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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-14 18:37:56 -0700
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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44243 ***
+
+ ZARASTRO
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+
+ Westliche Tage
+ von
+ Annette Kolb
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+ 1921
+ S. Fischer / Verlag / Berlin
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+ 1.--5. Auflage.
+ Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.
+ Copyright 1920 by S. Fischer Verlag, Berlin.
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+
+Zarastro
+
+
+Dieses Buch, das auf Grund täglicher Aufzeichnungen entstand, enthält
+Enttäuschungen als sein Wesen. Es ist ein Tagebuch der Enttäuschungen, ich
+verhehle es nicht. Gerade sie sind das einzig wertvolle daran. Denn an
+allen Erlebnissen während dieser Jahre, an allen Szenen, allen Ereignissen,
+allen Episoden hat sich die Beobachtung ergeben, daß im wachsenden Umfang
+die besten Hoffnungen, die reinsten Zugehörigkeiten ihre dramatische
+Zerstörung nach sich zogen. Zu sehen, wie sie immer sehr buchstäblich
+zuschanden kommen mußten, versetzte mich erst in eine dumpfe,
+herabgestimmte Unruhe, und nur allmählich entdeckte ich, daß sich in allem
+die kleine wie die große Höllenmaschine menschlicher Niedrigkeit gleichsam
+eingebaut hielt, überall, auf dieselbe Weise und mit derselben Wirkung jede
+edle, jede vernünftige Absicht, jede Harmonie im Keim vernichtete. Diese
+Gefolgschaft, dies enge Schritthalten der Bösen -- jeder Zufälligkeit bar
+-- zeigt sich vom Anekdotischen bis zur Entladung so konform, daß es die
+Schicksale des einzelnen zur genauesten Replik der Weltschicksale prägt.
+
+
+
+
+Erster Teil.
+
+
+Am 1. Februar 1917 kam ich gegen Abend definitiv nach Bern. Im Zug -- am
+Fenster -- schlief ich zwischen Zürich und Baden auf einige Sekunden ein.
+Dabei rückten sich Bilder aus meiner Wohnung, aber um ein Drittel
+vergrößert -- die sich also selbst vergrößert hatten --, selbst an einer
+Wand zurecht. --
+
+Trotz dieser so unvermittelt aufblitzenden Vision wurde die Mutlosigkeit,
+gegen die ich anzukämpfen hatte, immer drückender, und geradezu trostlos
+gestaltete sich meine Einfahrt in die Bahnhofhalle. Es goß so recht von
+innen heraus, wie nur der Berner Himmel zu gießen versteht. So begibt man
+sich wohl ins Gefängnis, wie ich in das Haus, um dessen anheimelnder alten
+Stiege willen ich im zweiten Stock zwei kleine Zimmer mit einem Alkoven
+gemietet hatte. Übrigens waren sie noch nicht frei, und indessen wurde mir
+ein großes niedriges angewiesen, das sofort meine Abneigung erregte: bis
+auf einen gewaltigen Tisch von wahrhaft tröstlichem Umfang. Er stand mitten
+in der Stube, ganz auf sich beruhend:
+
+Sieh mein geräumiges Rund, und wie gefällig es ist! Sahst du ein weiteres
+je?
+
+Bürde nur füglich mir auf, was immer du willst. Ich schaffe noch Platz dir.
+Na also!
+
+So redete er, halb in Hexametern, halb wie eine alte Kindsfrau zu mir, war
+immer optimistisch und richtete mich auf.
+
+Das Münster aber, das so gut anhebt und so schlecht verläuft, beschattet
+und beherrscht den Platz, und die Aussicht hart vor meinen Fenstern ist
+durch ihn versperrt. Auch mein Herz schlägt hinter Riegeln. Ich bin nicht
+mit den Illusionen hergekommen wie das erstemal.
+
+ * * * * *
+
+4. FEBRUAR. Kalte regnerische Tage, unfroh wie die Stunde meiner Ankunft,
+welche Telramunds, als sei dies unvermeidlich, zuerst erfuhren. Die Lauben
+sind, wie es scheint, ihr Jagdrevier, denn kaum trete ich vors Haus, so
+schießen sie mir schon wie auf Rollschuhen der Neugierde entgegen, jedesmal
+mit einer Einladung zum Tee. Ich bin entschlossen, ihr nicht zu folgen,
+denn sie ist natürlich nur verhörsweise gedacht. Fortunio rät von einer so
+schroffen Haltung ab. Wir diskutieren hin und her, und ich lasse mich
+leider überreden.
+
+6. FEBRUAR. Tee bei Telramunds. Ich trage meinen teuren Pelz, denn es ist
+kalt, dazu aber ausgebesserte Schuhe, weil es regnet. Der Empfang ist
+übrigens von so glänzend imitierter Herzlichkeit, daß er mich fürs erste
+ganz beschämt. Wie unverkennbar ist doch im Grunde Telramunds Zuneigung für
+mich! Er erörtert meinen Roman in den höchsten Tönen, und wie freut sich
+Ortrud, mich zu sehen! Wie ungerechtfertigt ist der Name, den ich ihnen
+gebe! Wie funkeln Teekanne, Dose und réchaud! Wir sitzen ein wenig
+merkwürdig zusammen, es ist wahr! unsere sechs Knie eng aneinander gerückt:
+die meinen in der Mitte, wie die eines Delinquenten, von den beiden andern
+flankiert. Doch ist das nur zufällig vielleicht.
+
+Wenn aber drei Leute sich äußerlich in so enger Gemeinschaft befinden, und
+zwei von ihnen werfen sich Blicke zu, so wird es der Dritte bemerken, auch
+ohne es zu wollen und ohne hinzusehen. Ortrud guckte wertschätzend von
+meinem Mantel herab auf mein Schuhwerk. Der Pelz einerseits und die
+Reparatur anderseits gaben zu denken. Wie aber konnten sich die beiden so
+vergessen, daß sie plötzlich anfingen, wie mit Fliegenklappen nach mir
+auszuholen und sich hochbefriedigt ansahen, wenn sie glaubten, mich ertappt
+zu haben?
+
+Zwar lag es auf der Hand, daß ein so leicht zu überführendes Geschöpf
+unmöglich zugleich jene raffinierte Person sein konnte, für welche ich
+wußte, daß sie mich hielten. Aber wie resolut Leute von schlechten
+Instinkten jegliche hemmende Logik von sich weisen, wußte ich auch. Von
+neuem auf der Hut, beantwortete ich jede Frage mit einem Kunstbogen; als
+jedoch der Name Elisabeth Rotten fiel, hielt ich krampfhaft an diesem Thema
+fest. Telramund konnte ihren politischen Scharfsinn nicht genug loben
+(später stritt er ihn ihr öffentlich ab). So erzählte ich denn von ihrer
+schwer angegriffenen Gesundheit und ihrem Wunsch nach einer Erholungsreise.
+Diese aber sei nur durch List und Tücke zu erreichen. Es müßte also, meinte
+ich, mehr mitteilsam wie raffiniert, unter Vorspiegelung eines Vortrags,
+welchen sie dann natürlich nicht halten würde, ein Paß für sie erschlichen
+werden.
+
+Die Idee wurde stillschweigend zur Kenntnis genommen. Blicke flogen . . .
+und es war unverkennbar, daß etwas nicht stimmte.
+
+Bin ich nach Bern gekommen, dachte ich auf dem Rückweg, um mit Leuten zu
+verkehren, die ich zu Hause nie ertragen hätte?
+
+Das Wetter hatte sich auf einige Stunden aufgehellt, und über der Brücke
+von Kirchenfeld flammten plötzlich die Alpen auf. Blaß und verheißungsvoll
+leuchtete die losgelöste Jungfrau über das Gewölk, das sich in schwarzen
+Massen zu Tale schob. Wie ganz und gar nicht existierend, dachte ich da,
+ist doch letzten Endes das Gemeine! Nur unser träges und verwischtes Sehen
+leiht ihm den Schein von Wesenheit, und Leuten wie Telramunds das Gesicht.
+Und zwei verschwisterte Seelen hatten da einen Bund geschlossen, wie die
+Hölle ihn liebt. Dabei war Telramund Berliner und Ortrud, wie zum
+Schulexempel, eine Französin aus der Provinz. Ach! Welch ein Schabernack
+wird doch über alle Grenzen hin mit unseren Gesetzen getrieben! Keine Feder
+wiegen sie auf gegen die Schleuderwaffen, über welche schlaue Unvernunft
+gebietet. Wohl haben wir gelernt, Weingärten und Äcker zu bestellen,
+veredelt hängen uns die Früchte von den Bäumen hernieder, und wie
+umsichtig, wie bewundernswert ist der Mensch angesichts seiner Felder! Nur
+vor sich selbst ist er stehengeblieben. Da jätet er nicht. Da steht überall
+goldener Weizen, von wild um sich greifendem, allgewaltigem Unkraut
+erstickt. Gegen die Natur, die Elemente, die Erde, ja die Luft selber
+schritten wir ein, nur vor uns selbst sinken uns die Arme, und wir lassen
+geschehen. Dies ist die bisherige Logik der Welt, der Nationen. Nicht
+einmal bis zu unseren Verbrecherstatistiken besannen wir uns -- wie hätten
+wir da bis zu den Tabellen unserer verkleideten und ganz undrastischen
+Übeltätern gedacht? --
+
+ * * * * *
+
+Allseitige Verstimmung. Mein Wunsch, Fräulein Rottens Wunsch zu erfüllen,
+hat schwärzesten Verdacht erregt. Ich kannte die in Bern geschaffene
+Atmosphäre noch zu wenig, um zu verstehen. Warum in aller Welt, beschwert
+sich Fortunio bei mir, mischte ich mich da hinein! Welches Interesse hatte
+ich an dieser Reise?
+
+Und diese Idee eines Vortrags! (Sogar er, es war unverkennbar, hat Argwohn
+geschöpft!)
+
+Nur ein Vorwand natürlich! ich sagte es ja Telramund.
+
+Fortunio zuckte die Achseln: er hat es Ihnen natürlich nicht geglaubt.
+
+Die beiden werden uns noch sprengen!, brach ich aus, alle unsere
+Anstrengungen hintertreiben und uns alle zu Grabe tragen.
+
+Mit Martin im Walde hatte ich ja meine Not. Die Verdächtigungen auf ihn
+regneten ohne Unterlaß. Schon während jenes Diners, welches Aramis bei
+meiner ersten Berner Ankunft gab, hatte ihn Telramund als einen Agenten mit
+doppeltem Schubfach bezeichnet, und Ortrud pfiff förmlich vor Hohn wie eine
+Maus. Daß ich widersprach, fiel nur auf mich zurück. Für einen ehemaligen
+Kruppdirektor also machte ich Reklame! Sprach dies nicht Bände? Daß er
+tatsächlich seine Stellung seinen Überzeugungen geopfert hatte, war ein
+Beweis mehr für seine Verschlagenheit. Den Bruder kannte er. »Den Bruder
+kenne ich!« war sein Refrain.
+
+ * * * * *
+
+9. FEBRUAR. Ich miete einen Flügel: ohne Schmelz, ohne Tiefe, es ist wahr,
+und doch edel, weil immerhin ein Flügel. Gott sei Dank! Flügel sind jetzt
+sehr schwer zu kriegen! Ich bin einen ganzen halben Tag glücklich. Welches
+Glück! -- es ist ein Glück, das ich der Protektion eines jungen Berner
+Pianisten verdanke. Wir hatten ein Zusammentreffen verabredet, um in die
+Fabrik zu fahren. In den Lauben kam Ortrud auf mich zu und äußerte den
+Wunsch, mich zu besuchen, und da ich ungeheuer eilig tat, begleitete sie
+mich, um zu sehen, ob es wirklich der junge Pianist war, der mich erwartet.
+Da er es wirklich war, denke ich mir, sie beruhigt sich jetzt.
+
+10. FEBRUAR. Telramund erzählt mit vielsagender Miene, daß ich einen Flügel
+gemietet habe. Kein Zweifel mehr: ich bin eine Spionin.
+
+11. FEBRUAR. Aramis gibt mir zu wissen, daß er sich wundere, weil ich ihm
+noch kein Lebenszeichen gebe. Ich unterließ es nur, denn er ist mir
+sympathisch, weil mir versichert wurde, daß er mir nicht mehr traue.
+
+Es sei kein Grund, sagt mir Fortunio, ihn zu schneiden. Seufzend (da er mir
+ja mißtraut!) rufe ich ihn ans Telephon, und vor seiner Sprache, ach! wird
+mein zerrissenes Herz sofort wie eine Geige, in welche diese Sprache (auch
+die meine, ach!) hineingreift wie ein Bogen.
+
+13. FEBRUAR. Gestern abend war ich bei Fortunio, und Martin im Walde fand
+sich zum ersten Male bei ihm ein. Vor dem Kriege hätte ich sie nicht
+einander zugeführt: Fortunio so musisch und sternengebannt, aber auch
+stemschnuppenhaft, Martin im Walde so schwerblütig, so problematisch und so
+vorbedacht! Heute aber muß alles zusammenstehen, was aufrecht blieb. Wie
+errichten wir sonst jene Dämme gegen die blinde Gewalt, den Schutzmauern
+vergleichbar, die sich so wacker gegen die Bergwände stemmen, um zur Zeit
+der Schmelze die Lawinen aufzuhalten? Auch unserem Planeten stand der
+Frühling nahe bevor, als die Lawine sich entlud, die allen Schutt nach oben
+warf und eine grünende Welt und alle Glocken der Vernunft mit ihren toten
+Blöcken und ihrem schmutzigen Geröll brüllend und dröhnend überzog. Jene
+Mauern, Lawinenschutz genannt, sind natürlich nur roh aufeinander
+geschichtete, jedoch wetterfeste Steine, die nichts anderes zum Ausdruck
+bringen, als die Not des Augenblicks, dem sie entstanden sind. So scheint
+mir heute, wo es den Kampf des menschlichen gegen das unmenschliche gilt,
+das wichtige nicht, glattes einzufügen, nicht einmal der inneren
+Gemeinsamkeit den Ausschlag zu lassen, sondern die Widerstandskraft und das
+Gewicht der Dinge zu bedenken.
+
+Doch ach! Der als Schachfigur so schwer festzulegende Fortunio war heute
+auf meine Opportunismen nicht gestimmt, sondern wie zum Trotz in einer ganz
+herausfordernden, ganz interpellierenden, ganz konträren, um ihre eigene
+Wirkung ganz unbekümmerten Laune. Zu machen war da gar nichts. Im stillen
+nur nahm ich mir vor, auf dem Heimweg Fortunios Wesensart, welche Martin im
+Walde nicht geläufig war, so beweglich wie möglich zu schildern. Aber nicht
+einmal diese nachträgliche Intervention sollte mir gelingen. Denn als ich
+auf der Stiege in die Taschen meines Mantels griff, war mein Hausschlüssel
+nicht darin, die Nacht aber viel zu weit vorgeschritten, um meine Pension
+durch Glockenreißen zu alarmieren. Die übermüdete Fortunia, über die Rampe
+gebeugt, rief mich wieder zurück. Neben dem großen Empfangsraum lag ein
+schmales Zimmer. Ich bezog es ohne viel Worte und warf mich mit meinen
+Kleidern auf den breiten Diwan, der dort stand, ganz erledigt für den Rest
+der Nacht. Immer verschärfter schwebte mir die Bilanz des mißratenen Abends
+vor und regte mich auf. Wie ungut ließ sich doch alles an!
+
+Eine tiefe Stille lag jetzt über dem ganzen Hause, den Wänden, den Fenstern
+und der Luft, als ob sie ein Signal erwarteten. Denn nebenan war plötzlich
+ein anderes Leben erwacht, eine andere Unruhe, als die des Tages, ein
+Rücken, Geknister, ein Gewisper, Disput und Ungeduld. -- -- Zwar ist dem
+Herzen kein Organ verliehen, das unsichtbare zu sehen, aber so mancher
+kennt gewiß jenes aussetzen seines Schlages, bevor es tiefer zu horchen
+beginnt . . . Es fiel mir ein, daß die ganze Häuserreihe dieser alten Gasse
+für mehr oder minder spukhaft galt; doch ein so wenig grauenhafter,
+höchstens malitiöser, nicht einmal boshafter Spuk war mir noch nicht
+begegnet. Neugierde trieb mich endlich hin zur Türe, hinter der er sich
+begab. Aber jenseits derselben hatte augenblicklich -- als sei nie Lärm
+gewesen -- Totenstille eingesetzt, und die Klinke, von Tücke besessen,
+widerstand allem drücken, drehen und schieben. Mit schmerzenden Händen ließ
+ich sie los und kehrte auf meinen Diwan zurück. Alsbald war Geknister und
+Getusche, rücken und huschen, Unruhe, Aufregung, heiseres Eifern und
+Streiterei im verstärkten Grade wieder da. Offenbar wollte die Gesellschaft
+von mir nichts wissen und boykottierte mich. Wie aber kam es, daß ich
+plötzlich wie unter freiem Himmel lag und den Arm aufstützte, als schirmten
+mich die Zweige eines Baumes, und als horchte ich statt zur Seite hin, tief
+unter die Erde hinab? Was immer mir jetzt in den Sinn kam, bot sich wie
+eine Zwiesprache dar. Dem Nixenbegriff lag wohl eine tiefe Erkenntnis
+zugrunde. Wie diesseits des Menschengeschlechtes, so sind aber auch
+jenseits desselben Geschöpfe Gottes denkbar, die an der entgegengesetzten
+Peripherie des Lebens beschattet stehen und hinausgerückt; und winzige,
+kaum bemerkbare Dinge könnten es sein, die ihnen ein leises Grauen vor
+ihrem eigenen Wesen entgegenhauchen: ihr unakkurater Sinn für
+Wirklichkeiten, ihr vorwegnehmen des Zieles über Hindernisse hinweg, ist
+wie ein gestörter Sehwinkel oder wie ein verkürzter Fuß, den solche
+Menschen durchs Leben ziehen, und sie erschauern, verzagen und vereinsamen
+bis ins Mark, wenn sie daran erinnert werden. Über die fernest abliegenden
+Dinge dachte ich hin und her. Aber warum in aller Welt überkam mich ein
+Heimweh nach dieser verschlossenen Tür, und um was für Dinge war mir denn
+leid? Du lieber Gott, wollte ich denn von allem haben!
+
+Der ganze tumultarische Betrieb setzte übrigens mit einer spurlosen
+Plötzlichkeit aus, als hätte er nie geherrscht. Nur eins war deutlich:
+durch die Türe verzog er sich nicht. Es kam etwas anderes: aus dem unteren,
+nachts unbewohnten Stockwerk drangen sanfte Trommelwirbel, oh, so deutlich
+zu mir, und dann ertönten gedämpft, aber klangvoll, tamponierte Posaunen.
+Und dann kam das huschen und fegen eines Kleides, das schleifen einer
+Schleppe, ja! im Takt dieser erstickten Musik. Ich horchte mit allen
+Fasern. So fein, so spöttisch, so leicht! oh! in der Tat geistreich war der
+Rhythmus dieses pas-de-deux, waren die Füße, die Grazie, die
+Unkörperlichkeit dieses balancierenden Körpers im Klang der wonnig
+umhüllten Posaunchen. Tod und Leben in lächelnder Umarmung -- Leben noch im
+Tode? Liebe selbst bei ihm? -- Was verfing sich da eine Uhr, mit vier
+groben Schlägen in den Zauber hineinzufahren? Nichts rührte sich mehr. Im
+Augenblicke alles längst verflogen und verweht -- welchem Sterne, welcher
+Nacht entgegen?
+
+Nunmehr versank die Dunkelheit in ihrer eigenen Stille, und der Schlaf
+atmete mir jetzt -- als käme er von außen -- seltsam genug! -- mit weiten
+Flügeln entgegen. Ich fühlte noch den Wunsch, mich ihm ganz zu überlassen,
+aber daß er mich dahintrug, schon nicht mehr. Gespannten, wachen Sinnes
+stand ich in der Mitte eines Saales -- nicht wissend, daß ich schlief. Die
+Wände lagen im Zwielicht, und ein paar Leute saßen dort als Zuschauer
+herum. Ich fragte mich, was es zu sehen gab und merkte dann erst, daß ich
+es war, welche nun tanzte. Die Rhythmen nämlich, nach welchen ich mich
+drehte, »geschahen«, ohne zu verlauten, als stünden hier die Gesetze am
+Anfang aller Musik, noch ehe, oder ohne daß sie sich vertonten. Dabei
+geboten sie mit so wunderbarer und zwingender Macht, daß es unmöglich war,
+ihnen nicht zu folgen, und unwiderstehlich kreiste ich dahin. Mit einem
+Male hörte ich Fortunios Stimme von der Wand herüber auf französisch sagen:
+»Comme elle danse bien«! aber sehen konnte man ihn nicht, denn der Saal war
+nur in der Mitte hell. »Pourquoi dites-vous que je danse bien«? rief ich
+tanzend zurück. Und tanzte dahin, denn es gab nichts anderes mehr. Nur den
+Tanz. Ganz allein nur ihn; ohne innehalten, ohne Unterlaß, den Tanz allein
+in diesem Raume, der aufgehört hatte, ein Saal zu sein, denn seine Wände
+traten ins Endlose zurück. Nur allmählich merkte ich, daß sich jemand zu
+mir gesellt hatte und mich hielt und mit mir tanzte. Es kümmerte mich
+nicht. Die Erfüllung war zu tief, meine Augendeckel zu schwer, sie
+aufzuschlagen die Mühe zu groß! In den Rhythmen lag alle Wonne. Und sie
+gebaren ohne Übergang eine neue Phase, denn halb abwesend, halb aufmerksam
+sah ich nun doch meinem Tänzer groß ins Gesicht: matt von Farbe, mit
+schwarzem, glattanliegendem Haar war er mir gänzlich unbekannt und zugleich
+vollkommen vertraut; der sehr edle Umriß von Kopf und Schultern so
+geschlossen, daß er fast ausschloß, was er nicht selber war, fast negierte,
+was er nicht kannte. Was dünkte mir daran so fremd und so verwandt
+zugleich? Die Melodie einer Rasse, der ich entstammte, und doch nicht mehr
+die meine? von ihr hinausgerückt? verabschiedet von ihr? wiederum der
+Boykott? Gleichviel! wir tanzten. Eines Schrittes! Diese Zeitmaße kannten
+keine Zeit. So mögen Sterne kreisen. Aber auch was ich dachte, war nicht
+mehr aus seiner Bahn zu drängen: aus reinstem Lateinertum setzten sich die
+Elemente dieses Tänzers zusammen. Nicht das Gesicht eines bestimmten
+Menschen sah mich da an. Nicht dieses oder jenes -- was dann? Das Sinnbild
+einer Rasse war zu mir hingetreten und tanzte mit mir. Jetzt wußte ich's!
+-- Aber die Entdeckung sprengte die Fesseln des Traumes: Ich lag auf dem
+Diwan gerade ausgestreckt, vor mir das Fenster, in dessen Scheiben sich von
+der Straße herauf der Reflex einer Laterne fing. Aber gleich darauf stand
+ich auf den Füßen. Noch nie so hoch aufgerichtet gewiß! Die Türklinke
+drehte sich lautlos und glatt, wie geölt. Aber die Kälte der Frühluft nach
+der Hitze der Nacht hatte vielleicht die Wandlung besorgt. Ich schlich
+durch den Gang, die Stiege hinab und ließ mich zum Tore hinaus. Ins Freie!
+Hinter den Scheiben leuchtete hie und da schon ein Licht aus den Lauben
+hervor. Im Hause, in dem ich wohnte, war eine Bäckerei. Unbemerkt kam ich
+in mein Zimmer. Es tagte noch nicht. Nach oben unkenntlich stand das
+Münster vor meinen Fenstern aufgerichtet, viel schöner und gewaltiger so,
+als mit dem übel verlaufenden Turm. Wie schien aber dies alles eine
+Wirklichkeit zweiten Ranges, sozusagen, wenn ich sie mit jener verglich,
+die mich in dieser Nacht umgab. Ich wußte zur Stunde mit der letzten
+Sicherheit, daß mein Traum sich erfüllen würde. Die beiden Rassen, die
+heute zu vereinigen solches Elend, solche Zerrissenheit bedeutet, werden
+eines Tages, allen Höllenhunden zum Trotz, das Glück der Welt durch ihren
+Bund begründen. Ach! Danach darf man nicht fragen, ob man selbst längst ein
+Schatten sein wird, wenn diese Dinge sich ereignen. Nur Mut, mein Herz!
+rief ich mir an diesem Morgen öfters zu, denn mit seinem fahlen Licht
+wuchsen die üblichen Ernüchterungen an.
+
+Gegen Mittag kaufte ich Blumen und wählte Kuchen mit Bedacht, denn um vier
+erwartete ich Monsieur Aramis zum Tee. Nicht ohne Bangigkeit. Seinen ersten
+günstigen Eindruck hatte ihm ja Telramund gründlich auszureden verstanden.
+Als er in meine niedere Stube trat und mir die Hand entgegenstreckte und
+mich ansah, wurde es mir wieder fühlbar. Das Echo der Worte: »Sie lügt! sie
+lügt!«, die er von jener Seite unausgesetzt vernahm, war zu eindringlich,
+um mir zu entgehen.
+
+Daß die unteren Zimmer nun endlich frei werden und mein Flügel sogar schon
+unten steht, interessiert ihn gar nicht; wen ich in Deutschland gesehen
+habe, um so mehr. Die Grenze hatte ich gerade am Vorabend des Tages
+überschritten, an welchem der verschärfte Unterseebootkrieg verkündet
+wurde; als diese Nachricht alle Anschlagmauern verfinsterte, wäre ich am
+liebsten umgekehrt, denn jetzt lag doch alles in Scherben.
+
+»Une bêtise capitale,« sagte er, »et qui fait bien notre affaire.« Nichts
+mehr von Klavier! Ich möchte mich gar nicht mehr mit Politik befassen, sage
+ich, und lese: »Sie lügt! sie lügt!« in seinen Augen. Er blieb lange,
+sprach jedoch nur wenig und hörte zu. Ich dagegen redete die ganze Zeit,
+hemmungslos und aufs Geratewohl. Es überzeugte ihn auch dieses keineswegs.
+Sie lügt! sie lügt! blieb das Echo, das zwischen dem Vertrauen, welches er
+instinktiv zu mir gefaßt hatte, und den Dingen hallte, die er über mich
+hört. Kaum ist er gegangen, so erscheint Fortunio auf dem Plan, gespannt zu
+hören, wie der Besuch verlief. Ich komme ihm jedoch zuvor: Wenn Aramis mir
+mißtraut, so mißtraue ich seiner Menschenkenntnis. Es ist zu leicht, mich
+zu durchschauen, als daß es erlaubt sein dürfte, mich zu verkennen. Ich bin
+so eindeutig wie ein Pferd. Seine Gangart ist unmißverständlich genug!
+
+»Sie sind aber kein Pferd,« sagte Fortunio, »und gerade Ihre Eindeutigkeit
+ist mit Ihrer sonstigen Art nicht so ohne weiteres in Einklang zu bringen.«
+
+Daß er dabei eine so bedenkliche Miene beibehielt, riß an meinen ohnedies
+zerzupften Nerven. Er erinnerte mich allzusehr an einen Schreibtisch, der,
+mit großen und kleinen, inneren und äußeren, ja sogar mit geheimen
+Schubfächern ausgestattet, für mich aber nur eine einzige Lade offen hielt.
+Ich fühlte mich plötzlich tödlich gekränkt. Und womit hält er heute zurück?
+Auch er, auch er! sage ich mir.
+
+»Ihr Roman kursiert jetzt in Bern«, geruhte er mitzuteilen.
+
+»Um so besser. Zeit wär's, daß hier das rechte Licht über mich aufgeht.«
+
+»Leider nein«, sagte Fortunio. »Das Buch schadet Ihnen.«
+
+»Schadet mir!?«
+
+»Ich hätte es auch nicht gedacht. Aber die große Zielbewußtheit, welche Sie
+Ihrer Heldin einverleiben . . .«
+
+»Aber gerade die Natur dieser Zielbewußtheit . . .« unterbrach ich ihn.
+
+»Gewiß, man sollte glauben . . .«
+
+»Hören Sie, das ist nicht möglich!« Und in höchster Ungeduld riß ich an
+allen Schubladen zugleich.
+
+»Ich selbst«, machte nun Fortunio mich vertraut, »habe die Leute auf das
+Buch hingewiesen. Ich glaubte, Ihnen nicht besser dienen zu können.«
+
+»Es ist nicht möglich, daß Aramis sich verdreht dazu stellt«, rief ich
+wieder. »Es kann nicht sein!«
+
+Fortunio zuckte die Achseln.
+
+»Aber sogar Telramund, dieser Gräuel, lobte es über den Klee.«
+
+Er schwieg. Es entstand eine Pause.
+
+»Das ist furchtbar«, sagte ich. »Es geht also um ein Duell zwischen mir und
+diesen Leuten.«
+
+»Sie sind so ungeduldig! Die Dinge wollen ihre Zeit. Letzten Endes ist es
+immer die gute Gesinnung, welche triumphiert.«
+
+»Oh! letzten Endes«, wehrte ich ab. »Daß meine Grabrede besser ausfallen
+wird, glaube ich ohne weiteres. Mais d'ici là . . .«
+
+Fortunio wollte mich überreden, mit ihm auszugehen, doch ich blieb zurück.
+Was ich ihm dabei nicht verriet, war meine Absicht, im Laufe des Abends
+nach Martin im Walde zu sehen; denn mir lag das gestrige Zusammensein, dem
+Fortunio keinen Gedanken mehr schenkte, schwer im Gedächtnis.
+
+Fürs erste war meine Niedergeschlagenheit zu groß, um nicht allein mit ihr
+zu bleiben.
+
+Die Tatsache, daß in Ermangelung anderen Beweismaterials nun gar mein Roman
+als Belastung herhalten sollte, war insofern der comble, als sich ja dann,
+auf diesem kürzesten Wege, so ziemlich alles auf den Kopf stellen ließ.
+Gegen solche Waffen war jedenfalls nicht aufzukommen. Sie waren zu alt
+erprobt. Ich hatte zuviel erfahren. Ich wußte zu viel.
+
+Oh Fortunio! es ist dir nicht bekannt, warum ich lebe. Wie ein nach Süden
+schauendes Ufer fängst du die Sonne auf; wie eine nach Norden aufgerichtete
+Mauer stehe ich zu ihr.
+
+»Von allen Menschen weg«, dachte ich da, »und zur Sonne hin!« Angebetete
+Sonne! Ohne dich zu sein! Beseelt, doch unbeseligt steht mein Haus. Wo du
+undeutlich werden und verflimmern läßt, wo du begünstigest, ja, wo du
+lügst, hast du doch immer recht, und nichts bestünde vor deiner Glorie.
+
+Es hatte längst durch alle Stockwerke gegongt, doch ich blieb wie ein
+Wetterwinkel am Fenster haften, jenen Bergkuppen vergleichbar am Rande des
+Tals, die alle Wolken an sich ziehen; so schien auch ich alle Düsterkeiten
+heranzulocken. Und es gab dann nur zwei Möglichkeiten, um dagegen
+aufzukommen: entweder die Arbeit, die auch wirklich die Atmosphäre läutert,
+oder der Umgang mit Menschen: ein Notbehelf nur, welcher zwar, wie der im
+Unwetter aufgespannte Schirm die ärgsten Güsse von uns abhält, an der
+Witterung aber nicht das geringste ändert.
+
+Augenblicklich war mir jedoch der Mut so gänzlich ausgepustet, daß ich mich
+plötzlich im Sturmschritt zu Martin im Walde aufmachte, sehr in Sorge
+sogar, ihn zu verfehlen. Ja, die Sorge steigerte sich zur Angst, so
+windschief stand es um mich. Aber die Herrschaften ließen, Gott sei's
+gelobt und gedankt, bitten, und ich jagte die Treppe zu ihnen hinauf. Die
+Stimmung, welche dort betreffs der gestrigen Fete herrschte, war natürlich
+schlecht. Mit sehr unerwarteter Schauspielkunst gab Martin im Walde alle
+Figuranten des Abends in einer Person zum besten, wobei er die ihm
+zugewiesene Rolle gar grimmig unterstrich. Ich lachte fürs erste aus vollem
+Halse, wenn auch mit recht halbem Herzen, brachte dann alle meine Glätt-
+und Bügelkünste zur Anwendung, zog meine Döschen, Fläschchen und
+Beruhigungstropfen hervor, mußte mir aber dabei sagen, daß hier wieder
+einmal ein wünschenswerter Zusammenschluß vorbeigeglückt war.
+
+14. FEBRUAR. Ich kann erst morgen die unteren Zimmer beziehen: ein hübscher
+alter Sekretär, ein altmodisches Sofa und ein schönes Tischchen kommen mit
+mir. Auch die Kiste mit meinen Sachen ist eingetroffen. Als ich nachmittags
+die Lauben hinunterging und an die Zimmer dachte, wie sie mit ein paar
+indischen Schals, der schier vergessenen blauen Seidendecke und ein paar
+Bildern am besten auszustaffieren wären, lächelten plötzlich von rechts
+Telramund, von links Ortrud auf mich ein: »Wohin des Wegs?«
+
+»Nach Hause«, war meine erschrockene Antwort.
+
+»Wie sich das trifft! Wir sind gerade auf dem Weg zu Ihnen.«
+
+»Das ist ja reizend«, rief ich entsetzt. »Leider bin ich mitten im Umzug
+und darf Sie nicht heraufbemühen.«
+
+»Das macht uns gar nichts! Wenn wir Sie nicht stören.«
+
+»Im Gegenteil. Kommen Sie nur.«
+
+War es nicht besser, die kamen noch in meine alte Stube, als daß sie mit
+ihren malocchios meine neuen Räume behexten? »Nur herauf, Ihr beiden! es
+ist das letztemal.« Und die Treppe voransteigend, führte ich sie zu mir.
+
+Dort stand der altväterische Tisch, der mich beschützte und nicht mit mir
+ziehen würde.
+
+Wir nahmen Platz.
+
+»Aramis war gestern bei Ihnen«, sagte Telramund. »Er hat es uns erzählt.«
+
+»Warum auch?« dachte ich.
+
+»Er wird immer launischer«, bemerkte Ortrud.
+
+»Launisch?«
+
+»Haben Sie das noch nicht herausgefunden?« fragte Telramund und heckelte
+ihn eine Weile durch. »Im Grunde«, klang es fast drohend von diesen
+Berliner Lippen, »ist er ein ganz germanophiler Bursche.«
+
+Ich goß Tee ein und erwiderte nichts. Aber mir wurde bang und bänger über
+das Gespräch.
+
+Daß die beiden es wagten, vor mir, die selbst obenan und mit so fetten
+Lettern auf ihrer Proskriptionsliste stand, derart rückhaltlos Leute
+auszurichten, mit welchen sie scheinbar die besten Beziehungen
+unterhielten, war das nicht ein Beweis für die Rückversicherungen, deren
+sie sich versehen hatten? Und wie weit mochten diese gehen?
+
+Und woher wußte -- von allen Deckungen abgesehen -- dies im wiedererzählen
+so blitzschnelle Paar, daß sich unsere usancen voneinander unterschieden?
+
+War es die starke Gegenwärtigkeit des wuchtigen Tisches, um den wir saßen,
+und der wohl einst am Waldesrand Jahrhunderte hindurch als mächtiger Baum
+-- wissend und weise -- in rauschender Verschwiegenheit sein Gezweige
+ausbreitete -- oder welch überspringender Funke war es nur, der mir da mit
+der unbewiesenen und doch stahlharten Sicherheit intuitiver Erkenntnis die
+Tatsache enthüllte, daß die Niederträchtigen, aus ihrer, mit
+Selbsterhaltungstrieb gepaarten Verdorbenheit heraus, die Menschen, welche
+guten Willens sind, ungleich deutlicher erkennen, als diese sich unter sich
+durchschauen. Fortunio, von Martin im Walde nicht zu reden, kannte mich
+nicht entfernt so gut wie diese zwei: welche Waffen ich gegen sie anwenden
+und welche nicht, ihnen war es nicht zweifelhaft, und für sie war ich wie
+durchsichtiges Glas. Indem sie mich haßten, wußten sie sogar, daß ich nicht
+ihrer Person, sondern ihrer Schlechtigkeit den Haß vergalt, und wenn meine
+hiesigen neuen Freunde vielleicht in ihrem Urteil über mich noch
+schwankten, diese meine erbittertsten Feinde werteten mich nach Verdienst.
+Dies war der Grund, warum sie mich verfolgten. Wer in der Tat stand
+einander im Wege, wenn nicht wir? Soweit ich zurückdenken konnte, und lange
+ehe er ausbrach, dieser elende Krieg, und dann wieder vom Tage seines
+Bestehens an, war ich für einen Frieden um jeden Preis. Mich interessierte,
+noch freute kein einziger Sieg. Nur dem Frieden gönnte ich den Sieg über
+eine so schmähliche Niederlage wie diesen Krieg.
+
+Für dieses Paar jedoch waren Versöhnung und Verständigung zwei Dinge, deren
+Möglichkeit sie mit allen Mitteln zu hintertreiben entschlossen waren.
+Dafür lebte es. Wehe dem Franzosen, der kein Jusqu'auboutiste war. Er hatte
+allen Grund, vor diesem deutschen Telramund zu zittern, und wenn nur der
+letzte Deutsche verblich, durfte für diese französische Ortrud der
+vorletzte Franzose unbesehen verbluten. Denn die Saite, auf welche sie
+beide gestimmt waren, ihr Element war der Haß. In welcher Tropenluft aber
+lebten wir heute, daß die Gemüter sich mit solcher Fieberhitze entfalten
+oder zersetzen durften? Nie hat Gelegenheit ärgere Diebe gemacht. Hier war
+Telramund -- vor dem Kriege ein ränkespinnendes, sonst aber vielleicht ganz
+traitables Männchen -- zum professionellen Verleumder und Verräter
+entartet, und Ortrud, einstens eine gehässige Klatschbase und weiter
+nichts, nunmehr zur angriffswütigen Ratte, zur erbarmungslosen
+Menschenfresserin von Hokusai.
+
+Mit solchen Wesen aber paktierte, tergiversierte, lavierte man.
+
+Und zu denken (dachte ich), daß doch sonst so viele Schutz- und
+Trutzverbände bestehen. Der Adel, die Juden, die Ärzte, Arbeiter, Bäcker,
+Schneider und Hoteliers, alle bilden sie ihre geschlossenen Gilden und
+Vereine. Und nur ausgerechnet die Menschen, die guten Willens sind, sie
+allein, die überall verstreuten und ausgelieferten, setzten sich noch nicht
+zur Wehr, berieten und versammelten sich noch nicht. Ihr Klub ist der
+einzige, der noch nicht zustande kam, ihre Statuten, ihre Geschlossenheit,
+ihre Einigung, welche doch gleichbedeutend wäre mit ihrer Vorherrschaft,
+über alle Grenzen hin. Denn nichts scheut ja das Geschmeiße so sehr wie
+seinen Namen und ihren Boykott.
+
+Nicht äußerste Vorsicht (die nützte gar nichts!), sondern schroffste
+Ablehnung war Telramund gegenüber am Platze. Aus jedem Wort, das ich sagte
+oder zu erwidern unterließ, wurden jetzt handfeste Stricke wider mich
+gedreht. Solche Leute zu kennen, sie zu sehen, _dies_ war der kapitale
+Fehler.
+
+Ortrud kam immer wieder auf meinen Flügel zu sprechen, und als sie sich zum
+Gehen anschickte, bezeigte sie eine Neugierde, ihn zu besichtigen, als
+handelte es sich um einen neuentdeckten Raffael. Der Gedanke aber, daß die
+beiden als die ersten meine unteren Zimmer betreten sollten, bevor ich sie
+noch bezog, versetzte mich in eine so abergläubische Verwirrung, daß ich
+die Treppe hinablief, um sie daran zu hindern. Allein die Türen standen
+offen, und ehe ich sie schließen konnte, hatten Telramunds meine Schwelle
+überschritten und waren meine ersten Besucher gewesen.
+
+Abends bei A. H. Pax. Ich ärgere mich über Bemerkungen, die dort fallen:
+Brücke von Kirchenfeld; die müsse ich doch kennen. Was ist das nun wieder?
+
+18. FEBRUAR. Meine »Wohnung« ist ursprünglich ein großes Zimmer mit Alkoven
+gewesen und nun durch eine eingebaute Wand so unwirsch in zwei geschnitten,
+daß sich das Auge an den falschen Massen immerwährend stößt. Aber die
+Farben bringen einen gewissen Trost, eine Suleikaportiere, indisch mit
+scharlachrotem Rand, führt in ein drittes vorgebliches Gemach, und der
+Flügel macht sich ausgezeichnet.
+
+ * * * * *
+
+Besuch der Miß Annie A. Wir hatten uns seit dem Kriege nicht mehr gesehen.
+Sie ist mütterlicherseits deutsch wie ich französisch, väterlicherseits
+englisch wie ich deutsch. Nur ist sie nebenbei auch ein Engel von Güte, und
+das bin ich nicht. Doch ach! andere werden schon mit mir bemerkt haben, daß
+gerade solche Engel von Güte es so oft nicht über sich bringen, die
+Vortrefflichkeit derjenigen anzuzweifeln, deren Instanz sie zunächst
+unterstehen, ja die es für eine Perfidie halten würden, ihren eigenen
+Zeitungen und eigenen Machthabern nicht zu glauben. Wer kennt sie nicht,
+diese Engel von Güte, mit ihren »they say«, ihren »man sagt«, ihren »on
+dit« und ihren »si dice«. Unbesehen ist für sie der Teufel überall nur
+drüben.
+
+»Mein Deutschtum ist tot in mir«, sagte sie. »Auch Sie sollten sich
+entscheiden.«
+
+Dasselbe Ansinnen, nur umgekehrt natürlich, war mir in Deutschland zu oft
+gemacht worden, und ich war in solchen Dingen sehr abgebrüht. »Was brauchen
+mich die Franzosen,« seufzte ich, »die ganze Welt steht ja auf ihrer
+Seite.«
+
+Da sie mich traurig sah, schaute sie mich betrübt mit ihren guten und
+veilchenblauen Augen an. »I thank God on my knees«, brach sie dann aus,
+»that I am English.«
+
+Auch die Variationen _dieser_ Formel waren mir vertraut. Und ich konnte
+nicht umhin, ihr von den Halbengländerinnen zu erzählen, die in Deutschland
+unter die Patriotinnen gegangen waren, von Marie von B . . ., die mich wie
+keine andere deutsche Frau in den deutschen Blättern verriß, und von jener
+jungen englischen Gouvernante in München, die ich in Tränen fand, weil
+ihre, an einen norddeutschen Offizier verheiratete Schwester soeben,
+anläßlich eines Luftangriffes auf London, von den Zeppelinen als von »our
+glorious zeps« geschrieben hatte. Aber kaum hatte ich meine Pfeile
+abgeschossen, so war mir's schon leid. Unser Wiedersehen fand also nur
+statt, um uns unsere Trennung nur um so fühlbarer zu machen.
+
+»Nichts ist mehr, wie es war!« rufe ich aus, indem ich sie in meine Arme
+schließe. Denn sie ist ein Engel.
+
+ * * * * *
+
+Bevor Annie A. . . mich gestern verließ, zog sie ein Fünffrankenstück
+hervor, das sie mir im Auftrage der Fürstin Patschouli, einer gemeinsamen
+rumänischen Bekannten, einhändigte, welche vorgab, es mir zu schulden.
+Dieser so kurzerhand beim Schopf gefaßte Annäherungsversuch war zum
+mindesten originell. Ich machte ein sauberes Päckchen aus dem Geldstück,
+bedankte mich für die schöne Gabe und bat um die Erlaubnis, ihr ein
+ebensolches Gegengeschenk machen zu dürfen. Daraufhin schlug sie per
+Telephon die Brücke zu mir und lobte einen schwarzen Kaffee, den sie selber
+braue. »Bonjour, je vous attends!« und damit hing sie das Hörrohr aus.
+
+Ich wußte in der Tat nicht, was erfrischender war, ihr Kaffee oder sie
+selbst in ihrer herzstärkenden und vorgefaßten Oberflächlichkeit. Die
+Fürstin, deren Röcke unten zusammengebunden schienen, ging mit kurzen und
+kleinen, aber heftigen Schritten, war braun wie ein Maikäfer, die
+auffallendste Erscheinung von ganz Bern, brüsk, witzig und ohne Stachel. Da
+sie eine Villa in Tegernsee und Freunde in München hatte, war sie im Grunde
+germanophil, jedenfalls bayernfreundlich, und stand außerdem stark unter
+dem Eindruck der deutschen Siege. »Je suis l'amie des bons jours«, erklärte
+sie.
+
+ * * * * *
+
+25. FEBRUAR. Zwar scheint die Sonne hin und wieder, und die Zauberwand der
+Berge stellt sich dann strahlend auf, doch das Licht bleibt spröde. Nie
+träumt dieser kalte Himmel dahin, nie ermatten die Reflexe; stets rufen
+sie: gedenk! und nie: vergiß! und ewige Gegenwart ist die Fanfare. Oder
+liegt es an mir? --
+
+»Mein gutestes Fräulein,« sagte mir einmal ein dickgebliebener Berliner
+Aufsichtsrat, »wer sagt Ihnen, daß nicht am Ende mit dem Frieden so bunte
+Zeiten kommen, daß wir uns nach den Kriegszeiten zurücksehnen werden --,
+bis auf die Schlachten natürlich«, hing er mit einer Handbewegung an, als
+wären sie ein Detail.
+
+ * * * * *
+
+ENDE FEBRUAR. Die Tage haben soviel widerwärtiges gebracht, daß mir das
+Schreiben verging. Man sollte hier mit seiner Aufenthaltsbewilligung
+zugleich ein Vorhängeschloß wie Papageno erhalten; statt dessen wird einem
+ein Nessushemd übergeworfen. Schreckliche Stöße mit Fortunio, schwere
+Havarie mit Martin im Walde. Telramund, dessen Hochöfen alle in Betrieb
+stehen, erstattete ihm einen formellen Besuch und brachte ihm zugleich mit
+dem Ausdruck seiner Hochachtung sein Bedauern vor, durch mich und meine
+Darstellungen ein so falsches Bild von seinem Charakter gewonnen zu haben.
+Halb lachend wird es mir erzählt. Ich mache ihm Vorwürfe, daß er den Mann
+vorläßt. »Ihnen danke ich ja die angenehme Bekanntschaft.« Das war im
+Herbst, sage ich, wo man noch glauben durfte, es stecke vielleicht doch
+etwas Gutes in ihm, an das man sich halten könne. Heute dürfen Sie keinen
+Umgang mehr mit ihm pflegen.
+
+Einem Glücksfall, der allen Glanz eines Hintertreppenklatsches trägt, danke
+ich es im übrigen, daß von dieser Seite wenigstens Fortunio nicht mehr irre
+an mir werden kann: er saß mit einem Freunde, als Telramund sich zu ihm
+gesellte und Äußerungen wiederholte, die er von mir vernommen haben wollte.
+»Und nun sehen Sie,« schloß er, »wie sie lügt«, zahlte sein Schöppchen und
+ging. Aber in der Eile, mir zu schaden, übersah er, daß Fortunios Freund
+zufällig Zeuge gewesen war, wie ich jene Worte nicht nur nicht gesagt,
+sondern heftig dagegen protestiert hatte, als sie vor mir fielen. Dies also
+wäre, gottlob, besorgt.
+
+ * * * * *
+
+Es ist gewiß nur recht und billig, daß auch die Überlebenden heute auf der
+Verlustliste stehen. Wie man dem Kranken, der nicht teilnehmen kann an dem
+Treiben der Gesunden, gerne darauf hinweist, wenn es draußen stürmt und die
+Fußgänger gegen Frost und Wind ankämpfen, während er in der geschützten
+Stube liegt, so möchte man heute denen, welche fallen, nachrufen: Ihr habt
+nichts verloren!
+
+Ich schreibe der Königin im Auftrage ihrer Mutter, die seit Monaten ohne
+Nachricht von ihr ist. Die Idee des Königtums ist gewiß nur deshalb in
+Diskredit geraten, weil ein verrohter, subalterner Mensch oder auch ein,
+Idiot höchst widersinnigerweise zum Herrscher avancieren konnte. Wegen
+meiner Ansichten werde ich hier viel ausgelacht. Aber wie würden sie erst
+lachen, wenn sie wüßten, wie gern ich selbst regieren möchte. Da würde man
+doch was Richtiges erleben! Kein mittelmäßiger Künstler käme bei mir hoch,
+welche Unsummen aber flössen den andern zu; kein Lämpchen ließe ich mir je
+als ein Lumen aufschwätzen, also auch kein Talent, das sich zum Genie
+aufblasen möchte. Herr Pfitzner bewürbe sich also vergebens um eine
+Dirigentenstelle an meinem Theater, und gar Herr Weingartner, welcher die
+Wiener Philharmonie herunterbrachte, wage es nicht, vor mich zu treten. Ich
+verarge es heute noch der Pariser Kritik, welche ihn seinerzeit »un jeune
+dieu« genannt hat. Denn nie hatten die Götter das Geringste mit ihm zu tun.
+
+Ach, und was für schöne Häuser ich erbauen, was für Gärten ich anlegen
+ließe! was für prachtvolle Katzen würden meine Marmorbrunnen entlang
+schweifen!
+
+Doch genug über meine Herrscherzeit.
+
+Über Weingartner, dessen Überschätzung ich der Pariser Presse verdenke,
+fällt mir die Äußerung ein, die kürzlich ein Pariser, den ich nicht nennen
+werde, einem Deutschen gegenüber, dessen Namen ich gleichfalls
+unterschlage, gefällt hat: »il y a une chose, monsieur, que nous ne vous
+pardonnerons jamais, c'est de nous avoir forcés d'aimer les Belges.«
+
+ * * * * *
+
+Den Abend bei A. H. Pax verbracht. Bei ihm kann man sagen, was einem gerade
+einfällt, ohne Gefahr zu laufen, daß es entstellt in alle Winde
+hinauswirbelt. Dieser Vorkämpfer des Friedensgedankens, der mit so
+feierlichem Ernst seine Stimme zu erheben weiß, ist bei strengster
+Sachlichkeit der gemütlichste Mann der Welt, in dessen Atmosphäre man sein
+bißchen Humor und sein verlorenes Lachen auf Augenblicke rettet. Gestern
+sprach er zwar tief entmutigt über die vollkommene Unmöglichkeit, gegen den
+so geschickt angerichteten, so eifersüchtig gehegten und drinnen und
+draußen immer neu genährten Wirrwarr in den Köpfen der allermeisten
+Deutschen auch nur das geringste auszurichten. Plötzlich tauchte ein
+Nachmittag in München aus dem Sommer 1916, ein schattiger Garten, ein
+gedeckter Tisch, zwei Damen, die davor saßen, vor mir auf, und wie eine
+phonographische Platte spielte sich in hemmungslosem Bayrisch ein
+halbvergessenes Gespräch so getreulich in mir ab, daß ich mit einem Male
+alle Rollen in einer Person herunterspielte.
+
+Wir brachen alle in ein schier trostloses Gelächter aus. Waren nicht ganze
+Generationen mit allen brauchbaren Argumenten des Scheins in ein Wirrsal
+gelockt, dessen Dunkel den Tag derer ausmachte, die es unterhielten, so daß
+sie jede anbrechende Helle augenblicklich verscheuchten?
+
+Und mußten nicht fast alle Gehirne vermodern, ohne zu erfahren, was denn
+eigentlich los ist? Mit so teuflischem Geschick sind alle Ausgänge der
+Lügenburg zementiert, in welcher sie sich narren ließen. Unschuldig
+Betörte. War es nicht überall so?
+
+Unter den Tagebüchern, welche an den deutschen Gefallenen vorgefunden
+wurden, erzählte neulich Abigail von der agence, seien manche sehr schöne
+zum Vorschein gekommen. »Warum veröffentlicht Ihr diese nicht auch?« rief
+ich. »Nous n'avons« sagte er, »qu'à nous occuper des atrocités.«
+
+ * * * * *
+
+Dafür, daß ich so viele Dinge nicht verstehe, werde ich mit den paar
+Gedanken, die mir im Kopfe sitzen, viele Jahre nach meinem Tode
+wahrscheinlich recht behalten, so zum Beispiel mit meiner Skepsis betreffs
+der Demokratie. Aber natürlich ist es für andere ärgerlich, das, was immer
+sie mich lehren, und was immer ich lerne, gerade nur eben jene paar
+Überzeugungen weiter ausbaut und nur ihnen zugute kommt. Jede Erkenntnis
+geht nun einmal bei mir auf Kosten einer ganz exemplarischen Unbegabtheit.
+
+Es müßte einer blind sein natürlich, um an den Sozialismus und seine
+Unerläßlichkeit nicht zu glauben. Aber in Wirklichkeit ist heute keiner
+sozialistischer geworden, als er es von je gewesen ist. Es scheint nur so.
+Machen wir uns nichts vor. Wir haben uns den Sozialismus eingebrockt. Dank
+unserer Verkehrtheit nur ist er die einzig richtige Parole. Er ist kein
+Ziel, sondern ein Weg. Keine andere Brücke ist stark genug, uns aus unserer
+baufälligen Welt zu den neuen Ufern hinzutragen, wo die neuen Autokratien
+auf ganz neuer Basis sich erheben werden. Nur durch den Sozialismus, dieser
+fausse sortie aus einer Welt der Standesunterschiede, kommen wir zu einer
+neuen Welt der Standesunterschiede, der Herrenkaste und der Knechteschar.
+
+Für diesen Glauben will ich mich gerne köpfen lassen, denn geköpft, sagen
+die andern, werde ich ja doch, entweder von rechts oder von links.
+
+Mittlerweile bin ich viel zuviel unter Menschen. Es geschieht aus Trägheit
+und einer Art von Furcht. Denn bin ich nicht zufriedener allein und so viel
+weniger allein, wenn ich allein bin? Füllt sich dann nicht die Luft mit
+Geistern guter und hilfreicher Art? Und bin ich dann nicht umgeben?
+
+28. FEBRUAR. Forsell als Don Juan: der Tod als Objekt der Kunst. Forsell
+ruft ihn und mißt sich mit ihm. Gewiß ist der Tod nur was wir aus ihm
+machen: der größte Individualist fürwahr! Welche Feigheit jagt mich so oft
+von mir selber fort zu den Menschen hin, oder hält mich ab, mich ihnen zu
+entziehen? Ist es das grauschleichende Verzagen vor jener eisigen
+Verlassenheit, in die wir eingehen werden? Hinter dem ganzen
+Geselligkeitstrieb der Menschen steckt ja viel mehr Todesangst, als man
+glaubt. Die einen fürchten sich vor dem Sterben, die andern vor dem
+Gestorbensein; auf dieses, nicht auf jenes gilt es, sich zu bereiten.
+
+3. MÄRZ. Ich fahre nach Lausanne und gehe dann nach Ouchy hinab, eine
+Bekannte aus München zu besuchen. Beißend kalter Wind. Wir besprechen die
+letzte Affäre. »Das Schreckliche ist, daß immer alles aufkommt bei uns«,
+äußerte sie. So ein Pech! Im übrigen sagte mein guter Vater immer: »In der
+Politik gibt es keine Moral«; à qui la faute, wenn die Deutschen dies für
+ein unabänderliches Weltgesetz halten, so feststehend wie Tag und Nacht und
+die vier Jahreszeiten? gewiß an ihrer Gedankenlosigkeit, aber gewiß noch
+mehr an den Vorbildern, welche sie haben. In der Politik gibt es keine
+Moral. Sie sagen es wie: Ehre Vater und Mutter, oder: Du sollst nicht
+stehlen. Ihre Fantasie liegt ja nicht auf diesem Gebiet.
+
+8. MÄRZ. Besuch des sozialistischen Reichstagsabgeordneten W. H. Er ist
+gegen den Unterseebootkrieg. Ich glaube, daß er unter dem Krieg leidet.
+Aber was mich an diesen Sozialisten so furchtbar erbittert, ist die
+Preisgabe des deutschen Volkes, auf das sie sich berufen, indem sie
+vorgeben, diese oder jene Konzession an die Gegner »ihm nicht zumuten zu
+können«. Vor August 1914 gab es kein friedfertigeres auf der Welt: wie die
+Posaune des letzten Gerichtes erscholl ihm der Schlachtenruf; es stand auf,
+und von da ab glaubte es alles. Wäre es unglücklicher und beunruhigter
+gewesen, man hätte es weniger leichtgläubig gesehen. Aber weil es sich
+belügen ließ, sollte es nicht auch noch verleumdet werden. Im Januar 1917
+lauerte ich im Hause einer Bekannten dem damaligen Staatssekretär
+Zimmermann auf. Er trat ein mit der forschen Bonhomie eines
+Kegelklubpräsidenten, der mir jede Schüchternheit benahm, und als ich mit
+meiner Rede über die elsässische Frage zu Ende war, nickte er ganz kulant
+und bemerkte; »Wir müssen nur bedenken, was wir dem deutschen Volk zumuten
+können.« »In vier Tagen haben wir es hineingelogen, vielleicht lügen wir es
+in acht Tagen wieder heraus«, sagte ich. Er schien kein bißchen choquiert.
+In der Politik gibt es ja keine Moral.
+
+10. MÄRZ. Heute kam Herr v. Sch. mit der erstaunlichen und fatalen
+Eröffnung zu mir, daß sein Chef mich zu sehen wünsche. Herr v. Sch., den
+ich von London her kenne, hatte sich große Mühe um meinen Paß gegeben, und
+im ersten Schrecken fiel mir keine Ausflucht ein. Ich wagte nicht, es
+Fortunio mitzuteilen, der sicher dagegen gewesen wäre, sondern spielte
+wieder einmal mit dem Feuer und bat Aramis zu mir. Sollte ich wirklich über
+die Brücke von Kirchenfeld, so wollte ich keine Anspielungen darauf,
+sondern wünschte um so mehr, daß man es wisse, als man es ja doch wissen
+würde.
+
+Aramis kam sofort zu mir. Wir verabreden ein paar sehr direkte Sätze, die
+ich während meines bevorstehenden Besuchs möglichst pointiert anzubringen
+hätte, und daß ich nachher zu ihm kommen würde, ihm die Wirkung jener Worte
+mitzuteilen.
+
+11. MÄRZ. Sonntag. Das Wetter ist schön und warm. Die Sonne lacht bis in
+das Auto hinein, in dem ich neben Herrn v. Sch. Platz genommen habe.
+Schafwölkchen treiben so zuversichtlich am Himmel, und er hängt so hoch,
+daß ich nicht sogleich die leise Hoffnung unterdrücke, der Besuch würde am
+Ende doch nicht ganz resultatlos sein. Aber nichts von Sonne an Herrn von
+Rittersporn, vielmehr der Widerschein des sterbenden Tags. Ich hatte vor
+mir einen jener persönlich uranständigen, autoritätsgläubigen Deutschen
+strengster Observanz, die vor lauter Gewissenhaftigkeit und Loyalität und
+Treue und Ehrenhaftigkeit zur Vertretung der unehrenhaftesten Methoden
+unverbrüchlich auf dem Posten ausharren, ein Mann, der privatim gewiß nie
+eine Lüge sagte und nur offiziell und in Gottes Namen log. Mit seltsamer
+Distanzierung, als sei ich die Angehörige eines fremden Staates, fing er
+das ganze Weißbuch mit einer so deprimierenden Weitschweifigkeit an
+aufzusagen, daß wirklich nur das fehlte, was es selber wegließ. Er war
+bleich, müde, sichtlich schwer unter dem Kriege leidend. Endlich wurde er
+fertig mit seinem récital, und ich hatte das Wort in diesem großen,
+vielfenstrigen, hellen und doch so unfrohen Salon, in dem keine rechte
+Zuversicht aufkommen wollte. Zwar schien auch ihm die französische Frage
+vor allen andern am Herzen zu liegen, aber das Feuer, mit dem ich sprach,
+dünkte mir selber deplaciert. Hier ist ein Stuhl, schloß ich, faßte ihn mit
+beiden Händen und sprang auf, hier ist ein Tisch: nur eins ist heute
+wichtig auf der Welt: die Formel zu finden, welche es den Franzosen
+ermöglicht, in diesem Stuhle Platz zu nehmen! »Ich bin vollkommen Ihrer
+Ansicht«, sagte er. Und zum ersten Male schwante mir, wie wenig er
+vermochte. Auf Aramis übergehend, hob ich jetzt seine Beziehungen, sein
+Geschick, seinen guten Willen hervor, sowie die Chancen, die er als
+Vermittler bot. Hier jedoch fiel ein Schatten. Ich fand keinen Anklang. Es
+war die alte Kamarilla, ich merkte es wohl, vielleicht auf indirekte
+Umtriebe Telramunds zurückzuführen, aber auch Widerstände,
+Unsachlichkeiten. Ich hatte Carry mit Aramis zusammengeführt, ohne
+Parteinahme, weil es sich von selbst ergab, und man mißgönnte ihm den
+Vorsprung. Auch Carry war voll Ehrgeiz, aber er besaß Schwung, eine
+künstlerische Ader, Sinn für Kameradschaft, Ritterlichkeit. Man wußte, wie
+man mit ihm dran war. Auf seine Fehler wie auf seine Tugenden fiel das
+Mittagslicht. Il ne ment pas, hieß es auf gegnerischer Seite von ihm. Dies
+besagte so viel in Tagen wie den unsern! In der europäischen Literatur
+ungemein bewandert und von regstem Geiste, besaß er zudem eine glückliche
+und wohltuende Art mit Menschen umzugehen und hatte etwas Jünglinghaftes
+bewahrt. Selbst ein Mischling, war er rassenmäßig den andern lange nicht so
+fremd wie seine zünftigeren Kollegen.
+
+Es war nahe an zwei Uhr. Vergebens mahnte man zu Tisch. Daß die Unterredung
+sich so in die Länge zog, unterstrich ihre Nutzlosigkeit nur noch mehr. Auf
+dem Heimweg, in dem schneidend kalten Alpensonnenlicht wurde es mir mit
+jedem Schritt bewußter. Die Aare floß so leuchtend blau wie vor zwei
+Stunden, als ich über die Brücke fuhr. Mutlosigkeit aber drückte mich in
+diesem Augenblick zur Greisin nieder. Wie eine Hundertjährige lehnte ich
+über das Geländer und sah zu den Kindern hinab, die wie besessen schrien.
+Dann raffte ich mich auf und rannte die kalten Schatten der Keßlergasse
+entlang zu mir hinauf. Plötzlich fühlte ich, wie verausgabt ich war, warf
+mich auf den Diwan und schlief ein. Aber um vier Uhr erwartete mich Aramis,
+und dies weckte mich beizeiten. Ich strich jetzt die Lauben auf der
+Sonnenseite hinauf. Oh wie deutlich ist mir der Schein, in dem sie lagen!
+Wie ein tobender Schmerz, der auf Sekunden aussetzt, riß er mich auf einen
+langen Augenblick in seinen Bann, tauchte mich schonungslos unter in sein
+Gold, ließ mich bewußtlos werden wie die uralten Häuserreihen, die es
+durchdrang: unempfindlich werden vor Empfindung.
+
+Bei Aramis herrschte an diesem Vorfrühlingstage schon sommerliche Kühle.
+Eine leise Spannung lag in seinen Zügen, und die Wärme, mit der er mich
+begrüßte, kontrastierte doch recht seltsam mit dem Empfang, der mir vor ein
+paar Stunden zuteil geworden war. Was ich ihm aber zu sagen hatte, war so
+verdammt unwesentlich, derart neben hinaus, daß ich erschrak, indem ich es
+formulierte. Es ließ keine Spur von Bereitwilligkeit, ihn ernst zu nehmen,
+verraten. Und da es vollkommen zwecklos gewesen wäre, ihm etwas vorzulügen,
+durchschaute er natürlich die ganze rettungslose Sturigkeit, in die man ihm
+gegenüber sich versteifte.
+
+17. MÄRZ. Abends bei Dätwyler im kleinen Zimmer mit Carry und Fortunio.
+Dieser entfaltet mir gegenüber eine aggressive, ja feindselige Haltung
+größten Stiles, die keinen Zweifel läßt, daß er von den Vorkommnissen der
+letzten Tage gehört hat. Heftige, immer heftigere Szenen auf dem Heimweg.
+Ich bebe vor Zorn und sehe ihn so haßerfüllt an, daß er erschrickt. Eine
+schlaflose Nacht krönt die Explosion.
+
+Wie ungerecht war Fortunio! Wie falsch wurde ich hier gesehen! Im Juni
+wollte ich nach München fahren und dachte heute schon an das Schlößchen im
+bayrischen Vorgebirge wie an eine selige Insel. Waltete dann Telramund noch
+hier -- soviel stand fest --, so kam ich nicht zurück.
