Ergebnis, nämlich der vermehrte
-Zufluß von Arbeitern, sich ganz von selbst einstelle.«
-
-»Aber ist nicht auch diese Ergründung des überall in jedem
-gegebenen Momente vorhandenen Erträgnisses eine für gewöhnliche
-Durchschnittsarbeiter allzu schwierige Aufgabe?« lautete die fernere
-Frage.
-
-»Durchaus nicht,« erklärte der Direktor der freiländischen Centralbank.
-»Sich in dem von all den tausenden Associationen vorgelegten, von
-unserer Centralstelle ergänzten und bearbeiteten Urmateriale
-zurechtzufinden, ist allerdings nicht Jedermanns Sache. Aber solch
-eingehender Untersuchung unterziehen sich auch nur Diejenigen, die sich
-für statistische Studien um ihrer selbst willen interessieren. Der
-gewöhnliche Arbeiter, der nichts anderes wissen will, als den Ort, wo er
-die seinen Fähigkeiten entsprechende höchste Rente findet, begnügt sich
-mit jenen übersichtlich geordneten Zusammenstellungen, welche die
-statistische Centralstelle zu seinem Gebrauche bietet, und welche die
-zahlreichen Fachzeitungen zudem mit Erläuterungen aller Art begleiten.
-Die geistige Arbeit, die von ihm dabei verlangt wird, besteht in nichts
-anderem, als in der Entscheidung der Frage z. B., ob er sich mit dem am
-Orte seiner augenblicklichen Arbeit gebotenen Stundenertrage von 8
-Schilling begnügen, oder wegen des bei einem anderen verwandten
-Etablissement winkenden, um 15 Pfennige per Stunde höheren Ertrages sich
-diesem, oder etwa zeitweilig einer jener Bodenassociationen zuwenden
-soll, die vorübergehend -- während der Erntezeit nämlich -- bis zu 10
-Schilling für die Arbeitsstunde zu bieten pflegen. Er muß mit sich
-darüber ins Reine kommen, ob solche Gewinnsteigerung ihm genügenden
-Ersatz gewährt für die mit dem Ortswechsel möglicherweise verknüpften
-materiellen oder gemütlichen Nachteile, für die Beschwerden und
-Unannehmlichkeiten des Umzuges, für die anstrengendere Arbeit u. dergl.;
-im übrigen aber wird von ihm weder irgendwelches Verständnis
-verwickelter wirtschaftlicher Vorgänge, noch irgendwelches Interesse für
-anderes, als für den eigenen Vorteil gefordert.«
-
-»Wie aber verhüten Sie,« so fragte ein anderer der Herren, »daß bei
-einer irgendwo eintretenden stärkeren Steigerung der Erträge der Zuzug
-der Arbeitskräfte allzu massenhaft ausfalle? Da keinerlei Behörde
-ordnend eingreift und bestimmt, wer und wie viele herbeieilen sollen, so
-ist doch immerhin möglich, daß statt der gewünschten Hunderte sich
-Tausende einstellen.«
-
-»Das könnte nur geschehen« -- so lautete die Erklärung -- »wenn
-Telegraph und Druckerpresse bei uns unbekannt wären, oder wenn wir uns
-ihrer nicht zu bedienen verstünden. Um welchen Teilbetrag die Rente
-sinkt, wenn das Angebot von Arbeitskraft wächst, läßt sich natürlich
-überall mit großer Genauigkeit berechnen, und da nun niemand so thöricht
-ist, einer irgendwo auftauchenden höheren Gewinnziffer nachzulaufen,
-ohne sich vorher zu vergewissern, daß er diese höhere Gewinnziffer, am
-Orte seiner neuen Bestimmung angelangt, noch vorfinden werde, so ist es
-bei uns selbstverständliche Übung, daß die Arbeiter ihre Absicht den
-Leitungen der Associationen rechtzeitig anzeigen, daß diese Anmeldungen
-fortlaufend publiziert werden und daß demnach Jedermann, noch bevor er
-sich auf den Weg macht, vollkommen darüber beruhigt sein muß, an seinem
-zukünftigen Arbeitsorte auch wirklich noch vonnöten zu sein.«
-
-Einen zweiten Anlaß zu eingehenderen Erörterungen boten die in
-zahlreichen der besichtigten Etablissements vorhandenen
-Versuchsanstalten und wissenschaftlichen Laboratorien, die von den dort
-beschäftigten Technikern und Chemikern dazu benutzt werden, um die
-mannigfaltigsten Experimente behufs Erzielung von Verbesserungen des
-Betriebs anzustellen. Der hohe praktische Wert dieser Einrichtung
-leuchtete den Gästen natürlich sofort ein, weniger einleuchtend aber
-erschien den meisten derselben der erläuternde Zusatz eines der
-Direktoren -- es war das zufällig in der Danastädter Chemikalienfabrik
--- daß man die gewonnenen Erfahrungen »selbstverständlich« jederzeit
-publiziere, auf besonders nützlich erscheinende die anderen
-Associationen wohl auch ausdrücklich aufmerksam mache und dafür ebenso
-selbstverständlich von diesen über alle in deren Versuchsanstalten
-gemachten Funde pünktlichst auf dem Laufenden erhalten werde.
-
-»Wenn das hierzulande selbstverständlich ist, dann müßt Ihr
-freiländischen Industriellen uneigennützig wie die Engel sein,« meinte
-einer der Besucher. Und sich direkt an den Direktor wendend, fügte er
-hinzu: »Es scheint also doch, daß nicht alle Eure Einrichtungen sich
-sofort zu uns Abendländern übertragen lassen, denn bei uns, dessen kann
-ich Sie versichern, würde Niemand freiwillig von ihm ersonnene
-Produktionsverbesserungen zur Kenntnis seiner Concurrenten bringen, und
-am allerwenigsten könnte er sich darauf verlassen, daß diese ihm die
-ihrigen preisgeben.«
-
-»Sie haben ganz recht,« war die Antwort, »das würde Niemand bei Ihnen
-thun, so lange Sie an Ihren bisherigen Einrichtungen festhalten; sowie
-Sie jedoch die unserigen acceptieren, versteht sich all das, was Ihnen
-so wunderbar uneigennützig vorkommt, ganz von selbst, als unabweisliches
-Gebot gerade des Eigennutzes. Denn damit z. B. wir hier in Danastadt uns
-des Vorteils einer von uns ersonnenen Verbesserung möglichst vollständig
-erfreuen, ist durchaus notwendig, daß alle chemischen Fabriken des
-ganzen Landes die gleiche Verbesserung thunlichst rasch auch bei sich
-einführen. Wären wir so thöricht, unsere Entdeckungen geheim zu halten
--- ein Versuch, der nebenbei bemerkt angesichts der Öffentlichkeit all
-unserer geschäftlichen Vorgänge an und für sich ziemlich aussichtslos
-bliebe -- so wäre das einzig mögliche Ergebnis, daß aus allen
-concurrierenden Associationen insolange Arbeitskräfte zu uns
-einwanderten, bis der Ertrag unserer Arbeit -- umgerechnet auf die
-einzelne Arbeitsstunde -- wieder auf das Niveau der anderwärts in
-Freiland erzielbaren Erträge herabgedrückt würde, wir also von unserer
-Entdeckung oder Erfindung so gut als keinen Vorteil behielten. Um das zu
-vermeiden, bleibt uns schlechterdings kein anderes Auskunftsmittel, als
-auch den Anderen Allen unsere Errungenschaft mitzuteilen; dadurch allein
-erzielen wir, daß die Arbeit auch anderwärts ertragreicher wird und daß
-also Niemand ein Interesse hat, sich behufs Mitgenusses unserer
-Produktionsvorteile an uns heranzudrängen. Gerade so verhält es sich
-natürlich mit den in anderen Associationen gemachten Verbesserungen; wir
-können mit absoluter Sicherheit darauf rechnen, daß wir sofort von
-denselben verständigt werden, da auch die Anderen Alle das gleiche
-Interesse haben wie wir, nämlich unsere Produktionserträge zu steigern,
-damit sie selber den Vorteil der ihrerseits erzielten Verbesserungen
-möglichst vollständig genießen.«
-
-Gegen dieses Raisonnement konnte nichts Stichhaltiges eingewendet
-werden. Aber jetzt machte sich die Besorgnis geltend, ob es denn nicht
-doch möglich sei, dieses Anrecht der Gesamtheit an den Ergebnissen jedes
-irgend erzielten Produktionsvorteils auf Umwegen zu durchkreuzen.
-
-»Was geschähe« -- so wurde einer der anwesenden Direktoren gefragt --
-»wenn beispielsweise Sie als Leiter der Bodenassociation von
-Nordleikipia, dazu aufgefordert durch -- selbstverständlich geheimen --
-Beschluß der die Majorität bildenden alten Mitglieder, es versuchen
-wollten, neue Zuwanderer vom Mitgenusse irgendwelcher besonderer
-Produktionsvorteile im Wege schlechter unfreundlicher Behandlung
-fernzuhalten; wer schützt in solchem Falle diese Neulinge gegen Ihre,
-von der Majorität Ihrer Associationsmitglieder nicht bloß gebilligte,
-sondern geradezu in deren Interesse geübte Willkür? Die Mißhandelten
-haben die Freiheit, fortzuziehen; aber das ist es ja eben, was -- Sie
-entschuldigen wohl die, bloß um der prinzipiellen Aufklärung willen
-vorgebrachte Unterstellung -- erreicht werden will und was doch verhütet
-werden muß, soll darüber nicht Ihre ganze Gleichberechtigung in die
-Brüche gehen. Oder die Majorität kann sich zu gleichem Zwecke ein so
-hohes Präcipuum votieren, daß das damit geübte Unrecht alle Zuwanderung
-abhält. Wo liegt der Schutz gegen derartige Ausschreitungen des
-Eigennutzes in einem Gemeinwesen, welches keinerlei Einengung des
-individuellen Eigennutzes kennt und kennen will?«
-
-»Abermals in der freien Concurrenz,« entgegnete lächelnd der Direktor.
-»Derartige Ausschreitungen wären bei uns nur möglich, wenn sie im
-geheimen geübt werden könnten, d. h. wohlverstanden, wenn nicht bloß die
-darauf abzielenden Beschlüsse, sondern auch deren Ausführung der
-Aufmerksamkeit des ganzen Landes vollständig entginge. Ich müßte nicht
-bloß den geheimen Auftrag von meinen Associationsmitgliedern erhalten,
-alle Zuwanderer hinauszuchikanieren, ich müßte auch das Kunststück
-zuwege bringen, diesen Auftrag derart im Verborgenen zu vollstrecken,
-daß Niemand, am allerwenigsten die Opfer desselben, das Geringste davon
-merkten. Denn mit dem Momente, wo meine Praktiken ruchbar würden, wäre
-ich -- darauf können Sie sich verlassen -- zum längsten Direktor, meine
-Auftraggeber wären zum längsten Majorität der Bodenassociation von
-Nordleikipia gewesen. Und genau ebenso verhielte es sich, sowie unser
-Beschluß, den alten Mitgliedern ein ungebührliches Präcipuum zuzuwenden,
-bekannt würde. Denn wie Sie leichtlich ermessen können, ist die
-öffentliche Meinung Freilands in keinem Punkte wachsamer und
-eifersüchtiger, als gerade in diesem, ihren Lebensnerv berührenden, das
-individuelle Interesse Aller gleichmäßig bedrohenden; und da die
-schrankenlose Freizügigkeit allen Arbeitern des ganzen Landes jederzeit
-gestattet, welcher Association immer beizutreten, so gehört keine
-sonderliche Phantasie dazu, um sich das mit unfehlbarer Sicherheit
-Kommende genau auszumalen. Der erste Arbeiter, den meine planmäßigen
-Chikanen zum Verlassen unserer Association zwängen, würde vielleicht
-selber noch keine böse Absicht bemerken; der zweite vielleicht schon
-Lärm, aber vorerst noch vergeblichen schlagen; beim dritten und vierten
-dürfte bereits das öffentliche Mißtrauen rege werden, und ehe ich meine
-Künste am zehnten Opfer zu üben vermöchte, wäre durch einen aus allen
-Gauen herbeiströmenden Zufluß neuer Mitglieder die übelwollende
-Majorität und ich natürlich mit ihr unschädlich gemacht.«
-
-Diese Darlegung wirkte so schlagend, daß fernerhin kein Zweifel gegen
-die im Wege wahrhaft freier Concurrenz bewirkte Harmonie der
-wirtschaftlichen Interessen laut wurde. Die Congreßmitglieder hatten
-zwar noch wiederholt Anlaß, über gar Manches, was sie sahen und hörten,
-in Erstaunen zu geraten; daß jedoch Freiheit und Gleichberechtigung die
-unfehlbaren Zauberformeln seien, auf deren Ruf die nämlichen Wunder
-allüberall auch außerhalb Freilands in die Erscheinung treten müßten,
-war ihnen zur Gewißheit geworden.
-
- * * * * *
-
-Nach Ablauf der zweitägigen Pause wurden die Beratungen des Congresses
-wieder aufgenommen. Zur Discussion gelangte Punkt 3 der Tagesordnung:
-_Sind Not und Elend nicht etwa Naturnotwendigkeiten und müßte nicht
-Übervölkerung eintreten, wenn es vorübergehend gelänge, das Elend
-allgemein zu beseitigen?_ Als erster Redner war vorgemerkt
-
-_Robert Murchison_ (Rechte): Ich muß zuvörderst Namens meiner bisher die
-Durchführbarkeit des socialen Reformwerkes bezweifelnden
-Gesinnungsgenossen die formelle Erklärung abgeben, daß wir nunmehr nicht
-allein von der Durchführbarkeit, sondern von der naturgesetzlichen
-Unvermeidlichkeit desselben durchaus überzeugt sind. Auch die fernere
-Hoffnung hat das bisherige Ergebnis der Verhandlungen gezeitigt, daß es
-der geehrten Gegenpartei gelingen werde, unsere noch vorhandenen
-Bedenken eben so siegreich zu zerstreuen; einstweilen kann ich mich
-derselben noch nicht entschlagen und fühle mich daher im Interesse
-allseitiger Aufklärung verpflichtet, dieselben nach Kräften zu
-begründen.
-
-Das weitaus gewichtigste dieser Bedenken, welches unabhängig von allen
-bisher erörterten Fragen noch ungebrochen aufrecht steht, ist das
-nunmehr zur Diskussion gelangende. Es richtet sich nicht gegen die
-Durchführbarkeit des allgemeinen Freiheits- und Wohlfahrtswerkes. Die
-wirtschaftliche Gerechtigkeit muß und wird zur Wahrheit werden, das
-wissen wir nun; wissen wir damit aber auch schon, daß sie sich wird
-behaupten können? Die wirtschaftliche Gerechtigkeit wird Reichtum für
-alle Lebenden zur Folge haben. Not und Elend mit ihrem Gefolge
-zerstörender Laster werden vom Erdboden verschwinden. Mit diesen aber
-werden zugleich jene Hemmnisse verschwunden sein, welche bisher der
-schrankenlosen Vermehrung des Menschengeschlechts Grenzen zogen. Mehr
-und mehr wird die Menge der Bevölkerung anwachsen, bis endlich -- der
-Tag mag noch so ferne sein -- die Erde ihre Bewohner nicht mehr zu
-ernähren im Stande sein wird.
-
-Ich will Sie mit ausführlicher Wiederholung und Begründung des bekannten
-Lehrsatzes meines berühmten Landsmannes Malthus nicht ermüden. Viel
-wurde gegen denselben gesagt, Stichhaltiges, Überzeugendes bisher nicht.
-Daß die Vermehrung der lebenden Individuen keine andere natürliche
-Schranke als den Nahrungsmangel kennt, ist ein Naturgesetz, dem nicht
-bloß der Mensch, sondern jedes lebende Wesen erbarmungslos unterworfen
-bleiben muß. Gleichwie die Heringe, wenn sie sich frei vermehren
-könnten, endlich im Weltmeere nicht mehr Raum hätten, so müßte auch der
-Mensch, wenn die Zunahme seiner Zahl nicht auf das Hindernis des
-Nahrungsmangels stieße, endlich keinen Raum mehr auf der Erdoberfläche
-finden. Auch bestätigt die Erfahrung aller Zeiten und aller Völker diese
-grausame Wahrheit; überall sehen wir, daß es der Nahrungsmangel, die Not
-mit ihrem Gefolge ist, was die Menge der Lebenden innerhalb gewisser
-Grenzen hält. Das wird auch in alle Zukunft so bleiben. Die
-wirtschaftliche Gerechtigkeit kann diese traurige Grenze weit, sehr weit
-hinausrücken, völlig beseitigen kann sie sie nicht. Zehnfach und
-hundertfach größer kann unter ihrem Walten der Nahrungsspielraum werden,
-ins Unendliche kann er sich nicht ausdehnen. Und ist einmal das
-Unvermeidliche eingetreten, was dann? Mehr und mehr wird dann der
-Reichtum den Entbehrungen und schließlich bitterster Not weichen und
-zwar einer Not, die um so schrecklicher, hoffnungsloser sein wird, weil
-es aus ihrem alle Kultur erdrückenden Bannkreise kein Entrinnen geben
-wird, nicht einmal jenes teilweise, welches früher die Ausbeutung zum
-mindesten einer Minderzahl geboten hatte. Wird dann die Menschheit,
-nachdem sie den Kreislauf vom Kannibalismus zur Ausbeutung und von
-dieser zur wirtschaftlichen Gerechtigkeit vollendet, wieder umkehren zur
-Ausbeutung, vielleicht gar zum Kannibalismus? Wer könnte es sagen? Klar
-scheint nur, daß die wirtschaftliche Gerechtigkeit keine
-Entwickelungsphase ist, deren sich unser Geschlecht längere Zeit
-hindurch erfreuen könnte.
-
-Zwar hat Malthus und haben Andere nach ihm vorbeugende Maßregeln zur
-Verhütung der Übervölkerung vorgeschlagen, um dem rückwirkenden
-Einflusse des Elends zuvorzukommen. Aber alle diese auf künstliche,
-planmäßige Unterdrückung der Volksvermehrung abzielenden Mittel und
-Mittelchen sind -- wenn sie sich überhaupt durchgreifend in Anwendung
-bringen lassen, nur denkbar in einer armen, vor den äußersten
-Konsequenzen des Elends zitternden Bevölkerung; wie in Überfluß und Muße
-lebende, zudem vollkommenster Freiheit sich erfreuende Menschen dahin
-gebracht werden sollten, sich geschlechtlichen Einschränkungen zu
-unterwerfen, vermag ich nicht abzusehen. Diese Art Vorbeugung könnte
-meines Erachtens in der freien Gesellschaft günstigsten Falles erst dann
-Platz greifen, wenn die Not der Übervölkerung schon einen hohen Grad
-erreicht, den einstigen Wohlstand und mit diesem vielleicht auch das
-individuelle Freiheitsgefühl bedenklich vermindert hätte. Das sind, ganz
-abgesehen von der ethischen Widerwärtigkeit all dieser gewaltsamen
-Eingriffe in das -- gerade unter dem Walten der wirtschaftlichen
-Gerechtigkeit so überaus zart sich gestaltende -- Verhältnis der
-Geschlechter, sehr wenig erfreuliche Perspektiven. Sie zeigen uns im
-Hintergrunde der Ereignisse ein Bild, welches gar traurig absticht von
-der überschwenglichen Entfaltung des ersten Anfanges. Glauben die Männer
-von Freiland ihre Schöpfung auch gegen diese Gefahren wappnen zu können?
-
-_Franzisko Espero_ (Linke): Der Mensch unterscheidet sich dadurch von
-den anderen lebenden Wesen, daß er sich seine Nahrungsmittel selber
-bereitet, und zwar desto leichter bereitet, je dichter mit
-fortschreitender Kultur die Bevölkerung wird. Das hat ein großer
-amerikanischer Volkswirt (Carey) seinerzeit bewiesen und damit gezeigt,
-daß das im übrigen unangefochten geltende Naturgesetz des notwendigen
-Zurückbleibens des Nahrungsspielraums hinter der Vermehrung der Arten,
-auf den Menschen keine Anwendung findet. Daß trotzdem Not und Elend
-bisher stets als Hemmnisse der Volksvermehrung wirksam waren, hat nicht
-in einem Naturgesetze, sondern in der Ausbeutung seinen Grund. Die Erde
-hätte genug für Alle hervorgebracht, wenn man nur Allen gestattet hätte,
-freien Gebrauch von ihren Kräften zu machen. Die Ausbeutung aber ist
-eine Einrichtung der Menschen, nicht der Natur, wie wir gesehen haben.
-Beseitiget sie, und Ihr habt für immer das Gespenst des Hungers verjagt.
-
-_Stefan Való_ (Freiland): Ich halte es für nützlich, den freiländischen
-Standpunkt in der bisher aufgetauchten Kontroverse sofort zu
-konstatieren. Das geehrte Kongreßmitglied aus Brasilien (Espero) hat
-recht, wenn es das thatsächliche Elend der Menschheit in der Epoche der
-Ausbeutung statt mit dem Walten natürlicher Kräfte, mit menschlichen
-Einrichtungen in Zusammenhang bringt. Die Massen litten Mangel, weil sie
-in Knechtschaft darniedergehalten waren, nicht weil die Erde sie
-reichlicher zu ernähren unvermögend gewesen wäre. Ich will übrigens
-hinzufügen, daß dieses thatsächliche Elend die Massen niemals hinderte,
-sich zu vermehren in dem Maße, als dies durch andere, auf die
-Bevölkerungsbewegung entscheidend einwirkende Faktoren bedingt war, ja
-daß sich in der Regel das Elend sogar als Ansporn zur Volksvermehrung
-erwies. Im Unrecht aber befindet sich unser Freund aus Brasilien, wenn
-er, gestützt auf die hohlen Redensarten Carey's, leugnet, daß die
-Volksvermehrung, könnte sie ins Unbegrenzte fortschreiten, endlich zu
-Nahrungsmangel führen müßte. Der erste der heutigen Redner hat ganz
-richtig bemerkt, daß es in diesem Falle schließlich dahin käme, daß den
-Menschen der Raum auf Erden mangelte. Man wird doch nicht annehmen, daß
-ein Zustand denkbar ist, bei welchem unsere Rasse die Erdoberfläche
-bedeckte gleich den Heuschrecken ein von ihnen heimgesuchtes Feld? Ja,
-in letzter Linie müßte bei wirklich schrankenlos fortschreitender
-Vermehrung der Menschenmenge nicht bloß die Oberfläche, sondern sogar
-der stoffliche Inhalt unseres Planeten zu klein werden, um die Elemente
-für die sich häufenden Menschenleiber herzugeben. Die Volkszunahme -- in
-so weit hat Malthus mitsamt seinen Anhängern Recht, _muß_ also irgend
-eine Grenze haben. Ob diese Grenze aber gerade im sog. Nahrungsspielraum
-zu suchen sei, das ist denn doch eine andere Frage, eine Frage, die
-vernünftiger Weise erst dann bejaht werden dürfte, wenn festgestellt,
-oder auch nur plausibel gemacht werden könnte, daß nicht früher schon,
-lange bevor Nahrungsmangel sich einstellt, andere Faktoren in Aktion
-treten, deren Zusammenwirken dann zur Folge hätte, daß die Grenzen des
-Nahrungsspielraums, von ganz außergewöhnlichen Fällen abgesehen, niemals
-auch nur annähernd erreicht, geschweige denn überschritten werden
-könnten.
-
-_Arthur French_ (Rechte): Das soeben Gehörte erfüllt mich mit maßlosem
-Erstaunen. Wie, das Mitglied der freiländischen Verwaltung gibt zu --
-was allerdings vernünftiger Weise nicht geleugnet werden kann -- daß
-unbegrenzte Vermehrung eine Unmöglichkeit sei, und bestreitet dennoch,
-daß Nahrungsmangel eben die gesuchte Grenze der Vermehrung wäre? Daß
-Malthus geirrt, als er dieses natürliche Hemmnis auch bisher schon als
-in der menschlichen Gesellschaft wirksam hinstellte, kann ja ohne
-weiteres zugegeben werden. Die Menschen litten bisher Hunger, weil ihnen
-verwehrt war, sich zu sättigen, nicht weil die Erde unvermögend gewesen
-wäre, sie allesamt reichlich, oder zum mindesten reichlicher, zu
-ernähren; die Ausbeutung erwies sich also wirklich als ein schon vor
-Erreichung des Nahrungsspielraums wirksam gewesenes Hemmnis der
-Volksvermehrung, gleichsam als eine Hungerkur, die der Mensch sich
-selber auferlegte, noch bevor die Natur ihn zu einer solchen verurteilt
-hatte. Schon minder verständlich ist mir, was Redner darunter meint,
-wenn er behauptet, das durch die Ausbeutung künstlich hervorgerufene
-Elend habe sich mitunter nicht als Hindernis, vielmehr als
-Beförderungsmittel der Volkszunahme erwiesen. Insbesondere aber möchte
-ich näheres über jene anderen, entscheidenden Faktoren hören, welche
-dies angeblich bewirkt haben sollen und von denen Redner offenbar auch
-in Zukunft die Regulierung der Bevölkerungszahl erwartet. Diese anderen
-Faktoren sollen des ferneren den wunderbaren Effekt haben, die
-Bevölkerung gar niemals den Grenzen des Nahrungsspielraums auch nur nahe
-kommen zu lassen. Künstliche, willkürlich zur Anwendung gelangende
-Mittel können das nicht sein, sonst würde ein Mitglied der
-freiländischen Verwaltung, dieses auf schrankenloser Freiheit
-gegründeten Gemeinwesens, nicht so zuversichtlich von ihnen sprechen.
-Doch abgesehen von all dem -- wie kann die Wirksamkeit eines so
-elementaren Hemmnisses der Vermehrung, wie es der Nahrungsmangel ist,
-gerade in der menschlichen Gesellschaft in Zweifel gezogen werden,
-während dieselbe doch so ersichtlich in der ganzen organischen Natur
-hervortritt? Ist etwa der Mensch allein unter allen lebenden Wesen
-diesem Naturgesetze nicht unterworfen oder kennt man vielleicht in
-Freiland sogar ein Mittel, welches z. B. die Heringe nötigen würde, bei
-ihrem Fortpflanzungsgeschäfte den Grenzen ihres Nahrungsspielraums
-niemals nahe zu kommen, sich vielmehr bei demselben auf jenes
-vernünftige Maß zu beschränken, welches den Rücksichten auf das
-gedeihliche und reichliche Fortkommen ihrer Sippe entspräche?«
-
-Mächtige Erregung herrschte nach dieser mit schneidiger Schärfe
-vorgebrachten Rede im Saale. Gesteigert wurde das Gefühl
-erwartungsvoller Spannung noch dadurch, daß mehrere Mitglieder der
-freiländischen Verwaltung -- unter diesen auch der frühere Redner Stefan
-Való -- zum Präsidenten eilten und demselben ersichtlich nahe legten,
-sich zum Worte zu melden. Der ganzen Versammlung bemächtigte sich die
-Empfindung, daß die Debatte -- nicht bloß die heutige, sondern die des
-Kongresses überhaupt -- an ihren entscheidenden Wendepunkt gelangt sei.
-Vermochten die Wortführer der wirtschaftlichen Gerechtigkeit auch
-diesmal die Bedenken der Gegner siegreich zu widerlegen, als irrig und
-gegenstandlos nachzuweisen, so war die große Geistesschlacht endgiltig
-gewonnen; was dann noch folgen mochte, konnte fürderhin nicht mehr der
-Frage gelten, _ob_, sondern bloß derjenigen, _wie_ die neue sociale
-Ordnung gedeihlich und dauernd ins Werk zu setzen sei. Erlahmte aber an
-diesem Punkte die Kraft der freiländischen Beweisführung, gelang es ihr
-nicht abermals, das Gebäude der gegnerischen Argumentation umzublasen,
-gleich einem Kartenhause, so waren alle bisherigen Erfolge vergebens.
-Das Elend der Gegenwart zu beseitigen, um damit der Zukunft nur desto
-hoffnungsloseres Elend zu bereiten, das war es nicht, wofür man sich
-begeistert hatte; blieb auch nur ein Schatten dieser Gefahr bestehen, so
-war der wirtschaftlichen Gerechtigkeit das Todesurteil gesprochen.
-
-Unter atemloser Spannung ergriff endlich Dr. _Strahl_ das Wort, nachdem
-er den Vorsitz an seinen Kollegen Ney aus der freiländischen Verwaltung
-abgegeben hatte:
-
-»Unser Freund von der Rechten«, so begann er seine Rede, »hat den an uns
-gerichteten Appell mit der Frage geschlossen, ob wir in Freiland das
-Mittel kennten, welches die Heringe nötigen würde, sich bei ihrem
-Fortpflanzungsgeschäfte innerhalb jener Schranken zu halten, die den
-Rücksichten auf das gedeihliche und reichliche Fortkommen ihrer Sippe
-entsprächen. Meine Antwort darauf lautet kurz und bündig: Jawohl, wir
-kennen dieses Mittel. (Bewegung.) Sie erstaunen? Mit Unrecht, lieben
-Freunde, denn Sie kennen es in Wahrheit so gut wie wir, und nur jene
-eigenartige geistige Kurzsichtigkeit, die den Menschen hindert, noch so
-bekannte Dinge wahrzunehmen, sowie es sich um deren Nutzanwendung auf
-einen Gegenstand handelt, bezüglich dessen die mit der Muttermilch
-eingesogenen Vorurteile ihm verbieten, von seinen Sinnen und seinem
-Urteilvermögen Gebrauch zu machen, nur diese ist es, die Sie glauben
-macht, Sie kennten es nicht. Also, ich behaupte, daß Sie Alle das
-fragliche Mittel so gut wüßten, wie wir. Aber damit will ich keineswegs
-sagen, wie Sie anzunehmen scheinen, daß wir oder Sie imstande wären, den
-Heringen diese vorsorgliche Rücksicht erst beizubringen, was in der That
-ziemlich schwer durchführbar wäre; ich behaupte vielmehr, daß unsere
-gemeinsame Kenntnis des Mittels nicht in unserer Erfindungs-, sondern in
-unserer Beobachtungsgabe ihre Quelle hat, mit anderen Worten, daß die
-Heringe von jeher üben, wozu sie nach der Meinung des Fragestellers erst
-durch unseren Witz angeleitet werden müßten und daß wir daher, um zur
-Kenntnis des fraglichen Vorganges zu gelangen, bloß nötig hatten:
-erstlich, die Augen zu öffnen, um zu sehen, _was_ in der Natur vorgeht
-und sodann unseren Verstand einigermaßen zu gebrauchen, um auch hinter
-das _Wie_ dieses Naturvorganges zu gelangen.
-
-Öffnen wir also zunächst unsere Augen, d. h. entfernen wir die Binde,
-die ererbte ökonomische Vorurteile um dieselben gelegt haben. Um Ihnen
-dieses zu erleichtern, meine Freunde, bitte ich Sie, ein beliebiges
-Naturwesen, also beispielsweise den Hering ins Auge zu fassen, ohne
-dabei an dessen mögliche Beziehungen zur Bevölkerungsfrage innerhalb der
-menschlichen Gesellschaft zu denken, d. h. suchen Sie beim Hering keinen
-Erklärungsgrund des menschlichen Elends, sondern betrachten Sie
-denselben einfach als einen der vielen Kostgänger am Tische der Natur.
-Unmöglich wird Ihnen dann entgehen, daß diese Tierspecies zwar in sehr
-zahlreichen Exemplaren vertreten ist, daß aber noch unendlich
-zahlreichere an besagtem Tische reichlich Platz fänden. Ja ich behaupte,
-daß Sie sich -- immer vorausgesetzt, daß Sie dabei nur den Hering und
-nicht zugleich im Hintergrunde das menschliche Elend im Auge haben --
-selber verlachen würden, käme Ihnen auch nur entfernt der Gedanke, die
-Heringe könnten, wenn ihrer etwas mehr wären, keine Nahrung im Weltmeere
-finden, es seien ihrer gerade so viel vorhanden, als dort satt zu
-werden vermöchten. Oder nehmen wir eine andere Tierart, deren
-Ernährungsverhältnisse wir nicht wie bei den Heringen bloß durch
-unbefangenes Nachdenken, sondern erforderlichen Falls leicht durch
-wirklichen Augenschein zu erkennen vermögen, also z. B. den Elefanten,
-den Malthus ja auch speziell namhaft gemacht und für den er gleichfalls
-berechnet hat, in welcher Frist ein einzelnes Pärchen den ganzen
-Erdkreis mit seinen Nachkommen erfüllen müßte, um daraus die
-Schlußfolgerung zu ziehen, daß es der Nahrungsmangel sei, was dieser
-schrankenlosen Vermehrung das Ziel setze. Lehrt Sie nicht der erste,
-oberflächlichste Blick, daß nirgends auf Erden auch nur entfernt so viel
-Elefanten sind, als reichlich und in Fülle Nahrung fänden? Würden Sie
-nicht jeden für einen Faselanten halten, der Ihnen das Gegenteil weis
-machen wollte?
-
-Sie wissen also insgesamt -- das bitte ich zunächst festzuhalten -- daß
-jede Tierart, sie mag nun selten oder zahlreich, mehr oder minder
-fruchtbar sein, sich mit ihrer Vermehrung regelmäßig innerhalb solcher
-Schranken hält, die von den Grenzen des sogenannten Nahrungsspielraums
-weit, unendlich weit entfernt sind. Ich gehe weiter; Sie wissen nicht
-bloß, daß es so ist, Sie wissen auch, daß und warum es so sein _muß_.
-Die unbefangene Beobachtung der Naturvorgänge sagt Ihnen nämlich bei nur
-einigem Nachdenken, daß eine Art, die sich wirklich regelmäßig bis an
-die Grenzen des Nahrungsspielraums vermehrte, also regelmäßig dem Hunger
-und den Entbehrungen ausgesetzt wäre, notwendiger Weise verkümmern
-müßte.
-
-Sie wissen also, daß jener unerschöpfliche Überfluß, der im Gegensatze
-zum Elend der menschlichen Gesellschaft allenthalben in der Natur
-herrscht und den dieses Gegensatzes halber die Denker und Dichter aller
-Zeiten besprochen und besungen haben, kein Werk des Zufalls, sondern der
-Notwendigkeit ist und es erübrigt nur mehr die Ergründung jenes
-Naturprozesses, jenes causalen Zusammenhanges, kraft dessen sich diese
-Notwendigkeit vollzieht. In diesem Punkte war man zur Zeit, als Malthus
-schrieb, allerdings auf allgemeine Redensarten angewiesen. Das Dunkel,
-welches die Entwickelungsgeschichte der organischen Welt verhüllt, war
-damals noch nicht erhellt; man mußte sich also damit begnügen, alle
-Vorgänge im Tier- und Pflanzenreiche aus dem Walten der Vorsehung oder
-der sogenannten Lebenskraft zu erklären -- was natürlich auch damals
-niemand hinderte, die Thatsache sowohl, als die Notwendigkeit dieses
-einstweilen unerklärlichen Naturvorganges zu sehen und zu begreifen. Sie
-aber -- im Jahrhundert nach Darwin lebend -- können auch über diesen
-letzten Punkt keinen Augenblick im Zweifel sein. Sie wissen, daß es der
-Kampf ums Dasein ist, in welchem sich die lebenden Wesen zu dem
-entwickeln, was sie sind, daß Eigenschaften, die sich als nützlich und
-notwendig zum Gedeihen einer Art erweisen, durch diesen Kampf
-hervorgelockt, ausgebildet und festgehalten, Eigenschaften dagegen, die
-sich als schädlich für das Gedeihen der Art erweisen, unterdrückt und
-beseitigt werden. Da nun die Eigenschaft, sich niemals bis an die
-Grenzen des Nahrungsspielraums zu vermehren, zum Gedeihen, ja zur
-Existenz jeglicher Art nicht bloß nützlich, sondern durchaus notwendig
-ist, so muß eben auch sie durch den Daseinskampf hervorgerufen,
-ausgebildet und als bleibender Artcharakter festgehalten worden sein.
-
-Das alles haben Sie gewußt, meine Freunde, bevor ich es Ihnen sagte; nur
-war Ihnen dieses Ihr Wissen bloß in jenen Fällen auch bewußt, zum
-Gebrauche beim Denkprozesse gegenwärtig, wo es sich um rein botanische
-oder zoologische Fragen handelte; sowie in Ihrem Denkapparate die Saite
-der socialen oder ökonomischen Probleme berührt wurde, senkte sich
-augenblicklich ein dichter, undurchdringlicher Schleier über diese
-soeben noch so klaren Erkenntnisse; die Welt stellte sich Ihnen jetzt
-nicht mehr so dar, wie sie ist, sondern wie sie sich durch besagten
-Schleier -- seine Fäden heißen anerzogene Vorurteile und
-Wahnvorstellungen -- ansieht, und Ihr Urteilsvermögen funktionierte nun
-nicht mehr nach jenen allgemeinen Gesetzen, die sonst unter dem Namen
->Logik< sich Ihrer Achtung erfreuen, sondern machte ganz eigenartige
-Kapriolen, die -- läge besagter Schleier nicht auf Ihren Sinnen --
-unmöglich ohne Wirkung auf Ihre Lachmuskeln bleiben könnten. Ja, so
-gründlich haben Sie sich daran gewöhnt, die Bilder, die Ihnen dieser
-Schleier zeigt, für die wirkliche Welt zu halten, daß Sie sich von
-denselben nicht zu befreien vermögen, auch nachdem Sie sich dazu
-aufgerafft, den Schleier selber zu zerreißen.
-
-Die Wahnvorstellungen und Trugschlüsse der Malthus'schen Theorie sind
-doch eigentlich nur dadurch entstanden, daß ihr Autor nach Gründen für
-das Elend der Menschheit suchte, den wahren Grund aber nicht zu
-entdecken vermochte. Warum hungert der irische Bauer und der ägyptische
-Fellache, so fragte er sich; und da er -- gehindert durch den bewußten
-Schleier -- nicht zu sehen vermochte, daß sie hungerten, weil ihnen der
-Ertrag ihrer Arbeit weggenommen wird, ja weil man ihnen gar nicht
-gestattet, zu arbeiten, dabei aber bemerkte, daß die Massen überall und
-allezeit hungerten, örtlich und zeitlich etwas minder empfindlich als zu
-anderen Zeiten und Orten, aber schließlich doch hungerten, hungerten,
-hungerten, trotz aller Plage und allen Fleißes, soweit menschliche
-Erinnerung zurückreicht -- so geriet er endlich auf den Ausweg, diesen
-allgemeinen Hunger für die Folge eines Naturgesetzes zu halten. Jetzt
-wußte er es; der Fellache hungert und der irische Bauer hungert und die
-Völker aller Weltteile und aller Zeiten hungern, weil sie zu zahlreich
-sind, und sie sind zu zahlreich, weil nur der Hunger sie hindert, noch
-zahlreicher zu werden. Daß die vom Rätsel des Elends gepeinigte Welt
-_das_ glaubte, ist schließlich zu begreifen, denn einen Grund muß das
-Elend doch haben und Mangels der richtigen haben noch allezeit falsche
-Erklärungsgründe herhalten müssen; Sie aber, meine Freunde, die Sie die
-Ursache des Elends in der Ausbeutung und Knechtschaft erkannt haben, Sie
-glauben merkwürdiger Weise noch immer an jenes seltsame Naturgesetz,
-welches doch Malthus nur ersann, um obigen Notbehelf aus ihm zu
-konstruieren; das macht: Sie haben den Schleier zwar zerrissen,
-durchlöchert, aber seine Fetzen umhüllen Ihnen noch immer Haupt und
-Sinne. Warum der Fellache und der irische Bauer _heute_ hungert, das zu
-sehen, dazu haben Sie sich aufgerafft; aber für unsere Nachkommen
-zittern Sie noch immer vor Übervölkerung, den Hering sehen Sie noch
-immer von Nahrungssorgen verfolgt, und der Elefant durchstreift für Sie
-immer noch mit knurrendem Magen die kahlgefressenen Waldungen Hindostans
-oder Afrikas -- sowie Sie von Hering und Elefant weiter hinaus denken an
-diese unsere armen, der Übervölkerung verfallenen Nachkommen.«
-
-Jubelnder Applaus, untermengt mit Ausbrüchen lauter Heiterkeit
-durchbrauste den Saal, nachdem Dr. Strahl geschlossen. Auf seinem Wege
-von der Rednerbühne zum Präsidentensitze erwarteten ihn neben den
-Freunden, die herbeigeeilt waren, ihm die Hand zu drücken, auch die
-Wortführer der Opposition, die freudig und rückhaltlos den vollkommenen
-Sieg anerkannten.
-
- (Schluß des vierten Verhandlungstages.)
-
-
-
-
- 27. Kapitel.
-
-
- Fünfter Verhandlungstag.
-
-Zur Diskussion gelangt der vierte und letzte Punkt der Tagesordnung:
-
-_Ist es möglich, die Institutionen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-überall unter Schonung der erworbenen Rechte und überkommenen Interessen
-zur Durchführung zu bringen; und wenn dies möglich ist, welches sind die
-geeigneten Mittel hierzu?_
-
-_Der Vorsitzende._ Ich glaube dem Wunsche der Versammlung zu
-entsprechen, wenn ich den heute Morgen in Edenthal eingetroffenen
-Spezialgesandten des amerikanischen Kongresses, _William Stuart_, bitte,
-sich seines Auftrages zu entledigen und uns Bericht zu erstatten über
-jene Vorschläge, welche das mit Ausarbeitung der Übergangsbestimmungen
-in das Regime der wirtschaftlichen Gleichberechtigung betraute Komitee
-dem Kongresse seines Landes unterbreitet hat.
-
-_William Stuart._ Im Auftrage der Vertreter des amerikanischen Volkes
-erbitte ich mir die Wohlmeinung dieser hochansehnlichen Versammlung über
-eine Reihe von gesetzlichen Verfügungen, die bestimmt sein sollen, uns
-mit jener Energie, die nun einmal unseren Gewohnheiten entspricht,
-zugleich aber unter vollkommener Schonung aller bestehenden Rechte, aus
-dem bisherigen wirtschaftlichen Zustande in denjenigen der
-wirtschaftlichen Gleichberechtigung hinüberzuleiten. Meine Auftraggeber
-sahen sich zu diesem Schritte durch den Umstand veranlaßt, daß unsere
-Nation unter allen Nationen außerhalb Freilands die erste ist, welche --
-unseres Wissens zum mindesten -- über das Stadium der Vorberatungen
-hinaus gediehen, unmittelbar vor der zur Durchführung des Werkes
-führenden Aktion steht. Die Institutionen der wirtschaftlichen
-Gerechtigkeit selber sind nichts Neues mehr; wir konnten uns
-diesbezüglich auf ein bewährtes Präcedenz, das Beispiel Freilands,
-stützen, was denn auch -- mit einigen höchst unwesentlichen, der
-Eigenart des amerikanischen Volkscharakters und Landes entsprechenden
-Abweichungen -- durchweg geschehen wird. Dagegen fehlt es für die
-Übergangsbestimmungen an jeglicher Erfahrung, und da wir, ungeachtet der
-bekannten Raschheit unseres Handelns, guten Rat -- insbesondere in so
-wichtiger Sache -- lieber vor als nach der That einholen, so bin ich
-hergesandt, Ihre Meinung zu hören und dieselbe dann im amerikanischen
-Kongresse zu vertreten, bevor die Vorschläge des Komitees Gesetzeskraft
-erlangen.
-
-Es ist beantragt, allen im Gebiete der Union gelegenen Boden für
-herrenlos zu erklären, die bisherigen Besitzer aber mit dem vollen
-Katasterwerte zu entschädigen. Um denjenigen, die sich dabei verkürzt
-erachten sollten, die Möglichkeit der Abhilfe zu gewähren, sollen
-besondere Sachverständigenkommissionen zur Prüfung allfälliger
-Reklamationen niedergesetzt werden und die öffentliche Meinung der Union
-geht dahin, daß diesen Kommissionen ein möglichst rücksichtsvolles
-Verfahren zur Richtschnur empfohlen werden sollte. Der gleiche Vorgang
-ist bei Gebäuden beantragt, mit der Maßgabe jedoch, daß zum eigenen
-Gebrauche des Besitzers dienende Wohnhäuser auf dessen Wunsch von der
-Ablösung ausgenommen werden können. Die solcherart erhobenen und
-festgestellten Ablösungsbeträge sollen je nach Wunsch der Berechtigten
-entweder sofort oder in Raten zur Auszahlung gelangen, mit der Maßgabe,
-daß für jede Erstreckung der Raten um je ein Jahr eine Prämie von 1/5
-Prozent gewährt wird, welche Prämie der Berechtigte in Form von
-Zuschlagsraten nach erfolgter Abtragung des eigentlichen Kaufpreises
-ausgezahlt erhält. Auf länger als fünfzig Jahre wird die Abzahlung nicht
-erstreckt. Gesetzt also den Fall, eine Liegenschaft sei mit 10000
-Dollars bewertet worden, so erhält der Besitzer, falls er sofortige
-Auszahlung der ganzen Summe verlangt, seine 10000 Dollars, mit denen er
-dann anfangen mag, was ihm beliebt; verlangt er beispielsweise zehn
-Jahresrenten _à_ 1000 Dollars, so hat er das Anrecht auf zehn Prämien
-von je 20 Dollars, die ihm gesammelt als elfte Jahresrate von 200
-Dollars zugezählt werden. Verlangt er Abzahlung in fünfzig Raten _à_ 200
-Dollars, so erwächst ihm ein Prämienanspruch von fünfzigmal 20, d. i.
-also von 1000 Dollars, die er in Form fünf fernerer Jahressraten _à_ 200
-Dollars einkassiert. Dieselben Rückzahlungsmodalitäten gelten für die
-gesamte, sofort zu kündigende Nationalschuld.
-
-Die bestehenden Kredit- und Schuldverhältnisse der Privaten
-bleiben aufrecht; doch soll der Schuldner, gleichviel welche
-Abzahlungsbedingungen ursprünglich vereinbart waren, das _Recht_
-unmittelbarer Rückerstattung des entliehenen Kapitals haben. Die
-Beistellung der zum Betriebe welcher Produktion immer erforderlichen
-Kapitalien abseitens des Gemeinwesens wird die Privatschuldner in den
-Stand setzen, von diesem ihrem Rechte Gebrauch zu machen; nur soll nach
-dem Antrage der Kommission das Gemeinwesen bis auf weiteres die nämliche
-Prämie, die es seinen Gläubigern gewährt, auch von seinen Schuldnern
-verlangen. Der Zweck letzterer Maßregel liegt auf der Hand; sie soll
-verhüten, daß -- Mangels jedes ihnen eingeräumten Vorteils -- die
-Privatgläubiger ihre Kapitalien aus dem Verkehre ziehen und tot liegen
-lassen. Bekämen die Kapitalbedürftigen anfangs ihren Bedarf gänzlich
-kostenlos, lediglich gegen die Verpflichtung allmählicher Rückerstattung
-des entliehenen Kapitals, so würden sie sich zu keinerlei Vergütung
-ihren alten Gläubigern gegenüber verstehen, während sie, wird der
-Vorschlag der Kommission angenommen, jene Prämie, die das Gemeinwesen
-von ihnen verlangt, auch jenen zu bewilligen bereit sein werden.
-
-Zu bemerken wäre noch, daß, dank dem schon bei Gelegenheit der
-Wahlagitationen für den konstituierenden Kongreß allenthalben zum
-Ausdrucke gebrachten Grundsatze, alle erworbenen Rechte peinlichst zu
-achten, die produktive Thätigkeit in der Übergangszeit nicht allein
-keinerlei Störung erlitten, sondern einen, vorher niemals noch erlebten
-Aufschwung erfahren hat. Die in Bildung begriffenen freien Associationen
-zwingen die alten Unternehmer, sich durch ausgiebige Lohnerhöhungen die
-zum provisorischen Fortbetriebe erforderlichen Arbeitskräfte zu
-erhalten, und da gerade diese Lohnerhöhungen den Bedarf nach allen
-Produkten sprunghaft steigern, so wächst damit zugleich das Interesse
-der Unternehmer, ihre Produktion vor jeder Stockung zu bewahren. Diese
-beiden Strömungen steigern sich gegenseitig in solchem Maße, daß im
-Momente der Minimallohn drei Dollars per Tag übersteigt, und daß
-fieberhafter Unternehmungsgeist sich der gesamten Geschäftswelt
-bemächtigt hat. Insbesondere die Maschinenindustrie entfaltet eine
-Regsamkeit, die aller bisherigen Vorstellungen spottet. Die Furcht vor
-Überproduktion ist zur Mythe geworden, und da die Unternehmer darauf
-rechnen können, in den Associationen demnächst schon bereitwillige
-Abnehmer für guteingerichtete Anlagen zu finden, so hält sie nichts ab,
-den letzten Moment, der ihrer Privatthätigkeit noch gelassen ist,
-thunlichst auszunützen. Auch die Landbesitzer finden dabei ihre
-Rechnung, denn selbstverständlich ist der Bodenwert infolge der so rapid
-gewachsenen Nachfrage nach Bodenprodukten aller Art sehr namhaft
-gestiegen. Kurzum, alles berechtigt uns zu der Annahme, daß sich der
-Übergang in die neue Ordnung der Dinge bei uns nicht bloß leicht und
-glatt, sondern auch zu vollster Befriedigung _aller_ Teile unseres
-Volkes vollziehen werde.
-
-Der _Vorsitzende_ fragt die Versammlung, ob sie sofort in die Diskussion
-der soeben gehörten Botschaft des amerikanischen Kongresses, respektive
-in die Debatte über Punkt vier der Tagesordnung eingehen, oder zuvor
-noch den Bericht entgegennehmen wolle, welchen der freiländische
-Kommissär in Rußland durch einen soeben in Edenthal eingetroffenen
-Abgesandten zu erstatten beabsichtige. Da sich der Kongreß für letzteres
-entschied, nahm
-
-_Demeter Nowikof_ (Abgesandter des freiländischen Kommissars für
-Rußland) das Wort: Als wir, auf Wunsch des russischen Volkes von der
-freiländischen Centralverwaltung delegierten Kommissäre, in Moskau
-eingetroffen waren, fanden wir die Ruhe wenigstens äußerlich insoweit
-hergestellt, als die einander bis dahin mit schonungsloser Wut
-zerfleischenden Fraktionen auf die Nachricht unserer Ankunft vorderhand
-Waffenstillstand geschlossen hatten. Nicht bloß die Kanonen und Gewehre,
-auch die Guillotine und der Galgen feierten. Radoslajew, unser
-bevollmächtigter Kommissär, berief sofort die sämtlichen Parteihäupter
-zu sich, bewog sie, die Waffen vollends niederzulegen, die Gefangenen
-freizugeben, die sieben verschiedenen, sich bis dahin sämtlich als
-ausschließliche Vertreter des russischen Volkes geberdenden Parlamente
-heimzusenden, und schrieb dann, nachdem er sich für die Zwischenzeit mit
-einem Rate von Vertrauensmännern der verschiedenen Parteien umgeben, mit
-thunlichster Beschleunigung allgemeine Neuwahlen für eine
-konstituierende Versammlung aus.
-
-Da Produktion und Verkehr beinahe gänzlich stille standen, so war das
-Elend grenzenlos. Die Arbeitgeberschaft war von einigen der extremsten
-Parteien als todeswürdiges Verbrechen verfolgt worden, niemand wagte es
-daher, Arbeiter zu beschäftigen; sich selber zu organisieren, dazu waren
-in den meisten Teilen des Reiches die unwissenden, in knechtischem
-Gehorsam darniedergehalten gewesenen Massen gänzlich außer Stande, und
-da zum Überfluß die radikalsten unter den Nihilisten auch die
-Organisatoren freier Associationen als »maskierte Herren« zu
-guillotinieren begonnen hatten, so schien es fast, als ob gegenseitiges
-Todschlagen die einzige Thätigkeit sei, der man hinfort in Rußland
-obliegen könne.
-
-Die Proklamation, mit welcher Radoslajew die Wahlen ausschrieb,
-beruhigte zwar die Gemüter, genügte aber nicht zu rascher Inaugurierung
-ersprießlicher produktiver Thätigkeit. Als daher die neugewählte
-konstituierende Versammlung zusammengetreten war, schlug ihr Radoslajew
-als Übergangsstadium in das Regime der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-ein gemischtes System vor, in welchem neben den Keimen der
-anzustrebenden freien Gesellschaft und neben allfälligen Resten alter
-Einzelwirtschaft eine Art von Übergangs-Kommunismus Platz finden sollte.
-
-Zunächst aber mußte Ordnung in die bestehenden Rechtsverhältnisse
-gebracht werden. Während der unserer Ankunft vorhergehenden
-Schreckensherrschaft war aller immobile Besitz zu Nationaleigentum
-erklärt worden, ohne daß die früheren Eigentümer irgendwelche
-Entschädigung erhalten hatten; alle bestehenden Schuldverhältnisse waren
-einfach annulliert und es galt nun, nachträglich diese Gewaltakte
-gutzumachen, soweit es irgend noch anging. Doch in diesem Punkte erwies
-sich anfangs auch die neue Nationalversammlung untraitabel. Der Haß
-gegen die alte Ordnung war ein so allgemein verbreiteter und tiefer, daß
-selbst die Depossedierten es nicht wagten, auf unsere Absichten
-einzugehen. Das aus der Epoche der Ausbeutung herrührende Privateigentum
-galt schlechthin als Raub und Diebstahl, die Inanspruchnahme von
-Entschädigungen als schimpflich derart, daß eine Deputation früherer
-Großgrundbesitzer und Fabrikanten, an ihrer Spitze zwei ehemalige
-Großfürsten, Radoslajew beschwor, von seiner Forderung abzustehen, damit
-der kaum entschlafene nihilistische Fanatismus nicht neuerlich gereizt
-werde. Nichtsdestoweniger beharrte dieser, nachdem er sich mit uns, den
-ihm beigegebenen Freiländern, beraten, auf seiner Forderung. Er erklärte
-der Nationalversammlung, daß es uns natürlich fern liege, dem russischen
-Volke unsere Anschauungen aufzunötigen, daß anderseits aber auch Rußland
-von uns nicht verlangen könne, uns an einem Werke zu beteiligen, dessen
-Grundlage -- in unseren Augen -- Raub wäre; und diese Drohung mit
-unserem Rücktritte wirkte endlich. Die Nationalversammlung machte noch
-den Versuch, sich der Votierung einer ihr verhaßten Maßregel dadurch zu
-entziehen, daß sie Radoslajew für die Zeit des Überganges die Diktatur
-anbot; nachdem er jedoch auch dieses Ansinnen abgelehnt hatte, fügte sie
-sich und ging widerwillig in die Beratung des Entschädigungsgesetzes
-ein. Im Sinne des von Radoslajew vorgelegten Entwurfes sollte den
-früheren Eigentümern der volle Wert in Raten bezahlt werden, ebenso
-sollten die früheren Schuldverhältnisse voll reaktiviert und gleichfalls
-in Raten abgetragen werden; die unveränderte Annahme dieses Gesetzes
-konnte Radoslajew jedoch nicht durchsetzen. Die Nationalversammlung
-votierte einstimmig eine Klausel, nach welcher kein einzelner
-Entschädigungsanspruch die Höhe von 100000 Rubel überschreiten durfte;
-hatte der Eigentümer Schulden, so wurde deren Betrag in Anrechnung
-gebracht, doch durfte auch der Ersatzanspruch aus dem Titel von
-Schuldforderungen keines einzelnen Gläubigers 100000 Rubel übersteigen.
-Ebenso wurde für verwüstetes Eigentum eine auf das gleiche Maximum
-beschränkte Entschädigung gewährt.
-
-Inzwischen hatten wir alle Anstalten getroffen, um die Produktion auf
-den neuen Grundlagen zu organisieren. Privatunternehmer wagten sich,
-trotzdem ihnen das Feld freigegeben war, nicht hervor; dagegen begannen
-sich insbesondere in den westlichen Gouvernements auf Grund unserer zum
-Muster genommenen freiländischen Statuten, freie Arbeiterassociationen
-zu bilden. Die große Masse der arbeitenden Bevölkerung erwies sich
-jedoch hiezu noch unfähig, und notgedrungen mußte daher die
-Regierungsgewalt organisierend eingreifen. Zwanzig verantwortliche
-Komitees wurden für zwanzig verschiedene Produktionszweige geschaffen
-und diese Komitees nahmen mit Hülfe der sich bereitwillig zur Verfügung
-stellenden Intelligenz die Produktion in die Hand. Der Freiheit ist
-insoweit Rechnung getragen, als niemand zwangsweise zur Arbeit verhalten
-wird. Derzeit sind 83000 solcher Unternehmungen mit 12½ Millionen
-Arbeitern im Betriebe. Bezüglich der Verteilung des Ertrages herrscht in
-denselben ein aus freier Vergesellschaftung und Kommunismus gemischtes
-System. Die Hälfte des erzielten Nettoertrages gelangt unter den
-gesamten 12½ Millionen Arbeitern zur gleichmäßigen Verteilung; die
-andere Hälfte verteilen die einzelnen Unternehmungen für sich unter die
-ihnen angehörigen Arbeiter. Wir glauben solcher Art jede Unternehmung
-einerseits gegen die äußersten Konsequenzen eines allfälligen
-Mißerfolges ihrer Produktion sichergestellt, anderseits aber auch das
-Interesse der Beteiligten am Gedeihen der einzelnen Produktion
-wachgerufen zu haben. Die Leiter dieser Produktivkörperschaften erhalten
-nach dem gleichen gemischten Systeme Zahlung.
-
-Die Arbeitszeit ist auf 36 Stunden wöchentlich fixiert. Außerdem ist ein
-zweistündiger täglicher Unterricht für Erwachsene eingerichtet, welchen
-Unterricht gegenwärtig 65000 Wanderlehrer, deren Zahl jedoch stetig
-vermehrt wird, zu besorgen haben. Desgleichen sind bisher 120000
-Volksbibliotheken errichtet, zu deren Versorgung mit den notwendigsten
-Büchern eine Anzahl großer Druckereien in Rußland selber gegründet,
-außerdem aber die bedeutenderen Druckereien des Auslandes beschäftigt
-sind; die freiländischen Druckereien allein haben bisher 28 Millionen
-Bände geliefert. Da auch der Jugendunterricht mit aller erdenklichen
-Energie gefördert wird -- 780 Lehrerseminare sind teils gegründet, teils
-in Gründung begriffen, vom slawischen Auslande, insbesondere aus Böhmen,
-sind massenhaft Lehrkräfte herangezogen worden, und dergleichen mehr --
-so hoffen wir den Bildungsgrad der Massen sich binnen wenigen Jahren so
-weit heben zu sehen, daß mit den Resten des Kommunismus wird aufgeräumt
-werden können.
-
-Inzwischen wird die provisorisch geübte Bevormundung den sich derselben
-freiwillig unterwerfenden Massen gegenüber auch zur Hebung und Veredlung
-ihrer Gewohnheiten und Bedürfnisse ausgenutzt. Geistige Getränke,
-insbesondere Branntwein, werden nur in begrenzten Dosen ausgeschenkt,
-die elenden Lehmhütten und Arbeiterhöhlen werden successive
-niedergerissen und durch nette, mit kleinen Gärten versehene
-Familienhäuser ersetzt; monatlich mindestens einmal werden
-Volksfeste veranstaltet, bei denen leichte zwar, aber gute Musik,
-Theatervorstellungen und populäre Vorträge den ästhetischen, eine
-rationelle feinere Küche den materiellen Geschmack der Teilnehmer zu
-heben bestimmt sind. Besondere Sorgfalt wird der Erziehung der Frauen
-gewidmet. Nahe an 80000 Wanderlehrerinnen durchziehen heute schon das
-Land, unterrichten die -- von jeder groben Arbeit befreiten -- Weiber in
-den Elementen der Wissenschaft sowohl, als civilisierterer
-Haushaltungskunst, suchen ihr Selbstgefühl und ihren Geschmack zu heben,
-sie über ihre neuen Rechte und Pflichten aufzuklären und insbesondere
-der bis dahin herrschend gewesenen häuslichen Brutalität zu steuern. Da
-diese Apostel höherer Weiblichkeit -- wie überhaupt alle Lehrkräfte --
-die volle Autorität der Behörden hinter sich haben und sich ihrem Berufe
-mit hingebender Begeisterung widmen, so lassen sich derzeit schon nicht
-unerhebliche Erfolge ihres Wirkens feststellen. Die Weiber der
-arbeitenden Klassen, bis dahin schmutzige, mißhandelte, störrige
-Lasttiere, beginnen allgemach für ihre Würde als Menschen sowohl wie als
-Frauen Verständnis zu zeigen. Sie lassen sich von ihren Männern nicht
-mehr prügeln, halten diese, sich selber, die Kinder und ihr Haus
-reinlich und wetteifern untereinander in Erwerbung von allerlei
-nützlichen Kenntnissen. Ein ganz unglaublicher Fortschritt, ja eine
-Revolution hat -- Dank dem sofort eingeführten Versorgungsanspruche der
-Frauen -- in den Sittlichkeitsverhältnissen stattgefunden. Während
-früher, insbesondere unter dem städtischen Proletariate, geschlechtliche
-Zügellosigkeit und Käuflichkeit allgemein verbreitet waren, sind jetzt
-geschlechtliche Fehltritte eine unerhörte Seltenheit geworden. Dabei ist
-es insbesondere interessant, den Unterschied zu beobachten, welchen die
-Meinung des Volkes zwischen derlei Sünden aus früherer Zeit und zwischen
-denen der Gegenwart macht. Während über jene ganz allgemein der Mantel
-der Vergessenheit gebreitet wird, kennt die öffentliche Meinung für
-diese keine Nachsicht. »Die sich früher verkaufte, war eine
-Unglückliche, die es jetzt thäte, wäre eine Verworfene,« so spricht und
-handelt in diesem Punkte das Volk. Die öffentliche Dirne von ehemals
-trägt die Stirne hoch und frei, sofern sie jetzt nur tadellos ist, und
-sieht mit stolzer Verachtung herab auf das Mädchen oder die Frau, die
-sich nunmehr, »seitdem wir Weiber uns nicht mehr verkaufen müssen, um
-Brot zu haben,« auch nur das Geringste zu Schulden kommen läßt.«
-
-Es wird nunmehr in die Debatte über Punkt 4 der Tagesordnung
-eingegangen.
-
-_Ibrahim el Melek_ (Rechte). Die überaus lehrreichen Berichte aus
-Amerika und Rußland liefern den drastischen Beweis dafür, daß der
-Übergang zu dem Systeme der wirtschaftlichen Gerechtigkeit sich nicht
-bloß im allgemeinen desto leichter, sondern insbesondere auch unter
-desto annehmlicheren Formen für die besitzenden Klassen vollziehe, je
-entwickelter und vorgeschrittener zuvor die arbeitenden Klassen gewesen.
-Unter diesem Gesichtspunkte darf es also nicht Wunder nehmen, daß auch
-wir in Ägypten den Systemwechsel voraussichtlich nicht ohne schwere
-Erschütterungen werden durchmachen können. Die Nähe Freilands und das
-rasche Eintreffen seiner von den aus Rand und Band geratenen Fellachim
-mit nahezu göttlichen Ehren empfangenen Kommissäre hat uns zwar vor
-ähnlichen Greuelscenen bewahrt, wie sie Rußland Wochen hindurch
-zerfleischten; es sind keinerlei Mordthaten und nur geringe Zerstörungen
-von Eigentum vorgekommen; aber die von den freiländischen Kommissären
-einberufene ägyptische Nationalversammlung zeigt sich noch weit
-abgeneigter als ihre russische Kollegin, die Entschädigungsansprüche der
-früheren Besitzer anzuerkennen. Ich sehe darin eine Fügung des
-Schicksals, gegen die sich nichts machen läßt und die man daher mit
-Resignation hinnehmen muß. Von Verschulden aber möchte ich die so schwer
-Betroffenen freisprechen. Ohne daß es ausdrücklich gesagt worden ist,
-habe ich doch das deutliche Empfinden, daß die große Majorität dieser
-Versammlung von dem Gedanken ausgeht, die ehemals herrschend gewesenen
-Klassen erführen nunmehr überall das Los, welches sie sich selber
-bereiteten; dem gegenüber möchte ich fragen, ob denn etwa die
-amerikanischen, australischen und west-europäischen Grundherren,
-Kapitalisten und Arbeitgeber früher die Vorteile ihrer Stellung minder
-schonungslos ausbeuteten, als die russischen oder ägyptischen? Daß sie
-ihren arbeitenden Klassen nicht so übel mitzuspielen vermochten, als die
-letzteren, hat in der größeren Energie des Volkscharakters, in der
-größeren Widerstandskraft der Massen, nicht aber in ihrer, der
-Herrschenden, Gutmütigkeit seinen Grund. Ich vermag also keine
-Gerechtigkeit darin zu sehen, wenn der russische Edelmann oder der
-ägyptische Bey sein Vermögen verliert, während der amerikanische
-Spekulant, der französische Kapitalist oder der englische Lord aus dem
-Umschwunge vielleicht sogar mit Gewinn hervorgeht.
-
-_Lionel Spencer_ (Centrum). Der Herr Vorredner dürfte mit seiner
-Vermutung, daß auch die besitzenden Klassen Englands gleich denen
-Amerikas ohne Verlust aus der im Zuge befindlichen Revolution
-hervorgehen werden, voraussichtlich Recht behalten; daß den Besitzenden
-nichts genommen werden dürfe, was ihnen nicht zum vollen Werte bezahlt
-wird, kann bei uns in England so gut als z. B. in Frankreich und noch in
-einigen anderen demokratisch verwaltet gewesenen Ländern nicht dem
-geringsten Zweifel unterliegen. Ein Spiel des blinden Fatums aber vermag
-ich darin nicht zu erblicken. Bemerken Sie, daß die Opfer der socialen
-Revolution überall im umgekehrten Verhältnisse des bis dahin üblich
-gewesenen Arbeitslohnes stehen, dessen Höhe in erster Reihe bestimmend
-ist für das Durchschnittsniveau der geistigen Bildung des Volkes. Wo die
-Massen in tierischem Elend schmachteten, dort darf man sich nicht
-wundern, daß sie, als ihre Ketten brachen, sich auch mit tierischer Wut
-auf ihre Zwingherrn stürzten. Die Höhe des Arbeitslohnes hinwieder ist
-überall abhängig von dem Ausmaße politischer und socialer Freiheit,
-welches die Besitzenden den Massen gönnen. Mag immerhin der russische
-Edelmann oder der ägyptische Bey persönlich sogar gutmütiger sein, als
-der amerikanische Spekulant oder der englische Landlord; der essentielle
-Unterschied liegt darin, daß das Schicksal der Massen in Amerika und
-England vom persönlichen Belieben der Reichen unabhängiger war als in
-Rußland und Ägypten. Die Besitzenden waren dort -- wenn auch vielleicht
-im Privatverkehr noch härter -- politisch klüger, maßvoller, als hier
-und die Früchte dieser politischen Klugheit nun sind es, die sie ernten.
-Mag auch sein, daß sie selbst zu dieser Klugheit sich bloß gezwungen
-bekannt hatten -- sie _thaten_ es eben und nur die Thaten, nicht die
-Gesinnungen richtet die Geschichte. Die herrschend gewesenen Klassen der
-zurückgebliebenen Länder büßen jetzt für das Übermaß ihres
-Herrenbewußtseins; sie zahlen gleichsam nachträglich jene Differenzen
-des Arbeitslohnes, welche sie früher noch an dem, ohnehin kärglich genug
-bemessenen, allgemeinen Durchschnitt der ausbeuterischen Ordnung
-abgezwackt hatten.
-
-_Tei-Fu_ (Rechte). Der Herr Vorredner übersieht, daß die Bestimmung des
-Arbeitslohnes nicht vom Belieben der Arbeitgeber, sondern von Angebot
-und Nachfrage abhängt. Daß Hungerlöhne zum Tiere herabdrücken, ist ja
-leider richtig und die Blutbäder, mit denen die zur Verzweiflung
-getriebenen Massen auch meines Vaterlandes allenthalben das
-Befreiungswerk einleiteten, sind gleich den Ereignissen in Rußland
-beredte Beweise dieser Wahrheit; aber wie hätte alle politische Klugheit
-der Herrschenden dem vorbeugen können? Der Arbeitsmarkt in China war
-eben überfüllt, das Händeangebot zu groß; keine Macht der Erde konnte
-den Lohn erhöhen.
-
-_Alexander Ming-Li_ (Freiland). Mein Bruder Tei-Fu glaubt, daß der
-Arbeitslohn von Angebot und Nachfrage abhänge; es ist das kein in
-unserem gemeinsamen Geburtslande erdachtes Axiom, sondern ein der
-Nationalökonomie des Westens entlehnter Satz, der aber deshalb in
-gewissem Sinne nicht minder richtig ist. Er gilt schließlich von jeder
-Ware, also auch von menschlicher Arbeitskraft, so lange sie als Ware
-feilgeboten werden muß. Aber daneben hängt der Preis auch noch von zwei
-anderen Dingen ab, nämlich von den Produktionskosten und vom Nutzwerte
-der Ware, ja diese beiden letztgenannten Faktoren sind es, die auf die
-Dauer den Preis regulieren, während die Schwankungen von Angebot und
-Nachfrage auch bloß Schwankungen innerhalb der von Produktionskosten und
-Nutzwert gezogenen Grenzen herbeizuführen vermögen. Man muß auf die
-Dauer für jedes Ding so viel bezahlen, als seine Herstellung kostet und
-man kann auf die Dauer nicht mehr für dasselbe erhalten, als sein
-Gebrauch wert ist. Das ist alles auch längst bekannt, nur hat man es
-sonderbarer Weise niemals vollständig auf die Frage des Arbeitslohnes
-angewendet. Was kostet die Herstellung der Arbeitskraft? Nun offenbar so
-viel, als der Arbeiter an Mitteln des Unterhalts braucht, um bei Kräften
-zu bleiben. Und was ist der Nutzwert der menschlichen Arbeit? Nun ebenso
-offenbar der Wert des durch sie zu erzielenden Produkts. Was heißt das
-also in seiner Anwendung auf den Arbeitsmarkt? Wie mir scheint, nichts
-anderes, als daß die Höhe des Arbeitslohnes -- unbeschadet der
-Fluktuationen durch Angebot und Nachfrage -- auf die Dauer bestimmt wird
-durch die Lebensgewohnheiten der Arbeiter einerseits und durch die
-Produktivität ihrer Arbeit anderseits. Ersteres Moment ist bestimmend
-für die Forderungen der Arbeiter, letzteres für die Zugeständnisse der
-Arbeitgeber.
-
-Nun aber bitte ich meinen geehrten Landsmann wohl Acht zu geben. Die
-Lebensgewohnheiten der Massen sind nichts unabänderlich gegebenes; jedes
-menschliche Wesen hat das natürliche Bestreben, möglichst gut zu leben,
-und wenn auch zugegeben werden muß, daß Sitte und Gewohnheit häufig
-dieser natürlichen Expansionstendenz der Bedürfnisse einige Zeit
-hindurch hemmend entgegentreten können, so darf ich doch mit gutem
-Gewissen behaupten, daß unsere unglücklichen Brüder im blumigen Lande
-der Mitte nicht aus unüberwindlicher Abneigung gegen ausreichende Kost
-und Kleidung hungerten und halbnackt umherliefen, sondern sehr gern
-bereit gewesen wären, sich höhere Gewohnheiten anzueignen, wenn nur die
-vorsorgliche Weisheit aller chinesischen Regierungen dem nicht jederzeit
-dadurch entgegengetreten wäre, daß sie alle Versuche der Arbeiter, sich
-behufs wirksamer Geltendmachung ihrer Forderungen zu verabreden und zu
-vereinigen, mit den härtesten Strafen verfolgte. Verbündete Arbeiter
-wurden nicht anders behandelt, denn als Rebellen und die Besitzenden
-Chinas -- das ist ihre Thorheit und ihre Schuld -- haben dieser
-verbrecherischen Thorheit der chinesischen Regierung stets Beifall
-gespendet.
-
-Thorheit sowohl als Verbrechen nenne ich dies Beginnen, weil es nicht
-bloß gegen die Gerechtigkeit und Menschlichkeit, sondern auch gegen den
-eigenen Vorteil der also Handelnden und der ihnen Beifall Spendenden in
-gröblichster Weise verstieß. Die Regierung anlangend sollte man meinen,
-daß dieser das Aberwitzige und Selbstmörderische ihres Beginnens ganz
-von selbst auch ohne tieferes Nachdenken längst hätte einleuchten
-sollen. Mußte doch ein Blinder sehen, daß sie ihre finanzielle sowohl
-als ihre militärische Kraft in dem Maße ruinierte, in welchem ihre
-Maßregeln gegen die unteren Volksklassen von Erfolg begleitet waren. Der
-Konsum der Massen ist wie allerorten so auch in China die hauptsächliche
-Quelle der Staatseinnahmen, die physische Gesundheit der Bevölkerung die
-Stütze der militärischen Kraft gewesen. Was sollten aber Chinas Zölle
-und Accisen einbringen, wenn das Volk nichts verzehren konnte und wie
-sollten seine aus dem elendesten Proletariate rekrutierten Soldaten Mut
-und Kraft vor dem Feinde beweisen? Ebenso schädigte diese
-Darniederhaltung der Massen auch die Interessen der Besitzenden. Weil
-das chinesische Volk wenig konsumierte, vermochte es auch nicht zu höher
-produktiver Arbeit überzugehen, d. h. seine Arbeitskraft hatte, gerade
-weil ihre Herstellungskosten so jämmerlich wenig beanspruchten, auch
-jämmerlich wenig Nutzwert.
-
-Der chinesische Arbeitgeber konnte also wirklich nicht viel für die
-Arbeit zahlen, aber nur aus dem Grunde, weil dem Arbeiter verwehrt war,
-in wirksamer, d. h. nicht bloß den einzelnen Arbeitgeber, sondern den
-Arbeitsmarkt beeinflussender Weise, viel zu verlangen. Der einzelne
-Unternehmer hätte freilich den Forderungen seiner Arbeiter nur in
-beschränktem Maße nachgeben können, da er als Einzelner das Mehr an Lohn
-an seinem Gewinne eingebüßt hätte; wäre aber in ganz China der
-Arbeitslohn gestiegen, so hätte dies den Bedarf in solchem Maße erhöht,
-daß die gesamte chinesische Arbeit ergiebiger geworden wäre, d. h. mit
-besseren Produktionsmitteln hätte ausgestattet werden können; nicht aus
-ihrem Gewinne, sondern aus dem gesteigerten Ertrage hätten die
-Arbeitgeber die Lohnaufbesserung gedeckt, ja ihr Gewinn wäre sogar
-gewachsen, ihr Reichtum, dargestellt durch die in ihrem Besitze
-befindlichen kapitalistischen Arbeitsmittel, hätte sich vermehrt. Das
-schließt natürlich nicht aus, daß einzelne Produktionszweige unter
-diesem Umschwunge gelitten hätten, denn die Zunahme des Konsums infolge
-verbesserter Löhne erstreckt sich nicht gleichmäßig auf alle
-Bedarfsartikel. Der Konsum kann sich im Durchschnitt verzehnfacht haben
-und trotzdem die Nachfrage nach einem einzelnen Gute ziemlich stationär
-bleiben, ja vielleicht sogar zurückgehen; dafür aber wird in diesem
-Falle ganz gewiß die Nachfrage nach gewissen anderen Gütern sich mehr
-als verzehnfachen, den Einbußen einzelner Arbeitgeber stehen sicherlich
-desto größere Gewinne anderer Arbeitgeber gegenüber und als allgemeine
-Regel kann überall gelten, daß der Reichtum der Besitzenden im geraden
-Verhältnisse mit dem Arbeitslohne wächst, den sie bezahlen müssen. Es
-ist dies ja anders auch gar nicht möglich, da dieser Reichtum der
-besitzenden Klassen der Hauptsache nach in gar nichts anderem besteht,
-als in den Produktionsmitteln, die zur Herstellung der Bedarfsgüter des
-ganzen Volkes dienen.
-
-Und sollte mein geehrter Landsmann vielleicht meinen, daß man sich mit
-der Frage der Lohnerhöhung in einem Zirkel bewege, indem einerseits die
-Ergiebigkeit der Arbeit, d. i. der Nutzwert der Arbeitskraft allerdings
-nicht verbessert werden könne, so lange der Volksgebrauch, d. i. der
-Selbstkostenbetrag der Arbeitskraft, sich nicht steigere, anderseits
-aber auch letztere Steigerung undurchführbar sei, so lange erstere nicht
-zur Thatsache geworden; so sage ich ihm, daß dies eben der
-verhängnisvolle Aberglaube ist, den die besitzenden Klassen und die
-Machthaber so manchen Landes nun so grausam zu büßen haben. Da der
-Arbeits_lohn_ in der ausbeuterischen Welt immer nur einen Teil und dazu
-in der Regel noch einen sehr geringen des Arbeits_ertrages_
-beanspruchte, so waren -- von höchst vereinzelten Ausnahmen abgesehen --
-die Arbeitgeber sehr wohl in der Lage, Lohnerhöhungen zu gewähren, noch
-bevor die, allerdings erst als Folge _allgemeiner_ Lohnerhöhung zu
-gewärtigende Steigerung der Erträge faktisch eingetreten war; ich sage
-ihm, daß speciell in China durchschnittlich selbst der dreifache und
-vierfache Lohn noch immer nicht den ganzen -- wohlverstanden nicht
-einmal den alten, von der Erhöhung der Erträge noch unbeeinflußten --
-Gewinn verschlungen hätte. Die Arbeitgeber _konnten_ also mehr zahlen,
-sie _wollten_ bloß nicht. Letzteres war vom Standpunkte des Einzelnen
-betrachtet auch ganz begreiflich; Jeder sorgt bloß für den eigenen
-Vorteil, und dieser verlangt, daß man vom erzielten Nutzen so viel als
-möglich für sich behalte, so wenig als möglich anderen abtrete. In
-diesem Punkte waren die amerikanischen Spekulanten, die französischen
-Kapitalisten und die englischen Landlords nicht um ein Gran besser als
-unsere chinesischen Mandarinen. Anders aber handelten Jene und anders
-Diese als Gesamtheit. Trotzdem der Unsinn, daß man den Arbeitslohn nicht
-erhöhen _könne_, eigentlich im Westen erfunden und von allen Lehrkanzeln
-verkündet worden ist, hat der richtigere Volksinstinkt der westlichen
-Völker diese doch seit einigen Menschenaltern veranlaßt, in ihrer
-Politik so zu handeln, als ob sie das Gegenteil erkannt hätten. In der
-Theorie beharrten sie dabei, der Lohn könne nicht wachsen; in der Praxis
-aber begünstigten sie mehr und mehr die Lohnforderungen ihrer
-arbeitenden Massen, mit deren unleugbaren Erfolgen sich dann hinterher
-die Theorie abfand, so gut oder so schlecht es eben ging. Ihr, meine
-chinesischen Brüder dagegen, habt Euch in der Politik strikte an die
-Lehren dieser Theorie gehalten; Ihr habt Euere arbeitenden Massen
-zunächst durch die Erkenntnis, daß der Staat ihr Feind sei, in
-Verzweiflung gebracht und jede Ausschreitung der Verzweifelten dann
-sofort dazu benützt, »Ordnung« in Eurem Sinne zu machen. Euere Hand war
-stets gegen die Schwächeren erhoben -- wundert Euch nicht, daß diese
-einen fürwahr nur geringen Teil der ihnen zugefügten Leiden vergelten,
-nachdem sie die Stärkeren geworden.
-
-Das hindert natürlich nicht, daß wir in Freiland -- wie ja unsere Thaten
-beweisen -- auch das den ehemaligen Unterdrückern zugefügte Unrecht
-beklagen und so viel an uns liegt, gutzumachen bestrebt sind. Wir halten
-dafür, daß auch das Volk von Rußland, Ägypten und China, kurzum, daß
-alle Welt am besten thäte, das von der amerikanischen Union gegebene
-Beispiel nachzuahmen; wir glauben dies schon aus dem Grunde, weil diese
-weise Großmut sich nicht bloß für die Besitzenden, sondern auch für die
-Arbeitenden als vorteilhaft erweisen wird. Es liegt jedoch leider nicht
-in unserer Macht, dem russischen Muschik, dem ägyptischen Fellah oder
-dem chinesischen Kuli sofort Anschauungen beizubringen, wie sie den
-Arbeitern des vorgeschrittenen Westens natürlich sind. Die
-Weltgeschichte ist das Weltgericht; in ihr wird schließlich Jedem
-zugemessen, was er sich selber verdient hat.«
-
-Da kein fernerer Redner vorgemerkt war, schloß der Präsident die Debatte
-über diesen Punkt der Tagesordnung, und damit zugleich die Beratungen
-des Kongresses.
-
-
-
-
- Schlußwort.
-
-
-Die Geschichte von »Freiland« ist zu Ende. Ich könnte zwar, den Faden
-der Erzählung weiter spinnend, das Befreiungswerk der Menschheit, wie es
-meinem geistigen Auge sich darstellt, in seinen Einzelheiten ausmalen;
-aber wozu sollte dies dienen? Wer aus dem Bisherigen nicht die
-Überzeugung geschöpft hat, daß wir an der Schwelle eines neuen,
-glücklicheren Zeitalters stehen und daß es nur von unserer Einsicht und
-unserem Willen abhängt, dieselbe sofort zu überschreiten, den werden
-auch Dutzende folgender Bände nicht überführen.
-
-Denn nicht die wesenlose Schöpfung einer ausschweifenden Phantasie ist
-dieses Buch, sondern das Ergebnis ernsten, nüchternen Nachdenkens,
-gründlicher, wissenschaftlicher Forschung. Alles, was ich als
-thatsächlich geschehen erzähle, es _könnte_ geschehen, wenn sich
-Menschen fänden, die erfüllt gleich mir von der Unhaltbarkeit der
-bestehenden Zustände, sich zu dem Entschlusse aufrafften, zu handeln,
-statt zu klagen. Gedankenlosigkeit und Trägheit sind in Wahrheit annoch
-die einzigen Stützen der bestehenden wirtschaftlichen und socialen
-Ordnung. Was einst notwendig und deshalb unvermeidlich gewesen, es ist
-schädlich und überflüssig geworden; nichts zwingt uns fürderhin, das
-Elend einer überlebten Weltordnung zu ertragen, nichts hindert uns,
-jenes Glück und jenen Überfluß zu genießen, zu deren Bereitung uns die
-vorhandenen Kulturmittel befähigen würden, nichts, als unsere eigene
-Thorheit.
-
-»So sprachen und schrieben seit des Thomas Morus Zeiten schon zahllose
-Weltverbesserer, und stets hat sich als Utopie erwiesen, was sie der
-Menschheit als Universalmittel gegen alle Leiden empfahlen« -- wird man
-mir vielleicht entgegenhalten; und gestehen will ich, daß die Furcht,
-mit der Legion von Verfassern utopischer Staatsromane vermengt zu
-werden, mir anfangs nicht geringe Bedenken gegen die von mir gewählte
-Form des Buches einflößte. Aber bei reiflichem Erwägen entschied ich
-mich doch dafür, statt trockener Abstraktionen ein möglichst
-lebensvolles Bild zu bieten, das in anschaulichen Vorstellungen deutlich
-mache, was bloße Begriffe doch nur in schattenhaften Umrissen darstellen
-können. Der Leser, der den Unterschied zwischen jenen Werken der
-Phantasie und dem vorliegenden nicht selber herausfindet, ist für mich
-ohnehin verloren; ihm bliebe ich der »unpraktische Schwärmer«, auch wenn
-ich mich noch so trockener Systematik befleißigte, denn ihm genügt, daß
-ich an eine Änderung des Bestehenden glaube, um mich dafür zu halten. In
-welcher Gestalt ich meine Beweise vorbringe, ist für diese Art Leser
-schon aus dem Grunde einerlei, weil sie -- gleich den Frommen in Sachen
-der Religion -- schlechterdings außer stande sind, Beweise zu prüfen,
-die ihre Spitze gegen das Bestehende kehren.
-
-Den unbefangenen Leser dagegen wird die erzählende Form nicht hindern,
-nüchternen Sinnes zu untersuchen, ob meine Ausführungen innerlich wahr
-oder falsch sind. Sollte auch er finden, daß ich -- und sei es nur in
-_einem_ wesentlichen Punkte -- von irrigen Voraussetzungen ausgegangen,
-daß die von mir dargestellte Ordnung der Freiheit und Gerechtigkeit
-irgendwie den natürlichen und allgemein anerkannten Triebfedern
-menschlicher Handlungsweise widerspreche, ja sollte er, nachdem er mein
-Buch gelesen, nicht zu der unumstößlichen Überzeugung gelangt sein, daß
-die Durchführung dieser neuen Ordnung -- von nebensächlichen Details
-natürlich abgesehen -- ganz und gar unvermeidlich sei -- dann allerdings
-müßte ich mich damit bescheiden, mit Morus, Fourier, Cabet und wie sie
-alle heißen mögen, die auf socialem Gebiete ihre Wünsche der nüchternen
-Wirklichkeit unterschoben, in _einen_ Topf geworfen zu werden.
-
-Ausdrücklich hervorheben will ich zum Schluß, daß sich die innere
-Wahrhaftigkeit meines Buches nicht bloß auf die der Handlung zugrunde
-gelegten wirtschaftlichen und ethischen Prinzipien und Motive, sondern
-auch auf den äußeren Schauplatz derselben erstreckt. Die Hochlande im
-äquatorialen Afrika entsprechen durchaus dem im Vorstehenden entworfenen
-Bilde. Wer dies bezweifelt, der kontrolliere meine Erzählung durch die
-Reiseberichte Speekes, Grants, Livingstones, Bakers, Stanleys, Emin
-Paschas, Thomsons, Johnstons, Fischers, kurz all Derer, welche jene
-paradiesischen Gegenden besucht haben. Um »Freiland«, so wie ich es
-darstelle, zur Thatsache werden zu lassen, bedarf es also in jeder
-Hinsicht bloß einer genügenden Anzahl thatkräftiger Menschen. Werden
-sich solche finden? Wird diesen Blättern die Kraft innewohnen, mir die
-Genossen und Helfer zuzuführen, die zur Durchführung des großen Werkes
-erforderlich sind?
-
-_Wien_ 1890.
-
- Theodor Hertzka.
-
-
- Druck von Hallberg & Büchting, Leipzig.
-
-
-
-
-Anmerkungen zur Transkription
-
-
-Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
-Korrekturen (vorher/nachher):
-
- [S. 32]:
- ... Tropen irgend gedeihenden Feldfrüchte, Gemüse und Obstgarten
- aus. ...
- ... Tropen irgend gedeihenden Feldfrüchte, Gemüse und Obstarten
- aus. ...
-
- [S. 38]:
- ... uns von dem Kapte-Massai, ihren unmittelbaren Nachbarn, in
- verstärkter ...
- ... uns von den Kapte-Massai, ihren unmittelbaren Nachbarn, in
- verstärkter ...
-
- [S. 51]:
- ... teils den Anhängen der seitlich und gegenüber gelagerten
- Berge entspringen. ...
- ... teils den Abhängen der seitlich und gegenüber gelagerten
- Berge entspringen. ...
-
- [S. 56]:
- ... unter Benutzung von Wasserkraft zu bearbeiten begann und
- teils ...
- ... unter Benutzung von Wasserkraft zu arbeiten begann und teils ...
-
- [S. 72]:
- ... Eltern und Geschwister erhalten und diese bewogen hatten,
- ihre Glashütten ...
- ... Eltern und Geschwister erhalten und diese bewogen hatten,
- ihre Grashütten ...
-
- [S. 86]:
- ... solche, oder durch ihre gewählten Funktionäre, die ihr jedoch
- verantwortlich ...
- ... solche, oder durch ihre gewählten Funktionäre aus, die ihr
- jedoch verantwortlich ...
-
- [S. 91]:
- ... Erträge sich alsbald wieder ins Gleichgewicht setzen. ...
- ... Erträge sich alsbald wieder ins Gleichgewicht setzten. ...
-
- [S. 92]:
- ... der Edenthal-Association dagegen erhielt bloß 2 Schilling pro ...
- ... der Edenthal-Association dagegen erhielten bloß 2 Schilling
- pro ...
-
- [S. 95]:
- ... Nicht möglich viel und gut zu erzeugen, sondern für einen
- möglichst ...
- ... Nicht möglichst viel und gut zu erzeugen, sondern für einen
- möglichst ...
-
- [S. 209]:
- ... dazu antreibt und es ist daher die Natur der Sache nach
- ausgeschlossen, ...
- ... dazu antreibt und es ist daher der Natur der Sache nach
- ausgeschlossen, ...
-
- [S. 211]:
- ... »Herrlich!« rief David. »Also weil die arbeitenden Massen ihr ...
- ... »Herrlich!« rief David. »Also weil die arbeitenden Massen
- ihren ...
-
- [S. 221]:
- ... Schädigung abziehender Konkurrenzkampf ist.« ...
- ... Schädigung abzielender Konkurrenzkampf ist.« ...
-
- [S. 223]:
- ... sind eben allesamt Eigentümer ihres gesamten Landes, und
- inniges Betragen ...
- ... sind eben allesamt Eigentümer ihres gesamten Landes, und
- inniges Behagen ...
-
- [S. 227]:
- ... hierzulande irgendwelche Standesunterschiede begründen
- könnte, sie ...
- ... hierzulande irgendwelche Standesunterschiede begründen
- könnten, sie ...
-
- [S. 231]:
- ... wollen, um dem Müssiggange fröhnen zu können. Werden
- hinsichtlich ...
- ... wollen, um dem Müssiggange fröhnen zu können? Werden
- hinsichtlich ...
-
- [S. 244]:
- ... seit Wochen resultatlos hin und wieder. Sichtlich nahmen die
- Kabinette ...
- ... seit Wochen resultatlos hin und wider. Sichtlich nahmen die
- Kabinette ...
-
- [S. 285]:
- ... nur zur Fristung des nackten tierischen Leben ausreichte, und
- der Knechtschaft ...
- ... nur zur Fristung des nackten tierischen Lebens ausreichte,
- und der Knechtschaft ...
-
- [S. 287]:
- ... amerikanischen oder sonstigen socialen Experimente, von den
- Kolonien ...
- ... amerikanischen oder sonstigen socialen Experimente, von den
- Kolonien der ...
-
- [S. 293]:
- ... Frei >Frei< waren die Arbeiter, nichts zwang sie, zu fremdem
- Vorteil ...
- ... >Frei< waren die Arbeiter, nichts zwang sie, zu fremdem
- Vorteil ...
-
- [S. 306]:
- ... Preigebung der höheren Produktivität und dem entsprechenden
- Fortbestand ...
- ... Preisgebung der höheren Produktivität und dem entsprechenden
- Fortbestand ...
-
- [S. 331]:
- ... die Nachfrage nach einem einzelnem Gute ziemlich stationär
- bleiben, ja ...
- ... die Nachfrage nach einem einzelnen Gute ziemlich stationär
- bleiben, ja ...
-
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Freiland, by Theodor Hertzka
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FREILAND ***
-
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-<title>The Project Gutenberg eBook of Freiland, by Theodor Hertzka</title>
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-
-</style>
-</head>
-
-<body>
-
-
-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Freiland, by Theodor Hertzka
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-
-
-Title: Freiland
- Ein sociales Zukunftsbild
-
-Author: Theodor Hertzka
-
-Release Date: August 8, 2017 [EBook #55301]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FREILAND ***
-
-
-
-
-Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This file was
-produced from images generously made available by The
-Internet Archive.
-
-
-
-
-
-
-</pre>
-
-
-<div class="frontmatter">
-<p class="halftitle">
-Freiland.
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="frontmatter">
-<h1 class="title">
-Freiland.
-</h1>
-
-<p class="aut">
-<span class="line1">Ein sociales Zukunftsbild</span><br />
-<span class="line2">von</span><br />
-<span class="line3">Theodor Hertzka.</span>
-</p>
-
-<p class="run">
-Vierte durchgesehene Auflage.
-</p>
-
-<p class="pub">
-<span class="line1">Dresden und Leipzig.</span><br />
-<span class="line2">E. Pierson&rsquo;s Verlag.</span>
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="frontmatter">
-<p class="cop">
-Alle Rechte vorbehalten.
-</p>
-
-</div>
-
-<h2 class="intro" id="part-1">
-Vorrede zur vierten Auflage.
-</h2>
-
-<p class="first">
-Auch die dritte Auflage ist vergriffen, kaum daß sie die Presse zu
-verlassen vermochte, und so übergebe ich denn meinen Lesern diese vierte.
-Möge sie vereint mit ihren Vorgängerinnen dahin wirken, daß der
-Gedanke, dem ich in den nachfolgenden Blättern Worte leihe, möglichst
-rasch zur That werde.
-</p>
-
-<p class="datesign">
-<em>Wien</em> im August 1890.
-</p>
-
-<p class="sign">
-Theodor Hertzka.
-</p>
-
-<h2 class="toc" id="part-2">
-Inhalt.
-</h2>
-
-<div class="table">
-<table class="toc" summary="TOC">
-<tbody>
- <tr class="c">
- <td class="col1">&nbsp;</td>
- <td class="col2">Erstes Buch.</td>
- <td class="col_page">&nbsp;</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">1.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-3">3</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">2.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-9">9</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">3.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-21">21</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">4.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-34">34</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">5.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-47">47</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">6.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-58">58</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">7.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-69">69</a></td>
- </tr>
- <tr class="c">
- <td class="col1">&nbsp;</td>
- <td class="col2">Zweites Buch.</td>
- <td class="col_page">&nbsp;</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">8.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-79">79</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">9.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-94">94</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">10.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-105">105</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">11.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-110">110</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">12.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-127">127</a></td>
- </tr>
- <tr class="c">
- <td class="col1">&nbsp;</td>
- <td class="col2">Drittes Buch.</td>
- <td class="col_page">&nbsp;</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">13.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-143">143</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">14.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-155">155</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">15.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-169">169</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">16.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-181">181</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">17.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-192">192</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">18.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-200">200</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">19.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-209">209</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">20.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-222">222</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">21.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-240">240</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">22.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-251">251</a></td>
- </tr>
- <tr class="c">
- <td class="col1">&nbsp;</td>
- <td class="col2">Viertes Buch.</td>
- <td class="col_page">&nbsp;</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">23.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-267">267</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">24.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-283">283</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">25.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-295">295</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">26.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-307">307</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">27.</td>
- <td class="col2">Kapitel</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-321">321</a></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">&nbsp;</td>
- <td class="col2">Schlußwort</td>
- <td class="col_page"><a href="#page-334">334</a></td>
- </tr>
-</tbody>
-</table>
-</div>
-
-<h2 class="part" id="part-3">
-<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a>
-Erstes Buch.
-</h2>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-3-1">
-<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a>
-1. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Um die Mitte des Monats Juli des Jahres 18.. war in den
-angesehensten Zeitungen Europas und Amerikas folgende Ankündigung
-zu lesen:
-</p>
-
-<p class="hdr">
-<span class="line1">&bdquo;Internationale freie Gesellschaft.</span>
-</p>
-
-<p class="first">
-Eine Anzahl von Männern aus allen Teilen der civilisierten Welt
-hat sich zu dem Zwecke vereinigt, einen praktischen Versuch zur Lösung
-des socialen Problems ins Werk zu setzen.
-</p>
-
-<p>
-Diese Lösung suchen und finden dieselben in der Schaffung eines
-Gemeinwesens auf Grundlage vollkommenster Freiheit und wirtschaftlicher
-Gerechtigkeit zugleich, d. i. eines solchen, welches, bei unbedingter
-Wahrung des individuellen Selbstbestimmungsrechtes, jedem Arbeitenden
-den ganzen und ungeschmälerten Genuß der Früchte seiner eigenen Arbeit
-gewährleistet.
-</p>
-
-<p>
-Zum Zwecke der Gründung eines solchen Gemeinwesens soll auf
-bisher herrenlosem aber fruchtbarem und zur Besiedelung wohlgeeignetem
-Gebiete ein größerer Landstrich besetzt werden.
-</p>
-
-<p>
-Auf diesem ihrem Gebiete wird die freie Gesellschaft keinerlei Eigentum
-an Grund und Boden anerkennen, ebensowenig dasjenige eines
-Einzelnen, als ein solches der Gesamtheit.
-</p>
-
-<p>
-Behufs Bearbeitung des Bodens, wie überhaupt zum Zwecke jeglicher
-Produktion, werden sich Associationen bilden, deren jede sich nach
-eigenem Gutdünken selber verwalten und den Ertrag ihrer Produktion
-unter ihre eigenen Mitglieder je nach deren Leistung verteilen wird.
-Jedermann hat das Recht, sich einer beliebigen Association anzuschließen
-und dieselbe nach freier Willkür zu verlassen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a>
-Die Arbeitskapitalien werden den Produzenten zinslos von Gesellschaftswegen
-zur Verfügung gestellt, müssen jedoch von denselben zurückerstattet
-werden.
-</p>
-
-<p>
-Arbeitsunfähige und Frauen haben das Recht auf auskömmlichen
-Unterhalt von Gesellschaftswegen.
-</p>
-
-<p>
-Die zu obigen Zwecken, sowie zu sonstigen gemeinnützigen Ausgaben
-erforderlichen Geldmittel werden durch eine auf das Reineinkommen
-jeglicher Produktion gelegte Abgabe beschafft.
-</p>
-
-<p>
-Die Internationale freie Gesellschaft verfügt derzeit schon über eine
-Mitgliederzahl und über Kapitalien, die zur Durchführung ihres Planes
-&mdash; wenn auch nur in bescheidenem Maßstabe &mdash; ausreichen. Da sie
-jedoch einerseits der Ansicht ist, daß der Erfolg ihres Versuches desto
-sicherer und durchgreifender ausfallen muß, mit je größeren Mitteln
-derselbe ins Werk gesetzt wird, andererseits etwaigen Gesinnungsgenossen
-Gelegenheit geboten werden soll, sich an dem Unternehmen zu beteiligen,
-so tritt sie hiermit vor die Öffentlichkeit und giebt bekannt, daß Anfragen
-oder Mitteilungen, welcher Art immer, an das Bureau der Gesellschaft:
-Haag, Boschstraße 57 zu richten sind. Auch wird die Internationale
-freie Gesellschaft am 20. Oktober l. J. im Haag eine öffentliche
-Versammlung abhalten, in welcher die letzten Beschlüsse vor praktischer
-Inangriffnahme des Werkes gefaßt werden sollen.
-</p>
-
-<p class="sign">
-Für den geschäftsführenden Ausschuß der<br />
-Internationalen freien Gesellschaft.<br />
-<em>Karl Strahl.</em>
-</p>
-
-<p class="datesign">
-Haag, im Juli 18..&ldquo;
-</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p class="noindent">
-Diese Ankündigung rief in der gesamten Presse eine nicht geringe
-Aufregung hervor. Der Name des für den geschäftsführenden Ausschuß
-Unterschriebenen beseitigte von vornherein den sonst so naheliegenden Gedanken
-an irgend eine Mystifikation oder Unlauterkeit, denn Dr. Karl
-Strahl war nicht bloß als Mann von geachteter socialer Stellung, sondern
-auch als einer der ersten volkswirtschaftlichen Schriftsteller Deutschlands
-rühmlichst bekannt. Man mußte also das seltsame Projekt ernst
-nehmen und die Zeitungen verschiedenster Parteirichtung bemächtigten
-sich alsbald desselben mit größtem Eifer. Lange vor dem 20. Oktober
-gab es diesseits wie jenseits des atlantischen Ozeans kein Journal, das
-nicht zu der Frage Stellung genommen hätte, ob die Verwirklichung
-der von der Freien Gesellschaft angekündigten Pläne in den Bereich des
-Möglichen oder des Utopischen gehöre; diese Gesellschaft selbst aber
-mengte sich nicht in den Kampf der Zeitungen. Es war offenbar zunächst
-nicht ihre Absicht, die Gegner durch theoretische Beweise zu gewinnen;
-<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a>
-sie wollte allfällige Gesinnungsgenossen an sich ziehen und
-dann handeln.
-</p>
-
-<p>
-Als der 20. Oktober herannahte, zeigte es sich, daß selbst der
-größte im Haag vorhandene öffentliche Saal nicht genügen würde, die
-Menge der erschienenen Mitglieder, Gäste und Neugierigen zu fassen;
-es erwies sich daher als notwendig, zum mindesten die letztere Kategorie
-des Auditoriums durch irgend ein Mittel einzuschränken, welches Mittel
-denn auch darin gefunden wurde, daß die von fernher zugereisten Gäste
-zwar unentgeltlich, die Ortsansässigen dagegen bloß gegen Erlegung
-von 20 holländischen Gulden Eintrittskarten erhielten. (Der Erlös
-dieser Karten wurde dem Haager Krankenhause zugewiesen.) Nichtsdestoweniger
-war der 2000 Personen fassende Versammlungssaal am
-Morgen des 20. Oktober bis in den letzten Winkel gefüllt.
-</p>
-
-<p>
-Unter atemloser Spannung aller Anwesenden nahm der Vorsitzende
-&mdash; Dr. Strahl &mdash; das Wort, um die Versammlung zu eröffnen und
-zu begrüßen. Die alle Erwartungen der Einberufer überflügelnde Zahl
-der neuen Mitglieder und die Höhe der gezeichneten Beiträge zeuge dafür,
-daß die Bedeutung des von der Internationalen freien Gesellschaft beabsichtigten
-Unternehmens heute schon, noch bevor die Thatsachen gesprochen,
-vollauf erkannt worden sei von Tausenden aus allen Teilen
-der bewohnten Erde ohne Unterschied des Geschlechtes und der Lebensstellung.
-&bdquo;Die Überzeugung, daß das Gemeinwesen, an dessen Gründung
-wir nunmehr schreiten,&ldquo; so fuhr Redner fort &mdash; &bdquo;bestimmt ist, Armut
-und Elend an der Wurzel zu fassen und mit diesen zugleich auch all
-jenen Jammer und die Reihe von Lastern zu vernichten, die als Folgeübel
-des Elends anzusehen sind, sie drückt sich nicht bloß in den
-Worten, sondern auch in der Handlungsweise des größten Teiles unserer
-Mitglieder aus, in der hohen, opferfrohen Begeisterung, mit der
-sie &mdash; ein Jedes nach seinen Kräften &mdash; zur Verwirklichung des gemeinsamen
-Zieles beigesteuert haben. Als wir unseren Aufruf erließen,
-waren wir unser 84, das Vermögen, über welches wir verfügten, betrug
-11400 Pfund Sterling; heute besteht die Gesellschaft aus 5650
-Mitgliedern, ihr Vermögen beträgt 205620 Pfd. Sterling.&ldquo; (Hier
-wurde der Vorsitzende von minutenlangem Applaus unterbrochen.) &bdquo;Es
-ist selbstverständlich, daß eine solche Summe nicht von jenen Elendesten
-der Elenden allein aufgebracht werden konnte, die man gemeinhin als
-bei der Lösung des socialen Problems ausschließlich interessiert anzusehen
-gewohnt ist. Noch deutlicher wird das, wenn man die Liste
-unserer Mitglieder im Einzelnen durchmustert. Unwiderstehlich drängt
-sich dabei die Erkenntnis auf, daß Ekel und Grauen vor den socialen
-Zuständen der Gesellschaft allgemach auch jene Kreise ergriffen hat, die
-scheinbar Vorteil ziehen aus den Entbehrungen ihrer enterbten Mitmenschen.
-Denn &mdash; und darauf möchte ich besonderen Nachdruck
-<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a>
-legen &mdash; diese Wohlhabenden und Reichen, die zum Teil mit vielen
-Tausenden von Pfunden an unserer Kasse erscheinen, sie sind bis auf
-geringe Ausnahmen nicht bloß als Helfer, sondern zugleich als Hilfesuchende
-beigetreten, sie wollen das neue Gemeinwesen nicht bloß für
-ihre darbenden Mitbrüder, sondern zugleich für sich selber gründen.
-Und daraus mehr als aus allem Anderen schöpfen wir die felsenfeste
-Überzeugung vom Gelingen unseres Werkes.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Neuerdings unterbrach langandauernder, jubelnder Applaus den
-Vorsitzenden; als die Ruhe wieder hergestellt war, schloß dieser folgendermaßen
-seinen kurzen Vortrag:
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;In Ausführung unseres Programms soll ein annoch herrenloser
-größerer Landstrich zum Zwecke der Gründung eines unabhängigen
-Gemeinwesens erworben werden. Es fragt sich nunmehr, welchen Teil
-der Erde wir zu solchem Vorhaben wählen wollen. Europäisches
-Gebiet kann aus naheliegenden Gründen nicht in Frage kommen; auch
-in Asien würden wir überall, zum mindesten dort, wo Ansiedler kaukasischer
-Rasse gedeihen könnten, leicht in Kollision mit alten Rechts-
-und Gesellschaftsformen geraten. In Amerika und Australien ist zwar
-zu erwarten, daß die dortigen Staaten uns bereitwillig Raum und
-Freiheit der Bewegung einräumen würden, aber auch dort könnte unser
-junges Gemeinwesen nur schwer jene ungestörte Ruhe und Sicherheit
-vor feindlichen Angriffen gewährleistet erhalten, die insbesondere für
-den Anfang eine der Voraussetzungen raschen und ungetrübten Erfolges
-ist. Bleibt also nur Afrika, der älteste und doch der jüngstentdeckte
-Weltteil. Dessen centrales Innere ist der Hauptsache nach herrenlos,
-dort finden wir nicht bloß schrankenlosen Raum und ungestörte Ruhe
-zur Entfaltung, sondern bei richtiger Wahl auch die denkbar günstigsten
-Verhältnisse des Klimas und der Bodenbeschaffenheit. Gewaltige Hochländer,
-welche die Vorzüge der Tropen und unserer Alpenwelt in sich
-vereinigen, harren dort noch der Besiedelung. Die Verbindung mit
-diesen, tief im Inneren des dunklen Weltteiles gelegenen Bergländern
-ist allerdings schwierig, aber gerade das ist&rsquo;s, was uns für den Anfang
-notthut. Wir schlagen Ihnen daher vor, die neue Heimat im
-äquatorialen Innerafrika zu suchen. Und zwar denken wir zunächst
-an das Hochgebirge des Kenia, das ist an das Land östlich vom
-Ukerewesee, zwischen dem 1. Grade südlicher bis zum 1. Grade nördlicher
-Breite und zwischen dem 34. bis 38. Grade östlicher Länge.
-Dort glauben wir die geeignetsten Gebiete für unsere Zwecke finden
-zu können. Ist die Versammlung mit dieser Wahl einverstanden?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Allgemeine Zustimmung folgte und stürmische Rufe: &bdquo;Vorwärts,
-lieber heute als morgen!&ldquo; wurden laut. Unverkennbar zeigte sich, daß
-die Mehrzahl gewillt war, sofort aufzubrechen. Neuerdings nahm jetzt
-der Vorsitzende das Wort:
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
-&bdquo;So rasch geht dies denn doch nicht, meine Freunde. Die neue
-Heimat muß erst gesucht und erworben werden; das aber ist ein schwieriges
-und gefahrvolles Unternehmen. Durch Wüsteneien und unwirtliche
-Wälder führt der Weg, Kämpfe mit feindseligen wilden Stämmen
-werden vielleicht nicht zu vermeiden sein, und zu all dem taugen nur
-kräftige Männer, nicht Frauen, Kinder und Greise. Auch die Verpflegung
-eines viele Tausende umfassenden Auswandererzuges durch
-jene Gebiete muß erst noch organisirt werden, kurzum: es ist durchaus
-notwendig, daß der Masse der Unseren eine Schar erlesener Pfadfinder
-vorausgehe. Erst wenn diese ihre Aufgabe gelöst haben, können
-die Anderen nachfolgen.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Damit nun alles Erforderliche mit möglichster Kraft, Umsicht und
-Raschheit ins Werk gesetzt werde, ist einheitliche, zielbewußte Leitung
-vonnöten. Bisher lagen die Geschäfte der Gesellschaft in den Händen
-eines Zehnerausschusses; da die Mitgliederzahl inzwischen so stark gestiegen
-ist und noch fernerhin steigen wird, so wäre eine Erneuerung
-oder zum Mindesten eine Ergänzung der Geschäftsleitung durch die
-neuhinzugetretenen Elemente im Wege freier Wahl höchst wünschenswert;
-trotzdem können wir Ihnen eine solche jetzt nicht empfehlen, und
-zwar aus dem Grunde, weil die neuen Mitglieder einander nicht
-kennen, und so rasch auch nicht genügend kennen lernen werden, um
-Wahlen vorderhand als etwas anders, denn als ein bloßes Spiel des
-Zufalls erscheinen zu lassen. Wir verlangen vielmehr von Ihnen eine
-Bestätigung unserer Vollmacht, verbunden mit der Befugnis, uns durch
-Cooptirungen aus Ihrer Mitte nach unserem Ermessen verstärken zu
-dürfen. Und zwar bitten wir um diese Vollmachten, die übrigens
-durch Beschluß Ihrer Vollversammlung jederzeit widerrufbar sein sollen,
-für die Dauer von zwei Jahren. Nach Ablauf dieser Frist werden
-wir, das ist unsere feste Zuversicht, die neue Heimat nicht blos gefunden,
-sondern in ihr auch genügend lange miteinander gelebt haben,
-um uns einigermaßen kennen zu lernen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen.
-</p>
-
-<p>
-Der Vorsitzende teilte hierauf noch mit, daß alle Kundmachungen
-des geschäftsführenden Ausschusses den Mitgliedern sowohl in den
-Zeitungen als durch besondere Zirkulare bekannt gegeben würden und
-schloß die Versammlung, welche in gehobenster Stimmung auseinanderging.
-</p>
-
-<p>
-Die erste That des von der Generalversammlung bestätigten Ausschusses
-der Internationalen freien Gesellschaft war, daß er für die
-Leitung des nach Centralafrika zu entsendenden Zuges der Pfadfinder
-zwei Persönlichkeiten ernannte und mit umfassenden Vollmachten ausstattete.
-Diese zwei Führer der Expedition sollten sich in ihre Aufgabe
-derart teilen, daß der eine die Expedition bis in das zur ersten Ansiedelung
-<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
-zu erwählende Gebiet leiten, der andere die Organisation der
-eigentlichen Ansiedelungsarbeiten zu unternehmen habe. Der eine sollte
-gleichsam der Heerführer, der andere der Staatsmann des Expeditionskorps
-sein. Zu ersterem Amte wählte der Ausschuß den bekannten
-Afrikareisenden Thomas Johnston, der insbesondere das Gebiet zwischen
-dem Kilima Ndscharo und Kenia, das sogenannte Massaï-Land wiederholt
-durchquert hatte. Johnston war ein jüngeres Mitglied der Gesellschaft
-und wurde vom Ausschusse erst aus Anlaß seiner Ernennung
-zum Führer des Pfadfinderzuges kooptirt. Zur Leitung der Expedition
-nach deren Ankunft an ihrem Ziele designirte der Ausschuß einen jungen
-Ingenieur, Namens Henri Ney, der als innigster Freund des Gründers
-und geistigen Führers der Gesellschaft &mdash; Dr. Strahl &mdash; der Geeignetste
-war, diesen während der ersten Epoche der Gründung zu
-vertreten.
-</p>
-
-<p>
-Dr. Strahl hatte allerdings ursprünglich die Absicht, sich den
-Pfadfindern selber anzuschließen und gleich die ersten Organisationsarbeiten
-in der neuen Heimat persönlich zu leiten; die anderen Mitglieder des
-Ausschusses erhoben jedoch dagegen Einsprache. Sie konnten nicht
-zugeben, daß der Mann, von dessen fernerem Wirken das Gedeihen der
-Gesellschaft in so hohem Maße abhing, sich Gefahren aussetze, die für
-ihn um so bedrohlicher waren, als seine Gesundheit nicht eben die
-festeste schien. Auch mußte er bei reiflichem Erwägen selber zugeben,
-daß für die nächsten Monate seine Anwesenheit in Europa weit nützlicher
-und notwendiger sei, als in Centralafrika. Kurzum: Dr. Strahl
-willigte ein, zu bleiben, den Pfadfindern erst mit dem großen Auswandererzuge
-nachzufolgen und Henri Ney trat an seine Stelle.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-3-2">
-<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
-2. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Wir überlassen nunmehr dem vom Ausschusse der Internationalen
-freien Gesellschaft zum eigentlichen Leiter der afrikanischen Expedition
-erwählten Freunde des Dr. Strahl das Wort, indem wir sowohl die
-Vorbereitungen des Zuges, als auch dessen glückliche Durchführung und
-die ersten Kulturarbeiten in den Hochländern des Kenia nach Auszügen
-aus dessen Tagebuch mitteilen.
-</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p class="noindent">
-Meine Ernennung zum provisorischen Stellvertreter unseres verehrten
-Führers hatte mich anfangs mit Schrecken erfüllt. Der Gedanke,
-daß von meinen Fähigkeiten zu nicht geringem Teile die glückliche
-Einleitung eines Werkes abhängen solle, welches wir alle als das
-bedeutsamste und folgenreichste im bisherigen Verlaufe der menschlichen
-Entwickelungsgeschichte zu betrachten uns gewöhnt hatten, erfüllte mich
-mit einer Art Schwindel. Doch dieser Zustand der Mutlosigkeit währte
-nicht lange; ich hatte kein Recht, mich einer Verantwortlichkeit zu entziehen,
-zu deren Übernahme die Genossen mich als den Passendsten
-erachteten, und als vollends mein väterlicher Freund Strahl mich fragte,
-ob ich ein Mißlingen für möglich hielte, wenn die meiner Leitung
-Unterstellten von gleicher Begeisterung erfüllt wären wie ich, und ob
-ich mich berechtigt glaube, daran zu zweifeln, daß diese Voraussetzung
-zutreffen würde, da trat hoher Mut und felsenfestes Vertrauen auf
-das Gelingen des Werkes an die Stelle der anfänglichen Verzagtheit,
-eine Stimmung, die mich fürderhin keinen Augenblick verlassen hat.
-</p>
-
-<p>
-Die ersten Vorbereitungen zur Organisierung des Zuges der Pfadfinder
-wurden übrigens gemeinschaftlich vom gesamten Ausschusse der
-<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
-Internationalen freien Gesellschaft beraten und beschlossen. Zunächst
-galt es festzustellen, aus wieviel Mitgliedern die Expedition bestehen
-solle. Dieselbe durfte nicht zu schwach sein, da gerade jener Volksstamm,
-inmitten dessen wir uns niederzulassen beabsichtigten &mdash; die
-zwischen dem Kilima und Kenia nomadisierenden Massai &mdash;, der kriegerischeste
-von allen des äquatorialen Afrika ist und ihm nur durch kräftiges,
-machtvolles Auftreten imponiert werden kann. Aber auch allzu
-zahlreich durfte die Expedition nicht sein, wollte sie sich nicht der Gefahr
-aussetzen, durch Schwierigkeiten der Verproviantierung aufgehalten
-zu werden. Schließlich einigte man sich darüber, daß zweihundert &bdquo;Pfadfinder&ldquo;
-mitgenommen werden sollten. Natürlich mußten diese aus den
-kräftigsten, zur Überwindung von Anstrengungen, Entbehrungen und Gefahren
-am besten geeigneten Mitgliedern der Gesellschaft erwählt werden.
-Auch jenes Ausmaß von Intelligenz wurde bei jedem Teilnehmer
-der Expedition für notwendig erachtet, welches dazu gehört, um den
-vollen Umfang der Verantwortlichkeit und Bedeutung der übernommenen
-Mission zu erfassen.
-</p>
-
-<p>
-In Verfolgung dieses Zweckes wendete sich der Ausschuß an die
-Zweigvereine, die er inzwischen allerorten gebildet hatte, wo Mitglieder
-der Gesellschaft wohnten, mit der Bitte, ihm eine Liste jener sich zur
-Expedition Meldenden einzusenden, für deren Gesundheit, kräftige Konstitution
-und Intelligenz der betreffende Zweigverein glaube einstehen
-zu können. Zugleich sollte angegeben werden, welche Kenntnisse, Erfahrungen
-und Fertigkeiten die Vorgeschlagenen besäßen. Daraufhin
-liefen binnen wenigen Wochen die Anerbietungen von 870 wärmstens
-empfohlenen Mitgliedern ein. Von diesen wurden zunächst hundert ausgewählt,
-deren Qualifikation dem Ausschusse unter allen Umständen in
-erster Linie berücksichtigenswert erschien. Dieses erlesene Hundert enthielt
-4 Naturforscher (darunter 2 Geologen), 3 Ärzte, 8 Ingenieure,
-4 Vertreter anderer technischer Wissenszweige und 6 theoretisch geschulte
-Land- und Forstwirte; ferner 30 solche Gewerbsleute, die man der
-Expedition für alle Fälle sichern wollte und schließlich 45 als besonders
-treffliche Schützen oder als ausnehmend kräftig gerühmte Männer.
-Sonach blieben noch 100 Mitglieder, deren Auslese den Zweigvereinen
-in der Weise überlassen wurde, daß jedem derselben für angemeldete
-7 bis 8 Pfadfinder die Wahl je eines solchen zufiel. Die solcherart
-Auserlesenen wurden aufgefordert, thunlichst rasch in Alexandrien, dem
-vorläufigen Versammlungsorte der Expedition, einzutreffen; das erforderliche
-Reisegeld wurde ihnen sofort angewiesen (im übrigen, wie nebenbei
-bemerkt werden mag, von ungefähr der Hälfte, welche die Reisekosten
-aus Eigenem bestritt, dankend abgelehnt).
-</p>
-
-<p>
-Darüber verging der Monat November. Der Ausschuß aber hatte
-inzwischen nicht gefeiert. Die Ausrüstung der Expedition wurde nach
-<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
-allen Seiten gründlich erörtert, festgestellt und für die Beschaffung aller
-Erfordernisse vorgesorgt. Für jedes der 200 Mitglieder wurden sechs
-komplete Unterkleider aus leichtem elastischem Wollenstoff, sogenannte
-Jägerwäsche, ein leichter und ein schwerer Wollenanzug, ferner zwei
-Paar wasserdichte und zwei Paar leichtere Stiefel, je zwei Korkhelme
-und je ein wasserdichter Regenanzug bestellt. An Waffen erhielt jedes
-Mitglied ein Repetiergewehr bester Konstruktion für zwölf Schüsse,
-einen Taschenrevolver und ein amerikanisches Bowiemesser. Außerdem
-wurden 100 Jagdgewehre verschiedensten Kalibers, von den vierlötige
-Sprengkugeln schießenden Elefantenflinten bis zur leichtesten Schrotbüchse
-angeschafft, selbstverständlich ausreichende Munition nicht vergessen.
-</p>
-
-<p>
-Die hierauf zu erörternde wichtigste Frage war, ob die Expedition
-beritten gemacht werden solle oder nicht, und ob die Beförderung der
-mitzunehmenden Lasten von der Zanzibarküste ab durch Träger, sogenannte
-Pagazis, oder durch Lasttiere zu erfolgen habe. Johnston
-hatte anfangs die Absicht gehabt, bloß 80 Pferde und Esel, teils zum
-Tragen der schwereren Laststücke, teils zur Beförderung etwaiger Kranker
-oder Maroder anzukaufen und als Träger des von ihm auf 400 Zentner
-veranschlagten Gesamtgepäcks 800 Pagazis in Zanzibar und Mombas
-anzuwerben. Diesen Plan ließ er jedoch sofort fallen, als ich seiner
-Gepäckliste, die der Hauptsache nach bloß die zum Unterhalte der Expedition
-für sechs Monate berechnenden Bedarfs- und Tauschartikel umfaßte,
-meine Anforderungen hinzufügte. Ich verlangte vor allem die
-Mitnahme von Werkzeugen, Maschinenbestandteilen und sonstigen Gegenständen,
-die uns &mdash; am Ziele angelangt &mdash; in den Stand setzen sollten,
-möglichst rasch rationellen Feldbau und die Selbsterzeugung der notwendigsten
-Bedarfsartikel für viele Tausend uns nachfolgender Ansiedler
-in Angriff zu nehmen. Zu diesem Behufe brauchten wir eine Reihe
-landwirtschaftlicher Geräte oder doch jene Bestandteile derselben, die sich
-ohne komplizierte, zeitraubende Vorrichtungen nicht herstellen lassen,
-ähnliche Bestandteile für eine Feldschmiede und Schlosserei, sowie für
-eine Mahl- und Sägemühle; ferner Sämereien und Setzlinge in nicht
-geringer Menge, desgleichen einige Materialien, auf deren rasche Beschaffung
-im inneren Afrika nicht zu rechnen wäre. Schließlich machte
-ich darauf aufmerksam, daß zum Zwecke der vollkommenen Sicherung
-des Weges für die uns nachfolgenden Karawanen die Abschließung fester
-Freundschaftsbündnisse, insbesondere mit den kriegerischen Massai sich
-empfehlen würde, wozu wieder weit zahlreichere und wertvollere Geschenke
-erforderlich seien, als er sie präliminiert habe.
-</p>
-
-<p>
-Johnston hatte gegen all dies nichts einzuwenden, meinte aber,
-daß damit die zu befördernde Last sich mindestens verdoppeln, wahrscheinlich
-verdreifachen würde und daß die sohin erforderlichen 1600
-<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
-bis 2400 Pagazis den Zug allzu schwerfällig gestalten würden. Da
-schlug Dr. Strahl vor, von der Beförderung durch Pagazis gänzlich
-abzugehen und ausschließlich Lasttiere zu verwenden. Er wisse wohl,
-daß in den Niederungen des äquatorialen Afrika die Tsetsefliege und
-das schlechte Wasser insbesondere den Pferden tötlich werde; auf unserer
-Route sei aber solches nicht zu befürchten, da dieselbe sehr bald das
-den Tieren ganz zuträgliche Hochland erreiche. Ebenso lasse sich die in
-der Beschaffenheit der innerafrikanischen Wege gelegene Schwierigkeit
-wohl überwinden. Dieselben besitzen &mdash; wie er unter anderem auch
-aus Johnstons Reiseberichten wisse &mdash; überall, wo sie Dickicht oder Gestrüpp
-durchziehen, eine Breite von knapp zwei Fuß, zu wenig für Packtiere,
-die deshalb an solchen Stellen oft abgeladen werden müßten, wobei
-menschliche Träger zeitweilig die Lastenbeförderung zu übernehmen
-haben. Letzteres wäre nun allerdings bei einer ausschließlich aus Tragtieren
-bestehenden Karawane mit verhältnismäßig nur wenigen Treibern
-und Begleitern entweder ganz unmöglich oder doch mit unberechenbarem
-Zeitverluste verbunden. Er glaube aber, daß es gelingen müsse, mittels
-einer entsprechenden Anzahl gut ausgerüsteter Eclaireure den Weg überall
-auch für Tragtiere frei zu machen. Johnston stimmte dem zu; wenn
-man ihm etwa 100 mit Äxten und Faschinenmessern versehene Eingeborene,
-die er sich unter der Küstenbevölkerung aussuchen würde, zur
-Disposition stelle, so mache er sich anheischig, auch eine Karawane
-von Tragtieren ohne nennenswerten Aufenthalt bis an den Kenia zu
-führen.
-</p>
-
-<p>
-Nachdem diese Frage erledigt war, regte Dr. Strahl des ferneren
-die Idee an, auch die sämtlichen 200 Mitglieder der Expedition beritten
-zu machen. Er habe dabei einen doppelten Zweck im Auge. Erstlich
-&mdash; und das habe teilweise auch zu seinem obigen Vorschlage den
-Anstoß gegeben, müsse für die Einführung und dauernde Akklimatisierung
-von Trag- und Zugtieren in der künftigen Heimat gesorgt werden, wo
-es zwar derzeit Rinder, Schafe und Ziegen, nicht aber Pferde, Esel
-oder Kamele gebe, und zwar sei es am besten, diese nützlichen Tiere
-in thunlichst großer Zahl schon von Anbeginn mitzunehmen; sodann
-glaube er, daß wir beritten uns viel rascher bewegen könnten. Er
-fügte hinzu, daß er sowohl bei den Last- als bei den Reittieren auf
-die Anschaffung erlesener, zur Fortzucht geeigneter Exemplare Gewicht
-legen würde, insbesondere bei den Pferden, da doch von der Beschaffenheit
-dieses ersten Materials auch die der späterhin zu erzielenden Nachzucht
-abhänge. Auch dem wurde zugestimmt; nur gab Johnston zu
-bedenken, daß sich durch all dies die Kosten der Expedition ganz außerordentlich
-verteuern würden. So wie er sie ursprünglich geplant habe,
-wären mit höchstens 12000 Pfd. Sterl. die Kosten zu decken gewesen, jetzt
-müsse mit ungefähr der vierfachen Summe gerechnet werden. Letzterer Umstand
-<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
-wurde nicht bestritten und die Rechnung erwies sich auch nachträglich
-insofern richtig, als die Expedition in Wahrheit 52500 £ verschlang;
-aber übereinstimmend wurde hervorgehoben, daß es eine nützlichere
-Verwendung der doch so reichlich zu Gebote stehenden und
-fortwährend in raschem Wachsen begriffenen Geldmittel gar nicht geben
-könne, als den Aufwand für alles, was geeignet sei, den Erfolg der
-Expedition zu beschleunigen und das neu zu gründende Gemeinwesen
-auf möglichst gedeihlicher Grundlage einzurichten.
-</p>
-
-<p>
-Hierauf wurde zu einer detaillierten Beratung und Feststellung des
-gesamten anzuschaffenden Materials geschritten. Als alles verzeichnet
-und seinem Gewichte nach abgeschätzt war, zeigte sich, daß wir ungefähr
-1200 Zentner würden zu befördern haben und zwar:
-</p>
-
-<div class="table">
-<table class="table013" summary="Table-1">
-<tbody>
- <tr>
- <td class="col1">150</td>
- <td class="col2">Ztr.</td>
- <td class="col3">verschiedene Lebensmittel und Getränke;</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">120</td>
- <td class="col2">"</td>
- <td class="col3">Reisegeräte (darunter 50 wasserdichte Zelte für je 4 Mann);</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">160</td>
- <td class="col2">"</td>
- <td class="col3">verschiedene Sämereien und Materialien;</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">220</td>
- <td class="col2">"</td>
- <td class="col3">Werkzeuge, Maschinenbestandteile und Instrumente;</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">400</td>
- <td class="col2">"</td>
- <td class="col3">Tauschwaren und Geschenke;</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">120</td>
- <td class="col2">"</td>
- <td class="col3">Munition und Sprengstoffe.</td>
- </tr>
-</tbody>
-</table>
-</div>
-
-<p>
-Außerdem wurden auf Johnstons besonderen Wunsch bei Krupp
-in Essen 4 leichte stählerne Gebirgskanonen für Sprenggeschosse bestellt.
-Seine Absicht bei dieser Anschaffung war keineswegs, diese Mordwaffen
-ernstlich gegen etwaige Feinde zu gebrauchen; aber er rechnete darauf,
-durch den Schrecken, den dieselben erforderlichenfalls erregen mußten,
-den Frieden desto sicherer erhalten zu können. Dazu kamen im letzten
-Momente 300 Werndlgewehre samt entsprechenden Patronen, sehr gute
-Hinterlader, die wir billig von der österreichischen Regierung erstanden
-und teils als Reserve, teils zur Ausrüstung eines Teiles der in Zanzibar
-anzuwerbenden Neger gebrauchen konnten.
-</p>
-
-<p>
-Diese ansehnliche Last sollte auf 100 Saumpferde, 200 Esel und
-Maultiere und 80 Kamele verladen werden. Da wir außerdem
-200 Pferde brauchten, um uns beritten zu machen und auch eine kleine
-Reserve zum Ersatze unterwegs eingehender Tiere wünschenswert war,
-so wurde beschlossen, in allem 320 Pferde, 210 Esel und 85 Kamele
-zu kaufen, die Pferde teils in Ägypten, teils in Arabien, die Kamele in
-Ägypten, die Esel in Zanzibar.
-</p>
-
-<p>
-Alle erforderlichen Anschaffungen wurden sofort gemacht. Unsere
-Bevollmächtigten wählten und bestellten alles an erster Quelle; nach
-Jemen in Arabien und nach Zanzibar wurde je ein Einkäufer für
-Pferde und Esel gesendet, und nachdem dies besorgt oder angeordnet
-war, machten Johnston und ich &mdash; die wir inzwischen innige Freundschaft
-geschlossen hatten &mdash; uns auf den Weg nach Alexandrien.
-</p>
-
-<p>
-Bevor ich jedoch zur Schilderung unserer dortigen Thätigkeit übergehe,
-<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
-muß ich einen Zwischenfall erwähnen, den wir im Ausschusse mit
-einer jungen Amerikanerin hatten, die durchaus in die Expedition aufgenommen
-werden wollte. Die Dame war reich, schön und exzentrisch,
-eine schwärmerische Anhängerin unserer Ideen und sichtlich nicht gewöhnt,
-an die Möglichkeit irgend eines ernstlichen Widerstandes ihren
-Wünschen gegenüber zu glauben. Sie hatte der Gesellschaft eine sehr
-bedeutende Summe gewidmet und sich jetzt in den Kopf gesetzt, mit unter
-den Ersten zu sein, welche die neue afrikanische Heimat betreten würden.
-Ich muß gestehen, daß mich das herrliche Mädchen dauerte, das sichtlich
-von verzehrendem Thatendrange erfüllt war und die seinem Geschlechte
-gegenüber an den Tag gelegte ängstliche Schonung als beschämende
-Zurücksetzung empfand. Allein es ließ sich nichts thun; wir
-hatten mehreren Frauen, die in Begleitung ihrer als Pfadfinder acceptierten
-Ehemänner die Expedition mitmachen wollten, dies abgeschlagen
-und konnten jetzt keine Ausnahme machen. Die junge Miß wandte
-sich hierauf, da ihr Drängen bei uns Männern vom Ausschusse nichts
-half, an unsere weiblichen Angehörigen, die sie rasch ausgekundschaftet
-hatte; allein auch dort erntete sie geringen Erfolg. Sie wurde zwar
-von den Damen herzlich und liebenswürdig aufgenommen, denn sie war
-in der That reizend in ihrer Schwärmerei; aber das war in den Augen
-der Frauen nur ein Grund mehr, den Männern darin Recht zu geben,
-daß so zarte Geschöpfe nicht in die Gefahren und Entbehrungen einer
-Forschungsreise gehören. Man hätschelte und schmeichelte ihr wie
-einem verzogenen Kinde, welches Unmögliches fordere, und das
-brachte Fräulein Ellen Fox &mdash; so hieß die Amerikanerin &mdash; vollends
-außer sich.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich schien sie beruhigt und zwar auffallenderweise kurze Zeit
-nachdem sie die Bekanntschaft einer anderen Dame gemacht, die gleichfalls,
-wenn auch aus anderen Gründen, unsere Expedition mitmachen
-wollte. Diese andere Dame war meine Schwester Klara. Wollte jene
-aus Begeisterung für unsere Ideen mit nach Afrika, so war diese aus
-Abscheu und Angst vor diesen selben Ideen zu dem gleichen Entschlusse
-gelangt. Meine Schwester &mdash; um zwölf Jahre älter als ich und ledig
-geblieben, weil sie keinen Mann zu finden vermocht, der ihren Vorstellungen
-von Distinktion und vornehmem Wesen genügend entsprochen
-hätte &mdash; war eine der besten, im innersten Herzen edelsten, aber von
-den mannigfaltigsten Vorurteilen fest eingesponnenen Frauen, auf die
-ich während der 26 Jahre meines bisherigen Lebens gestoßen. Sie
-war nicht kaltherzig, ihre Hand jedem Hilfsbedürftigen gegenüber stets
-offen, aber vor allem, was nicht den sogenannten höheren, gebildeten
-Ständen angehörte, hatte sie eine unüberwindliche Mißachtung.
-Als sie durch mich zum ersten Male von der socialen Frage Näheres
-erfuhr, flößte es ihr Grauen ein, daß vernünftige Menschen
-<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
-ernstlich glauben könnten, sie und ihre Küchenmagd seien von Natur
-aus mit gleichem Rechte ausgestattet, und da ich wußte, daß hier alle
-Bekehrungsversuche eitel wären, teilte ich der Guten Jahre hindurch
-nichts mit von meinen Verbindungen mit Dr. Strahl, nichts von der
-Gründung der freien Gesellschaft und von der Rolle, die ich in dieser
-spielte. Ich wollte ihr den Kummer über meine &bdquo;Verirrung&ldquo; möglichst
-lange ersparen, denn ich liebe diese Schwester zärtlich, deren Abgott hinwieder
-ich bin. Seit langen, langen Jahren war meine Betreuung,
-die ängstliche Sorge um mich, ihr einziger Lebenszweck. Ich wohnte
-bei ihr und sie behandelte mich stets als kleinen Jungen, dessen Erziehung
-ihre Sache sei. Daß ich ihrer Hut entrückt länger als höchstens
-zwei bis drei Tage existieren könne, ohne das Opfer meiner kindlichen
-Unerfahrenheit und der Bosheit schlechter Menschen zu werden, erschien
-ihr stets als ein Ding der baren Unmöglichkeit. Nun denke man sich
-das namenlose Entsetzen dieser meiner Vormünderin, als ich ihr endlich
-doch die Eröffnung machen mußte, daß ich nicht nur einer socialistischen
-Gesellschaft beigetreten, nicht nur mein ganzes, bescheidenes Vermögen
-deren Zwecken geweiht, sondern überdies dazu ausersehen sei, 200 Socialisten
-in das Innere von Afrika zu führen. Es dauerte mehrere Tage, bis
-sie das Ungeheure begreifen, glauben lernte; dann kamen Bitten, Thränen,
-verzweifelte Vorwürfe und Vorstellungen. Ich möge den &bdquo;Strolchen&ldquo;
-mein Geld, auf welches sie es doch allein abgesehen hätten, ruhig überlassen
-und nur ums Himmels willen redlich im Lande bleiben; sie konsultierte
-unseren Hausarzt über meine Zurechnungsfähigkeit, kam aber
-dabei übel weg, denn dieser war auch einer der Unsrigen, ja sogar
-Mitglied der Expedition. Schließlich, da alles nichts fruchtete, eröffnete
-sie mir, daß sie, wenn ich partout in mein Verderben rennen
-wolle, mich begleiten werde. Als ich ihr erklärte, dies gehe nicht an,
-da Frauen nicht mitgenommen würden, führte sie ihr schwerstes Geschütz
-ins Treffen, sie erinnerte mich an unsere verstorbene Mutter, die
-ihr noch auf dem Totenbette aufgetragen habe, mich nicht zu verlassen,
-eine letztwillige Anordnung, der ich mich fügen müsse; und als ich
-auch dem gegenüber hartnäckig blieb, zum ersten Mal in meinem
-Leben die Bemerkung wagend, die gute Mutter habe mich damit offenbar
-bloß während der Zeit meiner Kindheit ihrer Obhut empfehlen
-wollen, verfiel sie in hoffnungslose Verzweiflung, aus der nichts sie
-herauszureißen vermochte. Vergebens nannte ich sie mein liebes
-kleines Mütterchen, vergebens versicherte ich ihr, daß unter unseren
-200 Pfadfindern immerhin einige ganz erträgliche Kerle seien, die wohl
-ein menschliches Rühren mit mir haben würden, vergebens versprach
-ich ihr, daß sie in Halbjahrsfrist etwa mir nachfolgen könne &mdash; es
-half alles nichts, sie gab mich verloren, und ich begann nachgerade,
-als der Tag meiner Abreise herannahte, ernstlich in Sorge zu geraten,
-<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
-was diesem ebenso rührenden als närrischen Schmerze gegenüber wohl
-zu beginnen sei.
-</p>
-
-<p>
-Da besuchte Miß Ellen meine Schwester; ich mußte, von Geschäften
-gerufen, die Beiden allein lassen, und als ich zurückkam, fand ich Klara
-wunderbar getröstet. Sie jammerte und stöhnte nicht mehr, ja sie
-konnte sogar, ohne in Thränen auszubrechen, von dem Schrecklichen
-sprechen. Offenbar hatte Miß Ellens Exaltation wohlthuend auf ihre
-kindische Angst gewirkt und ich segnete um deswillen die schöne Amerikanerin,
-umsomehr, da auch sie uns von da ab durch ihr Drängen
-nicht mehr quälte. Sie war plötzlich abgereist und ich beglückwünschte
-mich höchlichst, einer doppelten Verlegenheit so rasch ledig geworden
-zu sein.
-</p>
-
-<p>
-Am 3. trafen Johnston und ich in Alexandrien ein, von der
-Mehrzahl unserer Expeditionsgenossen bereits erwartet. Es fehlten
-nur noch 23, die teils aus zu entfernten Weltgegenden herbeieilten,
-um schon eingetroffen sein zu können, teils durch irgendwelche
-unvorhergesehene Zwischenfälle noch zurückgehalten waren. Johnston
-schritt ohne Zögern an die Equipierung, Einübung und Organisierung
-der Schar. Zu diesem Behufe wurde die Stadt verlassen und zehn
-Kilometer entfernt vom Weichbilde derselben, an den Ufern des Mariut-Sees,
-ein Zeltlager bezogen. Die Verpflegung besorgte unter meiner
-Leitung ein aus 6 Mitgliedern gebildeter Wirtschaftsausschuß; jeder
-Mann erhielt vollständige Beköstigung und außerdem &mdash; sofern er nicht
-ausdrücklich darauf verzichtete &mdash; 2 £ in Bargeld monatlichen Zuschuß.
-Dieselbe Summe wurde auch später während der Dauer des eigentlichen
-Zuges bezahlt, nur selbstverständlich nicht in der Form von Gold-
-oder Silbermünze, die im äquatorialen Afrika nutzlos ist, sondern in
-der von mitgenommenen Bedarfsgegenständen oder Tauschwaren zum
-Kostenpreise. Nachdem die Ausrüstungsgegenstände &mdash; Kleider und
-Waffen &mdash; ausgepackt waren, begannen die Übungen. Täglich wurde
-acht Stunden lang manövriert, marschiert, geschwommen, geritten, gefochten
-und nach der Scheibe geschossen. Später veranstaltete Johnston
-größere auf mehrere Tage ausgedehnte Märsche bis nach Gizeh und
-an den Pyramiden vorbei nach Kairo. Inzwischen lernten wir uns
-genauer kennen, Johnston ernannte seine Unterbefehlshaber, denen gleich
-ihm militärischer Gehorsam geleistet werden mußte, eine Notwendigkeit,
-die von allen ohne Ausnahme freudig anerkannt wurde. Das mag
-vielleicht manchem sonderbar erscheinen angesichts der Thatsache, daß
-wir doch auszogen, ein Gemeinwesen zu gründen, in welchem unbedingte
-Gleichberechtigung und schrankenloses individuelles Selbstbestimmungsrecht
-herrschen sollte; aber wir begriffen eben alle, daß dieser
-Endzweck unseres Unternehmens und die Expedition, die uns dahin
-führen sollte, zwei verschiedene Dinge seien; es kam während des ganzen
-<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
-Zuges auch nicht ein Fall von Widersetzlichkeit vor, wogegen allerdings
-auch von Seiten der Offiziere kein Fall überflüssigen barschen
-Befehlens bemerkt werden konnte.
-</p>
-
-<p>
-Als der Zeitpunkt unserer Weiterreise nach Zanzibar herannahte,
-waren wir eine vollkommen eingeübte Elitetruppe. Im Manövrieren
-konnten wir es mit jedem Gardekorps aufnehmen &mdash; natürlich nur
-hinsichtlich jener Übungen, die Schlagfertigkeit und Beweglichkeit einem
-etwaigen Feinde gegenüber, nicht aber den Parademarsch und die s. g.
-militärischen Honneurs zum Gegenstande haben. In letzterer Beziehung
-waren und blieben wir so unwissend wie die Hottentotten; dafür konnten
-wir ohne Beschwer 24 Stunden lang mit bloß sehr kurzen Unterbrechungen
-marschieren oder im Sattel sein, unser Schnellfeuer ergab
-schon auf 1000 Meter Distanz eine ganz respektable Zahl von Treffern;
-auch unser Granatenfeuer wäre im Bedarfsfalle nicht zu verachten gewesen
-und ebenso trefflich wußten wir mit einer kleinen Batterie Congrève&rsquo;scher
-Raketen umzugehen, die Johnston auf den Rat eines im
-Sudan bedienstet gewesenen ägyptischen Offiziers, eines geborenen
-Österreichers, der sich in Alexandrien häufig als Zuschauer bei unseren
-Übungen eingefunden, aus Triest hatte nachsenden lassen.
-</p>
-
-<p>
-Am 30. März schifften wir uns auf der &bdquo;Aurora&ldquo;, einem prächtigen
-Schraubendampfer von 3000 Tonnen ein, den der Ausschuß von
-der englischen P. &amp; O.-Company gechartert hatte und der, nachdem er
-zuvor in Liverpool, Marseille und Genua die für uns bestimmten
-Waren an Bord genommen, am 22. März in Alexandrien eingetroffen
-war. Die Einschiffung und sichere Unterbringung von 200 Pferden
-und 60 Kamelen, die in Ägypten gekauft worden waren, nahm mehrere
-Tage in Anspruch; doch hatten wir keinen Grund zur Eile, da
-der eigentliche Zug ins Innere Afrikas der Regenzeit wegen ohnehin
-nicht vor dem Monat Mai angetreten werden sollte. Von Alexandrien
-bis Zanzibar aber rechneten wir &mdash; den Aufenthalt in Aden behufs
-Einschiffung der noch notwendigen Pferde und Kamele eingerechnet &mdash;
-höchstens 20 Tage. Es blieben uns also noch immer reichlich zwei
-Wochen für Zanzibar und für die Überfahrt nach Mombas, von wo
-aus wir den Weg zum Kilima Ndscharo und Kenia antreten wollten
-und wo wir uns, der an der Küste angeblich herrschenden Fiebergefahr
-wegen, keinen Tag länger als notwendig aufzuhalten gedachten.
-</p>
-
-<p>
-Es ging auch alles ganz programmgemäß von statten. In Aden
-trafen wir unseren Agenten mit 120 der prachtvollsten edelsten Jemener
-Pferde und mit 25 Kamelen, nicht minder vorzüglicher Rasse; ebenso
-wurden hier 115 Esel eingeschifft, die gleich den Kamelen infolge geänderter
-Dispositionen in Arabien statt in Zanzibar, resp. Ägypten
-angeschafft worden waren. Am 16. April warf die &bdquo;Aurora&ldquo; im
-Hafen von Zanzibar Anker.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
-Die halbe Bevölkerung der Insel hatte sich aufgemacht, uns zu
-begrüßen. Der Ruf war uns voraufgegangen, und wie es schien, kein
-schlechter Ruf, denn nicht bloß die hier lebende, während der letzten
-Jahre auf nahezu 200 Köpfe angewachsene europäische Kolonie, sondern
-auch Araber, Hindu und Neger wetteiferten an Freundlichkeit und
-Entgegenkommen. Die erste Persönlichkeit, die uns in Empfang nahm,
-war natürlich unser Zanzibarer Bevollmächtigter, der uns auch sofort
-die erfreuliche Versicherung gab, daß er alles ihm Aufgetragene vollbracht
-habe und daß angesichts der uns gegenüber herrschenden Stimmung
-die Anwerbung der erforderlichen eingeborenen Mannschaften mit größter
-Leichtigkeit von statten gehen werde.
-</p>
-
-<p>
-Am 26. April verließen wir mit der Aurora Zanzibar und kamen
-am Morgen des nächsten Tages wohlbehalten in Mombas an. Unsere
-sämtlichen Tiere und den größten Teil der Waren hatten wir schon
-sieben Tage vorher in Begleitung eines Trupps der in Zanzibar aufgenommenen
-Wärter und unter Aufsicht von 10 Mann der Unsrigen
-&mdash; gleichfalls mit der Aurora &mdash; dahin gesendet, wo wir sie alle in
-sehr guter Verfassung und zumeist auch schon erholt von den Strapazen
-der Seereise antrafen. Um die aufgenommenen Leute zu mustern und
-jeglichem seine Obliegenheiten zuzuteilen, bezogen wir außerhalb der
-Stadt Mombas in einem kleinen Palmenhaine mit herrlicher Aussicht
-auf das Meer ein Lager. Für je 2 Handpferde oder Kamele und für
-je 4 Esel wurde je ein Treiber und Wärter bestellt, so daß zu diesem
-Behufe von unseren 280 Suahelileuten 145 beansprucht waren; 35
-wurden zum Tragen leichter und zerbrechlicher oder solcher Gegenstände
-ausersehen, die jederzeit zur Hand sein mußten; 100 &mdash; unter diesen
-selbstverständlich die Wegführer und zwei Dolmetscher &mdash; dienten als
-Eclaireure. Am 2. Mai war all dies organisiert und durchgeführt,
-die Lasten verteilt, jedem Manne sein Platz angewiesen; der Zug ins
-Innere konnte angetreten werden.
-</p>
-
-<p>
-Da wir aber programmgemäß nicht vor dem 5. Mai abmarschieren
-durften, um zuvor noch das am 3. oder 4. in Zanzibar eintreffende
-europäische Postschiff abzuwarten, welches uns die letzten Nachrichten
-von unseren Freunden und allenfallsige Anordnungen des Ausschusses
-überbringen sollte, so hatten wir einige Tage der Muße vor uns, die
-wir dazu benutzen konnten, die Gegend um Mombas zu besichtigen.
