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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-14 18:37:56 -0700 |
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Denn an +allen Erlebnissen während dieser Jahre, an allen Szenen, allen Ereignissen, +allen Episoden hat sich die Beobachtung ergeben, daß im wachsenden Umfang +die besten Hoffnungen, die reinsten Zugehörigkeiten ihre dramatische +Zerstörung nach sich zogen. Zu sehen, wie sie immer sehr buchstäblich +zuschanden kommen mußten, versetzte mich erst in eine dumpfe, +herabgestimmte Unruhe, und nur allmählich entdeckte ich, daß sich in allem +die kleine wie die große Höllenmaschine menschlicher Niedrigkeit gleichsam +eingebaut hielt, überall, auf dieselbe Weise und mit derselben Wirkung jede +edle, jede vernünftige Absicht, jede Harmonie im Keim vernichtete. Diese +Gefolgschaft, dies enge Schritthalten der Bösen -- jeder Zufälligkeit bar +-- zeigt sich vom Anekdotischen bis zur Entladung so konform, daß es die +Schicksale des einzelnen zur genauesten Replik der Weltschicksale prägt. + + + + +Erster Teil. + + +Am 1. Februar 1917 kam ich gegen Abend definitiv nach Bern. Im Zug -- am +Fenster -- schlief ich zwischen Zürich und Baden auf einige Sekunden ein. +Dabei rückten sich Bilder aus meiner Wohnung, aber um ein Drittel +vergrößert -- die sich also selbst vergrößert hatten --, selbst an einer +Wand zurecht. -- + +Trotz dieser so unvermittelt aufblitzenden Vision wurde die Mutlosigkeit, +gegen die ich anzukämpfen hatte, immer drückender, und geradezu trostlos +gestaltete sich meine Einfahrt in die Bahnhofhalle. Es goß so recht von +innen heraus, wie nur der Berner Himmel zu gießen versteht. So begibt man +sich wohl ins Gefängnis, wie ich in das Haus, um dessen anheimelnder alten +Stiege willen ich im zweiten Stock zwei kleine Zimmer mit einem Alkoven +gemietet hatte. Übrigens waren sie noch nicht frei, und indessen wurde mir +ein großes niedriges angewiesen, das sofort meine Abneigung erregte: bis +auf einen gewaltigen Tisch von wahrhaft tröstlichem Umfang. Er stand mitten +in der Stube, ganz auf sich beruhend: + +Sieh mein geräumiges Rund, und wie gefällig es ist! Sahst du ein weiteres +je? + +Bürde nur füglich mir auf, was immer du willst. Ich schaffe noch Platz dir. +Na also! + +So redete er, halb in Hexametern, halb wie eine alte Kindsfrau zu mir, war +immer optimistisch und richtete mich auf. + +Das Münster aber, das so gut anhebt und so schlecht verläuft, beschattet +und beherrscht den Platz, und die Aussicht hart vor meinen Fenstern ist +durch ihn versperrt. Auch mein Herz schlägt hinter Riegeln. Ich bin nicht +mit den Illusionen hergekommen wie das erstemal. + + * * * * * + +4. FEBRUAR. Kalte regnerische Tage, unfroh wie die Stunde meiner Ankunft, +welche Telramunds, als sei dies unvermeidlich, zuerst erfuhren. Die Lauben +sind, wie es scheint, ihr Jagdrevier, denn kaum trete ich vors Haus, so +schießen sie mir schon wie auf Rollschuhen der Neugierde entgegen, jedesmal +mit einer Einladung zum Tee. Ich bin entschlossen, ihr nicht zu folgen, +denn sie ist natürlich nur verhörsweise gedacht. Fortunio rät von einer so +schroffen Haltung ab. Wir diskutieren hin und her, und ich lasse mich +leider überreden. + +6. FEBRUAR. Tee bei Telramunds. Ich trage meinen teuren Pelz, denn es ist +kalt, dazu aber ausgebesserte Schuhe, weil es regnet. Der Empfang ist +übrigens von so glänzend imitierter Herzlichkeit, daß er mich fürs erste +ganz beschämt. Wie unverkennbar ist doch im Grunde Telramunds Zuneigung für +mich! Er erörtert meinen Roman in den höchsten Tönen, und wie freut sich +Ortrud, mich zu sehen! Wie ungerechtfertigt ist der Name, den ich ihnen +gebe! Wie funkeln Teekanne, Dose und réchaud! Wir sitzen ein wenig +merkwürdig zusammen, es ist wahr! unsere sechs Knie eng aneinander gerückt: +die meinen in der Mitte, wie die eines Delinquenten, von den beiden andern +flankiert. Doch ist das nur zufällig vielleicht. + +Wenn aber drei Leute sich äußerlich in so enger Gemeinschaft befinden, und +zwei von ihnen werfen sich Blicke zu, so wird es der Dritte bemerken, auch +ohne es zu wollen und ohne hinzusehen. Ortrud guckte wertschätzend von +meinem Mantel herab auf mein Schuhwerk. Der Pelz einerseits und die +Reparatur anderseits gaben zu denken. Wie aber konnten sich die beiden so +vergessen, daß sie plötzlich anfingen, wie mit Fliegenklappen nach mir +auszuholen und sich hochbefriedigt ansahen, wenn sie glaubten, mich ertappt +zu haben? + +Zwar lag es auf der Hand, daß ein so leicht zu überführendes Geschöpf +unmöglich zugleich jene raffinierte Person sein konnte, für welche ich +wußte, daß sie mich hielten. Aber wie resolut Leute von schlechten +Instinkten jegliche hemmende Logik von sich weisen, wußte ich auch. Von +neuem auf der Hut, beantwortete ich jede Frage mit einem Kunstbogen; als +jedoch der Name Elisabeth Rotten fiel, hielt ich krampfhaft an diesem Thema +fest. Telramund konnte ihren politischen Scharfsinn nicht genug loben +(später stritt er ihn ihr öffentlich ab). So erzählte ich denn von ihrer +schwer angegriffenen Gesundheit und ihrem Wunsch nach einer Erholungsreise. +Diese aber sei nur durch List und Tücke zu erreichen. Es müßte also, meinte +ich, mehr mitteilsam wie raffiniert, unter Vorspiegelung eines Vortrags, +welchen sie dann natürlich nicht halten würde, ein Paß für sie erschlichen +werden. + +Die Idee wurde stillschweigend zur Kenntnis genommen. Blicke flogen . . . +und es war unverkennbar, daß etwas nicht stimmte. + +Bin ich nach Bern gekommen, dachte ich auf dem Rückweg, um mit Leuten zu +verkehren, die ich zu Hause nie ertragen hätte? + +Das Wetter hatte sich auf einige Stunden aufgehellt, und über der Brücke +von Kirchenfeld flammten plötzlich die Alpen auf. Blaß und verheißungsvoll +leuchtete die losgelöste Jungfrau über das Gewölk, das sich in schwarzen +Massen zu Tale schob. Wie ganz und gar nicht existierend, dachte ich da, +ist doch letzten Endes das Gemeine! Nur unser träges und verwischtes Sehen +leiht ihm den Schein von Wesenheit, und Leuten wie Telramunds das Gesicht. +Und zwei verschwisterte Seelen hatten da einen Bund geschlossen, wie die +Hölle ihn liebt. Dabei war Telramund Berliner und Ortrud, wie zum +Schulexempel, eine Französin aus der Provinz. Ach! Welch ein Schabernack +wird doch über alle Grenzen hin mit unseren Gesetzen getrieben! Keine Feder +wiegen sie auf gegen die Schleuderwaffen, über welche schlaue Unvernunft +gebietet. Wohl haben wir gelernt, Weingärten und Äcker zu bestellen, +veredelt hängen uns die Früchte von den Bäumen hernieder, und wie +umsichtig, wie bewundernswert ist der Mensch angesichts seiner Felder! Nur +vor sich selbst ist er stehengeblieben. Da jätet er nicht. Da steht überall +goldener Weizen, von wild um sich greifendem, allgewaltigem Unkraut +erstickt. Gegen die Natur, die Elemente, die Erde, ja die Luft selber +schritten wir ein, nur vor uns selbst sinken uns die Arme, und wir lassen +geschehen. Dies ist die bisherige Logik der Welt, der Nationen. Nicht +einmal bis zu unseren Verbrecherstatistiken besannen wir uns -- wie hätten +wir da bis zu den Tabellen unserer verkleideten und ganz undrastischen +Übeltätern gedacht? -- + + * * * * * + +Allseitige Verstimmung. Mein Wunsch, Fräulein Rottens Wunsch zu erfüllen, +hat schwärzesten Verdacht erregt. Ich kannte die in Bern geschaffene +Atmosphäre noch zu wenig, um zu verstehen. Warum in aller Welt, beschwert +sich Fortunio bei mir, mischte ich mich da hinein! Welches Interesse hatte +ich an dieser Reise? + +Und diese Idee eines Vortrags! (Sogar er, es war unverkennbar, hat Argwohn +geschöpft!) + +Nur ein Vorwand natürlich! ich sagte es ja Telramund. + +Fortunio zuckte die Achseln: er hat es Ihnen natürlich nicht geglaubt. + +Die beiden werden uns noch sprengen!, brach ich aus, alle unsere +Anstrengungen hintertreiben und uns alle zu Grabe tragen. + +Mit Martin im Walde hatte ich ja meine Not. Die Verdächtigungen auf ihn +regneten ohne Unterlaß. Schon während jenes Diners, welches Aramis bei +meiner ersten Berner Ankunft gab, hatte ihn Telramund als einen Agenten mit +doppeltem Schubfach bezeichnet, und Ortrud pfiff förmlich vor Hohn wie eine +Maus. Daß ich widersprach, fiel nur auf mich zurück. Für einen ehemaligen +Kruppdirektor also machte ich Reklame! Sprach dies nicht Bände? Daß er +tatsächlich seine Stellung seinen Überzeugungen geopfert hatte, war ein +Beweis mehr für seine Verschlagenheit. Den Bruder kannte er. »Den Bruder +kenne ich!« war sein Refrain. + + * * * * * + +9. FEBRUAR. Ich miete einen Flügel: ohne Schmelz, ohne Tiefe, es ist wahr, +und doch edel, weil immerhin ein Flügel. Gott sei Dank! Flügel sind jetzt +sehr schwer zu kriegen! Ich bin einen ganzen halben Tag glücklich. Welches +Glück! -- es ist ein Glück, das ich der Protektion eines jungen Berner +Pianisten verdanke. Wir hatten ein Zusammentreffen verabredet, um in die +Fabrik zu fahren. In den Lauben kam Ortrud auf mich zu und äußerte den +Wunsch, mich zu besuchen, und da ich ungeheuer eilig tat, begleitete sie +mich, um zu sehen, ob es wirklich der junge Pianist war, der mich erwartet. +Da er es wirklich war, denke ich mir, sie beruhigt sich jetzt. + +10. FEBRUAR. Telramund erzählt mit vielsagender Miene, daß ich einen Flügel +gemietet habe. Kein Zweifel mehr: ich bin eine Spionin. + +11. FEBRUAR. Aramis gibt mir zu wissen, daß er sich wundere, weil ich ihm +noch kein Lebenszeichen gebe. Ich unterließ es nur, denn er ist mir +sympathisch, weil mir versichert wurde, daß er mir nicht mehr traue. + +Es sei kein Grund, sagt mir Fortunio, ihn zu schneiden. Seufzend (da er mir +ja mißtraut!) rufe ich ihn ans Telephon, und vor seiner Sprache, ach! wird +mein zerrissenes Herz sofort wie eine Geige, in welche diese Sprache (auch +die meine, ach!) hineingreift wie ein Bogen. + +13. FEBRUAR. Gestern abend war ich bei Fortunio, und Martin im Walde fand +sich zum ersten Male bei ihm ein. Vor dem Kriege hätte ich sie nicht +einander zugeführt: Fortunio so musisch und sternengebannt, aber auch +stemschnuppenhaft, Martin im Walde so schwerblütig, so problematisch und so +vorbedacht! Heute aber muß alles zusammenstehen, was aufrecht blieb. Wie +errichten wir sonst jene Dämme gegen die blinde Gewalt, den Schutzmauern +vergleichbar, die sich so wacker gegen die Bergwände stemmen, um zur Zeit +der Schmelze die Lawinen aufzuhalten? Auch unserem Planeten stand der +Frühling nahe bevor, als die Lawine sich entlud, die allen Schutt nach oben +warf und eine grünende Welt und alle Glocken der Vernunft mit ihren toten +Blöcken und ihrem schmutzigen Geröll brüllend und dröhnend überzog. Jene +Mauern, Lawinenschutz genannt, sind natürlich nur roh aufeinander +geschichtete, jedoch wetterfeste Steine, die nichts anderes zum Ausdruck +bringen, als die Not des Augenblicks, dem sie entstanden sind. So scheint +mir heute, wo es den Kampf des menschlichen gegen das unmenschliche gilt, +das wichtige nicht, glattes einzufügen, nicht einmal der inneren +Gemeinsamkeit den Ausschlag zu lassen, sondern die Widerstandskraft und das +Gewicht der Dinge zu bedenken. + +Doch ach! Der als Schachfigur so schwer festzulegende Fortunio war heute +auf meine Opportunismen nicht gestimmt, sondern wie zum Trotz in einer ganz +herausfordernden, ganz interpellierenden, ganz konträren, um ihre eigene +Wirkung ganz unbekümmerten Laune. Zu machen war da gar nichts. Im stillen +nur nahm ich mir vor, auf dem Heimweg Fortunios Wesensart, welche Martin im +Walde nicht geläufig war, so beweglich wie möglich zu schildern. Aber nicht +einmal diese nachträgliche Intervention sollte mir gelingen. Denn als ich +auf der Stiege in die Taschen meines Mantels griff, war mein Hausschlüssel +nicht darin, die Nacht aber viel zu weit vorgeschritten, um meine Pension +durch Glockenreißen zu alarmieren. Die übermüdete Fortunia, über die Rampe +gebeugt, rief mich wieder zurück. Neben dem großen Empfangsraum lag ein +schmales Zimmer. Ich bezog es ohne viel Worte und warf mich mit meinen +Kleidern auf den breiten Diwan, der dort stand, ganz erledigt für den Rest +der Nacht. Immer verschärfter schwebte mir die Bilanz des mißratenen Abends +vor und regte mich auf. Wie ungut ließ sich doch alles an! + +Eine tiefe Stille lag jetzt über dem ganzen Hause, den Wänden, den Fenstern +und der Luft, als ob sie ein Signal erwarteten. Denn nebenan war plötzlich +ein anderes Leben erwacht, eine andere Unruhe, als die des Tages, ein +Rücken, Geknister, ein Gewisper, Disput und Ungeduld. -- -- Zwar ist dem +Herzen kein Organ verliehen, das unsichtbare zu sehen, aber so mancher +kennt gewiß jenes aussetzen seines Schlages, bevor es tiefer zu horchen +beginnt . . . Es fiel mir ein, daß die ganze Häuserreihe dieser alten Gasse +für mehr oder minder spukhaft galt; doch ein so wenig grauenhafter, +höchstens malitiöser, nicht einmal boshafter Spuk war mir noch nicht +begegnet. Neugierde trieb mich endlich hin zur Türe, hinter der er sich +begab. Aber jenseits derselben hatte augenblicklich -- als sei nie Lärm +gewesen -- Totenstille eingesetzt, und die Klinke, von Tücke besessen, +widerstand allem drücken, drehen und schieben. Mit schmerzenden Händen ließ +ich sie los und kehrte auf meinen Diwan zurück. Alsbald war Geknister und +Getusche, rücken und huschen, Unruhe, Aufregung, heiseres Eifern und +Streiterei im verstärkten Grade wieder da. Offenbar wollte die Gesellschaft +von mir nichts wissen und boykottierte mich. Wie aber kam es, daß ich +plötzlich wie unter freiem Himmel lag und den Arm aufstützte, als schirmten +mich die Zweige eines Baumes, und als horchte ich statt zur Seite hin, tief +unter die Erde hinab? Was immer mir jetzt in den Sinn kam, bot sich wie +eine Zwiesprache dar. Dem Nixenbegriff lag wohl eine tiefe Erkenntnis +zugrunde. Wie diesseits des Menschengeschlechtes, so sind aber auch +jenseits desselben Geschöpfe Gottes denkbar, die an der entgegengesetzten +Peripherie des Lebens beschattet stehen und hinausgerückt; und winzige, +kaum bemerkbare Dinge könnten es sein, die ihnen ein leises Grauen vor +ihrem eigenen Wesen entgegenhauchen: ihr unakkurater Sinn für +Wirklichkeiten, ihr vorwegnehmen des Zieles über Hindernisse hinweg, ist +wie ein gestörter Sehwinkel oder wie ein verkürzter Fuß, den solche +Menschen durchs Leben ziehen, und sie erschauern, verzagen und vereinsamen +bis ins Mark, wenn sie daran erinnert werden. Über die fernest abliegenden +Dinge dachte ich hin und her. Aber warum in aller Welt überkam mich ein +Heimweh nach dieser verschlossenen Tür, und um was für Dinge war mir denn +leid? Du lieber Gott, wollte ich denn von allem haben! + +Der ganze tumultarische Betrieb setzte übrigens mit einer spurlosen +Plötzlichkeit aus, als hätte er nie geherrscht. Nur eins war deutlich: +durch die Türe verzog er sich nicht. Es kam etwas anderes: aus dem unteren, +nachts unbewohnten Stockwerk drangen sanfte Trommelwirbel, oh, so deutlich +zu mir, und dann ertönten gedämpft, aber klangvoll, tamponierte Posaunen. +Und dann kam das huschen und fegen eines Kleides, das schleifen einer +Schleppe, ja! im Takt dieser erstickten Musik. Ich horchte mit allen +Fasern. So fein, so spöttisch, so leicht! oh! in der Tat geistreich war der +Rhythmus dieses pas-de-deux, waren die Füße, die Grazie, die +Unkörperlichkeit dieses balancierenden Körpers im Klang der wonnig +umhüllten Posaunchen. Tod und Leben in lächelnder Umarmung -- Leben noch im +Tode? Liebe selbst bei ihm? -- Was verfing sich da eine Uhr, mit vier +groben Schlägen in den Zauber hineinzufahren? Nichts rührte sich mehr. Im +Augenblicke alles längst verflogen und verweht -- welchem Sterne, welcher +Nacht entgegen? + +Nunmehr versank die Dunkelheit in ihrer eigenen Stille, und der Schlaf +atmete mir jetzt -- als käme er von außen -- seltsam genug! -- mit weiten +Flügeln entgegen. Ich fühlte noch den Wunsch, mich ihm ganz zu überlassen, +aber daß er mich dahintrug, schon nicht mehr. Gespannten, wachen Sinnes +stand ich in der Mitte eines Saales -- nicht wissend, daß ich schlief. Die +Wände lagen im Zwielicht, und ein paar Leute saßen dort als Zuschauer +herum. Ich fragte mich, was es zu sehen gab und merkte dann erst, daß ich +es war, welche nun tanzte. Die Rhythmen nämlich, nach welchen ich mich +drehte, »geschahen«, ohne zu verlauten, als stünden hier die Gesetze am +Anfang aller Musik, noch ehe, oder ohne daß sie sich vertonten. Dabei +geboten sie mit so wunderbarer und zwingender Macht, daß es unmöglich war, +ihnen nicht zu folgen, und unwiderstehlich kreiste ich dahin. Mit einem +Male hörte ich Fortunios Stimme von der Wand herüber auf französisch sagen: +»Comme elle danse bien«! aber sehen konnte man ihn nicht, denn der Saal war +nur in der Mitte hell. »Pourquoi dites-vous que je danse bien«? rief ich +tanzend zurück. Und tanzte dahin, denn es gab nichts anderes mehr. Nur den +Tanz. Ganz allein nur ihn; ohne innehalten, ohne Unterlaß, den Tanz allein +in diesem Raume, der aufgehört hatte, ein Saal zu sein, denn seine Wände +traten ins Endlose zurück. Nur allmählich merkte ich, daß sich jemand zu +mir gesellt hatte und mich hielt und mit mir tanzte. Es kümmerte mich +nicht. Die Erfüllung war zu tief, meine Augendeckel zu schwer, sie +aufzuschlagen die Mühe zu groß! In den Rhythmen lag alle Wonne. Und sie +gebaren ohne Übergang eine neue Phase, denn halb abwesend, halb aufmerksam +sah ich nun doch meinem Tänzer groß ins Gesicht: matt von Farbe, mit +schwarzem, glattanliegendem Haar war er mir gänzlich unbekannt und zugleich +vollkommen vertraut; der sehr edle Umriß von Kopf und Schultern so +geschlossen, daß er fast ausschloß, was er nicht selber war, fast negierte, +was er nicht kannte. Was dünkte mir daran so fremd und so verwandt +zugleich? Die Melodie einer Rasse, der ich entstammte, und doch nicht mehr +die meine? von ihr hinausgerückt? verabschiedet von ihr? wiederum der +Boykott? Gleichviel! wir tanzten. Eines Schrittes! Diese Zeitmaße kannten +keine Zeit. So mögen Sterne kreisen. Aber auch was ich dachte, war nicht +mehr aus seiner Bahn zu drängen: aus reinstem Lateinertum setzten sich die +Elemente dieses Tänzers zusammen. Nicht das Gesicht eines bestimmten +Menschen sah mich da an. Nicht dieses oder jenes -- was dann? Das Sinnbild +einer Rasse war zu mir hingetreten und tanzte mit mir. Jetzt wußte ich's! +-- Aber die Entdeckung sprengte die Fesseln des Traumes: Ich lag auf dem +Diwan gerade ausgestreckt, vor mir das Fenster, in dessen Scheiben sich von +der Straße herauf der Reflex einer Laterne fing. Aber gleich darauf stand +ich auf den Füßen. Noch nie so hoch aufgerichtet gewiß! Die Türklinke +drehte sich lautlos und glatt, wie geölt. Aber die Kälte der Frühluft nach +der Hitze der Nacht hatte vielleicht die Wandlung besorgt. Ich schlich +durch den Gang, die Stiege hinab und ließ mich zum Tore hinaus. Ins Freie! +Hinter den Scheiben leuchtete hie und da schon ein Licht aus den Lauben +hervor. Im Hause, in dem ich wohnte, war eine Bäckerei. Unbemerkt kam ich +in mein Zimmer. Es tagte noch nicht. Nach oben unkenntlich stand das +Münster vor meinen Fenstern aufgerichtet, viel schöner und gewaltiger so, +als mit dem übel verlaufenden Turm. Wie schien aber dies alles eine +Wirklichkeit zweiten Ranges, sozusagen, wenn ich sie mit jener verglich, +die mich in dieser Nacht umgab. Ich wußte zur Stunde mit der letzten +Sicherheit, daß mein Traum sich erfüllen würde. Die beiden Rassen, die +heute zu vereinigen solches Elend, solche Zerrissenheit bedeutet, werden +eines Tages, allen Höllenhunden zum Trotz, das Glück der Welt durch ihren +Bund begründen. Ach! Danach darf man nicht fragen, ob man selbst längst ein +Schatten sein wird, wenn diese Dinge sich ereignen. Nur Mut, mein Herz! +rief ich mir an diesem Morgen öfters zu, denn mit seinem fahlen Licht +wuchsen die üblichen Ernüchterungen an. + +Gegen Mittag kaufte ich Blumen und wählte Kuchen mit Bedacht, denn um vier +erwartete ich Monsieur Aramis zum Tee. Nicht ohne Bangigkeit. Seinen ersten +günstigen Eindruck hatte ihm ja Telramund gründlich auszureden verstanden. +Als er in meine niedere Stube trat und mir die Hand entgegenstreckte und +mich ansah, wurde es mir wieder fühlbar. Das Echo der Worte: »Sie lügt! sie +lügt!«, die er von jener Seite unausgesetzt vernahm, war zu eindringlich, +um mir zu entgehen. + +Daß die unteren Zimmer nun endlich frei werden und mein Flügel sogar schon +unten steht, interessiert ihn gar nicht; wen ich in Deutschland gesehen +habe, um so mehr. Die Grenze hatte ich gerade am Vorabend des Tages +überschritten, an welchem der verschärfte Unterseebootkrieg verkündet +wurde; als diese Nachricht alle Anschlagmauern verfinsterte, wäre ich am +liebsten umgekehrt, denn jetzt lag doch alles in Scherben. + +»Une bêtise capitale,« sagte er, »et qui fait bien notre affaire.« Nichts +mehr von Klavier! Ich möchte mich gar nicht mehr mit Politik befassen, sage +ich, und lese: »Sie lügt! sie lügt!« in seinen Augen. Er blieb lange, +sprach jedoch nur wenig und hörte zu. Ich dagegen redete die ganze Zeit, +hemmungslos und aufs Geratewohl. Es überzeugte ihn auch dieses keineswegs. +Sie lügt! sie lügt! blieb das Echo, das zwischen dem Vertrauen, welches er +instinktiv zu mir gefaßt hatte, und den Dingen hallte, die er über mich +hört. Kaum ist er gegangen, so erscheint Fortunio auf dem Plan, gespannt zu +hören, wie der Besuch verlief. Ich komme ihm jedoch zuvor: Wenn Aramis mir +mißtraut, so mißtraue ich seiner Menschenkenntnis. Es ist zu leicht, mich +zu durchschauen, als daß es erlaubt sein dürfte, mich zu verkennen. Ich bin +so eindeutig wie ein Pferd. Seine Gangart ist unmißverständlich genug! + +»Sie sind aber kein Pferd,« sagte Fortunio, »und gerade Ihre Eindeutigkeit +ist mit Ihrer sonstigen Art nicht so ohne weiteres in Einklang zu bringen.« + +Daß er dabei eine so bedenkliche Miene beibehielt, riß an meinen ohnedies +zerzupften Nerven. Er erinnerte mich allzusehr an einen Schreibtisch, der, +mit großen und kleinen, inneren und äußeren, ja sogar mit geheimen +Schubfächern ausgestattet, für mich aber nur eine einzige Lade offen hielt. +Ich fühlte mich plötzlich tödlich gekränkt. Und womit hält er heute zurück? +Auch er, auch er! sage ich mir. + +»Ihr Roman kursiert jetzt in Bern«, geruhte er mitzuteilen. + +»Um so besser. Zeit wär's, daß hier das rechte Licht über mich aufgeht.« + +»Leider nein«, sagte Fortunio. »Das Buch schadet Ihnen.« + +»Schadet mir!?« + +»Ich hätte es auch nicht gedacht. Aber die große Zielbewußtheit, welche Sie +Ihrer Heldin einverleiben . . .« + +»Aber gerade die Natur dieser Zielbewußtheit . . .« unterbrach ich ihn. + +»Gewiß, man sollte glauben . . .« + +»Hören Sie, das ist nicht möglich!« Und in höchster Ungeduld riß ich an +allen Schubladen zugleich. + +»Ich selbst«, machte nun Fortunio mich vertraut, »habe die Leute auf das +Buch hingewiesen. Ich glaubte, Ihnen nicht besser dienen zu können.« + +»Es ist nicht möglich, daß Aramis sich verdreht dazu stellt«, rief ich +wieder. »Es kann nicht sein!« + +Fortunio zuckte die Achseln. + +»Aber sogar Telramund, dieser Gräuel, lobte es über den Klee.« + +Er schwieg. Es entstand eine Pause. + +»Das ist furchtbar«, sagte ich. »Es geht also um ein Duell zwischen mir und +diesen Leuten.« + +»Sie sind so ungeduldig! Die Dinge wollen ihre Zeit. Letzten Endes ist es +immer die gute Gesinnung, welche triumphiert.« + +»Oh! letzten Endes«, wehrte ich ab. »Daß meine Grabrede besser ausfallen +wird, glaube ich ohne weiteres. Mais d'ici là . . .« + +Fortunio wollte mich überreden, mit ihm auszugehen, doch ich blieb zurück. +Was ich ihm dabei nicht verriet, war meine Absicht, im Laufe des Abends +nach Martin im Walde zu sehen; denn mir lag das gestrige Zusammensein, dem +Fortunio keinen Gedanken mehr schenkte, schwer im Gedächtnis. + +Fürs erste war meine Niedergeschlagenheit zu groß, um nicht allein mit ihr +zu bleiben. + +Die Tatsache, daß in Ermangelung anderen Beweismaterials nun gar mein Roman +als Belastung herhalten sollte, war insofern der comble, als sich ja dann, +auf diesem kürzesten Wege, so ziemlich alles auf den Kopf stellen ließ. +Gegen solche Waffen war jedenfalls nicht aufzukommen. Sie waren zu alt +erprobt. Ich hatte zuviel erfahren. Ich wußte zu viel. + +Oh Fortunio! es ist dir nicht bekannt, warum ich lebe. Wie ein nach Süden +schauendes Ufer fängst du die Sonne auf; wie eine nach Norden aufgerichtete +Mauer stehe ich zu ihr. + +»Von allen Menschen weg«, dachte ich da, »und zur Sonne hin!« Angebetete +Sonne! Ohne dich zu sein! Beseelt, doch unbeseligt steht mein Haus. Wo du +undeutlich werden und verflimmern läßt, wo du begünstigest, ja, wo du +lügst, hast du doch immer recht, und nichts bestünde vor deiner Glorie. + +Es hatte längst durch alle Stockwerke gegongt, doch ich blieb wie ein +Wetterwinkel am Fenster haften, jenen Bergkuppen vergleichbar am Rande des +Tals, die alle Wolken an sich ziehen; so schien auch ich alle Düsterkeiten +heranzulocken. Und es gab dann nur zwei Möglichkeiten, um dagegen +aufzukommen: entweder die Arbeit, die auch wirklich die Atmosphäre läutert, +oder der Umgang mit Menschen: ein Notbehelf nur, welcher zwar, wie der im +Unwetter aufgespannte Schirm die ärgsten Güsse von uns abhält, an der +Witterung aber nicht das geringste ändert. + +Augenblicklich war mir jedoch der Mut so gänzlich ausgepustet, daß ich mich +plötzlich im Sturmschritt zu Martin im Walde aufmachte, sehr in Sorge +sogar, ihn zu verfehlen. Ja, die Sorge steigerte sich zur Angst, so +windschief stand es um mich. Aber die Herrschaften ließen, Gott sei's +gelobt und gedankt, bitten, und ich jagte die Treppe zu ihnen hinauf. Die +Stimmung, welche dort betreffs der gestrigen Fete herrschte, war natürlich +schlecht. Mit sehr unerwarteter Schauspielkunst gab Martin im Walde alle +Figuranten des Abends in einer Person zum besten, wobei er die ihm +zugewiesene Rolle gar grimmig unterstrich. Ich lachte fürs erste aus vollem +Halse, wenn auch mit recht halbem Herzen, brachte dann alle meine Glätt- +und Bügelkünste zur Anwendung, zog meine Döschen, Fläschchen und +Beruhigungstropfen hervor, mußte mir aber dabei sagen, daß hier wieder +einmal ein wünschenswerter Zusammenschluß vorbeigeglückt war. + +14. FEBRUAR. Ich kann erst morgen die unteren Zimmer beziehen: ein hübscher +alter Sekretär, ein altmodisches Sofa und ein schönes Tischchen kommen mit +mir. Auch die Kiste mit meinen Sachen ist eingetroffen. Als ich nachmittags +die Lauben hinunterging und an die Zimmer dachte, wie sie mit ein paar +indischen Schals, der schier vergessenen blauen Seidendecke und ein paar +Bildern am besten auszustaffieren wären, lächelten plötzlich von rechts +Telramund, von links Ortrud auf mich ein: »Wohin des Wegs?« + +»Nach Hause«, war meine erschrockene Antwort. + +»Wie sich das trifft! Wir sind gerade auf dem Weg zu Ihnen.« + +»Das ist ja reizend«, rief ich entsetzt. »Leider bin ich mitten im Umzug +und darf Sie nicht heraufbemühen.« + +»Das macht uns gar nichts! Wenn wir Sie nicht stören.« + +»Im Gegenteil. Kommen Sie nur.« + +War es nicht besser, die kamen noch in meine alte Stube, als daß sie mit +ihren malocchios meine neuen Räume behexten? »Nur herauf, Ihr beiden! es +ist das letztemal.« Und die Treppe voransteigend, führte ich sie zu mir. + +Dort stand der altväterische Tisch, der mich beschützte und nicht mit mir +ziehen würde. + +Wir nahmen Platz. + +»Aramis war gestern bei Ihnen«, sagte Telramund. »Er hat es uns erzählt.« + +»Warum auch?« dachte ich. + +»Er wird immer launischer«, bemerkte Ortrud. + +»Launisch?« + +»Haben Sie das noch nicht herausgefunden?« fragte Telramund und heckelte +ihn eine Weile durch. »Im Grunde«, klang es fast drohend von diesen +Berliner Lippen, »ist er ein ganz germanophiler Bursche.« + +Ich goß Tee ein und erwiderte nichts. Aber mir wurde bang und bänger über +das Gespräch. + +Daß die beiden es wagten, vor mir, die selbst obenan und mit so fetten +Lettern auf ihrer Proskriptionsliste stand, derart rückhaltlos Leute +auszurichten, mit welchen sie scheinbar die besten Beziehungen +unterhielten, war das nicht ein Beweis für die Rückversicherungen, deren +sie sich versehen hatten? Und wie weit mochten diese gehen? + +Und woher wußte -- von allen Deckungen abgesehen -- dies im wiedererzählen +so blitzschnelle Paar, daß sich unsere usancen voneinander unterschieden? + +War es die starke Gegenwärtigkeit des wuchtigen Tisches, um den wir saßen, +und der wohl einst am Waldesrand Jahrhunderte hindurch als mächtiger Baum +-- wissend und weise -- in rauschender Verschwiegenheit sein Gezweige +ausbreitete -- oder welch überspringender Funke war es nur, der mir da mit +der unbewiesenen und doch stahlharten Sicherheit intuitiver Erkenntnis die +Tatsache enthüllte, daß die Niederträchtigen, aus ihrer, mit +Selbsterhaltungstrieb gepaarten Verdorbenheit heraus, die Menschen, welche +guten Willens sind, ungleich deutlicher erkennen, als diese sich unter sich +durchschauen. Fortunio, von Martin im Walde nicht zu reden, kannte mich +nicht entfernt so gut wie diese zwei: welche Waffen ich gegen sie anwenden +und welche nicht, ihnen war es nicht zweifelhaft, und für sie war ich wie +durchsichtiges Glas. Indem sie mich haßten, wußten sie sogar, daß ich nicht +ihrer Person, sondern ihrer Schlechtigkeit den Haß vergalt, und wenn meine +hiesigen neuen Freunde vielleicht in ihrem Urteil über mich noch +schwankten, diese meine erbittertsten Feinde werteten mich nach Verdienst. +Dies war der Grund, warum sie mich verfolgten. Wer in der Tat stand +einander im Wege, wenn nicht wir? Soweit ich zurückdenken konnte, und lange +ehe er ausbrach, dieser elende Krieg, und dann wieder vom Tage seines +Bestehens an, war ich für einen Frieden um jeden Preis. Mich interessierte, +noch freute kein einziger Sieg. Nur dem Frieden gönnte ich den Sieg über +eine so schmähliche Niederlage wie diesen Krieg. + +Für dieses Paar jedoch waren Versöhnung und Verständigung zwei Dinge, deren +Möglichkeit sie mit allen Mitteln zu hintertreiben entschlossen waren. +Dafür lebte es. Wehe dem Franzosen, der kein Jusqu'auboutiste war. Er hatte +allen Grund, vor diesem deutschen Telramund zu zittern, und wenn nur der +letzte Deutsche verblich, durfte für diese französische Ortrud der +vorletzte Franzose unbesehen verbluten. Denn die Saite, auf welche sie +beide gestimmt waren, ihr Element war der Haß. In welcher Tropenluft aber +lebten wir heute, daß die Gemüter sich mit solcher Fieberhitze entfalten +oder zersetzen durften? Nie hat Gelegenheit ärgere Diebe gemacht. Hier war +Telramund -- vor dem Kriege ein ränkespinnendes, sonst aber vielleicht ganz +traitables Männchen -- zum professionellen Verleumder und Verräter +entartet, und Ortrud, einstens eine gehässige Klatschbase und weiter +nichts, nunmehr zur angriffswütigen Ratte, zur erbarmungslosen +Menschenfresserin von Hokusai. + +Mit solchen Wesen aber paktierte, tergiversierte, lavierte man. + +Und zu denken (dachte ich), daß doch sonst so viele Schutz- und +Trutzverbände bestehen. Der Adel, die Juden, die Ärzte, Arbeiter, Bäcker, +Schneider und Hoteliers, alle bilden sie ihre geschlossenen Gilden und +Vereine. Und nur ausgerechnet die Menschen, die guten Willens sind, sie +allein, die überall verstreuten und ausgelieferten, setzten sich noch nicht +zur Wehr, berieten und versammelten sich noch nicht. Ihr Klub ist der +einzige, der noch nicht zustande kam, ihre Statuten, ihre Geschlossenheit, +ihre Einigung, welche doch gleichbedeutend wäre mit ihrer Vorherrschaft, +über alle Grenzen hin. Denn nichts scheut ja das Geschmeiße so sehr wie +seinen Namen und ihren Boykott. + +Nicht äußerste Vorsicht (die nützte gar nichts!), sondern schroffste +Ablehnung war Telramund gegenüber am Platze. Aus jedem Wort, das ich sagte +oder zu erwidern unterließ, wurden jetzt handfeste Stricke wider mich +gedreht. Solche Leute zu kennen, sie zu sehen, _dies_ war der kapitale +Fehler. + +Ortrud kam immer wieder auf meinen Flügel zu sprechen, und als sie sich zum +Gehen anschickte, bezeigte sie eine Neugierde, ihn zu besichtigen, als +handelte es sich um einen neuentdeckten Raffael. Der Gedanke aber, daß die +beiden als die ersten meine unteren Zimmer betreten sollten, bevor ich sie +noch bezog, versetzte mich in eine so abergläubische Verwirrung, daß ich +die Treppe hinablief, um sie daran zu hindern. Allein die Türen standen +offen, und ehe ich sie schließen konnte, hatten Telramunds meine Schwelle +überschritten und waren meine ersten Besucher gewesen. + +Abends bei A. H. Pax. Ich ärgere mich über Bemerkungen, die dort fallen: +Brücke von Kirchenfeld; die müsse ich doch kennen. Was ist das nun wieder? + +18. FEBRUAR. Meine »Wohnung« ist ursprünglich ein großes Zimmer mit Alkoven +gewesen und nun durch eine eingebaute Wand so unwirsch in zwei geschnitten, +daß sich das Auge an den falschen Massen immerwährend stößt. Aber die +Farben bringen einen gewissen Trost, eine Suleikaportiere, indisch mit +scharlachrotem Rand, führt in ein drittes vorgebliches Gemach, und der +Flügel macht sich ausgezeichnet. + + * * * * * + +Besuch der Miß Annie A. Wir hatten uns seit dem Kriege nicht mehr gesehen. +Sie ist mütterlicherseits deutsch wie ich französisch, väterlicherseits +englisch wie ich deutsch. Nur ist sie nebenbei auch ein Engel von Güte, und +das bin ich nicht. Doch ach! andere werden schon mit mir bemerkt haben, daß +gerade solche Engel von Güte es so oft nicht über sich bringen, die +Vortrefflichkeit derjenigen anzuzweifeln, deren Instanz sie zunächst +unterstehen, ja die es für eine Perfidie halten würden, ihren eigenen +Zeitungen und eigenen Machthabern nicht zu glauben. Wer kennt sie nicht, +diese Engel von Güte, mit ihren »they say«, ihren »man sagt«, ihren »on +dit« und ihren »si dice«. Unbesehen ist für sie der Teufel überall nur +drüben. + +»Mein Deutschtum ist tot in mir«, sagte sie. »Auch Sie sollten sich +entscheiden.« + +Dasselbe Ansinnen, nur umgekehrt natürlich, war mir in Deutschland zu oft +gemacht worden, und ich war in solchen Dingen sehr abgebrüht. »Was brauchen +mich die Franzosen,« seufzte ich, »die ganze Welt steht ja auf ihrer +Seite.« + +Da sie mich traurig sah, schaute sie mich betrübt mit ihren guten und +veilchenblauen Augen an. »I thank God on my knees«, brach sie dann aus, +»that I am English.« + +Auch die Variationen _dieser_ Formel waren mir vertraut. Und ich konnte +nicht umhin, ihr von den Halbengländerinnen zu erzählen, die in Deutschland +unter die Patriotinnen gegangen waren, von Marie von B . . ., die mich wie +keine andere deutsche Frau in den deutschen Blättern verriß, und von jener +jungen englischen Gouvernante in München, die ich in Tränen fand, weil +ihre, an einen norddeutschen Offizier verheiratete Schwester soeben, +anläßlich eines Luftangriffes auf London, von den Zeppelinen als von »our +glorious zeps« geschrieben hatte. Aber kaum hatte ich meine Pfeile +abgeschossen, so war mir's schon leid. Unser Wiedersehen fand also nur +statt, um uns unsere Trennung nur um so fühlbarer zu machen. + +»Nichts ist mehr, wie es war!« rufe ich aus, indem ich sie in meine Arme +schließe. Denn sie ist ein Engel. + + * * * * * + +Bevor Annie A. . . mich gestern verließ, zog sie ein Fünffrankenstück +hervor, das sie mir im Auftrage der Fürstin Patschouli, einer gemeinsamen +rumänischen Bekannten, einhändigte, welche vorgab, es mir zu schulden. +Dieser so kurzerhand beim Schopf gefaßte Annäherungsversuch war zum +mindesten originell. Ich machte ein sauberes Päckchen aus dem Geldstück, +bedankte mich für die schöne Gabe und bat um die Erlaubnis, ihr ein +ebensolches Gegengeschenk machen zu dürfen. Daraufhin schlug sie per +Telephon die Brücke zu mir und lobte einen schwarzen Kaffee, den sie selber +braue. »Bonjour, je vous attends!« und damit hing sie das Hörrohr aus. + +Ich wußte in der Tat nicht, was erfrischender war, ihr Kaffee oder sie +selbst in ihrer herzstärkenden und vorgefaßten Oberflächlichkeit. Die +Fürstin, deren Röcke unten zusammengebunden schienen, ging mit kurzen und +kleinen, aber heftigen Schritten, war braun wie ein Maikäfer, die +auffallendste Erscheinung von ganz Bern, brüsk, witzig und ohne Stachel. Da +sie eine Villa in Tegernsee und Freunde in München hatte, war sie im Grunde +germanophil, jedenfalls bayernfreundlich, und stand außerdem stark unter +dem Eindruck der deutschen Siege. »Je suis l'amie des bons jours«, erklärte +sie. + + * * * * * + +25. FEBRUAR. Zwar scheint die Sonne hin und wieder, und die Zauberwand der +Berge stellt sich dann strahlend auf, doch das Licht bleibt spröde. Nie +träumt dieser kalte Himmel dahin, nie ermatten die Reflexe; stets rufen +sie: gedenk! und nie: vergiß! und ewige Gegenwart ist die Fanfare. Oder +liegt es an mir? -- + +»Mein gutestes Fräulein,« sagte mir einmal ein dickgebliebener Berliner +Aufsichtsrat, »wer sagt Ihnen, daß nicht am Ende mit dem Frieden so bunte +Zeiten kommen, daß wir uns nach den Kriegszeiten zurücksehnen werden --, +bis auf die Schlachten natürlich«, hing er mit einer Handbewegung an, als +wären sie ein Detail. + + * * * * * + +ENDE FEBRUAR. Die Tage haben soviel widerwärtiges gebracht, daß mir das +Schreiben verging. Man sollte hier mit seiner Aufenthaltsbewilligung +zugleich ein Vorhängeschloß wie Papageno erhalten; statt dessen wird einem +ein Nessushemd übergeworfen. Schreckliche Stöße mit Fortunio, schwere +Havarie mit Martin im Walde. Telramund, dessen Hochöfen alle in Betrieb +stehen, erstattete ihm einen formellen Besuch und brachte ihm zugleich mit +dem Ausdruck seiner Hochachtung sein Bedauern vor, durch mich und meine +Darstellungen ein so falsches Bild von seinem Charakter gewonnen zu haben. +Halb lachend wird es mir erzählt. Ich mache ihm Vorwürfe, daß er den Mann +vorläßt. »Ihnen danke ich ja die angenehme Bekanntschaft.« Das war im +Herbst, sage ich, wo man noch glauben durfte, es stecke vielleicht doch +etwas Gutes in ihm, an das man sich halten könne. Heute dürfen Sie keinen +Umgang mehr mit ihm pflegen. + +Einem Glücksfall, der allen Glanz eines Hintertreppenklatsches trägt, danke +ich es im übrigen, daß von dieser Seite wenigstens Fortunio nicht mehr irre +an mir werden kann: er saß mit einem Freunde, als Telramund sich zu ihm +gesellte und Äußerungen wiederholte, die er von mir vernommen haben wollte. +»Und nun sehen Sie,« schloß er, »wie sie lügt«, zahlte sein Schöppchen und +ging. Aber in der Eile, mir zu schaden, übersah er, daß Fortunios Freund +zufällig Zeuge gewesen war, wie ich jene Worte nicht nur nicht gesagt, +sondern heftig dagegen protestiert hatte, als sie vor mir fielen. Dies also +wäre, gottlob, besorgt. + + * * * * * + +Es ist gewiß nur recht und billig, daß auch die Überlebenden heute auf der +Verlustliste stehen. Wie man dem Kranken, der nicht teilnehmen kann an dem +Treiben der Gesunden, gerne darauf hinweist, wenn es draußen stürmt und die +Fußgänger gegen Frost und Wind ankämpfen, während er in der geschützten +Stube liegt, so möchte man heute denen, welche fallen, nachrufen: Ihr habt +nichts verloren! + +Ich schreibe der Königin im Auftrage ihrer Mutter, die seit Monaten ohne +Nachricht von ihr ist. Die Idee des Königtums ist gewiß nur deshalb in +Diskredit geraten, weil ein verrohter, subalterner Mensch oder auch ein, +Idiot höchst widersinnigerweise zum Herrscher avancieren konnte. Wegen +meiner Ansichten werde ich hier viel ausgelacht. Aber wie würden sie erst +lachen, wenn sie wüßten, wie gern ich selbst regieren möchte. Da würde man +doch was Richtiges erleben! Kein mittelmäßiger Künstler käme bei mir hoch, +welche Unsummen aber flössen den andern zu; kein Lämpchen ließe ich mir je +als ein Lumen aufschwätzen, also auch kein Talent, das sich zum Genie +aufblasen möchte. Herr Pfitzner bewürbe sich also vergebens um eine +Dirigentenstelle an meinem Theater, und gar Herr Weingartner, welcher die +Wiener Philharmonie herunterbrachte, wage es nicht, vor mich zu treten. Ich +verarge es heute noch der Pariser Kritik, welche ihn seinerzeit »un jeune +dieu« genannt hat. Denn nie hatten die Götter das Geringste mit ihm zu tun. + +Ach, und was für schöne Häuser ich erbauen, was für Gärten ich anlegen +ließe! was für prachtvolle Katzen würden meine Marmorbrunnen entlang +schweifen! + +Doch genug über meine Herrscherzeit. + +Über Weingartner, dessen Überschätzung ich der Pariser Presse verdenke, +fällt mir die Äußerung ein, die kürzlich ein Pariser, den ich nicht nennen +werde, einem Deutschen gegenüber, dessen Namen ich gleichfalls +unterschlage, gefällt hat: »il y a une chose, monsieur, que nous ne vous +pardonnerons jamais, c'est de nous avoir forcés d'aimer les Belges.« + + * * * * * + +Den Abend bei A. H. Pax verbracht. Bei ihm kann man sagen, was einem gerade +einfällt, ohne Gefahr zu laufen, daß es entstellt in alle Winde +hinauswirbelt. Dieser Vorkämpfer des Friedensgedankens, der mit so +feierlichem Ernst seine Stimme zu erheben weiß, ist bei strengster +Sachlichkeit der gemütlichste Mann der Welt, in dessen Atmosphäre man sein +bißchen Humor und sein verlorenes Lachen auf Augenblicke rettet. Gestern +sprach er zwar tief entmutigt über die vollkommene Unmöglichkeit, gegen den +so geschickt angerichteten, so eifersüchtig gehegten und drinnen und +draußen immer neu genährten Wirrwarr in den Köpfen der allermeisten +Deutschen auch nur das geringste auszurichten. Plötzlich tauchte ein +Nachmittag in München aus dem Sommer 1916, ein schattiger Garten, ein +gedeckter Tisch, zwei Damen, die davor saßen, vor mir auf, und wie eine +phonographische Platte spielte sich in hemmungslosem Bayrisch ein +halbvergessenes Gespräch so getreulich in mir ab, daß ich mit einem Male +alle Rollen in einer Person herunterspielte. + +Wir brachen alle in ein schier trostloses Gelächter aus. Waren nicht ganze +Generationen mit allen brauchbaren Argumenten des Scheins in ein Wirrsal +gelockt, dessen Dunkel den Tag derer ausmachte, die es unterhielten, so daß +sie jede anbrechende Helle augenblicklich verscheuchten? + +Und mußten nicht fast alle Gehirne vermodern, ohne zu erfahren, was denn +eigentlich los ist? Mit so teuflischem Geschick sind alle Ausgänge der +Lügenburg zementiert, in welcher sie sich narren ließen. Unschuldig +Betörte. War es nicht überall so? + +Unter den Tagebüchern, welche an den deutschen Gefallenen vorgefunden +wurden, erzählte neulich Abigail von der agence, seien manche sehr schöne +zum Vorschein gekommen. »Warum veröffentlicht Ihr diese nicht auch?« rief +ich. »Nous n'avons« sagte er, »qu'à nous occuper des atrocités.« + + * * * * * + +Dafür, daß ich so viele Dinge nicht verstehe, werde ich mit den paar +Gedanken, die mir im Kopfe sitzen, viele Jahre nach meinem Tode +wahrscheinlich recht behalten, so zum Beispiel mit meiner Skepsis betreffs +der Demokratie. Aber natürlich ist es für andere ärgerlich, das, was immer +sie mich lehren, und was immer ich lerne, gerade nur eben jene paar +Überzeugungen weiter ausbaut und nur ihnen zugute kommt. Jede Erkenntnis +geht nun einmal bei mir auf Kosten einer ganz exemplarischen Unbegabtheit. + +Es müßte einer blind sein natürlich, um an den Sozialismus und seine +Unerläßlichkeit nicht zu glauben. Aber in Wirklichkeit ist heute keiner +sozialistischer geworden, als er es von je gewesen ist. Es scheint nur so. +Machen wir uns nichts vor. Wir haben uns den Sozialismus eingebrockt. Dank +unserer Verkehrtheit nur ist er die einzig richtige Parole. Er ist kein +Ziel, sondern ein Weg. Keine andere Brücke ist stark genug, uns aus unserer +baufälligen Welt zu den neuen Ufern hinzutragen, wo die neuen Autokratien +auf ganz neuer Basis sich erheben werden. Nur durch den Sozialismus, dieser +fausse sortie aus einer Welt der Standesunterschiede, kommen wir zu einer +neuen Welt der Standesunterschiede, der Herrenkaste und der Knechteschar. + +Für diesen Glauben will ich mich gerne köpfen lassen, denn geköpft, sagen +die andern, werde ich ja doch, entweder von rechts oder von links. + +Mittlerweile bin ich viel zuviel unter Menschen. Es geschieht aus Trägheit +und einer Art von Furcht. Denn bin ich nicht zufriedener allein und so viel +weniger allein, wenn ich allein bin? Füllt sich dann nicht die Luft mit +Geistern guter und hilfreicher Art? Und bin ich dann nicht umgeben? + +28. FEBRUAR. Forsell als Don Juan: der Tod als Objekt der Kunst. Forsell +ruft ihn und mißt sich mit ihm. Gewiß ist der Tod nur was wir aus ihm +machen: der größte Individualist fürwahr! Welche Feigheit jagt mich so oft +von mir selber fort zu den Menschen hin, oder hält mich ab, mich ihnen zu +entziehen? Ist es das grauschleichende Verzagen vor jener eisigen +Verlassenheit, in die wir eingehen werden? Hinter dem ganzen +Geselligkeitstrieb der Menschen steckt ja viel mehr Todesangst, als man +glaubt. Die einen fürchten sich vor dem Sterben, die andern vor dem +Gestorbensein; auf dieses, nicht auf jenes gilt es, sich zu bereiten. + +3. MÄRZ. Ich fahre nach Lausanne und gehe dann nach Ouchy hinab, eine +Bekannte aus München zu besuchen. Beißend kalter Wind. Wir besprechen die +letzte Affäre. »Das Schreckliche ist, daß immer alles aufkommt bei uns«, +äußerte sie. So ein Pech! Im übrigen sagte mein guter Vater immer: »In der +Politik gibt es keine Moral«; à qui la faute, wenn die Deutschen dies für +ein unabänderliches Weltgesetz halten, so feststehend wie Tag und Nacht und +die vier Jahreszeiten? gewiß an ihrer Gedankenlosigkeit, aber gewiß noch +mehr an den Vorbildern, welche sie haben. In der Politik gibt es keine +Moral. Sie sagen es wie: Ehre Vater und Mutter, oder: Du sollst nicht +stehlen. Ihre Fantasie liegt ja nicht auf diesem Gebiet. + +8. MÄRZ. Besuch des sozialistischen Reichstagsabgeordneten W. H. Er ist +gegen den Unterseebootkrieg. Ich glaube, daß er unter dem Krieg leidet. +Aber was mich an diesen Sozialisten so furchtbar erbittert, ist die +Preisgabe des deutschen Volkes, auf das sie sich berufen, indem sie +vorgeben, diese oder jene Konzession an die Gegner »ihm nicht zumuten zu +können«. Vor August 1914 gab es kein friedfertigeres auf der Welt: wie die +Posaune des letzten Gerichtes erscholl ihm der Schlachtenruf; es stand auf, +und von da ab glaubte es alles. Wäre es unglücklicher und beunruhigter +gewesen, man hätte es weniger leichtgläubig gesehen. Aber weil es sich +belügen ließ, sollte es nicht auch noch verleumdet werden. Im Januar 1917 +lauerte ich im Hause einer Bekannten dem damaligen Staatssekretär +Zimmermann auf. Er trat ein mit der forschen Bonhomie eines +Kegelklubpräsidenten, der mir jede Schüchternheit benahm, und als ich mit +meiner Rede über die elsässische Frage zu Ende war, nickte er ganz kulant +und bemerkte; »Wir müssen nur bedenken, was wir dem deutschen Volk zumuten +können.« »In vier Tagen haben wir es hineingelogen, vielleicht lügen wir es +in acht Tagen wieder heraus«, sagte ich. Er schien kein bißchen choquiert. +In der Politik gibt es ja keine Moral. + +10. MÄRZ. Heute kam Herr v. Sch. mit der erstaunlichen und fatalen +Eröffnung zu mir, daß sein Chef mich zu sehen wünsche. Herr v. Sch., den +ich von London her kenne, hatte sich große Mühe um meinen Paß gegeben, und +im ersten Schrecken fiel mir keine Ausflucht ein. Ich wagte nicht, es +Fortunio mitzuteilen, der sicher dagegen gewesen wäre, sondern spielte +wieder einmal mit dem Feuer und bat Aramis zu mir. Sollte ich wirklich über +die Brücke von Kirchenfeld, so wollte ich keine Anspielungen darauf, +sondern wünschte um so mehr, daß man es wisse, als man es ja doch wissen +würde. + +Aramis kam sofort zu mir. Wir verabreden ein paar sehr direkte Sätze, die +ich während meines bevorstehenden Besuchs möglichst pointiert anzubringen +hätte, und daß ich nachher zu ihm kommen würde, ihm die Wirkung jener Worte +mitzuteilen. + +11. MÄRZ. Sonntag. Das Wetter ist schön und warm. Die Sonne lacht bis in +das Auto hinein, in dem ich neben Herrn v. Sch. Platz genommen habe. +Schafwölkchen treiben so zuversichtlich am Himmel, und er hängt so hoch, +daß ich nicht sogleich die leise Hoffnung unterdrücke, der Besuch würde am +Ende doch nicht ganz resultatlos sein. Aber nichts von Sonne an Herrn von +Rittersporn, vielmehr der Widerschein des sterbenden Tags. Ich hatte vor +mir einen jener persönlich uranständigen, autoritätsgläubigen Deutschen +strengster Observanz, die vor lauter Gewissenhaftigkeit und Loyalität und +Treue und Ehrenhaftigkeit zur Vertretung der unehrenhaftesten Methoden +unverbrüchlich auf dem Posten ausharren, ein Mann, der privatim gewiß nie +eine Lüge sagte und nur offiziell und in Gottes Namen log. Mit seltsamer +Distanzierung, als sei ich die Angehörige eines fremden Staates, fing er +das ganze Weißbuch mit einer so deprimierenden Weitschweifigkeit an +aufzusagen, daß wirklich nur das fehlte, was es selber wegließ. Er war +bleich, müde, sichtlich schwer unter dem Kriege leidend. Endlich wurde er +fertig mit seinem récital, und ich hatte das Wort in diesem großen, +vielfenstrigen, hellen und doch so unfrohen Salon, in dem keine rechte +Zuversicht aufkommen wollte. Zwar schien auch ihm die französische Frage +vor allen andern am Herzen zu liegen, aber das Feuer, mit dem ich sprach, +dünkte mir selber deplaciert. Hier ist ein Stuhl, schloß ich, faßte ihn mit +beiden Händen und sprang auf, hier ist ein Tisch: nur eins ist heute +wichtig auf der Welt: die Formel zu finden, welche es den Franzosen +ermöglicht, in diesem Stuhle Platz zu nehmen! »Ich bin vollkommen Ihrer +Ansicht«, sagte er. Und zum ersten Male schwante mir, wie wenig er +vermochte. Auf Aramis übergehend, hob ich jetzt seine Beziehungen, sein +Geschick, seinen guten Willen hervor, sowie die Chancen, die er als +Vermittler bot. Hier jedoch fiel ein Schatten. Ich fand keinen Anklang. Es +war die alte Kamarilla, ich merkte es wohl, vielleicht auf indirekte +Umtriebe Telramunds zurückzuführen, aber auch Widerstände, +Unsachlichkeiten. Ich hatte Carry mit Aramis zusammengeführt, ohne +Parteinahme, weil es sich von selbst ergab, und man mißgönnte ihm den +Vorsprung. Auch Carry war voll Ehrgeiz, aber er besaß Schwung, eine +künstlerische Ader, Sinn für Kameradschaft, Ritterlichkeit. Man wußte, wie +man mit ihm dran war. Auf seine Fehler wie auf seine Tugenden fiel das +Mittagslicht. Il ne ment pas, hieß es auf gegnerischer Seite von ihm. Dies +besagte so viel in Tagen wie den unsern! In der europäischen Literatur +ungemein bewandert und von regstem Geiste, besaß er zudem eine glückliche +und wohltuende Art mit Menschen umzugehen und hatte etwas Jünglinghaftes +bewahrt. Selbst ein Mischling, war er rassenmäßig den andern lange nicht so +fremd wie seine zünftigeren Kollegen. + +Es war nahe an zwei Uhr. Vergebens mahnte man zu Tisch. Daß die Unterredung +sich so in die Länge zog, unterstrich ihre Nutzlosigkeit nur noch mehr. Auf +dem Heimweg, in dem schneidend kalten Alpensonnenlicht wurde es mir mit +jedem Schritt bewußter. Die Aare floß so leuchtend blau wie vor zwei +Stunden, als ich über die Brücke fuhr. Mutlosigkeit aber drückte mich in +diesem Augenblick zur Greisin nieder. Wie eine Hundertjährige lehnte ich +über das Geländer und sah zu den Kindern hinab, die wie besessen schrien. +Dann raffte ich mich auf und rannte die kalten Schatten der Keßlergasse +entlang zu mir hinauf. Plötzlich fühlte ich, wie verausgabt ich war, warf +mich auf den Diwan und schlief ein. Aber um vier Uhr erwartete mich Aramis, +und dies weckte mich beizeiten. Ich strich jetzt die Lauben auf der +Sonnenseite hinauf. Oh wie deutlich ist mir der Schein, in dem sie lagen! +Wie ein tobender Schmerz, der auf Sekunden aussetzt, riß er mich auf einen +langen Augenblick in seinen Bann, tauchte mich schonungslos unter in sein +Gold, ließ mich bewußtlos werden wie die uralten Häuserreihen, die es +durchdrang: unempfindlich werden vor Empfindung. + +Bei Aramis herrschte an diesem Vorfrühlingstage schon sommerliche Kühle. +Eine leise Spannung lag in seinen Zügen, und die Wärme, mit der er mich +begrüßte, kontrastierte doch recht seltsam mit dem Empfang, der mir vor ein +paar Stunden zuteil geworden war. Was ich ihm aber zu sagen hatte, war so +verdammt unwesentlich, derart neben hinaus, daß ich erschrak, indem ich es +formulierte. Es ließ keine Spur von Bereitwilligkeit, ihn ernst zu nehmen, +verraten. Und da es vollkommen zwecklos gewesen wäre, ihm etwas vorzulügen, +durchschaute er natürlich die ganze rettungslose Sturigkeit, in die man ihm +gegenüber sich versteifte. + +17. MÄRZ. Abends bei Dätwyler im kleinen Zimmer mit Carry und Fortunio. +Dieser entfaltet mir gegenüber eine aggressive, ja feindselige Haltung +größten Stiles, die keinen Zweifel läßt, daß er von den Vorkommnissen der +letzten Tage gehört hat. Heftige, immer heftigere Szenen auf dem Heimweg. +Ich bebe vor Zorn und sehe ihn so haßerfüllt an, daß er erschrickt. Eine +schlaflose Nacht krönt die Explosion. + +Wie ungerecht war Fortunio! Wie falsch wurde ich hier gesehen! Im Juni +wollte ich nach München fahren und dachte heute schon an das Schlößchen im +bayrischen Vorgebirge wie an eine selige Insel. Waltete dann Telramund noch +hier -- soviel stand fest --, so kam ich nicht zurück. + +Und ich suchte Trost, indem ich an das Schlößchen dachte, angelehnt an den +ernsten Berg: an die lange hölzerne Laube mit dem hölzernen Gartensaal; wie +von Adalbert Stifter für eine seiner Verlobungsszenen erdichtet. Und die +Freundin selbst, die immer Werdende mit der weiten Note der Leidenschaft, +wer, kam ihr gleich? Ging, blickte, lächelte, lebte sie ihren Tag von Jahr +zu Jahr nicht Göttinnen ähnlicher? Wer kannte sie? Wie schön und insgeheim +war unsere Freundschaft verkapselt! Wie verlor die innere Einsamkeit so +manche Schärfe zwischen uns! Weil ich den Spiegel ihres Wesens +unausgesprochen mit mir führte und sie es wußte, war ich, die immer +Zusammenbrechende, ihr Halt. Wer vergalt mir dies hier? -- Eine Fratze sah +man statt meiner. + +18. MÄRZ. Sonntag. Fortunio in dunkelblau und Strohhut holt mich ab, um +nach Worb zu fahren. Es hat sich auf die Feindschaft von gestern wie ein +neuer Friede zwischen uns aufgetan. Wieder liegt das Land in jenem +schonungslosen Licht des Berner Oberlands, das, ich weiß nicht warum, in +die Seele schneidet. Aber das Wetter war so warm und strahlend, daß man +immer wieder innehielt, vor einer ersten Blume, ein paar Schafen, einem +Hause. Wir sprechen heute in aller Ruhe über die Dinge, über die wir +gestern stritten. Ich sagte ihm, daß ich manchmal mit der Sicherheit einer +Mondsüchtigen Dachrinnen entlanglaufen müsse; wenn sie dann herunterfällt, +ist es ganz und gar ihre Sache. -- »Ich fürchte weniger, daß Sie vom Dach +als zwischen zwei Stühle fallen.« -- »Aber das ist ja gerade mein Platz! +Jeder von uns ist heute stärker sich selbst, handelt unweigerlicher seiner +Natur nach als jemals zuvor, und ich habe es halt immer mit dem Vermitteln +gehabt.« -- Er schüttelte den Kopf: »Es sieht nichts dabei heraus.« Und +weil auch ich davon überzeugt bin, beteuerte ich, sind es nur mehr +Gelegenheiten, die sich mir aufdrängen, welche ich ergreife. Niemand hätte +ungerner die Brücke passiert. + +»Ich hätte es nicht getan«, sagte Fortunio. + +»Es gibt Leute, die nicht dazu da sind, nein zu sagen. Zugegeben,« sagte +ich, »daß es die Belangloseren sind.« + +Wir kehrten in ein dunkles, altes Gasthaus ein, und es gab wundervolles +Brot, wundervolle Butter und ebensolche Marmelade. Wahrscheinlich war es +heute auch in Deutschland schön, und die Menschen suchten das Freie dort +wie hier. Es sei denn, daß sie es vorzogen, sich nicht hungrig zu laufen, +da es ja in keiner Herberge etwas Richtiges für sie gab. Besonders die +Kinder . . . so ist einem heute alles vergällt. + +21. MÄRZ. Der Brief einer Deutsch-Amerikanerin, die sich auf der Rückreise +nach New York in Zürich aufhielt, setzte mich in großes Erstaunen. +Kinderlos, von Haus aus eine biedere Württembergerin mit steinschweren +Augen, war sie, in Ermangelung jeglichen Ventils für ihre natürliche +Schwermut, dem Okkultismus verfallen und ein Schreibmedium geworden. Sonst +ohne andere Interessen -- selbst während des Krieges -- als ihren Mann, +ihren Haushalt und allenfalls ihre letzte Häkelarbeit, paßte dieser vom +Zaun gebrochene Brief -- wir kannten uns kaum -- in keiner Weise zu ihrem +Phlegma. Wie kam sie zu meiner Adresse? -- Sie schrieb mir, daß sie mich +warnen müsse. + + +Zürich. + +22. MÄRZ. Der Brief der schwäbischen Amerikanerin ließ mir keine Ruhe, und +ich fuhr hierher. Am Berner Bahnhof kaufte ich Zeitungen für unterwegs. Sie +waren alle von Berichten über Verwüstungen der deutschen Truppen auf ihrem +Rückzug aus Nordfrankreich erfüllt: eine künstlich gestartete Agitation, +dachte ich erst, um dem, in den letzten Wochen abflauenden Haß neue Nahrung +zu geben und Öl in das abnehmende Feuer zu gießen. Denn leise, leise war +von der Möglichkeit zu vermitteln die Rede gewesen. Da koppelten sich denn +die Interessenten des Krieges zu neuen Präventivminen zusammen. Glich ihnen +dieses nicht auf ein Haar? Aber zu meinem Entsetzen fand ich da jene +Verwüstungen, und zwar mit unleugbarer Genugtuung als »militärische +Notwendigkeit« in den deutschen Blättern bestätigt. So war jenem so +aufgerissenen und gemarterten Boden eine neue Schmach zugefügt, und ein +genarrtes Volk gehorchte als sein eigener Henker den Befehlen, die ein Hut +voll toll gewordener Idioten, »Oberste Heeresleitung« genannt, ihm +erteilte. Diese »militärischen Notwendigkeiten«! Oh, wieviel deutsche +Landsmänner würden ihretwillen kläglich verderben! -- Ein Sturm brach in +mir los, um so heftiger nur, als er in Ohnmacht sich entfesselte und seinem +Rasen nichts im Wege stand, als die Wurzeln meines Seins, an welchen er riß +und, wilden Regentropfen gleich, kalte Tränen aus meinen Augen schlug. +Stäupen hätte ich sie lassen mögen, diese Herren Befehlshaber, keine Strafe +wäre mir jämmerlich genug erschienen für diese menschenunwürdigen Köpfe, +deren Nasen kurz ausliefen wie die Schnauzen der Hunde, oh! ebenso unfähig +wie Hunde den geistigen Gang der Dinge zu spüren! Und die erbärmlichen +Blasen dieser infantilen Gehirne, durch ein Wunder des Teufels für +wirkliche Felsengebirge gehalten, beherrschten und verrammelten heute als +»militärische Notwendigkeiten« alle Straßen der Welt! Nein! das war kein +Leben! Es war nicht zu ertragen! Es war mir fremd das Geschlecht, das +solche Dinge befahl und sich nicht scheute, sie auszuführen. Und ich war +betroffen! und ich war mitgefangen. Mitgehangen war ich, ohne mitzugehen! +-- Der Zug lief in die Halle ein; die Passagiere verließen ihn. Hatte der +Wahnsinn der Welt mir den Verstand geraubt? -- Ich konnte mich nicht +besinnen, weshalb ich da auf dem Zürcher Bahnhof stand. Er war von +beißendem Nebel erfüllt, und mit hochgestülpten Kragen eilten alle dem +Ausgang zu, während ich, den Mantel am Arme, im dünnen Kleide dastand, in +unerträglicher Hitze und stürmisch bereit, aus dieser Welt, wie sie sich +drehte, davonzulaufen. Ein Dienstmann fragte, wohin ich wollte, und ich +sagte, daß ich es nicht wisse. Uralte Instinkte der Rachsucht und der +Wildheit tobten in mir wie einst die Peitschen des Xerxes gegen das Meer! +Ha! was wollten sie noch in der Weltgeschichte, diese verspäteten +Hanswurste in dem lächerlichen Aufzug ihrer frisierten Helmbusche, ihrer +aus gelbem Blech gedrehten Achselrollen, den zurückgeschlagenen roten +Eselsohren ihrer Mäntel, ihren albernen Säbeln, gut für ein Possenstück, +gut für ein Schaukelpferd, ein Ulk, bevor wir uns erniedrigten, davor zu +zittern. + +Wie es zusammenhing, daß ein fliegender Zeitungsstand die Erinnerung +zurückrief, welche mir doch gerade die Zeitungen geraubt hatten, mögen +andere erklären, ich telephonierte an Frau Eleonore Grell: sie war zu +Hause. Aber auch ihr Gatte, Onkel Sam aus Mannheim, der flinke +Geschäftsmann mit dem schnurrigen Schnurr- und Vollbart, befand sich at +home. Er hatte sich das okkulte Getaste seiner Frau energisch verbeten und +glaubte es infolgedessen längst unterdrückt. So trafen wir uns denn bei +Huguenin, aber sie beteuerte mir, nichts anderes sagen zu können, als was +sie mir auf ein inneres Drängen hin geschrieben hatte. Ich ließ ihr aber +keine Ruhe und folgte ihr auf gut Glück in ihr Hotel. Und richtig war ihr +Mann inzwischen ins Freie spaziert. + +Wir setzten uns ans Fenster, welches die Limmat überhing. Der See, die +Wolken und das ferne Bergland leuchteten im Abendschein grüßend und +verträumt in dies hochgelegene Zimmer. + + * * * * * + +Hier schalte ich für den Leser eine Warnung ein: die Unwirklichkeit spielt +in diesem Buch so stark in die gröbste Wirklichkeit hinein, daß ich gerade +die besten, an die ich mich doch wenden möchte, abzustoßen befürchte. Aber +ich muß mich streng an die Begebenheiten und ihre Reihenfolge halten, und +wenn ich nicht ebenso chronologisch das große Spiel der Schatten mit +hereinbeziehe, ist dieses Buch nicht wahr. + +Sobald wird ja der Okkultismus seine besondere Peinlichkeit gewiß nicht +los. Denn für Namenloses ziehen da Benennungen mit großem Schwalle herauf, +und geistiger Brechreiz ist die unweigerliche Folge. Wer sich heute auf den +Weg zum Nichts aufmacht, ist jenen Steinklopfern vergleichbar, die auf ein +fragliches Echo hin die Felsenwand behämmern, und mitten im treibenden +Geröll Schutt ablagern, wo kein Liebhaber des Schönen seinen Fuß noch +setzt. Und doch wird für ihn vielleicht die Straße hier gelegt, die nach +dem dornenumwachsenen Reiche schaut, vor welchem Ferne, Wachstum und +Allmählichkeit entstürzt. Denn ob dein Sarg noch auf den Schultern derer +lastet, die ihn hinaustragen, oder ob deine Grabesinschrift seit Jahr und +Tag verwitterte, ist gleich. + + * * * * * + +Ich kehre zurück in das hochgelegene Hotelzimmer, wo wir auf einem roten +Repssofa beim Fenster saßen, das die Limmat und den See und Ferne und +Gebirge übersah. Von Heerscharen erfüllte sich die Luft. -- Auf den Ruf +welches Jagdhorns -- uns Tauben nur unhörbar -- eilten sie her? -- Wie +durchsickertes Gestein so schwoll die Stube an. War der Ansturm der +Schatten das Neue, was es unter der Sonne gibt? -- Aber schon war ich des +einfachsten Denkens nicht mehr fähig: alle Poren des Gesichtes sanft +gebläht, ergoß sich unaussprechliche Verlorenheit, ein hinträumen, +unbeweglich wie ein Leben lang. Das Herz erstickte von all dem Sang und +Braus. Kein Mißton trübte den unendlichen Chor. Ein Chor sage ich. Kein +Ungebetener darin. _Hier war die Sichtung:_ volles Orchester, nicht wie in +unserer Mitte unreines dazwischenfahren, grelles übertönen eines unbefugten +Soprans. _Ausgekämpft!_ + +Ganz versunken in den Vielen oder in mich, selbst? -- (ich unterschied es +nicht) -- faßte ihr wissen und ihr begreifen das, ganze Herz. Des Mediums +hatte ich vergessen. Mir zu Liebe, es ist wahr, doch auf sein Geheiß nur +waren sie hergewallt, so _dicht_! so feierlich gedrängt! »Sieh dich vor, du +kannst nicht wissen, du bleibst allein, oh!« . . . stammelte die Feder. + +Wozu war ich denn hergereist, wenn nicht sie zu vernehmen? Und nun dünkte +mich dies so fremd und kindisch, ein Bilderbuchbegriff. Gab es denn im +Scheine dieser wogenden Luft etwas wie eine Zukunft? Führte man sie nicht +mit sich wie ein Geweih? Wuchs sie nicht an mit uns? War sie denn nicht der +eigene Hauch, der eigene emporstrebende oder schwankende, flackernde oder +in nichts zerrinnende Schatten? Stand sie nicht als der Wald, der aus +seinen Tiefen unsern eigenen Ruf zurückhallt? -- so die Völker, so der +einzelne. Was immer ihnen glückliches oder grausames begegnet, jeden Zufall +riefen, beriefen sie herauf. Wir nennen's Zukunft! -- + +Frau Eleonore Grell hielt mir ein Blatt entgegen, das mit den Schriftzügen +eines zehnjährigen Mädchens überzogen war. Es besagte immer dasselbe: Im Nu +war alle Weisheit abgeworfen und die Furcht, die mich hierher getrieben +hatte, wieder da. + +Verwirre sie nicht, schrieb jetzt Eleonore, und als sie diese Worte gelesen +hatte, legte sie augenblicklich die Feder weg. Nichts hätte sie vermocht, +sie wieder aufzunehmen. Die Sitzung war zu Ende. + +23. MÄRZ. Ich fahre nach Bern zurück. Fortunio kommt mir entgegen, und ich +frage ihn, was von den Berichten über die Verwüstungen zu halten sei. »Die +deutschen Communiqués geben sie ja selber zu,« seufzte er, »sie brüsten +sich sogar.« Wir überschritten den Platz zum Kasino. Das Gebirge strahlte +im vollen Ornat. Wir setzten uns ins Freie und starrten, Verbündete der +Verzweiflung, ohne zu reden, vor uns hin. + + * * * * * + +Fortunio fragte, warum ich in Zürich gewesen sei, und ich verweigerte die +Auskunft. + +24. MÄRZ. Auch meine vier Wände sind mir verleidet. Die Sonne scheint +grell, verletzend, und nachts faßt mich der Schlaf nur wie eine Kranke, um +mich zu erschrecken. Ein Gesicht wendet mir so gemarterte Augen zu, daß ich +erschüttert frage: »Hast du Arme denn nicht ausgelitten?« und fahre +stöhnend auf, weil es nur der Reflex von einem Kummer war, den diese Augen +spiegelten. Nur ein überschwängliches Mitgefühl. + +25. MÄRZ. Gestern abend bei Fortunio war Abigail von der Agence, der +hartnäckig am Thema der Verwüstungen festhielt. Auf dem Heimweg wurde er +immer dringlicher. Logisch, folgerichtig wäre es, zu den Ereignissen +Stellung zu nehmen; unvereinbar mit meiner bisherigen Haltung, wenn ich +schwiege. »In der Tat!« rufe ich in einem Tone, der bitterer ist als Galle. +»Sie reden, als wüßte ich nicht, daß Ihr die Dinge glaubt, die Telramund +Euch von mir sagt.« + +Doch Abigail nahm alsbald seinen Vorteil wahr: »Sie haben es ja in der +Hand, Ihre Freiheit des Handelns zu dokumentieren!« Je mehr er mich in die +Enge trieb, desto schwerer wurde mir zumute, hatte er mir doch meine +eigenen Gedanken verraten. + +»Es wird nicht gut.« Und ich erzählte ihm meine Züricher Reise. + +Er war mächtig interessiert. Ich ließ ihn trotz der späten Stunde zu mir +herauf und zeigte ihm das Blatt Eleonorens. Es enthielt nichts, was ihm +behagte. »Die Hand eines Kindes«, sagte er wegwerfend. Ich bereute schon, +es ihm gezeigt zu haben, und wünschte ihn die Treppe hinab, riß die Fenster +auf, als er gegangen war, und warf sie ruhlos, verlassen, gepeinigt wieder +zu. + +25. MÄRZ. Wie in aller Welt haftete Pech meinen zehn Fingern an? Aber ich +täuschte mich ja! Es war ein Irrtum . . . ah, es war ein Traum, so lebhaft +aber, daß ich mit beiden Händen in die Höhe fuhr. + +Nachmittags bei der Fürstin, in der Hoffnung, ihre nüchterne Atmosphäre +würde mir Ernüchterung bringen. + +»Et la Calicie«, sagte sie. »Ah! ils se valent bien tous, allez!« + +Mir wurde nicht besser, und ich ging. + +Über der Kornhausbrücke hing sehr niedrig eine Mondsichel, so wunderbar +ausgeprägt, so sprechend, so beseelt, so festlich! + +27. MÄRZ. Nicht nur in meinem, nein, ich darf es sagen: mehr noch im Namen +der vielen in Deutschland (oder der wenigen, gleichviel!), welche sich +nicht äußern konnten, wollte ich gegen die neueste Kraftprobe der Herren +Militärs protestieren, und es dabei genau so halten wie die oberste +Heeresleitung, nur umgekehrt: das heißt mit eben derselben Arroganz über +militärische Notwendigkeiten hinwegsehen, wie sie über menschliche und +moralische. Meine Wohnung aber, meine Sachen, meine zurückgelassenen +Briefe, ein gewisses Schlößchen im bayrischen Vorgebirge, das selbst mitten +im Kriege so zauberhafte Kreise zog, dies alles sah ich vielleicht nicht +wieder. Und, die Trennung von meinen Freunden, meine Geborgenheit? Hier war +ich so fremd! Warum aber verhielt sich dies alles bleich, ohne Licht, +unvorhanden, ohne Resonanz, da mir doch wohl bewußt war, daß es wieder in +ganzer Kraft ausziehen würde? Wie jene rein umrissene und sehnsuchtsvolle +Mondsichel, die gestern über der Brücke so tief am Himmel hing und ihn +beherrschte. Was weiß er noch von ihr, sobald die Sonne brennt? So waren +alle Beweggründe, die mich zurückhielten, von einer stärkeren Forderung +entkräftet und verdrängt. + +29. MÄRZ. Kaum war an diesem 29. März mein Protest an das Journal de Genève +abgeschickt, als mir eines jener erprobten Warnsignale übler Vorbedeutung, +die wie mit Hellebarden mein so ganz auf innere Stimmen angewiesenes Sein +umstellt halten, auf einem Rad, als hätte es höchste Eile, entgegensauste. + +30. MÄRZ. Schon verschieben sich sachte wie auf einer Wandelbühne die +Kulissen: Verstummtes, Unterdrücktes belebt sich aufs neue, findet wieder +Farbe und Gestalt. + +31. MÄRZ. Eine Antwort. Schon! -- »Die vielen Zuschriften, der Raummangel +. . . meinen Brief jedoch gedächte man zu bringen.« Es steht nichts von +einem Termin. Aber ins Ungewisse ertrage ich diesen Zwiespalt nicht. Morgen +fahre ich nach Genf zu Romain Rolland. + +1. APRIL. Sonntag. Unter strömendem Regen bin ich nach Champel gefahren. +Rolland wußte schon, warum ich kam. Er war zufällig auf der Redaktion +gewesen, als mein Brief dort eintraf, hatte ihn gelesen und war unbedingt +für dessen Veröffentlichung. + +Ich sprach dann beim Journal de Genève vor und erwirkte, daß der Protest am +übernächsten Tage erscheinen würde. Somit war die Sache erledigt, und ich +ging. + +Das Wetter hatte plötzlich umgeschlagen. Es wehte eine schneidende Luft, +aber See und Himmel strahlten in frühlinghafter Bläue. In mir derselbe jähe +Szeneriewechsel. + +Ein erstickend schwerer Vorhang riß magisch in die Höhe. Nicht der Salève, +der sich hier an allen Straßenecken türmte, sondern die bayrischen Berge in +ihrem seelenvollen Dunst und ihre Waldungen verstellten mir den Weg, und +die betrübten und bestürzten Mienen meiner zurückgelassenen Freunde. Es war +die Trennung von ihnen, das Exil. Drüben im Vorgebirge das Schlößchen, das +wie eine selige Insel auf dem dunkeln Meer dieser Zeiten träumte, die +schöne und musenhafte Freundin, die mich dort erwartete, die dort +verbrachten Herbst- und Sommerwochen. + +Tausend Erinnerungen setzten sich wie Trauerglocken in Bewegung. Oh teuer +erkaufte Ruh! + +4. APRIL. Bern. Abigail besucht mich; sehr gespannt. Ich sage ihm, wie +Rolland, den er immer anschwärzt, sich verhielt. + +5. APRIL. Der Protest ist heute erschienen. Ich kaufe das Blatt, ohne den +Mut zu finden, es zu entfalten. + + * * * * * + +Ich übergehe die nächsten Tage. Diese Aufzeichnungen sind ja nicht verfaßt, +um Gemütsbewegungen zu schildern. Ganz andere Zwecke verfolgt dieses Buch. +Auch ist die Zeit nicht mehr, und man wird härter. Nur im Hinblick einer +Einsicht, einer Erkenntnis, wo Erfahrungen mit immer verstärkter +Deutlichkeit den Charakter des Lebens kennzeichnen und Kommentare stellen +zum Schicksal überhaupt, dürfen wir dabei verweilen. Kein größerer Wahn als +der, zu glauben, man kenne das Leben, um es ausgekostet, sich mit allen +seinen Genüssen, Schrecknissen und Abenteuern vertraut gemacht, viele +Männer oder Frauen gekannt oder geliebt zu haben. Es starb so mancher +ahnungslos dahin, welcher die ganze Welt bereiste. Auch nicht wer Gefahren +überstand, nein, sondern wer die Gefährlichkeit des Daseins, dessen +Gefährdetheit durchschaute, die wie ein giftiger Trank sich unablässig +bereitet und immer die Hefe zurückläßt, um sich neu zu mischen, nur wessen +Auge geschärft wurde für die Schatten, die im Tageslicht aufpassen, nur der +weiß über diese Welt Bescheid, und in ihm lebt das Bewußtsein -- bitter wie +die Aloe --, daß er umsonst gelebt hat, wenn die Schule, durch die er ging, +anderen nicht zur Lehre dienen wird. + +Das erste war übrigens, daß mich die Fürstin ans Telephon rief: »C'est +désastreux! quelle folie!« sagte sie unverblümt; und als ich sie besuchte: +»Je dis ce que je pense, mais est-ce que j'écris, moi? -- Pas si bête!« +empfing sie mich und kochte mir mit heftigen Bewegungen Kaffee. + +Dann aber kam Besuch: eine offiziöse Engländerin, deren Mann mit atrocités +allemandes einen schwunghaften Handel trieb, und ein russischer Diplomat +von professioneller Verlogenheit, die mir Komplimente machten und mich +einluden. Wie schwül mir da wurde! Nein, so war es nicht gemeint, und ich +gehörte nicht hierher! Nicht hierher und nicht dorthin. Bevor die Fürstin +mich mit einer ihrer Brüskerien zurückhalten konnte, war ich ausgerissen +und die Treppe hinabgeeilt. + +Fortunio, der mir auf der Straße begegnete, nahm dieses typische +Palaceerlebnis von der komischen Seite und lachte. Wir saßen zusammen, als +Telramund im biederen Pelzrock, an seiner Rechten die Menschenfresserin von +Hokusai, mit jener so charakteristischen Verleumderwärme, die unbedingt +etwas anderes scheinen möchte, auf uns zueilte. Seine Hand weit +entgegenstreckend, brachte er mir rückhaltlose Schmeicheleien zu +herzhaftestem Ausdruck. Fortunio, welcher fühlte, wie bitter sie mir +mundeten, lenkte das Gespräch auf andere Dinge. + +13. APRIL. Den Abend mit Fortunio und Abigail verbracht. Wir sprachen von +Träumen. Abigails sehr spekulatives Gehirn kann sich in so feinen Windungen +verlieren, daß es sich beizeiten von seiner höchst stofflichen Person +vollkommen losgelöst darstellt. Plötzlich, mitten in einem Satz, den er +sagte, lebte ein geradezu abscheulicher Traum der vergangenen Nacht in mir +auf, und schon begriff ich nicht mehr, daß ich mich jetzt erst auf ihn +besann, unterbrach aber sofort das Gespräch, um ihn zu erzählen. -- +»Achtung!« rief ich, »so etwas Widerliches habt Ihr noch nicht gehört: + +Ein Mann, von dessen schwarzem, fettem, unbeschreiblich schmutzigem Haare +dichte graue Schuppen auf seinen Anzug regneten, war dicht an meine Seite +getreten. Dabei zog er mit einem Kamm durch diese Strähne von nie +dagewesener Schmierigkeit, so daß der graue Regen immer dichter fiel. Ich +rückte unwillkürlich von ihm weg, da fuhr er weitausholend mit diesem +treibenden Kamm in mein eigenes Haar, ich fühlte ihn noch darin stecken und +erwachte vor Ekel.« + +Fortunio schwieg. Auch der zu Kommentaren schnell bereite Abigail äußerte +sich mit keinem Ton. + +»Es steht mir natürlich etwas höchst Widerwärtiges bevor!« nahm ich selber +auf. Auch diese Bemerkung weckte kein Echo. -- Man ging auf konkrete Dinge +über. Es wurde spät. Fortunio erwähnte das neue Blatt, welches Telramund +schon in den nächsten Tagen zu starten gedachte und wie jemand, der sich +ungern etwas zu sagen entschließt: »Er, beabsichtigt übrigens, eine +Übersetzung Ihres Protestes in seiner ersten Nummer abzudrucken.« + +»Was fällt ihm ein!« rief ich. »Das kann er nicht.« + +»Er kann es schon«, sagte Fortunio. + +»Die Friedenswarte bringt sie.« + +»Er will ihr zuvorkommen.« + +»Ungefragt? Ohne sie nur zu zeigen?« fuhr ich im lichterlohen Zorne auf. +»Sie sind Zeuge, daß er mir nichts von einer solchen Absicht verriet, als +er vorgestern zu uns stieß. Ich figuriere nicht in diesem Blatt.« + +»Fassen Sie sich doch!« sagte Fortunio. + +»Nein, ich fasse mich nicht. Oh Fortunio!« rief ich, »oh mein Traum!« + +»Schreiben Sie ihm halt.« + +Ich ließ sofort das Nötige herbeischaffen und schrieb zitternd vor +Aufregung, was er mir diktierte. Dann brachen wir auf. Der gänzlich +verstummte Abigail blieb an unserer Seite. »Die Gefahr ist natürlich,« +bemerkte Fortunio, »daß der Brief zu spät eintrifft.« + +Dies sagte genug. Er wußte mehr. Meine Empörung, meine Wut steigerte sich +mit jeder Sekunde. Je ungezügelter ich mich über den Charakter des +bevorstehenden Blattes ausließ, desto reservierter wurde Fortunio. Je mehr +ich sah, daß er sich ärgerte, desto mehr ärgerte ich mich über seinen +Ärger. Der meine richtete sich besonders gegen Abigail, dessen Schweigen +mir mißfiel. Nicht das Ungestüm, mit welchem ich auf den mir zugedachten +Schlag reagierte, sondern die ausgemachte Tücke desselben schien mir das +wesentliche, was unbedingt eine Parteinahme für mich verlangte. Auf eine +solche ließ jedoch nichts in der, all die letzten Tage so überschwänglich +gewesenen Haltung Abigails schließen. + +Oben in meinen sorgfältig geschmückten, aber von Telramund behexten Räumen, +in welchen ich noch nicht eine einzige frohe Stunde verlebt hatte, noch +fernerhin erfahren würde, brach ich in helle Flammen der Verzweiflung aus. +Dies also war das Resultat! Zu diesem Ende also hatte ich die Worte, zu +welchen ich glaubte, mich entschließen zu müssen, so bang gewogen, so +behorcht. War ich dafür bis an die äußerste Kante einer abschüssigen Stelle +vorgetreten, so weit, als mein Fuß noch Boden unter sich fassen konnte, um +hinterrücks diesen Stoß zu erhalten? Denn was für eine Übersetzung und zu +welchem Zwecke sie fabriziert wurde, wußte ich genau. Am Arme Telramunds, +dieses Verräters, sollte ich an die Öffentlichkeit. Ich hatte mich, es ist +wahr, vom Anfang des Krieges an zur Opposition geschlagen. Aber sie galt +seinen Anstiftern und deren verworfener Gefolgschaft. Das Volk selbst tat +mir unabänderlich leid. In meiner, von kalten Wirbelwinden der Abneigung +durchsackten und durchkreuzten, aber dabei tiefen Liebe zu Deutschland, lag +das Band zwischen Fortunio und mir. Oft sprachen wir davon. Und dünkten uns +allein. Gerade unsere gallische Seite setzte uns ja auf Grund unserer +Abgerücktheit in Besitz des Spiegels, den die unvermischt Deutschen nicht +führen. Ihr Nationalismus ist ja Import, ihr Fremdenhaß unecht, imitiert, +immer bereit, wie Mörtel von ihnen abzufallen. Im übrigen ist die Gefahr +derjenigen Deutschen, welche Selbstkritik üben, viel eher, daß sie +erstarren. Wenn es kein französisches Wort für »Gemüt« gibt, so gibt es +noch weniger ein deutsches Wort für »affectueux«. Die Deutschen -- und das +ist es, was einem oft an ihnen erbarmt -- sind nicht imstande, sich im +geringsten zu hegen. Weil jede Nation seine so typischen Unholde hat, war +Telramund, allen deutschen Germanophoben voran, gerade in dieser +Germanophobie ein so typischer Boche. Jedenfalls durfte der Mann von Glück +reden, daß sein und seiner Gesponsin Leben an diesem Abend nicht in meine +Hand gegeben war. Statt dessen war es _ihr_ Trick natürlich, welcher aufs +beste gelingen mußte, und weit entfernt, daß die beiden verdienterweise und +auf meine Order hin vor Sonnenaufgang baumelten, haftete meinem +Frühstückstablett am Morgen dieses 14. April die erste Nummer der +Telramundschen Zeitung an. Sie umfaßte vier Seiten. Alle Beiträge waren +anonym. Nur mein fettgedruckter, im Reporterdeutsch übertragener Protest +trug meinen Namen. Ich übergehe den Zorn, mit dem ich diese wüste +Revolverprosa las, welche hier als meine eigene stand; wie vortrefflich war +dabei ihre Wirkung auf mich selber berechnet! Denn die Feindschaft von +Leuten wie Telramund ist wie mit tausend Augen auf uns gerichtet, mit +tausend Fühlern in uns verbissen. Sie kennen ja die Ablenkung ins Reich der +Ideen nicht! Sie spinnen keine eigenen Gedanken! Ich Törin hatte, wie über +einen Witz, lustig darüber aufgelacht, daß Telramund meinen Protest als +eine »Manoeuvre allemande« bezeichnet hatte, ohne zu erwägen, daß er +natürlich auf Mittel und Wege sinnen würde, dies zu bekräftigen. So galt es +denn, mich gewaltsam über die Linie zu ziehen, die ich mir selbst gesteckt +hatte. Dies ergab sich ohne weiteres durch den gehässigen Ton der +Übersetzung. Das andere würde ich schon selber besorgen; denn daß ich +reagieren, ja mich hinreißen lassen und ihm in die Hände arbeiten würde, +wußte niemand so gut wie dieser ausgezeichnete Kenner meiner Person. Ja, es +kam noch besser für ihn, als er wohl dachte. + +Fortunio, den ich sofort benachrichtigte, ließ mir sagen, er könne mich +erst gegen zwölf Uhr sehen. Dies war mir viel zu spät. Gleich, in einer +Viertelstunde, bevor noch irgend jemand auf die Gasse trat, mußte meines +Erachtens etwas geschehen. Wahn! überall Wahn! In der Redaktion des Bundes +bestand ich darauf, daß meine Verwahrung sofort in der nächsten Nummer +stehen müsse. Es wurde mir versprochen. Immer noch war es Morgen. Rückte +denn heute die Zeit nicht vor? Alle Hauptstraßen meidend, kam ich im +Sturmtempo zu Fortunio, ihm das fait accompli mitzuteilen. + +Wenn es wahr ist, daß kein Sperling versehentlich vom Dache fällt, nun dann +steht gewiß auch ein jeder unserer Tage unter einer bestimmten +Konstellation, und mein Unstern feierte gerade seinen Mittag. Fortunia, die +auf der Treppe stand, empfing mich mit einem unglücklich gewählten Wort. +Schließlich war es ihr Haus, ich konnte sie nicht niederstoßen. An ihr +vorbei, geradeswegs in Fortunios Arbeitszimmer, der die Mitteilung von +meiner zu erscheinenden Notiz mit einer Kälte aufnahm, die mich unsagbar +erbitterte. Hier bin ich fehl am Ort, dachte ich, und nahm eilends +Abschied. Auf der Straße war es kalt. Ich sah mich um: sie war leer. »Ich +bin verraten«, sagte ich laut. Ich hatte nur ein paar Schritte bis zum +Haus, in dem ich wohnte. Die Hand vor den Augen haltend, als sei mir etwas +hineingeflogen, eilte ich die Treppe hinauf und schloß mich ein. + +15. APRIL. Telramund (immer anonym natürlich) veröffentlicht eine hämische +Erwiderung auf die meinige. Meinen französischen Text und seine Übertragung +würde die nächste Nummer seiner Zeitung zusammen abdrucken. Der Leser möge +sich dann selbst ein Urteil über mich bilden. Ich sofort wie eine +Windsbraut, auf Flügeln des Zorns, in die Redaktion mit einer +»Schlußerklärung«. Auch diese wollte ich sofort eingerückt sehen. + +Daraufhin vertiefte sich das Waldesschweigen um mich her. Fortunio war ohne +ein Wort nach Lugano abgereist. Ich begriff es nicht. In meiner Unkenntnis +alles dessen, was mit Partei- oder Presseinteressen zusammenhing, wollte +mir ein Überblick der besonderen Situation nicht gelingen. Ein paar Dinge +sah und erkannte ich mit unbeeinflußbarer Sicherheit, gleichsam durch ein +Brennglas, mußte aber jede Einsicht mit einer Unzulänglichkeit überzahlen, +jedes Überbieten mit einem Versagen. Wer mich für dumm erklärte, dem hatte +ich von jeher meinen Segen gegeben. Es will keine Geographie in meinen +Kopf; vergebens starre ich auf einen Globus; ein Morseapparat bleibt mir +ein unergründliches Geheimnis; in scheuer Bewunderung starre ich während +einer Panne auf die Mechanikerkünste des Chauffeurs, und so teilnahmslos +ist gewiß kein Mensch, daß er, ohne mir beizustehen, zusehen könnte, wie +ich meine Koffer packe. Durch Vorzüge, wie durch Mängel isoliert, muß ich +mich selber auf mich nehmen wie ein Kreuz. Es kann geschehen, daß ich vom +Blatt begleite auf eine Weise, die jeden Musiker empfinden läßt, welche +Entbehrung es für mich ist, ohne Musik zu leben, und mir selbst wird zumute +gewesen sein wie einem plötzlich freigelassenen Pferd, das über eine Ebene +voll Sonnenlicht und Schatten fliegt. Nichts kommt seinem Rausche gleich. +Von solchen Augenblicken wahren Lebens erwache ich zum Tode des Alltags wie +ein Gefangener aus seinem Freiheitstraum. Gerade nach solchen seelischen +Abenteuern aber wird es am leichtesten vorkommen, daß ich mit einer +aufgeregten Hilflosigkeit, viel eher eines Dorftrottels, als meiner würdig, +nach meinen vergessenen oder verirrten Habseligkeiten suche, und keiner der +Musiker von vorhin würde mich wiedererkennen. + + * * * * * + +21. APRIL. Besuch Abigails. Oh nichts von Komplimenten mehr! Nichts mehr +von »femme exquise«. Wir prasselten uns Vorwürfe, groß wie Taubeneier, ins +Gesicht. Meine Schlußerklärung sei eine Abschwächung gewesen. Ob dies der +Moment wäre, zu sagen, daß es Boches in jedem Lande gäbe. + +Es sei die Wahrheit. + +In der Tat hätte ich die richtige Gelegenheit ergriffen, dies zu äußern. + +»Ihr habt ja meinen Protest als eine manoeuvre allemande angesehen.« + +»Cest donc une vengeance«, sagte er, indem er sich zum Gehen anschickte. +Ich eilte zur Tür, und, vor ihr aufgepflanzt, gedachte ich das letzte Wort +zu haben, als mir plötzlich ein Licht aufging, auch Fortunios wortlose +Abreise mir erklärte. »Sie haben das Wort >Abschwächung< gebraucht«, sagte +ich, »und werden dieses Zimmer nicht verlassen, bevor Sie mir selbst, +geholfen haben, einen Nachsatz aufzusetzen, der jede Möglichkeit einer +solchen Auffassung ausschließt. Alles andere ist mir im Augenblick egal.« + +Mein Entschluß einer neuen Bekräftigung konnte ihm nur erwünscht sein. Es +setzte ihn in den Stand, zum zweiten Male Heu einzufahren, nachdem das +erste verregnet war. Zum dritten Male schlug ich nun den Weg in die +Redaktion des »Bundes« ein. Nicht mit Unrecht wurde ich aber dort darauf +hingewiesen, daß sich eine Schlußerklärung mit keinen neuen Erklärungen +vertrüge. Ich führte mit aller Vehemenz dagegen aus, sie sei für mich +Ehrensache, und setzte endlich ihre Veröffentlichung durch. Natürlich mußte +sie wieder auf der Stelle her. + +Daß hiermit ein Loch an Stelle eines Fleckens trat, war mir zwar klar. Und +nach der deutschen Seite hin verschlechterte sich natürlich meine +Situation, war eine Herausforderung mehr. Doch auch die formvollendetste +Blamage durfte ich in diesem Augenblick riskieren, nur nicht, daß behauptet +werden durfte, ich liefe vor meinem eigenen Mute davon. Ich war froh, daß +jetzt um mich her eine solche Leere bestand, und niemand in Sicht, der mir +einen Rat erteilen konnte. Denn der Fall lag allzu klar. Hier war es nicht +le ridicule qui tuait. + +23. APRIL. An der Schnelligkeit jedoch, mit welcher jetzt meine Stimmung +umschlug, merkte ich den Stoß, den mein Gleichgewicht erfahren hatte: meine +Gemütsverfassung war eins mit dem herrschenden Wetter: Regen, Finsternis, +zerrissenes Gewölke, Himmelsblau, Sonne und wieder Sturm und Schnee. Kurz +entschlossen löste ich eine Karte, um einer Aufforderung A. H. Paxens nach +Lugano zu folgen. + +Abigail, der sich nachmittags bei mir meldete, war sichtlich erfreut über +die inzwischen schon erschienene Notiz. Aber ich hatte jetzt reichlich +genug von der leidigen Geschichte, deren dickes Ende ja noch bevorstand, +denn bis jetzt hatte noch kein deutsches Blatt auf meinen Vorstoß reagiert. + +23. APRIL. In Luzern unterbreche ich meine Fahrt und steige im Hotel Tivoli +ab, bei Glasenfrosts. + +Warum aber fallen nachts Felsenblöcke über mich hin? Warum sehe ich einen +Baum an einem unsichtbaren und doch so verzehrenden Feuer verbrennen, daß +er im Nu nur ein Gerippe ist von einem Baum? Ohne Flamme und ohne, daß ein +Blitz ihn traf, nur ein gespaltener Stamm? + +Warum stürzt von zwei Leuchtern der eine mit herabgebrannter, erloschener +und tränender Kerze zu Boden? Eine trübe Bildersprache, die ich in diesem +Jahre noch nicht entziffern sollte. + +Um Mittag fahre ich weiter. Jenseits des Gotthard gerät der Himmel ins +Lachen. Er findet offenbar die Welt noch schön. Tröstlich prangende +Blütenhänge und endlich, tief unten, das hingezauberte Blau des Sees, einem +verliebten Abendhimmel hingegeben. Und die Bäume stehen hier wie sanfte, +begütigende Bräute. + +Der Weg nach Paradiso ist holperig genug, auf den Bergen oben leuchten +feurige Spieldosen auf. Die Natur ist ein Zwischenakt mit +Verwandlungsmusik, und die Nachtluft wird von Amoretten hingetragen. Oh +Plansee im bayrischen Gebirg! Du See auf dem Plan, so hoch oben im Wind! +Warum schwebst du, Verwunschener, mir vor? Vor mir liegt lächelnde +Erfüllung. Du aber bist unbegrenzte Sehnsucht und Verweigerung. + +Ein nachgesandter Brief von ihr, die von jenen Bergen spricht, hatte mich +in Luzern ereilt. »Bald kommt der Sommer, schreibt sie, rücken wir ihm vor. +Der Flügel wird schon in der Halle aufgestellt, die Schwalben fliegen gewiß +schon ein und aus.« + +Die Droschke rollt jetzt auf glatter Fähre den See entlang. + +25. APRIL. Fortunio, welcher von meiner Ankunft bei Paxens erfahren hatte, +kommt, verfehlt mich, telephoniert und bittet mich zum Tee. + +Ha! denke ich, diesen Tee soll er sich merken bis in sein achtzigstes Jahr. +Mit vielem Bedacht staffiere ich mich zu diesem Wiedersehen heraus, um die +Meinung, die ich mir von seinen Ritterdiensten gemacht habe, möglichst +wirkungsvoll zu unterstreichen. + +Wie dem auch sei, ich trug an diesem Tage ein, wenn auch nicht neues, so +doch neu beschlagenes Kleid mit halblangen, weit auslaufenden Ärmeln. Weiße +Besätze, federleicht und schwarz besäumt, schlossen sie am Ellbogen in zwei +Reihen ab. Zwischen ihnen lag wieder eine Spanne Stoffes, den sie ein wenig +heruntergezogen, denn so dünn ihr Gewebe war, durch ihre Fülle beschwerten +sie ihn doch. Beim Gehen glockten sie ganz leise ab und zu und hingen dann +still, bevor sie sich von neuem bewegten. Es war in der Tat ein sehr +rhythmisches und geglücktes Ärmelpaar. Vor allen Dingen aber -- andere +mögen dies gewiß auch schon beobachtet haben -- können wir von einer +»geistigen Schminke« angeflogen werden, chimärisch wie jene, welche die +Kosmetiker bereiten -- denn auch sie, wenn sie von uns fällt, läßt uns +fahler, aufgeriebener als zuvor. -- Indes gewährte ich den ausgestandenen +Nöten der vergangenen Tage ihr beredtes Schattenspiel, ja ein +selbstbewußter Schleier chiffrierte noch ein übriges dazu. Also gepanzert, +höchst intangibel und durchaus bestechend ging ich, die ihm zugedachte +Szene wohl im Kopf, gewandten Schrittes, als hätte ich soeben meine besten +Erfolge hinter mir, auf ihn zu. + +Es gehört jedoch irgendwie mit zum Leben, daß im geringfügigen, wie im +großen die Dinge anders verlaufen, als man sie erwartete. + +Zwar in der Tat eilte da Fortunio wie mit neubeschwingter Freundschaft mir +entgegen. + +Seine Sympathie, erklärte er dabei, hätte nun wirklich die Feuerprobe +bestanden. + +»Wie meinen?« + +Da nicht einmal die desaströse Erklärerei im »Bunde« vermocht hätte, daran +zu rütteln. »Sie kennen die letzte nicht«, erwiderte ich mit der +erkünstelten und flackernden Würde einer Überrumpelten. + +»Was!?« schrie er entsetzt und fuhr mit den Armen in die Luft. »Noch +eine?!« Unglücklicherweise mußte ich lachen, und da mir dies seit drei +Wochen nicht mehr vorgekommen war, hielt ich nicht sogleich inne, sondern +geriet ins lachen, wie einer ins laufen gerät, und ehe Fortunios Arme sich +wieder gesenkt hatten, war er angesteckt. Es gab kein Aufhalten mehr. +Lachraketen stiegen jetzt in die verblaute Luft, in einer vor Wonne +irrsinnigen Natur. Wäre ich zehnmal bedrückter noch gewesen, ich hätte +gelacht. + +Bald fingen denn auch die Berge wieder an, ihre funkelnden Spieldosen +aufzuziehen. Nicht einmal nachts wollte diese Landschaft zum Ernste +gelangen; des Krieges selber schien sie zu spotten. Wer hatte denn recht, +wenn nicht die Bäume hier am Strand des Sees, die ihre Düfte einander +zuhauchten und vertauschten, und wenn sie welkten, wieder erblühten, und +wenn sie verdorrten, andere dafür erwuchsen. Es war mir ein Schlag ins +Wasser geglückt. Und was dann? + +Ich zog Fortunio mit in den Kursaal, sah den Dämchen zu, wie sie tanzten, +gewann sechs Franken und verlor deren zwölf. + + * * * * * + +Und nunmehr ging ein Tag blitzender als wie der andere auf, und wie in +einer leuchtenden Schale der Vergessenheit zerfloß der See. Vergiß! Vergiß! + +Es hinderte nicht, daß ich Fortunio bei Gelegenheit das alte Leitmotiv +vernehmen ließ, solange Telramunds im Hintergrunde säßen, sei jede Aktion, +jeder Versuch, dem Haß entgegenzuwirken, im vornherein eine gescheiterte +Sache. Er ist für das »abwirtschaftenlassen« solcher Elemente, und ich +nicht. Denn bis sie abgewirtschaftet haben, ist ja zuviel verdorben, +aufgehalten, zugrunde gerichtet. Fortunio, in vielen Dingen weit +beschlagener als ich, sieht nicht, wo ich erfahrener bin als er. Gewiß sind +ihm die Götter hold. Taucht er unter, so fischt er gleich etwas Schönes, +hält's gegen das Licht, freut sich des Prismas und läßt sich von den Wellen +schaukeln. + +Die paar Meinungen dagegen, die mir unverrückbar im Kopfe horsten, muß ich +zu Markte tragen, und habe keine Ruhe. Muße bleibt Müßiggang für mich, +solange ich sie nicht formulierte. Und die Aufgabe ist doch so schwer, daß +ich vor jedem Anlauf von neuem zögere. Bis mein Tagewerk gelingt, sofern es +mir gelingt, wird der Abend für mich herangebrochen und meine Gastrolle in +dieser zweifelhaften Welt ausgespielt sein. Sollten meine Bücher mich +überleben und ich selber wiederkommen, so lese ich sie vielleicht, und +vielleicht wird mir dabei etwas sonderbar zumute. Ein Dirigent möchte ich +dann werden. Regieren möchte ich! + +Die erste Katze möchte ich sein, die keine Vögel mordet. Ich bin in diese +beiden Tiere vernarrt und wünschte, sie schlössen Frieden. + +Um auf Fortunio zurückzukommen: darüber sei man sich vollkommen einig, +sagte er, wie Telramunds Verfahren mir gegenüber zu qualifizieren sei. + +Warum ergriff denn keiner meine Partei? + +Er zuckte die Achseln, wie jemand, der es aufgibt, etwas zu erklären. +Gerade dieses Achselzucken aber gab mir endlich voll und ganz zu verstehen, +mit welch unsäglich trübem Wasser in Politicis gekocht wurde; so zwar, als +müßte es so sein. Diese Notwendigkeit war es gerade, die ich mich +anzuerkennen weigerte. + +Ich kann gar nicht aussprechen, wie grausam mich der Plan von einem +»Zusammenschluß der Geistigen« anlächert . . . Wie sollte ein +Zusammenschluß der Geistigen zustande kommen, da noch ganz und gar kein +Zusammenschluß gegen die Ungeistigen besteht? Ach, kennt ihr Geistigen die +Welt noch immer nicht? Was redet ihr groß von eurem Zusammenschluß? Sprecht +von Aufgebot, von einem Kampfesruf gegen den Zusammenschluß jener, denen +alle Waffen zu Gebote stehen, welche die Gemeinheit führt, dem einzigen +Zusammenschluß, der sich bisher verwirklichte, denn dort gebietet der +Verworfene über den Verworfeneren, und der Verworfenste ist es, der das +Zepter schwingt. + +Sprecht von Ausschluß, sprecht von Sorge. Davon sprecht, daß es keine gute +Sache geben kann, solange schlechte Elemente sich zu ihr bekennen dürfen, +um sie zu untergraben, ist doch an ihrer eigenen nichts mehr zu verderben. +Zum Zerstören aber sind sie da. + +Gelänge es mir, auf diese noch immer nicht genügend beachtete +Beschaffenheit der Dinge die Aufmerksamkeit zu lenken, ich hätte nicht +umsonst gelebt. Ich weiß ja, wie sehr mein Scharfblick auf Kosten von +Kurzsichtigkeiten geht. Welche Pein ist das! Ich stürme nicht voran, ohne +über das Nächstliegende zu stolpern. Von ausgemachter Selbstherrlichkeit, +wo ich meiner Sache sicher bin, unheilbar blöde, unheimlich schlau, so +harmlos, daß man kichert, so gerissen, daß man mir mißtraut . . . + +27. APRIL. Ein Berliner Kriegsgewinnler, den Paxens von Wien her kennen, +meldete sich bei ihnen zu Besuch. Der erste, dem ich mit Bewußtsein +begegne. Nie habe man bei Hiller so gut gegessen, nie bei Borchard soviel +Champagner getrunken. Die Welt habe jetzt die deutsche Faust +kennenzulernen. Was Ludendorff befahl, sei _unbesehen_ das Richtige, und +keine Kritik gestattet; (das galt mir!) Gott, wie gemütlich man hier +beisammen säße, während die Völker einander schlachteten. (Dies sagte er, +wie man am warmen Kamin vom Schneesturm spricht, der draußen wütet.) Allen +könne es nicht gut gehen, bemerkte er auch. »Schweigen Sie«, rief Frau A. +H. Pax. Er guckte etwas verdutzt. »Das ist ja schrecklich mit unserer +Valuta«, lenkte er dann ein. »Und mit der geistigen erst!« fuhr A. H. Pax +dazwischen. + + +Kunstwerk der Zukunft. + +28. APRIL. Heute früh bin ich in einer Messe gewesen. Aber welche Messe! In +einem sehr alten, dem See gegenüberliegenden und köstlichen Bau: Traumhafte +Fresken, das übrige mit roten, langverjährten, rosagewordenen Damasten +ausgeschlagen. So gut wie leer. Die Schellen, die der Ministrant in +Bewegung setzt, erklingen abgetönt und sind gewiß aus Silber, +Weihrauchwolken steigen vom Altar. Dunkel -- nein nicht dunkel, von einer +lichten Penombra wie eine bedeckte Vollmondnacht, ohne Orgel und Gesang, +und dennoch brausend, unendlich groß, ja wie zum Firmament -- (wie wurde +mir?) weitete sich das stille und verlassene Haus und schwamm im All. + +Endlich wieder eine schöne Kirche. Die in Bern hatte ich aufgeben müssen, +denn so war die Messe wirklich nicht gemeint. Als ich aber jetzt durch die +schwerbehangene Türe ins Freie trat, auf den noch leeren Platz und den +besonnten Strand, wo die Platanen ihre eben erschlossenen Kronen so +bräutlich dem Licht entgegenhielten, da schien dies alles, diese Natur mit +den dekorativ vor und wieder zurücktretenden Wänden ihrer Berge und das +gekräuselte, wie in sich selbst verliebt hinziehende Gewässer, selbst der +Himmel, der darüber hing, schien nicht so weit wie der eben verlassene, +leicht zu umspannende Bau mit den damastenen Wänden von verblaßtem Rot. + +2. MAI. Die Pforte, die ins Weglose führt, wurde bisher nur im Vorübergehen +angekreidet. Ziemt es sich doch nicht, es zu beschreiten. -- + +Diejenigen aber, welche solange über die Schiffbarmachung der Luft +gegrübelt haben, sind nicht dieselben, welche sich auf Äroplane schwingen, +sondern viele Jahrhunderte werfen ihre wilde Brandung zwischen sie. Und +doch, und doch . . . + +Wie in der nunmehr erkrankten Luft die Menschheit eine infizierte oder +jedenfalls, auch ohne es zu merken, eine affizierte ist, wie vielleicht ein +Pesthauch so allmählich unseren Planeten umschichtet, daß wir es nicht +gewahrten, ebenso glaube ich, daß bei vielen unter uns der innere Sinn dem +lautlos tumultarischen drängen und wogen (wo gäbe es Worte?) der so zahllos +und so jäh entströmten Leben zugewandter ist, als sie es wissen. Da sind +Akzente, da sind Lockrufe, die noch nicht ergingen . . . Da treiben wehe +Schwingungen der Wonne von unaussprechlicher Pein, da greifen Klänge ans +Herz, zerspringen und ermatten wieder, ohne zu ertönen, und da sind uns +Zaubertränke hingehalten, als hätten wir geistige Lippen, sie zu genießen +. . . + +Es war nicht mehr Nacht, aber der Tag dämmerte noch nicht. Ich schlief +nicht mehr und war noch nicht wach. Eine Gestalt, höchst eindrücklich in +ihrer Schattenhaftigkeit, erfüllte die Atmosphäre bis an den Rand, als +müsse diese wie ein zu voller Becher überfließen, das Zimmer sprengen oder +sich entflammen. Und schon war das Unnennbare ungegenwärtig, und es wäre +lächerlich unzureichend, wenn ich sagte, es hätte sich entfernt, so ganz +außer jeder Beziehung stand es zu Zeit und Raum. + +Was aber war inzwischen nochmals vor mir aufgeschimmert? Locken? -- von +einer Gelocktheit, die es nicht gab, von einer goldenen Blondheit, die +nicht vorkommt, ein Licht, das ich nicht kannte, schärfer, und dabei nicht +so grell wie das des Tages. Geisterhaft? Aber es war ja von einer +schärferen, wärmeren, pulsierenderen Lebendigkeit gewesen, als wir sie +kennen. Wir sind nicht lebendig genug, dachte ich bestürzt, und schlug die +Augen auf. Draußen hatte sich ein Wind erhoben. Die Fenster sahen auf den +Garten; der Himmel ganz blaß, aber im vollen Staat. Kleine Wolken als +Vorreiter ausgesandt. Die Bahn war frei, die Vögel vollzählig, Brust +heraus, in Positur und einzustimmen bereit. Höchste Spannung in den Bäumen: +kommt sie schon? Blumengeflüster: ist sie schon da? -- Es war alles wie am +ersten Tag. + + * * * * * + +3. MAI. Sicher haben die Menschen ihr Hofzeremoniell dem Sonnenaufgang +abgelauscht. An sich gewiß eine hübsche Idee. Mit acht Jahren war ich im +Kloster Page der schönen Gelmini, die an Epiphania mit dem Beinamen die +Gerechte zur Königin ausgerufen wurde. Meine Haare wurden Tage hindurch im +Hinblick der zu drehenden Locken mit gezuckertem Wasser gedrillt. Dem +Hofnarren fielen sie aus der Schellenkappe tief ins Gesicht. Denn gelockt +standen wir alle am Tage unseres Umzugs. Gelmini wurde zweimal gewählt und +starb das Jahr darauf. Wie groß war mein Staunen, als ich später erfuhr, +eine erwiesene Larve könne ihr Lebtag lang unter Zimbeln und Trompeten als +»Majestät« aufziehen. Und welches Gelächter erntete meine Entrüstung! Aber +wie oft hat der verspottete recht! Jede Epoche hat ihren wahren +Fürstenkonzern. Wir verkannten dies ganz: darum sind heute unsere goldenen +Kutschen remisiert. Großherzogliche Hoflieferanten, Palast- und +Schlüsseldamen, wo seid ihr? Terror der Wiener Komtessen, wo bist du? Kurz, +kurz ist's her. + +Abends im Kursaal bei Musik geschrieben. A. H. Pax will in der +»Friedenswarte« eine tongetreue Übersetzung meines Protestes bringen, und +da er zugleich einen Beitrag für das Maiheft wünscht, setze ich meinen +Apparat in Bewegung. Es ist, als träten ungeheure Wasserwerke in Kraft, um +einen Fingerhut voll zu kredenzen. Stirnrunzelnd sitze ich inmitten des Hin +und Her von Eisschokolade und Tangotänzen, um einige Sätze über die +elsässische Frage zu formulieren. Ich begann mit ein paar Anspielungen und +zitierte mich aus einem Essay, den ich über die Markgräfin von Bayreuth +geschrieben hatte: der Frau fehle es zwar nicht an literarischer Begabung, +wohl aber an literarischer Perspektive, und für die Realität des +geschriebenen Wortes wohne ihr auch nicht entfernt dasselbe scharfe Gefühl +inne wie dem Mann. Heute sei hinzuzufügen, fuhr ich fort, ihr Interesse und +ihr Verständnis für Presse- und Parteiwesen sei in der Regel gering, und +auf jene allerletzten Endes so gedankenlose Parole: right or wrong my +country, wäre die Frau nicht verfallen. + +So wird sie denn, erzählte ich von ihr, und meinte _mich_, nur wenig von +bisheriger Politik verstehen, dafür um so mehr von der kommenden. Denn es +ist ganz gewiß falsch, zu behaupten, man dürfe Politik nicht mit dem Gefühl +treiben. Wie veraltet die ohne Gefühl betriebene sogenannte Realpolitik im +Grunde schon war, hätten die zuletzt auf dem Plan erschienenen +jugoslawischen Völker sehr wohl erkannt, als sie einst jenen brüderlichen +Balkanbund zu gründen beschlossen, welcher dann am Widerstand der +europäischen Kabinette gescheitert war. + +Es läge auch ein vollkommen richtiger Instinkt einer Versinnbildlichung der +Nationen durch überlebensgroße Menschengestalten zugrunde: Marianne, John +Bull, Michel, Onkel Sam . . . Von hieraus zieht sich deutlich ein Weg zur +Einsicht, daß den Beziehungen zwischen hochstehenden Völkern genau +dieselben Grundsätze unterliegen sollten wie zwischen hochstehenden +Menschen. Statt sich zu überlisten und brutal zu übervorteilen, suchen sich +diese im Gegenteil an Schonung, Großmut und Rücksicht gegenseitig zu +überbieten. Der Wetteifer um den Rücksitz hat als Ergebnis, daß man sich +darin teilt; statt einander zu berauben, hilft man einander aus. Man +gesteht sein Unrecht und wird vernommen, statt verdammt. Wäre somit eine +solche Politik nicht auch die praktischere? + +Ich hätte mir vorstellen können, fuhr ich fort, daß auf einer solchen +Grundlage hin ein Dialog zustande gekommen wäre zwischen Michel und der +unversöhnlich von ihm abgewandten Marianne. Ich könnte mir wahrhaftigen +Gottes vorstellen, daß er -- nach Art der Liebhaber -- zu ihren Füßen +hingerissen, die elsässische Frage vor ihr zur Sprache brächte; ich könnte +mir vorstellen, daß im Laufe dieses Dialogs endlich ein Wendepunkt sich +ergäbe, von wo ab beteuert würde, was verneint worden war . . . und in +dieser Tonart lange hin und wieder so beharrlich, bis die wunde Frage sich +zwischen ihnen isolierte, auf einen höheren Plan gehoben, langsam über +ihren Häuptern wie eine Morgengabe schillerte. + +Aber den Realpolitikern dünkte die andere Alternative, der wir heute +zusehen müssen, die gerissenere. Spätere Europäer werden sich freilich an +den Kopf greifen; dann aber wird vermutlich das andere Schlagwort aufkommen +vom Antagonismus der weißen und der gelben Rasse; und dann wird sich der +Himmel verfinstern von den neuen Schrecknissen; und dann erst werden die +Überlebenden nicht mehr bestreiten, daß die europäische Psyche durch +Assimilierung der asiatischen die endliche Bereicherung, ja ihre letzte +Vollendung erführe. + +Nicht allein, daß die grauenvollen Erfahrungen, die geopferten +Generationen, die vergeudeten Jahrzehnte, Jahrhunderte notwendig sind, um +diese Welt zu Anschauungen zu bekehren, welche sich der einfachen +Nachdenklichkeit aufdrängen, sondern all diese Kriege, und die gewesenen +sind nur Vorstufen zu einem letzten Kampf, dessen Stunde zugleich mit der +Stunde der Vergeltung schlagen wird für jene Elemente, welche von jeher die +schlechte Sache in der Welt betrieben oder die gute verdorben haben. Die +Leute also, schloß ich meinen Aufsatz, welche auf den ewigen Krieg +schwören, mögen zufrieden mit mir sein; denn bevor jene Elemente (und es +sind stets überall dieselben) nicht gekennzeichnet und untergeordnet +werden, glaube auch ich an keinen dauernden Frieden. + + * * * * * + +Um mich von der Anstrengung zu erholen, setzte ich zehn Franken und gewann +zwei. Plötzlich taucht der Kriegsgewinnler vor mir auf und fragt, ob er +mich nach Hause begleiten dürfe. Es war sehr spät, ja, er dürfe. Er +begleitet mich also, ich aber leuchte ihm heim. Und siehe da, in dieser +nächtlichen Weile scheinen ihm sehr andere Bilder vorzuschweben als die, +mit welchen er noch gestern renommierte. »Es geht uns ja so lausedreckig,« +jammerte er, »warum verfolgt ihr das in den Brunnen gefallene Kind?« »Also +so steht es«, rief ich. Mein fertiger Aufsatz stimmte mich frech. »So steht +es, und ihr blufft weiter mit Schwertfrieden und Grenzverbesserungen in Tod +und Ruin hinein. Ich sehe schon, was für Argumente ihr schmiedet, falls es +schief ausgeht mit eurem Verbrechen!« Es läßt sich gar nicht sagen, wie +weinerlich, wie persönlich gutmütig dieser eingepeitschte Alldeutsche sich +herausstellte; wahrscheinlich der beste Gatte und Vater dabei, ein +gewissenhafter Arbeitgeber vielleicht. + + * * * * * + +Melide. Fortunio hat drei Elsässer getroffen. Im Schein der Windlichter +schlage ich ihm die Karten, er dagegen liest mir aus der Hand. Die +Edeljüdin hat ein rotes Tuch umgeschlagen, und wir sind vergnügt. Doch oh, +die Nachtigall, die wir am Heimweg schlagen hören. Mein Herz hing sich an +sie und drang in den Busch zu ihr. Ich hätte mich so gern nicht mehr von +der Stelle gerührt. + +Der Himmel blieb die ganze Zeit über so blau, daß sich die Wolken in meinem +Gemüt angesichts soviel Sonne nicht behaupten konnten. Der erste bedeckte +Tag war auch der unserer Abfahrt. Ich nahm den Frühzug mit Paxens und +steckte meine Post gerade noch zu mir. Fürs erste galten dann meine Blicke +nur dem schwindenden See und den schnell sich verstellenden Bergen. + +In Bellinzona trennten wir uns. A. H. Pax wünschte die Mitarbeit der Gräfin +Reventlow, und ich sollte sie zu ernsterer Arbeit ermuntern. Es stellte +sich aber heraus, daß nur 40 Minuten in Locarno blieben, so depeschierte +ich ihr auf gut Glück und fuhr dann durch das breite, lange Tal zum Lago +Maggiore. Sie stand am Bahnhof. Wir erkannten einander, ohne uns je gesehen +zu haben, und gingen mit einer Art von kalter Vertraulichkeit hinab zum +See. Ihr Zynismus kannte keine Grenzen, doch immer alles mit Grazie. Vom +Schreiben wollte sie nichts mehr wissen und hatte eine Übersetzung +unternommen. Bei jeder Seite freue ich mich, daß ich das nicht selber +geschrieben habe, sagte sie. Ich drängte sie zu größerem Fleiß, ohne +Anklang zu finden. »Mein Ideal wäre die Leitung eines großen Hotels«, +versicherte sie. Ihre Augen waren wunderschön. Ich sprach von ihren +Schriften, und daß keine Bücher dieses leichten Kalibers mit ähnlicher +Qualität geschrieben worden seien, so blaß, so spöttisch, so geistreich. +Aber sie schüttelte den Kopf: es sei zu schwer. + +Wir gingen in der Mittagsschwüle den bergigen Weg zur Station zurück. +Einige Wochen später sollte sie in Konstanz ihrem Sohn zur Desertion +verhelfen. Heute amüsiert sie die Geisterwelt mit ihrem Witz. Schreiben +werden wir beide kein zweites Mal. + +Ich hatte gerade Zeit, in den Zug zu springen: er bewegte sich schon, wir +riefen uns noch einmal auf Wiedersehen zu, bevor wir einander für immer aus +den Augen verloren. -- Zu lesen hatte ich gar nichts mehr, mit Ausnahme +einer französischen Zeitung, die unter meiner Post gewesen war. Sie +enthielt auf der zweiten Seite einen Angriff gegen mich: Erbitterte Zeilen +mit dem deutlichen Wunsch, mich zu verletzen. Fürwahr, dachte ich, das ist +wirklich zu unverdient. Aber der Verfasser täuscht sich: es ist mir egal. + +Ich legte die Zeitung weg und sah in die Gegend hinaus. Merkwürdig +durchdrang mich da ganz und gar die Weite des Tals. Wie ein prächtiger +Festsaal der Natur, gemeint, als sei er auch bei Nacht zu erglänzen. Als +fehlten nur die Riesenkandelaber an den gleichmäßigen und feierlichen +Wänden der Berge. + +Die Lokalbahn hatte Anschluß an den zweiten Zug, der von Lugano kam. Er war +schon eingelaufen. Fortunio und der Redakteur der Humanité standen auf dem +Perron. Ich reichte ihnen das Blatt, das mir unter Kreuzband zugeschickt +worden war, und wollte etwas dazu bemerken, es stellte sich jedoch heraus, +daß meine Stimme zwischen Locarno und Bellinzona hängengeblieben war. Hatte +die Luft sich abgekühlt? Wie Fanfaren drang das Blau durch die dunstigen +Wolken. Dicht vor dem Platz am Fenster, den Fortunio mir gesichert hatte, +zogen jetzt die grauen Riesenwände des Gotthard vorüber, durchstrichen von +zahllosen Wildbächen, die aus ihren unversiegbaren Gründen senkrecht im +hellen Jubel herabschossen. Es war ein Hals über Kopf sich überstürzendes +Geglitzer. Ich behielt sie im Auge, diese Flüsse, einen nach dem andern, +und zählte sie. Wie eine Rettung war's, als die table d'hôte ausgerufen +wurde und alles in den Speisewagen ging, Fortunio ganz besonders und der +Redakteur. Der Wunsch, allein zu bleiben, brannte wie ein Durst. Welchen +Auges mag der Hirsch das Laub, das sein Geweih vom Aste schlägt, das Tal, +die Tiefe einbegreifen, bevor er sich getroffen weiß? Wir wissen nicht, wie +seine Welt da vor ihm aufleuchtet. -- Was für ein selbstherrliches Ding ist +doch das Herz! Du rufst ihm zu, und es vernimmt kein Wort, als gehörte es +sich selber und nicht dir. + +Verstrickte und sich selbst widerstreitende Liebesgefühle haben ihre +eigentümlichen Reflexbewegungen wie Zerreißungen und Wunden. Ich hatte mich +getäuscht: der Angriff in der französischen Zeitung war mir nicht egal. Und +wie aber hätte die Erbitterung zwischen den Zeilen mich nicht bewegt? +Zwischen den Erbfeinden des Abendlandes stand in Wahrheit reinste und +einzigste Erotik am Spiel. Was hier von jeher, was von neuem auf +Menschenalter zertreten wurde, war der Keim aller Verjüngung und Erneuerung +eines Kontinents, die Blume aller Allianzen. Alle andern sind unfruchtbare +Bündnisse dagegen, Geschwisterehen. Sagt mir nicht, daß es anders sei. Ich +weiß es besser. + +Ach! Grund genug, wenn es jetzt den Augen unaufhaltsam entströmte wie über +die grauen Furchen der Gotthardfelsen. Oh! und nichts von bayrischem +Gebirg! Was sich da drüben hinter Schleiern spiegelte, das war Paris am +lauen Septembertag, der eigenen Erfüllung hingegeben, und einem Himmel, der +keine andere Stadt so überhing wie sie. War sie nicht meine eigenste +Heimat? War sie nicht die unerreichbarste Geliebte? War sie nicht eine +Göttin? Oh mein beraubtes Herz! Jedes Bild, jede Erinnerung an sie zerriß +es neu. + + * * * * * + +Abends in Bern, wo inzwischen auch der Frühling gekommen, sozusagen +ausgebrochen ist, leidenschaftlich abgetrotzt wie etwas, das sich +keineswegs von selbst versteht wie im Süden. Ich liebe im Norden nur den +Sommer. + +4. MAI. Abigail stattete mir eine richtige Sympathievisite ab. Es fehlte +nur der Zylinder. Dieser neue Ziegelstein auf mein Dach dünkt ihm +entschieden de trop. »Erklären Sie mir nur,« sage, ich, »liegt denn eine +solche Ungerechtigkeit in eurem Interesse?« »Wir fragen heute nicht nach +Gerechtigkeit«, erwidert er. »Wir verlangen alles oder nichts, Sie bieten +uns die Hälfte, das ist zu wenig.« + +»Sie vergessen, daß ich Deutschland liebe.« + +»Es sind Gefühle, die wir zu wenig teilen, als daß sie uns interessieren +könnten«, erwiderte er steif. + +Wir sprachen dann von anderen Dingen. + +6. MAI. Besuch von Frau Karfunkel. Sie fragt mich, ob ich eine +Revolutionärin sei, und ich bin im Augenblick zu müde, es zu wissen. Das +Wort »gekrönte Republik« fällt mir ein, das kürzlich vor mir gefallen war. +Mochte es herhalten. »Eine gekrönte Republik«, sage ich und gähne. + +Daß Frau Karfunkel mich kaum kannte, hinderte sie nicht, mir jetzt eine +jener Szenen zu machen, die man wie ein Unwetter über sich ergehen läßt. +Die Worte wie krasse Ignoranz gehörten zu den mildesten, die sie mir +vorsetzte. Sollte ich ihr sagen, warum? ihr bekennen, in welchen Gedanken +sie mich unterbrochen hatte? ihr den Grund jener mangelhaften Kenntnis +eingestehen, die sie so richtig erraten hatte? + +Welchen Kriegsbericht hatte ich zu Ende gelesen? Von welcher Phase des +Krieges mir auch nur einigermaßen ein Bild gemacht? Über die erdrückende +Tatsache, daß er herrschte und kein Friede kommen konnte, sah ich nicht +hinaus. Für seinen Verlauf, seine Geschichte blieb mein Interesse ungefähr. + +Was wollte die Frau bei mir? + +Sie hatte mich aus der Arbeit gerissen, und ich war froh um die +Unterbrechung gewesen; so mühselig war die Pein, daß ihr Stigma sich den +Schläfen aufdrückt, und daß sie einsinken wie zermürbt. Oder gleicht eine +geistige Not der immerwährenden Welle vielleicht und die Schläfen dem +Stein, der von ihr zernagt und bearbeitet wird? Von den Dingen selbst ist +mein Verständnis so karg! Der Kommentar zu ihnen ist meine Sparte: ihn +stets von neuem, zergliederter, ausgreifender zu formulieren, ist der +Stachel, der mir keine Ruhe läßt, meine Einzelhaft mitten im Leben. Denn +über die Vielfältigkeit unserer Wege hin, sehe ich die Einfältigkeit der +Gefahr; die ewig selbe Fratze, die jeder edlen Bestrebung wie eine +verruchte Karikatur noch immer auf dem Fuße folgte. So schmal, schwankend +und immerzu gefährdet zieht unser Weg empor! Aber naiver als ein Soldat, +der mitten im Treffen nicht weiß, wo er steht, führte der Mensch bisher +seinen Kampf. Auch ihn trafen die Geschosse, ohne daß er sah, aus welchem +Hinterhalt sie stammten, und von der unheimlichen Geschäftigkeit, mit +welcher in den Niederungen sein Verderben betrieben wurde, merkte er nur +das Resultat. Unermüdlich und nahezu ungestört dürfen die Untermenschen, +von Herrschsucht besessen, in der Familie, dem Staat, der Gemeinde, der +Partei ihre zersetzende Arbeit verrichten. Aus Tausenden von Schlagwörtern +sind ihre Netze gewoben, der ganze ungeheure Nationalitätenschwindel hält +seit Jahrhunderten den Zusammenschluß der Vollwertigen auf. Notsignale zu +geben, bin ich hier. Unvernommen? Gleichviel! Ohnmächtig wie im Traum +hinauszurufen: Richtet Wälle auf! Seht euch vor! Achtet der Stufen! Schützt +eure Häuser! Mit unschuldiger Miene, ja mit dem Antlitz eines Engels +vielleicht, kauert das Unheil an euerm Herd. Oh Brüder, Freunde, nehmt es +nicht in eure Arme, wie ihr den Fuß nicht auf die sanft beschneite Stelle +setzt, ihr hättet sie zuvor geprüft. + +»Ich glaube,« schreibt René Schickele, »daß der Sozialismus kommen muß mit +einer großen, tiefen Flut von Licht, die alle Menschen durchdringt.« + +Und ich sehe, wie emsig die Schatten sich sammeln, welche danach dürsten, +dies Licht zu verschlingen. + +8. MAI. Abigail klopft wieder an meine Türe. Er trägt sein breitestes +Lächeln, reicht mir die Münchner Zeitungen und lacht noch stärker. Sie +enthalten meinen Protest in der Telramundschen Übertragung, wahrscheinlich +von ihm selbst eingesandt. + +»Und das sind die Leute, mit welchen Ihr Euch einlaßt«, brach ich aus. »Ihr +seid mir schöne Richter!« + +Doch Abigail war in einer nicht zu verderbenden Laune. »Einigen wir uns,« +sagte er, »mag er denn Telramund heißen, unter einer Bedingung, verlangen +Sie nicht, daß wir Sie Elsa nennen.« + +Die »Pressestimmen« ließ er mir zum Geschenk. Ich las u. a., daß ich »ein +hysterisches Weib von abgrundtiefer Gemeinheit sei«. + +9. MAI. Beim bayrischen Gesandten; er kannte mich von Kind auf. Er empfing +mich. Aber der Verwirrtere, der Trostbedürftigere schien durchaus er. Es +war bei ihm wie bei den Hähnen der modernen Waschtische, die gleichzeitig +heißes und kaltes Wasser ausströmen: zwei Sprachen wie zwei Denkungsarten +entflossen da immer zugleich: seine eigene und die anbefohlene. + +»Vous êtes déshonorée!« jammerte er. + +»So schlimm ist es nicht«, redete ich ihm zu. »Kommen Sie, lassen Sie Gras +wachsen über die Geschichte.« + +»Gras? Da wächst kein Gras. Je vous supplie ne rentrez pas en Allemagne; on +vous jettera dans les fers; je ne pourrai rien faire pour vous. Bleiben Sie +um Gottes willen da.« + +»Ich bleibe schon da.« + +»Ja, bleiben Sie da. Was wollen Sie in München? Es ist ja alles verpreußt. +Diese entsetzlichen Preußen haben uns ja alle aufgefressen. Ich bin der +letzte Bayer.« + +»Ich auch.« + +»Sie sind gar nichts. Vous êtes une criminelle. Ce n'est pas moi, qui vous +condamnerai, je suis votre ami. Vous êtes une criminelle«, unterbrach er +sich laut. »Oh, so viel Phantasie zu haben und so wenig Verstand! Sie sind +erledigt. Wir sind gefressen.« + +Damit entließ er mich. + +Daß dem alten Herrn der Krieg so über den Kopf wuchs, machte ihn mir nur +sympathisch. Es wäre jedoch hartherzig gewesen, ihn praktisch in Anspruch +zu nehmen. Ich hatte es gar nicht versucht. + +MITTE MAI. Gerade in diesen Tagen lud mich Frau v. Schreckenburg, ohne mich +zu kennen, zu sich ein. Engländerin von Geburt, trug sie dabei den +gefürchtetsten deutschen Namen. Ihr Mann, von dem die Franzosen sagten: +»Heureusement qu'il n'en a pas l'air«, und die Engländer: »He is worth a +better name«, stand an der Spitze der Gefangenenfürsorge. Durch seinen +unzeitgemäßen Mangel jeglichen Strebertums fiel er gänzlich aus dem Rahmen. +Still, unermüdlich und geschickt verrichtete er sein humanitäres Werk. + +Es nahte Felix Mottls Todestag. Ich wollte die Münchner erinnern, daß ich +es nicht von ihnen verdiente, unvernommen und mit Knüppeln vor das Stadttor +gewiesen zu werden, denn ich habe sie einmal vor einer großen Weltblamage +bewahrt. Einige Redakteure waren damals meinetwegen geflogen, und ich hatte +gesiegt. Waren solche Reminiszenzen angetan, den Herrn Chefredakteur zu +rühren? Er sandte mir meine Eingabe, obwohl durch Schreckenburg +übermittelt, mit dem Vermerk zurück, daß er sich für die Beiträge einer +Hochverräterin heute wie fernerhin bedanke. + +An jenem Abend ging ich lange die beiden Brücken auf und nieder. Die +Jungfrau hatte eine Schärpe übergeworfen. Ein kalter Wind trieb von den +Gletschern herüber. Ich ging und ging. Es war wieder bei Fortunio viel von +einem Zusammenschluß der Geistigen gesprochen worden, und wieder ließ +keiner das Ausschließen seine Sorge sein. Was aber ging aus dem ungeheuren +Trugwerk dieses Krieges hervor, wenn nicht der vollendete und riesenhafte +Triumph des Sklaven über den Freien, wenn nicht die immer drohendere +Forderung, uns selbst jenes letzte Gericht erstehen zu lassen, von dem +geschrieben steht, daß es auf immer die Scheidung zwischen den Menschen, +die guten Willens sind und den anderen bestimmen soll? Ja, nicht die große +Einigung, den großen Bruch gilt es zuerst zustande zu bringen: die +herrische und heilige Offensive der menschenwürdigen Menschen, gegen jene +»Untermenschen«, welche Villiers de l'lle Adam als erster mit so großem +Nachdruck kennzeichnete. Erst gilt es, jenen allzulange geduldeten +Elementen das Stimmrecht zu entreißen. Sahen wir nicht alle großen und +bahnbrechenden Ideen in Verwirrung ausarten, das Christentum selbst unter +die Räder geraten und eine Sache um so sicherer verderben, je edler sie +war, weil Unzulänglichkeit und Niedertracht das große Wort zu führen in der +Lage sind; Solange diese Gattung ihre Gleichberechtigung behält, hat die +Menschheit nichts zu hoffen. Sie wird wie ein Kranker sein, der sein Übel +zu betäuben sucht, indem er sich auf seinem Schmerzenslager dreht und +wendet, oder hochaufgerichtet nach Atem ringt, um doch nur eine +illusorische Erleichterung zu finden. Sie wird alle Regierungsformen, eine +nach der andern, erproben, und ob sie auch ihre Könige gegen Republiken +eintauscht -- es werden doch nur falsche Republiken sein, und auch die +Anarchie wird sich als nichts anderes herausstellen als einen Mißbrauch der +Macht. + +Und wie könnte die einzig wirkliche Freiheit entstehen, wenn nicht durch +die Knechtung desjenigen Pöbels, der allerorts alle Klassen, von den +höchsten bis zu den sogenannten niedrigsten verheert. Hierarchien aber sind +es ja gerade -- weniger rudimentär und kindisch nur als diejenigen, welche +man sich aufoktroyieren ließ -- Hierarchien aber sind es, die auf neuer und +gerechtfertigter Basis zu errichten sind: geben wir uns keinen Täuschungen +hin: die Klasse der Könige, der Fürsten und Herren, ja der ganze Troß der +kleinen Gentry sogar, er ist vorhanden (nur so anders!), und alle wahren +Adelsbriefe, die sich in unendlichen Fluktuationen aus der menschlichen +Würde ergeben, existieren auch. In allen Kreisen aber und durch alle Zeiten +hindurch wurde die wahre Elite gepeinigt, geopfert oder zur Ohnmacht +verdammt, weil urteilslose oder niedriggesinnte Elemente, die sich weder in +Gleichheit, noch in Brüderlichkeit zu ihr verhalten, dasselbe Stimmrecht +genießen. + +Man rede mir also nicht von Zusammenschlüssen, sondern vorerst von neuen +Gesetzbüchern und neuen Statuten. Auf einen treibenden Sumpf, einer Welt +wie sie ist, Ringmauern aufzurichten, daran glaube ich nicht. Wozu führte +der vielgehegte voto pietoso Deutschland und Frankreich zu einigen? Statt +der stolzesten aller Galleonen ein Wrack, beiden nahezu unnennbar geworden. +Dieses Wrack ist mein eigenster Boden, ich verlasse ihn nicht. Die paar +Einsichten aber, die mich sehr bestimmte Erfahrungen lehrten mit der +Persistenz des Marktschreiers zu verkünden, ist mein Beruf. + +Ich lehnte über der Brücke von Kirchenfeld. Hat die Nacht ihre eigene +Helle, daß sie uns die Dinge mit größerer Schärfe zeigt? Sie deckte jetzt +den Fluß, der unten den Bergen zurauschte. Von den Häusern in der Tiefe, so +eng geschart, fast ein Gerümpel, auf zartesten Säulenarkaden gehoben, und +wie edel! leuchteten jetzt munter die tagsüber so verschlossenen Fenster. +Wie wenig löste schließlich und endlich unsere zufällige Existenz von +unserem wirklichen Wesen aus! Vielleicht war sie nur eine Jahreszeit +unseres weitverästeten Seins. Wozu sich alterieren, redete ich mir zu, wozu +die Hast, wozu die Ungeduld? -- Es wurde zuletzt ein Spazieren mit der +Nacht, statt in die Nacht hinein, und ich war um eine größere Fassung, +etwas mehr Gleichgültigkeit für meine persönlichen Geschicke aus allen +Kräften bemüht. + + + + +Zweiter Teil. + + +Sie sah bezaubernd aus; ihre Achseln schienen der Ansatz zu Flügeln, und da +sie sozusagen zwischen zwei Fingern hochzuheben war, nannten wir sie mit +Fortunio das Zirkuspferdchen oder der Seidenaff. Wenn sie ernst zu sein +wünschte, waren wir grausam genug, sie auszulachen, doch nicht, um sie zu +verspotten, sondern weil ihr alles so gut stand. Ihr Gatte war San +Cividale, der Longobarde, wir hatten uns angefreundet, und es wurde ein +richtiger Anschluß. + +Von den Ärzten ins Bad geschickt, depeschierte mir der Seidenaff aus +Rheinfelden, und nie kam eine Einladung gerufener. Ich suchte einen Mieter +für meine Zimmer und hatte ihn schnell. Bern war mir verleidet, ich hatte +dort vieles zu vergessen, Geldsorgen besaß ich auch. Nur die +Mozartaufführungen, welche unter Richard Straußens Leitung bevorstanden, +wartete ich noch ab. Sein schöpferisches Erschöpfen eines Werkes ist +sicherlich ein neues und interessantes Moment in der Kunst des Dirigierens. +Einem Don Juan, der ein großer Erfolg war, folgte jedoch eine Zauberflöte, +welche einige Kritik hervorrief; mich entzückte letztere weit mehr, so +zwar, daß sie einem ersten Eindruck gleichkam. Strauß hatte eine Pamina +mitgebracht, welche gesanglich und darstellerisch und durch eine merkwürdig +schöne Erscheinung der Partie so wohl entsprach, daß Symbolik wie Illusion +des Fabelreiches durchweg bestanden, bis der Vorhang vor dieser besseren +und geordneteren Welt endgültig fiel. Was bedeuteten Regiestörungen (tags +darauf hieß es, sie sei einem Engländer zu danken, der sich zu diesem Zweck +als Maschinist für den Abend verdingte) vor dem unvergleichlich hohen +Niveau dieser Vorstellung? + +Am lautesten wurde am Schluß von jener Sorte Deutscher Beifall gespendet, +welche ihren schimpflichen Spitznamen so recht aus dem vollen verdienten. +Diese wandelnden Erreger des Deutschenhasses gingen mit dem deutlichen +Gepräge von Leuten einher, welche zwar rechneten und berechneten, aber +nicht mehr dachten, dafür seit einer Generation zuviel gegessen hatten. Sie +waren die Regisseure und Leugner des großen Kindersterbens, das jetzt in +ihrem Lande hinter den Kulissen um sich griff, und Scharen Deutscher, +würdig dieses Namens und liebenswert, gingen um jener Boches willen +zugrunde. Doppelt verrucht erschienen sie im Lichte der eben erfolgten +herrlichen Darbietung. Ich ersticke! sagte ich zu Fortunio, denn ein Knäuel +dieser wohlbestallten Patrioten schlenkerte vor uns über den Platz. Auch im +Dunkeln sah man ihnen an, daß sie jetzt schmausen gingen. + + * * * * * + + +Rheinfelden. + +21. JUNI. Mußte da dicht vor meinem Fenster hochgewölbt der Rhein +vorüberrauschen? Eine Brücke mit Schilderhäuschen in der Mitte legt schon +im Badischen an; freudlos, wie mit erblindeten Scheiben, sehen von dort die +Häuser herüber. + +Heiterer war der Park. Wir lagen in Korbstühlen und schwatzten. Doch +Erinnerungen kamen nicht zur Ruhe. Aufgescheuchten Vögeln gleich schwirrten +sie hierher und dorthin und kehrten zurück . . . Der Sommer war im Land. +Das Schlößchen der schönen Marguerite, das selbst mitten im Kriege +Zauberkreise zog, wartete unser, und die Schwalben nisteten längst im +flachen Strohhut, der in der Halle von der Decke hing. Jetzt standen auch +ihre Koffer gepackt; . . . es türmten sich wohlgefaltet ihre schönen +Kleider . . . Die Unrast der Verbannten trieb mich aus dem Park ins +Städtchen hinunter, wo von der viereckigen Plattform des Turmes aus die +Störche ins Blaue steuerten. Was gab es schöneres wie ihren Flug? Klein +erschien mir die Schweiz. Wie ein herrlicher, aber für mich nach allen +Seiten hin verbarrikadierter Garten. Ich ging den Weg zurück, der ganz +umwachsen unter Bäumen führt. Wer nicht wollte, brauchte weder Fluß noch +Land zu sehen. Im Hotel aber lag eine Depesche für mich. Ich floh entsetzt +auf mein Zimmer. Die Freundin war tot. Mochte das Schlößchen am Berg Tür +und Tor sperrangelweit offen halten und warten, solange es stand, ins Leere +starrte fortan sein breitschrötiges Türmchen. Sie zog die Straße nie mehr +herauf, kutschierte nie mehr aufmerksamen Auges ihr Wägelchen in den Wald. +Fort von Rheinfelden, dachte ich, nur fort! + +Es traf sich, daß die Kur nahezu beendet war. Wir fuhren nach Wengen. Der +Seidenaff durfte nicht steigen, ich kletterte drauflos. Hier waren alle +Höhen zur Hand. Hinter der kleinen Scheidegg setzten sie von neuem ein. In +weiten Senkungen kreiste ein Tal. Ich saß in einer Nische aus Fels und +Gras, die Füße hingen ins Leere. + +Plötzlich, wie auf einen geheimnisvollen Anruf, ein lauter Stoß, ein +Gegenruf des Herzens. Denn es hat ja Arme, ich sagte es schon, und Flügel, +schwerausgebreitete und leichte, es hat sein geheimnisvolles Dasein für +sich allein. Vom Tode weiß es so wenig wie wir, nur dies hat es erkundet: +daß, wenn er uns nicht austilgt, der Lebende dem Toten zu Anfang mehr sein +kann, als dieser ihm. Dann wäre unser Eingedenken der Halt vielleicht, an +dem er seine ersten Schritte geht, und unsere Trauer sein Gewand. + +Es war für die Verstorbene ein Gedenkbuch geplant, und ich hatte +versprochen, mich daran zu beteiligen. + +Mag es noch so mannigfache Welten geben, sicherlich gebietet über alle eine +einzige Natur, ein allmähliches Sprießen, eine Reife, von trüben Himmeln +die sie aufzuhalten scheinen nur gezeitigt. Vor allen Dingen aber jenes +letzte und sehr tragische Zurückbleiben des Erreichten hinter dem +Gewollten. Wie ein letzter Same, der sich wieder in die Erde senkt, um +einer nächsten Ernte zu gedeihen. + +Ich schrieb auf meinem hohen Sitz angesichts des kelchartigen Tales mit den +sanftanschwellenden Rändern. Die Sonne war gestiegen. Wie ein zieres Band +umschlang ein Pfad den ganzen Berg und lockte mich unwiderstehlich in die +Höhe. So kam ich zu einem kleinen Gasthaus und stapfte dann auf die Spitze +des »Männlichen« hinauf. Dort fing sich der Wind und wehte kreuz und quer; +dann aber stürzte ein Steig, schmal wie ein Strich, so pfeilartig hinab, +daß man, von einem Taumel erfaßt, zu rennen anfing und zu fliegen +verlangte. Von dem Tempo erfaßt, das von hier oben gesehen, die Jungfrau +entfaltete, die mit mächtiger Schulter die ganze Kette der Alpen mit sich +riß. Unglaublich schnell griffen jetzt die Schatten in dem verströmenden +Gold dieses Tages um sich; schon profilierte sich diese oder jene +Bergeskante zu einem grotesken, dort zu einem erhabenen Riesenhaupt, +schlafend, offenen Mundes zurückgeworfen, oder wie entseelt mit +beschneiten, eingesunkenen Schläfen zur Seite gekehrt, die Luft darüber wie +ein unendliches Gewölbe. + +Auch manche Felsenburg tat jetzt entbrannte Zacken auf; kurz, eine andere +Welt als die des Tages stand schon gerüstet. Plötzlich hielten mich +zwischen zwei scharf vorspringenden Felsen zahllose Schafe auf, die mächtig +wie ein Volk auf halber Höhe den Berg belagerten. Mit ihnen zog eine Anzahl +Widder, die innehielten, als sie mich kommen sahen, und mich aufmerksam, +wenn auch stolz, betrachteten. Nirgends ein Hirt zu sehen, als wären sie +die Führer. Ihre geschneckten Hörner abwartend mir zugekehrt, versperrten +sie den Weg. Um weiterzukommen, mußte ich halb quer hindurch, halb mit der +Herde laufen. Eine überwältigende Ruhe, ja ein Glück ging von ihr aus, daß +man, am liebsten auf vieren gestellt, eins mit ihr geworden wäre. + +Der Weg nahm gar kein Ende. Meine Schuhe gingen in Stücke. Meine Füße waren +zerschunden. Schwer hinkend erreichte ich endlich das schon a giorno +beleuchtete Wengen. Aus der Halle des Hotels trat der Seidenaff im +Tuchbrokat von silberigem Weiß, hoch mit Zobel verbrämt. Doch der Jugend +kommt alles zugute; kostbare Gewänder unterstreichen sie nur. Die leichte +Gestalt wird durch den schweren Staat gehoben, nicht gedrückt. Lang und +gewichtig hing die Perlenschnur herab. Das Haar war braun. Gerade seinem +weichen Schimmer schmeichelte die Härte des diamantenen Reifs. In +Treibhäusern wird heute die gefüllte, immer gefülltere Nelke gezogen. Mit +solchen gefüllten Nelkenaugen, gut und klug, doch fern dem Ziele, blickte +der Seidenaff. + +Tags darauf fuhren wir zu Tale, San Cividale, dem Longobarden entgegen. +Fortunios schrieben aus Beatenberg, wo ich mich denn herumtriebe, und fürs +erste blieb ich jetzt in Interlaken, um meinen Nachruf zu beenden. Da mir +keine Seele des Ortes bekannt war, verbrachte ich meine Tage ohne zu +sprechen, und schon lebte ich eingesponnen und wie unter Glas, als die +Lektüre eines Zeitungsartikels mich ganz aus der Stimmung riß. Es war ein +Aufruf von Andreas Latzko, der wesentlich aus Vorwürfen, und zwar sehr +berechtigten Vorwürfen an die Frauen bestand. Nun haben diese ja im Kriege +versagt und die härtesten Dinge zu hören verdient, doch nur ihnen selbst +kann es zustehen, sie zu äußern, dem Manne heute mit keinem Wort. Ihre +Unzulänglichkeiten sind sein Werk, von ihm gezüchtet und beabsichtigt, +selbst sein Überdruß an ihr war als Triumphgasse für seine Eitelkeit +gedacht, was er vollends ihre Ungleichheit nannte, war seine Politik. Wie +stark seine Krone zerzaust ist, ahnen beide noch nicht. Die »Penalty of the +war«, von der soviel die Rede ist, wird noch eine ganz andere sein, als man +im allgemeinen glaubt. Die Frau wird ihre Chance haben. Mag der Mann noch +auf Jahrhunderte das Überragende leisten, ihr Aufstieg wird sich +unaufhaltsam als eine Folgeerscheinung seines Bankrotts vollziehen. Bilder +schwebten mir vor . . . . war sie nicht schon im Begriff, mit jedem +Jahrgang schöner, individueller zu werden? Erhob sich ihre Gestalt nicht +freier, knabenhafter, mehr auf sich selbst gestellt, von Jahr zu Jahr? + +Schlimmstenfalls konnte ihr Regime zu keinem ärgeren Chaos führen, als das, +welches wir unter der ausschließlichen Führerschaft der Männer und ihrer +Gesetzbücher erleben. Oh diese Gesetzbücher! Sie forderten, daß man vom Tag +eines Krieges an nurmehr mit seinem Vater verwandt sei. + +In meiner Aufregung, meiner Bedrücktheit, lief ich in der Mittagshitze den +Brienzer See entlang, bis zur Erschöpfung. Und mit einem Male wurde mir das +Karthäuserschweigen viel zu viel; da zudem schwere Regentage einsetzten, +brach ich auf und fuhr nach Beatenberg. + + +Beatenberg. + +AUGUST. Ich wohnte eine halbe Stunde von Fortunios entfernt, und mein Hotel +stand zu Anfang der breiten Straße, die über tausend Meter hoch ganz eben +dahinläuft, den großen Rat der Gletscher stets im Angesicht. Wie zu einer +Riesenpolonäse aufgestellt, schienen sie, je nach der Beleuchtung, +zurückzutreten oder loszuschreiten bereit. Nur der Regen sprengte den Bund. +Dann verschwand jeder einzeln in seinem Zelt und wußte nichts mehr vom +andern. Wusch sich aber nachts der Himmel wieder rein, so hielt beim +Morgengrauen die Jungfrau entgeistert Cercle, als harre sie nur des +Zauberrufes, um der Sonne bei ihrem ersten Strahl ekstatisch +entgegenzutanzen. Leider kam auch hier die Arbeit nicht in Fluß; das sehr +geräuschvolle Haus bot keine Möglichkeit, sich abzusondern. Unmittelbar +daran grenzte der Wald und führte sogleich sehr steil ins Weglose hinab. +Und hier nun entdeckte ich eines Morgens, ganz hinter Tannen versteckt und +der Tiefe zugewandt, ein kleines, verlassenes Blockhaus. Ich rannte ins +Hotel zurück, forschte nach dem Schlüssel und erlangte ihn. So gehörte das +Chalet mir, da ich es beziehen durfte. Den Schlüssel ans Herz gedrückt, +eilte ich zurück. Im Raum des Erdgeschosses verbrachte ich nun meine Tage. +Die Läden blieben herabgelassen. Nur durch die Türe, die ins Freie führte, +drang das Licht; auch die Bäume hielten es auf. Nur Tannen, Wald und Moos +und keine Aussicht außer sie. Hier hatte man vor den ewigen Gletschern Ruh. +Und keinen Laut als den der Vögel. + +Oh Sommersmitte! Oh göttlicher Augenblick des Innehaltens, du ohne Zeitmaß, +ohne Intervall, mitten ins Jahr gesetzter Orgelpunkt! + +Groß aber blieb die Not der unterbrochenen Arbeit. + +Zwischen Tür und Fenster lief eine Ruhebank mit daraufgeschütteten Kissen +die Bretterwand entlang. Ich warf mich hin; ächzend. Es roch nach Tannen, +Blumen, des Morgens im Walde gepflückt, hingen schon ermattet im Glase. In +diese holde Schwüle tanzte ein geflammter Schmetterling herein. Mein +rechter Arm hing herab, ich war zu lässig, ihn zu heben. Vor Wonne fielen +mir die Augen zu. Hält die Einsamkeit der Gemeinschaft Letztes, die wir +Lebende ersehen? Was war geschehen? Verloren blickte ich auf. Der Falter? +War er als Bote hereingeflogen? -- Wer war gegangen? -- + +Flüchtig ist kein Wort. Und doch . . Von welcher Gegenwart und welch +durchdringendem Ton vibrierte nunmehr auf immer die Luft dieser Hütte? War +sie, deren Bild ich festzuhalten suchte, ein Elf? Denn der Griff einer Hand +von elfenhafter Feinheit hatte deutlich die meinige erfaßt. In +unbeschreiblicher Rührung hob ich den Arm, sprang auf, saß wieder vor dem +Tisch, das Gesicht in den Händen vergraben, und fuhr nun endlich wie in +einen Schacht tief in meine Arbeit ein. + +Da fiel ein Schatten -- jemand trat unter die Türe. Es war Fortunio. Ich +stieß einen Schrei aus, als sei er ein Gespenst, und fühlte Nervenstränge, +deren Vorhandensein mir jetzt erst zum Bewußtsein kamen, zerreißen. »Wissen +Sie, wie spät es ist?