+
+Und ich suchte Trost, indem ich an das Schlößchen dachte, angelehnt an den
+ernsten Berg: an die lange hölzerne Laube mit dem hölzernen Gartensaal; wie
+von Adalbert Stifter für eine seiner Verlobungsszenen erdichtet. Und die
+Freundin selbst, die immer Werdende mit der weiten Note der Leidenschaft,
+wer, kam ihr gleich? Ging, blickte, lächelte, lebte sie ihren Tag von Jahr
+zu Jahr nicht Göttinnen ähnlicher? Wer kannte sie? Wie schön und insgeheim
+war unsere Freundschaft verkapselt! Wie verlor die innere Einsamkeit so
+manche Schärfe zwischen uns! Weil ich den Spiegel ihres Wesens
+unausgesprochen mit mir führte und sie es wußte, war ich, die immer
+Zusammenbrechende, ihr Halt. Wer vergalt mir dies hier? -- Eine Fratze sah
+man statt meiner.
+
+18. MÄRZ. Sonntag. Fortunio in dunkelblau und Strohhut holt mich ab, um
+nach Worb zu fahren. Es hat sich auf die Feindschaft von gestern wie ein
+neuer Friede zwischen uns aufgetan. Wieder liegt das Land in jenem
+schonungslosen Licht des Berner Oberlands, das, ich weiß nicht warum, in
+die Seele schneidet. Aber das Wetter war so warm und strahlend, daß man
+immer wieder innehielt, vor einer ersten Blume, ein paar Schafen, einem
+Hause. Wir sprechen heute in aller Ruhe über die Dinge, über die wir
+gestern stritten. Ich sagte ihm, daß ich manchmal mit der Sicherheit einer
+Mondsüchtigen Dachrinnen entlanglaufen müsse; wenn sie dann herunterfällt,
+ist es ganz und gar ihre Sache. -- »Ich fürchte weniger, daß Sie vom Dach
+als zwischen zwei Stühle fallen.« -- »Aber das ist ja gerade mein Platz!
+Jeder von uns ist heute stärker sich selbst, handelt unweigerlicher seiner
+Natur nach als jemals zuvor, und ich habe es halt immer mit dem Vermitteln
+gehabt.« -- Er schüttelte den Kopf: »Es sieht nichts dabei heraus.« Und
+weil auch ich davon überzeugt bin, beteuerte ich, sind es nur mehr
+Gelegenheiten, die sich mir aufdrängen, welche ich ergreife. Niemand hätte
+ungerner die Brücke passiert.
+
+»Ich hätte es nicht getan«, sagte Fortunio.
+
+»Es gibt Leute, die nicht dazu da sind, nein zu sagen. Zugegeben,« sagte
+ich, »daß es die Belangloseren sind.«
+
+Wir kehrten in ein dunkles, altes Gasthaus ein, und es gab wundervolles
+Brot, wundervolle Butter und ebensolche Marmelade. Wahrscheinlich war es
+heute auch in Deutschland schön, und die Menschen suchten das Freie dort
+wie hier. Es sei denn, daß sie es vorzogen, sich nicht hungrig zu laufen,
+da es ja in keiner Herberge etwas Richtiges für sie gab. Besonders die
+Kinder . . . so ist einem heute alles vergällt.
+
+21. MÄRZ. Der Brief einer Deutsch-Amerikanerin, die sich auf der Rückreise
+nach New York in Zürich aufhielt, setzte mich in großes Erstaunen.
+Kinderlos, von Haus aus eine biedere Württembergerin mit steinschweren
+Augen, war sie, in Ermangelung jeglichen Ventils für ihre natürliche
+Schwermut, dem Okkultismus verfallen und ein Schreibmedium geworden. Sonst
+ohne andere Interessen -- selbst während des Krieges -- als ihren Mann,
+ihren Haushalt und allenfalls ihre letzte Häkelarbeit, paßte dieser vom
+Zaun gebrochene Brief -- wir kannten uns kaum -- in keiner Weise zu ihrem
+Phlegma. Wie kam sie zu meiner Adresse? -- Sie schrieb mir, daß sie mich
+warnen müsse.
+
+
+Zürich.
+
+22. MÄRZ. Der Brief der schwäbischen Amerikanerin ließ mir keine Ruhe, und
+ich fuhr hierher. Am Berner Bahnhof kaufte ich Zeitungen für unterwegs. Sie
+waren alle von Berichten über Verwüstungen der deutschen Truppen auf ihrem
+Rückzug aus Nordfrankreich erfüllt: eine künstlich gestartete Agitation,
+dachte ich erst, um dem, in den letzten Wochen abflauenden Haß neue Nahrung
+zu geben und Öl in das abnehmende Feuer zu gießen. Denn leise, leise war
+von der Möglichkeit zu vermitteln die Rede gewesen. Da koppelten sich denn
+die Interessenten des Krieges zu neuen Präventivminen zusammen. Glich ihnen
+dieses nicht auf ein Haar? Aber zu meinem Entsetzen fand ich da jene
+Verwüstungen, und zwar mit unleugbarer Genugtuung als »militärische
+Notwendigkeit« in den deutschen Blättern bestätigt. So war jenem so
+aufgerissenen und gemarterten Boden eine neue Schmach zugefügt, und ein
+genarrtes Volk gehorchte als sein eigener Henker den Befehlen, die ein Hut
+voll toll gewordener Idioten, »Oberste Heeresleitung« genannt, ihm
+erteilte. Diese »militärischen Notwendigkeiten«! Oh, wieviel deutsche
+Landsmänner würden ihretwillen kläglich verderben! -- Ein Sturm brach in
+mir los, um so heftiger nur, als er in Ohnmacht sich entfesselte und seinem
+Rasen nichts im Wege stand, als die Wurzeln meines Seins, an welchen er riß
+und, wilden Regentropfen gleich, kalte Tränen aus meinen Augen schlug.
+Stäupen hätte ich sie lassen mögen, diese Herren Befehlshaber, keine Strafe
+wäre mir jämmerlich genug erschienen für diese menschenunwürdigen Köpfe,
+deren Nasen kurz ausliefen wie die Schnauzen der Hunde, oh! ebenso unfähig
+wie Hunde den geistigen Gang der Dinge zu spüren! Und die erbärmlichen
+Blasen dieser infantilen Gehirne, durch ein Wunder des Teufels für
+wirkliche Felsengebirge gehalten, beherrschten und verrammelten heute als
+»militärische Notwendigkeiten« alle Straßen der Welt! Nein! das war kein
+Leben! Es war nicht zu ertragen! Es war mir fremd das Geschlecht, das
+solche Dinge befahl und sich nicht scheute, sie auszuführen. Und ich war
+betroffen! und ich war mitgefangen. Mitgehangen war ich, ohne mitzugehen!
+-- Der Zug lief in die Halle ein; die Passagiere verließen ihn. Hatte der
+Wahnsinn der Welt mir den Verstand geraubt? -- Ich konnte mich nicht
+besinnen, weshalb ich da auf dem Zürcher Bahnhof stand. Er war von
+beißendem Nebel erfüllt, und mit hochgestülpten Kragen eilten alle dem
+Ausgang zu, während ich, den Mantel am Arme, im dünnen Kleide dastand, in
+unerträglicher Hitze und stürmisch bereit, aus dieser Welt, wie sie sich
+drehte, davonzulaufen. Ein Dienstmann fragte, wohin ich wollte, und ich
+sagte, daß ich es nicht wisse. Uralte Instinkte der Rachsucht und der
+Wildheit tobten in mir wie einst die Peitschen des Xerxes gegen das Meer!
+Ha! was wollten sie noch in der Weltgeschichte, diese verspäteten
+Hanswurste in dem lächerlichen Aufzug ihrer frisierten Helmbusche, ihrer
+aus gelbem Blech gedrehten Achselrollen, den zurückgeschlagenen roten
+Eselsohren ihrer Mäntel, ihren albernen Säbeln, gut für ein Possenstück,
+gut für ein Schaukelpferd, ein Ulk, bevor wir uns erniedrigten, davor zu
+zittern.
+
+Wie es zusammenhing, daß ein fliegender Zeitungsstand die Erinnerung
+zurückrief, welche mir doch gerade die Zeitungen geraubt hatten, mögen
+andere erklären, ich telephonierte an Frau Eleonore Grell: sie war zu
+Hause. Aber auch ihr Gatte, Onkel Sam aus Mannheim, der flinke
+Geschäftsmann mit dem schnurrigen Schnurr- und Vollbart, befand sich at
+home. Er hatte sich das okkulte Getaste seiner Frau energisch verbeten und
+glaubte es infolgedessen längst unterdrückt. So trafen wir uns denn bei
+Huguenin, aber sie beteuerte mir, nichts anderes sagen zu können, als was
+sie mir auf ein inneres Drängen hin geschrieben hatte. Ich ließ ihr aber
+keine Ruhe und folgte ihr auf gut Glück in ihr Hotel. Und richtig war ihr
+Mann inzwischen ins Freie spaziert.
+
+Wir setzten uns ans Fenster, welches die Limmat überhing. Der See, die
+Wolken und das ferne Bergland leuchteten im Abendschein grüßend und
+verträumt in dies hochgelegene Zimmer.
+
+ * * * * *
+
+Hier schalte ich für den Leser eine Warnung ein: die Unwirklichkeit spielt
+in diesem Buch so stark in die gröbste Wirklichkeit hinein, daß ich gerade
+die besten, an die ich mich doch wenden möchte, abzustoßen befürchte. Aber
+ich muß mich streng an die Begebenheiten und ihre Reihenfolge halten, und
+wenn ich nicht ebenso chronologisch das große Spiel der Schatten mit
+hereinbeziehe, ist dieses Buch nicht wahr.
+
+Sobald wird ja der Okkultismus seine besondere Peinlichkeit gewiß nicht
+los. Denn für Namenloses ziehen da Benennungen mit großem Schwalle herauf,
+und geistiger Brechreiz ist die unweigerliche Folge. Wer sich heute auf den
+Weg zum Nichts aufmacht, ist jenen Steinklopfern vergleichbar, die auf ein
+fragliches Echo hin die Felsenwand behämmern, und mitten im treibenden
+Geröll Schutt ablagern, wo kein Liebhaber des Schönen seinen Fuß noch
+setzt. Und doch wird für ihn vielleicht die Straße hier gelegt, die nach
+dem dornenumwachsenen Reiche schaut, vor welchem Ferne, Wachstum und
+Allmählichkeit entstürzt. Denn ob dein Sarg noch auf den Schultern derer
+lastet, die ihn hinaustragen, oder ob deine Grabesinschrift seit Jahr und
+Tag verwitterte, ist gleich.
+
+ * * * * *
+
+Ich kehre zurück in das hochgelegene Hotelzimmer, wo wir auf einem roten
+Repssofa beim Fenster saßen, das die Limmat und den See und Ferne und
+Gebirge übersah. Von Heerscharen erfüllte sich die Luft. -- Auf den Ruf
+welches Jagdhorns -- uns Tauben nur unhörbar -- eilten sie her? -- Wie
+durchsickertes Gestein so schwoll die Stube an. War der Ansturm der
+Schatten das Neue, was es unter der Sonne gibt? -- Aber schon war ich des
+einfachsten Denkens nicht mehr fähig: alle Poren des Gesichtes sanft
+gebläht, ergoß sich unaussprechliche Verlorenheit, ein hinträumen,
+unbeweglich wie ein Leben lang. Das Herz erstickte von all dem Sang und
+Braus. Kein Mißton trübte den unendlichen Chor. Ein Chor sage ich. Kein
+Ungebetener darin. _Hier war die Sichtung:_ volles Orchester, nicht wie in
+unserer Mitte unreines dazwischenfahren, grelles übertönen eines unbefugten
+Soprans. _Ausgekämpft!_
+
+Ganz versunken in den Vielen oder in mich, selbst? -- (ich unterschied es
+nicht) -- faßte ihr wissen und ihr begreifen das, ganze Herz. Des Mediums
+hatte ich vergessen. Mir zu Liebe, es ist wahr, doch auf sein Geheiß nur
+waren sie hergewallt, so _dicht_! so feierlich gedrängt! »Sieh dich vor, du
+kannst nicht wissen, du bleibst allein, oh!« . . . stammelte die Feder.
+
+Wozu war ich denn hergereist, wenn nicht sie zu vernehmen? Und nun dünkte
+mich dies so fremd und kindisch, ein Bilderbuchbegriff. Gab es denn im
+Scheine dieser wogenden Luft etwas wie eine Zukunft? Führte man sie nicht
+mit sich wie ein Geweih? Wuchs sie nicht an mit uns? War sie denn nicht der
+eigene Hauch, der eigene emporstrebende oder schwankende, flackernde oder
+in nichts zerrinnende Schatten? Stand sie nicht als der Wald, der aus
+seinen Tiefen unsern eigenen Ruf zurückhallt? -- so die Völker, so der
+einzelne. Was immer ihnen glückliches oder grausames begegnet, jeden Zufall
+riefen, beriefen sie herauf. Wir nennen's Zukunft! --
+
+Frau Eleonore Grell hielt mir ein Blatt entgegen, das mit den Schriftzügen
+eines zehnjährigen Mädchens überzogen war. Es besagte immer dasselbe: Im Nu
+war alle Weisheit abgeworfen und die Furcht, die mich hierher getrieben
+hatte, wieder da.
+
+Verwirre sie nicht, schrieb jetzt Eleonore, und als sie diese Worte gelesen
+hatte, legte sie augenblicklich die Feder weg. Nichts hätte sie vermocht,
+sie wieder aufzunehmen. Die Sitzung war zu Ende.
+
+23. MÄRZ. Ich fahre nach Bern zurück. Fortunio kommt mir entgegen, und ich
+frage ihn, was von den Berichten über die Verwüstungen zu halten sei. »Die
+deutschen Communiqués geben sie ja selber zu,« seufzte er, »sie brüsten
+sich sogar.« Wir überschritten den Platz zum Kasino. Das Gebirge strahlte
+im vollen Ornat. Wir setzten uns ins Freie und starrten, Verbündete der
+Verzweiflung, ohne zu reden, vor uns hin.
+
+ * * * * *
+
+Fortunio fragte, warum ich in Zürich gewesen sei, und ich verweigerte die
+Auskunft.
+
+24. MÄRZ. Auch meine vier Wände sind mir verleidet. Die Sonne scheint
+grell, verletzend, und nachts faßt mich der Schlaf nur wie eine Kranke, um
+mich zu erschrecken. Ein Gesicht wendet mir so gemarterte Augen zu, daß ich
+erschüttert frage: »Hast du Arme denn nicht ausgelitten?« und fahre
+stöhnend auf, weil es nur der Reflex von einem Kummer war, den diese Augen
+spiegelten. Nur ein überschwängliches Mitgefühl.
+
+25. MÄRZ. Gestern abend bei Fortunio war Abigail von der Agence, der
+hartnäckig am Thema der Verwüstungen festhielt. Auf dem Heimweg wurde er
+immer dringlicher. Logisch, folgerichtig wäre es, zu den Ereignissen
+Stellung zu nehmen; unvereinbar mit meiner bisherigen Haltung, wenn ich
+schwiege. »In der Tat!« rufe ich in einem Tone, der bitterer ist als Galle.
+»Sie reden, als wüßte ich nicht, daß Ihr die Dinge glaubt, die Telramund
+Euch von mir sagt.«
+
+Doch Abigail nahm alsbald seinen Vorteil wahr: »Sie haben es ja in der
+Hand, Ihre Freiheit des Handelns zu dokumentieren!« Je mehr er mich in die
+Enge trieb, desto schwerer wurde mir zumute, hatte er mir doch meine
+eigenen Gedanken verraten.
+
+»Es wird nicht gut.« Und ich erzählte ihm meine Züricher Reise.
+
+Er war mächtig interessiert. Ich ließ ihn trotz der späten Stunde zu mir
+herauf und zeigte ihm das Blatt Eleonorens. Es enthielt nichts, was ihm
+behagte. »Die Hand eines Kindes«, sagte er wegwerfend. Ich bereute schon,
+es ihm gezeigt zu haben, und wünschte ihn die Treppe hinab, riß die Fenster
+auf, als er gegangen war, und warf sie ruhlos, verlassen, gepeinigt wieder
+zu.
+
+25. MÄRZ. Wie in aller Welt haftete Pech meinen zehn Fingern an? Aber ich
+täuschte mich ja! Es war ein Irrtum . . . ah, es war ein Traum, so lebhaft
+aber, daß ich mit beiden Händen in die Höhe fuhr.
+
+Nachmittags bei der Fürstin, in der Hoffnung, ihre nüchterne Atmosphäre
+würde mir Ernüchterung bringen.
+
+»Et la Calicie«, sagte sie. »Ah! ils se valent bien tous, allez!«
+
+Mir wurde nicht besser, und ich ging.
+
+Über der Kornhausbrücke hing sehr niedrig eine Mondsichel, so wunderbar
+ausgeprägt, so sprechend, so beseelt, so festlich!
+
+27. MÄRZ. Nicht nur in meinem, nein, ich darf es sagen: mehr noch im Namen
+der vielen in Deutschland (oder der wenigen, gleichviel!), welche sich
+nicht äußern konnten, wollte ich gegen die neueste Kraftprobe der Herren
+Militärs protestieren, und es dabei genau so halten wie die oberste
+Heeresleitung, nur umgekehrt: das heißt mit eben derselben Arroganz über
+militärische Notwendigkeiten hinwegsehen, wie sie über menschliche und
+moralische. Meine Wohnung aber, meine Sachen, meine zurückgelassenen
+Briefe, ein gewisses Schlößchen im bayrischen Vorgebirge, das selbst mitten
+im Kriege so zauberhafte Kreise zog, dies alles sah ich vielleicht nicht
+wieder. Und, die Trennung von meinen Freunden, meine Geborgenheit? Hier war
+ich so fremd! Warum aber verhielt sich dies alles bleich, ohne Licht,
+unvorhanden, ohne Resonanz, da mir doch wohl bewußt war, daß es wieder in
+ganzer Kraft ausziehen würde? Wie jene rein umrissene und sehnsuchtsvolle
+Mondsichel, die gestern über der Brücke so tief am Himmel hing und ihn
+beherrschte. Was weiß er noch von ihr, sobald die Sonne brennt? So waren
+alle Beweggründe, die mich zurückhielten, von einer stärkeren Forderung
+entkräftet und verdrängt.
+
+29. MÄRZ. Kaum war an diesem 29. März mein Protest an das Journal de Genève
+abgeschickt, als mir eines jener erprobten Warnsignale übler Vorbedeutung,
+die wie mit Hellebarden mein so ganz auf innere Stimmen angewiesenes Sein
+umstellt halten, auf einem Rad, als hätte es höchste Eile, entgegensauste.
+
+30. MÄRZ. Schon verschieben sich sachte wie auf einer Wandelbühne die
+Kulissen: Verstummtes, Unterdrücktes belebt sich aufs neue, findet wieder
+Farbe und Gestalt.
+
+31. MÄRZ. Eine Antwort. Schon! -- »Die vielen Zuschriften, der Raummangel
+. . . meinen Brief jedoch gedächte man zu bringen.« Es steht nichts von
+einem Termin. Aber ins Ungewisse ertrage ich diesen Zwiespalt nicht. Morgen
+fahre ich nach Genf zu Romain Rolland.
+
+1. APRIL. Sonntag. Unter strömendem Regen bin ich nach Champel gefahren.
+Rolland wußte schon, warum ich kam. Er war zufällig auf der Redaktion
+gewesen, als mein Brief dort eintraf, hatte ihn gelesen und war unbedingt
+für dessen Veröffentlichung.
+
+Ich sprach dann beim Journal de Genève vor und erwirkte, daß der Protest am
+übernächsten Tage erscheinen würde. Somit war die Sache erledigt, und ich
+ging.
+
+Das Wetter hatte plötzlich umgeschlagen. Es wehte eine schneidende Luft,
+aber See und Himmel strahlten in frühlinghafter Bläue. In mir derselbe jähe
+Szeneriewechsel.
+
+Ein erstickend schwerer Vorhang riß magisch in die Höhe. Nicht der Salève,
+der sich hier an allen Straßenecken türmte, sondern die bayrischen Berge in
+ihrem seelenvollen Dunst und ihre Waldungen verstellten mir den Weg, und
+die betrübten und bestürzten Mienen meiner zurückgelassenen Freunde. Es war
+die Trennung von ihnen, das Exil. Drüben im Vorgebirge das Schlößchen, das
+wie eine selige Insel auf dem dunkeln Meer dieser Zeiten träumte, die
+schöne und musenhafte Freundin, die mich dort erwartete, die dort
+verbrachten Herbst- und Sommerwochen.
+
+Tausend Erinnerungen setzten sich wie Trauerglocken in Bewegung. Oh teuer
+erkaufte Ruh!
+
+4. APRIL. Bern. Abigail besucht mich; sehr gespannt. Ich sage ihm, wie
+Rolland, den er immer anschwärzt, sich verhielt.
+
+5. APRIL. Der Protest ist heute erschienen. Ich kaufe das Blatt, ohne den
+Mut zu finden, es zu entfalten.
+
+ * * * * *
+
+Ich übergehe die nächsten Tage. Diese Aufzeichnungen sind ja nicht verfaßt,
+um Gemütsbewegungen zu schildern. Ganz andere Zwecke verfolgt dieses Buch.
+Auch ist die Zeit nicht mehr, und man wird härter. Nur im Hinblick einer
+Einsicht, einer Erkenntnis, wo Erfahrungen mit immer verstärkter
+Deutlichkeit den Charakter des Lebens kennzeichnen und Kommentare stellen
+zum Schicksal überhaupt, dürfen wir dabei verweilen. Kein größerer Wahn als
+der, zu glauben, man kenne das Leben, um es ausgekostet, sich mit allen
+seinen Genüssen, Schrecknissen und Abenteuern vertraut gemacht, viele
+Männer oder Frauen gekannt oder geliebt zu haben. Es starb so mancher
+ahnungslos dahin, welcher die ganze Welt bereiste. Auch nicht wer Gefahren
+überstand, nein, sondern wer die Gefährlichkeit des Daseins, dessen
+Gefährdetheit durchschaute, die wie ein giftiger Trank sich unablässig
+bereitet und immer die Hefe zurückläßt, um sich neu zu mischen, nur wessen
+Auge geschärft wurde für die Schatten, die im Tageslicht aufpassen, nur der
+weiß über diese Welt Bescheid, und in ihm lebt das Bewußtsein -- bitter wie
+die Aloe --, daß er umsonst gelebt hat, wenn die Schule, durch die er ging,
+anderen nicht zur Lehre dienen wird.
+
+Das erste war übrigens, daß mich die Fürstin ans Telephon rief: »C'est
+désastreux! quelle folie!« sagte sie unverblümt; und als ich sie besuchte:
+»Je dis ce que je pense, mais est-ce que j'écris, moi? -- Pas si bête!«
+empfing sie mich und kochte mir mit heftigen Bewegungen Kaffee.
+
+Dann aber kam Besuch: eine offiziöse Engländerin, deren Mann mit atrocités
+allemandes einen schwunghaften Handel trieb, und ein russischer Diplomat
+von professioneller Verlogenheit, die mir Komplimente machten und mich
+einluden. Wie schwül mir da wurde! Nein, so war es nicht gemeint, und ich
+gehörte nicht hierher! Nicht hierher und nicht dorthin. Bevor die Fürstin
+mich mit einer ihrer Brüskerien zurückhalten konnte, war ich ausgerissen
+und die Treppe hinabgeeilt.
+
+Fortunio, der mir auf der Straße begegnete, nahm dieses typische
+Palaceerlebnis von der komischen Seite und lachte. Wir saßen zusammen, als
+Telramund im biederen Pelzrock, an seiner Rechten die Menschenfresserin von
+Hokusai, mit jener so charakteristischen Verleumderwärme, die unbedingt
+etwas anderes scheinen möchte, auf uns zueilte. Seine Hand weit
+entgegenstreckend, brachte er mir rückhaltlose Schmeicheleien zu
+herzhaftestem Ausdruck. Fortunio, welcher fühlte, wie bitter sie mir
+mundeten, lenkte das Gespräch auf andere Dinge.
+
+13. APRIL. Den Abend mit Fortunio und Abigail verbracht. Wir sprachen von
+Träumen. Abigails sehr spekulatives Gehirn kann sich in so feinen Windungen
+verlieren, daß es sich beizeiten von seiner höchst stofflichen Person
+vollkommen losgelöst darstellt. Plötzlich, mitten in einem Satz, den er
+sagte, lebte ein geradezu abscheulicher Traum der vergangenen Nacht in mir
+auf, und schon begriff ich nicht mehr, daß ich mich jetzt erst auf ihn
+besann, unterbrach aber sofort das Gespräch, um ihn zu erzählen. --
+»Achtung!« rief ich, »so etwas Widerliches habt Ihr noch nicht gehört:
+
+Ein Mann, von dessen schwarzem, fettem, unbeschreiblich schmutzigem Haare
+dichte graue Schuppen auf seinen Anzug regneten, war dicht an meine Seite
+getreten. Dabei zog er mit einem Kamm durch diese Strähne von nie
+dagewesener Schmierigkeit, so daß der graue Regen immer dichter fiel. Ich
+rückte unwillkürlich von ihm weg, da fuhr er weitausholend mit diesem
+treibenden Kamm in mein eigenes Haar, ich fühlte ihn noch darin stecken und
+erwachte vor Ekel.«
+
+Fortunio schwieg. Auch der zu Kommentaren schnell bereite Abigail äußerte
+sich mit keinem Ton.
+
+»Es steht mir natürlich etwas höchst Widerwärtiges bevor!« nahm ich selber
+auf. Auch diese Bemerkung weckte kein Echo. -- Man ging auf konkrete Dinge
+über. Es wurde spät. Fortunio erwähnte das neue Blatt, welches Telramund
+schon in den nächsten Tagen zu starten gedachte und wie jemand, der sich
+ungern etwas zu sagen entschließt: »Er, beabsichtigt übrigens, eine
+Übersetzung Ihres Protestes in seiner ersten Nummer abzudrucken.«
+
+»Was fällt ihm ein!« rief ich. »Das kann er nicht.«
+
+»Er kann es schon«, sagte Fortunio.
+
+»Die Friedenswarte bringt sie.«
+
+»Er will ihr zuvorkommen.«
+
+»Ungefragt? Ohne sie nur zu zeigen?« fuhr ich im lichterlohen Zorne auf.
+»Sie sind Zeuge, daß er mir nichts von einer solchen Absicht verriet, als
+er vorgestern zu uns stieß. Ich figuriere nicht in diesem Blatt.«
+
+»Fassen Sie sich doch!« sagte Fortunio.
+
+»Nein, ich fasse mich nicht. Oh Fortunio!« rief ich, »oh mein Traum!«
+
+»Schreiben Sie ihm halt.«
+
+Ich ließ sofort das Nötige herbeischaffen und schrieb zitternd vor
+Aufregung, was er mir diktierte. Dann brachen wir auf. Der gänzlich
+verstummte Abigail blieb an unserer Seite. »Die Gefahr ist natürlich,«
+bemerkte Fortunio, »daß der Brief zu spät eintrifft.«
+
+Dies sagte genug. Er wußte mehr. Meine Empörung, meine Wut steigerte sich
+mit jeder Sekunde. Je ungezügelter ich mich über den Charakter des
+bevorstehenden Blattes ausließ, desto reservierter wurde Fortunio. Je mehr
+ich sah, daß er sich ärgerte, desto mehr ärgerte ich mich über seinen
+Ärger. Der meine richtete sich besonders gegen Abigail, dessen Schweigen
+mir mißfiel. Nicht das Ungestüm, mit welchem ich auf den mir zugedachten
+Schlag reagierte, sondern die ausgemachte Tücke desselben schien mir das
+wesentliche, was unbedingt eine Parteinahme für mich verlangte. Auf eine
+solche ließ jedoch nichts in der, all die letzten Tage so überschwänglich
+gewesenen Haltung Abigails schließen.
+
+Oben in meinen sorgfältig geschmückten, aber von Telramund behexten Räumen,
+in welchen ich noch nicht eine einzige frohe Stunde verlebt hatte, noch
+fernerhin erfahren würde, brach ich in helle Flammen der Verzweiflung aus.
+Dies also war das Resultat! Zu diesem Ende also hatte ich die Worte, zu
+welchen ich glaubte, mich entschließen zu müssen, so bang gewogen, so
+behorcht. War ich dafür bis an die äußerste Kante einer abschüssigen Stelle
+vorgetreten, so weit, als mein Fuß noch Boden unter sich fassen konnte, um
+hinterrücks diesen Stoß zu erhalten? Denn was für eine Übersetzung und zu
+welchem Zwecke sie fabriziert wurde, wußte ich genau. Am Arme Telramunds,
+dieses Verräters, sollte ich an die Öffentlichkeit. Ich hatte mich, es ist
+wahr, vom Anfang des Krieges an zur Opposition geschlagen. Aber sie galt
+seinen Anstiftern und deren verworfener Gefolgschaft. Das Volk selbst tat
+mir unabänderlich leid. In meiner, von kalten Wirbelwinden der Abneigung
+durchsackten und durchkreuzten, aber dabei tiefen Liebe zu Deutschland, lag
+das Band zwischen Fortunio und mir. Oft sprachen wir davon. Und dünkten uns
+allein. Gerade unsere gallische Seite setzte uns ja auf Grund unserer
+Abgerücktheit in Besitz des Spiegels, den die unvermischt Deutschen nicht
+führen. Ihr Nationalismus ist ja Import, ihr Fremdenhaß unecht, imitiert,
+immer bereit, wie Mörtel von ihnen abzufallen. Im übrigen ist die Gefahr
+derjenigen Deutschen, welche Selbstkritik üben, viel eher, daß sie
+erstarren. Wenn es kein französisches Wort für »Gemüt« gibt, so gibt es
+noch weniger ein deutsches Wort für »affectueux«. Die Deutschen -- und das
+ist es, was einem oft an ihnen erbarmt -- sind nicht imstande, sich im
+geringsten zu hegen. Weil jede Nation seine so typischen Unholde hat, war
+Telramund, allen deutschen Germanophoben voran, gerade in dieser
+Germanophobie ein so typischer Boche. Jedenfalls durfte der Mann von Glück
+reden, daß sein und seiner Gesponsin Leben an diesem Abend nicht in meine
+Hand gegeben war. Statt dessen war es _ihr_ Trick natürlich, welcher aufs
+beste gelingen mußte, und weit entfernt, daß die beiden verdienterweise und
+auf meine Order hin vor Sonnenaufgang baumelten, haftete meinem
+Frühstückstablett am Morgen dieses 14. April die erste Nummer der
+Telramundschen Zeitung an. Sie umfaßte vier Seiten. Alle Beiträge waren
+anonym. Nur mein fettgedruckter, im Reporterdeutsch übertragener Protest
+trug meinen Namen. Ich übergehe den Zorn, mit dem ich diese wüste
+Revolverprosa las, welche hier als meine eigene stand; wie vortrefflich war
+dabei ihre Wirkung auf mich selber berechnet! Denn die Feindschaft von
+Leuten wie Telramund ist wie mit tausend Augen auf uns gerichtet, mit
+tausend Fühlern in uns verbissen. Sie kennen ja die Ablenkung ins Reich der
+Ideen nicht! Sie spinnen keine eigenen Gedanken! Ich Törin hatte, wie über
+einen Witz, lustig darüber aufgelacht, daß Telramund meinen Protest als
+eine »Manoeuvre allemande« bezeichnet hatte, ohne zu erwägen, daß er
+natürlich auf Mittel und Wege sinnen würde, dies zu bekräftigen. So galt es
+denn, mich gewaltsam über die Linie zu ziehen, die ich mir selbst gesteckt
+hatte. Dies ergab sich ohne weiteres durch den gehässigen Ton der
+Übersetzung. Das andere würde ich schon selber besorgen; denn daß ich
+reagieren, ja mich hinreißen lassen und ihm in die Hände arbeiten würde,
+wußte niemand so gut wie dieser ausgezeichnete Kenner meiner Person. Ja, es
+kam noch besser für ihn, als er wohl dachte.
+
+Fortunio, den ich sofort benachrichtigte, ließ mir sagen, er könne mich
+erst gegen zwölf Uhr sehen. Dies war mir viel zu spät. Gleich, in einer
+Viertelstunde, bevor noch irgend jemand auf die Gasse trat, mußte meines
+Erachtens etwas geschehen. Wahn! überall Wahn! In der Redaktion des Bundes
+bestand ich darauf, daß meine Verwahrung sofort in der nächsten Nummer
+stehen müsse. Es wurde mir versprochen. Immer noch war es Morgen. Rückte
+denn heute die Zeit nicht vor? Alle Hauptstraßen meidend, kam ich im
+Sturmtempo zu Fortunio, ihm das fait accompli mitzuteilen.
+
+Wenn es wahr ist, daß kein Sperling versehentlich vom Dache fällt, nun dann
+steht gewiß auch ein jeder unserer Tage unter einer bestimmten
+Konstellation, und mein Unstern feierte gerade seinen Mittag. Fortunia, die
+auf der Treppe stand, empfing mich mit einem unglücklich gewählten Wort.
+Schließlich war es ihr Haus, ich konnte sie nicht niederstoßen. An ihr
+vorbei, geradeswegs in Fortunios Arbeitszimmer, der die Mitteilung von
+meiner zu erscheinenden Notiz mit einer Kälte aufnahm, die mich unsagbar
+erbitterte. Hier bin ich fehl am Ort, dachte ich, und nahm eilends
+Abschied. Auf der Straße war es kalt. Ich sah mich um: sie war leer. »Ich
+bin verraten«, sagte ich laut. Ich hatte nur ein paar Schritte bis zum
+Haus, in dem ich wohnte. Die Hand vor den Augen haltend, als sei mir etwas
+hineingeflogen, eilte ich die Treppe hinauf und schloß mich ein.
+
+15. APRIL. Telramund (immer anonym natürlich) veröffentlicht eine hämische
+Erwiderung auf die meinige. Meinen französischen Text und seine Übertragung
+würde die nächste Nummer seiner Zeitung zusammen abdrucken. Der Leser möge
+sich dann selbst ein Urteil über mich bilden. Ich sofort wie eine
+Windsbraut, auf Flügeln des Zorns, in die Redaktion mit einer
+»Schlußerklärung«. Auch diese wollte ich sofort eingerückt sehen.
+
+Daraufhin vertiefte sich das Waldesschweigen um mich her. Fortunio war ohne
+ein Wort nach Lugano abgereist. Ich begriff es nicht. In meiner Unkenntnis
+alles dessen, was mit Partei- oder Presseinteressen zusammenhing, wollte
+mir ein Überblick der besonderen Situation nicht gelingen. Ein paar Dinge
+sah und erkannte ich mit unbeeinflußbarer Sicherheit, gleichsam durch ein
+Brennglas, mußte aber jede Einsicht mit einer Unzulänglichkeit überzahlen,
+jedes Überbieten mit einem Versagen. Wer mich für dumm erklärte, dem hatte
+ich von jeher meinen Segen gegeben. Es will keine Geographie in meinen
+Kopf; vergebens starre ich auf einen Globus; ein Morseapparat bleibt mir
+ein unergründliches Geheimnis; in scheuer Bewunderung starre ich während
+einer Panne auf die Mechanikerkünste des Chauffeurs, und so teilnahmslos
+ist gewiß kein Mensch, daß er, ohne mir beizustehen, zusehen könnte, wie
+ich meine Koffer packe. Durch Vorzüge, wie durch Mängel isoliert, muß ich
+mich selber auf mich nehmen wie ein Kreuz. Es kann geschehen, daß ich vom
+Blatt begleite auf eine Weise, die jeden Musiker empfinden läßt, welche
+Entbehrung es für mich ist, ohne Musik zu leben, und mir selbst wird zumute
+gewesen sein wie einem plötzlich freigelassenen Pferd, das über eine Ebene
+voll Sonnenlicht und Schatten fliegt. Nichts kommt seinem Rausche gleich.
+Von solchen Augenblicken wahren Lebens erwache ich zum Tode des Alltags wie
+ein Gefangener aus seinem Freiheitstraum. Gerade nach solchen seelischen
+Abenteuern aber wird es am leichtesten vorkommen, daß ich mit einer
+aufgeregten Hilflosigkeit, viel eher eines Dorftrottels, als meiner würdig,
+nach meinen vergessenen oder verirrten Habseligkeiten suche, und keiner der
+Musiker von vorhin würde mich wiedererkennen.
+
+ * * * * *
+
+21. APRIL. Besuch Abigails. Oh nichts von Komplimenten mehr! Nichts mehr
+von »femme exquise«. Wir prasselten uns Vorwürfe, groß wie Taubeneier, ins
+Gesicht. Meine Schlußerklärung sei eine Abschwächung gewesen. Ob dies der
+Moment wäre, zu sagen, daß es Boches in jedem Lande gäbe.
+
+Es sei die Wahrheit.
+
+In der Tat hätte ich die richtige Gelegenheit ergriffen, dies zu äußern.
+
+»Ihr habt ja meinen Protest als eine manoeuvre allemande angesehen.«
+
+»Cest donc une vengeance«, sagte er, indem er sich zum Gehen anschickte.
+Ich eilte zur Tür, und, vor ihr aufgepflanzt, gedachte ich das letzte Wort
+zu haben, als mir plötzlich ein Licht aufging, auch Fortunios wortlose
+Abreise mir erklärte. »Sie haben das Wort >Abschwächung< gebraucht«, sagte
+ich, »und werden dieses Zimmer nicht verlassen, bevor Sie mir selbst,
+geholfen haben, einen Nachsatz aufzusetzen, der jede Möglichkeit einer
+solchen Auffassung ausschließt. Alles andere ist mir im Augenblick egal.«
+
+Mein Entschluß einer neuen Bekräftigung konnte ihm nur erwünscht sein. Es
+setzte ihn in den Stand, zum zweiten Male Heu einzufahren, nachdem das
+erste verregnet war. Zum dritten Male schlug ich nun den Weg in die
+Redaktion des »Bundes« ein. Nicht mit Unrecht wurde ich aber dort darauf
+hingewiesen, daß sich eine Schlußerklärung mit keinen neuen Erklärungen
+vertrüge. Ich führte mit aller Vehemenz dagegen aus, sie sei für mich
+Ehrensache, und setzte endlich ihre Veröffentlichung durch. Natürlich mußte
+sie wieder auf der Stelle her.
+
+Daß hiermit ein Loch an Stelle eines Fleckens trat, war mir zwar klar. Und
+nach der deutschen Seite hin verschlechterte sich natürlich meine
+Situation, war eine Herausforderung mehr. Doch auch die formvollendetste
+Blamage durfte ich in diesem Augenblick riskieren, nur nicht, daß behauptet
+werden durfte, ich liefe vor meinem eigenen Mute davon. Ich war froh, daß
+jetzt um mich her eine solche Leere bestand, und niemand in Sicht, der mir
+einen Rat erteilen konnte. Denn der Fall lag allzu klar. Hier war es nicht
+le ridicule qui tuait.
+
+23. APRIL. An der Schnelligkeit jedoch, mit welcher jetzt meine Stimmung
+umschlug, merkte ich den Stoß, den mein Gleichgewicht erfahren hatte: meine
+Gemütsverfassung war eins mit dem herrschenden Wetter: Regen, Finsternis,
+zerrissenes Gewölke, Himmelsblau, Sonne und wieder Sturm und Schnee. Kurz
+entschlossen löste ich eine Karte, um einer Aufforderung A. H. Paxens nach
+Lugano zu folgen.
+
+Abigail, der sich nachmittags bei mir meldete, war sichtlich erfreut über
+die inzwischen schon erschienene Notiz. Aber ich hatte jetzt reichlich
+genug von der leidigen Geschichte, deren dickes Ende ja noch bevorstand,
+denn bis jetzt hatte noch kein deutsches Blatt auf meinen Vorstoß reagiert.
+
+23. APRIL. In Luzern unterbreche ich meine Fahrt und steige im Hotel Tivoli
+ab, bei Glasenfrosts.
+
+Warum aber fallen nachts Felsenblöcke über mich hin? Warum sehe ich einen
+Baum an einem unsichtbaren und doch so verzehrenden Feuer verbrennen, daß
+er im Nu nur ein Gerippe ist von einem Baum? Ohne Flamme und ohne, daß ein
+Blitz ihn traf, nur ein gespaltener Stamm?
+
+Warum stürzt von zwei Leuchtern der eine mit herabgebrannter, erloschener
+und tränender Kerze zu Boden? Eine trübe Bildersprache, die ich in diesem
+Jahre noch nicht entziffern sollte.
+
+Um Mittag fahre ich weiter. Jenseits des Gotthard gerät der Himmel ins
+Lachen. Er findet offenbar die Welt noch schön. Tröstlich prangende
+Blütenhänge und endlich, tief unten, das hingezauberte Blau des Sees, einem
+verliebten Abendhimmel hingegeben. Und die Bäume stehen hier wie sanfte,
+begütigende Bräute.
+
+Der Weg nach Paradiso ist holperig genug, auf den Bergen oben leuchten
+feurige Spieldosen auf. Die Natur ist ein Zwischenakt mit
+Verwandlungsmusik, und die Nachtluft wird von Amoretten hingetragen. Oh
+Plansee im bayrischen Gebirg! Du See auf dem Plan, so hoch oben im Wind!
+Warum schwebst du, Verwunschener, mir vor? Vor mir liegt lächelnde
+Erfüllung. Du aber bist unbegrenzte Sehnsucht und Verweigerung.
+
+Ein nachgesandter Brief von ihr, die von jenen Bergen spricht, hatte mich
+in Luzern ereilt. »Bald kommt der Sommer, schreibt sie, rücken wir ihm vor.
+Der Flügel wird schon in der Halle aufgestellt, die Schwalben fliegen gewiß
+schon ein und aus.«
+
+Die Droschke rollt jetzt auf glatter Fähre den See entlang.
+
+25. APRIL. Fortunio, welcher von meiner Ankunft bei Paxens erfahren hatte,
+kommt, verfehlt mich, telephoniert und bittet mich zum Tee.
+
+Ha! denke ich, diesen Tee soll er sich merken bis in sein achtzigstes Jahr.
+Mit vielem Bedacht staffiere ich mich zu diesem Wiedersehen heraus, um die
+Meinung, die ich mir von seinen Ritterdiensten gemacht habe, möglichst
+wirkungsvoll zu unterstreichen.
+
+Wie dem auch sei, ich trug an diesem Tage ein, wenn auch nicht neues, so
+doch neu beschlagenes Kleid mit halblangen, weit auslaufenden Ärmeln. Weiße
+Besätze, federleicht und schwarz besäumt, schlossen sie am Ellbogen in zwei
+Reihen ab. Zwischen ihnen lag wieder eine Spanne Stoffes, den sie ein wenig
+heruntergezogen, denn so dünn ihr Gewebe war, durch ihre Fülle beschwerten
+sie ihn doch. Beim Gehen glockten sie ganz leise ab und zu und hingen dann
+still, bevor sie sich von neuem bewegten. Es war in der Tat ein sehr
+rhythmisches und geglücktes Ärmelpaar. Vor allen Dingen aber -- andere
+mögen dies gewiß auch schon beobachtet haben -- können wir von einer
+»geistigen Schminke« angeflogen werden, chimärisch wie jene, welche die
+Kosmetiker bereiten -- denn auch sie, wenn sie von uns fällt, läßt uns
+fahler, aufgeriebener als zuvor. -- Indes gewährte ich den ausgestandenen
+Nöten der vergangenen Tage ihr beredtes Schattenspiel, ja ein
+selbstbewußter Schleier chiffrierte noch ein übriges dazu. Also gepanzert,
+höchst intangibel und durchaus bestechend ging ich, die ihm zugedachte
+Szene wohl im Kopf, gewandten Schrittes, als hätte ich soeben meine besten
+Erfolge hinter mir, auf ihn zu.
+
+Es gehört jedoch irgendwie mit zum Leben, daß im geringfügigen, wie im
+großen die Dinge anders verlaufen, als man sie erwartete.
+
+Zwar in der Tat eilte da Fortunio wie mit neubeschwingter Freundschaft mir
+entgegen.
+
+Seine Sympathie, erklärte er dabei, hätte nun wirklich die Feuerprobe
+bestanden.
+
+»Wie meinen?«
+
+Da nicht einmal die desaströse Erklärerei im »Bunde« vermocht hätte, daran
+zu rütteln. »Sie kennen die letzte nicht«, erwiderte ich mit der
+erkünstelten und flackernden Würde einer Überrumpelten.
+
+»Was!?« schrie er entsetzt und fuhr mit den Armen in die Luft. »Noch
+eine?!« Unglücklicherweise mußte ich lachen, und da mir dies seit drei
+Wochen nicht mehr vorgekommen war, hielt ich nicht sogleich inne, sondern
+geriet ins lachen, wie einer ins laufen gerät, und ehe Fortunios Arme sich
+wieder gesenkt hatten, war er angesteckt. Es gab kein Aufhalten mehr.
+Lachraketen stiegen jetzt in die verblaute Luft, in einer vor Wonne
+irrsinnigen Natur. Wäre ich zehnmal bedrückter noch gewesen, ich hätte
+gelacht.
+
+Bald fingen denn auch die Berge wieder an, ihre funkelnden Spieldosen
+aufzuziehen. Nicht einmal nachts wollte diese Landschaft zum Ernste
+gelangen; des Krieges selber schien sie zu spotten. Wer hatte denn recht,
+wenn nicht die Bäume hier am Strand des Sees, die ihre Düfte einander
+zuhauchten und vertauschten, und wenn sie welkten, wieder erblühten, und
+wenn sie verdorrten, andere dafür erwuchsen. Es war mir ein Schlag ins
+Wasser geglückt. Und was dann?
+
+Ich zog Fortunio mit in den Kursaal, sah den Dämchen zu, wie sie tanzten,
+gewann sechs Franken und verlor deren zwölf.
+
+ * * * * *
+
+Und nunmehr ging ein Tag blitzender als wie der andere auf, und wie in
+einer leuchtenden Schale der Vergessenheit zerfloß der See. Vergiß! Vergiß!
+
+Es hinderte nicht, daß ich Fortunio bei Gelegenheit das alte Leitmotiv
+vernehmen ließ, solange Telramunds im Hintergrunde säßen, sei jede Aktion,
+jeder Versuch, dem Haß entgegenzuwirken, im vornherein eine gescheiterte
+Sache. Er ist für das »abwirtschaftenlassen« solcher Elemente, und ich
+nicht. Denn bis sie abgewirtschaftet haben, ist ja zuviel verdorben,
+aufgehalten, zugrunde gerichtet. Fortunio, in vielen Dingen weit
+beschlagener als ich, sieht nicht, wo ich erfahrener bin als er. Gewiß sind
+ihm die Götter hold. Taucht er unter, so fischt er gleich etwas Schönes,
+hält's gegen das Licht, freut sich des Prismas und läßt sich von den Wellen
+schaukeln.
+
+Die paar Meinungen dagegen, die mir unverrückbar im Kopfe horsten, muß ich
+zu Markte tragen, und habe keine Ruhe. Muße bleibt Müßiggang für mich,
+solange ich sie nicht formulierte. Und die Aufgabe ist doch so schwer, daß
+ich vor jedem Anlauf von neuem zögere. Bis mein Tagewerk gelingt, sofern es
+mir gelingt, wird der Abend für mich herangebrochen und meine Gastrolle in
+dieser zweifelhaften Welt ausgespielt sein. Sollten meine Bücher mich
+überleben und ich selber wiederkommen, so lese ich sie vielleicht, und
+vielleicht wird mir dabei etwas sonderbar zumute. Ein Dirigent möchte ich
+dann werden. Regieren möchte ich!
+
+Die erste Katze möchte ich sein, die keine Vögel mordet. Ich bin in diese
+beiden Tiere vernarrt und wünschte, sie schlössen Frieden.
+
+Um auf Fortunio zurückzukommen: darüber sei man sich vollkommen einig,
+sagte er, wie Telramunds Verfahren mir gegenüber zu qualifizieren sei.
+
+Warum ergriff denn keiner meine Partei?
+
+Er zuckte die Achseln, wie jemand, der es aufgibt, etwas zu erklären.
+Gerade dieses Achselzucken aber gab mir endlich voll und ganz zu verstehen,
+mit welch unsäglich trübem Wasser in Politicis gekocht wurde; so zwar, als
+müßte es so sein. Diese Notwendigkeit war es gerade, die ich mich
+anzuerkennen weigerte.
+
+Ich kann gar nicht aussprechen, wie grausam mich der Plan von einem
+»Zusammenschluß der Geistigen« anlächert . . . Wie sollte ein
+Zusammenschluß der Geistigen zustande kommen, da noch ganz und gar kein
+Zusammenschluß gegen die Ungeistigen besteht? Ach, kennt ihr Geistigen die
+Welt noch immer nicht? Was redet ihr groß von eurem Zusammenschluß? Sprecht
+von Aufgebot, von einem Kampfesruf gegen den Zusammenschluß jener, denen
+alle Waffen zu Gebote stehen, welche die Gemeinheit führt, dem einzigen
+Zusammenschluß, der sich bisher verwirklichte, denn dort gebietet der
+Verworfene über den Verworfeneren, und der Verworfenste ist es, der das
+Zepter schwingt.
+
+Sprecht von Ausschluß, sprecht von Sorge. Davon sprecht, daß es keine gute
+Sache geben kann, solange schlechte Elemente sich zu ihr bekennen dürfen,
+um sie zu untergraben, ist doch an ihrer eigenen nichts mehr zu verderben.
+Zum Zerstören aber sind sie da.
+
+Gelänge es mir, auf diese noch immer nicht genügend beachtete
+Beschaffenheit der Dinge die Aufmerksamkeit zu lenken, ich hätte nicht
+umsonst gelebt. Ich weiß ja, wie sehr mein Scharfblick auf Kosten von
+Kurzsichtigkeiten geht. Welche Pein ist das! Ich stürme nicht voran, ohne
+über das Nächstliegende zu stolpern. Von ausgemachter Selbstherrlichkeit,
+wo ich meiner Sache sicher bin, unheilbar blöde, unheimlich schlau, so
+harmlos, daß man kichert, so gerissen, daß man mir mißtraut . . .
+
+27. APRIL. Ein Berliner Kriegsgewinnler, den Paxens von Wien her kennen,
+meldete sich bei ihnen zu Besuch. Der erste, dem ich mit Bewußtsein
+begegne. Nie habe man bei Hiller so gut gegessen, nie bei Borchard soviel
+Champagner getrunken. Die Welt habe jetzt die deutsche Faust
+kennenzulernen. Was Ludendorff befahl, sei _unbesehen_ das Richtige, und
+keine Kritik gestattet; (das galt mir!) Gott, wie gemütlich man hier
+beisammen säße, während die Völker einander schlachteten. (Dies sagte er,
+wie man am warmen Kamin vom Schneesturm spricht, der draußen wütet.) Allen
+könne es nicht gut gehen, bemerkte er auch. »Schweigen Sie«, rief Frau A.
+H. Pax. Er guckte etwas verdutzt. »Das ist ja schrecklich mit unserer
+Valuta«, lenkte er dann ein. »Und mit der geistigen erst!« fuhr A. H. Pax
+dazwischen.
+
+
+Kunstwerk der Zukunft.
+
+28. APRIL. Heute früh bin ich in einer Messe gewesen. Aber welche Messe! In
+einem sehr alten, dem See gegenüberliegenden und köstlichen Bau: Traumhafte
+Fresken, das übrige mit roten, langverjährten, rosagewordenen Damasten
+ausgeschlagen. So gut wie leer. Die Schellen, die der Ministrant in
+Bewegung setzt, erklingen abgetönt und sind gewiß aus Silber,
+Weihrauchwolken steigen vom Altar. Dunkel -- nein nicht dunkel, von einer
+lichten Penombra wie eine bedeckte Vollmondnacht, ohne Orgel und Gesang,
+und dennoch brausend, unendlich groß, ja wie zum Firmament -- (wie wurde
+mir?) weitete sich das stille und verlassene Haus und schwamm im All.
+
+Endlich wieder eine schöne Kirche. Die in Bern hatte ich aufgeben müssen,
+denn so war die Messe wirklich nicht gemeint. Als ich aber jetzt durch die
+schwerbehangene Türe ins Freie trat, auf den noch leeren Platz und den
+besonnten Strand, wo die Platanen ihre eben erschlossenen Kronen so
+bräutlich dem Licht entgegenhielten, da schien dies alles, diese Natur mit
+den dekorativ vor und wieder zurücktretenden Wänden ihrer Berge und das
+gekräuselte, wie in sich selbst verliebt hinziehende Gewässer, selbst der
+Himmel, der darüber hing, schien nicht so weit wie der eben verlassene,
+leicht zu umspannende Bau mit den damastenen Wänden von verblaßtem Rot.
+
+2. MAI. Die Pforte, die ins Weglose führt, wurde bisher nur im Vorübergehen
+angekreidet. Ziemt es sich doch nicht, es zu beschreiten. --
+
+Diejenigen aber, welche solange über die Schiffbarmachung der Luft
+gegrübelt haben, sind nicht dieselben, welche sich auf Äroplane schwingen,
+sondern viele Jahrhunderte werfen ihre wilde Brandung zwischen sie. Und
+doch, und doch . . .
+
+Wie in der nunmehr erkrankten Luft die Menschheit eine infizierte oder
+jedenfalls, auch ohne es zu merken, eine affizierte ist, wie vielleicht ein
+Pesthauch so allmählich unseren Planeten umschichtet, daß wir es nicht
+gewahrten, ebenso glaube ich, daß bei vielen unter uns der innere Sinn dem
+lautlos tumultarischen drängen und wogen (wo gäbe es Worte?) der so zahllos
+und so jäh entströmten Leben zugewandter ist, als sie es wissen. Da sind
+Akzente, da sind Lockrufe, die noch nicht ergingen . . . Da treiben wehe
+Schwingungen der Wonne von unaussprechlicher Pein, da greifen Klänge ans
+Herz, zerspringen und ermatten wieder, ohne zu ertönen, und da sind uns
+Zaubertränke hingehalten, als hätten wir geistige Lippen, sie zu genießen
+. . .
+
+Es war nicht mehr Nacht, aber der Tag dämmerte noch nicht. Ich schlief
+nicht mehr und war noch nicht wach. Eine Gestalt, höchst eindrücklich in
+ihrer Schattenhaftigkeit, erfüllte die Atmosphäre bis an den Rand, als
+müsse diese wie ein zu voller Becher überfließen, das Zimmer sprengen oder
+sich entflammen. Und schon war das Unnennbare ungegenwärtig, und es wäre
+lächerlich unzureichend, wenn ich sagte, es hätte sich entfernt, so ganz
+außer jeder Beziehung stand es zu Zeit und Raum.
+
+Was aber war inzwischen nochmals vor mir aufgeschimmert? Locken? -- von
+einer Gelocktheit, die es nicht gab, von einer goldenen Blondheit, die
+nicht vorkommt, ein Licht, das ich nicht kannte, schärfer, und dabei nicht
+so grell wie das des Tages. Geisterhaft? Aber es war ja von einer
+schärferen, wärmeren, pulsierenderen Lebendigkeit gewesen, als wir sie
+kennen. Wir sind nicht lebendig genug, dachte ich bestürzt, und schlug die
+Augen auf. Draußen hatte sich ein Wind erhoben. Die Fenster sahen auf den
+Garten; der Himmel ganz blaß, aber im vollen Staat. Kleine Wolken als
+Vorreiter ausgesandt. Die Bahn war frei, die Vögel vollzählig, Brust
+heraus, in Positur und einzustimmen bereit. Höchste Spannung in den Bäumen:
+kommt sie schon? Blumengeflüster: ist sie schon da? -- Es war alles wie am
+ersten Tag.
+
+ * * * * *
+
+3. MAI. Sicher haben die Menschen ihr Hofzeremoniell dem Sonnenaufgang
+abgelauscht. An sich gewiß eine hübsche Idee. Mit acht Jahren war ich im
+Kloster Page der schönen Gelmini, die an Epiphania mit dem Beinamen die
+Gerechte zur Königin ausgerufen wurde. Meine Haare wurden Tage hindurch im
+Hinblick der zu drehenden Locken mit gezuckertem Wasser gedrillt. Dem
+Hofnarren fielen sie aus der Schellenkappe tief ins Gesicht. Denn gelockt
+standen wir alle am Tage unseres Umzugs. Gelmini wurde zweimal gewählt und
+starb das Jahr darauf. Wie groß war mein Staunen, als ich später erfuhr,
+eine erwiesene Larve könne ihr Lebtag lang unter Zimbeln und Trompeten als
+»Majestät« aufziehen. Und welches Gelächter erntete meine Entrüstung! Aber
+wie oft hat der verspottete recht! Jede Epoche hat ihren wahren
+Fürstenkonzern. Wir verkannten dies ganz: darum sind heute unsere goldenen
+Kutschen remisiert. Großherzogliche Hoflieferanten, Palast- und
+Schlüsseldamen, wo seid ihr? Terror der Wiener Komtessen, wo bist du? Kurz,
+kurz ist's her.
+
+Abends im Kursaal bei Musik geschrieben. A. H. Pax will in der
+»Friedenswarte« eine tongetreue Übersetzung meines Protestes bringen, und
+da er zugleich einen Beitrag für das Maiheft wünscht, setze ich meinen
+Apparat in Bewegung. Es ist, als träten ungeheure Wasserwerke in Kraft, um
+einen Fingerhut voll zu kredenzen. Stirnrunzelnd sitze ich inmitten des Hin
+und Her von Eisschokolade und Tangotänzen, um einige Sätze über die
+elsässische Frage zu formulieren. Ich begann mit ein paar Anspielungen und
+zitierte mich aus einem Essay, den ich über die Markgräfin von Bayreuth
+geschrieben hatte: der Frau fehle es zwar nicht an literarischer Begabung,
+wohl aber an literarischer Perspektive, und für die Realität des
+geschriebenen Wortes wohne ihr auch nicht entfernt dasselbe scharfe Gefühl
+inne wie dem Mann. Heute sei hinzuzufügen, fuhr ich fort, ihr Interesse und
+ihr Verständnis für Presse- und Parteiwesen sei in der Regel gering, und
+auf jene allerletzten Endes so gedankenlose Parole: right or wrong my
+country, wäre die Frau nicht verfallen.
+
+So wird sie denn, erzählte ich von ihr, und meinte _mich_, nur wenig von
+bisheriger Politik verstehen, dafür um so mehr von der kommenden. Denn es
+ist ganz gewiß falsch, zu behaupten, man dürfe Politik nicht mit dem Gefühl
+treiben. Wie veraltet die ohne Gefühl betriebene sogenannte Realpolitik im
+Grunde schon war, hätten die zuletzt auf dem Plan erschienenen
+jugoslawischen Völker sehr wohl erkannt, als sie einst jenen brüderlichen
+Balkanbund zu gründen beschlossen, welcher dann am Widerstand der
+europäischen Kabinette gescheitert war.
+
+Es läge auch ein vollkommen richtiger Instinkt einer Versinnbildlichung der
+Nationen durch überlebensgroße Menschengestalten zugrunde: Marianne, John
+Bull, Michel, Onkel Sam . . . Von hieraus zieht sich deutlich ein Weg zur
+Einsicht, daß den Beziehungen zwischen hochstehenden Völkern genau
+dieselben Grundsätze unterliegen sollten wie zwischen hochstehenden
+Menschen. Statt sich zu überlisten und brutal zu übervorteilen, suchen sich
+diese im Gegenteil an Schonung, Großmut und Rücksicht gegenseitig zu
+überbieten. Der Wetteifer um den Rücksitz hat als Ergebnis, daß man sich
+darin teilt; statt einander zu berauben, hilft man einander aus. Man
+gesteht sein Unrecht und wird vernommen, statt verdammt. Wäre somit eine
+solche Politik nicht auch die praktischere?
+
+Ich hätte mir vorstellen können, fuhr ich fort, daß auf einer solchen
+Grundlage hin ein Dialog zustande gekommen wäre zwischen Michel und der
+unversöhnlich von ihm abgewandten Marianne. Ich könnte mir wahrhaftigen
+Gottes vorstellen, daß er -- nach Art der Liebhaber -- zu ihren Füßen
+hingerissen, die elsässische Frage vor ihr zur Sprache brächte; ich könnte
+mir vorstellen, daß im Laufe dieses Dialogs endlich ein Wendepunkt sich
+ergäbe, von wo ab beteuert würde, was verneint worden war . . . und in
+dieser Tonart lange hin und wieder so beharrlich, bis die wunde Frage sich
+zwischen ihnen isolierte, auf einen höheren Plan gehoben, langsam über
+ihren Häuptern wie eine Morgengabe schillerte.
+
+Aber den Realpolitikern dünkte die andere Alternative, der wir heute
+zusehen müssen, die gerissenere. Spätere Europäer werden sich freilich an
+den Kopf greifen; dann aber wird vermutlich das andere Schlagwort aufkommen
+vom Antagonismus der weißen und der gelben Rasse; und dann wird sich der
+Himmel verfinstern von den neuen Schrecknissen; und dann erst werden die
+Überlebenden nicht mehr bestreiten, daß die europäische Psyche durch
+Assimilierung der asiatischen die endliche Bereicherung, ja ihre letzte
+Vollendung erführe.
+
+Nicht allein, daß die grauenvollen Erfahrungen, die geopferten
+Generationen, die vergeudeten Jahrzehnte, Jahrhunderte notwendig sind, um
+diese Welt zu Anschauungen zu bekehren, welche sich der einfachen
+Nachdenklichkeit aufdrängen, sondern all diese Kriege, und die gewesenen
+sind nur Vorstufen zu einem letzten Kampf, dessen Stunde zugleich mit der
+Stunde der Vergeltung schlagen wird für jene Elemente, welche von jeher die
+schlechte Sache in der Welt betrieben oder die gute verdorben haben. Die
+Leute also, schloß ich meinen Aufsatz, welche auf den ewigen Krieg
+schwören, mögen zufrieden mit mir sein; denn bevor jene Elemente (und es
+sind stets überall dieselben) nicht gekennzeichnet und untergeordnet
+werden, glaube auch ich an keinen dauernden Frieden.
+
+ * * * * *
+
+Um mich von der Anstrengung zu erholen, setzte ich zehn Franken und gewann
+zwei. Plötzlich taucht der Kriegsgewinnler vor mir auf und fragt, ob er
+mich nach Hause begleiten dürfe. Es war sehr spät, ja, er dürfe. Er
+begleitet mich also, ich aber leuchte ihm heim. Und siehe da, in dieser
+nächtlichen Weile scheinen ihm sehr andere Bilder vorzuschweben als die,
+mit welchen er noch gestern renommierte. »Es geht uns ja so lausedreckig,«
+jammerte er, »warum verfolgt ihr das in den Brunnen gefallene Kind?« »Also
+so steht es«, rief ich. Mein fertiger Aufsatz stimmte mich frech. »So steht
+es, und ihr blufft weiter mit Schwertfrieden und Grenzverbesserungen in Tod
+und Ruin hinein. Ich sehe schon, was für Argumente ihr schmiedet, falls es
+schief ausgeht mit eurem Verbrechen!« Es läßt sich gar nicht sagen, wie
+weinerlich, wie persönlich gutmütig dieser eingepeitschte Alldeutsche sich
+herausstellte; wahrscheinlich der beste Gatte und Vater dabei, ein
+gewissenhafter Arbeitgeber vielleicht.
+
+ * * * * *
+
+Melide. Fortunio hat drei Elsässer getroffen. Im Schein der Windlichter
+schlage ich ihm die Karten, er dagegen liest mir aus der Hand. Die
+Edeljüdin hat ein rotes Tuch umgeschlagen, und wir sind vergnügt. Doch oh,
+die Nachtigall, die wir am Heimweg schlagen hören. Mein Herz hing sich an
+sie und drang in den Busch zu ihr. Ich hätte mich so gern nicht mehr von
+der Stelle gerührt.
+
+Der Himmel blieb die ganze Zeit über so blau, daß sich die Wolken in meinem
+Gemüt angesichts soviel Sonne nicht behaupten konnten. Der erste bedeckte
+Tag war auch der unserer Abfahrt. Ich nahm den Frühzug mit Paxens und
+steckte meine Post gerade noch zu mir. Fürs erste galten dann meine Blicke
+nur dem schwindenden See und den schnell sich verstellenden Bergen.