-</p>
-
-<p>
-Der Ort selber liegt auf einem Inselchen, welches hier von einem
-sich ins Meer ergießenden und zu einer mächtigen Bucht sich ausweitenden
-Flusse gebildet wird, dessen Ufer einige dichte Mangrovesümpfe
-umgeben. Der Aufenthalt unmittelbar an der Küste und auf
-Mombas selber ist daher nicht ganz gesund und keineswegs für längere
-Zeit rätlich. Aber schon wenige Kilometer landeinwärts finden sich
-sanftgeschwungene Hügel, bestanden mit prachtvollen Gruppen von
-<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
-Kokospalmen, die sich inmitten smaragdgrüner Grasmatten erheben und
-unter denen die von Gemüsebeeten umgebenen Hütten der Wanjika, der
-hiesigen Küstenbewohner, hervorlauschen, welche Hügel selbst während
-der Regenzeit einen ganz gesunden Aufenthalt bieten. Allerdings wäre
-es für einen Europäer gefährlich, hier jahrelang zu wohnen, da die
-während der Hitzemonate &mdash; Oktober bis Januar &mdash; herrschende
-Temperatur ihm auf die Dauer schädlich wird. Im Mai jedoch, wo
-die großen Regen, die in den Monaten Februar bis April niedergehen,
-den Boden und die Atmosphäre tüchtig erfrischt haben, ist die Hitze
-nicht eben lästig.
-</p>
-
-<p>
-Das Eilschiff der französischen Messagerie hatte sich zwar um einen
-Tag verspätet, so daß es in Zanzibar erst am 4. spät Nachts eintraf;
-wir aber erhielten, Dank der Liebenswürdigkeit des Kapitäns die für
-uns bestimmten Sendungen trotzdem einen Tag früher als wir erwartet
-hatten. Dieser nämlich, der in Aden erfahren hatte, daß und wo
-wir auf die von ihm beförderte Post warteten, hielt auf der Höhe
-von Mombas, das er zeitlich am Morgen des 4. passierte, eine
-gerade vorbeisegelnde arabische Dhau an und übergab ihr die für
-uns bestimmten Pakete, die wir demzufolge noch am selben Vormittag
-empfingen, während wir andernfalls bis zum Abend des nächsten
-Tages hätten auf sie warten müssen. Von den uns solcherart
-unmittelbar vor unserem Aufbruche erreichenden Nachrichten, sind nur
-zwei hervorzuheben; erstlich die Anzeige, daß der Ausschuß unseren
-Bevollmächtigten in Zanzibar beauftragt habe, während der ganzen
-Dauer unseres Zuges engste Fühlung mit Mombas zu unterhalten
-und dort für alle Fälle einige Eilboten nebst einem schnellsegelnden
-Kutter bereit zu halten; zum zweiten die Mitteilung, daß bis zum
-18. April, dem Tage der Postabfertigung, die Zahl der gesellschaftlichen
-Mitglieder auf 8460, das Vermögen auf nahezu 400000 £
-gestiegen sei.
-</p>
-
-<p>
-Und noch eine kleine Überraschung kam in Begleitung dieser letzten
-Nachrichten aus der Heimat. Zugleich mit den Postpaketen hatte das
-Postschiff der Dhau ein Koppel von nicht weniger als 32 Hunden
-übergeben, geführt von 2 Wärtern, welch letztere uns Grüße von ihrem
-Auftraggeber, Lord Clinton, vermeldeten, der als warmer Freund
-unserer Ideen und großer Hundeliebhaber dies Geschenk eigens aus
-York übersende, überzeugt, daß uns dasselbe auf der Reise sowohl als
-am Ziele derselben vortrefflich zu statten kommen werde. Die Tiere
-waren prachtvoll, 12 Doggen und 20 Schäferhunde von jener langbeinigen
-und langhaarigen Rasse, die ein Mittelding zwischen Windspiel
-und Bernhardiner zu sein scheint. Die kleinste der Doggen war vom
-Kreuz gemessen 70 Zentimeter hoch, die Schäferhunde nicht sonderlich
-kleiner, wie sich bald erwies, alles wohlgesittete, anstellige Kreaturen,
-<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
-die denn auch allseitig mit größter Freude begrüßt wurden. Die beiden
-Wärter erklärten, daß ihnen zwar unsere Pläne und Ideen höchst
-gleichgültig seien, da sie &bdquo;von all dem Zeug nichts verstünden&ldquo;, daß
-sie aber, wenn wir es gestatteten, in Begleitung ihrer lieben vierfüßigen
-Freunde sehr gerne mit uns zögen. Da sie sich als kräftige, gesunde
-und trotz aller Einfalt ganz anstellige Kerle zeigten, überdies versicherten,
-im Reiten und Schießen leidlich bewandert, in der Dressur mannigfaltigen
-Getiers aber geradezu Virtuosen zu sein, so nahmen wir sie
-gerne mit. An Lord Clinton wurde ein herzliches Dankschreiben
-adressiert, und nachdem die Post mit diesem und den anderen für
-Europa bestimmten Nachrichten über Zanzibar expediert und die Anordnungen
-für morgen getroffen waren, umfing uns die letzte Nacht
-vor unserem Aufbruche in das dunkle Innere der afrikanischen Welt.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-3-3">
-<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
-3. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Am Morgen des 5. Mai weckten uns die Horn- und Trommelsignale
-der Kirangozis (Karawanenführer), wie angeordnet war, um
-3 Uhr aus dem Schlafe. Große, schon Abends vorher bereit gelegte
-Lagerfeuer wurden angezündet, an denen das Frühstück &mdash; Thee oder
-Kaffee mit Eiern und kaltem Fleisch für uns Weiße, eine Fleisch- und
-Gemüsesuppe für die Suahelis &mdash; gekocht und bei deren Schein die
-Vorbereitungen für den Abmarsch getroffen wurden. Der Vortrab,
-bestehend aus den 100 Eclaireuren und 20 leichtbeladenen Packpferden,
-brach, begleitet von 30 Berittenen, schon eine Stunde später auf. Ihm
-war die Aufgabe zugewiesen, den Weg, wo er durch Dschungel oder
-dichtes Gehölz führte, mit Axt, Faschinenmesser und Haue soweit zu
-lichten, daß unsere umfangreichsten Gepäckstücke ungefährdet auf dem
-Rücken der Tragtiere passieren könnten, Gewässer nach Thunlichkeit zu
-überbrücken und die Lagerplätze für das nachrückende Hauptkorps vorzubereiten.
-Zu diesem Behufe mußte diese Truppe &mdash; je nach der
-Beschaffenheit der vor uns liegenden Wegstrecke &mdash; einige Stunden bis
-zu einigen Tagen Vorsprung nehmen. Für den Anfang, wo nach
-Aussage der wegekundigen Führer sonderliche Hindernisse nicht zu erwarten
-waren, genügte ein Vorsprung von wenigen Stunden.
-</p>
-
-<p>
-Der Hauptzug war erst um 8 Uhr in Ordnung. Die Tête
-nahmen hier 150 von uns Weißen, voran Johnston und ich; dann
-folgten in langer Linie zuerst die Handpferde, dann die Esel, zum
-Schluß die Kamele; der Nachtrab war durch 20 Weiße gebildet. So
-verließen wir endlich, als die Sonne schon heiß herniederbrannte,
-unseren Lagerplatz, warfen einen letzten Blick nach dem malerisch hinter
-uns gelegenen Mombas zurück, sandten unsere Scheidegrüße dem da
-unten brandenden Meere zu, dessen dumpfes Grollen trotz der Entfernung
-<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
-von mindestens 7 Kilometern in der Luftlinie deutlich zu hören war &mdash;
-und vorwärts ging es unter Hörnerklang und Trommelwirbel die
-ziemlich steilen, doch nicht eben ansehnlichen Höhen hinan, die uns
-von der am Eingange ins Innere liegenden sogenannten Wüste trennten.
-Diesen Namen verdient jedoch dieser alsbald von uns erreichte Landstrich
-offenbar nur in der heißen Jahreszeit; jetzt, wo die dreimonatliche
-Regenepoche kaum erst abgeschlossen war, fanden wir die Landschaft
-eher parkähnlich. Schönes, wenn auch nicht eben hohes Gras wechselte
-ab mit Gebüschen von Mimosen oder Zwergpalmen und mit kleinen
-Akaziengruppen. Als wir nach zwei Stunden die letzten Ausläufer
-des Küstengebirges hinter uns hatten, wurde das Gras noch üppiger,
-die Bäume häufiger und höher, zahlreiche Antilopen zeigten sich in der
-Ferne, waren aber sehr scheu und wurden alsbald von den Hunden,
-denen das nutzlose Jagen noch nicht abgewöhnt war, verscheucht. Gegen
-11 Uhr wurde unter dem Schatten eines von dichten Schlingpflanzen
-zu einem förmlichen Riesenbaldachin umgestalteten Palmenhaines Rast
-gemacht und abgekocht. Wir alle, Menschen und Tiere, waren trotz
-des bloß dreistündigen Marsches sehr erschöpft; das vorangegangene
-vierstündige Rennen und Laufen im Lager war eben auch gerade
-keine Erholung gewesen und die Hitze hatte von 10 Uhr ab angefangen
-höchst unangenehm zu werden.
-</p>
-
-<p>
-Durch eine reichliche Mahlzeit, deren Hauptbestandteil zwei fette,
-unterwegs gekaufte Ochsen waren, und die erquickende Ruhe im Schatten
-des dichten Lianen-Baldachins gestärkt, brachen wir schon um 4 Uhr
-nachmittags wieder auf und erreichten nach sehr anstrengendem, nahezu
-fünfstündigem Marsche den von unserer Avantgarde bereiteten Lagerplatz,
-in der Nähe eines Wakambadorfes zwischen Kwale und Mkinga. Die
-Avantgarde selber trafen wir nicht mehr; sie hatte hier Mittagsrast
-gehalten und war mehrere Stunden vor unserer Ankunft weiter
-marschiert, um ihren Vorsprung nicht zu verlieren. Dafür hinterließ
-sie uns unter der Obhut eines der Ihrigen elf verschiedene Antilopen,
-die ihre Jäger unterwegs geschossen, zum Abendimbiß.
-</p>
-
-<p>
-Am Morgen des zweiten Marschtages befanden wir uns &mdash; eingedenk
-der Qualen des gestrigen Vormittags &mdash; schon um 4½ Uhr
-unterwegs. Das Land war anfangs recht offen; schon nach zwei
-Stunden aber erreichten wir das Gebiet von Duruma, wo unser Vortrab
-sichtlich heiße Arbeit gefunden hatte. Kilometerweit zog sich der
-Pfad durch dornige Gestrüppe abscheulichster Art, in denen ohne die
-Beile und Messer unserer wackeren Eclaireure an ein Fortkommen mit
-Packtieren nicht zu denken gewesen wäre. Da jene jedoch tüchtig aufgeräumt
-hatten, so kamen wir überall rasch und ohne Hindernis hindurch.
-Gegen acht Uhr wurde der Weg wieder besser und das wechselte
-dann so ab, bis wir am Abend des dritten Tages Durumaland hinter
-<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
-uns hatten und die große Wüste betraten, die sich von da nahezu
-ununterbrochen bis Teita ausdehnt.
-</p>
-
-<p>
-Sonst ist über diese Marschtage nichts zu berichten, als daß wir
-stets ziemlich pünktlich um 4½ Uhr aufbrachen, nach 9 Uhr morgens
-eine erste Station machten, vor 5 Uhr nachmittags uns wieder in
-Marsch setzten und zwischen 8 und 9 Uhr abends das Nachtlager bezogen.
-Die Verproviantierung in Duruma-Land war nicht eben leicht,
-aber es gelang uns doch, von den Viehzucht und Landbau treibenden
-Bewohnern genügende Lebensmittel an Vegetabilien und Fleisch, von
-letzterem auch einen ausreichenden Vorrat für den Durchzug durch die
-Duruma-Wüste einzuhandeln. Das Land scheint von großer natürlicher
-Fruchtbarkeit zu sein, ist aber gerade an seinen besten Stellen unangebaut
-und verlassen, da die Bewohner der unablässigen Einfälle der Massai
-halber sich aus ihren unzugänglichen Dschungeldickichten kaum hervorwagen.
-Allenthalben hörten wir Klagen über die Missethaten jener
-ritterlichen Räuber, die erst vor einigen Wochen einen Stamm überfallen,
-die Männer niedergemacht, Weiber, Kinder und Vieh weggetrieben
-hatten und jetzt schon wieder unterwegs sein sollten, um nach
-neuer Beute auszuspähen. Unsere Versicherung, daß wir ihr Gebiet
-sowohl als dasjenige aller Stämme, mit denen wir Freundschaft
-geschlossen oder noch zu schließen gedächten, von dieser Plage demnächst
-befreien würden, nahmen die Wa-Duruma mit starkem Zweifel entgegen;
-hatte doch selbst der Sultan von Zanzibar gegen die Massai, die
-zeitweilig bis Mombas und Pangani streiften und brandschatzten, nichts
-auszurichten vermocht. Indessen verbreitete sich doch dieses unser
-Versprechen sehr rasch überall in der Umgegend.
-</p>
-
-<p>
-Am Morgen unseres vierten Marschtages, als wir uns eben zum
-Eintritte in die Wüste anschickten, wurden wir durch atemlos unter
-allen Anzeichen des Entsetzens und der Angst herbeieilende Eingeborene
-benachrichtigt, daß ein starker Schwarm Massai wieder da sei, in der
-Nacht ansehnliche Beute an Sklaven und Rindern gemacht habe und
-sich im Anzuge gegen uns befinde. Wir änderten darauf unsere Dispositionen,
-ließen das Gepäck und die Treiber im Lager und formirten
-uns, da das Terrain günstig war, sofort zum Gefecht. Die Geschütze
-wurden auf ihre Lafetten gesetzt und bespannt, die Raketen bereit gemacht;
-erstere kamen in das Centrum, letztere in die beiden Flügel
-unserer in einer langen Linie sich ausdehnenden Front. Das Alles
-war das Werk von kaum zehn Minuten und es verstrich auch keine
-fernere Viertelstunde, daß wir die Massais, die ungefähr 600 Mann
-stark sein mochten, im Laufschritt nahen sahen. Wir ließen sie ruhig
-bis auf etwa einen Kilometer herankommen; dann schmetterten die
-Trompeten und unsere ganze Linie jagte im Galopp den Massai entgegen.
-Diese stutzten und hielten, als sich ihnen der ungewohnte Anblick
-<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
-einer ansprengenden Kavalleriemasse darbot, worauf auch wir unser
-Tempo mäßigten und langsam bis auf hundert Meter heranritten.
-Nun machten wir Halt und Johnston, der den Massaidialekt leidlich
-spricht, ritt einige Schritte vor die Front, mit lauter Stimme fragend,
-was sie wollten. Darauf gab es unter den Massai eine kurze Beratung,
-dann trat auch ihrerseits ein Mann vor die Front, und fragte,
-ob wir Tribut zahlen oder kämpfen wollten? &bdquo;Ist das <em>Euer</em> Land&ldquo;,
-war die Gegenfrage, &bdquo;daß Ihr Tribut verlangt? Wir zahlen Niemand
-Tribut; wir haben Geschenke für unsere Freunde, schreckliche Waffen
-für unsere Feinde. Ob die Massai unsere Freunde werden wollen,
-werden wir sehen, wenn wir sie in ihrem Lande besuchen. Mit den
-Wa-Duruma aber haben wir schon Freundschaft geschlossen und wir
-erlauben daher Niemand, sie zu berauben. Gebt die Gefangenen und
-die Beute freiwillig heraus und kehret zurück in Eure Krals, damit
-wir nicht genötigt seien, unsere Waffen und Medizinen (Zaubermittel)
-gegen Euch zu gebrauchen, was uns sehr leid thäte, denn wir wünschen,
-Freundschaft auch mit Euch zu halten.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Letztere Versicherung wurde offenbar für ein Zeichen der Schwäche
-angesehen, denn die Massai, die anfangs etwas eingeschüchtert schienen,
-schwangen nun drohend unter gewaltigem Geschrei ihre Speere und
-setzten sich neuerdings gegen uns in Bewegung. Da erklangen abermals
-unsere Trompeten, und während wir Reiter vorsprengten, eröffneten
-die Kanonen und Raketen ihr Feuer &mdash; nicht auf die Gegner,
-in deren dichtgedrängten Massen sie eben so schreckliche als überflüssige
-Verheerungen angerichtet hätten, sondern über deren Köpfe hinweg.
-Die Massai hielten nur einer einzigen Salve Stand; als die Geschütze
-donnerten, die Raketen zischend und knatternd über sie hinfegten und
-überdies die unheimlichen Geschöpfe mit vier Füßen und zwei Köpfen
-&mdash; wir Reiter nämlich &mdash; auf sie zustürmten, wandten sie sich augenblicklich
-heulend zu wilder Flucht. Unsere Artillerie sandte ihnen noch
-einige Salven nach, um ihre Panik womöglich zu steigern, während
-die Reiter sich damit beschäftigten, Gefangene zu machen und die in
-der Ferne sichtbar werdenden, von den Massai erbeutet gewesenen Sklaven
-und Rinder in unsere Gewalt zu bringen.
-</p>
-
-<p>
-Beides gelang; nach kaum einer halben Stunde hatten wir 43
-Massais und die ganze Beute in der Hand. Die in Sklaverei gefallenen
-Durumaweiber und Kinder zu befreien, wäre uns, nebenbei bemerkt,
-kaum so vollständig gelungen, wenn dieselben nicht in einer
-Weise gefesselt gewesen wären, die ihnen rasches Laufen unmöglich
-machte. Als nämlich diese armen Geschöpfe den Lärm des Gefechts
-sahen und hörten, machten sie verzweifelte Anstrengungen, davon- und
-zwar den fliehenden Massai nachzulaufen. Klüger benahmen sich die
-Rinder, die durch die Schüsse und Raketenschläge zwar auch in hochgradige
-<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
-Unruhe versetzt waren, sich aber trotzdem von uns und unseren
-Hunden, die bei dieser Arbeit sich als ausnehmend verwendbar
-erwiesen, ohne sonderliche Beschwer auf unser Lager zutreiben
-ließen.
-</p>
-
-<p>
-Die gefangenen Massai waren prächtige, verwegen aussehende
-Kerle, die trotz des Schreckens, der ihnen noch sichtlich in allen Gliedern
-lag und trotzdem sie offenbar erwarteten, kurzen Weges niedergemacht
-zu werden, doch eine gewisse Haltung behaupteten. Unter ihnen
-befand sich &mdash; ein sehr glücklicher Umstand &mdash; auch der Leitunu, d. i.
-der oberste, unumschränkte Anführer der Bande, ein bronce-farbener
-Apoll von reichlich 2 Meter Höhe, der ganz darnach aussah, als ob
-er sich am liebsten sein kurzes Schwert, die &bdquo;Sime&ldquo;, in die eigene
-Brust gestoßen hätte, insbesondere, als die von weither zusammengelaufenen
-Wa-Duruma ihn und die Seinen zu verhöhnen und grimmig
-schreiend, ihren Tod zu verlangen begannen. Johnston verwies ihnen
-dies mit großer Strenge. Laut, daß es die Gefangenen hören konnten,
-erklärte er, auch die Massai sollten unsere Freunde werden, wir hätten
-sie blos deshalb gezüchtigt, weil sie sich hier schlecht benommen; ob sie
-denn glaubten, daß wir ihrer, der Duruma, oder sonstwessen Hülfe
-bedürften, um jene zu tödten, wenn wir es wollten; ob sie denn nicht
-gesehen hätten, wie wir in die Luft schossen, wo doch ein paar ernstlich
-gemeinte Schüsse aus unseren gewaltigen Maschinen genügt hätten,
-um alle Massai in Stücke zu reißen? Um ihnen &mdash; mehr aber noch
-den Massai &mdash; die Wahrheit dieser ohnehin mit tiefem Grausen und
-ohne die geringste Spur eines Zweifels angehörten Worte zu zeigen,
-ließ Johnston eine volle Lage unserer sämtlichen Geschütze und Raketen
-auf eine etwa 1000 Meter entfernte verfallene, strohgedeckte Lehmhütte
-abgeben. Natürlich brach diese sofort zusammen und geriet unmittelbar
-in Brand, ein Schauspiel, das auf die Wilden den gewaltigsten
-Eindruck machte.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Jetzt geht&ldquo;, wandte sich hierauf Johnston, der bei all dem so
-that, als merke er gar nicht, wie gespannt unsere Gefangenen zuhörten
-und zusahen, zu den Wa-Duruma, &bdquo;nehmt Euere Weiber, Kinder und
-Rinder, die wir befreit haben, und laßt die Massai in Ruhe. Wir
-werden dafür sorgen, daß sie Euch in Zukunft nicht mehr belästigen,
-aber vergesset nicht, daß in wenigen Wochen auch sie unsere Freunde
-sein werden&ldquo;.
-</p>
-
-<p>
-Die Wa-Duruma gehorchten, obwohl sie nicht recht wußten, was
-sie aus der Sache machen sollten. Nachdem sie sich entfernt hatten,
-ließ Johnston den gefangenen Massai ihre Waffen zurückgeben und forderte
-sie auf, sich gleichfalls zu entfernen; binnen höchstens 2 Wochen
-gedenke er sie in Leitok-i-tok, dem südöstlichen Grenzdistrikte Massailands,
-zu besuchen; um ihnen das mitzuteilen, habe er sie vor sich
-<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
-bringen lassen. Statt jedoch dieser Erlaubnis sofort zu entsprechen,
-zögerten die El Moran (der Name für Massaikrieger); schließlich trat
-Mdango, ihr Leitunu, vor und erklärte, jetzt durch das aufgeregte
-Duruma-Land, versprengt von den Ihrigen, heimzuziehen, wäre für
-eine so kleine Massai-Schaar der sichere Tod, und wenn sie schon
-sterben müßten, so sei es ihnen größere Ehre, von der Hand so gewaltiger
-weißer Leibons (Zauberer), als durch feige Wa-Duruma oder
-Wateita zu fallen. Da wir die Absicht hätten, sie demnächst zu besuchen,
-so mögen wir ihnen gestatten, mit uns zu ziehen.
-</p>
-
-<p>
-Johnstons Gesicht strahlte bei dieser Eröffnung vor innerer Genugthuung;
-den Massai gegenüber jedoch bewahrte er seine gemessene
-Ruhe und erklärte feierlichen Tones, das sei eine so große Gunst, die
-sie da verlangten, und deren sie sich durch ihr bisheriges Benehmen
-so wenig würdig erwiesen, daß er zuerst ein Schauri (eine Ratsversammlung)
-mit den Seinigen abhalten müsse, bevor er ihnen Bescheid
-geben könne. Damit ließ er sie stehen, rief unserer zwanzig die wir
-ihm zunächst zu Pferde hielten, beiseite, und teilte uns den Inhalt des
-Gespräches mit. &bdquo;Daß wir, den Wunsch des Leitunu, der nach der
-großen Zahl der von ihm geführten El Moran zu schließen, einer der
-einflußreicheren sein dürfte, erfüllen, versteht sich von selbst; der Mann
-muß vollständig gewonnen werden, und gewinnt uns dann seine Landleute.
-So, jetzt werde ich ihm das Ergebnis unseres &bdquo;Schauri&ldquo;
-mitteilen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Höre&ldquo; &mdash; so wandte er sich an Mdango, &bdquo;wir haben beschlossen,
-Deinen Wunsch zu erfüllen, denn Euere Brüder in Leitok-i-tok sollen
-nicht sagen, daß wir Euch einem schimpflichen Tode entgegengejagt
-hätten. Aber nachdem wir einmal &mdash; wenn auch ohne Blutvergießen
-&mdash; unsere Waffen gegen Euch gerichtet, können wir Euch &mdash; das verbieten
-unsere Gebräuche &mdash; nicht als Gäste in unser Lager und an
-unseren Tisch lassen, bevor der Frevel, durch den Ihr uns gereizt habt,
-vollständig gesühnt ist. Dies wird nur dann geschehen sein, wenn
-jeder von Euch mit demjenigen unter uns Blut-Brüderschaft schließt,
-der ihn zum Gefangenen gemacht hat. Wollt Ihr das, und werdet
-Ihr den Bund ehrlich halten?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Die El Moran bejahten dies mit großer Bereitwilligkeit; hierauf
-neues &bdquo;Schauri&ldquo; unter uns, dem dann die 43fache Verbrüderung nach
-den eigentümlichen Gebräuchen der Massai folgte, und wir hatten 43
-Freunde gewonnen, die sich &mdash; wie Johnston versicherte &mdash; eher in
-Stücke hauen lassen, als zugeben würden, daß uns ein Leides geschehe,
-wo sie es irgend verhindern könnten.
-</p>
-
-<p>
-Über all dem war es 9 Uhr geworden und da der Tag glühend
-heiß zu werden versprach, so hatten wir keine Lust, die sengende Duruma-Wüste
-zu betreten, so lange die Sonne hoch am Horizonte stand.
-<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
-Wir kehrten daher in das von unseren Tragtieren ohnehin noch nicht
-verlassene Lager zurück und rüsteten das Mittagmahl. Zur Feier des
-unblutig erfochtenen Sieges wurde dasselbe besonders reich, vornehmlich
-mit Fleisch nebst Milch, der einzigen Nahrung der Massai-Elmoran
-&mdash; bereitet, und zum Schlusse eine riesige Bowle aus Rum, Honig,
-Limonen und heißem Wasser gespendet, die allen unseren Leuten trefflich
-mundete, die Massai aber geradezu in Begeisterung versetzte. Diese
-Begeisterung überschritt alle Grenzen, als die diversen 43 Blutbrüder
-nach genossenem Punsche mit einer Freundschaftsgabe von je einer &mdash;
-roten Hose bedacht wurden. Der Leitunu erhielt ein Extrageschenk in
-Form eines goldgestickten Scharlachmantels.
-</p>
-
-<p>
-Die Duruma-Wüste, in die wir um 5 Uhr nachmittag eintraten,
-ist gänzlich unbewohnt und während der trockenen Monate berüchtigt
-wegen ihres beinahe absoluten Wassermangels. Jetzt, unmittelbar nach
-der Regenzeit, fanden wir in den zahlreichen Bodenspalten und brunnenartig
-oft bis zu 2 und 3 Metern vertieften natürlichen Löchern erträgliches
-Wasser in genügender Menge. Von der Hitze aber hatten
-wir bis Sonnenuntergang viel zu leiden, was uns veranlaßte, mit
-Preisgebung unserer Nachtruhe in einem Gewaltmarsche bis Taro vorzudringen,
-einem recht ansehnlichen, durch angesammeltes Regenwasser
-gebildeten Teich, den wir gegen Morgen erreichten. Hier hielten wir
-einen halben Rasttag, d. h. wir brachen nicht des Morgens, sondern
-des Abends auf, unsere Kräfte für den nun folgenden bösesten Teil
-des Weges schonend. Die Wasserlöcher wurden von da ab seltener,
-das Aussehen der Landschaft besonders trostlos: eintönige, flache Steinfelder,
-abwechselnd besetzt mit häßlichem Dornendickicht. Doch Menschen
-und Tiere hielten die schlimmen 3 Tage wacker aus und am 12. Mai
-erreichten wir wohlbehalten, obwohl arg durchnäßt durch einen uns
-plötzlich überraschenden Platzregen, das liebliche Land der Wateita am
-herrlichen Ndaragebirge.
-</p>
-
-<p>
-Hier lernten wir zum ersten Male die entzückende Pracht äquatorialen
-Hochlandes kennen. Das Ndara-Gebirge erreicht eine Höhe
-bis zu 1550 Metern, ist vom Gipfel bis zum Fuße mit üppiger Vegetation
-bedeckt, zahlreiche silberhelle Bäche und Flüsse rauschen und tosen
-an seinen Abhängen zu Thale und die Rundschau von günstiger situierten
-Aussichtspunkten ist geradezu entzückend. Da wir hier einen vollen
-Rasttag hielten, so benützten die meisten von uns die Gelegenheit zu
-Ausflügen rings in der wundervollen Landschaft, wobei uns einige zu
-Handels- und Missionszwecken angesiedelte Engländer in liebenswürdigster
-Weise als Führer dienten. Ich selber konnte nicht allzutief in
-das Gewirr köstlicher, schattenreicher Thäler und Gipfel, das uns rings
-umgab, eindringen, da ich die Verproviantierung der Karawane sowohl
-in Teita als auch für die jenseits desselben bis zum Kilima-Ndscharo
-<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
-sich erstreckende Wüstenei durchführen mußte. Aber meine glücklicheren
-Genossen erstiegen die umliegenden Höhen, übernachteten zumeist auf
-oder dicht unter denselben, erquickten sich an der kühlen Luft derselben
-und kamen zurück trunken von all der Schönheit die sie genossen. Im
-übrigen war es auch am Fuße der Teitaberge kaum minder entzückend.
-Das Bad unter einem der plätschernden Wasserfälle, umfächelt von den
-milden Lüften und Düften die der Abend brachte, würde stets zu den
-schönsten Erinnerungen meines Lebens zählen &mdash; wenn mir Afrika nicht
-noch weit herrlichere Naturscenen geboten hätte.
-</p>
-
-<p>
-Am 14. und 15. wanderten wir in nicht zu anstrengenden Märschen
-weiter durch dies Paradies, in welchem auch unsere Jäger reiche Beute
-an Giraffen und verschiedenen Antilopen machten, schlossen überall mit
-den Stämmen und Häuptlingen durch Geschenke besiegelte Freundschaftsbündnisse,
-arbeiteten uns dann in zwei weiteren Tagen durch die
-menschenleere, dafür aber desto wildreichere Wüste von Taweta, die im
-übrigen gar nicht so schlimm ist, als ihr Name, und hatten am Nachmittag
-des 17. die kühlen Wälder der Vorberge des Kilima vor uns
-&mdash; wo uns eine seltsame Überraschung erwartete.
-</p>
-
-<p>
-Wir waren Taweta auf wenige Kilometer nahe gekommen und
-unsere Gewehrsalven hatten &mdash; wie dies in Afrika üblich &mdash; dort soeben
-die Ankunft einer Karawane verkündigt, als Johnston und ich, die wir
-an der Spitze des Zuges ritten, einen Mann mit verhängtem Zügel
-auf uns zusprengen sahen, in welchem wir alsbald den Führer unseres
-Vortrabs, Ingenieur Demestre, erkannten. Anfangs machte uns die
-rasende Eile, mit der er auf uns zujagte, einigermaßen besorgt, dann
-aber zeigte uns sein lachendes Gesicht, daß es kein Unfall sei, was ihn
-uns entgegenführe. Er winkte mir schon von Weitem zu und rief, sein
-Pferd vor uns parierend: &bdquo;Deine Schwester und Miß Fox sind in
-Taweta!&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Wir beide, Johnston und ich, müssen auf diese unerwartete Botschaft
-hin erklecklich alberne Gesichter gemacht haben, denn Demestre
-brach jetzt in ein tolles Gelächter aus, in welches endlich auch wir
-einstimmten. Dann erzählte er, die beiden Damen hätten ihn und die
-Seinen, die gestern Abend in Taweta anlangten, ganz harmlos, als
-träfen sie sich daheim auf der Straße, begrüßt, ihre Verblüffung gänzlich
-ignoriert und auf Befragen im gleichmütigsten Tone erzählt, sie wären
-am 30. April, also während wir in Mombas saßen, von Aden kommend,
-in Zanzibar eingetroffen, nach kurzem Aufenthalte nach Pangani übergefahren
-und von dort über Mkumbara und am Jipe-See vorbei schon
-am 14. in Taweta angelangt, wo sie sich mitsamt ihrem Diener oder
-Freunde Sam, einem alten ehrwürdigen Neger, der Miß Fox überall
-begleite, und ihren vier Elefanten &mdash; denn auf dem Rücken solcher
-Tiere wären sie zu grenzenlosem Erstaunen der Neger gereist &mdash; ganz
-<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
-ausnehmend wohl befänden. &bdquo;Fräulein Klara läßt Dich grüßen und
-Dir sagen, sie sehne sich schon recht sehr, Dich an ihr schwesterliches
-Herz zu drücken.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Da ich sah, daß Demestre nicht scherze, so gab ich meinem Pferde
-die Sporen, befand mich schon nach wenigen Minuten in einem der
-tiefschattigen, laubenartigen Waldwege, die vom offenen Lande nach
-Taweta hineinführen, und sah auch bald darauf die beiden Damen, von
-denen die eine mit ausgebreiteten Armen auf mich zueilte und mich,
-kaum daß ich den Boden berührt hatte, laut weinend ans Herz drückte.
-Nachdem der erste Sturm des Wiedersehens vorüber war, suchte ich von
-meiner Schwester nähere Aufklärung über die Art ihres Erscheinens
-hier mitten unter den Wilden zu erlangen; allein das war ein vergebliches
-Bemühen; so oft die Gute auch zu einem Berichte ansetzte,
-unterbrachen sie Thränen und Ausrufe der Freude über unser Wiedersehen
-sowie des nachträglichen Entsetzens über all die Gefahren, vor denen
-mich leichtsinnigen Knaben sicherlich nur mein gutes Glück bewahrt.
-Inzwischen hatten wir uns Miß Fox genähert, die meinen Gruß zwar
-etwas spöttisch, aber deßhalb nicht minder herzlich erwiderte und aus
-deren Munde ich endlich alles Wissenswerte erfuhr.
-</p>
-
-<p>
-Darnach hatten sich also die Beiden gleich bei ihrer ersten Begegnung
-verständigt und das Komplott in seinen Grundzügen angelegt,
-die näheren Vereinbarungen der Zeit nach meiner Abreise aus Europa
-vorbehaltend. Meine Schwester hatte in Miß Fox die Energie und die
-erforderlichen pekuniären Mittel zur Inscenierung einer gegen den
-Willen der Männer auf eigene Faust durchzusetzenden Expedition, Miß
-Fox dagegen in meiner Schwester die Gefährtin und ältere Beschützerin
-gefunden, ohne welche auch sie vor einem solchen Geniestreich zurückschreckte.
-Da insbesondere Miß Fox die Dispositionen unserer Reise
-ganz genau kannte, so ahmte sie dieselben dem Wesen nach im Kleinen
-nach; sie bestellte bei denselben Fabrikanten und Lieferanten, von denen
-wir unsere Vorräte, Tauschwaren und Reisegeräte bezogen, auch die
-ihrigen, entschied sich gleich uns für Tragtiere statt für Pagazis, wählte
-aber, um wenigstens in Einem Punkte originell zu sein, Elefanten statt
-der Pferde, Kamele oder Esel. Da es überall dort, wo wir hin
-wollten, wilde, wenn auch bisher niemals gezähmte Elefanten in Menge
-gebe, so mußten &mdash; das war ihr Kalkül, indische Elefanten auch überall
-im äquatorialen Afrika fortkommen. Ein Geschäftsfreund ihres verstorbenen
-Vaters in Kalkutta, hatte ihr vier Prachtexemplare dieser
-Dickhäuter verschafft, diese mitsamt acht erprobten indischen Führern
-und Wärtern nach Aden expediert, wo sie dieselben angetroffen und
-nach Zanzibar genommen. Hier wurden einige Wegführer und Dolmetscher
-geworben und um nicht etwa zu nahe an der Küste mit uns zusammenzutreffen,
-der Weg über Pangani genommen, auf welchem ihnen zwar
-<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
-die Neugier der Eingeborenen hie und da lästig geworden, im übrigen
-aber, insbesondere Dank der liebenswürdigen Fürsorge der in Pangani,
-Mkumbana, Membe und Taweta stationierten deutschen Agenten nicht
-der geringste Unfall zugestoßen sei. Ihre Suaheli-Leute hätten sie
-sofort nach ihrer Ankunft entlassen, mit den Elefanten und Indern gedächten
-sie sich uns anzuschließen &mdash; es sei denn, daß wir sie allein
-in Taweta zurücklassen wollten.
-</p>
-
-<p>
-Was war unter so bewandten Umständen zu thun? Es verstand
-sich von selbst, daß die beiden Amazonen von da ab zu den Unsrigen
-gehörten und was mich anlangt, so müßte ich die Unwahrheit sagen,
-wollte ich behaupten, ich sei meiner Schwester oder Miß Fox ob ihrer
-Hartnäckigkeit gram geworden. Die ärgsten Gefahren konnten nach der
-Affaire mit den Massai in Duruma als beschworen gelten; die Beschwerden
-des Weges waren &mdash; wie ja der Erfolg zeigte &mdash; auch von
-Frauen recht gut zu überwinden; ich gab mich also der Freude des unverhofften
-Wiedersehens ungetrübt hin. Aber auch die anderen Mitglieder
-der Expedition waren &mdash; wie ich mit Genugthuung bemerkte &mdash;
-mit dem Zuwachse, der uns in Taweta geworden, durchaus einverstanden
-und so erhielten denn die Elefanten mitsamt ihrer schönen Last
-&mdash; denn nebenbei bemerkt ist auch meine Schwester trotz ihrer 38 Jahre
-noch immer ein schönes Weib &mdash; ihren Platz in der Karawane angewiesen.
-</p>
-
-<p>
-Vor Taweta verabschiedeten sich unsere Massai-Freunde. Sie
-nahmen den Auftrag mit, ihren Landsleuten mitzuteilen, daß wir in
-8-10 Tagen an den Grenzen von Leitok-i-tok eintreffen würden, daß
-es unsere Absicht sei, ganz Massai-Land zu durchreisen, um uns dort,
-wo es uns am besten gefallen würde, dauernd niederzulassen. Diese
-unsere Ansiedelung werde dem Stamme, in dessen Nachbarschaft wir
-Hütten bauen würden, zum größten Vorteil gereichen, denn wir würden
-ihn reich und unbesiegbar allen Feinden gegenüber machen. Uns aufzunehmen
-und Gebiete abzutreten würden wir Niemand zwingen, obwohl
-wir, wie sie bezeugen könnten, dazu genügende Macht besäßen
-und noch viele Tausende unserer weißen Brüder nur auf Nachricht von
-uns warteten, um uns nachzufolgen; den freien Durchzug aber würden
-wir, wenn er uns nicht friedlich gewährt werde, überall zu erkämpfen
-wissen. Schließlich banden wir unseren Blutbrüdern noch ans Herz,
-dafür zu sorgen, daß bei den Verhandlungen möglichst zahlreiche Stämme
-erscheinen, insbesondere diejenigen, welche längs des Weges nach dem
-Naiwascha-See &mdash; unserer Route an den Kenia &mdash; wohnen, und schieden
-unter beiderseitigen herzlich gemeinten Wünschen von einander.
-Als letztes Angedenken gaben wir den ganz zuthunlich gewordenen
-Kerlen eine Reihe in ihren Augen überaus kostbarer Geschenke für ihre
-Herzallerliebsten, die sogenannten &bdquo;Dittos&ldquo; mit, als da sind, Messingdraht,
-<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
-messingene Armbänder und Ringe mit falschen Steinen, Handspiegel,
-auf Schnüre gereihte Glasperlen, Baumwollzeuge und Bänder.
-Der Tauschwert dieser Geschenke, obwohl sie uns in Europa insgesamt
-keine 200 Mark gekostet hatten, betrug nach Massai-Währung, wie wir
-uns später zu überzeugen Gelegenheit hatten, reichlich den von 100 fetten
-Ochsen, und die El Moran waren auch ganz sprachlos über unsere
-Freigebigkeit. Geradezu unschätzbar aber war in ihren Augen das Geschenk,
-mit welchem Johnston zum Schlusse herausrückte: ein Kavalleriesäbel
-mit eiserner Scheide und guter Solinger Klinge für jeden der
-sich verabschiedenden Helden. Um ihnen die Vortrefflichkeit dieser Waffe
-<span class="antiqua">ad oculos</span> zu demonstrieren, ließ Johnston durch einen in solchen Kunststücken
-bewanderten Belgier den mächtigsten der Massaispeere, dessen
-Klinge gut 12 Centimeter breit war, mit einem Hiebe durchhauen,
-und wies dann den zu Bildsäulen erstarrten Kriegern die völlig unversehrte
-Schwertklinge vor. &bdquo;So schneiden <em>unsere</em> &bdquo;Siemes,&ldquo; sagte er,
-wenn sie in gerechtem Kampfe gebraucht werden; hütet Euch aber, sie
-bei Raubzügen oder Mordthaten zu ziehen, sie würden Euch in der
-Hand zerspringen wie Glas und Unheil über Eure Köpfe bringen.&ldquo;
-Damit winkten wir ihnen nochmals freundlich zu und hatten sie bald
-aus den Augen verloren.
-</p>
-
-<p>
-In Taweta weilten wir 5 Tage, um den Tieren nach den anstrengenden
-Märschen Ruhe zu gönnen und uns an den über alle Beschreibung
-entzückenden Reizen dieses an Lieblichkeit und tropischer
-Pracht sowohl als an Großartigkeit der Gebirgsformen alles bis dahin
-Gesehene weitaus übertreffenden Landes zu erlaben, und schließlich
-um unsere Ausrüstung mit Hilfe der hier und im benachbarten Moschi
-residierenden deutschen Agenten einigermaßen zu ergänzen. Diese Herren,
-wie nicht minder die freundlichen Eingeborenen, informierten uns bereitwilligst
-über jene Waren, nach denen augenblicklich im Massai-Lande
-besonderer Begehr herrsche und da sich ergab, daß wir von einer derzeit
-bei den Dittos modernen blauen Perlenart sehr wenig, von einer
-als haute Nouveauté geltenden Sorte Baumwolltücher vollends auch
-nicht einen Ballen besaßen, so kauften wir in Taweta mehrere Traglasten
-von diesen Kostbarkeiten.
-</p>
-
-<p>
-Auf unseren Streifungen in Taweta sahen wir zum ersten Male
-den Kilima Ndscharo in seiner vollen überwältigenden Majestät. Nahe
-an 4000 Meter steil aus dem umliegenden Hochlande emporragend,
-trägt dieser zweizinkige, sich zu 5700 Metern über die Meeresfläche
-erhebende Riese auf seinem breiten, wuchtigen Rücken ein Schneefeld,
-mit dessen Wirkung sich nicht die Gletscher unserer europäischen Alpenriesen,
-ja in gewissem Sinne nicht einmal die der Anden und des
-Himalaja vergleichen lassen. Denn nirgend sonst auf unserer Erde
-bietet die Natur so unvermittelt nebeneinander den Kontrast der üppigsten,
-<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
-saftigsten Tropenwelt und der schauerlichen Öde zerrissenen Geklüftes und
-ewigen Eises, wie hier im äquatorialen Afrika. Die Flora und Fauna
-am Fuße des Himalaja z. B. ist zwar kaum minder herrlich, wie im
-Wald- und Quell-Lande von Taweta; aber während die schneebedeckten
-Gipfel des Central-Asiatischen Gebirgsstockes sich Hunderte von Kilometern
-entfernt vom Fuße desselben erheben und es daher dem Menschen
-nicht vergönnt ist, die Reize beider zugleich zu genießen und durch den
-Kontrast zu steigern, kann man hier, beschattet von einer wildwachsenden
-Banane oder Mangopalme mit einem guten Fernrohre die unergründlichen
-Schlünde der Gletscherspalten zählen, so zum Greifen nahe
-ist die Welt des ewigen Eises der des ewigen Sommers gerückt. Und
-welchen Sommers! Eines Sommers, der seine reichsten Schätze an Schönheit
-und Fruchtbarkeit gewährt, ohne unsere Nerven durch seinen Gluthauch
-zu erschlaffen. Man muß diese schattigen und doch lichten Wälder,
-diese allenthalben durch den blumenduftenden Boden hüpfenden krystallklaren
-Bäche gesehen, diese kühlenden Lüfte, die beinahe ununterbrochen
-von den nahen Eisfeldern herabwehen und sich unterwegs durch den
-Blumenatem der tiefer gelegenen Bergabhänge würzen, um seine Schläfen
-empfunden haben, um zu wissen, was Taweta ist.
-</p>
-
-<p>
-An materiellen Genüssen greifbarer Art bietet dieses gesegnete
-Ländchen eine überreiche Fülle. Fette Rinder, Schafe und Ziegen,
-Hühner, köstliche Fische aus dem nahen Jipe-See und dem Lumi-Flusse,
-einige besonders delikate aus den rings vom Kilima-Ndscharo herabschäumenden
-kleineren Gebirgswässern, Wildpret in tausenderlei Varietäten,
-befriedigen selbst den unersättlichen Hunger nach Fleisch; das
-Pflanzenreich schüttet ein nicht minder reiches Füllhorn fast aller in den
-Tropen irgend gedeihenden Feldfrüchte, Gemüse und <a id="corr-7"></a>Obstarten aus.
-Dabei ist alles so wohlfeil, daß selbst der übermütigste Schlemmer nicht
-im Stande ist, mehr als wenige Pfennige täglich auszugeben &mdash; falls
-die liebenswürdigen, gastfreundlichen Wataweta überhaupt Zahlung annehmen,
-was z. B. uns gegenüber fast niemals der Fall war. Allerdings
-kam uns dabei der Ruhm unserer Heldenthaten gegen die Massai
-und insbesondere unsere Versicherung zu statten, daß wir auch Taweta
-von diesen bösen Gästen befreien würden, die bisher zwar noch bei
-jedem Angriffe von den uneinnehmbaren Waldfestungen des Kilima abgeschlagen
-worden waren, deren Nachbarschaft sich aber bisher doch sehr
-lästig erwiesen hatte. Auch war unsere Hand den Taweta-Männern
-und mehr noch den Weibern gegenüber stets offen. Europäische Geräte
-aller Art, Kleidungsstücke, primitive Schmucksachen, und hauptsächlich
-eine Auslese von Photographien und bemalten Münchener
-Bilderbogen gewannen uns die Herzen unserer schwarzen Gastfreunde,
-so daß, als wir am Morgen des 23. Mai endlich aufbrachen, wir
-ebenso ungern diesen herrlichen Waldwinkel verließen, als die Wataweta
-<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
-uns ungern scheiden sahen. Bis über die Grenze ihres Gebietes begleiteten
-uns diese guten, einfachen Menschen, und gar manches der
-keineswegs unschönen Tawetafräulein, das sein Herz an einen der
-weißen, oder wohl auch der Suaheli-Gäste verloren haben mochte,
-vergoß bittere Thränen und klagte sein Leid mit Vorliebe &mdash; unseren
-beiden Damen, die glücklicher Weise von diesen Ergüssen und Eröffnungen
-tawetanischer Mädchen-Seelen kein Wort verstanden. Prüderie
-ist im äquatorialen Afrika eine gänzlich unbekannte Sache und die
-Taweta-Schönen würden ebensowenig begriffen haben, daß irgend
-Jemand Übles darin finden könne, wenn man einem Gaste ohne weiteres
-sein Herz entgegenträgt, als ihre weißen Schwestern begriffen hätten,
-daß man derlei Dinge in aller Unschuld ausplaudern könne, ohne daß
-Freunde und Verwandte daran den geringsten Anstoß nähmen.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-3-4">
-<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
-4. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Nach Massailand führen von Taweta zwei Wege, der eine westlich
-vorbei am Kilima durch das Gebiet der Wakwafi; der andere
-am Ostabhange des Gebirgsstockes durch die verschiedenen Tribus der
-Wadjagga.
-</p>
-
-<p>
-Das Land ist fruchtbar und schön auf beiden Seiten; wir wählten
-aber die letztere Route, weil die Wakwafi eben im Kriege waren mit
-den Massai und wir uns in keine überflüssigen Händel mengen wollten,
-auch ganz im allgemeinen der Verkehr mit den friedfertigen und schüchternen
-Wadjagga dem mit den rauflustigen Wakwafi vorzuziehen ist.
-In kleinen Tagemärschen zogen wir vorbei an dem wildromantischen,
-von düsteren, senkrecht abfallenden Felsen eingefaßten Dschallasee, durch
-die waldigen Bergabhänge von Rombo und durch die Hochebenen von
-Useri, übersetzten dabei drei nicht unansehnliche, wasserreiche Bäche, die
-vereint den Tsabofluß bilden, und zahllose Quellen, die allenthalben
-vom Kilima herunterrieselnd, die parkartigen Wiesen und die wohlangebauten
-Felder der Eingeborenen bewässern. Überall tauschten wir
-reiche Geschenke und schlossen Freundschaftsbündnisse. Nebenbei wurde
-auch der Jagd gepflegt, die Antilopen, Zebras, Giraffen und Rhinoceros
-in großer Menge ergab.
-</p>
-
-<p>
-Am 28. Mai trafen wir an der Grenze von Leitok-i-tok, dem
-südöstlichen Grenzdistrikt von Massailand ein. Als wir den Rongeibach
-überschritten, stieß unser Freund Mdango in Begleitung zahlreicher
-seiner Krieger zu uns. Sein Bericht war befriedigend. Die ihm
-aufgetragene Botschaft hatte er nicht bloß den Alten und den Kriegern
-des eigenen Stammes, sondern allen Stämmen von Leitok-i-tok bis an
-die Grenzen von Kapte übermittelt und sie zu einem großen Schauri
-am Minjenjeberge &mdash; einen halben Tagmarsch von der Grenze gegen
-<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
-Useri &mdash; eingeladen. Sie waren zahlreich erschienen, El-Morun und
-El-Moran, d. i. verheiratete Männer und Krieger, letztere in einer
-Gesamtstärke von über 3000 Mann, und vorgestern hatten sie vom
-Morgen bis Abend verhandelt. Das Ergebnis war der einstimmige
-Beschluß, uns ein Freundschaftsbündnis anzutragen.
-</p>
-
-<p>
-Bald darauf nahten die Massai in hellen Haufen. Wir luden
-sie in unser Lager, wo wir sie Mann für Mann reichlich beschenkten.
-Zuerst bekam Mdango für seine diplomatischen Bemühungen ein buntes,
-goldgesticktes Ehrenkleid (wo bei Geschenken von &bdquo;Gold&ldquo; die Rede ist,
-welches die Centralafrikaner nicht kennen und nicht schätzen, muß überall
-unechte Waare verstanden werden), eine silberne Taschenuhr, ein Eßbesteck
-aus Weißblech und einige Zinnteller. Die Verwendung und
-Behandlung der letztgenannten Dinge mußte ihm allerdings erst mühsam
-beigebracht werden, doch sei bemerkt, daß Mdangos Uhr von da ab
-stets in gutem Gange blieb und daß er sich bei feierlichen Gelegenheiten
-des Messers und der Gabel mit angemessener Würde bediente.
-</p>
-
-<p>
-Andere Massaigrößen wurden gleichfalls, wenn auch nicht so
-verschwenderisch wie der vielbeneidete Mdango, mit auserlesenen Dingen
-bedacht; alle El-Moran aber erhielten außer Perlenschnüren und Tüchern
-für ihre Mädchen, die vielbegehrte rote Hose, die verheirateten Männer
-farbige Mäntel, und jedes Weib &mdash; Frau oder Mädchen &mdash; das unser
-Lager mit seinem Besuche beehrte, ward durch Bilder, Perlen, Zeuge
-und allerlei broncenen und gläsernen Tand erfreut. Das Verteilen
-dieser Gaben nahm viele Stunden in Anspruch, trotzdem etwa fünfzig
-von uns damit beschäftigt waren. Es hielt eben schwer, in dieser
-entzückt durcheinander schwatzenden und wogenden Masse Ordnung zu
-halten. Erst als die Sonne sich ihrem Untergange zuneigte, verließen
-die letzten Massaimänner unser Lager, während gerade die hübschesten
-der jungen Mädchen und Frauen keine Miene machten, die heimischen
-Penaten aufzusuchen. Die Männer bemerkten es, fanden es jedoch
-sichtlich in der Ordnung, daß ihre Frauen und Töchter so freigebigen
-Fremden auch nach Sonnenuntergang Gesellschaft leisten. So will es
-die Sitte in Massailand, und wir hatten Mühe, uns vor deren
-Konsequenzen zu bewahren, ohne die zwar nach ranzigem Fett duftenden,
-sonst aber selbst nach europäischen Begriffen wohlgebildet zu nennenden
-braunen Damen zu beleidigen.
-</p>
-
-<p>
-Am nächsten Vormittag schritten wir zum Abschlusse des Friedens-
-und Freundschaftsvertrages. Johnston forderte jeglichen Kral &mdash; es
-waren deren 17 aus Leitok-i-tok und 4 aus Kapte vertreten &mdash; auf,
-den Leitunu und Leigonani der El-Moran und je zwei der El-Morun
-zu designieren, die den Vertragsabschluß mit uns vollziehen sollten.
-Dieser Wahlakt ging merkwürdig rasch von statten und schon eine
-Stunde später war die Ratsversammlung, an welcher unsererseits bloß
-<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
-Johnston, ich und 6 Offiziere teilnahmen, unter allerlei Zeremonien
-eröffnet. Zuerst gab es einige Reden, in denen unsererseits die Vorteile
-auseinandergesetzt wurden, die den Massai aus unserer bevorstehenden
-Ansiedelung in ihrer Mitte oder an ihren Grenzen erwachsen würden,
-von Seiten der Massaisprecher hinwieder Versicherungen der Bewunderung
-und Liebe den weißen Freunden gegenüber, die Hauptrolle spielten.
-Dann legte Johnston die Punktationen des Vertrages vor. Dieselben
-lauteten wie folgt:
-</p>
-
-<p>
-1. Die Massai werden uns und unseren Bundesgenossen gegenüber,
-als da sind: die Bewohner von Duruma, Teita, Taweta, Dschalla und
-Useri, unverbrüchlich Frieden und Freundschaft einhalten.
-</p>
-
-<p>
-2. Die Massai werden von keiner von Weißen geführten Karawane
-unter irgend welchem Vorgeben Hongo verlangen, versprechen
-vielmehr, dem Durchzuge derselben in jeder Weise behülflich zu sein,
-insbesondere, so weit ihre Vorräte reichen, gegen billige Bezahlung
-Lebensmittel beizustellen.
-</p>
-
-<p>
-3. Die Massai werden auf unser Verlangen jederzeit El-Moran
-in jeder beliebigen Zahl zu unserer Verfügung stellen, die Geleits- und
-Wachdienste zu leisten haben und uns während der Dauer ihrer Verwendung
-militärischen Gehorsam schuldig sind.
-</p>
-
-<p>
-4. Dagegen verpflichten wir uns, die Massai als unsere Freunde
-anzuerkennen, sie in ihren Rechten zu schützen und ihnen gegen fremde
-Angriffe beizustehen.
-</p>
-
-<p>
-5. Die El-Moran jedes am Bunde teilnehmenden Stammes erhalten
-von uns alljährlich Mann für Mann je zwei Beinkleider aus
-gutem Baumwollstoff und je 50 Schnüre Glasperlen, deren Auswahl
-ihnen überlassen bleibt, oder auf Wunsch andere Waren im gleichen
-Werte. Die El-Morun erhalten je einen Baumwollmantel, die Leitunu
-und Leigonani Beinkleid, Perlen und Mantel.
-</p>
-
-<p>
-6. Die zu Dienstleistungen herangezogenen El-Moran erhalten
-außer voller Verpflegung an Fleisch und Milch je 5 Perlenschnüre
-oder deren Wert als tägliche Besoldung.
-</p>
-
-<p>
-Dieses, von den anwesenden Massai mit den Zeichen unverhohlener
-Befriedigung aufgenommene Aktenstück wurde durch eine symbolische
-Blutverbrüderung zwischen den beiderseitigen Kontrahenten unter vielen
-Feierlichkeiten bekräftigt. Da die in achtungsvoller Ferne lauschende
-Menge dasselbe, als es ihr verlesen ward, mit lautem Freudengeschrei
-aufnahm, so wußten wir, daß die öffentliche Meinung von Leitok-i-tok
-und eines Teiles von Kapte vollkommen gewonnen sei.
-</p>
-
-<p>
-Wir teilten nun unseren neuen Bundesgenossen mit, daß es unsere
-Absicht sei, über Matumbato und Kapte an den Naiwascha-See zu
-ziehen, die unterwegs wohnenden Massaistämme womöglich alle in den
-Bund aufzunehmen und dann entweder über Kikuja oder über Leikipia
-<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
-an den Kenia vorzudringen. Behufs rascherer Herstellung der freundschaftlichen
-Beziehungen mit jenen Stämmen, deren Gebiete wir zu
-durchziehen hätten, verlangten wir die Beistellung einer 50 Mann
-starken Schar El-Moran, die unter Führung unseres &mdash; inzwischen
-unter seinen Landsleuten zu hohem Ansehen gelangten &mdash; Freundes
-Mdango, uns voraufziehen solle. Es geschah wie wir wünschten und
-Mdango fühlte sich durch die auf ihn gefallene Wahl nicht wenig
-geschmeichelt. Aus den 50 El-Moran, die wir forderten, wurden
-übrigens mehr als 500, da sich die jungen Krieger um die Ehre
-stritten, uns dienlich zu sein. Vom Wege über Kikuja aber rieten uns
-die Massai ab. Die Wa-Kikuja sind kein Massaistamm, sondern gehören
-einer ganz anderen Rasse an, die von altersher mit ihnen in steter
-Fehde lebt. Sie wurden uns als verräterisch, feige und grausam
-zugleich geschildert, als Leute ohne Treu und Glauben, mit denen ein
-ehrlicher Bund ganz unmöglich sei. Da wir indessen aus unserer
-civilisierten Heimat her wußten, welches Vertrauen man auf
-das gegenseitige Urteil einander bekämpfender &bdquo;Nationen&ldquo; legen dürfe,
-so machte obige Schilderung vorderhand weiter keinen Eindruck auf
-uns, als daß wir derselben entnahmen, die Wakikuja seien &bdquo;Erbfeinde&ldquo;
-der Massai. Wie sehr im Rechte wir mit unserer Skepsis
-waren, sollte die Folge lehren. Mdango wurde bedeutet, daß es bei
-der ursprünglichen Abrede sein Bewenden habe. Er solle uns in Eilmärschen
-voranziehen, wo möglich bis an die Grenzen von Leikipia,
-dann aber umkehren und uns am Ostufer des Naiwascha-Sees erwarten,
-wo wir drei Wochen von heute an gerechnet das große Bundes-Schauri
-mit den von ihm unterwegs verständigten und berufenen Massai-Stämmen
-abzuhalten gedächten. Was es mit den Wakikuja, die das Gebiet
-östlich vom Naiwascha bewohnen, auf sich habe, würden wir selber
-untersuchen.
-</p>
-
-<p>
-Am ersten Juni um 4 Uhr Morgens brachen wir von Miveruni
-auf. Nach mehrstündigem Marsche lagen die letzten Waldstreifen der
-Kilima-Vorberge hinter uns und wir betraten die kahlen Flächen der
-Ngiriwüste. Der Weg durch diese und an den Limgeriningbergen vorbei
-durch das Hochplateau von Motumbuto bot wenig des Bemerkenswerten.
-Am 6. Juni erreichten wir die Berge von Kapte, längs deren
-Westabhang wir in einer Seehöhe von 1200 bis 1700 Metern dahinzogen,
-zur Linken unter uns die eintönige unabsehbare Dogilaniebene,
-zur Rechten die bis zu 3000 Metern aufsteigenden Kapteberge, an den
-Abhängen meist grasreiches Parkland, auf den Kuppen dunkle Wälder
-zeigend. Zahlreiche Bäche, die stellenweise malerische Wasserfälle bilden,
-rauschen von ihnen hernieder und vereinigen sich im Dogilaniland zu
-größeren Flüssen, die, soweit das Auge sie verfolgen kann, allesamt
-nach Westen ihren Lauf nehmen und in den Ukerewe, diesen größten
-<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
-unter den Riesenseen Centralafrikas, münden. Alle Stämme unterwegs
-nahmen uns wie alte Freunde auf, selbst diejenigen, mit denen
-wir noch kein Bündnis geschlossen hatten. Zu ihnen allen war die
-Wundermär von den weißen Männern gedrungen, die sich bei ihnen
-ansiedeln wollen und die so mächtig und freigebig zugleich seien; Mdangos
-Einladung zum Schauri am Naiwaschasee war überall freudig aufgenommen
-worden, große Scharen waren schon unterwegs. Andere
-schlossen sich uns an oder versprachen nachzufolgen. Von &bdquo;Hongo&ldquo;
-nirgend die Rede, kurzum, wir hatten gewonnenes Spiel in allen Gauen
-des Landes.
-</p>
-
-<p>
-Am 12. erreichten wir die Grenze des Kikujalandes, dem entlang
-der weitere Weg an den Naiwascha sich hinzieht. Die schlimmen Berichte
-über den heimtückischen, häßlichen Charakter dieses Volkes waren
-uns von <a id="corr-10"></a>den Kapte-Massai, ihren unmittelbaren Nachbarn, in verstärkter
-Form wiederholt worden; inzwischen aber hatten wir von anderer
-Seite durchaus verschieden klingende Darstellung erhalten. Unsere
-beiden Damen führten nämlich ein Andorobomädchen mit sich, welches
-sie in Taweta aufgenommen hatten. Die Andorobo sind ein Jägervolk,
-welches ohne festen Wohnsitz durch das ganze ungeheure Gebiet zwischen
-dem Ukerewesee und der Zanzibarküste hin zu finden ist; aus einem
-Stamme dieses Volkes, welcher die Gegenden am Fuße des Kenia,
-nördlich von Kikuja nach Elefanten durchstreift, war Sakemba &mdash; so
-hieß das fragliche ungefähr 18 Jahre zählende Mädchen &mdash; vor zwei
-Jahren von Massai geraubt worden; diese verhandelten sie an eine
-Suahelikarawane, mit welcher sie nach Taweta kam. Das Mädchen
-hatte &mdash; eine Seltenheit bei diesen Rassen &mdash; eine unbesiegliche Sehnsucht
-nach ihrer Heimat, und da meine Schwester und Miß Ellen, in
-Taweta vor uns angelangt, auf Befragen erzählten, sie warteten auf
-eine nach dem Kenia ziehende Karawane, so wandte sich jene mit der
-flehenden Bitte an die Beiden, sie ihrem gegenwärtigen Herrn abzukaufen
-und in ihre Heimat mitzunehmen; dort würden ihre Angehörigen
-gern einige schöne Elefantenzähne an ihre Auslösung wenden. Durch
-das inständige Flehen des Negermädchens gerührt, bewilligten Klara
-und Miß Fox sofort diese Bitte, d. h. sie bezahlten den Herrn, schenkten
-der Andorobo die Freiheit und versprachen ihr, sie mitzunehmen.
-Dieses, als sehr intelligent und über die Verhältnisse ihres Heimatlandes
-wohlunterrichtet sich erweisende Mädchen hatte schon in Miveruni
-gehört, wie schlecht die Massai von den Wakikuja sprachen und bei
-nächster Gelegenheit seinen Beschützerinnen versichert, daß die Sache
-lange nicht so schlimm sei. Massai und Wakikuja seien alte Feinde
-und da sie einander demzufolge gegenseitig möglichst viel Übles zufügen,
-so glaubten und erzählten sie auch alles erdenkliche Böse über einander.
-Wahr wäre allerdings, daß die Wakikuja lieber aus dem Hinterhalt
-<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
-als in offener Feldschlacht kämpften, und so tapfer, als die Massai
-seien sie auch nicht; verräterisch und grausam aber wären sie nur gegen
-ihre Feinde und wer ihr Vertrauen einmal gewonnen habe, der könne
-sich so gut auf sie verlassen, als auf Angehörige irgend eines anderen
-Volkes. Die Andorobo zögen den Verkehr mit den Wakikuja dem mit
-den Massai sogar weit vor, denn sie seien friedfertiger und nicht so
-übermütig wie diese. Der direkte Weg an den Kenia aber führe für
-uns über Kikuja, während die Straße über Leikipia wegen des in
-weitem Bogen zu umgehenden Aberdargebirges um mindestens 6 Tagereisen
-länger wäre.
-</p>
-
-<p>
-Da wir keinen Grund hatten, an der Glaubhaftigkeit dieses Berichtes
-zu zweifeln, dessen letzten, für uns wichtigsten Teil zudem ein
-Blick auf die Karte vollauf bestätigte, so beschlossen wir, es jedenfalls
-mit Kikuja zu versuchen. Während also der größere Teil der Expedition
-unter Johnstons Führung die Straße nördlich an den Naiwaschasee
-weiter verfolgte, schwenkte ich mit 50 Mann und einigem Gepäck bei
-dem Grenzorte Ngongo-a-Bagas östlich ab. Meine Absicht war, bloß
-Sakemba, als Kennerin von Land und Volk, mitzunehmen und die
-zwei Damen bis zu meiner Rückkehr der Obhut Johnstons zu übergeben.
-Allein meine Schwester erklärte, mich um keinen Preis zu
-verlassen und da das Andorobomädchen nicht mir, sondern den Frauen
-gehorchte, überdies aber versicherte, daß für diese schon ganz und gar
-nicht an Gefahr zu denken sei, indem zwischen Massai und Wakikuja
-seit unvordenklicher Zeit der niemals verletzte Brauch bestehe, die
-Weiber gegenseitig selbst mitten im Kriege zu respektieren, eine Versicherung,
-die allseitig &mdash; auch von den Massai &mdash; bekräftigt wurde,
-so waren meine Schwester und Miß Ellen mit von der Partie.
-</p>
-
-<p>
-Sowie wir die Grenze von Kikuja überschritten, nahmen uns gewaltige
-schattige Wälder auf, die jedoch keineswegs &bdquo;undurchdringlich&ldquo;
-genannt werden können, vielmehr das Eigentümliche haben, daß sie an
-sehr zahlreichen Stellen von breiten Durchschlägen durchschnitten sind,
-die geradezu den Eindruck machen, als wären sie von einem geschickten
-Gärtner zur Bequemlichkeit und Erquickung Lustwandelnder angelegt.
-Die Breite dieser nicht eben schnurgeraden, doch in der Regel eine
-bestimmte Richtung einhaltenden Wege schwankt zwischen einem und
-sechs Metern; stellenweise erweitern sich dieselben zu umfangreichen
-Lichtungen, die jedoch mit den eigentlichen Wegen gemein haben, daß
-der Boden mit dem schönsten, dichtesten, kurzen Grase bedeckt ist, und
-daß schattige Kühle in ihnen herrscht. Wodurch diese Durchschläge entstanden
-sind, war und blieb mir rätselhaft. Seitlich von denselben
-giebt es Unterholz zwischen den hochstämmigen Bäumen, stellenweise
-sogar sehr dichtes, und wir konnten ganz gut bemerken, daß dunkle
-Gestalten zu beiden Seiten uns folgten, jede unserer Bewegungen
-<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
-beobachtend und offenbar nicht ganz im Reinen darüber, was sie aus
-uns machen sollten. Daß wir aus dem feindlichen Massailande kamen,
-mochte wohl Mißtrauen erregen, denn wir waren schon zwei Stunden
-lang solcher Art marschiert, ohne daß unsere Begleiter sich hervorwagten.
-</p>
-
-<p>
-Dem mußte ein Ende gemacht werden, da irgend ein unvorhergesehener
-Zwischenfall leicht zu Mißverständnissen und daraus sich ergebenden
-Feindseligkeiten führen konnte; ich fragte daher Sakemba, ob
-sie sich getraue, allein unter die Wakikuja zu gehen. &bdquo;Warum nicht&ldquo;,
-meinte sie, &bdquo;dabei ist so wenig Gefahr für mich, als wenn ich allein
-in die Hütte meiner Eltern träte&ldquo;. Ich ließ also Halt machen, die
-Andorobo schritt furchtlos auf die Büsche zu, hinter denen wir die
-Wakikuja wußten und hinter denen sie alsbald verschwand. Nach Verlauf
-einer halben Stunde kam sie in Begleitung einiger Wakikujaweiber
-zurück, die abgesandt worden waren, die Glaubhaftigkeit von Sakembas
-Aussagen zu untersuchen, d. h. zu sehen, ob wir wirklich allesamt bis
-auf einige Treiber Weiße seien und ob sich &mdash; der sicherste Beweis
-unserer friedlichen Absichten &mdash; wirklich auch zwei weiße Mädchen
-unter uns befänden. Dunkle Gerüchte über uns waren zwar schon bis
-zu den Wakikuja gelangt, allein da die feindlichen Massai die Quelle
-derselben gewesen, so wußten sie nicht, was sie davon glauben sollten.
-Mit der Entsendung der Weiberkommission waren aber die guten Beziehungen
-zwischen uns eingeleitet; einige verschwenderisch gespendete
-Kostbarkeiten gewannen uns sehr bald die Herzen und das volle Zutrauen
-der schwarzen Schönen. Unsere Besucherinnen nahmen sich gar
-nicht Zeit, zu den Männern zurückzukehren, sondern winkten und riefen
-dieselben herbei, welchem Rufe diese denn auch Folge leisteten, so daß
-wir im Handumdrehen von einigen Hundert uns verwundert und noch
-immer etwas scheu anglotzender Wakikuja umgeben waren.
-</p>
-
-<p>
-Nun trat aber ich, begleitet bloß von einem Dolmetsch mitten
-unter sie und fragte, wo ihr Sultan oder ihre Ältesten wären. Sultan
-hätten sie keinen, war die Antwort, sie seien unabhängige Männer;
-ihre Ältesten dagegen seien anwesend, mitten unter ihnen. &bdquo;Dann
-laßt uns sofort ein Schauri halten, denn ich habe Euch Wichtiges mitzuteilen&ldquo;.
-Der Aufforderung zu einem Schauri kann kein Afrikaner
-widerstehen, und so saßen wir denn alsbald im Kreise und ich konnte
-mein Anliegen vorbringen. Zunächst berichtete ich von unseren Heldenthaten
-bei den Massai und wie wir diese zum Friedenhalten mit uns
-sowohl als mit allen unseren Freunden gezwungen, wie nicht minder
-von unserer späterhin bethätigten Freigebigkeit. Darauf versicherte ich,
-daß wir auch die Wakikuja uns zu Freunden zu machen wünschten,
-woraus für sie Ruhe vor den Massai und großer Gewinn von uns
-sich ergeben würde. Wir aber verlangten nichts, als freundliche Aufnahme
-und ruhigen Durchzug durch ihr Gebiet. Sodann ließ ich
-<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
-einen, für solchen Anlaß bereitgelegten Ballen unterschiedlicher Waren
-herbeischaffen, öffnen und erklärte: &bdquo;Das gehört Euch, damit Ihr Euch
-dieser Stunde, in der Ihr uns zum ersten Male gesehen, erinnern
-möget. Niemand soll sagen: &bdquo;&bdquo;Ich saß bei den weißen Männern und
-hielt Schauri mit ihnen und meine Hand blieb leer&ldquo;&ldquo;.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Die Wirkung dieser oratorischen Leistung und mehr noch der ausgebreiteten
-Geschenke ließ nichts zu wünschen übrig. Wegen Verteilung
-der Letzteren entstand zwar eine ausgiebige Balgerei unter unseren zukünftigen
-Freunden, als aber diese glücklich ohne ernsten Unfall vorüber
-war, ging es an Beteuerungen überschwänglicher Zärtlichkeit und Dienstbeflissenheit
-uns gegenüber. Zunächst wurden wir eingeladen, ihre sehr
-geschickt in den Dickungen des Waldes versteckten Hütten mit unserer
-Gegenwart zu beehren, eine Aufforderung, der wir bereitwilligst Folge
-leisteten, vorsichtshalber aber doch darauf achteten, in einer möglichst
-dominierenden Position und nicht all zu sehr zerstreut einquartiert zu
-werden. Auch sorgte ich dafür, daß unausgesetzt einige von unseren
-Leuten in unauffälliger Weise Wache standen. Das Gepäck ließ ich
-unter der Obhut von vier riesigen Doggen, die wir mitgenommen hatten.
-Im übrigen erwies sich der eine Teil dieser Vorsichtsmaßregeln als
-überflüssig; Niemand führte Böses gegen uns im Schilde und auch die
-in den ersten Stunden noch immer hervortretende Ängstlichkeit der
-Wakikuja machte rasch vollkommenster Zutraulichkeit Platz, wobei &mdash;
-nebenbei bemerkt &mdash; die Weiber in sehr entschiedener Weise vorangingen.
-Dagegen zeigte sich die Bewachung der Waren als höchst ersprießlich,
-wie uns alsbald das verzweifelte Zeter- und Hülfegeschrei eines Wakikujajünglings
-bewies, der unsere Ballen, unbewacht wähnend, sich mit einem
-Messer an einen derselben herangeschlichen hatte, dabei aber von einer
-der Doggen kunstgerecht gestellt worden war. Wir befreiten den zu Tode
-Erschrockenen, im übrigen jedoch gänzlich Unverletzten, aus den Fängen
-des gewaltigen Tieres und hatten fernerhin auch kein Attentat auf unsere
-Güter zu besorgen.
-</p>
-
-<p>
-Am nächsten Morgen forderten wir unsere Gastfreunde auf, uns
-noch einige Tagmärsche weit in das Innere ihres Landes in der Richtung
-nach dem Kenia hin zu begleiten und dabei ihre Stammesgenossen, soweit
-sie diese in so kurzer Zeit mit einer Botschaft erreichen könnten,
-zu einem Schauri mit uns zu laden, da wir einen festen Freundschaftsbund
-vereinbaren wollten. Dem wurde bereitwilligst entsprochen und
-so zogen wir denn in Gesellschaft mehrerer Hundert Wakikuja noch zwei
-Tage lang durch den herrlichen Wald, in welchem die Mannigfaltigkeit
-und Pracht der Flora mit jener der Fauna wetteiferte. Unsere Verpflegung
-besorgten dabei die Wakikuja ohne Bezahlung für irgend etwas
-zu nehmen in wahrhaft verschwenderischer Weise. Wir schwammen
-förmlich in Milch, Honig, Butter, allerlei Fleisch- und Geflügelsorten,
-<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
-Mtamakuchen, Bananen, süßen Kartoffeln, Yams und einer großen Auswahl
-sehr wohlschmeckender Früchte. Dabei wunderten wir uns, von
-wo dieser unerschöpfliche Überfluß insbesondere an Feldfrüchten wohl
-stammen möge, denn in den Lichtungen der Wälder, die wir bis nun
-durchzogen hatten, wurde neben Viehzucht zwar auch Feldbau betrieben,
-aber sichtlich doch nur nebenbei. Am Ende des zweiten Tagmarsches
-aber wurde uns das Rätsel gelöst, denn sowie wir den &bdquo;Guaso Amboni&ldquo;
-genannten, nach dem indischen Ocean hin abfallenden recht ansehnlichen
-Fluß erreicht hatten, dehnte sich ein unabsehbares Hochplateau
-vor uns, das, soweit unser Auge reichen konnte, den Charakter eines
-offenen Parklandes trug, in welchem, insbesondere am Saume des von
-uns soeben verlassenen Waldlandes, alle Anzeichen eines sehr intensiven
-Feldbaues zu bemerken waren. Von hier bezieht offenbar Kikuja
-seinen unerschöpflichen Körnerreichtum. Ganz fern im Norden dieses
-Plateaus sahen wir eine mächtige Gebirgsgruppe blauen, in der Luftlinie
-wohl 80 bis 90 Kilometer entlegen, die unsere Führer und
-Sakemba als den Gebirgsstock des Kenia bezeichneten. Man könne von
-hier aus, so versicherten sie, bei klarem Himmel auch den Schneegipfel
-des Hauptberges sehen; derzeit aber sei er in jenen Wolken dort
-verborgen.
-</p>
-
-<p>
-Hier lag es also vor uns, das Ziel unserer Wanderung, und
-mächtige Rührung ergriff uns Alle, als wir, wenn auch vorläufig nur
-aus weiter Ferne, die zukünftige Heimat zum ersten male erschauten.
-Der Keniagipfel aber blieb unsichtbar in Wolken gehüllt während der
-zwei Tage unseres Aufenthaltes an der Ostlisière des Kikujawaldes.
-Wir machten dort in einem entzückenden Haine riesiger Brotbäume Halt,
-wo gastfreie Wakikuja uns ihre Hütten einräumten. Der Ort heißt
-Semba und war als Versammlungsplatz für das große Schauri verabredet
-worden. Wir fanden denn auch eine große Zahl Eingeborener
-bereits versammelt und am nächsten Tage wurde Alles zu größter beiderseitiger
-Zufriedenheit zwischen uns geordnet und festgemacht, so daß wir
-schon am 16. Juni den Rückmarsch antreten konnten, den wir jedoch nicht
-über Ngongo, sondern, einen Nebenfluß des Amboni bis zu dessen nahe
-an 2200 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Quellgebiet verfolgend
-und dann vom Rande der Kikujatafelberge jäh hinabsteigend, direkt auf
-den Naiwascha zu nahmen. Diesen erreichten wir am 19. Abends zwar
-etwas erschöpft, aber wohlbehalten und in köstlichster Stimmung. Wir
-hatten die Sicherheit erlangt, den Kenia um eine gute Woche rascher
-erreichen zu können, als auf dem ursprünglich in Aussicht genommenen
-Wege über Leikipia möglich gewesen wäre.
-</p>
-
-<p>
-Am Naiwascha &mdash; einem von malerischen Bergzügen, deren höchste
-Gipfel sich zu 2800 Meter erheben, umsäumten schönen See von ungefähr
-80 Quadratkilometer Flächenraum, dessen charakteristische Eigenschaft
-<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
-ein fabelhafter Reichtum an Federwild aller Art ist, hatte inzwischen
-Johnston umfassende Vorkehrungen zu dem großen Friedens- und
-Freudenfeste getroffen, das wir den Massai zu geben gedachten. Die
-Botschaft, daß sie von nun ab auch die Wakikuja als in den Kreis
-unserer Freunde gehörig zu betrachten hätten, wurde zwar von den
-El-Moran mit gemischten Gefühlen entgegengenommen; indessen fügten
-sie sich doch ohne Murren und bei dem nun folgenden Feste, an welchem
-auch 50 mit uns angelangte angesehene Wakikuja teilnahmen, wurden
-die neugeknüpften Freundschaftsbande zwischen den Beiden etwas inniger
-gestaltet.
-</p>
-
-<p>
-Dieses Fest aber bestand aus einer zweitägigen großen Schmauserei,
-bei welcher wir nicht weniger als 6000 Gäste &mdash; Weiber und Kinder
-ungerechnet &mdash; mit riesigen Quantitäten Fleisch, Backwerk, Früchten und
-Punsch bewirteten, und dessen Glanzpunkt ein splendides Feuerwerk war.
-150 fette Stierkälber, 260 verschiedene Antilopen, 25 Giraffen, unzählbares
-Federwild, und gar nicht zu übersehende Mengen von Vegetabilien
-wurden in diesen zwei Tagen vertilgt, der Punsch aber in 160
-je 30 Liter fassenden Töpfen gebraut, die im Durchschnitt nicht weniger
-als viermal frisch gefüllt werden mußten. Nichtsdestoweniger kostete
-uns diese kolossale Gastfreundschaft &mdash; vom Feuerwerke abgesehen &mdash;
-fast gar nichts. Denn die Rinder waren Geschenke &mdash; und zwar nur
-ein Teil der uns von zahlreichen Stämmen als Zeichen dankbarer
-Wertschätzung dargebrachten &mdash; das Wild hatten wir natürlich nicht
-gekauft, sondern geschossen, und die Vegetabilien waren hier an der
-Grenze von Kikuja so billig, daß man die Preise eigentlich nur nominelle
-nennen konnte; was dagegen den Punsch anlangt, dessen wichtigster
-Bestandteil bekanntlich Rum ist, ein Saft, der in Massai- und Kikujaland
-&mdash; glücklicherweise &mdash; nicht heimisch ist, so hatten unsere Techniker
-auch diesen dadurch verschafft, ohne unsere ohnehin zur Neige gehenden
-mitgebrachten Vorräte anzugreifen, daß sie denselben an Ort und Stelle
-brannten. Unter den mitgenommenen Maschinen und Geräten befand
-sich nämlich auch eine Destillierblase. Diese wurde ausgepackt, wildwachsendes
-Zuckerrohr war in Menge vorhanden und so gab es alsbald
-Rum in Fülle. Nur wurde dafür Sorge getragen, daß diese Prozedur
-nicht etwa von den Eingeborenen erlauscht und späterhin nachgeahmt
-werde, denn die Rumflasche &mdash; diese Pest der Negerländer &mdash; wollten
-wir nicht unter unseren Nachbarn einbürgern. Den Punsch, den wir
-ihnen servierten, erhielten sie zwar heiß, aber anständig verdünnt, etwa
-10 Teile Wasser auf einen Teil Rum, was übrigens nicht hinderte,
-daß während der zwei Festtage 18 Hektoliter dieses edlen Nasses in den
-improvisierten Bowlen verschwanden. Der Jubel, insbesondere während
-des Feuerwerkes, war unbeschreiblich, und als wir vollends, nachdem
-ein Trompetentusch Stillschweigen geboten hatte, durch stimmkräftige
-<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
-Herolde ausrufen ließen, das Volk der Massai sei von nun an <em>alljährlich</em>
-für den 19. und 20. Juni hier an dieser Stelle von uns zu
-Gaste geladen, wären wir aus purer Begeisterung beinahe in Stücke
-gerissen worden.
-</p>
-
-<p>
-Den 21. Juni weihten wir der Erholung von den Strapazen des
-Festes und der Ordnung des Gepäcks; am 22. wurde der Marsch nach
-Kikuja angetreten. Da wir mit den Lasttieren den von mir auf dem
-Rückwege gewählten Pfad über die steilen Abhänge der das Naiwaschathal
-umsäumenden Berge vermeiden wollten, kehrten wir vorerst nach
-Ngongo-a-Bagas zurück, welches am 24. erreicht wurde. Von hier aus
-beschlossen wir eine Eilbotenverbindung mit dem Meere herzustellen,
-damit die Nachricht von unserem Eintreffen am Ziele, dem wir binnen
-wenigen Tagen entgegensahen, so rasch als möglich nach Mombas und
-von da an den Ausschuß der Internationalen freien Gesellschaft gelangen
-könne. Von Mombas nach Ngongo hatten unsere Ingenieure
-802 Kilometer verzeichnet; wir rechneten nun, daß unsere arabischen
-Hengste, wenn ihnen immer bloß je eine eintägige Anstrengung zugemutet
-würde, während eines solchen Tages bequem 100 Kilometer,
-demnach in 8 Etappen den ganzen Weg in 8 Tagen zurücklegen könnten.
-Es wurden also 16 unserer besten Reiter mit 24 der ausdauerndsten
-Renner zurückbeordert; diese Kuriere erhielten die Anweisung, sich zu
-zweien und zweien in Distanzen von circa 100 Kilometern &mdash; wo böse
-Wegestrecken sind, etwas weniger, wo der Weg leicht ist, etwas mehr &mdash;
-zu verteilen. An Gepäck bekamen sie nebst Waffen und Munition bloß
-so viel europäische Bedarfsartikel und Tauschwaren auf den Weg, als
-die 8 überzähligen Pferde, die zugleich als Reserve dienen sollten, leicht
-zu tragen vermochten. Im übrigen konnten wir uns jetzt darauf verlassen,
-daß sie überall, wo sie längs der von uns durchzogenen Straße
-auf Eingeborene stoßen, mit offenen Armen aufgenommen und reichlich
-verpflegt werden würden. Der gleiche Etappendienst wurde selbstverständlich
-auch zwischen Ngongo und dem Kenia eingerichtet; da diese
-Wegestrecke 193 Kilometer maß, so genügten hier zwei Etappen, so daß
-ihrer im ganzen zehn waren; dabei wurde also vorausgesetzt, daß eine
-Nachricht vom Kenia nach Mombas in zehn Tagen gelangen werde &mdash;
-was sich denn auch als richtig erwies.
-</p>
-
-<p>
-Der Marsch durch das Waldland von Kikuja, der am 25. Juni
-angetreten wurde, vollzog sich ohne jeden Zwischenfall. Als wir zeitlich
-am Morgen des 27. in das offene Land eintraten, umfing uns zuerst
-dichter Nebel, der von uns Kaukasiern bloß insofern unangenehm empfunden
-wurde, als er uns jegliche Aussicht benahm, unsere Suahelileute
-dagegen, die eine Temperatur von 12 Grad Celsius, verbunden
-mit Feuchtigkeit noch niemals erlebt hatten, zum Zähneklappern brachte.
-Für die Nordländer und insbesondere für die Gebirgsbewohner unter
-<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
-unter uns hatten die wallenden, vom Dufte balsamischer Bäume und
-Sträucher durchtränkten Nebelmassen sogar etwas anheimelndes. Da
-&mdash; es war gegen 8 Uhr &mdash; erhob sich plötzlich eine von Norden her
-wehende leichte warme Brise, mit zauberhafter Schnelle teilten sich die
-Nebel, und vor uns lag im strahlenden Glanze des sieghaften Tagesgestirnes
-eine Landschaft, deren überwältigende Großartigkeit jeder Beschreibung
-spottet. Hinter uns und seitlich zu unserer Linken der
-wundervolle Wald, den wir erst kürzlich verlassen; unmittelbar vor uns
-ein sanft abfallendes Gelände, in welchem smaragdne Wiesen mit dunkeln
-Bananenhainen und kleinen Flecken wogender Saat abwechselten.
-Der Boden überall mit leuchtenden Blumen bedeckt, deren süßen Duft
-uns die laue Brise in berauschender Fülle entgegentrieb; kleine Gruppen
-hoher Palmen, einzelne riesenhaft sich ausbreitende Feigen, Platanen,
-Sykomoren da und dort zerstreut, und all das belebt von zahlreichen
-Herden des verschiedensten Wildes. Hier tummelt sich übermütig eine
-Schar von Zebras, dort weiden ruhig einige Giraffen zwischen zierlichen
-Antilopen; links jagen sich grunzend zwei ungeschlachte Nashörner, ein
-Rudel von 20 Elefanten zieht einige tausend Meter von uns dem
-Walde zu, und in noch größerer Ferne trottet eine nach Hunderten
-zählende Herde Büffel dem gleichen Ziele entgegen.
-</p>
-
-<p>
-Unabsehbar dehnt sich dieses herrliche Land nach Ost und Südost,
-durchschnitten von einem breiten Silberbande, dem Guaso Amboni, der
-etwa 8 Kilometer vor uns und vielleicht 100 Meter tiefer gelegen als
-unser Standplatz, seine Fluten nach Osten trägt und soweit wir es
-übersehen können, mindestens ein Dutzend von Quellbächen von beiden
-Seiten der ihn einfassenden Abdachung aufnimmt. Die von der Südseite
-&mdash; auf welcher wir uns befinden &mdash; entsprungen aus dem Kikujawalde,
-sind die kleineren; die von der Nordseite sind unvergleichlich
-wasserreicher und mächtiger, denn ihr Quellland ist der Kenia. Und
-dieser Riese unter den Bergen Afrikas, dessen Massiv ein Areale von
-reichlich 2000 Quadratkilometern deckt, und dessen Gipfel nahezu 6000
-Meter hoch gen Himmel ragt, zeigt sich jetzt zum ersten Male unseren
-trunkenen Blicken, ein trotz der Entfernung von gut 80 Kilometern in
-der Luftlinie sich vom tiefdunkeln Firmament scharf abhebendes riesiges
-Eisfeld und darüber hinausragend zwei krystallklare Spitzen.
-</p>
-
-<p>
-Selbst unsere Suahelis, die sonst Naturschönheiten gegenüber stumpf
-sind, brechen bei diesem Anblicke in betäubendes Jubelgeschrei aus; wir
-Weißen aber stehen in Entzücken versunken, drücken uns stumm die
-Hände und gar Mancher wischt verstohlen eine Thräne aus dem Auge.
-Das Land der Verheißung liegt vor uns, schöner, herrlicher, als wir
-zu träumen gewagt, die Wiege einer beglückenden Zukunft für uns und,
-wenn unser Hoffen und Wollen nicht eitel ist, noch für die spätesten
-Geschlechter.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
-Von da ab war&rsquo;s, als ob unsere Füße und die unserer Tiere
-Flügel bekommen hätten. Die reine, erquickende Luft dieses schönen
-Tafellandes, erfrischt durch die vom Kenia kommenden Winde, der angenehme
-Weg auf weichem kurzem Grase und die vortreffliche leichte
-Verpflegung ermöglichten uns bisher unerreichte Marschleistungen. Am
-Abend des 27. überschritten wir die Ostgrenze von Kikuja, wo wir
-uns reichlich verproviantieren mußten, weil von da ab gänzlich unbewohntes
-Gebiet begann, durchstreift bloß von wandernden Andorobo.
-Das Land glich, so weit das Auge reichte, einem Garten, aber der
-Mensch hatte noch nicht Besitz ergriffen von diesem Paradiese. Den
-28. und die größere Hälfte des 29. zogen wir dahin durch blumige
-Wiesen und malerische Wäldchen, über murmelnde Bäche und ansehnliche
-Flüsse; aber Giraffen, Elefanten, Nashörner, Büffel, Zebras, Antilopen
-und Strauße, an den Flußufern Nilpferde und Flamingos waren
-die einzigen lebenden Wesen, denen wir begegneten. Die meisten dieser
-Tiere waren so wenig scheu, daß sie unserem Zuge kaum auswichen, ja
-einige übermütige Zebras begleiteten uns unter Kapriolen und herausforderndem
-Gewieher eine Strecke weit. Am Nachmittag des 29. betraten
-wir den gewaltigen, in unabsehbarer Linie vor uns sich dehnenden
-Hochwald, durch dessen dichtes Unterholz die Axt unserer Pioniere uns
-Bahn hauen mußte. Das Terrain, schon seit zwei Tagen, seitdem wir
-nämlich den Amboni überschritten hatten, allmählich ansteigend, wurde
-jetzt steiler; wir waren am Fuße der Keniaberge angelangt. Die Waldzone
-erwies sich jedoch als ein bloßer Gürtel von verhältnismäßig geringer
-Breite, jenseits dessen wir schon am Vormittag des 30. wieder
-offenes welliges Vorland betraten. Als wir den Rücken einer der vor
-uns gelagerten Erhöhungen erreicht hatten, lag vor uns, fast mit
-Händen zu greifen, der Kenia in der ganzen eisigen Pracht seiner
-Gletscherwelt.
-</p>
-
-<p>
-Wir waren am Ziele!
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-3-5">
-<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
-5. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Am Morgen nach unserer Ankunft am Kenia war meine erste
-Sorge &mdash; denn von da ab überging die Leitung der Expedition in
-meine Hände &mdash; das ausführliche, die bisherigen Ereignisse schildernde
-Tagebuch und einen kurzen Schlußbericht an unsere Freunde in Europa
-zu expedieren. Ich erklärte in diesem Berichte, daß wir dafür einstehen
-könnten, bis zur nächsten Ernte, d. i. also nach afrikanischem Kalender
-bis Ende Oktober dieses Jahres, alles zum Empfange von vielen Tausenden
-unserer Brüder vorbereitet zu haben; ebenso könnten wir versprechen,
-von Mombas zum Kenia einen für langsam fahrendes Fuhrwerk
-vollkommen geeigneten Weg bis längstens Ende September fertig
-zu stellen und Zugochsen in genügender Zahl herbeizuschaffen. Ich
-forderte die Gesellschaftsleitung auf, ihrerseits den rechtzeitigen Bau
-geeigneter und genügender Wagen zu veranlassen und machte mich anheischig,
-jede beliebige, uns rechtzeitig angekündete Zahl einwandernder
-Mitglieder, vom 1. Oktober angefangen, gefahrlos und so bequem, als
-angesichts der gebotenen Transportmittel nur immer möglich, in die
-neue Heimat zu befördern. Zum Schlusse bat ich um sofortige Nachsendung
-einiger hundert Zentner verschiedener Waren in Begleitung
-einer neuen Schar kräftiger junger Mitglieder.
-</p>
-
-<p>
-Die zwei Kuriere mit dieser Depesche &mdash; die Kuriere hatten nämlich
-überall zu zweien zu reisen &mdash; ritten am 1. Juli vor Morgengrauen
-ab; pünktlich am 10. Juli war die Depesche in Mombas, am 11. in
-Zanzibar, am selben Tage noch hatte der Ausschuß meinen ihm von
-Zanzibar telegraphisch durch unseren Bevollmächtigten weiterbeförderten
-Bericht in Händen, während er das per Postschiff gehende Tagebuch
-allerdings erst zwanzig Tage später erhielt; noch am Abend des gleichen
-Tages war die Rückantwort in Zanzibar und am 22. Juli schon konnte
-<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
-ich dieselbe den gleich mir über dieses erste Lebenszeichen von den fernen
-Freunden seltsam bewegten Brüdern vorlesen. Sie war sehr kurz:
-&bdquo;Dank für hocherfreuliche Nachricht; Mitgliederzahl derzeit 10000 überschritten;
-Wagen für je 10 Personen und 20 Zentner Last nach Bedarf
-bestellt; werden von Ende September ab successive in Mombas eintreffen;
-260 Reiter mit 300 Tragtieren und 800 Zentner Waren gehen
-Ende Juli ab. Bitten um möglichst häufige Nachricht.&ldquo; Letzterem
-Wunsche war inzwischen meinerseits schon entsprochen worden, denn
-nicht weniger als fünf fernere Depeschen hatte ich zwischen dem 6. und
-21. Juli expediert. Was dieselben enthielten, wird sich am besten aus
-dem weiteren Laufe der Erzählung über unsere Erlebnisse und Arbeiten
-ergeben. Und zwar sind von da ab zweierlei Vorgänge zu unterscheiden:
-Kulturarbeiten zur Installierung der neuen Heimat am Kenia,
-und Vorkehrungen behufs Sicherstellung und Erleichterung des Verkehrs
-mit der Küste.
-</p>
-
-<p>
-Unser Lager hatten wir am Abend des letzten Juni am Ufer eines
-ansehnlichen Flusses aufgeschlagen, des wasserreichsten, den wir bisher
-getroffen. Die Breite desselben betrug 30 bis 40 Meter, seine Tiefe
-schwankte zwischen 1 und 3 Metern. Seine Fluten waren klar und
-kühl, sein Gefäll jedoch ein auffallend mäßiges. Er durchströmte von
-Nordwest nach Südost ein muldenartig sanft eingebuchtetes Plateau von
-nahezu 30 Kilometer Länge, welches sich halbmondförmig an die Vorberge
-des Kenia schmiegte; dessen größte Breite in der Mitte betrug
-14 Kilometer, während es sich am Westende bis auf 1½, am Ostende
-bis auf 4 Kilometer verengte. Diese etwa 260 Quadratkilometer bedeckende
-Mulde war durchweg saftiges Grasland, bestanden von zahlreichen
-kleinen Palmen-, Bananen- und Sykomorenhainen. Begrenzt
-war dieselbe im Süden von den grasbedeckten Hügeln, die wir überschritten
-hatten, im Westen von schroffen Felswänden, im Norden teils
-von dunkeln Waldbergen, teils gleichfalls von kahlen, himmelanstrebenden
-Felsen, welche die Aussicht nach dem hinter ihnen liegenden Kenia-Massiv
-benahmen; im Osten zeigte sich zwischen den Hügeln des Südens
-und den Felsen des Nordrandes eine Lücke, durch welche der Fluß
-seinen Abzug fand, und zwar, wie von dorther trotz der großen Entfernung
-herübertönendes Donnern und Brausen anzeigte, in Form eines
-mächtigen Wasserfalls, der sich als ein solcher von 95 Metern Fallhöhe
-ergab. Seinen westlichen Eintritt in das Plateau fand dieser Fluß,
-der sich späterhin als der Oberlauf des an der Wituküste in den indischen
-Ozean mündenden Dana erwies, durch ein enges Felsenthor, durch
-welches wir vorerst nicht weiter vorzudringen vermochten. Vom Norden
-her, den Abhängen der Keniavorberge entlang, eilten dem Dana vier
-größere und zahlreiche kleinere Bäche zu, die während ihres Laufes
-über die Felsenschroffen eine Menge mehr oder minder malerischer
-<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
-Kaskaden bildeten. Die Seehöhe dieses, einem großen Tierparke gleichenden
-Plateaus war, an seinem tiefsten Punkte, dem Spiegel des Flusses
-gemessen, 1740 Meter.
-</p>
-
-<p>
-Noch während wir uns mit der näheren Untersuchung dieser Hochebene
-beschäftigten, sandte ich mehrere Expeditionen aus mit der Aufgabe,
-möglichst tief in das Keniagebirge einzudringen, um von beherrschenden
-Höhen aus genauen Einblick in die Gestaltung und Beschaffenheit
-des vor uns liegenden Gebietes zu erlangen. Denn so
-ausnehmend uns allen auch die Landschaft gefiel, in deren Mitte wir
-lagerten, so wollte ich mich doch nicht entschließen, den Grundstein zu
-unserer ersten Ansiedelung zu legen, bevor ich zum mindesten oberflächlichen
-Überblick über das Gesamtgebiet des Kenia gewonnen hätte. Die
-Auskünfte, die uns diesbezüglich Sakemba erteilen konnte, erwiesen sich
-als dürftig und ungenügend. Wir waren daher sehr erfreut, als sich
-acht Eingeborene, die wir als Andorobo erkannten, vor unserem Lager
-zeigten. Sie hatten in der vorigen Nacht unsere Lagerfeuer bemerkt
-und wollten nun sehen, wer wir seien. Sakemba, die ihnen entgegenging,
-machte sie rasch zutraulich und nun hatten wir ortskundige Führer,
-wie wir sie nur wünschen konnten. Was wir zunächst von ihnen verlangten,
-war ihnen mit Hilfe Sakembas bald begreiflich gemacht, acht
-verschiedene Expeditionen unter Führung je eines Andorobo zogen aus
-und kehrten &mdash; die erste schon am Abend des nächsten Tages, die letzte
-erst nach Verlauf von sieben Tagen, mit ziemlich erschöpfenden Berichten
-zurück.
-</p>
-
-<p>
-Dem Gipfel des Kenia war keine auch nur nahe gekommen. Dagegen
-hatten sie von verschiedenen leichter zugänglichen Punkten des
-Hauptstockes, zum Teil aus Höhen von nahezu 5000 Metern, großartige
-Rundsichten erlangt. Danach war die offenste, für Viehzucht und
-Ackerbau günstigste Seite des Kenia gerade diejenige, von welcher wir
-uns genaht hatten. Auch im Osten und Norden dehnte sich anscheinend
-sehr fruchtbares Vorland, doch war dasselbe im Osten recht monoton,
-ohne jene nicht bloß malerische, sondern auch mannigfache praktische
-Vorteile bietende Abwechselung von offenem Land und Wald, Hügel
-und Ebene, die wir im Süden getroffen; das Land im Norden hinwieder
-schien zu feucht; im Westen dehnten sich endlose, nur von wenig
-offenem Land unterbrochene Wälder. All das konnte späterhin ohne
-Zweifel in üppiges Kulturland umgewandelt werden; vorläufig aber war
-selbstverständlich bereits kulturfähiger Boden vorzuziehen. Das Innere
-der Gebirgswelt vor uns erfüllten hohe Waldberge und Felsen, durchkreuzt
-von zahllosen Thälern und Schluchten. Diese Vorberge treten
-von allen Seiten nahe an das schroff emporsteigende Hauptmassiv des
-Kenia heran; nur im Südwesten, etwa fünf Kilometer entfernt vom
-Westende unseres Plateaus, treten die Vorberge zurück, den Raum
-<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
-freilassend für eine ausgedehnte offene Thalmulde, in deren Mitte auch
-ein See sich befindet, dessen Abfluß der Dana ist. Den Flächeninhalt
-dieses Thales schätzten unsere Kundschafter auf ungefähr 150 Quadratkilometer
-und alle stimmten darin überein, daß es sehr fruchtbar und
-seiner Lage nach ein wahres Wunder an Schönheit wäre. Zugänglich
-aber sei dieses Thal am besten durch die Schlucht, aus welcher der
-Dana hervorbreche, nur müsse dieselbe, so lange geeignete Wasserfahrzeuge
-fehlen, nicht unmittelbar von unserem Plateau aus, sondern auf
-dem Umwege über ein südlich einmündendes kleines Seitenthal betreten
-werden.
-</p>
-
-<p>
-Diese Nachricht empfing ich am 3. Juli. Am nächsten Tage schon
-war ich, ohne die Rückkehr zweier noch fehlender Expeditionen abzuwarten,
-unterwegs nach diesem vielgepriesenen Seethale. Der bezeichnete
-und in der That sehr praktikabel sich erweisende Weg führte von
-unserem Lagerplatze zunächst an das Westende des Plateaus, dann südlich
-ausbiegend und einen kleinen felsigen Waldberg umgehend, zu einem
-nach Nordosten ziehenden engen Thale, welches seinerseits in die vom
-Dana durchflossene Schlucht mündete, die jedoch hier weder so eng,
-noch so ungangbar war, wie beim Austritte in die Hochebene. Diese
-Schlucht aufwärts verfolgend, standen wir nach einer Stunde plötzlich
-inmitten des gesuchten Thales.
-</p>
-
-<p>
-Der Anblick, der sich uns hier bot, war geradezu unbeschreiblich.
-Man denke sich ein 18 Kilometer langes, an seiner breitesten Stelle 12
-Kilometer messendes, mit beinahe geometrischer Regelmäßigkeit aufgebautes
-Amphitheater, dessen Halbkreis durch einen Kranz sanft aufsteigender,
-100 bis 150 Meter hoher Waldhügel, dessen Grundlinie dagegen
-durch die jäh und schroff sich emportürmenden Felswände des
-Kenia gebildet wird, von deren Höhe, die Wolken überragend, die
-schneeigen Firnen herniederleuchten. Den Boden dieses majestätischen
-Amphitheaters deckt auf der einen, dem Kenia zugewandten Seite, ein
-tiefblauer, klarer See, zur anderen ein blumiges Park- und Wiesenland.
-Das Publikum, welches diese Arena füllt, sind zahllose Elefanten,
-Giraffen, Zebras, Antilopen; und das Stück, welches in demselben zur
-Aufführung gelangt, betitelt sich: Die Kaskaden des Keniagletschers.
-Hoch oben, in unerreichbarer Höhe, entspringen unter dem Kuß der
-glühenden Sonne zahllose Wasseradern den bläulich und grünlich
-strahlenden Eisklüften; schäumend und funkelnd, bald zerstäubt in alle
-Farben des Regenbogens, bald vereint in weißlichem Glaste, eilen sie
-hernieder, stets kräftiger anwachsend, stets unbändiger tobend, bis endlich
-der gesamte Schwall sich vereinigt zu <em>einem</em> mächtigen Flusse, der
-nun mit donnerndem Tosen, das bei günstiger Windrichtung selbst da
-unten, in einer Entfernung von gut 10 Kilometern, deutlich zu hören
-ist, seiner Gletscherheimat enteilt und den Felsschroffen zustürmt; dort
-<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
-angelangt aber stürzt die ganze kolossale Wassermasse, dieselbe, die
-wenige Kilometer weiter den Dana bildet, 500 Meter tief jäh herab,
-in Atome zerstäubend, zu einer Regenbogenwolke umgestaltet. Der Fluß
-ist urplötzlich in den Lüften verschwunden, vergebens sucht dein Auge
-die Fortsetzung seines Laufes auf den schwarz gleißenden Klippen; erst
-500 Meter weiter unten sammeln sich die fallenden Nebelmassen wieder
-zu fließendem Wasser, um von da ab in kleineren Absätzen dumpf
-brausend und grollend dem See auf gewundenen Umwegen zuzueilen.
-</p>
-
-<p>
-In sprachloses Entzücken versunken standen wir lange vor diesem
-Naturwunder sonder gleichen, dessen unsägliche Majestät und Schönheit
-Worte nicht schildern können. Gierig sog das Auge die Flut von Licht
-und Farbenglanz, gierig das Ohr den aus märchenhafter Höhe herabklingenden
-Ton der Wässer, gierig die Brust das duftgeschwängerte Labsal
-ein, welches als Atmosphäre dieses Zauberthal durchfächelt. Zuerst
-fand das Weib in unserer Mitte, Ellen Fox, wieder Worte. Einer
-verzückten Seherin gleich hatte sie lange dem Spiel der Wässer zugeschaut;
-da rief sie plötzlich, als ein stärkerer Windhauch den Nebelschleier
-des Wasserfalles, der soeben noch einen schillernden, schwertähnlich
-geschwungenen Streifen gebildet hatte, vollends verwehte: &bdquo;Seht
-hin, das Flammenschwert des Erzengels, welches den Eingang zum
-Paradiese bewacht hat, ist bei unserem Erscheinen zerstäubt; &bdquo;Eden&ldquo;
-laßt uns diesen Ort nennen!&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Daß dieses Thal &mdash; der Name Eden wurde für dasselbe einhellig
-acceptiert &mdash; unser zukünftiger Wohnort sein müsse, stand bei uns allen
-sofort fest. Eine nähere Untersuchung desselben ergab, daß dessen Gesamtfläche
-160 Quadratkilometer betrug. Davon entfallen auf den, in
-Form einer langgestreckten Ellipse unter dem Keniaabhange sich ausdehnenden
-See 35, auf den die Höhen umsäumenden Wald 40 Kilometer;
-95 Kilometer sind offenes Parkland, welches den See bis auf
-einige Stellen, wo die Keniafelsen unmittelbar in ihn abfallen, rings
-umgiebt, im Nordosten, dem Kenia zu, in schmalen Streifen, auf den
-anderen drei Seiten in einer Breite von 1 bis 7 Kilometern. Der
-den Abfluß des Keniagletschers bildende Dana mündet am Nordwestende
-des Sees in diesen und verläßt ihn am Südostende. Seine Wasser,
-schon vor ihrem Eintritt in den See nicht so kalt, als man nach ihrem
-Ursprunge unmittelbar aus dem Gletscher da oben vermuten sollte, erwärmen
-sich hier mit merkwürdiger Raschheit; die Temperatur des Sees
-erreicht an heißen Tagen bis zu 24 Grad Celsius. Außer dem Dana
-münden in den Edensee noch mehrere Quellen, die teils den Keniaklippen,
-teils den <a id="corr-14"></a>Abhängen der seitlich und gegenüber gelagerten Berge entspringen.
-Wir zählten deren nicht weniger als elf, darunter eine heiße,
-deren Temperatur 52 Grad Celsius betrug.
-</p>
-
-<p>
-Daß wir in den vier Tagen bis zur Entdeckung von Edenthal
-<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
-nicht müßig gewesen, versteht sich von selbst. Zunächst hatten sich schon
-am 1. Juli, wenige Stunden nach den mit den ersten Depeschen entsandten
-Kurieren, die zur Herstellung geregelter Verbindung mit Mombas
-bestimmten Expeditionen auf den Weg gemacht. Es waren deren zwei; die eine
-unter Leitung Demestres&rsquo; und dreier anderer Ingenieure, sollte die Straße
-bauen, die andere unter Leitung Johnstons, das erforderliche Zugvieh &mdash; dessen
-Menge einstweilen auf 5000 Stück Ochsen präliminiert war &mdash; auftreiben
-und die Verproviantierung längs der ganzen Wegstrecke sicherstellen.
-Ersterer wurden 20 unserer Mitglieder und 200 unserer Suahelileute
-nebst einem Train von 50 Tragtieren mitgegeben; Johnston bekam
-bloß 10 der Unseren, 20 Tragtiere und 10 Schäferhunde mit.
-Wie diese Expeditionen ihre Aufgabe lösten, davon später.
-</p>
-
-<p>
-Bei mir am Kenia blieben, da ich bis nun insgesamt 53 der
-Unseren, 200 Suahelis und 131 Reit- und Tragtiere entsendet hatte,
-von letzteren überdies auf dem Marsche 9 zugrunde gegangen waren,
-149 Weiße, 80 Suahelis und 475 Tiere &mdash; die Hunde und Elefanten
-ungerechnet. Außerdem waren uns aber einige hundert Wakikuja gefolgt,
-die sich bereitwilligst zu beliebigen Dienstleistungen erboten. Von
-diesen behielt ich 150 der anstelligsten zurück, die anderen sandte ich &mdash;
-begleitet von fünf der Unserigen &mdash; noch am 1. Juli in ihre Heimat,
-mit dem Auftrage, 300 kräftige Zugochsen, 150 Kühe, 400 Schlachtochsen
-und einige tausend Zentner verschiedener Sämereien und Nahrungsmittel
-einzukaufen und successive an den Kenia zu befördern. Nachdem
-ich dies erledigt, verteilte und übergab ich die mannigfaltigen Arbeiten,
-die uns nun zunächst zu beschäftigen hatten, sachverständigen Händen.
-Einer unserer Techniker erhielt die Feldschmiede und Schlosserei, ein
-anderer die Sägemühle zugewiesen &mdash; dazu selbstverständlich die entsprechenden
-Arbeitskräfte; zum Holzfällen war eine besondere Sektion
-bestimmt, eine andere sollte die landwirtschaftlichen Geräte in Stand
-setzen und ergänzen. Einer der am Kenia zurückgebliebenen Ingenieure
-hatte mit 100 Schwarzen die Herstellung geeigneter Kommunikationen
-in dem zu besiedelnden Gebiete, insbesondere den Bau von Brücken
-über den Dana zu bewerkstelligen.
-</p>
-
-<p>
-Am 5. Juli fand die Übersiedelung in das Edenthal statt. Das
-Terrain wurde genau vermessen und zuvörderst rings um den See die
-zukünftige Stadt abgesteckt, mit ihren Straßen und Plätzen, öffentlichen
-Gebäuden und Belustigungsorten. Dieser &mdash; zunächst allerdings bloß
-in unserem Geiste existierenden Stadt &mdash; reservierten wir vorerst einen
-Raum für 25000 Familienhäuser, deren jedem auch ein ansehnliches
-Gärtchen zugedacht war, was insgesamt 35 Quadratkilometer beanspruchte.
-Außerhalb dieses Bauareals &mdash; das späterhin nach Bedarf
-beliebig ausgedehnt werden mochte &mdash; wurden 1000 Hektaren als
-vorläufiger Ackergrund ausgesucht; sie erhielten ein Netz kleiner Bewässerungskanäle
-<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
-und sollten so bald als möglich eingefriedigt werden,
-zum Schutze gegen die Invasion des zahllos umherschwärmenden Wildes,
-wie nicht minder unserer Haustiere, die bei Nacht in einem
-starken Pferch untergebracht, bei Tag dagegen, sofern man ihrer nicht
-bedurfte, unter der Hut einiger Suaheli und der Hunde im Freien
-weideten.
-</p>
-
-<p>
-Inzwischen hatte die Sägemühle, die wir nicht mit nach Eden genommen,
-sondern am Danaplateau belassen und dort unter Benutzung
-der Wasserkraft eines der vom Gebirge herniederrauschenden Bäche hart
-am Flusse errichtet hatten, ihre Arbeit begonnen. Die ersten Bretter
-und Pfosten, welche sie lieferte, wurden zur Erbauung zweier größerer
-Flachboote benutzt, auf denen dann sofort der Transport des gewonnenen
-Bauholzes den Fluß aufwärts nach dem Edensee begann. Wenige
-Wochen später erhoben sich an dessen Ufern vierzig geräumige Holzbaracken,
-in welche nun wir Weiße aus den bisher bewohnten engen Lagerzelten
-übersiedelten; die Neger zogen es vor, in den Grashütten zu
-bleiben, die sie sich unter dem Schutze eines Wäldchens errichtet. Gleichzeitig
-bekam das Vieh seinen Pferch, der hoch und stark genug war, um
-jeder vierfüßigen Invasion unübersteigliche Schranken zu ziehen. Dieser
-Pferch bot Raum für ungefähr zweitausend Tiere und war überdies
-mit einem gedeckten Raume versehen, der bei Regenwetter Schutz
-gewährte.
-</p>
-
-<p>
-Schon am 9. Juli hatten unsere Schmiede, Wagner und Zimmerleute
-zehn von den mitgebrachten Pflugscharen zu Pflügen ergänzt;
-gleichzeitig war aus Kikuja der erste Viehtransport &mdash; 120 Ochsen und
-50 Kühe samt 200 Schafen und zahllosem Geflügel eingetroffen. Sofort
-wurden unter Anleitung unserer Ackerbauer Pflügeversuche gemacht.
-Die Kikujaochsen sträubten sich zwar ein wenig gegen das Joch und
-auch das Gehen in der Ackerfurche leuchtete ihnen anfangs nicht ein;
-binnen drei Tagen aber hatten wir sie doch so weit, daß sich mit ihnen,
-zu achten vor den Pflug gespannt, leidlich ackern ließ. Dieser Kraftaufwand
-war notwendig, da der schwarze, fette Boden, gebunden überdies
-durch die üppige Grasnarbe, sich außerordentlich schwer aufbrechen
-ließ. Jedes Ochsenpaar mußte zwar anfangs seinen eigenen Treiber
-haben und die Ackerfurchen liefen trotzdem nicht so schnurgerade, wie
-von civilisierten Ochsen gefordert wird; aber umgebrochen wurde der
-Boden doch und binnen verhältnismäßig kurzer Zeit hatten die Tiere
-weg, worauf es bei ihrer Arbeit ankam und leisteten dieselbe von da
-ab zur vollsten Zufriedenheit. Am 15. Juli kamen mit Hilfe inzwischen
-neu angelangter Ochsen fünfzehn fernere Pflüge in Verwendung, ebensoviel
-am 20. Mit diesen vierzig Pflügen waren bis zu Ende des
-Monats 300 Hektaren gepflügt, die sodann geeggt und gewalzt, soweit
-der Vorrat reichte mit unseren mitgebrachten Sämereien &mdash; hauptsächlich
-<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
-Weizen und Gerste, zu reichlich drei Vierteilen dagegen mit afrikanischem
-Weizen und Mtamakorn bestellt, und schließlich wieder eingewalzt
-wurden. In der zweiten Augusthälfte war diese Arbeit gethan,
-kurze Zeit darauf das ganze Ackerareal eingehegt, und wir konnten getrost
-der nun beginnenden kleinen Regenzeit entgegensehen.
-</p>
-
-<p>
-Inzwischen war auch ein &mdash; vorläufig bloß 10 Hektare umfassender
-&mdash; Garten angelegt worden, etwas entfernter vom Weichbilde der
-zukünftigen Stadt als das Ackerland, denn während letzteres bei dem
-zu gewärtigenden Wachstume der Stadt leicht weiter hinaus verlegt
-werden konnte, mußte für den Garten ein möglichst dauernder Standort
-gesucht werden, also ein solcher, der außerhalb des Weges der
-zukünftigen städtischen Entwickelung lag. Da wir nicht weniger als
-achtzehn geschickte Gärtner besaßen und diesen Suaheli und Wakikuja
-als Gehilfen nach Bedarf an die Hand gegeben wurden, so gelang es,
-binnen wenigen Monaten die ganzen 10 Hektaren mit den erlesensten
-Obst- und Beerenarten, Gemüsen, Blumen, kurzum mit Nutz- und
-Zierpflanzen aller Art zu besetzen, die wir teils aus der alten Heimat
-herübergebracht, teils unterwegs vorgefunden und mitgenommen, teils
-am Kenia und in dessen Umgebung angetroffen hatten. Auch der
-Garten wurde mit einem Netze kleiner Bewässerungskanäle versehen und
-durch einen starken hohen Zaun gegen unliebsame Besuche gesichert.
-</p>
-
-<p>
-Die Bestellung der Felder, Gartenbau und Jagd hatten nicht alle
-uns zur Verfügung stehenden Kräfte absorbiert. Es waren gleichzeitig
-mehrere praktikable Fahrwege rings um den Edensee, längs des Flusses
-bis zum Ostende des Plateaus und von diesem Hauptstrange aus abzweigend
-nach mehreren anderen Richtungen unseres Gebietes hergestellt
-worden. Man darf sich darunter keine Kunststraßen vorstellen, es waren
-eben Feldwege, die jedoch die Beförderung ganz ansehnlicher Lasten
-ohne sonderliche Kraftverschwendung ermöglichten. Der Dana wurde
-an drei Stellen für Fuhrwerk und an zwei anderen für Fußgänger
-überbrückt; sonst waren nur an zwei kurzen Strecken Kunstbauten erforderlich
-gewesen: am Ende der Schlucht, die den Dana aus Edenthal
-nach dem großen Plateau führt, und an einer der in den See abfallenden
-Keniaklippen. An diesen beiden Orten mußten mehrere Kubikmeter
-Felsen weggesprengt werden, damit am Ufer Raum für einen
-Weg geschaffen werde.
-</p>
-
-<p>
-Da inzwischen auch Wagnerei und Feldschmiede nicht stille gestanden
-hatten, so waren gleichzeitig mit den Wegen auch mehrere tüchtige
-Wagen und Karren fertig geworden, die alsbald nützliche Verwendung
-fanden.
-</p>
-
-<p>
-Größere Arbeit beanspruchte die Herstellung der Mahlmühle. Dieselbe
-wurde mit zehn kompleten Mahlgängen am Oberlaufe des Dana,
-einen Kilometer vor dessen Einfluß in den Edensee, errichtet. Diese
-<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
-Stelle wurde aus dem Grunde gewählt, weil dicht oberhalb derselben
-eine große Stromschnelle ist, von da ab jedoch der Dana jenes ruhige,
-geringe Gefälle hat, das erst am großen Wasserfall, am Ostende des
-Plateaus, unterbrochen ist. Wir hatten also durch das ganze vorläufig
-okkupierte Gebiet hindurch eine vortreffliche Wasserstraße zur Mühle
-und konnten für dieselbe trotzdem den raschen Lauf des oberen Dana
-ausnützen. Die komplicierteren, feineren Bestandteile dieser Mühle
-hatten wir aus Europa mitgebracht; die Räder, Wellen und die zehn
-Mühlsteine dagegen erzeugten wir uns selber. Auch diese Mühle war
-&mdash; vorläufig zwar nur aus Holz und Fachwerk erbaut &mdash; Ende
-September fertig, allerdings schon mit Hilfe jenes Nachschubs der
-Unseren, der während der ersten Hälfte des gleichen Monats in zwei
-Kolonnen zu uns gestoßen war.
-</p>
-
-<p>
-Ich habe bereits erzählt, daß ich sofort nach unserem Eintreffen
-am Kenia neue Vorräte und eine Schar neuer Pioniere vom Ausschusse
-verlangt und daß dieser den mit Ende des Monats Juli erfolgenden
-Abgang einer Expedition von 260 Reitern und 800 Zentner Waren
-auf 300 Tieren angezeigt hatte. Diese Expedition traf am 16. August
-in Mombas ein; hier teilte sie sich in zwei Gruppen; die eine, die
-besten, unternehmungslustigsten 145 Reiter enthaltend, machte sich schon
-am 18. August mit bloß 50 sehr leicht bepackten Handpferden &mdash; die
-300 Tragtiere waren, nebenbei bemerkt, sämtlich Pferde &mdash; auf den
-Weg, ohne, von einem Dolmetscher abgesehen, auch nur einen einzigen
-Eingeborenen mitzunehmen; sie verließ sich beinahe gänzlich auf die
-Aushülfe von seiten unserer unterwegs beschäftigten Wegbauer und der
-uns freundlich gesinnten Bevölkerung, nicht zum mindesten aber auf
-ihren Entschluß, alle etwa zu gewärtigenden Entbehrungen und Strapazen
-ohne Murren zu ertragen. Ein Gewaltritt von zwanzig Tagen
-mit bloß eintägiger Unterbrechung in Taweta brachte diese Wackeren
-am 9. September in unsere Mitte. Fünf Pferde waren den Anstrengungen
-erlegen, sieben andere mußten unterwegs marod zurückgelassen
-werden; sie selber aber trafen sämtlich bis auf einen, der bei
-einem Sturze das Bein gebrochen und unter guter Pflege in Miveruni
-geblieben war, zwar etwas erschöpft, im übrigen aber in bester Verfassung
-ein und beteiligten sich schon zwei Tage später rüstig an unseren
-Arbeiten. Die 115 anderen folgten mit 250 Lastpferden, zu denen sie
-100 Suaheli-Treiber aufgenommen hatten, erst zehn Tage später. Die
-größere Hälfte der mitgenommenen Waren hatten sie unterwegs an
-Johnston abgegeben, auf den sie in Useri gestoßen waren und der
-darauf schon sehnsüchtig gewartet hatte. Die an den Kenia gebrachten
-neuen Vorräte &mdash; in allem etwas über 300 Zentner &mdash; enthielten auch
-mancherlei Werkzeuge und Maschinen; diese und mehr noch der ansehnliche
-Kräftezuwachs beflügelten unsere Kulturarbeiten in nicht geringem Maße.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
-Die Mahlmühle wurde &mdash; wie schon erzählt &mdash; noch Ende
-September fertig. Sie fand sofort vollauf Beschäftigung. Zwar unsere
-eigene Ernte war noch nicht eingebracht; aber von den Wakikuja hatten
-wir inzwischen allmählich 10000 Zentner verschiedener Getreidearten
-gekauft und in Speichern am Seeufer eingelagert, zu denen die Sägemühle
-reichlich Baumaterial geliefert hatte. Bis Ende Oktober waren
-diese 10000 Zentner zu Mehl vermahlen; selbst wenn wir eine Mißernte
-hatten, brauchten die ersten paar Tausend fernerer Ankömmlinge
-nicht Hunger zu leiden.
-</p>
-
-<p>
-Wir hatten aber keine Fehlernte, vielmehr brachte uns, wenige
-Wochen nach Beginn der mit dem Oktober anhebenden heißen Jahreszeit,
-der üppige, durch unser Bewässerungsnetz mit reichlicher Feuchtigkeit
-regelmäßig versehene Boden einen Segen, der aller europäischen
-Vorstellungen spottet. Hundertzwanzigfache Frucht gab im Durchschnitt
-jedes gesäete Korn; wir ernteten von unseren 300 Hektaren 42000 Zentner
-verschiedener Getreidearten, denn nicht in einzelnen mageren Ähren,
-sondern in dichten, mächtigen Ährenbüscheln endete jeglicher Halm, der
-europäische Weizen und unsere Gerste nicht minder als die afrikanischen
-Sorten. Bei Bergung dieses Segens kam uns besonders zu statten,
-daß schon gegen Ende August auch eine Maschinenschlosserei einige hundert
-Meter oberhalb der Mahlmühle eingerichtet worden war, die alsbald
-unter Benutzung von Wasserkraft zu <a id="corr-17"></a>arbeiten begann und teils
-aus mitgebrachten Bestandteilen, hauptsächlich aber aus selbsterzeugten
-Materialien einige Erntemaschinen und zwei mit Pferdegöpel zu treibende
-Dreschmaschinen geliefert hatte.
-</p>
-
-<p>
-Zu solcher Leistung aber war diese Werkstätte befähigt, weil unsere
-Geologen neben anderen wertvollen mineralischen Schätzen auch Eisen
-und Kohle auf unserem Gebiete entdeckt hatten. Die Kohle lag in
-einem der Keniavorberge auf dem Danaplateau, drei Kilometer vom
-Flusse; das Eisen in einem der Vorberge, die der Dana in seinem
-Oberlauf durchschneidet, zwei Kilometer oberhalb des Edenthals. Die
-Kohle war mittelguter Anthracit, das Eisenerz vortrefflicher, 40prozentiger
-Manganeisenstein. Es wurde in der Nähe des Eisenfundortes sofort
-ein Schmelz- und Raffinierofen und ein Hammerwerk errichtet, provisorisch
-und primitiv, aber doch genügend, um ganz brauchbares Guß- und
-Schmiedeeisen zu liefern, das uns in unseren Ausführungen sofort
-unabhängig machte von den aus Europa mitgebrachten Vorräten. Nun
-erst besaßen wir eine, wenn auch kleine, so doch auf eigenen Füßen
-stehende Maschinenindustrie, und diese setzte uns in den Stand, die
-unverhofft reiche Ernte binnen wenigen Wochen einzuheimsen und
-zu verarbeiten.
-</p>
-
-<p>
-Ein fernerer Gebrauch, den wir sofort von unserer gesteigerten
-Leistungsfähigkeit machten, war die Errichtung zweier neuer Sägemühlen
-<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
-und einer Bierbrauerei. Die Sägemühlen brauchten wir, um für die
-stetig anschwellende Menge der angekündigten Ankömmlinge bequeme
-Unterkunft zu schaffen, die Brauerei sollte dazu dienen, sie durch einen
-Willkommentrunk des von den meisten sicherlich schwer entbehrten
-heimischen Getränks zu überraschen. Sowie die Gerste geschnitten und
-gedroschen war, ging&rsquo;s ans Malzen; den Hopfen hatten unsere Gärtner
-an den Hängen der Kenia-Vorberge in sehr annehmbarer Güte gezogen,
-und bald füllten zahlreiche Fässer des edlen Getränkes einen unter
-Benutzung natürlicher Höhlungen angelegten kühlen Felsenkeller.
-</p>
-
-<p>
-Als der Oktober seinem Ende entgegenging, durften wir mit
-Beruhigung und Genugthuung auf unsere viermonatliche Thätigkeit im
-Keniagebiete zurückblicken. Sechshundert nette Blockhäuser für ebensoviel
-Familien harrten ihrer Bewohner; 50000 Zentner Getreide und Mehl,
-reiche Vorräte an Schlacht- und Zugvieh, Baumaterialien und Werkzeuge
-zur Unterbringung und Ausrüstung vieler Tausende waren aufgespeichert.
-Der Garten hatte sich nicht minder schön entwickelt und
-seine köstlichen Gaben waren teilweise schon zum Genusse bereit. Zwar
-hier genügte unsere eigene Produktion vorläufig noch nicht zur Deckung
-des voraussichtlichen Bedarfes; aber dem ließ sich, wie bisher, durch
-den sich stets lebhafter gestaltenden Tauschverkehr mit den Wakikuja
-abhelfen. Diesen hatten wir regelmäßig einmal in der Woche einen
-Markt in Edenthal veranstaltet, welchen sie jedesmal zu vielen Hunderten
-beschickten, ihre Waren auf Ochsenkarren mit sich führend, deren
-Gebrauch wir ihnen beigebracht und durch Herstellung des inzwischen
-durch unsere Ingenieure vollendeten, ihr Land durchziehenden Weges
-auch praktisch ermöglicht hatten. Seitdem wir unsere Eisenhütten besaßen,
-suchten die Wakikuja bei uns vornehmlich Eisen, entweder roh
-oder in Form von allerlei Werkzeugen. Dafür brachten sie uns anfangs
-Vieh und Vegetabilien, dann, als wir deren vorläufig nicht mehr
-bedurften, hauptsächlich Elfenbein, von welchem wir, teils durch diesen
-Handel, teils durch die Andorobo, teils durch das Ergebnis unserer
-eigenen Jagden successive schon 140000 Kilogramm aufgespeichert hatten.
-Denn Elfenbein ist hier wohlfeil wie Brombeeren; für unser Schmiedeeisen
-geben uns die Wakikuja und Andorobo mit Vergnügen das doppelte
-Gewicht jenes im Abendlande so geschätzten Materials, und jedes eiserne
-Werkzeug, es sei nun Hammer, Nagel oder Messer, wird mit dem
-zehn- bis zwanzigfachen Elfenbeingewichte aufgewogen. Der ganze
-Kostenbetrag unserer Expedition war also schon nahezu in Elfenbein
-bezahlt; das Vieh und die Vorräte, die Werkzeuge und Maschinen &mdash;
-vom Lande gar nicht zu reden &mdash; gingen gratis drein.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-3-6">
-<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
-6. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Während wir am Kenia solcherart damit beschäftigt waren, den
-aus der alten Welt erwarteten Brüdern das neue Heim behaglich
-einzurichten, arbeiteten unsere Genossen unter Demestres und Johnstons
-Führung nicht minder erfolgreich an den ihnen zugeteilten Aufgaben.
-</p>
-
-<p>
-Die Herstellung der Wege innerhalb des eigentlichen Keniagebietes
-ging Demestre nichts an; sein Geschäft begann erst am Saume der die
-Keniaregion umgürtenden großen Wälder. Von hier bis zur Grenze
-zwischen Kikuja und Massailand bei Ngongo übergab er die Ausführung
-des Werkes dem Ingenieur Frank, einem Amerikaner; die zweite
-Sektion von Ngongo bis Masimani im Massailande, mittwegs
-zwischen Ngongo und Taweta, erhielt der Ingenieur Möllendorf, ein
-Deutscher, die dritte Sektion, Masimani-Taweta, Lermanoff, wie sein
-Name verrät, ein Russe; die letzte und schwierigste Sektion, Taweta-Mombas
-zwei der bösesten Einöden enthaltend, behielt sich Demestre
-selber vor. Jeder der vier Sektionen waren 5 Weiße zugeteilt; seine
-200 Suahelis, verstärkt durch die doppelte Zahl auf dem Marsche
-durch ihr Land angeworbener Wakikuja, wies Demestre den beiden
-ersten Sektionen zu, und zwar der ersten in Kikujaland 50 Suaheli
-und 300 Wakikuja, der zweiten in Massai-Land 150 Suaheli und
-100 Wakikuja. Die dritte Sektion wurde von Taweta aus organisiert;
-dahin ritt Lermanoff mit einem Begleiter unter Benützung unserer
-Kurieretappen vom Kenia binnen 6 Tagen, engagierte in Taweta, wo
-sich stets Suahelikarawanen finden, 100 Suahelileute, in Useri und
-Dschagga 250 der dortigen Eingeborenen und begann, nachdem inzwischen
-auch seine anderen vier Begleiter eingetroffen waren und auch die ihm
-wie jeder Sektion, zugeteilten Packpferde mitgebracht hatten, schon am
-15. Juli von Taweta und Useri zugleich die Arbeiten. Demestre dagegen
-<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
-ritt, gleichfalls unter Benutzung der Kurieretappen, in einer nur von
-Nachtruhen unterbrochenen Tour zuerst nach Teita, warb dort 400
-Wateita an, die er unter Leitung eines seiner Begleiter sofort
-die Strecke Teita-Taweta in Angriff nehmen ließ, eilte dann
-weiter nach Mombas und brachte es zuwege, schon am 20. Juli mit
-500 Küstenleuten auf der schwierigsten Strecke, Mombas-Teita, die
-Arbeiten zu beginnen.
-</p>
-
-<p>
-Diese Arbeiten waren überall dreifacher Art. Zunächst mußten
-an den wasserarmen Stellen, deren es auf den unteren Sektionen
-mehrere gab, insbesondere aber in den Wüsten von Duruma, Teita
-und Ngiri, Brunnen, und wo sich kein Grundwasser fand, Cisternen
-gegraben werden, ergiebig genug, um nicht nur die Arbeiter während
-der Bauzeit, sondern späterhin Menschen und Vieh der durchziehenden
-Karawanen ausreichend mit Wasser zu versorgen. Da es im äquatorialen
-Afrika zu allen Jahreszeiten heftige Regengüsse giebt, die in den sogenannten
-trockenen Zeiten eben nur um vieles seltener sind, als in der
-sogenannten Regenzeit, so war nicht zu besorgen, daß große Cisternen,
-denen das Regenwasser aus genügend weitem Umkreise zufloß, selbst in
-den heißen Monaten erschöpft werden könnten; nur mußten diese Cisternen
-sowohl gegen den unmittelbaren Sonnenbrand als auch gegen Schmutz
-geschützt werden. Ersteres geschah durch Eindeckung und Überdachung,
-letzteres durch Einfriedigung der Cisternen sowie dadurch, daß das Regenwasser,
-bevor es in die Gruben gelangen konnte, durch eine mehrere
-Meter mächtige Sand- und Schotterschicht hindurchgeleitet wurde.
-Die natürlichen, jedoch in Zeiten anhaltender Dürre austrocknenden
-Wasserlöcher, die sich in allen Einöden vorfanden, zeigten die
-Stellen an, wo diese Cisternen am praktischesten anzulegen seien, denn
-es waren das selbstverständlich die tiefsten Punkte, nach denen zu das
-Regenwasser seinen natürlichen Abfluß nahm. Die bedeutendsten dieser
-Wasserlöcher brauchten blos entsprechend vertieft, gegen Verdunstung des
-ihnen zuströmenden Wassers geschützt und mit den oben erwähnten natürlichen
-Filtern umgeben zu werden, und die Cisternen waren fertig.
-Von diesen wurden in den verschiedenen Sektionen 25 gegraben, mit
-einer Tiefe von 8 bis 15 und mit einem Durchmesser von 2 bis 8
-Metern. Gewöhnliche Brunnen mit Grundwasser wurden 39 hergestellt.
-An jedem dieser künstlichen Wasserbehälter ward zur Überwachung gegen
-Verunreinigung ein Wächter angesiedelt.
-</p>
-
-<p>
-In zweiter Reihe kamen die eigentlichen Wegbauten. Im allgemeinen
-wurde dabei die schon beim Zuge von Mombas aufwärts
-hergestellte Straße benutzt, bloß von Hindernissen etwas sorgfältiger
-befreit und wo sie durch den Busch gehauen werden mußte, um mehr
-als das Doppelte erweitert. An einzelnen Stellen jedoch, insbesondere
-wo steilere Höhen zu überschreiten waren, mußte eine neue, minder jäh
-<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
-ansteigende Trace gesucht werden. Daß auch einige Brücken zu bauen
-waren, bedarf wohl keiner Erwähnung.
-</p>
-
-<p>
-Der dritte Teil der Arbeit bestand in der Herstellung von primitiven
-Unterkunftshäusern für Menschen und Vieh an geeigneten Orten.
-Speise- und Schlafräume für einige Hundert Menschen, Pferche für
-zahlreiche Rinder und Magazine für Lebensmittel wurden in Abständen
-von 12 bis 20 Kilometern, im ganzen 65 an der Zahl errichtet.
-</p>
-
-<p>
-Alle diese Arbeiten waren auf der Strecke Mombas-Teita Ende
-September, auf allen anderen Sektionen 14 Tage später vollendet. Die
-aufgenommenen Arbeiter wurden jedoch nicht entlassen, da ein Teil derselben
-zur Überwachung und Instandhaltung des Weges und der Baulichkeiten,
-ein anderer Teil dagegen zu Zwecken des Transportdienstes
-auf der neugeschaffenen Strecke Verwendung fand. Der Kostenaufwand
-für das wahrlich nicht kleine Werk betrug 14500 Pfd. Sterling, zur
-Hälfte in Löhnen, zur Hälfte in Subsistenzmitteln für die Arbeiter; zu
-bezahlendes Baumaterial gab es nicht.
-</p>
-
-<p>
-In der gleichen Zeit vollbrachte Johnston den Einkauf des zum
-Transporte erforderlichen Zugviehes und die Organisation des Verpflegwesens
-der Karawane. Seine Massai-Freunde verschafften ihm
-binnen wenigen Wochen die ursprünglich bestellten 5000 Rinder, aus
-denen schließlich, da die Zahl der zu transportierenden Mitglieder sich
-in jeder neuen, vom Ausschusse der freien Gesellschaft anlangenden Depesche
-größer und größer angegeben fand, nicht weniger als 9000
-wurden. Ein Rind stellte sich auf durchschnittlich etwas über 8 Schill.
-(Mark), wobei jedoch reichlich die Hälfte auf die Nebenspesen entfiel; der
-nackte Einkaufspreis betrug im Durchschnitt nicht einmal ganze 4 Schilling
-per Stück.
-</p>
-
-<p>
-Den Transportdienst organisierte Johnston in der Weise, daß von
-Mombas täglich 25 Wagen abgehen und unterwegs auf jeder der 65
-Stationen frische Zugochsen finden sollten. In Edenthal angelangt, hatten
-dann die Wagen wieder umzukehren, um von den Ochsengespannen
-Etappe um Etappe zurückbefördert zu werden. Im Sinne dieser ebenso
-einfachen als praktischen Anordnung durchliefen also alle Wagen einen
-ununterbrochenen Kreislauf von Mombas nach dem Kenia und von dort
-wieder nach Mombas, während die Zugochsen in gleichen Abteilungen
-immer bloß zwischen je zwei benachbarten Stationen hin und her wanderten.
-Es konnten solcher Art täglich 250 Personen befördert werden,
-und um die sämtlichen, vom Ausschusse signalisierten 20000 Mitglieder
-aufzunehmen, waren 80 Tage erforderlich, es sei denn, daß ein Teil
-derselben den Weg zu Pferde zurücklegte.
-</p>
-
-<p>
-Die in England, Amerika und Deutschland konstruierten Wagen
-trafen rechtzeitig in Mombas ein. Sie waren in jeder Beziehung
-Musterbilder sinnreicher Konstruktion, solid und im Verhältnis zu ihrer
-<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
-Größe doch leicht gebaut, eine Menge von Bequemlichkeiten bietend und
-doch einfach. 10 Personen fanden in jedem derselben bei Tag gute
-Sitzplätze, bei Nacht ein erträgliches Lager. Eine höchst einfache Vorrichtung
-ermöglichte eine derartige Veränderung in der Anordnung der
-Sitze, daß <em>unter</em> denselben für 6, <em>auf</em> denselben für 4 andere Personen
-genügender Raum zum Liegen gewonnen wurde. Solide Federn
-milderten die Stöße des Gefährtes, ein bewegliches Lederdach bot im
-Bedarfsfalle Deckung gegen Regen wie Sonnenbrand, und die &mdash; des
-Nachts zur Lagerstätte dienenden &mdash; Matratzen waren tagsüber derart
-unterhalb des Lederdaches angeschnallt, daß dieses doppelten Schutz gegen
-die Sonnenhitze gewährte. Auch für die Unterbringung des Gepäcks
-war in sehr praktischer Weise gesorgt.
-</p>
-
-<p>
-Am 30. September langte das erste Schiff mit 900 Mitgliedern
-an &mdash; und zwar war dasselbe gleich allen folgenden Eigentum der Gesellschaft.
-In der Voraussicht, daß der Zuzug von Einwanderern sobald
-nicht aufhören, ja wahrscheinlich stetig zunehmen werde, und von
-der Absicht geleitet, diese Einwanderung soweit nur irgend möglich in
-eigener Hand zu behalten, hatte sie 12 große, schnellfahrende Dampfer
-von durchschnittlich 3500 Tonnen Tragkraft angekauft und ihren Zwecken
-entsprechend umgestalten lassen. Klassenunterschiede gab es auf den
-Schiffen der Gesellschaft nicht; es wurde von Niemand Bezahlung genommen,
-weder für den Transport noch für die Verpflegung auf der
-ganzen Reise, dafür mußte sich auch Jedermann mit dem gleichen, allerdings
-nicht geringen, Ausmaße von Komfort begnügen. Auf Deck waren
-große Speise- und Gesellschaftsräume, unter Deck zwar kleine, aber für
-jede Familie gesonderte, bequem ausgestattete und durchweg ausgezeichnet
-ventilierte Schlafkabinen. Die Aufnahme geschah in der Reihenfolge
-der Beitrittserklärungen zur Gesellschaft; die älteren Mitglieder hatten
-die Priorität. Natürlich blieb es jedermann freigestellt, die Seereise
-auch auf fremden Schiffen zu machen, ohne dadurch in Mombas seines
-Platzes in der Reihe der zu Befördernden verlustig zu werden.
-</p>
-
-<p>
-In Mombas angelangt, stand es Jedermann frei, die Weiterreise
-zu Pferd oder zu Wagen zu wählen. Die Reiter ihrerseits konnten
-entweder die Wagenkarawanen begleiten oder in beliebig eingeteilten
-Märschen voraneilen; nur der jeweilige Vorrat an Pferden zum Wechseln
-in den 65 Stationen mußte beachtet werden; doch war thunlichst
-dafür gesorgt, daß der erforderliche Pferdebestand nirgends ausging.
-Die Fahrenden hatten gleichfalls die Wahl, ob sie ununterbrochen Tag
-und Nacht, bloß mit den zum Wechseln der Gespanne nötigen Pausen,
-oder bedächtiger, unter Einhaltung beliebig ausgedehnter Mittags- oder
-Nachtstationen sich fortbewegen wollten. Ersterenfalls konnten sie bei
-günstigem Wetter in 14 Tagen, ja sogar rascher in Edenthal anlangen,
-letzterenfalls waren dazu 20 Tage und darüber erforderlich.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
-Alle getroffenen Anordnungen bewähren sich aufs vollständigste.
-Nirgends gab es Aufenthalt, die Verpflegung ließ nichts zu wünschen
-übrig; eine Massaieskorte, die Johnston in der Stärke von 10 Mann
-für jede Station organisiert hatte, sorgte während der Nachtreisen für
-Sicherheit gegen wilde Tiere, hatte überhaupt als Beistand in etwaigen
-Verlegenheiten zu dienen, und 4 aus der Mitte der Unseren entsendete
-Kommissare mit dem Sitze in Teita, Tawete, Miveruni und Ngongo
-überwachten das Ganze. Die Eingeborenen kamen den ersten Wagenzügen
-mit staunendem Jubel, Allen aber mit größter Freundlichkeit und
-Dienstbeflissenheit entgegen. Insbesondere die Wataweta, der Sultan
-von Useri und die Massaistämme ließen es sich nicht nehmen, unsere
-Reisenden mit den Beweisen ihrer Verehrung und Liebe für die &bdquo;am
-großen Berge angesiedelten&ldquo; weißen Brüder zu überhäufen.
-</p>
-
-<p>
-Die ersten neuen Ankömmlinge &mdash; unter ihnen unser geliebter
-Meister &mdash; trafen am 14. Oktober in Edenthal ein; ihnen folgten in
-ununterbrochener Reihe stets neue und neue Scharen. Doch bevor über
-die damit anhebende neue Ära der Geschichte unseres Unternehmens
-berichtet wird, mag noch kurz erzählt werden, was in der letzten Zeit
-am Kenia geschah.
-</p>
-
-<p>
-Zunächst ist zu erwähnen, daß noch im Monat August eine zahlreiche
-Gesandtschaft von Massaistämmen aus Leikipia &mdash; das ist das
-Land nordwestlich von Kenia &mdash; und aus den Distrikten nördlich vom
-Naiwascha- bis zum Baringosee in Edenthal eingetroffen war, uns Gruß
-und Freundschaft entbietend und die Bitte an uns richtend, sie in den
-mit den anderen Massai abgeschlossenen Bundesvertrag mit aufzunehmen.
-Die Gewährung dieser sehr beweglich und nicht ohne einige Empfindlichkeit
-vorgetragenen Bitte legte uns nun allerdings erhebliche neue Lasten
-auf; trotzdem besann ich mich keinen Augenblick, dieselbe zu gewähren
-und alle Mitglieder stimmten mir einhellig zu. Denn mit dem Opfer
-von einigen tausend Pfd. Sterling jährlich war die vollständige Pacifizierung
-des streitbarsten und zweifellos tüchtigsten unter allen Volksstämmen
-der ganzen Äquatorialzone wahrlich nicht zu teuer erkauft.
-Wir hatten nunmehr genügende Sicherheit, allmählich wachsende Kultur
-in diesen bisher von unaufhörlichen Fehden und Raubzügen heimgesuchten
-Gegenden einziehen zu sehen, stets brauchbarere Genossen
-unseres großen Werkes in den schwarzen und braunen Eingeborenen zu
-erziehen, und indem wir sie lehrten, Wohlstand und Überfluß für sich
-selber zu erzeugen, die Quellen unseres eigenen Wohlstandes zu vermehren.
-Ich hielt also den braunen Recken eine sehr schmeichelhafte
-Lobrede, erklärte mich gerührt über die an den Tag gelegte gute Gesinnung
-und versprach behufs Ausfertigung des Vertrages, wie nicht
-minder, um sie zu ehren, demnächst eine Gesandtschaft an sie zu senden.
-Reich beschenkt wurden die, übrigens auch ihrerseits nicht mit leeren
-<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
-Händen erschienenen Massai &mdash; sie hatten 100 erlesene Rinder und
-200 fettschwänzige Schafe als Ehrengabe mitgebracht &mdash; entlassen.
-Johnston, den ich sofort von dem Vorgefallenen verständigte, übernahm
-die Ausführung des gegebenen Versprechens. Daß er sich zu diesem
-Behufe aus den Waren der im September am Kenia angelangten
-Expedition, auf die er in Miveruni gestoßen, reichlich mit Hülfsmitteln
-versorgte, habe ich schon berichtet; als seine Aufgabe an der Etappenstraße
-erfüllt war, zog er &mdash; zu Anfang des Monats Oktober &mdash; an den
-Naiwaschasee, von da weiter durch die mächtige, meist überaus fruchtbare
-Hochebene von 1800 Meter Seehöhe, die, eingerahmt von
-1000-2000 Meter höheren Randbergen, die Hochseen von Massailand
-enthält, nämlich außer dem Naiwascha-, dem wunderbaren Elmetaita-
-und dem Salzsee von Nakuro noch eine Reihe kleinerer Becken, und
-erreichte am 20. Oktober den etwa 200 Quadratkilometer deckenden, in
-einer bloß 980 Meter hohen Bodensenkung gelegenen Baringosee, an
-der Nordgrenze von Massailand. Von da westlich wieder aufwärts
-steigend durchzog er, vorbei an den gewaltigen Thomsonfällen, das wald-
-und wasserreiche Leikipia und traf in der zweiten Novemberwoche bei
-uns am Kenia ein, nachdem er mit allen unterwegs wohnenden Massaistämmen,
-wie nicht minder mit den &bdquo;Ndemps&ldquo; am Baringosee, Bündnisverträge
-geschlossen hatte.
-</p>
-
-<p>
-In zweiter Linie ist von den erfolgreichen Zähmungsversuchen zu
-berichten, die auf Anregung unserer beiden Damen mit mehreren der
-am Kenia heimischen Tierarten angestellt wurden. Die Idee hiezu ging
-ursprünglich von Miß Fox aus, der dabei in erster Reihe bloß die
-Absicht vorschwebte, den Frauen und Kindern der neuen Ankömmlinge
-Freude zu bereiten. Für diese Idee gewann sie meine Schwester, eine
-große Tierfreundin, und so warben denn die Beiden einige Andorobo
-und Wakikuja zunächst dafür, Affen und Papageien zu fangen, deren es
-im Edenthal und Umgebung einige sehr reizende Arten gab. Als
-die Zähmungsversuche mit diesen Tierchen über Erwarten rasch und
-gut gelangen, so daß schon nach Verlauf weniger Wochen die ihrer
-Haft entlassenen Gefangenen den Herrinnen freiwillig nachsprangen und
-nachflatterten, wuchs Beider Ehrgeiz und die Andorobo erhielten den
-Auftrag, einige Exemplare einer besonders niedlichen Antilopenart einzufangen,
-die unsere Naturforscher als eine Abart der hauptsächlich in
-Westafrika vorkommenden Schopfantilope (<span class="antiqua">Cephalophus rufilatus</span>) bestimmten.