« lachte er. Seltsam. Sogar seine Stimme erfüllte den +Raum mit Schrecken. Das Ganze war zu arg, es zu erörtern. So machte ich +mich denn bereit, das Chalet zu verlassen, warf aber, die Türe +abschließend, noch einen Blick zur Ruhebank zurück, zum Tisch mit den +Blumen im Glase, zu diesen Wänden, in welchen ich eins geworden war mit der +Luft und der Seele dieses Tages. + +Was war noch immer kurzatmiger als wie mein Flug? Nicht von Schwingen +durfte da die Rede sein, die ausgebreitet und aus eigener Kraft die Höhen +beherrschen und sie behalten. Eher einer Rakete vergleichbar, die, wenn das +Glück es will, emporschnellt und höher! höher! ruft, weil sie doch gleich +verstiebt. Da ist es Pech natürlich, wenn man sie herunterholt. + +Wir gingen nun zum Hotel hinauf und setzten uns auf die Veranda. In der +Tat, der Abend war sehr vorgeschritten. Beschaulich hing Fortunio an der +Gegend. Die eben noch umglühten Gletscher traten jetzt, als sei die Sonne +auf immer von ihnen geschieden, von Blässe wie erschöpft, zurück. Welch ein +Tag! -- Und schon faßte mich Grauen bei dem Gedanken, ihn einsam +beschließen zu müssen oder ins Chalet zurückzugehen. Stand es noch? War's +nicht versunken? Oder nur erträumt? So zog ich denn mit Fortunio die lange +Bergstraße zurück. Endlos dehnte sich hier der Ort. Ganze Strecken zeigte +sich kein Haus. Und siehe, schon herrschte der Mond. In seiner ganzen Fülle +und unerschöpflich überfließend, umschlang er streitsüchtig jeden Schatten +und brachte seine Schwärze ans Licht, kroch unter jeden Baum, durchquillte +alle Wälder und stieg und stieg in immer geharnischterem Glanz, bis eine +trunkene Erde, von ihm umsponnen und ganz mit ihm vermählt, mit allen +Pulsen zum Himmel schlug. Voll Entzücken hatte sich die Jungfrau +aufgerichtet -- Mönch und Eiger an der Hand, loszutanzen bereit. + + * * * * * + +Tags darauf fuhren San Cividale, der Longobarde und der Seidenaff die +steile Höhe herauf. Von weitem schwang sie als Erkennungszeichen ihren +Schirm rundum. Jungfer und Kofferbestände hatte sie unten gelassen und trug +eine äußerst gerissene Sportjacke, in der ihre Figur zu zergehen schien, +und eine zwischen mausgrau und mauve spielende Hemdbluse aus japanischer +Seide, deren perfide kleine Männerkrawatte das ultrafeminine ihres +Gesichtes zu letzter Wirkung erhob. Die gefüllten Nelkenaugen, die das +alles sehr wohl wußten, blickten unbeteiligt flüchtig und beschattet. Es +war nur ein kurzer Besuch. Das Bähnchen trug sie bald wieder davon. Und mit +einem Male waren mir diese ewig hingerissenen Gletscher, die nie +marschierten, verleidet. Herrlich in der Tat war auch der Mantel der +Vorberge, der in so tiefen Falten über sie hinschlug, und herrlich war's, +wie er -- von oben gesehen -- den See nachschleifte, gleich einem +köstlichen Saum. Beseelter aber blickte dennoch das Gebirge am Säntis, Jura +oder Engadin, als in dem gewaltigen und dekorativen, aber fast überall +stark abgekehrten Oberland. Ich sehnte mich nach mehr brüderlichen Weiten, +und sehr plötzlich, ohne das Chalet wieder betreten zu haben, fuhr ich +hinab. In Spiez schrieb ich meinen Nachruf ins reine. + + +Marguerite Kühlmann. + +An den Kreis ihrer engsten Freunde wende ich mich, sie, die zu ihr standen +wie die Strahlen der Sternblume, deren Name sie trug; denn so hingen sie +ihr an, und so faßt sie nunmehr die gemeinsame Klage zusammen. Wie +beneidenswert sind sie gewesen! -- + +Nicht, als seien sie sich dessen zu spät bewußt. Hier trifft sie kein +Vorwurf. Vielmehr hegten sie ihr Wissen um das Werden dieser bedeutsamen +und seltenen Gestalt, die von ihrem schönen und guten Wesen so viel weniger +genießen durfte, als der gleichsam von ihr ausgestrahlte Kreis, dem sie es +zuwandte. Denn wieviel Sonne war in ihr verwoben, und wie beschattet ging +sie doch! Unter der rhythmischen und unzerstörbaren Ruhe ihrer Bewegungen +welch unaufhaltsames Vorwärtsschreiten! Wer hat sie je hastig gesehen? Und +doch welch ahnungsvolle Eile, sich zu erfüllen! + +Geistigen Dingen zugewandte Menschen finden sich gewiß nicht selten; der +Maler und Musiker, auch der Liebhaber der Künste sind viele. Aber wie +wenige gibt es, die auf das Schöne selbst Anziehungskraft besitzen, so daß +es wie auf mystischen Ruderschlägen ihrer Atmosphäre zugeführt, immer mehr +Natur und Element bei ihnen wird, und tatsächlich eine Art von +Wechselwirkung sich ergibt. + +So aber war das Schöne -- wie ein Meister an seinem Marmor -- bei ihr am +Werk. So umhing es ihre Erscheinung, so meißelte es an ihren Zügen und hob +sie zu letzter Vollkommenheit der Linien und des Ausdrucks. Unsere Herzen +sind wund von der Erinnerung ihrer Hände, so schwebend, einsam und +gesammelt, verklungen, auch sie mit der weiten Melodie ihres Seins. + +Den wahren Hintergrund zu ihrem Bilde aber stellt einzig jene offene und +merkwürdige Gegend, in der sie sich so heimisch fühlte, weil sie ihr glich. +Dort, wo ihr kleiner Landsitz hart an der dunkeln Bergwand lehnte, von +Mauern lang umfriedet, vor dem Tor die hohe Linde schon den Bergfluß +überhing, und sein Gestein, und schon wie vor den Almen leere Bergwiesen +ansteigen, auf welchen die Kühe bis hin zu den nahen Wäldern weiden; und +diese sind wenig begangen, schwer verträumt und düster fast, weil hier +sogleich das Hochgebirge seinen feierlichen Zug beginnt. + +Doch öffnete man das Tor zum Hause, ach! Wie rauschte es da von den +kunstvollen Brunnen und den Fontänen, in welcher Fülle zogen sich die +Blumenreihen hochaufgerichtet durch den Garten hin! Und die Ebene ist's, +nach welcher dieser steile Garten niederfällt, und schaut: auf halber Höhe, +wie zur Freude hingemalt, der Kirchturm von Murnau, links die ersten Berge, +ansehnlich, aber noch vereinzelt, sanft umrissene Präludien des Gebirges. +Nach Osten aber, wo sich anstatt der Mauer die lange Wandelbahn und +hölzerne Gartenzimmer nachsommerlich hindehnen, wölbt sich als Abschluß der +finstere Berg. + +Hier waltete sie im lichten Kleide inmitten ihrer Blumen, wenn in der Ferne +ein goldener Sonnenstaub den Tag begrub, oder sie sah wartend nach dem +Mond, der so plötzlich hinter dem schwarzen Grat aufging und dann sogleich +alle Grotten und Beete übergoß, und nur die finstere Bergwand noch +finsterer beließ. Und auf erhöhtem Stande der Apfelbaum, wie sie ihn +zeichnete, mit den Windlaternen bunt über dem Tische wehend! + +Hier fühlte sie sich heimisch, hier drang das Lachen ihrer Kinder immer bis +zu ihr, und die Schwalben zogen durch die Fenster unermüdlich ein und aus. +Und drinnen der Tisch vor den breiten Scheiben, ach Freunde: vor dem sie +saß -- niemals müßig --, lesend oder malend, oder eine jener kunstvollen +Arbeiten zur Hand, mit welchen dieses Haus geschmückt ist, dessen Bau, +dessen edle Räume wie für sie erdacht, durch ihre eigene Anmut etwas so +Zauberhaftes wurden, daß sie durch ihren Tod für uns verschüttet liegen. +Die Türen, ach, durch die sie trat. + +Doch jenseits der Vorberge, in einer versteinerten Welt, ganz klein und auf +unwahrscheinlicher Höhe steht die Jagdhütte, an deren winzigen Fenstern sie +die rot- und weißgewürfelten Gardinchen hing; sie liebte das Frohe. Ganz +dem Schauen hingegeben, lief sie dort die Kanten der Berge entlang, denn +das einzig Verweilende an ihr, von allem Persönlichen unmittelbar +Losgelöste war ihr Auge. Bald lockten sie die Höhen, bald die Weite und das +Moor, oder sie stellte dort ihren Malstuhl auf, wo der kleine, von der +Abendsonne warm getönte Fluß so rasch den gemiedenen und immer trauernden +Hügel umfließt. + +Diese reichhaltige Landschaft, die sich wie ein Fächer dem Auge entfaltet +und verschließt, glich ihr so ganz, daß für uns, die sie dort sahen, ihr +Bild wie eingetragen bleibt in diese Gegend. + +Nicht auf Festen schwebt es uns vor, deren Glanz das sanfte Feuer ihrer +Schönheit so sehr erhöhte, und nicht in großen Städten, weder in Paris, +dessen geistiges und künstlerisches Leben ihr so nahe ging, noch in London, +wo sie gefeiert und bewundert wurde. Denn in ihr hatte Deutschland eine so +liebenswürdige und seltene Vertreterin gefunden, daß die Sympathien, welche +sie sich erwarb, durch die Ereignisse nur verstummten, aber nicht verloren +gingen. Denn weit über die Gräben hin, welche die Nationen voneinander +trennten, klang ein Echo der Trauer über die Kunde ihres Todes herüber. + +Es mag ja sein, daß ihre großen Erfolge im Ausland ihr um so neidloser +zugestanden wurden, als man sah, welch flüchtigen Gast sie krönten. Denn +ehe man sich's versah, lagen ihre viel bewunderten Kleider in Kisten +wohlverpackt, und sie selbst stand am Perron, Sehnsucht im Auge, um nach +ihrem geliebten Ohlstadt zurückzufahren. Sie erzählte noch im letzten +Sommer ihres Lebens, sie habe mit Freudentränen um sich her geschaut, als +sie den »Raunerhof« zum ersten Male und zugleich als ihr Eigentum +besichtigte. + +So nah berührte sie der Ort. + +Es waren pantheistische Anklänge in ihr, die man nicht überhören durfte, um +sie zu kennen. + +Denn so edler Natur war die zu weite Spannung ihres Wesens, die eine Lücke +ließ zwischen dem Leben und ihr. Ein suchendes, verlorenes Etwas fand hier +seine Brandung, und was Wunder, daß sich ihr Blick, allen Sicherungen zum +Trotz, so häufig aus dem Alltag, wie aus einem zu engen Hause stahl. + +Und kannte ihn doch kaum. + +Seine immer neu sich bereitende Unsicherheit, böse und gefährlich wie die +Gärungen der Gletscher, seine Verweigerungen, seine Öde erfuhr sie nicht. +Ja, sie blieb von einer zu deutlichen Kenntnis dieser Welt bewahrt; ob sie +es merkte oder nicht, ihr Kontakt mit ihr war immer umgeschaltet, ja sie +war geschützt. Aber wir wissen heute, warum die so innig Umringte dennoch +einsam und beschattet ging, als sei alles vergebens; was dies heimliche, +innere Versagen und ihre unrobuste Art bedeutete. Denn wir wissen nicht, +was sich in denjenigen bereitet, die inmitten ihrer Jugend von den Höhen +des Lebens weg, einzeln und jäh zu den Toren des Todes hintreten und in +seine Verlassenheit gehen. Keine letzte Verklärung, kein noch so sanftes +Verlöschen nimmt einem solchen Los etwas von seiner Schwere. + +Ach die besten Freundesherzen sind noch zu träge! Allzu leichten Sinnes +nahmen wir das schöne Geschenk ihrer Gegenwart hin und bedachten die +deutlichen Merkmale eines frühen Scheidens an ihr nicht. -- + +Wer hat nicht jene Flugzeuge gesehen, die als dünner Korb, nur durch Taue +einem Riesenball verbunden, ganz ohne Geknatter vorüberschweben? Ein +Windhauch streift die von ihm Getragenen. Je höher sie sich steigen sehen, +desto langsamer dünkt ihnen sein Flug. Da zieht vielleicht eine Wolke +vorüber, von einer schwarzen Kugel pfeilschnell durchzuckt und alsbald +überflogen, die nichts anderes war, als der Schatten des Balles, der +unbewegt und still wie eine Ampel in der Luft zu hängen schien. + +Dies aber war bei stillem und oft schwer verträumtem Wesen das Tempo ihres +inneren Werdens; mit so verzehrender Eile durchmaß sie ihre Bahn, und nur +wer ganz zuletzt in ihrem Umkreis lebte, vermöchte auch das Letzte über sie +zu sagen. Denn immer merkwürdiger und geschlossener wurde die Harmonie +dieser, vom Dianenhaften so getragenen Gestalt. Nur tragischen Naturen aber +ist es gegeben, sich zu erfüllen. Die Norm ringt sich vom Fragmentarischen +nicht los. + +Oh Marguerite! Daß meine Worte sich aufrichten dürften wie Säulen, und daß +sie sich zusammenschlössen dir eine Stätte zu bilden des Innehaltens und +der Rast, wo du -- staunend vielleicht, doch ohne Gram -- zurückblicktest +auf dein Leben; oh daß es zwischen seinen Ufern an dir vorüberzöge und dein +sinnendes Auge so darauf verweilte, wie einst in deinem Garten auf das +Getürme der Wolken im verglühenden Tag. + + * * * * * + +SEPTEMBER. Meine Zimmer waren zum Glück bis in den Oktober hinein +vermietet, und ich trieb mich bald hier, bald dort herum, bald in Zürich, +bald in Luzern, in Montreux oder Genf, nur nicht in Bern. + +Die Ära Kühlmann war ein Grund mehr, es zu meiden. Man erinnerte sich +prompt, daß ich in London in seinem Hause verkehrt hatte, und meine +Stellung gestaltete sich noch um ein Stückchen schiefer. Ich hatte jetzt zu +schreiben wie ein Minister, und es regnete Briefe. Sie betrafen zumeist +Todesurteile, Deportationen, versprengte französische oder belgische +Kinder. Dabei hielten jetzt die Zensuren meine Korrespondenz scharf im +Auge; die harmloseste Post aus Deutschland erreichte mich erst in vier, +Expreßbriefe erst in sechs Wochen. Um an Kühlmann zu schreiben, mußte ich +schon seinetwegen den Umweg über die Gesandtschaft wählen. Meist wandte ich +mich an Schreckenburg oder an den Grafen Carry. Zu Anfang ging's. Zwei +junge Belgierinnen hatten ihren eigenen Landsleuten Warnungen zukommen +lassen; dafür sollte die eine erschossen werden. Kühlmann erreichte +ziemlich rasch eine Rückgängigmachung des Urteils. Auch eine kranke Dame +aus Cambrai brachte er noch über die Grenze. Als ich aber wegen der Familie +des Professors von L.-P. bestürmt wurde, die Frau und fünf Kinder, (der +älteste Sohn im deportationsfähigen Alter[1]), in die Schweiz zu retten, +schickte mir Kühlmann ohne Kommentar den Zettel, auf welchem die hohe +Militärbehörde eine Bewilligung seines Gesuches kurz und bündig +verweigerte. Auch ohne dies -- acht Tage nach seiner Ernennung -- wußte ich +ihn verloren. + +[Fußnote 1: Als ich das erstemal in der Schweiz war, gab mir Aramis ein +Dossier über die Deportationen, von deren Einzelheiten ich noch keine +Ahnung hatte. Wer die französische Familie kennt, und weiß, wie sehr sie +ihre Töchter hegt und hütet, der sah hier wahre Abgründe des Hasses und der +Rachgier bereiten. Ich fuhr damals von Bern direkt nach Berlin, kannte aber +von den Ministern jener Tage nur Solf, und auch diesen nur ganz flüchtig. +Ihn bat ich in einem aufgeregten Brief um eine sofortige Unterredung. Er +war gerade an einer Angina erkrankt und empfing mich zu Bett mit einem +hochroten Gesicht, Eisbeutel auf dem Kopf. Am Fenster, mit dem Rücken gegen +das Licht, stand ein Oberst. Ich kramte nun die Notizen hervor, die ich vor +der Grenzüberschreitung in den Bodensee geworfen, und zwischen Lindau und +Kempten wieder ins reine geschrieben hatte; der Oberst sprach die +Befürchtung aus, daß sie der Wahrheit nur allzusehr entsprachen. + +Mit Hilfe dieses militärischen Freundes setzte Solf, obwohl gerade damals +grimmig von den Alldeutschen angefeindet eine enquete durch. Und schon +glaubte ich die Partie gewonnen und das Handwerk der Herren Ludendorff und +Konsorten gelegt. Denn wirklich konnten Tausende von Frauen damals nach +Hause zurück, und in ihrer ärgsten Form wurde die Methode eingedämmt. Aber +das Hauptquartier war noch Trumpf. Meine Darstellungen, so hieß es, seien +nicht nur die hellste Übertreibung gewesen, oh nein! sondern die +deportierten Töchter wären sehr erfreut, sich dem öden Einerlei ihres +untätigen Lebens entzogen zu sehen; man gewann richtig den Eindruck, als +müßte es für ein junges Mädchen von guter Familie geradezu eine Lust sein, +deportiert zu werden, und nur eine Bagatelle für die Eltern, ihre Kinder -- +manches Mal auf Nimmerwiedersehen -- aus ihrem Hause gerissen zu sehen, +ohne die Möglichkeit von ihnen zu hören und ohne zu wissen, wohin man sie +führte. Soll die Axt nie begraben werden? -- Eine Versöhnung der beiden +Nationen ist eine so große Notwendigkeit, daß schon aus praktischen Gründen +nicht immer einseitig nur über das erlittene Unrecht Buch geführt werden +sollte. Und es ist für die Deutschen die große Gelegenheit gekommen! Heute, +wo der französische Militarismus seine Stunde begeht, haben sie nur ein +Mittel, Frankreich von seiner Rachepolitik abzubringen, indem sie -- statt +wiederum von Rache zu reden -- es zu fühlen geben, daß sie beklagen, es zu +dieser Rachepolitik so schwer gereizt zu haben.] + +Ich muß hier bis in den Londoner Sommer 1913 zurückgreifen, und zwar bis zu +dem Abend meiner Abreise nach Irland. Kühlmann war damals jener Pläne stolz +und froh, welche ein Jahr später in der von ihm inspirierten Broschüre +»Weltpolitik ohne Krieg« ihren Ausdruck fanden. Ich erinnere mich jenes +Besuches noch sehr genau; die Teemaschine sang, wir besahen einige Bilder, +und dann fuhr mein Zug, der um Mitternacht die Küste erreichte. Alle +Kabinen des Schiffes jedoch waren besetzt, und ich hatte vergessen, eine zu +reservieren. So blieb nur der große Schiffsalon, wo ein freundlicher +Steward mir in den tiefen Ecken des die Wände entlanglaufenden Sofas ein +herrliches Lager bereitete. Der Länge nach ausgestreckt, hatte ich auf +diese Weise eine Riesenkabine für mich allein und konnte mich vor Freude +gar nicht beruhigen. In meine lange Lederschaukel tief hineingebettet wie +in eine Muschel, hoch hinauf und hinunter schwingend mit dem nächtlichen, +heftig bewegten irischen Meer als Wiege. Wie sang, wie rauschte es mich zur +Ruh! Wie segnete ich den Steward und meine eigene Vergeßlichkeit. Hin und +wieder waren mir die Götter doch hold. + +Doch weh, ach wie schlug ihre Gunst in die grausamste Ungnade um! Oh des +zerrissenen Schiffes, das schon aufgehört hatte zu sein! In ein +Rettungsboot gestoßen, auf eine Planke geworfen und nichts anderes als den +Tod von den eben so gepriesenen Wellen zu gewärtigen, wühlten sie sich zu +Felsen auf, hart und unbarmherzig mich zu begraben. Vor mir ruderte +Kühlmann wie besinnungslos, und seine Anstrengungen angesichts eines +solchen Orkanes dünkten mir lächerlich. Aber ich ruderte ja selbst +mechanisch aufs Geratewohl, und dann stürzten die schwarzen Berge über das +Boot. + +Wieder rauschte das Meer im eintönigen Sang, über mir war schon erkennbar +in der ergrauten Nacht die Decke des Schiffes, und ich lag wie zuvor in der +ledernen Muschel gewiegt. Aber für kein anderes Lied als für das finstere +Echo meines Traums hatte ich ein Ohr. Alle Freude war tot. Ich warf die +Decken fort und saß zusammengekauert, schlaflos, verwüstet, uralt. + +Durch den Krieg glaubte ich meinen Traum erfüllt. Die Ernennung Kühlmanns +hatte mich zuerst gefreut. Er hatte von Jugend auf mit allen Kräften dem +Krieg entgegengearbeitet, und ich hoffte, es würde ihm gelingen, sein Ende +herbeizuführen. + +Aber er waltete noch keine acht Tage seines Amtes -- ich war in Wengen und +lag in der Sonne -- als im Halbschlaf das Bild eines hohen Gerüstes sich +aufdrängte, ähnlich dem Eiffelturm, und auf der Spitze Kühlmann, aber schon +im Begriffe kopfüber abzustürzen, so zwar, daß er sich in der Luft zu drei +Malen überschlug. + + * * * * * + +Am Tage nach seinem »Niemals« kam Abigail mit einer stoßbereiten Miene, wie +ein Widder zu mir. Zur Annahme einer schroffen Haltung Kühlmanns war ich +jedoch um so weniger berechtigt, als mein frühestes Buch Aufsätze, welche +auf seinen Rat den französischen Titel »L'âme aux deux patries« führten, +die Behauptung aufrechthielt (denn mit der Feder war ich von jeher sehr +dreist), die Annektion Elsaß-Lothringens sei ein Fehler, den Bismarck, wenn +er noch lebte, kein zweites Mal begehen würde: er hätte ein anderes +Äquivalent dafür ersonnen. Dies Büchlein, das im übrigen ganz unter den +Tisch fiel, fand nur durch ihn eine so kräftige Verbreitung, daß sich der +Verdacht regte, er sei dessen Verfasser. + +Auch zu jener Unterredung mit Zimmermann im Januar 1917, die einzig der +Notwendigkeit einer Diskussion des elsaß-lothringischen Problems galt, +hatte er mir verholfen, und im Nebenzimmer eine Unterhaltung geführt, damit +wir ungestört blieben. Auch waren mir die Worte erinnerlich, welche er im +Jahre 1915 diesbezüglich fallen ließ, zu einer Zeit, wo die Aussichten für +Deutschland noch günstig erschienen. Sein »Niemals«, konnte ich daher nur +als einen Brocken ansehen, den man Kläffern vorwirft, um sie von sich +abzuhalten und weitergehen zu können: ein nach innen und in die Kulissen, +nicht nach außen gerichtetes Wort. + +OKTOBER. Statt der drei kleinen hatte ich jetzt ein einziges großes, fast +saalartiges Zimmer nach Norden, auf die Lauben hinaus. Schmuck, ja zierlich +stand hier der Flügel im Raum. Die Wände hatten lichte Täfelungen, und der +indische Schal mit dem weißen Feld fiel von der Decke bis zum Boden und +schien eine Türe. Der Toilettentisch blitzte im Schatten auf: sein +Hauptschmuck waren jetzt zwei silberne Renaissanceleuchter, vom Seidenaffen +beschert. + +Über das Zimmer selbst ist weiter nichts zu bemerken, als daß eine Reihe +von Unterredungen dort stattfanden, die alle zu nichts führten. Ein Wort +über meine politische Wirksamkeit. Wir wollen sie so nennen. Eine ganze +Weile brachte ich gewiß alle Spionagen und Gegenspionagen zur Verzweiflung. +Scheinbar für eine jede ein kinderleichter Fang, war das Verwirrende gewiß, +daß ich gleichzeitig in Diensten _sämtlicher_ Regierungen zu stehen den +Anschein haben mußte. Wenn jemand keine Parteien kannte, so war ich es. +Außer Japan, China, Rußland und Marokko durften nur noch Schweden, Norwegen +und Dänemark sich rühmen, daß keiner ihrer Staatsangehörigen bei mir +gewesen sei. Mein Zimmer war so recht die Halle der vergeblichen +Zusammenkünfte, und wenn ich auch keine einzige vom Zaune brach, schob ich +doch auch keiner einzigen den Riegel vor, selbst als mir kein Zweifel über +ihre Vergeblichkeiten blieb. Der »Friede«, ein Wort, das mich im Schlaf +elektrisierte, war wie das große Los oder wie das Leben eines aufgegebenen +Kranken immer eine Möglichkeit. Und ob ich auch anfing, dem Kopfschütteln +Fortunios beizustimmen, stürzte ich doch, wie Kundry im ersten Akt, bei +jeder Veranlassung nach dem Heilkraut davon, das keine Linderung mehr +bringen konnte. So setzte ich mich in Bewegung, so braute ich mit +Todesverachtung meine Tees, ob mich auch schon ein wahres Grauen vor all +den Nieten faßte, die sich zu Bergen vor meinem Tische häuften . . . Den +dümmsten und ungeschicktesten Leuten schenkte ich dennoch Gehör. Vielleicht +war gerade dieser Narr der reine Tor, vielleicht hatte ich doch recht. + +Meine Verständnislosigkeit für Natur und Beschaffenheit dieses Krieges ging +ja so weit, daß ich vom ersten Tage seines Bestehens an von Monat zu Monat +überzeugt war, länger als sechs Wochen könne er nicht mehr dauern. Immer +schien mir alles sein nahes Ende zu künden. Als zum ersten Male von +zahlreichen Gefangenen die Rede war, dachte ich: jetzt ist bald Schluß. Als +Ruhleben entstand, dachte ich: jetzt wird man verhandeln. Wer ließe seine +eigenen Leute so im Stich? Obwohl ich, was die Schlechtigkeit des einzelnen +anging, einen so radikalen Standpunkt vertrat und immer darauf aufmerksam +machte, daß die Larven triumphierten und der Edle geopfert würde, ja, daß +es stets ein besonderer Glücksfall sei, wenn er nicht unterliege, so hatte +ich den so naheliegenden Schluß von der Familie zum Staat (und was ist sie +anders, wenn nicht die Welt und Geschichte im kleinen?) merkwürdigerweise +noch immer nicht gemacht. Immer noch wähnend, es ginge um den Frieden, da +es ja gar nicht ihn, sondern Sieg und Niederlage galt, glaubte ich, durch +meine Absicht und durch meine Gesinnung alle endlich zu überzeugen und für +mich zu gewinnen, bis ich mit Entsetzen merkte, daß gerade meine Naivität +Bedenken erweckte. Wie hätte auch Aramis, da es mir keineswegs an +Menschenkenntnis gebrach, eine so große Weltunkenntnis bei mir vermutet? +Und daß ich unter Kapitalismus immer noch einige Bankiers verstand? +Vielmehr war es natürlich, daß eine Gesellschaft, welche den Krieg als eine +Institution begriff, an meiner Friedensmanie Ärgernis nahm. Ich hielt mich +für besser als sie, während ich vor allen Dingen unwissender war. Und diese +Unwissenheit stellte zu meiner Soloarie den verdrießlichen Baß. + +Dennoch war, als mir endlich ein Licht über die Welt und zugleich über mich +selbst aufging, die erste Folge die Furcht. Ging ich spät die Lauben +entlang, so faßte mich Schrecken, wenn nur die Umrisse eines Mannes oder +nur sein Schatten hinter einer Säule sichtbar wurde. Da war ja eines jener +unerklärlichen und gefährlichen Wesen, die es so eingerichtet hatten, daß +ihresgleichen heute vielfach auf einem Beine durch die Lande hopsten. + +Meine Tätigkeit, die sich vor jeder Offensive verdoppelt hatte, war nur +mehr mechanisch. Die letzte Zusammenkunft, die sich in meinem Zimmer begab, +fand mit Professor H. statt. Er berief sich auf wichtige Eröffnungen auf +Grund amerikanischer Aufträge, die er zu machen habe. Es erfolgte noch +einmal ein Depeschenwechsel mit den Restbeständen dessen, was man noch +deutsche Regierung nannte, und was längst unter den Hufen der +Militärkavalla zertreten lag. + + * * * * * + +In diesem über alle Maßen traurigen Winter strich ich eines Abends müde +durch die Lauben, als Abigail an mir vorüberschoß. Busoni spielt heute +Abend! rief er mir zu. Nun lief auch ich und kam noch gerade recht, bevor +er eine Orchesterfantasie von Weber zu spielen anfing. Und siehe da, man +lebte, war seiner Ketten ledig und richtete sich auf. + +Von nun an befaßte ich mich stark mit seinen Kompositionen und fuhr nach +Zürich, wenn dort ein neues Werk von ihm zur Aufführung gelangte. Eine +bequeme Gabe ist es ja nicht, den Wert eines überragenden Typs zu erkennen; +sie legt Verpflichtungen auf; es ist nicht, als ginge sein Wohl und Wehe +uns nichts an. + +Verdrießlich genug ist es ja vielfach mit seiner Anhängerschaft bestellt. +Wie an den Reichen die Profiteure, so drängen sich an den Schaffenden die +Parasiten des Geistes heran. Und vielleicht, wer weiß, ist ihm in mancher +Feierstunde, die ohne Anregung verlief, der Chor seiner Widersacher minder +fatal wie der seiner Anbeter. + +Von dem Unmut des alten und stark zensurierten Wagner, von einem +verzweifelten Versuch sogar, den, öden Sockel auszureißen, auf dem er sich +wie ein Götze gestellt sah, drang nur durch Zufall etwas in die Außenwelt. +Während seine Umgebung den ungeheuren Überdruß der nachwagnerischen Ära +bereiten half, ließ er selbst seine Werke weit und ungeduldig hinter sich +zurück. Lange ehe seinem Lohengrin die grausige Popularität beschieden war, +hatte er »mit Ekel in die Partitur gestarrt«[2]. Später eilte er schnell +mit dem Nachtzug davon, wenn eine Stadt, die er bereiste, ihm zu Ehren eine +seiner Opern ansetzte. Er hatte den schönen und naiven, wenn auch natürlich +vergeblichen Wunsch geäußert, seinen »Ring« ein einziges Mal auf einer +eigens errichteten Bühne in höchster Vollendung zur Aufführung zu bringen, +um sodann Bretter und Partitur auf immer zusammenzuschlagen[3]. + +Wer ein einziges Mal Friedrichs, den unvergleichlichen Darsteller des +Alberich, während seiner kurzen Laufbahn vernommen hat, der vergißt nie die +unheimliche Wirkung seines plötzlichen Vortretens, als er, hart vor der +Rampe, mit seinem dunklen und prachtvollen Organ den Fluchgesang erhob. +Sich selbst, die ganze Welt fühlte man da bedroht, und wer die Alberiche, +wer die Nibelungen sind, und welche Bewandtnis es hienieden mit ihnen hat, +wurde einem in unmißverständlichster Weise gelehrt. + +[Fußnote 2: Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.] + +[Fußnote 3: Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.] + +Was aber kann so nichtssagend gemacht werden wie das Bedeutsame? + +Gerade von groß angelegter Musik gilt das Wort: »La musique doit toujours +nous surprendre.« Laßt Dezennien des Schweigens und der Vergessenheit den +»Ring« begraben, damit sich von neuem offenbaren könne, welcher Vorhang da +zurückschlug vor einer bis auf den Grund durchschauten Welt . . . + +Erst die Züge des späten, weltberühmten und gefeierten Wagner zeigen den +trüben, resignierten und abgewandten Schein, als dünke ihm jetzt erst, da +alles erreicht war, alles vergebens. Mime und Cie. rächten sich, indem sie +ihn ableierten. Als Kassenstücke ausgebeutet, wurde das Wagnersche Werk zum +Unding, zur Säge, zur Obstruktion . . . + +»Schafft neues!« war sein immerwährender Ruf; dafür wurde à la Wagner +weiter komponiert. + +Sehr wagnerisch bewegt und sehr unwagnerianisch (denn was könnte es +unwagnerischeres geben als den Wagnerianer?) ging ich eines Abends, von +Busonis Hause kommend, durch die nächtlichen Straßen Zürichs, wo einst +Wagner gerungen hat und heute Busoni ringt, und wo beide ein Asyl gefunden +hatten. Mit letzter Gewißheit wußte ich da, daß der viel mißbrauchte +Meister, der sich gerade über den so weit von ihm abliegenden Mozart so +begeistert äußerte, heute gerade an dem selbstherrlichen Busoni und dessen +von ihm sich entfernenden Wegen sein tiefstes Gefallen fände. Weit über das +Leben hin tragen sich ja die wichtigsten Gegensätze aus. Denn sachte nur +beliebt es den Göttern. Einen nach dem andern nur lassen sie zu Worte +kommen. Ihr Neid duldet nicht das gleichzeitige Auftreten zweier allzu +interessanter Fechter. Eher hielten sie ihnen eine Binde vor die Augen, als +zu gestatten, daß sie ihre Klingen kreuzten. + +Höchst merkwürdig aber ist es, daß die Persönlichkeit nie wichtiger gewesen +ist, als jetzt in dieser Zeit der Massenschicksale der Hungers und der +Kohlennöte. Nicht nur alle Spreu sehen wir heute inmitten der Äquinoktien +aufwirbeln, auch manche Gesetztafel zerschlägt aufs neue. Der Heilige des +Tages sucht nicht mehr die Wüste, sondern tritt mitten unter die Menschen +und fällt unter ihren Streichen, nicht weil er die Abkehr predigt von der +Welt, sondern um seiner Beglückungstheorien willen. + +Aber nicht lange mehr wird der Auserwählte als ein Dulder gehen. Entweder +sehen wir ihn bald als eine verlorengegangene Spezies ganz um die Ecke +gebracht, oder sein Reich wird kommen. Es ist eine Täuschung, zu glauben, +daß eine Welt, deren Schlechtigkeit und Gewalttätigkeit sich derart nach +oben kehrte, so bleiben könnte, wie sie ist. + +Hier mag stehen, was ich zwei Jahre später schrieb: + + +Busoni. + +Ich hörte Busoni zum ersten Male vor zwei Jahren in Bern. Er sah mit einem +Blick weit hinausgerückter Vereinsamung, den man an diesem Gesicht sofort +begriff, gleichsam zu sich selber auf und fing an zu spielen. + +Das gibt es also noch, dachte ich nach einer Weile. Da geht man mühselig +seinen Weg, und plötzlich dies -- dies plötzliche Angelangtsein, diesen +Schauer der Ruh, diese unvermutete Herberge. + +Bei Busonis Spiel, so herrlich es ist, will ich jedoch nur kurz verweilen. +Er ist wohl deshalb der größte Pianist, weil er implizite einer ist, weil +unter der Zauberformel, welche seine Finger darüber sprechen, die +Metamorphose eines an sich zweifelhaften Instrumentes sich ergibt. + +Wir kennen so manche vorzügliche Pianisten. Aber wie wenige machten uns das +Klavier vergessen! Da ist Holz, sage ich, da sind Pedale, ein schöner +Anschlag vielleicht und ein großes Können dazu. Aber für den Hörer nicht +eben sehr nachhaltig: _Klavier_. Besinnt euch. Ist es anders? + +Eher ließ noch das orchestrale Klavier Illusionen zu; ich habe große +Dirigenten gehört, die es zu einem prachtvollen Notbehelf gestalteten. Von +solchen Vorspiegelungen jedoch kann bei Busoni nicht die Rede sein. Dazu +ist er zu sehr Kenner des Instrumentes, belauschte er es in allen Fibern zu +genau. Etwas ganz anderes ist hier am Werk: Mozart hatte sich eine +verzauberte Flöte ausgedacht: hier nun wurde tatsächlich das »Piano +enchanté« zur Wirklichkeit. Wir brauchen dabei nur an seinen Vortrag, der +an sich kaum noch erträglichen Pianofortekompositionen Liszts zu erinnern, +dieses riesenhaften und vermoderten Rosenbuketts mit verschossener +Bandschleife . . . statt dessen wird eine ganze Epoche, die des zweiten +Kaiserreichs, vor uns lebendig: Pracht, Tand und Duft, Fächerspiel, +lächelnde Augen, Krinoline, Vergessenheit; alles retrospektiv gesehen, mit +magischer Schärfe aufgerufen. Daher auch die ernste Maske im Hintergrund. + +Schließlich, wenn alles gesagt ist, bleibt von einem Menschen immer nur das +Neue. Die Geschichte unseres Geistes sind weitergegebene Signale. Aber +nicht immer das zuletzt Gegebene wird von dem Kommenden aufgegriffen. Die +Schrift ist kraus. Und die, welche an ihr schreiben, haben vor allem ihr +_geistiges_ Elternpaar, ihre geistige Familie und ihre geistige Sippe. +Falls wir eine neue Zeit zusammenbringen, wird auch eine neue Heraldik mit +ihr aufkommen. Gar merkwürdige Erzhäuser, Dynastien und ihre Nebenlinien +werden sich da herausstellen. Und kaum einen Stammbaum dürfte es heute +geben, der weiter verzweigt und interessanter zu erforschen wäre, wie der +des so universalen Busoni. Keine Vaterschaft, die ihm an der Wiege gesungen +wurde, sondern die sich vielmehr vor ihm verbarg, ihm vielmehr auferlegte, +sie zu entdecken. + +Viele Jahre hindurch ist es in seinen Werken wie ein umsichblicken, ein +plötzliches horchen, sichunterbrechen und stillestehen. Konzessionen kennt +er nicht. Was das unvorbereitete Ohr noch grau, abstrus, bizarr anmutet, +sind die Schatten des Weges, auf dem er sich entfernt. Seine Zeitgenossen +verlieren ihn aus dem Gesicht. Mit dem embarras de richesse, welchen +Berlioz, Liszt und Wagner in das Orchester hineingetragen haben, ließ sich +ja noch lange wirtschaften. Richard Strauß buchtete das von den Vätern +Erworbene noch weiter aus, erstand noch die oder jene Pagode hinzu, und zum +Beweis, daß er ein Allerweltskönner sei, schuf er in seiner »Ariadne« eine +antike Seite -- ich brauche sie nicht zu nennen -- von ewigem Wert. + +Auch bei dem feinen, wenn auch kurzatmigen Debussy horchten wir auf. Einige +noch unvernommene Töne schlugen da an, wie in Farbe getaucht, morbid, +verzückt, nur scheinbar dekadent, nicht dekadenter, sagte ich schon, als +ein Mondreflex auf einem verrosteten Gitter. Jedoch viel zu sagen hatte er +nicht; auch er fragte sich nicht, wie es weitergehen sollte, und er +verstummte schnell. + +Genie ist nicht nur Fleiß (neben vielem anderen), sondern auch ein +heroischer Ernst. Vielleicht ist Busoni nicht der einzige, welcher +erkannte, daß die Musik in die wild überwuchernde Flora der Neuromantik +nicht mehr tiefer hineinführte. Aber man kutschierte fatalistisch in +derselben Richtung, demselben Kreise weiter, denn das Problem schien +unlöslich. Nur nicht für Busoni. Es reizte gerade den Schöpfer in ihm. + +Anfangs waren es nur Anregungen, welche er bot. Turandot; immer stärkere +Anregungen, wie das Licht eines wachsenden Tages, in seiner Schrift »Zur +Ästhetik der Musik«, in »Arlechino«; in seinen immer erstaunlichen +Klavierkompositionen, welche dem Klavier -- dem einstigen Spinett -- so +neue Dinge entlocken: Klangeinlagen, Klangunterlagen, eingebaute, +eingetönte Perspektiven (wenn ich so sagen darf!) grüßen da aus +unvermuteten Tiefen, wie grünleuchtende Seen. Auch rein äußerlich genommen, +verfährt Busoni als Schöpfer mit ihm; auch auf den rein äußeren Ausbau +dieses Instruments (immer ist ja der Entdecker in ihm rege!) drängen seine +Kompositionen hin. + +Scheint dies vielleicht von mäßigem Belang? + +Welche Stunden äußerster Betrübnis muß das Genie durchleben! Wie müssen ihn +da die Zweifel überwältigen, ob die ewig geschäftige und ewig unachtsame +Welt das Geschenk denn auch entgegennehmen wird, welches ihr zu bereiten er +sein Leben widmet! + +Während sie von nichts anderem widerhallte, als ihrem sinnlosen +Waffengedröhn, hielt Busoni sein schweres Ziel im Auge, drang er immer +weiter vor, nahm er die Kurve, legte er die Schraube an. In seiner +Isolation fand er die schöpferische Kraft, das Tor zu sprengen, und die in +ihrem Riesenapparat festgefahrene, ja welkende Musik für eine neue Jugend +flügge zu machen. Es wurden uns bis jetzt nur Bruchstücke seines »Faust« +bekanntgegeben, aber sie künden ihn ganz. Die reine Linienführung, die +tempelhaften Umrisse einer neuen Klassizität, sanft gerundet, erheben sich +wieder! Ein »Faust« um so faustischer nur durch die neuen Streiflichter, +die auf ihn fallen: die holde Blässe in der Feierlichkeit, ein in der Welt +noch nicht dagewesener Adel des Klanges das Sfumato in der Trauer, +Leonardisches, Latinismen . . . + +Wenn ich sage, daß mit diesem seinem und zugleich so sehr unserem »Faust« +das Erbe Mozarts angetreten wurde, befürchte ich kein Dementi von der +Zukunft. + +Darf ich (so nebenbei) in Erinnerung bringen, daß Bettina Brentano über +Beethoven, daß Julie de Lespinasse über Gluck zu beider Lebzeiten das +Entscheidendste sagten? + +Und wenn ich mich heute so gedrängt fühle, auf die Wichtigkeit Busonis +immer wieder aufmerksam zu machen, so möchte ich hinzufügen, daß es in der +Kunst sowohl wie in der Politik so etwas gibt wie ein »zu spät«. Auch hier +sind die Gelegenheiten dahin, die man verpaßte -- auch den Herren +Klavierbauern rufe ich dies heute zu. + +Busoni hat ja seinen Lohn sicher nicht dahin. Auf der von ihm freigelegten +Bahn geht es weiter, und der Dank der Kommenden erwartet ihn. Aber sollen +wir heute, wo die Kronen zu Dutzenden auf das Pflaster rollten, sie im +Staube verkommen lassen und wie im alten Regime die wahren Könige nicht +ausrufen und nicht unterscheiden? + + + + +Dritter Teil. + + +Das traurigste aller Jahre gehörte der Vergangenheit. Auch der Januar hatte +ein Ende genommen. Ich war die Sklavin meines Flügels. Ihm zuliebe behielt +ich das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte. + +Mit England und den Vereinigten Staaten war der Briefwechsel besonders +schwierig geworden. Zuletzt würde es Mühe geben, sich die Gesichter seiner +Freunde zu vergegenwärtigen, deren Bild nie eine Nachricht näher brachte. + +Eines Nachmittags -- es fing schon an zu dämmern -- und meine Gedanken +zogen über unerreichbar gewordene Küsten den gewohnten Weg, als statt +vertrauter Züge, die ich wachrief, ein blankes, behendes Pferd aufblitzte +von intensivstem Braun. Voll Ungestüm, beredten Blickes, als hätte es etwas +zu verkünden, weckte es ein Echo großer Bangigkeit und verschwand. + +Dafür blieb der ganze folgende Tag unter dem Eindruck eines so beseligenden +Traumes, daß es ein Frevel wäre, ihn zu schildern. + +Wiederum dämmerte es, und diesmal saß Fortunio in meiner Sofaecke, und wir +unterhielten uns. + +Das zwiefache an den Menschen, darüber waren wir uns ja einig, betraf ihren +Ursprung. Insofern hatten die Extremisten recht, als sie nicht glaubten, +mit dem alten Karren ins gelobte neue Land einzufahren. Leider aber +brachten sie dabei ihre eigene Anhängerschaft ganz nach der alten Manier, +nicht etwa der Artung, sondern der oft so rein zufälligen Meinung nach als +wildes Durcheinander unter ein und dieselbe Flagge. + +»Wie wunderbar ist der Mensch!« sagte ich plötzlich, »was für Eingebungen +er hat! Auf was für Dinge er gerät! Zum Beispiel in allen Sprachen +Vergleiche wie die folgenden zu ziehen: marchez comme sur des nuages; to +walk on clouds; wie auf Wolken gehen.« + +»Warum?« fragte er. + +»Weil es das gibt. Nicht etwa nur in euren Dichterphantasien, sondern einer +höheren, höchsten Physik zufolge. Wer ist der verwirrte Tropf gewesen, der +als erster Wort und Begriff des Wunders startete?« + +Ich wurde jetzt der Schneereflexe immer bewußter, welche in die Mollakkorde +eines unvergleichlichen Zwielichtes fuhren. Nur wenig Wintertagen eignet +dieser Schein, trauter als das von Sommerlüften durchwärmte, hölzerne +Gartenhäuschen. Lange schmeichelte er sich an den Fenstern hin. + +»Eine gesteigerte Natur,« fuhr ich fort, »Kontakte, es sind Füße denkbar, +zu welchen die Tragfähigkeit der Wolke sich verhielte wie Steg und Brücke +zu den unseren: Gewänder, die zu solchen Füßen niederflössen, würde durch +die Schärfe der Emulsion der Äther zum natürlichsten Geleise: weite Geleise +solchen Füßen, und so sehr ein Teil von ihnen, während sie auf ihren +Wolkensohlen reisten, daß von einer zifferlosen Arithmetik beherrscht, der +ganze Himmel, und nicht etwa nur ein Stück von ihm, mit in den Raum sich +drängen würde, über dessen Schwelle sie zögen.« + +Hier verstummte ich, und so gebieterisch schwoll die Dämmerung an, daß +meine Hände, wie Orgelpunkte in der Schwebe gehalten, plötzlich +niederfielen, ihrer Unzulänglichkeit und Armut zurückgegeben. + +»Wollen Sie Licht machen?« fragte ich. + +Während er sich anschickte, das Zimmer der ganzen Länge nach zu +durchschreiten, war ich innerlich erstaunt über die Ausführlichkeit, mit +der sich das Detail eines Bildes, welches doch als Ganzes, über alle +Zeitbegriffe schnell zu Häupten meines Bettes aufgeblitzt war, festhalten +ließe. + +Doch warum faßte mich da wieder das unerklärliche Grauen, das nicht mehr +einzufangende Echo des Grams des gestrigen Nachmittags, als mir im +halbwachen Zustand das Pferd beredten Auges entgegenschoß? Welche +Bewandtnis -- -- -- -- -- + +Aber da hatte Fortunio schon geknipst, die Lampe erstrahlte, und ich atmete +auf. + +5. FEBRUAR. Am Morgen dieses Tages stand ich angekleidet zu Häupten des +Bettes und hielt meine Post. Sie war umfangreicher als sonst. Ein Brief mit +ausländischer Marke und fremder Handschrift, den ich zuerst öffnete, +umfaßte nur wenig Zeilen und meldete einen Tod, der schon vier Monate +zurücklag. + +Der Zahnarzt erwartete mich schon sehr früh. + +Ganz undeutlich, wie von einem andern Ufer herüber, so daß ich nicht daran +dachte, mich zu entschuldigen, schien er mir ungeduldig über mein +verspätetes Erscheinen. + +Ich wollte ihn ersuchen, das graue Schmerzenslicht von der +gegenüberliegenden Mauer zu entfernen. Dann besann ich mich: zeigten doch +alle Dinge, das Fenster, die Instrumente auf dem Tablett dieselbe böse und +stechende Schärfe. + +Desgleichen die Luft, als ich nach der Sitzung unter die Lauben trat. +Sollte man sich es wirklich antun, sie hinabzugehen? War nicht vielmehr die +Erde, dieser schwarze und zertretene Schnee, sich in ihm einzubetten mit +zugekehrtem Gesicht, die einzige und unendliche Lockung? Die wehe Fackel +des Gedächtnisses zu löschen, so zu verlöschen, als sei man nie gewesen, +dieses war der Himmel. Oh wer war das? Wer war die Kreatur, die diesen +ganzen Tag hindurch alle Gesten des Lebens so staccato verrichtete, an den +Speisen dieselbe entsetzliche und befremdende Miene wahrnahm, wie an den +Pinzetten auf dem Tablett des Zahnarztes, und wohin sie sich auch wandte, +die Flucht ergriff; als wäre sie die aus Hoffmanns Erzählung entronnene +Olympia -- die Lauben hinab, die Treppen hinauf -- in ihr Zimmer zurücklief +-- und sich umzog! -- Einen blauen Hut aufsetzte, einen blauen! -- und +einen blauen Schleier davorband, und in das betäubte Antlitz starrte, dem +er so ungewöhnlich stand -- und einen Besuch abstattete -- an einem Ofen +lehnte, an ein Fenster trat, und durch seine, vom leichten Druck getrübte +Scheiben sah, den die Wärme des Zimmers hervorrief. Es saß einer da, der +erzählte, doch nur die Türe nahm sie wahr, durch welche sie wieder +entrinnen und ins Freie gelangen konnte . . . + +Dort fing es an zu dunkeln. Es nahm auch dieser Tag ein Ende. + +Nur auf dem freien Platz und über der Brücke war es noch hell. Rauh, grell +und öde brütete ein durchnäßter Wintertag. Ungemildert fing ihn der +»Gurten« auf: eine dunkle, ansehnliche Masse, und dennoch niedrig stellte +sich ihm oh, so traumlos entgegen! Tropfnaß alle Dächer, die Bäume ein +wirres und aufgelöstes Haar. + +Das Uhrwerk war abgelaufen, und sie stand nun endlich still, wie +überwachsen von ihrer Not. Ein Martergriffel umriß für sie die ganze Stadt, +die sich im Widerscheine eines Sterbetages zur Krypta schloß, das Siegel +seiner Qual für immer aufgebrannt. So fiel ein Tor. + +Beim ersten Laternenschein prallte sie zurück. Jedes Licht war eine Tücke. +Kein Dunkel war tief und ununterbrochen genug. Und riefen ihre Wände nicht +nach ihr? Zu ihnen nahm sie ihre Zuflucht, schloß ihre Türe und überließ +sich der Erschöpfung. In ihren Kleidern wie auf einem Sarkophag, ohne sich +zu rühren, ausgestreckt, lag sie in den Armen und am Herzen dieser Nacht. + +Siehe -- was tauchte da wieder vor ihr auf? -- Sturmentlassen, mit +verhängten Zügeln, wie einem geisterhaften Stalle zugekehrt, das entfärbte, +fahlgewordene Roß, dessen Botendienst geschehen war. + +Zum ersten Male entsann sie sich da auch des andern Bildes, das sich +zwischen einer Kunde und ihrer Ankündigung gnädig und wie eine Gnade +stellte. + + * * * * * + +Und nun, oh Leser, fasse meine Hand, daß ich von dir selber gehalten, durch +Dornen und Gestrüpp, Ziel, Sinn und Ende dieses Buches erreiche. Verlasse +auf immer mit mir das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte und folge mir +nach Genf. Ferne dem traumlosen Berg, über der malerischen Stadt des +nüchternen Lichtes, durch die Turmspitze versinnbildlicht, welche den +Unterbau des Münsters niederdrückt, und seine Schönheit immerzu und immerzu +verneint. + +Selbst bei der schärfsten Bise leuchtete die Luft in Genf so abgetönt. Dort +hauste ich nun, in einem unheizbaren Studentenstübchen im fünften Stock des +hotel de Russie. Ein kleiner Balkon überhing die stets von Schwänen +überzogene Insel Rousseau. Meine Taschen waren in diesen Tagen der +Brotkarten mit Krumen wohlgefüllt, und mit heimlicher Befriedigung warf ich +ihnen die rargewordene Speise zu. Nicht vergeblich glitten sie mir da immer +sogleich, doch ohne jede unziemliche Eile entgegen. Ich sah ihnen oft lange +zu. Sie standen in der Tierwelt so abseits; fast ein wenig abgerückt von +der Natur. Bald würden sie zwischen ihren stolz aufgerichteten Flügeln ihre +Jungen wie in einer geschlossenen Krone durchs Blaue tragen. Vielleicht gab +ihnen ihre Ungefährdetheit die Muße, um den Tod zu wissen. + +Die Zeiten waren derart, daß der Ortswechsel selbst einer so unwichtigen +Person wie mir nicht unvermerkt blieb. Dinge aber, die mich vor kurzem in +Aufruhr versetzt hätten, machten mir nicht das geringste. An der +Telephonkabine war eines Morgens der Türgriff ausgekurbelt und wurde nicht +wieder instand gesetzt. Dicht bei verbrachte ein dicker Herr seine Tage und +rauchte Zigarren, indem er unverfroren horchte. + +Indessen wurde ich von Herrn L -- P. . . . dem Vater der im +deportationsfähigen Alter stehenden Kinder aufs neue bestürmt. Seiner Frau +blieben die Pässe verweigert. Ich schrieb jetzt auf gut Glück dem Grafen +Carry, er möge mich über den Sonntag besuchen. Und richtig stand er da. Es +war strahlendes Wetter, wir streunten über die Kais und aßen zusammen. An +seine natürliche Güte hatte ich nie vergebens appelliert, und schließlich +bildete sein Propagandawerk eine Art von Rettungsstation. An ihm klebte +kein Blut. Da mir aber seine Beziehungen zur obersten Heeresleitung bekannt +waren, log ich jetzt über die politische Zweckmäßigkeit einer Paßverleihung +an die Familie L . . P . . . einiges Blaue vom Himmel. Wir setzten uns ins +Freie. Erstaunliche Magnolien prangten schon in voller Blüte; an eine +Tanne, grünblau, weiten Hauptes wie eine Pinie, und immerzu umschwirrt, +preßte sich ein glückliches Vogelhaus. Carrys Augen hingen voll Entzücken +daran. + +»Da geht mein schlimmster Feind«, sagte er plötzlich. Klein, mit +niederträchtiger Visage, kam hinter den Magnolien ein Landsmann von uns +hervor. Von übelster Vergangenheit, dabei Träger eines großen Namens, für +den Nachrichtendienst also wie geboren, lauerte er dem Frieden um so +emsiger auf, als die Dauer des Krieges mit dem Interim seiner +Rehabilitierung zusammenfiel. + +»Natürlich haßt er Sie«, sagte ich zerstreut. »Was erwarten Sie sonst?« + +Abends -- der Graf war schon abgereist -- kreuzte ich mich nochmals, über +die Brücke zu den Schwänen gehend, mit der hochgeborenen Krapüle, die mit +einem Basiliskenblick an mir vorüberging. Tags darauf -- ich dachte gerade +an das blauzerfließende Grün der Tanne und an den großen Blumenbaum, der in +dieser Sonnenhelle wohl noch heller erblüht war, als ich ans Telephon +gerufen wurde. Vor der Zelle saß trägen Auges der mir zugeteilte Herr mit +der Nachmittagszigarre im Mund. Heute aber sollte er auf seine Kosten +kommen. Denn im höchst aufgeregten Ton forderte mich eine Genfer Dame zu +sofortiger Aussprache auf. Ihr Haus sei mir offengestanden, sie habe mir +ihr Vertrauen geschenkt, und nun müsse sie hören, daß ich es mißbrauchte. + +Ich machte mich ziemlich gemächlich auf den Weg zu ihrem Hause. Seit jenem +Tage, als sich Bern für mich zur Krypta schloß, war mir erst bewußt, daß +ich mit nichten ein verkannter oder verlassener, sondern einer der wenigen +innerlich wirklich beschützten und durchschauten Menschen gewesen war. + +Wie oft hatte -- weit vorgreifend, ach! -- mein Ohr das melodische Lachen +zu hören geglaubt, wenn ich dereinst alles erzählen würde, alle Zwickmühlen +und alle Abenteuer, in die ich geraten war. + +Ein ganzer, ein wirklich unvergeßlicher Mensch, dachte ich, von Trauer +niedergedrückt, ist nirgends zu Ende. Unerschöpft und ganz unausgespielt +sinkt er zu Grabe. Abgerissen, doch nicht abgesponnen, ist der Faden eines +solchen Lebens. + +Wenn aber Kinder des Lichtes zusammentreffen, ist das schon ein Glück des +Himmels. In dem hin und her ihrer Blicke und ihres erkennens liegt das +Vorgefühl ihrer Macht. Zu uns komme ihr Reich. + +Mit der Genfer Dame war ich schnell im reinen. Wir spielten beiderseits mit +offenen Karten. Die hochgeborene Krapüle hatte verbreiten lassen, die +deutsche Propaganda arbeite nunmehr mit so raffinierten Mitteln, daß sie +kompromittierte Personen, wie mich, zu Werkzeugen mache. Den Beweis hielte +er in der Hand. (Es war mein Frühstück mit dem Grafen Carry.) Natürlich war +seine Behauptung wohl geeignet, mich in Genf unmöglich zu machen. Er hatte +sich nur insofern verrechnet, als meine dortigen Freunde sich unverweilt +mit mir ins Vertrauen setzten. Dieser Zwischenfall war also beigelegt. + +Als ich wieder in die Allee einbog, welche von ihrem Hause bis hart an die +Straße führte, drangen durch ein offengebliebenes Fenster die Worte: »Je +suis bien contente de le lui avoir dit« laut und vernehmlich ins Freie; Mir +aber saß jetzt ein ödes Gefühl im Magen, ein Ekel, das würgen einer allzu +krampfhaft unterdrückten Bitterkeit. Ein Durst zugleich; das lechzen des +Trinkers, der nach dem Becher vergeht; es mußte etwas, das Palliativ, die +Betäubung mußte her. Es war das alte Laster, hui! Und lag sie nicht dicht +bei, die avenue de Florissant? wußte ich nicht, zufällig, daß sie dort +wohnte, sie, die den Schlüssel zu den geheimen Toren hielt, die ich +begehrte? Heute noch, nein, sogleich mußte ich hin. + +Und schon betrat ich unangemeldet die großen Räume, in welchen die +malerische Französin zwischen ausgehobenen Türen nach allen Seiten hin den +Ausblick über Gärten und Büsche genoß. Es war eine ganze Welt von Bäumen in +ihrem ersten Grün. Mademoiselle S., eine Pariserin der ernsten und wenig +bekannten Art, trug einen orangefarbenen Foulard um ihren Kopf gewunden und +gestand ihre Kopfschmerzen, aber nicht ihr Befremden über meinen Besuch. +Wir hatten uns ein einziges Mal während des Krieges flüchtig kennengelernt, +und nun lagerte ich, jedem Argwohn zuvorkommend, indem ich ihn einfach +niedertrat, auf einem Diwan ihres Salons, den verwirrenden Frühlingszauber +ihres Parkes vor Augen. + +»Sie sind im Besitze der Adresse eines Mediums,« sagte ich, »die ich +suche.« Und sie erhob sich, an ihnen Schreibtisch zu treten; eine hohe und +dunkle Gestalt, weder so schön, noch so jung vielleicht, als sie an diesem +Abend schien, den blassen und melancholischen Kopf vom seidenen Turban eng +umschlossen, und all die Wipfel, die in den Rosenhimmel ragten, als +Hintergrund. Sie reichte mir die Adresse, und wir sprachen von allgemeinen +Dingen. + +»Es muß heute doch ein eigener Segen auf allen Schlechtigkeiten ruhen,« +sagte ich, »da, was immer man Gutes und Hilfreiches unternehmen möchte, +sofort in Mißlingen und Gestank aufgeht.« + +»Wie könnte es anders sein?« gab sie zurück, »das Geschwür ist noch lange +nicht reif. Vorerst muß alles ihm allein zugute kommen.« + +»Es gibt aber Geschwüre en permanence«, meinte ich. Doch sie schüttelte den +Kopf, unbeirrbar in ihrem Glauben an eine bessere Zukunft. + +Es herrschte zwischen uns die kurzbefristete Vertraulichkeit zweier +Reisegefährten eines nächtlichen Zuges. Nichts ist so unverbindlich wie ihr +Auseinandergehen. + +Denn schon war ich wieder unterwegs, einer andern Himmelsrichtung, einem +Genf, das ich nicht kannte, zugewandt, nicht wissend, daß es auch seine +anonymen Viertel hatte, die scheinbar nicht zu ihm gehörten, sondern in +ihrer Bedrücktheit ganz allgemein die Straßen einer größeren Stadt +darstellen. Zwischen solchen Häuserreihen war ich jetzt auf der Suche, fand +die Nummer, stieg vier Treppen hoch und läutete und wartete. Eine im Dunkel +undefinierbare Gestalt öffnete endlich langsam die Türe. + +»Wollen Sie mich melden?« sagte ich, ohne meinen Namen anzugeben. Sie +rührte sich nicht. »Wollen Sie mich melden?« wiederholte ich. Sie schwieg. +Sie war es selbst. Stumm standen wir einander gegenüber. Unsere Blicke +belauerten, betasteten sich. So tauschen wohl in einer Höhle des Lasters +zwei Eingeweihte zögernd ihre Erkennungszeichen: es waren die verschleppten +Schatten unserer Augen und ihr matter und verlöschter Schein. Und wie +loderte schon die Luft! Oh welch ein Wellengang! Welcher Sturm inmitten der +Stille, die zwischen uns entstand. Ich folgte der Gestalt, die vor mir +zurückwich. Sie trat, als hätte ich sie gestoßen, in die Umrahmung einer +Türe, die hinter ihr nachgab, und taumelnd trat ich ein. + + * * * * * + +Dem glücklich Liebenden gleich streifte ich in jener Nacht, hingerissen, +berauscht, von tröstlichen Schauern durchrieselt, die Kais entlang. Wie +Antäus die Erde, hatte so mein Fuß die belebende Leere berührt? -- War's +ein geistiger Aderlaß gewesen? War's der letzten Hingabe entsetzliche +Betäubung oder die eleusische Flut? Und wird sie einmal einer nennen +dürfen, die einmaligen Gefilde ohne Wiederkehr und Verbieter des Wortes, +die ein Blick zu ihnen ein Wenden des Kopfes nur, zu ewiger Ungewesenheit +entstürzen läßt . . . . + +Oh Eurydike! + + * * * * * + +Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, nahm ich das Schiff. Als es in +Ouchy anlegte, zog mit einem Male Fortunio an Bord. Wir waren beide nicht +wenig erstaunt. Ihn aber schien die Bläue des Tages und das in Verzückung +zurücktretende Ufer von sich selbst fortgerissen zu haben, und es war +ersichtlich, daß er träumte. Das Leben hielt er dann für schön, besann sich +des Augenblickes und der Weltgeschichte, wie auch seines eigenen Erwachens +nicht, sondern, ganz Echo, war er gefangen von ein paar Weisen, welche +manchen Tages die Natur anhebt, und den verwandelt, der sie hört. + +»Lassen Sie sich das Neueste erzählen«, stieß ich ihn an und gab mit allen +Details die Mine zum besten, von der ich in Genf hätte auffliegen sollen. +Wie ergiebig Graf Carry dabei mit »belegt« worden war, kam erst später ans +Tageslicht. Mit der Warnung an meine Schweizer Freunde nämlich, sich vor +einer deutschen Agentin wie mir etwas in acht zu nehmen, erging +gleichzeitig eine Meldung an deutsche Instanzen in Bern, Graf Carry wisse +so wenig die Würde seines Amtes zu wahren, daß er sich nicht scheue, mit +einer französischen Agentin wie mir öffentlich herumzuziehen. Aus dem +Mittagessen wurde der Pikanterie halber ein trautes Souper. + +»Diese Zeit«, sagte ich zu Fortunio, »hat den Untermenschen doch wirklich +den Maibaum ihrer Existenzen gebracht, und es gehört mit zu den läuternden +Wirkungen des Krieges, daß ihn die Krapülen überleben. Denn wenn eine, +statt als sein Helfershelfer reklamiert zu werden, in die fatale Lage +gerät, selbst an den Heldentod glauben zu müssen, so ist das doch ein ganz +seltenes Pech.« + +Fortunio fuhr mit dem Abendzug nach Bern zurück, und ich blieb in Clarens. + +Um Ostern wollte ich Romain Rolland besuchen und sagte mich in Villeneuve +an. Allein es war jener Karfreitagmorgen, an welchem eine oberste +Heeresleitung, wie um seiner zu höhnen, die Kanonade von Paris nicht +unterbrach, eine Kirche während des Kultes einstürzte und die Anwesenden +unter sich begrub. Daß mein angekündeter Besuch auf das hin unterblieb, +verstand sich von selbst. Für mein Gefühl war dieser Karfreitagsvolltreffer +das schwarze Aß, das sich Deutschland selber ausgeworfen hatte. Eine solche +Absage an die tragende Idee des Christentums war zu zynisch, um nicht +ominös zu sein. Sie war -- man verstehe mich recht -- wüstester +Protestantismus. Luther galt mir nur deshalb als einer der Ahnherren des +Krieges, weil sein auftreten das Übergewicht des nördlichen über das +westliche und südliche Deutschland anbahnte, und ein kahles, +unkünstlerisches, unmusisches und humorloses Element in den Pulsen der +Deutschen entsprang: Phantasielosigkeit und Unmusik. Wagt es vielleicht +einer, Sebastian Bach einen Protestanten zu nennen? Der Protestantismus +stak damals in seinen ersten Anfängen, noch belebt von der Wärme des +Stammes, von dem er sich losriß: protestierender Katholizismus. Der +wirklich ausgewachsene konsistorialrätliche Protestantismus gedieh erst in +den letzten Dezennien zu der vollen Reife und dem gleichzeitigen Marasmus. +Die fürchterlichen Lutherschen Kirchen, das toteste an Architektur, was in +der Welt zu sehen ist, sind Geist von seinem Geiste. Alle unfrohe +Geschmacklosigkeit, den Mangel an Grazie und Liebenswürdigkeit, das +Reformkostüm, die Jägerwäsche danken wir ihm. Undenkbar, daß von München +aus die Reichsbriefmarke, als die häßlichste der Welt, hinausgeflattert +wäre. Nein! fürwahr, diese Germania stieg so recht als die fille ainée der +protestantischen Kirche. Sie brachte den unheilbaren Riß, über den keine +äußerliche Geeintheit hinweghalf. Denn ihr verdanken wir das +verständnislose abrücken von der lateinischen und abendländischen Welt, das +ein südliches, fränkisches und westliches Deutschland nie herbeigeführt +hätte. + +Statt des café du Nord wurde jetzt der Kursaal von Montreux meine +Schreibstube. Den Nachmittag beschloß ich mit Vorliebe im kleinen Saal des +Konservatoriums, wo ich mit einem russischen Cellisten musizierte. Aber A. +H. Pax wollte wieder einen Beitrag. Es gibt heute nur ein Thema, schrieb +ich ihm: + +Und wir hätten alles von der Methode jener glücklichen Spekulanten zu +lernen, welche sich offenkundig als die weitaus schärfsten Psychologen +erwiesen, indem sie irgendein Präparat, eine Zahntinktur oder ein Extrakt +dadurch zu allgemeinster Geltung verhelfen, daß sie deren Bezeichnungen in +grellen Riesenbuchstaben an Mauern, Säulen und Schlöten anschlagen, sich +gleichsam an die Fersen des Vorübergehenden heften, selbst auf Bergeshöhen +sich zwischen ihn und die Aussicht schieben, ja von Felswänden herab ihm +unerwartet Odol! Haarlin! oder Bovril! entgegenschreien. + +Wäre heute nicht die Beachtung gewisser Zustände mit einer ebensolchen +vorbildlichen Hartnäckigkeit zu erzwingen? Durch ein ungeheures +Preisausschreiben etwa, das an alle Maler, der ältesten wie der neuesten +Schule, erginge, um auf Bildern und Plakaten, mit beliebigem Raumverbrauch, +die Wirklichkeit zu illustrieren, allen Brücken und Wegen entlang sie +immerzu neu einer Allgemeinheit zu veranschaulichen, deren geistigen +Stumpfsinn nur jene Menschenkenner von Spekulanten voll ergründeten. Daß es +keine intellektuelle Notwehr gibt, und daß wir lieber untergehen als daß +wir dächten, hielten wir ja nicht für möglich, bevor wir es erlebten. Wie +hätte sonst über unsere Köpfe hinweg jene Phalanx der Niedrigen zustande +kommen können, die sich heute mit so bewundernswerter Regie über alle +Grenzen hin in die Hände arbeiten? Auf uns, die sie gewähren lassen, fällt +der Fluch dieser Zeit zurück. Nicht auf die schlechten, deren Tun im +Einklang steht mit ihrem Wollen; auf uns, nicht auf die Knechte, welche +sich zu unseren Herren machten, sondern auf uns, die wir uns von ihnen +knechten ließen. Sollte der Tag hereinbrechen, an dem es zu spät sein wird +für unser zusammengehen, so werden wir, die guten Willens sind, als die +Schuldigen stehen, weil uns der Mut unseres besseren Wissens gebrach, dem +Genius des Krieges die Siegermaske von der gedankenlosen Stirn zu reißen. +Ah! wir bedachten nicht den tiefen Sinn jener Sage, welche den Drachentöter +die Sprache der Vögel verstehen ließ, als er vom Blut des erlegten +Ungeheuers genoß! + +Es waren stille Tage. Der Sommer reifte wie eine Frucht. Schon rissen +Gewitter den Himmel auf und schlugen die Wellen bis zu den herabhängenden +Blüten am Ufer. Und die Nächte verströmten betäubend und lau. Es war ein +Wandeln wie im Traum, bedrückend und begeisternd zugleich. Meine +Unterredung mit dem Grafen Carry datierte vom 5. Mai. Schon am 17. +depeschierte er mir, die Pässe für Frau v. L . . . . und ihre fünf Kinder +seien gewährt. + +In den Weinbergen surrte das Licht, die goldenen Bienen waren eins mit ihm. +Ob man lebte oder gestorben war oder eben geboren wurde, machte keinen +Unterschied. Es war zu heiß. Den schönen Damen standen die Koffer gerüstet. +Ihre neuesten Kostüme und Kleider, die seidenen Sweater und die Hüte und +die Schuhe kannte man jetzt. Es war Zeit, in einem neuen Ort neu darin zu +erstehen. + +Für den 29. waren in Zürich Busonis Opern unter seiner Leitung angesagt. +Dort sollte ich mit Fortunio zusammentreffen, und dann an den Thuner See +mit ihm fahren. Aber statt seiner kam ein Brief, und meine Stirne umwölkte +sich beim Anblick seiner Adresse: Es war ein Mißgriff und eine Illusion, +daß er die Villa des geölten Nibelungen bezog. Kurz herausgesagt, wir +beiden konnten einander nicht leiden. Ich grollte ihm nicht, weil er meine +Haltung verurteilt und mir versichert hatte, wir seien immer noch zu +anständig; sein plötzlicher Radikalismus, vielmehr die Art, wie er sich als +unser Leithammel aufwarf, ärgerte mich. Denn er war keiner von den Unseren. +Mit Lanze und Speer kam ich ins Spiezer Schloßhotel, ihn zu bekämpfen. Dort +warteten A. H. Pax und seine unschätzbare Gattin seit einer Woche meiner. +In der Halle stand ein Bechstein, und von Paxens tiefer Loggia aus hatte +man den Blick nach Süden über die Alpen und den See. Bei ihnen waltete +Überblick, Wissen und Nächstenliebe, dazu ein Aroma von Wiener Kaffee und +Gemütlichkeit, die nicht zu überbieten waren. + +Die Villa des Geölten lag unter den Tannen in der Tiefe, einen Kilometer +entfernt und in wundervoller Lage. Ein kurzer Weg bog vom Gitter bis zum +Hause, als wäre er unendlich, ein. Die veredelten Kirschbäume, die ihn +beschatteten, bestahl ich, soviel ich konnte. Es verdroß Fortunio, doch ich +erklärte, Kirschen nur vom Baume essen zu können, und riß im vorbeigehen +immer welche herab. Es waren wirklich Kirschen für Hesperiden. Die unteren +Zweige hingen schon leer. + +Der geölte Nibelung gehörte dem Geschlecht derer an, die nicht nur +geschäftskundig, sondern auch mit regen Sinnen für das Schöne begabt, zu +überaus tüchtigen Faktoren berufen, dabei haarscharf an ihre Stelle zu +verweisen, ja niederzuhalten sind. Unsachlich, ungedanklich, nur der +Witterungen, aber keiner Erkenntnisse fähig, konnte er sich nach innerer +Herkunft und Bestimmung höchstens zum Sklavenhalter, niemals zum Herren +vermögen. Gütiger Regungen sehr wohl fähig, war der geölte Nibelung infolge +seines unbändigen Ehrgeizes der glücklose Knecht, außerstande sich zu +bescheiden. Über ihn wölbte sich der freie Himmel nicht unmittelbar, +zwischen ihm und dem Äther, den Göttern und der Natur lastete eine +trennende Kuppel. Fortunio aber, und wenn er tausendmal zerschellte, war +ein Sohn des Lichts. An ihn klammerte sich der Geölte, von trüben Stacheln +getrieben, und eiferte um die gleiche Stufe der Leiter mit ihm; von +Eifersucht und Zuneigung gleicherweise gequält, suchte er -- immer unbewußt +-- ihn an sich zu reißen oder ihn zu verderben. Seine Gattin liebte es, +vierhändig zu spielen, ihr Anschlag war eine Pein, und ich stand sehr bald +mit beiden übers Kreuz. So ging ich nicht mehr den kurzen Weg, der zwischen +Gitter und Haus ins Unendliche lief, und sah von dieser Stelle aus nicht +mehr den Niessen wie eine Riesenpyramide inmitten des fruchtbaren Tales +stehen. + +Der Himmel freilich kam hier nie zur Ruh, und die Gegend war mehr eine +großartige, opernhafte Szenerie, denn eine Landschaft, das Licht ein +Beleuchtungsapparat; statt der Spiegelungen hatte man Effekte. Das +Schreckhorn leuchtete in der Verkürzung, der See war eine Arie. + +»Komm, komme!« schrieb der Seidenaff aus St. Moritz. »Wer weiß, was mit uns +in einem Jahre geschieht.« Und eines Morgens reiße ich aus, um den Sommer +im Engadin zu beschließen. + +Mein Weg führt über Bern, und ich mache bei Martin im Walde halt. Er ist +schwer niedergedrückt. Das deutsche Verhängnis war für jeden, der außerhalb +des Landes wohnte, unaufhaltsam. Ich schreibe eine Depesche unter seinem +Diktat und renne damit zum bayrischen Gesandten. Dieser besteht darauf, +Martin im Walde selber zu sprechen: ich also mit Windeseile zu ihm zurück +und ihn so lange quälend, bis er mir folgt. Aber welch ein Interview! Alle +heißen und kalten Wasserhähne sprühten um die Wette, daß es nur so pfiff. + +Die Depesche hat er aber abgeschickt, mache ich auf dem Heimweg geltend. + +Sie übermittelte jedoch diejenige Brause, die man sich auf Wochen noch +verbat. + +Fluchtartig verließ ich die Stadt der vergeblichen Zusammenkünfte. + + * * * * * + + +Palace Hotel, St. Moritz. + +AUGUST 1918. Man hätte sich auf dem Berge Arrarat glauben können, wären +unter den Geretteten nicht so viele gewesen, die mit einem Mühlstein am +Halse zu tiefst der angerichteten Sintflut zu liegen verdienten. Diese +Menschenmetzger, Gewinnler am Elend der Menschheit und gemästet von ihrem +Blut, hier machten sie sich breit und schlemmten. + +Gleich bei meiner Ankunft hatte ich den Seidenaffen besucht und war auf der +Treppe gestürzt, so daß ich bleiben mußte, wo ich war. Doch inmitten des +Geschwirres begann da für mich ein Leben wirklicher Beschaulichkeit. Ich +kannte niemanden, mit San Cividales verkehrte ich nur in den oberen Räumen, +unten mieden wir uns, denn wir waren ja Feinde. Auf den Stock gestützt, +hinkte ich, wenn Sajani mit seiner kleinen Kapelle spielte, zu einem +Schreibtisch in der offenen Galerie, die Berge von Pontresina vor Augen, +die ekstatisch nach Süden träumten; unten der tiefgrüne Bergsee und der +Waldweg seinen Ufern entlang; St. Moritzbad im Rücken, damit ich es nicht +zu sehen brauchte. + +Es war sehr oft »etwas los«. Alles strömte dann nach derselben Richtung, um +sich im Sportkostüm zu treffen, bevor man sich im Abendkleide wieder +begegnete. Dann spielte die Kapelle ins Leere, ich aber zog unter den +Baldachin, die Tangonoten verschwanden, und wir spielten Trios. Es +schlichen immer ein paar unbeschäftigte Kellner herein, und dies +Kellnerpublikum war uns ein Sporn. + +In der Umwertung der Gesellschaft selbst besteht heute die eigentliche und +tiefe Revolution. Ein rein äußerlicher Staat hat merkwürdigerweise +aufgehört, elegant zu sein; das Prestige einer Klasse als solcher, mag es +noch einmal aufflackern und sich noch eine Weile fortläppern, ist dahin. +Diejenige Klasse, die überall am Kriege die unschuldigste war, wird täglich +an Interesse gewinnen und ihren Tag erleben. Der Arbeiterstand als Magnet: +so schnell reiten die Toten! -- + +Wie faszinierend war es indes, die Herren von vorgestern zu beobachten, +welche wähnten, daß sie es noch seien, und die höchstens noch der Wirt, bei +dem sie abstiegen, in dem Glauben erhielt; diese Herren auf Abbruch, die +nicht merkten, daß ihre Füße sich schon im Gerölle fingen. Müßigkeit und +Unwissenheit hatten ihre Norm so tief herabgedrückt, daß, um ein Beispiel +zu geben, edle Musik eine Zumutung für sie gewesen wäre. In der Tat, es +lohnte sich, sie zu studieren. Sie machten noch die Gesten der Väter, aber +schon war der Pöbel bei ihnen eingebrochen und schuf sich in diesem +äußersten Rechteck der Gesellschaft ein Ventil. Nirgends vielleicht hatte +sich die Achtung für inneren Wert so sehr verringert und kam innerer Adel +so wenig in Betracht. Wie viel ritterlich Gesinnte zählte man unter diesen +Kavalieren? Wie viel Strebende? Was die Unbildung, die zunehmende Verrohung +dieser Clique betraf, so stand sie den von ihr verhöhnten nouveaux riches, +welche Wurstkonserven zu Magnaten erhoben hatten, innerlich schon am +nächsten, und es war rührend zu sehen, wie hier die Elite -- denn auch die +sogenannte Elite hat natürlich ihre Elite, und ich weiß keine +liebenswertere -- von ihr abrückte und sich ihrer schämte. + +Auch den Trost von ein paar wirklich schönen Frauen hatte man hier. Der +Seidenaff zwar verzog sich des Abends immer sehr bald. Sah man nach ihr um, +war sie wie ein Vogel schon weg. + +Aber die leidende Sylvia, schön wie eine gestirnte Nacht, tanzte so gern. +Und ob man sich auch sagte, die Melancholie ihres Lächelns, ihres Lachens +sei nur Zufall, nur der Form ihrer göttlichen Lippen, dem Licht ihrer Zähne +entblüht, sie entzückte darum nicht minder. + +Eine andere kam zuweilen von Suvretta herüber, ein Püppchen, so zierlich +gebildet, als wäre sie in einer blitzend ausgeschlagenen Nußschale +dahergefahren. + +Eine vierte war noch da, von der ich noch reden werde. Aber laßt mich bei +der gestirnten Nacht noch einmal verweilen. Meistens trat sie erst, nachdem +der Tag zu Ende war, scheinbar ausgeruht, in ihrer düsteren Pracht hervor, +blieb dann bis zum Hahnenschrei, wie die Braut von Korinth, und hielt ihre +Tänzer in Atem. + + * * * * * + +ANFANG SEPTEMBER. »Ich hörte lange nichts von euch«, schrieb ich an +Fortunio. »Was Sie nur treiben?« + +Mein Fuß war endlich hergestellt und einer längeren Fußtour gewachsen. +Eines Morgens verließ ich früh das Palace Hotel in Bluse und Rock, einen +Sack umgeschnallt, in dem ich eine ganze Reisetasche leerte, und einen +eigens dafür erstandenen Strohhut, der so tief hereinfiel, als man wollte. +Also ausgerüstet, zog ich nach Maloja, schlug aber bald den Waldweg ein, +denn die zahlreich einherrollenden Wagen hüllten die Straße in Staub. Frech +auf den Polstern ausgebreitet, mit befriedigten Mundwinkeln, fuhr ein +Schieber nach dem andern froh zu Tale, oder dem Julier entgegen; ein +feister und wohlgemuter Korso: der Krieg durfte noch dauern. + +Am andern Ufer der Seen jedoch wand sich ein stiller Weg um jede Bucht, +nimmermüde, sie zu umschreiben, leis umplätschert, geduldig und verliebt. + +Ich riß den Hut vom Kopfe, steckte ihn in den Sack, und ließ die Stirne +frei von den Gletscherwinden umwehen. Es war so schön, wieder schnellen und +gesunden Fußes durch die Wälder zu gehen, die bis in ihren tiefsten +Schatten von Licht und Hitze durchhaucht, statt des Staubes einen Geschmack +von Harz und Erdbeeren auf die Zunge trieben. Ganz plötzlich wurde es kalt. +Hoch am Himmel hielten die Wolken Rat, ob sie sich zusammenballen und den +Herbst eröffnen sollten. Dann zerstreuten sie sich wieder und ließen die +Sonne durch. Aber es war ganz deutlich, daß sie sich nur vertagten. + +Spät am Nachmittag saß ich in der berühmten Konditorei von Sils Maria, als +ein Wagen vorfuhr, dem die vierte Schöne des Palace Hotels in Begleitung +ihres Liebhabers entstieg. Es war die notorische liaison des diesjährigen +Sommers. Er, so stolz auf seine Figur, daß er Modell stand, sowie man nur +hinsah, aber dabei das Entzücken seines Schneiders mit dem des Malers +verwechselte; die Stirn niedrig und leer, wie die eines Stallbediensteten, +und einen der Anlage nach gewiß nicht groben, aber schon stark vergröberten +Kopf. Bald, sehr bald würde von dem ganzen Zauber nur noch die Hengstallüre +übrigbleiben. + +Die Schöne hatte am nächsten Tische Platz genommen, so daß ich ihre kühle +und strahlende Erscheinung mit Muße betrachten konnte. Der Schmelz, die +Zeichnung der Brauen und des Ovals, die Augen, wie große, kostbare +Edelsteine eingesetzt, waren die eines vollendeten Renaissancegesichtes. +Man konnte sich kein typischeres denken. Ihr Lächeln beunruhigte. Und doch +war sie so jung! Jugend hielt noch, wie die Staubfäden einer Blüte, Fesseln +und Gelenke zusammen. Sie hatte sich erst ihres Schleiers entledigt, nun +folgte der Hut. Sie legte ihn neben sich hin. Ihr Haar, mit unerhört +raffinierter Schlichtheit getragen, umschmeichelte nur die Schläfen mit +seinem Gold und ließ die Stirne frei, jetzt wandte sie den Kopf. Da aber +kam ein platter Hinterkopf zum Vorschein, der Kopf der Viper, da woben +schon unendlich leise Fäden an ihrer künftigen Häßlichkeit, und da kündete +sich von fern der nach außen gerichtete, erinnerungslose Blick der +Vierzigerin, ohne Rückwärtsschauen . . . Lange blieben die beiden nicht, +stand doch die lange Fahrt noch aus, und mußte sie doch ruhen, bevor sie +sich langsam wieder schmückte zum spätesten aller Diners. Nicht nur mit +ihren Abendkleidern, auch durch spätes Erscheinen wetteiferten nämlich die +Damen im Palace. Konnte auf der Welt etwas ordinäreres sein, als schon um +neun zu Nacht zu essen? Und war dies nicht der Gipfel? + +Ihr Geliebter legte ihr jetzt den Umhang über, mit jener tiefen +Ehrerbietung, die ein solcher Mann einer solchen Dame gegenüber, die solche +Perlen mit in die liaison brachte, empfinden mußte. Auf seine Hand gestützt +und von den Kindern des Dorfes umstaunt, schwang sie sich auf das Gefährt +und griff in die Zügel. + +War es Einbildung? Hatte der Jammer des Krieges meine Augen geschärft? In +dieser zarten und köstlichen Gestalt hatte ich deutlich den Brustkasten der +Kindsmißhandlerin gesehen. Welch ein Scheinleben kutschierte da dahin? Das +leichte Getrapp ihrer Pferde, dann das Echo ihres Getrappes hallte noch +lange von den Felsen herüber. + +Was war es, das mich so feierlich stimmte? + +In den Gasthäusern und Hotels ging jetzt überall ein Klappern von Tellern +und Bestecken los. Es wurde geläutet und gegongt, und wer nicht im +Restaurant aß, der mußte sich bescheiden, vorgekochtes der Reihe nach zu +essen; ein Zwang wie ein anderer. Da war es schöner, noch etwas zu +streunen. + +Ein ungewöhnlich starker Mond stand in seiner ganzen Fülle; es wuchsen die +Berge unter seinem Hauch, das Dorf erblaßte wunderbar, eine graue Bank ward +ganz sie selbst. Die Funksprüche der sich bereitenden Nacht liefen wie toll +alle Täler entlang, und schon waren alle Täler berauscht. Auf dem Platze +hielt ein Gespann, die Gäule hielten die Köpfe gesenkt, als ob sie +träumten. Ich lief hinzu. Es war die Post, die nach Maloja fuhr. Es gab +noch einen Platz. Ich sprang hinein. Die Pferde zogen an. Bevor wir noch +das Ufer erreichten, stieg ein Reisender aus. Außer mir blieb nur ein +Liebespaar, das sich an den Händen hielt. Es war sich Mondschein genug. + +Den Kopf hinausgestreckt, trank ich diese Nacht, und hatte sie für mich +allein. Nichts war mehr, wie es war. Der See lag im Silberschleier +regungslos wie eine Tote, und der Mond goß Myrthensträuße über sie herab. +Nur das Gras des Ufers erhob sich in gespenstiger Lebendigkeit. Sicher war +es nur ein Spiel der Luft, daß die Berge hier zerfielen. Blöcke sich +lösten, als sei die Welt zu Ende; Felsensäle bauten sich in die Klüfte ein, +Riesengemächer warfen sich dazwischen. Es konnte nicht sein, und so sah die +Welt nicht aus. Auch die Liebesleute waren anders wie zuvor. Dieser edle +Pensieroso stieg als ein unscheinbarer Tourist in Sils Maria ein, und sie +hatte weder dieses Haar, noch diese Lippen gehabt. Morgen würde hier die +Sonne auf ödes Schilf vielleicht hinbrüten und das Paar nicht zu erkennen +sein. + +Als um ein Uhr morgens der Wagen mitten in Maloja hielt, stieg es wortlos +aus. Ich hatte kein Quartier bestellt und kam nicht unter. Außerhalb des +Ortes lag noch ein Hotel. So marschierte ich jetzt allein die taghelle +Straße weiter, geradeswegs auf einen neuen Absturz zu. Dort stand das Haus. +Ein junges und verschlafenes Mädchen führte mich über manche Treppe hinauf: +zufällig stünde das einzige Zimmer frei, das für Gäste reserviert blieb. +Alle andern hielt während des Krieges die Militärbehörde in Beschlag. Die +nächste Poststation sei italienisch. + +Sie reichte mir eine Petroleumlampe und verschwand. Die Stube hatte zwei +Fenster und war schneeweiß. Ich warf den Kopf weit auf die mondbeschienenen +Kissen zurück. So angelangt! + + * * * * * + +Aber nicht lange, und der einsetzende Kampf zwischen dieser Mondnacht und +der Dämmerung weckte mich aus dem Schlaf, Nebel mischten sich hinein und +wollten alles für sich. Endlich ragten Tannenspitzen ins Leere; der Absturz +war kein olympischer; eine Straße schwang sich, breite Kurven nehmend, in +die Tiefe. + +Gedulde dich, Leser, auch dies Buch geht jäh zu Ende. Folge mir noch. Hoch +steht schon die Sonne über das Bergland, ein anderes freilich als der +vergangenen Nacht. Von ihrem Spiel erholt, verströmt der See sein Blau, +nach allen Seiten, ganz verbuhlt. Myrthensträuße und Schleier sind +vergessen und hängen als weiße Fäden im Gesträuch. + +Wie seltsam ist die innere Stimme in uns! Welcher Stachel hatte mich zu dem +hart an der Schwelle des aufgerissenen Gebirges und kaum, daß es tagte, +hinauf, hinab und wieder emporgetrieben, wo sich zu höchst der Wälder und +noch in ihrer Mitte der See entzieht, verborgener Tränen zerflossener +Kristall, ohne Kahn und ohne Erdenstaub; und dann wieder zurück in die +Gaststube, um zu zahlen, und dann wieder aufzubrechen, mit der umgehängten +Tasche und dem lächerlichen Hut, an der Waldseite des Sees den Weg +einzuschlagen, den ich jetzt lief. Es war ein Notbehelf! Ich lief, um nicht +zu tanzen. Denn ich war inmitten eines Festes. Umgeben und geborgen, als +sollte die Gehobenheit nicht wieder von mir weichen, erreichte ich ein +Dorf, das als Landzunge weit in den See hinausstieß und jenseits der Zeiten +zu liegen schien. Eine alte Frau saß auf einer Bank vor ihrem Hause, und +ich bat sie, mich drinnen ausruhen zu dürfen. Wir verstanden einander +nicht, aber die Müdigkeit spricht ihre eigene Sprache zwischen Frauen. In +einer Stube des Erdgeschosses, die durch ihre edle Sauberkeit den Eindruck +des Luxus erweckte, stand eine schmale, gepolsterte Bank. Dort schlief ich +auf der Stelle ein. + +Als ich erwachte, war der Tag noch hell, aber schon gebräunt vom Golde des +Abends, und ich mußte eilen, um vor Anbruch der Dunkelheit in Sils zu sein. +Auch für mein Herz ging jetzt die Sonne unter, und das Fest verklang. Von +den Strapazen ausgeruht, war es zugleich, als sei mir durch den +kräftigenden Schlaf, wie ein Alltagszwilch, ein gröberes Ich übergeworfen +als das, welches seit gestern das meine gewesen war. Ob wohl mein Koffer +eingetroffen sei, wo meine Brotkarte stecken konnte, wo ich absteigen +sollte, derartiges beschäftigte mich wieder. Aber ich spreche von +verloschenen Kronleuchtern, oh Leser, und du weißt noch nicht, warum sie +brannten? + +Aber vielleicht hast du erfahren, daß es Träume gibt, deren Nachhall, statt +zu verklingen, sich bleibend, wie ein Echo zwischen Klüften, in unserem +Innern fängt. -- Solcher Art war der durchdringende Ton der Mondnacht in +Maloja. + +Es ist nicht gleich und nicht vergänglich, wie sich die Kurve eines Fußes, +der Umriß einer Schulter anläßt, wie ein Knie sich rundet, wie eine Hüfte +fällt. Es ist das Flüchtigste nicht gleich. Und ganz und gar nicht gleich, +noch zufällig ist es, welchen Ganges wir den Hügel abwärtsgehen. +Hochzeitlich können solche bald versenkten Dinge unverloren +weiterschwingen. + + * * * * * + +Die Wolkenversammlung war noch immer nicht anberaumt; vielmehr vertiefte +sich am nächsten Tage das weiß des Himmels und musizierte mit dem +Himmelsblau über das Fextal, das bewegteste der Erde, auf und nieder +schwingend wie eine Schaukel. Ragte, von unten gesehen, ein Kirchlein zu +oberster Schneide für sich allein, so stand es, war man oben, ganz +unsensationell in einem Wiesenviereck, und sein rostiges Gitter knarrte im +Winde, und nur die Berge rückten verändert und entschlossener zusammen. +Wieder in der Tiefe und weit hinausgeschoben, richtete ein Gasthaus seine +Glasveranda dem Gletscher entgegen. Auf ihn ging ich jetzt zu. Doch mit dem +Lichte wandelte sich mein Gemüt. Es brütete milchweiß von einem hohen, aber +sich überziehenden Himmel. Hinter mir fuhr ein kleiner Wagen her. Darin +saßen zwei Herren, die angeregt mit einer noch jungen Dame plauderten. Aber +der Weg hörte bald auf, fahrbar zu sein, und ich verlor sie aus den Augen, +graugrünes Nadelgehölz war um mich her und der entfärbte Fluß zu meinen +Füßen. Stolperte ich jetzt und stürzte ich hinab, wer würde mich vermissen? +In welchem Hause entstand eine Lücke, wenn ich nicht wiederkam? + +Kein Dach, kein Herd, kein Wesen; überall zu Gaste! keinem Menschen +ungeteilt und wirklich zugehörig; als immer wiederkehrenden Gefährten die +entsetzliche, gefürchtete Melancholie, die ich so feige, so vergeblich +floh. Nun stellte sie mich angesichts dieses Tales der Verlassenheit. Wozu +bist du hier? herrschte mich seine Stille an. + +Der sonnenlose Himmel über dem Nadelgehölz, mehr noch der Fluß, dem +Gletscher hier entlassen, und seinen Lauf so blaß beginnend, griff ans +Herz. + +Plötzlich stand die noch junge Dame vor mir und sprach mich bei meinem +Namen an. Nun war stets meine erste Sorge, daß er in keine Hotelliste kam. +»Woher wissen Sie, wie ich heiße?« fragte ich und wollte die Spröde +spielen; aber da gab sie mir zu wissen, daß sie meine Bücher kenne. Sie +lebte in Genf und war Amerikanerin. Wir wechselten einige Worte, dann stieg +sie wieder hinab. Gleich darauf rollte das Wägelchen mühsam aufwärts, in +dem die noch junge Dame mit ihren Freunden plauderte. Gewiß -- man sah es +ihr an -- standen, wenn sie nach Hause kam, ihre Abendschuhe bereit, und +ein freundliches, ihr ergebenes Zöfchen half ihr, sie anzulegen. Wie +verwahrlost ich war! + + * * * * * + +Als ich am Morgen darauf erwachte, lag weithin Schnee. Ich klingelte +entsetzt. Der erste Postwagen brachte mich ans andere Ende des Tales, zum +Zuge, und schnell in eine vom Winter noch nicht heimgesuchte Welt hinab, wo +Zürich einer entbrannten Ebene zulief, die von der Glut des Sommers +weiterträumte. Hier reißt der See ein weites Fenster nach dem Himmel auf: +es ist die hellste Stadt der Welt. + +Aber von hier aus jagte mich eine dringende Depesche Fortunios fort, der +mich bat, sofort nach Spiez zu kommen, mit dem Zusatz: »Besitzer auf zwei +Tage verreist.« + +So war ich abends unterwegs zur Villa des Geölten, die ich nicht wieder zu +betreten glaubte. Da war das Gitter, der Kiesweg, der sich so schnell +verlor. Man sah das Haus erst, wenn man davor stand. + +Fortunio aber war schwer krank. Verfallen, zerfurcht, zerwühlt. Wir aßen im +Schloßhotel zur Nacht und besprachen die Abreise für den morgigen Tag. Ich +fühlte meine Arme erstarken, in dem Wunsch, ihm zu helfen, und unser schier +geisterhaft geschwisterlicher Bund war durch die Trennung neu erhellt. Am +nächsten Tage aber lag er zerrüttet, ohne Energie. + +»Morgen, morgen«, sagte er. Ich reiste ab, nach Bern, Fortunia zu +alarmieren. Ihr Gesicht erinnerte an ein von schwerem Regen heimgesuchtes +Land. Ohne Schonung schilderte ich seinen Zustand und ließ dann die Sache +bei ihr. Um nicht in Bern zu bleiben, fuhr ich abends nach Montreux. + + +HERBST 1918. + + +Montreux. + +Nur lachenden Auges werden hier die Zeitungen gekauft. Der Belgier und sein +Kind waren ohne Schadenfreude. Die Filme arbeiten schon stark mit +elsässischen Hauben. Sie werden lebhaft beklatscht, in der Voraussetzung, +daß sie nicht mehr lange deutsch bleiben. Schließlich ein begreiflicher +Jubel. Entsetzlich ist nur der Applaus, als englische Munitionskammern +aufziehen, emsig mit Granatendrehen beschäftigte Frauen und Geschosse in +unabsehbaren Reihen. »Gehen wir!« rufe ich, und wir verlassen das Haus. Süß +schlagen die Wellen ans Land. Die Berge des andern Ufers erheben sich +unmittelbar, als gründeten sie in den Tiefen des Sees. Sie sind kahl und +scheinen dennoch weich, selbst im Dunkel der Nacht; wie Gesänge abgestuft, +steigen und fallen und treten zurück und verhallen die Berge Savoyens. + +5. OKTOBER. Glasenfrosts in Villeneuve geben mir die Nachricht, daß +Deutschland um einen Waffenstillstand nachgekommen ist: Mein einziger +Wunsch ist, es möge die Welt, die es als Sieger verloren hatte, als +Besiegter wieder für sich gewinnen. Die In-die-Knie-Zwinger Britanniens, +die ohne Briey nicht leben konnten, sind mit einem Male still. + + +6. OKTOBER bis Anfang NOVEMBER. + +Fortunios sind angekommen, sie wohnen in Vevey, und er erholt sich. Zum +ersten Male bildete sich unser Zusammensein als heller Punkt und geordnete +Fläche heraus. Augenmerk und Sorge sind durch die Ereignisse zu sehr in +Anspruch genommen, um uns bewußt zu werden, wie sehr es einem bekränzten +Floß inmitten schwarzer und gestoßener Fluten glich; Und wie hätten wir da +anders als in der Erinnerung wahrgenommen, daß wir schöne Tage verlebten? + +A. H. Pax ist aus Bern gekommen. Der Belgier und sein Kind finden sich +regelmäßig ein. + +Dabei wütete die Grippe. Viele Särge harrten der Bestellung. In den +Blumenläden häuften sich die Kränze, Halbgenesene, in tiefer Trauer, traten +leichenblaß das erstemal vors Haus. + +Doch die Zärtlichkeit des Herbstes, seine Zärtlichkeit und sein Verweilen, +seine Glorie ward unendlich. + +Eines Nachmittags strichen wir in den Höhen des Weinberges entlang. Unter +einem silbern aufgerollten Himmel dehnte sich der See, schimmernd, +unbewegt, ein wenig müde . . . + +Plötzlich, mit einem Ruck, fuhr der Wind weit und durchdringend auf, als +stöhne er die ganze Erdkugel entlang das Ende der schönen Jahreszeit +hinaus. + +Im Nu schlugen die Wolken über die Sonne hin. Fortunio hatte den Kragen +aufgesteckt, sein Hut rollte den Berg hinab. Wir lachten. Doch der Weg war +weit. Schon wußte der See nichts mehr von seinen Ufern. Unter Nebelschauern +waren alle Berge, ja wir selbst, unsichtbar. + +Am nächsten Morgen war für jedes Kind ersichtlich, daß Fortunio die Grippe +hatte, aber wir taten nicht dergleichen. Statt im freien, versammelten wir +uns an seinem Lager. Man hielt es in jenen Tagen allein nicht aus. Bang und +fröstelnd rückte man zusammen. Denn auf dem Streitroß, dessen Nüstern von +Hoffart, Haß und Vergeltung sprühten, und wie ein Sturmgott kam ja der +Friede heran. Wehe, es war jener Gewaltfriede, jener Macht- und Siegfriede, +von dem in Deutschland so viel geredet worden war, und den abwehren zu +wollen, den zu fürchten, als ein Verbrechen galt. + +Und indessen lösten sich in unserer kleinen Gruppe hineingetragene +Dissonanzen weiter aus, und statt der chronischen Trübungen stimmten sich +ganz ohne unser Zutun unsere Gemüter wie Instrumente zu täglicher, reinerer +Melodie. Fortunias Gesicht glättete sich und erlangte seine Pinturichiotöne +wieder, und während der Aufruhr stieg, bildeten wir eine uns selbst +unvergeßlich gewordene Insel des Friedens. + + * * * * * + +Als sich die Sonne nach einer Regenwoche wieder zeigte, war die Welt eine +andere. Das Renommierboot mit seinem rostbraunen Segel zog wieder auf, aber +es blähte sich über ein gesteiftes und gepeitschtes Blau; die +weißgeharnischten Berge waren näher gerückt, und wo das Laub noch grün +geblieben war, hatte es ausgeträumt, hing ohne Illusion, des Todes +gewärtig, und daß es fallen würde. Im Hotel spielte die Heizung, und ein +von sich überzeugtes Ehepaar: le Vicomte Edmond de la Province, einem Roman +von Claude de Bernard entlaufen: Madame korrekt bis ins Grab hinter der +vorangetragenen Corsage, Monsieur im Bart, Schloßbesitzer, zogen schweigend +über Flur und Treppe, und faszinierten durch ihre abgründige +Zurückgebliebenheit. + +Unsere Gruppe indessen hatte sich verkleinert. Erst war der Belgier und +dann sein Kind erkrankt. A. H. Pax saß wieder in der Choisystraße. Das alte +Deutschland stürzte wie eine Kulisse zusammen, und Trümmer waren fürs erste +der einzige Ausblick. Fortunio, von Ungeduld verzehrt, erklärte aufstehen +und nach Berlin reisen zu wollen. Fortunia fuhr nach Bern, das Haus für die +Abwesenheit zu bestellen, und ich folgte mit ihm den Morgen darauf. Wir +saßen einander im Zuge gegenüber, sein Husten war ein Gebell. Am selben +Nachmittage brachten wir Fortunios mit Pax an der Spitze, zur Bahn und +ließen sie, wie Flammen über das Moor, ins Weglose ziehen. Denn schon +fluteten die aufgelösten Heere in unbeschreiblicher Verwirrung aus den +besetzten Gebieten ins Land zurück. Die Lauben hinabsehend, unschlüssig wo +ich absteigen sollte, versagten mir plötzlich die Knie, Fröste wie graue +Blitze durchfuhren mich, und mein Husten war ein Gebell. Diese nicht zu +verkennenden Symptome jagten mich wieder an die Station, um mit dem letzten +Zuge nach Montreux zurückzufahren. Denn lieber, als angesichts des Gurten +wollte ich dort erkranken, wo im Hotel Suisse als chefesse de réception +eine so angenehme Erscheinung waltete, und ich den Nachtportier zum Freund +besaß, ein komischer, alter Schwabe, den ich deutsch ansprach, sowie der +Lift ohne Insassen und in der Schwebe war. + +Nun war es Sonntag. Das heiße Wasser also lief. Vielleicht vertrieb mir +eine heiße Dusche den Frost. Aber das Wasser war schon lau. Dafür gerieten +die grauen Zickzackblitze in Brand und drückten mir eine Feuermütze ins +Genick. Da ließ ich mich denn grippekrank melden und stellte anheim, mich +aus dem Hause zu schaffen. Aber die angenehme Erscheinung aus dem Bureau +kam herauf, mich zu beruhigen. Dann äußerte sie einige unverständliche +Dinge und verschwand. Bald darauf trat ein Mann herein, den ich für einen +Raubmörder hielt, gefolgt von einem fürchterlichen und handfesten Weib ohne +Kopf, seiner Helfershelferin. Ich wollte rufen, da hatten sie mich schon +gepackt. Jetzt, dachte ich, ist doch alles eins. + +Eine Stunde später lag ich mit aufgerissenem Rücken, geschröpft wie ein +Hengst. Ich erzähle dies nur, weil ich dank dieser so immediaten und +buchstäblichen Roßkur schon nach zehn Tagen, statt vielleicht nach Wochen, +die Grippe spurlos überwand. + +Mittlerweile erdröhnte dem so glücklich gewesenen Deutschland die im Lauf +seiner Geschichte noch immer zurückgekehrte Stunde seines Unheils. Es war +der eine Gedanke meiner leeren Tage und langen Nächte; ihn auszuschlagen +war unmöglich. + +Im ersten Stadium meines Fiebers fiel mir an dem Stubenmädchen, das hin und +wieder in mein Zimmer trat, nichts bemerkenswertes auf, als daß sie mir +sehr einsilbig und nicht freundlich vorkam. Pech! dachte ich. + +Am dritten Morgen aber, als sie das Zimmer räumte, folgte ich ihr mit den +Augen, während sie wähnte, daß ich schlief, und das Herz stand mir still. +Hermione! wollte ich rufen. Nein, Andromache im Palast des Priamus, ob +ihrer Anmut erstaunt, und der leichteste aller Tanagra zugleich! So stand +sie, den Besen führend, in der Mitte des Zimmers. War ich im Delirium +gelegen, daß ich sie nicht gesehen hatte? Sie kam auf mich zu: Ȑtes-vous +plus mal?« Aber ich wehrte ihr mit beiden Händen ab. »Cela m'est égal«, +sagte sie, »de prendre la grippe.« Was war melodischer, dieser Mund, diese +Lippen oder diese Stimme? -- Und ein solches Geschöpf umgab mich mit ihrer +Pflege. Welch unerhörter Luxus! Die Sonne ging vor meinem Fenster auf, +alles Leben im Geleite, und lachte des Todes bis zum Mittag. Pauline +Glasenfrost kam täglich aus Villeneuve, brachte die Zeitungen, beschenkte +mich und spottete der Ansteckung. Knirschend las ich alle Noten und Appelle +an die Großmut der Sieger. Welche Verkennung der Situation! Aber was +bedeutete dieses Versagen angesichts der Würde, welche ein solches Unglück +gab? Und wiederum würden nur die Unschuldigen leiden. Die Taktik der Sieger +würde es den Schuldigen ermöglichen, sich herauszureden. Schon damals sah +man es kommen. -- Ich läutete und bat Hermione, mir von sich zu erzählen. +Sie stammte aus dem Wadtlande. Ihre Heimat lag hoch über den Weinbergen und +hatte die Gletscher im Auge. Ich bat sie, einen hellen Mantel von mir +anzulegen. Wie er ihr stand! + +8. NOVEMBER. Bevor mein Freund, der Nachtportier, zur Ruhe ging, brachte er +noch die erste Post. An diesem Morgen trat er ein, reichte mir ein +Extrablatt und verkündete lakonisch: »In Bayern ist Republik.« Mein erstes +Gefühl war kein gelinder Schrecken. »Es mußte kommen«, sagte ich dann. Der +Portier war Demokrat. »'s isch recht. Runter mit dem Zeug«, sagte er und +ging. -- So war also Bayern Republik. Das Extrablatt war nur ein kurzer +Wisch; eins aber wußte man sofort: daß dieser so wenig ästhetische König +nie wiederkehren würde. Die Wittelsbacher waren stets Liebhaber des Schönen +gewesen, und in ihrer natürlichen Diskretion eines der sympathischsten +Fürstenhäuser der Welt. Daß er aber auch nicht eine einzige ihrer typischen +Eigenschaften besaß, sondern durch eine sture Haltung während des Krieges, +sowohl in der elsaß-lothringischen, wie in allen politischen Fragen statt +vermittelnd zu wirken, überall nur Unheil anrichtete, flößte die geradezu +unwiderstehliche Abneigung für ihn ein. + +Plötzlich blieben Briefe und Zeitungen ganz aus, und die Spannung wurde +unerträglich. Es wehte eine scharfe Bise, doch ich fuhr nach Villeneuve. +Vielleicht hatten Glasenfrosts etwas gehört. Sie waren von den rührend +beseelten Manifesten Eisners sehr eingenommen, und wirklich hatte man in +diesen Tagen die Illusion, am Anfange einer besseren Zeit zu stehen, ob es +sich auch nur um eine einzige, schnell aufgehaltene Stunde handeln sollte. +Und nicht einmal ihr ließ man Zeit. »Man verlange von uns nicht,« beeilte +sich die die Politik Clemenceaus vertretende Freie Zeitung zu schreiben, +»daß wir uns mit dieser Sache da, genannt deutsche Revolution, ernstlich +befassen.« Und man eiferte um die Wette, sie zu »dieser Sache da« zu +machen. Sie hatte es schwer, alle Konjunkturen dafür um so leichter. Schon +war sie wie eine Decke, um deren Enden sich die Schuldigen, die Unlauteren, +die Banditen rissen, und alle Karrierejäger gerieten wieder ins Laufen. Wer +hätte gedacht, daß alle die dienstbeflissenen jungen Herren, die mit +umgeschnallter Seitentasche so flink und so stramm ins Hauptquartier +Meldungen überbrachten und entgegennahmen, überglücklich, bis zu Ludendorff +in Person vordringen zu dürfen, daß sie im Grunde ihres Herzens solche +Feinde des Systems und so demokratisch waren? Nie sah die Welt ein vom +alten Regime so gut besuchtes nouveau régime! + +Suchte man im eigenen Garten das scheue Pflänzchen, das mitten im Sturme +Morgenluft witterte, von allen Seiten an beliebige Stakete zu biegen, und +sah es das Ausland mit begreiflichem Mißtrauen keimen, so erfuhr man in der +Schweiz infolge des gerade in diesen Tagen einsetzenden Generalstreikes +überhaupt nichts davon: er stand allein im Vordergrund und beschäftigte +alle Gemüter. So wurde hier, gerade in ihrer kurzen Glanzzeit, die deutsche +Revolution unterschlagen. + +In jenen aufregenden Wochen kam ich wieder mit Romain Rolland zusammen. +Mehr als je zeigte er sich jetzt als der Mann ohne Illusion, was Wilson, ob +er auch dessen guten Willen nicht in Frage stellte, und was die Entwicklung +der Dinge betraf. Ich fand ihn viel zu skeptisch. + +Im selben Hotel, wie Glasenfrosts und Rolland, wohnte auch eine Schweizer +Familie, die sich sehr für ihn interessierte, durch seine große +Zurückhaltung aber in Schach gehalten fühlte. Eines Mittags, da ich bei ihr +zu Gaste war, bat ich ihn, ein übriges zu tun, und sich zu uns zu gesellen. + +Ich sehe ihn so deutlich vor mir, wie er an jenem Tage, seine alte Mutter +am Arme führend, in seiner ruhigen und ein wenig geheimnisvollen Art zu uns +stieß. Das Gespräch drehte sich natürlich um den Generalstreik und dann um +den Bolschewismus; für die Westschweiz hätte man zum Glück ein treffendes +Agitationsmittel gegen ihn, da er deutscher Import sei. Rolland schwieg. + +»Der hat der Welt gerade noch gefehlt«, sagte ich, und sah einladend zu ihm +hinüber, damit er sich äußere. Vergebens. Er erwiderte nur auf direkte +Anfragen und ohne eine Meinung abzugeben. So sprachen halt in Gottes Namen +nur wir. Ich ging dann zu Glasenfrosts hinüber und schilderte das +mißglückte Beisammensein, bei dem ich zuletzt als verzweifelte Wortführerin +die Grippe, die Witterung und endlich die Tatsache erörtert hatte, daß jede +Stadt, ja jeder Ort ein anderes Modell für seine Leichenwagen besäße. Aber +auch diese originelle Wendung fiel unter den Tisch. + +Es hatten Regenschauer eingesetzt, und Glasenfrosts hielten mich noch eine +Weile zurück. Wir waren uns in diesen Tagen noch sehr einig, und er hielt +sich bereit, nach München zu fahren und Eisner bei Seite zu stehen. +Vielleicht hatte doch die Geburtsstunde des tausendjährigen Reiches +geschlagen, und die Gefallenen waren nicht umsonst an seiner Schwelle +geblieben. Waren sie nicht schon ein einziges Heer? + +Aber Rollands rätselhafte Haltung ließ mir keine Ruh, und als ich endlich +aufbrach und die langen, klosterähnlichen Gänge des Hotels entlangging, +machte ich plötzlich kehrt und klopfte, ohne mich zu besinnen, an seine +Türe. Es war ein kleines Durchgangszimmer, mit einem bescheidenen Pianino, +auf dem sich Musikalien häuften. Rolland stand in Hut und Mantel, im +Begriffe auszugehen, und sah mich erstaunt an. »Es tut mir sehr leid,« +sagte ich, »Sie so zu überfallen. Aber ich möchte wissen, was Sie +eigentlich denken. Sie schweigen sich aus, Sie lächeln ein wenig hämisch, +und das ist alles. Wer soll da klug daraus werden? -- Ich frage Sie nicht +aus Neugier.« + +Rolland legte seinen Hut auf das Klavier. + +»Sie sind so ahnungslos,« sagte er, »Sie wissen so wenig, was sich +bereitet.« + +»Aber doch nicht der Bolschewismus«, rief ich. »Das ist doch nicht Ihr +Ernst! Und Sie sind doch kein Bolschewik.« + +»Nein,« sagte er, »aber ich habe nicht Ihre summarische Auffassung des +Problems.« + +»Das neuerwachte Deutschland«, sagte ich, »wird die Welt davor retten.« + +Rollands Züge nahmen einen müden Ausdruck an. + +»Ich bin voll guten Mutes«, fuhr ich fort. »Haben Sie die letzten Aufrufe +gelesen? Diese Absage an jegliche Gewalt? Eine neue Ära hat ihren Anfang +genommen. Wir haben unseren Militarismus zum Teufel gejagt. Endlich schlägt +die Stunde, wo man sich angesichts eines wahren, befreiten und +sympathischen Deutschlands auch seiner unsäglichen Leiden entsinnen wird.« + +»Kommen Sie,« lächelte Rolland, »welches Interesse haben heute die Sieger +an einem sympathischen Deutschland?« + +»Aber nicht nur die Sieger«, versicherte ich. »Die ganze Welt hat ein +Interesse daran, daß die deutsche Revolution aus den Verirrungen der +französischen wie der russischen lerne und endlich jene vorbildliche und +maßvolle sei, welche die Menschheit ihrem Glücke näherbringt. Und alle +Anzeichen sprechen dafür: Hören Sie doch, mit welch reinen Glockentönen sie +sich kündet. Oh sie wird schön!« Rolland lächelte nicht mehr. »Sie wird +furchtbar!« sagte er. »Morgen schon wird Eisner sich überrannt sehen und +seine Gegner zu beiden Seiten haben. Der Bolschewismus ist in Rußland nicht +nur durch die Stoßkraft der Linken, sondern mehr noch durch den Gegendruck +der Rechten das geworden, was er heute ist. Man kann die Deutschen nicht +genug verwarnen. Wenn auch bei ihnen die Reaktion eine Bewegung zu +unterdrücken unternimmt, die wie ein ausgetretener Strom heranbricht, so +werden sie ganz ähnliche Zustände herbeiführen. Es ist absurd, seiner +elementaren Gewalt morsche Dämme entgegenzustellen, statt sich seinem Lauf +anzupassen, und was er lebendiges heranträgt, zu vertreten. Unsere +Gesellschaft hat ihre Berechtigung gehabt, aber sie hat versagt, und ihre +Zeit ist um. Mögen wir es noch so sehr bedauern, mag viel Schönes mit ihr +untergehen, die Reihe ist nicht mehr an uns, sondern an den anderen. Nichts +kann diese Tatsache aus der Welt schaffen. Wir müssen uns zu ihr stellen.« + +»Sollen wir denn alle Holzhacker werden?« fragte ich betreten. + +»Der Typ des Literaten,« entgegnete Rolland, »dem wir seit einigen +Dezennien so vielfach begegnen, wird jedenfalls verschwinden, und ich weine +ihm nicht nach. Ein Gespräch mit nach Bildung strebenden Handwerkern ist +mir heute schon viel genußreicher und interessanter. Was der Literat mir +sagen wird, weiß ich von vornherein.« + +»Mein Gott,« seufzte ich, »es pflegen nicht einmal die Könige freiwillig +abzutreten, viel weniger ganze Kasten. Sie werden den Kampf aufnehmen und +uns eine blutige Morgenröte bescheren. Was ist zu hoffen?« + +»Nichts für die Gegenwart, sie ist zu korrupt«, sagte er. »Aber alles für +die Zukunft. Ich bin kein Pessimist.« + +Rollands Worte, die ich auf dem Heimweg überdachte, waren viel +reichhaltiger und prägnanter, als ich sie hier aus dem Gedächtnis +wiedergebe. Wenn aber eine neue Klasse zur Herrschaft gelangte, würde sie +weniger versagen, als alle anderen, und war anzunehmen, daß ohne furchtbare +Erschütterungen die frühere Gewalt sich von der neuen aus dem Sattel heben +ließe und etwa mit Rolland eingestehen würde, »ihre Zeit sei um?« + +Meine Eindrücke von St. Moritz schwebten mir vor, und ich dachte an +Hermione, wie edel sie war. Aber war nicht alles erlesene prozentual? Was +also stand von den Massen zu gewärtigen? Die Macht selbst mußte +abwirtschaften und sich auf neuer Basis konsolidieren. War nicht allem +Anschein nach die Ära der schlechten Päpste geschlossen, weil sie +verhältnismäßig machtlos geworden waren? Anderseits hätte der Papst die +Rolle Wilsons mit mehr Glück, mehr Einblick in die europäischen +Verhältnisse übernehmen können, wäre er so mächtig gewesen wie er. Macht +also war und blieb die Losung. Eine Macht jedoch, die keine Lockung dem +Gemeinen böte, ganz auf Erprobung ihrer Träger begründet, ohne Vorteile für +ihn, ohne Befriedigung des Ehrgeizes, anonym vielmehr, Verzicht und +Selbstentäußerung bedingend, als Stein des Weisen der Weise selbst. Oh +Zarastro, Herr der weltabgewandten, namenlosen Gewalt! + +Schwer und langwierig, immer wieder aufgehalten und die Anspannung von +Generationen erfordernd, aber nicht unmöglicher als die endlich geglückte +Beherrschung der Luft, wäre die gleichsam auf immer luftigeren Pfeilern +emporgehobene, in sich selbst beruhende Macht. + +Ich ging, vom Winde förmlich vorangetragen, den Weg nach Montreux. Die +Wellen zogen in finsteren Reihen zum Angriff, und war dort nicht die Weide +von Territet, sie, die im Frühling in den Schleiern ihres jungen Grüns vor +Entzücken über sich selbst zerfloß? Nun aber schlug der See mit großem +Getöse bis zu ihnen auf, die müde niederhingen bis zu ihm; Und dort hinter +seinem Gatter hatte angesichts der Ufer ein Tulpenbeet geblüht. Die +stillsten aller Blumen standen dort so sanft und so gerade! oh Weide von +Territet! Oh stille Tulpen, mit denen ich gewesen war! Was blieb ich am +Gitter hängen, die Hände an die Schläfen gepreßt, der Knecht mit dem Talent +des einzigen Gedankens? Törichte Hoffnungen hatten mich schon wieder +hingerissen, denn der Winter unserer Leiden stand noch aus. Der Stein aber, +mit dem ich mich schleppe, zermalmt mir das Hirn. Wer legt das Fundament +des sich immer schroffer nach innen ziehenden Baues, mit den immer +abweisender sich schließenden immer geheimeren Pforten, durch keine andere +Gewalt zu sprengen, als jene, welche der Himmel leidet. + +Die Theorie einer immer strengeren Auslese -- der Natur selber entnommen +--, weit entfernt, eine hochfahrende zu sein, ist ja die demütigste der +Welt. Keine führt so tief in unser Inneres hinab, um aufs neue dasselbe +Schauspiel wie nach außen zu enthüllen. Denn hier sieht sich der Berufene +noch einmal einem ganz ähnlichen Kampfe überwiesen. Wie unbegreiflich sind +oft seine Schwächen! ebensovielen untergeordneten Wesen vergleichbar sind +sie gegen ihn in Aufruhr und sind beständig die Schlingen gelegt. Daß der +Gerechte siebenmal des Tages fällt, konnte nur ein Gerechter äußern. Zwar +ist sein Merkmal, sich immer wieder aufzurichten und einzuholen. Aber jedes +versagen läßt an Boden verlieren, die Gelegenheiten sind gezählt, und eines +Tages ist man hinter sich zurückgeblieben. Keiner ist auserwählt, der sich +nicht durch eigene Kraft dazu vermochte. Berufener und Auserwählter, wie +gefährdet sind beide! Denn so manchen, der seinen behielt, stürzte ein +Laster von seiner Höhe. + + * * * * * + +Und nun kam ein Tag, an dem Montreux, bunt wie ein Jahrmarkt, den tollsten +Anblick bot, seitdem es stand. Alle Länder der Erde -- bis auf die paar +niedergerungenen -- beflaggten das Ende des Krieges. Und nicht nur an den +Dächern und von den Fenstern, den Mauern und Toren, sogar an den Menschen +selbst schlugen Fahnen hin und her; von den Jacken, den Hüten, ja den +Händen der Kinder zogen Fähnchen auf. Schon sprangen die internierten +Offiziere mit sehr deutlicher Siegermiene (kannte man die nicht von Potsdam +her?) von den Autos ab. Es war ein allgemeiner Jubel, von Hohn und +Verwünschungen untermischt. Wer diesen Tag hier erleben mußte, der +erwartete nichts. Dem kündete sich der Geist des Friedens von Versailles +und Saint Germain. Das jubelnde Gewoge, die Saturnalien von Fahnen raubte +mir die Fassung. Ich lief meinen hervorbrechenden Tränen davon, die Häuser +entlang, am Bureau des Hotels vorbei, in mein Zimmer hinauf, wo ich mir den +Schleier vom Gesicht riß: ein Klageweib! -- Prophetin meines eigenen +Schicksals, als ich zu Anfang dieses Krieges schrieb: »Leute wie wir, +werden am Tage des Sieges sich verkriechen müssen, denn immer wird es +Jerusalem und seine Kinder sein, um die wir weinen werden.« + +Die Hungerblockade blieb von den Siegern, die für Recht und Menschlichkeit +gekämpft hatten, über den erdrückten Gegner, auch nach Einstellung der +Feindseligkeiten, verhängt. Und es lag, wie Rolland mir vorhergesagt hatte, +nicht im Interesse der Sieger, die edle und gepeinigte Opposition in +Deutschland zu stützen. Eine unsympathische Regierung als Aushängeschild +des deutschen Volkes aufrechtzuerhalten, gehörte vielmehr zu den +strategischen Notwendigkeiten dieses Winters der Friedenspräliminarien von +Versailles. Da ich kein Kriegsbuch schreibe, seien die nächsten Monate +überschlagen. + +Während dieser Zeit fuhren die Militaristen aller Länder fort, sich wacker +in die Hände zu arbeiten, und über jede Härte und Unmenschlichkeit der +Alliierten triumphierten die Anstifter der Verwüstungen und Deportationen. +Denn so kam doch ihre Mühle wieder ins klappern, und das Wort von der +»erdolchten Front« schnupperte aushorchend in der Luft. Damals wurde ich +aufgefordert, so manchen ganz vergeblichen und würdelosen Appell zu +unterzeichnen, mit dem Hinweise, früher hätte ich zu protestieren gewußt, +jetzt, wo die Untaten von der andern Seite geschähen, schwiege ich mich +aus. Ich zog es aber vor, auch hier meine Kundgebung solo zu verfassen; sie +erschien in der Neuen Zürcher Zeitung. + +Denn sie hatten ja recht: es galt zu sagen, daß diese ganze Welt +ununterschiedlich des Teufels war. Traurig stimmte es nur, daß all die +Mahnrufe und das viele Aufbegehren aus den Reihen derer stammten, die +vielfach kein Recht dazu besaßen, während sie schwiegen, die wirklich +Unschuldigen, abscheulich in Stich gelassenen, Betrogenen, die während des +Krieges auf Gefahr ihres Lebens ungenannt und langen Mutes vor Gottes +Angesicht das wahre Deutschtum vertraten. + +In der Opposition entdeckten sie jetzt alle ihr Herz. Mit welch herrlichem +Gefühl und welch aufrichtendem Stolze stand Heinrich Mann der Republik zu +Pate! dort riß nicht ein einziger aus; bei dem vielverfolgten Lichnowsky, +laut des Friedensvertrages tschechisch gewordenen Magnaten, angefangen, der +sich als Deutscher erklärte; was ich wirklich nicht erwähnen würde, hätten +nicht so viele Patrioten aus ihren Papieren fremdländische Patente +herausgeklügelt und sich mit einem Male als Schweden, Schweizer, Holländer, +sogar als Engländer präsentiert. Die beste Illustration für den +Nationalismus, die es geben kann. + +Jenes Wort, welches mir seinerzeit so verübelt wurde, daß es Boches in +jedem Lande gäbe, sollte sich übrigens nur zu sehr bewahrheiten. Jeder +Militarist, gleichviel welcher Staatsangehörigkeit, ist ein Boche. Und wenn +er Schimpanse zu Aufsehern eines Volkes bestellte, das der Welt einen +Grünwald geschenkt hat, so wäre er eben ein Boche; jener Grünwald aber, ob +er sich ihn noch so oft holte, ei, der bleibt deutsch. + +Als ich um die Blütezeit zum ersten Male wieder das deutsche Ufer des +Bodensees sah, war ich von der Pracht seiner Bäume bewegt. Diese wenigstens +konnten dem armen und geschlagenen Lande nicht genommen werden. -- Und +diese eben hatte es dem andern mit großer Genugtuung meilenweit abgehackt. +Es ist ja das typische Merkmal des Militaristen, zu glauben, daß er den +andern trifft, wo er sich selber entehrt. + + +FEBRUAR 1919. + +Mit dem Berner Internationalen Sozialistenkongreß, dem seit August 1914 +einzigen Ereignis von wahrhaftem Sein, das mitzuerleben mir vergönnt war, +schließt dieses Buch. + +Hoch über den Bernina-Alpen und dem Julier türmten sich die Wolken zu +goldenen Toren und zu glühenden Rossen. Phaeton, wieder erstanden, lenkte +sie wieder, die italische Ebene im Angesicht. Die Spuren der Räder, waren +sie nicht der Rauch, der am Himmel verflog, während nach Norden hin das +Gebirge zu Tod erblaßte? Auch der nach Süden gerichtete Wald starrte unter +der Last des Schnees. Doch die Luft wehte so befiedert leicht über ihn hin, +und es herrschte ein Licht wie über Palmen. Man hatte Glatteis unter den +Füßen und war dem Winter entronnen. + +Aber Fortunios Gesicht war wie zerhöhlt von Ungeduld. »Haase ist schon in +Bern,« sagte er, »der Kongreß ist im Gang. Wir müssen hinab.« + +Da es der erste war, dem ich beiwohnen sollte, verband ich weiter keine +Vorstellung mit ihm, als die mehr oder minder langweiliger Reden, und ohne +sonderliche Erwartungen betrat ich zum ersten Male den Saal. Kein +Delegierter aber drängte von nun an eiliger zu ihm zurück. Oft war er in +der Mittagspause noch geschlossen, als ich schon davor wartete. + +Zu den Morgensitzungen ging Frau v. Schreckenburg mit mir. Nachmittags saß +ich am Tische mit Fortunios, vor uns die Franzosen. Da waren Renaudel, +Cachin, Longuet, Rappaport, Loriot, Faure, dann kam der englische Tisch mit +Henderson, Macdonald, Norman Angel. Von dort leuchtete das leichte Gold von +Mrs. Snowdens Haar. Sie trug keinen Hut. Der schöne, zarte und energische +Kopf war der Lichtpunkt des Hauses. Die Deutschen und Österreicher saßen +ganz vorn, zu weit entfernt, um sie zu unterscheiden, es sei denn, daß sie +sich erhoben. + +Bleich, abgezehrt, den schmalen und ehrwürdigen Kopf ein wenig seitwärts, +stahl sich im fahlen Schein des Wintervormittags der, eben von der Bahn +gekommene Eduard Bernstein bescheiden herein. Die französischen Sozialisten +sahen ihn zuerst, eilten auf ihn zu und begrüßten ihn stürmisch. Daraufhin +erhob sich der ganze Saal zu einer Ovation. Wie frohlockte da mein +undemokratisches Herz! + +Als Viktor Adler auf das Podium trat, gaben wiederum die Franzosen das +Zeichen zu einem lang andauernden Applaus. Adler war der Motor des +Kongresses. Unerbittlich die Mitte einhaltend, wies er jede Parteilichkeit +schroff zurück, von welcher Seite sie auch stammte; ihm war das gleich. +Sein blasser Löwenkopf tauchte dann zum Angriff auf: »Un homme politique, +mais pas de bonne politique«, forderte er Renaudel heraus. Seine Stimme +klang wie Erz. Aber allen Differenzen, Vorwürfen, Ausreden, Angriffen zum +Trotz fing eine Einigkeit sich herauszuschweißen an, und wie unter einem +glühenden Hammer stoben Funken zu einer Garbe auf. Haß schmolz zu +Mitgefühl. -- Zwar wurde jenen deutschen Delegierten, welche die Politik +ihres Landes zu verteidigen suchten, prompt die Unmöglichkeit eines solchen +Unterfangens zu Gemüte geführt, stellten aber dann ihre Angreifer den +deutschen Militarismus immer wieder allein an den Pranger, so wurden sie +regelmäßig von Zwischenrufen wie: »Et le militarisme français! et le nôtre! +et tous les militarismes!« von der französischen Linken unterbrochen. + +Überhaupt war dieser französische Block der beste, der wärmste. Von ihm +ging das Unbehagen aus, wenn ausschließlich das deutsche Sündenregister +stieg. Scheu, Zartgefühl, Respekt (ja Respekt!) vor dem Geschlagenen (weil +geschlagen), sie stammten von dort. Und schon gärte die Atmosphäre wie ein +starker Wein. Klug wie ein Erzengel ließ der hochaufgerichtete Huysmans mit +dem schönen Donatellokopf bei den Reden, die er französisch und englisch +übersetzte, alles Unwesentliche fallen. Oft waren sie lebendiger als im +Original. Behender löst kein Eichkätzchen die Haselnuß aus ihrer Schale. + +Ach, so viele gute Menschen waren hier! Unbeweglich, als wäre er nur eine +Zimmerpalme, hielt sich unser aller A. H. Pax im Hintergrund; und wie +Kerzenlicht im Mittagsscheine tauchte bald hier, bald dort Fortunio +unauffällig auf. + +Hin und wieder kam in Frack und weißer Binde, pour finir sa soirée, ein +Attaché gegangen und wirkte in dieser so weit vorgreifenden Luft wie eine +Varieténummer aus einer veralteten und komisch gewordenen Welt. Der eine +oder andere blieb gebannt, und die Geschniegeltheit fiel von ihm ab. + +Die Fürstin Patschouli aber war sehr ungehalten, was sie nicht hinderte, +mir zwischen zwei Sitzungen ihren stärkenden Kaffee zu brauen. Sie wollte +wissen, wer mich denn so interessierte. Ich nannte einige. »Quels noms!« +sagte sie, zum Himmel emporblickend. + +Als Partei interessierte mich ja der Sozialismus so wenig wie jede andere. +Aber das Ergebnis der kapitalistischen Ära war ein wirrer Knäuel ineinander +verbissener Verbrecher, und es war eine Welt, welche der Sozialismus +jedenfalls nicht bereiten half. Er hatte keinen Teil an ihr. Deshalb nur +gab es keine andere Brücke als ihn, denn er war nur ein Weg, der +weiterführt, indem er zurückgelegt und überwunden wird, niemals ein Ziel. + +Woher kam es aber, daß er, der angeblich auf rein materialistischer +Grundlage beruhte, er allein unter allen Parteien, ohne Anstoß zu erregen, +christliche Gleichnisse anführen durfte. Warum, statt Schamröte in die +Stirn zu treiben, war es so rührend, wenn der geistvolle Longuet, der auf +dem Podium auf und ab zu gehen pflegte, während er sprach, ein Zitat aus +den Evangelien gebrauchte, oder wenn Mrs. Snowden eine Rede mit den Worten +schloß: denn wir sind Brüder? + +Nach ein paar Tagen kannten wir einander fast alle. Einmal fielen wir an +eine Tafel aus im geschlossenen Raum; eine unbändige Heiterkeit bemächtigte +sich unser, aber wir blieben sitzen. Ich spielte mich auf die Wirtin auf +und machte die Tischordnung, als sei das Essen von mir, A. H. Pax vermißte +die Schnäpse, und wir kamen nicht aus dem Gelächter. Etwas in unserer +Befreitheit erinnerte dabei ganz deutlich an jenes Gastmahl im Neuen +Testament, von welchem der nicht im Feierkleide erschienene Eindringling in +die äußerste Finsternis zurückgewiesen wurde. So hatten auch wir keine +unsicheren Gestalten hereingelassen. + +Ich werde mich schwer hüten zu sagen, wer meine Tischnachbarn gewesen sind. +In streng geschiedenen Gruppen, die einander nicht mehr kannten, fanden wir +uns im Saale wieder ein. Denn wie der Chor der Gefangenen in »Fidelio« +wußte man sich belauscht mit Aug' und Ohr, und vermied es, von Lager zu +Lager sich zu grüßen. + + +Der Sonntag. + +Er bildete die große Orgelpause des Kongresses. Um so lebhafter war in der +Stadt das hin und her. Als ich die Treppe des Hotels Bellevue hinabging +stieß ich mit Kurt Eisner zusammen. Er war schwarz und ganz neu angezogen. +Auch der schwarze Schlapphut war neu. Wir wechselten ein paar Worte. Ich +kannte ihn zwar noch nicht, aber so hielt man es in jenen Tagen. + +Leider war mein Zimmer winzig klein. Um Raum für den Kaffeetisch zu +schaffen, mußte das Bett zum Sofa werden, und ich schüttete Kissen gegen +die Wand. Um fünf Uhr erschien Haase. Der niedere Kragen, Kleidung, +Struktur waren die eines Mannes aus dem Volk. Dabei lag in der Haltung des +Rückens und der Schultern eine ungemeine Würde. Aber wenn sie Widerstand +und Energie ausdrückten, so sprachen sie auch von rücksichtslosem Verbrauch +sich verzehrender Kräfte. + +Auf dieser Figur eines Arbeiters saß ein Kopf, ganz beherrscht von stark +auseinanderliegenden, majestätisch geweiteten Augen. Psychologisch viel zu +neu, um an einen Rembrandt zu erinnern, schien er zugleich durch die +Straffheit der bis zum Reißen gespannten Züge und ihr tragisches Kolorit +nach begeisterten Evokationen seines Pinsels zu rufen. Wie der Ratsherr +einer noch nicht errichteten Stadt -- die Leidenswerkzeuge unsichtbar im +Wappen eingetragen --, so blickte, so ging, so bewegte sich Haase, so saß +er jetzt in unserer Mitte, die Zeit besprechend und die Gefahren des +revolutionären Deutschlands. Wir hörten zu. Es wäre falsch, von Ahnungen zu +reden. Die Bangigkeit um einen Mann von Haases Edelsinn und Güte war ganz +instinktiv. + +Plötzlich klopfte es. Die Stimmung und Geborgenheit unseres Zusammenseins +war mit großem Geklirre dahin. Bestürzt sah ich Eisner eintreten, den ich +doch gebeten hatte. Aber eine so andere Zone des Geistes brach mit ihm ein. +Er trug sich wie am Morgen komplett in Schwarz, kein Stäubchen, vom +schwarzen Schlapphut bis zu den Stiefeln (wie um die Reporter lügen zu +strafen, die seine nachlässige Kleidung verkündet hatten). Halb Wotan, halb +Konfirmand -- grau, nur der schüttere Bart und die müde Farbe des +Gesichtes. -- Fortunios und ich saßen jetzt zu dritt auf dem Bett, und alle +allgemeineren Themen traten vor dem besonderen der bayrischen Revolution +zurück. + +Eisners romantische Schwäche für Bayern verriet sich sogar in einem hin und +wieder freiwillig angeschlagenen Dialekt, dessen Unnatur etwas rührendes +hatte. Und so war es mit der Revolution; sie war das Abenteuer seines +Herzens, sein Geniestreich; was aber an dem Bilde fehlte, war die Kenntnis +Bayerns: die Bayern, die sich hinreißen lassen, sind nicht dieselben, die +sich wieder eines anderen besinnen . . . + +Etwas an München wird vielleicht noch lange bewirken, daß neue Sterne +darüber aufgehen, etwas bewirkt aber, daß sie schnell wieder zu verlöschen +drohen, günstige Konstellationen geraten dort sogleich mit +entgegengesetzten in Brand. Eisner erzählte wie ein Rhapsode und besaß kein +Ohr für das vielfältige Rauschen der mitten im Sturm entrissenen +Meeresmuschel. Dies gab seinem Liede den schrillen und beängstigenden Ton. +Haase das Wort abschneidend, erzählte er von dieser und jener Episode, die +alles verderben sollte, und wider erwarten alles gelingen machte. Und Haase +ließ ihn, wie ein älterer Bruder gewähren. Bei ihm war die Basis viel +breiter; er wirkte harmonisch wie eine Orgel, die Macht war die Sache für +ihn, für Eisner dagegen war sie die Arie, seine Bravourarie, an die sein +Ohr sich fing. Nur wer näher zusah, gewahrte inmitten der scheinbar +selbstgefälligen Glorie den erloschenen, weltabgewandten Blick und die +bereite, heroische Absage an das Leben. Zu Haase gewendet: »Das wäre der +Gipfel meiner Laufbahn,« sagte er, »mit blauweißen Fahnen gegen Preußen zu +ziehen.« + +Aber »Fahnen« hatte er gesagt. Fahnen, Feste, Ansprachen, solcher Art waren +die sündenlosen Waffen, zu welchen er griff. Für so ehrwürdige Ansichten +belehrte ihn die rohe Kugel eines besseren, und schlug sich dies musische +Haupt gegen das Pflaster zu Tode. + +Spät verließen wir an jenem aufregenden Abend meine Zelle: die beiden +Delegierten gingen noch zu einer Ausschußsitzung; viel zu erschöpft und +aufgewühlt, um allein zurückzubleiben, aß ich mit Fortunio zu Nacht. Lange +sprachen wir noch von den beiden. Er meinte, Eisner sei viel zu feinfühlig, +als daß ihm entgangen wäre, wie sehr wir Haase vorgezogen hatten. Nun hatte +ich einen neuen Grund, bedrückt zu sein. + +Leider reiste Haase schon am nächsten Morgen ab, und wir andern saßen wie +gewöhnlich im »Volkshause«, als, eine große Stille entstand, weil Eisner +das Podium betrat. Es war aber der Morgen jenes Tages, an dem er seine +denkwürdige und verhängnisvolle Rede zugunsten der Gefangenen hielt. Sie +begann mit einer schonungslosen Preisgabe der deutschen Kriegführung, deren +Verbrechen er nicht beschönigte, deren Recht, etwas zu fordern, er vielmehr +verneinte. Dann eine abrupte Wendung nehmend, stellte er fest, daß in +keinem Lande die Gegner des Krieges so tief gelitten hätten wie die +deutschen, und mit jedem Worte wurde sein tonloses und dabei scharfes Organ +gebieterischer. Es war unerhört, wie Eisner jetzt über sich selbst +hinauswuchs. So buchstäblich war der Geist über ihn, daß seine Person nur +mehr wie ein von ihm verlassener und vergessener Schatten die Tribüne +behauptete. Was nun verlautete, war ein Plädoyer für Deutschland, wie es +niemals ergreifender formuliert wurde. Seine kalte Stimme beibehaltend, die +in die Gemüter schnitt, enthüllte er die ganze Tragik seines unglückseligen +Volkes. »Die Stimmen derer, welche im Kampf um die Ideen einer besseren +Welt namenlos in den Kerkern verblichen,« rief er schneidend den fremden +Delegierten zu, »drangen nicht bis zu euch! Stumm verbluteten sie.« + +Im Namen jener neuen und besseren Welt verlangte er die Freigabe der +zurückgehaltenen Gefangenen. + +Man hielt den Atem an. + +Da stand ein Entronnener aus eben jener Schar stummer Blutzeugen für die +Ideen der Gewaltlosigkeit der Wahrheit und der Menschenliebe. Dies war ihr +Los wie vor 2000 Jahren! + +In Eisner hatte der Kongreß wohl seine eindrücklichste Figur. Mochte er +durch seine Parteilichkeit für Renaudel bei den Radikalen einigen +Widerspruch erregen, so stellte sich bald heraus, daß er gerade dadurch +seine Vorschläge durchzudrücken verstand, wie überhaupt die Taktik eine +große Rolle bei ihm spielte. + +Als ich das Haus verließ, standen Fortunios unten an der Treppe und +schienen auf jemanden zu warten. Ich wandte mich um; Eisner ging langsam, +allein und vollkommen versonnen die Treppe herab. Er hielt eine rote Nelke +mit etwas abstehender Geste, wie um sie zu schützen, daß sie nicht zu +Schaden komme. Steif, fast geziert, die Schultern mit barocker Würde +tragend, bot er einen wahrhaft phantastischen Anblick. Wir begrüßten ihn. +Er sah uns erloschenen Auges an und erwiderte kein Wort. Hätten aber +urplötzlich die Türen sich geteilt und Teppiche unter den Füßen der mit +großem Zeremoniell vorgeführten Esther entrollt, ich wäre nicht erstaunt +gewesen. Assuerus! dachte ich. Ein fast gespensterhaft abstrakter, +beschämend unverjudeter, rein biblischer Jude stand da vor uns. Und siehe! +-- Hier war zum ersten Male wieder dasjenige Israel, aus welchem +merkwürdigerweise der Begriff des Christentums mit der Gestalt seines +Stifters, der Begriff des unjüdischen also, die Welt der Mystik, des +erblassens, der Gotik hervorging. So dachte ich, stockenden Herzens . . . + +Ich sah Eisner noch einmal, als er im Begriffe stand, mit Renaudel nach +Basel zu fahren. »Wenn ich stürze,« sagte er, »ist in München der +Bolschewismus unvermeidlich. Die geistige Verwirrung der Jugend ist zu +groß.« Überhaupt sprach er sehr oft von seinem Sturz. Ich glaube, die +Entfernung ließ ihn die allgemeine, wie seine besondere Situation sehr +scharf und nüchtern übersehen. + +Gerade die Illusionen, die phantastischen Züge in diesem bedeutenden +Menschen, die springenden Schatten machten ihn zu der Shakespeareschen +Gestalt, als die wir ihn heute sehen. Wir aber, die in Bern Zeugen der +ungeheuren Wirkung seines Auftretens waren, welche Werbekraft für +Deutschland er dort entfaltete, welch stürmische Sympathien für Deutschland +er dort erweckte, oh welch bitterlichen Eindruck machte es auf uns, in +München nicht etwa die Züge dieses heldenhaften Vorläufers, nein, das +unbesonnene Leutnantsgesicht seines Mörders in den Auslagen vorzufinden, +dessen hirnloses und unheilvollstes Verbrechen die Schrecken der +Räteregierung und alle Greuel, die von links, und dann von rechts daraus +erfolgten, verursachte. Mag ein Herr Studiosus die Frei(spruch)kugel gegen +mich drehen, dafür, daß in diesem wahrscheinlich vielgelesenen Buche diese +Wahrheit steht. + +Für den letzten Tag war eine Rede Macdonalds über den Bolschewismus +angesagt; aber der Tag verging, ohne daß er hervortrat. Die Lichter +brannten schon lange, und es war Abend geworden, als man ihn endlich +erblickte. Es sprachen viele, deren Organ im Halse stecken und auf die +langweiligste Weise eins mit demselben blieb. Der deutsche Dolmetsch ging +deshalb schwer auf die Nerven. Bei jenen Delegierten hingegen, welche die +Rednergabe besaßen, hob sich nach wenigen Minuten die Stimme von ihnen +fort, um wie ein Albatroß ganz für sich allein die gewichtigen Schwingen +auszubreiten. Dieser Prozeß vollzog sich auch bei Macdonald. Sein Organ +erfüllte den Saal mit Wohllaut, als käme es gar nicht von ihm, sondern +hinge nur infolge eines rhythmischen Gesetzes mit seiner Miene und den +Bewegungen seiner Arme zusammen. Die Rede war ein Warnungsruf an den hohen +Rat in Versailles, die Zeichen der Zeit zu verstehen, und sie verglich den +Bolschewismus mit einem Brande, der, hier halb erstickt, dort scheinbar +gelöscht, immer wieder hervorbrechend und unter der Asche weiterglimmend, +an der Verblendung des Imperialismus seine Nahrung fand. + +Da ich kein Wort verlieren wollte, schlängelte ich mich langsam durch die +Zuhörer, hart bis zur Rampe vor, und hatte so zum ersten Male den ganzen +Zuschauerraum vor Augen. Der Saal verlor auch bei Lampenschein nichts von +seiner Schmucklosigkeit. Unschön war er und kahl. Sein Glanz, seine +Erlesenheit waren rein innerlich. Sie gingen von den Menschen aus, welche +hier tagten. Nicht die Zartheit freilich, noch der Reiz eines seit +Generationen vor rauhen Kontakten geschützten Lebens, sondern Anstrengung, +Leidenschaft und Begeisterung durchleuchtete sie so stark, daß jenseits +dieses alltäglichen Raumes alle Alltäglichkeit, jenseits seines nüchternen +Scheines alle Nüchternheit zu liegen schien. Der Winter der Menschheit sank +hier zu Grabe. Von Feuerzungen war die Luft durchbebt, und eine +Pfingstatmosphäre brauste durch die Türen über die Treppen dahin, bis hinab +in die Gassen des nächtlichen Bern. Und sie würde, ob auch der kommende +Morgen diesem Fest das Ende bereitete, nach allen Himmelsrichtungen wehen. +Ich zweifelte daran nicht. Ich hoffte schon wieder! + +Natürlich waren auch geringere zugegen. Aber nicht sie gaben den Ausschlag. +Hier herrschte der Wert. Rang und Vortritt waren hier durch das Talent, das +Verdienst, die Lauterkeit bestimmt, und ein Wille zur Güte hatte sich +durchgerungen. + +Mit einem Blick des Hohnes war ich vorhin an Telramund vorbeigegangen, alle +Krallen gezückt, weil er sich vermessen wollte, mich zu grüßen, und fast +wäre ich dabei über seine Bocksfüße gestolpert. Nein! Hier richtete der +nichts aus. Hier war er schachmatt. Warum kam er denn her? -- -- Auch er -- +zum ersten Male fiel es mir auf -- hatte allen Sitzungen beigewohnt und war +einer der regelmäßigsten Besucher gewesen. Oh, nicht nur er! -- Die ganze +Rotte saß ja hier! -- und die Kontrolle war doch so streng! Aber die Rotte +war vollzählig hier! -- Durch die Ritzen der Türe hätte sie noch +einzudringen gewußt. Wo hatte ich die Augen gehabt all die Tage hindurch, +ich Verblendete! Im Ernst wähnend, hier würde die Schwelle zu einer neuen +Welt gelegt, derweil sie täglich zerfiel. + +Die Schützlinge der Militärspionagen, von welchen erst die eine, dann die +andere den Verständigungsfrieden hintertrieben hatte, tagten hier als +Delegierte des Teufels, den verschiedensten Nationen entspieen. Wie emsig +sie notierten! -- Oh wie fleißig sie die niedrigen Stirnen gesenkt hielten, +um alles zu nichte zu schreiben, was hier von Völkerversöhnung gesprochen +wurde! Und wie gesittet sie dasaßen, diese Wölfe im Schafpelz, die sich +innerlich eins lachten über den sabotierten Kongreß. Und sie waren +geduldet! -- selbst hier! -- Die Spreu durfte auch hier, ungesichtet, den +Weizen verderben. Ach, es gehört zu den Merkmalen dieser Zeit, daß die +Dinge noch schlimmer zu kommen pflegen, als die Schwarzseher sie künden, +und noch heißer gegessen werden, als gekocht. + +So ahnte ich noch nicht, daß die verstümmelten Berichte der Eisnerschen +Rede, deren erster Teil einfach unterschlagen wurde, schon munter unterwegs +waren, und seine anonymen Mordanstifter, wohlgeschützt unter der Flagge +einer Zeitung, sich für die furchtbaren Wahrheiten und Anschuldigungen, die +er in diesem Hause der Presse aller Länder ins Gesicht zu schleudern wagte, +ein für alle Male gerächt hatten. + +Die Stimme Macdonalds drang nur mehr undeutlich zu mir. Es war doch jedes +Wort vergebens. Mochte er den Bolschewismus an die Wand malen! Mit ihm +stand es gewiß, wie Rolland sagte. Bot nicht jede Partei genau dasselbe +Bild von ein paar ehrlichen und ehrenwerten Männern, die ein fürchterlicher +Zulauf überschwemmt? jene paar Vortrefflichen, deren Kampf allein +ersprießlich und von Interesse wäre, tragen ihre Gegensätze abseits +voneinander aus. Sie sind nicht so zahlreich, Europa nicht zu groß für eine +einzige Arena. In Wirklichkeit ist der Klassenhaß (statt des +Klassenkampfes) ein ebensolcher Humbug wie der Haß der nur nach Frieden +lechzenden Völker. Wer aber diesen Saal mit den angeblich so scharf +bewachten Toren näher ins Auge faßte, ließ alle Hoffnung fahren. Den +Schleier Penelopens woben sie hier! Es gab ja keine gute Sache, solange der +Nichtswürdige sich zu ihr bekennen durfte und statt der Gesinnung die +Meinung den Ausschlag gab. Freie Bahn den Tüchtigen! oh nein! Erst +geschlossene Bahn den Unwürdigen! Die andere Parole bleibt so lang die +leereste der Phrasen! Hatte nicht Telramund in seinem eigensten Blatt eine +»Partei der anständigen Leute« beantragt, wie um diesem Gedanken den Fluch +der Lächerlichkeit auf immer anzuhaften. Oh Zarastro! Herr des Tempels mit +den unauffindbaren Toren, der nur den Geprüften mit Macht belieh! Von +allen, die heute leben, wird keiner den Bau betreten, zu dessen Grundlegung +ich Steine herbeischleppen möchte. -- Das Gerüst allein dürfte die Arbeit +von Generationen sein, sein Ausbau die von Jahrhunderten vielleicht. +Vielleicht sind die ewig unvollendet gebliebenen Kathedralen sein Symbol. +Aber worauf es, wie gesagt, ankommt: er ist möglich. + +Die richtige Einsicht, daß es (merkwürdigerweise) niedrige und hohe +Menschen gibt, führte folgerichtig zu Rang- und Standesunterschieden. Bei +ihrer Aufrechthaltung aber gerieten jene Ungleichheiten, welche doch erst +die Berechtigung solcher Klassifikationen bilden, immer mehr außer acht, +und bei dem Schrittmachen, das im Schwunge blieb, mischte sich in immer +gemeinerer Weise das Bestreben über jene Distanzen, welche der Wert +zwischen den einzelnen liegt, hinwegzusehen. Das Mißverständnis artete +immer wilder aus: der königliche Mozart speiste mit dem Gesinde, und ein +lakaienhafter Kavalier warf ihn mit einem Fußtritt ohne weiteres vor die +Türe. In der Tat, wir wissen alle, was wir der französischen Revolution +verdanken. Doch, als sie das falsche Spiegelbild in edler Empörung +zerschlug, wurde mit diesem drastischen Vorgehen leider erst recht nur eine +halbe Maßnahme getroffen. + +Kein Mißbrauch wurde an der Wurzel gefaßt, vielmehr entrann der Missetäter +froh durch die Türe. So brach die französische Revolution wie das +Christentum, dem sie entsprang, in sich selber zusammen, und wir sind heute +wie bankrotte Leute, die von vorn anfangen müssen. Wir stehen wieder am +Anfang aller Tage: das heißt am Ende. Denn für das erkennende Auge sind ja +die Menschen längst in jene zwei Lager zerfallen, von welchen geschrieben +steht. Freilich ist vorläufig erst der Aufmarsch der Böcke geglückt. Unsere +Absicht, ihrem Konsortium entgegenzutreten, dürfte ein frommer Wunsch +verbleiben, solange wir jene geheimnisvolle Tatsache nicht ergründeten, daß +die von schlechten Instinkten Gemeisterten so viel deutlicher die +Hochgesinnten herausspüren, als diese sich unter sich erkennen. Diese +dunkle und rätselhafte Tatsache birgt Perspektiven, die sich wie weite +Zimmerflüchte nach allen Richtungen, reich an Verborgenheiten, ziehen. + +Um Machtfragen werden sich nach wie vor die Dinge drehen, und nach wie vor +wird sich herausstellen, daß es nichts neues unter der Sonne gibt. Macht +wird vor Recht gehen, denn Macht geht vor Recht. Es ist Sache des Rechts, +die Macht an sich zu reißen, eine neue Realpolitik zu ermöglichen, nicht +ausdrückbar durch Lüge, Feuer und Mord; eine Exekutive zu befestigen, +welche die aus Lüge, Feuer und Mord errungenen Vorteile verachten, und +Lüge, Feuer und Mord nicht ausspielen würde gegen Lüge, Feuer und Mord. +Sache des Rechts ist es, die Bahn solcher Gewalthaber zu bereiten. Ach die +Heftigkeit, mit welcher wir unsere Notsignale abgeben, hindert nicht, daß +sie unter dem Druck grauser Langeweile aufziehen, und unser eigner Pathos +lastet mit der ganzen Öde eines Frondienstes auf uns. Denn es sind +zukünftige, für ein feineres Ohr heute schon monströse Gemeinplätze, die +wir hier äußern. + +_Ende_ + +Von _Annette Kolb_ erschien im gleichen Verlag: + +DAS EXEMPLAR + +Roman. 5. Auflage. + +Man hat durchaus das Gefühl, daß dieses Buch zu jenen gehört, die unter +einem starken inneren Drange, einem unwiderstehlichen, geschrieben werden. +Ein Bekenntnis. Aber eins von solcher Keuschheit, solcher Verhülltheit, +trotz aller Enthüllung subtilster seelischer Vorgänge, wie es uns nur zu +selten gemacht wird. Gerade diese Schilderungen erweisen die hohe +Vollendung von Annette Kolbs sprachlichem Ausdrucksvermögen, das ihr jedoch +nie zum Selbstzweck wird. + +B. Z. am Mittag. + +Der erste Eindruck des Buches, schon nach wenigen Seiten, ist Kultur. Es +gibt wenig Bücher, die so scharf wie dieses die Zeitseele enthüllen. Und im +übrigen ist das Buch reich an allerlei entzückenden Dingen. Man wird in ihm +sehr heimisch in London und auf den Landsitzen der Gesellschaft. Denn das +Buch vereint wirklich zwei selten verträgliche Eigenschaften: geistige +Tiefe und Charme. Es ist nicht nur ein bedeutendes, sondern auch ein +liebenswürdiges Buch. + +Die Zeit, Essen. + +Ein feines, stilles Buch von einer romantischen Dichterin über eine +romantische Frau. Es wird in diesem Buch von den letzten Dingen gesprochen. + +Berliner Tageblatt. + +Druck von Frankenstein & Wagner, Leipzig. + + + + +Anmerkungen zur Transkription + + +Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt +(vorher/nachher): + + [p. 33]: + ... Hocusai. ... + ... Hokusai. ... + + [p. 50]: + ... mit Carry und Fortunio. Dieser enfaltet mir gegenüber ... + ... mit Carry und Fortunio. Dieser entfaltet mir gegenüber ... + + [p. 114]: + ... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in den ... + ... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in dem ... + + [p. 117]: + ... Arbeiten zur Hand, mit welchem dieses Haus geschmückt ... + ... Arbeiten zur Hand, mit welchen dieses Haus geschmückt ... + + [p. 131]: + ... Laufbahn vernommen hat, der vergißt die nie unheimliche ... + ... Laufbahn vernommen hat, der vergißt nie die unheimliche ... + + [p. 142]: + ... auf ihren Wolkensohlen reisten, das von einer zifferlosen ... + ... auf ihren Wolkensohlen reisten, daß von einer zifferlosen ... + + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Zarastro, by Annette Kolb + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44243 *** diff --git a/44243-h/44243-h.htm b/44243-h/44243-h.htm new file mode 100644 index 0000000..a8f3227 --- /dev/null +++ b/44243-h/44243-h.htm @@ -0,0 +1,7821 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" +"http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" lang="de" xml:lang="de"> +<head> +<meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=UTF-8" /> +<title>The Project Gutenberg eBook of Zarastro, by Annette Kolb</title> +<!-- TITLE="Zarastro" --> +<!-- AUTHOR="Annette Kolb" --> +<!-- LANGUAGE="de" --> + +<style type='text/css'> + +body { margin-left:15%; margin-right:15%; } + +h1 { text-align:center; 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Fischer / Verlag / Berlin +</span> +</p> + +<p class="center" style="font-size:0.8em; margin-top:6em; margin-bottom:6em; page-break-before:always;"> +1.—5. Auflage<br /> +Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.<br /> +Copyright 1920 by S. Fischer, Verlag, Berlin +</p> +<h2 class="title" id="chapter-0-1"> +<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> +Zarastro +</h2> + +<p class="pagebreak first"> +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +<span class="firstchar">D</span>ieses Buch, das auf Grund täglicher Aufzeichnungen +entstand, enthält Enttäuschungen als sein +Wesen. Es ist ein Tagebuch der Enttäuschungen, ich +verhehle es nicht. Gerade sie sind das einzig wertvolle +daran. Denn an allen Erlebnissen während dieser +Jahre, an allen Szenen, allen Ereignissen, allen Episoden +hat sich die Beobachtung ergeben, daß im +wachsenden Umfang die besten Hoffnungen, die +reinsten Zugehörigkeiten ihre dramatische Zerstörung +nach sich zogen. Zu sehen, wie sie immer sehr buchstäblich +zuschanden kommen mußten, versetzte mich +erst in eine dumpfe, herabgestimmte Unruhe, und +nur allmählich entdeckte ich, daß sich in allem die +kleine wie die große Höllenmaschine menschlicher +Niedrigkeit gleichsam eingebaut hielt, überall, auf +dieselbe Weise und mit derselben Wirkung jede edle, +jede vernünftige Absicht, jede Harmonie im Keim +vernichtete. Diese Gefolgschaft, dies enge Schritthalten +der Bösen — jeder Zufälligkeit bar — zeigt +sich vom Anekdotischen bis zur Entladung so konform, +daß es die Schicksale des einzelnen zur genauesten +Replik der Weltschicksale prägt. +</p> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-2"> +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +Erster Teil. +</h2> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">A</span>m 1. Februar 1917 kam ich gegen Abend definitiv +nach Bern. Im Zug — am Fenster — schlief ich +zwischen Zürich und Baden auf einige Sekunden ein. +Dabei rückten sich Bilder aus meiner Wohnung, +aber um ein Drittel vergrößert — die sich also selbst +vergrößert hatten —, selbst an einer Wand zurecht. — +</p> + +<p> +Trotz dieser so unvermittelt aufblitzenden Vision +wurde die Mutlosigkeit, gegen die ich anzukämpfen +hatte, immer drückender, und geradezu trostlos gestaltete +sich meine Einfahrt in die Bahnhofhalle. Es +goß so recht von innen heraus, wie nur der Berner +Himmel zu gießen versteht. So begibt man sich wohl +ins Gefängnis, wie ich in das Haus, um dessen anheimelnder +alten Stiege willen ich im zweiten Stock +zwei kleine Zimmer mit einem Alkoven gemietet hatte. +Übrigens waren sie noch nicht frei, und indessen +wurde mir ein großes niedriges angewiesen, das sofort +meine Abneigung erregte: bis auf einen gewaltigen +Tisch von wahrhaft tröstlichem Umfang. Er stand +mitten in der Stube, ganz auf sich beruhend: +</p> + +<p> +Sieh mein geräumiges Rund, und wie gefällig es +ist! Sahst du ein weiteres je? +</p> + +<p> +Bürde nur füglich mir auf, was immer du willst. +Ich schaffe noch Platz dir. Na also! +</p> + +<p> +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +So redete er, halb in Hexametern, halb wie eine +alte Kindsfrau zu mir, war immer optimistisch und +richtete mich auf. +</p> + +<p> +Das Münster aber, das so gut anhebt und so schlecht +verläuft, beschattet und beherrscht den Platz, und +die Aussicht hart vor meinen Fenstern ist durch ihn +versperrt. Auch mein Herz schlägt hinter Riegeln. +Ich bin nicht mit den Illusionen hergekommen wie +das erstemal. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +4. FEBRUAR. Kalte regnerische Tage, unfroh wie die +Stunde meiner Ankunft, welche Telramunds, als sei +dies unvermeidlich, zuerst erfuhren. Die Lauben +sind, wie es scheint, ihr Jagdrevier, denn kaum trete +ich vors Haus, so schießen sie mir schon wie auf +Rollschuhen der Neugierde entgegen, jedesmal mit +einer Einladung zum Tee. Ich bin entschlossen, ihr +nicht zu folgen, denn sie ist natürlich nur verhörsweise +gedacht. Fortunio rät von einer so schroffen +Haltung ab. Wir diskutieren hin und her, und ich +lasse mich leider überreden. +</p> + +<p class="dat"> +6. FEBRUAR. Tee bei Telramunds. Ich trage meinen +teuren Pelz, denn es ist kalt, dazu aber ausgebesserte +Schuhe, weil es regnet. Der Empfang ist übrigens +von so glänzend imitierter Herzlichkeit, daß er mich +fürs erste ganz beschämt. Wie unverkennbar ist doch +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +im Grunde Telramunds Zuneigung für mich! Er +erörtert meinen Roman in den höchsten Tönen, und +wie freut sich Ortrud, mich zu sehen! Wie ungerechtfertigt +ist der Name, den ich ihnen gebe! Wie funkeln +Teekanne, Dose und réchaud! Wir sitzen ein wenig +merkwürdig zusammen, es ist wahr! unsere sechs +Knie eng aneinander gerückt: die meinen in der +Mitte, wie die eines Delinquenten, von den beiden +andern flankiert. Doch ist das nur zufällig vielleicht. +</p> + +<p> +Wenn aber drei Leute sich äußerlich in so enger +Gemeinschaft befinden, und zwei von ihnen werfen +sich Blicke zu, so wird es der Dritte bemerken, auch +ohne es zu wollen und ohne hinzusehen. Ortrud +guckte wertschätzend von meinem Mantel herab auf +mein Schuhwerk. Der Pelz einerseits und die Reparatur +anderseits gaben zu denken. Wie aber konnten +sich die beiden so vergessen, daß sie plötzlich anfingen, +wie mit Fliegenklappen nach mir auszuholen und sich +hochbefriedigt ansahen, wenn sie glaubten, mich +ertappt zu haben? +</p> + +<p> +Zwar lag es auf der Hand, daß ein so leicht zu +überführendes Geschöpf unmöglich zugleich jene +raffinierte Person sein konnte, für welche ich wußte, +daß sie mich hielten. Aber wie resolut Leute von +schlechten Instinkten jegliche hemmende Logik von +sich weisen, wußte ich auch. Von neuem auf der Hut, +beantwortete ich jede Frage mit einem Kunstbogen; +als jedoch der Name Elisabeth Rotten fiel, hielt ich +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +krampfhaft an diesem Thema fest. Telramund konnte +ihren politischen Scharfsinn nicht genug loben (später +stritt er ihn ihr öffentlich ab). So erzählte ich denn +von ihrer schwer angegriffenen Gesundheit und ihrem +Wunsch nach einer Erholungsreise. Diese aber sei +nur durch List und Tücke zu erreichen. Es müßte +also, meinte ich, mehr mitteilsam wie raffiniert, +unter Vorspiegelung eines Vortrags, welchen sie dann +natürlich nicht halten würde, ein Paß für sie erschlichen +werden. +</p> + +<p> +Die Idee wurde stillschweigend zur Kenntnis genommen. +Blicke flogen . . . und es war unverkennbar, +daß etwas nicht stimmte. +</p> + +<p> +Bin ich nach Bern gekommen, dachte ich auf dem +Rückweg, um mit Leuten zu verkehren, die ich zu +Hause nie ertragen hätte? +</p> + +<p> +Das Wetter hatte sich auf einige Stunden aufgehellt, +und über der Brücke von Kirchenfeld flammten plötzlich +die Alpen auf. Blaß und verheißungsvoll leuchtete +die losgelöste Jungfrau über das Gewölk, das sich +in schwarzen Massen zu Tale schob. Wie ganz und +gar nicht existierend, dachte ich da, ist doch letzten +Endes das Gemeine! Nur unser träges und verwischtes +Sehen leiht ihm den Schein von Wesenheit, und +Leuten wie Telramunds das Gesicht. Und zwei verschwisterte +Seelen hatten da einen Bund geschlossen, +wie die Hölle ihn liebt. Dabei war Telramund Berliner +und Ortrud, wie zum Schulexempel, eine Französin +<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> +aus der Provinz. Ach! Welch ein Schabernack +wird doch über alle Grenzen hin mit unseren Gesetzen +getrieben! Keine Feder wiegen sie auf gegen die +Schleuderwaffen, über welche schlaue Unvernunft +gebietet. Wohl haben wir gelernt, Weingärten und +Äcker zu bestellen, veredelt hängen uns die Früchte +von den Bäumen hernieder, und wie umsichtig, wie +bewundernswert ist der Mensch angesichts seiner +Felder! Nur vor sich selbst ist er stehengeblieben. +Da jätet er nicht. Da steht überall goldener Weizen, +von wild um sich greifendem, allgewaltigem Unkraut +erstickt. Gegen die Natur, die Elemente, die Erde, +ja die Luft selber schritten wir ein, nur vor uns selbst +sinken uns die Arme, und wir lassen geschehen. Dies +ist die bisherige Logik der Welt, der Nationen. Nicht +einmal bis zu unseren Verbrecherstatistiken besannen +wir uns — wie hätten wir da bis zu den Tabellen +unserer verkleideten und ganz undrastischen Übeltätern +gedacht? — +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Allseitige Verstimmung. Mein Wunsch, Fräulein +Rottens Wunsch zu erfüllen, hat schwärzesten Verdacht +erregt. Ich kannte die in Bern geschaffene +Atmosphäre noch zu wenig, um zu verstehen. Warum +in aller Welt, beschwert sich Fortunio bei mir, mischte +ich mich da hinein! Welches Interesse hatte ich an +dieser Reise? +</p> + +<p> +<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> +Und diese Idee eines Vortrags! (Sogar er, es war +unverkennbar, hat Argwohn geschöpft!) +</p> + +<p> +Nur ein Vorwand natürlich! ich sagte es ja Telramund. +</p> + +<p> +Fortunio zuckte die Achseln: er hat es Ihnen +natürlich nicht geglaubt. +</p> + +<p> +Die beiden werden uns noch sprengen!, brach ich +aus, alle unsere Anstrengungen hintertreiben und +uns alle zu Grabe tragen. +</p> + +<p> +Mit Martin im Walde hatte ich ja meine Not. Die +Verdächtigungen auf ihn regneten ohne Unterlaß. +Schon während jenes Diners, welches Aramis bei +meiner ersten Berner Ankunft gab, hatte ihn Telramund +als einen Agenten mit doppeltem Schubfach +bezeichnet, und Ortrud pfiff förmlich vor Hohn wie +eine Maus. Daß ich widersprach, fiel nur auf mich +zurück. Für einen ehemaligen Kruppdirektor also +machte ich Reklame! Sprach dies nicht Bände? +Daß er tatsächlich seine Stellung seinen Überzeugungen +geopfert hatte, war ein Beweis mehr für +seine Verschlagenheit. Den Bruder kannte er. „Den +Bruder kenne ich!“ war sein Refrain. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +9. FEBRUAR. Ich miete einen Flügel: ohne Schmelz, +ohne Tiefe, es ist wahr, und doch edel, weil immerhin +ein Flügel. Gott sei Dank! Flügel sind jetzt sehr +schwer zu kriegen! Ich bin einen ganzen halben Tag +<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> +glücklich. Welches Glück! — es ist ein Glück, das +ich der Protektion eines jungen Berner Pianisten verdanke. +Wir hatten ein Zusammentreffen verabredet, +um in die Fabrik zu fahren. In den Lauben kam +Ortrud auf mich zu und äußerte den Wunsch, mich +zu besuchen, und da ich ungeheuer eilig tat, begleitete +sie mich, um zu sehen, ob es wirklich der junge Pianist +war, der mich erwartet. Da er es wirklich war, denke +ich mir, sie beruhigt sich jetzt. +</p> + +<p class="dat"> +10. FEBRUAR. Telramund erzählt mit vielsagender +Miene, daß ich einen Flügel gemietet habe. Kein +Zweifel mehr: ich bin eine Spionin. +</p> + +<p class="dat"> +11. FEBRUAR. Aramis gibt mir zu wissen, daß er sich +wundere, weil ich ihm noch kein Lebenszeichen gebe. +Ich unterließ es nur, denn er ist mir sympathisch, +weil mir versichert wurde, daß er mir nicht mehr +traue. +</p> + +<p> +Es sei kein Grund, sagt mir Fortunio, ihn zu schneiden. +Seufzend (da er mir ja mißtraut!) rufe ich ihn +ans Telephon, und vor seiner Sprache, ach! wird +mein zerrissenes Herz sofort wie eine Geige, in welche +diese Sprache (auch die meine, ach!) hineingreift +wie ein Bogen. +</p> + +<p class="dat"> +13. FEBRUAR. Gestern abend war ich bei Fortunio, +und Martin im Walde fand sich zum ersten Male +<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> +bei ihm ein. Vor dem Kriege hätte ich sie nicht +einander zugeführt: Fortunio so musisch und sternengebannt, +aber auch stemschnuppenhaft, Martin im +Walde so schwerblütig, so problematisch und so vorbedacht! +Heute aber muß alles zusammenstehen, +was aufrecht blieb. Wie errichten wir sonst jene +Dämme gegen die blinde Gewalt, den Schutzmauern +vergleichbar, die sich so wacker gegen die Bergwände +stemmen, um zur Zeit der Schmelze die Lawinen +aufzuhalten? Auch unserem Planeten stand der Frühling +nahe bevor, als die Lawine sich entlud, die allen +Schutt nach oben warf und eine grünende Welt und +alle Glocken der Vernunft mit ihren toten Blöcken +und ihrem schmutzigen Geröll brüllend und dröhnend +überzog. Jene Mauern, Lawinenschutz genannt, +sind natürlich nur roh aufeinander geschichtete, jedoch +wetterfeste Steine, die nichts anderes zum Ausdruck +bringen, als die Not des Augenblicks, dem sie entstanden +sind. So scheint mir heute, wo es den Kampf +des menschlichen gegen das unmenschliche gilt, das +wichtige nicht, glattes einzufügen, nicht einmal der +inneren Gemeinsamkeit den Ausschlag zu lassen, +sondern die Widerstandskraft und das Gewicht der +Dinge zu bedenken. +</p> + +<p> +Doch ach! Der als Schachfigur so schwer festzulegende +Fortunio war heute auf meine Opportunismen +nicht gestimmt, sondern wie zum Trotz in einer ganz +herausfordernden, ganz interpellierenden, ganz konträren, +<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> +um ihre eigene Wirkung ganz unbekümmerten +Laune. Zu machen war da gar nichts. Im stillen +nur nahm ich mir vor, auf dem Heimweg Fortunios +Wesensart, welche Martin im Walde nicht geläufig +war, so beweglich wie möglich zu schildern. Aber +nicht einmal diese nachträgliche Intervention sollte +mir gelingen. Denn als ich auf der Stiege in die +Taschen meines Mantels griff, war mein Hausschlüssel +nicht darin, die Nacht aber viel zu weit +vorgeschritten, um meine Pension durch Glockenreißen +zu alarmieren. Die übermüdete Fortunia, +über die Rampe gebeugt, rief mich wieder zurück. +Neben dem großen Empfangsraum lag ein schmales +Zimmer. Ich bezog es ohne viel Worte und warf +mich mit meinen Kleidern auf den breiten Diwan, +der dort stand, ganz erledigt für den Rest der Nacht. +Immer verschärfter schwebte mir die Bilanz des mißratenen +Abends vor und regte mich auf. Wie ungut +ließ sich doch alles an! +</p> + +<p> +Eine tiefe Stille lag jetzt über dem ganzen Hause, +den Wänden, den Fenstern und der Luft, als ob sie +ein Signal erwarteten. Denn nebenan war plötzlich +ein anderes Leben erwacht, eine andere Unruhe, als +die des Tages, ein Rücken, Geknister, ein Gewisper, +Disput und Ungeduld. — — Zwar ist dem Herzen +kein Organ verliehen, das unsichtbare zu sehen, aber +so mancher kennt gewiß jenes aussetzen seines +Schlages, bevor es tiefer zu horchen beginnt . . . Es +<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> +fiel mir ein, daß die ganze Häuserreihe dieser alten +Gasse für mehr oder minder spukhaft galt; doch ein +so wenig grauenhafter, höchstens malitiöser, nicht +einmal boshafter Spuk war mir noch nicht begegnet. +Neugierde trieb mich endlich hin zur Türe, hinter +der er sich begab. Aber jenseits derselben hatte +augenblicklich — als sei nie Lärm gewesen — Totenstille +eingesetzt, und die Klinke, von Tücke besessen, +widerstand allem drücken, drehen und schieben. +Mit schmerzenden Händen ließ ich sie los und kehrte +auf meinen Diwan zurück. Alsbald war Geknister +und Getusche, rücken und huschen, Unruhe, Aufregung, +heiseres Eifern und Streiterei im verstärkten +Grade wieder da. Offenbar wollte die Gesellschaft +von mir nichts wissen und boykottierte mich. Wie +aber kam es, daß ich plötzlich wie unter freiem Himmel +lag und den Arm aufstützte, als schirmten mich die +Zweige eines Baumes, und als horchte ich statt zur +Seite hin, tief unter die Erde hinab? Was immer +mir jetzt in den Sinn kam, bot sich wie eine Zwiesprache +dar. Dem Nixenbegriff lag wohl eine tiefe +Erkenntnis zugrunde. Wie diesseits des Menschengeschlechtes, +so sind aber auch jenseits desselben +Geschöpfe Gottes denkbar, die an der entgegengesetzten +Peripherie des Lebens beschattet stehen +und hinausgerückt; und winzige, kaum bemerkbare +Dinge könnten es sein, die ihnen ein leises Grauen +vor ihrem eigenen Wesen entgegenhauchen: ihr unakkurater +<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> +Sinn für Wirklichkeiten, ihr vorwegnehmen +des Zieles über Hindernisse hinweg, ist wie +ein gestörter Sehwinkel oder wie ein verkürzter Fuß, +den solche Menschen durchs Leben ziehen, und sie +erschauern, verzagen und vereinsamen bis ins Mark, +wenn sie daran erinnert werden. Über die fernest +abliegenden Dinge dachte ich hin und her. Aber +warum in aller Welt überkam mich ein Heimweh +nach dieser verschlossenen Tür, und um was für +Dinge war mir denn leid? Du lieber Gott, wollte +ich denn von allem haben! +</p> + +<p> +Der ganze tumultarische Betrieb setzte übrigens +mit einer spurlosen Plötzlichkeit aus, als hätte er nie +geherrscht. Nur eins war deutlich: durch die Türe +verzog er sich nicht. Es kam etwas anderes: aus +dem unteren, nachts unbewohnten Stockwerk drangen +sanfte Trommelwirbel, oh, so deutlich zu mir, und +dann ertönten gedämpft, aber klangvoll, tamponierte +Posaunen. Und dann kam das huschen und fegen +eines Kleides, das schleifen einer Schleppe, ja! im +Takt dieser erstickten Musik. Ich horchte mit allen +Fasern. So fein, so spöttisch, so leicht! oh! in der +Tat geistreich war der Rhythmus dieses pas-de-deux, +waren die Füße, die Grazie, die Unkörperlichkeit +dieses balancierenden Körpers im Klang der wonnig +umhüllten Posaunchen. Tod und Leben in lächelnder +Umarmung — Leben noch im Tode? Liebe selbst +bei ihm? — Was verfing sich da eine Uhr, mit vier +<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> +groben Schlägen in den Zauber hineinzufahren? +Nichts rührte sich mehr. Im Augenblicke alles längst +verflogen und verweht — welchem Sterne, welcher +Nacht entgegen? +</p> + +<p> +Nunmehr versank die Dunkelheit in ihrer eigenen +Stille, und der Schlaf atmete mir jetzt — als käme +er von außen — seltsam genug! — mit weiten Flügeln +entgegen. Ich fühlte noch den Wunsch, mich ihm +ganz zu überlassen, aber daß er mich dahintrug, +schon nicht mehr. Gespannten, wachen Sinnes stand +ich in der Mitte eines Saales — nicht wissend, daß ich +schlief. Die Wände lagen im Zwielicht, und ein paar +Leute saßen dort als Zuschauer herum. Ich fragte +mich, was es zu sehen gab und merkte dann erst, +daß ich es war, welche nun tanzte. Die Rhythmen +nämlich, nach welchen ich mich drehte, „geschahen“, +ohne zu verlauten, als stünden hier die Gesetze am +Anfang aller Musik, noch ehe, oder ohne daß sie sich +vertonten. Dabei geboten sie mit so wunderbarer +und zwingender Macht, daß es unmöglich war, ihnen +nicht zu folgen, und unwiderstehlich kreiste ich +dahin. Mit einem Male hörte ich Fortunios Stimme +von der Wand herüber auf französisch sagen: „Comme +elle danse bien“! aber sehen konnte man ihn nicht, +denn der Saal war nur in der Mitte hell. „Pourquoi +dites-vous que je danse bien“? rief ich tanzend zurück. +Und tanzte dahin, denn es gab nichts anderes mehr. +Nur den Tanz. Ganz allein nur ihn; ohne innehalten, +<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> +ohne Unterlaß, den Tanz allein in diesem Raume, +der aufgehört hatte, ein Saal zu sein, denn seine +Wände traten ins Endlose zurück. Nur allmählich +merkte ich, daß sich jemand zu mir gesellt hatte +und mich hielt und mit mir tanzte. Es kümmerte +mich nicht. Die Erfüllung war zu tief, meine Augendeckel +zu schwer, sie aufzuschlagen die Mühe zu groß! +In den Rhythmen lag alle Wonne. Und sie gebaren ohne +Übergang eine neue Phase, denn halb abwesend, +halb aufmerksam sah ich nun doch meinem Tänzer +groß ins Gesicht: matt von Farbe, mit schwarzem, +glattanliegendem Haar war er mir gänzlich unbekannt +und zugleich vollkommen vertraut; der sehr +edle Umriß von Kopf und Schultern so geschlossen, +daß er fast ausschloß, was er nicht selber +war, fast negierte, was er nicht kannte. Was dünkte mir +daran so fremd und so verwandt zugleich? Die Melodie +einer Rasse, der ich entstammte, und doch nicht +mehr die meine? von ihr hinausgerückt? verabschiedet +von ihr? wiederum der Boykott? Gleichviel! wir +tanzten. Eines Schrittes! Diese Zeitmaße kannten +keine Zeit. So mögen Sterne kreisen. Aber auch +was ich dachte, war nicht mehr aus seiner Bahn zu +drängen: aus reinstem Lateinertum setzten sich die +Elemente dieses Tänzers zusammen. Nicht das Gesicht +eines bestimmten Menschen sah mich da an. +Nicht dieses oder jenes — was dann? Das Sinnbild +einer Rasse war zu mir hingetreten und tanzte mit +<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> +mir. Jetzt wußte ich’s! — Aber die Entdeckung +sprengte die Fesseln des Traumes: Ich lag auf dem +Diwan gerade ausgestreckt, vor mir das Fenster, in +dessen Scheiben sich von der Straße herauf der +Reflex einer Laterne fing. Aber gleich darauf stand +ich auf den Füßen. Noch nie so hoch aufgerichtet +gewiß! Die Türklinke drehte sich lautlos und glatt, +wie geölt. Aber die Kälte der Frühluft nach der Hitze +der Nacht hatte vielleicht die Wandlung besorgt. +Ich schlich durch den Gang, die Stiege hinab und +ließ mich zum Tore hinaus. Ins Freie! Hinter den +Scheiben leuchtete hie und da schon ein Licht aus +den Lauben hervor. Im Hause, in dem ich wohnte, +war eine Bäckerei. Unbemerkt kam ich in mein +Zimmer. Es tagte noch nicht. Nach oben unkenntlich +stand das Münster vor meinen Fenstern aufgerichtet, +viel schöner und gewaltiger so, als mit dem +übel verlaufenden Turm. Wie schien aber dies alles +eine Wirklichkeit zweiten Ranges, sozusagen, wenn +ich sie mit jener verglich, die mich in dieser Nacht +umgab. Ich wußte zur Stunde mit der letzten Sicherheit, +daß mein Traum sich erfüllen würde. Die +beiden Rassen, die heute zu vereinigen solches Elend, +solche Zerrissenheit bedeutet, werden eines Tages, +allen Höllenhunden zum Trotz, das Glück der Welt +durch ihren Bund begründen. Ach! Danach darf +man nicht fragen, ob man selbst längst ein Schatten +sein wird, wenn diese Dinge sich ereignen. Nur Mut, +<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> +mein Herz! rief ich mir an diesem Morgen öfters +zu, denn mit seinem fahlen Licht wuchsen die üblichen +Ernüchterungen an. +</p> + +<p> +Gegen Mittag kaufte ich Blumen und wählte +Kuchen mit Bedacht, denn um vier erwartete ich +Monsieur Aramis zum Tee. Nicht ohne Bangigkeit. +Seinen ersten günstigen Eindruck hatte ihm ja Telramund +gründlich auszureden verstanden. Als er in +meine niedere Stube trat und mir die Hand entgegenstreckte +und mich ansah, wurde es mir wieder fühlbar. +Das Echo der Worte: „Sie lügt! sie lügt!“, die +er von jener Seite unausgesetzt vernahm, war zu eindringlich, +um mir zu entgehen. +</p> + +<p> +Daß die unteren Zimmer nun endlich frei werden +und mein Flügel sogar schon unten steht, interessiert +ihn gar nicht; wen ich in Deutschland gesehen habe, +um so mehr. Die Grenze hatte ich gerade am Vorabend +des Tages überschritten, an welchem der verschärfte +Unterseebootkrieg verkündet wurde; als diese +Nachricht alle Anschlagmauern verfinsterte, wäre ich +am liebsten umgekehrt, denn jetzt lag doch alles in +Scherben. +</p> + +<p> +„Une bêtise capitale,“ sagte er, „et qui fait bien notre +affaire.“ Nichts mehr von Klavier! Ich möchte mich +gar nicht mehr mit Politik befassen, sage ich, und +lese: „Sie lügt! sie lügt!“ in seinen Augen. Er blieb +lange, sprach jedoch nur wenig und hörte zu. Ich +dagegen redete die ganze Zeit, hemmungslos und aufs +<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> +Geratewohl. Es überzeugte ihn auch dieses keineswegs. +Sie lügt! sie lügt! blieb das Echo, das zwischen +dem Vertrauen, welches er instinktiv zu mir gefaßt +hatte, und den Dingen hallte, die er über mich hört. +Kaum ist er gegangen, so erscheint Fortunio auf dem +Plan, gespannt zu hören, wie der Besuch verlief. +Ich komme ihm jedoch zuvor: Wenn Aramis mir +mißtraut, so mißtraue ich seiner Menschenkenntnis. +Es ist zu leicht, mich zu durchschauen, als daß es +erlaubt sein dürfte, mich zu verkennen. Ich bin so +eindeutig wie ein Pferd. Seine Gangart ist unmißverständlich +genug! +</p> + +<p> +„Sie sind aber kein Pferd,“ sagte Fortunio, „und +gerade Ihre Eindeutigkeit ist mit Ihrer sonstigen Art +nicht so ohne weiteres in Einklang zu bringen.“ +</p> + +<p> +Daß er dabei eine so bedenkliche Miene beibehielt, +riß an meinen ohnedies zerzupften Nerven. Er +erinnerte mich allzusehr an einen Schreibtisch, der, +mit großen und kleinen, inneren und äußeren, ja +sogar mit geheimen Schubfächern ausgestattet, für +mich aber nur eine einzige Lade offen hielt. Ich +fühlte mich plötzlich tödlich gekränkt. Und womit +hält er heute zurück? Auch er, auch er! sage +ich mir. +</p> + +<p> +„Ihr Roman kursiert jetzt in Bern“, geruhte er +mitzuteilen. +</p> + +<p> +„Um so besser. Zeit wär’s, daß hier das rechte +Licht über mich aufgeht.“ +</p> + +<p> +<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> +„Leider nein“, sagte Fortunio. „Das Buch schadet +Ihnen.“ +</p> + +<p> +„Schadet mir!?“ +</p> + +<p> +„Ich hätte es auch nicht gedacht. Aber die große +Zielbewußtheit, welche Sie Ihrer Heldin einverleiben +. . .“ +</p> + +<p> +„Aber gerade die Natur dieser Zielbewußtheit . . .“ +unterbrach ich ihn. +</p> + +<p> +„Gewiß, man sollte glauben . . .“ +</p> + +<p> +„Hören Sie, das ist nicht möglich!“ Und in höchster +Ungeduld riß ich an allen Schubladen zugleich. +</p> + +<p> +„Ich selbst“, machte nun Fortunio mich vertraut, +„habe die Leute auf das Buch hingewiesen. Ich +glaubte, Ihnen nicht besser dienen zu können.“ +</p> + +<p> +„Es ist nicht möglich, daß Aramis sich verdreht +dazu stellt“, rief ich wieder. „Es kann nicht sein!“ +</p> + +<p> +Fortunio zuckte die Achseln. +</p> + +<p> +„Aber sogar Telramund, dieser Gräuel, lobte es +über den Klee.“ +</p> + +<p> +Er schwieg. Es entstand eine Pause. +</p> + +<p> +„Das ist furchtbar“, sagte ich. „Es geht also um +ein Duell zwischen mir und diesen Leuten.“ +</p> + +<p> +„Sie sind so ungeduldig! Die Dinge wollen ihre +Zeit. Letzten Endes ist es immer die gute Gesinnung, +welche triumphiert.“ +</p> + +<p> +„Oh! letzten Endes“, wehrte ich ab. „Daß meine +Grabrede besser ausfallen wird, glaube ich ohne +weiteres. Mais d’ici là . . .“ +</p> + +<p> +<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> +Fortunio wollte mich überreden, mit ihm auszugehen, +doch ich blieb zurück. Was ich ihm dabei +nicht verriet, war meine Absicht, im Laufe des Abends +nach Martin im Walde zu sehen; denn mir lag das +gestrige Zusammensein, dem Fortunio keinen Gedanken +mehr schenkte, schwer im Gedächtnis. +</p> + +<p> +Fürs erste war meine Niedergeschlagenheit zu +groß, um nicht allein mit ihr zu bleiben. +</p> + +<p> +Die Tatsache, daß in Ermangelung anderen Beweismaterials +nun gar mein Roman als Belastung herhalten +sollte, war insofern der comble, als sich ja +dann, auf diesem kürzesten Wege, so ziemlich alles +auf den Kopf stellen ließ. Gegen solche Waffen war +jedenfalls nicht aufzukommen. Sie waren zu alt +erprobt. Ich hatte zuviel erfahren. Ich wußte +zu viel. +</p> + +<p> +Oh Fortunio! es ist dir nicht bekannt, warum ich +lebe. Wie ein nach Süden schauendes Ufer fängst +du die Sonne auf; wie eine nach Norden aufgerichtete +Mauer stehe ich zu ihr. +</p> + +<p> +„Von allen Menschen weg“, dachte ich da, „und +zur Sonne hin!“ Angebetete Sonne! Ohne dich zu +sein! Beseelt, doch unbeseligt steht mein Haus. +Wo du undeutlich werden und verflimmern läßt, wo +du begünstigest, ja, wo du lügst, hast du doch immer +recht, und nichts bestünde vor deiner Glorie. +</p> + +<p> +Es hatte längst durch alle Stockwerke gegongt, +doch ich blieb wie ein Wetterwinkel am Fenster +<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> +haften, jenen Bergkuppen vergleichbar am Rande des +Tals, die alle Wolken an sich ziehen; so schien auch +ich alle Düsterkeiten heranzulocken. Und es gab +dann nur zwei Möglichkeiten, um dagegen aufzukommen: +entweder die Arbeit, die auch wirklich die +Atmosphäre läutert, oder der Umgang mit Menschen: +ein Notbehelf nur, welcher zwar, wie der im Unwetter +aufgespannte Schirm die ärgsten Güsse von +uns abhält, an der Witterung aber nicht das geringste +ändert. +</p> + +<p> +Augenblicklich war mir jedoch der Mut so gänzlich +ausgepustet, daß ich mich plötzlich im Sturmschritt +zu Martin im Walde aufmachte, sehr in Sorge +sogar, ihn zu verfehlen. Ja, die Sorge steigerte sich +zur Angst, so windschief stand es um mich. Aber +die Herrschaften ließen, Gott sei’s gelobt und gedankt, +bitten, und ich jagte die Treppe zu ihnen +hinauf. Die Stimmung, welche dort betreffs der +gestrigen Fete herrschte, war natürlich schlecht. +Mit sehr unerwarteter Schauspielkunst gab Martin +im Walde alle Figuranten des Abends in einer +Person zum besten, wobei er die ihm zugewiesene +Rolle gar grimmig unterstrich. Ich lachte fürs +erste aus vollem Halse, wenn auch mit recht +halbem Herzen, brachte dann alle meine Glätt- und +Bügelkünste zur Anwendung, zog meine Döschen, +Fläschchen und Beruhigungstropfen hervor, mußte +mir aber dabei sagen, daß hier wieder einmal +<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> +ein wünschenswerter Zusammenschluß vorbeigeglückt +war. +</p> + +<p class="dat"> +14. FEBRUAR. Ich kann erst morgen die unteren +Zimmer beziehen: ein hübscher alter Sekretär, ein altmodisches +Sofa und ein schönes Tischchen kommen +mit mir. Auch die Kiste mit meinen Sachen ist +eingetroffen. Als ich nachmittags die Lauben hinunterging +und an die Zimmer dachte, wie sie mit +ein paar indischen Schals, der schier vergessenen +blauen Seidendecke und ein paar Bildern am besten +auszustaffieren wären, lächelten plötzlich von rechts +Telramund, von links Ortrud auf mich ein: „Wohin +des Wegs?“ +</p> + +<p> +„Nach Hause“, war meine erschrockene Antwort. +</p> + +<p> +„Wie sich das trifft! Wir sind gerade auf dem +Weg zu Ihnen.“ +</p> + +<p> +„Das ist ja reizend“, rief ich entsetzt. „Leider +bin ich mitten im Umzug und darf Sie nicht heraufbemühen.“ +</p> + +<p> +„Das macht uns gar nichts! Wenn wir Sie nicht +stören.“ +</p> + +<p> +„Im Gegenteil. Kommen Sie nur.“ +</p> + +<p> +War es nicht besser, die kamen noch in meine +alte Stube, als daß sie mit ihren malocchios meine +neuen Räume behexten? „Nur herauf, Ihr beiden! +es ist das letztemal.“ Und die Treppe voransteigend, +führte ich sie zu mir. +</p> + +<p> +<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> +Dort stand der altväterische Tisch, der mich beschützte +und nicht mit mir ziehen würde. +</p> + +<p> +Wir nahmen Platz. +</p> + +<p> +„Aramis war gestern bei Ihnen“, sagte Telramund. +„Er hat es uns erzählt.“ +</p> + +<p> +„Warum auch?“ dachte ich. +</p> + +<p> +„Er wird immer launischer“, bemerkte Ortrud. +</p> + +<p> +„Launisch?“ +</p> + +<p> +„Haben Sie das noch nicht herausgefunden?“ +fragte Telramund und heckelte ihn eine Weile durch. +„Im Grunde“, klang es fast drohend von diesen +Berliner Lippen, „ist er ein ganz germanophiler +Bursche.“ +</p> + +<p> +Ich goß Tee ein und erwiderte nichts. Aber mir +wurde bang und bänger über das Gespräch. +</p> + +<p> +Daß die beiden es wagten, vor mir, die selbst +obenan und mit so fetten Lettern auf ihrer Proskriptionsliste +stand, derart rückhaltlos Leute auszurichten, +mit welchen sie scheinbar die besten Beziehungen +unterhielten, war das nicht ein Beweis für +die Rückversicherungen, deren sie sich versehen +hatten? Und wie weit mochten diese gehen? +</p> + +<p> +Und woher wußte — von allen Deckungen abgesehen +— dies im wiedererzählen so blitzschnelle Paar, +daß sich unsere usancen voneinander unterschieden? +</p> + +<p> +War es die starke Gegenwärtigkeit des wuchtigen +Tisches, um den wir saßen, und der wohl einst am +Waldesrand Jahrhunderte hindurch als mächtiger +<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> +Baum — wissend und weise — in rauschender Verschwiegenheit +sein Gezweige ausbreitete — oder +welch überspringender Funke war es nur, der mir da +mit der unbewiesenen und doch stahlharten Sicherheit +intuitiver Erkenntnis die Tatsache enthüllte, daß +die Niederträchtigen, aus ihrer, mit Selbsterhaltungstrieb +gepaarten Verdorbenheit heraus, die Menschen, +welche guten Willens sind, ungleich deutlicher erkennen, +als diese sich unter sich durchschauen. Fortunio, +von Martin im Walde nicht zu reden, kannte +mich nicht entfernt so gut wie diese zwei: welche +Waffen ich gegen sie anwenden und welche nicht, +ihnen war es nicht zweifelhaft, und für sie war ich +wie durchsichtiges Glas. Indem sie mich haßten, +wußten sie sogar, daß ich nicht ihrer Person, sondern +ihrer Schlechtigkeit den Haß vergalt, und wenn meine +hiesigen neuen Freunde vielleicht in ihrem Urteil +über mich noch schwankten, diese meine erbittertsten +Feinde werteten mich nach Verdienst. Dies war der +Grund, warum sie mich verfolgten. Wer in der Tat +stand einander im Wege, wenn nicht wir? Soweit +ich zurückdenken konnte, und lange ehe er ausbrach, +dieser elende Krieg, und dann wieder vom Tage +seines Bestehens an, war ich für einen Frieden um +jeden Preis. Mich interessierte, noch freute kein +einziger Sieg. Nur dem Frieden gönnte ich den Sieg +über eine so schmähliche Niederlage wie diesen +Krieg. +</p> + +<p> +<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> +Für dieses Paar jedoch waren Versöhnung und +Verständigung zwei Dinge, deren Möglichkeit sie mit +allen Mitteln zu hintertreiben entschlossen waren. +Dafür lebte es. Wehe dem Franzosen, der kein +Jusqu’auboutiste war. Er hatte allen Grund, vor +diesem deutschen Telramund zu zittern, und wenn +nur der letzte Deutsche verblich, durfte für diese +französische Ortrud der vorletzte Franzose unbesehen +verbluten. Denn die Saite, auf welche sie beide +gestimmt waren, ihr Element war der Haß. In welcher +Tropenluft aber lebten wir heute, daß die Gemüter +sich mit solcher Fieberhitze entfalten oder zersetzen +durften? Nie hat Gelegenheit ärgere Diebe gemacht. +Hier war Telramund — vor dem Kriege ein ränkespinnendes, +sonst aber vielleicht ganz traitables Männchen +— zum professionellen Verleumder und Verräter +entartet, und Ortrud, einstens eine gehässige Klatschbase +und weiter nichts, nunmehr zur angriffswütigen +Ratte, zur erbarmungslosen Menschenfresserin von +<a id="corr-0"></a>Hokusai. +</p> + +<p> +Mit solchen Wesen aber paktierte, tergiversierte, +lavierte man. +</p> + +<p> +Und zu denken (dachte ich), daß doch sonst so +viele Schutz- und Trutzverbände bestehen. Der +Adel, die Juden, die Ärzte, Arbeiter, Bäcker, Schneider +und Hoteliers, alle bilden sie ihre geschlossenen +Gilden und Vereine. Und nur ausgerechnet die Menschen, +die guten Willens sind, sie allein, die überall +<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> +verstreuten und ausgelieferten, setzten sich noch +nicht zur Wehr, berieten und versammelten sich noch +nicht. Ihr Klub ist der einzige, der noch nicht zustande +kam, ihre Statuten, ihre Geschlossenheit, +ihre Einigung, welche doch gleichbedeutend wäre mit +ihrer Vorherrschaft, über alle Grenzen hin. Denn +nichts scheut ja das Geschmeiße so sehr wie seinen +Namen und ihren Boykott. +</p> + +<p> +Nicht äußerste Vorsicht (die nützte gar nichts!), +sondern schroffste Ablehnung war Telramund gegenüber +am Platze. Aus jedem Wort, das ich sagte oder +zu erwidern unterließ, wurden jetzt handfeste Stricke +wider mich gedreht. Solche Leute zu kennen, sie +zu sehen, <em class="em">dies</em> war der kapitale Fehler. +</p> + +<p> +Ortrud kam immer wieder auf meinen Flügel zu +sprechen, und als sie sich zum Gehen anschickte, +bezeigte sie eine Neugierde, ihn zu besichtigen, als +handelte es sich um einen neuentdeckten Raffael. +Der Gedanke aber, daß die beiden als die ersten meine +unteren Zimmer betreten sollten, bevor ich sie noch +bezog, versetzte mich in eine so abergläubische Verwirrung, +daß ich die Treppe hinablief, um sie daran +zu hindern. Allein die Türen standen offen, und ehe +ich sie schließen konnte, hatten Telramunds meine +Schwelle überschritten und waren meine ersten Besucher +gewesen. +</p> + +<p> +Abends bei A. H. Pax. Ich ärgere mich über +Bemerkungen, die dort fallen: Brücke von Kirchenfeld; +<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> +die müsse ich doch kennen. Was ist das nun +wieder? +</p> + +<p class="dat"> +18. FEBRUAR. Meine „Wohnung“ ist ursprünglich +ein großes Zimmer mit Alkoven gewesen und nun +durch eine eingebaute Wand so unwirsch in zwei +geschnitten, daß sich das Auge an den falschen Massen +immerwährend stößt. Aber die Farben bringen einen +gewissen Trost, eine Suleikaportiere, indisch mit +scharlachrotem Rand, führt in ein drittes vorgebliches +Gemach, und der Flügel macht sich ausgezeichnet. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Besuch der Miß Annie A. Wir hatten uns seit +dem Kriege nicht mehr gesehen. Sie ist mütterlicherseits +deutsch wie ich französisch, väterlicherseits +englisch wie ich deutsch. Nur ist sie nebenbei auch +ein Engel von Güte, und das bin ich nicht. Doch +ach! andere werden schon mit mir bemerkt haben, +daß gerade solche Engel von Güte es so oft nicht +über sich bringen, die Vortrefflichkeit derjenigen anzuzweifeln, +deren Instanz sie zunächst unterstehen, +ja die es für eine Perfidie halten würden, ihren eigenen +Zeitungen und eigenen Machthabern nicht zu glauben. +Wer kennt sie nicht, diese Engel von Güte, mit ihren +<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> +„they say“, ihren „man sagt“, ihren „on dit“ und +ihren „si dice“. Unbesehen ist für sie der Teufel +überall nur drüben. +</p> + +<p> +„Mein Deutschtum ist tot in mir“, sagte sie. „Auch +Sie sollten sich entscheiden.“ +</p> + +<p> +Dasselbe Ansinnen, nur umgekehrt natürlich, war +mir in Deutschland zu oft gemacht worden, und ich +war in solchen Dingen sehr abgebrüht. „Was brauchen +mich die Franzosen,“ seufzte ich, „die ganze Welt +steht ja auf ihrer Seite.“ +</p> + +<p> +Da sie mich traurig sah, schaute sie mich betrübt +mit ihren guten und veilchenblauen Augen an. +„I thank God on my knees“, brach sie dann aus, +„that I am English.“ +</p> + +<p> +Auch die Variationen <em class="em">dieser</em> Formel waren mir +vertraut. Und ich konnte nicht umhin, ihr von den +Halbengländerinnen zu erzählen, die in Deutschland +unter die Patriotinnen gegangen waren, von Marie +von B . . ., die mich wie keine andere deutsche Frau +in den deutschen Blättern verriß, und von jener +jungen englischen Gouvernante in München, die ich +in Tränen fand, weil ihre, an einen norddeutschen +Offizier verheiratete Schwester soeben, anläßlich eines +Luftangriffes auf London, von den Zeppelinen als von +„our glorious zeps“ geschrieben hatte. Aber kaum +hatte ich meine Pfeile abgeschossen, so war mir’s +schon leid. Unser Wiedersehen fand also nur statt, +<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> +um uns unsere Trennung nur um so fühlbarer zu +machen. +</p> + +<p> +„Nichts ist mehr, wie es war!“ rufe ich aus, indem +ich sie in meine Arme schließe. Denn sie ist ein +Engel. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Bevor Annie A. . . mich gestern verließ, zog sie +ein Fünffrankenstück hervor, das sie mir im Auftrage +der Fürstin Patschouli, einer gemeinsamen rumänischen +Bekannten, einhändigte, welche vorgab, es +mir zu schulden. Dieser so kurzerhand beim +Schopf gefaßte Annäherungsversuch war zum mindesten +originell. Ich machte ein sauberes Päckchen +aus dem Geldstück, bedankte mich für die schöne +Gabe und bat um die Erlaubnis, ihr ein ebensolches +Gegengeschenk machen zu dürfen. Daraufhin schlug +sie per Telephon die Brücke zu mir und lobte einen +schwarzen Kaffee, den sie selber braue. „Bonjour, +je vous attends!“ und damit hing sie das Hörrohr aus. +</p> + +<p> +Ich wußte in der Tat nicht, was erfrischender war, +ihr Kaffee oder sie selbst in ihrer herzstärkenden und +vorgefaßten Oberflächlichkeit. Die Fürstin, deren +Röcke unten zusammengebunden schienen, ging mit +kurzen und kleinen, aber heftigen Schritten, war +braun wie ein Maikäfer, die auffallendste Erscheinung +von ganz Bern, brüsk, witzig und ohne Stachel. +Da sie eine Villa in Tegernsee und Freunde in München +<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> +hatte, war sie im Grunde germanophil, jedenfalls +bayernfreundlich, und stand außerdem stark unter +dem Eindruck der deutschen Siege. „Je suis l’amie +des bons jours“, erklärte sie. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +25. FEBRUAR. Zwar scheint die Sonne hin und +wieder, und die Zauberwand der Berge stellt sich +dann strahlend auf, doch das Licht bleibt spröde. +Nie träumt dieser kalte Himmel dahin, nie ermatten +die Reflexe; stets rufen sie: gedenk! und nie: vergiß! +und ewige Gegenwart ist die Fanfare. Oder +liegt es an mir? — +</p> + +<p> +„Mein gutestes Fräulein,“ sagte mir einmal ein +dickgebliebener Berliner Aufsichtsrat, „wer sagt Ihnen, +daß nicht am Ende mit dem Frieden so bunte Zeiten +kommen, daß wir uns nach den Kriegszeiten zurücksehnen +werden —, bis auf die Schlachten natürlich“, +hing er mit einer Handbewegung an, als wären sie +ein Detail. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +ENDE FEBRUAR. Die Tage haben soviel widerwärtiges +gebracht, daß mir das Schreiben verging. +Man sollte hier mit seiner Aufenthaltsbewilligung +zugleich ein Vorhängeschloß wie Papageno erhalten; +statt dessen wird einem ein Nessushemd übergeworfen. +<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> +Schreckliche Stöße mit Fortunio, schwere Havarie +mit Martin im Walde. Telramund, dessen Hochöfen +alle in Betrieb stehen, erstattete ihm einen formellen +Besuch und brachte ihm zugleich mit dem Ausdruck +seiner Hochachtung sein Bedauern vor, durch mich +und meine Darstellungen ein so falsches Bild von +seinem Charakter gewonnen zu haben. Halb lachend +wird es mir erzählt. Ich mache ihm Vorwürfe, daß +er den Mann vorläßt. „Ihnen danke ich ja die angenehme +Bekanntschaft.“ Das war im Herbst, sage ich, +wo man noch glauben durfte, es stecke vielleicht +doch etwas Gutes in ihm, an das man sich halten +könne. Heute dürfen Sie keinen Umgang mehr +mit ihm pflegen. +</p> + +<p> +Einem Glücksfall, der allen Glanz eines Hintertreppenklatsches +trägt, danke ich es im übrigen, daß +von dieser Seite wenigstens Fortunio nicht mehr irre +an mir werden kann: er saß mit einem Freunde, als +Telramund sich zu ihm gesellte und Äußerungen +wiederholte, die er von mir vernommen haben wollte. +„Und nun sehen Sie,“ schloß er, „wie sie lügt“, +zahlte sein Schöppchen und ging. Aber in der Eile, +mir zu schaden, übersah er, daß Fortunios Freund +zufällig Zeuge gewesen war, wie ich jene Worte nicht +nur nicht gesagt, sondern heftig dagegen protestiert +hatte, als sie vor mir fielen. Dies also wäre, gottlob, +besorgt. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> +Es ist gewiß nur recht und billig, daß auch die +Überlebenden heute auf der Verlustliste stehen. +Wie man dem Kranken, der nicht teilnehmen +kann an dem Treiben der Gesunden, gerne darauf +hinweist, wenn es draußen stürmt und die Fußgänger +gegen Frost und Wind ankämpfen, während +er in der geschützten Stube liegt, so möchte man +heute denen, welche fallen, nachrufen: Ihr habt +nichts verloren! +</p> + +<p> +Ich schreibe der Königin im Auftrage ihrer Mutter, +die seit Monaten ohne Nachricht von ihr ist. Die +Idee des Königtums ist gewiß nur deshalb in Diskredit +geraten, weil ein verrohter, subalterner Mensch +oder auch ein, Idiot höchst widersinnigerweise zum +Herrscher avancieren konnte. Wegen meiner Ansichten +werde ich hier viel ausgelacht. Aber wie +würden sie erst lachen, wenn sie wüßten, wie gern +ich selbst regieren möchte. Da würde man doch +was Richtiges erleben! Kein mittelmäßiger Künstler +käme bei mir hoch, welche Unsummen aber flössen +den andern zu; kein Lämpchen ließe ich mir je als +ein Lumen aufschwätzen, also auch kein Talent, das +sich zum Genie aufblasen möchte. Herr Pfitzner +bewürbe sich also vergebens um eine Dirigentenstelle +an meinem Theater, und gar Herr Weingartner, +welcher die Wiener Philharmonie herunterbrachte, +wage es nicht, vor mich zu treten. Ich verarge es +heute noch der Pariser Kritik, welche ihn seinerzeit +<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> +„un jeune dieu“ genannt hat. Denn nie hatten die +Götter das Geringste mit ihm zu tun. +</p> + +<p> +Ach, und was für schöne Häuser ich erbauen, was +für Gärten ich anlegen ließe! was für prachtvolle +Katzen würden meine Marmorbrunnen entlang +schweifen! +</p> + +<p> +Doch genug über meine Herrscherzeit. +</p> + +<p> +Über Weingartner, dessen Überschätzung ich der +Pariser Presse verdenke, fällt mir die Äußerung ein, +die kürzlich ein Pariser, den ich nicht nennen werde, +einem Deutschen gegenüber, dessen Namen ich gleichfalls +unterschlage, gefällt hat: „il y a une chose, +monsieur, que nous ne vous pardonnerons jamais, +c’est de nous avoir forcés d’aimer les Belges.“ +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Den Abend bei A. H. Pax verbracht. Bei ihm kann +man sagen, was einem gerade einfällt, ohne Gefahr +zu laufen, daß es entstellt in alle Winde hinauswirbelt. +Dieser Vorkämpfer des Friedensgedankens, der mit +so feierlichem Ernst seine Stimme zu erheben weiß, +ist bei strengster Sachlichkeit der gemütlichste Mann +der Welt, in dessen Atmosphäre man sein bißchen +Humor und sein verlorenes Lachen auf Augenblicke +rettet. Gestern sprach er zwar tief entmutigt über +die vollkommene Unmöglichkeit, gegen den so geschickt +angerichteten, so eifersüchtig gehegten und +drinnen und draußen immer neu genährten Wirrwarr +<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> +in den Köpfen der allermeisten Deutschen auch +nur das geringste auszurichten. Plötzlich tauchte ein +Nachmittag in München aus dem Sommer 1916, ein +schattiger Garten, ein gedeckter Tisch, zwei Damen, +die davor saßen, vor mir auf, und wie eine phonographische +Platte spielte sich in hemmungslosem +Bayrisch ein halbvergessenes Gespräch so getreulich +in mir ab, daß ich mit einem Male alle Rollen in +einer Person herunterspielte. +</p> + +<p> +Wir brachen alle in ein schier trostloses Gelächter +aus. Waren nicht ganze Generationen mit allen +brauchbaren Argumenten des Scheins in ein Wirrsal +gelockt, dessen Dunkel den Tag derer ausmachte, die +es unterhielten, so daß sie jede anbrechende Helle +augenblicklich verscheuchten? +</p> + +<p> +Und mußten nicht fast alle Gehirne vermodern, +ohne zu erfahren, was denn eigentlich los ist? Mit +so teuflischem Geschick sind alle Ausgänge der Lügenburg +zementiert, in welcher sie sich narren ließen. +Unschuldig Betörte. War es nicht überall so? +</p> + +<p> +Unter den Tagebüchern, welche an den deutschen +Gefallenen vorgefunden wurden, erzählte neulich +Abigail von der agence, seien manche sehr schöne +zum Vorschein gekommen. „Warum veröffentlicht +Ihr diese nicht auch?“ rief ich. „Nous n’avons“ +sagte er, „qu’à nous occuper des atrocités.“ +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> +Dafür, daß ich so viele Dinge nicht verstehe, werde +ich mit den paar Gedanken, die mir im Kopfe sitzen, +viele Jahre nach meinem Tode wahrscheinlich recht +behalten, so zum Beispiel mit meiner Skepsis betreffs +der Demokratie. Aber natürlich ist es für andere +ärgerlich, das, was immer sie mich lehren, und was +immer ich lerne, gerade nur eben jene paar Überzeugungen +weiter ausbaut und nur ihnen zugute +kommt. Jede Erkenntnis geht nun einmal bei mir +auf Kosten einer ganz exemplarischen Unbegabtheit. +</p> + +<p> +Es müßte einer blind sein natürlich, um an den +Sozialismus und seine Unerläßlichkeit nicht zu +glauben. Aber in Wirklichkeit ist heute keiner sozialistischer +geworden, als er es von je gewesen ist. Es +scheint nur so. Machen wir uns nichts vor. Wir +haben uns den Sozialismus eingebrockt. Dank unserer +Verkehrtheit nur ist er die einzig richtige Parole. Er +ist kein Ziel, sondern ein Weg. Keine andere Brücke +ist stark genug, uns aus unserer baufälligen Welt +zu den neuen Ufern hinzutragen, wo die neuen Autokratien +auf ganz neuer Basis sich erheben werden. +Nur durch den Sozialismus, dieser fausse sortie aus +einer Welt der Standesunterschiede, kommen wir zu +einer neuen Welt der Standesunterschiede, der Herrenkaste +und der Knechteschar. +</p> + +<p> +Für diesen Glauben will ich mich gerne köpfen +lassen, denn geköpft, sagen die andern, werde ich +ja doch, entweder von rechts oder von links. +</p> + +<p> +<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> +Mittlerweile bin ich viel zuviel unter Menschen. +Es geschieht aus Trägheit und einer Art von Furcht. +Denn bin ich nicht zufriedener allein und so viel +weniger allein, wenn ich allein bin? Füllt sich dann +nicht die Luft mit Geistern guter und hilfreicher +Art? Und bin ich dann nicht umgeben? +</p> + +<p class="dat"> +28. FEBRUAR. Forsell als Don Juan: der Tod als +Objekt der Kunst. Forsell ruft ihn und mißt sich +mit ihm. Gewiß ist der Tod nur was wir aus ihm +machen: der größte Individualist fürwahr! Welche +Feigheit jagt mich so oft von mir selber fort zu den +Menschen hin, oder hält mich ab, mich ihnen zu +entziehen? Ist es das grauschleichende Verzagen vor +jener eisigen Verlassenheit, in die wir eingehen werden? +Hinter dem ganzen Geselligkeitstrieb der Menschen +steckt ja viel mehr Todesangst, als man glaubt. +Die einen fürchten sich vor dem Sterben, die andern +vor dem Gestorbensein; auf dieses, nicht auf jenes +gilt es, sich zu bereiten. +</p> + +<p class="dat"> +3. MÄRZ. Ich fahre nach Lausanne und gehe dann +nach Ouchy hinab, eine Bekannte aus München zu +besuchen. Beißend kalter Wind. Wir besprechen +die letzte Affäre. „Das Schreckliche ist, daß immer +alles aufkommt bei uns“, äußerte sie. So ein Pech! +Im übrigen sagte mein guter Vater immer: „In der +Politik gibt es keine Moral“; à qui la faute, wenn die +<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> +Deutschen dies für ein unabänderliches Weltgesetz +halten, so feststehend wie Tag und Nacht und die +vier Jahreszeiten? gewiß an ihrer Gedankenlosigkeit, +aber gewiß noch mehr an den Vorbildern, welche +sie haben. In der Politik gibt es keine Moral. +Sie sagen es wie: Ehre Vater und Mutter, oder: +Du sollst nicht stehlen. Ihre Fantasie liegt ja nicht +auf diesem Gebiet. +</p> + +<p class="dat"> +8. MÄRZ. Besuch des sozialistischen Reichstagsabgeordneten +W. H. Er ist gegen den Unterseebootkrieg. +Ich glaube, daß er unter dem Krieg leidet. Aber was +mich an diesen Sozialisten so furchtbar erbittert, ist +die Preisgabe des deutschen Volkes, auf das sie sich berufen, +indem sie vorgeben, diese oder jene Konzession +an die Gegner „ihm nicht zumuten zu können“. Vor +August 1914 gab es kein friedfertigeres auf der Welt: +wie die Posaune des letzten Gerichtes erscholl ihm +der Schlachtenruf; es stand auf, und von da ab glaubte +es alles. Wäre es unglücklicher und beunruhigter +gewesen, man hätte es weniger leichtgläubig gesehen. +Aber weil es sich belügen ließ, sollte es nicht auch +noch verleumdet werden. Im Januar 1917 lauerte +ich im Hause einer Bekannten dem damaligen +Staatssekretär Zimmermann auf. Er trat ein mit der +forschen Bonhomie eines Kegelklubpräsidenten, der +mir jede Schüchternheit benahm, und als ich mit +meiner Rede über die elsässische Frage zu Ende war, +<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> +nickte er ganz kulant und bemerkte; „Wir müssen +nur bedenken, was wir dem deutschen Volk zumuten +können.“ „In vier Tagen haben wir es hineingelogen, +vielleicht lügen wir es in acht Tagen wieder heraus“, +sagte ich. Er schien kein bißchen choquiert. In der +Politik gibt es ja keine Moral. +</p> + +<p class="dat"> +10. MÄRZ. Heute kam Herr v. Sch. mit der erstaunlichen +und fatalen Eröffnung zu mir, daß sein Chef +mich zu sehen wünsche. Herr v. Sch., den ich von +London her kenne, hatte sich große Mühe um meinen +Paß gegeben, und im ersten Schrecken fiel mir keine +Ausflucht ein. Ich wagte nicht, es Fortunio mitzuteilen, +der sicher dagegen gewesen wäre, sondern +spielte wieder einmal mit dem Feuer und bat Aramis +zu mir. Sollte ich wirklich über die Brücke von +Kirchenfeld, so wollte ich keine Anspielungen darauf, +sondern wünschte um so mehr, daß man es wisse, +als man es ja doch wissen würde. +</p> + +<p> +Aramis kam sofort zu mir. Wir verabreden ein +paar sehr direkte Sätze, die ich während meines bevorstehenden +Besuchs möglichst pointiert anzubringen +hätte, und daß ich nachher zu ihm kommen würde, +ihm die Wirkung jener Worte mitzuteilen. +</p> + +<p class="dat"> +11. MÄRZ. Sonntag. Das Wetter ist schön und warm. +Die Sonne lacht bis in das Auto hinein, in dem ich +neben Herrn v. Sch. Platz genommen habe. Schafwölkchen +<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> +treiben so zuversichtlich am Himmel, und +er hängt so hoch, daß ich nicht sogleich die leise +Hoffnung unterdrücke, der Besuch würde am Ende +doch nicht ganz resultatlos sein. Aber nichts von +Sonne an Herrn von Rittersporn, vielmehr der Widerschein +des sterbenden Tags. Ich hatte vor mir einen +jener persönlich uranständigen, autoritätsgläubigen +Deutschen strengster Observanz, die vor lauter Gewissenhaftigkeit +und Loyalität und Treue und Ehrenhaftigkeit +zur Vertretung der unehrenhaftesten Methoden +unverbrüchlich auf dem Posten ausharren, ein +Mann, der privatim gewiß nie eine Lüge sagte und +nur offiziell und in Gottes Namen log. Mit seltsamer +Distanzierung, als sei ich die Angehörige eines fremden +Staates, fing er das ganze Weißbuch mit einer so +deprimierenden Weitschweifigkeit an aufzusagen, daß +wirklich nur das fehlte, was es selber wegließ. Er war +bleich, müde, sichtlich schwer unter dem Kriege +leidend. Endlich wurde er fertig mit seinem récital, +und ich hatte das Wort in diesem großen, vielfenstrigen, +hellen und doch so unfrohen Salon, in dem keine +rechte Zuversicht aufkommen wollte. Zwar schien +auch ihm die französische Frage vor allen andern am +Herzen zu liegen, aber das Feuer, mit dem ich sprach, +dünkte mir selber deplaciert. Hier ist ein Stuhl, +schloß ich, faßte ihn mit beiden Händen und sprang +auf, hier ist ein Tisch: nur eins ist heute wichtig auf +der Welt: die Formel zu finden, welche es den Franzosen +<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> +ermöglicht, in diesem Stuhle Platz zu nehmen! +„Ich bin vollkommen Ihrer Ansicht“, sagte er. Und +zum ersten Male schwante mir, wie wenig er vermochte. +Auf Aramis übergehend, hob ich jetzt seine +Beziehungen, sein Geschick, seinen guten Willen +hervor, sowie die Chancen, die er als Vermittler bot. +Hier jedoch fiel ein Schatten. Ich fand keinen Anklang. +Es war die alte Kamarilla, ich merkte es wohl, vielleicht +auf indirekte Umtriebe Telramunds zurückzuführen, +aber auch Widerstände, Unsachlichkeiten. +Ich hatte Carry mit Aramis zusammengeführt, ohne +Parteinahme, weil es sich von selbst ergab, und man +mißgönnte ihm den Vorsprung. Auch Carry war voll +Ehrgeiz, aber er besaß Schwung, eine künstlerische +Ader, Sinn für Kameradschaft, Ritterlichkeit. Man +wußte, wie man mit ihm dran war. Auf seine Fehler +wie auf seine Tugenden fiel das Mittagslicht. Il ne +ment pas, hieß es auf gegnerischer Seite von ihm. +Dies besagte so viel in Tagen wie den unsern! In der +europäischen Literatur ungemein bewandert und von +regstem Geiste, besaß er zudem eine glückliche und +wohltuende Art mit Menschen umzugehen und hatte +etwas Jünglinghaftes bewahrt. Selbst ein Mischling, +war er rassenmäßig den andern lange nicht so fremd +wie seine zünftigeren Kollegen. +</p> + +<p> +Es war nahe an zwei Uhr. Vergebens mahnte man +zu Tisch. Daß die Unterredung sich so in die Länge +zog, unterstrich ihre Nutzlosigkeit nur noch mehr. +<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> +Auf dem Heimweg, in dem schneidend kalten Alpensonnenlicht +wurde es mir mit jedem Schritt bewußter. +Die Aare floß so leuchtend blau wie vor zwei Stunden, +als ich über die Brücke fuhr. Mutlosigkeit aber drückte +mich in diesem Augenblick zur Greisin nieder. Wie +eine Hundertjährige lehnte ich über das Geländer +und sah zu den Kindern hinab, die wie besessen +schrien. Dann raffte ich mich auf und rannte die +kalten Schatten der Keßlergasse entlang zu mir +hinauf. Plötzlich fühlte ich, wie verausgabt ich war, +warf mich auf den Diwan und schlief ein. Aber um +vier Uhr erwartete mich Aramis, und dies weckte +mich beizeiten. Ich strich jetzt die Lauben auf der +Sonnenseite hinauf. Oh wie deutlich ist mir der Schein, +in dem sie lagen! Wie ein tobender Schmerz, der +auf Sekunden aussetzt, riß er mich auf einen langen +Augenblick in seinen Bann, tauchte mich schonungslos +unter in sein Gold, ließ mich bewußtlos werden +wie die uralten Häuserreihen, die es durchdrang: +unempfindlich werden vor Empfindung. +</p> + +<p> +Bei Aramis herrschte an diesem Vorfrühlingstage +schon sommerliche Kühle. Eine leise Spannung lag +in seinen Zügen, und die Wärme, mit der er mich +begrüßte, kontrastierte doch recht seltsam mit dem +Empfang, der mir vor ein paar Stunden zuteil geworden +war. Was ich ihm aber zu sagen hatte, war +so verdammt unwesentlich, derart neben hinaus, daß +ich erschrak, indem ich es formulierte. Es ließ keine +<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> +Spur von Bereitwilligkeit, ihn ernst zu nehmen, verraten. +Und da es vollkommen zwecklos gewesen +wäre, ihm etwas vorzulügen, durchschaute er natürlich +die ganze rettungslose Sturigkeit, in die man +ihm gegenüber sich versteifte. +</p> + +<p class="dat"> +17. MÄRZ. Abends bei Dätwyler im kleinen Zimmer +mit Carry und Fortunio. Dieser <a id="corr-1"></a>entfaltet mir gegenüber +eine aggressive, ja feindselige Haltung größten +Stiles, die keinen Zweifel läßt, daß er von den Vorkommnissen +der letzten Tage gehört hat. Heftige, +immer heftigere Szenen auf dem Heimweg. Ich bebe +vor Zorn und sehe ihn so haßerfüllt an, daß er erschrickt. +Eine schlaflose Nacht krönt die Explosion. +</p> + +<p> +Wie ungerecht war Fortunio! Wie falsch wurde +ich hier gesehen! Im Juni wollte ich nach München +fahren und dachte heute schon an das Schlößchen +im bayrischen Vorgebirge wie an eine selige Insel. +Waltete dann Telramund noch hier — soviel stand +fest —, so kam ich nicht zurück. +</p> + +<p> +Und ich suchte Trost, indem ich an das Schlößchen +dachte, angelehnt an den ernsten Berg: an die lange +hölzerne Laube mit dem hölzernen Gartensaal; wie +von Adalbert Stifter für eine seiner Verlobungsszenen +erdichtet. Und die Freundin selbst, die immer +Werdende mit der weiten Note der Leidenschaft, +wer, kam ihr gleich? Ging, blickte, lächelte, lebte +sie ihren Tag von Jahr zu Jahr nicht Göttinnen ähnlicher? +<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> +Wer kannte sie? Wie schön und insgeheim +war unsere Freundschaft verkapselt! Wie verlor die +innere Einsamkeit so manche Schärfe zwischen uns! +Weil ich den Spiegel ihres Wesens unausgesprochen +mit mir führte und sie es wußte, war ich, die immer +Zusammenbrechende, ihr Halt. Wer vergalt mir +dies hier? — Eine Fratze sah man statt meiner. +</p> + +<p class="dat"> +18. MÄRZ. Sonntag. Fortunio in dunkelblau und +Strohhut holt mich ab, um nach Worb zu fahren. +Es hat sich auf die Feindschaft von gestern wie ein +neuer Friede zwischen uns aufgetan. Wieder liegt +das Land in jenem schonungslosen Licht des Berner +Oberlands, das, ich weiß nicht warum, in die Seele +schneidet. Aber das Wetter war so warm und +strahlend, daß man immer wieder innehielt, vor einer +ersten Blume, ein paar Schafen, einem Hause. Wir +sprechen heute in aller Ruhe über die Dinge, über +die wir gestern stritten. Ich sagte ihm, daß ich manchmal +mit der Sicherheit einer Mondsüchtigen Dachrinnen +entlanglaufen müsse; wenn sie dann herunterfällt, ist +es ganz und gar ihre Sache. — „Ich fürchte weniger, +daß Sie vom Dach als zwischen zwei Stühle fallen.“ — +„Aber das ist ja gerade mein Platz! Jeder von uns ist +heute stärker sich selbst, handelt unweigerlicher seiner +Natur nach als jemals zuvor, und ich habe es halt +immer mit dem Vermitteln gehabt.“ — Er schüttelte +den Kopf: „Es sieht nichts dabei heraus.“ Und +<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> +weil auch ich davon überzeugt bin, beteuerte ich, +sind es nur mehr Gelegenheiten, die sich mir aufdrängen, +welche ich ergreife. Niemand hätte ungerner +die Brücke passiert. +</p> + +<p> +„Ich hätte es nicht getan“, sagte Fortunio. +</p> + +<p> +„Es gibt Leute, die nicht dazu da sind, nein zu sagen. +Zugegeben,“ sagte ich, „daß es die Belangloseren sind.“ +</p> + +<p> +Wir kehrten in ein dunkles, altes Gasthaus ein, und +es gab wundervolles Brot, wundervolle Butter und +ebensolche Marmelade. Wahrscheinlich war es heute +auch in Deutschland schön, und die Menschen suchten +das Freie dort wie hier. Es sei denn, daß sie es vorzogen, +sich nicht hungrig zu laufen, da es ja in keiner +Herberge etwas Richtiges für sie gab. Besonders die +Kinder . . . so ist einem heute alles vergällt. +</p> + +<p class="dat"> +21. MÄRZ. Der Brief einer Deutsch-Amerikanerin, +die sich auf der Rückreise nach New York in Zürich +aufhielt, setzte mich in großes Erstaunen. Kinderlos, +von Haus aus eine biedere Württembergerin mit +steinschweren Augen, war sie, in Ermangelung jeglichen +Ventils für ihre natürliche Schwermut, dem +Okkultismus verfallen und ein Schreibmedium geworden. +Sonst ohne andere Interessen — selbst +während des Krieges — als ihren Mann, ihren Haushalt +und allenfalls ihre letzte Häkelarbeit, paßte dieser +vom Zaun gebrochene Brief — wir kannten uns +kaum — in keiner Weise zu ihrem Phlegma. Wie +<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> +kam sie zu meiner Adresse? — Sie schrieb mir, daß +sie mich warnen müsse. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-2-1"> +Zürich. +</h3> + +<p class="dat"> +22. MÄRZ. Der Brief der schwäbischen Amerikanerin +ließ mir keine Ruhe, und ich fuhr hierher. +Am Berner Bahnhof kaufte ich Zeitungen für unterwegs. +Sie waren alle von Berichten über Verwüstungen +der deutschen Truppen auf ihrem Rückzug aus Nordfrankreich +erfüllt: eine künstlich gestartete Agitation, +dachte ich erst, um dem, in den letzten Wochen abflauenden +Haß neue Nahrung zu geben und Öl in +das abnehmende Feuer zu gießen. Denn leise, leise +war von der Möglichkeit zu vermitteln die Rede gewesen. +Da koppelten sich denn die Interessenten des +Krieges zu neuen Präventivminen zusammen. Glich +ihnen dieses nicht auf ein Haar? Aber zu meinem +Entsetzen fand ich da jene Verwüstungen, und zwar +mit unleugbarer Genugtuung als „militärische Notwendigkeit“ +in den deutschen Blättern bestätigt. So +war jenem so aufgerissenen und gemarterten Boden +eine neue Schmach zugefügt, und ein genarrtes Volk +gehorchte als sein eigener Henker den Befehlen, die +ein Hut voll toll gewordener Idioten, „Oberste Heeresleitung“ +genannt, ihm erteilte. Diese „militärischen +Notwendigkeiten“! Oh, wieviel deutsche Landsmänner +würden ihretwillen kläglich verderben! — Ein Sturm +brach in mir los, um so heftiger nur, als er in Ohnmacht +<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> +sich entfesselte und seinem Rasen nichts im +Wege stand, als die Wurzeln meines Seins, an welchen +er riß und, wilden Regentropfen gleich, kalte Tränen +aus meinen Augen schlug. Stäupen hätte ich sie lassen +mögen, diese Herren Befehlshaber, keine Strafe wäre +mir jämmerlich genug erschienen für diese menschenunwürdigen +Köpfe, deren Nasen kurz ausliefen wie +die Schnauzen der Hunde, oh! ebenso unfähig wie +Hunde den geistigen Gang der Dinge zu spüren! Und +die erbärmlichen Blasen dieser infantilen Gehirne, +durch ein Wunder des Teufels für wirkliche Felsengebirge +gehalten, beherrschten und verrammelten +heute als „militärische Notwendigkeiten“ alle Straßen +der Welt! Nein! das war kein Leben! Es war nicht +zu ertragen! Es war mir fremd das Geschlecht, das +solche Dinge befahl und sich nicht scheute, sie auszuführen. +Und ich war betroffen! und ich war mitgefangen. +Mitgehangen war ich, ohne mitzugehen! — +Der Zug lief in die Halle ein; die Passagiere verließen +ihn. Hatte der Wahnsinn der Welt mir den +Verstand geraubt? — Ich konnte mich nicht besinnen, +weshalb ich da auf dem Zürcher Bahnhof stand. Er +war von beißendem Nebel erfüllt, und mit hochgestülpten +Kragen eilten alle dem Ausgang zu, während +ich, den Mantel am Arme, im dünnen Kleide dastand, +in unerträglicher Hitze und stürmisch bereit, +aus dieser Welt, wie sie sich drehte, davonzulaufen. +Ein Dienstmann fragte, wohin ich wollte, und ich +<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> +sagte, daß ich es nicht wisse. Uralte Instinkte der +Rachsucht und der Wildheit tobten in mir wie einst +die Peitschen des Xerxes gegen das Meer! Ha! was +wollten sie noch in der Weltgeschichte, diese verspäteten +Hanswurste in dem lächerlichen Aufzug +ihrer frisierten Helmbusche, ihrer aus gelbem Blech +gedrehten Achselrollen, den zurückgeschlagenen roten +Eselsohren ihrer Mäntel, ihren albernen Säbeln, gut +für ein Possenstück, gut für ein Schaukelpferd, ein +Ulk, bevor wir uns erniedrigten, davor zu zittern. +</p> + +<p> +Wie es zusammenhing, daß ein fliegender Zeitungsstand +die Erinnerung zurückrief, welche mir doch +gerade die Zeitungen geraubt hatten, mögen andere +erklären, ich telephonierte an Frau Eleonore Grell: +sie war zu Hause. Aber auch ihr Gatte, Onkel Sam +aus Mannheim, der flinke Geschäftsmann mit dem +schnurrigen Schnurr- und Vollbart, befand sich at +home. Er hatte sich das okkulte Getaste seiner Frau +energisch verbeten und glaubte es infolgedessen +längst unterdrückt. So trafen wir uns denn bei +Huguenin, aber sie beteuerte mir, nichts anderes +sagen zu können, als was sie mir auf ein inneres +Drängen hin geschrieben hatte. Ich ließ ihr aber +keine Ruhe und folgte ihr auf gut Glück in ihr Hotel. +Und richtig war ihr Mann inzwischen ins Freie +spaziert. +</p> + +<p> +Wir setzten uns ans Fenster, welches die Limmat +überhing. Der See, die Wolken und das ferne Bergland +<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> +leuchteten im Abendschein grüßend und verträumt +in dies hochgelegene Zimmer. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Hier schalte ich für den Leser eine Warnung ein: +die Unwirklichkeit spielt in diesem Buch so stark in +die gröbste Wirklichkeit hinein, daß ich gerade die +besten, an die ich mich doch wenden möchte, abzustoßen +befürchte. Aber ich muß mich streng an die +Begebenheiten und ihre Reihenfolge halten, und wenn +ich nicht ebenso chronologisch das große Spiel der +Schatten mit hereinbeziehe, ist dieses Buch nicht wahr. +</p> + +<p> +Sobald wird ja der Okkultismus seine besondere +Peinlichkeit gewiß nicht los. Denn für Namenloses +ziehen da Benennungen mit großem Schwalle herauf, +und geistiger Brechreiz ist die unweigerliche Folge. +Wer sich heute auf den Weg zum Nichts aufmacht, +ist jenen Steinklopfern vergleichbar, die auf ein fragliches +Echo hin die Felsenwand behämmern, und +mitten im treibenden Geröll Schutt ablagern, wo +kein Liebhaber des Schönen seinen Fuß noch setzt. +Und doch wird für ihn vielleicht die Straße hier gelegt, +die nach dem dornenumwachsenen Reiche schaut, vor +welchem Ferne, Wachstum und Allmählichkeit entstürzt. +Denn ob dein Sarg noch auf den Schultern +derer lastet, die ihn hinaustragen, oder ob deine Grabesinschrift +seit Jahr und Tag verwitterte, ist gleich. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> +Ich kehre zurück in das hochgelegene Hotelzimmer, +wo wir auf einem roten Repssofa beim Fenster saßen, +das die Limmat und den See und Ferne und Gebirge +übersah. Von Heerscharen erfüllte sich die Luft. — +Auf den Ruf welches Jagdhorns — uns Tauben nur +unhörbar — eilten sie her? — Wie durchsickertes +Gestein so schwoll die Stube an. War der Ansturm +der Schatten das Neue, was es unter der Sonne gibt? — +Aber schon war ich des einfachsten Denkens nicht +mehr fähig: alle Poren des Gesichtes sanft gebläht, +ergoß sich unaussprechliche Verlorenheit, ein hinträumen, +unbeweglich wie ein Leben lang. Das Herz +erstickte von all dem Sang und Braus. Kein Mißton +trübte den unendlichen Chor. Ein Chor sage ich. +Kein Ungebetener darin. <em class="em">Hier war die Sichtung:</em> +volles Orchester, nicht wie in unserer Mitte +unreines dazwischenfahren, grelles übertönen eines +unbefugten Soprans. <em class="em">Ausgekämpft!</em> +</p> + +<p> +Ganz versunken in den Vielen oder in mich, selbst? +— (ich unterschied es nicht) — faßte ihr wissen und +ihr begreifen das, ganze Herz. Des Mediums hatte +ich vergessen. Mir zu Liebe, es ist wahr, doch auf +sein Geheiß nur waren sie hergewallt, so <em class="em">dicht</em>! +so feierlich gedrängt! „Sieh dich vor, du kannst +nicht wissen, du bleibst allein, oh!“ . . . stammelte +die Feder. +</p> + +<p> +Wozu war ich denn hergereist, wenn nicht sie zu +vernehmen? Und nun dünkte mich dies so fremd +<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> +und kindisch, ein Bilderbuchbegriff. Gab es denn +im Scheine dieser wogenden Luft etwas wie eine +Zukunft? Führte man sie nicht mit sich wie ein +Geweih? Wuchs sie nicht an mit uns? War sie denn +nicht der eigene Hauch, der eigene emporstrebende +oder schwankende, flackernde oder in nichts zerrinnende +Schatten? Stand sie nicht als der Wald, +der aus seinen Tiefen unsern eigenen Ruf zurückhallt? +— so die Völker, so der einzelne. Was immer +ihnen glückliches oder grausames begegnet, jeden +Zufall riefen, beriefen sie herauf. Wir nennen’s +Zukunft! — +</p> + +<p> +Frau Eleonore Grell hielt mir ein Blatt entgegen, +das mit den Schriftzügen eines zehnjährigen Mädchens +überzogen war. Es besagte immer dasselbe: Im +Nu war alle Weisheit abgeworfen und die Furcht, +die mich hierher getrieben hatte, wieder da. +</p> + +<p> +Verwirre sie nicht, schrieb jetzt Eleonore, und als +sie diese Worte gelesen hatte, legte sie augenblicklich +die Feder weg. Nichts hätte sie vermocht, sie +wieder aufzunehmen. Die Sitzung war zu Ende. +</p> + +<p class="dat"> +23. MÄRZ. Ich fahre nach Bern zurück. Fortunio +kommt mir entgegen, und ich frage ihn, was von den +Berichten über die Verwüstungen zu halten sei. +„Die deutschen Communiqués geben sie ja selber zu,“ +seufzte er, „sie brüsten sich sogar.“ Wir überschritten +den Platz zum Kasino. Das Gebirge strahlte im +<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> +vollen Ornat. Wir setzten uns ins Freie und starrten, +Verbündete der Verzweiflung, ohne zu reden, vor +uns hin. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Fortunio fragte, warum ich in Zürich gewesen sei, +und ich verweigerte die Auskunft. +</p> + +<p class="dat"> +24. MÄRZ. Auch meine vier Wände sind mir verleidet. +Die Sonne scheint grell, verletzend, und +nachts faßt mich der Schlaf nur wie eine Kranke, um +mich zu erschrecken. Ein Gesicht wendet mir so +gemarterte Augen zu, daß ich erschüttert frage: „Hast +du Arme denn nicht ausgelitten?“ und fahre stöhnend +auf, weil es nur der Reflex von einem Kummer +war, den diese Augen spiegelten. Nur ein überschwängliches +Mitgefühl. +</p> + +<p class="dat"> +25. MÄRZ. Gestern abend bei Fortunio war Abigail +von der Agence, der hartnäckig am Thema der Verwüstungen +festhielt. Auf dem Heimweg wurde er +immer dringlicher. Logisch, folgerichtig wäre es, zu +den Ereignissen Stellung zu nehmen; unvereinbar mit +meiner bisherigen Haltung, wenn ich schwiege. „In +der Tat!“ rufe ich in einem Tone, der bitterer ist +als Galle. „Sie reden, als wüßte ich nicht, daß Ihr +die Dinge glaubt, die Telramund Euch von mir sagt.“ +</p> + +<p> +Doch Abigail nahm alsbald seinen Vorteil wahr: +„Sie haben es ja in der Hand, Ihre Freiheit des Handelns +<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> +zu dokumentieren!“ Je mehr er mich in die +Enge trieb, desto schwerer wurde mir zumute, hatte +er mir doch meine eigenen Gedanken verraten. +</p> + +<p> +„Es wird nicht gut.“ Und ich erzählte ihm meine +Züricher Reise. +</p> + +<p> +Er war mächtig interessiert. Ich ließ ihn trotz der +späten Stunde zu mir herauf und zeigte ihm das +Blatt Eleonorens. Es enthielt nichts, was ihm behagte. +„Die Hand eines Kindes“, sagte er wegwerfend. Ich +bereute schon, es ihm gezeigt zu haben, und wünschte +ihn die Treppe hinab, riß die Fenster auf, als er +gegangen war, und warf sie ruhlos, verlassen, gepeinigt +wieder zu. +</p> + +<p class="dat"> +25. MÄRZ. Wie in aller Welt haftete Pech meinen +zehn Fingern an? Aber ich täuschte mich ja! Es +war ein Irrtum . . . ah, es war ein Traum, so lebhaft +aber, daß ich mit beiden Händen in die Höhe +fuhr. +</p> + +<p> +Nachmittags bei der Fürstin, in der Hoffnung, ihre +nüchterne Atmosphäre würde mir Ernüchterung +bringen. +</p> + +<p> +„Et la Calicie“, sagte sie. „Ah! ils se valent bien +tous, allez!“ +</p> + +<p> +Mir wurde nicht besser, und ich ging. +</p> + +<p> +Über der Kornhausbrücke hing sehr niedrig eine +Mondsichel, so wunderbar ausgeprägt, so sprechend, +so beseelt, so festlich! +</p> + +<p class="dat"> +<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> +27. MÄRZ. Nicht nur in meinem, nein, ich darf +es sagen: mehr noch im Namen der vielen in Deutschland +(oder der wenigen, gleichviel!), welche sich nicht +äußern konnten, wollte ich gegen die neueste Kraftprobe +der Herren Militärs protestieren, und es dabei +genau so halten wie die oberste Heeresleitung, +nur umgekehrt: das heißt mit eben derselben Arroganz +über militärische Notwendigkeiten hinwegsehen, +wie sie über menschliche und moralische. Meine +Wohnung aber, meine Sachen, meine zurückgelassenen +Briefe, ein gewisses Schlößchen im bayrischen Vorgebirge, +das selbst mitten im Kriege so zauberhafte +Kreise zog, dies alles sah ich vielleicht nicht wieder. +Und, die Trennung von meinen Freunden, meine +Geborgenheit? Hier war ich so fremd! Warum aber +verhielt sich dies alles bleich, ohne Licht, unvorhanden, +ohne Resonanz, da mir doch wohl bewußt +war, daß es wieder in ganzer Kraft ausziehen würde? +Wie jene rein umrissene und sehnsuchtsvolle Mondsichel, +die gestern über der Brücke so tief am Himmel +hing und ihn beherrschte. Was weiß er noch von +ihr, sobald die Sonne brennt? So waren alle Beweggründe, +die mich zurückhielten, von einer stärkeren +Forderung entkräftet und verdrängt. +</p> + +<p class="dat"> +29. MÄRZ. Kaum war an diesem 29. März mein +Protest an das Journal de Genève abgeschickt, als +mir eines jener erprobten Warnsignale übler Vorbedeutung, +<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> +die wie mit Hellebarden mein so ganz +auf innere Stimmen angewiesenes Sein umstellt halten, +auf einem Rad, als hätte es höchste Eile, entgegensauste. +</p> + +<p class="dat"> +30. MÄRZ. Schon verschieben sich sachte wie auf +einer Wandelbühne die Kulissen: Verstummtes, Unterdrücktes +belebt sich aufs neue, findet wieder Farbe +und Gestalt. +</p> + +<p class="dat"> +31. MÄRZ. Eine Antwort. Schon! — „Die vielen +Zuschriften, der Raummangel . . . meinen Brief jedoch +gedächte man zu bringen.“ Es steht nichts +von einem Termin. Aber ins Ungewisse ertrage +ich diesen Zwiespalt nicht. Morgen fahre ich nach +Genf zu Romain Rolland. +</p> + +<p class="dat"> +1. APRIL. Sonntag. Unter strömendem Regen bin +ich nach Champel gefahren. Rolland wußte schon, +warum ich kam. Er war zufällig auf der Redaktion +gewesen, als mein Brief dort eintraf, hatte ihn +gelesen und war unbedingt für dessen Veröffentlichung. +</p> + +<p> +Ich sprach dann beim Journal de Genève vor und +erwirkte, daß der Protest am übernächsten Tage +erscheinen würde. Somit war die Sache erledigt, +und ich ging. +</p> + +<p> +Das Wetter hatte plötzlich umgeschlagen. Es wehte +eine schneidende Luft, aber See und Himmel strahlten +<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> +in frühlinghafter Bläue. In mir derselbe jähe Szeneriewechsel. +</p> + +<p> +Ein erstickend schwerer Vorhang riß magisch in +die Höhe. Nicht der Salève, der sich hier an allen +Straßenecken türmte, sondern die bayrischen Berge +in ihrem seelenvollen Dunst und ihre Waldungen +verstellten mir den Weg, und die betrübten und +bestürzten Mienen meiner zurückgelassenen Freunde. +Es war die Trennung von ihnen, das Exil. Drüben +im Vorgebirge das Schlößchen, das wie eine selige +Insel auf dem dunkeln Meer dieser Zeiten träumte, +die schöne und musenhafte Freundin, die mich dort +erwartete, die dort verbrachten Herbst- und Sommerwochen. +</p> + +<p> +Tausend Erinnerungen setzten sich wie Trauerglocken +in Bewegung. Oh teuer erkaufte Ruh! +</p> + +<p class="dat"> +4. APRIL. Bern. Abigail besucht mich; sehr gespannt. +Ich sage ihm, wie Rolland, den er immer +anschwärzt, sich verhielt. +</p> + +<p class="dat"> +5. APRIL. Der Protest ist heute erschienen. Ich kaufe +das Blatt, ohne den Mut zu finden, es zu entfalten. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Ich übergehe die nächsten Tage. Diese Aufzeichnungen +sind ja nicht verfaßt, um Gemütsbewegungen +zu schildern. Ganz andere Zwecke verfolgt dieses +<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> +Buch. Auch ist die Zeit nicht mehr, und man wird +härter. Nur im Hinblick einer Einsicht, einer Erkenntnis, +wo Erfahrungen mit immer verstärkter +Deutlichkeit den Charakter des Lebens kennzeichnen +und Kommentare stellen zum Schicksal überhaupt, +dürfen wir dabei verweilen. Kein größerer Wahn +als der, zu glauben, man kenne das Leben, um es +ausgekostet, sich mit allen seinen Genüssen, Schrecknissen +und Abenteuern vertraut gemacht, viele Männer +oder Frauen gekannt oder geliebt zu haben. Es starb +so mancher ahnungslos dahin, welcher die ganze +Welt bereiste. Auch nicht wer Gefahren überstand, +nein, sondern wer die Gefährlichkeit des Daseins, +dessen Gefährdetheit durchschaute, die wie ein +giftiger Trank sich unablässig bereitet und immer +die Hefe zurückläßt, um sich neu zu mischen, nur +wessen Auge geschärft wurde für die Schatten, die +im Tageslicht aufpassen, nur der weiß über diese +Welt Bescheid, und in ihm lebt das Bewußtsein — +bitter wie die Aloe —, daß er umsonst gelebt hat, +wenn die Schule, durch die er ging, anderen nicht +zur Lehre dienen wird. +</p> + +<p> +Das erste war übrigens, daß mich die Fürstin ans +Telephon rief: „C’est désastreux! quelle folie!“ sagte +sie unverblümt; und als ich sie besuchte: „Je dis +ce que je pense, mais est-ce que j’écris, moi? — Pas +si bête!“ empfing sie mich und kochte mir mit heftigen +Bewegungen Kaffee. +</p> + +<p> +<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> +Dann aber kam Besuch: eine offiziöse Engländerin, +deren Mann mit atrocités allemandes einen schwunghaften +Handel trieb, und ein russischer Diplomat von +professioneller Verlogenheit, die mir Komplimente +machten und mich einluden. Wie schwül mir da +wurde! Nein, so war es nicht gemeint, und ich gehörte +nicht hierher! Nicht hierher und nicht dorthin. Bevor +die Fürstin mich mit einer ihrer Brüskerien zurückhalten +konnte, war ich ausgerissen und die Treppe +hinabgeeilt. +</p> + +<p> +Fortunio, der mir auf der Straße begegnete, nahm +dieses typische Palaceerlebnis von der komischen Seite +und lachte. Wir saßen zusammen, als Telramund +im biederen Pelzrock, an seiner Rechten die Menschenfresserin +von Hokusai, mit jener so charakteristischen +Verleumderwärme, die unbedingt etwas anderes scheinen +möchte, auf uns zueilte. Seine Hand weit entgegenstreckend, +brachte er mir rückhaltlose Schmeicheleien +zu herzhaftestem Ausdruck. Fortunio, +welcher fühlte, wie bitter sie mir mundeten, lenkte +das Gespräch auf andere Dinge. +</p> + +<p class="dat"> +13. APRIL. Den Abend mit Fortunio und Abigail +verbracht. Wir sprachen von Träumen. Abigails +sehr spekulatives Gehirn kann sich in so feinen Windungen +verlieren, daß es sich beizeiten von seiner +höchst stofflichen Person vollkommen losgelöst darstellt. +Plötzlich, mitten in einem Satz, den er sagte, +<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> +lebte ein geradezu abscheulicher Traum der vergangenen +Nacht in mir auf, und schon begriff ich +nicht mehr, daß ich mich jetzt erst auf ihn besann, +unterbrach aber sofort das Gespräch, um ihn zu +erzählen. — „Achtung!“ rief ich, „so etwas Widerliches +habt Ihr noch nicht gehört: +</p> + +<p> +Ein Mann, von dessen schwarzem, fettem, unbeschreiblich +schmutzigem Haare dichte graue Schuppen +auf seinen Anzug regneten, war dicht an meine +Seite getreten. Dabei zog er mit einem Kamm durch +diese Strähne von nie dagewesener Schmierigkeit, so +daß der graue Regen immer dichter fiel. Ich rückte +unwillkürlich von ihm weg, da fuhr er weitausholend +mit diesem treibenden Kamm in mein eigenes Haar, +ich fühlte ihn noch darin stecken und erwachte vor +Ekel.“ +</p> + +<p> +Fortunio schwieg. Auch der zu Kommentaren +schnell bereite Abigail äußerte sich mit keinem +Ton. +</p> + +<p> +„Es steht mir natürlich etwas höchst Widerwärtiges +bevor!“ nahm ich selber auf. Auch diese Bemerkung +weckte kein Echo. — Man ging auf konkrete +Dinge über. Es wurde spät. Fortunio erwähnte das +neue Blatt, welches Telramund schon in den nächsten +Tagen zu starten gedachte und wie jemand, der sich +ungern etwas zu sagen entschließt: „Er, beabsichtigt +übrigens, eine Übersetzung Ihres Protestes in seiner +ersten Nummer abzudrucken.“ +</p> + +<p> +<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> +„Was fällt ihm ein!“ rief ich. „Das kann er nicht.“ +</p> + +<p> +„Er kann es schon“, sagte Fortunio. +</p> + +<p> +„Die Friedenswarte bringt sie.“ +</p> + +<p> +„Er will ihr zuvorkommen.“ +</p> + +<p> +„Ungefragt? Ohne sie nur zu zeigen?“ fuhr ich +im lichterlohen Zorne auf. „Sie sind Zeuge, daß er +mir nichts von einer solchen Absicht verriet, als er vorgestern +zu uns stieß. Ich figuriere nicht in diesem Blatt.“ +</p> + +<p> +„Fassen Sie sich doch!“ sagte Fortunio. +</p> + +<p> +„Nein, ich fasse mich nicht. Oh Fortunio!“ rief +ich, „oh mein Traum!“ +</p> + +<p> +„Schreiben Sie ihm halt.“ +</p> + +<p> +Ich ließ sofort das Nötige herbeischaffen und schrieb +zitternd vor Aufregung, was er mir diktierte. Dann +brachen wir auf. Der gänzlich verstummte Abigail +blieb an unserer Seite. „Die Gefahr ist natürlich,“ +bemerkte Fortunio, „daß der Brief zu spät eintrifft.“ +</p> + +<p> +Dies sagte genug. Er wußte mehr. Meine Empörung, +meine Wut steigerte sich mit jeder Sekunde. +Je ungezügelter ich mich über den Charakter des +bevorstehenden Blattes ausließ, desto reservierter +wurde Fortunio. Je mehr ich sah, daß er sich ärgerte, +desto mehr ärgerte ich mich über seinen Ärger. Der +meine richtete sich besonders gegen Abigail, dessen +Schweigen mir mißfiel. Nicht das Ungestüm, mit +welchem ich auf den mir zugedachten Schlag reagierte, +sondern die ausgemachte Tücke desselben schien mir +das wesentliche, was unbedingt eine Parteinahme für +<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a> +mich verlangte. Auf eine solche ließ jedoch nichts +in der, all die letzten Tage so überschwänglich gewesenen +Haltung Abigails schließen. +</p> + +<p> +Oben in meinen sorgfältig geschmückten, aber von +Telramund behexten Räumen, in welchen ich noch +nicht eine einzige frohe Stunde verlebt hatte, noch +fernerhin erfahren würde, brach ich in helle Flammen +der Verzweiflung aus. Dies also war das Resultat! +Zu diesem Ende also hatte ich die Worte, zu welchen +ich glaubte, mich entschließen zu müssen, so bang +gewogen, so behorcht. War ich dafür bis an die +äußerste Kante einer abschüssigen Stelle vorgetreten, +so weit, als mein Fuß noch Boden unter sich fassen +konnte, um hinterrücks diesen Stoß zu erhalten? +Denn was für eine Übersetzung und zu welchem +Zwecke sie fabriziert wurde, wußte ich genau. Am +Arme Telramunds, dieses Verräters, sollte ich an die +Öffentlichkeit. Ich hatte mich, es ist wahr, vom +Anfang des Krieges an zur Opposition geschlagen. +Aber sie galt seinen Anstiftern und deren verworfener +Gefolgschaft. Das Volk selbst tat mir unabänderlich +leid. In meiner, von kalten Wirbelwinden der Abneigung +durchsackten und durchkreuzten, aber dabei +tiefen Liebe zu Deutschland, lag das Band zwischen +Fortunio und mir. Oft sprachen wir davon. Und +dünkten uns allein. Gerade unsere gallische Seite +setzte uns ja auf Grund unserer Abgerücktheit in +Besitz des Spiegels, den die unvermischt Deutschen +<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> +nicht führen. Ihr Nationalismus ist ja Import, ihr +Fremdenhaß unecht, imitiert, immer bereit, wie +Mörtel von ihnen abzufallen. Im übrigen ist die +Gefahr derjenigen Deutschen, welche Selbstkritik +üben, viel eher, daß sie erstarren. Wenn es kein +französisches Wort für „Gemüt“ gibt, so gibt es +noch weniger ein deutsches Wort für „affectueux“. +Die Deutschen — und das ist es, was einem oft an +ihnen erbarmt — sind nicht imstande, sich im geringsten +zu hegen. Weil jede Nation seine so typischen +Unholde hat, war Telramund, allen deutschen Germanophoben +voran, gerade in dieser Germanophobie +ein so typischer Boche. Jedenfalls durfte der Mann +von Glück reden, daß sein und seiner Gesponsin +Leben an diesem Abend nicht in meine Hand gegeben +war. Statt dessen war es <em class="em">ihr</em> Trick natürlich, welcher +aufs beste gelingen mußte, und weit entfernt, daß die +beiden verdienterweise und auf meine Order hin vor +Sonnenaufgang baumelten, haftete meinem Frühstückstablett +am Morgen dieses 14. April die erste +Nummer der Telramundschen Zeitung an. Sie umfaßte +vier Seiten. Alle Beiträge waren anonym. Nur +mein fettgedruckter, im Reporterdeutsch übertragener +Protest trug meinen Namen. Ich übergehe den Zorn, +mit dem ich diese wüste Revolverprosa las, welche +hier als meine eigene stand; wie vortrefflich war dabei +ihre Wirkung auf mich selber berechnet! Denn die +Feindschaft von Leuten wie Telramund ist wie mit +<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> +tausend Augen auf uns gerichtet, mit tausend Fühlern +in uns verbissen. Sie kennen ja die Ablenkung ins +Reich der Ideen nicht! Sie spinnen keine eigenen +Gedanken! Ich Törin hatte, wie über einen Witz, +lustig darüber aufgelacht, daß Telramund meinen +Protest als eine „Manoeuvre allemande“ bezeichnet +hatte, ohne zu erwägen, daß er natürlich auf Mittel +und Wege sinnen würde, dies zu bekräftigen. So +galt es denn, mich gewaltsam über die Linie zu ziehen, +die ich mir selbst gesteckt hatte. Dies ergab sich ohne +weiteres durch den gehässigen Ton der Übersetzung. +Das andere würde ich schon selber besorgen; denn +daß ich reagieren, ja mich hinreißen lassen und ihm +in die Hände arbeiten würde, wußte niemand so gut +wie dieser ausgezeichnete Kenner meiner Person. Ja, +es kam noch besser für ihn, als er wohl dachte. +</p> + +<p> +Fortunio, den ich sofort benachrichtigte, ließ mir +sagen, er könne mich erst gegen zwölf Uhr sehen. Dies +war mir viel zu spät. Gleich, in einer Viertelstunde, +bevor noch irgend jemand auf die Gasse trat, mußte +meines Erachtens etwas geschehen. Wahn! überall +Wahn! In der Redaktion des Bundes bestand ich +darauf, daß meine Verwahrung sofort in der nächsten +Nummer stehen müsse. Es wurde mir versprochen. +Immer noch war es Morgen. Rückte denn heute die +Zeit nicht vor? Alle Hauptstraßen meidend, kam +ich im Sturmtempo zu Fortunio, ihm das fait accompli +mitzuteilen. +</p> + +<p> +<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> +Wenn es wahr ist, daß kein Sperling versehentlich +vom Dache fällt, nun dann steht gewiß auch ein +jeder unserer Tage unter einer bestimmten Konstellation, +und mein Unstern feierte gerade seinen +Mittag. Fortunia, die auf der Treppe stand, empfing +mich mit einem unglücklich gewählten Wort. +Schließlich war es ihr Haus, ich konnte sie nicht +niederstoßen. An ihr vorbei, geradeswegs in Fortunios +Arbeitszimmer, der die Mitteilung von meiner +zu erscheinenden Notiz mit einer Kälte aufnahm, die +mich unsagbar erbitterte. Hier bin ich fehl am Ort, +dachte ich, und nahm eilends Abschied. Auf der +Straße war es kalt. Ich sah mich um: sie war leer. +„Ich bin verraten“, sagte ich laut. Ich hatte nur ein +paar Schritte bis zum Haus, in dem ich wohnte. Die +Hand vor den Augen haltend, als sei mir etwas hineingeflogen, +eilte ich die Treppe hinauf und schloß +mich ein. +</p> + +<p class="dat"> +15. APRIL. Telramund (immer anonym natürlich) +veröffentlicht eine hämische Erwiderung auf die +meinige. Meinen französischen Text und seine +Übertragung würde die nächste Nummer seiner Zeitung +zusammen abdrucken. Der Leser möge sich +dann selbst ein Urteil über mich bilden. Ich sofort +wie eine Windsbraut, auf Flügeln des Zorns, in die +Redaktion mit einer „Schlußerklärung“. Auch diese +wollte ich sofort eingerückt sehen. +</p> + +<p> +<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> +Daraufhin vertiefte sich das Waldesschweigen um +mich her. Fortunio war ohne ein Wort nach Lugano +abgereist. Ich begriff es nicht. In meiner Unkenntnis +alles dessen, was mit Partei- oder Presseinteressen +zusammenhing, wollte mir ein Überblick der besonderen +Situation nicht gelingen. Ein paar Dinge +sah und erkannte ich mit unbeeinflußbarer Sicherheit, +gleichsam durch ein Brennglas, mußte aber jede +Einsicht mit einer Unzulänglichkeit überzahlen, jedes +Überbieten mit einem Versagen. Wer mich für +dumm erklärte, dem hatte ich von jeher meinen Segen +gegeben. Es will keine Geographie in meinen Kopf; +vergebens starre ich auf einen Globus; ein Morseapparat +bleibt mir ein unergründliches Geheimnis; +in scheuer Bewunderung starre ich während einer +Panne auf die Mechanikerkünste des Chauffeurs, +und so teilnahmslos ist gewiß kein Mensch, daß er, +ohne mir beizustehen, zusehen könnte, wie ich meine +Koffer packe. Durch Vorzüge, wie durch Mängel +isoliert, muß ich mich selber auf mich nehmen wie +ein Kreuz. Es kann geschehen, daß ich vom +Blatt begleite auf eine Weise, die jeden Musiker +empfinden läßt, welche Entbehrung es für mich +ist, ohne Musik zu leben, und mir selbst wird zumute +gewesen sein wie einem plötzlich freigelassenen Pferd, +das über eine Ebene voll Sonnenlicht und Schatten +fliegt. Nichts kommt seinem Rausche gleich. Von +solchen Augenblicken wahren Lebens erwache ich +<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> +zum Tode des Alltags wie ein Gefangener aus seinem +Freiheitstraum. Gerade nach solchen seelischen +Abenteuern aber wird es am leichtesten vorkommen, +daß ich mit einer aufgeregten Hilflosigkeit, viel eher +eines Dorftrottels, als meiner würdig, nach meinen +vergessenen oder verirrten Habseligkeiten suche, und +keiner der Musiker von vorhin würde mich wiedererkennen. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +21. APRIL. Besuch Abigails. Oh nichts von Komplimenten +mehr! Nichts mehr von „femme exquise“. +Wir prasselten uns Vorwürfe, groß wie Taubeneier, +ins Gesicht. Meine Schlußerklärung sei eine Abschwächung +gewesen. Ob dies der Moment wäre, +zu sagen, daß es Boches in jedem Lande gäbe. +</p> + +<p> +Es sei die Wahrheit. +</p> + +<p> +In der Tat hätte ich die richtige Gelegenheit ergriffen, +dies zu äußern. +</p> + +<p> +„Ihr habt ja meinen Protest als eine manoeuvre +allemande angesehen.“ +</p> + +<p> +„Cest donc une vengeance“, sagte er, indem er +sich zum Gehen anschickte. Ich eilte zur Tür, und, +vor ihr aufgepflanzt, gedachte ich das letzte Wort zu +haben, als mir plötzlich ein Licht aufging, auch Fortunios +wortlose Abreise mir erklärte. „Sie haben das +Wort ‚Abschwächung‘ gebraucht“, sagte ich, „und +werden dieses Zimmer nicht verlassen, bevor Sie mir +<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a> +selbst, geholfen haben, einen Nachsatz aufzusetzen, +der jede Möglichkeit einer solchen Auffassung ausschließt. +Alles andere ist mir im Augenblick egal.“ +</p> + +<p> +Mein Entschluß einer neuen Bekräftigung konnte +ihm nur erwünscht sein. Es setzte ihn in den Stand, +zum zweiten Male Heu einzufahren, nachdem das +erste verregnet war. Zum dritten Male schlug ich nun +den Weg in die Redaktion des „Bundes“ ein. Nicht +mit Unrecht wurde ich aber dort darauf hingewiesen, +daß sich eine Schlußerklärung mit keinen neuen +Erklärungen vertrüge. Ich führte mit aller Vehemenz +dagegen aus, sie sei für mich Ehrensache, und setzte +endlich ihre Veröffentlichung durch. Natürlich mußte +sie wieder auf der Stelle her. +</p> + +<p> +Daß hiermit ein Loch an Stelle eines Fleckens +trat, war mir zwar klar. Und nach der deutschen +Seite hin verschlechterte sich natürlich meine Situation, +war eine Herausforderung mehr. Doch auch die formvollendetste +Blamage durfte ich in diesem Augenblick +riskieren, nur nicht, daß behauptet werden +durfte, ich liefe vor meinem eigenen Mute davon. +Ich war froh, daß jetzt um mich her eine solche Leere +bestand, und niemand in Sicht, der mir einen Rat +erteilen konnte. Denn der Fall lag allzu klar. Hier +war es nicht le ridicule qui tuait. +</p> + +<p class="dat"> +23. APRIL. An der Schnelligkeit jedoch, mit welcher +jetzt meine Stimmung umschlug, merkte ich den +<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> +Stoß, den mein Gleichgewicht erfahren hatte: meine +Gemütsverfassung war eins mit dem herrschenden +Wetter: Regen, Finsternis, zerrissenes Gewölke, Himmelsblau, +Sonne und wieder Sturm und Schnee. +Kurz entschlossen löste ich eine Karte, um einer +Aufforderung A. H. Paxens nach Lugano zu folgen. +</p> + +<p> +Abigail, der sich nachmittags bei mir meldete, war +sichtlich erfreut über die inzwischen schon erschienene +Notiz. Aber ich hatte jetzt reichlich genug von der +leidigen Geschichte, deren dickes Ende ja noch +bevorstand, denn bis jetzt hatte noch kein deutsches +Blatt auf meinen Vorstoß reagiert. +</p> + +<p class="dat"> +23. APRIL. In Luzern unterbreche ich meine Fahrt +und steige im Hotel Tivoli ab, bei Glasenfrosts. +</p> + +<p> +Warum aber fallen nachts Felsenblöcke über mich +hin? Warum sehe ich einen Baum an einem unsichtbaren +und doch so verzehrenden Feuer verbrennen, +daß er im Nu nur ein Gerippe ist von einem Baum? +Ohne Flamme und ohne, daß ein Blitz ihn traf, nur +ein gespaltener Stamm? +</p> + +<p> +Warum stürzt von zwei Leuchtern der eine mit +herabgebrannter, erloschener und tränender Kerze zu +Boden? Eine trübe Bildersprache, die ich in diesem +Jahre noch nicht entziffern sollte. +</p> + +<p> +Um Mittag fahre ich weiter. Jenseits des Gotthard +gerät der Himmel ins Lachen. Er findet offenbar +die Welt noch schön. Tröstlich prangende Blütenhänge +<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> +und endlich, tief unten, das hingezauberte +Blau des Sees, einem verliebten Abendhimmel hingegeben. +Und die Bäume stehen hier wie sanfte, +begütigende Bräute. +</p> + +<p> +Der Weg nach Paradiso ist holperig genug, auf den +Bergen oben leuchten feurige Spieldosen auf. Die +Natur ist ein Zwischenakt mit Verwandlungsmusik, +und die Nachtluft wird von Amoretten hingetragen. +Oh Plansee im bayrischen Gebirg! Du See auf dem +Plan, so hoch oben im Wind! Warum schwebst du, +Verwunschener, mir vor? Vor mir liegt lächelnde +Erfüllung. Du aber bist unbegrenzte Sehnsucht und +Verweigerung. +</p> + +<p> +Ein nachgesandter Brief von ihr, die von jenen +Bergen spricht, hatte mich in Luzern ereilt. „Bald +kommt der Sommer, schreibt sie, rücken wir ihm +vor. Der Flügel wird schon in der Halle aufgestellt, +die Schwalben fliegen gewiß schon ein und aus.“ +</p> + +<p> +Die Droschke rollt jetzt auf glatter Fähre den See +entlang. +</p> + +<p class="dat"> +25. APRIL. Fortunio, welcher von meiner Ankunft +bei Paxens erfahren hatte, kommt, verfehlt mich, +telephoniert und bittet mich zum Tee. +</p> + +<p> +Ha! denke ich, diesen Tee soll er sich merken +bis in sein achtzigstes Jahr. Mit vielem Bedacht +staffiere ich mich zu diesem Wiedersehen heraus, um +die Meinung, die ich mir von seinen Ritterdiensten +<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> +gemacht habe, möglichst wirkungsvoll zu unterstreichen. +</p> + +<p> +Wie dem auch sei, ich trug an diesem Tage ein, +wenn auch nicht neues, so doch neu beschlagenes +Kleid mit halblangen, weit auslaufenden Ärmeln. +Weiße Besätze, federleicht und schwarz besäumt, +schlossen sie am Ellbogen in zwei Reihen ab. Zwischen +ihnen lag wieder eine Spanne Stoffes, den sie +ein wenig heruntergezogen, denn so dünn ihr Gewebe +war, durch ihre Fülle beschwerten sie ihn doch. +Beim Gehen glockten sie ganz leise ab und zu und +hingen dann still, bevor sie sich von neuem bewegten. +Es war in der Tat ein sehr rhythmisches und geglücktes +Ärmelpaar. Vor allen Dingen aber — andere +mögen dies gewiß auch schon beobachtet haben — +können wir von einer „geistigen Schminke“ angeflogen +werden, chimärisch wie jene, welche die Kosmetiker +bereiten — denn auch sie, wenn sie von uns +fällt, läßt uns fahler, aufgeriebener als zuvor. — +Indes gewährte ich den ausgestandenen Nöten der +vergangenen Tage ihr beredtes Schattenspiel, ja ein +selbstbewußter Schleier chiffrierte noch ein übriges +dazu. Also gepanzert, höchst intangibel und durchaus +bestechend ging ich, die ihm zugedachte Szene +wohl im Kopf, gewandten Schrittes, als hätte +ich soeben meine besten Erfolge hinter mir, auf +ihn zu. +</p> + +<p> +Es gehört jedoch irgendwie mit zum Leben, daß +<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> +im geringfügigen, wie im großen die Dinge anders +verlaufen, als man sie erwartete. +</p> + +<p> +Zwar in der Tat eilte da Fortunio wie mit neubeschwingter +Freundschaft mir entgegen. +</p> + +<p> +Seine Sympathie, erklärte er dabei, hätte nun +wirklich die Feuerprobe bestanden. +</p> + +<p> +„Wie meinen?“ +</p> + +<p> +Da nicht einmal die desaströse Erklärerei im +„Bunde“ vermocht hätte, daran zu rütteln. „Sie +kennen die letzte nicht“, erwiderte ich mit der +erkünstelten und flackernden Würde einer Überrumpelten. +</p> + +<p> +„Was!?“ schrie er entsetzt und fuhr mit den +Armen in die Luft. „Noch eine?!“ Unglücklicherweise +mußte ich lachen, und da mir dies seit drei +Wochen nicht mehr vorgekommen war, hielt ich +nicht sogleich inne, sondern geriet ins lachen, wie +einer ins laufen gerät, und ehe Fortunios Arme sich +wieder gesenkt hatten, war er angesteckt. Es gab +kein Aufhalten mehr. Lachraketen stiegen jetzt in +die verblaute Luft, in einer vor Wonne irrsinnigen +Natur. Wäre ich zehnmal bedrückter noch gewesen, +ich hätte gelacht. +</p> + +<p> +Bald fingen denn auch die Berge wieder an, ihre +funkelnden Spieldosen aufzuziehen. Nicht einmal +nachts wollte diese Landschaft zum Ernste gelangen; +des Krieges selber schien sie zu spotten. Wer hatte +denn recht, wenn nicht die Bäume hier am Strand +<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> +des Sees, die ihre Düfte einander zuhauchten und +vertauschten, und wenn sie welkten, wieder erblühten, +und wenn sie verdorrten, andere dafür erwuchsen. +Es war mir ein Schlag ins Wasser geglückt. Und +was dann? +</p> + +<p> +Ich zog Fortunio mit in den Kursaal, sah den +Dämchen zu, wie sie tanzten, gewann sechs Franken +und verlor deren zwölf. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Und nunmehr ging ein Tag blitzender als wie der +andere auf, und wie in einer leuchtenden Schale der +Vergessenheit zerfloß der See. Vergiß! Vergiß! +</p> + +<p> +Es hinderte nicht, daß ich Fortunio bei Gelegenheit +das alte Leitmotiv vernehmen ließ, solange Telramunds +im Hintergrunde säßen, sei jede Aktion, jeder +Versuch, dem Haß entgegenzuwirken, im vornherein +eine gescheiterte Sache. Er ist für das „abwirtschaftenlassen“ +solcher Elemente, und ich nicht. Denn bis +sie abgewirtschaftet haben, ist ja zuviel verdorben, +aufgehalten, zugrunde gerichtet. Fortunio, in vielen +Dingen weit beschlagener als ich, sieht nicht, wo ich +erfahrener bin als er. Gewiß sind ihm die Götter +hold. Taucht er unter, so fischt er gleich etwas Schönes, +hält’s gegen das Licht, freut sich des Prismas und +läßt sich von den Wellen schaukeln. +</p> + +<p> +Die paar Meinungen dagegen, die mir unverrückbar +im Kopfe horsten, muß ich zu Markte tragen, +<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> +und habe keine Ruhe. Muße bleibt Müßiggang für +mich, solange ich sie nicht formulierte. Und die +Aufgabe ist doch so schwer, daß ich vor jedem Anlauf +von neuem zögere. Bis mein Tagewerk gelingt, +sofern es mir gelingt, wird der Abend für mich herangebrochen +und meine Gastrolle in dieser zweifelhaften +Welt ausgespielt sein. Sollten meine Bücher +mich überleben und ich selber wiederkommen, so +lese ich sie vielleicht, und vielleicht wird mir dabei +etwas sonderbar zumute. Ein Dirigent möchte ich +dann werden. Regieren möchte ich! +</p> + +<p> +Die erste Katze möchte ich sein, die keine Vögel +mordet. Ich bin in diese beiden Tiere vernarrt und +wünschte, sie schlössen Frieden. +</p> + +<p> +Um auf Fortunio zurückzukommen: darüber sei +man sich vollkommen einig, sagte er, wie Telramunds +Verfahren mir gegenüber zu qualifizieren sei. +</p> + +<p> +Warum ergriff denn keiner meine Partei? +</p> + +<p> +Er zuckte die Achseln, wie jemand, der es aufgibt, +etwas zu erklären. Gerade dieses Achselzucken aber +gab mir endlich voll und ganz zu verstehen, mit welch +unsäglich trübem Wasser in Politicis gekocht wurde; +so zwar, als müßte es so sein. Diese Notwendigkeit +war es gerade, die ich mich anzuerkennen weigerte. +</p> + +<p> +Ich kann gar nicht aussprechen, wie grausam mich +der Plan von einem „Zusammenschluß der Geistigen“ +anlächert . . . Wie sollte ein Zusammenschluß der Geistigen +zustande kommen, da noch ganz und gar kein +<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> +Zusammenschluß gegen die Ungeistigen besteht? Ach, +kennt ihr Geistigen die Welt noch immer nicht? +Was redet ihr groß von eurem Zusammenschluß? +Sprecht von Aufgebot, von einem Kampfesruf gegen +den Zusammenschluß jener, denen alle Waffen zu +Gebote stehen, welche die Gemeinheit führt, dem +einzigen Zusammenschluß, der sich bisher verwirklichte, +denn dort gebietet der Verworfene über den +Verworfeneren, und der Verworfenste ist es, der das +Zepter schwingt. +</p> + +<p> +Sprecht von Ausschluß, sprecht von Sorge. Davon +sprecht, daß es keine gute Sache geben kann, solange +schlechte Elemente sich zu ihr bekennen dürfen, um +sie zu untergraben, ist doch an ihrer eigenen nichts +mehr zu verderben. Zum Zerstören aber sind sie da. +</p> + +<p> +Gelänge es mir, auf diese noch immer nicht genügend +beachtete Beschaffenheit der Dinge die Aufmerksamkeit +zu lenken, ich hätte nicht umsonst gelebt. Ich +weiß ja, wie sehr mein Scharfblick auf Kosten von +Kurzsichtigkeiten geht. Welche Pein ist das! Ich +stürme nicht voran, ohne über das Nächstliegende zu +stolpern. Von ausgemachter Selbstherrlichkeit, wo +ich meiner Sache sicher bin, unheilbar blöde, unheimlich +schlau, so harmlos, daß man kichert, so +gerissen, daß man mir mißtraut . . . +</p> + +<p class="dat"> +27. APRIL. Ein Berliner Kriegsgewinnler, den Paxens +von Wien her kennen, meldete sich bei ihnen zu +<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> +Besuch. Der erste, dem ich mit Bewußtsein begegne. +Nie habe man bei Hiller so gut gegessen, nie bei +Borchard soviel Champagner getrunken. Die Welt +habe jetzt die deutsche Faust kennenzulernen. Was +Ludendorff befahl, sei <em class="em">unbesehen</em> das Richtige, +und keine Kritik gestattet; (das galt mir!) Gott, wie +gemütlich man hier beisammen säße, während die +Völker einander schlachteten. (Dies sagte er, wie +man am warmen Kamin vom Schneesturm spricht, +der draußen wütet.) Allen könne es nicht gut gehen, +bemerkte er auch. „Schweigen Sie“, rief Frau +A. H. Pax. Er guckte etwas verdutzt. „Das ist ja +schrecklich mit unserer Valuta“, lenkte er dann ein. +„Und mit der geistigen erst!“ fuhr A. H. Pax dazwischen. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-2-2"> +Kunstwerk der Zukunft. +</h3> + +<p class="dat"> +28. APRIL. Heute früh bin ich in einer Messe gewesen. +Aber welche Messe! In einem sehr alten, +dem See gegenüberliegenden und köstlichen Bau: +Traumhafte Fresken, das übrige mit roten, langverjährten, +rosagewordenen Damasten ausgeschlagen. +So gut wie leer. Die Schellen, die der Ministrant in +Bewegung setzt, erklingen abgetönt und sind gewiß +aus Silber, Weihrauchwolken steigen vom Altar. +Dunkel — nein nicht dunkel, von einer lichten +Penombra wie eine bedeckte Vollmondnacht, ohne +Orgel und Gesang, und dennoch brausend, unendlich +<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> +groß, ja wie zum Firmament — (wie wurde +mir?) weitete sich das stille und verlassene Haus +und schwamm im All. +</p> + +<p> +Endlich wieder eine schöne Kirche. Die in Bern +hatte ich aufgeben müssen, denn so war die Messe +wirklich nicht gemeint. Als ich aber jetzt durch die +schwerbehangene Türe ins Freie trat, auf den noch +leeren Platz und den besonnten Strand, wo die Platanen +ihre eben erschlossenen Kronen so bräutlich +dem Licht entgegenhielten, da schien dies alles, diese +Natur mit den dekorativ vor und wieder zurücktretenden +Wänden ihrer Berge und das gekräuselte, +wie in sich selbst verliebt hinziehende Gewässer, selbst +der Himmel, der darüber hing, schien nicht so weit +wie der eben verlassene, leicht zu umspannende Bau +mit den damastenen Wänden von verblaßtem Rot. +</p> + +<p class="dat"> +2. MAI. Die Pforte, die ins Weglose führt, wurde +bisher nur im Vorübergehen angekreidet. Ziemt es +sich doch nicht, es zu beschreiten. — +</p> + +<p> +Diejenigen aber, welche solange über die Schiffbarmachung +der Luft gegrübelt haben, sind nicht dieselben, +welche sich auf Äroplane schwingen, sondern +viele Jahrhunderte werfen ihre wilde Brandung zwischen +sie. Und doch, und doch . . . +</p> + +<p> +Wie in der nunmehr erkrankten Luft die Menschheit +eine infizierte oder jedenfalls, auch ohne es zu +merken, eine affizierte ist, wie vielleicht ein Pesthauch +<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a> +so allmählich unseren Planeten umschichtet, +daß wir es nicht gewahrten, ebenso glaube ich, daß +bei vielen unter uns der innere Sinn dem lautlos +tumultarischen drängen und wogen (wo gäbe es +Worte?) der so zahllos und so jäh entströmten Leben +zugewandter ist, als sie es wissen. Da sind Akzente, +da sind Lockrufe, die noch nicht ergingen . . . Da +treiben wehe Schwingungen der Wonne von unaussprechlicher +Pein, da greifen Klänge ans Herz, zerspringen +und ermatten wieder, ohne zu ertönen, und +da sind uns Zaubertränke hingehalten, als hätten wir +geistige Lippen, sie zu genießen . . . +</p> + +<p> +Es war nicht mehr Nacht, aber der Tag dämmerte +noch nicht. Ich schlief nicht mehr und war noch +nicht wach. Eine Gestalt, höchst eindrücklich in +ihrer Schattenhaftigkeit, erfüllte die Atmosphäre bis +an den Rand, als müsse diese wie ein zu voller Becher +überfließen, das Zimmer sprengen oder sich entflammen. +Und schon war das Unnennbare ungegenwärtig, +und es wäre lächerlich unzureichend, wenn +ich sagte, es hätte sich entfernt, so ganz außer jeder +Beziehung stand es zu Zeit und Raum. +</p> + +<p> +Was aber war inzwischen nochmals vor mir aufgeschimmert? +Locken? — von einer Gelocktheit, +die es nicht gab, von einer goldenen Blondheit, die +nicht vorkommt, ein Licht, das ich nicht kannte, +schärfer, und dabei nicht so grell wie das des Tages. +Geisterhaft? Aber es war ja von einer schärferen, +<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> +wärmeren, pulsierenderen Lebendigkeit gewesen, als +wir sie kennen. Wir sind nicht lebendig genug, dachte +ich bestürzt, und schlug die Augen auf. Draußen +hatte sich ein Wind erhoben. Die Fenster sahen auf +den Garten; der Himmel ganz blaß, aber im vollen +Staat. Kleine Wolken als Vorreiter ausgesandt. Die +Bahn war frei, die Vögel vollzählig, Brust heraus, in +Positur und einzustimmen bereit. Höchste Spannung +in den Bäumen: kommt sie schon? Blumengeflüster: +ist sie schon da? — Es war alles wie am ersten Tag. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +3. MAI. Sicher haben die Menschen ihr Hofzeremoniell +dem Sonnenaufgang abgelauscht. An sich +gewiß eine hübsche Idee. Mit acht Jahren war ich im +Kloster Page der schönen Gelmini, die an Epiphania +mit dem Beinamen die Gerechte zur Königin ausgerufen +wurde. Meine Haare wurden Tage hindurch +im Hinblick der zu drehenden Locken mit gezuckertem +Wasser gedrillt. Dem Hofnarren fielen sie +aus der Schellenkappe tief ins Gesicht. Denn gelockt +standen wir alle am Tage unseres Umzugs. Gelmini +wurde zweimal gewählt und starb das Jahr darauf. +Wie groß war mein Staunen, als ich später erfuhr, +eine erwiesene Larve könne ihr Lebtag lang unter +Zimbeln und Trompeten als „Majestät“ aufziehen. +Und welches Gelächter erntete meine Entrüstung! +Aber wie oft hat der verspottete recht! Jede Epoche +<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> +hat ihren wahren Fürstenkonzern. Wir verkannten dies +ganz: darum sind heute unsere goldenen Kutschen +remisiert. Großherzogliche Hoflieferanten, Palast- und +Schlüsseldamen, wo seid ihr? Terror der Wiener +Komtessen, wo bist du? Kurz, kurz ist’s her. +</p> + +<p> +Abends im Kursaal bei Musik geschrieben. A. H. Pax +will in der „Friedenswarte“ eine tongetreue Übersetzung +meines Protestes bringen, und da er zugleich +einen Beitrag für das Maiheft wünscht, setze ich +meinen Apparat in Bewegung. Es ist, als träten ungeheure +Wasserwerke in Kraft, um einen Fingerhut +voll zu kredenzen. Stirnrunzelnd sitze ich inmitten +des Hin und Her von Eisschokolade und Tangotänzen, +um einige Sätze über die elsässische Frage +zu formulieren. Ich begann mit ein paar Anspielungen +und zitierte mich aus einem Essay, den ich +über die Markgräfin von Bayreuth geschrieben hatte: +der Frau fehle es zwar nicht an literarischer Begabung, +wohl aber an literarischer Perspektive, und für die +Realität des geschriebenen Wortes wohne ihr auch +nicht entfernt dasselbe scharfe Gefühl inne wie dem +Mann. Heute sei hinzuzufügen, fuhr ich fort, ihr Interesse +und ihr Verständnis für Presse- und Parteiwesen +sei in der Regel gering, und auf jene allerletzten Endes +so gedankenlose Parole: right or wrong my country, +wäre die Frau nicht verfallen. +</p> + +<p> +So wird sie denn, erzählte ich von ihr, und meinte +<em class="em">mich</em>, nur wenig von bisheriger Politik verstehen, +<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> +dafür um so mehr von der kommenden. Denn es ist +ganz gewiß falsch, zu behaupten, man dürfe Politik +nicht mit dem Gefühl treiben. Wie veraltet die ohne +Gefühl betriebene sogenannte Realpolitik im Grunde +schon war, hätten die zuletzt auf dem Plan erschienenen +jugoslawischen Völker sehr wohl erkannt, als +sie einst jenen brüderlichen Balkanbund zu gründen +beschlossen, welcher dann am Widerstand der europäischen +Kabinette gescheitert war. +</p> + +<p> +Es läge auch ein vollkommen richtiger Instinkt +einer Versinnbildlichung der Nationen durch überlebensgroße +Menschengestalten zugrunde: Marianne, +John Bull, Michel, Onkel Sam . . . Von hieraus zieht +sich deutlich ein Weg zur Einsicht, daß den Beziehungen +zwischen hochstehenden Völkern genau dieselben +Grundsätze unterliegen sollten wie zwischen +hochstehenden Menschen. Statt sich zu überlisten +und brutal zu übervorteilen, suchen sich diese im +Gegenteil an Schonung, Großmut und Rücksicht +gegenseitig zu überbieten. Der Wetteifer um den +Rücksitz hat als Ergebnis, daß man sich darin teilt; +statt einander zu berauben, hilft man einander aus. +Man gesteht sein Unrecht und wird vernommen, +statt verdammt. Wäre somit eine solche Politik nicht +auch die praktischere? +</p> + +<p> +Ich hätte mir vorstellen können, fuhr ich fort, +daß auf einer solchen Grundlage hin ein Dialog +zustande gekommen wäre zwischen Michel und +<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> +der unversöhnlich von ihm abgewandten Marianne. +Ich könnte mir wahrhaftigen Gottes vorstellen, daß +er — nach Art der Liebhaber — zu ihren Füßen hingerissen, +die elsässische Frage vor ihr zur Sprache +brächte; ich könnte mir vorstellen, daß im Laufe +dieses Dialogs endlich ein Wendepunkt sich ergäbe, +von wo ab beteuert würde, was verneint worden +war . . . und in dieser Tonart lange hin und wieder +so beharrlich, bis die wunde Frage sich zwischen +ihnen isolierte, auf einen höheren Plan gehoben, +langsam über ihren Häuptern wie eine Morgengabe +schillerte. +</p> + +<p> +Aber den Realpolitikern dünkte die andere Alternative, +der wir heute zusehen müssen, die gerissenere. +Spätere Europäer werden sich freilich an +den Kopf greifen; dann aber wird vermutlich das +andere Schlagwort aufkommen vom Antagonismus der +weißen und der gelben Rasse; und dann wird sich +der Himmel verfinstern von den neuen Schrecknissen; +und dann erst werden die Überlebenden nicht +mehr bestreiten, daß die europäische Psyche durch +Assimilierung der asiatischen die endliche Bereicherung, +ja ihre letzte Vollendung erführe. +</p> + +<p> +Nicht allein, daß die grauenvollen Erfahrungen, die +geopferten Generationen, die vergeudeten Jahrzehnte, +Jahrhunderte notwendig sind, um diese Welt zu Anschauungen +zu bekehren, welche sich der einfachen +Nachdenklichkeit aufdrängen, sondern all diese Kriege, +<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> +und die gewesenen sind nur Vorstufen zu einem +letzten Kampf, dessen Stunde zugleich mit der Stunde +der Vergeltung schlagen wird für jene Elemente, +welche von jeher die schlechte Sache in der Welt +betrieben oder die gute verdorben haben. Die Leute +also, schloß ich meinen Aufsatz, welche auf den +ewigen Krieg schwören, mögen zufrieden mit mir +sein; denn bevor jene Elemente (und es sind stets +überall dieselben) nicht gekennzeichnet und untergeordnet +werden, glaube auch ich an keinen dauernden +Frieden. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Um mich von der Anstrengung zu erholen, setzte +ich zehn Franken und gewann zwei. Plötzlich taucht +der Kriegsgewinnler vor mir auf und fragt, ob er +mich nach Hause begleiten dürfe. Es war sehr spät, +ja, er dürfe. Er begleitet mich also, ich aber leuchte +ihm heim. Und siehe da, in dieser nächtlichen Weile +scheinen ihm sehr andere Bilder vorzuschweben als +die, mit welchen er noch gestern renommierte. „Es +geht uns ja so lausedreckig,“ jammerte er, „warum +verfolgt ihr das in den Brunnen gefallene Kind?“ +„Also so steht es“, rief ich. Mein fertiger Aufsatz stimmte +mich frech. „So steht es, und ihr blufft weiter mit +Schwertfrieden und Grenzverbesserungen in Tod und +Ruin hinein. Ich sehe schon, was für Argumente +ihr schmiedet, falls es schief ausgeht mit eurem Verbrechen!“ +<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> +Es läßt sich gar nicht sagen, wie weinerlich, +wie persönlich gutmütig dieser eingepeitschte +Alldeutsche sich herausstellte; wahrscheinlich der +beste Gatte und Vater dabei, ein gewissenhafter +Arbeitgeber vielleicht. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Melide. Fortunio hat drei Elsässer getroffen. Im +Schein der Windlichter schlage ich ihm die Karten, +er dagegen liest mir aus der Hand. Die Edeljüdin +hat ein rotes Tuch umgeschlagen, und wir sind vergnügt. +Doch oh, die Nachtigall, die wir am Heimweg +schlagen hören. Mein Herz hing sich an sie +und drang in den Busch zu ihr. Ich hätte mich so +gern nicht mehr von der Stelle gerührt. +</p> + +<p> +Der Himmel blieb die ganze Zeit über so blau, +daß sich die Wolken in meinem Gemüt angesichts +soviel Sonne nicht behaupten konnten. Der erste +bedeckte Tag war auch der unserer Abfahrt. Ich +nahm den Frühzug mit Paxens und steckte meine +Post gerade noch zu mir. Fürs erste galten dann meine +Blicke nur dem schwindenden See und den schnell +sich verstellenden Bergen. +</p> + +<p> +In Bellinzona trennten wir uns. A. H. Pax wünschte +die Mitarbeit der Gräfin Reventlow, und ich sollte +sie zu ernsterer Arbeit ermuntern. Es stellte sich +aber heraus, daß nur 40 Minuten in Locarno blieben, +so depeschierte ich ihr auf gut Glück und fuhr dann +<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> +durch das breite, lange Tal zum Lago Maggiore. Sie +stand am Bahnhof. Wir erkannten einander, ohne +uns je gesehen zu haben, und gingen mit einer Art +von kalter Vertraulichkeit hinab zum See. Ihr Zynismus +kannte keine Grenzen, doch immer alles mit +Grazie. Vom Schreiben wollte sie nichts mehr wissen +und hatte eine Übersetzung unternommen. Bei jeder +Seite freue ich mich, daß ich das nicht selber geschrieben +habe, sagte sie. Ich drängte sie zu größerem +Fleiß, ohne Anklang zu finden. „Mein Ideal wäre +die Leitung eines großen Hotels“, versicherte sie. Ihre +Augen waren wunderschön. Ich sprach von ihren +Schriften, und daß keine Bücher dieses leichten +Kalibers mit ähnlicher Qualität geschrieben worden +seien, so blaß, so spöttisch, so geistreich. Aber sie +schüttelte den Kopf: es sei zu schwer. +</p> + +<p> +Wir gingen in der Mittagsschwüle den bergigen +Weg zur Station zurück. Einige Wochen später sollte +sie in Konstanz ihrem Sohn zur Desertion verhelfen. +Heute amüsiert sie die Geisterwelt mit ihrem Witz. +Schreiben werden wir beide kein zweites Mal. +</p> + +<p> +Ich hatte gerade Zeit, in den Zug zu springen: er +bewegte sich schon, wir riefen uns noch einmal auf +Wiedersehen zu, bevor wir einander für immer aus +den Augen verloren. — Zu lesen hatte ich gar nichts +mehr, mit Ausnahme einer französischen Zeitung, die +unter meiner Post gewesen war. Sie enthielt auf der +zweiten Seite einen Angriff gegen mich: Erbitterte +<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> +Zeilen mit dem deutlichen Wunsch, mich zu verletzen. +Fürwahr, dachte ich, das ist wirklich zu unverdient. +Aber der Verfasser täuscht sich: es ist +mir egal. +</p> + +<p> +Ich legte die Zeitung weg und sah in die Gegend +hinaus. Merkwürdig durchdrang mich da ganz und +gar die Weite des Tals. Wie ein prächtiger Festsaal +der Natur, gemeint, als sei er auch bei Nacht zu erglänzen. +Als fehlten nur die Riesenkandelaber an +den gleichmäßigen und feierlichen Wänden der Berge. +</p> + +<p> +Die Lokalbahn hatte Anschluß an den zweiten Zug, +der von Lugano kam. Er war schon eingelaufen. +Fortunio und der Redakteur der Humanité standen +auf dem Perron. Ich reichte ihnen das Blatt, das mir +unter Kreuzband zugeschickt worden war, und wollte +etwas dazu bemerken, es stellte sich jedoch heraus, +daß meine Stimme zwischen Locarno und Bellinzona +hängengeblieben war. Hatte die Luft sich abgekühlt? +Wie Fanfaren drang das Blau durch die dunstigen +Wolken. Dicht vor dem Platz am Fenster, den Fortunio +mir gesichert hatte, zogen jetzt die grauen Riesenwände +des Gotthard vorüber, durchstrichen von zahllosen +Wildbächen, die aus ihren unversiegbaren Gründen +senkrecht im hellen Jubel herabschossen. Es +war ein Hals über Kopf sich überstürzendes Geglitzer. +Ich behielt sie im Auge, diese Flüsse, einen nach dem +andern, und zählte sie. Wie eine Rettung war’s, als +die table d’hôte ausgerufen wurde und alles in den +<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> +Speisewagen ging, Fortunio ganz besonders und der +Redakteur. Der Wunsch, allein zu bleiben, brannte +wie ein Durst. Welchen Auges mag der Hirsch das +Laub, das sein Geweih vom Aste schlägt, das Tal, +die Tiefe einbegreifen, bevor er sich getroffen weiß? +Wir wissen nicht, wie seine Welt da vor ihm aufleuchtet. +— Was für ein selbstherrliches Ding ist +doch das Herz! Du rufst ihm zu, und es vernimmt +kein Wort, als gehörte es sich selber und nicht dir. +</p> + +<p> +Verstrickte und sich selbst widerstreitende Liebesgefühle +haben ihre eigentümlichen Reflexbewegungen +wie Zerreißungen und Wunden. Ich hatte mich getäuscht: +der Angriff in der französischen Zeitung war +mir nicht egal. Und wie aber hätte die Erbitterung zwischen +den Zeilen mich nicht bewegt? Zwischen den +Erbfeinden des Abendlandes stand in Wahrheit reinste +und einzigste Erotik am Spiel. Was hier von jeher, +was von neuem auf Menschenalter zertreten wurde, +war der Keim aller Verjüngung und Erneuerung +eines Kontinents, die Blume aller Allianzen. Alle +andern sind unfruchtbare Bündnisse dagegen, Geschwisterehen. +Sagt mir nicht, daß es anders sei. +Ich weiß es besser. +</p> + +<p> +Ach! Grund genug, wenn es jetzt den Augen +unaufhaltsam entströmte wie über die grauen Furchen +der Gotthardfelsen. Oh! und nichts von bayrischem +Gebirg! Was sich da drüben hinter Schleiern spiegelte, +das war Paris am lauen Septembertag, der eigenen +<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> +Erfüllung hingegeben, und einem Himmel, der keine +andere Stadt so überhing wie sie. War sie nicht +meine eigenste Heimat? War sie nicht die unerreichbarste +Geliebte? War sie nicht eine Göttin? Oh mein +beraubtes Herz! Jedes Bild, jede Erinnerung an sie +zerriß es neu. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Abends in Bern, wo inzwischen auch der Frühling +gekommen, sozusagen ausgebrochen ist, leidenschaftlich +abgetrotzt wie etwas, das sich keineswegs von +selbst versteht wie im Süden. Ich liebe im Norden +nur den Sommer. +</p> + +<p class="dat"> +4. MAI. Abigail stattete mir eine richtige Sympathievisite +ab. Es fehlte nur der Zylinder. Dieser neue +Ziegelstein auf mein Dach dünkt ihm entschieden +de trop. „Erklären Sie mir nur,“ sage, ich, „liegt +denn eine solche Ungerechtigkeit in eurem Interesse?“ +„Wir fragen heute nicht nach Gerechtigkeit“, erwidert +er. „Wir verlangen alles oder nichts, Sie +bieten uns die Hälfte, das ist zu wenig.“ +</p> + +<p> +„Sie vergessen, daß ich Deutschland liebe.“ +</p> + +<p> +„Es sind Gefühle, die wir zu wenig teilen, als daß +sie uns interessieren könnten“, erwiderte er steif. +</p> + +<p> +Wir sprachen dann von anderen Dingen. +</p> + +<p class="dat"> +6. MAI. Besuch von Frau Karfunkel. Sie fragt +mich, ob ich eine Revolutionärin sei, und ich bin im +<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> +Augenblick zu müde, es zu wissen. Das Wort „gekrönte +Republik“ fällt mir ein, das kürzlich vor mir +gefallen war. Mochte es herhalten. „Eine gekrönte +Republik“, sage ich und gähne. +</p> + +<p> +Daß Frau Karfunkel mich kaum kannte, hinderte sie +nicht, mir jetzt eine jener Szenen zu machen, die +man wie ein Unwetter über sich ergehen läßt. Die +Worte wie krasse Ignoranz gehörten zu den mildesten, +die sie mir vorsetzte. Sollte ich ihr sagen, warum? +ihr bekennen, in welchen Gedanken sie mich unterbrochen +hatte? ihr den Grund jener mangelhaften +Kenntnis eingestehen, die sie so richtig erraten hatte? +</p> + +<p> +Welchen Kriegsbericht hatte ich zu Ende gelesen? +Von welcher Phase des Krieges mir auch nur einigermaßen +ein Bild gemacht? Über die erdrückende Tatsache, +daß er herrschte und kein Friede kommen +konnte, sah ich nicht hinaus. Für seinen Verlauf, +seine Geschichte blieb mein Interesse ungefähr. +</p> + +<p> +Was wollte die Frau bei mir? +</p> + +<p> +Sie hatte mich aus der Arbeit gerissen, und ich +war froh um die Unterbrechung gewesen; so mühselig +war die Pein, daß ihr Stigma sich den Schläfen +aufdrückt, und daß sie einsinken wie zermürbt. Oder +gleicht eine geistige Not der immerwährenden Welle +vielleicht und die Schläfen dem Stein, der von ihr +zernagt und bearbeitet wird? Von den Dingen +selbst ist mein Verständnis so karg! Der Kommentar +zu ihnen ist meine Sparte: ihn stets von neuem, zergliederter, +<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> +ausgreifender zu formulieren, ist der Stachel, +der mir keine Ruhe läßt, meine Einzelhaft mitten im +Leben. Denn über die Vielfältigkeit unserer Wege +hin, sehe ich die Einfältigkeit der Gefahr; die ewig +selbe Fratze, die jeder edlen Bestrebung wie eine +verruchte Karikatur noch immer auf dem Fuße folgte. +So schmal, schwankend und immerzu gefährdet zieht +unser Weg empor! Aber naiver als ein Soldat, der +mitten im Treffen nicht weiß, wo er steht, führte der +Mensch bisher seinen Kampf. Auch ihn trafen die +Geschosse, ohne daß er sah, aus welchem Hinterhalt +sie stammten, und von der unheimlichen Geschäftigkeit, +mit welcher in den Niederungen sein Verderben +betrieben wurde, merkte er nur das Resultat. +Unermüdlich und nahezu ungestört dürfen die Untermenschen, +von Herrschsucht besessen, in der Familie, +dem Staat, der Gemeinde, der Partei ihre zersetzende +Arbeit verrichten. Aus Tausenden von Schlagwörtern +sind ihre Netze gewoben, der ganze ungeheure Nationalitätenschwindel +hält seit Jahrhunderten den Zusammenschluß +der Vollwertigen auf. Notsignale zu +geben, bin ich hier. Unvernommen? Gleichviel! +Ohnmächtig wie im Traum hinauszurufen: Richtet +Wälle auf! Seht euch vor! Achtet der Stufen! Schützt +eure Häuser! Mit unschuldiger Miene, ja mit dem +Antlitz eines Engels vielleicht, kauert das Unheil +an euerm Herd. Oh Brüder, Freunde, nehmt es +nicht in eure Arme, wie ihr den Fuß nicht auf +<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> +die sanft beschneite Stelle setzt, ihr hättet sie zuvor +geprüft. +</p> + +<p> +„Ich glaube,“ schreibt René Schickele, „daß der +Sozialismus kommen muß mit einer großen, tiefen +Flut von Licht, die alle Menschen durchdringt.“ +</p> + +<p> +Und ich sehe, wie emsig die Schatten sich sammeln, +welche danach dürsten, dies Licht zu verschlingen. +</p> + +<p class="dat"> +8. MAI. Abigail klopft wieder an meine Türe. Er +trägt sein breitestes Lächeln, reicht mir die Münchner +Zeitungen und lacht noch stärker. Sie enthalten +meinen Protest in der Telramundschen Übertragung, +wahrscheinlich von ihm selbst eingesandt. +</p> + +<p> +„Und das sind die Leute, mit welchen Ihr Euch +einlaßt“, brach ich aus. „Ihr seid mir schöne Richter!“ +</p> + +<p> +Doch Abigail war in einer nicht zu verderbenden +Laune. „Einigen wir uns,“ sagte er, „mag er denn +Telramund heißen, unter einer Bedingung, verlangen +Sie nicht, daß wir Sie Elsa nennen.“ +</p> + +<p> +Die „Pressestimmen“ ließ er mir zum Geschenk. +Ich las u. a., daß ich „ein hysterisches Weib von abgrundtiefer +Gemeinheit sei“. +</p> + +<p class="dat"> +9. MAI. Beim bayrischen Gesandten; er kannte mich +von Kind auf. Er empfing mich. Aber der Verwirrtere, +der Trostbedürftigere schien durchaus er. +Es war bei ihm wie bei den Hähnen der modernen +Waschtische, die gleichzeitig heißes und kaltes Wasser +<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a> +ausströmen: zwei Sprachen wie zwei Denkungsarten +entflossen da immer zugleich: seine eigene und die +anbefohlene. +</p> + +<p> +„Vous êtes déshonorée!“ jammerte er. +</p> + +<p> +„So schlimm ist es nicht“, redete ich ihm zu. +„Kommen Sie, lassen Sie Gras wachsen über die +Geschichte.“ +</p> + +<p> +„Gras? Da wächst kein Gras. Je vous supplie ne +rentrez pas en Allemagne; on vous jettera dans les +fers; je ne pourrai rien faire pour vous. Bleiben +Sie um Gottes willen da.“ +</p> + +<p> +„Ich bleibe schon da.“ +</p> + +<p> +„Ja, bleiben Sie da. Was wollen Sie in München? +Es ist ja alles verpreußt. Diese entsetzlichen +Preußen haben uns ja alle aufgefressen. Ich bin der +letzte Bayer.“ +</p> + +<p> +„Ich auch.“ +</p> + +<p> +„Sie sind gar nichts. Vous êtes une criminelle. +Ce n’est pas moi, qui vous condamnerai, je suis +votre ami. Vous êtes une criminelle“, unterbrach er +sich laut. „Oh, so viel Phantasie zu haben und so wenig +Verstand! Sie sind erledigt. Wir sind gefressen.“ +</p> + +<p> +Damit entließ er mich. +</p> + +<p> +Daß dem alten Herrn der Krieg so über den Kopf +wuchs, machte ihn mir nur sympathisch. Es wäre +jedoch hartherzig gewesen, ihn praktisch in Anspruch +zu nehmen. Ich hatte es gar nicht versucht. +</p> + +<p class="dat"> +<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> +MITTE MAI. Gerade in diesen Tagen lud mich Frau +v. Schreckenburg, ohne mich zu kennen, zu sich +ein. Engländerin von Geburt, trug sie dabei den +gefürchtetsten deutschen Namen. Ihr Mann, von +dem die Franzosen sagten: „Heureusement qu’il n’en a +pas l’air“, und die Engländer: „He is worth a +better name“, stand an der Spitze der Gefangenenfürsorge. +Durch seinen unzeitgemäßen Mangel jeglichen +Strebertums fiel er gänzlich aus dem Rahmen. +Still, unermüdlich und geschickt verrichtete er sein +humanitäres Werk. +</p> + +<p> +Es nahte Felix Mottls Todestag. Ich wollte die +Münchner erinnern, daß ich es nicht von ihnen verdiente, +unvernommen und mit Knüppeln vor das +Stadttor gewiesen zu werden, denn ich habe sie einmal +vor einer großen Weltblamage bewahrt. Einige +Redakteure waren damals meinetwegen geflogen, und +ich hatte gesiegt. Waren solche Reminiszenzen angetan, +den Herrn Chefredakteur zu rühren? Er +sandte mir meine Eingabe, obwohl durch Schreckenburg +übermittelt, mit dem Vermerk zurück, daß er +sich für die Beiträge einer Hochverräterin heute wie +fernerhin bedanke. +</p> + +<p> +An jenem Abend ging ich lange die beiden Brücken +auf und nieder. Die Jungfrau hatte eine Schärpe +übergeworfen. Ein kalter Wind trieb von den Gletschern +herüber. Ich ging und ging. Es war wieder +bei Fortunio viel von einem Zusammenschluß der +<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a> +Geistigen gesprochen worden, und wieder ließ keiner +das Ausschließen seine Sorge sein. Was aber ging +aus dem ungeheuren Trugwerk dieses Krieges hervor, +wenn nicht der vollendete und riesenhafte Triumph +des Sklaven über den Freien, wenn nicht die immer +drohendere Forderung, uns selbst jenes letzte Gericht +erstehen zu lassen, von dem geschrieben steht, daß +es auf immer die Scheidung zwischen den Menschen, +die guten Willens sind und den anderen bestimmen +soll? Ja, nicht die große Einigung, den großen Bruch +gilt es zuerst zustande zu bringen: die herrische und +heilige Offensive der menschenwürdigen Menschen, +gegen jene „Untermenschen“, welche Villiers de l’lle +Adam als erster mit so großem Nachdruck kennzeichnete. +Erst gilt es, jenen allzulange geduldeten Elementen +das Stimmrecht zu entreißen. Sahen wir +nicht alle großen und bahnbrechenden Ideen in Verwirrung +ausarten, das Christentum selbst unter die +Räder geraten und eine Sache um so sicherer verderben, +je edler sie war, weil Unzulänglichkeit und +Niedertracht das große Wort zu führen in der Lage +sind; Solange diese Gattung ihre Gleichberechtigung +behält, hat die Menschheit nichts zu hoffen. Sie +wird wie ein Kranker sein, der sein Übel zu betäuben +sucht, indem er sich auf seinem Schmerzenslager +dreht und wendet, oder hochaufgerichtet nach +Atem ringt, um doch nur eine illusorische Erleichterung +zu finden. Sie wird alle Regierungsformen, +<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> +eine nach der andern, erproben, und ob sie auch ihre +Könige gegen Republiken eintauscht — es werden +doch nur falsche Republiken sein, und auch die +Anarchie wird sich als nichts anderes herausstellen +als einen Mißbrauch der Macht. +</p> + +<p> +Und wie könnte die einzig wirkliche Freiheit entstehen, +wenn nicht durch die Knechtung desjenigen +Pöbels, der allerorts alle Klassen, von den höchsten +bis zu den sogenannten niedrigsten verheert. Hierarchien +aber sind es ja gerade — weniger rudimentär +und kindisch nur als diejenigen, welche man sich +aufoktroyieren ließ — Hierarchien aber sind es, +die auf neuer und gerechtfertigter Basis zu errichten +sind: geben wir uns keinen Täuschungen hin: +die Klasse der Könige, der Fürsten und Herren, ja +der ganze Troß der kleinen Gentry sogar, er ist vorhanden +(nur so anders!), und alle wahren Adelsbriefe, +die sich in unendlichen Fluktuationen aus der +menschlichen Würde ergeben, existieren auch. In +allen Kreisen aber und durch alle Zeiten hindurch +wurde die wahre Elite gepeinigt, geopfert oder zur +Ohnmacht verdammt, weil urteilslose oder niedriggesinnte +Elemente, die sich weder in Gleichheit, noch +in Brüderlichkeit zu ihr verhalten, dasselbe Stimmrecht +genießen. +</p> + +<p> +Man rede mir also nicht von Zusammenschlüssen, +sondern vorerst von neuen Gesetzbüchern und neuen +Statuten. Auf einen treibenden Sumpf, einer Welt +<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> +wie sie ist, Ringmauern aufzurichten, daran glaube +ich nicht. Wozu führte der vielgehegte voto pietoso +Deutschland und Frankreich zu einigen? Statt der +stolzesten aller Galleonen ein Wrack, beiden nahezu +unnennbar geworden. Dieses Wrack ist mein eigenster +Boden, ich verlasse ihn nicht. Die paar Einsichten +aber, die mich sehr bestimmte Erfahrungen lehrten +mit der Persistenz des Marktschreiers zu verkünden, +ist mein Beruf. +</p> + +<p> +Ich lehnte über der Brücke von Kirchenfeld. Hat +die Nacht ihre eigene Helle, daß sie uns die Dinge +mit größerer Schärfe zeigt? Sie deckte jetzt den Fluß, +der unten den Bergen zurauschte. Von den Häusern +in der Tiefe, so eng geschart, fast ein Gerümpel, auf +zartesten Säulenarkaden gehoben, und wie edel! leuchteten +jetzt munter die tagsüber so verschlossenen +Fenster. Wie wenig löste schließlich und endlich +unsere zufällige Existenz von unserem wirklichen +Wesen aus! Vielleicht war sie nur eine Jahreszeit +unseres weitverästeten Seins. Wozu sich alterieren, +redete ich mir zu, wozu die Hast, wozu die Ungeduld? +— Es wurde zuletzt ein Spazieren mit der Nacht, +statt in die Nacht hinein, und ich war um eine größere +Fassung, etwas mehr Gleichgültigkeit für meine persönlichen +Geschicke aus allen Kräften bemüht. +</p> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-3"> +<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> +Zweiter Teil. +</h2> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">S</span>ie sah bezaubernd aus; ihre Achseln schienen der +Ansatz zu Flügeln, und da sie sozusagen zwischen +zwei Fingern hochzuheben war, nannten wir sie mit +Fortunio das Zirkuspferdchen oder der Seidenaff. +Wenn sie ernst zu sein wünschte, waren wir grausam +genug, sie auszulachen, doch nicht, um sie zu verspotten, +sondern weil ihr alles so gut stand. Ihr Gatte +war San Cividale, der Longobarde, wir hatten uns +angefreundet, und es wurde ein richtiger Anschluß. +</p> + +<p> +Von den Ärzten ins Bad geschickt, depeschierte mir +der Seidenaff aus Rheinfelden, und nie kam eine Einladung +gerufener. Ich suchte einen Mieter für meine +Zimmer und hatte ihn schnell. Bern war mir verleidet, +ich hatte dort vieles zu vergessen, Geldsorgen +besaß ich auch. Nur die Mozartaufführungen, welche +unter Richard Straußens Leitung bevorstanden, wartete +ich noch ab. Sein schöpferisches Erschöpfen +eines Werkes ist sicherlich ein neues und interessantes +Moment in der Kunst des Dirigierens. Einem Don +Juan, der ein großer Erfolg war, folgte jedoch eine +Zauberflöte, welche einige Kritik hervorrief; mich +entzückte letztere weit mehr, so zwar, daß sie einem +ersten Eindruck gleichkam. Strauß hatte eine Pamina +mitgebracht, welche gesanglich und darstellerisch und +<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> +durch eine merkwürdig schöne Erscheinung der Partie +so wohl entsprach, daß Symbolik wie Illusion des +Fabelreiches durchweg bestanden, bis der Vorhang +vor dieser besseren und geordneteren Welt endgültig +fiel. Was bedeuteten Regiestörungen (tags darauf hieß +es, sie sei einem Engländer zu danken, der sich zu +diesem Zweck als Maschinist für den Abend verdingte) +vor dem unvergleichlich hohen Niveau dieser +Vorstellung? +</p> + +<p> +Am lautesten wurde am Schluß von jener Sorte +Deutscher Beifall gespendet, welche ihren schimpflichen +Spitznamen so recht aus dem vollen verdienten. +Diese wandelnden Erreger des Deutschenhasses gingen +mit dem deutlichen Gepräge von Leuten einher, welche +zwar rechneten und berechneten, aber nicht mehr dachten, +dafür seit einer Generation zuviel gegessen hatten. +Sie waren die Regisseure und Leugner des großen +Kindersterbens, das jetzt in ihrem Lande hinter den +Kulissen um sich griff, und Scharen Deutscher, würdig +dieses Namens und liebenswert, gingen um jener +Boches willen zugrunde. Doppelt verrucht erschienen +sie im Lichte der eben erfolgten herrlichen Darbietung. +Ich ersticke! sagte ich zu Fortunio, denn +ein Knäuel dieser wohlbestallten Patrioten schlenkerte +vor uns über den Platz. Auch im Dunkeln sah man +ihnen an, daß sie jetzt schmausen gingen. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-1"> +<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> +Rheinfelden. +</h3> + +<p class="dat"> +21. JUNI. Mußte da dicht vor meinem Fenster hochgewölbt +der Rhein vorüberrauschen? Eine Brücke +mit Schilderhäuschen in der Mitte legt schon im +Badischen an; freudlos, wie mit erblindeten Scheiben, +sehen von dort die Häuser herüber. +</p> + +<p> +Heiterer war der Park. Wir lagen in Korbstühlen +und schwatzten. Doch Erinnerungen kamen nicht +zur Ruhe. Aufgescheuchten Vögeln gleich schwirrten +sie hierher und dorthin und kehrten zurück . . . Der +Sommer war im Land. Das Schlößchen der schönen +Marguerite, das selbst mitten im Kriege Zauberkreise +zog, wartete unser, und die Schwalben nisteten +längst im flachen Strohhut, der in der Halle von der +Decke hing. Jetzt standen auch ihre Koffer gepackt; +. . . es türmten sich wohlgefaltet ihre schönen Kleider . . . +Die Unrast der Verbannten trieb mich aus dem Park +ins Städtchen hinunter, wo von der viereckigen Plattform +des Turmes aus die Störche ins Blaue steuerten. +Was gab es schöneres wie ihren Flug? Klein erschien +mir die Schweiz. Wie ein herrlicher, aber für mich +nach allen Seiten hin verbarrikadierter Garten. Ich +ging den Weg zurück, der ganz umwachsen unter +Bäumen führt. Wer nicht wollte, brauchte weder +Fluß noch Land zu sehen. Im Hotel aber lag eine +Depesche für mich. Ich floh entsetzt auf mein +Zimmer. Die Freundin war tot. Mochte das +Schlößchen am Berg Tür und Tor sperrangelweit +<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a> +offen halten und warten, solange es stand, ins Leere +starrte fortan sein breitschrötiges Türmchen. Sie zog +die Straße nie mehr herauf, kutschierte nie mehr +aufmerksamen Auges ihr Wägelchen in den Wald. +Fort von Rheinfelden, dachte ich, nur fort! +</p> + +<p> +Es traf sich, daß die Kur nahezu beendet war. +Wir fuhren nach Wengen. Der Seidenaff durfte nicht +steigen, ich kletterte drauflos. Hier waren alle +Höhen zur Hand. Hinter der kleinen Scheidegg +setzten sie von neuem ein. In weiten Senkungen +kreiste ein Tal. Ich saß in einer Nische aus Fels und +Gras, die Füße hingen ins Leere. +</p> + +<p> +Plötzlich, wie auf einen geheimnisvollen Anruf, ein +lauter Stoß, ein Gegenruf des Herzens. Denn es hat +ja Arme, ich sagte es schon, und Flügel, schwerausgebreitete +und leichte, es hat sein geheimnisvolles +Dasein für sich allein. Vom Tode weiß es so wenig +wie wir, nur dies hat es erkundet: daß, wenn er +uns nicht austilgt, der Lebende dem Toten zu Anfang +mehr sein kann, als dieser ihm. Dann wäre unser Eingedenken +der Halt vielleicht, an dem er seine ersten +Schritte geht, und unsere Trauer sein Gewand. +</p> + +<p> +Es war für die Verstorbene ein Gedenkbuch geplant, +und ich hatte versprochen, mich daran zu +beteiligen. +</p> + +<p> +Mag es noch so mannigfache Welten geben, sicherlich +gebietet über alle eine einzige Natur, ein allmähliches +Sprießen, eine Reife, von trüben Himmeln +<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a> +die sie aufzuhalten scheinen nur gezeitigt. Vor allen +Dingen aber jenes letzte und sehr tragische Zurückbleiben +des Erreichten hinter dem Gewollten. Wie +ein letzter Same, der sich wieder in die Erde senkt, +um einer nächsten Ernte zu gedeihen. +</p> + +<p> +Ich schrieb auf meinem hohen Sitz angesichts des +kelchartigen Tales mit den sanftanschwellenden Rändern. +Die Sonne war gestiegen. Wie ein zieres Band +umschlang ein Pfad den ganzen Berg und lockte mich +unwiderstehlich in die Höhe. So kam ich zu einem +kleinen Gasthaus und stapfte dann auf die Spitze des +„Männlichen“ hinauf. Dort fing sich der Wind und +wehte kreuz und quer; dann aber stürzte ein Steig, +schmal wie ein Strich, so pfeilartig hinab, daß man, +von einem Taumel erfaßt, zu rennen anfing und zu +fliegen verlangte. Von dem Tempo erfaßt, das von +hier oben gesehen, die Jungfrau entfaltete, die mit +mächtiger Schulter die ganze Kette der Alpen mit +sich riß. Unglaublich schnell griffen jetzt die Schatten +in dem verströmenden Gold dieses Tages um sich; +schon profilierte sich diese oder jene Bergeskante zu +einem grotesken, dort zu einem erhabenen Riesenhaupt, +schlafend, offenen Mundes zurückgeworfen, +oder wie entseelt mit beschneiten, eingesunkenen +Schläfen zur Seite gekehrt, die Luft darüber wie ein +unendliches Gewölbe. +</p> + +<p> +Auch manche Felsenburg tat jetzt entbrannte Zacken +auf; kurz, eine andere Welt als die des Tages stand +<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a> +schon gerüstet. Plötzlich hielten mich zwischen zwei +scharf vorspringenden Felsen zahllose Schafe auf, die +mächtig wie ein Volk auf halber Höhe den Berg belagerten. +Mit ihnen zog eine Anzahl Widder, die +innehielten, als sie mich kommen sahen, und mich +aufmerksam, wenn auch stolz, betrachteten. Nirgends +ein Hirt zu sehen, als wären sie die Führer. Ihre +geschneckten Hörner abwartend mir zugekehrt, versperrten +sie den Weg. Um weiterzukommen, mußte +ich halb quer hindurch, halb mit der Herde laufen. +Eine überwältigende Ruhe, ja ein Glück ging von ihr +aus, daß man, am liebsten auf vieren gestellt, eins +mit ihr geworden wäre. +</p> + +<p> +Der Weg nahm gar kein Ende. Meine Schuhe +gingen in Stücke. Meine Füße waren zerschunden. +Schwer hinkend erreichte ich endlich das schon +a giorno beleuchtete Wengen. Aus der Halle des +Hotels trat der Seidenaff im Tuchbrokat von silberigem +Weiß, hoch mit Zobel verbrämt. Doch der Jugend +kommt alles zugute; kostbare Gewänder unterstreichen +sie nur. Die leichte Gestalt wird durch den +schweren Staat gehoben, nicht gedrückt. Lang und +gewichtig hing die Perlenschnur herab. Das Haar +war braun. Gerade seinem weichen Schimmer schmeichelte +die Härte des diamantenen Reifs. In Treibhäusern +wird heute die gefüllte, immer gefülltere +Nelke gezogen. Mit solchen gefüllten Nelkenaugen, +gut und klug, doch fern dem Ziele, blickte der Seidenaff. +</p> + +<p> +<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a> +Tags darauf fuhren wir zu Tale, San Cividale, dem +Longobarden entgegen. Fortunios schrieben aus +Beatenberg, wo ich mich denn herumtriebe, und fürs +erste blieb ich jetzt in Interlaken, um meinen Nachruf +zu beenden. Da mir keine Seele des Ortes bekannt +war, verbrachte ich meine Tage ohne zu sprechen, +und schon lebte ich eingesponnen und wie unter +Glas, als die Lektüre eines Zeitungsartikels mich ganz +aus der Stimmung riß. Es war ein Aufruf von Andreas +Latzko, der wesentlich aus Vorwürfen, und zwar sehr +berechtigten Vorwürfen an die Frauen bestand. Nun +haben diese ja im Kriege versagt und die härtesten +Dinge zu hören verdient, doch nur ihnen selbst kann +es zustehen, sie zu äußern, dem Manne heute mit +keinem Wort. Ihre Unzulänglichkeiten sind sein +Werk, von ihm gezüchtet und beabsichtigt, selbst sein +Überdruß an ihr war als Triumphgasse für seine +Eitelkeit gedacht, was er vollends ihre Ungleichheit +nannte, war seine Politik. Wie stark seine Krone +zerzaust ist, ahnen beide noch nicht. Die „Penalty +of the war“, von der soviel die Rede ist, wird noch +eine ganz andere sein, als man im allgemeinen glaubt. +Die Frau wird ihre Chance haben. Mag der Mann +noch auf Jahrhunderte das Überragende leisten, ihr +Aufstieg wird sich unaufhaltsam als eine Folgeerscheinung +seines Bankrotts vollziehen. Bilder +schwebten mir vor . . . . war sie nicht schon im +Begriff, mit jedem Jahrgang schöner, individueller +<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a> +zu werden? Erhob sich ihre Gestalt nicht freier, +knabenhafter, mehr auf sich selbst gestellt, von Jahr +zu Jahr? +</p> + +<p> +Schlimmstenfalls konnte ihr Regime zu keinem +ärgeren Chaos führen, als das, welches wir unter der +ausschließlichen Führerschaft der Männer und ihrer +Gesetzbücher erleben. Oh diese Gesetzbücher! Sie +forderten, daß man vom Tag eines Krieges an nurmehr +mit seinem Vater verwandt sei. +</p> + +<p> +In meiner Aufregung, meiner Bedrücktheit, lief ich +in der Mittagshitze den Brienzer See entlang, bis zur +Erschöpfung. Und mit einem Male wurde mir das +Karthäuserschweigen viel zu viel; da zudem schwere +Regentage einsetzten, brach ich auf und fuhr nach +Beatenberg. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-2"> +Beatenberg. +</h3> + +<p class="dat"> +AUGUST. Ich wohnte eine halbe Stunde von Fortunios +entfernt, und mein Hotel stand zu Anfang der breiten +Straße, die über tausend Meter hoch ganz eben dahinläuft, +den großen Rat der Gletscher stets im Angesicht. +Wie zu einer Riesenpolonäse aufgestellt, schienen +sie, je nach der Beleuchtung, zurückzutreten oder +loszuschreiten bereit. Nur der Regen sprengte den +Bund. Dann verschwand jeder einzeln in seinem Zelt +und wußte nichts mehr vom andern. Wusch sich aber +nachts der Himmel wieder rein, so hielt beim Morgengrauen +die Jungfrau entgeistert Cercle, als harre sie +<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a> +nur des Zauberrufes, um der Sonne bei ihrem ersten +Strahl ekstatisch entgegenzutanzen. Leider kam auch +hier die Arbeit nicht in Fluß; das sehr geräuschvolle +Haus bot keine Möglichkeit, sich abzusondern. Unmittelbar +daran grenzte der Wald und führte sogleich +sehr steil ins Weglose hinab. Und hier nun entdeckte +ich eines Morgens, ganz hinter Tannen versteckt und +der Tiefe zugewandt, ein kleines, verlassenes Blockhaus. +Ich rannte ins Hotel zurück, forschte nach dem +Schlüssel und erlangte ihn. So gehörte das Chalet +mir, da ich es beziehen durfte. Den Schlüssel ans +Herz gedrückt, eilte ich zurück. Im Raum des Erdgeschosses +verbrachte ich nun meine Tage. Die +Läden blieben herabgelassen. Nur durch die Türe, +die ins Freie führte, drang das Licht; auch die Bäume +hielten es auf. Nur Tannen, Wald und Moos und +keine Aussicht außer sie. Hier hatte man vor den +ewigen Gletschern Ruh. Und keinen Laut als den +der Vögel. +</p> + +<p> +Oh Sommersmitte! Oh göttlicher Augenblick des +Innehaltens, du ohne Zeitmaß, ohne Intervall, mitten +ins Jahr gesetzter Orgelpunkt! +</p> + +<p> +Groß aber blieb die Not der unterbrochenen Arbeit. +</p> + +<p> +Zwischen Tür und Fenster lief eine Ruhebank mit +daraufgeschütteten Kissen die Bretterwand entlang. +Ich warf mich hin; ächzend. Es roch nach Tannen, +Blumen, des Morgens im Walde gepflückt, hingen +schon ermattet im Glase. In diese holde Schwüle +<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a> +tanzte ein geflammter Schmetterling herein. Mein +rechter Arm hing herab, ich war zu lässig, ihn zu +heben. Vor Wonne fielen mir die Augen zu. Hält +die Einsamkeit der Gemeinschaft Letztes, die wir +Lebende ersehen? Was war geschehen? Verloren +blickte ich auf. Der Falter? War er als Bote hereingeflogen? +— Wer war gegangen? — +</p> + +<p> +Flüchtig ist kein Wort. Und doch . . Von welcher +Gegenwart und welch durchdringendem Ton +vibrierte nunmehr auf immer die Luft dieser Hütte? +War sie, deren Bild ich festzuhalten suchte, ein Elf? +Denn der Griff einer Hand von elfenhafter Feinheit +hatte deutlich die meinige erfaßt. In unbeschreiblicher +Rührung hob ich den Arm, sprang auf, saß wieder +vor dem Tisch, das Gesicht in den Händen vergraben, +und fuhr nun endlich wie in einen Schacht tief in +meine Arbeit ein. +</p> + +<p> +Da fiel ein Schatten — jemand trat unter die Türe. +Es war Fortunio. Ich stieß einen Schrei aus, als sei +er ein Gespenst, und fühlte Nervenstränge, deren +Vorhandensein mir jetzt erst zum Bewußtsein kamen, +zerreißen. „Wissen Sie, wie spät es ist?“ lachte er. +Seltsam. Sogar seine Stimme erfüllte den Raum mit +Schrecken. Das Ganze war zu arg, es zu erörtern. +So machte ich mich denn bereit, das Chalet zu verlassen, +warf aber, die Türe abschließend, noch einen +Blick zur Ruhebank zurück, zum Tisch mit den +Blumen im Glase, zu diesen Wänden, in welchen +<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a> +ich eins geworden war mit der Luft und der Seele +dieses Tages. +</p> + +<p> +Was war noch immer kurzatmiger als wie mein +Flug? Nicht von Schwingen durfte da die Rede sein, +die ausgebreitet und aus eigener Kraft die Höhen +beherrschen und sie behalten. Eher einer Rakete +vergleichbar, die, wenn das Glück es will, emporschnellt +und höher! höher! ruft, weil sie doch gleich +verstiebt. Da ist es Pech natürlich, wenn man sie +herunterholt. +</p> + +<p> +Wir gingen nun zum Hotel hinauf und setzten uns +auf die Veranda. In der Tat, der Abend war sehr +vorgeschritten. Beschaulich hing Fortunio an der +Gegend. Die eben noch umglühten Gletscher traten +jetzt, als sei die Sonne auf immer von ihnen geschieden, +von Blässe wie erschöpft, zurück. Welch ein Tag! — +Und schon faßte mich Grauen bei dem Gedanken, +ihn einsam beschließen zu müssen oder ins Chalet +zurückzugehen. Stand es noch? War’s nicht versunken? +Oder nur erträumt? So zog ich denn mit +Fortunio die lange Bergstraße zurück. Endlos dehnte +sich hier der Ort. Ganze Strecken zeigte sich kein +Haus. Und siehe, schon herrschte der Mond. In +seiner ganzen Fülle und unerschöpflich überfließend, +umschlang er streitsüchtig jeden Schatten und brachte +seine Schwärze ans Licht, kroch unter jeden Baum, +durchquillte alle Wälder und stieg und stieg in immer +geharnischterem Glanz, bis eine trunkene Erde, von +<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a> +ihm umsponnen und ganz mit ihm vermählt, mit +allen Pulsen zum Himmel schlug. Voll Entzücken +hatte sich die Jungfrau aufgerichtet — Mönch und +Eiger an der Hand, loszutanzen bereit. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Tags darauf fuhren San Cividale, der Longobarde +und der Seidenaff die steile Höhe herauf. Von weitem +schwang sie als Erkennungszeichen ihren Schirm +rundum. Jungfer und Kofferbestände hatte sie unten +gelassen und trug eine äußerst gerissene Sportjacke, +in der ihre Figur zu zergehen schien, und eine zwischen +mausgrau und mauve spielende Hemdbluse aus japanischer +Seide, deren perfide kleine Männerkrawatte +das ultrafeminine ihres Gesichtes zu letzter Wirkung +erhob. Die gefüllten Nelkenaugen, die das alles sehr +wohl wußten, blickten unbeteiligt flüchtig und beschattet. +Es war nur ein kurzer Besuch. Das Bähnchen +trug sie bald wieder davon. Und mit einem Male +waren mir diese ewig hingerissenen Gletscher, die +nie marschierten, verleidet. Herrlich in der Tat war +auch der Mantel der Vorberge, der in so tiefen Falten +über sie hinschlug, und herrlich war’s, wie er — von +oben gesehen — den See nachschleifte, gleich einem +köstlichen Saum. Beseelter aber blickte dennoch das +Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in <a id="corr-2"></a>dem +gewaltigen und dekorativen, aber fast überall stark +abgekehrten Oberland. Ich sehnte mich nach mehr +<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a> +brüderlichen Weiten, und sehr plötzlich, ohne das +Chalet wieder betreten zu haben, fuhr ich hinab. In +Spiez schrieb ich meinen Nachruf ins reine. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-3"> +Marguerite Kühlmann. +</h3> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">A</span>n den Kreis ihrer engsten Freunde wende ich +mich, sie, die zu ihr standen wie die Strahlen der +Sternblume, deren Name sie trug; denn so hingen +sie ihr an, und so faßt sie nunmehr die gemeinsame +Klage zusammen. Wie beneidenswert sind sie gewesen! +— +</p> + +<p> +Nicht, als seien sie sich dessen zu spät bewußt. +Hier trifft sie kein Vorwurf. Vielmehr hegten sie +ihr Wissen um das Werden dieser bedeutsamen und +seltenen Gestalt, die von ihrem schönen und guten +Wesen so viel weniger genießen durfte, als der gleichsam +von ihr ausgestrahlte Kreis, dem sie es zuwandte. +Denn wieviel Sonne war in ihr verwoben, und wie +beschattet ging sie doch! Unter der rhythmischen +und unzerstörbaren Ruhe ihrer Bewegungen welch +unaufhaltsames Vorwärtsschreiten! Wer hat sie je +hastig gesehen? Und doch welch ahnungsvolle Eile, +sich zu erfüllen! +</p> + +<p> +Geistigen Dingen zugewandte Menschen finden sich +gewiß nicht selten; der Maler und Musiker, auch der +Liebhaber der Künste sind viele. Aber wie wenige +gibt es, die auf das Schöne selbst Anziehungskraft +besitzen, so daß es wie auf mystischen Ruderschlägen +<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a> +ihrer Atmosphäre zugeführt, immer mehr Natur und +Element bei ihnen wird, und tatsächlich eine Art von +Wechselwirkung sich ergibt. +</p> + +<p> +So aber war das Schöne — wie ein Meister an +seinem Marmor — bei ihr am Werk. So umhing +es ihre Erscheinung, so meißelte es an ihren Zügen +und hob sie zu letzter Vollkommenheit der Linien +und des Ausdrucks. Unsere Herzen sind wund von +der Erinnerung ihrer Hände, so schwebend, einsam +und gesammelt, verklungen, auch sie mit der weiten +Melodie ihres Seins. +</p> + +<p> +Den wahren Hintergrund zu ihrem Bilde aber stellt +einzig jene offene und merkwürdige Gegend, in der +sie sich so heimisch fühlte, weil sie ihr glich. Dort, +wo ihr kleiner Landsitz hart an der dunkeln Bergwand +lehnte, von Mauern lang umfriedet, vor dem +Tor die hohe Linde schon den Bergfluß überhing, und +sein Gestein, und schon wie vor den Almen leere +Bergwiesen ansteigen, auf welchen die Kühe bis hin +zu den nahen Wäldern weiden; und diese sind wenig +begangen, schwer verträumt und düster fast, weil +hier sogleich das Hochgebirge seinen feierlichen Zug +beginnt. +</p> + +<p> +Doch öffnete man das Tor zum Hause, ach! Wie +rauschte es da von den kunstvollen Brunnen und den +Fontänen, in welcher Fülle zogen sich die Blumenreihen +hochaufgerichtet durch den Garten hin! Und +die Ebene ist’s, nach welcher dieser steile Garten +<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a> +niederfällt, und schaut: auf halber Höhe, wie zur +Freude hingemalt, der Kirchturm von Murnau, links +die ersten Berge, ansehnlich, aber noch vereinzelt, +sanft umrissene Präludien des Gebirges. Nach Osten +aber, wo sich anstatt der Mauer die lange Wandelbahn +und hölzerne Gartenzimmer nachsommerlich +hindehnen, wölbt sich als Abschluß der finstere Berg. +</p> + +<p> +Hier waltete sie im lichten Kleide inmitten ihrer +Blumen, wenn in der Ferne ein goldener Sonnenstaub +den Tag begrub, oder sie sah wartend nach dem +Mond, der so plötzlich hinter dem schwarzen Grat +aufging und dann sogleich alle Grotten und Beete +übergoß, und nur die finstere Bergwand noch finsterer +beließ. Und auf erhöhtem Stande der Apfelbaum, +wie sie ihn zeichnete, mit den Windlaternen bunt +über dem Tische wehend! +</p> + +<p> +Hier fühlte sie sich heimisch, hier drang das Lachen +ihrer Kinder immer bis zu ihr, und die Schwalben +zogen durch die Fenster unermüdlich ein und aus. +Und drinnen der Tisch vor den breiten Scheiben, +ach Freunde: vor dem sie saß — niemals müßig —, +lesend oder malend, oder eine jener kunstvollen +Arbeiten zur Hand, mit <a id="corr-3"></a>welchen dieses Haus geschmückt +ist, dessen Bau, dessen edle Räume wie +für sie erdacht, durch ihre eigene Anmut etwas so +Zauberhaftes wurden, daß sie durch ihren Tod für +uns verschüttet liegen. Die Türen, ach, durch die +sie trat. +</p> + +<p> +<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a> +Doch jenseits der Vorberge, in einer versteinerten +Welt, ganz klein und auf unwahrscheinlicher Höhe +steht die Jagdhütte, an deren winzigen Fenstern sie +die rot- und weißgewürfelten Gardinchen hing; sie +liebte das Frohe. Ganz dem Schauen hingegeben, +lief sie dort die Kanten der Berge entlang, denn das +einzig Verweilende an ihr, von allem Persönlichen +unmittelbar Losgelöste war ihr Auge. Bald lockten +sie die Höhen, bald die Weite und das Moor, oder +sie stellte dort ihren Malstuhl auf, wo der kleine, +von der Abendsonne warm getönte Fluß so rasch den +gemiedenen und immer trauernden Hügel umfließt. +</p> + +<p> +Diese reichhaltige Landschaft, die sich wie ein +Fächer dem Auge entfaltet und verschließt, glich ihr +so ganz, daß für uns, die sie dort sahen, ihr Bild wie +eingetragen bleibt in diese Gegend. +</p> + +<p> +Nicht auf Festen schwebt es uns vor, deren Glanz +das sanfte Feuer ihrer Schönheit so sehr erhöhte, und +nicht in großen Städten, weder in Paris, dessen geistiges +und künstlerisches Leben ihr so nahe ging, noch in +London, wo sie gefeiert und bewundert wurde. Denn +in ihr hatte Deutschland eine so liebenswürdige und +seltene Vertreterin gefunden, daß die Sympathien, +welche sie sich erwarb, durch die Ereignisse nur verstummten, +aber nicht verloren gingen. Denn weit +über die Gräben hin, welche die Nationen voneinander +trennten, klang ein Echo der Trauer über die Kunde +ihres Todes herüber. +</p> + +<p> +<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a> +Es mag ja sein, daß ihre großen Erfolge im Ausland +ihr um so neidloser zugestanden wurden, als +man sah, welch flüchtigen Gast sie krönten. Denn +ehe man sich’s versah, lagen ihre viel bewunderten +Kleider in Kisten wohlverpackt, und sie selbst stand am +Perron, Sehnsucht im Auge, um nach ihrem geliebten +Ohlstadt zurückzufahren. Sie erzählte noch im letzten +Sommer ihres Lebens, sie habe mit Freudentränen um +sich her geschaut, als sie den „Raunerhof“ zum ersten +Male und zugleich als ihr Eigentum besichtigte. +</p> + +<p> +So nah berührte sie der Ort. +</p> + +<p> +Es waren pantheistische Anklänge in ihr, die man +nicht überhören durfte, um sie zu kennen. +</p> + +<p> +Denn so edler Natur war die zu weite Spannung +ihres Wesens, die eine Lücke ließ zwischen dem +Leben und ihr. Ein suchendes, verlorenes Etwas +fand hier seine Brandung, und was Wunder, daß sich +ihr Blick, allen Sicherungen zum Trotz, so häufig aus +dem Alltag, wie aus einem zu engen Hause stahl. +</p> + +<p> +Und kannte ihn doch kaum. +</p> + +<p> +Seine immer neu sich bereitende Unsicherheit, böse +und gefährlich wie die Gärungen der Gletscher, seine +Verweigerungen, seine Öde erfuhr sie nicht. Ja, +sie blieb von einer zu deutlichen Kenntnis dieser +Welt bewahrt; ob sie es merkte oder nicht, ihr Kontakt +mit ihr war immer umgeschaltet, ja sie war geschützt. +Aber wir wissen heute, warum die so innig +Umringte dennoch einsam und beschattet ging, als +<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a> +sei alles vergebens; was dies heimliche, innere Versagen +und ihre unrobuste Art bedeutete. Denn wir +wissen nicht, was sich in denjenigen bereitet, die inmitten +ihrer Jugend von den Höhen des Lebens weg, +einzeln und jäh zu den Toren des Todes hintreten +und in seine Verlassenheit gehen. Keine letzte Verklärung, +kein noch so sanftes Verlöschen nimmt +einem solchen Los etwas von seiner Schwere. +</p> + +<p> +Ach die besten Freundesherzen sind noch zu träge! +Allzu leichten Sinnes nahmen wir das schöne Geschenk +ihrer Gegenwart hin und bedachten die deutlichen +Merkmale eines frühen Scheidens an ihr nicht. — +</p> + +<p> +Wer hat nicht jene Flugzeuge gesehen, die als +dünner Korb, nur durch Taue einem Riesenball verbunden, +ganz ohne Geknatter vorüberschweben? +Ein Windhauch streift die von ihm Getragenen. Je +höher sie sich steigen sehen, desto langsamer dünkt +ihnen sein Flug. Da zieht vielleicht eine Wolke +vorüber, von einer schwarzen Kugel pfeilschnell +durchzuckt und alsbald überflogen, die nichts anderes +war, als der Schatten des Balles, der unbewegt und +still wie eine Ampel in der Luft zu hängen schien. +</p> + +<p> +Dies aber war bei stillem und oft schwer verträumtem +Wesen das Tempo ihres inneren Werdens; +mit so verzehrender Eile durchmaß sie ihre Bahn, +und nur wer ganz zuletzt in ihrem Umkreis lebte, +vermöchte auch das Letzte über sie zu sagen. Denn +immer merkwürdiger und geschlossener wurde die +<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a> +Harmonie dieser, vom Dianenhaften so getragenen +Gestalt. Nur tragischen Naturen aber ist es gegeben, +sich zu erfüllen. Die Norm ringt sich vom Fragmentarischen +nicht los. +</p> + +<p> +Oh Marguerite! Daß meine Worte sich aufrichten +dürften wie Säulen, und daß sie sich zusammenschlössen +dir eine Stätte zu bilden des Innehaltens +und der Rast, wo du — staunend vielleicht, doch +ohne Gram — zurückblicktest auf dein Leben; oh daß +es zwischen seinen Ufern an dir vorüberzöge und +dein sinnendes Auge so darauf verweilte, wie einst +in deinem Garten auf das Getürme der Wolken im +verglühenden Tag. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +SEPTEMBER. Meine Zimmer waren zum Glück bis +in den Oktober hinein vermietet, und ich trieb mich +bald hier, bald dort herum, bald in Zürich, bald in +Luzern, in Montreux oder Genf, nur nicht in Bern. +</p> + +<p> +Die Ära Kühlmann war ein Grund mehr, es zu +meiden. Man erinnerte sich prompt, daß ich in +London in seinem Hause verkehrt hatte, und meine +Stellung gestaltete sich noch um ein Stückchen +schiefer. Ich hatte jetzt zu schreiben wie ein Minister, +und es regnete Briefe. Sie betrafen zumeist Todesurteile, +Deportationen, versprengte französische oder +belgische Kinder. Dabei hielten jetzt die Zensuren +meine Korrespondenz scharf im Auge; die harmloseste +<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a> +Post aus Deutschland erreichte mich erst in +vier, Expreßbriefe erst in sechs Wochen. Um an +Kühlmann zu schreiben, mußte ich schon seinetwegen +den Umweg über die Gesandtschaft wählen. +Meist wandte ich mich an Schreckenburg oder an +den Grafen Carry. Zu Anfang ging’s. Zwei junge +Belgierinnen hatten ihren eigenen Landsleuten Warnungen +zukommen lassen; dafür sollte die eine erschossen +werden. Kühlmann erreichte ziemlich +rasch eine Rückgängigmachung des Urteils. Auch eine +kranke Dame aus Cambrai brachte er noch über die +Grenze. Als ich aber wegen der Familie des +Professors von L.-P. bestürmt wurde, die Frau +und fünf Kinder, (der älteste Sohn im deportationsfähigen +Alter<a href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a>), in die Schweiz zu retten, schickte +<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a> +mir Kühlmann ohne Kommentar den Zettel, auf +welchem die hohe Militärbehörde eine Bewilligung +seines Gesuches kurz und bündig verweigerte. Auch +ohne dies — acht Tage nach seiner Ernennung — +wußte ich ihn verloren. +</p> + +<p> +Ich muß hier bis in den Londoner Sommer 1913 +zurückgreifen, und zwar bis zu dem Abend meiner Abreise +nach Irland. Kühlmann war damals jener Pläne +stolz und froh, welche ein Jahr später in der von ihm +inspirierten Broschüre „Weltpolitik ohne Krieg“ ihren +Ausdruck fanden. Ich erinnere mich jenes Besuches +noch sehr genau; die Teemaschine sang, wir besahen +einige Bilder, und dann fuhr mein Zug, der um +Mitternacht die Küste erreichte. Alle Kabinen des +Schiffes jedoch waren besetzt, und ich hatte vergessen, +<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a> +eine zu reservieren. So blieb nur der große Schiffsalon, +wo ein freundlicher Steward mir in den tiefen +Ecken des die Wände entlanglaufenden Sofas ein +herrliches Lager bereitete. Der Länge nach ausgestreckt, +hatte ich auf diese Weise eine Riesenkabine +für mich allein und konnte mich vor Freude gar nicht +beruhigen. In meine lange Lederschaukel tief +hineingebettet wie in eine Muschel, hoch hinauf +und hinunter schwingend mit dem nächtlichen, +heftig bewegten irischen Meer als Wiege. +Wie sang, wie rauschte es mich zur Ruh! Wie +segnete ich den Steward und meine eigene Vergeßlichkeit. +Hin und wieder waren mir die Götter +doch hold. +</p> + +<p> +Doch weh, ach wie schlug ihre Gunst in die grausamste +Ungnade um! Oh des zerrissenen Schiffes, +das schon aufgehört hatte zu sein! In ein Rettungsboot +gestoßen, auf eine Planke geworfen und nichts +anderes als den Tod von den eben so gepriesenen +Wellen zu gewärtigen, wühlten sie sich zu Felsen auf, +hart und unbarmherzig mich zu begraben. Vor mir +ruderte Kühlmann wie besinnungslos, und seine Anstrengungen +angesichts eines solchen Orkanes dünkten +mir lächerlich. Aber ich ruderte ja selbst mechanisch +aufs Geratewohl, und dann stürzten die schwarzen +Berge über das Boot. +</p> + +<p> +Wieder rauschte das Meer im eintönigen Sang, +über mir war schon erkennbar in der ergrauten Nacht +<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a> +die Decke des Schiffes, und ich lag wie zuvor in der +ledernen Muschel gewiegt. Aber für kein anderes +Lied als für das finstere Echo meines Traums hatte +ich ein Ohr. Alle Freude war tot. Ich warf die Decken +fort und saß zusammengekauert, schlaflos, verwüstet, +uralt. +</p> + +<p> +Durch den Krieg glaubte ich meinen Traum erfüllt. +Die Ernennung Kühlmanns hatte mich zuerst gefreut. +Er hatte von Jugend auf mit allen Kräften dem Krieg +entgegengearbeitet, und ich hoffte, es würde ihm +gelingen, sein Ende herbeizuführen. +</p> + +<p> +Aber er waltete noch keine acht Tage seines Amtes — +ich war in Wengen und lag in der Sonne — als im +Halbschlaf das Bild eines hohen Gerüstes sich aufdrängte, +ähnlich dem Eiffelturm, und auf der Spitze +Kühlmann, aber schon im Begriffe kopfüber abzustürzen, +so zwar, daß er sich in der Luft zu drei Malen +überschlug. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Am Tage nach seinem „Niemals“ kam Abigail +mit einer stoßbereiten Miene, wie ein Widder zu mir. +Zur Annahme einer schroffen Haltung Kühlmanns +war ich jedoch um so weniger berechtigt, als mein +frühestes Buch Aufsätze, welche auf seinen Rat den +französischen Titel „L’âme aux deux patries“ führten, +die Behauptung aufrechthielt (denn mit der Feder +war ich von jeher sehr dreist), die Annektion Elsaß-Lothringens +<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a> +sei ein Fehler, den Bismarck, wenn er +noch lebte, kein zweites Mal begehen würde: er +hätte ein anderes Äquivalent dafür ersonnen. Dies +Büchlein, das im übrigen ganz unter den Tisch +fiel, fand nur durch ihn eine so kräftige Verbreitung, +daß sich der Verdacht regte, er sei dessen +Verfasser. +</p> + +<p> +Auch zu jener Unterredung mit Zimmermann im +Januar 1917, die einzig der Notwendigkeit einer Diskussion +des elsaß-lothringischen Problems galt, hatte +er mir verholfen, und im Nebenzimmer eine Unterhaltung +geführt, damit wir ungestört blieben. Auch +waren mir die Worte erinnerlich, welche er im Jahre +1915 diesbezüglich fallen ließ, zu einer Zeit, wo die +Aussichten für Deutschland noch günstig erschienen. +Sein „Niemals“, konnte ich daher nur als einen +Brocken ansehen, den man Kläffern vorwirft, um sie +von sich abzuhalten und weitergehen zu können: +ein nach innen und in die Kulissen, nicht nach +außen gerichtetes Wort. +</p> + +<p class="dat"> +OKTOBER. Statt der drei kleinen hatte ich jetzt ein +einziges großes, fast saalartiges Zimmer nach Norden, +auf die Lauben hinaus. Schmuck, ja zierlich stand +hier der Flügel im Raum. Die Wände hatten +lichte Täfelungen, und der indische Schal mit dem +weißen Feld fiel von der Decke bis zum Boden +und schien eine Türe. Der Toilettentisch blitzte +<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a> +im Schatten auf: sein Hauptschmuck waren jetzt +zwei silberne Renaissanceleuchter, vom Seidenaffen +beschert. +</p> + +<p> +Über das Zimmer selbst ist weiter nichts zu bemerken, +als daß eine Reihe von Unterredungen dort +stattfanden, die alle zu nichts führten. Ein Wort über +meine politische Wirksamkeit. Wir wollen sie so +nennen. Eine ganze Weile brachte ich gewiß alle +Spionagen und Gegenspionagen zur Verzweiflung. +Scheinbar für eine jede ein kinderleichter Fang, war +das Verwirrende gewiß, daß ich gleichzeitig in Diensten +<em class="em">sämtlicher</em> Regierungen zu stehen den Anschein +haben mußte. Wenn jemand keine Parteien kannte, +so war ich es. Außer Japan, China, Rußland und +Marokko durften nur noch Schweden, Norwegen +und Dänemark sich rühmen, daß keiner ihrer Staatsangehörigen +bei mir gewesen sei. Mein Zimmer war +so recht die Halle der vergeblichen Zusammenkünfte, +und wenn ich auch keine einzige vom Zaune brach, +schob ich doch auch keiner einzigen den Riegel vor, +selbst als mir kein Zweifel über ihre Vergeblichkeiten +blieb. Der „Friede“, ein Wort, das mich im +Schlaf elektrisierte, war wie das große Los oder +wie das Leben eines aufgegebenen Kranken immer +eine Möglichkeit. Und ob ich auch anfing, dem +Kopfschütteln Fortunios beizustimmen, stürzte ich +doch, wie Kundry im ersten Akt, bei jeder Veranlassung +nach dem Heilkraut davon, das keine Linderung +<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a> +mehr bringen konnte. So setzte ich mich in +Bewegung, so braute ich mit Todesverachtung meine +Tees, ob mich auch schon ein wahres Grauen vor +all den Nieten faßte, die sich zu Bergen vor meinem +Tische häuften . . . Den dümmsten und ungeschicktesten +Leuten schenkte ich dennoch Gehör. Vielleicht +war gerade dieser Narr der reine Tor, vielleicht hatte +ich doch recht. +</p> + +<p> +Meine Verständnislosigkeit für Natur und Beschaffenheit +dieses Krieges ging ja so weit, daß ich +vom ersten Tage seines Bestehens an von Monat zu +Monat überzeugt war, länger als sechs Wochen +könne er nicht mehr dauern. Immer schien mir alles +sein nahes Ende zu künden. Als zum ersten Male +von zahlreichen Gefangenen die Rede war, dachte +ich: jetzt ist bald Schluß. Als Ruhleben entstand, +dachte ich: jetzt wird man verhandeln. Wer ließe +seine eigenen Leute so im Stich? Obwohl ich, was +die Schlechtigkeit des einzelnen anging, einen so +radikalen Standpunkt vertrat und immer darauf +aufmerksam machte, daß die Larven triumphierten +und der Edle geopfert würde, ja, daß es stets ein +besonderer Glücksfall sei, wenn er nicht unterliege, +so hatte ich den so naheliegenden Schluß von der +Familie zum Staat (und was ist sie anders, wenn nicht +die Welt und Geschichte im kleinen?) merkwürdigerweise +noch immer nicht gemacht. Immer noch +wähnend, es ginge um den Frieden, da es ja gar nicht +<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a> +ihn, sondern Sieg und Niederlage galt, glaubte ich, +durch meine Absicht und durch meine Gesinnung +alle endlich zu überzeugen und für mich zu gewinnen, +bis ich mit Entsetzen merkte, daß gerade meine +Naivität Bedenken erweckte. Wie hätte auch Aramis, +da es mir keineswegs an Menschenkenntnis gebrach, +eine so große Weltunkenntnis bei mir vermutet? +Und daß ich unter Kapitalismus immer noch einige +Bankiers verstand? Vielmehr war es natürlich, daß +eine Gesellschaft, welche den Krieg als eine Institution +begriff, an meiner Friedensmanie Ärgernis nahm. Ich +hielt mich für besser als sie, während ich vor allen +Dingen unwissender war. Und diese Unwissenheit +stellte zu meiner Soloarie den verdrießlichen Baß. +</p> + +<p> +Dennoch war, als mir endlich ein Licht über die +Welt und zugleich über mich selbst aufging, die erste +Folge die Furcht. Ging ich spät die Lauben entlang, +so faßte mich Schrecken, wenn nur die Umrisse eines +Mannes oder nur sein Schatten hinter einer Säule +sichtbar wurde. Da war ja eines jener unerklärlichen +und gefährlichen Wesen, die es so eingerichtet hatten, +daß ihresgleichen heute vielfach auf einem Beine +durch die Lande hopsten. +</p> + +<p> +Meine Tätigkeit, die sich vor jeder Offensive verdoppelt +hatte, war nur mehr mechanisch. Die letzte +Zusammenkunft, die sich in meinem Zimmer begab, +fand mit Professor H. statt. Er berief sich auf wichtige +Eröffnungen auf Grund amerikanischer Aufträge, +<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a> +die er zu machen habe. Es erfolgte noch einmal ein +Depeschenwechsel mit den Restbeständen dessen, was +man noch deutsche Regierung nannte, und was längst +unter den Hufen der Militärkavalla zertreten lag. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +In diesem über alle Maßen traurigen Winter +strich ich eines Abends müde durch die Lauben, als +Abigail an mir vorüberschoß. Busoni spielt heute +Abend! rief er mir zu. Nun lief auch ich und kam +noch gerade recht, bevor er eine Orchesterfantasie +von Weber zu spielen anfing. Und siehe da, man +lebte, war seiner Ketten ledig und richtete sich auf. +</p> + +<p> +Von nun an befaßte ich mich stark mit seinen Kompositionen +und fuhr nach Zürich, wenn dort ein neues +Werk von ihm zur Aufführung gelangte. Eine bequeme +Gabe ist es ja nicht, den Wert eines überragenden +Typs zu erkennen; sie legt Verpflichtungen auf; es +ist nicht, als ginge sein Wohl und Wehe uns nichts an. +</p> + +<p> +Verdrießlich genug ist es ja vielfach mit seiner +Anhängerschaft bestellt. Wie an den Reichen die +Profiteure, so drängen sich an den Schaffenden die +Parasiten des Geistes heran. Und vielleicht, wer weiß, +ist ihm in mancher Feierstunde, die ohne Anregung +verlief, der Chor seiner Widersacher minder fatal +wie der seiner Anbeter. +</p> + +<p> +Von dem Unmut des alten und stark zensurierten +Wagner, von einem verzweifelten Versuch sogar, den, +<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a> +öden Sockel auszureißen, auf dem er sich wie ein +Götze gestellt sah, drang nur durch Zufall etwas in +die Außenwelt. Während seine Umgebung den ungeheuren +Überdruß der nachwagnerischen Ära bereiten +half, ließ er selbst seine Werke weit und ungeduldig +hinter sich zurück. Lange ehe seinem Lohengrin +die grausige Popularität beschieden war, hatte +er „mit Ekel in die Partitur gestarrt“<a href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a>. Später eilte +er schnell mit dem Nachtzug davon, wenn eine Stadt, +die er bereiste, ihm zu Ehren eine seiner Opern ansetzte. +Er hatte den schönen und naiven, wenn auch +natürlich vergeblichen Wunsch geäußert, seinen „Ring“ +ein einziges Mal auf einer eigens errichteten Bühne +in höchster Vollendung zur Aufführung zu bringen, +um sodann Bretter und Partitur auf immer zusammenzuschlagen<a href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a>. +</p> + +<p> +Wer ein einziges Mal Friedrichs, den unvergleichlichen +Darsteller des Alberich, während seiner kurzen +Laufbahn vernommen hat, der vergißt <a id="corr-4"></a>nie die unheimliche +Wirkung seines plötzlichen Vortretens, als er, +hart vor der Rampe, mit seinem dunklen und prachtvollen +Organ den Fluchgesang erhob. Sich selbst, +die ganze Welt fühlte man da bedroht, und wer die +Alberiche, wer die Nibelungen sind, und welche +Bewandtnis es hienieden mit ihnen hat, wurde einem +in unmißverständlichster Weise gelehrt. +</p> + +<p> +<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a> +Was aber kann so nichtssagend gemacht werden +wie das Bedeutsame? +</p> + +<p> +Gerade von groß angelegter Musik gilt das Wort: +„La musique doit toujours nous surprendre.“ Laßt +Dezennien des Schweigens und der Vergessenheit +den „Ring“ begraben, damit sich von neuem +offenbaren könne, welcher Vorhang da zurückschlug +vor einer bis auf den Grund durchschauten +Welt . . . +</p> + +<p> +Erst die Züge des späten, weltberühmten und gefeierten +Wagner zeigen den trüben, resignierten und +abgewandten Schein, als dünke ihm jetzt erst, da +alles erreicht war, alles vergebens. Mime und Cie. +rächten sich, indem sie ihn ableierten. Als Kassenstücke +ausgebeutet, wurde das Wagnersche Werk zum +Unding, zur Säge, zur Obstruktion . . . +</p> + +<p> +„Schafft neues!“ war sein immerwährender Ruf; +dafür wurde à la Wagner weiter komponiert. +</p> + +<p> +Sehr wagnerisch bewegt und sehr unwagnerianisch +(denn was könnte es unwagnerischeres geben als den +Wagnerianer?) ging ich eines Abends, von Busonis +Hause kommend, durch die nächtlichen Straßen +Zürichs, wo einst Wagner gerungen hat und heute +Busoni ringt, und wo beide ein Asyl gefunden +hatten. Mit letzter Gewißheit wußte ich da, daß +der viel mißbrauchte Meister, der sich gerade +über den so weit von ihm abliegenden Mozart so +begeistert äußerte, heute gerade an dem selbstherrlichen +<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a> +Busoni und dessen von ihm sich entfernenden +Wegen sein tiefstes Gefallen fände. Weit über das +Leben hin tragen sich ja die wichtigsten Gegensätze aus. +Denn sachte nur beliebt es den Göttern. Einen nach +dem andern nur lassen sie zu Worte kommen. Ihr +Neid duldet nicht das gleichzeitige Auftreten zweier +allzu interessanter Fechter. Eher hielten sie ihnen eine +Binde vor die Augen, als zu gestatten, daß sie ihre +Klingen kreuzten. +</p> + +<p> +Höchst merkwürdig aber ist es, daß die Persönlichkeit +nie wichtiger gewesen ist, als jetzt in dieser +Zeit der Massenschicksale der Hungers und der +Kohlennöte. Nicht nur alle Spreu sehen wir heute +inmitten der Äquinoktien aufwirbeln, auch manche +Gesetztafel zerschlägt aufs neue. Der Heilige des +Tages sucht nicht mehr die Wüste, sondern tritt mitten +unter die Menschen und fällt unter ihren Streichen, +nicht weil er die Abkehr predigt von der Welt, sondern +um seiner Beglückungstheorien willen. +</p> + +<p> +Aber nicht lange mehr wird der Auserwählte als +ein Dulder gehen. Entweder sehen wir ihn bald als +eine verlorengegangene Spezies ganz um die Ecke +gebracht, oder sein Reich wird kommen. Es ist eine +Täuschung, zu glauben, daß eine Welt, deren Schlechtigkeit +und Gewalttätigkeit sich derart nach oben +kehrte, so bleiben könnte, wie sie ist. +</p> + +<p> +Hier mag stehen, was ich zwei Jahre später schrieb: +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-4"> +<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a> +Busoni. +</h3> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">I</span>ch hörte Busoni zum ersten Male vor zwei Jahren +in Bern. Er sah mit einem Blick weit hinausgerückter +Vereinsamung, den man an diesem Gesicht sofort +begriff, gleichsam zu sich selber auf und fing an zu +spielen. +</p> + +<p> +Das gibt es also noch, dachte ich nach einer Weile. +Da geht man mühselig seinen Weg, und plötzlich +dies — dies plötzliche Angelangtsein, diesen Schauer +der Ruh, diese unvermutete Herberge. +</p> + +<p> +Bei Busonis Spiel, so herrlich es ist, will ich jedoch +nur kurz verweilen. Er ist wohl deshalb der größte +Pianist, weil er implizite einer ist, weil unter der +Zauberformel, welche seine Finger darüber sprechen, +die Metamorphose eines an sich zweifelhaften Instrumentes +sich ergibt. +</p> + +<p> +Wir kennen so manche vorzügliche Pianisten. Aber +wie wenige machten uns das Klavier vergessen! Da +ist Holz, sage ich, da sind Pedale, ein schöner Anschlag +vielleicht und ein großes Können dazu. Aber +für den Hörer nicht eben sehr nachhaltig: <em class="em">Klavier</em>. +Besinnt euch. Ist es anders? +</p> + +<p> +Eher ließ noch das orchestrale Klavier Illusionen +zu; ich habe große Dirigenten gehört, die es zu einem +prachtvollen Notbehelf gestalteten. Von solchen Vorspiegelungen +jedoch kann bei Busoni nicht die Rede sein. +Dazu ist er zu sehr Kenner des Instrumentes, belauschte +er es in allen Fibern zu genau. Etwas ganz +<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a> +anderes ist hier am Werk: Mozart hatte sich eine +verzauberte Flöte ausgedacht: hier nun wurde tatsächlich +das „Piano enchanté“ zur Wirklichkeit. Wir +brauchen dabei nur an seinen Vortrag, der an sich +kaum noch erträglichen Pianofortekompositionen Liszts +zu erinnern, dieses riesenhaften und vermoderten +Rosenbuketts mit verschossener Bandschleife . . . statt +dessen wird eine ganze Epoche, die des zweiten +Kaiserreichs, vor uns lebendig: Pracht, Tand und +Duft, Fächerspiel, lächelnde Augen, Krinoline, Vergessenheit; +alles retrospektiv gesehen, mit magischer +Schärfe aufgerufen. Daher auch die ernste Maske +im Hintergrund. +</p> + +<p> +Schließlich, wenn alles gesagt ist, bleibt von einem +Menschen immer nur das Neue. Die Geschichte +unseres Geistes sind weitergegebene Signale. Aber +nicht immer das zuletzt Gegebene wird von dem +Kommenden aufgegriffen. Die Schrift ist kraus. Und +die, welche an ihr schreiben, haben vor allem ihr +<em class="em">geistiges</em> Elternpaar, ihre geistige Familie und +ihre geistige Sippe. Falls wir eine neue Zeit zusammenbringen, +wird auch eine neue Heraldik mit ihr aufkommen. +Gar merkwürdige Erzhäuser, Dynastien +und ihre Nebenlinien werden sich da herausstellen. +Und kaum einen Stammbaum dürfte es heute geben, +der weiter verzweigt und interessanter zu erforschen +wäre, wie der des so universalen Busoni. Keine +Vaterschaft, die ihm an der Wiege gesungen wurde, +<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a> +sondern die sich vielmehr vor ihm verbarg, ihm +vielmehr auferlegte, sie zu entdecken. +</p> + +<p> +Viele Jahre hindurch ist es in seinen Werken wie +ein umsichblicken, ein plötzliches horchen, sichunterbrechen +und stillestehen. Konzessionen kennt +er nicht. Was das unvorbereitete Ohr noch grau, +abstrus, bizarr anmutet, sind die Schatten des Weges, +auf dem er sich entfernt. Seine Zeitgenossen verlieren +ihn aus dem Gesicht. Mit dem embarras de richesse, +welchen Berlioz, Liszt und Wagner in das Orchester +hineingetragen haben, ließ sich ja noch lange +wirtschaften. Richard Strauß buchtete das von den +Vätern Erworbene noch weiter aus, erstand noch die +oder jene Pagode hinzu, und zum Beweis, daß er ein +Allerweltskönner sei, schuf er in seiner „Ariadne“ eine +antike Seite — ich brauche sie nicht zu nennen — +von ewigem Wert. +</p> + +<p> +Auch bei dem feinen, wenn auch kurzatmigen +Debussy horchten wir auf. Einige noch unvernommene +Töne schlugen da an, wie in Farbe getaucht, morbid, +verzückt, nur scheinbar dekadent, nicht dekadenter, +sagte ich schon, als ein Mondreflex auf einem verrosteten +Gitter. Jedoch viel zu sagen hatte er nicht; +auch er fragte sich nicht, wie es weitergehen sollte, +und er verstummte schnell. +</p> + +<p> +Genie ist nicht nur Fleiß (neben vielem anderen), +sondern auch ein heroischer Ernst. Vielleicht ist +Busoni nicht der einzige, welcher erkannte, daß die +<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a> +Musik in die wild überwuchernde Flora der Neuromantik +nicht mehr tiefer hineinführte. Aber man +kutschierte fatalistisch in derselben Richtung, demselben +Kreise weiter, denn das Problem schien unlöslich. +Nur nicht für Busoni. Es reizte gerade den +Schöpfer in ihm. +</p> + +<p> +Anfangs waren es nur Anregungen, welche er bot. +Turandot; immer stärkere Anregungen, wie das Licht +eines wachsenden Tages, in seiner Schrift „Zur +Ästhetik der Musik“, in „Arlechino“; in seinen immer +erstaunlichen Klavierkompositionen, welche dem Klavier +— dem einstigen Spinett — so neue Dinge entlocken: +Klangeinlagen, Klangunterlagen, eingebaute, +eingetönte Perspektiven (wenn ich so sagen darf!) +grüßen da aus unvermuteten Tiefen, wie grünleuchtende +Seen. Auch rein äußerlich genommen, verfährt +Busoni als Schöpfer mit ihm; auch auf den rein +äußeren Ausbau dieses Instruments (immer ist ja +der Entdecker in ihm rege!) drängen seine Kompositionen +hin. +</p> + +<p> +Scheint dies vielleicht von mäßigem Belang? +</p> + +<p> +Welche Stunden äußerster Betrübnis muß das +Genie durchleben! Wie müssen ihn da die Zweifel +überwältigen, ob die ewig geschäftige und ewig +unachtsame Welt das Geschenk denn auch entgegennehmen +wird, welches ihr zu bereiten er sein Leben +widmet! +</p> + +<p> +Während sie von nichts anderem widerhallte, als +<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a> +ihrem sinnlosen Waffengedröhn, hielt Busoni sein +schweres Ziel im Auge, drang er immer weiter vor, +nahm er die Kurve, legte er die Schraube an. In +seiner Isolation fand er die schöpferische Kraft, das +Tor zu sprengen, und die in ihrem Riesenapparat +festgefahrene, ja welkende Musik für eine neue +Jugend flügge zu machen. Es wurden uns bis jetzt +nur Bruchstücke seines „Faust“ bekanntgegeben, aber +sie künden ihn ganz. Die reine Linienführung, die +tempelhaften Umrisse einer neuen Klassizität, sanft +gerundet, erheben sich wieder! Ein „Faust“ um so +faustischer nur durch die neuen Streiflichter, die auf +ihn fallen: die holde Blässe in der Feierlichkeit, ein +in der Welt noch nicht dagewesener Adel des Klanges +das Sfumato in der Trauer, Leonardisches, Latinismen +. . . +</p> + +<p> +Wenn ich sage, daß mit diesem seinem und zugleich +so sehr unserem „Faust“ das Erbe Mozarts angetreten +wurde, befürchte ich kein Dementi von der Zukunft. +</p> + +<p> +Darf ich (so nebenbei) in Erinnerung bringen, daß +Bettina Brentano über Beethoven, daß Julie de Lespinasse +über Gluck zu beider Lebzeiten das Entscheidendste +sagten? +</p> + +<p> +Und wenn ich mich heute so gedrängt fühle, auf +die Wichtigkeit Busonis immer wieder aufmerksam +zu machen, so möchte ich hinzufügen, daß es in der +Kunst sowohl wie in der Politik so etwas gibt wie ein +„zu spät“. Auch hier sind die Gelegenheiten dahin, +<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a> +die man verpaßte — auch den Herren Klavierbauern +rufe ich dies heute zu. +</p> + +<p> +Busoni hat ja seinen Lohn sicher nicht dahin. Auf +der von ihm freigelegten Bahn geht es weiter, und +der Dank der Kommenden erwartet ihn. Aber sollen +wir heute, wo die Kronen zu Dutzenden auf das +Pflaster rollten, sie im Staube verkommen lassen und +wie im alten Regime die wahren Könige nicht ausrufen +und nicht unterscheiden? +</p> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-4"> +<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a> +Dritter Teil. +</h2> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span>as traurigste aller Jahre gehörte der Vergangenheit. +Auch der Januar hatte ein Ende genommen. +Ich war die Sklavin meines Flügels. Ihm zuliebe +behielt ich das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte. +</p> + +<p> +Mit England und den Vereinigten Staaten war der +Briefwechsel besonders schwierig geworden. Zuletzt +würde es Mühe geben, sich die Gesichter seiner +Freunde zu vergegenwärtigen, deren Bild nie eine +Nachricht näher brachte. +</p> + +<p> +Eines Nachmittags — es fing schon an zu dämmern — +und meine Gedanken zogen über unerreichbar gewordene +Küsten den gewohnten Weg, als statt vertrauter +Züge, die ich wachrief, ein blankes, behendes +Pferd aufblitzte von intensivstem Braun. Voll Ungestüm, +beredten Blickes, als hätte es etwas zu verkünden, +weckte es ein Echo großer Bangigkeit und +verschwand. +</p> + +<p> +Dafür blieb der ganze folgende Tag unter dem +Eindruck eines so beseligenden Traumes, daß es ein +Frevel wäre, ihn zu schildern. +</p> + +<p> +Wiederum dämmerte es, und diesmal saß Fortunio +in meiner Sofaecke, und wir unterhielten uns. +</p> + +<p> +Das zwiefache an den Menschen, darüber waren +wir uns ja einig, betraf ihren Ursprung. Insofern +<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a> +hatten die Extremisten recht, als sie nicht glaubten, +mit dem alten Karren ins gelobte neue Land einzufahren. +Leider aber brachten sie dabei ihre eigene +Anhängerschaft ganz nach der alten Manier, nicht etwa +der Artung, sondern der oft so rein zufälligen Meinung +nach als wildes Durcheinander unter ein und +dieselbe Flagge. +</p> + +<p> +„Wie wunderbar ist der Mensch!“ sagte ich plötzlich, +„was für Eingebungen er hat! Auf was für +Dinge er gerät! Zum Beispiel in allen Sprachen +Vergleiche wie die folgenden zu ziehen: marchez +comme sur des nuages; to walk on clouds; wie auf +Wolken gehen.“ +</p> + +<p> +„Warum?“ fragte er. +</p> + +<p> +„Weil es das gibt. Nicht etwa nur in euren Dichterphantasien, +sondern einer höheren, höchsten Physik +zufolge. Wer ist der verwirrte Tropf gewesen, der +als erster Wort und Begriff des Wunders startete?“ +</p> + +<p> +Ich wurde jetzt der Schneereflexe immer bewußter, +welche in die Mollakkorde eines unvergleichlichen +Zwielichtes fuhren. Nur wenig Wintertagen eignet +dieser Schein, trauter als das von Sommerlüften +durchwärmte, hölzerne Gartenhäuschen. Lange schmeichelte +er sich an den Fenstern hin. +</p> + +<p> +„Eine gesteigerte Natur,“ fuhr ich fort, „Kontakte, +es sind Füße denkbar, zu welchen die Tragfähigkeit +der Wolke sich verhielte wie Steg und Brücke zu den +unseren: Gewänder, die zu solchen Füßen niederflössen, +<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a> +würde durch die Schärfe der Emulsion der +Äther zum natürlichsten Geleise: weite Geleise solchen +Füßen, und so sehr ein Teil von ihnen, während sie +auf ihren Wolkensohlen reisten, <a id="corr-5"></a>daß von einer zifferlosen +Arithmetik beherrscht, der ganze Himmel, und +nicht etwa nur ein Stück von ihm, mit in den Raum +sich drängen würde, über dessen Schwelle sie zögen.“ +</p> + +<p> +Hier verstummte ich, und so gebieterisch schwoll +die Dämmerung an, daß meine Hände, wie Orgelpunkte +in der Schwebe gehalten, plötzlich niederfielen, +ihrer Unzulänglichkeit und Armut zurückgegeben. +</p> + +<p> +„Wollen Sie Licht machen?“ fragte ich. +</p> + +<p> +Während er sich anschickte, das Zimmer der ganzen +Länge nach zu durchschreiten, war ich innerlich erstaunt +über die Ausführlichkeit, mit der sich das +Detail eines Bildes, welches doch als Ganzes, über +alle Zeitbegriffe schnell zu Häupten meines Bettes +aufgeblitzt war, festhalten ließe. +</p> + +<p> +Doch warum faßte mich da wieder das unerklärliche +Grauen, das nicht mehr einzufangende Echo +des Grams des gestrigen Nachmittags, als mir im +halbwachen Zustand das Pferd beredten Auges entgegenschoß? +Welche Bewandtnis — — — — — +</p> + +<p> +Aber da hatte Fortunio schon geknipst, die Lampe +erstrahlte, und ich atmete auf. +</p> + +<p class="dat"> +5. FEBRUAR. Am Morgen dieses Tages stand ich +angekleidet zu Häupten des Bettes und hielt meine +<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a> +Post. Sie war umfangreicher als sonst. Ein Brief +mit ausländischer Marke und fremder Handschrift, +den ich zuerst öffnete, umfaßte nur wenig Zeilen +und meldete einen Tod, der schon vier Monate +zurücklag. +</p> + +<p> +Der Zahnarzt erwartete mich schon sehr früh. +</p> + +<p> +Ganz undeutlich, wie von einem andern Ufer +herüber, so daß ich nicht daran dachte, mich zu entschuldigen, +schien er mir ungeduldig über mein verspätetes +Erscheinen. +</p> + +<p> +Ich wollte ihn ersuchen, das graue Schmerzenslicht +von der gegenüberliegenden Mauer zu entfernen. +Dann besann ich mich: zeigten doch alle +Dinge, das Fenster, die Instrumente auf dem Tablett +dieselbe böse und stechende Schärfe. +</p> + +<p> +Desgleichen die Luft, als ich nach der Sitzung +unter die Lauben trat. Sollte man sich es wirklich +antun, sie hinabzugehen? War nicht vielmehr die +Erde, dieser schwarze und zertretene Schnee, sich +in ihm einzubetten mit zugekehrtem Gesicht, die +einzige und unendliche Lockung? Die wehe Fackel +des Gedächtnisses zu löschen, so zu verlöschen, als +sei man nie gewesen, dieses war der Himmel. Oh wer +war das? Wer war die Kreatur, die diesen ganzen +Tag hindurch alle Gesten des Lebens so staccato +verrichtete, an den Speisen dieselbe entsetzliche und +befremdende Miene wahrnahm, wie an den Pinzetten +auf dem Tablett des Zahnarztes, und wohin sie sich +<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a> +auch wandte, die Flucht ergriff; als wäre sie die aus +Hoffmanns Erzählung entronnene Olympia — die +Lauben hinab, die Treppen hinauf — in ihr Zimmer +zurücklief — und sich umzog! — Einen blauen Hut +aufsetzte, einen blauen! — und einen blauen Schleier +davorband, und in das betäubte Antlitz starrte, dem +er so ungewöhnlich stand — und einen Besuch abstattete +— an einem Ofen lehnte, an ein Fenster trat, +und durch seine, vom leichten Druck getrübte Scheiben +sah, den die Wärme des Zimmers hervorrief. +Es saß einer da, der erzählte, doch nur die Türe +nahm sie wahr, durch welche sie wieder entrinnen +und ins Freie gelangen konnte . . . +</p> + +<p> +Dort fing es an zu dunkeln. Es nahm auch dieser +Tag ein Ende. +</p> + +<p> +Nur auf dem freien Platz und über der Brücke +war es noch hell. Rauh, grell und öde brütete ein +durchnäßter Wintertag. Ungemildert fing ihn der +„Gurten“ auf: eine dunkle, ansehnliche Masse, und +dennoch niedrig stellte sich ihm oh, so traumlos entgegen! +Tropfnaß alle Dächer, die Bäume ein wirres +und aufgelöstes Haar. +</p> + +<p> +Das Uhrwerk war abgelaufen, und sie stand nun +endlich still, wie überwachsen von ihrer Not. Ein +Martergriffel umriß für sie die ganze Stadt, die sich +im Widerscheine eines Sterbetages zur Krypta schloß, +das Siegel seiner Qual für immer aufgebrannt. So +fiel ein Tor. +</p> + +<p> +<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a> +Beim ersten Laternenschein prallte sie zurück. +Jedes Licht war eine Tücke. Kein Dunkel war tief +und ununterbrochen genug. Und riefen ihre Wände +nicht nach ihr? Zu ihnen nahm sie ihre Zuflucht, +schloß ihre Türe und überließ sich der Erschöpfung. +In ihren Kleidern wie auf einem Sarkophag, ohne +sich zu rühren, ausgestreckt, lag sie in den Armen +und am Herzen dieser Nacht. +</p> + +<p> +Siehe — was tauchte da wieder vor ihr auf? — +Sturmentlassen, mit verhängten Zügeln, wie einem +geisterhaften Stalle zugekehrt, das entfärbte, fahlgewordene +Roß, dessen Botendienst geschehen war. +</p> + +<p> +Zum ersten Male entsann sie sich da auch des +andern Bildes, das sich zwischen einer Kunde und +ihrer Ankündigung gnädig und wie eine Gnade +stellte. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Und nun, oh Leser, fasse meine Hand, daß ich von +dir selber gehalten, durch Dornen und Gestrüpp, +Ziel, Sinn und Ende dieses Buches erreiche. Verlasse +auf immer mit mir das Zimmer der vergeblichen +Zusammenkünfte und folge mir nach Genf. Ferne +dem traumlosen Berg, über der malerischen Stadt +des nüchternen Lichtes, durch die Turmspitze versinnbildlicht, +welche den Unterbau des Münsters +niederdrückt, und seine Schönheit immerzu und +immerzu verneint. +</p> + +<p> +<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a> +Selbst bei der schärfsten Bise leuchtete die Luft +in Genf so abgetönt. Dort hauste ich nun, in einem +unheizbaren Studentenstübchen im fünften Stock des +hotel de Russie. Ein kleiner Balkon überhing die +stets von Schwänen überzogene Insel Rousseau. +Meine Taschen waren in diesen Tagen der Brotkarten +mit Krumen wohlgefüllt, und mit heimlicher +Befriedigung warf ich ihnen die rargewordene Speise +zu. Nicht vergeblich glitten sie mir da immer sogleich, +doch ohne jede unziemliche Eile entgegen. Ich sah +ihnen oft lange zu. Sie standen in der Tierwelt so +abseits; fast ein wenig abgerückt von der Natur. +Bald würden sie zwischen ihren stolz aufgerichteten +Flügeln ihre Jungen wie in einer geschlossenen Krone +durchs Blaue tragen. Vielleicht gab ihnen ihre Ungefährdetheit +die Muße, um den Tod zu wissen. +</p> + +<p> +Die Zeiten waren derart, daß der Ortswechsel selbst +einer so unwichtigen Person wie mir nicht unvermerkt +blieb. Dinge aber, die mich vor kurzem in +Aufruhr versetzt hätten, machten mir nicht das +geringste. An der Telephonkabine war eines Morgens +der Türgriff ausgekurbelt und wurde nicht wieder +instand gesetzt. Dicht bei verbrachte ein dicker Herr +seine Tage und rauchte Zigarren, indem er unverfroren +horchte. +</p> + +<p> +Indessen wurde ich von Herrn L — P. . . . dem Vater +der im deportationsfähigen Alter stehenden Kinder aufs +neue bestürmt. Seiner Frau blieben die Pässe verweigert. +<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a> +Ich schrieb jetzt auf gut Glück dem Grafen +Carry, er möge mich über den Sonntag besuchen. +Und richtig stand er da. Es war strahlendes Wetter, +wir streunten über die Kais und aßen zusammen. +An seine natürliche Güte hatte ich nie vergebens +appelliert, und schließlich bildete sein Propagandawerk +eine Art von Rettungsstation. An ihm klebte +kein Blut. Da mir aber seine Beziehungen zur obersten +Heeresleitung bekannt waren, log ich jetzt über die +politische Zweckmäßigkeit einer Paßverleihung an +die Familie L . . P . . . einiges Blaue vom Himmel. +Wir setzten uns ins Freie. Erstaunliche Magnolien +prangten schon in voller Blüte; an eine Tanne, grünblau, +weiten Hauptes wie eine Pinie, und immerzu +umschwirrt, preßte sich ein glückliches Vogelhaus. +Carrys Augen hingen voll Entzücken daran. +</p> + +<p> +„Da geht mein schlimmster Feind“, sagte er plötzlich. +Klein, mit niederträchtiger Visage, kam hinter +den Magnolien ein Landsmann von uns hervor. Von +übelster Vergangenheit, dabei Träger eines großen +Namens, für den Nachrichtendienst also wie geboren, +lauerte er dem Frieden um so emsiger auf, als die +Dauer des Krieges mit dem Interim seiner Rehabilitierung +zusammenfiel. +</p> + +<p> +„Natürlich haßt er Sie“, sagte ich zerstreut. „Was +erwarten Sie sonst?“ +</p> + +<p> +Abends — der Graf war schon abgereist — kreuzte +ich mich nochmals, über die Brücke zu den Schwänen +<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a> +gehend, mit der hochgeborenen Krapüle, die mit +einem Basiliskenblick an mir vorüberging. Tags +darauf — ich dachte gerade an das blauzerfließende +Grün der Tanne und an den großen Blumenbaum, +der in dieser Sonnenhelle wohl noch heller erblüht +war, als ich ans Telephon gerufen wurde. Vor der +Zelle saß trägen Auges der mir zugeteilte Herr mit +der Nachmittagszigarre im Mund. Heute aber sollte +er auf seine Kosten kommen. Denn im höchst aufgeregten +Ton forderte mich eine Genfer Dame zu +sofortiger Aussprache auf. Ihr Haus sei mir offengestanden, +sie habe mir ihr Vertrauen geschenkt, und +nun müsse sie hören, daß ich es mißbrauchte. +</p> + +<p> +Ich machte mich ziemlich gemächlich auf den +Weg zu ihrem Hause. Seit jenem Tage, als sich Bern +für mich zur Krypta schloß, war mir erst bewußt, +daß ich mit nichten ein verkannter oder verlassener, +sondern einer der wenigen innerlich wirklich beschützten +und durchschauten Menschen gewesen war. +</p> + +<p> +Wie oft hatte — weit vorgreifend, ach! — mein Ohr +das melodische Lachen zu hören geglaubt, wenn ich +dereinst alles erzählen würde, alle Zwickmühlen und +alle Abenteuer, in die ich geraten war. +</p> + +<p> +Ein ganzer, ein wirklich unvergeßlicher Mensch, +dachte ich, von Trauer niedergedrückt, ist nirgends +zu Ende. Unerschöpft und ganz unausgespielt sinkt +er zu Grabe. Abgerissen, doch nicht abgesponnen, +ist der Faden eines solchen Lebens. +</p> + +<p> +<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a> +Wenn aber Kinder des Lichtes zusammentreffen, +ist das schon ein Glück des Himmels. In dem hin +und her ihrer Blicke und ihres erkennens liegt das +Vorgefühl ihrer Macht. Zu uns komme ihr Reich. +</p> + +<p> +Mit der Genfer Dame war ich schnell im reinen. +Wir spielten beiderseits mit offenen Karten. Die +hochgeborene Krapüle hatte verbreiten lassen, die +deutsche Propaganda arbeite nunmehr mit so raffinierten +Mitteln, daß sie kompromittierte Personen, +wie mich, zu Werkzeugen mache. Den Beweis hielte +er in der Hand. (Es war mein Frühstück mit dem +Grafen Carry.) Natürlich war seine Behauptung wohl +geeignet, mich in Genf unmöglich zu machen. Er +hatte sich nur insofern verrechnet, als meine dortigen +Freunde sich unverweilt mit mir ins Vertrauen setzten. +Dieser Zwischenfall war also beigelegt. +</p> + +<p> +Als ich wieder in die Allee einbog, welche von ihrem +Hause bis hart an die Straße führte, drangen durch +ein offengebliebenes Fenster die Worte: „Je suis bien +contente de le lui avoir dit“ laut und vernehmlich +ins Freie; Mir aber saß jetzt ein ödes Gefühl im +Magen, ein Ekel, das würgen einer allzu krampfhaft +unterdrückten Bitterkeit. Ein Durst zugleich; das +lechzen des Trinkers, der nach dem Becher vergeht; +es mußte etwas, das Palliativ, die Betäubung mußte +her. Es war das alte Laster, hui! Und lag sie nicht dicht +bei, die avenue de Florissant? wußte ich nicht, +zufällig, daß sie dort wohnte, sie, die den Schlüssel +<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a> +zu den geheimen Toren hielt, die ich begehrte? +Heute noch, nein, sogleich mußte ich hin. +</p> + +<p> +Und schon betrat ich unangemeldet die großen +Räume, in welchen die malerische Französin zwischen +ausgehobenen Türen nach allen Seiten hin den Ausblick +über Gärten und Büsche genoß. Es war eine +ganze Welt von Bäumen in ihrem ersten Grün. Mademoiselle +S., eine Pariserin der ernsten und wenig +bekannten Art, trug einen orangefarbenen Foulard +um ihren Kopf gewunden und gestand ihre Kopfschmerzen, +aber nicht ihr Befremden über meinen +Besuch. Wir hatten uns ein einziges Mal während +des Krieges flüchtig kennengelernt, und nun lagerte +ich, jedem Argwohn zuvorkommend, indem ich ihn +einfach niedertrat, auf einem Diwan ihres Salons, +den verwirrenden Frühlingszauber ihres Parkes vor +Augen. +</p> + +<p> +„Sie sind im Besitze der Adresse eines Mediums,“ +sagte ich, „die ich suche.“ Und sie erhob sich, an +ihnen Schreibtisch zu treten; eine hohe und dunkle +Gestalt, weder so schön, noch so jung vielleicht, als +sie an diesem Abend schien, den blassen und melancholischen +Kopf vom seidenen Turban eng umschlossen, +und all die Wipfel, die in den Rosenhimmel +ragten, als Hintergrund. Sie reichte mir die Adresse, +und wir sprachen von allgemeinen Dingen. +</p> + +<p> +„Es muß heute doch ein eigener Segen auf allen +Schlechtigkeiten ruhen,“ sagte ich, „da, was immer +<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a> +man Gutes und Hilfreiches unternehmen möchte, +sofort in Mißlingen und Gestank aufgeht.“ +</p> + +<p> +„Wie könnte es anders sein?“ gab sie zurück, „das +Geschwür ist noch lange nicht reif. Vorerst muß +alles ihm allein zugute kommen.“ +</p> + +<p> +„Es gibt aber Geschwüre en permanence“, meinte +ich. Doch sie schüttelte den Kopf, unbeirrbar in +ihrem Glauben an eine bessere Zukunft. +</p> + +<p> +Es herrschte zwischen uns die kurzbefristete Vertraulichkeit +zweier Reisegefährten eines nächtlichen +Zuges. Nichts ist so unverbindlich wie ihr Auseinandergehen. +</p> + +<p> +Denn schon war ich wieder unterwegs, einer andern +Himmelsrichtung, einem Genf, das ich nicht kannte, +zugewandt, nicht wissend, daß es auch seine anonymen +Viertel hatte, die scheinbar nicht zu ihm +gehörten, sondern in ihrer Bedrücktheit ganz allgemein +die Straßen einer größeren Stadt darstellen. +Zwischen solchen Häuserreihen war ich jetzt auf der +Suche, fand die Nummer, stieg vier Treppen hoch +und läutete und wartete. Eine im Dunkel undefinierbare +Gestalt öffnete endlich langsam die Türe. +</p> + +<p> +„Wollen Sie mich melden?“ sagte ich, ohne meinen +Namen anzugeben. Sie rührte sich nicht. „Wollen +Sie mich melden?“ wiederholte ich. Sie schwieg. +Sie war es selbst. Stumm standen wir einander gegenüber. +Unsere Blicke belauerten, betasteten sich. So +tauschen wohl in einer Höhle des Lasters zwei Eingeweihte +<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a> +zögernd ihre Erkennungszeichen: es waren +die verschleppten Schatten unserer Augen und ihr +matter und verlöschter Schein. Und wie loderte +schon die Luft! Oh welch ein Wellengang! Welcher +Sturm inmitten der Stille, die zwischen uns entstand. +Ich folgte der Gestalt, die vor mir zurückwich. +Sie trat, als hätte ich sie gestoßen, in die Umrahmung +einer Türe, die hinter ihr nachgab, und +taumelnd trat ich ein. +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<p class="noindent"> +Dem glücklich Liebenden gleich streifte ich in +jener Nacht, hingerissen, berauscht, von tröstlichen +Schauern durchrieselt, die Kais entlang. Wie Antäus +die Erde, hatte so mein Fuß die belebende Leere +berührt? — War’s ein geistiger Aderlaß gewesen? +War’s der letzten Hingabe entsetzliche Betäubung +oder die eleusische Flut? Und wird sie einmal einer +nennen dürfen, die einmaligen Gefilde ohne Wiederkehr +und Verbieter des Wortes, die ein Blick zu ihnen +ein Wenden des Kopfes nur, zu ewiger Ungewesenheit +entstürzen läßt . . . . +</p> + +<p> +Oh Eurydike! +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<p class="noindent"> +Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, nahm +ich das Schiff. Als es in Ouchy anlegte, zog mit einem +Male Fortunio an Bord. Wir waren beide nicht wenig +erstaunt. Ihn aber schien die Bläue des Tages und +das in Verzückung zurücktretende Ufer von sich +<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a> +selbst fortgerissen zu haben, und es war ersichtlich, daß +er träumte. Das Leben hielt er dann für schön, +besann sich des Augenblickes und der Weltgeschichte, +wie auch seines eigenen Erwachens nicht, sondern, +ganz Echo, war er gefangen von ein paar Weisen, +welche manchen Tages die Natur anhebt, und den +verwandelt, der sie hört. +</p> + +<p> +„Lassen Sie sich das Neueste erzählen“, stieß ich +ihn an und gab mit allen Details die Mine zum +besten, von der ich in Genf hätte auffliegen sollen. +Wie ergiebig Graf Carry dabei mit „belegt“ worden +war, kam erst später ans Tageslicht. Mit der Warnung +an meine Schweizer Freunde nämlich, sich vor +einer deutschen Agentin wie mir etwas in acht zu +nehmen, erging gleichzeitig eine Meldung an deutsche +Instanzen in Bern, Graf Carry wisse so wenig die +Würde seines Amtes zu wahren, daß er sich nicht +scheue, mit einer französischen Agentin wie mir +öffentlich herumzuziehen. Aus dem Mittagessen +wurde der Pikanterie halber ein trautes Souper. +</p> + +<p> +„Diese Zeit“, sagte ich zu Fortunio, „hat den +Untermenschen doch wirklich den Maibaum ihrer +Existenzen gebracht, und es gehört mit zu den läuternden +Wirkungen des Krieges, daß ihn die Krapülen +überleben. Denn wenn eine, statt als sein Helfershelfer +reklamiert zu werden, in die fatale Lage gerät, +selbst an den Heldentod glauben zu müssen, so ist +das doch ein ganz seltenes Pech.“ +</p> + +<p> +<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a> +Fortunio fuhr mit dem Abendzug nach Bern zurück, +und ich blieb in Clarens. +</p> + +<p> +Um Ostern wollte ich Romain Rolland besuchen +und sagte mich in Villeneuve an. Allein es war jener +Karfreitagmorgen, an welchem eine oberste Heeresleitung, +wie um seiner zu höhnen, die Kanonade von +Paris nicht unterbrach, eine Kirche während des +Kultes einstürzte und die Anwesenden unter sich +begrub. Daß mein angekündeter Besuch auf das +hin unterblieb, verstand sich von selbst. Für mein +Gefühl war dieser Karfreitagsvolltreffer das schwarze +Aß, das sich Deutschland selber ausgeworfen hatte. +Eine solche Absage an die tragende Idee des Christentums +war zu zynisch, um nicht ominös zu sein. Sie +war — man verstehe mich recht — wüstester Protestantismus. +Luther galt mir nur deshalb als einer +der Ahnherren des Krieges, weil sein auftreten das +Übergewicht des nördlichen über das westliche und +südliche Deutschland anbahnte, und ein kahles, unkünstlerisches, +unmusisches und humorloses Element +in den Pulsen der Deutschen entsprang: Phantasielosigkeit +und Unmusik. Wagt es vielleicht einer, +Sebastian Bach einen Protestanten zu nennen? Der +Protestantismus stak damals in seinen ersten Anfängen, +noch belebt von der Wärme des Stammes, von dem +er sich losriß: protestierender Katholizismus. Der +wirklich ausgewachsene konsistorialrätliche Protestantismus +gedieh erst in den letzten Dezennien zu der +<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a> +vollen Reife und dem gleichzeitigen Marasmus. Die +fürchterlichen Lutherschen Kirchen, das toteste an +Architektur, was in der Welt zu sehen ist, sind Geist +von seinem Geiste. Alle unfrohe Geschmacklosigkeit, +den Mangel an Grazie und Liebenswürdigkeit, das +Reformkostüm, die Jägerwäsche danken wir ihm. +Undenkbar, daß von München aus die Reichsbriefmarke, +als die häßlichste der Welt, hinausgeflattert +wäre. Nein! fürwahr, diese Germania stieg so recht +als die fille ainée der protestantischen Kirche. Sie +brachte den unheilbaren Riß, über den keine äußerliche +Geeintheit hinweghalf. Denn ihr verdanken +wir das verständnislose abrücken von der lateinischen +und abendländischen Welt, das ein südliches, fränkisches +und westliches Deutschland nie herbeigeführt +hätte. +</p> + +<p> +Statt des café du Nord wurde jetzt der Kursaal +von Montreux meine Schreibstube. Den Nachmittag +beschloß ich mit Vorliebe im kleinen Saal +des Konservatoriums, wo ich mit einem russischen +Cellisten musizierte. Aber A. H. Pax wollte wieder +einen Beitrag. Es gibt heute nur ein Thema, schrieb +ich ihm: +</p> + +<p> +Und wir hätten alles von der Methode jener glücklichen +Spekulanten zu lernen, welche sich offenkundig +als die weitaus schärfsten Psychologen erwiesen, +indem sie irgendein Präparat, eine Zahntinktur oder +ein Extrakt dadurch zu allgemeinster Geltung verhelfen, +<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a> +daß sie deren Bezeichnungen in grellen Riesenbuchstaben +an Mauern, Säulen und Schlöten anschlagen, +sich gleichsam an die Fersen des Vorübergehenden +heften, selbst auf Bergeshöhen sich zwischen +ihn und die Aussicht schieben, ja von Felswänden +herab ihm unerwartet Odol! Haarlin! oder Bovril! +entgegenschreien. +</p> + +<p> +Wäre heute nicht die Beachtung gewisser Zustände +mit einer ebensolchen vorbildlichen Hartnäckigkeit zu +erzwingen? Durch ein ungeheures Preisausschreiben +etwa, das an alle Maler, der ältesten wie der neuesten +Schule, erginge, um auf Bildern und Plakaten, mit +beliebigem Raumverbrauch, die Wirklichkeit zu illustrieren, +allen Brücken und Wegen entlang sie immerzu +neu einer Allgemeinheit zu veranschaulichen, deren +geistigen Stumpfsinn nur jene Menschenkenner von +Spekulanten voll ergründeten. Daß es keine intellektuelle +Notwehr gibt, und daß wir lieber untergehen +als daß wir dächten, hielten wir ja nicht für möglich, +bevor wir es erlebten. Wie hätte sonst über unsere +Köpfe hinweg jene Phalanx der Niedrigen zustande +kommen können, die sich heute mit so bewundernswerter +Regie über alle Grenzen hin in die Hände +arbeiten? Auf uns, die sie gewähren lassen, fällt der +Fluch dieser Zeit zurück. Nicht auf die schlechten, +deren Tun im Einklang steht mit ihrem Wollen; auf +uns, nicht auf die Knechte, welche sich zu unseren +Herren machten, sondern auf uns, die wir uns von +<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a> +ihnen knechten ließen. Sollte der Tag hereinbrechen, +an dem es zu spät sein wird für unser zusammengehen, +so werden wir, die guten Willens sind, als +die Schuldigen stehen, weil uns der Mut unseres +besseren Wissens gebrach, dem Genius des Krieges +die Siegermaske von der gedankenlosen Stirn zu +reißen. Ah! wir bedachten nicht den tiefen Sinn +jener Sage, welche den Drachentöter die Sprache +der Vögel verstehen ließ, als er vom Blut des erlegten +Ungeheuers genoß! +</p> + +<p> +Es waren stille Tage. Der Sommer reifte wie eine +Frucht. Schon rissen Gewitter den Himmel auf +und schlugen die Wellen bis zu den herabhängenden +Blüten am Ufer. Und die Nächte verströmten betäubend +und lau. Es war ein Wandeln wie im Traum, +bedrückend und begeisternd zugleich. Meine Unterredung +mit dem Grafen Carry datierte vom 5. Mai. +Schon am 17. depeschierte er mir, die Pässe für +Frau v. L . . . . und ihre fünf Kinder seien +gewährt. +</p> + +<p> +In den Weinbergen surrte das Licht, die goldenen +Bienen waren eins mit ihm. Ob man lebte oder gestorben +war oder eben geboren wurde, machte keinen +Unterschied. Es war zu heiß. Den schönen Damen +standen die Koffer gerüstet. Ihre neuesten Kostüme +und Kleider, die seidenen Sweater und die Hüte +und die Schuhe kannte man jetzt. Es war Zeit, in +einem neuen Ort neu darin zu erstehen. +</p> + +<p> +<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a> +Für den 29. waren in Zürich Busonis Opern unter +seiner Leitung angesagt. Dort sollte ich mit Fortunio +zusammentreffen, und dann an den Thuner See +mit ihm fahren. Aber statt seiner kam ein Brief, +und meine Stirne umwölkte sich beim Anblick seiner +Adresse: Es war ein Mißgriff und eine Illusion, daß +er die Villa des geölten Nibelungen bezog. Kurz +herausgesagt, wir beiden konnten einander nicht +leiden. Ich grollte ihm nicht, weil er meine Haltung +verurteilt und mir versichert hatte, wir seien immer +noch zu anständig; sein plötzlicher Radikalismus, vielmehr +die Art, wie er sich als unser Leithammel +aufwarf, ärgerte mich. Denn er war keiner von den +Unseren. Mit Lanze und Speer kam ich ins Spiezer +Schloßhotel, ihn zu bekämpfen. Dort warteten +A. H. Pax und seine unschätzbare Gattin seit einer +Woche meiner. In der Halle stand ein Bechstein, +und von Paxens tiefer Loggia aus hatte man den Blick +nach Süden über die Alpen und den See. Bei ihnen +waltete Überblick, Wissen und Nächstenliebe, dazu +ein Aroma von Wiener Kaffee und Gemütlichkeit, die +nicht zu überbieten waren. +</p> + +<p> +Die Villa des Geölten lag unter den Tannen in der +Tiefe, einen Kilometer entfernt und in wundervoller +Lage. Ein kurzer Weg bog vom Gitter bis zum Hause, +als wäre er unendlich, ein. Die veredelten Kirschbäume, +die ihn beschatteten, bestahl ich, soviel ich +konnte. Es verdroß Fortunio, doch ich erklärte, +<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a> +Kirschen nur vom Baume essen zu können, und riß +im vorbeigehen immer welche herab. Es waren wirklich +Kirschen für Hesperiden. Die unteren Zweige +hingen schon leer. +</p> + +<p> +Der geölte Nibelung gehörte dem Geschlecht derer +an, die nicht nur geschäftskundig, sondern auch mit regen +Sinnen für das Schöne begabt, zu überaus tüchtigen +Faktoren berufen, dabei haarscharf an ihre Stelle zu +verweisen, ja niederzuhalten sind. Unsachlich, ungedanklich, +nur der Witterungen, aber keiner Erkenntnisse +fähig, konnte er sich nach innerer Herkunft +und Bestimmung höchstens zum Sklavenhalter, niemals +zum Herren vermögen. Gütiger Regungen sehr +wohl fähig, war der geölte Nibelung infolge seines +unbändigen Ehrgeizes der glücklose Knecht, außerstande +sich zu bescheiden. Über ihn wölbte sich +der freie Himmel nicht unmittelbar, zwischen ihm +und dem Äther, den Göttern und der Natur lastete +eine trennende Kuppel. Fortunio aber, und wenn +er tausendmal zerschellte, war ein Sohn des Lichts. +An ihn klammerte sich der Geölte, von trüben Stacheln +getrieben, und eiferte um die gleiche Stufe der Leiter +mit ihm; von Eifersucht und Zuneigung gleicherweise +gequält, suchte er — immer unbewußt — ihn +an sich zu reißen oder ihn zu verderben. Seine Gattin +liebte es, vierhändig zu spielen, ihr Anschlag war +eine Pein, und ich stand sehr bald mit beiden übers +Kreuz. So ging ich nicht mehr den kurzen Weg, +<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a> +der zwischen Gitter und Haus ins Unendliche lief, +und sah von dieser Stelle aus nicht mehr den Niessen +wie eine Riesenpyramide inmitten des fruchtbaren +Tales stehen. +</p> + +<p> +Der Himmel freilich kam hier nie zur Ruh, und +die Gegend war mehr eine großartige, opernhafte +Szenerie, denn eine Landschaft, das Licht ein Beleuchtungsapparat; +statt der Spiegelungen hatte man +Effekte. Das Schreckhorn leuchtete in der Verkürzung, +der See war eine Arie. +</p> + +<p> +„Komm, komme!“ schrieb der Seidenaff aus +St. Moritz. „Wer weiß, was mit uns in einem Jahre +geschieht.“ Und eines Morgens reiße ich aus, um den +Sommer im Engadin zu beschließen. +</p> + +<p> +Mein Weg führt über Bern, und ich mache bei +Martin im Walde halt. Er ist schwer niedergedrückt. +Das deutsche Verhängnis war für jeden, der außerhalb +des Landes wohnte, unaufhaltsam. Ich schreibe +eine Depesche unter seinem Diktat und renne damit +zum bayrischen Gesandten. Dieser besteht darauf, +Martin im Walde selber zu sprechen: ich also mit +Windeseile zu ihm zurück und ihn so lange quälend, +bis er mir folgt. Aber welch ein Interview! Alle +heißen und kalten Wasserhähne sprühten um die +Wette, daß es nur so pfiff. +</p> + +<p> +Die Depesche hat er aber abgeschickt, mache ich +auf dem Heimweg geltend. +</p> + +<p> +<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a> +Sie übermittelte jedoch diejenige Brause, die man +sich auf Wochen noch verbat. +</p> + +<p> +Fluchtartig verließ ich die Stadt der vergeblichen +Zusammenkünfte. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-1"> +Palace Hotel, St. Moritz. +</h3> + +<p class="dat"> +AUGUST 1918. Man hätte sich auf dem Berge +Arrarat glauben können, wären unter den Geretteten +nicht so viele gewesen, die mit einem Mühlstein am +Halse zu tiefst der angerichteten Sintflut zu liegen +verdienten. Diese Menschenmetzger, Gewinnler am +Elend der Menschheit und gemästet von ihrem +Blut, hier machten sie sich breit und schlemmten. +</p> + +<p> +Gleich bei meiner Ankunft hatte ich den Seidenaffen +besucht und war auf der Treppe gestürzt, so +daß ich bleiben mußte, wo ich war. Doch inmitten +des Geschwirres begann da für mich ein Leben wirklicher +Beschaulichkeit. Ich kannte niemanden, mit +San Cividales verkehrte ich nur in den oberen Räumen, +unten mieden wir uns, denn wir waren ja Feinde. +Auf den Stock gestützt, hinkte ich, wenn Sajani mit +seiner kleinen Kapelle spielte, zu einem Schreibtisch +in der offenen Galerie, die Berge von Pontresina vor +Augen, die ekstatisch nach Süden träumten; unten +der tiefgrüne Bergsee und der Waldweg seinen Ufern +entlang; St. Moritzbad im Rücken, damit ich es +nicht zu sehen brauchte. +</p> + +<p> +<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a> +Es war sehr oft „etwas los“. Alles strömte dann +nach derselben Richtung, um sich im Sportkostüm +zu treffen, bevor man sich im Abendkleide wieder +begegnete. Dann spielte die Kapelle ins Leere, ich +aber zog unter den Baldachin, die Tangonoten verschwanden, +und wir spielten Trios. Es schlichen +immer ein paar unbeschäftigte Kellner herein, und +dies Kellnerpublikum war uns ein Sporn. +</p> + +<p> +In der Umwertung der Gesellschaft selbst besteht +heute die eigentliche und tiefe Revolution. Ein rein +äußerlicher Staat hat merkwürdigerweise aufgehört, +elegant zu sein; das Prestige einer Klasse als solcher, +mag es noch einmal aufflackern und sich noch +eine Weile fortläppern, ist dahin. Diejenige Klasse, +die überall am Kriege die unschuldigste war, wird +täglich an Interesse gewinnen und ihren Tag erleben. +Der Arbeiterstand als Magnet: so schnell reiten die +Toten! — +</p> + +<p> +Wie faszinierend war es indes, die Herren von +vorgestern zu beobachten, welche wähnten, daß sie +es noch seien, und die höchstens noch der Wirt, bei +dem sie abstiegen, in dem Glauben erhielt; diese +Herren auf Abbruch, die nicht merkten, daß ihre +Füße sich schon im Gerölle fingen. Müßigkeit und +Unwissenheit hatten ihre Norm so tief herabgedrückt, +daß, um ein Beispiel zu geben, edle Musik eine Zumutung +für sie gewesen wäre. In der Tat, es lohnte +sich, sie zu studieren. Sie machten noch die Gesten +<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a> +der Väter, aber schon war der Pöbel bei ihnen eingebrochen +und schuf sich in diesem äußersten Rechteck +der Gesellschaft ein Ventil. Nirgends vielleicht +hatte sich die Achtung für inneren Wert so sehr +verringert und kam innerer Adel so wenig in Betracht. +Wie viel ritterlich Gesinnte zählte man unter +diesen Kavalieren? Wie viel Strebende? Was die +Unbildung, die zunehmende Verrohung dieser Clique +betraf, so stand sie den von ihr verhöhnten nouveaux +riches, welche Wurstkonserven zu Magnaten erhoben +hatten, innerlich schon am nächsten, und es war +rührend zu sehen, wie hier die Elite — denn auch +die sogenannte Elite hat natürlich ihre Elite, und ich +weiß keine liebenswertere — von ihr abrückte und +sich ihrer schämte. +</p> + +<p> +Auch den Trost von ein paar wirklich schönen +Frauen hatte man hier. Der Seidenaff zwar verzog +sich des Abends immer sehr bald. Sah man nach +ihr um, war sie wie ein Vogel schon weg. +</p> + +<p> +Aber die leidende Sylvia, schön wie eine gestirnte +Nacht, tanzte so gern. Und ob man sich auch sagte, +die Melancholie ihres Lächelns, ihres Lachens sei +nur Zufall, nur der Form ihrer göttlichen Lippen, +dem Licht ihrer Zähne entblüht, sie entzückte darum +nicht minder. +</p> + +<p> +Eine andere kam zuweilen von Suvretta herüber, +ein Püppchen, so zierlich gebildet, als wäre sie in einer +blitzend ausgeschlagenen Nußschale dahergefahren. +</p> + +<p> +<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a> +Eine vierte war noch da, von der ich noch reden +werde. Aber laßt mich bei der gestirnten Nacht noch +einmal verweilen. Meistens trat sie erst, nachdem +der Tag zu Ende war, scheinbar ausgeruht, in ihrer +düsteren Pracht hervor, blieb dann bis zum Hahnenschrei, +wie die Braut von Korinth, und hielt ihre +Tänzer in Atem. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +ANFANG SEPTEMBER. „Ich hörte lange nichts +von euch“, schrieb ich an Fortunio. „Was Sie +nur treiben?“ +</p> + +<p> +Mein Fuß war endlich hergestellt und einer längeren +Fußtour gewachsen. Eines Morgens verließ ich früh +das Palace Hotel in Bluse und Rock, einen Sack +umgeschnallt, in dem ich eine ganze Reisetasche +leerte, und einen eigens dafür erstandenen Strohhut, +der so tief hereinfiel, als man wollte. Also ausgerüstet, +zog ich nach Maloja, schlug aber bald den Waldweg +ein, denn die zahlreich einherrollenden Wagen hüllten +die Straße in Staub. Frech auf den Polstern ausgebreitet, +mit befriedigten Mundwinkeln, fuhr ein +Schieber nach dem andern froh zu Tale, oder dem +Julier entgegen; ein feister und wohlgemuter Korso: +der Krieg durfte noch dauern. +</p> + +<p> +Am andern Ufer der Seen jedoch wand sich ein +stiller Weg um jede Bucht, nimmermüde, sie zu umschreiben, +leis umplätschert, geduldig und verliebt. +</p> + +<p> +<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a> +Ich riß den Hut vom Kopfe, steckte ihn in den Sack, +und ließ die Stirne frei von den Gletscherwinden +umwehen. Es war so schön, wieder schnellen und +gesunden Fußes durch die Wälder zu gehen, die bis +in ihren tiefsten Schatten von Licht und Hitze +durchhaucht, statt des Staubes einen Geschmack von +Harz und Erdbeeren auf die Zunge trieben. Ganz +plötzlich wurde es kalt. Hoch am Himmel hielten +die Wolken Rat, ob sie sich zusammenballen und +den Herbst eröffnen sollten. Dann zerstreuten sie +sich wieder und ließen die Sonne durch. Aber es +war ganz deutlich, daß sie sich nur vertagten. +</p> + +<p> +Spät am Nachmittag saß ich in der berühmten +Konditorei von Sils Maria, als ein Wagen vorfuhr, +dem die vierte Schöne des Palace Hotels in Begleitung +ihres Liebhabers entstieg. Es war die notorische +liaison des diesjährigen Sommers. Er, so stolz auf +seine Figur, daß er Modell stand, sowie man nur +hinsah, aber dabei das Entzücken seines Schneiders +mit dem des Malers verwechselte; die Stirn niedrig +und leer, wie die eines Stallbediensteten, und einen +der Anlage nach gewiß nicht groben, aber schon +stark vergröberten Kopf. Bald, sehr bald würde von +dem ganzen Zauber nur noch die Hengstallüre übrigbleiben. +</p> + +<p> +Die Schöne hatte am nächsten Tische Platz genommen, +so daß ich ihre kühle und strahlende Erscheinung +mit Muße betrachten konnte. Der Schmelz, +<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a> +die Zeichnung der Brauen und des Ovals, die Augen, +wie große, kostbare Edelsteine eingesetzt, waren die +eines vollendeten Renaissancegesichtes. Man konnte +sich kein typischeres denken. Ihr Lächeln beunruhigte. +Und doch war sie so jung! Jugend hielt +noch, wie die Staubfäden einer Blüte, Fesseln und +Gelenke zusammen. Sie hatte sich erst ihres Schleiers +entledigt, nun folgte der Hut. Sie legte ihn neben +sich hin. Ihr Haar, mit unerhört raffinierter Schlichtheit +getragen, umschmeichelte nur die Schläfen mit +seinem Gold und ließ die Stirne frei, jetzt +wandte sie den Kopf. Da aber kam ein platter Hinterkopf +zum Vorschein, der Kopf der Viper, da woben +schon unendlich leise Fäden an ihrer künftigen Häßlichkeit, +und da kündete sich von fern der nach außen +gerichtete, erinnerungslose Blick der Vierzigerin, ohne +Rückwärtsschauen . . . Lange blieben die beiden +nicht, stand doch die lange Fahrt noch aus, und +mußte sie doch ruhen, bevor sie sich langsam wieder +schmückte zum spätesten aller Diners. Nicht nur +mit ihren Abendkleidern, auch durch spätes Erscheinen +wetteiferten nämlich die Damen im Palace. +Konnte auf der Welt etwas ordinäreres sein, als schon +um neun zu Nacht zu essen? Und war dies nicht +der Gipfel? +</p> + +<p> +Ihr Geliebter legte ihr jetzt den Umhang über, mit +jener tiefen Ehrerbietung, die ein solcher Mann einer +solchen Dame gegenüber, die solche Perlen mit in +<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a> +die liaison brachte, empfinden mußte. Auf seine +Hand gestützt und von den Kindern des Dorfes umstaunt, +schwang sie sich auf das Gefährt und griff +in die Zügel. +</p> + +<p> +War es Einbildung? Hatte der Jammer des Krieges +meine Augen geschärft? In dieser zarten und köstlichen +Gestalt hatte ich deutlich den Brustkasten der +Kindsmißhandlerin gesehen. Welch ein Scheinleben +kutschierte da dahin? Das leichte Getrapp ihrer +Pferde, dann das Echo ihres Getrappes hallte noch +lange von den Felsen herüber. +</p> + +<p> +Was war es, das mich so feierlich stimmte? +</p> + +<p> +In den Gasthäusern und Hotels ging jetzt überall +ein Klappern von Tellern und Bestecken los. Es +wurde geläutet und gegongt, und wer nicht im Restaurant +aß, der mußte sich bescheiden, vorgekochtes +der Reihe nach zu essen; ein Zwang wie ein anderer. +Da war es schöner, noch etwas zu streunen. +</p> + +<p> +Ein ungewöhnlich starker Mond stand in seiner +ganzen Fülle; es wuchsen die Berge unter seinem +Hauch, das Dorf erblaßte wunderbar, eine graue +Bank ward ganz sie selbst. Die Funksprüche der +sich bereitenden Nacht liefen wie toll alle Täler +entlang, und schon waren alle Täler berauscht. Auf +dem Platze hielt ein Gespann, die Gäule hielten die +Köpfe gesenkt, als ob sie träumten. Ich lief hinzu. +Es war die Post, die nach Maloja fuhr. Es gab noch +einen Platz. Ich sprang hinein. Die Pferde zogen an. +<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a> +Bevor wir noch das Ufer erreichten, stieg ein Reisender +aus. Außer mir blieb nur ein Liebespaar, +das sich an den Händen hielt. Es war sich Mondschein +genug. +</p> + +<p> +Den Kopf hinausgestreckt, trank ich diese Nacht, +und hatte sie für mich allein. Nichts war mehr, wie +es war. Der See lag im Silberschleier regungslos +wie eine Tote, und der Mond goß Myrthensträuße +über sie herab. Nur das Gras des Ufers +erhob sich in gespenstiger Lebendigkeit. Sicher war +es nur ein Spiel der Luft, daß die Berge hier zerfielen. +Blöcke sich lösten, als sei die Welt zu Ende; Felsensäle +bauten sich in die Klüfte ein, Riesengemächer +warfen sich dazwischen. Es konnte nicht sein, und +so sah die Welt nicht aus. Auch die Liebesleute +waren anders wie zuvor. Dieser edle Pensieroso stieg +als ein unscheinbarer Tourist in Sils Maria ein, und +sie hatte weder dieses Haar, noch diese Lippen gehabt. +Morgen würde hier die Sonne auf ödes Schilf vielleicht +hinbrüten und das Paar nicht zu erkennen sein. +</p> + +<p> +Als um ein Uhr morgens der Wagen mitten in +Maloja hielt, stieg es wortlos aus. Ich hatte kein +Quartier bestellt und kam nicht unter. Außerhalb +des Ortes lag noch ein Hotel. So marschierte ich +jetzt allein die taghelle Straße weiter, geradeswegs auf +einen neuen Absturz zu. Dort stand das Haus. Ein +junges und verschlafenes Mädchen führte mich über +manche Treppe hinauf: zufällig stünde das einzige +<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a> +Zimmer frei, das für Gäste reserviert blieb. Alle +andern hielt während des Krieges die Militärbehörde +in Beschlag. Die nächste Poststation sei italienisch. +</p> + +<p> +Sie reichte mir eine Petroleumlampe und verschwand. +Die Stube hatte zwei Fenster und war +schneeweiß. Ich warf den Kopf weit auf die mondbeschienenen +Kissen zurück. So angelangt! +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Aber nicht lange, und der einsetzende Kampf +zwischen dieser Mondnacht und der Dämmerung +weckte mich aus dem Schlaf, Nebel mischten sich +hinein und wollten alles für sich. Endlich ragten +Tannenspitzen ins Leere; der Absturz war kein +olympischer; eine Straße schwang sich, breite Kurven +nehmend, in die Tiefe. +</p> + +<p> +Gedulde dich, Leser, auch dies Buch geht jäh zu +Ende. Folge mir noch. Hoch steht schon die Sonne über +das Bergland, ein anderes freilich als der vergangenen +Nacht. Von ihrem Spiel erholt, verströmt der See +sein Blau, nach allen Seiten, ganz verbuhlt. Myrthensträuße +und Schleier sind vergessen und hängen als +weiße Fäden im Gesträuch. +</p> + +<p> +Wie seltsam ist die innere Stimme in uns! +Welcher Stachel hatte mich zu dem hart an der +Schwelle des aufgerissenen Gebirges und kaum, daß +es tagte, hinauf, hinab und wieder emporgetrieben, +wo sich zu höchst der Wälder und noch in ihrer +<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a> +Mitte der See entzieht, verborgener Tränen zerflossener +Kristall, ohne Kahn und ohne Erdenstaub; +und dann wieder zurück in die Gaststube, um zu +zahlen, und dann wieder aufzubrechen, mit der umgehängten +Tasche und dem lächerlichen Hut, an der +Waldseite des Sees den Weg einzuschlagen, den ich +jetzt lief. Es war ein Notbehelf! Ich lief, um nicht +zu tanzen. Denn ich war inmitten eines Festes. +Umgeben und geborgen, als sollte die Gehobenheit +nicht wieder von mir weichen, erreichte ich ein Dorf, +das als Landzunge weit in den See hinausstieß und +jenseits der Zeiten zu liegen schien. Eine alte Frau +saß auf einer Bank vor ihrem Hause, und ich bat +sie, mich drinnen ausruhen zu dürfen. Wir verstanden +einander nicht, aber die Müdigkeit spricht ihre eigene +Sprache zwischen Frauen. In einer Stube des Erdgeschosses, +die durch ihre edle Sauberkeit den Eindruck +des Luxus erweckte, stand eine schmale, gepolsterte +Bank. Dort schlief ich auf der Stelle ein. +</p> + +<p> +Als ich erwachte, war der Tag noch hell, aber schon +gebräunt vom Golde des Abends, und ich mußte +eilen, um vor Anbruch der Dunkelheit in Sils zu sein. +Auch für mein Herz ging jetzt die Sonne unter, und +das Fest verklang. Von den Strapazen ausgeruht, +war es zugleich, als sei mir durch den kräftigenden +Schlaf, wie ein Alltagszwilch, ein gröberes Ich übergeworfen +als das, welches seit gestern das meine +gewesen war. Ob wohl mein Koffer eingetroffen sei, +<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a> +wo meine Brotkarte stecken konnte, wo ich absteigen +sollte, derartiges beschäftigte mich wieder. Aber ich +spreche von verloschenen Kronleuchtern, oh Leser, +und du weißt noch nicht, warum sie brannten? +</p> + +<p> +Aber vielleicht hast du erfahren, daß es Träume +gibt, deren Nachhall, statt zu verklingen, sich bleibend, +wie ein Echo zwischen Klüften, in unserem Innern +fängt. — Solcher Art war der durchdringende Ton +der Mondnacht in Maloja. +</p> + +<p> +Es ist nicht gleich und nicht vergänglich, wie sich +die Kurve eines Fußes, der Umriß einer Schulter +anläßt, wie ein Knie sich rundet, wie eine Hüfte fällt. +Es ist das Flüchtigste nicht gleich. Und ganz und +gar nicht gleich, noch zufällig ist es, welchen Ganges +wir den Hügel abwärtsgehen. Hochzeitlich können +solche bald versenkten Dinge unverloren weiterschwingen. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Die Wolkenversammlung war noch immer nicht +anberaumt; vielmehr vertiefte sich am nächsten +Tage das weiß des Himmels und musizierte mit dem +Himmelsblau über das Fextal, das bewegteste der Erde, +auf und nieder schwingend wie eine Schaukel. Ragte, +von unten gesehen, ein Kirchlein zu oberster Schneide +für sich allein, so stand es, war man oben, ganz unsensationell +in einem Wiesenviereck, und sein rostiges +Gitter knarrte im Winde, und nur die Berge rückten +verändert und entschlossener zusammen. Wieder in +<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a> +der Tiefe und weit hinausgeschoben, richtete ein +Gasthaus seine Glasveranda dem Gletscher entgegen. +Auf ihn ging ich jetzt zu. Doch mit dem Lichte +wandelte sich mein Gemüt. Es brütete milchweiß +von einem hohen, aber sich überziehenden Himmel. +Hinter mir fuhr ein kleiner Wagen her. Darin saßen +zwei Herren, die angeregt mit einer noch jungen +Dame plauderten. Aber der Weg hörte bald auf, fahrbar +zu sein, und ich verlor sie aus den Augen, graugrünes +Nadelgehölz war um mich her und der entfärbte +Fluß zu meinen Füßen. Stolperte ich jetzt +und stürzte ich hinab, wer würde mich vermissen? +In welchem Hause entstand eine Lücke, wenn ich +nicht wiederkam? +</p> + +<p> +Kein Dach, kein Herd, kein Wesen; überall zu +Gaste! keinem Menschen ungeteilt und wirklich +zugehörig; als immer wiederkehrenden Gefährten +die entsetzliche, gefürchtete Melancholie, die ich so +feige, so vergeblich floh. Nun stellte sie mich angesichts +dieses Tales der Verlassenheit. Wozu bist du +hier? herrschte mich seine Stille an. +</p> + +<p> +Der sonnenlose Himmel über dem Nadelgehölz, +mehr noch der Fluß, dem Gletscher hier entlassen, +und seinen Lauf so blaß beginnend, griff ans Herz. +</p> + +<p> +Plötzlich stand die noch junge Dame vor mir und +sprach mich bei meinem Namen an. Nun war stets +meine erste Sorge, daß er in keine Hotelliste kam. +„Woher wissen Sie, wie ich heiße?“ fragte ich und +<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a> +wollte die Spröde spielen; aber da gab sie mir zu +wissen, daß sie meine Bücher kenne. Sie lebte in +Genf und war Amerikanerin. Wir wechselten einige +Worte, dann stieg sie wieder hinab. Gleich darauf +rollte das Wägelchen mühsam aufwärts, in dem die +noch junge Dame mit ihren Freunden plauderte. +Gewiß — man sah es ihr an — standen, wenn sie +nach Hause kam, ihre Abendschuhe bereit, und ein +freundliches, ihr ergebenes Zöfchen half ihr, sie +anzulegen. Wie verwahrlost ich war! +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Als ich am Morgen darauf erwachte, lag weithin +Schnee. Ich klingelte entsetzt. Der erste Postwagen +brachte mich ans andere Ende des Tales, zum Zuge, +und schnell in eine vom Winter noch nicht heimgesuchte +Welt hinab, wo Zürich einer entbrannten +Ebene zulief, die von der Glut des Sommers weiterträumte. +Hier reißt der See ein weites Fenster nach +dem Himmel auf: es ist die hellste Stadt der Welt. +</p> + +<p> +Aber von hier aus jagte mich eine dringende Depesche +Fortunios fort, der mich bat, sofort nach +Spiez zu kommen, mit dem Zusatz: „Besitzer auf +zwei Tage verreist.“ +</p> + +<p> +So war ich abends unterwegs zur Villa des Geölten, +die ich nicht wieder zu betreten glaubte. Da war +das Gitter, der Kiesweg, der sich so schnell verlor. +Man sah das Haus erst, wenn man davor stand. +</p> + +<p> +<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a> +Fortunio aber war schwer krank. Verfallen, zerfurcht, +zerwühlt. Wir aßen im Schloßhotel zur Nacht +und besprachen die Abreise für den morgigen Tag. +Ich fühlte meine Arme erstarken, in dem Wunsch, +ihm zu helfen, und unser schier geisterhaft geschwisterlicher +Bund war durch die Trennung neu erhellt. +Am nächsten Tage aber lag er zerrüttet, ohne Energie. +</p> + +<p> +„Morgen, morgen“, sagte er. Ich reiste ab, nach +Bern, Fortunia zu alarmieren. Ihr Gesicht erinnerte +an ein von schwerem Regen heimgesuchtes Land. +Ohne Schonung schilderte ich seinen Zustand und +ließ dann die Sache bei ihr. Um nicht in Bern zu +bleiben, fuhr ich abends nach Montreux. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-2"> +HERBST 1918. +</h3> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-3"> +Montreux. +</h3> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">N</span>ur lachenden Auges werden hier die Zeitungen +gekauft. Der Belgier und sein Kind waren ohne +Schadenfreude. Die Filme arbeiten schon stark +mit elsässischen Hauben. Sie werden lebhaft beklatscht, +in der Voraussetzung, daß sie nicht mehr lange deutsch +bleiben. Schließlich ein begreiflicher Jubel. Entsetzlich +ist nur der Applaus, als englische Munitionskammern +aufziehen, emsig mit Granatendrehen beschäftigte +Frauen und Geschosse in unabsehbaren +Reihen. „Gehen wir!“ rufe ich, und wir verlassen +das Haus. Süß schlagen die Wellen ans +Land. Die Berge des andern Ufers erheben sich +<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a> +unmittelbar, als gründeten sie in den Tiefen des +Sees. Sie sind kahl und scheinen dennoch weich, +selbst im Dunkel der Nacht; wie Gesänge abgestuft, +steigen und fallen und treten zurück und verhallen +die Berge Savoyens. +</p> + +<p class="dat"> +5. OKTOBER. Glasenfrosts in Villeneuve geben mir +die Nachricht, daß Deutschland um einen Waffenstillstand +nachgekommen ist: Mein einziger Wunsch +ist, es möge die Welt, die es als Sieger verloren hatte, +als Besiegter wieder für sich gewinnen. Die In-die-Knie-Zwinger +Britanniens, die ohne Briey nicht leben +konnten, sind mit einem Male still. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-4"> +6. OKTOBER bis Anfang NOVEMBER. +</h3> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">F</span>ortunios sind angekommen, sie wohnen in Vevey, +und er erholt sich. Zum ersten Male bildete sich unser +Zusammensein als heller Punkt und geordnete Fläche +heraus. Augenmerk und Sorge sind durch die Ereignisse +zu sehr in Anspruch genommen, um uns bewußt zu +werden, wie sehr es einem bekränzten Floß inmitten +schwarzer und gestoßener Fluten glich; Und wie +hätten wir da anders als in der Erinnerung wahrgenommen, +daß wir schöne Tage verlebten? +</p> + +<p> +A. H. Pax ist aus Bern gekommen. Der Belgier +und sein Kind finden sich regelmäßig ein. +</p> + +<p> +Dabei wütete die Grippe. Viele Särge harrten der +Bestellung. In den Blumenläden häuften sich die +<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a> +Kränze, Halbgenesene, in tiefer Trauer, traten leichenblaß +das erstemal vors Haus. +</p> + +<p> +Doch die Zärtlichkeit des Herbstes, seine Zärtlichkeit +und sein Verweilen, seine Glorie ward unendlich. +</p> + +<p> +Eines Nachmittags strichen wir in den Höhen des +Weinberges entlang. Unter einem silbern aufgerollten +Himmel dehnte sich der See, schimmernd, unbewegt, +ein wenig müde . . . +</p> + +<p> +Plötzlich, mit einem Ruck, fuhr der Wind weit +und durchdringend auf, als stöhne er die ganze Erdkugel +entlang das Ende der schönen Jahreszeit hinaus. +</p> + +<p> +Im Nu schlugen die Wolken über die Sonne hin. +Fortunio hatte den Kragen aufgesteckt, sein Hut +rollte den Berg hinab. Wir lachten. Doch der Weg +war weit. Schon wußte der See nichts mehr von +seinen Ufern. Unter Nebelschauern waren alle Berge, +ja wir selbst, unsichtbar. +</p> + +<p> +Am nächsten Morgen war für jedes Kind ersichtlich, +daß Fortunio die Grippe hatte, aber wir taten +nicht dergleichen. Statt im freien, versammelten +wir uns an seinem Lager. Man hielt es in jenen Tagen +allein nicht aus. Bang und fröstelnd rückte man +zusammen. Denn auf dem Streitroß, dessen Nüstern +von Hoffart, Haß und Vergeltung sprühten, und wie +ein Sturmgott kam ja der Friede heran. Wehe, es +war jener Gewaltfriede, jener Macht- und Siegfriede, +von dem in Deutschland so viel geredet worden war, +<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a> +und den abwehren zu wollen, den zu fürchten, als +ein Verbrechen galt. +</p> + +<p> +Und indessen lösten sich in unserer kleinen Gruppe +hineingetragene Dissonanzen weiter aus, und statt +der chronischen Trübungen stimmten sich ganz ohne +unser Zutun unsere Gemüter wie Instrumente zu +täglicher, reinerer Melodie. Fortunias Gesicht glättete +sich und erlangte seine Pinturichiotöne wieder, und +während der Aufruhr stieg, bildeten wir eine uns selbst +unvergeßlich gewordene Insel des Friedens. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Als sich die Sonne nach einer Regenwoche +wieder zeigte, war die Welt eine andere. Das +Renommierboot mit seinem rostbraunen Segel zog +wieder auf, aber es blähte sich über ein gesteiftes +und gepeitschtes Blau; die weißgeharnischten Berge +waren näher gerückt, und wo das Laub noch grün +geblieben war, hatte es ausgeträumt, hing ohne +Illusion, des Todes gewärtig, und daß es fallen +würde. Im Hotel spielte die Heizung, und ein von +sich überzeugtes Ehepaar: le Vicomte Edmond de la +Province, einem Roman von Claude de Bernard entlaufen: +Madame korrekt bis ins Grab hinter der +vorangetragenen Corsage, Monsieur im Bart, Schloßbesitzer, +zogen schweigend über Flur und Treppe, +und faszinierten durch ihre abgründige Zurückgebliebenheit. +</p> + +<p> +<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a> +Unsere Gruppe indessen hatte sich verkleinert. +Erst war der Belgier und dann sein Kind erkrankt. +A. H. Pax saß wieder in der Choisystraße. Das alte +Deutschland stürzte wie eine Kulisse zusammen, und +Trümmer waren fürs erste der einzige Ausblick. +Fortunio, von Ungeduld verzehrt, erklärte aufstehen +und nach Berlin reisen zu wollen. Fortunia fuhr +nach Bern, das Haus für die Abwesenheit zu bestellen, +und ich folgte mit ihm den Morgen darauf. Wir saßen +einander im Zuge gegenüber, sein Husten war ein +Gebell. Am selben Nachmittage brachten wir Fortunios +mit Pax an der Spitze, zur Bahn und ließen sie, wie +Flammen über das Moor, ins Weglose ziehen. Denn +schon fluteten die aufgelösten Heere in unbeschreiblicher +Verwirrung aus den besetzten Gebieten ins +Land zurück. Die Lauben hinabsehend, unschlüssig +wo ich absteigen sollte, versagten mir plötzlich die +Knie, Fröste wie graue Blitze durchfuhren mich, +und mein Husten war ein Gebell. Diese nicht zu +verkennenden Symptome jagten mich wieder an die +Station, um mit dem letzten Zuge nach Montreux +zurückzufahren. Denn lieber, als angesichts des Gurten +wollte ich dort erkranken, wo im Hotel Suisse als +chefesse de réception eine so angenehme Erscheinung +waltete, und ich den Nachtportier zum Freund besaß, +ein komischer, alter Schwabe, den ich deutsch ansprach, +sowie der Lift ohne Insassen und in der +Schwebe war. +</p> + +<p> +<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a> +Nun war es Sonntag. Das heiße Wasser also lief. +Vielleicht vertrieb mir eine heiße Dusche den Frost. +Aber das Wasser war schon lau. Dafür gerieten die +grauen Zickzackblitze in Brand und drückten mir +eine Feuermütze ins Genick. Da ließ ich mich denn +grippekrank melden und stellte anheim, mich aus +dem Hause zu schaffen. Aber die angenehme Erscheinung +aus dem Bureau kam herauf, mich zu +beruhigen. Dann äußerte sie einige unverständliche +Dinge und verschwand. Bald darauf trat ein Mann +herein, den ich für einen Raubmörder hielt, gefolgt +von einem fürchterlichen und handfesten Weib ohne +Kopf, seiner Helfershelferin. Ich wollte rufen, da +hatten sie mich schon gepackt. Jetzt, dachte ich, ist +doch alles eins. +</p> + +<p> +Eine Stunde später lag ich mit aufgerissenem +Rücken, geschröpft wie ein Hengst. Ich erzähle dies +nur, weil ich dank dieser so immediaten und buchstäblichen +Roßkur schon nach zehn Tagen, statt +vielleicht nach Wochen, die Grippe spurlos überwand. +</p> + +<p> +Mittlerweile erdröhnte dem so glücklich gewesenen +Deutschland die im Lauf seiner Geschichte noch +immer zurückgekehrte Stunde seines Unheils. Es +war der eine Gedanke meiner leeren Tage und langen +Nächte; ihn auszuschlagen war unmöglich. +</p> + +<p> +Im ersten Stadium meines Fiebers fiel mir an dem +Stubenmädchen, das hin und wieder in mein Zimmer +trat, nichts bemerkenswertes auf, als daß sie mir +<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a> +sehr einsilbig und nicht freundlich vorkam. Pech! +dachte ich. +</p> + +<p> +Am dritten Morgen aber, als sie das Zimmer +räumte, folgte ich ihr mit den Augen, während sie +wähnte, daß ich schlief, und das Herz stand mir still. +Hermione! wollte ich rufen. Nein, Andromache +im Palast des Priamus, ob ihrer Anmut erstaunt, und +der leichteste aller Tanagra zugleich! So stand sie, +den Besen führend, in der Mitte des Zimmers. War +ich im Delirium gelegen, daß ich sie nicht gesehen +hatte? Sie kam auf mich zu: „êtes-vous plus mal?“ +Aber ich wehrte ihr mit beiden Händen ab. „Cela +m’est égal“, sagte sie, „de prendre la grippe.“ Was +war melodischer, dieser Mund, diese Lippen oder +diese Stimme? — Und ein solches Geschöpf umgab +mich mit ihrer Pflege. Welch unerhörter Luxus! +Die Sonne ging vor meinem Fenster auf, alles Leben +im Geleite, und lachte des Todes bis zum Mittag. +Pauline Glasenfrost kam täglich aus Villeneuve, +brachte die Zeitungen, beschenkte mich und spottete +der Ansteckung. Knirschend las ich alle Noten und +Appelle an die Großmut der Sieger. Welche Verkennung +der Situation! Aber was bedeutete dieses +Versagen angesichts der Würde, welche ein solches +Unglück gab? Und wiederum würden nur die Unschuldigen +leiden. Die Taktik der Sieger würde es +den Schuldigen ermöglichen, sich herauszureden. +Schon damals sah man es kommen. — Ich läutete +<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a> +und bat Hermione, mir von sich zu erzählen. Sie +stammte aus dem Wadtlande. Ihre Heimat lag hoch +über den Weinbergen und hatte die Gletscher im +Auge. Ich bat sie, einen hellen Mantel von mir anzulegen. +Wie er ihr stand! +</p> + +<p class="dat"> +8. NOVEMBER. Bevor mein Freund, der Nachtportier, +zur Ruhe ging, brachte er noch die erste +Post. An diesem Morgen trat er ein, reichte mir ein +Extrablatt und verkündete lakonisch: „In Bayern +ist Republik.“ Mein erstes Gefühl war kein gelinder +Schrecken. „Es mußte kommen“, sagte ich dann. +Der Portier war Demokrat. „’s isch recht. Runter +mit dem Zeug“, sagte er und ging. — So war also +Bayern Republik. Das Extrablatt war nur ein +kurzer Wisch; eins aber wußte man sofort: daß +dieser so wenig ästhetische König nie wiederkehren +würde. Die Wittelsbacher waren stets Liebhaber +des Schönen gewesen, und in ihrer natürlichen +Diskretion eines der sympathischsten Fürstenhäuser +der Welt. Daß er aber auch nicht eine einzige +ihrer typischen Eigenschaften besaß, sondern durch eine +sture Haltung während des Krieges, sowohl in der +elsaß-lothringischen, wie in allen politischen Fragen +statt vermittelnd zu wirken, überall nur Unheil anrichtete, +flößte die geradezu unwiderstehliche Abneigung +für ihn ein. +</p> + +<p> +Plötzlich blieben Briefe und Zeitungen ganz aus, +<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a> +und die Spannung wurde unerträglich. Es wehte +eine scharfe Bise, doch ich fuhr nach Villeneuve. +Vielleicht hatten Glasenfrosts etwas gehört. Sie +waren von den rührend beseelten Manifesten Eisners +sehr eingenommen, und wirklich hatte man in diesen +Tagen die Illusion, am Anfange einer besseren Zeit +zu stehen, ob es sich auch nur um eine einzige, schnell +aufgehaltene Stunde handeln sollte. Und nicht einmal +ihr ließ man Zeit. „Man verlange von uns nicht,“ +beeilte sich die die Politik Clemenceaus vertretende +Freie Zeitung zu schreiben, „daß wir uns mit dieser +Sache da, genannt deutsche Revolution, ernstlich +befassen.“ Und man eiferte um die Wette, sie zu +„dieser Sache da“ zu machen. Sie hatte es schwer, +alle Konjunkturen dafür um so leichter. Schon war +sie wie eine Decke, um deren Enden sich die Schuldigen, +die Unlauteren, die Banditen rissen, und alle +Karrierejäger gerieten wieder ins Laufen. Wer hätte +gedacht, daß alle die dienstbeflissenen jungen Herren, +die mit umgeschnallter Seitentasche so flink und so +stramm ins Hauptquartier Meldungen überbrachten +und entgegennahmen, überglücklich, bis zu Ludendorff +in Person vordringen zu dürfen, daß sie im +Grunde ihres Herzens solche Feinde des Systems +und so demokratisch waren? Nie sah die Welt ein +vom alten Regime so gut besuchtes nouveau régime! +</p> + +<p> +Suchte man im eigenen Garten das scheue Pflänzchen, +das mitten im Sturme Morgenluft witterte, +<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a> +von allen Seiten an beliebige Stakete zu biegen, und +sah es das Ausland mit begreiflichem Mißtrauen +keimen, so erfuhr man in der Schweiz infolge des +gerade in diesen Tagen einsetzenden Generalstreikes +überhaupt nichts davon: er stand allein im Vordergrund +und beschäftigte alle Gemüter. So wurde +hier, gerade in ihrer kurzen Glanzzeit, die deutsche +Revolution unterschlagen. +</p> + +<p> +In jenen aufregenden Wochen kam ich wieder mit +Romain Rolland zusammen. Mehr als je zeigte er +sich jetzt als der Mann ohne Illusion, was Wilson, +ob er auch dessen guten Willen nicht in Frage stellte, +und was die Entwicklung der Dinge betraf. Ich +fand ihn viel zu skeptisch. +</p> + +<p> +Im selben Hotel, wie Glasenfrosts und Rolland, +wohnte auch eine Schweizer Familie, die sich sehr +für ihn interessierte, durch seine große Zurückhaltung +aber in Schach gehalten fühlte. Eines Mittags, da ich +bei ihr zu Gaste war, bat ich ihn, ein übriges zu +tun, und sich zu uns zu gesellen. +</p> + +<p> +Ich sehe ihn so deutlich vor mir, wie er an jenem +Tage, seine alte Mutter am Arme führend, in seiner +ruhigen und ein wenig geheimnisvollen Art zu uns +stieß. Das Gespräch drehte sich natürlich um den +Generalstreik und dann um den Bolschewismus; für +die Westschweiz hätte man zum Glück ein treffendes +Agitationsmittel gegen ihn, da er deutscher Import +sei. Rolland schwieg. +</p> + +<p> +<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a> +„Der hat der Welt gerade noch gefehlt“, sagte +ich, und sah einladend zu ihm hinüber, damit er +sich äußere. Vergebens. Er erwiderte nur auf direkte +Anfragen und ohne eine Meinung abzugeben. So +sprachen halt in Gottes Namen nur wir. Ich ging +dann zu Glasenfrosts hinüber und schilderte das +mißglückte Beisammensein, bei dem ich zuletzt als +verzweifelte Wortführerin die Grippe, die Witterung +und endlich die Tatsache erörtert hatte, daß jede +Stadt, ja jeder Ort ein anderes Modell für seine +Leichenwagen besäße. Aber auch diese originelle +Wendung fiel unter den Tisch. +</p> + +<p> +Es hatten Regenschauer eingesetzt, und Glasenfrosts +hielten mich noch eine Weile zurück. Wir +waren uns in diesen Tagen noch sehr einig, und er +hielt sich bereit, nach München zu fahren und Eisner +bei Seite zu stehen. Vielleicht hatte doch die Geburtsstunde +des tausendjährigen Reiches geschlagen, und +die Gefallenen waren nicht umsonst an seiner Schwelle +geblieben. Waren sie nicht schon ein einziges Heer? +</p> + +<p> +Aber Rollands rätselhafte Haltung ließ mir keine +Ruh, und als ich endlich aufbrach und die langen, +klosterähnlichen Gänge des Hotels entlangging, machte +ich plötzlich kehrt und klopfte, ohne mich zu besinnen, +an seine Türe. Es war ein kleines Durchgangszimmer, +mit einem bescheidenen Pianino, auf +dem sich Musikalien häuften. Rolland stand in Hut +und Mantel, im Begriffe auszugehen, und sah mich +<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a> +erstaunt an. „Es tut mir sehr leid,“ sagte ich, „Sie +so zu überfallen. Aber ich möchte wissen, was Sie +eigentlich denken. Sie schweigen sich aus, Sie lächeln +ein wenig hämisch, und das ist alles. Wer soll da klug +daraus werden? — Ich frage Sie nicht aus Neugier.“ +</p> + +<p> +Rolland legte seinen Hut auf das Klavier. +</p> + +<p> +„Sie sind so ahnungslos,“ sagte er, „Sie wissen so +wenig, was sich bereitet.“ +</p> + +<p> +„Aber doch nicht der Bolschewismus“, rief ich. +„Das ist doch nicht Ihr Ernst! Und Sie sind doch +kein Bolschewik.“ +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte er, „aber ich habe nicht Ihre summarische +Auffassung des Problems.“ +</p> + +<p> +„Das neuerwachte Deutschland“, sagte ich, „wird +die Welt davor retten.“ +</p> + +<p> +Rollands Züge nahmen einen müden Ausdruck an. +</p> + +<p> +„Ich bin voll guten Mutes“, fuhr ich fort. „Haben +Sie die letzten Aufrufe gelesen? Diese Absage an +jegliche Gewalt? Eine neue Ära hat ihren Anfang +genommen. Wir haben unseren Militarismus zum +Teufel gejagt. Endlich schlägt die Stunde, wo man +sich angesichts eines wahren, befreiten und sympathischen +Deutschlands auch seiner unsäglichen +Leiden entsinnen wird.“ +</p> + +<p> +„Kommen Sie,“ lächelte Rolland, „welches Interesse +haben heute die Sieger an einem sympathischen +Deutschland?“ +</p> + +<p> +<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a> +„Aber nicht nur die Sieger“, versicherte ich. „Die +ganze Welt hat ein Interesse daran, daß die deutsche +Revolution aus den Verirrungen der französischen wie +der russischen lerne und endlich jene vorbildliche +und maßvolle sei, welche die Menschheit ihrem +Glücke näherbringt. Und alle Anzeichen sprechen +dafür: Hören Sie doch, mit welch reinen Glockentönen +sie sich kündet. Oh sie wird schön!“ Rolland +lächelte nicht mehr. „Sie wird furchtbar!“ sagte er. +„Morgen schon wird Eisner sich überrannt sehen +und seine Gegner zu beiden Seiten haben. Der +Bolschewismus ist in Rußland nicht nur durch die +Stoßkraft der Linken, sondern mehr noch durch den +Gegendruck der Rechten das geworden, was er heute +ist. Man kann die Deutschen nicht genug verwarnen. +Wenn auch bei ihnen die Reaktion eine Bewegung +zu unterdrücken unternimmt, die wie ein ausgetretener +Strom heranbricht, so werden sie ganz ähnliche +Zustände herbeiführen. Es ist absurd, seiner +elementaren Gewalt morsche Dämme entgegenzustellen, +statt sich seinem Lauf anzupassen, und was +er lebendiges heranträgt, zu vertreten. Unsere +Gesellschaft hat ihre Berechtigung gehabt, aber sie +hat versagt, und ihre Zeit ist um. Mögen wir es noch +so sehr bedauern, mag viel Schönes mit ihr untergehen, +die Reihe ist nicht mehr an uns, sondern an +den anderen. Nichts kann diese Tatsache aus der +Welt schaffen. Wir müssen uns zu ihr stellen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a> +„Sollen wir denn alle Holzhacker werden?“ fragte +ich betreten. +</p> + +<p> +„Der Typ des Literaten,“ entgegnete Rolland, „dem +wir seit einigen Dezennien so vielfach begegnen, wird +jedenfalls verschwinden, und ich weine ihm nicht +nach. Ein Gespräch mit nach Bildung strebenden +Handwerkern ist mir heute schon viel genußreicher +und interessanter. Was der Literat mir sagen wird, +weiß ich von vornherein.“ +</p> + +<p> +„Mein Gott,“ seufzte ich, „es pflegen nicht einmal +die Könige freiwillig abzutreten, viel weniger +ganze Kasten. Sie werden den Kampf aufnehmen +und uns eine blutige Morgenröte bescheren. Was +ist zu hoffen?“ +</p> + +<p> +„Nichts für die Gegenwart, sie ist zu korrupt“, +sagte er. „Aber alles für die Zukunft. Ich bin kein +Pessimist.“ +</p> + +<p> +Rollands Worte, die ich auf dem Heimweg überdachte, +waren viel reichhaltiger und prägnanter, als +ich sie hier aus dem Gedächtnis wiedergebe. Wenn +aber eine neue Klasse zur Herrschaft gelangte, würde +sie weniger versagen, als alle anderen, und war anzunehmen, +daß ohne furchtbare Erschütterungen die +frühere Gewalt sich von der neuen aus dem Sattel +heben ließe und etwa mit Rolland eingestehen würde, +„ihre Zeit sei um?“ +</p> + +<p> +Meine Eindrücke von St. Moritz schwebten mir +vor, und ich dachte an Hermione, wie edel sie war. +<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a> +Aber war nicht alles erlesene prozentual? Was +also stand von den Massen zu gewärtigen? Die +Macht selbst mußte abwirtschaften und sich auf +neuer Basis konsolidieren. War nicht allem Anschein +nach die Ära der schlechten Päpste geschlossen, +weil sie verhältnismäßig machtlos geworden waren? +Anderseits hätte der Papst die Rolle Wilsons mit mehr +Glück, mehr Einblick in die europäischen Verhältnisse +übernehmen können, wäre er so mächtig gewesen +wie er. Macht also war und blieb die Losung. Eine +Macht jedoch, die keine Lockung dem Gemeinen +böte, ganz auf Erprobung ihrer Träger begründet, +ohne Vorteile für ihn, ohne Befriedigung des Ehrgeizes, +anonym vielmehr, Verzicht und Selbstentäußerung +bedingend, als Stein des Weisen der Weise +selbst. Oh Zarastro, Herr der weltabgewandten, +namenlosen Gewalt! +</p> + +<p> +Schwer und langwierig, immer wieder aufgehalten +und die Anspannung von Generationen erfordernd, +aber nicht unmöglicher als die endlich geglückte +Beherrschung der Luft, wäre die gleichsam auf immer +luftigeren Pfeilern emporgehobene, in sich selbst +beruhende Macht. +</p> + +<p> +Ich ging, vom Winde förmlich vorangetragen, den +Weg nach Montreux. Die Wellen zogen in finsteren +Reihen zum Angriff, und war dort nicht die Weide +von Territet, sie, die im Frühling in den Schleiern +ihres jungen Grüns vor Entzücken über sich selbst +<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a> +zerfloß? Nun aber schlug der See mit großem Getöse +bis zu ihnen auf, die müde niederhingen bis zu ihm; +Und dort hinter seinem Gatter hatte angesichts der +Ufer ein Tulpenbeet geblüht. Die stillsten aller +Blumen standen dort so sanft und so gerade! oh Weide +von Territet! Oh stille Tulpen, mit denen ich gewesen +war! Was blieb ich am Gitter hängen, die +Hände an die Schläfen gepreßt, der Knecht mit dem +Talent des einzigen Gedankens? Törichte Hoffnungen +hatten mich schon wieder hingerissen, denn +der Winter unserer Leiden stand noch aus. Der +Stein aber, mit dem ich mich schleppe, zermalmt +mir das Hirn. Wer legt das Fundament des sich +immer schroffer nach innen ziehenden Baues, mit +den immer abweisender sich schließenden immer +geheimeren Pforten, durch keine andere Gewalt zu +sprengen, als jene, welche der Himmel leidet. +</p> + +<p> +Die Theorie einer immer strengeren Auslese — +der Natur selber entnommen —, weit entfernt, eine +hochfahrende zu sein, ist ja die demütigste der Welt. +Keine führt so tief in unser Inneres hinab, um aufs +neue dasselbe Schauspiel wie nach außen zu enthüllen. +Denn hier sieht sich der Berufene noch einmal +einem ganz ähnlichen Kampfe überwiesen. Wie +unbegreiflich sind oft seine Schwächen! ebensovielen +untergeordneten Wesen vergleichbar sind sie gegen +ihn in Aufruhr und sind beständig die Schlingen +gelegt. Daß der Gerechte siebenmal des Tages fällt, +<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a> +konnte nur ein Gerechter äußern. Zwar ist sein +Merkmal, sich immer wieder aufzurichten und einzuholen. +Aber jedes versagen läßt an Boden verlieren, +die Gelegenheiten sind gezählt, und eines +Tages ist man hinter sich zurückgeblieben. Keiner +ist auserwählt, der sich nicht durch eigene Kraft +dazu vermochte. Berufener und Auserwählter, wie +gefährdet sind beide! Denn so manchen, der seinen +behielt, stürzte ein Laster von seiner Höhe. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Und nun kam ein Tag, an dem Montreux, bunt +wie ein Jahrmarkt, den tollsten Anblick bot, seitdem +es stand. Alle Länder der Erde — bis auf die paar +niedergerungenen — beflaggten das Ende des Krieges. +Und nicht nur an den Dächern und von den Fenstern, +den Mauern und Toren, sogar an den Menschen +selbst schlugen Fahnen hin und her; von den Jacken, +den Hüten, ja den Händen der Kinder zogen Fähnchen +auf. Schon sprangen die internierten Offiziere +mit sehr deutlicher Siegermiene (kannte man die +nicht von Potsdam her?) von den Autos ab. Es war +ein allgemeiner Jubel, von Hohn und Verwünschungen +untermischt. Wer diesen Tag hier erleben mußte, +der erwartete nichts. Dem kündete sich der Geist +des Friedens von Versailles und Saint Germain. +Das jubelnde Gewoge, die Saturnalien von Fahnen +raubte mir die Fassung. Ich lief meinen hervorbrechenden +<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a> +Tränen davon, die Häuser entlang, +am Bureau des Hotels vorbei, in mein Zimmer +hinauf, wo ich mir den Schleier vom Gesicht riß: +ein Klageweib! — Prophetin meines eigenen Schicksals, +als ich zu Anfang dieses Krieges schrieb: „Leute +wie wir, werden am Tage des Sieges sich verkriechen +müssen, denn immer wird es Jerusalem und seine +Kinder sein, um die wir weinen werden.“ +</p> + +<p> +Die Hungerblockade blieb von den Siegern, die für +Recht und Menschlichkeit gekämpft hatten, über den +erdrückten Gegner, auch nach Einstellung der Feindseligkeiten, +verhängt. Und es lag, wie Rolland mir vorhergesagt +hatte, nicht im Interesse der Sieger, die edle +und gepeinigte Opposition in Deutschland zu stützen. +Eine unsympathische Regierung als Aushängeschild +des deutschen Volkes aufrechtzuerhalten, gehörte vielmehr +zu den strategischen Notwendigkeiten dieses +Winters der Friedenspräliminarien von Versailles. Da +ich kein Kriegsbuch schreibe, seien die nächsten +Monate überschlagen. +</p> + +<p> +Während dieser Zeit fuhren die Militaristen aller +Länder fort, sich wacker in die Hände zu arbeiten, +und über jede Härte und Unmenschlichkeit der +Alliierten triumphierten die Anstifter der Verwüstungen +und Deportationen. Denn so kam doch ihre Mühle +wieder ins klappern, und das Wort von der „erdolchten +Front“ schnupperte aushorchend in der Luft. Damals +wurde ich aufgefordert, so manchen ganz vergeblichen +<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a> +und würdelosen Appell zu unterzeichnen, +mit dem Hinweise, früher hätte ich zu protestieren +gewußt, jetzt, wo die Untaten von der andern +Seite geschähen, schwiege ich mich aus. Ich zog +es aber vor, auch hier meine Kundgebung solo zu +verfassen; sie erschien in der Neuen Zürcher +Zeitung. +</p> + +<p> +Denn sie hatten ja recht: es galt zu sagen, daß diese +ganze Welt ununterschiedlich des Teufels war. Traurig +stimmte es nur, daß all die Mahnrufe und das viele +Aufbegehren aus den Reihen derer stammten, die +vielfach kein Recht dazu besaßen, während sie schwiegen, +die wirklich Unschuldigen, abscheulich in Stich +gelassenen, Betrogenen, die während des Krieges auf +Gefahr ihres Lebens ungenannt und langen Mutes +vor Gottes Angesicht das wahre Deutschtum vertraten. +</p> + +<p> +In der Opposition entdeckten sie jetzt alle ihr Herz. +Mit welch herrlichem Gefühl und welch aufrichtendem +Stolze stand Heinrich Mann der Republik +zu Pate! dort riß nicht ein einziger aus; bei dem +vielverfolgten Lichnowsky, laut des Friedensvertrages +tschechisch gewordenen Magnaten, angefangen, +der sich als Deutscher erklärte; was ich wirklich +nicht erwähnen würde, hätten nicht so viele Patrioten +aus ihren Papieren fremdländische Patente herausgeklügelt +und sich mit einem Male als Schweden, +Schweizer, Holländer, sogar als Engländer präsentiert. +<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a> +Die beste Illustration für den Nationalismus, +die es geben kann. +</p> + +<p> +Jenes Wort, welches mir seinerzeit so verübelt +wurde, daß es Boches in jedem Lande gäbe, sollte +sich übrigens nur zu sehr bewahrheiten. Jeder Militarist, +gleichviel welcher Staatsangehörigkeit, ist ein +Boche. Und wenn er Schimpanse zu Aufsehern eines +Volkes bestellte, das der Welt einen Grünwald geschenkt +hat, so wäre er eben ein Boche; jener Grünwald +aber, ob er sich ihn noch so oft holte, ei, der +bleibt deutsch. +</p> + +<p> +Als ich um die Blütezeit zum ersten Male +wieder das deutsche Ufer des Bodensees sah, +war ich von der Pracht seiner Bäume bewegt. Diese +wenigstens konnten dem armen und geschlagenen +Lande nicht genommen werden. — Und diese eben +hatte es dem andern mit großer Genugtuung meilenweit +abgehackt. Es ist ja das typische Merkmal des +Militaristen, zu glauben, daß er den andern trifft, +wo er sich selber entehrt. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-5"> +FEBRUAR 1919. +</h3> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">M</span>it dem Berner Internationalen Sozialistenkongreß, +dem seit August 1914 einzigen Ereignis von wahrhaftem +Sein, das mitzuerleben mir vergönnt war, +schließt dieses Buch. +</p> + +<p> +Hoch über den Bernina-Alpen und dem Julier +türmten sich die Wolken zu goldenen Toren und +<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a> +zu glühenden Rossen. Phaeton, wieder erstanden, +lenkte sie wieder, die italische Ebene im Angesicht. +Die Spuren der Räder, waren sie nicht der +Rauch, der am Himmel verflog, während nach Norden +hin das Gebirge zu Tod erblaßte? Auch der nach +Süden gerichtete Wald starrte unter der Last des +Schnees. Doch die Luft wehte so befiedert leicht +über ihn hin, und es herrschte ein Licht wie über +Palmen. Man hatte Glatteis unter den Füßen und +war dem Winter entronnen. +</p> + +<p> +Aber Fortunios Gesicht war wie zerhöhlt von +Ungeduld. „Haase ist schon in Bern,“ sagte er, „der +Kongreß ist im Gang. Wir müssen hinab.“ +</p> + +<p> +Da es der erste war, dem ich beiwohnen sollte, verband +ich weiter keine Vorstellung mit ihm, als die +mehr oder minder langweiliger Reden, und ohne +sonderliche Erwartungen betrat ich zum ersten Male +den Saal. Kein Delegierter aber drängte von nun +an eiliger zu ihm zurück. Oft war er in der Mittagspause +noch geschlossen, als ich schon davor wartete. +</p> + +<p> +Zu den Morgensitzungen ging Frau v. Schreckenburg +mit mir. Nachmittags saß ich am Tische mit +Fortunios, vor uns die Franzosen. Da waren Renaudel, +Cachin, Longuet, Rappaport, Loriot, Faure, dann +kam der englische Tisch mit Henderson, Macdonald, +Norman Angel. Von dort leuchtete das leichte Gold +von Mrs. Snowdens Haar. Sie trug keinen Hut. +Der schöne, zarte und energische Kopf war der Lichtpunkt +<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a> +des Hauses. Die Deutschen und Österreicher +saßen ganz vorn, zu weit entfernt, um sie zu unterscheiden, +es sei denn, daß sie sich erhoben. +</p> + +<p> +Bleich, abgezehrt, den schmalen und ehrwürdigen +Kopf ein wenig seitwärts, stahl sich im fahlen Schein +des Wintervormittags der, eben von der Bahn gekommene +Eduard Bernstein bescheiden herein. Die +französischen Sozialisten sahen ihn zuerst, eilten auf +ihn zu und begrüßten ihn stürmisch. Daraufhin +erhob sich der ganze Saal zu einer Ovation. Wie frohlockte +da mein undemokratisches Herz! +</p> + +<p> +Als Viktor Adler auf das Podium trat, gaben +wiederum die Franzosen das Zeichen zu einem lang +andauernden Applaus. Adler war der Motor des +Kongresses. Unerbittlich die Mitte einhaltend, wies +er jede Parteilichkeit schroff zurück, von welcher Seite +sie auch stammte; ihm war das gleich. Sein blasser +Löwenkopf tauchte dann zum Angriff auf: „Un homme +politique, mais pas de bonne politique“, forderte er +Renaudel heraus. Seine Stimme klang wie Erz. Aber +allen Differenzen, Vorwürfen, Ausreden, Angriffen zum +Trotz fing eine Einigkeit sich herauszuschweißen an, +und wie unter einem glühenden Hammer stoben Funken +zu einer Garbe auf. Haß schmolz zu Mitgefühl. — +Zwar wurde jenen deutschen Delegierten, welche die +Politik ihres Landes zu verteidigen suchten, prompt +die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens zu +Gemüte geführt, stellten aber dann ihre Angreifer +<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a> +den deutschen Militarismus immer wieder allein an +den Pranger, so wurden sie regelmäßig von Zwischenrufen +wie: „Et le militarisme français! et le nôtre! +et tous les militarismes!“ von der französischen Linken +unterbrochen. +</p> + +<p> +Überhaupt war dieser französische Block der beste, +der wärmste. Von ihm ging das Unbehagen aus, wenn +ausschließlich das deutsche Sündenregister stieg. Scheu, +Zartgefühl, Respekt (ja Respekt!) vor dem Geschlagenen +(weil geschlagen), sie stammten von dort. Und schon +gärte die Atmosphäre wie ein starker Wein. Klug wie +ein Erzengel ließ der hochaufgerichtete Huysmans +mit dem schönen Donatellokopf bei den Reden, +die er französisch und englisch übersetzte, alles Unwesentliche +fallen. Oft waren sie lebendiger als im +Original. Behender löst kein Eichkätzchen die Haselnuß +aus ihrer Schale. +</p> + +<p> +Ach, so viele gute Menschen waren hier! Unbeweglich, +als wäre er nur eine Zimmerpalme, hielt sich +unser aller A. H. Pax im Hintergrund; und wie +Kerzenlicht im Mittagsscheine tauchte bald hier, bald +dort Fortunio unauffällig auf. +</p> + +<p> +Hin und wieder kam in Frack und weißer Binde, +pour finir sa soirée, ein Attaché gegangen und wirkte +in dieser so weit vorgreifenden Luft wie eine Varieténummer +aus einer veralteten und komisch gewordenen +Welt. Der eine oder andere blieb gebannt, und die +Geschniegeltheit fiel von ihm ab. +</p> + +<p> +<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a> +Die Fürstin Patschouli aber war sehr ungehalten, +was sie nicht hinderte, mir zwischen zwei Sitzungen +ihren stärkenden Kaffee zu brauen. Sie wollte wissen, +wer mich denn so interessierte. Ich nannte einige. +„Quels noms!“ sagte sie, zum Himmel emporblickend. +</p> + +<p> +Als Partei interessierte mich ja der Sozialismus so +wenig wie jede andere. Aber das Ergebnis der kapitalistischen +Ära war ein wirrer Knäuel ineinander +verbissener Verbrecher, und es war eine Welt, welche +der Sozialismus jedenfalls nicht bereiten half. Er hatte +keinen Teil an ihr. Deshalb nur gab es keine andere +Brücke als ihn, denn er war nur ein Weg, der weiterführt, +indem er zurückgelegt und überwunden wird, +niemals ein Ziel. +</p> + +<p> +Woher kam es aber, daß er, der angeblich auf rein +materialistischer Grundlage beruhte, er allein unter +allen Parteien, ohne Anstoß zu erregen, christliche +Gleichnisse anführen durfte. Warum, statt Schamröte +in die Stirn zu treiben, war es so rührend, wenn +der geistvolle Longuet, der auf dem Podium auf und +ab zu gehen pflegte, während er sprach, ein Zitat aus +den Evangelien gebrauchte, oder wenn Mrs. Snowden +eine Rede mit den Worten schloß: denn wir sind +Brüder? +</p> + +<p> +Nach ein paar Tagen kannten wir einander fast alle. +Einmal fielen wir an eine Tafel aus im geschlossenen +Raum; eine unbändige Heiterkeit bemächtigte sich +unser, aber wir blieben sitzen. Ich spielte mich auf +<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a> +die Wirtin auf und machte die Tischordnung, als sei +das Essen von mir, A. H. Pax vermißte die Schnäpse, +und wir kamen nicht aus dem Gelächter. Etwas in +unserer Befreitheit erinnerte dabei ganz deutlich an +jenes Gastmahl im Neuen Testament, von welchem +der nicht im Feierkleide erschienene Eindringling in +die äußerste Finsternis zurückgewiesen wurde. So +hatten auch wir keine unsicheren Gestalten hereingelassen. +</p> + +<p> +Ich werde mich schwer hüten zu sagen, wer meine +Tischnachbarn gewesen sind. In streng geschiedenen +Gruppen, die einander nicht mehr kannten, fanden +wir uns im Saale wieder ein. Denn wie der Chor der +Gefangenen in „Fidelio“ wußte man sich belauscht +mit Aug’ und Ohr, und vermied es, von Lager zu +Lager sich zu grüßen. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-6"> +Der Sonntag. +</h3> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">E</span>r bildete die große Orgelpause des Kongresses. +Um so lebhafter war in der Stadt das hin und her. +Als ich die Treppe des Hotels Bellevue hinabging +stieß ich mit Kurt Eisner zusammen. Er war schwarz +und ganz neu angezogen. Auch der schwarze Schlapphut +war neu. Wir wechselten ein paar Worte. Ich +kannte ihn zwar noch nicht, aber so hielt man es in +jenen Tagen. +</p> + +<p> +Leider war mein Zimmer winzig klein. Um Raum +für den Kaffeetisch zu schaffen, mußte das Bett zum +<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a> +Sofa werden, und ich schüttete Kissen gegen die Wand. +Um fünf Uhr erschien Haase. Der niedere Kragen, +Kleidung, Struktur waren die eines Mannes aus dem +Volk. Dabei lag in der Haltung des Rückens und der +Schultern eine ungemeine Würde. Aber wenn sie +Widerstand und Energie ausdrückten, so sprachen sie +auch von rücksichtslosem Verbrauch sich verzehrender +Kräfte. +</p> + +<p> +Auf dieser Figur eines Arbeiters saß ein Kopf, +ganz beherrscht von stark auseinanderliegenden, majestätisch +geweiteten Augen. Psychologisch viel zu neu, +um an einen Rembrandt zu erinnern, schien er zugleich +durch die Straffheit der bis zum Reißen gespannten +Züge und ihr tragisches Kolorit nach begeisterten +Evokationen seines Pinsels zu rufen. Wie der Ratsherr +einer noch nicht errichteten Stadt — die Leidenswerkzeuge +unsichtbar im Wappen eingetragen —, so +blickte, so ging, so bewegte sich Haase, so saß er +jetzt in unserer Mitte, die Zeit besprechend und die +Gefahren des revolutionären Deutschlands. Wir +hörten zu. Es wäre falsch, von Ahnungen zu reden. +Die Bangigkeit um einen Mann von Haases Edelsinn +und Güte war ganz instinktiv. +</p> + +<p> +Plötzlich klopfte es. Die Stimmung und Geborgenheit +unseres Zusammenseins war mit großem Geklirre +dahin. Bestürzt sah ich Eisner eintreten, den ich doch +gebeten hatte. Aber eine so andere Zone des Geistes +brach mit ihm ein. Er trug sich wie am Morgen +<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a> +komplett in Schwarz, kein Stäubchen, vom schwarzen +Schlapphut bis zu den Stiefeln (wie um die Reporter +lügen zu strafen, die seine nachlässige Kleidung verkündet +hatten). Halb Wotan, halb Konfirmand — grau, +nur der schüttere Bart und die müde Farbe des Gesichtes. +— Fortunios und ich saßen jetzt zu dritt auf +dem Bett, und alle allgemeineren Themen traten vor +dem besonderen der bayrischen Revolution zurück. +</p> + +<p> +Eisners romantische Schwäche für Bayern verriet +sich sogar in einem hin und wieder freiwillig angeschlagenen +Dialekt, dessen Unnatur etwas rührendes +hatte. Und so war es mit der Revolution; sie war das +Abenteuer seines Herzens, sein Geniestreich; was +aber an dem Bilde fehlte, war die Kenntnis Bayerns: +die Bayern, die sich hinreißen lassen, sind nicht dieselben, +die sich wieder eines anderen besinnen . . . +</p> + +<p> +Etwas an München wird vielleicht noch lange bewirken, +daß neue Sterne darüber aufgehen, etwas +bewirkt aber, daß sie schnell wieder zu verlöschen +drohen, günstige Konstellationen geraten dort sogleich +mit entgegengesetzten in Brand. Eisner erzählte wie +ein Rhapsode und besaß kein Ohr für das vielfältige +Rauschen der mitten im Sturm entrissenen Meeresmuschel. +Dies gab seinem Liede den schrillen und +beängstigenden Ton. Haase das Wort abschneidend, +erzählte er von dieser und jener Episode, die alles verderben +sollte, und wider erwarten alles gelingen +machte. Und Haase ließ ihn, wie ein älterer Bruder +<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a> +gewähren. Bei ihm war die Basis viel breiter; er wirkte +harmonisch wie eine Orgel, die Macht war die Sache +für ihn, für Eisner dagegen war sie die Arie, seine +Bravourarie, an die sein Ohr sich fing. Nur wer näher +zusah, gewahrte inmitten der scheinbar selbstgefälligen +Glorie den erloschenen, weltabgewandten Blick und +die bereite, heroische Absage an das Leben. Zu Haase +gewendet: „Das wäre der Gipfel meiner Laufbahn,“ +sagte er, „mit blauweißen Fahnen gegen Preußen zu +ziehen.“ +</p> + +<p> +Aber „Fahnen“ hatte er gesagt. Fahnen, Feste, +Ansprachen, solcher Art waren die sündenlosen Waffen, +zu welchen er griff. Für so ehrwürdige Ansichten +belehrte ihn die rohe Kugel eines besseren, und schlug +sich dies musische Haupt gegen das Pflaster zu Tode. +</p> + +<p> +Spät verließen wir an jenem aufregenden Abend +meine Zelle: die beiden Delegierten gingen noch zu +einer Ausschußsitzung; viel zu erschöpft und aufgewühlt, +um allein zurückzubleiben, aß ich mit +Fortunio zu Nacht. Lange sprachen wir noch von +den beiden. Er meinte, Eisner sei viel zu feinfühlig, +als daß ihm entgangen wäre, wie sehr wir Haase vorgezogen +hatten. Nun hatte ich einen neuen Grund, +bedrückt zu sein. +</p> + +<p> +Leider reiste Haase schon am nächsten Morgen ab, +und wir andern saßen wie gewöhnlich im „Volkshause“, +als, eine große Stille entstand, weil Eisner +das Podium betrat. Es war aber der Morgen jenes +<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a> +Tages, an dem er seine denkwürdige und verhängnisvolle +Rede zugunsten der Gefangenen hielt. Sie begann +mit einer schonungslosen Preisgabe der deutschen +Kriegführung, deren Verbrechen er nicht beschönigte, +deren Recht, etwas zu fordern, er vielmehr verneinte. +Dann eine abrupte Wendung nehmend, stellte er fest, +daß in keinem Lande die Gegner des Krieges so tief +gelitten hätten wie die deutschen, und mit jedem Worte +wurde sein tonloses und dabei scharfes Organ gebieterischer. +Es war unerhört, wie Eisner jetzt über sich selbst +hinauswuchs. So buchstäblich war der Geist über ihn, +daß seine Person nur mehr wie ein von ihm verlassener +und vergessener Schatten die Tribüne behauptete. +Was nun verlautete, war ein Plädoyer für Deutschland, +wie es niemals ergreifender formuliert wurde. +Seine kalte Stimme beibehaltend, die in die Gemüter +schnitt, enthüllte er die ganze Tragik seines unglückseligen +Volkes. „Die Stimmen derer, welche im Kampf +um die Ideen einer besseren Welt namenlos in den +Kerkern verblichen,“ rief er schneidend den fremden +Delegierten zu, „drangen nicht bis zu euch! Stumm +verbluteten sie.“ +</p> + +<p> +Im Namen jener neuen und besseren Welt +verlangte er die Freigabe der zurückgehaltenen Gefangenen. +</p> + +<p> +Man hielt den Atem an. +</p> + +<p> +Da stand ein Entronnener aus eben jener Schar +stummer Blutzeugen für die Ideen der Gewaltlosigkeit +<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a> +der Wahrheit und der Menschenliebe. Dies war ihr +Los wie vor 2000 Jahren! +</p> + +<p> +In Eisner hatte der Kongreß wohl seine eindrücklichste +Figur. Mochte er durch seine Parteilichkeit +für Renaudel bei den Radikalen einigen Widerspruch +erregen, so stellte sich bald heraus, daß er gerade +dadurch seine Vorschläge durchzudrücken verstand, +wie überhaupt die Taktik eine große Rolle bei ihm +spielte. +</p> + +<p> +Als ich das Haus verließ, standen Fortunios unten +an der Treppe und schienen auf jemanden zu warten. +Ich wandte mich um; Eisner ging langsam, allein und +vollkommen versonnen die Treppe herab. Er hielt +eine rote Nelke mit etwas abstehender Geste, wie +um sie zu schützen, daß sie nicht zu Schaden komme. +Steif, fast geziert, die Schultern mit barocker Würde +tragend, bot er einen wahrhaft phantastischen Anblick. +Wir begrüßten ihn. Er sah uns erloschenen Auges an +und erwiderte kein Wort. Hätten aber urplötzlich die +Türen sich geteilt und Teppiche unter den Füßen +der mit großem Zeremoniell vorgeführten Esther entrollt, +ich wäre nicht erstaunt gewesen. Assuerus! +dachte ich. Ein fast gespensterhaft abstrakter, beschämend +unverjudeter, rein biblischer Jude stand +da vor uns. Und siehe! — Hier war zum ersten Male +wieder dasjenige Israel, aus welchem merkwürdigerweise +der Begriff des Christentums mit der Gestalt +seines Stifters, der Begriff des unjüdischen also, die +<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a> +Welt der Mystik, des erblassens, der Gotik hervorging. +So dachte ich, stockenden Herzens . . . +</p> + +<p> +Ich sah Eisner noch einmal, als er im Begriffe stand, +mit Renaudel nach Basel zu fahren. „Wenn ich +stürze,“ sagte er, „ist in München der Bolschewismus +unvermeidlich. Die geistige Verwirrung der Jugend +ist zu groß.“ Überhaupt sprach er sehr oft von seinem +Sturz. Ich glaube, die Entfernung ließ ihn die allgemeine, +wie seine besondere Situation sehr scharf +und nüchtern übersehen. +</p> + +<p> +Gerade die Illusionen, die phantastischen Züge in +diesem bedeutenden Menschen, die springenden Schatten +machten ihn zu der Shakespeareschen Gestalt, +als die wir ihn heute sehen. Wir aber, die in Bern +Zeugen der ungeheuren Wirkung seines Auftretens +waren, welche Werbekraft für Deutschland er dort +entfaltete, welch stürmische Sympathien für Deutschland +er dort erweckte, oh welch bitterlichen Eindruck +machte es auf uns, in München nicht etwa die Züge +dieses heldenhaften Vorläufers, nein, das unbesonnene +Leutnantsgesicht seines Mörders in den Auslagen +vorzufinden, dessen hirnloses und unheilvollstes Verbrechen +die Schrecken der Räteregierung und alle +Greuel, die von links, und dann von rechts daraus +erfolgten, verursachte. Mag ein Herr Studiosus die +Frei(spruch)kugel gegen mich drehen, dafür, daß in +diesem wahrscheinlich vielgelesenen Buche diese +Wahrheit steht. +</p> + +<p> +<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a> +Für den letzten Tag war eine Rede Macdonalds +über den Bolschewismus angesagt; aber der Tag verging, +ohne daß er hervortrat. Die Lichter brannten +schon lange, und es war Abend geworden, als man +ihn endlich erblickte. Es sprachen viele, deren Organ +im Halse stecken und auf die langweiligste Weise +eins mit demselben blieb. Der deutsche Dolmetsch +ging deshalb schwer auf die Nerven. Bei jenen Delegierten +hingegen, welche die Rednergabe besaßen, +hob sich nach wenigen Minuten die Stimme von ihnen +fort, um wie ein Albatroß ganz für sich allein die +gewichtigen Schwingen auszubreiten. Dieser Prozeß +vollzog sich auch bei Macdonald. Sein Organ erfüllte +den Saal mit Wohllaut, als käme es gar nicht +von ihm, sondern hinge nur infolge eines rhythmischen +Gesetzes mit seiner Miene und den Bewegungen seiner +Arme zusammen. Die Rede war ein Warnungsruf an +den hohen Rat in Versailles, die Zeichen der Zeit zu +verstehen, und sie verglich den Bolschewismus mit +einem Brande, der, hier halb erstickt, dort scheinbar +gelöscht, immer wieder hervorbrechend und unter der +Asche weiterglimmend, an der Verblendung des +Imperialismus seine Nahrung fand. +</p> + +<p> +Da ich kein Wort verlieren wollte, schlängelte ich +mich langsam durch die Zuhörer, hart bis zur Rampe +vor, und hatte so zum ersten Male den ganzen Zuschauerraum +vor Augen. Der Saal verlor auch bei +Lampenschein nichts von seiner Schmucklosigkeit. +<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a> +Unschön war er und kahl. Sein Glanz, seine Erlesenheit +waren rein innerlich. Sie gingen von den Menschen +aus, welche hier tagten. Nicht die Zartheit +freilich, noch der Reiz eines seit Generationen vor +rauhen Kontakten geschützten Lebens, sondern Anstrengung, +Leidenschaft und Begeisterung durchleuchtete +sie so stark, daß jenseits dieses alltäglichen +Raumes alle Alltäglichkeit, jenseits seines nüchternen +Scheines alle Nüchternheit zu liegen schien. Der +Winter der Menschheit sank hier zu Grabe. Von +Feuerzungen war die Luft durchbebt, und eine Pfingstatmosphäre +brauste durch die Türen über die Treppen +dahin, bis hinab in die Gassen des nächtlichen Bern. +Und sie würde, ob auch der kommende Morgen diesem +Fest das Ende bereitete, nach allen Himmelsrichtungen +wehen. Ich zweifelte daran nicht. Ich hoffte schon +wieder! +</p> + +<p> +Natürlich waren auch geringere zugegen. Aber nicht +sie gaben den Ausschlag. Hier herrschte der Wert. +Rang und Vortritt waren hier durch das Talent, das +Verdienst, die Lauterkeit bestimmt, und ein Wille +zur Güte hatte sich durchgerungen. +</p> + +<p> +Mit einem Blick des Hohnes war ich vorhin an +Telramund vorbeigegangen, alle Krallen gezückt, weil +er sich vermessen wollte, mich zu grüßen, und fast +wäre ich dabei über seine Bocksfüße gestolpert. Nein! +Hier richtete der nichts aus. Hier war er schachmatt. +Warum kam er denn her? — — Auch er — zum ersten +<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a> +Male fiel es mir auf — hatte allen Sitzungen beigewohnt +und war einer der regelmäßigsten Besucher +gewesen. Oh, nicht nur er! — Die ganze Rotte saß +ja hier! — und die Kontrolle war doch so streng! +Aber die Rotte war vollzählig hier! — Durch die Ritzen +der Türe hätte sie noch einzudringen gewußt. Wo +hatte ich die Augen gehabt all die Tage hindurch, +ich Verblendete! Im Ernst wähnend, hier würde die +Schwelle zu einer neuen Welt gelegt, derweil sie +täglich zerfiel. +</p> + +<p> +Die Schützlinge der Militärspionagen, von welchen +erst die eine, dann die andere den Verständigungsfrieden +hintertrieben hatte, tagten hier als Delegierte des +Teufels, den verschiedensten Nationen entspieen. Wie +emsig sie notierten! — Oh wie fleißig sie die niedrigen +Stirnen gesenkt hielten, um alles zu nichte zu schreiben, +was hier von Völkerversöhnung gesprochen wurde! +Und wie gesittet sie dasaßen, diese Wölfe im Schafpelz, +die sich innerlich eins lachten über den sabotierten +Kongreß. Und sie waren geduldet! — selbst +hier! — Die Spreu durfte auch hier, ungesichtet, den +Weizen verderben. Ach, es gehört zu den Merkmalen +dieser Zeit, daß die Dinge noch schlimmer zu +kommen pflegen, als die Schwarzseher sie künden, +und noch heißer gegessen werden, als gekocht. +</p> + +<p> +So ahnte ich noch nicht, daß die verstümmelten +Berichte der Eisnerschen Rede, deren erster Teil einfach +unterschlagen wurde, schon munter unterwegs +<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a> +waren, und seine anonymen Mordanstifter, wohlgeschützt +unter der Flagge einer Zeitung, sich +für die furchtbaren Wahrheiten und Anschuldigungen, +die er in diesem Hause der Presse aller +Länder ins Gesicht zu schleudern wagte, ein für +alle Male gerächt hatten. +</p> + +<p> +Die Stimme Macdonalds drang nur mehr undeutlich +zu mir. Es war doch jedes Wort vergebens. Mochte +er den Bolschewismus an die Wand malen! Mit ihm +stand es gewiß, wie Rolland sagte. Bot nicht jede +Partei genau dasselbe Bild von ein paar ehrlichen +und ehrenwerten Männern, die ein fürchterlicher +Zulauf überschwemmt? jene paar Vortrefflichen, deren +Kampf allein ersprießlich und von Interesse wäre, +tragen ihre Gegensätze abseits voneinander aus. Sie sind +nicht so zahlreich, Europa nicht zu groß für eine +einzige Arena. In Wirklichkeit ist der Klassenhaß +(statt des Klassenkampfes) ein ebensolcher Humbug +wie der Haß der nur nach Frieden lechzenden Völker. +Wer aber diesen Saal mit den angeblich so scharf +bewachten Toren näher ins Auge faßte, ließ alle Hoffnung +fahren. Den Schleier Penelopens woben sie hier! +Es gab ja keine gute Sache, solange der Nichtswürdige +sich zu ihr bekennen durfte und statt der +Gesinnung die Meinung den Ausschlag gab. Freie +Bahn den Tüchtigen! oh nein! Erst geschlossene Bahn +den Unwürdigen! Die andere Parole bleibt so lang +die leereste der Phrasen! Hatte nicht Telramund in +<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a> +seinem eigensten Blatt eine „Partei der anständigen +Leute“ beantragt, wie um diesem Gedanken den Fluch +der Lächerlichkeit auf immer anzuhaften. Oh Zarastro! +Herr des Tempels mit den unauffindbaren Toren, +der nur den Geprüften mit Macht belieh! Von allen, +die heute leben, wird keiner den Bau betreten, zu +dessen Grundlegung ich Steine herbeischleppen möchte. +— Das Gerüst allein dürfte die Arbeit von Generationen +sein, sein Ausbau die von Jahrhunderten vielleicht. +Vielleicht sind die ewig unvollendet gebliebenen +Kathedralen sein Symbol. Aber worauf es, wie gesagt, +ankommt: er ist möglich. +</p> + +<p> +Die richtige Einsicht, daß es (merkwürdigerweise) +niedrige und hohe Menschen gibt, führte folgerichtig +zu Rang- und Standesunterschieden. Bei ihrer Aufrechthaltung +aber gerieten jene Ungleichheiten, +welche doch erst die Berechtigung solcher Klassifikationen +bilden, immer mehr außer acht, und bei +dem Schrittmachen, das im Schwunge blieb, mischte +sich in immer gemeinerer Weise das Bestreben über +jene Distanzen, welche der Wert zwischen den einzelnen +liegt, hinwegzusehen. Das Mißverständnis +artete immer wilder aus: der königliche Mozart speiste +mit dem Gesinde, und ein lakaienhafter Kavalier +warf ihn mit einem Fußtritt ohne weiteres vor die +Türe. In der Tat, wir wissen alle, was wir der französischen +Revolution verdanken. Doch, als sie das +falsche Spiegelbild in edler Empörung zerschlug, +<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a> +wurde mit diesem drastischen Vorgehen leider erst +recht nur eine halbe Maßnahme getroffen. +</p> + +<p> +Kein Mißbrauch wurde an der Wurzel gefaßt, vielmehr +entrann der Missetäter froh durch die Türe. +So brach die französische Revolution wie das Christentum, +dem sie entsprang, in sich selber zusammen, und +wir sind heute wie bankrotte Leute, die von vorn +anfangen müssen. Wir stehen wieder am Anfang +aller Tage: das heißt am Ende. Denn für das erkennende +Auge sind ja die Menschen längst in jene +zwei Lager zerfallen, von welchen geschrieben steht. +Freilich ist vorläufig erst der Aufmarsch der Böcke +geglückt. Unsere Absicht, ihrem Konsortium entgegenzutreten, +dürfte ein frommer Wunsch verbleiben, +solange wir jene geheimnisvolle Tatsache nicht ergründeten, +daß die von schlechten Instinkten Gemeisterten +so viel deutlicher die Hochgesinnten herausspüren, +als diese sich unter sich erkennen. Diese +dunkle und rätselhafte Tatsache birgt Perspektiven, +die sich wie weite Zimmerflüchte nach allen Richtungen, +reich an Verborgenheiten, ziehen. +</p> + +<p> +Um Machtfragen werden sich nach wie vor die +Dinge drehen, und nach wie vor wird sich herausstellen, +daß es nichts neues unter der Sonne gibt. +Macht wird vor Recht gehen, denn Macht geht vor +Recht. Es ist Sache des Rechts, die Macht an sich +zu reißen, eine neue Realpolitik zu ermöglichen, nicht +ausdrückbar durch Lüge, Feuer und Mord; eine +<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a> +Exekutive zu befestigen, welche die aus Lüge, Feuer +und Mord errungenen Vorteile verachten, und Lüge, +Feuer und Mord nicht ausspielen würde gegen Lüge, +Feuer und Mord. Sache des Rechts ist es, die Bahn +solcher Gewalthaber zu bereiten. Ach die Heftigkeit, +mit welcher wir unsere Notsignale abgeben, +hindert nicht, daß sie unter dem Druck grauser Langeweile +aufziehen, und unser eigner Pathos lastet mit +der ganzen Öde eines Frondienstes auf uns. Denn +es sind zukünftige, für ein feineres Ohr heute schon +monströse Gemeinplätze, die wir hier äußern. +</p> + +<p class="vspace3"> + +</p> + +<p class="center"> +<em class="em">Ende</em> +</p> + +<div class="ads"> + +<hr /> + +<p class="center"> +<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a> +Von<br /> +<em class="em">Annette Kolb</em><br /> +erschien im gleichen Verlag: +</p> + +<p class="hdr"> +DAS EXEMPLAR +</p> + +<p class="center"> +Roman. 5. Auflage. +</p> + +<p> +Man hat durchaus das Gefühl, daß dieses Buch zu +jenen gehört, die unter einem starken inneren Drange, +einem unwiderstehlichen, geschrieben werden. Ein +Bekenntnis. Aber eins von solcher Keuschheit, solcher +Verhülltheit, trotz aller Enthüllung subtilster seelischer +Vorgänge, wie es uns nur zu selten gemacht wird. +Gerade diese Schilderungen erweisen die hohe Vollendung +von Annette Kolbs sprachlichem Ausdrucksvermögen, +das ihr jedoch nie zum Selbstzweck wird. +</p> + +<p class="right"> +B. Z. am Mittag. +</p> + +<p> +Der erste Eindruck des Buches, schon nach wenigen +Seiten, ist Kultur. Es gibt wenig Bücher, die so scharf +wie dieses die Zeitseele enthüllen. Und im übrigen +ist das Buch reich an allerlei entzückenden Dingen. +Man wird in ihm sehr heimisch in London und auf den +Landsitzen der Gesellschaft. Denn das Buch vereint +wirklich zwei selten verträgliche Eigenschaften: geistige +Tiefe und Charme. Es ist nicht nur ein bedeutendes, sondern +auch ein liebenswürdiges Buch. +</p> + +<p class="right"> +Die Zeit, Essen. +</p> + +<p> +Ein feines, stilles Buch von einer romantischen +Dichterin über eine romantische Frau. Es wird in +diesem Buch von den letzten Dingen gesprochen. +</p> + +<p class="right"> +Berliner Tageblatt. +</p> + +<hr /> + +<p class="printer"> +Druck von Frankenstein & Wagner, Leipzig. +</p> + +</div> + + +<h2 class="chapter footnote" id="footnotes">Fußnoten</h2> + +<dl class="footnote"> +<dt class="footnote" id="footnote-1"><a href="#fnote-1">[1]</a></dt> <dd class="footnote"> Als ich das erstemal in der Schweiz war, gab mir Aramis +ein Dossier über die Deportationen, von deren Einzelheiten ich noch +keine Ahnung hatte. Wer die französische Familie kennt, und weiß, +wie sehr sie ihre Töchter hegt und hütet, der sah hier wahre Abgründe +des Hasses und der Rachgier bereiten. Ich fuhr damals von +Bern direkt nach Berlin, kannte aber von den Ministern jener Tage +nur Solf, und auch diesen nur ganz flüchtig. Ihn bat ich in einem aufgeregten +Brief um eine sofortige Unterredung. Er war gerade an +einer Angina erkrankt und empfing mich zu Bett mit einem hochroten +Gesicht, Eisbeutel auf dem Kopf. Am Fenster, mit dem Rücken +gegen das Licht, stand ein Oberst. Ich kramte nun die Notizen hervor, +die ich vor der Grenzüberschreitung in den Bodensee geworfen, +und zwischen Lindau und Kempten wieder ins reine geschrieben +hatte; der Oberst sprach die Befürchtung aus, daß sie der Wahrheit +nur allzusehr entsprachen.</dd> +<dt class="footnote2"> </dt><dd class="footnote2">Mit Hilfe dieses militärischen Freundes setzte Solf, obwohl gerade +damals grimmig von den Alldeutschen angefeindet eine enquete durch. +Und schon glaubte ich die Partie gewonnen und das Handwerk der +Herren Ludendorff und Konsorten gelegt. Denn wirklich konnten +Tausende von Frauen damals nach Hause zurück, und in ihrer +ärgsten Form wurde die Methode eingedämmt. Aber das Hauptquartier +war noch Trumpf. Meine Darstellungen, so hieß es, seien +nicht nur die hellste Übertreibung gewesen, oh nein! sondern die +deportierten Töchter wären sehr erfreut, sich dem öden Einerlei ihres +untätigen Lebens entzogen zu sehen; man gewann richtig den Eindruck, +als müßte es für ein junges Mädchen von guter Familie geradezu eine +Lust sein, deportiert zu werden, und nur eine Bagatelle für die Eltern, +ihre Kinder — manches Mal auf Nimmerwiedersehen — aus ihrem +Hause gerissen zu sehen, ohne die Möglichkeit von ihnen zu hören und +ohne zu wissen, wohin man sie führte. Soll die Axt nie begraben +werden? — Eine Versöhnung der beiden Nationen ist eine so große +Notwendigkeit, daß schon aus praktischen Gründen nicht immer einseitig +nur über das erlittene Unrecht Buch geführt werden sollte. Und es +ist für die Deutschen die große Gelegenheit gekommen! Heute, wo +der französische Militarismus seine Stunde begeht, haben sie nur ein Mittel, +Frankreich von seiner Rachepolitik abzubringen, indem sie — statt +wiederum von Rache zu reden — es zu fühlen geben, daß sie beklagen, +es zu dieser Rachepolitik so schwer gereizt zu haben.</dd> +<dt class="footnote" id="footnote-2"><a href="#fnote-2">[2]</a></dt> <dd class="footnote"> Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.</dd> +<dt class="footnote" id="footnote-3"><a href="#fnote-3">[3]</a></dt> <dd class="footnote"> Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.</dd> +</dl> + + +<div class="trnote"> +<p id="trnote"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p> + +<p> +Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + +<ul> + +<li> +... <span class="underline">Hocusai</span>. ...<br /> +... <a href="#corr-0"><span class="underline">Hokusai</span></a>. ...<br /> +</li> + +<li> +... mit Carry und Fortunio. Dieser <span class="underline">enfaltet</span> mir gegenüber ...<br /> +... mit Carry und Fortunio. Dieser <a href="#corr-1"><span class="underline">entfaltet</span></a> mir gegenüber ...<br /> +</li> + +<li> +... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in <span class="underline">den</span> ...<br /> +... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in <a href="#corr-2"><span class="underline">dem</span></a> ...<br /> +</li> + +<li> +... Arbeiten zur Hand, mit <span class="underline">welchem</span> dieses Haus geschmückt ...<br /> +... Arbeiten zur Hand, mit <a href="#corr-3"><span class="underline">welchen</span></a> dieses Haus geschmückt ...<br /> +</li> + +<li> +... Laufbahn vernommen hat, der vergißt <span class="underline">die nie</span> unheimliche ...<br /> +... Laufbahn vernommen hat, der vergißt <a href="#corr-4"><span class="underline">nie die</span></a> unheimliche ...<br /> +</li> + +<li> +... auf ihren Wolkensohlen reisten, <span class="underline">das</span> von einer zifferlosen ...<br /> +... auf ihren Wolkensohlen reisten, <a href="#corr-5"><span class="underline">daß</span></a> von einer zifferlosen ...<br /> +</li> +</ul> +</div> + +<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44243 ***</div> +</body> +</html> diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Zarastro + Westliche Tage + +Author: Annette Kolb + +Release Date: November 21, 2013 [EBook #44243] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZARASTRO *** + + + + +Produced by Jens Sadowski + + + + + + + + + ZARASTRO + + + Westliche Tage + von + Annette Kolb + + + + + 1921 + S. Fischer / Verlag / Berlin + + + + + 1.