+
+In Bellinzona trennten wir uns. A. H. Pax wünschte die Mitarbeit der Gräfin
+Reventlow, und ich sollte sie zu ernsterer Arbeit ermuntern. Es stellte
+sich aber heraus, daß nur 40 Minuten in Locarno blieben, so depeschierte
+ich ihr auf gut Glück und fuhr dann durch das breite, lange Tal zum Lago
+Maggiore. Sie stand am Bahnhof. Wir erkannten einander, ohne uns je gesehen
+zu haben, und gingen mit einer Art von kalter Vertraulichkeit hinab zum
+See. Ihr Zynismus kannte keine Grenzen, doch immer alles mit Grazie. Vom
+Schreiben wollte sie nichts mehr wissen und hatte eine Übersetzung
+unternommen. Bei jeder Seite freue ich mich, daß ich das nicht selber
+geschrieben habe, sagte sie. Ich drängte sie zu größerem Fleiß, ohne
+Anklang zu finden. »Mein Ideal wäre die Leitung eines großen Hotels«,
+versicherte sie. Ihre Augen waren wunderschön. Ich sprach von ihren
+Schriften, und daß keine Bücher dieses leichten Kalibers mit ähnlicher
+Qualität geschrieben worden seien, so blaß, so spöttisch, so geistreich.
+Aber sie schüttelte den Kopf: es sei zu schwer.
+
+Wir gingen in der Mittagsschwüle den bergigen Weg zur Station zurück.
+Einige Wochen später sollte sie in Konstanz ihrem Sohn zur Desertion
+verhelfen. Heute amüsiert sie die Geisterwelt mit ihrem Witz. Schreiben
+werden wir beide kein zweites Mal.
+
+Ich hatte gerade Zeit, in den Zug zu springen: er bewegte sich schon, wir
+riefen uns noch einmal auf Wiedersehen zu, bevor wir einander für immer aus
+den Augen verloren. -- Zu lesen hatte ich gar nichts mehr, mit Ausnahme
+einer französischen Zeitung, die unter meiner Post gewesen war. Sie
+enthielt auf der zweiten Seite einen Angriff gegen mich: Erbitterte Zeilen
+mit dem deutlichen Wunsch, mich zu verletzen. Fürwahr, dachte ich, das ist
+wirklich zu unverdient. Aber der Verfasser täuscht sich: es ist mir egal.
+
+Ich legte die Zeitung weg und sah in die Gegend hinaus. Merkwürdig
+durchdrang mich da ganz und gar die Weite des Tals. Wie ein prächtiger
+Festsaal der Natur, gemeint, als sei er auch bei Nacht zu erglänzen. Als
+fehlten nur die Riesenkandelaber an den gleichmäßigen und feierlichen
+Wänden der Berge.
+
+Die Lokalbahn hatte Anschluß an den zweiten Zug, der von Lugano kam. Er war
+schon eingelaufen. Fortunio und der Redakteur der Humanité standen auf dem
+Perron. Ich reichte ihnen das Blatt, das mir unter Kreuzband zugeschickt
+worden war, und wollte etwas dazu bemerken, es stellte sich jedoch heraus,
+daß meine Stimme zwischen Locarno und Bellinzona hängengeblieben war. Hatte
+die Luft sich abgekühlt? Wie Fanfaren drang das Blau durch die dunstigen
+Wolken. Dicht vor dem Platz am Fenster, den Fortunio mir gesichert hatte,
+zogen jetzt die grauen Riesenwände des Gotthard vorüber, durchstrichen von
+zahllosen Wildbächen, die aus ihren unversiegbaren Gründen senkrecht im
+hellen Jubel herabschossen. Es war ein Hals über Kopf sich überstürzendes
+Geglitzer. Ich behielt sie im Auge, diese Flüsse, einen nach dem andern,
+und zählte sie. Wie eine Rettung war's, als die table d'hôte ausgerufen
+wurde und alles in den Speisewagen ging, Fortunio ganz besonders und der
+Redakteur. Der Wunsch, allein zu bleiben, brannte wie ein Durst. Welchen
+Auges mag der Hirsch das Laub, das sein Geweih vom Aste schlägt, das Tal,
+die Tiefe einbegreifen, bevor er sich getroffen weiß? Wir wissen nicht, wie
+seine Welt da vor ihm aufleuchtet. -- Was für ein selbstherrliches Ding ist
+doch das Herz! Du rufst ihm zu, und es vernimmt kein Wort, als gehörte es
+sich selber und nicht dir.
+
+Verstrickte und sich selbst widerstreitende Liebesgefühle haben ihre
+eigentümlichen Reflexbewegungen wie Zerreißungen und Wunden. Ich hatte mich
+getäuscht: der Angriff in der französischen Zeitung war mir nicht egal. Und
+wie aber hätte die Erbitterung zwischen den Zeilen mich nicht bewegt?
+Zwischen den Erbfeinden des Abendlandes stand in Wahrheit reinste und
+einzigste Erotik am Spiel. Was hier von jeher, was von neuem auf
+Menschenalter zertreten wurde, war der Keim aller Verjüngung und Erneuerung
+eines Kontinents, die Blume aller Allianzen. Alle andern sind unfruchtbare
+Bündnisse dagegen, Geschwisterehen. Sagt mir nicht, daß es anders sei. Ich
+weiß es besser.
+
+Ach! Grund genug, wenn es jetzt den Augen unaufhaltsam entströmte wie über
+die grauen Furchen der Gotthardfelsen. Oh! und nichts von bayrischem
+Gebirg! Was sich da drüben hinter Schleiern spiegelte, das war Paris am
+lauen Septembertag, der eigenen Erfüllung hingegeben, und einem Himmel, der
+keine andere Stadt so überhing wie sie. War sie nicht meine eigenste
+Heimat? War sie nicht die unerreichbarste Geliebte? War sie nicht eine
+Göttin? Oh mein beraubtes Herz! Jedes Bild, jede Erinnerung an sie zerriß
+es neu.
+
+ * * * * *
+
+Abends in Bern, wo inzwischen auch der Frühling gekommen, sozusagen
+ausgebrochen ist, leidenschaftlich abgetrotzt wie etwas, das sich
+keineswegs von selbst versteht wie im Süden. Ich liebe im Norden nur den
+Sommer.
+
+4. MAI. Abigail stattete mir eine richtige Sympathievisite ab. Es fehlte
+nur der Zylinder. Dieser neue Ziegelstein auf mein Dach dünkt ihm
+entschieden de trop. »Erklären Sie mir nur,« sage, ich, »liegt denn eine
+solche Ungerechtigkeit in eurem Interesse?« »Wir fragen heute nicht nach
+Gerechtigkeit«, erwidert er. »Wir verlangen alles oder nichts, Sie bieten
+uns die Hälfte, das ist zu wenig.«
+
+»Sie vergessen, daß ich Deutschland liebe.«
+
+»Es sind Gefühle, die wir zu wenig teilen, als daß sie uns interessieren
+könnten«, erwiderte er steif.
+
+Wir sprachen dann von anderen Dingen.
+
+6. MAI. Besuch von Frau Karfunkel. Sie fragt mich, ob ich eine
+Revolutionärin sei, und ich bin im Augenblick zu müde, es zu wissen. Das
+Wort »gekrönte Republik« fällt mir ein, das kürzlich vor mir gefallen war.
+Mochte es herhalten. »Eine gekrönte Republik«, sage ich und gähne.
+
+Daß Frau Karfunkel mich kaum kannte, hinderte sie nicht, mir jetzt eine
+jener Szenen zu machen, die man wie ein Unwetter über sich ergehen läßt.
+Die Worte wie krasse Ignoranz gehörten zu den mildesten, die sie mir
+vorsetzte. Sollte ich ihr sagen, warum? ihr bekennen, in welchen Gedanken
+sie mich unterbrochen hatte? ihr den Grund jener mangelhaften Kenntnis
+eingestehen, die sie so richtig erraten hatte?
+
+Welchen Kriegsbericht hatte ich zu Ende gelesen? Von welcher Phase des
+Krieges mir auch nur einigermaßen ein Bild gemacht? Über die erdrückende
+Tatsache, daß er herrschte und kein Friede kommen konnte, sah ich nicht
+hinaus. Für seinen Verlauf, seine Geschichte blieb mein Interesse ungefähr.
+
+Was wollte die Frau bei mir?
+
+Sie hatte mich aus der Arbeit gerissen, und ich war froh um die
+Unterbrechung gewesen; so mühselig war die Pein, daß ihr Stigma sich den
+Schläfen aufdrückt, und daß sie einsinken wie zermürbt. Oder gleicht eine
+geistige Not der immerwährenden Welle vielleicht und die Schläfen dem
+Stein, der von ihr zernagt und bearbeitet wird? Von den Dingen selbst ist
+mein Verständnis so karg! Der Kommentar zu ihnen ist meine Sparte: ihn
+stets von neuem, zergliederter, ausgreifender zu formulieren, ist der
+Stachel, der mir keine Ruhe läßt, meine Einzelhaft mitten im Leben. Denn
+über die Vielfältigkeit unserer Wege hin, sehe ich die Einfältigkeit der
+Gefahr; die ewig selbe Fratze, die jeder edlen Bestrebung wie eine
+verruchte Karikatur noch immer auf dem Fuße folgte. So schmal, schwankend
+und immerzu gefährdet zieht unser Weg empor! Aber naiver als ein Soldat,
+der mitten im Treffen nicht weiß, wo er steht, führte der Mensch bisher
+seinen Kampf. Auch ihn trafen die Geschosse, ohne daß er sah, aus welchem
+Hinterhalt sie stammten, und von der unheimlichen Geschäftigkeit, mit
+welcher in den Niederungen sein Verderben betrieben wurde, merkte er nur
+das Resultat. Unermüdlich und nahezu ungestört dürfen die Untermenschen,
+von Herrschsucht besessen, in der Familie, dem Staat, der Gemeinde, der
+Partei ihre zersetzende Arbeit verrichten. Aus Tausenden von Schlagwörtern
+sind ihre Netze gewoben, der ganze ungeheure Nationalitätenschwindel hält
+seit Jahrhunderten den Zusammenschluß der Vollwertigen auf. Notsignale zu
+geben, bin ich hier. Unvernommen? Gleichviel! Ohnmächtig wie im Traum
+hinauszurufen: Richtet Wälle auf! Seht euch vor! Achtet der Stufen! Schützt
+eure Häuser! Mit unschuldiger Miene, ja mit dem Antlitz eines Engels
+vielleicht, kauert das Unheil an euerm Herd. Oh Brüder, Freunde, nehmt es
+nicht in eure Arme, wie ihr den Fuß nicht auf die sanft beschneite Stelle
+setzt, ihr hättet sie zuvor geprüft.
+
+»Ich glaube,« schreibt René Schickele, »daß der Sozialismus kommen muß mit
+einer großen, tiefen Flut von Licht, die alle Menschen durchdringt.«
+
+Und ich sehe, wie emsig die Schatten sich sammeln, welche danach dürsten,
+dies Licht zu verschlingen.
+
+8. MAI. Abigail klopft wieder an meine Türe. Er trägt sein breitestes
+Lächeln, reicht mir die Münchner Zeitungen und lacht noch stärker. Sie
+enthalten meinen Protest in der Telramundschen Übertragung, wahrscheinlich
+von ihm selbst eingesandt.
+
+»Und das sind die Leute, mit welchen Ihr Euch einlaßt«, brach ich aus. »Ihr
+seid mir schöne Richter!«
+
+Doch Abigail war in einer nicht zu verderbenden Laune. »Einigen wir uns,«
+sagte er, »mag er denn Telramund heißen, unter einer Bedingung, verlangen
+Sie nicht, daß wir Sie Elsa nennen.«
+
+Die »Pressestimmen« ließ er mir zum Geschenk. Ich las u. a., daß ich »ein
+hysterisches Weib von abgrundtiefer Gemeinheit sei«.
+
+9. MAI. Beim bayrischen Gesandten; er kannte mich von Kind auf. Er empfing
+mich. Aber der Verwirrtere, der Trostbedürftigere schien durchaus er. Es
+war bei ihm wie bei den Hähnen der modernen Waschtische, die gleichzeitig
+heißes und kaltes Wasser ausströmen: zwei Sprachen wie zwei Denkungsarten
+entflossen da immer zugleich: seine eigene und die anbefohlene.
+
+»Vous êtes déshonorée!« jammerte er.
+
+»So schlimm ist es nicht«, redete ich ihm zu. »Kommen Sie, lassen Sie Gras
+wachsen über die Geschichte.«
+
+»Gras? Da wächst kein Gras. Je vous supplie ne rentrez pas en Allemagne; on
+vous jettera dans les fers; je ne pourrai rien faire pour vous. Bleiben Sie
+um Gottes willen da.«
+
+»Ich bleibe schon da.«
+
+»Ja, bleiben Sie da. Was wollen Sie in München? Es ist ja alles verpreußt.
+Diese entsetzlichen Preußen haben uns ja alle aufgefressen. Ich bin der
+letzte Bayer.«
+
+»Ich auch.«
+
+»Sie sind gar nichts. Vous êtes une criminelle. Ce n'est pas moi, qui vous
+condamnerai, je suis votre ami. Vous êtes une criminelle«, unterbrach er
+sich laut. »Oh, so viel Phantasie zu haben und so wenig Verstand! Sie sind
+erledigt. Wir sind gefressen.«
+
+Damit entließ er mich.
+
+Daß dem alten Herrn der Krieg so über den Kopf wuchs, machte ihn mir nur
+sympathisch. Es wäre jedoch hartherzig gewesen, ihn praktisch in Anspruch
+zu nehmen. Ich hatte es gar nicht versucht.
+
+MITTE MAI. Gerade in diesen Tagen lud mich Frau v. Schreckenburg, ohne mich
+zu kennen, zu sich ein. Engländerin von Geburt, trug sie dabei den
+gefürchtetsten deutschen Namen. Ihr Mann, von dem die Franzosen sagten:
+»Heureusement qu'il n'en a pas l'air«, und die Engländer: »He is worth a
+better name«, stand an der Spitze der Gefangenenfürsorge. Durch seinen
+unzeitgemäßen Mangel jeglichen Strebertums fiel er gänzlich aus dem Rahmen.
+Still, unermüdlich und geschickt verrichtete er sein humanitäres Werk.
+
+Es nahte Felix Mottls Todestag. Ich wollte die Münchner erinnern, daß ich
+es nicht von ihnen verdiente, unvernommen und mit Knüppeln vor das Stadttor
+gewiesen zu werden, denn ich habe sie einmal vor einer großen Weltblamage
+bewahrt. Einige Redakteure waren damals meinetwegen geflogen, und ich hatte
+gesiegt. Waren solche Reminiszenzen angetan, den Herrn Chefredakteur zu
+rühren? Er sandte mir meine Eingabe, obwohl durch Schreckenburg
+übermittelt, mit dem Vermerk zurück, daß er sich für die Beiträge einer
+Hochverräterin heute wie fernerhin bedanke.
+
+An jenem Abend ging ich lange die beiden Brücken auf und nieder. Die
+Jungfrau hatte eine Schärpe übergeworfen. Ein kalter Wind trieb von den
+Gletschern herüber. Ich ging und ging. Es war wieder bei Fortunio viel von
+einem Zusammenschluß der Geistigen gesprochen worden, und wieder ließ
+keiner das Ausschließen seine Sorge sein. Was aber ging aus dem ungeheuren
+Trugwerk dieses Krieges hervor, wenn nicht der vollendete und riesenhafte
+Triumph des Sklaven über den Freien, wenn nicht die immer drohendere
+Forderung, uns selbst jenes letzte Gericht erstehen zu lassen, von dem
+geschrieben steht, daß es auf immer die Scheidung zwischen den Menschen,
+die guten Willens sind und den anderen bestimmen soll? Ja, nicht die große
+Einigung, den großen Bruch gilt es zuerst zustande zu bringen: die
+herrische und heilige Offensive der menschenwürdigen Menschen, gegen jene
+»Untermenschen«, welche Villiers de l'lle Adam als erster mit so großem
+Nachdruck kennzeichnete. Erst gilt es, jenen allzulange geduldeten
+Elementen das Stimmrecht zu entreißen. Sahen wir nicht alle großen und
+bahnbrechenden Ideen in Verwirrung ausarten, das Christentum selbst unter
+die Räder geraten und eine Sache um so sicherer verderben, je edler sie
+war, weil Unzulänglichkeit und Niedertracht das große Wort zu führen in der
+Lage sind; Solange diese Gattung ihre Gleichberechtigung behält, hat die
+Menschheit nichts zu hoffen. Sie wird wie ein Kranker sein, der sein Übel
+zu betäuben sucht, indem er sich auf seinem Schmerzenslager dreht und
+wendet, oder hochaufgerichtet nach Atem ringt, um doch nur eine
+illusorische Erleichterung zu finden. Sie wird alle Regierungsformen, eine
+nach der andern, erproben, und ob sie auch ihre Könige gegen Republiken
+eintauscht -- es werden doch nur falsche Republiken sein, und auch die
+Anarchie wird sich als nichts anderes herausstellen als einen Mißbrauch der
+Macht.
+
+Und wie könnte die einzig wirkliche Freiheit entstehen, wenn nicht durch
+die Knechtung desjenigen Pöbels, der allerorts alle Klassen, von den
+höchsten bis zu den sogenannten niedrigsten verheert. Hierarchien aber sind
+es ja gerade -- weniger rudimentär und kindisch nur als diejenigen, welche
+man sich aufoktroyieren ließ -- Hierarchien aber sind es, die auf neuer und
+gerechtfertigter Basis zu errichten sind: geben wir uns keinen Täuschungen
+hin: die Klasse der Könige, der Fürsten und Herren, ja der ganze Troß der
+kleinen Gentry sogar, er ist vorhanden (nur so anders!), und alle wahren
+Adelsbriefe, die sich in unendlichen Fluktuationen aus der menschlichen
+Würde ergeben, existieren auch. In allen Kreisen aber und durch alle Zeiten
+hindurch wurde die wahre Elite gepeinigt, geopfert oder zur Ohnmacht
+verdammt, weil urteilslose oder niedriggesinnte Elemente, die sich weder in
+Gleichheit, noch in Brüderlichkeit zu ihr verhalten, dasselbe Stimmrecht
+genießen.
+
+Man rede mir also nicht von Zusammenschlüssen, sondern vorerst von neuen
+Gesetzbüchern und neuen Statuten. Auf einen treibenden Sumpf, einer Welt
+wie sie ist, Ringmauern aufzurichten, daran glaube ich nicht. Wozu führte
+der vielgehegte voto pietoso Deutschland und Frankreich zu einigen? Statt
+der stolzesten aller Galleonen ein Wrack, beiden nahezu unnennbar geworden.
+Dieses Wrack ist mein eigenster Boden, ich verlasse ihn nicht. Die paar
+Einsichten aber, die mich sehr bestimmte Erfahrungen lehrten mit der
+Persistenz des Marktschreiers zu verkünden, ist mein Beruf.
+
+Ich lehnte über der Brücke von Kirchenfeld. Hat die Nacht ihre eigene
+Helle, daß sie uns die Dinge mit größerer Schärfe zeigt? Sie deckte jetzt
+den Fluß, der unten den Bergen zurauschte. Von den Häusern in der Tiefe, so
+eng geschart, fast ein Gerümpel, auf zartesten Säulenarkaden gehoben, und
+wie edel! leuchteten jetzt munter die tagsüber so verschlossenen Fenster.
+Wie wenig löste schließlich und endlich unsere zufällige Existenz von
+unserem wirklichen Wesen aus! Vielleicht war sie nur eine Jahreszeit
+unseres weitverästeten Seins. Wozu sich alterieren, redete ich mir zu, wozu
+die Hast, wozu die Ungeduld? -- Es wurde zuletzt ein Spazieren mit der
+Nacht, statt in die Nacht hinein, und ich war um eine größere Fassung,
+etwas mehr Gleichgültigkeit für meine persönlichen Geschicke aus allen
+Kräften bemüht.
+
+
+
+
+Zweiter Teil.
+
+
+Sie sah bezaubernd aus; ihre Achseln schienen der Ansatz zu Flügeln, und da
+sie sozusagen zwischen zwei Fingern hochzuheben war, nannten wir sie mit
+Fortunio das Zirkuspferdchen oder der Seidenaff. Wenn sie ernst zu sein
+wünschte, waren wir grausam genug, sie auszulachen, doch nicht, um sie zu
+verspotten, sondern weil ihr alles so gut stand. Ihr Gatte war San
+Cividale, der Longobarde, wir hatten uns angefreundet, und es wurde ein
+richtiger Anschluß.
+
+Von den Ärzten ins Bad geschickt, depeschierte mir der Seidenaff aus
+Rheinfelden, und nie kam eine Einladung gerufener. Ich suchte einen Mieter
+für meine Zimmer und hatte ihn schnell. Bern war mir verleidet, ich hatte
+dort vieles zu vergessen, Geldsorgen besaß ich auch. Nur die
+Mozartaufführungen, welche unter Richard Straußens Leitung bevorstanden,
+wartete ich noch ab. Sein schöpferisches Erschöpfen eines Werkes ist
+sicherlich ein neues und interessantes Moment in der Kunst des Dirigierens.
+Einem Don Juan, der ein großer Erfolg war, folgte jedoch eine Zauberflöte,
+welche einige Kritik hervorrief; mich entzückte letztere weit mehr, so
+zwar, daß sie einem ersten Eindruck gleichkam. Strauß hatte eine Pamina
+mitgebracht, welche gesanglich und darstellerisch und durch eine merkwürdig
+schöne Erscheinung der Partie so wohl entsprach, daß Symbolik wie Illusion
+des Fabelreiches durchweg bestanden, bis der Vorhang vor dieser besseren
+und geordneteren Welt endgültig fiel. Was bedeuteten Regiestörungen (tags
+darauf hieß es, sie sei einem Engländer zu danken, der sich zu diesem Zweck
+als Maschinist für den Abend verdingte) vor dem unvergleichlich hohen
+Niveau dieser Vorstellung?
+
+Am lautesten wurde am Schluß von jener Sorte Deutscher Beifall gespendet,
+welche ihren schimpflichen Spitznamen so recht aus dem vollen verdienten.
+Diese wandelnden Erreger des Deutschenhasses gingen mit dem deutlichen
+Gepräge von Leuten einher, welche zwar rechneten und berechneten, aber
+nicht mehr dachten, dafür seit einer Generation zuviel gegessen hatten. Sie
+waren die Regisseure und Leugner des großen Kindersterbens, das jetzt in
+ihrem Lande hinter den Kulissen um sich griff, und Scharen Deutscher,
+würdig dieses Namens und liebenswert, gingen um jener Boches willen
+zugrunde. Doppelt verrucht erschienen sie im Lichte der eben erfolgten
+herrlichen Darbietung. Ich ersticke! sagte ich zu Fortunio, denn ein Knäuel
+dieser wohlbestallten Patrioten schlenkerte vor uns über den Platz. Auch im
+Dunkeln sah man ihnen an, daß sie jetzt schmausen gingen.
+
+ * * * * *
+
+
+Rheinfelden.
+
+21. JUNI. Mußte da dicht vor meinem Fenster hochgewölbt der Rhein
+vorüberrauschen? Eine Brücke mit Schilderhäuschen in der Mitte legt schon
+im Badischen an; freudlos, wie mit erblindeten Scheiben, sehen von dort die
+Häuser herüber.
+
+Heiterer war der Park. Wir lagen in Korbstühlen und schwatzten. Doch
+Erinnerungen kamen nicht zur Ruhe. Aufgescheuchten Vögeln gleich schwirrten
+sie hierher und dorthin und kehrten zurück . . . Der Sommer war im Land.
+Das Schlößchen der schönen Marguerite, das selbst mitten im Kriege
+Zauberkreise zog, wartete unser, und die Schwalben nisteten längst im
+flachen Strohhut, der in der Halle von der Decke hing. Jetzt standen auch
+ihre Koffer gepackt; . . . es türmten sich wohlgefaltet ihre schönen
+Kleider . . . Die Unrast der Verbannten trieb mich aus dem Park ins
+Städtchen hinunter, wo von der viereckigen Plattform des Turmes aus die
+Störche ins Blaue steuerten. Was gab es schöneres wie ihren Flug? Klein
+erschien mir die Schweiz. Wie ein herrlicher, aber für mich nach allen
+Seiten hin verbarrikadierter Garten. Ich ging den Weg zurück, der ganz
+umwachsen unter Bäumen führt. Wer nicht wollte, brauchte weder Fluß noch
+Land zu sehen. Im Hotel aber lag eine Depesche für mich. Ich floh entsetzt
+auf mein Zimmer. Die Freundin war tot. Mochte das Schlößchen am Berg Tür
+und Tor sperrangelweit offen halten und warten, solange es stand, ins Leere
+starrte fortan sein breitschrötiges Türmchen. Sie zog die Straße nie mehr
+herauf, kutschierte nie mehr aufmerksamen Auges ihr Wägelchen in den Wald.
+Fort von Rheinfelden, dachte ich, nur fort!
+
+Es traf sich, daß die Kur nahezu beendet war. Wir fuhren nach Wengen. Der
+Seidenaff durfte nicht steigen, ich kletterte drauflos. Hier waren alle
+Höhen zur Hand. Hinter der kleinen Scheidegg setzten sie von neuem ein. In
+weiten Senkungen kreiste ein Tal. Ich saß in einer Nische aus Fels und
+Gras, die Füße hingen ins Leere.
+
+Plötzlich, wie auf einen geheimnisvollen Anruf, ein lauter Stoß, ein
+Gegenruf des Herzens. Denn es hat ja Arme, ich sagte es schon, und Flügel,
+schwerausgebreitete und leichte, es hat sein geheimnisvolles Dasein für
+sich allein. Vom Tode weiß es so wenig wie wir, nur dies hat es erkundet:
+daß, wenn er uns nicht austilgt, der Lebende dem Toten zu Anfang mehr sein
+kann, als dieser ihm. Dann wäre unser Eingedenken der Halt vielleicht, an
+dem er seine ersten Schritte geht, und unsere Trauer sein Gewand.
+
+Es war für die Verstorbene ein Gedenkbuch geplant, und ich hatte
+versprochen, mich daran zu beteiligen.
+
+Mag es noch so mannigfache Welten geben, sicherlich gebietet über alle eine
+einzige Natur, ein allmähliches Sprießen, eine Reife, von trüben Himmeln
+die sie aufzuhalten scheinen nur gezeitigt. Vor allen Dingen aber jenes
+letzte und sehr tragische Zurückbleiben des Erreichten hinter dem
+Gewollten. Wie ein letzter Same, der sich wieder in die Erde senkt, um
+einer nächsten Ernte zu gedeihen.
+
+Ich schrieb auf meinem hohen Sitz angesichts des kelchartigen Tales mit den
+sanftanschwellenden Rändern. Die Sonne war gestiegen. Wie ein zieres Band
+umschlang ein Pfad den ganzen Berg und lockte mich unwiderstehlich in die
+Höhe. So kam ich zu einem kleinen Gasthaus und stapfte dann auf die Spitze
+des »Männlichen« hinauf. Dort fing sich der Wind und wehte kreuz und quer;
+dann aber stürzte ein Steig, schmal wie ein Strich, so pfeilartig hinab,
+daß man, von einem Taumel erfaßt, zu rennen anfing und zu fliegen
+verlangte. Von dem Tempo erfaßt, das von hier oben gesehen, die Jungfrau
+entfaltete, die mit mächtiger Schulter die ganze Kette der Alpen mit sich
+riß. Unglaublich schnell griffen jetzt die Schatten in dem verströmenden
+Gold dieses Tages um sich; schon profilierte sich diese oder jene
+Bergeskante zu einem grotesken, dort zu einem erhabenen Riesenhaupt,
+schlafend, offenen Mundes zurückgeworfen, oder wie entseelt mit
+beschneiten, eingesunkenen Schläfen zur Seite gekehrt, die Luft darüber wie
+ein unendliches Gewölbe.
+
+Auch manche Felsenburg tat jetzt entbrannte Zacken auf; kurz, eine andere
+Welt als die des Tages stand schon gerüstet. Plötzlich hielten mich
+zwischen zwei scharf vorspringenden Felsen zahllose Schafe auf, die mächtig
+wie ein Volk auf halber Höhe den Berg belagerten. Mit ihnen zog eine Anzahl
+Widder, die innehielten, als sie mich kommen sahen, und mich aufmerksam,
+wenn auch stolz, betrachteten. Nirgends ein Hirt zu sehen, als wären sie
+die Führer. Ihre geschneckten Hörner abwartend mir zugekehrt, versperrten
+sie den Weg. Um weiterzukommen, mußte ich halb quer hindurch, halb mit der
+Herde laufen. Eine überwältigende Ruhe, ja ein Glück ging von ihr aus, daß
+man, am liebsten auf vieren gestellt, eins mit ihr geworden wäre.
+
+Der Weg nahm gar kein Ende. Meine Schuhe gingen in Stücke. Meine Füße waren
+zerschunden. Schwer hinkend erreichte ich endlich das schon a giorno
+beleuchtete Wengen. Aus der Halle des Hotels trat der Seidenaff im
+Tuchbrokat von silberigem Weiß, hoch mit Zobel verbrämt. Doch der Jugend
+kommt alles zugute; kostbare Gewänder unterstreichen sie nur. Die leichte
+Gestalt wird durch den schweren Staat gehoben, nicht gedrückt. Lang und
+gewichtig hing die Perlenschnur herab. Das Haar war braun. Gerade seinem
+weichen Schimmer schmeichelte die Härte des diamantenen Reifs. In
+Treibhäusern wird heute die gefüllte, immer gefülltere Nelke gezogen. Mit
+solchen gefüllten Nelkenaugen, gut und klug, doch fern dem Ziele, blickte
+der Seidenaff.
+
+Tags darauf fuhren wir zu Tale, San Cividale, dem Longobarden entgegen.
+Fortunios schrieben aus Beatenberg, wo ich mich denn herumtriebe, und fürs
+erste blieb ich jetzt in Interlaken, um meinen Nachruf zu beenden. Da mir
+keine Seele des Ortes bekannt war, verbrachte ich meine Tage ohne zu
+sprechen, und schon lebte ich eingesponnen und wie unter Glas, als die
+Lektüre eines Zeitungsartikels mich ganz aus der Stimmung riß. Es war ein
+Aufruf von Andreas Latzko, der wesentlich aus Vorwürfen, und zwar sehr
+berechtigten Vorwürfen an die Frauen bestand. Nun haben diese ja im Kriege
+versagt und die härtesten Dinge zu hören verdient, doch nur ihnen selbst
+kann es zustehen, sie zu äußern, dem Manne heute mit keinem Wort. Ihre
+Unzulänglichkeiten sind sein Werk, von ihm gezüchtet und beabsichtigt,
+selbst sein Überdruß an ihr war als Triumphgasse für seine Eitelkeit
+gedacht, was er vollends ihre Ungleichheit nannte, war seine Politik. Wie
+stark seine Krone zerzaust ist, ahnen beide noch nicht. Die »Penalty of the
+war«, von der soviel die Rede ist, wird noch eine ganz andere sein, als man
+im allgemeinen glaubt. Die Frau wird ihre Chance haben. Mag der Mann noch
+auf Jahrhunderte das Überragende leisten, ihr Aufstieg wird sich
+unaufhaltsam als eine Folgeerscheinung seines Bankrotts vollziehen. Bilder
+schwebten mir vor . . . . war sie nicht schon im Begriff, mit jedem
+Jahrgang schöner, individueller zu werden? Erhob sich ihre Gestalt nicht
+freier, knabenhafter, mehr auf sich selbst gestellt, von Jahr zu Jahr?
+
+Schlimmstenfalls konnte ihr Regime zu keinem ärgeren Chaos führen, als das,
+welches wir unter der ausschließlichen Führerschaft der Männer und ihrer
+Gesetzbücher erleben. Oh diese Gesetzbücher! Sie forderten, daß man vom Tag
+eines Krieges an nurmehr mit seinem Vater verwandt sei.
+
+In meiner Aufregung, meiner Bedrücktheit, lief ich in der Mittagshitze den
+Brienzer See entlang, bis zur Erschöpfung. Und mit einem Male wurde mir das
+Karthäuserschweigen viel zu viel; da zudem schwere Regentage einsetzten,
+brach ich auf und fuhr nach Beatenberg.
+
+
+Beatenberg.
+
+AUGUST. Ich wohnte eine halbe Stunde von Fortunios entfernt, und mein Hotel
+stand zu Anfang der breiten Straße, die über tausend Meter hoch ganz eben
+dahinläuft, den großen Rat der Gletscher stets im Angesicht. Wie zu einer
+Riesenpolonäse aufgestellt, schienen sie, je nach der Beleuchtung,
+zurückzutreten oder loszuschreiten bereit. Nur der Regen sprengte den Bund.
+Dann verschwand jeder einzeln in seinem Zelt und wußte nichts mehr vom
+andern. Wusch sich aber nachts der Himmel wieder rein, so hielt beim
+Morgengrauen die Jungfrau entgeistert Cercle, als harre sie nur des
+Zauberrufes, um der Sonne bei ihrem ersten Strahl ekstatisch
+entgegenzutanzen. Leider kam auch hier die Arbeit nicht in Fluß; das sehr
+geräuschvolle Haus bot keine Möglichkeit, sich abzusondern. Unmittelbar
+daran grenzte der Wald und führte sogleich sehr steil ins Weglose hinab.
+Und hier nun entdeckte ich eines Morgens, ganz hinter Tannen versteckt und
+der Tiefe zugewandt, ein kleines, verlassenes Blockhaus. Ich rannte ins
+Hotel zurück, forschte nach dem Schlüssel und erlangte ihn. So gehörte das
+Chalet mir, da ich es beziehen durfte. Den Schlüssel ans Herz gedrückt,
+eilte ich zurück. Im Raum des Erdgeschosses verbrachte ich nun meine Tage.
+Die Läden blieben herabgelassen. Nur durch die Türe, die ins Freie führte,
+drang das Licht; auch die Bäume hielten es auf. Nur Tannen, Wald und Moos
+und keine Aussicht außer sie. Hier hatte man vor den ewigen Gletschern Ruh.
+Und keinen Laut als den der Vögel.
+
+Oh Sommersmitte! Oh göttlicher Augenblick des Innehaltens, du ohne Zeitmaß,
+ohne Intervall, mitten ins Jahr gesetzter Orgelpunkt!
+
+Groß aber blieb die Not der unterbrochenen Arbeit.
+
+Zwischen Tür und Fenster lief eine Ruhebank mit daraufgeschütteten Kissen
+die Bretterwand entlang. Ich warf mich hin; ächzend. Es roch nach Tannen,
+Blumen, des Morgens im Walde gepflückt, hingen schon ermattet im Glase. In
+diese holde Schwüle tanzte ein geflammter Schmetterling herein. Mein
+rechter Arm hing herab, ich war zu lässig, ihn zu heben. Vor Wonne fielen
+mir die Augen zu. Hält die Einsamkeit der Gemeinschaft Letztes, die wir
+Lebende ersehen? Was war geschehen? Verloren blickte ich auf. Der Falter?
+War er als Bote hereingeflogen? -- Wer war gegangen? --
+
+Flüchtig ist kein Wort. Und doch . . Von welcher Gegenwart und welch
+durchdringendem Ton vibrierte nunmehr auf immer die Luft dieser Hütte? War
+sie, deren Bild ich festzuhalten suchte, ein Elf? Denn der Griff einer Hand
+von elfenhafter Feinheit hatte deutlich die meinige erfaßt. In
+unbeschreiblicher Rührung hob ich den Arm, sprang auf, saß wieder vor dem
+Tisch, das Gesicht in den Händen vergraben, und fuhr nun endlich wie in
+einen Schacht tief in meine Arbeit ein.
+
+Da fiel ein Schatten -- jemand trat unter die Türe. Es war Fortunio. Ich
+stieß einen Schrei aus, als sei er ein Gespenst, und fühlte Nervenstränge,
+deren Vorhandensein mir jetzt erst zum Bewußtsein kamen, zerreißen. »Wissen
+Sie, wie spät es ist?« lachte er. Seltsam. Sogar seine Stimme erfüllte den
+Raum mit Schrecken. Das Ganze war zu arg, es zu erörtern. So machte ich
+mich denn bereit, das Chalet zu verlassen, warf aber, die Türe
+abschließend, noch einen Blick zur Ruhebank zurück, zum Tisch mit den
+Blumen im Glase, zu diesen Wänden, in welchen ich eins geworden war mit der
+Luft und der Seele dieses Tages.
+
+Was war noch immer kurzatmiger als wie mein Flug? Nicht von Schwingen
+durfte da die Rede sein, die ausgebreitet und aus eigener Kraft die Höhen
+beherrschen und sie behalten. Eher einer Rakete vergleichbar, die, wenn das
+Glück es will, emporschnellt und höher! höher! ruft, weil sie doch gleich
+verstiebt. Da ist es Pech natürlich, wenn man sie herunterholt.
+
+Wir gingen nun zum Hotel hinauf und setzten uns auf die Veranda. In der
+Tat, der Abend war sehr vorgeschritten. Beschaulich hing Fortunio an der
+Gegend. Die eben noch umglühten Gletscher traten jetzt, als sei die Sonne
+auf immer von ihnen geschieden, von Blässe wie erschöpft, zurück. Welch ein
+Tag! -- Und schon faßte mich Grauen bei dem Gedanken, ihn einsam
+beschließen zu müssen oder ins Chalet zurückzugehen. Stand es noch? War's
+nicht versunken? Oder nur erträumt? So zog ich denn mit Fortunio die lange
+Bergstraße zurück. Endlos dehnte sich hier der Ort. Ganze Strecken zeigte
+sich kein Haus. Und siehe, schon herrschte der Mond. In seiner ganzen Fülle
+und unerschöpflich überfließend, umschlang er streitsüchtig jeden Schatten
+und brachte seine Schwärze ans Licht, kroch unter jeden Baum, durchquillte
+alle Wälder und stieg und stieg in immer geharnischterem Glanz, bis eine
+trunkene Erde, von ihm umsponnen und ganz mit ihm vermählt, mit allen
+Pulsen zum Himmel schlug. Voll Entzücken hatte sich die Jungfrau
+aufgerichtet -- Mönch und Eiger an der Hand, loszutanzen bereit.
+
+ * * * * *
+
+Tags darauf fuhren San Cividale, der Longobarde und der Seidenaff die
+steile Höhe herauf. Von weitem schwang sie als Erkennungszeichen ihren
+Schirm rundum. Jungfer und Kofferbestände hatte sie unten gelassen und trug
+eine äußerst gerissene Sportjacke, in der ihre Figur zu zergehen schien,
+und eine zwischen mausgrau und mauve spielende Hemdbluse aus japanischer
+Seide, deren perfide kleine Männerkrawatte das ultrafeminine ihres
+Gesichtes zu letzter Wirkung erhob. Die gefüllten Nelkenaugen, die das
+alles sehr wohl wußten, blickten unbeteiligt flüchtig und beschattet. Es
+war nur ein kurzer Besuch. Das Bähnchen trug sie bald wieder davon. Und mit
+einem Male waren mir diese ewig hingerissenen Gletscher, die nie
+marschierten, verleidet. Herrlich in der Tat war auch der Mantel der
+Vorberge, der in so tiefen Falten über sie hinschlug, und herrlich war's,
+wie er -- von oben gesehen -- den See nachschleifte, gleich einem
+köstlichen Saum. Beseelter aber blickte dennoch das Gebirge am Säntis, Jura
+oder Engadin, als in dem gewaltigen und dekorativen, aber fast überall
+stark abgekehrten Oberland. Ich sehnte mich nach mehr brüderlichen Weiten,
+und sehr plötzlich, ohne das Chalet wieder betreten zu haben, fuhr ich
+hinab. In Spiez schrieb ich meinen Nachruf ins reine.
+
+
+Marguerite Kühlmann.
+
+An den Kreis ihrer engsten Freunde wende ich mich, sie, die zu ihr standen
+wie die Strahlen der Sternblume, deren Name sie trug; denn so hingen sie
+ihr an, und so faßt sie nunmehr die gemeinsame Klage zusammen. Wie
+beneidenswert sind sie gewesen! --
+
+Nicht, als seien sie sich dessen zu spät bewußt. Hier trifft sie kein
+Vorwurf. Vielmehr hegten sie ihr Wissen um das Werden dieser bedeutsamen
+und seltenen Gestalt, die von ihrem schönen und guten Wesen so viel weniger
+genießen durfte, als der gleichsam von ihr ausgestrahlte Kreis, dem sie es
+zuwandte. Denn wieviel Sonne war in ihr verwoben, und wie beschattet ging
+sie doch! Unter der rhythmischen und unzerstörbaren Ruhe ihrer Bewegungen
+welch unaufhaltsames Vorwärtsschreiten! Wer hat sie je hastig gesehen? Und
+doch welch ahnungsvolle Eile, sich zu erfüllen!
+
+Geistigen Dingen zugewandte Menschen finden sich gewiß nicht selten; der
+Maler und Musiker, auch der Liebhaber der Künste sind viele. Aber wie
+wenige gibt es, die auf das Schöne selbst Anziehungskraft besitzen, so daß
+es wie auf mystischen Ruderschlägen ihrer Atmosphäre zugeführt, immer mehr
+Natur und Element bei ihnen wird, und tatsächlich eine Art von
+Wechselwirkung sich ergibt.
+
+So aber war das Schöne -- wie ein Meister an seinem Marmor -- bei ihr am
+Werk. So umhing es ihre Erscheinung, so meißelte es an ihren Zügen und hob
+sie zu letzter Vollkommenheit der Linien und des Ausdrucks. Unsere Herzen
+sind wund von der Erinnerung ihrer Hände, so schwebend, einsam und
+gesammelt, verklungen, auch sie mit der weiten Melodie ihres Seins.
+
+Den wahren Hintergrund zu ihrem Bilde aber stellt einzig jene offene und
+merkwürdige Gegend, in der sie sich so heimisch fühlte, weil sie ihr glich.
+Dort, wo ihr kleiner Landsitz hart an der dunkeln Bergwand lehnte, von
+Mauern lang umfriedet, vor dem Tor die hohe Linde schon den Bergfluß
+überhing, und sein Gestein, und schon wie vor den Almen leere Bergwiesen
+ansteigen, auf welchen die Kühe bis hin zu den nahen Wäldern weiden; und
+diese sind wenig begangen, schwer verträumt und düster fast, weil hier
+sogleich das Hochgebirge seinen feierlichen Zug beginnt.
+
+Doch öffnete man das Tor zum Hause, ach! Wie rauschte es da von den
+kunstvollen Brunnen und den Fontänen, in welcher Fülle zogen sich die
+Blumenreihen hochaufgerichtet durch den Garten hin! Und die Ebene ist's,
+nach welcher dieser steile Garten niederfällt, und schaut: auf halber Höhe,
+wie zur Freude hingemalt, der Kirchturm von Murnau, links die ersten Berge,
+ansehnlich, aber noch vereinzelt, sanft umrissene Präludien des Gebirges.
+Nach Osten aber, wo sich anstatt der Mauer die lange Wandelbahn und
+hölzerne Gartenzimmer nachsommerlich hindehnen, wölbt sich als Abschluß der
+finstere Berg.
+
+Hier waltete sie im lichten Kleide inmitten ihrer Blumen, wenn in der Ferne
+ein goldener Sonnenstaub den Tag begrub, oder sie sah wartend nach dem
+Mond, der so plötzlich hinter dem schwarzen Grat aufging und dann sogleich
+alle Grotten und Beete übergoß, und nur die finstere Bergwand noch
+finsterer beließ. Und auf erhöhtem Stande der Apfelbaum, wie sie ihn
+zeichnete, mit den Windlaternen bunt über dem Tische wehend!
+
+Hier fühlte sie sich heimisch, hier drang das Lachen ihrer Kinder immer bis
+zu ihr, und die Schwalben zogen durch die Fenster unermüdlich ein und aus.
+Und drinnen der Tisch vor den breiten Scheiben, ach Freunde: vor dem sie
+saß -- niemals müßig --, lesend oder malend, oder eine jener kunstvollen
+Arbeiten zur Hand, mit welchen dieses Haus geschmückt ist, dessen Bau,
+dessen edle Räume wie für sie erdacht, durch ihre eigene Anmut etwas so
+Zauberhaftes wurden, daß sie durch ihren Tod für uns verschüttet liegen.
+Die Türen, ach, durch die sie trat.
+
+Doch jenseits der Vorberge, in einer versteinerten Welt, ganz klein und auf
+unwahrscheinlicher Höhe steht die Jagdhütte, an deren winzigen Fenstern sie
+die rot- und weißgewürfelten Gardinchen hing; sie liebte das Frohe. Ganz
+dem Schauen hingegeben, lief sie dort die Kanten der Berge entlang, denn
+das einzig Verweilende an ihr, von allem Persönlichen unmittelbar
+Losgelöste war ihr Auge. Bald lockten sie die Höhen, bald die Weite und das
+Moor, oder sie stellte dort ihren Malstuhl auf, wo der kleine, von der
+Abendsonne warm getönte Fluß so rasch den gemiedenen und immer trauernden
+Hügel umfließt.
+
+Diese reichhaltige Landschaft, die sich wie ein Fächer dem Auge entfaltet
+und verschließt, glich ihr so ganz, daß für uns, die sie dort sahen, ihr
+Bild wie eingetragen bleibt in diese Gegend.
+
+Nicht auf Festen schwebt es uns vor, deren Glanz das sanfte Feuer ihrer
+Schönheit so sehr erhöhte, und nicht in großen Städten, weder in Paris,
+dessen geistiges und künstlerisches Leben ihr so nahe ging, noch in London,
+wo sie gefeiert und bewundert wurde. Denn in ihr hatte Deutschland eine so
+liebenswürdige und seltene Vertreterin gefunden, daß die Sympathien, welche
+sie sich erwarb, durch die Ereignisse nur verstummten, aber nicht verloren
+gingen. Denn weit über die Gräben hin, welche die Nationen voneinander
+trennten, klang ein Echo der Trauer über die Kunde ihres Todes herüber.
+
+Es mag ja sein, daß ihre großen Erfolge im Ausland ihr um so neidloser
+zugestanden wurden, als man sah, welch flüchtigen Gast sie krönten. Denn
+ehe man sich's versah, lagen ihre viel bewunderten Kleider in Kisten
+wohlverpackt, und sie selbst stand am Perron, Sehnsucht im Auge, um nach
+ihrem geliebten Ohlstadt zurückzufahren. Sie erzählte noch im letzten
+Sommer ihres Lebens, sie habe mit Freudentränen um sich her geschaut, als
+sie den »Raunerhof« zum ersten Male und zugleich als ihr Eigentum
+besichtigte.
+
+So nah berührte sie der Ort.
+
+Es waren pantheistische Anklänge in ihr, die man nicht überhören durfte, um
+sie zu kennen.
+
+Denn so edler Natur war die zu weite Spannung ihres Wesens, die eine Lücke
+ließ zwischen dem Leben und ihr. Ein suchendes, verlorenes Etwas fand hier
+seine Brandung, und was Wunder, daß sich ihr Blick, allen Sicherungen zum
+Trotz, so häufig aus dem Alltag, wie aus einem zu engen Hause stahl.
+
+Und kannte ihn doch kaum.
+
+Seine immer neu sich bereitende Unsicherheit, böse und gefährlich wie die
+Gärungen der Gletscher, seine Verweigerungen, seine Öde erfuhr sie nicht.
+Ja, sie blieb von einer zu deutlichen Kenntnis dieser Welt bewahrt; ob sie
+es merkte oder nicht, ihr Kontakt mit ihr war immer umgeschaltet, ja sie
+war geschützt. Aber wir wissen heute, warum die so innig Umringte dennoch
+einsam und beschattet ging, als sei alles vergebens; was dies heimliche,
+innere Versagen und ihre unrobuste Art bedeutete. Denn wir wissen nicht,
+was sich in denjenigen bereitet, die inmitten ihrer Jugend von den Höhen
+des Lebens weg, einzeln und jäh zu den Toren des Todes hintreten und in
+seine Verlassenheit gehen. Keine letzte Verklärung, kein noch so sanftes
+Verlöschen nimmt einem solchen Los etwas von seiner Schwere.
+
+Ach die besten Freundesherzen sind noch zu träge! Allzu leichten Sinnes
+nahmen wir das schöne Geschenk ihrer Gegenwart hin und bedachten die
+deutlichen Merkmale eines frühen Scheidens an ihr nicht. --
+
+Wer hat nicht jene Flugzeuge gesehen, die als dünner Korb, nur durch Taue
+einem Riesenball verbunden, ganz ohne Geknatter vorüberschweben? Ein
+Windhauch streift die von ihm Getragenen. Je höher sie sich steigen sehen,
+desto langsamer dünkt ihnen sein Flug. Da zieht vielleicht eine Wolke
+vorüber, von einer schwarzen Kugel pfeilschnell durchzuckt und alsbald
+überflogen, die nichts anderes war, als der Schatten des Balles, der
+unbewegt und still wie eine Ampel in der Luft zu hängen schien.
+
+Dies aber war bei stillem und oft schwer verträumtem Wesen das Tempo ihres
+inneren Werdens; mit so verzehrender Eile durchmaß sie ihre Bahn, und nur
+wer ganz zuletzt in ihrem Umkreis lebte, vermöchte auch das Letzte über sie
+zu sagen. Denn immer merkwürdiger und geschlossener wurde die Harmonie
+dieser, vom Dianenhaften so getragenen Gestalt. Nur tragischen Naturen aber
+ist es gegeben, sich zu erfüllen. Die Norm ringt sich vom Fragmentarischen
+nicht los.
+
+Oh Marguerite! Daß meine Worte sich aufrichten dürften wie Säulen, und daß
+sie sich zusammenschlössen dir eine Stätte zu bilden des Innehaltens und
+der Rast, wo du -- staunend vielleicht, doch ohne Gram -- zurückblicktest
+auf dein Leben; oh daß es zwischen seinen Ufern an dir vorüberzöge und dein
+sinnendes Auge so darauf verweilte, wie einst in deinem Garten auf das
+Getürme der Wolken im verglühenden Tag.
+
+ * * * * *
+
+SEPTEMBER. Meine Zimmer waren zum Glück bis in den Oktober hinein
+vermietet, und ich trieb mich bald hier, bald dort herum, bald in Zürich,
+bald in Luzern, in Montreux oder Genf, nur nicht in Bern.
+
+Die Ära Kühlmann war ein Grund mehr, es zu meiden. Man erinnerte sich
+prompt, daß ich in London in seinem Hause verkehrt hatte, und meine
+Stellung gestaltete sich noch um ein Stückchen schiefer. Ich hatte jetzt zu
+schreiben wie ein Minister, und es regnete Briefe. Sie betrafen zumeist
+Todesurteile, Deportationen, versprengte französische oder belgische
+Kinder. Dabei hielten jetzt die Zensuren meine Korrespondenz scharf im
+Auge; die harmloseste Post aus Deutschland erreichte mich erst in vier,
+Expreßbriefe erst in sechs Wochen. Um an Kühlmann zu schreiben, mußte ich
+schon seinetwegen den Umweg über die Gesandtschaft wählen. Meist wandte ich
+mich an Schreckenburg oder an den Grafen Carry. Zu Anfang ging's. Zwei
+junge Belgierinnen hatten ihren eigenen Landsleuten Warnungen zukommen
+lassen; dafür sollte die eine erschossen werden. Kühlmann erreichte
+ziemlich rasch eine Rückgängigmachung des Urteils. Auch eine kranke Dame
+aus Cambrai brachte er noch über die Grenze. Als ich aber wegen der Familie
+des Professors von L.-P. bestürmt wurde, die Frau und fünf Kinder, (der
+älteste Sohn im deportationsfähigen Alter[1]), in die Schweiz zu retten,
+schickte mir Kühlmann ohne Kommentar den Zettel, auf welchem die hohe
+Militärbehörde eine Bewilligung seines Gesuches kurz und bündig
+verweigerte. Auch ohne dies -- acht Tage nach seiner Ernennung -- wußte ich
+ihn verloren.
+
+[Fußnote 1: Als ich das erstemal in der Schweiz war, gab mir Aramis ein
+Dossier über die Deportationen, von deren Einzelheiten ich noch keine
+Ahnung hatte. Wer die französische Familie kennt, und weiß, wie sehr sie
+ihre Töchter hegt und hütet, der sah hier wahre Abgründe des Hasses und der
+Rachgier bereiten. Ich fuhr damals von Bern direkt nach Berlin, kannte aber
+von den Ministern jener Tage nur Solf, und auch diesen nur ganz flüchtig.
+Ihn bat ich in einem aufgeregten Brief um eine sofortige Unterredung. Er
+war gerade an einer Angina erkrankt und empfing mich zu Bett mit einem
+hochroten Gesicht, Eisbeutel auf dem Kopf. Am Fenster, mit dem Rücken gegen
+das Licht, stand ein Oberst. Ich kramte nun die Notizen hervor, die ich vor
+der Grenzüberschreitung in den Bodensee geworfen, und zwischen Lindau und
+Kempten wieder ins reine geschrieben hatte; der Oberst sprach die
+Befürchtung aus, daß sie der Wahrheit nur allzusehr entsprachen.
+
+Mit Hilfe dieses militärischen Freundes setzte Solf, obwohl gerade damals
+grimmig von den Alldeutschen angefeindet eine enquete durch. Und schon
+glaubte ich die Partie gewonnen und das Handwerk der Herren Ludendorff und
+Konsorten gelegt. Denn wirklich konnten Tausende von Frauen damals nach
+Hause zurück, und in ihrer ärgsten Form wurde die Methode eingedämmt. Aber
+das Hauptquartier war noch Trumpf. Meine Darstellungen, so hieß es, seien
+nicht nur die hellste Übertreibung gewesen, oh nein! sondern die
+deportierten Töchter wären sehr erfreut, sich dem öden Einerlei ihres
+untätigen Lebens entzogen zu sehen; man gewann richtig den Eindruck, als
+müßte es für ein junges Mädchen von guter Familie geradezu eine Lust sein,
+deportiert zu werden, und nur eine Bagatelle für die Eltern, ihre Kinder --
+manches Mal auf Nimmerwiedersehen -- aus ihrem Hause gerissen zu sehen,
+ohne die Möglichkeit von ihnen zu hören und ohne zu wissen, wohin man sie
+führte. Soll die Axt nie begraben werden? -- Eine Versöhnung der beiden
+Nationen ist eine so große Notwendigkeit, daß schon aus praktischen Gründen
+nicht immer einseitig nur über das erlittene Unrecht Buch geführt werden
+sollte. Und es ist für die Deutschen die große Gelegenheit gekommen! Heute,
+wo der französische Militarismus seine Stunde begeht, haben sie nur ein
+Mittel, Frankreich von seiner Rachepolitik abzubringen, indem sie -- statt
+wiederum von Rache zu reden -- es zu fühlen geben, daß sie beklagen, es zu
+dieser Rachepolitik so schwer gereizt zu haben.]
+
+Ich muß hier bis in den Londoner Sommer 1913 zurückgreifen, und zwar bis zu
+dem Abend meiner Abreise nach Irland. Kühlmann war damals jener Pläne stolz
+und froh, welche ein Jahr später in der von ihm inspirierten Broschüre
+»Weltpolitik ohne Krieg« ihren Ausdruck fanden. Ich erinnere mich jenes
+Besuches noch sehr genau; die Teemaschine sang, wir besahen einige Bilder,
+und dann fuhr mein Zug, der um Mitternacht die Küste erreichte. Alle
+Kabinen des Schiffes jedoch waren besetzt, und ich hatte vergessen, eine zu
+reservieren. So blieb nur der große Schiffsalon, wo ein freundlicher
+Steward mir in den tiefen Ecken des die Wände entlanglaufenden Sofas ein
+herrliches Lager bereitete. Der Länge nach ausgestreckt, hatte ich auf
+diese Weise eine Riesenkabine für mich allein und konnte mich vor Freude
+gar nicht beruhigen. In meine lange Lederschaukel tief hineingebettet wie
+in eine Muschel, hoch hinauf und hinunter schwingend mit dem nächtlichen,
+heftig bewegten irischen Meer als Wiege. Wie sang, wie rauschte es mich zur
+Ruh! Wie segnete ich den Steward und meine eigene Vergeßlichkeit. Hin und
+wieder waren mir die Götter doch hold.
+
+Doch weh, ach wie schlug ihre Gunst in die grausamste Ungnade um! Oh des
+zerrissenen Schiffes, das schon aufgehört hatte zu sein! In ein
+Rettungsboot gestoßen, auf eine Planke geworfen und nichts anderes als den
+Tod von den eben so gepriesenen Wellen zu gewärtigen, wühlten sie sich zu
+Felsen auf, hart und unbarmherzig mich zu begraben. Vor mir ruderte
+Kühlmann wie besinnungslos, und seine Anstrengungen angesichts eines
+solchen Orkanes dünkten mir lächerlich. Aber ich ruderte ja selbst
+mechanisch aufs Geratewohl, und dann stürzten die schwarzen Berge über das
+Boot.
+
+Wieder rauschte das Meer im eintönigen Sang, über mir war schon erkennbar
+in der ergrauten Nacht die Decke des Schiffes, und ich lag wie zuvor in der
+ledernen Muschel gewiegt. Aber für kein anderes Lied als für das finstere
+Echo meines Traums hatte ich ein Ohr. Alle Freude war tot. Ich warf die
+Decken fort und saß zusammengekauert, schlaflos, verwüstet, uralt.
+
+Durch den Krieg glaubte ich meinen Traum erfüllt. Die Ernennung Kühlmanns
+hatte mich zuerst gefreut. Er hatte von Jugend auf mit allen Kräften dem
+Krieg entgegengearbeitet, und ich hoffte, es würde ihm gelingen, sein Ende
+herbeizuführen.
+
+Aber er waltete noch keine acht Tage seines Amtes -- ich war in Wengen und
+lag in der Sonne -- als im Halbschlaf das Bild eines hohen Gerüstes sich
+aufdrängte, ähnlich dem Eiffelturm, und auf der Spitze Kühlmann, aber schon
+im Begriffe kopfüber abzustürzen, so zwar, daß er sich in der Luft zu drei
+Malen überschlug.
+
+ * * * * *
+
+Am Tage nach seinem »Niemals« kam Abigail mit einer stoßbereiten Miene, wie
+ein Widder zu mir. Zur Annahme einer schroffen Haltung Kühlmanns war ich
+jedoch um so weniger berechtigt, als mein frühestes Buch Aufsätze, welche
+auf seinen Rat den französischen Titel »L'âme aux deux patries« führten,
+die Behauptung aufrechthielt (denn mit der Feder war ich von jeher sehr
+dreist), die Annektion Elsaß-Lothringens sei ein Fehler, den Bismarck, wenn
+er noch lebte, kein zweites Mal begehen würde: er hätte ein anderes
+Äquivalent dafür ersonnen. Dies Büchlein, das im übrigen ganz unter den
+Tisch fiel, fand nur durch ihn eine so kräftige Verbreitung, daß sich der
+Verdacht regte, er sei dessen Verfasser.
+
+Auch zu jener Unterredung mit Zimmermann im Januar 1917, die einzig der
+Notwendigkeit einer Diskussion des elsaß-lothringischen Problems galt,
+hatte er mir verholfen, und im Nebenzimmer eine Unterhaltung geführt, damit
+wir ungestört blieben. Auch waren mir die Worte erinnerlich, welche er im
+Jahre 1915 diesbezüglich fallen ließ, zu einer Zeit, wo die Aussichten für
+Deutschland noch günstig erschienen. Sein »Niemals«, konnte ich daher nur
+als einen Brocken ansehen, den man Kläffern vorwirft, um sie von sich
+abzuhalten und weitergehen zu können: ein nach innen und in die Kulissen,
+nicht nach außen gerichtetes Wort.
+
+OKTOBER. Statt der drei kleinen hatte ich jetzt ein einziges großes, fast
+saalartiges Zimmer nach Norden, auf die Lauben hinaus. Schmuck, ja zierlich
+stand hier der Flügel im Raum. Die Wände hatten lichte Täfelungen, und der
+indische Schal mit dem weißen Feld fiel von der Decke bis zum Boden und
+schien eine Türe. Der Toilettentisch blitzte im Schatten auf: sein
+Hauptschmuck waren jetzt zwei silberne Renaissanceleuchter, vom Seidenaffen
+beschert.
+
+Über das Zimmer selbst ist weiter nichts zu bemerken, als daß eine Reihe
+von Unterredungen dort stattfanden, die alle zu nichts führten. Ein Wort
+über meine politische Wirksamkeit. Wir wollen sie so nennen. Eine ganze
+Weile brachte ich gewiß alle Spionagen und Gegenspionagen zur Verzweiflung.
+Scheinbar für eine jede ein kinderleichter Fang, war das Verwirrende gewiß,
+daß ich gleichzeitig in Diensten _sämtlicher_ Regierungen zu stehen den
+Anschein haben mußte. Wenn jemand keine Parteien kannte, so war ich es.
+Außer Japan, China, Rußland und Marokko durften nur noch Schweden, Norwegen
+und Dänemark sich rühmen, daß keiner ihrer Staatsangehörigen bei mir
+gewesen sei. Mein Zimmer war so recht die Halle der vergeblichen
+Zusammenkünfte, und wenn ich auch keine einzige vom Zaune brach, schob ich
+doch auch keiner einzigen den Riegel vor, selbst als mir kein Zweifel über
+ihre Vergeblichkeiten blieb. Der »Friede«, ein Wort, das mich im Schlaf
+elektrisierte, war wie das große Los oder wie das Leben eines aufgegebenen
+Kranken immer eine Möglichkeit. Und ob ich auch anfing, dem Kopfschütteln
+Fortunios beizustimmen, stürzte ich doch, wie Kundry im ersten Akt, bei
+jeder Veranlassung nach dem Heilkraut davon, das keine Linderung mehr
+bringen konnte. So setzte ich mich in Bewegung, so braute ich mit
+Todesverachtung meine Tees, ob mich auch schon ein wahres Grauen vor all
+den Nieten faßte, die sich zu Bergen vor meinem Tische häuften . . . Den
+dümmsten und ungeschicktesten Leuten schenkte ich dennoch Gehör. Vielleicht
+war gerade dieser Narr der reine Tor, vielleicht hatte ich doch recht.
+
+Meine Verständnislosigkeit für Natur und Beschaffenheit dieses Krieges ging
+ja so weit, daß ich vom ersten Tage seines Bestehens an von Monat zu Monat
+überzeugt war, länger als sechs Wochen könne er nicht mehr dauern. Immer
+schien mir alles sein nahes Ende zu künden. Als zum ersten Male von
+zahlreichen Gefangenen die Rede war, dachte ich: jetzt ist bald Schluß. Als
+Ruhleben entstand, dachte ich: jetzt wird man verhandeln. Wer ließe seine
+eigenen Leute so im Stich? Obwohl ich, was die Schlechtigkeit des einzelnen
+anging, einen so radikalen Standpunkt vertrat und immer darauf aufmerksam
+machte, daß die Larven triumphierten und der Edle geopfert würde, ja, daß
+es stets ein besonderer Glücksfall sei, wenn er nicht unterliege, so hatte
+ich den so naheliegenden Schluß von der Familie zum Staat (und was ist sie
+anders, wenn nicht die Welt und Geschichte im kleinen?) merkwürdigerweise
+noch immer nicht gemacht. Immer noch wähnend, es ginge um den Frieden, da
+es ja gar nicht ihn, sondern Sieg und Niederlage galt, glaubte ich, durch
+meine Absicht und durch meine Gesinnung alle endlich zu überzeugen und für
+mich zu gewinnen, bis ich mit Entsetzen merkte, daß gerade meine Naivität
+Bedenken erweckte. Wie hätte auch Aramis, da es mir keineswegs an
+Menschenkenntnis gebrach, eine so große Weltunkenntnis bei mir vermutet?
+Und daß ich unter Kapitalismus immer noch einige Bankiers verstand?
+Vielmehr war es natürlich, daß eine Gesellschaft, welche den Krieg als eine
+Institution begriff, an meiner Friedensmanie Ärgernis nahm. Ich hielt mich
+für besser als sie, während ich vor allen Dingen unwissender war. Und diese
+Unwissenheit stellte zu meiner Soloarie den verdrießlichen Baß.
+
+Dennoch war, als mir endlich ein Licht über die Welt und zugleich über mich
+selbst aufging, die erste Folge die Furcht. Ging ich spät die Lauben
+entlang, so faßte mich Schrecken, wenn nur die Umrisse eines Mannes oder
+nur sein Schatten hinter einer Säule sichtbar wurde. Da war ja eines jener
+unerklärlichen und gefährlichen Wesen, die es so eingerichtet hatten, daß
+ihresgleichen heute vielfach auf einem Beine durch die Lande hopsten.
+
+Meine Tätigkeit, die sich vor jeder Offensive verdoppelt hatte, war nur
+mehr mechanisch. Die letzte Zusammenkunft, die sich in meinem Zimmer begab,
+fand mit Professor H. statt. Er berief sich auf wichtige Eröffnungen auf
+Grund amerikanischer Aufträge, die er zu machen habe. Es erfolgte noch
+einmal ein Depeschenwechsel mit den Restbeständen dessen, was man noch
+deutsche Regierung nannte, und was längst unter den Hufen der
+Militärkavalla zertreten lag.