-Auch dieser Versuch war von Erfolg begleitet; zwar die alten
-Tiere erwiesen sich so scheu und ungeberdig, daß man sie schließlich
-laufen ließ; aber mehrere Junge gewöhnten sich überraschend schnell an
-ihre Wärterinnen und liefen denselben nach, wie die Hündchen. Diese
-Antilopengattung wird nicht größer, als etwa ein mittelgroßes Schaf,
-insbesondere die jungen Tiere nehmen sich mit ihren rötlichen Schöpfen
-<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
-überaus putzig aus und geberden sich in allen Stücken wie übermütige
-Zicklein. Miß Ellen und meine Schwester hatten bald eine ganze
-Menagerie von Antilopen, Äffchen, Papageien um sich versammelt, die
-zu Nutz und Frommen der erwarteten Kinderwelt zu allerlei Kunststücken
-dressiert wurden.
-</p>
-
-<p>
-So standen die Dinge, als einer der indischen Elefantenwärter,
-die Miß Ellen mit an den Kenia genommen hatte und die nicht daran
-dachten, jemals wieder in ihre Heimat zurückzukehren, seiner &bdquo;Herrin&ldquo;
-gegenüber &mdash; denn die Inder konnten sich noch nicht daran gewöhnen,
-sich als vollkommen unabhängige Männer zu fühlen &mdash; die Frage wagte,
-ob sie nicht auch ein Elefanten-Baby als Schoßtierchen wünsche? Als
-diese bejaht wurde, machte er sich anheischig, eines oder mehrere zu
-fangen, falls ihm erlaubt werde, mit den vier Elefanten und ihren
-Führern für einige Tage in die Wälder zu ziehen. Da Miß Ellen
-ihre Elefanten zum Baudienste hergegeben hatte, wo die intelligenten
-Kolosse von geradezu unschätzbarem Nutzen waren, und eines Spielzeugs
-halber die Arbeit nicht stören mochte, sagte sie dies dem Inder und
-erklärte, auf die Erfüllung ihres Wunsches verzichten oder wenigstens
-so lange damit warten zu wollen, bis man die Elefanten bei der Arbeit
-leichter entbehren könne. Der Inder ging; aber die Idee, daß seine
-geliebte Herrin sich etwas versagen sollte, was ihr &mdash; das hatte er sofort
-bemerkt &mdash; großes Vergnügen bereitet hätte, rüttelte ihn aus seiner
-gewohnten fatalistischen Indolenz auf; er grübelte über die Sache zwei
-Tage lang und erschien am dritten mit dem Vorschlage, die Zeitversäumnis
-der vier Elefanten dadurch gut zu machen, daß er und die
-anderen Kornaks nebst dem Elefanten-Jungen auch einige Elefanten-Alte
-fangen und zur Arbeit dressieren wollten. &bdquo;Aber afrikanische Elefanten
-lassen sich nicht dressieren, gleich den indischen&ldquo;, wandte Miß Ellen ein.
-Der Inder erlaubte sich, das zu bezweifeln, und seine 7 Kollegen waren
-sämtlich der gleichen Meinung. Elefant sei Elefant; sie möchten das
-Rüsseltier sehen, das sie nicht binnen wenigen Wochen kirre bekämen,
-wenn es erst einmal in ihrer Gewalt wäre. &bdquo;Wenn dem wirklich so
-ist, warum habt Ihr das früher nicht gesagt, da Ihr doch sehen mußtet,
-wie gut man hier Elefanten gebrauchen kann?&ldquo; forschte die Amerikanerin
-weiter, erhielt jedoch darauf bloß ein lakonisches &bdquo;Weil Du uns nicht
-gefragt hast&ldquo; zur Antwort.
-</p>
-
-<p>
-Miß Ellen wußte sich nicht zu raten; der Gedanke, die Kolonie
-von Edenthal mit Herden gezähmter Elefanten zu versehen &mdash; denn
-wenn sich diese Tiere überhaupt zähmen ließen, dann konnte man hier
-ebensogut Tausende als Einen zur Stelle schaffen &mdash; ließ sie nicht zur
-Ruhe kommen; aber andererseits erinnerte sie sich, in ihrer Naturgeschichte
-gelesen zu haben, der afrikanische Elefant sei unzähmbar, und
-wir alle, die sie diesfalls befragte, mußten ihr bestätigen, daß es
-<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
-nirgends in Afrika gezähmte Elefanten gebe. Sie wurde über dieses
-Problem nachgerade beinahe trübsinnig; sichtlich gelüstete es sie, es auf
-einen Versuch ankommen zu lassen; aber die Inder blieben dabei, ohne
-Mitwirkung der zahmen keinen wilden Elefanten einbringen zu können,
-und erstere in der Zeit dringendster Arbeiten zu problematischen Versuchen
-zu verwenden, das zu beantragen, scheute sie sich um so mehr &mdash;
-als die Elefanten <em>ihr</em> Eigentum waren und sie daher eigentlich nach
-Gutdünken über dieselben verfügen konnte. Da kehrte unser Zoologe,
-Signor Michaele Faënze, von einem längeren Ausfluge nach dem Kenia-Massiv
-zurück und stellte sich, als ihn Miß Fox ins Vertrauen zog,
-ohne weiteres auf die Seite der Inder. Zwar auch er gab zu, daß es
-thatsächlich keine zahmen afrikanischen Elefanten gebe, behauptete aber
-geradezu, dies müsse bloß daran liegen, daß die Afrikaner verlernt
-hätten, dies edle Tier dem Menschen dienstbar zu machen. An der
-Rasse liege es ganz gewiß nicht, was schon daraus hervorgehe, daß zur
-Römerzeit dressierte Elefanten in Afrika gerade so gut bekannt waren,
-wie in Asien. Man solle die Inder nur machen lassen; wenn sie ihre
-Kunst verstünden, werde ihnen dieselbe hier so gut gelingen wie in
-Indien.
-</p>
-
-<p>
-Und so geschah&rsquo;s. Die 8 Kornaks mit ihren 4 Elefanten zogen
-in einen der nahen Wälder, und als sie dort, was gar nicht lange
-dauerte, eine Herde wilder Elefanten gefunden hatten, machten sie es
-mit diesen genau so, wie sie es in ihrer Heimat erlernt hatten. Die
-zahmen Elefanten wurden führerlos in die Herde der wilden gelassen,
-von denen sie zwar anfangs mit einigem Befremden empfangen, schließlich
-aber in aller Freundschaft aufgenommen wurden. Einmal so weit,
-machten sich die listigen Tiere zunächst mit dem Führer der Herde, dem
-stärksten und schönsten Bullen, zu schaffen, liebkosten ihn, wedelten ihm
-die Fliegen weg, fesselten aber dabei mit mitgenommenen starken Stricken
-einen seiner Füße an einen starken Baumstamm. Nachdem dies geschehen
-war, stießen sie ihren Angstruf &mdash; einen scharfen Trompetenton &mdash;
-aus, als ob sie irgendeine Gefahr bemerkt hätten und stürmten davon,
-auf welches Signal hin die Inder unter Geschrei und Flintenschüssen
-hervorstürzten, was die ganze Herde veranlaßte, den Zahmen in größter
-Eile nachzufolgen. Der arme Gefesselte konnte natürlich nicht mithalten,
-so verzweifelt er auch an dem Stricke zerrte, und die Inder
-ließen ihn trampeln und trompeten, ohne sich vorläufig um ihn zu
-kümmern. Ihre nächste Sorge war, die Spur der enteilten Herde zu
-finden. Nach etwa einer Stunde hatten sie sich an diese neuerlich
-herangeschlichen, wo inzwischen die vier Zahmen das vorige Spiel mit
-einem neuen Opfer wiederholten; auch dieses wurde gefesselt und dann
-unter großem Spektakel verlassen. Noch drei weitere Elefanten teilten
-im Laufe des Tages dies Schicksal; dann schien die Herde argwöhnisch
-<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
-geworden zu sein, denn die berüsselten Verräter kehrten nach einer Weile
-allein zu ihren Treibern zurück.
-</p>
-
-<p>
-Nunmehr erst wurde jedem der fünf Gefesselten &mdash; unter ihnen
-ein Weibchen mit einem etwa einjährigen Jungen in der Größe eines
-mittleren Kalbes &mdash; ein Besuch abgestattet. Die zahmen Elefanten
-gingen ohne weiteres auf die verzweifelt am Stricke Zerrenden los und
-banden ihnen die Vorderfüße eng aneinander. Das gelang zwar nicht,
-ohne daß die Betrogenen wütenden Widerstand leisteten, aber dieser
-wurde in höchst brutaler Weise durch Rüsselschläge und Zahnstöße bewältigt.
-Hierauf machten sich die erbarmungslosen Schergen daran,
-rings um ihre Opfer alles für Elefantengaumen Genießbare &mdash; also
-Gras, Büsche und Baumzweige zu entfernen; wo dazu die Rüssel nicht
-ausreichten, drängten sie die Gefesselten auf die Seite und ermöglichten
-es den Treibern, mit Axt und Beil das Werk zu vollenden.
-</p>
-
-<p>
-Als der Abend anbrach, waren alle fünf Gefangenen geknebelt und
-jeder Möglichkeit beraubt, sich Nahrung zu verschaffen. Nunmehr
-mußten sie aber auch bewacht werden, damit nicht etwa Löwen oder
-Leoparden die Gelegenheit wahrnähmen, die wehrlos Gemachten
-anzufallen. Am anderen Morgen statteten die zahmen Elefanten
-ihren gefesselten Brüdern der Reihe nach Besuche ab, halfen den bei
-ihrem nächtlichen Toben Umgefallenen sich aufrichten, was wieder nicht
-ohne ausgiebige Prügel und Stöße vollbracht ward und überließen sie
-dann abermals ihrem Schicksale.
-</p>
-
-<p>
-Das ging so drei Tage hindurch; die armen Gefesselten litten
-Hunger und Durst und bekamen, so oft ihre verräterischen Brüder nach
-ihnen sahen, jämmerliche Schläge. Am vierten Tage waren sie so
-schwach und kleinlaut, daß sie gar nicht mehr tobten, sondern kläglich
-brüllten, als sich ihre Peiniger nahten, die aber nichtsdestoweniger
-mit Rüsseln und Zähnen über sie herfielen. Da erschien nun den
-Mißhandelten ein rettender Engel &mdash; in Gestalt des Menschen.
-Dieser verjagte zunächst unter drohenden Geberden und einigen schallenden
-Schlägen die Schergen von ihrem Opfer und hielt diesem dann ein
-Gefäß Wasser hin. Stutzte darauf der wilde Elefant und nahm
-sich Zeit, die Sachlage zu überblicken, so war die Tragikomödie aus,
-das Tier gebändigt. Denn es acceptierte in diesem Falle nach einigem
-Bedenken den gebotenen Trunk, nach diesem einige Nahrungsmittel,
-konnte dann gefahrlos vollständig getränkt und gefüttert und unter
-Eskorte der zahmen Elefanten zu weiterer Ausbildung heimgeführt
-werden. Wurde es dagegen beim Anblicke des Menschen erst recht
-rabiat &mdash; was allerdings bei dreien von den Fünfen der Fall war &mdash;
-so mußte mit der Prügel- und Hungerkur so lange fortgefahren werden,
-bis der Elefant zu begreifen begann, Erlösung aus seiner Lage könne
-hier nur das schreckliche zweibeinige Geschöpf spenden.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
-Schließlich ergab sich jeder der Gefangenen in sein Schicksal. Die
-einzige Gefahr dieser Jagd bestand bloß darin, daß der Jäger sich auf
-die Sicherheit seines Urteils über den Charakter des Gefesselten verlassen
-mußte in dem Augenblicke, wo er ihm zum ersten Male nahte.
-Zwar standen die zahmen Elefanten hülfsbereit und aufmerksam dabei;
-da jedoch ein einziger Rüsselhieb des gereizten Tieres genügen kann,
-einen Menschen zu töten, so gehört immerhin viel Geistesgegenwart
-und Mut zu der Sache. Die Inder versicherten übrigens, daß ein
-halbwegs an den Umgang mit Elefanten Gewöhnter aus dem Blick
-des Tieres ganz zuverlässig auf dessen Absichten schließen könne; man
-brauche daher bloß die Vorsicht zu beachten, keinem Gefangenen völlig
-nahe zu treten, bevor man in dessen Auge die Ergebung in das Unvermeidliche
-gelesen, und es sei überhaupt nichts zu fürchten.
-</p>
-
-<p>
-Schon nach sechs Tagen kehrte die Expedition mit ihren fünf Gefangenen
-zurück, die zwar noch nicht dressiert und zur Arbeit brauchbar,
-aber doch schon insoweit &bdquo;zahm&ldquo; waren, daß sie sich ruhig einsperren,
-füttern, tränken und unterrichten ließen. Nach Verlauf fernerer zwei
-Wochen waren sie der Hauptsache nach &bdquo;fertig&ldquo;, d. h. brauchbar zu
-allerlei Arbeiten, insbesondere wenn ihnen einer der Veteranen an die
-Seite gegeben wurde. Miß Ellen feierte einen doppelten Triumph:
-sie besaß ein herziges Elefantenbaby, das zwar für ein Schoßtierchen
-etwas zu plump, aber nichtsdestoweniger das drolligste Wesen war, das
-es geben mag und sich rasch zum erklärten Liebling von ganz Edenthal
-aufschwang; und sie hatte des ferneren der Gesellschaft eine unerschöpfliche
-Quelle sehr schätzbarer Arbeitskraft eröffnet, auf welche ohne sie
-niemand geraten wäre. Denn hätte sie sich nicht seinerzeit in den Kopf
-gesetzt, die Expedition mitzumachen, so wären wohl schwerlich so rasch
-indische Elefanten und Elefantenführer an den Kenia gekommen, und
-ohne diese wären die Elefanten Afrikas vielleicht von den Elfenbeinjägern
-ausgerottet gewesen, bevor an ihre Zähmung auch nur jemand
-gedacht hätte.
-</p>
-
-<p>
-Von da ab fuhren wir mit dem Elefantenfange rüstig fort, so daß
-binnen kurzem der Elefant das hauptsächlichste <em>Tragtier</em> am Kenia
-wurde und überall dort verwendet werden konnte, wo schwere Lasten
-auf kurze Entfernungen oder auf Gebieten, die für Wagen unpassierbar
-waren, bewältigt werden sollten.
-</p>
-
-<p>
-Das so vortrefflich gelungene Experiment mit den Elefanten legte
-uns aber auch den Gedanken nahe, es mit der Zähmung anderer Tiere
-nicht bloß zu Zwecken der Belustigung, sondern um des Nutzens willen
-zu versuchen. Zunächst kam das Zebra an die Reihe und es gelang
-auch mit diesem. Zwar die alten Tiere waren unbrauchbar; aber die
-Füllen erwiesen sich &mdash; wenn sehr jung eingefangen &mdash; als leidlich
-gelehrig und nicht sonderlich scheu und in den zweiten Generationen
-<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
-unterschieden sich später unsere zahmen Zebras in nichts, als in der
-Hautfarbe von den besten Maultieren. Strauß und Giraffe wurden
-der Reihe unserer Haustiere angereiht; den größten Triumph aber
-feierten unsere Dresseure mit der Zähmung des afrikanischen Büffels. Es
-ist das das bösartigste, unbändigste und gefährlichste unter allen afrikanischen
-Tieren und dennoch wurde es so vollständig gezähmt, daß es im
-Verlaufe der Jahre das gemeine Rind als Zugtier vollständig verdrängte.
-Zwar in Freiheit aufgewachsene Bullen waren und blieben
-wahre Teufel; doch schon die gefangenen Kühe konnte man wenigstens
-so weit bringen, daß sie dem Wärter aus der Hand fraßen, und was
-die in Gefangenschaft aufgezogenen Büffel anlangt, so zeigten diese
-genau den nämlichen Charakter wie das gewöhnliche Rind. Die Bullen
-blieben, insbesondere wenn sie alt wurden, immer etwas unverläßlich,
-die Kühe und die verschnittenen Ochsen dagegen waren so sanft und
-gelehrig wie nur irgend ein Wiederkäuer. Als Milchkühe wurden sie
-bei uns niemals geschätzt, da sie zwar fette, aber nicht reichliche Milch
-gaben; als Zugtiere aber waren unsere Büffelochsen unvergleichlich. Es
-gibt für diese riesigen Tiere &mdash; sie überragen das größte Hausrind um
-reichlich ½ Fuß, ihr Nacken hat eine Breite bis zu 2 Fuß und ihre
-Hörner lassen sich an der Wurzel mit zwei Händen nicht umspannen
-&mdash; keine zu schweren Lasten; wo vier gewöhnliche Ochsen erlahmen,
-gehen zwei Büffel ihren gleichmäßigen Schritt weiter, als wären sie
-ledig. Dabei vertragen sie Hunger, Durst Hitze und Regen besser als
-ihre längst gezähmten Verwandten &mdash; kurzum sie erweisen sich in
-einem Lande, wo gute Chausseen noch nicht überall zu finden sind, als
-geradezu unschätzbar.
-</p>
-
-<p>
-Das dritte Ereignis &mdash; doch dieses geht eigentlich direkt nur mich
-persönlich an und gehört bloß insofern in den Rahmen dieser Erzählung,
-als es mit der Lebensweise und mit den socialen Zuständen in
-Edenthal zusammenhing. Es wird also am besten sein, wenn ich zunächst
-erzähle, wie wir vor dem Eintreffen der Hauptmasse unserer Brüder in
-der neuen Heimat lebten, uns einrichteten und arbeiteten.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-3-7">
-<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
-7. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Die Kolonisten auf Edenthal betrachteten mich, den Bevollmächtigten
-der Gesellschaft, der unseren Zug an den Kenia veranstaltet und
-die Mittel zu demselben beschafft hatte, als ihren Vorgesetzten im gemeingebräuchlichen
-Sinne des Wortes: ich hätte befehlen können und
-es wäre gehorcht worden. Anderseits aber handelte ich nicht bloß
-meinen eigenen Neigungen, sondern den offenbaren Intentionen des
-Ausschusses gemäß, wenn ich mich dem Wesen nach als den Vorsitzenden
-einer Versammlung frei über sich selber verfügender Männer benahm.
-Wo immer möglich, befragte ich vor meinen Anordnungen die
-Genossen, fügte mich der Meinung der Mehrheit und traf selbständige
-Verfügungen bloß in dringenden Fällen oder wenn es sich um Zuweisung
-von Aufträgen an Abwesende handelte. Sonst geschah die
-Zuteilung der verschiedenen Arbeiten an verschiedene Gruppen stets im
-Einverständnisse mit allen betreffenden Mitgliedern, die Vorsteher dieser
-Arbeitszweige wurden von ihren speziellen Genossen selber gewählt,
-und wenn dabei auch in allen wesentlichen Fragen stets meiner und
-meiner engeren Vertrauten Ansichten und Vorschläge zur Ausführung
-gelangten, (so daß &mdash; wenn im Bisherigen zumeist der Kürze halber
-gesagt wurde: &bdquo;ich ordnete an, ich designierte&ldquo; &mdash; damit dem Wesen
-nach die Wahrheit erzählt wurde) so geschah dies doch nur aus dem
-Grunde, weil diese meine Vertrauten eben die geistigen Spitzen der
-Kolonie waren und die anderen sich diesen freiwillig unterordneten.
-Dabei wußten wir alle, daß dies keine auf Dauer berechnete Organisation
-sei. Niemand arbeitete einstweilen für sich, alles was wir erzeugten,
-gehörte nicht dem Erzeuger, auch nicht der Gesamtheit von
-uns Erzeugern, sondern dem Unternehmen, aus dessen Mitteln wir
-hinwieder allesamt zehrten. Mit einem Worte, die &bdquo;freie Gesellschaft&ldquo;,
-<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
-die wir gründen wollten, war noch nicht gegründet, sie befand sich noch
-unterwegs und inzwischen waren wir ihr gegenüber nichts anderes, als
-Angestellte nach altem Recht, die sich von gewöhnlichen Lohnarbeitern bloß
-dadurch unterschieden, daß ihnen selber überlassen war, was sie zu
-ihrem Unterhalte vorweg nehmen und was sie als &bdquo;Unternehmergewinn&ldquo;
-für die Auftraggeberin zurücklegen mochten. Hätte mich böser
-Wille einzelner Genossen dazu genötigt, so war ich nicht bloß im Rechte,
-sondern auch entschlossen, den &bdquo;Bevollmächtigten&ldquo; hervorzukehren; daß
-ich es vermeiden konnte, trug nicht wenig dazu bei, das Behagen, das
-uns alle erfüllte, zu steigern und war auch insofern von großem Werte,
-als dadurch der Übergang zu den späteren endgültigen Organisationsformen
-wesentlich erleichtert wurde, ändert aber nichts an dem Sachverhalt,
-daß unser Leben und Wirken unterwegs wie am Kenia sich
-noch innerhalb der sozialen Formen der alten Welt bewegte.
-</p>
-
-<p>
-Die Arbeitszeit war in Edenthal einstweilen für jedermann &mdash; ob
-Arbeitsvorsteher oder simpler Arbeiter, Weißer oder Neger &mdash; die
-gleiche, von 5 bis 10 Uhr vormittags und von 4 bis 6 Uhr nachmittags;
-nur in der Erntezeit waren ein bis zwei Stunden zugegeben
-worden. Am Sonntag ruhte ebenso gleichmäßig alle Arbeit.
-</p>
-
-<p>
-Die Tagesordnung war die folgende: Gegen 4 Uhr wurde aufgestanden,
-im Edensee &mdash; es waren zu diesem Behufe mehrere Badehütten
-errichtet &mdash; ein Bad genommen und hierauf Toilette gemacht.
-Das Reinigen und etwa notwendige Ausbessern der Kleider besorgte
-unter Anleitung eines in solchen Künsten bewanderten Mitgliedes eine
-Gruppe von Suaheli, welcher diese Arbeit als alleinige Verrichtung
-zugewiesen worden war. Da wir Kleidungsstücke zum Wechseln besaßen,
-so wurden des Morgens immer die während des gestrigen Tages
-gereinigten gebracht, dafür die gestern gebrauchten abgeholt, um im
-Laufe des Tages für den morgigen Gebrauch in Stand gesetzt zu werden.
-Hierauf kam das Frühstück, gleich allen Mahlzeiten wieder das Werk
-einer damit betrauten anderen Schar von Suahelis &mdash; um deren Einweihung
-in mehrfache Geheimnisse französischer Kochkunst sich meine
-Schwester große Verdienste erworben hatte. Dieses erste Frühstück
-bestand je nach dem Geschmacke eines Jeden aus Thee, Schokolade,
-schwarzem oder mit Milch gemengtem Kaffee, Milch oder irgend einer
-Suppe; dazu ebenso nach Wahl Butter, Käse, Honig, Eier, kalter
-Braten nebst Brot oder anderem Gebäck. Nach diesem ersten Frühstück
-wurde bis 8 Uhr gearbeitet, um welche Zeit ein zweites Frühstück kam,
-bestehend aus irgend einer substantiellen warmen Speise &mdash; Omelette,
-Fisch oder Braten mit Brot, etwas Käse und Früchten, dazu als Getränk
-entweder das köstliche Quellwasser unserer Berge, oder der sehr
-erfrischende, wohlschmeckende Bananenwein, den die Eingeborenen zu
-bereiten verstehen. Nach diesem Frühstück, welches in der Regel 15
-<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
-bis 20 Minuten in Anspruch nahm, wurde bis 10 Uhr weiter gearbeitet,
-worauf die große Mittagspause folgte. Diese wurde, insbesondere
-in den heißeren Monaten, von den Meisten zunächst zu einem
-zweiten Bade im See benutzt, welchem irgendeine häusliche Zerstreuung,
-Lektüre, Konversation oder Spiel folgte. Die Hitze war um
-diese Zeit in der Regel groß; während der heißen Monate stieg das
-Thermometer häufig auf 35 Grad Celsius im Schatten. Zwar verhüteten
-kühle Brisen, die bei schönem Wetter regelmäßig zwischen 11
-Uhr vormittags und 5 Uhr nachmittags vom Kenia her wehten und
-zwar desto stärker, je heißer der Tag sich anließ, daß der Aufenthalt
-im Freien jemals unerträglich wurde; aber am angenehmsten und zuträglichsten
-war während der Mittagsstunden jedenfalls das Verweilen
-in gedeckten Räumen. Um 1 Uhr wurde die Hauptmahlzeit gehalten,
-bestehend aus Suppe, einem Fleisch- oder Fischgericht mit Gemüsen,
-süßem Backwerk und Früchten der mannigfachsten Art, dazu abermals
-Bananenwein oder, nachdem unsere Brauerei zu arbeiten angefangen
-hatte, Bier. Nach dem Speisen wurde von Einzelnen ein halbes
-Stündchen geschlafen, hierauf gab es wieder Konversation, Lektüre,
-Spiel, worauf, nachdem die ärgste Hitze vorüber war, die zweistündige
-Nachmittagsarbeit erledigt ward. Dieser ließen Einzelne ein drittes kurzes
-Bad folgen. Um 7 Uhr nahm man wieder eine dem ersten Frühstück
-ähnliche Mahlzeit, sofern es nicht regnete, im Freien und zu größeren
-Gesellschaften vereinigt. Zu bemerken ist dabei, daß hinsichtlich aller
-Mahlzeiten, wie überhaupt aller Genußmittel als Regel galt, daß
-Jedermann wählen konnte, was und soviel ihm beliebte. Nur bezüglich
-der geistigen Getränke hielten wir es anders &mdash; aus leicht begreiflichen
-Gründen. Späterhin, wenn Jedermann auf eigenen Füßen stand,
-mochte er es auch mit diesen halten, wie ihm beliebte; solange wir
-von Gesellschaftswegen verpflegt wurden, mußten wir schon mit Rücksicht
-auf unsere Neger Beschränkung üben.
-</p>
-
-<p>
-Des Abends wurde meist Musik gemacht. Wir hatten einige sehr
-tüchtige Musiker, ein ganz artiges, 45 Mann zählendes Orchester von
-Blas- und Streichinstrumenten und einen vortrefflichen Chor, die sich,
-so oft es das Wetter erlaubte, hören ließen. Zwei oder drei Stunden
-nach Sonnenuntergang pflegte es kühl zu werden; in wenigen Nächten
-behauptete sich das Thermometer über 22 Grad, sank aber bisweilen
-bis auf 15 Grad Celsius, so daß die Nachtruhe stets erquickend war.
-</p>
-
-<p>
-An den Sonntagen gab es mannigfaltige Veranstaltungen zu
-Zwecken der Belustigung sowohl als der Belehrung: Ausflüge in die
-benachbarten Wälder, Jagden, Konzerte, Vorlesungen, Vorträge.
-</p>
-
-<p>
-Die von uns bewohnten Blockhäuser waren eigentlich dazu bestimmt,
-je einer Familie als zukünftiges, wenn auch bloß provisorisches
-Heim zu dienen. Ein jedes lag inmitten eines tausend Quadratmeter
-<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
-umfassenden Gärtchens und deckte mit seinen 6 Räumen: Vorzimmer,
-Küche und 4 Stuben, selber ein Areal von 150 Quadratmetern. Jedes
-solcher Häuschen nun wurde einstweilen von Vieren der Unseren besetzt;
-den beiden Frauen mit Sakemba, die inzwischen den Besuch ihrer
-Eltern und Geschwister erhalten und diese bewogen hatten, ihre <a id="corr-22"></a>Grashütten
-gleichfalls in Edenthal aufzuschlagen, war selbstverständlich auch
-ein besonderes Häuschen eingeräumt.
-</p>
-
-<p>
-Letztere Anordnung aber gefiel meiner Schwester ganz und gar
-nicht. Während der Reise hatte sie sich notgedrungen darein gefunden,
-getrennt von mir, dem ihr von unserer verewigten Mutter ans Herz
-gelegten Pfleglinge, zu kampieren; in Edenthal angelangt, gedachte sie
-jedoch ihre alten Vormundschaftsrechte und -Pflichten wieder zu beanspruchen,
-sah sich aber durch die Rücksicht auf einen zweiten Schützling,
-der inzwischen auch zu einem Liebling geworden war, durch die auf
-Ellen Fox nämlich, in der Ausführung ihrer Vorsätze gehindert. Sie
-konnte doch unmöglich dies junge Mädchen inmitten so vieler Männer
-allein lassen; ebenso wenig aber konnte sie uns beide &mdash; obwohl wir
-in ihren Augen die reinen Kinder waren &mdash; Thür an Thür im selben
-Häuschen unterbringen. Was hätten ihre Freunde und Freundinnen
-in Paris dazu gesagt! Zwar brachte ich all meine freie Zeit bei den
-Frauen zu, wo mich, ohne daß ich es bemerkte, die aus geistreichen
-theoretischen Kontroversen und unbefangenem Geplauder eigentümlich gemengte
-Konversation der jungen Amerikanerin nicht minder als ihr
-Harfenspiel und ihre glockenhelle Altstimme, stets mehr und mehr
-fesselten; aber das genügte Schwester Klara nicht und sie geriet schließlich
-auf den Gedanken, uns zu verheiraten. Schon wegen unserer gemeinsamen
-&bdquo;Narrheit&ldquo; &mdash; unserer sozialen Ideen nämlich &mdash; paßten
-wir ganz gut zu einander, und wenn auch &mdash; ihrer Meinung nach &mdash;
-außer Zweifel stand, daß in dieser Ehe gesunder, hausbackener Menschenverstand
-gänzlich fehlen würde, so war ja <em>sie</em> dazu da, für die beiden
-Kindsköpfe zu sorgen und zu handeln.
-</p>
-
-<p>
-Nachdem sie diesen Vorsatz einmal gefaßt, legte sie sich als vorsichtige,
-diskrete Person, die ganz richtig voraussah, daß in diesem
-Punkte weder bei mir, noch bei Miß Ellen auf unbedingten Gehorsam
-zu rechnen wäre, zunächst aufs Beobachten, und dabei machte sie denn
-ungeachtet ihrer in Sachen der Liebe höchst mangelhaften eigenen Erfahrungen,
-ausgerüstet bloß mit dem keinem Weibe fehlenden instinktiven
-Feingefühle, die überraschende Entdeckung &mdash; daß wir beiden bereits bis
-über die Ohren ineinander verliebt seien. Anfangs war sie über diese
-Wahrnehmung so erstaunt, daß sie ihren Augen keinen Glauben schenken
-wollte. Aber die Sache war zu klar, als daß eine Täuschung möglich
-gewesen wäre. Wir beiden Liebenden ahnten zwar selber nicht im entferntesten,
-wie es um uns stand; aber wer Miß Fox so genau kannte,
-<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
-wie dies bei meiner Schwester nach mehrmonatlichem ununterbrochenen
-Zusammenleben mit der offenherzigen und freimütigen Amerikanerin
-selbstverständlich war, der konnte sich nicht darüber täuschen, was es zu
-bedeuten habe, wenn ein Mädchen, das bisher nur seinen Idealen: Freiheit
-und Gerechtigkeit, gelebt, deren Abgott die Menschheit gewesen und
-das keinem Manne gegenüber anderes Interesse gezeigt, als dasjenige
-für die Ideen, denen er diente &mdash; wenn dieses selbe Mädchen in Aufregung
-geriet, so oft es eines gewissen Mannes Schritte hörte, und im
-vertrauten Umgange mit meiner Schwester statt von der Herrlichkeit
-unserer Prinzipien mit Vorliebe von den Vorzügen dessen sprach, der
-hier in Edenthal der erste Diener dieser Prinzipien war. Und was
-meine Gefühle anlangt, so wußte Schwester Klara allzu genau, daß mir
-am Weibe bisher dessen Stellung in der menschlichen Gesellschaft das
-einzig Interessante gewesen, als daß es ihr nicht wie Schuppen von den
-Augen hätte fallen sollen, als ich sie kürzlich, nachdem ich Miß Fox, die
-eben abseits mit etwas beschäftigt war, lange und andächtig betrachtet
-hatte, mit den Worten apostrophierte: &bdquo;Ist nicht jede Bewegung dieses
-Mädchens Musik?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Sie nahm uns daher beide einzeln beiseite und erklärte, daß wir
-uns heiraten müßten. Aber da kam sie hier und dort schlecht an.
-Miß Ellen wurde zwar auf diesen Antrag hin abwechselnd purpurrot
-und leichenblaß, erklärte aber sofort, lieber sterben zu wollen, als mich
-zu heiraten. &bdquo;Würden diese übermütigen Männer, die uns Frauen
-allen Sinn für das Ideale, jede Fähigkeit rein sachlichen Strebens absprechen
-und als Sklavinnen unserer egoistischen Triebe betrachten,
-nicht triumphierend behaupten, daß meine vorgebliche Begeisterung für
-unser soziales Unternehmen nichts anderes gewesen, als Leidenschaft für
-einen Mann, daß ich nicht um einer Idee, sondern um dieses Mannes
-willen nach Afrika bis an den Äquator gelaufen? Nein, &mdash; ich liebe
-Deinen Bruder nicht &mdash; ich werde überhaupt niemals lieben und noch
-weniger heiraten!&ldquo; Dieser heroischen Apostrophe folgte zwar ein Strom
-von Thränen, die jedoch &mdash; als Schwester Klara sie zu meinen Gunsten
-auslegen wollte &mdash; für Zeugen der Empörung ob des kränkenden Verdachtes
-ausgegeben wurden. Nicht viel anders machte ich es; als Klara
-mir auf den Kopf zusagte, ich sei in Miß Fox verliebt, lachte ich sie
-aus und erklärte die mir vorgehaltenen Symptome meiner Leidenschaft
-als bloße Zeichen psychologischen Interesses an einem weiblichen Geschöpfe,
-welches echter Begeisterung für abstrakte Ideen fähig sei.
-</p>
-
-<p>
-Doch eine mütterliche Schwester, die einmal den Vorsatz gefaßt,
-ihren Bruder &mdash; und noch dazu an ihre Freundin &mdash; zu verheiraten,
-ist nicht so leicht aus dem Felde zu schlagen, am allerwenigsten, wenn
-sie so gute und mannigfache Gründe hat, auf ihrem Willen zu beharren.
-Da es auf geradem Wege nicht ging, wählte sie einen krummen &mdash; keinen
-<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
-neuen, aber einen oft bewährten: sie machte uns beide eifersüchtig.
-Jedem von uns erzählte sie im Vertrauen, es sei nichts mit ihrem
-&bdquo;dummen Plane&ldquo;, da der andere Teil nicht mehr frei wäre. Da sie
-mir gegenüber schlauerweise hinzufügte, sie habe ihr Projekt bloß ersonnen,
-um zugleich mit der jungen Frau in mein Haus ziehen und die
-ihr von rechtswegen gebührenden Mutterpflichten mir gegenüber neuerlich
-übernehmen zu können, so glaubte ich ihr um dieser offenbaren
-Wahrheit willen auch die Erfindung, daß Ellen einen Verlobten in
-Amerika zurückgelassen, welcher demnächst schon hier eintreffen werde.
-&bdquo;Denke Dir nur, Ellen ist mit diesem Bekenntnisse erst herausgerückt,
-als ich ihr gleich Dir mit meiner Heiratsidee zusetzte. Es ist nur ein
-Glück, daß Du mein Junge Dir nichts aus der kleinen Duckmäuserin
-machst; das wäre jetzt eine schöne Bescherung, wenn Du Dir Ellen in
-den Kopf gesetzt hättest.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Ich erklärte mich mit dieser Wendung der Dinge höchlich zufrieden,
-hatte aber das Gefühl dabei, als ob mir ein Messer im Herzen
-umgewendet würde. Deutlich und klar stand jetzt plötzlich meine Liebe
-vor meinem inneren Auge, eine glühende grenzenlose Leidenschaft, wie
-sie nur der empfinden kann, dessen Herz 26 Jahre lang jungfräulich
-geblieben. Ich konnte hinfort &mdash; das ward mir zu unumstößlicher Gewißheit
-&mdash; noch leben und kämpfen &mdash; mich des Lebens und des Erkämpften
-freuen, nimmermehr! Aber war es denn auch gewiß und unabwendbar?
-Gab es denn keine Möglichkeit, diesen Verlobten, der
-seine Braut allen Gefahren einer abenteuerlichen Reise, allen Versuchungen
-der Schutzlosigkeit preisgab und der jetzt plötzlich hier auftauchen
-soll, um mir aus meinem Eden die Seligkeit zu rauben, gab
-es keine Möglichkeit, ihn aus dem Felde zu schlagen? Doch ist es überhaupt
-denkbar, daß Ellen, diese Ellen, wie ich sie seit Monaten kenne,
-einen solchen Jammermenschen lieben würde? Hin zu ihr, mir Klarheit
-zu verschaffen, um jeden Preis!
-</p>
-
-<p>
-Damit stürmte ich hinüber ins Nachbarhaus. Dort hatte inzwischen
-meine Schwester ein ähnlich Märchen auch Ellen erzählt.
-Sie habe sich nun einmal in den Kopf gesetzt gehabt, aus uns ein Paar
-zu machen, und daher in der Hoffnung, daß meine Werbung ihren
-(Ellens) Widerstand brechen würde, auch mir von ihrem Plane gesprochen,
-wäre, als auch ich mich weigerte, dringender geworden, und
-da hätte ich ihr endlich gestanden, mich hinter ihrem Rücken in Europa
-verlobt zu haben; die Braut werde mit dem nächsten Einwanderzuge
-hier eintreffen ... So weit war Klara gelangt, als mein Erscheinen
-ihre Erzählung unterbrach.
-</p>
-
-<p>
-Totenbleich wankte Ellen auf mich zu; sie wollte sprechen, doch
-ihre Stimme versagte; erst meine halb angst-, halb zornerfüllten Fragen
-nach dem amerikanischen Bräutigam gaben ihr die Sprache wieder.
-<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
-Zugleich aber hatte sie auch den Schlüssel der Situation gefunden: daß
-ich sie liebe, daß meine Schwester uns beide getäuscht. Was weiter
-folgte, läßt sich leicht erraten. So kam es, daß Ellen meine Braut war,
-als Dr. Strahl in Edenthal anlangte &mdash; und dieses ist das dritte Ereignis,
-von welchem ich vorher noch erzählen wollte.
-</p>
-
-<p>
-Ob das Entzücken, mit welchem ich das Weib meiner Liebe zum
-ersten Male ans Herz drückte, das größere gewesen oder jenes, mit
-welchem ich den Freund meiner Seele, den Abgott meines Geistes einführte
-in jenes irdische Paradies, zu welchem er uns den Weg gewiesen
-&mdash; das wage ich nicht zu entscheiden.
-</p>
-
-<p>
-Als ich im Auge des verehrten Freundes beim Erschauen der Herrlichkeit
-unserer neuen Heimat und des kräftig pulsierenden fröhlichen
-Lebens, das sie bereits erfüllte, Thränen der Freude, in diesen aber
-die sichere Bürgschaft unmittelbar bevorstehenden Erfolges erblickte, da
-erfaßte mich zwar nicht jene überschwängliche, für die Brust, die ihr
-zum ersten Male sich öffnet, schier unerträgliche Wonne, wie wenige
-Tage zuvor, als die Geliebte mir in Küssen das Geheimnis ihres
-Herzens offenbarte; aber wenn einst mein Haar weiß und mein Nacken
-gebeugt sein wird, dürfte wohl die Erinnerung an jene bräutlichen
-Küsse mein Blut nicht mehr so siedendheiß durch die Adern jagen, wie
-heute, während der Gedanke an die Stunde, in der ich Hand in Hand mit dem
-Freunde die stolze und doch reine Freude empfand, den ersten, schwersten
-Schritt zur Erlösung unserer leidenden, enterbten Mitbrüder aus den
-Martern vieltausendjähriger Knechtschaft vollbracht zu haben, niemals
-seine beseligende Kraft einbüßen wird, so lange ich unter den Lebenden
-wandle und mein Geist nicht von Nacht umfangen ist.
-</p>
-
-<p>
-Lange, lange stand der Meister auf den Höhen vor Edenthal, jede
-Einzelheit des entzückenden Bildes andächtig in sich aufnehmend; dann
-zu uns sich wendend, die wir ihn rings umgaben, fragte er, ob wir
-dem Lande, das unabsehbar nach allen Seiten sich ausdehnt und
-welches unsere Heimat werden solle, schon den Namen gegeben hätten.
-Als ich dies verneinte, mit dem Beifügen, daß ihm, der dem Gedanken
-Worte lieh, welcher uns hierher geführt, auch das Amt gebühre,
-das Wort für das Land zu finden, in welchem dieser Gedanke
-zuerst verwirklicht werden soll, da rief er: &bdquo;Die Freiheit wird in
-diesem Lande ihre Geburtsstätte finden: &bdquo;<em>Freiland</em>&ldquo; wollen wir es
-nennen!&ldquo;
-</p>
-
-<h2 class="part" id="part-4">
-<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
-Zweites Buch.
-</h2>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-4-1">
-<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
-8. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Wir nehmen nunmehr den Faden der Erzählung dort auf, wo
-ihn das Tagebuch Ney&rsquo;s verlassen.
-</p>
-
-<p>
-Zugleich mit dem Vorsitzenden waren 3 Mitglieder des dirigierenden
-Ausschusses in Edenthal eingetroffen; 5 andere folgten binnen
-wenigen Tagen mit der ersten Wagenkarawane aus Mombas nach, so
-daß deren &mdash; Ney, Johnston, und den auf dieser Beiden Vorschlag
-kooptierten Demestre eingerechnet, in Freiland 12 anwesend waren.
-Da es im ganzen derzeit 15 Ausschußmitglieder gab, so waren ihrer
-noch drei zurückgeblieben und zwar je eins in London, Triest und
-Mombas, wo sie bis auf Weiteres als Bevollmächtigte des Ausschusses
-den abendländischen Geschäften der Gesellschaft vorstehen sollten.
-Ihr Amt war die Aufnahme neuer Mitglieder, die Einkassierung und
-provisorische Verwaltung der einfließenden Gelder und die Überwachung
-der Auswanderungen nach Edenthal.
-</p>
-
-<p>
-Ihre Instruktion bezüglich der Aufnahme neuer Mitglieder ging
-vorerst dahin, jeden sich darum Bewerbenden aufzunehmen, sofern er
-kein rückfälliger Verbrecher und des Lesens und Schreibens kundig
-wäre. Erstere Einschränkung bedarf wohl keiner eingehenden Motivierung.
-Wir hatten allerdings unbedingtes Vertrauen in die veredelnden,
-weil das treibende Motiv der meisten Laster beseitigenden Folgewirkungen
-unserer socialen Reformen; wir waren vollkommen beruhigt
-darüber, daß Freiland keine Verbrecher erzeugen und selbst durch Elend
-und Unwissenheit da draußen zu Verbrechern Gewordene, wenn nur
-irgend möglich, dem Laster entreißen werde; für den Anfang aber wollten
-wir es vermeiden, von schlimmen Elementen überschwemmt zu werden,
-und angesichts des verzeihlichen Bestrebens einzelner Staaten, sich
-ihrer rückfälligen Verbrecher in irgend welcher Weise zu entledigen,
-mußten wir von Anbeginn vorbauen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
-Härter mag erscheinen, daß wir der Einwanderung von gänzlich Unwissenden
-eine Schranke zogen. Doch gerade das war ein notwendiges
-Erfordernis unseres Programms. Wir wollten das absolute, freie Selbstbestimmungsrecht
-des Individuums auch auf dem Gebiete der Arbeit
-an die Stelle des Jahrtausende hindurch geltenden Knechtschaftsverhältnisses
-setzen; wir wollten den unter der Botmäßigkeit der Brotherren
-stehenden Arbeiter zum selbständigen in freier Vereinbarung mit freien
-Genossen auf eigene Gefahr thätigen Produzenten umgestalten &mdash; es
-ist daher selbstverständlich, daß wir zu diesem unserem Werke blos
-solche Arbeiter gebrauchen konnten, die zum mindesten über die unterste
-Stufe der Brutalität und Unwissenheit hinaus waren. Daß wir damit
-gerade die Elendesten der Elenden zurückstießen, ist wahr; aber abgesehen
-davon, daß dem Unwissenden zumeist das klare Bewußtsein
-seines Unglücks und seiner Entwürdigung fehlt, seine Leiden daher in
-der Regel blos physischer und nicht auch moralischer Natur sind, wie die
-des mit Intelligenz gepaarten Elends, abgesehen davon durften wir
-uns auch durch weichliches Mitleid nicht dazu verleiten lassen, den Erfolg
-unseres Werkes zu gefährden. Der Unwissende muß beherrscht
-werden und da wir unsere Mitglieder nicht erst allmählich zu freien Produzenten
-erziehen, sondern unmittelbar in die freie Produktion einführen
-wollten, so <em>mußten</em> wir uns, wie gegen das Verbrechen, auch
-gegen die Unwissenheit schützen.
-</p>
-
-<p>
-Sollte hinwieder geltend gemacht werden, daß Kenntnis des Lesens
-und Schreibens allein denn doch kein genügendes Kennzeichen jenes
-Ausmaßes von Bildung und Intelligenz sei, welches bei Menschen, die
-ihre Arbeit selber regieren sollen, vorausgesetzt werden müsse; so ist
-darauf zu erwidern, daß zu diesem Behufe allerdings ein sehr hoher
-Grad der Intelligenz erforderlich ist, aber nicht bei allen, sondern bloß
-bei verhältnismäßig nicht sehr zahlreichen der solcherart sich selber
-organisierenden Arbeiter, während bei der Majorität jenes Mittelmaß von
-Geisteskräften und Geistesausbildung durchaus genügt, dessen es zu
-richtiger Erkenntnis des eigenen Interesses bedarf. Wenn hundert oder
-tausend Arbeiter sich zusammenthun, um für gemeinsame Rechnung und
-Gefahr zu arbeiten, so kann und muß nicht jeder derselben die Fähigkeiten
-zur Organisation und Leitung dieser gemeinsamen Produktion
-besitzen; dieses höhere Ausmaß von Intelligenz wird bloß bei einigen
-Wenigen unerläßlich sein, während es für die Majorität genügt, daß sie
-richtig beurteilen könne, was mit der gemeinsam zu betreibenden Produktion
-erzielt werden soll und kann und welche Eigenschaften Diejenigen
-besitzen müssen, in deren Hände die Wahrung dieses gemeinsamen Interesses
-gelegt wird. Gerade in diesem Punkte aber ist die Kenntnis
-der Schrift von ausschlaggebender Bedeutung, denn das gedruckte Wort
-allein ist es, welches den Menschen und sein Urteil unabhängig macht
-<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
-von den zufälligen Einflüssen der unmittelbaren Umgebung, seinen
-Verstand der Belehrung erst öffnet. Es wird sich später zeigen,
-in wie hohem Maße die ausgedehnteste, lediglich durch Schrift und
-Druck zu vermittelnde Öffentlichkeit aller Vorgänge auf dem Gebiete
-jeglicher produktiven Thätigkeit zum Gelingen unseres Werkes
-beitrug.
-</p>
-
-<p>
-Es versteht sich von selbst, daß diese beiden Bedingungen für aufzunehmende
-Mitglieder auch bisher schon vom Ausschusse gefordert
-wurden, und zwar das zweitgenannte ursprünglich in ziemlich strenger
-Form. Da sich jedoch gezeigt hatte, daß das geistige Niveau der
-meisten Bewerber ein überraschend hohes war, indem der Hauptsache
-nach von den körperlich arbeitenden Klassen sich blos die Elite in ausgedehnterem
-Maße für unser Unternehmen interessierte, und da nunmehr,
-wo die Zahl der Mitglieder 20000 überschritten hatte, die mitunterlaufende
-Unwissenheit nicht mehr so gefährlich sein konnte, so
-begnügte sich der Ausschuß mit der Forderung, daß die Anmeldungen
-eigenhändig und schriftlich geschehen müßten.
-</p>
-
-<p>
-Die Zahl der sich meldenden Mitglieder &mdash; es ist zu bemerken,
-daß Frauen und Kinder stets mitgerechnet sind &mdash; war in stetigem
-Wachstume begriffen, insbesondere seit Veröffentlichung der ersten
-Berichte über die am Kenia angelegte Kolonie. Als der Ausschuß sich
-unter Hinterlassung seiner Delegierten in Triest einschiffte, hatte der
-Mitgliederzuwachs 1200 in der Woche erreicht; drei Monate später
-war er auf 1800 wöchentlich gestiegen. Die Aufgabe der europäischen
-Bevollmächtigten war es nun, die neuen Mitglieder &mdash; gleichwie dies
-vorher schon mit den alten geschehen &mdash; sorgfältig nach Geschlecht,
-Alter und Beruf zu registrieren und mit jeder Schiffsgelegenheit die
-entsprechenden Listen nach Freiland zu expedieren; sie hatten den &mdash;
-nach wie vor unentgeltlich erfolgenden &mdash; Transport bis Mombas zu
-organisieren und zu überwachen und waren mit Vollmacht versehen,
-alle zu diesem Behufe erforderlichen Ausgaben, im Bedarfsfalle auch
-den Ankauf neuer Schiffe, gegen nachträgliche Verrechnung und Genehmigung
-zu bestreiten. Sache der Bevollmächtigten war es ferner, den
-sich zur Reise rüstenden Mitgliedern mit Rat und That an die Hand
-zu gehen; auch hatten sie Vollmacht, hilfsbedürftigen Genossen materiell
-beizuspringen. Die Mitgliederbeiträge zeigten ähnlich wachsende Tendenz,
-wie die Mitgliederzahl; es wuchs eben offenbar das Interesse und
-Verständnis für unser Unternehmen nicht blos in den arbeitenden,
-sondern auch in den besitzenden Klassen; der Wochenzufluß steigerte sich
-in der Zeit von Ende September bis Ende Dezember von rund
-20,000 £ auf 30,000 £. Über diese Gelder war, nach Bestreitung
-der den Delegirten eingeräumten Kredite, dem Ausschusse die Verfügung
-vorbehalten, dessen Vollzugsorgan übrigens auch in diesem
-<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
-Punkte bei allen in der alten Welt zu bestreitenden Auslagen die zurückgelassenen
-Delegierten waren.
-</p>
-
-<p>
-Am 20. Oktober hielt der Ausschuß seine erste Sitzung in Edenthal,
-um über die geeignetesten Vollzugsmaßregeln zur Konstituierung
-jener freien Vergesellschaftungen schlüssig zu werden, deren Sache von
-da ab die Produktion in Freiland sein sollte. Die Ausschußsitzungen
-waren von jeher öffentlich gewesen, d. h. jedes Mitglied der Gesellschaft
-hatte Zutritt zu denselben und so sollte es auch fernerhin bleiben;
-eine bloß provisorisch eingeführte Neuerung dagegen war es, daß die
-Zuhörerschaft auch eingeladen wurde, an den Verhandlungen &mdash; allerdings
-nur mit beratender Stimme, teilzunehmen. Diese Maßregel
-hat die Bestimmung, in der Zwischenzeit, bis die Presse ihre informierende
-und kontrollierende Wirksamkeit beginnen konnte, deren Rolle zu übernehmen.
-</p>
-
-<p>
-Die Grundlage des zur Durchführung gelangenden Organisationsplanes
-war schrankenlose Öffentlichkeit in Verbindung mit ebenso schrankenloser
-Freiheit der Bewegung. Jedermann in ganz Freiland mußte jederzeit
-wissen, nach welcherlei Produkten jeweilig der größere oder geringere
-Bedarf und in welchen Produktionszweigen jeweilig der größere oder
-geringere Ertrag vorhanden sei. Ebenso aber mußte Jedermann in
-Freiland jederzeit das Recht und die Macht haben, sich &mdash; soweit seine
-Fähigkeiten und Fertigkeiten reichen &mdash; den jeweilig rentabelsten Produktionszweigen
-zuzuwenden.
-</p>
-
-<p>
-Die zu treffenden Maßnahmen hatten also zunächst diese zwei
-Punkte ins Auge zu fassen. Eine sorgfältige Statistik hatte in übersichtlicher,
-und was die Hauptsache ist, in denkbar raschester Weise jede
-Bewegung der Produktion auf der einen, des Consums auf der anderen
-Seite zu registrieren; ebenso galt es, die Preisbewegung aller Produkte
-zur allgemeinen Kenntnis zu bringen. Angesichts der entscheidenden
-Wichtigkeit dieser Veröffentlichungen mußte Vorsorge getroffen werden,
-daß Täuschungen oder unbeabsichtigte Irrungen bei denselben von vornherein
-ausgeschlossen seien &mdash; ein Problem, welches wie im Nachfolgenden
-gezeigt werden wird, in vollkommenster und doch einfachster Weise
-gelöst wurde.
-</p>
-
-<p>
-Und damit nun die solcherart erlangte Kenntnis auch von Jedermann
-praktisch zum eigenen Vorteile ausgenutzt werden könne, was
-nur möglich ist, wenn Jedermann in die Lage versetzt wird, sich jenem
-seinen Fähigkeiten entsprechenden Arbeitszweige zuzuwenden, der jeweilig
-die höchste Rente bietet, mußte dafür gesorgt werden, daß Jedermann
-jederzeit in den Besitz der hierzu erforderlichen Produktionsmittel
-gelangen könne. Dieser Produktionsmittel giebt es zweierlei: Naturkräfte
-und Kapitalien. Ohne diese Beiden nützt die genaueste Kenntnis
-jener Arbeitszweige, nach deren Erzeugnissen gerade der dringendste Bedarf
-<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
-vorhanden ist und die deshalb die höchsten Erträge liefern, eben
-so wenig, als die vollendetste Geschicklichkeit in diesen Produktionen.
-Der Mensch kann seine Arbeitskraft nur verwerten, wenn er über die
-von der Natur gebotenen Stoffe und Kräfte, wie nicht minder über
-entsprechende Instrumente und Maschinen verfügt; und zwar muß er,
-um mit seinen Mitbewerbern konkurrieren zu können, Beides in gleich
-guter und vollkommener Beschaffenheit besitzen, wie diese. Man muß
-nicht bloß Boden zur Verfügung haben, um Weizen zu bauen, sondern
-auch gleich ergiebigen Weizenboden wie die anderen Weizenbauer, sonst
-wird man mit geringerem Nutzen, ja möglicherweise sogar mit Schaden
-arbeiten; und der Besitz des ergiebigsten Bodens wird die Arbeit noch
-nicht ermöglichen, oder doch nicht gleich ertragreich machen, wenn man
-die erforderlichen landwirtschaftlichen Geräte nicht, oder doch nicht in
-jener Vollkommenheit besitzt, wie die Konkurrenten.
-</p>
-
-<p>
-Was nun die Kapitalien anlangt, so machte sich die freie Gesellschaft
-anheischig, sie Jedermann nach Wunsch zur Verfügung zu stellen,
-und zwar zinslos, gegen Rückzahlung in gewissen Fristen, deren Ausmaß
-je nach der Natur der beabsichtigten Anlagen in der Weise festgestellt
-wurde, daß die Abtragung aus den Produktionsergebnissen stattfand.
-Da die Arbeitsinstrumente und sonstigen kapitalistischen Arbeitsbehelfe
-in beliebigem Umfange und in beliebiger Qualität hergestellt
-werden können, so wäre damit der eine Teil des Problems gelöst
-gewesen.
-</p>
-
-<p>
-Anders verhält sich die Sache mit den Naturkräften, als deren
-Repräsentanten wir den Boden, an den sie doch gebunden sind, gelten
-lassen wollen. Den Boden hat Niemand erzeugt, es hat also Niemand
-Eigentumsanspruch auf ihn und Jedermann hat das Recht, ihn zu benutzen;
-aber den Boden hat nicht bloß Niemand erzeugt, es kann ihn
-auch fernerhin Niemand erzeugen; Boden ist daher bloß in beschränkter
-Menge vorhanden und außerdem ist auch der vorhandene Boden nicht
-von gleicher Güte. Wie soll es nun trotzdem möglich sein, nicht
-bloß Jedermanns Anspruch auf Boden, sondern sogar auf gleich ertragreichen
-Boden zur Geltung zu bringen?
-</p>
-
-<p>
-Um dies zu erklären, muß zunächst noch die dritte und in Wahrheit
-fundamentalste Voraussetzung der wirtschaftlichen Gerechtigkeit dargelegt
-werden. Wenn in deren Sinne jedem Arbeitenden der ungeschmälerte
-Ertrag der eigenen Arbeit zugesprochen wird, so ist dies nur insofern
-und unter der Voraussetzung wirklich gerecht, daß angenommen wird,
-der Arbeitende sei selber und ausschließlich der Erzeuger dieses ganzen
-Ertrages. Das war er aber nach der alten Wirtschaftsordnung mit
-nichten. Der Arbeitende erzeugte als solcher nur einen Teil des
-Produkts, während ein anderer Teil vom Arbeitgeber &mdash; derselbe sei
-nun Grundbesitzer, Kapitalist oder Unternehmer &mdash; hervorgebracht wurde.
-<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
-Ohne den organisatorischen, disciplinierenden Einfluß dieses Letzteren
-wäre die Mühe der Arbeitenden unfruchtbar, oder doch weit minder
-fruchtbar gewesen; der Arbeiter lieferte bisher stets nur die zusammenhanglose
-Kraft, während der ordnende Geist Sache des Arbeitgebers
-war.
-</p>
-
-<p>
-Damit soll nicht gesagt sein, daß die größere geistige Kraft bisher
-ausnahmslos oder notwendiger Weise auf Seite des Letzteren sich befunden;
-auch die Techniker und Direktoren, die den großen Produktionsanstalten
-vorstehen, gehören dem Wesen nach zu den Lohnarbeitern und
-ganz im allgemeinen kann ohne weiteres zugegeben werden, daß die
-höhere Intelligenz in zahlreichen Fällen nicht bei den Arbeitgebern,
-sondern bei den Arbeitern sich gefunden haben mag. Trotzdem ist es
-der Arbeitgeber, dessen Verdienst überall dort, wo es galt, mehrere
-Arbeitende zu gemeinsamem Werke zu vereinigen und zu disciplinieren,
-diese Vereinigung und Disciplinierung gewesen. Für sich zu produzieren,
-vermochten die Arbeitenden bisher stets nur vereinzelt; sowie ihrer Mehrere
-unter einen Hut gebracht werden sollten, war ein &bdquo;Herr&ldquo; notwendig,
-ein Herr, der mit der Peitsche &mdash; dieselbe mag nun aus Riemen, oder
-aus den Paragraphen einer Fabrikordnung geflochten sein &mdash; die Widerstrebenden
-beisammenhält und <em>dafür</em> &mdash; nicht für seine höhere Intelligenz,
-den Ertrag der Arbeit einstreicht, den Arbeitenden, sie mögen nun dem
-Proletariate oder der sogenannten Intelligenz angehören, nur so viel
-einräumend, als zu ihrem Unterhalte erforderlich ist. Noch niemals
-bisher haben die Arbeitenden den Versuch gewagt, ohne Herrn, als
-freie eigenberechtigte Männer und nicht als Knechte &mdash; dabei aber mit
-vereinten Kräften zu produzieren. Die Benützung jener gewaltigen, den
-Ertrag der menschlichen Thätigkeit so unendlich vervielfältigenden Instrumente
-und Einrichtungen, die Wissenschaft und Erfindungsgeist der
-Menschheit an die Hand gegeben, setzt vereintes Wirken Vieler voraus,
-und dieses hat sich bisher nur Hand in Hand mit der Knechtschaft bewerkstelligen
-lassen. Man spreche nicht von den Produktivassociationen
-eines Schulze-Delitzsch und Anderer; sie haben am Wesen der Knechtschaft
-nichts geändert, bloß der Name der Herren ist ein anderer geworden.
-Auch in diesen Associationen gibt es nach wie vor Arbeitgeber
-und Arbeiter; Ersteren gehört der Ertrag, Letztere erhalten Stall
-und gefüllte Futterraufe gleich den zweibeinigen Arbeitstieren des Einzelunternehmers
-oder der gewöhnlichen Aktiengesellschaft, deren Aktionäre
-zufällig keine Arbeiter sind. Damit die Arbeit frei und eigenberechtigt
-werde, müssen sich die Arbeitenden als solche, nicht aber als kleine
-Kapitalisten zusammenthun; sie dürfen keinen wie immer genannten oder
-gearteten Arbeitgeber über sich setzen, also auch keinen solchen, der aus
-einer Genossenschaft von Ihresgleichen besteht; sie müssen sich als
-Arbeitende und nur als solche organisieren, dann erst haben sie auch als
-<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
-solche Anspruch auf den vollen Arbeitsertrag. Und diese Organisation
-der Arbeit ohne jeglichen Rückstand des altererbten Herrschaftsverhältnisses
-irgend eines Arbeitgebers ist das Grundproblem der
-socialen Befreiung; ist dieses glücklich gelöst, so folgt alles Andere
-ganz von selbst.
-</p>
-
-<p>
-Diese Organisation aber war mit nichten so schwierig, als auf den
-ersten Blick scheinen mag. Der Ausschuß ging von dem Grundsatze
-aus, daß die richtigen Organisationsformen freier Arbeit sich am besten
-durch das freie Zusammenwirken sämtlicher an dieser Organisation Beteiligten
-werde finden lassen. Besondere Schwierigkeiten vermochte er
-dabei nicht zu entdecken. Handelte es sich dabei doch dem Wesen nach
-um höchst einfache Dinge. Um z. B. ein Eisenwerk zu errichten,
-brauchten die Arbeiter den Gesamtmechanismus der Eisenfabrikation
-keineswegs sämtlich zu verstehen; was notthat, war bloß zweierlei:
-erstlich daß sie wußten, welcherlei Leute sie an die Spitze ihrer Fabrik
-zu stellen hätten und zweitens, daß sie diesen Leuten einerseits genügende
-Gewalt einräumten, um die Arbeit in Ordnung zu erhalten,
-anderseits aber auch sie genügend kontrollierten, um jederzeit das Heft
-über ihr Unternehmen in eigenen Händen zu behalten. Dabei konnten
-ohne Zweifel sehr ernste Fehler begangen werden; man konnte sich in
-der Organisation der leitenden sowohl als der überwachenden
-Organe, im Ausmaße der erteilten Vollmachten arg vergreifen; aber
-gerade die einmal bereits erwähnte, schrankenlose Öffentlichkeit aller
-Produktionsvorgänge, die von Gesamtheitswegen auch aus anderen
-Gründen gefordert werden mußte, erleichterte den Arbeiterschaften ihr
-Werk wesentlich, und da alle Genossen einer jeden Produktiv-Association
-im entscheidenden Punkte genau die gleichen Interessen hatten, und ihre
-gesammelte Aufmerksamkeit jederzeit auf diese Interessen gerichtet war,
-so lernten sie wunderbar rasch die gemachten Fehler verbessern, so daß
-schon nach wenigen Monaten der neue Apparat leidlich arbeitete
-und in merkwürdig kurzer Zeit einen hohen Grad von Vollkommenheit
-erreichte. Fleiß und Emsigkeit aller Genossen aber ließen von Anbeginn
-nichts zu wünschen übrig, was angesichts der vollkommen entfesselten
-Eigeninteressen, sowie der unablässigen gegenseitigen Anfeuerung
-und Kontrolle Gleichberechtigter und Gleichinteressierter eigentlich selbstverständlich
-ist.
-</p>
-
-<p>
-Der Ausschuß arbeitete daher zum Gebrauche der Associationen
-zwar ein sogenanntes &bdquo;Musterstatut&ldquo; aus, jedoch keineswegs in der
-Meinung, daß dasselbe sich wirklich mustergiltig erweisen werde oder
-auch nur könne, sondern bloß um einen Anfang zu machen, den Genossenschaften
-gleichsam ein Formular zu bieten, das sie als Gerippe
-ihrer eigenen, durch Erfahrung allmählich entstehenden Organisationsentwürfe
-gebrauchen könnten. Thatsächlich war dieses &bdquo;Musterstatut&ldquo;,
-<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
-anfangs von allen Genossenschaften beinahe unverändert angenommen,
-nach kaum einem Jahre überall so gründlich geändert und ergänzt, daß
-von seinen ursprünglichen Bestimmungen meist nur die leitenden
-Prinzipien übrig blieben. Diese aber waren die folgenden:
-</p>
-
-<p>
-1. Der Beitritt in jede Association steht Jedermann frei, gleichviel
-ob er zugleich Mitglied anderer Associationen ist, oder nicht; auch kann
-Jedermann jede Association jederzeit verlassen.
-</p>
-
-<p>
-2. Jedes Mitglied hat Anspruch auf einen, seiner Arbeitsleistung
-entsprechenden Anteil am Nettoertrage der Association.
-</p>
-
-<p>
-3. Die Arbeitsleistung wird jedem Mitgliede im Verhältnisse der
-geleisteten Arbeitsstunden berechnet, mit der Maßgabe jedoch, daß älteren
-Mitgliedern für jedes Jahr, um welches sie der Gesellschaft länger angehören,
-als die später Beigetretenen, ein Präcipuum von x Procent
-eingeräumt ist. Ebenso kann für qualifizierte Arbeit im Wege freier
-Vereinbarung ein Präcipuum bedungen werden.
-</p>
-
-<p>
-4. Die Arbeitsleistung der Vorsteher oder Direktoren wird im
-Wege einer, mit jedem Einzelnen derselben zu treffenden freien Vereinbarung,
-einer bestimmten Anzahl täglich geleisteter Arbeitsstunden gleichgesetzt.
-</p>
-
-<p>
-5. Der gesellschaftliche Ertrag wird erst am Schlusse eines jeden
-Betriebsjahres berechnet und nach Abzug der Kapitalrückzahlungen und
-der an das freiländische Gemeinwesen zu leistenden Abgaben zur Verteilung
-gebracht. Inzwischen erhalten die Mitglieder Vorschüsse in der
-Höhe von x Procent des vorjährigen Reinertrags für jede geleistete
-oder angerechnete Arbeitsstunde.
-</p>
-
-<p>
-6. Die Mitglieder haften für den Fall der Auflösung oder Liquidation
-der Association nach dem Verhältnisse ihrer Gewinnbeteiligung
-für die kontrahierten Darlehn, welche Haftung sich bezüglich der noch
-aushaftenden Beträge auch auf neueintretende Mitglieder überträgt.
-Auch erlischt mit dem Austritte eines Mitgliedes dessen Haftung
-für die schon kontrahiert gewesenen Darlehn nicht. Dieser Haftbarkeit
-für die Schulden der Association entspricht im Falle der Auflösung
-oder Liquidation der Anspruch der haftenden Mitglieder an
-das vorhandene Vermögen.
-</p>
-
-<p>
-7. Oberste Behörde der Association ist die Generalversammlung,
-in welcher jedes Mitglied das gleiche aktive und passive Wahlrecht
-ausübt. Die Generalversammlung faßt ihre Beschlüsse mit einfacher
-Stimmenmehrheit; zu Statutenänderungen und zur Auflösung und
-Liquidation der Association ist ¾ Majorität erforderlich.
-</p>
-
-<p>
-8. Die Generalversammlung übt ihre Rechte entweder direkt als
-solche, oder durch ihre gewählten Funktionäre<a id="corr-27"></a> aus, die ihr jedoch verantwortlich
-sind.
-</p>
-
-<p>
-9. Die Leitung der gesellschaftlichen Geschäfte ist einem Direktorium
-<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
-von x Mitgliedern übertragen, die von der Generalversammlung auf x
-Jahre gewählt werden, deren Bestallung jedoch jederzeit widerruflich ist.
-Die untergeordneten Funktionäre der Geschäftsleitung werden von den
-Direktoren ernannt; doch geschieht die Feststellung des Gehaltes dieser
-Funktionäre &mdash; bemessen in Arbeitsstunden &mdash; auf Vorschlag der
-Direktoren durch die Generalversammlung.
-</p>
-
-<p>
-10. Die Generalversammlung wählt jährlich einen aus x Mitgliedern
-bestehenden Aufsichtsrat, der die Bücher sowie das Gebahren der Geschäftsleitung
-zu überwachen und darüber periodischen Bericht zu erstatten
-hat.
-</p>
-
-<p>
-Es fällt sofort auf, daß in diesem Statut bloß für den Fall der
-Auflösung der Association (Absatz 6) von dem die Rede ist, was scheinbar
-doch als Hauptsache angesehen werden sollte, nämlich vom &bdquo;Vermögen&ldquo; der
-Associationen und von den Ansprüchen der Mitglieder an dieses Vermögen.
-Der Grund liegt aber darin, daß ein Vermögen der Association
-im gemeingebräuchlichen Sinne gar nicht existiert. Die Mitglieder besitzen
-allerdings das Nutznießungsrecht der vorhandenen Produktivkapitalien;
-da sie aber dieses Recht mit jedem beliebigen Neueintretenden
-jederzeit teilen und selber durch nichts anderes, als durch das Interesse
-am Ertrage ihrer Arbeit an die Association gebunden sein sollen, so
-darf es Vermögensinteressen bei den Associationen gar nicht geben, so
-lange dieselben im Betriebe sind. Und in der That ist ein &mdash; sei
-es auch noch so nützlicher &mdash; Gegenstand, den Jedermann benutzen
-kann, kein Vermögensbestandteil. Es giebt keine Eigentümer, bloß Nutznießer
-der Associationskapitalien. Und sollte darin vielleicht ein Widerspruch
-mit jener Bestimmung erblickt werden, wonach die dargeliehenen
-Produktivkapitalien von den Associationen zurückgezahlt werden müssen,
-so darf nicht übersehen werden, daß auch diese Kapitalrückzahlung &mdash;
-den bereits erwähnten Fall der Liquidation ausgenommen &mdash; von den
-Mitgliedern bloß in ihrer Eigenschaft als Nutznießer der Produktionsmittel
-geleistet wird. Da die Kapitalrückzahlungen von den Erträgen
-in Abzug gebracht, diese aber je nach der Arbeitsleistung unter die
-Mitglieder verteilt werden, so leistet eben auch jedes Mitglied Abzahlung
-je nach seiner Arbeitsleistung. Und wenn man noch genauer zusieht,
-so wird man finden, daß diese Abzahlungen in letzter Linie eigentlich
-von den Verbrauchern der von den Associationen erzeugten Güter getragen
-werden; sie bilden &mdash; selbstverständlich &mdash; einen Teil der Betriebskosten
-und müssen notwendigerweise im Preise des Produkts
-Deckung finden. Daß dies auch überall vollkommen geschehe, dafür
-sorgt mit unfehlbarer Sicherheit die freie Beweglichkeit der Arbeitskräfte.
-Eine Produktion, bei welcher diese Abzahlungen im Preise der Erzeugnisse
-nicht vollkommen Deckung gefunden hätten, wäre solange von Arbeitskräften
-teilweise verlassen worden, bis das sinkende Angebot die Preise
-<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
-entsprechend erhöht hätte. Ist hinwieder die Abzahlung geleistet, so
-entfällt dieser Bestandteil der Betriebskosten; die betreffenden Gesellschaftskapitalien
-können als amortisiert angesehen werden und nunmehr
-sinken &mdash; wieder unter dem Einflusse der Freizügigkeit der Arbeitskräfte
-&mdash; die Preise des Produkts, so daß die Mitglieder der Association
-ebensowenig einen Sondervorteil aus der Benützung lastenloser Kapitalien
-ziehen, als sie früher einen Sondernachteil aus der Abtragung dieser
-Lasten hatten. Vorteil und Nachteil verteilt sich &mdash; immer Dank der
-freien Beweglichkeit der Arbeitskräfte &mdash; stets gleichmäßig auf die Gesamtheit
-aller Arbeitenden Freilands.
-</p>
-
-<p>
-Man sieht, die Produktivkapitalien sind infolge dieser einfach und
-unfehlbar funktionierenden Einrichtung streng genommen ebenso herrenlos,
-als der Boden; sie gehören Jedermann und daher eigentlich Niemand.
-Die Gemeinschaft der Produzenten giebt sie her und benützt sie, beides
-genau nach Maßgabe der Arbeitsleistung jedes Einzelnen; und Zahlung
-für den gemachten Aufwand leistet die Gemeinschaft aller Konsumenten,
-abermals ein Jeder genau nach Maßgabe seines Konsums.
-</p>
-
-<p>
-Daß mit der absoluten Freizügigkeit der Arbeit weder beabsichtigt,
-noch jemals erreicht wurde, daß der Ertrag überall das <em>absolut</em> gleiche
-Niveau einhielt, ist selbstverständlich. Abgesehen davon, daß ja die Ungleichheiten
-oft erst nachträglich, bei Gelegenheit der Bilanzabschlüsse,
-sich zeigen, also auch erst nachträglich durch Zu- und Abfluß von Arbeitskräften
-ausgeglichen werden können, giebt es eine nicht unerhebliche,
-dauernde, jeder Ausgleichung entrückte Verschiedenheit der Gewinne,
-die in der Verschiedenheit der mit den unterschiedlichen Arbeitszweigen
-verknüpften Anstrengungen und Unannehmlichkeiten ihre naturgemäße
-Begründung hat. Nur ist es allerdings in Freiland anders, als in der
-alten Welt, wo nur zu oft die Last der Arbeit im umgekehrten Verhältnisse
-steht zu ihrem Ertrage; bei uns müssen schwierige, lästige, unangenehme
-Arbeiten ausnahmslos höheren Gewinn abwerfen, als die
-leichteren, angenehmeren &mdash; sofern Letztere keine besonderen Fähigkeiten
-voraussetzen &mdash; sonst würde man Jene sofort verlassen und sich Diesen
-zuwenden. Außerdem ist auch das im 3. Absatze den älteren Mitgliedern
-eingeräumte Präcipuum &mdash; dasselbe schwankt bei verschiedenen Gesellschaften
-zwischen 1 und 3 Prozent per Jahr, summiert sich also bei
-längerer Arbeitszeit zu ganz respektabler Höhe und ist dazu bestimmt,
-die erprobten Arbeitsveteranen an das Unternehmen zu binden, &mdash; ein
-Hindernis absoluter Gewinnausgleichung selbst bei ganz gleichgearteten
-Associationen.
-</p>
-
-<p>
-Einer kurzen Erläuterung bedarf Punkt 5 der Statuten. Für das
-erste Betriebsjahr war natürlich die Berechnung der den Associationsmitgliedern
-zu leistenden Gewinnvorschüsse in Prozenten des vorjährigen
-Reinertrags nicht möglich, und der Ausschuß schlug daher für dieses
-<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
-erste Jahr ein Fixum von 1 Shilling (1 Mark) per Stunde vor. Man
-wird vielleicht erstaunen über die &mdash; insbesondere unter Berücksichtigung
-der am Kenia herrschenden Preisverhältnisse &mdash; auffallende Höhe dieses
-Ansatzes und billig fragen, von wo der Ausschuß den Mut schöpfte, auf
-derartige Erträge zu hoffen, daß solche Gewinnanteile, und noch dazu
-&bdquo;vorschußweise&ldquo; ausbezahlt werden könnten. Es gehörte aber dazu keine
-besondere Kühnheit, vielmehr war dieser Ansatz in Wahrheit mit äußerster
-Vorsicht bemessen. Das Ergebnis der bis dahin in Gang gesetzten gesellschaftlichen
-Produktionen war nämlich thatsächlich ein wesentlich
-günstigeres gewesen. Die Körnerwirtschaft z. B. hatte bei einem Arbeitsaufwande
-von insgesamt 44,500 Arbeitsstunden einen Rohertrag von
-42,000 Centnern verschiedener Sämereien ergeben. Deren Preis in
-Edenthal betrug derzeit im Durchschnitt allerdings nicht ganz 3 Schilling
-per Centner, da wir mehr davon erzeugen konnten, als wir brauchten,
-der Export über Mombas aber, der einstweilen noch recht primitiven
-Transportmittel halber, keinen größeren Ertrag, als eben diese 3 Schilling
-ergab. Wir hatten also rund 6,000 Pfd. Sterling landwirtschaftlichen
-Rohertrag. An Produktionskosten hierfür waren zu berechnen: 400 Pfd.
-Sterling für Materialien, 300 Pfd. Sterling als Amortisation der
-investierten Kapitalien (Werkzeuge und Vieh), so daß 5300 Pfd. Sterling
-Netto-Gewinn verbleiben werden. Da zur Deckung all der gemeinnützigen
-Ausgaben, die im Sinne unseres Programms Sache des gesamten Gemeinwesens
-sind, und von denen später noch gesprochen werden soll, eine
-Abgabe von nicht weniger als 35 Prozent in Aussicht genommen war,
-so verblieben rund 3400 Pfd. Sterling als verfügbarer Gewinn.
-Repartiert man nun diesen auf die geleisteten 44,500 Arbeitsstunden,
-so berechnet sich die Arbeitsstunde mit 1,5 Schilling. Das war aber
-auch annähernd der Durchschnittsertrag der anderen bislang betriebenen
-Produktionen gewesen, soweit sich derselbe für die Vergangenheit, in
-welcher es einen regelmäßigen Markt für alle Waren am Kenia noch
-nicht gab, überhaupt feststellen ließ; so viel war mit größter Beruhigung
-anzunehmen, daß für den Fall, als wir den Preis jedes Arbeitsprodukts
-durch Angebot und Nachfrage hätten regulieren können, im
-Durchschnitt für jedes derselben mindestens jener Preis hätte bezahlt
-oder angerechnet werden müssen, der dem landwirtschaftlichen Ertrage
-entsprach. Denn Körnerfrüchte, zu 3 Schilling ab Edenthal gerechnet,
-hätten wir doch vorerst erzeugen und absetzen können, so weit unsere
-Arbeitskraft reichte; es hätte also in der hinter uns liegenden Betriebsperiode
-Jedermann mindestens 1,5 Schilling für eine Arbeitsstunde erwerben
-können. Der nächsten Betriebsepoche schon gingen wir aber &mdash;
-wie man bald sehen wird &mdash; mit wesentlich verbesserten Hülfsmitteln
-entgegen, es mußte also, von unvorhergesehenen Unglücksfällen abgesehen,
-die Ergiebigkeit unserer Arbeit sehr namhaft steigen, so daß, als
-<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
-wir 1 Schilling Vorschuß für die Arbeitsstunde beantragten, unsere
-Meinung dahin ging, kaum die Hälfte des wirklichen Verdienstes vorweg
-zahlen zu lassen &mdash; eine Voraussetzung, der die Erfahrung durchaus entsprach.
-In den späteren Betriebsepochen wurde es bei den meisten
-Associationen üblich, 90 Prozent des vorjährigen Reinertrages als zu
-bezahlenden Vorschuß zu bestimmen.
-</p>
-
-<p>
-Die Honorierung der Direktoren anlangend, ist zu bemerken, daß
-dieselbe bei den verschiedenen Gesellschaften von Anbeginn höchst verschieden
-war. Wo zur Leitung keine ausnahmsweisen Kenntnisse und
-kein besonderer Scharfblick erforderlich war, begnügten sich die Vorsteher
-damit, daß ihre Mühewaltung einer Arbeitsleistung von täglich 8-10
-Stunden gleichgesetzt wurde; es gab aber auch Direktoren, die bis zu
-24 Stunden täglich angerechnet erhielten, was schon im ersten Jahre
-einem Jahresgehalt von ungefähr 850 £ entsprach. Den Funktionären
-minderen Grades wurden in der Regel zwischen 8 und 10 Arbeitsstunden
-angerechnet; die kontrollierenden Aufsichtsräte erhielten für
-ihre Funktion meist keinerlei Extravergütung.
-</p>
-
-<p>
-Die den Associationen gewährten Kredite erreichten im ersten Betriebsjahre
-durchschnittlich 145 £ per Kopf der beteiligten Arbeiterschaft &mdash;
-und wenn nun die Frage auftaucht, von wo wir diese Beträge für die
-Gesammtzahl unserer Mitglieder aufbrachten, so ist die Antwort: eben
-durch die Mitglieder. Und zwar sind hier nicht blos die von den Mitgliedern
-anläßlich ihres Beitritts zur Internationalen freien Gesellschaft
-gezahlten freiwilligen Beiträge gemeint, denn diese waren in erster
-Reihe dem Transportdienste zwischen Triest und Freiland geweiht, und
-hätten, auch wenn sie allesammt zur Ausstattung unserer Associationen
-mit Kapitalien herbeigezogen worden wären, zu diesem Behufe nicht
-genügt; die im Laufe des ersten Jahres beanspruchten Kredite umfaßten
-die Gesamtsumme von nahezu 2 Millionen Pfd. Sterling, während die
-gleichzeitig eingelaufenen freiwilligen Beiträge nur unwesentlich 1,5 Mill.
-Pfd. Sterling überstiegen. Die hauptsächlichen Mittel, die wir zu obigen
-Krediten an unsere Mitglieder gebrauchten, lieferte uns einerseits das
-durch die verfügbaren Vorräte repräsentierte gesellschaftliche Vermögen,
-andererseits die von den Mitgliedern gezahlte Steuer.
-</p>
-
-<p>
-Nicht unerwähnt darf hier bleiben, daß sich der Ausschuß für die
-ersten Jahre die Entscheidung über Ausmaß und Reihenfolge der zu
-gewährenden Kredite vorbehielt. Diese &mdash; wenn auch blos negative &mdash;
-Einmischung in die Betriebsverhältnisse der Associationen stand allerdings
-nicht im Einklange mit dem Prinzipe des unbedingten Selbstbestimmungsrechtes
-der Produzenten, war aber insolange unvermeidlich,
-als unser Gemeinwesen jene hohe Stufe der Ergiebigkeit der Arbeit
-noch nicht thatsächlich erreicht hatte, welche eben die Voraussetzung vollkommener
-Durchführung aller ihm zu Grunde liegenden Prinzipien ist.
-<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
-Späterhin, als die Ausrüstung mit auf der Höhe des technischen Fortschritts
-stehenden Produktionsmitteln der Hauptsache nach bei uns vollbracht
-war und es sich folglich nurmehr darum handelte, das Vorhandene
-fortlaufend zu ergänzen und zu verbessern, konnte niemals die Frage
-sein, ob die Überschüsse der laufenden Produktion auch genügen würden,
-selbst den weitestgehenden neu auftauchenden Kapitalansprüchen zu
-genügen. Anders zu Beginn, wo die Kapitalbedürfnisse unbegrenzt und
-die Hülfsmittel noch unentwickelt waren. Mehr, als es zu leisten vermochte,
-konnte das freie Gemeinwesen nicht bieten, und es mußte sich daher
-eine Auslese der zu bewilligenden Investionskredite vorbehalten. Dank
-der durch die freie Beweglichkeit der Arbeitskräfte sich geltend machenden
-durchgreifenden Interessensolidarität konnte dies geschehen, ohne daß
-damit auch nur vorübergehend eine gefährliche Bevorzugung oder Benachteiligung
-der verschiedenen Produzenten in ihren wesentlichen materiellen
-Interessen verknüpft gewesen wäre. Denn wenn &mdash; wie dies kaum zu
-vermeiden war &mdash; durch die gewährten oder verweigerten Kredite einzelne
-Produktionen begünstigt oder benachteiligt wurden, so hatte dies unmittelbar
-und selbstverständlich ein derartiges Zu- und Abströmen von Arbeitskraft
-zur Folge, daß die auf die gleichen Arbeitsleistungen entfallenden
-Erträge sich alsbald wieder ins Gleichgewicht <a id="corr-29"></a>setzten.
-</p>
-
-<p>
-Doch wie gesagt, nur auf Ausmaß und Reihenfolge der zu gewährenden
-Kredite erstreckte sich diese in den ersten Jahren geübte
-Einmischung, nicht aber auf die Art der Verwendung derselben. Diesbezüglich
-wurde von Anbeginn das Prinzip der Selbstverantwortlichkeit
-der Produzenten zu vollständiger Durchführung gebracht. Da die Produzenten
-für die Rückzahlung der empfangenen Kapitalien aufzukommen
-hatten, so blieb es ihre Sache, für die nützliche Verwendung derselben
-Sorge zu tragen. Allerdings sind es &mdash; wie früher erwähnt &mdash; die
-Konsumenten, welche in letzter Linie die Kosten der gemachten Anlagen
-bezahlen; aber das thun sie selbstverständlich nur, wenn und
-insoweit diese Anlagen nützlich und notwendig sind. Hätte eine
-Association überflüssige oder schlechte Maschinen angeschafft, so wäre es
-ihr unmöglich gewesen, die für dieselben zu leistenden Abzahlungen auf
-die Käufer ihrer Erzeugnisse abzuwälzen, sie hätte durch solche Investionen
-ihren Gewinn nicht erhöht, sondern geschmälert, und man
-durfte es daher füglich dem Eigeninteresse der bei den Associationen
-Beteiligten überlassen, dafür Sorge zu tragen, daß derartige Kapitalvergeudung
-unterbleibe.
-</p>
-
-<p>
-Wir kommen nun zu der Frage, wie es möglich war, das gleiche
-Anrecht Aller auf gleich ergiebigen Boden zur Wahrheit zu machen. &mdash;
-Auch dieses Problem löste sich in einfachster Weise durch die im Prinzipe
-der freien Vergesellschaftung enthaltene freie Beweglichkeit der Arbeitskräfte.
-Zwar gab es auch in Freiland besseren und minder guten Boden
-<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
-wie überall in der Welt; aber da dem besseren Boden mehr Arbeiter
-zuströmten, als dem schlechten und da einem bekannten ökonomischen
-Gesetze zufolge der Mehraufwand von Arbeitskraft auf gleicher Bodenfläche
-mit <em>verhältnismäßig sinkendem</em> Ertrage verknüpft ist, so entfiel
-für den einzelnen Arbeiter, respektive für die einzelne Arbeitsstunde
-auf bestem Boden kein höherer Reinertrag, als auf überhaupt noch in
-Arbeit genommenem schlechtesten.
-</p>
-
-<p>
-Im Danaplateau z. B. konnten mit einem Arbeitsaufwande von
-80 Stunden 120 Centner Weizen vom Hektar gewonnen werden, in
-Edenthal mit dem gleichen Arbeitsaufwande bloß 90 Centner. Die
-Bodenassociation im Danaplateau hatte daher, da der Centner Weizen
-3&#8539; Schilling galt und &#8539; Schilling zur Deckung aller Spesen ausreichte,
-am Schlusse des Jahres 4½ Schilling pro Arbeitsstunde als
-Gewinn und konnte von diesem nach Abzug der Steuer und der
-Kapitalrückzahlungen 2¾ Schilling zur Verteilung bringen. Die Mitglieder
-der Edenthal-Association dagegen <a id="corr-30"></a>erhielten bloß 2 Schilling pro
-Arbeitsstunde Gewinnanteil, und da nähere Untersuchung ergab, daß
-dieser Unterschied nicht in zufälligen Witterungsverschiedenheiten und
-auch nicht in minderer Arbeit, sondern in der Beschaffenheit des Bodens zu
-suchen sei, so war die Folge, daß im nächsten Jahre die neu eingewanderten
-Feldarbeiter mit Vorliebe den besseren Boden des Danaplateaus
-aufsuchten. Dort kamen jetzt durchschnittlich 105 Arbeitsstunden
-auf den Hektar, in Edenthal bloß 60; die mehraufgewendeten
-25 Stunden ergaben aber auf Ersterem keinen Rohertrag von je 1½
-Centner, wie im Durchschnitt die früher aufgewendeten 80 Stunden,
-sondern bloß einen solchen von knapp ¾ Centner, d. h. der Ertrag
-stieg nicht von 120 auf 157½ sondern bloß auf 138 Centner, sank
-also per geleisteter Arbeitsstunde auf 1,34 Centner, was zur Folge hatte,
-daß der Gewinn, ungeachtet der inzwischen wegen Verbesserung der
-Kommunikationsmittel eingetretenen namhaften Preissteigerung des Getreides,
-sich bloß auf 5 Schilling erhöhte, wovon 3 Schilling pro Stunde
-zur Verteilung gelangten. In Edenthal dagegen verminderte sich der
-Rohertrag durch den Entgang von 20 Arbeitsstunden per Hektar bloß
-um je 8 Centner; er betrug also jetzt für 60 Arbeitsstunden 82 Centner
-oder 1,27 Centner per Arbeitsstunde. Die Edenassociation zahlte also
-eine Kleinigkeit mehr als die von Dana und da zudem der Aufenthalt
-in Edenthal mit größeren Annehmlichkeiten verknüpft war, als der im
-Danaplateau, so wandte sich nun der Zuzug von Ackerbauern wieder
-insolange nach Edenthal, bis endlich &mdash; nach 2 ferneren Betriebsepochen
-&mdash; eine ungefähr fünfprocentige Gewinndifferenz zu Gunsten Danas
-hervortrat, bei welcher es dann, von kleinen Schwankungen abgesehen,
-auch sein Bewenden hatte.
-</p>
-
-<p>
-Ebenso aber, wie das durch die Freizügigkeit der Arbeitskräfte
-<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
-verwirklichte Prinzip der Interessensolidarität Denjenigen, der thatsächlich
-schlechteren Boden bearbeitet, in den Mitgenuß der Vorteile besseren
-Bodens setzt, so partizipiert auch jeder, in welchem Produktionszweige
-immer Beschäftigte an allen wie immer gearteten Vorteile des besten
-Bodens und umgekehrt zieht auch der Bodenbebauer, wie überhaupt
-jeglicher Produzent, Gewinn aus sämmtlichen Produktionsvorteilen, die
-in welchem Arbeitszweige unseres Gemeinwesens immer erzielt werden,
-gerade so, als ob er bei demselben unmittelbar beteiligt wäre. <em>Alle</em>
-Produktionsmittel sind Gemeingut; über das Ausmaß des Nutzens, den
-ein jeglicher von uns von diesem gemeinsamen Eigentume ziehen mag,
-entscheidet nicht der Zufall des Besitzes &mdash; aber auch nicht die Fürsorge
-einer Alles bevormundenden kommunistischen Obrigkeit, sondern einzig
-die Fähigkeit und der Fleiß eines Jeden.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-4-2">
-<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
-9. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Ausgedehnteste Öffentlichkeit aller wirtschaftlichen Vorgänge war
-&mdash; wie bereits erwähnt &mdash; die oberste Voraussetzung des richtigen
-Funktionierens der im Vorherigen geschilderten überaus einfachen Organisation,
-die in Wahrheit in nichts anderem, als in der Hinwegräumung
-aller, der freien Bethätigung von weisem Eigennutze geleiteter
-individueller Willkür im Wege stehenden Hindernisse bestand. Um so
-notwendiger war es, diese souveräne Willkür wohl zu beraten, dem
-Eigennutze alle Handhaben zu richtigem und raschem Erfassen seines
-wahren Vorteils zu bieten.
-</p>
-
-<p>
-Kein wie immer geartetes Geschäftsgeheimnis! Das war gleichsam
-mit eines der Grundgesetze von Edenthal. Da draußen, wo der
-Kampf ums Dasein darin gipfelt, einander nicht blos auszubeuten und
-zu verknechten, sondern überdies wirtschaftlich zu vernichten, wo infolge
-der allgemeinen, aus Unterkonsum hervorgehenden Überproduktion konkurrieren
-gleichbedeutend ist mit: einander die Kunden abjagen; da
-draußen in der alten Welt wäre Preisgebung der Geschäftsgeheimnisse
-gleichbedeutend mit Preisgebung mühsam ergatterten, erlisteten Absatzes,
-also mit Untergang. Wo die ungeheure Mehrzahl der Menschen
-kein Anrecht auf steigende Produktionserträge besitzt, sondern sich &mdash;
-unbekümmert um die Ergiebigkeit der Arbeit &mdash; mit &bdquo;Arbeitslohn&ldquo;,
-d. i. mit dem zur Lebensfristung Erforderlichen begnügen muß, dort
-kann es auch keine Verwendung für die Gesammterträge hochproduktiver
-Arbeit geben. Denn die wenigen Besitzenden können unmöglich
-die stetig wachsenden Überschüsse verzehren und ihr Bestreben, solche
-zu kapitalisieren, d. h. in Arbeitsinstrumente zu verwandeln, scheitert
-an der Unmöglichkeit der Verwendung von Produktionsmitteln, für
-deren Produkte es keine Verwendung giebt. Es herrscht also in der
-<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
-ausbeuterischen Welt ein stetiges Mißverhältnis zwischen Produktivkraft
-und Konsum, zwischen Angebot und Nachfrage, und die selbstverständliche
-Folge ist, daß der Absatz Gegenstand eines eben so stetigen und
-schonungslosen Kampfes zwischen den verschiedenen Produzenten ist.
-Nicht <a id="corr-31"></a>möglichst viel und gut zu erzeugen, sondern für einen möglichst
-großen Teil der eigenen Erzeugnisse einen Markt zu erobern, ist die
-vornehmste Sorge der ausbeuterischen Produzenten, und da dieser Absatzmarkt
-angesichts des oben klargelegten Mißverhältnisses stets nur
-auf Kosten anderer Produzenten erlangt und behauptet werden kann,
-so besteht hier notwendigerweise ein dauernder und unversöhnlicher
-Interessenkonflikt. Anders bei uns. Wir können des Absatzes jederzeit
-sicher sein, denn bei uns kann nicht mehr erzeugt werden, als
-gebraucht wird, da ja der gesamte Produktionsertrag dem Arbeitenden
-gehört und der Verbrauch, die Befriedigung irgendeines realen Bedürfnisses,
-die ausschließliche Triebfeder der Arbeit ist; bei uns kann also
-durch Preisgebung seiner Absatzquellen niemand um seine Kunden kommen,
-da ihm für die eventuell verlorenen notwendigerweise andere zufallen
-müßten.
-</p>
-
-<p>
-Und welchen Anlaß hätte anderseits der Produzent da draußen,
-seine Erfahrungen Anderen mitzuteilen? Können sie von der erlangten
-Kenntnis überhaupt anderen Gebrauch machen, als einen auf seinen
-Nachteil abzielenden? Kann er die ihm ihrerseits mitgeteilte Kunde zu
-etwas anderem benützen, als wieder zu ihrer Schädigung? Läßt er
-den Anderen heran zur Teilnahme an seinem Geschäfte, wenn dieses
-das ertragreichere ist, oder läßt ihn Jener in das seine, wenn es sich
-umgekehrt verhält? Steigt die Nachfrage nach den Erzeugnissen eines
-Produzenten, so steht ihm der Arbeits-&bdquo;Markt&ldquo; offen, wo er stets
-Knechte in Hülle findet, die zur Arbeit bereit sind, ohne nach
-deren Ertrag zu fragen, sofern sie nur ihren &bdquo;Lohn&ldquo; erhalten. Also
-nicht einmal die Konsumenten sind da draußen an der Öffentlichkeit
-der Geschäftsführung interessiert, die übrigens, wie schon gesagt, ein
-Ding der Unmöglichkeit wäre. Ganz anders auch dies bei uns in
-Freiland. Wir lassen Jedermann teilnehmen an unseren Geschäftsvorteilen,
-können dafür aber auch teilnehmen an Jedermanns Geschäftsvorteilen,
-und wir <em>müssen</em> diese veröffentlichen, weil Mangels eines
-Marktes willen- und interesseloser Arbeiter, diese Veröffentlichung der
-einzige Weg ist, bei steigender Nachfrage entsprechende Arbeitskräfte
-heranzuziehen.
-</p>
-
-<p>
-Und was die Hauptsache ist: während da draußen Niemand ein wirkliches
-Interesse daran hat, daß die Produktion Anderer sich hebe, ist
-bei uns Jedermann aufs lebhafteste dabei interessiert, daß Jedermann
-möglichst leicht und gut produziere. Denn die klassische Phrase von
-der Solidarität aller wirtschaftlichen Interessen ist zwar bei uns zur
-<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
-Wahrheit geworden, da draußen aber nichts anderes, als eine jener
-zahlreichen Selbsttäuschungen, aus denen sich die nationalökonomische
-Doktrin der ausbeuterischen Welt zusammengesetzt. <em>Allgemeine</em> Steigerung
-der Produktion, des Reichtums ist dort wo die alte Wirtschaftsordnung
-herrscht, ein Unding. Wo der Massenkonsum nicht zunehmen
-kann, dort können auch Produktion und Reichtum nicht wachsen, sondern
-nur verschoben werden, Ort und Eigner wechseln; um was die Produktion
-des Einen zunimmt, genau um das nämliche muß die irgendeines
-Anderen abnehmen &mdash; es sei denn, daß auch der Verbrauch einigermaßen
-gewachsen ist, was jedoch, wo die Massen ausgeschlossen sind
-vom Genusse wachsender Arbeitserträge, nur zufällig und keineswegs
-schritthaltend mit der gewachsenen Arbeitsergiebigkeit geschehen kann. Bei
-uns in Freiland dagegen, wo die Produktion &mdash; angesichts der mit
-ihr naturnotwendig genau proportional wachsenden Konsumtionskraft
-&mdash; ins Ungemessene steigen kann und steigt, soweit nur unsere Fertigkeiten
-und Künste es gestatten, bei uns ist es das oberste, absoluteste
-Interesse der Gesamtheit, jedermanns Arbeitskraft verwertet zu sehen,
-wo jeweilig die höchsten Erträge für ihn zu erzielen sind, und niemand
-giebt es, der nicht Vorteil daraus zöge, wenn dies in möglichst vollkommener
-Weise überall geschieht. Der Einzelne oder die einzelnen
-Associationen, die vermöge unserer Organisation genötigt sind, einen
-zufällig erlangten Vorteil mit anderen zu teilen, erleiden durch dieses
-einzelne Faktum für sich betrachtet allerdings einen Gewinnentgang;
-aber unendlich größer ist für alle Fälle der Vorteil, den sie davon
-haben, daß Ähnliches überall geschieht, daß die Produktivität unablässig
-wächst, und ihr eigener Nutzen gebietet also, daß es überall &mdash; sohin
-selbstverständlich auch bei ihnen &mdash; geschehe. In wie ungeahnt
-hohem Maße dies der Fall ist, wird die fernere Geschichte von Freiland
-sattsam zeigen.
-</p>
-
-<p>
-Über die zu ausgedehntester Öffentlichkeit der wirtschaftlichen Vorgänge
-abzielenden Maßnahmen ist folgendes zu sagen. Wir gehen von
-dem Grundsatze aus, daß die Gesamtheit sich so wenig als möglich
-hindernd oder anordnend, dagegen so viel als möglich orientierend und
-belehrend in das Thun und Lassen der Individuen zu mengen habe.
-Jedermann mag handeln, wie ihm beliebt, sofern er nur die Rechte
-anderer nicht kränkt; aber wie er immer handle, sein Thun muß vor
-jedermann offen daliegen. In Gemäßheit dieses Grundsatzes wurde
-schon in der alten Heimat bei Anmeldung des neuen Mitgliedes dessen
-wirtschaftliche Eignung festgestellt und die betreffenden Listen gelangten
-&mdash; wie einmal schon erwähnt &mdash; mit möglichster Beschleunigung an
-den Ausschuß. Dem lag weder müßige Neugier, noch polizeiliche Bevormundungssucht
-zu Grunde, vielmehr wurden diese Daten ausschließlich
-zu Nutz und Frommen der Produktionsgenossenschaften sowohl als der
-<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
-Neuangemeldeten selber veröffentlicht. Die Folge davon war, daß Letztere
-in der Regel schon bei ihrer Ankunft am Kenia auf sie vorbereitete
-und eingerichtete Arbeitsstätten vorfanden, und zwar allemal diejenigen,
-an denen sie die jeweilig beste Verwertung ihrer Arbeitskraft fanden.
-Niemand zwang sie, sich diesen ohne ihr Zuthun getroffenen Vorbereitungen
-anzubequemen, aber da dieselben in denkbar bester Weise ihrem
-eigenen Vorteile dienten, so thaten sie es &mdash; von vereinzelten Ausnahmen
-abgesehen &mdash; mit der größten Freude.
-</p>
-
-<p>
-Der zweite und wichtigste Gegenstand der Publikationen waren
-die Betriebsausweise der Produzenten &mdash; der Associationen sowohl als
-der &mdash; in geringer Zahl stets vorhandenen &mdash; Einzelproduzenten. Von
-ersteren, als den weitaus wichtigeren und überdies ihrer Natur nach
-schon zu sorgfältiger Buchführung genötigten, wurde sehr viel, in Wahrheit
-die Bloßlegung ihres gesamten Gebahrens verlangt. Rohertrag,
-Spesen, Reinertrag, Einkauf und Verkauf, Arbeitsleistung, Verwendung
-des Reinertrags, alles mußte fortlaufend veröffentlicht werden und zwar
-je nach der Beschaffenheit der betreffenden Daten einmal jährlich, anderes
-in kürzeren Abständen, der gemachte Arbeitsaufwand z. B. allwöchentlich.
-Von Seite der wenigen Einzelproduzenten begnügte man
-sich mit dem, was infolge der nunmehr zu beschreibenden Einrichtung
-auch ohne ihr Zuthun über sie bekannt wurde.
-</p>
-
-<p>
-Einkauf und Verkauf aller erdenklichen Produkte und Handelsartikel
-Freilands war nämlich in großen Warenhallen und -lagern konzentriert,
-deren Leitung und Überwachung von Gesamtheitswegen geschah.
-Es war zwar niemand verboten, zu kaufen und zu verkaufen, wo ihm
-beliebte, diese öffentlichen Magazine boten aber so gewaltige Vorteile,
-daß Jedermann, der sich nicht selber schädigen wollte, sie in Anspruch
-nahm. Gebühren für Einlagerung und Manipulation wurden nicht
-berechnet, da wir von der Anschauung ausgingen, daß es ganz
-gleichgültig sei, ob man in einem Lande, wo Jedermann einen seiner
-Produktion entsprechenden Verbrauch hat, diese Manipulationsgebühren
-von den Konsumenten als solchen, oder in Form eines minimalen
-Steuerzuschlages von ihnen in ihrer Eigenschaft als Produzenten einhebe.
-Als reiner Gewinn verblieb die Ersparnis aus der Vereinfachung
-des Verrechnungswesens.
-</p>
-
-<p>
-Die oberste Verwaltung von Freiland war aber zugleich auch der
-Bankier der gesamten Bevölkerung. Nicht bloß jede Association, sondern
-Jedermann hatte sein Konto in den Büchern der Centralbank,
-diese besorgte die Inkassi und die Auszahlungen, von den Millionen
-Pfunden angefangen, die späterhin gar manche Genossenschaft im Inlande
-wie im Auslande zu fordern und zu entrichten hatte, bis hinab
-zu den auf die Arbeitsleistung des Einzelnen entfallenden Gewinnanteilen
-und dessen Kleider- oder Küchenrechnungen. Ein in Wahrheit
-<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
-&bdquo;alles&ldquo; umfassendes Clearingsystem ermöglichte die Durchführung dieser
-zahllosen Geld- und Kreditoperationen beinahe ohne jeden Aufwand
-wirklichen Geldes, lediglich durch Zu- und Abschreibungen in den Büchern.
-Niemand zahlte bar, sondern gab Anweisungen auf sein Konto bei der
-Centralbank, die ihm seine Forderungen gutschrieb, die Ausgaben zu
-seinen Lasten buchte und ihm allmonatlich mitteilte, mit welchem Betrage
-er bei ihr aktiv oder passiv sei. Denn auch die von Gesamtheitswegen
-gewährten, zu kapitalistischer Ausrüstung der Produktion dienenden,
-im vorigen Kapitel erwähnten Kredite gingen selbstverständlich durch
-die Bücher der Bank. Diese war solcherart über jede wie immer geartete
-geschäftliche Beziehung im ganzen Lande fortlaufend bis ins
-kleinste Detail unterrichtet. Sie wußte nicht bloß, wo und wie teuer
-die Produzenten ihre Vorräte und Rohstoffe einkaufen, ihre Erzeugnisse
-absetzen, sie kannte auch die Haushaltungsbilanz, das Einkommen und
-den Küchenzettel jeder Familie. Selbst der Kleinhandel konnte
-an der Allgegenwart dieser Kontrolle nichts ändern. Die meisten
-Lebensmittel und zahlreiche andere Bedarfsartikel wurden von diesen
-Geschäftszweig betreibenden Associationen den Kunden ins Haus gestellt;
-auch diesen konnte die Bank auf den Heller nachrechnen, wieviel sie
-verdient hätten, denn auch deren Einkäufe wie Verkäufe gingen durch
-die Bücher dieses Instituts. Die Konti der Bank aber mußten mit den
-Ausweisen des statistischen Amtes stimmen, und so besaßen denn alle
-Veröffentlichungen eine nicht bloß annähernd und schätzungsweise, sondern
-absolut sichere Grundlage; selbst wer es gewollt hätte, wäre schlechterdings
-außer stande gewesen, irgend etwas zu verheimlichen oder zu
-fälschen.
-</p>
-
-<p>
-Diese allumfassende, automatisch sich ergebende Durchsichtigkeit der
-gesamten Produktions- und Erwerbsverhältnisse bot nun auch für die
-in Freiland eingehobenen Abgaben eine vollkommen verläßliche Grundlage.
-Grundsatz war, daß alle Ausgaben des Gemeinwesens von jedem Einzelnen
-genau nach Maßgabe seines Reineinkommens gedeckt werden
-sollen, und da es in Freiland anderes Einkommen als das von Arbeit
-nicht gab, dieses aber genau bekannt war, so machte die Verteilung der
-Abgaben nicht die geringsten Schwierigkeiten. Dieselben wurden ganz
-einfach schon bei Entstehung des Einkommens erfaßt, und zwar durch
-Vermittlung der Bank nicht bloß bei den Associationen, sondern auch
-bei den wenigen Einzelproduzenten. In Wahrheit hatte ja das Gemeinwesen
-durch seine Bank jegliches Einkommen früher in Händen als der
-Bezugsberechtigte selber, und es brauchte diesem daher die Abgabe bloß
-in Rechnung zu stellen, unter den Passiven zu buchen, und die Steuer
-war einkassiert. Man betrachtete daher in Freiland diese Steuer gar
-nicht als Abzug vom Reineinkommen, sondern gleichsam als eine vom
-Bruttoertrage in Abrechnung kommende Auslage, etwa gleich den Betriebsspesen.
-<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
-Niemand empfand sie, trotz ihrer sehr bedeutenden Höhe,
-als Last, schon aus dem Grunde nicht, weil Jedermann wußte, daß der
-größte Teil derselben ihm oder den Seinen wieder zurückfließen werde,
-jeder Heller derselben aber ausschließlich gemeinnützigen Zwecken gewidmet
-sei, deren Früchte ihm mittelbar zu Gute kämen. Die Auffassung
-war also durchaus berechtigt, zwischen den durch Vermittlung
-der Gesamtheit und den im engeren Kreise vorgenommenen fruchtbringenden
-Ausgaben keinerlei Unterschied zu machen.
-</p>
-
-<p>
-Diese Abgaben aber waren sehr hoch; sie betrugen im ersten Jahre
-35 Prozent des Reinertrages und sanken niemals unter 30 Prozent,
-trotzdem das Einkommen, von welchem die Abgabe erhoben wurde, den
-gewaltigsten Aufschwung nahm. Denn die Aufgaben, welche sich das
-Gemeinwesen in Freiland gerade zu dem Zwecke gesteckt hatte, um diesen
-Aufschwung des Reichtums zu ermöglichen, waren sehr umfassend und
-beanspruchten die kolossalsten Beträge.
-</p>
-
-<p>
-Die eine dieser Aufgaben war die Beistellung der zu Zwecken der
-Produktion erforderlichen Kapitalien. Doch mußte bloß im Anfang
-dieser Bedarf seinem ganzen Umfang nach aus der laufenden Steuer
-gedeckt werden, während späterhin die Rückzahlungen der Schuldner dem
-neuen Bedarfe teilweise die Wage hielten.
-</p>
-
-<p>
-Eine stetig wachsende Ausgabenpost bildete das Erziehungswesen,
-welches Summen verschlang, von denen man außerhalb Freilands keine
-Vorstellung besitzt.
-</p>
-
-<p>
-Ebenso beanspruchte das Kommunikationswesen einen in riesigen
-Dimensionen zunehmenden Aufwand und das nämliche gilt vom öffentlichen
-Bauwesen.
-</p>
-
-<p>
-Die Hauptpost des freiländischen Ausgabenbudgets aber bildete der
-Titel &bdquo;Versorgungswesen&ldquo;, unter welchem die Ansprüche all jener zu
-verstehen sind, denen wegen thatsächlicher Arbeitsunfähigkeit, oder weil
-sie im Sinne unserer Grundsätze von Arbeit entbunden werden sollten,
-ein Recht auf auskömmlichen Unterhalt eingeräumt war. Zu diesen
-gehörten alle Frauen, alle Kinder, alle Männer über 60 Jahre und
-selbstverständlich alle Kranken oder Invaliden. Die Bezüge dieser verschiedenen
-Versorgungsberechtigten waren sämtlich so hoch bemessen, daß
-nicht bloß der dringenden Notdurft, sondern auch höheren Ansprüchen,
-wie sie nach dem jeweiligen Stande des allgemeinen Reichtums in Freiland
-gebräuchlich waren, Genüge geschah; zu diesem Behufe mußten sie
-derart berechnet sein, daß sie parallel mit dem Einkommen der arbeitenden
-Bevölkerung stiegen, waren daher nicht in festen Summen, sondern
-in Teilbeträgen vom Durchschnittseinkommen ausgeworfen. Der Jahr
-für Jahr erhobene, im Durchschnitt aller im Lande betriebenen Produktionen
-auf den einzelnen Produzenten entfallene Reinertrag war die
-Versorgungseinheit, und von dieser Einheit entfiel nun auf jede alleinstehende
-<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
-Jungfrau oder Witwe &mdash; sofern sie nicht das Lehreramt oder
-Krankenpflege ausübten und hierfür entsprechend bezahlt wurden &mdash; 30
-Prozent; verheirateten sie sich, so sank ihr Anspruch auf 15 Prozent
-der Einheit; auf die drei ersten Kinder jedes Haushalts entfielen
-je 5 Prozent. Vater- und mutterlose Waisen wurden in öffentliche
-Verpflegung genommen und erforderten einen Aufwand von durchschnittlich
-12 Prozent der Einheit. Männer über 60 Jahre und Kranke oder
-Invaliden erhielten 40 Prozent.
-</p>
-
-<p>
-Es mag hier sofort bemerkt werden, daß diese sämtlichen Versorgungsbeträge
-nach außerfreiländischen Begriffen geradezu horrend zu
-nennen wären; schon im ersten Jahre betrug die Einheit 180 Pfd.
-Sterling, es bekam also eine Jungfrau oder Witwe 48 Pfd. Sterling,
-eine verheiratete Frau 24 Pfd. Sterling, eine Familie mit drei Kindern
-und Frau wieder 48 Pfd. Sterling, ein Greis oder Invalide 54 Pfd.
-Sterling, was angesichts der bei uns damals herrschenden Preise mehr
-war, als die meisten europäischen Staaten ihren höchsten Funktionären
-oder deren Witwen und Waisen an Pension zahlen. Denn ein Zentner
-feines Mehl kostete in jenem ersten Jahre am Kenia 7 Shilling oder
-Mark, ein fetter Ochse 12 Shilling, Butter, Honig, das köstlichste Obst
-waren zu ähnlichen Preisen zu haben, Wohnung beanspruchte nicht mehr
-als höchstens 2 Pfd. Sterling im Jahr, kurzum mit ihren 48 Pfd.
-Sterling konnte bei uns eine ledige Frau in Überfluß leben und brauchte
-sich nichts Wesentliches von jenen Annehmlichkeiten und Vergnügungen
-zu versagen, die zu jener Zeit in Edenthal überhaupt erreichbar waren.
-Und späterhin, als die Preise in Freiland denn doch einigermaßen stiegen,
-eilte das Steigen der Arbeitserträge, d. i. also auch der Versorgungsbeträge
-dem gewaltig voran, so daß der in diesen gewährte Überfluß
-stets ausgesprochener wurde. Allein das lag eben in der Absicht
-des Volkes von Freiland. Warum? Davon wird an geeigneter Stelle
-noch die Rede sein, insbesondere auch davon, warum den Frauen ausnahmslos
-Versorgungsrecht zugesprochen wurde und warum bloß das
-Lehramt und die Krankenpflege als ihnen zugedachter Beruf erwähnt
-ist. Auch von den Ansprüchen der Kinder wird noch gesprochen werden.
-Hier sei nur konstatiert, daß die Deckung all dieser Ansprüche selbstverständlich
-stetig wachsende Summen erforderte.
-</p>
-
-<p>
-Recht namhafte Ausgabeposten waren auch die für Statistik,
-Lagerhaus- und Bankwesen; indessen nahmen die Kosten dieser Verwaltungszweige
-&mdash; trotz ihres großen absoluten Wachstums &mdash; relativ,
-nämlich im Verhältnisse zu dem steuerbaren Einkommen, so rasch ab,
-daß sie schon nach wenigen Jahren auf einen minimalen Prozentsatz
-der Gesamtausgaben gesunken waren.
-</p>
-
-<p>
-Dagegen kosteten Justiz, Polizei, Militär und Finanzverwaltung,
-die in anderen Ländern reichlich Neun-Zehnteile des Gesamtbudgets
-<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
-verschlingen, in Freiland nichts. Wir hatten keine Richter und Polizeiorgane,
-unsere Steuern flossen von selber ein und Soldaten kannten
-wir auch nicht. Nichtsdestoweniger wurde bei uns nicht gestohlen,
-geraubt oder gemordet, gab es keine Steuerrückstände und wehrlos
-waren wir, wie sich aus dem Späteren ergeben wird, keineswegs. Im
-übrigen mögen unsere Waffen- und Munitionsvorräte sowie unsere an
-die kriegerischen Massai gezahlten Subsidien immerhin als Surrogat
-für ein Militärbudget gelten. In Bezug auf das Justizwesen waren
-wir so arge Barbaren, daß wir nicht einmal einen Zivil- oder Kriminalkodex
-für nötig hielten, nebenbei bemerkt, einstweilen auch keinerlei
-geschriebenes Verfassungsrecht besaßen. Der Ausschuß, immer noch im
-Besitze der ihm im Haag erteilten Vollmacht, begnügte sich, alle seine
-Maßnahmen in öffentlichen Versammlungen darzulegen und die Zustimmung
-der Gemeine zu verlangen, die ihm auch einstimmig gewährt
-wurde. Zur Schlichtung etwa auftauchender Streitigkeiten unter den
-Mitgliedern wurden &mdash; einstweilen gleichfalls vom Ausschusse empfohlene
-&mdash; Schiedsrichter gewählt, die einzeln in mündlichem Verfahren nach
-bestem Wissen ihre Entscheidungen treffen sollten und von denen der
-Appell an das Schiedsrichter-Kollegium offen stand; sie hatten aber
-allesamt so gut wie nichts zu thun. Gegen Laster und deren gemeingefährliche
-Folgen maßten wir uns kein <em>Straf</em>-, sondern bloß ein
-<em>Schutz</em>recht an, und zwar erachteten wir die <em>Besserung</em> als das
-beste und wirksamste Schutzmittel. Da geistig und moralisch normal
-veranlagte Menschen in einem Gemeinwesen, welches alle berechtigten
-Interessen jedes seiner Mitglieder gleichmäßig berücksichtigt, sich unmöglich
-gewaltsam gegen fremdes Recht vergehen können, so betrachteten
-wir allenfallsige Verbrecher als geistig oder moralisch Kranke, deren
-Heilung eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses sei. Sie wurden
-daher &mdash; je nach dem Grade ihrer Gemeingefährlichkeit &mdash; in
-Beobachtung oder in Gewahrsam genommen und insolange geeigneter
-Behandlung unterzogen, als dies nach dem Urteile kompetenter Fachmänner
-im Interesse der allgemeinen Sicherheit rätlich erschien. Fachmänner
-im obigen Sinne waren aber nicht die Friedensrichter, welche
-bloß darüber zu entscheiden hatten, <em>ob</em> das verklagte Individuum dem
-Besserungsverfahren zu unterziehen sei, sondern besondere, zu diesem
-Behufe eigens erwählte Ärzte. Dem in Beobachtung oder Gewahrsam
-Genommenen stand es frei, an das <em>Kollegium</em> der vereinigten Ärzte
-und Friedensrichter zu appellieren und seine Sache vor demselben
-öffentlich zu vertreten, wenn er sich durch das Verfahren des ihm
-vorgesetzten Arztes gekränkt erachtete.
-</p>
-
-<p>
-Die Anstellungen der sämtlichen Beamten für öffentliches Bauwesen,
-Kommunikationswesen, Statistik, Lagerhaus und Centralbank, Unterrichtswesen
-etc. gingen provisorisch vom Ausschusse aus. Die Gehalte wurden
-<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
-in Stundenäquivalenten angesetzt, gleich denen der genossenschaftlichen
-Funktionäre, und zwar betrugen diese Gehalte den Durchschnittswert
-von 1200 bis zu 5000 Arbeitsstunden jährlich, was im ersten Jahre
-schon 150 bis 600 Pfd. Sterling ausmachte. Die Bevollmächtigten
-in London, Triest und Mombas wurden mit je 800 Pfd. Sterling im
-Jahre bezahlt. Bemerkt muß hier werden, daß diese Delegierten bloß
-2 Jahre lang auf ihrem auswärtigen Posten verharrten und dann
-Anspruch auf entsprechende Verwendung in Freiland hatten. Seinen
-eigenen Mitgliedern bestimmte der Ausschuß einen Gehalt von je
-5000 Stundenäquivalenten.
-</p>
-
-<p>
-Jedes Ausschußmitglied stand einem der 12 Verwaltungszweige
-vor, in welche die sämtlichen öffentlichen Geschäfte Freilands provisorisch
-geteilt wurden. Die Verwaltungszweige waren:
-</p>
-
-<div class="table">
-<table class="table102" summary="Table-2">
-<tbody>
- <tr>
- <td class="col1">1.</td>
- <td class="col2"><em>Das Präsidium</em></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">2.</td>
- <td class="col2"><em>Versorgungswesen</em></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">3.</td>
- <td class="col2"><em>Unterricht</em></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">4.</td>
- <td class="col2"><em>Kunst und Wissenschaft</em></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">5.</td>
- <td class="col2"><em>Statistik</em></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">6.</td>
- <td class="col2"><em>Straßenbau und Kommunikationsmittel</em></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">7.</td>
- <td class="col2"><em>Post</em>, dazu später Telegraph</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">8.</td>
- <td class="col2"><em>Auswärtige Angelegenheiten</em></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">9.</td>
- <td class="col2"><em>Lagerhaus</em></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">10.</td>
- <td class="col2"><em>Centralbank</em></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">11.</td>
- <td class="col2"><em>Gemeinnützige Unternehmungen</em></td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">12.</td>
- <td class="col2"><em>Sanitätswesen und Justiz.</em></td>
- </tr>
-</tbody>
-</table>
-</div>
-
-<p>
-Hiermit wären in großen Zügen die für den Anfang in Freiland
-geltenden Verwaltungs- und Organisationsprinzipien geschildert. Dieselben
-bewährten sich allseitig aufs vortrefflichste. Die Bildung der
-Genossenschaften ging ohne den geringsten Anstand vor sich. Da
-die Mehrzahl der successive anlangenden Mitglieder gegenseitig einander
-fremd war, mußte man sich bei Besetzung der leitenden Stellen vorläufig
-auf die Empfehlungen des Ausschusses verlassen, begnügte sich
-deshalb auch zumeist mit provisorischen Wahlen, die jedoch ziemlich
-rasch durch definitive ersetzt werden konnten. Die schon vorgefundenen
-Produktionen: Landwirtschaft, Gartenkultur, Viehzucht, Mahlmühle,
-Sägmühle, Bierbrauerei, Kohlengruben und Eisenwerke, wurden nach
-Maßgabe des täglich mit den Mombas-Karawanen einlangenden
-Kräftezuwachses namhaft erweitert und mit wesentlichen Verbesserungen
-ausgestattet. Eine stattliche Zahl neuer Industrien reihte sich unmittelbar
-daran. Eine der ersten war eine &mdash; der Hauptsache nach schon fertig
-importierte und nur zu adjustierende Druckerei mit 2 Rotations- und
-5 Schnellpressen, und gestützt auf diese eine täglich erscheinende Zeitung;
-diesen reihten sich in rascher Folge eine Maschinenfabrik, eine Glashütte,
-<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
-eine Ziegelei, eine Ölmühle, eine chemische Fabrik, eine Näh-
-und Schuhfabrik, eine Bautischlerei und eine Eisfabrik an. Am
-1. Januar des neuen Jahres wurde der erste kleine Schraubendampfer
-für den Remorquierdienst im Edensee und Danaflusse vom Stapel
-gelassen, welchem die ihres ausgezeichneten Verdienstes halber außerordentlich
-rasch anwachsende Betriebs-Association in kurzen Intervallen
-zahlreiche andere und größere Lasten- und Personendampfer folgen ließ.
-</p>
-
-<p>
-Gleichzeitig nahm auch der Ausschuß einen nicht unbedeutenden
-Teil der neu eintreffenden Kräfte für mehrere auf öffentliche Kosten zu
-bewerkstelligende Arbeiten und Einrichtungen in Anspruch; den dabei
-beschäftigten Arbeitern mußte selbstverständlich ein, der Durchschnittshöhe
-des allgemeinen Arbeitsertrages entsprechender &mdash; und wo es sich
-um besonders anstrengende Leistungen handelte, ein diesen Durchschnitt
-entsprechend übersteigender, Verdienst gesichert werden. Diese
-Arbeiten waren in erster Reihe die provisorischen Hausbauten für die
-neu eintreffenden Mitglieder. Dabei wurde daran festgehalten, daß jede
-Familie je ein eigenes Häuschen erhalte, während für die alleinstehenden
-Ankömmlinge mehrere große Hotels eingerichtet wurden. Die Familienhäuser
-waren der Größe nach verschieden &mdash; von 4 bis zu 10 Wohnräumen,
-jedes mit einem Garten von 1000 Quadratmeter Fläche ausgestattet.
-Jeder Ankömmling konnte ein ihm nach Größe und Lage
-passend erscheinendes wählen, selbstverständlich gegen je nach Belieben
-ratenweise oder sofortige Abzahlung. Solcher Häuschen mußten
-im Monatsdurchschnitt nicht weniger als 1500 fertiggestellt werden;
-sie waren aus starken Bohlen in doppelter Lage solid gefügt und
-der Bauaufwand stellte sich auf durchschnittlich 8½ Pfd. Sterling
-für jeden Wohnraum. Für die Benutzung der Hotelzimmer wurde eine
-zur Amortisation der Baukosten und Deckung der Regie genügende
-Wochengebühr von ½ Sh. berechnet.
-</p>
-
-<p>
-Gleichzeitig mit diesen Wohnhäusern wurde der Bau von Schulen
-in Angriff genommen, und zwar mußte, da bis auf weiteres dem Eintreffen
-von 1000 bis 1200 Schulkindern im Monatsdurchschnitt entgegenzusehen
-war, fortlaufend für genügende Räume zu entsprechender
-Unterbringung dieser so rasch anwachsenden Menge Vorsorge getroffen
-werden. Selbstverständlich waren auch diese &mdash; gleich den Wohnhäusern
-&mdash; teils im Edenthale, teils auf dem Danaplateau errichteten
-Schulräume nur provisorische Barackenbauten, dabei aber licht, luftig
-und geräumig.
-</p>
-
-<p>
-In der Lebensweise am Kenia hatte sich im übrigen einstweilen
-noch wenig verändert, mit Ausnahme des Umstandes, daß Edenthal,
-vor Eintreffen der ersten Wagenkarawane ein mäßiges Dorf, binnen
-wenigen Monaten zu einer mehr als 20000 Seelen zählenden ansehnlichen
-Stadt herangewachsen war. Auf dem Danaplateau, wo sich zuvor
-<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
-nur einige Hütten gefunden hatten, waren zwei ansehnliche Dörfer entstanden,
-das eine mit den Arbeiterschaften einiger Fabriken am Ostende,
-hart neben dem großen Wasserfalle, das andere, näher zu Edenthal gelegen,
-der Sitz einer Ackerbaukolonie. Gemeinsam war all diesen Bewohnern
-von Freiland ein ausgesprochener Zug sorgloser Fröhlichkeit
-und unverkennbaren Behagens. Die Lebensweise blieb, was die Wohnungs-
-und Kleidungsverhältnisse anlangt, noch sehr primitiv, dagegen
-herrschte in Speisen und Getränken Überfluß, ja Luxus. Mit den
-Mahlzeiten wurde es der Hauptsache nach so gehalten, wie einige Monate
-zuvor von den ersten Ankömmlingen; nur hatten die Frauen gar bald
-eine ganze Reihe neuer und sinnreicher Verwendungsarten der vielen
-köstlichen Landesprodukte herausgefunden. Das Register der erreichbaren
-ästhetischen und geistigen Genüsse hatte vorerst keine sonderliche
-Bereicherung erfahren. Die Zeitung, eine von der Unterrichtsverwaltung
-angelegte Bibliothek, die beinahe Tag für Tag durch neueintreffende
-Bücherkisten bereichert wurde, zu Neujahr aber doch erst 18000 Bände
-zählte, die dem insbesondere während der heißen Mittagsstunden sehr
-lebhaften Lesebedürfnisse keineswegs voll genügen konnten, mehrere neue
-Sing- und Orchestervereine, Lese- oder Debattierzirkel und zwei Dutzend
-Klaviere &mdash; das war alles, was zu dem ursprünglich Vorhandenen gekommen
-war. Daneben wurde in den herrlichen Wäldern fleißig gejagt,
-Ausflüge nach nicht allzu schwierig erreichbaren Aussichtspunkten waren
-an der Tagesordnung &mdash; kurz man suchte sich das Leben so angenehm
-als möglich zu machen, ohne jedoch einstweilen große Abwechslung in
-das Programm der Vergnügungen und geistigen Genüsse bringen zu
-können. Das hinderte aber nicht, daß Glück und Zufriedenheit in jedem
-Hause herrschten.
-</p>
-
-<p>
-Auch hinsichtlich der Arbeitseinteilung war im großen Ganzen das
-ursprünglich beobachtete System beibehalten worden. Die Männer
-arbeiteten meist zwischen 5 und 10 Uhr morgens und zwischen 4 und
-6 Uhr abends; die Frauen &mdash; im Bedarfsfalle unterstützt von Eingeborenen
-&mdash; versahen inzwischen das Haus und die Kinder, sofern diese
-nicht in der Schule waren. Doch erachtete sich niemand gerade an
-diese Zeiteinteilung gebunden; jedermann arbeitete wann und so lange
-es ihm beliebte; auch hatten einige Associationen, deren Betrieb die
-gänzliche Unterbrechung der Arbeit während der Mittagszeit schwer
-vertrug, einen Turnus eingeführt, der während der heißen Tagesstunden
-dem Werke einige Hände sicherte. Da auch hierzu niemand gezwungen
-werden konnte, wurde es üblich, die lästigere Mittagsarbeit höher anzurechnen,
-als die zu der übrigen Tageszeit, wonach dann die erforderlichen
-Freiwilligen sich fanden. Dasselbe gilt für die in einzelnen
-Etablissements notwendige Nachtarbeit.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-4-3">
-<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
-10. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Als das erste Jahr unseres Aufenthaltes am Kenia vergangen war,
-zählte Freiland 95000 Seelen, wovon 27000 arbeitsfähige Männer, die,
-zu 218 Associationen vereinigt, 87 verschiedene Gewerbe betrieben. Die
-letzte Ernte &mdash; es gibt nämlich hier zwei Ernten im Jahr, die eine
-nach der kleinen Regenzeit im Oktober, die andere nach der großen im
-Juni &mdash; hatte von 14500 Hektaren angebauten Ackerlandes nahezu 2
-Millionen Centner Getreide getragen, die einen Wert von 300000 Pfd.
-Sterling repräsentierten und den dabei beschäftigten 10800 Arbeitern
-im Durchschnitt nahe an 2½ Schilling Gewinn für jede darangewendete
-Arbeitsstunde ergaben. Doch darf man nicht etwa glauben, daß diese
-sämtlichen Arbeiter ihre gesamte Zeit durch landwirtschaftliche Beschäftigung
-ausfüllten; das war blos während der Saat- und Erntetage
-der Fall gewesen, während in der ganzen übrigen Zeit stets zahlreiche
-Landbauer in den benachbarten industriellen Etablissements lohnende
-Verwendung ihrer im Ackerbau gerade überschüssigen Arbeitskraft fanden.
-Der Durchschnittsertrag der Industrien stellte sich um eine Kleinigkeit
-höher, als der der Landwirtschaft, und da im Mittel 40 Stunden
-wöchentlich gearbeitet wurde, so betrug der Wochenverdienst eines gewöhnlichen
-Handarbeiters von mäßigem Fleiße in dieser zweiten Jahreshälfte
-durchschnittlich 5¼ Pfd. Sterling.
-</p>
-
-<p>
-Nächst der Landwirtschaft beanspruchte die Eisen- und Maschinenfabrikation
-die zahlreichsten Arbeitskräfte, ja, wenn man nicht die zeitweilig
-in Verwendung kommende Arbeiterzahl, sondern die überhaupt
-aufgewendeten Arbeitsstunden zum Maßstabe nimmt, so war diese Industrie
-der Landwirtschaft sogar stark voraus. Und dies ist nicht zum
-Verwundern, denn Maschinen verlangten und bestellten alle Associationen,
-um ihren Betrieb möglichst zu verbessern. In der alten Welt, wo
-<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
-Arbeitslohn und Arbeitsertrag grundverschiedene Dinge sind, besteht auch
-zwischen Rentabilität und theoretischer Vollkommenheit von Maschinen
-ein fundamentaler Unterschied. Um theoretisch brauchbar zu sein, muß
-eine Maschine bloß Arbeitskraft ersparen, d. h. die zu ihrer Herstellung
-und Betriebführung erforderliche Arbeit muß geringer sein, als die durch
-ihren Gebrauch zu ersparende. Der Dampfpflug z. B. ist dann eine
-theoretisch gute und nützliche Maschine, wenn die Fabrikation eines
-Dampfpfluges mit samt der Erzeugung des zu seiner Heizung erforderlichen
-Kohlenquantums weniger menschliche Arbeit verschlingt, als auf
-der anderen Seite beim Pflügen mit Dampf gegen das Pflügen mit
-Rindern gewonnen wird. Etwas anderes aber ist die Rentabilität einer
-Maschine &mdash; wohlverstanden außerhalb Freilands. Um rentabel zu sein,
-muß der Dampfpflug nicht Arbeitskraft, sondern Wert oder Geld ersparen,
-d. h. er muß weniger kosten, als die durch ihn ersparte Arbeitskraft
-gekostet hätte. Das ist aber da draußen mit nichten schon deshalb
-der Fall, weil die ersparte Arbeitskraft größer ist, als die zur
-Herstellung des Pfluges und der Kohle erforderliche. Denn während
-die Arbeit, die der verbesserte Pflug erspart, blos ihren &bdquo;Lohn&ldquo; erhält,
-muß bei dem gekauften Pfluge und der gekauften Kohle neben der zu
-ihrer Herstellung erforderlich gewesenen Arbeit auch noch der aus drei
-Bestandteilen bestehende &bdquo;Gewinn&ldquo;, nämlich Grundrente, Kapitalzins
-und Unternehmerlohn, bezahlt werden. So kann es kommen, daß der
-Dampfpflug von seiner Entstehung bis zu seiner Abnützung 1 Million
-Arbeitsstunden erspart, selber aber mitsamt dem ganzen, zu seinem Betriebe
-erforderlichen Kohlenquantum bloß 100000 Arbeitsstunden verschluckt
-hätte &mdash; und dennoch höchst unrentabel ist, d. h. denjenigen,
-der gestützt auf die Sicherheit so riesiger Kraftersparnis ihn kaufen und
-benutzen wollte, den größten Schaden verursachte. Denn die Million
-ersparter Arbeitsstunden bedeutet eben nicht mehr, als eine Million
-ersparter Stunden<em>löhne</em>, also beispielsweise ersparte 10000 Pfd. Sterling,
-wenn der Arbeitslohn bloß 1 Pfund für 100 Arbeitsstunden
-beträgt. An den zur Herstellung des Pfluges und der Betriebsmittel
-erforderlichen 100000 Arbeitsstunden, die für sich allein allerdings bloß
-1000 Pfd. Sterling beansprucht haben mögen, haftet aber außerdem
-noch die Rente, welche die Besitzer der Eisen- und Kohlengruben einheben,
-der Zins, der für die investierten Kapitalien gezahlt werden muß
-und schließlich der Gewinn der Eisenfabrikanten und Kohlenerzeuger;
-all dies kann unter Umständen mehr betragen, als die Differenz von
-9000 Pfd. Sterling zwischen den hier und dort aufgewendeten Arbeitslöhnen,
-und wenn es der Fall ist, verliert der abendländische <em>Arbeitgeber</em>
-Geld daran, daß er eine Maschine kauft, die tausend Prozent
-Arbeit erspart. Ganz anders bei uns; die lebendige Arbeit, die der
-Dampfpflug <em>uns</em> erspart, ist Stunde für Stunde genau so viel wert,
-<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
-als die im Pfluge und in der Kohle steckende, bereits in Warenform
-verwandelte Arbeitszeit; denn in Freiland giebt es keinen Unterschied
-zwischen Arbeitsertrag und Arbeitslohn; in Freiland ist daher jede
-theoretisch brauchbare, d. i. jede wirklich Kraft ersparende Maschine zugleich
-notwendigerweise rentabel. Dies der Grund, warum in Freiland
-die Maschinenindustrie von so enormer, stetig zunehmender Bedeutung
-sein mußte. Die eine Hälfte unseres Volkes war damit beschäftigt, jene
-stählernen, von Dampf, Elektricität, Wasser, komprimierter oder verdünnter
-Luft in Bewegung gesetzten sinnreichen Werkzeuge herzustellen,
-mittels deren die andere Hälfte ihre Leistungsfähigkeit verhundertfachte, und
-notwendigerweise mußte sich daher bei uns in der Verwendung von Maschinenkraft
-eine Vielseitigkeit und Vollkommenheit entwickeln, von welcher
-man außerhalb der Grenzen unseres Landes keinerlei Vorstellung besitzt.
-</p>
-
-<p>
-Die wichtigsten Einrichtungen, die noch vor Ablauf dieses ersten
-Jahres in Angriff genommen wurden, waren erstlich die Herstellung
-von Dampfpflügen und &mdash; vorläufig noch durch tierische Kraft bewegten
-&mdash; Säe- und Erntemaschinen, genügend zur Bearbeitung von 26000
-Hektaren, die für die Oktoberernte unter den Pflug genommen werden
-sollten. Wir rechneten dabei, durch einmaligen Aufwand von 3½ Mill.
-Arbeitsstunden mindestens 3 Millionen Arbeitsstunden jährlich zu ersparen.
-Das wäre da draußen in der alten Welt für die solcherart
-überflüssig werdenden Arbeiter ein großes Unglück gewesen, ohne daß
-die Gesamtheit davon den geringsten Vorteil gehabt hätte; wir dagegen
-wußten für derart ersparte Arbeitsstunden vortreffliche Verwendung; sie
-wurden zu allerlei Veredlungsindustrien frei, für deren Produkte
-eben infolge der gewachsenen Ergiebigkeit der Arbeit die Abnehmer sofort
-gegeben waren.
-</p>
-
-<p>
-Eine zweite, noch im Laufe des nächsten Jahres zu vollendende
-Arbeit war die Verbesserung der Kommunikationsmittel durch Ausbaggerung
-des Danaflusses von der Mahlmühle oberhalb des Edensees
-bis zum großen Wasserfall am Danaplateau, und durch Anlage einer
-das Danaplateau durchziehenden Eisenbahn. Daran sollten sich Seilbahnen
-auf einige der Keniavorberge zu Zwecken des Bergwerks- und
-Forstbetriebs schließen.
-</p>
-
-<p>
-Daß alle bestehenden Industrien neuerlich vergrößert und eine
-stattliche Reihe neuer eingerichtet wurden, versteht sich von selbst. Erwähnt
-mag dabei werden, daß nur solche Fabriken in Edenthal oder
-am Oberlaufe des Dana angelegt wurden, die weder die Luft, noch
-das Wasser verdarben; die minder reinlichen Betriebe siedelten sich entweder
-am Ostende des Danaplateaus, hart am Wasserfalle, oder auch
-unterhalb desselben an. Später wurden Einrichtungen getroffen, die
-der Vergiftung der Wässer durch industrielle Abfälle ganz im Allgemeinen
-ein Ende machten.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
-Die Stadt Edenthal war auf 48000 Seelen angewachsen und
-deckte mit ihren 10600 Häuschen und Gärten, ihren zahlreichen großen,
-wenn auch immer noch im Holzbarackenstil gehaltenen öffentlichen Bauten,
-mehr als 16 Quadratkilometer. Die zu riesiger Zahl angewachsenen
-Rinderherden wie nicht minder die Pferde, Esel, Kamele, Elefanten
-und die neu importierten Schweine und feinen Schafsorten übersiedelten
-zum größeren Teile nach dem Danaplateau.
-</p>
-
-<p>
-Schon zu Beginn des zweiten Jahres hatten uns unsere europäischen
-Bevollmächtigten angezeigt, daß die bei ihnen einlaufenden Anmeldungen
-sich in gewaltigen Dimensionen vermehrten. Die in den
-Zeitungen veröffentlichten Berichte aus Freiland &mdash; es waren inzwischen
-Korrespondenten einiger der größten europäischen und amerikanischen
-Journale bei uns eingetroffen &mdash; hatten die Auswanderungslust selbstverständlich
-in hohem Grade entfacht und wenn nicht alle Anzeichen
-trogen, hatten wir uns für das zweite Jahr unseres Aufenthalts am
-Kenia auf einen Zuzug von mindestens dem doppelten, wahrscheinlich
-aber von dreifachem Umfange, wie im ersten Jahre, gefaßt zu machen.
-Es mußte also für Beschaffung der erforderlichen Kommunikationsmittel
-Vorsorge getroffen werden. Da zahlreiche der bemittelten neuen Mitglieder
-einstweilen die Schiffe fremder Gesellschaften gegen Zahlung
-benutzten, anstatt darauf zu warten, bis auf unseren Schiffen die Reihe
-an sie käme, so war das Dringendste, für Vermehrung der Fahrgelegenheiten
-von Mombas ab zu sorgen. Es wurden daher schleunigst 1000
-neue Wagen nebst der entsprechenden Anzahl von Zugtieren gekauft
-und successive vom März ab in Betrieb gesetzt. Gleichzeitig aber kaufte
-unser Londoner Bevollmächtigter sechs und kurze Zeit darauf noch vier
-weitere Dampfer von 4000-10000 Tonnen Laderaum, die zu unseren
-Zwecken umgebaut, je 1000 bis 3000 Passagiere faßten. Mit Hülfe
-dieser neuen Dampfer wurde zunächst der Verkehr über Triest verstärkt;
-die größten Schiffe kamen an dieses, zum Transport über Suez für
-ganz Mitteleuropa günstigst gelegene Ausfallthor; daneben aber wurde
-zweimal in der Woche eine Fahrt ab Marseille und einmal im Monat
-eine Fahrt ab San Franzisko über den stillen Ocean eingerichtet. Nachdem
-noch für alle Fälle eine dritte Serie von 1000 Wagen bestellt
-worden war, erachteten wir uns den Anforderungen des bevorstehenden
-zweiten Jahres gegenüber ausreichend gerüstet.
-</p>
-
-<p>
-So standen die Dinge, als Demestre mit der Erklärung vor den
-Ausschuß trat, daß die primitive Art der Beförderung von Mombas
-ab angesichts der voraussichtlich auch in Zukunft anhaltenden gewaltigen
-Einwanderung unmöglich genügen könne. Wir müßten sofort an den
-Bau einer Eisenbahn von Edenthal an die Küste denken.
-</p>
-
-<p>
-Alles, was Demestre zur Begründung seines Vorschlages sagte, war
-so richtig und einleuchtend, daß derselbe ohne Debatte einhellig angenommen
-<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
-wurde, ja, daß sich Jedermann insgeheim wunderte, ihn
-nicht schon längst selber gemacht zu haben. Es handelte sich jetzt nurmehr
-darum, die Trace der zukünftigen Eisenbahn festzustellen. In
-erster Reihe stand der alte Weg, durch Kikuja ins Massailand, durch
-dieses, den Kilima östlich umgehend über Tawenta und Teita nach
-Mombas. Eine zweite, möglicherweise viel günstigere Trace, ließ sich
-zwei Längengrade weiter östlich, aber gleichfalls nach Süden gerichtet
-und in Mombas die Küste erreichend, durch Kikuja ins Land der
-Ukumbani und dort das Flußthal des Athi bis Teita verfolgend, denken.
-Diese Trace konnte günstigenfalls eine Distanzverkürzung von nahe an
-200 Kilometern mit sich bringen. Die dritte, kürzeste Route an den
-Ocean aber wäre die in streng östlicher Richtung, den Dana verfolgend,
-durch die Gallaländer an die Wituküste gewesen; hier konnte eventuell
-nahezu die Hälfte der Distanz erspart werden, denn in der Luftlinie
-waren wir östlich keine 450 Kilometer vom Meere entfernt.
-</p>
-
-<p>
-Diese drei Alternativlinien sollten also näher untersucht werden,
-so genau, als es binnen wenigen Monaten möglich wäre; denn länger
-als höchstens ein halbes Jahr sollte mit dem Beginne der Bauarbeiten
-nicht gezögert werden. Die Tracierung der alten Route,
-die er schon ziemlich genau kannte, behielt sich Demestre vor; nach
-dem Athi und dem Dana wurden zwei andere tüchtige Ingenieure, begleitet
-gleich Demestre von einem Stabe nicht minder tüchtiger Kollegen,
-entsendet. Außerdem aber mußten diese beiden letzteren Expeditionen,
-da sie noch gänzlich unbekannte Gebiete mit wahrscheinlich feindlichen
-Einwohnern zu durchziehen hatten, wehrhaft gemacht werden. Sie waren
-je 300 Mann stark und hatten außer entsprechenden Repetirgewehren
-auch einige Kriegselefanten, Kanonen und Raketen mit sich. Überdies
-waren alle drei Expeditionen von einer kleinen Schar Naturforscher &mdash;
-unter diesen hauptsächlich Geologen &mdash; begleitet. Anfangs Mai zogen
-diese Expeditionen aus; womöglich noch vor der kleinen Regenzeit &mdash;
-im August &mdash; sollten sie zurück sein.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-4-4">
-<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
-11. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Die Haager Versammlung der &bdquo;Internationalen freien Gesellschaft&ldquo;
-hatte, wie man sich erinnern wird, dem Ausschusse Generalvollmacht
-für die Dauer von zwei Jahren erteilt. Am 20. Oktober lief diese
-Frist zu Ende, und bis dahin mußte sich die Gesellschaft eine neue,
-endgiltige Verfassung geben, eine frei durch das Volk von Freiland
-gewählte Behörde die bisherigen Vollmachten des Ausschusses übernehmen.
-Dieser berief daher schon für den 15. September eine constituierende
-Versammlung, und zwar, da die Zahl der Bewohner Freilands zu
-groß war, als daß allesamt zu einer Beratung hätten vereinigt werden
-können, indem er das Land in 500, der Einwohnerzahl nach gleiche
-Sektionen teilte und jede Sektion zur Wahl eines Abgeordneten aufforderte.
-Diese derart zustande gekommene Repräsentantenversammlung
-erklärte er sofort zur vorläufigen Trägerin der obersten souveränen
-Gewalt und forderte sie auf, das Weitere zu verfügen, es ihr anheim
-stellend, ob sie ihn bis zu Ausarbeitung der Verfassung noch vorläufig
-in Funktion belassen, oder irgend eine neue, sofort zu schaffende Behörde
-mit der Geschäftsführung von Freiland betrauen wolle. Die Versammlung
-entschied sich nach kurzer Debatte einstimmig für das Erstere und beauftragte
-überdies den Ausschuß, einen Verfassungsentwurf vorzulegen.
-Da ein solcher für alle Fälle bereits fertig ausgearbeitet war, so konnte
-dieser Forderung sofort willfahrt werden. Dr. Strahl legte den Verfassungsentwurf
-namens des Ausschusses &bdquo;auf den Tisch des Hauses&ldquo;,
-dieses beschloß dessen Drucklegung und trat schon nach drei Tagen in
-die Beratung der neuen Verfassung. Auch diese Beratungen waren,
-angesichts der großen Einfachheit der vorgeschlagenen Grundgesetze und
-Ausführungsbestimmungen nicht sehr langatmig und schon am 2. Oktober
-konnten diese, einhellig approbiert, als solche verkündet, und in ihrem
-Geiste die neue Verwaltung in Kraft gesetzt werden.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
-Die Grundgesetze lauteten:
-</p>
-
-<p>
-l. Jeder Bewohner Freilands hat das gleiche unveräußerliche Anrecht
-auf den gesamten Boden und auf die von der Gesamtheit beigestellten
-Produktionsmittel.
-</p>
-
-<p>
-2. Frauen, Kinder, Greise und Arbeitsunfähige haben Anspruch
-auf auskömmlichen, der Höhe des allgemeinen Reichtums billig entsprechenden
-Unterhalt.
-</p>
-
-<p>
-3. Niemand kann, sofern er nicht in die Rechtssphäre eines Anderen
-greift, in der Bethätigung seines freien individuellen Willens gehindert
-werden.