--5. Auflage. + Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten. + Copyright 1920 by S. Fischer Verlag, Berlin. + + + + + + + + +Zarastro + + +Dieses Buch, das auf Grund täglicher Aufzeichnungen entstand, enthält +Enttäuschungen als sein Wesen. Es ist ein Tagebuch der Enttäuschungen, ich +verhehle es nicht. Gerade sie sind das einzig wertvolle daran. Denn an +allen Erlebnissen während dieser Jahre, an allen Szenen, allen Ereignissen, +allen Episoden hat sich die Beobachtung ergeben, daß im wachsenden Umfang +die besten Hoffnungen, die reinsten Zugehörigkeiten ihre dramatische +Zerstörung nach sich zogen. Zu sehen, wie sie immer sehr buchstäblich +zuschanden kommen mußten, versetzte mich erst in eine dumpfe, +herabgestimmte Unruhe, und nur allmählich entdeckte ich, daß sich in allem +die kleine wie die große Höllenmaschine menschlicher Niedrigkeit gleichsam +eingebaut hielt, überall, auf dieselbe Weise und mit derselben Wirkung jede +edle, jede vernünftige Absicht, jede Harmonie im Keim vernichtete. Diese +Gefolgschaft, dies enge Schritthalten der Bösen -- jeder Zufälligkeit bar +-- zeigt sich vom Anekdotischen bis zur Entladung so konform, daß es die +Schicksale des einzelnen zur genauesten Replik der Weltschicksale prägt. + + + + +Erster Teil. + + +Am 1. Februar 1917 kam ich gegen Abend definitiv nach Bern. Im Zug -- am +Fenster -- schlief ich zwischen Zürich und Baden auf einige Sekunden ein. +Dabei rückten sich Bilder aus meiner Wohnung, aber um ein Drittel +vergrößert -- die sich also selbst vergrößert hatten --, selbst an einer +Wand zurecht. -- + +Trotz dieser so unvermittelt aufblitzenden Vision wurde die Mutlosigkeit, +gegen die ich anzukämpfen hatte, immer drückender, und geradezu trostlos +gestaltete sich meine Einfahrt in die Bahnhofhalle. Es goß so recht von +innen heraus, wie nur der Berner Himmel zu gießen versteht. So begibt man +sich wohl ins Gefängnis, wie ich in das Haus, um dessen anheimelnder alten +Stiege willen ich im zweiten Stock zwei kleine Zimmer mit einem Alkoven +gemietet hatte. Übrigens waren sie noch nicht frei, und indessen wurde mir +ein großes niedriges angewiesen, das sofort meine Abneigung erregte: bis +auf einen gewaltigen Tisch von wahrhaft tröstlichem Umfang. Er stand mitten +in der Stube, ganz auf sich beruhend: + +Sieh mein geräumiges Rund, und wie gefällig es ist! Sahst du ein weiteres +je? + +Bürde nur füglich mir auf, was immer du willst. Ich schaffe noch Platz dir. +Na also! + +So redete er, halb in Hexametern, halb wie eine alte Kindsfrau zu mir, war +immer optimistisch und richtete mich auf. + +Das Münster aber, das so gut anhebt und so schlecht verläuft, beschattet +und beherrscht den Platz, und die Aussicht hart vor meinen Fenstern ist +durch ihn versperrt. Auch mein Herz schlägt hinter Riegeln. Ich bin nicht +mit den Illusionen hergekommen wie das erstemal. + + * * * * * + +4. FEBRUAR. Kalte regnerische Tage, unfroh wie die Stunde meiner Ankunft, +welche Telramunds, als sei dies unvermeidlich, zuerst erfuhren. Die Lauben +sind, wie es scheint, ihr Jagdrevier, denn kaum trete ich vors Haus, so +schießen sie mir schon wie auf Rollschuhen der Neugierde entgegen, jedesmal +mit einer Einladung zum Tee. Ich bin entschlossen, ihr nicht zu folgen, +denn sie ist natürlich nur verhörsweise gedacht. Fortunio rät von einer so +schroffen Haltung ab. Wir diskutieren hin und her, und ich lasse mich +leider überreden. + +6. FEBRUAR. Tee bei Telramunds. Ich trage meinen teuren Pelz, denn es ist +kalt, dazu aber ausgebesserte Schuhe, weil es regnet. Der Empfang ist +übrigens von so glänzend imitierter Herzlichkeit, daß er mich fürs erste +ganz beschämt. Wie unverkennbar ist doch im Grunde Telramunds Zuneigung für +mich! Er erörtert meinen Roman in den höchsten Tönen, und wie freut sich +Ortrud, mich zu sehen! Wie ungerechtfertigt ist der Name, den ich ihnen +gebe! Wie funkeln Teekanne, Dose und réchaud! Wir sitzen ein wenig +merkwürdig zusammen, es ist wahr! unsere sechs Knie eng aneinander gerückt: +die meinen in der Mitte, wie die eines Delinquenten, von den beiden andern +flankiert. Doch ist das nur zufällig vielleicht. + +Wenn aber drei Leute sich äußerlich in so enger Gemeinschaft befinden, und +zwei von ihnen werfen sich Blicke zu, so wird es der Dritte bemerken, auch +ohne es zu wollen und ohne hinzusehen. Ortrud guckte wertschätzend von +meinem Mantel herab auf mein Schuhwerk. Der Pelz einerseits und die +Reparatur anderseits gaben zu denken. Wie aber konnten sich die beiden so +vergessen, daß sie plötzlich anfingen, wie mit Fliegenklappen nach mir +auszuholen und sich hochbefriedigt ansahen, wenn sie glaubten, mich ertappt +zu haben? + +Zwar lag es auf der Hand, daß ein so leicht zu überführendes Geschöpf +unmöglich zugleich jene raffinierte Person sein konnte, für welche ich +wußte, daß sie mich hielten. Aber wie resolut Leute von schlechten +Instinkten jegliche hemmende Logik von sich weisen, wußte ich auch. Von +neuem auf der Hut, beantwortete ich jede Frage mit einem Kunstbogen; als +jedoch der Name Elisabeth Rotten fiel, hielt ich krampfhaft an diesem Thema +fest. Telramund konnte ihren politischen Scharfsinn nicht genug loben +(später stritt er ihn ihr öffentlich ab). So erzählte ich denn von ihrer +schwer angegriffenen Gesundheit und ihrem Wunsch nach einer Erholungsreise. +Diese aber sei nur durch List und Tücke zu erreichen. Es müßte also, meinte +ich, mehr mitteilsam wie raffiniert, unter Vorspiegelung eines Vortrags, +welchen sie dann natürlich nicht halten würde, ein Paß für sie erschlichen +werden. + +Die Idee wurde stillschweigend zur Kenntnis genommen. Blicke flogen . . . +und es war unverkennbar, daß etwas nicht stimmte. + +Bin ich nach Bern gekommen, dachte ich auf dem Rückweg, um mit Leuten zu +verkehren, die ich zu Hause nie ertragen hätte? + +Das Wetter hatte sich auf einige Stunden aufgehellt, und über der Brücke +von Kirchenfeld flammten plötzlich die Alpen auf. Blaß und verheißungsvoll +leuchtete die losgelöste Jungfrau über das Gewölk, das sich in schwarzen +Massen zu Tale schob. Wie ganz und gar nicht existierend, dachte ich da, +ist doch letzten Endes das Gemeine! Nur unser träges und verwischtes Sehen +leiht ihm den Schein von Wesenheit, und Leuten wie Telramunds das Gesicht. +Und zwei verschwisterte Seelen hatten da einen Bund geschlossen, wie die +Hölle ihn liebt. Dabei war Telramund Berliner und Ortrud, wie zum +Schulexempel, eine Französin aus der Provinz. Ach! Welch ein Schabernack +wird doch über alle Grenzen hin mit unseren Gesetzen getrieben! Keine Feder +wiegen sie auf gegen die Schleuderwaffen, über welche schlaue Unvernunft +gebietet. Wohl haben wir gelernt, Weingärten und Äcker zu bestellen, +veredelt hängen uns die Früchte von den Bäumen hernieder, und wie +umsichtig, wie bewundernswert ist der Mensch angesichts seiner Felder! Nur +vor sich selbst ist er stehengeblieben. Da jätet er nicht. Da steht überall +goldener Weizen, von wild um sich greifendem, allgewaltigem Unkraut +erstickt. Gegen die Natur, die Elemente, die Erde, ja die Luft selber +schritten wir ein, nur vor uns selbst sinken uns die Arme, und wir lassen +geschehen. Dies ist die bisherige Logik der Welt, der Nationen. Nicht +einmal bis zu unseren Verbrecherstatistiken besannen wir uns -- wie hätten +wir da bis zu den Tabellen unserer verkleideten und ganz undrastischen +Übeltätern gedacht? -- + + * * * * * + +Allseitige Verstimmung. Mein Wunsch, Fräulein Rottens Wunsch zu erfüllen, +hat schwärzesten Verdacht erregt. Ich kannte die in Bern geschaffene +Atmosphäre noch zu wenig, um zu verstehen. Warum in aller Welt, beschwert +sich Fortunio bei mir, mischte ich mich da hinein! Welches Interesse hatte +ich an dieser Reise? + +Und diese Idee eines Vortrags! (Sogar er, es war unverkennbar, hat Argwohn +geschöpft!) + +Nur ein Vorwand natürlich! ich sagte es ja Telramund. + +Fortunio zuckte die Achseln: er hat es Ihnen natürlich nicht geglaubt. + +Die beiden werden uns noch sprengen!, brach ich aus, alle unsere +Anstrengungen hintertreiben und uns alle zu Grabe tragen. + +Mit Martin im Walde hatte ich ja meine Not. Die Verdächtigungen auf ihn +regneten ohne Unterlaß. Schon während jenes Diners, welches Aramis bei +meiner ersten Berner Ankunft gab, hatte ihn Telramund als einen Agenten mit +doppeltem Schubfach bezeichnet, und Ortrud pfiff förmlich vor Hohn wie eine +Maus. Daß ich widersprach, fiel nur auf mich zurück. Für einen ehemaligen +Kruppdirektor also machte ich Reklame! Sprach dies nicht Bände? Daß er +tatsächlich seine Stellung seinen Überzeugungen geopfert hatte, war ein +Beweis mehr für seine Verschlagenheit. Den Bruder kannte er. »Den Bruder +kenne ich!« war sein Refrain. + + * * * * * + +9. FEBRUAR. Ich miete einen Flügel: ohne Schmelz, ohne Tiefe, es ist wahr, +und doch edel, weil immerhin ein Flügel. Gott sei Dank! Flügel sind jetzt +sehr schwer zu kriegen! Ich bin einen ganzen halben Tag glücklich. Welches +Glück! -- es ist ein Glück, das ich der Protektion eines jungen Berner +Pianisten verdanke. Wir hatten ein Zusammentreffen verabredet, um in die +Fabrik zu fahren. In den Lauben kam Ortrud auf mich zu und äußerte den +Wunsch, mich zu besuchen, und da ich ungeheuer eilig tat, begleitete sie +mich, um zu sehen, ob es wirklich der junge Pianist war, der mich erwartet. +Da er es wirklich war, denke ich mir, sie beruhigt sich jetzt. + +10. FEBRUAR. Telramund erzählt mit vielsagender Miene, daß ich einen Flügel +gemietet habe. Kein Zweifel mehr: ich bin eine Spionin. + +11. FEBRUAR. Aramis gibt mir zu wissen, daß er sich wundere, weil ich ihm +noch kein Lebenszeichen gebe. Ich unterließ es nur, denn er ist mir +sympathisch, weil mir versichert wurde, daß er mir nicht mehr traue. + +Es sei kein Grund, sagt mir Fortunio, ihn zu schneiden. Seufzend (da er mir +ja mißtraut!) rufe ich ihn ans Telephon, und vor seiner Sprache, ach! wird +mein zerrissenes Herz sofort wie eine Geige, in welche diese Sprache (auch +die meine, ach!) hineingreift wie ein Bogen. + +13. FEBRUAR. Gestern abend war ich bei Fortunio, und Martin im Walde fand +sich zum ersten Male bei ihm ein. Vor dem Kriege hätte ich sie nicht +einander zugeführt: Fortunio so musisch und sternengebannt, aber auch +stemschnuppenhaft, Martin im Walde so schwerblütig, so problematisch und so +vorbedacht! Heute aber muß alles zusammenstehen, was aufrecht blieb. Wie +errichten wir sonst jene Dämme gegen die blinde Gewalt, den Schutzmauern +vergleichbar, die sich so wacker gegen die Bergwände stemmen, um zur Zeit +der Schmelze die Lawinen aufzuhalten? Auch unserem Planeten stand der +Frühling nahe bevor, als die Lawine sich entlud, die allen Schutt nach oben +warf und eine grünende Welt und alle Glocken der Vernunft mit ihren toten +Blöcken und ihrem schmutzigen Geröll brüllend und dröhnend überzog. Jene +Mauern, Lawinenschutz genannt, sind natürlich nur roh aufeinander +geschichtete, jedoch wetterfeste Steine, die nichts anderes zum Ausdruck +bringen, als die Not des Augenblicks, dem sie entstanden sind. So scheint +mir heute, wo es den Kampf des menschlichen gegen das unmenschliche gilt, +das wichtige nicht, glattes einzufügen, nicht einmal der inneren +Gemeinsamkeit den Ausschlag zu lassen, sondern die Widerstandskraft und das +Gewicht der Dinge zu bedenken. + +Doch ach! Der als Schachfigur so schwer festzulegende Fortunio war heute +auf meine Opportunismen nicht gestimmt, sondern wie zum Trotz in einer ganz +herausfordernden, ganz interpellierenden, ganz konträren, um ihre eigene +Wirkung ganz unbekümmerten Laune. Zu machen war da gar nichts. Im stillen +nur nahm ich mir vor, auf dem Heimweg Fortunios Wesensart, welche Martin im +Walde nicht geläufig war, so beweglich wie möglich zu schildern. Aber nicht +einmal diese nachträgliche Intervention sollte mir gelingen. Denn als ich +auf der Stiege in die Taschen meines Mantels griff, war mein Hausschlüssel +nicht darin, die Nacht aber viel zu weit vorgeschritten, um meine Pension +durch Glockenreißen zu alarmieren. Die übermüdete Fortunia, über die Rampe +gebeugt, rief mich wieder zurück. Neben dem großen Empfangsraum lag ein +schmales Zimmer. Ich bezog es ohne viel Worte und warf mich mit meinen +Kleidern auf den breiten Diwan, der dort stand, ganz erledigt für den Rest +der Nacht. Immer verschärfter schwebte mir die Bilanz des mißratenen Abends +vor und regte mich auf. Wie ungut ließ sich doch alles an! + +Eine tiefe Stille lag jetzt über dem ganzen Hause, den Wänden, den Fenstern +und der Luft, als ob sie ein Signal erwarteten. Denn nebenan war plötzlich +ein anderes Leben erwacht, eine andere Unruhe, als die des Tages, ein +Rücken, Geknister, ein Gewisper, Disput und Ungeduld. -- -- Zwar ist dem +Herzen kein Organ verliehen, das unsichtbare zu sehen, aber so mancher +kennt gewiß jenes aussetzen seines Schlages, bevor es tiefer zu horchen +beginnt . . . Es fiel mir ein, daß die ganze Häuserreihe dieser alten Gasse +für mehr oder minder spukhaft galt; doch ein so wenig grauenhafter, +höchstens malitiöser, nicht einmal boshafter Spuk war mir noch nicht +begegnet. Neugierde trieb mich endlich hin zur Türe, hinter der er sich +begab. Aber jenseits derselben hatte augenblicklich -- als sei nie Lärm +gewesen -- Totenstille eingesetzt, und die Klinke, von Tücke besessen, +widerstand allem drücken, drehen und schieben. Mit schmerzenden Händen ließ +ich sie los und kehrte auf meinen Diwan zurück. Alsbald war Geknister und +Getusche, rücken und huschen, Unruhe, Aufregung, heiseres Eifern und +Streiterei im verstärkten Grade wieder da. Offenbar wollte die Gesellschaft +von mir nichts wissen und boykottierte mich. Wie aber kam es, daß ich +plötzlich wie unter freiem Himmel lag und den Arm aufstützte, als schirmten +mich die Zweige eines Baumes, und als horchte ich statt zur Seite hin, tief +unter die Erde hinab? Was immer mir jetzt in den Sinn kam, bot sich wie +eine Zwiesprache dar. Dem Nixenbegriff lag wohl eine tiefe Erkenntnis +zugrunde. Wie diesseits des Menschengeschlechtes, so sind aber auch +jenseits desselben Geschöpfe Gottes denkbar, die an der entgegengesetzten +Peripherie des Lebens beschattet stehen und hinausgerückt; und winzige, +kaum bemerkbare Dinge könnten es sein, die ihnen ein leises Grauen vor +ihrem eigenen Wesen entgegenhauchen: ihr unakkurater Sinn für +Wirklichkeiten, ihr vorwegnehmen des Zieles über Hindernisse hinweg, ist +wie ein gestörter Sehwinkel oder wie ein verkürzter Fuß, den solche +Menschen durchs Leben ziehen, und sie erschauern, verzagen und vereinsamen +bis ins Mark, wenn sie daran erinnert werden. Über die fernest abliegenden +Dinge dachte ich hin und her. Aber warum in aller Welt überkam mich ein +Heimweh nach dieser verschlossenen Tür, und um was für Dinge war mir denn +leid? Du lieber Gott, wollte ich denn von allem haben! + +Der ganze tumultarische Betrieb setzte übrigens mit einer spurlosen +Plötzlichkeit aus, als hätte er nie geherrscht. Nur eins war deutlich: +durch die Türe verzog er sich nicht. Es kam etwas anderes: aus dem unteren, +nachts unbewohnten Stockwerk drangen sanfte Trommelwirbel, oh, so deutlich +zu mir, und dann ertönten gedämpft, aber klangvoll, tamponierte Posaunen. +Und dann kam das huschen und fegen eines Kleides, das schleifen einer +Schleppe, ja! im Takt dieser erstickten Musik. Ich horchte mit allen +Fasern. So fein, so spöttisch, so leicht! oh! in der Tat geistreich war der +Rhythmus dieses pas-de-deux, waren die Füße, die Grazie, die +Unkörperlichkeit dieses balancierenden Körpers im Klang der wonnig +umhüllten Posaunchen. Tod und Leben in lächelnder Umarmung -- Leben noch im +Tode? Liebe selbst bei ihm? -- Was verfing sich da eine Uhr, mit vier +groben Schlägen in den Zauber hineinzufahren? Nichts rührte sich mehr. Im +Augenblicke alles längst verflogen und verweht -- welchem Sterne, welcher +Nacht entgegen? + +Nunmehr versank die Dunkelheit in ihrer eigenen Stille, und der Schlaf +atmete mir jetzt -- als käme er von außen -- seltsam genug! -- mit weiten +Flügeln entgegen. Ich fühlte noch den Wunsch, mich ihm ganz zu überlassen, +aber daß er mich dahintrug, schon nicht mehr. Gespannten, wachen Sinnes +stand ich in der Mitte eines Saales -- nicht wissend, daß ich schlief. Die +Wände lagen im Zwielicht, und ein paar Leute saßen dort als Zuschauer +herum. Ich fragte mich, was es zu sehen gab und merkte dann erst, daß ich +es war, welche nun tanzte. Die Rhythmen nämlich, nach welchen ich mich +drehte, »geschahen«, ohne zu verlauten, als stünden hier die Gesetze am +Anfang aller Musik, noch ehe, oder ohne daß sie sich vertonten. Dabei +geboten sie mit so wunderbarer und zwingender Macht, daß es unmöglich war, +ihnen nicht zu folgen, und unwiderstehlich kreiste ich dahin. Mit einem +Male hörte ich Fortunios Stimme von der Wand herüber auf französisch sagen: +»Comme elle danse bien«! aber sehen konnte man ihn nicht, denn der Saal war +nur in der Mitte hell. »Pourquoi dites-vous que je danse bien«? rief ich +tanzend zurück. Und tanzte dahin, denn es gab nichts anderes mehr. Nur den +Tanz. Ganz allein nur ihn; ohne innehalten, ohne Unterlaß, den Tanz allein +in diesem Raume, der aufgehört hatte, ein Saal zu sein, denn seine Wände +traten ins Endlose zurück. Nur allmählich merkte ich, daß sich jemand zu +mir gesellt hatte und mich hielt und mit mir tanzte. Es kümmerte mich +nicht. Die Erfüllung war zu tief, meine Augendeckel zu schwer, sie +aufzuschlagen die Mühe zu groß! In den Rhythmen lag alle Wonne. Und sie +gebaren ohne Übergang eine neue Phase, denn halb abwesend, halb aufmerksam +sah ich nun doch meinem Tänzer groß ins Gesicht: matt von Farbe, mit +schwarzem, glattanliegendem Haar war er mir gänzlich unbekannt und zugleich +vollkommen vertraut; der sehr edle Umriß von Kopf und Schultern so +geschlossen, daß er fast ausschloß, was er nicht selber war, fast negierte, +was er nicht kannte. Was dünkte mir daran so fremd und so verwandt +zugleich? Die Melodie einer Rasse, der ich entstammte, und doch nicht mehr +die meine? von ihr hinausgerückt? verabschiedet von ihr? wiederum der +Boykott? Gleichviel! wir tanzten. Eines Schrittes! Diese Zeitmaße kannten +keine Zeit. So mögen Sterne kreisen. Aber auch was ich dachte, war nicht +mehr aus seiner Bahn zu drängen: aus reinstem Lateinertum setzten sich die +Elemente dieses Tänzers zusammen. Nicht das Gesicht eines bestimmten +Menschen sah mich da an. Nicht dieses oder jenes -- was dann? Das Sinnbild +einer Rasse war zu mir hingetreten und tanzte mit mir. Jetzt wußte ich's! +-- Aber die Entdeckung sprengte die Fesseln des Traumes: Ich lag auf dem +Diwan gerade ausgestreckt, vor mir das Fenster, in dessen Scheiben sich von +der Straße herauf der Reflex einer Laterne fing. Aber gleich darauf stand +ich auf den Füßen. Noch nie so hoch aufgerichtet gewiß! Die Türklinke +drehte sich lautlos und glatt, wie geölt. Aber die Kälte der Frühluft nach +der Hitze der Nacht hatte vielleicht die Wandlung besorgt. Ich schlich +durch den Gang, die Stiege hinab und ließ mich zum Tore hinaus. Ins Freie! +Hinter den Scheiben leuchtete hie und da schon ein Licht aus den Lauben +hervor. Im Hause, in dem ich wohnte, war eine Bäckerei. Unbemerkt kam ich +in mein Zimmer. Es tagte noch nicht. Nach oben unkenntlich stand das +Münster vor meinen Fenstern aufgerichtet, viel schöner und gewaltiger so, +als mit dem übel verlaufenden Turm. Wie schien aber dies alles eine +Wirklichkeit zweiten Ranges, sozusagen, wenn ich sie mit jener verglich, +die mich in dieser Nacht umgab. Ich wußte zur Stunde mit der letzten +Sicherheit, daß mein Traum sich erfüllen würde. Die beiden Rassen, die +heute zu vereinigen solches Elend, solche Zerrissenheit bedeutet, werden +eines Tages, allen Höllenhunden zum Trotz, das Glück der Welt durch ihren +Bund begründen. Ach! Danach darf man nicht fragen, ob man selbst längst ein +Schatten sein wird, wenn diese Dinge sich ereignen. Nur Mut, mein Herz! +rief ich mir an diesem Morgen öfters zu, denn mit seinem fahlen Licht +wuchsen die üblichen Ernüchterungen an. + +Gegen Mittag kaufte ich Blumen und wählte Kuchen mit Bedacht, denn um vier +erwartete ich Monsieur Aramis zum Tee. Nicht ohne Bangigkeit. Seinen ersten +günstigen Eindruck hatte ihm ja Telramund gründlich auszureden verstanden. +Als er in meine niedere Stube trat und mir die Hand entgegenstreckte und +mich ansah, wurde es mir wieder fühlbar. Das Echo der Worte: »Sie lügt! sie +lügt!«, die er von jener Seite unausgesetzt vernahm, war zu eindringlich, +um mir zu entgehen. + +Daß die unteren Zimmer nun endlich frei werden und mein Flügel sogar schon +unten steht, interessiert ihn gar nicht; wen ich in Deutschland gesehen +habe, um so mehr. Die Grenze hatte ich gerade am Vorabend des Tages +überschritten, an welchem der verschärfte Unterseebootkrieg verkündet +wurde; als diese Nachricht alle Anschlagmauern verfinsterte, wäre ich am +liebsten umgekehrt, denn jetzt lag doch alles in Scherben. + +»Une bêtise capitale,« sagte er, »et qui fait bien notre affaire.« Nichts +mehr von Klavier! Ich möchte mich gar nicht mehr mit Politik befassen, sage +ich, und lese: »Sie lügt! sie lügt!« in seinen Augen. Er blieb lange, +sprach jedoch nur wenig und hörte zu. Ich dagegen redete die ganze Zeit, +hemmungslos und aufs Geratewohl. Es überzeugte ihn auch dieses keineswegs. +Sie lügt! sie lügt! blieb das Echo, das zwischen dem Vertrauen, welches er +instinktiv zu mir gefaßt hatte, und den Dingen hallte, die er über mich +hört. Kaum ist er gegangen, so erscheint Fortunio auf dem Plan, gespannt zu +hören, wie der Besuch verlief. Ich komme ihm jedoch zuvor: Wenn Aramis mir +mißtraut, so mißtraue ich seiner Menschenkenntnis. Es ist zu leicht, mich +zu durchschauen, als daß es erlaubt sein dürfte, mich zu verkennen. Ich bin +so eindeutig wie ein Pferd. Seine Gangart ist unmißverständlich genug! + +»Sie sind aber kein Pferd,« sagte Fortunio, »und gerade Ihre Eindeutigkeit +ist mit Ihrer sonstigen Art nicht so ohne weiteres in Einklang zu bringen.« + +Daß er dabei eine so bedenkliche Miene beibehielt, riß an meinen ohnedies +zerzupften Nerven. Er erinnerte mich allzusehr an einen Schreibtisch, der, +mit großen und kleinen, inneren und äußeren, ja sogar mit geheimen +Schubfächern ausgestattet, für mich aber nur eine einzige Lade offen hielt. +Ich fühlte mich plötzlich tödlich gekränkt. Und womit hält er heute zurück? +Auch er, auch er! sage ich mir. + +»Ihr Roman kursiert jetzt in Bern«, geruhte er mitzuteilen. + +»Um so besser. Zeit wär's, daß hier das rechte Licht über mich aufgeht.« + +»Leider nein«, sagte Fortunio. »Das Buch schadet Ihnen.« + +»Schadet mir!?« + +»Ich hätte es auch nicht gedacht. Aber die große Zielbewußtheit, welche Sie +Ihrer Heldin einverleiben . . .« + +»Aber gerade die Natur dieser Zielbewußtheit . . .« unterbrach ich ihn. + +»Gewiß, man sollte glauben . . .« + +»Hören Sie, das ist nicht möglich!« Und in höchster Ungeduld riß ich an +allen Schubladen zugleich. + +»Ich selbst«, machte nun Fortunio mich vertraut, »habe die Leute auf das +Buch hingewiesen. Ich glaubte, Ihnen nicht besser dienen zu können.« + +»Es ist nicht möglich, daß Aramis sich verdreht dazu stellt«, rief ich +wieder. »Es kann nicht sein!« + +Fortunio zuckte die Achseln. + +»Aber sogar Telramund, dieser Gräuel, lobte es über den Klee.« + +Er schwieg. Es entstand eine Pause. + +»Das ist furchtbar«, sagte ich. »Es geht also um ein Duell zwischen mir und +diesen Leuten.« + +»Sie sind so ungeduldig! Die Dinge wollen ihre Zeit. Letzten Endes ist es +immer die gute Gesinnung, welche triumphiert.« + +»Oh! letzten Endes«, wehrte ich ab. »Daß meine Grabrede besser ausfallen +wird, glaube ich ohne weiteres. Mais d'ici là . . .« + +Fortunio wollte mich überreden, mit ihm auszugehen, doch ich blieb zurück. +Was ich ihm dabei nicht verriet, war meine Absicht, im Laufe des Abends +nach Martin im Walde zu sehen; denn mir lag das gestrige Zusammensein, dem +Fortunio keinen Gedanken mehr schenkte, schwer im Gedächtnis. + +Fürs erste war meine Niedergeschlagenheit zu groß, um nicht allein mit ihr +zu bleiben. + +Die Tatsache, daß in Ermangelung anderen Beweismaterials nun gar mein Roman +als Belastung herhalten sollte, war insofern der comble, als sich ja dann, +auf diesem kürzesten Wege, so ziemlich alles auf den Kopf stellen ließ. +Gegen solche Waffen war jedenfalls nicht aufzukommen. Sie waren zu alt +erprobt. Ich hatte zuviel erfahren. Ich wußte zu viel. + +Oh Fortunio! es ist dir nicht bekannt, warum ich lebe. Wie ein nach Süden +schauendes Ufer fängst du die Sonne auf; wie eine nach Norden aufgerichtete +Mauer stehe ich zu ihr. + +»Von allen Menschen weg«, dachte ich da, »und zur Sonne hin!« Angebetete +Sonne! Ohne dich zu sein! Beseelt, doch unbeseligt steht mein Haus. Wo du +undeutlich werden und verflimmern läßt, wo du begünstigest, ja, wo du +lügst, hast du doch immer recht, und nichts bestünde vor deiner Glorie. + +Es hatte längst durch alle Stockwerke gegongt, doch ich blieb wie ein +Wetterwinkel am Fenster haften, jenen Bergkuppen vergleichbar am Rande des +Tals, die alle Wolken an sich ziehen; so schien auch ich alle Düsterkeiten +heranzulocken. Und es gab dann nur zwei Möglichkeiten, um dagegen +aufzukommen: entweder die Arbeit, die auch wirklich die Atmosphäre läutert, +oder der Umgang mit Menschen: ein Notbehelf nur, welcher zwar, wie der im +Unwetter aufgespannte Schirm die ärgsten Güsse von uns abhält, an der +Witterung aber nicht das geringste ändert. + +Augenblicklich war mir jedoch der Mut so gänzlich ausgepustet, daß ich mich +plötzlich im Sturmschritt zu Martin im Walde aufmachte, sehr in Sorge +sogar, ihn zu verfehlen. Ja, die Sorge steigerte sich zur Angst, so +windschief stand es um mich. Aber die Herrschaften ließen, Gott sei's +gelobt und gedankt, bitten, und ich jagte die Treppe zu ihnen hinauf. Die +Stimmung, welche dort betreffs der gestrigen Fete herrschte, war natürlich +schlecht. Mit sehr unerwarteter Schauspielkunst gab Martin im Walde alle +Figuranten des Abends in einer Person zum besten, wobei er die ihm +zugewiesene Rolle gar grimmig unterstrich. Ich lachte fürs erste aus vollem +Halse, wenn auch mit recht halbem Herzen, brachte dann alle meine Glätt- +und Bügelkünste zur Anwendung, zog meine Döschen, Fläschchen und +Beruhigungstropfen hervor, mußte mir aber dabei sagen, daß hier wieder +einmal ein wünschenswerter Zusammenschluß vorbeigeglückt war. + +14. FEBRUAR. Ich kann erst morgen die unteren Zimmer beziehen: ein hübscher +alter Sekretär, ein altmodisches Sofa und ein schönes Tischchen kommen mit +mir. Auch die Kiste mit meinen Sachen ist eingetroffen. Als ich nachmittags +die Lauben hinunterging und an die Zimmer dachte, wie sie mit ein paar +indischen Schals, der schier vergessenen blauen Seidendecke und ein paar +Bildern am besten auszustaffieren wären, lächelten plötzlich von rechts +Telramund, von links Ortrud auf mich ein: »Wohin des Wegs?« + +»Nach Hause«, war meine erschrockene Antwort. + +»Wie sich das trifft! Wir sind gerade auf dem Weg zu Ihnen.« + +»Das ist ja reizend«, rief ich entsetzt. »Leider bin ich mitten im Umzug +und darf Sie nicht heraufbemühen.« + +»Das macht uns gar nichts! Wenn wir Sie nicht stören.« + +»Im Gegenteil. Kommen Sie nur.« + +War es nicht besser, die kamen noch in meine alte Stube, als daß sie mit +ihren malocchios meine neuen Räume behexten? »Nur herauf, Ihr beiden! es +ist das letztemal.« Und die Treppe voransteigend, führte ich sie zu mir. + +Dort stand der altväterische Tisch, der mich beschützte und nicht mit mir +ziehen würde. + +Wir nahmen Platz. + +»Aramis war gestern bei Ihnen«, sagte Telramund. »Er hat es uns erzählt.« + +»Warum auch?« dachte ich. + +»Er wird immer launischer«, bemerkte Ortrud. + +»Launisch?« + +»Haben Sie das noch nicht herausgefunden?« fragte Telramund und heckelte +ihn eine Weile durch. »Im Grunde«, klang es fast drohend von diesen +Berliner Lippen, »ist er ein ganz germanophiler Bursche.« + +Ich goß Tee ein und erwiderte nichts. Aber mir wurde bang und bänger über +das Gespräch. + +Daß die beiden es wagten, vor mir, die selbst obenan und mit so fetten +Lettern auf ihrer Proskriptionsliste stand, derart rückhaltlos Leute +auszurichten, mit welchen sie scheinbar die besten Beziehungen +unterhielten, war das nicht ein Beweis für die Rückversicherungen, deren +sie sich versehen hatten? Und wie weit mochten diese gehen? + +Und woher wußte -- von allen Deckungen abgesehen -- dies im wiedererzählen +so blitzschnelle Paar, daß sich unsere usancen voneinander unterschieden? + +War es die starke Gegenwärtigkeit des wuchtigen Tisches, um den wir saßen, +und der wohl einst am Waldesrand Jahrhunderte hindurch als mächtiger Baum +-- wissend und weise -- in rauschender Verschwiegenheit sein Gezweige +ausbreitete -- oder welch überspringender Funke war es nur, der mir da mit +der unbewiesenen und doch stahlharten Sicherheit intuitiver Erkenntnis die +Tatsache enthüllte, daß die Niederträchtigen, aus ihrer, mit +Selbsterhaltungstrieb gepaarten Verdorbenheit heraus, die Menschen, welche +guten Willens sind, ungleich deutlicher erkennen, als diese sich unter sich +durchschauen. Fortunio, von Martin im Walde nicht zu reden, kannte mich +nicht entfernt so gut wie diese zwei: welche Waffen ich gegen sie anwenden +und welche nicht, ihnen war es nicht zweifelhaft, und für sie war ich wie +durchsichtiges Glas. Indem sie mich haßten, wußten sie sogar, daß ich nicht +ihrer Person, sondern ihrer Schlechtigkeit den Haß vergalt, und wenn meine +hiesigen neuen Freunde vielleicht in ihrem Urteil über mich noch +schwankten, diese meine erbittertsten Feinde werteten mich nach Verdienst. +Dies war der Grund, warum sie mich verfolgten. Wer in der Tat stand +einander im Wege, wenn nicht wir? Soweit ich zurückdenken konnte, und lange +ehe er ausbrach, dieser elende Krieg, und dann wieder vom Tage seines +Bestehens an, war ich für einen Frieden um jeden Preis. Mich interessierte, +noch freute kein einziger Sieg. Nur dem Frieden gönnte ich den Sieg über +eine so schmähliche Niederlage wie diesen Krieg. + +Für dieses Paar jedoch waren Versöhnung und Verständigung zwei Dinge, deren +Möglichkeit sie mit allen Mitteln zu hintertreiben entschlossen waren. +Dafür lebte es. Wehe dem Franzosen, der kein Jusqu'auboutiste war. Er hatte +allen Grund, vor diesem deutschen Telramund zu zittern, und wenn nur der +letzte Deutsche verblich, durfte für diese französische Ortrud der +vorletzte Franzose unbesehen verbluten. Denn die Saite, auf welche sie +beide gestimmt waren, ihr Element war der Haß. In welcher Tropenluft aber +lebten wir heute, daß die Gemüter sich mit solcher Fieberhitze entfalten +oder zersetzen durften? Nie hat Gelegenheit ärgere Diebe gemacht. Hier war +Telramund -- vor dem Kriege ein ränkespinnendes, sonst aber vielleicht ganz +traitables Männchen -- zum professionellen Verleumder und Verräter +entartet, und Ortrud, einstens eine gehässige Klatschbase und weiter +nichts, nunmehr zur angriffswütigen Ratte, zur erbarmungslosen +Menschenfresserin von Hokusai. + +Mit solchen Wesen aber paktierte, tergiversierte, lavierte man. + +Und zu denken (dachte ich), daß doch sonst so viele Schutz- und +Trutzverbände bestehen. Der Adel, die Juden, die Ärzte, Arbeiter, Bäcker, +Schneider und Hoteliers, alle bilden sie ihre geschlossenen Gilden und +Vereine. Und nur ausgerechnet die Menschen, die guten Willens sind, sie +allein, die überall verstreuten und ausgelieferten, setzten sich noch nicht +zur Wehr, berieten und versammelten sich noch nicht. Ihr Klub ist der +einzige, der noch nicht zustande kam, ihre Statuten, ihre Geschlossenheit, +ihre Einigung, welche doch gleichbedeutend wäre mit ihrer Vorherrschaft, +über alle Grenzen hin. Denn nichts scheut ja das Geschmeiße so sehr wie +seinen Namen und ihren Boykott. + +Nicht äußerste Vorsicht (die nützte gar nichts!), sondern schroffste +Ablehnung war Telramund gegenüber am Platze. Aus jedem Wort, das ich sagte +oder zu erwidern unterließ, wurden jetzt handfeste Stricke wider mich +gedreht. Solche Leute zu kennen, sie zu sehen, _dies_ war der kapitale +Fehler. + +Ortrud kam immer wieder auf meinen Flügel zu sprechen, und als sie sich zum +Gehen anschickte, bezeigte sie eine Neugierde, ihn zu besichtigen, als +handelte es sich um einen neuentdeckten Raffael. Der Gedanke aber, daß die +beiden als die ersten meine unteren Zimmer betreten sollten, bevor ich sie +noch bezog, versetzte mich in eine so abergläubische Verwirrung, daß ich +die Treppe hinablief, um sie daran zu hindern. Allein die Türen standen +offen, und ehe ich sie schließen konnte, hatten Telramunds meine Schwelle +überschritten und waren meine ersten Besucher gewesen. + +Abends bei A. H. Pax. Ich ärgere mich über Bemerkungen, die dort fallen: +Brücke von Kirchenfeld; die müsse ich doch kennen. Was ist das nun wieder? + +18. FEBRUAR. Meine »Wohnung« ist ursprünglich ein großes Zimmer mit Alkoven +gewesen und nun durch eine eingebaute Wand so unwirsch in zwei geschnitten, +daß sich das Auge an den falschen Massen immerwährend stößt. Aber die +Farben bringen einen gewissen Trost, eine Suleikaportiere, indisch mit +scharlachrotem Rand, führt in ein drittes vorgebliches Gemach, und der +Flügel macht sich ausgezeichnet. + + * * * * * + +Besuch der Miß Annie A. Wir hatten uns seit dem Kriege nicht mehr gesehen. +Sie ist mütterlicherseits deutsch wie ich französisch, väterlicherseits +englisch wie ich deutsch. Nur ist sie nebenbei auch ein Engel von Güte, und +das bin ich nicht. Doch ach! andere werden schon mit mir bemerkt haben, daß +gerade solche Engel von Güte es so oft nicht über sich bringen, die +Vortrefflichkeit derjenigen anzuzweifeln, deren Instanz sie zunächst +unterstehen, ja die es für eine Perfidie halten würden, ihren eigenen +Zeitungen und eigenen Machthabern nicht zu glauben. Wer kennt sie nicht, +diese Engel von Güte, mit ihren »they say«, ihren »man sagt«, ihren »on +dit« und ihren »si dice«. Unbesehen ist für sie der Teufel überall nur +drüben. + +»Mein Deutschtum ist tot in mir«, sagte sie. »Auch Sie sollten sich +entscheiden.« + +Dasselbe Ansinnen, nur umgekehrt natürlich, war mir in Deutschland zu oft +gemacht worden, und ich war in solchen Dingen sehr abgebrüht. »Was brauchen +mich die Franzosen,« seufzte ich, »die ganze Welt steht ja auf ihrer +Seite.« + +Da sie mich traurig sah, schaute sie mich betrübt mit ihren guten und +veilchenblauen Augen an. »I thank God on my knees«, brach sie dann aus, +»that I am English.« + +Auch die Variationen _dieser_ Formel waren mir vertraut. Und ich konnte +nicht umhin, ihr von den Halbengländerinnen zu erzählen, die in Deutschland +unter die Patriotinnen gegangen waren, von Marie von B . . ., die mich wie +keine andere deutsche Frau in den deutschen Blättern verriß, und von jener +jungen englischen Gouvernante in München, die ich in Tränen fand, weil +ihre, an einen norddeutschen Offizier verheiratete Schwester soeben, +anläßlich eines Luftangriffes auf London, von den Zeppelinen als von »our +glorious zeps« geschrieben hatte. Aber kaum hatte ich meine Pfeile +abgeschossen, so war mir's schon leid. Unser Wiedersehen fand also nur +statt, um uns unsere Trennung nur um so fühlbarer zu machen. + +»Nichts ist mehr, wie es war!« rufe ich aus, indem ich sie in meine Arme +schließe. Denn sie ist ein Engel. + + * * * * * + +Bevor Annie A. . . mich gestern verließ, zog sie ein Fünffrankenstück +hervor, das sie mir im Auftrage der Fürstin Patschouli, einer gemeinsamen +rumänischen Bekannten, einhändigte, welche vorgab, es mir zu schulden. +Dieser so kurzerhand beim Schopf gefaßte Annäherungsversuch war zum +mindesten originell. Ich machte ein sauberes Päckchen aus dem Geldstück, +bedankte mich für die schöne Gabe und bat um die Erlaubnis, ihr ein +ebensolches Gegengeschenk machen zu dürfen. Daraufhin schlug sie per +Telephon die Brücke zu mir und lobte einen schwarzen Kaffee, den sie selber +braue. »Bonjour, je vous attends!« und damit hing sie das Hörrohr aus. + +Ich wußte in der Tat nicht, was erfrischender war, ihr Kaffee oder sie +selbst in ihrer herzstärkenden und vorgefaßten Oberflächlichkeit. Die +Fürstin, deren Röcke unten zusammengebunden schienen, ging mit kurzen und +kleinen, aber heftigen Schritten, war braun wie ein Maikäfer, die +auffallendste Erscheinung von ganz Bern, brüsk, witzig und ohne Stachel. Da +sie eine Villa in Tegernsee und Freunde in München hatte, war sie im Grunde +germanophil, jedenfalls bayernfreundlich, und stand außerdem stark unter +dem Eindruck der deutschen Siege. »Je suis l'amie des bons jours«, erklärte +sie. + + * * * * * + +25. FEBRUAR. Zwar scheint die Sonne hin und wieder, und die Zauberwand der +Berge stellt sich dann strahlend auf, doch das Licht bleibt spröde. Nie +träumt dieser kalte Himmel dahin, nie ermatten die Reflexe; stets rufen +sie: gedenk! und nie: vergiß! und ewige Gegenwart ist die Fanfare. Oder +liegt es an mir? -- + +»Mein gutestes Fräulein,« sagte mir einmal ein dickgebliebener Berliner +Aufsichtsrat, »wer sagt Ihnen, daß nicht am Ende mit dem Frieden so bunte +Zeiten kommen, daß wir uns nach den Kriegszeiten zurücksehnen werden --, +bis auf die Schlachten natürlich«, hing er mit einer Handbewegung an, als +wären sie ein Detail. + + * * * * * + +ENDE FEBRUAR. Die Tage haben soviel widerwärtiges gebracht, daß mir das +Schreiben verging. Man sollte hier mit seiner Aufenthaltsbewilligung +zugleich ein Vorhängeschloß wie Papageno erhalten; statt dessen wird einem +ein Nessushemd übergeworfen. Schreckliche Stöße mit Fortunio, schwere +Havarie mit Martin im Walde. Telramund, dessen Hochöfen alle in Betrieb +stehen, erstattete ihm einen formellen Besuch und brachte ihm zugleich mit +dem Ausdruck seiner Hochachtung sein Bedauern vor, durch mich und meine +Darstellungen ein so falsches Bild von seinem Charakter gewonnen zu haben. +Halb lachend wird es mir erzählt. Ich mache ihm Vorwürfe, daß er den Mann +vorläßt. »Ihnen danke ich ja die angenehme Bekanntschaft.« Das war im +Herbst, sage ich, wo man noch glauben durfte, es stecke vielleicht doch +etwas Gutes in ihm, an das man sich halten könne. Heute dürfen Sie keinen +Umgang mehr mit ihm pflegen. + +Einem Glücksfall, der allen Glanz eines Hintertreppenklatsches trägt, danke +ich es im übrigen, daß von dieser Seite wenigstens Fortunio nicht mehr irre +an mir werden kann: er saß mit einem Freunde, als Telramund sich zu ihm +gesellte und Äußerungen wiederholte, die er von mir vernommen haben wollte. +»Und nun sehen Sie,« schloß er, »wie sie lügt«, zahlte sein Schöppchen und +ging. Aber in der Eile, mir zu schaden, übersah er, daß Fortunios Freund +zufällig Zeuge gewesen war, wie ich jene Worte nicht nur nicht gesagt, +sondern heftig dagegen protestiert hatte, als sie vor mir fielen. Dies also +wäre, gottlob, besorgt. + + * * * * * + +Es ist gewiß nur recht und billig, daß auch die Überlebenden heute auf der +Verlustliste stehen. Wie man dem Kranken, der nicht teilnehmen kann an dem +Treiben der Gesunden, gerne darauf hinweist, wenn es draußen stürmt und die +Fußgänger gegen Frost und Wind ankämpfen, während er in der geschützten +Stube liegt, so möchte man heute denen, welche fallen, nachrufen: Ihr habt +nichts verloren! + +Ich schreibe der Königin im Auftrage ihrer Mutter, die seit Monaten ohne +Nachricht von ihr ist. Die Idee des Königtums ist gewiß nur deshalb in +Diskredit geraten, weil ein verrohter, subalterner Mensch oder auch ein, +Idiot höchst widersinnigerweise zum Herrscher avancieren konnte. Wegen +meiner Ansichten werde ich hier viel ausgelacht. Aber wie würden sie erst +lachen, wenn sie wüßten, wie gern ich selbst regieren möchte. Da würde man +doch was Richtiges erleben! Kein mittelmäßiger Künstler käme bei mir hoch, +welche Unsummen aber flössen den andern zu; kein Lämpchen ließe ich mir je +als ein Lumen aufschwätzen, also auch kein Talent, das sich zum Genie +aufblasen möchte. Herr Pfitzner bewürbe sich also vergebens um eine +Dirigentenstelle an meinem Theater, und gar Herr Weingartner, welcher die +Wiener Philharmonie herunterbrachte, wage es nicht, vor mich zu treten. Ich +verarge es heute noch der Pariser Kritik, welche ihn seinerzeit »un jeune +dieu« genannt hat. Denn nie hatten die Götter das Geringste mit ihm zu tun. + +Ach, und was für schöne Häuser ich erbauen, was für Gärten ich anlegen +ließe! was für prachtvolle Katzen würden meine Marmorbrunnen entlang +schweifen! + +Doch genug über meine Herrscherzeit. + +Über Weingartner, dessen Überschätzung ich der Pariser Presse verdenke, +fällt mir die Äußerung ein, die kürzlich ein Pariser, den ich nicht nennen +werde, einem Deutschen gegenüber, dessen Namen ich gleichfalls +unterschlage, gefällt hat: »il y a une chose, monsieur, que nous ne vous +pardonnerons jamais, c'est de nous avoir forcés d'aimer les Belges.« + + * * * * * + +Den Abend bei A. H. Pax verbracht. Bei ihm kann man sagen, was einem gerade +einfällt, ohne Gefahr zu laufen, daß es entstellt in alle Winde +hinauswirbelt. Dieser Vorkämpfer des Friedensgedankens, der mit so +feierlichem Ernst seine Stimme zu erheben weiß, ist bei strengster +Sachlichkeit der gemütlichste Mann der Welt, in dessen Atmosphäre man sein +bißchen Humor und sein verlorenes Lachen auf Augenblicke rettet. Gestern +sprach er zwar tief entmutigt über die vollkommene Unmöglichkeit, gegen den +so geschickt angerichteten, so eifersüchtig gehegten und drinnen und +draußen immer neu genährten Wirrwarr in den Köpfen der allermeisten +Deutschen auch nur das geringste auszurichten. Plötzlich tauchte ein +Nachmittag in München aus dem Sommer 1916, ein schattiger Garten, ein +gedeckter Tisch, zwei Damen, die davor saßen, vor mir auf, und wie eine +phonographische Platte spielte sich in hemmungslosem Bayrisch ein +halbvergessenes Gespräch so getreulich in mir ab, daß ich mit einem Male +alle Rollen in einer Person herunterspielte. + +Wir brachen alle in ein schier trostloses Gelächter aus. Waren nicht ganze +Generationen mit allen brauchbaren Argumenten des Scheins in ein Wirrsal +gelockt, dessen Dunkel den Tag derer ausmachte, die es unterhielten, so daß +sie jede anbrechende Helle augenblicklich verscheuchten? + +Und mußten nicht fast alle Gehirne vermodern, ohne zu erfahren, was denn +eigentlich los ist? Mit so teuflischem Geschick sind alle Ausgänge der +Lügenburg zementiert, in welcher sie sich narren ließen. Unschuldig +Betörte. War es nicht überall so? + +Unter den Tagebüchern, welche an den deutschen Gefallenen vorgefunden +wurden, erzählte neulich Abigail von der agence, seien manche sehr schöne +zum Vorschein gekommen. »Warum veröffentlicht Ihr diese nicht auch?« rief +ich. »Nous n'avons« sagte er, »qu'à nous occuper des atrocités.« + + * * * * * + +Dafür, daß ich so viele Dinge nicht verstehe, werde ich mit den paar +Gedanken, die mir im Kopfe sitzen, viele Jahre nach meinem Tode +wahrscheinlich recht behalten, so zum Beispiel mit meiner Skepsis betreffs +der Demokratie. Aber natürlich ist es für andere ärgerlich, das, was immer +sie mich lehren, und was immer ich lerne, gerade nur eben jene paar +Überzeugungen weiter ausbaut und nur ihnen zugute kommt. Jede Erkenntnis +geht nun einmal bei mir auf Kosten einer ganz exemplarischen Unbegabtheit. + +Es müßte einer blind sein natürlich, um an den Sozialismus und seine +Unerläßlichkeit nicht zu glauben. Aber in Wirklichkeit ist heute keiner +sozialistischer geworden, als er es von je gewesen ist. Es scheint nur so. +Machen wir uns nichts vor. Wir haben uns den Sozialismus eingebrockt. Dank +unserer Verkehrtheit nur ist er die einzig richtige Parole. Er ist kein +Ziel, sondern ein Weg. Keine andere Brücke ist stark genug, uns aus unserer +baufälligen Welt zu den neuen Ufern hinzutragen, wo die neuen Autokratien +auf ganz neuer Basis sich erheben werden. Nur durch den Sozialismus, dieser +fausse sortie aus einer Welt der Standesunterschiede, kommen wir zu einer +neuen Welt der Standesunterschiede, der Herrenkaste und der Knechteschar. + +Für diesen Glauben will ich mich gerne köpfen lassen, denn geköpft, sagen +die andern, werde ich ja doch, entweder von rechts oder von links. + +Mittlerweile bin ich viel zuviel unter Menschen. Es geschieht aus Trägheit +und einer Art von Furcht. Denn bin ich nicht zufriedener allein und so viel +weniger allein, wenn ich allein bin? Füllt sich dann nicht die Luft mit +Geistern guter und hilfreicher Art? Und bin ich dann nicht umgeben? + +28. FEBRUAR. Forsell als Don Juan: der Tod als Objekt der Kunst. Forsell +ruft ihn und mißt sich mit ihm. Gewiß ist der Tod nur was wir aus ihm +machen: der größte Individualist fürwahr! Welche Feigheit jagt mich so oft +von mir selber fort zu den Menschen hin, oder hält mich ab, mich ihnen zu +entziehen? Ist es das grauschleichende Verzagen vor jener eisigen +Verlassenheit, in die wir eingehen werden? Hinter dem ganzen +Geselligkeitstrieb der Menschen steckt ja viel mehr Todesangst, als man +glaubt. Die einen fürchten sich vor dem Sterben, die andern vor dem +Gestorbensein; auf dieses, nicht auf jenes gilt es, sich zu bereiten. + +3. MÄRZ. Ich fahre nach Lausanne und gehe dann nach Ouchy hinab, eine +Bekannte aus München zu besuchen. Beißend kalter Wind. Wir besprechen die +letzte Affäre. »Das Schreckliche ist, daß immer alles aufkommt bei uns«, +äußerte sie. So ein Pech! Im übrigen sagte mein guter Vater immer: »In der +Politik gibt es keine Moral«; à qui la faute, wenn die Deutschen dies für +ein unabänderliches Weltgesetz halten, so feststehend wie Tag und Nacht und +die vier Jahreszeiten? gewiß an ihrer Gedankenlosigkeit, aber gewiß noch +mehr an den Vorbildern, welche sie haben. In der Politik gibt es keine +Moral. Sie sagen es wie: Ehre Vater und Mutter, oder: Du sollst nicht +stehlen. Ihre Fantasie liegt ja nicht auf diesem Gebiet. + +8. MÄRZ. Besuch des sozialistischen Reichstagsabgeordneten W. H. Er ist +gegen den Unterseebootkrieg. Ich glaube, daß er unter dem Krieg leidet. +Aber was mich an diesen Sozialisten so furchtbar erbittert, ist die +Preisgabe des deutschen Volkes, auf das sie sich berufen, indem sie +vorgeben, diese oder jene Konzession an die Gegner »ihm nicht zumuten zu +können«. Vor August 1914 gab es kein friedfertigeres auf der Welt: wie die +Posaune des letzten Gerichtes erscholl ihm der Schlachtenruf; es stand auf, +und von da ab glaubte es alles. Wäre es unglücklicher und beunruhigter +gewesen, man hätte es weniger leichtgläubig gesehen. Aber weil es sich +belügen ließ, sollte es nicht auch noch verleumdet werden. Im Januar 1917 +lauerte ich im Hause einer Bekannten dem damaligen Staatssekretär +Zimmermann auf. Er trat ein mit der forschen Bonhomie eines +Kegelklubpräsidenten, der mir jede Schüchternheit benahm, und als ich mit +meiner Rede über die elsässische Frage zu Ende war, nickte er ganz kulant +und bemerkte; »Wir müssen nur bedenken, was wir dem deutschen Volk zumuten +können.« »In vier Tagen haben wir es hineingelogen, vielleicht lügen wir es +in acht Tagen wieder heraus«, sagte ich. Er schien kein bißchen choquiert. +In der Politik gibt es ja keine Moral. + +10. MÄRZ. Heute kam Herr v. Sch. mit der erstaunlichen und fatalen +Eröffnung zu mir, daß sein Chef mich zu sehen wünsche. Herr v. Sch., den +ich von London her kenne, hatte sich große Mühe um meinen Paß gegeben, und +im ersten Schrecken fiel mir keine Ausflucht ein. Ich wagte nicht, es +Fortunio mitzuteilen, der sicher dagegen gewesen wäre, sondern spielte +wieder einmal mit dem Feuer und bat Aramis zu mir. Sollte ich wirklich über +die Brücke von Kirchenfeld, so wollte ich keine Anspielungen darauf, +sondern wünschte um so mehr, daß man es wisse, als man es ja doch wissen +würde. + +Aramis kam sofort zu mir. Wir verabreden ein paar sehr direkte Sätze, die +ich während meines bevorstehenden Besuchs möglichst pointiert anzubringen +hätte, und daß ich nachher zu ihm kommen würde, ihm die Wirkung jener Worte +mitzuteilen. + +11. MÄRZ. Sonntag. Das Wetter ist schön und warm. Die Sonne lacht bis in +das Auto hinein, in dem ich neben Herrn v. Sch. Platz genommen habe. +Schafwölkchen treiben so zuversichtlich am Himmel, und er hängt so hoch, +daß ich nicht sogleich die leise Hoffnung unterdrücke, der Besuch würde am +Ende doch nicht ganz resultatlos sein. Aber nichts von Sonne an Herrn von +Rittersporn, vielmehr der Widerschein des sterbenden Tags. Ich hatte vor +mir einen jener persönlich uranständigen, autoritätsgläubigen Deutschen +strengster Observanz, die vor lauter Gewissenhaftigkeit und Loyalität und +Treue und Ehrenhaftigkeit zur Vertretung der unehrenhaftesten Methoden +unverbrüchlich auf dem Posten ausharren, ein Mann, der privatim gewiß nie +eine Lüge sagte und nur offiziell und in Gottes Namen log. Mit seltsamer +Distanzierung, als sei ich die Angehörige eines fremden Staates, fing er +das ganze Weißbuch mit einer so deprimierenden Weitschweifigkeit an +aufzusagen, daß wirklich nur das fehlte, was es selber wegließ. Er war +bleich, müde, sichtlich schwer unter dem Kriege leidend. Endlich wurde er +fertig mit seinem récital, und ich hatte das Wort in diesem großen, +vielfenstrigen, hellen und doch so unfrohen Salon, in dem keine rechte +Zuversicht aufkommen wollte. Zwar schien auch ihm die französische Frage +vor allen andern am Herzen zu liegen, aber das Feuer, mit dem ich sprach, +dünkte mir selber deplaciert. Hier ist ein Stuhl, schloß ich, faßte ihn mit +beiden Händen und sprang auf, hier ist ein Tisch: nur eins ist heute +wichtig auf der Welt: die Formel zu finden, welche es den Franzosen +ermöglicht, in diesem Stuhle Platz zu nehmen! »Ich bin vollkommen Ihrer +Ansicht«, sagte er. Und zum ersten Male schwante mir, wie wenig er +vermochte. Auf Aramis übergehend, hob ich jetzt seine Beziehungen, sein +Geschick, seinen guten Willen hervor, sowie die Chancen, die er als +Vermittler bot. Hier jedoch fiel ein Schatten. Ich fand keinen Anklang. Es +war die alte Kamarilla, ich merkte es wohl, vielleicht auf indirekte +Umtriebe Telramunds zurückzuführen, aber auch Widerstände, +Unsachlichkeiten. Ich hatte Carry mit Aramis zusammengeführt, ohne +Parteinahme, weil es sich von selbst ergab, und man mißgönnte ihm den +Vorsprung. Auch Carry war voll Ehrgeiz, aber er besaß Schwung, eine +künstlerische Ader, Sinn für Kameradschaft, Ritterlichkeit. Man wußte, wie +man mit ihm dran war. Auf seine Fehler wie auf seine Tugenden fiel das +Mittagslicht. Il ne ment pas, hieß es auf gegnerischer Seite von ihm. Dies +besagte so viel in Tagen wie den unsern! In der europäischen Literatur +ungemein bewandert und von regstem Geiste, besaß er zudem eine glückliche +und wohltuende Art mit Menschen umzugehen und hatte etwas Jünglinghaftes +bewahrt. Selbst ein Mischling, war er rassenmäßig den andern lange nicht so +fremd wie seine zünftigeren Kollegen. + +Es war nahe an zwei Uhr. Vergebens mahnte man zu Tisch. Daß die Unterredung +sich so in die Länge zog, unterstrich ihre Nutzlosigkeit nur noch mehr. Auf +dem Heimweg, in dem schneidend kalten Alpensonnenlicht wurde es mir mit +jedem Schritt bewußter. Die Aare floß so leuchtend blau wie vor zwei +Stunden, als ich über die Brücke fuhr. Mutlosigkeit aber drückte mich in +diesem Augenblick zur Greisin nieder. Wie eine Hundertjährige lehnte ich +über das Geländer und sah zu den Kindern hinab, die wie besessen schrien. +Dann raffte ich mich auf und rannte die kalten Schatten der Keßlergasse +entlang zu mir hinauf. Plötzlich fühlte ich, wie verausgabt ich war, warf +mich auf den Diwan und schlief ein. Aber um vier Uhr erwartete mich Aramis, +und dies weckte mich beizeiten. Ich strich jetzt die Lauben auf der +Sonnenseite hinauf. Oh wie deutlich ist mir der Schein, in dem sie lagen! +Wie ein tobender Schmerz, der auf Sekunden aussetzt, riß er mich auf einen +langen Augenblick in seinen Bann, tauchte mich schonungslos unter in sein +Gold, ließ mich bewußtlos werden wie die uralten Häuserreihen, die es +durchdrang: unempfindlich werden vor Empfindung. + +Bei Aramis herrschte an diesem Vorfrühlingstage schon sommerliche Kühle. +Eine leise Spannung lag in seinen Zügen, und die Wärme, mit der er mich +begrüßte, kontrastierte doch recht seltsam mit dem Empfang, der mir vor ein +paar Stunden zuteil geworden war. Was ich ihm aber zu sagen hatte, war so +verdammt unwesentlich, derart neben hinaus, daß ich erschrak, indem ich es +formulierte. Es ließ keine Spur von Bereitwilligkeit, ihn ernst zu nehmen, +verraten. Und da es vollkommen zwecklos gewesen wäre, ihm etwas vorzulügen, +durchschaute er natürlich die ganze rettungslose Sturigkeit, in die man ihm +gegenüber sich versteifte. + +17. MÄRZ. Abends bei Dätwyler im kleinen Zimmer mit Carry und Fortunio. +Dieser entfaltet mir gegenüber eine aggressive, ja feindselige Haltung +größten Stiles, die keinen Zweifel läßt, daß er von den Vorkommnissen der +letzten Tage gehört hat. Heftige, immer heftigere Szenen auf dem Heimweg. +Ich bebe vor Zorn und sehe ihn so haßerfüllt an, daß er erschrickt. Eine +schlaflose Nacht krönt die Explosion. + +Wie ungerecht war Fortunio! Wie falsch wurde ich hier gesehen! Im Juni +wollte ich nach München fahren und dachte heute schon an das Schlößchen im +bayrischen Vorgebirge wie an eine selige Insel. Waltete dann Telramund noch +hier -- soviel stand fest --, so kam ich nicht zurück. + +Und ich suchte Trost, indem ich an das Schlößchen dachte, angelehnt an den +ernsten Berg: an die lange hölzerne Laube mit dem hölzernen Gartensaal; wie +von Adalbert Stifter für eine seiner Verlobungsszenen erdichtet. Und die +Freundin selbst, die immer Werdende mit der weiten Note der Leidenschaft, +wer, kam ihr gleich? Ging, blickte, lächelte, lebte sie ihren Tag von Jahr +zu Jahr nicht Göttinnen ähnlicher? Wer kannte sie? Wie schön und insgeheim +war unsere Freundschaft verkapselt! Wie verlor die innere Einsamkeit so +manche Schärfe zwischen uns! Weil ich den Spiegel ihres Wesens +unausgesprochen mit mir führte und sie es wußte, war ich, die immer +Zusammenbrechende, ihr Halt. Wer vergalt mir dies hier? -- Eine Fratze sah +man statt meiner. + +18. MÄRZ. Sonntag. Fortunio in dunkelblau und Strohhut holt mich ab, um +nach Worb zu fahren. Es hat sich auf die Feindschaft von gestern wie ein +neuer Friede zwischen uns aufgetan. Wieder liegt das Land in jenem +schonungslosen Licht des Berner Oberlands, das, ich weiß nicht warum, in +die Seele schneidet. Aber das Wetter war so warm und strahlend, daß man +immer wieder innehielt, vor einer ersten Blume, ein paar Schafen, einem +Hause. Wir sprechen heute in aller Ruhe über die Dinge, über die wir +gestern stritten. Ich sagte ihm, daß ich manchmal mit der Sicherheit einer +Mondsüchtigen Dachrinnen entlanglaufen müsse; wenn sie dann herunterfällt, +ist es ganz und gar ihre Sache. -- »Ich fürchte weniger, daß Sie vom Dach +als zwischen zwei Stühle fallen.« -- »Aber das ist ja gerade mein Platz! +Jeder von uns ist heute stärker sich selbst, handelt unweigerlicher seiner +Natur nach als jemals zuvor, und ich habe es halt immer mit dem Vermitteln +gehabt.« -- Er schüttelte den Kopf: »Es sieht nichts dabei heraus.« Und +weil auch ich davon überzeugt bin, beteuerte ich, sind es nur mehr +Gelegenheiten, die sich mir aufdrängen, welche ich ergreife. Niemand hätte +ungerner die Brücke passiert. + +»Ich hätte es nicht getan«, sagte Fortunio. + +»Es gibt Leute, die nicht dazu da sind, nein zu sagen. Zugegeben,« sagte +ich, »daß es die Belangloseren sind.« + +Wir kehrten in ein dunkles, altes Gasthaus ein, und es gab wundervolles +Brot, wundervolle Butter und ebensolche Marmelade. Wahrscheinlich war es +heute auch in Deutschland schön, und die Menschen suchten das Freie dort +wie hier. Es sei denn, daß sie es vorzogen, sich nicht hungrig zu laufen, +da es ja in keiner Herberge etwas Richtiges für sie gab. Besonders die +Kinder . . . so ist einem heute alles vergällt. + +21. MÄRZ. Der Brief einer Deutsch-Amerikanerin, die sich auf der Rückreise +nach New York in Zürich aufhielt, setzte mich in großes Erstaunen. +Kinderlos, von Haus aus eine biedere Württembergerin mit steinschweren +Augen, war sie, in Ermangelung jeglichen Ventils für ihre natürliche +Schwermut, dem Okkultismus verfallen und ein Schreibmedium geworden. Sonst +ohne andere Interessen -- selbst während des Krieges -- als ihren Mann, +ihren Haushalt und allenfalls ihre letzte Häkelarbeit, paßte dieser vom +Zaun gebrochene Brief -- wir kannten uns kaum -- in keiner Weise zu ihrem +Phlegma. Wie kam sie zu meiner Adresse? -- Sie schrieb mir, daß sie mich +warnen müsse. + + +Zürich. + +22. MÄRZ. Der Brief der schwäbischen Amerikanerin ließ mir keine Ruhe, und +ich fuhr hierher. Am Berner Bahnhof kaufte ich Zeitungen für unterwegs. Sie +waren alle von Berichten über Verwüstungen der deutschen Truppen auf ihrem +Rückzug aus Nordfrankreich erfüllt: eine künstlich gestartete Agitation, +dachte ich erst, um dem, in den letzten Wochen abflauenden Haß neue Nahrung +zu geben und Öl in das abnehmende Feuer zu gießen. Denn leise, leise war +von der Möglichkeit zu vermitteln die Rede gewesen. Da koppelten sich denn +die Interessenten des Krieges zu neuen Präventivminen zusammen. Glich ihnen +dieses nicht auf ein Haar? Aber zu meinem Entsetzen fand ich da jene +Verwüstungen, und zwar mit unleugbarer Genugtuung als »militärische +Notwendigkeit« in den deutschen Blättern bestätigt. So war jenem so +aufgerissenen und gemarterten Boden eine neue Schmach zugefügt, und ein +genarrtes Volk gehorchte als sein eigener Henker den Befehlen, die ein Hut +voll toll gewordener Idioten, »Oberste Heeresleitung« genannt, ihm +erteilte. Diese »militärischen Notwendigkeiten«! Oh, wieviel deutsche +Landsmänner würden ihretwillen kläglich verderben! -- Ein Sturm brach in +mir los, um so heftiger nur, als er in Ohnmacht sich entfesselte und seinem +Rasen nichts im Wege stand, als die Wurzeln meines Seins, an welchen er riß +und, wilden Regentropfen gleich, kalte Tränen aus meinen Augen schlug. +Stäupen hätte ich sie lassen mögen, diese Herren Befehlshaber, keine Strafe +wäre mir jämmerlich genug erschienen für diese menschenunwürdigen Köpfe, +deren Nasen kurz ausliefen wie die Schnauzen der Hunde, oh! ebenso unfähig +wie Hunde den geistigen Gang der Dinge zu spüren! Und die erbärmlichen +Blasen dieser infantilen Gehirne, durch ein Wunder des Teufels für +wirkliche Felsengebirge gehalten, beherrschten und verrammelten heute als +»militärische Notwendigkeiten« alle Straßen der Welt! Nein! das war kein +Leben! Es war nicht zu ertragen! Es war mir fremd das Geschlecht, das +solche Dinge befahl und sich nicht scheute, sie auszuführen. Und ich war +betroffen! und ich war mitgefangen. Mitgehangen war ich, ohne mitzugehen! +-- Der Zug lief in die Halle ein; die Passagiere verließen ihn. Hatte der +Wahnsinn der Welt mir den Verstand geraubt? -- Ich konnte mich nicht +besinnen, weshalb ich da auf dem Zürcher Bahnhof stand. Er war von +beißendem Nebel erfüllt, und mit hochgestülpten Kragen eilten alle dem +Ausgang zu, während ich, den Mantel am Arme, im dünnen Kleide dastand, in +unerträglicher Hitze und stürmisch bereit, aus dieser Welt, wie sie sich +drehte, davonzulaufen. Ein Dienstmann fragte, wohin ich wollte, und ich +sagte, daß ich es nicht wisse. Uralte Instinkte der Rachsucht und der +Wildheit tobten in mir wie einst die Peitschen des Xerxes gegen das Meer! +Ha! was wollten sie noch in der Weltgeschichte, diese verspäteten +Hanswurste in dem lächerlichen Aufzug ihrer frisierten Helmbusche, ihrer +aus gelbem Blech gedrehten Achselrollen, den zurückgeschlagenen roten +Eselsohren ihrer Mäntel, ihren albernen Säbeln, gut für ein Possenstück, +gut für ein Schaukelpferd, ein Ulk, bevor wir uns erniedrigten, davor zu +zittern. + +Wie es zusammenhing, daß ein fliegender Zeitungsstand die Erinnerung +zurückrief, welche mir doch gerade die Zeitungen geraubt hatten, mögen +andere erklären, ich telephonierte an Frau Eleonore Grell: sie war zu +Hause. Aber auch ihr Gatte, Onkel Sam aus Mannheim, der flinke +Geschäftsmann mit dem schnurrigen Schnurr- und Vollbart, befand sich at +home. Er hatte sich das okkulte Getaste seiner Frau energisch verbeten und +glaubte es infolgedessen längst unterdrückt. So trafen wir uns denn bei +Huguenin, aber sie beteuerte mir, nichts anderes sagen zu können, als was +sie mir auf ein inneres Drängen hin geschrieben hatte. Ich ließ ihr aber +keine Ruhe und folgte ihr auf gut Glück in ihr Hotel. Und richtig war ihr +Mann inzwischen ins Freie spaziert. + +Wir setzten uns ans Fenster, welches die Limmat überhing. Der See, die +Wolken und das ferne Bergland leuchteten im Abendschein grüßend und +verträumt in dies hochgelegene Zimmer. + + * * * * * + +Hier schalte ich für den Leser eine Warnung ein: die Unwirklichkeit spielt +in diesem Buch so stark in die gröbste Wirklichkeit hinein, daß ich gerade +die besten, an die ich mich doch wenden möchte, abzustoßen befürchte. Aber +ich muß mich streng an die Begebenheiten und ihre Reihenfolge halten, und +wenn ich nicht ebenso chronologisch das große Spiel der Schatten mit +hereinbeziehe, ist dieses Buch nicht wahr. + +Sobald wird ja der Okkultismus seine besondere Peinlichkeit gewiß nicht +los. Denn für Namenloses ziehen da Benennungen mit großem Schwalle herauf, +und geistiger Brechreiz ist die unweigerliche Folge. Wer sich heute auf den +Weg zum Nichts aufmacht, ist jenen Steinklopfern vergleichbar, die auf ein +fragliches Echo hin die Felsenwand behämmern, und mitten im treibenden +Geröll Schutt ablagern, wo kein Liebhaber des Schönen seinen Fuß noch +setzt. Und doch wird für ihn vielleicht die Straße hier gelegt, die nach +dem dornenumwachsenen Reiche schaut, vor welchem Ferne, Wachstum und +Allmählichkeit entstürzt. Denn ob dein Sarg noch auf den Schultern derer +lastet, die ihn hinaustragen, oder ob deine Grabesinschrift seit Jahr und +Tag verwitterte, ist gleich. + + * * * * * + +Ich kehre zurück in das hochgelegene Hotelzimmer, wo wir auf einem roten +Repssofa beim Fenster saßen, das die Limmat und den See und Ferne und +Gebirge übersah. Von Heerscharen erfüllte sich die Luft. -- Auf den Ruf +welches Jagdhorns -- uns Tauben nur unhörbar -- eilten sie her? -- Wie +durchsickertes Gestein so schwoll die Stube an. War der Ansturm der +Schatten das Neue, was es unter der Sonne gibt? -- Aber schon war ich des +einfachsten Denkens nicht mehr fähig: alle Poren des Gesichtes sanft +gebläht, ergoß sich unaussprechliche Verlorenheit, ein hinträumen, +unbeweglich wie ein Leben lang. Das Herz erstickte von all dem Sang und +Braus. Kein Mißton trübte den unendlichen Chor. Ein Chor sage ich. Kein +Ungebetener darin. _Hier war die Sichtung:_ volles Orchester, nicht wie in +unserer Mitte unreines dazwischenfahren, grelles übertönen eines unbefugten +Soprans. _Ausgekämpft!_ + +Ganz versunken in den Vielen oder in mich, selbst? -- (ich unterschied es +nicht) -- faßte ihr wissen und ihr begreifen das, ganze Herz. Des Mediums +hatte ich vergessen. Mir zu Liebe, es ist wahr, doch auf sein Geheiß nur +waren sie hergewallt, so _dicht_! so feierlich gedrängt! »Sieh dich vor, du +kannst nicht wissen, du bleibst allein, oh!« . . . stammelte die Feder. + +Wozu war ich denn hergereist, wenn nicht sie zu vernehmen? Und nun dünkte +mich dies so fremd und kindisch, ein Bilderbuchbegriff. Gab es denn im +Scheine dieser wogenden Luft etwas wie eine Zukunft? Führte man sie nicht +mit sich wie ein Geweih? Wuchs sie nicht an mit uns? War sie denn nicht der +eigene Hauch, der eigene emporstrebende oder schwankende, flackernde oder +in nichts zerrinnende Schatten? Stand sie nicht als der Wald, der aus +seinen Tiefen unsern eigenen Ruf zurückhallt? -- so die Völker, so der +einzelne. Was immer ihnen glückliches oder grausames begegnet, jeden Zufall +riefen, beriefen sie herauf. Wir nennen's Zukunft! -- + +Frau Eleonore Grell hielt mir ein Blatt entgegen, das mit den Schriftzügen +eines zehnjährigen Mädchens überzogen war. Es besagte immer dasselbe: Im Nu +war alle Weisheit abgeworfen und die Furcht, die mich hierher getrieben +hatte, wieder da. + +Verwirre sie nicht, schrieb jetzt Eleonore, und als sie diese Worte gelesen +hatte, legte sie augenblicklich die Feder weg. Nichts hätte sie vermocht, +sie wieder aufzunehmen. Die Sitzung war zu Ende. + +23. MÄRZ. Ich fahre nach Bern zurück. Fortunio kommt mir entgegen, und ich +frage ihn, was von den Berichten über die Verwüstungen zu halten sei. »Die +deutschen Communiqués geben sie ja selber zu,« seufzte er, »sie brüsten +sich sogar.« Wir überschritten den Platz zum Kasino. Das Gebirge strahlte +im vollen Ornat. Wir setzten uns ins Freie und starrten, Verbündete der +Verzweiflung, ohne zu reden, vor uns hin. + + * * * * * + +Fortunio fragte, warum ich in Zürich gewesen sei, und ich verweigerte die +Auskunft. + +24. MÄRZ. Auch meine vier Wände sind mir verleidet. Die Sonne scheint +grell, verletzend, und nachts faßt mich der Schlaf nur wie eine Kranke, um +mich zu erschrecken. Ein Gesicht wendet mir so gemarterte Augen zu, daß ich +erschüttert frage: »Hast du Arme denn nicht ausgelitten?« und fahre +stöhnend auf, weil es nur der Reflex von einem Kummer war, den diese Augen +spiegelten. Nur ein überschwängliches Mitgefühl. + +25. MÄRZ. Gestern abend bei Fortunio war Abigail von der Agence, der +hartnäckig am Thema der Verwüstungen festhielt. Auf dem Heimweg wurde er +immer dringlicher. Logisch, folgerichtig wäre es, zu den Ereignissen +Stellung zu nehmen; unvereinbar mit meiner bisherigen Haltung, wenn ich +schwiege. »In der Tat!« rufe ich in einem Tone, der bitterer ist als Galle. +»Sie reden, als wüßte ich nicht, daß Ihr die Dinge glaubt, die Telramund +Euch von mir sagt.« + +Doch Abigail nahm alsbald seinen Vorteil wahr: »Sie haben es ja in der +Hand, Ihre Freiheit des Handelns zu dokumentieren!« Je mehr er mich in die +Enge trieb, desto schwerer wurde mir zumute, hatte er mir doch meine +eigenen Gedanken verraten. + +»Es wird nicht gut.« Und ich erzählte ihm meine Züricher Reise. + +Er war mächtig interessiert. Ich ließ ihn trotz der späten Stunde zu mir +herauf und zeigte ihm das Blatt Eleonorens. Es enthielt nichts, was ihm +behagte. »Die Hand eines Kindes«, sagte er wegwerfend. Ich bereute schon, +es ihm gezeigt zu haben, und wünschte ihn die Treppe hinab, riß die Fenster +auf, als er gegangen war, und warf sie ruhlos, verlassen, gepeinigt wieder +zu. + +25. MÄRZ. Wie in aller Welt haftete Pech meinen zehn Fingern an? Aber ich +täuschte mich ja! Es war ein Irrtum . . . ah, es war ein Traum, so lebhaft +aber, daß ich mit beiden Händen in die Höhe fuhr. + +Nachmittags bei der Fürstin, in der Hoffnung, ihre nüchterne Atmosphäre +würde mir Ernüchterung bringen. + +»Et la Calicie«, sagte sie. »Ah! ils se valent bien tous, allez!« + +Mir wurde nicht besser, und ich ging. + +Über der Kornhausbrücke hing sehr niedrig eine Mondsichel, so wunderbar +ausgeprägt, so sprechend, so beseelt, so festlich! + +27. MÄRZ. Nicht nur in meinem, nein, ich darf es sagen: mehr noch im Namen +der vielen in Deutschland (oder der wenigen, gleichviel!), welche sich +nicht äußern konnten, wollte ich gegen die neueste Kraftprobe der Herren +Militärs protestieren, und es dabei genau so halten wie die oberste +Heeresleitung, nur umgekehrt: das heißt mit eben derselben Arroganz über +militärische Notwendigkeiten hinwegsehen, wie sie über menschliche und +moralische. Meine Wohnung aber, meine Sachen, meine zurückgelassenen +Briefe, ein gewisses Schlößchen im bayrischen Vorgebirge, das selbst mitten +im Kriege so zauberhafte Kreise zog, dies alles sah ich vielleicht nicht +wieder. Und, die Trennung von meinen Freunden, meine Geborgenheit? Hier war +ich so fremd! Warum aber verhielt sich dies alles bleich, ohne Licht, +unvorhanden, ohne Resonanz, da mir doch wohl bewußt war, daß es wieder in +ganzer Kraft ausziehen würde? Wie jene rein umrissene und sehnsuchtsvolle +Mondsichel, die gestern über der Brücke so tief am Himmel hing und ihn +beherrschte. Was weiß er noch von ihr, sobald die Sonne brennt? So waren +alle Beweggründe, die mich zurückhielten, von einer stärkeren Forderung +entkräftet und verdrängt. + +29. MÄRZ. Kaum war an diesem 29. März mein Protest an das Journal de Genève +abgeschickt, als mir eines jener erprobten Warnsignale übler Vorbedeutung, +die wie mit Hellebarden mein so ganz auf innere Stimmen angewiesenes Sein +umstellt halten, auf einem Rad, als hätte es höchste Eile, entgegensauste. + +30. MÄRZ. Schon verschieben sich sachte wie auf einer Wandelbühne die +Kulissen: Verstummtes, Unterdrücktes belebt sich aufs neue, findet wieder +Farbe und Gestalt. + +31. MÄRZ. Eine Antwort. Schon! -- »Die vielen Zuschriften, der Raummangel +. . . meinen Brief jedoch gedächte man zu bringen.« Es steht nichts von +einem Termin. Aber ins Ungewisse ertrage ich diesen Zwiespalt nicht. Morgen +fahre ich nach Genf zu Romain Rolland. + +1. APRIL. Sonntag. Unter strömendem Regen bin ich nach Champel gefahren. +Rolland wußte schon, warum ich kam. Er war zufällig auf der Redaktion +gewesen, als mein Brief dort eintraf, hatte ihn gelesen und war unbedingt +für dessen Veröffentlichung. + +Ich sprach dann beim Journal de Genève vor und erwirkte, daß der Protest am +übernächsten Tage erscheinen würde. Somit war die Sache erledigt, und ich +ging. + +Das Wetter hatte plötzlich umgeschlagen. Es wehte eine schneidende Luft, +aber See und Himmel strahlten in frühlinghafter Bläue. In mir derselbe jähe +Szeneriewechsel. + +Ein erstickend schwerer Vorhang riß magisch in die Höhe. Nicht der Salève, +der sich hier an allen Straßenecken türmte, sondern die bayrischen Berge in +ihrem seelenvollen Dunst und ihre Waldungen verstellten mir den Weg, und +die betrübten und bestürzten Mienen meiner zurückgelassenen Freunde. Es war +die Trennung von ihnen, das Exil. Drüben im Vorgebirge das Schlößchen, das +wie eine selige Insel auf dem dunkeln Meer dieser Zeiten träumte, die +schöne und musenhafte Freundin, die mich dort erwartete, die dort +verbrachten Herbst- und Sommerwochen. + +Tausend Erinnerungen setzten sich wie Trauerglocken in Bewegung. Oh teuer +erkaufte Ruh! + +4. APRIL. Bern. Abigail besucht mich; sehr gespannt. Ich sage ihm, wie +Rolland, den er immer anschwärzt, sich verhielt. + +5. APRIL. Der Protest ist heute erschienen. Ich kaufe das Blatt, ohne den +Mut zu finden, es zu entfalten. + + * * * * * + +Ich übergehe die nächsten Tage. Diese Aufzeichnungen sind ja nicht verfaßt, +um Gemütsbewegungen zu schildern. Ganz andere Zwecke verfolgt dieses Buch. +Auch ist die Zeit nicht mehr, und man wird härter. Nur im Hinblick einer +Einsicht, einer Erkenntnis, wo Erfahrungen mit immer verstärkter +Deutlichkeit den Charakter des Lebens kennzeichnen und Kommentare stellen +zum Schicksal überhaupt, dürfen wir dabei verweilen. Kein größerer Wahn als +der, zu glauben, man kenne das Leben, um es ausgekostet, sich mit allen +seinen Genüssen, Schrecknissen und Abenteuern vertraut gemacht, viele +Männer oder Frauen gekannt oder geliebt zu haben. Es starb so mancher +ahnungslos dahin, welcher die ganze Welt bereiste. Auch nicht wer Gefahren +überstand, nein, sondern wer die Gefährlichkeit des Daseins, dessen +Gefährdetheit durchschaute, die wie ein giftiger Trank sich unablässig +bereitet und immer die Hefe zurückläßt, um sich neu zu mischen, nur wessen +Auge geschärft wurde für die Schatten, die im Tageslicht aufpassen, nur der +weiß über diese Welt Bescheid, und in ihm lebt das Bewußtsein -- bitter wie +die Aloe --, daß er umsonst gelebt hat, wenn die Schule, durch die er ging, +anderen nicht zur Lehre dienen wird. + +Das erste war übrigens, daß mich die Fürstin ans Telephon rief: »C'est +désastreux! quelle folie!« sagte sie unverblümt; und als ich sie besuchte: +»Je dis ce que je pense, mais est-ce que j'écris, moi? -- Pas si bête!« +empfing sie mich und kochte mir mit heftigen Bewegungen Kaffee. + +Dann aber kam Besuch: eine offiziöse Engländerin, deren Mann mit atrocités +allemandes einen schwunghaften Handel trieb, und ein russischer Diplomat +von professioneller Verlogenheit, die mir Komplimente machten und mich +einluden. Wie schwül mir da wurde! Nein, so war es nicht gemeint, und ich +gehörte nicht hierher! Nicht hierher und nicht dorthin. Bevor die Fürstin +mich mit einer ihrer Brüskerien zurückhalten konnte, war ich ausgerissen +und die Treppe hinabgeeilt. + +Fortunio, der mir auf der Straße begegnete, nahm dieses typische +Palaceerlebnis von der komischen Seite und lachte. Wir saßen zusammen, als +Telramund im biederen Pelzrock, an seiner Rechten die Menschenfresserin von +Hokusai, mit jener so charakteristischen Verleumderwärme, die unbedingt +etwas anderes scheinen möchte, auf uns zueilte. Seine Hand weit +entgegenstreckend, brachte er mir rückhaltlose Schmeicheleien zu +herzhaftestem Ausdruck. Fortunio, welcher fühlte, wie bitter sie mir +mundeten, lenkte das Gespräch auf andere Dinge. + +13. APRIL. Den Abend mit Fortunio und Abigail verbracht. Wir sprachen von +Träumen. Abigails sehr spekulatives Gehirn kann sich in so feinen Windungen +verlieren, daß es sich beizeiten von seiner höchst stofflichen Person +vollkommen losgelöst darstellt. Plötzlich, mitten in einem Satz, den er +sagte, lebte ein geradezu abscheulicher Traum der vergangenen Nacht in mir +auf, und schon begriff ich nicht mehr, daß ich mich jetzt erst auf ihn +besann, unterbrach aber sofort das Gespräch, um ihn zu erzählen. -- +»Achtung!« rief ich, »so etwas Widerliches habt Ihr noch nicht gehört: + +Ein Mann, von dessen schwarzem, fettem, unbeschreiblich schmutzigem Haare +dichte graue Schuppen auf seinen Anzug regneten, war dicht an meine Seite +getreten. Dabei zog er mit einem Kamm durch diese Strähne von nie +dagewesener Schmierigkeit, so daß der graue Regen immer dichter fiel. Ich +rückte unwillkürlich von ihm weg, da fuhr er weitausholend mit diesem +treibenden Kamm in mein eigenes Haar, ich fühlte ihn noch darin stecken und +erwachte vor Ekel.« + +Fortunio schwieg. Auch der zu Kommentaren schnell bereite Abigail äußerte +sich mit keinem Ton. + +»Es steht mir natürlich etwas höchst Widerwärtiges bevor!« nahm ich selber +auf. Auch diese Bemerkung weckte kein Echo. -- Man ging auf konkrete Dinge +über. Es wurde spät. Fortunio erwähnte das neue Blatt, welches Telramund +schon in den nächsten Tagen zu starten gedachte und wie jemand, der sich +ungern etwas zu sagen entschließt: »Er, beabsichtigt übrigens, eine +Übersetzung Ihres Protestes in seiner ersten Nummer abzudrucken.« + +»Was fällt ihm ein!« rief ich. »Das kann er nicht.« + +»Er kann es schon«, sagte Fortunio. + +»Die Friedenswarte bringt sie.« + +»Er will ihr zuvorkommen.« + +»Ungefragt? Ohne sie nur zu zeigen?« fuhr ich im lichterlohen Zorne auf. +»Sie sind Zeuge, daß er mir nichts von einer solchen Absicht verriet, als +er vorgestern zu uns stieß. Ich figuriere nicht in diesem Blatt.« + +»Fassen Sie sich doch!« sagte Fortunio. + +»Nein, ich fasse mich nicht. Oh Fortunio!« rief ich, »oh mein Traum!« + +»Schreiben Sie ihm halt.« + +Ich ließ sofort das Nötige herbeischaffen und schrieb zitternd vor +Aufregung, was er mir diktierte. Dann brachen wir auf. Der gänzlich +verstummte Abigail blieb an unserer Seite. »Die Gefahr ist natürlich,« +bemerkte Fortunio, »daß der Brief zu spät eintrifft.« + +Dies sagte genug. Er wußte mehr. Meine Empörung, meine Wut steigerte sich +mit jeder Sekunde. Je ungezügelter ich mich über den Charakter des +bevorstehenden Blattes ausließ, desto reservierter wurde Fortunio. Je mehr +ich sah, daß er sich ärgerte, desto mehr ärgerte ich mich über seinen +Ärger. Der meine richtete sich besonders gegen Abigail, dessen Schweigen +mir mißfiel. Nicht das Ungestüm, mit welchem ich auf den mir zugedachten +Schlag reagierte, sondern die ausgemachte Tücke desselben schien mir das +wesentliche, was unbedingt eine Parteinahme für mich verlangte. Auf eine +solche ließ jedoch nichts in der, all die letzten Tage so überschwänglich +gewesenen Haltung Abigails schließen. + +Oben in meinen sorgfältig geschmückten, aber von Telramund behexten Räumen, +in welchen ich noch nicht eine einzige frohe Stunde verlebt hatte, noch +fernerhin erfahren würde, brach ich in helle Flammen der Verzweiflung aus. +Dies also war das Resultat! Zu diesem Ende also hatte ich die Worte, zu +welchen ich glaubte, mich entschließen zu müssen, so bang gewogen, so +behorcht. War ich dafür bis an die äußerste Kante einer abschüssigen Stelle +vorgetreten, so weit, als mein Fuß noch Boden unter sich fassen konnte, um +hinterrücks diesen Stoß zu erhalten? Denn was für eine Übersetzung und zu +welchem Zwecke sie fabriziert wurde, wußte ich genau. Am Arme Telramunds, +dieses Verräters, sollte ich an die Öffentlichkeit. Ich hatte mich, es ist +wahr, vom Anfang des Krieges an zur Opposition geschlagen. Aber sie galt +seinen Anstiftern und deren verworfener Gefolgschaft. Das Volk selbst tat +mir unabänderlich leid. In meiner, von kalten Wirbelwinden der Abneigung +durchsackten und durchkreuzten, aber dabei tiefen Liebe zu Deutschland, lag +das Band zwischen Fortunio und mir. Oft sprachen wir davon. Und dünkten uns +allein. Gerade unsere gallische Seite setzte uns ja auf Grund unserer +Abgerücktheit in Besitz des Spiegels, den die unvermischt Deutschen nicht +führen. Ihr Nationalismus ist ja Import, ihr Fremdenhaß unecht, imitiert, +immer bereit, wie Mörtel von ihnen abzufallen. Im übrigen ist die Gefahr +derjenigen Deutschen, welche Selbstkritik üben, viel eher, daß sie +erstarren. Wenn es kein französisches Wort für »Gemüt« gibt, so gibt es +noch weniger ein deutsches Wort für »affectueux«. Die Deutschen -- und das +ist es, was einem oft an ihnen erbarmt -- sind nicht imstande, sich im +geringsten zu hegen. Weil jede Nation seine so typischen Unholde hat, war +Telramund, allen deutschen Germanophoben voran, gerade in dieser +Germanophobie ein so typischer Boche. Jedenfalls durfte der Mann von Glück +reden, daß sein und seiner Gesponsin Leben an diesem Abend nicht in meine +Hand gegeben war. Statt dessen war es _ihr_ Trick natürlich, welcher aufs +beste gelingen mußte, und weit entfernt, daß die beiden verdienterweise und +auf meine Order hin vor Sonnenaufgang baumelten, haftete meinem +Frühstückstablett am Morgen dieses 14. April die erste Nummer der +Telramundschen Zeitung an. Sie umfaßte vier Seiten. Alle Beiträge waren +anonym. Nur mein fettgedruckter, im Reporterdeutsch übertragener Protest +trug meinen Namen. Ich übergehe den Zorn, mit dem ich diese wüste +Revolverprosa las, welche hier als meine eigene stand; wie vortrefflich war +dabei ihre Wirkung auf mich selber berechnet! Denn die Feindschaft von +Leuten wie Telramund ist wie mit tausend Augen auf uns gerichtet, mit +tausend Fühlern in uns verbissen. Sie kennen ja die Ablenkung ins Reich der +Ideen nicht! Sie spinnen keine eigenen Gedanken! Ich Törin hatte, wie über +einen Witz, lustig darüber aufgelacht, daß Telramund meinen Protest als +eine »Manoeuvre allemande« bezeichnet hatte, ohne zu erwägen, daß er +natürlich auf Mittel und Wege sinnen würde, dies zu bekräftigen. So galt es +denn, mich gewaltsam über die Linie zu ziehen, die ich mir selbst gesteckt +hatte. Dies ergab sich ohne weiteres durch den gehässigen Ton der +Übersetzung. Das andere würde ich schon selber besorgen; denn daß ich +reagieren, ja mich hinreißen lassen und ihm in die Hände arbeiten würde, +wußte niemand so gut wie dieser ausgezeichnete Kenner meiner Person. Ja, es +kam noch besser für ihn, als er wohl dachte. + +Fortunio, den ich sofort benachrichtigte, ließ mir sagen, er könne mich +erst gegen zwölf Uhr sehen. Dies war mir viel zu spät. Gleich, in einer +Viertelstunde, bevor noch irgend jemand auf die Gasse trat, mußte meines +Erachtens etwas geschehen. Wahn! überall Wahn! In der Redaktion des Bundes +bestand ich darauf, daß meine Verwahrung sofort in der nächsten Nummer +stehen müsse. Es wurde mir versprochen. Immer noch war es Morgen. Rückte +denn heute die Zeit nicht vor? Alle Hauptstraßen meidend, kam ich im +Sturmtempo zu Fortunio, ihm das fait accompli mitzuteilen. + +Wenn es wahr ist, daß kein Sperling versehentlich vom Dache fällt, nun dann +steht gewiß auch ein jeder unserer Tage unter einer bestimmten +Konstellation, und mein Unstern feierte gerade seinen Mittag. Fortunia, die +auf der Treppe stand, empfing mich mit einem unglücklich gewählten Wort. +Schließlich war es ihr Haus, ich konnte sie nicht niederstoßen. An ihr +vorbei, geradeswegs in Fortunios Arbeitszimmer, der die Mitteilung von +meiner zu erscheinenden Notiz mit einer Kälte aufnahm, die mich unsagbar +erbitterte. Hier bin ich fehl am Ort, dachte ich, und nahm eilends +Abschied. Auf der Straße war es kalt. Ich sah mich um: sie war leer. »Ich +bin verraten«, sagte ich laut. Ich hatte nur ein paar Schritte bis zum +Haus, in dem ich wohnte. Die Hand vor den Augen haltend, als sei mir etwas +hineingeflogen, eilte ich die Treppe hinauf und schloß mich ein. + +15. APRIL. Telramund (immer anonym natürlich) veröffentlicht eine hämische +Erwiderung auf die meinige. Meinen französischen Text und seine Übertragung +würde die nächste Nummer seiner Zeitung zusammen abdrucken. Der Leser möge +sich dann selbst ein Urteil über mich bilden. Ich sofort wie eine +Windsbraut, auf Flügeln des Zorns, in die Redaktion mit einer +»Schlußerklärung«. Auch diese wollte ich sofort eingerückt sehen. + +Daraufhin vertiefte sich das Waldesschweigen um mich her. Fortunio war ohne +ein Wort nach Lugano abgereist. Ich begriff es nicht. In meiner Unkenntnis +alles dessen, was mit Partei- oder Presseinteressen zusammenhing, wollte +mir ein Überblick der besonderen Situation nicht gelingen. Ein paar Dinge +sah und erkannte ich mit unbeeinflußbarer Sicherheit, gleichsam durch ein +Brennglas, mußte aber jede Einsicht mit einer Unzulänglichkeit überzahlen, +jedes Überbieten mit einem Versagen. Wer mich für dumm erklärte, dem hatte +ich von jeher meinen Segen gegeben. Es will keine Geographie in meinen +Kopf; vergebens starre ich auf einen Globus; ein Morseapparat bleibt mir +ein unergründliches Geheimnis; in scheuer Bewunderung starre ich während +einer Panne auf die Mechanikerkünste des Chauffeurs, und so teilnahmslos +ist gewiß kein Mensch, daß er, ohne mir beizustehen, zusehen könnte, wie +ich meine Koffer packe. Durch Vorzüge, wie durch Mängel isoliert, muß ich +mich selber auf mich nehmen wie ein Kreuz. Es kann geschehen, daß ich vom +Blatt begleite auf eine Weise, die jeden Musiker empfinden läßt, welche +Entbehrung es für mich ist, ohne Musik zu leben, und mir selbst wird zumute +gewesen sein wie einem plötzlich freigelassenen Pferd, das über eine Ebene +voll Sonnenlicht und Schatten fliegt. Nichts kommt seinem Rausche gleich. +Von solchen Augenblicken wahren Lebens erwache ich zum Tode des Alltags wie +ein Gefangener aus seinem Freiheitstraum. Gerade nach solchen seelischen +Abenteuern aber wird es am leichtesten vorkommen, daß ich mit einer +aufgeregten Hilflosigkeit, viel eher eines Dorftrottels, als meiner würdig, +nach meinen vergessenen oder verirrten Habseligkeiten suche, und keiner der +Musiker von vorhin würde mich wiedererkennen. + + * * * * * + +21. APRIL. Besuch Abigails. Oh nichts von Komplimenten mehr! Nichts mehr +von »femme exquise«. Wir prasselten uns Vorwürfe, groß wie Taubeneier, ins +Gesicht. Meine Schlußerklärung sei eine Abschwächung gewesen. Ob dies der +Moment wäre, zu sagen, daß es Boches in jedem Lande gäbe. + +Es sei die Wahrheit. + +In der Tat hätte ich die richtige Gelegenheit ergriffen, dies zu äußern. + +»Ihr habt ja meinen Protest als eine manoeuvre allemande angesehen.« + +»Cest donc une vengeance«, sagte er, indem er sich zum Gehen anschickte. +Ich eilte zur Tür, und, vor ihr aufgepflanzt, gedachte ich das letzte Wort +zu haben, als mir plötzlich ein Licht aufging, auch Fortunios wortlose +Abreise mir erklärte. »Sie haben das Wort >Abschwächung< gebraucht«, sagte +ich, »und werden dieses Zimmer nicht verlassen, bevor Sie mir selbst, +geholfen haben, einen Nachsatz aufzusetzen, der jede Möglichkeit einer +solchen Auffassung ausschließt. Alles andere ist mir im Augenblick egal.« + +Mein Entschluß einer neuen Bekräftigung konnte ihm nur erwünscht sein. Es +setzte ihn in den Stand, zum zweiten Male Heu einzufahren, nachdem das +erste verregnet war. Zum dritten Male schlug ich nun den Weg in die +Redaktion des »Bundes« ein. Nicht mit Unrecht wurde ich aber dort darauf +hingewiesen, daß sich eine Schlußerklärung mit keinen neuen Erklärungen +vertrüge. Ich führte mit aller Vehemenz dagegen aus, sie sei für mich +Ehrensache, und setzte endlich ihre Veröffentlichung durch. Natürlich mußte +sie wieder auf der Stelle her. + +Daß hiermit ein Loch an Stelle eines Fleckens trat, war mir zwar klar. Und +nach der deutschen Seite hin verschlechterte sich natürlich meine +Situation, war eine Herausforderung mehr. Doch auch die formvollendetste +Blamage durfte ich in diesem Augenblick riskieren, nur nicht, daß behauptet +werden durfte, ich liefe vor meinem eigenen Mute davon. Ich war froh, daß +jetzt um mich her eine solche Leere bestand, und niemand in Sicht, der mir +einen Rat erteilen konnte. Denn der Fall lag allzu klar. Hier war es nicht +le ridicule qui tuait. + +23. APRIL. An der Schnelligkeit jedoch, mit welcher jetzt meine Stimmung +umschlug, merkte ich den Stoß, den mein Gleichgewicht erfahren hatte: meine +Gemütsverfassung war eins mit dem herrschenden Wetter: Regen, Finsternis, +zerrissenes Gewölke, Himmelsblau, Sonne und wieder Sturm und Schnee. Kurz +entschlossen löste ich eine Karte, um einer Aufforderung A. H. Paxens nach +Lugano zu folgen. + +Abigail, der sich nachmittags bei mir meldete, war sichtlich erfreut über +die inzwischen schon erschienene Notiz. Aber ich hatte jetzt reichlich +genug von der leidigen Geschichte, deren dickes Ende ja noch bevorstand, +denn bis jetzt hatte noch kein deutsches Blatt auf meinen Vorstoß reagiert. + +23. APRIL. In Luzern unterbreche ich meine Fahrt und steige im Hotel Tivoli +ab, bei Glasenfrosts. + +Warum aber fallen nachts Felsenblöcke über mich hin? Warum sehe ich einen +Baum an einem unsichtbaren und doch so verzehrenden Feuer verbrennen, daß +er im Nu nur ein Gerippe ist von einem Baum? Ohne Flamme und ohne, daß ein +Blitz ihn traf, nur ein gespaltener Stamm? + +Warum stürzt von zwei Leuchtern der eine mit herabgebrannter, erloschener +und tränender Kerze zu Boden? Eine trübe Bildersprache, die ich in diesem +Jahre noch nicht entziffern sollte. + +Um Mittag fahre ich weiter. Jenseits des Gotthard gerät der Himmel ins +Lachen. Er findet offenbar die Welt noch schön. Tröstlich prangende +Blütenhänge und endlich, tief unten, das hingezauberte Blau des Sees, einem +verliebten Abendhimmel hingegeben. Und die Bäume stehen hier wie sanfte, +begütigende Bräute. + +Der Weg nach Paradiso ist holperig genug, auf den Bergen oben leuchten +feurige Spieldosen auf. Die Natur ist ein Zwischenakt mit +Verwandlungsmusik, und die Nachtluft wird von Amoretten hingetragen. Oh +Plansee im bayrischen Gebirg! Du See auf dem Plan, so hoch oben im Wind! +Warum schwebst du, Verwunschener, mir vor? Vor mir liegt lächelnde +Erfüllung. Du aber bist unbegrenzte Sehnsucht und Verweigerung. + +Ein nachgesandter Brief von ihr, die von jenen Bergen spricht, hatte mich +in Luzern ereilt. »Bald kommt der Sommer, schreibt sie, rücken wir ihm vor. +Der Flügel wird schon in der Halle aufgestellt, die Schwalben fliegen gewiß +schon ein und aus.« + +Die Droschke rollt jetzt auf glatter Fähre den See entlang. + +25. APRIL. Fortunio, welcher von meiner Ankunft bei Paxens erfahren hatte, +kommt, verfehlt mich, telephoniert und bittet mich zum Tee. + +Ha! denke ich, diesen Tee soll er sich merken bis in sein achtzigstes Jahr. +Mit vielem Bedacht staffiere ich mich zu diesem Wiedersehen heraus, um die +Meinung, die ich mir von seinen Ritterdiensten gemacht habe, möglichst +wirkungsvoll zu unterstreichen. + +Wie dem auch sei, ich trug an diesem Tage ein, wenn auch nicht neues, so +doch neu beschlagenes Kleid mit halblangen, weit auslaufenden Ärmeln. Weiße +Besätze, federleicht und schwarz besäumt, schlossen sie am Ellbogen in zwei +Reihen ab. Zwischen ihnen lag wieder eine Spanne Stoffes, den sie ein wenig +heruntergezogen, denn so dünn ihr Gewebe war, durch ihre Fülle beschwerten +sie ihn doch. Beim Gehen glockten sie ganz leise ab und zu und hingen dann +still, bevor sie sich von neuem bewegten. Es war in der Tat ein sehr +rhythmisches und geglücktes Ärmelpaar. Vor allen Dingen aber -- andere +mögen dies gewiß auch schon beobachtet haben -- können wir von einer +»geistigen Schminke« angeflogen werden, chimärisch wie jene, welche die +Kosmetiker bereiten -- denn auch sie, wenn sie von uns fällt, läßt uns +fahler, aufgeriebener als zuvor. -- Indes gewährte ich den ausgestandenen +Nöten der vergangenen Tage ihr beredtes Schattenspiel, ja ein +selbstbewußter Schleier chiffrierte noch ein übriges dazu. Also gepanzert, +höchst intangibel und durchaus bestechend ging ich, die ihm zugedachte +Szene wohl im Kopf, gewandten Schrittes, als hätte ich soeben meine besten +Erfolge hinter mir, auf ihn zu. + +Es gehört jedoch irgendwie mit zum Leben, daß im geringfügigen, wie im +großen die Dinge anders verlaufen, als man sie erwartete. + +Zwar in der Tat eilte da Fortunio wie mit neubeschwingter Freundschaft mir +entgegen. + +Seine Sympathie, erklärte er dabei, hätte nun wirklich die Feuerprobe +bestanden. + +»Wie meinen?« + +Da nicht einmal die desaströse Erklärerei im »Bunde« vermocht hätte, daran +zu rütteln. »Sie kennen die letzte nicht«, erwiderte ich mit der +erkünstelten und flackernden Würde einer Überrumpelten. + +»Was!?« schrie er entsetzt und fuhr mit den Armen in die Luft. »Noch +eine?!« Unglücklicherweise mußte ich lachen, und da mir dies seit drei +Wochen nicht mehr vorgekommen war, hielt ich nicht sogleich inne, sondern +geriet ins lachen, wie einer ins laufen gerät, und ehe Fortunios Arme sich +wieder gesenkt hatten, war er angesteckt. Es gab kein Aufhalten mehr. +Lachraketen stiegen jetzt in die verblaute Luft, in einer vor Wonne +irrsinnigen Natur. Wäre ich zehnmal bedrückter noch gewesen, ich hätte +gelacht. + +Bald fingen denn auch die Berge wieder an, ihre funkelnden Spieldosen +aufzuziehen. Nicht einmal nachts wollte diese Landschaft zum Ernste +gelangen; des Krieges selber schien sie zu spotten. Wer hatte denn recht, +wenn nicht die Bäume hier am Strand des Sees, die ihre Düfte einander +zuhauchten und vertauschten, und wenn sie welkten, wieder erblühten, und +wenn sie verdorrten, andere dafür erwuchsen. Es war mir ein Schlag ins +Wasser geglückt. Und was dann? + +Ich zog Fortunio mit in den Kursaal, sah den Dämchen zu, wie sie tanzten, +gewann sechs Franken und verlor deren zwölf. + + * * * * * + +Und nunmehr ging ein Tag blitzender als wie der andere auf, und wie in +einer leuchtenden Schale der Vergessenheit zerfloß der See. Vergiß! Vergiß! + +Es hinderte nicht, daß ich Fortunio bei Gelegenheit das alte Leitmotiv +vernehmen ließ, solange Telramunds im Hintergrunde säßen, sei jede Aktion, +jeder Versuch, dem Haß entgegenzuwirken, im vornherein eine gescheiterte +Sache. Er ist für das »abwirtschaftenlassen« solcher Elemente, und ich +nicht. Denn bis sie abgewirtschaftet haben, ist ja zuviel verdorben, +aufgehalten, zugrunde gerichtet. Fortunio, in vielen Dingen weit +beschlagener als ich, sieht nicht, wo ich erfahrener bin als er. Gewiß sind +ihm die Götter hold. Taucht er unter, so fischt er gleich etwas Schönes, +hält's gegen das Licht, freut sich des Prismas und läßt sich von den Wellen +schaukeln. + +Die paar Meinungen dagegen, die mir unverrückbar im Kopfe horsten, muß ich +zu Markte tragen, und habe keine Ruhe. Muße bleibt Müßiggang für mich, +solange ich sie nicht formulierte. Und die Aufgabe ist doch so schwer, daß +ich vor jedem Anlauf von neuem zögere. Bis mein Tagewerk gelingt, sofern es +mir gelingt, wird der Abend für mich herangebrochen und meine Gastrolle in +dieser zweifelhaften Welt ausgespielt sein. Sollten meine Bücher mich +überleben und ich selber wiederkommen, so lese ich sie vielleicht, und +vielleicht wird mir dabei etwas sonderbar zumute. Ein Dirigent möchte ich +dann werden. Regieren möchte ich! + +Die erste Katze möchte ich sein, die keine Vögel mordet. Ich bin in diese +beiden Tiere vernarrt und wünschte, sie schlössen Frieden. + +Um auf Fortunio zurückzukommen: darüber sei man sich vollkommen einig, +sagte er, wie Telramunds Verfahren mir gegenüber zu qualifizieren sei. + +Warum ergriff denn keiner meine Partei? + +Er zuckte die Achseln, wie jemand, der es aufgibt, etwas zu erklären. +Gerade dieses Achselzucken aber gab mir endlich voll und ganz zu verstehen, +mit welch unsäglich trübem Wasser in Politicis gekocht wurde; so zwar, als +müßte es so sein. Diese Notwendigkeit war es gerade, die ich mich +anzuerkennen weigerte. + +Ich kann gar nicht aussprechen, wie grausam mich der Plan von einem +»Zusammenschluß der Geistigen« anlächert . . . Wie sollte ein +Zusammenschluß der Geistigen zustande kommen, da noch ganz und gar kein +Zusammenschluß gegen die Ungeistigen besteht? Ach, kennt ihr Geistigen die +Welt noch immer nicht? Was redet ihr groß von eurem Zusammenschluß? Sprecht +von Aufgebot, von einem Kampfesruf gegen den Zusammenschluß jener, denen +alle Waffen zu Gebote stehen, welche die Gemeinheit führt, dem einzigen +Zusammenschluß, der sich bisher verwirklichte, denn dort gebietet der +Verworfene über den Verworfeneren, und der Verworfenste ist es, der das +Zepter schwingt. + +Sprecht von Ausschluß, sprecht von Sorge. Davon sprecht, daß es keine gute +Sache geben kann, solange schlechte Elemente sich zu ihr bekennen dürfen, +um sie zu untergraben, ist doch an ihrer eigenen nichts mehr zu verderben. +Zum Zerstören aber sind sie da. + +Gelänge es mir, auf diese noch immer nicht genügend beachtete +Beschaffenheit der Dinge die Aufmerksamkeit zu lenken, ich hätte nicht +umsonst gelebt. Ich weiß ja, wie sehr mein Scharfblick auf Kosten von +Kurzsichtigkeiten geht. Welche Pein ist das! Ich stürme nicht voran, ohne +über das Nächstliegende zu stolpern. Von ausgemachter Selbstherrlichkeit, +wo ich meiner Sache sicher bin, unheilbar blöde, unheimlich schlau, so +harmlos, daß man kichert, so gerissen, daß man mir mißtraut . . . + +27. APRIL. Ein Berliner Kriegsgewinnler, den Paxens von Wien her kennen, +meldete sich bei ihnen zu Besuch. Der erste, dem ich mit Bewußtsein +begegne. Nie habe man bei Hiller so gut gegessen, nie bei Borchard soviel +Champagner getrunken. Die Welt habe jetzt die deutsche Faust +kennenzulernen. Was Ludendorff befahl, sei _unbesehen_ das Richtige, und +keine Kritik gestattet; (das galt mir!) Gott, wie gemütlich man hier +beisammen säße, während die Völker einander schlachteten. (Dies sagte er, +wie man am warmen Kamin vom Schneesturm spricht, der draußen wütet.) Allen +könne es nicht gut gehen, bemerkte er auch. »Schweigen Sie«, rief Frau A. +H. Pax. Er guckte etwas verdutzt. »Das ist ja schrecklich mit unserer +Valuta«, lenkte er dann ein. »Und mit der geistigen erst!« fuhr A. H. Pax +dazwischen. + + +Kunstwerk der Zukunft. + +28. APRIL. Heute früh bin ich in einer Messe gewesen. Aber welche Messe! In +einem sehr alten, dem See gegenüberliegenden und köstlichen Bau: Traumhafte +Fresken, das übrige mit roten, langverjährten, rosagewordenen Damasten +ausgeschlagen. So gut wie leer. Die Schellen, die der Ministrant in +Bewegung setzt, erklingen abgetönt und sind gewiß aus Silber, +Weihrauchwolken steigen vom Altar. Dunkel -- nein nicht dunkel, von einer +lichten Penombra wie eine bedeckte Vollmondnacht, ohne Orgel und Gesang, +und dennoch brausend, unendlich groß, ja wie zum Firmament -- (wie wurde +mir?) weitete sich das stille und verlassene Haus und schwamm im All. + +Endlich wieder eine schöne Kirche. Die in Bern hatte ich aufgeben müssen, +denn so war die Messe wirklich nicht gemeint. Als ich aber jetzt durch die +schwerbehangene Türe ins Freie trat, auf den noch leeren Platz und den +besonnten Strand, wo die Platanen ihre eben erschlossenen Kronen so +bräutlich dem Licht entgegenhielten, da schien dies alles, diese Natur mit +den dekorativ vor und wieder zurücktretenden Wänden ihrer Berge und das +gekräuselte, wie in sich selbst verliebt hinziehende Gewässer, selbst der +Himmel, der darüber hing, schien nicht so weit wie der eben verlassene, +leicht zu umspannende Bau mit den damastenen Wänden von verblaßtem Rot. + +2. MAI. Die Pforte, die ins Weglose führt, wurde bisher nur im Vorübergehen +angekreidet. Ziemt es sich doch nicht, es zu beschreiten. -- + +Diejenigen aber, welche solange über die Schiffbarmachung der Luft +gegrübelt haben, sind nicht dieselben, welche sich auf Äroplane schwingen, +sondern viele Jahrhunderte werfen ihre wilde Brandung zwischen sie. Und +doch, und doch . . . + +Wie in der nunmehr erkrankten Luft die Menschheit eine infizierte oder +jedenfalls, auch ohne es zu merken, eine affizierte ist, wie vielleicht ein +Pesthauch so allmählich unseren Planeten umschichtet, daß wir es nicht +gewahrten, ebenso glaube ich, daß bei vielen unter uns der innere Sinn dem +lautlos tumultarischen drängen und wogen (wo gäbe es Worte?) der so zahllos +und so jäh entströmten Leben zugewandter ist, als sie es wissen. Da sind +Akzente, da sind Lockrufe, die noch nicht ergingen . . . Da treiben wehe +Schwingungen der Wonne von unaussprechlicher Pein, da greifen Klänge ans +Herz, zerspringen und ermatten wieder, ohne zu ertönen, und da sind uns +Zaubertränke hingehalten, als hätten wir geistige Lippen, sie zu genießen +. . . + +Es war nicht mehr Nacht, aber der Tag dämmerte noch nicht. Ich schlief +nicht mehr und war noch nicht wach. Eine Gestalt, höchst eindrücklich in +ihrer Schattenhaftigkeit, erfüllte die Atmosphäre bis an den Rand, als +müsse diese wie ein zu voller Becher überfließen, das Zimmer sprengen oder +sich entflammen. Und schon war das Unnennbare ungegenwärtig, und es wäre +lächerlich unzureichend, wenn ich sagte, es hätte sich entfernt, so ganz +außer jeder Beziehung stand es zu Zeit und Raum. + +Was aber war inzwischen nochmals vor mir aufgeschimmert? Locken? -- von +einer Gelocktheit, die es nicht gab, von einer goldenen Blondheit, die +nicht vorkommt, ein Licht, das ich nicht kannte, schärfer, und dabei nicht +so grell wie das des Tages. Geisterhaft? Aber es war ja von einer +schärferen, wärmeren, pulsierenderen Lebendigkeit gewesen, als wir sie +kennen. Wir sind nicht lebendig genug, dachte ich bestürzt, und schlug die +Augen auf. Draußen hatte sich ein Wind erhoben. Die Fenster sahen auf den +Garten; der Himmel ganz blaß, aber im vollen Staat. Kleine Wolken als +Vorreiter ausgesandt. Die Bahn war frei, die Vögel vollzählig, Brust +heraus, in Positur und einzustimmen bereit. Höchste Spannung in den Bäumen: +kommt sie schon? Blumengeflüster: ist sie schon da? -- Es war alles wie am +ersten Tag. + + * * * * * + +3. MAI. Sicher haben die Menschen ihr Hofzeremoniell dem Sonnenaufgang +abgelauscht. An sich gewiß eine hübsche Idee. Mit acht Jahren war ich im +Kloster Page der schönen Gelmini, die an Epiphania mit dem Beinamen die +Gerechte zur Königin ausgerufen wurde. Meine Haare wurden Tage hindurch im +Hinblick der zu drehenden Locken mit gezuckertem Wasser gedrillt. Dem +Hofnarren fielen sie aus der Schellenkappe tief ins Gesicht. Denn gelockt +standen wir alle am Tage unseres Umzugs. Gelmini wurde zweimal gewählt und +starb das Jahr darauf. Wie groß war mein Staunen, als ich später erfuhr, +eine erwiesene Larve könne ihr Lebtag lang unter Zimbeln und Trompeten als +»Majestät« aufziehen. Und welches Gelächter erntete meine Entrüstung! Aber +wie oft hat der verspottete recht! Jede Epoche hat ihren wahren +Fürstenkonzern. Wir verkannten dies ganz: darum sind heute unsere goldenen +Kutschen remisiert. Großherzogliche Hoflieferanten, Palast- und +Schlüsseldamen, wo seid ihr? Terror der Wiener Komtessen, wo bist du? Kurz, +kurz ist's her. + +Abends im Kursaal bei Musik geschrieben. A. H. Pax will in der +»Friedenswarte« eine tongetreue Übersetzung meines Protestes bringen, und +da er zugleich einen Beitrag für das Maiheft wünscht, setze ich meinen +Apparat in Bewegung. Es ist, als träten ungeheure Wasserwerke in Kraft, um +einen Fingerhut voll zu kredenzen. Stirnrunzelnd sitze ich inmitten des Hin +und Her von Eisschokolade und Tangotänzen, um einige Sätze über die +elsässische Frage zu formulieren. Ich begann mit ein paar Anspielungen und +zitierte mich aus einem Essay, den ich über die Markgräfin von Bayreuth +geschrieben hatte: der Frau fehle es zwar nicht an literarischer Begabung, +wohl aber an literarischer Perspektive, und für die Realität des +geschriebenen Wortes wohne ihr auch nicht entfernt dasselbe scharfe Gefühl +inne wie dem Mann. Heute sei hinzuzufügen, fuhr ich fort, ihr Interesse und +ihr Verständnis für Presse- und Parteiwesen sei in der Regel gering, und +auf jene allerletzten Endes so gedankenlose Parole: right or wrong my +country, wäre die Frau nicht verfallen. + +So wird sie denn, erzählte ich von ihr, und meinte _mich_, nur wenig von +bisheriger Politik verstehen, dafür um so mehr von der kommenden. Denn es +ist ganz gewiß falsch, zu behaupten, man dürfe Politik nicht mit dem Gefühl +treiben. Wie veraltet die ohne Gefühl betriebene sogenannte Realpolitik im +Grunde schon war, hätten die zuletzt auf dem Plan erschienenen +jugoslawischen Völker sehr wohl erkannt, als sie einst jenen brüderlichen +Balkanbund zu gründen beschlossen, welcher dann am Widerstand der +europäischen Kabinette gescheitert war. + +Es läge auch ein vollkommen richtiger Instinkt einer Versinnbildlichung der +Nationen durch überlebensgroße Menschengestalten zugrunde: Marianne, John +Bull, Michel, Onkel Sam . . . Von hieraus zieht sich deutlich ein Weg zur +Einsicht, daß den Beziehungen zwischen hochstehenden Völkern genau +dieselben Grundsätze unterliegen sollten wie zwischen hochstehenden +Menschen. Statt sich zu überlisten und brutal zu übervorteilen, suchen sich +diese im Gegenteil an Schonung, Großmut und Rücksicht gegenseitig zu +überbieten. Der Wetteifer um den Rücksitz hat als Ergebnis, daß man sich +darin teilt; statt einander zu berauben, hilft man einander aus. Man +gesteht sein Unrecht und wird vernommen, statt verdammt. Wäre somit eine +solche Politik nicht auch die praktischere? + +Ich hätte mir vorstellen können, fuhr ich fort, daß auf einer solchen +Grundlage hin ein Dialog zustande gekommen wäre zwischen Michel und der +unversöhnlich von ihm abgewandten Marianne. Ich könnte mir wahrhaftigen +Gottes vorstellen, daß er -- nach Art der Liebhaber -- zu ihren Füßen +hingerissen, die elsässische Frage vor ihr zur Sprache brächte; ich könnte +mir vorstellen, daß im Laufe dieses Dialogs endlich ein Wendepunkt sich +ergäbe, von wo ab beteuert würde, was verneint worden war . . . und in +dieser Tonart lange hin und wieder so beharrlich, bis die wunde Frage sich +zwischen ihnen isolierte, auf einen höheren Plan gehoben, langsam über +ihren Häuptern wie eine Morgengabe schillerte. + +Aber den Realpolitikern dünkte die andere Alternative, der wir heute +zusehen müssen, die gerissenere. Spätere Europäer werden sich freilich an +den Kopf greifen; dann aber wird vermutlich das andere Schlagwort aufkommen +vom Antagonismus der weißen und der gelben Rasse; und dann wird sich der +Himmel verfinstern von den neuen Schrecknissen; und dann erst werden die +Überlebenden nicht mehr bestreiten, daß die europäische Psyche durch +Assimilierung der asiatischen die endliche Bereicherung, ja ihre letzte +Vollendung erführe. + +Nicht allein, daß die grauenvollen Erfahrungen, die geopferten +Generationen, die vergeudeten Jahrzehnte, Jahrhunderte notwendig sind, um +diese Welt zu Anschauungen zu bekehren, welche sich der einfachen +Nachdenklichkeit aufdrängen, sondern all diese Kriege, und die gewesenen +sind nur Vorstufen zu einem letzten Kampf, dessen Stunde zugleich mit der +Stunde der Vergeltung schlagen wird für jene Elemente, welche von jeher die +schlechte Sache in der Welt betrieben oder die gute verdorben haben. Die +Leute also, schloß ich meinen Aufsatz, welche auf den ewigen Krieg +schwören, mögen zufrieden mit mir sein; denn bevor jene Elemente (und es +sind stets überall dieselben) nicht gekennzeichnet und untergeordnet +werden, glaube auch ich an keinen dauernden Frieden. + + * * * * * + +Um mich von der Anstrengung zu erholen, setzte ich zehn Franken und gewann +zwei. Plötzlich taucht der Kriegsgewinnler vor mir auf und fragt, ob er +mich nach Hause begleiten dürfe. Es war sehr spät, ja, er dürfe. Er +begleitet mich also, ich aber leuchte ihm heim. Und siehe da, in dieser +nächtlichen Weile scheinen ihm sehr andere Bilder vorzuschweben als die, +mit welchen er noch gestern renommierte. »Es geht uns ja so lausedreckig,« +jammerte er, »warum verfolgt ihr das in den Brunnen gefallene Kind?« »Also +so steht es«, rief ich. Mein fertiger Aufsatz stimmte mich frech. »So steht +es, und ihr blufft weiter mit Schwertfrieden und Grenzverbesserungen in Tod +und Ruin hinein. Ich sehe schon, was für Argumente ihr schmiedet, falls es +schief ausgeht mit eurem Verbrechen!« Es läßt sich gar nicht sagen, wie +weinerlich, wie persönlich gutmütig dieser eingepeitschte Alldeutsche sich +herausstellte; wahrscheinlich der beste Gatte und Vater dabei, ein +gewissenhafter Arbeitgeber vielleicht. + + * * * * * + +Melide. Fortunio hat drei Elsässer getroffen. Im Schein der Windlichter +schlage ich ihm die Karten, er dagegen liest mir aus der Hand. Die +Edeljüdin hat ein rotes Tuch umgeschlagen, und wir sind vergnügt. Doch oh, +die Nachtigall, die wir am Heimweg schlagen hören. Mein Herz hing sich an +sie und drang in den Busch zu ihr. Ich hätte mich so gern nicht mehr von +der Stelle gerührt. + +Der Himmel blieb die ganze Zeit über so blau, daß sich die Wolken in meinem +Gemüt angesichts soviel Sonne nicht behaupten konnten. Der erste bedeckte +Tag war auch der unserer Abfahrt. Ich nahm den Frühzug mit Paxens und +steckte meine Post gerade noch zu mir. Fürs erste galten dann meine Blicke +nur dem schwindenden See und den schnell sich verstellenden Bergen. + +In Bellinzona trennten wir uns. A. H. Pax wünschte die Mitarbeit der Gräfin +Reventlow, und ich sollte sie zu ernsterer Arbeit ermuntern. Es stellte +sich aber heraus, daß nur 40 Minuten in Locarno blieben, so depeschierte +ich ihr auf gut Glück und fuhr dann durch das breite, lange Tal zum Lago +Maggiore. Sie stand am Bahnhof. Wir erkannten einander, ohne uns je gesehen +zu haben, und gingen mit einer Art von kalter Vertraulichkeit hinab zum +See. Ihr Zynismus kannte keine Grenzen, doch immer alles mit Grazie. Vom +Schreiben wollte sie nichts mehr wissen und hatte eine Übersetzung +unternommen. Bei jeder Seite freue ich mich, daß ich das nicht selber +geschrieben habe, sagte sie. Ich drängte sie zu größerem Fleiß, ohne +Anklang zu finden. »Mein Ideal wäre die Leitung eines großen Hotels«, +versicherte sie. Ihre Augen waren wunderschön. Ich sprach von ihren +Schriften, und daß keine Bücher dieses leichten Kalibers mit ähnlicher +Qualität geschrieben worden seien, so blaß, so spöttisch, so geistreich. +Aber sie schüttelte den Kopf: es sei zu schwer. + +Wir gingen in der Mittagsschwüle den bergigen Weg zur Station zurück. +Einige Wochen später sollte sie in Konstanz ihrem Sohn zur Desertion +verhelfen. Heute amüsiert sie die Geisterwelt mit ihrem Witz. Schreiben +werden wir beide kein zweites Mal. + +Ich hatte gerade Zeit, in den Zug zu springen: er bewegte sich schon, wir +riefen uns noch einmal auf Wiedersehen zu, bevor wir einander für immer aus +den Augen verloren. -- Zu lesen hatte ich gar nichts mehr, mit Ausnahme +einer französischen Zeitung, die unter meiner Post gewesen war. Sie +enthielt auf der zweiten Seite einen Angriff gegen mich: Erbitterte Zeilen +mit dem deutlichen Wunsch, mich zu verletzen. Fürwahr, dachte ich, das ist +wirklich zu unverdient. Aber der Verfasser täuscht sich: es ist mir egal. + +Ich legte die Zeitung weg und sah in die Gegend hinaus. Merkwürdig +durchdrang mich da ganz und gar die Weite des Tals. Wie ein prächtiger +Festsaal der Natur, gemeint, als sei er auch bei Nacht zu erglänzen. Als +fehlten nur die Riesenkandelaber an den gleichmäßigen und feierlichen +Wänden der Berge. + +Die Lokalbahn hatte Anschluß an den zweiten Zug, der von Lugano kam. Er war +schon eingelaufen. Fortunio und der Redakteur der Humanité standen auf dem +Perron. Ich reichte ihnen das Blatt, das mir unter Kreuzband zugeschickt +worden war, und wollte etwas dazu bemerken, es stellte sich jedoch heraus, +daß meine Stimme zwischen Locarno und Bellinzona hängengeblieben war. Hatte +die Luft sich abgekühlt? Wie Fanfaren drang das Blau durch die dunstigen +Wolken. Dicht vor dem Platz am Fenster, den Fortunio mir gesichert hatte, +zogen jetzt die grauen Riesenwände des Gotthard vorüber, durchstrichen von +zahllosen Wildbächen, die aus ihren unversiegbaren Gründen senkrecht im +hellen Jubel herabschossen. Es war ein Hals über Kopf sich überstürzendes +Geglitzer. Ich behielt sie im Auge, diese Flüsse, einen nach dem andern, +und zählte sie. Wie eine Rettung war's, als die table d'hôte ausgerufen +wurde und alles in den Speisewagen ging, Fortunio ganz besonders und der +Redakteur. Der Wunsch, allein zu bleiben, brannte wie ein Durst. Welchen +Auges mag der Hirsch das Laub, das sein Geweih vom Aste schlägt, das Tal, +die Tiefe einbegreifen, bevor er sich getroffen weiß? Wir wissen nicht, wie +seine Welt da vor ihm aufleuchtet. -- Was für ein selbstherrliches Ding ist +doch das Herz! Du rufst ihm zu, und es vernimmt kein Wort, als gehörte es +sich selber und nicht dir. + +Verstrickte und sich selbst widerstreitende Liebesgefühle haben ihre +eigentümlichen Reflexbewegungen wie Zerreißungen und Wunden. Ich hatte mich +getäuscht: der Angriff in der französischen Zeitung war mir nicht egal. Und +wie aber hätte die Erbitterung zwischen den Zeilen mich nicht bewegt? +Zwischen den Erbfeinden des Abendlandes stand in Wahrheit reinste und +einzigste Erotik am Spiel. Was hier von jeher, was von neuem auf +Menschenalter zertreten wurde, war der Keim aller Verjüngung und Erneuerung +eines Kontinents, die Blume aller Allianzen. Alle andern sind unfruchtbare +Bündnisse dagegen, Geschwisterehen. Sagt mir nicht, daß es anders sei. Ich +weiß es besser. + +Ach! Grund genug, wenn es jetzt den Augen unaufhaltsam entströmte wie über +die grauen Furchen der Gotthardfelsen. Oh! und nichts von bayrischem +Gebirg! Was sich da drüben hinter Schleiern spiegelte, das war Paris am +lauen Septembertag, der eigenen Erfüllung hingegeben, und einem Himmel, der +keine andere Stadt so überhing wie sie. War sie nicht meine eigenste +Heimat? War sie nicht die unerreichbarste Geliebte? War sie nicht eine +Göttin? Oh mein beraubtes Herz! Jedes Bild, jede Erinnerung an sie zerriß +es neu. + + * * * * * + +Abends in Bern, wo inzwischen auch der Frühling gekommen, sozusagen +ausgebrochen ist, leidenschaftlich abgetrotzt wie etwas, das sich +keineswegs von selbst versteht wie im Süden. Ich liebe im Norden nur den +Sommer. + +4. MAI. Abigail stattete mir eine richtige Sympathievisite ab. Es fehlte +nur der Zylinder. Dieser neue Ziegelstein auf mein Dach dünkt ihm +entschieden de trop. »Erklären Sie mir nur,« sage, ich, »liegt denn eine +solche Ungerechtigkeit in eurem Interesse?« »Wir fragen heute nicht nach +Gerechtigkeit«, erwidert er. »Wir verlangen alles oder nichts, Sie bieten +uns die Hälfte, das ist zu wenig.« + +»Sie vergessen, daß ich Deutschland liebe.« + +»Es sind Gefühle, die wir zu wenig teilen, als daß sie uns interessieren +könnten«, erwiderte er steif. + +Wir sprachen dann von anderen Dingen. + +6. MAI. Besuch von Frau Karfunkel. Sie fragt mich, ob ich eine +Revolutionärin sei, und ich bin im Augenblick zu müde, es zu wissen. Das +Wort »gekrönte Republik« fällt mir ein, das kürzlich vor mir gefallen war. +Mochte es herhalten. »Eine gekrönte Republik«, sage ich und gähne. + +Daß Frau Karfunkel mich kaum kannte, hinderte sie nicht, mir jetzt eine +jener Szenen zu machen, die man wie ein Unwetter über sich ergehen läßt. +Die Worte wie krasse Ignoranz gehörten zu den mildesten, die sie mir +vorsetzte. Sollte ich ihr sagen, warum? ihr bekennen, in welchen Gedanken +sie mich unterbrochen hatte? ihr den Grund jener mangelhaften Kenntnis +eingestehen, die sie so richtig erraten hatte? + +Welchen Kriegsbericht hatte ich zu Ende gelesen? Von welcher Phase des +Krieges mir auch nur einigermaßen ein Bild gemacht? Über die erdrückende +Tatsache, daß er herrschte und kein Friede kommen konnte, sah ich nicht +hinaus. Für seinen Verlauf, seine Geschichte blieb mein Interesse ungefähr. + +Was wollte die Frau bei mir? + +Sie hatte mich aus der Arbeit gerissen, und ich war froh um die +Unterbrechung gewesen; so mühselig war die Pein, daß ihr Stigma sich den +Schläfen aufdrückt, und daß sie einsinken wie zermürbt. Oder gleicht eine +geistige Not der immerwährenden Welle vielleicht und die Schläfen dem +Stein, der von ihr zernagt und bearbeitet wird? Von den Dingen selbst ist +mein Verständnis so karg! Der Kommentar zu ihnen ist meine Sparte: ihn +stets von neuem, zergliederter, ausgreifender zu formulieren, ist der +Stachel, der mir keine Ruhe läßt, meine Einzelhaft mitten im Leben. Denn +über die Vielfältigkeit unserer Wege hin, sehe ich die Einfältigkeit der +Gefahr; die ewig selbe Fratze, die jeder edlen Bestrebung wie eine +verruchte Karikatur noch immer auf dem Fuße folgte. So schmal, schwankend +und immerzu gefährdet zieht unser Weg empor! Aber naiver als ein Soldat, +der mitten im Treffen nicht weiß, wo er steht, führte der Mensch bisher +seinen Kampf. Auch ihn trafen die Geschosse, ohne daß er sah, aus welchem +Hinterhalt sie stammten, und von der unheimlichen Geschäftigkeit, mit +welcher in den Niederungen sein Verderben betrieben wurde, merkte er nur +das Resultat. Unermüdlich und nahezu ungestört dürfen die Untermenschen, +von Herrschsucht besessen, in der Familie, dem Staat, der Gemeinde, der +Partei ihre zersetzende Arbeit verrichten. Aus Tausenden von Schlagwörtern +sind ihre Netze gewoben, der ganze ungeheure Nationalitätenschwindel hält +seit Jahrhunderten den Zusammenschluß der Vollwertigen auf. Notsignale zu +geben, bin ich hier. Unvernommen? Gleichviel! Ohnmächtig wie im Traum +hinauszurufen: Richtet Wälle auf! Seht euch vor! Achtet der Stufen! Schützt +eure Häuser! Mit unschuldiger Miene, ja mit dem Antlitz eines Engels +vielleicht, kauert das Unheil an euerm Herd. Oh Brüder, Freunde, nehmt es +nicht in eure Arme, wie ihr den Fuß nicht auf die sanft beschneite Stelle +setzt, ihr hättet sie zuvor geprüft. + +»Ich glaube,« schreibt René Schickele, »daß der Sozialismus kommen muß mit +einer großen, tiefen Flut von Licht, die alle Menschen durchdringt.« + +Und ich sehe, wie emsig die Schatten sich sammeln, welche danach dürsten, +dies Licht zu verschlingen. + +8. MAI. Abigail klopft wieder an meine Türe. Er trägt sein breitestes +Lächeln, reicht mir die Münchner Zeitungen und lacht noch stärker. Sie +enthalten meinen Protest in der Telramundschen Übertragung, wahrscheinlich +von ihm selbst eingesandt. + +»Und das sind die Leute, mit welchen Ihr Euch einlaßt«, brach ich aus. »Ihr +seid mir schöne Richter!« + +Doch Abigail war in einer nicht zu verderbenden Laune. »Einigen wir uns,« +sagte er, »mag er denn Telramund heißen, unter einer Bedingung, verlangen +Sie nicht, daß wir Sie Elsa nennen.« + +Die »Pressestimmen« ließ er mir zum Geschenk. Ich las u. a., daß ich »ein +hysterisches Weib von abgrundtiefer Gemeinheit sei«. + +9. MAI. Beim bayrischen Gesandten; er kannte mich von Kind auf. Er empfing +mich. Aber der Verwirrtere, der Trostbedürftigere schien durchaus er. Es +war bei ihm wie bei den Hähnen der modernen Waschtische, die gleichzeitig +heißes und kaltes Wasser ausströmen: zwei Sprachen wie zwei Denkungsarten +entflossen da immer zugleich: seine eigene und die anbefohlene. + +»Vous êtes déshonorée!« jammerte er. + +»So schlimm ist es nicht«, redete ich ihm zu. »Kommen Sie, lassen Sie Gras +wachsen über die Geschichte.« + +»Gras? Da wächst kein Gras. Je vous supplie ne rentrez pas en Allemagne; on +vous jettera dans les fers; je ne pourrai rien faire pour vous. Bleiben Sie +um Gottes willen da.« + +»Ich bleibe schon da.« + +»Ja, bleiben Sie da. Was wollen Sie in München? Es ist ja alles verpreußt. +Diese entsetzlichen Preußen haben uns ja alle aufgefressen. Ich bin der +letzte Bayer.« + +»Ich auch.« + +»Sie sind gar nichts. Vous êtes une criminelle. Ce n'est pas moi, qui vous +condamnerai, je suis votre ami. Vous êtes une criminelle«, unterbrach er +sich laut. »Oh, so viel Phantasie zu haben und so wenig Verstand! Sie sind +erledigt. Wir sind gefressen.« + +Damit entließ er mich. + +Daß dem alten Herrn der Krieg so über den Kopf wuchs, machte ihn mir nur +sympathisch. Es wäre jedoch hartherzig gewesen, ihn praktisch in Anspruch +zu nehmen. Ich hatte es gar nicht versucht. + +MITTE MAI. Gerade in diesen Tagen lud mich Frau v. Schreckenburg, ohne mich +zu kennen, zu sich ein. Engländerin von Geburt, trug sie dabei den +gefürchtetsten deutschen Namen. Ihr Mann, von dem die Franzosen sagten: +»Heureusement qu'il n'en a pas l'air«, und die Engländer: »He is worth a +better name«, stand an der Spitze der Gefangenenfürsorge. Durch seinen +unzeitgemäßen Mangel jeglichen Strebertums fiel er gänzlich aus dem Rahmen. +Still, unermüdlich und geschickt verrichtete er sein humanitäres Werk. + +Es nahte Felix Mottls Todestag. Ich wollte die Münchner erinnern, daß ich +es nicht von ihnen verdiente, unvernommen und mit Knüppeln vor das Stadttor +gewiesen zu werden, denn ich habe sie einmal vor einer großen Weltblamage +bewahrt. Einige Redakteure waren damals meinetwegen geflogen, und ich hatte +gesiegt. Waren solche Reminiszenzen angetan, den Herrn Chefredakteur zu +rühren? Er sandte mir meine Eingabe, obwohl durch Schreckenburg +übermittelt, mit dem Vermerk zurück, daß er sich für die Beiträge einer +Hochverräterin heute wie fernerhin bedanke. + +An jenem Abend ging ich lange die beiden Brücken auf und nieder. Die +Jungfrau hatte eine Schärpe übergeworfen. Ein kalter Wind trieb von den +Gletschern herüber. Ich ging und ging. Es war wieder bei Fortunio viel von +einem Zusammenschluß der Geistigen gesprochen worden, und wieder ließ +keiner das Ausschließen seine Sorge sein. Was aber ging aus dem ungeheuren +Trugwerk dieses Krieges hervor, wenn nicht der vollendete und riesenhafte +Triumph des Sklaven über den Freien, wenn nicht die immer drohendere +Forderung, uns selbst jenes letzte Gericht erstehen zu lassen, von dem +geschrieben steht, daß es auf immer die Scheidung zwischen den Menschen, +die guten Willens sind und den anderen bestimmen soll? Ja, nicht die große +Einigung, den großen Bruch gilt es zuerst zustande zu bringen: die +herrische und heilige Offensive der menschenwürdigen Menschen, gegen jene +»Untermenschen«, welche Villiers de l'lle Adam als erster mit so großem +Nachdruck kennzeichnete. Erst gilt es, jenen allzulange geduldeten +Elementen das Stimmrecht zu entreißen. Sahen wir nicht alle großen und +bahnbrechenden Ideen in Verwirrung ausarten, das Christentum selbst unter +die Räder geraten und eine Sache um so sicherer verderben, je edler sie +war, weil Unzulänglichkeit und Niedertracht das große Wort zu führen in der +Lage sind; Solange diese Gattung ihre Gleichberechtigung behält, hat die +Menschheit nichts zu hoffen. Sie wird wie ein Kranker sein, der sein Übel +zu betäuben sucht, indem er sich auf seinem Schmerzenslager dreht und +wendet, oder hochaufgerichtet nach Atem ringt, um doch nur eine +illusorische Erleichterung zu finden. Sie wird alle Regierungsformen, eine +nach der andern, erproben, und ob sie auch ihre Könige gegen Republiken +eintauscht -- es werden doch nur falsche Republiken sein, und auch die +Anarchie wird sich als nichts anderes herausstellen als einen Mißbrauch der +Macht. + +Und wie könnte die einzig wirkliche Freiheit entstehen, wenn nicht durch +die Knechtung desjenigen Pöbels, der allerorts alle Klassen, von den +höchsten bis zu den sogenannten niedrigsten verheert. Hierarchien aber sind +es ja gerade -- weniger rudimentär und kindisch nur als diejenigen, welche +man sich aufoktroyieren ließ -- Hierarchien aber sind es, die auf neuer und +gerechtfertigter Basis zu errichten sind: geben wir uns keinen Täuschungen +hin: die Klasse der Könige, der Fürsten und Herren, ja der ganze Troß der +kleinen Gentry sogar, er ist vorhanden (nur so anders!), und alle wahren +Adelsbriefe, die sich in unendlichen Fluktuationen aus der menschlichen +Würde ergeben, existieren auch. In allen Kreisen aber und durch alle Zeiten +hindurch wurde die wahre Elite gepeinigt, geopfert oder zur Ohnmacht +verdammt, weil urteilslose oder niedriggesinnte Elemente, die sich weder in +Gleichheit, noch in Brüderlichkeit zu ihr verhalten, dasselbe Stimmrecht +genießen. + +Man rede mir also nicht von Zusammenschlüssen, sondern vorerst von neuen +Gesetzbüchern und neuen Statuten. Auf einen treibenden Sumpf, einer Welt +wie sie ist, Ringmauern aufzurichten, daran glaube ich nicht. Wozu führte +der vielgehegte voto pietoso Deutschland und Frankreich zu einigen? Statt +der stolzesten aller Galleonen ein Wrack, beiden nahezu unnennbar geworden. +Dieses Wrack ist mein eigenster Boden, ich verlasse ihn nicht. Die paar +Einsichten aber, die mich sehr bestimmte Erfahrungen lehrten mit der +Persistenz des Marktschreiers zu verkünden, ist mein Beruf. + +Ich lehnte über der Brücke von Kirchenfeld. Hat die Nacht ihre eigene +Helle, daß sie uns die Dinge mit größerer Schärfe zeigt? Sie deckte jetzt +den Fluß, der unten den Bergen zurauschte. Von den Häusern in der Tiefe, so +eng geschart, fast ein Gerümpel, auf zartesten Säulenarkaden gehoben, und +wie edel! leuchteten jetzt munter die tagsüber so verschlossenen Fenster. +Wie wenig löste schließlich und endlich unsere zufällige Existenz von +unserem wirklichen Wesen aus! Vielleicht war sie nur eine Jahreszeit +unseres weitverästeten Seins. Wozu sich alterieren, redete ich mir zu, wozu +die Hast, wozu die Ungeduld? -- Es wurde zuletzt ein Spazieren mit der +Nacht, statt in die Nacht hinein, und ich war um eine größere Fassung, +etwas mehr Gleichgültigkeit für meine persönlichen Geschicke aus allen +Kräften bemüht. + + + + +Zweiter Teil. + + +Sie sah bezaubernd aus; ihre Achseln schienen der Ansatz zu Flügeln, und da +sie sozusagen zwischen zwei Fingern hochzuheben war, nannten wir sie mit +Fortunio das Zirkuspferdchen oder der Seidenaff. Wenn sie ernst zu sein +wünschte, waren wir grausam genug, sie auszulachen, doch nicht, um sie zu +verspotten, sondern weil ihr alles so gut stand. Ihr Gatte war San +Cividale, der Longobarde, wir hatten uns angefreundet, und es wurde ein +richtiger Anschluß. + +Von den Ärzten ins Bad geschickt, depeschierte mir der Seidenaff aus +Rheinfelden, und nie kam eine Einladung gerufener. Ich suchte einen Mieter +für meine Zimmer und hatte ihn schnell. Bern war mir verleidet, ich hatte +dort vieles zu vergessen, Geldsorgen besaß ich auch. Nur die +Mozartaufführungen, welche unter Richard Straußens Leitung bevorstanden, +wartete ich noch ab. Sein schöpferisches Erschöpfen eines Werkes ist +sicherlich ein neues und interessantes Moment in der Kunst des Dirigierens. +Einem Don Juan, der ein großer Erfolg war, folgte jedoch eine Zauberflöte, +welche einige Kritik hervorrief; mich entzückte letztere weit mehr, so +zwar, daß sie einem ersten Eindruck gleichkam. Strauß hatte eine Pamina +mitgebracht, welche gesanglich und darstellerisch und durch eine merkwürdig +schöne Erscheinung der Partie so wohl entsprach, daß Symbolik wie Illusion +des Fabelreiches durchweg bestanden, bis der Vorhang vor dieser besseren +und geordneteren Welt endgültig fiel. Was bedeuteten Regiestörungen (tags +darauf hieß es, sie sei einem Engländer zu danken, der sich zu diesem Zweck +als Maschinist für den Abend verdingte) vor dem unvergleichlich hohen +Niveau dieser Vorstellung? + +Am lautesten wurde am Schluß von jener Sorte Deutscher Beifall gespendet, +welche ihren schimpflichen Spitznamen so recht aus dem vollen verdienten. +Diese wandelnden Erreger des Deutschenhasses gingen mit dem deutlichen +Gepräge von Leuten einher, welche zwar rechneten und berechneten, aber +nicht mehr dachten, dafür seit einer Generation zuviel gegessen hatten. Sie +waren die Regisseure und Leugner des großen Kindersterbens, das jetzt in +ihrem Lande hinter den Kulissen um sich griff, und Scharen Deutscher, +würdig dieses Namens und liebenswert, gingen um jener Boches willen +zugrunde. Doppelt verrucht erschienen sie im Lichte der eben erfolgten +herrlichen Darbietung. Ich ersticke! sagte ich zu Fortunio, denn ein Knäuel +dieser wohlbestallten Patrioten schlenkerte vor uns über den Platz. Auch im +Dunkeln sah man ihnen an, daß sie jetzt schmausen gingen. + + * * * * * + + +Rheinfelden. + +21. JUNI. Mußte da dicht vor meinem Fenster hochgewölbt der Rhein +vorüberrauschen? Eine Brücke mit Schilderhäuschen in der Mitte legt schon +im Badischen an; freudlos, wie mit erblindeten Scheiben, sehen von dort die +Häuser herüber. + +Heiterer war der Park. Wir lagen in Korbstühlen und schwatzten. Doch +Erinnerungen kamen nicht zur Ruhe. Aufgescheuchten Vögeln gleich schwirrten +sie hierher und dorthin und kehrten zurück . . . Der Sommer war im Land. +Das Schlößchen der schönen Marguerite, das selbst mitten im Kriege +Zauberkreise zog, wartete unser, und die Schwalben nisteten längst im +flachen Strohhut, der in der Halle von der Decke hing. Jetzt standen auch +ihre Koffer gepackt; . . . es türmten sich wohlgefaltet ihre schönen +Kleider . . . Die Unrast der Verbannten trieb mich aus dem Park ins +Städtchen hinunter, wo von der viereckigen Plattform des Turmes aus die +Störche ins Blaue steuerten. Was gab es schöneres wie ihren Flug? Klein +erschien mir die Schweiz. Wie ein herrlicher, aber für mich nach allen +Seiten hin verbarrikadierter Garten. Ich ging den Weg zurück, der ganz +umwachsen unter Bäumen führt. Wer nicht wollte, brauchte weder Fluß noch +Land zu sehen. Im Hotel aber lag eine Depesche für mich. Ich floh entsetzt +auf mein Zimmer. Die Freundin war tot. Mochte das Schlößchen am Berg Tür +und Tor sperrangelweit offen halten und warten, solange es stand, ins Leere +starrte fortan sein breitschrötiges Türmchen. Sie zog die Straße nie mehr +herauf, kutschierte nie mehr aufmerksamen Auges ihr Wägelchen in den Wald. +Fort von Rheinfelden, dachte ich, nur fort! + +Es traf sich, daß die Kur nahezu beendet war. Wir fuhren nach Wengen. Der +Seidenaff durfte nicht steigen, ich kletterte drauflos. Hier waren alle +Höhen zur Hand. Hinter der kleinen Scheidegg setzten sie von neuem ein. In +weiten Senkungen kreiste ein Tal. Ich saß in einer Nische aus Fels und +Gras, die Füße hingen ins Leere. + +Plötzlich, wie auf einen geheimnisvollen Anruf, ein lauter Stoß, ein +Gegenruf des Herzens. Denn es hat ja Arme, ich sagte es schon, und Flügel, +schwerausgebreitete und leichte, es hat sein geheimnisvolles Dasein für +sich allein. Vom Tode weiß es so wenig wie wir, nur dies hat es erkundet: +daß, wenn er uns nicht austilgt, der Lebende dem Toten zu Anfang mehr sein +kann, als dieser ihm. Dann wäre unser Eingedenken der Halt vielleicht, an +dem er seine ersten Schritte geht, und unsere Trauer sein Gewand. + +Es war für die Verstorbene ein Gedenkbuch geplant, und ich hatte +versprochen, mich daran zu beteiligen. + +Mag es noch so mannigfache Welten geben, sicherlich gebietet über alle eine +einzige Natur, ein allmähliches Sprießen, eine Reife, von trüben Himmeln +die sie aufzuhalten scheinen nur gezeitigt. Vor allen Dingen aber jenes +letzte und sehr tragische Zurückbleiben des Erreichten hinter dem +Gewollten. Wie ein letzter Same, der sich wieder in die Erde senkt, um +einer nächsten Ernte zu gedeihen. + +Ich schrieb auf meinem hohen Sitz angesichts des kelchartigen Tales mit den +sanftanschwellenden Rändern. Die Sonne war gestiegen. Wie ein zieres Band +umschlang ein Pfad den ganzen Berg und lockte mich unwiderstehlich in die +Höhe. So kam ich zu einem kleinen Gasthaus und stapfte dann auf die Spitze +des »Männlichen« hinauf. Dort fing sich der Wind und wehte kreuz und quer; +dann aber stürzte ein Steig, schmal wie ein Strich, so pfeilartig hinab, +daß man, von einem Taumel erfaßt, zu rennen anfing und zu fliegen +verlangte. Von dem Tempo erfaßt, das von hier oben gesehen, die Jungfrau +entfaltete, die mit mächtiger Schulter die ganze Kette der Alpen mit sich +riß. Unglaublich schnell griffen jetzt die Schatten in dem verströmenden +Gold dieses Tages um sich; schon profilierte sich diese oder jene +Bergeskante zu einem grotesken, dort zu einem erhabenen Riesenhaupt, +schlafend, offenen Mundes zurückgeworfen, oder wie entseelt mit +beschneiten, eingesunkenen Schläfen zur Seite gekehrt, die Luft darüber wie +ein unendliches Gewölbe. + +Auch manche Felsenburg tat jetzt entbrannte Zacken auf; kurz, eine andere +Welt als die des Tages stand schon gerüstet. Plötzlich hielten mich +zwischen zwei scharf vorspringenden Felsen zahllose Schafe auf, die mächtig +wie ein Volk auf halber Höhe den Berg belagerten. Mit ihnen zog eine Anzahl +Widder, die innehielten, als sie mich kommen sahen, und mich aufmerksam, +wenn auch stolz, betrachteten. Nirgends ein Hirt zu sehen, als wären sie +die Führer. Ihre geschneckten Hörner abwartend mir zugekehrt, versperrten +sie den Weg. Um weiterzukommen, mußte ich halb quer hindurch, halb mit der +Herde laufen. Eine überwältigende Ruhe, ja ein Glück ging von ihr aus, daß +man, am liebsten auf vieren gestellt, eins mit ihr geworden wäre. + +Der Weg nahm gar kein Ende. Meine Schuhe gingen in Stücke. Meine Füße waren +zerschunden. Schwer hinkend erreichte ich endlich das schon a giorno +beleuchtete Wengen. Aus der Halle des Hotels trat der Seidenaff im +Tuchbrokat von silberigem Weiß, hoch mit Zobel verbrämt. Doch der Jugend +kommt alles zugute; kostbare Gewänder unterstreichen sie nur. Die leichte +Gestalt wird durch den schweren Staat gehoben, nicht gedrückt. Lang und +gewichtig hing die Perlenschnur herab. Das Haar war braun. Gerade seinem +weichen Schimmer schmeichelte die Härte des diamantenen Reifs. In +Treibhäusern wird heute die gefüllte, immer gefülltere Nelke gezogen. Mit +solchen gefüllten Nelkenaugen, gut und klug, doch fern dem Ziele, blickte +der Seidenaff. + +Tags darauf fuhren wir zu Tale, San Cividale, dem Longobarden entgegen. +Fortunios schrieben aus Beatenberg, wo ich mich denn herumtriebe, und fürs +erste blieb ich jetzt in Interlaken, um meinen Nachruf zu beenden. Da mir +keine Seele des Ortes bekannt war, verbrachte ich meine Tage ohne zu +sprechen, und schon lebte ich eingesponnen und wie unter Glas, als die +Lektüre eines Zeitungsartikels mich ganz aus der Stimmung riß. Es war ein +Aufruf von Andreas Latzko, der wesentlich aus Vorwürfen, und zwar sehr +berechtigten Vorwürfen an die Frauen bestand. Nun haben diese ja im Kriege +versagt und die härtesten Dinge zu hören verdient, doch nur ihnen selbst +kann es zustehen, sie zu äußern, dem Manne heute mit keinem Wort. Ihre +Unzulänglichkeiten sind sein Werk, von ihm gezüchtet und beabsichtigt, +selbst sein Überdruß an ihr war als Triumphgasse für seine Eitelkeit +gedacht, was er vollends ihre Ungleichheit nannte, war seine Politik. Wie +stark seine Krone zerzaust ist, ahnen beide noch nicht. Die »Penalty of the +war«, von der soviel die Rede ist, wird noch eine ganz andere sein, als man +im allgemeinen glaubt. Die Frau wird ihre Chance haben. Mag der Mann noch +auf Jahrhunderte das Überragende leisten, ihr Aufstieg wird sich +unaufhaltsam als eine Folgeerscheinung seines Bankrotts vollziehen. Bilder +schwebten mir vor . . . . war sie nicht schon im Begriff, mit jedem +Jahrgang schöner, individueller zu werden? Erhob sich ihre Gestalt nicht +freier, knabenhafter, mehr auf sich selbst gestellt, von Jahr zu Jahr? + +Schlimmstenfalls konnte ihr Regime zu keinem ärgeren Chaos führen, als das, +welches wir unter der ausschließlichen Führerschaft der Männer und ihrer +Gesetzbücher erleben. Oh diese Gesetzbücher! Sie forderten, daß man vom Tag +eines Krieges an nurmehr mit seinem Vater verwandt sei. + +In meiner Aufregung, meiner Bedrücktheit, lief ich in der Mittagshitze den +Brienzer See entlang, bis zur Erschöpfung. Und mit einem Male wurde mir das +Karthäuserschweigen viel zu viel; da zudem schwere Regentage einsetzten, +brach ich auf und fuhr nach Beatenberg. + + +Beatenberg. + +AUGUST. Ich wohnte eine halbe Stunde von Fortunios entfernt, und mein Hotel +stand zu Anfang der breiten Straße, die über tausend Meter hoch ganz eben +dahinläuft, den großen Rat der Gletscher stets im Angesicht. Wie zu einer +Riesenpolonäse aufgestellt, schienen sie, je nach der Beleuchtung, +zurückzutreten oder loszuschreiten bereit. Nur der Regen sprengte den Bund. +Dann verschwand jeder einzeln in seinem Zelt und wußte nichts mehr vom +andern. Wusch sich aber nachts der Himmel wieder rein, so hielt beim +Morgengrauen die Jungfrau entgeistert Cercle, als harre sie nur des +Zauberrufes, um der Sonne bei ihrem ersten Strahl ekstatisch +entgegenzutanzen. Leider kam auch hier die Arbeit nicht in Fluß; das sehr +geräuschvolle Haus bot keine Möglichkeit, sich abzusondern. Unmittelbar +daran grenzte der Wald und führte sogleich sehr steil ins Weglose hinab. +Und hier nun entdeckte ich eines Morgens, ganz hinter Tannen versteckt und +der Tiefe zugewandt, ein kleines, verlassenes Blockhaus. Ich rannte ins +Hotel zurück, forschte nach dem Schlüssel und erlangte ihn. So gehörte das +Chalet mir, da ich es beziehen durfte. Den Schlüssel ans Herz gedrückt, +eilte ich zurück. Im Raum des Erdgeschosses verbrachte ich nun meine Tage. +Die Läden blieben herabgelassen. Nur durch die Türe, die ins Freie führte, +drang das Licht; auch die Bäume hielten es auf. Nur Tannen, Wald und Moos +und keine Aussicht außer sie. Hier hatte man vor den ewigen Gletschern Ruh. +Und keinen Laut als den der Vögel. + +Oh Sommersmitte! Oh göttlicher Augenblick des Innehaltens, du ohne Zeitmaß, +ohne Intervall, mitten ins Jahr gesetzter Orgelpunkt! + +Groß aber blieb die Not der unterbrochenen Arbeit. + +Zwischen Tür und Fenster lief eine Ruhebank mit daraufgeschütteten Kissen +die Bretterwand entlang. Ich warf mich hin; ächzend. Es roch nach Tannen, +Blumen, des Morgens im Walde gepflückt, hingen schon ermattet im Glase. In +diese holde Schwüle tanzte ein geflammter Schmetterling herein. Mein +rechter Arm hing herab, ich war zu lässig, ihn zu heben. Vor Wonne fielen +mir die Augen zu. Hält die Einsamkeit der Gemeinschaft Letztes, die wir +Lebende ersehen? Was war geschehen? Verloren blickte ich auf. Der Falter? +War er als Bote hereingeflogen? -- Wer war gegangen? -- + +Flüchtig ist kein Wort. Und doch . . Von welcher Gegenwart und welch +durchdringendem Ton vibrierte nunmehr auf immer die Luft dieser Hütte? War +sie, deren Bild ich festzuhalten suchte, ein Elf? Denn der Griff einer Hand +von elfenhafter Feinheit hatte deutlich die meinige erfaßt. In +unbeschreiblicher Rührung hob ich den Arm, sprang auf, saß wieder vor dem +Tisch, das Gesicht in den Händen vergraben, und fuhr nun endlich wie in +einen Schacht tief in meine Arbeit ein. + +Da fiel ein Schatten -- jemand trat unter die Türe. Es war Fortunio. Ich +stieß einen Schrei aus, als sei er ein Gespenst, und fühlte Nervenstränge, +deren Vorhandensein mir jetzt erst zum Bewußtsein kamen, zerreißen. »Wissen +Sie, wie spät es ist?« lachte er. Seltsam. Sogar seine Stimme erfüllte den +Raum mit Schrecken. Das Ganze war zu arg, es zu erörtern. So machte ich +mich denn bereit, das Chalet zu verlassen, warf aber, die Türe +abschließend, noch einen Blick zur Ruhebank zurück, zum Tisch mit den +Blumen im Glase, zu diesen Wänden, in welchen ich eins geworden war mit der +Luft und der Seele dieses Tages. + +Was war noch immer kurzatmiger als wie mein Flug? Nicht von Schwingen +durfte da die Rede sein, die ausgebreitet und aus eigener Kraft die Höhen +beherrschen und sie behalten. Eher einer Rakete vergleichbar, die, wenn das +Glück es will, emporschnellt und höher! höher! ruft, weil sie doch gleich +verstiebt. Da ist es Pech natürlich, wenn man sie herunterholt. + +Wir gingen nun zum Hotel hinauf und setzten uns auf die Veranda. In der +Tat, der Abend war sehr vorgeschritten. Beschaulich hing Fortunio an der +Gegend. Die eben noch umglühten Gletscher traten jetzt, als sei die Sonne +auf immer von ihnen geschieden, von Blässe wie erschöpft, zurück. Welch ein +Tag! -- Und schon faßte mich Grauen bei dem Gedanken, ihn einsam +beschließen zu müssen oder ins Chalet zurückzugehen. Stand es noch? War's +nicht versunken? Oder nur erträumt? So zog ich denn mit Fortunio die lange +Bergstraße zurück. Endlos dehnte sich hier der Ort. Ganze Strecken zeigte +sich kein Haus. Und siehe, schon herrschte der Mond. In seiner ganzen Fülle +und unerschöpflich überfließend, umschlang er streitsüchtig jeden Schatten +und brachte seine Schwärze ans Licht, kroch unter jeden Baum, durchquillte +alle Wälder und stieg und stieg in immer geharnischterem Glanz, bis eine +trunkene Erde, von ihm umsponnen und ganz mit ihm vermählt, mit allen +Pulsen zum Himmel schlug. Voll Entzücken hatte sich die Jungfrau +aufgerichtet -- Mönch und Eiger an der Hand, loszutanzen bereit. + + * * * * * + +Tags darauf fuhren San Cividale, der Longobarde und der Seidenaff die +steile Höhe herauf. Von weitem schwang sie als Erkennungszeichen ihren +Schirm rundum. Jungfer und Kofferbestände hatte sie unten gelassen und trug +eine äußerst gerissene Sportjacke, in der ihre Figur zu zergehen schien, +und eine zwischen mausgrau und mauve spielende Hemdbluse aus japanischer +Seide, deren perfide kleine Männerkrawatte das ultrafeminine ihres +Gesichtes zu letzter Wirkung erhob. Die gefüllten Nelkenaugen, die das +alles sehr wohl wußten, blickten unbeteiligt flüchtig und beschattet. Es +war nur ein kurzer Besuch. Das Bähnchen trug sie bald wieder davon. Und mit +einem Male waren mir diese ewig hingerissenen Gletscher, die nie +marschierten, verleidet. Herrlich in der Tat war auch der Mantel der +Vorberge, der in so tiefen Falten über sie hinschlug, und herrlich war's, +wie er -- von oben gesehen -- den See nachschleifte, gleich einem +köstlichen Saum. Beseelter aber blickte dennoch das Gebirge am Säntis, Jura +oder Engadin, als in dem gewaltigen und dekorativen, aber fast überall +stark abgekehrten Oberland. Ich sehnte mich nach mehr brüderlichen Weiten, +und sehr plötzlich, ohne das Chalet wieder betreten zu haben, fuhr ich +hinab. In Spiez schrieb ich meinen Nachruf ins reine. + + +Marguerite Kühlmann. + +An den Kreis ihrer engsten Freunde wende ich mich, sie, die zu ihr standen +wie die Strahlen der Sternblume, deren Name sie trug; denn so hingen sie +ihr an, und so faßt sie nunmehr die gemeinsame Klage zusammen. Wie +beneidenswert sind sie gewesen! -- + +Nicht, als seien sie sich dessen zu spät bewußt. Hier trifft sie kein +Vorwurf. Vielmehr hegten sie ihr Wissen um das Werden dieser bedeutsamen +und seltenen Gestalt, die von ihrem schönen und guten Wesen so viel weniger +genießen durfte, als der gleichsam von ihr ausgestrahlte Kreis, dem sie es +zuwandte. Denn wieviel Sonne war in ihr verwoben, und wie beschattet ging +sie doch! Unter der rhythmischen und unzerstörbaren Ruhe ihrer Bewegungen +welch unaufhaltsames Vorwärtsschreiten! Wer hat sie je hastig gesehen? Und +doch welch ahnungsvolle Eile, sich zu erfüllen! + +Geistigen Dingen zugewandte Menschen finden sich gewiß nicht selten; der +Maler und Musiker, auch der Liebhaber der Künste sind viele. Aber wie +wenige gibt es, die auf das Schöne selbst Anziehungskraft besitzen, so daß +es wie auf mystischen Ruderschlägen ihrer Atmosphäre zugeführt, immer mehr +Natur und Element bei ihnen wird, und tatsächlich eine Art von +Wechselwirkung sich ergibt. + +So aber war das Schöne -- wie ein Meister an seinem Marmor -- bei ihr am +Werk. So umhing es ihre Erscheinung, so meißelte es an ihren Zügen und hob +sie zu letzter Vollkommenheit der Linien und des Ausdrucks. Unsere Herzen +sind wund von der Erinnerung ihrer Hände, so schwebend, einsam und +gesammelt, verklungen, auch sie mit der weiten Melodie ihres Seins. + +Den wahren Hintergrund zu ihrem Bilde aber stellt einzig jene offene und +merkwürdige Gegend, in der sie sich so heimisch fühlte, weil sie ihr glich. +Dort, wo ihr kleiner Landsitz hart an der dunkeln Bergwand lehnte, von +Mauern lang umfriedet, vor dem Tor die hohe Linde schon den Bergfluß +überhing, und sein Gestein, und schon wie vor den Almen leere Bergwiesen +ansteigen, auf welchen die Kühe bis hin zu den nahen Wäldern weiden; und +diese sind wenig begangen, schwer verträumt und düster fast, weil hier +sogleich das Hochgebirge seinen feierlichen Zug beginnt. + +Doch öffnete man das Tor zum Hause, ach! Wie rauschte es da von den +kunstvollen Brunnen und den Fontänen, in welcher Fülle zogen sich die +Blumenreihen hochaufgerichtet durch den Garten hin! Und die Ebene ist's, +nach welcher dieser steile Garten niederfällt, und schaut: auf halber Höhe, +wie zur Freude hingemalt, der Kirchturm von Murnau, links die ersten Berge, +ansehnlich, aber noch vereinzelt, sanft umrissene Präludien des Gebirges. +Nach Osten aber, wo sich anstatt der Mauer die lange Wandelbahn und +hölzerne Gartenzimmer nachsommerlich hindehnen, wölbt sich als Abschluß der +finstere Berg. + +Hier waltete sie im lichten Kleide inmitten ihrer Blumen, wenn in der Ferne +ein goldener Sonnenstaub den Tag begrub, oder sie sah wartend nach dem +Mond, der so plötzlich hinter dem schwarzen Grat aufging und dann sogleich +alle Grotten und Beete übergoß, und nur die finstere Bergwand noch +finsterer beließ. Und auf erhöhtem Stande der Apfelbaum, wie sie ihn +zeichnete, mit den Windlaternen bunt über dem Tische wehend! + +Hier fühlte sie sich heimisch, hier drang das Lachen ihrer Kinder immer bis +zu ihr, und die Schwalben zogen durch die Fenster unermüdlich ein und aus. +Und drinnen der Tisch vor den breiten Scheiben, ach Freunde: vor dem sie +saß -- niemals müßig --, lesend oder malend, oder eine jener kunstvollen +Arbeiten zur Hand, mit welchen dieses Haus geschmückt ist, dessen Bau, +dessen edle Räume wie für sie erdacht, durch ihre eigene Anmut etwas so +Zauberhaftes wurden, daß sie durch ihren Tod für uns verschüttet liegen. +Die Türen, ach, durch die sie trat. + +Doch jenseits der Vorberge, in einer versteinerten Welt, ganz klein und auf +unwahrscheinlicher Höhe steht die Jagdhütte, an deren winzigen Fenstern sie +die rot- und weißgewürfelten Gardinchen hing; sie liebte das Frohe. Ganz +dem Schauen hingegeben, lief sie dort die Kanten der Berge entlang, denn +das einzig Verweilende an ihr, von allem Persönlichen unmittelbar +Losgelöste war ihr Auge. Bald lockten sie die Höhen, bald die Weite und das +Moor, oder sie stellte dort ihren Malstuhl auf, wo der kleine, von der +Abendsonne warm getönte Fluß so rasch den gemiedenen und immer trauernden +Hügel umfließt. + +Diese reichhaltige Landschaft, die sich wie ein Fächer dem Auge entfaltet +und verschließt, glich ihr so ganz, daß für uns, die sie dort sahen, ihr +Bild wie eingetragen bleibt in diese Gegend. + +Nicht auf Festen schwebt es uns vor, deren Glanz das sanfte Feuer ihrer +Schönheit so sehr erhöhte, und nicht in großen Städten, weder in Paris, +dessen geistiges und künstlerisches Leben ihr so nahe ging, noch in London, +wo sie gefeiert und bewundert wurde. Denn in ihr hatte Deutschland eine so +liebenswürdige und seltene Vertreterin gefunden, daß die Sympathien, welche +sie sich erwarb, durch die Ereignisse nur verstummten, aber nicht verloren +gingen. Denn weit über die Gräben hin, welche die Nationen voneinander +trennten, klang ein Echo der Trauer über die Kunde ihres Todes herüber. + +Es mag ja sein, daß ihre großen Erfolge im Ausland ihr um so neidloser +zugestanden wurden, als man sah, welch flüchtigen Gast sie krönten. Denn +ehe man sich's versah, lagen ihre viel bewunderten Kleider in Kisten +wohlverpackt, und sie selbst stand am Perron, Sehnsucht im Auge, um nach +ihrem geliebten Ohlstadt zurückzufahren. Sie erzählte noch im letzten +Sommer ihres Lebens, sie habe mit Freudentränen um sich her geschaut, als +sie den »Raunerhof« zum ersten Male und zugleich als ihr Eigentum +besichtigte. + +So nah berührte sie der Ort. + +Es waren pantheistische Anklänge in ihr, die man nicht überhören durfte, um +sie zu kennen. + +Denn so edler Natur war die zu weite Spannung ihres Wesens, die eine Lücke +ließ zwischen dem Leben und ihr. Ein suchendes, verlorenes Etwas fand hier +seine Brandung, und was Wunder, daß sich ihr Blick, allen Sicherungen zum +Trotz, so häufig aus dem Alltag, wie aus einem zu engen Hause stahl. + +Und kannte ihn doch kaum. + +Seine immer neu sich bereitende Unsicherheit, böse und gefährlich wie die +Gärungen der Gletscher, seine Verweigerungen, seine Öde erfuhr sie nicht. +Ja, sie blieb von einer zu deutlichen Kenntnis dieser Welt bewahrt; ob sie +es merkte oder nicht, ihr Kontakt mit ihr war immer umgeschaltet, ja sie +war geschützt. Aber wir wissen heute, warum die so innig Umringte dennoch +einsam und beschattet ging, als sei alles vergebens; was dies heimliche, +innere Versagen und ihre unrobuste Art bedeutete. Denn wir wissen nicht, +was sich in denjenigen bereitet, die inmitten ihrer Jugend von den Höhen +des Lebens weg, einzeln und jäh zu den Toren des Todes hintreten und in +seine Verlassenheit gehen. Keine letzte Verklärung, kein noch so sanftes +Verlöschen nimmt einem solchen Los etwas von seiner Schwere. + +Ach die besten Freundesherzen sind noch zu träge! Allzu leichten Sinnes +nahmen wir das schöne Geschenk ihrer Gegenwart hin und bedachten die +deutlichen Merkmale eines frühen Scheidens an ihr nicht. -- + +Wer hat nicht jene Flugzeuge gesehen, die als dünner Korb, nur durch Taue +einem Riesenball verbunden, ganz ohne Geknatter vorüberschweben? Ein +Windhauch streift die von ihm Getragenen. Je höher sie sich steigen sehen, +desto langsamer dünkt ihnen sein Flug. Da zieht vielleicht eine Wolke +vorüber, von einer schwarzen Kugel pfeilschnell durchzuckt und alsbald +überflogen, die nichts anderes war, als der Schatten des Balles, der +unbewegt und still wie eine Ampel in der Luft zu hängen schien. + +Dies aber war bei stillem und oft schwer verträumtem Wesen das Tempo ihres +inneren Werdens; mit so verzehrender Eile durchmaß sie ihre Bahn, und nur +wer ganz zuletzt in ihrem Umkreis lebte, vermöchte auch das Letzte über sie +zu sagen. Denn immer merkwürdiger und geschlossener wurde die Harmonie +dieser, vom Dianenhaften so getragenen Gestalt. Nur tragischen Naturen aber +ist es gegeben, sich zu erfüllen. Die Norm ringt sich vom Fragmentarischen +nicht los. + +Oh Marguerite! Daß meine Worte sich aufrichten dürften wie Säulen, und daß +sie sich zusammenschlössen dir eine Stätte zu bilden des Innehaltens und +der Rast, wo du -- staunend vielleicht, doch ohne Gram -- zurückblicktest +auf dein Leben; oh daß es zwischen seinen Ufern an dir vorüberzöge und dein +sinnendes Auge so darauf verweilte, wie einst in deinem Garten auf das +Getürme der Wolken im verglühenden Tag. + + * * * * * + +SEPTEMBER. Meine Zimmer waren zum Glück bis in den Oktober hinein +vermietet, und ich trieb mich bald hier, bald dort herum, bald in Zürich, +bald in Luzern, in Montreux oder Genf, nur nicht in Bern. + +Die Ära Kühlmann war ein Grund mehr, es zu meiden. Man erinnerte sich +prompt, daß ich in London in seinem Hause verkehrt hatte, und meine +Stellung gestaltete sich noch um ein Stückchen schiefer. Ich hatte jetzt zu +schreiben wie ein Minister, und es regnete Briefe. Sie betrafen zumeist +Todesurteile, Deportationen, versprengte französische oder belgische +Kinder. Dabei hielten jetzt die Zensuren meine Korrespondenz scharf im +Auge; die harmloseste Post aus Deutschland erreichte mich erst in vier, +Expreßbriefe erst in sechs Wochen. Um an Kühlmann zu schreiben, mußte ich +schon seinetwegen den Umweg über die Gesandtschaft wählen. Meist wandte ich +mich an Schreckenburg oder an den Grafen Carry. Zu Anfang ging's. Zwei +junge Belgierinnen hatten ihren eigenen Landsleuten Warnungen zukommen +lassen; dafür sollte die eine erschossen werden. Kühlmann erreichte +ziemlich rasch eine Rückgängigmachung des Urteils. Auch eine kranke Dame +aus Cambrai brachte er noch über die Grenze. Als ich aber wegen der Familie +des Professors von L.