+
+ * * * * *
+
+In diesem über alle Maßen traurigen Winter strich ich eines Abends müde
+durch die Lauben, als Abigail an mir vorüberschoß. Busoni spielt heute
+Abend! rief er mir zu. Nun lief auch ich und kam noch gerade recht, bevor
+er eine Orchesterfantasie von Weber zu spielen anfing. Und siehe da, man
+lebte, war seiner Ketten ledig und richtete sich auf.
+
+Von nun an befaßte ich mich stark mit seinen Kompositionen und fuhr nach
+Zürich, wenn dort ein neues Werk von ihm zur Aufführung gelangte. Eine
+bequeme Gabe ist es ja nicht, den Wert eines überragenden Typs zu erkennen;
+sie legt Verpflichtungen auf; es ist nicht, als ginge sein Wohl und Wehe
+uns nichts an.
+
+Verdrießlich genug ist es ja vielfach mit seiner Anhängerschaft bestellt.
+Wie an den Reichen die Profiteure, so drängen sich an den Schaffenden die
+Parasiten des Geistes heran. Und vielleicht, wer weiß, ist ihm in mancher
+Feierstunde, die ohne Anregung verlief, der Chor seiner Widersacher minder
+fatal wie der seiner Anbeter.
+
+Von dem Unmut des alten und stark zensurierten Wagner, von einem
+verzweifelten Versuch sogar, den, öden Sockel auszureißen, auf dem er sich
+wie ein Götze gestellt sah, drang nur durch Zufall etwas in die Außenwelt.
+Während seine Umgebung den ungeheuren Überdruß der nachwagnerischen Ära
+bereiten half, ließ er selbst seine Werke weit und ungeduldig hinter sich
+zurück. Lange ehe seinem Lohengrin die grausige Popularität beschieden war,
+hatte er »mit Ekel in die Partitur gestarrt«[2]. Später eilte er schnell
+mit dem Nachtzug davon, wenn eine Stadt, die er bereiste, ihm zu Ehren eine
+seiner Opern ansetzte. Er hatte den schönen und naiven, wenn auch natürlich
+vergeblichen Wunsch geäußert, seinen »Ring« ein einziges Mal auf einer
+eigens errichteten Bühne in höchster Vollendung zur Aufführung zu bringen,
+um sodann Bretter und Partitur auf immer zusammenzuschlagen[3].
+
+Wer ein einziges Mal Friedrichs, den unvergleichlichen Darsteller des
+Alberich, während seiner kurzen Laufbahn vernommen hat, der vergißt nie die
+unheimliche Wirkung seines plötzlichen Vortretens, als er, hart vor der
+Rampe, mit seinem dunklen und prachtvollen Organ den Fluchgesang erhob.
+Sich selbst, die ganze Welt fühlte man da bedroht, und wer die Alberiche,
+wer die Nibelungen sind, und welche Bewandtnis es hienieden mit ihnen hat,
+wurde einem in unmißverständlichster Weise gelehrt.
+
+[Fußnote 2: Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.]
+
+[Fußnote 3: Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.]
+
+Was aber kann so nichtssagend gemacht werden wie das Bedeutsame?
+
+Gerade von groß angelegter Musik gilt das Wort: »La musique doit toujours
+nous surprendre.« Laßt Dezennien des Schweigens und der Vergessenheit den
+»Ring« begraben, damit sich von neuem offenbaren könne, welcher Vorhang da
+zurückschlug vor einer bis auf den Grund durchschauten Welt . . .
+
+Erst die Züge des späten, weltberühmten und gefeierten Wagner zeigen den
+trüben, resignierten und abgewandten Schein, als dünke ihm jetzt erst, da
+alles erreicht war, alles vergebens. Mime und Cie. rächten sich, indem sie
+ihn ableierten. Als Kassenstücke ausgebeutet, wurde das Wagnersche Werk zum
+Unding, zur Säge, zur Obstruktion . . .
+
+»Schafft neues!« war sein immerwährender Ruf; dafür wurde à la Wagner
+weiter komponiert.
+
+Sehr wagnerisch bewegt und sehr unwagnerianisch (denn was könnte es
+unwagnerischeres geben als den Wagnerianer?) ging ich eines Abends, von
+Busonis Hause kommend, durch die nächtlichen Straßen Zürichs, wo einst
+Wagner gerungen hat und heute Busoni ringt, und wo beide ein Asyl gefunden
+hatten. Mit letzter Gewißheit wußte ich da, daß der viel mißbrauchte
+Meister, der sich gerade über den so weit von ihm abliegenden Mozart so
+begeistert äußerte, heute gerade an dem selbstherrlichen Busoni und dessen
+von ihm sich entfernenden Wegen sein tiefstes Gefallen fände. Weit über das
+Leben hin tragen sich ja die wichtigsten Gegensätze aus. Denn sachte nur
+beliebt es den Göttern. Einen nach dem andern nur lassen sie zu Worte
+kommen. Ihr Neid duldet nicht das gleichzeitige Auftreten zweier allzu
+interessanter Fechter. Eher hielten sie ihnen eine Binde vor die Augen, als
+zu gestatten, daß sie ihre Klingen kreuzten.
+
+Höchst merkwürdig aber ist es, daß die Persönlichkeit nie wichtiger gewesen
+ist, als jetzt in dieser Zeit der Massenschicksale der Hungers und der
+Kohlennöte. Nicht nur alle Spreu sehen wir heute inmitten der Äquinoktien
+aufwirbeln, auch manche Gesetztafel zerschlägt aufs neue. Der Heilige des
+Tages sucht nicht mehr die Wüste, sondern tritt mitten unter die Menschen
+und fällt unter ihren Streichen, nicht weil er die Abkehr predigt von der
+Welt, sondern um seiner Beglückungstheorien willen.
+
+Aber nicht lange mehr wird der Auserwählte als ein Dulder gehen. Entweder
+sehen wir ihn bald als eine verlorengegangene Spezies ganz um die Ecke
+gebracht, oder sein Reich wird kommen. Es ist eine Täuschung, zu glauben,
+daß eine Welt, deren Schlechtigkeit und Gewalttätigkeit sich derart nach
+oben kehrte, so bleiben könnte, wie sie ist.
+
+Hier mag stehen, was ich zwei Jahre später schrieb:
+
+
+Busoni.
+
+Ich hörte Busoni zum ersten Male vor zwei Jahren in Bern. Er sah mit einem
+Blick weit hinausgerückter Vereinsamung, den man an diesem Gesicht sofort
+begriff, gleichsam zu sich selber auf und fing an zu spielen.
+
+Das gibt es also noch, dachte ich nach einer Weile. Da geht man mühselig
+seinen Weg, und plötzlich dies -- dies plötzliche Angelangtsein, diesen
+Schauer der Ruh, diese unvermutete Herberge.
+
+Bei Busonis Spiel, so herrlich es ist, will ich jedoch nur kurz verweilen.
+Er ist wohl deshalb der größte Pianist, weil er implizite einer ist, weil
+unter der Zauberformel, welche seine Finger darüber sprechen, die
+Metamorphose eines an sich zweifelhaften Instrumentes sich ergibt.
+
+Wir kennen so manche vorzügliche Pianisten. Aber wie wenige machten uns das
+Klavier vergessen! Da ist Holz, sage ich, da sind Pedale, ein schöner
+Anschlag vielleicht und ein großes Können dazu. Aber für den Hörer nicht
+eben sehr nachhaltig: _Klavier_. Besinnt euch. Ist es anders?
+
+Eher ließ noch das orchestrale Klavier Illusionen zu; ich habe große
+Dirigenten gehört, die es zu einem prachtvollen Notbehelf gestalteten. Von
+solchen Vorspiegelungen jedoch kann bei Busoni nicht die Rede sein. Dazu
+ist er zu sehr Kenner des Instrumentes, belauschte er es in allen Fibern zu
+genau. Etwas ganz anderes ist hier am Werk: Mozart hatte sich eine
+verzauberte Flöte ausgedacht: hier nun wurde tatsächlich das »Piano
+enchanté« zur Wirklichkeit. Wir brauchen dabei nur an seinen Vortrag, der
+an sich kaum noch erträglichen Pianofortekompositionen Liszts zu erinnern,
+dieses riesenhaften und vermoderten Rosenbuketts mit verschossener
+Bandschleife . . . statt dessen wird eine ganze Epoche, die des zweiten
+Kaiserreichs, vor uns lebendig: Pracht, Tand und Duft, Fächerspiel,
+lächelnde Augen, Krinoline, Vergessenheit; alles retrospektiv gesehen, mit
+magischer Schärfe aufgerufen. Daher auch die ernste Maske im Hintergrund.
+
+Schließlich, wenn alles gesagt ist, bleibt von einem Menschen immer nur das
+Neue. Die Geschichte unseres Geistes sind weitergegebene Signale. Aber
+nicht immer das zuletzt Gegebene wird von dem Kommenden aufgegriffen. Die
+Schrift ist kraus. Und die, welche an ihr schreiben, haben vor allem ihr
+_geistiges_ Elternpaar, ihre geistige Familie und ihre geistige Sippe.
+Falls wir eine neue Zeit zusammenbringen, wird auch eine neue Heraldik mit
+ihr aufkommen. Gar merkwürdige Erzhäuser, Dynastien und ihre Nebenlinien
+werden sich da herausstellen. Und kaum einen Stammbaum dürfte es heute
+geben, der weiter verzweigt und interessanter zu erforschen wäre, wie der
+des so universalen Busoni. Keine Vaterschaft, die ihm an der Wiege gesungen
+wurde, sondern die sich vielmehr vor ihm verbarg, ihm vielmehr auferlegte,
+sie zu entdecken.
+
+Viele Jahre hindurch ist es in seinen Werken wie ein umsichblicken, ein
+plötzliches horchen, sichunterbrechen und stillestehen. Konzessionen kennt
+er nicht. Was das unvorbereitete Ohr noch grau, abstrus, bizarr anmutet,
+sind die Schatten des Weges, auf dem er sich entfernt. Seine Zeitgenossen
+verlieren ihn aus dem Gesicht. Mit dem embarras de richesse, welchen
+Berlioz, Liszt und Wagner in das Orchester hineingetragen haben, ließ sich
+ja noch lange wirtschaften. Richard Strauß buchtete das von den Vätern
+Erworbene noch weiter aus, erstand noch die oder jene Pagode hinzu, und zum
+Beweis, daß er ein Allerweltskönner sei, schuf er in seiner »Ariadne« eine
+antike Seite -- ich brauche sie nicht zu nennen -- von ewigem Wert.
+
+Auch bei dem feinen, wenn auch kurzatmigen Debussy horchten wir auf. Einige
+noch unvernommene Töne schlugen da an, wie in Farbe getaucht, morbid,
+verzückt, nur scheinbar dekadent, nicht dekadenter, sagte ich schon, als
+ein Mondreflex auf einem verrosteten Gitter. Jedoch viel zu sagen hatte er
+nicht; auch er fragte sich nicht, wie es weitergehen sollte, und er
+verstummte schnell.
+
+Genie ist nicht nur Fleiß (neben vielem anderen), sondern auch ein
+heroischer Ernst. Vielleicht ist Busoni nicht der einzige, welcher
+erkannte, daß die Musik in die wild überwuchernde Flora der Neuromantik
+nicht mehr tiefer hineinführte. Aber man kutschierte fatalistisch in
+derselben Richtung, demselben Kreise weiter, denn das Problem schien
+unlöslich. Nur nicht für Busoni. Es reizte gerade den Schöpfer in ihm.
+
+Anfangs waren es nur Anregungen, welche er bot. Turandot; immer stärkere
+Anregungen, wie das Licht eines wachsenden Tages, in seiner Schrift »Zur
+Ästhetik der Musik«, in »Arlechino«; in seinen immer erstaunlichen
+Klavierkompositionen, welche dem Klavier -- dem einstigen Spinett -- so
+neue Dinge entlocken: Klangeinlagen, Klangunterlagen, eingebaute,
+eingetönte Perspektiven (wenn ich so sagen darf!) grüßen da aus
+unvermuteten Tiefen, wie grünleuchtende Seen. Auch rein äußerlich genommen,
+verfährt Busoni als Schöpfer mit ihm; auch auf den rein äußeren Ausbau
+dieses Instruments (immer ist ja der Entdecker in ihm rege!) drängen seine
+Kompositionen hin.
+
+Scheint dies vielleicht von mäßigem Belang?
+
+Welche Stunden äußerster Betrübnis muß das Genie durchleben! Wie müssen ihn
+da die Zweifel überwältigen, ob die ewig geschäftige und ewig unachtsame
+Welt das Geschenk denn auch entgegennehmen wird, welches ihr zu bereiten er
+sein Leben widmet!
+
+Während sie von nichts anderem widerhallte, als ihrem sinnlosen
+Waffengedröhn, hielt Busoni sein schweres Ziel im Auge, drang er immer
+weiter vor, nahm er die Kurve, legte er die Schraube an. In seiner
+Isolation fand er die schöpferische Kraft, das Tor zu sprengen, und die in
+ihrem Riesenapparat festgefahrene, ja welkende Musik für eine neue Jugend
+flügge zu machen. Es wurden uns bis jetzt nur Bruchstücke seines »Faust«
+bekanntgegeben, aber sie künden ihn ganz. Die reine Linienführung, die
+tempelhaften Umrisse einer neuen Klassizität, sanft gerundet, erheben sich
+wieder! Ein »Faust« um so faustischer nur durch die neuen Streiflichter,
+die auf ihn fallen: die holde Blässe in der Feierlichkeit, ein in der Welt
+noch nicht dagewesener Adel des Klanges das Sfumato in der Trauer,
+Leonardisches, Latinismen . . .
+
+Wenn ich sage, daß mit diesem seinem und zugleich so sehr unserem »Faust«
+das Erbe Mozarts angetreten wurde, befürchte ich kein Dementi von der
+Zukunft.
+
+Darf ich (so nebenbei) in Erinnerung bringen, daß Bettina Brentano über
+Beethoven, daß Julie de Lespinasse über Gluck zu beider Lebzeiten das
+Entscheidendste sagten?
+
+Und wenn ich mich heute so gedrängt fühle, auf die Wichtigkeit Busonis
+immer wieder aufmerksam zu machen, so möchte ich hinzufügen, daß es in der
+Kunst sowohl wie in der Politik so etwas gibt wie ein »zu spät«. Auch hier
+sind die Gelegenheiten dahin, die man verpaßte -- auch den Herren
+Klavierbauern rufe ich dies heute zu.
+
+Busoni hat ja seinen Lohn sicher nicht dahin. Auf der von ihm freigelegten
+Bahn geht es weiter, und der Dank der Kommenden erwartet ihn. Aber sollen
+wir heute, wo die Kronen zu Dutzenden auf das Pflaster rollten, sie im
+Staube verkommen lassen und wie im alten Regime die wahren Könige nicht
+ausrufen und nicht unterscheiden?
+
+
+
+
+Dritter Teil.
+
+
+Das traurigste aller Jahre gehörte der Vergangenheit. Auch der Januar hatte
+ein Ende genommen. Ich war die Sklavin meines Flügels. Ihm zuliebe behielt
+ich das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte.
+
+Mit England und den Vereinigten Staaten war der Briefwechsel besonders
+schwierig geworden. Zuletzt würde es Mühe geben, sich die Gesichter seiner
+Freunde zu vergegenwärtigen, deren Bild nie eine Nachricht näher brachte.
+
+Eines Nachmittags -- es fing schon an zu dämmern -- und meine Gedanken
+zogen über unerreichbar gewordene Küsten den gewohnten Weg, als statt
+vertrauter Züge, die ich wachrief, ein blankes, behendes Pferd aufblitzte
+von intensivstem Braun. Voll Ungestüm, beredten Blickes, als hätte es etwas
+zu verkünden, weckte es ein Echo großer Bangigkeit und verschwand.
+
+Dafür blieb der ganze folgende Tag unter dem Eindruck eines so beseligenden
+Traumes, daß es ein Frevel wäre, ihn zu schildern.
+
+Wiederum dämmerte es, und diesmal saß Fortunio in meiner Sofaecke, und wir
+unterhielten uns.
+
+Das zwiefache an den Menschen, darüber waren wir uns ja einig, betraf ihren
+Ursprung. Insofern hatten die Extremisten recht, als sie nicht glaubten,
+mit dem alten Karren ins gelobte neue Land einzufahren. Leider aber
+brachten sie dabei ihre eigene Anhängerschaft ganz nach der alten Manier,
+nicht etwa der Artung, sondern der oft so rein zufälligen Meinung nach als
+wildes Durcheinander unter ein und dieselbe Flagge.
+
+»Wie wunderbar ist der Mensch!« sagte ich plötzlich, »was für Eingebungen
+er hat! Auf was für Dinge er gerät! Zum Beispiel in allen Sprachen
+Vergleiche wie die folgenden zu ziehen: marchez comme sur des nuages; to
+walk on clouds; wie auf Wolken gehen.«
+
+»Warum?« fragte er.
+
+»Weil es das gibt. Nicht etwa nur in euren Dichterphantasien, sondern einer
+höheren, höchsten Physik zufolge. Wer ist der verwirrte Tropf gewesen, der
+als erster Wort und Begriff des Wunders startete?«
+
+Ich wurde jetzt der Schneereflexe immer bewußter, welche in die Mollakkorde
+eines unvergleichlichen Zwielichtes fuhren. Nur wenig Wintertagen eignet
+dieser Schein, trauter als das von Sommerlüften durchwärmte, hölzerne
+Gartenhäuschen. Lange schmeichelte er sich an den Fenstern hin.
+
+»Eine gesteigerte Natur,« fuhr ich fort, »Kontakte, es sind Füße denkbar,
+zu welchen die Tragfähigkeit der Wolke sich verhielte wie Steg und Brücke
+zu den unseren: Gewänder, die zu solchen Füßen niederflössen, würde durch
+die Schärfe der Emulsion der Äther zum natürlichsten Geleise: weite Geleise
+solchen Füßen, und so sehr ein Teil von ihnen, während sie auf ihren
+Wolkensohlen reisten, daß von einer zifferlosen Arithmetik beherrscht, der
+ganze Himmel, und nicht etwa nur ein Stück von ihm, mit in den Raum sich
+drängen würde, über dessen Schwelle sie zögen.«
+
+Hier verstummte ich, und so gebieterisch schwoll die Dämmerung an, daß
+meine Hände, wie Orgelpunkte in der Schwebe gehalten, plötzlich
+niederfielen, ihrer Unzulänglichkeit und Armut zurückgegeben.
+
+»Wollen Sie Licht machen?« fragte ich.
+
+Während er sich anschickte, das Zimmer der ganzen Länge nach zu
+durchschreiten, war ich innerlich erstaunt über die Ausführlichkeit, mit
+der sich das Detail eines Bildes, welches doch als Ganzes, über alle
+Zeitbegriffe schnell zu Häupten meines Bettes aufgeblitzt war, festhalten
+ließe.
+
+Doch warum faßte mich da wieder das unerklärliche Grauen, das nicht mehr
+einzufangende Echo des Grams des gestrigen Nachmittags, als mir im
+halbwachen Zustand das Pferd beredten Auges entgegenschoß? Welche
+Bewandtnis -- -- -- -- --
+
+Aber da hatte Fortunio schon geknipst, die Lampe erstrahlte, und ich atmete
+auf.
+
+5. FEBRUAR. Am Morgen dieses Tages stand ich angekleidet zu Häupten des
+Bettes und hielt meine Post. Sie war umfangreicher als sonst. Ein Brief mit
+ausländischer Marke und fremder Handschrift, den ich zuerst öffnete,
+umfaßte nur wenig Zeilen und meldete einen Tod, der schon vier Monate
+zurücklag.
+
+Der Zahnarzt erwartete mich schon sehr früh.
+
+Ganz undeutlich, wie von einem andern Ufer herüber, so daß ich nicht daran
+dachte, mich zu entschuldigen, schien er mir ungeduldig über mein
+verspätetes Erscheinen.
+
+Ich wollte ihn ersuchen, das graue Schmerzenslicht von der
+gegenüberliegenden Mauer zu entfernen. Dann besann ich mich: zeigten doch
+alle Dinge, das Fenster, die Instrumente auf dem Tablett dieselbe böse und
+stechende Schärfe.
+
+Desgleichen die Luft, als ich nach der Sitzung unter die Lauben trat.
+Sollte man sich es wirklich antun, sie hinabzugehen? War nicht vielmehr die
+Erde, dieser schwarze und zertretene Schnee, sich in ihm einzubetten mit
+zugekehrtem Gesicht, die einzige und unendliche Lockung? Die wehe Fackel
+des Gedächtnisses zu löschen, so zu verlöschen, als sei man nie gewesen,
+dieses war der Himmel. Oh wer war das? Wer war die Kreatur, die diesen
+ganzen Tag hindurch alle Gesten des Lebens so staccato verrichtete, an den
+Speisen dieselbe entsetzliche und befremdende Miene wahrnahm, wie an den
+Pinzetten auf dem Tablett des Zahnarztes, und wohin sie sich auch wandte,
+die Flucht ergriff; als wäre sie die aus Hoffmanns Erzählung entronnene
+Olympia -- die Lauben hinab, die Treppen hinauf -- in ihr Zimmer zurücklief
+-- und sich umzog! -- Einen blauen Hut aufsetzte, einen blauen! -- und
+einen blauen Schleier davorband, und in das betäubte Antlitz starrte, dem
+er so ungewöhnlich stand -- und einen Besuch abstattete -- an einem Ofen
+lehnte, an ein Fenster trat, und durch seine, vom leichten Druck getrübte
+Scheiben sah, den die Wärme des Zimmers hervorrief. Es saß einer da, der
+erzählte, doch nur die Türe nahm sie wahr, durch welche sie wieder
+entrinnen und ins Freie gelangen konnte . . .
+
+Dort fing es an zu dunkeln. Es nahm auch dieser Tag ein Ende.
+
+Nur auf dem freien Platz und über der Brücke war es noch hell. Rauh, grell
+und öde brütete ein durchnäßter Wintertag. Ungemildert fing ihn der
+»Gurten« auf: eine dunkle, ansehnliche Masse, und dennoch niedrig stellte
+sich ihm oh, so traumlos entgegen! Tropfnaß alle Dächer, die Bäume ein
+wirres und aufgelöstes Haar.
+
+Das Uhrwerk war abgelaufen, und sie stand nun endlich still, wie
+überwachsen von ihrer Not. Ein Martergriffel umriß für sie die ganze Stadt,
+die sich im Widerscheine eines Sterbetages zur Krypta schloß, das Siegel
+seiner Qual für immer aufgebrannt. So fiel ein Tor.
+
+Beim ersten Laternenschein prallte sie zurück. Jedes Licht war eine Tücke.
+Kein Dunkel war tief und ununterbrochen genug. Und riefen ihre Wände nicht
+nach ihr? Zu ihnen nahm sie ihre Zuflucht, schloß ihre Türe und überließ
+sich der Erschöpfung. In ihren Kleidern wie auf einem Sarkophag, ohne sich
+zu rühren, ausgestreckt, lag sie in den Armen und am Herzen dieser Nacht.
+
+Siehe -- was tauchte da wieder vor ihr auf? -- Sturmentlassen, mit
+verhängten Zügeln, wie einem geisterhaften Stalle zugekehrt, das entfärbte,
+fahlgewordene Roß, dessen Botendienst geschehen war.
+
+Zum ersten Male entsann sie sich da auch des andern Bildes, das sich
+zwischen einer Kunde und ihrer Ankündigung gnädig und wie eine Gnade
+stellte.
+
+ * * * * *
+
+Und nun, oh Leser, fasse meine Hand, daß ich von dir selber gehalten, durch
+Dornen und Gestrüpp, Ziel, Sinn und Ende dieses Buches erreiche. Verlasse
+auf immer mit mir das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte und folge mir
+nach Genf. Ferne dem traumlosen Berg, über der malerischen Stadt des
+nüchternen Lichtes, durch die Turmspitze versinnbildlicht, welche den
+Unterbau des Münsters niederdrückt, und seine Schönheit immerzu und immerzu
+verneint.
+
+Selbst bei der schärfsten Bise leuchtete die Luft in Genf so abgetönt. Dort
+hauste ich nun, in einem unheizbaren Studentenstübchen im fünften Stock des
+hotel de Russie. Ein kleiner Balkon überhing die stets von Schwänen
+überzogene Insel Rousseau. Meine Taschen waren in diesen Tagen der
+Brotkarten mit Krumen wohlgefüllt, und mit heimlicher Befriedigung warf ich
+ihnen die rargewordene Speise zu. Nicht vergeblich glitten sie mir da immer
+sogleich, doch ohne jede unziemliche Eile entgegen. Ich sah ihnen oft lange
+zu. Sie standen in der Tierwelt so abseits; fast ein wenig abgerückt von
+der Natur. Bald würden sie zwischen ihren stolz aufgerichteten Flügeln ihre
+Jungen wie in einer geschlossenen Krone durchs Blaue tragen. Vielleicht gab
+ihnen ihre Ungefährdetheit die Muße, um den Tod zu wissen.
+
+Die Zeiten waren derart, daß der Ortswechsel selbst einer so unwichtigen
+Person wie mir nicht unvermerkt blieb. Dinge aber, die mich vor kurzem in
+Aufruhr versetzt hätten, machten mir nicht das geringste. An der
+Telephonkabine war eines Morgens der Türgriff ausgekurbelt und wurde nicht
+wieder instand gesetzt. Dicht bei verbrachte ein dicker Herr seine Tage und
+rauchte Zigarren, indem er unverfroren horchte.
+
+Indessen wurde ich von Herrn L -- P. . . . dem Vater der im
+deportationsfähigen Alter stehenden Kinder aufs neue bestürmt. Seiner Frau
+blieben die Pässe verweigert. Ich schrieb jetzt auf gut Glück dem Grafen
+Carry, er möge mich über den Sonntag besuchen. Und richtig stand er da. Es
+war strahlendes Wetter, wir streunten über die Kais und aßen zusammen. An
+seine natürliche Güte hatte ich nie vergebens appelliert, und schließlich
+bildete sein Propagandawerk eine Art von Rettungsstation. An ihm klebte
+kein Blut. Da mir aber seine Beziehungen zur obersten Heeresleitung bekannt
+waren, log ich jetzt über die politische Zweckmäßigkeit einer Paßverleihung
+an die Familie L . . P . . . einiges Blaue vom Himmel. Wir setzten uns ins
+Freie. Erstaunliche Magnolien prangten schon in voller Blüte; an eine
+Tanne, grünblau, weiten Hauptes wie eine Pinie, und immerzu umschwirrt,
+preßte sich ein glückliches Vogelhaus. Carrys Augen hingen voll Entzücken
+daran.
+
+»Da geht mein schlimmster Feind«, sagte er plötzlich. Klein, mit
+niederträchtiger Visage, kam hinter den Magnolien ein Landsmann von uns
+hervor. Von übelster Vergangenheit, dabei Träger eines großen Namens, für
+den Nachrichtendienst also wie geboren, lauerte er dem Frieden um so
+emsiger auf, als die Dauer des Krieges mit dem Interim seiner
+Rehabilitierung zusammenfiel.
+
+»Natürlich haßt er Sie«, sagte ich zerstreut. »Was erwarten Sie sonst?«
+
+Abends -- der Graf war schon abgereist -- kreuzte ich mich nochmals, über
+die Brücke zu den Schwänen gehend, mit der hochgeborenen Krapüle, die mit
+einem Basiliskenblick an mir vorüberging. Tags darauf -- ich dachte gerade
+an das blauzerfließende Grün der Tanne und an den großen Blumenbaum, der in
+dieser Sonnenhelle wohl noch heller erblüht war, als ich ans Telephon
+gerufen wurde. Vor der Zelle saß trägen Auges der mir zugeteilte Herr mit
+der Nachmittagszigarre im Mund. Heute aber sollte er auf seine Kosten
+kommen. Denn im höchst aufgeregten Ton forderte mich eine Genfer Dame zu
+sofortiger Aussprache auf. Ihr Haus sei mir offengestanden, sie habe mir
+ihr Vertrauen geschenkt, und nun müsse sie hören, daß ich es mißbrauchte.
+
+Ich machte mich ziemlich gemächlich auf den Weg zu ihrem Hause. Seit jenem
+Tage, als sich Bern für mich zur Krypta schloß, war mir erst bewußt, daß
+ich mit nichten ein verkannter oder verlassener, sondern einer der wenigen
+innerlich wirklich beschützten und durchschauten Menschen gewesen war.
+
+Wie oft hatte -- weit vorgreifend, ach! -- mein Ohr das melodische Lachen
+zu hören geglaubt, wenn ich dereinst alles erzählen würde, alle Zwickmühlen
+und alle Abenteuer, in die ich geraten war.
+
+Ein ganzer, ein wirklich unvergeßlicher Mensch, dachte ich, von Trauer
+niedergedrückt, ist nirgends zu Ende. Unerschöpft und ganz unausgespielt
+sinkt er zu Grabe. Abgerissen, doch nicht abgesponnen, ist der Faden eines
+solchen Lebens.
+
+Wenn aber Kinder des Lichtes zusammentreffen, ist das schon ein Glück des
+Himmels. In dem hin und her ihrer Blicke und ihres erkennens liegt das
+Vorgefühl ihrer Macht. Zu uns komme ihr Reich.
+
+Mit der Genfer Dame war ich schnell im reinen. Wir spielten beiderseits mit
+offenen Karten. Die hochgeborene Krapüle hatte verbreiten lassen, die
+deutsche Propaganda arbeite nunmehr mit so raffinierten Mitteln, daß sie
+kompromittierte Personen, wie mich, zu Werkzeugen mache. Den Beweis hielte
+er in der Hand. (Es war mein Frühstück mit dem Grafen Carry.) Natürlich war
+seine Behauptung wohl geeignet, mich in Genf unmöglich zu machen. Er hatte
+sich nur insofern verrechnet, als meine dortigen Freunde sich unverweilt
+mit mir ins Vertrauen setzten. Dieser Zwischenfall war also beigelegt.
+
+Als ich wieder in die Allee einbog, welche von ihrem Hause bis hart an die
+Straße führte, drangen durch ein offengebliebenes Fenster die Worte: »Je
+suis bien contente de le lui avoir dit« laut und vernehmlich ins Freie; Mir
+aber saß jetzt ein ödes Gefühl im Magen, ein Ekel, das würgen einer allzu
+krampfhaft unterdrückten Bitterkeit. Ein Durst zugleich; das lechzen des
+Trinkers, der nach dem Becher vergeht; es mußte etwas, das Palliativ, die
+Betäubung mußte her. Es war das alte Laster, hui! Und lag sie nicht dicht
+bei, die avenue de Florissant? wußte ich nicht, zufällig, daß sie dort
+wohnte, sie, die den Schlüssel zu den geheimen Toren hielt, die ich
+begehrte? Heute noch, nein, sogleich mußte ich hin.
+
+Und schon betrat ich unangemeldet die großen Räume, in welchen die
+malerische Französin zwischen ausgehobenen Türen nach allen Seiten hin den
+Ausblick über Gärten und Büsche genoß. Es war eine ganze Welt von Bäumen in
+ihrem ersten Grün. Mademoiselle S., eine Pariserin der ernsten und wenig
+bekannten Art, trug einen orangefarbenen Foulard um ihren Kopf gewunden und
+gestand ihre Kopfschmerzen, aber nicht ihr Befremden über meinen Besuch.
+Wir hatten uns ein einziges Mal während des Krieges flüchtig kennengelernt,
+und nun lagerte ich, jedem Argwohn zuvorkommend, indem ich ihn einfach
+niedertrat, auf einem Diwan ihres Salons, den verwirrenden Frühlingszauber
+ihres Parkes vor Augen.
+
+»Sie sind im Besitze der Adresse eines Mediums,« sagte ich, »die ich
+suche.« Und sie erhob sich, an ihnen Schreibtisch zu treten; eine hohe und
+dunkle Gestalt, weder so schön, noch so jung vielleicht, als sie an diesem
+Abend schien, den blassen und melancholischen Kopf vom seidenen Turban eng
+umschlossen, und all die Wipfel, die in den Rosenhimmel ragten, als
+Hintergrund. Sie reichte mir die Adresse, und wir sprachen von allgemeinen
+Dingen.
+
+»Es muß heute doch ein eigener Segen auf allen Schlechtigkeiten ruhen,«
+sagte ich, »da, was immer man Gutes und Hilfreiches unternehmen möchte,
+sofort in Mißlingen und Gestank aufgeht.«
+
+»Wie könnte es anders sein?« gab sie zurück, »das Geschwür ist noch lange
+nicht reif. Vorerst muß alles ihm allein zugute kommen.«
+
+»Es gibt aber Geschwüre en permanence«, meinte ich. Doch sie schüttelte den
+Kopf, unbeirrbar in ihrem Glauben an eine bessere Zukunft.
+
+Es herrschte zwischen uns die kurzbefristete Vertraulichkeit zweier
+Reisegefährten eines nächtlichen Zuges. Nichts ist so unverbindlich wie ihr
+Auseinandergehen.
+
+Denn schon war ich wieder unterwegs, einer andern Himmelsrichtung, einem
+Genf, das ich nicht kannte, zugewandt, nicht wissend, daß es auch seine
+anonymen Viertel hatte, die scheinbar nicht zu ihm gehörten, sondern in
+ihrer Bedrücktheit ganz allgemein die Straßen einer größeren Stadt
+darstellen. Zwischen solchen Häuserreihen war ich jetzt auf der Suche, fand
+die Nummer, stieg vier Treppen hoch und läutete und wartete. Eine im Dunkel
+undefinierbare Gestalt öffnete endlich langsam die Türe.
+
+»Wollen Sie mich melden?« sagte ich, ohne meinen Namen anzugeben. Sie
+rührte sich nicht. »Wollen Sie mich melden?« wiederholte ich. Sie schwieg.
+Sie war es selbst. Stumm standen wir einander gegenüber. Unsere Blicke
+belauerten, betasteten sich. So tauschen wohl in einer Höhle des Lasters
+zwei Eingeweihte zögernd ihre Erkennungszeichen: es waren die verschleppten
+Schatten unserer Augen und ihr matter und verlöschter Schein. Und wie
+loderte schon die Luft! Oh welch ein Wellengang! Welcher Sturm inmitten der
+Stille, die zwischen uns entstand. Ich folgte der Gestalt, die vor mir
+zurückwich. Sie trat, als hätte ich sie gestoßen, in die Umrahmung einer
+Türe, die hinter ihr nachgab, und taumelnd trat ich ein.
+
+ * * * * *
+
+Dem glücklich Liebenden gleich streifte ich in jener Nacht, hingerissen,
+berauscht, von tröstlichen Schauern durchrieselt, die Kais entlang. Wie
+Antäus die Erde, hatte so mein Fuß die belebende Leere berührt? -- War's
+ein geistiger Aderlaß gewesen? War's der letzten Hingabe entsetzliche
+Betäubung oder die eleusische Flut? Und wird sie einmal einer nennen
+dürfen, die einmaligen Gefilde ohne Wiederkehr und Verbieter des Wortes,
+die ein Blick zu ihnen ein Wenden des Kopfes nur, zu ewiger Ungewesenheit
+entstürzen läßt . . . .
+
+Oh Eurydike!
+
+ * * * * *
+
+Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, nahm ich das Schiff. Als es in
+Ouchy anlegte, zog mit einem Male Fortunio an Bord. Wir waren beide nicht
+wenig erstaunt. Ihn aber schien die Bläue des Tages und das in Verzückung
+zurücktretende Ufer von sich selbst fortgerissen zu haben, und es war
+ersichtlich, daß er träumte. Das Leben hielt er dann für schön, besann sich
+des Augenblickes und der Weltgeschichte, wie auch seines eigenen Erwachens
+nicht, sondern, ganz Echo, war er gefangen von ein paar Weisen, welche
+manchen Tages die Natur anhebt, und den verwandelt, der sie hört.
+
+»Lassen Sie sich das Neueste erzählen«, stieß ich ihn an und gab mit allen
+Details die Mine zum besten, von der ich in Genf hätte auffliegen sollen.
+Wie ergiebig Graf Carry dabei mit »belegt« worden war, kam erst später ans
+Tageslicht. Mit der Warnung an meine Schweizer Freunde nämlich, sich vor
+einer deutschen Agentin wie mir etwas in acht zu nehmen, erging
+gleichzeitig eine Meldung an deutsche Instanzen in Bern, Graf Carry wisse
+so wenig die Würde seines Amtes zu wahren, daß er sich nicht scheue, mit
+einer französischen Agentin wie mir öffentlich herumzuziehen. Aus dem
+Mittagessen wurde der Pikanterie halber ein trautes Souper.
+
+»Diese Zeit«, sagte ich zu Fortunio, »hat den Untermenschen doch wirklich
+den Maibaum ihrer Existenzen gebracht, und es gehört mit zu den läuternden
+Wirkungen des Krieges, daß ihn die Krapülen überleben. Denn wenn eine,
+statt als sein Helfershelfer reklamiert zu werden, in die fatale Lage
+gerät, selbst an den Heldentod glauben zu müssen, so ist das doch ein ganz
+seltenes Pech.«
+
+Fortunio fuhr mit dem Abendzug nach Bern zurück, und ich blieb in Clarens.
+
+Um Ostern wollte ich Romain Rolland besuchen und sagte mich in Villeneuve
+an. Allein es war jener Karfreitagmorgen, an welchem eine oberste
+Heeresleitung, wie um seiner zu höhnen, die Kanonade von Paris nicht
+unterbrach, eine Kirche während des Kultes einstürzte und die Anwesenden
+unter sich begrub. Daß mein angekündeter Besuch auf das hin unterblieb,
+verstand sich von selbst. Für mein Gefühl war dieser Karfreitagsvolltreffer
+das schwarze Aß, das sich Deutschland selber ausgeworfen hatte. Eine solche
+Absage an die tragende Idee des Christentums war zu zynisch, um nicht
+ominös zu sein. Sie war -- man verstehe mich recht -- wüstester
+Protestantismus. Luther galt mir nur deshalb als einer der Ahnherren des
+Krieges, weil sein auftreten das Übergewicht des nördlichen über das
+westliche und südliche Deutschland anbahnte, und ein kahles,
+unkünstlerisches, unmusisches und humorloses Element in den Pulsen der
+Deutschen entsprang: Phantasielosigkeit und Unmusik. Wagt es vielleicht
+einer, Sebastian Bach einen Protestanten zu nennen? Der Protestantismus
+stak damals in seinen ersten Anfängen, noch belebt von der Wärme des
+Stammes, von dem er sich losriß: protestierender Katholizismus. Der
+wirklich ausgewachsene konsistorialrätliche Protestantismus gedieh erst in
+den letzten Dezennien zu der vollen Reife und dem gleichzeitigen Marasmus.
+Die fürchterlichen Lutherschen Kirchen, das toteste an Architektur, was in
+der Welt zu sehen ist, sind Geist von seinem Geiste. Alle unfrohe
+Geschmacklosigkeit, den Mangel an Grazie und Liebenswürdigkeit, das
+Reformkostüm, die Jägerwäsche danken wir ihm. Undenkbar, daß von München
+aus die Reichsbriefmarke, als die häßlichste der Welt, hinausgeflattert
+wäre. Nein! fürwahr, diese Germania stieg so recht als die fille ainée der
+protestantischen Kirche. Sie brachte den unheilbaren Riß, über den keine
+äußerliche Geeintheit hinweghalf. Denn ihr verdanken wir das
+verständnislose abrücken von der lateinischen und abendländischen Welt, das
+ein südliches, fränkisches und westliches Deutschland nie herbeigeführt
+hätte.
+
+Statt des café du Nord wurde jetzt der Kursaal von Montreux meine
+Schreibstube. Den Nachmittag beschloß ich mit Vorliebe im kleinen Saal des
+Konservatoriums, wo ich mit einem russischen Cellisten musizierte. Aber A.
+H. Pax wollte wieder einen Beitrag. Es gibt heute nur ein Thema, schrieb
+ich ihm:
+
+Und wir hätten alles von der Methode jener glücklichen Spekulanten zu
+lernen, welche sich offenkundig als die weitaus schärfsten Psychologen
+erwiesen, indem sie irgendein Präparat, eine Zahntinktur oder ein Extrakt
+dadurch zu allgemeinster Geltung verhelfen, daß sie deren Bezeichnungen in
+grellen Riesenbuchstaben an Mauern, Säulen und Schlöten anschlagen, sich
+gleichsam an die Fersen des Vorübergehenden heften, selbst auf Bergeshöhen
+sich zwischen ihn und die Aussicht schieben, ja von Felswänden herab ihm
+unerwartet Odol! Haarlin! oder Bovril! entgegenschreien.
+
+Wäre heute nicht die Beachtung gewisser Zustände mit einer ebensolchen
+vorbildlichen Hartnäckigkeit zu erzwingen? Durch ein ungeheures
+Preisausschreiben etwa, das an alle Maler, der ältesten wie der neuesten
+Schule, erginge, um auf Bildern und Plakaten, mit beliebigem Raumverbrauch,
+die Wirklichkeit zu illustrieren, allen Brücken und Wegen entlang sie
+immerzu neu einer Allgemeinheit zu veranschaulichen, deren geistigen
+Stumpfsinn nur jene Menschenkenner von Spekulanten voll ergründeten. Daß es
+keine intellektuelle Notwehr gibt, und daß wir lieber untergehen als daß
+wir dächten, hielten wir ja nicht für möglich, bevor wir es erlebten. Wie
+hätte sonst über unsere Köpfe hinweg jene Phalanx der Niedrigen zustande
+kommen können, die sich heute mit so bewundernswerter Regie über alle
+Grenzen hin in die Hände arbeiten? Auf uns, die sie gewähren lassen, fällt
+der Fluch dieser Zeit zurück. Nicht auf die schlechten, deren Tun im
+Einklang steht mit ihrem Wollen; auf uns, nicht auf die Knechte, welche
+sich zu unseren Herren machten, sondern auf uns, die wir uns von ihnen
+knechten ließen. Sollte der Tag hereinbrechen, an dem es zu spät sein wird
+für unser zusammengehen, so werden wir, die guten Willens sind, als die
+Schuldigen stehen, weil uns der Mut unseres besseren Wissens gebrach, dem
+Genius des Krieges die Siegermaske von der gedankenlosen Stirn zu reißen.
+Ah! wir bedachten nicht den tiefen Sinn jener Sage, welche den Drachentöter
+die Sprache der Vögel verstehen ließ, als er vom Blut des erlegten
+Ungeheuers genoß!
+
+Es waren stille Tage. Der Sommer reifte wie eine Frucht. Schon rissen
+Gewitter den Himmel auf und schlugen die Wellen bis zu den herabhängenden
+Blüten am Ufer. Und die Nächte verströmten betäubend und lau. Es war ein
+Wandeln wie im Traum, bedrückend und begeisternd zugleich. Meine
+Unterredung mit dem Grafen Carry datierte vom 5. Mai. Schon am 17.
+depeschierte er mir, die Pässe für Frau v. L . . . . und ihre fünf Kinder
+seien gewährt.
+
+In den Weinbergen surrte das Licht, die goldenen Bienen waren eins mit ihm.
+Ob man lebte oder gestorben war oder eben geboren wurde, machte keinen
+Unterschied. Es war zu heiß. Den schönen Damen standen die Koffer gerüstet.
+Ihre neuesten Kostüme und Kleider, die seidenen Sweater und die Hüte und
+die Schuhe kannte man jetzt. Es war Zeit, in einem neuen Ort neu darin zu
+erstehen.
+
+Für den 29. waren in Zürich Busonis Opern unter seiner Leitung angesagt.
+Dort sollte ich mit Fortunio zusammentreffen, und dann an den Thuner See
+mit ihm fahren. Aber statt seiner kam ein Brief, und meine Stirne umwölkte
+sich beim Anblick seiner Adresse: Es war ein Mißgriff und eine Illusion,
+daß er die Villa des geölten Nibelungen bezog. Kurz herausgesagt, wir
+beiden konnten einander nicht leiden. Ich grollte ihm nicht, weil er meine
+Haltung verurteilt und mir versichert hatte, wir seien immer noch zu
+anständig; sein plötzlicher Radikalismus, vielmehr die Art, wie er sich als
+unser Leithammel aufwarf, ärgerte mich. Denn er war keiner von den Unseren.
+Mit Lanze und Speer kam ich ins Spiezer Schloßhotel, ihn zu bekämpfen. Dort
+warteten A. H. Pax und seine unschätzbare Gattin seit einer Woche meiner.
+In der Halle stand ein Bechstein, und von Paxens tiefer Loggia aus hatte
+man den Blick nach Süden über die Alpen und den See. Bei ihnen waltete
+Überblick, Wissen und Nächstenliebe, dazu ein Aroma von Wiener Kaffee und
+Gemütlichkeit, die nicht zu überbieten waren.
+
+Die Villa des Geölten lag unter den Tannen in der Tiefe, einen Kilometer
+entfernt und in wundervoller Lage. Ein kurzer Weg bog vom Gitter bis zum
+Hause, als wäre er unendlich, ein. Die veredelten Kirschbäume, die ihn
+beschatteten, bestahl ich, soviel ich konnte. Es verdroß Fortunio, doch ich
+erklärte, Kirschen nur vom Baume essen zu können, und riß im vorbeigehen
+immer welche herab. Es waren wirklich Kirschen für Hesperiden. Die unteren
+Zweige hingen schon leer.
+
+Der geölte Nibelung gehörte dem Geschlecht derer an, die nicht nur
+geschäftskundig, sondern auch mit regen Sinnen für das Schöne begabt, zu
+überaus tüchtigen Faktoren berufen, dabei haarscharf an ihre Stelle zu
+verweisen, ja niederzuhalten sind. Unsachlich, ungedanklich, nur der
+Witterungen, aber keiner Erkenntnisse fähig, konnte er sich nach innerer
+Herkunft und Bestimmung höchstens zum Sklavenhalter, niemals zum Herren
+vermögen. Gütiger Regungen sehr wohl fähig, war der geölte Nibelung infolge
+seines unbändigen Ehrgeizes der glücklose Knecht, außerstande sich zu
+bescheiden. Über ihn wölbte sich der freie Himmel nicht unmittelbar,
+zwischen ihm und dem Äther, den Göttern und der Natur lastete eine
+trennende Kuppel. Fortunio aber, und wenn er tausendmal zerschellte, war
+ein Sohn des Lichts. An ihn klammerte sich der Geölte, von trüben Stacheln
+getrieben, und eiferte um die gleiche Stufe der Leiter mit ihm; von
+Eifersucht und Zuneigung gleicherweise gequält, suchte er -- immer unbewußt
+-- ihn an sich zu reißen oder ihn zu verderben. Seine Gattin liebte es,
+vierhändig zu spielen, ihr Anschlag war eine Pein, und ich stand sehr bald
+mit beiden übers Kreuz. So ging ich nicht mehr den kurzen Weg, der zwischen
+Gitter und Haus ins Unendliche lief, und sah von dieser Stelle aus nicht
+mehr den Niessen wie eine Riesenpyramide inmitten des fruchtbaren Tales
+stehen.
+
+Der Himmel freilich kam hier nie zur Ruh, und die Gegend war mehr eine
+großartige, opernhafte Szenerie, denn eine Landschaft, das Licht ein
+Beleuchtungsapparat; statt der Spiegelungen hatte man Effekte. Das
+Schreckhorn leuchtete in der Verkürzung, der See war eine Arie.
+
+»Komm, komme!« schrieb der Seidenaff aus St. Moritz. »Wer weiß, was mit uns
+in einem Jahre geschieht.« Und eines Morgens reiße ich aus, um den Sommer
+im Engadin zu beschließen.
+
+Mein Weg führt über Bern, und ich mache bei Martin im Walde halt. Er ist
+schwer niedergedrückt. Das deutsche Verhängnis war für jeden, der außerhalb
+des Landes wohnte, unaufhaltsam. Ich schreibe eine Depesche unter seinem
+Diktat und renne damit zum bayrischen Gesandten. Dieser besteht darauf,
+Martin im Walde selber zu sprechen: ich also mit Windeseile zu ihm zurück
+und ihn so lange quälend, bis er mir folgt. Aber welch ein Interview! Alle
+heißen und kalten Wasserhähne sprühten um die Wette, daß es nur so pfiff.
+
+Die Depesche hat er aber abgeschickt, mache ich auf dem Heimweg geltend.
+
+Sie übermittelte jedoch diejenige Brause, die man sich auf Wochen noch
+verbat.
+
+Fluchtartig verließ ich die Stadt der vergeblichen Zusammenkünfte.
+
+ * * * * *
+
+
+Palace Hotel, St. Moritz.
+
+AUGUST 1918. Man hätte sich auf dem Berge Arrarat glauben können, wären
+unter den Geretteten nicht so viele gewesen, die mit einem Mühlstein am
+Halse zu tiefst der angerichteten Sintflut zu liegen verdienten. Diese
+Menschenmetzger, Gewinnler am Elend der Menschheit und gemästet von ihrem
+Blut, hier machten sie sich breit und schlemmten.
+
+Gleich bei meiner Ankunft hatte ich den Seidenaffen besucht und war auf der
+Treppe gestürzt, so daß ich bleiben mußte, wo ich war. Doch inmitten des
+Geschwirres begann da für mich ein Leben wirklicher Beschaulichkeit. Ich
+kannte niemanden, mit San Cividales verkehrte ich nur in den oberen Räumen,
+unten mieden wir uns, denn wir waren ja Feinde. Auf den Stock gestützt,
+hinkte ich, wenn Sajani mit seiner kleinen Kapelle spielte, zu einem
+Schreibtisch in der offenen Galerie, die Berge von Pontresina vor Augen,
+die ekstatisch nach Süden träumten; unten der tiefgrüne Bergsee und der
+Waldweg seinen Ufern entlang; St. Moritzbad im Rücken, damit ich es nicht
+zu sehen brauchte.
+
+Es war sehr oft »etwas los«. Alles strömte dann nach derselben Richtung, um
+sich im Sportkostüm zu treffen, bevor man sich im Abendkleide wieder
+begegnete. Dann spielte die Kapelle ins Leere, ich aber zog unter den
+Baldachin, die Tangonoten verschwanden, und wir spielten Trios. Es
+schlichen immer ein paar unbeschäftigte Kellner herein, und dies
+Kellnerpublikum war uns ein Sporn.
+
+In der Umwertung der Gesellschaft selbst besteht heute die eigentliche und
+tiefe Revolution. Ein rein äußerlicher Staat hat merkwürdigerweise
+aufgehört, elegant zu sein; das Prestige einer Klasse als solcher, mag es
+noch einmal aufflackern und sich noch eine Weile fortläppern, ist dahin.
+Diejenige Klasse, die überall am Kriege die unschuldigste war, wird täglich
+an Interesse gewinnen und ihren Tag erleben. Der Arbeiterstand als Magnet:
+so schnell reiten die Toten! --
+
+Wie faszinierend war es indes, die Herren von vorgestern zu beobachten,
+welche wähnten, daß sie es noch seien, und die höchstens noch der Wirt, bei
+dem sie abstiegen, in dem Glauben erhielt; diese Herren auf Abbruch, die
+nicht merkten, daß ihre Füße sich schon im Gerölle fingen. Müßigkeit und
+Unwissenheit hatten ihre Norm so tief herabgedrückt, daß, um ein Beispiel
+zu geben, edle Musik eine Zumutung für sie gewesen wäre. In der Tat, es
+lohnte sich, sie zu studieren. Sie machten noch die Gesten der Väter, aber
+schon war der Pöbel bei ihnen eingebrochen und schuf sich in diesem
+äußersten Rechteck der Gesellschaft ein Ventil. Nirgends vielleicht hatte
+sich die Achtung für inneren Wert so sehr verringert und kam innerer Adel
+so wenig in Betracht. Wie viel ritterlich Gesinnte zählte man unter diesen
+Kavalieren? Wie viel Strebende? Was die Unbildung, die zunehmende Verrohung
+dieser Clique betraf, so stand sie den von ihr verhöhnten nouveaux riches,
+welche Wurstkonserven zu Magnaten erhoben hatten, innerlich schon am
+nächsten, und es war rührend zu sehen, wie hier die Elite -- denn auch die
+sogenannte Elite hat natürlich ihre Elite, und ich weiß keine
+liebenswertere -- von ihr abrückte und sich ihrer schämte.
+
+Auch den Trost von ein paar wirklich schönen Frauen hatte man hier. Der
+Seidenaff zwar verzog sich des Abends immer sehr bald. Sah man nach ihr um,
+war sie wie ein Vogel schon weg.
+
+Aber die leidende Sylvia, schön wie eine gestirnte Nacht, tanzte so gern.
+Und ob man sich auch sagte, die Melancholie ihres Lächelns, ihres Lachens
+sei nur Zufall, nur der Form ihrer göttlichen Lippen, dem Licht ihrer Zähne
+entblüht, sie entzückte darum nicht minder.
+
+Eine andere kam zuweilen von Suvretta herüber, ein Püppchen, so zierlich
+gebildet, als wäre sie in einer blitzend ausgeschlagenen Nußschale
+dahergefahren.
+
+Eine vierte war noch da, von der ich noch reden werde. Aber laßt mich bei
+der gestirnten Nacht noch einmal verweilen. Meistens trat sie erst, nachdem
+der Tag zu Ende war, scheinbar ausgeruht, in ihrer düsteren Pracht hervor,
+blieb dann bis zum Hahnenschrei, wie die Braut von Korinth, und hielt ihre
+Tänzer in Atem.
+
+ * * * * *
+
+ANFANG SEPTEMBER. »Ich hörte lange nichts von euch«, schrieb ich an
+Fortunio. »Was Sie nur treiben?«
+
+Mein Fuß war endlich hergestellt und einer längeren Fußtour gewachsen.
+Eines Morgens verließ ich früh das Palace Hotel in Bluse und Rock, einen
+Sack umgeschnallt, in dem ich eine ganze Reisetasche leerte, und einen
+eigens dafür erstandenen Strohhut, der so tief hereinfiel, als man wollte.
+Also ausgerüstet, zog ich nach Maloja, schlug aber bald den Waldweg ein,
+denn die zahlreich einherrollenden Wagen hüllten die Straße in Staub. Frech
+auf den Polstern ausgebreitet, mit befriedigten Mundwinkeln, fuhr ein
+Schieber nach dem andern froh zu Tale, oder dem Julier entgegen; ein
+feister und wohlgemuter Korso: der Krieg durfte noch dauern.
+
+Am andern Ufer der Seen jedoch wand sich ein stiller Weg um jede Bucht,
+nimmermüde, sie zu umschreiben, leis umplätschert, geduldig und verliebt.
+
+Ich riß den Hut vom Kopfe, steckte ihn in den Sack, und ließ die Stirne
+frei von den Gletscherwinden umwehen. Es war so schön, wieder schnellen und
+gesunden Fußes durch die Wälder zu gehen, die bis in ihren tiefsten
+Schatten von Licht und Hitze durchhaucht, statt des Staubes einen Geschmack
+von Harz und Erdbeeren auf die Zunge trieben. Ganz plötzlich wurde es kalt.
+Hoch am Himmel hielten die Wolken Rat, ob sie sich zusammenballen und den
+Herbst eröffnen sollten. Dann zerstreuten sie sich wieder und ließen die
+Sonne durch. Aber es war ganz deutlich, daß sie sich nur vertagten.
+
+Spät am Nachmittag saß ich in der berühmten Konditorei von Sils Maria, als
+ein Wagen vorfuhr, dem die vierte Schöne des Palace Hotels in Begleitung
+ihres Liebhabers entstieg. Es war die notorische liaison des diesjährigen
+Sommers. Er, so stolz auf seine Figur, daß er Modell stand, sowie man nur
+hinsah, aber dabei das Entzücken seines Schneiders mit dem des Malers
+verwechselte; die Stirn niedrig und leer, wie die eines Stallbediensteten,
+und einen der Anlage nach gewiß nicht groben, aber schon stark vergröberten
+Kopf. Bald, sehr bald würde von dem ganzen Zauber nur noch die Hengstallüre
+übrigbleiben.
+
+Die Schöne hatte am nächsten Tische Platz genommen, so daß ich ihre kühle
+und strahlende Erscheinung mit Muße betrachten konnte. Der Schmelz, die
+Zeichnung der Brauen und des Ovals, die Augen, wie große, kostbare
+Edelsteine eingesetzt, waren die eines vollendeten Renaissancegesichtes.
+Man konnte sich kein typischeres denken. Ihr Lächeln beunruhigte. Und doch
+war sie so jung! Jugend hielt noch, wie die Staubfäden einer Blüte, Fesseln
+und Gelenke zusammen. Sie hatte sich erst ihres Schleiers entledigt, nun
+folgte der Hut. Sie legte ihn neben sich hin. Ihr Haar, mit unerhört
+raffinierter Schlichtheit getragen, umschmeichelte nur die Schläfen mit
+seinem Gold und ließ die Stirne frei, jetzt wandte sie den Kopf. Da aber
+kam ein platter Hinterkopf zum Vorschein, der Kopf der Viper, da woben
+schon unendlich leise Fäden an ihrer künftigen Häßlichkeit, und da kündete
+sich von fern der nach außen gerichtete, erinnerungslose Blick der
+Vierzigerin, ohne Rückwärtsschauen . . . Lange blieben die beiden nicht,
+stand doch die lange Fahrt noch aus, und mußte sie doch ruhen, bevor sie
+sich langsam wieder schmückte zum spätesten aller Diners. Nicht nur mit
+ihren Abendkleidern, auch durch spätes Erscheinen wetteiferten nämlich die
+Damen im Palace. Konnte auf der Welt etwas ordinäreres sein, als schon um
+neun zu Nacht zu essen? Und war dies nicht der Gipfel?
+
+Ihr Geliebter legte ihr jetzt den Umhang über, mit jener tiefen
+Ehrerbietung, die ein solcher Mann einer solchen Dame gegenüber, die solche
+Perlen mit in die liaison brachte, empfinden mußte. Auf seine Hand gestützt
+und von den Kindern des Dorfes umstaunt, schwang sie sich auf das Gefährt
+und griff in die Zügel.
+
+War es Einbildung? Hatte der Jammer des Krieges meine Augen geschärft? In
+dieser zarten und köstlichen Gestalt hatte ich deutlich den Brustkasten der
+Kindsmißhandlerin gesehen. Welch ein Scheinleben kutschierte da dahin? Das
+leichte Getrapp ihrer Pferde, dann das Echo ihres Getrappes hallte noch
+lange von den Felsen herüber.
+
+Was war es, das mich so feierlich stimmte?
+
+In den Gasthäusern und Hotels ging jetzt überall ein Klappern von Tellern
+und Bestecken los. Es wurde geläutet und gegongt, und wer nicht im
+Restaurant aß, der mußte sich bescheiden, vorgekochtes der Reihe nach zu
+essen; ein Zwang wie ein anderer. Da war es schöner, noch etwas zu
+streunen.
+
+Ein ungewöhnlich starker Mond stand in seiner ganzen Fülle; es wuchsen die
+Berge unter seinem Hauch, das Dorf erblaßte wunderbar, eine graue Bank ward
+ganz sie selbst. Die Funksprüche der sich bereitenden Nacht liefen wie toll
+alle Täler entlang, und schon waren alle Täler berauscht. Auf dem Platze
+hielt ein Gespann, die Gäule hielten die Köpfe gesenkt, als ob sie
+träumten. Ich lief hinzu. Es war die Post, die nach Maloja fuhr. Es gab
+noch einen Platz. Ich sprang hinein. Die Pferde zogen an. Bevor wir noch
+das Ufer erreichten, stieg ein Reisender aus. Außer mir blieb nur ein
+Liebespaar, das sich an den Händen hielt. Es war sich Mondschein genug.
+
+Den Kopf hinausgestreckt, trank ich diese Nacht, und hatte sie für mich
+allein. Nichts war mehr, wie es war. Der See lag im Silberschleier
+regungslos wie eine Tote, und der Mond goß Myrthensträuße über sie herab.
+Nur das Gras des Ufers erhob sich in gespenstiger Lebendigkeit. Sicher war
+es nur ein Spiel der Luft, daß die Berge hier zerfielen. Blöcke sich
+lösten, als sei die Welt zu Ende; Felsensäle bauten sich in die Klüfte ein,
+Riesengemächer warfen sich dazwischen. Es konnte nicht sein, und so sah die
+Welt nicht aus. Auch die Liebesleute waren anders wie zuvor. Dieser edle
+Pensieroso stieg als ein unscheinbarer Tourist in Sils Maria ein, und sie
+hatte weder dieses Haar, noch diese Lippen gehabt. Morgen würde hier die
+Sonne auf ödes Schilf vielleicht hinbrüten und das Paar nicht zu erkennen
+sein.
+
+Als um ein Uhr morgens der Wagen mitten in Maloja hielt, stieg es wortlos
+aus. Ich hatte kein Quartier bestellt und kam nicht unter. Außerhalb des
+Ortes lag noch ein Hotel. So marschierte ich jetzt allein die taghelle
+Straße weiter, geradeswegs auf einen neuen Absturz zu. Dort stand das Haus.
+Ein junges und verschlafenes Mädchen führte mich über manche Treppe hinauf:
+zufällig stünde das einzige Zimmer frei, das für Gäste reserviert blieb.
+Alle andern hielt während des Krieges die Militärbehörde in Beschlag. Die
+nächste Poststation sei italienisch.
+
+Sie reichte mir eine Petroleumlampe und verschwand. Die Stube hatte zwei
+Fenster und war schneeweiß. Ich warf den Kopf weit auf die mondbeschienenen
+Kissen zurück. So angelangt!
+
+ * * * * *
+
+Aber nicht lange, und der einsetzende Kampf zwischen dieser Mondnacht und
+der Dämmerung weckte mich aus dem Schlaf, Nebel mischten sich hinein und
+wollten alles für sich. Endlich ragten Tannenspitzen ins Leere; der Absturz
+war kein olympischer; eine Straße schwang sich, breite Kurven nehmend, in
+die Tiefe.
+
+Gedulde dich, Leser, auch dies Buch geht jäh zu Ende. Folge mir noch. Hoch
+steht schon die Sonne über das Bergland, ein anderes freilich als der
+vergangenen Nacht. Von ihrem Spiel erholt, verströmt der See sein Blau,
+nach allen Seiten, ganz verbuhlt. Myrthensträuße und Schleier sind
+vergessen und hängen als weiße Fäden im Gesträuch.
+
+Wie seltsam ist die innere Stimme in uns! Welcher Stachel hatte mich zu dem
+hart an der Schwelle des aufgerissenen Gebirges und kaum, daß es tagte,
+hinauf, hinab und wieder emporgetrieben, wo sich zu höchst der Wälder und
+noch in ihrer Mitte der See entzieht, verborgener Tränen zerflossener
+Kristall, ohne Kahn und ohne Erdenstaub; und dann wieder zurück in die
+Gaststube, um zu zahlen, und dann wieder aufzubrechen, mit der umgehängten
+Tasche und dem lächerlichen Hut, an der Waldseite des Sees den Weg
+einzuschlagen, den ich jetzt lief. Es war ein Notbehelf! Ich lief, um nicht
+zu tanzen. Denn ich war inmitten eines Festes. Umgeben und geborgen, als
+sollte die Gehobenheit nicht wieder von mir weichen, erreichte ich ein
+Dorf, das als Landzunge weit in den See hinausstieß und jenseits der Zeiten
+zu liegen schien. Eine alte Frau saß auf einer Bank vor ihrem Hause, und
+ich bat sie, mich drinnen ausruhen zu dürfen. Wir verstanden einander
+nicht, aber die Müdigkeit spricht ihre eigene Sprache zwischen Frauen. In
+einer Stube des Erdgeschosses, die durch ihre edle Sauberkeit den Eindruck
+des Luxus erweckte, stand eine schmale, gepolsterte Bank. Dort schlief ich
+auf der Stelle ein.
+
+Als ich erwachte, war der Tag noch hell, aber schon gebräunt vom Golde des
+Abends, und ich mußte eilen, um vor Anbruch der Dunkelheit in Sils zu sein.
+Auch für mein Herz ging jetzt die Sonne unter, und das Fest verklang. Von
+den Strapazen ausgeruht, war es zugleich, als sei mir durch den
+kräftigenden Schlaf, wie ein Alltagszwilch, ein gröberes Ich übergeworfen
+als das, welches seit gestern das meine gewesen war. Ob wohl mein Koffer
+eingetroffen sei, wo meine Brotkarte stecken konnte, wo ich absteigen
+sollte, derartiges beschäftigte mich wieder. Aber ich spreche von
+verloschenen Kronleuchtern, oh Leser, und du weißt noch nicht, warum sie
+brannten?
+
+Aber vielleicht hast du erfahren, daß es Träume gibt, deren Nachhall, statt
+zu verklingen, sich bleibend, wie ein Echo zwischen Klüften, in unserem
+Innern fängt. -- Solcher Art war der durchdringende Ton der Mondnacht in
+Maloja.
+
+Es ist nicht gleich und nicht vergänglich, wie sich die Kurve eines Fußes,
+der Umriß einer Schulter anläßt, wie ein Knie sich rundet, wie eine Hüfte
+fällt. Es ist das Flüchtigste nicht gleich. Und ganz und gar nicht gleich,
+noch zufällig ist es, welchen Ganges wir den Hügel abwärtsgehen.