-</p>
-
-<p>
-4. Die öffentlichen Angelegenheiten werden nach den Entschließungen
-aller volljährigen (mehr als 20jährigen) Bewohner Freilands ohne Unterschied
-des Geschlechts verwaltet, die sämtlich in allen, das gemeine Wesen
-betreffenden Angelegenheiten das gleiche aktive und passive Stimm- und
-Wahlrecht besitzen.
-</p>
-
-<p>
-5. Die beschließende sowohl als die ausübende Gewalt ist nach
-Geschäftszweigen geteilt und zwar in der Weise, daß die Gesamtheit
-der Stimmberechtigten für die hauptsächlichen öffentlichen Geschäftszweige
-gesonderte Vertreter wählt, die gesondert ihre Beschlüsse fassen und das
-Gebahren der den fraglichen Geschäftszweigen vorstehenden Verwaltungsorgane
-überwachen.
-</p>
-
-<p>
-In diesen fünf Punkten ist das Um und Auf des öffentlichen Rechts
-von Freiland niedergelegt; alles weitere ist nichts anderes, als das
-selbstverständliche Ergebnis oder die nähere Ausführung derselben. So
-ergeben sich die Prinzipien, auf denen die Associationen sich aufbauten
-&mdash; Anrecht des Arbeiters am Ertrage, Verteilung desselben nach der
-Arbeitsleistung und freie Vereinbarung mit höherwertigen Arbeitskräften
-&mdash; naturgemäß und notwendigerweise aus dem ersten und dritten Grundgesetze.
-Da jedermann über sämtliche Arbeitsmittel verfügte, so konnte
-niemand sich gedrängt sehen, auf den Ertrag der eigenen Arbeit zu verzichten,
-und da niemand gezwungen werden konnte, seine höheren Fähigkeiten
-anderen zur Verfügung zu stellen, so mußten diese höheren Fähigkeiten,
-sofern man ihrer zur Leitung der Produktion bedurfte, im Wege
-freier Vereinbarung entsprechende Verwertung finden.
-</p>
-
-<p>
-Mit Bezug auf das im zweiten Absatze ausgesprochene Versorgungsrecht
-der Frauen, Kinder, Greise und Arbeitsunfähigen ist zu bemerken,
-daß dieses im Sinne unserer Grundsätze als Ausfluß der Wahrheit angesehen
-wurde, daß der Reichtum des Kulturmenschen nicht Produkt seiner
-eigenen, individuellen Fähigkeiten, sondern das Ergebnis der geistigen
-Arbeit zahlloser vorangegangener Generationen sei, <em>deren Erbe dem
-Schwachen und Arbeitsunfähigen gerade so gebühre, wie dem
-Starken und Tüchtigen</em>. Alles, was wir genießen, verdanken wir
-nur zu unendlich geringem Teile unserer eigenen Intelligenz und Kraft;
-<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
-auf diese allein angewiesen, wären wir arme, in tiefstem, tierischem
-Elend vegetierende Wilde; die reiche Hinterlassenschaft unserer Vorfahren
-seit unvordenklicher Zeit ist es, von welcher wir zehren, der wir neunundneunzig
-Hundertteile all unserer Genüsse verdanken. Ist dem aber
-so &mdash; und kein Zurechnungsfähiger hat dies jemals in Abrede gestellt
-&mdash; dann haben all unsere Geschwister Anrecht auf Mitgenuß der Erbschaft.
-Daß diese Erbschaft ohne unsere, der Starken, Arbeit
-unfruchtbar wäre, ist allerdings richtig, und unbillig, ja thöricht und
-undurchführbar wäre daher das Verlangen der schwächeren Geschwister
-nach <em>gleicher</em> Teilung. Aber geschwisterlichen, nicht auf das bloße Erbarmen,
-sondern auf Anerkennung ihres Erbrechts gestützten Anteil des
-dem gemeinsamen Erbgute &mdash; und es sei immerhin bloß durch <em>unsere</em>
-Arbeit &mdash; abgewonnenen reichen Ertrages können sie fordern; sie stehen
-uns nicht als bettelnde Fremdlinge, sondern als erbberechtigte Familiengenossen
-gegenüber. Und unser, der stärkeren Geschwister eigenes wohlverstandenes
-Interesse verlangt die rückhaltlose Anerkennung dieses guten
-Rechtes jedes Angehörigen der menschlichen Familie. Denn unser eigenes
-Glück kann nicht gedeihen, wenn wir Geschöpfe, die Unseresgleichen sind,
-entwürdigen, zu Not und Schmach verurteilen. Gesunder Egoismus verbietet
-uns, dem Elend und seinen Kindern, den Lastern, irgend einen
-Schlupfwinkel inmitten von Unseresgleichen offen zu halten. Frei und
-&bdquo;edelgeboren&ldquo;, ein König und Herr dieses Planeten muß jeder sein,
-dessen Mutter ein menschliches Weib gewesen, sonst wird seine Not zu
-einem fressenden Geschwüre, welches um sich greifend den stolzen Bau
-auch unserer, der Starken, Herrlichkeit vergiftet.
-</p>
-
-<p>
-So viel über das Versorgungsrecht im allgemeinen. Was aber
-speziell das den Frauen zugesprochene anlangt, so war bei diesem die
-fernere Erwägung maßgebend, daß das Weib seiner physischen und
-psychischen Beschaffenheit nach nicht zu aktivem Kampfe ums Dasein,
-sondern einerseits zu dessen Fortpflanzung, anderseits zu dessen Verschönerung
-und Veredlung bestimmt ist. So lange wir alle, oder doch
-die ungeheuere Mehrheit von uns allen, in unablässigem, jammervollem
-Kampfe mit des Lebens gemeinster, tierischer Notdurft uns quälten,
-konnte von Rücksicht auf die Schwäche und auf den Adel des Weibes
-keine Rede sein; die Schwäche konnte &mdash; gleich der jedes anderen
-Schwachen &mdash; nicht der Rechtstitel auf Schonung, sondern mußte zu
-einem Anreize der Unterjochung werden; der Adel des Weibes war
-geschändet &mdash; abermals gleich dem jedes rein menschlichen, wirklichen
-Adels. Eine Sklavin und ein käufliches Werkzeug der Lüste war das
-Weib ungezählte Jahrtausende hindurch &mdash; und die vielgerühmte Civilisation
-der letzten Jahrhunderte hatte daran dem Wesen nach nichts
-geändert. Auch unter den sogenannten Kulturnationen der Gegenwart
-blieb das Weib rechtlos, und was schrecklicher ist, es blieb, um sein
-<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
-Dasein zu fristen, angewiesen darauf, sich dem ersten Besten zu verkaufen,
-der um seiner Reize willen die Verpflichtung übernahm, es zu
-&bdquo;versorgen&ldquo;. Diese von Recht und Sitte geheiligte Prostitution ist in
-ihren Wirkungen verheerender, als jene andere, ihr Wesen unverhüllt
-zur Schau tragende, die sich von ihr bloß dadurch unterscheidet, daß
-hier der schmähliche Handel nicht auf Lebenszeit, sondern für kürzere
-Frist geschlossen wird, für Jahre, Wochen, Stunden. Gemeinsam ist
-beiden, daß das süßeste, heiligste Kleinod der Menschheit, das Herz des
-Weibes, zum Gegenstande gemeinen Schachers, zu einem Mittel des
-Lebensunterhalts gemacht wird, und schrecklicher als die Prostitution
-der Straße ist die von Gesetz und Sitte geheiligte der Versorgungsehe,
-weil unter ihrem verpestenden Gifthauche nicht bloß Würde und
-Glück der jeweilig lebenden, sondern auch Saft und Mark der zukünftigen
-Geschlechter verdorren. Da die Liebe, jener geheiligte Instinkt,
-der bestimmt ist, das Weib in die Arme jenes Gatten zu führen, mit
-dem vereint es der kommenden Generation die tüchtigsten Mitglieder
-schenken könnte, zum Erwerbsmittel, dem einzigen das ihm offen stand,
-geworden, so mußte das Weib, um zu leben, sich &mdash; in sich aber die
-Zukunft der Rasse schänden.
-</p>
-
-<p>
-Glück und Würde, wie das zukünftige Heil der Menschheit, erfordern
-daher im gleichen Maße, daß das Weib der entehrenden Notwendigkeit
-enthoben werde, im Gatten zugleich den Versorger, in der
-Ehe das einzige Rettungsmittel gegen materielle Not zu sehen. Aber
-auch gemeiner Arbeit darf das Weib nicht überwiesen werden. Auch
-das verbietet das Glück der jeweilig lebenden und die Tüchtigkeit der
-zukünftigen Generation in gleicher Weise. Die Gleichberechtigung des
-Weibes dadurch verwirklichen wollen, daß man ihm gestattet, im Broterwerb
-mit dem Manne zu konkurrieren, ist eben so nutzlos als verderblich;
-nutzlos, weil dem weiblichen Geschlechte als Ganzes genommen
-eine solche Befugnis, von welcher es nur in Ausnahmefällen wirklichen
-Gebrauch machen kann, doch nicht hilft; verderblich, weil das Weib mit
-dem Manne hier nicht konkurrieren darf, ohne seinen edleren schöneren
-Aufgaben untreu zu werden. Und diese Aufgaben liegen nicht etwa in
-der Verfolgung von Küche und Wäschespinde, sondern in der Pflege
-des Schönen in der gegenwärtigen Generation einerseits und der
-geistigen wie körperlichen Entwickelung des Nachwuchses anderseits. Das
-Weib muß daher nicht bloß in seinem eigenen, sondern ebenso im Interesse
-des Mannes und insbesondere in jenem der zukünftigen Geschlechter
-dem Kampf um des Lebens Notdurft gänzlich entrückt werden;
-es darf kein Rad im Getriebe des Broterwerbs, es muß ein Juwel am
-Herzen der Menschheit sein. Nur eine &bdquo;Arbeit&ldquo; ist dem Weibe angemessen:
-die der Kindererziehung und allenfalls noch die Pflege von
-Kranken und Gebrechlichen. In der Schule und am Siechbett kann
-<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
-weibliche Zärtlichkeit und Vorsorge eine passende Vorschule für die
-Pflichten des späteren eigenen Hauses finden, und hier mag die alleinstehende
-Frau zugleich Erwerb suchen, sofern sie es wünscht. Als selbstverständlich
-darf gelten, daß im Sinne unserer Prinzipien jeder dem
-Weibe gegenüber geübte abwehrende Zwang durchaus verpönt war.
-<em>Verboten</em> war der Frau nicht, welches Gewerbe immer zu ergreifen,
-was denn in vereinzelten Fällen auch jederzeit geschah, insbesondere
-auf dem Gebiete der geistigen Berufe; aber die öffentliche Meinung in
-Freiland billigte dies eben auch nur in Ausnahmefällen, d. h. wenn
-hervorragende Fähigkeiten solches Thun rechtfertigten und es muß bemerkt
-werden, daß unsere Frauen in erster Reihe es waren, welche sich
-auf die Seite dieser öffentlichen Meinung stellten.
-</p>
-
-<p>
-Daß der Versorgungsanspruch der Frauen um ein Vierteil geringer
-bemessen wurde, als derjenige der Männer &mdash; die konstituierende
-Versammlung bestätigte nämlich nicht bloß das Prinzip, sondern auch
-das bereits mitgeteilte Ausmaß der verschiedenen Versorgungsrechte &mdash;
-hat nicht in einer Minderbewertung des weiblichen <em>Anspruches</em> seine
-Motivierung, sondern lediglich in der Thatsache, daß die <em>Bedürfnisse</em>
-des Weibes geringer sind, als die des Mannes. Wir gingen von der
-Ansicht aus, daß die Frau mit ihren dreißig Hundertteilen des durchschnittlichen
-Arbeitsertrages eines freiländischen Produzenten ebenso
-reichliches Auslangen finden werde, als ein versorgungsbedürftiger
-Mann mit seinen vierzig Hundertteilen; und die Erfahrung hat dies
-vollauf bestätigt.
-</p>
-
-<p>
-Es hatte jedoch nicht bloß die alleinstehende Jungfrau oder Witwe,
-sondern auch die Ehefrau &mdash; wenn auch bloß den halben &mdash; Versorgungsanspruch.
-Das begründete sich dadurch, daß auch das verheiratete
-Weib nicht auf die Versorgung des Mannes angewiesen und
-dadurch in ein materielles Abhängigkeitsverhältnis zu diesem gebracht
-sein sollte. Da im Haushalte die Thätigkeit der Frau immerhin mit
-einem Teile ihres Eigenbedarfs zu veranschlagen ist, so bedurfte es,
-um dem Ehemanne die Versorgungslast abzunehmen, auch nur einer
-teilweisen Versorgung von Gesamtheitswegen. Mit dem beginnenden
-Kindersegen vermehrt sich die Familienlast neuerlich, und da diese abermals
-durch das Weib erwächst, so steigerten wir den Versorgungszuschuß
-insolange, bis er wieder die volle Höhe des Versorgungsanspruches
-der Frau, d. i. 30 Prozent erreichte.
-</p>
-
-<p>
-Das vierte Grundgesetz, das allgemeine, auf volljährige Frauen
-ausgedehnte Stimmrecht, bedarf wohl keiner besonderen Erläuterung.
-Zu bemerken wäre hier nur, daß sich diese Bestimmung auch auf die
-in Freiland wohnenden Neger erstreckte, mit dem Beifügen jedoch, daß
-des Lesens und Schreibens Unkundige insofern von der thatsächlichen
-Ausübung politischer Rechte ausgeschlossen waren, als alle Abstimmungen
-<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
-durch eigenhändig auszufüllende Stimmzettel vorgenommen wurden.
-Wir gaben uns übrigens redlich Mühe, unseren Negern nicht bloß das
-Lesen und Schreiben, sondern auch eine Reihe anderer Kenntnisse beizubringen,
-und da dies im allgemeinen von gutem Erfolge begleitet
-war, so nahmen unsere schwarzen Brüder allmählich an allen unseren
-Rechten teil.
-</p>
-
-<p>
-Näherer Erklärung bedarf dagegen Punkt 5 der Grundrechte, wonach
-die Gemeine ihr Beschluß- und Kontrollrecht über alle öffentlichen
-Angelegenheiten nicht durch <em>eine</em>, sondern durch mehrere, nach Verwaltungszweigen
-geordnete Körperschaften ausübte, die von der Gemeine
-auch ebenso gesondert gewählt wurden. Dieser Bestimmung verdankt
-die Verwaltung von Freiland ihre geradezu erstaunliche Sachkenntnis,
-das öffentliche Leben Freilands seine nicht minder beispiellose Ruhe
-und das Fehlen aller tiefergehenden, leidenschaftlichen Parteiungen. In
-den Staaten Europas und Amerikas besteht bloß die vollziehende Gewalt
-aus Männern, die unter Rücksicht auf ihre Sachkenntnis und Befähigung
-für jenen Zweig des öffentlichen Dienstes ernannt, respektive gewählt
-sein <em>sollten</em>, dem vorzustehen ihres Amtes ist. Selbst das ist nur
-mit sehr großen Einschränkungen der Fall, ja insbesondere den sogenannten
-parlamentarischen Verfassungen Europas und Amerikas gegenüber
-muß mit Recht behauptet werden, daß sie gerade an die Spitze
-der verschiedenen Verwaltungszweige Männer stellen, die nur zu oft
-von den wichtigen Angelegenheiten, denen sie vorstehen sollen, sehr
-wenig verstehen. Die Versammlungen, aus deren Mitte und durch deren
-Willen parlamentarische Minister zur Macht gelangen, sind in der
-Regel gänzlich außer Stande, durchweg sachkundige Männer zu berufen,
-schon aus <em>dem</em> Grunde nicht, weil sie solche häufig gar nicht in ihrer
-Mitte besitzen. Damit soll nicht gesagt sein, daß nicht selbst parlamentarische
-Schönredner und Berufspolitiker in der Regel immer noch mehr
-von ihrem Amte verstehen, als jene Günstlinge der Macht und des
-blinden Glücks, die in nichtparlamentarischen Ländern das Ruder führen
-&mdash; aber Sachverständige sind sie nicht, können sie nicht immer sein.
-Doch wie gesagt, die Organe der Exekutive <em>sollten</em> es doch zum mindesten
-sein, es besteht die Fiktion, daß sie es seien, und ein Mann, der
-sich in irgend einem Fache rühmlich hervorthut, hat damit wenigstens
-einen &mdash; wenn auch thatsächlich ziemlich untergeordneten &mdash; Anspruch
-mehr, in diesem Fache Verwendung im öffentlichen Dienste zu finden.
-Für die <em>gesetzgebenden</em> Körperschaften des Abendlandes dagegen ist
-Sach- und Fachkenntnis nicht einmal prinzipiell ein Grund der Wahl. Die
-Männer, welche Gesetze erlassen und deren Ausübung zu kontrollieren
-haben, brauchen grundsätzlich von all den Angelegenheiten, auf welche
-sich diese Gesetze beziehen, nicht das Geringste zu verstehen. Das
-Vertrauen ihrer Wähler ist vom Grade dieses ihres Verständnisses in
-<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
-der Regel unabhängig, sie werden nicht als Fachmänner, sondern als
-&bdquo;<em>gesinnungstüchtige</em>&ldquo; Männer gewählt.
-</p>
-
-<p>
-Das aber hat einen doppelten Übelstand im Gefolge; es macht
-zunächst den öffentlichen Dienst mehr als irgend eine Privatangelegenheit
-zum Spielballe menschlicher Unwissenheit und Unklugheit; das Wort
-Oxenstiernas: &bdquo;Du weißt nicht, mein Sohn, mit wie wenig Verstand
-die Welt regiert wird&ldquo;, ist in weit höherem Maße, als allgemein geglaubt
-wird, ein wahres Wort; der durchschnittliche Grad von Klugheit
-und Sachkenntnis in zahlreichen öffentlichen Verwaltungszweigen der
-sogenannten civilisierten Welt, steht tief unter dem in den Privatgeschäften
-der nämlichen Länder gemeinhin anzutreffenden Durchschnittsniveau.
-Zum zweiten aber gestaltet diese, zugleich centralisierte und
-kenntnislose Organisation der öffentlichen Verwaltungszweige das Parteigetriebe
-zu einem leidenschaftlichen und erbitterten Kampfe, in welchem
-stets alles an alles gesetzt werden muß und in welchem beinahe niemals
-sachliche Erwägungen, sondern stets nur die vorgefaßten politischen Meinungen
-entscheiden. Unablässiger Kampf, stete, leidenschaftliche Erregung
-ist also die zweite, notwendige Folge dieser verkehrten Einrichtung.
-</p>
-
-<p>
-Eine Änderung derselben ist aber schlechthin unmöglich, so lange
-die geltende soziale Ordnung in Kraft bleibt. Denn solange dies der
-Fall ist, fährt das allgemeine Wohl noch immer besser, wenn die öffentlichen
-Angelegenheiten von Unwissenden, ohne Rücksicht auf ihre Fachkenntnis
-Gewählten, verwaltet und kontrolliert werden, als wenn Fachleute
-von Beruf die Macht erhielten, in Sachen ihres Faches namens
-der Gesamtheit zu handeln. Das Interesse dieser wirklichen Fachmänner
-ist nämlich in der ausbeuterischen Gesellschaft dem der großen Masse
-nicht bloß häufig, sondern in der Regel entgegengesetzt. Man denke sich
-einen europäischen oder amerikanischen Staat, in welchem die Fabrikanten
-über Fabrikation, die Landwirte über Bodenproduktion, die Eisenbahnleute
-über Transportwesen, und so fort die sachkundigen Vertreter jedes
-Interessen-Zweiges über das sie zunächst interessierende Gebiet Gesetze
-machen, ausführen und überwachen könnten! Da in der ausbeuterischen
-Gesellschaft der Kampf ums Dasein auf gegenseitige Unterdrückung und
-Verdrängung gerichtet ist, so müßten die Folgen einer solchen &bdquo;Verfassung&ldquo;
-für sie geradezu schrecklich sein, und in jenen, unter dem Sammelnamen
-der politischen Korruption bekannten Fällen, wo es vereinzelten
-Interessenkreisen gelang, ihren Willen dem der Gesamtheit unterzuschieben,
-überschritt auch thatsächlich die Schamlosigkeit der Ausbeutung alle
-Grenzen.
-</p>
-
-<p>
-Anders in Freiland; bei uns giebt es keine dem Gesamtinteresse
-entgegenstehenden oder auch nur nicht vollkommen mit diesem harmonierenden
-Sonderinteressen. Produzenten z. B., die in Freiland auf den
-<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
-Gedanken gerieten, ihren Gewinn dadurch zu erhöhen, daß sie den Import
-mit Zöllen belegten, müßten Blödsinnige sein; denn daß sie die Konsumenten
-zwängen, ihre Fabrikate höher zu bezahlen, würde ihnen nichts
-nützen &mdash; da sofort der Zufluß von Arbeitskraft ihren Gewinn wieder
-auf sein Durchschnittsniveau herabbrächte &mdash; dagegen würde ihnen allerdings
-schaden, daß sie allen andern Produzenten das Produzieren erschwert
-hätten, denn dadurch würde eben jenes Durchschnittsniveau der
-Gewinne, über welches sich ihr eigener niemals dauernd erheben kann, herabgedrückt
-worden sein. Und genau das nämliche gilt für alle unsere
-Interessenkreise. Dadurch, daß jeder derselben Jedem zugänglich ist,
-und daß Niemand das Recht und die Macht hat, einen irgendwo erwachsenden
-Vorteil für sich allein zu beanspruchen, sind wir in der glücklichen
-Lage, in allen Interessenfragen Jenen die Entscheidung anzuvertrauen,
-welche die <em>zunächst</em> Interessierten, also die Sachkundigsten sind.
-Dadurch aber gestalten sich Gesetzgebung und Verwaltung nicht bloß
-sachkundig im höchsten Grade, es verschwindet auch aus dem öffentlichen Leben
-jene leidenschaftliche Voreingenommenheit, die da draußen das charakteristische
-Merkmal des Parteigetriebes ist. Da überall wohlverstandenes
-gemeinsames Interesse und Vernunft entscheiden, so haben wir niemals
-Grund, uns zu erhitzen. Bei unseren Wahlen handelt es sich gar nicht
-darum, &bdquo;einen Gesinnungsgenossen durchzubringen&ldquo;, sondern höchstens
-um Meinungsverschiedenheiten darüber, welcher der Kandidaten wohl
-der Erfahrenste, Klügste sein möge. Und da die Fähigkeiten eines Jeden
-unter uns wegen der Organisation unserer gesamten Arbeit auf die Dauer
-unmöglich verborgen bleiben können, so sind Irrtümer in diesem, für
-unser öffentliches Leben allein maßgebenden Punkte kaum möglich.
-</p>
-
-<p>
-Da die Konstituante die Zwölfteilung der Verwaltung beibehalten
-hatte, so gab es von da ab in Freiland neben den zwölf verschiedenen
-Exekutivbehörden &mdash; die in ihrem Wirkungskreise etwa mit den abendländischen
-Ministerien in Parallele zu stellen wären &mdash; zwölf verschiedene
-beratende, beschließende und überwachende, aus der allgemeinen Wahl
-hervorgegangene Versammlungen an Stelle der einheitlichen abendländischen
-Parlamente. Diese zwölf Versammlungen wurden sämtlich von der Gesamtheit
-aller Wähler gewählt, es hatte zum Mindesten jeder Wähler
-das Recht, bei allen Wahlen seine gleichgewichtige Stimme abzugeben;
-aber die Einteilung der Wahlkörper war verschieden, und die Wahlen
-fanden für jeden der zwölf Vertretungskörper gesondert statt; ein Teil
-derselben, nämlich die für die Geschäfte des Verwaltungspräsidiums und
-der Finanzen, für Versorgungswesen, Unterricht, Kunst und Wissenschaft,
-Sanitätswesen und Justiz, fand nach Wohnbezirken, die Wahlen in die
-anderen Vertretungskörper fanden nach Berufskategorien statt. Zu letzterem
-Zwecke waren die sämtlichen Einwohner Freilands je nach ihren
-Berufsgeschäften in zahlreiche größere oder geringere Wahlkörper geteilt,
-<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
-deren jeder, je nach der Zahl seiner Angehörigen einen oder mehrere Abgeordnete
-wählte; von ganz kleinen Berufsklassen waren je einige
-möglichst gleichartige zu je einem Wahlkörper zusammengelegt; die Zugehörigkeit
-zu den verschiedenen Wahlkörpern hing vom Belieben jedes
-Wählers ab, d. h. es konnte sich Jedermann &mdash; und ebenso selbstverständlich
-auch jede Frau &mdash; in eine ihm oder ihr genehme Berufsklasse
-eintragen lassen, und übte dann in dieser das Wahlrecht für die von
-diesen Klassen gewählten Vertretungskörper aus.
-</p>
-
-<p>
-Die obersten Beamten der zwölf Verwaltungszweige wurden sodann
-je von den zwölf Vertretungskörpern ernannt; die Ernennung der anderen
-Beamten war Sache der Verwaltungschefs. In allen wichtigeren
-Fällen hatten diese alle den Vertretungskörpern vorzulegenden Maßnahmen
-vorher gemeinsam untereinander zu beraten.
-</p>
-
-<p>
-Die Beratungen der verschiedenen Vertretungskörper fanden in der
-Regel gesondert und meist auch in verschiedenen Sessionsperioden statt;
-einzelne derselben waren in Permanenz, andere traten bloß einigemal
-im Jahr für wenige Tage zusammen; auch die Mitgliederzahl dieser
-Fachparlamente war verschieden; das schwächste derselben, das für
-Statistik, bestand bloß aus 30 Mitgliedern, die vier zahlreichsten
-zählten je 120 Mitglieder. Wenn Angelegenheiten, die mehrere Vertretungskörper
-gemeinsam interessierten, zur Sprache kamen, so traten
-die betreffenden Körperschaften zu gemeinsamen Sitzungen zusammen.
-Kompetenzstreitigkeiten waren unmöglich, da der bloße von Seiten welches
-Vertretungskörpers immer ausgesprochene Wunsch, an den Beratungen
-irgend eines anderen Teil zu nehmen, dazu genügte, um die betreffende
-Angelegenheit zu einer gemeinsamen zu machen.
-</p>
-
-<p>
-Das naturgemäße Ergebnis dieser Organisation war, daß jeder
-Bewohner Freilands bloß an jenen öffentlichen Angelegenheiten teilnahm,
-von denen er etwas verstand oder doch zu verstehen glaubte,
-und daß er in jedem Verwaltungszweige jenem Kandidaten seine
-Stimme gab, der seiner Meinung nach der berufenste und befähigteste
-gerade für den fraglichen Verwaltungszweig war, was wieder zu naturgemäßen
-&mdash; abendländischem Begriffe nach allerdings schier unglaublichen
-&mdash; Folge hatte, daß jeder öffentliche Verwaltungszweig von den
-sachverständigsten und berufensten Männern in ganz Freiland verwaltet
-wurde. Und dabei entwickelte sich sehr bald eine höchst eigentümliche
-Art politischer Ehre, die gleichfalls sehr verschieden war von der überall
-anderwärts geltenden. Gilt es da draußen für &bdquo;gesinnungstüchtig,&ldquo; der
-einmal erwählten Partei unterschiedlos durch Dick und Dünn zu folgen,
-ihr seine Stimme und seinen Einfluß zu leihen, gleichviel ob man von
-der Sache, um die es sich gerade handelt, etwas versteht oder nicht, so
-verlangt die politische Ehre eines Bürgers von Freiland zwar noch viel
-entschiedener, daß er seine Aufmerksamkeit und seinen Eifer den öffentlichen
-<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
-Angelegenheiten widme; die öffentliche Meinung verübelt es ihm
-aber höchlich, wenn er &mdash; gleichviel aus welchen Rücksichten &mdash; sich
-in solche Angelegenheiten mengt, von denen er offenbar nichts versteht,
-so daß streng genommen schon vom Wähler verlangt wird, daß er in
-jenen Verwaltungszweigen, bei denen er das Gewicht seiner Stimme
-geltend macht, einigermaßen Fachmann sei. Die Wahlen befinden sich
-daher durchweg in sehr guter Hand, Beeinflussung der Wählerschaften
-durch phantastische Vorspiegelungen oder Versprechungen wären, selbst
-wenn versucht, niemals von Erfolg. Es giebt keinen Wähler, der für
-sämtliche zwölf Vertretungskörper wählen würde; speziell die Frauen
-halten sich mit verschwindenden Ausnahmen fern von allen Wahlen, die
-nach Berufsklassen vorgenommen wurden; dagegen beteiligen sie sich
-sehr lebhaft an den nach Wohnbezirken stattfindenden; speciell bei denen
-für Unterrichtswesen geben ihre Stimmen den Ausschlag. Auch ihr
-passives Wahlrecht kommt zur Geltung und in den Vertretungskörpern
-für Versorgungswesen, Kunst und Wissenschaft, Sanitätswesen und
-Justiz sitzen häufig, in dem für Unterricht stets mehrere Frauen. An
-der Exekutive beteiligen sie sich niemals. Der Vollständigkeit halber
-mag noch erwähnt werden, daß die gewählten Abgeordneten für ihre
-Thätigkeit bezahlt werden und zwar erhalten sie für jeden Tag der
-Sessionsdauer je acht Stundenäquivalente.
-</p>
-
-<p>
-Nachdem die Verfassung von der Konstituante angenommen worden
-war, löste sich diese auf und es wurden sofort die Wahlen für die
-zwölf Vertretungskörper vorgenommen. Pünktlich am 20. Oktober
-traten diese zusammen und der Ausschuß legte in deren Hände seine
-Gewalten nieder. Die alten Ausschußmitglieder wurden jedoch als Chefs
-der verschiedenen Verwaltungszweige wiedergewählt, mit Ausnahme von
-Vieren, welche erklärten, kein öffentliches Amt mehr anzunehmen und
-an deren Stelle neue Männer traten. Die Regierung von Freiland
-war endgiltig konstituiert.
-</p>
-
-<p>
-Inzwischen waren die drei zur Feststellung der geeignetsten Trace
-für eine Eisenbahn an die Küste entsendeten Expeditionen zurückgekehrt.
-Die eine derselben, die auf der kürzesten Route, im Danathale an die
-Wituküste, operiert hatte, war zwar auf keine ungewöhnlichen Terrainschwierigkeiten
-gestoßen und die Voraussicht, daß diese weitaus kürzeste
-Strecke sich als die technisch empfehlenswerteste erweisen werde, hatte
-sich bewährt; auch im übrigen hatte sich bis zu einer Entfernung von
-200 Kilometern vom Kenia keinerlei ernstliche Schwierigkeit ergeben;
-aber von da ab bis an die Küste setzten die jenes Gebiet bewohnenden
-Gallastämme der Expedition einen so hartnäckigen und bösartigen Widerstand
-entgegen, daß die Feindseligkeiten zwei Monate lang kein Ende
-nahmen, zahlreiche Gefechte bestanden werden mußten, in denen sich die
-Gallas zwar stets schwere Züchtigungen holten, die aber doch nicht bewirken
-<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
-konnten, daß die Expedition anders, als in stetem Kriegszustande
-ihre doch durchaus friedliche Mission zu erfüllen vermochte. Der Eisenbahnbau
-durch jenes Gebiet hätte durch einen förmlichen Feldzug zur
-Pacifizierung oder Vertreibung der Galla eingeleitet werden müssen und
-wäre auch dann nur unter dauernder Kriegsbereitschaft zu vollenden
-gewesen. Diese Linie mußte also &mdash; vorläufig zum mindesten &mdash;
-fallen gelassen werden.
-</p>
-
-<p>
-Nicht minder gewichtige Gründe sprachen gegen die Linie über
-Ukumbani längs des Athiflusses. Die Trace durch das Flußthal wäre
-zwar ohne sonderliche technische Schwierigkeiten gewesen, aber sie durchzog,
-insbesondere in der zweiten Hälfte, ungesundes Sumpf- und
-Dschungelland, welches in nächster Zukunft nicht kulturfähig zu machen
-war. Entschied man sich dagegen für eine, das eigentliche Flußthal
-verlassende, die begleitenden Höhenzüge durchquerende Nebenvariante,
-so waren die technischen Verhältnisse nicht günstiger und die voraussichtlichen
-Baukosten nicht geringer, als bei der dritten Linie, der
-längs unserer alten Straße nach Mombas nämlich, die denn auch
-einhellig gewählt wurde. Zu ihren Gunsten sprach der gewichtige Umstand,
-daß sie befreundete Gebiete durchzog, die in nicht zu ferner Zukunft
-höchst wahrscheinlich von freiländischen Kolonisten zum Wohnplatze
-erkoren werden durften; daß sie die längste und kostspieligste von
-allen war, konnte daher, wenn der Kostenunterschied nicht allzusehr in
-die Wagschale fiel &mdash; was, wie sich zeigte, thatsächlich nicht der Fall
-war &mdash; nicht abhalten, ihr den Vorzug zu geben.
-</p>
-
-<p>
-Der Bau wurde unverzüglich begonnen. Mächtige, neuartige
-Maschinen aller Art waren inzwischen in großer Zahl durch unsere
-freiländischen Maschinenfabriken konstruiert worden, und mit diesen ausgerüstet,
-griffen 5000 freiländische und 8000 Negerarbeiter das Werk
-an 18 Punkten zugleich an, wobei die 11 größeren und 32 kleineren
-Tunnels in einer Gesamtlänge von 38 Kilometern, die auf der Strecke
-vorkamen, und die jeder für sich ein eigenes Bauobjekt bildeten, gar
-nicht mitgezählt sind. Die Schienen &mdash; bestes Bessemermaterial &mdash;
-lieferten teils unsere eigenen Fabriken, teils &mdash; und zwar für die
-Strecke Mombas-Taweta &mdash; kamen sie aus Europa. Zwei Jahre nach
-Beginn des ersten Spatenstiches wurde die Teilstrecke Edenthal-Ngongo,
-drei Monate später die Strecke Mombas-Taweta und abermals ¾ Jahre
-später das Mittelstück Ngongo-Taweta dem Verkehr übergeben, so daß
-genau fünf Jahre, nachdem unsere Pioniere zum erstenmale den Boden
-von Freiland betreten hatten, die erste Lokomotive, die den Tag zuvor
-noch die Brandung des indischen Oceans an die Ufer von Mombas
-schlagen gesehen, die Gletscher des Kenia mit gellendem Pfiff
-begrüßte.
-</p>
-
-<p>
-Daß dieses gewaltige Werk in so kurzer Frist und mit verhältnismäßig
-<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
-so geringem Arbeitsaufwande vollendet werden konnte, verdankten
-wir unseren Maschinen, auf deren Rechnung es auch zu stellen ist, daß
-der Kostenaufwand sich innerhalb verhältnismäßig billiger Grenzen
-hielt, trotzdem wir unseren Arbeitern &mdash; selbstverständlich &mdash; Löhne
-zahlen mußten, wie sie wohl noch bei keinem Eisenbahnbaue jemals
-vorgekommen. Unsere freiländischen Eisenbahnbauer &mdash; sie hatten sich
-natürlich sofort zu einer Anzahl von Associationen zusammengethan &mdash;
-bezogen im ersten Baujahre einen Tagesverdienst von je 22 Sh., im
-dritten einen solchen von 28 Sh. &mdash; und arbeiteten dabei bloß je 7 Stunden
-täglich. Trotzdem kosteten die gesamten 1082 Kilometer, meist ziemlich
-schwieriger Gebirgsbahn, bloß 9½ Millionen Pfd. Sterling, d. i. nicht
-ganz 9000 Pfd. Sterling per Kilometer. Unsere 13000 Arbeiter
-leisteten eben mit ihren großartigen kraftersparenden Maschinen mehr,
-als 100000 gewöhnliche Arbeiter mit Haue, Krampe und Karren auszurichten
-vermocht hätten: und die Verwendung dieses kolossalen, mehr
-als 4 Millionen Pfd. Sterling verschlingenden &bdquo;Kapitals&ldquo; war &bdquo;rentabel,&ldquo;
-gerade weil die Arbeit so hohen Lohn empfing.
-</p>
-
-<p>
-Daß zugleich mit dieser &mdash; zweigeleisigen &mdash; Eisenbahn auch ein
-Telegraph zwischen Edenthal und Mombas gelegt wurde, ist selbstverständlich.
-</p>
-
-<p>
-Während aber diese Arbeiten im Zuge waren, und die unaufhaltsam
-anwachsende Bevölkerung von Freiland in engere Berührung
-mit der alten Heimat trat, hatten sich in den Beziehungen zu unseren
-eingeborenen afrikanischen Nachbarn wichtige Veränderungen vollzogen,
-teils friedlicher, teils kriegerischer Natur, die von nicht minder bedeutsamem
-Einflusse auf den Entwickelungsgang unseres Gemeinwesens waren.
-</p>
-
-<p>
-Zunächst hatten die Massai von Leikipia und aus dem Seengebiete
-zwischen Naiwascha und Baringo aus eigener Initiative und auf eigene
-Kosten, wenn auch unter Anleitung von ihnen erbetener freiländischer
-Ingenieure, eine gute, 380 Kilometer lange Fahrstraße durch ihr ganzes
-Gebiet vom Naiwaschasee erst nördlich und dann östlich durch Leikipia
-bis nach Edenthal gebaut. Sie erklärten, es gehe wider ihre Ehre und
-ihren Stolz, daß sie durch fremdes Gebiet von uns getrennt seien und
-wenn sie uns oder wir sie besuchen wollten, der einzige praktikable Weg
-über das Land der Wakikuja genommen werden müsse. So groß war
-der eifersüchtige Wunsch nach unmittelbarem Anschlusse an unser Gebiet,
-daß die Massai, als sie ein Teil der angeworbenen Wataweta-Straßenarbeiter
-irgend einer Mißhelligkeit halber während der besten Bauzeit
-plötzlich im Stiche ließ, selber zugriffen und abwechselnd in der Zahl
-von 3000 das Werk mit einer Energie förderten, die Niemand bei diesem
-noch vor kurzem so arbeitsscheuen Volke für möglich gehalten hätte.
-Wir beschlossen denn auch, diesen Beweis ungewöhnlicher Anhänglichkeit
-und Tüchtigkeit durch einen ebenso hervorragenden Akt der Anerkennung
-<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
-zu belohnen. Als die Massaistraße fertig war und eine aus den Ältesten
-und Führern aller Stämme bestehende Massaideputation auf derselben
-freude- und triumphstrahlend ihren Einzug in Edenthal hielt, wurde
-dieselbe mit großen Ehren empfangen, und mit Geschenken für das ganze
-Massaivolk bedacht, die dem Bauwerte der neuen Straße ungefähr
-gleichkamen.
-</p>
-
-<p>
-Die damit bewerkstelligte innigere Verbindung mit den nördlichen
-und westlichen Massaistämmen brachte uns bald darauf in Berührung
-mit den am Ostufer des Ukerewe-Sees wohnenden Kawirondo. Diese,
-ein sehr zahlreicher und friedlich von Ackerbau und Viehzucht lebender
-Volksstamm, grenzten im Norden ihres Gebietes an Uganda, wo in den
-letzten Jahren mannigfache innere Kämpfe und Umwälzungen vor sich
-gegangen waren. Unähnlich den anderen Völkern, die wir bis dahin
-kennen gelernt und die sämtlich in unabhängigen, nur lose verbundenen
-kleinen Stämmen, meist unter freigewählten Häuptlingen mit geringem
-Einflusse lebten, waren die Wangwana (der Name für die Bewohner
-von Uganda) schon seit Jahrhunderten zu einem größeren, despotisch
-regierten Staate unter einem Kabaka oder Kaiser vereinigt. Ihr Reich,
-dessen Stammland sich längs des Nordufers des Ukerewe erstreckt, war
-von wechselndem Umfange, je nachdem die wilde Eroberungspolitik des
-jeweiligen Kabaka den umliegenden Völkerschaften gegenüber von größerem
-oder geringerem Erfolge begleitet war; stets aber blieb Uganda eine
-Geißel für alle Nachbarn, die unter den unaufhörlichen Beutezügen,
-Erpressungen und Grausamkeiten der Wangwana litten. Weite, fruchtbare
-Landstriche verödeten unter dieser Plage, und als vollends seit
-einer Reihe von Jahren der Kabaka es verstanden hatte, sich durch
-Vermittelung arabischer Händler in den Besitz einiger tausend &mdash; wenn
-auch recht miserabler &mdash; Gewehre und einiger Geschütze zu setzen, mit
-welch Letzteren er mangels geeigneter Munition allerdings wenig auszurichten
-vermochte, wuchs der Schrecken vor dem grausamen Raubstaate
-in riesigen Dimensionen. Gerade in die Zeit unserer Ankunft am Kenia
-war eine Epoche vorübergehender Ruhe gefallen, weil die Wangwana,
-durch innere Streitigkeiten allzusehr beschäftigt, ihren Nachbarn geringere
-Aufmerksamkeit schenken konnten. Nach des letzten Kabaka Tod machten
-sich dessen zahlreiche Söhne die Herrschaft in Kriegen streitig, die, mit
-bestialischer Wut geführt, das Land schrecklich verheerten, bis endlich
-einer der Prätendenten, der den Namen des durch seine unerhörte
-Grausamkeit wie durch sein Kriegsglück berühmten großen Ahnen Suna
-führte, sich im Vorjahre durch Verräterei der Mehrzahl seiner Brüder
-entledigte. Von da ab konzentrierte sich die Macht mehr und mehr in
-dieses Kabaka Händen und sofort begannen auch die Überfälle und
-Brandschatzungen der benachbarten Stämme. Insbesondere richtete sich
-Sunas Zorn gegen die Kawirondo, weil diese einen seiner Brüder, der
-<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
-zu ihnen geflüchtet, ihm nicht ausgeliefert, sondern hatten entwischen
-lassen. Wiederholt waren einige tausend Wangwana in Kawirondo eingefallen,
-hatten Menschen und Vieh geraubt, die Dörfer angezündet, die
-Bananen umgehauen, die Ernten verwüstet und sich dabei unmenschliche
-Grausamkeit zu schulden kommen lassen. Die Kawirondo wandten sich
-in ihrer Not an die nördlichen Massaistämme um Hülfe. Es war die
-Kunde zu ihnen gedrungen, daß wir den Massai Gewehre und Pferde
-geschenkt hätten, und sie baten nun diese, ihnen eine Schar europäisch
-ausgerüsteter Krieger zur Bewachung ihrer Grenze gegen Uganda zu
-senden; als Lohn versprachen sie jedem ihnen zu Hülfe ziehenden Massaikrieger
-neben vollständiger reichlicher Verpflegung einen Ochsen monatlich,
-den Reitern zwei.
-</p>
-
-<p>
-Weniger dieses Lohnes halber, als um ihrer Abenteuerlust zu genügen,
-sagten die Massai zu. 2500 El-Moran machten sich nach
-Kawirondo auf und bezogen dort &mdash; es war das im März des vierten
-Jahres von Freiland, an der Grenze gegen Uganda eine Reihe von
-Kantonnements.
-</p>
-
-<p>
-Anfangs ging auch alles vortrefflich; die Wangwanaräuber wurden,
-wo sie sich zeigten, mit blutigen Köpfen heimgeschickt, auch wenn sie mit
-bedeutender Übermacht auftraten und es schien nach einigen Monaten
-fast, als ob man in Uganda, durch die empfangenen herben Lektionen
-gewitzigt, Kawirondo künftighin in Frieden zu lassen gedenke, denn es
-verlautete geraume Zeit nichts mehr von neuen Einfällen. Da plötzlich,
-wir waren in Freiland eben mit Einbringung der Oktoberernte beschäftigt,
-traf uns die erschütternde Kunde von einer schrecklichen Katastrophe,
-die über unsere Massaifreunde in Kawirondo hereingebrochen.
-Der Kabaka Suna hatte nur Ruhe gehalten, um zu einem größeren,
-vernichtenden Schlage auszuholen. Während die bisherigen Einfälle
-nach Kawirondo immer nur mit wenigen tausend Mann versucht worden
-waren, vereinigte er diesmal 30000 Mann, darunter 5000 Flintenträger,
-und überfiel mit diesen persönlich die ahnungslosen Kawirondo
-und Massai. Es gelang ihm, die 900 Mann mit 300 Pferden zählende
-Massaibesatzung eines Grenzlagers beinahe im Schlafe zu überfallen und
-bevor sie sich noch zu ernstem Widerstande zu sammeln vermochte,
-niederzumetzeln. Dadurch waren die Massai nicht bloß um mehr als
-ein Drittel ihrer Stärke reduziert, sondern außerdem in zwei zusammenhanglose
-Teile getrennt, denn das überfallene Lager lag gerade im
-Centrum ihres Grenzkordons. Statt nun aber schleunigst den Rückzug
-anzutreten und bestenfalls erst nach vollzogener Vereinigung ihrer getrennten
-Streitkräfte die Offensive zu ergreifen, ließ sich einer der
-Massaiführer, kaum daß er 500 Mann zusammengerafft hatte, in der
-Wut über den Untergang so vieler seiner Kameraden zu einem tollkühnen
-Angriffe auf die ungeheuere Überzahl der Feinde verleiten, fiel
-<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
-dabei in einen Hinterhalt und wurde, nachdem er seine Patronen nur
-zu rasch verschossen hatte, mitsamt den Seinen, von denen nur wenige
-Mann entkamen, nach heldenmütigem Widerstande gleichfalls niedergemetzelt.
-Nur 1100-1200 Massai vermochte unser nunmehr das
-Oberkommando übernehmende Freund Mdango auf dem andern Flügel
-zu vereinen und mit diesen gelang es ihm auch, einen ziemlich geordneten
-Rückzug ins Innere von Kawirondo anzutreten, wenig verfolgt von
-Suna, dessen Hauptaugenmerk auf die Bergung der kolossalen Beute
-gerichtet war.
-</p>
-
-<p>
-Noch am nämlichen Tage, an welchem uns Massai- und Kawirondo-Eilboten
-diese Trauerkunde überbrachten, ging unser Ultimatum an Suna
-ab. Den Massai, die sich erboten hatten, ihre gesamten Krieger gegen
-Uganda zu senden, ließen wir sagen, 1000 Mann zu den noch in
-Kawirondo stehenden 1200 seien mehr als genug; diese 2200 Massai
-stellten wir unter freiländische Offiziere, nahmen aus unserer Mitte
-900 Freiwillige, darunter 500 Reiter, dazu 12 Geschütze und 16 Raketen
-nebst 30 Elefanten, und schon am 24. Oktober brach Johnston, der
-Führer dieses Kriegszuges, unter Benutzung der Massaistraße nach
-Kawirondo auf.
-</p>
-
-<p>
-Dort traf er rings um das &mdash; jetzt, wo es zu spät war, sehr
-vorsichtig verschanzte und bewachte &mdash; Lager der El-Moran ungezählte
-Tausende mit Speer und Bogen bewaffneter Kawirondo und Nangi,
-die er aber allesamt als unnützen Troß heimschickte. Am 10. November
-überschritt er die Ugandagrenze, sechs Tage später wurde Suna in
-einem kurzen Gefecht in der Nähe der Riponfälle total auf&rsquo;s Haupt
-geschlagen, sein 110000 Mann zählendes Heer in alle Winde zerstreut
-und er selbst nebst einigen tausend Mann seiner von Küstenarabern
-geführten, mit Flinten bewaffneten Leibgarde gefangen genommen.
-</p>
-
-<p>
-Schon am zweiten Tage nach der Schlacht besetzten die Unseren
-Rubaga, die Hauptstadt von Uganda. Dort stellten sich in rascher
-Folge die sämtlichen Häuptlinge des Landes ein, bedingungslose Unterwerfung
-gelobend und bereit, jede ihnen auferlegte Forderung zu
-erfüllen. Johnston aber bot ihnen an, sie in den großen Bund all der
-bisher mit uns in Berührung getretenen eingeborenen Völker aufzunehmen,
-worauf die Wangwana selbstverständlich mit größter Freude eingingen.
-Die ihnen auferlegten Bedingungen waren: Freigebung aller Sklaven,
-friedliche Aufnahme freiländischer Kolonisten und Instruktoren und
-Ersatz alles den Kawirondo und Massai zugefügten Schadens. In
-letzterer Beziehung war übrigens das Wangwanavolk gar nicht in
-Mitleidenschaft gezogen, denn die unermeßlichen Rinderherden ihres
-Kabaka, die uns als gute Beute in die Hände gefallen waren, genügten
-reichlich zu vollem Ersatz des in Kawirondo gemachten Raubes und
-als Buße für die getöteten Kawirondo- und Massaikrieger. Suna
-<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
-selber wurde als Gefangener abgeführt und am Naiwaschasee interniert.
-</p>
-
-<p>
-Der fernere Verlauf der Ereignisse war dann ein friedlicher, nur
-von einem vereinzelten Empörungsversuche im Lande verbliebener
-Araber unterbrochener, welchen Versuch aber die Wangwana selber
-energisch und prompt unterdrückten, ohne daß unsere Intervention
-notwendig gewesen wäre. Allerdings trug eine gute Heerstraße, welche
-die Kawirondo und Nangi vom Ukerewe bis zum Anschlusse an die
-Massaistraße am Baringosee ausbauten, und eine an der Grenze zwischen
-Kawirondo und Uganda angesiedelte Massaikolonie von 3000 El-Moran
-einigermaßen dazu bei, die Wangwana in gehörigem Respekt zu erhalten.
-Doch genügte der Hauptsache nach seit der Schlacht an den Riponfällen
-der bloße Klang unseres Namens, uns auch in diesem Teile des
-äquatorialen Innerafrika Ruhe und Frieden zu gewährleisten. Rings
-um den Ukerewe, dessen Ufer seit unvordenklicher Zeit der Schauplatz
-grimmigen, erbarmungslosen Krieges Aller gegen Alle gewesen, stellten
-sich allmählich Gesittung und Menschlichkeit ein, und verhältnismäßig
-rasch entwickelte sich in deren Gefolge, selbst unter den bis dahin
-wildesten der umwohnenden Stämme, nicht unerheblicher Wohlstand.
-</p>
-
-<p>
-Der Ukerewe ist, auch abgesehen von seiner Größe, unter den
-Riesenseen des centralen Afrika der bedeutsamste. Sein Spiegel deckt
-eine Fläche von circa 50000 Quadratkilometern, er ist also, außer
-dem Kaspisee, dem Aralsee und der großen nordamerikanischen Seegruppe,
-das größte Binnenwasser der Erde. Diese ganze das Königreich
-Bayern an Umfang übertreffende Wassermasse, deren Tiefe in gutem
-Verhältnisse zu ihrer Flächenausdehnung steht, denn das Senkblei
-erreicht stellenweise erst bei 480 Metern den Grund, befindet sich
-in einer Höhe von 1350 Metern über dem Meeresniveau, d. i. 200
-Meter über dem Gipfel des Brocken, des höchsten der Berge Mitteldeutschlands.
-Umrahmt aber wird dieser Hochsee meist von Gebirgszügen,
-die sich noch 500-1500 Meter über seinen Spiegel erheben,
-so daß das Klima seiner &mdash; ausnahmslos gesunden, von Sümpfen
-freien &mdash; Uferlandschaften überall gemildert, stellenweise geradezu
-arkadisch ist. Und dieser gewaltige, malerische, an vielen Stellen hochromantische
-See ist das Quellenbassin des heiligen Nil, der, ihn am
-äußersten Nordende über die Riponfälle verlassend, von hier aus dem
-450 Meter tiefer gelegenen Albert Njanza zuströmt und von dort aus
-als weißer Nil seinen Lauf fortsetzt.
-</p>
-
-<p>
-Schon zwei Monate nachdem wir uns in Kawirondo und Uganda
-festgesetzt, durchfurchte ein Schraubendampfer von 500 Tonnen die
-meeresgleichen Wogen des Ukerewe und vor Schluß des nächsten Jahres
-bestand unsere Seeflotille aus 5 Schiffen. Dieselben wurden überall
-an der Küste freundlich aufgenommen und der von ihnen entfachte
-<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
-lebhafte Handel erwies sich als eines der kräftigsten Beförderungsmittel rasch
-zunehmender Civilisation. Die Fruchtbarkeit der Uferlandschaften dieses
-herrlichen Sees ist geradezu grenzenlos; wenige hundert Quadratmeter
-gut bewässerten Bodens genügen, um alle Bedürfnisse einer noch so
-zahlreichen Familie zu decken, und als wir die Eingebornen erst einmal
-mit brauchbaren Geräten der Bodenkultur bekannt und vertraut gemacht
-hatten, war der überall erzeugte Überfluß der erlesensten Garten- und
-Feldfrüchte beispiellos. Merkwürdigerweise blieb das Wachstum der
-Bedürfnisse, insbesondere unter den am Westufer des Sees wohnenden
-Volksstämmen, lange Zeit hinter der Verbesserung der Produktionsmittel
-erheblich zurück. Diese einfachen Völkchen erzeugten beinahe
-ohne Arbeitsaufwand, oft aus bloßer Neugierde nach der Wirksamkeit
-der zu ihnen gebrachten verbesserten Werkzeuge, wesentlich mehr als sie
-gebrauchten und da sie den Begriff des Grundeigentums nicht kannten,
-der unverwendbare Überfluß also bei ihnen nicht wie sonst unfraglich
-geschehen wäre, Massenelend erzeugen konnte, so wurde hier Jahre
-hindurch das Märchen vom Schlaraffenlande zur Wahrheit. Der
-Eigentumsbegriff verlor beinahe seinen ganzen Inhalt, Lebensmittel
-wurden wertlos, jedermann konnte sich davon nehmen so viel er mochte;
-durchreisende Fremde fanden überall gedeckten Tisch, kurzum, das
-goldene Zeitalter schien seinen Einzug am Ukerewe halten zu wollen.
-Indessen erwies sich diese gänzliche Bedürfnislosigkeit ebenso auch
-als Hindernis vermehrten Fortschritts und wir gaben uns daher
-&mdash; wenn auch nicht ganz ohne Bedauern &mdash; ernstliche Mühe, diesen
-paradiesischen Zustand insofern zu stören, als wir den Leutchen Geschmack
-an vermehrten Bedürfnissen beizubringen suchten, was langsam
-zwar, aber schließlich doch gelang. Erst zugleich mit diesen schlugen
-dann höhere Gesittung und geistige Kultur in jenem Erdenwinkel
-tiefere Wurzeln.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-4-5">
-<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
-12. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Eine der Hauptaufgaben der freiländischen Verwaltung, zu deren
-Durchführung in der Regel die Ministerien für Kunst und Wissenschaft
-und für öffentliche Arbeiten einander die Hände reichten, war die gründliche
-Erforschung unserer neuen Heimat und zwar zunächst des engeren
-Keniagebietes, dann aber weiter ausgreifend auch aller benachbarten
-Landschaften, mit denen wir successive in stets engere Berührung traten.
-Das oro- und hydrographische System des ganzen Landes wurde festgestellt,
-Bodenbeschaffenheit und Klima genau untersucht und dabei
-sowohl der höhere wissenschaftliche, als der prosaische Nützlichkeitsstandpunkt
-gleichmäßig vor Augen gehalten. Ersteren anlangend kam zunächst
-eine genaue, wenn auch noch nicht alle Details umfassende Terrainkarte
-des ganzen Massai- und Kikujalandes zu stande; alle hervorragenden
-Berghöhen wurden genau vermessen und &mdash; der Keniagipfel nicht ausgenommen
-&mdash; erstiegen.
-</p>
-
-<p>
-Der Ausblick vom Kenia ist großartig über alle Maßen, bietet
-aber &mdash; abgesehen vom Kenia und seinem Gletscher selber &mdash; wenig
-Abwechslung. Rings im Umkreise, so weit der Blick reichen mag, dehnt
-sich fruchtbarstes, üppigstes Land, durchzogen von zahllosen Flußläufen,
-die jedoch nirgend, mit Ausnahme einer etwa 5000 Quadratkilometer
-großen Bodenmulde im Nordwesten, zur Versumpfung des Bodens
-führen. Der hervorstechende Charakter des ganzen Gebietes ist der
-eines in zahlreichen Terrassen abfallenden, von mäßigen Bergrücken
-durchbrochenen Tafellandes. Erst von der obersten Terrasse ab beginnen
-die eigentlichen Vorberge des Kenia, die rings um das aus
-einem Gusse steil und unvermittelt aufsteigende eigentliche Keniamassiv
-einen Gebirgsgürtel von verschiedener Breiten- und Höhenentwickelung
-schließen. Dieses Massiv trägt in einer Höhe von 5000 bis 5500 Metern
-<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
-eine Reihe riesiger Gletscherfelder, aus deren Mitte dann steil der
-Gipfel des Berges emporsteigt, in einiger Entfernung flankiert von einem
-noch steileren, kleinen Horne.
-</p>
-
-<p>
-Durchaus verschiedenen Charakter zeigt die zweitwichtigste der zum
-Gebiete von Freiland gehörigen Gebirgsbildungen, nämlich die 70 Kilometer
-westlich vom Kenia in einer Längenausdehnung von reichlich
-100 Kilometern und in einer Breite von durchschnittlich 20 Kilometern
-von Norden nach Süden streichende Aberdarebergkette. Die höchsten
-Gipfel dieses Gebirgszuges erreichen 4500 Meter Seehöhe, und während
-der Kenia überall das Gepräge des Großartigen zeigt, ist bestrickende
-Lieblichkeit der hervorstechende Charakterzug der Aberdarelandschaften.
-Zwar fehlt es auch hier nicht an Bergkolossen von überwältigendem
-Eindrucke, aber das Charakteristische sind die in reizvollster Abwechslung
-sich aneinanderschließenden romantischen, sanftgeschwungenen Berge und
-weiten Thäler, teils von üppigen, aber durchschnittlich nicht allzu dichten
-Wäldern, teils von smaragdenen, blumigen Wiesen bestanden, überall
-bespült von zahllosen kristallklaren Bächen und Flüssen, Seen und
-Teichen. Einem einzigen, herrlichen Parke gleicht dieses 2000 Quadratkilometer
-bedeckende Gebirgsland, von dessen Höhen aus gen Osten
-überall das überwältigende Schneemeer des Kenia, gen Westen die
-Smaragd- und Saphirflächen der großen Massaiseen &mdash; Naiwascha,
-Elmeteita und Nakuro &mdash; sichtbar sind. Und diese wunderliebliche
-Landschaft, die in sich alle Reize der Schweiz und Indiens vereinigt,
-birgt zugleich im Schoße ihrer Berge überschwengliche mineralische Schätze.
-Hier und nicht am Kenia, das hatten unsere Geologen bald festgestellt,
-war der zukünftige Sitz der freiländischen Industrie, insbesondere der
-metallurgischen. Kohlenlager, die an Mächtigkeit und Güte den besten
-englischen mindestens ebenbürtig sind, Magneteisenstein mit einem Eisengehalte
-von 50 bis 70 Prozent, Kupfer, Blei, Wismut, Antimon,
-Schwefel in reichen Gängen, an der Westabdachung, gerade oberhalb
-des Salzsees von Nakuro, ein großes Steinsalzlager, und noch eine
-Menge anderer Schätze wurden in rascher Reihenfolge entdeckt und die
-bestgelegenen sofort in Ausbeutung genommen. Insbesondere die neueröffneten
-Kupferminen fanden unmittelbar bei Anlage des Telegraphen
-an die Küste umfassende Verwendung, die jedoch an Ausdehnung von
-derjenigen zu Zwecken elektrischer Kraftleitungen alsbald übertroffen
-wurde.
-</p>
-
-<p>
-Denn am Kenia hatte sich inzwischen mancherlei verändert. Die
-Bevölkerung von Freiland war, da der Zuzug unaufhaltsam sich steigerte,
-schon gegen Schluß des vierten Jahres auf 780000 Seelen gestiegen.
-Ein großer Teil des Edenthals war zu einer einzigen, 102 Quadratkilometer
-bedeckenden und 58000 Wohnhäuser zählenden Villenstadt
-geworden, deren 270000 Einwohner dem Gartenbau, industriellen
-<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
-Gewerben oder geistiger Beschäftigung oblagen. Aber auch die auf
-140000 Seelen angewachsene Bevölkerung des Danaplateaus betrieb
-neben der Kultur des dort noch verfügbaren Ackerlandes zum weitaus
-überwiegenden Teil gleichfalls verschiedenartige Industrieen, während
-die Landwirtschaft der Hauptsache nach hinabgerückt war in die jenseits
-der umgrenzenden Waldzone um 200 Meter tiefer gelegene Hochebene,
-die &mdash; mit mannigfaltigen Unterbrechungen allerdings &mdash; rings um
-den ganzen Gebirgsstock sich erstreckend, auf ihrem 8000 Quadratkilometer
-umfassenden fruchtbaren Boden bis auf weiteres genügenden Raum
-zur Ausdehnung bot.
-</p>
-
-<p>
-Hier wurden zunächst 96000 Hektaren (960 Quadratkilometer)
-unter den Pflug genommen, nachdem sie zuvor &mdash; gleich allem Kulturboden
-in ganz Freiland &mdash; durch einen tüchtigen Balkenzaun gegen
-die Besuche lästigen Wildes geschützt worden waren. Kleineres Wild,
-welches durch Einhegung von den Saaten nicht fernzuhalten war, hielten
-die Hunde in Respekt, die, in großer Menge gezüchtet, darauf dressiert
-waren, diese Feldeinzäunungen und ebenso die Hürden des Viehs fleißig
-zu umkreisen. Dieser Schutz erwies sich gegen alles den Saaten nachstellende
-Getier als vollkommen ausreichend, die Affen etwa ausgenommen,
-unter die zeitweise geschossen werden mußte, wenn sie sich auf
-ihren nächtlichen Raubzügen durch noch so wütendes Gekläffe der vierbeinigen
-Wächter nicht vollständig verscheuchen ließen.
-</p>
-
-<p>
-Zum Betriebe der in dieser Landwirtschaft in Gebrauch stehenden
-Maschinen wurde zwar vorläufig noch Dampfkraft verwendet; es war
-aber die Herstellung einer großartigen elektrischen Kraftanlage im Werke,
-die künftighin die Dampfmotoren überflüssig machen sollte. Die Triebkraft
-für die elektrischen Dynamos lieferte der Danafluß, der, verstärkt
-durch zwei mächtige Gebirgsbäche, die sich unterhalb des großen Wasserfalls
-mit ihm vereinen, am unteren Ende des Tafellandes, welches
-wir seiner Bestimmung entsprechend, Kornland genannt hatten, in einer
-Reihe gewaltiger Stromschnellen und Katarakte dem Tieflande zueilt.
-Und zwar wurde zu Zwecken der Betriebe von Kornland nicht etwa
-der große Wasserfall von 90 Meter Fallhöhe am Ausgange des Danaplateaus
-benutzt, sondern eben jene Stromschnellen und kleineren, aber
-zahlreichen Katarakte, von denen soeben die Rede gewesen. Diese
-ergeben insgesamt eine Fallhöhe von 265 Metern, und da der
-Fluß hier bereits gewaltige Wassermassen führt, so war durch entsprechende
-Kombination von Turbinen und elektrischen Kraftmaschinen
-ein Gesamteffekt von 5 bis 600000 Pferdekräften zu erzielen, weit
-mehr, als zur Bewirtschaftung des gesamten Bodens von Kornland
-selbst bei intensivster Kultur erforderlich sein konnte. Die für das
-nächste Jahr veranschlagten Kraftanlagen waren auf 40,000 indizierte
-Pferdekräfte berechnet. Gut isolierte, starke Kupferstränge sollten die
-<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
-von 20 riesigen Turbinen auf 200 Dynamomaschinen erzeugten elektrischen
-Ströme in die Wirtschaftsgebäude und über den zu bewirtschaftenden
-Boden leiten, wo die in diesen Strömen abgelagerte Kraft alle landwirtschaftlichen
-Arbeiten &mdash; vom Pflügen angefangen bis zum Dreschen,
-Reinigen und Transportieren des Getreides &mdash; zu vollbringen hatte.
-Denn auch ein Netz elektrischer Bahnen gehörte mit zum Systeme dieser
-landwirtschaftlichen Anlage.
-</p>
-
-<p>
-Der große Danakatarakt aber mit seiner, auf 124000 indizierte
-Pferdekräfte berechneten Wasserkraft diente zunächst elektrischen Beleuchtungszwecken
-in Edenthal und in den am Danaplateau gelegenen Städten.
-Einstweilen genügten zu öffentlichen Beleuchtungszwecken 5000, auf 35
-Meter hohen Masten angebrachte Kontaktlampen von je 2000 Kerzen
-Lichtstärke, die insgesamt 12000 Pferdekräfte erforderten; zur Beleuchtung
-der Wohnhäuser und einzelner, auch bei Nacht in Betrieb stehender
-Fabriketablissements standen 420000 Glühlampen in Verwendung,
-die 40000 Pferdekräfte beanspruchten, so daß insgesamt 52000 Pferdekräfte
-von den elektrischen Kraftmaschinen am großen Katarakte erzeugt
-werden mußten, die jedoch tagsüber auch zum Betriebe eines Eisenbahnnetzes
-von insgesamt 340 Kilometer Ausdehnung Verwendung fanden, welches
-die Hauptverkehrsadern und belebteren Straßenzüge im Danaplateau
-und in Edenthal durchzog. Bloß abends und nachts, wenn die Beleuchtung
-funktionierte, mußte der Eisenbahnbetrieb aus besonderen, einige
-tausend Pferdekraft abgebenden Dynamos gespeist werden. Im ganzen
-waren solcherart nahezu zwei Fünfteile der verfügbaren Gesamtkraft bis
-zum Schlusse des fünften Jahres von Freiland zur Ausnutzung gelangt;
-die noch erübrigenden drei Fünfteile blieben vorläufig noch unverwendet
-und bildeten die Reserve für zukünftige Verwendungsarten der gleichen
-Kraftquelle.
-</p>
-
-<p>
-Ebenfalls in das vierte und fünfte Jahr Freilands fiel der Ausbau
-eines Kanalnetzes und mehrerer Wasserleitungen, für Edenthal sowohl
-als für das Danaplateau. Ersteres diente bloß zur Abfuhr der Meteorwässer
-in den Dana, während das Spülwasser und der Unrat
-durch ein System pneumatischer Aufsaugung vermittelst mächtiger Saugwerke
-in gußeisernen Röhren abgeleitet, dann desinfiziert und als
-Dünger verwertet wurden. Die Wasserleitungen wurden unter Benutzung
-der besten Hochgebirgsquellen mit einer Leistungsfähigkeit von
-vorläufig 1 Million Hektoliter täglich angelegt und sowohl zur Speisung
-zahlreicher öffentlicher Brunnen, als auch zur Einleitung in sämtliche
-Privathäuser benutzt. Durch Einbeziehung neuer Quellen war die Ergiebigkeit
-dieser Leitung in kurzer Frist zu verdoppeln und zu verdreifachen.
-Gleichzeitig waren alle Straßen makadamisiert worden, so daß
-nach jeder Richtung für die Reinlichkeit und Gesundheit der jungen Städte
-bestens vorgesorgt war.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
-Die Unterrichtsverwaltung hatte inzwischen nicht minder gewaltige
-Anstrengungen gemacht. Es hatte sich eine dahingehende öffentliche
-Meinung entwickelt, daß die Jugend von Freiland ohne Unterschied des
-Geschlechts und späteren Berufs einen Unterricht zu genießen habe, der
-mit Ausnahme der lateinischen und griechischen Sprachstudien demjenigen
-ungefähr entsprechen solle, der beispielsweise in den sechs ersten Gymnasialklassen
-Deutschlands erteilt wird. Zu diesem Behufe sollten Knaben
-wie Mädchen vom 6. bis 16. Jahre die Schule besuchen, wo sie nach
-Erledigung der Elementarkenntnisse in Sprachlehre, Litteraturgeschichte,
-Geschichte, Kulturgeschichte, Physik, Naturgeschichte, Geometrie und Algebra
-unterwiesen wurden.
-</p>
-
-<p>
-Nicht minderes Gewicht als auf die geistige und moralische wurde auf
-die körperliche Ausbildung gelegt, ja es war Grundsatz in Freiland, daß
-letztere vorauszugehen habe, indem ein gesunder harmonisch entwickelter
-Körper die Voraussetzung eines gesunden, harmonisch entwickelten Geistes
-sei. Und auch bei der geistigen Ausbildung wurde weniger auf die Ansammlung
-von Kenntnissen, als auf die Anregung des jungen Geistes
-zu selbständigem Denken gesehen, daher nichts ängstlicher und sorgfältiger
-gemieden ward, als Überbürdung mit geistiger Arbeit. Kein Kind
-sollte &mdash; die häuslichen Repetitionen mit eingerechnet &mdash; länger als
-höchstens 6 Stunden täglich geistig beschäftigt sein; die Unterrichtsstunden
-für alle geistigen Lehrfächer waren daher auf 3 Stunden täglich
-beschränkt, während 2 andere Schulstunden täglich körperlichen Übungen
-&mdash; dem Turnen, Laufen, Tanzen, Schwimmen, Reiten, bei Knaben
-außerdem dem Fechten, Ringen und Schießen &mdash; gewidmet wurden. Ein
-fernerer Grundsatz des freiländischen Unterrichtswesens war, daß auch die
-Kinder so wenig wie die Erwachsenen zur Thätigkeit gezwungen werden
-sollten; einer zielbewußten, konsequenten und in ihren Mitteln nicht beschränkten
-Pädagogik &mdash; so meinten wir &mdash; könne es unmöglich schwer
-fallen, das lenkbare Kindergemüt zu freiwilliger und freudiger Erfüllung
-vernünftig bemessener Pflichten zu bringen. Und auch darin gab uns
-die Erfahrung Recht. Unsere Unterrichtsleitung mußte es sich zwar in
-hohem Grade angelegen sein lassen, den Unterricht anregend zu gestalten;
-nachdem ihr dies aber einmal gelungen war, lernten unsere Jungen und
-Mädchen in der halben Zeit doppelt so viel und gründlich, als ihre
-physisch und geistig mißhandelten europäischen Altersgenossen. Der
-Unterricht wurde &mdash; abermals aus Rücksichten der Gesundheit &mdash; so weit
-nur immer möglich im Freien erteilt. Die Schulhäuser waren daher
-sämtlich entweder inmitten großer Gärten oder am Waldessaum errichtet,
-und die naturwissenschaftlichen Disziplinen wurden regelmäßig, andere
-häufig, mit Ausflügen in die Umgebung in Verbindung gebracht. Dafür
-bot aber auch unsere Schuljugend ein anderes Bild, als wir es in der
-alten Heimat und insbesondere in deren Großstädten zu sehen gewohnt
-<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
-waren. Rosige, von Gesundheit, Kraft und Lebensfreude strotzende Gesichter
-und Gestalten, Selbstvertrauen und sichere Intelligenz aus jeder
-Miene, aus jeder Geberde hervorleuchtend &mdash; so traten unsere Kinder
-in den Ernst des Lebens ein.
-</p>
-
-<p>
-Natürlich erforderte eine derartige Organisation des Unterrichts
-ein sehr zahlreiches und tüchtiges Lehrpersonal. In der That kam in
-Freiland durchschnittlich schon auf je 15 Schulkinder je eine Lehrkraft,
-und um die Auswahl unter den besten Intelligenzen des Landes zu
-haben, mußten hohe Gehalte gezahlt werden. Für die vier ersten Klassen
-&mdash; in denen überwiegend Mädchen oder junge Witwen unterrichteten
-&mdash; betrug der Jahresgehalt zwischen 1400 bis 1800, für die sechs anderen
-Klassen &mdash; in denen hinwieder die männlichen Lehrkräfte überwogen
-&mdash; 1800 bis 2400 Stundenäquivalente; im fünften Jahre der
-Gründung waren das, in Geld umgerechnet, Gehalte zwischen 350 und
-600 Pfd. Sterling.
-</p>
-
-<p>
-Aber auch mit seinem sehr umfangreichen Bedarfe an höheren Intelligenzen
-wollte Freiland auf eigenen Füßen stehen. Es wurde daher
-schon im dritten Jahre eine Hochschule errichtet, an welcher sämtliche
-Wissenszweige, die in Europa an Universitäten, Akademien und technischen
-Lehranstalten gelehrt werden, gesammelt vertreten waren. Alle
-Lehrfächer waren mit einer Freigebigkeit ausgestattet, von welcher man
-außerhalb Freilands kaum eine Vorstellung besitzt. Unsere Sternwarte,
-unsere Laboratorien und Sammlungen verfügten über geradezu unbegrenzte
-Mittel und kein Gehalt war zu hoch, um eine glänzende Lehrkraft
-heranzuziehen und festzuhalten. Das nämliche gilt von den
-technischen und nicht minder von den landwirtschaftlichen und merkantilistischen
-Lehrkanzeln und Lehrmitteln unserer Hochschule. Der
-Unterricht an dieser war in allen Fächern durchaus frei und, gleich
-demjenigen in den unteren Schulen, unentgeltlich. Im fünften Jahre
-der Gründung Freilands besuchten 7500 Hörer die Hochschule; die
-Zahl ihrer Lehrkanzeln war 215, ihr Jahresbudget hatte die Höhe von
-2½ Millionen Pfd. Sterling erreicht und war andauernd in rapidem
-Wachstum begriffen.
-</p>
-
-<p>
-Die Mittel zu all diesen gewaltigen Ausgaben lieferte überreichlich
-die vom Gesamteinkommen aller Produzenten erhobene prozentuelle Abgabe,
-denn dieses Gesamteinkommen wuchs unter dem verdoppelten Einflusse
-der Bevölkerungszunahme und der steigenden Arbeitsergiebigkeit in
-riesigem Maße. Als die Eisenbahn zur Küste fertig war und ihre
-Wirkung sich fühlbar zu machen begann, stieg der Wert des durchschnittlichen
-Ertrags einer Arbeitsstunde rasch auf 6 Sh., und da um diese
-Zeit &mdash; zu Ende des fünften Jahres von Freiland &mdash; 280000 Arbeiter
-im Tagesdurchschnitt während 6 Stunden, d. i. 1800 Stunden
-im Jahre produktiv beschäftigt waren, so bezifferte sich in jenem Jahre
-<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
-der Gesamtwert des Arbeitsertrages von Freiland auf 280000 × 1800
-× 6 Sh., d. i. auf rund 150 Millionen Pfd. Sterling. Davon reservierte
-sich nun das Gemeinwesen eine Abgabe in der Höhe von 35 Prozent,
-d. i. in runder Summe 52½ Millionen Pfd. Sterling und dieses
-war die Quelle, aus welcher nach Abzug der zur Deckung der Versorgungsansprüche
-erforderlichen, allerdings die größere Hälfte beanspruchenden
-Beträge, die als wünschenswert erkannten Ausgaben bestritten
-wurden.
-</p>
-
-<p>
-Ja, das Wachstum der Einnahmen war ein so gesichertes und hatte
-so bedeutenden Umfang erreicht, daß die Verwaltung von Freiland sich
-am Ende dieses fünften Jahres entschloß, den Vertretungskörpern, die
-zu diesem Behufe zu einer gemeinsamen Sitzung einberufen wurden, zwei
-Maßregeln von entscheidender Bedeutung vorzuschlagen: erstlich, die den
-Associationen einzuräumenden Kredite hinfort von der Zustimmung der
-Zentralbehörde unabhängig zu machen; und zum zweiten die sämtlichen,
-bis dahin von neueintretenden Mitgliedern freiwillig gezahlten Beiträge
-zurückzuerstatten und künftighin derlei Beiträge nicht mehr entgegenzunehmen.
-</p>
-
-<p>
-Aus den im 8. Kapitel dargelegten Gründen waren bisher Umfang
-und Reihenfolge der Produktivkredite von der Entscheidung der Zentralverwaltung
-abhängig gewesen; jetzt, da die Ausrüstung mit kapitalistischen
-Arbeitsbehelfen und damit die Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens eine
-genügend hohe Stufe erreicht hatte, wurde auch diese Schranke des
-freien Selbstbestimmungsrechtes für unnötig erachtet; die Associationen
-mochten fordern, was ihnen nützlich dünkte, die Kapitalkraft des Landes
-schien auch den umfangreichsten, irgend zu erwartenden Kreditansprüchen
-gewachsen. Und in der That erwies sich diese Zuversicht als wohlbegründet.
-In den diesem Beschlusse unmittelbar folgenden Jahren ereignete
-es sich zwar zu zwei verschiedenen Malen, daß infolge unvermittelt
-eintretender großartiger Kapitalbedürfnisse der zur Deckung derselben
-bestimmte Teil der öffentlichen Abgaben um einige Prozente über
-das normale Maß gesteigert werden mußte; das wurde jedoch angesichts
-des stetigen Wachstums aller Produktionserträge ohne die geringste Beschwerde
-ertragen und späterhin genügten die vom Gemeinwesen angelegten
-Reserven, um selbst dieses Element der Schwankung aus dem
-Verhältnisse zwischen Kapitalbedarf und öffentlichem Einkommen zu
-beseitigen.
-</p>
-
-<p>
-Dagegen gab dieser Beschluß den Anstoß zu einem ganz merkwürdigen
-Versuche, die damit eingeräumte vollkommene Freiheit der Kreditgewährung
-zu einer großartigen gegen das Gemeinwesen gerichteten
-Schwindelei zu mißbrauchen. In Amerika hatte sich ein Konsortium
-unternehmender &bdquo;Geschäftsleute&ldquo; gebildet, eigens zu dem Zwecke, die
-Vertrauensseligkeit von uns &bdquo;dummen Freiländern&ldquo; gehörig auszubeuten,
-<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
-und zwar in der Weise, daß unserer Zentralbank unter der Maske einer
-zu solchem Behufe zu gründenden beliebigen Association, eine möglichst
-große Summe entlockt werden sollte. 46 der geriebensten und skrupellosesten
-Yankees vereinigten sich zu diesem Feldzuge gegen unsere Taschen;
-wie sie es anstellten und was sie dabei erreichten, entnehmen wir am einfachsten
-der nachträglich zum Besten gegebenen Erzählung ihres damaligen
-Anführers, gegenwärtig ehrsamen Werkmeisters in der großen Salzsiederei
-am Nakuro-See:
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Wir waren also in Edenthal angelangt und beschlossen fürs erste,
-das Terrain genau zu sondieren, ehe wir an die Ausführung unseres
-Geschäftes schritten. Dabei bemerkten wir sofort zu unserer großen Genugthuung,
-daß Mißtrauen der Freiländer uns wenig zu schaffen machen
-werde. Das Gasthaus, in welchem wir abgestiegen, gab Alles auf
-Kredit, ohne daß man uns auch nur fragte, wer wir seien. Als ich
-dem Wirt gegenüber in väterlichem Tone bemerkte, solch unterschiedsloser
-Pump für jeden Hergelaufenen sei doch großer Leichtsinn, lachte
-mir der Wirt, will sagen der Direktor der Edenthaler Hotel-Association,
-ins Gesicht und meinte zuversichtlich, hier brenne Niemand durch, wer
-da sei, denke nicht daran, Freiland wieder zu verlassen. &bdquo;Schon gut&ldquo;,
-dachte ich mir; fragte aber weiter, was die Hotel-Gesellschaft mache,
-wenn ein Gast nicht zahlen <em>könne</em>? &bdquo;Unsinn&ldquo;, sagte der Direktor,
-&bdquo;hier kann jeder zahlen, sowie er zu arbeiten anfängt&ldquo;. &bdquo;Und wenn
-er nicht arbeiten kann?&ldquo; &bdquo;Dann erhält er Unterstützung vom Gemeinwesen.&ldquo;
-&bdquo;Und wenn er nicht arbeiten will?&ldquo; Da klopfte mir der
-Mann lächelnd auf die Schulter und meinte: &bdquo;Nichtwollen hält bei uns
-nicht lange vor, verlaßt Euch darauf. Übrigens, wenn Einer durchaus
-mit gesunden Gliedern faullenzen will &mdash; Bett und gedeckten Tisch
-findet er bei uns trotzdem allezeit. Macht Euch also wegen Berichtigung
-der Zeche in keinem Fall Sorge; Ihr werdet zahlen wann Ihr könnt
-und wollt.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Machte auf uns einen ganz curiosen Eindruck, dieser Direktor;
-wir sagten aber nichts, sondern beschlossen, den Freiländern weiter auf
-den Zahn zu fühlen. Wir kamen in die große Warenhalle und versuchten
-Kleider, Wäsche u. dgl. auf Borg zu nehmen. Es ging vortrefflich.
-Die Verkäufer &mdash; es waren, wie sich herausstellte, Kommis der
-Anstalt &mdash; verlangten zwar eine Zahlungsanweisung an die Centralbank,
-als wir jedoch entgegneten, daß wir dort noch kein Konto besäßen,
-meinten sie, das thäte auch nichts; sie begnügten sich einstweilen mit
-schriftlicher Bestätigung der Kaufsumme, welche die Bank ihnen seinerzeit,
-wenn wir unser Konto hätten, schon gutschreiben werde. So ging&rsquo;s
-überall. Mackay oder Gould kann in New-York nicht bereitwilliger
-Kredit finden, als wir in Edenthal fanden.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Nach einigen Tagen schon schritten wir an unsere &bdquo;Gründung&ldquo;.
-<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
-Mißtrauen war, wie gesagt, fürs erste nicht zu besorgen, unangenehm
-blieb aber trotzdem, daß die freiländischen Einrichtungen die Öffentlichkeit
-aller auf Geschäfte bezüglichen Akte, Daten und Umstände verlangen.
-Wir wußten zwar, daß von Polizei oder Gerichten nichts zu befürchten
-sei; was aber wollten wir thun, wenn das freiländische Publikum der
-vorgeschützten Gründung Geschmack abgewinnt und unserer Association
-beizutreten wünscht? Wir konnten natürlich Kompagnons nicht brauchen,
-sondern mußten hübsch unter uns bleiben, sonst war unser ganzer Plan
-ins Wasser gefallen. Wir forschten überall, ob es kein Mittel gäbe, die
-Zahl der Teilnehmer zu begrenzen, hatten über diesen Gegenstand eingehende
-Besprechungen mit gutunterrichteten Freiländern, beklagten uns
-über das himmelschreiende Unrecht, daß wir gezwungen sein sollten, den
-Nutzen der ausgezeichneten &bdquo;Idee&ldquo;, die wir gefaßt, hier mit aller Welt
-zu teilen, unsere Geschäftsgeheimnisse preiszugeben u. s. w.; es half
-aber alles nichts. Die Freiländer blieben in diesem Punkte verstockt
-und meinten, Niemand zwinge uns, unsere Geheimnisse preiszugeben,
-wenn wir selbe aus eigenen Kräften fruktifizieren wollten; wenn wir
-aber hierzu freiländischen Boden und freiländisches Kapital brauchten,
-so müsse selbstverständlich ganz Freiland wissen, worum es sich handelt.
-&bdquo;Und wenn unser Geschäft nur eine kleine Anzahl von Arbeitern
-brauchen kann, wenn z. B. die Ware, die wir fabrizieren wollen, zwar
-großen Gewinn abwirft, aber doch nur beschränkten Absatz hat, müssen
-wir auch dann alle Welt beitreten lassen? &bdquo;In diesem Fall&ldquo; &mdash; so war
-die Antwort &mdash; werden freiländische Arbeiter nicht so dumm sein, sich Euch
-massenhaft aufzudrängen.&ldquo; &bdquo;Schön!&ldquo; rief ich mit verbissenem Zorn,
-&bdquo;wenn aber doch mehr beitreten, als wir gerade brauchen können?&ldquo;
-Doch auch darauf wußten die Leute eine Antwort; dann, so meinten
-sie, würden die zuviel Beigetretenen eben nachträglich austreten, oder
-wenn sie partout dabei blieben, so müßten wir alle die Arbeitszeit
-etwas einschränken, etwa einen Turnus einführen, oder dergleichen; an
-Gelegenheit, unsere dadurch frei werdende Zeit nützlich anderweitig zu
-verwerten, fehle es in Freiland nirgend.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Was ließ sich da machen? Wir mußten unser Plänchen so einkleiden,
-daß den freiländischen Arbeitern ganz von selbst die Lust verginge,
-sich zu beteiligen. Aber auch allzu plump durfte anderseits die
-Sache nicht gemacht werden, sonst witterten die Leute am Ende doch
-Unrat, oder beteiligten sich vielleicht gar aus purer Menschenliebe, um
-unserer Thorheit mit gutem Rat zu Hilfe zu kommen. Schließlich
-einigten wir uns dahin, eine Nähnadelfabrik zu errichten; eine solche
-war nach der ganzen Geschäftslage offenbar unrentabel, der Plan klang
-aber doch nicht allzu abenteuerlich, um uns Neugierige an den Hals zu
-ziehen. Wir konstituierten uns also und hatten in der That die Genugthuung,
-vorläufig außer zwei Dummköpfen, welche die Nähnadelfabrikation
-<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
-aus irgend einem Grunde für ein gutes Geschäft halten mochten,
-und mit denen fertig zu werden, nicht allzu schwer fallen konnte, keine
-Genossen zu erhalten. Jetzt handelte es sich um die Festsetzung des
-Gründungskapitals, will sagen um die Höhe des bei der Centralbank
-zu fordernden Kredits. Natürlich hätten wir am liebsten gleich eine
-Million Pfd. Sterling verlangt; das ging aber nicht, da wir, wie gesagt,
-angeben mußten, wozu wir das Geld brauchten und eine Nähnadelfabrik
-für 48 Arbeiter doch unmöglich so viel verschlingen durfte, ohne
-uns sofort eine ganze Legion von Untersuchungsrichtern in Gestalt beitretender
-Arbeiter auf den Nacken zu setzen. Wir beschränkten uns also
-notgedrungen auf 130000 Pfd. Sterling, was zwar auch einiges Aufsehen
-erregte, von uns aber damit motiviert wurde, daß die neuartigen
-Maschinen, die wir anzuwenden gedächten, sehr teuer wären.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Jetzt kam aber die Hauptsorge; wie sollten diese 130000 Pfd.
-Sterling oder doch der größte Teil derselben in unsere Taschen geleitet
-werden? Mich hatten unsere Jungens zum Direktor der &bdquo;ersten Edenthaler
-Nähnadel-Fabriks-Association&ldquo; gewählt und als solcher begab
-ich mich anderntags zu der Bank, um uns dort unser Konto eröffnen
-zu lassen und gleichzeitig alle erforderlichen Informationen einzuholen.
-Der Kassierer versicherte mir zwar auf Befragen, daß alle von mir
-angewiesenen Auszahlungen ohne weiteres durchgeführt werden sollten,
-als ich aber daraufhin um ein &bdquo;kleines Akonto&ldquo; von einigen tausend
-Pfunden bat, fragte er mich verwundert, was es damit solle. &bdquo;Je
-nun, wir müssen doch gewisse kleine Zahlungen leisten.&ldquo; &mdash; &bdquo;Unnötig&ldquo;,
-war die Antwort, &bdquo;alle Zahlungen werden hier bei der Bank ausgeglichen.&ldquo;
-&mdash; &bdquo;Ja, aber wovon soll denn ich mit meinen Leuten inzwischen,
-bis die Nähnadelfabrik zu arbeiten anfängt, leben?&ldquo; fragte
-ich gereizt. &bdquo;Nun, von Ihrer Arbeit bei anderen Unternehmungen,
-oder von Ihren Ersparnissen, wenn sie welche haben. Auch an Kredit
-wird es Ihnen nirgend fehlen &mdash; wir aber, die Centralbank &mdash; geben
-bloß Produktivkredite; was Sie verzehren, können wir Ihnen nicht vorstrecken.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Da standen wir nun mit unserem Kredite von 130000 Pfd.
-Sterling und fingen an zu begreifen, daß derselbe doch nicht so leicht
-davonzutragen sei. Allerdings konnten wir bauen lassen und bestellen,
-so viel und was wir wollten. Was hatten wir aber davon, Geld auf
-unnütze Dinge auszugeben?
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Das ärgerlichste war, daß wir ehrlich zu arbeiten beginnen mußten,
-wollten wir das allgemeine Mißtrauen nicht doch schließlich gegen uns
-erwecken, und so traten wir denn verschiedenen Unternehmungen bei.
-Überwunden aber wollten wir uns noch immer nicht geben und nach
-reiflichem Nachdenken fiel mir folgendes als die allein mögliche Methode
-des von uns geplanten Schwindels ein. Die Centralbank vermittelt
-<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
-zwar alle Käufe und Verkäufe, hindert aber, wie ich bald herausbekam,
-den Käufer oder Besteller nicht im geringsten in der Wahl der ihm
-passend erscheinenden Güter. Wir hatten also das Recht, für unsere
-Nähnadelfabrik Maschinen in Europa oder Amerika bei beliebigen
-Fabrikanten zu bestellen, für welche dann die Centralbank Zahlung
-leisten würde. Wir mußten also bloß mit einer geeigneten europäischen
-oder amerikanischen Schwindelfirma in Verbindung treten und den zu
-erzielenden Nutzen mit dieser teilen, um schließlich doch eine recht ansehnliche
-Beute wegtragen zu können.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Aber zugleich mit diesem Auskunftsmittel fiel mir auch ein, wie
-grenzenlos dumm es wäre, von demselben Gebrauch zu machen. Sehr
-viel, das leuchtete mir ein, war mit demselben nicht zu gewinnen;
-aber selbst wenn es möglich gewesen wäre, für jeden Einzelnen von
-uns ein Vermögen herauszuschwindeln, hatte ich doch die Lust verloren,
-Freiland wieder zu verlassen. Die Rechnung stand für alle
-Fälle zu ungleich. Ich war in ehrlicher Arbeit ein Neuling und sonderliche
-Anstrengungen sagten meinem damaligen Geschmack nicht zu; trotzdem
-hatte ich es auf einen Tagesverdienst von 12 Shillingen gebracht,
-das sind 180 Pfd. Sterling im Jahr, mit denen sich hier mindestens
-so gut leben ließ, wie mit dem Doppelten in Amerika oder England;
-selbst wenn ich in der bisherigen Weise, gleichsam bloß, um mir die
-Langeweile zu kürzen, fortarbeitete, mußte sich dieses Einkommen sehr
-bald steigern, ich konnte hier schlimmstenfalls ein Leben führen, wie da
-draußen im Besitze einer Jahresrente von 400-500 Pfd. Sterling;
-auch nur annähernd so viel zu stehlen, war nun nicht die geringste
-Aussicht vorhanden. Doch wenn auch! Ich wäre doch nicht weggegangen.
-Erstlich weil es mir hier zu gut gefiel; der Umgang gleich und gleich
-mit anständigen Menschen hat etwas Lockendes selbst für Spitzbuben,
-wie ich damals einer war. Und dann &mdash; es kam mir damals komisch
-vor &mdash; begann ich mich meines Gaunertums zu schämen. Auch die
-Spitzbuben haben ihre Ehre. Da draußen, wo <em>Jeder</em> dem Nebenmanne
-das Fell über die Ohren zieht, wenn er nur kann, erachtete
-ich mich im Wesen nicht schlechter, als die sog. ehrlichen Leute; ich
-hielt mich nicht so genau an das Gesetz, als diese, das war aber auch
-der ganze Unterschied. Auf der Jagd nach dem lieben Nebenmenschen
-befinden sie sich da draußen Alle; daß ich ohne Jagdkarte zu jagen
-mir erlaubte, beschwerte mir das Gewissen nicht sonderlich, umsoweniger,
-da ich doch nur die Wahl hatte, zu jagen, oder gejagt zu werden. Hier
-aber jagte Niemand dem Nebenmenschen das Seine ab, hier mußte sich
-jeder Gauner selber gestehen, daß er schlechter sei, als die Anderen
-alle, und zwar ein schlechter Kerl ohne Not, aus purer Freude am
-Schlechten. Und wenn man dabei noch den Reiz der Gefahr gehabt
-hätte, der da draußen die Jagd mit einer gewissen Poesie umgiebt!
-<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
-aber auch davon keine Spur! Nicht einmal verfolgt hätten uns die
-Freiländer, wenn wir uns mit der erschwindelten Beute aus dem Staube
-gemacht hätten; sie hätten uns laufen lassen wie räudige Hunde. Nein,
-hier wollte und konnte ich kein Spitzbube sein. Ich rief die Genossen
-zusammen, um ihnen anzuzeigen, daß ich meine Würde als ihr Anführer
-niederlege, mich überhaupt von der Kompagnie lossage und es hier mit
-anständiger Arbeit versuchen wolle. Nicht einer war, der mir nicht
-zugestimmt hätte. Zwar mit der Arbeitslust sah es bei einigen noch
-windig aus, aber hier bleiben wollten sie Alle. Ein besonders zäher
-Kerl warf zwar die Frage auf, ob es, da wir doch einmal so hübsch
-beisammen seien, wie später wohl nicht wieder, nicht vielleicht doch ganz
-nett wäre, ein paar Tausend Pfund herauszuschwindeln und dann erst
-ehrliche Leute zu werden; aber schon bedurfte es des Hinweises auf
-die Haftpflicht der Associationsmitglieder für die von ihnen kontrahierten
-Kredite nicht, um den Vorschlag dieses Nachzüglers unserer ehemaligen
-Gaunerei zu beseitigen. Nicht bloß hier bleiben, sondern ehrlich werden
-wollten sie, diese hartgesottenen Schelme, die wenige Wochen früher
-ehrlich und dumm als gleichbedeutende Worte zu gebrauchen pflegten.
-So kam&rsquo;s, daß das feine Plänchen, an welchem die &bdquo;smartesten fellows&ldquo;
-von Neu-England ihren Witz erschöpft hatten, klanglos fallen gelassen
-wurde und wenn ich gut berichtet bin, so hat nachher keiner von uns
-46 je zu ernstlicher Klage Anlaß gegeben.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Der zweite, vor die Gesamtvertretung von Freiland gebrachte
-Antrag &mdash; die Rückzahlung der bis dahin von den meisten Mitgliedern
-bei Gelegenheit ihres Eintrittes in die Gesellschaft geleisteten größeren
-oder geringeren Beiträge betreffend, bedeutete die Aufbringung einer
-Gesamtsumme von nicht weniger als 43 Millionen Pfd. Sterling. Nun
-hatte man allerdings den Mitgliedern jederzeit gesagt, daß die Beiträge
-nicht rückzahlbar, sondern ein den gesellschaftlichen Zwecken gebrachtes
-Opfer seien; nichtsdestoweniger erachtete es die Verwaltung von Freiland
-der Billigkeit entsprechend, daß nunmehr, wo das neue Gemeinwesen
-eines solchen Opfers nicht mehr bedurfte, auf dasselbe für die
-Zukunft sowohl als für die Vergangenheit verzichtet werde. Die großmütigen
-Spender hatten zwar niemals aus ihrer den ärmeren Mitgliedern
-so reichlich geleisteten Hülfe irgendwelchen Rechtstitel auf besondere
-Anerkennung oder höhere Ehre abgeleitet, ja die meisten hatten es sich
-sogar verbeten, namentlich als Schenker angeführt zu werden; auch
-widersprach diese Hülfeleistung keineswegs den Prinzipien, auf denen
-das neue Gemeinwesen begründet war, ja im Sinne derselben durfte
-das Eintreten der Bemittelten für die Hülflosen gerad zu als eine
-Forderung des gesunden, vernünftigen Eigennutzes angesehen werden.
-Aber mit dem Momente, wo gerade infolge dieses so ausgiebig bethätigten
-vernünftigen Egoismus das Gemeinwesen kräftig genug wurde,
-<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
-um außergewöhnliche Hülfeleistungen entbehren und die vordem dargebrachten
-zurückerstatten zu können, erschien es uns wieder billig, daß
-dies auch sofort geschehe.
-</p>
-
-<p>
-Auch dieser Antrag wurde debattelos einstimmig angenommen und
-sofort zur Ausführung gebracht. Den sämtlichen Beitragleistenden wurden
-die eingezahlten Beträge zurückerstattet, resp. in den Büchern der Centralbank
-gutgeschrieben, wo sie nach Gefallen über dieselben verfügen mochten.
-</p>
-
-<p>
-Damit aber kann auch die zweite Epoche der Geschichte von Freiland
-als abgeschlossen betrachtet werden. Die Gründung des Gemeinwesens
-&mdash; die erste Epoche ausfüllend &mdash; vollzog sich gänzlich durch
-freiwillige Opfer einzelner seiner Mitglieder; in der zweiten Periode
-war diese Hülfeleistung, wenn auch nicht mehr durchaus notwendig, doch
-ein nützliches und wirksames Beförderungsmittel des raschen Wachstums
-gewesen; von jetzt ab wies die zu einem Riesen erstarkte freie Gemeinschaft
-jeden wie immer gearteten, nicht aus ihren regelmäßigen Hülfsquellen
-geschöpften Beistand ab, und die einst empfangene Unterstützung
-tausendfach vergeltend, war nun sie es, auf deren stets unerschöpflicher
-fließende Mittel Not und Elend, sie mochten sich in welchem Teile der
-bewohnten Erde immer zeigen, mit Sicherheit zählen durften.
-</p>
-
-<h2 class="part" id="part-5">
-<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
-Drittes Buch.
-</h2>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-5-1">
-<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
-13. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Abermals sind zwanzig Jahre verflossen, fünfundzwanzig Jahre,
-seitdem unsere Pfadfinder den Kenia erreichten. Die Prinzipien, nach
-denen sich Freiland regiert und verwaltet, sind die gleichen geblieben
-und auch der Erfolg hat nicht gewechselt, nur daß das Wachstum von
-geistiger und materieller Kultur, von Einwohnerzahl und Reichtum sich
-in unablässig steigender Progression bewegte. Die Einwanderung, vermittelt
-durch 54 der größten Ozeandampfer von zusammen 495000
-Registertonnen, hatte im letzten Jahre die Ziffer von 1152000 Köpfen
-erreicht. Um diesen, aus allen Weltteilen anlangenden Zuzug an den
-afrikanischen Küsten aufzunehmen und mit möglichster Beschleunigung in
-das Herz des Kontinents zu befördern, war das Eisenbahnnetz von
-Freiland an vier verschiedenen Punkten bis an den Ozean, resp. bis an
-die zum Ozean führenden fremden Anschlußbahnen vorgedrungen. Der
-eine dieser Schienenstränge ist der noch in der vorigen Epoche vollendete
-von Edenthal nach Mombas; diesem folgte vier Jahre später, nachdem
-die Pacifizierung der Gallasstämme gelungen war, die Eisenbahn im
-Danathale an die Wituküste; nach neun ferneren Jahren war ein &mdash;
-gleich allen freiländischen Hauptbahnen zweigeleisiger &mdash; Schienenstrang
-längs des ganzen Nilthales, vom Ukerewe und Albert-Njanza über die
-ägyptischen Äquatorialprovinzen, Dongola, den Sudan und Nubien bis
-zum Anschlusse an das ägyptische Bahnnetz fertig und solcherart die
-Verbindung der Mittelmeerküste mit Freiland bewerkstelligt; im Vorjahre
-endlich war der letzte Spatenstich der großen äquatorialen &bdquo;Transversalbahn&ldquo;
-gemacht worden, die von Uganda am Ukerewe ausgehend
-und den Nil bei dessen Austritt aus dem Albert-Njanza überbrückend,
-von hier den Aruwhimi und Kongo entlang den atlantischen Ozean
-erreichte. Wir besaßen also zwei direkte Schienenverbindungen mit dem
-<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
-indischen und je eine mit dem mittelländischen und atlantischen Meere.
-Die Mombaslinie war durch die weitaus kürzere Danabahn selbstverständlich
-in den Hintergrund gedrängt; die 580 Kilometer der letzteren
-durchflogen unsere Passagierzüge in 9 Stunden, während die Mombasstrecke,
-trotz ihrer inzwischen erfolgten Abkürzung durch die Athizweigbahn,
-nahezu die doppelte Zeit erforderte. Auf der Nilbahn waren
-von Alexandrien bis Edenthal 6452 Kilometer zu durchmessen, deren
-Betrieb von Assuan &mdash; der Grenze Oberägyptens &mdash; ab in unseren
-Händen war; die Reise beanspruchte hier &mdash; wegen des langsameren
-Betriebes auf der ägyptischen Linie &mdash; 6½ Tage; trotzdem war diese
-Route die meistbenutzte, da sie allen über das Mittelmeer gehenden
-Einwanderern, also allen europäischen und den meisten amerikanischen,
-die Reise nahezu um zwei Wochen verkürzte. Die im Einvernehmen
-mit dem Kongostaate, jedoch beinahe ausschließlich auf unsere Kosten
-ausgebaute und durchweg in freiländischem Betrieb stehende äquatoriale
-Transversalbahn endlich hatte eine Länge von 4874 Kilometern und auf
-ihr konnte man in nicht ganz 4 Tagen von der Kongomündung in
-Edenthal anlangen.
-</p>
-
-<p>
-Edenthal, wie überhaupt das Keniagebiet, hatten schon seit langer
-Zeit aufgehört, den ganzen Zuzug der Einwanderer in sich aufzunehmen.
-Zwar die dichteste Menge der freiländischen Bevölkerung war noch
-immer in den Hochgebirgslandschaften zwischen dem Ukerewe und dem
-indischen Ozean zu suchen, der Sitz der obersten Verwaltung war nach
-wie vor in Edenthal, Freiland aber hatte seither seine Grenzen nach
-allen Seiten, insbesondere nach Westen zu mächtig ausgedehnt. Über
-ganz Massailand, Kawirondo und Uganda, rings um die Ufer des
-Ukerewe, Mwutan-Nzige und Albert-Njanza hatten sich freiländische
-Ansiedler ausgebreitet, so weit gesunde, hohe Lage und fruchtbarer Boden
-zu finden war. Im Südosten bilden die paradiesischen Gebirgslandschaften
-von Teita, im Norden die Höhenzüge zwischen dem Baringo
-und Ukerewe und den Gallaländern, im Westen die äußersten Ausläufer
-der am Albertsee beginnenden Mondberge, im Süden endlich die bis
-zum Tanganikasee streichenden Gebirgszüge die vorläufigen Grenzen
-unserer Ausbreitung, ein Gesamtareal von 1½ Millionen Quadratkilometern
-umfassend, welches jedoch nicht überall von kompakten
-Massen freiländischer Bevölkerung besiedelt ist, vielmehr unsere Kolonisten
-an vielen Stellen zerstreut unter den Eingeborenen sitzen, dieselben
-überall zu höherer, freier Kultur erziehend. Die Gesamtbevölkerung
-des derzeit unter freiländischem Einflusse stehenden Gebietes beträgt
-42 Millionen Seelen, davon 26 Millionen Weiße und 16 Millionen
-schwarze oder braune Eingeborene. Von ersteren wohnen 12½
-Millionen im Stammlande am Kenia und Aberdaregebirge; 1½
-Millionen sind im übrigen Massailand, am Nordabhange des Kilima-Ndscharo
-<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
-und in Teita zerstreut; die Berge westlich und nördlich
-vom Baringosee haben eine weiße Bevölkerung von 2 Millionen;
-rings um den Ukerewe sitzen 3½ Millionen, in den Bergen zwischen
-diesem und dem Mwutan-Nzige und Albertsee 1½ Millionen, in
-den Mondgebirgen westlich vom Albert-Njanza 3 Millionen und
-endlich südlich von diesen beiden Seen bis zum Tanganika zerstreut
-2 Millionen.
-</p>
-
-<p>
-Die freiländische Produktion hat sich auf nahezu alle Bedarfsartikel
-des Kulturmenschen ausgedehnt, der hauptsächlichste Produktionszweig
-aber ist die Maschinenindustrie geblieben. Sie erzeugt vornehmlich
-für den inländischen Gebrauch, trotzdem ihre Leistungsfähigkeit schon
-seit Jahren die aller Maschinenfabriken der ganzen übrigen Welt
-zusammengenommen sehr wesentlich übertrifft; Freiland hat eben
-für mehr Maschinen Verwendung, als die ganze übrige Welt
-zusammengenommen, denn die Arbeit seiner Maschinen ersetzt ihm die
-Sklaven- oder Knechtesarbeit der Anderen und da unser &mdash; die civilisierten
-Neger gar nicht gerechnet &mdash; 26 Millionen &bdquo;Arbeitgeber&ldquo; sind,
-so brauchen wir sehr viel stählerne und eiserne Knechte, um unseren
-mit jedem Fortschritte unserer Kunstfertigkeit stetig Schritt haltenden
-Bedürfnissen zu genügen. Von unseren Maschinen also geht &mdash; mit
-Ausnahme einiger Specialitäten &mdash; verhältnismäßig wenig über unsere
-Grenzen; dafür arbeitet die Landwirtschaft überwiegend für den Export,
-ja es kann füglich behauptet werden, daß die Gesamtproduktion des
-freiländischen Körnerbaues für den Export verfügbar ist, da die zur
-Deckung des eigenen Bedarfs erforderlichen Mengen im Durchschnitt
-kaum so groß sind, als die auf unsere Märkte gelangenden Überschüsse
-der Negerproduktion. Im letzten Jahre waren 9 Millionen Hektaren
-Ackerland bestellt gewesen, die in zwei Ernten einen Ertrag von 2100
-Millionen Zentner Körner- und sonstiger Feldfrüchte im Werte von
-rund 600 Millionen Pfd. Sterling ergaben. Zu diesem Getreidequantum
-kamen nun noch für 550 Millionen anderweitige Ausfuhrgüter,
-so daß der Gesamtexport 1150 Millionen Pfd. Sterling betrug. Unter
-den Importartikeln dagegen nimmt weitaus die erste Stelle der Posten:
-&bdquo;Bücher und andere Drucksachen&ldquo; ein, diesen zunächst folgen Kunst- und
-Luxusgegenstände. Von den, anderwärts als sogenannte Massenartikel
-des Außenhandels anzutreffenden Waren, zeigen die freiländischen Importlisten
-bloß Baumwollwaren, die im Lande selbst fast gar nicht
-erzeugt, im Gesamtbetrage von 57 Millionen Pfd. Sterling zur Einfuhr
-gelangten. Der Bücherimport &mdash; Zeitungen eingeschlossen &mdash; betrug
-im letzten Jahre 138 Millionen Pfd. Sterling &mdash; nicht unwesentlich
-mehr, als im gleichen Jahre die ganze übrige Welt für Bücher ausgegeben
-hatte. Und dabei darf man nicht etwa glauben, daß Freiland
-seinen Bücherbedarf gänzlich oder auch nur zum größeren Teile vom
-<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
-Auslande her gedeckt hätte; mehr als zweimal so viel, als an ausländische
-Verleger hatten im selben Jahre die freiländischen Leser an
-ihre einheimischen zu bezahlen; sie lesen eben zur Zeit, bei welcher wir
-angelangt sind, mehr als dreimal so viel, als das ganze Lesepublikum
-außerhalb Freilands.
-</p>
-
-<p>
-Diese Ziffern schon lassen auf die Höhe des Reichtums schließen,
-zu welchem Freiland gediehen. In der That, der Gesamtwert der von
-7½ Millionen Produzenten im letzten Jahre hervorgebrachten Erzeugnisse
-hatte den Betrag von nahezu 7 Milliarden Pfd. Sterling erreicht,
-wovon nach Abzug von 2½ Milliarden zur Deckung der Ausgaben des
-Gemeinwesens, 4½ Milliarden als Gewinn der Produzenten verblieben,
-aus welchem im Durchschnitt 600 Pfd. Sterling auf den einzelnen
-Arbeiter entfielen. Und dabei hatten wir im Mittel bloß 5 Stunden
-täglich oder 1500 Stunden im Jahre zu arbeiten gebraucht, so daß der
-durchschnittliche Nettowert der Arbeitsstunde 8 Schilling erreichte, kaum
-weniger, als in gar manchen Teilen Europas der durchschnittliche
-Wochenlohn gewöhnlicher Handarbeiter.
-</p>
-
-<p>
-Die Preise fast aller Bedarfsartikel in ganz Freiland sind dabei
-immer noch wesentlich billiger, als sonst in einem Teile der civilisierten
-Welt. Ein Zentner Weizen kostet durchschnittlich 6 Schilling, ein Kilogramm
-Rindfleisch nicht ganz ½ Schilling, ein Hektoliter Lagerbier oder
-leichten Weines 10 Schilling, ein kompletter Anzug aus gutem Schafwollstoff
-20-30 Schilling, ein Pferd vorzüglicher arabischer Vollblutzucht
-15 Pfd. Sterling, eine gute Milchkuh 2 Pfd. Sterling u. s. w. Teuer
-sind bloß einige vom Ausland bezogene Luxusartikel, z. B. einige Weine
-und alle nur durch Handarbeit produzierbaren Dinge, deren es aber
-äußerst wenig giebt. Letztere werden sämtlich aus dem Auslande importiert,
-mit welchem in Handarbeit zu konkurrieren, einem Freiländer
-natürlich nicht in den Sinn kommen kann. Denn obwohl die harmonisch
-ausgebildeten, vollkräftigen und intelligenten Arbeiter unseres Landes
-auch an Kraft und Geschicklichkeit ihrer Muskeln den entnervten, ausgemergelten
-Knechten des Abendlandes sicherlich mindestens zwei- und
-dreifach überlegen sind, so vermögen sie doch nicht zu konkurrieren mit
-einer Arbeitskraft, die fünfzig- und hundertfach wohlfeiler ist, als die
-ihrige. Ihre Überlegenheit beginnt erst, wo sie den ausländischen
-Knechten aus Menschenfleisch und Bein ihre stählernen entgegenstellen
-können; mit diesen arbeiten sie dann billiger noch, als jene, denn diese
-von Dampf, Elektrizität und Wasser in Bewegung erhaltenen Sklaven
-sind noch genügsamer, als die Lohnarbeiter des &bdquo;freien&ldquo; Europa. Verlangen
-diese doch immerhin Kartoffeln zur Füllung ihres Magens und
-einige Lumpen zur Verhüllung ihrer Blöße, während Kohle oder ein
-Wasserstrahl den Hunger jener stillt und ein wenig Schmieröl hinreicht,
-um ihre Glieder geschmeidig zu erhalten.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
-Im übrigen bestätigt diese Überlegenheit Freilands im Maschinenwesen
-und die des Auslandes in Handarbeit bloß einen alten Erfahrungssatz,
-der deshalb nicht minder richtig ist, weil er der Erkenntnis der
-sogenannten &bdquo;Kulturnationen&ldquo; noch immer entgeht. Daß nur die verhältnismäßig
-reichen Nationen, d. h. jene, deren Massen verhältnismäßig
-am besten gestellt sind, zugleich eine unter starker Verwendung von
-Maschinenkraft betriebene Produktion besitzen, konnte selbst dem blödesten
-Auge auf die Dauer unmöglich entgehen, nur erklärte man sich
-dieses unleugbare Phänomen umgekehrt; man glaubte, daß das englische
-oder amerikanische Volk deshalb menschenwürdiger existiere, als z. B.
-das chinesische oder russische, weil es reicher sei und daß aus dem
-gleichen Grunde, weil nämlich die erforderlichen Kapitalien reichlicher
-vorhanden seien, dort mit Maschinenkraft, hier mit menschlicher Muskelkraft
-gearbeitet werde. Das läßt allerdings die Hauptfrage, nämlich
-woher denn eigentlich diese Unterschiede des Reichtums rühren, unerledigt
-und schlägt anderseits den Thatsachen ganz ungeniert ins Antlitz,
-denn dem Chinesen oder Russen nützt alles ihm noch so freigebig und
-billig angebotene Kapital nichts; die Maschinenarbeit bleibt bei ihm
-unrentabel, so lange sich seine Lohnarbeiter mit einer Handvoll Reis
-oder mit halbverfaulten Kartoffeln und etwas Schnaps begnügen &mdash;
-aber es gehört einmal ins Kredo der orthodoxen Nationalökonomie und
-wird deshalb unbesehen geglaubt. Wer jedoch seine Augen nicht bloß
-dazu hat, um sie den Thatsachen gegenüber zu verschließen, seinen Verstand
-nicht bloß dazu, um einmal angenommene Vorurteile hartnäckig
-festzuhalten, der muß endlich begreifen, daß der Reichtum der Nationen
-nichts anderes ist, als ihr Besitz an Produktionsmitteln, daß dieser
-Reichtum groß oder gering ist, je nachdem zahlreiche und mächtige,
-oder wenige und kleinliche Produktionsmittel vorhanden sind und daß
-man viele oder geringfügige Produktionsmittel braucht, nach Maßgabe
-des großen oder geringen Verbrauches jener Dinge, die mittels dieser
-Produktionsmittel erzeugt werden sollen &mdash; also ausschließlich nach Maßgabe
-des großen oder geringen Konsums. Wo man wenig gebraucht,
-kann man wenig erzeugen, kann also auch wenig Instrumente der Erzeugung
-besitzen, <em>muß</em> also arm bleiben.
-</p>
-
-<p>
-Auch der Außenhandel vermag daran nichts zu ändern; denn für
-die Dinge, die man ausführt, muß man doch irgend etwas &mdash; sei es
-nun ein Genußmittel, ein Arbeitsinstrument, bares Geld oder sonst
-ein Gut &mdash; wieder einführen, und für dieses eingeführte Etwas muß
-man Verwendung haben, was jedoch, wenn der Konsum fehlt, unmöglich
-ist, da in diesem Falle auch importierte so wenig als im Inlande
-erzeugte Dinge Verwendung finden können. Allenfalls könnte
-man noch jene Güter, die man erzeugt, ohne weder sie selber noch
-etwas anderes an ihrer Statt gebrauchen zu können, dem Auslande
-<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
-leihweise überlassen; aber das hängt wieder davon ab, ob das Ausland
-Verwendung für solche im Inlande unverwendbare Überschüsse hat, und
-da dies natürlich in der Regel ebenso wenig der Fall ist, so bleibt es
-ein für allemal dabei: Jedes Volk vermag nur so viel zu erzeugen, für
-wie viel es Verwendung hat und die Höhe seines Reichtums ist daher
-bedingt durch die Höhe seiner Bedürfnisse.
-</p>
-
-<p>
-Natürlich ist hier nur von jenen Völkern die Rede, deren Kultur
-so weit vorgeschritten ist, daß der Verwendung hochentwickelter Arbeitsinstrumente
-nicht ihre Unwissenheit, sondern lediglich ihre socialpolitische
-Hülflosigkeit im Wege steht. Für diese aber gilt ihrem
-vollen Umfange noch die Wahrheit, daß sie arm sind lediglich aus dem
-Grunde, weil sie sich nicht satt essen <em>dürfen</em> und daß die Zunahme
-ihres Reichtums durch nichts anderes bedingt ist, als durch das Ausmaß
-der Energie, mit welcher die arbeitenden Klassen sich gegen ihr
-Elend aufbäumen. Die Engländer und Amerikaner <em>wollen</em> Fleisch
-essen, sie lassen ihren Arbeitslohn nicht so weit herabdrücken; das ist
-der einzige Grund, warum England und Amerika mehr Maschinen verwenden,
-als China und Rußland, wo sich das Volk mit Reis oder
-Kartoffeln begnügt; wir in Freiland aber haben es zuwege gebracht,
-unseren arbeitenden Klassen den Genuß des ganzen Ertrages ihrer
-Arbeit zu sichern, dieser Ertrag mag noch so hoch wachsen &mdash; was ist
-selbstverständlicher, als daß wir so viel Maschinen verwenden, als
-unsere Techniker nur immer zu ersinnen vermögen.
-</p>
-
-<p>
-Nichts kann auf die Dauer der Wirksamkeit dieses obersten Gesetzes
-der Volkswirtschaft widerstehen. Die Produktion ist einzig um
-des Konsums Willen da und muß daher &mdash; das hätte man sich längst
-sagen sollen &mdash; in ihrem Maße sowohl als in der Art ihres Betriebes
-vom Ausmaße des Konsums abhängen. Und wenn morgen ein mutwilliger
-Kobold all unseren Reichtum, all unsere Maschinen über Nacht
-nach irgend einem europäischen Lande versetzte, dabei aber diesem Lande
-unsere socialen Institutionen nicht mit als Angebinde brächte, so wäre
-dieses Land damit so gewiß nicht um eines Hellers Wert reicher als
-zuvor, als es gewiß ist, daß China nicht reicher würde, wenn man die
-Reichtümer Englands und Amerikas dahin versetzte, ohne den chinesischen
-Arbeitern mehr als abgebrühten Reis zur Nahrung und mehr als ein
-Lendentuch zur Kleidung zu gewähren. Gleichwie in diesem Falle die
-englischen und amerikanischen Maschinen in China sofort zu nutzlosem
-alten Eisen würden, ebenso erginge es in jenem Falle unseren Maschinen
-in Europa oder Amerika. Und gleichwie umgekehrt die Engländer und
-Amerikaner das ihnen durch Koboldstücke nach China verzauberte
-Maschinenkapital &mdash; beharrten ihre arbeitenden Klassen nur bei ihren
-derzeitigen Lebensgewohnheiten &mdash; sehr rasch wieder ersetzen und damit
-die frühere Stufe ihres Reichtums wieder erklommen haben würden, so
-<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
-könnte es auch uns nicht schwer fallen, zu wiederholen, was wir einmal
-vollbracht, nämlich uns neuerlich in den Besitz all jener Reichtümer
-zu setzen, die <em>unseren</em> Lebensgewohnheiten entsprechen. Denn diese
-letzteren, die socialen Einrichtungen Freilands, sind die wahre und
-einzige Quelle unseres Reichtums: daß wir sie <em>gebrauchen</em> können, ist
-der Seinsgrund unserer ganzen Maschinenkraft.
-</p>
-
-<p>
-Diese Kraft aber, wir fassen hier überall unter dem Sammelbegriff
-Maschine alles zusammen, was einerseits kein freies Geschenk
-der Natur, sondern Erzeugnis menschlichen Fleißes, und anderseits dazu
-bestimmt ist, die Ergiebigkeit menschlicher Arbeit zu steigern &mdash; diese
-Kraft ist in Freiland zu kollosalen Dimensionen erwachsen. Unser
-Eisenbahnnetz &mdash; die oben genannten Linien umfassen bloß die vier
-großen, dem Außenhandel dienenden Bahnen &mdash; hat eine Gesamtausdehnung
-von 575000 Kilometer erreicht, wovon allerdings bloß
-180000 Kilometer Hauptbahnen, während nahezu 400000 Kilometer
-landwirtschaftliche und industrielle Schienenanlagen sind. Unser
-Kanalsystem dient hauptsächlich Be- und Entwässerungszwecken und
-die Ausdehnung seines in unzähligen tausenden von Adern und
-Äderchen sich verzweigenden Netzes entzieht sich jeder Berechnung; schiffbar
-aber sind diese Kanäle in einer Länge von 57000 Kilometern.
-Außer den bereits erwähnten Passagierschiffen schwimmen auf allen
-Meeren nahezu 3000 unserer Frachtendampfer mit einem Laderaume
-von 15 Millionen Registertonnen; auf den Seen und Flüssen Afrikas
-besitzen wir 17800 größere und kleinere Dampfer von insgesamt
-5½ Millionen Tonnen. Die motorische Kraft aber, die all diese Verkehrsmittel
-und die zahllosen Maschinen unserer Landwirtschaft und
-unserer Fabriken, unserer öffentlichen und privaten Anlagen, in Bewegung
-erhält, beträgt nicht weniger als 245 Millionen indizierter
-Pferdekräfte, d. i. reichlich das Doppelte der mechanischen Kraft, über
-welche derzeit die ganze übrige Welt verfügt. Es kommen sohin in
-Freiland nahezu 9½ Pferdekraft mechanischer Arbeitsenergie auf den
-Kopf der Bevölkerung, und da eine indizierte Pferdekraft die Leistungsfähigkeit
-von 12 bis 13 Männern entwickelt, so ist der Arbeitseffekt
-der nämliche, als ob jeder Freiländer Kopf für Kopf ungefähr
-120 Sklaven zu seiner Verfügung hätte. Was Wunder, daß wir ein
-Herrendasein zu führen vermögen, trotzdem es in Freiland keine menschlichen
-Knechte gibt.
-</p>
-
-<p>
-Der Wert jener ungeheuren Investitionen aller Art läßt sich
-angesichts der wunderbaren Durchsichtigkeit unseres ganzen wirtschaftlichen
-Getriebes auf Heller und Pfennig berechnen. Das freiländische
-Gemeinwesen als solches hat in den 25 Jahren seines Bestandes
-in runder Summe 11 Milliarden zu Investitionszwecken ausgegeben;
-der Aufwand durch Vermittlung der Associationen und einzelner
-<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
-Individuen (letztere allerdings bloß mit relativ verschwindenden
-Ziffern vertreten) hatte 23 Milliarden &mdash; alles Pfund Sterling &mdash;
-betragen, so daß die Gesamtinvestitionen einen Reichtum von 34 Milliarden
-repräsentieren, durchweg vorzüglich rentierendes Kapital, trotzdem,
-oder richtiger gerade weil es keinen bestimmten Herrn hat, denn eben
-diese Herrenlosigkeit der gesamten Produktionskapitalien ist die Ursache,
-daß jede Arbeitskraft sich jener Betriebsmittel bedienen kann, durch
-deren Anwendung sie jeweilig die höchsten Erträge zu erzielen vermag.
-Jeder Freiländer ist Mitbesitzer dieses ganzen ungeheueren Reichtums,
-von welchem &mdash; den unschätzbaren Wert des Kulturbodens gar nicht
-gerechnet &mdash; auf den Kopf der Gesamtbevölkerung rund 1300 Pfd.
-Sterl., auf die Familie rund 6000 Pfd. Sterl. entfallen. Wir sind
-also in diesen 25 Jahren allesamt gewissermaßen ganz behäbige &bdquo;Kapitalisten&ldquo;
-geworden; &bdquo;Zinsen&ldquo; trägt uns dieses Kapital allerdings nicht,
-dafür aber verdanken wir ihm den Arbeitsertrag von 7 Milliarden,
-der, umgerechnet auf die 26 Millionen Seelen Freilands, rund 270 Pfd.
-Sterl. per Kopf ergibt.
-</p>
-
-<p>
-Ehe wir jedoch einer Schilderung des auf Grundlage dieser Fülle
-von Reichtum und Kraft sich entwickelnden Lebens Freilands Raum
-geben, wird es notwendig sein, in kurzen Zügen einen Abriß der freiländischen
-Geschichte während der letzten 20 Jahre zu bieten.
-</p>
-
-<p>
-Wir sind im vorigen Abschnitte bis zur Eröffnung der ersten
-Schienenverbindung mit dem indischen Ozean auf der einen Seite und
-bis zu dem Feldzuge gegen Uganda und der damit beginnenden Besiedelung
-der Uferlandschaften des Ukerewe anderseits gelangt. Die
-Aufmerksamkeit unserer Forscher war von da ab zunächst auf das hochinteressante
-Gebirgsland nördlich und nordwestlich vom Baringosee gerichtet,
-wo insbesondere das Gebiet des nahezu 4300 Meter hohen,
-an der Grenze Ugandas gelegenen Elgon ihren Eifer nach mehr als
-einer Richtung herausforderte. Hier war ersichtlich ein großes, den
-Kenia- und Aberdarebergen an Fruchtbarkeit, klimatischen Vorzügen und
-landschaftlicher Schönheit ebenbürtiges Feld zukünftiger Besiedelung
-vorhanden. Die Aussicht vom Gipfel des Elgon übertraf sogar, was
-Mannigfaltigkeit der gebotenen Eindrücke anlangt, alles bisher Gesehene;
-im Südosten reichte der Blick bis zu der meerartig sich in unabsehbarer
-Ferne verlierenden Fläche des Ukerewe; im Norden ragten, 65 Kilometer
-entfernt, die mit ewigem Schnee bedeckten Gipfel des Lekakisera
-gen Himmel; im Osten streifte das Auge über mächtige Waldgebirge,
-während im Westen sich endlos das lachende Hügelland von Uganda erstreckte.
-</p>
-
-<p>
-Doch unaufhaltsam weiter drangen unsere Pioniere; Platz war
-zwar noch im Überfluß an den alten Wohnsitzen vorhanden; aber der
-Forschungstrieb in Verbindung mit dem Zauber der Neuheit, der die
-ferner liegenden Landschaften umgab, lockte stets neue Scharen tiefer
-<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
-und tiefer hinein in den &bdquo;dunklen Erdteil&ldquo;. Nachdem die Ufer des
-Ukerewe nichts Unbekanntes mehr boten, drangen unsere Pfadfinder in
-die Urwaldungen der Zwischenseegebirge gegen den Muta-Nzige und
-Albertsee. Hier stießen wir zum ersten Mal auf menschenfressende
-Stämme, deren Bändigung keine geringe Arbeit bot und auch keineswegs
-ganz ohne Blutvergießen abging. Am Albert-Njanza angelangt,
-dessen Ostufer meist kahl und unwirtlich sind, erblickte man von jenseits
-verführerisch die Mondberge, deren höchste, 4000 Meter überragende
-Gipfel in der kühlen Jahreszeit häufig eine Schneedecke zeigen und
-von deren malerisch gegen den See abfallenden Hängen zahlreiche Katarakte
-von ganz unglaublicher Fallhöhe und gewaltigem Wasserreichtum
-zur Tiefe stürzen, angenehme Rückschlüsse auf die Beschaffenheit ihrer
-Quellgebiete gestattend. Selbstverständlich blieben sie nicht lange unbesucht
-und der Ruf der neuen Wunder großartiger Naturpracht, die
-dort gefunden wurden, lenkte bald den Schritt vieler Hunderttausende
-dahin. Auch dort gab es Kämpfe mit anthropophagen Stämmen, die
-zum Teil heute noch ihren schlimmen Gewohnheiten im Geheimen fröhnen.
-Von hier aus wandten sich die Pioniere mehr südwärts, überall die
-Gebirgszüge als Heerstraße benutzend. Vor sechs Jahren langten unsere
-ersten Vorposten am Tanganika an, wo sie mit Vorliebe die sich im
-Westen erhebenden Höhenzüge wählten, welche stellenweise den 900
-Meter über dem Meere gelegenen Seespiegel um 1500 Meter überragen;
-jetzt sitzen schon Hunderttausende in den lieblichen Uferlandschaften
-dieses wenn auch nur zweitgrößten, so doch weitaus längsten
-der Äquatorialseen. Der Tanganika hat nicht ganz den halben Flächeninhalt
-des Ukerewe, er ist nirgends so breit, daß ein gutes Auge nicht
-die jenseitigen Uferberge zu sehen vermöchte; seine Länge aber beträgt
-580 Kilometer, also ziemlich genau drei Vierteile derjenigen des adriatischen
-Meeres, und der schnellste von den 286 Dampfern, die ihn derzeit
-für unsere Rechnung befahren, braucht nahezu 24 Stunden, um
-von seinem Nordende zum Südende zu gelangen.
-</p>
-
-<p>
-Jetzt war aber auch die Zeit gekommen, wo wir mehr und mehr
-mit europäischen, resp. unter europäischem Einfluß stehenden Kolonien
-in unmittelbare Berührung gerieten. Im Süden und Osten stießen
-wir auf deutsche und englische Interessensphären, im Nordosten teils
-direkt, teils indirekt auf französische und italienische, im Norden auf
-ägyptische, im Westen an den mächtig aufstrebenden Kongostaat. Dabei
-waren die sich ergebenden Wechselbeziehungen zwar überall von den
-besten, entgegenkommendsten Absichten geleitet, es tauchte aber doch eine
-Menge von Fragen auf, die nachgerade dringend einer endgültigen
-Lösung bedurften. Für die benachbarten Kolonien stellte sich nämlich
-der Übelstand heraus, daß sie nirgend die unmittelbare Nähe freiländischer
-Ansiedelungen auf die Dauer zu ertragen vermochten; ihre Bevölkerung
-<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
-wurde von uns angezogen, wie Eisenfeilstäbchen durch einen
-Magnet; wo sich eine freiländische Association in der Nähe etablierte,
-blieb von fremden Kolonien binnen kürzester Frist nichts übrig, als die
-verödeten Wohnstätten, die verlassenen Plantagen; die Kolonisten waren
-zu uns übersiedelt und Freiländer geworden. Dagegen konnten die
-fremden Regierungen nichts thun, wollten es wohl auch nicht, da doch
-das Interesse ihrer Unterthanen dabei wahrlich nicht schlecht fuhr; aber
-mit Rücksicht auf die Machtstellung ihrer betreffenden Länder mußte
-ihnen diese Unmöglichkeit, sich in unserer Nähe zu behaupten, unbequem
-werden und sie zum Nachdenken anregen.
-</p>
-
-<p>
-Doch auch wir mußten die Frage in Erwägung ziehen, was denn
-geschehen werde, wenn freiländische Ansiedler irgendwo fremdes,
-einem abendländischen Volke gehöriges Gebiet betreten sollten. Bisher
-hatten wir dies absichtlich vermieden; auf die Dauer war es jedoch
-unvermeidlich. Was würde dann geschehen? Sollten wir, im Besitze der
-stärkeren Civilisationsform, vor der zurückgebliebenen zurückweichen?
-Konnten wir es, selbst wenn wir wollten? Freiland ist kein Staat im
-gemeingebräuchlichen Sinne des Wortes; sein Wesen liegt nicht in der
-Herrschaft über ein bestimmtes Territorium, sondern in seinen socialen
-Einrichtungen; diese sind an sich mit fremden Regierungsformen ganz
-gut vereinbar, und wir mußten im Interesse friedlichen Zusammenlebens
-mit unseren Nachbarn bestrebt sein, diesen Einrichtungen gesetzliche
-Anerkennung &mdash; zunächst in den benachbarten Kolonialgebieten &mdash; zu
-verschaffen.
-</p>
-
-<p>
-Und nicht bloß auf dem afrikanischen Kontinente, sondern auch in
-den anderen Weltteilen häuften sich die einer Erledigung dringend bedürftigen
-&bdquo;Fragen&ldquo; zwischen uns und unterschiedlichen Regierungen.
-Wir mengten uns zwar grundsätzlich nicht in die politischen Angelegenheiten
-des Auslandes, aber für unser Recht und unsere Pflicht hielten
-wir es, aus der Fülle unseres Reichtums und unserer Macht unseren
-notleidenden Brüdern, in welchem Teile der bewohnten Erde immer,
-beizuspringen. Freiländisches Geld war überall zur Hand, wo es galt,
-irgend welche Not zu lindern, den Enterbten und Elenden in welchem
-Winkel der Erde immer gegen Ausbeutung Hülfe zu bringen. Unsere
-Anmeldebureaux und Schiffe standen jedermann zur unentgeltlichen
-Verfügung bereit, der sich aus dem Jammer der alten Weltordnung zu
-uns herüberretten wollte, und wir ließen es an Bemühungen nicht
-fehlen, die Segnungen unserer Einrichtungen unseren leidenden Mitbrüdern
-in stets ausgedehnterem Maße zugänglich zu machen. Das
-alles betrachteten wir, wie gesagt, als unsere Pflicht und unser Recht
-zugleich; wir waren daher nicht gesonnen, uns in der Ausübung dieser
-Mission durch den Einspruch ausländischer Machthaber beirren zu lassen.
-Damit aber gerieten wir &mdash; auf die Dauer ließ sich das unmöglich
-<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
-verkennen &mdash; mehr und mehr in Kollision mit den Anschauungen einzelner
-europäischer und asiatischer Regierungen. Zwar im demokratischen Westen
-Europas, in Amerika und Australien sprach die öffentliche Meinung zu
-mächtig zu unseren Gunsten, als daß von dorther irgendwelcher &mdash; und
-sei es auch bloß passiver &mdash; Widerstand unseren Bestrebungen gegenüber
-zu besorgen gewesen wäre; anders aber verhielt es sich in einzelnen
-Staaten des Ostens, und insbesondere seitdem unsere Mittel und mit
-diesen unsere propagandistische Thätigkeit die kolossalen Dimensionen der
-letzten Jahre erreicht hatten und eine stetige Zunahme voraussehen
-ließen, begann man sich hie und da ganz ernstlich mit der Frage zu
-beschäftigen, ob und durch Anwendung welcher Mittel es thunlich wäre,
-freiländischem Gelde und freiländischem Einflusse die Wege zu verlegen.
-Zwar scheuten einstweilen jene Regierungen noch den offenen Bruch
-mit uns, teils aus Rücksicht auf die auch bei ihnen sich geltend machende
-öffentliche Meinung, teils aus Respekt vor den gewaltigen finanziellen
-Hülfsmitteln, über welche wir verfügten. Man wollte uns nicht gerne
-zu erklärten Feinden haben, aber man wollte freiländische Geldsendungen
-und deren Zwecke kontrollieren und die Auswanderung nach Freiland
-einschränken.
-</p>
-
-<p>
-Wir waren nun durchaus nicht gewillt, derartigen Bestrebungen
-mit verschränkten Armen zuzusehen; das Recht, unseren geknechteten
-Mitmenschen beizuspringen oder ihnen die Zuflucht nach Freiland offen
-zu halten, waren wir fest entschlossen, zu verteidigen, so weit unsere
-Kräfte reichten, und Niemand in Freiland zweifelte daran, daß wir
-stark genug seien, um die Absperrungsgelüste der fremden Machthaber
-im Notfalle gewaltsam niederzuschlagen. Nur war man in Freiland
-ebenso einig darüber, daß zuvor jedes erdenkliche friedliche Mittel versucht
-werden müsse, ehe man an die Waffen appellieren dürfe. Und
-die Schwierigkeit einer unblutigen Einigung lag eben darin, daß
-ersichtlich im Punkte der Anschauungen über die kriegerische Stärke
-Freilands ein Gegensatz zwischen unserer freiländischen und der außerfreiländischen
-öffentlichen Meinung bestand; während wir &mdash; wie
-gesagt &mdash; der Überzeugung waren, jedem Militärstaate der Welt, ja
-selbst mehreren zugleich durchaus gewachsen zu sein, hielten uns insbesondere
-jene Regierungen, mit denen wir diesfalls zu thun hatten,
-für militärisch durchaus ohnmächtig. Wir mußten also darauf gefaßt
-sein, daß eine eventuell drohende Sprache unserer Bevollmächtigten gar
-nicht ernst genommen werden dürfte und daß gerade deshalb jeder
-Versuch, unseren Standpunkt energisch zu vertreten, nur durch einen
-thatsächlichen Krieg den erforderlichen Nachdruck erlangen könnte. Und
-ein Krieg war es denn auch, der unseren Standpunkt allenthalben im
-Auslande zur Geltung bringen sollte, nur allerdings nicht ein Krieg mit
-einer europäischen oder asiatischen, sondern ein solcher mit einer afrikanischen
-<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
-Großmacht, ein Krieg zudem, der mit den soeben erörterten
-Fragen höchstens indirekt etwas gemein hatte, trotzdem aber auch diese
-zur Entscheidung brachte.
-</p>
-
-<p>
-Wie dies kam, darüber sollen die in den nachfolgenden Kapiteln
-mitgeteilten Briefe Aufschluß geben. Dieselben haben den Prinzen
-Carlo Falieri, einen jungen italienischen Diplomaten zum Verfasser, der
-nachmals nach Freiland übersiedelte, in jener Zeit jedoch, von welcher
-die Briefe handeln, im Auftrage seiner Regierung Edenthal aufsuchte.
-Zugleich werden diese Korrespondenzen ein lebhaftes Bild der freiländischen
-Zustände und der Lebensweise im fünfundzwanzigsten Jahre
-der Gründung bieten.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-5-2">
-<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
-14. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="date">
-Edenthal, den 12. Juli ..
-</p>
-
-<p class="first">
-Ich schreibe Dir diese Zeilen nach mehrmonatlichem Stillschweigen
-aus der Hauptstadt von Freiland, die mich und meinen Vater seit
-einigen Tagen beherbergt. Was uns ins Land der socialen Freiheit
-gebracht hat? Du weißt, oder weißt vielleicht auch nicht, daß meine
-Chefs auf Monte Citorio sich in letzter Zeit gegen den braunen
-Napoleon an der Ostküste Afrikas, den Negus Johannes V. von
-Abyssinien, keinen Rat mehr wissen, und da ihnen solcher von unseren
-guten Freunden in London und Paris, wo man sich in gleichen Nöten
-befindet, auch nicht erteilt werden kann, so einigten sich die drei westmächtlichen
-Kabinette schließlich dahin, gegen die gemeinsame afrikanische
-Krankheit ein afrikanisches Heilmittel zu suchen; diesem nachzuspüren
-sind wir nun hier, von seiten Englands die Herren Lord Elgin und
-Sir Bartelet, von seiten Frankreichs Mrs. Charles Delpart und Henri
-de Pons, von seiten unseres Italien Principe Falieri und dessen Sohn,
-meine Wenigkeit nämlich. Beauftragt sind wir insgesamt, den Freiländern
-nahezulegen, daß es in ihrem wie in unserem gemeinsamen
-Besten gelegen wäre, wenn sie ihr Land zum Kriegsschauplatze gegen
-Abyssinien hergeben wollten.
-</p>
-
-<p>
-Der Negus nämlich, der uns Europäern, die wir Besitzungen an
-den afrikanischen Küsten des Roten Meeres und südlich der Straße
-von Bab-el-Mandeb unser eigen nennen, auch bisher schon viel zu
-schaffen machte und gelegentlich des letzten Krieges die verbündeten
-englisch-französisch-italienischen Armeen in Schach hielt, ja ohne die
-Intervention unserer Flotten denselben um ein kleines das Schicksal
-jenes ägyptischen Heeres bereitet hätte, welches nach biblischen Berichten
-vor 3300 Jahren im Roten Meere ertränkt wurde, der Negus, sage
-<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
-ich, hat den fünfjährigen, für uns nicht gerade rühmlichen Frieden &mdash;
-offenbar mit Hülfe gewisser guter Freunde in Europa &mdash; dazu benützt,
-um seine auch vorher schon Achtung gebietende Armee vollkommen
-nach abendländischem Muster zu organisieren. Er besitzt jetzt 300000
-Mann, durchweg mit Waffen bester, modernster Konstruktion versehen,
-eine vorzügliche Kavallerie von mindestens 40000 Köpfen, und eine
-Artillerie von 106 Batterien, die es, unseren Militärbevollmächtigten
-zufolge, mit jeder europäischen an Tüchtigkeit aufnehmen soll. Die
-Absichten aber, die Johannes mit diesen für das arme Abyssinien
-geradezu ungeheuerlichen Rüstungen verfolgt, können &mdash; insbesondere
-nach den Erfahrungen des vergangenen Lustrums &mdash; nicht zweifelhaft
-sein. Er will uns und den Engländern die Küstenplätze am Roten
-Meere, den Franzosen ihr Gebiet südlich von Bab-el-Mandeb abnehmen.
-Unsere Küstenfestungen und Flotten werden dies auf die Dauer nicht
-verhindern, falls es uns nicht gelingt, die Abyssinier in offener Feldschlacht
-zu schlagen. Wie aber Armeen, die der reorganisierten abyssinischen
-gewachsen wären, an jenen unwirtlichen Küsten erhalten, wie einen
-Feldzug mit dem Meere als einziger Rückzugslinie gegen einen Feind
-wagen, dessen furchtbare Offensivkraft wir auch bisher schon sattsam
-kennen gelernt haben? Und doch muß dem Negus begegnet werden,
-koste es, was es wolle, da mit dem Preisgeben der Küstenorte die
-Verbindung mit Ostasien und dem seit den letzten zwei Dezennien in
-die erste Linie des Welthandels gerückten Ostafrika für alle europäischen
-Mächte verloren wäre. Ist uns doch nur zu wohl bekannt, daß
-Johannes V. sich diesbezüglich mit den weitestgehenden Plänen trägt.
-Heute schon werben seine Agenten in Griechenland, Dalmatien und
-selbst in Nordamerika Matrosen zu Tausenden, die offenbar bestimmt
-sind, eine Kriegsflotte zu bemannen, sowie der Besitz der Küstenpunkte
-es den Abyssiniern ermöglicht, eine solche zu halten. Ob er diese
-Flotte im Auslande kaufen, oder selber bauen will, ist annoch ein
-Rätsel. Wäre ersteres der Fall, so könnte es den Nachforschungen der
-von dieser Zukunftsflotte bedrohten Mächte unmöglich entgehen; aber
-keine der bekannten Schiffswerften der Welt hat derzeit Kriegsfahrzeuge
-unbekannter Bestimmung in Bau. Soll die abyssinische Flotte aber
-am Roten Meere gebaut werden, erst nachdem dessen Küsten
-in abyssinische Gewalt geraten sind, wozu braucht der Negus
-jetzt schon die vielen Matrosen? Keineswegs ist dieses Geheimnis
-geeignet, über die Endabsichten Abyssiniens zu beruhigen &mdash; kurzum,
-man hat in London, Paris und Rom beschlossen, den Stier an den
-Hörnern zu fassen und gegen den ostafrikanischen Eroberer offensiv
-vorzugehen. Die drei Kabinette wollen gemeinsam ein Expeditionskorps
-von mindestens 300000 Mann ausrüsten, und mit diesem sofort nach
-Ablauf des fünfjährigen Friedens &mdash; das wäre also Ende September
-<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
-dieses Jahres &mdash; gegen Abyssinien vorgehen. Als Operationsbasis
-aber sind diesmal nicht unsere eigenen Küstenorte &mdash; sondern Freiland
-ausersehen. Dieses würde den verbündeten Armeen eine gesicherte
-Verpflegungs- und Rückzugslinie gewähren, und Aufgabe von uns
-Diplomaten ist es nun, die freiländische Verwaltung für dieses Projekt
-zu gewinnen. Wir verlangen nichts, als passive Mitwirkung, d. h.
-freien Durchzug für unsere Truppen. Ob unsere Instruktionen dahin
-gehen, diese passive Assistenz im Notfalle zu erzwingen, weiß ich nicht,
-denn nicht ich, bloß mein Vater ist eingeweiht in die letzten Hintergedanken
-der Leiter unserer auswärtigen Politik, und wenn meine
-bekannte Schwärmerei für dies Land der Socialisten unsere Regierung
-auch nicht hinderte, mich meinem Vater beizugeben, so vermute ich doch,
-daß mir die intimeren Geheimnisse unserer Diplomatie vorenthalten
-werden.
-</p>
-
-<p>
-Du weißt also jetzt, Freund meiner Seele, <em>warum</em> wir nach
-Freiland reisten. Bist Du zu erfahren begierig, <em>wie</em> wir die Reise
-bewerkstelligten, so diene Dir, daß wir dazu von Brindisi bis Alexandrien
-den &bdquo;Uranus&ldquo;, eines der Riesenschiffe benützten, die Freiland zum Zwecke
-des Post- und Passagierdienstes auf allen Meeren laufen läßt. Zugleich
-mit uns machten 2300 Einwanderer nach Freiland die Seereise, und
-wenn diesen die neue Heimat nur einen Teil dessen hält, was sie sich
-von ihr versprechen, so muß sie ein wahres Paradies sein. Mein
-Vater, der anfangs einige Bedenken hegte, sich einem freiländischen
-Dampfer anzuvertrauen, auf welchem keinerlei Überfahrtgebühr angenommen,
-dafür aber auch, wie männiglich bekannt ist, keinerlei
-Unterschiede in der Behandlung der Passagiere gemacht werden, gestand
-mir schon am zweiten Tage der Fahrt, daß er nicht bereue, meinem
-Drängen nachgegeben zu haben. Die Kabine, die wir erhielten, war
-nicht zu klein, komfortabel und von peinlichster Sauberkeit, Küche und
-Verpflegung ließen nichts zu wünschen übrig und &mdash; was uns am
-meisten wunderte &mdash; der Umgang mit den buntzusammengewürfelten
-Auswanderern erwies sich als keineswegs unangenehm. Zwar waren
-unter unseren 2300 Reisegenossen alle Stände und Berufsklassen, vom
-Gelehrten bis zum Handarbeiter, vertreten; allein auch die letzteren
-erwiesen sich von dem Bewußtsein, einer neuen Heimat entgegenzueilen,
-in welcher unbedingte Gleichberechtigung aller Menschen herrschen sollte,
-dermaßen gehoben, daß während der ganzen Fahrt keinerlei Roheit
-oder gemeine Ausschreitung vorkam.
-</p>
-
-<p>
-In Alexandrien benützten wir den nächsten nach dem Sudan abgehenden
-Kurierzug, der jedoch bis Assuan, so lange nämlich ägyptische
-Kondukteure und Maschinisten ihn führten, von einem solchen wenig mehr
-als den Namen hatte. In Assuan nahm uns ein freiländischer Eisenbahnzug
-auf, und nunmehr ging es mit einer Accuratesse und Raschheit
-<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
-vorwärts, wie man sie sonst nur in England oder Amerika antrifft.
-Mit raffiniertester Bequemlichkeit eingerichtete Schlaf-, Speise- und
-Konversationswagen führten uns in rasendem Fluge den Nil aufwärts,
-den Riesenstrom bis Dongola zweimal übersetzend. Charakteristisch ist,
-daß von Assuan ab keinerlei Fahrtaxe berechnet wurde. Die im Speisewagen
-oder auf den Stationen verzehrten Speisen und Getränke mußten
-zwar bezahlt werden &mdash; auf der Urania waren auch die Mahlzeiten
-unentgeltlich gewesen &mdash; die Beförderung aber besorgte das freiländische
-Gemeinwesen unentgeltlich zu Land wie zu Wasser.
-</p>
-
-<p>
-Die Schilderung von Land und Leuten in Ägypten und dessen
-Dependenzen wirst Du mir erlassen; es hat sich zwar diesbezüglich im
-letzten Decennium, und insbesondere seit Vollendung der freiländischen
-Nilbahn einiges zum Besseren geändert; aber im großen Ganzen fand
-ich das Elend der Fellachen noch sehr arg und nur dem Grade, nicht
-dem Wesen nach verschieden von jenen Schilderungen, die den zahlreichen
-älteren Reiseberichten über diese Gegenden zu entnehmen sind. Ein
-durchaus anderes Bild bot sich dem Auge, sowie wir uns dem Albert-Njanza
-näherten und freiländisches Gebiet erreichten. Ich traute meinen
-Sinnen kaum, als ich am Morgen des fünften Tages der Eisenbahnreise
-erwachend, zum Waggonfenster hinausblickte und statt der bisherigen
-Landschaft von üppigen Gärten und lachenden Hainen anmutig unterbrochene
-endlose Fruchtfelder erblickte, aus deren Mitte elegante Villen,
-teils zerstreut, teils zu größeren Ortschaften vereinigt, hervorleuchteten.