-P. bestürmt wurde, die Frau und fünf Kinder, (der +älteste Sohn im deportationsfähigen Alter[1]), in die Schweiz zu retten, +schickte mir Kühlmann ohne Kommentar den Zettel, auf welchem die hohe +Militärbehörde eine Bewilligung seines Gesuches kurz und bündig +verweigerte. Auch ohne dies -- acht Tage nach seiner Ernennung -- wußte ich +ihn verloren. + +[Fußnote 1: Als ich das erstemal in der Schweiz war, gab mir Aramis ein +Dossier über die Deportationen, von deren Einzelheiten ich noch keine +Ahnung hatte. Wer die französische Familie kennt, und weiß, wie sehr sie +ihre Töchter hegt und hütet, der sah hier wahre Abgründe des Hasses und der +Rachgier bereiten. Ich fuhr damals von Bern direkt nach Berlin, kannte aber +von den Ministern jener Tage nur Solf, und auch diesen nur ganz flüchtig. +Ihn bat ich in einem aufgeregten Brief um eine sofortige Unterredung. Er +war gerade an einer Angina erkrankt und empfing mich zu Bett mit einem +hochroten Gesicht, Eisbeutel auf dem Kopf. Am Fenster, mit dem Rücken gegen +das Licht, stand ein Oberst. Ich kramte nun die Notizen hervor, die ich vor +der Grenzüberschreitung in den Bodensee geworfen, und zwischen Lindau und +Kempten wieder ins reine geschrieben hatte; der Oberst sprach die +Befürchtung aus, daß sie der Wahrheit nur allzusehr entsprachen. + +Mit Hilfe dieses militärischen Freundes setzte Solf, obwohl gerade damals +grimmig von den Alldeutschen angefeindet eine enquete durch. Und schon +glaubte ich die Partie gewonnen und das Handwerk der Herren Ludendorff und +Konsorten gelegt. Denn wirklich konnten Tausende von Frauen damals nach +Hause zurück, und in ihrer ärgsten Form wurde die Methode eingedämmt. Aber +das Hauptquartier war noch Trumpf. Meine Darstellungen, so hieß es, seien +nicht nur die hellste Übertreibung gewesen, oh nein! sondern die +deportierten Töchter wären sehr erfreut, sich dem öden Einerlei ihres +untätigen Lebens entzogen zu sehen; man gewann richtig den Eindruck, als +müßte es für ein junges Mädchen von guter Familie geradezu eine Lust sein, +deportiert zu werden, und nur eine Bagatelle für die Eltern, ihre Kinder -- +manches Mal auf Nimmerwiedersehen -- aus ihrem Hause gerissen zu sehen, +ohne die Möglichkeit von ihnen zu hören und ohne zu wissen, wohin man sie +führte. Soll die Axt nie begraben werden? -- Eine Versöhnung der beiden +Nationen ist eine so große Notwendigkeit, daß schon aus praktischen Gründen +nicht immer einseitig nur über das erlittene Unrecht Buch geführt werden +sollte. Und es ist für die Deutschen die große Gelegenheit gekommen! Heute, +wo der französische Militarismus seine Stunde begeht, haben sie nur ein +Mittel, Frankreich von seiner Rachepolitik abzubringen, indem sie -- statt +wiederum von Rache zu reden -- es zu fühlen geben, daß sie beklagen, es zu +dieser Rachepolitik so schwer gereizt zu haben.] + +Ich muß hier bis in den Londoner Sommer 1913 zurückgreifen, und zwar bis zu +dem Abend meiner Abreise nach Irland. Kühlmann war damals jener Pläne stolz +und froh, welche ein Jahr später in der von ihm inspirierten Broschüre +»Weltpolitik ohne Krieg« ihren Ausdruck fanden. Ich erinnere mich jenes +Besuches noch sehr genau; die Teemaschine sang, wir besahen einige Bilder, +und dann fuhr mein Zug, der um Mitternacht die Küste erreichte. Alle +Kabinen des Schiffes jedoch waren besetzt, und ich hatte vergessen, eine zu +reservieren. So blieb nur der große Schiffsalon, wo ein freundlicher +Steward mir in den tiefen Ecken des die Wände entlanglaufenden Sofas ein +herrliches Lager bereitete. Der Länge nach ausgestreckt, hatte ich auf +diese Weise eine Riesenkabine für mich allein und konnte mich vor Freude +gar nicht beruhigen. In meine lange Lederschaukel tief hineingebettet wie +in eine Muschel, hoch hinauf und hinunter schwingend mit dem nächtlichen, +heftig bewegten irischen Meer als Wiege. Wie sang, wie rauschte es mich zur +Ruh! Wie segnete ich den Steward und meine eigene Vergeßlichkeit. Hin und +wieder waren mir die Götter doch hold. + +Doch weh, ach wie schlug ihre Gunst in die grausamste Ungnade um! Oh des +zerrissenen Schiffes, das schon aufgehört hatte zu sein! In ein +Rettungsboot gestoßen, auf eine Planke geworfen und nichts anderes als den +Tod von den eben so gepriesenen Wellen zu gewärtigen, wühlten sie sich zu +Felsen auf, hart und unbarmherzig mich zu begraben. Vor mir ruderte +Kühlmann wie besinnungslos, und seine Anstrengungen angesichts eines +solchen Orkanes dünkten mir lächerlich. Aber ich ruderte ja selbst +mechanisch aufs Geratewohl, und dann stürzten die schwarzen Berge über das +Boot. + +Wieder rauschte das Meer im eintönigen Sang, über mir war schon erkennbar +in der ergrauten Nacht die Decke des Schiffes, und ich lag wie zuvor in der +ledernen Muschel gewiegt. Aber für kein anderes Lied als für das finstere +Echo meines Traums hatte ich ein Ohr. Alle Freude war tot. Ich warf die +Decken fort und saß zusammengekauert, schlaflos, verwüstet, uralt. + +Durch den Krieg glaubte ich meinen Traum erfüllt. Die Ernennung Kühlmanns +hatte mich zuerst gefreut. Er hatte von Jugend auf mit allen Kräften dem +Krieg entgegengearbeitet, und ich hoffte, es würde ihm gelingen, sein Ende +herbeizuführen. + +Aber er waltete noch keine acht Tage seines Amtes -- ich war in Wengen und +lag in der Sonne -- als im Halbschlaf das Bild eines hohen Gerüstes sich +aufdrängte, ähnlich dem Eiffelturm, und auf der Spitze Kühlmann, aber schon +im Begriffe kopfüber abzustürzen, so zwar, daß er sich in der Luft zu drei +Malen überschlug. + + * * * * * + +Am Tage nach seinem »Niemals« kam Abigail mit einer stoßbereiten Miene, wie +ein Widder zu mir. Zur Annahme einer schroffen Haltung Kühlmanns war ich +jedoch um so weniger berechtigt, als mein frühestes Buch Aufsätze, welche +auf seinen Rat den französischen Titel »L'âme aux deux patries« führten, +die Behauptung aufrechthielt (denn mit der Feder war ich von jeher sehr +dreist), die Annektion Elsaß-Lothringens sei ein Fehler, den Bismarck, wenn +er noch lebte, kein zweites Mal begehen würde: er hätte ein anderes +Äquivalent dafür ersonnen. Dies Büchlein, das im übrigen ganz unter den +Tisch fiel, fand nur durch ihn eine so kräftige Verbreitung, daß sich der +Verdacht regte, er sei dessen Verfasser. + +Auch zu jener Unterredung mit Zimmermann im Januar 1917, die einzig der +Notwendigkeit einer Diskussion des elsaß-lothringischen Problems galt, +hatte er mir verholfen, und im Nebenzimmer eine Unterhaltung geführt, damit +wir ungestört blieben. Auch waren mir die Worte erinnerlich, welche er im +Jahre 1915 diesbezüglich fallen ließ, zu einer Zeit, wo die Aussichten für +Deutschland noch günstig erschienen. Sein »Niemals«, konnte ich daher nur +als einen Brocken ansehen, den man Kläffern vorwirft, um sie von sich +abzuhalten und weitergehen zu können: ein nach innen und in die Kulissen, +nicht nach außen gerichtetes Wort. + +OKTOBER. Statt der drei kleinen hatte ich jetzt ein einziges großes, fast +saalartiges Zimmer nach Norden, auf die Lauben hinaus. Schmuck, ja zierlich +stand hier der Flügel im Raum. Die Wände hatten lichte Täfelungen, und der +indische Schal mit dem weißen Feld fiel von der Decke bis zum Boden und +schien eine Türe. Der Toilettentisch blitzte im Schatten auf: sein +Hauptschmuck waren jetzt zwei silberne Renaissanceleuchter, vom Seidenaffen +beschert. + +Über das Zimmer selbst ist weiter nichts zu bemerken, als daß eine Reihe +von Unterredungen dort stattfanden, die alle zu nichts führten. Ein Wort +über meine politische Wirksamkeit. Wir wollen sie so nennen. Eine ganze +Weile brachte ich gewiß alle Spionagen und Gegenspionagen zur Verzweiflung. +Scheinbar für eine jede ein kinderleichter Fang, war das Verwirrende gewiß, +daß ich gleichzeitig in Diensten _sämtlicher_ Regierungen zu stehen den +Anschein haben mußte. Wenn jemand keine Parteien kannte, so war ich es. +Außer Japan, China, Rußland und Marokko durften nur noch Schweden, Norwegen +und Dänemark sich rühmen, daß keiner ihrer Staatsangehörigen bei mir +gewesen sei. Mein Zimmer war so recht die Halle der vergeblichen +Zusammenkünfte, und wenn ich auch keine einzige vom Zaune brach, schob ich +doch auch keiner einzigen den Riegel vor, selbst als mir kein Zweifel über +ihre Vergeblichkeiten blieb. Der »Friede«, ein Wort, das mich im Schlaf +elektrisierte, war wie das große Los oder wie das Leben eines aufgegebenen +Kranken immer eine Möglichkeit. Und ob ich auch anfing, dem Kopfschütteln +Fortunios beizustimmen, stürzte ich doch, wie Kundry im ersten Akt, bei +jeder Veranlassung nach dem Heilkraut davon, das keine Linderung mehr +bringen konnte. So setzte ich mich in Bewegung, so braute ich mit +Todesverachtung meine Tees, ob mich auch schon ein wahres Grauen vor all +den Nieten faßte, die sich zu Bergen vor meinem Tische häuften . . . Den +dümmsten und ungeschicktesten Leuten schenkte ich dennoch Gehör. Vielleicht +war gerade dieser Narr der reine Tor, vielleicht hatte ich doch recht. + +Meine Verständnislosigkeit für Natur und Beschaffenheit dieses Krieges ging +ja so weit, daß ich vom ersten Tage seines Bestehens an von Monat zu Monat +überzeugt war, länger als sechs Wochen könne er nicht mehr dauern. Immer +schien mir alles sein nahes Ende zu künden. Als zum ersten Male von +zahlreichen Gefangenen die Rede war, dachte ich: jetzt ist bald Schluß. Als +Ruhleben entstand, dachte ich: jetzt wird man verhandeln. Wer ließe seine +eigenen Leute so im Stich? Obwohl ich, was die Schlechtigkeit des einzelnen +anging, einen so radikalen Standpunkt vertrat und immer darauf aufmerksam +machte, daß die Larven triumphierten und der Edle geopfert würde, ja, daß +es stets ein besonderer Glücksfall sei, wenn er nicht unterliege, so hatte +ich den so naheliegenden Schluß von der Familie zum Staat (und was ist sie +anders, wenn nicht die Welt und Geschichte im kleinen?) merkwürdigerweise +noch immer nicht gemacht. Immer noch wähnend, es ginge um den Frieden, da +es ja gar nicht ihn, sondern Sieg und Niederlage galt, glaubte ich, durch +meine Absicht und durch meine Gesinnung alle endlich zu überzeugen und für +mich zu gewinnen, bis ich mit Entsetzen merkte, daß gerade meine Naivität +Bedenken erweckte. Wie hätte auch Aramis, da es mir keineswegs an +Menschenkenntnis gebrach, eine so große Weltunkenntnis bei mir vermutet? +Und daß ich unter Kapitalismus immer noch einige Bankiers verstand? +Vielmehr war es natürlich, daß eine Gesellschaft, welche den Krieg als eine +Institution begriff, an meiner Friedensmanie Ärgernis nahm. Ich hielt mich +für besser als sie, während ich vor allen Dingen unwissender war. Und diese +Unwissenheit stellte zu meiner Soloarie den verdrießlichen Baß. + +Dennoch war, als mir endlich ein Licht über die Welt und zugleich über mich +selbst aufging, die erste Folge die Furcht. Ging ich spät die Lauben +entlang, so faßte mich Schrecken, wenn nur die Umrisse eines Mannes oder +nur sein Schatten hinter einer Säule sichtbar wurde. Da war ja eines jener +unerklärlichen und gefährlichen Wesen, die es so eingerichtet hatten, daß +ihresgleichen heute vielfach auf einem Beine durch die Lande hopsten. + +Meine Tätigkeit, die sich vor jeder Offensive verdoppelt hatte, war nur +mehr mechanisch. Die letzte Zusammenkunft, die sich in meinem Zimmer begab, +fand mit Professor H. statt. Er berief sich auf wichtige Eröffnungen auf +Grund amerikanischer Aufträge, die er zu machen habe. Es erfolgte noch +einmal ein Depeschenwechsel mit den Restbeständen dessen, was man noch +deutsche Regierung nannte, und was längst unter den Hufen der +Militärkavalla zertreten lag. + + * * * * * + +In diesem über alle Maßen traurigen Winter strich ich eines Abends müde +durch die Lauben, als Abigail an mir vorüberschoß. Busoni spielt heute +Abend! rief er mir zu. Nun lief auch ich und kam noch gerade recht, bevor +er eine Orchesterfantasie von Weber zu spielen anfing. Und siehe da, man +lebte, war seiner Ketten ledig und richtete sich auf. + +Von nun an befaßte ich mich stark mit seinen Kompositionen und fuhr nach +Zürich, wenn dort ein neues Werk von ihm zur Aufführung gelangte. Eine +bequeme Gabe ist es ja nicht, den Wert eines überragenden Typs zu erkennen; +sie legt Verpflichtungen auf; es ist nicht, als ginge sein Wohl und Wehe +uns nichts an. + +Verdrießlich genug ist es ja vielfach mit seiner Anhängerschaft bestellt. +Wie an den Reichen die Profiteure, so drängen sich an den Schaffenden die +Parasiten des Geistes heran. Und vielleicht, wer weiß, ist ihm in mancher +Feierstunde, die ohne Anregung verlief, der Chor seiner Widersacher minder +fatal wie der seiner Anbeter. + +Von dem Unmut des alten und stark zensurierten Wagner, von einem +verzweifelten Versuch sogar, den, öden Sockel auszureißen, auf dem er sich +wie ein Götze gestellt sah, drang nur durch Zufall etwas in die Außenwelt. +Während seine Umgebung den ungeheuren Überdruß der nachwagnerischen Ära +bereiten half, ließ er selbst seine Werke weit und ungeduldig hinter sich +zurück. Lange ehe seinem Lohengrin die grausige Popularität beschieden war, +hatte er »mit Ekel in die Partitur gestarrt«[2]. Später eilte er schnell +mit dem Nachtzug davon, wenn eine Stadt, die er bereiste, ihm zu Ehren eine +seiner Opern ansetzte. Er hatte den schönen und naiven, wenn auch natürlich +vergeblichen Wunsch geäußert, seinen »Ring« ein einziges Mal auf einer +eigens errichteten Bühne in höchster Vollendung zur Aufführung zu bringen, +um sodann Bretter und Partitur auf immer zusammenzuschlagen[3]. + +Wer ein einziges Mal Friedrichs, den unvergleichlichen Darsteller des +Alberich, während seiner kurzen Laufbahn vernommen hat, der vergißt nie die +unheimliche Wirkung seines plötzlichen Vortretens, als er, hart vor der +Rampe, mit seinem dunklen und prachtvollen Organ den Fluchgesang erhob. +Sich selbst, die ganze Welt fühlte man da bedroht, und wer die Alberiche, +wer die Nibelungen sind, und welche Bewandtnis es hienieden mit ihnen hat, +wurde einem in unmißverständlichster Weise gelehrt. + +[Fußnote 2: Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.] + +[Fußnote 3: Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.] + +Was aber kann so nichtssagend gemacht werden wie das Bedeutsame? + +Gerade von groß angelegter Musik gilt das Wort: »La musique doit toujours +nous surprendre.« Laßt Dezennien des Schweigens und der Vergessenheit den +»Ring« begraben, damit sich von neuem offenbaren könne, welcher Vorhang da +zurückschlug vor einer bis auf den Grund durchschauten Welt . . . + +Erst die Züge des späten, weltberühmten und gefeierten Wagner zeigen den +trüben, resignierten und abgewandten Schein, als dünke ihm jetzt erst, da +alles erreicht war, alles vergebens. Mime und Cie. rächten sich, indem sie +ihn ableierten. Als Kassenstücke ausgebeutet, wurde das Wagnersche Werk zum +Unding, zur Säge, zur Obstruktion . . . + +»Schafft neues!« war sein immerwährender Ruf; dafür wurde à la Wagner +weiter komponiert. + +Sehr wagnerisch bewegt und sehr unwagnerianisch (denn was könnte es +unwagnerischeres geben als den Wagnerianer?) ging ich eines Abends, von +Busonis Hause kommend, durch die nächtlichen Straßen Zürichs, wo einst +Wagner gerungen hat und heute Busoni ringt, und wo beide ein Asyl gefunden +hatten. Mit letzter Gewißheit wußte ich da, daß der viel mißbrauchte +Meister, der sich gerade über den so weit von ihm abliegenden Mozart so +begeistert äußerte, heute gerade an dem selbstherrlichen Busoni und dessen +von ihm sich entfernenden Wegen sein tiefstes Gefallen fände. Weit über das +Leben hin tragen sich ja die wichtigsten Gegensätze aus. Denn sachte nur +beliebt es den Göttern. Einen nach dem andern nur lassen sie zu Worte +kommen. Ihr Neid duldet nicht das gleichzeitige Auftreten zweier allzu +interessanter Fechter. Eher hielten sie ihnen eine Binde vor die Augen, als +zu gestatten, daß sie ihre Klingen kreuzten. + +Höchst merkwürdig aber ist es, daß die Persönlichkeit nie wichtiger gewesen +ist, als jetzt in dieser Zeit der Massenschicksale der Hungers und der +Kohlennöte. Nicht nur alle Spreu sehen wir heute inmitten der Äquinoktien +aufwirbeln, auch manche Gesetztafel zerschlägt aufs neue. Der Heilige des +Tages sucht nicht mehr die Wüste, sondern tritt mitten unter die Menschen +und fällt unter ihren Streichen, nicht weil er die Abkehr predigt von der +Welt, sondern um seiner Beglückungstheorien willen. + +Aber nicht lange mehr wird der Auserwählte als ein Dulder gehen. Entweder +sehen wir ihn bald als eine verlorengegangene Spezies ganz um die Ecke +gebracht, oder sein Reich wird kommen. Es ist eine Täuschung, zu glauben, +daß eine Welt, deren Schlechtigkeit und Gewalttätigkeit sich derart nach +oben kehrte, so bleiben könnte, wie sie ist. + +Hier mag stehen, was ich zwei Jahre später schrieb: + + +Busoni. + +Ich hörte Busoni zum ersten Male vor zwei Jahren in Bern. Er sah mit einem +Blick weit hinausgerückter Vereinsamung, den man an diesem Gesicht sofort +begriff, gleichsam zu sich selber auf und fing an zu spielen. + +Das gibt es also noch, dachte ich nach einer Weile. Da geht man mühselig +seinen Weg, und plötzlich dies -- dies plötzliche Angelangtsein, diesen +Schauer der Ruh, diese unvermutete Herberge. + +Bei Busonis Spiel, so herrlich es ist, will ich jedoch nur kurz verweilen. +Er ist wohl deshalb der größte Pianist, weil er implizite einer ist, weil +unter der Zauberformel, welche seine Finger darüber sprechen, die +Metamorphose eines an sich zweifelhaften Instrumentes sich ergibt. + +Wir kennen so manche vorzügliche Pianisten. Aber wie wenige machten uns das +Klavier vergessen! Da ist Holz, sage ich, da sind Pedale, ein schöner +Anschlag vielleicht und ein großes Können dazu. Aber für den Hörer nicht +eben sehr nachhaltig: _Klavier_. Besinnt euch. Ist es anders? + +Eher ließ noch das orchestrale Klavier Illusionen zu; ich habe große +Dirigenten gehört, die es zu einem prachtvollen Notbehelf gestalteten. Von +solchen Vorspiegelungen jedoch kann bei Busoni nicht die Rede sein. Dazu +ist er zu sehr Kenner des Instrumentes, belauschte er es in allen Fibern zu +genau. Etwas ganz anderes ist hier am Werk: Mozart hatte sich eine +verzauberte Flöte ausgedacht: hier nun wurde tatsächlich das »Piano +enchanté« zur Wirklichkeit. Wir brauchen dabei nur an seinen Vortrag, der +an sich kaum noch erträglichen Pianofortekompositionen Liszts zu erinnern, +dieses riesenhaften und vermoderten Rosenbuketts mit verschossener +Bandschleife . . . statt dessen wird eine ganze Epoche, die des zweiten +Kaiserreichs, vor uns lebendig: Pracht, Tand und Duft, Fächerspiel, +lächelnde Augen, Krinoline, Vergessenheit; alles retrospektiv gesehen, mit +magischer Schärfe aufgerufen. Daher auch die ernste Maske im Hintergrund. + +Schließlich, wenn alles gesagt ist, bleibt von einem Menschen immer nur das +Neue. Die Geschichte unseres Geistes sind weitergegebene Signale. Aber +nicht immer das zuletzt Gegebene wird von dem Kommenden aufgegriffen. Die +Schrift ist kraus. Und die, welche an ihr schreiben, haben vor allem ihr +_geistiges_ Elternpaar, ihre geistige Familie und ihre geistige Sippe. +Falls wir eine neue Zeit zusammenbringen, wird auch eine neue Heraldik mit +ihr aufkommen. Gar merkwürdige Erzhäuser, Dynastien und ihre Nebenlinien +werden sich da herausstellen. Und kaum einen Stammbaum dürfte es heute +geben, der weiter verzweigt und interessanter zu erforschen wäre, wie der +des so universalen Busoni. Keine Vaterschaft, die ihm an der Wiege gesungen +wurde, sondern die sich vielmehr vor ihm verbarg, ihm vielmehr auferlegte, +sie zu entdecken. + +Viele Jahre hindurch ist es in seinen Werken wie ein umsichblicken, ein +plötzliches horchen, sichunterbrechen und stillestehen. Konzessionen kennt +er nicht. Was das unvorbereitete Ohr noch grau, abstrus, bizarr anmutet, +sind die Schatten des Weges, auf dem er sich entfernt. Seine Zeitgenossen +verlieren ihn aus dem Gesicht. Mit dem embarras de richesse, welchen +Berlioz, Liszt und Wagner in das Orchester hineingetragen haben, ließ sich +ja noch lange wirtschaften. Richard Strauß buchtete das von den Vätern +Erworbene noch weiter aus, erstand noch die oder jene Pagode hinzu, und zum +Beweis, daß er ein Allerweltskönner sei, schuf er in seiner »Ariadne« eine +antike Seite -- ich brauche sie nicht zu nennen -- von ewigem Wert. + +Auch bei dem feinen, wenn auch kurzatmigen Debussy horchten wir auf. Einige +noch unvernommene Töne schlugen da an, wie in Farbe getaucht, morbid, +verzückt, nur scheinbar dekadent, nicht dekadenter, sagte ich schon, als +ein Mondreflex auf einem verrosteten Gitter. Jedoch viel zu sagen hatte er +nicht; auch er fragte sich nicht, wie es weitergehen sollte, und er +verstummte schnell. + +Genie ist nicht nur Fleiß (neben vielem anderen), sondern auch ein +heroischer Ernst. Vielleicht ist Busoni nicht der einzige, welcher +erkannte, daß die Musik in die wild überwuchernde Flora der Neuromantik +nicht mehr tiefer hineinführte. Aber man kutschierte fatalistisch in +derselben Richtung, demselben Kreise weiter, denn das Problem schien +unlöslich. Nur nicht für Busoni. Es reizte gerade den Schöpfer in ihm. + +Anfangs waren es nur Anregungen, welche er bot. Turandot; immer stärkere +Anregungen, wie das Licht eines wachsenden Tages, in seiner Schrift »Zur +Ästhetik der Musik«, in »Arlechino«; in seinen immer erstaunlichen +Klavierkompositionen, welche dem Klavier -- dem einstigen Spinett -- so +neue Dinge entlocken: Klangeinlagen, Klangunterlagen, eingebaute, +eingetönte Perspektiven (wenn ich so sagen darf!) grüßen da aus +unvermuteten Tiefen, wie grünleuchtende Seen. Auch rein äußerlich genommen, +verfährt Busoni als Schöpfer mit ihm; auch auf den rein äußeren Ausbau +dieses Instruments (immer ist ja der Entdecker in ihm rege!) drängen seine +Kompositionen hin. + +Scheint dies vielleicht von mäßigem Belang? + +Welche Stunden äußerster Betrübnis muß das Genie durchleben! Wie müssen ihn +da die Zweifel überwältigen, ob die ewig geschäftige und ewig unachtsame +Welt das Geschenk denn auch entgegennehmen wird, welches ihr zu bereiten er +sein Leben widmet! + +Während sie von nichts anderem widerhallte, als ihrem sinnlosen +Waffengedröhn, hielt Busoni sein schweres Ziel im Auge, drang er immer +weiter vor, nahm er die Kurve, legte er die Schraube an. In seiner +Isolation fand er die schöpferische Kraft, das Tor zu sprengen, und die in +ihrem Riesenapparat festgefahrene, ja welkende Musik für eine neue Jugend +flügge zu machen. Es wurden uns bis jetzt nur Bruchstücke seines »Faust« +bekanntgegeben, aber sie künden ihn ganz. Die reine Linienführung, die +tempelhaften Umrisse einer neuen Klassizität, sanft gerundet, erheben sich +wieder! Ein »Faust« um so faustischer nur durch die neuen Streiflichter, +die auf ihn fallen: die holde Blässe in der Feierlichkeit, ein in der Welt +noch nicht dagewesener Adel des Klanges das Sfumato in der Trauer, +Leonardisches, Latinismen . . . + +Wenn ich sage, daß mit diesem seinem und zugleich so sehr unserem »Faust« +das Erbe Mozarts angetreten wurde, befürchte ich kein Dementi von der +Zukunft. + +Darf ich (so nebenbei) in Erinnerung bringen, daß Bettina Brentano über +Beethoven, daß Julie de Lespinasse über Gluck zu beider Lebzeiten das +Entscheidendste sagten? + +Und wenn ich mich heute so gedrängt fühle, auf die Wichtigkeit Busonis +immer wieder aufmerksam zu machen, so möchte ich hinzufügen, daß es in der +Kunst sowohl wie in der Politik so etwas gibt wie ein »zu spät«. Auch hier +sind die Gelegenheiten dahin, die man verpaßte -- auch den Herren +Klavierbauern rufe ich dies heute zu. + +Busoni hat ja seinen Lohn sicher nicht dahin. Auf der von ihm freigelegten +Bahn geht es weiter, und der Dank der Kommenden erwartet ihn. Aber sollen +wir heute, wo die Kronen zu Dutzenden auf das Pflaster rollten, sie im +Staube verkommen lassen und wie im alten Regime die wahren Könige nicht +ausrufen und nicht unterscheiden? + + + + +Dritter Teil. + + +Das traurigste aller Jahre gehörte der Vergangenheit. Auch der Januar hatte +ein Ende genommen. Ich war die Sklavin meines Flügels. Ihm zuliebe behielt +ich das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte. + +Mit England und den Vereinigten Staaten war der Briefwechsel besonders +schwierig geworden. Zuletzt würde es Mühe geben, sich die Gesichter seiner +Freunde zu vergegenwärtigen, deren Bild nie eine Nachricht näher brachte. + +Eines Nachmittags -- es fing schon an zu dämmern -- und meine Gedanken +zogen über unerreichbar gewordene Küsten den gewohnten Weg, als statt +vertrauter Züge, die ich wachrief, ein blankes, behendes Pferd aufblitzte +von intensivstem Braun. Voll Ungestüm, beredten Blickes, als hätte es etwas +zu verkünden, weckte es ein Echo großer Bangigkeit und verschwand. + +Dafür blieb der ganze folgende Tag unter dem Eindruck eines so beseligenden +Traumes, daß es ein Frevel wäre, ihn zu schildern. + +Wiederum dämmerte es, und diesmal saß Fortunio in meiner Sofaecke, und wir +unterhielten uns. + +Das zwiefache an den Menschen, darüber waren wir uns ja einig, betraf ihren +Ursprung. Insofern hatten die Extremisten recht, als sie nicht glaubten, +mit dem alten Karren ins gelobte neue Land einzufahren. Leider aber +brachten sie dabei ihre eigene Anhängerschaft ganz nach der alten Manier, +nicht etwa der Artung, sondern der oft so rein zufälligen Meinung nach als +wildes Durcheinander unter ein und dieselbe Flagge. + +»Wie wunderbar ist der Mensch!« sagte ich plötzlich, »was für Eingebungen +er hat! Auf was für Dinge er gerät! Zum Beispiel in allen Sprachen +Vergleiche wie die folgenden zu ziehen: marchez comme sur des nuages; to +walk on clouds; wie auf Wolken gehen.« + +»Warum?« fragte er. + +»Weil es das gibt. Nicht etwa nur in euren Dichterphantasien, sondern einer +höheren, höchsten Physik zufolge. Wer ist der verwirrte Tropf gewesen, der +als erster Wort und Begriff des Wunders startete?« + +Ich wurde jetzt der Schneereflexe immer bewußter, welche in die Mollakkorde +eines unvergleichlichen Zwielichtes fuhren. Nur wenig Wintertagen eignet +dieser Schein, trauter als das von Sommerlüften durchwärmte, hölzerne +Gartenhäuschen. Lange schmeichelte er sich an den Fenstern hin. + +»Eine gesteigerte Natur,« fuhr ich fort, »Kontakte, es sind Füße denkbar, +zu welchen die Tragfähigkeit der Wolke sich verhielte wie Steg und Brücke +zu den unseren: Gewänder, die zu solchen Füßen niederflössen, würde durch +die Schärfe der Emulsion der Äther zum natürlichsten Geleise: weite Geleise +solchen Füßen, und so sehr ein Teil von ihnen, während sie auf ihren +Wolkensohlen reisten, daß von einer zifferlosen Arithmetik beherrscht, der +ganze Himmel, und nicht etwa nur ein Stück von ihm, mit in den Raum sich +drängen würde, über dessen Schwelle sie zögen.« + +Hier verstummte ich, und so gebieterisch schwoll die Dämmerung an, daß +meine Hände, wie Orgelpunkte in der Schwebe gehalten, plötzlich +niederfielen, ihrer Unzulänglichkeit und Armut zurückgegeben. + +»Wollen Sie Licht machen?« fragte ich. + +Während er sich anschickte, das Zimmer der ganzen Länge nach zu +durchschreiten, war ich innerlich erstaunt über die Ausführlichkeit, mit +der sich das Detail eines Bildes, welches doch als Ganzes, über alle +Zeitbegriffe schnell zu Häupten meines Bettes aufgeblitzt war, festhalten +ließe. + +Doch warum faßte mich da wieder das unerklärliche Grauen, das nicht mehr +einzufangende Echo des Grams des gestrigen Nachmittags, als mir im +halbwachen Zustand das Pferd beredten Auges entgegenschoß? Welche +Bewandtnis -- -- -- -- -- + +Aber da hatte Fortunio schon geknipst, die Lampe erstrahlte, und ich atmete +auf. + +5. FEBRUAR. Am Morgen dieses Tages stand ich angekleidet zu Häupten des +Bettes und hielt meine Post. Sie war umfangreicher als sonst. Ein Brief mit +ausländischer Marke und fremder Handschrift, den ich zuerst öffnete, +umfaßte nur wenig Zeilen und meldete einen Tod, der schon vier Monate +zurücklag. + +Der Zahnarzt erwartete mich schon sehr früh. + +Ganz undeutlich, wie von einem andern Ufer herüber, so daß ich nicht daran +dachte, mich zu entschuldigen, schien er mir ungeduldig über mein +verspätetes Erscheinen. + +Ich wollte ihn ersuchen, das graue Schmerzenslicht von der +gegenüberliegenden Mauer zu entfernen. Dann besann ich mich: zeigten doch +alle Dinge, das Fenster, die Instrumente auf dem Tablett dieselbe böse und +stechende Schärfe. + +Desgleichen die Luft, als ich nach der Sitzung unter die Lauben trat. +Sollte man sich es wirklich antun, sie hinabzugehen? War nicht vielmehr die +Erde, dieser schwarze und zertretene Schnee, sich in ihm einzubetten mit +zugekehrtem Gesicht, die einzige und unendliche Lockung? Die wehe Fackel +des Gedächtnisses zu löschen, so zu verlöschen, als sei man nie gewesen, +dieses war der Himmel. Oh wer war das? Wer war die Kreatur, die diesen +ganzen Tag hindurch alle Gesten des Lebens so staccato verrichtete, an den +Speisen dieselbe entsetzliche und befremdende Miene wahrnahm, wie an den +Pinzetten auf dem Tablett des Zahnarztes, und wohin sie sich auch wandte, +die Flucht ergriff; als wäre sie die aus Hoffmanns Erzählung entronnene +Olympia -- die Lauben hinab, die Treppen hinauf -- in ihr Zimmer zurücklief +-- und sich umzog! -- Einen blauen Hut aufsetzte, einen blauen! -- und +einen blauen Schleier davorband, und in das betäubte Antlitz starrte, dem +er so ungewöhnlich stand -- und einen Besuch abstattete -- an einem Ofen +lehnte, an ein Fenster trat, und durch seine, vom leichten Druck getrübte +Scheiben sah, den die Wärme des Zimmers hervorrief. Es saß einer da, der +erzählte, doch nur die Türe nahm sie wahr, durch welche sie wieder +entrinnen und ins Freie gelangen konnte . . . + +Dort fing es an zu dunkeln. Es nahm auch dieser Tag ein Ende. + +Nur auf dem freien Platz und über der Brücke war es noch hell. Rauh, grell +und öde brütete ein durchnäßter Wintertag. Ungemildert fing ihn der +»Gurten« auf: eine dunkle, ansehnliche Masse, und dennoch niedrig stellte +sich ihm oh, so traumlos entgegen! Tropfnaß alle Dächer, die Bäume ein +wirres und aufgelöstes Haar. + +Das Uhrwerk war abgelaufen, und sie stand nun endlich still, wie +überwachsen von ihrer Not. Ein Martergriffel umriß für sie die ganze Stadt, +die sich im Widerscheine eines Sterbetages zur Krypta schloß, das Siegel +seiner Qual für immer aufgebrannt. So fiel ein Tor. + +Beim ersten Laternenschein prallte sie zurück. Jedes Licht war eine Tücke. +Kein Dunkel war tief und ununterbrochen genug. Und riefen ihre Wände nicht +nach ihr? Zu ihnen nahm sie ihre Zuflucht, schloß ihre Türe und überließ +sich der Erschöpfung. In ihren Kleidern wie auf einem Sarkophag, ohne sich +zu rühren, ausgestreckt, lag sie in den Armen und am Herzen dieser Nacht. + +Siehe -- was tauchte da wieder vor ihr auf? -- Sturmentlassen, mit +verhängten Zügeln, wie einem geisterhaften Stalle zugekehrt, das entfärbte, +fahlgewordene Roß, dessen Botendienst geschehen war. + +Zum ersten Male entsann sie sich da auch des andern Bildes, das sich +zwischen einer Kunde und ihrer Ankündigung gnädig und wie eine Gnade +stellte. + + * * * * * + +Und nun, oh Leser, fasse meine Hand, daß ich von dir selber gehalten, durch +Dornen und Gestrüpp, Ziel, Sinn und Ende dieses Buches erreiche. Verlasse +auf immer mit mir das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte und folge mir +nach Genf. Ferne dem traumlosen Berg, über der malerischen Stadt des +nüchternen Lichtes, durch die Turmspitze versinnbildlicht, welche den +Unterbau des Münsters niederdrückt, und seine Schönheit immerzu und immerzu +verneint. + +Selbst bei der schärfsten Bise leuchtete die Luft in Genf so abgetönt. Dort +hauste ich nun, in einem unheizbaren Studentenstübchen im fünften Stock des +hotel de Russie. Ein kleiner Balkon überhing die stets von Schwänen +überzogene Insel Rousseau. Meine Taschen waren in diesen Tagen der +Brotkarten mit Krumen wohlgefüllt, und mit heimlicher Befriedigung warf ich +ihnen die rargewordene Speise zu. Nicht vergeblich glitten sie mir da immer +sogleich, doch ohne jede unziemliche Eile entgegen. Ich sah ihnen oft lange +zu. Sie standen in der Tierwelt so abseits; fast ein wenig abgerückt von +der Natur. Bald würden sie zwischen ihren stolz aufgerichteten Flügeln ihre +Jungen wie in einer geschlossenen Krone durchs Blaue tragen. Vielleicht gab +ihnen ihre Ungefährdetheit die Muße, um den Tod zu wissen. + +Die Zeiten waren derart, daß der Ortswechsel selbst einer so unwichtigen +Person wie mir nicht unvermerkt blieb. Dinge aber, die mich vor kurzem in +Aufruhr versetzt hätten, machten mir nicht das geringste. An der +Telephonkabine war eines Morgens der Türgriff ausgekurbelt und wurde nicht +wieder instand gesetzt. Dicht bei verbrachte ein dicker Herr seine Tage und +rauchte Zigarren, indem er unverfroren horchte. + +Indessen wurde ich von Herrn L -- P. . . . dem Vater der im +deportationsfähigen Alter stehenden Kinder aufs neue bestürmt. Seiner Frau +blieben die Pässe verweigert. Ich schrieb jetzt auf gut Glück dem Grafen +Carry, er möge mich über den Sonntag besuchen. Und richtig stand er da. Es +war strahlendes Wetter, wir streunten über die Kais und aßen zusammen. An +seine natürliche Güte hatte ich nie vergebens appelliert, und schließlich +bildete sein Propagandawerk eine Art von Rettungsstation. An ihm klebte +kein Blut. Da mir aber seine Beziehungen zur obersten Heeresleitung bekannt +waren, log ich jetzt über die politische Zweckmäßigkeit einer Paßverleihung +an die Familie L . . P . . . einiges Blaue vom Himmel. Wir setzten uns ins +Freie. Erstaunliche Magnolien prangten schon in voller Blüte; an eine +Tanne, grünblau, weiten Hauptes wie eine Pinie, und immerzu umschwirrt, +preßte sich ein glückliches Vogelhaus. Carrys Augen hingen voll Entzücken +daran. + +»Da geht mein schlimmster Feind«, sagte er plötzlich. Klein, mit +niederträchtiger Visage, kam hinter den Magnolien ein Landsmann von uns +hervor. Von übelster Vergangenheit, dabei Träger eines großen Namens, für +den Nachrichtendienst also wie geboren, lauerte er dem Frieden um so +emsiger auf, als die Dauer des Krieges mit dem Interim seiner +Rehabilitierung zusammenfiel. + +»Natürlich haßt er Sie«, sagte ich zerstreut. »Was erwarten Sie sonst?« + +Abends -- der Graf war schon abgereist -- kreuzte ich mich nochmals, über +die Brücke zu den Schwänen gehend, mit der hochgeborenen Krapüle, die mit +einem Basiliskenblick an mir vorüberging. Tags darauf -- ich dachte gerade +an das blauzerfließende Grün der Tanne und an den großen Blumenbaum, der in +dieser Sonnenhelle wohl noch heller erblüht war, als ich ans Telephon +gerufen wurde. Vor der Zelle saß trägen Auges der mir zugeteilte Herr mit +der Nachmittagszigarre im Mund. Heute aber sollte er auf seine Kosten +kommen. Denn im höchst aufgeregten Ton forderte mich eine Genfer Dame zu +sofortiger Aussprache auf. Ihr Haus sei mir offengestanden, sie habe mir +ihr Vertrauen geschenkt, und nun müsse sie hören, daß ich es mißbrauchte. + +Ich machte mich ziemlich gemächlich auf den Weg zu ihrem Hause. Seit jenem +Tage, als sich Bern für mich zur Krypta schloß, war mir erst bewußt, daß +ich mit nichten ein verkannter oder verlassener, sondern einer der wenigen +innerlich wirklich beschützten und durchschauten Menschen gewesen war. + +Wie oft hatte -- weit vorgreifend, ach! -- mein Ohr das melodische Lachen +zu hören geglaubt, wenn ich dereinst alles erzählen würde, alle Zwickmühlen +und alle Abenteuer, in die ich geraten war. + +Ein ganzer, ein wirklich unvergeßlicher Mensch, dachte ich, von Trauer +niedergedrückt, ist nirgends zu Ende. Unerschöpft und ganz unausgespielt +sinkt er zu Grabe. Abgerissen, doch nicht abgesponnen, ist der Faden eines +solchen Lebens. + +Wenn aber Kinder des Lichtes zusammentreffen, ist das schon ein Glück des +Himmels. In dem hin und her ihrer Blicke und ihres erkennens liegt das +Vorgefühl ihrer Macht. Zu uns komme ihr Reich. + +Mit der Genfer Dame war ich schnell im reinen. Wir spielten beiderseits mit +offenen Karten. Die hochgeborene Krapüle hatte verbreiten lassen, die +deutsche Propaganda arbeite nunmehr mit so raffinierten Mitteln, daß sie +kompromittierte Personen, wie mich, zu Werkzeugen mache. Den Beweis hielte +er in der Hand. (Es war mein Frühstück mit dem Grafen Carry.) Natürlich war +seine Behauptung wohl geeignet, mich in Genf unmöglich zu machen. Er hatte +sich nur insofern verrechnet, als meine dortigen Freunde sich unverweilt +mit mir ins Vertrauen setzten. Dieser Zwischenfall war also beigelegt. + +Als ich wieder in die Allee einbog, welche von ihrem Hause bis hart an die +Straße führte, drangen durch ein offengebliebenes Fenster die Worte: »Je +suis bien contente de le lui avoir dit« laut und vernehmlich ins Freie; Mir +aber saß jetzt ein ödes Gefühl im Magen, ein Ekel, das würgen einer allzu +krampfhaft unterdrückten Bitterkeit. Ein Durst zugleich; das lechzen des +Trinkers, der nach dem Becher vergeht; es mußte etwas, das Palliativ, die +Betäubung mußte her. Es war das alte Laster, hui! Und lag sie nicht dicht +bei, die avenue de Florissant? wußte ich nicht, zufällig, daß sie dort +wohnte, sie, die den Schlüssel zu den geheimen Toren hielt, die ich +begehrte? Heute noch, nein, sogleich mußte ich hin. + +Und schon betrat ich unangemeldet die großen Räume, in welchen die +malerische Französin zwischen ausgehobenen Türen nach allen Seiten hin den +Ausblick über Gärten und Büsche genoß. Es war eine ganze Welt von Bäumen in +ihrem ersten Grün. Mademoiselle S., eine Pariserin der ernsten und wenig +bekannten Art, trug einen orangefarbenen Foulard um ihren Kopf gewunden und +gestand ihre Kopfschmerzen, aber nicht ihr Befremden über meinen Besuch. +Wir hatten uns ein einziges Mal während des Krieges flüchtig kennengelernt, +und nun lagerte ich, jedem Argwohn zuvorkommend, indem ich ihn einfach +niedertrat, auf einem Diwan ihres Salons, den verwirrenden Frühlingszauber +ihres Parkes vor Augen. + +»Sie sind im Besitze der Adresse eines Mediums,« sagte ich, »die ich +suche.« Und sie erhob sich, an ihnen Schreibtisch zu treten; eine hohe und +dunkle Gestalt, weder so schön, noch so jung vielleicht, als sie an diesem +Abend schien, den blassen und melancholischen Kopf vom seidenen Turban eng +umschlossen, und all die Wipfel, die in den Rosenhimmel ragten, als +Hintergrund. Sie reichte mir die Adresse, und wir sprachen von allgemeinen +Dingen. + +»Es muß heute doch ein eigener Segen auf allen Schlechtigkeiten ruhen,« +sagte ich, »da, was immer man Gutes und Hilfreiches unternehmen möchte, +sofort in Mißlingen und Gestank aufgeht.« + +»Wie könnte es anders sein?« gab sie zurück, »das Geschwür ist noch lange +nicht reif. Vorerst muß alles ihm allein zugute kommen.« + +»Es gibt aber Geschwüre en permanence«, meinte ich. Doch sie schüttelte den +Kopf, unbeirrbar in ihrem Glauben an eine bessere Zukunft. + +Es herrschte zwischen uns die kurzbefristete Vertraulichkeit zweier +Reisegefährten eines nächtlichen Zuges. Nichts ist so unverbindlich wie ihr +Auseinandergehen. + +Denn schon war ich wieder unterwegs, einer andern Himmelsrichtung, einem +Genf, das ich nicht kannte, zugewandt, nicht wissend, daß es auch seine +anonymen Viertel hatte, die scheinbar nicht zu ihm gehörten, sondern in +ihrer Bedrücktheit ganz allgemein die Straßen einer größeren Stadt +darstellen. Zwischen solchen Häuserreihen war ich jetzt auf der Suche, fand +die Nummer, stieg vier Treppen hoch und läutete und wartete. Eine im Dunkel +undefinierbare Gestalt öffnete endlich langsam die Türe. + +»Wollen Sie mich melden?« sagte ich, ohne meinen Namen anzugeben. Sie +rührte sich nicht. »Wollen Sie mich melden?« wiederholte ich. Sie schwieg. +Sie war es selbst. Stumm standen wir einander gegenüber. Unsere Blicke +belauerten, betasteten sich. So tauschen wohl in einer Höhle des Lasters +zwei Eingeweihte zögernd ihre Erkennungszeichen: es waren die verschleppten +Schatten unserer Augen und ihr matter und verlöschter Schein. Und wie +loderte schon die Luft! Oh welch ein Wellengang! Welcher Sturm inmitten der +Stille, die zwischen uns entstand. Ich folgte der Gestalt, die vor mir +zurückwich. Sie trat, als hätte ich sie gestoßen, in die Umrahmung einer +Türe, die hinter ihr nachgab, und taumelnd trat ich ein. + + * * * * * + +Dem glücklich Liebenden gleich streifte ich in jener Nacht, hingerissen, +berauscht, von tröstlichen Schauern durchrieselt, die Kais entlang. Wie +Antäus die Erde, hatte so mein Fuß die belebende Leere berührt? -- War's +ein geistiger Aderlaß gewesen? War's der letzten Hingabe entsetzliche +Betäubung oder die eleusische Flut? Und wird sie einmal einer nennen +dürfen, die einmaligen Gefilde ohne Wiederkehr und Verbieter des Wortes, +die ein Blick zu ihnen ein Wenden des Kopfes nur, zu ewiger Ungewesenheit +entstürzen läßt . . . . + +Oh Eurydike! + + * * * * * + +Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, nahm ich das Schiff. Als es in +Ouchy anlegte, zog mit einem Male Fortunio an Bord. Wir waren beide nicht +wenig erstaunt. Ihn aber schien die Bläue des Tages und das in Verzückung +zurücktretende Ufer von sich selbst fortgerissen zu haben, und es war +ersichtlich, daß er träumte. Das Leben hielt er dann für schön, besann sich +des Augenblickes und der Weltgeschichte, wie auch seines eigenen Erwachens +nicht, sondern, ganz Echo, war er gefangen von ein paar Weisen, welche +manchen Tages die Natur anhebt, und den verwandelt, der sie hört. + +»Lassen Sie sich das Neueste erzählen«, stieß ich ihn an und gab mit allen +Details die Mine zum besten, von der ich in Genf hätte auffliegen sollen. +Wie ergiebig Graf Carry dabei mit »belegt« worden war, kam erst später ans +Tageslicht. Mit der Warnung an meine Schweizer Freunde nämlich, sich vor +einer deutschen Agentin wie mir etwas in acht zu nehmen, erging +gleichzeitig eine Meldung an deutsche Instanzen in Bern, Graf Carry wisse +so wenig die Würde seines Amtes zu wahren, daß er sich nicht scheue, mit +einer französischen Agentin wie mir öffentlich herumzuziehen. Aus dem +Mittagessen wurde der Pikanterie halber ein trautes Souper. + +»Diese Zeit«, sagte ich zu Fortunio, »hat den Untermenschen doch wirklich +den Maibaum ihrer Existenzen gebracht, und es gehört mit zu den läuternden +Wirkungen des Krieges, daß ihn die Krapülen überleben. Denn wenn eine, +statt als sein Helfershelfer reklamiert zu werden, in die fatale Lage +gerät, selbst an den Heldentod glauben zu müssen, so ist das doch ein ganz +seltenes Pech.« + +Fortunio fuhr mit dem Abendzug nach Bern zurück, und ich blieb in Clarens. + +Um Ostern wollte ich Romain Rolland besuchen und sagte mich in Villeneuve +an. Allein es war jener Karfreitagmorgen, an welchem eine oberste +Heeresleitung, wie um seiner zu höhnen, die Kanonade von Paris nicht +unterbrach, eine Kirche während des Kultes einstürzte und die Anwesenden +unter sich begrub. Daß mein angekündeter Besuch auf das hin unterblieb, +verstand sich von selbst. Für mein Gefühl war dieser Karfreitagsvolltreffer +das schwarze Aß, das sich Deutschland selber ausgeworfen hatte. Eine solche +Absage an die tragende Idee des Christentums war zu zynisch, um nicht +ominös zu sein. Sie war -- man verstehe mich recht -- wüstester +Protestantismus. Luther galt mir nur deshalb als einer der Ahnherren des +Krieges, weil sein auftreten das Übergewicht des nördlichen über das +westliche und südliche Deutschland anbahnte, und ein kahles, +unkünstlerisches, unmusisches und humorloses Element in den Pulsen der +Deutschen entsprang: Phantasielosigkeit und Unmusik. Wagt es vielleicht +einer, Sebastian Bach einen Protestanten zu nennen? Der Protestantismus +stak damals in seinen ersten Anfängen, noch belebt von der Wärme des +Stammes, von dem er sich losriß: protestierender Katholizismus. Der +wirklich ausgewachsene konsistorialrätliche Protestantismus gedieh erst in +den letzten Dezennien zu der vollen Reife und dem gleichzeitigen Marasmus. +Die fürchterlichen Lutherschen Kirchen, das toteste an Architektur, was in +der Welt zu sehen ist, sind Geist von seinem Geiste. Alle unfrohe +Geschmacklosigkeit, den Mangel an Grazie und Liebenswürdigkeit, das +Reformkostüm, die Jägerwäsche danken wir ihm. Undenkbar, daß von München +aus die Reichsbriefmarke, als die häßlichste der Welt, hinausgeflattert +wäre. Nein! fürwahr, diese Germania stieg so recht als die fille ainée der +protestantischen Kirche. Sie brachte den unheilbaren Riß, über den keine +äußerliche Geeintheit hinweghalf. Denn ihr verdanken wir das +verständnislose abrücken von der lateinischen und abendländischen Welt, das +ein südliches, fränkisches und westliches Deutschland nie herbeigeführt +hätte. + +Statt des café du Nord wurde jetzt der Kursaal von Montreux meine +Schreibstube. Den Nachmittag beschloß ich mit Vorliebe im kleinen Saal des +Konservatoriums, wo ich mit einem russischen Cellisten musizierte. Aber A. +H. Pax wollte wieder einen Beitrag. Es gibt heute nur ein Thema, schrieb +ich ihm: + +Und wir hätten alles von der Methode jener glücklichen Spekulanten zu +lernen, welche sich offenkundig als die weitaus schärfsten Psychologen +erwiesen, indem sie irgendein Präparat, eine Zahntinktur oder ein Extrakt +dadurch zu allgemeinster Geltung verhelfen, daß sie deren Bezeichnungen in +grellen Riesenbuchstaben an Mauern, Säulen und Schlöten anschlagen, sich +gleichsam an die Fersen des Vorübergehenden heften, selbst auf Bergeshöhen +sich zwischen ihn und die Aussicht schieben, ja von Felswänden herab ihm +unerwartet Odol! Haarlin! oder Bovril! entgegenschreien. + +Wäre heute nicht die Beachtung gewisser Zustände mit einer ebensolchen +vorbildlichen Hartnäckigkeit zu erzwingen? Durch ein ungeheures +Preisausschreiben etwa, das an alle Maler, der ältesten wie der neuesten +Schule, erginge, um auf Bildern und Plakaten, mit beliebigem Raumverbrauch, +die Wirklichkeit zu illustrieren, allen Brücken und Wegen entlang sie +immerzu neu einer Allgemeinheit zu veranschaulichen, deren geistigen +Stumpfsinn nur jene Menschenkenner von Spekulanten voll ergründeten. Daß es +keine intellektuelle Notwehr gibt, und daß wir lieber untergehen als daß +wir dächten, hielten wir ja nicht für möglich, bevor wir es erlebten. Wie +hätte sonst über unsere Köpfe hinweg jene Phalanx der Niedrigen zustande +kommen können, die sich heute mit so bewundernswerter Regie über alle +Grenzen hin in die Hände arbeiten? Auf uns, die sie gewähren lassen, fällt +der Fluch dieser Zeit zurück. Nicht auf die schlechten, deren Tun im +Einklang steht mit ihrem Wollen; auf uns, nicht auf die Knechte, welche +sich zu unseren Herren machten, sondern auf uns, die wir uns von ihnen +knechten ließen. Sollte der Tag hereinbrechen, an dem es zu spät sein wird +für unser zusammengehen, so werden wir, die guten Willens sind, als die +Schuldigen stehen, weil uns der Mut unseres besseren Wissens gebrach, dem +Genius des Krieges die Siegermaske von der gedankenlosen Stirn zu reißen. +Ah! wir bedachten nicht den tiefen Sinn jener Sage, welche den Drachentöter +die Sprache der Vögel verstehen ließ, als er vom Blut des erlegten +Ungeheuers genoß! + +Es waren stille Tage. Der Sommer reifte wie eine Frucht. Schon rissen +Gewitter den Himmel auf und schlugen die Wellen bis zu den herabhängenden +Blüten am Ufer. Und die Nächte verströmten betäubend und lau. Es war ein +Wandeln wie im Traum, bedrückend und begeisternd zugleich. Meine +Unterredung mit dem Grafen Carry datierte vom 5. Mai. Schon am 17. +depeschierte er mir, die Pässe für Frau v. L . . . . und ihre fünf Kinder +seien gewährt. + +In den Weinbergen surrte das Licht, die goldenen Bienen waren eins mit ihm. +Ob man lebte oder gestorben war oder eben geboren wurde, machte keinen +Unterschied. Es war zu heiß. Den schönen Damen standen die Koffer gerüstet. +Ihre neuesten Kostüme und Kleider, die seidenen Sweater und die Hüte und +die Schuhe kannte man jetzt. Es war Zeit, in einem neuen Ort neu darin zu +erstehen. + +Für den 29. waren in Zürich Busonis Opern unter seiner Leitung angesagt. +Dort sollte ich mit Fortunio zusammentreffen, und dann an den Thuner See +mit ihm fahren. Aber statt seiner kam ein Brief, und meine Stirne umwölkte +sich beim Anblick seiner Adresse: Es war ein Mißgriff und eine Illusion, +daß er die Villa des geölten Nibelungen bezog. Kurz herausgesagt, wir +beiden konnten einander nicht leiden. Ich grollte ihm nicht, weil er meine +Haltung verurteilt und mir versichert hatte, wir seien immer noch zu +anständig; sein plötzlicher Radikalismus, vielmehr die Art, wie er sich als +unser Leithammel aufwarf, ärgerte mich. Denn er war keiner von den Unseren. +Mit Lanze und Speer kam ich ins Spiezer Schloßhotel, ihn zu bekämpfen. Dort +warteten A. H. Pax und seine unschätzbare Gattin seit einer Woche meiner. +In der Halle stand ein Bechstein, und von Paxens tiefer Loggia aus hatte +man den Blick nach Süden über die Alpen und den See. Bei ihnen waltete +Überblick, Wissen und Nächstenliebe, dazu ein Aroma von Wiener Kaffee und +Gemütlichkeit, die nicht zu überbieten waren. + +Die Villa des Geölten lag unter den Tannen in der Tiefe, einen Kilometer +entfernt und in wundervoller Lage. Ein kurzer Weg bog vom Gitter bis zum +Hause, als wäre er unendlich, ein. Die veredelten Kirschbäume, die ihn +beschatteten, bestahl ich, soviel ich konnte. Es verdroß Fortunio, doch ich +erklärte, Kirschen nur vom Baume essen zu können, und riß im vorbeigehen +immer welche herab. Es waren wirklich Kirschen für Hesperiden. Die unteren +Zweige hingen schon leer. + +Der geölte Nibelung gehörte dem Geschlecht derer an, die nicht nur +geschäftskundig, sondern auch mit regen Sinnen für das Schöne begabt, zu +überaus tüchtigen Faktoren berufen, dabei haarscharf an ihre Stelle zu +verweisen, ja niederzuhalten sind. Unsachlich, ungedanklich, nur der +Witterungen, aber keiner Erkenntnisse fähig, konnte er sich nach innerer +Herkunft und Bestimmung höchstens zum Sklavenhalter, niemals zum Herren +vermögen. Gütiger Regungen sehr wohl fähig, war der geölte Nibelung infolge +seines unbändigen Ehrgeizes der glücklose Knecht, außerstande sich zu +bescheiden. Über ihn wölbte sich der freie Himmel nicht unmittelbar, +zwischen ihm und dem Äther, den Göttern und der Natur lastete eine +trennende Kuppel. Fortunio aber, und wenn er tausendmal zerschellte, war +ein Sohn des Lichts. An ihn klammerte sich der Geölte, von trüben Stacheln +getrieben, und eiferte um die gleiche Stufe der Leiter mit ihm; von +Eifersucht und Zuneigung gleicherweise gequält, suchte er -- immer unbewußt +-- ihn an sich zu reißen oder ihn zu verderben. Seine Gattin liebte es, +vierhändig zu spielen, ihr Anschlag war eine Pein, und ich stand sehr bald +mit beiden übers Kreuz. So ging ich nicht mehr den kurzen Weg, der zwischen +Gitter und Haus ins Unendliche lief, und sah von dieser Stelle aus nicht +mehr den Niessen wie eine Riesenpyramide inmitten des fruchtbaren Tales +stehen. + +Der Himmel freilich kam hier nie zur Ruh, und die Gegend war mehr eine +großartige, opernhafte Szenerie, denn eine Landschaft, das Licht ein +Beleuchtungsapparat; statt der Spiegelungen hatte man Effekte. Das +Schreckhorn leuchtete in der Verkürzung, der See war eine Arie. + +»Komm, komme!« schrieb der Seidenaff aus St. Moritz. »Wer weiß, was mit uns +in einem Jahre geschieht.« Und eines Morgens reiße ich aus, um den Sommer +im Engadin zu beschließen. + +Mein Weg führt über Bern, und ich mache bei Martin im Walde halt. Er ist +schwer niedergedrückt. Das deutsche Verhängnis war für jeden, der außerhalb +des Landes wohnte, unaufhaltsam. Ich schreibe eine Depesche unter seinem +Diktat und renne damit zum bayrischen Gesandten. Dieser besteht darauf, +Martin im Walde selber zu sprechen: ich also mit Windeseile zu ihm zurück +und ihn so lange quälend, bis er mir folgt. Aber welch ein Interview! Alle +heißen und kalten Wasserhähne sprühten um die Wette, daß es nur so pfiff. + +Die Depesche hat er aber abgeschickt, mache ich auf dem Heimweg geltend. + +Sie übermittelte jedoch diejenige Brause, die man sich auf Wochen noch +verbat. + +Fluchtartig verließ ich die Stadt der vergeblichen Zusammenkünfte. + + * * * * * + + +Palace Hotel, St. Moritz. + +AUGUST 1918. Man hätte sich auf dem Berge Arrarat glauben können, wären +unter den Geretteten nicht so viele gewesen, die mit einem Mühlstein am +Halse zu tiefst der angerichteten Sintflut zu liegen verdienten. Diese +Menschenmetzger, Gewinnler am Elend der Menschheit und gemästet von ihrem +Blut, hier machten sie sich breit und schlemmten. + +Gleich bei meiner Ankunft hatte ich den Seidenaffen besucht und war auf der +Treppe gestürzt, so daß ich bleiben mußte, wo ich war. Doch inmitten des +Geschwirres begann da für mich ein Leben wirklicher Beschaulichkeit. Ich +kannte niemanden, mit San Cividales verkehrte ich nur in den oberen Räumen, +unten mieden wir uns, denn wir waren ja Feinde. Auf den Stock gestützt, +hinkte ich, wenn Sajani mit seiner kleinen Kapelle spielte, zu einem +Schreibtisch in der offenen Galerie, die Berge von Pontresina vor Augen, +die ekstatisch nach Süden träumten; unten der tiefgrüne Bergsee und der +Waldweg seinen Ufern entlang; St. Moritzbad im Rücken, damit ich es nicht +zu sehen brauchte. + +Es war sehr oft »etwas los«. Alles strömte dann nach derselben Richtung, um +sich im Sportkostüm zu treffen, bevor man sich im Abendkleide wieder +begegnete. Dann spielte die Kapelle ins Leere, ich aber zog unter den +Baldachin, die Tangonoten verschwanden, und wir spielten Trios. Es +schlichen immer ein paar unbeschäftigte Kellner herein, und dies +Kellnerpublikum war uns ein Sporn. + +In der Umwertung der Gesellschaft selbst besteht heute die eigentliche und +tiefe Revolution. Ein rein äußerlicher Staat hat merkwürdigerweise +aufgehört, elegant zu sein; das Prestige einer Klasse als solcher, mag es +noch einmal aufflackern und sich noch eine Weile fortläppern, ist dahin. +Diejenige Klasse, die überall am Kriege die unschuldigste war, wird täglich +an Interesse gewinnen und ihren Tag erleben. Der Arbeiterstand als Magnet: +so schnell reiten die Toten! -- + +Wie faszinierend war es indes, die Herren von vorgestern zu beobachten, +welche wähnten, daß sie es noch seien, und die höchstens noch der Wirt, bei +dem sie abstiegen, in dem Glauben erhielt; diese Herren auf Abbruch, die +nicht merkten, daß ihre Füße sich schon im Gerölle fingen. Müßigkeit und +Unwissenheit hatten ihre Norm so tief herabgedrückt, daß, um ein Beispiel +zu geben, edle Musik eine Zumutung für sie gewesen wäre. In der Tat, es +lohnte sich, sie zu studieren. Sie machten noch die Gesten der Väter, aber +schon war der Pöbel bei ihnen eingebrochen und schuf sich in diesem +äußersten Rechteck der Gesellschaft ein Ventil. Nirgends vielleicht hatte +sich die Achtung für inneren Wert so sehr verringert und kam innerer Adel +so wenig in Betracht. Wie viel ritterlich Gesinnte zählte man unter diesen +Kavalieren? Wie viel Strebende? Was die Unbildung, die zunehmende Verrohung +dieser Clique betraf, so stand sie den von ihr verhöhnten nouveaux riches, +welche Wurstkonserven zu Magnaten erhoben hatten, innerlich schon am +nächsten, und es war rührend zu sehen, wie hier die Elite -- denn auch die +sogenannte Elite hat natürlich ihre Elite, und ich weiß keine +liebenswertere -- von ihr abrückte und sich ihrer schämte. + +Auch den Trost von ein paar wirklich schönen Frauen hatte man hier. Der +Seidenaff zwar verzog sich des Abends immer sehr bald. Sah man nach ihr um, +war sie wie ein Vogel schon weg. + +Aber die leidende Sylvia, schön wie eine gestirnte Nacht, tanzte so gern. +Und ob man sich auch sagte, die Melancholie ihres Lächelns, ihres Lachens +sei nur Zufall, nur der Form ihrer göttlichen Lippen, dem Licht ihrer Zähne +entblüht, sie entzückte darum nicht minder. + +Eine andere kam zuweilen von Suvretta herüber, ein Püppchen, so zierlich +gebildet, als wäre sie in einer blitzend ausgeschlagenen Nußschale +dahergefahren. + +Eine vierte war noch da, von der ich noch reden werde. Aber laßt mich bei +der gestirnten Nacht noch einmal verweilen. Meistens trat sie erst, nachdem +der Tag zu Ende war, scheinbar ausgeruht, in ihrer düsteren Pracht hervor, +blieb dann bis zum Hahnenschrei, wie die Braut von Korinth, und hielt ihre +Tänzer in Atem. + + * * * * * + +ANFANG SEPTEMBER. »Ich hörte lange nichts von euch«, schrieb ich an +Fortunio. »Was Sie nur treiben?« + +Mein Fuß war endlich hergestellt und einer längeren Fußtour gewachsen. +Eines Morgens verließ ich früh das Palace Hotel in Bluse und Rock, einen +Sack umgeschnallt, in dem ich eine ganze Reisetasche leerte, und einen +eigens dafür erstandenen Strohhut, der so tief hereinfiel, als man wollte. +Also ausgerüstet, zog ich nach Maloja, schlug aber bald den Waldweg ein, +denn die zahlreich einherrollenden Wagen hüllten die Straße in Staub. Frech +auf den Polstern ausgebreitet, mit befriedigten Mundwinkeln, fuhr ein +Schieber nach dem andern froh zu Tale, oder dem Julier entgegen; ein +feister und wohlgemuter Korso: der Krieg durfte noch dauern. + +Am andern Ufer der Seen jedoch wand sich ein stiller Weg um jede Bucht, +nimmermüde, sie zu umschreiben, leis umplätschert, geduldig und verliebt. + +Ich riß den Hut vom Kopfe, steckte ihn in den Sack, und ließ die Stirne +frei von den Gletscherwinden umwehen. Es war so schön, wieder schnellen und +gesunden Fußes durch die Wälder zu gehen, die bis in ihren tiefsten +Schatten von Licht und Hitze durchhaucht, statt des Staubes einen Geschmack +von Harz und Erdbeeren auf die Zunge trieben. Ganz plötzlich wurde es kalt. +Hoch am Himmel hielten die Wolken Rat, ob sie sich zusammenballen und den +Herbst eröffnen sollten. Dann zerstreuten sie sich wieder und ließen die +Sonne durch. Aber es war ganz deutlich, daß sie sich nur vertagten. + +Spät am Nachmittag saß ich in der berühmten Konditorei von Sils Maria, als +ein Wagen vorfuhr, dem die vierte Schöne des Palace Hotels in Begleitung +ihres Liebhabers entstieg. Es war die notorische liaison des diesjährigen +Sommers. Er, so stolz auf seine Figur, daß er Modell stand, sowie man nur +hinsah, aber dabei das Entzücken seines Schneiders mit dem des Malers +verwechselte; die Stirn niedrig und leer, wie die eines Stallbediensteten, +und einen der Anlage nach gewiß nicht groben, aber schon stark vergröberten +Kopf. Bald, sehr bald würde von dem ganzen Zauber nur noch die Hengstallüre +übrigbleiben. + +Die Schöne hatte am nächsten Tische Platz genommen, so daß ich ihre kühle +und strahlende Erscheinung mit Muße betrachten konnte. Der Schmelz, die +Zeichnung der Brauen und des Ovals, die Augen, wie große, kostbare +Edelsteine eingesetzt, waren die eines vollendeten Renaissancegesichtes. +Man konnte sich kein typischeres denken. Ihr Lächeln beunruhigte. Und doch +war sie so jung! Jugend hielt noch, wie die Staubfäden einer Blüte, Fesseln +und Gelenke zusammen. Sie hatte sich erst ihres Schleiers entledigt, nun +folgte der Hut. Sie legte ihn neben sich hin. Ihr Haar, mit unerhört +raffinierter Schlichtheit getragen, umschmeichelte nur die Schläfen mit +seinem Gold und ließ die Stirne frei, jetzt wandte sie den Kopf. Da aber +kam ein platter Hinterkopf zum Vorschein, der Kopf der Viper, da woben +schon unendlich leise Fäden an ihrer künftigen Häßlichkeit, und da kündete +sich von fern der nach außen gerichtete, erinnerungslose Blick der +Vierzigerin, ohne Rückwärtsschauen . . . Lange blieben die beiden nicht, +stand doch die lange Fahrt noch aus, und mußte sie doch ruhen, bevor sie +sich langsam wieder schmückte zum spätesten aller Diners. Nicht nur mit +ihren Abendkleidern, auch durch spätes Erscheinen wetteiferten nämlich die +Damen im Palace. Konnte auf der Welt etwas ordinäreres sein, als schon um +neun zu Nacht zu essen? Und war dies nicht der Gipfel? + +Ihr Geliebter legte ihr jetzt den Umhang über, mit jener tiefen +Ehrerbietung, die ein solcher Mann einer solchen Dame gegenüber, die solche +Perlen mit in die liaison brachte, empfinden mußte. Auf seine Hand gestützt +und von den Kindern des Dorfes umstaunt, schwang sie sich auf das Gefährt +und griff in die Zügel. + +War es Einbildung? Hatte der Jammer des Krieges meine Augen geschärft? In +dieser zarten und köstlichen Gestalt hatte ich deutlich den Brustkasten der +Kindsmißhandlerin gesehen. Welch ein Scheinleben kutschierte da dahin? Das +leichte Getrapp ihrer Pferde, dann das Echo ihres Getrappes hallte noch +lange von den Felsen herüber. + +Was war es, das mich so feierlich stimmte? + +In den Gasthäusern und Hotels ging jetzt überall ein Klappern von Tellern +und Bestecken los. Es wurde geläutet und gegongt, und wer nicht im +Restaurant aß, der mußte sich bescheiden, vorgekochtes der Reihe nach zu +essen; ein Zwang wie ein anderer. Da war es schöner, noch etwas zu +streunen. + +Ein ungewöhnlich starker Mond stand in seiner ganzen Fülle; es wuchsen die +Berge unter seinem Hauch, das Dorf erblaßte wunderbar, eine graue Bank ward +ganz sie selbst. Die Funksprüche der sich bereitenden Nacht liefen wie toll +alle Täler entlang, und schon waren alle Täler berauscht. Auf dem Platze +hielt ein Gespann, die Gäule hielten die Köpfe gesenkt, als ob sie +träumten. Ich lief hinzu. Es war die Post, die nach Maloja fuhr. Es gab +noch einen Platz. Ich sprang hinein. Die Pferde zogen an. Bevor wir noch +das Ufer erreichten, stieg ein Reisender aus. Außer mir blieb nur ein +Liebespaar, das sich an den Händen hielt. Es war sich Mondschein genug. + +Den Kopf hinausgestreckt, trank ich diese Nacht, und hatte sie für mich +allein. Nichts war mehr, wie es war. Der See lag im Silberschleier +regungslos wie eine Tote, und der Mond goß Myrthensträuße über sie herab. +Nur das Gras des Ufers erhob sich in gespenstiger Lebendigkeit. Sicher war +es nur ein Spiel der Luft, daß die Berge hier zerfielen. Blöcke sich +lösten, als sei die Welt zu Ende; Felsensäle bauten sich in die Klüfte ein, +Riesengemächer warfen sich dazwischen. Es konnte nicht sein, und so sah die +Welt nicht aus. Auch die Liebesleute waren anders wie zuvor. Dieser edle +Pensieroso stieg als ein unscheinbarer Tourist in Sils Maria ein, und sie +hatte weder dieses Haar, noch diese Lippen gehabt. Morgen würde hier die +Sonne auf ödes Schilf vielleicht hinbrüten und das Paar nicht zu erkennen +sein. + +Als um ein Uhr morgens der Wagen mitten in Maloja hielt, stieg es wortlos +aus. Ich hatte kein Quartier bestellt und kam nicht unter. Außerhalb des +Ortes lag noch ein Hotel. So marschierte ich jetzt allein die taghelle +Straße weiter, geradeswegs auf einen neuen Absturz zu. Dort stand das Haus. +Ein junges und verschlafenes Mädchen führte mich über manche Treppe hinauf: +zufällig stünde das einzige Zimmer frei, das für Gäste reserviert blieb. +Alle andern hielt während des Krieges die Militärbehörde in Beschlag. Die +nächste Poststation sei italienisch. + +Sie reichte mir eine Petroleumlampe und verschwand. Die Stube hatte zwei +Fenster und war schneeweiß. Ich warf den Kopf weit auf die mondbeschienenen +Kissen zurück. So angelangt! + + * * * * * + +Aber nicht lange, und der einsetzende Kampf zwischen dieser Mondnacht und +der Dämmerung weckte mich aus dem Schlaf, Nebel mischten sich hinein und +wollten alles für sich. Endlich ragten Tannenspitzen ins Leere; der Absturz +war kein olympischer; eine Straße schwang sich, breite Kurven nehmend, in +die Tiefe. + +Gedulde dich, Leser, auch dies Buch geht jäh zu Ende. Folge mir noch. Hoch +steht schon die Sonne über das Bergland, ein anderes freilich als der +vergangenen Nacht. Von ihrem Spiel erholt, verströmt der See sein Blau, +nach allen Seiten, ganz verbuhlt. Myrthensträuße und Schleier sind +vergessen und hängen als weiße Fäden im Gesträuch. + +Wie seltsam ist die innere Stimme in uns! Welcher Stachel hatte mich zu dem +hart an der Schwelle des aufgerissenen Gebirges und kaum, daß es tagte, +hinauf, hinab und wieder emporgetrieben, wo sich zu höchst der Wälder und +noch in ihrer Mitte der See entzieht, verborgener Tränen zerflossener +Kristall, ohne Kahn und ohne Erdenstaub; und dann wieder zurück in die +Gaststube, um zu zahlen, und dann wieder aufzubrechen, mit der umgehängten +Tasche und dem lächerlichen Hut, an der Waldseite des Sees den Weg +einzuschlagen, den ich jetzt lief. Es war ein Notbehelf! Ich lief, um nicht +zu tanzen. Denn ich war inmitten eines Festes. Umgeben und geborgen, als +sollte die Gehobenheit nicht wieder von mir weichen, erreichte ich ein +Dorf, das als Landzunge weit in den See hinausstieß und jenseits der Zeiten +zu liegen schien. Eine alte Frau saß auf einer Bank vor ihrem Hause, und +ich bat sie, mich drinnen ausruhen zu dürfen. Wir verstanden einander +nicht, aber die Müdigkeit spricht ihre eigene Sprache zwischen Frauen. In +einer Stube des Erdgeschosses, die durch ihre edle Sauberkeit den Eindruck +des Luxus erweckte, stand eine schmale, gepolsterte Bank. Dort schlief ich +auf der Stelle ein. + +Als ich erwachte, war der Tag noch hell, aber schon gebräunt vom Golde des +Abends, und ich mußte eilen, um vor Anbruch der Dunkelheit in Sils zu sein. +Auch für mein Herz ging jetzt die Sonne unter, und das Fest verklang. Von +den Strapazen ausgeruht, war es zugleich, als sei mir durch den +kräftigenden Schlaf, wie ein Alltagszwilch, ein gröberes Ich übergeworfen +als das, welches seit gestern das meine gewesen war. Ob wohl mein Koffer +eingetroffen sei, wo meine Brotkarte stecken konnte, wo ich absteigen +sollte, derartiges beschäftigte mich wieder. Aber ich spreche von +verloschenen Kronleuchtern, oh Leser, und du weißt noch nicht, warum sie +brannten? + +Aber vielleicht hast du erfahren, daß es Träume gibt, deren Nachhall, statt +zu verklingen, sich bleibend, wie ein Echo zwischen Klüften, in unserem +Innern fängt. -- Solcher Art war der durchdringende Ton der Mondnacht in +Maloja. + +Es ist nicht gleich und nicht vergänglich, wie sich die Kurve eines Fußes, +der Umriß einer Schulter anläßt, wie ein Knie sich rundet, wie eine Hüfte +fällt. Es ist das Flüchtigste nicht gleich. Und ganz und gar nicht gleich, +noch zufällig ist es, welchen Ganges wir den Hügel abwärtsgehen. +Hochzeitlich können solche bald versenkten Dinge unverloren +weiterschwingen. + + * * * * * + +Die Wolkenversammlung war noch immer nicht anberaumt; vielmehr vertiefte +sich am nächsten Tage das weiß des Himmels und musizierte mit dem +Himmelsblau über das Fextal, das bewegteste der Erde, auf und nieder +schwingend wie eine Schaukel. Ragte, von unten gesehen, ein Kirchlein zu +oberster Schneide für sich allein, so stand es, war man oben, ganz +unsensationell in einem Wiesenviereck, und sein rostiges Gitter knarrte im +Winde, und nur die Berge rückten verändert und entschlossener zusammen. +Wieder in der Tiefe und weit hinausgeschoben, richtete ein Gasthaus seine +Glasveranda dem Gletscher entgegen. Auf ihn ging ich jetzt zu. Doch mit dem +Lichte wandelte sich mein Gemüt. Es brütete milchweiß von einem hohen, aber +sich überziehenden Himmel. Hinter mir fuhr ein kleiner Wagen her. Darin +saßen zwei Herren, die angeregt mit einer noch jungen Dame plauderten. Aber +der Weg hörte bald auf, fahrbar zu sein, und ich verlor sie aus den Augen, +graugrünes Nadelgehölz war um mich her und der entfärbte Fluß zu meinen +Füßen. Stolperte ich jetzt und stürzte ich hinab, wer würde mich vermissen? +In welchem Hause entstand eine Lücke, wenn ich nicht wiederkam? + +Kein Dach, kein Herd, kein Wesen; überall zu Gaste! keinem Menschen +ungeteilt und wirklich zugehörig; als immer wiederkehrenden Gefährten die +entsetzliche, gefürchtete Melancholie, die ich so feige, so vergeblich +floh. Nun stellte sie mich angesichts dieses Tales der Verlassenheit. Wozu +bist du hier? herrschte mich seine Stille an. + +Der sonnenlose Himmel über dem Nadelgehölz, mehr noch der Fluß, dem +Gletscher hier entlassen, und seinen Lauf so blaß beginnend, griff ans +Herz. + +Plötzlich stand die noch junge Dame vor mir und sprach mich bei meinem +Namen an. Nun war stets meine erste Sorge, daß er in keine Hotelliste kam. +»Woher wissen Sie, wie ich heiße?« fragte ich und wollte die Spröde +spielen; aber da gab sie mir zu wissen, daß sie meine Bücher kenne. Sie +lebte in Genf und war Amerikanerin. Wir wechselten einige Worte, dann stieg +sie wieder hinab. Gleich darauf rollte das Wägelchen mühsam aufwärts, in +dem die noch junge Dame mit ihren Freunden plauderte. Gewiß -- man sah es +ihr an -- standen, wenn sie nach Hause kam, ihre Abendschuhe bereit, und +ein freundliches, ihr ergebenes Zöfchen half ihr, sie anzulegen. Wie +verwahrlost ich war! + + * * * * * + +Als ich am Morgen darauf erwachte, lag weithin Schnee. Ich klingelte +entsetzt. Der erste Postwagen brachte mich ans andere Ende des Tales, zum +Zuge, und schnell in eine vom Winter noch nicht heimgesuchte Welt hinab, wo +Zürich einer entbrannten Ebene zulief, die von der Glut des Sommers +weiterträumte. Hier reißt der See ein weites Fenster nach dem Himmel auf: +es ist die hellste Stadt der Welt. + +Aber von hier aus jagte mich eine dringende Depesche Fortunios fort, der +mich bat, sofort nach Spiez zu kommen, mit dem Zusatz: »Besitzer auf zwei +Tage verreist.« + +So war ich abends unterwegs zur Villa des Geölten, die ich nicht wieder zu +betreten glaubte. Da war das Gitter, der Kiesweg, der sich so schnell +verlor. Man sah das Haus erst, wenn man davor stand. + +Fortunio aber war schwer krank. Verfallen, zerfurcht, zerwühlt. Wir aßen im +Schloßhotel zur Nacht und besprachen die Abreise für den morgigen Tag. Ich +fühlte meine Arme erstarken, in dem Wunsch, ihm zu helfen, und unser schier +geisterhaft geschwisterlicher Bund war durch die Trennung neu erhellt. Am +nächsten Tage aber lag er zerrüttet, ohne Energie. + +»Morgen, morgen«, sagte er. Ich reiste ab, nach Bern, Fortunia zu +alarmieren. Ihr Gesicht erinnerte an ein von schwerem Regen heimgesuchtes +Land. Ohne Schonung schilderte ich seinen Zustand und ließ dann die Sache +bei ihr. Um nicht in Bern zu bleiben, fuhr ich abends nach Montreux. + + +HERBST 1918. + + +Montreux. + +Nur lachenden Auges werden hier die Zeitungen gekauft. Der Belgier und sein +Kind waren ohne Schadenfreude. Die Filme arbeiten schon stark mit +elsässischen Hauben. Sie werden lebhaft beklatscht, in der Voraussetzung, +daß sie nicht mehr lange deutsch bleiben. Schließlich ein begreiflicher +Jubel. Entsetzlich ist nur der Applaus, als englische Munitionskammern +aufziehen, emsig mit Granatendrehen beschäftigte Frauen und Geschosse in +unabsehbaren Reihen. »Gehen wir!« rufe ich, und wir verlassen das Haus. Süß +schlagen die Wellen ans Land. Die Berge des andern Ufers erheben sich +unmittelbar, als gründeten sie in den Tiefen des Sees. Sie sind kahl und +scheinen dennoch weich, selbst im Dunkel der Nacht; wie Gesänge abgestuft, +steigen und fallen und treten zurück und verhallen die Berge Savoyens. + +5. OKTOBER. Glasenfrosts in Villeneuve geben mir die Nachricht, daß +Deutschland um einen Waffenstillstand nachgekommen ist: Mein einziger +Wunsch ist, es möge die Welt, die es als Sieger verloren hatte, als +Besiegter wieder für sich gewinnen. Die In-die-Knie-Zwinger Britanniens, +die ohne Briey nicht leben konnten, sind mit einem Male still. + + +6. OKTOBER bis Anfang NOVEMBER. + +Fortunios sind angekommen, sie wohnen in Vevey, und er erholt sich. Zum +ersten Male bildete sich unser Zusammensein als heller Punkt und geordnete +Fläche heraus. Augenmerk und Sorge sind durch die Ereignisse zu sehr in +Anspruch genommen, um uns bewußt zu werden, wie sehr es einem bekränzten +Floß inmitten schwarzer und gestoßener Fluten glich; Und wie hätten wir da +anders als in der Erinnerung wahrgenommen, daß wir schöne Tage verlebten? + +A. H. Pax ist aus Bern gekommen. Der Belgier und sein Kind finden sich +regelmäßig ein. + +Dabei wütete die Grippe. Viele Särge harrten der Bestellung. In den +Blumenläden häuften sich die Kränze, Halbgenesene, in tiefer Trauer, traten +leichenblaß das erstemal vors Haus. + +Doch die Zärtlichkeit des Herbstes, seine Zärtlichkeit und sein Verweilen, +seine Glorie ward unendlich. + +Eines Nachmittags strichen wir in den Höhen des Weinberges entlang. Unter +einem silbern aufgerollten Himmel dehnte sich der See, schimmernd, +unbewegt, ein wenig müde . . . + +Plötzlich, mit einem Ruck, fuhr der Wind weit und durchdringend auf, als +stöhne er die ganze Erdkugel entlang das Ende der schönen Jahreszeit +hinaus. + +Im Nu schlugen die Wolken über die Sonne hin. Fortunio hatte den Kragen +aufgesteckt, sein Hut rollte den Berg hinab. Wir lachten. Doch der Weg war +weit. Schon wußte der See nichts mehr von seinen Ufern. Unter Nebelschauern +waren alle Berge, ja wir selbst, unsichtbar. + +Am nächsten Morgen war für jedes Kind ersichtlich, daß Fortunio die Grippe +hatte, aber wir taten nicht dergleichen. Statt im freien, versammelten wir +uns an seinem Lager. Man hielt es in jenen Tagen allein nicht aus. Bang und +fröstelnd rückte man zusammen. Denn auf dem Streitroß, dessen Nüstern von +Hoffart, Haß und Vergeltung sprühten, und wie ein Sturmgott kam ja der +Friede heran. Wehe, es war jener Gewaltfriede, jener Macht- und Siegfriede, +von dem in Deutschland so viel geredet worden war, und den abwehren zu +wollen, den zu fürchten, als ein Verbrechen galt. + +Und indessen lösten sich in unserer kleinen Gruppe hineingetragene +Dissonanzen weiter aus, und statt der chronischen Trübungen stimmten sich +ganz ohne unser Zutun unsere Gemüter wie Instrumente zu täglicher, reinerer +Melodie. Fortunias Gesicht glättete sich und erlangte seine Pinturichiotöne +wieder, und während der Aufruhr stieg, bildeten wir eine uns selbst +unvergeßlich gewordene Insel des Friedens. + + * * * * * + +Als sich die Sonne nach einer Regenwoche wieder zeigte, war die Welt eine +andere. Das Renommierboot mit seinem rostbraunen Segel zog wieder auf, aber +es blähte sich über ein gesteiftes und gepeitschtes Blau; die +weißgeharnischten Berge waren näher gerückt, und wo das Laub noch grün +geblieben war, hatte es ausgeträumt, hing ohne Illusion, des Todes +gewärtig, und daß es fallen würde. Im Hotel spielte die Heizung, und ein +von sich überzeugtes Ehepaar: le Vicomte Edmond de la Province, einem Roman +von Claude de Bernard entlaufen: Madame korrekt bis ins Grab hinter der +vorangetragenen Corsage, Monsieur im Bart, Schloßbesitzer, zogen schweigend +über Flur und Treppe, und faszinierten durch ihre abgründige +Zurückgebliebenheit. + +Unsere Gruppe indessen hatte sich verkleinert. Erst war der Belgier und +dann sein Kind erkrankt. A. H. Pax saß wieder in der Choisystraße. Das alte +Deutschland stürzte wie eine Kulisse zusammen, und Trümmer waren fürs erste +der einzige Ausblick. Fortunio, von Ungeduld verzehrt, erklärte aufstehen +und nach Berlin reisen zu wollen. Fortunia fuhr nach Bern, das Haus für die +Abwesenheit zu bestellen, und ich folgte mit ihm den Morgen darauf. Wir +saßen einander im Zuge gegenüber, sein Husten war ein Gebell. Am selben +Nachmittage brachten wir Fortunios mit Pax an der Spitze, zur Bahn und +ließen sie, wie Flammen über das Moor, ins Weglose ziehen. Denn schon +fluteten die aufgelösten Heere in unbeschreiblicher Verwirrung aus den +besetzten Gebieten ins Land zurück. Die Lauben hinabsehend, unschlüssig wo +ich absteigen sollte, versagten mir plötzlich die Knie, Fröste wie graue +Blitze durchfuhren mich, und mein Husten war ein Gebell. Diese nicht zu +verkennenden Symptome jagten mich wieder an die Station, um mit dem letzten +Zuge nach Montreux zurückzufahren. Denn lieber, als angesichts des Gurten +wollte ich dort erkranken, wo im Hotel Suisse als chefesse de réception +eine so angenehme Erscheinung waltete, und ich den Nachtportier zum Freund +besaß, ein komischer, alter Schwabe, den ich deutsch ansprach, sowie der +Lift ohne Insassen und in der Schwebe war. + +Nun war es Sonntag. Das heiße Wasser also lief. Vielleicht vertrieb mir +eine heiße Dusche den Frost. Aber das Wasser war schon lau. Dafür gerieten +die grauen Zickzackblitze in Brand und drückten mir eine Feuermütze ins +Genick. Da ließ ich mich denn grippekrank melden und stellte anheim, mich +aus dem Hause zu schaffen. Aber die angenehme Erscheinung aus dem Bureau +kam herauf, mich zu beruhigen. Dann äußerte sie einige unverständliche +Dinge und verschwand. Bald darauf trat ein Mann herein, den ich für einen +Raubmörder hielt, gefolgt von einem fürchterlichen und handfesten Weib ohne +Kopf, seiner Helfershelferin. Ich wollte rufen, da hatten sie mich schon +gepackt. Jetzt, dachte ich, ist doch alles eins. + +Eine Stunde später lag ich mit aufgerissenem Rücken, geschröpft wie ein +Hengst. Ich erzähle dies nur, weil ich dank dieser so immediaten und +buchstäblichen Roßkur schon nach zehn Tagen, statt vielleicht nach Wochen, +die Grippe spurlos überwand. + +Mittlerweile erdröhnte dem so glücklich gewesenen Deutschland die im Lauf +seiner Geschichte noch immer zurückgekehrte Stunde seines Unheils. Es war +der eine Gedanke meiner leeren Tage und langen Nächte; ihn auszuschlagen +war unmöglich. + +Im ersten Stadium meines Fiebers fiel mir an dem Stubenmädchen, das hin und +wieder in mein Zimmer trat, nichts bemerkenswertes auf, als daß sie mir +sehr einsilbig und nicht freundlich vorkam. Pech! dachte ich. + +Am dritten Morgen aber, als sie das Zimmer räumte, folgte ich ihr mit den +Augen, während sie wähnte, daß ich schlief, und das Herz stand mir still. +Hermione! wollte ich rufen. Nein, Andromache im Palast des Priamus, ob +ihrer Anmut erstaunt, und der leichteste aller Tanagra zugleich! So stand +sie, den Besen führend, in der Mitte des Zimmers. War ich im Delirium +gelegen, daß ich sie nicht gesehen hatte? Sie kam auf mich zu: »êtes-vous +plus mal?« Aber ich wehrte ihr mit beiden Händen ab. »Cela m'est égal«, +sagte sie, »de prendre la grippe.« Was war melodischer, dieser Mund, diese +Lippen oder diese Stimme? -- Und ein solches Geschöpf umgab mich mit ihrer +Pflege. Welch unerhörter Luxus! Die Sonne ging vor meinem Fenster auf, +alles Leben im Geleite, und lachte des Todes bis zum Mittag. Pauline +Glasenfrost kam täglich aus Villeneuve, brachte die Zeitungen, beschenkte +mich und spottete der Ansteckung. Knirschend las ich alle Noten und Appelle +an die Großmut der Sieger. Welche Verkennung der Situation! Aber was +bedeutete dieses Versagen angesichts der Würde, welche ein solches Unglück +gab? Und wiederum würden nur die Unschuldigen leiden. Die Taktik der Sieger +würde es den Schuldigen ermöglichen, sich herauszureden. Schon damals sah +man es kommen. -- Ich läutete und bat Hermione, mir von sich zu erzählen. +Sie stammte aus dem Wadtlande. Ihre Heimat lag hoch über den Weinbergen und +hatte die Gletscher im Auge. Ich bat sie, einen hellen Mantel von mir +anzulegen. Wie er ihr stand! + +8. NOVEMBER. Bevor mein Freund, der Nachtportier, zur Ruhe ging, brachte er +noch die erste Post. An diesem Morgen trat er ein, reichte mir ein +Extrablatt und verkündete lakonisch: »In Bayern ist Republik.« Mein erstes +Gefühl war kein gelinder Schrecken. »Es mußte kommen«, sagte ich dann. Der +Portier war Demokrat. »'s isch recht. Runter mit dem Zeug«, sagte er und +ging. -- So war also Bayern Republik. Das Extrablatt war nur ein kurzer +Wisch; eins aber wußte man sofort: daß dieser so wenig ästhetische König +nie wiederkehren würde. Die Wittelsbacher waren stets Liebhaber des Schönen +gewesen, und in ihrer natürlichen Diskretion eines der sympathischsten +Fürstenhäuser der Welt. Daß er aber auch nicht eine einzige ihrer typischen +Eigenschaften besaß, sondern durch eine sture Haltung während des Krieges, +sowohl in der elsaß-lothringischen, wie in allen politischen Fragen statt +vermittelnd zu wirken, überall nur Unheil anrichtete, flößte die geradezu +unwiderstehliche Abneigung für ihn ein. + +Plötzlich blieben Briefe und Zeitungen ganz aus, und die Spannung wurde +unerträglich. Es wehte eine scharfe Bise, doch ich fuhr nach Villeneuve. +Vielleicht hatten Glasenfrosts etwas gehört. Sie waren von den rührend +beseelten Manifesten Eisners sehr eingenommen, und wirklich hatte man in +diesen Tagen die Illusion, am Anfange einer besseren Zeit zu stehen, ob es +sich auch nur um eine einzige, schnell aufgehaltene Stunde handeln sollte. +Und nicht einmal ihr ließ man Zeit. »Man verlange von uns nicht,« beeilte +sich die die Politik Clemenceaus vertretende Freie Zeitung zu schreiben, +»daß wir uns mit dieser Sache da, genannt deutsche Revolution, ernstlich +befassen.« Und man eiferte um die Wette, sie zu »dieser Sache da« zu +machen. Sie hatte es schwer, alle Konjunkturen dafür um so leichter. Schon +war sie wie eine Decke, um deren Enden sich die Schuldigen, die Unlauteren, +die Banditen rissen, und alle Karrierejäger gerieten wieder ins Laufen. Wer +hätte gedacht, daß alle die dienstbeflissenen jungen Herren, die mit +umgeschnallter Seitentasche so flink und so stramm ins Hauptquartier +Meldungen überbrachten und entgegennahmen, überglücklich, bis zu Ludendorff +in Person vordringen zu dürfen, daß sie im Grunde ihres Herzens solche +Feinde des Systems und so demokratisch waren? Nie sah die Welt ein vom +alten Regime so gut besuchtes nouveau régime! + +Suchte man im eigenen Garten das scheue Pflänzchen, das mitten im Sturme +Morgenluft witterte, von allen Seiten an beliebige Stakete zu biegen, und +sah es das Ausland mit begreiflichem Mißtrauen keimen, so erfuhr man in der +Schweiz infolge des gerade in diesen Tagen einsetzenden Generalstreikes +überhaupt nichts davon: er stand allein im Vordergrund und beschäftigte +alle Gemüter. So wurde hier, gerade in ihrer kurzen Glanzzeit, die deutsche +Revolution unterschlagen. + +In jenen aufregenden Wochen kam ich wieder mit Romain Rolland zusammen. +Mehr als je zeigte er sich jetzt als der Mann ohne Illusion, was Wilson, ob +er auch dessen guten Willen nicht in Frage stellte, und was die Entwicklung +der Dinge betraf. Ich fand ihn viel zu skeptisch. + +Im selben Hotel, wie Glasenfrosts und Rolland, wohnte auch eine Schweizer +Familie, die sich sehr für ihn interessierte, durch seine große +Zurückhaltung aber in Schach gehalten fühlte. Eines Mittags, da ich bei ihr +zu Gaste war, bat ich ihn, ein übriges zu tun, und sich zu uns zu gesellen. + +Ich sehe ihn so deutlich vor mir, wie er an jenem Tage, seine alte Mutter +am Arme führend, in seiner ruhigen und ein wenig geheimnisvollen Art zu uns +stieß. Das Gespräch drehte sich natürlich um den Generalstreik und dann um +den Bolschewismus; für die Westschweiz hätte man zum Glück ein treffendes +Agitationsmittel gegen ihn, da er deutscher Import sei. Rolland schwieg. + +»Der hat der Welt gerade noch gefehlt«, sagte ich, und sah einladend zu ihm +hinüber, damit er sich äußere. Vergebens. Er erwiderte nur auf direkte +Anfragen und ohne eine Meinung abzugeben. So sprachen halt in Gottes Namen +nur wir. Ich ging dann zu Glasenfrosts hinüber und schilderte das +mißglückte Beisammensein, bei dem ich zuletzt als verzweifelte Wortführerin +die Grippe, die Witterung und endlich die Tatsache erörtert hatte, daß jede +Stadt, ja jeder Ort ein anderes Modell für seine Leichenwagen besäße. Aber +auch diese originelle Wendung fiel unter den Tisch. + +Es hatten Regenschauer eingesetzt, und Glasenfrosts hielten mich noch eine +Weile zurück. Wir waren uns in diesen Tagen noch sehr einig, und er hielt +sich bereit, nach München zu fahren und Eisner bei Seite zu stehen. +Vielleicht hatte doch die Geburtsstunde des tausendjährigen Reiches +geschlagen, und die Gefallenen waren nicht umsonst an seiner Schwelle +geblieben. Waren sie nicht schon ein einziges Heer? + +Aber Rollands rätselhafte Haltung ließ mir keine Ruh, und als ich endlich +aufbrach und die langen, klosterähnlichen Gänge des Hotels entlangging, +machte ich plötzlich kehrt und klopfte, ohne mich zu besinnen, an seine +Türe. Es war ein kleines Durchgangszimmer, mit einem bescheidenen Pianino, +auf dem sich Musikalien häuften. Rolland stand in Hut und Mantel, im +Begriffe auszugehen, und sah mich erstaunt an. »Es tut mir sehr leid,« +sagte ich, »Sie so zu überfallen. Aber ich möchte wissen, was Sie +eigentlich denken. Sie schweigen sich aus, Sie lächeln ein wenig hämisch, +und das ist alles. Wer soll da klug daraus werden? -- Ich frage Sie nicht +aus Neugier.« + +Rolland legte seinen Hut auf das Klavier. + +»Sie sind so ahnungslos,« sagte er, »Sie wissen so wenig, was sich +bereitet.« + +»Aber doch nicht der Bolschewismus«, rief ich. »Das ist doch nicht Ihr +Ernst! Und Sie sind doch kein Bolschewik.« + +»Nein,« sagte er, »aber ich habe nicht Ihre summarische Auffassung des +Problems.« + +»Das neuerwachte Deutschland«, sagte ich, »wird die Welt davor retten.« + +Rollands Züge nahmen einen müden Ausdruck an. + +»Ich bin voll guten Mutes«, fuhr ich fort. »Haben Sie die letzten Aufrufe +gelesen? Diese Absage an jegliche Gewalt? Eine neue Ära hat ihren Anfang +genommen. Wir haben unseren Militarismus zum Teufel gejagt. Endlich schlägt +die Stunde, wo man sich angesichts eines wahren, befreiten und +sympathischen Deutschlands auch seiner unsäglichen Leiden entsinnen wird.« + +»Kommen Sie,« lächelte Rolland, »welches Interesse haben heute die Sieger +an einem sympathischen Deutschland?« + +»Aber nicht nur die Sieger«, versicherte ich. »Die ganze Welt hat ein +Interesse daran, daß die deutsche Revolution aus den Verirrungen der +französischen wie der russischen lerne und endlich jene vorbildliche und +maßvolle sei, welche die Menschheit ihrem Glücke näherbringt. Und alle +Anzeichen sprechen dafür: Hören Sie doch, mit welch reinen Glockentönen sie +sich kündet. Oh sie wird schön!« Rolland lächelte nicht mehr. »Sie wird +furchtbar!« sagte er. »Morgen schon wird Eisner sich überrannt sehen und +seine Gegner zu beiden Seiten haben. Der Bolschewismus ist in Rußland nicht +nur durch die Stoßkraft der Linken, sondern mehr noch durch den Gegendruck +der Rechten das geworden, was er heute ist. Man kann die Deutschen nicht +genug verwarnen. Wenn auch bei ihnen die Reaktion eine Bewegung zu +unterdrücken unternimmt, die wie ein ausgetretener Strom heranbricht, so +werden sie ganz ähnliche Zustände herbeiführen. Es ist absurd, seiner +elementaren Gewalt morsche Dämme entgegenzustellen, statt sich seinem Lauf +anzupassen, und was er lebendiges heranträgt, zu vertreten. Unsere +Gesellschaft hat ihre Berechtigung gehabt, aber sie hat versagt, und ihre +Zeit ist um. Mögen wir es noch so sehr bedauern, mag viel Schönes mit ihr +untergehen, die Reihe ist nicht mehr an uns, sondern an den anderen. Nichts +kann diese Tatsache aus der Welt schaffen. Wir müssen uns zu ihr stellen.« + +»Sollen wir denn alle Holzhacker werden?« fragte ich betreten. + +»Der Typ des Literaten,« entgegnete Rolland, »dem wir seit einigen +Dezennien so vielfach begegnen, wird jedenfalls verschwinden, und ich weine +ihm nicht nach. Ein Gespräch mit nach Bildung strebenden Handwerkern ist +mir heute schon viel genußreicher und interessanter. Was der Literat mir +sagen wird, weiß ich von vornherein.« + +»Mein Gott,« seufzte ich, »es pflegen nicht einmal die Könige freiwillig +abzutreten, viel weniger ganze Kasten. Sie werden den Kampf aufnehmen und +uns eine blutige Morgenröte bescheren. Was ist zu hoffen?« + +»Nichts für die Gegenwart, sie ist zu korrupt«, sagte er. »Aber alles für +die Zukunft. Ich bin kein Pessimist.« + +Rollands Worte, die ich auf dem Heimweg überdachte, waren viel +reichhaltiger und prägnanter, als ich sie hier aus dem Gedächtnis +wiedergebe. Wenn aber eine neue Klasse zur Herrschaft gelangte, würde sie +weniger versagen, als alle anderen, und war anzunehmen, daß ohne furchtbare +Erschütterungen die frühere Gewalt sich von der neuen aus dem Sattel heben +ließe und etwa mit Rolland eingestehen würde, »ihre Zeit sei um?« + +Meine Eindrücke von St. Moritz schwebten mir vor, und ich dachte an +Hermione, wie edel sie war. Aber war nicht alles erlesene prozentual? Was +also stand von den Massen zu gewärtigen? Die Macht selbst mußte +abwirtschaften und sich auf neuer Basis konsolidieren. War nicht allem +Anschein nach die Ära der schlechten Päpste geschlossen, weil sie +verhältnismäßig machtlos geworden waren? Anderseits hätte der Papst die +Rolle Wilsons mit mehr Glück, mehr Einblick in die europäischen +Verhältnisse übernehmen können, wäre er so mächtig gewesen wie er. Macht +also war und blieb die Losung. Eine Macht jedoch, die keine Lockung dem +Gemeinen böte, ganz auf Erprobung ihrer Träger begründet, ohne Vorteile für +ihn, ohne Befriedigung des Ehrgeizes, anonym vielmehr, Verzicht und +Selbstentäußerung bedingend, als Stein des Weisen der Weise selbst. Oh +Zarastro, Herr der weltabgewandten, namenlosen Gewalt! + +Schwer und langwierig, immer wieder aufgehalten und die Anspannung von +Generationen erfordernd, aber nicht unmöglicher als die endlich geglückte +Beherrschung der Luft, wäre die gleichsam auf immer luftigeren Pfeilern +emporgehobene, in sich selbst beruhende Macht. + +Ich ging, vom Winde förmlich vorangetragen, den Weg nach Montreux. Die +Wellen zogen in finsteren Reihen zum Angriff, und war dort nicht die Weide +von Territet, sie, die im Frühling in den Schleiern ihres jungen Grüns vor +Entzücken über sich selbst zerfloß? Nun aber schlug der See mit großem +Getöse bis zu ihnen auf, die müde niederhingen bis zu ihm; Und dort hinter +seinem Gatter hatte angesichts der Ufer ein Tulpenbeet geblüht. Die +stillsten aller Blumen standen dort so sanft und so gerade! oh Weide von +Territet! Oh stille Tulpen, mit denen ich gewesen war! Was blieb ich am +Gitter hängen, die Hände an die Schläfen gepreßt, der Knecht mit dem Talent +des einzigen Gedankens? Törichte Hoffnungen hatten mich schon wieder +hingerissen, denn der Winter unserer Leiden stand noch aus. Der Stein aber, +mit dem ich mich schleppe, zermalmt mir das Hirn. Wer legt das Fundament +des sich immer schroffer nach innen ziehenden Baues, mit den immer +abweisender sich schließenden immer geheimeren Pforten, durch keine andere +Gewalt zu sprengen, als jene, welche der Himmel leidet. + +Die Theorie einer immer strengeren Auslese -- der Natur selber entnommen +--, weit entfernt, eine hochfahrende zu sein, ist ja die demütigste der +Welt. Keine führt so tief in unser Inneres hinab, um aufs neue dasselbe +Schauspiel wie nach außen zu enthüllen. Denn hier sieht sich der Berufene +noch einmal einem ganz ähnlichen Kampfe überwiesen. Wie unbegreiflich sind +oft seine Schwächen! ebensovielen untergeordneten Wesen vergleichbar sind +sie gegen ihn in Aufruhr und sind beständig die Schlingen gelegt. Daß der +Gerechte siebenmal des Tages fällt, konnte nur ein Gerechter äußern. Zwar +ist sein Merkmal, sich immer wieder aufzurichten und einzuholen. Aber jedes +versagen läßt an Boden verlieren, die Gelegenheiten sind gezählt, und eines +Tages ist man hinter sich zurückgeblieben. Keiner ist auserwählt, der sich +nicht durch eigene Kraft dazu vermochte. Berufener und Auserwählter, wie +gefährdet sind beide! Denn so manchen, der seinen behielt, stürzte ein +Laster von seiner Höhe. + + * * * * * + +Und nun kam ein Tag, an dem Montreux, bunt wie ein Jahrmarkt, den tollsten +Anblick bot, seitdem es stand. Alle Länder der Erde -- bis auf die paar +niedergerungenen -- beflaggten das Ende des Krieges. Und nicht nur an den +Dächern und von den Fenstern, den Mauern und Toren, sogar an den Menschen +selbst schlugen Fahnen hin und her; von den Jacken, den Hüten, ja den +Händen der Kinder zogen Fähnchen auf. Schon sprangen die internierten +Offiziere mit sehr deutlicher Siegermiene (kannte man die nicht von Potsdam +her?) von den Autos ab. Es war ein allgemeiner Jubel, von Hohn und +Verwünschungen untermischt. Wer diesen Tag hier erleben mußte, der +erwartete nichts. Dem kündete sich der Geist des Friedens von Versailles +und Saint Germain. Das jubelnde Gewoge, die Saturnalien von Fahnen raubte +mir die Fassung. Ich lief meinen hervorbrechenden Tränen davon, die Häuser +entlang, am Bureau des Hotels vorbei, in mein Zimmer hinauf, wo ich mir den +Schleier vom Gesicht riß: ein Klageweib! -- Prophetin meines eigenen +Schicksals, als ich zu Anfang dieses Krieges schrieb: »Leute wie wir, +werden am Tage des Sieges sich verkriechen müssen, denn immer wird es +Jerusalem und seine Kinder sein, um die wir weinen werden.« + +Die Hungerblockade blieb von den Siegern, die für Recht und Menschlichkeit +gekämpft hatten, über den erdrückten Gegner, auch nach Einstellung der +Feindseligkeiten, verhängt. Und es lag, wie Rolland mir vorhergesagt hatte, +nicht im Interesse der Sieger, die edle und gepeinigte Opposition in +Deutschland zu stützen. Eine unsympathische Regierung als Aushängeschild +des deutschen Volkes aufrechtzuerhalten, gehörte vielmehr zu den +strategischen Notwendigkeiten dieses Winters der Friedenspräliminarien von +Versailles. Da ich kein Kriegsbuch schreibe, seien die nächsten Monate +überschlagen. + +Während dieser Zeit fuhren die Militaristen aller Länder fort, sich wacker +in die Hände zu arbeiten, und über jede Härte und Unmenschlichkeit der +Alliierten triumphierten die Anstifter der Verwüstungen und Deportationen. +Denn so kam doch ihre Mühle wieder ins klappern, und das Wort von der +»erdolchten Front« schnupperte aushorchend in der Luft. Damals wurde ich +aufgefordert, so manchen ganz vergeblichen und würdelosen Appell zu +unterzeichnen, mit dem Hinweise, früher hätte ich zu protestieren gewußt, +jetzt, wo die Untaten von der andern Seite geschähen, schwiege ich mich +aus. Ich zog es aber vor, auch hier meine Kundgebung solo zu verfassen; sie +erschien in der Neuen Zürcher Zeitung. + +Denn sie hatten ja recht: es galt zu sagen, daß diese ganze Welt +ununterschiedlich des Teufels war. Traurig stimmte es nur, daß all die +Mahnrufe und das viele Aufbegehren aus den Reihen derer stammten, die +vielfach kein Recht dazu besaßen, während sie schwiegen, die wirklich +Unschuldigen, abscheulich in Stich gelassenen, Betrogenen, die während des +Krieges auf Gefahr ihres Lebens ungenannt und langen Mutes vor Gottes +Angesicht das wahre Deutschtum vertraten. + +In der Opposition entdeckten sie jetzt alle ihr Herz. Mit welch herrlichem +Gefühl und welch aufrichtendem Stolze stand Heinrich Mann der Republik zu +Pate! dort riß nicht ein einziger aus; bei dem vielverfolgten Lichnowsky, +laut des Friedensvertrages tschechisch gewordenen Magnaten, angefangen, der +sich als Deutscher erklärte; was ich wirklich nicht erwähnen würde, hätten +nicht so viele Patrioten aus ihren Papieren fremdländische Patente +herausgeklügelt und sich mit einem Male als Schweden, Schweizer, Holländer, +sogar als Engländer präsentiert. Die beste Illustration für den +Nationalismus, die es geben kann. + +Jenes Wort, welches mir seinerzeit so verübelt wurde, daß es Boches in +jedem Lande gäbe, sollte sich übrigens nur zu sehr bewahrheiten. Jeder +Militarist, gleichviel welcher Staatsangehörigkeit, ist ein Boche. Und wenn +er Schimpanse zu Aufsehern eines Volkes bestellte, das der Welt einen +Grünwald geschenkt hat, so wäre er eben ein Boche; jener Grünwald aber, ob +er sich ihn noch so oft holte, ei, der bleibt deutsch. + +Als ich um die Blütezeit zum ersten Male wieder das deutsche Ufer des +Bodensees sah, war ich von der Pracht seiner Bäume bewegt. Diese wenigstens +konnten dem armen und geschlagenen Lande nicht genommen werden. -- Und +diese eben hatte es dem andern mit großer Genugtuung meilenweit abgehackt. +Es ist ja das typische Merkmal des Militaristen, zu glauben, daß er den +andern trifft, wo er sich selber entehrt. + + +FEBRUAR 1919. + +Mit dem Berner Internationalen Sozialistenkongreß, dem seit August 1914 +einzigen Ereignis von wahrhaftem Sein, das mitzuerleben mir vergönnt war, +schließt dieses Buch. + +Hoch über den Bernina-Alpen und dem Julier türmten sich die Wolken zu +goldenen Toren und zu glühenden Rossen. Phaeton, wieder erstanden, lenkte +sie wieder, die italische Ebene im Angesicht. Die Spuren der Räder, waren +sie nicht der Rauch, der am Himmel verflog, während nach Norden hin das +Gebirge zu Tod erblaßte? Auch der nach Süden gerichtete Wald starrte unter +der Last des Schnees. Doch die Luft wehte so befiedert leicht über ihn hin, +und es herrschte ein Licht wie über Palmen. Man hatte Glatteis unter den +Füßen und war dem Winter entronnen. + +Aber Fortunios Gesicht war wie zerhöhlt von Ungeduld. »Haase ist schon in +Bern,« sagte er, »der Kongreß ist im Gang. Wir müssen hinab.« + +Da es der erste war, dem ich beiwohnen sollte, verband ich weiter keine +Vorstellung mit ihm, als die mehr oder minder langweiliger Reden, und ohne +sonderliche Erwartungen betrat ich zum ersten Male den Saal. Kein +Delegierter aber drängte von nun an eiliger zu ihm zurück. Oft war er in +der Mittagspause noch geschlossen, als ich schon davor wartete. + +Zu den Morgensitzungen ging Frau v. Schreckenburg mit mir. Nachmittags saß +ich am Tische mit Fortunios, vor uns die Franzosen. Da waren Renaudel, +Cachin, Longuet, Rappaport, Loriot, Faure, dann kam der englische Tisch mit +Henderson, Macdonald, Norman Angel. Von dort leuchtete das leichte Gold von +Mrs. Snowdens Haar. Sie trug keinen Hut. Der schöne, zarte und energische +Kopf war der Lichtpunkt des Hauses. Die Deutschen und Österreicher saßen +ganz vorn, zu weit entfernt, um sie zu unterscheiden, es sei denn, daß sie +sich erhoben. + +Bleich, abgezehrt, den schmalen und ehrwürdigen Kopf ein wenig seitwärts, +stahl sich im fahlen Schein des Wintervormittags der, eben von der Bahn +gekommene Eduard Bernstein bescheiden herein. Die französischen Sozialisten +sahen ihn zuerst, eilten auf ihn zu und begrüßten ihn stürmisch. Daraufhin +erhob sich der ganze Saal zu einer Ovation. Wie frohlockte da mein +undemokratisches Herz! + +Als Viktor Adler auf das Podium trat, gaben wiederum die Franzosen das +Zeichen zu einem lang andauernden Applaus. Adler war der Motor des +Kongresses. Unerbittlich die Mitte einhaltend, wies er jede Parteilichkeit +schroff zurück, von welcher Seite sie auch stammte; ihm war das gleich. +Sein blasser Löwenkopf tauchte dann zum Angriff auf: »Un homme politique, +mais pas de bonne politique«, forderte er Renaudel heraus. Seine Stimme +klang wie Erz. Aber allen Differenzen, Vorwürfen, Ausreden, Angriffen zum +Trotz fing eine Einigkeit sich herauszuschweißen an, und wie unter einem +glühenden Hammer stoben Funken zu einer Garbe auf. Haß schmolz zu +Mitgefühl. -- Zwar wurde jenen deutschen Delegierten, welche die Politik +ihres Landes zu verteidigen suchten, prompt die Unmöglichkeit eines solchen +Unterfangens zu Gemüte geführt, stellten aber dann ihre Angreifer den +deutschen Militarismus immer wieder allein an den Pranger, so wurden sie +regelmäßig von Zwischenrufen wie: »Et le militarisme français! et le nôtre! +et tous les militarismes!« von der französischen Linken unterbrochen. + +Überhaupt war dieser französische Block der beste, der wärmste. Von ihm +ging das Unbehagen aus, wenn ausschließlich das deutsche Sündenregister +stieg. Scheu, Zartgefühl, Respekt (ja Respekt!) vor dem Geschlagenen (weil +geschlagen), sie stammten von dort. Und schon gärte die Atmosphäre wie ein +starker Wein. Klug wie ein Erzengel ließ der hochaufgerichtete Huysmans mit +dem schönen Donatellokopf bei den Reden, die er französisch und englisch +übersetzte, alles Unwesentliche fallen. Oft waren sie lebendiger als im +Original. Behender löst kein Eichkätzchen die Haselnuß aus ihrer Schale. + +Ach, so viele gute Menschen waren hier! Unbeweglich, als wäre er nur eine +Zimmerpalme, hielt sich unser aller A. H. Pax im Hintergrund; und wie +Kerzenlicht im Mittagsscheine tauchte bald hier, bald dort Fortunio +unauffällig auf. + +Hin und wieder kam in Frack und weißer Binde, pour finir sa soirée, ein +Attaché gegangen und wirkte in dieser so weit vorgreifenden Luft wie eine +Varieténummer aus einer veralteten und komisch gewordenen Welt. Der eine +oder andere blieb gebannt, und die Geschniegeltheit fiel von ihm ab. + +Die Fürstin Patschouli aber war sehr ungehalten, was sie nicht hinderte, +mir zwischen zwei Sitzungen ihren stärkenden Kaffee zu brauen. Sie wollte +wissen, wer mich denn so interessierte. Ich nannte einige. »Quels noms!« +sagte sie, zum Himmel emporblickend. + +Als Partei interessierte mich ja der Sozialismus so wenig wie jede andere. +Aber das Ergebnis der kapitalistischen Ära war ein wirrer Knäuel ineinander +verbissener Verbrecher, und es war eine Welt, welche der Sozialismus +jedenfalls nicht bereiten half. Er hatte keinen Teil an ihr. Deshalb nur +gab es keine andere Brücke als ihn, denn er war nur ein Weg, der +weiterführt, indem er zurückgelegt und überwunden wird, niemals ein Ziel. + +Woher kam es aber, daß er, der angeblich auf rein materialistischer +Grundlage beruhte, er allein unter allen Parteien, ohne Anstoß zu erregen, +christliche Gleichnisse anführen durfte. Warum, statt Schamröte in die +Stirn zu treiben, war es so rührend, wenn der geistvolle Longuet, der auf +dem Podium auf und ab zu gehen pflegte, während er sprach, ein Zitat aus +den Evangelien gebrauchte, oder wenn Mrs. Snowden eine Rede mit den Worten +schloß: denn wir sind Brüder? + +Nach ein paar Tagen kannten wir einander fast alle. Einmal fielen wir an +eine Tafel aus im geschlossenen Raum; eine unbändige Heiterkeit bemächtigte +sich unser, aber wir blieben sitzen. Ich spielte mich auf die Wirtin auf +und machte die Tischordnung, als sei das Essen von mir, A. H. Pax vermißte +die Schnäpse, und wir kamen nicht aus dem Gelächter. Etwas in unserer +Befreitheit erinnerte dabei ganz deutlich an jenes Gastmahl im Neuen +Testament, von welchem der nicht im Feierkleide erschienene Eindringling in +die äußerste Finsternis zurückgewiesen wurde. So hatten auch wir keine +unsicheren Gestalten hereingelassen. + +Ich werde mich schwer hüten zu sagen, wer meine Tischnachbarn gewesen sind. +In streng geschiedenen Gruppen, die einander nicht mehr kannten, fanden wir +uns im Saale wieder ein. Denn wie der Chor der Gefangenen in »Fidelio« +wußte man sich belauscht mit Aug' und Ohr, und vermied es, von Lager zu +Lager sich zu grüßen. + + +Der Sonntag. + +Er bildete die große Orgelpause des Kongresses. Um so lebhafter war in der +Stadt das hin und her. Als ich die Treppe des Hotels Bellevue hinabging +stieß ich mit Kurt Eisner zusammen. Er war schwarz und ganz neu angezogen. +Auch der schwarze Schlapphut war neu. Wir wechselten ein paar Worte. Ich +kannte ihn zwar noch nicht, aber so hielt man es in jenen Tagen. + +Leider war mein Zimmer winzig klein. Um Raum für den Kaffeetisch zu +schaffen, mußte das Bett zum Sofa werden, und ich schüttete Kissen gegen +die Wand. Um fünf Uhr erschien Haase. Der niedere Kragen, Kleidung, +Struktur waren die eines Mannes aus dem Volk. Dabei lag in der Haltung des +Rückens und der Schultern eine ungemeine Würde. Aber wenn sie Widerstand +und Energie ausdrückten, so sprachen sie auch von rücksichtslosem Verbrauch +sich verzehrender Kräfte. + +Auf dieser Figur eines Arbeiters saß ein Kopf, ganz beherrscht von stark +auseinanderliegenden, majestätisch geweiteten Augen. Psychologisch viel zu +neu, um an einen Rembrandt zu erinnern, schien er zugleich durch die +Straffheit der bis zum Reißen gespannten Züge und ihr tragisches Kolorit +nach begeisterten Evokationen seines Pinsels zu rufen. Wie der Ratsherr +einer noch nicht errichteten Stadt -- die Leidenswerkzeuge unsichtbar im +Wappen eingetragen --, so blickte, so ging, so bewegte sich Haase, so saß +er jetzt in unserer Mitte, die Zeit besprechend und die Gefahren des +revolutionären Deutschlands. Wir hörten zu. Es wäre falsch, von Ahnungen zu +reden. Die Bangigkeit um einen Mann von Haases Edelsinn und Güte war ganz +instinktiv. + +Plötzlich klopfte es. Die Stimmung und Geborgenheit unseres Zusammenseins +war mit großem Geklirre dahin. Bestürzt sah ich Eisner eintreten, den ich +doch gebeten hatte. Aber eine so andere Zone des Geistes brach mit ihm ein. +Er trug sich wie am Morgen komplett in Schwarz, kein Stäubchen, vom +schwarzen Schlapphut bis zu den Stiefeln (wie um die Reporter lügen zu +strafen, die seine nachlässige Kleidung verkündet hatten). Halb Wotan, halb +Konfirmand -- grau, nur der schüttere Bart und die müde Farbe des +Gesichtes. -- Fortunios und ich saßen jetzt zu dritt auf dem Bett, und alle +allgemeineren Themen traten vor dem besonderen der bayrischen Revolution +zurück. + +Eisners romantische Schwäche für Bayern verriet sich sogar in einem hin und +wieder freiwillig angeschlagenen Dialekt, dessen Unnatur etwas rührendes +hatte. Und so war es mit der Revolution; sie war das Abenteuer seines +Herzens, sein Geniestreich; was aber an dem Bilde fehlte, war die Kenntnis +Bayerns: die Bayern, die sich hinreißen lassen, sind nicht dieselben, die +sich wieder eines anderen besinnen . . . + +Etwas an München wird vielleicht noch lange bewirken, daß neue Sterne +darüber aufgehen, etwas bewirkt aber, daß sie schnell wieder zu verlöschen +drohen, günstige Konstellationen geraten dort sogleich mit +entgegengesetzten in Brand. Eisner erzählte wie ein Rhapsode und besaß kein +Ohr für das vielfältige Rauschen der mitten im Sturm entrissenen +Meeresmuschel. Dies gab seinem Liede den schrillen und beängstigenden Ton. +Haase das Wort abschneidend, erzählte er von dieser und jener Episode, die +alles verderben sollte, und wider erwarten alles gelingen machte. Und Haase +ließ ihn, wie ein älterer Bruder gewähren. Bei ihm war die Basis viel +breiter; er wirkte harmonisch wie eine Orgel, die Macht war die Sache für +ihn, für Eisner dagegen war sie die Arie, seine Bravourarie, an die sein +Ohr sich fing. Nur wer näher zusah, gewahrte inmitten der scheinbar +selbstgefälligen Glorie den erloschenen, weltabgewandten Blick und die +bereite, heroische Absage an das Leben. Zu Haase gewendet: »Das wäre der +Gipfel meiner Laufbahn,« sagte er, »mit blauweißen Fahnen gegen Preußen zu +ziehen.« + +Aber »Fahnen« hatte er gesagt. Fahnen, Feste, Ansprachen, solcher Art waren +die sündenlosen Waffen, zu welchen er griff. Für so ehrwürdige Ansichten +belehrte ihn die rohe Kugel eines besseren, und schlug sich dies musische +Haupt gegen das Pflaster zu Tode. + +Spät verließen wir an jenem aufregenden Abend meine Zelle: die beiden +Delegierten gingen noch zu einer Ausschußsitzung; viel zu erschöpft und +aufgewühlt, um allein zurückzubleiben, aß ich mit Fortunio zu Nacht. Lange +sprachen wir noch von den beiden. Er meinte, Eisner sei viel zu feinfühlig, +als daß ihm entgangen wäre, wie sehr wir Haase vorgezogen hatten. Nun hatte +ich einen neuen Grund, bedrückt zu sein. + +Leider reiste Haase schon am nächsten Morgen ab, und wir andern saßen wie +gewöhnlich im »Volkshause«, als, eine große Stille entstand, weil Eisner +das Podium betrat. Es war aber der Morgen jenes Tages, an dem er seine +denkwürdige und verhängnisvolle Rede zugunsten der Gefangenen hielt. Sie +begann mit einer schonungslosen Preisgabe der deutschen Kriegführung, deren +Verbrechen er nicht beschönigte, deren Recht, etwas zu fordern, er vielmehr +verneinte. Dann eine abrupte Wendung nehmend, stellte er fest, daß in +keinem Lande die Gegner des Krieges so tief gelitten hätten wie die +deutschen, und mit jedem Worte wurde sein tonloses und dabei scharfes Organ +gebieterischer. Es war unerhört, wie Eisner jetzt über sich selbst +hinauswuchs. So buchstäblich war der Geist über ihn, daß seine Person nur +mehr wie ein von ihm verlassener und vergessener Schatten die Tribüne +behauptete. Was nun verlautete, war ein Plädoyer für Deutschland, wie es +niemals ergreifender formuliert wurde. Seine kalte Stimme beibehaltend, die +in die Gemüter schnitt, enthüllte er die ganze Tragik seines unglückseligen +Volkes. »Die Stimmen derer, welche im Kampf um die Ideen einer besseren +Welt namenlos in den Kerkern verblichen,« rief er schneidend den fremden +Delegierten zu, »drangen nicht bis zu euch! Stumm verbluteten sie.« + +Im Namen jener neuen und besseren Welt verlangte er die Freigabe der +zurückgehaltenen Gefangenen. + +Man hielt den Atem an. + +Da stand ein Entronnener aus eben jener Schar stummer Blutzeugen für die +Ideen der Gewaltlosigkeit der Wahrheit und der Menschenliebe. Dies war ihr +Los wie vor 2000 Jahren! + +In Eisner hatte der Kongreß wohl seine eindrücklichste Figur. Mochte er +durch seine Parteilichkeit für Renaudel bei den Radikalen einigen +Widerspruch erregen, so stellte sich bald heraus, daß er gerade dadurch +seine Vorschläge durchzudrücken verstand, wie überhaupt die Taktik eine +große Rolle bei ihm spielte. + +Als ich das Haus verließ, standen Fortunios unten an der Treppe und +schienen auf jemanden zu warten. Ich wandte mich um; Eisner ging langsam, +allein und vollkommen versonnen die Treppe herab. Er hielt eine rote Nelke +mit etwas abstehender Geste, wie um sie zu schützen, daß sie nicht zu +Schaden komme. Steif, fast geziert, die Schultern mit barocker Würde +tragend, bot er einen wahrhaft phantastischen Anblick. Wir begrüßten ihn. +Er sah uns erloschenen Auges an und erwiderte kein Wort. Hätten aber +urplötzlich die Türen sich geteilt und Teppiche unter den Füßen der mit +großem Zeremoniell vorgeführten Esther entrollt, ich wäre nicht erstaunt +gewesen. Assuerus! dachte ich. Ein fast gespensterhaft abstrakter, +beschämend unverjudeter, rein biblischer Jude stand da vor uns. Und siehe! +-- Hier war zum ersten Male wieder dasjenige Israel, aus welchem +merkwürdigerweise der Begriff des Christentums mit der Gestalt seines +Stifters, der Begriff des unjüdischen also, die Welt der Mystik, des +erblassens, der Gotik hervorging. So dachte ich, stockenden Herzens . . . + +Ich sah Eisner noch einmal, als er im Begriffe stand, mit Renaudel nach +Basel zu fahren. »Wenn ich stürze,« sagte er, »ist in München der +Bolschewismus unvermeidlich. Die geistige Verwirrung der Jugend ist zu +groß.« Überhaupt sprach er sehr oft von seinem Sturz. Ich glaube, die +Entfernung ließ ihn die allgemeine, wie seine besondere Situation sehr +scharf und nüchtern übersehen. + +Gerade die Illusionen, die phantastischen Züge in diesem bedeutenden +Menschen, die springenden Schatten machten ihn zu der Shakespeareschen +Gestalt, als die wir ihn heute sehen. Wir aber, die in Bern Zeugen der +ungeheuren Wirkung seines Auftretens waren, welche Werbekraft für +Deutschland er dort entfaltete, welch stürmische Sympathien für Deutschland +er dort erweckte, oh welch bitterlichen Eindruck machte es auf uns, in +München nicht etwa die Züge dieses heldenhaften Vorläufers, nein, das +unbesonnene Leutnantsgesicht seines Mörders in den Auslagen vorzufinden, +dessen hirnloses und unheilvollstes Verbrechen die Schrecken der +Räteregierung und alle Greuel, die von links, und dann von rechts daraus +erfolgten, verursachte. Mag ein Herr Studiosus die Frei(spruch)kugel gegen +mich drehen, dafür, daß in diesem wahrscheinlich vielgelesenen Buche diese +Wahrheit steht. + +Für den letzten Tag war eine Rede Macdonalds über den Bolschewismus +angesagt; aber der Tag verging, ohne daß er hervortrat. Die Lichter +brannten schon lange, und es war Abend geworden, als man ihn endlich +erblickte. Es sprachen viele, deren Organ im Halse stecken und auf die +langweiligste Weise eins mit demselben blieb. Der deutsche Dolmetsch ging +deshalb schwer auf die Nerven. Bei jenen Delegierten hingegen, welche die +Rednergabe besaßen, hob sich nach wenigen Minuten die Stimme von ihnen +fort, um wie ein Albatroß ganz für sich allein die gewichtigen Schwingen +auszubreiten. Dieser Prozeß vollzog sich auch bei Macdonald. Sein Organ +erfüllte den Saal mit Wohllaut, als käme es gar nicht von ihm, sondern +hinge nur infolge eines rhythmischen Gesetzes mit seiner Miene und den +Bewegungen seiner Arme zusammen. Die Rede war ein Warnungsruf an den hohen +Rat in Versailles, die Zeichen der Zeit zu verstehen, und sie verglich den +Bolschewismus mit einem Brande, der, hier halb erstickt, dort scheinbar +gelöscht, immer wieder hervorbrechend und unter der Asche weiterglimmend, +an der Verblendung des Imperialismus seine Nahrung fand. + +Da ich kein Wort verlieren wollte, schlängelte ich mich langsam durch die +Zuhörer, hart bis zur Rampe vor, und hatte so zum ersten Male den ganzen +Zuschauerraum vor Augen. Der Saal verlor auch bei Lampenschein nichts von +seiner Schmucklosigkeit. Unschön war er und kahl. Sein Glanz, seine +Erlesenheit waren rein innerlich. Sie gingen von den Menschen aus, welche +hier tagten. Nicht die Zartheit freilich, noch der Reiz eines seit +Generationen vor rauhen Kontakten geschützten Lebens, sondern Anstrengung, +Leidenschaft und Begeisterung durchleuchtete sie so stark, daß jenseits +dieses alltäglichen Raumes alle Alltäglichkeit, jenseits seines nüchternen +Scheines alle Nüchternheit zu liegen schien. Der Winter der Menschheit sank +hier zu Grabe. Von Feuerzungen war die Luft durchbebt, und eine +Pfingstatmosphäre brauste durch die Türen über die Treppen dahin, bis hinab +in die Gassen des nächtlichen Bern. Und sie würde, ob auch der kommende +Morgen diesem Fest das Ende bereitete, nach allen Himmelsrichtungen wehen. +Ich zweifelte daran nicht. Ich hoffte schon wieder! + +Natürlich waren auch geringere zugegen. Aber nicht sie gaben den Ausschlag. +Hier herrschte der Wert. Rang und Vortritt waren hier durch das Talent, das +Verdienst, die Lauterkeit bestimmt, und ein Wille zur Güte hatte sich +durchgerungen. + +Mit einem Blick des Hohnes war ich vorhin an Telramund vorbeigegangen, alle +Krallen gezückt, weil er sich vermessen wollte, mich zu grüßen, und fast +wäre ich dabei über seine Bocksfüße gestolpert. Nein! Hier richtete der +nichts aus. Hier war er schachmatt. Warum kam er denn her? -- -- Auch er -- +zum ersten Male fiel es mir auf -- hatte allen Sitzungen beigewohnt und war +einer der regelmäßigsten Besucher gewesen. Oh, nicht nur er! -- Die ganze +Rotte saß ja hier! -- und die Kontrolle war doch so streng! Aber die Rotte +war vollzählig hier! -- Durch die Ritzen der Türe hätte sie noch +einzudringen gewußt. Wo hatte ich die Augen gehabt all die Tage hindurch, +ich Verblendete! Im Ernst wähnend, hier würde die Schwelle zu einer neuen +Welt gelegt, derweil sie täglich zerfiel. + +Die Schützlinge der Militärspionagen, von welchen erst die eine, dann die +andere den Verständigungsfrieden hintertrieben hatte, tagten hier als +Delegierte des Teufels, den verschiedensten Nationen entspieen. Wie emsig +sie notierten! -- Oh wie fleißig sie die niedrigen Stirnen gesenkt hielten, +um alles zu nichte zu schreiben, was hier von Völkerversöhnung gesprochen +wurde! Und wie gesittet sie dasaßen, diese Wölfe im Schafpelz, die sich +innerlich eins lachten über den sabotierten Kongreß. Und sie waren +geduldet! -- selbst hier! -- Die Spreu durfte auch hier, ungesichtet, den +Weizen verderben. Ach, es gehört zu den Merkmalen dieser Zeit, daß die +Dinge noch schlimmer zu kommen pflegen, als die Schwarzseher sie künden, +und noch heißer gegessen werden, als gekocht. + +So ahnte ich noch nicht, daß die verstümmelten Berichte der Eisnerschen +Rede, deren erster Teil einfach unterschlagen wurde, schon munter unterwegs +waren, und seine anonymen Mordanstifter, wohlgeschützt unter der Flagge +einer Zeitung, sich für die furchtbaren Wahrheiten und Anschuldigungen, die +er in diesem Hause der Presse aller Länder ins Gesicht zu schleudern wagte, +ein für alle Male gerächt hatten. + +Die Stimme Macdonalds drang nur mehr undeutlich zu mir. Es war doch jedes +Wort vergebens. Mochte er den Bolschewismus an die Wand malen! Mit ihm +stand es gewiß, wie Rolland sagte. Bot nicht jede Partei genau dasselbe +Bild von ein paar ehrlichen und ehrenwerten Männern, die ein fürchterlicher +Zulauf überschwemmt? jene paar Vortrefflichen, deren Kampf allein +ersprießlich und von Interesse wäre, tragen ihre Gegensätze abseits +voneinander aus. Sie sind nicht so zahlreich, Europa nicht zu groß für eine +einzige Arena. In Wirklichkeit ist der Klassenhaß (statt des +Klassenkampfes) ein ebensolcher Humbug wie der Haß der nur nach Frieden +lechzenden Völker. Wer aber diesen Saal mit den angeblich so scharf +bewachten Toren näher ins Auge faßte, ließ alle Hoffnung fahren. Den +Schleier Penelopens woben sie hier! Es gab ja keine gute Sache, solange der +Nichtswürdige sich zu ihr bekennen durfte und statt der Gesinnung die +Meinung den Ausschlag gab. Freie Bahn den Tüchtigen! oh nein! Erst +geschlossene Bahn den Unwürdigen! Die andere Parole bleibt so lang die +leereste der Phrasen! Hatte nicht Telramund in seinem eigensten Blatt eine +»Partei der anständigen Leute« beantragt, wie um diesem Gedanken den Fluch +der Lächerlichkeit auf immer anzuhaften. Oh Zarastro! Herr des Tempels mit +den unauffindbaren Toren, der nur den Geprüften mit Macht belieh! Von +allen, die heute leben, wird keiner den Bau betreten, zu dessen Grundlegung +ich Steine herbeischleppen möchte. -- Das Gerüst allein dürfte die Arbeit +von Generationen sein, sein Ausbau die von Jahrhunderten vielleicht. +Vielleicht sind die ewig unvollendet gebliebenen Kathedralen sein Symbol. +Aber worauf es, wie gesagt, ankommt: er ist möglich. + +Die richtige Einsicht, daß es (merkwürdigerweise) niedrige und hohe +Menschen gibt, führte folgerichtig zu Rang- und Standesunterschieden. Bei +ihrer Aufrechthaltung aber gerieten jene Ungleichheiten, welche doch erst +die Berechtigung solcher Klassifikationen bilden, immer mehr außer acht, +und bei dem Schrittmachen, das im Schwunge blieb, mischte sich in immer +gemeinerer Weise das Bestreben über jene Distanzen, welche der Wert +zwischen den einzelnen liegt, hinwegzusehen. Das Mißverständnis artete +immer wilder aus: der königliche Mozart speiste mit dem Gesinde, und ein +lakaienhafter Kavalier warf ihn mit einem Fußtritt ohne weiteres vor die +Türe. In der Tat, wir wissen alle, was wir der französischen Revolution +verdanken. Doch, als sie das falsche Spiegelbild in edler Empörung +zerschlug, wurde mit diesem drastischen Vorgehen leider erst recht nur eine +halbe Maßnahme getroffen. + +Kein Mißbrauch wurde an der Wurzel gefaßt, vielmehr entrann der Missetäter +froh durch die Türe. So brach die französische Revolution wie das +Christentum, dem sie entsprang, in sich selber zusammen, und wir sind heute +wie bankrotte Leute, die von vorn anfangen müssen. Wir stehen wieder am +Anfang aller Tage: das heißt am Ende. Denn für das erkennende Auge sind ja +die Menschen längst in jene zwei Lager zerfallen, von welchen geschrieben +steht. Freilich ist vorläufig erst der Aufmarsch der Böcke geglückt. Unsere +Absicht, ihrem Konsortium entgegenzutreten, dürfte ein frommer Wunsch +verbleiben, solange wir jene geheimnisvolle Tatsache nicht ergründeten, daß +die von schlechten Instinkten Gemeisterten so viel deutlicher die +Hochgesinnten herausspüren, als diese sich unter sich erkennen. Diese +dunkle und rätselhafte Tatsache birgt Perspektiven, die sich wie weite +Zimmerflüchte nach allen Richtungen, reich an Verborgenheiten, ziehen. + +Um Machtfragen werden sich nach wie vor die Dinge drehen, und nach wie vor +wird sich herausstellen, daß es nichts neues unter der Sonne gibt. Macht +wird vor Recht gehen, denn Macht geht vor Recht. Es ist Sache des Rechts, +die Macht an sich zu reißen, eine neue Realpolitik zu ermöglichen, nicht +ausdrückbar durch Lüge, Feuer und Mord; eine Exekutive zu befestigen, +welche die aus Lüge, Feuer und Mord errungenen Vorteile verachten, und +Lüge, Feuer und Mord nicht ausspielen würde gegen Lüge, Feuer und Mord. +Sache des Rechts ist es, die Bahn solcher Gewalthaber zu bereiten. Ach die +Heftigkeit, mit welcher wir unsere Notsignale abgeben, hindert nicht, daß +sie unter dem Druck grauser Langeweile aufziehen, und unser eigner Pathos +lastet mit der ganzen Öde eines Frondienstes auf uns. Denn es sind +zukünftige, für ein feineres Ohr heute schon monströse Gemeinplätze, die +wir hier äußern. + +_Ende_ + +Von _Annette Kolb_ erschien im gleichen Verlag: + +DAS EXEMPLAR + +Roman. 5. Auflage. + +Man hat durchaus das Gefühl, daß dieses Buch zu jenen gehört, die unter +einem starken inneren Drange, einem unwiderstehlichen, geschrieben werden. +Ein Bekenntnis. Aber eins von solcher Keuschheit, solcher Verhülltheit, +trotz aller Enthüllung subtilster seelischer Vorgänge, wie es uns nur zu +selten gemacht wird. Gerade diese Schilderungen erweisen die hohe +Vollendung von Annette Kolbs sprachlichem Ausdrucksvermögen, das ihr jedoch +nie zum Selbstzweck wird. + +B. Z. am Mittag. + +Der erste Eindruck des Buches, schon nach wenigen Seiten, ist Kultur. Es +gibt wenig Bücher, die so scharf wie dieses die Zeitseele enthüllen. Und im +übrigen ist das Buch reich an allerlei entzückenden Dingen. Man wird in ihm +sehr heimisch in London und auf den Landsitzen der Gesellschaft. Denn das +Buch vereint wirklich zwei selten verträgliche Eigenschaften: geistige +Tiefe und Charme. Es ist nicht nur ein bedeutendes, sondern auch ein +liebenswürdiges Buch. + +Die Zeit, Essen. + +Ein feines, stilles Buch von einer romantischen Dichterin über eine +romantische Frau. Es wird in diesem Buch von den letzten Dingen gesprochen. + +Berliner Tageblatt. + +Druck von Frankenstein & Wagner, Leipzig. + + + + +Anmerkungen zur Transkription + + +Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt +(vorher/nachher): + + [p. 33]: + ... Hocusai. ... + ... Hokusai. ... + + [p. 50]: + ... mit Carry und Fortunio. Dieser enfaltet mir gegenüber ... + ... mit Carry und Fortunio. Dieser entfaltet mir gegenüber ... + + [p. 114]: + ... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in den ... + ... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in dem ... + + [p. 117]: + ... Arbeiten zur Hand, mit welchem dieses Haus geschmückt ... + ... Arbeiten zur Hand, mit welchen dieses Haus geschmückt ... + + [p. 131]: + ... Laufbahn vernommen hat, der vergißt die nie unheimliche ... + ... Laufbahn vernommen hat, der vergißt nie die unheimliche ... + + [p. 142]: + ... auf ihren Wolkensohlen reisten, das von einer zifferlosen ... + ... auf ihren Wolkensohlen reisten, daß von einer zifferlosen ... + + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Zarastro, by Annette Kolb + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZARASTRO *** + +***** This file should be named 44243-8.txt or 44243-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/4/4/2/4/44243/ + +Produced by Jens Sadowski + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Zarastro + Westliche Tage + +Author: Annette Kolb + +Release Date: November 21, 2013 [EBook #44243] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZARASTRO *** + + + + +Produced by Jens Sadowski + + + + + +</pre> + + +<h1 style="margin-top:1em; margin-bottom:4em; letter-spacing:0.2em;"> +<span style="font-size:1em;">ZARASTRO</span><br /> +<br /> +<span style="font-size:0.5em;">Westliche Tage</span><br /> +<span style="font-size:0.5em;">von</span><br /> +<span style="font-size:0.7em;">Annette Kolb</span> +</h1> + +<p class="center" style="line-height:1.5em; letter-spacing:0.2em;"> +1921<br /> +<span style="border-top:4px double black;"> +S. Fischer / Verlag / Berlin +</span> +</p> + +<p class="center" style="font-size:0.8em; margin-top:6em; margin-bottom:6em; page-break-before:always;"> +1.—5. Auflage<br /> +Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.<br /> +Copyright 1920 by S. Fischer, Verlag, Berlin +</p> +<h2 class="title" id="chapter-0-1"> +<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> +Zarastro +</h2> + +<p class="pagebreak first"> +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +<span class="firstchar">D</span>ieses Buch, das auf Grund täglicher Aufzeichnungen +entstand, enthält Enttäuschungen als sein +Wesen. Es ist ein Tagebuch der Enttäuschungen, ich +verhehle es nicht. Gerade sie sind das einzig wertvolle +daran. Denn an allen Erlebnissen während dieser +Jahre, an allen Szenen, allen Ereignissen, allen Episoden +hat sich die Beobachtung ergeben, daß im +wachsenden Umfang die besten Hoffnungen, die +reinsten Zugehörigkeiten ihre dramatische Zerstörung +nach sich zogen. Zu sehen, wie sie immer sehr buchstäblich +zuschanden kommen mußten, versetzte mich +erst in eine dumpfe, herabgestimmte Unruhe, und +nur allmählich entdeckte ich, daß sich in allem die +kleine wie die große Höllenmaschine menschlicher +Niedrigkeit gleichsam eingebaut hielt, überall, auf +dieselbe Weise und mit derselben Wirkung jede edle, +jede vernünftige Absicht, jede Harmonie im Keim +vernichtete. Diese Gefolgschaft, dies enge Schritthalten +der Bösen — jeder Zufälligkeit bar — zeigt +sich vom Anekdotischen bis zur Entladung so konform, +daß es die Schicksale des einzelnen zur genauesten +Replik der Weltschicksale prägt. +</p> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-2"> +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +Erster Teil. +</h2> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">A</span>m 1. Februar 1917 kam ich gegen Abend definitiv +nach Bern. Im Zug — am Fenster — schlief ich +zwischen Zürich und Baden auf einige Sekunden ein. +Dabei rückten sich Bilder aus meiner Wohnung, +aber um ein Drittel vergrößert — die sich also selbst +vergrößert hatten —, selbst an einer Wand zurecht. — +</p> + +<p> +Trotz dieser so unvermittelt aufblitzenden Vision +wurde die Mutlosigkeit, gegen die ich anzukämpfen +hatte, immer drückender, und geradezu trostlos gestaltete +sich meine Einfahrt in die Bahnhofhalle. Es +goß so recht von innen heraus, wie nur der Berner +Himmel zu gießen versteht. So begibt man sich wohl +ins Gefängnis, wie ich in das Haus, um dessen anheimelnder +alten Stiege willen ich im zweiten Stock +zwei kleine Zimmer mit einem Alkoven gemietet hatte. +Übrigens waren sie noch nicht frei, und indessen +wurde mir ein großes niedriges angewiesen, das sofort +meine Abneigung erregte: bis auf einen gewaltigen +Tisch von wahrhaft tröstlichem Umfang. Er stand +mitten in der Stube, ganz auf sich beruhend: +</p> + +<p> +Sieh mein geräumiges Rund, und wie gefällig es +ist! Sahst du ein weiteres je? +</p> + +<p> +Bürde nur füglich mir auf, was immer du willst. +Ich schaffe noch Platz dir. Na also! +</p> + +<p> +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +So redete er, halb in Hexametern, halb wie eine +alte Kindsfrau zu mir, war immer optimistisch und +richtete mich auf. +</p> + +<p> +Das Münster aber, das so gut anhebt und so schlecht +verläuft, beschattet und beherrscht den Platz, und +die Aussicht hart vor meinen Fenstern ist durch ihn +versperrt. Auch mein Herz schlägt hinter Riegeln. +Ich bin nicht mit den Illusionen hergekommen wie +das erstemal. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +4. FEBRUAR. Kalte regnerische Tage, unfroh wie die +Stunde meiner Ankunft, welche Telramunds, als sei +dies unvermeidlich, zuerst erfuhren. Die Lauben +sind, wie es scheint, ihr Jagdrevier, denn kaum trete +ich vors Haus, so schießen sie mir schon wie auf +Rollschuhen der Neugierde entgegen, jedesmal mit +einer Einladung zum Tee. Ich bin entschlossen, ihr +nicht zu folgen, denn sie ist natürlich nur verhörsweise +gedacht. Fortunio rät von einer so schroffen +Haltung ab. Wir diskutieren hin und her, und ich +lasse mich leider überreden. +</p> + +<p class="dat"> +6. FEBRUAR. Tee bei Telramunds. Ich trage meinen +teuren Pelz, denn es ist kalt, dazu aber ausgebesserte +Schuhe, weil es regnet. Der Empfang ist übrigens +von so glänzend imitierter Herzlichkeit, daß er mich +fürs erste ganz beschämt. Wie unverkennbar ist doch +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +im Grunde Telramunds Zuneigung für mich! Er +erörtert meinen Roman in den höchsten Tönen, und +wie freut sich Ortrud, mich zu sehen! Wie ungerechtfertigt +ist der Name, den ich ihnen gebe! Wie funkeln +Teekanne, Dose und réchaud! Wir sitzen ein wenig +merkwürdig zusammen, es ist wahr! unsere sechs +Knie eng aneinander gerückt: die meinen in der +Mitte, wie die eines Delinquenten, von den beiden +andern flankiert. Doch ist das nur zufällig vielleicht. +</p> + +<p> +Wenn aber drei Leute sich äußerlich in so enger +Gemeinschaft befinden, und zwei von ihnen werfen +sich Blicke zu, so wird es der Dritte bemerken, auch +ohne es zu wollen und ohne hinzusehen. Ortrud +guckte wertschätzend von meinem Mantel herab auf +mein Schuhwerk. Der Pelz einerseits und die Reparatur +anderseits gaben zu denken. Wie aber konnten +sich die beiden so vergessen, daß sie plötzlich anfingen, +wie mit Fliegenklappen nach mir auszuholen und sich +hochbefriedigt ansahen, wenn sie glaubten, mich +ertappt zu haben? +</p> + +<p> +Zwar lag es auf der Hand, daß ein so leicht zu +überführendes Geschöpf unmöglich zugleich jene +raffinierte Person sein konnte, für welche ich wußte, +daß sie mich hielten. Aber wie resolut Leute von +schlechten Instinkten jegliche hemmende Logik von +sich weisen, wußte ich auch. Von neuem auf der Hut, +beantwortete ich jede Frage mit einem Kunstbogen; +als jedoch der Name Elisabeth Rotten fiel, hielt ich +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +krampfhaft an diesem Thema fest. Telramund konnte +ihren politischen Scharfsinn nicht genug loben (später +stritt er ihn ihr öffentlich ab). So erzählte ich denn +von ihrer schwer angegriffenen Gesundheit und ihrem +Wunsch nach einer Erholungsreise. Diese aber sei +nur durch List und Tücke zu erreichen. Es müßte +also, meinte ich, mehr mitteilsam wie raffiniert, +unter Vorspiegelung eines Vortrags, welchen sie dann +natürlich nicht halten würde, ein Paß für sie erschlichen +werden. +</p> + +<p> +Die Idee wurde stillschweigend zur Kenntnis genommen. +Blicke flogen . . . und es war unverkennbar, +daß etwas nicht stimmte. +</p> + +<p> +Bin ich nach Bern gekommen, dachte ich auf dem +Rückweg, um mit Leuten zu verkehren, die ich zu +Hause nie ertragen hätte? +</p> + +<p> +Das Wetter hatte sich auf einige Stunden aufgehellt, +und über der Brücke von Kirchenfeld flammten plötzlich +die Alpen auf. Blaß und verheißungsvoll leuchtete +die losgelöste Jungfrau über das Gewölk, das sich +in schwarzen Massen zu Tale schob. Wie ganz und +gar nicht existierend, dachte ich da, ist doch letzten +Endes das Gemeine! Nur unser träges und verwischtes +Sehen leiht ihm den Schein von Wesenheit, und +Leuten wie Telramunds das Gesicht. Und zwei verschwisterte +Seelen hatten da einen Bund geschlossen, +wie die Hölle ihn liebt. Dabei war Telramund Berliner +und Ortrud, wie zum Schulexempel, eine Französin +<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> +aus der Provinz. Ach! Welch ein Schabernack +wird doch über alle Grenzen hin mit unseren Gesetzen +getrieben! Keine Feder wiegen sie auf gegen die +Schleuderwaffen, über welche schlaue Unvernunft +gebietet. Wohl haben wir gelernt, Weingärten und +Äcker zu bestellen, veredelt hängen uns die Früchte +von den Bäumen hernieder, und wie umsichtig, wie +bewundernswert ist der Mensch angesichts seiner +Felder! Nur vor sich selbst ist er stehengeblieben. +Da jätet er nicht. Da steht überall goldener Weizen, +von wild um sich greifendem, allgewaltigem Unkraut +erstickt. Gegen die Natur, die Elemente, die Erde, +ja die Luft selber schritten wir ein, nur vor uns selbst +sinken uns die Arme, und wir lassen geschehen. Dies +ist die bisherige Logik der Welt, der Nationen. Nicht +einmal bis zu unseren Verbrecherstatistiken besannen +wir uns — wie hätten wir da bis zu den Tabellen +unserer verkleideten und ganz undrastischen Übeltätern +gedacht? — +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Allseitige Verstimmung. Mein Wunsch, Fräulein +Rottens Wunsch zu erfüllen, hat schwärzesten Verdacht +erregt. Ich kannte die in Bern geschaffene +Atmosphäre noch zu wenig, um zu verstehen. Warum +in aller Welt, beschwert sich Fortunio bei mir, mischte +ich mich da hinein! Welches Interesse hatte ich an +dieser Reise? +</p> + +<p> +<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> +Und diese Idee eines Vortrags! (Sogar er, es war +unverkennbar, hat Argwohn geschöpft!) +</p> + +<p> +Nur ein Vorwand natürlich! ich sagte es ja Telramund. +</p> + +<p> +Fortunio zuckte die Achseln: er hat es Ihnen +natürlich nicht geglaubt. +</p> + +<p> +Die beiden werden uns noch sprengen!, brach ich +aus, alle unsere Anstrengungen hintertreiben und +uns alle zu Grabe tragen. +</p> + +<p> +Mit Martin im Walde hatte ich ja meine Not. Die +Verdächtigungen auf ihn regneten ohne Unterlaß. +Schon während jenes Diners, welches Aramis bei +meiner ersten Berner Ankunft gab, hatte ihn Telramund +als einen Agenten mit doppeltem Schubfach +bezeichnet, und Ortrud pfiff förmlich vor Hohn wie +eine Maus. Daß ich widersprach, fiel nur auf mich +zurück. Für einen ehemaligen Kruppdirektor also +machte ich Reklame! Sprach dies nicht Bände? +Daß er tatsächlich seine Stellung seinen Überzeugungen +geopfert hatte, war ein Beweis mehr für +seine Verschlagenheit. Den Bruder kannte er. „Den +Bruder kenne ich!“ war sein Refrain. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +9. FEBRUAR. Ich miete einen Flügel: ohne Schmelz, +ohne Tiefe, es ist wahr, und doch edel, weil immerhin +ein Flügel. Gott sei Dank! Flügel sind jetzt sehr +schwer zu kriegen! Ich bin einen ganzen halben Tag +<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> +glücklich. Welches Glück! — es ist ein Glück, das +ich der Protektion eines jungen Berner Pianisten verdanke. +Wir hatten ein Zusammentreffen verabredet, +um in die Fabrik zu fahren. In den Lauben kam +Ortrud auf mich zu und äußerte den Wunsch, mich +zu besuchen, und da ich ungeheuer eilig tat, begleitete +sie mich, um zu sehen, ob es wirklich der junge Pianist +war, der mich erwartet. Da er es wirklich war, denke +ich mir, sie beruhigt sich jetzt. +</p> + +<p class="dat"> +10. FEBRUAR. Telramund erzählt mit vielsagender +Miene, daß ich einen Flügel gemietet habe. Kein +Zweifel mehr: ich bin eine Spionin. +</p> + +<p class="dat"> +11. FEBRUAR. Aramis gibt mir zu wissen, daß er sich +wundere, weil ich ihm noch kein Lebenszeichen gebe. +Ich unterließ es nur, denn er ist mir sympathisch, +weil mir versichert wurde, daß er mir nicht mehr +traue. +</p> + +<p> +Es sei kein Grund, sagt mir Fortunio, ihn zu schneiden. +Seufzend (da er mir ja mißtraut!) rufe ich ihn +ans Telephon, und vor seiner Sprache, ach! wird +mein zerrissenes Herz sofort wie eine Geige, in welche +diese Sprache (auch die meine, ach!) hineingreift +wie ein Bogen. +</p> + +<p class="dat"> +13. FEBRUAR. Gestern abend war ich bei Fortunio, +und Martin im Walde fand sich zum ersten Male +<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> +bei ihm ein. Vor dem Kriege hätte ich sie nicht +einander zugeführt: Fortunio so musisch und sternengebannt, +aber auch stemschnuppenhaft, Martin im +Walde so schwerblütig, so problematisch und so vorbedacht! +Heute aber muß alles zusammenstehen, +was aufrecht blieb. Wie errichten wir sonst jene +Dämme gegen die blinde Gewalt, den Schutzmauern +vergleichbar, die sich so wacker gegen die Bergwände +stemmen, um zur Zeit der Schmelze die Lawinen +aufzuhalten? Auch unserem Planeten stand der Frühling +nahe bevor, als die Lawine sich entlud, die allen +Schutt nach oben warf und eine grünende Welt und +alle Glocken der Vernunft mit ihren toten Blöcken +und ihrem schmutzigen Geröll brüllend und dröhnend +überzog. Jene Mauern, Lawinenschutz genannt, +sind natürlich nur roh aufeinander geschichtete, jedoch +wetterfeste Steine, die nichts anderes zum Ausdruck +bringen, als die Not des Augenblicks, dem sie entstanden +sind. So scheint mir heute, wo es den Kampf +des menschlichen gegen das unmenschliche gilt, das +wichtige nicht, glattes einzufügen, nicht einmal der +inneren Gemeinsamkeit den Ausschlag zu lassen, +sondern die Widerstandskraft und das Gewicht der +Dinge zu bedenken. +</p> + +<p> +Doch ach! Der als Schachfigur so schwer festzulegende +Fortunio war heute auf meine Opportunismen +nicht gestimmt, sondern wie zum Trotz in einer ganz +herausfordernden, ganz interpellierenden, ganz konträren, +<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> +um ihre eigene Wirkung ganz unbekümmerten +Laune. Zu machen war da gar nichts. Im stillen +nur nahm ich mir vor, auf dem Heimweg Fortunios +Wesensart, welche Martin im Walde nicht geläufig +war, so beweglich wie möglich zu schildern. Aber +nicht einmal diese nachträgliche Intervention sollte +mir gelingen. Denn als ich auf der Stiege in die +Taschen meines Mantels griff, war mein Hausschlüssel +nicht darin, die Nacht aber viel zu weit +vorgeschritten, um meine Pension durch Glockenreißen +zu alarmieren. Die übermüdete Fortunia, +über die Rampe gebeugt, rief mich wieder zurück. +Neben dem großen Empfangsraum lag ein schmales +Zimmer. Ich bezog es ohne viel Worte und warf +mich mit meinen Kleidern auf den breiten Diwan, +der dort stand, ganz erledigt für den Rest der Nacht. +Immer verschärfter schwebte mir die Bilanz des mißratenen +Abends vor und regte mich auf. Wie ungut +ließ sich doch alles an! +</p> + +<p> +Eine tiefe Stille lag jetzt über dem ganzen Hause, +den Wänden, den Fenstern und der Luft, als ob sie +ein Signal erwarteten. Denn nebenan war plötzlich +ein anderes Leben erwacht, eine andere Unruhe, als +die des Tages, ein Rücken, Geknister, ein Gewisper, +Disput und Ungeduld. — — Zwar ist dem Herzen +kein Organ verliehen, das unsichtbare zu sehen, aber +so mancher kennt gewiß jenes aussetzen seines +Schlages, bevor es tiefer zu horchen beginnt . . . Es +<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> +fiel mir ein, daß die ganze Häuserreihe dieser alten +Gasse für mehr oder minder spukhaft galt; doch ein +so wenig grauenhafter, höchstens malitiöser, nicht +einmal boshafter Spuk war mir noch nicht begegnet. +Neugierde trieb mich endlich hin zur Türe, hinter +der er sich begab. Aber jenseits derselben hatte +augenblicklich — als sei nie Lärm gewesen — Totenstille +eingesetzt, und die Klinke, von Tücke besessen, +widerstand allem drücken, drehen und schieben. +Mit schmerzenden Händen ließ ich sie los und kehrte +auf meinen Diwan zurück. Alsbald war Geknister +und Getusche, rücken und huschen, Unruhe, Aufregung, +heiseres Eifern und Streiterei im verstärkten +Grade wieder da. Offenbar wollte die Gesellschaft +von mir nichts wissen und boykottierte mich. Wie +aber kam es, daß ich plötzlich wie unter freiem Himmel +lag und den Arm aufstützte, als schirmten mich die +Zweige eines Baumes, und als horchte ich statt zur +Seite hin, tief unter die Erde hinab? Was immer +mir jetzt in den Sinn kam, bot sich wie eine Zwiesprache +dar. Dem Nixenbegriff lag wohl eine tiefe +Erkenntnis zugrunde. Wie diesseits des Menschengeschlechtes, +so sind aber auch jenseits desselben +Geschöpfe Gottes denkbar, die an der entgegengesetzten +Peripherie des Lebens beschattet stehen +und hinausgerückt; und winzige, kaum bemerkbare +Dinge könnten es sein, die ihnen ein leises Grauen +vor ihrem eigenen Wesen entgegenhauchen: ihr unakkurater +<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> +Sinn für Wirklichkeiten, ihr vorwegnehmen +des Zieles über Hindernisse hinweg, ist wie +ein gestörter Sehwinkel oder wie ein verkürzter Fuß, +den solche Menschen durchs Leben ziehen, und sie +erschauern, verzagen und vereinsamen bis ins Mark, +wenn sie daran erinnert werden. Über die fernest +abliegenden Dinge dachte ich hin und her. Aber +warum in aller Welt überkam mich ein Heimweh +nach dieser verschlossenen Tür, und um was für +Dinge war mir denn leid? Du lieber Gott, wollte +ich denn von allem haben! +</p> + +<p> +Der ganze tumultarische Betrieb setzte übrigens +mit einer spurlosen Plötzlichkeit aus, als hätte er nie +geherrscht. Nur eins war deutlich: durch die Türe +verzog er sich nicht. Es kam etwas anderes: aus +dem unteren, nachts unbewohnten Stockwerk drangen +sanfte Trommelwirbel, oh, so deutlich zu mir, und +dann ertönten gedämpft, aber klangvoll, tamponierte +Posaunen. Und dann kam das huschen und fegen +eines Kleides, das schleifen einer Schleppe, ja! im +Takt dieser erstickten Musik. Ich horchte mit allen +Fasern. So fein, so spöttisch, so leicht! oh! in der +Tat geistreich war der Rhythmus dieses pas-de-deux, +waren die Füße, die Grazie, die Unkörperlichkeit +dieses balancierenden Körpers im Klang der wonnig +umhüllten Posaunchen. Tod und Leben in lächelnder +Umarmung — Leben noch im Tode? Liebe selbst +bei ihm? — Was verfing sich da eine Uhr, mit vier +<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> +groben Schlägen in den Zauber hineinzufahren? +Nichts rührte sich mehr. Im Augenblicke alles längst +verflogen und verweht — welchem Sterne, welcher +Nacht entgegen? +</p> + +<p> +Nunmehr versank die Dunkelheit in ihrer eigenen +Stille, und der Schlaf atmete mir jetzt — als käme +er von außen — seltsam genug! — mit weiten Flügeln +entgegen. Ich fühlte noch den Wunsch, mich ihm +ganz zu überlassen, aber daß er mich dahintrug, +schon nicht mehr. Gespannten, wachen Sinnes stand +ich in der Mitte eines Saales — nicht wissend, daß ich +schlief. Die Wände lagen im Zwielicht, und ein paar +Leute saßen dort als Zuschauer herum. Ich fragte +mich, was es zu sehen gab und merkte dann erst, +daß ich es war, welche nun tanzte. Die Rhythmen +nämlich, nach welchen ich mich drehte, „geschahen“, +ohne zu verlauten, als stünden hier die Gesetze am +Anfang aller Musik, noch ehe, oder ohne daß sie sich +vertonten. Dabei geboten sie mit so wunderbarer +und zwingender Macht, daß es unmöglich war, ihnen +nicht zu folgen, und unwiderstehlich kreiste ich +dahin. Mit einem Male hörte ich Fortunios Stimme +von der Wand herüber auf französisch sagen: „Comme +elle danse bien“! aber sehen konnte man ihn nicht, +denn der Saal war nur in der Mitte hell. „Pourquoi +dites-vous que je danse bien“? rief ich tanzend zurück. +Und tanzte dahin, denn es gab nichts anderes mehr. +Nur den Tanz. Ganz allein nur ihn; ohne innehalten, +<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> +ohne Unterlaß, den Tanz allein in diesem Raume, +der aufgehört hatte, ein Saal zu sein, denn seine +Wände traten ins Endlose zurück. Nur allmählich +merkte ich, daß sich jemand zu mir gesellt hatte +und mich hielt und mit mir tanzte. Es kümmerte +mich nicht. Die Erfüllung war zu tief, meine Augendeckel +zu schwer, sie aufzuschlagen die Mühe zu groß! +In den Rhythmen lag alle Wonne. Und sie gebaren ohne +Übergang eine neue Phase, denn halb abwesend, +halb aufmerksam sah ich nun doch meinem Tänzer +groß ins Gesicht: matt von Farbe, mit schwarzem, +glattanliegendem Haar war er mir gänzlich unbekannt +und zugleich vollkommen vertraut; der sehr +edle Umriß von Kopf und Schultern so geschlossen, +daß er fast ausschloß, was er nicht selber +war, fast negierte, was er nicht kannte. Was dünkte mir +daran so fremd und so verwandt zugleich? Die Melodie +einer Rasse, der ich entstammte, und doch nicht +mehr die meine? von ihr hinausgerückt? verabschiedet +von ihr? wiederum der Boykott? Gleichviel! wir +tanzten. Eines Schrittes! Diese Zeitmaße kannten +keine Zeit. So mögen Sterne kreisen. Aber auch +was ich dachte, war nicht mehr aus seiner Bahn zu +drängen: aus reinstem Lateinertum setzten sich die +Elemente dieses Tänzers zusammen. Nicht das Gesicht +eines bestimmten Menschen sah mich da an. +Nicht dieses oder jenes — was dann? Das Sinnbild +einer Rasse war zu mir hingetreten und tanzte mit +<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> +mir. Jetzt wußte ich’s! — Aber die Entdeckung +sprengte die Fesseln des Traumes: Ich lag auf dem +Diwan gerade ausgestreckt, vor mir das Fenster, in +dessen Scheiben sich von der Straße herauf der +Reflex einer Laterne fing. Aber gleich darauf stand +ich auf den Füßen. Noch nie so hoch aufgerichtet +gewiß! Die Türklinke drehte sich lautlos und glatt, +wie geölt. Aber die Kälte der Frühluft nach der Hitze +der Nacht hatte vielleicht die Wandlung besorgt. +Ich schlich durch den Gang, die Stiege hinab und +ließ mich zum Tore hinaus. Ins Freie! Hinter den +Scheiben leuchtete hie und da schon ein Licht aus +den Lauben hervor. Im Hause, in dem ich wohnte, +war eine Bäckerei. Unbemerkt kam ich in mein +Zimmer. Es tagte noch nicht. Nach oben unkenntlich +stand das Münster vor meinen Fenstern aufgerichtet, +viel schöner und gewaltiger so, als mit dem +übel verlaufenden Turm. Wie schien aber dies alles +eine Wirklichkeit zweiten Ranges, sozusagen, wenn +ich sie mit jener verglich, die mich in dieser Nacht +umgab. Ich wußte zur Stunde mit der letzten Sicherheit, +daß mein Traum sich erfüllen würde. Die +beiden Rassen, die heute zu vereinigen solches Elend, +solche Zerrissenheit bedeutet, werden eines Tages, +allen Höllenhunden zum Trotz, das Glück der Welt +durch ihren Bund begründen. Ach! Danach darf +man nicht fragen, ob man selbst längst ein Schatten +sein wird, wenn diese Dinge sich ereignen. Nur Mut, +<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> +mein Herz! rief ich mir an diesem Morgen öfters +zu, denn mit seinem fahlen Licht wuchsen die üblichen +Ernüchterungen an. +</p> + +<p> +Gegen Mittag kaufte ich Blumen und wählte +Kuchen mit Bedacht, denn um vier erwartete ich +Monsieur Aramis zum Tee. Nicht ohne Bangigkeit. +Seinen ersten günstigen Eindruck hatte ihm ja Telramund +gründlich auszureden verstanden. Als er in +meine niedere Stube trat und mir die Hand entgegenstreckte +und mich ansah, wurde es mir wieder fühlbar. +Das Echo der Worte: „Sie lügt! sie lügt!“, die +er von jener Seite unausgesetzt vernahm, war zu eindringlich, +um mir zu entgehen. +</p> + +<p> +Daß die unteren Zimmer nun endlich frei werden +und mein Flügel sogar schon unten steht, interessiert +ihn gar nicht; wen ich in Deutschland gesehen habe, +um so mehr. Die Grenze hatte ich gerade am Vorabend +des Tages überschritten, an welchem der verschärfte +Unterseebootkrieg verkündet wurde; als diese +Nachricht alle Anschlagmauern verfinsterte, wäre ich +am liebsten umgekehrt, denn jetzt lag doch alles in +Scherben. +</p> + +<p> +„Une bêtise capitale,“ sagte er, „et qui fait bien notre +affaire.“ Nichts mehr von Klavier! Ich möchte mich +gar nicht mehr mit Politik befassen, sage ich, und +lese: „Sie lügt! sie lügt!“ in seinen Augen. Er blieb +lange, sprach jedoch nur wenig und hörte zu. Ich +dagegen redete die ganze Zeit, hemmungslos und aufs +<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> +Geratewohl. Es überzeugte ihn auch dieses keineswegs. +Sie lügt! sie lügt! blieb das Echo, das zwischen +dem Vertrauen, welches er instinktiv zu mir gefaßt +hatte, und den Dingen hallte, die er über mich hört. +Kaum ist er gegangen, so erscheint Fortunio auf dem +Plan, gespannt zu hören, wie der Besuch verlief. +Ich komme ihm jedoch zuvor: Wenn Aramis mir +mißtraut, so mißtraue ich seiner Menschenkenntnis. +Es ist zu leicht, mich zu durchschauen, als daß es +erlaubt sein dürfte, mich zu verkennen. Ich bin so +eindeutig wie ein Pferd. Seine Gangart ist unmißverständlich +genug! +</p> + +<p> +„Sie sind aber kein Pferd,“ sagte Fortunio, „und +gerade Ihre Eindeutigkeit ist mit Ihrer sonstigen Art +nicht so ohne weiteres in Einklang zu bringen.“ +</p> + +<p> +Daß er dabei eine so bedenkliche Miene beibehielt, +riß an meinen ohnedies zerzupften Nerven. Er +erinnerte mich allzusehr an einen Schreibtisch, der, +mit großen und kleinen, inneren und äußeren, ja +sogar mit geheimen Schubfächern ausgestattet, für +mich aber nur eine einzige Lade offen hielt. Ich +fühlte mich plötzlich tödlich gekränkt. Und womit +hält er heute zurück? Auch er, auch er! sage +ich mir. +</p> + +<p> +„Ihr Roman kursiert jetzt in Bern“, geruhte er +mitzuteilen. +</p> + +<p> +„Um so besser. Zeit wär’s, daß hier das rechte +Licht über mich aufgeht.“ +</p> + +<p> +<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> +„Leider nein“, sagte Fortunio. „Das Buch schadet +Ihnen.“ +</p> + +<p> +„Schadet mir!?“ +</p> + +<p> +„Ich hätte es auch nicht gedacht. Aber die große +Zielbewußtheit, welche Sie Ihrer Heldin einverleiben +. . .“ +</p> + +<p> +„Aber gerade die Natur dieser Zielbewußtheit . . .“ +unterbrach ich ihn. +</p> + +<p> +„Gewiß, man sollte glauben . . .“ +</p> + +<p> +„Hören Sie, das ist nicht möglich!“ Und in höchster +Ungeduld riß ich an allen Schubladen zugleich. +</p> + +<p> +„Ich selbst“, machte nun Fortunio mich vertraut, +„habe die Leute auf das Buch hingewiesen. Ich +glaubte, Ihnen nicht besser dienen zu können.“ +</p> + +<p> +„Es ist nicht möglich, daß Aramis sich verdreht +dazu stellt“, rief ich wieder. „Es kann nicht sein!“ +</p> + +<p> +Fortunio zuckte die Achseln. +</p> + +<p> +„Aber sogar Telramund, dieser Gräuel, lobte es +über den Klee.“ +</p> + +<p> +Er schwieg. Es entstand eine Pause. +</p> + +<p> +„Das ist furchtbar“, sagte ich. „Es geht also um +ein Duell zwischen mir und diesen Leuten.“ +</p> + +<p> +„Sie sind so ungeduldig! Die Dinge wollen ihre +Zeit. Letzten Endes ist es immer die gute Gesinnung, +welche triumphiert.“ +</p> + +<p> +„Oh! letzten Endes“, wehrte ich ab. „Daß meine +Grabrede besser ausfallen wird, glaube ich ohne +weiteres. Mais d’ici là . . .“ +</p> + +<p> +<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> +Fortunio wollte mich überreden, mit ihm auszugehen, +doch ich blieb zurück. Was ich ihm dabei +nicht verriet, war meine Absicht, im Laufe des Abends +nach Martin im Walde zu sehen; denn mir lag das +gestrige Zusammensein, dem Fortunio keinen Gedanken +mehr schenkte, schwer im Gedächtnis. +</p> + +<p> +Fürs erste war meine Niedergeschlagenheit zu +groß, um nicht allein mit ihr zu bleiben. +</p> + +<p> +Die Tatsache, daß in Ermangelung anderen Beweismaterials +nun gar mein Roman als Belastung herhalten +sollte, war insofern der comble, als sich ja +dann, auf diesem kürzesten Wege, so ziemlich alles +auf den Kopf stellen ließ. Gegen solche Waffen war +jedenfalls nicht aufzukommen. Sie waren zu alt +erprobt. Ich hatte zuviel erfahren. Ich wußte +zu viel. +</p> + +<p> +Oh Fortunio! es ist dir nicht bekannt, warum ich +lebe. Wie ein nach Süden schauendes Ufer fängst +du die Sonne auf; wie eine nach Norden aufgerichtete +Mauer stehe ich zu ihr. +</p> + +<p> +„Von allen Menschen weg“, dachte ich da, „und +zur Sonne hin!“ Angebetete Sonne! Ohne dich zu +sein! Beseelt, doch unbeseligt steht mein Haus. +Wo du undeutlich werden und verflimmern läßt, wo +du begünstigest, ja, wo du lügst, hast du doch immer +recht, und nichts bestünde vor deiner Glorie. +</p> + +<p> +Es hatte längst durch alle Stockwerke gegongt, +doch ich blieb wie ein Wetterwinkel am Fenster +<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> +haften, jenen Bergkuppen vergleichbar am Rande des +Tals, die alle Wolken an sich ziehen; so schien auch +ich alle Düsterkeiten heranzulocken. Und es gab +dann nur zwei Möglichkeiten, um dagegen aufzukommen: +entweder die Arbeit, die auch wirklich die +Atmosphäre läutert, oder der Umgang mit Menschen: +ein Notbehelf nur, welcher zwar, wie der im Unwetter +aufgespannte Schirm die ärgsten Güsse von +uns abhält, an der Witterung aber nicht das geringste +ändert. +</p> + +<p> +Augenblicklich war mir jedoch der Mut so gänzlich +ausgepustet, daß ich mich plötzlich im Sturmschritt +zu Martin im Walde aufmachte, sehr in Sorge +sogar, ihn zu verfehlen. Ja, die Sorge steigerte sich +zur Angst, so windschief stand es um mich. Aber +die Herrschaften ließen, Gott sei’s gelobt und gedankt, +bitten, und ich jagte die Treppe zu ihnen +hinauf. Die Stimmung, welche dort betreffs der +gestrigen Fete herrschte, war natürlich schlecht. +Mit sehr unerwarteter Schauspielkunst gab Martin +im Walde alle Figuranten des Abends in einer +Person zum besten, wobei er die ihm zugewiesene +Rolle gar grimmig unterstrich. Ich lachte fürs +erste aus vollem Halse, wenn auch mit recht +halbem Herzen, brachte dann alle meine Glätt- und +Bügelkünste zur Anwendung, zog meine Döschen, +Fläschchen und Beruhigungstropfen hervor, mußte +mir aber dabei sagen, daß hier wieder einmal +<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> +ein wünschenswerter Zusammenschluß vorbeigeglückt +war. +</p> + +<p class="dat"> +14. FEBRUAR. Ich kann erst morgen die unteren +Zimmer beziehen: ein hübscher alter Sekretär, ein altmodisches +Sofa und ein schönes Tischchen kommen +mit mir. Auch die Kiste mit meinen Sachen ist +eingetroffen. Als ich nachmittags die Lauben hinunterging +und an die Zimmer dachte, wie sie mit +ein paar indischen Schals, der schier vergessenen +blauen Seidendecke und ein paar Bildern am besten +auszustaffieren wären, lächelten plötzlich von rechts +Telramund, von links Ortrud auf mich ein: „Wohin +des Wegs?“ +</p> + +<p> +„Nach Hause“, war meine erschrockene Antwort. +</p> + +<p> +„Wie sich das trifft! Wir sind gerade auf dem +Weg zu Ihnen.“ +</p> + +<p> +„Das ist ja reizend“, rief ich entsetzt. „Leider +bin ich mitten im Umzug und darf Sie nicht heraufbemühen.“ +</p> + +<p> +„Das macht uns gar nichts! Wenn wir Sie nicht +stören.“ +</p> + +<p> +„Im Gegenteil. Kommen Sie nur.“ +</p> + +<p> +War es nicht besser, die kamen noch in meine +alte Stube, als daß sie mit ihren malocchios meine +neuen Räume behexten? „Nur herauf, Ihr beiden! +es ist das letztemal.“ Und die Treppe voransteigend, +führte ich sie zu mir. +</p> + +<p> +<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> +Dort stand der altväterische Tisch, der mich beschützte +und nicht mit mir ziehen würde. +</p> + +<p> +Wir nahmen Platz. +</p> + +<p> +„Aramis war gestern bei Ihnen“, sagte Telramund. +„Er hat es uns erzählt.“ +</p> + +<p> +„Warum auch?“ dachte ich. +</p> + +<p> +„Er wird immer launischer“, bemerkte Ortrud. +</p> + +<p> +„Launisch?“ +</p> + +<p> +„Haben Sie das noch nicht herausgefunden?“ +fragte Telramund und heckelte ihn eine Weile durch. +„Im Grunde“, klang es fast drohend von diesen +Berliner Lippen, „ist er ein ganz germanophiler +Bursche.“ +</p> + +<p> +Ich goß Tee ein und erwiderte nichts. Aber mir +wurde bang und bänger über das Gespräch. +</p> + +<p> +Daß die beiden es wagten, vor mir, die selbst +obenan und mit so fetten Lettern auf ihrer Proskriptionsliste +stand, derart rückhaltlos Leute auszurichten, +mit welchen sie scheinbar die besten Beziehungen +unterhielten, war das nicht ein Beweis für +die Rückversicherungen, deren sie sich versehen +hatten? Und wie weit mochten diese gehen? +</p> + +<p> +Und woher wußte — von allen Deckungen abgesehen +— dies im wiedererzählen so blitzschnelle Paar, +daß sich unsere usancen voneinander unterschieden? +</p> + +<p> +War es die starke Gegenwärtigkeit des wuchtigen +Tisches, um den wir saßen, und der wohl einst am +Waldesrand Jahrhunderte hindurch als mächtiger +<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> +Baum — wissend und weise — in rauschender Verschwiegenheit +sein Gezweige ausbreitete — oder +welch überspringender Funke war es nur, der mir da +mit der unbewiesenen und doch stahlharten Sicherheit +intuitiver Erkenntnis die Tatsache enthüllte, daß +die Niederträchtigen, aus ihrer, mit Selbsterhaltungstrieb +gepaarten Verdorbenheit heraus, die Menschen, +welche guten Willens sind, ungleich deutlicher erkennen, +als diese sich unter sich durchschauen. Fortunio, +von Martin im Walde nicht zu reden, kannte +mich nicht entfernt so gut wie diese zwei: welche +Waffen ich gegen sie anwenden und welche nicht, +ihnen war es nicht zweifelhaft, und für sie war ich +wie durchsichtiges Glas. Indem sie mich haßten, +wußten sie sogar, daß ich nicht ihrer Person, sondern +ihrer Schlechtigkeit den Haß vergalt, und wenn meine +hiesigen neuen Freunde vielleicht in ihrem Urteil +über mich noch schwankten, diese meine erbittertsten +Feinde werteten mich nach Verdienst. Dies war der +Grund, warum sie mich verfolgten. Wer in der Tat +stand einander im Wege, wenn nicht wir? Soweit +ich zurückdenken konnte, und lange ehe er ausbrach, +dieser elende Krieg, und dann wieder vom Tage +seines Bestehens an, war ich für einen Frieden um +jeden Preis. Mich interessierte, noch freute kein +einziger Sieg. Nur dem Frieden gönnte ich den Sieg +über eine so schmähliche Niederlage wie diesen +Krieg. +</p> + +<p> +<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> +Für dieses Paar jedoch waren Versöhnung und +Verständigung zwei Dinge, deren Möglichkeit sie mit +allen Mitteln zu hintertreiben entschlossen waren. +Dafür lebte es. Wehe dem Franzosen, der kein +Jusqu’auboutiste war. Er hatte allen Grund, vor +diesem deutschen Telramund zu zittern, und wenn +nur der letzte Deutsche verblich, durfte für diese +französische Ortrud der vorletzte Franzose unbesehen +verbluten. Denn die Saite, auf welche sie beide +gestimmt waren, ihr Element war der Haß. In welcher +Tropenluft aber lebten wir heute, daß die Gemüter +sich mit solcher Fieberhitze entfalten oder zersetzen +durften? Nie hat Gelegenheit ärgere Diebe gemacht. +Hier war Telramund — vor dem Kriege ein ränkespinnendes, +sonst aber vielleicht ganz traitables Männchen +— zum professionellen Verleumder und Verräter +entartet, und Ortrud, einstens eine gehässige Klatschbase +und weiter nichts, nunmehr zur angriffswütigen +Ratte, zur erbarmungslosen Menschenfresserin von +<a id="corr-0"></a>Hokusai. +</p> + +<p> +Mit solchen Wesen aber paktierte, tergiversierte, +lavierte man. +</p> + +<p> +Und zu denken (dachte ich), daß doch sonst so +viele Schutz- und Trutzverbände bestehen. Der +Adel, die Juden, die Ärzte, Arbeiter, Bäcker, Schneider +und Hoteliers, alle bilden sie ihre geschlossenen +Gilden und Vereine. Und nur ausgerechnet die Menschen, +die guten Willens sind, sie allein, die überall +<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> +verstreuten und ausgelieferten, setzten sich noch +nicht zur Wehr, berieten und versammelten sich noch +nicht. Ihr Klub ist der einzige, der noch nicht zustande +kam, ihre Statuten, ihre Geschlossenheit, +ihre Einigung, welche doch gleichbedeutend wäre mit +ihrer Vorherrschaft, über alle Grenzen hin. Denn +nichts scheut ja das Geschmeiße so sehr wie seinen +Namen und ihren Boykott. +</p> + +<p> +Nicht äußerste Vorsicht (die nützte gar nichts!), +sondern schroffste Ablehnung war Telramund gegenüber +am Platze. Aus jedem Wort, das ich sagte oder +zu erwidern unterließ, wurden jetzt handfeste Stricke +wider mich gedreht. Solche Leute zu kennen, sie +zu sehen, <em class="em">dies</em> war der kapitale Fehler. +</p> + +<p> +Ortrud kam immer wieder auf meinen Flügel zu +sprechen, und als sie sich zum Gehen anschickte, +bezeigte sie eine Neugierde, ihn zu besichtigen, als +handelte es sich um einen neuentdeckten Raffael. +Der Gedanke aber, daß die beiden als die ersten meine +unteren Zimmer betreten sollten, bevor ich sie noch +bezog, versetzte mich in eine so abergläubische Verwirrung, +daß ich die Treppe hinablief, um sie daran +zu hindern. Allein die Türen standen offen, und ehe +ich sie schließen konnte, hatten Telramunds meine +Schwelle überschritten und waren meine ersten Besucher +gewesen. +</p> + +<p> +Abends bei A. H. Pax. Ich ärgere mich über +Bemerkungen, die dort fallen: Brücke von Kirchenfeld; +<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> +die müsse ich doch kennen. Was ist das nun +wieder? +</p> + +<p class="dat"> +18. FEBRUAR. Meine „Wohnung“ ist ursprünglich +ein großes Zimmer mit Alkoven gewesen und nun +durch eine eingebaute Wand so unwirsch in zwei +geschnitten, daß sich das Auge an den falschen Massen +immerwährend stößt. Aber die Farben bringen einen +gewissen Trost, eine Suleikaportiere, indisch mit +scharlachrotem Rand, führt in ein drittes vorgebliches +Gemach, und der Flügel macht sich ausgezeichnet. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Besuch der Miß Annie A. Wir hatten uns seit +dem Kriege nicht mehr gesehen. Sie ist mütterlicherseits +deutsch wie ich französisch, väterlicherseits +englisch wie ich deutsch. Nur ist sie nebenbei auch +ein Engel von Güte, und das bin ich nicht. Doch +ach! andere werden schon mit mir bemerkt haben, +daß gerade solche Engel von Güte es so oft nicht +über sich bringen, die Vortrefflichkeit derjenigen anzuzweifeln, +deren Instanz sie zunächst unterstehen, +ja die es für eine Perfidie halten würden, ihren eigenen +Zeitungen und eigenen Machthabern nicht zu glauben. +Wer kennt sie nicht, diese Engel von Güte, mit ihren +<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> +„they say“, ihren „man sagt“, ihren „on dit“ und +ihren „si dice“. Unbesehen ist für sie der Teufel +überall nur drüben. +</p> + +<p> +„Mein Deutschtum ist tot in mir“, sagte sie. „Auch +Sie sollten sich entscheiden.“ +</p> + +<p> +Dasselbe Ansinnen, nur umgekehrt natürlich, war +mir in Deutschland zu oft gemacht worden, und ich +war in solchen Dingen sehr abgebrüht. „Was brauchen +mich die Franzosen,“ seufzte ich, „die ganze Welt +steht ja auf ihrer Seite.“ +</p> + +<p> +Da sie mich traurig sah, schaute sie mich betrübt +mit ihren guten und veilchenblauen Augen an. +„I thank God on my knees“, brach sie dann aus, +„that I am English.“ +</p> + +<p> +Auch die Variationen <em class="em">dieser</em> Formel waren mir +vertraut. Und ich konnte nicht umhin, ihr von den +Halbengländerinnen zu erzählen, die in Deutschland +unter die Patriotinnen gegangen waren, von Marie +von B . . ., die mich wie keine andere deutsche Frau +in den deutschen Blättern verriß, und von jener +jungen englischen Gouvernante in München, die ich +in Tränen fand, weil ihre, an einen norddeutschen +Offizier verheiratete Schwester soeben, anläßlich eines +Luftangriffes auf London, von den Zeppelinen als von +„our glorious zeps“ geschrieben hatte. Aber kaum +hatte ich meine Pfeile abgeschossen, so war mir’s +schon leid. Unser Wiedersehen fand also nur statt, +<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> +um uns unsere Trennung nur um so fühlbarer zu +machen. +</p> + +<p> +„Nichts ist mehr, wie es war!“ rufe ich aus, indem +ich sie in meine Arme schließe. Denn sie ist ein +Engel. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Bevor Annie A. . . mich gestern verließ, zog sie +ein Fünffrankenstück hervor, das sie mir im Auftrage +der Fürstin Patschouli, einer gemeinsamen rumänischen +Bekannten, einhändigte, welche vorgab, es +mir zu schulden. Dieser so kurzerhand beim +Schopf gefaßte Annäherungsversuch war zum mindesten +originell. Ich machte ein sauberes Päckchen +aus dem Geldstück, bedankte mich für die schöne +Gabe und bat um die Erlaubnis, ihr ein ebensolches +Gegengeschenk machen zu dürfen. Daraufhin schlug +sie per Telephon die Brücke zu mir und lobte einen +schwarzen Kaffee, den sie selber braue. „Bonjour, +je vous attends!“ und damit hing sie das Hörrohr aus. +</p> + +<p> +Ich wußte in der Tat nicht, was erfrischender war, +ihr Kaffee oder sie selbst in ihrer herzstärkenden und +vorgefaßten Oberflächlichkeit. Die Fürstin, deren +Röcke unten zusammengebunden schienen, ging mit +kurzen und kleinen, aber heftigen Schritten, war +braun wie ein Maikäfer, die auffallendste Erscheinung +von ganz Bern, brüsk, witzig und ohne Stachel. +Da sie eine Villa in Tegernsee und Freunde in München +<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> +hatte, war sie im Grunde germanophil, jedenfalls +bayernfreundlich, und stand außerdem stark unter +dem Eindruck der deutschen Siege. „Je suis l’amie +des bons jours“, erklärte sie. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +25. FEBRUAR. Zwar scheint die Sonne hin und +wieder, und die Zauberwand der Berge stellt sich +dann strahlend auf, doch das Licht bleibt spröde. +Nie träumt dieser kalte Himmel dahin, nie ermatten +die Reflexe; stets rufen sie: gedenk! und nie: vergiß! +und ewige Gegenwart ist die Fanfare. Oder +liegt es an mir? — +</p> + +<p> +„Mein gutestes Fräulein,“ sagte mir einmal ein +dickgebliebener Berliner Aufsichtsrat, „wer sagt Ihnen, +daß nicht am Ende mit dem Frieden so bunte Zeiten +kommen, daß wir uns nach den Kriegszeiten zurücksehnen +werden —, bis auf die Schlachten natürlich“, +hing er mit einer Handbewegung an, als wären sie +ein Detail. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +ENDE FEBRUAR. Die Tage haben soviel widerwärtiges +gebracht, daß mir das Schreiben verging. +Man sollte hier mit seiner Aufenthaltsbewilligung +zugleich ein Vorhängeschloß wie Papageno erhalten; +statt dessen wird einem ein Nessushemd übergeworfen. +<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> +Schreckliche Stöße mit Fortunio, schwere Havarie +mit Martin im Walde. Telramund, dessen Hochöfen +alle in Betrieb stehen, erstattete ihm einen formellen +Besuch und brachte ihm zugleich mit dem Ausdruck +seiner Hochachtung sein Bedauern vor, durch mich +und meine Darstellungen ein so falsches Bild von +seinem Charakter gewonnen zu haben. Halb lachend +wird es mir erzählt. Ich mache ihm Vorwürfe, daß +er den Mann vorläßt. „Ihnen danke ich ja die angenehme +Bekanntschaft.“ Das war im Herbst, sage ich, +wo man noch glauben durfte, es stecke vielleicht +doch etwas Gutes in ihm, an das man sich halten +könne. Heute dürfen Sie keinen Umgang mehr +mit ihm pflegen. +</p> + +<p> +Einem Glücksfall, der allen Glanz eines Hintertreppenklatsches +trägt, danke ich es im übrigen, daß +von dieser Seite wenigstens Fortunio nicht mehr irre +an mir werden kann: er saß mit einem Freunde, als +Telramund sich zu ihm gesellte und Äußerungen +wiederholte, die er von mir vernommen haben wollte. +„Und nun sehen Sie,“ schloß er, „wie sie lügt“, +zahlte sein Schöppchen und ging. Aber in der Eile, +mir zu schaden, übersah er, daß Fortunios Freund +zufällig Zeuge gewesen war, wie ich jene Worte nicht +nur nicht gesagt, sondern heftig dagegen protestiert +hatte, als sie vor mir fielen. Dies also wäre, gottlob, +besorgt. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> +Es ist gewiß nur recht und billig, daß auch die +Überlebenden heute auf der Verlustliste stehen. +Wie man dem Kranken, der nicht teilnehmen +kann an dem Treiben der Gesunden, gerne darauf +hinweist, wenn es draußen stürmt und die Fußgänger +gegen Frost und Wind ankämpfen, während +er in der geschützten Stube liegt, so möchte man +heute denen, welche fallen, nachrufen: Ihr habt +nichts verloren! +</p> + +<p> +Ich schreibe der Königin im Auftrage ihrer Mutter, +die seit Monaten ohne Nachricht von ihr ist. Die +Idee des Königtums ist gewiß nur deshalb in Diskredit +geraten, weil ein verrohter, subalterner Mensch +oder auch ein, Idiot höchst widersinnigerweise zum +Herrscher avancieren konnte. Wegen meiner Ansichten +werde ich hier viel ausgelacht. Aber wie +würden sie erst lachen, wenn sie wüßten, wie gern +ich selbst regieren möchte. Da würde man doch +was Richtiges erleben! Kein mittelmäßiger Künstler +käme bei mir hoch, welche Unsummen aber flössen +den andern zu; kein Lämpchen ließe ich mir je als +ein Lumen aufschwätzen, also auch kein Talent, das +sich zum Genie aufblasen möchte. Herr Pfitzner +bewürbe sich also vergebens um eine Dirigentenstelle +an meinem Theater, und gar Herr Weingartner, +welcher die Wiener Philharmonie herunterbrachte, +wage es nicht, vor mich zu treten. Ich verarge es +heute noch der Pariser Kritik, welche ihn seinerzeit +<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> +„un jeune dieu“ genannt hat. Denn nie hatten die +Götter das Geringste mit ihm zu tun. +</p> + +<p> +Ach, und was für schöne Häuser ich erbauen, was +für Gärten ich anlegen ließe! was für prachtvolle +Katzen würden meine Marmorbrunnen entlang +schweifen! +</p> + +<p> +Doch genug über meine Herrscherzeit. +</p> + +<p> +Über Weingartner, dessen Überschätzung ich der +Pariser Presse verdenke, fällt mir die Äußerung ein, +die kürzlich ein Pariser, den ich nicht nennen werde, +einem Deutschen gegenüber, dessen Namen ich gleichfalls +unterschlage, gefällt hat: „il y a une chose, +monsieur, que nous ne vous pardonnerons jamais, +c’est de nous avoir forcés d’aimer les Belges.“ +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Den Abend bei A. H. Pax verbracht. Bei ihm kann +man sagen, was einem gerade einfällt, ohne Gefahr +zu laufen, daß es entstellt in alle Winde hinauswirbelt. +Dieser Vorkämpfer des Friedensgedankens, der mit +so feierlichem Ernst seine Stimme zu erheben weiß, +ist bei strengster Sachlichkeit der gemütlichste Mann +der Welt, in dessen Atmosphäre man sein bißchen +Humor und sein verlorenes Lachen auf Augenblicke +rettet. Gestern sprach er zwar tief entmutigt über +die vollkommene Unmöglichkeit, gegen den so geschickt +angerichteten, so eifersüchtig gehegten und +drinnen und draußen immer neu genährten Wirrwarr +<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> +in den Köpfen der allermeisten Deutschen auch +nur das geringste auszurichten. Plötzlich tauchte ein +Nachmittag in München aus dem Sommer 1916, ein +schattiger Garten, ein gedeckter Tisch, zwei Damen, +die davor saßen, vor mir auf, und wie eine phonographische +Platte spielte sich in hemmungslosem +Bayrisch ein halbvergessenes Gespräch so getreulich +in mir ab, daß ich mit einem Male alle Rollen in +einer Person herunterspielte. +</p> + +<p> +Wir brachen alle in ein schier trostloses Gelächter +aus. Waren nicht ganze Generationen mit allen +brauchbaren Argumenten des Scheins in ein Wirrsal +gelockt, dessen Dunkel den Tag derer ausmachte, die +es unterhielten, so daß sie jede anbrechende Helle +augenblicklich verscheuchten? +</p> + +<p> +Und mußten nicht fast alle Gehirne vermodern, +ohne zu erfahren, was denn eigentlich los ist? Mit +so teuflischem Geschick sind alle Ausgänge der Lügenburg +zementiert, in welcher sie sich narren ließen. +Unschuldig Betörte. War es nicht überall so? +</p> + +<p> +Unter den Tagebüchern, welche an den deutschen +Gefallenen vorgefunden wurden, erzählte neulich +Abigail von der agence, seien manche sehr schöne +zum Vorschein gekommen. „Warum veröffentlicht +Ihr diese nicht auch?“ rief ich. „Nous n’avons“ +sagte er, „qu’à nous occuper des atrocités.“ +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> +Dafür, daß ich so viele Dinge nicht verstehe, werde +ich mit den paar Gedanken, die mir im Kopfe sitzen, +viele Jahre nach meinem Tode wahrscheinlich recht +behalten, so zum Beispiel mit meiner Skepsis betreffs +der Demokratie. Aber natürlich ist es für andere +ärgerlich, das, was immer sie mich lehren, und was +immer ich lerne, gerade nur eben jene paar Überzeugungen +weiter ausbaut und nur ihnen zugute +kommt. Jede Erkenntnis geht nun einmal bei mir +auf Kosten einer ganz exemplarischen Unbegabtheit. +</p> + +<p> +Es müßte einer blind sein natürlich, um an den +Sozialismus und seine Unerläßlichkeit nicht zu +glauben. Aber in Wirklichkeit ist heute keiner sozialistischer +geworden, als er es von je gewesen ist. Es +scheint nur so. Machen wir uns nichts vor. Wir +haben uns den Sozialismus eingebrockt. Dank unserer +Verkehrtheit nur ist er die einzig richtige Parole. Er +ist kein Ziel, sondern ein Weg. Keine andere Brücke +ist stark genug, uns aus unserer baufälligen Welt +zu den neuen Ufern hinzutragen, wo die neuen Autokratien +auf ganz neuer Basis sich erheben werden. +Nur durch den Sozialismus, dieser fausse sortie aus +einer Welt der Standesunterschiede, kommen wir zu +einer neuen Welt der Standesunterschiede, der Herrenkaste +und der Knechteschar. +</p> + +<p> +Für diesen Glauben will ich mich gerne köpfen +lassen, denn geköpft, sagen die andern, werde ich +ja doch, entweder von rechts oder von links. +</p> + +<p> +<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> +Mittlerweile bin ich viel zuviel unter Menschen. +Es geschieht aus Trägheit und einer Art von Furcht. +Denn bin ich nicht zufriedener allein und so viel +weniger allein, wenn ich allein bin? Füllt sich dann +nicht die Luft mit Geistern guter und hilfreicher +Art? Und bin ich dann nicht umgeben? +</p> + +<p class="dat"> +28. FEBRUAR. Forsell als Don Juan: der Tod als +Objekt der Kunst. Forsell ruft ihn und mißt sich +mit ihm. Gewiß ist der Tod nur was wir aus ihm +machen: der größte Individualist fürwahr! Welche +Feigheit jagt mich so oft von mir selber fort zu den +Menschen hin, oder hält mich ab, mich ihnen zu +entziehen? Ist es das grauschleichende Verzagen vor +jener eisigen Verlassenheit, in die wir eingehen werden? +Hinter dem ganzen Geselligkeitstrieb der Menschen +steckt ja viel mehr Todesangst, als man glaubt. +Die einen fürchten sich vor dem Sterben, die andern +vor dem Gestorbensein; auf dieses, nicht auf jenes +gilt es, sich zu bereiten. +</p> + +<p class="dat"> +3. MÄRZ. Ich fahre nach Lausanne und gehe dann +nach Ouchy hinab, eine Bekannte aus München zu +besuchen. Beißend kalter Wind. Wir besprechen +die letzte Affäre. „Das Schreckliche ist, daß immer +alles aufkommt bei uns“, äußerte sie. So ein Pech! +Im übrigen sagte mein guter Vater immer: „In der +Politik gibt es keine Moral“; à qui la faute, wenn die +<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> +Deutschen dies für ein unabänderliches Weltgesetz +halten, so feststehend wie Tag und Nacht und die +vier Jahreszeiten? gewiß an ihrer Gedankenlosigkeit, +aber gewiß noch mehr an den Vorbildern, welche +sie haben. In der Politik gibt es keine Moral. +Sie sagen es wie: Ehre Vater und Mutter, oder: +Du sollst nicht stehlen. Ihre Fantasie liegt ja nicht +auf diesem Gebiet. +</p> + +<p class="dat"> +8. MÄRZ. Besuch des sozialistischen Reichstagsabgeordneten +W. H. Er ist gegen den Unterseebootkrieg. +Ich glaube, daß er unter dem Krieg leidet. Aber was +mich an diesen Sozialisten so furchtbar erbittert, ist +die Preisgabe des deutschen Volkes, auf das sie sich berufen, +indem sie vorgeben, diese oder jene Konzession +an die Gegner „ihm nicht zumuten zu können“. Vor +August 1914 gab es kein friedfertigeres auf der Welt: +wie die Posaune des letzten Gerichtes erscholl ihm +der Schlachtenruf; es stand auf, und von da ab glaubte +es alles. Wäre es unglücklicher und beunruhigter +gewesen, man hätte es weniger leichtgläubig gesehen. +Aber weil es sich belügen ließ, sollte es nicht auch +noch verleumdet werden. Im Januar 1917 lauerte +ich im Hause einer Bekannten dem damaligen +Staatssekretär Zimmermann auf. Er trat ein mit der +forschen Bonhomie eines Kegelklubpräsidenten, der +mir jede Schüchternheit benahm, und als ich mit +meiner Rede über die elsässische Frage zu Ende war, +<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> +nickte er ganz kulant und bemerkte; „Wir müssen +nur bedenken, was wir dem deutschen Volk zumuten +können.“ „In vier Tagen haben wir es hineingelogen, +vielleicht lügen wir es in acht Tagen wieder heraus“, +sagte ich. Er schien kein bißchen choquiert. In der +Politik gibt es ja keine Moral. +</p> + +<p class="dat"> +10. MÄRZ. Heute kam Herr v. Sch. mit der erstaunlichen +und fatalen Eröffnung zu mir, daß sein Chef +mich zu sehen wünsche. Herr v. Sch., den ich von +London her kenne, hatte sich große Mühe um meinen +Paß gegeben, und im ersten Schrecken fiel mir keine +Ausflucht ein. Ich wagte nicht, es Fortunio mitzuteilen, +der sicher dagegen gewesen wäre, sondern +spielte wieder einmal mit dem Feuer und bat Aramis +zu mir. Sollte ich wirklich über die Brücke von +Kirchenfeld, so wollte ich keine Anspielungen darauf, +sondern wünschte um so mehr, daß man es wisse, +als man es ja doch wissen würde. +</p> + +<p> +Aramis kam sofort zu mir. Wir verabreden ein +paar sehr direkte Sätze, die ich während meines bevorstehenden +Besuchs möglichst pointiert anzubringen +hätte, und daß ich nachher zu ihm kommen würde, +ihm die Wirkung jener Worte mitzuteilen. +</p> + +<p class="dat"> +11. MÄRZ. Sonntag. Das Wetter ist schön und warm. +Die Sonne lacht bis in das Auto hinein, in dem ich +neben Herrn v. Sch. Platz genommen habe. Schafwölkchen +<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> +treiben so zuversichtlich am Himmel, und +er hängt so hoch, daß ich nicht sogleich die leise +Hoffnung unterdrücke, der Besuch würde am Ende +doch nicht ganz resultatlos sein. Aber nichts von +Sonne an Herrn von Rittersporn, vielmehr der Widerschein +des sterbenden Tags. Ich hatte vor mir einen +jener persönlich uranständigen, autoritätsgläubigen +Deutschen strengster Observanz, die vor lauter Gewissenhaftigkeit +und Loyalität und Treue und Ehrenhaftigkeit +zur Vertretung der unehrenhaftesten Methoden +unverbrüchlich auf dem Posten ausharren, ein +Mann, der privatim gewiß nie eine Lüge sagte und +nur offiziell und in Gottes Namen log. Mit seltsamer +Distanzierung, als sei ich die Angehörige eines fremden +Staates, fing er das ganze Weißbuch mit einer so +deprimierenden Weitschweifigkeit an aufzusagen, daß +wirklich nur das fehlte, was es selber wegließ. Er war +bleich, müde, sichtlich schwer unter dem Kriege +leidend. Endlich wurde er fertig mit seinem récital, +und ich hatte das Wort in diesem großen, vielfenstrigen, +hellen und doch so unfrohen Salon, in dem keine +rechte Zuversicht aufkommen wollte. Zwar schien +auch ihm die französische Frage vor allen andern am +Herzen zu liegen, aber das Feuer, mit dem ich sprach, +dünkte mir selber deplaciert. Hier ist ein Stuhl, +schloß ich, faßte ihn mit beiden Händen und sprang +auf, hier ist ein Tisch: nur eins ist heute wichtig auf +der Welt: die Formel zu finden, welche es den Franzosen +<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> +ermöglicht, in diesem Stuhle Platz zu nehmen! +„Ich bin vollkommen Ihrer Ansicht“, sagte er. Und +zum ersten Male schwante mir, wie wenig er vermochte. +Auf Aramis übergehend, hob ich jetzt seine +Beziehungen, sein Geschick, seinen guten Willen +hervor, sowie die Chancen, die er als Vermittler bot. +Hier jedoch fiel ein Schatten. Ich fand keinen Anklang. +Es war die alte Kamarilla, ich merkte es wohl, vielleicht +auf indirekte Umtriebe Telramunds zurückzuführen, +aber auch Widerstände, Unsachlichkeiten. +Ich hatte Carry mit Aramis zusammengeführt, ohne +Parteinahme, weil es sich von selbst ergab, und man +mißgönnte ihm den Vorsprung. Auch Carry war voll +Ehrgeiz, aber er besaß Schwung, eine künstlerische +Ader, Sinn für Kameradschaft, Ritterlichkeit. Man +wußte, wie man mit ihm dran war. Auf seine Fehler +wie auf seine Tugenden fiel das Mittagslicht. Il ne +ment pas, hieß es auf gegnerischer Seite von ihm. +Dies besagte so viel in Tagen wie den unsern! In der +europäischen Literatur ungemein bewandert und von +regstem Geiste, besaß er zudem eine glückliche und +wohltuende Art mit Menschen umzugehen und hatte +etwas Jünglinghaftes bewahrt. Selbst ein Mischling, +war er rassenmäßig den andern lange nicht so fremd +wie seine zünftigeren Kollegen. +</p> + +<p> +Es war nahe an zwei Uhr. Vergebens mahnte man +zu Tisch. Daß die Unterredung sich so in die Länge +zog, unterstrich ihre Nutzlosigkeit nur noch mehr. +<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> +Auf dem Heimweg, in dem schneidend kalten Alpensonnenlicht +wurde es mir mit jedem Schritt bewußter. +Die Aare floß so leuchtend blau wie vor zwei Stunden, +als ich über die Brücke fuhr. Mutlosigkeit aber drückte +mich in diesem Augenblick zur Greisin nieder. Wie +eine Hundertjährige lehnte ich über das Geländer +und sah zu den Kindern hinab, die wie besessen +schrien. Dann raffte ich mich auf und rannte die +kalten Schatten der Keßlergasse entlang zu mir +hinauf. Plötzlich fühlte ich, wie verausgabt ich war, +warf mich auf den Diwan und schlief ein. Aber um +vier Uhr erwartete mich Aramis, und dies weckte +mich beizeiten. Ich strich jetzt die Lauben auf der +Sonnenseite hinauf. Oh wie deutlich ist mir der Schein, +in dem sie lagen! Wie ein tobender Schmerz, der +auf Sekunden aussetzt, riß er mich auf einen langen +Augenblick in seinen Bann, tauchte mich schonungslos +unter in sein Gold, ließ mich bewußtlos werden +wie die uralten Häuserreihen, die es durchdrang: +unempfindlich werden vor Empfindung. +</p> + +<p> +Bei Aramis herrschte an diesem Vorfrühlingstage +schon sommerliche Kühle. Eine leise Spannung lag +in seinen Zügen, und die Wärme, mit der er mich +begrüßte, kontrastierte doch recht seltsam mit dem +Empfang, der mir vor ein paar Stunden zuteil geworden +war. Was ich ihm aber zu sagen hatte, war +so verdammt unwesentlich, derart neben hinaus, daß +ich erschrak, indem ich es formulierte. Es ließ keine +<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> +Spur von Bereitwilligkeit, ihn ernst zu nehmen, verraten. +Und da es vollkommen zwecklos gewesen +wäre, ihm etwas vorzulügen, durchschaute er natürlich +die ganze rettungslose Sturigkeit, in die man +ihm gegenüber sich versteifte. +</p> + +<p class="dat"> +17. MÄRZ. Abends bei Dätwyler im kleinen Zimmer +mit Carry und Fortunio. Dieser <a id="corr-1"></a>entfaltet mir gegenüber +eine aggressive, ja feindselige Haltung größten +Stiles, die keinen Zweifel läßt, daß er von den Vorkommnissen +der letzten Tage gehört hat. Heftige, +immer heftigere Szenen auf dem Heimweg. Ich bebe +vor Zorn und sehe ihn so haßerfüllt an, daß er erschrickt. +Eine schlaflose Nacht krönt die Explosion. +</p> + +<p> +Wie ungerecht war Fortunio! Wie falsch wurde +ich hier gesehen! Im Juni wollte ich nach München +fahren und dachte heute schon an das Schlößchen +im bayrischen Vorgebirge wie an eine selige Insel. +Waltete dann Telramund noch hier — soviel stand +fest —, so kam ich nicht zurück. +</p> + +<p> +Und ich suchte Trost, indem ich an das Schlößchen +dachte, angelehnt an den ernsten Berg: an die lange +hölzerne Laube mit dem hölzernen Gartensaal; wie +von Adalbert Stifter für eine seiner Verlobungsszenen +erdichtet. Und die Freundin selbst, die immer +Werdende mit der weiten Note der Leidenschaft, +wer, kam ihr gleich? Ging, blickte, lächelte, lebte +sie ihren Tag von Jahr zu Jahr nicht Göttinnen ähnlicher? +<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> +Wer kannte sie? Wie schön und insgeheim +war unsere Freundschaft verkapselt! Wie verlor die +innere Einsamkeit so manche Schärfe zwischen uns! +Weil ich den Spiegel ihres Wesens unausgesprochen +mit mir führte und sie es wußte, war ich, die immer +Zusammenbrechende, ihr Halt. Wer vergalt mir +dies hier? — Eine Fratze sah man statt meiner. +</p> + +<p class="dat"> +18. MÄRZ. Sonntag. Fortunio in dunkelblau und +Strohhut holt mich ab, um nach Worb zu fahren. +Es hat sich auf die Feindschaft von gestern wie ein +neuer Friede zwischen uns aufgetan. Wieder liegt +das Land in jenem schonungslosen Licht des Berner +Oberlands, das, ich weiß nicht warum, in die Seele +schneidet. Aber das Wetter war so warm und +strahlend, daß man immer wieder innehielt, vor einer +ersten Blume, ein paar Schafen, einem Hause. Wir +sprechen heute in aller Ruhe über die Dinge, über +die wir gestern stritten. Ich sagte ihm, daß ich manchmal +mit der Sicherheit einer Mondsüchtigen Dachrinnen +entlanglaufen müsse; wenn sie dann herunterfällt, ist +es ganz und gar ihre Sache. — „Ich fürchte weniger, +daß Sie vom Dach als zwischen zwei Stühle fallen.“ — +„Aber das ist ja gerade mein Platz! Jeder von uns ist +heute stärker sich selbst, handelt unweigerlicher seiner +Natur nach als jemals zuvor, und ich habe es halt +immer mit dem Vermitteln gehabt.“ — Er schüttelte +den Kopf: „Es sieht nichts dabei heraus.“ Und +<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> +weil auch ich davon überzeugt bin, beteuerte ich, +sind es nur mehr Gelegenheiten, die sich mir aufdrängen, +welche ich ergreife. Niemand hätte ungerner +die Brücke passiert. +</p> + +<p> +„Ich hätte es nicht getan“, sagte Fortunio. +</p> + +<p> +„Es gibt Leute, die nicht dazu da sind, nein zu sagen. +Zugegeben,“ sagte ich, „daß es die Belangloseren sind.“ +</p> + +<p> +Wir kehrten in ein dunkles, altes Gasthaus ein, und +es gab wundervolles Brot, wundervolle Butter und +ebensolche Marmelade. Wahrscheinlich war es heute +auch in Deutschland schön, und die Menschen suchten +das Freie dort wie hier. Es sei denn, daß sie es vorzogen, +sich nicht hungrig zu laufen, da es ja in keiner +Herberge etwas Richtiges für sie gab. Besonders die +Kinder . . . so ist einem heute alles vergällt. +</p> + +<p class="dat"> +21. MÄRZ. Der Brief einer Deutsch-Amerikanerin, +die sich auf der Rückreise nach New York in Zürich +aufhielt, setzte mich in großes Erstaunen. Kinderlos, +von Haus aus eine biedere Württembergerin mit +steinschweren Augen, war sie, in Ermangelung jeglichen +Ventils für ihre natürliche Schwermut, dem +Okkultismus verfallen und ein Schreibmedium geworden. +Sonst ohne andere Interessen — selbst +während des Krieges — als ihren Mann, ihren Haushalt +und allenfalls ihre letzte Häkelarbeit, paßte dieser +vom Zaun gebrochene Brief — wir kannten uns +kaum — in keiner Weise zu ihrem Phlegma. Wie +<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> +kam sie zu meiner Adresse? — Sie schrieb mir, daß +sie mich warnen müsse. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-2-1"> +Zürich. +</h3> + +<p class="dat"> +22. MÄRZ. Der Brief der schwäbischen Amerikanerin +ließ mir keine Ruhe, und ich fuhr hierher. +Am Berner Bahnhof kaufte ich Zeitungen für unterwegs. +Sie waren alle von Berichten über Verwüstungen +der deutschen Truppen auf ihrem Rückzug aus Nordfrankreich +erfüllt: eine künstlich gestartete Agitation, +dachte ich erst, um dem, in den letzten Wochen abflauenden +Haß neue Nahrung zu geben und Öl in +das abnehmende Feuer zu gießen. Denn leise, leise +war von der Möglichkeit zu vermitteln die Rede gewesen. +Da koppelten sich denn die Interessenten des +Krieges zu neuen Präventivminen zusammen. Glich +ihnen dieses nicht auf ein Haar? Aber zu meinem +Entsetzen fand ich da jene Verwüstungen, und zwar +mit unleugbarer Genugtuung als „militärische Notwendigkeit“ +in den deutschen Blättern bestätigt. So +war jenem so aufgerissenen und gemarterten Boden +eine neue Schmach zugefügt, und ein genarrtes Volk +gehorchte als sein eigener Henker den Befehlen, die +ein Hut voll toll gewordener Idioten, „Oberste Heeresleitung“ +genannt, ihm erteilte. Diese „militärischen +Notwendigkeiten“! Oh, wieviel deutsche Landsmänner +würden ihretwillen kläglich verderben! — Ein Sturm +brach in mir los, um so heftiger nur, als er in Ohnmacht +<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> +sich entfesselte und seinem Rasen nichts im +Wege stand, als die Wurzeln meines Seins, an welchen +er riß und, wilden Regentropfen gleich, kalte Tränen +aus meinen Augen schlug. Stäupen hätte ich sie lassen +mögen, diese Herren Befehlshaber, keine Strafe wäre +mir jämmerlich genug erschienen für diese menschenunwürdigen +Köpfe, deren Nasen kurz ausliefen wie +die Schnauzen der Hunde, oh! ebenso unfähig wie +Hunde den geistigen Gang der Dinge zu spüren! Und +die erbärmlichen Blasen dieser infantilen Gehirne, +durch ein Wunder des Teufels für wirkliche Felsengebirge +gehalten, beherrschten und verrammelten +heute als „militärische Notwendigkeiten“ alle Straßen +der Welt! Nein! das war kein Leben! Es war nicht +zu ertragen! Es war mir fremd das Geschlecht, das +solche Dinge befahl und sich nicht scheute, sie auszuführen. +Und ich war betroffen! und ich war mitgefangen. +Mitgehangen war ich, ohne mitzugehen! — +Der Zug lief in die Halle ein; die Passagiere verließen +ihn. Hatte der Wahnsinn der Welt mir den +Verstand geraubt? — Ich konnte mich nicht besinnen, +weshalb ich da auf dem Zürcher Bahnhof stand. Er +war von beißendem Nebel erfüllt, und mit hochgestülpten +Kragen eilten alle dem Ausgang zu, während +ich, den Mantel am Arme, im dünnen Kleide dastand, +in unerträglicher Hitze und stürmisch bereit, +aus dieser Welt, wie sie sich drehte, davonzulaufen. +Ein Dienstmann fragte, wohin ich wollte, und ich +<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> +sagte, daß ich es nicht wisse. Uralte Instinkte der +Rachsucht und der Wildheit tobten in mir wie einst +die Peitschen des Xerxes gegen das Meer! Ha! was +wollten sie noch in der Weltgeschichte, diese verspäteten +Hanswurste in dem lächerlichen Aufzug +ihrer frisierten Helmbusche, ihrer aus gelbem Blech +gedrehten Achselrollen, den zurückgeschlagenen roten +Eselsohren ihrer Mäntel, ihren albernen Säbeln, gut +für ein Possenstück, gut für ein Schaukelpferd, ein +Ulk, bevor wir uns erniedrigten, davor zu zittern. +</p> + +<p> +Wie es zusammenhing, daß ein fliegender Zeitungsstand +die Erinnerung zurückrief, welche mir doch +gerade die Zeitungen geraubt hatten, mögen andere +erklären, ich telephonierte an Frau Eleonore Grell: +sie war zu Hause. Aber auch ihr Gatte, Onkel Sam +aus Mannheim, der flinke Geschäftsmann mit dem +schnurrigen Schnurr- und Vollbart, befand sich at +home. Er hatte sich das okkulte Getaste seiner Frau +energisch verbeten und glaubte es infolgedessen +längst unterdrückt. So trafen wir uns denn bei +Huguenin, aber sie beteuerte mir, nichts anderes +sagen zu können, als was sie mir auf ein inneres +Drängen hin geschrieben hatte. Ich ließ ihr aber +keine Ruhe und folgte ihr auf gut Glück in ihr Hotel. +Und richtig war ihr Mann inzwischen ins Freie +spaziert. +</p> + +<p> +Wir setzten uns ans Fenster, welches die Limmat +überhing. Der See, die Wolken und das ferne Bergland +<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> +leuchteten im Abendschein grüßend und verträumt +in dies hochgelegene Zimmer. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Hier schalte ich für den Leser eine Warnung ein: +die Unwirklichkeit spielt in diesem Buch so stark in +die gröbste Wirklichkeit hinein, daß ich gerade die +besten, an die ich mich doch wenden möchte, abzustoßen +befürchte. Aber ich muß mich streng an die +Begebenheiten und ihre Reihenfolge halten, und wenn +ich nicht ebenso chronologisch das große Spiel der +Schatten mit hereinbeziehe, ist dieses Buch nicht wahr. +</p> + +<p> +Sobald wird ja der Okkultismus seine besondere +Peinlichkeit gewiß nicht los. Denn für Namenloses +ziehen da Benennungen mit großem Schwalle herauf, +und geistiger Brechreiz ist die unweigerliche Folge. +Wer sich heute auf den Weg zum Nichts aufmacht, +ist jenen Steinklopfern vergleichbar, die auf ein fragliches +Echo hin die Felsenwand behämmern, und +mitten im treibenden Geröll Schutt ablagern, wo +kein Liebhaber des Schönen seinen Fuß noch setzt. +Und doch wird für ihn vielleicht die Straße hier gelegt, +die nach dem dornenumwachsenen Reiche schaut, vor +welchem Ferne, Wachstum und Allmählichkeit entstürzt. +Denn ob dein Sarg noch auf den Schultern +derer lastet, die ihn hinaustragen, oder ob deine Grabesinschrift +seit Jahr und Tag verwitterte, ist gleich. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> +Ich kehre zurück in das hochgelegene Hotelzimmer, +wo wir auf einem roten Repssofa beim Fenster saßen, +das die Limmat und den See und Ferne und Gebirge +übersah. Von Heerscharen erfüllte sich die Luft. — +Auf den Ruf welches Jagdhorns — uns Tauben nur +unhörbar — eilten sie her? — Wie durchsickertes +Gestein so schwoll die Stube an. War der Ansturm +der Schatten das Neue, was es unter der Sonne gibt? — +Aber schon war ich des einfachsten Denkens nicht +mehr fähig: alle Poren des Gesichtes sanft gebläht, +ergoß sich unaussprechliche Verlorenheit, ein hinträumen, +unbeweglich wie ein Leben lang. Das Herz +erstickte von all dem Sang und Braus. Kein Mißton +trübte den unendlichen Chor. Ein Chor sage ich. +Kein Ungebetener darin. <em class="em">Hier war die Sichtung:</em> +volles Orchester, nicht wie in unserer Mitte +unreines dazwischenfahren, grelles übertönen eines +unbefugten Soprans. <em class="em">Ausgekämpft!</em> +</p> + +<p> +Ganz versunken in den Vielen oder in mich, selbst? +— (ich unterschied es nicht) — faßte ihr wissen und +ihr begreifen das, ganze Herz. Des Mediums hatte +ich vergessen. Mir zu Liebe, es ist wahr, doch auf +sein Geheiß nur waren sie hergewallt, so <em class="em">dicht</em>! +so feierlich gedrängt! „Sieh dich vor, du kannst +nicht wissen, du bleibst allein, oh!“ . . . stammelte +die Feder. +</p> + +<p> +Wozu war ich denn hergereist, wenn nicht sie zu +vernehmen? Und nun dünkte mich dies so fremd +<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> +und kindisch, ein Bilderbuchbegriff. Gab es denn +im Scheine dieser wogenden Luft etwas wie eine +Zukunft? Führte man sie nicht mit sich wie ein +Geweih? Wuchs sie nicht an mit uns? War sie denn +nicht der eigene Hauch, der eigene emporstrebende +oder schwankende, flackernde oder in nichts zerrinnende +Schatten? Stand sie nicht als der Wald, +der aus seinen Tiefen unsern eigenen Ruf zurückhallt? +— so die Völker, so der einzelne. Was immer +ihnen glückliches oder grausames begegnet, jeden +Zufall riefen, beriefen sie herauf. Wir nennen’s +Zukunft! — +</p> + +<p> +Frau Eleonore Grell hielt mir ein Blatt entgegen, +das mit den Schriftzügen eines zehnjährigen Mädchens +überzogen war. Es besagte immer dasselbe: Im +Nu war alle Weisheit abgeworfen und die Furcht, +die mich hierher getrieben hatte, wieder da. +</p> + +<p> +Verwirre sie nicht, schrieb jetzt Eleonore, und als +sie diese Worte gelesen hatte, legte sie augenblicklich +die Feder weg. Nichts hätte sie vermocht, sie +wieder aufzunehmen. Die Sitzung war zu Ende. +</p> + +<p class="dat"> +23. MÄRZ. Ich fahre nach Bern zurück. Fortunio +kommt mir entgegen, und ich frage ihn, was von den +Berichten über die Verwüstungen zu halten sei. +„Die deutschen Communiqués geben sie ja selber zu,“ +seufzte er, „sie brüsten sich sogar.“ Wir überschritten +den Platz zum Kasino. Das Gebirge strahlte im +<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> +vollen Ornat. Wir setzten uns ins Freie und starrten, +Verbündete der Verzweiflung, ohne zu reden, vor +uns hin. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Fortunio fragte, warum ich in Zürich gewesen sei, +und ich verweigerte die Auskunft. +</p> + +<p class="dat"> +24. MÄRZ. Auch meine vier Wände sind mir verleidet. +Die Sonne scheint grell, verletzend, und +nachts faßt mich der Schlaf nur wie eine Kranke, um +mich zu erschrecken. Ein Gesicht wendet mir so +gemarterte Augen zu, daß ich erschüttert frage: „Hast +du Arme denn nicht ausgelitten?“ und fahre stöhnend +auf, weil es nur der Reflex von einem Kummer +war, den diese Augen spiegelten. Nur ein überschwängliches +Mitgefühl. +</p> + +<p class="dat"> +25. MÄRZ. Gestern abend bei Fortunio war Abigail +von der Agence, der hartnäckig am Thema der Verwüstungen +festhielt. Auf dem Heimweg wurde er +immer dringlicher. Logisch, folgerichtig wäre es, zu +den Ereignissen Stellung zu nehmen; unvereinbar mit +meiner bisherigen Haltung, wenn ich schwiege. „In +der Tat!“ rufe ich in einem Tone, der bitterer ist +als Galle. „Sie reden, als wüßte ich nicht, daß Ihr +die Dinge glaubt, die Telramund Euch von mir sagt.“ +</p> + +<p> +Doch Abigail nahm alsbald seinen Vorteil wahr: +„Sie haben es ja in der Hand, Ihre Freiheit des Handelns +<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> +zu dokumentieren!“ Je mehr er mich in die +Enge trieb, desto schwerer wurde mir zumute, hatte +er mir doch meine eigenen Gedanken verraten. +</p> + +<p> +„Es wird nicht gut.“ Und ich erzählte ihm meine +Züricher Reise. +</p> + +<p> +Er war mächtig interessiert. Ich ließ ihn trotz der +späten Stunde zu mir herauf und zeigte ihm das +Blatt Eleonorens. Es enthielt nichts, was ihm behagte. +„Die Hand eines Kindes“, sagte er wegwerfend. Ich +bereute schon, es ihm gezeigt zu haben, und wünschte +ihn die Treppe hinab, riß die Fenster auf, als er +gegangen war, und warf sie ruhlos, verlassen, gepeinigt +wieder zu. +</p> + +<p class="dat"> +25. MÄRZ. Wie in aller Welt haftete Pech meinen +zehn Fingern an? Aber ich täuschte mich ja! Es +war ein Irrtum . . . ah, es war ein Traum, so lebhaft +aber, daß ich mit beiden Händen in die Höhe +fuhr. +</p> + +<p> +Nachmittags bei der Fürstin, in der Hoffnung, ihre +nüchterne Atmosphäre würde mir Ernüchterung +bringen. +</p> + +<p> +„Et la Calicie“, sagte sie. „Ah! ils se valent bien +tous, allez!“ +</p> + +<p> +Mir wurde nicht besser, und ich ging. +</p> + +<p> +Über der Kornhausbrücke hing sehr niedrig eine +Mondsichel, so wunderbar ausgeprägt, so sprechend, +so beseelt, so festlich! +</p> + +<p class="dat"> +<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> +27. MÄRZ. Nicht nur in meinem, nein, ich darf +es sagen: mehr noch im Namen der vielen in Deutschland +(oder der wenigen, gleichviel!), welche sich nicht +äußern konnten, wollte ich gegen die neueste Kraftprobe +der Herren Militärs protestieren, und es dabei +genau so halten wie die oberste Heeresleitung, +nur umgekehrt: das heißt mit eben derselben Arroganz +über militärische Notwendigkeiten hinwegsehen, +wie sie über menschliche und moralische. Meine +Wohnung aber, meine Sachen, meine zurückgelassenen +Briefe, ein gewisses Schlößchen im bayrischen Vorgebirge, +das selbst mitten im Kriege so zauberhafte +Kreise zog, dies alles sah ich vielleicht nicht wieder. +Und, die Trennung von meinen Freunden, meine +Geborgenheit? Hier war ich so fremd! Warum aber +verhielt sich dies alles bleich, ohne Licht, unvorhanden, +ohne Resonanz, da mir doch wohl bewußt +war, daß es wieder in ganzer Kraft ausziehen würde? +Wie jene rein umrissene und sehnsuchtsvolle Mondsichel, +die gestern über der Brücke so tief am Himmel +hing und ihn beherrschte. Was weiß er noch von +ihr, sobald die Sonne brennt? So waren alle Beweggründe, +die mich zurückhielten, von einer stärkeren +Forderung entkräftet und verdrängt. +</p> + +<p class="dat"> +29. MÄRZ. Kaum war an diesem 29. März mein +Protest an das Journal de Genève abgeschickt, als +mir eines jener erprobten Warnsignale übler Vorbedeutung, +<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> +die wie mit Hellebarden mein so ganz +auf innere Stimmen angewiesenes Sein umstellt halten, +auf einem Rad, als hätte es höchste Eile, entgegensauste. +</p> + +<p class="dat"> +30. MÄRZ. Schon verschieben sich sachte wie auf +einer Wandelbühne die Kulissen: Verstummtes, Unterdrücktes +belebt sich aufs neue, findet wieder Farbe +und Gestalt. +</p> + +<p class="dat"> +31. MÄRZ. Eine Antwort. Schon! — „Die vielen +Zuschriften, der Raummangel . . . meinen Brief jedoch +gedächte man zu bringen.“ Es steht nichts +von einem Termin. Aber ins Ungewisse ertrage +ich diesen Zwiespalt nicht. Morgen fahre ich nach +Genf zu Romain Rolland. +</p> + +<p class="dat"> +1. APRIL. Sonntag. Unter strömendem Regen bin +ich nach Champel gefahren. Rolland wußte schon, +warum ich kam. Er war zufällig auf der Redaktion +gewesen, als mein Brief dort eintraf, hatte ihn +gelesen und war unbedingt für dessen Veröffentlichung. +</p> + +<p> +Ich sprach dann beim Journal de Genève vor und +erwirkte, daß der Protest am übernächsten Tage +erscheinen würde. Somit war die Sache erledigt, +und ich ging. +</p> + +<p> +Das Wetter hatte plötzlich umgeschlagen. Es wehte +eine schneidende Luft, aber See und Himmel strahlten +<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> +in frühlinghafter Bläue. In mir derselbe jähe Szeneriewechsel. +</p> + +<p> +Ein erstickend schwerer Vorhang riß magisch in +die Höhe. Nicht der Salève, der sich hier an allen +Straßenecken türmte, sondern die bayrischen Berge +in ihrem seelenvollen Dunst und ihre Waldungen +verstellten mir den Weg, und die betrübten und +bestürzten Mienen meiner zurückgelassenen Freunde. +Es war die Trennung von ihnen, das Exil. Drüben +im Vorgebirge das Schlößchen, das wie eine selige +Insel auf dem dunkeln Meer dieser Zeiten träumte, +die schöne und musenhafte Freundin, die mich dort +erwartete, die dort verbrachten Herbst- und Sommerwochen. +</p> + +<p> +Tausend Erinnerungen setzten sich wie Trauerglocken +in Bewegung. Oh teuer erkaufte Ruh! +</p> + +<p class="dat"> +4. APRIL. Bern. Abigail besucht mich; sehr gespannt. +Ich sage ihm, wie Rolland, den er immer +anschwärzt, sich verhielt. +</p> + +<p class="dat"> +5. APRIL. Der Protest ist heute erschienen. Ich kaufe +das Blatt, ohne den Mut zu finden, es zu entfalten. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Ich übergehe die nächsten Tage. Diese Aufzeichnungen +sind ja nicht verfaßt, um Gemütsbewegungen +zu schildern. Ganz andere Zwecke verfolgt dieses +<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> +Buch. Auch ist die Zeit nicht mehr, und man wird +härter. Nur im Hinblick einer Einsicht, einer Erkenntnis, +wo Erfahrungen mit immer verstärkter +Deutlichkeit den Charakter des Lebens kennzeichnen +und Kommentare stellen zum Schicksal überhaupt, +dürfen wir dabei verweilen. Kein größerer Wahn +als der, zu glauben, man kenne das Leben, um es +ausgekostet, sich mit allen seinen Genüssen, Schrecknissen +und Abenteuern vertraut gemacht, viele Männer +oder Frauen gekannt oder geliebt zu haben. Es starb +so mancher ahnungslos dahin, welcher die ganze +Welt bereiste. Auch nicht wer Gefahren überstand, +nein, sondern wer die Gefährlichkeit des Daseins, +dessen Gefährdetheit durchschaute, die wie ein +giftiger Trank sich unablässig bereitet und immer +die Hefe zurückläßt, um sich neu zu mischen, nur +wessen Auge geschärft wurde für die Schatten, die +im Tageslicht aufpassen, nur der weiß über diese +Welt Bescheid, und in ihm lebt das Bewußtsein — +bitter wie die Aloe —, daß er umsonst gelebt hat, +wenn die Schule, durch die er ging, anderen nicht +zur Lehre dienen wird. +</p> + +<p> +Das erste war übrigens, daß mich die Fürstin ans +Telephon rief: „C’est désastreux! quelle folie!“ sagte +sie unverblümt; und als ich sie besuchte: „Je dis +ce que je pense, mais est-ce que j’écris, moi? — Pas +si bête!“ empfing sie mich und kochte mir mit heftigen +Bewegungen Kaffee. +</p> + +<p> +<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> +Dann aber kam Besuch: eine offiziöse Engländerin, +deren Mann mit atrocités allemandes einen schwunghaften +Handel trieb, und ein russischer Diplomat von +professioneller Verlogenheit, die mir Komplimente +machten und mich einluden. Wie schwül mir da +wurde! Nein, so war es nicht gemeint, und ich gehörte +nicht hierher! Nicht hierher und nicht dorthin. Bevor +die Fürstin mich mit einer ihrer Brüskerien zurückhalten +konnte, war ich ausgerissen und die Treppe +hinabgeeilt. +</p> + +<p> +Fortunio, der mir auf der Straße begegnete, nahm +dieses typische Palaceerlebnis von der komischen Seite +und lachte. Wir saßen zusammen, als Telramund +im biederen Pelzrock, an seiner Rechten die Menschenfresserin +von Hokusai, mit jener so charakteristischen +Verleumderwärme, die unbedingt etwas anderes scheinen +möchte, auf uns zueilte. Seine Hand weit entgegenstreckend, +brachte er mir rückhaltlose Schmeicheleien +zu herzhaftestem Ausdruck. Fortunio, +welcher fühlte, wie bitter sie mir mundeten, lenkte +das Gespräch auf andere Dinge. +</p> + +<p class="dat"> +13. APRIL. Den Abend mit Fortunio und Abigail +verbracht. Wir sprachen von Träumen. Abigails +sehr spekulatives Gehirn kann sich in so feinen Windungen +verlieren, daß es sich beizeiten von seiner +höchst stofflichen Person vollkommen losgelöst darstellt. +Plötzlich, mitten in einem Satz, den er sagte, +<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> +lebte ein geradezu abscheulicher Traum der vergangenen +Nacht in mir auf, und schon begriff ich +nicht mehr, daß ich mich jetzt erst auf ihn besann, +unterbrach aber sofort das Gespräch, um ihn zu +erzählen. — „Achtung!“ rief ich, „so etwas Widerliches +habt Ihr noch nicht gehört: +</p> + +<p> +Ein Mann, von dessen schwarzem, fettem, unbeschreiblich +schmutzigem Haare dichte graue Schuppen +auf seinen Anzug regneten, war dicht an meine +Seite getreten. Dabei zog er mit einem Kamm durch +diese Strähne von nie dagewesener Schmierigkeit, so +daß der graue Regen immer dichter fiel. Ich rückte +unwillkürlich von ihm weg, da fuhr er weitausholend +mit diesem treibenden Kamm in mein eigenes Haar, +ich fühlte ihn noch darin stecken und erwachte vor +Ekel.“ +</p> + +<p> +Fortunio schwieg. Auch der zu Kommentaren +schnell bereite Abigail äußerte sich mit keinem +Ton. +</p> + +<p> +„Es steht mir natürlich etwas höchst Widerwärtiges +bevor!“ nahm ich selber auf. Auch diese Bemerkung +weckte kein Echo. — Man ging auf konkrete +Dinge über. Es wurde spät. Fortunio erwähnte das +neue Blatt, welches Telramund schon in den nächsten +Tagen zu starten gedachte und wie jemand, der sich +ungern etwas zu sagen entschließt: „Er, beabsichtigt +übrigens, eine Übersetzung Ihres Protestes in seiner +ersten Nummer abzudrucken.“ +</p> + +<p> +<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> +„Was fällt ihm ein!“ rief ich. „Das kann er nicht.“ +</p> + +<p> +„Er kann es schon“, sagte Fortunio. +</p> + +<p> +„Die Friedenswarte bringt sie.“ +</p> + +<p> +„Er will ihr zuvorkommen.“ +</p> + +<p> +„Ungefragt? Ohne sie nur zu zeigen?“ fuhr ich +im lichterlohen Zorne auf. „Sie sind Zeuge, daß er +mir nichts von einer solchen Absicht verriet, als er vorgestern +zu uns stieß. Ich figuriere nicht in diesem Blatt.“ +</p> + +<p> +„Fassen Sie sich doch!“ sagte Fortunio. +</p> + +<p> +„Nein, ich fasse mich nicht. Oh Fortunio!“ rief +ich, „oh mein Traum!“ +</p> + +<p> +„Schreiben Sie ihm halt.“ +</p> + +<p> +Ich ließ sofort das Nötige herbeischaffen und schrieb +zitternd vor Aufregung, was er mir diktierte. Dann +brachen wir auf. Der gänzlich verstummte Abigail +blieb an unserer Seite. „Die Gefahr ist natürlich,“ +bemerkte Fortunio, „daß der Brief zu spät eintrifft.“ +</p> + +<p> +Dies sagte genug. Er wußte mehr. Meine Empörung, +meine Wut steigerte sich mit jeder Sekunde. +Je ungezügelter ich mich über den Charakter des +bevorstehenden Blattes ausließ, desto reservierter +wurde Fortunio. Je mehr ich sah, daß er sich ärgerte, +desto mehr ärgerte ich mich über seinen Ärger. Der +meine richtete sich besonders gegen Abigail, dessen +Schweigen mir mißfiel. Nicht das Ungestüm, mit +welchem ich auf den mir zugedachten Schlag reagierte, +sondern die ausgemachte Tücke desselben schien mir +das wesentliche, was unbedingt eine Parteinahme für +<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a> +mich verlangte. Auf eine solche ließ jedoch nichts +in der, all die letzten Tage so überschwänglich gewesenen +Haltung Abigails schließen. +</p> + +<p> +Oben in meinen sorgfältig geschmückten, aber von +Telramund behexten Räumen, in welchen ich noch +nicht eine einzige frohe Stunde verlebt hatte, noch +fernerhin erfahren würde, brach ich in helle Flammen +der Verzweiflung aus. Dies also war das Resultat! +Zu diesem Ende also hatte ich die Worte, zu welchen +ich glaubte, mich entschließen zu müssen, so bang +gewogen, so behorcht. War ich dafür bis an die +äußerste Kante einer abschüssigen Stelle vorgetreten, +so weit, als mein Fuß noch Boden unter sich fassen +konnte, um hinterrücks diesen Stoß zu erhalten? +Denn was für eine Übersetzung und zu welchem +Zwecke sie fabriziert wurde, wußte ich genau. Am +Arme Telramunds, dieses Verräters, sollte ich an die +Öffentlichkeit. Ich hatte mich, es ist wahr, vom +Anfang des Krieges an zur Opposition geschlagen. +Aber sie galt seinen Anstiftern und deren verworfener +Gefolgschaft. Das Volk selbst tat mir unabänderlich +leid. In meiner, von kalten Wirbelwinden der Abneigung +durchsackten und durchkreuzten, aber dabei +tiefen Liebe zu Deutschland, lag das Band zwischen +Fortunio und mir. Oft sprachen wir davon. Und +dünkten uns allein. Gerade unsere gallische Seite +setzte uns ja auf Grund unserer Abgerücktheit in +Besitz des Spiegels, den die unvermischt Deutschen +<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> +nicht führen. Ihr Nationalismus ist ja Import, ihr +Fremdenhaß unecht, imitiert, immer bereit, wie +Mörtel von ihnen abzufallen. Im übrigen ist die +Gefahr derjenigen Deutschen, welche Selbstkritik +üben, viel eher, daß sie erstarren. Wenn es kein +französisches Wort für „Gemüt“ gibt, so gibt es +noch weniger ein deutsches Wort für „affectueux“. +Die Deutschen — und das ist es, was einem oft an +ihnen erbarmt — sind nicht imstande, sich im geringsten +zu hegen. Weil jede Nation seine so typischen +Unholde hat, war Telramund, allen deutschen Germanophoben +voran, gerade in dieser Germanophobie +ein so typischer Boche. Jedenfalls durfte der Mann +von Glück reden, daß sein und seiner Gesponsin +Leben an diesem Abend nicht in meine Hand gegeben +war. Statt dessen war es <em class="em">ihr</em> Trick natürlich, welcher +aufs beste gelingen mußte, und weit entfernt, daß die +beiden verdienterweise und auf meine Order hin vor +Sonnenaufgang baumelten, haftete meinem Frühstückstablett +am Morgen dieses 14. April die erste +Nummer der Telramundschen Zeitung an. Sie umfaßte +vier Seiten. Alle Beiträge waren anonym. Nur +mein fettgedruckter, im Reporterdeutsch übertragener +Protest trug meinen Namen. Ich übergehe den Zorn, +mit dem ich diese wüste Revolverprosa las, welche +hier als meine eigene stand; wie vortrefflich war dabei +ihre Wirkung auf mich selber berechnet! Denn die +Feindschaft von Leuten wie Telramund ist wie mit +<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> +tausend Augen auf uns gerichtet, mit tausend Fühlern +in uns verbissen. Sie kennen ja die Ablenkung ins +Reich der Ideen nicht! Sie spinnen keine eigenen +Gedanken! Ich Törin hatte, wie über einen Witz, +lustig darüber aufgelacht, daß Telramund meinen +Protest als eine „Manoeuvre allemande“ bezeichnet +hatte, ohne zu erwägen, daß er natürlich auf Mittel +und Wege sinnen würde, dies zu bekräftigen. So +galt es denn, mich gewaltsam über die Linie zu ziehen, +die ich mir selbst gesteckt hatte. Dies ergab sich ohne +weiteres durch den gehässigen Ton der Übersetzung. +Das andere würde ich schon selber besorgen; denn +daß ich reagieren, ja mich hinreißen lassen und ihm +in die Hände arbeiten würde, wußte niemand so gut +wie dieser ausgezeichnete Kenner meiner Person. Ja, +es kam noch besser für ihn, als er wohl dachte. +</p> + +<p> +Fortunio, den ich sofort benachrichtigte, ließ mir +sagen, er könne mich erst gegen zwölf Uhr sehen. Dies +war mir viel zu spät. Gleich, in einer Viertelstunde, +bevor noch irgend jemand auf die Gasse trat, mußte +meines Erachtens etwas geschehen. Wahn! überall +Wahn! In der Redaktion des Bundes bestand ich +darauf, daß meine Verwahrung sofort in der nächsten +Nummer stehen müsse. Es wurde mir versprochen. +Immer noch war es Morgen. Rückte denn heute die +Zeit nicht vor? Alle Hauptstraßen meidend, kam +ich im Sturmtempo zu Fortunio, ihm das fait accompli +mitzuteilen. +</p> + +<p> +<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> +Wenn es wahr ist, daß kein Sperling versehentlich +vom Dache fällt, nun dann steht gewiß auch ein +jeder unserer Tage unter einer bestimmten Konstellation, +und mein Unstern feierte gerade seinen +Mittag. Fortunia, die auf der Treppe stand, empfing +mich mit einem unglücklich gewählten Wort. +Schließlich war es ihr Haus, ich konnte sie nicht +niederstoßen. An ihr vorbei, geradeswegs in Fortunios +Arbeitszimmer, der die Mitteilung von meiner +zu erscheinenden Notiz mit einer Kälte aufnahm, die +mich unsagbar erbitterte. Hier bin ich fehl am Ort, +dachte ich, und nahm eilends Abschied. Auf der +Straße war es kalt. Ich sah mich um: sie war leer. +„Ich bin verraten“, sagte ich laut. Ich hatte nur ein +paar Schritte bis zum Haus, in dem ich wohnte. Die +Hand vor den Augen haltend, als sei mir etwas hineingeflogen, +eilte ich die Treppe hinauf und schloß +mich ein. +</p> + +<p class="dat"> +15. APRIL. Telramund (immer anonym natürlich) +veröffentlicht eine hämische Erwiderung auf die +meinige. Meinen französischen Text und seine +Übertragung würde die nächste Nummer seiner Zeitung +zusammen abdrucken. Der Leser möge sich +dann selbst ein Urteil über mich bilden. Ich sofort +wie eine Windsbraut, auf Flügeln des Zorns, in die +Redaktion mit einer „Schlußerklärung“. Auch diese +wollte ich sofort eingerückt sehen. +</p> + +<p> +<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> +Daraufhin vertiefte sich das Waldesschweigen um +mich her. Fortunio war ohne ein Wort nach Lugano +abgereist. Ich begriff es nicht. In meiner Unkenntnis +alles dessen, was mit Partei- oder Presseinteressen +zusammenhing, wollte mir ein Überblick der besonderen +Situation nicht gelingen. Ein paar Dinge +sah und erkannte ich mit unbeeinflußbarer Sicherheit, +gleichsam durch ein Brennglas, mußte aber jede +Einsicht mit einer Unzulänglichkeit überzahlen, jedes +Überbieten mit einem Versagen. Wer mich für +dumm erklärte, dem hatte ich von jeher meinen Segen +gegeben. Es will keine Geographie in meinen Kopf; +vergebens starre ich auf einen Globus; ein Morseapparat +bleibt mir ein unergründliches Geheimnis; +in scheuer Bewunderung starre ich während einer +Panne auf die Mechanikerkünste des Chauffeurs, +und so teilnahmslos ist gewiß kein Mensch, daß er, +ohne mir beizustehen, zusehen könnte, wie ich meine +Koffer packe. Durch Vorzüge, wie durch Mängel +isoliert, muß ich mich selber auf mich nehmen wie +ein Kreuz. Es kann geschehen, daß ich vom +Blatt begleite auf eine Weise, die jeden Musiker +empfinden läßt, welche Entbehrung es für mich +ist, ohne Musik zu leben, und mir selbst wird zumute +gewesen sein wie einem plötzlich freigelassenen Pferd, +das über eine Ebene voll Sonnenlicht und Schatten +fliegt. Nichts kommt seinem Rausche gleich. Von +solchen Augenblicken wahren Lebens erwache ich +<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> +zum Tode des Alltags wie ein Gefangener aus seinem +Freiheitstraum. Gerade nach solchen seelischen +Abenteuern aber wird es am leichtesten vorkommen, +daß ich mit einer aufgeregten Hilflosigkeit, viel eher +eines Dorftrottels, als meiner würdig, nach meinen +vergessenen oder verirrten Habseligkeiten suche, und +keiner der Musiker von vorhin würde mich wiedererkennen. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +21. APRIL. Besuch Abigails. Oh nichts von Komplimenten +mehr! Nichts mehr von „femme exquise“. +Wir prasselten uns Vorwürfe, groß wie Taubeneier, +ins Gesicht. Meine Schlußerklärung sei eine Abschwächung +gewesen. Ob dies der Moment wäre, +zu sagen, daß es Boches in jedem Lande gäbe. +</p> + +<p> +Es sei die Wahrheit. +</p> + +<p> +In der Tat hätte ich die richtige Gelegenheit ergriffen, +dies zu äußern. +</p> + +<p> +„Ihr habt ja meinen Protest als eine manoeuvre +allemande angesehen.“ +</p> + +<p> +„Cest donc une vengeance“, sagte er, indem er +sich zum Gehen anschickte. Ich eilte zur Tür, und, +vor ihr aufgepflanzt, gedachte ich das letzte Wort zu +haben, als mir plötzlich ein Licht aufging, auch Fortunios +wortlose Abreise mir erklärte. „Sie haben das +Wort ‚Abschwächung‘ gebraucht“, sagte ich, „und +werden dieses Zimmer nicht verlassen, bevor Sie mir +<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a> +selbst, geholfen haben, einen Nachsatz aufzusetzen, +der jede Möglichkeit einer solchen Auffassung ausschließt. +Alles andere ist mir im Augenblick egal.“ +</p> + +<p> +Mein Entschluß einer neuen Bekräftigung konnte +ihm nur erwünscht sein. Es setzte ihn in den Stand, +zum zweiten Male Heu einzufahren, nachdem das +erste verregnet war. Zum dritten Male schlug ich nun +den Weg in die Redaktion des „Bundes“ ein. Nicht +mit Unrecht wurde ich aber dort darauf hingewiesen, +daß sich eine Schlußerklärung mit keinen neuen +Erklärungen vertrüge. Ich führte mit aller Vehemenz +dagegen aus, sie sei für mich Ehrensache, und setzte +endlich ihre Veröffentlichung durch. Natürlich mußte +sie wieder auf der Stelle her. +</p> + +<p> +Daß hiermit ein Loch an Stelle eines Fleckens +trat, war mir zwar klar. Und nach der deutschen +Seite hin verschlechterte sich natürlich meine Situation, +war eine Herausforderung mehr. Doch auch die formvollendetste +Blamage durfte ich in diesem Augenblick +riskieren, nur nicht, daß behauptet werden +durfte, ich liefe vor meinem eigenen Mute davon. +Ich war froh, daß jetzt um mich her eine solche Leere +bestand, und niemand in Sicht, der mir einen Rat +erteilen konnte. Denn der Fall lag allzu klar. Hier +war es nicht le ridicule qui tuait. +</p> + +<p class="dat"> +23. APRIL. An der Schnelligkeit jedoch, mit welcher +jetzt meine Stimmung umschlug, merkte ich den +<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> +Stoß, den mein Gleichgewicht erfahren hatte: meine +Gemütsverfassung war eins mit dem herrschenden +Wetter: Regen, Finsternis, zerrissenes Gewölke, Himmelsblau, +Sonne und wieder Sturm und Schnee. +Kurz entschlossen löste ich eine Karte, um einer +Aufforderung A. H. Paxens nach Lugano zu folgen. +</p> + +<p> +Abigail, der sich nachmittags bei mir meldete, war +sichtlich erfreut über die inzwischen schon erschienene +Notiz. Aber ich hatte jetzt reichlich genug von der +leidigen Geschichte, deren dickes Ende ja noch +bevorstand, denn bis jetzt hatte noch kein deutsches +Blatt auf meinen Vorstoß reagiert. +</p> + +<p class="dat"> +23. APRIL. In Luzern unterbreche ich meine Fahrt +und steige im Hotel Tivoli ab, bei Glasenfrosts. +</p> + +<p> +Warum aber fallen nachts Felsenblöcke über mich +hin? Warum sehe ich einen Baum an einem unsichtbaren +und doch so verzehrenden Feuer verbrennen, +daß er im Nu nur ein Gerippe ist von einem Baum? +Ohne Flamme und ohne, daß ein Blitz ihn traf, nur +ein gespaltener Stamm? +</p> + +<p> +Warum stürzt von zwei Leuchtern der eine mit +herabgebrannter, erloschener und tränender Kerze zu +Boden? Eine trübe Bildersprache, die ich in diesem +Jahre noch nicht entziffern sollte. +</p> + +<p> +Um Mittag fahre ich weiter. Jenseits des Gotthard +gerät der Himmel ins Lachen. Er findet offenbar +die Welt noch schön. Tröstlich prangende Blütenhänge +<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> +und endlich, tief unten, das hingezauberte +Blau des Sees, einem verliebten Abendhimmel hingegeben. +Und die Bäume stehen hier wie sanfte, +begütigende Bräute. +</p> + +<p> +Der Weg nach Paradiso ist holperig genug, auf den +Bergen oben leuchten feurige Spieldosen auf. Die +Natur ist ein Zwischenakt mit Verwandlungsmusik, +und die Nachtluft wird von Amoretten hingetragen. +Oh Plansee im bayrischen Gebirg! Du See auf dem +Plan, so hoch oben im Wind! Warum schwebst du, +Verwunschener, mir vor? Vor mir liegt lächelnde +Erfüllung. Du aber bist unbegrenzte Sehnsucht und +Verweigerung. +</p> + +<p> +Ein nachgesandter Brief von ihr, die von jenen +Bergen spricht, hatte mich in Luzern ereilt. „Bald +kommt der Sommer, schreibt sie, rücken wir ihm +vor. Der Flügel wird schon in der Halle aufgestellt, +die Schwalben fliegen gewiß schon ein und aus.“ +</p> + +<p> +Die Droschke rollt jetzt auf glatter Fähre den See +entlang. +</p> + +<p class="dat"> +25. APRIL. Fortunio, welcher von meiner Ankunft +bei Paxens erfahren hatte, kommt, verfehlt mich, +telephoniert und bittet mich zum Tee. +</p> + +<p> +Ha! denke ich, diesen Tee soll er sich merken +bis in sein achtzigstes Jahr. Mit vielem Bedacht +staffiere ich mich zu diesem Wiedersehen heraus, um +die Meinung, die ich mir von seinen Ritterdiensten +<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> +gemacht habe, möglichst wirkungsvoll zu unterstreichen. +</p> + +<p> +Wie dem auch sei, ich trug an diesem Tage ein, +wenn auch nicht neues, so doch neu beschlagenes +Kleid mit halblangen, weit auslaufenden Ärmeln. +Weiße Besätze, federleicht und schwarz besäumt, +schlossen sie am Ellbogen in zwei Reihen ab. Zwischen +ihnen lag wieder eine Spanne Stoffes, den sie +ein wenig heruntergezogen, denn so dünn ihr Gewebe +war, durch ihre Fülle beschwerten sie ihn doch. +Beim Gehen glockten sie ganz leise ab und zu und +hingen dann still, bevor sie sich von neuem bewegten. +Es war in der Tat ein sehr rhythmisches und geglücktes +Ärmelpaar. Vor allen Dingen aber — andere +mögen dies gewiß auch schon beobachtet haben — +können wir von einer „geistigen Schminke“ angeflogen +werden, chimärisch wie jene, welche die Kosmetiker +bereiten — denn auch sie, wenn sie von uns +fällt, läßt uns fahler, aufgeriebener als zuvor. — +Indes gewährte ich den ausgestandenen Nöten der +vergangenen Tage ihr beredtes Schattenspiel, ja ein +selbstbewußter Schleier chiffrierte noch ein übriges +dazu. Also gepanzert, höchst intangibel und durchaus +bestechend ging ich, die ihm zugedachte Szene +wohl im Kopf, gewandten Schrittes, als hätte +ich soeben meine besten Erfolge hinter mir, auf +ihn zu. +</p> + +<p> +Es gehört jedoch irgendwie mit zum Leben, daß +<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> +im geringfügigen, wie im großen die Dinge anders +verlaufen, als man sie erwartete. +</p> + +<p> +Zwar in der Tat eilte da Fortunio wie mit neubeschwingter +Freundschaft mir entgegen. +</p> + +<p> +Seine Sympathie, erklärte er dabei, hätte nun +wirklich die Feuerprobe bestanden. +</p> + +<p> +„Wie meinen?“ +</p> + +<p> +Da nicht einmal die desaströse Erklärerei im +„Bunde“ vermocht hätte, daran zu rütteln. „Sie +kennen die letzte nicht“, erwiderte ich mit der +erkünstelten und flackernden Würde einer Überrumpelten. +</p> + +<p> +„Was!?“ schrie er entsetzt und fuhr mit den +Armen in die Luft. „Noch eine?!“ Unglücklicherweise +mußte ich lachen, und da mir dies seit drei +Wochen nicht mehr vorgekommen war, hielt ich +nicht sogleich inne, sondern geriet ins lachen, wie +einer ins laufen gerät, und ehe Fortunios Arme sich +wieder gesenkt hatten, war er angesteckt. Es gab +kein Aufhalten mehr. Lachraketen stiegen jetzt in +die verblaute Luft, in einer vor Wonne irrsinnigen +Natur. Wäre ich zehnmal bedrückter noch gewesen, +ich hätte gelacht. +</p> + +<p> +Bald fingen denn auch die Berge wieder an, ihre +funkelnden Spieldosen aufzuziehen. Nicht einmal +nachts wollte diese Landschaft zum Ernste gelangen; +des Krieges selber schien sie zu spotten. Wer hatte +denn recht, wenn nicht die Bäume hier am Strand +<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> +des Sees, die ihre Düfte einander zuhauchten und +vertauschten, und wenn sie welkten, wieder erblühten, +und wenn sie verdorrten, andere dafür erwuchsen. +Es war mir ein Schlag ins Wasser geglückt. Und +was dann? +</p> + +<p> +Ich zog Fortunio mit in den Kursaal, sah den +Dämchen zu, wie sie tanzten, gewann sechs Franken +und verlor deren zwölf. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Und nunmehr ging ein Tag blitzender als wie der +andere auf, und wie in einer leuchtenden Schale der +Vergessenheit zerfloß der See. Vergiß! Vergiß! +</p> + +<p> +Es hinderte nicht, daß ich Fortunio bei Gelegenheit +das alte Leitmotiv vernehmen ließ, solange Telramunds +im Hintergrunde säßen, sei jede Aktion, jeder +Versuch, dem Haß entgegenzuwirken, im vornherein +eine gescheiterte Sache. Er ist für das „abwirtschaftenlassen“ +solcher Elemente, und ich nicht. Denn bis +sie abgewirtschaftet haben, ist ja zuviel verdorben, +aufgehalten, zugrunde gerichtet. Fortunio, in vielen +Dingen weit beschlagener als ich, sieht nicht, wo ich +erfahrener bin als er. Gewiß sind ihm die Götter +hold. Taucht er unter, so fischt er gleich etwas Schönes, +hält’s gegen das Licht, freut sich des Prismas und +läßt sich von den Wellen schaukeln. +</p> + +<p> +Die paar Meinungen dagegen, die mir unverrückbar +im Kopfe horsten, muß ich zu Markte tragen, +<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> +und habe keine Ruhe. Muße bleibt Müßiggang für +mich, solange ich sie nicht formulierte. Und die +Aufgabe ist doch so schwer, daß ich vor jedem Anlauf +von neuem zögere. Bis mein Tagewerk gelingt, +sofern es mir gelingt, wird der Abend für mich herangebrochen +und meine Gastrolle in dieser zweifelhaften +Welt ausgespielt sein. Sollten meine Bücher +mich überleben und ich selber wiederkommen, so +lese ich sie vielleicht, und vielleicht wird mir dabei +etwas sonderbar zumute. Ein Dirigent möchte ich +dann werden. Regieren möchte ich! +</p> + +<p> +Die erste Katze möchte ich sein, die keine Vögel +mordet. Ich bin in diese beiden Tiere vernarrt und +wünschte, sie schlössen Frieden. +</p> + +<p> +Um auf Fortunio zurückzukommen: darüber sei +man sich vollkommen einig, sagte er, wie Telramunds +Verfahren mir gegenüber zu qualifizieren sei. +</p> + +<p> +Warum ergriff denn keiner meine Partei? +</p> + +<p> +Er zuckte die Achseln, wie jemand, der es aufgibt, +etwas zu erklären. Gerade dieses Achselzucken aber +gab mir endlich voll und ganz zu verstehen, mit welch +unsäglich trübem Wasser in Politicis gekocht wurde; +so zwar, als müßte es so sein. Diese Notwendigkeit +war es gerade, die ich mich anzuerkennen weigerte. +</p> + +<p> +Ich kann gar nicht aussprechen, wie grausam mich +der Plan von einem „Zusammenschluß der Geistigen“ +anlächert . . . Wie sollte ein Zusammenschluß der Geistigen +zustande kommen, da noch ganz und gar kein +<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> +Zusammenschluß gegen die Ungeistigen besteht? Ach, +kennt ihr Geistigen die Welt noch immer nicht? +Was redet ihr groß von eurem Zusammenschluß? +Sprecht von Aufgebot, von einem Kampfesruf gegen +den Zusammenschluß jener, denen alle Waffen zu +Gebote stehen, welche die Gemeinheit führt, dem +einzigen Zusammenschluß, der sich bisher verwirklichte, +denn dort gebietet der Verworfene über den +Verworfeneren, und der Verworfenste ist es, der das +Zepter schwingt. +</p> + +<p> +Sprecht von Ausschluß, sprecht von Sorge. Davon +sprecht, daß es keine gute Sache geben kann, solange +schlechte Elemente sich zu ihr bekennen dürfen, um +sie zu untergraben, ist doch an ihrer eigenen nichts +mehr zu verderben. Zum Zerstören aber sind sie da. +</p> + +<p> +Gelänge es mir, auf diese noch immer nicht genügend +beachtete Beschaffenheit der Dinge die Aufmerksamkeit +zu lenken, ich hätte nicht umsonst gelebt. Ich +weiß ja, wie sehr mein Scharfblick auf Kosten von +Kurzsichtigkeiten geht. Welche Pein ist das! Ich +stürme nicht voran, ohne über das Nächstliegende zu +stolpern. Von ausgemachter Selbstherrlichkeit, wo +ich meiner Sache sicher bin, unheilbar blöde, unheimlich +schlau, so harmlos, daß man kichert, so +gerissen, daß man mir mißtraut . . . +</p> + +<p class="dat"> +27. APRIL. Ein Berliner Kriegsgewinnler, den Paxens +von Wien her kennen, meldete sich bei ihnen zu +<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> +Besuch. Der erste, dem ich mit Bewußtsein begegne. +Nie habe man bei Hiller so gut gegessen, nie bei +Borchard soviel Champagner getrunken. Die Welt +habe jetzt die deutsche Faust kennenzulernen. Was +Ludendorff befahl, sei <em class="em">unbesehen</em> das Richtige, +und keine Kritik gestattet; (das galt mir!) Gott, wie +gemütlich man hier beisammen säße, während die +Völker einander schlachteten. (Dies sagte er, wie +man am warmen Kamin vom Schneesturm spricht, +der draußen wütet.) Allen könne es nicht gut gehen, +bemerkte er auch. „Schweigen Sie“, rief Frau +A. H. Pax. Er guckte etwas verdutzt. „Das ist ja +schrecklich mit unserer Valuta“, lenkte er dann ein. +„Und mit der geistigen erst!“ fuhr A. H. Pax dazwischen. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-2-2"> +Kunstwerk der Zukunft. +</h3> + +<p class="dat"> +28. APRIL. Heute früh bin ich in einer Messe gewesen. +Aber welche Messe! In einem sehr alten, +dem See gegenüberliegenden und köstlichen Bau: +Traumhafte Fresken, das übrige mit roten, langverjährten, +rosagewordenen Damasten ausgeschlagen. +So gut wie leer. Die Schellen, die der Ministrant in +Bewegung setzt, erklingen abgetönt und sind gewiß +aus Silber, Weihrauchwolken steigen vom Altar. +Dunkel — nein nicht dunkel, von einer lichten +Penombra wie eine bedeckte Vollmondnacht, ohne +Orgel und Gesang, und dennoch brausend, unendlich +<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> +groß, ja wie zum Firmament — (wie wurde +mir?) weitete sich das stille und verlassene Haus +und schwamm im All. +</p> + +<p> +Endlich wieder eine schöne Kirche. Die in Bern +hatte ich aufgeben müssen, denn so war die Messe +wirklich nicht gemeint. Als ich aber jetzt durch die +schwerbehangene Türe ins Freie trat, auf den noch +leeren Platz und den besonnten Strand, wo die Platanen +ihre eben erschlossenen Kronen so bräutlich +dem Licht entgegenhielten, da schien dies alles, diese +Natur mit den dekorativ vor und wieder zurücktretenden +Wänden ihrer Berge und das gekräuselte, +wie in sich selbst verliebt hinziehende Gewässer, selbst +der Himmel, der darüber hing, schien nicht so weit +wie der eben verlassene, leicht zu umspannende Bau +mit den damastenen Wänden von verblaßtem Rot. +</p> + +<p class="dat"> +2. MAI. Die Pforte, die ins Weglose führt, wurde +bisher nur im Vorübergehen angekreidet. Ziemt es +sich doch nicht, es zu beschreiten. — +</p> + +<p> +Diejenigen aber, welche solange über die Schiffbarmachung +der Luft gegrübelt haben, sind nicht dieselben, +welche sich auf Äroplane schwingen, sondern +viele Jahrhunderte werfen ihre wilde Brandung zwischen +sie. Und doch, und doch . . . +</p> + +<p> +Wie in der nunmehr erkrankten Luft die Menschheit +eine infizierte oder jedenfalls, auch ohne es zu +merken, eine affizierte ist, wie vielleicht ein Pesthauch +<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a> +so allmählich unseren Planeten umschichtet, +daß wir es nicht gewahrten, ebenso glaube ich, daß +bei vielen unter uns der innere Sinn dem lautlos +tumultarischen drängen und wogen (wo gäbe es +Worte?) der so zahllos und so jäh entströmten Leben +zugewandter ist, als sie es wissen. Da sind Akzente, +da sind Lockrufe, die noch nicht ergingen . . . Da +treiben wehe Schwingungen der Wonne von unaussprechlicher +Pein, da greifen Klänge ans Herz, zerspringen +und ermatten wieder, ohne zu ertönen, und +da sind uns Zaubertränke hingehalten, als hätten wir +geistige Lippen, sie zu genießen . . . +</p> + +<p> +Es war nicht mehr Nacht, aber der Tag dämmerte +noch nicht. Ich schlief nicht mehr und war noch +nicht wach. Eine Gestalt, höchst eindrücklich in +ihrer Schattenhaftigkeit, erfüllte die Atmosphäre bis +an den Rand, als müsse diese wie ein zu voller Becher +überfließen, das Zimmer sprengen oder sich entflammen. +Und schon war das Unnennbare ungegenwärtig, +und es wäre lächerlich unzureichend, wenn +ich sagte, es hätte sich entfernt, so ganz außer jeder +Beziehung stand es zu Zeit und Raum. +</p> + +<p> +Was aber war inzwischen nochmals vor mir aufgeschimmert? +Locken? — von einer Gelocktheit, +die es nicht gab, von einer goldenen Blondheit, die +nicht vorkommt, ein Licht, das ich nicht kannte, +schärfer, und dabei nicht so grell wie das des Tages. +Geisterhaft? Aber es war ja von einer schärferen, +<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> +wärmeren, pulsierenderen Lebendigkeit gewesen, als +wir sie kennen. Wir sind nicht lebendig genug, dachte +ich bestürzt, und schlug die Augen auf. Draußen +hatte sich ein Wind erhoben. Die Fenster sahen auf +den Garten; der Himmel ganz blaß, aber im vollen +Staat. Kleine Wolken als Vorreiter ausgesandt. Die +Bahn war frei, die Vögel vollzählig, Brust heraus, in +Positur und einzustimmen bereit. Höchste Spannung +in den Bäumen: kommt sie schon? Blumengeflüster: +ist sie schon da? — Es war alles wie am ersten Tag. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +3. MAI. Sicher haben die Menschen ihr Hofzeremoniell +dem Sonnenaufgang abgelauscht. An sich +gewiß eine hübsche Idee. Mit acht Jahren war ich im +Kloster Page der schönen Gelmini, die an Epiphania +mit dem Beinamen die Gerechte zur Königin ausgerufen +wurde. Meine Haare wurden Tage hindurch +im Hinblick der zu drehenden Locken mit gezuckertem +Wasser gedrillt. Dem Hofnarren fielen sie +aus der Schellenkappe tief ins Gesicht. Denn gelockt +standen wir alle am Tage unseres Umzugs. Gelmini +wurde zweimal gewählt und starb das Jahr darauf. +Wie groß war mein Staunen, als ich später erfuhr, +eine erwiesene Larve könne ihr Lebtag lang unter +Zimbeln und Trompeten als „Majestät“ aufziehen. +Und welches Gelächter erntete meine Entrüstung! +Aber wie oft hat der verspottete recht! Jede Epoche +<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> +hat ihren wahren Fürstenkonzern. Wir verkannten dies +ganz: darum sind heute unsere goldenen Kutschen +remisiert. Großherzogliche Hoflieferanten, Palast- und +Schlüsseldamen, wo seid ihr? Terror der Wiener +Komtessen, wo bist du? Kurz, kurz ist’s her. +</p> + +<p> +Abends im Kursaal bei Musik geschrieben. A. H. Pax +will in der „Friedenswarte“ eine tongetreue Übersetzung +meines Protestes bringen, und da er zugleich +einen Beitrag für das Maiheft wünscht, setze ich +meinen Apparat in Bewegung. Es ist, als träten ungeheure +Wasserwerke in Kraft, um einen Fingerhut +voll zu kredenzen. Stirnrunzelnd sitze ich inmitten +des Hin und Her von Eisschokolade und Tangotänzen, +um einige Sätze über die elsässische Frage +zu formulieren. Ich begann mit ein paar Anspielungen +und zitierte mich aus einem Essay, den ich +über die Markgräfin von Bayreuth geschrieben hatte: +der Frau fehle es zwar nicht an literarischer Begabung, +wohl aber an literarischer Perspektive, und für die +Realität des geschriebenen Wortes wohne ihr auch +nicht entfernt dasselbe scharfe Gefühl inne wie dem +Mann. Heute sei hinzuzufügen, fuhr ich fort, ihr Interesse +und ihr Verständnis für Presse- und Parteiwesen +sei in der Regel gering, und auf jene allerletzten Endes +so gedankenlose Parole: right or wrong my country, +wäre die Frau nicht verfallen. +</p> + +<p> +So wird sie denn, erzählte ich von ihr, und meinte +<em class="em">mich</em>, nur wenig von bisheriger Politik verstehen, +<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> +dafür um so mehr von der kommenden. Denn es ist +ganz gewiß falsch, zu behaupten, man dürfe Politik +nicht mit dem Gefühl treiben. Wie veraltet die ohne +Gefühl betriebene sogenannte Realpolitik im Grunde +schon war, hätten die zuletzt auf dem Plan erschienenen +jugoslawischen Völker sehr wohl erkannt, als +sie einst jenen brüderlichen Balkanbund zu gründen +beschlossen, welcher dann am Widerstand der europäischen +Kabinette gescheitert war. +</p> + +<p> +Es läge auch ein vollkommen richtiger Instinkt +einer Versinnbildlichung der Nationen durch überlebensgroße +Menschengestalten zugrunde: Marianne, +John Bull, Michel, Onkel Sam . . . Von hieraus zieht +sich deutlich ein Weg zur Einsicht, daß den Beziehungen +zwischen hochstehenden Völkern genau dieselben +Grundsätze unterliegen sollten wie zwischen +hochstehenden Menschen. Statt sich zu überlisten +und brutal zu übervorteilen, suchen sich diese im +Gegenteil an Schonung, Großmut und Rücksicht +gegenseitig zu überbieten. Der Wetteifer um den +Rücksitz hat als Ergebnis, daß man sich darin teilt; +statt einander zu berauben, hilft man einander aus. +Man gesteht sein Unrecht und wird vernommen, +statt verdammt. Wäre somit eine solche Politik nicht +auch die praktischere? +</p> + +<p> +Ich hätte mir vorstellen können, fuhr ich fort, +daß auf einer solchen Grundlage hin ein Dialog +zustande gekommen wäre zwischen Michel und +<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> +der unversöhnlich von ihm abgewandten Marianne. +Ich könnte mir wahrhaftigen Gottes vorstellen, daß +er — nach Art der Liebhaber — zu ihren Füßen hingerissen, +die elsässische Frage vor ihr zur Sprache +brächte; ich könnte mir vorstellen, daß im Laufe +dieses Dialogs endlich ein Wendepunkt sich ergäbe, +von wo ab beteuert würde, was verneint worden +war . . . und in dieser Tonart lange hin und wieder +so beharrlich, bis die wunde Frage sich zwischen +ihnen isolierte, auf einen höheren Plan gehoben, +langsam über ihren Häuptern wie eine Morgengabe +schillerte. +</p> + +<p> +Aber den Realpolitikern dünkte die andere Alternative, +der wir heute zusehen müssen, die gerissenere. +Spätere Europäer werden sich freilich an +den Kopf greifen; dann aber wird vermutlich das +andere Schlagwort aufkommen vom Antagonismus der +weißen und der gelben Rasse; und dann wird sich +der Himmel verfinstern von den neuen Schrecknissen; +und dann erst werden die Überlebenden nicht +mehr bestreiten, daß die europäische Psyche durch +Assimilierung der asiatischen die endliche Bereicherung, +ja ihre letzte Vollendung erführe. +</p> + +<p> +Nicht allein, daß die grauenvollen Erfahrungen, die +geopferten Generationen, die vergeudeten Jahrzehnte, +Jahrhunderte notwendig sind, um diese Welt zu Anschauungen +zu bekehren, welche sich der einfachen +Nachdenklichkeit aufdrängen, sondern all diese Kriege, +<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> +und die gewesenen sind nur Vorstufen zu einem +letzten Kampf, dessen Stunde zugleich mit der Stunde +der Vergeltung schlagen wird für jene Elemente, +welche von jeher die schlechte Sache in der Welt +betrieben oder die gute verdorben haben. Die Leute +also, schloß ich meinen Aufsatz, welche auf den +ewigen Krieg schwören, mögen zufrieden mit mir +sein; denn bevor jene Elemente (und es sind stets +überall dieselben) nicht gekennzeichnet und untergeordnet +werden, glaube auch ich an keinen dauernden +Frieden. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Um mich von der Anstrengung zu erholen, setzte +ich zehn Franken und gewann zwei. Plötzlich taucht +der Kriegsgewinnler vor mir auf und fragt, ob er +mich nach Hause begleiten dürfe. Es war sehr spät, +ja, er dürfe. Er begleitet mich also, ich aber leuchte +ihm heim. Und siehe da, in dieser nächtlichen Weile +scheinen ihm sehr andere Bilder vorzuschweben als +die, mit welchen er noch gestern renommierte. „Es +geht uns ja so lausedreckig,“ jammerte er, „warum +verfolgt ihr das in den Brunnen gefallene Kind?“ +„Also so steht es“, rief ich. Mein fertiger Aufsatz stimmte +mich frech. „So steht es, und ihr blufft weiter mit +Schwertfrieden und Grenzverbesserungen in Tod und +Ruin hinein. Ich sehe schon, was für Argumente +ihr schmiedet, falls es schief ausgeht mit eurem Verbrechen!“ +<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> +Es läßt sich gar nicht sagen, wie weinerlich, +wie persönlich gutmütig dieser eingepeitschte +Alldeutsche sich herausstellte; wahrscheinlich der +beste Gatte und Vater dabei, ein gewissenhafter +Arbeitgeber vielleicht. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Melide. Fortunio hat drei Elsässer getroffen. Im +Schein der Windlichter schlage ich ihm die Karten, +er dagegen liest mir aus der Hand. Die Edeljüdin +hat ein rotes Tuch umgeschlagen, und wir sind vergnügt. +Doch oh, die Nachtigall, die wir am Heimweg +schlagen hören. Mein Herz hing sich an sie +und drang in den Busch zu ihr. Ich hätte mich so +gern nicht mehr von der Stelle gerührt. +</p> + +<p> +Der Himmel blieb die ganze Zeit über so blau, +daß sich die Wolken in meinem Gemüt angesichts +soviel Sonne nicht behaupten konnten. Der erste +bedeckte Tag war auch der unserer Abfahrt. Ich +nahm den Frühzug mit Paxens und steckte meine +Post gerade noch zu mir. Fürs erste galten dann meine +Blicke nur dem schwindenden See und den schnell +sich verstellenden Bergen. +</p> + +<p> +In Bellinzona trennten wir uns. A. H. Pax wünschte +die Mitarbeit der Gräfin Reventlow, und ich sollte +sie zu ernsterer Arbeit ermuntern. Es stellte sich +aber heraus, daß nur 40 Minuten in Locarno blieben, +so depeschierte ich ihr auf gut Glück und fuhr dann +<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> +durch das breite, lange Tal zum Lago Maggiore. Sie +stand am Bahnhof. Wir erkannten einander, ohne +uns je gesehen zu haben, und gingen mit einer Art +von kalter Vertraulichkeit hinab zum See. Ihr Zynismus +kannte keine Grenzen, doch immer alles mit +Grazie. Vom Schreiben wollte sie nichts mehr wissen +und hatte eine Übersetzung unternommen. Bei jeder +Seite freue ich mich, daß ich das nicht selber geschrieben +habe, sagte sie. Ich drängte sie zu größerem +Fleiß, ohne Anklang zu finden. „Mein Ideal wäre +die Leitung eines großen Hotels“, versicherte sie. Ihre +Augen waren wunderschön. Ich sprach von ihren +Schriften, und daß keine Bücher dieses leichten +Kalibers mit ähnlicher Qualität geschrieben worden +seien, so blaß, so spöttisch, so geistreich. Aber sie +schüttelte den Kopf: es sei zu schwer. +</p> + +<p> +Wir gingen in der Mittagsschwüle den bergigen +Weg zur Station zurück. Einige Wochen später sollte +sie in Konstanz ihrem Sohn zur Desertion verhelfen. +Heute amüsiert sie die Geisterwelt mit ihrem Witz. +Schreiben werden wir beide kein zweites Mal. +</p> + +<p> +Ich hatte gerade Zeit, in den Zug zu springen: er +bewegte sich schon, wir riefen uns noch einmal auf +Wiedersehen zu, bevor wir einander für immer aus +den Augen verloren. — Zu lesen hatte ich gar nichts +mehr, mit Ausnahme einer französischen Zeitung, die +unter meiner Post gewesen war. Sie enthielt auf der +zweiten Seite einen Angriff gegen mich: Erbitterte +<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> +Zeilen mit dem deutlichen Wunsch, mich zu verletzen. +Fürwahr, dachte ich, das ist wirklich zu unverdient. +Aber der Verfasser täuscht sich: es ist +mir egal. +</p> + +<p> +Ich legte die Zeitung weg und sah in die Gegend +hinaus. Merkwürdig durchdrang mich da ganz und +gar die Weite des Tals. Wie ein prächtiger Festsaal +der Natur, gemeint, als sei er auch bei Nacht zu erglänzen. +Als fehlten nur die Riesenkandelaber an +den gleichmäßigen und feierlichen Wänden der Berge. +</p> + +<p> +Die Lokalbahn hatte Anschluß an den zweiten Zug, +der von Lugano kam. Er war schon eingelaufen. +Fortunio und der Redakteur der Humanité standen +auf dem Perron. Ich reichte ihnen das Blatt, das mir +unter Kreuzband zugeschickt worden war, und wollte +etwas dazu bemerken, es stellte sich jedoch heraus, +daß meine Stimme zwischen Locarno und Bellinzona +hängengeblieben war. Hatte die Luft sich abgekühlt? +Wie Fanfaren drang das Blau durch die dunstigen +Wolken. Dicht vor dem Platz am Fenster, den Fortunio +mir gesichert hatte, zogen jetzt die grauen Riesenwände +des Gotthard vorüber, durchstrichen von zahllosen +Wildbächen, die aus ihren unversiegbaren Gründen +senkrecht im hellen Jubel herabschossen. Es +war ein Hals über Kopf sich überstürzendes Geglitzer. +Ich behielt sie im Auge, diese Flüsse, einen nach dem +andern, und zählte sie. Wie eine Rettung war’s, als +die table d’hôte ausgerufen wurde und alles in den +<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> +Speisewagen ging, Fortunio ganz besonders und der +Redakteur. Der Wunsch, allein zu bleiben, brannte +wie ein Durst. Welchen Auges mag der Hirsch das +Laub, das sein Geweih vom Aste schlägt, das Tal, +die Tiefe einbegreifen, bevor er sich getroffen weiß? +Wir wissen nicht, wie seine Welt da vor ihm aufleuchtet. +— Was für ein selbstherrliches Ding ist +doch das Herz! Du rufst ihm zu, und es vernimmt +kein Wort, als gehörte es sich selber und nicht dir. +</p> + +<p> +Verstrickte und sich selbst widerstreitende Liebesgefühle +haben ihre eigentümlichen Reflexbewegungen +wie Zerreißungen und Wunden. Ich hatte mich getäuscht: +der Angriff in der französischen Zeitung war +mir nicht egal. Und wie aber hätte die Erbitterung zwischen +den Zeilen mich nicht bewegt? Zwischen den +Erbfeinden des Abendlandes stand in Wahrheit reinste +und einzigste Erotik am Spiel. Was hier von jeher, +was von neuem auf Menschenalter zertreten wurde, +war der Keim aller Verjüngung und Erneuerung +eines Kontinents, die Blume aller Allianzen. Alle +andern sind unfruchtbare Bündnisse dagegen, Geschwisterehen. +Sagt mir nicht, daß es anders sei. +Ich weiß es besser. +</p> + +<p> +Ach! Grund genug, wenn es jetzt den Augen +unaufhaltsam entströmte wie über die grauen Furchen +der Gotthardfelsen. Oh! und nichts von bayrischem +Gebirg! Was sich da drüben hinter Schleiern spiegelte, +das war Paris am lauen Septembertag, der eigenen +<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> +Erfüllung hingegeben, und einem Himmel, der keine +andere Stadt so überhing wie sie. War sie nicht +meine eigenste Heimat? War sie nicht die unerreichbarste +Geliebte? War sie nicht eine Göttin? Oh mein +beraubtes Herz! Jedes Bild, jede Erinnerung an sie +zerriß es neu. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Abends in Bern, wo inzwischen auch der Frühling +gekommen, sozusagen ausgebrochen ist, leidenschaftlich +abgetrotzt wie etwas, das sich keineswegs von +selbst versteht wie im Süden. Ich liebe im Norden +nur den Sommer. +</p> + +<p class="dat"> +4. MAI. Abigail stattete mir eine richtige Sympathievisite +ab. Es fehlte nur der Zylinder. Dieser neue +Ziegelstein auf mein Dach dünkt ihm entschieden +de trop. „Erklären Sie mir nur,“ sage, ich, „liegt +denn eine solche Ungerechtigkeit in eurem Interesse?“ +„Wir fragen heute nicht nach Gerechtigkeit“, erwidert +er. „Wir verlangen alles oder nichts, Sie +bieten uns die Hälfte, das ist zu wenig.“ +</p> + +<p> +„Sie vergessen, daß ich Deutschland liebe.“ +</p> + +<p> +„Es sind Gefühle, die wir zu wenig teilen, als daß +sie uns interessieren könnten“, erwiderte er steif. +</p> + +<p> +Wir sprachen dann von anderen Dingen. +</p> + +<p class="dat"> +6. MAI. Besuch von Frau Karfunkel. Sie fragt +mich, ob ich eine Revolutionärin sei, und ich bin im +<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> +Augenblick zu müde, es zu wissen. Das Wort „gekrönte +Republik“ fällt mir ein, das kürzlich vor mir +gefallen war. Mochte es herhalten. „Eine gekrönte +Republik“, sage ich und gähne. +</p> + +<p> +Daß Frau Karfunkel mich kaum kannte, hinderte sie +nicht, mir jetzt eine jener Szenen zu machen, die +man wie ein Unwetter über sich ergehen läßt. Die +Worte wie krasse Ignoranz gehörten zu den mildesten, +die sie mir vorsetzte. Sollte ich ihr sagen, warum? +ihr bekennen, in welchen Gedanken sie mich unterbrochen +hatte? ihr den Grund jener mangelhaften +Kenntnis eingestehen, die sie so richtig erraten hatte? +</p> + +<p> +Welchen Kriegsbericht hatte ich zu Ende gelesen? +Von welcher Phase des Krieges mir auch nur einigermaßen +ein Bild gemacht? Über die erdrückende Tatsache, +daß er herrschte und kein Friede kommen +konnte, sah ich nicht hinaus. Für seinen Verlauf, +seine Geschichte blieb mein Interesse ungefähr. +</p> + +<p> +Was wollte die Frau bei mir? +</p> + +<p> +Sie hatte mich aus der Arbeit gerissen, und ich +war froh um die Unterbrechung gewesen; so mühselig +war die Pein, daß ihr Stigma sich den Schläfen +aufdrückt, und daß sie einsinken wie zermürbt. Oder +gleicht eine geistige Not der immerwährenden Welle +vielleicht und die Schläfen dem Stein, der von ihr +zernagt und bearbeitet wird? Von den Dingen +selbst ist mein Verständnis so karg! Der Kommentar +zu ihnen ist meine Sparte: ihn stets von neuem, zergliederter, +<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> +ausgreifender zu formulieren, ist der Stachel, +der mir keine Ruhe läßt, meine Einzelhaft mitten im +Leben. Denn über die Vielfältigkeit unserer Wege +hin, sehe ich die Einfältigkeit der Gefahr; die ewig +selbe Fratze, die jeder edlen Bestrebung wie eine +verruchte Karikatur noch immer auf dem Fuße folgte. +So schmal, schwankend und immerzu gefährdet zieht +unser Weg empor! Aber naiver als ein Soldat, der +mitten im Treffen nicht weiß, wo er steht, führte der +Mensch bisher seinen Kampf. Auch ihn trafen die +Geschosse, ohne daß er sah, aus welchem Hinterhalt +sie stammten, und von der unheimlichen Geschäftigkeit, +mit welcher in den Niederungen sein Verderben +betrieben wurde, merkte er nur das Resultat. +Unermüdlich und nahezu ungestört dürfen die Untermenschen, +von Herrschsucht besessen, in der Familie, +dem Staat, der Gemeinde, der Partei ihre zersetzende +Arbeit verrichten. Aus Tausenden von Schlagwörtern +sind ihre Netze gewoben, der ganze ungeheure Nationalitätenschwindel +hält seit Jahrhunderten den Zusammenschluß +der Vollwertigen auf. Notsignale zu +geben, bin ich hier. Unvernommen? Gleichviel! +Ohnmächtig wie im Traum hinauszurufen: Richtet +Wälle auf! Seht euch vor! Achtet der Stufen! Schützt +eure Häuser! Mit unschuldiger Miene, ja mit dem +Antlitz eines Engels vielleicht, kauert das Unheil +an euerm Herd. Oh Brüder, Freunde, nehmt es +nicht in eure Arme, wie ihr den Fuß nicht auf +<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> +die sanft beschneite Stelle setzt, ihr hättet sie zuvor +geprüft. +</p> + +<p> +„Ich glaube,“ schreibt René Schickele, „daß der +Sozialismus kommen muß mit einer großen, tiefen +Flut von Licht, die alle Menschen durchdringt.“ +</p> + +<p> +Und ich sehe, wie emsig die Schatten sich sammeln, +welche danach dürsten, dies Licht zu verschlingen. +</p> + +<p class="dat"> +8. MAI. Abigail klopft wieder an meine Türe. Er +trägt sein breitestes Lächeln, reicht mir die Münchner +Zeitungen und lacht noch stärker. Sie enthalten +meinen Protest in der Telramundschen Übertragung, +wahrscheinlich von ihm selbst eingesandt. +</p> + +<p> +„Und das sind die Leute, mit welchen Ihr Euch +einlaßt“, brach ich aus. „Ihr seid mir schöne Richter!“ +</p> + +<p> +Doch Abigail war in einer nicht zu verderbenden +Laune. „Einigen wir uns,“ sagte er, „mag er denn +Telramund heißen, unter einer Bedingung, verlangen +Sie nicht, daß wir Sie Elsa nennen.“ +</p> + +<p> +Die „Pressestimmen“ ließ er mir zum Geschenk. +Ich las u. a., daß ich „ein hysterisches Weib von abgrundtiefer +Gemeinheit sei“. +</p> + +<p class="dat"> +9. MAI. Beim bayrischen Gesandten; er kannte mich +von Kind auf. Er empfing mich. Aber der Verwirrtere, +der Trostbedürftigere schien durchaus er. +Es war bei ihm wie bei den Hähnen der modernen +Waschtische, die gleichzeitig heißes und kaltes Wasser +<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a> +ausströmen: zwei Sprachen wie zwei Denkungsarten +entflossen da immer zugleich: seine eigene und die +anbefohlene. +</p> + +<p> +„Vous êtes déshonorée!“ jammerte er. +</p> + +<p> +„So schlimm ist es nicht“, redete ich ihm zu. +„Kommen Sie, lassen Sie Gras wachsen über die +Geschichte.“ +</p> + +<p> +„Gras? Da wächst kein Gras. Je vous supplie ne +rentrez pas en Allemagne; on vous jettera dans les +fers; je ne pourrai rien faire pour vous. Bleiben +Sie um Gottes willen da.“ +</p> + +<p> +„Ich bleibe schon da.“ +</p> + +<p> +„Ja, bleiben Sie da. Was wollen Sie in München? +Es ist ja alles verpreußt. Diese entsetzlichen +Preußen haben uns ja alle aufgefressen. Ich bin der +letzte Bayer.“ +</p> + +<p> +„Ich auch.“ +</p> + +<p> +„Sie sind gar nichts. Vous êtes une criminelle. +Ce n’est pas moi, qui vous condamnerai, je suis +votre ami. Vous êtes une criminelle“, unterbrach er +sich laut. „Oh, so viel Phantasie zu haben und so wenig +Verstand! Sie sind erledigt. Wir sind gefressen.“ +</p> + +<p> +Damit entließ er mich. +</p> + +<p> +Daß dem alten Herrn der Krieg so über den Kopf +wuchs, machte ihn mir nur sympathisch. Es wäre +jedoch hartherzig gewesen, ihn praktisch in Anspruch +zu nehmen. Ich hatte es gar nicht versucht. +</p> + +<p class="dat"> +<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> +MITTE MAI. Gerade in diesen Tagen lud mich Frau +v. Schreckenburg, ohne mich zu kennen, zu sich +ein. Engländerin von Geburt, trug sie dabei den +gefürchtetsten deutschen Namen. Ihr Mann, von +dem die Franzosen sagten: „Heureusement qu’il n’en a +pas l’air“, und die Engländer: „He is worth a +better name“, stand an der Spitze der Gefangenenfürsorge. +Durch seinen unzeitgemäßen Mangel jeglichen +Strebertums fiel er gänzlich aus dem Rahmen. +Still, unermüdlich und geschickt verrichtete er sein +humanitäres Werk. +</p> + +<p> +Es nahte Felix Mottls Todestag. Ich wollte die +Münchner erinnern, daß ich es nicht von ihnen verdiente, +unvernommen und mit Knüppeln vor das +Stadttor gewiesen zu werden, denn ich habe sie einmal +vor einer großen Weltblamage bewahrt. Einige +Redakteure waren damals meinetwegen geflogen, und +ich hatte gesiegt. Waren solche Reminiszenzen angetan, +den Herrn Chefredakteur zu rühren? Er +sandte mir meine Eingabe, obwohl durch Schreckenburg +übermittelt, mit dem Vermerk zurück, daß er +sich für die Beiträge einer Hochverräterin heute wie +fernerhin bedanke. +</p> + +<p> +An jenem Abend ging ich lange die beiden Brücken +auf und nieder. Die Jungfrau hatte eine Schärpe +übergeworfen. Ein kalter Wind trieb von den Gletschern +herüber. Ich ging und ging. Es war wieder +bei Fortunio viel von einem Zusammenschluß der +<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a> +Geistigen gesprochen worden, und wieder ließ keiner +das Ausschließen seine Sorge sein. Was aber ging +aus dem ungeheuren Trugwerk dieses Krieges hervor, +wenn nicht der vollendete und riesenhafte Triumph +des Sklaven über den Freien, wenn nicht die immer +drohendere Forderung, uns selbst jenes letzte Gericht +erstehen zu lassen, von dem geschrieben steht, daß +es auf immer die Scheidung zwischen den Menschen, +die guten Willens sind und den anderen bestimmen +soll? Ja, nicht die große Einigung, den großen Bruch +gilt es zuerst zustande zu bringen: die herrische und +heilige Offensive der menschenwürdigen Menschen, +gegen jene „Untermenschen“, welche Villiers de l’lle +Adam als erster mit so großem Nachdruck kennzeichnete. +Erst gilt es, jenen allzulange geduldeten Elementen +das Stimmrecht zu entreißen. Sahen wir +nicht alle großen und bahnbrechenden Ideen in Verwirrung +ausarten, das Christentum selbst unter die +Räder geraten und eine Sache um so sicherer verderben, +je edler sie war, weil Unzulänglichkeit und +Niedertracht das große Wort zu führen in der Lage +sind; Solange diese Gattung ihre Gleichberechtigung +behält, hat die Menschheit nichts zu hoffen. Sie +wird wie ein Kranker sein, der sein Übel zu betäuben +sucht, indem er sich auf seinem Schmerzenslager +dreht und wendet, oder hochaufgerichtet nach +Atem ringt, um doch nur eine illusorische Erleichterung +zu finden. Sie wird alle Regierungsformen, +<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> +eine nach der andern, erproben, und ob sie auch ihre +Könige gegen Republiken eintauscht — es werden +doch nur falsche Republiken sein, und auch die +Anarchie wird sich als nichts anderes herausstellen +als einen Mißbrauch der Macht. +</p> + +<p> +Und wie könnte die einzig wirkliche Freiheit entstehen, +wenn nicht durch die Knechtung desjenigen +Pöbels, der allerorts alle Klassen, von den höchsten +bis zu den sogenannten niedrigsten verheert. Hierarchien +aber sind es ja gerade — weniger rudimentär +und kindisch nur als diejenigen, welche man sich +aufoktroyieren ließ — Hierarchien aber sind es, +die auf neuer und gerechtfertigter Basis zu errichten +sind: geben wir uns keinen Täuschungen hin: +die Klasse der Könige, der Fürsten und Herren, ja +der ganze Troß der kleinen Gentry sogar, er ist vorhanden +(nur so anders!), und alle wahren Adelsbriefe, +die sich in unendlichen Fluktuationen aus der +menschlichen Würde ergeben, existieren auch. In +allen Kreisen aber und durch alle Zeiten hindurch +wurde die wahre Elite gepeinigt, geopfert oder zur +Ohnmacht verdammt, weil urteilslose oder niedriggesinnte +Elemente, die sich weder in Gleichheit, noch +in Brüderlichkeit zu ihr verhalten, dasselbe Stimmrecht +genießen. +</p> + +<p> +Man rede mir also nicht von Zusammenschlüssen, +sondern vorerst von neuen Gesetzbüchern und neuen +Statuten. Auf einen treibenden Sumpf, einer Welt +<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> +wie sie ist, Ringmauern aufzurichten, daran glaube +ich nicht. Wozu führte der vielgehegte voto pietoso +Deutschland und Frankreich zu einigen? Statt der +stolzesten aller Galleonen ein Wrack, beiden nahezu +unnennbar geworden. Dieses Wrack ist mein eigenster +Boden, ich verlasse ihn nicht. Die paar Einsichten +aber, die mich sehr bestimmte Erfahrungen lehrten +mit der Persistenz des Marktschreiers zu verkünden, +ist mein Beruf. +</p> + +<p> +Ich lehnte über der Brücke von Kirchenfeld. Hat +die Nacht ihre eigene Helle, daß sie uns die Dinge +mit größerer Schärfe zeigt? Sie deckte jetzt den Fluß, +der unten den Bergen zurauschte. Von den Häusern +in der Tiefe, so eng geschart, fast ein Gerümpel, auf +zartesten Säulenarkaden gehoben, und wie edel! leuchteten +jetzt munter die tagsüber so verschlossenen +Fenster. Wie wenig löste schließlich und endlich +unsere zufällige Existenz von unserem wirklichen +Wesen aus! Vielleicht war sie nur eine Jahreszeit +unseres weitverästeten Seins. Wozu sich alterieren, +redete ich mir zu, wozu die Hast, wozu die Ungeduld? +— Es wurde zuletzt ein Spazieren mit der Nacht, +statt in die Nacht hinein, und ich war um eine größere +Fassung, etwas mehr Gleichgültigkeit für meine persönlichen +Geschicke aus allen Kräften bemüht. +</p> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-3"> +<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> +Zweiter Teil. +</h2> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">S</span>ie sah bezaubernd aus; ihre Achseln schienen der +Ansatz zu Flügeln, und da sie sozusagen zwischen +zwei Fingern hochzuheben war, nannten wir sie mit +Fortunio das Zirkuspferdchen oder der Seidenaff. +Wenn sie ernst zu sein wünschte, waren wir grausam +genug, sie auszulachen, doch nicht, um sie zu verspotten, +sondern weil ihr alles so gut stand. Ihr Gatte +war San Cividale, der Longobarde, wir hatten uns +angefreundet, und es wurde ein richtiger Anschluß. +</p> + +<p> +Von den Ärzten ins Bad geschickt, depeschierte mir +der Seidenaff aus Rheinfelden, und nie kam eine Einladung +gerufener. Ich suchte einen Mieter für meine +Zimmer und hatte ihn schnell. Bern war mir verleidet, +ich hatte dort vieles zu vergessen, Geldsorgen +besaß ich auch. Nur die Mozartaufführungen, welche +unter Richard Straußens Leitung bevorstanden, wartete +ich noch ab. Sein schöpferisches Erschöpfen +eines Werkes ist sicherlich ein neues und interessantes +Moment in der Kunst des Dirigierens. Einem Don +Juan, der ein großer Erfolg war, folgte jedoch eine +Zauberflöte, welche einige Kritik hervorrief; mich +entzückte letztere weit mehr, so zwar, daß sie einem +ersten Eindruck gleichkam. Strauß hatte eine Pamina +mitgebracht, welche gesanglich und darstellerisch und +<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> +durch eine merkwürdig schöne Erscheinung der Partie +so wohl entsprach, daß Symbolik wie Illusion des +Fabelreiches durchweg bestanden, bis der Vorhang +vor dieser besseren und geordneteren Welt endgültig +fiel. Was bedeuteten Regiestörungen (tags darauf hieß +es, sie sei einem Engländer zu danken, der sich zu +diesem Zweck als Maschinist für den Abend verdingte) +vor dem unvergleichlich hohen Niveau dieser +Vorstellung? +</p> + +<p> +Am lautesten wurde am Schluß von jener Sorte +Deutscher Beifall gespendet, welche ihren schimpflichen +Spitznamen so recht aus dem vollen verdienten. +Diese wandelnden Erreger des Deutschenhasses gingen +mit dem deutlichen Gepräge von Leuten einher, welche +zwar rechneten und berechneten, aber nicht mehr dachten, +dafür seit einer Generation zuviel gegessen hatten. +Sie waren die Regisseure und Leugner des großen +Kindersterbens, das jetzt in ihrem Lande hinter den +Kulissen um sich griff, und Scharen Deutscher, würdig +dieses Namens und liebenswert, gingen um jener +Boches willen zugrunde. Doppelt verrucht erschienen +sie im Lichte der eben erfolgten herrlichen Darbietung. +Ich ersticke! sagte ich zu Fortunio, denn +ein Knäuel dieser wohlbestallten Patrioten schlenkerte +vor uns über den Platz. Auch im Dunkeln sah man +ihnen an, daß sie jetzt schmausen gingen. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-1"> +<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> +Rheinfelden. +</h3> + +<p class="dat"> +21. JUNI. Mußte da dicht vor meinem Fenster hochgewölbt +der Rhein vorüberrauschen? Eine Brücke +mit Schilderhäuschen in der Mitte legt schon im +Badischen an; freudlos, wie mit erblindeten Scheiben, +sehen von dort die Häuser herüber. +</p> + +<p> +Heiterer war der Park. Wir lagen in Korbstühlen +und schwatzten. Doch Erinnerungen kamen nicht +zur Ruhe. Aufgescheuchten Vögeln gleich schwirrten +sie hierher und dorthin und kehrten zurück . . . Der +Sommer war im Land. Das Schlößchen der schönen +Marguerite, das selbst mitten im Kriege Zauberkreise +zog, wartete unser, und die Schwalben nisteten +längst im flachen Strohhut, der in der Halle von der +Decke hing. Jetzt standen auch ihre Koffer gepackt; +. . . es türmten sich wohlgefaltet ihre schönen Kleider . . . +Die Unrast der Verbannten trieb mich aus dem Park +ins Städtchen hinunter, wo von der viereckigen Plattform +des Turmes aus die Störche ins Blaue steuerten. +Was gab es schöneres wie ihren Flug? Klein erschien +mir die Schweiz. Wie ein herrlicher, aber für mich +nach allen Seiten hin verbarrikadierter Garten. Ich +ging den Weg zurück, der ganz umwachsen unter +Bäumen führt. Wer nicht wollte, brauchte weder +Fluß noch Land zu sehen. Im Hotel aber lag eine +Depesche für mich. Ich floh entsetzt auf mein +Zimmer. Die Freundin war tot. Mochte das +Schlößchen am Berg Tür und Tor sperrangelweit +<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a> +offen halten und warten, solange es stand, ins Leere +starrte fortan sein breitschrötiges Türmchen. Sie zog +die Straße nie mehr herauf, kutschierte nie mehr +aufmerksamen Auges ihr Wägelchen in den Wald. +Fort von Rheinfelden, dachte ich, nur fort! +</p> + +<p> +Es traf sich, daß die Kur nahezu beendet war. +Wir fuhren nach Wengen. Der Seidenaff durfte nicht +steigen, ich kletterte drauflos. Hier waren alle +Höhen zur Hand. Hinter der kleinen Scheidegg +setzten sie von neuem ein. In weiten Senkungen +kreiste ein Tal. Ich saß in einer Nische aus Fels und +Gras, die Füße hingen ins Leere. +</p> + +<p> +Plötzlich, wie auf einen geheimnisvollen Anruf, ein +lauter Stoß, ein Gegenruf des Herzens. Denn es hat +ja Arme, ich sagte es schon, und Flügel, schwerausgebreitete +und leichte, es hat sein geheimnisvolles +Dasein für sich allein. Vom Tode weiß es so wenig +wie wir, nur dies hat es erkundet: daß, wenn er +uns nicht austilgt, der Lebende dem Toten zu Anfang +mehr sein kann, als dieser ihm. Dann wäre unser Eingedenken +der Halt vielleicht, an dem er seine ersten +Schritte geht, und unsere Trauer sein Gewand. +</p> + +<p> +Es war für die Verstorbene ein Gedenkbuch geplant, +und ich hatte versprochen, mich daran zu +beteiligen. +</p> + +<p> +Mag es noch so mannigfache Welten geben, sicherlich +gebietet über alle eine einzige Natur, ein allmähliches +Sprießen, eine Reife, von trüben Himmeln +<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a> +die sie aufzuhalten scheinen nur gezeitigt. Vor allen +Dingen aber jenes letzte und sehr tragische Zurückbleiben +des Erreichten hinter dem Gewollten. Wie +ein letzter Same, der sich wieder in die Erde senkt, +um einer nächsten Ernte zu gedeihen. +</p> + +<p> +Ich schrieb auf meinem hohen Sitz angesichts des +kelchartigen Tales mit den sanftanschwellenden Rändern. +Die Sonne war gestiegen. Wie ein zieres Band +umschlang ein Pfad den ganzen Berg und lockte mich +unwiderstehlich in die Höhe. So kam ich zu einem +kleinen Gasthaus und stapfte dann auf die Spitze des +„Männlichen“ hinauf. Dort fing sich der Wind und +wehte kreuz und quer; dann aber stürzte ein Steig, +schmal wie ein Strich, so pfeilartig hinab, daß man, +von einem Taumel erfaßt, zu rennen anfing und zu +fliegen verlangte. Von dem Tempo erfaßt, das von +hier oben gesehen, die Jungfrau entfaltete, die mit +mächtiger Schulter die ganze Kette der Alpen mit +sich riß. Unglaublich schnell griffen jetzt die Schatten +in dem verströmenden Gold dieses Tages um sich; +schon profilierte sich diese oder jene Bergeskante zu +einem grotesken, dort zu einem erhabenen Riesenhaupt, +schlafend, offenen Mundes zurückgeworfen, +oder wie entseelt mit beschneiten, eingesunkenen +Schläfen zur Seite gekehrt, die Luft darüber wie ein +unendliches Gewölbe. +</p> + +<p> +Auch manche Felsenburg tat jetzt entbrannte Zacken +auf; kurz, eine andere Welt als die des Tages stand +<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a> +schon gerüstet. Plötzlich hielten mich zwischen zwei +scharf vorspringenden Felsen zahllose Schafe auf, die +mächtig wie ein Volk auf halber Höhe den Berg belagerten. +Mit ihnen zog eine Anzahl Widder, die +innehielten, als sie mich kommen sahen, und mich +aufmerksam, wenn auch stolz, betrachteten. Nirgends +ein Hirt zu sehen, als wären sie die Führer. Ihre +geschneckten Hörner abwartend mir zugekehrt, versperrten +sie den Weg. Um weiterzukommen, mußte +ich halb quer hindurch, halb mit der Herde laufen. +Eine überwältigende Ruhe, ja ein Glück ging von ihr +aus, daß man, am liebsten auf vieren gestellt, eins +mit ihr geworden wäre. +</p> + +<p> +Der Weg nahm gar kein Ende. Meine Schuhe +gingen in Stücke. Meine Füße waren zerschunden. +Schwer hinkend erreichte ich endlich das schon +a giorno beleuchtete Wengen. Aus der Halle des +Hotels trat der Seidenaff im Tuchbrokat von silberigem +Weiß, hoch mit Zobel verbrämt. Doch der Jugend +kommt alles zugute; kostbare Gewänder unterstreichen +sie nur. Die leichte Gestalt wird durch den +schweren Staat gehoben, nicht gedrückt. Lang und +gewichtig hing die Perlenschnur herab. Das Haar +war braun. Gerade seinem weichen Schimmer schmeichelte +die Härte des diamantenen Reifs. In Treibhäusern +wird heute die gefüllte, immer gefülltere +Nelke gezogen. Mit solchen gefüllten Nelkenaugen, +gut und klug, doch fern dem Ziele, blickte der Seidenaff. +</p> + +<p> +<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a> +Tags darauf fuhren wir zu Tale, San Cividale, dem +Longobarden entgegen. Fortunios schrieben aus +Beatenberg, wo ich mich denn herumtriebe, und fürs +erste blieb ich jetzt in Interlaken, um meinen Nachruf +zu beenden. Da mir keine Seele des Ortes bekannt +war, verbrachte ich meine Tage ohne zu sprechen, +und schon lebte ich eingesponnen und wie unter +Glas, als die Lektüre eines Zeitungsartikels mich ganz +aus der Stimmung riß. Es war ein Aufruf von Andreas +Latzko, der wesentlich aus Vorwürfen, und zwar sehr +berechtigten Vorwürfen an die Frauen bestand. Nun +haben diese ja im Kriege versagt und die härtesten +Dinge zu hören verdient, doch nur ihnen selbst kann +es zustehen, sie zu äußern, dem Manne heute mit +keinem Wort. Ihre Unzulänglichkeiten sind sein +Werk, von ihm gezüchtet und beabsichtigt, selbst sein +Überdruß an ihr war als Triumphgasse für seine +Eitelkeit gedacht, was er vollends ihre Ungleichheit +nannte, war seine Politik. Wie stark seine Krone +zerzaust ist, ahnen beide noch nicht. Die „Penalty +of the war“, von der soviel die Rede ist, wird noch +eine ganz andere sein, als man im allgemeinen glaubt. +Die Frau wird ihre Chance haben. Mag der Mann +noch auf Jahrhunderte das Überragende leisten, ihr +Aufstieg wird sich unaufhaltsam als eine Folgeerscheinung +seines Bankrotts vollziehen. Bilder +schwebten mir vor . . . . war sie nicht schon im +Begriff, mit jedem Jahrgang schöner, individueller +<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a> +zu werden? Erhob sich ihre Gestalt nicht freier, +knabenhafter, mehr auf sich selbst gestellt, von Jahr +zu Jahr? +</p> + +<p> +Schlimmstenfalls konnte ihr Regime zu keinem +ärgeren Chaos führen, als das, welches wir unter der +ausschließlichen Führerschaft der Männer und ihrer +Gesetzbücher erleben. Oh diese Gesetzbücher! Sie +forderten, daß man vom Tag eines Krieges an nurmehr +mit seinem Vater verwandt sei. +</p> + +<p> +In meiner Aufregung, meiner Bedrücktheit, lief ich +in der Mittagshitze den Brienzer See entlang, bis zur +Erschöpfung. Und mit einem Male wurde mir das +Karthäuserschweigen viel zu viel; da zudem schwere +Regentage einsetzten, brach ich auf und fuhr nach +Beatenberg. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-2"> +Beatenberg. +</h3> + +<p class="dat"> +AUGUST. Ich wohnte eine halbe Stunde von Fortunios +entfernt, und mein Hotel stand zu Anfang der breiten +Straße, die über tausend Meter hoch ganz eben dahinläuft, +den großen Rat der Gletscher stets im Angesicht. +Wie zu einer Riesenpolonäse aufgestellt, schienen +sie, je nach der Beleuchtung, zurückzutreten oder +loszuschreiten bereit. Nur der Regen sprengte den +Bund. Dann verschwand jeder einzeln in seinem Zelt +und wußte nichts mehr vom andern. Wusch sich aber +nachts der Himmel wieder rein, so hielt beim Morgengrauen +die Jungfrau entgeistert Cercle, als harre sie +<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a> +nur des Zauberrufes, um der Sonne bei ihrem ersten +Strahl ekstatisch entgegenzutanzen. Leider kam auch +hier die Arbeit nicht in Fluß; das sehr geräuschvolle +Haus bot keine Möglichkeit, sich abzusondern. Unmittelbar +daran grenzte der Wald und führte sogleich +sehr steil ins Weglose hinab. Und hier nun entdeckte +ich eines Morgens, ganz hinter Tannen versteckt und +der Tiefe zugewandt, ein kleines, verlassenes Blockhaus. +Ich rannte ins Hotel zurück, forschte nach dem +Schlüssel und erlangte ihn. So gehörte das Chalet +mir, da ich es beziehen durfte. Den Schlüssel ans +Herz gedrückt, eilte ich zurück. Im Raum des Erdgeschosses +verbrachte ich nun meine Tage. Die +Läden blieben herabgelassen. Nur durch die Türe, +die ins Freie führte, drang das Licht; auch die Bäume +hielten es auf. Nur Tannen, Wald und Moos und +keine Aussicht außer sie. Hier hatte man vor den +ewigen Gletschern Ruh. Und keinen Laut als den +der Vögel. +</p> + +<p> +Oh Sommersmitte! Oh göttlicher Augenblick des +Innehaltens, du ohne Zeitmaß, ohne Intervall, mitten +ins Jahr gesetzter Orgelpunkt! +</p> + +<p> +Groß aber blieb die Not der unterbrochenen Arbeit. +</p> + +<p> +Zwischen Tür und Fenster lief eine Ruhebank mit +daraufgeschütteten Kissen die Bretterwand entlang. +Ich warf mich hin; ächzend. Es roch nach Tannen, +Blumen, des Morgens im Walde gepflückt, hingen +schon ermattet im Glase. In diese holde Schwüle +<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a> +tanzte ein geflammter Schmetterling herein. Mein +rechter Arm hing herab, ich war zu lässig, ihn zu +heben. Vor Wonne fielen mir die Augen zu. Hält +die Einsamkeit der Gemeinschaft Letztes, die wir +Lebende ersehen? Was war geschehen? Verloren +blickte ich auf. Der Falter? War er als Bote hereingeflogen? +— Wer war gegangen? — +</p> + +<p> +Flüchtig ist kein Wort. Und doch . . Von welcher +Gegenwart und welch durchdringendem Ton +vibrierte nunmehr auf immer die Luft dieser Hütte? +War sie, deren Bild ich festzuhalten suchte, ein Elf? +Denn der Griff einer Hand von elfenhafter Feinheit +hatte deutlich die meinige erfaßt. In unbeschreiblicher +Rührung hob ich den Arm, sprang auf, saß wieder +vor dem Tisch, das Gesicht in den Händen vergraben, +und fuhr nun endlich wie in einen Schacht tief in +meine Arbeit ein. +</p> + +<p> +Da fiel ein Schatten — jemand trat unter die Türe. +Es war Fortunio. Ich stieß einen Schrei aus, als sei +er ein Gespenst, und fühlte Nervenstränge, deren +Vorhandensein mir jetzt erst zum Bewußtsein kamen, +zerreißen. „Wissen Sie, wie spät es ist?“ lachte er. +Seltsam. Sogar seine Stimme erfüllte den Raum mit +Schrecken. Das Ganze war zu arg, es zu erörtern. +So machte ich mich denn bereit, das Chalet zu verlassen, +warf aber, die Türe abschließend, noch einen +Blick zur Ruhebank zurück, zum Tisch mit den +Blumen im Glase, zu diesen Wänden, in welchen +<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a> +ich eins geworden war mit der Luft und der Seele +dieses Tages. +</p> + +<p> +Was war noch immer kurzatmiger als wie mein +Flug? Nicht von Schwingen durfte da die Rede sein, +die ausgebreitet und aus eigener Kraft die Höhen +beherrschen und sie behalten. Eher einer Rakete +vergleichbar, die, wenn das Glück es will, emporschnellt +und höher! höher! ruft, weil sie doch gleich +verstiebt. Da ist es Pech natürlich, wenn man sie +herunterholt. +</p> + +<p> +Wir gingen nun zum Hotel hinauf und setzten uns +auf die Veranda. In der Tat, der Abend war sehr +vorgeschritten. Beschaulich hing Fortunio an der +Gegend. Die eben noch umglühten Gletscher traten +jetzt, als sei die Sonne auf immer von ihnen geschieden, +von Blässe wie erschöpft, zurück. Welch ein Tag! — +Und schon faßte mich Grauen bei dem Gedanken, +ihn einsam beschließen zu müssen oder ins Chalet +zurückzugehen. Stand es noch? War’s nicht versunken? +Oder nur erträumt? So zog ich denn mit +Fortunio die lange Bergstraße zurück. Endlos dehnte +sich hier der Ort. Ganze Strecken zeigte sich kein +Haus. Und siehe, schon herrschte der Mond. In +seiner ganzen Fülle und unerschöpflich überfließend, +umschlang er streitsüchtig jeden Schatten und brachte +seine Schwärze ans Licht, kroch unter jeden Baum, +durchquillte alle Wälder und stieg und stieg in immer +geharnischterem Glanz, bis eine trunkene Erde, von +<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a> +ihm umsponnen und ganz mit ihm vermählt, mit +allen Pulsen zum Himmel schlug. Voll Entzücken +hatte sich die Jungfrau aufgerichtet — Mönch und +Eiger an der Hand, loszutanzen bereit. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Tags darauf fuhren San Cividale, der Longobarde +und der Seidenaff die steile Höhe herauf. Von weitem +schwang sie als Erkennungszeichen ihren Schirm +rundum. Jungfer und Kofferbestände hatte sie unten +gelassen und trug eine äußerst gerissene Sportjacke, +in der ihre Figur zu zergehen schien, und eine zwischen +mausgrau und mauve spielende Hemdbluse aus japanischer +Seide, deren perfide kleine Männerkrawatte +das ultrafeminine ihres Gesichtes zu letzter Wirkung +erhob. Die gefüllten Nelkenaugen, die das alles sehr +wohl wußten, blickten unbeteiligt flüchtig und beschattet. +Es war nur ein kurzer Besuch. Das Bähnchen +trug sie bald wieder davon. Und mit einem Male +waren mir diese ewig hingerissenen Gletscher, die +nie marschierten, verleidet. Herrlich in der Tat war +auch der Mantel der Vorberge, der in so tiefen Falten +über sie hinschlug, und herrlich war’s, wie er — von +oben gesehen — den See nachschleifte, gleich einem +köstlichen Saum. Beseelter aber blickte dennoch das +Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in <a id="corr-2"></a>dem +gewaltigen und dekorativen, aber fast überall stark +abgekehrten Oberland. Ich sehnte mich nach mehr +<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a> +brüderlichen Weiten, und sehr plötzlich, ohne das +Chalet wieder betreten zu haben, fuhr ich hinab. In +Spiez schrieb ich meinen Nachruf ins reine. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-3"> +Marguerite Kühlmann. +</h3> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">A</span>n den Kreis ihrer engsten Freunde wende ich +mich, sie, die zu ihr standen wie die Strahlen der +Sternblume, deren Name sie trug; denn so hingen +sie ihr an, und so faßt sie nunmehr die gemeinsame +Klage zusammen. Wie beneidenswert sind sie gewesen! +— +</p> + +<p> +Nicht, als seien sie sich dessen zu spät bewußt. +Hier trifft sie kein Vorwurf. Vielmehr hegten sie +ihr Wissen um das Werden dieser bedeutsamen und +seltenen Gestalt, die von ihrem schönen und guten +Wesen so viel weniger genießen durfte, als der gleichsam +von ihr ausgestrahlte Kreis, dem sie es zuwandte. +Denn wieviel Sonne war in ihr verwoben, und wie +beschattet ging sie doch! Unter der rhythmischen +und unzerstörbaren Ruhe ihrer Bewegungen welch +unaufhaltsames Vorwärtsschreiten! Wer hat sie je +hastig gesehen? Und doch welch ahnungsvolle Eile, +sich zu erfüllen! +</p> + +<p> +Geistigen Dingen zugewandte Menschen finden sich +gewiß nicht selten; der Maler und Musiker, auch der +Liebhaber der Künste sind viele. Aber wie wenige +gibt es, die auf das Schöne selbst Anziehungskraft +besitzen, so daß es wie auf mystischen Ruderschlägen +<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a> +ihrer Atmosphäre zugeführt, immer mehr Natur und +Element bei ihnen wird, und tatsächlich eine Art von +Wechselwirkung sich ergibt. +</p> + +<p> +So aber war das Schöne — wie ein Meister an +seinem Marmor — bei ihr am Werk. So umhing +es ihre Erscheinung, so meißelte es an ihren Zügen +und hob sie zu letzter Vollkommenheit der Linien +und des Ausdrucks. Unsere Herzen sind wund von +der Erinnerung ihrer Hände, so schwebend, einsam +und gesammelt, verklungen, auch sie mit der weiten +Melodie ihres Seins. +</p> + +<p> +Den wahren Hintergrund zu ihrem Bilde aber stellt +einzig jene offene und merkwürdige Gegend, in der +sie sich so heimisch fühlte, weil sie ihr glich. Dort, +wo ihr kleiner Landsitz hart an der dunkeln Bergwand +lehnte, von Mauern lang umfriedet, vor dem +Tor die hohe Linde schon den Bergfluß überhing, und +sein Gestein, und schon wie vor den Almen leere +Bergwiesen ansteigen, auf welchen die Kühe bis hin +zu den nahen Wäldern weiden; und diese sind wenig +begangen, schwer verträumt und düster fast, weil +hier sogleich das Hochgebirge seinen feierlichen Zug +beginnt. +</p> + +<p> +Doch öffnete man das Tor zum Hause, ach! Wie +rauschte es da von den kunstvollen Brunnen und den +Fontänen, in welcher Fülle zogen sich die Blumenreihen +hochaufgerichtet durch den Garten hin! Und +die Ebene ist’s, nach welcher dieser steile Garten +<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a> +niederfällt, und schaut: auf halber Höhe, wie zur +Freude hingemalt, der Kirchturm von Murnau, links +die ersten Berge, ansehnlich, aber noch vereinzelt, +sanft umrissene Präludien des Gebirges. Nach Osten +aber, wo sich anstatt der Mauer die lange Wandelbahn +und hölzerne Gartenzimmer nachsommerlich +hindehnen, wölbt sich als Abschluß der finstere Berg. +</p> + +<p> +Hier waltete sie im lichten Kleide inmitten ihrer +Blumen, wenn in der Ferne ein goldener Sonnenstaub +den Tag begrub, oder sie sah wartend nach dem +Mond, der so plötzlich hinter dem schwarzen Grat +aufging und dann sogleich alle Grotten und Beete +übergoß, und nur die finstere Bergwand noch finsterer +beließ. Und auf erhöhtem Stande der Apfelbaum, +wie sie ihn zeichnete, mit den Windlaternen bunt +über dem Tische wehend! +</p> + +<p> +Hier fühlte sie sich heimisch, hier drang das Lachen +ihrer Kinder immer bis zu ihr, und die Schwalben +zogen durch die Fenster unermüdlich ein und aus. +Und drinnen der Tisch vor den breiten Scheiben, +ach Freunde: vor dem sie saß — niemals müßig —, +lesend oder malend, oder eine jener kunstvollen +Arbeiten zur Hand, mit <a id="corr-3"></a>welchen dieses Haus geschmückt +ist, dessen Bau, dessen edle Räume wie +für sie erdacht, durch ihre eigene Anmut etwas so +Zauberhaftes wurden, daß sie durch ihren Tod für +uns verschüttet liegen. Die Türen, ach, durch die +sie trat. +</p> + +<p> +<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a> +Doch jenseits der Vorberge, in einer versteinerten +Welt, ganz klein und auf unwahrscheinlicher Höhe +steht die Jagdhütte, an deren winzigen Fenstern sie +die rot- und weißgewürfelten Gardinchen hing; sie +liebte das Frohe. Ganz dem Schauen hingegeben, +lief sie dort die Kanten der Berge entlang, denn das +einzig Verweilende an ihr, von allem Persönlichen +unmittelbar Losgelöste war ihr Auge. Bald lockten +sie die Höhen, bald die Weite und das Moor, oder +sie stellte dort ihren Malstuhl auf, wo der kleine, +von der Abendsonne warm getönte Fluß so rasch den +gemiedenen und immer trauernden Hügel umfließt. +</p> + +<p> +Diese reichhaltige Landschaft, die sich wie ein +Fächer dem Auge entfaltet und verschließt, glich ihr +so ganz, daß für uns, die sie dort sahen, ihr Bild wie +eingetragen bleibt in diese Gegend. +</p> + +<p> +Nicht auf Festen schwebt es uns vor, deren Glanz +das sanfte Feuer ihrer Schönheit so sehr erhöhte, und +nicht in großen Städten, weder in Paris, dessen geistiges +und künstlerisches Leben ihr so nahe ging, noch in +London, wo sie gefeiert und bewundert wurde. Denn +in ihr hatte Deutschland eine so liebenswürdige und +seltene Vertreterin gefunden, daß die Sympathien, +welche sie sich erwarb, durch die Ereignisse nur verstummten, +aber nicht verloren gingen. Denn weit +über die Gräben hin, welche die Nationen voneinander +trennten, klang ein Echo der Trauer über die Kunde +ihres Todes herüber. +</p> + +<p> +<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a> +Es mag ja sein, daß ihre großen Erfolge im Ausland +ihr um so neidloser zugestanden wurden, als +man sah, welch flüchtigen Gast sie krönten. Denn +ehe man sich’s versah, lagen ihre viel bewunderten +Kleider in Kisten wohlverpackt, und sie selbst stand am +Perron, Sehnsucht im Auge, um nach ihrem geliebten +Ohlstadt zurückzufahren. Sie erzählte noch im letzten +Sommer ihres Lebens, sie habe mit Freudentränen um +sich her geschaut, als sie den „Raunerhof“ zum ersten +Male und zugleich als ihr Eigentum besichtigte. +</p> + +<p> +So nah berührte sie der Ort. +</p> + +<p> +Es waren pantheistische Anklänge in ihr, die man +nicht überhören durfte, um sie zu kennen. +</p> + +<p> +Denn so edler Natur war die zu weite Spannung +ihres Wesens, die eine Lücke ließ zwischen dem +Leben und ihr. Ein suchendes, verlorenes Etwas +fand hier seine Brandung, und was Wunder, daß sich +ihr Blick, allen Sicherungen zum Trotz, so häufig aus +dem Alltag, wie aus einem zu engen Hause stahl. +</p> + +<p> +Und kannte ihn doch kaum. +</p> + +<p> +Seine immer neu sich bereitende Unsicherheit, böse +und gefährlich wie die Gärungen der Gletscher, seine +Verweigerungen, seine Öde erfuhr sie nicht. Ja, +sie blieb von einer zu deutlichen Kenntnis dieser +Welt bewahrt; ob sie es merkte oder nicht, ihr Kontakt +mit ihr war immer umgeschaltet, ja sie war geschützt. +Aber wir wissen heute, warum die so innig +Umringte dennoch einsam und beschattet ging, als +<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a> +sei alles vergebens; was dies heimliche, innere Versagen +und ihre unrobuste Art bedeutete. Denn wir +wissen nicht, was sich in denjenigen bereitet, die inmitten +ihrer Jugend von den Höhen des Lebens weg, +einzeln und jäh zu den Toren des Todes hintreten +und in seine Verlassenheit gehen. Keine letzte Verklärung, +kein noch so sanftes Verlöschen nimmt +einem solchen Los etwas von seiner Schwere. +</p> + +<p> +Ach die besten Freundesherzen sind noch zu träge! +Allzu leichten Sinnes nahmen wir das schöne Geschenk +ihrer Gegenwart hin und bedachten die deutlichen +Merkmale eines frühen Scheidens an ihr nicht. — +</p> + +<p> +Wer hat nicht jene Flugzeuge gesehen, die als +dünner Korb, nur durch Taue einem Riesenball verbunden, +ganz ohne Geknatter vorüberschweben? +Ein Windhauch streift die von ihm Getragenen. Je +höher sie sich steigen sehen, desto langsamer dünkt +ihnen sein Flug. Da zieht vielleicht eine Wolke +vorüber, von einer schwarzen Kugel pfeilschnell +durchzuckt und alsbald überflogen, die nichts anderes +war, als der Schatten des Balles, der unbewegt und +still wie eine Ampel in der Luft zu hängen schien. +</p> + +<p> +Dies aber war bei stillem und oft schwer verträumtem +Wesen das Tempo ihres inneren Werdens; +mit so verzehrender Eile durchmaß sie ihre Bahn, +und nur wer ganz zuletzt in ihrem Umkreis lebte, +vermöchte auch das Letzte über sie zu sagen. Denn +immer merkwürdiger und geschlossener wurde die +<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a> +Harmonie dieser, vom Dianenhaften so getragenen +Gestalt. Nur tragischen Naturen aber ist es gegeben, +sich zu erfüllen. Die Norm ringt sich vom Fragmentarischen +nicht los. +</p> + +<p> +Oh Marguerite! Daß meine Worte sich aufrichten +dürften wie Säulen, und daß sie sich zusammenschlössen +dir eine Stätte zu bilden des Innehaltens +und der Rast, wo du — staunend vielleicht, doch +ohne Gram — zurückblicktest auf dein Leben; oh daß +es zwischen seinen Ufern an dir vorüberzöge und +dein sinnendes Auge so darauf verweilte, wie einst +in deinem Garten auf das Getürme der Wolken im +verglühenden Tag. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +SEPTEMBER. Meine Zimmer waren zum Glück bis +in den Oktober hinein vermietet, und ich trieb mich +bald hier, bald dort herum, bald in Zürich, bald in +Luzern, in Montreux oder Genf, nur nicht in Bern. +</p> + +<p> +Die Ära Kühlmann war ein Grund mehr, es zu +meiden. Man erinnerte sich prompt, daß ich in +London in seinem Hause verkehrt hatte, und meine +Stellung gestaltete sich noch um ein Stückchen +schiefer. Ich hatte jetzt zu schreiben wie ein Minister, +und es regnete Briefe. Sie betrafen zumeist Todesurteile, +Deportationen, versprengte französische oder +belgische Kinder. Dabei hielten jetzt die Zensuren +meine Korrespondenz scharf im Auge; die harmloseste +<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a> +Post aus Deutschland erreichte mich erst in +vier, Expreßbriefe erst in sechs Wochen. Um an +Kühlmann zu schreiben, mußte ich schon seinetwegen +den Umweg über die Gesandtschaft wählen. +Meist wandte ich mich an Schreckenburg oder an +den Grafen Carry. Zu Anfang ging’s. Zwei junge +Belgierinnen hatten ihren eigenen Landsleuten Warnungen +zukommen lassen; dafür sollte die eine erschossen +werden. Kühlmann erreichte ziemlich +rasch eine Rückgängigmachung des Urteils. Auch eine +kranke Dame aus Cambrai brachte er noch über die +Grenze. Als ich aber wegen der Familie des +Professors von L.-P. bestürmt wurde, die Frau +und fünf Kinder, (der älteste Sohn im deportationsfähigen +Alter<a href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a>), in die Schweiz zu retten, schickte +<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a> +mir Kühlmann ohne Kommentar den Zettel, auf +welchem die hohe Militärbehörde eine Bewilligung +seines Gesuches kurz und bündig verweigerte. Auch +ohne dies — acht Tage nach seiner Ernennung — +wußte ich ihn verloren. +</p> + +<p> +Ich muß hier bis in den Londoner Sommer 1913 +zurückgreifen, und zwar bis zu dem Abend meiner Abreise +nach Irland. Kühlmann war damals jener Pläne +stolz und froh, welche ein Jahr später in der von ihm +inspirierten Broschüre „Weltpolitik ohne Krieg“ ihren +Ausdruck fanden. Ich erinnere mich jenes Besuches +noch sehr genau; die Teemaschine sang, wir besahen +einige Bilder, und dann fuhr mein Zug, der um +Mitternacht die Küste erreichte. Alle Kabinen des +Schiffes jedoch waren besetzt, und ich hatte vergessen, +<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a> +eine zu reservieren. So blieb nur der große Schiffsalon, +wo ein freundlicher Steward mir in den tiefen +Ecken des die Wände entlanglaufenden Sofas ein +herrliches Lager bereitete. Der Länge nach ausgestreckt, +hatte ich auf diese Weise eine Riesenkabine +für mich allein und konnte mich vor Freude gar nicht +beruhigen. In meine lange Lederschaukel tief +hineingebettet wie in eine Muschel, hoch hinauf +und hinunter schwingend mit dem nächtlichen, +heftig bewegten irischen Meer als Wiege. +Wie sang, wie rauschte es mich zur Ruh! Wie +segnete ich den Steward und meine eigene Vergeßlichkeit. +Hin und wieder waren mir die Götter +doch hold. +</p> + +<p> +Doch weh, ach wie schlug ihre Gunst in die grausamste +Ungnade um! Oh des zerrissenen Schiffes, +das schon aufgehört hatte zu sein! In ein Rettungsboot +gestoßen, auf eine Planke geworfen und nichts +anderes als den Tod von den eben so gepriesenen +Wellen zu gewärtigen, wühlten sie sich zu Felsen auf, +hart und unbarmherzig mich zu begraben. Vor mir +ruderte Kühlmann wie besinnungslos, und seine Anstrengungen +angesichts eines solchen Orkanes dünkten +mir lächerlich. Aber ich ruderte ja selbst mechanisch +aufs Geratewohl, und dann stürzten die schwarzen +Berge über das Boot. +</p> + +<p> +Wieder rauschte das Meer im eintönigen Sang, +über mir war schon erkennbar in der ergrauten Nacht +<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a> +die Decke des Schiffes, und ich lag wie zuvor in der +ledernen Muschel gewiegt. Aber für kein anderes +Lied als für das finstere Echo meines Traums hatte +ich ein Ohr. Alle Freude war tot. Ich warf die Decken +fort und saß zusammengekauert, schlaflos, verwüstet, +uralt. +</p> + +<p> +Durch den Krieg glaubte ich meinen Traum erfüllt. +Die Ernennung Kühlmanns hatte mich zuerst gefreut. +Er hatte von Jugend auf mit allen Kräften dem Krieg +entgegengearbeitet, und ich hoffte, es würde ihm +gelingen, sein Ende herbeizuführen. +</p> + +<p> +Aber er waltete noch keine acht Tage seines Amtes — +ich war in Wengen und lag in der Sonne — als im +Halbschlaf das Bild eines hohen Gerüstes sich aufdrängte, +ähnlich dem Eiffelturm, und auf der Spitze +Kühlmann, aber schon im Begriffe kopfüber abzustürzen, +so zwar, daß er sich in der Luft zu drei Malen +überschlug. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Am Tage nach seinem „Niemals“ kam Abigail +mit einer stoßbereiten Miene, wie ein Widder zu mir. +Zur Annahme einer schroffen Haltung Kühlmanns +war ich jedoch um so weniger berechtigt, als mein +frühestes Buch Aufsätze, welche auf seinen Rat den +französischen Titel „L’âme aux deux patries“ führten, +die Behauptung aufrechthielt (denn mit der Feder +war ich von jeher sehr dreist), die Annektion Elsaß-Lothringens +<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a> +sei ein Fehler, den Bismarck, wenn er +noch lebte, kein zweites Mal begehen würde: er +hätte ein anderes Äquivalent dafür ersonnen. Dies +Büchlein, das im übrigen ganz unter den Tisch +fiel, fand nur durch ihn eine so kräftige Verbreitung, +daß sich der Verdacht regte, er sei dessen +Verfasser. +</p> + +<p> +Auch zu jener Unterredung mit Zimmermann im +Januar 1917, die einzig der Notwendigkeit einer Diskussion +des elsaß-lothringischen Problems galt, hatte +er mir verholfen, und im Nebenzimmer eine Unterhaltung +geführt, damit wir ungestört blieben. Auch +waren mir die Worte erinnerlich, welche er im Jahre +1915 diesbezüglich fallen ließ, zu einer Zeit, wo die +Aussichten für Deutschland noch günstig erschienen. +Sein „Niemals“, konnte ich daher nur als einen +Brocken ansehen, den man Kläffern vorwirft, um sie +von sich abzuhalten und weitergehen zu können: +ein nach innen und in die Kulissen, nicht nach +außen gerichtetes Wort. +</p> + +<p class="dat"> +OKTOBER. Statt der drei kleinen hatte ich jetzt ein +einziges großes, fast saalartiges Zimmer nach Norden, +auf die Lauben hinaus. Schmuck, ja zierlich stand +hier der Flügel im Raum. Die Wände hatten +lichte Täfelungen, und der indische Schal mit dem +weißen Feld fiel von der Decke bis zum Boden +und schien eine Türe. Der Toilettentisch blitzte +<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a> +im Schatten auf: sein Hauptschmuck waren jetzt +zwei silberne Renaissanceleuchter, vom Seidenaffen +beschert. +</p> + +<p> +Über das Zimmer selbst ist weiter nichts zu bemerken, +als daß eine Reihe von Unterredungen dort +stattfanden, die alle zu nichts führten. Ein Wort über +meine politische Wirksamkeit. Wir wollen sie so +nennen. Eine ganze Weile brachte ich gewiß alle +Spionagen und Gegenspionagen zur Verzweiflung. +Scheinbar für eine jede ein kinderleichter Fang, war +das Verwirrende gewiß, daß ich gleichzeitig in Diensten +<em class="em">sämtlicher</em> Regierungen zu stehen den Anschein +haben mußte. Wenn jemand keine Parteien kannte, +so war ich es. Außer Japan, China, Rußland und +Marokko durften nur noch Schweden, Norwegen +und Dänemark sich rühmen, daß keiner ihrer Staatsangehörigen +bei mir gewesen sei. Mein Zimmer war +so recht die Halle der vergeblichen Zusammenkünfte, +und wenn ich auch keine einzige vom Zaune brach, +schob ich doch auch keiner einzigen den Riegel vor, +selbst als mir kein Zweifel über ihre Vergeblichkeiten +blieb. Der „Friede“, ein Wort, das mich im +Schlaf elektrisierte, war wie das große Los oder +wie das Leben eines aufgegebenen Kranken immer +eine Möglichkeit. Und ob ich auch anfing, dem +Kopfschütteln Fortunios beizustimmen, stürzte ich +doch, wie Kundry im ersten Akt, bei jeder Veranlassung +nach dem Heilkraut davon, das keine Linderung +<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a> +mehr bringen konnte. So setzte ich mich in +Bewegung, so braute ich mit Todesverachtung meine +Tees, ob mich auch schon ein wahres Grauen vor +all den Nieten faßte, die sich zu Bergen vor meinem +Tische häuften . . . Den dümmsten und ungeschicktesten +Leuten schenkte ich dennoch Gehör. Vielleicht +war gerade dieser Narr der reine Tor, vielleicht hatte +ich doch recht. +</p> + +<p> +Meine Verständnislosigkeit für Natur und Beschaffenheit +dieses Krieges ging ja so weit, daß ich +vom ersten Tage seines Bestehens an von Monat zu +Monat überzeugt war, länger als sechs Wochen +könne er nicht mehr dauern. Immer schien mir alles +sein nahes Ende zu künden. Als zum ersten Male +von zahlreichen Gefangenen die Rede war, dachte +ich: jetzt ist bald Schluß. Als Ruhleben entstand, +dachte ich: jetzt wird man verhandeln. Wer ließe +seine eigenen Leute so im Stich? Obwohl ich, was +die Schlechtigkeit des einzelnen anging, einen so +radikalen Standpunkt vertrat und immer darauf +aufmerksam machte, daß die Larven triumphierten +und der Edle geopfert würde, ja, daß es stets ein +besonderer Glücksfall sei, wenn er nicht unterliege, +so hatte ich den so naheliegenden Schluß von der +Familie zum Staat (und was ist sie anders, wenn nicht +die Welt und Geschichte im kleinen?) merkwürdigerweise +noch immer nicht gemacht. Immer noch +wähnend, es ginge um den Frieden, da es ja gar nicht +<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a> +ihn, sondern Sieg und Niederlage galt, glaubte ich, +durch meine Absicht und durch meine Gesinnung +alle endlich zu überzeugen und für mich zu gewinnen, +bis ich mit Entsetzen merkte, daß gerade meine +Naivität Bedenken erweckte. Wie hätte auch Aramis, +da es mir keineswegs an Menschenkenntnis gebrach, +eine so große Weltunkenntnis bei mir vermutet? +Und daß ich unter Kapitalismus immer noch einige +Bankiers verstand? Vielmehr war es natürlich, daß +eine Gesellschaft, welche den Krieg als eine Institution +begriff, an meiner Friedensmanie Ärgernis nahm. Ich +hielt mich für besser als sie, während ich vor allen +Dingen unwissender war. Und diese Unwissenheit +stellte zu meiner Soloarie den verdrießlichen Baß. +</p> + +<p> +Dennoch war, als mir endlich ein Licht über die +Welt und zugleich über mich selbst aufging, die erste +Folge die Furcht. Ging ich spät die Lauben entlang, +so faßte mich Schrecken, wenn nur die Umrisse eines +Mannes oder nur sein Schatten hinter einer Säule +sichtbar wurde. Da war ja eines jener unerklärlichen +und gefährlichen Wesen, die es so eingerichtet hatten, +daß ihresgleichen heute vielfach auf einem Beine +durch die Lande hopsten. +</p> + +<p> +Meine Tätigkeit, die sich vor jeder Offensive verdoppelt +hatte, war nur mehr mechanisch. Die letzte +Zusammenkunft, die sich in meinem Zimmer begab, +fand mit Professor H. statt. Er berief sich auf wichtige +Eröffnungen auf Grund amerikanischer Aufträge, +<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a> +die er zu machen habe. Es erfolgte noch einmal ein +Depeschenwechsel mit den Restbeständen dessen, was +man noch deutsche Regierung nannte, und was längst +unter den Hufen der Militärkavalla zertreten lag. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +In diesem über alle Maßen traurigen Winter +strich ich eines Abends müde durch die Lauben, als +Abigail an mir vorüberschoß. Busoni spielt heute +Abend! rief er mir zu. Nun lief auch ich und kam +noch gerade recht, bevor er eine Orchesterfantasie +von Weber zu spielen anfing. Und siehe da, man +lebte, war seiner Ketten ledig und richtete sich auf. +</p> + +<p> +Von nun an befaßte ich mich stark mit seinen Kompositionen +und fuhr nach Zürich, wenn dort ein neues +Werk von ihm zur Aufführung gelangte. Eine bequeme +Gabe ist es ja nicht, den Wert eines überragenden +Typs zu erkennen; sie legt Verpflichtungen auf; es +ist nicht, als ginge sein Wohl und Wehe uns nichts an. +</p> + +<p> +Verdrießlich genug ist es ja vielfach mit seiner +Anhängerschaft bestellt. Wie an den Reichen die +Profiteure, so drängen sich an den Schaffenden die +Parasiten des Geistes heran. Und vielleicht, wer weiß, +ist ihm in mancher Feierstunde, die ohne Anregung +verlief, der Chor seiner Widersacher minder fatal +wie der seiner Anbeter. +</p> + +<p> +Von dem Unmut des alten und stark zensurierten +Wagner, von einem verzweifelten Versuch sogar, den, +<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a> +öden Sockel auszureißen, auf dem er sich wie ein +Götze gestellt sah, drang nur durch Zufall etwas in +die Außenwelt. Während seine Umgebung den ungeheuren +Überdruß der nachwagnerischen Ära bereiten +half, ließ er selbst seine Werke weit und ungeduldig +hinter sich zurück. Lange ehe seinem Lohengrin +die grausige Popularität beschieden war, hatte +er „mit Ekel in die Partitur gestarrt“<a href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a>. Später eilte +er schnell mit dem Nachtzug davon, wenn eine Stadt, +die er bereiste, ihm zu Ehren eine seiner Opern ansetzte. +Er hatte den schönen und naiven, wenn auch +natürlich vergeblichen Wunsch geäußert, seinen „Ring“ +ein einziges Mal auf einer eigens errichteten Bühne +in höchster Vollendung zur Aufführung zu bringen, +um sodann Bretter und Partitur auf immer zusammenzuschlagen<a href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a>. +</p> + +<p> +Wer ein einziges Mal Friedrichs, den unvergleichlichen +Darsteller des Alberich, während seiner kurzen +Laufbahn vernommen hat, der vergißt <a id="corr-4"></a>nie die unheimliche +Wirkung seines plötzlichen Vortretens, als er, +hart vor der Rampe, mit seinem dunklen und prachtvollen +Organ den Fluchgesang erhob. Sich selbst, +die ganze Welt fühlte man da bedroht, und wer die +Alberiche, wer die Nibelungen sind, und welche +Bewandtnis es hienieden mit ihnen hat, wurde einem +in unmißverständlichster Weise gelehrt. +</p> + +<p> +<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a> +Was aber kann so nichtssagend gemacht werden +wie das Bedeutsame? +</p> + +<p> +Gerade von groß angelegter Musik gilt das Wort: +„La musique doit toujours nous surprendre.“ Laßt +Dezennien des Schweigens und der Vergessenheit +den „Ring“ begraben, damit sich von neuem +offenbaren könne, welcher Vorhang da zurückschlug +vor einer bis auf den Grund durchschauten +Welt . . . +</p> + +<p> +Erst die Züge des späten, weltberühmten und gefeierten +Wagner zeigen den trüben, resignierten und +abgewandten Schein, als dünke ihm jetzt erst, da +alles erreicht war, alles vergebens. Mime und Cie. +rächten sich, indem sie ihn ableierten. Als Kassenstücke +ausgebeutet, wurde das Wagnersche Werk zum +Unding, zur Säge, zur Obstruktion . . . +</p> + +<p> +„Schafft neues!“ war sein immerwährender Ruf; +dafür wurde à la Wagner weiter komponiert. +</p> + +<p> +Sehr wagnerisch bewegt und sehr unwagnerianisch +(denn was könnte es unwagnerischeres geben als den +Wagnerianer?) ging ich eines Abends, von Busonis +Hause kommend, durch die nächtlichen Straßen +Zürichs, wo einst Wagner gerungen hat und heute +Busoni ringt, und wo beide ein Asyl gefunden +hatten. Mit letzter Gewißheit wußte ich da, daß +der viel mißbrauchte Meister, der sich gerade +über den so weit von ihm abliegenden Mozart so +begeistert äußerte, heute gerade an dem selbstherrlichen +<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a> +Busoni und dessen von ihm sich entfernenden +Wegen sein tiefstes Gefallen fände. Weit über das +Leben hin tragen sich ja die wichtigsten Gegensätze aus. +Denn sachte nur beliebt es den Göttern. Einen nach +dem andern nur lassen sie zu Worte kommen. Ihr +Neid duldet nicht das gleichzeitige Auftreten zweier +allzu interessanter Fechter. Eher hielten sie ihnen eine +Binde vor die Augen, als zu gestatten, daß sie ihre +Klingen kreuzten. +</p> + +<p> +Höchst merkwürdig aber ist es, daß die Persönlichkeit +nie wichtiger gewesen ist, als jetzt in dieser +Zeit der Massenschicksale der Hungers und der +Kohlennöte. Nicht nur alle Spreu sehen wir heute +inmitten der Äquinoktien aufwirbeln, auch manche +Gesetztafel zerschlägt aufs neue. Der Heilige des +Tages sucht nicht mehr die Wüste, sondern tritt mitten +unter die Menschen und fällt unter ihren Streichen, +nicht weil er die Abkehr predigt von der Welt, sondern +um seiner Beglückungstheorien willen. +</p> + +<p> +Aber nicht lange mehr wird der Auserwählte als +ein Dulder gehen. Entweder sehen wir ihn bald als +eine verlorengegangene Spezies ganz um die Ecke +gebracht, oder sein Reich wird kommen. Es ist eine +Täuschung, zu glauben, daß eine Welt, deren Schlechtigkeit +und Gewalttätigkeit sich derart nach oben +kehrte, so bleiben könnte, wie sie ist. +</p> + +<p> +Hier mag stehen, was ich zwei Jahre später schrieb: +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-4"> +<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a> +Busoni. +</h3> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">I</span>ch hörte Busoni zum ersten Male vor zwei Jahren +in Bern. Er sah mit einem Blick weit hinausgerückter +Vereinsamung, den man an diesem Gesicht sofort +begriff, gleichsam zu sich selber auf und fing an zu +spielen. +</p> + +<p> +Das gibt es also noch, dachte ich nach einer Weile. +Da geht man mühselig seinen Weg, und plötzlich +dies — dies plötzliche Angelangtsein, diesen Schauer +der Ruh, diese unvermutete Herberge. +</p> + +<p> +Bei Busonis Spiel, so herrlich es ist, will ich jedoch +nur kurz verweilen. Er ist wohl deshalb der größte +Pianist, weil er implizite einer ist, weil unter der +Zauberformel, welche seine Finger darüber sprechen, +die Metamorphose eines an sich zweifelhaften Instrumentes +sich ergibt. +</p> + +<p> +Wir kennen so manche vorzügliche Pianisten. Aber +wie wenige machten uns das Klavier vergessen! Da +ist Holz, sage ich, da sind Pedale, ein schöner Anschlag +vielleicht und ein großes Können dazu. Aber +für den Hörer nicht eben sehr nachhaltig: <em class="em">Klavier</em>. +Besinnt euch. Ist es anders? +</p> + +<p> +Eher ließ noch das orchestrale Klavier Illusionen +zu; ich habe große Dirigenten gehört, die es zu einem +prachtvollen Notbehelf gestalteten. Von solchen Vorspiegelungen +jedoch kann bei Busoni nicht die Rede sein. +Dazu ist er zu sehr Kenner des Instrumentes, belauschte +er es in allen Fibern zu genau. Etwas ganz +<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a> +anderes ist hier am Werk: Mozart hatte sich eine +verzauberte Flöte ausgedacht: hier nun wurde tatsächlich +das „Piano enchanté“ zur Wirklichkeit. Wir +brauchen dabei nur an seinen Vortrag, der an sich +kaum noch erträglichen Pianofortekompositionen Liszts +zu erinnern, dieses riesenhaften und vermoderten +Rosenbuketts mit verschossener Bandschleife . . . statt +dessen wird eine ganze Epoche, die des zweiten +Kaiserreichs, vor uns lebendig: Pracht, Tand und +Duft, Fächerspiel, lächelnde Augen, Krinoline, Vergessenheit; +alles retrospektiv gesehen, mit magischer +Schärfe aufgerufen. Daher auch die ernste Maske +im Hintergrund. +</p> + +<p> +Schließlich, wenn alles gesagt ist, bleibt von einem +Menschen immer nur das Neue. Die Geschichte +unseres Geistes sind weitergegebene Signale. Aber +nicht immer das zuletzt Gegebene wird von dem +Kommenden aufgegriffen. Die Schrift ist kraus. Und +die, welche an ihr schreiben, haben vor allem ihr +<em class="em">geistiges</em> Elternpaar, ihre geistige Familie und +ihre geistige Sippe. Falls wir eine neue Zeit zusammenbringen, +wird auch eine neue Heraldik mit ihr aufkommen. +Gar merkwürdige Erzhäuser, Dynastien +und ihre Nebenlinien werden sich da herausstellen. +Und kaum einen Stammbaum dürfte es heute geben, +der weiter verzweigt und interessanter zu erforschen +wäre, wie der des so universalen Busoni. Keine +Vaterschaft, die ihm an der Wiege gesungen wurde, +<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a> +sondern die sich vielmehr vor ihm verbarg, ihm +vielmehr auferlegte, sie zu entdecken. +</p> + +<p> +Viele Jahre hindurch ist es in seinen Werken wie +ein umsichblicken, ein plötzliches horchen, sichunterbrechen +und stillestehen. Konzessionen kennt +er nicht. Was das unvorbereitete Ohr noch grau, +abstrus, bizarr anmutet, sind die Schatten des Weges, +auf dem er sich entfernt. Seine Zeitgenossen verlieren +ihn aus dem Gesicht. Mit dem embarras de richesse, +welchen Berlioz, Liszt und Wagner in das Orchester +hineingetragen haben, ließ sich ja noch lange +wirtschaften. Richard Strauß buchtete das von den +Vätern Erworbene noch weiter aus, erstand noch die +oder jene Pagode hinzu, und zum Beweis, daß er ein +Allerweltskönner sei, schuf er in seiner „Ariadne“ eine +antike Seite — ich brauche sie nicht zu nennen — +von ewigem Wert. +</p> + +<p> +Auch bei dem feinen, wenn auch kurzatmigen +Debussy horchten wir auf. Einige noch unvernommene +Töne schlugen da an, wie in Farbe getaucht, morbid, +verzückt, nur scheinbar dekadent, nicht dekadenter, +sagte ich schon, als ein Mondreflex auf einem verrosteten +Gitter. Jedoch viel zu sagen hatte er nicht; +auch er fragte sich nicht, wie es weitergehen sollte, +und er verstummte schnell. +</p> + +<p> +Genie ist nicht nur Fleiß (neben vielem anderen), +sondern auch ein heroischer Ernst. Vielleicht ist +Busoni nicht der einzige, welcher erkannte, daß die +<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a> +Musik in die wild überwuchernde Flora der Neuromantik +nicht mehr tiefer hineinführte. Aber man +kutschierte fatalistisch in derselben Richtung, demselben +Kreise weiter, denn das Problem schien unlöslich. +Nur nicht für Busoni. Es reizte gerade den +Schöpfer in ihm. +</p> + +<p> +Anfangs waren es nur Anregungen, welche er bot. +Turandot; immer stärkere Anregungen, wie das Licht +eines wachsenden Tages, in seiner Schrift „Zur +Ästhetik der Musik“, in „Arlechino“; in seinen immer +erstaunlichen Klavierkompositionen, welche dem Klavier +— dem einstigen Spinett — so neue Dinge entlocken: +Klangeinlagen, Klangunterlagen, eingebaute, +eingetönte Perspektiven (wenn ich so sagen darf!) +grüßen da aus unvermuteten Tiefen, wie grünleuchtende +Seen. Auch rein äußerlich genommen, verfährt +Busoni als Schöpfer mit ihm; auch auf den rein +äußeren Ausbau dieses Instruments (immer ist ja +der Entdecker in ihm rege!) drängen seine Kompositionen +hin. +</p> + +<p> +Scheint dies vielleicht von mäßigem Belang? +</p> + +<p> +Welche Stunden äußerster Betrübnis muß das +Genie durchleben! Wie müssen ihn da die Zweifel +überwältigen, ob die ewig geschäftige und ewig +unachtsame Welt das Geschenk denn auch entgegennehmen +wird, welches ihr zu bereiten er sein Leben +widmet! +</p> + +<p> +Während sie von nichts anderem widerhallte, als +<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a> +ihrem sinnlosen Waffengedröhn, hielt Busoni sein +schweres Ziel im Auge, drang er immer weiter vor, +nahm er die Kurve, legte er die Schraube an. In +seiner Isolation fand er die schöpferische Kraft, das +Tor zu sprengen, und die in ihrem Riesenapparat +festgefahrene, ja welkende Musik für eine neue +Jugend flügge zu machen. Es wurden uns bis jetzt +nur Bruchstücke seines „Faust“ bekanntgegeben, aber +sie künden ihn ganz. Die reine Linienführung, die +tempelhaften Umrisse einer neuen Klassizität, sanft +gerundet, erheben sich wieder! Ein „Faust“ um so +faustischer nur durch die neuen Streiflichter, die auf +ihn fallen: die holde Blässe in der Feierlichkeit, ein +in der Welt noch nicht dagewesener Adel des Klanges +das Sfumato in der Trauer, Leonardisches, Latinismen +. . . +</p> + +<p> +Wenn ich sage, daß mit diesem seinem und zugleich +so sehr unserem „Faust“ das Erbe Mozarts angetreten +wurde, befürchte ich kein Dementi von der Zukunft. +</p> + +<p> +Darf ich (so nebenbei) in Erinnerung bringen, daß +Bettina Brentano über Beethoven, daß Julie de Lespinasse +über Gluck zu beider Lebzeiten das Entscheidendste +sagten? +</p> + +<p> +Und wenn ich mich heute so gedrängt fühle, auf +die Wichtigkeit Busonis immer wieder aufmerksam +zu machen, so möchte ich hinzufügen, daß es in der +Kunst sowohl wie in der Politik so etwas gibt wie ein +„zu spät“. Auch hier sind die Gelegenheiten dahin, +<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a> +die man verpaßte — auch den Herren Klavierbauern +rufe ich dies heute zu. +</p> + +<p> +Busoni hat ja seinen Lohn sicher nicht dahin. Auf +der von ihm freigelegten Bahn geht es weiter, und +der Dank der Kommenden erwartet ihn. Aber sollen +wir heute, wo die Kronen zu Dutzenden auf das +Pflaster rollten, sie im Staube verkommen lassen und +wie im alten Regime die wahren Könige nicht ausrufen +und nicht unterscheiden? +</p> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-4"> +<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a> +Dritter Teil. +</h2> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span>as traurigste aller Jahre gehörte der Vergangenheit. +Auch der Januar hatte ein Ende genommen. +Ich war die Sklavin meines Flügels. Ihm zuliebe +behielt ich das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte. +</p> + +<p> +Mit England und den Vereinigten Staaten war der +Briefwechsel besonders schwierig geworden. Zuletzt +würde es Mühe geben, sich die Gesichter seiner +Freunde zu vergegenwärtigen, deren Bild nie eine +Nachricht näher brachte. +</p> + +<p> +Eines Nachmittags — es fing schon an zu dämmern — +und meine Gedanken zogen über unerreichbar gewordene +Küsten den gewohnten Weg, als statt vertrauter +Züge, die ich wachrief, ein blankes, behendes +Pferd aufblitzte von intensivstem Braun. Voll Ungestüm, +beredten Blickes, als hätte es etwas zu verkünden, +weckte es ein Echo großer Bangigkeit und +verschwand. +</p> + +<p> +Dafür blieb der ganze folgende Tag unter dem +Eindruck eines so beseligenden Traumes, daß es ein +Frevel wäre, ihn zu schildern. +</p> + +<p> +Wiederum dämmerte es, und diesmal saß Fortunio +in meiner Sofaecke, und wir unterhielten uns. +</p> + +<p> +Das zwiefache an den Menschen, darüber waren +wir uns ja einig, betraf ihren Ursprung. Insofern +<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a> +hatten die Extremisten recht, als sie nicht glaubten, +mit dem alten Karren ins gelobte neue Land einzufahren. +Leider aber brachten sie dabei ihre eigene +Anhängerschaft ganz nach der alten Manier, nicht etwa +der Artung, sondern der oft so rein zufälligen Meinung +nach als wildes Durcheinander unter ein und +dieselbe Flagge. +</p> + +<p> +„Wie wunderbar ist der Mensch!“ sagte ich plötzlich, +„was für Eingebungen er hat! Auf was für +Dinge er gerät! Zum Beispiel in allen Sprachen +Vergleiche wie die folgenden zu ziehen: marchez +comme sur des nuages; to walk on clouds; wie auf +Wolken gehen.“ +</p> + +<p> +„Warum?“ fragte er. +</p> + +<p> +„Weil es das gibt. Nicht etwa nur in euren Dichterphantasien, +sondern einer höheren, höchsten Physik +zufolge. Wer ist der verwirrte Tropf gewesen, der +als erster Wort und Begriff des Wunders startete?“ +</p> + +<p> +Ich wurde jetzt der Schneereflexe immer bewußter, +welche in die Mollakkorde eines unvergleichlichen +Zwielichtes fuhren. Nur wenig Wintertagen eignet +dieser Schein, trauter als das von Sommerlüften +durchwärmte, hölzerne Gartenhäuschen. Lange schmeichelte +er sich an den Fenstern hin. +</p> + +<p> +„Eine gesteigerte Natur,“ fuhr ich fort, „Kontakte, +es sind Füße denkbar, zu welchen die Tragfähigkeit +der Wolke sich verhielte wie Steg und Brücke zu den +unseren: Gewänder, die zu solchen Füßen niederflössen, +<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a> +würde durch die Schärfe der Emulsion der +Äther zum natürlichsten Geleise: weite Geleise solchen +Füßen, und so sehr ein Teil von ihnen, während sie +auf ihren Wolkensohlen reisten, <a id="corr-5"></a>daß von einer zifferlosen +Arithmetik beherrscht, der ganze Himmel, und +nicht etwa nur ein Stück von ihm, mit in den Raum +sich drängen würde, über dessen Schwelle sie zögen.“ +</p> + +<p> +Hier verstummte ich, und so gebieterisch schwoll +die Dämmerung an, daß meine Hände, wie Orgelpunkte +in der Schwebe gehalten, plötzlich niederfielen, +ihrer Unzulänglichkeit und Armut zurückgegeben. +</p> + +<p> +„Wollen Sie Licht machen?“ fragte ich. +</p> + +<p> +Während er sich anschickte, das Zimmer der ganzen +Länge nach zu durchschreiten, war ich innerlich erstaunt +über die Ausführlichkeit, mit der sich das +Detail eines Bildes, welches doch als Ganzes, über +alle Zeitbegriffe schnell zu Häupten meines Bettes +aufgeblitzt war, festhalten ließe. +</p> + +<p> +Doch warum faßte mich da wieder das unerklärliche +Grauen, das nicht mehr einzufangende Echo +des Grams des gestrigen Nachmittags, als mir im +halbwachen Zustand das Pferd beredten Auges entgegenschoß? +Welche Bewandtnis — — — — — +</p> + +<p> +Aber da hatte Fortunio schon geknipst, die Lampe +erstrahlte, und ich atmete auf. +</p> + +<p class="dat"> +5. FEBRUAR. Am Morgen dieses Tages stand ich +angekleidet zu Häupten des Bettes und hielt meine +<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a> +Post. Sie war umfangreicher als sonst. Ein Brief +mit ausländischer Marke und fremder Handschrift, +den ich zuerst öffnete, umfaßte nur wenig Zeilen +und meldete einen Tod, der schon vier Monate +zurücklag. +</p> + +<p> +Der Zahnarzt erwartete mich schon sehr früh. +</p> + +<p> +Ganz undeutlich, wie von einem andern Ufer +herüber, so daß ich nicht daran dachte, mich zu entschuldigen, +schien er mir ungeduldig über mein verspätetes +Erscheinen. +</p> + +<p> +Ich wollte ihn ersuchen, das graue Schmerzenslicht +von der gegenüberliegenden Mauer zu entfernen. +Dann besann ich mich: zeigten doch alle +Dinge, das Fenster, die Instrumente auf dem Tablett +dieselbe böse und stechende Schärfe. +</p> + +<p> +Desgleichen die Luft, als ich nach der Sitzung +unter die Lauben trat. Sollte man sich es wirklich +antun, sie hinabzugehen? War nicht vielmehr die +Erde, dieser schwarze und zertretene Schnee, sich +in ihm einzubetten mit zugekehrtem Gesicht, die +einzige und unendliche Lockung? Die wehe Fackel +des Gedächtnisses zu löschen, so zu verlöschen, als +sei man nie gewesen, dieses war der Himmel. Oh wer +war das? Wer war die Kreatur, die diesen ganzen +Tag hindurch alle Gesten des Lebens so staccato +verrichtete, an den Speisen dieselbe entsetzliche und +befremdende Miene wahrnahm, wie an den Pinzetten +auf dem Tablett des Zahnarztes, und wohin sie sich +<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a> +auch wandte, die Flucht ergriff; als wäre sie die aus +Hoffmanns Erzählung entronnene Olympia — die +Lauben hinab, die Treppen hinauf — in ihr Zimmer +zurücklief — und sich umzog! — Einen blauen Hut +aufsetzte, einen blauen! — und einen blauen Schleier +davorband, und in das betäubte Antlitz starrte, dem +er so ungewöhnlich stand — und einen Besuch abstattete +— an einem Ofen lehnte, an ein Fenster trat, +und durch seine, vom leichten Druck getrübte Scheiben +sah, den die Wärme des Zimmers hervorrief. +Es saß einer da, der erzählte, doch nur die Türe +nahm sie wahr, durch welche sie wieder entrinnen +und ins Freie gelangen konnte . . . +</p> + +<p> +Dort fing es an zu dunkeln. Es nahm auch dieser +Tag ein Ende. +</p> + +<p> +Nur auf dem freien Platz und über der Brücke +war es noch hell. Rauh, grell und öde brütete ein +durchnäßter Wintertag. Ungemildert fing ihn der +„Gurten“ auf: eine dunkle, ansehnliche Masse, und +dennoch niedrig stellte sich ihm oh, so traumlos entgegen! +Tropfnaß alle Dächer, die Bäume ein wirres +und aufgelöstes Haar. +</p> + +<p> +Das Uhrwerk war abgelaufen, und sie stand nun +endlich still, wie überwachsen von ihrer Not. Ein +Martergriffel umriß für sie die ganze Stadt, die sich +im Widerscheine eines Sterbetages zur Krypta schloß, +das Siegel seiner Qual für immer aufgebrannt. So +fiel ein Tor. +</p> + +<p> +<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a> +Beim ersten Laternenschein prallte sie zurück. +Jedes Licht war eine Tücke. Kein Dunkel war tief +und ununterbrochen genug. Und riefen ihre Wände +nicht nach ihr? Zu ihnen nahm sie ihre Zuflucht, +schloß ihre Türe und überließ sich der Erschöpfung. +In ihren Kleidern wie auf einem Sarkophag, ohne +sich zu rühren, ausgestreckt, lag sie in den Armen +und am Herzen dieser Nacht. +</p> + +<p> +Siehe — was tauchte da wieder vor ihr auf? — +Sturmentlassen, mit verhängten Zügeln, wie einem +geisterhaften Stalle zugekehrt, das entfärbte, fahlgewordene +Roß, dessen Botendienst geschehen war. +</p> + +<p> +Zum ersten Male entsann sie sich da auch des +andern Bildes, das sich zwischen einer Kunde und +ihrer Ankündigung gnädig und wie eine Gnade +stellte. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Und nun, oh Leser, fasse meine Hand, daß ich von +dir selber gehalten, durch Dornen und Gestrüpp, +Ziel, Sinn und Ende dieses Buches erreiche. Verlasse +auf immer mit mir das Zimmer der vergeblichen +Zusammenkünfte und folge mir nach Genf. Ferne +dem traumlosen Berg, über der malerischen Stadt +des nüchternen Lichtes, durch die Turmspitze versinnbildlicht, +welche den Unterbau des Münsters +niederdrückt, und seine Schönheit immerzu und +immerzu verneint. +</p> + +<p> +<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a> +Selbst bei der schärfsten Bise leuchtete die Luft +in Genf so abgetönt. Dort hauste ich nun, in einem +unheizbaren Studentenstübchen im fünften Stock des +hotel de Russie. Ein kleiner Balkon überhing die +stets von Schwänen überzogene Insel Rousseau. +Meine Taschen waren in diesen Tagen der Brotkarten +mit Krumen wohlgefüllt, und mit heimlicher +Befriedigung warf ich ihnen die rargewordene Speise +zu. Nicht vergeblich glitten sie mir da immer sogleich, +doch ohne jede unziemliche Eile entgegen. Ich sah +ihnen oft lange zu. Sie standen in der Tierwelt so +abseits; fast ein wenig abgerückt von der Natur. +Bald würden sie zwischen ihren stolz aufgerichteten +Flügeln ihre Jungen wie in einer geschlossenen Krone +durchs Blaue tragen. Vielleicht gab ihnen ihre Ungefährdetheit +die Muße, um den Tod zu wissen. +</p> + +<p> +Die Zeiten waren derart, daß der Ortswechsel selbst +einer so unwichtigen Person wie mir nicht unvermerkt +blieb. Dinge aber, die mich vor kurzem in +Aufruhr versetzt hätten, machten mir nicht das +geringste. An der Telephonkabine war eines Morgens +der Türgriff ausgekurbelt und wurde nicht wieder +instand gesetzt. Dicht bei verbrachte ein dicker Herr +seine Tage und rauchte Zigarren, indem er unverfroren +horchte. +</p> + +<p> +Indessen wurde ich von Herrn L — P. . . . dem Vater +der im deportationsfähigen Alter stehenden Kinder aufs +neue bestürmt. Seiner Frau blieben die Pässe verweigert. +<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a> +Ich schrieb jetzt auf gut Glück dem Grafen +Carry, er möge mich über den Sonntag besuchen. +Und richtig stand er da. Es war strahlendes Wetter, +wir streunten über die Kais und aßen zusammen. +An seine natürliche Güte hatte ich nie vergebens +appelliert, und schließlich bildete sein Propagandawerk +eine Art von Rettungsstation. An ihm klebte +kein Blut. Da mir aber seine Beziehungen zur obersten +Heeresleitung bekannt waren, log ich jetzt über die +politische Zweckmäßigkeit einer Paßverleihung an +die Familie L . . P . . . einiges Blaue vom Himmel. +Wir setzten uns ins Freie. Erstaunliche Magnolien +prangten schon in voller Blüte; an eine Tanne, grünblau, +weiten Hauptes wie eine Pinie, und immerzu +umschwirrt, preßte sich ein glückliches Vogelhaus. +Carrys Augen hingen voll Entzücken daran. +</p> + +<p> +„Da geht mein schlimmster Feind“, sagte er plötzlich. +Klein, mit niederträchtiger Visage, kam hinter +den Magnolien ein Landsmann von uns hervor. Von +übelster Vergangenheit, dabei Träger eines großen +Namens, für den Nachrichtendienst also wie geboren, +lauerte er dem Frieden um so emsiger auf, als die +Dauer des Krieges mit dem Interim seiner Rehabilitierung +zusammenfiel. +</p> + +<p> +„Natürlich haßt er Sie“, sagte ich zerstreut. „Was +erwarten Sie sonst?“ +</p> + +<p> +Abends — der Graf war schon abgereist — kreuzte +ich mich nochmals, über die Brücke zu den Schwänen +<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a> +gehend, mit der hochgeborenen Krapüle, die mit +einem Basiliskenblick an mir vorüberging. Tags +darauf — ich dachte gerade an das blauzerfließende +Grün der Tanne und an den großen Blumenbaum, +der in dieser Sonnenhelle wohl noch heller erblüht +war, als ich ans Telephon gerufen wurde. Vor der +Zelle saß trägen Auges der mir zugeteilte Herr mit +der Nachmittagszigarre im Mund. Heute aber sollte +er auf seine Kosten kommen. Denn im höchst aufgeregten +Ton forderte mich eine Genfer Dame zu +sofortiger Aussprache auf. Ihr Haus sei mir offengestanden, +sie habe mir ihr Vertrauen geschenkt, und +nun müsse sie hören, daß ich es mißbrauchte. +</p> + +<p> +Ich machte mich ziemlich gemächlich auf den +Weg zu ihrem Hause. Seit jenem Tage, als sich Bern +für mich zur Krypta schloß, war mir erst bewußt, +daß ich mit nichten ein verkannter oder verlassener, +sondern einer der wenigen innerlich wirklich beschützten +und durchschauten Menschen gewesen war. +</p> + +<p> +Wie oft hatte — weit vorgreifend, ach! — mein Ohr +das melodische Lachen zu hören geglaubt, wenn ich +dereinst alles erzählen würde, alle Zwickmühlen und +alle Abenteuer, in die ich geraten war. +</p> + +<p> +Ein ganzer, ein wirklich unvergeßlicher Mensch, +dachte ich, von Trauer niedergedrückt, ist nirgends +zu Ende. Unerschöpft und ganz unausgespielt sinkt +er zu Grabe. Abgerissen, doch nicht abgesponnen, +ist der Faden eines solchen Lebens. +</p> + +<p> +<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a> +Wenn aber Kinder des Lichtes zusammentreffen, +ist das schon ein Glück des Himmels. In dem hin +und her ihrer Blicke und ihres erkennens liegt das +Vorgefühl ihrer Macht. Zu uns komme ihr Reich. +</p> + +<p> +Mit der Genfer Dame war ich schnell im reinen. +Wir spielten beiderseits mit offenen Karten. Die +hochgeborene Krapüle hatte verbreiten lassen, die +deutsche Propaganda arbeite nunmehr mit so raffinierten +Mitteln, daß sie kompromittierte Personen, +wie mich, zu Werkzeugen mache. Den Beweis hielte +er in der Hand. (Es war mein Frühstück mit dem +Grafen Carry.) Natürlich war seine Behauptung wohl +geeignet, mich in Genf unmöglich zu machen. Er +hatte sich nur insofern verrechnet, als meine dortigen +Freunde sich unverweilt mit mir ins Vertrauen setzten. +Dieser Zwischenfall war also beigelegt. +</p> + +<p> +Als ich wieder in die Allee einbog, welche von ihrem +Hause bis hart an die Straße führte, drangen durch +ein offengebliebenes Fenster die Worte: „Je suis bien +contente de le lui avoir dit“ laut und vernehmlich +ins Freie; Mir aber saß jetzt ein ödes Gefühl im +Magen, ein Ekel, das würgen einer allzu krampfhaft +unterdrückten Bitterkeit. Ein Durst zugleich; das +lechzen des Trinkers, der nach dem Becher vergeht; +es mußte etwas, das Palliativ, die Betäubung mußte +her. Es war das alte Laster, hui! Und lag sie nicht dicht +bei, die avenue de Florissant? wußte ich nicht, +zufällig, daß sie dort wohnte, sie, die den Schlüssel +<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a> +zu den geheimen Toren hielt, die ich begehrte? +Heute noch, nein, sogleich mußte ich hin. +</p> + +<p> +Und schon betrat ich unangemeldet die großen +Räume, in welchen die malerische Französin zwischen +ausgehobenen Türen nach allen Seiten hin den Ausblick +über Gärten und Büsche genoß. Es war eine +ganze Welt von Bäumen in ihrem ersten Grün. Mademoiselle +S., eine Pariserin der ernsten und wenig +bekannten Art, trug einen orangefarbenen Foulard +um ihren Kopf gewunden und gestand ihre Kopfschmerzen, +aber nicht ihr Befremden über meinen +Besuch. Wir hatten uns ein einziges Mal während +des Krieges flüchtig kennengelernt, und nun lagerte +ich, jedem Argwohn zuvorkommend, indem ich ihn +einfach niedertrat, auf einem Diwan ihres Salons, +den verwirrenden Frühlingszauber ihres Parkes vor +Augen. +</p> + +<p> +„Sie sind im Besitze der Adresse eines Mediums,“ +sagte ich, „die ich suche.“ Und sie erhob sich, an +ihnen Schreibtisch zu treten; eine hohe und dunkle +Gestalt, weder so schön, noch so jung vielleicht, als +sie an diesem Abend schien, den blassen und melancholischen +Kopf vom seidenen Turban eng umschlossen, +und all die Wipfel, die in den Rosenhimmel +ragten, als Hintergrund. Sie reichte mir die Adresse, +und wir sprachen von allgemeinen Dingen. +</p> + +<p> +„Es muß heute doch ein eigener Segen auf allen +Schlechtigkeiten ruhen,“ sagte ich, „da, was immer +<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a> +man Gutes und Hilfreiches unternehmen möchte, +sofort in Mißlingen und Gestank aufgeht.“ +</p> + +<p> +„Wie könnte es anders sein?“ gab sie zurück, „das +Geschwür ist noch lange nicht reif. Vorerst muß +alles ihm allein zugute kommen.“ +</p> + +<p> +„Es gibt aber Geschwüre en permanence“, meinte +ich. Doch sie schüttelte den Kopf, unbeirrbar in +ihrem Glauben an eine bessere Zukunft. +</p> + +<p> +Es herrschte zwischen uns die kurzbefristete Vertraulichkeit +zweier Reisegefährten eines nächtlichen +Zuges. Nichts ist so unverbindlich wie ihr Auseinandergehen. +</p> + +<p> +Denn schon war ich wieder unterwegs, einer andern +Himmelsrichtung, einem Genf, das ich nicht kannte, +zugewandt, nicht wissend, daß es auch seine anonymen +Viertel hatte, die scheinbar nicht zu ihm +gehörten, sondern in ihrer Bedrücktheit ganz allgemein +die Straßen einer größeren Stadt darstellen. +Zwischen solchen Häuserreihen war ich jetzt auf der +Suche, fand die Nummer, stieg vier Treppen hoch +und läutete und wartete. Eine im Dunkel undefinierbare +Gestalt öffnete endlich langsam die Türe. +</p> + +<p> +„Wollen Sie mich melden?“ sagte ich, ohne meinen +Namen anzugeben. Sie rührte sich nicht. „Wollen +Sie mich melden?“ wiederholte ich. Sie schwieg. +Sie war es selbst. Stumm standen wir einander gegenüber. +Unsere Blicke belauerten, betasteten sich. So +tauschen wohl in einer Höhle des Lasters zwei Eingeweihte +<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a> +zögernd ihre Erkennungszeichen: es waren +die verschleppten Schatten unserer Augen und ihr +matter und verlöschter Schein. Und wie loderte +schon die Luft! Oh welch ein Wellengang! Welcher +Sturm inmitten der Stille, die zwischen uns entstand. +Ich folgte der Gestalt, die vor mir zurückwich. +Sie trat, als hätte ich sie gestoßen, in die Umrahmung +einer Türe, die hinter ihr nachgab, und +taumelnd trat ich ein. +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<p class="noindent"> +Dem glücklich Liebenden gleich streifte ich in +jener Nacht, hingerissen, berauscht, von tröstlichen +Schauern durchrieselt, die Kais entlang. Wie Antäus +die Erde, hatte so mein Fuß die belebende Leere +berührt? — War’s ein geistiger Aderlaß gewesen? +War’s der letzten Hingabe entsetzliche Betäubung +oder die eleusische Flut? Und wird sie einmal einer +nennen dürfen, die einmaligen Gefilde ohne Wiederkehr +und Verbieter des Wortes, die ein Blick zu ihnen +ein Wenden des Kopfes nur, zu ewiger Ungewesenheit +entstürzen läßt . . . . +</p> + +<p> +Oh Eurydike! +</p> + +<p class="tb"> + +</p> + +<p class="noindent"> +Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, nahm +ich das Schiff. Als es in Ouchy anlegte, zog mit einem +Male Fortunio an Bord. Wir waren beide nicht wenig +erstaunt. Ihn aber schien die Bläue des Tages und +das in Verzückung zurücktretende Ufer von sich +<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a> +selbst fortgerissen zu haben, und es war ersichtlich, daß +er träumte. Das Leben hielt er dann für schön, +besann sich des Augenblickes und der Weltgeschichte, +wie auch seines eigenen Erwachens nicht, sondern, +ganz Echo, war er gefangen von ein paar Weisen, +welche manchen Tages die Natur anhebt, und den +verwandelt, der sie hört. +</p> + +<p> +„Lassen Sie sich das Neueste erzählen“, stieß ich +ihn an und gab mit allen Details die Mine zum +besten, von der ich in Genf hätte auffliegen sollen. +Wie ergiebig Graf Carry dabei mit „belegt“ worden +war, kam erst später ans Tageslicht. Mit der Warnung +an meine Schweizer Freunde nämlich, sich vor +einer deutschen Agentin wie mir etwas in acht zu +nehmen, erging gleichzeitig eine Meldung an deutsche +Instanzen in Bern, Graf Carry wisse so wenig die +Würde seines Amtes zu wahren, daß er sich nicht +scheue, mit einer französischen Agentin wie mir +öffentlich herumzuziehen. Aus dem Mittagessen +wurde der Pikanterie halber ein trautes Souper. +</p> + +<p> +„Diese Zeit“, sagte ich zu Fortunio, „hat den +Untermenschen doch wirklich den Maibaum ihrer +Existenzen gebracht, und es gehört mit zu den läuternden +Wirkungen des Krieges, daß ihn die Krapülen +überleben. Denn wenn eine, statt als sein Helfershelfer +reklamiert zu werden, in die fatale Lage gerät, +selbst an den Heldentod glauben zu müssen, so ist +das doch ein ganz seltenes Pech.“ +</p> + +<p> +<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a> +Fortunio fuhr mit dem Abendzug nach Bern zurück, +und ich blieb in Clarens. +</p> + +<p> +Um Ostern wollte ich Romain Rolland besuchen +und sagte mich in Villeneuve an. Allein es war jener +Karfreitagmorgen, an welchem eine oberste Heeresleitung, +wie um seiner zu höhnen, die Kanonade von +Paris nicht unterbrach, eine Kirche während des +Kultes einstürzte und die Anwesenden unter sich +begrub. Daß mein angekündeter Besuch auf das +hin unterblieb, verstand sich von selbst. Für mein +Gefühl war dieser Karfreitagsvolltreffer das schwarze +Aß, das sich Deutschland selber ausgeworfen hatte. +Eine solche Absage an die tragende Idee des Christentums +war zu zynisch, um nicht ominös zu sein. Sie +war — man verstehe mich recht — wüstester Protestantismus. +Luther galt mir nur deshalb als einer +der Ahnherren des Krieges, weil sein auftreten das +Übergewicht des nördlichen über das westliche und +südliche Deutschland anbahnte, und ein kahles, unkünstlerisches, +unmusisches und humorloses Element +in den Pulsen der Deutschen entsprang: Phantasielosigkeit +und Unmusik. Wagt es vielleicht einer, +Sebastian Bach einen Protestanten zu nennen? Der +Protestantismus stak damals in seinen ersten Anfängen, +noch belebt von der Wärme des Stammes, von dem +er sich losriß: protestierender Katholizismus. Der +wirklich ausgewachsene konsistorialrätliche Protestantismus +gedieh erst in den letzten Dezennien zu der +<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a> +vollen Reife und dem gleichzeitigen Marasmus. Die +fürchterlichen Lutherschen Kirchen, das toteste an +Architektur, was in der Welt zu sehen ist, sind Geist +von seinem Geiste. Alle unfrohe Geschmacklosigkeit, +den Mangel an Grazie und Liebenswürdigkeit, das +Reformkostüm, die Jägerwäsche danken wir ihm. +Undenkbar, daß von München aus die Reichsbriefmarke, +als die häßlichste der Welt, hinausgeflattert +wäre. Nein! fürwahr, diese Germania stieg so recht +als die fille ainée der protestantischen Kirche. Sie +brachte den unheilbaren Riß, über den keine äußerliche +Geeintheit hinweghalf. Denn ihr verdanken +wir das verständnislose abrücken von der lateinischen +und abendländischen Welt, das ein südliches, fränkisches +und westliches Deutschland nie herbeigeführt +hätte. +</p> + +<p> +Statt des café du Nord wurde jetzt der Kursaal +von Montreux meine Schreibstube. Den Nachmittag +beschloß ich mit Vorliebe im kleinen Saal +des Konservatoriums, wo ich mit einem russischen +Cellisten musizierte. Aber A. H. Pax wollte wieder +einen Beitrag. Es gibt heute nur ein Thema, schrieb +ich ihm: +</p> + +<p> +Und wir hätten alles von der Methode jener glücklichen +Spekulanten zu lernen, welche sich offenkundig +als die weitaus schärfsten Psychologen erwiesen, +indem sie irgendein Präparat, eine Zahntinktur oder +ein Extrakt dadurch zu allgemeinster Geltung verhelfen, +<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a> +daß sie deren Bezeichnungen in grellen Riesenbuchstaben +an Mauern, Säulen und Schlöten anschlagen, +sich gleichsam an die Fersen des Vorübergehenden +heften, selbst auf Bergeshöhen sich zwischen +ihn und die Aussicht schieben, ja von Felswänden +herab ihm unerwartet Odol! Haarlin! oder Bovril! +entgegenschreien. +</p> + +<p> +Wäre heute nicht die Beachtung gewisser Zustände +mit einer ebensolchen vorbildlichen Hartnäckigkeit zu +erzwingen? Durch ein ungeheures Preisausschreiben +etwa, das an alle Maler, der ältesten wie der neuesten +Schule, erginge, um auf Bildern und Plakaten, mit +beliebigem Raumverbrauch, die Wirklichkeit zu illustrieren, +allen Brücken und Wegen entlang sie immerzu +neu einer Allgemeinheit zu veranschaulichen, deren +geistigen Stumpfsinn nur jene Menschenkenner von +Spekulanten voll ergründeten. Daß es keine intellektuelle +Notwehr gibt, und daß wir lieber untergehen +als daß wir dächten, hielten wir ja nicht für möglich, +bevor wir es erlebten. Wie hätte sonst über unsere +Köpfe hinweg jene Phalanx der Niedrigen zustande +kommen können, die sich heute mit so bewundernswerter +Regie über alle Grenzen hin in die Hände +arbeiten? Auf uns, die sie gewähren lassen, fällt der +Fluch dieser Zeit zurück. Nicht auf die schlechten, +deren Tun im Einklang steht mit ihrem Wollen; auf +uns, nicht auf die Knechte, welche sich zu unseren +Herren machten, sondern auf uns, die wir uns von +<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a> +ihnen knechten ließen. Sollte der Tag hereinbrechen, +an dem es zu spät sein wird für unser zusammengehen, +so werden wir, die guten Willens sind, als +die Schuldigen stehen, weil uns der Mut unseres +besseren Wissens gebrach, dem Genius des Krieges +die Siegermaske von der gedankenlosen Stirn zu +reißen. Ah! wir bedachten nicht den tiefen Sinn +jener Sage, welche den Drachentöter die Sprache +der Vögel verstehen ließ, als er vom Blut des erlegten +Ungeheuers genoß! +</p> + +<p> +Es waren stille Tage. Der Sommer reifte wie eine +Frucht. Schon rissen Gewitter den Himmel auf +und schlugen die Wellen bis zu den herabhängenden +Blüten am Ufer. Und die Nächte verströmten betäubend +und lau. Es war ein Wandeln wie im Traum, +bedrückend und begeisternd zugleich. Meine Unterredung +mit dem Grafen Carry datierte vom 5. Mai. +Schon am 17. depeschierte er mir, die Pässe für +Frau v. L . . . . und ihre fünf Kinder seien +gewährt. +</p> + +<p> +In den Weinbergen surrte das Licht, die goldenen +Bienen waren eins mit ihm. Ob man lebte oder gestorben +war oder eben geboren wurde, machte keinen +Unterschied. Es war zu heiß. Den schönen Damen +standen die Koffer gerüstet. Ihre neuesten Kostüme +und Kleider, die seidenen Sweater und die Hüte +und die Schuhe kannte man jetzt. Es war Zeit, in +einem neuen Ort neu darin zu erstehen. +</p> + +<p> +<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a> +Für den 29. waren in Zürich Busonis Opern unter +seiner Leitung angesagt. Dort sollte ich mit Fortunio +zusammentreffen, und dann an den Thuner See +mit ihm fahren. Aber statt seiner kam ein Brief, +und meine Stirne umwölkte sich beim Anblick seiner +Adresse: Es war ein Mißgriff und eine Illusion, daß +er die Villa des geölten Nibelungen bezog. Kurz +herausgesagt, wir beiden konnten einander nicht +leiden. Ich grollte ihm nicht, weil er meine Haltung +verurteilt und mir versichert hatte, wir seien immer +noch zu anständig; sein plötzlicher Radikalismus, vielmehr +die Art, wie er sich als unser Leithammel +aufwarf, ärgerte mich. Denn er war keiner von den +Unseren. Mit Lanze und Speer kam ich ins Spiezer +Schloßhotel, ihn zu bekämpfen. Dort warteten +A. H. Pax und seine unschätzbare Gattin seit einer +Woche meiner. In der Halle stand ein Bechstein, +und von Paxens tiefer Loggia aus hatte man den Blick +nach Süden über die Alpen und den See. Bei ihnen +waltete Überblick, Wissen und Nächstenliebe, dazu +ein Aroma von Wiener Kaffee und Gemütlichkeit, die +nicht zu überbieten waren. +</p> + +<p> +Die Villa des Geölten lag unter den Tannen in der +Tiefe, einen Kilometer entfernt und in wundervoller +Lage. Ein kurzer Weg bog vom Gitter bis zum Hause, +als wäre er unendlich, ein. Die veredelten Kirschbäume, +die ihn beschatteten, bestahl ich, soviel ich +konnte. Es verdroß Fortunio, doch ich erklärte, +<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a> +Kirschen nur vom Baume essen zu können, und riß +im vorbeigehen immer welche herab. Es waren wirklich +Kirschen für Hesperiden. Die unteren Zweige +hingen schon leer. +</p> + +<p> +Der geölte Nibelung gehörte dem Geschlecht derer +an, die nicht nur geschäftskundig, sondern auch mit regen +Sinnen für das Schöne begabt, zu überaus tüchtigen +Faktoren berufen, dabei haarscharf an ihre Stelle zu +verweisen, ja niederzuhalten sind. Unsachlich, ungedanklich, +nur der Witterungen, aber keiner Erkenntnisse +fähig, konnte er sich nach innerer Herkunft +und Bestimmung höchstens zum Sklavenhalter, niemals +zum Herren vermögen. Gütiger Regungen sehr +wohl fähig, war der geölte Nibelung infolge seines +unbändigen Ehrgeizes der glücklose Knecht, außerstande +sich zu bescheiden. Über ihn wölbte sich +der freie Himmel nicht unmittelbar, zwischen ihm +und dem Äther, den Göttern und der Natur lastete +eine trennende Kuppel. Fortunio aber, und wenn +er tausendmal zerschellte, war ein Sohn des Lichts. +An ihn klammerte sich der Geölte, von trüben Stacheln +getrieben, und eiferte um die gleiche Stufe der Leiter +mit ihm; von Eifersucht und Zuneigung gleicherweise +gequält, suchte er — immer unbewußt — ihn +an sich zu reißen oder ihn zu verderben. Seine Gattin +liebte es, vierhändig zu spielen, ihr Anschlag war +eine Pein, und ich stand sehr bald mit beiden übers +Kreuz. So ging ich nicht mehr den kurzen Weg, +<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a> +der zwischen Gitter und Haus ins Unendliche lief, +und sah von dieser Stelle aus nicht mehr den Niessen +wie eine Riesenpyramide inmitten des fruchtbaren +Tales stehen. +</p> + +<p> +Der Himmel freilich kam hier nie zur Ruh, und +die Gegend war mehr eine großartige, opernhafte +Szenerie, denn eine Landschaft, das Licht ein Beleuchtungsapparat; +statt der Spiegelungen hatte man +Effekte. Das Schreckhorn leuchtete in der Verkürzung, +der See war eine Arie. +</p> + +<p> +„Komm, komme!“ schrieb der Seidenaff aus +St. Moritz. „Wer weiß, was mit uns in einem Jahre +geschieht.“ Und eines Morgens reiße ich aus, um den +Sommer im Engadin zu beschließen. +</p> + +<p> +Mein Weg führt über Bern, und ich mache bei +Martin im Walde halt. Er ist schwer niedergedrückt. +Das deutsche Verhängnis war für jeden, der außerhalb +des Landes wohnte, unaufhaltsam. Ich schreibe +eine Depesche unter seinem Diktat und renne damit +zum bayrischen Gesandten. Dieser besteht darauf, +Martin im Walde selber zu sprechen: ich also mit +Windeseile zu ihm zurück und ihn so lange quälend, +bis er mir folgt. Aber welch ein Interview! Alle +heißen und kalten Wasserhähne sprühten um die +Wette, daß es nur so pfiff. +</p> + +<p> +Die Depesche hat er aber abgeschickt, mache ich +auf dem Heimweg geltend. +</p> + +<p> +<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a> +Sie übermittelte jedoch diejenige Brause, die man +sich auf Wochen noch verbat. +</p> + +<p> +Fluchtartig verließ ich die Stadt der vergeblichen +Zusammenkünfte. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-1"> +Palace Hotel, St. Moritz. +</h3> + +<p class="dat"> +AUGUST 1918. Man hätte sich auf dem Berge +Arrarat glauben können, wären unter den Geretteten +nicht so viele gewesen, die mit einem Mühlstein am +Halse zu tiefst der angerichteten Sintflut zu liegen +verdienten. Diese Menschenmetzger, Gewinnler am +Elend der Menschheit und gemästet von ihrem +Blut, hier machten sie sich breit und schlemmten. +</p> + +<p> +Gleich bei meiner Ankunft hatte ich den Seidenaffen +besucht und war auf der Treppe gestürzt, so +daß ich bleiben mußte, wo ich war. Doch inmitten +des Geschwirres begann da für mich ein Leben wirklicher +Beschaulichkeit. Ich kannte niemanden, mit +San Cividales verkehrte ich nur in den oberen Räumen, +unten mieden wir uns, denn wir waren ja Feinde. +Auf den Stock gestützt, hinkte ich, wenn Sajani mit +seiner kleinen Kapelle spielte, zu einem Schreibtisch +in der offenen Galerie, die Berge von Pontresina vor +Augen, die ekstatisch nach Süden träumten; unten +der tiefgrüne Bergsee und der Waldweg seinen Ufern +entlang; St. Moritzbad im Rücken, damit ich es +nicht zu sehen brauchte. +</p> + +<p> +<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a> +Es war sehr oft „etwas los“. Alles strömte dann +nach derselben Richtung, um sich im Sportkostüm +zu treffen, bevor man sich im Abendkleide wieder +begegnete. Dann spielte die Kapelle ins Leere, ich +aber zog unter den Baldachin, die Tangonoten verschwanden, +und wir spielten Trios. Es schlichen +immer ein paar unbeschäftigte Kellner herein, und +dies Kellnerpublikum war uns ein Sporn. +</p> + +<p> +In der Umwertung der Gesellschaft selbst besteht +heute die eigentliche und tiefe Revolution. Ein rein +äußerlicher Staat hat merkwürdigerweise aufgehört, +elegant zu sein; das Prestige einer Klasse als solcher, +mag es noch einmal aufflackern und sich noch +eine Weile fortläppern, ist dahin. Diejenige Klasse, +die überall am Kriege die unschuldigste war, wird +täglich an Interesse gewinnen und ihren Tag erleben. +Der Arbeiterstand als Magnet: so schnell reiten die +Toten! — +</p> + +<p> +Wie faszinierend war es indes, die Herren von +vorgestern zu beobachten, welche wähnten, daß sie +es noch seien, und die höchstens noch der Wirt, bei +dem sie abstiegen, in dem Glauben erhielt; diese +Herren auf Abbruch, die nicht merkten, daß ihre +Füße sich schon im Gerölle fingen. Müßigkeit und +Unwissenheit hatten ihre Norm so tief herabgedrückt, +daß, um ein Beispiel zu geben, edle Musik eine Zumutung +für sie gewesen wäre. In der Tat, es lohnte +sich, sie zu studieren. Sie machten noch die Gesten +<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a> +der Väter, aber schon war der Pöbel bei ihnen eingebrochen +und schuf sich in diesem äußersten Rechteck +der Gesellschaft ein Ventil. Nirgends vielleicht +hatte sich die Achtung für inneren Wert so sehr +verringert und kam innerer Adel so wenig in Betracht. +Wie viel ritterlich Gesinnte zählte man unter +diesen Kavalieren? Wie viel Strebende? Was die +Unbildung, die zunehmende Verrohung dieser Clique +betraf, so stand sie den von ihr verhöhnten nouveaux +riches, welche Wurstkonserven zu Magnaten erhoben +hatten, innerlich schon am nächsten, und es war +rührend zu sehen, wie hier die Elite — denn auch +die sogenannte Elite hat natürlich ihre Elite, und ich +weiß keine liebenswertere — von ihr abrückte und +sich ihrer schämte. +</p> + +<p> +Auch den Trost von ein paar wirklich schönen +Frauen hatte man hier. Der Seidenaff zwar verzog +sich des Abends immer sehr bald. Sah man nach +ihr um, war sie wie ein Vogel schon weg. +</p> + +<p> +Aber die leidende Sylvia, schön wie eine gestirnte +Nacht, tanzte so gern. Und ob man sich auch sagte, +die Melancholie ihres Lächelns, ihres Lachens sei +nur Zufall, nur der Form ihrer göttlichen Lippen, +dem Licht ihrer Zähne entblüht, sie entzückte darum +nicht minder. +</p> + +<p> +Eine andere kam zuweilen von Suvretta herüber, +ein Püppchen, so zierlich gebildet, als wäre sie in einer +blitzend ausgeschlagenen Nußschale dahergefahren. +</p> + +<p> +<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a> +Eine vierte war noch da, von der ich noch reden +werde. Aber laßt mich bei der gestirnten Nacht noch +einmal verweilen. Meistens trat sie erst, nachdem +der Tag zu Ende war, scheinbar ausgeruht, in ihrer +düsteren Pracht hervor, blieb dann bis zum Hahnenschrei, +wie die Braut von Korinth, und hielt ihre +Tänzer in Atem. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="dat"> +ANFANG SEPTEMBER. „Ich hörte lange nichts +von euch“, schrieb ich an Fortunio. „Was Sie +nur treiben?“ +</p> + +<p> +Mein Fuß war endlich hergestellt und einer längeren +Fußtour gewachsen. Eines Morgens verließ ich früh +das Palace Hotel in Bluse und Rock, einen Sack +umgeschnallt, in dem ich eine ganze Reisetasche +leerte, und einen eigens dafür erstandenen Strohhut, +der so tief hereinfiel, als man wollte. Also ausgerüstet, +zog ich nach Maloja, schlug aber bald den Waldweg +ein, denn die zahlreich einherrollenden Wagen hüllten +die Straße in Staub. Frech auf den Polstern ausgebreitet, +mit befriedigten Mundwinkeln, fuhr ein +Schieber nach dem andern froh zu Tale, oder dem +Julier entgegen; ein feister und wohlgemuter Korso: +der Krieg durfte noch dauern. +</p> + +<p> +Am andern Ufer der Seen jedoch wand sich ein +stiller Weg um jede Bucht, nimmermüde, sie zu umschreiben, +leis umplätschert, geduldig und verliebt. +</p> + +<p> +<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a> +Ich riß den Hut vom Kopfe, steckte ihn in den Sack, +und ließ die Stirne frei von den Gletscherwinden +umwehen. Es war so schön, wieder schnellen und +gesunden Fußes durch die Wälder zu gehen, die bis +in ihren tiefsten Schatten von Licht und Hitze +durchhaucht, statt des Staubes einen Geschmack von +Harz und Erdbeeren auf die Zunge trieben. Ganz +plötzlich wurde es kalt. Hoch am Himmel hielten +die Wolken Rat, ob sie sich zusammenballen und +den Herbst eröffnen sollten. Dann zerstreuten sie +sich wieder und ließen die Sonne durch. Aber es +war ganz deutlich, daß sie sich nur vertagten. +</p> + +<p> +Spät am Nachmittag saß ich in der berühmten +Konditorei von Sils Maria, als ein Wagen vorfuhr, +dem die vierte Schöne des Palace Hotels in Begleitung +ihres Liebhabers entstieg. Es war die notorische +liaison des diesjährigen Sommers. Er, so stolz auf +seine Figur, daß er Modell stand, sowie man nur +hinsah, aber dabei das Entzücken seines Schneiders +mit dem des Malers verwechselte; die Stirn niedrig +und leer, wie die eines Stallbediensteten, und einen +der Anlage nach gewiß nicht groben, aber schon +stark vergröberten Kopf. Bald, sehr bald würde von +dem ganzen Zauber nur noch die Hengstallüre übrigbleiben. +</p> + +<p> +Die Schöne hatte am nächsten Tische Platz genommen, +so daß ich ihre kühle und strahlende Erscheinung +mit Muße betrachten konnte. Der Schmelz, +<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a> +die Zeichnung der Brauen und des Ovals, die Augen, +wie große, kostbare Edelsteine eingesetzt, waren die +eines vollendeten Renaissancegesichtes. Man konnte +sich kein typischeres denken. Ihr Lächeln beunruhigte. +Und doch war sie so jung! Jugend hielt +noch, wie die Staubfäden einer Blüte, Fesseln und +Gelenke zusammen. Sie hatte sich erst ihres Schleiers +entledigt, nun folgte der Hut. Sie legte ihn neben +sich hin. Ihr Haar, mit unerhört raffinierter Schlichtheit +getragen, umschmeichelte nur die Schläfen mit +seinem Gold und ließ die Stirne frei, jetzt +wandte sie den Kopf. Da aber kam ein platter Hinterkopf +zum Vorschein, der Kopf der Viper, da woben +schon unendlich leise Fäden an ihrer künftigen Häßlichkeit, +und da kündete sich von fern der nach außen +gerichtete, erinnerungslose Blick der Vierzigerin, ohne +Rückwärtsschauen . . . Lange blieben die beiden +nicht, stand doch die lange Fahrt noch aus, und +mußte sie doch ruhen, bevor sie sich langsam wieder +schmückte zum spätesten aller Diners. Nicht nur +mit ihren Abendkleidern, auch durch spätes Erscheinen +wetteiferten nämlich die Damen im Palace. +Konnte auf der Welt etwas ordinäreres sein, als schon +um neun zu Nacht zu essen? Und war dies nicht +der Gipfel? +</p> + +<p> +Ihr Geliebter legte ihr jetzt den Umhang über, mit +jener tiefen Ehrerbietung, die ein solcher Mann einer +solchen Dame gegenüber, die solche Perlen mit in +<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a> +die liaison brachte, empfinden mußte. Auf seine +Hand gestützt und von den Kindern des Dorfes umstaunt, +schwang sie sich auf das Gefährt und griff +in die Zügel. +</p> + +<p> +War es Einbildung? Hatte der Jammer des Krieges +meine Augen geschärft? In dieser zarten und köstlichen +Gestalt hatte ich deutlich den Brustkasten der +Kindsmißhandlerin gesehen. Welch ein Scheinleben +kutschierte da dahin? Das leichte Getrapp ihrer +Pferde, dann das Echo ihres Getrappes hallte noch +lange von den Felsen herüber. +</p> + +<p> +Was war es, das mich so feierlich stimmte? +</p> + +<p> +In den Gasthäusern und Hotels ging jetzt überall +ein Klappern von Tellern und Bestecken los. Es +wurde geläutet und gegongt, und wer nicht im Restaurant +aß, der mußte sich bescheiden, vorgekochtes +der Reihe nach zu essen; ein Zwang wie ein anderer. +Da war es schöner, noch etwas zu streunen. +</p> + +<p> +Ein ungewöhnlich starker Mond stand in seiner +ganzen Fülle; es wuchsen die Berge unter seinem +Hauch, das Dorf erblaßte wunderbar, eine graue +Bank ward ganz sie selbst. Die Funksprüche der +sich bereitenden Nacht liefen wie toll alle Täler +entlang, und schon waren alle Täler berauscht. Auf +dem Platze hielt ein Gespann, die Gäule hielten die +Köpfe gesenkt, als ob sie träumten. Ich lief hinzu. +Es war die Post, die nach Maloja fuhr. Es gab noch +einen Platz. Ich sprang hinein. Die Pferde zogen an. +<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a> +Bevor wir noch das Ufer erreichten, stieg ein Reisender +aus. Außer mir blieb nur ein Liebespaar, +das sich an den Händen hielt. Es war sich Mondschein +genug. +</p> + +<p> +Den Kopf hinausgestreckt, trank ich diese Nacht, +und hatte sie für mich allein. Nichts war mehr, wie +es war. Der See lag im Silberschleier regungslos +wie eine Tote, und der Mond goß Myrthensträuße +über sie herab. Nur das Gras des Ufers +erhob sich in gespenstiger Lebendigkeit. Sicher war +es nur ein Spiel der Luft, daß die Berge hier zerfielen. +Blöcke sich lösten, als sei die Welt zu Ende; Felsensäle +bauten sich in die Klüfte ein, Riesengemächer +warfen sich dazwischen. Es konnte nicht sein, und +so sah die Welt nicht aus. Auch die Liebesleute +waren anders wie zuvor. Dieser edle Pensieroso stieg +als ein unscheinbarer Tourist in Sils Maria ein, und +sie hatte weder dieses Haar, noch diese Lippen gehabt. +Morgen würde hier die Sonne auf ödes Schilf vielleicht +hinbrüten und das Paar nicht zu erkennen sein. +</p> + +<p> +Als um ein Uhr morgens der Wagen mitten in +Maloja hielt, stieg es wortlos aus. Ich hatte kein +Quartier bestellt und kam nicht unter. Außerhalb +des Ortes lag noch ein Hotel. So marschierte ich +jetzt allein die taghelle Straße weiter, geradeswegs auf +einen neuen Absturz zu. Dort stand das Haus. Ein +junges und verschlafenes Mädchen führte mich über +manche Treppe hinauf: zufällig stünde das einzige +<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a> +Zimmer frei, das für Gäste reserviert blieb. Alle +andern hielt während des Krieges die Militärbehörde +in Beschlag. Die nächste Poststation sei italienisch. +</p> + +<p> +Sie reichte mir eine Petroleumlampe und verschwand. +Die Stube hatte zwei Fenster und war +schneeweiß. Ich warf den Kopf weit auf die mondbeschienenen +Kissen zurück. So angelangt! +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Aber nicht lange, und der einsetzende Kampf +zwischen dieser Mondnacht und der Dämmerung +weckte mich aus dem Schlaf, Nebel mischten sich +hinein und wollten alles für sich. Endlich ragten +Tannenspitzen ins Leere; der Absturz war kein +olympischer; eine Straße schwang sich, breite Kurven +nehmend, in die Tiefe. +</p> + +<p> +Gedulde dich, Leser, auch dies Buch geht jäh zu +Ende. Folge mir noch. Hoch steht schon die Sonne über +das Bergland, ein anderes freilich als der vergangenen +Nacht. Von ihrem Spiel erholt, verströmt der See +sein Blau, nach allen Seiten, ganz verbuhlt. Myrthensträuße +und Schleier sind vergessen und hängen als +weiße Fäden im Gesträuch. +</p> + +<p> +Wie seltsam ist die innere Stimme in uns! +Welcher Stachel hatte mich zu dem hart an der +Schwelle des aufgerissenen Gebirges und kaum, daß +es tagte, hinauf, hinab und wieder emporgetrieben, +wo sich zu höchst der Wälder und noch in ihrer +<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a> +Mitte der See entzieht, verborgener Tränen zerflossener +Kristall, ohne Kahn und ohne Erdenstaub; +und dann wieder zurück in die Gaststube, um zu +zahlen, und dann wieder aufzubrechen, mit der umgehängten +Tasche und dem lächerlichen Hut, an der +Waldseite des Sees den Weg einzuschlagen, den ich +jetzt lief. Es war ein Notbehelf! Ich lief, um nicht +zu tanzen. Denn ich war inmitten eines Festes. +Umgeben und geborgen, als sollte die Gehobenheit +nicht wieder von mir weichen, erreichte ich ein Dorf, +das als Landzunge weit in den See hinausstieß und +jenseits der Zeiten zu liegen schien. Eine alte Frau +saß auf einer Bank vor ihrem Hause, und ich bat +sie, mich drinnen ausruhen zu dürfen. Wir verstanden +einander nicht, aber die Müdigkeit spricht ihre eigene +Sprache zwischen Frauen. In einer Stube des Erdgeschosses, +die durch ihre edle Sauberkeit den Eindruck +des Luxus erweckte, stand eine schmale, gepolsterte +Bank. Dort schlief ich auf der Stelle ein. +</p> + +<p> +Als ich erwachte, war der Tag noch hell, aber schon +gebräunt vom Golde des Abends, und ich mußte +eilen, um vor Anbruch der Dunkelheit in Sils zu sein. +Auch für mein Herz ging jetzt die Sonne unter, und +das Fest verklang. Von den Strapazen ausgeruht, +war es zugleich, als sei mir durch den kräftigenden +Schlaf, wie ein Alltagszwilch, ein gröberes Ich übergeworfen +als das, welches seit gestern das meine +gewesen war. Ob wohl mein Koffer eingetroffen sei, +<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a> +wo meine Brotkarte stecken konnte, wo ich absteigen +sollte, derartiges beschäftigte mich wieder. Aber ich +spreche von verloschenen Kronleuchtern, oh Leser, +und du weißt noch nicht, warum sie brannten? +</p> + +<p> +Aber vielleicht hast du erfahren, daß es Träume +gibt, deren Nachhall, statt zu verklingen, sich bleibend, +wie ein Echo zwischen Klüften, in unserem Innern +fängt. — Solcher Art war der durchdringende Ton +der Mondnacht in Maloja. +</p> + +<p> +Es ist nicht gleich und nicht vergänglich, wie sich +die Kurve eines Fußes, der Umriß einer Schulter +anläßt, wie ein Knie sich rundet, wie eine Hüfte fällt. +Es ist das Flüchtigste nicht gleich. Und ganz und +gar nicht gleich, noch zufällig ist es, welchen Ganges +wir den Hügel abwärtsgehen. Hochzeitlich können +solche bald versenkten Dinge unverloren weiterschwingen. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Die Wolkenversammlung war noch immer nicht +anberaumt; vielmehr vertiefte sich am nächsten +Tage das weiß des Himmels und musizierte mit dem +Himmelsblau über das Fextal, das bewegteste der Erde, +auf und nieder schwingend wie eine Schaukel. Ragte, +von unten gesehen, ein Kirchlein zu oberster Schneide +für sich allein, so stand es, war man oben, ganz unsensationell +in einem Wiesenviereck, und sein rostiges +Gitter knarrte im Winde, und nur die Berge rückten +verändert und entschlossener zusammen. Wieder in +<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a> +der Tiefe und weit hinausgeschoben, richtete ein +Gasthaus seine Glasveranda dem Gletscher entgegen. +Auf ihn ging ich jetzt zu. Doch mit dem Lichte +wandelte sich mein Gemüt. Es brütete milchweiß +von einem hohen, aber sich überziehenden Himmel. +Hinter mir fuhr ein kleiner Wagen her. Darin saßen +zwei Herren, die angeregt mit einer noch jungen +Dame plauderten. Aber der Weg hörte bald auf, fahrbar +zu sein, und ich verlor sie aus den Augen, graugrünes +Nadelgehölz war um mich her und der entfärbte +Fluß zu meinen Füßen. Stolperte ich jetzt +und stürzte ich hinab, wer würde mich vermissen? +In welchem Hause entstand eine Lücke, wenn ich +nicht wiederkam? +</p> + +<p> +Kein Dach, kein Herd, kein Wesen; überall zu +Gaste! keinem Menschen ungeteilt und wirklich +zugehörig; als immer wiederkehrenden Gefährten +die entsetzliche, gefürchtete Melancholie, die ich so +feige, so vergeblich floh. Nun stellte sie mich angesichts +dieses Tales der Verlassenheit. Wozu bist du +hier? herrschte mich seine Stille an. +</p> + +<p> +Der sonnenlose Himmel über dem Nadelgehölz, +mehr noch der Fluß, dem Gletscher hier entlassen, +und seinen Lauf so blaß beginnend, griff ans Herz. +</p> + +<p> +Plötzlich stand die noch junge Dame vor mir und +sprach mich bei meinem Namen an. Nun war stets +meine erste Sorge, daß er in keine Hotelliste kam. +„Woher wissen Sie, wie ich heiße?“ fragte ich und +<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a> +wollte die Spröde spielen; aber da gab sie mir zu +wissen, daß sie meine Bücher kenne. Sie lebte in +Genf und war Amerikanerin. Wir wechselten einige +Worte, dann stieg sie wieder hinab. Gleich darauf +rollte das Wägelchen mühsam aufwärts, in dem die +noch junge Dame mit ihren Freunden plauderte. +Gewiß — man sah es ihr an — standen, wenn sie +nach Hause kam, ihre Abendschuhe bereit, und ein +freundliches, ihr ergebenes Zöfchen half ihr, sie +anzulegen. Wie verwahrlost ich war! +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Als ich am Morgen darauf erwachte, lag weithin +Schnee. Ich klingelte entsetzt. Der erste Postwagen +brachte mich ans andere Ende des Tales, zum Zuge, +und schnell in eine vom Winter noch nicht heimgesuchte +Welt hinab, wo Zürich einer entbrannten +Ebene zulief, die von der Glut des Sommers weiterträumte. +Hier reißt der See ein weites Fenster nach +dem Himmel auf: es ist die hellste Stadt der Welt. +</p> + +<p> +Aber von hier aus jagte mich eine dringende Depesche +Fortunios fort, der mich bat, sofort nach +Spiez zu kommen, mit dem Zusatz: „Besitzer auf +zwei Tage verreist.“ +</p> + +<p> +So war ich abends unterwegs zur Villa des Geölten, +die ich nicht wieder zu betreten glaubte. Da war +das Gitter, der Kiesweg, der sich so schnell verlor. +Man sah das Haus erst, wenn man davor stand. +</p> + +<p> +<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a> +Fortunio aber war schwer krank. Verfallen, zerfurcht, +zerwühlt. Wir aßen im Schloßhotel zur Nacht +und besprachen die Abreise für den morgigen Tag. +Ich fühlte meine Arme erstarken, in dem Wunsch, +ihm zu helfen, und unser schier geisterhaft geschwisterlicher +Bund war durch die Trennung neu erhellt. +Am nächsten Tage aber lag er zerrüttet, ohne Energie. +</p> + +<p> +„Morgen, morgen“, sagte er. Ich reiste ab, nach +Bern, Fortunia zu alarmieren. Ihr Gesicht erinnerte +an ein von schwerem Regen heimgesuchtes Land. +Ohne Schonung schilderte ich seinen Zustand und +ließ dann die Sache bei ihr. Um nicht in Bern zu +bleiben, fuhr ich abends nach Montreux. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-2"> +HERBST 1918. +</h3> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-3"> +Montreux. +</h3> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">N</span>ur lachenden Auges werden hier die Zeitungen +gekauft. Der Belgier und sein Kind waren ohne +Schadenfreude. Die Filme arbeiten schon stark +mit elsässischen Hauben. Sie werden lebhaft beklatscht, +in der Voraussetzung, daß sie nicht mehr lange deutsch +bleiben. Schließlich ein begreiflicher Jubel. Entsetzlich +ist nur der Applaus, als englische Munitionskammern +aufziehen, emsig mit Granatendrehen beschäftigte +Frauen und Geschosse in unabsehbaren +Reihen. „Gehen wir!“ rufe ich, und wir verlassen +das Haus. Süß schlagen die Wellen ans +Land. Die Berge des andern Ufers erheben sich +<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a> +unmittelbar, als gründeten sie in den Tiefen des +Sees. Sie sind kahl und scheinen dennoch weich, +selbst im Dunkel der Nacht; wie Gesänge abgestuft, +steigen und fallen und treten zurück und verhallen +die Berge Savoyens. +</p> + +<p class="dat"> +5. OKTOBER. Glasenfrosts in Villeneuve geben mir +die Nachricht, daß Deutschland um einen Waffenstillstand +nachgekommen ist: Mein einziger Wunsch +ist, es möge die Welt, die es als Sieger verloren hatte, +als Besiegter wieder für sich gewinnen. Die In-die-Knie-Zwinger +Britanniens, die ohne Briey nicht leben +konnten, sind mit einem Male still. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-4"> +6. OKTOBER bis Anfang NOVEMBER. +</h3> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">F</span>ortunios sind angekommen, sie wohnen in Vevey, +und er erholt sich. Zum ersten Male bildete sich unser +Zusammensein als heller Punkt und geordnete Fläche +heraus. Augenmerk und Sorge sind durch die Ereignisse +zu sehr in Anspruch genommen, um uns bewußt zu +werden, wie sehr es einem bekränzten Floß inmitten +schwarzer und gestoßener Fluten glich; Und wie +hätten wir da anders als in der Erinnerung wahrgenommen, +daß wir schöne Tage verlebten? +</p> + +<p> +A. H. Pax ist aus Bern gekommen. Der Belgier +und sein Kind finden sich regelmäßig ein. +</p> + +<p> +Dabei wütete die Grippe. Viele Särge harrten der +Bestellung. In den Blumenläden häuften sich die +<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a> +Kränze, Halbgenesene, in tiefer Trauer, traten leichenblaß +das erstemal vors Haus. +</p> + +<p> +Doch die Zärtlichkeit des Herbstes, seine Zärtlichkeit +und sein Verweilen, seine Glorie ward unendlich. +</p> + +<p> +Eines Nachmittags strichen wir in den Höhen des +Weinberges entlang. Unter einem silbern aufgerollten +Himmel dehnte sich der See, schimmernd, unbewegt, +ein wenig müde . . . +</p> + +<p> +Plötzlich, mit einem Ruck, fuhr der Wind weit +und durchdringend auf, als stöhne er die ganze Erdkugel +entlang das Ende der schönen Jahreszeit hinaus. +</p> + +<p> +Im Nu schlugen die Wolken über die Sonne hin. +Fortunio hatte den Kragen aufgesteckt, sein Hut +rollte den Berg hinab. Wir lachten. Doch der Weg +war weit. Schon wußte der See nichts mehr von +seinen Ufern. Unter Nebelschauern waren alle Berge, +ja wir selbst, unsichtbar. +</p> + +<p> +Am nächsten Morgen war für jedes Kind ersichtlich, +daß Fortunio die Grippe hatte, aber wir taten +nicht dergleichen. Statt im freien, versammelten +wir uns an seinem Lager. Man hielt es in jenen Tagen +allein nicht aus. Bang und fröstelnd rückte man +zusammen. Denn auf dem Streitroß, dessen Nüstern +von Hoffart, Haß und Vergeltung sprühten, und wie +ein Sturmgott kam ja der Friede heran. Wehe, es +war jener Gewaltfriede, jener Macht- und Siegfriede, +von dem in Deutschland so viel geredet worden war, +<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a> +und den abwehren zu wollen, den zu fürchten, als +ein Verbrechen galt. +</p> + +<p> +Und indessen lösten sich in unserer kleinen Gruppe +hineingetragene Dissonanzen weiter aus, und statt +der chronischen Trübungen stimmten sich ganz ohne +unser Zutun unsere Gemüter wie Instrumente zu +täglicher, reinerer Melodie. Fortunias Gesicht glättete +sich und erlangte seine Pinturichiotöne wieder, und +während der Aufruhr stieg, bildeten wir eine uns selbst +unvergeßlich gewordene Insel des Friedens. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Als sich die Sonne nach einer Regenwoche +wieder zeigte, war die Welt eine andere. Das +Renommierboot mit seinem rostbraunen Segel zog +wieder auf, aber es blähte sich über ein gesteiftes +und gepeitschtes Blau; die weißgeharnischten Berge +waren näher gerückt, und wo das Laub noch grün +geblieben war, hatte es ausgeträumt, hing ohne +Illusion, des Todes gewärtig, und daß es fallen +würde. Im Hotel spielte die Heizung, und ein von +sich überzeugtes Ehepaar: le Vicomte Edmond de la +Province, einem Roman von Claude de Bernard entlaufen: +Madame korrekt bis ins Grab hinter der +vorangetragenen Corsage, Monsieur im Bart, Schloßbesitzer, +zogen schweigend über Flur und Treppe, +und faszinierten durch ihre abgründige Zurückgebliebenheit. +</p> + +<p> +<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a> +Unsere Gruppe indessen hatte sich verkleinert. +Erst war der Belgier und dann sein Kind erkrankt. +A. H. Pax saß wieder in der Choisystraße. Das alte +Deutschland stürzte wie eine Kulisse zusammen, und +Trümmer waren fürs erste der einzige Ausblick. +Fortunio, von Ungeduld verzehrt, erklärte aufstehen +und nach Berlin reisen zu wollen. Fortunia fuhr +nach Bern, das Haus für die Abwesenheit zu bestellen, +und ich folgte mit ihm den Morgen darauf. Wir saßen +einander im Zuge gegenüber, sein Husten war ein +Gebell. Am selben Nachmittage brachten wir Fortunios +mit Pax an der Spitze, zur Bahn und ließen sie, wie +Flammen über das Moor, ins Weglose ziehen. Denn +schon fluteten die aufgelösten Heere in unbeschreiblicher +Verwirrung aus den besetzten Gebieten ins +Land zurück. Die Lauben hinabsehend, unschlüssig +wo ich absteigen sollte, versagten mir plötzlich die +Knie, Fröste wie graue Blitze durchfuhren mich, +und mein Husten war ein Gebell. Diese nicht zu +verkennenden Symptome jagten mich wieder an die +Station, um mit dem letzten Zuge nach Montreux +zurückzufahren. Denn lieber, als angesichts des Gurten +wollte ich dort erkranken, wo im Hotel Suisse als +chefesse de réception eine so angenehme Erscheinung +waltete, und ich den Nachtportier zum Freund besaß, +ein komischer, alter Schwabe, den ich deutsch ansprach, +sowie der Lift ohne Insassen und in der +Schwebe war. +</p> + +<p> +<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a> +Nun war es Sonntag. Das heiße Wasser also lief. +Vielleicht vertrieb mir eine heiße Dusche den Frost. +Aber das Wasser war schon lau. Dafür gerieten die +grauen Zickzackblitze in Brand und drückten mir +eine Feuermütze ins Genick. Da ließ ich mich denn +grippekrank melden und stellte anheim, mich aus +dem Hause zu schaffen. Aber die angenehme Erscheinung +aus dem Bureau kam herauf, mich zu +beruhigen. Dann äußerte sie einige unverständliche +Dinge und verschwand. Bald darauf trat ein Mann +herein, den ich für einen Raubmörder hielt, gefolgt +von einem fürchterlichen und handfesten Weib ohne +Kopf, seiner Helfershelferin. Ich wollte rufen, da +hatten sie mich schon gepackt. Jetzt, dachte ich, ist +doch alles eins. +</p> + +<p> +Eine Stunde später lag ich mit aufgerissenem +Rücken, geschröpft wie ein Hengst. Ich erzähle dies +nur, weil ich dank dieser so immediaten und buchstäblichen +Roßkur schon nach zehn Tagen, statt +vielleicht nach Wochen, die Grippe spurlos überwand. +</p> + +<p> +Mittlerweile erdröhnte dem so glücklich gewesenen +Deutschland die im Lauf seiner Geschichte noch +immer zurückgekehrte Stunde seines Unheils. Es +war der eine Gedanke meiner leeren Tage und langen +Nächte; ihn auszuschlagen war unmöglich. +</p> + +<p> +Im ersten Stadium meines Fiebers fiel mir an dem +Stubenmädchen, das hin und wieder in mein Zimmer +trat, nichts bemerkenswertes auf, als daß sie mir +<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a> +sehr einsilbig und nicht freundlich vorkam. Pech! +dachte ich. +</p> + +<p> +Am dritten Morgen aber, als sie das Zimmer +räumte, folgte ich ihr mit den Augen, während sie +wähnte, daß ich schlief, und das Herz stand mir still. +Hermione! wollte ich rufen. Nein, Andromache +im Palast des Priamus, ob ihrer Anmut erstaunt, und +der leichteste aller Tanagra zugleich! So stand sie, +den Besen führend, in der Mitte des Zimmers. War +ich im Delirium gelegen, daß ich sie nicht gesehen +hatte? Sie kam auf mich zu: „êtes-vous plus mal?“ +Aber ich wehrte ihr mit beiden Händen ab. „Cela +m’est égal“, sagte sie, „de prendre la grippe.“ Was +war melodischer, dieser Mund, diese Lippen oder +diese Stimme? — Und ein solches Geschöpf umgab +mich mit ihrer Pflege. Welch unerhörter Luxus! +Die Sonne ging vor meinem Fenster auf, alles Leben +im Geleite, und lachte des Todes bis zum Mittag. +Pauline Glasenfrost kam täglich aus Villeneuve, +brachte die Zeitungen, beschenkte mich und spottete +der Ansteckung. Knirschend las ich alle Noten und +Appelle an die Großmut der Sieger. Welche Verkennung +der Situation! Aber was bedeutete dieses +Versagen angesichts der Würde, welche ein solches +Unglück gab? Und wiederum würden nur die Unschuldigen +leiden. Die Taktik der Sieger würde es +den Schuldigen ermöglichen, sich herauszureden. +Schon damals sah man es kommen. — Ich läutete +<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a> +und bat Hermione, mir von sich zu erzählen. Sie +stammte aus dem Wadtlande. Ihre Heimat lag hoch +über den Weinbergen und hatte die Gletscher im +Auge. Ich bat sie, einen hellen Mantel von mir anzulegen. +Wie er ihr stand! +</p> + +<p class="dat"> +8. NOVEMBER. Bevor mein Freund, der Nachtportier, +zur Ruhe ging, brachte er noch die erste +Post. An diesem Morgen trat er ein, reichte mir ein +Extrablatt und verkündete lakonisch: „In Bayern +ist Republik.“ Mein erstes Gefühl war kein gelinder +Schrecken. „Es mußte kommen“, sagte ich dann. +Der Portier war Demokrat. „’s isch recht. Runter +mit dem Zeug“, sagte er und ging. — So war also +Bayern Republik. Das Extrablatt war nur ein +kurzer Wisch; eins aber wußte man sofort: daß +dieser so wenig ästhetische König nie wiederkehren +würde. Die Wittelsbacher waren stets Liebhaber +des Schönen gewesen, und in ihrer natürlichen +Diskretion eines der sympathischsten Fürstenhäuser +der Welt. Daß er aber auch nicht eine einzige +ihrer typischen Eigenschaften besaß, sondern durch eine +sture Haltung während des Krieges, sowohl in der +elsaß-lothringischen, wie in allen politischen Fragen +statt vermittelnd zu wirken, überall nur Unheil anrichtete, +flößte die geradezu unwiderstehliche Abneigung +für ihn ein. +</p> + +<p> +Plötzlich blieben Briefe und Zeitungen ganz aus, +<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a> +und die Spannung wurde unerträglich. Es wehte +eine scharfe Bise, doch ich fuhr nach Villeneuve. +Vielleicht hatten Glasenfrosts etwas gehört. Sie +waren von den rührend beseelten Manifesten Eisners +sehr eingenommen, und wirklich hatte man in diesen +Tagen die Illusion, am Anfange einer besseren Zeit +zu stehen, ob es sich auch nur um eine einzige, schnell +aufgehaltene Stunde handeln sollte. Und nicht einmal +ihr ließ man Zeit. „Man verlange von uns nicht,“ +beeilte sich die die Politik Clemenceaus vertretende +Freie Zeitung zu schreiben, „daß wir uns mit dieser +Sache da, genannt deutsche Revolution, ernstlich +befassen.“ Und man eiferte um die Wette, sie zu +„dieser Sache da“ zu machen. Sie hatte es schwer, +alle Konjunkturen dafür um so leichter. Schon war +sie wie eine Decke, um deren Enden sich die Schuldigen, +die Unlauteren, die Banditen rissen, und alle +Karrierejäger gerieten wieder ins Laufen. Wer hätte +gedacht, daß alle die dienstbeflissenen jungen Herren, +die mit umgeschnallter Seitentasche so flink und so +stramm ins Hauptquartier Meldungen überbrachten +und entgegennahmen, überglücklich, bis zu Ludendorff +in Person vordringen zu dürfen, daß sie im +Grunde ihres Herzens solche Feinde des Systems +und so demokratisch waren? Nie sah die Welt ein +vom alten Regime so gut besuchtes nouveau régime! +</p> + +<p> +Suchte man im eigenen Garten das scheue Pflänzchen, +das mitten im Sturme Morgenluft witterte, +<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a> +von allen Seiten an beliebige Stakete zu biegen, und +sah es das Ausland mit begreiflichem Mißtrauen +keimen, so erfuhr man in der Schweiz infolge des +gerade in diesen Tagen einsetzenden Generalstreikes +überhaupt nichts davon: er stand allein im Vordergrund +und beschäftigte alle Gemüter. So wurde +hier, gerade in ihrer kurzen Glanzzeit, die deutsche +Revolution unterschlagen. +</p> + +<p> +In jenen aufregenden Wochen kam ich wieder mit +Romain Rolland zusammen. Mehr als je zeigte er +sich jetzt als der Mann ohne Illusion, was Wilson, +ob er auch dessen guten Willen nicht in Frage stellte, +und was die Entwicklung der Dinge betraf. Ich +fand ihn viel zu skeptisch. +</p> + +<p> +Im selben Hotel, wie Glasenfrosts und Rolland, +wohnte auch eine Schweizer Familie, die sich sehr +für ihn interessierte, durch seine große Zurückhaltung +aber in Schach gehalten fühlte. Eines Mittags, da ich +bei ihr zu Gaste war, bat ich ihn, ein übriges zu +tun, und sich zu uns zu gesellen. +</p> + +<p> +Ich sehe ihn so deutlich vor mir, wie er an jenem +Tage, seine alte Mutter am Arme führend, in seiner +ruhigen und ein wenig geheimnisvollen Art zu uns +stieß. Das Gespräch drehte sich natürlich um den +Generalstreik und dann um den Bolschewismus; für +die Westschweiz hätte man zum Glück ein treffendes +Agitationsmittel gegen ihn, da er deutscher Import +sei. Rolland schwieg. +</p> + +<p> +<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a> +„Der hat der Welt gerade noch gefehlt“, sagte +ich, und sah einladend zu ihm hinüber, damit er +sich äußere. Vergebens. Er erwiderte nur auf direkte +Anfragen und ohne eine Meinung abzugeben. So +sprachen halt in Gottes Namen nur wir. Ich ging +dann zu Glasenfrosts hinüber und schilderte das +mißglückte Beisammensein, bei dem ich zuletzt als +verzweifelte Wortführerin die Grippe, die Witterung +und endlich die Tatsache erörtert hatte, daß jede +Stadt, ja jeder Ort ein anderes Modell für seine +Leichenwagen besäße. Aber auch diese originelle +Wendung fiel unter den Tisch. +</p> + +<p> +Es hatten Regenschauer eingesetzt, und Glasenfrosts +hielten mich noch eine Weile zurück. Wir +waren uns in diesen Tagen noch sehr einig, und er +hielt sich bereit, nach München zu fahren und Eisner +bei Seite zu stehen. Vielleicht hatte doch die Geburtsstunde +des tausendjährigen Reiches geschlagen, und +die Gefallenen waren nicht umsonst an seiner Schwelle +geblieben. Waren sie nicht schon ein einziges Heer? +</p> + +<p> +Aber Rollands rätselhafte Haltung ließ mir keine +Ruh, und als ich endlich aufbrach und die langen, +klosterähnlichen Gänge des Hotels entlangging, machte +ich plötzlich kehrt und klopfte, ohne mich zu besinnen, +an seine Türe. Es war ein kleines Durchgangszimmer, +mit einem bescheidenen Pianino, auf +dem sich Musikalien häuften. Rolland stand in Hut +und Mantel, im Begriffe auszugehen, und sah mich +<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a> +erstaunt an. „Es tut mir sehr leid,“ sagte ich, „Sie +so zu überfallen. Aber ich möchte wissen, was Sie +eigentlich denken. Sie schweigen sich aus, Sie lächeln +ein wenig hämisch, und das ist alles. Wer soll da klug +daraus werden? — Ich frage Sie nicht aus Neugier.“ +</p> + +<p> +Rolland legte seinen Hut auf das Klavier. +</p> + +<p> +„Sie sind so ahnungslos,“ sagte er, „Sie wissen so +wenig, was sich bereitet.“ +</p> + +<p> +„Aber doch nicht der Bolschewismus“, rief ich. +„Das ist doch nicht Ihr Ernst! Und Sie sind doch +kein Bolschewik.“ +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte er, „aber ich habe nicht Ihre summarische +Auffassung des Problems.“ +</p> + +<p> +„Das neuerwachte Deutschland“, sagte ich, „wird +die Welt davor retten.“ +</p> + +<p> +Rollands Züge nahmen einen müden Ausdruck an. +</p> + +<p> +„Ich bin voll guten Mutes“, fuhr ich fort. „Haben +Sie die letzten Aufrufe gelesen? Diese Absage an +jegliche Gewalt? Eine neue Ära hat ihren Anfang +genommen. Wir haben unseren Militarismus zum +Teufel gejagt. Endlich schlägt die Stunde, wo man +sich angesichts eines wahren, befreiten und sympathischen +Deutschlands auch seiner unsäglichen +Leiden entsinnen wird.“ +</p> + +<p> +„Kommen Sie,“ lächelte Rolland, „welches Interesse +haben heute die Sieger an einem sympathischen +Deutschland?“ +</p> + +<p> +<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a> +„Aber nicht nur die Sieger“, versicherte ich. „Die +ganze Welt hat ein Interesse daran, daß die deutsche +Revolution aus den Verirrungen der französischen wie +der russischen lerne und endlich jene vorbildliche +und maßvolle sei, welche die Menschheit ihrem +Glücke näherbringt. Und alle Anzeichen sprechen +dafür: Hören Sie doch, mit welch reinen Glockentönen +sie sich kündet. Oh sie wird schön!“ Rolland +lächelte nicht mehr. „Sie wird furchtbar!“ sagte er. +„Morgen schon wird Eisner sich überrannt sehen +und seine Gegner zu beiden Seiten haben. Der +Bolschewismus ist in Rußland nicht nur durch die +Stoßkraft der Linken, sondern mehr noch durch den +Gegendruck der Rechten das geworden, was er heute +ist. Man kann die Deutschen nicht genug verwarnen. +Wenn auch bei ihnen die Reaktion eine Bewegung +zu unterdrücken unternimmt, die wie ein ausgetretener +Strom heranbricht, so werden sie ganz ähnliche +Zustände herbeiführen. Es ist absurd, seiner +elementaren Gewalt morsche Dämme entgegenzustellen, +statt sich seinem Lauf anzupassen, und was +er lebendiges heranträgt, zu vertreten. Unsere +Gesellschaft hat ihre Berechtigung gehabt, aber sie +hat versagt, und ihre Zeit ist um. Mögen wir es noch +so sehr bedauern, mag viel Schönes mit ihr untergehen, +die Reihe ist nicht mehr an uns, sondern an +den anderen. Nichts kann diese Tatsache aus der +Welt schaffen. Wir müssen uns zu ihr stellen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a> +„Sollen wir denn alle Holzhacker werden?“ fragte +ich betreten. +</p> + +<p> +„Der Typ des Literaten,“ entgegnete Rolland, „dem +wir seit einigen Dezennien so vielfach begegnen, wird +jedenfalls verschwinden, und ich weine ihm nicht +nach. Ein Gespräch mit nach Bildung strebenden +Handwerkern ist mir heute schon viel genußreicher +und interessanter. Was der Literat mir sagen wird, +weiß ich von vornherein.“ +</p> + +<p> +„Mein Gott,“ seufzte ich, „es pflegen nicht einmal +die Könige freiwillig abzutreten, viel weniger +ganze Kasten. Sie werden den Kampf aufnehmen +und uns eine blutige Morgenröte bescheren. Was +ist zu hoffen?“ +</p> + +<p> +„Nichts für die Gegenwart, sie ist zu korrupt“, +sagte er. „Aber alles für die Zukunft. Ich bin kein +Pessimist.“ +</p> + +<p> +Rollands Worte, die ich auf dem Heimweg überdachte, +waren viel reichhaltiger und prägnanter, als +ich sie hier aus dem Gedächtnis wiedergebe. Wenn +aber eine neue Klasse zur Herrschaft gelangte, würde +sie weniger versagen, als alle anderen, und war anzunehmen, +daß ohne furchtbare Erschütterungen die +frühere Gewalt sich von der neuen aus dem Sattel +heben ließe und etwa mit Rolland eingestehen würde, +„ihre Zeit sei um?“ +</p> + +<p> +Meine Eindrücke von St. Moritz schwebten mir +vor, und ich dachte an Hermione, wie edel sie war. +<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a> +Aber war nicht alles erlesene prozentual? Was +also stand von den Massen zu gewärtigen? Die +Macht selbst mußte abwirtschaften und sich auf +neuer Basis konsolidieren. War nicht allem Anschein +nach die Ära der schlechten Päpste geschlossen, +weil sie verhältnismäßig machtlos geworden waren? +Anderseits hätte der Papst die Rolle Wilsons mit mehr +Glück, mehr Einblick in die europäischen Verhältnisse +übernehmen können, wäre er so mächtig gewesen +wie er. Macht also war und blieb die Losung. Eine +Macht jedoch, die keine Lockung dem Gemeinen +böte, ganz auf Erprobung ihrer Träger begründet, +ohne Vorteile für ihn, ohne Befriedigung des Ehrgeizes, +anonym vielmehr, Verzicht und Selbstentäußerung +bedingend, als Stein des Weisen der Weise +selbst. Oh Zarastro, Herr der weltabgewandten, +namenlosen Gewalt! +</p> + +<p> +Schwer und langwierig, immer wieder aufgehalten +und die Anspannung von Generationen erfordernd, +aber nicht unmöglicher als die endlich geglückte +Beherrschung der Luft, wäre die gleichsam auf immer +luftigeren Pfeilern emporgehobene, in sich selbst +beruhende Macht. +</p> + +<p> +Ich ging, vom Winde förmlich vorangetragen, den +Weg nach Montreux. Die Wellen zogen in finsteren +Reihen zum Angriff, und war dort nicht die Weide +von Territet, sie, die im Frühling in den Schleiern +ihres jungen Grüns vor Entzücken über sich selbst +<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a> +zerfloß? Nun aber schlug der See mit großem Getöse +bis zu ihnen auf, die müde niederhingen bis zu ihm; +Und dort hinter seinem Gatter hatte angesichts der +Ufer ein Tulpenbeet geblüht. Die stillsten aller +Blumen standen dort so sanft und so gerade! oh Weide +von Territet! Oh stille Tulpen, mit denen ich gewesen +war! Was blieb ich am Gitter hängen, die +Hände an die Schläfen gepreßt, der Knecht mit dem +Talent des einzigen Gedankens? Törichte Hoffnungen +hatten mich schon wieder hingerissen, denn +der Winter unserer Leiden stand noch aus. Der +Stein aber, mit dem ich mich schleppe, zermalmt +mir das Hirn. Wer legt das Fundament des sich +immer schroffer nach innen ziehenden Baues, mit +den immer abweisender sich schließenden immer +geheimeren Pforten, durch keine andere Gewalt zu +sprengen, als jene, welche der Himmel leidet. +</p> + +<p> +Die Theorie einer immer strengeren Auslese — +der Natur selber entnommen —, weit entfernt, eine +hochfahrende zu sein, ist ja die demütigste der Welt. +Keine führt so tief in unser Inneres hinab, um aufs +neue dasselbe Schauspiel wie nach außen zu enthüllen. +Denn hier sieht sich der Berufene noch einmal +einem ganz ähnlichen Kampfe überwiesen. Wie +unbegreiflich sind oft seine Schwächen! ebensovielen +untergeordneten Wesen vergleichbar sind sie gegen +ihn in Aufruhr und sind beständig die Schlingen +gelegt. Daß der Gerechte siebenmal des Tages fällt, +<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a> +konnte nur ein Gerechter äußern. Zwar ist sein +Merkmal, sich immer wieder aufzurichten und einzuholen. +Aber jedes versagen läßt an Boden verlieren, +die Gelegenheiten sind gezählt, und eines +Tages ist man hinter sich zurückgeblieben. Keiner +ist auserwählt, der sich nicht durch eigene Kraft +dazu vermochte. Berufener und Auserwählter, wie +gefährdet sind beide! Denn so manchen, der seinen +behielt, stürzte ein Laster von seiner Höhe. +</p> + +<p class="tb"> +* *<br />* +</p> + +<p class="noindent"> +Und nun kam ein Tag, an dem Montreux, bunt +wie ein Jahrmarkt, den tollsten Anblick bot, seitdem +es stand. Alle Länder der Erde — bis auf die paar +niedergerungenen — beflaggten das Ende des Krieges. +Und nicht nur an den Dächern und von den Fenstern, +den Mauern und Toren, sogar an den Menschen +selbst schlugen Fahnen hin und her; von den Jacken, +den Hüten, ja den Händen der Kinder zogen Fähnchen +auf. Schon sprangen die internierten Offiziere +mit sehr deutlicher Siegermiene (kannte man die +nicht von Potsdam her?) von den Autos ab. Es war +ein allgemeiner Jubel, von Hohn und Verwünschungen +untermischt. Wer diesen Tag hier erleben mußte, +der erwartete nichts. Dem kündete sich der Geist +des Friedens von Versailles und Saint Germain. +Das jubelnde Gewoge, die Saturnalien von Fahnen +raubte mir die Fassung. Ich lief meinen hervorbrechenden +<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a> +Tränen davon, die Häuser entlang, +am Bureau des Hotels vorbei, in mein Zimmer +hinauf, wo ich mir den Schleier vom Gesicht riß: +ein Klageweib! — Prophetin meines eigenen Schicksals, +als ich zu Anfang dieses Krieges schrieb: „Leute +wie wir, werden am Tage des Sieges sich verkriechen +müssen, denn immer wird es Jerusalem und seine +Kinder sein, um die wir weinen werden.“ +</p> + +<p> +Die Hungerblockade blieb von den Siegern, die für +Recht und Menschlichkeit gekämpft hatten, über den +erdrückten Gegner, auch nach Einstellung der Feindseligkeiten, +verhängt. Und es lag, wie Rolland mir vorhergesagt +hatte, nicht im Interesse der Sieger, die edle +und gepeinigte Opposition in Deutschland zu stützen. +Eine unsympathische Regierung als Aushängeschild +des deutschen Volkes aufrechtzuerhalten, gehörte vielmehr +zu den strategischen Notwendigkeiten dieses +Winters der Friedenspräliminarien von Versailles. Da +ich kein Kriegsbuch schreibe, seien die nächsten +Monate überschlagen. +</p> + +<p> +Während dieser Zeit fuhren die Militaristen aller +Länder fort, sich wacker in die Hände zu arbeiten, +und über jede Härte und Unmenschlichkeit der +Alliierten triumphierten die Anstifter der Verwüstungen +und Deportationen. Denn so kam doch ihre Mühle +wieder ins klappern, und das Wort von der „erdolchten +Front“ schnupperte aushorchend in der Luft. Damals +wurde ich aufgefordert, so manchen ganz vergeblichen +<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a> +und würdelosen Appell zu unterzeichnen, +mit dem Hinweise, früher hätte ich zu protestieren +gewußt, jetzt, wo die Untaten von der andern +Seite geschähen, schwiege ich mich aus. Ich zog +es aber vor, auch hier meine Kundgebung solo zu +verfassen; sie erschien in der Neuen Zürcher +Zeitung. +</p> + +<p> +Denn sie hatten ja recht: es galt zu sagen, daß diese +ganze Welt ununterschiedlich des Teufels war. Traurig +stimmte es nur, daß all die Mahnrufe und das viele +Aufbegehren aus den Reihen derer stammten, die +vielfach kein Recht dazu besaßen, während sie schwiegen, +die wirklich Unschuldigen, abscheulich in Stich +gelassenen, Betrogenen, die während des Krieges auf +Gefahr ihres Lebens ungenannt und langen Mutes +vor Gottes Angesicht das wahre Deutschtum vertraten. +</p> + +<p> +In der Opposition entdeckten sie jetzt alle ihr Herz. +Mit welch herrlichem Gefühl und welch aufrichtendem +Stolze stand Heinrich Mann der Republik +zu Pate! dort riß nicht ein einziger aus; bei dem +vielverfolgten Lichnowsky, laut des Friedensvertrages +tschechisch gewordenen Magnaten, angefangen, +der sich als Deutscher erklärte; was ich wirklich +nicht erwähnen würde, hätten nicht so viele Patrioten +aus ihren Papieren fremdländische Patente herausgeklügelt +und sich mit einem Male als Schweden, +Schweizer, Holländer, sogar als Engländer präsentiert. +<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a> +Die beste Illustration für den Nationalismus, +die es geben kann. +</p> + +<p> +Jenes Wort, welches mir seinerzeit so verübelt +wurde, daß es Boches in jedem Lande gäbe, sollte +sich übrigens nur zu sehr bewahrheiten. Jeder Militarist, +gleichviel welcher Staatsangehörigkeit, ist ein +Boche. Und wenn er Schimpanse zu Aufsehern eines +Volkes bestellte, das der Welt einen Grünwald geschenkt +hat, so wäre er eben ein Boche; jener Grünwald +aber, ob er sich ihn noch so oft holte, ei, der +bleibt deutsch. +</p> + +<p> +Als ich um die Blütezeit zum ersten Male +wieder das deutsche Ufer des Bodensees sah, +war ich von der Pracht seiner Bäume bewegt. Diese +wenigstens konnten dem armen und geschlagenen +Lande nicht genommen werden. — Und diese eben +hatte es dem andern mit großer Genugtuung meilenweit +abgehackt. Es ist ja das typische Merkmal des +Militaristen, zu glauben, daß er den andern trifft, +wo er sich selber entehrt. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-5"> +FEBRUAR 1919. +</h3> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">M</span>it dem Berner Internationalen Sozialistenkongreß, +dem seit August 1914 einzigen Ereignis von wahrhaftem +Sein, das mitzuerleben mir vergönnt war, +schließt dieses Buch. +</p> + +<p> +Hoch über den Bernina-Alpen und dem Julier +türmten sich die Wolken zu goldenen Toren und +<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a> +zu glühenden Rossen. Phaeton, wieder erstanden, +lenkte sie wieder, die italische Ebene im Angesicht. +Die Spuren der Räder, waren sie nicht der +Rauch, der am Himmel verflog, während nach Norden +hin das Gebirge zu Tod erblaßte? Auch der nach +Süden gerichtete Wald starrte unter der Last des +Schnees. Doch die Luft wehte so befiedert leicht +über ihn hin, und es herrschte ein Licht wie über +Palmen. Man hatte Glatteis unter den Füßen und +war dem Winter entronnen. +</p> + +<p> +Aber Fortunios Gesicht war wie zerhöhlt von +Ungeduld. „Haase ist schon in Bern,“ sagte er, „der +Kongreß ist im Gang. Wir müssen hinab.“ +</p> + +<p> +Da es der erste war, dem ich beiwohnen sollte, verband +ich weiter keine Vorstellung mit ihm, als die +mehr oder minder langweiliger Reden, und ohne +sonderliche Erwartungen betrat ich zum ersten Male +den Saal. Kein Delegierter aber drängte von nun +an eiliger zu ihm zurück. Oft war er in der Mittagspause +noch geschlossen, als ich schon davor wartete. +</p> + +<p> +Zu den Morgensitzungen ging Frau v. Schreckenburg +mit mir. Nachmittags saß ich am Tische mit +Fortunios, vor uns die Franzosen. Da waren Renaudel, +Cachin, Longuet, Rappaport, Loriot, Faure, dann +kam der englische Tisch mit Henderson, Macdonald, +Norman Angel. Von dort leuchtete das leichte Gold +von Mrs. Snowdens Haar. Sie trug keinen Hut. +Der schöne, zarte und energische Kopf war der Lichtpunkt +<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a> +des Hauses. Die Deutschen und Österreicher +saßen ganz vorn, zu weit entfernt, um sie zu unterscheiden, +es sei denn, daß sie sich erhoben. +</p> + +<p> +Bleich, abgezehrt, den schmalen und ehrwürdigen +Kopf ein wenig seitwärts, stahl sich im fahlen Schein +des Wintervormittags der, eben von der Bahn gekommene +Eduard Bernstein bescheiden herein. Die +französischen Sozialisten sahen ihn zuerst, eilten auf +ihn zu und begrüßten ihn stürmisch. Daraufhin +erhob sich der ganze Saal zu einer Ovation. Wie frohlockte +da mein undemokratisches Herz! +</p> + +<p> +Als Viktor Adler auf das Podium trat, gaben +wiederum die Franzosen das Zeichen zu einem lang +andauernden Applaus. Adler war der Motor des +Kongresses. Unerbittlich die Mitte einhaltend, wies +er jede Parteilichkeit schroff zurück, von welcher Seite +sie auch stammte; ihm war das gleich. Sein blasser +Löwenkopf tauchte dann zum Angriff auf: „Un homme +politique, mais pas de bonne politique“, forderte er +Renaudel heraus. Seine Stimme klang wie Erz. Aber +allen Differenzen, Vorwürfen, Ausreden, Angriffen zum +Trotz fing eine Einigkeit sich herauszuschweißen an, +und wie unter einem glühenden Hammer stoben Funken +zu einer Garbe auf. Haß schmolz zu Mitgefühl. — +Zwar wurde jenen deutschen Delegierten, welche die +Politik ihres Landes zu verteidigen suchten, prompt +die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens zu +Gemüte geführt, stellten aber dann ihre Angreifer +<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a> +den deutschen Militarismus immer wieder allein an +den Pranger, so wurden sie regelmäßig von Zwischenrufen +wie: „Et le militarisme français! et le nôtre! +et tous les militarismes!“ von der französischen Linken +unterbrochen. +</p> + +<p> +Überhaupt war dieser französische Block der beste, +der wärmste. Von ihm ging das Unbehagen aus, wenn +ausschließlich das deutsche Sündenregister stieg. Scheu, +Zartgefühl, Respekt (ja Respekt!) vor dem Geschlagenen +(weil geschlagen), sie stammten von dort. Und schon +gärte die Atmosphäre wie ein starker Wein. Klug wie +ein Erzengel ließ der hochaufgerichtete Huysmans +mit dem schönen Donatellokopf bei den Reden, +die er französisch und englisch übersetzte, alles Unwesentliche +fallen. Oft waren sie lebendiger als im +Original. Behender löst kein Eichkätzchen die Haselnuß +aus ihrer Schale. +</p> + +<p> +Ach, so viele gute Menschen waren hier! Unbeweglich, +als wäre er nur eine Zimmerpalme, hielt sich +unser aller A. H. Pax im Hintergrund; und wie +Kerzenlicht im Mittagsscheine tauchte bald hier, bald +dort Fortunio unauffällig auf. +</p> + +<p> +Hin und wieder kam in Frack und weißer Binde, +pour finir sa soirée, ein Attaché gegangen und wirkte +in dieser so weit vorgreifenden Luft wie eine Varieténummer +aus einer veralteten und komisch gewordenen +Welt. Der eine oder andere blieb gebannt, und die +Geschniegeltheit fiel von ihm ab. +</p> + +<p> +<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a> +Die Fürstin Patschouli aber war sehr ungehalten, +was sie nicht hinderte, mir zwischen zwei Sitzungen +ihren stärkenden Kaffee zu brauen. Sie wollte wissen, +wer mich denn so interessierte. Ich nannte einige. +„Quels noms!“ sagte sie, zum Himmel emporblickend. +</p> + +<p> +Als Partei interessierte mich ja der Sozialismus so +wenig wie jede andere. Aber das Ergebnis der kapitalistischen +Ära war ein wirrer Knäuel ineinander +verbissener Verbrecher, und es war eine Welt, welche +der Sozialismus jedenfalls nicht bereiten half. Er hatte +keinen Teil an ihr. Deshalb nur gab es keine andere +Brücke als ihn, denn er war nur ein Weg, der weiterführt, +indem er zurückgelegt und überwunden wird, +niemals ein Ziel. +</p> + +<p> +Woher kam es aber, daß er, der angeblich auf rein +materialistischer Grundlage beruhte, er allein unter +allen Parteien, ohne Anstoß zu erregen, christliche +Gleichnisse anführen durfte. Warum, statt Schamröte +in die Stirn zu treiben, war es so rührend, wenn +der geistvolle Longuet, der auf dem Podium auf und +ab zu gehen pflegte, während er sprach, ein Zitat aus +den Evangelien gebrauchte, oder wenn Mrs. Snowden +eine Rede mit den Worten schloß: denn wir sind +Brüder? +</p> + +<p> +Nach ein paar Tagen kannten wir einander fast alle. +Einmal fielen wir an eine Tafel aus im geschlossenen +Raum; eine unbändige Heiterkeit bemächtigte sich +unser, aber wir blieben sitzen. Ich spielte mich auf +<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a> +die Wirtin auf und machte die Tischordnung, als sei +das Essen von mir, A. H. Pax vermißte die Schnäpse, +und wir kamen nicht aus dem Gelächter. Etwas in +unserer Befreitheit erinnerte dabei ganz deutlich an +jenes Gastmahl im Neuen Testament, von welchem +der nicht im Feierkleide erschienene Eindringling in +die äußerste Finsternis zurückgewiesen wurde. So +hatten auch wir keine unsicheren Gestalten hereingelassen. +</p> + +<p> +Ich werde mich schwer hüten zu sagen, wer meine +Tischnachbarn gewesen sind. In streng geschiedenen +Gruppen, die einander nicht mehr kannten, fanden +wir uns im Saale wieder ein. Denn wie der Chor der +Gefangenen in „Fidelio“ wußte man sich belauscht +mit Aug’ und Ohr, und vermied es, von Lager zu +Lager sich zu grüßen. +</p> + +<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-6"> +Der Sonntag. +</h3> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">E</span>r bildete die große Orgelpause des Kongresses. +Um so lebhafter war in der Stadt das hin und her. +Als ich die Treppe des Hotels Bellevue hinabging +stieß ich mit Kurt Eisner zusammen. Er war schwarz +und ganz neu angezogen. Auch der schwarze Schlapphut +war neu. Wir wechselten ein paar Worte. Ich +kannte ihn zwar noch nicht, aber so hielt man es in +jenen Tagen. +</p> + +<p> +Leider war mein Zimmer winzig klein. Um Raum +für den Kaffeetisch zu schaffen, mußte das Bett zum +<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a> +Sofa werden, und ich schüttete Kissen gegen die Wand. +Um fünf Uhr erschien Haase. Der niedere Kragen, +Kleidung, Struktur waren die eines Mannes aus dem +Volk. Dabei lag in der Haltung des Rückens und der +Schultern eine ungemeine Würde. Aber wenn sie +Widerstand und Energie ausdrückten, so sprachen sie +auch von rücksichtslosem Verbrauch sich verzehrender +Kräfte. +</p> + +<p> +Auf dieser Figur eines Arbeiters saß ein Kopf, +ganz beherrscht von stark auseinanderliegenden, majestätisch +geweiteten Augen. Psychologisch viel zu neu, +um an einen Rembrandt zu erinnern, schien er zugleich +durch die Straffheit der bis zum Reißen gespannten +Züge und ihr tragisches Kolorit nach begeisterten +Evokationen seines Pinsels zu rufen. Wie der Ratsherr +einer noch nicht errichteten Stadt — die Leidenswerkzeuge +unsichtbar im Wappen eingetragen —, so +blickte, so ging, so bewegte sich Haase, so saß er +jetzt in unserer Mitte, die Zeit besprechend und die +Gefahren des revolutionären Deutschlands. Wir +hörten zu. Es wäre falsch, von Ahnungen zu reden. +Die Bangigkeit um einen Mann von Haases Edelsinn +und Güte war ganz instinktiv. +</p> + +<p> +Plötzlich klopfte es. Die Stimmung und Geborgenheit +unseres Zusammenseins war mit großem Geklirre +dahin. Bestürzt sah ich Eisner eintreten, den ich doch +gebeten hatte. Aber eine so andere Zone des Geistes +brach mit ihm ein. Er trug sich wie am Morgen +<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a> +komplett in Schwarz, kein Stäubchen, vom schwarzen +Schlapphut bis zu den Stiefeln (wie um die Reporter +lügen zu strafen, die seine nachlässige Kleidung verkündet +hatten). Halb Wotan, halb Konfirmand — grau, +nur der schüttere Bart und die müde Farbe des Gesichtes. +— Fortunios und ich saßen jetzt zu dritt auf +dem Bett, und alle allgemeineren Themen traten vor +dem besonderen der bayrischen Revolution zurück. +</p> + +<p> +Eisners romantische Schwäche für Bayern verriet +sich sogar in einem hin und wieder freiwillig angeschlagenen +Dialekt, dessen Unnatur etwas rührendes +hatte. Und so war es mit der Revolution; sie war das +Abenteuer seines Herzens, sein Geniestreich; was +aber an dem Bilde fehlte, war die Kenntnis Bayerns: +die Bayern, die sich hinreißen lassen, sind nicht dieselben, +die sich wieder eines anderen besinnen . . . +</p> + +<p> +Etwas an München wird vielleicht noch lange bewirken, +daß neue Sterne darüber aufgehen, etwas +bewirkt aber, daß sie schnell wieder zu verlöschen +drohen, günstige Konstellationen geraten dort sogleich +mit entgegengesetzten in Brand. Eisner erzählte wie +ein Rhapsode und besaß kein Ohr für das vielfältige +Rauschen der mitten im Sturm entrissenen Meeresmuschel. +Dies gab seinem Liede den schrillen und +beängstigenden Ton. Haase das Wort abschneidend, +erzählte er von dieser und jener Episode, die alles verderben +sollte, und wider erwarten alles gelingen +machte. Und Haase ließ ihn, wie ein älterer Bruder +<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a> +gewähren. Bei ihm war die Basis viel breiter; er wirkte +harmonisch wie eine Orgel, die Macht war die Sache +für ihn, für Eisner dagegen war sie die Arie, seine +Bravourarie, an die sein Ohr sich fing. Nur wer näher +zusah, gewahrte inmitten der scheinbar selbstgefälligen +Glorie den erloschenen, weltabgewandten Blick und +die bereite, heroische Absage an das Leben. Zu Haase +gewendet: „Das wäre der Gipfel meiner Laufbahn,“ +sagte er, „mit blauweißen Fahnen gegen Preußen zu +ziehen.“ +</p> + +<p> +Aber „Fahnen“ hatte er gesagt. Fahnen, Feste, +Ansprachen, solcher Art waren die sündenlosen Waffen, +zu welchen er griff. Für so ehrwürdige Ansichten +belehrte ihn die rohe Kugel eines besseren, und schlug +sich dies musische Haupt gegen das Pflaster zu Tode. +</p> + +<p> +Spät verließen wir an jenem aufregenden Abend +meine Zelle: die beiden Delegierten gingen noch zu +einer Ausschußsitzung; viel zu erschöpft und aufgewühlt, +um allein zurückzubleiben, aß ich mit +Fortunio zu Nacht. Lange sprachen wir noch von +den beiden. Er meinte, Eisner sei viel zu feinfühlig, +als daß ihm entgangen wäre, wie sehr wir Haase vorgezogen +hatten. Nun hatte ich einen neuen Grund, +bedrückt zu sein. +</p> + +<p> +Leider reiste Haase schon am nächsten Morgen ab, +und wir andern saßen wie gewöhnlich im „Volkshause“, +als, eine große Stille entstand, weil Eisner +das Podium betrat. Es war aber der Morgen jenes +<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a> +Tages, an dem er seine denkwürdige und verhängnisvolle +Rede zugunsten der Gefangenen hielt. Sie begann +mit einer schonungslosen Preisgabe der deutschen +Kriegführung, deren Verbrechen er nicht beschönigte, +deren Recht, etwas zu fordern, er vielmehr verneinte. +Dann eine abrupte Wendung nehmend, stellte er fest, +daß in keinem Lande die Gegner des Krieges so tief +gelitten hätten wie die deutschen, und mit jedem Worte +wurde sein tonloses und dabei scharfes Organ gebieterischer. +Es war unerhört, wie Eisner jetzt über sich selbst +hinauswuchs. So buchstäblich war der Geist über ihn, +daß seine Person nur mehr wie ein von ihm verlassener +und vergessener Schatten die Tribüne behauptete. +Was nun verlautete, war ein Plädoyer für Deutschland, +wie es niemals ergreifender formuliert wurde. +Seine kalte Stimme beibehaltend, die in die Gemüter +schnitt, enthüllte er die ganze Tragik seines unglückseligen +Volkes. „Die Stimmen derer, welche im Kampf +um die Ideen einer besseren Welt namenlos in den +Kerkern verblichen,“ rief er schneidend den fremden +Delegierten zu, „drangen nicht bis zu euch! Stumm +verbluteten sie.“ +</p> + +<p> +Im Namen jener neuen und besseren Welt +verlangte er die Freigabe der zurückgehaltenen Gefangenen. +</p> + +<p> +Man hielt den Atem an. +</p> + +<p> +Da stand ein Entronnener aus eben jener Schar +stummer Blutzeugen für die Ideen der Gewaltlosigkeit +<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a> +der Wahrheit und der Menschenliebe. Dies war ihr +Los wie vor 2000 Jahren! +</p> + +<p> +In Eisner hatte der Kongreß wohl seine eindrücklichste +Figur. Mochte er durch seine Parteilichkeit +für Renaudel bei den Radikalen einigen Widerspruch +erregen, so stellte sich bald heraus, daß er gerade +dadurch seine Vorschläge durchzudrücken verstand, +wie überhaupt die Taktik eine große Rolle bei ihm +spielte. +</p> + +<p> +Als ich das Haus verließ, standen Fortunios unten +an der Treppe und schienen auf jemanden zu warten. +Ich wandte mich um; Eisner ging langsam, allein und +vollkommen versonnen die Treppe herab. Er hielt +eine rote Nelke mit etwas abstehender Geste, wie +um sie zu schützen, daß sie nicht zu Schaden komme. +Steif, fast geziert, die Schultern mit barocker Würde +tragend, bot er einen wahrhaft phantastischen Anblick. +Wir begrüßten ihn. Er sah uns erloschenen Auges an +und erwiderte kein Wort. Hätten aber urplötzlich die +Türen sich geteilt und Teppiche unter den Füßen +der mit großem Zeremoniell vorgeführten Esther entrollt, +ich wäre nicht erstaunt gewesen. Assuerus! +dachte ich. Ein fast gespensterhaft abstrakter, beschämend +unverjudeter, rein biblischer Jude stand +da vor uns. Und siehe! — Hier war zum ersten Male +wieder dasjenige Israel, aus welchem merkwürdigerweise +der Begriff des Christentums mit der Gestalt +seines Stifters, der Begriff des unjüdischen also, die +<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a> +Welt der Mystik, des erblassens, der Gotik hervorging. +So dachte ich, stockenden Herzens . . . +</p> + +<p> +Ich sah Eisner noch einmal, als er im Begriffe stand, +mit Renaudel nach Basel zu fahren. „Wenn ich +stürze,“ sagte er, „ist in München der Bolschewismus +unvermeidlich. Die geistige Verwirrung der Jugend +ist zu groß.“ Überhaupt sprach er sehr oft von seinem +Sturz. Ich glaube, die Entfernung ließ ihn die allgemeine, +wie seine besondere Situation sehr scharf +und nüchtern übersehen. +</p> + +<p> +Gerade die Illusionen, die phantastischen Züge in +diesem bedeutenden Menschen, die springenden Schatten +machten ihn zu der Shakespeareschen Gestalt, +als die wir ihn heute sehen. Wir aber, die in Bern +Zeugen der ungeheuren Wirkung seines Auftretens +waren, welche Werbekraft für Deutschland er dort +entfaltete, welch stürmische Sympathien für Deutschland +er dort erweckte, oh welch bitterlichen Eindruck +machte es auf uns, in München nicht etwa die Züge +dieses heldenhaften Vorläufers, nein, das unbesonnene +Leutnantsgesicht seines Mörders in den Auslagen +vorzufinden, dessen hirnloses und unheilvollstes Verbrechen +die Schrecken der Räteregierung und alle +Greuel, die von links, und dann von rechts daraus +erfolgten, verursachte. Mag ein Herr Studiosus die +Frei(spruch)kugel gegen mich drehen, dafür, daß in +diesem wahrscheinlich vielgelesenen Buche diese +Wahrheit steht. +</p> + +<p> +<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a> +Für den letzten Tag war eine Rede Macdonalds +über den Bolschewismus angesagt; aber der Tag verging, +ohne daß er hervortrat. Die Lichter brannten +schon lange, und es war Abend geworden, als man +ihn endlich erblickte. Es sprachen viele, deren Organ +im Halse stecken und auf die langweiligste Weise +eins mit demselben blieb. Der deutsche Dolmetsch +ging deshalb schwer auf die Nerven. Bei jenen Delegierten +hingegen, welche die Rednergabe besaßen, +hob sich nach wenigen Minuten die Stimme von ihnen +fort, um wie ein Albatroß ganz für sich allein die +gewichtigen Schwingen auszubreiten. Dieser Prozeß +vollzog sich auch bei Macdonald. Sein Organ erfüllte +den Saal mit Wohllaut, als käme es gar nicht +von ihm, sondern hinge nur infolge eines rhythmischen +Gesetzes mit seiner Miene und den Bewegungen seiner +Arme zusammen. Die Rede war ein Warnungsruf an +den hohen Rat in Versailles, die Zeichen der Zeit zu +verstehen, und sie verglich den Bolschewismus mit +einem Brande, der, hier halb erstickt, dort scheinbar +gelöscht, immer wieder hervorbrechend und unter der +Asche weiterglimmend, an der Verblendung des +Imperialismus seine Nahrung fand. +</p> + +<p> +Da ich kein Wort verlieren wollte, schlängelte ich +mich langsam durch die Zuhörer, hart bis zur Rampe +vor, und hatte so zum ersten Male den ganzen Zuschauerraum +vor Augen. Der Saal verlor auch bei +Lampenschein nichts von seiner Schmucklosigkeit. +<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a> +Unschön war er und kahl. Sein Glanz, seine Erlesenheit +waren rein innerlich. Sie gingen von den Menschen +aus, welche hier tagten. Nicht die Zartheit +freilich, noch der Reiz eines seit Generationen vor +rauhen Kontakten geschützten Lebens, sondern Anstrengung, +Leidenschaft und Begeisterung durchleuchtete +sie so stark, daß jenseits dieses alltäglichen +Raumes alle Alltäglichkeit, jenseits seines nüchternen +Scheines alle Nüchternheit zu liegen schien. Der +Winter der Menschheit sank hier zu Grabe. Von +Feuerzungen war die Luft durchbebt, und eine Pfingstatmosphäre +brauste durch die Türen über die Treppen +dahin, bis hinab in die Gassen des nächtlichen Bern. +Und sie würde, ob auch der kommende Morgen diesem +Fest das Ende bereitete, nach allen Himmelsrichtungen +wehen. Ich zweifelte daran nicht. Ich hoffte schon +wieder! +</p> + +<p> +Natürlich waren auch geringere zugegen. Aber nicht +sie gaben den Ausschlag. Hier herrschte der Wert. +Rang und Vortritt waren hier durch das Talent, das +Verdienst, die Lauterkeit bestimmt, und ein Wille +zur Güte hatte sich durchgerungen. +</p> + +<p> +Mit einem Blick des Hohnes war ich vorhin an +Telramund vorbeigegangen, alle Krallen gezückt, weil +er sich vermessen wollte, mich zu grüßen, und fast +wäre ich dabei über seine Bocksfüße gestolpert. Nein! +Hier richtete der nichts aus. Hier war er schachmatt. +Warum kam er denn her? — — Auch er — zum ersten +<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a> +Male fiel es mir auf — hatte allen Sitzungen beigewohnt +und war einer der regelmäßigsten Besucher +gewesen. Oh, nicht nur er! — Die ganze Rotte saß +ja hier! — und die Kontrolle war doch so streng! +Aber die Rotte war vollzählig hier! — Durch die Ritzen +der Türe hätte sie noch einzudringen gewußt. Wo +hatte ich die Augen gehabt all die Tage hindurch, +ich Verblendete! Im Ernst wähnend, hier würde die +Schwelle zu einer neuen Welt gelegt, derweil sie +täglich zerfiel. +</p> + +<p> +Die Schützlinge der Militärspionagen, von welchen +erst die eine, dann die andere den Verständigungsfrieden +hintertrieben hatte, tagten hier als Delegierte des +Teufels, den verschiedensten Nationen entspieen. Wie +emsig sie notierten! — Oh wie fleißig sie die niedrigen +Stirnen gesenkt hielten, um alles zu nichte zu schreiben, +was hier von Völkerversöhnung gesprochen wurde! +Und wie gesittet sie dasaßen, diese Wölfe im Schafpelz, +die sich innerlich eins lachten über den sabotierten +Kongreß. Und sie waren geduldet! — selbst +hier! — Die Spreu durfte auch hier, ungesichtet, den +Weizen verderben. Ach, es gehört zu den Merkmalen +dieser Zeit, daß die Dinge noch schlimmer zu +kommen pflegen, als die Schwarzseher sie künden, +und noch heißer gegessen werden, als gekocht. +</p> + +<p> +So ahnte ich noch nicht, daß die verstümmelten +Berichte der Eisnerschen Rede, deren erster Teil einfach +unterschlagen wurde, schon munter unterwegs +<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a> +waren, und seine anonymen Mordanstifter, wohlgeschützt +unter der Flagge einer Zeitung, sich +für die furchtbaren Wahrheiten und Anschuldigungen, +die er in diesem Hause der Presse aller +Länder ins Gesicht zu schleudern wagte, ein für +alle Male gerächt hatten. +</p> + +<p> +Die Stimme Macdonalds drang nur mehr undeutlich +zu mir. Es war doch jedes Wort vergebens. Mochte +er den Bolschewismus an die Wand malen! Mit ihm +stand es gewiß, wie Rolland sagte. Bot nicht jede +Partei genau dasselbe Bild von ein paar ehrlichen +und ehrenwerten Männern, die ein fürchterlicher +Zulauf überschwemmt? jene paar Vortrefflichen, deren +Kampf allein ersprießlich und von Interesse wäre, +tragen ihre Gegensätze abseits voneinander aus. Sie sind +nicht so zahlreich, Europa nicht zu groß für eine +einzige Arena. In Wirklichkeit ist der Klassenhaß +(statt des Klassenkampfes) ein ebensolcher Humbug +wie der Haß der nur nach Frieden lechzenden Völker. +Wer aber diesen Saal mit den angeblich so scharf +bewachten Toren näher ins Auge faßte, ließ alle Hoffnung +fahren. Den Schleier Penelopens woben sie hier! +Es gab ja keine gute Sache, solange der Nichtswürdige +sich zu ihr bekennen durfte und statt der +Gesinnung die Meinung den Ausschlag gab. Freie +Bahn den Tüchtigen! oh nein! Erst geschlossene Bahn +den Unwürdigen! Die andere Parole bleibt so lang +die leereste der Phrasen! Hatte nicht Telramund in +<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a> +seinem eigensten Blatt eine „Partei der anständigen +Leute“ beantragt, wie um diesem Gedanken den Fluch +der Lächerlichkeit auf immer anzuhaften. Oh Zarastro! +Herr des Tempels mit den unauffindbaren Toren, +der nur den Geprüften mit Macht belieh! Von allen, +die heute leben, wird keiner den Bau betreten, zu +dessen Grundlegung ich Steine herbeischleppen möchte. +— Das Gerüst allein dürfte die Arbeit von Generationen +sein, sein Ausbau die von Jahrhunderten vielleicht. +Vielleicht sind die ewig unvollendet gebliebenen +Kathedralen sein Symbol. Aber worauf es, wie gesagt, +ankommt: er ist möglich. +</p> + +<p> +Die richtige Einsicht, daß es (merkwürdigerweise) +niedrige und hohe Menschen gibt, führte folgerichtig +zu Rang- und Standesunterschieden. Bei ihrer Aufrechthaltung +aber gerieten jene Ungleichheiten, +welche doch erst die Berechtigung solcher Klassifikationen +bilden, immer mehr außer acht, und bei +dem Schrittmachen, das im Schwunge blieb, mischte +sich in immer gemeinerer Weise das Bestreben über +jene Distanzen, welche der Wert zwischen den einzelnen +liegt, hinwegzusehen. Das Mißverständnis +artete immer wilder aus: der königliche Mozart speiste +mit dem Gesinde, und ein lakaienhafter Kavalier +warf ihn mit einem Fußtritt ohne weiteres vor die +Türe. In der Tat, wir wissen alle, was wir der französischen +Revolution verdanken. Doch, als sie das +falsche Spiegelbild in edler Empörung zerschlug, +<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a> +wurde mit diesem drastischen Vorgehen leider erst +recht nur eine halbe Maßnahme getroffen. +</p> + +<p> +Kein Mißbrauch wurde an der Wurzel gefaßt, vielmehr +entrann der Missetäter froh durch die Türe. +So brach die französische Revolution wie das Christentum, +dem sie entsprang, in sich selber zusammen, und +wir sind heute wie bankrotte Leute, die von vorn +anfangen müssen. Wir stehen wieder am Anfang +aller Tage: das heißt am Ende. Denn für das erkennende +Auge sind ja die Menschen längst in jene +zwei Lager zerfallen, von welchen geschrieben steht. +Freilich ist vorläufig erst der Aufmarsch der Böcke +geglückt. Unsere Absicht, ihrem Konsortium entgegenzutreten, +dürfte ein frommer Wunsch verbleiben, +solange wir jene geheimnisvolle Tatsache nicht ergründeten, +daß die von schlechten Instinkten Gemeisterten +so viel deutlicher die Hochgesinnten herausspüren, +als diese sich unter sich erkennen. Diese +dunkle und rätselhafte Tatsache birgt Perspektiven, +die sich wie weite Zimmerflüchte nach allen Richtungen, +reich an Verborgenheiten, ziehen. +</p> + +<p> +Um Machtfragen werden sich nach wie vor die +Dinge drehen, und nach wie vor wird sich herausstellen, +daß es nichts neues unter der Sonne gibt. +Macht wird vor Recht gehen, denn Macht geht vor +Recht. Es ist Sache des Rechts, die Macht an sich +zu reißen, eine neue Realpolitik zu ermöglichen, nicht +ausdrückbar durch Lüge, Feuer und Mord; eine +<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a> +Exekutive zu befestigen, welche die aus Lüge, Feuer +und Mord errungenen Vorteile verachten, und Lüge, +Feuer und Mord nicht ausspielen würde gegen Lüge, +Feuer und Mord. Sache des Rechts ist es, die Bahn +solcher Gewalthaber zu bereiten. Ach die Heftigkeit, +mit welcher wir unsere Notsignale abgeben, +hindert nicht, daß sie unter dem Druck grauser Langeweile +aufziehen, und unser eigner Pathos lastet mit +der ganzen Öde eines Frondienstes auf uns. Denn +es sind zukünftige, für ein feineres Ohr heute schon +monströse Gemeinplätze, die wir hier äußern. +</p> + +<p class="vspace3"> + +</p> + +<p class="center"> +<em class="em">Ende</em> +</p> + +<div class="ads"> + +<hr /> + +<p class="center"> +<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a> +Von<br /> +<em class="em">Annette Kolb</em><br /> +erschien im gleichen Verlag: +</p> + +<p class="hdr"> +DAS EXEMPLAR +</p> + +<p class="center"> +Roman. 5. Auflage. +</p> + +<p> +Man hat durchaus das Gefühl, daß dieses Buch zu +jenen gehört, die unter einem starken inneren Drange, +einem unwiderstehlichen, geschrieben werden. Ein +Bekenntnis. Aber eins von solcher Keuschheit, solcher +Verhülltheit, trotz aller Enthüllung subtilster seelischer +Vorgänge, wie es uns nur zu selten gemacht wird. +Gerade diese Schilderungen erweisen die hohe Vollendung +von Annette Kolbs sprachlichem Ausdrucksvermögen, +das ihr jedoch nie zum Selbstzweck wird. +</p> + +<p class="right"> +B. Z. am Mittag. +</p> + +<p> +Der erste Eindruck des Buches, schon nach wenigen +Seiten, ist Kultur. Es gibt wenig Bücher, die so scharf +wie dieses die Zeitseele enthüllen. Und im übrigen +ist das Buch reich an allerlei entzückenden Dingen. +Man wird in ihm sehr heimisch in London und auf den +Landsitzen der Gesellschaft. Denn das Buch vereint +wirklich zwei selten verträgliche Eigenschaften: geistige +Tiefe und Charme. Es ist nicht nur ein bedeutendes, sondern +auch ein liebenswürdiges Buch. +</p> + +<p class="right"> +Die Zeit, Essen. +</p> + +<p> +Ein feines, stilles Buch von einer romantischen +Dichterin über eine romantische Frau. Es wird in +diesem Buch von den letzten Dingen gesprochen. +</p> + +<p class="right"> +Berliner Tageblatt. +</p> + +<hr /> + +<p class="printer"> +Druck von Frankenstein & Wagner, Leipzig. +</p> + +</div> + + +<h2 class="chapter footnote" id="footnotes">Fußnoten</h2> + +<dl class="footnote"> +<dt class="footnote" id="footnote-1"><a href="#fnote-1">[1]</a></dt> <dd class="footnote"> Als ich das erstemal in der Schweiz war, gab mir Aramis +ein Dossier über die Deportationen, von deren Einzelheiten ich noch +keine Ahnung hatte. Wer die französische Familie kennt, und weiß, +wie sehr sie ihre Töchter hegt und hütet, der sah hier wahre Abgründe +des Hasses und der Rachgier bereiten. Ich fuhr damals von +Bern direkt nach Berlin, kannte aber von den Ministern jener Tage +nur Solf, und auch diesen nur ganz flüchtig. Ihn bat ich in einem aufgeregten +Brief um eine sofortige Unterredung. Er war gerade an +einer Angina erkrankt und empfing mich zu Bett mit einem hochroten +Gesicht, Eisbeutel auf dem Kopf. Am Fenster, mit dem Rücken +gegen das Licht, stand ein Oberst. Ich kramte nun die Notizen hervor, +die ich vor der Grenzüberschreitung in den Bodensee geworfen, +und zwischen Lindau und Kempten wieder ins reine geschrieben +hatte; der Oberst sprach die Befürchtung aus, daß sie der Wahrheit +nur allzusehr entsprachen.</dd> +<dt class="footnote2"> </dt><dd class="footnote2">Mit Hilfe dieses militärischen Freundes setzte Solf, obwohl gerade +damals grimmig von den Alldeutschen angefeindet eine enquete durch. +Und schon glaubte ich die Partie gewonnen und das Handwerk der +Herren Ludendorff und Konsorten gelegt. Denn wirklich konnten +Tausende von Frauen damals nach Hause zurück, und in ihrer +ärgsten Form wurde die Methode eingedämmt. Aber das Hauptquartier +war noch Trumpf. Meine Darstellungen, so hieß es, seien +nicht nur die hellste Übertreibung gewesen, oh nein! sondern die +deportierten Töchter wären sehr erfreut, sich dem öden Einerlei ihres +untätigen Lebens entzogen zu sehen; man gewann richtig den Eindruck, +als müßte es für ein junges Mädchen von guter Familie geradezu eine +Lust sein, deportiert zu werden, und nur eine Bagatelle für die Eltern, +ihre Kinder — manches Mal auf Nimmerwiedersehen — aus ihrem +Hause gerissen zu sehen, ohne die Möglichkeit von ihnen zu hören und +ohne zu wissen, wohin man sie führte. Soll die Axt nie begraben +werden? — Eine Versöhnung der beiden Nationen ist eine so große +Notwendigkeit, daß schon aus praktischen Gründen nicht immer einseitig +nur über das erlittene Unrecht Buch geführt werden sollte. Und es +ist für die Deutschen die große Gelegenheit gekommen! Heute, wo +der französische Militarismus seine Stunde begeht, haben sie nur ein Mittel, +Frankreich von seiner Rachepolitik abzubringen, indem sie — statt +wiederum von Rache zu reden — es zu fühlen geben, daß sie beklagen, +es zu dieser Rachepolitik so schwer gereizt zu haben.</dd> +<dt class="footnote" id="footnote-2"><a href="#fnote-2">[2]</a></dt> <dd class="footnote"> Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.</dd> +<dt class="footnote" id="footnote-3"><a href="#fnote-3">[3]</a></dt> <dd class="footnote"> Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.</dd> +</dl> + + +<div class="trnote"> +<p id="trnote"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p> + +<p> +Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + +<ul> + +<li> +... <span class="underline">Hocusai</span>. ...<br /> +... <a href="#corr-0"><span class="underline">Hokusai</span></a>. ...<br /> +</li> + +<li> +... mit Carry und Fortunio. Dieser <span class="underline">enfaltet</span> mir gegenüber ...<br /> +... mit Carry und Fortunio. Dieser <a href="#corr-1"><span class="underline">entfaltet</span></a> mir gegenüber ...<br /> +</li> + +<li> +... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in <span class="underline">den</span> ...<br /> +... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in <a href="#corr-2"><span class="underline">dem</span></a> ...<br /> +</li> + +<li> +... Arbeiten zur Hand, mit <span class="underline">welchem</span> dieses Haus geschmückt ...<br /> +... Arbeiten zur Hand, mit <a href="#corr-3"><span class="underline">welchen</span></a> dieses Haus geschmückt ...<br /> +</li> + +<li> +... Laufbahn vernommen hat, der vergißt <span class="underline">die nie</span> unheimliche ...<br /> +... Laufbahn vernommen hat, der vergißt <a href="#corr-4"><span class="underline">nie die</span></a> unheimliche ...<br /> +</li> + +<li> +... auf ihren Wolkensohlen reisten, <span class="underline">das</span> von einer zifferlosen ...<br /> +... auf ihren Wolkensohlen reisten, <a href="#corr-5"><span class="underline">daß</span></a> von einer zifferlosen ...<br /> +</li> +</ul> +</div> + + + + + + + + + +<pre> + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Zarastro, by Annette Kolb + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZARASTRO *** + +***** This file should be named 44243-h.htm or 44243-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/4/4/2/4/44243/ + +Produced by Jens Sadowski + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation information page at www.gutenberg.org + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at 809 +North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email +contact links and up to date contact information can be found at the +Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact + +For additional contact information: + Dr. Gregory B. Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + +Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation + +Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide +spread public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. Compliance requirements are not uniform and it takes a +considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up +with these requirements. We do not solicit donations in locations +where we have not received written confirmation of compliance. 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