+Hochzeitlich können solche bald versenkten Dinge unverloren
+weiterschwingen.
+
+ * * * * *
+
+Die Wolkenversammlung war noch immer nicht anberaumt; vielmehr vertiefte
+sich am nächsten Tage das weiß des Himmels und musizierte mit dem
+Himmelsblau über das Fextal, das bewegteste der Erde, auf und nieder
+schwingend wie eine Schaukel. Ragte, von unten gesehen, ein Kirchlein zu
+oberster Schneide für sich allein, so stand es, war man oben, ganz
+unsensationell in einem Wiesenviereck, und sein rostiges Gitter knarrte im
+Winde, und nur die Berge rückten verändert und entschlossener zusammen.
+Wieder in der Tiefe und weit hinausgeschoben, richtete ein Gasthaus seine
+Glasveranda dem Gletscher entgegen. Auf ihn ging ich jetzt zu. Doch mit dem
+Lichte wandelte sich mein Gemüt. Es brütete milchweiß von einem hohen, aber
+sich überziehenden Himmel. Hinter mir fuhr ein kleiner Wagen her. Darin
+saßen zwei Herren, die angeregt mit einer noch jungen Dame plauderten. Aber
+der Weg hörte bald auf, fahrbar zu sein, und ich verlor sie aus den Augen,
+graugrünes Nadelgehölz war um mich her und der entfärbte Fluß zu meinen
+Füßen. Stolperte ich jetzt und stürzte ich hinab, wer würde mich vermissen?
+In welchem Hause entstand eine Lücke, wenn ich nicht wiederkam?
+
+Kein Dach, kein Herd, kein Wesen; überall zu Gaste! keinem Menschen
+ungeteilt und wirklich zugehörig; als immer wiederkehrenden Gefährten die
+entsetzliche, gefürchtete Melancholie, die ich so feige, so vergeblich
+floh. Nun stellte sie mich angesichts dieses Tales der Verlassenheit. Wozu
+bist du hier? herrschte mich seine Stille an.
+
+Der sonnenlose Himmel über dem Nadelgehölz, mehr noch der Fluß, dem
+Gletscher hier entlassen, und seinen Lauf so blaß beginnend, griff ans
+Herz.
+
+Plötzlich stand die noch junge Dame vor mir und sprach mich bei meinem
+Namen an. Nun war stets meine erste Sorge, daß er in keine Hotelliste kam.
+»Woher wissen Sie, wie ich heiße?« fragte ich und wollte die Spröde
+spielen; aber da gab sie mir zu wissen, daß sie meine Bücher kenne. Sie
+lebte in Genf und war Amerikanerin. Wir wechselten einige Worte, dann stieg
+sie wieder hinab. Gleich darauf rollte das Wägelchen mühsam aufwärts, in
+dem die noch junge Dame mit ihren Freunden plauderte. Gewiß -- man sah es
+ihr an -- standen, wenn sie nach Hause kam, ihre Abendschuhe bereit, und
+ein freundliches, ihr ergebenes Zöfchen half ihr, sie anzulegen. Wie
+verwahrlost ich war!
+
+ * * * * *
+
+Als ich am Morgen darauf erwachte, lag weithin Schnee. Ich klingelte
+entsetzt. Der erste Postwagen brachte mich ans andere Ende des Tales, zum
+Zuge, und schnell in eine vom Winter noch nicht heimgesuchte Welt hinab, wo
+Zürich einer entbrannten Ebene zulief, die von der Glut des Sommers
+weiterträumte. Hier reißt der See ein weites Fenster nach dem Himmel auf:
+es ist die hellste Stadt der Welt.
+
+Aber von hier aus jagte mich eine dringende Depesche Fortunios fort, der
+mich bat, sofort nach Spiez zu kommen, mit dem Zusatz: »Besitzer auf zwei
+Tage verreist.«
+
+So war ich abends unterwegs zur Villa des Geölten, die ich nicht wieder zu
+betreten glaubte. Da war das Gitter, der Kiesweg, der sich so schnell
+verlor. Man sah das Haus erst, wenn man davor stand.
+
+Fortunio aber war schwer krank. Verfallen, zerfurcht, zerwühlt. Wir aßen im
+Schloßhotel zur Nacht und besprachen die Abreise für den morgigen Tag. Ich
+fühlte meine Arme erstarken, in dem Wunsch, ihm zu helfen, und unser schier
+geisterhaft geschwisterlicher Bund war durch die Trennung neu erhellt. Am
+nächsten Tage aber lag er zerrüttet, ohne Energie.
+
+»Morgen, morgen«, sagte er. Ich reiste ab, nach Bern, Fortunia zu
+alarmieren. Ihr Gesicht erinnerte an ein von schwerem Regen heimgesuchtes
+Land. Ohne Schonung schilderte ich seinen Zustand und ließ dann die Sache
+bei ihr. Um nicht in Bern zu bleiben, fuhr ich abends nach Montreux.
+
+
+HERBST 1918.
+
+
+Montreux.
+
+Nur lachenden Auges werden hier die Zeitungen gekauft. Der Belgier und sein
+Kind waren ohne Schadenfreude. Die Filme arbeiten schon stark mit
+elsässischen Hauben. Sie werden lebhaft beklatscht, in der Voraussetzung,
+daß sie nicht mehr lange deutsch bleiben. Schließlich ein begreiflicher
+Jubel. Entsetzlich ist nur der Applaus, als englische Munitionskammern
+aufziehen, emsig mit Granatendrehen beschäftigte Frauen und Geschosse in
+unabsehbaren Reihen. »Gehen wir!« rufe ich, und wir verlassen das Haus. Süß
+schlagen die Wellen ans Land. Die Berge des andern Ufers erheben sich
+unmittelbar, als gründeten sie in den Tiefen des Sees. Sie sind kahl und
+scheinen dennoch weich, selbst im Dunkel der Nacht; wie Gesänge abgestuft,
+steigen und fallen und treten zurück und verhallen die Berge Savoyens.
+
+5. OKTOBER. Glasenfrosts in Villeneuve geben mir die Nachricht, daß
+Deutschland um einen Waffenstillstand nachgekommen ist: Mein einziger
+Wunsch ist, es möge die Welt, die es als Sieger verloren hatte, als
+Besiegter wieder für sich gewinnen. Die In-die-Knie-Zwinger Britanniens,
+die ohne Briey nicht leben konnten, sind mit einem Male still.
+
+
+6. OKTOBER bis Anfang NOVEMBER.
+
+Fortunios sind angekommen, sie wohnen in Vevey, und er erholt sich. Zum
+ersten Male bildete sich unser Zusammensein als heller Punkt und geordnete
+Fläche heraus. Augenmerk und Sorge sind durch die Ereignisse zu sehr in
+Anspruch genommen, um uns bewußt zu werden, wie sehr es einem bekränzten
+Floß inmitten schwarzer und gestoßener Fluten glich; Und wie hätten wir da
+anders als in der Erinnerung wahrgenommen, daß wir schöne Tage verlebten?
+
+A. H. Pax ist aus Bern gekommen. Der Belgier und sein Kind finden sich
+regelmäßig ein.
+
+Dabei wütete die Grippe. Viele Särge harrten der Bestellung. In den
+Blumenläden häuften sich die Kränze, Halbgenesene, in tiefer Trauer, traten
+leichenblaß das erstemal vors Haus.
+
+Doch die Zärtlichkeit des Herbstes, seine Zärtlichkeit und sein Verweilen,
+seine Glorie ward unendlich.
+
+Eines Nachmittags strichen wir in den Höhen des Weinberges entlang. Unter
+einem silbern aufgerollten Himmel dehnte sich der See, schimmernd,
+unbewegt, ein wenig müde . . .
+
+Plötzlich, mit einem Ruck, fuhr der Wind weit und durchdringend auf, als
+stöhne er die ganze Erdkugel entlang das Ende der schönen Jahreszeit
+hinaus.
+
+Im Nu schlugen die Wolken über die Sonne hin. Fortunio hatte den Kragen
+aufgesteckt, sein Hut rollte den Berg hinab. Wir lachten. Doch der Weg war
+weit. Schon wußte der See nichts mehr von seinen Ufern. Unter Nebelschauern
+waren alle Berge, ja wir selbst, unsichtbar.
+
+Am nächsten Morgen war für jedes Kind ersichtlich, daß Fortunio die Grippe
+hatte, aber wir taten nicht dergleichen. Statt im freien, versammelten wir
+uns an seinem Lager. Man hielt es in jenen Tagen allein nicht aus. Bang und
+fröstelnd rückte man zusammen. Denn auf dem Streitroß, dessen Nüstern von
+Hoffart, Haß und Vergeltung sprühten, und wie ein Sturmgott kam ja der
+Friede heran. Wehe, es war jener Gewaltfriede, jener Macht- und Siegfriede,
+von dem in Deutschland so viel geredet worden war, und den abwehren zu
+wollen, den zu fürchten, als ein Verbrechen galt.
+
+Und indessen lösten sich in unserer kleinen Gruppe hineingetragene
+Dissonanzen weiter aus, und statt der chronischen Trübungen stimmten sich
+ganz ohne unser Zutun unsere Gemüter wie Instrumente zu täglicher, reinerer
+Melodie. Fortunias Gesicht glättete sich und erlangte seine Pinturichiotöne
+wieder, und während der Aufruhr stieg, bildeten wir eine uns selbst
+unvergeßlich gewordene Insel des Friedens.
+
+ * * * * *
+
+Als sich die Sonne nach einer Regenwoche wieder zeigte, war die Welt eine
+andere. Das Renommierboot mit seinem rostbraunen Segel zog wieder auf, aber
+es blähte sich über ein gesteiftes und gepeitschtes Blau; die
+weißgeharnischten Berge waren näher gerückt, und wo das Laub noch grün
+geblieben war, hatte es ausgeträumt, hing ohne Illusion, des Todes
+gewärtig, und daß es fallen würde. Im Hotel spielte die Heizung, und ein
+von sich überzeugtes Ehepaar: le Vicomte Edmond de la Province, einem Roman
+von Claude de Bernard entlaufen: Madame korrekt bis ins Grab hinter der
+vorangetragenen Corsage, Monsieur im Bart, Schloßbesitzer, zogen schweigend
+über Flur und Treppe, und faszinierten durch ihre abgründige
+Zurückgebliebenheit.
+
+Unsere Gruppe indessen hatte sich verkleinert. Erst war der Belgier und
+dann sein Kind erkrankt. A. H. Pax saß wieder in der Choisystraße. Das alte
+Deutschland stürzte wie eine Kulisse zusammen, und Trümmer waren fürs erste
+der einzige Ausblick. Fortunio, von Ungeduld verzehrt, erklärte aufstehen
+und nach Berlin reisen zu wollen. Fortunia fuhr nach Bern, das Haus für die
+Abwesenheit zu bestellen, und ich folgte mit ihm den Morgen darauf. Wir
+saßen einander im Zuge gegenüber, sein Husten war ein Gebell. Am selben
+Nachmittage brachten wir Fortunios mit Pax an der Spitze, zur Bahn und
+ließen sie, wie Flammen über das Moor, ins Weglose ziehen. Denn schon
+fluteten die aufgelösten Heere in unbeschreiblicher Verwirrung aus den
+besetzten Gebieten ins Land zurück. Die Lauben hinabsehend, unschlüssig wo
+ich absteigen sollte, versagten mir plötzlich die Knie, Fröste wie graue
+Blitze durchfuhren mich, und mein Husten war ein Gebell. Diese nicht zu
+verkennenden Symptome jagten mich wieder an die Station, um mit dem letzten
+Zuge nach Montreux zurückzufahren. Denn lieber, als angesichts des Gurten
+wollte ich dort erkranken, wo im Hotel Suisse als chefesse de réception
+eine so angenehme Erscheinung waltete, und ich den Nachtportier zum Freund
+besaß, ein komischer, alter Schwabe, den ich deutsch ansprach, sowie der
+Lift ohne Insassen und in der Schwebe war.
+
+Nun war es Sonntag. Das heiße Wasser also lief. Vielleicht vertrieb mir
+eine heiße Dusche den Frost. Aber das Wasser war schon lau. Dafür gerieten
+die grauen Zickzackblitze in Brand und drückten mir eine Feuermütze ins
+Genick. Da ließ ich mich denn grippekrank melden und stellte anheim, mich
+aus dem Hause zu schaffen. Aber die angenehme Erscheinung aus dem Bureau
+kam herauf, mich zu beruhigen. Dann äußerte sie einige unverständliche
+Dinge und verschwand. Bald darauf trat ein Mann herein, den ich für einen
+Raubmörder hielt, gefolgt von einem fürchterlichen und handfesten Weib ohne
+Kopf, seiner Helfershelferin. Ich wollte rufen, da hatten sie mich schon
+gepackt. Jetzt, dachte ich, ist doch alles eins.
+
+Eine Stunde später lag ich mit aufgerissenem Rücken, geschröpft wie ein
+Hengst. Ich erzähle dies nur, weil ich dank dieser so immediaten und
+buchstäblichen Roßkur schon nach zehn Tagen, statt vielleicht nach Wochen,
+die Grippe spurlos überwand.
+
+Mittlerweile erdröhnte dem so glücklich gewesenen Deutschland die im Lauf
+seiner Geschichte noch immer zurückgekehrte Stunde seines Unheils. Es war
+der eine Gedanke meiner leeren Tage und langen Nächte; ihn auszuschlagen
+war unmöglich.
+
+Im ersten Stadium meines Fiebers fiel mir an dem Stubenmädchen, das hin und
+wieder in mein Zimmer trat, nichts bemerkenswertes auf, als daß sie mir
+sehr einsilbig und nicht freundlich vorkam. Pech! dachte ich.
+
+Am dritten Morgen aber, als sie das Zimmer räumte, folgte ich ihr mit den
+Augen, während sie wähnte, daß ich schlief, und das Herz stand mir still.
+Hermione! wollte ich rufen. Nein, Andromache im Palast des Priamus, ob
+ihrer Anmut erstaunt, und der leichteste aller Tanagra zugleich! So stand
+sie, den Besen führend, in der Mitte des Zimmers. War ich im Delirium
+gelegen, daß ich sie nicht gesehen hatte? Sie kam auf mich zu: »êtes-vous
+plus mal?« Aber ich wehrte ihr mit beiden Händen ab. »Cela m'est égal«,
+sagte sie, »de prendre la grippe.« Was war melodischer, dieser Mund, diese
+Lippen oder diese Stimme? -- Und ein solches Geschöpf umgab mich mit ihrer
+Pflege. Welch unerhörter Luxus! Die Sonne ging vor meinem Fenster auf,
+alles Leben im Geleite, und lachte des Todes bis zum Mittag. Pauline
+Glasenfrost kam täglich aus Villeneuve, brachte die Zeitungen, beschenkte
+mich und spottete der Ansteckung. Knirschend las ich alle Noten und Appelle
+an die Großmut der Sieger. Welche Verkennung der Situation! Aber was
+bedeutete dieses Versagen angesichts der Würde, welche ein solches Unglück
+gab? Und wiederum würden nur die Unschuldigen leiden. Die Taktik der Sieger
+würde es den Schuldigen ermöglichen, sich herauszureden. Schon damals sah
+man es kommen. -- Ich läutete und bat Hermione, mir von sich zu erzählen.
+Sie stammte aus dem Wadtlande. Ihre Heimat lag hoch über den Weinbergen und
+hatte die Gletscher im Auge. Ich bat sie, einen hellen Mantel von mir
+anzulegen. Wie er ihr stand!
+
+8. NOVEMBER. Bevor mein Freund, der Nachtportier, zur Ruhe ging, brachte er
+noch die erste Post. An diesem Morgen trat er ein, reichte mir ein
+Extrablatt und verkündete lakonisch: »In Bayern ist Republik.« Mein erstes
+Gefühl war kein gelinder Schrecken. »Es mußte kommen«, sagte ich dann. Der
+Portier war Demokrat. »'s isch recht. Runter mit dem Zeug«, sagte er und
+ging. -- So war also Bayern Republik. Das Extrablatt war nur ein kurzer
+Wisch; eins aber wußte man sofort: daß dieser so wenig ästhetische König
+nie wiederkehren würde. Die Wittelsbacher waren stets Liebhaber des Schönen
+gewesen, und in ihrer natürlichen Diskretion eines der sympathischsten
+Fürstenhäuser der Welt. Daß er aber auch nicht eine einzige ihrer typischen
+Eigenschaften besaß, sondern durch eine sture Haltung während des Krieges,
+sowohl in der elsaß-lothringischen, wie in allen politischen Fragen statt
+vermittelnd zu wirken, überall nur Unheil anrichtete, flößte die geradezu
+unwiderstehliche Abneigung für ihn ein.
+
+Plötzlich blieben Briefe und Zeitungen ganz aus, und die Spannung wurde
+unerträglich. Es wehte eine scharfe Bise, doch ich fuhr nach Villeneuve.
+Vielleicht hatten Glasenfrosts etwas gehört. Sie waren von den rührend
+beseelten Manifesten Eisners sehr eingenommen, und wirklich hatte man in
+diesen Tagen die Illusion, am Anfange einer besseren Zeit zu stehen, ob es
+sich auch nur um eine einzige, schnell aufgehaltene Stunde handeln sollte.
+Und nicht einmal ihr ließ man Zeit. »Man verlange von uns nicht,« beeilte
+sich die die Politik Clemenceaus vertretende Freie Zeitung zu schreiben,
+»daß wir uns mit dieser Sache da, genannt deutsche Revolution, ernstlich
+befassen.« Und man eiferte um die Wette, sie zu »dieser Sache da« zu
+machen. Sie hatte es schwer, alle Konjunkturen dafür um so leichter. Schon
+war sie wie eine Decke, um deren Enden sich die Schuldigen, die Unlauteren,
+die Banditen rissen, und alle Karrierejäger gerieten wieder ins Laufen. Wer
+hätte gedacht, daß alle die dienstbeflissenen jungen Herren, die mit
+umgeschnallter Seitentasche so flink und so stramm ins Hauptquartier
+Meldungen überbrachten und entgegennahmen, überglücklich, bis zu Ludendorff
+in Person vordringen zu dürfen, daß sie im Grunde ihres Herzens solche
+Feinde des Systems und so demokratisch waren? Nie sah die Welt ein vom
+alten Regime so gut besuchtes nouveau régime!
+
+Suchte man im eigenen Garten das scheue Pflänzchen, das mitten im Sturme
+Morgenluft witterte, von allen Seiten an beliebige Stakete zu biegen, und
+sah es das Ausland mit begreiflichem Mißtrauen keimen, so erfuhr man in der
+Schweiz infolge des gerade in diesen Tagen einsetzenden Generalstreikes
+überhaupt nichts davon: er stand allein im Vordergrund und beschäftigte
+alle Gemüter. So wurde hier, gerade in ihrer kurzen Glanzzeit, die deutsche
+Revolution unterschlagen.
+
+In jenen aufregenden Wochen kam ich wieder mit Romain Rolland zusammen.
+Mehr als je zeigte er sich jetzt als der Mann ohne Illusion, was Wilson, ob
+er auch dessen guten Willen nicht in Frage stellte, und was die Entwicklung
+der Dinge betraf. Ich fand ihn viel zu skeptisch.
+
+Im selben Hotel, wie Glasenfrosts und Rolland, wohnte auch eine Schweizer
+Familie, die sich sehr für ihn interessierte, durch seine große
+Zurückhaltung aber in Schach gehalten fühlte. Eines Mittags, da ich bei ihr
+zu Gaste war, bat ich ihn, ein übriges zu tun, und sich zu uns zu gesellen.
+
+Ich sehe ihn so deutlich vor mir, wie er an jenem Tage, seine alte Mutter
+am Arme führend, in seiner ruhigen und ein wenig geheimnisvollen Art zu uns
+stieß. Das Gespräch drehte sich natürlich um den Generalstreik und dann um
+den Bolschewismus; für die Westschweiz hätte man zum Glück ein treffendes
+Agitationsmittel gegen ihn, da er deutscher Import sei. Rolland schwieg.
+
+»Der hat der Welt gerade noch gefehlt«, sagte ich, und sah einladend zu ihm
+hinüber, damit er sich äußere. Vergebens. Er erwiderte nur auf direkte
+Anfragen und ohne eine Meinung abzugeben. So sprachen halt in Gottes Namen
+nur wir. Ich ging dann zu Glasenfrosts hinüber und schilderte das
+mißglückte Beisammensein, bei dem ich zuletzt als verzweifelte Wortführerin
+die Grippe, die Witterung und endlich die Tatsache erörtert hatte, daß jede
+Stadt, ja jeder Ort ein anderes Modell für seine Leichenwagen besäße. Aber
+auch diese originelle Wendung fiel unter den Tisch.
+
+Es hatten Regenschauer eingesetzt, und Glasenfrosts hielten mich noch eine
+Weile zurück. Wir waren uns in diesen Tagen noch sehr einig, und er hielt
+sich bereit, nach München zu fahren und Eisner bei Seite zu stehen.
+Vielleicht hatte doch die Geburtsstunde des tausendjährigen Reiches
+geschlagen, und die Gefallenen waren nicht umsonst an seiner Schwelle
+geblieben. Waren sie nicht schon ein einziges Heer?
+
+Aber Rollands rätselhafte Haltung ließ mir keine Ruh, und als ich endlich
+aufbrach und die langen, klosterähnlichen Gänge des Hotels entlangging,
+machte ich plötzlich kehrt und klopfte, ohne mich zu besinnen, an seine
+Türe. Es war ein kleines Durchgangszimmer, mit einem bescheidenen Pianino,
+auf dem sich Musikalien häuften. Rolland stand in Hut und Mantel, im
+Begriffe auszugehen, und sah mich erstaunt an. »Es tut mir sehr leid,«
+sagte ich, »Sie so zu überfallen. Aber ich möchte wissen, was Sie
+eigentlich denken. Sie schweigen sich aus, Sie lächeln ein wenig hämisch,
+und das ist alles. Wer soll da klug daraus werden? -- Ich frage Sie nicht
+aus Neugier.«
+
+Rolland legte seinen Hut auf das Klavier.
+
+»Sie sind so ahnungslos,« sagte er, »Sie wissen so wenig, was sich
+bereitet.«
+
+»Aber doch nicht der Bolschewismus«, rief ich. »Das ist doch nicht Ihr
+Ernst! Und Sie sind doch kein Bolschewik.«
+
+»Nein,« sagte er, »aber ich habe nicht Ihre summarische Auffassung des
+Problems.«
+
+»Das neuerwachte Deutschland«, sagte ich, »wird die Welt davor retten.«
+
+Rollands Züge nahmen einen müden Ausdruck an.
+
+»Ich bin voll guten Mutes«, fuhr ich fort. »Haben Sie die letzten Aufrufe
+gelesen? Diese Absage an jegliche Gewalt? Eine neue Ära hat ihren Anfang
+genommen. Wir haben unseren Militarismus zum Teufel gejagt. Endlich schlägt
+die Stunde, wo man sich angesichts eines wahren, befreiten und
+sympathischen Deutschlands auch seiner unsäglichen Leiden entsinnen wird.«
+
+»Kommen Sie,« lächelte Rolland, »welches Interesse haben heute die Sieger
+an einem sympathischen Deutschland?«
+
+»Aber nicht nur die Sieger«, versicherte ich. »Die ganze Welt hat ein
+Interesse daran, daß die deutsche Revolution aus den Verirrungen der
+französischen wie der russischen lerne und endlich jene vorbildliche und
+maßvolle sei, welche die Menschheit ihrem Glücke näherbringt. Und alle
+Anzeichen sprechen dafür: Hören Sie doch, mit welch reinen Glockentönen sie
+sich kündet. Oh sie wird schön!« Rolland lächelte nicht mehr. »Sie wird
+furchtbar!« sagte er. »Morgen schon wird Eisner sich überrannt sehen und
+seine Gegner zu beiden Seiten haben. Der Bolschewismus ist in Rußland nicht
+nur durch die Stoßkraft der Linken, sondern mehr noch durch den Gegendruck
+der Rechten das geworden, was er heute ist. Man kann die Deutschen nicht
+genug verwarnen. Wenn auch bei ihnen die Reaktion eine Bewegung zu
+unterdrücken unternimmt, die wie ein ausgetretener Strom heranbricht, so
+werden sie ganz ähnliche Zustände herbeiführen. Es ist absurd, seiner
+elementaren Gewalt morsche Dämme entgegenzustellen, statt sich seinem Lauf
+anzupassen, und was er lebendiges heranträgt, zu vertreten. Unsere
+Gesellschaft hat ihre Berechtigung gehabt, aber sie hat versagt, und ihre
+Zeit ist um. Mögen wir es noch so sehr bedauern, mag viel Schönes mit ihr
+untergehen, die Reihe ist nicht mehr an uns, sondern an den anderen. Nichts
+kann diese Tatsache aus der Welt schaffen. Wir müssen uns zu ihr stellen.«
+
+»Sollen wir denn alle Holzhacker werden?« fragte ich betreten.
+
+»Der Typ des Literaten,« entgegnete Rolland, »dem wir seit einigen
+Dezennien so vielfach begegnen, wird jedenfalls verschwinden, und ich weine
+ihm nicht nach. Ein Gespräch mit nach Bildung strebenden Handwerkern ist
+mir heute schon viel genußreicher und interessanter. Was der Literat mir
+sagen wird, weiß ich von vornherein.«
+
+»Mein Gott,« seufzte ich, »es pflegen nicht einmal die Könige freiwillig
+abzutreten, viel weniger ganze Kasten. Sie werden den Kampf aufnehmen und
+uns eine blutige Morgenröte bescheren. Was ist zu hoffen?«
+
+»Nichts für die Gegenwart, sie ist zu korrupt«, sagte er. »Aber alles für
+die Zukunft. Ich bin kein Pessimist.«
+
+Rollands Worte, die ich auf dem Heimweg überdachte, waren viel
+reichhaltiger und prägnanter, als ich sie hier aus dem Gedächtnis
+wiedergebe. Wenn aber eine neue Klasse zur Herrschaft gelangte, würde sie
+weniger versagen, als alle anderen, und war anzunehmen, daß ohne furchtbare
+Erschütterungen die frühere Gewalt sich von der neuen aus dem Sattel heben
+ließe und etwa mit Rolland eingestehen würde, »ihre Zeit sei um?«
+
+Meine Eindrücke von St. Moritz schwebten mir vor, und ich dachte an
+Hermione, wie edel sie war. Aber war nicht alles erlesene prozentual? Was
+also stand von den Massen zu gewärtigen? Die Macht selbst mußte
+abwirtschaften und sich auf neuer Basis konsolidieren. War nicht allem
+Anschein nach die Ära der schlechten Päpste geschlossen, weil sie
+verhältnismäßig machtlos geworden waren? Anderseits hätte der Papst die
+Rolle Wilsons mit mehr Glück, mehr Einblick in die europäischen
+Verhältnisse übernehmen können, wäre er so mächtig gewesen wie er. Macht
+also war und blieb die Losung. Eine Macht jedoch, die keine Lockung dem
+Gemeinen böte, ganz auf Erprobung ihrer Träger begründet, ohne Vorteile für
+ihn, ohne Befriedigung des Ehrgeizes, anonym vielmehr, Verzicht und
+Selbstentäußerung bedingend, als Stein des Weisen der Weise selbst. Oh
+Zarastro, Herr der weltabgewandten, namenlosen Gewalt!
+
+Schwer und langwierig, immer wieder aufgehalten und die Anspannung von
+Generationen erfordernd, aber nicht unmöglicher als die endlich geglückte
+Beherrschung der Luft, wäre die gleichsam auf immer luftigeren Pfeilern
+emporgehobene, in sich selbst beruhende Macht.
+
+Ich ging, vom Winde förmlich vorangetragen, den Weg nach Montreux. Die
+Wellen zogen in finsteren Reihen zum Angriff, und war dort nicht die Weide
+von Territet, sie, die im Frühling in den Schleiern ihres jungen Grüns vor
+Entzücken über sich selbst zerfloß? Nun aber schlug der See mit großem
+Getöse bis zu ihnen auf, die müde niederhingen bis zu ihm; Und dort hinter
+seinem Gatter hatte angesichts der Ufer ein Tulpenbeet geblüht. Die
+stillsten aller Blumen standen dort so sanft und so gerade! oh Weide von
+Territet! Oh stille Tulpen, mit denen ich gewesen war! Was blieb ich am
+Gitter hängen, die Hände an die Schläfen gepreßt, der Knecht mit dem Talent
+des einzigen Gedankens? Törichte Hoffnungen hatten mich schon wieder
+hingerissen, denn der Winter unserer Leiden stand noch aus. Der Stein aber,
+mit dem ich mich schleppe, zermalmt mir das Hirn. Wer legt das Fundament
+des sich immer schroffer nach innen ziehenden Baues, mit den immer
+abweisender sich schließenden immer geheimeren Pforten, durch keine andere
+Gewalt zu sprengen, als jene, welche der Himmel leidet.
+
+Die Theorie einer immer strengeren Auslese -- der Natur selber entnommen
+--, weit entfernt, eine hochfahrende zu sein, ist ja die demütigste der
+Welt. Keine führt so tief in unser Inneres hinab, um aufs neue dasselbe
+Schauspiel wie nach außen zu enthüllen. Denn hier sieht sich der Berufene
+noch einmal einem ganz ähnlichen Kampfe überwiesen. Wie unbegreiflich sind
+oft seine Schwächen! ebensovielen untergeordneten Wesen vergleichbar sind
+sie gegen ihn in Aufruhr und sind beständig die Schlingen gelegt. Daß der
+Gerechte siebenmal des Tages fällt, konnte nur ein Gerechter äußern. Zwar
+ist sein Merkmal, sich immer wieder aufzurichten und einzuholen. Aber jedes
+versagen läßt an Boden verlieren, die Gelegenheiten sind gezählt, und eines
+Tages ist man hinter sich zurückgeblieben. Keiner ist auserwählt, der sich
+nicht durch eigene Kraft dazu vermochte. Berufener und Auserwählter, wie
+gefährdet sind beide! Denn so manchen, der seinen behielt, stürzte ein
+Laster von seiner Höhe.
+
+ * * * * *
+
+Und nun kam ein Tag, an dem Montreux, bunt wie ein Jahrmarkt, den tollsten
+Anblick bot, seitdem es stand. Alle Länder der Erde -- bis auf die paar
+niedergerungenen -- beflaggten das Ende des Krieges. Und nicht nur an den
+Dächern und von den Fenstern, den Mauern und Toren, sogar an den Menschen
+selbst schlugen Fahnen hin und her; von den Jacken, den Hüten, ja den
+Händen der Kinder zogen Fähnchen auf. Schon sprangen die internierten
+Offiziere mit sehr deutlicher Siegermiene (kannte man die nicht von Potsdam
+her?) von den Autos ab. Es war ein allgemeiner Jubel, von Hohn und
+Verwünschungen untermischt. Wer diesen Tag hier erleben mußte, der
+erwartete nichts. Dem kündete sich der Geist des Friedens von Versailles
+und Saint Germain. Das jubelnde Gewoge, die Saturnalien von Fahnen raubte
+mir die Fassung. Ich lief meinen hervorbrechenden Tränen davon, die Häuser
+entlang, am Bureau des Hotels vorbei, in mein Zimmer hinauf, wo ich mir den
+Schleier vom Gesicht riß: ein Klageweib! -- Prophetin meines eigenen
+Schicksals, als ich zu Anfang dieses Krieges schrieb: »Leute wie wir,
+werden am Tage des Sieges sich verkriechen müssen, denn immer wird es
+Jerusalem und seine Kinder sein, um die wir weinen werden.«
+
+Die Hungerblockade blieb von den Siegern, die für Recht und Menschlichkeit
+gekämpft hatten, über den erdrückten Gegner, auch nach Einstellung der
+Feindseligkeiten, verhängt. Und es lag, wie Rolland mir vorhergesagt hatte,
+nicht im Interesse der Sieger, die edle und gepeinigte Opposition in
+Deutschland zu stützen. Eine unsympathische Regierung als Aushängeschild
+des deutschen Volkes aufrechtzuerhalten, gehörte vielmehr zu den
+strategischen Notwendigkeiten dieses Winters der Friedenspräliminarien von
+Versailles. Da ich kein Kriegsbuch schreibe, seien die nächsten Monate
+überschlagen.
+
+Während dieser Zeit fuhren die Militaristen aller Länder fort, sich wacker
+in die Hände zu arbeiten, und über jede Härte und Unmenschlichkeit der
+Alliierten triumphierten die Anstifter der Verwüstungen und Deportationen.
+Denn so kam doch ihre Mühle wieder ins klappern, und das Wort von der
+»erdolchten Front« schnupperte aushorchend in der Luft. Damals wurde ich
+aufgefordert, so manchen ganz vergeblichen und würdelosen Appell zu
+unterzeichnen, mit dem Hinweise, früher hätte ich zu protestieren gewußt,
+jetzt, wo die Untaten von der andern Seite geschähen, schwiege ich mich
+aus. Ich zog es aber vor, auch hier meine Kundgebung solo zu verfassen; sie
+erschien in der Neuen Zürcher Zeitung.
+
+Denn sie hatten ja recht: es galt zu sagen, daß diese ganze Welt
+ununterschiedlich des Teufels war. Traurig stimmte es nur, daß all die
+Mahnrufe und das viele Aufbegehren aus den Reihen derer stammten, die
+vielfach kein Recht dazu besaßen, während sie schwiegen, die wirklich
+Unschuldigen, abscheulich in Stich gelassenen, Betrogenen, die während des
+Krieges auf Gefahr ihres Lebens ungenannt und langen Mutes vor Gottes
+Angesicht das wahre Deutschtum vertraten.
+
+In der Opposition entdeckten sie jetzt alle ihr Herz. Mit welch herrlichem
+Gefühl und welch aufrichtendem Stolze stand Heinrich Mann der Republik zu
+Pate! dort riß nicht ein einziger aus; bei dem vielverfolgten Lichnowsky,
+laut des Friedensvertrages tschechisch gewordenen Magnaten, angefangen, der
+sich als Deutscher erklärte; was ich wirklich nicht erwähnen würde, hätten
+nicht so viele Patrioten aus ihren Papieren fremdländische Patente
+herausgeklügelt und sich mit einem Male als Schweden, Schweizer, Holländer,
+sogar als Engländer präsentiert. Die beste Illustration für den
+Nationalismus, die es geben kann.
+
+Jenes Wort, welches mir seinerzeit so verübelt wurde, daß es Boches in
+jedem Lande gäbe, sollte sich übrigens nur zu sehr bewahrheiten. Jeder
+Militarist, gleichviel welcher Staatsangehörigkeit, ist ein Boche. Und wenn
+er Schimpanse zu Aufsehern eines Volkes bestellte, das der Welt einen
+Grünwald geschenkt hat, so wäre er eben ein Boche; jener Grünwald aber, ob
+er sich ihn noch so oft holte, ei, der bleibt deutsch.
+
+Als ich um die Blütezeit zum ersten Male wieder das deutsche Ufer des
+Bodensees sah, war ich von der Pracht seiner Bäume bewegt. Diese wenigstens
+konnten dem armen und geschlagenen Lande nicht genommen werden. -- Und
+diese eben hatte es dem andern mit großer Genugtuung meilenweit abgehackt.
+Es ist ja das typische Merkmal des Militaristen, zu glauben, daß er den
+andern trifft, wo er sich selber entehrt.
+
+
+FEBRUAR 1919.
+
+Mit dem Berner Internationalen Sozialistenkongreß, dem seit August 1914
+einzigen Ereignis von wahrhaftem Sein, das mitzuerleben mir vergönnt war,
+schließt dieses Buch.
+
+Hoch über den Bernina-Alpen und dem Julier türmten sich die Wolken zu
+goldenen Toren und zu glühenden Rossen. Phaeton, wieder erstanden, lenkte
+sie wieder, die italische Ebene im Angesicht. Die Spuren der Räder, waren
+sie nicht der Rauch, der am Himmel verflog, während nach Norden hin das
+Gebirge zu Tod erblaßte? Auch der nach Süden gerichtete Wald starrte unter
+der Last des Schnees. Doch die Luft wehte so befiedert leicht über ihn hin,
+und es herrschte ein Licht wie über Palmen. Man hatte Glatteis unter den
+Füßen und war dem Winter entronnen.
+
+Aber Fortunios Gesicht war wie zerhöhlt von Ungeduld. »Haase ist schon in
+Bern,« sagte er, »der Kongreß ist im Gang. Wir müssen hinab.«
+
+Da es der erste war, dem ich beiwohnen sollte, verband ich weiter keine
+Vorstellung mit ihm, als die mehr oder minder langweiliger Reden, und ohne
+sonderliche Erwartungen betrat ich zum ersten Male den Saal. Kein
+Delegierter aber drängte von nun an eiliger zu ihm zurück. Oft war er in
+der Mittagspause noch geschlossen, als ich schon davor wartete.
+
+Zu den Morgensitzungen ging Frau v. Schreckenburg mit mir. Nachmittags saß
+ich am Tische mit Fortunios, vor uns die Franzosen. Da waren Renaudel,
+Cachin, Longuet, Rappaport, Loriot, Faure, dann kam der englische Tisch mit
+Henderson, Macdonald, Norman Angel. Von dort leuchtete das leichte Gold von
+Mrs. Snowdens Haar. Sie trug keinen Hut. Der schöne, zarte und energische
+Kopf war der Lichtpunkt des Hauses. Die Deutschen und Österreicher saßen
+ganz vorn, zu weit entfernt, um sie zu unterscheiden, es sei denn, daß sie
+sich erhoben.
+
+Bleich, abgezehrt, den schmalen und ehrwürdigen Kopf ein wenig seitwärts,
+stahl sich im fahlen Schein des Wintervormittags der, eben von der Bahn
+gekommene Eduard Bernstein bescheiden herein. Die französischen Sozialisten
+sahen ihn zuerst, eilten auf ihn zu und begrüßten ihn stürmisch. Daraufhin
+erhob sich der ganze Saal zu einer Ovation. Wie frohlockte da mein
+undemokratisches Herz!
+
+Als Viktor Adler auf das Podium trat, gaben wiederum die Franzosen das
+Zeichen zu einem lang andauernden Applaus. Adler war der Motor des
+Kongresses. Unerbittlich die Mitte einhaltend, wies er jede Parteilichkeit
+schroff zurück, von welcher Seite sie auch stammte; ihm war das gleich.
+Sein blasser Löwenkopf tauchte dann zum Angriff auf: »Un homme politique,
+mais pas de bonne politique«, forderte er Renaudel heraus. Seine Stimme
+klang wie Erz. Aber allen Differenzen, Vorwürfen, Ausreden, Angriffen zum
+Trotz fing eine Einigkeit sich herauszuschweißen an, und wie unter einem
+glühenden Hammer stoben Funken zu einer Garbe auf. Haß schmolz zu
+Mitgefühl. -- Zwar wurde jenen deutschen Delegierten, welche die Politik
+ihres Landes zu verteidigen suchten, prompt die Unmöglichkeit eines solchen
+Unterfangens zu Gemüte geführt, stellten aber dann ihre Angreifer den
+deutschen Militarismus immer wieder allein an den Pranger, so wurden sie
+regelmäßig von Zwischenrufen wie: »Et le militarisme français! et le nôtre!
+et tous les militarismes!« von der französischen Linken unterbrochen.
+
+Überhaupt war dieser französische Block der beste, der wärmste. Von ihm
+ging das Unbehagen aus, wenn ausschließlich das deutsche Sündenregister
+stieg. Scheu, Zartgefühl, Respekt (ja Respekt!) vor dem Geschlagenen (weil
+geschlagen), sie stammten von dort. Und schon gärte die Atmosphäre wie ein
+starker Wein. Klug wie ein Erzengel ließ der hochaufgerichtete Huysmans mit
+dem schönen Donatellokopf bei den Reden, die er französisch und englisch
+übersetzte, alles Unwesentliche fallen. Oft waren sie lebendiger als im
+Original. Behender löst kein Eichkätzchen die Haselnuß aus ihrer Schale.
+
+Ach, so viele gute Menschen waren hier! Unbeweglich, als wäre er nur eine
+Zimmerpalme, hielt sich unser aller A. H. Pax im Hintergrund; und wie
+Kerzenlicht im Mittagsscheine tauchte bald hier, bald dort Fortunio
+unauffällig auf.
+
+Hin und wieder kam in Frack und weißer Binde, pour finir sa soirée, ein
+Attaché gegangen und wirkte in dieser so weit vorgreifenden Luft wie eine
+Varieténummer aus einer veralteten und komisch gewordenen Welt. Der eine
+oder andere blieb gebannt, und die Geschniegeltheit fiel von ihm ab.
+
+Die Fürstin Patschouli aber war sehr ungehalten, was sie nicht hinderte,
+mir zwischen zwei Sitzungen ihren stärkenden Kaffee zu brauen. Sie wollte
+wissen, wer mich denn so interessierte. Ich nannte einige. »Quels noms!«
+sagte sie, zum Himmel emporblickend.
+
+Als Partei interessierte mich ja der Sozialismus so wenig wie jede andere.
+Aber das Ergebnis der kapitalistischen Ära war ein wirrer Knäuel ineinander
+verbissener Verbrecher, und es war eine Welt, welche der Sozialismus
+jedenfalls nicht bereiten half. Er hatte keinen Teil an ihr. Deshalb nur
+gab es keine andere Brücke als ihn, denn er war nur ein Weg, der
+weiterführt, indem er zurückgelegt und überwunden wird, niemals ein Ziel.
+
+Woher kam es aber, daß er, der angeblich auf rein materialistischer
+Grundlage beruhte, er allein unter allen Parteien, ohne Anstoß zu erregen,
+christliche Gleichnisse anführen durfte. Warum, statt Schamröte in die
+Stirn zu treiben, war es so rührend, wenn der geistvolle Longuet, der auf
+dem Podium auf und ab zu gehen pflegte, während er sprach, ein Zitat aus
+den Evangelien gebrauchte, oder wenn Mrs. Snowden eine Rede mit den Worten
+schloß: denn wir sind Brüder?
+
+Nach ein paar Tagen kannten wir einander fast alle. Einmal fielen wir an
+eine Tafel aus im geschlossenen Raum; eine unbändige Heiterkeit bemächtigte
+sich unser, aber wir blieben sitzen. Ich spielte mich auf die Wirtin auf
+und machte die Tischordnung, als sei das Essen von mir, A. H. Pax vermißte
+die Schnäpse, und wir kamen nicht aus dem Gelächter. Etwas in unserer
+Befreitheit erinnerte dabei ganz deutlich an jenes Gastmahl im Neuen
+Testament, von welchem der nicht im Feierkleide erschienene Eindringling in
+die äußerste Finsternis zurückgewiesen wurde. So hatten auch wir keine
+unsicheren Gestalten hereingelassen.
+
+Ich werde mich schwer hüten zu sagen, wer meine Tischnachbarn gewesen sind.
+In streng geschiedenen Gruppen, die einander nicht mehr kannten, fanden wir
+uns im Saale wieder ein. Denn wie der Chor der Gefangenen in »Fidelio«
+wußte man sich belauscht mit Aug' und Ohr, und vermied es, von Lager zu
+Lager sich zu grüßen.
+
+
+Der Sonntag.
+
+Er bildete die große Orgelpause des Kongresses. Um so lebhafter war in der
+Stadt das hin und her. Als ich die Treppe des Hotels Bellevue hinabging
+stieß ich mit Kurt Eisner zusammen. Er war schwarz und ganz neu angezogen.
+Auch der schwarze Schlapphut war neu. Wir wechselten ein paar Worte. Ich
+kannte ihn zwar noch nicht, aber so hielt man es in jenen Tagen.
+
+Leider war mein Zimmer winzig klein. Um Raum für den Kaffeetisch zu
+schaffen, mußte das Bett zum Sofa werden, und ich schüttete Kissen gegen
+die Wand. Um fünf Uhr erschien Haase. Der niedere Kragen, Kleidung,
+Struktur waren die eines Mannes aus dem Volk. Dabei lag in der Haltung des
+Rückens und der Schultern eine ungemeine Würde. Aber wenn sie Widerstand
+und Energie ausdrückten, so sprachen sie auch von rücksichtslosem Verbrauch
+sich verzehrender Kräfte.
+
+Auf dieser Figur eines Arbeiters saß ein Kopf, ganz beherrscht von stark
+auseinanderliegenden, majestätisch geweiteten Augen. Psychologisch viel zu
+neu, um an einen Rembrandt zu erinnern, schien er zugleich durch die
+Straffheit der bis zum Reißen gespannten Züge und ihr tragisches Kolorit
+nach begeisterten Evokationen seines Pinsels zu rufen. Wie der Ratsherr
+einer noch nicht errichteten Stadt -- die Leidenswerkzeuge unsichtbar im
+Wappen eingetragen --, so blickte, so ging, so bewegte sich Haase, so saß
+er jetzt in unserer Mitte, die Zeit besprechend und die Gefahren des
+revolutionären Deutschlands. Wir hörten zu. Es wäre falsch, von Ahnungen zu
+reden. Die Bangigkeit um einen Mann von Haases Edelsinn und Güte war ganz
+instinktiv.
+
+Plötzlich klopfte es. Die Stimmung und Geborgenheit unseres Zusammenseins
+war mit großem Geklirre dahin. Bestürzt sah ich Eisner eintreten, den ich
+doch gebeten hatte. Aber eine so andere Zone des Geistes brach mit ihm ein.
+Er trug sich wie am Morgen komplett in Schwarz, kein Stäubchen, vom
+schwarzen Schlapphut bis zu den Stiefeln (wie um die Reporter lügen zu
+strafen, die seine nachlässige Kleidung verkündet hatten). Halb Wotan, halb
+Konfirmand -- grau, nur der schüttere Bart und die müde Farbe des
+Gesichtes. -- Fortunios und ich saßen jetzt zu dritt auf dem Bett, und alle
+allgemeineren Themen traten vor dem besonderen der bayrischen Revolution
+zurück.
+
+Eisners romantische Schwäche für Bayern verriet sich sogar in einem hin und
+wieder freiwillig angeschlagenen Dialekt, dessen Unnatur etwas rührendes
+hatte. Und so war es mit der Revolution; sie war das Abenteuer seines
+Herzens, sein Geniestreich; was aber an dem Bilde fehlte, war die Kenntnis
+Bayerns: die Bayern, die sich hinreißen lassen, sind nicht dieselben, die
+sich wieder eines anderen besinnen . . .
+
+Etwas an München wird vielleicht noch lange bewirken, daß neue Sterne
+darüber aufgehen, etwas bewirkt aber, daß sie schnell wieder zu verlöschen
+drohen, günstige Konstellationen geraten dort sogleich mit
+entgegengesetzten in Brand. Eisner erzählte wie ein Rhapsode und besaß kein
+Ohr für das vielfältige Rauschen der mitten im Sturm entrissenen
+Meeresmuschel. Dies gab seinem Liede den schrillen und beängstigenden Ton.
+Haase das Wort abschneidend, erzählte er von dieser und jener Episode, die
+alles verderben sollte, und wider erwarten alles gelingen machte. Und Haase
+ließ ihn, wie ein älterer Bruder gewähren. Bei ihm war die Basis viel
+breiter; er wirkte harmonisch wie eine Orgel, die Macht war die Sache für
+ihn, für Eisner dagegen war sie die Arie, seine Bravourarie, an die sein
+Ohr sich fing. Nur wer näher zusah, gewahrte inmitten der scheinbar
+selbstgefälligen Glorie den erloschenen, weltabgewandten Blick und die
+bereite, heroische Absage an das Leben. Zu Haase gewendet: »Das wäre der
+Gipfel meiner Laufbahn,« sagte er, »mit blauweißen Fahnen gegen Preußen zu
+ziehen.«
+
+Aber »Fahnen« hatte er gesagt. Fahnen, Feste, Ansprachen, solcher Art waren
+die sündenlosen Waffen, zu welchen er griff. Für so ehrwürdige Ansichten
+belehrte ihn die rohe Kugel eines besseren, und schlug sich dies musische
+Haupt gegen das Pflaster zu Tode.
+
+Spät verließen wir an jenem aufregenden Abend meine Zelle: die beiden
+Delegierten gingen noch zu einer Ausschußsitzung; viel zu erschöpft und
+aufgewühlt, um allein zurückzubleiben, aß ich mit Fortunio zu Nacht. Lange
+sprachen wir noch von den beiden. Er meinte, Eisner sei viel zu feinfühlig,
+als daß ihm entgangen wäre, wie sehr wir Haase vorgezogen hatten. Nun hatte
+ich einen neuen Grund, bedrückt zu sein.
+
+Leider reiste Haase schon am nächsten Morgen ab, und wir andern saßen wie
+gewöhnlich im »Volkshause«, als, eine große Stille entstand, weil Eisner
+das Podium betrat. Es war aber der Morgen jenes Tages, an dem er seine
+denkwürdige und verhängnisvolle Rede zugunsten der Gefangenen hielt. Sie
+begann mit einer schonungslosen Preisgabe der deutschen Kriegführung, deren
+Verbrechen er nicht beschönigte, deren Recht, etwas zu fordern, er vielmehr
+verneinte. Dann eine abrupte Wendung nehmend, stellte er fest, daß in
+keinem Lande die Gegner des Krieges so tief gelitten hätten wie die
+deutschen, und mit jedem Worte wurde sein tonloses und dabei scharfes Organ
+gebieterischer. Es war unerhört, wie Eisner jetzt über sich selbst
+hinauswuchs. So buchstäblich war der Geist über ihn, daß seine Person nur
+mehr wie ein von ihm verlassener und vergessener Schatten die Tribüne
+behauptete. Was nun verlautete, war ein Plädoyer für Deutschland, wie es
+niemals ergreifender formuliert wurde. Seine kalte Stimme beibehaltend, die
+in die Gemüter schnitt, enthüllte er die ganze Tragik seines unglückseligen
+Volkes. »Die Stimmen derer, welche im Kampf um die Ideen einer besseren
+Welt namenlos in den Kerkern verblichen,« rief er schneidend den fremden
+Delegierten zu, »drangen nicht bis zu euch! Stumm verbluteten sie.«
+
+Im Namen jener neuen und besseren Welt verlangte er die Freigabe der
+zurückgehaltenen Gefangenen.
+
+Man hielt den Atem an.
+
+Da stand ein Entronnener aus eben jener Schar stummer Blutzeugen für die
+Ideen der Gewaltlosigkeit der Wahrheit und der Menschenliebe. Dies war ihr
+Los wie vor 2000 Jahren!
+
+In Eisner hatte der Kongreß wohl seine eindrücklichste Figur. Mochte er
+durch seine Parteilichkeit für Renaudel bei den Radikalen einigen
+Widerspruch erregen, so stellte sich bald heraus, daß er gerade dadurch
+seine Vorschläge durchzudrücken verstand, wie überhaupt die Taktik eine
+große Rolle bei ihm spielte.
+
+Als ich das Haus verließ, standen Fortunios unten an der Treppe und
+schienen auf jemanden zu warten. Ich wandte mich um; Eisner ging langsam,
+allein und vollkommen versonnen die Treppe herab. Er hielt eine rote Nelke
+mit etwas abstehender Geste, wie um sie zu schützen, daß sie nicht zu
+Schaden komme. Steif, fast geziert, die Schultern mit barocker Würde
+tragend, bot er einen wahrhaft phantastischen Anblick. Wir begrüßten ihn.
+Er sah uns erloschenen Auges an und erwiderte kein Wort. Hätten aber
+urplötzlich die Türen sich geteilt und Teppiche unter den Füßen der mit
+großem Zeremoniell vorgeführten Esther entrollt, ich wäre nicht erstaunt
+gewesen. Assuerus! dachte ich. Ein fast gespensterhaft abstrakter,
+beschämend unverjudeter, rein biblischer Jude stand da vor uns. Und siehe!
+-- Hier war zum ersten Male wieder dasjenige Israel, aus welchem
+merkwürdigerweise der Begriff des Christentums mit der Gestalt seines
+Stifters, der Begriff des unjüdischen also, die Welt der Mystik, des
+erblassens, der Gotik hervorging. So dachte ich, stockenden Herzens . . .
+
+Ich sah Eisner noch einmal, als er im Begriffe stand, mit Renaudel nach
+Basel zu fahren. »Wenn ich stürze,« sagte er, »ist in München der
+Bolschewismus unvermeidlich. Die geistige Verwirrung der Jugend ist zu
+groß.« Überhaupt sprach er sehr oft von seinem Sturz. Ich glaube, die
+Entfernung ließ ihn die allgemeine, wie seine besondere Situation sehr
+scharf und nüchtern übersehen.
+
+Gerade die Illusionen, die phantastischen Züge in diesem bedeutenden
+Menschen, die springenden Schatten machten ihn zu der Shakespeareschen
+Gestalt, als die wir ihn heute sehen. Wir aber, die in Bern Zeugen der
+ungeheuren Wirkung seines Auftretens waren, welche Werbekraft für
+Deutschland er dort entfaltete, welch stürmische Sympathien für Deutschland
+er dort erweckte, oh welch bitterlichen Eindruck machte es auf uns, in
+München nicht etwa die Züge dieses heldenhaften Vorläufers, nein, das
+unbesonnene Leutnantsgesicht seines Mörders in den Auslagen vorzufinden,
+dessen hirnloses und unheilvollstes Verbrechen die Schrecken der
+Räteregierung und alle Greuel, die von links, und dann von rechts daraus
+erfolgten, verursachte. Mag ein Herr Studiosus die Frei(spruch)kugel gegen
+mich drehen, dafür, daß in diesem wahrscheinlich vielgelesenen Buche diese
+Wahrheit steht.
+
+Für den letzten Tag war eine Rede Macdonalds über den Bolschewismus
+angesagt; aber der Tag verging, ohne daß er hervortrat. Die Lichter
+brannten schon lange, und es war Abend geworden, als man ihn endlich
+erblickte. Es sprachen viele, deren Organ im Halse stecken und auf die
+langweiligste Weise eins mit demselben blieb. Der deutsche Dolmetsch ging
+deshalb schwer auf die Nerven. Bei jenen Delegierten hingegen, welche die
+Rednergabe besaßen, hob sich nach wenigen Minuten die Stimme von ihnen
+fort, um wie ein Albatroß ganz für sich allein die gewichtigen Schwingen
+auszubreiten. Dieser Prozeß vollzog sich auch bei Macdonald. Sein Organ
+erfüllte den Saal mit Wohllaut, als käme es gar nicht von ihm, sondern
+hinge nur infolge eines rhythmischen Gesetzes mit seiner Miene und den
+Bewegungen seiner Arme zusammen. Die Rede war ein Warnungsruf an den hohen
+Rat in Versailles, die Zeichen der Zeit zu verstehen, und sie verglich den
+Bolschewismus mit einem Brande, der, hier halb erstickt, dort scheinbar
+gelöscht, immer wieder hervorbrechend und unter der Asche weiterglimmend,
+an der Verblendung des Imperialismus seine Nahrung fand.
+
+Da ich kein Wort verlieren wollte, schlängelte ich mich langsam durch die
+Zuhörer, hart bis zur Rampe vor, und hatte so zum ersten Male den ganzen
+Zuschauerraum vor Augen. Der Saal verlor auch bei Lampenschein nichts von
+seiner Schmucklosigkeit. Unschön war er und kahl. Sein Glanz, seine
+Erlesenheit waren rein innerlich. Sie gingen von den Menschen aus, welche
+hier tagten. Nicht die Zartheit freilich, noch der Reiz eines seit
+Generationen vor rauhen Kontakten geschützten Lebens, sondern Anstrengung,
+Leidenschaft und Begeisterung durchleuchtete sie so stark, daß jenseits
+dieses alltäglichen Raumes alle Alltäglichkeit, jenseits seines nüchternen
+Scheines alle Nüchternheit zu liegen schien. Der Winter der Menschheit sank
+hier zu Grabe. Von Feuerzungen war die Luft durchbebt, und eine
+Pfingstatmosphäre brauste durch die Türen über die Treppen dahin, bis hinab
+in die Gassen des nächtlichen Bern. Und sie würde, ob auch der kommende
+Morgen diesem Fest das Ende bereitete, nach allen Himmelsrichtungen wehen.
+Ich zweifelte daran nicht. Ich hoffte schon wieder!
+
+Natürlich waren auch geringere zugegen. Aber nicht sie gaben den Ausschlag.
+Hier herrschte der Wert. Rang und Vortritt waren hier durch das Talent, das
+Verdienst, die Lauterkeit bestimmt, und ein Wille zur Güte hatte sich
+durchgerungen.
+
+Mit einem Blick des Hohnes war ich vorhin an Telramund vorbeigegangen, alle
+Krallen gezückt, weil er sich vermessen wollte, mich zu grüßen, und fast
+wäre ich dabei über seine Bocksfüße gestolpert. Nein! Hier richtete der
+nichts aus. Hier war er schachmatt. Warum kam er denn her? -- -- Auch er --
+zum ersten Male fiel es mir auf -- hatte allen Sitzungen beigewohnt und war
+einer der regelmäßigsten Besucher gewesen. Oh, nicht nur er! -- Die ganze
+Rotte saß ja hier! -- und die Kontrolle war doch so streng! Aber die Rotte
+war vollzählig hier! -- Durch die Ritzen der Türe hätte sie noch
+einzudringen gewußt. Wo hatte ich die Augen gehabt all die Tage hindurch,
+ich Verblendete! Im Ernst wähnend, hier würde die Schwelle zu einer neuen
+Welt gelegt, derweil sie täglich zerfiel.
+
+Die Schützlinge der Militärspionagen, von welchen erst die eine, dann die
+andere den Verständigungsfrieden hintertrieben hatte, tagten hier als
+Delegierte des Teufels, den verschiedensten Nationen entspieen. Wie emsig
+sie notierten! -- Oh wie fleißig sie die niedrigen Stirnen gesenkt hielten,
+um alles zu nichte zu schreiben, was hier von Völkerversöhnung gesprochen
+wurde! Und wie gesittet sie dasaßen, diese Wölfe im Schafpelz, die sich
+innerlich eins lachten über den sabotierten Kongreß. Und sie waren
+geduldet! -- selbst hier! -- Die Spreu durfte auch hier, ungesichtet, den
+Weizen verderben. Ach, es gehört zu den Merkmalen dieser Zeit, daß die
+Dinge noch schlimmer zu kommen pflegen, als die Schwarzseher sie künden,
+und noch heißer gegessen werden, als gekocht.
+
+So ahnte ich noch nicht, daß die verstümmelten Berichte der Eisnerschen
+Rede, deren erster Teil einfach unterschlagen wurde, schon munter unterwegs
+waren, und seine anonymen Mordanstifter, wohlgeschützt unter der Flagge
+einer Zeitung, sich für die furchtbaren Wahrheiten und Anschuldigungen, die
+er in diesem Hause der Presse aller Länder ins Gesicht zu schleudern wagte,
+ein für alle Male gerächt hatten.
+
+Die Stimme Macdonalds drang nur mehr undeutlich zu mir. Es war doch jedes
+Wort vergebens. Mochte er den Bolschewismus an die Wand malen! Mit ihm
+stand es gewiß, wie Rolland sagte. Bot nicht jede Partei genau dasselbe
+Bild von ein paar ehrlichen und ehrenwerten Männern, die ein fürchterlicher
+Zulauf überschwemmt? jene paar Vortrefflichen, deren Kampf allein
+ersprießlich und von Interesse wäre, tragen ihre Gegensätze abseits
+voneinander aus. Sie sind nicht so zahlreich, Europa nicht zu groß für eine
+einzige Arena. In Wirklichkeit ist der Klassenhaß (statt des
+Klassenkampfes) ein ebensolcher Humbug wie der Haß der nur nach Frieden
+lechzenden Völker. Wer aber diesen Saal mit den angeblich so scharf
+bewachten Toren näher ins Auge faßte, ließ alle Hoffnung fahren. Den
+Schleier Penelopens woben sie hier! Es gab ja keine gute Sache, solange der
+Nichtswürdige sich zu ihr bekennen durfte und statt der Gesinnung die
+Meinung den Ausschlag gab. Freie Bahn den Tüchtigen! oh nein! Erst
+geschlossene Bahn den Unwürdigen! Die andere Parole bleibt so lang die
+leereste der Phrasen! Hatte nicht Telramund in seinem eigensten Blatt eine
+»Partei der anständigen Leute« beantragt, wie um diesem Gedanken den Fluch
+der Lächerlichkeit auf immer anzuhaften. Oh Zarastro! Herr des Tempels mit
+den unauffindbaren Toren, der nur den Geprüften mit Macht belieh! Von
+allen, die heute leben, wird keiner den Bau betreten, zu dessen Grundlegung
+ich Steine herbeischleppen möchte. -- Das Gerüst allein dürfte die Arbeit
+von Generationen sein, sein Ausbau die von Jahrhunderten vielleicht.
+Vielleicht sind die ewig unvollendet gebliebenen Kathedralen sein Symbol.
+Aber worauf es, wie gesagt, ankommt: er ist möglich.
+
+Die richtige Einsicht, daß es (merkwürdigerweise) niedrige und hohe
+Menschen gibt, führte folgerichtig zu Rang- und Standesunterschieden. Bei
+ihrer Aufrechthaltung aber gerieten jene Ungleichheiten, welche doch erst
+die Berechtigung solcher Klassifikationen bilden, immer mehr außer acht,
+und bei dem Schrittmachen, das im Schwunge blieb, mischte sich in immer
+gemeinerer Weise das Bestreben über jene Distanzen, welche der Wert
+zwischen den einzelnen liegt, hinwegzusehen. Das Mißverständnis artete
+immer wilder aus: der königliche Mozart speiste mit dem Gesinde, und ein
+lakaienhafter Kavalier warf ihn mit einem Fußtritt ohne weiteres vor die
+Türe. In der Tat, wir wissen alle, was wir der französischen Revolution
+verdanken. Doch, als sie das falsche Spiegelbild in edler Empörung
+zerschlug, wurde mit diesem drastischen Vorgehen leider erst recht nur eine
+halbe Maßnahme getroffen.
+
+Kein Mißbrauch wurde an der Wurzel gefaßt, vielmehr entrann der Missetäter
+froh durch die Türe. So brach die französische Revolution wie das
+Christentum, dem sie entsprang, in sich selber zusammen, und wir sind heute
+wie bankrotte Leute, die von vorn anfangen müssen. Wir stehen wieder am
+Anfang aller Tage: das heißt am Ende. Denn für das erkennende Auge sind ja
+die Menschen längst in jene zwei Lager zerfallen, von welchen geschrieben
+steht. Freilich ist vorläufig erst der Aufmarsch der Böcke geglückt. Unsere
+Absicht, ihrem Konsortium entgegenzutreten, dürfte ein frommer Wunsch
+verbleiben, solange wir jene geheimnisvolle Tatsache nicht ergründeten, daß
+die von schlechten Instinkten Gemeisterten so viel deutlicher die
+Hochgesinnten herausspüren, als diese sich unter sich erkennen. Diese
+dunkle und rätselhafte Tatsache birgt Perspektiven, die sich wie weite
+Zimmerflüchte nach allen Richtungen, reich an Verborgenheiten, ziehen.
+
+Um Machtfragen werden sich nach wie vor die Dinge drehen, und nach wie vor
+wird sich herausstellen, daß es nichts neues unter der Sonne gibt. Macht
+wird vor Recht gehen, denn Macht geht vor Recht. Es ist Sache des Rechts,
+die Macht an sich zu reißen, eine neue Realpolitik zu ermöglichen, nicht
+ausdrückbar durch Lüge, Feuer und Mord; eine Exekutive zu befestigen,
+welche die aus Lüge, Feuer und Mord errungenen Vorteile verachten, und
+Lüge, Feuer und Mord nicht ausspielen würde gegen Lüge, Feuer und Mord.
+Sache des Rechts ist es, die Bahn solcher Gewalthaber zu bereiten. Ach die
+Heftigkeit, mit welcher wir unsere Notsignale abgeben, hindert nicht, daß
+sie unter dem Druck grauser Langeweile aufziehen, und unser eigner Pathos
+lastet mit der ganzen Öde eines Frondienstes auf uns. Denn es sind
+zukünftige, für ein feineres Ohr heute schon monströse Gemeinplätze, die
+wir hier äußern.
+
+_Ende_
+
+Von _Annette Kolb_ erschien im gleichen Verlag:
+
+DAS EXEMPLAR
+
+Roman. 5. Auflage.
+
+Man hat durchaus das Gefühl, daß dieses Buch zu jenen gehört, die unter
+einem starken inneren Drange, einem unwiderstehlichen, geschrieben werden.
+Ein Bekenntnis. Aber eins von solcher Keuschheit, solcher Verhülltheit,
+trotz aller Enthüllung subtilster seelischer Vorgänge, wie es uns nur zu
+selten gemacht wird. Gerade diese Schilderungen erweisen die hohe
+Vollendung von Annette Kolbs sprachlichem Ausdrucksvermögen, das ihr jedoch
+nie zum Selbstzweck wird.