-Als der Zug bald darauf in einer Station &mdash; sie hieß, ein freundliches
-Omen für uns Italiener, Garibaldi &mdash; hielt, sahen wir auch zum erstenmale
-Freiländer in ihrer eigentümlichen und, wie ich auf den ersten
-Blick erkannte, überaus zweckmäßig den Anforderungen des Klimas angepaßten,
-ebenso einfachen als kleidsamen Tracht.
-</p>
-
-<p>
-Diese ist der antik griechischen sehr ähnlich, selbst die Sandalen
-an Stelle der Schuhe fehlten nicht, nur daß dieselben nicht auf
-bloßem Fuße, sondern über Strümpfe getragen werden. Die Kleider
-der Freiländerinnen sind zumeist farbenprächtiger, als jene der Männer,
-die jedoch auch keineswegs jene düsteren monotonen Tinten zur Schau
-tragen, wie die abendländische Männertracht. Insbesondere die freiländischen
-Jünglinge lieben heitere, helle Farben, die jüngeren Damen
-bevorzugen Weiß mit farbigen Ornamenten. Der Eindruck, den die
-Freiländer auf mich machten, war ein geradezu blendender. Strotzend
-von Kraft und Gesundheit, bewegten sie sich in heiterer Anmut unter
-den schattigen Bäumen des Bahnhofgartens, mit einer vornehmen Sicherheit
-des Benehmens, die mich anfangs glauben ließ, daß sich hier die
-Spitzen der ortsansässigen Gesellschaft Stelldichein gegeben hätten. Diese
-Meinung wurde noch verstärkt, als späterhin einige Freiländer den Zug
-bestiegen und ich aus den Gesprächen während der Weiterfahrt entnahm,
-<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
-daß deren Bildungsgrad durchaus dem äußeren Eindrucke entsprach;
-und doch waren es gewöhnliche Landleute, Ackerbauer und Gärtner
-mit ihren Frauen, Söhnen und Töchtern, mit denen wir es zu thun
-hatten.
-</p>
-
-<p>
-Nicht minder überraschend war das Behagen der unter den Weißen
-zerstreut auftretenden und mit diesen unbefangen verkehrenden Neger.
-Deren Kleidung war zwar noch leichter und luftiger als die der Weißen
-&mdash; meist Baumwollzeuge an Stelle der von diesen ausschließlich benützten
-Schafwolle; im übrigen aber machten diese Eingeborenen den
-Eindruck durchaus civilisierter Menschen, und wie ich mich aus dem Gespräche
-mit einem der den Zug gleichfalls zur Weiterfahrt benützenden
-Neger überzeugen konnte, stand ihre Bildung auf einer ziemlich hohen
-Stufe, jedenfalls auf einer weit höheren, als die der Landbevölkerung
-in den meisten Gegenden Europas. Der Schwarze, mit dem ich mich
-unterhielt, sprach ein fließendes, korrektes Englisch, hielt eine freiländische
-Zeitung, in welcher er während der Fahrt eifrig las und erwies
-sich nicht nur in den Angelegenheiten des eigenen Landes, sondern
-auch über europäische Verhältnisse sehr gut unterrichtet.
-</p>
-
-<p>
-Gegen Mittag erreichten wir mit der Station Baker den Albert-See,
-genau an jener Stelle, wo ihm der weiße Nil entströmt. Hier
-erwartete mich eine sehr angenehme Überraschung. Du wirst Dich noch
-David Neys, jenes jungen freiländischen Bildhauers erinnern, mit welchem
-wir während des letzten Herbstes in Rom zusammentrafen, und an
-welchen insbesondere ich mich damals so innig anschloß, weil der herrliche
-Jüngling es mir durch den Adel seiner äußeren Erscheinung sowohl,
-als seiner Gesinnung angethan hatte. Was Du wahrscheinlich nicht
-weißt, ist, daß wir, nachdem David nach Abschluß seiner Kunststudien
-Rom und Europa verlassen hatte, wiederholt Briefe wechselten, so daß
-er von meiner bevorstehenden Ankunft genau unterrichtet war. Mein
-Freund hatte nun die dreißigstündige Reise von Edenthal, wo er bei
-seinen Eltern &mdash; sein Vater ist, wie Du weißt, einer der Regenten
-Freilands &mdash; wohnt, an den Albert-Njanza nicht gescheut, war mir bis
-Baker entgegen geeilt, und das erste, was ich, in die Station eingefahren,
-bemerkte, war sein liebes, mir freudig zulächelndes Antlitz. Er brachte
-meinem Vater und mir eine Einladung der Seinen, während unseres
-Aufenthaltes in Edenthal ihre Gäste zu sein. &bdquo;Wenn Sie, Herr Herzog
-&mdash; sagte er &mdash; mit der Wohnung und Bewirtung, die Ihnen ein Bürger
-von Freiland zu bieten vermag, zufrieden sein wollen, würden Sie uns
-alle, insbesondere aber mich, dem damit das Glück ungestörten Beisammenseins
-mit Ihrem Sohne zu teil würde, zu höchstem Danke verpflichten.
-Den Glanz und die Pracht, an welche Sie daheim gewöhnt
-sind, werden Sie allerdings in unserem Hause vermissen, welches sich
-nur wenig von denen der einfachsten Arbeiter unseres Landes unterscheidet;
-<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
-aber diese Entbehrung wäre Ihnen überall in Freiland auferlegt,
-und ich glaube Ihnen versprechen zu können, daß Ihnen auch bei
-uns keinerlei wirkliche Bequemlichkeit fehlen wird.&ldquo; Zu meiner großen
-Genugthuung acceptierte mein Vater nach kurzem Besinnen dieses herzliche
-Anerbieten mit lebhaftem Danke.
-</p>
-
-<p>
-Über das während der eineinhalbtägigen Fahrt vom Albert-See
-nach Edenthal Gesehene will ich mich für heute kurz fassen, da ja noch
-Gelegenheit sein wird, ausführlich darauf zurückzukommen, und schon
-dieser erste meiner freiländischen Reisebriefe ohnehin zu ungebührlichem
-Umfange anschwellen wird, wenn ich Dir über das mich zunächst Interessierende,
-die Lebensweise der Freiländer nämlich, auch nur oberflächlich
-Bericht abstatten will. Unser Kurierzug durchflog in rasender Eile die
-von Saatfeldern und Plantagen bedeckten Ebenen Unjoros und Hügellandschaften
-Ugandas, lief hierauf einige Stunden längs der Ufer des
-mächtig brandenden Ukerewe durch liebliches, einem einzigen Garten
-gleichendes Hügel- und Bergland; bei den Riponfällen den See verlassend,
-wandten wir uns in das wildromantische Gebirgsland des Elgon
-mit seinen zahllosen Herden und reichen Fabrikstädten, umkreisten den
-gärtenumsäumten Baringo-See und drangen durch Leikipia in die
-Alpenlandschaften des Kenia ein. Gegen 9 Uhr Abend des sechsten
-Tages der Eisenbahnreise erreichten wir endlich Edenthal.
-</p>
-
-<p>
-Es war eine herrliche Mondnacht, als wir, den Bahnhof verlassend,
-die Stadt betraten; überdies glänzte diese im Scheine zahlloser
-mächtiger elektrischer Bogenlampen, so daß dem neugierig forschenden
-Blicke nichts entging. Selbst wenn ich es jetzt schon wollte, ich könnte
-Dir den Eindruck, den diese erste freiländische Stadt, deren Inneres
-wir betraten, auf mich machte, nicht im einzelnen schildern. Denke Dir
-einen etwa hundert Quadratkilometer bedeckenden Feengarten, erfüllt
-von zehntausenden reizender, geschmackvoller Häuschen und hunderten
-märchenhaft prächtiger Paläste; dazu den berauschenden Duft aller erdenklichen
-Blumenarten und den Gesang zahlloser Nachtigallen &mdash; dieselben
-wurden in den ersten Jahren der Gründung des Gemeinwesens
-aus Europa und Asien importiert, haben sich aber seither unglaublich
-vermehrt &mdash; und fasse all&rsquo; das in den Rahmen einer Landschaft, wie
-sie großartiger und pittoresker kein Teil der Erde aufweist &mdash; so kannst
-Du Dir, wenn Deine Phantasie lebendig ist, eine matte Vorstellung
-des Entzückens machen, mit welchem mich diese Wunderstadt erfüllte,
-und je länger ich sie kennen lerne, mehr und mehr erfüllt. Die Straßen
-und Plätze, durch die wir kamen, waren ziemlich menschenleer, doch
-versicherte uns David, daß rings um den Edensee allabendlich bis
-Mitternacht reges Leben flute. Und auch in zahlreichen Häusern, an
-denen wir vorbeifuhren, herrschte geräuschvolles, heiteres Treiben. Auf
-breiten, luftigen Terrassen und in den Gärten rings um dieselben
-<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
-saßen und lustwandelten die Bewohner, zu kleineren oder größeren
-Gesellschaften vereint; Becherklang, Musik, silberhelles Lachen schlugen
-an unser Ohr, kurzum, alles deutete darauf hin, daß hier die Abende
-fröhlichster Geselligkeit geweiht seien.
-</p>
-
-<p>
-Nach ungefähr halbstündiger rascher Fahrt langten wir bei der so
-ziemlich im Centrum der Stadt, nicht weit vom Edensee gelegenen Behausung
-unserer Gastfreunde an. Die Familie Ney empfing uns in
-der herzlichsten, liebenswürdigsten Weise, trotzdem aber imponierte die
-sichere Würde ihres Benehmens selbst meinem stolzen Vater aufs Gründlichste.
-Insbesondere die Damen des Hauses glichen so sehr verkleideten
-Prinzessinnen, daß mein Vater sich sofort in den galanten Paladin von
-unerreichter Ritterlichkeit verwandelte, als welchen Du ihn von den
-Hoffesten in Rom, London und Wien her kennst. Vater Ney verrät
-auf den ersten Blick den tiefen, an ernste Arbeit gewöhnten Denker,
-dem jedoch heitere Sicherheit des Benehmens keineswegs fehlt. Er
-dürfte, nach seiner sechsundzwanzigjährigen Thätigkeit im Dienste des
-freiländischen Gemeinwesens zu schließen, mindestens 50 Jahre zählen,
-seinem Äußeren nach aber würdest Du ihm keine 40 geben. Der jüngere
-der Söhne, Emanuel, Techniker von Beruf, ist Davids vollkommenes
-Ebenbild, nur etwas dunkler und kräftiger noch als dieser, der, wie
-Du wissen wirst, auch gerade kein Schwächling ist. Die Hausfrau,
-Ellen genannt, eine geborene Amerikanerin, die mir, Dank offenbar den
-Berichten meines David, sofort mit wahrhaft mütterlichem Wohlwollen
-begegnete, muß nach dem Alter ihrer Kinder zu schließen, etwa 45 Jahre
-zählen, macht indessen vermöge ihrer Jugendfrische mehr den Eindruck
-einer Schwester, als einer Mutter ihrer Kinder. Sie ist von blendender
-Schönheit, bezaubert aber insbesondere durch die Güte und Geisteshoheit,
-die ihren Zügen aufgeprägt sind. Als ihre Töchter stellte sie uns drei
-junge Damen im Alter zwischen 18 und 20 Jahren vor, von denen
-jedoch nur eine, Bertha genannt, ihr und den Söhnen ähnlich ist. Diese,
-das verjüngte Ebenbild ihrer Mutter, verwirrte mich geradezu durch den
-unsäglichen Reiz ihrer Erscheinung, glich aber so wenig den beiden
-anderen, Leonore und Klementine, daß ich mich einer Bemerkung hierüber
-vor David nicht enthalten konnte. &bdquo;Diese zwei sind auch nicht blutsverwandt
-mit uns, sondern die Ziehtöchter meiner Mutter; was das zu
-bedeuten hat, erzähle ich Dir später&ldquo;, lautete die Antwort.
-</p>
-
-<p>
-Da wir &mdash; wie Du begreiflich finden wirst &mdash; von der sechstägigen
-Eisenbahnreise trotz allen Comforts freiländischer Waggons ziemlich
-erschöpft waren, baten wir, nach kurzem Geplauder mit unseren herrlichen
-Wirten, um die Erlaubnis, uns in die uns bestimmten Gemächer
-zurückziehen zu dürfen. David machte unseren Führer. Nachdem wir
-von der geräumigen Gartenterrasse aus, auf welcher wir bis dahin
-geweilt hatten, einen mit einfachem, aber gediegenem Geschmack eingerichteten
-<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
-Gesellschaftsraum und einen stattlichen Speisesaal durchschritten
-hatten, an welchen sich, wie ich bemerkte, rechts ein großer
-als Bibliothek dienender Saal und links zwei kleinere Gemächer anschlossen,
-die, wie mir David auf Befragen mitteilte, seinen Eltern als
-Arbeitsstuben dienten; betraten wir eine zierliche Vorhalle, von welcher
-aus eine Treppe in das obere Stockwerk mit den Schlafräumen führte.
-Hier wies uns unser Führer zwei Schlafzimmer mit gemeinsamem
-Empfangzimmer an.
-</p>
-
-<p>
-Dann ging es an eine kurze Erklärung der mannigfachen, zur Bequemlichkeit
-der Bewohner dienenden Einrichtungen. &bdquo;Ein Druck auf
-diesen Knopf hier, rechter Hand neben dem Thürstock &mdash; demonstrierte
-David &mdash; bringt den elekrischen Lustre zum Brennen, ein gleicher dort
-neben dem Nachttischchen den Wandkandelaber oberhalb des Bettes.
-Hier das Telephon No. 1 ist ausschließlich dem Verkehr im Hause
-selbst und mit der benachbarten Wachtstube der &bdquo;Association für persönliche
-Dienstleistungen&ldquo; bestimmt; bloßes Klingeln &mdash; so, in diesem
-Rhythmus &mdash; bedeutet, daß sich Jemand aus der Wachtstube herbemühen
-möge; alle diese Knöpfe &mdash; sie sind durch die eigentümliche Kerbung
-kenntlich &mdash; hier und dort an den Wänden, da am Schreibtische und
-dort neben den Betten, stehen mit dieser Telephonklingel in Verbindung;
-Sie brauchen sich also aus dem Lehnstuhl, den Sie jetzt inne haben,
-nachts oder morgens aus dem Bette, in dem Sie ruhen, gar nicht zu
-erheben, wenn Sie ein Mitglied dieser allezeit dienstbereiten Gesellschaft
-zu sich citieren wollen. Jedes Telephon und jedes Läutewerk hat seine
-Nummer in der Wachtstube sowohl, als an einer Tafel im Vestibul,
-das wir soeben verlassen haben; längstens zwei Minuten, nachdem Sie
-geklingelt haben, steht der auf dem Flügelrad herbeigeeilte Abgesandte
-der Gesellschaft zu Ihren Diensten.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Das ist eine wunderbare Einrichtung&ldquo;, bemerkte ich, &bdquo;die Euch
-die Annehmlichkeit eines jeden Winkes gewärtigen Kammerdieners gewährt,
-ohne daß Ihr den Ärger mit in den Kauf nehmen müßtet, den
-uns Abendländern unsere Kammerdiener bereiten; nur dürfte dieser
-Luxus ziemlich kostspielig und deshalb nicht allgemein üblich sein.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Die Kosten sind sehr bescheiden, gerade weil hier alle Welt Gebrauch
-von diesen öffentlichen Dienstleistungen macht&ldquo;, antwortete mein
-Freund. &bdquo;Für je 600 bis 800 Häuser ist je eine derartige Wachtstube
-mit je drei Wachthabenden errichtet; es wird nun jede geforderte Dienstleistung
-nach der Zeit bezahlt, richtiger gesagt, angerechnet, und zwar,
-wie dies nun einmal bei uns üblich ist, nach Maßgabe des von unserer
-Centralbank am Schlusse jedes Bilanzjahres veröffentlichten Durchschnittswertes
-der Arbeitsstunde. Im abgelaufenen Jahre, wo der Stundenwert
-8 Shilling betrug, mußten wir für je 3 Minuten &mdash; denn das ist die
-Einheit, nach welcher diese Gesellschaft rechnet &mdash; 40 Pfennige bezahlen;
-<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
-wer nun häufig klingelt und die Association stark in Atem erhält, auf
-den entfällt am Jahresschluß ein stärkerer, wer dies seltener thut, ein
-geringerer Beitrag: für alle Fälle aber muß die Association auf ihre
-Kosten, d. h. auf ihre Ausgaben kommen und auf den Verdienst für ihre
-9 wachthabenden Mitglieder &mdash; denn die drei Wächter wechseln morgens,
-mittags und abends. Diese für je eine Wachtstube erforderliche Summe
-berechnete sich im Vorjahre mit rund 6000 Pfd. Sterling, und da beispielsweise
-die Zeitrechnungen der sämtlichen 720 Familien unseres
-Rayons nicht ganz zwei Dritteile dieser Summe ergeben hatten, so
-wurden die restlichen 2000 Pfd. Sterling nach Maßgabe des von jeder
-Familie gemachten Gebrauches nachgetragen. Unsere Familie hat verhältnismäßig
-geringen Bedarf nach den guten Diensten dieser Wachtstuben;
-wir zahlten z. B. im Vorjahre alles in allem 6 Pfd. Sterling,
-nämlich 4 Pfd. Sterling direkte Zeittaxen und 2 Pfd. Sterling nachträglichen
-Zuschlag, denn wir hatten binnen Jahresfrist bloß zweihundertmal
-3 Minuten der fraglichen Dienste bedurft.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Warum&ldquo; &mdash; so fragte mein Vater &mdash; &bdquo;wird in Ihrem Hause
-verhältnismäßig weniger geklingelt, als anderwärts?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Weil unser Haushalt beständig zwei oder drei junge Damen beherbergt,
-die es sich zur angenehmen Pflicht machen, meinen Eltern all&rsquo;
-jene persönlichen Dienste zu leisten, die sich mit der Würde wohlerzogener,
-gebildeter Frauenzimmer vertragen. Diese &mdash; seit einem Jahre
-auch von meiner Schwester unterstützten &mdash; Mädchen sind junge Freiländerinnen,
-wie man sie in jeder freiländischen Familie findet, wo die
-Hausfrau im Rufe besonderer Intelligenz und feiner Sitte steht &mdash; Sie
-entschuldigen, daß ich meine Mutter so ohne weiteres zu diesen Auserwählten
-zähle. Jedes junge Mädchen Freilands rechnet es sich zur
-besonderen Ehre und zu großem Vorteile an, in einem solchen Hause
-mindestens für ein Jahr Aufnahme zu erlangen, weil allgemein die Ansicht
-besteht, daß nichts den Geist und die Sitte heranwachsender weiblicher
-Geschöpfe mehr veredle, als möglichst intimer Umgang mit hervorragenden
-Frauen. Selbstverständlich ist, daß derartige junge Damen
-durchaus wie Kinder vom Hause angesehen und behandelt werden; aber
-sie leisten ihren Adoptiveltern auch durchweg die nämlichen Dienste, wie
-aufmerksame, liebevolle Töchter. Vater und Mutter können einen
-Wunsch kaum im Gedanken fassen, so ist er schon erraten und erfüllt.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Ei, das ist ja ganz das Institut unserer königlichen Ehrenfräulein&ldquo;,
-meinte lächelnd mein Vater.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Allerdings; und ich zweifle sehr, ob Ihr Königspaar so gut, und
-insbesondere ob es so zärtlich betraut ist, wie mein Elternpaar jederzeit
-von diesen Ziehtöchtern der Mutter, deren seit 18 Jahren &mdash; denn so
-alt ist diese Einrichtung in Freiland &mdash; nicht weniger als 24 durch unser
-Haus gegangen sind, die aber sämtlich heute noch in durchaus kindlichem
-<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
-Verhältnisse zu meinen Eltern und in geschwisterlichem zu uns stehen.
-Unsere gegenwärtigen Ziehschwestern Leonore und Klementine haben Sie
-soeben kennen gelernt.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Sie sagten vorhin&ldquo;, nahm wieder mein Vater das Wort, &bdquo;daß
-Ihr gesamtes Haus &mdash; also vier Damen und drei Herren &mdash; während
-eines ganzen Jahres bloß zweihundertmal 3 Minuten hindurch die durch
-diese Klingel citierten dienstbaren Geister in Anspruch genommen hätte;
-außerdem erwähnten Sie die Dienste der reizenden Ehrenfräulein &mdash;
-wer aber verrichtet jene gröberen Hantierungen, welche binnen 600 Minuten
-oder zehn Stunden jährlich kaum der Geist aus Aladins Lampe
-in einem Hause wie dieses hier zu vollbringen vermöchte. Sie haben,
-wie mir scheint, etwa zehn bis zwölf Wohnräume; das Estrich ist zwar
-aus Marmor &mdash; aber sie müssen doch gefegt werden. Ich sehe überall
-schwere Teppiche, wer reinigt diese? Mit einem Worte, wer verrichtet
-die gröbere Arbeit in diesem, wie der oberflächlichste Augenschein zeigt,
-mit peinlichster Sorgsamkeit instand gehaltenen, komfortabel eingerichteten
-Hause?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Die nämliche Association, mit deren Wachtstube ich Sie soeben
-bekannt gemacht habe; nur brauchen wir nicht zu klingeln, um diese, zum
-regelmäßigen Bedarfe gehörigen Verrichtungen besorgen zu lassen, vielmehr
-geschieht dieses auf Grund eines vereinbarten Tarifs, ohne daß
-man sich fernerhin darum zu kümmern hätte, mit einer Pünktlichkeit,
-die nichts zu wünschen übrig läßt. Die Association besitzt Haus- und
-Stubenschlüssel der mit ihr in Akkord stehenden Häuser. Zeitlich morgens,
-wir schlafen meist noch alle, erscheinen geräuschlos ihre Sendlinge,
-nehmen die zu reinigenden Kleider &mdash; richtiger die zu wechselnden, denn
-wir Freiländer tragen niemals ein Kleidungsstück an zwei aufeinander
-folgenden Tagen &mdash; von den Orten, wo sie des Abends hinterlegt wurden,
-thun die gereinigten an die dazu bestimmte Stelle, bereiten die
-Bäder &mdash; denn in den meisten freiländischen Häusern hat jedes Familienglied
-sein besonderes Bad, das täglich genommen wird, es sei denn,
-daß man ein See- oder Flußbad vorzöge &mdash; reinigen die Vorräume
-und einen Teil der Stuben, entfernen die Teppiche und sind verschwunden,
-ohne daß man zumeist auch nur eine Ahnung ihrer Anwesenheit
-besitzt. Und zu all dem genügen wenige Minuten. Es wird nämlich
-fast durchweg mit Maschinen gearbeitet. Sehen Sie jenen kleinen Apparat
-dort hinten im Korridor? Das ist eine Wasserkraftmaschine, in
-Gang gebracht durch das Öffnen jenes Hahnes dort, der sie mit der
-großen, von den Keniakaskaden gespeisten Hochdruckleitung in Verbindung
-setzt. (In anderen Städten, wo Wasserdruck bis zu 35 Atmosphären
-nicht so leicht zu beschaffen ist, thun elektrische oder atmosphärische
-Kraftleitungen den nämlichen Dienst.) Hier die stählerne Welle in der
-mit dem zierlichen Gitter verdeckten Höhlung am Boden, und dort oben
-<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
-am Plafond die broncene, die dem Gestänge zum Aufhängen der Spiegel
-und Bilder zum Verwechseln ähnlich sieht &mdash; es sind alles Transmissionen,
-welche die Bewegung der Wassermaschine in jeden Raum des
-ganzen Hauses, von den Kellern angefangen bis zu den Gelassen unter
-dem Dache, übertragen. Und dort in jener Kammer findet sich eine
-Anzahl von Maschinen, deren Bedeutung ich Ihnen schwer erklären
-kann, wenn Sie sie nicht in Funktion sehen. Eine Reihe anderer Geräte
-führen die 3-4 Leute der Association bei ihren Besuchen mit sich, und
-wenn diese Maschinen mit dem Gestänge da oben oder da unten in
-Verbindung gebracht sind und der Hahn des Wassermotors geöffnet
-wird, so ist solch ein Raum im Handumdrehen gefegt, gewaschen, die
-schwerste Last an ihren Ort gebracht, kurz alles mit Zauberschnelle geräuschlos
-verrichtet, was Menschenhände nur langsam und meist mit
-unangenehmem Gepolter zuwege brächten.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Einige Zeit später erscheinen die Arbeiter der Association neuerlich,
-um die noch übrigen Stuben zu reinigen, die früher entfernten
-Teppiche an ihren Ort zu geben, in Küche und Frühstückszimmer alles
-zum Frühstück Erforderliche herzurichten. Und so kommen und gehen
-diese Leute tagsüber mehrmals, so oft es eben vereinbart ist, um nach
-dem Rechten zu sehen. Alles geschieht unaufgefordert, unhörbar, mit
-Blitzesschnelle. Unser Haus gehört zu den größeren, unsere Einrichtung
-zu den besseren in Edenthal; die Association hat also in wenigen Häusern
-mehr zu thun, als bei uns; trotzdem rechnete sie uns für all&rsquo; diese
-Dienste im Vorjahre nicht mehr als 180 Stunden an, für welche
-wir nach dem bereits erwähnten Tarife jenes Jahres 72 Pfd. Sterling
-zu zahlen hatten. Ich bezweifle, daß irgend ein Haus gleich dem unsrigen
-in Europa oder Amerika um das Doppelte und Dreifache dieses Betrages
-in gleich gutem Stande erhalten werden könnte. Und dabei haben wir
-statt mit den leidigen &bdquo;Domestiken&ldquo;, mit intelligenten, höflichen, diensteifrigen
-Geschäftsleuten zu thun, die schon durch die Konkurrenz &mdash; denn
-wir haben in Edenthal sechs solche Associationen &mdash; genötigt sind, ihr
-Äußerstes zur Befriedigung der sie beschäftigenden Familien zu thun.
-Die Mitglieder dieser Associationen sind Gentleman, mit denen man
-füglich an der gleichen Tafel Platz nehmen kann, die sie soeben selber
-hergerichtet, und weder unsere zwei &bdquo;Ehrenfräulein&ldquo;, noch meine Schwester,
-würden den geringsten Anstand nehmen, bei Tische mit anderen Gästen
-auch Mitgliedern der Association für persönliche Dienstleistungen aufzuwarten.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Sie werden übrigens die Herren der Association heute noch kennen
-lernen, denn die unser Haus versorgenden Mitglieder werden sofort eintreffen,
-um sich mit peinlicher Genauigkeit über jeden Ihrer speziellen
-Wünsche zu unterrichten. Sie dürfen nicht ungeduldig werden, wenn
-<em>Sie</em> dabei einem etwas umständlichen Verhöre unterzogen werden; es
-<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
-geschieht zu Ihrem Besten und nur dies eine Mal. Haben Sie einmal
-den keine Kleinigkeit übersehenden Fragen der Association Stand gehalten,
-so wird es Ihnen, so lange Sie in Freiland sind, gewiß nicht
-widerfahren, des morgens ein anderes als das gewünschte Kleid an der
-bezeichneten Stelle, Ihr Bad um einige Grade zu kalt oder zu warm,
-Ihr Bett nicht in der gewohnten Weise bereitet zu finden, oder was
-dergleichen kleine Ungehörigkeiten mehr sind, aus deren Vermeidung zu
-nicht geringem Teile das häusliche Behagen besteht.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Mit der Association für persönliche Dienstleistungen wären wir
-fertig. Ich kann also mit der Erklärung unserer häuslichen Einrichtungen
-fortfahren. Hier dieses andere Telephon hat die auch in Europa gebräuchliche
-Bestimmung, mit dem Unterschiede allerdings, daß hierzulande
-Jedermann sein Telephon besitzt. Jene Schraube dort hat den Zweck
-die Kaltluftleitung zu öffnen, welche künstlich gekühlte und zugleich ein
-wenig ozonisierte Luft in jeden Raum leitet, falls die Hitze unangenehm
-werden sollte; da dieses ausnahmsweise &mdash; wenn nämlich in den heißen
-Monaten ein nächtliches Gewitter am Horizonte heraufzieht &mdash; auch des
-Nachts vorzukommen pflegt, so ist die Schraube vorsichtshalber in der
-Nähe des Bettes angebracht.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Ich teile Dir all&rsquo; diese Details mit, weil ich glaube, daß sie Dich
-als Beweise dafür interessieren werden, wie wunderbar es diese Freiländer
-verstanden haben, unsere abendländischen Haussklaven durch ihre
-&bdquo;eisernen Sklaven&ldquo; zu ersetzen. Bemerken will ich nur noch, daß die
-&bdquo;Association für persönliche Dienstleistungen&ldquo; selbst meines Vaters weitgehenden
-Ansprüchen durchaus zu genügen vermochte; er versichert, im
-Hotel Bristol zu Paris keine bessere Bedienung gefunden zu haben.
-</p>
-
-<p>
-Um Dich nicht zu ermüden, erlasse ich Dir die Schilderung des
-ersten und zweiten Frühstücks am nächsten Tage, und will Dir nur nach
-der Hauptmahlzeit, die um 6 Uhr genommen wird, den Mund wässern
-machen.
-</p>
-
-<p>
-David gestand mir auf Befragen, daß man uns zu Ehren den sonst
-gebräuchlichen vier Gängen einen fünften zugelegt habe; aber nicht in
-der Mannigfaltigkeit, sondern in der Vorzüglichkeit der Gerichte, wie nicht
-minder in der Abwesenheit nicht zur Gesellschaft gehöriger und deshalb
-störender Dienerschaft bestand der Reiz des Mahles. Ohne Übertreibung
-kann ich versichern, selten so vorzügliche Bereitung, niemals zuvor aber
-so erlesenes Material vereinigt gesehen zu haben. Das Fleisch der auf
-den würzigen Hochalpen gemästeten jungen Ochsen und zahmen Antilopen
-hat nirgend anderwärts seines Gleichen; die Gemüse stellen die seltensten
-Schaustücke einer Pariser Ausstellung in den Schatten; insbesondere aber
-ist die Pracht und Mannigfaltigkeit seiner Frucht- und Obstsorten der
-Stolz Freilands. Und nun die mysteriöse Art des Servierens! Ein
-in der Wand des Speisegemachs angebrachter Schrank entwickelte aus
-<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
-seinem Innern eine scheinbar unerschöpfliche Reihe von Eßwaren. Zunächst
-entnahm Fräulein Bertha diesem Schrank eine Terrine, welche sie vorsichtig
-an den elfenbeinenen Henkeln anfassen mußte &mdash; als der Deckel
-gehoben wurde, präsentierte sich eine köstlich dampfende Suppe. Dann
-gab ein anderes Fach des gleichen Schrankes einen Fisch heraus &mdash;
-derselbe war kalt, als ob er frisch vom Eise gekommen wäre. Nun
-folgte &mdash; wieder aus einem anderen Fache &mdash; ein warmes Ragout,
-diesem ein ditto Braten mit mannigfaltigen Gemüsen und Salat &mdash;
-dann kam Eis mit Backwerk, Obst, Käse. Den Schluß bildete ein
-schwarzer Kaffee, der aber vor den Augen der Gäste bereitet wurde,
-nebst erlesenen Cigarren &mdash; alles gleich dem Biere und den Weinen
-freiländisches Gewächs und Fabrikat. Dienerschaft war während der
-ganzen Mahlzeit nicht sichtbar; die drei reizenden Mädchen holten alles
-aus dem geheimnisvollen Schranke oder von einem in dessen Nachbarschaft
-befindlichen Serviertische.
-</p>
-
-<p>
-Frau Ney machte jetzt den Cicerone. &bdquo;Dieser Wandschrank&ldquo; &mdash;
-erklärte sie &mdash; &bdquo;ist zur einen Hälfte Eiskeller, d. h. von gekälteter Luft
-durchströmt, zur anderen Hälfte Herd, d. h. mit elektrischen Heizvorkehrungen
-ausgestattet; in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen
-befindet sich &mdash; durch schlechtleitende Wände von beiden getrennt &mdash;
-eine neutrale Abteilung von gewöhnlicher Zimmertemperatur. Außerdem
-hat dieser Schrank die Eigenheit, sich nach zwei Seiten zu öffnen,
-hier herein in den Speisesaal, und hinaus in den Korridor. Während
-wir nun tafelten, brachte die &bdquo;Speiseassociation&ldquo; in rascher Reihenfolge
-die bei ihr bestellten Gerichte, teils vollkommen bereitet, teils, wie z. B.
-den Braten und einige Gemüse, fertig adjustiert, aber noch roh. Die
-fertigen Speisen wurden vom Korridor aus in die verschiedenen Fächer
-des Schrankes eingeschoben; Braten und Gemüse kochte ein Mitglied
-der Association in der rückwärts befindlichen Küche mit gleichfalls elektrischem
-Herde gar. Das ist übrigens nicht die gewöhnliche Ordnung;
-wenn wir allein sind, wird in der Regel auch das Geschäft des Garkochens
-hier am Schranke besorgt und zwar von meinen Töchtern; das
-nimmt bloß kurze Zeit in Anspruch und Küchendünste sind dabei niemals
-zu spüren, denn dieser Speiseschrank, der Herd- und Eiskeller zugleich
-ist, vereinigt damit auch noch die Eigenschaften eines guten Ventilators.
-Das Reinigen der Geräte ist Sache der Association, die übrigens, wenn
-es gewünscht wird, auch das Geschäft des Servierens bei Tisch übernimmt.
-</p>
-
-<p>
-Der Kaffee wurde im Freien auf einer der Terrassen genommen;
-dann sangen die Damen zur Harfe und zum Klavier einige Lieder.
-Inzwischen machte uns Herr Ney mit den Familienverhältnissen der beiden
-Ziehtöchter seiner Frau bekannt. Die eine derselben &mdash; Leonore &mdash;
-ist eines Ackerbauers Kind aus Leikipia, die andere &mdash; Klementine &mdash;
-<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
-die Tochter eines seiner Departementschefs. Letzteres befremdete uns.
-&bdquo;Warum&ldquo; &mdash; so fragte ich &mdash; &bdquo;verläßt diese zweite Dame das elterliche
-Haus, das doch auch ein vornehmes, hochgebildetes sein muß?&ldquo;
-Herr Ney erklärte nun, daß die Ziehtöchter nicht sowohl das vornehme
-gebildete &bdquo;Haus&ldquo;, sondern ausschließlich die gebildete, geistreiche <em>Frau</em>
-des Hauses suchen. Der Mann mag noch so berühmt und gelehrt sein,
-wenn die Hausfrau ein gewöhnliches Geschöpf ist, betritt niemals eine
-Ziehtochter ihre Schwelle. Diese Institution hat eben bloß den Zweck,
-den betreffenden Jungfrauen den Vorteil eines höheren Beispiels, eines
-veredelnden weiblichen Umganges, nicht aber den Glanz günstiger äußerer
-Verhältnisse zu gewähren, was, nebenbei bemerkt, angesichts der hier
-herrschenden Zustände auch keinen rechten Sinn hätte, da im großen
-Ganzen jede freiländische Familie dem Wesen nach auf gleichem Fuße
-lebt. Die Mutter Klementinens nun ist eine herzensgute brave Dame,
-aber schließlich doch nur eine tüchtige Hausfrau; &bdquo;deshalb bat sie meine
-Ellen, die&ldquo;, so fügte er leuchtenden Auges hinzu, &bdquo;den edelsten Frauen
-unseres an herrlichen Weibern so reichen Landes zugezählt wird, um
-die Gunst, sich ihrer Klementine für zwei Jahre anzunehmen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Ich muß für heute schließen, denn Müdigkeit überwältigt mich,
-trotzdem ich Dir noch vielerlei über meine Erfahrungen sowohl innerhalb
-als außerhalb des Ney&rsquo;schen Hauses zu erzählen hätte ....
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-5-3">
-<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
-15. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="date">
-Edenthal, den 18. Juli.
-</p>
-
-<p class="first">
-Erst heute komme ich dazu, den vor Wochenfrist unterbrochenen
-Bericht über unsere hiesigen Erlebnisse wieder aufzunehmen. Begreiflich
-wirst Du finden, daß wir beide, mein Vater und ich, vor Begierde
-brannten, die Stadt zu besichtigen, welchen Wunsch erratend, uns Herr
-Ney schon am Morgen des ersten Tages einlud, unter seiner und seines
-Sohnes Führung eine Rundfahrt durch Edenthal zu unternehmen. Der
-Wagen warte schon.
-</p>
-
-<p>
-Es war das ein leicht und elegant gebautes Gefährte auf stählernen,
-denen eines Velocipeds ähnlichen Rädern, mit zwei bequemen, für je
-zwei Personen ausreichenden Sitzen. Da wir beide Davids zum Einsteigen
-auffordernde Handbewegung mit betretenen Mienen aufnahmen
-und keine Anstalt machten, der Einladung Folge zu leisten, bemerkte
-dieser erst, daß wir die &mdash; Pferde vermißten. Er sah sich also bemüßigt,
-uns zu erklären, daß man hierzulande aus mancherlei Gründen im
-Wagenverkehr, insbesondere im städtischen, die animalische Zugkraft durch
-mechanische ersetzt habe. Das sei sicherer, reinlicher und nebenbei auch
-billiger. Der Lenker dieser Gefährte, einer Art Draisinen, dessen Platz
-rechts auf dem vorderen Sitze ist und dessen Amt keinerlei Kraftaufwand
-oder besondere Kunstfertigkeit erfordert, setzt durch einen leichten Druck
-nach abwärts auf eine zur rechten Hand angebrachte kleine Hebelstange
-den Wagen in Bewegung, und zwar in desto raschere, je stärker gedrückt
-wird; ein Druck nach aufwärts verlangsamt den Gang oder bringt das
-Gefährte zum Stillstand; das Ausweichen oder Umlenken nach rechts
-oder links wird durch entsprechende Drehbewegungen desselben Hebels
-hervorgebracht. Die Kraft, welche die Räder in Bewegung setzt, ist
-weder Dampf noch Elektricität, sondern die Elasticität einer Spiralfeder,
-<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
-die jedoch nicht fix mit dem Wagen verbunden, sondern nach Bedarf
-einzuschalten oder zu entfernen ist.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Die oberhalb der vorderen Achse angebrachte, etwa ½ Meter lange
-und 20 Centimeter tiefe cylindrische Kapsel hier&ldquo;, so demonstrierte mein
-Freund &mdash; &bdquo;ist zur Aufnahme der Spiralfeder bestimmt. Vor dem Gebrauche
-wird die Feder &bdquo;aufgezogen&ldquo;, d. h. in Spannung gebracht und
-zwar in sehr hochgradige, ein Geschäft, welches Dampfmaschinen in den
-Ateliers der &bdquo;Association für Transportwesen&ldquo; besorgen, und solcherart
-einen entsprechenden Teil ihrer in Form von Dampfspannung vorhandenen
-Arbeitsenergie in die Form von Federnspannung umwandeln. Dieses
-in den Spiralen niedergelegte Quantum lebendiger Kraft genügt, um
-&mdash; durch einen sehr einfachen Mechanismus auf die Achse des Rades
-übertragen &mdash; ein solches Rad zehntausend Umdrehungen machen zu
-lassen, auch wenn der Wagen ziemlich schwer beladen ist, und da der
-Radumfang 2 Meter beträgt, so reicht der Kraftvorrat der Spirale zur
-Durchmessung eines Weges von 20 Kilometern hin. Die Schnelligkeit
-der Fortbewegung hängt einerseits von der Belastung des Wagens,
-anderseits von der mehr oder minder vollständigen Auslösung der Hemmvorrichtung
-&mdash; reguliert durch den Druck des oben erwähnten Hebels &mdash;
-ab; das zu erreichende Maximum bei mäßiger Belastung und gutem Wege
-beträgt bei diesen gewöhnlichen Draisinen 2½ Radumdrehungen, d. i.
-eine Fortbewegung um 5 Meter in der Sekunde oder 18 Kilometer in
-der Stunde: doch besitzen wir auch sogenannte Rennwagen, mit denen
-nahezu die doppelte Geschwindigkeit erreicht werden kann. Die Kraft
-der Spirale ist erschöpft, sowie das Rad seine 10000 Umdrehungen
-gemacht hat, was auch bei langsamerem Fahren binnen 1¼-1½
-Stunden eintritt; es muß daher bei länger dauernden oder rascheren
-Fahrten für angemessene Reserven gesorgt werden, was in mannigfaltiger
-Weise geschieht. Zunächst kann man eine oder mehrere aufgezogene
-Spiralen &mdash; denn wenn die Hemmung geschlossen bleibt, bewahren
-dieselben Monate und Jahre lang ihre Spannung &mdash; für welche
-hinten im Wagen eigene Reservebehälter angebracht sind, auf die Fahrt
-mitnehmen. Da jedoch jede Spirale mindestens 35 Kilogramm wiegt,
-so hat auch diese Art Kraftverlängerung ihre Grenzen; außerdem ist
-das Auswechseln der Spiralen immerhin keine angenehme Arbeit; man
-zieht daher in der Regel die zweite Methode der Kraftverlängerung vor,
-die darin besteht, daß man nach Verlauf einer gewissen Zeit bei einer
-der zahlreichen, auch anderen Zwecken dienenden Stationshäuschen der
-Transportassociation, die sich auf allen belebteren Straßen finden und
-durch weithin sichtbare Flaggen kenntlich sind, Halt macht und die
-Spirale wechseln läßt. Jede Station besitzt jederzeit einen genügenden
-Vorrat gespannter Spiralen und so kann man jede beliebige Zeit hindurch
-umherkutschieren, ohne stecken zu bleiben, zumal wenn man die
-<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
-Vorsicht gebraucht, für den Fall des Übersehens einer notwendig gewordenen
-Auswechslung eine Reservespirale mit sich zu führen. Solche
-Auswechslungsstationen aber giebt es nicht bloß in und um Edenthal,
-sondern in und um alle Städte Freilands und außerdem auf allen belebteren
-Landstraßen, und da die unterschiedlichen Associationen des
-gleichen Geschäftszweiges im ganzen Lande so klug waren, überall
-Spiralen von genau den gleichen Maßen einzuführen, so kann man
-das ganze Land bereisen und mit einiger Bestimmtheit darauf rechnen,
-überall entsprechende Relais zu finden. Will man jedoch völlig sicher
-gehen, so kann man sich durch seine Association die Relaisspiralen für
-eine vorher angegebene Route eigens bestellen, in welch letzterem Falle
-auch nichts hindert, die großen Straßen zu verlassen und minder
-frequentierte Nebenwege einzuschlagen, sofern dieselben nur nicht allzuschlecht
-und steil sind, was aber angesichts der hohen Vollendung des
-freiländischen Straßennetzes nur bei ganz entlegenen Gebirgswegen zu
-besorgen ist. Unsere Familie hat solcherart vor zwei Jahren das ganze
-Aberdare- und Baringo-Gebiet bereist, dabei 1700 Kilometer zurückgelegt
-und zu der ganzen Reise in aller Bequemlichkeit bloß 14 Tage gebraucht.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Wir entschlossen uns endlich kopfschüttelnd, den automatischen
-Wagen zu besteigen. Mein Vater mit Herrn Ney nahm den ersten, ich
-mit David den zweiten Sitz ein; ein Druck Ney&rsquo;s auf den Leithebel,
-und geräuschlos setzte sich die Maschine in Bewegung, unserem ersten Ziele,
-dem Edensee zu. Dessen Ufer sind mit Ausnahme der Nordwestseite,
-wo in einer Ausdehnung von 5 Kilometern die Quais für den Waarenverkehr
-sich erstrecken, sämtlich von vierfachen Palmenreihen umsäumt
-und bestehen teils aus breiten, bis zum Wasserspiegel hinabreichenden
-Marmorstufen, teils aus in den See vorspringenden Molen, bedeckt
-von säulengetragenen Wandelbahnen. An letzteren landen die zahlreichen,
-den See nach allen Richtungen durchfurchenden Passagierdampfer, die
-jedoch, um die balsamische Luft nicht zu verderben, mit vollkommen
-funktionierenden Rauchverzehrern versehen sein müssen. Auch das mißtönige
-Pfeifen der Dampfventile ist in Edenthal verpönt. Denn der
-Edensee ist nur nebenbei Verkehrsstraße; seine hauptsächliche Bestimmung
-ist die eines gewaltigen Zier- und Lustteiches. Ein großer Teil der
-Ufer wird von den luxuriös ausgestatteten Badeanstalten eingenommen,
-die weit in den See hineinreichen und zu jeder Tageszeit von tausenden
-Badender benützt werden. Neben diesen, zumeist von schattigen Lusthainen
-umgebenen Bädern haben sich auch die sämtlichen Theater-, Opern-
-und Konzerthäuser Edenthals, im Ganzen 16 an der Zahl, angesiedelt,
-die wir jedoch einstweilen nur von außen in Augenschein nahmen. Unsere
-Gastfreunde machten uns darauf aufmerksam, daß der Edensee seine
-Hauptreize erst bei Monden- oder Elektrodenschein entfalte, und daher
-an einem der nächsten Abende von uns aufgesucht werden solle.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
-Wir wendeten den Wagen und bogen in eine der Radialstraßen,
-die vom See zu den halbkreisförmig das Edenthal umgrenzenden Höhen
-führen. Hier leuchtete uns sofort, wenn auch noch reichlich 3 Kilometer
-entfernt, ein Riesenbau entgegen, der selbst den dieses Anblicks Gewohnten
-stets aufs neue mit staunender Bewunderung erfüllen muß, uns Fremden
-aber geradezu die Sinne verwirrte. Er ist ebenso unerreicht an
-Größe, wie unvergleichlich an Ebenmaß und harmonischer Vollendung
-all seiner Bestandteile. Er macht gleichzeitig den Eindruck des überwältigend
-Majestätischen und des märchenhaft Lieblichen. Dieses, vor
-5 Jahren vollendete Wunderwerk ist der Volkspalast von Freiland, der
-Sitz der zwölf obersten Verwaltungsbehörden und der zwölf Vertretungskörper.
-Er ist durchwegs aus weißem und gelbem Marmor gebaut,
-übertrifft an Flächenausdehnung den Vatikan, seine luftigen Kuppeln
-sind höher als der Petersdom; daß er mit einem Kostenaufwande von
-9½ Millionen Pfd. Sterling hergestellt werden konnte, erklärt sich bloß
-dadurch, daß alle Baugewerke wie nicht minder die hervorragendsten
-Künstler des Landes sich dazu drängten, bei dem Baue irgendwie verwendet
-zu werden. Und &mdash; so belehrte mich David &mdash; das geschah
-nicht etwa aus patriotischer, sondern aus rein künstlerischer Begeisterung.
-Freiland ist reich genug, um sein Volkshaus wie hoch immer zu bezahlen;
-um den Bau billiger zu gestalten, hätte sich also Niemand in Aufregung
-versetzt; aber die aus dem Entwurfe hervorleuchtende eigenartige, überwältigende
-Schönheit des Werkes hatte es allen Künstlern angethan.
-Er erinnere sich noch der fieberhaften Erregung, mit der schon die
-Mitglieder jener Prüfungskommission, welche über die vorgelegten Bauentwürfe
-zu entscheiden hatte, allenthalben erzählten, es sei ein Plan
-eingelaufen, von einem bis dahin unbekannten jungen Architekten, der
-Unsagbares biete; eine neue Ära der Baukunst sei angebrochen, ein
-neuer Baustil erfunden, der an Adel der Form die besten griechischen,
-an Großartigkeit die gewaltigsten ägyptischen Denkmale erreiche. Und
-diese Begeisterung teilte sich allen mit, die den Entwurf sahen; die
-Konkurrenten &mdash; es waren deren nicht weniger als 84, denn in Edenthal
-wurde damals schon viel und schön gebaut &mdash; zogen ausnahmslos
-ihre Entwürfe zurück, und huldigten freiwillig dem neuaufgegangenen
-Stern am Kunsthimmel.
-</p>
-
-<p>
-Wir waren sobald nicht dazu zu bewegen, uns der Besichtigung
-anderer Bauwerke zuzuwenden. Endlich, nachdem wir dreimal die Runde
-um den Volkspalast gemacht, willigten wir ein, demselben den Rücken
-zu kehren. Mit der Aufzählung der zahllosen Prachtbauten, an denen
-wir flüchtig vorbeirollten, will ich Dich verschonen; nur soviel lasse Dir
-sagen, daß die Mannigfaltigkeit und Großartigkeit der den unterschiedlichen
-wissenschaftlichen und künstlerischen Zwecken dienenden öffentlichen
-Anstalten auf mich durchaus verblüffend wirkte. Die Akademien, Museen,
-<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
-Laboratorien, Versuchsanstalten u. dergl. wollten gar kein Ende nehmen
-und allen sah man es auf den ersten Blick an, daß sie mit verschwenderischer
-Munifizenz ausgestattet seien.
-</p>
-
-<p>
-Nachdem wir schon an zahllosen öffentlichen Gebäuden vorbeigefahren
-waren, deren Bestimmung mir zum Teil nur schwer begreiflich
-gemacht werden konnte, da unser &bdquo;civilisiertes&ldquo; Europa nichts ihnen
-Ähnliches besitzt &mdash; ich nenne Dir beispielsweise bloß das Institut für
-&bdquo;animalische Zuchtversuche&ldquo;, welches den Zweck hat, durch Experiment
-und Beobachtung festzustellen, welchen Einfluß Erblichkeit, Lebensweise,
-Nahrung auf die Entwickelung des menschlichen Organismus äußern &mdash;
-fiel es mir auf, daß wir noch an keinem Spital vorbeigekommen. Da
-ich nun begierig war zu sehen, wie die weltberühmte freiländische Humanität,
-die seit Jahren mindestens die Hälfte aller Spitäler der Welt mit
-reichen Mitteln ausstattet, daheim im eigenen Lande sich der armen
-Kranken annehme, bat ich David, uns doch in ein solches zu führen.
-&bdquo;Ich kann Dir ebensowenig ein Spital, als einen Kerker oder eine
-Kaserne in Edenthal zeigen, aus dem sehr einfachen Grunde, weil wir
-deren in ganz Freiland keines besitzen&ldquo;, war dessen Antwort.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;&bdquo;Den Mangel von Kerker und Kaserne lasse ich gelten; man weiß
-ja, daß Ihr Freiländer Euch ohne Kriminal- und Militärwesen behelft;
-aber &mdash; so meinte ich &mdash; Krankheiten muß es doch auch hier geben, diese
-haben doch mit Euren socialen Einrichtungen nichts zu thun!&ldquo;&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Letzteres kann ich zwar nicht so unbedingt zugeben&ldquo;, mengte sich
-hier Herr Ney ins Gespräch; &bdquo;auch die Krankheiten haben unter dem
-Einflusse unserer socialen Institutionen abgenommen; aber verschwunden
-sind sie allerdings nicht; wir haben Kranke auch in Freiland &mdash; aber
-keine <em>armen</em> Kranken, weil wir eben keine Armen haben, weder kranke,
-noch gesunde. Wir besitzen daher auch nicht jene Sammelstellen des
-Massensiechtums, die man da draußen mit dem Namen &bdquo;Spital&ldquo; bezeichnet.
-Anstalten, in denen sich Kranke unter besonderer Aufsicht gegen
-gute Bezahlung verpflegen lassen können, haben wir allerdings und sie
-werden insbesondere in Fällen schwierigerer chirurgischer Operationen
-häufig aufgesucht; aber das sind Privatanstalten und sie gleichen in
-ihrer Einrichtung wie in ihrem Gebaren durchwegs Ihren feinsten Sanatorien
-für &bdquo;distinguierte Patienten&ldquo;.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Wir waren inzwischen des Fahrens müde geworden, was nach
-nahezu vierstündiger Rundfahrt trotz des sanften Ganges und der bequemen
-Einrichtung der Wagen erklärlich erscheint. Neys machten daher
-den Vorschlag, den automatischen Wagen heimzuschicken und den Rückweg
-zu Fuße anzutreten, was von uns gern angenommen wurde. Wir hielten
-vor einem der Stationshäuschen der Transportassociation, ließen dort das
-Gefährte zurück und durchschritten die schattigen Alleen, von denen jede
-Edenthaler Straße eingesäumt ist. Jetzt hatten wir Muße, die zierlichen
-<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
-Privathäuser näher zu betrachten, die zwar alle den eigentümlichen,
-halb an den maurischen, halb an den griechischen erinnernden Edenthaler
-Baustil zeigen, im übrigen aber weder an Größe noch an Ausstattung
-gleich sind. Den vornehmsten Reiz dieser Villen bilden deren wunderliebliche
-Gärten mit ihren erlesenen Bäumen, ihrer unglaublichen Blumenpracht,
-den weißen Marmorstatuen, Fontänen und den mannigfaltigen
-zahmen Tieren &mdash; insbesondere Äffchen, Papageien, Prachtfinken und
-allerlei Singvögeln &mdash; die sich in ihnen neben jauchzenden Kindern
-tummeln. Des weiteren überraschte uns die außerordentliche Reinlichkeit
-der Straßen, als deren Hauptgrund uns angegeben wurde, daß seit
-Erfindung der automatischen Wagen keinerlei Zugtiere in den Straßen
-freiländischer Städte Staub aufwühlen und Unrat hinterlassen.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Giebt es also keinerlei Pferde hier?&ldquo; fragte ich, worauf mir die
-Erklärung ward, daß deren allerdings und zwar in bedeutender Anzahl
-und von edelster Zucht vorhanden seien; dieselben würden jedoch nur
-außerhalb des eigentlichen Weichbildes der Stadt zu Promenaderitten
-durch die benachbarten Wiesen, Haine und Wälder benützt. &bdquo;Das muß
-aber hierzulande ein sehr teurer Luxus sein&ldquo;, meinte ich. &bdquo;Das Pferd
-selber und was es frißt, mag billig sein; aber da Menschenkraft in
-Freiland das teuerste von allen Dingen ist, so kann ich nicht begreifen,
-wie ein freiländischer Haushalt die Kosten eines Pferdewärters zu erschwingen
-vermag. Oder erhält diese Klasse Bediensteter hierzulande
-ausnahmsweise geringeren Lohn?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Letzteres wäre bei uns wohl kaum möglich&ldquo;, &mdash; antwortete lächelnd
-Herr Ney &mdash; &bdquo;denn wer würde dann in Freiland Pferdewärter sein wollen?
-Wir müssen auch dem Stallpersonal denselben Durchschnittsverdienst gewähren,
-wie anderen Arbeitern, und wenn ich für die sieben Reitpferde,
-die ich zum Gebrauche meiner Familie in den Ställen der Transport-Association
-halte, ein Wartepersonal nach abendländischem Zuschnitt bezahlen
-wollte, so würden die Kosten mein gesamtes Einkommen überschreiten.
-Aber das Rätsel löst sich sehr einfach dadurch, daß auch die Arbeit im
-Pferdestall mit Hülfe von Maschinen verrichtet wird, derart, daß durchschnittlich
-ein Mann für je 50 Tiere vollkommen genügt. Sie schütteln ungläubig
-den Kopf? Wenn Sie gesehen haben werden, binnen wie wenigen
-Minuten unsere durch mechanische Kraft in Rotation versetzten riesigen
-cylinderförmigen Bürsten ein Pferd spiegelblank putzen; binnen welch kurzer
-Zeit unsere Kehrmaschinen und Wasserleitungen den größten Stall von
-Mist und jeglicher Unreinlichkeit säubern; wie das Futter den Tieren
-automatisch zugeteilt wird: so dürfte Ihnen nicht bloß das, sondern ebenso
-die Thatsache einleuchten, daß in Freiland auch die &bdquo;Stallknechte&ldquo; gebildete
-Gentlemen sind, Geschäftsleute so ehrenwert und geachtet, wie alle anderen&ldquo;.
-</p>
-
-<p>
-Unter solchen Gesprächen waren wir daheim angelangt, wo ein
-ausgiebiger Imbiß genommen ward und einige Geschäfte Erledigung
-<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a>
-fanden. Nach dem bereits letzthin geschilderten Diner fuhren wir mit
-unseren Gastfreunden abermals zum Edensee und besuchten zunächst die
-große Oper, wo an diesem Tage das Werk eines freiländischen Kompositeurs
-gegeben wurde. Dasselbe war uns nicht neu, da es eines
-jener zahlreichen freiländischen Tonwerke ist, die auch im Auslande
-großen Anklang finden und häufig aufgeführt werden. Dagegen überraschte
-uns die eigenartige &mdash; allen freiländischen Theatern gemeinsame
-&mdash; Anordnung des Zuschauerraums. Die Sitzreihen bauen sich amphitheatralisch
-bis zu bedeutender Höhe auf; das Dach ruht auf Säulen,
-durch welche die äußere Luft frei hereinstreichen kann. Bis zu 10000
-Personen finden solcherart in den größeren dieser Theater bequem Platz,
-ohne daß jemals Hitze oder verdorbene Luft sich in denselben ansammeln
-könnte.
-</p>
-
-<p>
-Die Darstellung war eine vorzügliche, die Ausstattung in jeder
-Beziehung glänzend; trotzdem waren die Preise der &mdash; durch keinerlei
-Rangordnung unterschiedenen &mdash; Plätze nach abendländischen Begriffen
-lächerlich mäßig. Der Sitz kostete einen halben Schilling &mdash; doch wohlverstanden
-bloß hier, in der großen Oper; die anderen Theater sind
-alle noch wesentlich wohlfeiler. Unternehmer sind überall die städtischen
-Kommunen, als deren Angestellte die ausübenden Künstler sowohl als
-das Regiepersonal fungieren; als ökonomischer Grundsatz gilt dabei
-allgemein, daß die Kosten des Baues und Unterhalts der Gebäude vom
-allgemeinen Kommunalbudget zu tragen seien, und daß die Eintrittspreise
-bloß die Gehalte und Tantiemen des angestellten Personals und
-die Ausstattung zu decken haben.
-</p>
-
-<p>
-Von David erfuhr ich, daß Edenthal außer der großen Oper noch
-eine Spieloper und vier Schauspielhäuser besitze, ferner drei Konzerthäuser,
-in denen allabendlich Orchester-, Kammermusik und Chöre sich
-hören ließen. Als freiländische Specialität aber nannte er mir fünf
-verschiedene &bdquo;Lehrtheater&ldquo;, in denen astronomische, archäologische, geologische,
-paläontologische, physikalische, geschichtliche, geographische, naturgeschichtliche,
-kurz alle erdenklichen wissenschaftlichen Vorträge mit dem
-umfassendsten Aufwande plastischer Darstellungskunst den Hörern vorgeführt
-werden. Die Vorträge sind von den geistreichsten Gelehrten
-verfaßt, von den gewandtesten Rednern vorgetragen, von den tüchtigsten
-Ingenieuren und Dekorateuren in Scene gesetzt. Diese Art Theater
-seien die besuchtesten; in der Regel genügen die vorhandenen Plätze
-nicht, so daß die Kommune kürzlich zwei neue derartige Darstellungshäuser
-bauen ließ, die binnen wenigen Monaten eröffnet werden dürften.
-Die Großartigkeit dieser Vorführungen, die ich an den nächsten Abenden
-kennen lernte, ist in der That staunenerregend und wenn auch die
-Jugend bei den meisten derselben den größeren Teil des Auditoriums
-stellt, so werden dieselben doch von Erwachsenen sehr fleißig besucht.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a>
-Nach dem Theater mieteten Neys am Ufer eine der zahllosen dort
-von einer Association bereit gehaltenen Gondeln mit mechanischer Triebkraft
-(von elastischen Federn getriebene Propellerschrauben) und wir
-steuerten in den See hinaus. Derselbe war von gewaltigen, rings am
-Ufer in beträchtlicher Höhe angebrachten elektrischen Reflektoren taghell
-erleuchtet und es stand uns heute ein ganz besonderer Genuß bevor,
-denn Walter, der berühmteste Liederkomponist Freilands, ließ an diesem
-Abend eine neue Kantate durch die Mitglieder des Edenthaler Choralvereins
-zur ersten Aufführung bringen. Dieser Verein, welcher zu
-seinen allwöchentlichen Vorträgen in der Regel den Edensee als Schauplatz
-wählt, verfügt zu solchen Zwecken über mehrere der großartigsten
-Prachtbarken, deren bisweilen geradezu märchenhafte Ausstattung durch
-freiwillige Beiträge seiner zahlreichen Mitglieder und Verehrer gedeckt
-wird.
-</p>
-
-<p>
-War es die Wirkung der ganz eigenartigen Scenerie, war es die
-Schönheit des Tonstückes an sich &mdash; der Effekt, den die Kantate auf
-mich machte, war ein überwältigender. Als wir uns auf den Heimweg
-machten, gestand ich David, daß mir niemals zuvor die gleichsam
-transcendentale Gewalt der Töne so deutlich geworden, wie während
-dieser Vorstellung am See; ich hatte durchaus den Eindruck, als ob der
-Weltgeist in diesen Klängen zu meiner Seele spräche und als ob diese
-auch ganz genau seine Sprache verstünde und nur unvermögend sei,
-dieselbe in gewöhnliches Italienisch oder Englisch zu übersetzen. Zugleich
-aber äußerte ich mein Erstaunen darüber, daß ein so junges
-Gemeinwesen, wie das freiländische, in allen Kunstarten Anerkennenswertes,
-in zweien aber, in Architektur und Tonkunst, den besten Vorbildern
-aller Zeiten Ebenbürtiges leiste.
-</p>
-
-<p>
-Frau Ney gab hierüber ihre Meinung dahin ab, daß dies die
-schlechthin notwendige Konsequenz der Gesamtrichtung des freiländischen
-Geistes sei. Wo fröhlicher Lebensgenuß mit ruhiger Muße sich paarten,
-dort müßten die Künste gedeihen, die ja in Wahrheit nichts anderes
-seien, als Produkte des Reichtums und edler Muße. Und daß gerade
-Architektur und Musik den Anfang der Kunstblüte machten, lasse sich
-ganz ungezwungen erklären. Erstere mußte durch die, dem neuartigen
-großartigen Gemeinwesen entsprungenen Bedürfnisse in erster Reihe
-mächtig angeregt werden; auch der Einfluß der gewaltigen und doch
-lieblichen Natur des Landes sei hier unverkennbar. Die Musik dagegen
-sei die unmittelbarste aller Kunstformen, diejenige, deren sich der Genius
-der Menschheit stets in erster Reihe bediene, wenn eine neue Ära
-künstlerischen Schaffens durch neue Arten des Fühlens und Denkens
-eingeleitet worden sei.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Bei dem so überaus regen Sinne Ihres Volkes für das Schöne&ldquo;
-&mdash; so wandte sich mein Vater an Frau Ney &mdash; &bdquo;nimmt es mich nur
-<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a>
-Wunder, daß zum Schmucke der schönsten Zierde Freilands, seiner
-königlich gearteten Frauen nämlich, so wenig aufgewendet wird. Zwar
-die Tracht ist kleidsam, und nirgend bisher habe ich noch so erlesenen
-Geschmack in der Wahl der geeignetsten Formen und Farben getroffen;
-aber eigentliches Geschmeide sieht man nicht. Hie und da Goldreifen
-im Haar, da und dort goldene oder silberne Spangen an den
-Kleidern, das ist alles; Edelsteine und Perlen scheinen bei den hiesigen
-Damen verpönt zu sein. Woran liegt das?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Der Grund liegt darin&ldquo; &mdash; so antwortete Frau Ney &mdash; &bdquo;daß
-uns Freiländern jene ausschließliche Triebfeder fehlt, die den anderen
-Völkern die Geschmeide eigentlich begehrenswert macht. Eitelkeit ist
-auch hierzulande heimisch, unter Männern sowohl als Frauen; aber sie
-findet in der Schaustellung von sogenannten &bdquo;Kostbarkeiten&ldquo;, deren
-alleiniger Vorzug vor ähnlichen Dingen lediglich darin besteht, daß sie
-teuer sind, kein Genüge. Glauben Sie wirklich, daß es die <em>Schönheit</em>
-der Diamanten ist, was gar manche unserer bedauernswerten
-Schwestern da draußen Glück und Ehre in die Schanze schlagen
-läßt, um in den Besitz solch glitzernder Steinchen zu gelangen? Warum
-stieße dann dasselbe Weib, welches sich um echter Steine willen verkaufte,
-unechte, die es in Wahrheit von jenen gar nicht zu unterscheiden
-vermag, achtlos beiseite? Und zweifeln Sie daran, daß auch der echte
-Diamant sofort zum unbeachteten Kiesel würde, den keine &bdquo;Dame von
-Geschmack&ldquo; fernerhin eines Blickes würdigte, sowie dieser Stein aus
-irgend einem Grunde seinen hohen Preis verlöre? Die Geschmeide
-gefallen also nicht, weil sie schön, sondern weil sie kostbar sind. Sie
-schmeicheln der Eitelkeit nicht durch ihren Glanz, sondern durch das
-Bewußtsein, welches sie in ihrem Eigner erwecken, in diesen unscheinbaren
-Dingerchen den Extrakt so und so vieler Menschenleben zu besitzen.
-&bdquo;&bdquo;Seht her, hier an meinem Halse trage ich einen Talisman, um den
-Hunderte von Knechten Jahre lang ihr bestes Mark vergeuden mußten
-und dessen Gewalt auch Euch, die Ihr die netten Dingerchen ehrfurchtsvoll
-anstaunt, mir als Sklaven zu Füßen legen, allen meinen Launen
-dienstbar machen könnte! Seht her, ich bin mehr als Ihr, ich bin die
-Herrin, die auf nichtigen Tand vergeuden kann, wonach Ihr vergeblich
-giert um Euren Hunger zu stillen!&ldquo;&ldquo; Das etwa ist&rsquo;s, was das Diamantenkollier
-aller Welt verkündet, und <em>darum</em> hat seine Besitzerin
-vielleicht sich und andere verraten, elend gemacht, um es als ihr Eigen
-um den Nacken schlingen zu können. Denn beachten Sie wohl, das
-Geschmeide schmückt nur, wenn es Eigentum des Trägers ist; entliehenes
-Geschmeide zu tragen ist ignobel, gilt als unanständig, und mit Recht,
-denn entliehenes Geschmeide lügt, es ist eine Krone, die ihrem Träger
-den Schein einer Macht verleihen soll, die er in Wahrheit nicht
-besitzt.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a>
-&bdquo;Die Macht nun, deren legitimen Anspruch das Geschmeide zur
-Schau tragen soll, die Macht über fremdes Leben und fremde Leiber
-existiert in Freiland nicht. Zwar wer einen Diamanten von beispielsweise
-600 Pfund Wert besäße, der hätte damit auch hierzulande das
-Verfügungsrecht über einjährigen Ertrag menschlicher Arbeit; aber wer
-ihn deshalb erwürbe und zur Schau trüge, würde sich damit &mdash; angesichts
-unserer Institutionen &mdash; doch nur lächerlich machen; denn
-<em>seine eigene Arbeit</em> wäre es, deren Ertrag er solcherart festlegte,
-gleich gegen gleich müßte er mit Jedem, dessen Arbeit er sich um den
-Stein dienstbar machen wollte, tauschen und statt ehrfurchtsvollen
-Staunens könnte er bloß bedauerndes Mitleid erwecken, Mitleid darüber,
-daß er sich bessere Genüsse versagt, oder nutzlose Anstrengungen auferlegt,
-um den albernen Kiesel zu erwerben. Es wäre das gleichsam,
-als ob der Besitzer des Diamanten aller Welt verkünden wollte; &bdquo;&bdquo;Seht
-her, während Ihr genosset oder ruhtet, habe ich gedarbt und gearbeitet,
-um den Tand zu gewinnen&ldquo;&ldquo;! Nicht der Mächtigere, der Thörichtere
-wäre er in Jedermanns Augen &mdash; der Stein, dessen fascinierende Kraft
-an die Vorstellung geknüpft ist, daß sein Besitzer zu den Herren der
-Erde gehöre, die über fremde Arbeit verfügen und <em>deshalb</em> sich den
-Scherz erlauben dürfen, das Produkt so großen Schweißes in nutzlosen
-Sächelchen anzulegen &mdash; der Stein kann für ihn keinen Reiz mehr
-haben. Wer ihn in Freiland kauft, der gliche Jenem, der sein Leben
-an den Besitz einer Krone setzt, die aufgehört hat, das Symbol der
-Herrschaft zu sein.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Sie sprechen also dem Geschmeide alle wirklich schmückende Kraft
-ab? Sie leugnen, daß Perlen oder Diamanten geeignet sind, die Reize
-eines schönen Körpers noch wesentlich hervorzuheben?&ldquo; entgegnete mein
-Vater.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Das thue ich allerdings&ldquo;, war die Antwort. &bdquo;Nicht daß ich die
-dekorative Wirkung an sich überall bestreiten wollte; nur leugne ich, daß
-sich nicht genau der nämliche, ja in der Regel ein weit besserer Effekt
-durch andere Mittel auch erreichen läßt. Im allgemeinen aber schmückt
-der, seiner ganzen Beschaffenheit nach gar nicht zum menschlichen Körper
-passende Tand durchaus nicht, entstellt vielmehr in neunundneunzig
-unter hundert Fällen den stolzen Besitzer. Daß ein diamantengeschmücktes
-Weib Euch Herren da draußen besser gefällt, als ein blumengeschmücktes,
-hat genau den nämlichen Grund, aus welchem Euch &mdash; Ihr mögt
-noch so starre Republikaner sein &mdash; eine Königin schöner erscheinen
-wird, als ihre vor dem Richterstuhle unbefangener Ästhetik vielleicht
-schöneren Rivalinnen. Ein gewisses Etwas, ein eigentümlicher Zauber
-umschwebt sie &mdash; der Zauber &mdash; Sie entschuldigen das harte Wort
-&mdash; des Knechtsinnes; dieser, nicht Euer ästhetisches Urteil ist es, was
-Euch weismacht, das Diadem verleihe höheren Reiz, als der Kranz
-<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a>
-von Rosen; lasset die Rose zum Symbol der Herrschaft werden,
-dessen sich nur Königinnen bedienen dürfen, und Ihr werdet jetzt ohne
-Zweifel finden, daß die Rosen es sind, die wahre Majestät zur Geltung
-bringen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Eitel sind wir Freiländerinnen deshalb doch. Wir wollen nicht
-bloß schön sein, sondern auch schön erscheinen und die Männer bestärken
-uns nach Kräften in diesem Bestreben; nur bitte ich wohl im Auge zu
-behalten: wir wollen nicht prunken, sondern gefallen. Deshalb sind
-Kleid und Zierat einer Freiländerin nie Selbstzweck, sondern Mittel
-zum Zwecke. Eine richtige Modedame in Europa entstellt sich oft in
-der greulichsten Weise, weil es ihr weniger auf den Effekt ihrer Person,
-als auf den ihrer Kleider, ihres Putzes ankommt; sie wählt nicht
-das Gewand, welches ihre persönlichen Reize am günstigsten hervorhebt, sondern
-das kostbarste, welches ihre Mittel ihr gestatten. Wir halten es
-anders; schon unsere eigenen ästhetischen Anschauungen bewahren uns
-vor der Thorheit, einem Kleiderkünstler zu Liebe andere Gewänder anzulegen,
-als jene, von welchen wir vermuten oder wissen, daß sie
-unsere Gestalt am vorteilhaftesten zur Geltung bringen. Außerdem aber
-steht uns diesbezüglich jederzeit der Rat künstlerisch gebildeter Männer
-zur Seite. Kein hervorragender Maler verschmäht es, jungen Damen
-Aufschluß über die passendste Wahl ihrer Toilette zu gewähren, ja es
-werden besondere Vorträge über diesen wichtigen Punkt gehalten. Natürlich
-kann es eine strenge Mode bei uns nicht geben, da Zusammenstellung,
-Faltenwurf und Farbe der Kleidung durchweg der Individualität
-der Trägerin angepaßt sind; daß Hagere und Wohlbeleibte, Große und
-Kleine, Blonde und Brünette, Imposante und Niedliche, sich nach der
-gleichen Schablone tragen sollten, gälte hier zu Lande als Gipfel der
-Abgeschmacktheit. Ebenso lächerlich aber fände es eine Freiländerin, die
-gefallen will, mutete man ihr zu, ein Kleid, eine Haartracht, die sie
-als für sich passend einmal erprobt, zu wechseln, bloß aus dem Grunde,
-weil man sie in dieser Tracht schon zu oft gesehen. Wir begreifen es
-nicht, daß man, um zu gefallen, am besten thue, sich möglichst mannigfaltig
-zu entstellen; insbesondere aber halten wir, darin abermals unterstützt
-von unseren Männern, zähe fest an dem Glauben, daß die
-menschliche Gestalt durch das Kleid zwar bedeckt und verhüllt, aber nicht
-verzerrt werden dürfe.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Wir erklärten galant, diese Toiletteprinzipien durchaus zu billigen.
-Die Wahrheit ist, daß der an die Excentricitäten abendländischer Moden
-gewohnte Fremde in Freiland angelangt, die nach künstlerischen Grundsätzen
-zusammengestellte hiesige Frauentracht anfangs etwas zu einfach,
-dann aber die Rückkehr zu den abendländischen Zerrbildern
-schlechterdings unerträglich findet. Du wirst Dich erinnern, daß
-David uns in Rom versicherte, die europäischen Moden machten ihm
-<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a>
-genau den nämlichen Eindruck, wie die der afrikanischen Wilden; nach
-kaum einwöchentlichem Aufenthalte hier beginne ich diese Auffassung
-zu teilen.
-</p>
-
-<p>
-Doch ich sehe, daß ich abermals schließen muß, ohne meinen Bericht
-erschöpft zu haben. Mit dem Versprechen, das Versäumte nachzuholen
-</p>
-
-<p class="sign">
-Dein .....<br />
-.....
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-5-4">
-<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a>
-16. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="date">
-Edenthal, den 28. Juli.
-</p>
-
-<p class="first">
-Ich konnte mein Versprechen, Dir bald zu schreiben, nicht halten,
-weil die vergangene Woche einer Reihe kürzerer oder längerer Ausflüge
-gewidmet war, die ich mit David teils zu Pferde oder mittels automatischer
-Draisinen in die unmittelbare Umgebung Edenthals und der
-benachbarten Danastadt, teils mit der Eisenbahn bis an die Ufer des
-Ukerewe unternahm. Ich lernte solcherart eine ziemliche Anzahl freiländischer
-Städte und ebenso mehrere zerstreute Industrie- und Ackerbaukolonien
-kennen. Ich sah die lieblichen, in schattigen Wäldern eingebetteten
-Orte des Aberdaregebirges mit ihrer gewaltigen Metallindustrie;
-Naiwaschacity, das Emporium der Lederindustrieen und des
-Fleischexports, dessen Villenreihen den ganzen Naiwaschasee in einer
-Längenausdehnung von 64 Kilometern umrahmen; die Ansiedelungen
-in den Bergen nördlich vom Baringosee mit ihren zahllosen Herden
-edler Pferde, Rinder, Schweine, Schafe, zahmer Elefanten, Büffel,
-Zebras, mit ihren Gold- und Silberbergwerken, und Ripon, das
-Centrum der Mühlenindustrie und des Ukerwehandels. In allen
-Städten fand ich dem Wesen nach die nämlichen Einrichtungen wie in
-Edenthal; elektrische Eisenbahnen in den Hauptstraßen, elektrische Beleuchtung
-und Beheizung, Bibliotheken, Theater u. s. w. Was mich
-jedoch zumeist überraschte, war, daß auch die ländlichen Ansiedelungen
-mit sehr geringen Ausnahmen eines hochentwickelten städtischen Comforts
-nicht entbehrten. Elektrische Bahnen zogen auch an ihnen vorüber
-und setzten sie mit den Hauptverkehrslinien in Verbindung; wo
-nur 5-6 Villen &mdash; denn der Villenstil herrscht ausnahmslos durch
-ganz Freiland &mdash; nebeneinander standen, fanden sich elektrische Beleuchtung
-und Beheizung; Telegraph und Telephon fehlten selbst dem entlegensten
-<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a>
-Gebirgsthale nicht, ebenso keinem Hause das Bad; und wo
-einige hundert Villen in nicht gar zu großer Entfernung zerstreut
-lagen, war sicherlich ein Theater für sie gebaut, in welchem abwechselnd
-Schauspiele, Concerte, Vorträge abgehalten wurden. An Schulen gab
-es allenthalben Überfluß, und wo irgend ein Ansiedler sich allzu einsam
-angebaut hatte, als daß die Kinder eine in der Nähe gelegene
-Schule hätten besuchen können, dort waren diese bei befreundeten
-Familien untergebracht, denn der Jugendunterricht darf in Freiland
-unter keinen Umständen leiden.
-</p>
-
-<p>
-Daß ich die Gelegenheit nicht versäumte, mir das freiländische
-Volk an seiner Arbeit &mdash; auf dem Felde und in der Fabrik &mdash; zu
-betrachten, ist selbstverständlich. Hier wurde mir die Größe Freilands
-erst offenbar. Ungeheuer, überwältigend war, was ich allenthalben sah.
-Von der Großartigkeit der maschinellen Einrichtungen, von der unermeßlichen
-Kraftfülle, welche die gebändigten Elemente hier dem Menschen
-zur Verfügung stellen, kann sich der Abendländer ebensowenig eine
-Vorstellung machen, als von dem raffinierten, ich möchte fast sagen
-aristokratischen Komfort, mit welchem die Arbeit überall umgeben ist.
-Keine schmutzige, aufreibende Handlangung verrichtet der Mensch; die
-sinnreichsten Apparate entheben ihn jedes wirklich unangenehmen Geschäftes;
-er hat der Hauptsache nach bloß seine unermüdlichen eisernen
-Sklaven zu überwachen. Und nicht einmal durch ihr Klappern, Stöhnen
-und Rasseln dürfen diese überall geschäftigen Diener das Ohr ihrer
-Herren beleidigen. Ich bewegte mich in den Stampfwerken von Leikipia,
-die den mineralischen Dünger für die dortige Bodenassociation bereiten,
-zwischen Steinzermalmern von tausenden Centnern Stoßkraft, und kein
-lästiges Geräusch war zu hören, kein Atom Staub zu sehen. Ich durchschritt
-Eisenwerke, in denen Stahlhämmer bis zu 3000 Tonnen Fallgewicht
-verwendet werden; die gleiche Ruhe herrschte in den lichten
-freundlichen Fabriksälen, kein Ruß auf Händen oder Gesichtern der
-Arbeiter störte den Eindruck, daß man es mit Gentlemen zu thun habe,
-die sich dazu herbeilassen, die Schmiedearbeit der Elemente zu überwachen.
-Ich sah auf den Feldern ackern und säen &mdash; wieder dieselbe
-Erscheinung des Herrn der Schöpfung, der durch den Druck eines
-Fingers die Riesen &bdquo;Dampf&ldquo; oder &bdquo;Elektricität&ldquo; nach seinem Willen
-lenkt, wohin und wozu es ihm nützlich dünkt. Ich war <em>unter</em> der
-Erde in den Kohlengruben und in den Eisenminen; auch dort fand ich
-es nicht anders: keinen Schmutz, keine aufreibende Plage für den
-Menschen, der in vornehmer Ruhe zusieht, wie seine gehorsamen Geschöpfe
-aus Stahl und Eisen für ihn schaffen ohne zu ermüden und
-zu murren, von ihm nichts anderes verlangend, als daß er sie lenke.
-</p>
-
-<p>
-Während der nämlichen Ausflüge lernte ich auch eine Reihe besonderer
-in Freiland üblicher Vergnügungen näher kennen; ich besuchte
-<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a>
-mit David die mannigfaltigen entzückenden Aussichtspunkte des Kenia
-und der Aberdareberge, auf denen es allsonntäglich Gesang und Tanz
-der jungen Leute gibt, gewürzt in der Regel durch eine Überraschung,
-welche die Vergnügungskomitees &mdash; eine ständige Institution in jedem
-freiländischen Orte &mdash; zur Feier eines beliebigen Anlasses veranstalten.
-Mir waren die Eisfeste auf dem großen Eislaufteiche am Keniagletscher
-das Überraschendste. Dort hatten vor fünf Jahren die vereinigten Vergnügungskomitees
-von Edenthal, Danastadt und Oberleikipia ein 2400
-Hektaren messendes, 4250 Meter über dem Meeresspiegel gelegenes Plateau
-in einen Teich verwandeln lassen, der von den Wässern der unmittelbar
-daran grenzenden großen Eisfelder gespeist wird. Von Ende
-Mai bis Mitte August gibt es nun in dieser Höhe stets sehr empfindliche
-Nachtfröste, die das ohnehin dem Gefrierpunkte nahe Gletscherwasser
-des Teiches sehr rasch in eine solide Eisbahn verwandeln. Nachdem
-hierauf dieser großartige Eislaufplatz seinem ganzen Umfange nach mit
-luxuriösen heizbaren Warte-, Toilette und Speise-Sälen umgeben, des
-ferneren mittels einer leistungsfähigen Zahnradbahn mit dem Fuße des
-Berges in Verbindung gebracht worden war, übergaben die vereinigten
-Komitees ihr Werk der Öffentlichkeit zur unentgeltlichen Benutzung.
-Die, wie sich denken läßt, sehr beträchtlichen Anlagekosten waren mit
-Leichtigkeit im Wege freiwilliger Subskriptionen aufgebracht worden,
-und ebenso decken sich die Erfordernisse der Instandhaltung überreichlich
-durch freiwillige Beiträge der zahlreichen Besucher. Denn die ganze
-kühle Jahreszeit hindurch ist die Riesenfläche des Eisteiches von Schlittschuhläufern
-und insbesondere von Schlittschuhläuferinnen nicht bloß
-aus der Umgebung des Kenia auf hundert Kilometer in der Runde,
-sondern aus allen Teilen Freilands bedeckt. Selbst von den Gestaden
-des indischen Ozeans und der großen Seen kommen Freunde und
-Freundinnen dieses gesunden Sports hierher, um an den zeitweilig
-veranstalteten glänzenden Eisfesten teilzunehmen. Gegenwärtig beschäftigt
-man sich mit dem Plane, unmittelbar am Eislaufplatze ein großartiges
-Hotel zu errichten, das besonders ausdauernden Verehrern
-dieser ebenso graziösen als gesunden Leibesübung Gelegenheit geben soll,
-in 4200 Meter Seehöhe zu übernachten. Des ferneren hat die große
-Beliebtheit des Kenia-Eisteiches den Anlaß gegeben, auch am Kilima-Ndscharo,
-und zwar dort in einer noch um 500 Meter höheren Lage
-ein ähnliches Unternehmen ins Werk zu setzen, welches gegenwärtig
-seiner Vollendung nahe ist; ein drittes, in den Mondbergen am Albertsee,
-hat einstweilen das Versuchsstadium nicht überschritten, da dem
-dortigen Komitee die Auffindung eines zu solchem Zwecke genügend hoch
-gelegenen und dabei ausreichend großen Platzes bisher nicht recht gelungen
-sein soll.
-</p>
-
-<p>
-Mehr als all&rsquo; diese Vergnügungseinrichtungen aber erregte die ungetrübte,
-<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a>
-im besten Sinne des Wortes kindliche Lust und Fröhlichkeit
-meine Bewunderung, mit denen nicht bloß diese Veranstaltungen, sondern
-das ganze Leben in Freiland genossen werden. Man gewinnt durchaus
-den Eindruck, als ob die Sorge hierzulande unbekannt wäre. Jene
-unbefangene Heiterkeit, die bei uns in Europa der beneidenswerte Vorzug
-bloß der ersten Jugendjahre ist, thront hier auf jeder Stirne, strahlt
-aus Jedermanns Auge. Durchwandere welches civilisierte Land der
-Welt immer, Du wirst selten, ja ich möchte fast behaupten niemals,
-einen Erwachsenen finden, auf dessen Antlitz behagliches Glück, ungetrübter
-Lebensgenuß zu lesen wäre; mit sorgenschweren, meist sogar
-kummervollen Mienen hasten oder schleichen bei uns daheim die Menschen
-aneinander vorüber, und zeigt sich irgendwo wirkliche, nicht bloß erkünstelte
-Fröhlichkeit, so ist es beinahe ausnahmslos die der Gedankenlosigkeit.
-Glücklich sind bei uns höchstens die &bdquo;Armen an Geist&ldquo;; die
-Reflexion scheint uns nur gegeben, um über des Lebens Not und Qual
-nachzudenken. Hier zum erstenmale finde ich Menschengesichter, die den
-Stempel bewußten Denkens und unbefangenen Glückes zugleich zur
-Schau tragen. Und dieses Schauspiel allgemein glücklicher Zufriedenheit
-ist für mich erhebender als alles, was wir hier zu sehen bekamen;
-freier und wohliger atmet die Brust; es ist, als ob ich zum erstenmale
-aus der beängstigenden Atmosphäre eines mit erstickenden Dünsten geschwängerten
-Kerkers hinausgelangt wäre in die freie Natur, wo balsamische
-reine Lüfte mich umfächeln. &bdquo;Woher kommt Euch allen, allen
-dieser Abglanz sonniger Heiterkeit?&ldquo; fragte ich David.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Sie ist das naturgemäße Ergebnis der heiteren Sorglosigkeit, in
-der wir alle leben&ldquo;, war seine Antwort. &bdquo;Denn es scheint nicht bloß,
-es ist wirklich an dem, daß die Sorge hierzulande unbekannt ist, zum
-mindesten jene häßlichste, erniedrigendste aller Sorgen, die um das tägliche
-Brot. Nicht daß wir reicher sind, und auch nicht, daß wir es
-alle sind, ist diesbezüglich das Entscheidende, sondern daß wir, und
-zwar wohlverstanden jeder Einzelne unter uns, die absolute Sicherheit
-besitzen, es stets zu bleiben. Hier <em>kann</em> niemand verarmen, denn unveräußerlich
-ist ihm sein Anteil am unermeßlichen Vermögen der Gesamtheit.
-Heiter und lachend liegt das &bdquo;Morgen&ldquo; vor uns; es kann
-uns nichts Schlimmes bringen, denn Gewähr und Sicherheit für das
-Wohlergehen auch des Letzten unter uns ist eine Macht, so stark und
-dauerhaft, wie der Bestand unserer Rasse auf diesem Planeten, die
-Macht des menschlichen Fortschritts. Wir gleichen in diesem Punkte
-wirklich den Kindern, denen Schirm und Hort des elterlichen Hauses
-jede materielle Sorge fernhält.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Und befürchtet Ihr nicht&ldquo; &mdash; so warf ich ein &mdash; &bdquo;daß diese
-Sorglosigkeit schließlich gerade dem ein Ende bereiten wird, worauf sie
-sich stützt, dem Fortschritte nämlich? Bisher zum mindesten waren noch
-<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a>
-stets Not und Sorge die besten Triebfedern menschlicher Betriebsamkeit;
-erlahmen diese beiden, hat die quälende Angst um das Morgen ihr
-Ende, so wird auch der Fortschritt erlahmen, Stillstand, dann Rückschritt
-werden ihm folgen und zugleich mit der dadurch notwendigerweise
-eintretenden Verarmung werden auch Not und Sorge wieder
-ihren Einzug halten. Daß bisher unter Euch nichts von alledem
-zu bemerken ist, muß ich zugeben; aber es kann mich dies nicht
-beruhigen. Denn einstweilen genießt Ihr in Freiland noch die Früchte
-des Fortschritts Anderer. Was unter Not und Qual ungezählter Jahrtausende
-ersonnen und erfunden wurde, unter Not und Qual ungezählter
-Millionen außerhalb der Grenzen Eures Landes auch heute noch ersonnen
-und erfunden wird, das ist&rsquo;s, was Euer Glück einstweilen ermöglicht.
-Wie aber dann, wenn dereinst &mdash; was Ihr ja offenbar
-anstrebt &mdash; die <em>ganze</em> Menschheit sich zu Euren Prinzipien bekehrt?
-Glaubt Ihr, daß die Not gänzlich von der Erdoberfläche verschwinden
-kann, ohne den Fortschritt mit sich zu nehmen?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Das glauben wir nicht bloß&ldquo; &mdash; war seine Antwort &mdash; &bdquo;wir
-wissen es, und jedermann, der unbeirrt durch überkommene Vorurteile
-die Thatsachen prüft, muß unsere Erkenntnis teilen. Kampf ums Dasein
-ist das unerbittliche Gebot, an welches die Natur den Fortschritt,
-ja die Existenz jeglichen lebenden Wesens geknüpft hat &mdash; das begreifen
-wir besser, als irgend jemand da draußen. Aber daß dieser Kampf
-gerade durch den Hunger gestachelt werden muß, leugnen wir, und
-ebenso, daß er notwendigerweise als ein gegenseitiger Kampf der Individuen
-der nämlichen Art aufzufassen ist. Auch wir kämpfen den
-Kampf ums Dasein, denn mühe- und arbeitslos fällt auch uns der
-Genuß nicht in den Schoß. Aber nicht <em>gegeneinander</em>, sondern <em>miteinander</em>
-stehen wir in unserem Streben, und gerade deshalb ist uns
-der Erfolg desselben niemals zweifelhaft. Wir könnten uns, wenn auf
-das Beispiel des in der Tierwelt herrschenden Kampfes verwiesen wird,
-darauf berufen, daß der Mensch, dem andere Kampfmittel zu Gebote
-stehen, als seinen niedriger stehenden animalischen Vettern, den Entwickelungskampf
-auch in anderer Weise auszutragen vermöchte, als
-diese; aber das wäre eine ebenso schlechte, als überflüssige Ausflucht.
-Denn in Wahrheit verhält sich die Sache umgekehrt; Not und materielle
-Sorge sind &mdash; von höchst vereinzelten Ausnahmen abgesehen &mdash;
-keine natürlichen Kampfmittel im Mitbewerbe ums Dasein; die weitaus
-überwiegende Mehrzahl aller Tiere leidet niemals Mangel, sorgt niemals
-und in keinerlei wie immer gearteter Form um das Morgen, und
-ist trotzdem von Uranfang aller Dinge dem großen ausnahmslosen Gesetze
-des Fortschritts unterworfen gewesen. Am allerwenigsten aber ist
-im Tierreiche gegenseitiger Kampf der Angehörigen der nämlichen Art
-die Regel; die Individuen der gleichen Art leben friedlich und der Hauptsache
-<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a>
-nach kampflos untereinander, ihre Waffen sind nach außen gekehrt,
-gegen andersgeartete Feinde. Gegen den Löwen und den Panther ficht
-die Gazelle den Daseinskampf durch Wachsamkeit und Schnelligkeit,
-nicht gegen ihresgleichen; gegen die Gazelle und den Büffel, Löwe und
-Panther den ihrigen durch List und Stärke, nicht aber gegen Mit-Löwen
-und Mit-Panther. Der Kampf unter uns und gegen uns selber
-war und ist unser, der menschlichen Rasse, Privilegium gewesen. Entsprungen
-aber ist dies traurige Privilegium allerdings einer Kulturnotwendigkeit;
-um uns zu dem zu entwickeln, was wir geworden sind,
-mußten wir von der Natur mehr verlangen, als sie freiwillig zu bieten
-in der Lage ist; um es zu erlangen, blieb lange Jahrtausende hindurch
-kein anderer Ausweg, als das zur Befriedigung unserer höheren Bedürfnisse
-Erforderliche uns gegenseitig abzujagen und abzupressen. Und
-dadurch erst gestaltete sich die Not zu einem Kampfmittel im menschlichen
-Daseinskampfe. Also wohlgemerkt, daß der Mensch gegen den
-Menschen kämpfte, und daß in diesem Kampfe die materielle Sorge den
-empfindlichsten Stachel bildete, war und ist nicht die einfache Übertragung
-eines in der ganzen belebten Natur geltenden Gesetzes auf die
-menschliche Gesellschaft, sondern eine ausnahmsweise Verzerrung dieses
-großen Naturgesetzes unter dem Einflusse einer menschlichen Entwickelungsphase.
-Wir litten Not, nicht weil die Natur es durchaus so verlangt,
-sondern weil wir uns gegenseitig beraubten, und wir beraubten uns
-gegenseitig, weil mit der beginnenden Kultur ein Mißverhältnis unserer
-Bedürfnisse und unserer natürlichen Mittel zur Befriedigung derselben
-entstand. Jetzt aber hat die bis zur Herrschaft über die Naturkräfte
-gediehene Kultur dieses Mißverhältnis wieder ausgeglichen; um Überfluß
-und Muße zu genießen, müssen wir uns fürderhin nicht mehr
-gegenseitig ausbeuten, und wenn nunmehr der Kampf des Menschen
-gegen den Menschen, und damit zugleich die materielle Not ihr Ende
-finden, so bedeutet das nicht die Abwendung von den natürlichen Formen
-des Daseinskampfes, sondern in Wahrheit Rückkehr zu denselben.
-Nicht der Kampf ist damit zu Ende, sondern bloß die unnatürliche
-Form desselben. In ihrem Ringen, sich über die rein tierische Natur
-zu erheben, geriet die Menschheit in einen Jahrtausende währenden
-Widerstreit mit der Natur selber, und dieser Widerstreit war die Quelle
-all der unsäglichen Marter und Pein, der Verbrechen und Scheußlichkeiten,
-deren ununterbrochene Kette die Geschichte unserer ganzen Rasse
-ist, von den ersten Anfängen ihrer beginnenden Kultur bis zur Gegenwart.
-Jetzt aber ist der schreckliche Widerstreit durch den glorreichsten
-Sieg beendet, wir sind geworden, was wir Jahrtausende hindurch erstrebten,
-ein Geschlecht, das der Natur Überfluß und Muße für alle
-seine Angehörigen abzugewinnen vermag und gerade durch diese wiedererlangte
-Harmonie unserer Bedürfnisse und Bedürfnisbefriedigungsmittel
-<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a>
-haben wir den Einklang mit der Natur wieder hergestellt. Unterworfen
-bleiben wir ihrem unwandelbaren Gesetze des Kampfes ums Dasein,
-aber wir werden diesen Kampf hinfort in der nämlichen Weise
-führen, wie alle anderen Naturwesen, nach außen, nicht nach innen
-gegen die Genossen der eigenen Art, und entledigt des Stachels materieller
-Not.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Was aber&ldquo; &mdash; so fragte ich &mdash; &bdquo;soll hinfort den Menschen zu
-ferneren Kämpfen im Dienste des Fortschritts anspornen, wenn die Not
-ihren Stachel verloren hat?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Sonderbare Frage! Sie zeigt so recht deutlich, wie schwer es
-ist, Dinge zu sehen, die jenen Anschauungen widersprechen, die wir mit
-der Muttermilch eingesogen haben und die wir als Grundpfeiler der
-Ordnung und Gesittung anzusehen uns gewöhnt haben, auch wenn diese
-Anschauungen den offenbarsten Thatsachen aufs augenscheinlichste widersprechen.
-Als ob jemals Not die ausschließliche, oder auch nur die
-vornehmste Triebfeder menschlichen Fortschrittes gewesen wäre! Der
-Widerstreit zur Natur, in welchen das Mißverhältnis zwischen Kulturbedürfnissen
-und Kulturkräften die Menschheit in den Jahrtausenden des
-Übergangs von Barbarei zu wirklich menschenwürdiger Kultur brachte,
-hatte zwar zur Folge, daß der Kampf ums Dasein neben seinen natürlichen
-auch widernatürliche, der tiefinnersten Eigenart der meisten Naturwesen
-Hohn sprechende Formen annahm; doch zur Alleinherrschaft gelangten
-diese niemals, ja die Natur erwies sich in der Regel doch mächtiger,
-als die ihr widerstrebenden Menschensatzungen, und alle Epochen
-der Kulturgeschichte hindurch haben wir die besten Errungenschaften des
-menschlichen Geistes nicht der Not, sondern jenen anderen Impulsen
-zu verdanken, die unserer Rasse eigentümlich sind und bleiben werden,
-so lange sie als herrschende die Erde bevölkert. Dreimal blind, wer
-dies nicht sehen will! Die großen Denker, Erfinder und Entdecker aller
-Zeiten und aller Nationen, sie wurden nicht durch Hunger angespornt,
-ja man kann in der Mehrzahl der Fälle behaupten, daß sie sannen
-und dachten, forschten und fanden, nicht <em>weil</em>, sondern <em>trotzdem</em> sie
-hungerten. &bdquo;Doch&ldquo; &mdash; so könnte man einwenden &mdash; &bdquo;das waren eben
-die wenigen Erlesenen unseres Geschlechts; die große Masse der Alltagsmenschen
-aber kann nur durch gemeinen, prosaischen Hunger angespornt
-werden, nach besten Kräften zu gebrauchen, was jene fanden
-und ersannen.&ldquo; Wer so urteilt, geht abermals von einem höchst merkwürdigen
-Übersehen aus. Welche Voreingenommenheit gehört dazu, sich
-der Thatsache zu verschließen, daß es gerade die Besitzenden sind, die
-Nichthungernden, die am emsigsten vorwärts streben. Der Hunger ist
-zwar ein Stachel zur Arbeit, aber ein entnervender, verderblicher,
-und wer triumphierend auf jene Elenden weist, die thatsächlich nur
-durch bitterste Not zur Thätigkeit angespornt werden können und
-<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a>
-sofort wieder in träge Apathie versinken, sowie der nagendste Hunger
-gestillt ist, der vergißt, daß es eben das Elend ist, was Schuld
-an dieser Entartung trägt. Der Kulturmensch, der höhere Bedürfnisse
-einmal kennen gelernt, wird desto emsiger deren Befriedigung anstreben,
-je weniger ihm entwürdigende Not die Spannkraft des Geistes
-und Körpers gebrochen hat und je zweifelloser der Erfolg seines
-Strebens ist. Denn nicht in der hoffnungslosen Not, sondern im vernünftigen,
-auf ein sicheres Ziel fröhlich zusteuernden Eigennutze muß
-jeder Unbefangene den wirksamsten Sporn der Betriebsamkeit erkennen.
-Diesen Eigennutz aber hat <em>unsere</em> sociale Ordnung &mdash; weit entfernt,
-ihn abzustumpfen &mdash; in Wahrheit erst zu voller Entfaltung gebracht.
-Du kannst also vollkommen beruhigt darüber sein: was Du bisher bei
-uns wahrzunehmen Gelegenheit hattest, daß wir nämlich an Erfindungskraft
-und geistiger Regsamkeit den anderen Nationen voranschreiten, es
-ist kein zufälliges Ergebnis irgendwelcher vorübergehender Einflüsse, sondern
-die notwendige Konsequenz unserer Institutionen, und jedes Volk,
-welches diese letztere nachahmt, wird die gleichen Konsequenzen verspüren.
-So wenig als wir der quälenden Not bedürfen, um Erfindungen
-und Verbesserungen zu ersinnen, welche die Menge und Mannigfaltigkeit
-unserer materiellen wie geistigen Genüsse zu vermehren geeignet
-sind, ebensowenig wird bei irgend einem anderen Volke der Fortschritt
-aus dem Grunde erlahmen, weil dieses Volk gleich uns in die glückliche
-Lage gerät, die Früchte des Fortschritts zu genießen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Ich konnte mich nicht enthalten dem gleich einem begeisterten Seher
-sprechenden Freunde um den Hals zu fallen. &bdquo;Wenn ich es bei Lichte
-betrachte&ldquo; &mdash; erklärte ich &mdash; &bdquo;so läuft die gegenteilige Auffassung
-darauf hinaus, als ob der Fortschritt nur dort gedeihen könne, wo er
-der Hauptsache nach nutzlos ist. Denn der fundamentale Unterschied
-zwischen Euch Freiländern und uns anderen liegt doch darin, daß Ihr
-die Früchte jeden Fortschritts genießet, während wir mit demselben
-eigentlich bloß in das Danaidenfaß der Überproduktion schöpfen. Niemand
-bezweifelt, daß Stuart Mill Recht hatte, als er beklagte, daß
-alle Entdeckungen und Erfindungen bisher nicht vermochten, die Plage
-und Not auch nur <em>eines</em> arbeitenden Menschen zu lindern; welch schrecklicher
-Wahnsinn jedoch, zu glauben, daß gerade <em>das</em> notwendig sei, damit
-fernerhin entdeckt und erfunden werde!&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Doch, um wieder auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen&ldquo;,
-fuhr ich fort, &bdquo;so ist mir mit alledem die geradezu wunderbare, herzerquickende
-Heiterkeit, die alles hier in diesem Lande der Glücklichen
-atmet, noch immer nicht ganz erklärlich. Not und materielle Sorge
-sind hier unbekannt, zugegeben. Aber es gibt ja auch außerhalb Freilands
-Hunderttausende und Millionen, die jeder drückenden Sorge enthoben
-sind; warum fehlt diesen die wirkliche Heiterkeit? Vergleiche doch
-<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a>
-einmal unsere beiderseitigen Väter. Der meinige ist unstreitig der
-reichere, und doch, welch&rsquo; tiefe Furchen hat die Sorge in seine Stirn
-gegraben, welch&rsquo; herben Zug schmerzlicher Reflexion um seine Mundwinkel;
-und welch&rsquo; froher Glanz ewiger Jugend leuchtet aus jedem
-Zuge Deines Vaters. Ich möchte beinahe vermuten, daß die Luft,
-die man in diesem Lande atmet, sehr wesentlich mit im Spiele ist;
-denn die Falten und Furchen in Vaters Zügen, von denen ich soeben
-sprach, haben sich schon in den zwei Wochen unseres Aufenthaltes hier
-merklich geglättet, und ich selber fühle mich heiterer, glücklicher als
-jemals zuvor.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Du hast&ldquo;, entgegnete mir David, &bdquo;das Wichtigste vergessen, den
-Einfluß des Gesamtgefühls auf das Gefühl des Einzelnen. Der Mensch
-ist ein geselliges Wesen, das seine Gedanken und Empfindungen nur
-zum Teile dem eigenen Kopfe und dem eigenen Herzen entnimmt, während
-ein anderer, nicht minder wichtiger Teil, ich möchte sagen die
-Grundstimmung, die den individuellen Geistes- und Gemütsregungen
-Farbe und Inhalt verleiht, in der jeweilig existierenden Gesamtgesellschaft
-ihren Ursprung hat. Jeder Einzelne steht mit seinen Mitlebenden
-nicht bloß äußerlich, sondern ebenso auch innerlich in unlöslicher Berührung;
-er glaubt zu denken, zu fühlen und zu handeln, bloß wie
-seine Individualität es erheischt, fühlt, denkt und handelt aber der Hauptsache
-nach unter dem unentrinnbaren Banne einer alle Köpfe, Herzen
-und Handlungen umschlingenden Zeitströmung. Der aufgeklärte, humane
-Freidenker der Gegenwart hätte &mdash; wäre er drei Jahrhunderte
-früher geboren worden, um der kleinlichsten, ihm heute lächerlich erscheinenden
-Glaubensdifferenzen willen Andersdenkende mit demselben grimmigen
-Hasse verfolgt, wie dazumal alle anderen Lebenden auch; und
-hätte er noch um einige Jahrhunderte früher, etwa unter den heidnischen
-Sachsen zur Zeit Karls des Großen das Sonnenlicht gesehen, so wären
-ihm Menschenopfer so wenig ein Greuel gewesen, als den andern Verehrern
-der Göttin Hertha. Derselbe Mann aber, welcher als heidnischer
-Sachse in den Wäldern der Weser und Elbe aufgewachsen, Ruhm
-und Preis darin gefunden hätte, das Blut geschlachteter Gefangener
-vom Herthastein gen Himmel dampfen zu lassen, wäre dazumal schon
-von unüberwindlichem Grauen vor solchem Thun geschüttelt worden,
-wenn ihn &mdash; begabt mit genau den nämlichen individuellen Anlagen
-&mdash; der Zufall im kaiserlichen Byzanz, statt unter germanischen Barbaren
-hätte geboren werden lassen; hier dagegen hätte er skrupellos Lug und
-Verrat geübt, während er &mdash; im übrigen vom Wirbel bis zur Zehe
-derselbe Mann &mdash; umgeben von den trotzigen Germanenhelden, solch
-weichlicher Laster ganz und gar unfähig geblieben wäre. Da dem aber
-so ist, da die Tugenden und Laster, die Gedanken und Gefühle jener
-unserer Zeitgenossen, in deren Mitte wir geboren und erzogen worden,
-<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a>
-die Grundstimmung unseres eigenen Wesens bilden, so ist es schlechterdings
-unmöglich, daß der Angehörige einer von wahnsinnigster Angst
-vor dem Hunger bis ins innerste Mark gerüttelten Gesellschaft, jemals
-in ungetrübter Sorglosigkeit seines Lebens sich freue. Wo die ungeheure
-Mehrzahl der Zeitgenossen niemals weiß, was der morgige Tag
-bringen mag, ob eine fernere Fristung des jammervollen Daseins oder
-den völligen wirtschaftlichen Untergang, unter dem Obwalten einer socialen
-Ordnung, die den eigenen Erfolg im Daseinskampfe davon abhängig
-macht, daß es uns gelinge, dem gierig nach unserem Brote lechzenden,
-gleich uns von fiebernder Angst gerüttelten Konkurrenten sein
-Brot aus den Zähnen zu reißen; in einer Gesellschaft, wo jedermann
-jedermanns Feind ist, von wirklich heiterem Lebensgenusse zu sprechen,
-ist der Gipfel des Unsinns. Kein individueller Reichtum gewährt Schutz
-gegen den zermalmenden Jammer der Gesamtheit aller Mitlebenden.
-Dem hundertfachen Millionär, der nicht den hundertsten Teil der Zinsen
-seiner Zinsen in Wirklichkeit verzehren kann, ihm greift das schreckliche
-Hungergespenst mit ebenso scharfen Krallen ins Gemüt, wie dem elendesten
-der Elenden, der obdachlos, frierend und hungernd durch die Straßen
-Eurer Großstädte irrt. Der Unterschied zwischen beiden liegt nicht im
-Hirn und im Herzen, sondern lediglich in den Magennerven; der zweite
-empfindet auch physisch, was der erste bloß seelisch und geistig
-empfindet. Die seelischen und geistigen Leiden aber sind die dauernden
-und deshalb wirksameren. Betrachtet ihn doch, Eueren vom wahnwitzigen
-Hungerfieber besessenen Krösus, wie er atemlos nach immer
-neuem und neuem Erwerbe hastet, wie er sich und der Seinen Glück
-und Ehre, Genuß und Frieden dem Götzen schlachtet, von welchem er
-sich Hilfe in der allgemeinen Not erwartet, dem Götzen des Mammons.
-Denn nicht besitzt er seinen Reichtum, er ist von ihm besessen. Besitz
-auf Besitz will er häufen, vermeinend, daß er hoch oben auf dem
-schwindelnden Gipfel zahlloser Millionen Sicherheit erlangen könnte
-gegen das Meer von Elend, das ihn grauenerregend rings umbrandet;
-ja, so verblendet ist der Thor, daß er nicht einmal bemerkt, wie nur
-dieser Ozean des allgemeinen Elends es ist, was ihm Grauen einjagt,
-vielmehr des traurigen Wahnes lebt, seine Angst werde sich mindern,
-wenn nur der Abgrund da unten noch tiefer und schauerlicher sich abhebt
-von seinem schwindelnden Sitze da oben. Und man glaube nicht
-etwa, daß unter dieser abergläubischen Angst vor dem Hunger bloß die
-Thorheit Einzelner gemeint sei. Das ganze Zeitalter ist davon besessen,
-und gerade die besten Naturen am meisten. Denn je empfänglicher
-Kopf und Herz sind, zu desto schrankenloserer Vorherrschaft gelangt das
-Gemeingefühl der allgemeinen Not dem vorübergehenden individuellen
-Behagen gegenüber; bloß vollkommen kaltherzige Egoisten oder vollendete
-Idioten machen hie und da eine Ausnahme; bloß sie können sich, unbeirrt
-<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a>
-durch das Hungergespenst, welches die Millionen ihrer Brüder
-würgt, mit wirklichem Behagen ihres Reichtums freuen.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Das ist&rsquo;s, o mein Karlo, was Euch allen den hippokratischen
-Leidenszug ins Antlitz prägt; Ihr könnt Euch unbefangenem Lebensgenusse
-nimmermehr hingeben, so lange Ihr inmitten einer Atmosphäre
-des Elends, des Jammers und der Angst atmet. Und das ist&rsquo;s auch,
-dieses Gemeingefühl, welches jeden Menschen mit seiner Umgebung verbindet,
-was Euch hier, kaum angelangt inmitten einer Gesellschaft, der
-dieses Elend, dieser Jammer, diese Angst gänzlich unbekannt sind, zu
-jener Heiterkeit des Denkens und Empfindens erwachen läßt, die jedem
-gesunden Naturwesen ureigentümlich ist. Und vollends wir, die wir
-seit einem Menschenalter uns inmitten dieser, des Elends sowohl als
-der Furcht vor dem Elend entledigten Gesellschaft bewegen, wir haben
-die düstere Auffassung des Menschenschicksals, von welcher auch wir befangen
-waren, solange die alte Welt mit ihrem selbstauferlegten Martyrium
-uns umfing, beinahe vollständig überwunden. Ich gebrauche
-das einschränkende &bdquo;beinahe&ldquo; für diejenigen unter uns, die erst im
-Mannesalter Freiländer geworden sind. Wir jüngeren, die wir hier
-im Lande geboren und aufgewachsen sind, ohne das Elend jemals gesehen
-zu haben, unterscheiden uns in diesem Punkte nicht unerheblich
-von den älteren, die in ihrer Jugend das Medusenhaupt der Knechtschaft
-von Angesicht zu Angesicht geschaut. Fünfundzwanzig Jahre sind
-es her, daß mein Vater und meine Mutter, die beide unter den ersten
-hier am Kenia anlangten, der Stickluft des Massenelends, der Entwürdigung
-des Menschen durch den Menschen entrückt sind; aber die Erinnerung
-des Entsetzlichen, das sie vorher miterlebt, dessen Teilnehmer
-sie gewesen, ohne es hindern zu können, sie wird bis zu ihrem Ende
-nicht gänzlich aus ihrem Gemüte schwinden und nimmermehr kann jene
-göttergleiche Ruhe und Heiterkeit völlig von ihrem Herzen Besitz ergreifen,
-die das selbstverständliche Erbteil ihrer Kinder ist, an deren
-Händen niemals Schweiß und Mark geknechteter Menschen haftete, die
-um zu genießen, niemals die Früchte fremder Arbeit sich aneigneten,
-niemals vor der grausamen Alternative standen, Hammer oder Ambos
-im Daseinskampfe zu sein.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Damit schloß David für diesmal seine Belehrungen und ich will
-es ihm nachthun.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-5-5">
-<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a>
-17. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="date">
-Edenthal, 2. August.
-</p>
-
-<p class="first">
-Längst schon hatte mich die Frage der hiesigen Jugenderziehung
-in hohem Maße interessiert; der vorgestrige Tag nun war dem Studium
-dieses Gegenstandes gewidmet. Zunächst besuchte ich in Davids Gesellschaft
-einen der zahlreichen Kindergärten, die in Edenthal ziemlich
-gleichmäßig über die Stadt verteilt sind. In einer teils aus sonnigen
-Grasmatten, teils aus schattigen Baumpflanzungen gebildeten Anlage
-tummelten sich hier unter der Leitung zweier Mädchen im Alter von
-18-20 Jahren und einer jungen Witwe etwa 50 Bübchen und
-Mädchen im Alter zwischen 4 und 6 Jahren. Es wurde gesungen,
-getanzt, allerlei Possen getrieben, dazwischen Bilderbücher besehen und
-erklärt, Märchen abwechselnd mit belehrenden Geschichten erzählt,
-Spiele gespielt, die gleicherweise teils bloßer Unterhaltung, teils der
-Belehrung dienten. Unter dem kleinen Volke, das sich königlich
-amüsierte, war ein ziemlich starkes Kommen und Gehen; die eine
-Mutter brachte ihre Sprößlinge herbei, eine andere holte die ihrigen
-ab. Im allgemeinen ziehen es nämlich die freiländischen Mütter vor,
-ihre Kinder um sich zu haben; nur wenn sie das Haus verlassen, um
-einen Besuch zu machen oder etwas zu besorgen, werden die Kleinen
-dem nächsten Kindergarten übergeben und bei der Heimkehr wieder
-abgeholt &mdash; es sei denn, daß das junge Volk selber darum bettelt,
-dortgelassen resp. dahin gebracht zu werden, und die Mutter den Bitten
-zu willfahren geneigt ist. Doch das sind wie gesagt Ausnahmefälle;
-in der Regel tummeln sich die Kinder daheim unter den Augen der
-Eltern, und die Leitung der ersten Erziehung ist insbesondere Sache
-der Mutter. Belehrung darüber, wie diese am besten anzustellen sei,
-braucht eine freiländische Frau selten; im Bedarfsfalle ist übrigens der
-<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a>
-benachbarte Kindergarten, später das Pädagogium zur Hand, wo guter
-Rat jederzeit geholt werden kann. Als Thatsache wurde mir mitgeteilt,
-daß jedes in Freiland aufgewachsene sechsjährige Kind des Lesens,
-Kopfrechnens und einer ganz artigen Summe nützlichen Wissens kundig
-sei, ohne bis dahin ein anderes als ein Bilderbuch gesehen zu haben.
-</p>
-
-<p>
-Nach dem Kindergarten kam die Elementarschule an die Reihe.
-Auch diese Schulen sind möglichst gleichförmig über Edenthal zerstreut
-und liegen gleicherweise in größeren Gärten. Sie sind vierklassig, und
-der Unterricht wird Mädchen und Knaben gemeinsam erteilt. Das
-Lehramt liegt durchweg in Händen junger Mädchen und Frauen; nur
-Turnen und Schwimmen der Knaben leiten männliche Lehrer. Die
-beiden letzteren Übungen beanspruchen bei Knaben und Mädchen
-täglich je eine Stunde; mindestens dreimal wöchentlich werden unter
-Leitung je einer Lehrerin von jeder Klasse mehrstündige Ausflüge in
-die benachbarten Wälder und Berge unternommen, bei denen allerlei
-Anschauungsunterricht getrieben wird. Ich beobachtete die Zöglinge
-beim Buche und am Turnplatz, in der Schwimmschule und auf den
-Bergen und hatte dabei Gelegenheit, mich zu überzeugen, daß die
-Kinder mindestens so viel und so systematisches Wissen besaßen, als
-europäische Altersgenossen, dabei sich aber auf Reck und Barren, Kletterstange
-und Hängeseil bewegten wie die Eichhörnchen, im Wasser
-schwammen wie die Fische, und nach dreistündigem Marsche über Berg
-und Thal so munter umhersprangen wie die Rehe.
-</p>
-
-<p>
-Hierauf besuchten wir die Mittelschulen, in denen Knaben und
-Mädchen gesondert vom 10. bis 16. Jahre unterrichtet wurden, erstere
-durch männliche, letztere teilweise durch weibliche Lehrkräfte. Hier war
-den Leibesübungen mannigfaltigster Art noch weit größere Beachtung
-geschenkt, und um den hierfür erforderlichen Raum zu gewinnen,
-befanden sich diese Schulen im Umkreise der Stadt, in der Nachbarschaft
-der diese umgebenden Wälder. Ich hatte Gelegenheit, die
-Ausdauer, Kraft und Grazie der Knaben und Mädchen im Turnen,
-Laufen, Springen, Tanzen und Reiten zu bewundern, die ersteren
-überdies bei ihren Ring-, Fecht- und Schießübungen zu sehen. Einige
-Gänge auf Stoßdegen und Säbel mit verschiedenen der jungen Leute
-belehrten mich zu meinem Erstaunen, daß dieselben mir nicht bloß
-ebenbürtig, sondern in manchen Punkten überlegen seien, obwohl Dir
-bekannt ist, daß ich zu den besseren Fechtern unseres in dieser Kunst
-so vielgepriesenen Italien gehöre. Die beim Ringen und Turnen
-hervortretende Muskulatur der halbwüchsigen Recken erregte in nicht
-minderem Grade meine Bewunderung, als die spielende Leichtigkeit,
-mit welcher dieselben ein Pferd im vollen Galopp einholten und sich
-auf dessen Rücken schwangen. Besonders überrascht aber war ich von
-der Sicherheit, mit welcher die Knaben ihre Schußwaffen handhabten.
-<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a>
-Auf 500 Meter Distanz wurde die kaum tellergroße Scheibe selten
-verfehlt, und nicht wenige der jungen Schützen sandten Kugel auf Kugel
-ins Schwarze. Alles in allem machten insbesondere die obersten
-Klassen dieser Mittelschulen dem Äußeren der Zöglinge nach zu urteilen
-den Eindruck einer Schar erlesener junger Athleten; dabei erwiesen
-sich jedoch diese Athleten auch in allen Wissenszweigen wohlbewandert,
-die an den besten europäischen Mittelschulen getrieben werden.
-</p>
-
-<p>
-Bis dahin ist, wie ich erfuhr, der Unterricht für alle Kinder
-Freilands der gleiche, mit dem alleinigen Unterschiede, daß bei den
-Mädchen etwas geringerer Nachdruck auf die Leibesübungen, dafür
-desto größerer auf musikalische Ausbildung gelegt wird. Von da ab
-jedoch trennen sich die Berufe. Die jungen Mädchen bleiben entweder
-im elterlichen Hause, um sich dort in jenen Künsten und Wissenszweigen,
-zu denen sie bis dahin den Grundstein gelegt, weiter auszubilden, oder
-sie ziehen als Ziehtöchter zu gleichem Zwecke in das Haus irgend
-einer als hochgebildet und geistreich bekannten Frau. Ein anderer Teil
-bezieht die pädagogischen Lehranstalten, um sich für das Lehramt auszubilden,
-hört einen Kursus über Krankenpflege oder über Ästhetik,
-Kunstgeschichte u. dergl.
-</p>
-
-<p>
-Die Knaben dagegen zerstreuen sich insgesamt in die verschiedenen
-höheren Lehranstalten. Die Mehrzahl besucht die gewerblichen und
-geschäftlichen Fachschulen, in denen ein oder zwei Jahre hindurch
-wissenschaftliche und praktische Anleitung zu den verschiedenartigsten
-Geschäfts- und Produktionsarten erteilt wird. Durch eine dieser Fachschulen
-geht jeder freiländische Arbeiter, er mag späterhin als Landbauer,
-als Spinner, als Bergmann oder in welcher Eigenschaft
-immer seinen Verdienst suchen. Dabei wird ein doppelter Zweck verfolgt:
-erstens der, jeden Arbeiter ohne Unterschied in den Zusammenhang des
-ganzen Getriebes seiner Produktion einzuweihen und zweitens, ihn in
-den Stand zu setzen, seinen Erwerb nach Wahl auch in mehreren
-Produktionszweigen zu suchen. Der simple Spinner, der nichts anderes
-zu thun hat, als den Gang seiner Spindeln zu überwachen, weiß hier
-zu Lande auch über die Einrichtung und den Betrieb der ganzen
-Spinnerei, über Bezugsquellen und Absatzgebiete einigen Bescheid, was
-zur Folge hat, daß solch ein Arbeiter, wenn es gilt die Leiter
-seiner Association zu wählen, seine Stimme mit einer Sachkenntnis
-abgiebt, die Mißgriffe bei der Auslese der geeignetsten Persönlichkeiten
-nahezu unmöglich macht. Zum zweiten aber ist dieser einfache Spinner
-in Freiland kein Automat, dessen Wissen und Können mit den Handgriffen
-und Kenntnissen seines engeren Faches erschöpft wäre; er ist
-jedenfalls noch in einem oder einigen anderen Erwerbszweigen zu Hause
-und das hat wieder zur Folge, daß unser Mann jede in diesem anderen
-Erwerbszweige sich zeigende günstige Konjunktur sofort ausnutzen, die
-<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a>
-Spinnmaschine mit dem Pfluge, mit dem Hammer oder mit der
-Drehbank, wohl auch mit dem Schreibpulte oder der Rechentafel zu
-vertauschen in der Lage ist, wodurch eben jenes wundervolle Gleichgewicht
-der verschiedenartigsten Einkommenszweige ermöglicht wird,
-welches die Grundlage der socialen Ordnung des Landes ist.
-</p>
-
-<p>
-Junge Leute, die Beruf zu höherer geistiger Thätigkeit in sich verspüren,
-wenden sich den eigentlichen Hochschulen zu, in denen Freilands
-Professoren, höhere Verwaltungsbeamte, Ärzte, Techniker u. s. w. ausgebildet
-werden, oder den mit großartigen Mitteln ausgestatteten verschiedenartigen
-Kunstakademien, aus denen die Architekten, Bildhauer,
-Maler, Musiker des Landes hervorgehen. Doch auch in allen diesen
-Unterrichtsanstalten wird fortlaufend neben der geistigen auf die körperliche
-Fortbildung der größte Nachdruck gelegt. Die gewerblichen und
-kaufmännischen Fachschulen haben ihre Turn-, Ring- und Reitbahnen,
-ihre Schieß- und Fechtplätze so gut wie die Hochschulen und Akademien,
-und da die Jünglinge, welche hier ihre Fortbildung suchen, nicht so unmittelbar
-unter dem Einflusse ihrer Lehrer stehen, wie die Knaben der
-Mittelschulen, so ist durch das Institut der öffentlichen Gau- und Landesübungen
-dafür gesorgt, ihren Eifer für körperliche Ausbildung nicht erlahmen
-zu lassen. Alle Jünglinge zwischen dem vollendeten 16. und
-22. Jahre sind nämlich je nach ihrem Wohnsitze in Tausendschaften geteilt,
-die unter selbstgewählten Führern allmonatlich Übungen halten,
-bei denen sie ihre körperlichen Kräfte und Fähigkeiten erproben. Einmal
-im Jahre findet in jedem der 48 Distrikte, in welche zu Verwaltungs-Zwecken
-ganz Freiland geteilt ist, vor einem Preisrichterkollegium,
-welches aus den Siegern früherer Jahre gebildet wird, eine große Preisübung
-statt, bei welcher erstlich von jeder Tausendschaft gestellte Champions
-&mdash; es sind das natürlich die tüchtigsten Recken, über die jede
-Tausendschaft verfügt &mdash; als Einzel-Fechter, -Schützen, -Reiter, -Ringer
-und -Läufer sich messen; sodann kämpfen die Tausendschaften als solche,
-d. h. in Gesamtübungen um verschiedene Preise. Die Sieger bei diesen
-Gauübungen bewerben sich dann bei dem wenige Wochen später in
-einem zu solchen Zwecken besonders eingerichteten Thale des Aberdaregebirges
-stattfindenden Landesfeste um die Ehre der Meisterschaft für
-ganz Freiland und man versicherte mir, daß kein griechischer Jüngling
-aus der Blütezeit von Hellas in heißerem Bemühen um den Ölzweig
-bei den Isthmischen Spielen warb, als die freiländischen Jünglinge um
-die Ehrenpreise bei diesen Aberdarespielen, obwohl auch hier die Preise
-in nichts anderem, als in schlichten Blätterkronen, daneben aber allerdings
-in dem vom Indischen Ocean bis zu den Mondbergen und vom
-Tanganika bis zum Baringosee wiederhallenden Ruhmesfanfaren und in
-dem begeisterten Jubel jenes Gaues und jener Stadt bestehen, die so
-glücklich sind, die Sieger die Ihren zu nennen. Hunderttausende strömen
-<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a>
-aus allen Landesteilen zu diesen Preisübungen zusammen und die Mutterstadt
-der Sieger, insbesondere die der siegenden Tausendschaft, empfängt
-ausnahmslos die heimkehrenden Jünglinge mit einer Reihe der erlesensten
-Feste.
-</p>
-
-<p>
-Ich konnte mich, als mir dies berichtet wurde, der Bemerkung
-nicht enthalten, daß mir solcher Enthusiasmus aus Anlaß eines bloßen
-Spieles denn doch übertrieben erscheine; insbesondere äußerte ich darüber
-mein Erstaunen, daß Freiland, die Heimat der socialen Gerechtigkeit,
-sich für Leistungen zu begeistern vermöge, die im kriegerischen Hellas
-von besonderem Werte erscheinen mochten, hier aber, wo alles unverbrüchlichen
-Frieden atmet, keine andere Bedeutung haben könnten, als
-die einer harmlosen Leibesübung.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Sehr richtig&ldquo; &mdash; bemerkte David &mdash; &bdquo;nur daß die Tüchtigkeit
-in diesen harmlosen Leibesübungen es eben ist, was uns Freiländern
-die Unverbrüchlichkeit des Friedens verbürgt, dessen wir uns zu erfreuen
-haben. Wir besitzen keinerlei militärische Einrichtungen und wären,
-wenn wir uns nicht auf unsere Überlegenheiten in allem, was körperliche
-Kraft und Gewandtheit betrifft, verlassen könnten, die leichte Beute
-jedes Militärstaates, dem es nach unseren Reichtümern gelüstete.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Du glaubst doch nicht etwa&ldquo; &mdash; rief ich nicht ohne ein sarkastisches
-Lächeln &mdash; &bdquo;mit euern fechtenden und schießenden Knaben und
-mit den Siegern eurer Isthmischen Spiele einer großen Militärmacht
-gewachsen zu sein, die es wirklich auf Euch abgesehen haben sollte?
-Meines Erachtens liegt Euer Schutz in der gegenseitigen Eifersucht der
-europäischen Staaten, die eine solche Beute keinem einzelnen gönnt, und
-mehr noch in der weiten Entfernung, dem Meere und den Bergen, die
-Euch so gefährliche Besuche vom Leibe halten. Für alle Fälle aber
-glaube ich, daß einige militärische Vorsorge, etwa die Aufstellung
-einer tüchtigen Miliz und insbesondere eine starke Flotte, deren Kosten
-doch bei Eurem Reichtume gar nicht in Betracht kämen, sehr heilsam
-wäre.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Wir sind anderer Ansicht&ldquo; &mdash; erklärte David. &bdquo;Nicht unsere
-Kampfspiele, wohl aber die überlegene körperliche Tüchtigkeit, die in
-ihnen zu Tage tritt, sichern uns unseres Dafürhaltens vollkommen gegen
-jeden, selbst den mächtigsten Feind, der gegen unsere harmonisch ausgebildeten,
-im Gebrauche jeglicher Waffe bis zur höchsten Vollendung
-geübten Jünglinge und Männer doch nichts anderes ins Feld stellen
-könnte, als verkommene, ihre Waffen kaum notdürftig handhabende
-Proletarier. Wir glauben, daß es im Kriege weniger auf die Anzahl
-der Schüsse, als auf die Anzahl der Treffer, weniger auf die Masse,
-als auf die Leistungsfähigkeit der Kämpfenden ankommt. Wenn Du
-gleich mir Zeuge gewesen wärest, in welcher Weise bei dem vorjährigen
-Landesfeste die siegende Tausendschaft ihren Preis herausschoß, so würdest
-<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a>
-Du vielleicht zugeben, daß eine Truppe, die aus solchen, oder doch annähernd
-solchen Schützen gebildet wäre, keine europäische Armee zu
-fürchten brauchte.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Wie wollt Ihr Euch aber gegen die Kanonen europäischer Armeen
-verteidigen?&ldquo; fragte ich.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Ei, eben auch durch Kanonen&ldquo;, entgegnete David. &bdquo;Da wir nun
-einmal mit diesen Einrichtungen den Doppelzweck verfolgen, den Eifer
-für körperliche Ausbildung zu fördern und zugleich Sicherheit gegen
-feindliche Angriffe zu erlangen, so nehmen unter unseren Schießübungen
-auch solche mit Kanonen des verschiedensten Kalibers einen ausgedehnten
-Platz ein. Und zwar geschieht auch das schon von der
-Schule aus. Von der vierten Mittelklasse an werden jene Knaben,
-die sich auf den anderen Gebieten hervorgethan haben, zu Geschützübungen
-herangezogen &mdash; was sich, nebenbei bemerkt, als ganz besonderer
-Ansporn des Fleißes bewährt hat. Daß Du diese Geschütze
-nicht zu Gesicht bekamst, hat seinen Grund darin, daß der Schießplatz
-für dieselben ziemlich weit außerhalb des Bannkreises der Stadt liegt,
-was um so notwendiger ist, als sich unter diesen Übungskanonen Ungetüme
-bis zu 200 Tonnen Gewicht befinden, deren Donner nur schlecht
-zur idyllischen Ruhe unseres Edenthals passen würde. Die Jünglinge
-aber werden mit diesem artigen Spielzeug so vertraut und zahlreiche
-bringen es nach eingehenderen ballistischen Studien zu so großer Vollendung
-in Handhabung desselben, daß sie sich meines Erachtens auch auf diesem
-Gebiete europäischen Gegnern ebenso überlegen erweisen würden, wie
-auf demjenigen des Schützenwesens. Genau dasselbe gilt von unseren
-Reitern. Kurzum, wir haben keine Armee, aber unsere Jünglinge und
-Männer handhaben alle Waffen, deren eine Armee bedarf, unendlich
-vollkommener, als die Soldaten welcher Armee immer, und da überdies
-zu Zwecken der großen Preisspiele auch eine Organisation geschaffen ist,
-kraft deren aus der Mitte 2½ Millionen waffengeübter Jünglinge und
-Männer, welche Freiland zur Stunde besitzt, die gewandtesten und tüchtigsten
-2-300000 jederzeit verfügbar sind, so meinen wir, daß es uns ein
-Leichtes wäre, die größte Invasionsarmee abzuwehren &mdash; eine Gefahr,
-die wir jedoch im Ernste keineswegs besorgen, denn wir bezweifeln, daß
-irgend ein europäisches Volk dazu zu haben wäre, uns anzugreifen.
-Gegen uns gesammelte Gewehre und Kanonen dürften sich, auch ohne
-daß wir etwas dazu thun, sehr rasch wider diejenigen kehren, die Feindseliges
-gegen uns sinnen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Dem stimmte ich zu. Wir besprachen hierauf noch einige andere
-Gegenstände der Jugenderziehung, bei welcher Gelegenheit die Rede auf
-das freiländische Erbrecht kam.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Dürfte ich Dich fragen, wie Ihr es mit dem Erbrecht im allgemeinen
-und mit dem Erbrecht an liegendem Besitz im besonderen haltet.
-<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a>
-Denn hier, im Eigentum an Häusern, scheint mir eine Klippe zu liegen,
-an welcher Eure allgemeinen Prinzipien über Grundbesitz Schiffbruch
-leiden können. Eine der Grundlagen Eurer Organisation ist doch, daß
-Grund und Boden niemand eigentümlich gehören dürfe; Häuser aber
-stehen &mdash; wenn ich recht unterrichtet bin &mdash; im Privateigentum. Wie
-vereinbart sich das?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Jedermann&ldquo;, so antwortete David, &bdquo;verfügt für den Todesfall
-wie im Leben vollkommen frei über sein gesamtes Eigentum. Die
-Testierfreiheit ist eine unbedingte, nur ist dabei zu beachten, daß unter
-den Ehegatten vollständige Gütergemeinschaft besteht, woraus hervorgeht,
-daß nur der überlebende Teil über das gemeinsame Vermögen
-letztwillig verfügen kann. Das Eigentum am Hause jedoch kann nicht
-geteilt werden und ebensowenig ist es gestattet, auf einem Haus- resp.
-Gartengrunde mehr als <em>ein</em> Wohnhaus zu errichten. Schließlich darf
-das Wohnhaus nur vom Eigentümer bewohnt, nicht aber vermietet
-werden. Geschieht von diesen drei Dingen eines, wird überhaupt der
-Hausgrund zu irgend einem anderen Zwecke, als zu Errichtung der
-Wohnstätte des Eigentümers verwendet, so trifft den Zuwiderhandelnden
-zwar keinerlei besondere Strafe und es wird auch keinerlei besonderer
-Zwang gegen ihn geübt, die unmittelbare Folge aber ist der Verlust
-des ausschließlichen Nutzungsanspruchs am Hausgrunde. Die Baufläche
-wird damit zu Boden gewöhnlicher Art, an welchem es kein Sonderrecht
-giebt, an welches jedermann das gleiche ungeteilte Anrecht hat.
-Denn nach unseren Anschauungen giebt es überhaupt kein Eigentum am
-Boden, also auch nicht am Baugrund des Hauses, und das Recht,
-solchen Boden abzusondern und für sich allein zu benutzen, ist lediglich
-ein zu bestimmten Zwecken eingeräumtes Nutznießungsrecht. Gleichwie
-z. B. der Eisenbahnreisende ein Anrecht auf den Platz hat, den er
-zuerst occupierte, jedoch nur zu dem Zwecke, um darauf zu sitzen, nicht
-aber, um dort seine Gepäckstücke abzuladen oder um ihn gegen Entgelt
-an Andere zu überlassen; so habe ich das Recht, den Platz auf Erden,
-auf welchem ich mein Heim gründen will, durch bloße Occupation für
-mich zu reservieren, und Niemand darf sich auf meinem Baugrunde
-neben mir ansiedeln, so wenig, als es ihm gestattet ist, auf der Eisenbahn
-neben mir auf meinem Sitze Platz zu nehmen, auch wenn
-im Notfalle Raum für zwei vorhanden wäre. Aber es liegt auch nicht
-in meinem Belieben, auf meinem Polster guten Freunden ein Plätzchen
-neben mir einzuräumen, denn die Mitreisenden brauchen sich die dadurch
-für sie erwachsenden Unbequemlichkeiten nicht gefallen zu lassen; sie
-können dagegen protestieren, daß die Beine und Ellbogen meines Sitzpartners
-ihnen zu nahe kommen und daß der nur für eine bestimmte
-Personenzahl berechnete Luftraum des Wagens durch meine Eigenmacht
-zahlreicheren Lungen zugeteilt werde. Ebenso brauchen es sich meine
-<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a>
-Hausnachbarn nicht gefallen zu lassen, daß ihnen meine Mauern und
-Dachfirste zu nahe an den Leib rücken und daß ich eigenmächtig den
-Luftraum einer Stadt dichter fülle, als dem allgemeinen Übereinkommen
-entspricht.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Nun habe ich aber in Ausübung meines mir auf eine bestimmte
-Bodenparzelle eingeräumten Nutzungsrechtes diese Parzelle untrennbar
-mit einem Dinge verbunden, auf welches mir nicht bloß Nutzungs-,
-sondern Eigentumsrecht zusteht, dem Hause nämlich. Daraus ziehen wir
-die Konsequenz, daß mein Nutzungsrecht auf denjenigen übergeht, dem
-ich &mdash; sei es entgeltlich oder unentgeltlich &mdash; das Eigentumsrecht an
-meinem Hause überlasse. Ich kann daher mein Haus verkaufen, vererben,
-verschenken, ohne daß ich daran durch den Umstand gehindert
-würde, daß mir am Baugrunde des Hauses kein Eigentum zusteht.&ldquo;
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-5-6">
-<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a>
-18. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="date">
-Edenthal, 6. August.
-</p>
-
-<p class="first">
-Gestern besichtigten wir in Begleitung der beiden englischen Geschäftsträger
-die freiländische Centralbank, deren allumfassendes und
-gerade wegen dieser seiner Allgemeinheit verhältnismäßig so überaus
-einfaches Clearingsystem die höchste Bewunderung der sachverständigen
-beiden Herren erntete. Die Erkenntnis, mit wie verschwindend geringen
-Barbeträgen sich hier die Ausgleichung des gesamten riesigen Umsatzes
-vollzog, regte Lord Elgin zu der Frage an, wozu Freiland überhaupt
-das Gold als Wertmesser beibehalte; er sprach die Meinung aus, es
-wäre, da man ohnehin die wichtigsten Leistungen nach dem Werte der
-Arbeitszeit berechne, das Einfachste, diese Rechnungsmethode zu verallgemeinern,
-d. h. die Arbeitsstunde als Wertmesser, als Geldeinheit
-zu gebrauchen. Dies würde &mdash; so glaube er &mdash; auch der gesamten
-socialen Ordnung Freilands weit besser entsprechen, in welcher doch die
-Arbeit Quelle und Grundlage allen Wertes sei.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Das ist&ldquo;, entgegnete der Direktor des Instituts, Herr Clark, &bdquo;eine
-von Fremden wiederholt schon geteilte Anschauung, sie beruht aber
-lediglich auf einer Verwechslung des <em>Wertmaßes</em> mit der <em>Quelle</em>
-des <em>Einkommens</em>. Wir in Freiland haben der Arbeit das Recht auf
-den ganzen mit ihrer Hülfe hervorgebrachten Ertrag gesichert; wir begründen
-dies aber nicht durch die unwahre Behauptung, daß Arbeit
-die einzige Quelle des Wertes dieser Erträge sei, sondern dadurch, daß
-wir behaupten, der Arbeitende habe auch auf jene anderweitigen Faktoren,
-nämlich Kapital und Naturstoffe oder -Kräfte, die zur Wertbildung
-erforderlich sind, den gleichen Anspruch wie auf seine Arbeitskraft selber.
-Doch das nur nebenbei. Selbst wenn Arbeit die einzige Wert<em>quelle</em>
-und der einzige Wert<em>bestandteil</em> wäre, ist sie doch der denkbar
-<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a>
-schlechteste Wert<em>maßstab</em>, denn sie ist unter allen Dingen, die überhaupt
-Wert besitzen, jenes, dessen Wert den größten Veränderungen
-ausgesetzt ist. Mit jedem Fortschritte menschlicher Kunstfertigkeit und
-Betriebsamkeit wächst ihr Wert, d. h. ein Arbeitstag oder eine Arbeitsstunde
-setzt sich fortlaufend in eine größere Menge aller erdenklichen
-anderen Werte um. Daß der Wert des Arbeitsproduktes verschieden
-ist, je nachdem die Arbeitskraft gut oder schlecht ausgerüstet, gut oder
-schlecht angewendet wird, kann gar keinem Zweifel unterliegen und
-wurde auch niemals ernstlich in Zweifel gezogen. Nun ist bei uns in
-Freiland allerdings <em>alle</em> Arbeitskraft möglichst gut ausgerüstet und
-verwendet, weil eben die vollkommene und schrankenlose Freiheit, sich
-der jeweilig besten, d. h. die höchsten Werte erzeugenden Arbeitsgelegenheit
-zuzuwenden, diese wenn auch nicht absolute, so doch relative Gleichartigkeit
-zuwege bringt; aber damit sie zuwege gebracht werde, ist eben
-ein fester und verläßlicher Maßstab erst recht vonnöten, an welchem
-der Wert der durch Arbeit erzeugten Dinge gemessen werden kann.
-Daß die auf Schuhwaren und auf Gespinste, auf Getreide und auf
-Eisenwaren gewendete Arbeit bei uns gleichwertig ist, zeigt sich ja
-erst dadurch, daß die in der gleichen Zeit erzeugten Schuhe, Gespinste,
-Körnerfrüchte und Eisenwaren gleichen Wert besitzen, welch letzteren
-Umstand aber nimmermehr die Vergleichung mit der aufgewendeten
-Arbeitszeit, sondern bloß die mit einer an sich wertbeständigen Sache
-anzeigen kann. Würden wir die in gleicher Zeit erzeugten Dinge schon
-deshalb allein für gleichwertig halten, weil sie eben in gleicher Zeit
-erzeugt sind, so würden wir sehr bald dahin gelangen, Schuhe zu
-erzeugen, die Niemand braucht, dafür aber Mangel an Gespinst zu
-leiden, und wir könnten unbekümmert um die Überfülle von
-Eisenwaren deren Erzeugung steigern, während vielleicht alle verfügbaren
-Hände erforderlich wären, um empfindlichem Getreidemangel
-abzuhelfen. Mit dem Arbeitstage als Wertmaß vermöchte &mdash; wenn er
-aus anderen Gründen nicht unmöglich wäre &mdash; nur der Kommunismus
-zu wirtschaften, der die Herstellung des richtigen Wechselverhältnisses
-zwischen Angebot und Nachfrage nicht dem freien Verkehre überläßt,
-sondern von Obrigkeitswegen bewerkstelligt, dies aber selbstverständlich
-nur in der Weise zu Wege bringt, daß er Niemand fragt, was er
-genießen und was er arbeiten will, vielmehr Genuß und Arbeit Jedermann
-von Obrigkeitswegen vorschreibt.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Wir in Freiland dagegen, die wir das Gegenteil des Kommunismus,
-nämlich absolute individuelle Freiheit, verwirklicht haben, wir
-brauchen notwendiger als irgendwer ein möglichst genaues, verläßliches
-Wertmaß, das ist ein solches, dessen Tauschkraft allen anderen
-Dingen gegenüber möglichst geringen Abweichungen und Schwankungen
-ausgesetzt ist. Dieses möglichst beste, möglichst wertkonstante Maß nun
-<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a>
-hat die Kulturwelt mit Recht seit jeher im Golde erblickt. Diese Thatsache
-ist nicht etwa das Ergebnis irgend einer geheimnisvollen Eigenschaft
-dieses Metalles, sondern das seiner hochgradigen Dauerbarkeit, in deren
-Folge im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende Goldmengen aufgestapelt
-und der Nachfrage zur Verfügung gehalten wurden, im Vergleiche
-zu welchen die gewaltigsten Veränderungen der jeweiligen Produktion
-gar nicht in die Wagschale fallen. Während eine gute oder
-schlechte Weizenernte von ausschlaggebender Bedeutung für den jeweiligen
-Weizenwert ist, weil die alten Weizenvorräte im Verhältnis zum Ergebnisse
-der neuen Ernte nur von nebensächlicher Bedeutung sind, bleibt
-der Goldwert von noch so großen Schwankungen selbst mehrerer Produktionsjahre
-verhältnismäßig unberührt, weil die alten Goldvorräte für
-alle Fälle ganz außerordentlich größer sind, als das Ergebnis selbst der
-reichsten Ausbeute eines einzelnen Jahres. Alle Goldminen der Welt
-könnten mit einem Schlage vollständig versiegen, ohne daß dies auf
-die Menge des verfügbaren Goldes sofort von sonderlichem Einflusse
-wäre, während eine einzige allgemeine Getreidemißernte fürchterlichsten
-Getreidemangel zur sofortigen und unvermeidlichen Folge hätte. Dies
-also ist der Grund, warum Gold der bestmögliche, wenn auch keineswegs
-ein absolut guter Wertmaßstab ist. Die Arbeitszeit aber wäre unter
-allen denkbaren der schlechteste Wertmaßstab, denn weder sind zwei
-gleiche Arbeitszeiten notwendig wertgleich, noch behält die Arbeitszeit
-im allgemeinen unveränderten Wert, vielmehr wächst ihre Tauschkraft
-allen anderen Dingen gegenüber mit jedem zur Geltung gelangenden
-Fortschritte der Arbeitsmethoden.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Wir waren alle überzeugt; nur konnte Lord Elgin die Bemerkung
-nicht unterdrücken, daß die Freiländer denn doch eine Reihe von
-Leistungen nach Arbeitsäquivalenten berechneten. Sofort erhielt er
-aber von meinem Vater die treffende Antwort, daß dies nach allem
-bisher Gehörten nur dort geschehe, wo eine mit der Steigerung des
-Wertes der Arbeit parallel laufende Erhöhung einer Zahlung geradezu
-beabsichtigt sei. Gehalte und Versorgungsansprüche <em>sollen</em> steigen,
-wenn der Ertrag von Arbeit und damit der allgemeine Verbrauch steige,
-und zwar genau im selben Maße, wie diese, und nur weil dies beabsichtigt
-ist, kann man sie nach Arbeitsäquivalenten bemessen.
-</p>
-
-<p>
-Herr Clark machte uns jetzt darauf aufmerksam, welch&rsquo; weitgehende,
-alles durchdringende Offenheit und Übersichtlichkeit zufolge der durch die
-Bank geübten Klarstellung aller Verkehrs- und Erwerbsverhältnisse
-in allen pekuniären Angelegenheiten Freilands herrsche. Niemand kann
-weder sich noch andere über seine Mittel täuschen und eine der in socialer
-Beziehung wichtigsten Folgen davon ist, daß es Niemand beifällt, durch
-ungehörigen Aufwand glänzen zu wollen. Die Verschwendung entspringt
-nur zu häufig dem Bestreben, sich in den Augen der Welt als reicher
-<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a>
-darzustellen, als man thatsächlich ist; ein solcher Versuch könnte hier
-zu Lande nur Lächeln erwecken. Doch auch wer aus übertriebenem
-Hange zu Luxus mehr ausgeben wollte, als er einnimmt, vermöchte
-dies nicht, da die Bank zu solchen Zwecken natürlich keine Kredite gewährt,
-und ohne diese der Verschwender geradezu auf die Mildthätigkeit
-seiner Mitbürger angewiesen wäre, um seinem Hange zu fröhnen.
-Die Höhe aller Einnahmen und Ausgaben liegt klar zu Tage, alle Welt
-weiß, was jedermann hat und woher er es hat. Und da es zudem
-jedermann freisteht, jeden beliebigen Erwerbszweig zu ergreifen, so können
-Unterschiede des Einkommens auch Niemandes Neid erwecken.
-</p>
-
-<p>
-Nun warf aber Lord Elgin die Frage auf, ob sich aus den
-bei Feststellung von Honoraren unterschiedlicher Art, z. B. von Beamtengehalten,
-unvermeidlichen Willkür keinerlei Widerspruch zu dem
-sonst geltenden Prinzipe der unbeschränkten freien Berufswahl und
-dem gerade aus dieser Freiheit hervorgehenden Gleichgewichte der verschiedenen
-Arbeitserträge ergebe. &bdquo;Wenn der Ertrag aus Wollenweberei
-aus irgendwelchem Grunde höher ist, als der aus Getreidebau, so
-werden neue Arbeitskräfte insolange zur Weberei übergehen, bis der
-beiderseitige Ertrag sich ins Gleichgewicht gesetzt hat; sollte sich etwa
-ein dauernder Mehrertrag bei einem dieser beiden Produktionszweige
-zeigen, so kann dies angesichts Ihrer Institutionen offenbar nur daher
-rühren, daß die Arbeit in diesem ertragreicheren die unangenehmere,
-anstrengendere, eventuell auch die höhere, seltenere Kenntnisse oder Fähigkeiten
-erfordernde ist; Niemand kann sich über die geringste Benachteiligung
-beklagen und insofern ist die im Wege der Freiheit hergestellte
-Harmonie geradezu bewunderungswürdig. Aber sowie es sich um Ernennungen
-und Gehalte handelt, muß doch diese Gleichheit aufhören.
-Sie als Chef eines Verwaltungszweiges verdienen 1400, Ihr Nachbar
-Handarbeiter bloß 600 Pfund; woher wissen Sie, daß letzterer sich darob
-nicht benachteiligt fühlt?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Wenn Sie, Mylord&ldquo;, &mdash; meinte lächelnd Herr Clark &mdash; &bdquo;darunter
-verstehen, woher ich wisse, ob sich mein Nachbar nicht dadurch
-<em>von der Natur</em> benachteiligt fühlt, daß er außer stande ist, gleich mir
-1400 Pfund jährlich zu verdienen, so muß ich Ihnen antworten, daß
-ich darüber thatsächlich bloß Vermutungen, aber keine sichere Wissenschaft
-besitze; wenn Sie aber meinen, daß dieser mein Nachbar oder sonst
-jemand in Freiland in diesem meinem höheren Gehalte einen mir durch
-behördliche Willkür oder Gunst der Wähler zugewendeten, möglicherweise
-auch überflüssigen Vorteil erblicken könnte, so kann ich dies entschieden
-bestreiten. Denn mein Gehalt ist in letzter Auflösung gerade
-so das Ergebnis der freien Konkurrenz, wie der Arbeitsertrag meines
-fraglichen Nachbars. Ob ich der richtige Mann auf meinem Posten sei,
-darüber entscheidet allerdings die freie, durch keinerlei automatisch wirkende
-<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a>
-Einrichtung zu ersetzende oder zu kontrollierende Meinung jener Körperschaften,
-von denen meine Wahl abhängt; mit welchem Gehalte jedoch
-mein Amt bedacht werden muß, damit geeignete, oder sagen wir als
-geeignet geltende Männer für dasselbe sich finden, das regelt sich genau
-nach den nämlichen automatischen Gesetzen, wie der Arbeitsertrag eines
-Webers oder Landbauers. Und zwar gilt dies vom Gehalte des jüngsten
-Postbeamten angefangen bis hinauf zu uns Chefs der freiländischen
-Verwaltungszweige. Die Ernennungen hängen überall vom freien Ermessen
-der Vorgesetzten oder der Wahlkollegien ab; aber diese Vorgesetzten
-und Wahlkollegien müssen die Gehalte so bestimmen, daß jederzeit
-eine genügende Anzahl geeignet befundener Bewerber vorhanden sei.
-Natürlich kann es dabei auf ein Pfund mehr oder weniger im Jahre
-nicht ankommen; es gilt als Grundsatz, daß die Gehalte stets so bemessen
-sein müssen, daß eher ein kleiner Überfluß als ein Mangel an Bewerbern
-sich einstelle; aber wenn der Überfluß ein gewisses Maß übersteigt,
-so reduziert man eben die Gehalte, während bei drohendem
-Mangel an Bewerbern mit Gehalterhöhungen vorgegangen würde. Als
-selbstverständlich will ich hier bloß einschalten, daß unter abgewiesenen
-Bewerbern in Freiland nicht brotlose Aspiranten zu verstehen sind; Ernennung
-oder Ablehnung sind niemals Existenz-, sondern bloß
-Neigungs-, allenfalls auch Eitelkeitsfragen. Ebenso verläßt man ein
-Amt, wenn anderwärts lohnendere oder angenehmere Beschäftigung
-winkt. Die Staatsämter werden auch nicht in jedem Dienstzweige gleich
-hoch bezahlt; besonders anstrengende, oder besondere Kenntnisse verlangende
-Arbeit setzt auch hier höheren Ertrag voraus, gerade wie bei
-den unterschiedlichen Gewerben. Und während der Arbeitsertrag gewöhnlicher
-Handarbeit das Richtmaß der niederen Beamtengehalte ist,
-wirken die Honorare der unterschiedlichen Associationsleiter bestimmend
-auf die Gehalte der oberen Stellen zurück. Dabei hat sich die auch bei
-Ihnen gemachte Erfahrung wiederholt, daß der Reiz mit öffentlicher
-Thätigkeit verbundener Stellungen die Gehalte von Verwaltungsbeamten,
-Professoren u. dergl. nicht unerheblich unter das Niveau jener Bezüge
-hinabdrückt, welche in den leitenden Stellen der Associationen zu erlangen
-sind. Im allgemeinen macht sich mit steigender Intelligenz ein <em>verhältnismäßiges</em>
-&mdash; beileibe kein absolutes &mdash; Sinken der obersten
-Gehalte überall geltend. Aber während die Direktoren einzelner großer
-Associationen noch immer bis zu 5000 Stundenwerte im Jahre
-beziehen, erhalten die obersten Chefs der freiländischen Centralverwaltung
-derzeit nur mehr 3600, und auch das nur, weil die Parlamente der
-von uns unablässig beantragten Ermäßigung der oberen Gehalte
-ebenso unablässig zähen Widerstand entgegensetzen und sich nur
-zögernd und widerwillig dazu verstehen. Um gerecht zu sein, muß man
-übrigens hinzufügen, daß sich bei den Associationen das nämliche Spiel
-<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a>
-wiederholt. Die Direktoren würden sich mit weit geringeren Gehalten
-begnügen, und von oben ausgehende Anträge auf Gehaltsreduktion sind,
-insbesondere in den letzten zehn Jahren, seitdem der Wert der Stundenäquivalente
-so sehr gestiegen ist, in den meisten Generalversammlungen
-geradezu stehende Formeln geworden. Ich wiederhole, daß diese Reduktion
-immer nur verhältnismäßig, d. h. mit Bezug auf den Ansatz in Stundenäquivalenten
-zu verstehen ist; der Wert der Arbeitsstunde hat sich
-binnen 20 Jahren vervierfacht; wer also, wie z. B. wir öffentlichen
-Verwaltungschefs, um 28 Procent weniger Stundenwerte erhält,
-als ursprünglich, dessen Einkommen hat sich, in Geld berechnet, doch
-nahezu verdreifacht. Die Associationen aber wollen in der Regel auch
-von einer so verstandenen Gehaltermäßigung nichts wissen. Sie besorgen, daß
-trotz aller von ihren Direktoren an den Tag gelegten Geneigtheit, sich
-mit geringeren Bezügen zu begnügen, denn doch der eine oder andere
-sich von einer konkurrierenden, höhere Bezüge zahlenden Gesellschaft ihnen
-werde abspenstig machen lassen, und da thatsächlich angesichts der Riesensummen,
-die solch eine große Association im Jahre umsetzt, einige hundert
-Pfund auf oder ab gar nicht der Rede wert sind, so geht es bei den
-Associationen mit der Gehaltsreduktion nur langsam vorwärts. Trotzdem
-gleicht sich der Abstand zwischen höchstem und geringstem Verdienste
-durchweg immer mehr aus, da wir in Folge der steigenden allgemeinen
-Bildung dem Gleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage auch in
-den höheren, besondere Fähigkeiten voraussetzenden Berufen stets näher
-kommen. Sollte dies Gleichgewicht dereinst vollkommen erreicht werden,
-was mit der Ausdehnung unserer Institutionen auf die gesamte Menschheit
-und dem damit verknüpften gänzlichen Verschwinden ungebildeter
-Massen unzweifelhaft stattfinden dürfte, so ist es unsere Meinung, daß
-auch die Unterschiede der Gehalte gänzlich verschwinden, oder doch auf
-ein Minimum sinken werden.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Lord Elgin dankte für diese Aufklärung. Jetzt aber trat Sir
-Bartelet mit einer weitaus wichtigeren Frage hervor. &bdquo;Was mir bei
-Besichtigung des bewältigenden Getriebes Ihrer Centralbank neuerlich
-und ganz besonders aufgefallen ist&ldquo;, meinte er, &bdquo;und worüber ich mir
-noch immer keine volle Rechenschaft zu geben vermag, das ist die Frage,
-wie es ohne Willkür und kommunistische Einrichtungen möglich ist,
-Kapitalien und zwar so ungeheure Kapitalien, wie sie bei Ihnen erforderlich
-sind, aufzubringen, ohne daß Kapitalzins gezahlt oder berechnet
-wird. Daß der Zins die notwendige und gerechte Belohnung des
-Kapitalisten für die &bdquo;Entbehrungen&ldquo; sei, die er sich auferlegte, glaube
-ich zwar nicht; aber ich hielt ihn für den Tribut, den man dem Sparer
-dafür zahlen müsse, daß seine freiwillige Sparsamkeit die Gesellschaft
-der Notwendigkeit ungerechten Sparzwanges enthebt, der sonst von
-Obrigkeitswegen ausgeübt werden müßte. Was ich nun endlich wissen
-<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a>
-möchte, wäre eine genaue Darlegung der Gründe, die Sie veranlaßten,
-den Kapitalzins zu verbieten. Oder teilen Sie in Freiland die Ansicht,
-daß es Unrecht sei, dem Sparer einen Anteil an den Früchten seiner
-Sparsamkeit zu gönnen?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Diese Ansicht teilen wir nicht&ldquo;, war des Direktors Antwort.
-&bdquo;Aber zunächst muß ich konstatieren, daß Sie von einer ganz falschen
-Voraussetzung ausgehen. Wir <em>verbieten</em> den Kapitalzins ebenso wenig,
-als wir den Gewinn des Arbeitgebers oder die Grundrente &bdquo;verbieten&ldquo;.
-Diese drei Einkommenzweige existieren hier zu Lande bloß aus dem
-Grunde nicht, weil Niemand in der Notlage ist, sie bezahlen zu müssen.
-Niemand wird Sie hindern, wenn Sie hier eine Fabrik eröffnen und
-zu deren Betrieb Lohnarbeiter anwerben wollen; nur allerdings müßten
-Sie diesen erstlich mindestens so viel bieten, als durchschnittlich in Freiland
-die Arbeit trägt, und zum zweiten würde es trotzdem fraglich sein,
-ob Sie überhaupt Leute fänden, die sich Ihrem Kommando unterordnen.
-Ähnlich verhält es sich mit der Grundrente. Bei uns ist der Boden
-&mdash; sofern er nicht zu Wohnstätten, sondern als Produktionsmittel dient &mdash;
-gänzlich herrenlos, frei gleich der Luft; er gehört weder Einzelnen, noch
-Vielen; Jedermann, der Boden bebauen will, steht es frei, dies zu thun,
-wo ihm beliebt, und seinen Anteil am Ertrage einzuheimsen. Damit
-entfällt natürlich alle Grundrente, die nichts anderes ist, als der Herrenzins
-für die Benutzung des Bodens; aber ein &bdquo;Verbot&ldquo; wird man hier
-vergeblich suchen. Darin, daß ich kein Recht habe, anderen etwas zu
-verbieten, liegt doch wahrlich kein Verbot; man kann nicht einmal sagen,
-daß mir &bdquo;verboten&ldquo; ist, etwas zu verbieten; mag ich es doch immerhin
-thun, Niemand wird mich hindern, nur auslachen wird mich alle Welt,
-genau so auslachen, als ob ich den Leuten das Atmen verbieten wollte,
-behauptend, die atmosphärische Luft sei mein Eigentum. Wo die Macht
-zur Durchsetzung solcher Prätensionen fehlt, braucht Niemand dieselben
-zu verbieten; sie dürfen nur nicht künstlich hervorgerufen und unterstützt
-werden, dann unterbleiben sie ganz von selbst. Diese Macht aber besitzt
-in Freiland Niemand, weil hier Niemand dazu gebraucht wird,
-den Boden mit Beschlag zu belegen, damit er bebaut werden könne.
-Das Zaubermittel aber, welches uns dazu verhalf, herrenlosen Boden
-zu kultivieren, ohne uns darob in die Haare zu geraten, ist das nämliche,
-welches uns auch zur Produktion ohne Arbeitgeber befähigte:
-die freie Association.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Ebenso wenig aber verbieten wir den Kapitalzins. Niemand wird
-Sie in Freiland hindern, so hohe Kapitalzinsen zu fordern, als Ihnen
-nur immer beliebt; nur werden Sie allerdings Niemand finden, der sie
-Ihnen zahlt, weil Jedermann zinsloses Kapital in Hülle zur Verfügung
-steht. Nun fragen Sie aber, ob in dieser Verfügung über die Ersparnisse
-der Gesamtheit zu Gunsten der Kapitalbedürftigen kein Unrecht
-<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a>
-liege? Ob das nicht Kommunismus sei? Und zugeben will ich, daß
-hier die Sache nicht so einfach liegt, wie bei Unternehmergewinn und
-Grundrente. Der Kapitalzins wird nämlich für eine wirkliche greifbare
-Leistung entrichtet, die sich von derjenigen des Arbeitgebers und Grundrentners
-sehr wesentlich unterscheidet. Während nämlich die wirtschaftliche
-Leistung der beiden Letzteren in nichts anderem, als in der Geltendmachung
-eines Herrschaftsverhältnisses besteht, welches überflüssig wird
-in dem Momente, wo sich die arbeitenden Massen aus erzwungen gehorchenden
-Knechten in frei vergesellschaftete Männer verwandelt haben,
-bietet der Kapitalist dem Arbeiter ein Instrument, welches unter allen
-Umständen dessen Thätigkeit befruchtet. Und während ohne weiteres
-ersichtlich ist, daß mit der Etablierung der wirtschaftlichen Freiheit Arbeitgeber
-und Grundrentner nicht bloß überflüssig, sondern geradezu
-gegenstandlos werden, könnte bezüglich des Kapitalisten, des Besitzers
-von Ersparnissen, sogar behauptet werden, daß gerade die freie Gesellschaft
-in unendlich höherem Maße auf ihn angewiesen sei, als die geknechtete,
-weil sie viel mehr Kapital verwenden könne und müsse,
-als diese. Die zur Aufbringung der Kapitalien dienenden Abgaben
-werden nun gleichmäßig auf alle Produzenten verteilt; der Kapitalbedarf
-dagegen ist ein sehr ungleicher; wie kamen wir nun dazu, aus
-den Abgaben von Leuten, die vielleicht wenig Kapital brauchen, die
-Produktion anderer auszustatten, die zufällig starken Kapitalbedarf
-haben? Welchen Vorteil boten wir ersteren für die ihnen aufgenötigte
-Sparsamkeit?
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Und doch liegt die Antwort nahe genug. <em>In der ausbeuterischen
-Gesellschaft hat allerdings der Gläubiger nicht
-den geringsten Vorteil von der, kraft seiner Ersparnisse
-durch den Schuldner bewerkstelligten Verbesserung der Produktion;
-in der auf socialer Freiheit und Gerechtigkeit beruhenden
-dagegen genau den nämlichen wie dieser.</em> Wo &mdash;
-wie bei uns &mdash; jeder Produktionsvorteil sich gleichmäßig auf Alle verteilen
-muß, erledigt sich die Frage nach dem Anteil des Sparers am
-Nutzen seines Kapitals ganz von selbst. Der Maschinenschlosser oder
-Weber, dessen Abgabe beispielsweise zur Anschaffung oder Vervollkommnung
-landwirtschaftlicher Maschinen verwendet wird, hat davon
-&mdash; bei uns &mdash; genau den nämlichen Vorteil wie der betreffende Landwirt,
-denn Dank unseren Institutionen überträgt sich die in welcher
-Produktion immer erzielte Ertragssteigerung mittelbar auf alle Produktionsorte
-und Produktionsarten.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Sollte man aber fragen, mit welchem Rechte ein den Kommunismus
-verwerfendes, auf freier Selbstbestimmung des Individuums gegründetes
-Gemeinwesen seine Mitglieder überhaupt zur Sparsamkeit
-zwingen könne, so ist die Antwort, daß solcher Zwang in Wahrheit
-<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a>
-gar nicht geübt wird. Die Abgabe, aus welcher die Kapitalisation bestritten
-wird, zahlt doch Jedermann nur nach Maßgabe seiner Arbeitsleistung.
-Zur Arbeit wird nun Niemand gezwungen; so weit er aber
-thatsächlich arbeitet, nimmt er ja die Kapitalien selbst in Anspruch; es
-wird von ihm nur verlangt und zwar genau proportional verlangt,
-was er selber gebraucht; der Gerechtigkeit sowohl als dem Selbstbestimmungsrechte
-geschieht also in jedem Punkte volles Genüge.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Sie sehen, es gilt vom Kapitalzinse genau das nämliche, was
-bezüglich des Unternehmergewinnes und der Grundrente steht: die erlangte
-Fähigkeit der Association enthebt den Arbeitenden der Notwendigkeit,
-unter welchem Titel immer irgend einen Teil des Ertrages
-seiner Produktion an dritte Personen abzutreten. Der Zins verschwindet
-ganz von selbst, wie Gewinn und Rente, aus dem allein entscheidenden
-Grunde, weil der frei vergesellschaftete Arbeiter sein eigener
-Kapitalist so gut, wie sein eigener Arbeitgeber und Grundherr wird.
-Oder wenn man so will: <em>Zins, Gewinn und Rente bleiben, sie
-verlieren nur ihr vom Arbeitslohne losgelöstes Sonderdasein;
-sie verschmelzen mit diesem zum einigen und unteilbaren
-Arbeitsertrage.</em>&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Und damit gute Nacht für heute.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-5-7">
-<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a>
-19. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="date">
-Edenthal, den 11. August.
-</p>
-
-<p class="first">
-Die Mitteilungen und Aufklärungen des Direktors der freiländischen
-Centralbank beschäftigten meinen Vater und mich noch lange aufs lebhafteste.
-Da dieser zu den Intimen des Ney&rsquo;schen Hauses zählende
-hohe Funktionär für den nächsten Tag dort speiste, so bewegte sich das
-Tischgespräch um verwandte Themata. Zunächst wurde von meinem
-Vater die Frage aufgeworfen, in welcher Weise das freiländische Gemeinwesen
-der Gefahr von <em>Krisen</em> begegnet, die seines Erachtens hier viel
-verhängnisvoller sein müßten als irgend anderwärts.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Krisen welcher Art immer &mdash; war die Antwort &mdash; müßten allerdings
-den ganzen Komplex der freiländischen Institutionen geradezu in
-die Luft sprengen; aber sie sind hierzulande eben unmöglich, die Quelle,
-aus welcher sie anderwärts entspringen, ist verschüttet. Denn die Ursache
-aller Krisen, sie mögen nun Produktions- oder Kapitalkrisen heißen,
-liegt einzig in der Überproduktion, d. h. in dem Mißverhältnisse zwischen
-Produktiv- und Konsumtionskraft und dieses Mißverhältnis existiert
-bei uns nicht. Allerdings behaupteten auch in der alten, ausbeuterischen
-Welt die Nationalökonomen, es gebe gar keine wirkliche Überproduktion,
-d. h. keine allgemeine Unverwendbarkeit von Produkten, denn, so führten
-sie aus, der Mensch arbeitet nur, sofern ihn irgend ein Bedürfnis
-dazu antreibt und es ist daher <a id="corr-51"></a>der Natur der Sache nach ausgeschlossen,
-daß jemals mehr Güter erzeugt, als gebraucht werden könnten. Das
-ist auch, unter einer Voraussetzung, auf die ich sofort zu sprechen kommen
-werde, vollkommen richtig. Jedermann will das, was er erzeugt, zur
-Deckung irgend eines Bedarfs gebrauchen; er will sein Produkt entweder
-selber verwenden oder gegen das Erzeugnis eines anderen Produzenten
-austauschen; was dieses andere Erzeugnis sei, ist gleichgültig,
-<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a>
-irgend ein Produkt ist es jedenfalls, und es sollte daher niemals die
-Frage sein, ob überhaupt, sondern allemal nur, welche Art von Produkten
-gerade gesucht wird. Nehmen wir an, die Weizenproduktion
-habe eine Verbesserung erfahren, so ist es allerdings möglich, daß damit
-der Weizenbedarf noch immer nicht, oder doch nicht gerade im Verhältnisse
-der gebotenen Möglichkeit der Produktionssteigerung wachse,
-denn daß die Weizenproduzenten ihren Mehrertrag gerade zu Mehrgebrauch
-von Weizen benutzen werden, ist allerdings nicht notwendig;
-aber dann sollte, so scheint es, die Nachfrage nach etwas anderem entsprechend
-zunehmen, z. B. nach Kleidern oder nach Werkzeugen, und
-wenn man dies nur allemal rechtzeitig vorher wüßte und die Produktion
-darauf einrichten könnte, so sollte es niemals eine Störung des
-Tauschverhältnisses der einzelnen Güterarten geben. Also nicht aus
-einem Zuviel von Produkten im allgemeinen, nicht aus einem Mißverhältnisse
-zwischen Produktivkraft und Verbrauch schlechthin, sondern
-aus vorübergehenden Störungen des richtigen Verhältnisses zwischen
-den einzelnen Produktionen erklärt die orthodoxe Doktrin die Krisen,
-indem sie noch hinzufügt, daß angesichts des in der ganzen Welt herrschenden
-Elends von mangelndem Bedarf zu reden, geradezu widersinnig sei.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Bei dieser, im übrigen schlechthin unanfechtbaren Gedankenkette, ist
-nur <em>Eines</em> vergessen worden, nämlich die Grundeinrichtung der gesamten
-ausbeuterischen Gesellschaft. Allerdings ist es ein grauenerregender Widersinn,
-angesichts des grenzenlosen Elends von allgemein mangelndem
-Bedarfe reden zu müssen; wo aber die ungeheure Majorität der Menschen
-kein Anrecht auf die Früchte ihrer Arbeit besitzt, da erlangt dieser
-Widersinn eine fürchterliche Bedeutung. Was nützt es dem darbenden
-Arbeiter, daß er ganz vortreffliche und überaus dringende Verwendung
-für jene Produkte wüßte, die er hervorgebracht, wenn diese nicht ihm
-gehören? Bleiben wir bei dem Beispiel mit der durch verbesserte
-Kulturmethoden gesteigerten Weizenproduktion. Wenn es die landwirtschaftlichen
-Arbeiter wären, denen das Verfügungsrecht über das
-mehr erzeugte Getreide zustünde, so würden sie allerdings mehr oder
-feineres Brot essen, also einen Teil des Mehrprodukts selber verzehren;
-mit einem anderen Teile würden sie verstärkte Nachfrage nach Kleidern,
-mit einem dritten Teile ebenso verstärkte Nachfrage nach Werkzeugen
-hervorrufen, die ja notwendig wären, um das Mehr an Getreide und
-Kleidungsstoffen zu erzeugen. Hier würde es sich wirklich bloß darum
-handeln, das richtige Verhältnis zwischen Weizen-, Kleider- und Werkzeugproduktion,
-welches durch eine, lediglich bei Weizen eintretende Vermehrung
-allerdings gestört wäre, wieder herzustellen, und vermehrte Produktion,
-gesteigerter Wohlstand für Alle, wäre nach vorübergehenden Schwankungen
-die unvermeidliche Folge. Da aber der Mehrertrag von Weizenproduktion
-nicht den Arbeitern gehört, da diese für alle Fälle nur das
-<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a>
-zur Fristung ihres Lebens Erforderliche erhalten, so können sie infolge
-des auf ihrem Produktionsgebiete eingetretenen Fortschritts weder mehr
-Getreide, noch mehr Kleidungsstücke verbrauchen, und da dies nicht der
-Fall ist, so kann auch kein verstärkter Bedarf nach Werkzeugen zur Erzeugung
-von Weizen und Geweben entstehen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Aber &mdash; so wendete ich ein &mdash; damit, daß den Arbeitern der
-Mehrertrag der Produktion vorenthalten bleibt, ist doch dieser Mehrertrag
-nicht herrenlos; er gehört den Arbeitgebern und diese sind doch
-auch Menschen, die ihren Gewinn zur Deckung irgend eines Bedürfnisses
-verwenden wollen; die Arbeitgeber werden ihren Gebrauch steigern,
-und abermals &mdash; so sollte man meinen &mdash; wird es unmöglich sein,
-daß ein allgemeines Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage
-einträte. Nur werden es allerdings andere Bedarfsartikel sein,
-auf welche sich die Produktion werfen muß, um das gestörte Gleichgewicht
-der einzelnen Arbeitszweige herzustellen. Gehörte der Mehrertrag
-den Arbeitern, so würde man mehr Getreide, ordinäre Gewebe
-und Werkzeuge brauchen; da er den wenigen Arbeitgebern gehört, so
-wird sich die Nachfrage bloß bei feinen Leckerbissen, Spitzen, Equipagen
-und bei Werkzeugen steigern, die zur Erzeugung dieser Luxuswaren erforderlich
-sind.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Vortrefflich!&ldquo; mengte sich hier David in das Gespräch, &bdquo;nur daß
-die Arbeitgeber keineswegs gewillt sind, die Überschüsse, welche ihnen
-der Mehrertrag ihrer Produktion liefert, in sonderlichem Maße zur
-Steigerung ihres Luxuskonsums zu verwenden, sondern der Hauptsache
-nach kapitalisieren, d. h. den Mehrertrag in Werkzeugen der Produktion
-anlegen wollen. Ja, unter Umständen ist der &bdquo;Arbeitgeber&ldquo;, wie wir
-gestern schon gehört, gar kein Mensch, der menschliche Bedürfnisse besitzt,
-sondern ein Popanz, der nichts genießt und alles kapitalisiert.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Desto besser!&ldquo; meinte ich, &bdquo;desto rascher kann der Reichtum zunehmen,
-denn rasch wachsende Kapitalien bedeuten rasch wachsende Produktion
-und diese ist an sich gleichbedeutend mit rasch wachsendem Reichtume.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Herrlich!&ldquo; rief David. &bdquo;Also weil die arbeitenden Massen <a id="corr-52"></a>ihren
-Konsum nicht steigern können, die Arbeitgeber den ihrigen nicht entsprechend
-steigern wollen, weil man demnach von keinerlei menschlichen
-Bedarfsartikeln mehr gebrauchen kann, als zuvor, so benützt man die
-überschüssige Produktivkraft zur Vermehrung der Produktionsmittel.
-D. h. mit anderen Worten: Niemand braucht mehr Getreide &mdash; folglich
-bauen wir neue Pflüge; niemand braucht mehr Gewebe &mdash; folglich
-errichten wir neue Spinnereien und Webereien! Ermissest du noch
-nicht den Gipfel des Unsinnes, zu welchem Eure Doktrin führt?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Ich glaube, Luigi, Du wirst gleich mir zugeben, daß sich gegen
-dieses ebenso einfache als überzeugende Raisonnement schlechterdings nichts
-einwenden ließ. Eine Wirtschaftsordnung, die den Produkten des menschlichen
-<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a>
-Fleißes und Erfindungsgeistes die einzige Verwendung, der sie in
-letzter Linie alle dienen, nämlich die bessere Befriedigung irgendwelcher
-menschlicher Bedürfnisse, abschneidet und sich dann wundert,
-daß dieselben nicht verwendet werden können, ist thatsächlich an der
-Grenze des Blödsinns angelangt. Und daß die Dinge bei uns
-in Europa und Amerika wirklich so liegen, muß schließlich jedermann
-einleuchten.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Aber was geschieht &mdash; um des Himmels willen &mdash; mit der
-solcherart bei uns unverwendbar gewordenen Produktivkraft?&ldquo; fragte ich
-weiter. &bdquo;Wir sind der Hauptsache nach in Künsten, Wissenschaften und
-technischen Fertigkeiten so vorgeschritten, als Ihr in Freiland; ich muß
-also glauben, daß wir, besäßen wir nur Verwendung für alle Erträge
-unserer Produktion, so reich, oder doch annähernd so reich sein könnten,
-wie Ihr. Nun besitzen wir aber thatsächlich lange nicht den zehnten
-Teil Eures Reichtums und trotzdem wird bei uns ungefähr doppelt so
-angestrengt gearbeitet, als hier. Denn wenn auch bei Euch alles arbeitet,
-während es bei uns einige Müssiggänger gibt, die lediglich von fremder
-Arbeit leben, so fällt dies doch angesichts des Umstandes, daß unsere
-arbeitenden Massen acht bis zehn Stunden und darüber ins Joch gespannt
-sind, während hier durchschnittlich bloß fünf Stunden lang gearbeitet
-wird, gar nicht ins Gewicht. Es gibt bei uns zahlreiche Millionen
-feiernder Arbeiter, allerdings; aber auch das wird überreichlich aufgewogen
-durch Weiber- und Kinderarbeit, die Ihr nicht kennt; wo also
-&mdash; ich wiederhole es &mdash; liegt der unermeßliche Unterschied in der Ausnutzung
-unserer und Eurer Produktivkräfte?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;In der <em>Ausrüstung</em> der Arbeitskräfte&ldquo;, war die Antwort. &bdquo;Wir
-Freiländer arbeiten weniger angestrengt als Ihr, aber wir benutzen dazu
-alle Behelfe der Wissenschaft und Technik in vollstem Umfange,
-während Ihr dies nur ausnahmsweise und nirgends so vollkommen als
-wir, vermögt. Alle Erfindungen und Entdeckungen der großen Geister
-der Menschheit sind Euch so gut bekannt, als uns; in allgemeinem
-Gebrauche aber stehen sie nur bei uns. Da Euch Eure herrlichen
-socialen Einrichtungen den Genuß jener Dinge verwehren, zu deren
-erleichterter Erzeugung doch all jene Erfindung einzig dienen &mdash; nun
-so bedient Ihr Euch ihrer eben nicht, oder doch nur entsprechend
-jenem geringen Maße, in welchem Eure Einrichtungen Euch den
-Genuß zumessen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Selbst mein Vater war von dieser vernichtenden Beleuchtung eines
-Systems, das als höchsten Ausfluß ewiger Weisheit zu verehren er von
-jeher gewöhnt gewesen, aufs tiefste erschüttert. &bdquo;Unglaublich! Schrecklich!&ldquo;
-murmelte er, nur mir verständlich.
-</p>
-
-<p>
-Herr Clark aber fuhr fort: &bdquo;Bei uns hingegen ist der Lehrsatz der
-sog. klassischen Ökonomie, daß ein allgemeines Zuviel an Produkten unmöglich
-<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a>
-sei, allerdings zur Wahrheit geworden, denn in Freiland decken
-sich Konsum und Produktivität thatsächlich aufs vollkommenste. Hier
-könnte es also wirklich bloß geschehen, daß vorübergehend zu viel von
-<em>einzelnen</em> Dingen erzeugt, d. h. daß das Gleichgewicht der verschiedenen
-Produktionsarten zeitweilig gestört würde. Doch auch diese, an sich geringfügige
-Gefahr brauchen wir nicht zu fürchten. Der durch unsere
-Einrichtungen bewerkstelligte innige Zusammenhang aller Produktionsinteressen
-gewährleistet von vornherein das Gleichgewicht aller Produktionserträge.
-Genauer besehen ist ganz Freiland eine einzige große Produktionsgenossenschaft,
-deren einzelne Mitglieder unabhängig von einander sind in
-allen Dingen, in einem Punkte jedoch zusammenhängen, im Ertrage ihrer
-Arbeit nämlich. Gerade weil jedermann arbeiten kann wo und was ihm
-beliebt, jedermanns Arbeit aber in dem einen Zwecke der Erzielung möglichst
-hohen Nutzens zusammenläuft, so ist es, von vorübergehenden nebensächlichen
-Irrungen abgesehen, anders gar nicht möglich, als daß der
-bei gleicher Arbeit erzielbare Nutzen überall der gleiche sei. Alle unsere
-Einrichtungen gipfeln in diesem <em>einen</em> Punkte. Anfangs, so lange
-unser Gemeinwesen noch im Werden begriffen war, kam es vor, daß
-ziemlich bedeutende Ungleichheiten erst nachträglich ausgeglichen werden
-konnten; die Produzenten wußten oft erst nach Abschluß der Jahresbilanzen,
-was sie und was andere verdient hatten. Das ist ein längst
-überwundenes Stadium der Kindheit; heute weiß jeder Freiländer bis
-auf geringfügige, durch unvorhergesehene kleinere Zufälle herbeigeführte
-Abweichungen ganz genau, was er und alle anderen nicht bloß verdient
-haben, sondern was sie aller Voraussicht nach in nächster Zukunft verdienen
-werden; er wartet nicht erst, bis Ungleichheiten eingetreten sind,
-um sie dann auszugleichen, sondern er sorgt dafür, daß Ungleichheiten
-gar nicht eintreten. Da unsere Statistik jederzeit mit untrüglicher Sicherheit
-angibt, was in jedem Produktionszweige jeweilig erzeugt wird und
-der Bedarf sowohl, als dessen Einfluß auf die Preise überall aus sorgfältiger
-Beobachtung früherer Jahre genau bekannt ist, so läßt sich die
-Rentabilität nicht bloß jedes Produktionszweiges, sondern jedes einzelnen
-Etablissements so verläßlich vorherberechnen, daß namhaftere Irrtümer
-nur im Falle elementarer Katastrophen möglich sind. Ereignen sich
-solche, nun dann greift eben die wechselseitige Versicherung helfend ein;
-im übrigen giebt es hierzulande nicht bloß keine Krisen, sondern nicht
-einmal sonderliche Ertragsschwankungen der verschiedenen Produktionen.
-Unser statistisches Amt veröffentlicht ununterbrochen genaue Zusammenstellungen,
-aus denen jederzeit zu ersehen ist, wo in nächster Zukunft
-Bedarf, wo Überfluß an Arbeitskraft herrschen wird; nach diesen Ausweisen
-richtet sich unser Arbeiternachwuchs und das genügt, von höchst
-seltenen Ausnahmen abgesehen, vollkommen zur Erhaltung des Gleichgewichts
-der Erträge. Daß da oder dort ein neueingerichtetes Etablissement
-<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a>
-verunglückt, kommt manchmal, insbesondere bei der Minenindustrie
-vor. Aber dieses Verunglücken darf man sich nicht etwa als Bankerott
-vorstellen &mdash; wie sollen Unternehmer bankerottieren, die weder Grundrente,
-noch Kapitalzins, noch Arbeitslohn zu bezahlen haben und denen
-für alle Fälle ihre hochwertige Arbeitskraft bleibt &mdash; sondern schlimmstenfalls
-als getäuschte Erwartung. Und verliert in einem ganz besonderen
-Falle das Gemeinwesen oder irgend eine Association durch den vorzeitigen
-Tod eines Schuldners wirklich die dargeliehene Summe &mdash; was
-kann das angesichts der gefahrlos umgesetzten Riesensummen unseres
-Verkehrs zu bedeuten haben? Sollte man zur Deckung solcher Verluste
-ein Delcredere einheben, es würde kaum Tausendteile eines Prozents
-betragen und wäre die seinetwegen verspritzte Tinte nicht wert.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Und stören auswärtige Katastrophen nicht zeitweilig den ruhigen
-Gleichgang Ihrer freiländischen Produktion? Werden Ihre Märkte nicht
-durch ausländische Überproduktion mit Waren überflutet, für die entsprechende
-Verwendung fehlt?&ldquo; fragte ich.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Daß die durch die anarchische Gestaltung der ausbeuterischen
-Produktionsverhältnisse so häufig eintretenden heftigen Preisschwankungen
-der Welthandelsgüter nicht auch für uns mit empfindlichen Unannehmlichkeiten
-verknüpft wären, kann allerdings nicht behauptet
-werden. Wir sehen uns dadurch nur zu oft genötigt, einzelne Produktionen
-einzuschränken und die damit frei werdenden Arbeitskräfte anderen Erzeugungsarten
-zuzuwenden, ohne daß ein wirklicher Wechsel in den
-Produktionskosten oder in den Bedarfsverhältnissen dies begründen würde.
-Thatsächlich sind diese fremden, plötzlichen und unberechenbaren Einflüsse
-bisweilen Schuld daran, daß zur Erhaltung des Gleichgewichts der Erträge
-wirkliche Auswanderung von Arbeitskräften aus einer Produktion
-in die andere notwendig wird, während zu Ausgleichung der aus
-natürlichen Gründen eintretenden Verschiebungen des Angebots und der
-Nachfrage fast immer die planmäßige Zu- oder Ableitung des Arbeiternachwuchses
-genügt. Eine tiefergehende Erschütterung unserer Erwerbsverhältnisse
-aber vermögen auch diese sprunghaften ausländischen Ereignisse
-nicht herbeizuführen. Gleichwie es unmöglich ist, eine Flüssigkeit,
-die jedem Drucke oder Stoße nachgibt und ausweicht, aus dem
-Gleichgewichte zu bringen, so kann auch unsere Wirtschaft, gerade wegen
-ihrer absoluten freien Beweglichkeit, nie ihr Gleichgewicht verlieren. In
-unnütze, störende Bewegung mag sie gebracht werden, aber die natürliche
-Schwerkraft stellt sofort das Gleichmaß aller Verhältnisse wieder her.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Nach beendeter Mahlzeit lud uns Herr Ney ein, ihn in den Volkspalast
-zu begleiten, wo heute das Fachparlament für öffentliche Arbeiten
-eine Nachtsitzung halten werde, um über ein von ihm vorgelegtes großes
-Kanalprojekt sich schlüssig zu machen. Er glaube, daß der Gegenstand
-auch uns interessieren werde. Wir nahmen mit Dank an.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a>
-Das Fachparlament für öffentliche Arbeiten besteht aus 120 Mitgliedern;
-die meisten derselben sind, wie mir David, der mit von der
-Partie war, erklärte, Direktoren großer Associationen, insbesondere der
-das Baugewerbe betreibenden; doch sitzen auch Professoren technischer
-Hochschulen und andere Fachmänner in demselben. Laien, die von
-öffentlichen Arbeiten nichts verstehen, giebt es in dieser Körperschaft
-nicht, und ohne weiteres kann behauptet werden, daß dieselbe die Blüte
-und Quintessenz des technischen Wissens und Könnens von ganz Freiland
-in sich schließt.
-</p>
-
-<p>
-Das Projekt, welches gegenwärtig vorlag, war vor Jahresfrist
-seitens der Direktoren der Wasser- und Hochbau-Associationen von
-Edenthal, Nordbaringo, Ripon und Strahlstadt, in Verbindung mit
-zwei Professoren der technischen Hochschule von Ripon angeregt worden.
-Es handelte sich bei demselben um nichts geringeres, als um die Herstellung
-einer für Schiffe bis zu 2000 Tonnen fahrbaren Wasserstraße
-vom Tanganika über den Muta-Nzige und Albert-Njanza unter Benutzung
-des Nillaufes bis an das Mittelländische Meer einerseits und
-von der Kongomündung den Kongo aufwärts über den Aruwhimi in den
-Albertsee, von dort unter Benützung einiger kleinerer Ströme über den
-Baringosee an den Unterlauf des Dana und von hier an den indischen
-Ocean. Es waren das also zwei Wasserwege, deren einer die großen
-centralafrikanischen Seen mit dem Mittelmeere, der andere, quer durch
-den ganzen Weltteil, den atlantischen mit dem indischen Ocean verbinden
-sollte. Da ein Teil der zu diesem Behufe erforderlichen gewaltigen
-Arbeiten auf fremdem Gebiete &mdash; dem des Kongostaates und Ägyptens
-&mdash; durchgeführt werden mußte, so waren Verträge mit diesen Staaten
-abgeschlossen worden, die Freiland alle notwendigen Rechte einräumten.
-Die Bereitwilligkeit der fremden Regierungen, auf die Wünsche der
-Edenthaler Verwaltung einzugehen, wird man begreiflich finden, wenn
-man erwägt, daß Freiland keinerlei Gebühr für die Benutzung seiner
-Kanäle einzuheben, den Nachbarn also ein freies Geschenk mit seinen
-kolossalen Arbeiten zu machen gedachte. Im Zusammenhange mit diesem
-Projekte stand auch das auf Erwerbung des Suez-Kanals, der zu
-doppelter Breite und Tiefe ausgebaggert und dem Verkehre gleichfalls
-zu unentgeltlicher Benutzung übergeben werden sollte. Die englische
-Regierung, welcher der größte Teil der Kanalaktien gehörte, war den
-Freiländern mit weitgehender Liberalität entgegengekommen; sie überließ
-ihnen ihre Aktien zu einem sehr mäßigen Preise, so daß diese es nur
-mit den kleineren Aktionären zu thun hatten, welche allerdings die
-Situation weidlich auszunützen verstanden. Die britische Regierung
-verlangte Sicherheit für die unantastbare Neutralität des Kanals und
-förderte im übrigen das Unternehmen nach Kräften.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a>
-Die präliminierten Kosten waren die folgenden:
-</p>
-
-<div class="table">
-<table class="table216" summary="Table-3">
-<tbody>
- <tr>
- <td class="col1">Süd-Nordkanal (Gesamtlänge 6250 Kilometer)</td>
- <td class="col2">385</td>
- <td class="col3">Mill. Pfund,</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Ost-Westkanal (Gesamtlänge 5460 Kilometer)</td>
- <td class="col2">412</td>
- <td class="col3">Mill. Pfund,</td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="col1">Suez-Kanal (für Ankauf und Erweiterung)</td>
- <td class="col2">280</td>
- <td class="col3">Mill. Pfund.</td>
- </tr>
- <tr class="s">
- <td class="col1">Zusammen</td>
- <td class="col2">1077</td>
- <td class="col3">Mill. Pfund.</td>
- </tr>
-</tbody>
-</table>
-</div>
-
-<p>
-Die Bauzeit war mit 6 Jahren in Aussicht genommen, so daß
-im Jahresdurchschnitt rund 180 Millionen erforderlich schienen. Nach
-den bisherigen Erfahrungen glaubte die freiländische Verwaltung darauf
-rechnen zu dürfen, daß die jährlichen Gesamteinkünfte des Landes sich
-im Laufe der nächsten sechs Jahre von 7 Milliarden &mdash; ihrem vorjährigen
-Stande &mdash; successive auf mindestens 10½ Milliarden steigern
-und 8½ Milliarden im Durchschnitte der sechs Jahre betragen würden;
-der Bauaufwand beanspruchte also bloß 2&#8539; Prozent des zu erwartenden
-Nationaleinkommens und konnte gedeckt werden, ohne daß eine Erhöhung
-der auf dieses Einkommen gelegten öffentlichen Abgaben über ihr normales
-Maß erforderlich gewesen wäre. Dem Kostenvoranschlage waren die
-detaillierten Baupläne beigelegt, desgleichen eine Rentabilitätsberechnung,
-nach welcher die Kanäle schon im ersten Jahre ihrer Inbetriebsetzung
-eine voraussichtliche Transportkostenersparnis von 32 Millionen Pfund
-im Gefolge haben, also schon dadurch allein und unter Berücksichtigung
-der voraussichtlichen Frachtenzunahme in ungefähr 30 Jahren sich bezahlt
-machen würden; außerdem aber sollten diese künstlichen Wasserstraßen
-teilweise auch als Be- und Entwässerungskanäle dienen und der hieraus
-sich ergebende Nutzen war mit 45 Millionen Pfund im Jahresdurchschnitte
-berechnet, so daß die Kosten der sämtlichen Anlagen binnen längstens
-14 Jahren getilgt sein mußten, wobei überall bloß der auf Freiland
-entfallende, nicht aber der dem Auslande mit eingeräumte Nutzen in
-Rechnung gestellt war.
-</p>
-
-<p>
-Da die sämtlichen Vorlagen schon seit einigen Wochen in Händen
-des Fachparlamentes und von diesem sorgfältig studiert worden waren,
-so ging dasselbe unmittelbar in die Beratung derselben ein. Prinzipieller
-Widerspruch wurde von keiner Seite erhoben; die Verhandlung bewegte
-sich der Hauptsache nach bloß um zwei Fragen: erstlich, ob es nicht
-möglich wäre, die Bauzeit zu verkürzen, zweitens, ob nicht eine gleichfalls
-tracierte und mit allen Detailplänen vorgelegte Alternativlinie der von
-der Verwaltung empfohlenen vorzuziehen wäre. In ersterer Beziehung
-stellte sich heraus, daß durch ein von gewiegten Fachmännern vorgeschlagenes,
-ganz neues System der Baggerung thatsächlich ein halbes
-Jahr Bauzeit erspart werden könnte; es wurde also beschlossen, dem
-entsprechend vorzugehen; bezüglich der zu wählenden Trace dagegen
-entschied sich die Versammlung infolge der von Herrn Ney geltend gemachten
-Gründe einstimmig für den Plan der Centralverwaltung. Die
-<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a>
-ganze Debatte währte keine drei Stunden; nach Verlauf derselben hatte
-die Verwaltung die Ermächtigung, 1077 Millionen Pfund Sterling,
-etwas mehr als die Anlagekosten sämtlicher Kanäle der übrigen civilisierten
-Welt betragen, binnen 5½ Jahren zu dem Zwecke auszugeben,
-damit Oceandampfer den afrikanischen Kontinent von Ost nach West
-durchqueren, aus dem Mittelmeere bis 10 Breitengrade südlich vom
-Äquator eindringen und den Weg vom Mittelmeere ins rote Meer gebührenfrei
-und ohne jeden Aufenthalt zurücklegen könnten.
-</p>
-
-<p>
-Ich war von all dem geradezu konsterniert. &bdquo;Wenn ich mir nicht
-vorgenommen hätte, das Wort &sbquo;unmöglich&lsquo; hier aus meinem Wörtervorrate
-zu streichen, so würde ich es jetzt anwenden&ldquo;, meinte ich auf dem Heimwege
-Herrn Ney gegenüber. Bemerken will ich noch, daß in den freiländischen
-Parlamenten alle Vorlagen auch unter das anwesende Publikum
-verteilt werden, so daß ich Gelegenheit gehabt hatte, die Details
-des soeben zur Annahme gelangten Projektes oberflächlich einzusehen.
-Du weißt, daß ich von derlei Dingen Einiges verstehe und so war ich
-denn in der Lage, den Plänen zu entnehmen, daß die beiden Binnenschiffahrtkanäle
-mehrere Wasserscheiden passieren. Eine dieser Wasserscheiden
-kenne ich nun zufällig ziemlich genau, da wir sie teils auf unserer
-Reise, teils bei unseren Ausflügen erst kürzlich passiert hatten; sie
-erhebt sich meiner Schätzung nach mindestens 500 Meter über die
-Kanalsohle; ich fragte nun Herrn Ney, ob er denn wirklich mit einem
-Wasserwege für Zweitausendtonnen-Schiffe 500 Meter auf- und abwärts
-klimmen wolle; das sei doch bau- und betriebstechnisch gleich unausführbar.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Natürlich!&ldquo; gab dieser lächelnd zu. &bdquo;Wenn Sie jedoch die Detailpläne
-genauer einsehen wollen, so werden Sie finden, daß wir solche
-Wasserscheiden nicht vermittels zahlreicher Schleußen <em>übersteigen</em>, sondern
-vermittels eines oder mehrerer Tunnels <em>unterfahren</em>.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Jetzt blickte ich ihn aber erst recht ungläubig an und auch mein
-Vater machte ein nicht minder erstauntes Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Was finden Sie daran gar so merkwürdiges, meine werten Gäste?
-Warum soll bei Kanälen unpraktisch sein, was bei Eisenbahnen, die
-doch immer noch viel leichter <em>über</em> Berg und Thal zu führen wären,
-schon so lange und in so ausgedehntem Maße geübt wird?&ldquo; fragte Herr
-Ney. &bdquo;Unsere Kanaltunnels sind sehr teuer, das gebe ich Ihnen zu;
-da sie uns aber beim Betriebe das kostbarste von allen Dingen, d. i.
-menschliche Arbeit, ersparen, so sind sie für unsere Verhältnisse
-überaus praktisch. Zudem hatten wir ja in zahlreichen Fällen
-keine andere Wahl, als die Kanäle fallen zu lassen, oder Tunnels zu
-bauen. Die Wasserscheide, von der Sie sprachen, ist gar nicht die bedeutendste
-von allen; unser größter Durchbruch &mdash; er verknüpft das
-Flußgebiet des Ukerewe mit dem des Indischen Oceans &mdash; geht in einer
-<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a>
-Länge von 17 Kilometern 1200 Meter unter der Wasserscheide, und
-alles in allem haben wir in diesem neuen Projekte nicht weniger als
-132 Kilometer Tunnelbauten. Dieselben sind übrigens durchaus nichts
-ganz neues; auch in Frankreich giebt es &mdash; wie Sie wissen &mdash; einige,
-wenn auch sehr kurze Wassertunnels; wir besitzen deren schon in unserem
-alten Kanalsysteme mehrere ganz respektable, nur können sie sich
-allerdings weder an Längenentwicklung noch an Mächtigkeit mit diesen
-neuen vergleichen, auf denen große Oceanfahrer &mdash; mit zurückgelegten
-Masten natürlich &mdash; durch die Eingeweide ganzer Gebirgszüge hindurchdampfen
-werden. Das kostet Riesensummen, aber bedenken Sie
-doch, daß jede Stunde Zeitgewinn eines freiländischen Matrosen heute
-schon ihre 8 Schilling wert ist und von Jahr zu Jahr an Wert
-gewinnt.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Unbegreiflich aber bleibt mir trotz alledem die Raschheit, ich
-möchte fast sagen die Nonchalance, mit welcher diese Milliarde Ihnen
-votiert wurde, als handle es sich um die nächstbeste Kleinigkeit&ldquo;, meinte
-mein Vater. &bdquo;Ich will der Ehrenhaftigkeit sämtlicher Mitglieder Ihres
-Fachparlamentes für öffentliche Bauten beileibe nicht nahe treten; aber
-verschweigen kann ich nicht, daß mir die ganze Versammlung den Eindruck
-machte, als verspräche sie sich den größten persönlichen Vorteil
-aus der möglichst raschen und großartigen Durchführung des Werkes.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Dieser Eindruck war auch ganz der richtige&ldquo;, gab Herr Ney zur
-Antwort. &bdquo;Doch bitte ich hinzuzufügen, daß jeder Bewohner Freilands
-genau den nämlichen persönlichen Gewinn aus der Verwirklichung dieses
-Kanalprojekts ziehen muß und wird. Nur weil dem so ist, weil bei
-uns jene Solidarität der Interessen Wahrheit ist, von welcher man
-außerhalb Freilands fälschlich spricht, nur deshalb können wir so ungeheure
-Summen für jede Anlage ausgeben, von welcher nachzuweisen
-ist, daß ihr Nutzen den Kostenaufwand überragt. Wird bei Ihnen ein
-Kanal gebaut, der die Ertragsfähigkeit weiter Landstrecken erhöht, so
-dociert Ihre Schulökonomie zwar auch, daß er den Wohlstand Aller
-befördere; richtig ist dies aber nur für die Besitzer der betreffenden
-Grundstücke, während den großen Massen der Bevölkerung solch ein
-Kanal nicht das geringste nützt, den Besitzern anderer, konkurrierender
-Grundstücke vielleicht geradezu schadet. Die Ermäßigung der Getreidepreise
-&mdash; so behaupten Ihre Staatswirte &mdash; komme den nichtbesitzenden
-Massen zu statten; sie vergessen dabei die Kleinigkeit, daß der &sbquo;Arbeitslohn&lsquo;
-sich auf die Dauer nicht zu behaupten pflegt, wenn die Getreidepreise
-sinken. Dem steht allerdings als Trost auf der andren Seite
-gegenüber, daß die nichtbesitzenden Massen auch durch die Abgabenerhöhung,
-welche solche öffentliche Bauten beanspruchen, nicht dauernd
-geschädigt werden können; denn wer nicht mehr Lohn bezieht, als zur
-Lebensfristung notwendig ist, dem kann auf die Dauer auch nicht viel
-<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a>
-entzogen werden; ihm auferlegte Abgaben müssen also in letzter Linie auf
-den Arbeitgeber oder den Consumenten abgewälzt werden. Der Streit um
-solche Anlagen ist daher bei Ihnen zu Hause ein Interessenkonflikt, einzelner
-Grundeigentümer und Arbeitgeber, von denen ein Teil gewinnt, während
-andere leer ausgehen oder geradezu geschädigt werden. Bei uns dagegen
-ist jedermann gleichmäßig nach Maßgabe seiner Arbeitsleistung am Nutzen
-fruchtbringender Investitionen interessiert, und da ebenso jedermann
-gleichmäßig nach Maßgabe seiner Arbeitsleistungen zur Kostendeckung
-herangezogen wird, so ist hier ein Interessenkonflikt, oder auch nur eine
-Unverhältnismäßigkeit des Vorteils schlechterdings ausgeschlossen. 7 Millionen
-Hektaren Landes werden durch die neuen Kanäle aus Sümpfen
-in fruchtbaren Ackerboden verwandelt werden; wer wird den Vorteil
-davon haben, wenn dieser jungfräuliche, dicht an so vortrefflicher Wasserstraße
-gelegene Boden um etliche Pfd. Sterling pro Hektar jährlich
-mehr trägt, als anderer? Nun offenbar jedermann in Freiland und
-zwar jedermann gleichmäßig, er mag Landbauer, Industrieller, Professor
-oder Beamter sein. Wer zieht Gewinn aus der Ermäßigung der Frachten?
-Etwa bloß die Associationen und Arbeiter, welche die neuen Wasserstraßen
-zum Transporte thatsächlich benutzen? Keineswegs; denn jeden
-Vorteil, welchen sie solcherart erlangen, müssen sie, Dank der unbeschränkten
-Beweglichkeit unserer Arbeitskräfte, mit jedermann in ganz
-Freiland teilen. Wir überlassen daher mit der größten Seelenruhe die
-Entscheidung über derlei Fragen jenen, die dabei am unmittelbarsten
-interessiert sind. Diese wissen am besten, was ihnen nützt, und da ihr
-Nutzen sich vollkommen mit jedermanns Nutzen deckt, so steht ihnen
-jedermanns, d. h. des Gemeinwesens, Kasse so weit und frei geöffnet,
-wie nur immer ihre eigene. Mögen sie nur hineingreifen &mdash; je tiefer,
-desto besser! Wir haben nicht zu untersuchen, <em>wem</em> die Investition
-nützt, sondern bloß, <em>ob</em> sie überhaupt nützlich ist, d. h. Arbeitskraft
-erspart.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Wunderbar, aber wahr!&ldquo; mußte mein Vater zugeben. &bdquo;Da dem
-aber so ist, da hierzulande wirklich die vollkommenste Interessensolidarität
-besteht, so ist mir hinwieder unerklärlich, warum sie die Rückzahlung
-jener Kapitalien verlangen, die das Gemeinwesen den einzelnen
-Associationen vorstreckt.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Weil das Gegenteil der Kommunismus mit allen seinen unvermeidlichen
-Konsequenzen wäre&ldquo;, war die Antwort. &bdquo;Der eventuelle
-Vorteil aus derartiger unentgeltlicher Kapitalzuwendung käme zwar auch
-hier Allen gleichmäßig zugute, wer aber könnte in diesem Falle dafür
-einstehen, <em>ob</em> solche Kapitalanlagen vorteilhaft oder schädlich wären.
-Denn vorteilhaft ist eine Kapitalanlage doch nur in dem Falle, wenn
-mit deren Hilfe mehr Arbeit erspart wird, als die Herstellung der Kapitalien
-selber kostet. Eine Maschine, die mehr Arbeit fordert, als
-<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a>
-hereinbringt, ist schädlich. Derzeit nun sind wir gegen solche Vergeudung,
-zum mindesten gegen absichtliche Vergeudung von Kapitalien gesichert.
-Das Gemeinwesen sowohl, als die Einzelnen können sich in
-ihren Berechnungen täuschen, sie können eine Anlage für rentabel halten,
-die sich nachträglich als unrentabel erweist, d. h. die auf ihre Herstellung
-verwendete Arbeit nicht hereinbringt; die <em>Absicht</em> bei allen Anlagen
-jedoch kann immer nur auf Kraftersparnisse gerichtet sein, denn
-das Gemeinwesen sowohl als die Einzelnen müssen ein jeder seine Anlagen
-bezahlen. Wenn aber das Gemeinwesen auch für die Kapitalanlagen
-der Einzelnen, respektive der Associationen, aufzukommen hätte,
-dann läge für die einzelne Association kein Grund vor, nicht auch solche
-Einrichtungen zu fordern, die weniger Kraft ersparen, als zu ihrer Herstellung
-beanspruchen; die notwendige Ergänzung dieser Liberalität des
-Gemeinwesens wäre daher, daß sich dieses ein Recht der Überwachung
-und Bevormundung den Kapitalbedürftigen gegenüber herausnähme,
-welches mit Freiheit und Fortschritt unvereinbar wäre. Alles Gefühl
-der Selbstverantwortung ginge verloren, das Gemeinwesen müßte sich
-in Verhältnisse mengen, denen es nicht gewachsen ist, und Verluste
-wären trotz aller beengenden Willkür von Oben unvermeidlich.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Das ist wieder so einleuchtend und einfach, als nur immer möglich&ldquo;,
-meinte mein Vater. &bdquo;Ich erbitte mir aber für einen ferneren Punkt
-nähere Erklärung. Kraft der bei Ihnen herrschenden Interessensolidarität
-nimmt jedermann an den Vorteilen aller wo immer eintretenden Verbesserungen
-teil; dies geschieht in der Weise, daß jedermann das Recht hat,
-einen minderergiebigen Produktionszweig oder Produktionsort mit einem sich
-ergiebiger erweisenden zu vertauschen. Welches Interesse hat also der
-<em>einzelne</em> Produzent, respektive die <em>einzelne</em> Association, Verbesserungen
-einzuführen, da es doch viel einfacher, bequemer und gefahrloser erscheinen
-muß, Andere vorangehen zu lassen und sich ihnen erst anzuschließen,
-wenn der Erfolg gesichert ist? Nun sehe ich aber, daß es
-ihren Associationen an Regsamkeit und Unternehmungsgeist keineswegs
-fehlt; wie erklärt sich dies? was veranlaßt Ihre Produzenten, sich
-Gefahren &mdash; sie mögen noch so gering sein &mdash; auszusetzen, wenn der
-damit erreichte Gewinn so rasch mit aller Welt geteilt werden muß?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Sie übersehen erstlich&ldquo;, entgegnete Herr Ney, &bdquo;daß die Höhe des
-zu erzielenden Gewinnes denn doch nicht der alleinige Beweggrund ist,
-von welchem sich arbeitende Menschen, insbesondere aber unsere freiländischen
-Arbeiter, leiten lassen. Der Ehrgeiz, das Etablissement, an
-welchem man beteiligt ist, an der Spitze und nicht im Nachtrabe aller
-anderen einherschreiten zu sehen, darf bei intelligenten, von starkem
-Gemeingeiste beseelten Menschen nicht eben unterschätzt werden. Aber
-abgesehen davon, bitte ich Sie zu bedenken, daß die an den Associationen
-Beteiligten auch sehr lebhafte <em>materielle</em> Interessen am Gedeihen
-<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a>
-gerade ihrer speciellen Unternehmung haben. Freiländische Arbeiter
-besitzen ausnahmslos recht behagliche, ja luxuriöse Heimstätten &mdash;
-naturgemäß meist in der Nähe der von ihnen gewählten Arbeitsstätten;
-sie sind in Gefahr, dieselben verlassen zu müssen, falls ihr Unternehmen
-sich nicht auf gleicher Höhe mit anderen erhält. Zum zweiten genießen
-die älteren, d. h. durch längere Zeit bei einem Unternehmen beteiligten
-Arbeiter ein stetig wachsendes Präcipium; ihre Arbeitszeit wird ihnen
-um einige Prozente höher angerechnet, als den Neueintretenden. Die
-Mitglieder jeder Association müssen also trotz aller Interessensolidarität
-sehr lebhaft darauf bedacht sein, daß ihr Etablissement nicht überflügelt
-werde, und da das Risiko neuer Verbesserungen ein verschwindend
-geringes ist, so regt sich der Erfindungs- und Unternehmungsgeist
-nirgends in der Welt so kühn und mächtig, wie bei uns. Die Associationen
-wetteifern aufs lebhafteste um den Vorrang, nur daß dies
-allerdings ein friedlicher Wettbewerb, kein ingrimmiger, auf gegenseitige
-Schädigung <a id="corr-56"></a>abzielender Konkurrenzkampf ist.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Es war inzwischen sehr spät geworden; mein Vater und ich hätten
-allerdings gerne noch längere Zeit den hochinteressanten Aufklärungen
-unseres freundlichen Wirtes gelauscht; doch wir durften die Liebenswürdigkeit
-unserer Gastfreunde nicht mißbrauchen und so trennten wir
-uns &mdash; was mir denn auch Anlaß giebt, von Dir, mein Luigi, für
-heute Abschied zu nehmen.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-5-8">
-<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a>
-20. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="date">
-Edenthal, den 16. August.
-</p>
-
-<p class="first">
-Du äußerst in Deinem letzten Briefe einige Verwunderung darüber,
-daß unser Gastfreund aus seinem bloß 1440 Pfund betragenden Gehalte
-als Regent von Freiland einen Hausstand gleich dem Dir beschriebenen
-zu führen, eine elegante Villa mit zwölf Wohnräumen zu bewohnen,
-feine Küche zu führen, Wagen und Reitpferde zu halten, kurzum einen
-Luxus zu treiben vermöge, den sich bei uns daheim nur die Reichsten
-gönnen dürfen. Die Erklärung liegt darin, daß Dank der wunderbaren
-Organisation von Arbeit und Verkehr hier eben alles fabelhaft billig
-ist, ja zahlreiche Dinge, die in Europa und Amerika recht viel Geld
-verschlingen, den freiländischen Haushalt überhaupt nicht belasten, da
-sie vom Gemeinwesen unentgeltlich beigestellt werden und ihre Deckung
-schon in den vom Reineinkommen vorweg abgezogenen Steuern
-finden. So erscheinen z. B. bei den Reisekosten die Fahrpreise
-auf Eisenbahnen und Dampfschiffen auch nicht mit einem Heller, da,
-wie Du schon aus meinen früheren Briefen entnommen haben
-kannst, das freiländische Gemeinwesen den Personentransport unentgeltlich
-besorgt. Das Gleiche gilt, wie ich ebenfalls schon erwähnt zu
-haben glaube, bei allen Telegraphen, Telephonanstalten, Briefpost,
-elektrischer Beleuchtung, mechanischer Kraftabgabe u. dergl. Beim
-Frachtentransporte zu Lande und Wasser dagegen läßt sich die freiländische
-Verwaltung die Selbstkosten ersetzen. Bemerken will ich bei
-diesem Anlasse noch, daß beinahe jede freiländische Familie durchschnittlich
-zwei Monate des Jahres auf Reisen wendet, die meist den wundervollen
-und mannigfaltigen Naturschönheiten des eigenen Landes gelten,
-teils auch &mdash; dies jedoch seltener &mdash; bis ins entfernte Ausland sich
-erstrecken. Jeder Freiländer nimmt alljährlich mindestens sechs, bisweilen
-<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a>
-aber auch zehn Wochen Urlaub von allen Geschäften und sucht
-während dieser Zeit Erholung, Vergnügen und Belehrung als Tourist.
-Insbesondere in den Hochlanden des Kilima-Ndscharo, Kenia und Elgon,
-des Aberdare und Mondgebirges, sowie an den Gestaden der sämtlichen
-großen Seen wimmelt es mit Ausnahme der beiden Regenepochen
-jederzeit von fahrenden, reitenden, wandernden, rudernden und segelnden
-Männern, Frauen und Kindern, die in vollen Zügen jegliche Lust des
-Reisens genießen.
-</p>
-
-<p>
-Überhaupt gehört sinnige, herzliche Freude an der Natur und ihren
-Schönheiten zu den charakteristischen Eigenschaften der Freiländer. Sie
-sind eben allesamt Eigentümer ihres gesamten Landes, und inniges <a id="corr-57"></a>Behagen
-an diesem ihrem köstlichsten Eigentum tritt überall zu Tage. So
-halte ich es z. B. für bezeichnend, daß nirgend in Freiland Bäche und
-Flüsse durch Abfallwässer vergiftet, nirgend malerische Berghänge durch
-wahllos angebrachte Steinbrüche verunstaltet werden, oder sonst ein
-Frevel gegen die landschaftliche Schönheit zu rügen ist. Warum auch
-sollten diese selbstherrlichen Arbeiter um geringer Ersparnisse willen
-&mdash; die sie zudem sehr bald mit aller Welt teilen müßten &mdash; sich
-selber eines so wesentlichen Genusses berauben, wie es eine möglichst
-gesunde und schöne Landschaft ist? Natürlich kommt diese verständige
-Pflege aller landschaftlichen Reize auch den Reisenden zu gute. Allenthalben
-sind Straßen sowohl als Eisenbahnen von mehrfachen Alleen
-prächtiger Palmen eingesäumt, deren schlanke astlose Stämme nirgend
-die Aussicht behindern, während ihre dichten Kronen erquickenden
-Schatten gewähren. Man hat infolge dieser ebenso einfachen als wirksamen
-Einrichtung beim Reisen hier unter dem Äquator von Hitze und
-Staub weit weniger zu leiden, als im &bdquo;gemäßigten&ldquo; Europa, wo
-während der Sommermonate eine mehrstündige Eisenbahn- oder Wagenfahrt
-häufig zur Tortur wird. An allen schön und romantisch gelegenen
-Punkten haben die zahlreichen, mit den gewaltigsten Mitteln arbeitenden
-Hôtel- und Vergnügungsassociationen sowohl riesige Gasthöfe als eine
-Menge kleiner Villen angelegt, in denen die Touristen und Sommerfrischler
-je nach Laune und Geschmack für Stunden, Tage, Wochen
-oder Monate gemeinsam zu Hunderten und Tausenden oder allein in
-ländlicher Zurückgezogenheit Unterkunft und allen erdenklichen Comfort
-finden.
-</p>
-
-<p>
-Wunderst Du Dich schon über den Luxus im Neyschen Hause, was
-wirst Du erst sagen, wenn ich Dir erzähle, daß hierzulande dem Wesen
-nach jeder einfache Arbeiter so lebt, wie unsere Gastfreunde. Die Villen
-haben einige Wohnräume weniger, die Möbel sind einfacher, statt eigene
-Reitpferde in den Ställen der Transportassociation zu halten, werden
-Mietpferde benützt, auf Kunstgegenstände, Bücher und zu wohlthätigen
-Zwecken wird weniger ausgegeben, das ist aber auch der ganze Unterschied.
-<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a>
-Da ist z. B. unser Nachbar Moro. Derselbe, ein gewöhnlicher
-Werkführer der Edenthaler Farbwarenassociation, gehört samt seiner
-reizenden Frau zu den Intimen des Neyschen Hauses, und wir haben
-schon einigemale vortrefflich in seinem netten und komfortabel eingerichteten
-7 Wohnräume enthaltenden Heim gespeist. Ja selbst die
-&bdquo;Ziehtöchter&ldquo; fehlen &mdash; nebenbei bemerkt &mdash; in seinem Hause nicht,
-denn auch seine Gattin genießt &mdash; und, wie ich hinzufügen will, nicht
-mit Unrecht &mdash; den Ruf einer hervorragenden Geistes- und Herzensbildung,
-und die Ziehtöchter suchen, wie Du weißt, nicht das große
-Haus, sondern die bedeutende Frau auf. Und sollte Dir besonders
-auffallend erscheinen, daß solch ein Phönix von Frau Gattin eines gewöhnlichen
-Fabrikarbeiters ist, so bedenke, daß freiländische Arbeiter etwas
-anderes sind, als europäische. Gediegene Mittelschulbildung genießt hier
-alle Welt, und daß ein junger Mann Handwerker und nicht Lehrer,
-Arzt, Ingenieur oder dergl. wird, hat darin seinen Grund, daß er eben
-keinerlei <em>hervorragende</em> geistige Fähigkeiten in sich entdeckt oder vermutet.
-Denn hierzulande kann sich den geistigen Berufszweigen
-nur ein geistig hervorragend Befähigter mit Aussicht auf Erfolg zuwenden,
-da der Minderbefähigte angesichts der Konkurrenz <em>aller</em> wirklich
-Befähigten unmöglich aufzukommen vermag. Bei uns da draußen,
-wo nur eine verschwindende Minderzahl die materiellen Mittel zum
-Studium hat, gewährt diese Mittellosigkeit einer ungeheuern Mehrzahl
-auch den Dummköpfen unter den Bemittelten ein Privilegium. Die
-Reichen können eben nicht alle talentiert sein &mdash; so wenig als die Armen
-alle es sind; da wir aber trotzdem unseren Bedarf an geistigen
-Arbeitern &mdash; von Ausnahmen, die ja überall vorkommen, muß dabei
-natürlich abgesehen werden &mdash; bloß aus der kleinen Menge von Söhnen
-reicher Familien decken, so kommen bei uns &mdash; günstig gerechnet &mdash; auf
-je einen fähigen Studierenden zehn Unfähige, von welchen Zehnen aber,
-da wir mit dem einen Fähigen natürlich nicht den ganzen Bedarf decken
-können, höchstens die zwei oder drei Allerdümmsten Schiffbruch leiden.
-Hier dagegen, wo Jedermann die Mittel zum Studium hat, giebt es
-selbstverständlich unendlich mehr befähigte Studierende, folglich brauchen
-die Freiländer bei Deckung ihres geistigen Bedarfes lange nicht so tief
-zu greifen, als wir. Ihre Tüchtigsten sind nicht notwendig tüchtiger,
-als die unsrigen, aber unsere Unfähigsten &mdash; unter den Studierenden &mdash;
-sind viel, viel unfähiger, als ihre überhaupt noch möglichen Unfähigsten.
-Was bei uns noch mittelgut wäre, ist hier schon lange aussichtslos.
-Freund Moro z. B. hätte es in Europa oder Amerika vielleicht auch
-zu keiner &bdquo;Leuchte der Wissenschaft&ldquo; oder &bdquo;Zierde des Barreau&ldquo; gebracht,
-doch ein ganz annehmbarer Durchschnittslehrer, Advokat oder
-Beamter wäre er immerhin geworden. Hier aber mußte er &mdash; nach
-absolvierten Mittelschulen &mdash; gewissenhafter mit seinen geistigen Fähigkeiten
-<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a>
-zu Rate zu gehen und gelangte dabei zu dem Resultate, daß es ersprießlicher
-für ihn sei, ein tüchtiger Fabrikwerkführer, als ein mittelmäßiger
-Lehrer oder Beamter zu werden. Und er konnte diesem Ratschlage
-strenger &mdash; vielleicht allzustrenger &mdash; Selbstprüfung Folge geben,
-ohne sich gesellschaftlich zu degradieren, denn in Freiland schändet Handarbeit
-wirklich nicht, zum Unterschiede von Europa und Amerika, wo
-dies zwar auch behauptet wird, jedoch lediglich eine der vielen konventionellen
-Lügen ist, mit denen wir uns selber hinters Licht zu führen versuchen.
-Arbeit ist bei uns &mdash; trotz aller demokratischen Redensarten &mdash;
-ganz im Allgemeinen eine Schande, denn der Arbeitende ist ein höriger
-Mann, ein ausgebeuteter Knecht, er hat einen Herrn über sich, der ihn
-kommandiert, für sich ausnützt gleich dem arbeitenden Tiere &mdash; keine
-Moraltheorie der Welt wird die Ehre des Knechtes der des Herrn
-gleichsetzen. Hier aber ist das anders. Um dies voll zu ermessen,
-brauchst Du bloß einmal gesellige Vereinigungen in Freiland besucht zu
-haben. Zwar liegt es in der Natur der Sache, daß Personen des
-gleichen Interessenkreises sich zunächst aufsuchen und anziehen, doch darf
-dies beileibe nicht so aufgefaßt werden, als ob damit auch nur im entferntesten
-eine Sonderung verschiedener Gesellschaftsschichten nach Berufen
-verbunden wäre. Das allgemeine Bildungsniveau ist ein so hohes, das
-Interesse an den erhabensten Problemen der Menschheit auch unter den
-Handarbeitern so verbreitet, daß Gelehrte, Künstler, hohe Beamte die
-mannigfaltigsten geistigen und gemütlichen Berührungspunkte auch mit
-Fabrik- oder Feldarbeitern finden.
-</p>
-
-<p>
-Dies ist umsomehr der Fall, als eigentlich eine Scheidung von
-Kopf- und Handarbeitern sich hierzulande gar nicht streng durchführen
-läßt. Der Handarbeiter von heute kann morgen durch die Wahl seiner
-Genossen Betriebsleiter, also Kopfarbeiter werden, und umgekehrt gibt
-es unter den Handarbeitern ungezählte Tausende, die ursprünglich einen
-anderen Beruf gewählt und die für diesen erforderlichen höheren
-Studien absolviert hatten, dann aber &mdash; sei es, weil ihre geistigen
-Fähigkeiten sich als nicht vollkommen ausreichend erwiesen, sei es, weil
-ihre Geschmacksrichtung wechselte &mdash; die Feder mit dem Werkzeug vertauschten.
-So hat z. B. ein anderer Hausfreund der Familie Ney
-sein mehrere Jahre hindurch zu allgemeiner Zufriedenheit verwaltetes
-Amt als Arzt niedergelegt und sich der Gärtnerei gewidmet, weil er
-fand, daß dieser ruhige Beruf ihn weniger von seinem Lieblingsstudium,
-der Astronomie abziehe, als die ärztliche Thätigkeit. Um sich als
-Astronom zu ernähren, dazu reichten seine Kenntnisse und Fähigkeiten
-nicht aus, und da ihm einigemal widerfahren war, von interessanten
-Beobachtungen zu plötzlich des Nachts erkrankten Kindern abberufen zu
-werden, so zog er es vor, seinen Haushalt durch den Ertrag von
-Gartenarbeit zu decken und des Nachts ungestört seinen lieben Sternen
-<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a>
-nachzuspüren. Ein anderer Mann, den ich hier kennen gelernt, vertauschte
-seine Carrière als Bankbeamter mit der Maschinenschlosserei,
-lediglich weil ihm auf die Dauer die sitzende Thätigkeit nicht behagte;
-er wäre wiederholt schon von den Mitgliedern seiner Association in
-die Oberleitung gewählt worden, lehnte aber stets ab, da seine Abneigung
-gegen Bureauarbeiten noch immer nicht überwunden ist. Insbesondere
-aber ist die Zahl derjenigen sehr groß, die irgendwelche
-Handarbeit mit Kopfarbeit verbinden. So allgemein verbreitet ist in
-Freiland die Abneigung gegen <em>ausschließliche</em> Kopfarbeit, daß sich
-die sämtlichen höheren Berufe, ja sogar die öffentlichen Ämter darauf
-einrichten mußten, ihren Angehörigen zeitweilig körperliche Berufsthätigkeit
-zu gestatten. Die Buchhalter und Korrespondenten der Associationen
-sowohl als der Centralbank, die Lehrer, Beamten und sonstigen
-Angestellten welcher Art immer, haben das Recht, außer den der Erholung
-gegönnten zweimonatlichen Ferien auch noch beliebigen Urlaub
-von längerer oder kürzerer Dauer zu verlangen und die Zeit desselben
-durch anderweitige Erwerbsthätigkeit auszufüllen. Natürlich wird diese
-außerordentliche Urlaubszeit vom Gehalte in Abzug gebracht, was jedoch
-die weitaus größere Hälfte all&rsquo; dieser Bureauarbeiter nicht hindert, in
-Zwischenpausen von zwei bis drei Jahren je einige Monate hindurch
-als Fabrikarbeiter, Bergleute, Landbauer, Gärtner u. dgl. sich vom
-Einerlei ihrer gewohnten Berufsthätigkeit zu erholen. Ein mir bekannter
-Bureauchef der Centralverwaltung arbeitet jedes zweite Jahr acht
-Wochen lang in einer anderen Mine des Aberdare- oder Baringo-Distrikts;
-er hat &mdash; wie er mir erzählte &mdash; bis jetzt den Kohlen-, Eisen-,
-Zinn-, Kupfer- und Schwefelbau praktisch durchgenommen und freut
-sich jetzt auf den bevorstehenden Kursus in den Salzwerken von Elmeteita.
-</p>
-
-<p>
-Angesichts dieser allgemeinen und durchgängigen wechselseitigen
-Durchdringung von gewöhnlichster körperlicher und höchster geistiger
-Thätigkeit kann selbstverständlich von irgendwelchen Standes- oder
-Klassenunterschieden nirgend die Rede sein. Die hiesigen Ackerbauer
-sind gerade so geachtete, selbstbewußte Gentlemen, wie die Gelehrten,
-Künstler oder hohen Beamten, und nichts steht dem im Wege, sie im
-Salon als gute Kameraden zu behandeln, sofern die Charaktere und
-die Geistesrichtungen harmonieren.
-</p>
-
-<p>
-Insbesondere aber sind die Frauen &mdash; anderwärts die hauptsächlichen
-Vertreterinnen aristokratischer Absonderung &mdash; hierzulande Förderinnen
-vollständiger Verschmelzung aller Bevölkerungsschichten. Die
-freiländische Frau steht beinahe ausnahmslos auf einer sehr hohen
-Stufe ethischer und geistiger Bildung. Losgelöst von jeglicher materiellen
-Sorge und Arbeit, ist es ihr alleiniger Beruf, sich zu veredeln,
-ihr Verständnis für alles Gute und Erhabene zu schärfen. Da sie sich
-<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a>
-der entwürdigenden Notwendigkeit enthoben sieht, im Manne einen Ernährer
-zu suchen, mit ihrem Werte auf sich selber gestellt und nicht von
-der äußeren Lebensstellung des Mannes abhängig ist, so fehlt ihr jener
-exklusive Hochmut, der überall dort sich einfindet, wo wirkliche Vorzüge
-fehlen. Sind doch die Frauen der sog. besseren Stände bei uns daheim
-meist nur deshalb so schroff abweisend ihren vom Glücke minder
-begünstigten Schwestern gegenüber, weil sie des instinktiven Gefühls
-nicht ledig werden, daß diese sehr gut ihren Platz ausfüllen und sie
-selber mitunter in deren dienende Stelle passen würden, wenn sie die
-Ehegatten vertauscht hätten. Und auch, wenn dem nicht so ist, wenn
-die europäische &bdquo;Dame&ldquo; wirklich höheren ethischen und geistigen Wert
-besitzt, so muß sie sich doch sagen, daß ihre Stellung im Urteile der
-Welt weniger von diesen ihren eigenen Eigenschaften, als von Rang und
-Stellung des Mannes abhänge, also vom Werte eines Dritten, der
-ebensogut jede Andere auf den erborgten Thron hätte setzen können.
-Schopenhauer hat nicht ganz Unrecht: die Frauen betreiben zumeist das
-gleiche Gewerbe: die Männerjagd, und Konkurrenzneid ist es, was
-ihrem Hochmut zu Grunde liegt. Nur vergißt er hinzuzufügen, oder
-vielmehr er weiß wohl selber nicht, daß dieses den Frauen gemeinsame,
-von ihm mit so herbem Spotte gegeißelte Gewerbe mit all seinen häßlichen
-Folgeübeln ihnen durch ihre Rechtlosigkeit aufgenötigt und keineswegs
-mit ihrer Natur untrennbar verknüpft ist.
-</p>
-
-<p>
-Die hiesigen Frauen, die frei und gleichberechtigt sind in der höchsten
-Bedeutung des Wortes, kennen diesen Hochmut auf äußere Lebensverhältnisse
-nicht. Selbst wenn Beruf oder Reichtum des Gatten
-hierzulande irgendwelche Standesunterschiede begründen <a id="corr-59"></a>könnten, sie
-würden dieselben niemals anerkennen, sondern sich in ihrem Umgange
-lediglich von persönlichen Eigenschaften bestimmen lassen. Die geistreichste,
-liebenswürdigste Frau ist es, deren Freundschaft von ihnen am
-eifrigsten gesucht wird, gleichviel, welche Stellung der Gatte einnehmen
-mag. Du begreifst also, daß Frau Moro ihren Mann wählen konnte,
-ohne sich in der hiesigen &bdquo;Gesellschaft&ldquo; das Geringste zu vergeben.
-</p>
-
-<p>
-Da wir gerade mit diesem Thema beschäftigt sind, laß mich die
-Gelegenheit benützen, einige Worte über das Wesen der hiesigen Geselligkeit
-nachzutragen. Dieselbe ist überaus lebhaft; die bekannten
-Familien versammeln sich beinahe jeden Abend in zwanglosen Cirkeln,
-in denen geplaudert, musiciert, vom jungen Volke wohl auch getanzt
-wird. Soweit wäre dabei nichts besonderes; ihren ganz eigentümlichen,
-dem Fremden anfangs schier unbegreiflichen Reiz aber erhält diese Geselligkeit
-durch den sie durchwehenden Ton höchster Freiheit im Vereine
-mit reinstem Adel und tadelloser Feinheit. Nachdem ich sie einigemale
-gekostet, dürstete ich förmlich nach den Freuden dieser Zusammenkünfte,
-ohne mir anfangs Rechenschaft geben zu können über die Natur des
-<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a>
-Zaubers, den sie auf mich übten. Schließlich bin ich zu der Überzeugung
-gelangt, daß es in erster Linie jene Atmosphäre wahrer
-Menschenliebe sein müsse, die in Freiland alles umfängt, was hier den
-geselligen Verkehr zu einem so genußreichen gestaltet.
-</p>
-
-<p>
-Europäische Gesellschaften sind im Grunde doch nichts anderes,
-als Maskeraden, bei denen alle Welt sich gegenseitig belügt; Zusammenkünfte
-von Feinden, die das Böse, das sie sich gegenseitig wünschen,
-unter höflichen Grimassen zu verbergen suchen, ohne jedoch dadurch
-irgendwen ernstlich zu täuschen. Und dies ist in einer ausbeuterischen
-Gesellschaft anders gar nicht möglich, denn in dieser ist Interessengegensatz
-die Regel, wahre Interessensolidarität eine höchst seltene und
-bloß zufällige Ausnahme; seinen Nebenmenschen wirklich zu lieben, ist
-bei uns eine Tugend, zu deren Übung ein nicht gerade alltägliches Maß
-von Selbstverleugnung gehört, und Jedermann weiß daher, daß neun
-Zehnteile dieser verbindlich grinsenden Masken sofort in bitterem Hasse
-über einander herfallen würden, wenn die angeborene und anerzogene
-Dressur der wohlanständigen Sitte sie auch nur einen Moment im
-Stiche ließe. Man hat also inmitten solcher Gesellschaften stets ein
-Gefühl, welches etwa dem der unterschiedlichen Bestien gleichen mag,
-welche in den Menagerien zum Ergötzen des schaulustigen Publikums
-in einen gemeinsamen Käfig gesperrt, sich wohl oder übel miteinander
-vertragen müssen. Der Unterschied liegt bloß darin, daß die Dressur von
-uns zweibeinigen Tigern, Panthern, Luchsen, Wölfen, Bären und Hyänen
-vollkommener ist, als die unserer vierbeinigen Ebenbilder; diese umschleichen
-einander, ingrimmig knurrend, ihre Rauf- und Mordlust sichtlich nur
-mühsam unter scheuen Seitenblicken auf die Peitsche des Tierbändigers
-unterdrückend; während wir den im Herzen lauernden bösen Willen
-höchstens dem aufmerksamen Beobachter durch ein tückisches Blinzeln des
-Auges oder sonst eine kaum zu bemerkende Kleinigkeit verraten. Ja,
-so mächtig ist die Dressur von uns zweibeinigen Raubtieren, daß wir uns
-durch dieselbe zeitweilig selber täuschen lassen; die Hyäne unter uns hat
-Momente, wo sie allen Ernstes glaubt, ihr verbindliches Grinsen dem
-Tiger gegenüber sei ehrlich gemeint, und wo der Tiger sich einbildet,
-hinter seinem leisen Knurren verberge sich eitel Liebe und Freundschaft
-mit seinen Mitbestien. Aber das sind eben nur vorübergehende Momente
-holden Selbstbetrugs, und im allgemeinen wird man der Empfindung
-nicht ledig, sich unter natürlichen Feinden zu befinden, die nur äußerer
-Zwang hindert, uns des lieben Futters halber an die Kehle zu springen.
-Die Freiländer dagegen sehen sich unter wahren, aufrichtigen Freunden,
-wenn sie unter Menschen sind. Sie haben einander nichts zu verbergen,
-sie wollen einander weder übervorteilen, noch gegenseitig ausnützen.
-Wetteifer findet allerdings auch unter ihnen statt, aber dieser
-kann das Gefühl kameradschaftlichen Wohlwollens nicht beeinträchtigen,
-<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a>
-da der Erfolg des Siegers allemal auch dem Besiegten gute Früchte
-trägt. Harmlose Offenheit, ein geradezu kindliches Sichgehenlassen ist
-daher allenthalben unter ihnen heimisch und das in Verbindung mit
-der heiteren Lebensanschauung und geistigen Vielseitigkeit ist es, was
-der hiesigen Geselligkeit so wunderbaren Reiz verleiht.
-</p>
-
-<p>
-Doch jetzt laß mich fortfahren in meinen Berichten über unsere
-hiesigen Erlebnisse. Gestern sahen wir hier den ersten &mdash; Betrunkenen.
-Wir &mdash; d. h. mein Vater und ich &mdash; hatten in Begleitung Davids
-nach dem Diner eine kleine Promenade am Edensee gemacht, an dessen
-Ufern bekanntlich die meisten der Edenthaler Hotels gelegen sind; eben
-als wir wieder heimkehren wollten, begegnete uns ein Trunkener, der
-wankend auf uns zukam und lallend nach einem der Gasthöfe fragte.
-Es war sichtlich ein erst kürzlich eingetroffener Einwanderer. David
-bat uns, die wenigen Schritte nach Hause allein zurückzulegen, nahm
-den Betrunkenen unter den Arm und führte ihn nach seinem Gasthofe;
-ich schloß mich diesem Liebeswerke an, während mein Vater heimkehrte.
-Als auch wir anlangten, fanden wir ihn im lebhaftesten Gespräche mit
-Frau Ney über dieses kleine Abenteuer. &bdquo;Denke nur,&ldquo; rief er mir zu,
-&bdquo;Madame behauptet, wir könnten uns rühmen, einer der in diesem
-Lande seltensten Sehenswürdigkeiten begegnet zu sein; sie ihrerseits habe
-während der 25 Jahre ihres Aufenthalts in Freiland bloß drei Trunkene
-bemerkt, und sie sei überzeugt, daß Edenthal zur Stunde sicherlich keinen
-zweiten Menschen in seinen Mauern beherberge, der jemals bis zur
-Sinnlosigkeit tränke! Ihr Freiländer&ldquo; &mdash; so wandte er sich nun an
-David &mdash; &bdquo;seid doch sicherlich keine Temperenzler; Euer Bier und
-Palmwein ist vorzüglich, Euere Weine lassen nichts zu wünschen übrig,
-und Ihr scheint mir nicht die Leute, diese guten Dinge bloß zum Gebrauche
-etwaiger Gäste in Bereitschaft zu halten; sollte es Euch also wirklich
-niemals widerfahren, daß Ihr ein klein wenig über den Durst tränket?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Und doch ist dem so, wie meine Mutter sagt. Wir trinken gern
-einen guten Tropfen und gönnen uns einen solchen nicht gerade selten;
-auch will ich nicht leugnen, daß bei festlichen Gelegenheiten die Begeisterung
-des Weines hie und da in ziemlich hellen Flammen emporschlägt;
-ein sinnlos trunkener Freiländer gehört aber trotzdem zu den
-allerseltensten Erscheinungen. Wenn Sie das gar so sehr Wunder
-nimmt, so werfen Sie sich doch die Frage auf, ob denn in Europa
-und Amerika gesittete und gebildete Menschen sich zu betrinken pflegen.
-Das geschieht, wie ich weiß, auch bei Ihnen bloß in den seltensten Fällen,
-obwohl dort die öffentliche Meinung in diesem Punkte minder streng
-ist, als hierzulande. In Freiland aber gibt es keinen Pöbel, der im
-Rausche Vergessenheit seines Elendes suchen müßte, und das Beispiel
-dieses Pöbels kann daher auch nicht dazu dienen, an den Anblick dieses
-erniedrigendsten aller Laster zu gewöhnen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a>
-&bdquo;Daß ihr Freiländer gegen dieses Laster gefeit seid, nimmt uns
-auch nicht gar so sehr Wunder,&ldquo; entgegnete mein Vater. &bdquo;Aber ihre
-verehrte Mama erklärte uns, daß auch unter den Eingewanderten
-Trunkenbolde so rar sind, wie weiße Raben. Nun ist mir nicht bekannt,
-daß an den Grenzen Ihres Landes Mäßigkeitsapostel Wache halten;
-die Einwanderer gehören zum Teil jedenfalls solchen Rassen und
-Klassen an, die in ihrer alten Heimat dem Trunke &mdash; und zwar dem
-Trunke in seiner häßlichsten Bedeutung &mdash; keineswegs abgeneigt sind;
-was veranlaßt diese Leute hier, sich solcher Enthaltsamkeit zu befleißigen?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Zunächst der Wegfall jener Gründe, die in Europa und Amerika
-zum Trunke verleiten. Ich habe mich gelegentlich meiner europäischen
-Studienreise, die nicht bloß der Kunst, sondern auch dem Leben Ihres
-Landes gewidmet war, in den Höhlen der Armut umgesehen und dort
-Verhältnisse gefunden, die es geradezu wunderbar erscheinen ließen,
-wenn die inmitten derselben Lebenden nicht in der Schnapsflasche
-Vergessenheit ihrer Marter, ihrer Schmach, ihrer Entwürdigung gesucht
-hätten. Ich sah Menschen, die zu zwanzig und dreißig &mdash; alle Altersklassen
-und Geschlechter bunt durcheinander gewürfelt &mdash; in <em>einem</em>
-Gemache schliefen, welches gerade nur soviel Raum bot, daß die Insassen
-dichtgedrängt auf der eklen, den Boden bedeckenden Streu Unterkunft
-fanden; Menschen, die tagsüber kein anderes Heim hatten, als den
-Fabriksaal &mdash; oder die Schenke. Und das waren nicht etwa brotlose,
-sondern in regelmäßiger Arbeit stehende Leute, und nicht vereinzelte
-Ausnahmen, sondern Typen der Arbeiterschaft großer Landstriche. Daß
-solche Menschen in viehischer Betäubung Rettung suchen gegen die
-Erinnerungen ihrer Entbehrungen, der Schande ihrer Weiber und
-Töchter, daß sie das Bewußtsein ihrer Menschenwürde verlieren, das
-hat mich niemals in Erstaunen und noch weniger in Entrüstung
-versetzt; diese beiden Gefühle kehrten sich bloß gegen den Unverstand,
-der solchen Jammer ruhig gewähren läßt, als wäre er in Wahrheit
-der Ausfluß eines unwandelbaren Naturgesetzes. Und eben so natürlich
-finde ich, daß diese selben Menschen hier, wo sie ihre Würde und ihr
-Recht zurückerlangt haben, wo ihnen sorglose, schöne Lebensfreude
-allenthalben entgegenlacht, zugleich mit dem Elend auch das Laster des
-Elends abstreifen. Diese neuen Ankömmlinge stürzen sich alle mit
-wollüstiger Gier in den Umgang mit uns; sie können es meist gar
-nicht erwarten, ganz und vollständig unseresgleichen zu werden; je
-elender, entwürdigter sie zuvor gewesen, desto grenzenloser ist ihr
-Entzücken, ihr Dankgefühl, sich hier von Jedermann als Seinesgleichen
-betrachtet zu sehen; um keinen Preis würden sie der Achtung ihrer neuen
-Genossen verlustig werden, und da diese den Trunk allgemein meiden,
-so trinken sie eben auch nicht.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Du hast uns erklärt, warum Ihr keine Trunkenbolde hierzulande
-<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a>
-habet&ldquo; &mdash; nahm nunmehr ich das Wort. &bdquo;Aber noch um vieles
-wunderbarer erscheint mir, daß Euer Grundsatz, jedem Arbeitsunfähigen
-&mdash; er mag es aus welchem Grunde immer sein &mdash; einen Versorgungsanspruch
-einzuräumen, Euch nicht mit Krüppeln und Greisen
-sonder Zahl überflutet. Oder gibt es irgendwelche, uns noch unbekannte
-Einrichtungen, welche Euch gegen solche Gäste schützen? Und in welcher
-Weise erwehrt Ihr Euch, ohne peinlich inquisitorische Kontrolle, jener
-Trägen, die das Versorgungsrecht der wirklich Arbeitsunfähigen erschleichen
-wollen, um dem Müssiggange fröhnen zu können<a id="corr-61"></a>? Werden hinsichtlich
-der Versorgungsansprüche vielleicht Unterschiede zwischen Einheimischen
-und Eingewanderten gemacht, und was ist zur Geltendmachung eines
-solchen Anspruches vonnöten?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Hinsichtlich der Versorgungsansprüche wird keinerlei Unterschied
-gemacht, und zu deren Geltendmachung genügt das Krankheitszeugnis
-eines unserer Ärzte, oder der Ausweis des zurückgelegten
-60. Jahres. Bei Ausstellung der Krankheitsatteste wird prinzipiell
-mit der größten Liberalität vorgegangen, ja es hat Jedermann das
-Recht, für den Fall, daß ihm der eine Arzt das Zeugnis verweigern
-sollte, sich nach Belieben einen anderen auszusuchen, da wir es grundsätzlich
-vorziehen, lieber zehn träge Simulanten zu füttern, als einen
-wirklich Kranken abzuweisen. Trotzdem gibt es bei uns ebensowenig
-fremde, als einheimische Müssiggänger von Beruf. Auch hier erweist
-sich der Einfluß unserer Institutionen als genügend mächtig, um alle
-derartigen Gelüste im Keime zu ersticken. Beachte vor allem, daß der
-Neueingewanderte den obersten Ehrgeiz hat, Unseresgleichen zu werden,
-sich uns anzuschließen; zu diesem Behufe muß er, ist er anders gesund
-und kräftig, an unseren Geschäften teilnehmen. Der kennt die menschliche
-Natur schlecht, der da glaubt, Proletarier, die sich noch einen Rest
-von Menschenwürde gerettet, würden, wenn sie Gelegenheit haben, als
-gleichberechtigte, selbstherrliche Männer in blühende, mächtige Geschäfte
-einzutreten, darauf verzichten und es vorziehen, sich von Gesamtheitswegen
-füttern zu lassen. Die Ankömmlinge <em>wollen</em> an allem teilnehmen,
-was hierzulande zu erlangen und zu leisten ist; es bedarf
-in neunundneunzig unter hundert Fällen keines anderen Anreizes zur
-Arbeit für sie. Jene Wenigen aber, denen dieser Sporn nicht genügt,
-finden sich, ist erst einmal die erste Zeit des Schauens und Hörens
-vorbei, sehr rasch durch Langeweile und Vereinsamung genötigt, irgend
-eine fruchtbare Thätigkeit zu wählen. Wir haben hier kein Wirtshausleben
-im abendländischen Sinne, keine Geselligkeit gewohnheitsmäßiger
-Müssiggänger; man <em>muß</em> hier eben arbeiten, um sich behaglich zu
-fühlen, und so arbeitet denn Alles, was arbeitsfähig ist. Die verstockteste
-Trägheit und Indolenz kann höchstens durch einige Wochen dem Zauber
-des Gedankens Stand halten, daß man, um den Ersten des Landes
-<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a>
-als Seinesgleichen die Hand schütteln zu dürfen, keines anderen Ehren-
-und Machttitels bedürfe, als einiger ehrlicher Arbeit. Kräftige, gesunde
-Müssiggänger sind also auch unter den Eingewanderten geradezu
-verschwindende Ausnahmen, die wir resigniert als eine Art geistiger
-Krankheitsfälle über uns ergehen lassen. Darben aber dürfen bei
-uns auch diese Trägen nicht. Sie erhalten, ohne daß ihnen ein
-besonderes Recht eingeräumt wird, alles, was sie brauchen und zwar
-nach europäischen Begriffen überreichlich.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Was nun die Frage anlangt, ob das Institut der Versorgungsrechte
-nicht geradezu alles ins Land locke, was die übrige Welt an körperlich
-und geistig Invaliden, an Krüppeln und Greisen besitze, so kann
-ich darauf nur antworten, daß Freiland Jedermann unwiderstehlich anlockt,
-der nähere Kunde von seinen Einrichtungen erhalten hat, und daß
-daher das Verhältnis zwischen arbeitstüchtigen und arbeitsuntüchtigen
-Einwanderern lediglich davon abhängt, ob solche Kunde leichter und
-rascher zu ersteren oder zu letzteren gelangt. Wir weisen niemand zurück
-und befördern den lahmen Krüppel ebenso unentgeltlich in unser
-Land, wie den rüstigsten Arbeiter; aber es liegt in der Natur der
-Sache, daß die Tüchtigsten, Regsamsten sich in stärkerer Zahl melden,
-als die Armen an Geist und Körper.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Auf der Forderung, daß jeder Einwanderer des Lesens und
-Schreibens kundig sein müsse, um all&rsquo; unserer Rechte teilhaftig zu
-werden, bestehen wir seit Gründung des Gemeinwesens. Freiheit und
-Gleichberechtigung setzen ein gewisses Ausmaß von Kenntnissen voraus,
-welche wir niemand erlassen <em>können</em>. Freilich bliebe uns der Ausweg,
-die Unwissenden zu bevormunden; aber damit wäre den Behörden ein
-Wirkungskreis eingeräumt, den wir für unvereinbar mit wahrer Freiheit
-halten, und wir behandeln daher Einwanderer, die Analphabeten
-sind, als Fremdlinge, oder wenn man so will, als Gäste, die nach
-Möglichkeit zu fördern jedermanns Menschenpflicht ist, die in materieller
-Beziehung, sofern sie sich leistungsfähig erweisen, den Einheimischen
-gegenüber keineswegs verkürzt werden, die jedoch keinerlei politisches
-Recht auszuüben vermögen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Wie aber&ldquo;, so fragte mein Vater, &bdquo;konstatieren Sie diese geistige
-Beschaffenheit Ihrer unwissenden Landesgenossen? Existiert zu diesem
-Behufe eine besondere Behörde, und ergeben sich keine Unzukömmlichkeiten
-bei solcher Inquisition?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Wir inquirieren nicht, und keine Behörde kümmert sich um das
-Wissen der Leute. Anfänglich übten wir, um nicht von fremder Unwissenheit
-überflutet zu werden, die Vorsicht, Analphabeten von der
-unentgeltlichen Beförderung nach Freiland auszuschließen; wir haben
-vor 19 Jahren auch das fallen gelassen. Jedermann, ohne jegliche
-Ausnahme, wird seither unentgeltlich bis an jeden ihm beliebigen Punkt
-<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a>
-Freilands befördert; niemand befragt ihn auch hier um den Stand
-seines Wissens; es steht ihm frei, von allen unseren Einrichtungen
-vollen Gebrauch zu machen, alle unsere Rechte auszuüben &mdash; nur muß
-er dies in derselben Weise thun, wie wir &mdash; und das ist dem Analphabeten
-eben unmöglich. Wohin er sich wenden mag, bei der Centralbank,
-bei allen Associationen, in allen Wahlbureaus, muß er lesen,
-schreiben &mdash; und zwar der Natur der Sache nach meist mit Verstand
-schreiben &mdash; sich in Gedrucktem und Geschriebenem zurechtfinden, kurz,
-ein gewisses Maß von Bildung haben, welches wir ihm nicht erlassen
-könnten, auch wenn wir wollten.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Dann ist aber&ldquo;, meinte mein Vater, &bdquo;Ihre berühmte Gleichberechtigung
-doch nur für einigermaßen gebildete Leute vorhanden?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Selbstverständlich&ldquo; &mdash; erklärte nun Frau Ney. &bdquo;Oder glauben
-Sie wirklich, daß vollkommen Unwissende die Fähigkeit besitzen, sich
-selber zu regieren? Jawohl, wirkliche Freiheit und Gleichberechtigung
-hat einen gewissen Grad von Civilisation zur unerläßlichen
-Voraussetzung. Die Freiheit und Gleichberechtigung der Armut und
-Barbarei, diese allerdings lassen sich auch von unwissenden Horden ins
-Werk setzen; Reichtum und Muße aber sind Produkte hoher Kunst und
-Kultur, sie können nur von wirklichen Kulturmenschen genossen werden.
-Wer die Menschen frei und reich machen will, der muß ihnen zuvor
-Wissen beibringen &mdash; das liegt nun einmal in der Natur der Sache,
-und nicht unsere, sondern Euere Schuld ist es, daß so Viele Eurer
-Volksgenossen zur Freiheit erst noch erzogen werden müssen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Da haben Sie abermals Recht&ldquo;, seufzte mein Vater. &bdquo;Nun,
-und welche Erfahrungen machen Sie mit diesen eingewanderten Analphabeten?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Die Erfahrung, daß diese Ausschließung von vollkommener Gleichberechtigung,
-gerade weil sie mit keinerlei materieller Benachteiligung
-verknüpft ist, als schlechthin unwiderstehlicher Antrieb zu möglichst
-raschem Nachholen des in der alten Heimat Versäumten wirkt. Wir
-haben zu Nutz und Frommen solcher Einwanderer besondere Schulen
-für Erwachsene eingerichtet; auch Nachbarn und gute Freunde nehmen
-sich ihrer an und die Leute lernen mit geradezu rührendem Eifer. Sie
-begnügen sich keineswegs mit der mechanischen Aneignung jenes Ausmaßes
-von Kenntnissen, dessen sie zu Ausübung aller freiländischen
-Rechte gerade bedürfen, sondern sind redlich bemüht, sich möglichst vollständiges
-Wissen zu erwerben, und es sind wenige Fälle bekannt, wo
-aus solchen Einwanderern in kurzer Zeit nicht ganz gebildete Menschen
-geworden wären.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Und was schließlich die hier wirklich als Invaliden anlangenden
-Einwanderer betrifft&ldquo;, nahm jetzt wieder David das Wort, &bdquo;so üben
-wir diesen gegenüber die Versorgungspflicht in der nämlichen Weise,
-<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a>
-als ob sie in freiländischen Werkstätten alt und schwach geworden wären.
-Eine merkliche Belastung unseres Budgets haben wir davon nicht verspürt.
-Charakteristisch ist übrigens, daß die invaliden Eingewanderten
-meist nur unvollständigen Gebrauch von dem ihnen eingeräumten Versorgungsrechte
-machen; diese Bedauernswerten gewöhnen sich in der
-Regel nur allmählich an das sich ihnen hier bietende Ausmaß höherer
-Genüsse, und sie wissen daher anfangs keine Verwendung für den auf
-sie einstürmenden Reichtum.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Jetzt bitte ich Sie, noch <em>ein</em> Bedenken zu zerstreuen, wie mir
-scheint, das wichtigste. &mdash; Was ist&rsquo;s mit Verbrechern, gegen deren Einwanderung
-Sie doch auch nicht geschützt sind? Erscheint mir schon höchst
-merkwürdig, daß Sie ohne Polizei und Strafeinrichtungen mit den
-Millionen Ihrer freiländischen Bevölkerung auskommen, so kann ich
-vollends nicht begreifen, wie Sie mit jenen Strolchen und Verbrechern
-fertig werden wollen, welche durch die ihnen hier winkende Milde, die
-auch den Verbrecher nicht strafen, bloß bessern will, doch angelockt
-werden sollten, wie Wespen vom Honig. Nun haben Sie uns allerdings
-erzählt, daß die zur Entscheidung der Civilstreitfälle eingesetzten
-Friedensrichter auch in Criminalsachen als erste Instanz zu fungieren
-haben, und daß von diesen der Appell an höhere Richterkollegien zulässig
-sei; Sie fügten jedoch hinzu, daß diese Richter allesamt so gut
-wie nichts zu thun haben und nur in höchst seltenen Ausnahmefällen
-das hierzulande übliche Besserungsverfahren zu verhängen in die Lage
-kommen. Wirken thatsächlich Ihre Institutionen so besänftigend auch
-auf verstockte Verbrechergemüter?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Allerdings&ldquo;, antwortete Frau Ney. &bdquo;Und wenn Sie ruhig erwägen,
-welches die eigentliche und letzte Quelle aller Verbrechen ist, so
-werden Sie das auch ganz begreiflich finden. Vergessen Sie doch nicht,
-daß Recht und Gesetz in der ausbeuterischen Gesellschaft Anforderungen
-an das Individuum stellen, die der menschlichen Natur geradezu entgegenlaufen.
-Der Hungernde und Frierende soll vorübergehen an fremdem
-Überflusse, ohne sich davon anzueignen, wessen er zur Befriedigung
-seines unabweislichen Bedürfnisses bedarf, ja ohne Neid und Mißgunst
-gegen die Glücklicheren zu empfinden, die reichlich besitzen, was er so
-grausam entbehrt! Er soll seinen Nebenmenschen lieben, trotzdem dieser
-gerade auf jenem Gebiete, wo Interessenkonflikte am unversöhnlichsten
-sind, weil sie die Grundlagen der ganzen Existenz berühren, sein Nebenbuhler,
-sein Zwingherr oder sein Sklave, für alle Fälle aber sein Feind
-ist, aus dessen Nachteil er Vorteil zieht und aus dessen Vorteil ihm
-Nachteil erwächst! Daß all&rsquo; dies Jahrtausende hindurch unerbittliche
-Notwendigkeiten waren, läßt sich freilich nicht leugnen; aber thöricht
-wäre es, zu übersehen, daß derselbe grausame Zusammenhang, welcher
-die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, also das Unrecht,
-<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a>
-zur Voraussetzung des Kulturfortschrittes machte, auch das Verbrechen,
-d. h. die Auflehnung des gemarterten Individuums gegen die zum
-Wohle der Gesamtheit unerläßliche schreckliche Ordnung, erst ins Leben
-rief. Die ausbeuterische Weltordnung verlangt vom Individuum, daß
-es thue, was ihm schadet, weil das Wohl der Gesamtheit es so erfordert,
-und sie verlangt dies nicht etwa als besonders anerkennenswerte, hervorragende
-Leistung, die bloß einzelnen edlen Naturen zugemutet werden
-dürfe, in denen der Gemeinsinn jegliche Regung des Egoismus unterdrückt
-hat, sondern als etwas bei jedermann stets und überall Selbstverständliches,
-dessen Übung nicht Tugend, sondern dessen Unterlassung
-Verbrechen genannt wird. Auch der Held, der sein Leben dem Vaterlande,
-der Menschheit opfert, unterordnet sein Einzelinteresse dem Wohle
-einer höheren Gesamtheit, und niemals wird die Menschheit auf solche
-Opferthaten verzichten können, immer wird sie von ihren Edelsten verlangen,
-daß die Liebe zur Gattung den Sieg davon trage über die
-Liebe zum eigenen kleinen Ich, ja es darf ohne weiteres als logisches
-Ergebnis fortschreitender Kultur bezeichnet werden, daß diese Forderung
-stets gebieterischer im Busen des Menschen sich geltend machen und dort
-stets freudigeren Gehorsam finden wird. Aber der Name dieses
-Gehorsams ist &bdquo;Heroismus&ldquo;, sein Mangel noch kein Verbrechen;
-er kann nicht erzwungen werden, sondern ist ein freiwilliger Liebestribut
-groß angelegter Naturen. Auf wirtschaftlichem Gebiete aber wird ähnlicher,
-ja schwerer zu übender Heldenmut dem Letzten und Elendesten,
-ja diesem in erster Reihe zugemutet, muß ihm, so lange Ausbeutung
-die Grundlage der Gesellschaft ist, zugemutet werden, und &bdquo;Verbrecher&ldquo;
-heißen dann alle Jene, die sich minder groß erweisen, als ein Leonidas,
-Curtius oder Winkelried auf dem Schlachtfelde, oder als jene meist ungenannten
-Heroen der Menschenliebe, die ihr Leben im Kampfe gegen
-feindliche Naturmächte zaglos zum Opfer brachten, wenn die heilige
-Stimme in ihnen, die Stimme der Nächstenliebe, es forderte.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Wir in Freiland aber verlangen von niemand zwangsweise solchen
-Heldenmut. Auf wirtschaftlichem Gebiete muten wir dem Individuum
-nichts zu, was seinem eigenen Interesse widerspricht, es ist daher nur
-selbstverständlich, daß es sich niemals gegen unsere Rechtsordnung
-empört. Bei uns ist Wahrheit, was unter der Herrschaft der alten
-Ordnung bloß selbstgefällige Gedankenlosigkeit behaupten konnte, daß
-nämlich wirtschaftliche Moral nichts anderes sei, als vernünftiger Egoismus.
-Sie werden es also begreiflich finden, daß <em>vernünftige</em> Menschen
-unsere Rechtsordnung nicht verletzen können. Wir haben einige Dutzend
-unverbesserlicher Übelthäter im Lande, dieselben sind aber ohne Ausnahme
-&mdash; unheilbare Idioten.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Nachdem auch dieser Punkt erledigt war, erbat sich mein Vater
-eine letzte Aufklärung. Er erklärte, nunmehr vollständig zu begreifen,
-<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a>
-daß die freiländischen Institutionen, gerade weil sie nichts anderes seien,
-als die konsequente Durchführung des Prinzipes der wirtschaftlichen
-Gerechtigkeit, durchaus geeignet wären, jeglichem billigen und vernünftigen
-Anspruche zu genügen. Nichtsdestoweniger drückte er seine Verwunderung
-über die sichtlich herrschende allgemeine und ausnahmslose
-Zufriedenheit mit denselben aus. Ob denn <em>unvernünftige</em> Parteiungen
-Freiland keinerlei Schwierigkeiten bereiteten? Insbesondere wollte er
-wissen, ob Kommunismus und Nihilismus, die in Europa stets drohender
-ihr Haupt erheben, hierzulande gar nicht zu schaffen machten. &bdquo;In den
-Augen eines echten Kommunisten&ldquo;, so rief er, &bdquo;seid Ihr hier doch nichts
-weiter, als arge Aristokraten. Von absoluter Gleichheit keine Spur
-bei Euch! Welchen Wert kann Euere vielberühmte Gleich<em>berechtigung</em>
-in den Augen von Leuten haben, die von dem Grundsatze ausgehen,
-daß jeder Bissen Brot, den einer dem andern gegenüber voraus hat,
-Diebstahl sei, und die daher, damit niemand mehr besitze, als der andere,
-alles Eigentum aufheben? Und dabei keine Polizei, keine Soldaten,
-um diese Tollhäusler im Zaume zu halten! Teilt doch auch uns das
-Recept mit, nach welchem sich der nihilistische und kommunistische Fanatismus
-so unschädlich machen läßt!&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Nichts leichter als das&ldquo; &mdash; antwortete Frau Ney. &bdquo;Machen
-Sie, daß jedermann satt werde, und niemand wird dem anderen die
-Bissen vorzählen wollen. Die absolute Gleichheit ist eine Hallucination
-des Hungerfiebers, weiter nichts. Die Menschen sind einander <em>nicht</em>
-gleich, weder in ihren Fähigkeiten, noch in ihren Bedürfnissen; Ihr
-Appetit ist stärker, als der meinige; Sie lieben vielleicht hübsche
-Kleider &mdash; ich gebe keinen Heller für dieselben; dafür bin ich vielleicht
-ein Leckermaul, während Sie grobe Kost vorziehen, und so fort ohne
-Ende. Welcher Menschenverstand soll nun darin liegen, unsere beiderseitigen
-Bedürfnisse über denselben Leisten zu schlagen! Ich will gar
-nicht untersuchen, ob es möglich ist, ob über den davon unzertrennlichen
-Zwang nicht Freiheit und Fortschritt zu Grunde gehen müßten; der
-Zweck an sich ist so unsinnig, daß absolut unbegreiflich wäre, wie zurechnungsfähige
-Menschen auf derartige Gedanken geraten können, wenn
-nicht <em>eines</em> dazwischen träte, nämlich, daß der eine von uns weder
-seinen starken, noch seinen schwachen Appetit, seine Vorliebe weder für
-feine noch für ordinäre Kleidung, weder für leckere noch für gewöhnliche
-Speisen befriedigen kann, sondern grimmiges, brutales Elend leidet.
-Kommt dazu noch der Irrtum, daß mein Überfluß an Ihren Entbehrungen
-die Schuld trägt, so wird es begreiflich, daß Sie und diejenigen,
-die Mitleid mit Ihren Leiden haben, nach Teilung, nach vollkommen
-gleichmäßiger Teilung rufen. Mit einem Worte, der Kommunismus
-hat keine andere Quelle, als die Erkenntnis des grenzenlosen Elends
-der überwiegenden Mehrzahl aller Menschen, verknüpft mit der falschen
-<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a>
-Anschauung, daß es der thatsächlich vorhandene Reichtum Einzelner sei,
-aus welchem allein die Linderung dieses Elends geschöpft werden könne.
-Diese letztere Meinung ist nun allerdings eine unbegreifliche Thorheit,
-denn man braucht nur die Augen zu öffnen, um zu sehen, welch kümmerlicher
-Gebrauch von den so reichlich vorhandenen Fähigkeiten, Reichtümer
-zu erzeugen, gemacht wird; aber nicht die Kommunisten sind es,
-welche diese Thorheit ausheckten; Euere orthodoxe Ökonomie hat die
-Lehre in Umlauf gebracht, daß gesteigerte Ergiebigkeit der Arbeit die
-vorhandenen Werte nicht zu vermehren vermöge, sie, nicht der Kommunismus
-war es, was die Menschheit blind machte gegen den wahren
-Zusammenhang der wirtschaftlichen Vorgänge; Kommunisten sind in
-Wirklichkeit nichts anderes, als gläubige Anhänger der sogenannten
-&bdquo;Grundwahrheiten&ldquo; orthodoxer Ökonomie und der einzige Unterschied
-zwischen der bei Euch herrschenden Partei und ihnen liegt lediglich
-darin, daß sie hungrig sind, während jene satt ist. Mit der Erkenntnis,
-daß es nur der vollkommenen Gleich<em>berechtigung</em> bedürfe, <em>um Überfluß
-für alle zu schaffen</em>, verfliegt der Kommunismus ganz von
-selbst wie ein böser, beängstigender Traum. Man kann verlangen &mdash;
-wenn auch nicht durchführen &mdash; daß alle Menschen auf gleiche Brotrationen
-gesetzt werden, so lange man glaubt, daß der gemeinsame Reichtum,
-von dem wir alle zehren müssen, eben nicht weiter als fürs liebe
-Brot reiche; denn satt werden wollen wir doch alle. Zu verlangen,
-daß jedem die gleiche Sorte und Menge Braten, Backwerk und Konfekt
-aufgezwungen werde, nachdem sich herausgestellt hat, daß genug für alle
-auch von diesen guten Dingen vorhanden sein könnte, wäre schlechthin
-läppisch. Es gibt daher bei uns keine Kommunisten und kann keine geben.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Aber auch der Nihilismus ist aus dem gleichen Grunde in Freiland
-unmöglich, denn auch er ist nichts anderes, als eine durch die Verzweiflung
-des Hungers hervorgerufene Hallucination, die nur auf dem Boden der
-orthodoxen Weltanschauung gedeihen kann. Ist der Kommunismus die
-Nutzanwendung, welche der Hunger aus dem Lehrsatze zieht, daß die Arbeit
-der Menschheit nicht ausreiche, um Überfluß für Alle zu erzeugen, so
-kann man den Nihilismus als die Schlußfolgerung der Verzweiflung
-aus jener anderen Lehre ziehen, daß Kultur und Civilisation unvereinbar
-seien mit wirtschaftlicher Gleichberechtigung. Die Orthodoxie ist&rsquo;s, welche
-auch dieses Dogma in Umlauf gebracht hat; allerdings hält sie, als die
-Wortführerin der Satten, auch hier keine andere Schlußfolgerung für
-denkbar, als diejenige, daß die auf ewig enterbten Massen sich im
-Interesse der Civilisation resigniert in ihr Schicksal fügen müßten; die
-Partei der Hungrigen aber wendet sich in wütendem Grimme gegen
-diese Civilisation, von welcher selbst ihre Anhänger behaupten, daß sie
-der ungeheuern Mehrzahl der Menschen niemals helfen könne und die
-deshalb für diese keinen anderen Effekt hat, als den einer Steigerung
-<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a>
-der <em>Empfindung</em> des Elends. <em>Wir</em> haben den Beweis erbracht, daß
-Civilisation nicht bloß vereinbar, sondern geradezu die Voraussetzung
-der wirtschaftlichen Gleichberechtigung ist &mdash; auch der Nihilismus muß
-also hierzulande unbekannt sein.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Sie glauben also&ldquo;, nahm ich das Wort, &bdquo;daß die Gleichheit des
-thatsächlichen Einkommens mit der Gleich<em>berechtigung</em> nichts zu thun
-habe? Ich meinerseits muß gestehen, daß mir jene nutzlose Anhäufung
-überflüssiger Reichtümer, die wir in unserer abendländischen Gesellschaft
-zu beobachten Gelegenheit haben, an und für sich widerwärtig geworden
-ist, auch wenn ich mich überzeugt habe, daß das Elend der Massen
-weder in diesem Überflusse einer kleinen Minderzahl seinen letzten Grund
-habe, noch sich durch Verteilung dieses Überflusses wesentlich lindern
-ließe. Eine gesellschaftliche Ordnung, welche diese geilen Überschüsse
-nicht beseitigt, wird in meinen Augen immer unvollkommen bleiben,
-mag sie im übrigen noch so ausreichend für den Wohlstand Aller Sorge
-tragen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Auch ich kann dieses Gefühles nicht ganz Herr werden&ldquo;, meinte
-mein Vater. &bdquo;Aber ich bin der Ansicht, daß in dieser Auflehnung gegen
-die Ungleichheit an sich, denn doch nichts anderes zu suchen sein dürfte,
-als die sittliche Empörung, welche in jedem unbefangen denkenden
-Menschen gegen die bisherigen <em>Ursachen</em> der Ungleichheit Wurzel geschlagen
-hat. Wir sehen bei uns zu Hause, daß große Vermögen fast
-niemals in hervorragenden individuellen Anlagen, sondern regelmäßig
-bloß in der Ausbeutung der Nebenmenschen ihren Entstehungsgrund
-haben, und daß sie ebenso regelmäßig zu neuer Ausbeutung benutzt
-werden. Das ist&rsquo;s, was uns dagegen einnimmt. Könnten noch so
-große Vermögen bloß durch hervorragende persönliche Fähigkeiten entstehen
-und vermöchte man sie zu nichts anderem zu gebrauchen, als
-zur Steigerung der individuellen Genüsse, wie dies in Freiland alles
-zutrifft, so würde auch die nicht hinwegzuleugnende Abneigung gegen
-dieselben rasch aufhören. Was ist übrigens die Meinung unserer liebenswürdigen
-Wirtin über diesen Punkt?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Der Widerwille gegen übergroße Vermögen&ldquo; &mdash; erklärte diese &mdash;
-&bdquo;ist meines Erachtens nicht bloß in der ungerechten Quelle und Verwendung
-derselben zu suchen, sondern liegt tiefer, in der Erkenntnis
-nämlich, daß von sehr vereinzelten Ausnahmen abgesehen, die Verschiedenheiten
-in den Fähigkeiten der Menschen nicht so einschneidend
-sind, um so gewaltige Differenzen des Reichtums genügend zu rechtfertigen.
-Der Reichtum einer hochkultivierten Gesellschaft besteht zu derart
-überwiegendem Teile aus den Hinterlassenschaften der Vergangenheit und
-zu verhältnismäßig so geringem Teile aus den ureigenen Leistungen der
-einzelnen Individuen, daß ein gewisser Grad der Gleichheit &mdash; nicht
-bloß der Rechte, sondern auch der thatsächlichen Genüsse &mdash; allerdings
-<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a>
-im Wesen der Sache begründet und ein Gebot der Gerechtigkeit ist.
-Jeder Fortschritt der Kultur ist gleichbedeutend mit fortschreitender Ausgleichung
-der Differenzen der Leistungsfähigkeit. Denken Sie sich zurück
-in den Urzustand, wo das Individuum den Kampf ums Dasein der
-Hauptsache nach mit den ihm angeborenen Hilfsmitteln zu Ende führen
-mußte, so werden Sie finden, daß die Unterschiede sehr groß waren:
-bloß der Kräftige, Gewandte, Schlaue vermochte sich zu erhalten; der
-minder Begabte mußte untergehen. Als dann späterhin wachsende Kultur
-die Hilfsmittel der Menschen vermehrte, dermaßen, daß auch dem minder
-Fähigen möglich wurde, das zur Lebensfristung erforderliche zu erzeugen,
-blieb doch der Unterschied der individuellen Leistungen anfangs sehr
-groß. Der geschickte Jäger wird um ein Vielfaches reichlichere Beute
-haben, als der minder geschickte; der kräftige, gewandte Ackerbauer wird
-mit dem Spaten vielfach mehr richten, als der schwächliche, schwerfällige.
-Schon mit Erfindung des Pfluges verringert sich diese Verschiedenheit
-der Leistungen sehr wesentlich, und sie wird &mdash; was körperliche Fähigkeiten
-anlangt &mdash; mit der Erfindung der Kraftmaschinen beinahe auf
-Null reduciert. Mehr und mehr ersetzt die Maschine die Energie der
-menschlichen Muskeln, mehr und mehr aber gleichzeitig auch Witz und
-Erfahrung der Vorfahren die individuelle Findigkeit. Zwar so vollständig
-wie auf körperlichem Gebiete treten auf geistigem die individuellen
-Unterschiede nicht in den Hintergrund, aber auch sie rechtfertigen mit
-nichten jene kolossalen Differenzen des Reichtums, an welche man zu
-denken pflegt, wenn von &bdquo;großen Vermögen&ldquo; die Rede ist. Der Arbeiter
-am Dampfpfluge leistet &mdash; er mag ein Riese oder ein Schwächling
-sein &mdash; so ziemlich das nämliche; Klugheit und Umsicht der Leitung
-des Produktionsprozesses kann den Ertrag noch immer vervielfachen;
-eine Leistung aber, die hundertfach und tausendfach den Wert gewöhnlicher
-Durchschnittsleistung überträfe, ist heutzutage nur mehr &mdash; dem
-Genie möglich, und diesem allein würde sie dem entsprechend auch unser
-Billigkeitsgefühl zuerkennen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Damit schloß dieses Gespräch, welches mir aus dem Grunde ewig
-denkwürdig bleiben wird, weil es meinen Entschluß, Freiländer zu werden,
-zur Reife gebracht hat.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-5-9">
-<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a>
-21. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="date">
-Edenthal, den 20. August.
-</p>
-
-<p class="first">
-Du schreibst in Deinem Letzten, es komme Dir nicht ganz geheuer
-vor, daß in meinen Briefen so gar keine Rede mehr von den jungen
-Damen sei, mit denen ich seit nunmehr sechs Wochen unter einem Dache
-weile. Wenn ein junger Italiener &mdash; so argumentiert Deine unerbittliche
-Logik &mdash; von schönen Mädchen, mit denen er verkehrt, darunter
-eines, dessen erster Anblick ihn &mdash; eigenem Geständnis zufolge &mdash; &bdquo;geradezu
-verwirrt&ldquo; habe, nichts zu erzählen wisse, so habe er sich entweder
-einen Korb von der bewußten Einen geholt oder sei doch im Begriffe,
-es darauf ankommen zu lassen. Die Logik hat Recht, Luigi; ich
-bin verliebt, d. h. ich war es vom ersten Blicke an, und zwar in
-Bertha, meines David herrliches Schwesterlein, und auch mit dem
-Korbe hätte es um ein Kleines seine Richtigkeit gehabt. Nicht, daß die
-Geliebte meine Gefühle unerwidert gelassen hätte; Bertha gestand mir
-mit jener unbefangenen Offenheit, die ihr &mdash; richtiger, die allen Freiländerinnen
-&mdash; so entzückend steht, beim ersten Anlasse, wo ich mir zu
-einem Geständnisse den Mut faßte, daß auch sie mich sofort in ihr Herz
-geschlossen, daß sie noch am ersten Abend unseres Beisammenseins gewußt,
-mir oder niemand werde sie als Gattin angehören &mdash; und trotzdem
-bekam ich auf meine Werbung zunächst ein &bdquo;Nein&ldquo; zu hören, das
-an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig ließ. Bertha vermochte sich
-nämlich nicht zu entschließen, italienische Herzogin zu werden, und mein
-Vater, der &mdash; höre und staune &mdash; den Brautwerber für mich machte,
-hatte von ihr als etwas selbstverständliches gefordert, sie solle mir nach Italien
-auf unsere dortigen fürstlichen Besitzungen folgen, das Herzogsdiadem in
-ihre Locken &mdash; sie sind von einem entzückenden Blond &mdash; flechten und
-im Vereine mit mir die Fortpflanzung des erlauchten Geschlechts der
-<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a>
-Falieri zu ihrer Lebensaufgabe zu machen. Meinen Wunsch, mich als
-Freiländer in Freiland anzusiedeln, betrachtete mein Vater als überspannte
-Narrheit. Du kennst seine Anschauungen, die ein seltsames Gemengsel
-von aufrichtigem Freisinn und aristokratischem Stolze sind,
-richtiger waren; hier in Freiland hatte die demokratische Seite seiner
-Anschauungen sich allgemach gewaltig ins Breite und Tiefe entwickelt;
-er begann sogar aufs feurigste für die freiländischen Institutionen zu
-schwärmen; wenn es einen anderen Zweig der Falieri gäbe, dem man
-die Erhaltung der fürstlichen Familientraditionen hätte anvertrauen
-können &mdash; <span class="antiqua">per baccho</span> &mdash; mein Vater hätte mich sofort gewähren
-lassen. Aber um einer &mdash; und sei es auch noch so edlen &mdash; Schwärmerei
-willen, die Axt an den Stammbaum eines Hauses zu legen, dessen Ahnen
-unter den ersten Kreuzfahrern gekämpft und späterhin als italienische
-Duodez-Fürsten die Welt mit ihren (Schand-) Thaten erfüllt &mdash; das
-war mehr, als er mir zu gewähren vermochte. Gegen die Liebe zu
-Bertha aber hatte er nichts einzuwenden; wirklich und wahrhaftig,
-lieber Freund, nicht das geringste. Im Gegenteil, er war ordentlich
-stolz auf mich, als ich ihm die Frage, ob ich denn der Gegenliebe des
-Mädchens sicher sei, mit einem zuversichtlichen &bdquo;Ja&ldquo; beantworten konnte.
-&bdquo;Blitzjunge&ldquo; rief er, &bdquo;dieses Prachtgeschöpf so im Handumdrehen erobern!
-Das soll uns Falieris jemand nachmachen!&ldquo; Bertha hatte
-es meinem Vater geradeso angethan, wie mir, und da dieser ganz im
-allgemeinen vor den freiländischen Frauen den größten Respekt
-empfindet, so war ihm die &bdquo;bürgerliche&ldquo; Schwiegertochter ganz recht.
-Aber nur unter der Bedingung, daß ich den &bdquo;tollen&ldquo; Gedanken des
-Hierbleibens aufgebe. &bdquo;Das Mädchen ist im kleinen Finger klüger als
-Du&ldquo;, rief er; &bdquo;sie würde sich schön bedanken, wenn ihr der Bräutigam
-die Herzogskrone zerbrochen vor die Füße würfe. Freiländerin sein ist
-recht schön &mdash; aber, glaube mir, Fürstin zu sein, ist noch schöner. Zudem
-kann man ja diese beiden Vorteile recht wohl vereinigen. Den
-Winter und Frühling verbringt Ihr in unseren Palästen in Rom und
-Venedig; Sommer und Herbst hindurch könnt Ihr dann &mdash; wenn es
-Euch recht ist, in meiner Begleitung &mdash; hier an Euren Seen und in
-Euren Bergen die Freiheit genießen. Also es bleibt dabei; ich werbe
-für Dich um Bertha &mdash; aber von dauernder Ansiedelung hier kein
-Wort weiter!&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Mir gefiel die Sache nicht; den Vorsatz, Freiländer zu werden,
-hatte ich &mdash; Du darfst es mir glauben &mdash; nicht der Geliebten halber
-gefaßt, aber deren Lichtgestalt vermochte ich mir nun einmal weder mit
-dem Fürstendiadem, noch in den Prunkgemächern unserer Schlösser zu
-denken. Indessen mußte ich mich dem Willen des Vaters einstweilen
-fügen und so brachte nun dieser seine Werbung an den Mann, indem
-er in meinem und Berthas Beisein deren Eltern um die Hand ihrer
-<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a>
-Tochter für seinen Sohn, den Prinzen Carlo Falieri bat, hinzufügend,
-daß er sofort nach vollzogener Heirat die Güter in der Romagna, im
-Toskanischen und Venetianischen, sowie die Paläste in Rom, Florenz,
-Mailand, Verona und Venedig an mich übergeben und sich bloß unsere
-sicilianischen Besitzungen &mdash; als &bdquo;Altenteil&ldquo;, wie er scherzend meinte &mdash;
-vorbehalten werde. Die alten Neys nahmen diese grandiosen Zusagen
-mit einer nichts Gutes verkündenden eisigen Zurückhaltung entgegen; nach
-minutenlangem Schweigen und nachdem er auf Gattin und Tochter einen
-langen, prüfenden, auf mich aber einen vorwurfsvollen Blick geworfen,
-erklärte Herr Ney: &bdquo;Wir Freiländer sind nicht die Tyrannen, bloß die
-Berater unserer Töchter; in <em>diesem</em> Falle aber bedarf unser Kind des
-Rates nicht; wenn Bertha Ihnen als Fürstin Falieri nach Italien folgen
-will, wir werden es ihr nicht verwehren.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Hochaufgerichtet, einem erzürnten Cherub vergleichbar, wandte sich
-nun Bertha an meinen Vater: &bdquo;Niemals! Niemals!&ldquo; rief sie mit
-zuckenden Lippen. &bdquo;Mehr als mein Leben liebe ich Ihren Sohn; ich
-werde sterben, wenn er, um Ihnen zu gehorchen, mir entsagt; aber
-Freiland verlassen, als <em>Fürstin</em> verlassen? Niemals! Niemals! Lieber
-tausendmal den Tod!&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Aber unseliges Kind,&ldquo; entgegnete ganz entsetzt über diesen unerwarteten
-Effekt seines Antrages mein Vater, &bdquo;Sie sprechen ja das
-Wort &sbquo;Fürstin&lsquo; aus, als wäre es für Sie der Inbegriff des Schrecklichen.
-Jawohl, Fürstin sollen Sie werden, eine der reichsten, stolzesten
-Fürstinnen Europas, d. h. Sie sollen fürderhin keinen Wunsch
-haben, den zu erfüllen nicht Tausende wetteifern würden; Sie sollen
-Gelegenheit und Macht erlangen, Tausende zu beglücken; Millionen
-werden Sie beneiden&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;und verfluchen und hassen&ldquo; &mdash; unterbrach ihn mit bebenden
-Lippen Bertha. &bdquo;Wie, sechs Wochen leben Sie unter uns und begreifen
-nicht, was eine freie Tochter Freilands empfinden muß bei dem
-Ansinnen, diese glücklichen Gefilde, die Heimstätte der Gerechtigkeit und
-der Menschenliebe zu verlassen, um fern in Ihrem traurigen Vaterlande
-&mdash; nicht etwa die Thränen Unterdrückter zu stillen, sondern zu erpressen,
-nicht etwa die Scheußlichkeiten Ihrer Sklaverei zu bekämpfen, sondern
-sie selber zu üben? Ich liebe Carlo so über alle Maßen, daß ich bereit
-wäre, an seiner Seite dies Land des Glückes mit dem des Elends
-zu vertauschen, wenn irgend eine unlösliche Pflicht ihn dahin riefe;
-aber nur unter der Bedingung, daß seine und meine Hand frei bliebe
-von fremdem Gute, daß wir in ehrlicher Arbeit selber verdienten, was
-wir zum Leben brauchen; aber <em>Fürstin</em> soll ich werden, <em>Fürstin</em>!
-Tausende von Knechten sollen das Mark ihrer Knochen hergeben, damit
-ich im Überfluß schwelge, tausende von Flüchen zu Tode gequälter
-Menschen sollen haften an der Speise, die ich genieße, an der Kleidung,
-<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a>
-die meine Glieder umhüllt! (Bei diesen Worten verbarg sie ihr Antlitz
-schaudernd in den Händen; dann aber, sich gewaltsam aufraffend,
-fuhr sie fort): Bedenken Sie doch, wenn Sie eine Tochter hätten und
-man würde von ihr verlangen, unter die menschenfressenden Njam-Njam
-zu gehen, um dort Königin zu werden, und der Vater des Bräutigams
-würde ihr versprechen, es sollten ihr recht zahlreiche und fette Sklaven
-geschlachtet werden &mdash; was würde das arme Kind, das unüberwindliches
-Grauen vor Menschenfleisch mit der Muttermilch eingesogen hat,
-dazu sagen? Nun, sehen Sie, wir in Freiland empfinden Grauen vor
-Menschenfleisch, auch wenn das Schlachtopfer ohne Blutvergießen, Zoll
-um Zoll und Glied um Glied langsam getötet wird, uns flößt das allmähliche
-Aussaugen und Verzehren eines Nebenmenschen nicht minderes
-Entsetzen ein, als Ihnen das buchstäbliche Auffressen desselben, und so
-wenig Sie an den Mahlzeiten der Kannibalen Teil zu nehmen im
-Stande sind, so unmöglich ist es uns, von der Ausbeutung geknechteter
-Mitmenschen zu leben. Ich <em>kann</em> nicht Fürstin werden, ich kann
-nicht! O, trennen Sie mich nicht von Carlo, denn wir werden beide
-darüber zu Grunde gehen, und &mdash; das weiß ich nicht erst seit heute &mdash;
-Sie lieben nicht nur ihn, sondern auch mich.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Dieser Appell, verbunden mit den rührendsten Blicken und einem
-sanften Erfassen seiner Hände, war mehr, als mein Vater &mdash; aus
-solchem Munde &mdash; ungerührt zu ertragen vermochte. &bdquo;Mädchen, Du
-hast mir ja ordentlich Entsetzen vor mir selber eingejagt! Also Menschenfresser
-sind wir, mit dem Unterschiede bloß von Euern liebenswürdigen
-Njam-Njam, daß wir unsere Schlachtopfer nicht mit <em>einem</em> herzhaften
-Keulenschlage erlegen und dann sofort verschlingen, sondern stückweise,
-Zoll um Zoll uns zu Gemüte führen! Nun, Du magst so Unrecht
-nicht haben und keineswegs will ich Dich zu den Freuden einer Fürstlichkeit
-zwingen, bezüglich deren Du solche Anschauungen hegst. Auch
-mein entarteter Sohn scheint in diesem Punkte mehr Deiner als meiner
-&mdash; bisherigen Geschmacksrichtung zu huldigen. Nehmt einander also
-und werdet glücklich nach Eurer Façon. Was mich anlangt, so werde
-ich über Mittel und Wege nachsinnen, um mich in den Augen meines
-neuen Töchterchens einigermaßen vom Geruche des Kannibalismus zu
-befreien.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Meine Bertha flog jetzt zuerst mir, dann meinem Vater, dann der
-Reihe nach ihren Eltern und Geschwistern, dann aber wieder meinem
-Vater an den Hals. Das Küssen und Umarmen des Schwiegerpapas
-geriet so begeistert und stürmisch, daß ich um ein Haar eifersüchtig geworden
-wäre. Mein Vater aber war nun derart Feuer und Flamme
-für unsere bevorstehende Verbindung, daß er Neys aufforderte, sofort
-alle erforderlichen Formalitäten dieses erfreulichen Aktes einzuleiten.
-Binnen Monatsfrist ungefähr glaube er &mdash; vorübergehend &mdash; nach
-<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a>
-Europa zurückkehren zu müssen, und es wäre ihm eine große Freude,
-uns bis dahin schon vereint zu wissen. So wurde nun festgestellt, daß
-unsere Vermählung nach Ablauf von 14 Tagen, d. i. am 3. September
-stattfinden solle.
-</p>
-
-<p class="date">
-Ungama, den 24. August.
-</p>
-
-<p class="center">
-&bdquo;Zwischen Lipp&rsquo; und Bechers Rand ........&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Als ich vor vier Tagen meinen Brief geschlossen hatte und zum
-Zwecke eines Nachtrags, den Bertha hinzufügen wollte (sie erklärte sich
-verpflichtet, &bdquo;meinem besten Freunde&ldquo; einige Worte der Entschuldigung
-ob des Raubes zu sagen, den sie an ihm begangen), einstweilen noch
-zurückbehielt &mdash; da ahnte ich nicht, daß gewaltige Ereignisse sich zwischen
-mich und die sofortige Erfüllung meiner glühenden Wünsche drängen
-könnten. Der Krieg, dem wir entgegengehen, läßt zwar mein neues
-Vaterland merkwürdig ruhig, und befände ich mich nicht in Ungama,
-so würde nichts verraten, daß es den Kampf mit einem Gegner gilt,
-der mehreren der mächtigsten kriegsgeübten Staaten Europas wiederholt
-schon schwere Sorge bereitet; aber ich bin noch nicht lange genug Freiländer,
-um die bittere Schmach und das schwere Unglück, von welchen
-mein Geburtsland neuerlich betroffen wurde, nicht schmerzlich zu empfinden,
-und für alle Fälle &mdash; in meiner Eigenschaft sowohl als ehemaliger
-Italiener, wie als gegenwärtiger Freiländer &mdash; halte ich es für meine
-Pflicht, den Kampf persönlich mitzumachen; bis dieser beendet ist, kann
-ich an Hochzeit und Ehe natürlich nicht denken. Einstweilen hat mich
-das Würfelspiel des Krieges von Edenthal weg, hierher, an die Küste
-des indischen Oceans verschlagen. Doch laß mich ordnungsgemäß
-der Reihe nach berichten.
-</p>
-
-<p>
-Zunächst also wisse, daß &mdash; es ist dies ja jetzt kein &bdquo;diplomatisches
-Geheimnis&ldquo; mehr &mdash; meines Vaters und seiner englischen wie französischen
-Kollegen Bemühungen, für 300000 bis 350000 Mann anglo-franco-italischer
-Truppen Durchzug durch Freiland zu erlangen, von
-vollständigstem Mißerfolge begleitet waren. Freiland lebe mit Abyssinien
-in Frieden, so erklärten die Edenthaler Regenten und habe vorerst kein
-Recht, sich in dessen Händel mit den Westmächten zu mischen. Anders
-stünden allerdings die Sachen, wenn letztere sich entschließen wollten,
-auf ihren afrikanischen Territorien freiländisches Recht einzuführen, in
-welchem Falle diese als freiländisches Gebiet angesehen und als solches
-dann selbstverständlich von Freiland geschützt werden müßten. Aber
-dann wäre die geforderte Militärkonvention erst recht überflüssig, denn
-in diesem Falle würde Freiland jeden Angriff auf seine Verbündeten
-als <span class="antiqua">casus belli</span> für sich selber auffassen und Abyssinien aus eigenen
-Kräften zur Ruhe bringen. Darüber nun flossen die Verhandlungen
-seit Wochen resultatlos hin und <a id="corr-68"></a>wider. Sichtlich nahmen die Kabinette
-<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a>
-von London, Paris und Rom letztere Zusage Freilands nicht recht
-ernst, trotzdem ihre Gesandten, insbesondere mein Vater, redlich das
-ihre thaten, ihnen mehr Vertrauen in die kriegerische Kraft Freilands
-einzuflößen; die europäischen Mächte waren nicht abgeneigt, die von
-Freiland als Bedingung eines Bündnisses geforderte Anerkennung des
-freiländischen Rechts für die Kolonien am roten und indischen Meere
-zuzugestehen, beharrten aber trotzdem auf der Forderung nach Abschluß
-einer Militärkonvention, worauf jedoch Freiland nicht eingehen wollte.
-So standen die Sachen bis in die letzten Tage.
-</p>
-
-<p>
-Am Morgen nach meiner Verlobung saßen wir eben beim Frühstück,
-als für meinen Vater eine chiffrierte Depesche aus Ungama &mdash; dem
-großen Hafenplatze Freilands am indischen Ocean &mdash; eintraf, nach
-deren Entzifferung derselbe, von seiner gewohnten diplomatischen Ruhe
-gänzlich im Stiche gelassen, totenbleich aufsprang und Papa Ney bat,
-sofort eine Sitzung der sämtlichen Regenten der freiländischen Centralverwaltung
-einzuberufen, er habe eine Mitteilung von entscheidender
-Bedeutung zu machen. Den teilnahmsvollen Schrecken unserer Freunde
-bemerkend, erklärte mein Vater: &bdquo;Geheimnis kann die Sache ohnehin
-nicht bleiben, so erfahret denn aus meinem Munde die Unglücksbotschaft.
-Die mir von Commodore Cialdini, dem Kapitän eines unserer in
-Massaua stationiert gewesenen Panzerschiffe zugekommene Depesche lautet:
-&bdquo;Ungama, den 21. August 8 Uhr Morgens. Bin soeben mit Panzerfregatte
-Erebus und zwei Avisodampfern &mdash; einem eigenen und einem
-französischen &mdash; schwerbeschädigt und flüchtig aus Massaua hier eingetroffen.
-Johannes von Abyssinien hat vorgestern Nachts unter Bruch
-des bestehenden Friedens Massaua verräterisch überfallen und fast ohne
-Schwertstreich eingenommen. Unsere im Hafen liegenden und ebenso
-die englischen und französischen Schiffe, 17 an der Zahl, wurden
-gleichfalls überrumpelt und genommen, nur mir und den zwei Avisos
-gelang es zu entkommen. Die kleineren Küstenfestungen, an denen
-wir vorbeikamen, sind auch sämtlich in den Händen der Abyssinier.
-Da uns der Cours nach Aden durch mehrere uns verfolgende feindliche
-Dampfer abgeschnitten wurde und der Erebus kampfunfähig ist,
-suchten wir Zuflucht in Ungama, um unsere Havarien auszubessern.
-Finden uns hier die Abyssinier, so sprenge ich unsere Schiffe in
-die Luft.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Das war in der That eine üble Botschaft, nicht bloß für die
-Verbündeten, sondern auch für Freiland, denn sie bedeutete Krieg mit
-Abyssinien, den man hier zu vermeiden gehofft hatte. Zwar war man
-&mdash; wie gesagt &mdash; von Anbeginn gefaßt darauf gewesen, den europäischen
-Mächten als präsumtiven Bundesbrüdern, Ruhe vor Abyssinien zu verschaffen,
-aber man hatte sich &mdash; im Vertrauen auf die hohe Achtung,
-welche Freiland bei allen Nachbarvölkern genoß &mdash; mit der Erwartung
-<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a>
-geschmeichelt, dem trotzigen Halbbarbaren durch festes Auftreten imponieren
-und ihn in friedlichem Wege zur Ruhe verhalten zu können.
-Der verräterische Überfall gerade zu einer Zeit, wo die Unterhändler
-der Angegriffenen eben in Edenthal weilten, zerstörte jedoch diese
-Hoffnung.
-</p>
-
-<p>
-Im Volkspalaste fanden wir die freiländischen Verwaltungschefs
-schon vollzählig versammelt, und bald nach uns trafen auch die englischen
-und französischen Bevollmächtigten ein. Den Franzosen sahen wir es
-sofort an den verstörten Mienen an, daß ihnen die Unglücksbotschaft
-schon zugekommen war; die Engländer erhielten erst einige Stunden
-später direkte Nachricht, als ihre Panzerkorvette &bdquo;Nelson&ldquo;, die unterwegs
-mit zweien der in abyssinische Hände gefallenen Schiffe ein
-mörderisches Gefecht bestanden und eines derselben in den Grund gebohrt
-hatte, als halbes Wrack ebenfalls in Ungama anlangte. Inzwischen
-waren aber auch an das freiländische auswärtige Amt aus verschiedenen
-Küstenorten nähere und ausführliche Nachrichten eingetroffen, die das
-Unglück seinem ganzen Umfange nach bestätigten. Der mit sehr überlegener
-Macht unternommene und offenbar von Verrat begünstigte
-Überfall war den Abyssiniern vollständig gelungen. Da der Frieden
-mit Abyssinien noch mehrere Wochen zu gelten hatte, so waren die
-Garnisonen der meist ungesunden Küstenorte weder sehr zahlreich, noch
-sonderlich wachsam gewesen; die Abyssinier hatten zur nämlichen Stunde
-&mdash; gegen 2 Uhr nach Mitternacht &mdash; Massaua, Arkiko und Obok, die
-Hauptfestungen der Italiener, Engländer und Franzosen, und sämtliche
-acht Küstenforts derselben erstiegen, die im Schlafe überraschten Garnisonen
-teils niedergemetzelt, teils gefangen genommen und sich gleichzeitig
-auch der in den Häfen liegenden Schiffe bis auf die schon erwähnten
-vier bemächtigt. Daß sie einige derselben schon am nächsten Morgen
-segelfertig machen und mit ihnen in See stechen konnten, erklärt sich
-aus den früher schon erwähnten Matrosenwerbungen des Negus, welch
-letztere aber auch ein bezeichnendes Licht darauf werfen, wie lange
-geplant und wohlvorbereitet der Überfall gewesen. So vortrefflich
-funktionierte das Getriebe des Verrats, daß die vier geretteten Schiffe
-wenige Minuten nachdem der Überfall auf die anderen gelungen war,
-aus Schiffsgeschützen sehr wirksam und heftig beschossen werden konnten.