+
+B. Z. am Mittag.
+
+Der erste Eindruck des Buches, schon nach wenigen Seiten, ist Kultur. Es
+gibt wenig Bücher, die so scharf wie dieses die Zeitseele enthüllen. Und im
+übrigen ist das Buch reich an allerlei entzückenden Dingen. Man wird in ihm
+sehr heimisch in London und auf den Landsitzen der Gesellschaft. Denn das
+Buch vereint wirklich zwei selten verträgliche Eigenschaften: geistige
+Tiefe und Charme. Es ist nicht nur ein bedeutendes, sondern auch ein
+liebenswürdiges Buch.
+
+Die Zeit, Essen.
+
+Ein feines, stilles Buch von einer romantischen Dichterin über eine
+romantische Frau. Es wird in diesem Buch von den letzten Dingen gesprochen.
+
+Berliner Tageblatt.
+
+Druck von Frankenstein & Wagner, Leipzig.
+
+
+
+
+Anmerkungen zur Transkription
+
+
+Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
+(vorher/nachher):
+
+ [p. 33]:
+ ... Hocusai. ...
+ ... Hokusai. ...
+
+ [p. 50]:
+ ... mit Carry und Fortunio. Dieser enfaltet mir gegenüber ...
+ ... mit Carry und Fortunio. Dieser entfaltet mir gegenüber ...
+
+ [p. 114]:
+ ... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in den ...
+ ... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in dem ...
+
+ [p. 117]:
+ ... Arbeiten zur Hand, mit welchem dieses Haus geschmückt ...
+ ... Arbeiten zur Hand, mit welchen dieses Haus geschmückt ...
+
+ [p. 131]:
+ ... Laufbahn vernommen hat, der vergißt die nie unheimliche ...
+ ... Laufbahn vernommen hat, der vergißt nie die unheimliche ...
+
+ [p. 142]:
+ ... auf ihren Wolkensohlen reisten, das von einer zifferlosen ...
+ ... auf ihren Wolkensohlen reisten, daß von einer zifferlosen ...
+
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Zarastro, by Annette Kolb
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44243 ***
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+<h1 style="margin-top:1em; margin-bottom:4em; letter-spacing:0.2em;">
+<span style="font-size:1em;">ZARASTRO</span><br />
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+<span style="font-size:0.5em;">von</span><br />
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+</h1>
+
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+1921<br />
+<span style="border-top:4px double black;">
+S. Fischer / Verlag / Berlin
+</span>
+</p>
+
+<p class="center" style="font-size:0.8em; margin-top:6em; margin-bottom:6em; page-break-before:always;">
+1.&mdash;5. Auflage<br />
+Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.<br />
+Copyright 1920 by S. Fischer, Verlag, Berlin
+</p>
+<h2 class="title" id="chapter-0-1">
+<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
+Zarastro
+</h2>
+
+<p class="pagebreak first">
+<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
+<span class="firstchar">D</span>ieses Buch, das auf Grund täglicher Aufzeichnungen
+entstand, enthält Enttäuschungen als sein
+Wesen. Es ist ein Tagebuch der Enttäuschungen, ich
+verhehle es nicht. Gerade sie sind das einzig wertvolle
+daran. Denn an allen Erlebnissen während dieser
+Jahre, an allen Szenen, allen Ereignissen, allen Episoden
+hat sich die Beobachtung ergeben, daß im
+wachsenden Umfang die besten Hoffnungen, die
+reinsten Zugehörigkeiten ihre dramatische Zerstörung
+nach sich zogen. Zu sehen, wie sie immer sehr buchstäblich
+zuschanden kommen mußten, versetzte mich
+erst in eine dumpfe, herabgestimmte Unruhe, und
+nur allmählich entdeckte ich, daß sich in allem die
+kleine wie die große Höllenmaschine menschlicher
+Niedrigkeit gleichsam eingebaut hielt, überall, auf
+dieselbe Weise und mit derselben Wirkung jede edle,
+jede vernünftige Absicht, jede Harmonie im Keim
+vernichtete. Diese Gefolgschaft, dies enge Schritthalten
+der Bösen &mdash; jeder Zufälligkeit bar &mdash; zeigt
+sich vom Anekdotischen bis zur Entladung so konform,
+daß es die Schicksale des einzelnen zur genauesten
+Replik der Weltschicksale prägt.
+</p>
+
+<h2 class="chapter" id="chapter-0-2">
+<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
+Erster Teil.
+</h2>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">A</span>m 1. Februar 1917 kam ich gegen Abend definitiv
+nach Bern. Im Zug &mdash; am Fenster &mdash; schlief ich
+zwischen Zürich und Baden auf einige Sekunden ein.
+Dabei rückten sich Bilder aus meiner Wohnung,
+aber um ein Drittel vergrößert &mdash; die sich also selbst
+vergrößert hatten &mdash;, selbst an einer Wand zurecht. &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Trotz dieser so unvermittelt aufblitzenden Vision
+wurde die Mutlosigkeit, gegen die ich anzukämpfen
+hatte, immer drückender, und geradezu trostlos gestaltete
+sich meine Einfahrt in die Bahnhofhalle. Es
+goß so recht von innen heraus, wie nur der Berner
+Himmel zu gießen versteht. So begibt man sich wohl
+ins Gefängnis, wie ich in das Haus, um dessen anheimelnder
+alten Stiege willen ich im zweiten Stock
+zwei kleine Zimmer mit einem Alkoven gemietet hatte.
+Übrigens waren sie noch nicht frei, und indessen
+wurde mir ein großes niedriges angewiesen, das sofort
+meine Abneigung erregte: bis auf einen gewaltigen
+Tisch von wahrhaft tröstlichem Umfang. Er stand
+mitten in der Stube, ganz auf sich beruhend:
+</p>
+
+<p>
+Sieh mein geräumiges Rund, und wie gefällig es
+ist! Sahst du ein weiteres je?
+</p>
+
+<p>
+Bürde nur füglich mir auf, was immer du willst.
+Ich schaffe noch Platz dir. Na also!
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
+So redete er, halb in Hexametern, halb wie eine
+alte Kindsfrau zu mir, war immer optimistisch und
+richtete mich auf.
+</p>
+
+<p>
+Das Münster aber, das so gut anhebt und so schlecht
+verläuft, beschattet und beherrscht den Platz, und
+die Aussicht hart vor meinen Fenstern ist durch ihn
+versperrt. Auch mein Herz schlägt hinter Riegeln.
+Ich bin nicht mit den Illusionen hergekommen wie
+das erstemal.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+4. FEBRUAR. Kalte regnerische Tage, unfroh wie die
+Stunde meiner Ankunft, welche Telramunds, als sei
+dies unvermeidlich, zuerst erfuhren. Die Lauben
+sind, wie es scheint, ihr Jagdrevier, denn kaum trete
+ich vors Haus, so schießen sie mir schon wie auf
+Rollschuhen der Neugierde entgegen, jedesmal mit
+einer Einladung zum Tee. Ich bin entschlossen, ihr
+nicht zu folgen, denn sie ist natürlich nur verhörsweise
+gedacht. Fortunio rät von einer so schroffen
+Haltung ab. Wir diskutieren hin und her, und ich
+lasse mich leider überreden.
+</p>
+
+<p class="dat">
+6. FEBRUAR. Tee bei Telramunds. Ich trage meinen
+teuren Pelz, denn es ist kalt, dazu aber ausgebesserte
+Schuhe, weil es regnet. Der Empfang ist übrigens
+von so glänzend imitierter Herzlichkeit, daß er mich
+fürs erste ganz beschämt. Wie unverkennbar ist doch
+<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
+im Grunde Telramunds Zuneigung für mich! Er
+erörtert meinen Roman in den höchsten Tönen, und
+wie freut sich Ortrud, mich zu sehen! Wie ungerechtfertigt
+ist der Name, den ich ihnen gebe! Wie funkeln
+Teekanne, Dose und réchaud! Wir sitzen ein wenig
+merkwürdig zusammen, es ist wahr! unsere sechs
+Knie eng aneinander gerückt: die meinen in der
+Mitte, wie die eines Delinquenten, von den beiden
+andern flankiert. Doch ist das nur zufällig vielleicht.
+</p>
+
+<p>
+Wenn aber drei Leute sich äußerlich in so enger
+Gemeinschaft befinden, und zwei von ihnen werfen
+sich Blicke zu, so wird es der Dritte bemerken, auch
+ohne es zu wollen und ohne hinzusehen. Ortrud
+guckte wertschätzend von meinem Mantel herab auf
+mein Schuhwerk. Der Pelz einerseits und die Reparatur
+anderseits gaben zu denken. Wie aber konnten
+sich die beiden so vergessen, daß sie plötzlich anfingen,
+wie mit Fliegenklappen nach mir auszuholen und sich
+hochbefriedigt ansahen, wenn sie glaubten, mich
+ertappt zu haben?
+</p>
+
+<p>
+Zwar lag es auf der Hand, daß ein so leicht zu
+überführendes Geschöpf unmöglich zugleich jene
+raffinierte Person sein konnte, für welche ich wußte,
+daß sie mich hielten. Aber wie resolut Leute von
+schlechten Instinkten jegliche hemmende Logik von
+sich weisen, wußte ich auch. Von neuem auf der Hut,
+beantwortete ich jede Frage mit einem Kunstbogen;
+als jedoch der Name Elisabeth Rotten fiel, hielt ich
+<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
+krampfhaft an diesem Thema fest. Telramund konnte
+ihren politischen Scharfsinn nicht genug loben (später
+stritt er ihn ihr öffentlich ab). So erzählte ich denn
+von ihrer schwer angegriffenen Gesundheit und ihrem
+Wunsch nach einer Erholungsreise. Diese aber sei
+nur durch List und Tücke zu erreichen. Es müßte
+also, meinte ich, mehr mitteilsam wie raffiniert,
+unter Vorspiegelung eines Vortrags, welchen sie dann
+natürlich nicht halten würde, ein Paß für sie erschlichen
+werden.
+</p>
+
+<p>
+Die Idee wurde stillschweigend zur Kenntnis genommen.
+Blicke flogen .&nbsp;.&nbsp;. und es war unverkennbar,
+daß etwas nicht stimmte.
+</p>
+
+<p>
+Bin ich nach Bern gekommen, dachte ich auf dem
+Rückweg, um mit Leuten zu verkehren, die ich zu
+Hause nie ertragen hätte?
+</p>
+
+<p>
+Das Wetter hatte sich auf einige Stunden aufgehellt,
+und über der Brücke von Kirchenfeld flammten plötzlich
+die Alpen auf. Blaß und verheißungsvoll leuchtete
+die losgelöste Jungfrau über das Gewölk, das sich
+in schwarzen Massen zu Tale schob. Wie ganz und
+gar nicht existierend, dachte ich da, ist doch letzten
+Endes das Gemeine! Nur unser träges und verwischtes
+Sehen leiht ihm den Schein von Wesenheit, und
+Leuten wie Telramunds das Gesicht. Und zwei verschwisterte
+Seelen hatten da einen Bund geschlossen,
+wie die Hölle ihn liebt. Dabei war Telramund Berliner
+und Ortrud, wie zum Schulexempel, eine Französin
+<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
+aus der Provinz. Ach! Welch ein Schabernack
+wird doch über alle Grenzen hin mit unseren Gesetzen
+getrieben! Keine Feder wiegen sie auf gegen die
+Schleuderwaffen, über welche schlaue Unvernunft
+gebietet. Wohl haben wir gelernt, Weingärten und
+Äcker zu bestellen, veredelt hängen uns die Früchte
+von den Bäumen hernieder, und wie umsichtig, wie
+bewundernswert ist der Mensch angesichts seiner
+Felder! Nur vor sich selbst ist er stehengeblieben.
+Da jätet er nicht. Da steht überall goldener Weizen,
+von wild um sich greifendem, allgewaltigem Unkraut
+erstickt. Gegen die Natur, die Elemente, die Erde,
+ja die Luft selber schritten wir ein, nur vor uns selbst
+sinken uns die Arme, und wir lassen geschehen. Dies
+ist die bisherige Logik der Welt, der Nationen. Nicht
+einmal bis zu unseren Verbrecherstatistiken besannen
+wir uns &mdash; wie hätten wir da bis zu den Tabellen
+unserer verkleideten und ganz undrastischen Übeltätern
+gedacht? &mdash;
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Allseitige Verstimmung. Mein Wunsch, Fräulein
+Rottens Wunsch zu erfüllen, hat schwärzesten Verdacht
+erregt. Ich kannte die in Bern geschaffene
+Atmosphäre noch zu wenig, um zu verstehen. Warum
+in aller Welt, beschwert sich Fortunio bei mir, mischte
+ich mich da hinein! Welches Interesse hatte ich an
+dieser Reise?
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
+Und diese Idee eines Vortrags! (Sogar er, es war
+unverkennbar, hat Argwohn geschöpft!)
+</p>
+
+<p>
+Nur ein Vorwand natürlich! ich sagte es ja Telramund.
+</p>
+
+<p>
+Fortunio zuckte die Achseln: er hat es Ihnen
+natürlich nicht geglaubt.
+</p>
+
+<p>
+Die beiden werden uns noch sprengen!, brach ich
+aus, alle unsere Anstrengungen hintertreiben und
+uns alle zu Grabe tragen.
+</p>
+
+<p>
+Mit Martin im Walde hatte ich ja meine Not. Die
+Verdächtigungen auf ihn regneten ohne Unterlaß.
+Schon während jenes Diners, welches Aramis bei
+meiner ersten Berner Ankunft gab, hatte ihn Telramund
+als einen Agenten mit doppeltem Schubfach
+bezeichnet, und Ortrud pfiff förmlich vor Hohn wie
+eine Maus. Daß ich widersprach, fiel nur auf mich
+zurück. Für einen ehemaligen Kruppdirektor also
+machte ich Reklame! Sprach dies nicht Bände?
+Daß er tatsächlich seine Stellung seinen Überzeugungen
+geopfert hatte, war ein Beweis mehr für
+seine Verschlagenheit. Den Bruder kannte er. &bdquo;Den
+Bruder kenne ich!&ldquo; war sein Refrain.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+9. FEBRUAR. Ich miete einen Flügel: ohne Schmelz,
+ohne Tiefe, es ist wahr, und doch edel, weil immerhin
+ein Flügel. Gott sei Dank! Flügel sind jetzt sehr
+schwer zu kriegen! Ich bin einen ganzen halben Tag
+<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
+glücklich. Welches Glück! &mdash; es ist ein Glück, das
+ich der Protektion eines jungen Berner Pianisten verdanke.
+Wir hatten ein Zusammentreffen verabredet,
+um in die Fabrik zu fahren. In den Lauben kam
+Ortrud auf mich zu und äußerte den Wunsch, mich
+zu besuchen, und da ich ungeheuer eilig tat, begleitete
+sie mich, um zu sehen, ob es wirklich der junge Pianist
+war, der mich erwartet. Da er es wirklich war, denke
+ich mir, sie beruhigt sich jetzt.
+</p>
+
+<p class="dat">
+10. FEBRUAR. Telramund erzählt mit vielsagender
+Miene, daß ich einen Flügel gemietet habe. Kein
+Zweifel mehr: ich bin eine Spionin.
+</p>
+
+<p class="dat">
+11. FEBRUAR. Aramis gibt mir zu wissen, daß er sich
+wundere, weil ich ihm noch kein Lebenszeichen gebe.
+Ich unterließ es nur, denn er ist mir sympathisch,
+weil mir versichert wurde, daß er mir nicht mehr
+traue.
+</p>
+
+<p>
+Es sei kein Grund, sagt mir Fortunio, ihn zu schneiden.
+Seufzend (da er mir ja mißtraut!) rufe ich ihn
+ans Telephon, und vor seiner Sprache, ach! wird
+mein zerrissenes Herz sofort wie eine Geige, in welche
+diese Sprache (auch die meine, ach!) hineingreift
+wie ein Bogen.
+</p>
+
+<p class="dat">
+13. FEBRUAR. Gestern abend war ich bei Fortunio,
+und Martin im Walde fand sich zum ersten Male
+<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
+bei ihm ein. Vor dem Kriege hätte ich sie nicht
+einander zugeführt: Fortunio so musisch und sternengebannt,
+aber auch stemschnuppenhaft, Martin im
+Walde so schwerblütig, so problematisch und so vorbedacht!
+Heute aber muß alles zusammenstehen,
+was aufrecht blieb. Wie errichten wir sonst jene
+Dämme gegen die blinde Gewalt, den Schutzmauern
+vergleichbar, die sich so wacker gegen die Bergwände
+stemmen, um zur Zeit der Schmelze die Lawinen
+aufzuhalten? Auch unserem Planeten stand der Frühling
+nahe bevor, als die Lawine sich entlud, die allen
+Schutt nach oben warf und eine grünende Welt und
+alle Glocken der Vernunft mit ihren toten Blöcken
+und ihrem schmutzigen Geröll brüllend und dröhnend
+überzog. Jene Mauern, Lawinenschutz genannt,
+sind natürlich nur roh aufeinander geschichtete, jedoch
+wetterfeste Steine, die nichts anderes zum Ausdruck
+bringen, als die Not des Augenblicks, dem sie entstanden
+sind. So scheint mir heute, wo es den Kampf
+des menschlichen gegen das unmenschliche gilt, das
+wichtige nicht, glattes einzufügen, nicht einmal der
+inneren Gemeinsamkeit den Ausschlag zu lassen,
+sondern die Widerstandskraft und das Gewicht der
+Dinge zu bedenken.
+</p>
+
+<p>
+Doch ach! Der als Schachfigur so schwer festzulegende
+Fortunio war heute auf meine Opportunismen
+nicht gestimmt, sondern wie zum Trotz in einer ganz
+herausfordernden, ganz interpellierenden, ganz konträren,
+<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
+um ihre eigene Wirkung ganz unbekümmerten
+Laune. Zu machen war da gar nichts. Im stillen
+nur nahm ich mir vor, auf dem Heimweg Fortunios
+Wesensart, welche Martin im Walde nicht geläufig
+war, so beweglich wie möglich zu schildern. Aber
+nicht einmal diese nachträgliche Intervention sollte
+mir gelingen. Denn als ich auf der Stiege in die
+Taschen meines Mantels griff, war mein Hausschlüssel
+nicht darin, die Nacht aber viel zu weit
+vorgeschritten, um meine Pension durch Glockenreißen
+zu alarmieren. Die übermüdete Fortunia,
+über die Rampe gebeugt, rief mich wieder zurück.
+Neben dem großen Empfangsraum lag ein schmales
+Zimmer. Ich bezog es ohne viel Worte und warf
+mich mit meinen Kleidern auf den breiten Diwan,
+der dort stand, ganz erledigt für den Rest der Nacht.
+Immer verschärfter schwebte mir die Bilanz des mißratenen
+Abends vor und regte mich auf. Wie ungut
+ließ sich doch alles an!
+</p>
+
+<p>
+Eine tiefe Stille lag jetzt über dem ganzen Hause,
+den Wänden, den Fenstern und der Luft, als ob sie
+ein Signal erwarteten. Denn nebenan war plötzlich
+ein anderes Leben erwacht, eine andere Unruhe, als
+die des Tages, ein Rücken, Geknister, ein Gewisper,
+Disput und Ungeduld. &mdash; &mdash; Zwar ist dem Herzen
+kein Organ verliehen, das unsichtbare zu sehen, aber
+so mancher kennt gewiß jenes aussetzen seines
+Schlages, bevor es tiefer zu horchen beginnt .&nbsp;.&nbsp;. Es
+<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
+fiel mir ein, daß die ganze Häuserreihe dieser alten
+Gasse für mehr oder minder spukhaft galt; doch ein
+so wenig grauenhafter, höchstens malitiöser, nicht
+einmal boshafter Spuk war mir noch nicht begegnet.
+Neugierde trieb mich endlich hin zur Türe, hinter
+der er sich begab. Aber jenseits derselben hatte
+augenblicklich &mdash; als sei nie Lärm gewesen &mdash; Totenstille
+eingesetzt, und die Klinke, von Tücke besessen,
+widerstand allem drücken, drehen und schieben.
+Mit schmerzenden Händen ließ ich sie los und kehrte
+auf meinen Diwan zurück. Alsbald war Geknister
+und Getusche, rücken und huschen, Unruhe, Aufregung,
+heiseres Eifern und Streiterei im verstärkten
+Grade wieder da. Offenbar wollte die Gesellschaft
+von mir nichts wissen und boykottierte mich. Wie
+aber kam es, daß ich plötzlich wie unter freiem Himmel
+lag und den Arm aufstützte, als schirmten mich die
+Zweige eines Baumes, und als horchte ich statt zur
+Seite hin, tief unter die Erde hinab? Was immer
+mir jetzt in den Sinn kam, bot sich wie eine Zwiesprache
+dar. Dem Nixenbegriff lag wohl eine tiefe
+Erkenntnis zugrunde. Wie diesseits des Menschengeschlechtes,
+so sind aber auch jenseits desselben
+Geschöpfe Gottes denkbar, die an der entgegengesetzten
+Peripherie des Lebens beschattet stehen
+und hinausgerückt; und winzige, kaum bemerkbare
+Dinge könnten es sein, die ihnen ein leises Grauen
+vor ihrem eigenen Wesen entgegenhauchen: ihr unakkurater
+<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
+Sinn für Wirklichkeiten, ihr vorwegnehmen
+des Zieles über Hindernisse hinweg, ist wie
+ein gestörter Sehwinkel oder wie ein verkürzter Fuß,
+den solche Menschen durchs Leben ziehen, und sie
+erschauern, verzagen und vereinsamen bis ins Mark,
+wenn sie daran erinnert werden. Über die fernest
+abliegenden Dinge dachte ich hin und her. Aber
+warum in aller Welt überkam mich ein Heimweh
+nach dieser verschlossenen Tür, und um was für
+Dinge war mir denn leid? Du lieber Gott, wollte
+ich denn von allem haben!
+</p>
+
+<p>
+Der ganze tumultarische Betrieb setzte übrigens
+mit einer spurlosen Plötzlichkeit aus, als hätte er nie
+geherrscht. Nur eins war deutlich: durch die Türe
+verzog er sich nicht. Es kam etwas anderes: aus
+dem unteren, nachts unbewohnten Stockwerk drangen
+sanfte Trommelwirbel, oh, so deutlich zu mir, und
+dann ertönten gedämpft, aber klangvoll, tamponierte
+Posaunen. Und dann kam das huschen und fegen
+eines Kleides, das schleifen einer Schleppe, ja! im
+Takt dieser erstickten Musik. Ich horchte mit allen
+Fasern. So fein, so spöttisch, so leicht! oh! in der
+Tat geistreich war der Rhythmus dieses pas-de-deux,
+waren die Füße, die Grazie, die Unkörperlichkeit
+dieses balancierenden Körpers im Klang der wonnig
+umhüllten Posaunchen. Tod und Leben in lächelnder
+Umarmung &mdash; Leben noch im Tode? Liebe selbst
+bei ihm? &mdash; Was verfing sich da eine Uhr, mit vier
+<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
+groben Schlägen in den Zauber hineinzufahren?
+Nichts rührte sich mehr. Im Augenblicke alles längst
+verflogen und verweht &mdash; welchem Sterne, welcher
+Nacht entgegen?
+</p>
+
+<p>
+Nunmehr versank die Dunkelheit in ihrer eigenen
+Stille, und der Schlaf atmete mir jetzt &mdash; als käme
+er von außen &mdash; seltsam genug! &mdash; mit weiten Flügeln
+entgegen. Ich fühlte noch den Wunsch, mich ihm
+ganz zu überlassen, aber daß er mich dahintrug,
+schon nicht mehr. Gespannten, wachen Sinnes stand
+ich in der Mitte eines Saales &mdash; nicht wissend, daß ich
+schlief. Die Wände lagen im Zwielicht, und ein paar
+Leute saßen dort als Zuschauer herum. Ich fragte
+mich, was es zu sehen gab und merkte dann erst,
+daß ich es war, welche nun tanzte. Die Rhythmen
+nämlich, nach welchen ich mich drehte, &bdquo;geschahen&ldquo;,
+ohne zu verlauten, als stünden hier die Gesetze am
+Anfang aller Musik, noch ehe, oder ohne daß sie sich
+vertonten. Dabei geboten sie mit so wunderbarer
+und zwingender Macht, daß es unmöglich war, ihnen
+nicht zu folgen, und unwiderstehlich kreiste ich
+dahin. Mit einem Male hörte ich Fortunios Stimme
+von der Wand herüber auf französisch sagen: &bdquo;Comme
+elle danse bien&ldquo;! aber sehen konnte man ihn nicht,
+denn der Saal war nur in der Mitte hell. &bdquo;Pourquoi
+dites-vous que je danse bien&ldquo;? rief ich tanzend zurück.
+Und tanzte dahin, denn es gab nichts anderes mehr.
+Nur den Tanz. Ganz allein nur ihn; ohne innehalten,
+<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
+ohne Unterlaß, den Tanz allein in diesem Raume,
+der aufgehört hatte, ein Saal zu sein, denn seine
+Wände traten ins Endlose zurück. Nur allmählich
+merkte ich, daß sich jemand zu mir gesellt hatte
+und mich hielt und mit mir tanzte. Es kümmerte
+mich nicht. Die Erfüllung war zu tief, meine Augendeckel
+zu schwer, sie aufzuschlagen die Mühe zu groß!
+In den Rhythmen lag alle Wonne. Und sie gebaren ohne
+Übergang eine neue Phase, denn halb abwesend,
+halb aufmerksam sah ich nun doch meinem Tänzer
+groß ins Gesicht: matt von Farbe, mit schwarzem,
+glattanliegendem Haar war er mir gänzlich unbekannt
+und zugleich vollkommen vertraut; der sehr
+edle Umriß von Kopf und Schultern so geschlossen,
+daß er fast ausschloß, was er nicht selber
+war, fast negierte, was er nicht kannte. Was dünkte mir
+daran so fremd und so verwandt zugleich? Die Melodie
+einer Rasse, der ich entstammte, und doch nicht
+mehr die meine? von ihr hinausgerückt? verabschiedet
+von ihr? wiederum der Boykott? Gleichviel! wir
+tanzten. Eines Schrittes! Diese Zeitmaße kannten
+keine Zeit. So mögen Sterne kreisen. Aber auch
+was ich dachte, war nicht mehr aus seiner Bahn zu
+drängen: aus reinstem Lateinertum setzten sich die
+Elemente dieses Tänzers zusammen. Nicht das Gesicht
+eines bestimmten Menschen sah mich da an.
+Nicht dieses oder jenes &mdash; was dann? Das Sinnbild
+einer Rasse war zu mir hingetreten und tanzte mit
+<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
+mir. Jetzt wußte ich&rsquo;s! &mdash; Aber die Entdeckung
+sprengte die Fesseln des Traumes: Ich lag auf dem
+Diwan gerade ausgestreckt, vor mir das Fenster, in
+dessen Scheiben sich von der Straße herauf der
+Reflex einer Laterne fing. Aber gleich darauf stand
+ich auf den Füßen. Noch nie so hoch aufgerichtet
+gewiß! Die Türklinke drehte sich lautlos und glatt,
+wie geölt. Aber die Kälte der Frühluft nach der Hitze
+der Nacht hatte vielleicht die Wandlung besorgt.
+Ich schlich durch den Gang, die Stiege hinab und
+ließ mich zum Tore hinaus. Ins Freie! Hinter den
+Scheiben leuchtete hie und da schon ein Licht aus
+den Lauben hervor. Im Hause, in dem ich wohnte,
+war eine Bäckerei. Unbemerkt kam ich in mein
+Zimmer. Es tagte noch nicht. Nach oben unkenntlich
+stand das Münster vor meinen Fenstern aufgerichtet,
+viel schöner und gewaltiger so, als mit dem
+übel verlaufenden Turm. Wie schien aber dies alles
+eine Wirklichkeit zweiten Ranges, sozusagen, wenn
+ich sie mit jener verglich, die mich in dieser Nacht
+umgab. Ich wußte zur Stunde mit der letzten Sicherheit,
+daß mein Traum sich erfüllen würde. Die
+beiden Rassen, die heute zu vereinigen solches Elend,
+solche Zerrissenheit bedeutet, werden eines Tages,
+allen Höllenhunden zum Trotz, das Glück der Welt
+durch ihren Bund begründen. Ach! Danach darf
+man nicht fragen, ob man selbst längst ein Schatten
+sein wird, wenn diese Dinge sich ereignen. Nur Mut,
+<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
+mein Herz! rief ich mir an diesem Morgen öfters
+zu, denn mit seinem fahlen Licht wuchsen die üblichen
+Ernüchterungen an.
+</p>
+
+<p>
+Gegen Mittag kaufte ich Blumen und wählte
+Kuchen mit Bedacht, denn um vier erwartete ich
+Monsieur Aramis zum Tee. Nicht ohne Bangigkeit.
+Seinen ersten günstigen Eindruck hatte ihm ja Telramund
+gründlich auszureden verstanden. Als er in
+meine niedere Stube trat und mir die Hand entgegenstreckte
+und mich ansah, wurde es mir wieder fühlbar.
+Das Echo der Worte: &bdquo;Sie lügt! sie lügt!&ldquo;, die
+er von jener Seite unausgesetzt vernahm, war zu eindringlich,
+um mir zu entgehen.
+</p>
+
+<p>
+Daß die unteren Zimmer nun endlich frei werden
+und mein Flügel sogar schon unten steht, interessiert
+ihn gar nicht; wen ich in Deutschland gesehen habe,
+um so mehr. Die Grenze hatte ich gerade am Vorabend
+des Tages überschritten, an welchem der verschärfte
+Unterseebootkrieg verkündet wurde; als diese
+Nachricht alle Anschlagmauern verfinsterte, wäre ich
+am liebsten umgekehrt, denn jetzt lag doch alles in
+Scherben.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Une bêtise capitale,&ldquo; sagte er, &bdquo;et qui fait bien notre
+affaire.&ldquo; Nichts mehr von Klavier! Ich möchte mich
+gar nicht mehr mit Politik befassen, sage ich, und
+lese: &bdquo;Sie lügt! sie lügt!&ldquo; in seinen Augen. Er blieb
+lange, sprach jedoch nur wenig und hörte zu. Ich
+dagegen redete die ganze Zeit, hemmungslos und aufs
+<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
+Geratewohl. Es überzeugte ihn auch dieses keineswegs.
+Sie lügt! sie lügt! blieb das Echo, das zwischen
+dem Vertrauen, welches er instinktiv zu mir gefaßt
+hatte, und den Dingen hallte, die er über mich hört.
+Kaum ist er gegangen, so erscheint Fortunio auf dem
+Plan, gespannt zu hören, wie der Besuch verlief.
+Ich komme ihm jedoch zuvor: Wenn Aramis mir
+mißtraut, so mißtraue ich seiner Menschenkenntnis.
+Es ist zu leicht, mich zu durchschauen, als daß es
+erlaubt sein dürfte, mich zu verkennen. Ich bin so
+eindeutig wie ein Pferd. Seine Gangart ist unmißverständlich
+genug!
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie sind aber kein Pferd,&ldquo; sagte Fortunio, &bdquo;und
+gerade Ihre Eindeutigkeit ist mit Ihrer sonstigen Art
+nicht so ohne weiteres in Einklang zu bringen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Daß er dabei eine so bedenkliche Miene beibehielt,
+riß an meinen ohnedies zerzupften Nerven. Er
+erinnerte mich allzusehr an einen Schreibtisch, der,
+mit großen und kleinen, inneren und äußeren, ja
+sogar mit geheimen Schubfächern ausgestattet, für
+mich aber nur eine einzige Lade offen hielt. Ich
+fühlte mich plötzlich tödlich gekränkt. Und womit
+hält er heute zurück? Auch er, auch er! sage
+ich mir.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ihr Roman kursiert jetzt in Bern&ldquo;, geruhte er
+mitzuteilen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Um so besser. Zeit wär&rsquo;s, daß hier das rechte
+Licht über mich aufgeht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
+&bdquo;Leider nein&ldquo;, sagte Fortunio. &bdquo;Das Buch schadet
+Ihnen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Schadet mir!?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich hätte es auch nicht gedacht. Aber die große
+Zielbewußtheit, welche Sie Ihrer Heldin einverleiben
+.&nbsp;.&nbsp;.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Aber gerade die Natur dieser Zielbewußtheit .&nbsp;.&nbsp;.&ldquo;
+unterbrach ich ihn.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Gewiß, man sollte glauben .&nbsp;.&nbsp;.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Hören Sie, das ist nicht möglich!&ldquo; Und in höchster
+Ungeduld riß ich an allen Schubladen zugleich.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich selbst&ldquo;, machte nun Fortunio mich vertraut,
+&bdquo;habe die Leute auf das Buch hingewiesen. Ich
+glaubte, Ihnen nicht besser dienen zu können.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es ist nicht möglich, daß Aramis sich verdreht
+dazu stellt&ldquo;, rief ich wieder. &bdquo;Es kann nicht sein!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Fortunio zuckte die Achseln.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Aber sogar Telramund, dieser Gräuel, lobte es
+über den Klee.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Er schwieg. Es entstand eine Pause.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das ist furchtbar&ldquo;, sagte ich. &bdquo;Es geht also um
+ein Duell zwischen mir und diesen Leuten.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie sind so ungeduldig! Die Dinge wollen ihre
+Zeit. Letzten Endes ist es immer die gute Gesinnung,
+welche triumphiert.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Oh! letzten Endes&ldquo;, wehrte ich ab. &bdquo;Daß meine
+Grabrede besser ausfallen wird, glaube ich ohne
+weiteres. Mais d&rsquo;ici là .&nbsp;.&nbsp;.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
+Fortunio wollte mich überreden, mit ihm auszugehen,
+doch ich blieb zurück. Was ich ihm dabei
+nicht verriet, war meine Absicht, im Laufe des Abends
+nach Martin im Walde zu sehen; denn mir lag das
+gestrige Zusammensein, dem Fortunio keinen Gedanken
+mehr schenkte, schwer im Gedächtnis.
+</p>
+
+<p>
+Fürs erste war meine Niedergeschlagenheit zu
+groß, um nicht allein mit ihr zu bleiben.
+</p>
+
+<p>
+Die Tatsache, daß in Ermangelung anderen Beweismaterials
+nun gar mein Roman als Belastung herhalten
+sollte, war insofern der comble, als sich ja
+dann, auf diesem kürzesten Wege, so ziemlich alles
+auf den Kopf stellen ließ. Gegen solche Waffen war
+jedenfalls nicht aufzukommen. Sie waren zu alt
+erprobt. Ich hatte zuviel erfahren. Ich wußte
+zu viel.
+</p>
+
+<p>
+Oh Fortunio! es ist dir nicht bekannt, warum ich
+lebe. Wie ein nach Süden schauendes Ufer fängst
+du die Sonne auf; wie eine nach Norden aufgerichtete
+Mauer stehe ich zu ihr.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Von allen Menschen weg&ldquo;, dachte ich da, &bdquo;und
+zur Sonne hin!&ldquo; Angebetete Sonne! Ohne dich zu
+sein! Beseelt, doch unbeseligt steht mein Haus.
+Wo du undeutlich werden und verflimmern läßt, wo
+du begünstigest, ja, wo du lügst, hast du doch immer
+recht, und nichts bestünde vor deiner Glorie.
+</p>
+
+<p>
+Es hatte längst durch alle Stockwerke gegongt,
+doch ich blieb wie ein Wetterwinkel am Fenster
+<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
+haften, jenen Bergkuppen vergleichbar am Rande des
+Tals, die alle Wolken an sich ziehen; so schien auch
+ich alle Düsterkeiten heranzulocken. Und es gab
+dann nur zwei Möglichkeiten, um dagegen aufzukommen:
+entweder die Arbeit, die auch wirklich die
+Atmosphäre läutert, oder der Umgang mit Menschen:
+ein Notbehelf nur, welcher zwar, wie der im Unwetter
+aufgespannte Schirm die ärgsten Güsse von
+uns abhält, an der Witterung aber nicht das geringste
+ändert.
+</p>
+
+<p>
+Augenblicklich war mir jedoch der Mut so gänzlich
+ausgepustet, daß ich mich plötzlich im Sturmschritt
+zu Martin im Walde aufmachte, sehr in Sorge
+sogar, ihn zu verfehlen. Ja, die Sorge steigerte sich
+zur Angst, so windschief stand es um mich. Aber
+die Herrschaften ließen, Gott sei&rsquo;s gelobt und gedankt,
+bitten, und ich jagte die Treppe zu ihnen
+hinauf. Die Stimmung, welche dort betreffs der
+gestrigen Fete herrschte, war natürlich schlecht.
+Mit sehr unerwarteter Schauspielkunst gab Martin
+im Walde alle Figuranten des Abends in einer
+Person zum besten, wobei er die ihm zugewiesene
+Rolle gar grimmig unterstrich. Ich lachte fürs
+erste aus vollem Halse, wenn auch mit recht
+halbem Herzen, brachte dann alle meine Glätt- und
+Bügelkünste zur Anwendung, zog meine Döschen,
+Fläschchen und Beruhigungstropfen hervor, mußte
+mir aber dabei sagen, daß hier wieder einmal
+<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
+ein wünschenswerter Zusammenschluß vorbeigeglückt
+war.
+</p>
+
+<p class="dat">
+14. FEBRUAR. Ich kann erst morgen die unteren
+Zimmer beziehen: ein hübscher alter Sekretär, ein altmodisches
+Sofa und ein schönes Tischchen kommen
+mit mir. Auch die Kiste mit meinen Sachen ist
+eingetroffen. Als ich nachmittags die Lauben hinunterging
+und an die Zimmer dachte, wie sie mit
+ein paar indischen Schals, der schier vergessenen
+blauen Seidendecke und ein paar Bildern am besten
+auszustaffieren wären, lächelten plötzlich von rechts
+Telramund, von links Ortrud auf mich ein: &bdquo;Wohin
+des Wegs?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Nach Hause&ldquo;, war meine erschrockene Antwort.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wie sich das trifft! Wir sind gerade auf dem
+Weg zu Ihnen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das ist ja reizend&ldquo;, rief ich entsetzt. &bdquo;Leider
+bin ich mitten im Umzug und darf Sie nicht heraufbemühen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das macht uns gar nichts! Wenn wir Sie nicht
+stören.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Im Gegenteil. Kommen Sie nur.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+War es nicht besser, die kamen noch in meine
+alte Stube, als daß sie mit ihren malocchios meine
+neuen Räume behexten? &bdquo;Nur herauf, Ihr beiden!
+es ist das letztemal.&ldquo; Und die Treppe voransteigend,
+führte ich sie zu mir.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
+Dort stand der altväterische Tisch, der mich beschützte
+und nicht mit mir ziehen würde.
+</p>
+
+<p>
+Wir nahmen Platz.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Aramis war gestern bei Ihnen&ldquo;, sagte Telramund.
+&bdquo;Er hat es uns erzählt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Warum auch?&ldquo; dachte ich.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Er wird immer launischer&ldquo;, bemerkte Ortrud.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Launisch?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Haben Sie das noch nicht herausgefunden?&ldquo;
+fragte Telramund und heckelte ihn eine Weile durch.
+&bdquo;Im Grunde&ldquo;, klang es fast drohend von diesen
+Berliner Lippen, &bdquo;ist er ein ganz germanophiler
+Bursche.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Ich goß Tee ein und erwiderte nichts. Aber mir
+wurde bang und bänger über das Gespräch.
+</p>
+
+<p>
+Daß die beiden es wagten, vor mir, die selbst
+obenan und mit so fetten Lettern auf ihrer Proskriptionsliste
+stand, derart rückhaltlos Leute auszurichten,
+mit welchen sie scheinbar die besten Beziehungen
+unterhielten, war das nicht ein Beweis für
+die Rückversicherungen, deren sie sich versehen
+hatten? Und wie weit mochten diese gehen?
+</p>
+
+<p>
+Und woher wußte &mdash; von allen Deckungen abgesehen
+&mdash; dies im wiedererzählen so blitzschnelle Paar,
+daß sich unsere usancen voneinander unterschieden?
+</p>
+
+<p>
+War es die starke Gegenwärtigkeit des wuchtigen
+Tisches, um den wir saßen, und der wohl einst am
+Waldesrand Jahrhunderte hindurch als mächtiger
+<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
+Baum &mdash; wissend und weise &mdash; in rauschender Verschwiegenheit
+sein Gezweige ausbreitete &mdash; oder
+welch überspringender Funke war es nur, der mir da
+mit der unbewiesenen und doch stahlharten Sicherheit
+intuitiver Erkenntnis die Tatsache enthüllte, daß
+die Niederträchtigen, aus ihrer, mit Selbsterhaltungstrieb
+gepaarten Verdorbenheit heraus, die Menschen,
+welche guten Willens sind, ungleich deutlicher erkennen,
+als diese sich unter sich durchschauen. Fortunio,
+von Martin im Walde nicht zu reden, kannte
+mich nicht entfernt so gut wie diese zwei: welche
+Waffen ich gegen sie anwenden und welche nicht,
+ihnen war es nicht zweifelhaft, und für sie war ich
+wie durchsichtiges Glas. Indem sie mich haßten,
+wußten sie sogar, daß ich nicht ihrer Person, sondern
+ihrer Schlechtigkeit den Haß vergalt, und wenn meine
+hiesigen neuen Freunde vielleicht in ihrem Urteil
+über mich noch schwankten, diese meine erbittertsten
+Feinde werteten mich nach Verdienst. Dies war der
+Grund, warum sie mich verfolgten. Wer in der Tat
+stand einander im Wege, wenn nicht wir? Soweit
+ich zurückdenken konnte, und lange ehe er ausbrach,
+dieser elende Krieg, und dann wieder vom Tage
+seines Bestehens an, war ich für einen Frieden um
+jeden Preis. Mich interessierte, noch freute kein
+einziger Sieg. Nur dem Frieden gönnte ich den Sieg
+über eine so schmähliche Niederlage wie diesen
+Krieg.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
+Für dieses Paar jedoch waren Versöhnung und
+Verständigung zwei Dinge, deren Möglichkeit sie mit
+allen Mitteln zu hintertreiben entschlossen waren.
+Dafür lebte es. Wehe dem Franzosen, der kein
+Jusqu&rsquo;auboutiste war. Er hatte allen Grund, vor
+diesem deutschen Telramund zu zittern, und wenn
+nur der letzte Deutsche verblich, durfte für diese
+französische Ortrud der vorletzte Franzose unbesehen
+verbluten. Denn die Saite, auf welche sie beide
+gestimmt waren, ihr Element war der Haß. In welcher
+Tropenluft aber lebten wir heute, daß die Gemüter
+sich mit solcher Fieberhitze entfalten oder zersetzen
+durften? Nie hat Gelegenheit ärgere Diebe gemacht.
+Hier war Telramund &mdash; vor dem Kriege ein ränkespinnendes,
+sonst aber vielleicht ganz traitables Männchen
+&mdash; zum professionellen Verleumder und Verräter
+entartet, und Ortrud, einstens eine gehässige Klatschbase
+und weiter nichts, nunmehr zur angriffswütigen
+Ratte, zur erbarmungslosen Menschenfresserin von
+<a id="corr-0"></a>Hokusai.
+</p>
+
+<p>
+Mit solchen Wesen aber paktierte, tergiversierte,
+lavierte man.
+</p>
+
+<p>
+Und zu denken (dachte ich), daß doch sonst so
+viele Schutz- und Trutzverbände bestehen. Der
+Adel, die Juden, die Ärzte, Arbeiter, Bäcker, Schneider
+und Hoteliers, alle bilden sie ihre geschlossenen
+Gilden und Vereine. Und nur ausgerechnet die Menschen,
+die guten Willens sind, sie allein, die überall
+<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
+verstreuten und ausgelieferten, setzten sich noch
+nicht zur Wehr, berieten und versammelten sich noch
+nicht. Ihr Klub ist der einzige, der noch nicht zustande
+kam, ihre Statuten, ihre Geschlossenheit,
+ihre Einigung, welche doch gleichbedeutend wäre mit
+ihrer Vorherrschaft, über alle Grenzen hin. Denn
+nichts scheut ja das Geschmeiße so sehr wie seinen
+Namen und ihren Boykott.
+</p>
+
+<p>
+Nicht äußerste Vorsicht (die nützte gar nichts!),
+sondern schroffste Ablehnung war Telramund gegenüber
+am Platze. Aus jedem Wort, das ich sagte oder
+zu erwidern unterließ, wurden jetzt handfeste Stricke
+wider mich gedreht. Solche Leute zu kennen, sie
+zu sehen, <em class="em">dies</em> war der kapitale Fehler.
+</p>
+
+<p>
+Ortrud kam immer wieder auf meinen Flügel zu
+sprechen, und als sie sich zum Gehen anschickte,
+bezeigte sie eine Neugierde, ihn zu besichtigen, als
+handelte es sich um einen neuentdeckten Raffael.
+Der Gedanke aber, daß die beiden als die ersten meine
+unteren Zimmer betreten sollten, bevor ich sie noch
+bezog, versetzte mich in eine so abergläubische Verwirrung,
+daß ich die Treppe hinablief, um sie daran
+zu hindern. Allein die Türen standen offen, und ehe
+ich sie schließen konnte, hatten Telramunds meine
+Schwelle überschritten und waren meine ersten Besucher
+gewesen.
+</p>
+
+<p>
+Abends bei A. H. Pax. Ich ärgere mich über
+Bemerkungen, die dort fallen: Brücke von Kirchenfeld;
+<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
+die müsse ich doch kennen. Was ist das nun
+wieder?
+</p>
+
+<p class="dat">
+18. FEBRUAR. Meine &bdquo;Wohnung&ldquo; ist ursprünglich
+ein großes Zimmer mit Alkoven gewesen und nun
+durch eine eingebaute Wand so unwirsch in zwei
+geschnitten, daß sich das Auge an den falschen Massen
+immerwährend stößt. Aber die Farben bringen einen
+gewissen Trost, eine Suleikaportiere, indisch mit
+scharlachrotem Rand, führt in ein drittes vorgebliches
+Gemach, und der Flügel macht sich ausgezeichnet.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Besuch der Miß Annie A. Wir hatten uns seit
+dem Kriege nicht mehr gesehen. Sie ist mütterlicherseits
+deutsch wie ich französisch, väterlicherseits
+englisch wie ich deutsch. Nur ist sie nebenbei auch
+ein Engel von Güte, und das bin ich nicht. Doch
+ach! andere werden schon mit mir bemerkt haben,
+daß gerade solche Engel von Güte es so oft nicht
+über sich bringen, die Vortrefflichkeit derjenigen anzuzweifeln,
+deren Instanz sie zunächst unterstehen,
+ja die es für eine Perfidie halten würden, ihren eigenen
+Zeitungen und eigenen Machthabern nicht zu glauben.
+Wer kennt sie nicht, diese Engel von Güte, mit ihren
+<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
+&bdquo;they say&ldquo;, ihren &bdquo;man sagt&ldquo;, ihren &bdquo;on dit&ldquo; und
+ihren &bdquo;si dice&ldquo;. Unbesehen ist für sie der Teufel
+überall nur drüben.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Mein Deutschtum ist tot in mir&ldquo;, sagte sie. &bdquo;Auch
+Sie sollten sich entscheiden.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Dasselbe Ansinnen, nur umgekehrt natürlich, war
+mir in Deutschland zu oft gemacht worden, und ich
+war in solchen Dingen sehr abgebrüht. &bdquo;Was brauchen
+mich die Franzosen,&ldquo; seufzte ich, &bdquo;die ganze Welt
+steht ja auf ihrer Seite.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Da sie mich traurig sah, schaute sie mich betrübt
+mit ihren guten und veilchenblauen Augen an.
+&bdquo;I thank God on my knees&ldquo;, brach sie dann aus,
+&bdquo;that I am English.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Auch die Variationen <em class="em">dieser</em> Formel waren mir
+vertraut. Und ich konnte nicht umhin, ihr von den
+Halbengländerinnen zu erzählen, die in Deutschland
+unter die Patriotinnen gegangen waren, von Marie
+von B&nbsp;.&nbsp;.&nbsp;., die mich wie keine andere deutsche Frau
+in den deutschen Blättern verriß, und von jener
+jungen englischen Gouvernante in München, die ich
+in Tränen fand, weil ihre, an einen norddeutschen
+Offizier verheiratete Schwester soeben, anläßlich eines
+Luftangriffes auf London, von den Zeppelinen als von
+&bdquo;our glorious zeps&ldquo; geschrieben hatte. Aber kaum
+hatte ich meine Pfeile abgeschossen, so war mir&rsquo;s
+schon leid. Unser Wiedersehen fand also nur statt,
+<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
+um uns unsere Trennung nur um so fühlbarer zu
+machen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Nichts ist mehr, wie es war!&ldquo; rufe ich aus, indem
+ich sie in meine Arme schließe. Denn sie ist ein
+Engel.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Bevor Annie A.&nbsp;.&nbsp;. mich gestern verließ, zog sie
+ein Fünffrankenstück hervor, das sie mir im Auftrage
+der Fürstin Patschouli, einer gemeinsamen rumänischen
+Bekannten, einhändigte, welche vorgab, es
+mir zu schulden. Dieser so kurzerhand beim
+Schopf gefaßte Annäherungsversuch war zum mindesten
+originell. Ich machte ein sauberes Päckchen
+aus dem Geldstück, bedankte mich für die schöne
+Gabe und bat um die Erlaubnis, ihr ein ebensolches
+Gegengeschenk machen zu dürfen. Daraufhin schlug
+sie per Telephon die Brücke zu mir und lobte einen
+schwarzen Kaffee, den sie selber braue. &bdquo;Bonjour,
+je vous attends!&ldquo; und damit hing sie das Hörrohr aus.
+</p>
+
+<p>
+Ich wußte in der Tat nicht, was erfrischender war,
+ihr Kaffee oder sie selbst in ihrer herzstärkenden und
+vorgefaßten Oberflächlichkeit. Die Fürstin, deren
+Röcke unten zusammengebunden schienen, ging mit
+kurzen und kleinen, aber heftigen Schritten, war
+braun wie ein Maikäfer, die auffallendste Erscheinung
+von ganz Bern, brüsk, witzig und ohne Stachel.
+Da sie eine Villa in Tegernsee und Freunde in München
+<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
+hatte, war sie im Grunde germanophil, jedenfalls
+bayernfreundlich, und stand außerdem stark unter
+dem Eindruck der deutschen Siege. &bdquo;Je suis l&rsquo;amie
+des bons jours&ldquo;, erklärte sie.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+25. FEBRUAR. Zwar scheint die Sonne hin und
+wieder, und die Zauberwand der Berge stellt sich
+dann strahlend auf, doch das Licht bleibt spröde.
+Nie träumt dieser kalte Himmel dahin, nie ermatten
+die Reflexe; stets rufen sie: gedenk! und nie: vergiß!
+und ewige Gegenwart ist die Fanfare. Oder
+liegt es an mir? &mdash;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Mein gutestes Fräulein,&ldquo; sagte mir einmal ein
+dickgebliebener Berliner Aufsichtsrat, &bdquo;wer sagt Ihnen,
+daß nicht am Ende mit dem Frieden so bunte Zeiten
+kommen, daß wir uns nach den Kriegszeiten zurücksehnen
+werden &mdash;, bis auf die Schlachten natürlich&ldquo;,
+hing er mit einer Handbewegung an, als wären sie
+ein Detail.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+ENDE FEBRUAR. Die Tage haben soviel widerwärtiges
+gebracht, daß mir das Schreiben verging.
+Man sollte hier mit seiner Aufenthaltsbewilligung
+zugleich ein Vorhängeschloß wie Papageno erhalten;
+statt dessen wird einem ein Nessushemd übergeworfen.
+<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
+Schreckliche Stöße mit Fortunio, schwere Havarie
+mit Martin im Walde. Telramund, dessen Hochöfen
+alle in Betrieb stehen, erstattete ihm einen formellen
+Besuch und brachte ihm zugleich mit dem Ausdruck
+seiner Hochachtung sein Bedauern vor, durch mich
+und meine Darstellungen ein so falsches Bild von
+seinem Charakter gewonnen zu haben. Halb lachend
+wird es mir erzählt. Ich mache ihm Vorwürfe, daß
+er den Mann vorläßt. &bdquo;Ihnen danke ich ja die angenehme
+Bekanntschaft.&ldquo; Das war im Herbst, sage ich,
+wo man noch glauben durfte, es stecke vielleicht
+doch etwas Gutes in ihm, an das man sich halten
+könne. Heute dürfen Sie keinen Umgang mehr
+mit ihm pflegen.
+</p>
+
+<p>
+Einem Glücksfall, der allen Glanz eines Hintertreppenklatsches
+trägt, danke ich es im übrigen, daß
+von dieser Seite wenigstens Fortunio nicht mehr irre
+an mir werden kann: er saß mit einem Freunde, als
+Telramund sich zu ihm gesellte und Äußerungen
+wiederholte, die er von mir vernommen haben wollte.
+&bdquo;Und nun sehen Sie,&ldquo; schloß er, &bdquo;wie sie lügt&ldquo;,
+zahlte sein Schöppchen und ging. Aber in der Eile,
+mir zu schaden, übersah er, daß Fortunios Freund
+zufällig Zeuge gewesen war, wie ich jene Worte nicht
+nur nicht gesagt, sondern heftig dagegen protestiert
+hatte, als sie vor mir fielen. Dies also wäre, gottlob,
+besorgt.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
+Es ist gewiß nur recht und billig, daß auch die
+Überlebenden heute auf der Verlustliste stehen.
+Wie man dem Kranken, der nicht teilnehmen
+kann an dem Treiben der Gesunden, gerne darauf
+hinweist, wenn es draußen stürmt und die Fußgänger
+gegen Frost und Wind ankämpfen, während
+er in der geschützten Stube liegt, so möchte man
+heute denen, welche fallen, nachrufen: Ihr habt
+nichts verloren!
+</p>
+
+<p>
+Ich schreibe der Königin im Auftrage ihrer Mutter,
+die seit Monaten ohne Nachricht von ihr ist. Die
+Idee des Königtums ist gewiß nur deshalb in Diskredit
+geraten, weil ein verrohter, subalterner Mensch
+oder auch ein, Idiot höchst widersinnigerweise zum
+Herrscher avancieren konnte. Wegen meiner Ansichten
+werde ich hier viel ausgelacht. Aber wie
+würden sie erst lachen, wenn sie wüßten, wie gern
+ich selbst regieren möchte. Da würde man doch
+was Richtiges erleben! Kein mittelmäßiger Künstler
+käme bei mir hoch, welche Unsummen aber flössen
+den andern zu; kein Lämpchen ließe ich mir je als
+ein Lumen aufschwätzen, also auch kein Talent, das
+sich zum Genie aufblasen möchte. Herr Pfitzner
+bewürbe sich also vergebens um eine Dirigentenstelle
+an meinem Theater, und gar Herr Weingartner,
+welcher die Wiener Philharmonie herunterbrachte,
+wage es nicht, vor mich zu treten. Ich verarge es
+heute noch der Pariser Kritik, welche ihn seinerzeit
+<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
+&bdquo;un jeune dieu&ldquo; genannt hat. Denn nie hatten die
+Götter das Geringste mit ihm zu tun.
+</p>
+
+<p>
+Ach, und was für schöne Häuser ich erbauen, was
+für Gärten ich anlegen ließe! was für prachtvolle
+Katzen würden meine Marmorbrunnen entlang
+schweifen!
+</p>
+
+<p>
+Doch genug über meine Herrscherzeit.
+</p>
+
+<p>
+Über Weingartner, dessen Überschätzung ich der
+Pariser Presse verdenke, fällt mir die Äußerung ein,
+die kürzlich ein Pariser, den ich nicht nennen werde,
+einem Deutschen gegenüber, dessen Namen ich gleichfalls
+unterschlage, gefällt hat: &bdquo;il y a une chose,
+monsieur, que nous ne vous pardonnerons jamais,
+c&rsquo;est de nous avoir forcés d&rsquo;aimer les Belges.&ldquo;
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Den Abend bei A. H. Pax verbracht. Bei ihm kann
+man sagen, was einem gerade einfällt, ohne Gefahr
+zu laufen, daß es entstellt in alle Winde hinauswirbelt.
+Dieser Vorkämpfer des Friedensgedankens, der mit
+so feierlichem Ernst seine Stimme zu erheben weiß,
+ist bei strengster Sachlichkeit der gemütlichste Mann
+der Welt, in dessen Atmosphäre man sein bißchen
+Humor und sein verlorenes Lachen auf Augenblicke
+rettet. Gestern sprach er zwar tief entmutigt über
+die vollkommene Unmöglichkeit, gegen den so geschickt
+angerichteten, so eifersüchtig gehegten und
+drinnen und draußen immer neu genährten Wirrwarr
+<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
+in den Köpfen der allermeisten Deutschen auch
+nur das geringste auszurichten. Plötzlich tauchte ein
+Nachmittag in München aus dem Sommer 1916, ein
+schattiger Garten, ein gedeckter Tisch, zwei Damen,
+die davor saßen, vor mir auf, und wie eine phonographische
+Platte spielte sich in hemmungslosem
+Bayrisch ein halbvergessenes Gespräch so getreulich
+in mir ab, daß ich mit einem Male alle Rollen in
+einer Person herunterspielte.
+</p>
+
+<p>
+Wir brachen alle in ein schier trostloses Gelächter
+aus. Waren nicht ganze Generationen mit allen
+brauchbaren Argumenten des Scheins in ein Wirrsal
+gelockt, dessen Dunkel den Tag derer ausmachte, die
+es unterhielten, so daß sie jede anbrechende Helle
+augenblicklich verscheuchten?
+</p>
+
+<p>
+Und mußten nicht fast alle Gehirne vermodern,
+ohne zu erfahren, was denn eigentlich los ist? Mit
+so teuflischem Geschick sind alle Ausgänge der Lügenburg
+zementiert, in welcher sie sich narren ließen.
+Unschuldig Betörte. War es nicht überall so?
+</p>
+
+<p>
+Unter den Tagebüchern, welche an den deutschen
+Gefallenen vorgefunden wurden, erzählte neulich
+Abigail von der agence, seien manche sehr schöne
+zum Vorschein gekommen. &bdquo;Warum veröffentlicht
+Ihr diese nicht auch?&ldquo; rief ich. &bdquo;Nous n&rsquo;avons&ldquo;
+sagte er, &bdquo;qu&rsquo;à nous occuper des atrocités.&ldquo;
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
+Dafür, daß ich so viele Dinge nicht verstehe, werde
+ich mit den paar Gedanken, die mir im Kopfe sitzen,
+viele Jahre nach meinem Tode wahrscheinlich recht
+behalten, so zum Beispiel mit meiner Skepsis betreffs
+der Demokratie. Aber natürlich ist es für andere
+ärgerlich, das, was immer sie mich lehren, und was
+immer ich lerne, gerade nur eben jene paar Überzeugungen
+weiter ausbaut und nur ihnen zugute
+kommt. Jede Erkenntnis geht nun einmal bei mir
+auf Kosten einer ganz exemplarischen Unbegabtheit.
+</p>
+
+<p>
+Es müßte einer blind sein natürlich, um an den
+Sozialismus und seine Unerläßlichkeit nicht zu
+glauben. Aber in Wirklichkeit ist heute keiner sozialistischer
+geworden, als er es von je gewesen ist. Es
+scheint nur so. Machen wir uns nichts vor. Wir
+haben uns den Sozialismus eingebrockt. Dank unserer
+Verkehrtheit nur ist er die einzig richtige Parole. Er
+ist kein Ziel, sondern ein Weg. Keine andere Brücke
+ist stark genug, uns aus unserer baufälligen Welt
+zu den neuen Ufern hinzutragen, wo die neuen Autokratien
+auf ganz neuer Basis sich erheben werden.
+Nur durch den Sozialismus, dieser fausse sortie aus
+einer Welt der Standesunterschiede, kommen wir zu
+einer neuen Welt der Standesunterschiede, der Herrenkaste
+und der Knechteschar.
+</p>
+
+<p>
+Für diesen Glauben will ich mich gerne köpfen
+lassen, denn geköpft, sagen die andern, werde ich
+ja doch, entweder von rechts oder von links.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
+Mittlerweile bin ich viel zuviel unter Menschen.
+Es geschieht aus Trägheit und einer Art von Furcht.
+Denn bin ich nicht zufriedener allein und so viel
+weniger allein, wenn ich allein bin? Füllt sich dann
+nicht die Luft mit Geistern guter und hilfreicher
+Art? Und bin ich dann nicht umgeben?
+</p>
+
+<p class="dat">
+28. FEBRUAR. Forsell als Don Juan: der Tod als
+Objekt der Kunst. Forsell ruft ihn und mißt sich
+mit ihm. Gewiß ist der Tod nur was wir aus ihm
+machen: der größte Individualist fürwahr! Welche
+Feigheit jagt mich so oft von mir selber fort zu den
+Menschen hin, oder hält mich ab, mich ihnen zu
+entziehen? Ist es das grauschleichende Verzagen vor
+jener eisigen Verlassenheit, in die wir eingehen werden?
+Hinter dem ganzen Geselligkeitstrieb der Menschen
+steckt ja viel mehr Todesangst, als man glaubt.
+Die einen fürchten sich vor dem Sterben, die andern
+vor dem Gestorbensein; auf dieses, nicht auf jenes
+gilt es, sich zu bereiten.
+</p>
+
+<p class="dat">
+3. MÄRZ. Ich fahre nach Lausanne und gehe dann
+nach Ouchy hinab, eine Bekannte aus München zu
+besuchen. Beißend kalter Wind. Wir besprechen
+die letzte Affäre. &bdquo;Das Schreckliche ist, daß immer
+alles aufkommt bei uns&ldquo;, äußerte sie. So ein Pech!
+Im übrigen sagte mein guter Vater immer: &bdquo;In der
+Politik gibt es keine Moral&ldquo;; à qui la faute, wenn die
+<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
+Deutschen dies für ein unabänderliches Weltgesetz
+halten, so feststehend wie Tag und Nacht und die
+vier Jahreszeiten? gewiß an ihrer Gedankenlosigkeit,
+aber gewiß noch mehr an den Vorbildern, welche
+sie haben. In der Politik gibt es keine Moral.
+Sie sagen es wie: Ehre Vater und Mutter, oder:
+Du sollst nicht stehlen. Ihre Fantasie liegt ja nicht
+auf diesem Gebiet.
+</p>
+
+<p class="dat">
+8. MÄRZ. Besuch des sozialistischen Reichstagsabgeordneten
+W. H. Er ist gegen den Unterseebootkrieg.
+Ich glaube, daß er unter dem Krieg leidet. Aber was
+mich an diesen Sozialisten so furchtbar erbittert, ist
+die Preisgabe des deutschen Volkes, auf das sie sich berufen,
+indem sie vorgeben, diese oder jene Konzession
+an die Gegner &bdquo;ihm nicht zumuten zu können&ldquo;. Vor
+August 1914 gab es kein friedfertigeres auf der Welt:
+wie die Posaune des letzten Gerichtes erscholl ihm
+der Schlachtenruf; es stand auf, und von da ab glaubte
+es alles. Wäre es unglücklicher und beunruhigter
+gewesen, man hätte es weniger leichtgläubig gesehen.
+Aber weil es sich belügen ließ, sollte es nicht auch
+noch verleumdet werden. Im Januar 1917 lauerte
+ich im Hause einer Bekannten dem damaligen
+Staatssekretär Zimmermann auf. Er trat ein mit der
+forschen Bonhomie eines Kegelklubpräsidenten, der
+mir jede Schüchternheit benahm, und als ich mit
+meiner Rede über die elsässische Frage zu Ende war,
+<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
+nickte er ganz kulant und bemerkte; &bdquo;Wir müssen
+nur bedenken, was wir dem deutschen Volk zumuten
+können.&ldquo; &bdquo;In vier Tagen haben wir es hineingelogen,
+vielleicht lügen wir es in acht Tagen wieder heraus&ldquo;,
+sagte ich. Er schien kein bißchen choquiert. In der
+Politik gibt es ja keine Moral.
+</p>
+
+<p class="dat">
+10. MÄRZ. Heute kam Herr v. Sch. mit der erstaunlichen
+und fatalen Eröffnung zu mir, daß sein Chef
+mich zu sehen wünsche. Herr v. Sch., den ich von
+London her kenne, hatte sich große Mühe um meinen
+Paß gegeben, und im ersten Schrecken fiel mir keine
+Ausflucht ein. Ich wagte nicht, es Fortunio mitzuteilen,
+der sicher dagegen gewesen wäre, sondern
+spielte wieder einmal mit dem Feuer und bat Aramis
+zu mir. Sollte ich wirklich über die Brücke von
+Kirchenfeld, so wollte ich keine Anspielungen darauf,
+sondern wünschte um so mehr, daß man es wisse,
+als man es ja doch wissen würde.