-Die den Abyssiniern in den sämtlichen drei Häfen in die Hände gefallenen
-Fahrzeuge waren 7 englische, 5 französische und 4 italienische
-Panzerschiffe, darunter mehrere erster Größe, und 11 englische, 8 französische
-und 4 italienische Kanonenbote und Avisos; die in den Festungen
-und Schiffen gefangenen oder gefallenen Truppen betrugen in runder
-Zahl 24000 Mann.
-</p>
-
-<p>
-Die Bevollmächtigten aller drei Mächte hatten sofort, nachdem sie
-die Hiobsbotschaften empfangen, an ihre Regierungen telegraphiert und
-<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a>
-um Verhaltungsmaßregeln gebeten. Der freiländischen Verwaltung gegenüber
-erklärten sie, daß nunmehr aller Wahrscheinlichkeit nach mit größter
-Energie auf dem Abschluß der Militärkonvention bestanden werden
-dürfte. Jetzt, da die Festungen gefallen, wäre es vollends unmöglich,
-an den unwirtlichen Küsten des roten Meeres ein so großes Heer zu sammeln,
-wie es gegen den Negus nun erst recht notwendig sei. In der That
-war das auch die ziemlich kategorisch lautende, noch im Laufe des
-nämlichen Tages einlangende Kollektivforderung der drei Mächte. Ebenso
-kategorisch aber war die Ablehnung, begleitet von der Erklärung, daß
-man den, aller Voraussicht nach für Freiland allerdings unvermeidlichen
-Krieg mit Abyssinien allein auszufechten gedenke. Im übrigen,
-so gab man den Alliierten zu bedenken, kämen doch ihre Armeen ohnehin
-viel zu spät. Wäre der Suezkanal für ihre Truppensendungen
-auch praktikabel, so könnten ihre 350000 Mann &mdash; für so viel lautete
-die nun geforderte Durchzugsbewilligung &mdash; frühestens binnen 2 Monaten
-bei uns konzentriert sein, und es hieße fürwahr dem Negus
-Johannes sehr wenig zutrauen, wollte man sich darauf verlassen, daß
-er bis dahin nicht längst schon versucht haben sollte, sich in den Besitz
-aller strategischen Positionen Freilands zu setzen. Nunmehr vollends,
-wo die den Abyssiniern in die Hände gefallenen Schiffe von diesen in erster
-Linie dazu benutzt werden dürften, den Suezkanal zu sperren, kämen
-die Alliierten, selbst wenn man sie rufen wollte, jedenfalls zu spät.
-Denn auch der Landweg über Ägypten könne von den Abyssiniern so
-leicht verlegt werden, daß der zur Operationsbasis zu wählen schlechthin
-unsinnig wäre. Bliebe also nur der Weg ums Kap der guten Hoffnung,
-und wie lange es brauchen würde, bis von dorther 350000 Mann
-Hülfstruppen bei uns einträfen, das möge man sich in Paris, Rom
-und London doch selber beantworten. Unsere Freunde möchten im
-übrigen vollkommen beruhigt sein; rascher als sie zu glauben schienen
-und vollständiger sollte ihnen Genugthuung werden. Ehe man in England,
-Frankreich und Italien auch nur mit der Ausrüstung eines so
-großen Expeditionsheeres fertig sein könnte, würden wir mit dem Negus
-abgerechnet haben. Inzwischen möchten die Alliierten ihre neuen, nach
-den Küstenorten des roten und indischen Meeres bestimmten Garnisonen
-segelfertig machen; sie könnten für dieselben ohne weiteres den gewohnten
-Weg über den Suezkanal in Aussicht nehmen, denn bis ihre Transportschiffe
-vor demselben angelangt sein dürften &mdash; woran vor Ende des
-nächsten Monats kaum zu denken sei &mdash; würde Freiland den Abyssiniern
-ihre gestohlene Flotte genommen oder vernichtet haben.
-</p>
-
-<p>
-Insbesondere die letztere Zusage erregte in hohem Grade das Befremden
-der verbündeten Regierungen und ihrer Gesandten, und ich
-muß gestehen, daß auch ich nicht recht abzusehen vermochte, wie wir es,
-ohne auch nur ein Kriegsfahrzeug zu besitzen, anstellen wollten, eine
-<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a>
-aus 16 der besten Schlachtschiffe und 23 kleineren Fahrzeugen bestehende
-Flotte vom Meere wegzublasen. Nicht ohne Bitterkeit meinten die
-Gesandten, statt so großartige Pläne zu verfolgen, wäre es vielleicht
-praktischer, ihren im Hafen von Ungama liegenden jämmerlich zugerichteten
-vier Schiffen dazu zu verhelfen, daß sie ihre Schäden möglichst
-rasch ausbessern und dann mit thunlichster Schnelligkeit das Weite suchen
-könnten. Beruhe doch die Möglichkeit, sie vor der so unendlich überlegenen
-feindlichen Flotte zu retten, angesichts der vollständigen Wehrlosigkeit
-Ungamas lediglich auf der höchst unsicheren Hoffnung,
-daß der Feind nicht sofort auf den Gedanken geraten werde, sie dort
-zu suchen.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Für den Moment&ldquo; &mdash; so tröstete einer der Verwaltungschefs die
-geängstigten Diplomaten &mdash; &bdquo;d. h. für wenige Stunden noch haben
-Sie allerdings Recht. Wenn heute vor einbrechender Dunkelheit eine
-abyssinische Übermacht vor Ungama erscheint und den Kampf mit Ihren
-Schiffen sofort aufnimmt, sind diese allerdings menschlicher Voraussicht
-nach verloren. Allein das gilt eben nur für heute. Zeigt sich morgen
-die abyssinische Flotte, so haben wir einen Empfang vorbereitet, der sie
-sicherlich nicht zur Wiederkehr einladen wird.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Wie das?&ldquo; fragten jene wie aus einem Munde. &bdquo;Was thaten
-Sie, was konnten Sie thun zum Schutze der traurigen Überreste unserer
-kürzlich noch so stolzen verbündeten Flotte?&ldquo; Dabei hingen die Blicke
-dieser in ihrem Patriotismus so tief verwundeten Männer mit ängstlicher
-Spannung an den Zügen ihrer Gastfreunde, und trotz meiner
-jungen Zugehörigkeit nach Freiland teilte ich nur zu sehr ihre Empfindungen.
-Du wirst begreifen, daß es uns nicht um die paar Schiffe
-allein zu thun war; aber endlich einen Punkt des Widerstandes gegen
-den frechen Barbaren gefunden zu haben, die Unseren der fernern Notwendigkeit
-beschämender Flucht enthoben zu wissen, das war es, was
-uns als süße Verheißung in den Ohren klang. Man beeilte sich uns
-vollständige Aufklärung zu geben.
-</p>
-
-<p>
-Wie ich Dir bereits erzählte, besitzt die freiländische Unterrichtsverwaltung
-zum Gebrauche der Jugend eine stattliche Anzahl von Geschützen
-verschiedensten Kalibers in allen Teilen des Landes. Die
-größten derselben durchschlagen den stärksten der derzeit in Gebrauch
-befindlichen Schiffspanzer wie ein Kartenblatt; 84 dieser Riesengeschütze
-aus den zunächst der Seeküste gelegenen Distrikten hatte man nun,
-sofort nachdem die ersten Nachrichten eingelaufen, nach Ungama in
-Bewegung gesetzt. Da alle diese Ungetüme ohnehin auf Schienen
-laufen, die mit dem freiländischen Eisenbahnnetze in Verbindung gesetzt
-sind, so waren sie allesamt noch am gleichen Vormittage in Begleitung
-der mit ihrer Behandlung vertrauten Jünglinge unterwegs nach ihrem
-Bestimmungsorte und mußten dort successive am Abend und im Laufe
-<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a>
-der Nacht eintreffen. Da ebenso in Ungama zu Zwecken des gewöhnlichen
-Hafendienstes mehrere mit dem Eisenbahnnetze in Verbindung
-stehende Schienenstränge längs der Seeküste hinlaufen, so können die
-anlangenden Geschütze ohne weiteres sofort in die für sie bestimmten
-Stellungen einfahren, die inzwischen &mdash; gleichfalls noch im Laufe des
-nämlichen Tages &mdash; mit provisorischen Erdwerken versehen werden.
-Späterhin sollen diese Werke auch Panzerdeckung erhalten; fürs erste
-aber, so rechnete die Centralverwaltung, mußten 84 Geschütze erster
-Größe, denen die auf ihnen eingeschossenen besten Kanoniere mitgegeben
-waren, auch ohne sonderliche Deckung genügen, um von zusammengelaufenen
-Abenteurern bemannte Panzerschiffe in respektvoller Entfernung
-zu halten.
-</p>
-
-<p>
-Mich litt es nun nicht länger in Edenthal; nach kurzem Abschiede
-von meinem Vater, nach etwas längerem von meiner Bertha, eilte ich
-nach Ungama, und schon der zweitnächste Tag zeigte, daß die getroffenen
-Schutzmaßregeln weder überflüssig noch ungenügend gewesen waren. Am
-23. August erschienen 5 abyssinische Panzerfregatten und 4 Kanonenboote
-vor Ungama und versuchten, da sie den Ort für wehrlos hielten,
-ohne weiteres in den Hafen einzulaufen, um die dort liegenden Wracks
-der Verbündeten vollends zu zerstören. Ein auf sie aus 10000 Meter
-Entfernung abgegebener scharfer Schuß des größten unserer Panzerbrecher,
-der einen der Schornsteine der vordersten Panzerfregatte wegnahm,
-veranlaßte sie zwar zu etwas größerer Vorsicht, hielt sie jedoch
-in ihrem Laufe nicht auf. Jetzt ließen unsere jungen Kanoniere den
-einmal gewarnten Gegner bis auf 7 Kilometer Distanz herandampfen,
-ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben; dann eröffneten sie aus
-37 Geschützen zugleich das Feuer, welches jedoch nur kurze Zeit währte.
-Schon die erste Salve brachte ein Kanonenboot zum sofortigen Sinken
-und beschädigte die sämtlichen Schiffe so stark, daß die ganze feindliche
-Schlachtlinie in sichtliche Unordnung geriet. Einige Schiffe machten
-Miene, das Feuer der Unseren zu erwidern, andere legten sofort eine
-sichtliche Neigung zum Stoppen und Rückwärtsdampfen an den Tag.
-Zwei Minuten später fegte unsere zweite Salve über die Wogen;
-deutlich konnte man verfolgen, daß diesmal keiner der 37 Schüsse
-fehlgegangen war; alle feindlichen Schiffe zeigten schwere Havarien und
-insgesamt hatten sie die Lust verloren, den ungleichen Kampf weiterzuspinnen.
-Sie gaben Kontredampf und suchten mit möglichster Beschleunigung
-das Weite. Eine dritte und vierte Salve wurde ihnen
-nachgesandt, worauf ein zweites Kanonenboot und die größte der Panzerfregatten
-sank; noch drei weitere Salven fügten dem fliehenden Feinde
-zwar beträchtlichen ferneren Schaden zu, vermochten aber kein Schiff
-mehr zu sofortigem Sinken zu bringen; nur erfuhren wir durch den
-italienischen Aviso, der den abyssinischen Schiffen von weitem nachfolgte,
-<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a>
-daß noch ein drittes Kanonenboot eine Stunde nach Abbruch des Kampfes
-unterging, und daß eine der Panzerfregatten ins Schlepptau genommen
-werden mußte, um den Kugeln unserer Strandbatterien zu entgehen.
-Diese selbst hatten bloß zwei Mann verloren.
-</p>
-
-<p>
-Mit dem Berichte dieser ersten freiländischen Waffenthat, an welcher
-ich jedoch lediglich als staunender Zuschauer teilzunehmen vermochte,
-schließe ich diesen Brief. Wann, wo &mdash; und ob ich Dir einen nächsten
-schreiben werde, weiß allein der Kriegsgott.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-5-10">
-<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a>
-22. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="date">
-Massaua, 25. September.
-</p>
-
-<p class="first">
-Wenn ich mich recht entsinne, sind es genau ein Monat und ein
-Tag, daß ich mein letztes Schreiben an Dich sandte; binnen dieser
-kurzen Frist haben sich Ereignisse abgespielt, welche Euch drüben im
-alten Europa gar mancherlei Überraschungen gebracht haben dürften
-und die &mdash; täusche ich mich über die Absichten meiner neuen Landsleute
-nicht &mdash; in ihren mittelbaren Konsequenzen für die ganze bewohnte
-Erde von entscheidender Tragweite sein werden. Die Freiheit
-der Welt ist es &mdash; so glaube ich &mdash; die auf den Schlachtfeldern des
-Roten Meeres und der Gallaländer gesiegt hat &mdash; nicht bloß über den
-unseligen Johannes von Abyssinien, sondern auch über gar mancherlei
-Tyrannei, die inmitten Euerer sogen. civilisierten Welt geknechtete Völker
-darniederhält. Doch wozu sich in Vermutungen ergehen über Dinge,
-welche die nächste Zukunft schon zur Entscheidung bringen muß; mein
-heutiger Brief dient dem Zwecke, Dich meines ungetrübten Wohlbefindens
-zu versichern und Dir den freiländisch-abyssinischen Feldzug zu schildern,
-den ich vom ersten bis zum letzten Kanonenschusse mitgemacht.
-</p>
-
-<p>
-Am 25. August, also zwei Tage, nachdem der erste Kampf stattgefunden,
-erhielt die Edenthaler Zentralbehörde das Ultimatum des
-Negus, in welchem dieser erklärte, daß er gegen Freiland nichts Böses
-im Schilde führe, sondern die Waffen nur deshalb ergriffen habe, um
-sich und &mdash; Freiland gegen eine europäische Invasion zu schützen, die
-diesem, wie er erfahren habe, aufgenötigt worden sei. Da wir nicht
-die Macht besäßen, seine Feinde von unseren Grenzen fernzuhalten,
-so gebiete ihm die Pflicht der Selbsterhaltung, von uns die Auslieferung
-einiger strategisch wichtiger Punkte zu verlangen. Fügten wir
-uns diesem Begehren, so wolle er unsere Freiheiten und Rechte im
-<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a>
-übrigen schonen, auch den seinen Schiffen bei Ungama zugefügten Schaden
-verzeihen; widersetzten wir uns, so werde er uns mit Krieg überziehen,
-und da er dafür gesorgt, daß uns so rasch keine Hilfe aus
-Europa zu erreichen vermöge, so könne der Ausgang wohl nicht zweifelhaft
-sein. Er habe sich mit einem Occupationsheere von 300000 Mann
-bereits in Bewegung gegen unsere Nordgrenze gesetzt und werde längstens
-binnen Wochenfrist an derselben eintreffen; an uns sei es, ob wir
-ihn als Freund oder Feind empfangen wollten.
-</p>
-
-<p>
-Die Antwort an den Negus lautete dahin, daß er sich zwar in
-seiner Voraussetzung, daß Freiland fremde Truppen aufzunehmen gedachte,
-täusche, da dieses den Engländern, Franzosen und Italienern
-ebensowenig als ihm zu kriegerischen Zwecken die Grenzen offen zu
-halten gesonnen sei; in Frieden mit ihm könnten wir jedoch trotzdem
-nur dann leben, wenn er sich entschließe, auch den genannten europäischen
-Mächten gegenüber Frieden zu halten, und für das ihnen zugefügte
-Unrecht volle Sühne zu leisten. Nicht verschweigen wolle man
-nämlich, daß Freiland im Begriffe sei, mit dessen europäischen Staaten
-einen Freundschaftsvertrag zu schließen, in dessen Sinne es sich dann
-verpflichtet halten würde, die Feinde seiner Freunde auch als die seinigen
-anzusehen. Man warne ihn, Freilands stets an den Tag gelegte
-Friedfertigkeit als Mutlosigkeit oder Schwäche auszulegen. Eine Woche
-Frist solle ihm gelassen werden, um seine drohende Haltung aufzugeben
-und Bürgschaften des Friedens und der Sühne zu stellen. Sollten
-diese bis dahin nicht geboten worden sein, so würde Freiland ihn angreifen,
-wo immer es ihn fände.
-</p>
-
-<p>
-Selbstverständlich gab sich niemand über den Erfolg dieses Notenwechsels
-einer Täuschung hin und mit aller Beschleunigung wurden die
-Rüstungen zum Kriege betrieben.
-</p>
-
-<p>
-Kaum daß Telegraph und Zeitungen die erste Kunde von dem
-abyssinischen Überfalle durch Freiland getragen, trafen von allen Seiten
-Meldungen und Anfragen bei der Zentralverwaltung ein, die Jedermann
-den vollgültigen Beweis lieferten, daß die Bevölkerung des ganzen Landes
-nicht bloß sofort begriffen hatte, ein Krieg sei bevorstehend, sondern
-daß sich auch unmittelbar ohne jeden bevormundenden Eingriff von
-oben, alle jene Faktoren des Widerstandes ganz von selbst in Aktion
-setzten, welche eine auf den Krieg jederzeit gerüstete Militärverwaltung
-nur immer hätte aufbieten können. Freiland mobilisierte sich selber und
-es erwies sich, daß diese selbstdenkende Thätigkeit von Millionen intelligenter,
-dabei aber an durchgreifendes Zusammenwirken gewohnter Köpfe,
-vollkommenere Ergebnisse lieferte, als durch einen noch so weislich erwogenen
-und vorbereiteten behördlichen Mobilisierungsplan auch nur
-entfernt möglich gewesen wäre. Von allen Tausendschaften des Landes
-langten schon im Laufe des ersten Tages Anfragen ein, ob die Zentralstelle
-<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a>
-ihre Mitwirkung für wünschenswert hielte; die Tausendschaften
-erster Klasse aus den zwölf Nord- und Nordostdistrikten, die Baringoländer
-und Leikipia umfassend, zeigten zugleich an, daß sie schon am
-nächsten Tage vollzählig &mdash; bis auf die zufällig verreisten Mitglieder
-&mdash; versammelt sein würden, da sie von der Voraussetzung ausgingen,
-daß die Ausfechtung des Kampfes mit Abyssinien zunächst ihre Sache
-sein werde. Man war nämlich ziemlich allgemein in Freiland der Ansicht,
-daß zur Bekämpfung der Abyssinier zwischen 40000 und 50000
-Mann vollauf genügen würden, und da die Norddistrikte bekanntermaßen
-85 der aus den Distriktsübungen als Sieger hervorgegangene
-Tausendschaften besaßen, so war von Anbeginn Niemand in Zweifel
-darüber, daß diesen allein die Kriegsarbeit zufallen würde. Zwar regte
-sich sicherlich in der Brust gar manchen Jünglings auch in den anderen
-Landesteilen der Thatendrang, aber nirgend zeigte sich das Gelüste,
-durch dessen Geltendmachung dem Lande mehr als nötig Arbeitskräfte
-zu entziehen oder unter Störung des naturgemäßen Mobilisierungsplanes
-entferntere Tausendschaften in den Vordergrund zu schieben. Und
-eben so bereitwillig, als die anderen zurücktraten, als ebenso selbstverständlich
-erachteten es die Norddistrikte, daß sie in Aktion zu treten
-hätten. Nur jene Tausendschaften, die während der letzten Jahre bei
-den großen Aberdarespielen Sieger gewesen waren, äußerten, auch sofern
-sie nicht zu den mobilisierenden Distrikten gehörten, den Wunsch, in die
-Mobilisierung mit einbezogen zu werden; ebenso ersuchten alle Sieger
-in den Einzelübungen der letztjährigen Distrikts- und Landesspiele um
-die Vergünstigung, in die mobilisierten Tausendschaften eingeteilt zu
-werden. Beides wurde bewilligt und es vermehrte sich solcherart das
-zur Verfügung gestellte Material um vier Tausendschaften und 960 Einzelne.
-Damit wären insgesamt 90000 Mann verfügbar gewesen, der
-im Lande herrschenden Ansicht zufolge ungefähr doppelt so viel als erforderlich
-war. Doch auch darauf nahmen die betreffenden Tausendschaften
-sofort aus eigener Initiative Bedacht, indem sie sich durch Vermittlung
-der Zentralverwaltung schon am nächsten Tage darüber einigten,
-bloß die vier letzten Jahrgänge zwischen 22 und 26 Jahren und in diesen
-bloß die Unverheirateten ins Feld zu stellen. Dadurch reducierte sich
-der Mannschaftsstand auf 48000 Mann &mdash; darunter 9500 Berittene
-&mdash; und 180 Geschütze; letzteren wurden nachträglich noch 80 Stücke
-aus dem oberen Naiwaschadistrikt hinzugefügt.
-</p>
-
-<p>
-Diese Truppe besaß von Haus aus schon ihre Anführer bis zum
-Range der Tausendführer. Zwar waren zahlreiche dieser Offiziere
-verheiratet, doch wurde übereinstimmend beschlossen, sie nichtsdestoweniger
-beizubehalten. Die Wahlen der Oberoffiziere fanden, nachdem auch
-die Hundert- und Tausendführer der vier auswärtigen Tausendschaften
-in dem zu diesem Behufe bestimmten Vereinigungspunkte Nordleikipias
-<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a>
-eingetroffen waren, am 23. August statt. Das Oberkommando trugen
-die versammelten Offiziere keinem aus ihrer Mitte, sondern einem als
-Chef der Ukerewebaugesellschaft in Ripon lebenden jungen Ingenieur
-Namens Arago an, der selbstverständlich annahm, sich aber einen
-der Oberbeamten des Verkehrsressorts der Centralverwaltung als
-Generalstabschef ausbat. An diesen wandte ich mich, aus Ungama
-direkt nach Nordleikipia geeilt, mit der Bitte um Aufnahme in den
-Generalstab, die mir, da ich mich über die entsprechenden Kenntnisse
-auszuweisen vermochte, mit Rücksicht auf meine erst kürzlich aufgegebene
-italienische Staatsbürgerschaft bereitwillig zugestanden wurde. Gleichzeitig
-mit mir war auch David eingetroffen, der mir die zärtlichsten
-Grüße und die freudige Zustimmung meiner Braut zu meinem
-Entschlusse brachte, und zugleich erklärte, daß er während des Feldzuges
-nicht von meiner Seite weichen werde.
-</p>
-
-<p>
-Mit Waffen und Munition waren alle Tausendschaften ohnehin
-reichlich versehen; ebensowenig fehlte es an gut eingerittenen und
-geschulten Pferden.
-</p>
-
-<p>
-Die Verpflegung des Heeres wurde den Approvisionierungsgesellschaften
-von Edenthal und Danastadt übergeben. Den technischen
-Dienst &mdash; Pionierwesen, Brückenbau, Feldtelegraphie u. dergl. &mdash;
-übernahmen zwei Associationen aus Central- und Ostbaringo, den
-Transportdienst endlich besorgte die freiländische Centralstelle für diesen
-Verwaltungszweig. Innerhalb der Grenzen Freilands konnte bei der
-hohen Vollendung des Kommunikationsnetzes die Beförderung und
-Verpflegung einer so kleinen Armee natürlich nicht die geringsten
-Schwierigkeiten machen. Da man jedoch keineswegs gesonnen war, die
-Abyssinier zu erwarten, sondern den Krieg in die Gallaländer und nach
-Habesch hinüberzuspielen gedachte, so wurden 5000 Elefanten, 8000
-Kamele, 20000 Pferde und 15000 Büffelochsen für den Lastendienst
-aufgebracht. Zelte, Feldkochgeräte, Konserven u. dergl. mußten
-herbeigeschafft, kurzum Vorsorge getroffen werden, daß die Armee
-auch in den unwirtlichen Gegenden außerhalb Freilands an nichts
-Mangel leide.
-</p>
-
-<p>
-Alle diese Vorbereitungen waren am 29. August vollendet; schon
-zwei Tage vorher hatte Arago 4000 Reiter mit 28 Geschützen über
-den Konsopaß ins benachbarte Wakwafiland gesendet, mit dem Auftrage,
-sich fächerförmig ausbreitend, Fühlung mit den Abyssiniern zu suchen,
-deren Anzug wir auf dieser Seite erwarteten. Um für alle Eventualitäten
-gesichert zu sein, sandte er kleinere Streifkorps von 1200 und 900 Mann
-mit je 8 und 4 Geschützen zur Bewachung der sich nordöstlich und
-nordwestlich von dieser seiner Operationslinie erstreckenden Gebirgszüge
-von Endika und Silali. Am Konsopaß hinterließ er des ferneren eine
-Reserve von 6000 Mann und 20 Geschützen und überschritt am
-<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a>
-30. August mit 36000 Mann und 200 Geschützen die Gallagrenze.
-Um möglichst große Marschleistungen zu erzielen und die Mannschaft
-trotzdem zu schonen, war das Handgepäck aufs äußerste reduciert. Es
-bestand außer den Waffen &mdash; Repetiergewehr, Repetierpistole und
-kurzem, auch als Haubajonett zu gebrauchendem Schwert &mdash; nur aus
-80 Patronen, einer Feldflasche und kleinem, zur Aufnahme <em>einer</em>
-Mahlzeit bestimmten Ranzen. Alle anderen Gepäckstücke trugen Handpferde,
-die den Marschkolonnen unmittelbar folgten und deren auf jede
-Hundertschaft 25 kamen. Dieser der Mannschaft jederzeit zur Verfügung
-stehende sehr bewegliche Train führte wasserdichte Zelte, komplette
-Anzüge und Schuhwerk zum wechseln, Regenmäntel, Konserven und
-Getränke für einige Tage, und eine Patronenreserve für 200 Schuß
-per Mann mit sich. Unsere jungen Leute waren solcherart mit allem
-Nötigen versehen, ohne selber überlastet zu sein und sie legten daher
-an einzelnen Tagen bis zu 40 Kilometer zurück, ohne daß es Marode
-gegeben hätte.
-</p>
-
-<p>
-Die freiländische Centralverwaltung hatte der Armee einen
-Kommissar beigegeben, dessen Amt es war, etwaige Wünsche der
-Heeresleitung, soweit deren Erfüllung Sache der Centralstelle sein
-sollte, entgegenzunehmen; ferner für den Fall, als der Negus sich zu
-Friedensverhandlungen geneigt zeigen sollte, dieselben zu führen; schließlich
-für Sicherheit und Bequemlichkeit der fremden Militärbevollmächtigten
-und Zeitungsreporter Sorge zu tragen, die unseren Kriegszug mitmachten.
-Ein Teil dieser Herren begleitete uns zu Pferde, ein anderer Teil war
-auf Elefanten bequem untergebracht; die meisten folgten dem Hauptquartier,
-welches dieselben über alle Vorkommnisse auf dem Laufenden
-erhielt.
-</p>
-
-<p>
-Am dritten Marschtage, dem zweiten September, verständigte uns
-unsere vorausschwärmende Reiterei, daß sie auf den Feind gestoßen
-sei. Da Arago, bevor er einen entscheidenden Kampf annahm, zuvor
-praktisch erproben wollte, ob er und wir alle nicht etwa doch in einer
-verhängnisvollen Täuschung bezüglich der vorausgesetzten Überlegenheit
-unserer Mannschaften über die feindlichen befangen wären, gab er der
-Vorhut Auftrag, eine forcierte Rekognoscierung vorzunehmen, d. h. den
-Gegner zu möglichst vollständiger Entfaltung seiner Kräfte zu nötigen
-und erst zurückzuweichen, wenn über die Marschrichtung der feindlichen
-Hauptmacht Sicherheit erlangt sei.
-</p>
-
-<p>
-Am 3. September bei grauendem Morgen griffen wir &mdash; ich war
-nämlich auf meinen Wunsch dieser Truppe beigegeben worden &mdash; die
-abyssinische Vorhut bei Ardeb im Flußthale des Dschub an. Diese,
-der unsrigen nicht stark an Zahl überlegen, wurde im ersten Anlauf
-über den Haufen gerannt, ihr sämtliches Geschütz &mdash; 36 Stücke &mdash; nebst
-1800 Gefangenen abgenommen, ohne daß die Unsrigen mehr als fünf
-<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a>
-Mann verloren. Die ganze Affaire dauerte kaum 40 Minuten. Unsere
-Artillerie war der schon auf 6000 Meter Distanz ein wirkungsloses
-Feuer gegen unsere sich entwickelnden Linien eröffnenden abyssinischen
-ohne einen Schuß abzugeben bis auf 2500 Meter entgegengefahren,
-hatte sie von hier aus mit wenigen Salven zum Schweigen gebracht,
-19 Stücke demontiert und die übrigen zum Rückzuge genötigt. Sich
-hierauf gegen die tollkühn heransprengende feindliche Kavallerie wendend,
-hatte sie diese durch einige wohlgezielte Granatschüsse auseinander gesprengt,
-so daß unsere Eskadronen nurmehr die in regelloser Flucht
-Davoneilenden zu verfolgen und die schwache, von der eigenen flüchtenden
-Kavallerie ohnehin schon in heillose Unordnung gebrachte Infanterie
-niederzureiten hatten. Der Rest war dann Verfolgung und Einbringung
-der von panischem Schreck gejagten Gegner, deren Verluste an Toten
-und Verwundeten, wenn auch die unserigen namhaft überragend, im
-Ganzen verhältnismäßig doch nur gering waren.
-</p>
-
-<p>
-Doch damit war bloß das Vorspiel des blutigen Dramas zu Ende.
-Unsere Reiter hatten sich eben gesammelt, und die Gefangenen mitsamt
-den erbeuteten Geschützen unter geringer Bedeckung dem Hauptquartiere
-zugesandt, als sich in der Ferne dichte und immer dichtere Massen des
-Feindes zeigten. Es war dies der gesamte, 65000 Mann mit 120
-Kanonen zählende, linke Flügel der Abyssinier. Zwanzig von unseren
-Kanonen waren auf einer kleinen, die Marschlinie des Feindes dominierenden
-Höhe aufgefahren und gaben von dort um 7 Uhr morgens
-den ersten Schuß auf den Gegner ab. Alsbald sah man die feindlichen
-Infanteriemassen seitlich abbiegen, während unserer Artillerie gegenüber
-successive 90 der abyssinischen Geschütze auffuhren. Der sich nun entspinnende
-Kampf der Kanonen währte eine Stunde, ohne unserer
-Artillerie sonderlichen Schaden zuzufügen, denn die abyssinischen Artilleristen
-trafen auf so große Distanz &mdash; es waren gut 5000 Meter &mdash;
-nur sehr schlecht, während die Granaten der unserigen nach und nach
-34 feindliche Stücke zum Schweigen brachten. Zweimal versuchten es
-die Abyssinier, näher an unsere Position heranzufahren, mußten aber
-beidemal schon nach wenigen Minuten wieder zurückweichen, so mörderisch
-räumten unsere Geschosse bei dieser Annäherung unter ihnen auf. Da
-es so nicht ging, versuchte der Feind unsere Position zu stürmen. Seine
-Infanterie- und Kavalleriemassen hatten sich längs unserer ganzen, sehr
-dünn gestreckten Front entwickelt und kurze Zeit nach 8 Uhr setzte sich
-die gesamte kolossale Übermacht gegen uns in Bewegung.
-</p>
-
-<p>
-Was sich nunmehr abspielte, hätte ich nimmermehr für möglich
-gehalten, trotzdem ich über die Waffengewandtheit der freiländischen
-Elite-Tausendschaften schon so Manches vernommen und auch der spielend
-erfochtene Sieg über die feindliche Vorhut zu hochgespannten Erwartungen
-berechtigte. Ich gestehe, daß ich es für unverantwortlichen Leichtsinn
-<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a>
-und für eine gänzliche Verkennung der ihm vom Oberkommando zugeteilten
-Aufgabe hielt, daß Oberst Ruppert, der Führer unserer kleinen
-Schar, den Kampf annahm und zwar nicht etwa in Form eines Rückzugsgefechtes,
-sondern als regelrechte Schlacht, die, wenn verloren, unfehlbar
-mit der Vernichtung seiner 4000 Mann enden mußte. Denn
-in einer fünf Kilometer umfassenden, die feindlichen Linien sogar um ein
-Geringes überflügelnden dünnen Aufstellung mit nur schwachen Reserven
-im Rücken, hatte er seine Reiter &mdash; sie waren sämtlich abgesessen und
-schossen mit ihren vortrefflichen Karabinern &mdash; entwickelt und erwartete
-die Abyssinier, als ob diese als Tirailleure und nicht in kompakten
-Sturmkolonnen heranrückten. Und diese Sturmkolonnen kannte ich sehr
-wohl, sie hatten bei Erdeb und vor Obok die ihnen an Zahl gleichen
-indischen Veteranen Englands, die bretonischen Grenadiere Frankreichs
-und die Bersaglieri Italiens geworfen, ihre Waffen waren den Freiländischen
-gleichwertig, ihre militärische Disziplin mußte ich der meiner
-gegenwärtigen Kampfgenossen überlegen halten; wie sollte unsere dünne
-Linie dem Ansturme dieser, uns an Zahl sechzehnfach überlegenen kampfgewohnten
-Krieger widerstehen? Sie mußte &mdash; das war meine felsenfeste
-Überzeugung &mdash; in der nächsten Viertelstunde zerreißen, wie ein
-Bindfaden, der einer Lokomotive den Weg versperren will; und dann,
-das konnte jedes Kind sehen, war nach einem Gemetzel von wenigen
-Minuten alles vorbei. Ich nahm im Geiste Abschied von der fernen
-Geliebten, vom Vater &mdash; und auch Deiner, mein Luigi, gedachte ich in
-dieser Stunde, die für meine letzte zu halten ich damals vollen Grund
-zu haben wähnte.
-</p>
-
-<p>
-Und was mich am meisten Wunder nahm: die Freiländer schienen
-insgesamt meine Empfindungen zu teilen; nichts von jener wilden Kampflust
-war in ihren Mienen zu finden, die man doch bei denjenigen voraussetzen
-sollte, die &mdash; überflüssiger Weise &mdash; Einer gegen sechzehn den
-Kampf aufnehmen. Tiefen, düsteren Ernst, ja Widerwillen und Schrecken
-las ich in den sonst so klaren, heiteren Augen dieser freiländischen
-Jünglinge und Männer; es war als sähen sie allesamt gleich mir sicherem
-Tode entgegen. Auch die Offiziere, ja selbst der kommandierende Oberst,
-teilten sichtlich diese unerfreulichen Gefühle &mdash; warum um des Himmelswillen
-nahmen sie dann die Schlacht an? Wenn sie Übles vorher sahen,
-warum zogen sie sich nicht rechtzeitig zurück? Wie sehr aber hatte ich
-diesen Männern Unrecht gethan, wie gründlich Anlaß und Richtung
-ihrer Besorgnisse verkannt! So unglaublich es klingen mag: meine
-Kriegskameraden waren nicht für ihre, sondern für des Gegners Haut
-besorgt, ihnen graute vor dem Gemetzel, das &mdash; nicht ihnen, den Feinden
-bevorstand. Der Gedanke, daß sie, die freien Männer, von armseligen
-Knechten besiegt werden könnten, lag ihnen so fern, als etwa dem Jäger
-der Gedanke, die Hasen könnten ihm gefährlich werden; aber sie sahen
-<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a>
-sich vor der Notwendigkeit, Tausende dieser Bejammernswerten kaltblütig
-niederschießen zu müssen und das erregte ihnen, denen der Mensch das
-Heiligste und Höchste ist, unsäglichen Widerwillen. Hätte man mir das
-<em>vor</em> der Schlacht gesagt, ich hätte es nicht begriffen und jedenfalls für
-Renommisterei gehalten; jetzt, nach dem was ich schaudernd mit erlebt,
-finde ich es begreiflich. Denn, daß ich es nur gleich sage: eine gegen
-freiländische Linien anstürmende und von deren Feuer zerrissene Kolonne
-bietet einen Anblick, der selbst an Massenmord einigermaßen
-gewöhnten Männern, wie mir, das Blut zu Eis gerinnen macht.
-Ich habe den Würgengel des Schlachtfeldes einigemal an der Arbeit
-gesehen und durfte mich daher gegen dessen Schrecken gefeit halten.
-Hier aber ...
-</p>
-
-<p>
-Doch ich will ja nicht meine Gefühle, sondern die Ereignisse
-schildern. Als die Abyssinier uns auf etwa 1½ Kilometer nahe gekommen
-waren, sprengten ein letztesmal Rupperts Adjutanten die Front
-entlang und riefen den Unseren die Losung zu: Schonung! keinen Schuß,
-sobald sie weichen! Dann war es bei uns totenstill, während von jenseits
-stets lauter der Klang der Trommeln und einer wilden Musik, unterbrochen
-zeitweilig von dem gellenden Schlachtrufe der Abyssinier, herübertönte.
-Als die Feinde bis auf 700 Meter etwa herangerückt waren,
-gab unsere Schützenlinie eine einzige Salve ab; als ob ein Pesthauch
-in sie gefahren wäre, so brach die Stirnlinie des Feindes zusammen,
-seine Reihen wankten und mußten sich neu formieren. Kein Schuß
-wurde inzwischen von den Freiländern abgefeuert; als aber die Abyssinier
-unter wildem Schlachtgeschrei abermals, jetzt im Laufschritte vorrückten,
-donnerte eine zweite und da die todeskühnen braunen Krieger diesmal
-über ihr zerschmettertes erstes Glied hinweg den Ansturm fortsetzten,
-eine dritte Salve über das Feld. Mit dieser aber hatten Jene einstweilen
-genug; sie wandten sich zu wilder Flucht, und hielten erst, als
-sie sich außerhalb unserer Schußweite wußten. Auch jetzt hörte unser
-Feuer augenblicklich auf, sowie der Feind sich gewandt hatte, aber es
-war auch hohe Zeit gewesen. Nicht als ob die geringste Gefahr für
-unsere Stellungen aus einer Fortsetzung des Sturmes hätte entstehen
-können; die Abyssinier hatten kaum 100 Meter gewonnen gehabt, waren
-also immer noch gute 600 Meter entfernt gewesen und die Gewißheit,
-daß Keiner von ihnen unsere Front erreicht hätte, erwies sich als augenscheinlich;
-aber gerade diese eigene, jede eigentliche Kampfeserregung
-ausschließende Unnahbarkeit ließ die Gräßlichkeit des unter den Gegnern
-wütenden Gemetzels mit so elementarer Gewalt hervortreten, daß mehr
-als menschliche Nerven dazu gehört hätten, dies Schauspiel längere
-Zeit zu ertragen. Nahe an 1000 Abyssinier waren binnen wenigen
-Minuten tot oder verwundet gefallen und zahlreiche der freiländischen
-Schützen erklärten mir später, sie hätten beim Anblicke der reihenweise
-<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a>
-zusammenbrechenden und am Boden zuckenden Feinde Ohnmachtsanfälle
-gehabt &mdash; was ich vollkommen begreife, da auch mir ernstlich übel
-dabei wurde.
-</p>
-
-<p>
-Die freiländischen Ärzte und Sanitätstruppen waren eben an der
-Arbeit, die verwundeten Gegner vom Schlachtfelde aufzulesen, als die
-abyssinische Artillerie neuerlich den Kampf aufnahm und alsbald auch
-die Infanterie ein rasendes Schnellfeuer eröffnete. Da Letztere sich
-jedoch diesmal vorsichtig in der respektablen Entfernung von ungefähr
-2000 Metern hielt, so war ihr Feuer anfangs ganz ungefährlich und
-wurde daher von den Unseren nicht erwidert; nachgerade aber verirrte
-sich doch die eine oder andere Kugel in unsere Reihen und Oberst
-Ruppert gab daher Befehl, die Zehntführer möchten den Feinden deutlich
-sichtbar mehrere Schritte aus der Front hervortreten und eine Salve abgeben.
-Dieser Wink wurde drüben verstanden; das feindliche Infanteriefeuer
-hörte sofort auf, da die Abyssinier aus der Wirkung dieser einen
-kleinen Salve ersahen, daß die freiländischen Schützen auch auf so große
-Distanz allzu unangenehm werden könnten, als daß es rätlich wäre, sie
-durch ohnehin wirkungsloses Feuer zum Antworten herauszufordern.
-Die zähen Burschen, die offenbar den Gedanken nicht zu ertragen vermochten,
-vor einer so kleinen Minderzahl das Feld zu räumen, formierten
-nun neuerlich einige Sturmkolonnen, diesmal mit schmaler Front und
-von beträchtlicher Tiefe. Doch auch diesen ging es nicht besser als ihren
-Vorgängern, nur daß gegen sie etwas rascheres Feuer abgegeben werden
-mußte; sie wurden mit einem neuerlichen Verluste von 800 Mann nach
-wenigen Minuten zum Weichen gebracht und waren nunmehr zu abermaligem
-Vorgehen nicht mehr zu bewegen. Um die verwundeten
-Abyssinier, die in freiländischer Verpflegung weitaus besser versorgt
-waren, als in der ihrer Landsleute, zu bergen, ließ jetzt Ruppert einen
-Vorstoß bewerkstelligen, vor welchem sich der Gegner eilfertig zurückzog,
-so daß wir unbestritten Herren des Schlachtfeldes blieben. Unsere Verluste
-betrugen 8 Tote und 47 Verwundete; die Abyssinier hatten 360 Tote,
-1480 Verwundete und 39 Kanonen zurückgelassen. Die erste Sorge der
-Unseren war, die Verwundeten &mdash; Freund und Feind mit gleich liebevoller
-Sorgfalt &mdash; in den reichlich vorhandenen und mit sinnreichstem
-Komfort ausgestatteten Sanitätswagen unterzubringen und nach Freiland
-zu in Bewegung zu setzen. Dann wurden die Geschütze und sonstigen
-erbeuteten Waffen geborgen, die Toten begraben.
-</p>
-
-<p>
-Letztere Arbeit war eben vollendet und der Rückzug aufs Hauptquartier
-sollte angetreten werden, als von Westen starke abyssinische
-Heersäulen auftauchten, während gleichzeitig auch der nach Norden abgezogene
-linke Flügel des Feindes wieder sichtbar wurde. Ruppert
-ließ sich dadurch in seiner Absicht nicht beirren. Feindliche Kavalleriemassen
-machten einen stürmischen Versuch, uns zu verfolgen, wurden
-<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a>
-aber von unserer Artillerie rasch zurückgeworfen, und fernerhin unbehelligt
-bewerkstelligten wir unseren Rückzug auf das Hauptkorps.
-</p>
-
-<p>
-Wir wußten nun aus Erfahrung, daß die von uns vorausgesetzte
-Überlegenheit freiländischer Männer über Gegner welcher Art immer
-eine Thatsache sei. Die Abyssinier hatten sich gegen uns so brav geschlagen,
-als je zuvor gegen europäische Truppen; ihre Bewaffnung,
-Disziplin und Schulung, das vieljährige Werk eines ausschließlich
-diesem Zwecke gewidmeten rücksichtslosen Despotismus, ließ &mdash;
-nach europäischen Begriffen &mdash; nichts zu wünschen übrig und
-thatsächlich hatten diese braunen Soldaten sich gleichstarken abendländischen
-Heeren im offenen Felde stets ebenbürtig gezeigt. Wir aber
-hatten eine sechzehnfache Übermacht zum Weichen gebracht, ohne daß
-dabei das Zünglein der Wage auch nur einen Moment geschwankt
-hätte. Daß der Kampf überhaupt so lange währte und nicht viel
-früher schon mit vollständiger Niederlage der Abyssinier endete, lag
-nur daran, daß der Führer der Vorhut sich an die Ordre hielt: den
-Feind zur Entfaltung seiner Kräfte zu nötigen. Hätte er sich statt
-dessen mit voller Wucht sofort auf den Gegner geworfen, ihm <em>nicht</em>
-Zeit zur Entwicklung gelassen, und jeden erlangten Vorteil energisch
-ausgebeutet, so wären die 65000 Mann des linken Flügels der Feinde
-längst zersprengt gewesen, bevor das Zentrum in die Aktion eingreifen
-konnte. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß Oberst Ruppert Unrecht
-that, den Kampf hinhaltend und mehr defensiv zu führen. Ganz abgesehen
-davon, daß doch auch ihm erst im Laufe des Gefechtes der bis
-dahin bloß vermutete hohe Grad freiländischer Überlegenheit zur absoluten
-Gewißheit werden konnte, war es, je zweifelloser der schließliche
-Sieg unserer Sache erschien, desto entschiedener die Pflicht jedes gewissenhaften
-Führers, das Blut unserer freiländischen Jünglinge nicht
-überflüssigerweise um eines Heldenstückleins willen zu vergießen. Er
-mußte gleich uns allen annehmen, daß diese erste Lektion vollkommen
-genügen werde, den Negus darüber aufzuklären, daß eine Fortsetzung
-des Kampfes seinerseits Thorheit wäre.
-</p>
-
-<p>
-Wir hatten aber unsere Rechnung ohne Rücksicht auf den Dünkel
-eines barbarischen Despoten gemacht. Als der dem Hauptquartier
-folgende Kommissär der Centralverwaltung am nächsten Tage Parlamentäre
-ins abyssinische Hauptquartier sandte, um Johannes erklären zu
-lassen, daß Freiland gegen Rückgabe der überrumpelten Festungen und
-Schiffe und gegen Leistung zu vereinbarender Friedensbürgschaften noch
-immer bereit sei, sich mit ihm zu vertragen, empfing dieser die Abgesandten
-hochmütig mit der Frage, ob sie gekommen seien, Unterwerfung
-anzubieten. Weil unsere Vorhut sich schließlich zurückgezogen, gab er
-die Affaire des gestrigen Tages für einen abyssinischen Sieg aus. Die
-Offiziere der zurückgeworfenen 5 Brigaden seines Heeres seien Feiglinge,
-<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a>
-meinte er, wir sollten sehen, wie <em>er</em> sich schlagen werde &mdash; kurzum der
-Verblendete wollte von Nachgiebigkeit nichts hören.
-</p>
-
-<p>
-Am 8. September griffen wir die am Dschubflusse verschanzte
-abyssinische Hauptarmee an. Nach zweistündigem Kampfe war der Feind
-geschlagen, 167000 Mann streckten die Waffen, der Rest eilte in wilder,
-regelloser Flucht den abyssinischen Bergen zu. 10 Tage später lagen
-wir vor den Mauern Massauas, in welche sich der Negus mit den
-Trümmern seines Heeres geworfen.
-</p>
-
-<p>
-Die Zentralverwaltung von Freiland hatte unmittelbar nachdem
-sie die Nachricht von der Wegnahme der Küstenfestungen und der Schiffe
-erhalten, den Bau einer Flotte beschlossen und keine Stunde mit der
-Verwirklichung gezögert. Eine Panzerflotte herzustellen, dazu fehlte
-allerdings die Zeit; sie hielt aber dafür, einer solchen nicht zu bedürfen.
-Was sie plante, war die Konstruktion sehr schnellfahrender Fahrzeuge
-mit so weit tragenden Geschützen, daß ihre Geschosse die fremden Panzerschiffe
-zerstören könnten, ohne daß die Geschosse der Letzteren unsere
-Schiffe zu erreichen vermöchten. Dabei rechnete sie allerdings nicht
-bloß auf die größere Schnelligkeit der Fahrzeuge und die weitere Flugbahn
-der Geschosse, sondern hauptsächlich auf die Überlegenheit unserer
-Artilleristen. Wenn unsere Schiffsmaschinen den Feind immer nur auf
-die uns passend erscheinende Distanz heranließen, so mußte &mdash; das war
-der Kalkül &mdash; den Unseren gelingen, das stärkste feindliche Schiff zu
-vernichten, ehe unsere Fahrzeuge auch nur getroffen werden könnten.
-Um Schiffe von 2000 bis 3500 Tonnen &mdash; so groß sollten unsere
-Kanonenbote sein &mdash; in beliebiger Zahl binnen wenigen Wochen vollkommen
-auszurüsten, dazu genügten, wenn nur mit entsprechender Energie
-daran gegangen wurde und alles gehörig ineinander griff, die freiländischen
-Rhedereien und sonstigen Industrien vollkommen. Schon am
-23. August wurde daher in Ungama der Kiel zu 36 Schiffen gelegt;
-Schiffsmaschinen zwischen 2000 und 3000 Pferdekräften &mdash; von denen
-die größeren Kriegsdampfer bis zu vieren erhalten sollten &mdash; waren
-genügend in den Maschinenwerkstätten Ungamas vorrätig. Aus allen
-freiländischen Schießplätzen wurden die vorzüglichsten und größten Geschütze
-herbeigezogen, 24 neue, alles bisher Erreichte in den Schatten
-stellende Ungetüme in den Gußstahlwerkstätten von Danastadt konstruiert
-und solchergestalt ermöglicht, daß binnen 22 Tagen der letzte Hammerschlag
-und Feilenstrich an der letzten der 36 schwimmenden Kriegsmaschinen
-gethan werden konnte. Die Eleganz der Ausstattung ließ in
-einzelnen Punkten zu wünschen übrig; die Vollkommenheit der technischen
-Ausführung aber war tadellos. Die Fahrzeuge, ziemlich flachbordig
-um den feindlichen Kugeln ein möglichst geringes Ziel zu bieten, waren
-in wasserdichte Kammern geteilt, um selbst durch einige unter der
-Wasserlinie einschlagende Granaten nicht zum Sinken gebracht zu werden;
-<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a>
-da jedes Schiff mindestens zwei vollkommen unabhängig funktionierende
-Maschinen besaß, so war auch eine Lähmung seiner Beweglichkeit nicht
-so leicht zu besorgen; gepanzert, und zwar mit Platten der stärksten
-Art, waren bloß die Pulverkammern. Die verwendeten, durchwegs
-frei beweglich an Deck angebrachten Geschütze wogen zwischen 95 und
-245 Tonnen, und waren den einzelnen Schiffen teils einzeln, teils zu
-zweien und dreien zugeteilt; insgesamt besaßen die 36 Fahrzeuge deren
-78. Das Maximum der Fahrgeschwindigkeit betrug bei den verschiedenen
-Schiffen zwischen 23 und 27 Knoten in der Stunde.
-</p>
-
-<p>
-Da wir den Westmächten versprochen hatten, die den Suezkanal
-sperrende Flotte vor Eintreffen der europäischen Expeditionskorps unschädlich
-zu machen, so mußte geeilt werden, dieses gegebene Wort einzulösen.
-Am 19. September abends bekamen unsere Schiffe eine bei
-Bab-el-Mandeb kreuzende abyssinische Eskadre von 5 Panzern in Sicht.
-Diese, die scharfgebauten Schiffe für Passagierdampfer nehmend, machte
-sofort Jagd auf sie und wunderte sich nicht wenig, daß die so harmlos
-aussehenden Fahrzeuge ihren Kurs unbeirrt fortsetzten. Erst als
-die Abyssinier sich auf 14000 Meter Distanz genähert und nunmehr
-einige der gröbsten Brocken aus unseren Feuerschlünden zu kosten bekamen,
-erkannten sie ihren Irrtum und machten augenblicklich kehrt.
-Das Gros unserer Flotte hielt sich auch mit ihrer Verfolgung nicht
-auf, sondern setzte die Fahrt ins Rote Meer fort; bloß 6 unserer
-größten und zugleich als schnellste Fahrer geltenden Kriegsdampfer eilten
-den Fliehenden nach, brachten deren zwei durch eine Reihe wohlgezielter
-Schüsse, die von den Abyssiniern der großen Distanz halber wirksam
-gar nicht erwidert werden konnten, zum Sinken, und jagten die andern
-auf den Strand. Unsere Schaluppen nahmen von den im Wasser
-treibenden Mannschaften auf, so viel sie nur immer erreichen konnten
-und setzten dann &mdash; die Affaire mit der Bab-el-Mandeb-Eskadre hatte
-bloß 2½ Stunden beansprucht &mdash; den Weg nach Suez fort.
-</p>
-
-<p>
-An Massaua dampfte das Gros unserer Flotte in der Nacht vom
-19. und 20. unbemerkt vorbei; die nachfolgenden 6 Schiffe aber wurden
-im Morgengrauen von einem feindlichen Kreuzer gesehen und verfolgt.
-Da es weder in der Absicht der Unseren lag, sich vor Massaua jetzt
-schon aufzuhalten, noch die dort liegenden abyssinischen Schiffe durch
-eine, ihrem Kreuzer im Vorbeifahren erteilte Lektion vorzeitig zu
-warnen, so beantworteten sie dessen Schüsse nicht, trotzdem einige derselben
-trafen, sondern suchten bloß so rasch als möglich an ihm vorbei
-zu kommen, was auch ohne ernstlichen Schaden gelang. Wie wir später
-erfuhren, wurden sie in Massaua gleichfalls für Postschiffe gehalten, die
-unbegreiflicherweise den Suez bewachenden Kreuzern in die Hände liefen.
-Alles, was der Negus that, war, daß er in den nächsten Nächten vor
-Massaua fleißig kreuzen ließ, um die vermeintlichen 6 Postdampfer, wenn
-<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a>
-sie vor Suez etwa rechtzeitig kehrt machen sollten, diesmal nicht entschlüpfen
-zu lassen.
-</p>
-
-<p>
-Am 22. nachmittags erschien unsere Flotte vor Suez, griff die den
-Kanal bewachenden abyssinischen Schiffe unverzüglich an und bohrte
-drei derselben nach kurzem Gefechte in den Grund. Die anderen, darunter
-drei Panzerfregatten, liefen auf den Strand, wo die Bemannung
-von den ägyptischen Truppen gefangen genommen wurde. Denselben
-Ägyptern lieferte unser Admiral auch die aufgefischten abyssinischen
-Matrosen und Seesoldaten provisorisch aus, wandte sich sofort wieder
-nach Süden und langte am 24. September vor Massaua an.
-</p>
-
-<p>
-Dort waren wir inzwischen unthätig geblieben; wir wußten, daß
-das Eingreifen unserer Schiffe genügen werde, die Feste in kurzem
-Wege zu Falle zu bringen. Als diese auf der Höhe von Massaua erschienen,
-näherten sich ihnen einige kleinere abyssinische Kriegsfahrzeuge.
-Wenige Schüsse jagten sie in die Flucht und nun erst begriff der Negus
-die Situation. Zwar hoffte er noch immer, mit unseren Schiffen fertig
-zu werden; die schreckliche Wirkung der ersten Lagen aus unseren Riesengeschützen
-belehrte ihn und seine Admiralität eines Besseren. Vor den
-herandampfenden schwerfälligen Panzerkolossen stetig zurückweichend gaben
-unsere unerreichbaren Vernichtungsmaschinen ihre Geschosse ab und zwei
-der Fregatten sanken in die Tiefe, bevor nur <em>eine</em> abyssinische Kugel
-ein freiländisches Schiff getroffen hätte. Nun wandten sich die Abyssinier
-zum Rückzuge, aber die Unseren blieben ihnen &mdash; stets in der gleichen
-unnahbaren Distanz &mdash; auf den Fersen und bevor die feindliche Flotte
-den Hafen erreicht hatte, fuhr ein drittes Panzerschiff zu Grunde.
-Doch im Hafen fanden sie so wenig Sicherheit, als auf offenem Meere;
-die schrecklichen Panzerzerschmetterer sandten Kugel auf Kugel hinein;
-ein viertes Schiff versank und ein fünftes; gleichzeitig hämmerten unsere
-Riesengeschosse zermalmend an den Steinquadern der Hafenbastionen &mdash;
-wir erwarteten jeden Moment die weiße Fahne, das Zeichen der Ergebung,
-in Massaua flattern zu sehen. Statt dessen machte der Negus,
-die Unhaltbarkeit der Feste einsehend, von uns jedoch keine Gnade erwartend,
-plötzlich einen verzweifelten Ausfall, um sich in die Berge
-durchzuschlagen. Doch nur unsere äußerste Vorpostenkette gelang es ihm
-zu durchbrechen; vor der ersten freiländischen Linie angelangt, brachten
-einige Salven den Ansturm der Seinen zum Stehen, ihm aber den
-Tod. Die Abyssinier warfen die Waffen weg, der Krieg war beendet.
-</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p class="noindent">
-Hiermit schließen die freiländischen Briefe unseres neuen Landsmannes
-Carlo Falieri an seinen Freund, den Architekten Luigi Cavalotti.
-Die beiden Freunde haben inzwischen den Aufenthalt getauscht;
-Cavalotti ist zu uns nach Freiland übersiedelt, Falieri dagegen wurde,
-<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a>
-kaum daß er mit seinem jungen Weibe einige Wochen seligster Zurückgezogenheit
-auf einer der paradiesischen Ukerewe-Inseln genossen, uns
-zeitweilig wieder entführt. Er folgte einem Rufe seines Geburtslandes,
-welches seiner zu Durchführung jener Reformen zu bedürfen glaubte,
-die in Konsequenz der soeben von ihm geschilderten und der diesen
-folgenden Ereignisse dort wie fast überall in der bewohnten Welt ins
-Werk gesetzt werden sollen. Seine Gattin begleitet ihn auf dieser
-Mission, zu deren Durchführung ihm seitens unserer Centralverwaltung
-die unbegrenzten Hülfsquellen Freilands zur Verfügung gestellt sind.
-Doch damit geraten wir schon in den Bereich jener Begebenheiten, deren
-Darstellung das folgende Buch gewidmet sein soll.
-</p>
-
-<h2 class="part" id="part-6">
-<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a>
-Viertes Buch.
-</h2>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-6-1">
-<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a>
-23. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Die moralische Wirkung unseres abyssinischen Feldzuges war eine
-ungeheure, soweit civilisierte und halbcivilisierte Völker die Kunde davon
-empfingen. Wir selber hatten uns heilsame Folgen davon versprochen
-insofern, als wir voraussahen, daß die vor aller Welt abgelegte
-glänzende Kraftprobe unseren Widersachern Vorsicht und größere
-Geneigtheit beibringen werde, auf unsere gerechten Wünsche einzugehen.
-Doch der Erfolg übertraf unsere kühnsten Erwartungen weitaus.
-Nicht eingeschüchtert, sondern bekehrt wurden die bisherigen Gegner
-der wirtschaftlichen Gerechtigkeit, was indessen mehr uns Freiländer,
-als unsere auswärtigen Freunde zu überraschen schien. Wir vermochten
-nicht recht zu begreifen, warum Leute, die Jahrzehnte lang unsere socialen
-und wirtschaftlichen Bestrebungen für thöricht oder verwerflich
-gehalten hatten, aus der Thatsache, daß unsere jungen Leute sich als
-treffliche Krieger erwiesen, urplötzlich die Schlußfolgerung zogen, es sei
-möglich und nützlich, jedem Arbeitenden den vollen Ertrag seines
-Fleißes zuzuwenden. Uns, die wir unter der Herrschaft der Vernunft
-und Gerechtigkeit lebten, wollte der Zusammenhang zwischen Letzterem
-und der Wirkung unserer Gewehre und Geschütze nicht einleuchten; außerhalb
-Freilands jedoch, wo immer noch physische Gewalt die letzte
-Quelle allen Rechtes war, hielt es ersichtlich Jedermann &mdash; selbst der
-prinzipielle Anhänger unserer Ideen &mdash; für selbstverständlich, daß die
-blitzartig zerschmetternden Schläge, unter deren elementarer Gewalt der
-Negus von Abyssinien erlegen, das untrüglichste <span class="antiqua">Argumentum ad
-hominem</span> für die Vorzüglichkeit unserer gesamten Einrichtungen seien.
-Insbesondere das urplötzliche siegreiche Auftreten unserer Flotte wirkte
-da draußen gleichwie ein entscheidendes Beweismittel dafür, daß die
-wirtschaftliche Gerechtigkeit keine wesenlose Utopie, sondern sehr reelle
-<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a>
-Wirklichkeit sei &mdash; kurzum, unsere kriegerischen Erfolge gestalteten sich zu
-einem Triumphe unserer socialen Einrichtungen. Eine gewaltige fieberhafte
-Bewegung ergriff alle Geister, und mit <em>einem</em> Schlage wollte man
-nun überall verwirklichen, was bis dahin bloß von verhältnismäßig
-Wenigen schüchtern als dereinst zu erreichendes Ideal aufgestellt, von
-Vielen mit Abneigung betrachtet, von den großen Massen aber zumeist
-gänzlich ignoriert worden war.
-</p>
-
-<p>
-Und dabei erwies sich &mdash; was uns nun allerdings wieder <em>nicht</em>
-überraschte &mdash; daß die Ungeduld und das Revolutionsfieber desto heftiger
-waren, je weniger man sich zuvor mit unseren Ideen beschäftigt
-hatte. Die fortgeschrittensten freisinnigsten Völker, deren leitende Staatsmänner
-auch zuvor schon mit uns sympathisiert und gutgemeinte, wenn
-auch zusammenhanglose Versuche unternommen hatten, ihre arbeitenden
-Massen zu wirtschaftlicher Freiheit heranzuziehen, schickten sich in verhältnismäßiger
-Ruhe an, die große ökonomische und sociale Revolution
-unter möglichster Wahrung aller bestehenden Interessen einzuleiten.
-England, Frankreich und Italien, die schon vor Ausbruch des abyssinischen
-Krieges bereit gewesen waren, unsere Einrichtungen &mdash; wenn
-auch vorläufig bloß in ihren ostafrikanischen Besitzungen &mdash; zuzulassen,
-beschlossen nunmehr, ohne daß dazu besondere politische Umwälzungen
-bei ihnen notwendig gewesen wären, sich wegen Überführung ihrer bestehenden
-Institutionen in den unsrigen ähnliche, mit Freiland ins Einvernehmen
-zu setzen, und mehrere andere europäische Staaten, sowie
-ganz Amerika und Australien schlossen sich ihnen unmittelbar an. Dieses
-Ereignis war in den betreffenden Staaten allenthalben von stürmischen
-Ausbrüchen der Volksbegeisterung begleitet; aber mit Ausnahme einiger
-Fensterscheiben litt Niemand Schaden dabei. Gewaltthätiger schon ging
-es in den &bdquo;konservativen&ldquo; Staaten Europas und in einzelnen Ländern
-Asiens her; dort kam es zu heftigen Krawallen, ernstlichen Verfolgungen
-verhaßter Staatsmänner, die vergebens beteuerten, daß nunmehr auch
-sie gegen die wirtschaftliche Gleichberechtigung nichts einzuwenden hätten,
-stellenweise zu Blutvergießen und Vermögenskonfiskationen. Die arbeitenden
-Massen mißtrauten dort den besitzenden Ständen, waren aber selber
-uneinig über den einzuschlagenden Weg, so daß drohender stets und gehässiger
-die Parteien einander entgegentraten. Vollends schlimm aber
-gestalteten sich die Ereignisse dort, wo die Regierungen früher wirklich
-und bewußt volksfeindlich gehandelt, die Besitzenden gegen die Massen
-ausgespielt und Letztere vorsätzlich in Unwissenheit und Verkommenheit
-darniedergehalten hatten. Dort gab es keine intelligente Volksklasse,
-die genügenden Einfluß besessen hätte, sich den Ausbrüchen wütenden
-und unvernünftigen Hasses entgegenzuwerfen; dort wurden Grausamkeiten
-und Scheußlichkeiten aller Art begangen, die einstigen Unterdrücker
-massenhaft abgeschlachtet und es wäre kein Ende der sinn- und
-<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a>
-zwecklosen Gräuel abzusehen gewesen, wenn nicht zum Glücke auch für
-diese Länder unser Ansehen und unsere Autorität schließlich die wütenden
-Massen beruhigt und die Bewegung in geregelte Bahnen geleitet
-hätte. Nachdem eine der in diesen Gebieten sich ohne ersichtliches Ziel
-zerfleischenden Parteien auf den Gedanken geraten war, unsere Intervention
-anzurufen, fand dieses Beispiel allgemeine Nachahmung. Allenthalben
-aus dem Osten Europas, aus Asien und aus einigen afrikanischen
-Staaten richteten die der Anarchie Verfallenen die Bitte an uns, ihnen
-Kommissäre zu senden, denen man unumschränkte Gewalt einräumen
-wolle. Wir willfahrteten dem natürlich aufs bereitwilligste und diese
-freiländischen Kommissäre begegneten thatsächlich allenthalben jenem
-ungeteilten Vertrauen, das zur Herstellung der Ruhe erforderlich war.
-</p>
-
-<p>
-Inzwischen hatten sich aber auch jene Staaten, die von Anbeginn
-besonnen vorgegangen waren, freiländische Vertrauensmänner erbeten,
-die ihren Regierungen bei Anbahnung der beabsichtigten Reformen mit
-Rat und That behülflich sein sollten. Wir sagen nicht ohne Grund:
-mit Rat und <em>That</em>, denn das freiländische Volk hatte, sowie es erkannt,
-daß man seine Mitwirkung in Anspruch nehmen werde, den
-Beschluß gefaßt, seinen Delegierten &mdash; sie mochten nun als beratende
-Mitglieder einer fremden Regierung oder als mit unumschränkter Gewalt
-ausgerüstete Kommissäre auftreten, das Verfügungsrecht über die
-materiellen Hülfsquellen Freilands zu Gunsten der sie berufenden Völker
-einzuräumen, denen diese Summen übrigens nicht schenkungs-, sondern
-leihweise zufließen sollten. Der Edenthaler Centralverwaltung wurde
-zwar formell das Recht vorbehalten, von Fall zu Fall über die von
-diesen Delegierten angemeldeten Geldforderungen zu entscheiden; da
-jedoch als Prinzip aufgestellt war, daß jede notwendige Hülfe zu gewähren
-sei, über die Notwendigkeit der Hülfeleistung aber zumeist doch
-nur die an Ort und Stelle Befindlichen urteilen konnten, so lag thatsächlich
-in Händen dieser Kommissäre und Vertrauensmänner das diskretionäre
-Verfügungsrecht über die flüssig gemachten Kapitalien.
-</p>
-
-<p>
-Daß wir aber in der Lage waren, einem solchen, binnen wenigen
-Monaten nahe an 2 Milliarden Pfd. Sterling erreichenden Bedarfe
-sofort zu entsprechen, erklärt sich daraus, daß unsere freiländische Versicherungsabteilung
-ungefähr den fünften Teil ihrer derzeit 10 Milliarden
-überschreitenden Reserven in allezeit flüssiger Form zur Disposition
-hatte. Die anderen vier Fünftel waren arbeitend angelegt, d. h. den
-Associationen sowohl als dem Gemeinwesen zu mannigfaltigen Investitionen
-leihweise überlassen; ein Fünftel aber wurde als für alle
-Fälle bereiter Stock in den Magazinen der Bank zurückgelegt und
-konnte jetzt dem plötzlich aufgetauchten Kapitalbedarfe dienen. Selbstverständlich
-ist, daß diese Reserve nicht in Form von Gold oder Silber
-hinterlegt war, da sie sich in diesem Falle als unbrauchbar in der
-<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a>
-Stunde eines eventuellen Bedarfs erwiesen hätte. Nicht Gold oder
-Silber, sondern ganz andere Dinge sind es, die in Zeiten der Not
-gefordert werden; die Edelmetalle können bloß als geeignete Mittel
-dienen, um diese eigentlich benötigten Dinge sich zu verschaffen; damit
-Letzteres jedoch geschehen könne, wird vorausgesetzt, daß sie in entsprechender
-Menge überhaupt irgendwo vorhanden seien, was bei einem
-plötzlich auftretenden Bedarfe von außergewöhnlichem Umfange eben <em>nicht</em>
-angenommen werden darf. Wer plötzlich Waren im Gesamtwerte von
-Milliarden braucht, der wird dieselben nirgend <em>kaufen</em> können, weil
-sie nirgend vorrätig sein werden; will er auch im Falle solchen Bedarfes
-vor Not geschützt sein, so muß er nicht das Geld zum Einkaufe,
-sondern die voraussichtlich erforderlichen Güter selber vorrätig halten.
-Was hätte es z. B. den Russen, welche die Getreidespeicher ihrer
-Gutsherren, die Warenmagazine ihrer Kaufleute, die Maschinen in ihren
-Fabriken verbrannt und zerstört hatten, genützt, wenn wir ihnen die
-Milliarden Rubel, deren sie zur Ersetzung sowohl als zur Vermehrung
-dieser vernichteten Dinge bedurften, in Form von Geld zur Verfügung
-gestellt hätten? Nirgend gab es entbehrliche Vorräte, die sie hätten
-kaufen können; wären sie mit unserem Gelde auf den Märkten erschienen,
-so hätte dies zum ausschließlichen Erfolge gehabt, daß alle Preise gestiegen
-und ihre Not sich allen Nachbarvölkern mitgeteilt hätte. Und
-ebenso bedurften auch alle andere Nationen, die wir in ihrem Bestreben
-unterstützen wollten, möglichst rasch aus ihrem bisherigen Elend zu
-einem dem unsrigen ähnlichen Reichtume zu gelangen, nicht vermehrter
-Geldmittel, sondern vermehrter Nahrungsmittel, Rohstoffe, Werkzeuge.
-Und in Form solcher Dinge hatten wir denn auch unsere Reserven
-angelegt. Ungefähr die Hälfte derselben bestand stets aus Getreide,
-die andere Hälfte aus verschiedenen Rohmaterialien, insbesondere Webestoffen
-und Metallen. Als daher unser Kommissär in Rußland successive
-285 Millionen Pfund forderte, erhielt er von uns nicht einen Heller
-Geld, wohl aber 3040 Schiffsladungen Weizen, Wolle, Eisen, Kupfer,
-Hölzer u. dgl. zugesendet, was zur Folge hatte, daß das verwüstete
-Land an nichts Mangel litt, vielmehr schon wenige Monate nachher
-&mdash; allerdings weniger infolge dieser ihm dargeliehenen Schätze, als
-vielmehr der in freiländischem Geiste durchgeführten Verwendung derselben
-&mdash; sich eines Wohlstandes erfreute, den man dort noch vor
-kurzem kaum im Traume für möglich gehalten hätte. In ähnlicher
-Weise machten wir auch anderen Nationen der Erde unsere Vorräte
-nutzbar und waren für den Fall, als diese nicht genügen sollten, entschlossen,
-aus den Erträgen der kommenden Jahre das Fehlende zu
-ersetzen.
-</p>
-
-<p>
-Doch gedachten wir keineswegs diese uns zugefallene Rolle der
-ökonomischen und socialen Vorsehung der Brudervölker länger als unumgänglich
-<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a>
-notwendig zu bewahren. Nicht weil wir die Verantwortung
-oder Last scheuten, sondern weil wir es in jeder Beziehung und im
-allseitigen Interesse für das Beste hielten, wenn der soziale Umgestaltungsprozeß,
-welchem nunmehr die gesamte Menschheit entgegenging, von
-dieser auch mit gesammelten Kräften nach gemeinsam wohl erwogenem
-Plane ins Werk gesetzt werde, beschlossen wir, ungesäumt die Nationen
-der Erde zu einer Beratung nach Edenthal einzuladen, in welcher erörtert
-werden solle, was nunmehr zu geschehen habe. Unsere Meinung
-dabei war nicht, daß dieser Kongreß bindende Beschlüsse zu fassen hätte;
-es möge, so beantragten wir, jedem Volke unbenommen bleiben, aus
-den Beratungen des Kongresses die ihm beliebigen Konsequenzen zu
-ziehen; nützlich aber, das war unsere Ansicht, würde es für alle Fälle
-sein, zu wissen, wie die Gesamtheit über die im Zuge befindliche Bewegung
-dächte.
-</p>
-
-<p>
-Auf ernstlichen Widerstand stieß diese Anregung nirgend. Insbesondere
-bei den zurückgebliebeneren Völkern des Ostens machte sich
-zwar eine starke dahingehende Strömung geltend, man möge die Zeit
-nicht mit nutzlosen Reden vertrödeln, sondern einfach thun, was wir
-Freiländer vorschlagen würden; sie ihrerseits, so thaten uns die konstituierenden
-Versammlungen mehrerer &mdash; und nicht gerade der kleinsten
-&mdash; Nationen zu wissen, würden doch nur auf uns hören, der Kongreß
-möge sagen, was er wolle. Doch bedurfte es bloß des Hinweises
-darauf, daß wir, um ihnen zu raten, sie doch auch hören müßten und
-daß uns hierzu der Kongreß das geeignetste Forum scheine, um sie zu
-dessen Beschickung zu veranlassen. Auch konnten wir nicht verhindern,
-daß viele von den nach Edenthal entsendeten Delegierten die bindende
-Instruktion auf den Weg erhielten, bei allen Abstimmungen unbedingt
-mit uns Freiländern zu gehen, welche Instruktion sich jedoch insofern
-gegenstandlos erwies, als der Kongreß überhaupt nur über Formfragen
-abstimmte, sonst aber bloß beriet, es Jedermann anheimgebend, sich
-die Diskussionsresultate selber zu bilden.
-</p>
-
-<p>
-Dagegen hatte sich gerade inmitten der vorgeschrittensten Länder
-eine, wenn auch der Zahl nach geringe, Opposition wiedereingestellt,
-die zwar das Prinzip der wirtschaftlichen Gerechtigkeit in seiner Allgemeinheit
-anerkannte, jedoch eine ganze Reihe angeblich &bdquo;praktischer&ldquo;
-Bedenken gegen dessen durchgreifende Verwirklichung geltend machte.
-Diese Opposition hätte, auf ihre eigenen Kräfte angewiesen, nirgend
-vermocht, ein Mandat für den Welt-Kongreß zu erlangen; sie fand
-aber allerorten kräftige Fürsprecher &mdash; in den freiländischen Vertrauensmännern
-und Kommissären, die, durchaus im Einklang mit der öffentlichen
-Meinung Freilands, das Bestreben verfolgten, wo möglich jeder
-namhafteren Parteirichtung eine Vertretung zu sichern, damit selbst die
-etwa vorhandenen offenen Anhänger der überlebten, alten Wirtschaftsordnung
-<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a>
-kein Recht hätten, darüber Klage zu führen, daß man sie nicht
-hätte zu Worte kommen lassen. 68 Nationen waren zur Teilnahme
-am Kongresse geladen worden; die Anzahl der zu entsendenden Delegierten
-blieb dem Belieben der Geladenen überlassen, nur wurde gebeten,
-die Zahl von je zehn Abgesandten nicht zu überschreiten; thatsächlich
-wählten die 68 Länder insgesamt 425 Delegierte, was mit den 12 am
-Kongresse gleichfalls teilnehmenden Chefs der freiländischen Verwaltung
-eine Gesamtzahl von 437 Kongreßmitgliedern ergab.
-</p>
-
-<p>
-Am 3. März des 26. Jahres nach der Gründung von Freiland
-versammelte sich der Kongreß im großen Saale des Edenthaler Volkspalastes.
-Auf der Rechten saßen die Zweifler an der allgemeinen
-Durchführbarkeit der im Zuge befindlichen Reformen, im Centrum die
-Anhänger Freilands, auf der Linken die Radikalen, denen die gewaltsamsten
-Mittel die besten schienen. Den Vorsitz führte der Chef der
-freiländischen Präsidialabteilung, welches Amt seit Gründung des Gemeinwesens
-ununterbrochen Dr. Strahl verwaltet hatte. Wir lassen
-nunmehr den Verlauf der fünftägigen Diskussion auszugsweise an der
-Hand der Sitzungsprotokolle folgen.
-</p>
-
-<p class="hdr">
-<span class="line1">Erster Verhandlungstag.</span>
-</p>
-
-<p class="first">
-Der <em>Vorsitzende</em> begrüßt namens des freiländischen Volkes die
-auf dessen Einladung herbeigeeilten Abgesandten der sämtlichen Brudernationen
-der Erde und fährt dann fort:
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Um einiges, wenn auch nicht gerade strenges und starres System
-in den Gang der Beratungen zu bringen, schlage ich vor, daß wir
-von Anbeginn eine gewisse Reihenfolge der zu behandelnden Fragen
-feststellen; Abschweifungen von dieser Reihenfolge werden allerdings
-nicht immer zu vermeiden sein; aber als nützlich dürfte es sich für
-alle Fälle erweisen, wenn die Redner zum mindesten das Bestreben
-zeigen, möglichst nur zu dem gerade in Verhandlung stehenden Gegenstande
-zu sprechen. Um die Diskussion dieser Formfrage abzukürzen,
-hat die freiländische Verwaltung sich erlaubt, eine Art Tagesordnung
-auszuarbeiten, die Sie annehmen, amendieren oder auch verwerfen
-können; die in diese Tagesordnung aufgenommenen Diskussionsstoffe
-sind jedoch, wie ich sofort bemerken will, nicht unserer hierortigen
-Initiative entsprungen, sondern wurden uns von den Führern der verschiedenen
-ausländischen Parteien als näherer Aufklärung bedürftig bezeichnet;
-wir unserseits begnügten uns damit, System in diese uns vorgelegten
-Fragen zu bringen. Wir schlagen also folgende Reihenfolge
-der Verhandlungsgegenstände vor:
-</p>
-
-<p>
-1. Wie erklärt sich die Thatsache, daß es im geschichtlichen Verlaufe
-vor Gründung Freilands noch niemals gelungen ist, ein Gemeinwesen
-<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a>
-auf den Prinzipien der wirtschaftlichen Gerechtigkeit und Freiheit
-einzurichten?
-</p>
-
-<p>
-2. Ist der Erfolg der freiländischen Institutionen nicht etwa bloß
-auf das ausnahmsweise und daher vielleicht vorübergehende Zusammenwirken
-besonders günstiger Verhältnisse zurückzuführen oder beruhen
-dieselben auf überall vorhandenen, in der menschlichen Natur begründeten
-Voraussetzungen?
-</p>
-
-<p>
-3. Sind Not und Elend nicht etwa Naturnotwendigkeiten und
-müßte nicht Übervölkerung eintreten, wenn es vorübergehend gelänge,
-das Elend allgemein zu beseitigen?
-</p>
-
-<p>
-4. Ist es möglich, die Institutionen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-überall unter Schonung der erworbenen Rechte und überkommener
-Interessen zur Durchführung zu bringen; und wenn dies möglich ist,
-welches sind die geeigneten Mittel hierzu?
-</p>
-
-<p>
-Hat jemand zu diesem unserem Vorschlage eine Bemerkung zu
-machen? Es ist nicht der Fall. Ich setze also Punkt 1 auf die Tagesordnung
-und erteile dem Abgeordneten Erasmus Kraft das Wort.
-</p>
-
-<p>
-<em>Erasmus Kraft</em> (Rechte). Wir schicken uns allenthalben, so weit
-denkende Menschen den Erdball bewohnen, an, den Zustand der Knechtschaft
-und des Elends, in welchem, so weit menschliche Erinnerung zurückreicht,
-unsere Rasse gefangen war, mit einer glücklicheren Ordnung
-der Dinge zu vertauschen. Das leuchtende Beispiel, welches wir hier
-in Freiland vor Augen haben, scheint dafür zu sprechen, daß der Versuch
-gelingen werde, gelingen müsse. Doch je deutlicher sich diese Perspektive
-uns darstellt, desto dringender, unabweislicher wird die Frage,
-warum das, was sich jetzt vollziehen soll, nicht schon längst geschehen,
-warum der Genius der Menschlichkeit so lange geschlafen, ehe er sich
-zur Vollbringung dieses segensreichen Werkes aufraffte. Wir sehen, daß
-es genügt, Jedermann den vollen Genuß dessen, was er erzeugt, zu
-gönnen, um Jedermann Überfluß zu verschaffen, und trotzdem hat man
-ungezählte Jahrtausende hindurch grenzenloses Elend mit all seinem Gefolge
-von Jammer und Verbrechen geduldig ertragen, als wären sie unabweisliche
-Naturnotwendigkeiten. Woran liegt das? Sind wir klüger,
-weiser, gerechter als alle unsere Vorfahren, oder befinden wir uns trotz
-all der scheinbar untrüglichen Beweise, die für das Gelingen unseres
-Werkes sprechen, nicht vielleicht doch im Irrtume? Die zum größten,
-wichtigsten Teile allerdings in das Dunkel der Urzeit gehüllte Geschichte
-der Menschheit ist so alt, daß schwerlich anzunehmen ist, eine so wichtige,
-dem brennendsten Wunsche jeglicher Kreatur entsprechende Bestrebung,
-wie diejenige nach materiellem Wohlbefinden aller, trete jetzt zum
-ersten Male in die Erscheinung; sie muß nicht <em>einmal</em>, wiederholt
-schon hervorgetreten sein, auch wenn keinerlei Überlieferung uns darüber
-Verläßliches erzählt. Wo aber sind ihre Erfolge? Oder waren vielleicht
-<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a>
-solche Erfolge vorhanden, auch wenn wir nichts davon wissen, ist
-die Erzählung vom goldenen Zeitalter mehr als eine fromme Fabel und
-sind wir etwa im Begriffe, neuerdings ein solches heraufzubeschwören?
-Dann aber taucht wieder die Frage auf, von welcher Dauer dieses Zeitalter
-sein, ob ihm nicht abermals das eherne und eiserne folgen werden
-&mdash; vielleicht in traurigerer schrecklicherer Gestalt als jenes gezeigt, von
-welchem Abschied zu nehmen wir uns eben anschicken. Ich will es, dem
-Winke des verehrten Vorsitzenden gehorchend, vermeiden, jetzt schon die
-möglichen Ursachen eines solchen Rückfalls in verdoppeltes Elend zu
-untersuchen, da dies das Thema des dritten Punktes der Tagesordnung
-sein wird; auch glaube ich, daß, bevor wir an die Klarlegung aller
-denkbaren Konsequenzen eines Gelingens unserer Bestrebungen schreiten,
-sehr zweckentsprechend zunächst festgestellt werden sollte, <em>ob</em> diese denn
-auch wirklich und in vollem Umfange gelingen werden, zu welchem Behufe
-hinwieder die Klarlegung der Frage ersprießlich ist, warum dieselbe
-bisher niemals gelungen, ja vielleicht niemals versucht worden sind.
-</p>
-
-<p>
-<em>Christian Castor</em> (Centrum). Der Vorredner irrt, wenn er behauptet,
-im geschichtlichen Verlaufe der letzten Jahrtausende sei es zu
-keinerlei ernsthaftem Versuche einer Verwirklichung des Prinzips der
-wirtschaftlichen Gerechtigkeit gekommen. Einer der großartigsten Versuche
-dieser Art ist das Christentum. Wer die Evangelien kennt, muß
-wissen, daß Christus und seine Apostel die Ausbeutung des Menschen
-durch den Menschen verdammen; das Wort der Schrift: &bdquo;Wehe dem,
-der sich mästet vom Schweiße seines Bruders&ldquo; enthält schon im Keime
-den ganzen Kodex des freiländischen Rechts und alles, was wir nunmehr
-ins Werk zu setzen bestrebt sind. Daß das offizielle Christentum späterhin
-seine sociale Befreiungsarbeit fallen ließ, ist allerdings richtig, aber
-einzelne Kirchenväter haben immer und immer wieder, gestützt auf die
-heiligen Texte, die ursprünglichen Absichten Christi zu verwirklichen gestrebt.
-Und daß es im ganzen Verlaufe des Mittelalters wie später
-in der Neuzeit an zum Teil sehr energischen Versuchen zur Verwirklichung
-des christlichen Ideals niemals gefehlt hat, ist gleichfalls bekannt.
-Das wollte ich zunächst hervorheben. Die Beleuchtung der Frage, warum
-alle diese Versuche Schiffbruch litten, überlasse ich anderen bewährteren
-Kräften.
-</p>
-
-<p>
-<em>Wladimir Ossip</em> (Linke). Fern sei es von mir, den edlen Stifter
-des Christentums mit dem, was später aus seiner Lehre gemacht wurde,
-zu verwechseln; aber unser Freund aus der amerikanischen Union geht
-meines Erachtens doch zu weit, wenn er ihn und seine Nachfolger als
-<em>unsere</em> Vorgänger hinstellen will. Wir verkünden das Glück und die
-Freiheit, Christus predigte Entsagung und Demut; wir wollen den Reichtum,
-er die Armut Aller; wir beschäftigen uns mit den Dingen dieser
-Erde, er hat das Jenseits vor Augen; wir sind &mdash; um es kurz zu
-<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a>
-sagen &mdash; Revolutionäre, wenn auch friedliche, er ist ein Religionsstifter.
-Lassen wir die Religion; ich glaube, es kann zu nichts führen, sich in
-Fragen des Mein und Dein auf das Christentum zu berufen.
-</p>
-
-<p>
-<em>Lionel Acosta</em> (Centrum). Ich bin diesfalls durchaus anderer
-Meinung als mein geehrter Herr Vorredner und schließe mich dem
-Kollegen aus Nordamerika an. Die Lehre Christi ist die reinste,
-edelste, wenn auch über Mittel und Ziele noch nicht klar bewußte
-Verkündigung der socialen Freiheit, die bisher gehört worden ist, und
-diese Verkündigung der socialen Befreiung, nicht religiöse Neuerungen,
-sind der Inhalt der &bdquo;guten Botschaft&ldquo;; Christus für einen Religionsstifter
-statt für einen socialen Reformator auszugeben, eine Lehre, die
-im Fluge die Herzen der unterdrückten Massen gewonnen, weil sie
-ihnen Abhülfe ihrer Leiden versprach, zu einem Einschläferungsmittel
-ihrer erwachenden Energie zu gebrauchen, war das Meisterstück der
-Verknechtungskunst. Christus hat sich mit Religion gar nicht beschäftigt,
-keine Zeile der Evangelien enthält auch nur eine Spur davon, daß er
-an den alten religiösen Satzungen seines Landes rüttelte; der frömmste,
-eifrigste Jude kann seinen Kindern unbedenklich die Evangelien zu lesen
-geben, sie werden nichts darin finden, was ihr religiöses Gefühl verletzt.
-(Eine Stimme: Warum wurde aber dann Christus ans Kreuz geschlagen?)
-Man fragt mich, warum Christus von den Juden gekreuzigt
-wurde, wenn er nichts gegen das mosaische Gesetz unternommen hatte.
-Ja mordet man denn <em>bloß</em> aus religiösen Gründen? Christus wurde
-zum Tode geschleift, weil er ein <em>socialer</em>, nicht weil er ein religiöser
-Neuerer war, und nicht die Frommen, sondern die Mächtigen
-unter den Juden haben seinen Tod gefordert. Darüber auch nur ein
-Wort zu verlieren ist in den Augen all jener durchaus überflüssig,
-welche die weltbewegenden Begebenheiten jener traurigsten und doch
-zugleich glorreichsten Tage Israels, in denen der edelste seiner Söhne
-den freiwillig gesuchten Märtyrertod fand, unbefangen betrachten.
-Zunächst ist es eine wohlbeglaubigte geschichtliche Thatsache, daß im
-Judäa der damaligen Zeit für religiöse Sektirerei ebenso wenig auf
-Tod erkannt wurde, wie etwa in Europa des letzten Jahrhunderts.
-Zum zweiten spricht die Art der Hinrichtung, das den Juden ganz
-unbekannte Kreuz, dafür, daß Christus nach römischem, nicht nach
-jüdischem Recht gerichtet wurde; die Römer, dieses in religiöser Beziehung
-toleranteste aller Völker, hätten aber erst recht wegen religiöser
-Neuerungen Niemand zum Tode gebracht; sie hätten die Hinrichtung
-keineswegs geduldet, geschweige denn selber das Urteil gesprochen und
-in ihrer Art vollzogen; das Kreuz war bei ihnen die Strafe <em>aufrührerischer
-Sklaven</em> oder ihrer <em>Verführer</em>.
-</p>
-
-<p>
-Ich sage das nicht, um die Verantwortung für Christi Tod von
-Juda abzuwälzen; es ist jedes Volkes trauriges Privilegium, der Henker
-<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a>
-seiner Edelsten zu sein, und gleichwie Niemand anders als die Athener
-Sokrates tötete, so hat auch Niemand anders als die Juden Christus
-getötet; der Römer war nur das Werkzeug des jüdischen Hasses, doch
-wohlverstanden des Hasses der um ihre Besitztümer zitternden Reichen
-unter den damaligen Juden, die den &bdquo;Verführer des Volkes&ldquo; dem
-Statthalter denunzierten. Ja, es ist auch durchaus glaubhaft, daß
-dieser letztere sich nicht bereitwillig zeigte, auf die Wünsche der geängstigten
-Denunzianten einzugehen, denn er, der Römer, der im
-niemals erschütterten Glauben an seine starre Eigentumsordnung Aufgewachsene,
-verstand die Bedeutung und Tragweite der socialen Lehre
-Christi gar nicht. Er hielt ihn &mdash; die Evangelien lassen darüber kaum
-einen Zweifel und es wäre im Grunde genommen anders auch schwer
-zu begreifen &mdash; für einen harmlosen Schwärmer, den man mit ein
-paar Rutenstreichen laufen lassen könnte. Generationen mußten vergehen,
-bis die <em>römische</em> Welt erkennen lernte, was die Lehre Christi eigentlich
-zu bedeuten habe &mdash; dann aber fiel sie auch mit einer Wut sonder
-gleichen über ihre Anhänger her, kreuzigte sie, warf sie den Bestien
-vor, kurz that alles, was Rom niemals gegen abweichende Religionen,
-stets aber gegen die Feinde seiner Rechts- und Eigentumsordnung that.
-Anders die <em>jüdische</em> Aristokratie; diese begriff Sinn und Tragweite
-der christlichen Propaganda sofort, denn im Pentateuch wie in den
-Lehren der früheren Propheten hatte sie längst schon die Keime dieser
-socialen Forderungen kennen gelernt. Das Jubeljahr, welches neuerliche
-Grundverteilung nach je 49 Jahren forderte, die Bestimmung, daß
-alle Knechte im siebenten Jahre freizulassen seien, was waren sie
-anderes, als die Vorläufer der von Christus verlangten allgemeinen
-Gleichheit. Ob all diese in den heiligen Schriften des alten Juda
-niedergelegten socialen Gedanken jemals zu praktischer Durchführung
-gelangt waren, ist mehr als zweifelhaft, aber bekannt und geläufig
-waren sie längst jedem Juden, und als Christus daher den Versuch
-machte, sie ins praktische Leben einzuführen, als er in gewaltigen, hinreißenden
-Reden Wehe über den Reichen rief, der sich vom Schweiße
-seines Bruders mäste, da erkannten die Mächtigen in Jerusalem sofort
-die ihren Interessen drohende Gefahr, welche ihren nicht jüdischen
-Standesgenossen erst viel später klar wurde. Es unterliegt auch nicht
-dem geringsten Zweifel, daß sie dem römischen Statthalter gegenüber
-aus der wahren Beschaffenheit ihrer Besorgnisse kein Hehl machten,
-denn nicht als Sektierer, als Aufwiegler wurde Christus hingerichtet.
-</p>
-
-<p>
-Dem Volke aber konnte ebenso selbstverständlich nicht gesagt werden,
-daß man den Tod Christi fordere, weil er die in den heiligen Büchern
-niedergelegte und von den Propheten oft genug geforderte Gleichheit
-praktisch verwirklichen wolle; diesem mußte das Märlein von den
-religiösen Ketzereien des Nazareners aufgetischt werden, welches Märlein
-<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a>
-indessen &mdash; abgesehen von dem bei der Hinrichtung zusammengelaufenen
-urteilslosen Pöbel &mdash; lange Zeit nirgend Glauben fand. Als gut
-jüdisch galten die ersten Christengemeinden allenthalben in Israel, als
-&bdquo;judaei&ldquo; werden sie uns von allen römischen Schriftstellern genannt,
-in denen ihrer Erwähnung geschieht. Was sie wirklich waren, wodurch
-allein sie sich von den anderen Judengemeinden unterschieden,
-darüber ist &mdash; trotz aller anfangs aus leicht begreiflichen Gründen
-beobachteten Vorsicht und trotz der später, aus ebenso begreiflichen
-Gründen geübten Fälschungen &mdash; in den Apostelgeschichten Genügendes
-auf uns gekommen. Socialisten, ja zum Teil Kommunisten waren sie;
-absolute wirtschaftliche Gleichheit, Gütergemeinschaft wurde in ihnen
-geübt. Später erst, als die christliche Kirche unter Preisgebung ihres
-socialen Inhalts Frieden mit der Staatsgewalt geschlossen, aus einer
-grausam verfolgten Märtyrerin der Gleichheit, sich in ein Werkzeug der
-Herrschaft und zwar vielleicht gerade wegen dieses Renegatentums,
-doppelt verfolgungssüchtiger Herrschaft, umgewandelt hatte, erst von da
-ab suchte sie selber die tückische Verleumdung ihrer einstigen Ankläger
-hervor, spielte sich selber als neue Religion aus &mdash; was sie seither
-in der That auch geworden ist. Und daß es ihr gelang, durch länger
-als anderthalb Jahrtausende diese ihre neue Rolle mit dem Namen
-Christi in Verbindung zu erhalten, ist zum weitaus überwiegenden
-Teile allerdings die Schuld des jüdischen Stammes, der durch die
-blutigen Verfolgungen, die unter Berufung auf den milden Dulder von
-Golgata gegen ihn verübt wurden, sich zu blindem, thörichtem Hasse
-gegen diesen seinen größten und edelsten Sohn verleiten ließ.
-</p>
-
-<p>
-Aber deshalb bleibt es nicht minder wahr, daß Christus für die
-Idee der socialen Gerechtigkeit und nur für diese den Tod erlitten, ja
-daß diese Idee schon vor ihm dem Judentume nicht unbekannt war.
-Und ebenso wahr ist, daß trotz aller nachträglichen Verdunkelung und
-Fälschung dieser welterlösenden Idee, die Propaganda der wirtschaftlichen
-Befreiung niemals wieder völlig erstickt werden konnte. Vergebens
-untersagte die Kirche der Laienwelt die Lektüre jener Bücher, welche
-angeblich nichts anderes, als ihre, der Kirche, Lehren enthalten sollten;
-immer und immer wieder holten sich die in tiefster Erniedrigung schmachtenden
-europäischen Völker aus diesen verfehmten Schriften Mut und
-Begeisterung zu Versuchen der Befreiung.
-</p>
-
-<p>
-<em>Darja-Sing</em> (Centrum). Ich möchte das soeben Gehörte dahin
-ergänzen, daß auch noch ein anderes Volk und zwar 600 Jahre vor
-Christus, die Idee der Freiheit und Gerechtigkeit aus sich gebar &mdash; es
-ist das indische. Der eigentliche Kern auch des Buddhismus ist die
-Lehre von der Gleichheit aller Menschen und von der Sündhaftigkeit
-der Unterdrückung und Ausbeutung. Ja, ich wage sogar die Vermutung
-zu äußern, daß die bereits erwähnten socialen Freiheitsgedanken des
-<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a>
-Pentateuch wie der Propheten und folglich mittelbar auch die Christi,
-auf indische Anregung zurückzuführen sind. Das scheint auf den ersten
-Blick ein arger Anachronismus zu sein, denn Buddha lebte wie gesagt
-600 Jahre vor Christus, während die jüdische Legende die Abfassung
-der fünf Bücher in das 14. Jahrhundert v. Chr. verlegt. Allein es
-ist mir bekannt, daß neuere Forschungen mit nahezu absoluter Sicherheit
-festgestellt haben, daß diese angeblichen Bücher Mosis frühestens im
-sechsten Jahrhundert, und jedenfalls erst nach der Rückkehr aus
-der sogenannten babylonischen Gefangenschaft verfaßt wurden. Gerade
-zur Zeit aber, als die Elite des damaligen Juda nach
-Babylon verpflanzt war, sandte Buddha seine Apostel durch ganz
-Asien, und daß die &bdquo;an den Wassern Babels Weinenden&ldquo; gegen solche
-Lehren damals besonders empfänglich gewesen sein mußten, liegt auf
-der Hand.
-</p>
-
-<p>
-Wenn also einige germanische Schriftsteller die Behauptung aufstellten,
-das Christentum sei ein fremder Blutstropfen im Körper des
-arischen Volkstums, so haben sie insofern allerdings Recht, als ihnen
-das Christentum thatsächlich als Semitismus, nämlich dem Judentum
-entsprossen, zukam; nichtsdestoweniger kann die arische Welt den Grundgedanken
-des Christentums für sich reklamieren, da höchstwahrscheinlich
-sie es war, welche die ersten Keime hierzu dem Semitentume übergab.
-Ich sage das nicht, um das Verdienst des großen semitischen Freiheitsmärtyrers
-zu schmälern. Ich kann leider nicht leugnen, daß wir Arier
-mit dem unserem Schoße entsprossenen göttlichen Gedanken aus eigener
-Kraft nichts anzufangen verstanden. Gleichwie es wahrscheinlich ist,
-daß gerade die Scheußlichkeit des indischen Kastenwesens, jener schändlichsten
-Blüte, die jemals dem blut- und thränengedüngten Boden der
-Knechtschaft entsprossen, Ursache gewesen, daß in Indien zuerst die
-geistige Reaktion gegen diese Geißel der Menschheit sich zeigte, ebenso
-sicher ist es auf der anderen Seite, daß das nämliche Kastenwesen die
-Spannkraft unseres indischen Volkes allzusehr gebrochen, als daß dieses
-die empfangene Anregung selber hätte fruchtbringend verarbeiten können.
-Der Buddhismus erlosch in Indien und wurde außerhalb Indiens sehr
-bald seines socialen Inhalts gänzlich entkleidet. Jene transcendenten
-Spekulationen, auf welche man auch im Abendlande das Christentum
-zu beschränken <em>versuchte</em>, sie sind im Osten Asiens thatsächlich der
-einzige Effekt des Buddhismus gewesen. Ja schon im Geiste der Stifter
-gestaltet sich der Freiheitsgedanke anders bei dem, trotz aller Erhabenheit
-doch den Stempel seines Volkstumes tragenden &bdquo;Avatar&ldquo; Indiens
-und anders bei dem Messias in Juda, der inmitten eines von nie
-gebändigtem Gleichheitsdrange durchglühten Volkes das Licht der
-Welt erblickte. Buddha konnte sich die Freiheit wirklich nur in
-Form jener hoffnungslosen Entsagung vorstellen, die dem christlichen
-<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a>
-Freiheitsgedanken bloß fälschlich von Jenen untergeschoben wurde, die
-durch fremde Ansprüche im eigenen Genusse nicht gestört zu werden
-wünschten.
-</p>
-
-<p>
-Ja ich bin überzeugt, daß auch unsere kräftigeren, nach dem Westen
-ausgewanderten Verwandten den Freiheits- und Gleichheitsgedanken nicht
-hätten verwerten können, wenn wir &mdash; die indische Welt &mdash; ihnen
-denselben unverändert, wie wir ihn schufen, übergeben hätten. Denn
-auch ihnen steckte, als sie nach Europa kamen und noch ein Jahrtausend
-später, das Kastengefühl im Blute; daß alle Menschen gleich,
-wirklich schon hier auf Erden gleich seien, wäre dem germanischen
-Edeling sowohl, als dem germanischen Knechte ebenso unfaßbar geblieben,
-als es dem indischen Paria oder Sudra und dem Brahmanen oder
-Ksatrija unfaßbar geblieben ist. Dieser Gedanke mußte zuerst von dem
-streng demokratisch gesinnten kleinen semitischen Volksstamme an den
-Ufern des Jordan in feste, fürderhin nicht mehr zu verdunkelnde Formen
-gebracht und von der freien nüchternen Forschung Roms und Griechenlands
-in grelle &mdash; wenn auch vorläufig ablehnende &mdash; Untersuchung
-gezogen worden sein, ehe er, zu rein arischen Volksstämmen verpflanzt,
-Früchte zu tragen vermochte. Nahmen doch die bekehrten germanischen
-Könige das Christentum ganz ersichtlich nur an, weil sie es für ein
-passendes Werkzeug der Herrschaft hielten. Was die neue Lehre den
-Knechten etwa sagen mochte, war ihnen vorerst gleichgiltig, denn der
-Knecht, der in scheuer Ehrfurcht zu den &bdquo;Abkömmlingen der Asen&ldquo;,
-seinen Herren, emporsah, erschien für alle Ewigkeit ungefährlich; gegen
-wen es sich zu wappnen galt, das waren die Mitherren, die Großen
-und Edlen, die bisher nur der faktischen Macht, nicht dem Wesen nach,
-von den Königen verschieden waren. Das Herrenrecht kam &mdash; nach
-arischer Anschauung &mdash; von Gott, sehr wohl; aber das des kleinsten
-Edeln in der nämlichen Weise, wie das des Königs; sie alle stammten
-von den Göttern ab. In Christus nun fanden die Könige den <em>einen</em>
-obersten Herrn, der ihnen, ihnen allein, die Macht verliehen hatte; abermals
-besaßen sie eine göttliche Quelle des Herrenrechts, aber für sich
-allein und deshalb erzählt uns die Geschichte überall, daß die Könige
-gegen den &mdash; oft verzweifelten &mdash; Widerstand der Großen das Christentum
-einführten, nirgends, daß die Großen ohne, oder gar gegen den Willen
-der Könige sich bekehrt hätten. Die Volksmassen, die Knechte &mdash; wo
-werden diese jemals überhaupt gefragt? Sie haben zu thun und zu
-glauben, was die Herren für gut finden &mdash; und sie thun es ausnahmslos,
-ohne den geringsten Widerstand, lassen sich gleich den Schafen herdenweise
-zur Taufe ins Wasser treiben und glauben nunmehr auf Befehl,
-daß alle Macht von <em>einem</em> Gotte komme, der sie <em>einem</em> Herrn verliehen.
-Denn der arische Knecht ist eine willenlose Sache, die zu eigenem
-Denken erst erzogen werden muß. Dieses Erziehungswerk nun hat allerdings
-<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a>
-ziemlich lange gedauert, aber wie der Vorredner richtig bemerkte,
-geschlafen hat der Gedanke der Freiheit nicht.
-</p>
-
-<p>
-<em>Erich Holm</em> (Rechte). Ich glaube, es läßt sich gegen den Nachweis,
-daß der Gedanke der wirtschaftlichen Gerechtigkeit in seiner Allgemeinheit
-schon Jahrtausende alt ist und niemals vollständig entschlief,
-nichts stichhaltiges sagen. Aber es fragt sich, ob denn dieser allgemeine
-Gleichberechtigungs- und Freiheitsgedanke mit jenem speciellen, an dessen
-Verwirklichung wir jetzt schreiten, viel des Gemeinsamen hat, nicht
-vielleicht in manchen Stücken das Gegenteil desselben besagt; und zum
-zweiten muß nun erst recht Bedenken erregen, daß dieser, wie wir gehört
-haben, 2½ Jahrtausende alte Gedanke bisher noch nie und nirgend
-verwirklicht werden konnte.
-</p>
-
-<p>
-Ersteres anlangend muß ich zugeben, daß Christus &mdash; im Gegensatze
-zu Buddha &mdash; die Gleichheit nicht transcendent und metaphysisch,
-sondern sehr materiell und buchstäblich verstanden hat. Er pries zwar
-auch die Armen an Geist selig, aber unter den Reichen, die ihm zufolge
-schwerer ins Himmelreich eingehen sollen, als ein Schiffsseil aus
-Kamelhaaren durch ein Nadelöhr, verstand er ganz gewiß nicht die
-Reichen im Geiste, sondern die an irdischen Gütern Reichen. Auch ist
-es richtig, daß er sagte, &bdquo;mein Reich ist nicht von dieser Welt&ldquo; und
-dem Kaiser geben hieß, was des Kaisers sei; allein, wer diese Stellen
-nicht aus dem Zusammenhange reißt, kann unmöglich übersehen, daß
-er damit lediglich jede Einmischung in die politischen Angelegenheiten
-ablehnt, nicht um politischer, sondern um transcendenter <em>Zwecke</em>, um
-der ewigen Seligkeit willen, der socialen Gerechtigkeit zum Siege verhelfen
-will. Ob Rom oder Israel herrscht, ist ihm gleichgiltig, wenn
-nur Gerechtigkeit geübt wird; doch daß er diese nicht erst im Jenseits,
-sondern schon hinieden geübt wissen will, kann nur fromme Beschränktheit
-leugnen. Aber ist das, was Christus unter Gerechtigkeit versteht,
-wirklich dasselbe, was wir darunter meinen? Zwar das von
-ihm gleich anderen jüdischen Lehrern verkündete &bdquo;Liebe Deinen Nächsten
-wie Dich selbst&ldquo; wäre eine sinnlose Phrase, wenn es nicht wirtschaftliche
-Gleichberechtigung zur Voraussetzung hätte. Den Menschen, den
-man ausbeutet, liebt man wie sein Haustier, nicht aber wie sich selbst;
-wahrhaft &bdquo;christliche Nächstenliebe&ldquo; in einer ausbeuterischen Gesellschaft
-verlangen, wäre einfach albern, und was dabei herauskommen kann,
-haben wir bisher sattsam erfahren. Im übrigen nimmt uns ja der
-Apostel hierüber den letzten Rest von Zweifel, denn er verdammt ausdrücklich,
-sich vom Schweiße des Nächsten zu mästen, d. h. ihn auszubeuten.
-Insoweit also wären wir mit Christus vollkommen eines
-Strebens. Aber er verdammt ebenso ausdrücklich den Reichtum, preist
-die Armut, während wir den Reichtum zum Gemeingute Aller machen,
-also alle unsere Mitmenschen in einen Zustand versetzen wollen, in dem
-<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a>
-sie &mdash; um mit Christus zu reden &mdash; schwerer als ein Schiffstau durchs
-Nadelöhr, ins Himmelreich eingehen könnten. Hier ist ein Gegensatz,
-dessen Überbrückung mir schwer möglich erscheint. Wir halten das
-Elend, Christus den Reichtum für die Quelle des Lasters, der Sünde;
-unsere Gleichheit ist die des Reichtums, die seinige die der Armut;
-das bitte ich fürs erste festzuhalten.
-</p>
-
-<p>
-Zum zweiten aber hat ja Christus &mdash; trotz des, wie man zugeben
-wird, viel bescheidenen Zieles, welches er sich steckte, dasselbe <em>nicht</em>
-erreicht. Ist sohin die Berufung auf diesen erhabensten aller Geister,
-statt uns in Verfolgung unserer Ziele zu stärken, nicht vielmehr geeignet,
-uns zu entmutigen?
-</p>
-
-<p>
-<em>Emilio Lerma</em> (Freiland). Die Verbindung, in welche der Vorredner
-die von Christus gepriesene und geforderte Armut mit dem &mdash;
-angeblichen &mdash; Mißlingen seines Befreiungswerkes gebracht hat, ist eine
-verfehlte. Nicht trotzdem, sondern <em>weil</em> Christus die Gleichheit auf
-Grundlage der Armut herstellen wollte, ist dies fürs erste mißlungen.
-Die Gleichheit der Armut läßt sich nicht herstellen, denn sie wäre gleichbedeutend
-mit Stillstand der Kultur; wohl aber ist es nicht bloß möglich,
-sondern notwendig, die Gleichheit des Reichtums ins Werk zu
-setzen &mdash; sowie die Voraussetzungen dafür vorhanden sind &mdash; weil dies
-mit Fortschritt der Kultur gleichbedeutend ist. Allerdings &mdash; so werden
-Sie sagen &mdash; so verhält es sich nach unserer Auffassung; nach derjenigen
-Christi aber ist der Reichtum ein Übel. Sehr wahr. Nur
-kann uns bei unbefangenem Eingehen in die Sache unmöglich entgehen,
-<em>daß Christus den Reichtum nur verwarf, weil er seine Quelle
-in der Ausbeutung hatte</em>. Nichts im ganzen Laufe des Lebens Jesu
-deutet darauf hin, daß er jener finstere Ascet gewesen, der er hätte
-sein müssen, wenn er den Reichtum als solchen für sündhaft gehalten
-hätte; zahllose Stellen der Evangelien legen unzweideutiges Zeugnis
-für das Gegenteil ab. Christi Bedürfnisse waren allerdings einfach;
-aber er genoß stets mit Behagen, was ihm etwaiger Reichtum seiner
-Anhänger bot und sah nirgends ein Übles darin, vom Leben soviel
-anzunehmen, als sich mit der Gerechtigkeit verträgt. Auch der Haß,
-mit welchem ihn die Reichen Jerusalems verfolgen, änderte diese seine
-Anschauung nicht, wie denn überhaupt das oft citierte Verdammungsurteil
-gegen die Reichen etwas geradezu verletzendes, dem Geiste der
-Evangelien zuwiderlaufendes hat, wenn wir es außer Zusammenhang
-halten mit dem &bdquo;Wehe, wer sich mästet vom Schweiße seines Bruders&ldquo;.
-Im Reichtum verdammt Christus bloß dessen Quelle; nur weil Reichtum
-anders, als durch Ausnützung des Schweißes der Brüder nicht erworben
-werden konnte, deshalb und nur deshalb allein war ihm das Himmelreich
-verschlossen. Kein Zweifel, daß Christus gleich uns sich mit dem
-Reichtume versöhnt hätte, wäre damals wie zu unserer Zeit Reichtum
-<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a>
-auch ohne Ausbeutung, ja ohne diese erst recht möglich gewesen. Aus
-welchen Gründen dies zu Christi Zeiten und noch viele Jahrhunderte
-nachher unmöglich war, darüber werden wir uns noch ausführlich zu
-verbreiten haben; vorläufig sei bloß konstatiert, <em>daß</em> es unmöglich war,
-daß die Wahl bloß zwischen Armut oder Reichtum durch Ausbeutung stand.
-</p>
-
-<p>
-Diese Alternative schärfer als je zuvor ein Anderer erkannt und
-sich mit hinreißender Glut gegen die Ausbeutung gewendet zu haben,
-ist eben die unsterbliche That Christi. Er mußte dafür am Kreuze
-sterben, denn im Gegensatze von Gerechtigkeit und Kulturnotwendigkeit
-wird stets die erstere unterliegen; er mußte sterben, weil er nahezu zwei
-Jahrtausende zu früh das Banner wahrer Menschenliebe, Freiheit und
-Gleichheit, kurz aller edelsten Gefühle des menschlichen Herzens entrollte
-&mdash; zu früh, wohlverstanden für ihn, nicht für uns, denn die träge
-Menschheit bedurfte dieser zwei Jahrtausende, um voll zu begreifen,
-was ihr Märtyrer gemeint, für <em>sie</em> starb er keinen Tag zu früh. Es
-gibt also keinen Gegensatz der christlichen Ideen mit unseren Bestrebungen;
-der Unterschied beider liegt bloß darin, daß jene, die erste Verkündigung
-des Gedankens der Gleichheit, in eine Zeit fallen, wo die materiellen
-Voraussetzungen der Verwirklichung dieser göttlichen Idee noch nicht
-vorhanden waren, während diese die &bdquo;Fleischwerdung des Wortes&ldquo; zu
-bedeuten haben, die Frucht des damals in den Geist der Menschheit
-niedergelegten Samenkorns. Auch von einem wirklichen &bdquo;Mißlingen&ldquo;
-des christlichen Befreiungswerkes kann daher eigentlich nicht die Rede
-sein: es liegen bloß zwei Jahrtausende zwischen dem Beginn und dem
-Abschluß des von Christus unternommenen Werkes.
-</p>
-
-<p>
-Hiermit schloß der vorgerückten Stunde halber der Präsident die
-Sitzung, die Erledigung der auf der Tagesordnung stehenden Frage auf
-den morgigen Tag verschiebend.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-6-2">
-<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a>
-24. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="hdr">
-<span class="line1">Zweiter Verhandlungstag.</span><br />
-<span class="line2">(Fortsetzung der Verhandlungen über Punkt 1 der Tagesordnung.)</span>
-</p>
-
-<p class="first">
-Das Wort erhält <em>Leopold Stockau</em> (Centrum): Ich glaube, daß
-die Vorfrage des ersten Punktes der Tagesordnung, nämlich ob unsere
-gegenwärtigen Bemühungen im Interesse der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-wirklich ohne jedes wie immer geartete weltgeschichtliche Präcedens
-dastehen, am gestrigen Tage erschöpfend, und zwar im verneinenden
-Sinne erledigt worden ist. Zum mindesten bin ich von den gestrigen
-Wortführern der Gegenpartei ermächtigt, zu erklären, daß sie vollkommen
-davon überzeugt worden seien, die Lehre Christi unterscheide
-sich in keinem wesentlichen Punkte von dem, was in Freiland verwirklicht
-ist und was wir nunmehr zum Gemeingute des ganzen Erdkreises
-machen wollen. Wir kommen jetzt zum Hauptgegenstande des ersten
-Fragepunktes, zu der Erörterung nämlich, warum diese früheren Versuche,
-Gerechtigkeit und Freiheit zur Grundlage der menschlichen Wirtschaft
-zu machen, erfolglos bleiben mußten.
-</p>
-
-<p>
-Die Antwort auf diese Frage ist durch den letzten Redner des
-gestrigen Tages schon angedeutet worden. Die früheren Versuche mißlangen,
-weil sie die Gleichheit der Armut etablieren wollten, der unsere
-wird gelingen, weil er die Gleichheit des Reichtums bedeutet. Gleichheit
-der Armut wäre Stillstand der Kultur gewesen. Kunst und Wissenschaft,
-diese beiden Triebfedern des Fortschritts, haben Überfluß und Muße
-zur Voraussetzung; sie können nicht bestehen, geschweige denn sich entwickeln,
-wenn es Niemand giebt, der mehr besäße, als zur Stillung der
-tierischen Notdurft hinreicht. In früheren Epochen menschlicher Kultur
-war es jedoch unmöglich, Überfluß und Muße für Alle zu schaffen; es
-<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a>
-war unmöglich, weil die Hilfsmittel der Produktion nicht hinreichten,
-Überfluß für Alle zu erzeugen, selbst wenn Alle unausgesetzt unter Einsatz
-ihrer gesamten physischen Kraft gearbeitet, geschweige denn, wenn
-sie sich zugleich jene Muße gegönnt hätten, die zur Entfaltung der
-höheren geistigen Kräfte ebenso notwendig ist, wie der Überfluß zur
-Zeitigung der höheren geistigen Bedürfnisse. Und da es nicht möglich
-war, Allen ein vollkommen menschenwürdiges Dasein zu gewähren, so
-blieb es eine traurige zwar, aber darum nicht minder unerschütterliche
-Kulturnotwendigkeit, die Mehrzahl der Menschen auch in dem Wenigen,
-das ihr Teil gewesen wäre, zu verkürzen und mit dem, den Massen
-entzogenen Beutestücken eine Minderzahl auszustatten, die solcherart zu
-Überfluß und Muße gelangen konnte. Die Knechtschaft war eine Kulturnotwendigkeit,
-weil sie allein zum mindesten in einzelnen Menschen
-Kulturbedürfnisse und Kulturfähigkeiten zur Entfaltung zu bringen vermochte,
-während ohne sie Barbarei das Los Aller gewesen wäre.
-</p>
-
-<p>
-Falsch ist übrigens die Meinung, als ob die Knechtschaft so alt
-wäre, als das Menschengeschlecht; sie ist nur so alt, als die menschliche
-Kultur. Es gab einst eine Zeit, in der sie unbekannt war, in der es
-keine Herren und Knechte gab und niemand die Arbeit seiner Nebenmenschen
-auszubeuten vermochte; nur war das nicht das goldene, sondern
-das barbarische Zeitalter unserer Rasse. So lange der Mensch
-die Kunst noch nicht erlernt hatte, seine Bedürfnisse zu <em>erzeugen</em>,
-sondern sich damit begnügen mußte, die freiwilligen Gaben der Natur
-zu sammeln, zu erjagen; so lange daher jeder Mitkonkurrent als Feind
-angesehen wurde, der nach demselben Gute trachtete, welches jeder Einzelne
-als die ihm bestimmte Beute ansah; so lange richtete sich der
-Daseinskampf unter den Menschen notwendigerweise auf gegenseitige
-<em>Vernichtung</em>, statt auf Unterjochung und Ausbeutung. Es nützt dem
-Stärkeren, Schlaueren noch nichts, die Schwächeren zu unterjochen; der
-Konkurrent im Daseinskampfe muß getötet werden, und da der Kampf
-von Haß und Aberglauben begleitet ist, so gelangt man bald dahin, den
-Getöteten auch zu fressen. Ausrottungskrieg Aller gegen Alle, gefolgt in
-der Regel von Kannibalismus, war daher der Urzustand unseres
-Geschlechts.
-</p>
-
-<p>
-Überwunden aber wurde diese erste sociale Ordnung nicht durch
-moralische oder philosophische Erwägungen, sondern durch einen Wandel
-im Wesen der Arbeit. Der Mann, welcher zuerst auf den Gedanken
-geriet, ein Samenkorn in die Erde zu legen, es zu pflegen und Früchte
-heranzuziehen, war der Erlöser der Menschheit aus der niedrigsten,
-blutigsten Stufe der Barbarei, denn er schuf die erste Produktion, die
-Kunst, Nahrungsmittel nicht bloß zu sammeln, sondern zu erzeugen;
-und als diese Kunst sich in dem Maße verbessert hatte, daß es möglich
-wurde, dem Arbeitenden einen Teil seines Ertrages zu entziehen, ohne
-<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a>
-ihn geradezu dem Hungertode zu überantworten, zeigte es sich allgemach,
-daß es nützlicher sei, den Besiegten als Arbeitstier und nicht wie
-bisher, als Schlachttier zu gebrauchen. Und da dem so war, da die
-Sklaverei zum erstenmal die Möglichkeit bot, Überfluß und Muße zum
-mindesten für eine bevorzugte Minderheit zu schaffen, so war sie die
-erste Anregerin höherer Kultur. Kultur aber ist Macht und so kam
-es denn, daß Sklaverei oder Knechtschaft in irgend welcher Form allgemach
-den Erdball eroberten.
-</p>
-
-<p>
-Daraus folgt aber mit nichten, daß die Dauer ihrer Herrschaft
-eine ewige sein muß oder auch nur sein kann. Gleichwie Menschenfresserei
-das Ergebnis jenes geringsten Ausmaßes der Ergiebigkeit menschlicher
-Arbeit gewesen, bei welchem die angestrengteste Thätigkeit eben
-nur zur Fristung des nackten tierischen <a id="corr-78"></a>Lebens ausreichte, und der Knechtschaft
-weichen mußte, sowie die erste Möglichkeit des Überflusses infolge
-wachsender Arbeitsergiebigkeit sich zeigte, so ist auch diese nichts anderes,
-als das sociale Ergebnis jenes mittleren Ausmaßes von Ergiebigkeit,
-bei welchem die Arbeit zwar genügt, um Einzelnen, nicht aber, um Allen
-Überfluß und Muße zugleich zu gewähren, und auch sie <em>muß</em> einer
-anderen, höheren socialen Ordnung weichen, sowie dieses mittlere Maß
-der Ergiebigkeit überschritten ist, denn von da ab ist sie aus einer Kulturnotwendigkeit
-ein Kulturhindernis geworden.
-</p>
-
-<p>
-Das ist seit Generationen thatsächlich geschehen. Seitdem es dem
-Menschen gelungen ist, die Naturkräfte seiner Produktion dienstbar zu
-machen, seitdem er die Fähigkeit erlangt hat, an Stelle der Kraft seiner
-Muskeln die unbegrenzten Elementarkräfte eintreten zu lassen, hindert
-ihn nichts, Überfluß und Muße für Alle zu erzeugen &mdash; nichts als jene
-überlebte sociale Einrichtung, die Knechtschaft nämlich, welche den Massen
-den Genuß dieser Güter vorenthält. Wir können nicht bloß, wir müssen die
-soziale Gerechtigkeit verwirklichen, weil die neue Form der Arbeit dies ebenso
-gebieterisch fordert, als die alten Formen der Arbeit gebieterisch die
-Knechtschaft gefordert haben. Diese, einst das Werkzeug des Kulturfortschrittes,
-ist zu einem Hindernisse der Kultur geworden, denn sie vereitelt
-den vollen Gebrauch der uns zu Gebote stehenden Kulturmittel.
-Dadurch, daß sie die Genüsse der großen Majorität unserer Brüder
-auf ein äußerst geringes Maß reduziert, auf ein Maß, zu dessen Erfüllung
-der Gebrauch der modernen Produktionsbehelfe keineswegs erforderlich
-ist, zwingt sie uns, in unserer Arbeit weit hinter jenem Umfange
-und hinter jener Vollkommenheit zurückzubleiben, die wir sofort
-erreichen würden, sowie nur einmal Verwendung für die dann unvermeidliche
-Fülle aller Reichtümer vorhanden wäre.
-</p>
-
-<p>
-Ich resumiere also: die wirtschaftliche Gleichberechtigung konnte in
-früheren Kulturepochen aus dem Grunde nicht verwirklicht werden, weil
-menschliche Arbeit in jenen Epochen nicht hinreichend ergiebig war, um
-<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a>
-Reichtum für Alle zu ermöglichen, die Gleichheit also Armut für Alle
-bedeutet, diese aber gleichbedeutend mit Barbarei gewesen wäre; sie kann
-nicht nur, sie <em>muß</em> jetzt zur Wahrheit werden, weil Dank der erlangten
-Kulturmittel unerschöpflicher Reichtum für alle produzierbar wäre, die
-thatsächliche Produktion dieses dem Kulturfortschritte entsprechenden
-Reichtums aber zudem an die Bedingung geknüpft ist, daß jedermann
-genieße, was das Ergebnis seines Fleißes ist.
-</p>
-
-<p>
-Der <em>Vorsitzende</em> fragt hierauf, ob niemand fernerhin zu Punkt
-1 der Tagesordnung das Wort ergreifen wolle und erklärt, da dies
-nicht geschieht, die Diskussion über dieses Thema für geschlossen.
-</p>
-
-<p>
-Zur Debatte gelangt nun Punkt 2:
-</p>
-
-<p>
-<em>Ist der Erfolg der freiländischen Institutionen nicht
-etwa bloß auf das ausnahmsweise und daher vielleicht
-vorübergehende Zusammenwirken besonders günstiger Verhältnisse
-zurückzuführen, oder beruhen dieselben auf überall
-vorhandenen, in der menschlichen Natur begründeten Voraussetzungen?</em>
-</p>
-
-<p>
-Das Wort hat <em>George Dare</em> (Rechte): Wir haben den großartigen
-Erfolg eines ersten Versuches der Etablierung wirtschaftlicher
-Gerechtigkeit in Freiland so handgreiflich vor uns, daß die Frage, ob
-ein solcher Versuch gelingen <em>kann</em>, gegenstandlos geworden ist. Ein
-anderes ist jedoch die Frage, ob er gelingen <em>muß</em>, überall gelingen
-muß, weil er in diesem einen Falle gelungen ist. Denn die Verhältnisse
-Freilands sind exceptionelle in mehr als einer Beziehung. Von
-den hervorragenden Fähigkeiten, dem Feuereifer und Opfermute jener
-Männer ganz zu schweigen, welche dieses glückliche Gemeinwesen gründeten
-und zum Teil heute noch an dessen Spitze stehen, Männer, wie
-wir sie mit Sicherheit nicht überall zur Hand haben werden, darf auch
-nicht übersehen werden, daß dieses Land von der Natur so verschwenderisch
-ausgestattet ist, wie wenige andere, und daß ein breiter Gürtel
-von Wüste und Wildnis es &mdash; anfangs zum mindesten &mdash; vor jedem
-störenden fremden Einflusse bewahrte. Wenn geniale, von unbedingtem
-Vertrauen ihrer Mitbürger getragene Männer, auf einem Boden, wo
-jedes Samenkorn hundertfältige Frucht trägt, das Wunder vollbringen,
-unerschöpflichen Reichtum für Millionen aus dem Nichts hervorzuzaubern,
-Elend und Laster auszurotten, den Fortschritt der Künste und
-Wissenschaften auf die Spitze zu treiben, so beweist das meines Erachtens
-noch immer nicht, daß gewöhnliche Menschen, die zudem vielleicht
-miteinander hadern, einander mißtrauen werden, auf mageren Boden
-und mitten im Gewühle des Konkurrenzkampfes der Welt, die gleichen
-oder auch nur ähnliche Resultate erzielen werden. Und daß ich in
-diesem Punkte einige Zweifel hege, wird um so erklärlicher erscheinen,
-wenn man bedenkt, daß wir in Amerika Zeugen hunderter und aber
-<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a>
-hunderter von socialen Experimenten waren, die jedoch alle entweder mehr
-oder minder kläglich Fiasko litten, oder günstigen Falls die Bedeutung
-eines gelungenen industriellen Einzelunternehmens zu erlangen vermochten.
-Es ist wahr, einzelne dieser unserer Versuche zu socialer Revolutionierung
-der modernen Gesellschaft haben ganz hübsche pekuniäre Erfolge
-gehabt; das war aber auch alles; eine neue, ersprießliche Grundlage
-der socialen Ordnung haben sie nicht geschaffen, nicht einmal im Keime.
-Das möchte ich zu bedenken geben und bevor wir uns am Beispiele
-Freilands berauschen, zu nüchterner Erwägung der Frage auffordern,
-ob alles, was für Freiland Geltung hat, auch für die ganze übrige
-Welt Geltung haben muß.
-</p>
-
-<p>
-<em>Thomas Johnston</em> (Freiland): Der Vorredner irrt, wenn er
-in ausnahmsweise günstigen Verhältnissen den Grund des Gelingens des
-freiländischen Unternehmens zu finden glaubt. Zwar daß unser Boden
-fruchtbarer ist, als in den meisten Teilen der übrigen Welt, ist ein
-dauernder Vorteil, der uns jedoch bloß mit dem Betrage der Frachtdifferenz
-zugute kommt, denn wenn Sie diesen in Abrechnung bringen,
-können Sie überall, wohin Eisenbahn und Dampfschiff reichen, am Gewinne
-dieser Fruchtbarkeit vollständig teilnehmen. Die Getrenntheit
-vom Weltmarkte durch weite Wüsten war anfangs ein Vorteil, wäre
-aber jetzt ein Nachteil, wenn wir ihrer nicht Herr geworden wären,
-und was schließlich die Fähigkeiten der freiländischen Verwaltung anlangt,
-so muß ich &mdash; nicht aus Bescheidenheit, sondern der Wahrheit
-entsprechend &mdash; die uns gemachten Komplimente ablehnen. Wir sind
-nicht klüger als andere, die Sie zu Dutzenden in jedem civilisierten
-Lande finden werden.
-</p>
-
-<p>
-Daß aber jene Versuche, von denen der geschätzte Vorredner sprach,
-allesamt mißglückten, erklärt sich daraus, daß sie allesamt auf verkehrter
-Grundlage unternommen wurden. Mit dem, was wir in Freiland
-vollführten und was Sie jetzt nachahmen wollen, haben sie alle bloß
-ganz im Allgemeinen das Bestreben gemein, Abhilfe gegen das Elend
-der ausbeuterischen Welt zu finden; ein anderes aber ist die Abhilfe,
-die wir, eins die, anderes die, welche jene suchten, und darin, nicht in
-exceptionellen Vorteilen, die wir voraus gehabt hätten, liegt die Ursache
-des Gelingens bei uns, des Mißlingens bei jenen.
-</p>
-
-<p>
-Denn es war nicht die wirtschaftliche Gerechtigkeit, mit deren Hilfe
-jene zum Ziele gelangen wollten; sie suchten Rettung aus dem Kerker
-der Ausbeutung, sei es auf einem Wege, der gar nicht hinausführt, sei
-es auf einem solchen, der zwar aus diesem hinaus, dafür aber in einen
-anderen, noch abscheulicheren Kerker hineinführt. Bei keinem dieser
-amerikanischen oder sonstigen socialen Experimente, von den Kolonien<a id="corr-79"></a> der
-Quäker bis zu dem Ikarien Cabets wurde jemals der volle und ungeschmälerte
-Arbeitsertrag dem Arbeitenden als solchem zugewiesen, vielmehr
-<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a>
-gehörte der Ertrag entweder kleinen, sich am Unternehmen zugleich
-als Arbeiter beteiligenden Arbeitgebern nach Maßgabe ihrer Kapitaleinlage,
-oder der Gesamtheit, die als solche über die Arbeitskraft
-sowohl als über den Arbeitsertrag jedes Einzelnen despotisch zu disponieren
-hatte. Associierte kleine Kapitalisten oder Kommunisten waren
-ohne Ausnahme alle diese Reformer. Sie mochten, wenn sie besonderes
-Glück hatten, oder unter besonders fähiger Leitung standen,
-vorübergehende Erfolge erzielen; an einen Umschwung der geltenden
-Wirtschaftsordnung durch sie war nicht zu denken.
-</p>
-
-<p>
-<em>Johann Storm</em> (Rechte). Ich glaube, daß das Fehlen jeglicher
-Analogie zwischen den wiederholt unternommenen kleinkapitalistischen
-oder kommunistischen Gesellschaftsrettungsversuchen und den freiländischen
-Institutionen keines ferneren Beweises bedarf. Auch darüber erachte ich
-die Akten als geschlossen, daß die exceptionellen äußeren Vorteile, die
-den Erfolg jener letzteren allenfalls begünstigt und erleichtert haben
-mögen, nicht von der Art sind, daß zu besorgen wäre, unser nunmehr
-beabsichtigtes Werk könnte wegen deren Mangel scheitern. Aber damit
-wissen wir immer noch nicht, ob wirklich tief im Wesen der menschlichen
-Natur gelegene, also mit Sicherheit überall zu erwartende Voraussetzungen
-für das Gelingen der Socialreform Gewähr leisten. Wir
-haben allerdings schon bei Gelegenheit der Diskussion des ersten Punktes
-de Tagesordnung festgestellt, daß die Ausbeutung, Dank der über die
-Naturkräfte erlangten Herrschaft, zu einer Kulturwidrigkeit, ihre Beseitigung
-also zu einer Kulturnotwendigkeit geworden ist. Die strenge
-Kritik kann sich jedoch damit noch nicht beruhigen. Ist denn alles, was
-behufs Förderung des Kulturfortschrittes notwendig wäre, damit zugleich
-auch möglich? Wie, wenn die wirtschaftliche Gerechtigkeit zwar ein
-ganz außerordentliches Kulturvehikel, leider aber aus irgend einem
-Grunde undurchführbar wäre? Wie, wenn jener wunderbare Aufschwung,
-den wir in Freiland staunend wahrnehmen, doch nur eine vorübergehende
-Erscheinung wäre, trotz aller, ja vielleicht gerade wegen
-seiner märchenhaften Größe den Keim des Unterganges schon in sich
-trüge, mit einem Worte, wenn die Menschheit als Ganzes und auf die
-Dauer jenes Fortschrittes <em>nicht</em> teilhaftig werden könnte, dessen Voraussetzung
-allerdings die wirtschaftliche Gerechtigkeit ist?
-</p>
-
-<p>
-Der bisher vernommene Beweis des Gegenteils gipfelt in dem
-Satze, daß Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bloß insolange
-notwendig war, als der Ertrag menschlicher Arbeit nicht genügte,
-um Überfluß und Muße für alle zu ermöglichen. Wie aber, wenn
-auch noch andere Motive die Ausbeutung, die Knechtschaft zur Notwendigkeit
-machten, Motive, deren zwingende Wirkung mit der gestiegenen
-Ergiebigkeit der Arbeit noch nicht beseitigt wäre, vielleicht gar niemals
-beseitigt werden könnte? Als gewaltigstes Hindernis dauernder Etablierung
-<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a>
-eines Zustandes wirtschaftlicher Gerechtigkeit mit seinem Gefolge
-von Glück und Reichtum bietet sich dem vorsorglich in die Zukunft
-blickenden Sinne die Gefahr der Übervölkerung dar; doch da die Erörterung
-dieses Bedenkens einen besonderen Punkt unserer Tagesordnung
-bildet, so will auch ich gleich jenen meiner Gesinnungsgenossen, die vor
-mir das Wort ergriffen, vorläufig die sich unter diesem Gesichtspunkte
-aufdrängenden Argumente bei Seite lassen; es gibt deren aber noch
-einige andere, nicht minder gewichtige. Kann auf die Dauer eine Gesellschaft
-bestehen und fortschreiten, welcher die Triebfeder des Eigennutzes
-fehlt, vermögen Gemeinsinn und vernünftige Erwägung letztere
-durchweg und mit gleicher Wirksamkeit zu ersetzen? Gilt nicht dasselbe
-vom Eigentume? Eigennutz und Eigentum aber sind meines Erachtens
-durch die freiländischen Institutionen zwar nicht gänzlich bei Seite geschoben
-&mdash; das will ich gern zugeben &mdash; aber doch sehr wesentlich eingeengt.
-Auch unter dem Walten der wirtschaftlichen Gerechtigkeit ist
-das Individuum immerhin für das geringere oder größere Maß seines
-Wohlergehens selber verantwortlich, der Zusammenhang zwischen dem
-eigenen Thun und dem eigenen Nutzen ist nicht vollständig aufgehoben;
-aber indem das Gemeinwesen jedermann und für alle Fälle gegen Not,
-also gegen die letzte Konsequenz eigener Fehler oder Unterlassungen unbedingt
-schützt, ist doch der Stachel der Selbstverantwortlichkeit sehr
-wesentlich abgestumpft. Ebenso sehen wir das Eigentum zwar nicht
-gänzlich, aber doch in seinen wichtigsten Bestandteilen abgeschafft. Die
-ganze Erde mit allen an ihr haftenden Kräften ist herrenlos erklärt;
-die Produktionsmittel sind Gemeingut; wird das, kann das überall und
-allezeit ohne schädliche Konsequenzen bleiben? Wird der Gemeinsinn
-auf die Dauer jene liebevolle, alle Eventualitäten sinnreich abwägende
-Vorsorge ersetzen, die der Eigentümer dem ihm allein überantworteten
-Gute angedeihen läßt? Wird die heitere Sorglosigkeit, die bisher in
-Freiland allerdings bloß ihre Lichtseiten hervorgekehrt hat, nicht schließlich
-in Leichtsinn und Mißachtung dessen umschlagen, was Niemandes
-spezieller Verantwortlichkeit übergeben ist? Die Thatsache, daß es bisher
-nicht geschehen, erklärt sich vielleicht nur durch die noch immer &mdash;
-es ist ja noch kein Menschenalter über die Gründung dieses Gemeinwesens
-dahingegangen &mdash; vorwaltende Begeisterung des ersten Anfanges.
-Neue Besen, sagt man, kehren gut. Der Freiländer sieht das Auge
-einer ganzen Welt auf sich und sein Thun gerichtet; er fühlt sich noch
-als Bahnbrecher der neuen Einrichtungen; er ist stolz auf dieselben und
-der letzte Arbeiter hier mag sich solcherart noch verantwortlich fühlen
-für die Art und Weise, wie er das ihm zugefallene Apostolat der Weltfreiheit
-ausübt. Wird das auf die Dauer vorhalten, wird insbesondere
-die gesamte Menschheit ähnlich fühlen und handeln? Ich bezweifle es,
-bin zum mindesten nicht vollkommen von der Notwendigkeit überzeugt,
-<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a>
-daß es geschehen werde. Und was dann, wenn es nicht geschieht, wenn
-sich zeigen sollte, daß &mdash; sagen wir nicht alle, aber doch zahlreiche &mdash;
-Völker des Stachels von Not getriebenen Eigennutzes, des Lockmittels
-vollen und ganzen Eigentums nicht entbehren können, ohne in Stumpfsinn
-und Trägheit zu verfallen? Das sind die Fragen, auf die wir
-zunächst Antwort erbitten.
-</p>
-
-<p>
-<em>Richard Held</em> (Centrum). Der Vorredner findet, daß Eigennutz
-und Eigentum so wichtige Beförderungsmittel der Betriebsamkeit sind,
-daß ohne deren volle und uneingeschränkte Wirksamkeit menschlicher
-Fortschritt auf die Dauer kaum denkbar und deren Ersatz durch den
-Gemeinsinn höchst unverläßlich wäre. Ich gehe viel weiter. Ich behaupte,
-daß ohne diese beiden Vehikel der Betriebsamkeit an materielles
-Gedeihen irgend welchen Gemeinwesens gar nicht zu denken ist, zum
-mindesten insolange nicht, bis die menschliche Natur sich nicht radikal
-geändert, oder die Arbeit aufgehört hat, eine Plage zu sein. Jeder
-Versuch, auf wirtschaftlichem Gebiete den Eigennutz durch Gemeinsinn
-oder anderweitige ethische Triebfedern zu ersetzen, müßte schmählich Fiasko
-leiden. Das eigens zu beweisen, halte ich für ganz überflüssig; aber gerade
-weil dem so ist, gerade weil der Eigennutz und sein Korrelat, das
-Eigentum, die besten, durch keinerlei Surrogat gleich wirksam zu ersetzenden
-Triebfedern der Arbeit sind, gerade deshalb, so sollte ich
-meinen, verdienen die Institutionen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit auch
-in diesem Betracht ganz ausgesprochener Maßen den Vorzug vor denen
-der ausbeuterischen Wirtschaftsordnung. Denn sie erst bringen Eigennutz
-und Eigentum wirklich zur Geltung, während die ausbeuterische
-Ordnung sich dieses Verdienst nur fälschlich anmaßt.
-</p>
-
-<p>
-Die Knechtschaft ist doch in Wahrheit geradezu die Verneinung
-des Eigennutzes. Dieser setzt voraus, daß der Arbeitende durch seine
-Mühe dem &bdquo;eigenen Nutzen&ldquo; diene &mdash; trifft dies unter dem Walten
-der Ausbeutung zu, arbeitet der Knecht zu <em>eigenem</em> Nutzen? Wollte
-man mit Rücksicht auf die Frage des Eigennutzes einen Nachteil der
-wirtschaftlichen Gerechtigkeit der Knechtschaft gegenüber ableiten, so
-müßte man behaupten, die Arbeit gehe dann am fruchtbarsten und
-erfolgreichsten von statten, wenn der Arbeitende <em>nicht</em> zu eigenem,
-sondern zu fremdem Nutzen produciere. Aber der Arbeitgeber produciert
-doch zu eigenem Nutzen, wird man vielleicht einwenden. Richtig. Doch
-abgesehen davon, daß auch das streng genommen mit der Wirkung
-des Eigennutzes <em>der Arbeit</em> gegenüber nichts zu thun hat,
-denn hier ist es wieder nicht der Nutzen eigener, sondern fremder Arbeit,
-der in Frage kommt; so ist es doch klar, daß ein System, welches bloß
-einer Minderzahl Nutzen an der Arbeit einräumt, unendlich minder
-wirksam sein muß, als jenes andere, von uns beabsichtigte, welches
-diesen Nutzen <em>jedem</em> Arbeitenden einräumt. In Wahrheit kennt die
-<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a>
-ausbeuterische Welt &mdash; von geringfügigen Ausnahmen abgesehen &mdash;
-nur Menschen, welche ohne eigenen Nutzen arbeiten und Menschen,
-welche ohne eigene Arbeit Nutzen von der Arbeit haben; Arbeit zu
-eigenem Nutzen kommt in ihr höchstens nebensächlich vor. Mit welchem
-Scheine von Recht darf sich also die Ausbeutung damit brüsten, den
-<em>Eigen</em>nutz als Triebfeder der Arbeit zu gebrauchen? <em>Fremd</em>nutzen
-ist der richtige Name des bei ihr ins Spiel kommenden Arbeitmotivs,
-und daß dieser Fremdnutzen sich wirksamer erweisen sollte, als der
-Eigennutz, den die wirtschaftliche Gerechtigkeit erst als Neuerung in die
-moderne Welt einführen muß, wäre denn doch einigermaßen schwer zu
-beweisen.
-</p>
-
-<p>
-Nicht viel anders verhält es sich mit dem Eigentume. Welch
-grenzenlose Voreingenommenheit gehört dazu, einem Systeme, welches
-neunundneunzig Hundertteile der Menschheit aller und jeglicher Sicherheit
-des Eigentums beraubt, ihnen außer der Luft, die sie atmen, nichts
-läßt, was sie ihr eigen nennen dürften, nachzurühmen, daß es das
-Eigentum als Beförderungsmittel menschlicher Betriebsamkeit gebrauche,
-und dies einem anderen Systeme gegenüber, welches alle Menschen ohne
-Ausnahme zu Eigentümern, und zwar zu unverkürzten unbedingten
-Eigentümern all dessen macht, was sie nur immer hervorbringen mögen!
-Oder soll vielleicht der Vorzug des ausbeuterischen &bdquo;Eigentums&ldquo; darin
-liegen, daß es sich auf Dinge erstreckt, die der Eigentümer <em>nicht</em> hervorgebracht
-hat? Keine Frage, die Anhänger des Alten haben schlechthin
-keine klare Vorstellung über den Begriff des Mein und Dein. Was
-gehört denn eigentlich <em>mir</em>? &bdquo;Alles, was Du Irgendwem wegnimmst&ldquo;,
-wäre &mdash; wenn sie aufrichtig sein wollten &mdash; ihre einzige Antwort.
-Weil diese Aneignung <em>fremden</em> Eigentums im Laufe der Jahrtausende
-in gewisse feste, durch grausame Notwendigkeit geheiligte Formen gebracht
-worden ist, kam ihnen der unlöslich mit dem Wesen der Sache verknüpfte,
-natürliche Begriff des Eigentums gänzlich abhanden. Es geht
-über ihr Begriffsvermögen, daß die Gewalt zwar in Besitz und Genuß
-erhalten kann, wen ihr beliebt, daß aber der freie ungehinderte Gebrauch
-der eigenen Kräfte Jedermanns ureigenstes Eigentum ist, und daß
-folglich jede staatliche oder gesellschaftliche Ordnung, welche sich über
-dieses Urrecht jedes Menschen hinwegsetzt, nicht das Eigentum, sondern
-&mdash; den Raub zur Grundlage hat. Dieser Raub mag immerhin notwendig,
-ja nützlich sein &mdash; wir haben gesehen, daß er es Jahrtausende
-hindurch thatsächlich gewesen &mdash; &bdquo;Eigentum&ldquo; wird er darum doch
-niemals, und wer ihn dafür hält, der hat eben vergessen, was Eigentum
-ist.
-</p>
-
-<p>
-Es erscheint mir nach dem Gesagten kaum noch nötig, viel Worte
-über jenes Bedenken zu verlieren, daß mangels vollkommenen Eigentums
-Leichtsinn oder liebloses Verfahren mit den Produktionsmitteln einreißen
-<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a>
-könne. Ersteres anlangend, genügt es wohl zu fragen, ob denn hoffnungsloses
-Elend sich als gar so vorzügliches Beförderungsmittel wirtschaftlicher
-Voraussicht erwiesen habe, daß dessen Ersatz durch eine dieses
-Stachels allerdings beraubte, im übrigen aber vollkommen durchgeführte
-Selbstverantwortlichkeit sich als gefährlich erweisen könnte. Und was
-das zweite Bedenken betrifft, so hätte dieses nur dann Berechtigung,
-wenn in der bisherigen Ordnung die Arbeitenden Eigentümer der
-Produktionsmittel gewesen wären. Sondereigentum an diesen wird ihnen
-zwar auch die neue Ordnung nicht einräumen, dafür aber den ungeschmälerten
-Fruchtgenuß derselben, und wessen Begeisterung für die
-Schönheiten der bestehenden Ordnung nicht so weit geht, daß er den
-Stock des Herrn für ein wirksameres Beförderungsmittel auch der
-liebevollen Vorsorge hält, als den Nutzen der Arbeitenden, der mag
-beruhigt darüber sein, daß es auch in dieser Beziehung nicht schlimmer,
-sondern nur besser werden kann.
-</p>
-
-<p>
-<em>Charles Prud</em> (Rechte). Ich begreife durchaus nicht, wie der
-geehrte Vorredner bestreiten kann, daß in der bisherigen Ordnung
-Eigennutz es ist, was die Massen zur Arbeit nötigt. Wer wollte leugnen,
-daß sie einen Teil des Nutzens ihrer Arbeit abgeben müssen; aber ein
-anderer Teil verbleibt doch jedenfalls auch ihnen, sie arbeiten daher,
-zwar nicht ausschließlich, wohl aber mit zu ihrem eigenen Nutzen. Und
-jedenfalls <em>müssen</em> sie arbeiten, wollen sie dem Hunger entgehen, und
-man sollte meinen, daß dieser Sporn der wirksamste von allen ist.
-Soviel über die Leugnung des Eigennutzes als Triebfeder der sogenannten
-ausgebeuteten Arbeit. Was aber den Ausfall gegen den Eigentumsbegriff
-von uns Verteidigern &mdash; nicht etwa der bestehenden Übelstände,
-aber doch einer besonnenen, maßhaltenden Reform derselben &mdash; anlangt,
-so möchte ich mir in aller Bescheidenheit die Bemerkung erlauben, daß
-unser Rechtsgefühl sich dabei beruhigte, daß den Arbeitenden Niemand
-zwang, mit dem Arbeitgeber zu teilen. Er schloß als freier Mann
-einen Vertrag mit demselben ... (allgemeine Heiterkeit). Lachen Sie
-immerhin, es ist doch so. In politisch freien Ländern hindert den
-Arbeiter nichts, ungeteilt für eigene Rechnung zu arbeiten; den Anteil,
-den er dem Unternehmer abtritt, Raub zu nennen, ist daher jedenfalls
-ungerecht.
-</p>
-
-<p>
-<em>Béla Székely</em> (Centrum). Mir will scheinen, daß es ein müßiger
-Streit um Worte ist, den mein Vorredner zu entfesseln sich anschickt.
-Er nennt den Arbeitslohn einen Teil des Nutzens der Produktion &mdash;
-mag sein, daß hie und da die Arbeiter wirklich einen Teil des Nutzens
-als Lohn oder als Zugabe zu diesem empfangen; bei uns und, wenn
-ich recht unterrichtet bin, auch im Lande des Redners war das im
-allgemeinen nicht üblich, vielmehr zahlten wir den Arbeitern, ganz unbekümmert
-um den Nutzen ihrer Arbeit, eine zur Fristung ihres Lebens
-<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a>
-dienende Summe; Nutzen &mdash; eventuell auch Schaden &mdash; der Produktion
-gehörte ausschließlich uns, den Unternehmern. Mit ungefähr demselben
-Rechte könnte er behaupten, daß seine Ochsen oder Pferde am &bdquo;Nutzen&ldquo;
-der Produktion teilhaben. Wenn ich sage, mit &bdquo;ungefähr&ldquo; demselben
-Rechte, so meine ich damit, daß dies von Ochsen und Pferden in der
-Regel mit etwas <em>besserem</em> Rechte gesagt werden könnte, denn während
-diese nützlichen Kreaturen zumeist besseres und reichlicheres Futter erhielten,
-wenn ihre Arbeit den Herrn reich gemacht hatte, geschah dies
-bei unseren zweibeinigen, vernunftbegabten Arbeitskreaturen höchstens in
-sehr seltenen Ausnahmefällen.