+</p>
+
+<p>
+Aramis kam sofort zu mir. Wir verabreden ein
+paar sehr direkte Sätze, die ich während meines bevorstehenden
+Besuchs möglichst pointiert anzubringen
+hätte, und daß ich nachher zu ihm kommen würde,
+ihm die Wirkung jener Worte mitzuteilen.
+</p>
+
+<p class="dat">
+11. MÄRZ. Sonntag. Das Wetter ist schön und warm.
+Die Sonne lacht bis in das Auto hinein, in dem ich
+neben Herrn v. Sch. Platz genommen habe. Schafwölkchen
+<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
+treiben so zuversichtlich am Himmel, und
+er hängt so hoch, daß ich nicht sogleich die leise
+Hoffnung unterdrücke, der Besuch würde am Ende
+doch nicht ganz resultatlos sein. Aber nichts von
+Sonne an Herrn von Rittersporn, vielmehr der Widerschein
+des sterbenden Tags. Ich hatte vor mir einen
+jener persönlich uranständigen, autoritätsgläubigen
+Deutschen strengster Observanz, die vor lauter Gewissenhaftigkeit
+und Loyalität und Treue und Ehrenhaftigkeit
+zur Vertretung der unehrenhaftesten Methoden
+unverbrüchlich auf dem Posten ausharren, ein
+Mann, der privatim gewiß nie eine Lüge sagte und
+nur offiziell und in Gottes Namen log. Mit seltsamer
+Distanzierung, als sei ich die Angehörige eines fremden
+Staates, fing er das ganze Weißbuch mit einer so
+deprimierenden Weitschweifigkeit an aufzusagen, daß
+wirklich nur das fehlte, was es selber wegließ. Er war
+bleich, müde, sichtlich schwer unter dem Kriege
+leidend. Endlich wurde er fertig mit seinem récital,
+und ich hatte das Wort in diesem großen, vielfenstrigen,
+hellen und doch so unfrohen Salon, in dem keine
+rechte Zuversicht aufkommen wollte. Zwar schien
+auch ihm die französische Frage vor allen andern am
+Herzen zu liegen, aber das Feuer, mit dem ich sprach,
+dünkte mir selber deplaciert. Hier ist ein Stuhl,
+schloß ich, faßte ihn mit beiden Händen und sprang
+auf, hier ist ein Tisch: nur eins ist heute wichtig auf
+der Welt: die Formel zu finden, welche es den Franzosen
+<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
+ermöglicht, in diesem Stuhle Platz zu nehmen!
+&bdquo;Ich bin vollkommen Ihrer Ansicht&ldquo;, sagte er. Und
+zum ersten Male schwante mir, wie wenig er vermochte.
+Auf Aramis übergehend, hob ich jetzt seine
+Beziehungen, sein Geschick, seinen guten Willen
+hervor, sowie die Chancen, die er als Vermittler bot.
+Hier jedoch fiel ein Schatten. Ich fand keinen Anklang.
+Es war die alte Kamarilla, ich merkte es wohl, vielleicht
+auf indirekte Umtriebe Telramunds zurückzuführen,
+aber auch Widerstände, Unsachlichkeiten.
+Ich hatte Carry mit Aramis zusammengeführt, ohne
+Parteinahme, weil es sich von selbst ergab, und man
+mißgönnte ihm den Vorsprung. Auch Carry war voll
+Ehrgeiz, aber er besaß Schwung, eine künstlerische
+Ader, Sinn für Kameradschaft, Ritterlichkeit. Man
+wußte, wie man mit ihm dran war. Auf seine Fehler
+wie auf seine Tugenden fiel das Mittagslicht. Il ne
+ment pas, hieß es auf gegnerischer Seite von ihm.
+Dies besagte so viel in Tagen wie den unsern! In der
+europäischen Literatur ungemein bewandert und von
+regstem Geiste, besaß er zudem eine glückliche und
+wohltuende Art mit Menschen umzugehen und hatte
+etwas Jünglinghaftes bewahrt. Selbst ein Mischling,
+war er rassenmäßig den andern lange nicht so fremd
+wie seine zünftigeren Kollegen.
+</p>
+
+<p>
+Es war nahe an zwei Uhr. Vergebens mahnte man
+zu Tisch. Daß die Unterredung sich so in die Länge
+zog, unterstrich ihre Nutzlosigkeit nur noch mehr.
+<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
+Auf dem Heimweg, in dem schneidend kalten Alpensonnenlicht
+wurde es mir mit jedem Schritt bewußter.
+Die Aare floß so leuchtend blau wie vor zwei Stunden,
+als ich über die Brücke fuhr. Mutlosigkeit aber drückte
+mich in diesem Augenblick zur Greisin nieder. Wie
+eine Hundertjährige lehnte ich über das Geländer
+und sah zu den Kindern hinab, die wie besessen
+schrien. Dann raffte ich mich auf und rannte die
+kalten Schatten der Keßlergasse entlang zu mir
+hinauf. Plötzlich fühlte ich, wie verausgabt ich war,
+warf mich auf den Diwan und schlief ein. Aber um
+vier Uhr erwartete mich Aramis, und dies weckte
+mich beizeiten. Ich strich jetzt die Lauben auf der
+Sonnenseite hinauf. Oh wie deutlich ist mir der Schein,
+in dem sie lagen! Wie ein tobender Schmerz, der
+auf Sekunden aussetzt, riß er mich auf einen langen
+Augenblick in seinen Bann, tauchte mich schonungslos
+unter in sein Gold, ließ mich bewußtlos werden
+wie die uralten Häuserreihen, die es durchdrang:
+unempfindlich werden vor Empfindung.
+</p>
+
+<p>
+Bei Aramis herrschte an diesem Vorfrühlingstage
+schon sommerliche Kühle. Eine leise Spannung lag
+in seinen Zügen, und die Wärme, mit der er mich
+begrüßte, kontrastierte doch recht seltsam mit dem
+Empfang, der mir vor ein paar Stunden zuteil geworden
+war. Was ich ihm aber zu sagen hatte, war
+so verdammt unwesentlich, derart neben hinaus, daß
+ich erschrak, indem ich es formulierte. Es ließ keine
+<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
+Spur von Bereitwilligkeit, ihn ernst zu nehmen, verraten.
+Und da es vollkommen zwecklos gewesen
+wäre, ihm etwas vorzulügen, durchschaute er natürlich
+die ganze rettungslose Sturigkeit, in die man
+ihm gegenüber sich versteifte.
+</p>
+
+<p class="dat">
+17. MÄRZ. Abends bei Dätwyler im kleinen Zimmer
+mit Carry und Fortunio. Dieser <a id="corr-1"></a>entfaltet mir gegenüber
+eine aggressive, ja feindselige Haltung größten
+Stiles, die keinen Zweifel läßt, daß er von den Vorkommnissen
+der letzten Tage gehört hat. Heftige,
+immer heftigere Szenen auf dem Heimweg. Ich bebe
+vor Zorn und sehe ihn so haßerfüllt an, daß er erschrickt.
+Eine schlaflose Nacht krönt die Explosion.
+</p>
+
+<p>
+Wie ungerecht war Fortunio! Wie falsch wurde
+ich hier gesehen! Im Juni wollte ich nach München
+fahren und dachte heute schon an das Schlößchen
+im bayrischen Vorgebirge wie an eine selige Insel.
+Waltete dann Telramund noch hier &mdash; soviel stand
+fest &mdash;, so kam ich nicht zurück.
+</p>
+
+<p>
+Und ich suchte Trost, indem ich an das Schlößchen
+dachte, angelehnt an den ernsten Berg: an die lange
+hölzerne Laube mit dem hölzernen Gartensaal; wie
+von Adalbert Stifter für eine seiner Verlobungsszenen
+erdichtet. Und die Freundin selbst, die immer
+Werdende mit der weiten Note der Leidenschaft,
+wer, kam ihr gleich? Ging, blickte, lächelte, lebte
+sie ihren Tag von Jahr zu Jahr nicht Göttinnen ähnlicher?
+<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
+Wer kannte sie? Wie schön und insgeheim
+war unsere Freundschaft verkapselt! Wie verlor die
+innere Einsamkeit so manche Schärfe zwischen uns!
+Weil ich den Spiegel ihres Wesens unausgesprochen
+mit mir führte und sie es wußte, war ich, die immer
+Zusammenbrechende, ihr Halt. Wer vergalt mir
+dies hier? &mdash; Eine Fratze sah man statt meiner.
+</p>
+
+<p class="dat">
+18. MÄRZ. Sonntag. Fortunio in dunkelblau und
+Strohhut holt mich ab, um nach Worb zu fahren.
+Es hat sich auf die Feindschaft von gestern wie ein
+neuer Friede zwischen uns aufgetan. Wieder liegt
+das Land in jenem schonungslosen Licht des Berner
+Oberlands, das, ich weiß nicht warum, in die Seele
+schneidet. Aber das Wetter war so warm und
+strahlend, daß man immer wieder innehielt, vor einer
+ersten Blume, ein paar Schafen, einem Hause. Wir
+sprechen heute in aller Ruhe über die Dinge, über
+die wir gestern stritten. Ich sagte ihm, daß ich manchmal
+mit der Sicherheit einer Mondsüchtigen Dachrinnen
+entlanglaufen müsse; wenn sie dann herunterfällt, ist
+es ganz und gar ihre Sache. &mdash; &bdquo;Ich fürchte weniger,
+daß Sie vom Dach als zwischen zwei Stühle fallen.&ldquo; &mdash;
+&bdquo;Aber das ist ja gerade mein Platz! Jeder von uns ist
+heute stärker sich selbst, handelt unweigerlicher seiner
+Natur nach als jemals zuvor, und ich habe es halt
+immer mit dem Vermitteln gehabt.&ldquo; &mdash; Er schüttelte
+den Kopf: &bdquo;Es sieht nichts dabei heraus.&ldquo; Und
+<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
+weil auch ich davon überzeugt bin, beteuerte ich,
+sind es nur mehr Gelegenheiten, die sich mir aufdrängen,
+welche ich ergreife. Niemand hätte ungerner
+die Brücke passiert.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich hätte es nicht getan&ldquo;, sagte Fortunio.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es gibt Leute, die nicht dazu da sind, nein zu sagen.
+Zugegeben,&ldquo; sagte ich, &bdquo;daß es die Belangloseren sind.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Wir kehrten in ein dunkles, altes Gasthaus ein, und
+es gab wundervolles Brot, wundervolle Butter und
+ebensolche Marmelade. Wahrscheinlich war es heute
+auch in Deutschland schön, und die Menschen suchten
+das Freie dort wie hier. Es sei denn, daß sie es vorzogen,
+sich nicht hungrig zu laufen, da es ja in keiner
+Herberge etwas Richtiges für sie gab. Besonders die
+Kinder .&nbsp;.&nbsp;. so ist einem heute alles vergällt.
+</p>
+
+<p class="dat">
+21. MÄRZ. Der Brief einer Deutsch-Amerikanerin,
+die sich auf der Rückreise nach New York in Zürich
+aufhielt, setzte mich in großes Erstaunen. Kinderlos,
+von Haus aus eine biedere Württembergerin mit
+steinschweren Augen, war sie, in Ermangelung jeglichen
+Ventils für ihre natürliche Schwermut, dem
+Okkultismus verfallen und ein Schreibmedium geworden.
+Sonst ohne andere Interessen &mdash; selbst
+während des Krieges &mdash; als ihren Mann, ihren Haushalt
+und allenfalls ihre letzte Häkelarbeit, paßte dieser
+vom Zaun gebrochene Brief &mdash; wir kannten uns
+kaum &mdash; in keiner Weise zu ihrem Phlegma. Wie
+<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
+kam sie zu meiner Adresse? &mdash; Sie schrieb mir, daß
+sie mich warnen müsse.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-2-1">
+Zürich.
+</h3>
+
+<p class="dat">
+22. MÄRZ. Der Brief der schwäbischen Amerikanerin
+ließ mir keine Ruhe, und ich fuhr hierher.
+Am Berner Bahnhof kaufte ich Zeitungen für unterwegs.
+Sie waren alle von Berichten über Verwüstungen
+der deutschen Truppen auf ihrem Rückzug aus Nordfrankreich
+erfüllt: eine künstlich gestartete Agitation,
+dachte ich erst, um dem, in den letzten Wochen abflauenden
+Haß neue Nahrung zu geben und Öl in
+das abnehmende Feuer zu gießen. Denn leise, leise
+war von der Möglichkeit zu vermitteln die Rede gewesen.
+Da koppelten sich denn die Interessenten des
+Krieges zu neuen Präventivminen zusammen. Glich
+ihnen dieses nicht auf ein Haar? Aber zu meinem
+Entsetzen fand ich da jene Verwüstungen, und zwar
+mit unleugbarer Genugtuung als &bdquo;militärische Notwendigkeit&ldquo;
+in den deutschen Blättern bestätigt. So
+war jenem so aufgerissenen und gemarterten Boden
+eine neue Schmach zugefügt, und ein genarrtes Volk
+gehorchte als sein eigener Henker den Befehlen, die
+ein Hut voll toll gewordener Idioten, &bdquo;Oberste Heeresleitung&ldquo;
+genannt, ihm erteilte. Diese &bdquo;militärischen
+Notwendigkeiten&ldquo;! Oh, wieviel deutsche Landsmänner
+würden ihretwillen kläglich verderben! &mdash; Ein Sturm
+brach in mir los, um so heftiger nur, als er in Ohnmacht
+<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
+sich entfesselte und seinem Rasen nichts im
+Wege stand, als die Wurzeln meines Seins, an welchen
+er riß und, wilden Regentropfen gleich, kalte Tränen
+aus meinen Augen schlug. Stäupen hätte ich sie lassen
+mögen, diese Herren Befehlshaber, keine Strafe wäre
+mir jämmerlich genug erschienen für diese menschenunwürdigen
+Köpfe, deren Nasen kurz ausliefen wie
+die Schnauzen der Hunde, oh! ebenso unfähig wie
+Hunde den geistigen Gang der Dinge zu spüren! Und
+die erbärmlichen Blasen dieser infantilen Gehirne,
+durch ein Wunder des Teufels für wirkliche Felsengebirge
+gehalten, beherrschten und verrammelten
+heute als &bdquo;militärische Notwendigkeiten&ldquo; alle Straßen
+der Welt! Nein! das war kein Leben! Es war nicht
+zu ertragen! Es war mir fremd das Geschlecht, das
+solche Dinge befahl und sich nicht scheute, sie auszuführen.
+Und ich war betroffen! und ich war mitgefangen.
+Mitgehangen war ich, ohne mitzugehen! &mdash;
+Der Zug lief in die Halle ein; die Passagiere verließen
+ihn. Hatte der Wahnsinn der Welt mir den
+Verstand geraubt? &mdash; Ich konnte mich nicht besinnen,
+weshalb ich da auf dem Zürcher Bahnhof stand. Er
+war von beißendem Nebel erfüllt, und mit hochgestülpten
+Kragen eilten alle dem Ausgang zu, während
+ich, den Mantel am Arme, im dünnen Kleide dastand,
+in unerträglicher Hitze und stürmisch bereit,
+aus dieser Welt, wie sie sich drehte, davonzulaufen.
+Ein Dienstmann fragte, wohin ich wollte, und ich
+<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
+sagte, daß ich es nicht wisse. Uralte Instinkte der
+Rachsucht und der Wildheit tobten in mir wie einst
+die Peitschen des Xerxes gegen das Meer! Ha! was
+wollten sie noch in der Weltgeschichte, diese verspäteten
+Hanswurste in dem lächerlichen Aufzug
+ihrer frisierten Helmbusche, ihrer aus gelbem Blech
+gedrehten Achselrollen, den zurückgeschlagenen roten
+Eselsohren ihrer Mäntel, ihren albernen Säbeln, gut
+für ein Possenstück, gut für ein Schaukelpferd, ein
+Ulk, bevor wir uns erniedrigten, davor zu zittern.
+</p>
+
+<p>
+Wie es zusammenhing, daß ein fliegender Zeitungsstand
+die Erinnerung zurückrief, welche mir doch
+gerade die Zeitungen geraubt hatten, mögen andere
+erklären, ich telephonierte an Frau Eleonore Grell:
+sie war zu Hause. Aber auch ihr Gatte, Onkel Sam
+aus Mannheim, der flinke Geschäftsmann mit dem
+schnurrigen Schnurr- und Vollbart, befand sich at
+home. Er hatte sich das okkulte Getaste seiner Frau
+energisch verbeten und glaubte es infolgedessen
+längst unterdrückt. So trafen wir uns denn bei
+Huguenin, aber sie beteuerte mir, nichts anderes
+sagen zu können, als was sie mir auf ein inneres
+Drängen hin geschrieben hatte. Ich ließ ihr aber
+keine Ruhe und folgte ihr auf gut Glück in ihr Hotel.
+Und richtig war ihr Mann inzwischen ins Freie
+spaziert.
+</p>
+
+<p>
+Wir setzten uns ans Fenster, welches die Limmat
+überhing. Der See, die Wolken und das ferne Bergland
+<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
+leuchteten im Abendschein grüßend und verträumt
+in dies hochgelegene Zimmer.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Hier schalte ich für den Leser eine Warnung ein:
+die Unwirklichkeit spielt in diesem Buch so stark in
+die gröbste Wirklichkeit hinein, daß ich gerade die
+besten, an die ich mich doch wenden möchte, abzustoßen
+befürchte. Aber ich muß mich streng an die
+Begebenheiten und ihre Reihenfolge halten, und wenn
+ich nicht ebenso chronologisch das große Spiel der
+Schatten mit hereinbeziehe, ist dieses Buch nicht wahr.
+</p>
+
+<p>
+Sobald wird ja der Okkultismus seine besondere
+Peinlichkeit gewiß nicht los. Denn für Namenloses
+ziehen da Benennungen mit großem Schwalle herauf,
+und geistiger Brechreiz ist die unweigerliche Folge.
+Wer sich heute auf den Weg zum Nichts aufmacht,
+ist jenen Steinklopfern vergleichbar, die auf ein fragliches
+Echo hin die Felsenwand behämmern, und
+mitten im treibenden Geröll Schutt ablagern, wo
+kein Liebhaber des Schönen seinen Fuß noch setzt.
+Und doch wird für ihn vielleicht die Straße hier gelegt,
+die nach dem dornenumwachsenen Reiche schaut, vor
+welchem Ferne, Wachstum und Allmählichkeit entstürzt.
+Denn ob dein Sarg noch auf den Schultern
+derer lastet, die ihn hinaustragen, oder ob deine Grabesinschrift
+seit Jahr und Tag verwitterte, ist gleich.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
+Ich kehre zurück in das hochgelegene Hotelzimmer,
+wo wir auf einem roten Repssofa beim Fenster saßen,
+das die Limmat und den See und Ferne und Gebirge
+übersah. Von Heerscharen erfüllte sich die Luft. &mdash;
+Auf den Ruf welches Jagdhorns &mdash; uns Tauben nur
+unhörbar &mdash; eilten sie her? &mdash; Wie durchsickertes
+Gestein so schwoll die Stube an. War der Ansturm
+der Schatten das Neue, was es unter der Sonne gibt? &mdash;
+Aber schon war ich des einfachsten Denkens nicht
+mehr fähig: alle Poren des Gesichtes sanft gebläht,
+ergoß sich unaussprechliche Verlorenheit, ein hinträumen,
+unbeweglich wie ein Leben lang. Das Herz
+erstickte von all dem Sang und Braus. Kein Mißton
+trübte den unendlichen Chor. Ein Chor sage ich.
+Kein Ungebetener darin. <em class="em">Hier war die Sichtung:</em>
+volles Orchester, nicht wie in unserer Mitte
+unreines dazwischenfahren, grelles übertönen eines
+unbefugten Soprans. <em class="em">Ausgekämpft!</em>
+</p>
+
+<p>
+Ganz versunken in den Vielen oder in mich, selbst?
+&mdash; (ich unterschied es nicht) &mdash; faßte ihr wissen und
+ihr begreifen das, ganze Herz. Des Mediums hatte
+ich vergessen. Mir zu Liebe, es ist wahr, doch auf
+sein Geheiß nur waren sie hergewallt, so <em class="em">dicht</em>!
+so feierlich gedrängt! &bdquo;Sieh dich vor, du kannst
+nicht wissen, du bleibst allein, oh!&ldquo; .&nbsp;.&nbsp;. stammelte
+die Feder.
+</p>
+
+<p>
+Wozu war ich denn hergereist, wenn nicht sie zu
+vernehmen? Und nun dünkte mich dies so fremd
+<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
+und kindisch, ein Bilderbuchbegriff. Gab es denn
+im Scheine dieser wogenden Luft etwas wie eine
+Zukunft? Führte man sie nicht mit sich wie ein
+Geweih? Wuchs sie nicht an mit uns? War sie denn
+nicht der eigene Hauch, der eigene emporstrebende
+oder schwankende, flackernde oder in nichts zerrinnende
+Schatten? Stand sie nicht als der Wald,
+der aus seinen Tiefen unsern eigenen Ruf zurückhallt?
+&mdash; so die Völker, so der einzelne. Was immer
+ihnen glückliches oder grausames begegnet, jeden
+Zufall riefen, beriefen sie herauf. Wir nennen&rsquo;s
+Zukunft! &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Frau Eleonore Grell hielt mir ein Blatt entgegen,
+das mit den Schriftzügen eines zehnjährigen Mädchens
+überzogen war. Es besagte immer dasselbe: Im
+Nu war alle Weisheit abgeworfen und die Furcht,
+die mich hierher getrieben hatte, wieder da.
+</p>
+
+<p>
+Verwirre sie nicht, schrieb jetzt Eleonore, und als
+sie diese Worte gelesen hatte, legte sie augenblicklich
+die Feder weg. Nichts hätte sie vermocht, sie
+wieder aufzunehmen. Die Sitzung war zu Ende.
+</p>
+
+<p class="dat">
+23. MÄRZ. Ich fahre nach Bern zurück. Fortunio
+kommt mir entgegen, und ich frage ihn, was von den
+Berichten über die Verwüstungen zu halten sei.
+&bdquo;Die deutschen Communiqués geben sie ja selber zu,&ldquo;
+seufzte er, &bdquo;sie brüsten sich sogar.&ldquo; Wir überschritten
+den Platz zum Kasino. Das Gebirge strahlte im
+<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
+vollen Ornat. Wir setzten uns ins Freie und starrten,
+Verbündete der Verzweiflung, ohne zu reden, vor
+uns hin.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Fortunio fragte, warum ich in Zürich gewesen sei,
+und ich verweigerte die Auskunft.
+</p>
+
+<p class="dat">
+24. MÄRZ. Auch meine vier Wände sind mir verleidet.
+Die Sonne scheint grell, verletzend, und
+nachts faßt mich der Schlaf nur wie eine Kranke, um
+mich zu erschrecken. Ein Gesicht wendet mir so
+gemarterte Augen zu, daß ich erschüttert frage: &bdquo;Hast
+du Arme denn nicht ausgelitten?&ldquo; und fahre stöhnend
+auf, weil es nur der Reflex von einem Kummer
+war, den diese Augen spiegelten. Nur ein überschwängliches
+Mitgefühl.
+</p>
+
+<p class="dat">
+25. MÄRZ. Gestern abend bei Fortunio war Abigail
+von der Agence, der hartnäckig am Thema der Verwüstungen
+festhielt. Auf dem Heimweg wurde er
+immer dringlicher. Logisch, folgerichtig wäre es, zu
+den Ereignissen Stellung zu nehmen; unvereinbar mit
+meiner bisherigen Haltung, wenn ich schwiege. &bdquo;In
+der Tat!&ldquo; rufe ich in einem Tone, der bitterer ist
+als Galle. &bdquo;Sie reden, als wüßte ich nicht, daß Ihr
+die Dinge glaubt, die Telramund Euch von mir sagt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Doch Abigail nahm alsbald seinen Vorteil wahr:
+&bdquo;Sie haben es ja in der Hand, Ihre Freiheit des Handelns
+<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
+zu dokumentieren!&ldquo; Je mehr er mich in die
+Enge trieb, desto schwerer wurde mir zumute, hatte
+er mir doch meine eigenen Gedanken verraten.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es wird nicht gut.&ldquo; Und ich erzählte ihm meine
+Züricher Reise.
+</p>
+
+<p>
+Er war mächtig interessiert. Ich ließ ihn trotz der
+späten Stunde zu mir herauf und zeigte ihm das
+Blatt Eleonorens. Es enthielt nichts, was ihm behagte.
+&bdquo;Die Hand eines Kindes&ldquo;, sagte er wegwerfend. Ich
+bereute schon, es ihm gezeigt zu haben, und wünschte
+ihn die Treppe hinab, riß die Fenster auf, als er
+gegangen war, und warf sie ruhlos, verlassen, gepeinigt
+wieder zu.
+</p>
+
+<p class="dat">
+25. MÄRZ. Wie in aller Welt haftete Pech meinen
+zehn Fingern an? Aber ich täuschte mich ja! Es
+war ein Irrtum .&nbsp;.&nbsp;. ah, es war ein Traum, so lebhaft
+aber, daß ich mit beiden Händen in die Höhe
+fuhr.
+</p>
+
+<p>
+Nachmittags bei der Fürstin, in der Hoffnung, ihre
+nüchterne Atmosphäre würde mir Ernüchterung
+bringen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Et la Calicie&ldquo;, sagte sie. &bdquo;Ah! ils se valent bien
+tous, allez!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Mir wurde nicht besser, und ich ging.
+</p>
+
+<p>
+Über der Kornhausbrücke hing sehr niedrig eine
+Mondsichel, so wunderbar ausgeprägt, so sprechend,
+so beseelt, so festlich!
+</p>
+
+<p class="dat">
+<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
+27. MÄRZ. Nicht nur in meinem, nein, ich darf
+es sagen: mehr noch im Namen der vielen in Deutschland
+(oder der wenigen, gleichviel!), welche sich nicht
+äußern konnten, wollte ich gegen die neueste Kraftprobe
+der Herren Militärs protestieren, und es dabei
+genau so halten wie die oberste Heeresleitung,
+nur umgekehrt: das heißt mit eben derselben Arroganz
+über militärische Notwendigkeiten hinwegsehen,
+wie sie über menschliche und moralische. Meine
+Wohnung aber, meine Sachen, meine zurückgelassenen
+Briefe, ein gewisses Schlößchen im bayrischen Vorgebirge,
+das selbst mitten im Kriege so zauberhafte
+Kreise zog, dies alles sah ich vielleicht nicht wieder.
+Und, die Trennung von meinen Freunden, meine
+Geborgenheit? Hier war ich so fremd! Warum aber
+verhielt sich dies alles bleich, ohne Licht, unvorhanden,
+ohne Resonanz, da mir doch wohl bewußt
+war, daß es wieder in ganzer Kraft ausziehen würde?
+Wie jene rein umrissene und sehnsuchtsvolle Mondsichel,
+die gestern über der Brücke so tief am Himmel
+hing und ihn beherrschte. Was weiß er noch von
+ihr, sobald die Sonne brennt? So waren alle Beweggründe,
+die mich zurückhielten, von einer stärkeren
+Forderung entkräftet und verdrängt.
+</p>
+
+<p class="dat">
+29. MÄRZ. Kaum war an diesem 29. März mein
+Protest an das Journal de Genève abgeschickt, als
+mir eines jener erprobten Warnsignale übler Vorbedeutung,
+<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
+die wie mit Hellebarden mein so ganz
+auf innere Stimmen angewiesenes Sein umstellt halten,
+auf einem Rad, als hätte es höchste Eile, entgegensauste.
+</p>
+
+<p class="dat">
+30. MÄRZ. Schon verschieben sich sachte wie auf
+einer Wandelbühne die Kulissen: Verstummtes, Unterdrücktes
+belebt sich aufs neue, findet wieder Farbe
+und Gestalt.
+</p>
+
+<p class="dat">
+31. MÄRZ. Eine Antwort. Schon! &mdash; &bdquo;Die vielen
+Zuschriften, der Raummangel .&nbsp;.&nbsp;. meinen Brief jedoch
+gedächte man zu bringen.&ldquo; Es steht nichts
+von einem Termin. Aber ins Ungewisse ertrage
+ich diesen Zwiespalt nicht. Morgen fahre ich nach
+Genf zu Romain Rolland.
+</p>
+
+<p class="dat">
+1. APRIL. Sonntag. Unter strömendem Regen bin
+ich nach Champel gefahren. Rolland wußte schon,
+warum ich kam. Er war zufällig auf der Redaktion
+gewesen, als mein Brief dort eintraf, hatte ihn
+gelesen und war unbedingt für dessen Veröffentlichung.
+</p>
+
+<p>
+Ich sprach dann beim Journal de Genève vor und
+erwirkte, daß der Protest am übernächsten Tage
+erscheinen würde. Somit war die Sache erledigt,
+und ich ging.
+</p>
+
+<p>
+Das Wetter hatte plötzlich umgeschlagen. Es wehte
+eine schneidende Luft, aber See und Himmel strahlten
+<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
+in frühlinghafter Bläue. In mir derselbe jähe Szeneriewechsel.
+</p>
+
+<p>
+Ein erstickend schwerer Vorhang riß magisch in
+die Höhe. Nicht der Salève, der sich hier an allen
+Straßenecken türmte, sondern die bayrischen Berge
+in ihrem seelenvollen Dunst und ihre Waldungen
+verstellten mir den Weg, und die betrübten und
+bestürzten Mienen meiner zurückgelassenen Freunde.
+Es war die Trennung von ihnen, das Exil. Drüben
+im Vorgebirge das Schlößchen, das wie eine selige
+Insel auf dem dunkeln Meer dieser Zeiten träumte,
+die schöne und musenhafte Freundin, die mich dort
+erwartete, die dort verbrachten Herbst- und Sommerwochen.
+</p>
+
+<p>
+Tausend Erinnerungen setzten sich wie Trauerglocken
+in Bewegung. Oh teuer erkaufte Ruh!
+</p>
+
+<p class="dat">
+4. APRIL. Bern. Abigail besucht mich; sehr gespannt.
+Ich sage ihm, wie Rolland, den er immer
+anschwärzt, sich verhielt.
+</p>
+
+<p class="dat">
+5. APRIL. Der Protest ist heute erschienen. Ich kaufe
+das Blatt, ohne den Mut zu finden, es zu entfalten.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Ich übergehe die nächsten Tage. Diese Aufzeichnungen
+sind ja nicht verfaßt, um Gemütsbewegungen
+zu schildern. Ganz andere Zwecke verfolgt dieses
+<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
+Buch. Auch ist die Zeit nicht mehr, und man wird
+härter. Nur im Hinblick einer Einsicht, einer Erkenntnis,
+wo Erfahrungen mit immer verstärkter
+Deutlichkeit den Charakter des Lebens kennzeichnen
+und Kommentare stellen zum Schicksal überhaupt,
+dürfen wir dabei verweilen. Kein größerer Wahn
+als der, zu glauben, man kenne das Leben, um es
+ausgekostet, sich mit allen seinen Genüssen, Schrecknissen
+und Abenteuern vertraut gemacht, viele Männer
+oder Frauen gekannt oder geliebt zu haben. Es starb
+so mancher ahnungslos dahin, welcher die ganze
+Welt bereiste. Auch nicht wer Gefahren überstand,
+nein, sondern wer die Gefährlichkeit des Daseins,
+dessen Gefährdetheit durchschaute, die wie ein
+giftiger Trank sich unablässig bereitet und immer
+die Hefe zurückläßt, um sich neu zu mischen, nur
+wessen Auge geschärft wurde für die Schatten, die
+im Tageslicht aufpassen, nur der weiß über diese
+Welt Bescheid, und in ihm lebt das Bewußtsein &mdash;
+bitter wie die Aloe &mdash;, daß er umsonst gelebt hat,
+wenn die Schule, durch die er ging, anderen nicht
+zur Lehre dienen wird.
+</p>
+
+<p>
+Das erste war übrigens, daß mich die Fürstin ans
+Telephon rief: &bdquo;C&rsquo;est désastreux! quelle folie!&ldquo; sagte
+sie unverblümt; und als ich sie besuchte: &bdquo;Je dis
+ce que je pense, mais est-ce que j&rsquo;écris, moi? &mdash; Pas
+si bête!&ldquo; empfing sie mich und kochte mir mit heftigen
+Bewegungen Kaffee.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
+Dann aber kam Besuch: eine offiziöse Engländerin,
+deren Mann mit atrocités allemandes einen schwunghaften
+Handel trieb, und ein russischer Diplomat von
+professioneller Verlogenheit, die mir Komplimente
+machten und mich einluden. Wie schwül mir da
+wurde! Nein, so war es nicht gemeint, und ich gehörte
+nicht hierher! Nicht hierher und nicht dorthin. Bevor
+die Fürstin mich mit einer ihrer Brüskerien zurückhalten
+konnte, war ich ausgerissen und die Treppe
+hinabgeeilt.
+</p>
+
+<p>
+Fortunio, der mir auf der Straße begegnete, nahm
+dieses typische Palaceerlebnis von der komischen Seite
+und lachte. Wir saßen zusammen, als Telramund
+im biederen Pelzrock, an seiner Rechten die Menschenfresserin
+von Hokusai, mit jener so charakteristischen
+Verleumderwärme, die unbedingt etwas anderes scheinen
+möchte, auf uns zueilte. Seine Hand weit entgegenstreckend,
+brachte er mir rückhaltlose Schmeicheleien
+zu herzhaftestem Ausdruck. Fortunio,
+welcher fühlte, wie bitter sie mir mundeten, lenkte
+das Gespräch auf andere Dinge.
+</p>
+
+<p class="dat">
+13. APRIL. Den Abend mit Fortunio und Abigail
+verbracht. Wir sprachen von Träumen. Abigails
+sehr spekulatives Gehirn kann sich in so feinen Windungen
+verlieren, daß es sich beizeiten von seiner
+höchst stofflichen Person vollkommen losgelöst darstellt.
+Plötzlich, mitten in einem Satz, den er sagte,
+<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
+lebte ein geradezu abscheulicher Traum der vergangenen
+Nacht in mir auf, und schon begriff ich
+nicht mehr, daß ich mich jetzt erst auf ihn besann,
+unterbrach aber sofort das Gespräch, um ihn zu
+erzählen. &mdash; &bdquo;Achtung!&ldquo; rief ich, &bdquo;so etwas Widerliches
+habt Ihr noch nicht gehört:
+</p>
+
+<p>
+Ein Mann, von dessen schwarzem, fettem, unbeschreiblich
+schmutzigem Haare dichte graue Schuppen
+auf seinen Anzug regneten, war dicht an meine
+Seite getreten. Dabei zog er mit einem Kamm durch
+diese Strähne von nie dagewesener Schmierigkeit, so
+daß der graue Regen immer dichter fiel. Ich rückte
+unwillkürlich von ihm weg, da fuhr er weitausholend
+mit diesem treibenden Kamm in mein eigenes Haar,
+ich fühlte ihn noch darin stecken und erwachte vor
+Ekel.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Fortunio schwieg. Auch der zu Kommentaren
+schnell bereite Abigail äußerte sich mit keinem
+Ton.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es steht mir natürlich etwas höchst Widerwärtiges
+bevor!&ldquo; nahm ich selber auf. Auch diese Bemerkung
+weckte kein Echo. &mdash; Man ging auf konkrete
+Dinge über. Es wurde spät. Fortunio erwähnte das
+neue Blatt, welches Telramund schon in den nächsten
+Tagen zu starten gedachte und wie jemand, der sich
+ungern etwas zu sagen entschließt: &bdquo;Er, beabsichtigt
+übrigens, eine Übersetzung Ihres Protestes in seiner
+ersten Nummer abzudrucken.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
+&bdquo;Was fällt ihm ein!&ldquo; rief ich. &bdquo;Das kann er nicht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Er kann es schon&ldquo;, sagte Fortunio.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Die Friedenswarte bringt sie.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Er will ihr zuvorkommen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ungefragt? Ohne sie nur zu zeigen?&ldquo; fuhr ich
+im lichterlohen Zorne auf. &bdquo;Sie sind Zeuge, daß er
+mir nichts von einer solchen Absicht verriet, als er vorgestern
+zu uns stieß. Ich figuriere nicht in diesem Blatt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Fassen Sie sich doch!&ldquo; sagte Fortunio.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Nein, ich fasse mich nicht. Oh Fortunio!&ldquo; rief
+ich, &bdquo;oh mein Traum!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Schreiben Sie ihm halt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Ich ließ sofort das Nötige herbeischaffen und schrieb
+zitternd vor Aufregung, was er mir diktierte. Dann
+brachen wir auf. Der gänzlich verstummte Abigail
+blieb an unserer Seite. &bdquo;Die Gefahr ist natürlich,&ldquo;
+bemerkte Fortunio, &bdquo;daß der Brief zu spät eintrifft.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Dies sagte genug. Er wußte mehr. Meine Empörung,
+meine Wut steigerte sich mit jeder Sekunde.
+Je ungezügelter ich mich über den Charakter des
+bevorstehenden Blattes ausließ, desto reservierter
+wurde Fortunio. Je mehr ich sah, daß er sich ärgerte,
+desto mehr ärgerte ich mich über seinen Ärger. Der
+meine richtete sich besonders gegen Abigail, dessen
+Schweigen mir mißfiel. Nicht das Ungestüm, mit
+welchem ich auf den mir zugedachten Schlag reagierte,
+sondern die ausgemachte Tücke desselben schien mir
+das wesentliche, was unbedingt eine Parteinahme für
+<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
+mich verlangte. Auf eine solche ließ jedoch nichts
+in der, all die letzten Tage so überschwänglich gewesenen
+Haltung Abigails schließen.
+</p>
+
+<p>
+Oben in meinen sorgfältig geschmückten, aber von
+Telramund behexten Räumen, in welchen ich noch
+nicht eine einzige frohe Stunde verlebt hatte, noch
+fernerhin erfahren würde, brach ich in helle Flammen
+der Verzweiflung aus. Dies also war das Resultat!
+Zu diesem Ende also hatte ich die Worte, zu welchen
+ich glaubte, mich entschließen zu müssen, so bang
+gewogen, so behorcht. War ich dafür bis an die
+äußerste Kante einer abschüssigen Stelle vorgetreten,
+so weit, als mein Fuß noch Boden unter sich fassen
+konnte, um hinterrücks diesen Stoß zu erhalten?
+Denn was für eine Übersetzung und zu welchem
+Zwecke sie fabriziert wurde, wußte ich genau. Am
+Arme Telramunds, dieses Verräters, sollte ich an die
+Öffentlichkeit. Ich hatte mich, es ist wahr, vom
+Anfang des Krieges an zur Opposition geschlagen.
+Aber sie galt seinen Anstiftern und deren verworfener
+Gefolgschaft. Das Volk selbst tat mir unabänderlich
+leid. In meiner, von kalten Wirbelwinden der Abneigung
+durchsackten und durchkreuzten, aber dabei
+tiefen Liebe zu Deutschland, lag das Band zwischen
+Fortunio und mir. Oft sprachen wir davon. Und
+dünkten uns allein. Gerade unsere gallische Seite
+setzte uns ja auf Grund unserer Abgerücktheit in
+Besitz des Spiegels, den die unvermischt Deutschen
+<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
+nicht führen. Ihr Nationalismus ist ja Import, ihr
+Fremdenhaß unecht, imitiert, immer bereit, wie
+Mörtel von ihnen abzufallen. Im übrigen ist die
+Gefahr derjenigen Deutschen, welche Selbstkritik
+üben, viel eher, daß sie erstarren. Wenn es kein
+französisches Wort für &bdquo;Gemüt&ldquo; gibt, so gibt es
+noch weniger ein deutsches Wort für &bdquo;affectueux&ldquo;.
+Die Deutschen &mdash; und das ist es, was einem oft an
+ihnen erbarmt &mdash; sind nicht imstande, sich im geringsten
+zu hegen. Weil jede Nation seine so typischen
+Unholde hat, war Telramund, allen deutschen Germanophoben
+voran, gerade in dieser Germanophobie
+ein so typischer Boche. Jedenfalls durfte der Mann
+von Glück reden, daß sein und seiner Gesponsin
+Leben an diesem Abend nicht in meine Hand gegeben
+war. Statt dessen war es <em class="em">ihr</em> Trick natürlich, welcher
+aufs beste gelingen mußte, und weit entfernt, daß die
+beiden verdienterweise und auf meine Order hin vor
+Sonnenaufgang baumelten, haftete meinem Frühstückstablett
+am Morgen dieses 14. April die erste
+Nummer der Telramundschen Zeitung an. Sie umfaßte
+vier Seiten. Alle Beiträge waren anonym. Nur
+mein fettgedruckter, im Reporterdeutsch übertragener
+Protest trug meinen Namen. Ich übergehe den Zorn,
+mit dem ich diese wüste Revolverprosa las, welche
+hier als meine eigene stand; wie vortrefflich war dabei
+ihre Wirkung auf mich selber berechnet! Denn die
+Feindschaft von Leuten wie Telramund ist wie mit
+<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
+tausend Augen auf uns gerichtet, mit tausend Fühlern
+in uns verbissen. Sie kennen ja die Ablenkung ins
+Reich der Ideen nicht! Sie spinnen keine eigenen
+Gedanken! Ich Törin hatte, wie über einen Witz,
+lustig darüber aufgelacht, daß Telramund meinen
+Protest als eine &bdquo;Manoeuvre allemande&ldquo; bezeichnet
+hatte, ohne zu erwägen, daß er natürlich auf Mittel
+und Wege sinnen würde, dies zu bekräftigen. So
+galt es denn, mich gewaltsam über die Linie zu ziehen,
+die ich mir selbst gesteckt hatte. Dies ergab sich ohne
+weiteres durch den gehässigen Ton der Übersetzung.
+Das andere würde ich schon selber besorgen; denn
+daß ich reagieren, ja mich hinreißen lassen und ihm
+in die Hände arbeiten würde, wußte niemand so gut
+wie dieser ausgezeichnete Kenner meiner Person. Ja,
+es kam noch besser für ihn, als er wohl dachte.
+</p>
+
+<p>
+Fortunio, den ich sofort benachrichtigte, ließ mir
+sagen, er könne mich erst gegen zwölf Uhr sehen. Dies
+war mir viel zu spät. Gleich, in einer Viertelstunde,
+bevor noch irgend jemand auf die Gasse trat, mußte
+meines Erachtens etwas geschehen. Wahn! überall
+Wahn! In der Redaktion des Bundes bestand ich
+darauf, daß meine Verwahrung sofort in der nächsten
+Nummer stehen müsse. Es wurde mir versprochen.
+Immer noch war es Morgen. Rückte denn heute die
+Zeit nicht vor? Alle Hauptstraßen meidend, kam
+ich im Sturmtempo zu Fortunio, ihm das fait accompli
+mitzuteilen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
+Wenn es wahr ist, daß kein Sperling versehentlich
+vom Dache fällt, nun dann steht gewiß auch ein
+jeder unserer Tage unter einer bestimmten Konstellation,
+und mein Unstern feierte gerade seinen
+Mittag. Fortunia, die auf der Treppe stand, empfing
+mich mit einem unglücklich gewählten Wort.
+Schließlich war es ihr Haus, ich konnte sie nicht
+niederstoßen. An ihr vorbei, geradeswegs in Fortunios
+Arbeitszimmer, der die Mitteilung von meiner
+zu erscheinenden Notiz mit einer Kälte aufnahm, die
+mich unsagbar erbitterte. Hier bin ich fehl am Ort,
+dachte ich, und nahm eilends Abschied. Auf der
+Straße war es kalt. Ich sah mich um: sie war leer.
+&bdquo;Ich bin verraten&ldquo;, sagte ich laut. Ich hatte nur ein
+paar Schritte bis zum Haus, in dem ich wohnte. Die
+Hand vor den Augen haltend, als sei mir etwas hineingeflogen,
+eilte ich die Treppe hinauf und schloß
+mich ein.
+</p>
+
+<p class="dat">
+15. APRIL. Telramund (immer anonym natürlich)
+veröffentlicht eine hämische Erwiderung auf die
+meinige. Meinen französischen Text und seine
+Übertragung würde die nächste Nummer seiner Zeitung
+zusammen abdrucken. Der Leser möge sich
+dann selbst ein Urteil über mich bilden. Ich sofort
+wie eine Windsbraut, auf Flügeln des Zorns, in die
+Redaktion mit einer &bdquo;Schlußerklärung&ldquo;. Auch diese
+wollte ich sofort eingerückt sehen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
+Daraufhin vertiefte sich das Waldesschweigen um
+mich her. Fortunio war ohne ein Wort nach Lugano
+abgereist. Ich begriff es nicht. In meiner Unkenntnis
+alles dessen, was mit Partei- oder Presseinteressen
+zusammenhing, wollte mir ein Überblick der besonderen
+Situation nicht gelingen. Ein paar Dinge
+sah und erkannte ich mit unbeeinflußbarer Sicherheit,
+gleichsam durch ein Brennglas, mußte aber jede
+Einsicht mit einer Unzulänglichkeit überzahlen, jedes
+Überbieten mit einem Versagen. Wer mich für
+dumm erklärte, dem hatte ich von jeher meinen Segen
+gegeben. Es will keine Geographie in meinen Kopf;
+vergebens starre ich auf einen Globus; ein Morseapparat
+bleibt mir ein unergründliches Geheimnis;
+in scheuer Bewunderung starre ich während einer
+Panne auf die Mechanikerkünste des Chauffeurs,
+und so teilnahmslos ist gewiß kein Mensch, daß er,
+ohne mir beizustehen, zusehen könnte, wie ich meine
+Koffer packe. Durch Vorzüge, wie durch Mängel
+isoliert, muß ich mich selber auf mich nehmen wie
+ein Kreuz. Es kann geschehen, daß ich vom
+Blatt begleite auf eine Weise, die jeden Musiker
+empfinden läßt, welche Entbehrung es für mich
+ist, ohne Musik zu leben, und mir selbst wird zumute
+gewesen sein wie einem plötzlich freigelassenen Pferd,
+das über eine Ebene voll Sonnenlicht und Schatten
+fliegt. Nichts kommt seinem Rausche gleich. Von
+solchen Augenblicken wahren Lebens erwache ich
+<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
+zum Tode des Alltags wie ein Gefangener aus seinem
+Freiheitstraum. Gerade nach solchen seelischen
+Abenteuern aber wird es am leichtesten vorkommen,
+daß ich mit einer aufgeregten Hilflosigkeit, viel eher
+eines Dorftrottels, als meiner würdig, nach meinen
+vergessenen oder verirrten Habseligkeiten suche, und
+keiner der Musiker von vorhin würde mich wiedererkennen.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+21. APRIL. Besuch Abigails. Oh nichts von Komplimenten
+mehr! Nichts mehr von &bdquo;femme exquise&ldquo;.
+Wir prasselten uns Vorwürfe, groß wie Taubeneier,
+ins Gesicht. Meine Schlußerklärung sei eine Abschwächung
+gewesen. Ob dies der Moment wäre,
+zu sagen, daß es Boches in jedem Lande gäbe.
+</p>
+
+<p>
+Es sei die Wahrheit.
+</p>
+
+<p>
+In der Tat hätte ich die richtige Gelegenheit ergriffen,
+dies zu äußern.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ihr habt ja meinen Protest als eine manoeuvre
+allemande angesehen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Cest donc une vengeance&ldquo;, sagte er, indem er
+sich zum Gehen anschickte. Ich eilte zur Tür, und,
+vor ihr aufgepflanzt, gedachte ich das letzte Wort zu
+haben, als mir plötzlich ein Licht aufging, auch Fortunios
+wortlose Abreise mir erklärte. &bdquo;Sie haben das
+Wort &sbquo;Abschwächung&lsquo; gebraucht&ldquo;, sagte ich, &bdquo;und
+werden dieses Zimmer nicht verlassen, bevor Sie mir
+<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
+selbst, geholfen haben, einen Nachsatz aufzusetzen,
+der jede Möglichkeit einer solchen Auffassung ausschließt.
+Alles andere ist mir im Augenblick egal.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Mein Entschluß einer neuen Bekräftigung konnte
+ihm nur erwünscht sein. Es setzte ihn in den Stand,
+zum zweiten Male Heu einzufahren, nachdem das
+erste verregnet war. Zum dritten Male schlug ich nun
+den Weg in die Redaktion des &bdquo;Bundes&ldquo; ein. Nicht
+mit Unrecht wurde ich aber dort darauf hingewiesen,
+daß sich eine Schlußerklärung mit keinen neuen
+Erklärungen vertrüge. Ich führte mit aller Vehemenz
+dagegen aus, sie sei für mich Ehrensache, und setzte
+endlich ihre Veröffentlichung durch. Natürlich mußte
+sie wieder auf der Stelle her.
+</p>
+
+<p>
+Daß hiermit ein Loch an Stelle eines Fleckens
+trat, war mir zwar klar. Und nach der deutschen
+Seite hin verschlechterte sich natürlich meine Situation,
+war eine Herausforderung mehr. Doch auch die formvollendetste
+Blamage durfte ich in diesem Augenblick
+riskieren, nur nicht, daß behauptet werden
+durfte, ich liefe vor meinem eigenen Mute davon.
+Ich war froh, daß jetzt um mich her eine solche Leere
+bestand, und niemand in Sicht, der mir einen Rat
+erteilen konnte. Denn der Fall lag allzu klar. Hier
+war es nicht le ridicule qui tuait.
+</p>
+
+<p class="dat">
+23. APRIL. An der Schnelligkeit jedoch, mit welcher
+jetzt meine Stimmung umschlug, merkte ich den
+<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
+Stoß, den mein Gleichgewicht erfahren hatte: meine
+Gemütsverfassung war eins mit dem herrschenden
+Wetter: Regen, Finsternis, zerrissenes Gewölke, Himmelsblau,
+Sonne und wieder Sturm und Schnee.
+Kurz entschlossen löste ich eine Karte, um einer
+Aufforderung A. H. Paxens nach Lugano zu folgen.
+</p>
+
+<p>
+Abigail, der sich nachmittags bei mir meldete, war
+sichtlich erfreut über die inzwischen schon erschienene
+Notiz. Aber ich hatte jetzt reichlich genug von der
+leidigen Geschichte, deren dickes Ende ja noch
+bevorstand, denn bis jetzt hatte noch kein deutsches
+Blatt auf meinen Vorstoß reagiert.
+</p>
+
+<p class="dat">
+23. APRIL. In Luzern unterbreche ich meine Fahrt
+und steige im Hotel Tivoli ab, bei Glasenfrosts.
+</p>
+
+<p>
+Warum aber fallen nachts Felsenblöcke über mich
+hin? Warum sehe ich einen Baum an einem unsichtbaren
+und doch so verzehrenden Feuer verbrennen,
+daß er im Nu nur ein Gerippe ist von einem Baum?
+Ohne Flamme und ohne, daß ein Blitz ihn traf, nur
+ein gespaltener Stamm?
+</p>
+
+<p>
+Warum stürzt von zwei Leuchtern der eine mit
+herabgebrannter, erloschener und tränender Kerze zu
+Boden? Eine trübe Bildersprache, die ich in diesem
+Jahre noch nicht entziffern sollte.
+</p>
+
+<p>
+Um Mittag fahre ich weiter. Jenseits des Gotthard
+gerät der Himmel ins Lachen. Er findet offenbar
+die Welt noch schön. Tröstlich prangende Blütenhänge
+<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
+und endlich, tief unten, das hingezauberte
+Blau des Sees, einem verliebten Abendhimmel hingegeben.
+Und die Bäume stehen hier wie sanfte,
+begütigende Bräute.
+</p>
+
+<p>
+Der Weg nach Paradiso ist holperig genug, auf den
+Bergen oben leuchten feurige Spieldosen auf. Die
+Natur ist ein Zwischenakt mit Verwandlungsmusik,
+und die Nachtluft wird von Amoretten hingetragen.
+Oh Plansee im bayrischen Gebirg! Du See auf dem
+Plan, so hoch oben im Wind! Warum schwebst du,
+Verwunschener, mir vor? Vor mir liegt lächelnde
+Erfüllung. Du aber bist unbegrenzte Sehnsucht und
+Verweigerung.
+</p>
+
+<p>
+Ein nachgesandter Brief von ihr, die von jenen
+Bergen spricht, hatte mich in Luzern ereilt. &bdquo;Bald
+kommt der Sommer, schreibt sie, rücken wir ihm
+vor. Der Flügel wird schon in der Halle aufgestellt,
+die Schwalben fliegen gewiß schon ein und aus.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Droschke rollt jetzt auf glatter Fähre den See
+entlang.
+</p>
+
+<p class="dat">
+25. APRIL. Fortunio, welcher von meiner Ankunft
+bei Paxens erfahren hatte, kommt, verfehlt mich,
+telephoniert und bittet mich zum Tee.
+</p>
+
+<p>
+Ha! denke ich, diesen Tee soll er sich merken
+bis in sein achtzigstes Jahr. Mit vielem Bedacht
+staffiere ich mich zu diesem Wiedersehen heraus, um
+die Meinung, die ich mir von seinen Ritterdiensten
+<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
+gemacht habe, möglichst wirkungsvoll zu unterstreichen.
+</p>
+
+<p>
+Wie dem auch sei, ich trug an diesem Tage ein,
+wenn auch nicht neues, so doch neu beschlagenes
+Kleid mit halblangen, weit auslaufenden Ärmeln.
+Weiße Besätze, federleicht und schwarz besäumt,
+schlossen sie am Ellbogen in zwei Reihen ab. Zwischen
+ihnen lag wieder eine Spanne Stoffes, den sie
+ein wenig heruntergezogen, denn so dünn ihr Gewebe
+war, durch ihre Fülle beschwerten sie ihn doch.
+Beim Gehen glockten sie ganz leise ab und zu und
+hingen dann still, bevor sie sich von neuem bewegten.
+Es war in der Tat ein sehr rhythmisches und geglücktes
+Ärmelpaar. Vor allen Dingen aber &mdash; andere
+mögen dies gewiß auch schon beobachtet haben &mdash;
+können wir von einer &bdquo;geistigen Schminke&ldquo; angeflogen
+werden, chimärisch wie jene, welche die Kosmetiker
+bereiten &mdash; denn auch sie, wenn sie von uns
+fällt, läßt uns fahler, aufgeriebener als zuvor. &mdash;
+Indes gewährte ich den ausgestandenen Nöten der
+vergangenen Tage ihr beredtes Schattenspiel, ja ein
+selbstbewußter Schleier chiffrierte noch ein übriges
+dazu. Also gepanzert, höchst intangibel und durchaus
+bestechend ging ich, die ihm zugedachte Szene
+wohl im Kopf, gewandten Schrittes, als hätte
+ich soeben meine besten Erfolge hinter mir, auf
+ihn zu.
+</p>
+
+<p>
+Es gehört jedoch irgendwie mit zum Leben, daß
+<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
+im geringfügigen, wie im großen die Dinge anders
+verlaufen, als man sie erwartete.
+</p>
+
+<p>
+Zwar in der Tat eilte da Fortunio wie mit neubeschwingter
+Freundschaft mir entgegen.
+</p>
+
+<p>
+Seine Sympathie, erklärte er dabei, hätte nun
+wirklich die Feuerprobe bestanden.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wie meinen?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Da nicht einmal die desaströse Erklärerei im
+&bdquo;Bunde&ldquo; vermocht hätte, daran zu rütteln. &bdquo;Sie
+kennen die letzte nicht&ldquo;, erwiderte ich mit der
+erkünstelten und flackernden Würde einer Überrumpelten.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Was!?&ldquo; schrie er entsetzt und fuhr mit den
+Armen in die Luft. &bdquo;Noch eine?!&ldquo; Unglücklicherweise
+mußte ich lachen, und da mir dies seit drei
+Wochen nicht mehr vorgekommen war, hielt ich
+nicht sogleich inne, sondern geriet ins lachen, wie
+einer ins laufen gerät, und ehe Fortunios Arme sich
+wieder gesenkt hatten, war er angesteckt. Es gab
+kein Aufhalten mehr. Lachraketen stiegen jetzt in
+die verblaute Luft, in einer vor Wonne irrsinnigen
+Natur. Wäre ich zehnmal bedrückter noch gewesen,
+ich hätte gelacht.
+</p>
+
+<p>
+Bald fingen denn auch die Berge wieder an, ihre
+funkelnden Spieldosen aufzuziehen. Nicht einmal
+nachts wollte diese Landschaft zum Ernste gelangen;
+des Krieges selber schien sie zu spotten. Wer hatte
+denn recht, wenn nicht die Bäume hier am Strand
+<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
+des Sees, die ihre Düfte einander zuhauchten und
+vertauschten, und wenn sie welkten, wieder erblühten,
+und wenn sie verdorrten, andere dafür erwuchsen.
+Es war mir ein Schlag ins Wasser geglückt. Und
+was dann?
+</p>
+
+<p>
+Ich zog Fortunio mit in den Kursaal, sah den
+Dämchen zu, wie sie tanzten, gewann sechs Franken
+und verlor deren zwölf.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Und nunmehr ging ein Tag blitzender als wie der
+andere auf, und wie in einer leuchtenden Schale der
+Vergessenheit zerfloß der See. Vergiß! Vergiß!
+</p>
+
+<p>
+Es hinderte nicht, daß ich Fortunio bei Gelegenheit
+das alte Leitmotiv vernehmen ließ, solange Telramunds
+im Hintergrunde säßen, sei jede Aktion, jeder
+Versuch, dem Haß entgegenzuwirken, im vornherein
+eine gescheiterte Sache. Er ist für das &bdquo;abwirtschaftenlassen&ldquo;
+solcher Elemente, und ich nicht. Denn bis
+sie abgewirtschaftet haben, ist ja zuviel verdorben,
+aufgehalten, zugrunde gerichtet. Fortunio, in vielen
+Dingen weit beschlagener als ich, sieht nicht, wo ich
+erfahrener bin als er. Gewiß sind ihm die Götter
+hold. Taucht er unter, so fischt er gleich etwas Schönes,
+hält&rsquo;s gegen das Licht, freut sich des Prismas und
+läßt sich von den Wellen schaukeln.
+</p>
+
+<p>
+Die paar Meinungen dagegen, die mir unverrückbar
+im Kopfe horsten, muß ich zu Markte tragen,
+<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
+und habe keine Ruhe. Muße bleibt Müßiggang für
+mich, solange ich sie nicht formulierte. Und die
+Aufgabe ist doch so schwer, daß ich vor jedem Anlauf
+von neuem zögere. Bis mein Tagewerk gelingt,
+sofern es mir gelingt, wird der Abend für mich herangebrochen
+und meine Gastrolle in dieser zweifelhaften
+Welt ausgespielt sein. Sollten meine Bücher
+mich überleben und ich selber wiederkommen, so
+lese ich sie vielleicht, und vielleicht wird mir dabei
+etwas sonderbar zumute. Ein Dirigent möchte ich
+dann werden. Regieren möchte ich!
+</p>
+
+<p>
+Die erste Katze möchte ich sein, die keine Vögel
+mordet. Ich bin in diese beiden Tiere vernarrt und
+wünschte, sie schlössen Frieden.
+</p>
+
+<p>
+Um auf Fortunio zurückzukommen: darüber sei
+man sich vollkommen einig, sagte er, wie Telramunds
+Verfahren mir gegenüber zu qualifizieren sei.
+</p>
+
+<p>
+Warum ergriff denn keiner meine Partei?
+</p>
+
+<p>
+Er zuckte die Achseln, wie jemand, der es aufgibt,
+etwas zu erklären. Gerade dieses Achselzucken aber
+gab mir endlich voll und ganz zu verstehen, mit welch
+unsäglich trübem Wasser in Politicis gekocht wurde;
+so zwar, als müßte es so sein. Diese Notwendigkeit
+war es gerade, die ich mich anzuerkennen weigerte.
+</p>
+
+<p>
+Ich kann gar nicht aussprechen, wie grausam mich
+der Plan von einem &bdquo;Zusammenschluß der Geistigen&ldquo;
+anlächert .&nbsp;.&nbsp;. Wie sollte ein Zusammenschluß der Geistigen
+zustande kommen, da noch ganz und gar kein
+<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
+Zusammenschluß gegen die Ungeistigen besteht? Ach,
+kennt ihr Geistigen die Welt noch immer nicht?
+Was redet ihr groß von eurem Zusammenschluß?
+Sprecht von Aufgebot, von einem Kampfesruf gegen
+den Zusammenschluß jener, denen alle Waffen zu
+Gebote stehen, welche die Gemeinheit führt, dem
+einzigen Zusammenschluß, der sich bisher verwirklichte,
+denn dort gebietet der Verworfene über den
+Verworfeneren, und der Verworfenste ist es, der das
+Zepter schwingt.
+</p>
+
+<p>
+Sprecht von Ausschluß, sprecht von Sorge. Davon
+sprecht, daß es keine gute Sache geben kann, solange
+schlechte Elemente sich zu ihr bekennen dürfen, um
+sie zu untergraben, ist doch an ihrer eigenen nichts
+mehr zu verderben. Zum Zerstören aber sind sie da.
+</p>
+
+<p>
+Gelänge es mir, auf diese noch immer nicht genügend
+beachtete Beschaffenheit der Dinge die Aufmerksamkeit
+zu lenken, ich hätte nicht umsonst gelebt. Ich
+weiß ja, wie sehr mein Scharfblick auf Kosten von
+Kurzsichtigkeiten geht. Welche Pein ist das! Ich
+stürme nicht voran, ohne über das Nächstliegende zu
+stolpern. Von ausgemachter Selbstherrlichkeit, wo
+ich meiner Sache sicher bin, unheilbar blöde, unheimlich
+schlau, so harmlos, daß man kichert, so
+gerissen, daß man mir mißtraut .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p class="dat">
+27. APRIL. Ein Berliner Kriegsgewinnler, den Paxens
+von Wien her kennen, meldete sich bei ihnen zu
+<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
+Besuch. Der erste, dem ich mit Bewußtsein begegne.
+Nie habe man bei Hiller so gut gegessen, nie bei
+Borchard soviel Champagner getrunken. Die Welt
+habe jetzt die deutsche Faust kennenzulernen. Was
+Ludendorff befahl, sei <em class="em">unbesehen</em> das Richtige,
+und keine Kritik gestattet; (das galt mir!) Gott, wie
+gemütlich man hier beisammen säße, während die
+Völker einander schlachteten. (Dies sagte er, wie
+man am warmen Kamin vom Schneesturm spricht,
+der draußen wütet.) Allen könne es nicht gut gehen,
+bemerkte er auch. &bdquo;Schweigen Sie&ldquo;, rief Frau
+A. H. Pax. Er guckte etwas verdutzt. &bdquo;Das ist ja
+schrecklich mit unserer Valuta&ldquo;, lenkte er dann ein.
+&bdquo;Und mit der geistigen erst!&ldquo; fuhr A. H. Pax dazwischen.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-2-2">
+Kunstwerk der Zukunft.
+</h3>
+
+<p class="dat">
+28. APRIL. Heute früh bin ich in einer Messe gewesen.
+Aber welche Messe! In einem sehr alten,
+dem See gegenüberliegenden und köstlichen Bau:
+Traumhafte Fresken, das übrige mit roten, langverjährten,
+rosagewordenen Damasten ausgeschlagen.
+So gut wie leer. Die Schellen, die der Ministrant in
+Bewegung setzt, erklingen abgetönt und sind gewiß
+aus Silber, Weihrauchwolken steigen vom Altar.
+Dunkel &mdash; nein nicht dunkel, von einer lichten
+Penombra wie eine bedeckte Vollmondnacht, ohne
+Orgel und Gesang, und dennoch brausend, unendlich
+<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
+groß, ja wie zum Firmament &mdash; (wie wurde
+mir?) weitete sich das stille und verlassene Haus
+und schwamm im All.
+</p>
+
+<p>
+Endlich wieder eine schöne Kirche. Die in Bern
+hatte ich aufgeben müssen, denn so war die Messe
+wirklich nicht gemeint. Als ich aber jetzt durch die
+schwerbehangene Türe ins Freie trat, auf den noch
+leeren Platz und den besonnten Strand, wo die Platanen
+ihre eben erschlossenen Kronen so bräutlich
+dem Licht entgegenhielten, da schien dies alles, diese
+Natur mit den dekorativ vor und wieder zurücktretenden
+Wänden ihrer Berge und das gekräuselte,
+wie in sich selbst verliebt hinziehende Gewässer, selbst
+der Himmel, der darüber hing, schien nicht so weit
+wie der eben verlassene, leicht zu umspannende Bau
+mit den damastenen Wänden von verblaßtem Rot.