-</p>
-
-<p>
-Dann identificiert der Herr Vorredner vollends den Hunger mit
-dem Eigennutze. Die Massen <em>müssen</em> arbeiten, sonst verhungern sie.
-Allerdings. Aber der Sklave muß auch arbeiten, sonst erhält er
-Prügel &mdash; folglich, so sollten wir nach dieser seltsamen Logik sagen,
-wird auch der Sklave durch Eigennutz zur Arbeit getrieben. Oder will
-man sich vielleicht darauf steifen, daß Eigennutz sich nur auf die Erlangung
-materieller Güter beziehe? Das wäre zwar falsch, denn Prügel
-vermeiden ist schließlich nicht mehr und nicht minder eine Forderung
-des Eigennutzes, als den Hunger stillen; aber ich will um solche Kleinigkeiten
-nicht streiten; lassen wir also den Stock und die Peitsche als
-Symbole vom Eigennutz beflügelter Betriebsamkeit fallen. Wie aber
-steht es dann mit jenen Sklavenhaltern, die &mdash; wahrscheinlich im Interesse
-der &sbquo;Freiheit der Arbeit&lsquo; &mdash; ihre faulen Sklaven nicht prügelten,
-sondern hungern ließen? Unter deren Regime wurde &mdash; dem Vorredner
-nach &mdash; offenbar der Eigennutz als Triebfeder der Arbeit auf
-den Thron gesetzt? Daß der Hunger ein sehr wirksames <em>Zwangs</em>mittel
-ist, ein wirksameres, als die Peitsche &mdash; wer wollte das leugnen;
-er hat daher letztere auch überall und sehr zum Vorteile der Arbeitgeber
-verdrängt. Aber Eigennutz? Dazu gehört, das sagt schon der
-Klang des Wortes, daß der Nutzen der Arbeit Eigen des Arbeitenden
-sei. Soviel über den Eigennutz.
-</p>
-
-<p>
-Und was nun vollends die Verwahrung gegen das Unrecht der
-Ausbeutung anlangt, so verstehe ich dieselbe schon ganz und gar nicht.
-<a id="corr-83"></a>&sbquo;Frei&lsquo; waren die Arbeiter, nichts zwang sie, zu fremdem Vorteil
-zu producieren? Jawohl, nichts als die Kleinigkeit, der Hunger. Sie
-mochten es immerhin bleiben lassen, wenn sie verhungern wollten!
-Wieder genau dieselbe &sbquo;Freiheit&lsquo;, die auch der Sklave hat. Wenn ihn
-die Peitsche nicht geniert, nötigt ihn nichts zur Arbeit für seinen Herrn.
-Die Fesseln, in denen die &sbquo;freien&lsquo; Massen der ausbeuterischen Gesellschaft
-schmachten, sind enger, peinigender, als die Ketten des Sklaven. Das
-Wort &sbquo;Raub&lsquo; gefällt dem Vorredner nicht? Es ist in der That ein
-hartes, häßliches Wort; aber der &sbquo;Räuber&lsquo; ist ja nicht der einzelne
-Ausbeuter, sondern die ausbeuterische Gesellschaft und diese war einst,
-<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a>
-in der bitteren Not des Daseinskampfes, zu diesem Raube genötigt. Ist
-das Töten im Kriege deshalb weniger Todschlag, weil nicht der Einzelne,
-sondern der Staat, und dieser häufig notgedrungen, die Veranlassung
-dazu giebt? Man wird sagen, daß diese Art des Tötens durch
-das Strafgesetz nicht verboten, ja von der Pflicht gegen das Vaterland
-geboten sei und daß &sbquo;Todschlag&lsquo; nur verbotene Arten des Tötens genannt
-werden dürfen. Das ist <em>juristisch</em> sehr richtig, und wenn sich
-jemand beifallen ließe, das Töten im Kriege vor den Strafrichter zu
-ziehen, so würde man ihn mit Fug auslachen. Aber ebenso verlachen
-müßte man Jenen, der, weil Töten im Kriege erlaubt ist, bestreiten
-wollte, dasselbe sei Todschlag, wenn es sich nicht um die juristische
-Strafbarkeit, sondern um die Begriffsbestimmung des Totschlags als
-einer Handlungsweise handelte, bei welcher ein Mensch gewaltsam vom
-Leben zum Tode gebracht wird. So ist auch die Ausbeutung kein
-Raub im strafrechtlichen Sinne; wenn aber jede Aneignung fremden
-Eigentums Raub genannt werden darf &mdash; und nur darum handelt es
-sich im vorliegenden Falle &mdash; dann ist Raub und nichts anderes die
-Grundlage jeder ausbeuterischen Gesellschaft, der modernen &sbquo;freien&lsquo; nicht
-minder, als der auf Sklaverei oder Hörigkeit gestützten antiken oder
-mittelalterlichen. (Lang andauernder Applaus, in welchen auch die
-Herren Johann Storm und Charles Prud einstimmen).
-</p>
-
-<p class="end">
-(Schluß des zweiten Verhandlungstages.)
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-6-3">
-<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a>
-25. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="hdr">
-<span class="line1">Dritter Verhandlungstag.</span><br />
-<span class="line2">(Fortsetzung der Debatte über Punkt 2 der Tagesordnung.)</span>
-</p>
-
-<p class="first">
-<em>James Brown</em> (Rechte). Unser Kollege aus Ungarn hat gestern die
-wahre Beschaffenheit des Eigennutzes und des Eigentums in der ausbeuterischen
-Gesellschaft mit so markigen Worten gekennzeichnet, daß
-davon fürderhin wohl nicht mehr die Rede sein wird. Aber wenn es
-auch richtig ist, daß erst die wirtschaftliche Gerechtigkeit diese beiden
-Triebfedern der Arbeit in ihr Recht einzusetzen vermöchte, so muß immer
-noch gefragt werden, ob der einzige Weg, der zu diesem Ziele führt,
-nämlich die Organisation freier, selbstherrlicher, unausgebeuteter Arbeit
-sich überall und ausnahmslos praktikabel erweisen wird. Mit der noch
-so feierlichen Proklamierung des Grundsatzes, daß jeder Arbeitende sein
-eigener Herr sei und mit noch so vollständiger Einräumung des Verfügungsrechtes
-über die Produktionsmittel an alle Arbeitenden, wäre
-wenig gewonnen, wenn letztere sich unfähig erweisen sollten, von diesen
-Rechten den entsprechenden Gebrauch zu machen. Worauf es in letzter
-Linie ankommt, das ist also die Frage, ob die Arbeiter der Zukunft
-allezeit und überall jene Disciplin, jene Mäßigung und Weisheit an
-den Tag legen werden, die zur Organisierung wahrhaft fruchtbringender,
-fortschrittlicher Produktion erforderlich sind? Die ausbeuterische Wirtschaft
-hat eine vieltausendjährige Routine hinter sich; wie es anzustellen
-sei, um eine Schar zu stummem Gehorsam gezwungener Knechte in
-Ordnung zu erhalten, das sagt dem Arbeitgeber nach altem Rechte die
-gesammelte Erfahrung unzähliger Generationen. Trotzdem begeht auch
-er häufig Mißgriffe und nur zu oft scheitern seine Pläne an der Widersetzlichkeit
-der Untergebenen. Die Leiter der Arbeiterassociationen der
-<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a>
-Zukunft haben so gut wie keinerlei Erfahrungen hinter sich, wenn es
-sich um die Organisationsformen handelt, welche sie anzuwenden
-haben; sie werden diejenigen zu Herren erhalten, denen sie befehlen
-sollen &mdash; und trotzdem, so sagt man uns, kann ihnen der Erfolg nicht
-fehlen, ja er darf nicht fehlen, soll die associierte freie Gesellschaft nicht
-in ihren Grundfesten erschüttert werden. Denn während die ausbeuterische
-Gesellschaft die Verantwortlichkeit für das Schicksal der einzelnen
-Unternehmungen ausschließlich diesen Unternehmungen selber überläßt,
-hängt vermöge der so oft hervorgehobenen Interessensolidarität der
-freien Gesellschaft das Wohl und Wehe der Gesamtheit aufs unlöslichste
-mit dem jeder einzelnen Unternehmung zusammen. Ich will mich gern
-eines Besseren belehren lassen; aber insolange dies nicht geschehen ist,
-kann ich nicht umhin, in dem soeben Gesagten Bedenken zu erblicken,
-welche durch die bisherigen Erfahrungen Freilands mit nichten völlig
-zerstreut sind. Die freiländischen Arbeiter haben es verstanden, sich zu
-disciplinieren; folgt daraus, daß dies die Arbeiter überall verstehen
-werden?
-</p>
-
-<p>
-<em>Miguel Spada</em> (Linke). Ich beschränke mich darauf, eine kurze
-Antwort auf jene Frage zu erteilen, mit welcher der Vorredner geschlossen.
-Nein, sicherlich, daraus, daß den Freiländern die Organisierung
-und Disciplinierung der Arbeit ohne herrische Arbeitgeber gelungen
-ist und daraus, daß sie ganz unfraglich noch zahlreichen anderen
-Völkern gelingen wird, folgt mit nichten, daß sie <em>allen</em> Völkern notwendigerweise
-gelingen muß. Möglich, ja sagen wir immerhin wahrscheinlich,
-daß einzelne Völker sich unfähig erweisen werden, von dieser
-höchsten Art des Selbstbestimmungsrechtes Gebrauch zu machen; um so
-schlimmer für diese. Aber daraus, das will ich hoffen, wird doch Niemand
-die Folgerung ableiten, daß auch jene Völker, und befänden sie
-sich selbst in der Minderzahl, denen diese Fähigkeit nicht abgeht, auf
-die Anwendung derselben verzichten sollen. Diese Fähigeren werden
-dann die Lehrmeister der Unfähigeren werden. Sollten sich aber diese
-nicht nur unfähig, sondern auch als ungelehrig erweisen &mdash; je nun,
-dann werden sie eben so von dem Erdboden verschwinden, wie ungelehrige
-Kannibalen verschwinden müssen, wo sie mit Kulturnationen in
-Berührung treten. Daß die Nation, welcher der Fragesteller angehört,
-diesen unfähigen Nationen <em>nicht</em> beigezählt werden muß, darauf mag
-er sich getrost verlassen.
-</p>
-
-<p>
-<em>Wladimir Tonof</em> (Freiland). Das geehrte Mitglied aus England
-(Brown) hat eine unrichtige Vorstellung sowohl von den Schwierigkeiten
-der hier in Frage kommenden Organisation und Disciplin, als von
-der Bedeutung eventueller Mißerfolge einzelner Unternehmungen in
-einem freien Gemeinwesen. Erstere anlangend will ich darauf hinweisen,
-daß in der Organisation associierter Kapitalien, die bekanntlich Jahrhunderte
-<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a>
-alt ist, eine keineswegs zu verachtende Vorschule der
-Arbeitsassociation gegeben ist, soweit es sich um die dabei zu
-wählenden Formen der Leitung und Überwachung handelt. Zwar
-giebt es Verschiedenheiten tiefeingreifender Art, die wohl beachtet sein
-wollen; es liegt aber im Wesen der Sache, daß die Unterschiede
-alle zu Gunsten der Arbeitsassociation sich geltend machen. Bei
-diesen sind nämlich die Hauptgebrechen der Kapitalsassociation, das
-sind Unkenntnis und Gleichgiltigkeit der Genossen den Aufgaben des
-Unternehmens gegenüber, nicht zu besorgen und es ist daher hier
-auch jener peinliche, die Aktionsfreiheit der Leitung lähmende und
-trotzdem nutzlose Kontrollapparat, welcher den Statuten der Kapitalsvergesellschaftungen
-als Ballast anhaftet, vollkommen entbehrlich. Der
-einzelne Aktionär versteht in der Regel nichts von den Geschäften
-seiner Gesellschaft und hat ebenso in der Regel gar nicht die Absicht,
-sich um den Geschäftsgang anders, als durch Empfangnahme der
-Dividenden zu kümmern. Trotzdem ist <em>er</em> der Herr des Unternehmens,
-von seinem Votum hängt dessen Schicksal in letzter Linie ab; welche
-Umsicht ist daher vonnöten, um diesen Aktionär vor den möglichen
-Folgen der eigenen Unkenntnis, Leichtgläubigkeit und Nachlässigkeit zu
-schützen! Die vergesellschafteten Arbeiter dagegen sind mit dem Wesen
-ihres Unternehmens sehr wohl vertraut, dessen Gedeihen ist ihr vornehmstes
-materielles Interesse und wird von ihnen auch ausnahmslos
-als solches erkannt. Das sind ausschlaggebende Vorteile. Oder will
-man darin eine besondere Schwierigkeit sehen, daß die Arbeiter sich der
-Leitung von Personen unterwerfen sollen, deren Stellung von ihrem,
-der zu Leitenden, Votum abhängt? Dann könnte man mit demselben
-Rechte die Autorität aller aus Wahl hervorgehenden politischen und
-sonstigen Behörden anzweifeln. Den Leitern fehlt jegliches Mittel,
-Gehorsam zu <em>erzwingen</em>? Falsch; es fehlt ihnen nur eines, das
-Recht, den Unbotmäßigen willkürlich zu entlassen. Aber dieses Recht
-fehlte auch gar mancher anderen, auf Disciplin und vernünftige
-Fügsamkeit der Mitglieder angewiesenen Körperschaft, die nichtsdestoweniger,
-oder gerade deshalb weitaus bessere Disciplin hielt, als jene
-Vereinigungen, deren Gehorsam durch die weitestgehenden Zwangsmittel
-gewährleistet war. Zwar kann, wo der äußere Zwang fehlt, die
-Disciplin schwerer in Tyrannei ausarten, aber das ist doch wahrlich
-kein Übel. Zudem steht den Leitern freier Arbeitervergesellschaftungen
-ein Zwangsmittel der Disciplin zur Verfügung, dessen Gewalt schrankenloser
-und unbedingter ist, als die der schonungslosesten Tyrannei: die
-alles umfassende gegenseitige Kontrolle der Genossen, deren Einfluß selbst
-der Hartnäckigste auf die Dauer nicht widerstehen kann. Allerdings ist
-zu all dem unerläßlich, daß die Arbeitenden insgesamt, oder doch zu
-weitaus überwiegendem Teile vernünftige Männer seien, deren Intelligenz
-<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a>
-zu nüchterner Abwägung des eigenen Vorteils ausreicht. Allein das
-ist ja ganz im Allgemeinen die erste und oberste Voraussetzung
-der Etablierung wirtschaftlicher Gerechtigkeit. Daß diese &mdash; das Endergebnis
-des bisherigen Entwicklungsganges der Menschheit &mdash; nur für
-Menschen paßt, die sich aus dem untersten Stadium der Brutalität
-herausgearbeitet haben, unterliegt in keinem Betracht einer Frage.
-Daraus folgt, daß Völker und Individuen, welche diese Stufe der
-Entwicklung noch nicht erreicht haben, zu derselben erzogen werden
-müssen, welches Erziehungswerk bei nur einigem guten Willen durchaus
-nicht schwer ist. Daß es, ernstlich in Angriff genommen, irgendwo
-gänzlich mißlingen könnte, bezweifeln wir.
-</p>
-
-<p>
-Und nun besehen wir uns die zweite Seite der aufgeworfenen
-Frage. Ist es richtig, daß vermöge der im freien Gemeinwesen
-waltenden Interessensolidarität das Wohl und Wehe der Gesamtheit
-unlöslich mit dem jeder einzelnen Unternehmung zusammenhänge?
-Versteht man darunter, daß in einem solchen Gemeinwesen Jedermann
-an Jedermanns Wohl, also auch am Gedeihen jeder Unternehmung
-interessirt ist, so entspricht dies vollkommen dem Sachverhalte; soll
-aber &mdash; und das war ersichtlich die Meinung des geehrten Redners &mdash;
-damit gesagt sein, daß das Wohl eines solchen Gemeinwesens vom
-Gedeihen jedes einzelnen Unternehmens seiner Angehörigen abhänge,
-so ist dies durchaus grundlos. Geht es einem Unternehmen schlecht,
-so verlassen es seine Mitglieder und wenden sich einem besser gedeihenden
-zu, das ist alles. Wohl aber schützt umgekehrt diese mit der
-Interessensolidarität verknüpfte Beweglichkeit der Arbeitskräfte das freie
-Gemeinwesen vor tiefergehenden Folgen etwa wirklich begangener
-Mißgriffe. Kommt es irgendwo zu übelberatenen Wahlen, so können
-die ungeschickten Geschäftsleiter verhältnismäßig geringes Unheil stiften;
-sie sehen sich, d. h. das von ihnen geleitete Unternehmen, sehr rasch
-von Arbeitern verlassen, die Verluste bleiben bedeutungslos, weil auf
-einen kleinen Kreis beschränkt. Ja, diese Beweglichkeit erweist sich in
-letzter Linie als wirksamstes Korrektiv aller wie immer gearteten Fehler,
-als das Mittel, welches überall die mangelhaften Organisationsformen
-und schwachen Intelligenzen verdrängt und gleichsam automatisch durch
-tüchtigere ersetzt. Denn die aus welchem Grunde immer schlecht
-gedeihenden Unternehmungen werden stets in verhältnismäßig kurzer Zeit
-von den besseren aufgesogen, ohne daß dies, wie in der ausbeuterischen
-Gesellschaft, zum Ruine der bei ersteren Beteiligten führen könnte. Es ist
-daher auch nicht nötig, daß diese freien Organisationen überall gleich im
-ersten Anlaufe das Beste treffen, damit schließlich allenthalben Ordnung
-und Tüchtigkeit herrsche; denn im friedlichen Wettbewerbe verschwindet das
-Mangelhafte rasch vom Schauplatze, indem es in die als tüchtig erprobten
-Unternehmungen aufgeht, die dann allein das Feld behaupten.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a>
-<em>Miguel-Diego</em> (Rechte). Wir wissen nunmehr, daß die neue
-Ordnung alle natürlichen Erfordernisse des Gelingens in sich vereinigt;
-daß ihre Einführung ein Erfordernis des Kulturfortschrittes sei, wurde
-früher schon nachgewiesen. Wie kommt es trotz alledem, daß dieselbe
-nicht als das Ergebnis des Zusammenwirkens elementarer, gleichsam
-automatisch eintretender geschichtlicher Vorgänge, sondern vielmehr als
-eine Art Kunstprodukt, als planmäßig eingeleitetes Resultat der Bestrebungen
-einzelner Männer ihren Einzug in die Welt hielt? Wie,
-wenn die &bdquo;Internationale freie Gesellschaft&ldquo; sich nicht gebildet hätte,
-oder wenn ihr Aufruf erfolglos geblieben, wenn ihr Werk gleich im
-Keime gewaltsam erstickt worden, oder wenn es aus irgend einem anderen
-Grunde fehlgeschlagen wäre? Man wird zugeben, daß dies
-immerhin denkbare Eventualitäten sind. Wie stände es um die wirtschaftliche
-Gerechtigkeit, wenn eine dieser Möglichkeiten Thatsache geworden
-wäre? Wenn die Socialreform in Wahrheit eine unvermeidliche
-Notwendigkeit ist, dann müßte sie sich schließlich auch gegen den
-Widerstand einer ganzen Welt durchsetzen, dann müßte sich zeigen lassen,
-daß und kraft welcher unlöslich mit ihr verknüpften Gewalten, sie den
-Sieg über Vorurteil, bösen Willen und Mißgeschick davongetragen
-hätte. Erst damit wäre der Beweis erbracht, daß das Werk, um
-welches wir uns bemühen, mehr ist, als die ephemere Frucht unsicheren
-Menschenwitzes, daß vielmehr jene Männer, die den ersten Anlaß dazu
-gaben und seine Entwickelung überwachten, damit lediglich als Werkzeuge
-jenes Weltgeistes handelten, der &mdash; hätten <em>sie</em> ihm versagt &mdash;
-um andere Werkzeuge und Wege zu dem unvermeidlichen Ziele nicht
-verlegen gewesen wäre.
-</p>
-
-<p>
-<em>Henri Ney</em> (Freiland). In der That, wenn die wirtschaftliche
-Gerechtigkeit auf unser, der Gründer von Freiland, Eingreifen angewiesen
-wäre, um Thatsache zu werden, dann stünde es schlecht nicht
-bloß um ihre Notwendigkeit, sondern auch um ihre Sicherheit. Denn
-was einzelne Menschen schaffen, können demnächst andere Menschen
-wieder rückgängig machen. Zwar sind äußerlich betrachtet alle geschichtlichen
-Vorgänge Menschenwerk; aber die großen geschichtlichen Notwendigkeiten
-unterscheiden sich dadurch von den bloß zufälligen Ereignissen,
-daß sich bei ihnen allemal erkennen läßt, ihre Akteure seien
-lediglich die Werkzeuge des Schicksals, Werkzeuge, die der Genius der
-Menschheit hervorbringt, wenn er ihrer bedarf. Wir wissen nicht, wer
-die Sprache, das erste Werkzeug, die Schrift, erfunden hat; aber wer
-es auch sei, wir wissen, daß er in dem Sinne ein bloßes Werkzeug
-des Fortschritts gewesen, als wir mit der nämlichen Sicherheit, mit
-welcher wir irgend ein anderes Naturgesetz aussprechen, die Behauptung
-wagen können, Sprache, Werkzeug, Schrift wären erfunden worden,
-auch wenn ihre zufälligen Erfinder niemals das Licht der Welt erblickt
-<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a>
-hätten. Das nämliche nun gilt auch von der wirtschaftlichen Freiheit;
-sie wäre gefunden worden, auch wenn keiner von uns, die wir sie thatsächlich
-zuerst fanden, existiert hätte. Nur freilich wäre in diesem
-Falle die Form ihres Eintritts in die Welt der geschichtlichen Thatsachen
-wahrscheinlich eine andere geworden, vielleicht eine friedlichere,
-erfreulichere noch, als jene, deren Zeugen wir sind, vielleicht aber auch
-eine gewaltthätige und schreckliche.
-</p>
-
-<p>
-Um das in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise zu zeigen,
-muß zunächst erwiesen werden, daß der Fortbestand der modernen Gesellschaft,
-so wie sie sich im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt
-hat, ein Ding innerer Unmöglichkeit ist. Zu diesem Behufe werden
-Sie mir gestatten, etwas weiter auszuholen.
-</p>
-
-<p>
-In der ursprünglichen barbarischen Gesellschaft, wo die Ergiebigkeit
-der Arbeit so gering war, daß der Schwächere durch den Stärkeren
-nicht ausgebeutet und das eigene Gedeihen nur durch Verdrängung und
-Vernichtung der Mitkonkurrenten gefördert werden konnte, waren Blutgier,
-Grausamkeit, Hinterlist, durchaus erforderlich nicht bloß zum
-Fortkommen des Individuums, sondern sie dienten auch ersichtlich zum
-Vorteile jener Gesellschaft, der das Individuum angehörte. Sie waren
-deshalb nicht bloß allgemein verbreitet, sondern galten ganz offenbar
-als Tugenden. Der erfolgreichste, erbarmungsloseste Menschenschlächter
-war der geehrteste seiner Horde und wurde sicherlich in Wort und Lied
-als nachahmenswürdiges Beispiel gepriesen.
-</p>
-
-<p>
-Als dann die Ergiebigkeit der Arbeit wuchs, verloren diese &bdquo;Tugenden&ldquo;
-zwar viel von ihrer ursprünglichen Bedeutung, in ihr Gegenteil
-aber verkehrten sie sich erst, als die Sklaverei erfunden wurde und nunmehr
-die Möglichkeit sich einstellte, statt des Fleisches die Arbeitskraft
-des besiegten Konkurrenten sich und der eigenen Gemeinschaft nutzbar
-zu machen. Nun erst wurde blutgierige Grausamkeit, die bis dahin
-immer noch nützlich gewesen, schädlich, denn sie beraubte um eines vorübergehenden
-Genusses &mdash; des Menschenfleischgenusses &mdash; willen das
-siegende Individuum sowohl, als die Gesellschaft, welcher es angehörte,
-des dauernden Vorteils vermehrten Wohlstandes und gewachsener Macht.
-Die bestialische Blutgier mußte daher in der neuen Form des Daseinskampfes
-allmählich schwinden, aus einer bewunderten und gehegten
-Tugend zu einer mehr und mehr der allgemeinen Mißbilligung unterworfenen
-Eigenschaft, d. i. also zu einem Laster werden. Sie <em>mußte</em>
-dazu werden, weil nur jene Horden, in denen dieser moralische Umwandlungsproceß
-Platz griff, der Vorteile der neuen Formen der Arbeit
-und der neuen socialen Institution &mdash; der Sklaverei &mdash; in vollem
-Maße teilhaft werden konnten, dadurch an Kultur und Macht zunahmen
-und ihre gewachsene Macht dann dazu benützten, die auf ihren
-alten kannibalischen Sitten beharrenden Stämme auszurotten oder sich
-<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a>
-zu unterwerfen. Eine neue Moral setzte sich solcherart im Laufe der
-Jahrtausende unter den Menschen fest, eine Moral, die in ihren
-Grundzügen sich bis auf unsere Tage erhalten hat, die der Ausbeutung.
-</p>
-
-<p>
-Eine der seltsamsten Täuschungen aber ist es, diese Ethik &bdquo;Menschenliebe&ldquo;
-zu nennen. Zwar der wilde, blutdürstige Haß gegen den Nebenmenschen
-war milderen Gefühlen gewichen, aber von diesen bis zu wirklicher
-Menschenliebe, unter welcher wir die Wertschätzung des
-Nebenmenschen als <em>Unseresgleichen</em> verstehen, zum Unterschiede von
-jenem kalten Wohlwollen, welches wir allenfalls auch dem Tiere entgegenbringen,
-ist noch ein weiter Schritt. Wirkliche Menschenliebe verträgt
-sich mit der Ausbeutung so wenig, als mit dem Kannibalismus.
-Denn die neue Form des Daseinskampfes verdammt zwar das Töten
-des Besiegten, macht aber an dessen Statt die Unterdrückung und Vergewaltigung
-des Nebenmenschen zu einem gebieterischen Erfordernisse
-des eigenen Gedeihens. Und man verstehe wohl: wahre, vollkommene
-Menschenliebe kann bei jener Art des Daseinskampfes, wie ihn die ausbeuterische
-Gesellschaft führt, nicht bloß nicht gefördert werden, sie erweist
-sich als geradezu schädlich und vermag &mdash; als allgemein
-verbreiteter Gattungsinstinkt &mdash; gar nicht zu bestehen. Einzelne Individuen
-mögen immerhin den Nebenmenschen als Ihresgleichen lieben;
-sie bleiben, solange die Ausbeutung in Kraft ist, seltene und von der
-öffentlichen Meinung keineswegs geschätzte Sonderlinge. Nur Heuchelei
-oder grobe Selbsttäuschung werden das in Zweifel ziehen. Allerdings
-haben die sogenannten civilisierten Nationen des Abendlandes seit länger
-als einem Jahrtausend das Wort: &bdquo;Liebe Deinen Nächsten <em>wie dich
-selbst</em>&ldquo; auf ihre Fahnen geschrieben und ohne Scheu behauptet, sich an
-dasselbe zu halten, oder doch zum mindesten bestrebt zu sein, diesem
-Worte nachzuleben. In Wahrheit aber liebten sie den Nebenmenschen
-&mdash; bestenfalls &mdash; wie ein nützliches Haustier, zogen ohne den geringsten
-Skrupel Vorteil aus seiner Plage, seiner Marter, und schreckten auch
-vor dessen kaltblütiger Tötung nicht entfernt zurück, wenn ihr wirklicher
-oder vermeintlicher Vorteil sie dazu antrieb. Und das waren nicht
-etwa die Gesinnungen und Gefühle einzelner, besonders hartherziger
-Individuen, sondern die der Gesellschaft als solcher; sie wurden von der
-öffentlichen Meinung nicht mißbilligt, sondern gebieterisch gefordert,
-unter allerlei wohlklingenden Namen als Tugenden gepriesen, und ihr
-Widerspiel, die wirkliche Menschenliebe, galt, sowie statt leerer Phrasen
-Thaten in Frage kamen, günstigenfalls als bemitleidenswerte Thorheit,
-in der Regel aber als todeswürdiges Verbrechen. Er, der jenes Wort
-gesprochen und zu dem sie in ihren Kirchen beteten, wäre von ihnen
-allen abermals ans Kreuz geschlagen, verbrannt, gerädert, gehängt &mdash; in
-der jüngsten Vergangenheit vielleicht bloß eingekerkert worden, hätte er
-<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a>
-es abermals, wie vor neunzehn Jahrhunderten, gewagt, auf offenem Markte
-und in zündender, nicht mißzuverstehender, lebendiger Rede zu predigen,
-was ihr blödes Auge und ihr durch Jahrtausende alten Selbstbetrug verwirrter
-Sinn in den Schriften seiner Jünger wohl las, aber nicht begriff.
-</p>
-
-<p>
-Und das Entscheidende dabei ist, daß die Menschheit in der Epoche
-der Ausbeutung anders gar nicht fühlen und denken, geschweige denn
-handeln konnte. Sie <em>mußte</em> auf der Ausbeutung beharren, solange
-diese eine Kulturnotwendigkeit war, sie <em>konnte</em> daher keine Menschenliebe
-empfinden und üben, denn diese verträgt sich mit Ausbeutung so
-wenig, als Widerwille vor dem Totschlag mit Kannibalismus. Gleichwie
-in der ersten barbarischen Menschheitsepoche schon das, was die
-Ausbeutung &bdquo;Humanität&ldquo; nennt, ein Nachteil im Daseinskampfe gewesen
-wäre, so hätte späterhin das, was <em>wir</em> Humanität nennen, die
-wahre Menschenliebe, jede davon befallene Nation in Nachteil versetzt.
-Fressen oder gefressen werden &mdash; das war die Alternative in der Epoche
-des Kannibalismus; unterdrücken oder unterdrückt werden, in der Epoche
-der Ausbeutung.
-</p>
-
-<p>
-Nun hat sich ein neuerlicher Wandel in der Form und Ergiebigkeit
-der Arbeit vollzogen; die socialen Einrichtungen sowohl, als die
-moralischen Empfindungen der Menschheit können davon nicht unberührt
-bleiben. Aber &mdash; und damit bin ich zum letzten entscheidenden Punkte
-gekommen &mdash; es sind dabei allerdings mehrere Formen der Entwickelung
-denkbar. Die erste ist diejenige, mit welcher wir uns bisher ausschließlich
-beschäftigt haben: die socialen Einrichtungen unterziehen sich dem
-durch die neue Arbeitsform bedingten Wandel, und entsprechend der damit
-bewirkten Änderung des Daseinskampfes vollzieht sich auch der Umschwung
-in den moralischen Gefühlen; friedlicher Wettbewerb, vollkommene
-Interessensolidarität löst die wechselseitige Ausnutzung, vollkommene
-Menschenliebe die Menschennutzung aus.
-</p>
-
-<p>
-Wollen wir nun den letzten Zweifel über die bedingungslose Notwendigkeit
-dieses Entwickelungsganges ein für allemal beseitigen, so setzen
-wir den Fall, daß es anders käme: die Anpassung der socialen Einrichtungen
-an die geänderte Arbeitsform vollziehe sich <em>nicht</em>. <em>Denken</em>
-läßt sich eine solche Möglichkeit immerhin, und ich halte es &mdash; bis zu
-diesem Punkte der Beweisführung gediehen &mdash; auch für ganz überflüssig,
-die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit derselben abzuwägen;
-wir nehmen einfach an, daß sie sich verwirkliche. Unsinnig und undenkbar
-aber wäre in diesem Falle die fernere Annahme, daß dieses Beharren
-der socialen Einrichtungen auf den alten Formen stattfinden
-könne, ohne daß sehr wesentliche Rückwirkungen sowohl auf die Formen
-der Arbeit als die moralischen Instinkte der Menschheit die notwendige
-Folge wären. Jene überaus orthodoxen, aber nicht minder gedankenlosen
-Socialpolitiker, die solches annehmen, halten es für möglich, daß
-<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a>
-eine Ursache von so überwältigender Tragweite, wie es die bis zur
-Möglichkeit des Überflusses und der Muße für alle Menschen gediehene
-Produktivität der Arbeit ist, überhaupt ohne irgend welche, wie immer
-geartete Wirkung auf den Entwickelungsgang der Menschheit bleiben
-könne. Sie übersehen, daß der Daseinskampf innerhalb der menschlichen
-Gesellschaft sich unter dem Einflusse dieses Faktors für alle Fälle ändern
-muß, gleichviel, ob die socialen Einrichtungen sich einer entsprechenden
-Anpassung unterziehen oder nicht, und daß demnach ebenso für alle
-Fälle untersucht werden muß, welche Rückwirkung diese geänderte Form
-des Daseinskampfes auf die Gesamtheit der menschlichen Institutionen
-äußern könne oder müsse.
-</p>
-
-<p>
-Und worin besteht nun die Änderung des Daseinskampfes für den
-oben gekennzeichneten Fall? <em>Ganz einfach in einem teilweisen
-Rückfalle in die Kampfesformen der ersten, der kannibalischen
-Menschheitsepoche!</em>
-</p>
-
-<p>
-Wir haben gesehen, daß die Ausbeutung den früher auf Vernichtung
-des Konkurrenten abzielenden Kampf in einen auf Unterjochung desselben
-gerichteten umgewandelt hat; nun denn, mit dem Momente, wo
-die Produktivität der Arbeit so groß wird, daß der &mdash; durch die Ausbeutung
-darniedergehaltene &mdash; Konsum ihr nicht mehr zu folgen vermag,
-wird abermals die Verdrängung, die &mdash; wenn auch nicht physische, so
-doch wirtschaftliche &mdash; Vernichtung des Konkurrenten zu einer Voraussetzung
-des eigenen Gedeihens, der Daseinskampf muß die Formen der
-Unterjochung und Vernichtung zugleich annehmen. Wenig nützt nunmehr
-auf wirtschaftlichem Gebiete die noch so schonungslose Herrschaft über
-noch so zahlreiche menschliche Ausbeutungsobjekte; sofern es dem Ausbeuter
-nicht gelingt, den Mitausbeuter vom Markte zu verdrängen, muß
-er im Daseinskampfe unterliegen. Und ebenso haben nunmehr die Ausgebeuteten
-sich nicht bloß der Härten ihrer Zwingherren zu erwehren,
-sie müssen, wollen sie dem Hunger entgehen, sich gegenseitig die unzureichend
-gewordenen Stellen an den Futterkrippen des &bdquo;Arbeitsmarktes&ldquo;
-mit Zähnen und Klauen streitig machen.
-</p>
-
-<p>
-Ist es nun denkbar, daß eine so fürchterliche Änderung der Grundlagen
-des Daseinskampfes ohne Wirkung auf die Moral der Menschheit
-bleibe? Die gleiche Ursache <em>muß</em> von der gleichen Wirkung begleitet
-sein, die Ethik der kannibalischen Epoche <em>muß</em> ihre siegreiche Wiederkehr
-feiern. Zwar den veränderten Modalitäten des Vernichtungskampfes
-entsprechend werden auch die einstigen grausamen, bösartigen Instinkte
-eine Modifikation erleiden, aber die Grundstimmung, die schonungslose
-Feindseligkeit gegen den Nebenmenschen, muß wiederkehren. In den
-Jahrtausenden, in denen der Kampf nur der Ausnützung des Nächsten
-galt, war, insbesondere wenn der Ausgenützte sich gewöhnt hatte, im
-Ausbeuter ein höheres Wesen zu verehren, zwischen Herr und Knecht
-<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a>
-zum mindesten jener Grad der Anhänglichkeit möglich, wie er zwischen
-Mensch und Haustier besteht. Herren oder Knechte unter sich hatten
-vollends keinen notwendigen Anlaß einander zu hassen. Wechselseitige
-Schonung, Großmut, Milde, Dankbarkeit konnten als &mdash; allerdings sehr
-kärgliche &mdash; Surrogate der Menschenliebe bei einem solchen Zustande
-gedeihen. Nunmehr jedoch, wo Ausbeutung und Verdrängung zugleich
-die Losung des Kampfes sind, müssen sich die obgenannten Tugenden
-mehr und mehr als verderbliche Hindernisse erfolgreichen Daseinskampfes
-erweisen, sie müssen folglich verschwinden und der Erbarmungslosigkeit,
-Hinterlist, Grausamkeit, Tücke Platz machen. Und wohlverstanden, all
-diese schändlichen Eigenschaften müssen nicht bloß allgemein verbreitet,
-sie müssen auch allgemein geschätzt, aus dem Inbegriffe schmählichster
-Niedertracht zum Inbegriffe der &bdquo;Tugend&ldquo; werden. Ebenso wenig, als
-ein &bdquo;humaner&ldquo; Menschenfresser oder ein von wirklicher Menschenliebe
-erfüllter Ausbeuter denkbar sind, ebenso wenig läßt sich ein großmütiger,
-im bisherigen Sinne tugendhafter Ausbeuter unter dem Alpdrucke der
-Überproduktion auf die Dauer auch nur denken; und ebenso sicher, als
-die kannibalische Gesellschaft tückische Mordgier als preiswürdigste aller
-Tugenden anerkennen mußte, ebenso sicher müßte die von Überproduktion
-heimgesuchte ausbeuterische Gesellschaft dahin gelangen, den hinterlistigsten
-Betrüger als ihr Tugendideal zu verehren.
-</p>
-
-<p>
-Aber, so wird man einwenden, das widerspricht denn doch, trotz
-aller logischen Unanfechtbarkeit, den Thatsachen allzusehr, als daß es
-richtig sein könnte. Die Überproduktion, der Zwiespalt zwischen der
-Produktivität der Arbeit und der durch die socialen Einrichtungen bedingten
-Konsumtionsfähigkeit, bestehen thatsächlich seit Generationen und
-trotzdem wäre es zum mindesten eine arge Übertreibung, wollte man
-behaupten, daß die moralischen Empfindungen der civilisierten Menschheit
-die im obigen gekennzeichnete schreckliche Verschlimmerung erfahren hätten.
-Daß mancherlei Nichtswürdigkeit infolge des stets schonungsloser sich
-gestaltenden wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes mehr und mehr an Verbreitung
-gewinne, ja daß allgemach eine gewisse Verwirrung sich der
-öffentlichen Meinung zu bemächtigen beginne, die den Unterschied zwischen
-wahrem Verdienst und erfolgreicher Schurkerei nicht überall mehr festzuhalten
-vermöge, sei allerdings wahr; ebenso wahr aber umgekehrt,
-daß niemals zuvor Humanität in allen Formen so hoch geschätzt und
-stark verbreitet gewesen, wie eben in der Gegenwart.
-</p>
-
-<p>
-Diese unleugbaren Thatsachen aber besagen nicht, daß Überproduktion
-auf die Dauer zu anderen, als den oben gekennzeichneten Ergebnissen
-führen könnte &mdash; sie zeigen nur, daß einerseits diese schreckliche Krankheitserscheinung
-im wirtschaftlichen Getriebe der Menschheit noch nicht lange
-genug wirksam ist, um ihre Früchte schon voll gezeitigt zu haben, und
-daß anderseits der moralische Instinkt der Menschheit den richtigen
-<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a>
-Ausweg aus dem ökonomischen Zwiespalte geahnt hat, lange bevor die
-menschliche Erkenntnis ihn zu betreten vermochte. Bloß wenige Generationen
-ist es her, daß das Mißverhältnis zwischen Produktivität und
-Konsum äußerlich in die Erscheinung getreten; was aber sind einige
-Generationen im Leben der Menschheit? Auch die Ethik der Ausbeutung
-bedurfte sicherlich sehr vieler Jahrhunderte, ehe sie diejenige des Kannibalismus
-überwand; warum sollte der Rückfall in die kannibalische Ethik
-sich um so vieles rascher vollziehen? Die instinktive Ahnung aber, daß
-wachsende Kultur nicht mit socialem Stillstande und moralischem Rückschritte,
-sondern mit dem Fortschritte beider verknüpft sein werde, diese
-der abendländischen Menschheit trotz aller Thorheiten und aller Greuel,
-in denen sie sich zwischenzeitig erging, unausrottbar eingeimpfte Sehnsucht
-nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sie ist eben jener &bdquo;fremde
-Blutstropfen im Körper der europäischen Völkerfamilie&ldquo;, der semitisch-christliche
-Sauerteig, der sie, als die Zeit der Knechtschaft um war,
-davor bewahrte, auch nur vorübergehend dem Verwesungsprozeß von
-Knechtschaft und Barbarei zugleich zu verfallen. Die Dinge werden
-eben die zuletzt gekennzeichnete Entwickelung <em>nicht</em> nehmen, die Ausbeutung
-wird sich neben der gesteigerten Produktivität <em>nicht</em> erhalten,
-und das ist der Grund, warum auch die gekennzeichneten moralischen
-Folgen nicht hervortraten. Wollte man aber materiellen Fortschritt
-und Ausbeutung zugleich als das zukünftige Los der Menschheit voraussetzen,
-so ließe sich dies logischer Weise anders, als verknüpft mit
-vollständigem moralischen Rückfalle gar nicht denken.
-</p>
-
-<p>
-Und noch eine dritte Entwickelungsform ließe sich als denkbar
-hinstellen: in dem Zwiespalte, in welchen die Produktivität der Arbeit
-mit dem geltenden socialen Rechte geraten, könnte erstere, die neue
-Form der Arbeit, unterliegen; vor die Unmöglichkeit gestellt, von den
-erlangten wirtschaftlichen Fähigkeiten den vollen Gebrauch zu machen,
-könnte die Menschheit diese Fähigkeiten wieder verlieren. In diesem
-Falle wäre der Einklang zwischen Produktivität und Konsum, Arbeit
-und Recht, auf der alten Grundlage zurückgewonnen und dem entsprechend
-könnte auch die Moral der Menschheit im alten Geleise verharren.
-Der Fortschritt zu wahrer Menschenliebe müßte zwar unterbleiben,
-denn nach wie vor würde der Kampf ums Dasein auf Unterdrückung
-des Nebenmenschen beruhen, aber die Notwendigkeit des Vernichtungskampfes
-wäre vermieden. Auch die Ahnung der Möglichkeit
-einer solchen Entwickelung war der abendländischen Menschheit nicht
-fremd; es hat, insbesondere während der jüngsten Generationen, an teils
-bewußten, teils unbewußten Versuchen nicht gefehlt, sie in diese Richtung
-hinüberzuleiten. Von der würgenden Umklammerung der Überproduktion
-geängstigt, dem Wahnsinne nahe gebracht, rüttelten zeitweise
-ganze Nationen an den Grundpfeilern der Produktivität, suchten die
-<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a>
-Quelle der Arbeitsergiebigkeit zu verschütten und verfolgten mit verbissenem
-Hasse den Kulturfortschritt, dessen Früchte zeitweise so bitter
-waren. Die Angriffe gegen die Volksbildung, gegen die unterschiedlichen
-Arten der Arbeitsteilung, gegen das Maschinenwesen, sind nicht anders
-zu verstehen, als eben durch dieses zeitweilige Bestreben, den Zwiespalt,
-in welchen die Gütererzeugung zur Güterverteilung geraten, durch Zurückschraubung
-ersterer zu überwinden. Daß solcherart auch die Moral
-vor einer Ausartung bewahrt werden sollte, deren eigentlich treibende
-Ursache diese Sorte von Reformatoren allerdings nicht begriff, die aber
-als düstere Ahnung vor ihrem geistigen Auge schwebte, läßt sich desgleichen
-nicht verkennen.
-</p>
-
-<p>
-Und nun, nachdem wir alle drei überhaupt denkbaren Entwickelungsformen
-der Reihe nach betrachtet: 1. die Anpassung des socialen Rechts
-an die neue, höhere Arbeitsform und dem entsprechende Entwickelung
-einer neuen, höheren Moral; 2. den dauernden Gegensatz zwischen Arbeitsform
-und Recht und dem entsprechende Rückbildung der Moral;
-3. die Anpassung der Arbeitsform an das bisherige sociale Recht durch
-<a id="corr-90"></a>Preisgebung der höheren Produktivität und dem entsprechenden Fortbestand
-der bisherigen Moral &mdash; nunmehr fragen wir uns, ob im Kampfe
-dieser drei Richtungen eine andere als die erste Siegerin sein kann.
-Denkbar sind sie, wie gesagt, alle drei; ist aber auch denkbar, daß materieller
-oder moralischer Verfall sich neben moralischem zugleich und
-materiellem Fortschritt behaupten, oder vollends über diesen endgültig
-triumphieren würden? Möglich, sagen wir sogar wahrscheinlich, daß
-ohne unser vor 25 Jahren erfolgreich durchgeführtes Unternehmen die
-Menschheit zunächst noch längere Zeit hindurch sich vorwiegend auf den
-Bahnen der sittlichen Verwilderung einerseits, der Attentate gegen den
-Fortschritt anderseits fortbewegt hätte; an Versuchen nach der Richtung
-der socialen Befreiung hin hätte es deshalb doch niemals gänzlich gefehlt,
-und der schließliche Triumph derselben konnte stets nur eine Zeitfrage
-sein. Nein, die Menschheit ist uns nichts schuldig, was sie
-nicht auch ohne uns für alle Fälle erlangt hätte; wenn wir ein Verdienst
-beanspruchen, so beschränkt es sich darauf, das, was kommen
-mußte, rascher und wahrscheinlich unblutiger herbeigeführt zu haben,
-als ohne uns geschehen wäre. (Stürmischer, lang andauernder Applaus
-und jubelnde Zurufe von allen Bänken. Die Wortführer der Opposition
-drücken der Reihe nach dem Redner die Hände und versichern
-ihn ihrer Zustimmung.)
-</p>
-
-<p class="end">
-(Schluß des dritten Verhandlungstages.)
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-6-4">
-<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a>
-26. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Da zahlreiche Congreßmitglieder den Wunsch geäußert hatten, sich
-eingehender davon zu überzeugen, daß thatsächlich die anscheinend so
-wunderbare harmonische Organisation des gesamten wirtschaftlichen Getriebes
-in Freiland nichts anderes, als das selbstverständliche Ergebnis
-wohlberatenen und wahrhaft freien Eigennutzes sei, wurden die Sitzungen
-des Congresses für zwei Tage unterbrochen und diese dazu benützt, um
-eine Reihe größerer Edenthaler und Danastädter Etablissements zu besichtigen
-und bei diesem Anlasse im Wege des Gedankenaustausches mit
-den sich zu diesem Behufe bereitwilligst zur Verfügung der fremden
-Gäste stellenden Direktoren der fraglichen Anstalten sowohl, als des
-Leiters der freiländischen Centralbank alle etwa auftauchenden Zweifel
-gründlich zu erörtern.
-</p>
-
-<p>
-Das erste Bedenken, welches geltend gemacht wurde, betraf die Frage,
-woher denn all die zahllosen Arbeiter allesamt die erforderliche Sachkenntnis
-und Intelligenz hernähmen, um jederzeit genau beurteilen zu
-können, wo man ihrer gerade am nötigsten bedürfe. &bdquo;Sie haben,&ldquo; so
-meinte einer der Besucher, &bdquo;eine allumfassende, pünktliche Statistik, die
-jede Regung Ihres wirtschaftlichen Lebens mit peinlichster Genauigkeit
-verzeichnet &mdash; sehr wohl; aber welch hohes Verständnis gehört dazu, um
-sich in einer solchen Statistik zu orientieren!&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Dazu gehört in Wahrheit ein überaus bescheidenes Maß von Verständnis,
-kein höheres, als es bei jedem vernünftigen Menschen ohne
-weiteres vorausgesetzt werden kann,&ldquo; war die Antwort. &bdquo;Denn kein
-Arbeiter braucht sich um anderes zu kümmern, als lediglich um den auf
-die einzelne Stunde seiner Arbeit entfallenden Ertrag. Hätten wir keinen
-freien Markt, auf welchem Angebot und Nachfrage die Preise regeln,
-so wäre es allerdings eine nicht bloß schwierige, sondern eine in
-<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a>
-Wahrheit ganz und gar unlösliche Aufgabe, herauszufinden, nach
-welcherlei Produkten jeweilig stärkerer oder geringerer Bedarf vorhanden
-und wo dementsprechend vermehrte Zuwendung von Arbeitskraft wünschenswert
-sei. Da sich aber bei uns jede Veränderung der Verhältnisse
-zwischen Angebot und Nachfrage, im Preise der Produkte ausdrückt, so
-ist es ganz selbstverständlich, daß der in Gemäßheit dieser Preise auf
-die einzelne Arbeitsstunde entfallende Nettoertrag in untrüglichster Weise
-anzeigt, ob der Produktionszweig oder das einzelne Etablissement, um
-welches es sich handelt, im Vergleiche zu anderen Produktionszweigen
-oder Etablissements einer Vermehrung oder Verminderung der Arbeitskraft
-bedarf. Daß z. B. die Maschinenfabrik, in deren Räumen wir
-uns momentan befinden, ihren Betrieb ausdehnen soll, ist in letzter
-Linie allerdings darauf zurückzuführen, daß deren Erzeugnisse derzeit
-besonders gesucht sind, eine Thatsache, die an und für sich zu konstatieren
-in der That höchst kompliziert und schwierig wäre; da aber diese
-gesteigerte Nachfrage nach hier erzeugten Maschinen insolange, als die
-Produktion ihr nicht vollkommen nachgefolgt ist, notwendiger Weise das
-Erträgnis aller hier beschäftigten Arbeiter entsprechend vermehrt, so
-genügt es vollkommen, letzteren Umstand zur allgemeinen Kenntnis zu
-bringen, damit das im Interesse der Consumenten gelegene Ergebnis,
-nämlich der vermehrte Zufluß von Arbeitern, sich ganz von selbst
-einstelle.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Aber ist nicht auch diese Ergründung des überall in jedem gegebenen
-Momente vorhandenen Erträgnisses eine für gewöhnliche Durchschnittsarbeiter
-allzu schwierige Aufgabe?&ldquo; lautete die fernere Frage.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Durchaus nicht,&ldquo; erklärte der Direktor der freiländischen Centralbank.
-&bdquo;Sich in dem von all den tausenden Associationen vorgelegten,
-von unserer Centralstelle ergänzten und bearbeiteten Urmateriale zurechtzufinden,
-ist allerdings nicht Jedermanns Sache. Aber solch eingehender
-Untersuchung unterziehen sich auch nur Diejenigen, die sich für statistische
-Studien um ihrer selbst willen interessieren. Der gewöhnliche Arbeiter,
-der nichts anderes wissen will, als den Ort, wo er die seinen Fähigkeiten
-entsprechende höchste Rente findet, begnügt sich mit jenen übersichtlich
-geordneten Zusammenstellungen, welche die statistische Centralstelle
-zu seinem Gebrauche bietet, und welche die zahlreichen Fachzeitungen
-zudem mit Erläuterungen aller Art begleiten. Die geistige Arbeit, die
-von ihm dabei verlangt wird, besteht in nichts anderem, als in der
-Entscheidung der Frage z. B., ob er sich mit dem am Orte seiner
-augenblicklichen Arbeit gebotenen Stundenertrage von 8 Schilling begnügen,
-oder wegen des bei einem anderen verwandten Etablissement
-winkenden, um 15 Pfennige per Stunde höheren Ertrages sich diesem,
-oder etwa zeitweilig einer jener Bodenassociationen zuwenden soll, die
-vorübergehend &mdash; während der Erntezeit nämlich &mdash; bis zu 10 Schilling
-<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a>
-für die Arbeitsstunde zu bieten pflegen. Er muß mit sich darüber ins
-Reine kommen, ob solche Gewinnsteigerung ihm genügenden Ersatz gewährt
-für die mit dem Ortswechsel möglicherweise verknüpften materiellen oder
-gemütlichen Nachteile, für die Beschwerden und Unannehmlichkeiten des
-Umzuges, für die anstrengendere Arbeit u. dergl.; im übrigen aber wird
-von ihm weder irgendwelches Verständnis verwickelter wirtschaftlicher
-Vorgänge, noch irgendwelches Interesse für anderes, als für den eigenen
-Vorteil gefordert.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Wie aber verhüten Sie,&ldquo; so fragte ein anderer der Herren, &bdquo;daß
-bei einer irgendwo eintretenden stärkeren Steigerung der Erträge der
-Zuzug der Arbeitskräfte allzu massenhaft ausfalle? Da keinerlei Behörde
-ordnend eingreift und bestimmt, wer und wie viele herbeieilen
-sollen, so ist doch immerhin möglich, daß statt der gewünschten Hunderte
-sich Tausende einstellen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Das könnte nur geschehen&ldquo; &mdash; so lautete die Erklärung &mdash; &bdquo;wenn
-Telegraph und Druckerpresse bei uns unbekannt wären, oder wenn wir
-uns ihrer nicht zu bedienen verstünden. Um welchen Teilbetrag die
-Rente sinkt, wenn das Angebot von Arbeitskraft wächst, läßt sich natürlich
-überall mit großer Genauigkeit berechnen, und da nun niemand so
-thöricht ist, einer irgendwo auftauchenden höheren Gewinnziffer nachzulaufen,
-ohne sich vorher zu vergewissern, daß er diese höhere Gewinnziffer,
-am Orte seiner neuen Bestimmung angelangt, noch vorfinden werde,
-so ist es bei uns selbstverständliche Übung, daß die Arbeiter ihre Absicht
-den Leitungen der Associationen rechtzeitig anzeigen, daß diese Anmeldungen
-fortlaufend publiziert werden und daß demnach Jedermann, noch
-bevor er sich auf den Weg macht, vollkommen darüber beruhigt sein
-muß, an seinem zukünftigen Arbeitsorte auch wirklich noch vonnöten
-zu sein.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Einen zweiten Anlaß zu eingehenderen Erörterungen boten die in
-zahlreichen der besichtigten Etablissements vorhandenen Versuchsanstalten
-und wissenschaftlichen Laboratorien, die von den dort beschäftigten Technikern
-und Chemikern dazu benutzt werden, um die mannigfaltigsten
-Experimente behufs Erzielung von Verbesserungen des Betriebs anzustellen.
-Der hohe praktische Wert dieser Einrichtung leuchtete den Gästen
-natürlich sofort ein, weniger einleuchtend aber erschien den meisten derselben
-der erläuternde Zusatz eines der Direktoren &mdash; es war das zufällig
-in der Danastädter Chemikalienfabrik &mdash; daß man die gewonnenen
-Erfahrungen &bdquo;selbstverständlich&ldquo; jederzeit publiziere, auf besonders nützlich
-erscheinende die anderen Associationen wohl auch ausdrücklich aufmerksam
-mache und dafür ebenso selbstverständlich von diesen über alle in deren
-Versuchsanstalten gemachten Funde pünktlichst auf dem Laufenden erhalten
-werde.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Wenn das hierzulande selbstverständlich ist, dann müßt Ihr
-<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a>
-freiländischen Industriellen uneigennützig wie die Engel sein,&ldquo; meinte
-einer der Besucher. Und sich direkt an den Direktor wendend, fügte
-er hinzu: &bdquo;Es scheint also doch, daß nicht alle Eure Einrichtungen sich
-sofort zu uns Abendländern übertragen lassen, denn bei uns, dessen
-kann ich Sie versichern, würde Niemand freiwillig von ihm ersonnene
-Produktionsverbesserungen zur Kenntnis seiner Concurrenten bringen,
-und am allerwenigsten könnte er sich darauf verlassen, daß diese ihm
-die ihrigen preisgeben.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Sie haben ganz recht,&ldquo; war die Antwort, &bdquo;das würde Niemand
-bei Ihnen thun, so lange Sie an Ihren bisherigen Einrichtungen festhalten;
-sowie Sie jedoch die unserigen acceptieren, versteht sich all das,
-was Ihnen so wunderbar uneigennützig vorkommt, ganz von selbst, als
-unabweisliches Gebot gerade des Eigennutzes. Denn damit z. B. wir
-hier in Danastadt uns des Vorteils einer von uns ersonnenen Verbesserung
-möglichst vollständig erfreuen, ist durchaus notwendig, daß alle
-chemischen Fabriken des ganzen Landes die gleiche Verbesserung thunlichst
-rasch auch bei sich einführen. Wären wir so thöricht, unsere Entdeckungen
-geheim zu halten &mdash; ein Versuch, der nebenbei bemerkt angesichts
-der Öffentlichkeit all unserer geschäftlichen Vorgänge an und für
-sich ziemlich aussichtslos bliebe &mdash; so wäre das einzig mögliche Ergebnis,
-daß aus allen concurrierenden Associationen insolange Arbeitskräfte zu
-uns einwanderten, bis der Ertrag unserer Arbeit &mdash; umgerechnet auf
-die einzelne Arbeitsstunde &mdash; wieder auf das Niveau der anderwärts
-in Freiland erzielbaren Erträge herabgedrückt würde, wir also von unserer
-Entdeckung oder Erfindung so gut als keinen Vorteil behielten.
-Um das zu vermeiden, bleibt uns schlechterdings kein anderes Auskunftsmittel,
-als auch den Anderen Allen unsere Errungenschaft mitzuteilen;
-dadurch allein erzielen wir, daß die Arbeit auch anderwärts ertragreicher
-wird und daß also Niemand ein Interesse hat, sich behufs Mitgenusses
-unserer Produktionsvorteile an uns heranzudrängen. Gerade so verhält
-es sich natürlich mit den in anderen Associationen gemachten Verbesserungen;
-wir können mit absoluter Sicherheit darauf rechnen, daß
-wir sofort von denselben verständigt werden, da auch die Anderen Alle
-das gleiche Interesse haben wie wir, nämlich unsere Produktionserträge
-zu steigern, damit sie selber den Vorteil der ihrerseits erzielten Verbesserungen
-möglichst vollständig genießen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Gegen dieses Raisonnement konnte nichts Stichhaltiges eingewendet
-werden. Aber jetzt machte sich die Besorgnis geltend, ob es denn nicht
-doch möglich sei, dieses Anrecht der Gesamtheit an den Ergebnissen
-jedes irgend erzielten Produktionsvorteils auf Umwegen zu durchkreuzen.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Was geschähe&ldquo; &mdash; so wurde einer der anwesenden Direktoren
-gefragt &mdash; &bdquo;wenn beispielsweise Sie als Leiter der Bodenassociation
-von Nordleikipia, dazu aufgefordert durch &mdash; selbstverständlich geheimen
-<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a>
-&mdash; Beschluß der die Majorität bildenden alten Mitglieder, es versuchen
-wollten, neue Zuwanderer vom Mitgenusse irgendwelcher besonderer
-Produktionsvorteile im Wege schlechter unfreundlicher Behandlung fernzuhalten;
-wer schützt in solchem Falle diese Neulinge gegen Ihre, von
-der Majorität Ihrer Associationsmitglieder nicht bloß gebilligte, sondern
-geradezu in deren Interesse geübte Willkür? Die Mißhandelten haben
-die Freiheit, fortzuziehen; aber das ist es ja eben, was &mdash; Sie entschuldigen
-wohl die, bloß um der prinzipiellen Aufklärung willen vorgebrachte
-Unterstellung &mdash; erreicht werden will und was doch verhütet
-werden muß, soll darüber nicht Ihre ganze Gleichberechtigung in
-die Brüche gehen. Oder die Majorität kann sich zu gleichem Zwecke
-ein so hohes Präcipuum votieren, daß das damit geübte Unrecht alle
-Zuwanderung abhält. Wo liegt der Schutz gegen derartige Ausschreitungen
-des Eigennutzes in einem Gemeinwesen, welches keinerlei Einengung
-des individuellen Eigennutzes kennt und kennen will?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Abermals in der freien Concurrenz,&ldquo; entgegnete lächelnd der
-Direktor. &bdquo;Derartige Ausschreitungen wären bei uns nur möglich, wenn
-sie im geheimen geübt werden könnten, d. h. wohlverstanden, wenn nicht
-bloß die darauf abzielenden Beschlüsse, sondern auch deren Ausführung
-der Aufmerksamkeit des ganzen Landes vollständig entginge. Ich müßte
-nicht bloß den geheimen Auftrag von meinen Associationsmitgliedern
-erhalten, alle Zuwanderer hinauszuchikanieren, ich müßte auch das Kunststück
-zuwege bringen, diesen Auftrag derart im Verborgenen zu vollstrecken,
-daß Niemand, am allerwenigsten die Opfer desselben, das Geringste
-davon merkten. Denn mit dem Momente, wo meine Praktiken
-ruchbar würden, wäre ich &mdash; darauf können Sie sich verlassen &mdash; zum
-längsten Direktor, meine Auftraggeber wären zum längsten Majorität
-der Bodenassociation von Nordleikipia gewesen. Und genau ebenso verhielte
-es sich, sowie unser Beschluß, den alten Mitgliedern ein ungebührliches
-Präcipuum zuzuwenden, bekannt würde. Denn wie Sie
-leichtlich ermessen können, ist die öffentliche Meinung Freilands in
-keinem Punkte wachsamer und eifersüchtiger, als gerade in diesem, ihren
-Lebensnerv berührenden, das individuelle Interesse Aller gleichmäßig
-bedrohenden; und da die schrankenlose Freizügigkeit allen Arbeitern des
-ganzen Landes jederzeit gestattet, welcher Association immer beizutreten,
-so gehört keine sonderliche Phantasie dazu, um sich das mit unfehlbarer
-Sicherheit Kommende genau auszumalen. Der erste Arbeiter, den meine
-planmäßigen Chikanen zum Verlassen unserer Association zwängen, würde
-vielleicht selber noch keine böse Absicht bemerken; der zweite vielleicht
-schon Lärm, aber vorerst noch vergeblichen schlagen; beim dritten und
-vierten dürfte bereits das öffentliche Mißtrauen rege werden, und ehe
-ich meine Künste am zehnten Opfer zu üben vermöchte, wäre durch
-einen aus allen Gauen herbeiströmenden Zufluß neuer Mitglieder
-<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a>
-die übelwollende Majorität und ich natürlich mit ihr unschädlich
-gemacht.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Diese Darlegung wirkte so schlagend, daß fernerhin kein Zweifel
-gegen die im Wege wahrhaft freier Concurrenz bewirkte Harmonie der
-wirtschaftlichen Interessen laut wurde. Die Congreßmitglieder hatten
-zwar noch wiederholt Anlaß, über gar Manches, was sie sahen und
-hörten, in Erstaunen zu geraten; daß jedoch Freiheit und Gleichberechtigung
-die unfehlbaren Zauberformeln seien, auf deren Ruf die nämlichen
-Wunder allüberall auch außerhalb Freilands in die Erscheinung treten
-müßten, war ihnen zur Gewißheit geworden.
-</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p class="noindent">
-Nach Ablauf der zweitägigen Pause wurden die Beratungen des
-Congresses wieder aufgenommen. Zur Discussion gelangte Punkt 3 der
-Tagesordnung: <em>Sind Not und Elend nicht etwa Naturnotwendigkeiten
-und müßte nicht Übervölkerung eintreten, wenn
-es vorübergehend gelänge, das Elend allgemein zu beseitigen?</em>
-Als erster Redner war vorgemerkt
-</p>
-
-<p>
-<em>Robert Murchison</em> (Rechte): Ich muß zuvörderst Namens
-meiner bisher die Durchführbarkeit des socialen Reformwerkes bezweifelnden
-Gesinnungsgenossen die formelle Erklärung abgeben, daß wir
-nunmehr nicht allein von der Durchführbarkeit, sondern von der naturgesetzlichen
-Unvermeidlichkeit desselben durchaus überzeugt sind. Auch
-die fernere Hoffnung hat das bisherige Ergebnis der Verhandlungen
-gezeitigt, daß es der geehrten Gegenpartei gelingen werde, unsere noch
-vorhandenen Bedenken eben so siegreich zu zerstreuen; einstweilen kann
-ich mich derselben noch nicht entschlagen und fühle mich daher im Interesse
-allseitiger Aufklärung verpflichtet, dieselben nach Kräften zu begründen.
-</p>
-
-<p>
-Das weitaus gewichtigste dieser Bedenken, welches unabhängig von
-allen bisher erörterten Fragen noch ungebrochen aufrecht steht, ist das
-nunmehr zur Diskussion gelangende. Es richtet sich nicht gegen die
-Durchführbarkeit des allgemeinen Freiheits- und Wohlfahrtswerkes. Die
-wirtschaftliche Gerechtigkeit muß und wird zur Wahrheit werden, das
-wissen wir nun; wissen wir damit aber auch schon, daß sie sich wird
-behaupten können? Die wirtschaftliche Gerechtigkeit wird Reichtum für
-alle Lebenden zur Folge haben. Not und Elend mit ihrem Gefolge
-zerstörender Laster werden vom Erdboden verschwinden. Mit diesen
-aber werden zugleich jene Hemmnisse verschwunden sein, welche bisher
-der schrankenlosen Vermehrung des Menschengeschlechts Grenzen zogen.
-Mehr und mehr wird die Menge der Bevölkerung anwachsen, bis endlich
-&mdash; der Tag mag noch so ferne sein &mdash; die Erde ihre Bewohner
-nicht mehr zu ernähren im Stande sein wird.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a>
-Ich will Sie mit ausführlicher Wiederholung und Begründung
-des bekannten Lehrsatzes meines berühmten Landsmannes Malthus nicht
-ermüden. Viel wurde gegen denselben gesagt, Stichhaltiges, Überzeugendes
-bisher nicht. Daß die Vermehrung der lebenden Individuen
-keine andere natürliche Schranke als den Nahrungsmangel kennt, ist
-ein Naturgesetz, dem nicht bloß der Mensch, sondern jedes lebende
-Wesen erbarmungslos unterworfen bleiben muß. Gleichwie die
-Heringe, wenn sie sich frei vermehren könnten, endlich im Weltmeere
-nicht mehr Raum hätten, so müßte auch der Mensch, wenn die Zunahme
-seiner Zahl nicht auf das Hindernis des Nahrungsmangels
-stieße, endlich keinen Raum mehr auf der Erdoberfläche finden.
-Auch bestätigt die Erfahrung aller Zeiten und aller Völker diese grausame
-Wahrheit; überall sehen wir, daß es der Nahrungsmangel, die
-Not mit ihrem Gefolge ist, was die Menge der Lebenden innerhalb
-gewisser Grenzen hält. Das wird auch in alle Zukunft so bleiben.
-Die wirtschaftliche Gerechtigkeit kann diese traurige Grenze weit, sehr
-weit hinausrücken, völlig beseitigen kann sie sie nicht. Zehnfach und
-hundertfach größer kann unter ihrem Walten der Nahrungsspielraum
-werden, ins Unendliche kann er sich nicht ausdehnen. Und ist einmal
-das Unvermeidliche eingetreten, was dann? Mehr und mehr wird
-dann der Reichtum den Entbehrungen und schließlich bitterster Not
-weichen und zwar einer Not, die um so schrecklicher, hoffnungsloser
-sein wird, weil es aus ihrem alle Kultur erdrückenden Bannkreise kein
-Entrinnen geben wird, nicht einmal jenes teilweise, welches früher die
-Ausbeutung zum mindesten einer Minderzahl geboten hatte. Wird
-dann die Menschheit, nachdem sie den Kreislauf vom Kannibalismus zur
-Ausbeutung und von dieser zur wirtschaftlichen Gerechtigkeit vollendet,
-wieder umkehren zur Ausbeutung, vielleicht gar zum Kannibalismus?
-Wer könnte es sagen? Klar scheint nur, daß die wirtschaftliche Gerechtigkeit
-keine Entwickelungsphase ist, deren sich unser Geschlecht längere
-Zeit hindurch erfreuen könnte.
-</p>
-
-<p>
-Zwar hat Malthus und haben Andere nach ihm vorbeugende
-Maßregeln zur Verhütung der Übervölkerung vorgeschlagen, um dem
-rückwirkenden Einflusse des Elends zuvorzukommen. Aber alle diese auf
-künstliche, planmäßige Unterdrückung der Volksvermehrung abzielenden Mittel
-und Mittelchen sind &mdash; wenn sie sich überhaupt durchgreifend in Anwendung
-bringen lassen, nur denkbar in einer armen, vor den äußersten Konsequenzen
-des Elends zitternden Bevölkerung; wie in Überfluß und Muße lebende,
-zudem vollkommenster Freiheit sich erfreuende Menschen dahin gebracht
-werden sollten, sich geschlechtlichen Einschränkungen zu unterwerfen, vermag
-ich nicht abzusehen. Diese Art Vorbeugung könnte meines Erachtens
-in der freien Gesellschaft günstigsten Falles erst dann Platz greifen,
-wenn die Not der Übervölkerung schon einen hohen Grad erreicht, den
-<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a>
-einstigen Wohlstand und mit diesem vielleicht auch das individuelle
-Freiheitsgefühl bedenklich vermindert hätte. Das sind, ganz abgesehen
-von der ethischen Widerwärtigkeit all dieser gewaltsamen Eingriffe in
-das &mdash; gerade unter dem Walten der wirtschaftlichen Gerechtigkeit so
-überaus zart sich gestaltende &mdash; Verhältnis der Geschlechter, sehr wenig
-erfreuliche Perspektiven. Sie zeigen uns im Hintergrunde der Ereignisse
-ein Bild, welches gar traurig absticht von der überschwenglichen Entfaltung
-des ersten Anfanges. Glauben die Männer von Freiland ihre
-Schöpfung auch gegen diese Gefahren wappnen zu können?
-</p>
-
-<p>
-<em>Franzisko Espero</em> (Linke): Der Mensch unterscheidet sich dadurch
-von den anderen lebenden Wesen, daß er sich seine Nahrungsmittel
-selber bereitet, und zwar desto leichter bereitet, je dichter mit fortschreitender
-Kultur die Bevölkerung wird. Das hat ein großer amerikanischer
-Volkswirt (Carey) seinerzeit bewiesen und damit gezeigt, daß
-das im übrigen unangefochten geltende Naturgesetz des notwendigen
-Zurückbleibens des Nahrungsspielraums hinter der Vermehrung der
-Arten, auf den Menschen keine Anwendung findet. Daß trotzdem Not
-und Elend bisher stets als Hemmnisse der Volksvermehrung wirksam
-waren, hat nicht in einem Naturgesetze, sondern in der Ausbeutung
-seinen Grund. Die Erde hätte genug für Alle hervorgebracht, wenn
-man nur Allen gestattet hätte, freien Gebrauch von ihren Kräften zu
-machen. Die Ausbeutung aber ist eine Einrichtung der Menschen, nicht
-der Natur, wie wir gesehen haben. Beseitiget sie, und Ihr habt für
-immer das Gespenst des Hungers verjagt.
-</p>
-
-<p>
-<em>Stefan Való</em> (Freiland): Ich halte es für nützlich, den freiländischen
-Standpunkt in der bisher aufgetauchten Kontroverse sofort
-zu konstatieren. Das geehrte Kongreßmitglied aus Brasilien (Espero)
-hat recht, wenn es das thatsächliche Elend der Menschheit in der
-Epoche der Ausbeutung statt mit dem Walten natürlicher Kräfte,
-mit menschlichen Einrichtungen in Zusammenhang bringt. Die Massen
-litten Mangel, weil sie in Knechtschaft darniedergehalten waren,
-nicht weil die Erde sie reichlicher zu ernähren unvermögend
-gewesen wäre. Ich will übrigens hinzufügen, daß dieses thatsächliche
-Elend die Massen niemals hinderte, sich zu vermehren in
-dem Maße, als dies durch andere, auf die Bevölkerungsbewegung
-entscheidend einwirkende Faktoren bedingt war, ja daß sich in der Regel
-das Elend sogar als Ansporn zur Volksvermehrung erwies. Im
-Unrecht aber befindet sich unser Freund aus Brasilien, wenn er, gestützt
-auf die hohlen Redensarten Carey&rsquo;s, leugnet, daß die Volksvermehrung,
-könnte sie ins Unbegrenzte fortschreiten, endlich zu Nahrungsmangel
-führen müßte. Der erste der heutigen Redner hat ganz richtig bemerkt,
-daß es in diesem Falle schließlich dahin käme, daß den Menschen
-der Raum auf Erden mangelte. Man wird doch nicht annehmen, daß
-<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a>
-ein Zustand denkbar ist, bei welchem unsere Rasse die Erdoberfläche
-bedeckte gleich den Heuschrecken ein von ihnen heimgesuchtes Feld? Ja,
-in letzter Linie müßte bei wirklich schrankenlos fortschreitender Vermehrung
-der Menschenmenge nicht bloß die Oberfläche, sondern sogar
-der stoffliche Inhalt unseres Planeten zu klein werden, um die Elemente
-für die sich häufenden Menschenleiber herzugeben. Die Volkszunahme
-&mdash; in so weit hat Malthus mitsamt seinen Anhängern Recht, <em>muß</em>
-also irgend eine Grenze haben. Ob diese Grenze aber gerade im sog.
-Nahrungsspielraum zu suchen sei, das ist denn doch eine andere Frage, eine
-Frage, die vernünftiger Weise erst dann bejaht werden dürfte, wenn
-festgestellt, oder auch nur plausibel gemacht werden könnte, daß nicht
-früher schon, lange bevor Nahrungsmangel sich einstellt, andere Faktoren
-in Aktion treten, deren Zusammenwirken dann zur Folge hätte, daß
-die Grenzen des Nahrungsspielraums, von ganz außergewöhnlichen Fällen
-abgesehen, niemals auch nur annähernd erreicht, geschweige denn überschritten
-werden könnten.
-</p>
-
-<p>
-<em>Arthur French</em> (Rechte): Das soeben Gehörte erfüllt mich mit
-maßlosem Erstaunen. Wie, das Mitglied der freiländischen Verwaltung
-gibt zu &mdash; was allerdings vernünftiger Weise nicht geleugnet werden
-kann &mdash; daß unbegrenzte Vermehrung eine Unmöglichkeit sei, und bestreitet
-dennoch, daß Nahrungsmangel eben die gesuchte Grenze der
-Vermehrung wäre? Daß Malthus geirrt, als er dieses natürliche
-Hemmnis auch bisher schon als in der menschlichen Gesellschaft wirksam
-hinstellte, kann ja ohne weiteres zugegeben werden. Die Menschen
-litten bisher Hunger, weil ihnen verwehrt war, sich zu sättigen, nicht
-weil die Erde unvermögend gewesen wäre, sie allesamt reichlich, oder
-zum mindesten reichlicher, zu ernähren; die Ausbeutung erwies sich also
-wirklich als ein schon vor Erreichung des Nahrungsspielraums wirksam
-gewesenes Hemmnis der Volksvermehrung, gleichsam als eine Hungerkur,
-die der Mensch sich selber auferlegte, noch bevor die Natur ihn zu einer
-solchen verurteilt hatte. Schon minder verständlich ist mir, was Redner
-darunter meint, wenn er behauptet, das durch die Ausbeutung künstlich
-hervorgerufene Elend habe sich mitunter nicht als Hindernis, vielmehr
-als Beförderungsmittel der Volkszunahme erwiesen. Insbesondere aber
-möchte ich näheres über jene anderen, entscheidenden Faktoren hören,
-welche dies angeblich bewirkt haben sollen und von denen Redner offenbar
-auch in Zukunft die Regulierung der Bevölkerungszahl erwartet.
-Diese anderen Faktoren sollen des ferneren den wunderbaren Effekt
-haben, die Bevölkerung gar niemals den Grenzen des Nahrungsspielraums
-auch nur nahe kommen zu lassen. Künstliche, willkürlich zur
-Anwendung gelangende Mittel können das nicht sein, sonst würde ein
-Mitglied der freiländischen Verwaltung, dieses auf schrankenloser Freiheit
-gegründeten Gemeinwesens, nicht so zuversichtlich von ihnen sprechen.
-<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a>
-Doch abgesehen von all dem &mdash; wie kann die Wirksamkeit eines so
-elementaren Hemmnisses der Vermehrung, wie es der Nahrungsmangel ist,
-gerade in der menschlichen Gesellschaft in Zweifel gezogen werden,
-während dieselbe doch so ersichtlich in der ganzen organischen Natur
-hervortritt? Ist etwa der Mensch allein unter allen lebenden Wesen
-diesem Naturgesetze nicht unterworfen oder kennt man vielleicht in Freiland
-sogar ein Mittel, welches z. B. die Heringe nötigen würde, bei
-ihrem Fortpflanzungsgeschäfte den Grenzen ihres Nahrungsspielraums
-niemals nahe zu kommen, sich vielmehr bei demselben auf jenes vernünftige
-Maß zu beschränken, welches den Rücksichten auf das gedeihliche
-und reichliche Fortkommen ihrer Sippe entspräche?&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Mächtige Erregung herrschte nach dieser mit schneidiger Schärfe
-vorgebrachten Rede im Saale. Gesteigert wurde das Gefühl erwartungsvoller
-Spannung noch dadurch, daß mehrere Mitglieder der
-freiländischen Verwaltung &mdash; unter diesen auch der frühere Redner
-Stefan Való &mdash; zum Präsidenten eilten und demselben ersichtlich nahe
-legten, sich zum Worte zu melden. Der ganzen Versammlung bemächtigte
-sich die Empfindung, daß die Debatte &mdash; nicht bloß die heutige,
-sondern die des Kongresses überhaupt &mdash; an ihren entscheidenden Wendepunkt
-gelangt sei. Vermochten die Wortführer der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-auch diesmal die Bedenken der Gegner siegreich zu widerlegen,
-als irrig und gegenstandlos nachzuweisen, so war die große Geistesschlacht
-endgiltig gewonnen; was dann noch folgen mochte, konnte fürderhin
-nicht mehr der Frage gelten, <em>ob</em>, sondern bloß derjenigen, <em>wie</em>
-die neue sociale Ordnung gedeihlich und dauernd ins Werk zu setzen sei.
-Erlahmte aber an diesem Punkte die Kraft der freiländischen Beweisführung,
-gelang es ihr nicht abermals, das Gebäude der gegnerischen
-Argumentation umzublasen, gleich einem Kartenhause, so waren alle
-bisherigen Erfolge vergebens. Das Elend der Gegenwart zu beseitigen,
-um damit der Zukunft nur desto hoffnungsloseres Elend zu bereiten,
-das war es nicht, wofür man sich begeistert hatte; blieb auch nur ein
-Schatten dieser Gefahr bestehen, so war der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-das Todesurteil gesprochen.
-</p>
-
-<p>
-Unter atemloser Spannung ergriff endlich Dr. <em>Strahl</em> das Wort,
-nachdem er den Vorsitz an seinen Kollegen Ney aus der freiländischen
-Verwaltung abgegeben hatte:
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;Unser Freund von der Rechten&ldquo;, so begann er seine Rede, &bdquo;hat
-den an uns gerichteten Appell mit der Frage geschlossen, ob wir in
-Freiland das Mittel kennten, welches die Heringe nötigen würde, sich
-bei ihrem Fortpflanzungsgeschäfte innerhalb jener Schranken zu halten,
-die den Rücksichten auf das gedeihliche und reichliche Fortkommen ihrer
-Sippe entsprächen. Meine Antwort darauf lautet kurz und bündig:
-Jawohl, wir kennen dieses Mittel. (Bewegung.) Sie erstaunen? Mit
-<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a>
-Unrecht, lieben Freunde, denn Sie kennen es in Wahrheit so gut wie
-wir, und nur jene eigenartige geistige Kurzsichtigkeit, die den Menschen
-hindert, noch so bekannte Dinge wahrzunehmen, sowie es sich um deren
-Nutzanwendung auf einen Gegenstand handelt, bezüglich dessen die mit
-der Muttermilch eingesogenen Vorurteile ihm verbieten, von seinen
-Sinnen und seinem Urteilvermögen Gebrauch zu machen, nur diese ist
-es, die Sie glauben macht, Sie kennten es nicht. Also, ich behaupte,
-daß Sie Alle das fragliche Mittel so gut wüßten, wie wir. Aber damit
-will ich keineswegs sagen, wie Sie anzunehmen scheinen, daß wir oder
-Sie imstande wären, den Heringen diese vorsorgliche Rücksicht erst beizubringen,
-was in der That ziemlich schwer durchführbar wäre; ich behaupte
-vielmehr, daß unsere gemeinsame Kenntnis des Mittels nicht in
-unserer Erfindungs-, sondern in unserer Beobachtungsgabe ihre Quelle
-hat, mit anderen Worten, daß die Heringe von jeher üben, wozu sie
-nach der Meinung des Fragestellers erst durch unseren Witz angeleitet
-werden müßten und daß wir daher, um zur Kenntnis des fraglichen
-Vorganges zu gelangen, bloß nötig hatten: erstlich, die Augen zu öffnen,
-um zu sehen, <em>was</em> in der Natur vorgeht und sodann unseren Verstand
-einigermaßen zu gebrauchen, um auch hinter das <em>Wie</em> dieses Naturvorganges
-zu gelangen.
-</p>
-
-<p>
-Öffnen wir also zunächst unsere Augen, d. h. entfernen wir die
-Binde, die ererbte ökonomische Vorurteile um dieselben gelegt haben.
-Um Ihnen dieses zu erleichtern, meine Freunde, bitte ich Sie, ein beliebiges
-Naturwesen, also beispielsweise den Hering ins Auge zu fassen,
-ohne dabei an dessen mögliche Beziehungen zur Bevölkerungsfrage
-innerhalb der menschlichen Gesellschaft zu denken, d. h. suchen Sie beim
-Hering keinen Erklärungsgrund des menschlichen Elends, sondern betrachten
-Sie denselben einfach als einen der vielen Kostgänger am Tische
-der Natur. Unmöglich wird Ihnen dann entgehen, daß diese Tierspecies
-zwar in sehr zahlreichen Exemplaren vertreten ist, daß aber noch
-unendlich zahlreichere an besagtem Tische reichlich Platz fänden. Ja
-ich behaupte, daß Sie sich &mdash; immer vorausgesetzt, daß Sie dabei nur
-den Hering und nicht zugleich im Hintergrunde das menschliche Elend
-im Auge haben &mdash; selber verlachen würden, käme Ihnen auch nur
-entfernt der Gedanke, die Heringe könnten, wenn ihrer etwas mehr
-wären, keine Nahrung im Weltmeere finden, es seien ihrer gerade so
-viel vorhanden, als dort satt zu werden vermöchten. Oder nehmen wir
-eine andere Tierart, deren Ernährungsverhältnisse wir nicht wie bei den
-Heringen bloß durch unbefangenes Nachdenken, sondern erforderlichen
-Falls leicht durch wirklichen Augenschein zu erkennen vermögen, also
-z. B. den Elefanten, den Malthus ja auch speziell namhaft gemacht
-und für den er gleichfalls berechnet hat, in welcher Frist ein einzelnes
-Pärchen den ganzen Erdkreis mit seinen Nachkommen erfüllen müßte,
-<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a>
-um daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, daß es der Nahrungsmangel
-sei, was dieser schrankenlosen Vermehrung das Ziel setze. Lehrt Sie
-nicht der erste, oberflächlichste Blick, daß nirgends auf Erden auch nur
-entfernt so viel Elefanten sind, als reichlich und in Fülle Nahrung
-fänden? Würden Sie nicht jeden für einen Faselanten halten, der
-Ihnen das Gegenteil weis machen wollte?
-</p>
-
-<p>
-Sie wissen also insgesamt &mdash; das bitte ich zunächst festzuhalten
-&mdash; daß jede Tierart, sie mag nun selten oder zahlreich, mehr oder
-minder fruchtbar sein, sich mit ihrer Vermehrung regelmäßig innerhalb
-solcher Schranken hält, die von den Grenzen des sogenannten Nahrungsspielraums
-weit, unendlich weit entfernt sind. Ich gehe weiter; Sie
-wissen nicht bloß, daß es so ist, Sie wissen auch, daß und warum es
-so sein <em>muß</em>. Die unbefangene Beobachtung der Naturvorgänge sagt
-Ihnen nämlich bei nur einigem Nachdenken, daß eine Art, die sich
-wirklich regelmäßig bis an die Grenzen des Nahrungsspielraums vermehrte,
-also regelmäßig dem Hunger und den Entbehrungen ausgesetzt
-wäre, notwendiger Weise verkümmern müßte.
-</p>
-
-<p>
-Sie wissen also, daß jener unerschöpfliche Überfluß, der im Gegensatze
-zum Elend der menschlichen Gesellschaft allenthalben in der Natur
-herrscht und den dieses Gegensatzes halber die Denker und Dichter aller
-Zeiten besprochen und besungen haben, kein Werk des Zufalls, sondern
-der Notwendigkeit ist und es erübrigt nur mehr die Ergründung jenes
-Naturprozesses, jenes causalen Zusammenhanges, kraft dessen sich diese
-Notwendigkeit vollzieht. In diesem Punkte war man zur Zeit, als
-Malthus schrieb, allerdings auf allgemeine Redensarten angewiesen.
-Das Dunkel, welches die Entwickelungsgeschichte der organischen Welt
-verhüllt, war damals noch nicht erhellt; man mußte sich also damit
-begnügen, alle Vorgänge im Tier- und Pflanzenreiche aus dem Walten
-der Vorsehung oder der sogenannten Lebenskraft zu erklären &mdash; was
-natürlich auch damals niemand hinderte, die Thatsache sowohl, als die
-Notwendigkeit dieses einstweilen unerklärlichen Naturvorganges zu sehen
-und zu begreifen. Sie aber &mdash; im Jahrhundert nach Darwin lebend
-&mdash; können auch über diesen letzten Punkt keinen Augenblick im Zweifel
-sein. Sie wissen, daß es der Kampf ums Dasein ist, in welchem sich
-die lebenden Wesen zu dem entwickeln, was sie sind, daß Eigenschaften,
-die sich als nützlich und notwendig zum Gedeihen einer Art erweisen,
-durch diesen Kampf hervorgelockt, ausgebildet und festgehalten, Eigenschaften
-dagegen, die sich als schädlich für das Gedeihen der Art erweisen,
-unterdrückt und beseitigt werden. Da nun die Eigenschaft, sich
-niemals bis an die Grenzen des Nahrungsspielraums zu vermehren, zum
-Gedeihen, ja zur Existenz jeglicher Art nicht bloß nützlich, sondern durchaus
-notwendig ist, so muß eben auch sie durch den Daseinskampf hervorgerufen,
-ausgebildet und als bleibender Artcharakter festgehalten worden sein.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a>
-Das alles haben Sie gewußt, meine Freunde, bevor ich es Ihnen
-sagte; nur war Ihnen dieses Ihr Wissen bloß in jenen Fällen auch
-bewußt, zum Gebrauche beim Denkprozesse gegenwärtig, wo es sich um
-rein botanische oder zoologische Fragen handelte; sowie in Ihrem Denkapparate
-die Saite der socialen oder ökonomischen Probleme berührt
-wurde, senkte sich augenblicklich ein dichter, undurchdringlicher Schleier
-über diese soeben noch so klaren Erkenntnisse; die Welt stellte sich Ihnen
-jetzt nicht mehr so dar, wie sie ist, sondern wie sie sich durch besagten
-Schleier &mdash; seine Fäden heißen anerzogene Vorurteile und Wahnvorstellungen
-&mdash; ansieht, und Ihr Urteilsvermögen funktionierte nun nicht
-mehr nach jenen allgemeinen Gesetzen, die sonst unter dem Namen
-&sbquo;Logik&lsquo; sich Ihrer Achtung erfreuen, sondern machte ganz eigenartige
-Kapriolen, die &mdash; läge besagter Schleier nicht auf Ihren Sinnen &mdash;
-unmöglich ohne Wirkung auf Ihre Lachmuskeln bleiben könnten. Ja,
-so gründlich haben Sie sich daran gewöhnt, die Bilder, die Ihnen dieser
-Schleier zeigt, für die wirkliche Welt zu halten, daß Sie sich von denselben
-nicht zu befreien vermögen, auch nachdem Sie sich dazu aufgerafft,
-den Schleier selber zu zerreißen.
-</p>
-
-<p>
-Die Wahnvorstellungen und Trugschlüsse der Malthus&rsquo;schen Theorie
-sind doch eigentlich nur dadurch entstanden, daß ihr Autor nach Gründen
-für das Elend der Menschheit suchte, den wahren Grund aber nicht zu
-entdecken vermochte. Warum hungert der irische Bauer und der ägyptische
-Fellache, so fragte er sich; und da er &mdash; gehindert durch den
-bewußten Schleier &mdash; nicht zu sehen vermochte, daß sie hungerten, weil
-ihnen der Ertrag ihrer Arbeit weggenommen wird, ja weil man ihnen
-gar nicht gestattet, zu arbeiten, dabei aber bemerkte, daß die Massen
-überall und allezeit hungerten, örtlich und zeitlich etwas minder empfindlich
-als zu anderen Zeiten und Orten, aber schließlich doch hungerten,
-hungerten, hungerten, trotz aller Plage und allen Fleißes, soweit
-menschliche Erinnerung zurückreicht &mdash; so geriet er endlich auf den Ausweg,
-diesen allgemeinen Hunger für die Folge eines Naturgesetzes zu
-halten. Jetzt wußte er es; der Fellache hungert und der irische Bauer
-hungert und die Völker aller Weltteile und aller Zeiten hungern, weil
-sie zu zahlreich sind, und sie sind zu zahlreich, weil nur der Hunger
-sie hindert, noch zahlreicher zu werden. Daß die vom Rätsel des
-Elends gepeinigte Welt <em>das</em> glaubte, ist schließlich zu begreifen, denn
-einen Grund muß das Elend doch haben und Mangels der richtigen
-haben noch allezeit falsche Erklärungsgründe herhalten müssen; Sie aber,
-meine Freunde, die Sie die Ursache des Elends in der Ausbeutung und
-Knechtschaft erkannt haben, Sie glauben merkwürdiger Weise noch immer
-an jenes seltsame Naturgesetz, welches doch Malthus nur ersann, um
-obigen Notbehelf aus ihm zu konstruieren; das macht: Sie haben den
-Schleier zwar zerrissen, durchlöchert, aber seine Fetzen umhüllen Ihnen
-<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a>
-noch immer Haupt und Sinne. Warum der Fellache und der irische
-Bauer <em>heute</em> hungert, das zu sehen, dazu haben Sie sich aufgerafft;
-aber für unsere Nachkommen zittern Sie noch immer vor Übervölkerung,
-den Hering sehen Sie noch immer von Nahrungssorgen verfolgt,
-und der Elefant durchstreift für Sie immer noch mit knurrendem Magen
-die kahlgefressenen Waldungen Hindostans oder Afrikas &mdash; sowie Sie
-von Hering und Elefant weiter hinaus denken an diese unsere armen,
-der Übervölkerung verfallenen Nachkommen.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Jubelnder Applaus, untermengt mit Ausbrüchen lauter Heiterkeit
-durchbrauste den Saal, nachdem Dr. Strahl geschlossen. Auf seinem
-Wege von der Rednerbühne zum Präsidentensitze erwarteten ihn neben
-den Freunden, die herbeigeeilt waren, ihm die Hand zu drücken,
-auch die Wortführer der Opposition, die freudig und rückhaltlos den
-vollkommenen Sieg anerkannten.
-</p>
-
-<p class="end">
-(Schluß des vierten Verhandlungstages.)
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-6-5">
-<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a>
-27. Kapitel.
-</h3>
-
-<p class="hdr">
-<span class="line1">Fünfter Verhandlungstag.</span>
-</p>
-
-<p class="first">
-Zur Diskussion gelangt der vierte und letzte Punkt der Tagesordnung:
-</p>
-
-<p>
-<em>Ist es möglich, die Institutionen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-überall unter Schonung der erworbenen Rechte
-und überkommenen Interessen zur Durchführung zu bringen;
-und wenn dies möglich ist, welches sind die geeigneten Mittel
-hierzu?</em>
-</p>
-
-<p>
-<em>Der Vorsitzende.</em> Ich glaube dem Wunsche der Versammlung
-zu entsprechen, wenn ich den heute Morgen in Edenthal eingetroffenen
-Spezialgesandten des amerikanischen Kongresses, <em>William Stuart</em>,
-bitte, sich seines Auftrages zu entledigen und uns Bericht zu erstatten
-über jene Vorschläge, welche das mit Ausarbeitung der Übergangsbestimmungen
-in das Regime der wirtschaftlichen Gleichberechtigung betraute
-Komitee dem Kongresse seines Landes unterbreitet hat.
-</p>
-
-<p>
-<em>William Stuart.</em> Im Auftrage der Vertreter des amerikanischen
-Volkes erbitte ich mir die Wohlmeinung dieser hochansehnlichen Versammlung
-über eine Reihe von gesetzlichen Verfügungen, die bestimmt sein sollen,
-uns mit jener Energie, die nun einmal unseren Gewohnheiten entspricht,
-zugleich aber unter vollkommener Schonung aller bestehenden Rechte,
-aus dem bisherigen wirtschaftlichen Zustande in denjenigen der wirtschaftlichen
-Gleichberechtigung hinüberzuleiten. Meine Auftraggeber sahen
-sich zu diesem Schritte durch den Umstand veranlaßt, daß unsere Nation
-unter allen Nationen außerhalb Freilands die erste ist, welche &mdash; unseres
-Wissens zum mindesten &mdash; über das Stadium der Vorberatungen hinaus
-gediehen, unmittelbar vor der zur Durchführung des Werkes führenden
-Aktion steht. Die Institutionen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-selber sind nichts Neues mehr; wir konnten uns diesbezüglich auf ein
-<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a>
-bewährtes Präcedenz, das Beispiel Freilands, stützen, was denn auch
-&mdash; mit einigen höchst unwesentlichen, der Eigenart des amerikanischen
-Volkscharakters und Landes entsprechenden Abweichungen &mdash; durchweg
-geschehen wird. Dagegen fehlt es für die Übergangsbestimmungen an
-jeglicher Erfahrung, und da wir, ungeachtet der bekannten Raschheit
-unseres Handelns, guten Rat &mdash; insbesondere in so wichtiger Sache &mdash;
-lieber vor als nach der That einholen, so bin ich hergesandt, Ihre
-Meinung zu hören und dieselbe dann im amerikanischen Kongresse zu
-vertreten, bevor die Vorschläge des Komitees Gesetzeskraft erlangen.
-</p>
-
-<p>
-Es ist beantragt, allen im Gebiete der Union gelegenen Boden für
-herrenlos zu erklären, die bisherigen Besitzer aber mit dem vollen Katasterwerte
-zu entschädigen. Um denjenigen, die sich dabei verkürzt erachten
-sollten, die Möglichkeit der Abhilfe zu gewähren, sollen besondere
-Sachverständigenkommissionen zur Prüfung allfälliger Reklamationen
-niedergesetzt werden und die öffentliche Meinung der Union geht dahin,
-daß diesen Kommissionen ein möglichst rücksichtsvolles Verfahren zur
-Richtschnur empfohlen werden sollte. Der gleiche Vorgang ist bei Gebäuden
-beantragt, mit der Maßgabe jedoch, daß zum eigenen Gebrauche
-des Besitzers dienende Wohnhäuser auf dessen Wunsch von der Ablösung
-ausgenommen werden können. Die solcherart erhobenen und festgestellten
-Ablösungsbeträge sollen je nach Wunsch der Berechtigten entweder
-sofort oder in Raten zur Auszahlung gelangen, mit der Maßgabe,
-daß für jede Erstreckung der Raten um je ein Jahr eine
-Prämie von &#8533; Prozent gewährt wird, welche Prämie der Berechtigte
-in Form von Zuschlagsraten nach erfolgter Abtragung des eigentlichen
-Kaufpreises ausgezahlt erhält. Auf länger als fünfzig Jahre wird die
-Abzahlung nicht erstreckt. Gesetzt also den Fall, eine Liegenschaft sei
-mit 10000 Dollars bewertet worden, so erhält der Besitzer, falls er
-sofortige Auszahlung der ganzen Summe verlangt, seine 10000 Dollars,
-mit denen er dann anfangen mag, was ihm beliebt; verlangt er beispielsweise
-zehn Jahresrenten <span class="antiqua">à</span> 1000 Dollars, so hat er das Anrecht
-auf zehn Prämien von je 20 Dollars, die ihm gesammelt als elfte
-Jahresrate von 200 Dollars zugezählt werden. Verlangt er Abzahlung
-in fünfzig Raten <span class="antiqua">à</span> 200 Dollars, so erwächst ihm ein Prämienanspruch
-von fünfzigmal 20, d. i. also von 1000 Dollars, die er in Form fünf
-fernerer Jahressraten <span class="antiqua">à</span> 200 Dollars einkassiert. Dieselben Rückzahlungsmodalitäten
-gelten für die gesamte, sofort zu kündigende Nationalschuld.
-</p>
-
-<p>
-Die bestehenden Kredit- und Schuldverhältnisse der Privaten bleiben
-aufrecht; doch soll der Schuldner, gleichviel welche Abzahlungsbedingungen
-ursprünglich vereinbart waren, das <em>Recht</em> unmittelbarer Rückerstattung
-des entliehenen Kapitals haben. Die Beistellung der zum Betriebe welcher
-Produktion immer erforderlichen Kapitalien abseitens des Gemeinwesens
-<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a>
-wird die Privatschuldner in den Stand setzen, von diesem ihrem Rechte
-Gebrauch zu machen; nur soll nach dem Antrage der Kommission das
-Gemeinwesen bis auf weiteres die nämliche Prämie, die es seinen
-Gläubigern gewährt, auch von seinen Schuldnern verlangen. Der Zweck
-letzterer Maßregel liegt auf der Hand; sie soll verhüten, daß &mdash; Mangels
-jedes ihnen eingeräumten Vorteils &mdash; die Privatgläubiger ihre Kapitalien
-aus dem Verkehre ziehen und tot liegen lassen. Bekämen die Kapitalbedürftigen
-anfangs ihren Bedarf gänzlich kostenlos, lediglich gegen die
-Verpflichtung allmählicher Rückerstattung des entliehenen Kapitals, so
-würden sie sich zu keinerlei Vergütung ihren alten Gläubigern gegenüber
-verstehen, während sie, wird der Vorschlag der Kommission angenommen,
-jene Prämie, die das Gemeinwesen von ihnen verlangt, auch jenen zu
-bewilligen bereit sein werden.
-</p>
-
-<p>
-Zu bemerken wäre noch, daß, dank dem schon bei Gelegenheit der
-Wahlagitationen für den konstituierenden Kongreß allenthalben zum
-Ausdrucke gebrachten Grundsatze, alle erworbenen Rechte peinlichst zu
-achten, die produktive Thätigkeit in der Übergangszeit nicht allein
-keinerlei Störung erlitten, sondern einen, vorher niemals noch erlebten
-Aufschwung erfahren hat. Die in Bildung begriffenen freien Associationen
-zwingen die alten Unternehmer, sich durch ausgiebige Lohnerhöhungen
-die zum provisorischen Fortbetriebe erforderlichen Arbeitskräfte
-zu erhalten, und da gerade diese Lohnerhöhungen den Bedarf nach allen
-Produkten sprunghaft steigern, so wächst damit zugleich das Interesse
-der Unternehmer, ihre Produktion vor jeder Stockung zu bewahren.
-Diese beiden Strömungen steigern sich gegenseitig in solchem Maße,
-daß im Momente der Minimallohn drei Dollars per Tag übersteigt,
-und daß fieberhafter Unternehmungsgeist sich der gesamten Geschäftswelt
-bemächtigt hat. Insbesondere die Maschinenindustrie entfaltet eine
-Regsamkeit, die aller bisherigen Vorstellungen spottet. Die Furcht vor
-Überproduktion ist zur Mythe geworden, und da die Unternehmer darauf
-rechnen können, in den Associationen demnächst schon bereitwillige
-Abnehmer für guteingerichtete Anlagen zu finden, so hält sie nichts ab,
-den letzten Moment, der ihrer Privatthätigkeit noch gelassen ist, thunlichst
-auszunützen. Auch die Landbesitzer finden dabei ihre Rechnung,
-denn selbstverständlich ist der Bodenwert infolge der so rapid gewachsenen
-Nachfrage nach Bodenprodukten aller Art sehr namhaft gestiegen.
-Kurzum, alles berechtigt uns zu der Annahme, daß sich der Übergang
-in die neue Ordnung der Dinge bei uns nicht bloß leicht und glatt,
-sondern auch zu vollster Befriedigung <em>aller</em> Teile unseres Volkes vollziehen
-werde.
-</p>
-
-<p>
-Der <em>Vorsitzende</em> fragt die Versammlung, ob sie sofort in die
-Diskussion der soeben gehörten Botschaft des amerikanischen Kongresses,
-respektive in die Debatte über Punkt vier der Tagesordnung eingehen,
-<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a>
-oder zuvor noch den Bericht entgegennehmen wolle, welchen der freiländische
-Kommissär in Rußland durch einen soeben in Edenthal eingetroffenen
-Abgesandten zu erstatten beabsichtige. Da sich der Kongreß
-für letzteres entschied, nahm
-</p>
-
-<p>
-<em>Demeter Nowikof</em> (Abgesandter des freiländischen Kommissars
-für Rußland) das Wort: Als wir, auf Wunsch des russischen Volkes
-von der freiländischen Centralverwaltung delegierten Kommissäre, in
-Moskau eingetroffen waren, fanden wir die Ruhe wenigstens äußerlich
-insoweit hergestellt, als die einander bis dahin mit schonungsloser Wut
-zerfleischenden Fraktionen auf die Nachricht unserer Ankunft vorderhand
-Waffenstillstand geschlossen hatten. Nicht bloß die Kanonen und Gewehre,
-auch die Guillotine und der Galgen feierten. Radoslajew, unser
-bevollmächtigter Kommissär, berief sofort die sämtlichen Parteihäupter
-zu sich, bewog sie, die Waffen vollends niederzulegen, die Gefangenen
-freizugeben, die sieben verschiedenen, sich bis dahin sämtlich als ausschließliche
-Vertreter des russischen Volkes geberdenden Parlamente
-heimzusenden, und schrieb dann, nachdem er sich für die Zwischenzeit
-mit einem Rate von Vertrauensmännern der verschiedenen Parteien
-umgeben, mit thunlichster Beschleunigung allgemeine Neuwahlen für eine
-konstituierende Versammlung aus.
-</p>
-
-<p>
-Da Produktion und Verkehr beinahe gänzlich stille standen, so
-war das Elend grenzenlos. Die Arbeitgeberschaft war von einigen
-der extremsten Parteien als todeswürdiges Verbrechen verfolgt worden,
-niemand wagte es daher, Arbeiter zu beschäftigen; sich selber zu
-organisieren, dazu waren in den meisten Teilen des Reiches die
-unwissenden, in knechtischem Gehorsam darniedergehalten gewesenen
-Massen gänzlich außer Stande, und da zum Überfluß die radikalsten
-unter den Nihilisten auch die Organisatoren freier Associationen als
-&bdquo;maskierte Herren&ldquo; zu guillotinieren begonnen hatten, so schien es fast,
-als ob gegenseitiges Todschlagen die einzige Thätigkeit sei, der man
-hinfort in Rußland obliegen könne.
-</p>
-
-<p>
-Die Proklamation, mit welcher Radoslajew die Wahlen ausschrieb,
-beruhigte zwar die Gemüter, genügte aber nicht zu rascher Inaugurierung
-ersprießlicher produktiver Thätigkeit. Als daher die neugewählte
-konstituierende Versammlung zusammengetreten war, schlug ihr Radoslajew
-als Übergangsstadium in das Regime der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-ein gemischtes System vor, in welchem neben den Keimen der anzustrebenden
-freien Gesellschaft und neben allfälligen Resten alter Einzelwirtschaft
-eine Art von Übergangs-Kommunismus Platz finden sollte.
-</p>
-
-<p>
-Zunächst aber mußte Ordnung in die bestehenden Rechtsverhältnisse
-gebracht werden. Während der unserer Ankunft vorhergehenden
-Schreckensherrschaft war aller immobile Besitz zu Nationaleigentum erklärt
-worden, ohne daß die früheren Eigentümer irgendwelche Entschädigung
-<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a>
-erhalten hatten; alle bestehenden Schuldverhältnisse waren
-einfach annulliert und es galt nun, nachträglich diese Gewaltakte gutzumachen,
-soweit es irgend noch anging. Doch in diesem Punkte erwies
-sich anfangs auch die neue Nationalversammlung untraitabel. Der Haß
-gegen die alte Ordnung war ein so allgemein verbreiteter und tiefer,
-daß selbst die Depossedierten es nicht wagten, auf unsere Absichten einzugehen.
-Das aus der Epoche der Ausbeutung herrührende Privateigentum
-galt schlechthin als Raub und Diebstahl, die Inanspruchnahme
-von Entschädigungen als schimpflich derart, daß eine Deputation früherer
-Großgrundbesitzer und Fabrikanten, an ihrer Spitze zwei ehemalige
-Großfürsten, Radoslajew beschwor, von seiner Forderung abzustehen,
-damit der kaum entschlafene nihilistische Fanatismus nicht neuerlich gereizt
-werde. Nichtsdestoweniger beharrte dieser, nachdem er sich mit uns,
-den ihm beigegebenen Freiländern, beraten, auf seiner Forderung. Er
-erklärte der Nationalversammlung, daß es uns natürlich fern liege, dem
-russischen Volke unsere Anschauungen aufzunötigen, daß anderseits aber
-auch Rußland von uns nicht verlangen könne, uns an einem Werke
-zu beteiligen, dessen Grundlage &mdash; in unseren Augen &mdash; Raub wäre;
-und diese Drohung mit unserem Rücktritte wirkte endlich. Die Nationalversammlung
-machte noch den Versuch, sich der Votierung einer ihr
-verhaßten Maßregel dadurch zu entziehen, daß sie Radoslajew für die
-Zeit des Überganges die Diktatur anbot; nachdem er jedoch auch dieses
-Ansinnen abgelehnt hatte, fügte sie sich und ging widerwillig in die
-Beratung des Entschädigungsgesetzes ein. Im Sinne des von Radoslajew
-vorgelegten Entwurfes sollte den früheren Eigentümern der volle
-Wert in Raten bezahlt werden, ebenso sollten die früheren Schuldverhältnisse
-voll reaktiviert und gleichfalls in Raten abgetragen werden;
-die unveränderte Annahme dieses Gesetzes konnte Radoslajew jedoch
-nicht durchsetzen. Die Nationalversammlung votierte einstimmig eine
-Klausel, nach welcher kein einzelner Entschädigungsanspruch die Höhe
-von 100000 Rubel überschreiten durfte; hatte der Eigentümer Schulden,
-so wurde deren Betrag in Anrechnung gebracht, doch durfte auch der
-Ersatzanspruch aus dem Titel von Schuldforderungen keines einzelnen
-Gläubigers 100000 Rubel übersteigen. Ebenso wurde für verwüstetes
-Eigentum eine auf das gleiche Maximum beschränkte Entschädigung
-gewährt.
-</p>
-
-<p>
-Inzwischen hatten wir alle Anstalten getroffen, um die Produktion
-auf den neuen Grundlagen zu organisieren. Privatunternehmer wagten
-sich, trotzdem ihnen das Feld freigegeben war, nicht hervor; dagegen
-begannen sich insbesondere in den westlichen Gouvernements auf Grund
-unserer zum Muster genommenen freiländischen Statuten, freie Arbeiterassociationen
-zu bilden. Die große Masse der arbeitenden Bevölkerung
-erwies sich jedoch hiezu noch unfähig, und notgedrungen
-<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a>
-mußte daher die Regierungsgewalt organisierend eingreifen. Zwanzig
-verantwortliche Komitees wurden für zwanzig verschiedene Produktionszweige
-geschaffen und diese Komitees nahmen mit Hülfe der sich bereitwillig
-zur Verfügung stellenden Intelligenz die Produktion in die Hand.
-Der Freiheit ist insoweit Rechnung getragen, als niemand zwangsweise
-zur Arbeit verhalten wird. Derzeit sind 83000 solcher Unternehmungen
-mit 12½ Millionen Arbeitern im Betriebe. Bezüglich der Verteilung
-des Ertrages herrscht in denselben ein aus freier Vergesellschaftung und
-Kommunismus gemischtes System. Die Hälfte des erzielten Nettoertrages
-gelangt unter den gesamten 12½ Millionen Arbeitern zur gleichmäßigen
-Verteilung; die andere Hälfte verteilen die einzelnen Unternehmungen
-für sich unter die ihnen angehörigen Arbeiter. Wir glauben solcher
-Art jede Unternehmung einerseits gegen die äußersten Konsequenzen
-eines allfälligen Mißerfolges ihrer Produktion sichergestellt, anderseits
-aber auch das Interesse der Beteiligten am Gedeihen der einzelnen
-Produktion wachgerufen zu haben. Die Leiter dieser Produktivkörperschaften
-erhalten nach dem gleichen gemischten Systeme Zahlung.
-</p>
-
-<p>
-Die Arbeitszeit ist auf 36 Stunden wöchentlich fixiert. Außerdem
-ist ein zweistündiger täglicher Unterricht für Erwachsene eingerichtet,
-welchen Unterricht gegenwärtig 65000 Wanderlehrer, deren Zahl jedoch
-stetig vermehrt wird, zu besorgen haben. Desgleichen sind bisher
-120000 Volksbibliotheken errichtet, zu deren Versorgung mit den notwendigsten
-Büchern eine Anzahl großer Druckereien in Rußland selber
-gegründet, außerdem aber die bedeutenderen Druckereien des Auslandes
-beschäftigt sind; die freiländischen Druckereien allein haben bisher
-28 Millionen Bände geliefert. Da auch der Jugendunterricht mit aller
-erdenklichen Energie gefördert wird &mdash; 780 Lehrerseminare sind teils
-gegründet, teils in Gründung begriffen, vom slawischen Auslande, insbesondere
-aus Böhmen, sind massenhaft Lehrkräfte herangezogen worden,
-und dergleichen mehr &mdash; so hoffen wir den Bildungsgrad der Massen
-sich binnen wenigen Jahren so weit heben zu sehen, daß mit den
-Resten des Kommunismus wird aufgeräumt werden können.
-</p>
-
-<p>
-Inzwischen wird die provisorisch geübte Bevormundung den sich
-derselben freiwillig unterwerfenden Massen gegenüber auch zur Hebung
-und Veredlung ihrer Gewohnheiten und Bedürfnisse ausgenutzt. Geistige
-Getränke, insbesondere Branntwein, werden nur in begrenzten Dosen
-ausgeschenkt, die elenden Lehmhütten und Arbeiterhöhlen werden successive
-niedergerissen und durch nette, mit kleinen Gärten versehene Familienhäuser
-ersetzt; monatlich mindestens einmal werden Volksfeste veranstaltet, bei
-denen leichte zwar, aber gute Musik, Theatervorstellungen und populäre
-Vorträge den ästhetischen, eine rationelle feinere Küche den materiellen Geschmack
-der Teilnehmer zu heben bestimmt sind. Besondere Sorgfalt wird
-der Erziehung der Frauen gewidmet. Nahe an 80000 Wanderlehrerinnen
-<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a>
-durchziehen heute schon das Land, unterrichten die &mdash; von jeder groben
-Arbeit befreiten &mdash; Weiber in den Elementen der Wissenschaft sowohl,
-als civilisierterer Haushaltungskunst, suchen ihr Selbstgefühl und ihren
-Geschmack zu heben, sie über ihre neuen Rechte und Pflichten aufzuklären
-und insbesondere der bis dahin herrschend gewesenen häuslichen
-Brutalität zu steuern. Da diese Apostel höherer Weiblichkeit &mdash; wie
-überhaupt alle Lehrkräfte &mdash; die volle Autorität der Behörden hinter
-sich haben und sich ihrem Berufe mit hingebender Begeisterung widmen,
-so lassen sich derzeit schon nicht unerhebliche Erfolge ihres Wirkens feststellen.
-Die Weiber der arbeitenden Klassen, bis dahin schmutzige,
-mißhandelte, störrige Lasttiere, beginnen allgemach für ihre Würde als
-Menschen sowohl wie als Frauen Verständnis zu zeigen. Sie lassen
-sich von ihren Männern nicht mehr prügeln, halten diese, sich selber,
-die Kinder und ihr Haus reinlich und wetteifern untereinander in Erwerbung
-von allerlei nützlichen Kenntnissen. Ein ganz unglaublicher
-Fortschritt, ja eine Revolution hat &mdash; Dank dem sofort eingeführten
-Versorgungsanspruche der Frauen &mdash; in den Sittlichkeitsverhältnissen
-stattgefunden. Während früher, insbesondere unter dem städtischen Proletariate,
-geschlechtliche Zügellosigkeit und Käuflichkeit allgemein verbreitet
-waren, sind jetzt geschlechtliche Fehltritte eine unerhörte Seltenheit geworden.
-Dabei ist es insbesondere interessant, den Unterschied zu beobachten,
-welchen die Meinung des Volkes zwischen derlei Sünden aus
-früherer Zeit und zwischen denen der Gegenwart macht. Während über
-jene ganz allgemein der Mantel der Vergessenheit gebreitet wird, kennt
-die öffentliche Meinung für diese keine Nachsicht. &bdquo;Die sich früher verkaufte,
-war eine Unglückliche, die es jetzt thäte, wäre eine Verworfene,&ldquo;
-so spricht und handelt in diesem Punkte das Volk. Die öffentliche
-Dirne von ehemals trägt die Stirne hoch und frei, sofern sie jetzt nur
-tadellos ist, und sieht mit stolzer Verachtung herab auf das Mädchen
-oder die Frau, die sich nunmehr, &bdquo;seitdem wir Weiber uns nicht mehr
-verkaufen müssen, um Brot zu haben,&ldquo; auch nur das Geringste zu
-Schulden kommen läßt.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Es wird nunmehr in die Debatte über Punkt 4 der Tagesordnung
-eingegangen.
-</p>
-
-<p>
-<em>Ibrahim el Melek</em> (Rechte). Die überaus lehrreichen Berichte
-aus Amerika und Rußland liefern den drastischen Beweis
-dafür, daß der Übergang zu dem Systeme der wirtschaftlichen Gerechtigkeit
-sich nicht bloß im allgemeinen desto leichter, sondern insbesondere
-auch unter desto annehmlicheren Formen für die besitzenden
-Klassen vollziehe, je entwickelter und vorgeschrittener zuvor die arbeitenden
-Klassen gewesen. Unter diesem Gesichtspunkte darf es also nicht
-Wunder nehmen, daß auch wir in Ägypten den Systemwechsel voraussichtlich
-nicht ohne schwere Erschütterungen werden durchmachen können.
-<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a>
-Die Nähe Freilands und das rasche Eintreffen seiner von den aus
-Rand und Band geratenen Fellachim mit nahezu göttlichen Ehren
-empfangenen Kommissäre hat uns zwar vor ähnlichen Greuelscenen bewahrt,
-wie sie Rußland Wochen hindurch zerfleischten; es sind keinerlei
-Mordthaten und nur geringe Zerstörungen von Eigentum vorgekommen;
-aber die von den freiländischen Kommissären einberufene ägyptische
-Nationalversammlung zeigt sich noch weit abgeneigter als ihre russische
-Kollegin, die Entschädigungsansprüche der früheren Besitzer anzuerkennen.
-Ich sehe darin eine Fügung des Schicksals, gegen die sich nichts
-machen läßt und die man daher mit Resignation hinnehmen muß. Von
-Verschulden aber möchte ich die so schwer Betroffenen freisprechen.
-Ohne daß es ausdrücklich gesagt worden ist, habe ich doch das deutliche
-Empfinden, daß die große Majorität dieser Versammlung von dem
-Gedanken ausgeht, die ehemals herrschend gewesenen Klassen erführen
-nunmehr überall das Los, welches sie sich selber bereiteten; dem gegenüber
-möchte ich fragen, ob denn etwa die amerikanischen, australischen
-und west-europäischen Grundherren, Kapitalisten und Arbeitgeber früher
-die Vorteile ihrer Stellung minder schonungslos ausbeuteten, als die
-russischen oder ägyptischen? Daß sie ihren arbeitenden Klassen nicht so
-übel mitzuspielen vermochten, als die letzteren, hat in der größeren
-Energie des Volkscharakters, in der größeren Widerstandskraft der
-Massen, nicht aber in ihrer, der Herrschenden, Gutmütigkeit seinen
-Grund. Ich vermag also keine Gerechtigkeit darin zu sehen, wenn
-der russische Edelmann oder der ägyptische Bey sein Vermögen verliert,
-während der amerikanische Spekulant, der französische Kapitalist oder
-der englische Lord aus dem Umschwunge vielleicht sogar mit Gewinn
-hervorgeht.
-</p>
-
-<p>
-<em>Lionel Spencer</em> (Centrum). Der Herr Vorredner dürfte mit
-seiner Vermutung, daß auch die besitzenden Klassen Englands gleich
-denen Amerikas ohne Verlust aus der im Zuge befindlichen Revolution
-hervorgehen werden, voraussichtlich Recht behalten; daß den
-Besitzenden nichts genommen werden dürfe, was ihnen nicht zum vollen
-Werte bezahlt wird, kann bei uns in England so gut als z. B. in
-Frankreich und noch in einigen anderen demokratisch verwaltet gewesenen
-Ländern nicht dem geringsten Zweifel unterliegen. Ein Spiel des
-blinden Fatums aber vermag ich darin nicht zu erblicken. Bemerken
-Sie, daß die Opfer der socialen Revolution überall im umgekehrten
-Verhältnisse des bis dahin üblich gewesenen Arbeitslohnes stehen, dessen
-Höhe in erster Reihe bestimmend ist für das Durchschnittsniveau der
-geistigen Bildung des Volkes. Wo die Massen in tierischem Elend
-schmachteten, dort darf man sich nicht wundern, daß sie, als ihre Ketten
-brachen, sich auch mit tierischer Wut auf ihre Zwingherrn stürzten.
-Die Höhe des Arbeitslohnes hinwieder ist überall abhängig von dem
-<a id="page-329" class="pagenum" title="329"></a>
-Ausmaße politischer und socialer Freiheit, welches die Besitzenden den
-Massen gönnen. Mag immerhin der russische Edelmann oder der ägyptische
-Bey persönlich sogar gutmütiger sein, als der amerikanische Spekulant
-oder der englische Landlord; der essentielle Unterschied liegt darin, daß
-das Schicksal der Massen in Amerika und England vom persönlichen
-Belieben der Reichen unabhängiger war als in Rußland und Ägypten.
-Die Besitzenden waren dort &mdash; wenn auch vielleicht im Privatverkehr
-noch härter &mdash; politisch klüger, maßvoller, als hier und die Früchte
-dieser politischen Klugheit nun sind es, die sie ernten. Mag auch sein,
-daß sie selbst zu dieser Klugheit sich bloß gezwungen bekannt hatten &mdash;
-sie <em>thaten</em> es eben und nur die Thaten, nicht die Gesinnungen richtet
-die Geschichte. Die herrschend gewesenen Klassen der zurückgebliebenen
-Länder büßen jetzt für das Übermaß ihres Herrenbewußtseins; sie
-zahlen gleichsam nachträglich jene Differenzen des Arbeitslohnes, welche
-sie früher noch an dem, ohnehin kärglich genug bemessenen, allgemeinen
-Durchschnitt der ausbeuterischen Ordnung abgezwackt hatten.
-</p>
-
-<p>
-<em>Tei-Fu</em> (Rechte). Der Herr Vorredner übersieht, daß die Bestimmung
-des Arbeitslohnes nicht vom Belieben der Arbeitgeber, sondern
-von Angebot und Nachfrage abhängt. Daß Hungerlöhne zum Tiere
-herabdrücken, ist ja leider richtig und die Blutbäder, mit denen die zur
-Verzweiflung getriebenen Massen auch meines Vaterlandes allenthalben
-das Befreiungswerk einleiteten, sind gleich den Ereignissen in Rußland
-beredte Beweise dieser Wahrheit; aber wie hätte alle politische Klugheit
-der Herrschenden dem vorbeugen können? Der Arbeitsmarkt in China
-war eben überfüllt, das Händeangebot zu groß; keine Macht der Erde
-konnte den Lohn erhöhen.
-</p>
-
-<p>
-<em>Alexander Ming-Li</em> (Freiland). Mein Bruder Tei-Fu glaubt,
-daß der Arbeitslohn von Angebot und Nachfrage abhänge; es ist das
-kein in unserem gemeinsamen Geburtslande erdachtes Axiom, sondern
-ein der Nationalökonomie des Westens entlehnter Satz, der aber deshalb
-in gewissem Sinne nicht minder richtig ist. Er gilt schließlich von
-jeder Ware, also auch von menschlicher Arbeitskraft, so lange sie als
-Ware feilgeboten werden muß. Aber daneben hängt der Preis auch
-noch von zwei anderen Dingen ab, nämlich von den Produktionskosten
-und vom Nutzwerte der Ware, ja diese beiden letztgenannten Faktoren
-sind es, die auf die Dauer den Preis regulieren, während die Schwankungen
-von Angebot und Nachfrage auch bloß Schwankungen innerhalb
-der von Produktionskosten und Nutzwert gezogenen Grenzen herbeizuführen
-vermögen. Man muß auf die Dauer für jedes Ding so viel
-bezahlen, als seine Herstellung kostet und man kann auf die Dauer nicht
-mehr für dasselbe erhalten, als sein Gebrauch wert ist. Das ist alles
-auch längst bekannt, nur hat man es sonderbarer Weise niemals vollständig
-auf die Frage des Arbeitslohnes angewendet. Was kostet die Herstellung
-<a id="page-330" class="pagenum" title="330"></a>
-der Arbeitskraft? Nun offenbar so viel, als der Arbeiter an Mitteln des
-Unterhalts braucht, um bei Kräften zu bleiben. Und was ist der Nutzwert
-der menschlichen Arbeit? Nun ebenso offenbar der Wert des durch sie
-zu erzielenden Produkts. Was heißt das also in seiner Anwendung auf
-den Arbeitsmarkt? Wie mir scheint, nichts anderes, als daß die Höhe
-des Arbeitslohnes &mdash; unbeschadet der Fluktuationen durch Angebot
-und Nachfrage &mdash; auf die Dauer bestimmt wird durch die Lebensgewohnheiten
-der Arbeiter einerseits und durch die Produktivität ihrer
-Arbeit anderseits. Ersteres Moment ist bestimmend für die Forderungen
-der Arbeiter, letzteres für die Zugeständnisse der Arbeitgeber.
-</p>
-
-<p>
-Nun aber bitte ich meinen geehrten Landsmann wohl Acht zu
-geben. Die Lebensgewohnheiten der Massen sind nichts unabänderlich
-gegebenes; jedes menschliche Wesen hat das natürliche Bestreben, möglichst
-gut zu leben, und wenn auch zugegeben werden muß, daß Sitte
-und Gewohnheit häufig dieser natürlichen Expansionstendenz der Bedürfnisse
-einige Zeit hindurch hemmend entgegentreten können, so darf
-ich doch mit gutem Gewissen behaupten, daß unsere unglücklichen Brüder
-im blumigen Lande der Mitte nicht aus unüberwindlicher Abneigung
-gegen ausreichende Kost und Kleidung hungerten und halbnackt umherliefen,
-sondern sehr gern bereit gewesen wären, sich höhere Gewohnheiten
-anzueignen, wenn nur die vorsorgliche Weisheit aller chinesischen
-Regierungen dem nicht jederzeit dadurch entgegengetreten wäre, daß sie
-alle Versuche der Arbeiter, sich behufs wirksamer Geltendmachung ihrer
-Forderungen zu verabreden und zu vereinigen, mit den härtesten Strafen
-verfolgte. Verbündete Arbeiter wurden nicht anders behandelt, denn als
-Rebellen und die Besitzenden Chinas &mdash; das ist ihre Thorheit und
-ihre Schuld &mdash; haben dieser verbrecherischen Thorheit der chinesischen
-Regierung stets Beifall gespendet.
-</p>
-
-<p>
-Thorheit sowohl als Verbrechen nenne ich dies Beginnen, weil es
-nicht bloß gegen die Gerechtigkeit und Menschlichkeit, sondern auch gegen
-den eigenen Vorteil der also Handelnden und der ihnen Beifall Spendenden
-in gröblichster Weise verstieß. Die Regierung anlangend sollte
-man meinen, daß dieser das Aberwitzige und Selbstmörderische ihres
-Beginnens ganz von selbst auch ohne tieferes Nachdenken längst hätte
-einleuchten sollen. Mußte doch ein Blinder sehen, daß sie ihre
-finanzielle sowohl als ihre militärische Kraft in dem Maße ruinierte,
-in welchem ihre Maßregeln gegen die unteren Volksklassen von Erfolg
-begleitet waren. Der Konsum der Massen ist wie allerorten so auch
-in China die hauptsächliche Quelle der Staatseinnahmen, die physische
-Gesundheit der Bevölkerung die Stütze der militärischen Kraft gewesen.
-Was sollten aber Chinas Zölle und Accisen einbringen, wenn das Volk
-nichts verzehren konnte und wie sollten seine aus dem elendesten Proletariate
-rekrutierten Soldaten Mut und Kraft vor dem Feinde beweisen?
-<a id="page-331" class="pagenum" title="331"></a>
-Ebenso schädigte diese Darniederhaltung der Massen auch die Interessen
-der Besitzenden. Weil das chinesische Volk wenig konsumierte, vermochte
-es auch nicht zu höher produktiver Arbeit überzugehen, d. h. seine
-Arbeitskraft hatte, gerade weil ihre Herstellungskosten so jämmerlich
-wenig beanspruchten, auch jämmerlich wenig Nutzwert.
-</p>
-
-<p>
-Der chinesische Arbeitgeber konnte also wirklich nicht viel für die
-Arbeit zahlen, aber nur aus dem Grunde, weil dem Arbeiter verwehrt
-war, in wirksamer, d. h. nicht bloß den einzelnen Arbeitgeber, sondern
-den Arbeitsmarkt beeinflussender Weise, viel zu verlangen. Der einzelne
-Unternehmer hätte freilich den Forderungen seiner Arbeiter nur
-in beschränktem Maße nachgeben können, da er als Einzelner das Mehr
-an Lohn an seinem Gewinne eingebüßt hätte; wäre aber in ganz China
-der Arbeitslohn gestiegen, so hätte dies den Bedarf in solchem Maße
-erhöht, daß die gesamte chinesische Arbeit ergiebiger geworden wäre,
-d. h. mit besseren Produktionsmitteln hätte ausgestattet werden können;
-nicht aus ihrem Gewinne, sondern aus dem gesteigerten Ertrage hätten
-die Arbeitgeber die Lohnaufbesserung gedeckt, ja ihr Gewinn wäre sogar
-gewachsen, ihr Reichtum, dargestellt durch die in ihrem Besitze befindlichen
-kapitalistischen Arbeitsmittel, hätte sich vermehrt. Das schließt
-natürlich nicht aus, daß einzelne Produktionszweige unter diesem Umschwunge
-gelitten hätten, denn die Zunahme des Konsums infolge verbesserter
-Löhne erstreckt sich nicht gleichmäßig auf alle Bedarfsartikel.
-Der Konsum kann sich im Durchschnitt verzehnfacht haben und trotzdem
-die Nachfrage nach einem <a id="corr-95"></a>einzelnen Gute ziemlich stationär bleiben, ja
-vielleicht sogar zurückgehen; dafür aber wird in diesem Falle ganz
-gewiß die Nachfrage nach gewissen anderen Gütern sich mehr als verzehnfachen,
-den Einbußen einzelner Arbeitgeber stehen sicherlich desto
-größere Gewinne anderer Arbeitgeber gegenüber und als allgemeine
-Regel kann überall gelten, daß der Reichtum der Besitzenden im geraden
-Verhältnisse mit dem Arbeitslohne wächst, den sie bezahlen müssen. Es
-ist dies ja anders auch gar nicht möglich, da dieser Reichtum der besitzenden
-Klassen der Hauptsache nach in gar nichts anderem besteht, als
-in den Produktionsmitteln, die zur Herstellung der Bedarfsgüter des
-ganzen Volkes dienen.
-</p>
-
-<p>
-Und sollte mein geehrter Landsmann vielleicht meinen, daß man
-sich mit der Frage der Lohnerhöhung in einem Zirkel bewege, indem
-einerseits die Ergiebigkeit der Arbeit, d. i. der Nutzwert der Arbeitskraft
-allerdings nicht verbessert werden könne, so lange der Volksgebrauch,
-d. i. der Selbstkostenbetrag der Arbeitskraft, sich nicht steigere,
-anderseits aber auch letztere Steigerung undurchführbar sei, so lange
-erstere nicht zur Thatsache geworden; so sage ich ihm, daß dies eben
-der verhängnisvolle Aberglaube ist, den die besitzenden Klassen und die
-Machthaber so manchen Landes nun so grausam zu büßen haben. Da
-<a id="page-332" class="pagenum" title="332"></a>
-der Arbeits<em>lohn</em> in der ausbeuterischen Welt immer nur einen Teil
-und dazu in der Regel noch einen sehr geringen des Arbeits<em>ertrages</em>
-beanspruchte, so waren &mdash; von höchst vereinzelten Ausnahmen abgesehen &mdash;
-die Arbeitgeber sehr wohl in der Lage, Lohnerhöhungen zu gewähren,
-noch bevor die, allerdings erst als Folge <em>allgemeiner</em> Lohnerhöhung
-zu gewärtigende Steigerung der Erträge faktisch eingetreten war; ich
-sage ihm, daß speciell in China durchschnittlich selbst der dreifache und
-vierfache Lohn noch immer nicht den ganzen &mdash; wohlverstanden nicht
-einmal den alten, von der Erhöhung der Erträge noch unbeeinflußten &mdash;
-Gewinn verschlungen hätte. Die Arbeitgeber <em>konnten</em> also mehr zahlen,
-sie <em>wollten</em> bloß nicht. Letzteres war vom Standpunkte des Einzelnen
-betrachtet auch ganz begreiflich; Jeder sorgt bloß für den eigenen Vorteil,
-und dieser verlangt, daß man vom erzielten Nutzen so viel als möglich
-für sich behalte, so wenig als möglich anderen abtrete. In diesem
-Punkte waren die amerikanischen Spekulanten, die französischen Kapitalisten
-und die englischen Landlords nicht um ein Gran besser als unsere
-chinesischen Mandarinen. Anders aber handelten Jene und anders Diese
-als Gesamtheit. Trotzdem der Unsinn, daß man den Arbeitslohn nicht
-erhöhen <em>könne</em>, eigentlich im Westen erfunden und von allen Lehrkanzeln
-verkündet worden ist, hat der richtigere Volksinstinkt der westlichen
-Völker diese doch seit einigen Menschenaltern veranlaßt, in ihrer
-Politik so zu handeln, als ob sie das Gegenteil erkannt hätten. In
-der Theorie beharrten sie dabei, der Lohn könne nicht wachsen; in der
-Praxis aber begünstigten sie mehr und mehr die Lohnforderungen ihrer
-arbeitenden Massen, mit deren unleugbaren Erfolgen sich dann hinterher
-die Theorie abfand, so gut oder so schlecht es eben ging. Ihr, meine
-chinesischen Brüder dagegen, habt Euch in der Politik strikte an die
-Lehren dieser Theorie gehalten; Ihr habt Euere arbeitenden Massen
-zunächst durch die Erkenntnis, daß der Staat ihr Feind sei, in Verzweiflung
-gebracht und jede Ausschreitung der Verzweifelten dann sofort
-dazu benützt, &bdquo;Ordnung&ldquo; in Eurem Sinne zu machen. Euere Hand
-war stets gegen die Schwächeren erhoben &mdash; wundert Euch nicht, daß
-diese einen fürwahr nur geringen Teil der ihnen zugefügten Leiden
-vergelten, nachdem sie die Stärkeren geworden.
-</p>
-
-<p>
-Das hindert natürlich nicht, daß wir in Freiland &mdash; wie ja unsere
-Thaten beweisen &mdash; auch das den ehemaligen Unterdrückern zugefügte
-Unrecht beklagen und so viel an uns liegt, gutzumachen bestrebt sind.
-Wir halten dafür, daß auch das Volk von Rußland, Ägypten und
-China, kurzum, daß alle Welt am besten thäte, das von der amerikanischen
-Union gegebene Beispiel nachzuahmen; wir glauben dies schon
-aus dem Grunde, weil diese weise Großmut sich nicht bloß für die
-Besitzenden, sondern auch für die Arbeitenden als vorteilhaft erweisen
-wird. Es liegt jedoch leider nicht in unserer Macht, dem russischen
-<a id="page-333" class="pagenum" title="333"></a>
-Muschik, dem ägyptischen Fellah oder dem chinesischen Kuli sofort Anschauungen
-beizubringen, wie sie den Arbeitern des vorgeschrittenen
-Westens natürlich sind. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht; in ihr
-wird schließlich Jedem zugemessen, was er sich selber verdient hat.&ldquo;
-</p>
-
-<p>
-Da kein fernerer Redner vorgemerkt war, schloß der Präsident die
-Debatte über diesen Punkt der Tagesordnung, und damit zugleich die
-Beratungen des Kongresses.
-</p>
-
-<h3 class="chapter" id="chapter-6-6">
-<a id="page-334" class="pagenum" title="334"></a>
-Schlußwort.
-</h3>
-
-<p class="first">
-Die Geschichte von &bdquo;Freiland&ldquo; ist zu Ende. Ich könnte zwar,
-den Faden der Erzählung weiter spinnend, das Befreiungswerk der
-Menschheit, wie es meinem geistigen Auge sich darstellt, in seinen Einzelheiten
-ausmalen; aber wozu sollte dies dienen? Wer aus dem Bisherigen
-nicht die Überzeugung geschöpft hat, daß wir an der Schwelle
-eines neuen, glücklicheren Zeitalters stehen und daß es nur von unserer
-Einsicht und unserem Willen abhängt, dieselbe sofort zu überschreiten,
-den werden auch Dutzende folgender Bände nicht überführen.
-</p>
-
-<p>
-Denn nicht die wesenlose Schöpfung einer ausschweifenden Phantasie
-ist dieses Buch, sondern das Ergebnis ernsten, nüchternen Nachdenkens,
-gründlicher, wissenschaftlicher Forschung. Alles, was ich als thatsächlich
-geschehen erzähle, es <em>könnte</em> geschehen, wenn sich Menschen fänden,
-die erfüllt gleich mir von der Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände,
-sich zu dem Entschlusse aufrafften, zu handeln, statt zu klagen. Gedankenlosigkeit
-und Trägheit sind in Wahrheit annoch die einzigen
-Stützen der bestehenden wirtschaftlichen und socialen Ordnung. Was
-einst notwendig und deshalb unvermeidlich gewesen, es ist schädlich und
-überflüssig geworden; nichts zwingt uns fürderhin, das Elend einer überlebten
-Weltordnung zu ertragen, nichts hindert uns, jenes Glück und
-jenen Überfluß zu genießen, zu deren Bereitung uns die vorhandenen
-Kulturmittel befähigen würden, nichts, als unsere eigene Thorheit.
-</p>
-
-<p>
-&bdquo;So sprachen und schrieben seit des Thomas Morus Zeiten schon
-zahllose Weltverbesserer, und stets hat sich als Utopie erwiesen, was sie
-der Menschheit als Universalmittel gegen alle Leiden empfahlen&ldquo; &mdash;
-wird man mir vielleicht entgegenhalten; und gestehen will ich, daß die
-Furcht, mit der Legion von Verfassern utopischer Staatsromane vermengt
-zu werden, mir anfangs nicht geringe Bedenken gegen die von mir gewählte
-Form des Buches einflößte. Aber bei reiflichem Erwägen entschied
-ich mich doch dafür, statt trockener Abstraktionen ein möglichst
-lebensvolles Bild zu bieten, das in anschaulichen Vorstellungen deutlich
-<a id="page-335" class="pagenum" title="335"></a>
-mache, was bloße Begriffe doch nur in schattenhaften Umrissen darstellen
-können. Der Leser, der den Unterschied zwischen jenen Werken der
-Phantasie und dem vorliegenden nicht selber herausfindet, ist für mich
-ohnehin verloren; ihm bliebe ich der &bdquo;unpraktische Schwärmer&ldquo;, auch
-wenn ich mich noch so trockener Systematik befleißigte, denn ihm genügt,
-daß ich an eine Änderung des Bestehenden glaube, um mich dafür zu
-halten. In welcher Gestalt ich meine Beweise vorbringe, ist für diese
-Art Leser schon aus dem Grunde einerlei, weil sie &mdash; gleich den
-Frommen in Sachen der Religion &mdash; schlechterdings außer stande sind,
-Beweise zu prüfen, die ihre Spitze gegen das Bestehende kehren.
-</p>
-
-<p>
-Den unbefangenen Leser dagegen wird die erzählende Form nicht
-hindern, nüchternen Sinnes zu untersuchen, ob meine Ausführungen
-innerlich wahr oder falsch sind. Sollte auch er finden, daß ich &mdash; und
-sei es nur in <em>einem</em> wesentlichen Punkte &mdash; von irrigen Voraussetzungen
-ausgegangen, daß die von mir dargestellte Ordnung der Freiheit und
-Gerechtigkeit irgendwie den natürlichen und allgemein anerkannten Triebfedern
-menschlicher Handlungsweise widerspreche, ja sollte er, nachdem
-er mein Buch gelesen, nicht zu der unumstößlichen Überzeugung gelangt
-sein, daß die Durchführung dieser neuen Ordnung &mdash; von nebensächlichen
-Details natürlich abgesehen &mdash; ganz und gar unvermeidlich sei
-&mdash; dann allerdings müßte ich mich damit bescheiden, mit Morus, Fourier,
-Cabet und wie sie alle heißen mögen, die auf socialem Gebiete ihre
-Wünsche der nüchternen Wirklichkeit unterschoben, in <em>einen</em> Topf geworfen
-zu werden.
-</p>
-
-<p>
-Ausdrücklich hervorheben will ich zum Schluß, daß sich die innere
-Wahrhaftigkeit meines Buches nicht bloß auf die der Handlung zugrunde
-gelegten wirtschaftlichen und ethischen Prinzipien und Motive, sondern
-auch auf den äußeren Schauplatz derselben erstreckt. Die Hochlande im
-äquatorialen Afrika entsprechen durchaus dem im Vorstehenden entworfenen
-Bilde. Wer dies bezweifelt, der kontrolliere meine Erzählung
-durch die Reiseberichte Speekes, Grants, Livingstones, Bakers, Stanleys,
-Emin Paschas, Thomsons, Johnstons, Fischers, kurz all Derer, welche
-jene paradiesischen Gegenden besucht haben. Um &bdquo;Freiland&ldquo;, so wie
-ich es darstelle, zur Thatsache werden zu lassen, bedarf es also in jeder
-Hinsicht bloß einer genügenden Anzahl thatkräftiger Menschen. Werden
-sich solche finden? Wird diesen Blättern die Kraft innewohnen, mir
-die Genossen und Helfer zuzuführen, die zur Durchführung des großen
-Werkes erforderlich sind?
-</p>
-
-<p class="datesign">
-<em>Wien</em> 1890.
-</p>
-
-<p class="sign">
-Theodor Hertzka.
-</p>
-
-<p class="printer">
-<a id="page-336" class="pagenum" title="336"></a>
-Druck von Hallberg &amp; Büchting, Leipzig.
-</p>
-
-
-<div class="trnote">
-<p id="trnote" class="transnote"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
-
-<p>
-Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
-Korrekturen (vorher/nachher):
-</p>
-
-<ul>
-
-<li>
-... Tropen irgend gedeihenden Feldfrüchte, Gemüse und <span class="underline">Obstgarten</span> aus. ...<br />
-... Tropen irgend gedeihenden Feldfrüchte, Gemüse und <a href="#corr-7"><span class="underline">Obstarten</span></a> aus. ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... uns von <span class="underline">dem</span> Kapte-Massai, ihren unmittelbaren Nachbarn, in verstärkter ...<br />
-... uns von <a href="#corr-10"><span class="underline">den</span></a> Kapte-Massai, ihren unmittelbaren Nachbarn, in verstärkter ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... teils den <span class="underline">Anhängen</span> der seitlich und gegenüber gelagerten Berge entspringen. ...<br />
-... teils den <a href="#corr-14"><span class="underline">Abhängen</span></a> der seitlich und gegenüber gelagerten Berge entspringen. ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... unter Benutzung von Wasserkraft zu <span class="underline">bearbeiten</span> begann und teils ...<br />
-... unter Benutzung von Wasserkraft zu <a href="#corr-17"><span class="underline">arbeiten</span></a> begann und teils ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... Eltern und Geschwister erhalten und diese bewogen hatten, ihre <span class="underline">Glashütten</span> ...<br />
-... Eltern und Geschwister erhalten und diese bewogen hatten, ihre <a href="#corr-22"><span class="underline">Grashütten</span></a> ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... solche, oder durch ihre gewählten Funktionäre, die ihr jedoch verantwortlich ...<br />
-... solche, oder durch ihre gewählten Funktionäre<a href="#corr-27"><span class="underline"> aus</span></a>, die ihr jedoch verantwortlich ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... Erträge sich alsbald wieder ins Gleichgewicht <span class="underline">setzen</span>. ...<br />
-... Erträge sich alsbald wieder ins Gleichgewicht <a href="#corr-29"><span class="underline">setzten</span></a>. ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... der Edenthal-Association dagegen <span class="underline">erhielt</span> bloß 2 Schilling pro ...<br />
-... der Edenthal-Association dagegen <a href="#corr-30"><span class="underline">erhielten</span></a> bloß 2 Schilling pro ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... Nicht <span class="underline">möglich</span> viel und gut zu erzeugen, sondern für einen möglichst ...<br />
-... Nicht <a href="#corr-31"><span class="underline">möglichst</span></a> viel und gut zu erzeugen, sondern für einen möglichst ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... dazu antreibt und es ist daher <span class="underline">die</span> Natur der Sache nach ausgeschlossen, ...<br />
-... dazu antreibt und es ist daher <a href="#corr-51"><span class="underline">der</span></a> Natur der Sache nach ausgeschlossen, ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... &bdquo;Herrlich!&ldquo; rief David. &bdquo;Also weil die arbeitenden Massen <span class="underline">ihr</span> ...<br />
-... &bdquo;Herrlich!&ldquo; rief David. &bdquo;Also weil die arbeitenden Massen <a href="#corr-52"><span class="underline">ihren</span></a> ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... Schädigung <span class="underline">abziehender</span> Konkurrenzkampf ist.&ldquo; ...<br />
-... Schädigung <a href="#corr-56"><span class="underline">abzielender</span></a> Konkurrenzkampf ist.&ldquo; ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... sind eben allesamt Eigentümer ihres gesamten Landes, und inniges <span class="underline">Betragen</span> ...<br />
-... sind eben allesamt Eigentümer ihres gesamten Landes, und inniges <a href="#corr-57"><span class="underline">Behagen</span></a> ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... hierzulande irgendwelche Standesunterschiede begründen <span class="underline">könnte</span>, sie ...<br />
-... hierzulande irgendwelche Standesunterschiede begründen <a href="#corr-59"><span class="underline">könnten</span></a>, sie ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... wollen, um dem Müssiggange fröhnen zu können<span class="underline">.</span> Werden hinsichtlich ...<br />
-... wollen, um dem Müssiggange fröhnen zu können<a href="#corr-61"><span class="underline">?</span></a> Werden hinsichtlich ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... seit Wochen resultatlos hin und <span class="underline">wieder</span>. Sichtlich nahmen die Kabinette ...<br />
-... seit Wochen resultatlos hin und <a href="#corr-68"><span class="underline">wider</span></a>. Sichtlich nahmen die Kabinette ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... nur zur Fristung des nackten tierischen <span class="underline">Leben</span> ausreichte, und der Knechtschaft ...<br />
-... nur zur Fristung des nackten tierischen <a href="#corr-78"><span class="underline">Lebens</span></a> ausreichte, und der Knechtschaft ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... amerikanischen oder sonstigen socialen Experimente, von den Kolonien ...<br />
-... amerikanischen oder sonstigen socialen Experimente, von den Kolonien<a href="#corr-79"><span class="underline"> der</span></a> ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... <span class="underline">Frei </span>&sbquo;Frei&lsquo; waren die Arbeiter, nichts zwang sie, zu fremdem Vorteil ...<br />
-... <a href="#corr-83"></a>&sbquo;Frei&lsquo; waren die Arbeiter, nichts zwang sie, zu fremdem Vorteil ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... <span class="underline">Preigebung</span> der höheren Produktivität und dem entsprechenden Fortbestand ...<br />
-... <a href="#corr-90"><span class="underline">Preisgebung</span></a> der höheren Produktivität und dem entsprechenden Fortbestand ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... die Nachfrage nach einem <span class="underline">einzelnem</span> Gute ziemlich stationär bleiben, ja ...<br />
-... die Nachfrage nach einem <a href="#corr-95"><span class="underline">einzelnen</span></a> Gute ziemlich stationär bleiben, ja ...<br />
-</li>
-</ul>
-</div>
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Freiland, by Theodor Hertzka
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK FREILAND ***
-
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-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
-Literary Archive Foundation
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-Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
-spread public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
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-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
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-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
-with these requirements. We do not solicit donations in locations
-where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
-DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
-state visit www.gutenberg.org/donate
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-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
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-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
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-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
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-Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations. To
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-Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.
-
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
-Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
-freely shared with anyone. For forty years, he produced and
-distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
-volunteer support.
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-Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
-the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
-necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
-edition.
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-Most people start at our Web site which has the main PG search
-facility: www.gutenberg.org
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-This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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