+</p>
+
+<p class="dat">
+2. MAI. Die Pforte, die ins Weglose führt, wurde
+bisher nur im Vorübergehen angekreidet. Ziemt es
+sich doch nicht, es zu beschreiten. &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Diejenigen aber, welche solange über die Schiffbarmachung
+der Luft gegrübelt haben, sind nicht dieselben,
+welche sich auf Äroplane schwingen, sondern
+viele Jahrhunderte werfen ihre wilde Brandung zwischen
+sie. Und doch, und doch .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Wie in der nunmehr erkrankten Luft die Menschheit
+eine infizierte oder jedenfalls, auch ohne es zu
+merken, eine affizierte ist, wie vielleicht ein Pesthauch
+<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
+so allmählich unseren Planeten umschichtet,
+daß wir es nicht gewahrten, ebenso glaube ich, daß
+bei vielen unter uns der innere Sinn dem lautlos
+tumultarischen drängen und wogen (wo gäbe es
+Worte?) der so zahllos und so jäh entströmten Leben
+zugewandter ist, als sie es wissen. Da sind Akzente,
+da sind Lockrufe, die noch nicht ergingen .&nbsp;.&nbsp;. Da
+treiben wehe Schwingungen der Wonne von unaussprechlicher
+Pein, da greifen Klänge ans Herz, zerspringen
+und ermatten wieder, ohne zu ertönen, und
+da sind uns Zaubertränke hingehalten, als hätten wir
+geistige Lippen, sie zu genießen .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Es war nicht mehr Nacht, aber der Tag dämmerte
+noch nicht. Ich schlief nicht mehr und war noch
+nicht wach. Eine Gestalt, höchst eindrücklich in
+ihrer Schattenhaftigkeit, erfüllte die Atmosphäre bis
+an den Rand, als müsse diese wie ein zu voller Becher
+überfließen, das Zimmer sprengen oder sich entflammen.
+Und schon war das Unnennbare ungegenwärtig,
+und es wäre lächerlich unzureichend, wenn
+ich sagte, es hätte sich entfernt, so ganz außer jeder
+Beziehung stand es zu Zeit und Raum.
+</p>
+
+<p>
+Was aber war inzwischen nochmals vor mir aufgeschimmert?
+Locken? &mdash; von einer Gelocktheit,
+die es nicht gab, von einer goldenen Blondheit, die
+nicht vorkommt, ein Licht, das ich nicht kannte,
+schärfer, und dabei nicht so grell wie das des Tages.
+Geisterhaft? Aber es war ja von einer schärferen,
+<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
+wärmeren, pulsierenderen Lebendigkeit gewesen, als
+wir sie kennen. Wir sind nicht lebendig genug, dachte
+ich bestürzt, und schlug die Augen auf. Draußen
+hatte sich ein Wind erhoben. Die Fenster sahen auf
+den Garten; der Himmel ganz blaß, aber im vollen
+Staat. Kleine Wolken als Vorreiter ausgesandt. Die
+Bahn war frei, die Vögel vollzählig, Brust heraus, in
+Positur und einzustimmen bereit. Höchste Spannung
+in den Bäumen: kommt sie schon? Blumengeflüster:
+ist sie schon da? &mdash; Es war alles wie am ersten Tag.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+3. MAI. Sicher haben die Menschen ihr Hofzeremoniell
+dem Sonnenaufgang abgelauscht. An sich
+gewiß eine hübsche Idee. Mit acht Jahren war ich im
+Kloster Page der schönen Gelmini, die an Epiphania
+mit dem Beinamen die Gerechte zur Königin ausgerufen
+wurde. Meine Haare wurden Tage hindurch
+im Hinblick der zu drehenden Locken mit gezuckertem
+Wasser gedrillt. Dem Hofnarren fielen sie
+aus der Schellenkappe tief ins Gesicht. Denn gelockt
+standen wir alle am Tage unseres Umzugs. Gelmini
+wurde zweimal gewählt und starb das Jahr darauf.
+Wie groß war mein Staunen, als ich später erfuhr,
+eine erwiesene Larve könne ihr Lebtag lang unter
+Zimbeln und Trompeten als &bdquo;Majestät&ldquo; aufziehen.
+Und welches Gelächter erntete meine Entrüstung!
+Aber wie oft hat der verspottete recht! Jede Epoche
+<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
+hat ihren wahren Fürstenkonzern. Wir verkannten dies
+ganz: darum sind heute unsere goldenen Kutschen
+remisiert. Großherzogliche Hoflieferanten, Palast- und
+Schlüsseldamen, wo seid ihr? Terror der Wiener
+Komtessen, wo bist du? Kurz, kurz ist&rsquo;s her.
+</p>
+
+<p>
+Abends im Kursaal bei Musik geschrieben. A. H. Pax
+will in der &bdquo;Friedenswarte&ldquo; eine tongetreue Übersetzung
+meines Protestes bringen, und da er zugleich
+einen Beitrag für das Maiheft wünscht, setze ich
+meinen Apparat in Bewegung. Es ist, als träten ungeheure
+Wasserwerke in Kraft, um einen Fingerhut
+voll zu kredenzen. Stirnrunzelnd sitze ich inmitten
+des Hin und Her von Eisschokolade und Tangotänzen,
+um einige Sätze über die elsässische Frage
+zu formulieren. Ich begann mit ein paar Anspielungen
+und zitierte mich aus einem Essay, den ich
+über die Markgräfin von Bayreuth geschrieben hatte:
+der Frau fehle es zwar nicht an literarischer Begabung,
+wohl aber an literarischer Perspektive, und für die
+Realität des geschriebenen Wortes wohne ihr auch
+nicht entfernt dasselbe scharfe Gefühl inne wie dem
+Mann. Heute sei hinzuzufügen, fuhr ich fort, ihr Interesse
+und ihr Verständnis für Presse- und Parteiwesen
+sei in der Regel gering, und auf jene allerletzten Endes
+so gedankenlose Parole: right or wrong my country,
+wäre die Frau nicht verfallen.
+</p>
+
+<p>
+So wird sie denn, erzählte ich von ihr, und meinte
+<em class="em">mich</em>, nur wenig von bisheriger Politik verstehen,
+<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
+dafür um so mehr von der kommenden. Denn es ist
+ganz gewiß falsch, zu behaupten, man dürfe Politik
+nicht mit dem Gefühl treiben. Wie veraltet die ohne
+Gefühl betriebene sogenannte Realpolitik im Grunde
+schon war, hätten die zuletzt auf dem Plan erschienenen
+jugoslawischen Völker sehr wohl erkannt, als
+sie einst jenen brüderlichen Balkanbund zu gründen
+beschlossen, welcher dann am Widerstand der europäischen
+Kabinette gescheitert war.
+</p>
+
+<p>
+Es läge auch ein vollkommen richtiger Instinkt
+einer Versinnbildlichung der Nationen durch überlebensgroße
+Menschengestalten zugrunde: Marianne,
+John Bull, Michel, Onkel Sam .&nbsp;.&nbsp;. Von hieraus zieht
+sich deutlich ein Weg zur Einsicht, daß den Beziehungen
+zwischen hochstehenden Völkern genau dieselben
+Grundsätze unterliegen sollten wie zwischen
+hochstehenden Menschen. Statt sich zu überlisten
+und brutal zu übervorteilen, suchen sich diese im
+Gegenteil an Schonung, Großmut und Rücksicht
+gegenseitig zu überbieten. Der Wetteifer um den
+Rücksitz hat als Ergebnis, daß man sich darin teilt;
+statt einander zu berauben, hilft man einander aus.
+Man gesteht sein Unrecht und wird vernommen,
+statt verdammt. Wäre somit eine solche Politik nicht
+auch die praktischere?
+</p>
+
+<p>
+Ich hätte mir vorstellen können, fuhr ich fort,
+daß auf einer solchen Grundlage hin ein Dialog
+zustande gekommen wäre zwischen Michel und
+<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
+der unversöhnlich von ihm abgewandten Marianne.
+Ich könnte mir wahrhaftigen Gottes vorstellen, daß
+er &mdash; nach Art der Liebhaber &mdash; zu ihren Füßen hingerissen,
+die elsässische Frage vor ihr zur Sprache
+brächte; ich könnte mir vorstellen, daß im Laufe
+dieses Dialogs endlich ein Wendepunkt sich ergäbe,
+von wo ab beteuert würde, was verneint worden
+war .&nbsp;.&nbsp;. und in dieser Tonart lange hin und wieder
+so beharrlich, bis die wunde Frage sich zwischen
+ihnen isolierte, auf einen höheren Plan gehoben,
+langsam über ihren Häuptern wie eine Morgengabe
+schillerte.
+</p>
+
+<p>
+Aber den Realpolitikern dünkte die andere Alternative,
+der wir heute zusehen müssen, die gerissenere.
+Spätere Europäer werden sich freilich an
+den Kopf greifen; dann aber wird vermutlich das
+andere Schlagwort aufkommen vom Antagonismus der
+weißen und der gelben Rasse; und dann wird sich
+der Himmel verfinstern von den neuen Schrecknissen;
+und dann erst werden die Überlebenden nicht
+mehr bestreiten, daß die europäische Psyche durch
+Assimilierung der asiatischen die endliche Bereicherung,
+ja ihre letzte Vollendung erführe.
+</p>
+
+<p>
+Nicht allein, daß die grauenvollen Erfahrungen, die
+geopferten Generationen, die vergeudeten Jahrzehnte,
+Jahrhunderte notwendig sind, um diese Welt zu Anschauungen
+zu bekehren, welche sich der einfachen
+Nachdenklichkeit aufdrängen, sondern all diese Kriege,
+<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
+und die gewesenen sind nur Vorstufen zu einem
+letzten Kampf, dessen Stunde zugleich mit der Stunde
+der Vergeltung schlagen wird für jene Elemente,
+welche von jeher die schlechte Sache in der Welt
+betrieben oder die gute verdorben haben. Die Leute
+also, schloß ich meinen Aufsatz, welche auf den
+ewigen Krieg schwören, mögen zufrieden mit mir
+sein; denn bevor jene Elemente (und es sind stets
+überall dieselben) nicht gekennzeichnet und untergeordnet
+werden, glaube auch ich an keinen dauernden
+Frieden.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Um mich von der Anstrengung zu erholen, setzte
+ich zehn Franken und gewann zwei. Plötzlich taucht
+der Kriegsgewinnler vor mir auf und fragt, ob er
+mich nach Hause begleiten dürfe. Es war sehr spät,
+ja, er dürfe. Er begleitet mich also, ich aber leuchte
+ihm heim. Und siehe da, in dieser nächtlichen Weile
+scheinen ihm sehr andere Bilder vorzuschweben als
+die, mit welchen er noch gestern renommierte. &bdquo;Es
+geht uns ja so lausedreckig,&ldquo; jammerte er, &bdquo;warum
+verfolgt ihr das in den Brunnen gefallene Kind?&ldquo;
+&bdquo;Also so steht es&ldquo;, rief ich. Mein fertiger Aufsatz stimmte
+mich frech. &bdquo;So steht es, und ihr blufft weiter mit
+Schwertfrieden und Grenzverbesserungen in Tod und
+Ruin hinein. Ich sehe schon, was für Argumente
+ihr schmiedet, falls es schief ausgeht mit eurem Verbrechen!&ldquo;
+<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
+Es läßt sich gar nicht sagen, wie weinerlich,
+wie persönlich gutmütig dieser eingepeitschte
+Alldeutsche sich herausstellte; wahrscheinlich der
+beste Gatte und Vater dabei, ein gewissenhafter
+Arbeitgeber vielleicht.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Melide. Fortunio hat drei Elsässer getroffen. Im
+Schein der Windlichter schlage ich ihm die Karten,
+er dagegen liest mir aus der Hand. Die Edeljüdin
+hat ein rotes Tuch umgeschlagen, und wir sind vergnügt.
+Doch oh, die Nachtigall, die wir am Heimweg
+schlagen hören. Mein Herz hing sich an sie
+und drang in den Busch zu ihr. Ich hätte mich so
+gern nicht mehr von der Stelle gerührt.
+</p>
+
+<p>
+Der Himmel blieb die ganze Zeit über so blau,
+daß sich die Wolken in meinem Gemüt angesichts
+soviel Sonne nicht behaupten konnten. Der erste
+bedeckte Tag war auch der unserer Abfahrt. Ich
+nahm den Frühzug mit Paxens und steckte meine
+Post gerade noch zu mir. Fürs erste galten dann meine
+Blicke nur dem schwindenden See und den schnell
+sich verstellenden Bergen.
+</p>
+
+<p>
+In Bellinzona trennten wir uns. A. H. Pax wünschte
+die Mitarbeit der Gräfin Reventlow, und ich sollte
+sie zu ernsterer Arbeit ermuntern. Es stellte sich
+aber heraus, daß nur 40 Minuten in Locarno blieben,
+so depeschierte ich ihr auf gut Glück und fuhr dann
+<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
+durch das breite, lange Tal zum Lago Maggiore. Sie
+stand am Bahnhof. Wir erkannten einander, ohne
+uns je gesehen zu haben, und gingen mit einer Art
+von kalter Vertraulichkeit hinab zum See. Ihr Zynismus
+kannte keine Grenzen, doch immer alles mit
+Grazie. Vom Schreiben wollte sie nichts mehr wissen
+und hatte eine Übersetzung unternommen. Bei jeder
+Seite freue ich mich, daß ich das nicht selber geschrieben
+habe, sagte sie. Ich drängte sie zu größerem
+Fleiß, ohne Anklang zu finden. &bdquo;Mein Ideal wäre
+die Leitung eines großen Hotels&ldquo;, versicherte sie. Ihre
+Augen waren wunderschön. Ich sprach von ihren
+Schriften, und daß keine Bücher dieses leichten
+Kalibers mit ähnlicher Qualität geschrieben worden
+seien, so blaß, so spöttisch, so geistreich. Aber sie
+schüttelte den Kopf: es sei zu schwer.
+</p>
+
+<p>
+Wir gingen in der Mittagsschwüle den bergigen
+Weg zur Station zurück. Einige Wochen später sollte
+sie in Konstanz ihrem Sohn zur Desertion verhelfen.
+Heute amüsiert sie die Geisterwelt mit ihrem Witz.
+Schreiben werden wir beide kein zweites Mal.
+</p>
+
+<p>
+Ich hatte gerade Zeit, in den Zug zu springen: er
+bewegte sich schon, wir riefen uns noch einmal auf
+Wiedersehen zu, bevor wir einander für immer aus
+den Augen verloren. &mdash; Zu lesen hatte ich gar nichts
+mehr, mit Ausnahme einer französischen Zeitung, die
+unter meiner Post gewesen war. Sie enthielt auf der
+zweiten Seite einen Angriff gegen mich: Erbitterte
+<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
+Zeilen mit dem deutlichen Wunsch, mich zu verletzen.
+Fürwahr, dachte ich, das ist wirklich zu unverdient.
+Aber der Verfasser täuscht sich: es ist
+mir egal.
+</p>
+
+<p>
+Ich legte die Zeitung weg und sah in die Gegend
+hinaus. Merkwürdig durchdrang mich da ganz und
+gar die Weite des Tals. Wie ein prächtiger Festsaal
+der Natur, gemeint, als sei er auch bei Nacht zu erglänzen.
+Als fehlten nur die Riesenkandelaber an
+den gleichmäßigen und feierlichen Wänden der Berge.
+</p>
+
+<p>
+Die Lokalbahn hatte Anschluß an den zweiten Zug,
+der von Lugano kam. Er war schon eingelaufen.
+Fortunio und der Redakteur der Humanité standen
+auf dem Perron. Ich reichte ihnen das Blatt, das mir
+unter Kreuzband zugeschickt worden war, und wollte
+etwas dazu bemerken, es stellte sich jedoch heraus,
+daß meine Stimme zwischen Locarno und Bellinzona
+hängengeblieben war. Hatte die Luft sich abgekühlt?
+Wie Fanfaren drang das Blau durch die dunstigen
+Wolken. Dicht vor dem Platz am Fenster, den Fortunio
+mir gesichert hatte, zogen jetzt die grauen Riesenwände
+des Gotthard vorüber, durchstrichen von zahllosen
+Wildbächen, die aus ihren unversiegbaren Gründen
+senkrecht im hellen Jubel herabschossen. Es
+war ein Hals über Kopf sich überstürzendes Geglitzer.
+Ich behielt sie im Auge, diese Flüsse, einen nach dem
+andern, und zählte sie. Wie eine Rettung war&rsquo;s, als
+die table d&rsquo;hôte ausgerufen wurde und alles in den
+<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
+Speisewagen ging, Fortunio ganz besonders und der
+Redakteur. Der Wunsch, allein zu bleiben, brannte
+wie ein Durst. Welchen Auges mag der Hirsch das
+Laub, das sein Geweih vom Aste schlägt, das Tal,
+die Tiefe einbegreifen, bevor er sich getroffen weiß?
+Wir wissen nicht, wie seine Welt da vor ihm aufleuchtet.
+&mdash; Was für ein selbstherrliches Ding ist
+doch das Herz! Du rufst ihm zu, und es vernimmt
+kein Wort, als gehörte es sich selber und nicht dir.
+</p>
+
+<p>
+Verstrickte und sich selbst widerstreitende Liebesgefühle
+haben ihre eigentümlichen Reflexbewegungen
+wie Zerreißungen und Wunden. Ich hatte mich getäuscht:
+der Angriff in der französischen Zeitung war
+mir nicht egal. Und wie aber hätte die Erbitterung zwischen
+den Zeilen mich nicht bewegt? Zwischen den
+Erbfeinden des Abendlandes stand in Wahrheit reinste
+und einzigste Erotik am Spiel. Was hier von jeher,
+was von neuem auf Menschenalter zertreten wurde,
+war der Keim aller Verjüngung und Erneuerung
+eines Kontinents, die Blume aller Allianzen. Alle
+andern sind unfruchtbare Bündnisse dagegen, Geschwisterehen.
+Sagt mir nicht, daß es anders sei.
+Ich weiß es besser.
+</p>
+
+<p>
+Ach! Grund genug, wenn es jetzt den Augen
+unaufhaltsam entströmte wie über die grauen Furchen
+der Gotthardfelsen. Oh! und nichts von bayrischem
+Gebirg! Was sich da drüben hinter Schleiern spiegelte,
+das war Paris am lauen Septembertag, der eigenen
+<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
+Erfüllung hingegeben, und einem Himmel, der keine
+andere Stadt so überhing wie sie. War sie nicht
+meine eigenste Heimat? War sie nicht die unerreichbarste
+Geliebte? War sie nicht eine Göttin? Oh mein
+beraubtes Herz! Jedes Bild, jede Erinnerung an sie
+zerriß es neu.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Abends in Bern, wo inzwischen auch der Frühling
+gekommen, sozusagen ausgebrochen ist, leidenschaftlich
+abgetrotzt wie etwas, das sich keineswegs von
+selbst versteht wie im Süden. Ich liebe im Norden
+nur den Sommer.
+</p>
+
+<p class="dat">
+4. MAI. Abigail stattete mir eine richtige Sympathievisite
+ab. Es fehlte nur der Zylinder. Dieser neue
+Ziegelstein auf mein Dach dünkt ihm entschieden
+de trop. &bdquo;Erklären Sie mir nur,&ldquo; sage, ich, &bdquo;liegt
+denn eine solche Ungerechtigkeit in eurem Interesse?&ldquo;
+&bdquo;Wir fragen heute nicht nach Gerechtigkeit&ldquo;, erwidert
+er. &bdquo;Wir verlangen alles oder nichts, Sie
+bieten uns die Hälfte, das ist zu wenig.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie vergessen, daß ich Deutschland liebe.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es sind Gefühle, die wir zu wenig teilen, als daß
+sie uns interessieren könnten&ldquo;, erwiderte er steif.
+</p>
+
+<p>
+Wir sprachen dann von anderen Dingen.
+</p>
+
+<p class="dat">
+6. MAI. Besuch von Frau Karfunkel. Sie fragt
+mich, ob ich eine Revolutionärin sei, und ich bin im
+<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
+Augenblick zu müde, es zu wissen. Das Wort &bdquo;gekrönte
+Republik&ldquo; fällt mir ein, das kürzlich vor mir
+gefallen war. Mochte es herhalten. &bdquo;Eine gekrönte
+Republik&ldquo;, sage ich und gähne.
+</p>
+
+<p>
+Daß Frau Karfunkel mich kaum kannte, hinderte sie
+nicht, mir jetzt eine jener Szenen zu machen, die
+man wie ein Unwetter über sich ergehen läßt. Die
+Worte wie krasse Ignoranz gehörten zu den mildesten,
+die sie mir vorsetzte. Sollte ich ihr sagen, warum?
+ihr bekennen, in welchen Gedanken sie mich unterbrochen
+hatte? ihr den Grund jener mangelhaften
+Kenntnis eingestehen, die sie so richtig erraten hatte?
+</p>
+
+<p>
+Welchen Kriegsbericht hatte ich zu Ende gelesen?
+Von welcher Phase des Krieges mir auch nur einigermaßen
+ein Bild gemacht? Über die erdrückende Tatsache,
+daß er herrschte und kein Friede kommen
+konnte, sah ich nicht hinaus. Für seinen Verlauf,
+seine Geschichte blieb mein Interesse ungefähr.
+</p>
+
+<p>
+Was wollte die Frau bei mir?
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte mich aus der Arbeit gerissen, und ich
+war froh um die Unterbrechung gewesen; so mühselig
+war die Pein, daß ihr Stigma sich den Schläfen
+aufdrückt, und daß sie einsinken wie zermürbt. Oder
+gleicht eine geistige Not der immerwährenden Welle
+vielleicht und die Schläfen dem Stein, der von ihr
+zernagt und bearbeitet wird? Von den Dingen
+selbst ist mein Verständnis so karg! Der Kommentar
+zu ihnen ist meine Sparte: ihn stets von neuem, zergliederter,
+<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
+ausgreifender zu formulieren, ist der Stachel,
+der mir keine Ruhe läßt, meine Einzelhaft mitten im
+Leben. Denn über die Vielfältigkeit unserer Wege
+hin, sehe ich die Einfältigkeit der Gefahr; die ewig
+selbe Fratze, die jeder edlen Bestrebung wie eine
+verruchte Karikatur noch immer auf dem Fuße folgte.
+So schmal, schwankend und immerzu gefährdet zieht
+unser Weg empor! Aber naiver als ein Soldat, der
+mitten im Treffen nicht weiß, wo er steht, führte der
+Mensch bisher seinen Kampf. Auch ihn trafen die
+Geschosse, ohne daß er sah, aus welchem Hinterhalt
+sie stammten, und von der unheimlichen Geschäftigkeit,
+mit welcher in den Niederungen sein Verderben
+betrieben wurde, merkte er nur das Resultat.
+Unermüdlich und nahezu ungestört dürfen die Untermenschen,
+von Herrschsucht besessen, in der Familie,
+dem Staat, der Gemeinde, der Partei ihre zersetzende
+Arbeit verrichten. Aus Tausenden von Schlagwörtern
+sind ihre Netze gewoben, der ganze ungeheure Nationalitätenschwindel
+hält seit Jahrhunderten den Zusammenschluß
+der Vollwertigen auf. Notsignale zu
+geben, bin ich hier. Unvernommen? Gleichviel!
+Ohnmächtig wie im Traum hinauszurufen: Richtet
+Wälle auf! Seht euch vor! Achtet der Stufen! Schützt
+eure Häuser! Mit unschuldiger Miene, ja mit dem
+Antlitz eines Engels vielleicht, kauert das Unheil
+an euerm Herd. Oh Brüder, Freunde, nehmt es
+nicht in eure Arme, wie ihr den Fuß nicht auf
+<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
+die sanft beschneite Stelle setzt, ihr hättet sie zuvor
+geprüft.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich glaube,&ldquo; schreibt René Schickele, &bdquo;daß der
+Sozialismus kommen muß mit einer großen, tiefen
+Flut von Licht, die alle Menschen durchdringt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Und ich sehe, wie emsig die Schatten sich sammeln,
+welche danach dürsten, dies Licht zu verschlingen.
+</p>
+
+<p class="dat">
+8. MAI. Abigail klopft wieder an meine Türe. Er
+trägt sein breitestes Lächeln, reicht mir die Münchner
+Zeitungen und lacht noch stärker. Sie enthalten
+meinen Protest in der Telramundschen Übertragung,
+wahrscheinlich von ihm selbst eingesandt.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Und das sind die Leute, mit welchen Ihr Euch
+einlaßt&ldquo;, brach ich aus. &bdquo;Ihr seid mir schöne Richter!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Doch Abigail war in einer nicht zu verderbenden
+Laune. &bdquo;Einigen wir uns,&ldquo; sagte er, &bdquo;mag er denn
+Telramund heißen, unter einer Bedingung, verlangen
+Sie nicht, daß wir Sie Elsa nennen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die &bdquo;Pressestimmen&ldquo; ließ er mir zum Geschenk.
+Ich las u.&nbsp;a., daß ich &bdquo;ein hysterisches Weib von abgrundtiefer
+Gemeinheit sei&ldquo;.
+</p>
+
+<p class="dat">
+9. MAI. Beim bayrischen Gesandten; er kannte mich
+von Kind auf. Er empfing mich. Aber der Verwirrtere,
+der Trostbedürftigere schien durchaus er.
+Es war bei ihm wie bei den Hähnen der modernen
+Waschtische, die gleichzeitig heißes und kaltes Wasser
+<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
+ausströmen: zwei Sprachen wie zwei Denkungsarten
+entflossen da immer zugleich: seine eigene und die
+anbefohlene.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Vous êtes déshonorée!&ldquo; jammerte er.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;So schlimm ist es nicht&ldquo;, redete ich ihm zu.
+&bdquo;Kommen Sie, lassen Sie Gras wachsen über die
+Geschichte.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Gras? Da wächst kein Gras. Je vous supplie ne
+rentrez pas en Allemagne; on vous jettera dans les
+fers; je ne pourrai rien faire pour vous. Bleiben
+Sie um Gottes willen da.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich bleibe schon da.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ja, bleiben Sie da. Was wollen Sie in München?
+Es ist ja alles verpreußt. Diese entsetzlichen
+Preußen haben uns ja alle aufgefressen. Ich bin der
+letzte Bayer.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich auch.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie sind gar nichts. Vous êtes une criminelle.
+Ce n&rsquo;est pas moi, qui vous condamnerai, je suis
+votre ami. Vous êtes une criminelle&ldquo;, unterbrach er
+sich laut. &bdquo;Oh, so viel Phantasie zu haben und so wenig
+Verstand! Sie sind erledigt. Wir sind gefressen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Damit entließ er mich.
+</p>
+
+<p>
+Daß dem alten Herrn der Krieg so über den Kopf
+wuchs, machte ihn mir nur sympathisch. Es wäre
+jedoch hartherzig gewesen, ihn praktisch in Anspruch
+zu nehmen. Ich hatte es gar nicht versucht.
+</p>
+
+<p class="dat">
+<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
+MITTE MAI. Gerade in diesen Tagen lud mich Frau
+v. Schreckenburg, ohne mich zu kennen, zu sich
+ein. Engländerin von Geburt, trug sie dabei den
+gefürchtetsten deutschen Namen. Ihr Mann, von
+dem die Franzosen sagten: &bdquo;Heureusement qu&rsquo;il n&rsquo;en a
+pas l&rsquo;air&ldquo;, und die Engländer: &bdquo;He is worth a
+better name&ldquo;, stand an der Spitze der Gefangenenfürsorge.
+Durch seinen unzeitgemäßen Mangel jeglichen
+Strebertums fiel er gänzlich aus dem Rahmen.
+Still, unermüdlich und geschickt verrichtete er sein
+humanitäres Werk.
+</p>
+
+<p>
+Es nahte Felix Mottls Todestag. Ich wollte die
+Münchner erinnern, daß ich es nicht von ihnen verdiente,
+unvernommen und mit Knüppeln vor das
+Stadttor gewiesen zu werden, denn ich habe sie einmal
+vor einer großen Weltblamage bewahrt. Einige
+Redakteure waren damals meinetwegen geflogen, und
+ich hatte gesiegt. Waren solche Reminiszenzen angetan,
+den Herrn Chefredakteur zu rühren? Er
+sandte mir meine Eingabe, obwohl durch Schreckenburg
+übermittelt, mit dem Vermerk zurück, daß er
+sich für die Beiträge einer Hochverräterin heute wie
+fernerhin bedanke.
+</p>
+
+<p>
+An jenem Abend ging ich lange die beiden Brücken
+auf und nieder. Die Jungfrau hatte eine Schärpe
+übergeworfen. Ein kalter Wind trieb von den Gletschern
+herüber. Ich ging und ging. Es war wieder
+bei Fortunio viel von einem Zusammenschluß der
+<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
+Geistigen gesprochen worden, und wieder ließ keiner
+das Ausschließen seine Sorge sein. Was aber ging
+aus dem ungeheuren Trugwerk dieses Krieges hervor,
+wenn nicht der vollendete und riesenhafte Triumph
+des Sklaven über den Freien, wenn nicht die immer
+drohendere Forderung, uns selbst jenes letzte Gericht
+erstehen zu lassen, von dem geschrieben steht, daß
+es auf immer die Scheidung zwischen den Menschen,
+die guten Willens sind und den anderen bestimmen
+soll? Ja, nicht die große Einigung, den großen Bruch
+gilt es zuerst zustande zu bringen: die herrische und
+heilige Offensive der menschenwürdigen Menschen,
+gegen jene &bdquo;Untermenschen&ldquo;, welche Villiers de l&rsquo;lle
+Adam als erster mit so großem Nachdruck kennzeichnete.
+Erst gilt es, jenen allzulange geduldeten Elementen
+das Stimmrecht zu entreißen. Sahen wir
+nicht alle großen und bahnbrechenden Ideen in Verwirrung
+ausarten, das Christentum selbst unter die
+Räder geraten und eine Sache um so sicherer verderben,
+je edler sie war, weil Unzulänglichkeit und
+Niedertracht das große Wort zu führen in der Lage
+sind; Solange diese Gattung ihre Gleichberechtigung
+behält, hat die Menschheit nichts zu hoffen. Sie
+wird wie ein Kranker sein, der sein Übel zu betäuben
+sucht, indem er sich auf seinem Schmerzenslager
+dreht und wendet, oder hochaufgerichtet nach
+Atem ringt, um doch nur eine illusorische Erleichterung
+zu finden. Sie wird alle Regierungsformen,
+<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
+eine nach der andern, erproben, und ob sie auch ihre
+Könige gegen Republiken eintauscht &mdash; es werden
+doch nur falsche Republiken sein, und auch die
+Anarchie wird sich als nichts anderes herausstellen
+als einen Mißbrauch der Macht.
+</p>
+
+<p>
+Und wie könnte die einzig wirkliche Freiheit entstehen,
+wenn nicht durch die Knechtung desjenigen
+Pöbels, der allerorts alle Klassen, von den höchsten
+bis zu den sogenannten niedrigsten verheert. Hierarchien
+aber sind es ja gerade &mdash; weniger rudimentär
+und kindisch nur als diejenigen, welche man sich
+aufoktroyieren ließ &mdash; Hierarchien aber sind es,
+die auf neuer und gerechtfertigter Basis zu errichten
+sind: geben wir uns keinen Täuschungen hin:
+die Klasse der Könige, der Fürsten und Herren, ja
+der ganze Troß der kleinen Gentry sogar, er ist vorhanden
+(nur so anders!), und alle wahren Adelsbriefe,
+die sich in unendlichen Fluktuationen aus der
+menschlichen Würde ergeben, existieren auch. In
+allen Kreisen aber und durch alle Zeiten hindurch
+wurde die wahre Elite gepeinigt, geopfert oder zur
+Ohnmacht verdammt, weil urteilslose oder niedriggesinnte
+Elemente, die sich weder in Gleichheit, noch
+in Brüderlichkeit zu ihr verhalten, dasselbe Stimmrecht
+genießen.
+</p>
+
+<p>
+Man rede mir also nicht von Zusammenschlüssen,
+sondern vorerst von neuen Gesetzbüchern und neuen
+Statuten. Auf einen treibenden Sumpf, einer Welt
+<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
+wie sie ist, Ringmauern aufzurichten, daran glaube
+ich nicht. Wozu führte der vielgehegte voto pietoso
+Deutschland und Frankreich zu einigen? Statt der
+stolzesten aller Galleonen ein Wrack, beiden nahezu
+unnennbar geworden. Dieses Wrack ist mein eigenster
+Boden, ich verlasse ihn nicht. Die paar Einsichten
+aber, die mich sehr bestimmte Erfahrungen lehrten
+mit der Persistenz des Marktschreiers zu verkünden,
+ist mein Beruf.
+</p>
+
+<p>
+Ich lehnte über der Brücke von Kirchenfeld. Hat
+die Nacht ihre eigene Helle, daß sie uns die Dinge
+mit größerer Schärfe zeigt? Sie deckte jetzt den Fluß,
+der unten den Bergen zurauschte. Von den Häusern
+in der Tiefe, so eng geschart, fast ein Gerümpel, auf
+zartesten Säulenarkaden gehoben, und wie edel! leuchteten
+jetzt munter die tagsüber so verschlossenen
+Fenster. Wie wenig löste schließlich und endlich
+unsere zufällige Existenz von unserem wirklichen
+Wesen aus! Vielleicht war sie nur eine Jahreszeit
+unseres weitverästeten Seins. Wozu sich alterieren,
+redete ich mir zu, wozu die Hast, wozu die Ungeduld?
+&mdash; Es wurde zuletzt ein Spazieren mit der Nacht,
+statt in die Nacht hinein, und ich war um eine größere
+Fassung, etwas mehr Gleichgültigkeit für meine persönlichen
+Geschicke aus allen Kräften bemüht.
+</p>
+
+<h2 class="chapter" id="chapter-0-3">
+<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
+Zweiter Teil.
+</h2>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">S</span>ie sah bezaubernd aus; ihre Achseln schienen der
+Ansatz zu Flügeln, und da sie sozusagen zwischen
+zwei Fingern hochzuheben war, nannten wir sie mit
+Fortunio das Zirkuspferdchen oder der Seidenaff.
+Wenn sie ernst zu sein wünschte, waren wir grausam
+genug, sie auszulachen, doch nicht, um sie zu verspotten,
+sondern weil ihr alles so gut stand. Ihr Gatte
+war San Cividale, der Longobarde, wir hatten uns
+angefreundet, und es wurde ein richtiger Anschluß.
+</p>
+
+<p>
+Von den Ärzten ins Bad geschickt, depeschierte mir
+der Seidenaff aus Rheinfelden, und nie kam eine Einladung
+gerufener. Ich suchte einen Mieter für meine
+Zimmer und hatte ihn schnell. Bern war mir verleidet,
+ich hatte dort vieles zu vergessen, Geldsorgen
+besaß ich auch. Nur die Mozartaufführungen, welche
+unter Richard Straußens Leitung bevorstanden, wartete
+ich noch ab. Sein schöpferisches Erschöpfen
+eines Werkes ist sicherlich ein neues und interessantes
+Moment in der Kunst des Dirigierens. Einem Don
+Juan, der ein großer Erfolg war, folgte jedoch eine
+Zauberflöte, welche einige Kritik hervorrief; mich
+entzückte letztere weit mehr, so zwar, daß sie einem
+ersten Eindruck gleichkam. Strauß hatte eine Pamina
+mitgebracht, welche gesanglich und darstellerisch und
+<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
+durch eine merkwürdig schöne Erscheinung der Partie
+so wohl entsprach, daß Symbolik wie Illusion des
+Fabelreiches durchweg bestanden, bis der Vorhang
+vor dieser besseren und geordneteren Welt endgültig
+fiel. Was bedeuteten Regiestörungen (tags darauf hieß
+es, sie sei einem Engländer zu danken, der sich zu
+diesem Zweck als Maschinist für den Abend verdingte)
+vor dem unvergleichlich hohen Niveau dieser
+Vorstellung?
+</p>
+
+<p>
+Am lautesten wurde am Schluß von jener Sorte
+Deutscher Beifall gespendet, welche ihren schimpflichen
+Spitznamen so recht aus dem vollen verdienten.
+Diese wandelnden Erreger des Deutschenhasses gingen
+mit dem deutlichen Gepräge von Leuten einher, welche
+zwar rechneten und berechneten, aber nicht mehr dachten,
+dafür seit einer Generation zuviel gegessen hatten.
+Sie waren die Regisseure und Leugner des großen
+Kindersterbens, das jetzt in ihrem Lande hinter den
+Kulissen um sich griff, und Scharen Deutscher, würdig
+dieses Namens und liebenswert, gingen um jener
+Boches willen zugrunde. Doppelt verrucht erschienen
+sie im Lichte der eben erfolgten herrlichen Darbietung.
+Ich ersticke! sagte ich zu Fortunio, denn
+ein Knäuel dieser wohlbestallten Patrioten schlenkerte
+vor uns über den Platz. Auch im Dunkeln sah man
+ihnen an, daß sie jetzt schmausen gingen.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-1">
+<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
+Rheinfelden.
+</h3>
+
+<p class="dat">
+21. JUNI. Mußte da dicht vor meinem Fenster hochgewölbt
+der Rhein vorüberrauschen? Eine Brücke
+mit Schilderhäuschen in der Mitte legt schon im
+Badischen an; freudlos, wie mit erblindeten Scheiben,
+sehen von dort die Häuser herüber.
+</p>
+
+<p>
+Heiterer war der Park. Wir lagen in Korbstühlen
+und schwatzten. Doch Erinnerungen kamen nicht
+zur Ruhe. Aufgescheuchten Vögeln gleich schwirrten
+sie hierher und dorthin und kehrten zurück .&nbsp;.&nbsp;. Der
+Sommer war im Land. Das Schlößchen der schönen
+Marguerite, das selbst mitten im Kriege Zauberkreise
+zog, wartete unser, und die Schwalben nisteten
+längst im flachen Strohhut, der in der Halle von der
+Decke hing. Jetzt standen auch ihre Koffer gepackt;
+.&nbsp;.&nbsp;. es türmten sich wohlgefaltet ihre schönen Kleider .&nbsp;.&nbsp;.
+Die Unrast der Verbannten trieb mich aus dem Park
+ins Städtchen hinunter, wo von der viereckigen Plattform
+des Turmes aus die Störche ins Blaue steuerten.
+Was gab es schöneres wie ihren Flug? Klein erschien
+mir die Schweiz. Wie ein herrlicher, aber für mich
+nach allen Seiten hin verbarrikadierter Garten. Ich
+ging den Weg zurück, der ganz umwachsen unter
+Bäumen führt. Wer nicht wollte, brauchte weder
+Fluß noch Land zu sehen. Im Hotel aber lag eine
+Depesche für mich. Ich floh entsetzt auf mein
+Zimmer. Die Freundin war tot. Mochte das
+Schlößchen am Berg Tür und Tor sperrangelweit
+<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
+offen halten und warten, solange es stand, ins Leere
+starrte fortan sein breitschrötiges Türmchen. Sie zog
+die Straße nie mehr herauf, kutschierte nie mehr
+aufmerksamen Auges ihr Wägelchen in den Wald.
+Fort von Rheinfelden, dachte ich, nur fort!
+</p>
+
+<p>
+Es traf sich, daß die Kur nahezu beendet war.
+Wir fuhren nach Wengen. Der Seidenaff durfte nicht
+steigen, ich kletterte drauflos. Hier waren alle
+Höhen zur Hand. Hinter der kleinen Scheidegg
+setzten sie von neuem ein. In weiten Senkungen
+kreiste ein Tal. Ich saß in einer Nische aus Fels und
+Gras, die Füße hingen ins Leere.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich, wie auf einen geheimnisvollen Anruf, ein
+lauter Stoß, ein Gegenruf des Herzens. Denn es hat
+ja Arme, ich sagte es schon, und Flügel, schwerausgebreitete
+und leichte, es hat sein geheimnisvolles
+Dasein für sich allein. Vom Tode weiß es so wenig
+wie wir, nur dies hat es erkundet: daß, wenn er
+uns nicht austilgt, der Lebende dem Toten zu Anfang
+mehr sein kann, als dieser ihm. Dann wäre unser Eingedenken
+der Halt vielleicht, an dem er seine ersten
+Schritte geht, und unsere Trauer sein Gewand.
+</p>
+
+<p>
+Es war für die Verstorbene ein Gedenkbuch geplant,
+und ich hatte versprochen, mich daran zu
+beteiligen.
+</p>
+
+<p>
+Mag es noch so mannigfache Welten geben, sicherlich
+gebietet über alle eine einzige Natur, ein allmähliches
+Sprießen, eine Reife, von trüben Himmeln
+<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
+die sie aufzuhalten scheinen nur gezeitigt. Vor allen
+Dingen aber jenes letzte und sehr tragische Zurückbleiben
+des Erreichten hinter dem Gewollten. Wie
+ein letzter Same, der sich wieder in die Erde senkt,
+um einer nächsten Ernte zu gedeihen.
+</p>
+
+<p>
+Ich schrieb auf meinem hohen Sitz angesichts des
+kelchartigen Tales mit den sanftanschwellenden Rändern.
+Die Sonne war gestiegen. Wie ein zieres Band
+umschlang ein Pfad den ganzen Berg und lockte mich
+unwiderstehlich in die Höhe. So kam ich zu einem
+kleinen Gasthaus und stapfte dann auf die Spitze des
+&bdquo;Männlichen&ldquo; hinauf. Dort fing sich der Wind und
+wehte kreuz und quer; dann aber stürzte ein Steig,
+schmal wie ein Strich, so pfeilartig hinab, daß man,
+von einem Taumel erfaßt, zu rennen anfing und zu
+fliegen verlangte. Von dem Tempo erfaßt, das von
+hier oben gesehen, die Jungfrau entfaltete, die mit
+mächtiger Schulter die ganze Kette der Alpen mit
+sich riß. Unglaublich schnell griffen jetzt die Schatten
+in dem verströmenden Gold dieses Tages um sich;
+schon profilierte sich diese oder jene Bergeskante zu
+einem grotesken, dort zu einem erhabenen Riesenhaupt,
+schlafend, offenen Mundes zurückgeworfen,
+oder wie entseelt mit beschneiten, eingesunkenen
+Schläfen zur Seite gekehrt, die Luft darüber wie ein
+unendliches Gewölbe.
+</p>
+
+<p>
+Auch manche Felsenburg tat jetzt entbrannte Zacken
+auf; kurz, eine andere Welt als die des Tages stand
+<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
+schon gerüstet. Plötzlich hielten mich zwischen zwei
+scharf vorspringenden Felsen zahllose Schafe auf, die
+mächtig wie ein Volk auf halber Höhe den Berg belagerten.
+Mit ihnen zog eine Anzahl Widder, die
+innehielten, als sie mich kommen sahen, und mich
+aufmerksam, wenn auch stolz, betrachteten. Nirgends
+ein Hirt zu sehen, als wären sie die Führer. Ihre
+geschneckten Hörner abwartend mir zugekehrt, versperrten
+sie den Weg. Um weiterzukommen, mußte
+ich halb quer hindurch, halb mit der Herde laufen.
+Eine überwältigende Ruhe, ja ein Glück ging von ihr
+aus, daß man, am liebsten auf vieren gestellt, eins
+mit ihr geworden wäre.
+</p>
+
+<p>
+Der Weg nahm gar kein Ende. Meine Schuhe
+gingen in Stücke. Meine Füße waren zerschunden.
+Schwer hinkend erreichte ich endlich das schon
+a giorno beleuchtete Wengen. Aus der Halle des
+Hotels trat der Seidenaff im Tuchbrokat von silberigem
+Weiß, hoch mit Zobel verbrämt. Doch der Jugend
+kommt alles zugute; kostbare Gewänder unterstreichen
+sie nur. Die leichte Gestalt wird durch den
+schweren Staat gehoben, nicht gedrückt. Lang und
+gewichtig hing die Perlenschnur herab. Das Haar
+war braun. Gerade seinem weichen Schimmer schmeichelte
+die Härte des diamantenen Reifs. In Treibhäusern
+wird heute die gefüllte, immer gefülltere
+Nelke gezogen. Mit solchen gefüllten Nelkenaugen,
+gut und klug, doch fern dem Ziele, blickte der Seidenaff.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
+Tags darauf fuhren wir zu Tale, San Cividale, dem
+Longobarden entgegen. Fortunios schrieben aus
+Beatenberg, wo ich mich denn herumtriebe, und fürs
+erste blieb ich jetzt in Interlaken, um meinen Nachruf
+zu beenden. Da mir keine Seele des Ortes bekannt
+war, verbrachte ich meine Tage ohne zu sprechen,
+und schon lebte ich eingesponnen und wie unter
+Glas, als die Lektüre eines Zeitungsartikels mich ganz
+aus der Stimmung riß. Es war ein Aufruf von Andreas
+Latzko, der wesentlich aus Vorwürfen, und zwar sehr
+berechtigten Vorwürfen an die Frauen bestand. Nun
+haben diese ja im Kriege versagt und die härtesten
+Dinge zu hören verdient, doch nur ihnen selbst kann
+es zustehen, sie zu äußern, dem Manne heute mit
+keinem Wort. Ihre Unzulänglichkeiten sind sein
+Werk, von ihm gezüchtet und beabsichtigt, selbst sein
+Überdruß an ihr war als Triumphgasse für seine
+Eitelkeit gedacht, was er vollends ihre Ungleichheit
+nannte, war seine Politik. Wie stark seine Krone
+zerzaust ist, ahnen beide noch nicht. Die &bdquo;Penalty
+of the war&ldquo;, von der soviel die Rede ist, wird noch
+eine ganz andere sein, als man im allgemeinen glaubt.
+Die Frau wird ihre Chance haben. Mag der Mann
+noch auf Jahrhunderte das Überragende leisten, ihr
+Aufstieg wird sich unaufhaltsam als eine Folgeerscheinung
+seines Bankrotts vollziehen. Bilder
+schwebten mir vor .&nbsp;.&nbsp;.&nbsp;. war sie nicht schon im
+Begriff, mit jedem Jahrgang schöner, individueller
+<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
+zu werden? Erhob sich ihre Gestalt nicht freier,
+knabenhafter, mehr auf sich selbst gestellt, von Jahr
+zu Jahr?
+</p>
+
+<p>
+Schlimmstenfalls konnte ihr Regime zu keinem
+ärgeren Chaos führen, als das, welches wir unter der
+ausschließlichen Führerschaft der Männer und ihrer
+Gesetzbücher erleben. Oh diese Gesetzbücher! Sie
+forderten, daß man vom Tag eines Krieges an nurmehr
+mit seinem Vater verwandt sei.
+</p>
+
+<p>
+In meiner Aufregung, meiner Bedrücktheit, lief ich
+in der Mittagshitze den Brienzer See entlang, bis zur
+Erschöpfung. Und mit einem Male wurde mir das
+Karthäuserschweigen viel zu viel; da zudem schwere
+Regentage einsetzten, brach ich auf und fuhr nach
+Beatenberg.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-2">
+Beatenberg.
+</h3>
+
+<p class="dat">
+AUGUST. Ich wohnte eine halbe Stunde von Fortunios
+entfernt, und mein Hotel stand zu Anfang der breiten
+Straße, die über tausend Meter hoch ganz eben dahinläuft,
+den großen Rat der Gletscher stets im Angesicht.
+Wie zu einer Riesenpolonäse aufgestellt, schienen
+sie, je nach der Beleuchtung, zurückzutreten oder
+loszuschreiten bereit. Nur der Regen sprengte den
+Bund. Dann verschwand jeder einzeln in seinem Zelt
+und wußte nichts mehr vom andern. Wusch sich aber
+nachts der Himmel wieder rein, so hielt beim Morgengrauen
+die Jungfrau entgeistert Cercle, als harre sie
+<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
+nur des Zauberrufes, um der Sonne bei ihrem ersten
+Strahl ekstatisch entgegenzutanzen. Leider kam auch
+hier die Arbeit nicht in Fluß; das sehr geräuschvolle
+Haus bot keine Möglichkeit, sich abzusondern. Unmittelbar
+daran grenzte der Wald und führte sogleich
+sehr steil ins Weglose hinab. Und hier nun entdeckte
+ich eines Morgens, ganz hinter Tannen versteckt und
+der Tiefe zugewandt, ein kleines, verlassenes Blockhaus.
+Ich rannte ins Hotel zurück, forschte nach dem
+Schlüssel und erlangte ihn. So gehörte das Chalet
+mir, da ich es beziehen durfte. Den Schlüssel ans
+Herz gedrückt, eilte ich zurück. Im Raum des Erdgeschosses
+verbrachte ich nun meine Tage. Die
+Läden blieben herabgelassen. Nur durch die Türe,
+die ins Freie führte, drang das Licht; auch die Bäume
+hielten es auf. Nur Tannen, Wald und Moos und
+keine Aussicht außer sie. Hier hatte man vor den
+ewigen Gletschern Ruh. Und keinen Laut als den
+der Vögel.
+</p>
+
+<p>
+Oh Sommersmitte! Oh göttlicher Augenblick des
+Innehaltens, du ohne Zeitmaß, ohne Intervall, mitten
+ins Jahr gesetzter Orgelpunkt!
+</p>
+
+<p>
+Groß aber blieb die Not der unterbrochenen Arbeit.
+</p>
+
+<p>
+Zwischen Tür und Fenster lief eine Ruhebank mit
+daraufgeschütteten Kissen die Bretterwand entlang.
+Ich warf mich hin; ächzend. Es roch nach Tannen,
+Blumen, des Morgens im Walde gepflückt, hingen
+schon ermattet im Glase. In diese holde Schwüle
+<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
+tanzte ein geflammter Schmetterling herein. Mein
+rechter Arm hing herab, ich war zu lässig, ihn zu
+heben. Vor Wonne fielen mir die Augen zu. Hält
+die Einsamkeit der Gemeinschaft Letztes, die wir
+Lebende ersehen? Was war geschehen? Verloren
+blickte ich auf. Der Falter? War er als Bote hereingeflogen?
+&mdash; Wer war gegangen? &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Flüchtig ist kein Wort. Und doch .&nbsp;. Von welcher
+Gegenwart und welch durchdringendem Ton
+vibrierte nunmehr auf immer die Luft dieser Hütte?
+War sie, deren Bild ich festzuhalten suchte, ein Elf?
+Denn der Griff einer Hand von elfenhafter Feinheit
+hatte deutlich die meinige erfaßt. In unbeschreiblicher
+Rührung hob ich den Arm, sprang auf, saß wieder
+vor dem Tisch, das Gesicht in den Händen vergraben,
+und fuhr nun endlich wie in einen Schacht tief in
+meine Arbeit ein.
+</p>
+
+<p>
+Da fiel ein Schatten &mdash; jemand trat unter die Türe.
+Es war Fortunio. Ich stieß einen Schrei aus, als sei
+er ein Gespenst, und fühlte Nervenstränge, deren
+Vorhandensein mir jetzt erst zum Bewußtsein kamen,
+zerreißen. &bdquo;Wissen Sie, wie spät es ist?&ldquo; lachte er.
+Seltsam. Sogar seine Stimme erfüllte den Raum mit
+Schrecken. Das Ganze war zu arg, es zu erörtern.
+So machte ich mich denn bereit, das Chalet zu verlassen,
+warf aber, die Türe abschließend, noch einen
+Blick zur Ruhebank zurück, zum Tisch mit den
+Blumen im Glase, zu diesen Wänden, in welchen
+<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
+ich eins geworden war mit der Luft und der Seele
+dieses Tages.
+</p>
+
+<p>
+Was war noch immer kurzatmiger als wie mein
+Flug? Nicht von Schwingen durfte da die Rede sein,
+die ausgebreitet und aus eigener Kraft die Höhen
+beherrschen und sie behalten. Eher einer Rakete
+vergleichbar, die, wenn das Glück es will, emporschnellt
+und höher! höher! ruft, weil sie doch gleich
+verstiebt. Da ist es Pech natürlich, wenn man sie
+herunterholt.
+</p>
+
+<p>
+Wir gingen nun zum Hotel hinauf und setzten uns
+auf die Veranda. In der Tat, der Abend war sehr
+vorgeschritten. Beschaulich hing Fortunio an der
+Gegend. Die eben noch umglühten Gletscher traten
+jetzt, als sei die Sonne auf immer von ihnen geschieden,
+von Blässe wie erschöpft, zurück. Welch ein Tag! &mdash;
+Und schon faßte mich Grauen bei dem Gedanken,
+ihn einsam beschließen zu müssen oder ins Chalet
+zurückzugehen. Stand es noch? War&rsquo;s nicht versunken?
+Oder nur erträumt? So zog ich denn mit
+Fortunio die lange Bergstraße zurück. Endlos dehnte
+sich hier der Ort. Ganze Strecken zeigte sich kein
+Haus. Und siehe, schon herrschte der Mond. In
+seiner ganzen Fülle und unerschöpflich überfließend,
+umschlang er streitsüchtig jeden Schatten und brachte
+seine Schwärze ans Licht, kroch unter jeden Baum,
+durchquillte alle Wälder und stieg und stieg in immer
+geharnischterem Glanz, bis eine trunkene Erde, von
+<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
+ihm umsponnen und ganz mit ihm vermählt, mit
+allen Pulsen zum Himmel schlug. Voll Entzücken
+hatte sich die Jungfrau aufgerichtet &mdash; Mönch und
+Eiger an der Hand, loszutanzen bereit.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Tags darauf fuhren San Cividale, der Longobarde
+und der Seidenaff die steile Höhe herauf. Von weitem
+schwang sie als Erkennungszeichen ihren Schirm
+rundum. Jungfer und Kofferbestände hatte sie unten
+gelassen und trug eine äußerst gerissene Sportjacke,
+in der ihre Figur zu zergehen schien, und eine zwischen
+mausgrau und mauve spielende Hemdbluse aus japanischer
+Seide, deren perfide kleine Männerkrawatte
+das ultrafeminine ihres Gesichtes zu letzter Wirkung
+erhob. Die gefüllten Nelkenaugen, die das alles sehr
+wohl wußten, blickten unbeteiligt flüchtig und beschattet.
+Es war nur ein kurzer Besuch. Das Bähnchen
+trug sie bald wieder davon. Und mit einem Male
+waren mir diese ewig hingerissenen Gletscher, die
+nie marschierten, verleidet. Herrlich in der Tat war
+auch der Mantel der Vorberge, der in so tiefen Falten
+über sie hinschlug, und herrlich war&rsquo;s, wie er &mdash; von
+oben gesehen &mdash; den See nachschleifte, gleich einem
+köstlichen Saum. Beseelter aber blickte dennoch das
+Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in <a id="corr-2"></a>dem
+gewaltigen und dekorativen, aber fast überall stark
+abgekehrten Oberland. Ich sehnte mich nach mehr
+<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
+brüderlichen Weiten, und sehr plötzlich, ohne das
+Chalet wieder betreten zu haben, fuhr ich hinab. In
+Spiez schrieb ich meinen Nachruf ins reine.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-3">
+Marguerite Kühlmann.
+</h3>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">A</span>n den Kreis ihrer engsten Freunde wende ich
+mich, sie, die zu ihr standen wie die Strahlen der
+Sternblume, deren Name sie trug; denn so hingen
+sie ihr an, und so faßt sie nunmehr die gemeinsame
+Klage zusammen. Wie beneidenswert sind sie gewesen!
+&mdash;
+</p>
+
+<p>
+Nicht, als seien sie sich dessen zu spät bewußt.
+Hier trifft sie kein Vorwurf. Vielmehr hegten sie
+ihr Wissen um das Werden dieser bedeutsamen und
+seltenen Gestalt, die von ihrem schönen und guten
+Wesen so viel weniger genießen durfte, als der gleichsam
+von ihr ausgestrahlte Kreis, dem sie es zuwandte.
+Denn wieviel Sonne war in ihr verwoben, und wie
+beschattet ging sie doch! Unter der rhythmischen
+und unzerstörbaren Ruhe ihrer Bewegungen welch
+unaufhaltsames Vorwärtsschreiten! Wer hat sie je
+hastig gesehen? Und doch welch ahnungsvolle Eile,
+sich zu erfüllen!
+</p>
+
+<p>
+Geistigen Dingen zugewandte Menschen finden sich
+gewiß nicht selten; der Maler und Musiker, auch der
+Liebhaber der Künste sind viele. Aber wie wenige
+gibt es, die auf das Schöne selbst Anziehungskraft
+besitzen, so daß es wie auf mystischen Ruderschlägen
+<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
+ihrer Atmosphäre zugeführt, immer mehr Natur und
+Element bei ihnen wird, und tatsächlich eine Art von
+Wechselwirkung sich ergibt.
+</p>
+
+<p>
+So aber war das Schöne &mdash; wie ein Meister an
+seinem Marmor &mdash; bei ihr am Werk. So umhing
+es ihre Erscheinung, so meißelte es an ihren Zügen
+und hob sie zu letzter Vollkommenheit der Linien
+und des Ausdrucks. Unsere Herzen sind wund von
+der Erinnerung ihrer Hände, so schwebend, einsam
+und gesammelt, verklungen, auch sie mit der weiten
+Melodie ihres Seins.
+</p>
+
+<p>
+Den wahren Hintergrund zu ihrem Bilde aber stellt
+einzig jene offene und merkwürdige Gegend, in der
+sie sich so heimisch fühlte, weil sie ihr glich. Dort,
+wo ihr kleiner Landsitz hart an der dunkeln Bergwand
+lehnte, von Mauern lang umfriedet, vor dem
+Tor die hohe Linde schon den Bergfluß überhing, und
+sein Gestein, und schon wie vor den Almen leere
+Bergwiesen ansteigen, auf welchen die Kühe bis hin
+zu den nahen Wäldern weiden; und diese sind wenig
+begangen, schwer verträumt und düster fast, weil
+hier sogleich das Hochgebirge seinen feierlichen Zug
+beginnt.
+</p>
+
+<p>
+Doch öffnete man das Tor zum Hause, ach! Wie
+rauschte es da von den kunstvollen Brunnen und den
+Fontänen, in welcher Fülle zogen sich die Blumenreihen
+hochaufgerichtet durch den Garten hin! Und
+die Ebene ist&rsquo;s, nach welcher dieser steile Garten
+<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
+niederfällt, und schaut: auf halber Höhe, wie zur
+Freude hingemalt, der Kirchturm von Murnau, links
+die ersten Berge, ansehnlich, aber noch vereinzelt,
+sanft umrissene Präludien des Gebirges. Nach Osten
+aber, wo sich anstatt der Mauer die lange Wandelbahn
+und hölzerne Gartenzimmer nachsommerlich
+hindehnen, wölbt sich als Abschluß der finstere Berg.
+</p>
+
+<p>
+Hier waltete sie im lichten Kleide inmitten ihrer
+Blumen, wenn in der Ferne ein goldener Sonnenstaub
+den Tag begrub, oder sie sah wartend nach dem
+Mond, der so plötzlich hinter dem schwarzen Grat
+aufging und dann sogleich alle Grotten und Beete
+übergoß, und nur die finstere Bergwand noch finsterer
+beließ. Und auf erhöhtem Stande der Apfelbaum,
+wie sie ihn zeichnete, mit den Windlaternen bunt
+über dem Tische wehend!
+</p>
+
+<p>
+Hier fühlte sie sich heimisch, hier drang das Lachen
+ihrer Kinder immer bis zu ihr, und die Schwalben
+zogen durch die Fenster unermüdlich ein und aus.
+Und drinnen der Tisch vor den breiten Scheiben,
+ach Freunde: vor dem sie saß &mdash; niemals müßig &mdash;,
+lesend oder malend, oder eine jener kunstvollen
+Arbeiten zur Hand, mit <a id="corr-3"></a>welchen dieses Haus geschmückt
+ist, dessen Bau, dessen edle Räume wie
+für sie erdacht, durch ihre eigene Anmut etwas so
+Zauberhaftes wurden, daß sie durch ihren Tod für
+uns verschüttet liegen. Die Türen, ach, durch die
+sie trat.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
+Doch jenseits der Vorberge, in einer versteinerten
+Welt, ganz klein und auf unwahrscheinlicher Höhe
+steht die Jagdhütte, an deren winzigen Fenstern sie
+die rot- und weißgewürfelten Gardinchen hing; sie
+liebte das Frohe. Ganz dem Schauen hingegeben,
+lief sie dort die Kanten der Berge entlang, denn das
+einzig Verweilende an ihr, von allem Persönlichen
+unmittelbar Losgelöste war ihr Auge. Bald lockten
+sie die Höhen, bald die Weite und das Moor, oder
+sie stellte dort ihren Malstuhl auf, wo der kleine,
+von der Abendsonne warm getönte Fluß so rasch den
+gemiedenen und immer trauernden Hügel umfließt.
+</p>
+
+<p>
+Diese reichhaltige Landschaft, die sich wie ein
+Fächer dem Auge entfaltet und verschließt, glich ihr
+so ganz, daß für uns, die sie dort sahen, ihr Bild wie
+eingetragen bleibt in diese Gegend.
+</p>
+
+<p>
+Nicht auf Festen schwebt es uns vor, deren Glanz
+das sanfte Feuer ihrer Schönheit so sehr erhöhte, und
+nicht in großen Städten, weder in Paris, dessen geistiges
+und künstlerisches Leben ihr so nahe ging, noch in
+London, wo sie gefeiert und bewundert wurde. Denn
+in ihr hatte Deutschland eine so liebenswürdige und
+seltene Vertreterin gefunden, daß die Sympathien,
+welche sie sich erwarb, durch die Ereignisse nur verstummten,
+aber nicht verloren gingen. Denn weit
+über die Gräben hin, welche die Nationen voneinander
+trennten, klang ein Echo der Trauer über die Kunde
+ihres Todes herüber.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
+Es mag ja sein, daß ihre großen Erfolge im Ausland
+ihr um so neidloser zugestanden wurden, als
+man sah, welch flüchtigen Gast sie krönten. Denn
+ehe man sich&rsquo;s versah, lagen ihre viel bewunderten
+Kleider in Kisten wohlverpackt, und sie selbst stand am
+Perron, Sehnsucht im Auge, um nach ihrem geliebten
+Ohlstadt zurückzufahren. Sie erzählte noch im letzten
+Sommer ihres Lebens, sie habe mit Freudentränen um
+sich her geschaut, als sie den &bdquo;Raunerhof&ldquo; zum ersten
+Male und zugleich als ihr Eigentum besichtigte.
+</p>
+
+<p>
+So nah berührte sie der Ort.
+</p>
+
+<p>
+Es waren pantheistische Anklänge in ihr, die man
+nicht überhören durfte, um sie zu kennen.
+</p>
+
+<p>
+Denn so edler Natur war die zu weite Spannung
+ihres Wesens, die eine Lücke ließ zwischen dem
+Leben und ihr. Ein suchendes, verlorenes Etwas
+fand hier seine Brandung, und was Wunder, daß sich
+ihr Blick, allen Sicherungen zum Trotz, so häufig aus
+dem Alltag, wie aus einem zu engen Hause stahl.
+</p>
+
+<p>
+Und kannte ihn doch kaum.
+</p>
+
+<p>
+Seine immer neu sich bereitende Unsicherheit, böse
+und gefährlich wie die Gärungen der Gletscher, seine
+Verweigerungen, seine Öde erfuhr sie nicht. Ja,
+sie blieb von einer zu deutlichen Kenntnis dieser
+Welt bewahrt; ob sie es merkte oder nicht, ihr Kontakt
+mit ihr war immer umgeschaltet, ja sie war geschützt.
+Aber wir wissen heute, warum die so innig
+Umringte dennoch einsam und beschattet ging, als
+<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
+sei alles vergebens; was dies heimliche, innere Versagen
+und ihre unrobuste Art bedeutete. Denn wir
+wissen nicht, was sich in denjenigen bereitet, die inmitten
+ihrer Jugend von den Höhen des Lebens weg,
+einzeln und jäh zu den Toren des Todes hintreten
+und in seine Verlassenheit gehen. Keine letzte Verklärung,
+kein noch so sanftes Verlöschen nimmt
+einem solchen Los etwas von seiner Schwere.
+</p>
+
+<p>
+Ach die besten Freundesherzen sind noch zu träge!
+Allzu leichten Sinnes nahmen wir das schöne Geschenk
+ihrer Gegenwart hin und bedachten die deutlichen
+Merkmale eines frühen Scheidens an ihr nicht. &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Wer hat nicht jene Flugzeuge gesehen, die als
+dünner Korb, nur durch Taue einem Riesenball verbunden,
+ganz ohne Geknatter vorüberschweben?
+Ein Windhauch streift die von ihm Getragenen. Je
+höher sie sich steigen sehen, desto langsamer dünkt
+ihnen sein Flug. Da zieht vielleicht eine Wolke
+vorüber, von einer schwarzen Kugel pfeilschnell
+durchzuckt und alsbald überflogen, die nichts anderes
+war, als der Schatten des Balles, der unbewegt und
+still wie eine Ampel in der Luft zu hängen schien.
+</p>
+
+<p>
+Dies aber war bei stillem und oft schwer verträumtem
+Wesen das Tempo ihres inneren Werdens;
+mit so verzehrender Eile durchmaß sie ihre Bahn,
+und nur wer ganz zuletzt in ihrem Umkreis lebte,
+vermöchte auch das Letzte über sie zu sagen. Denn
+immer merkwürdiger und geschlossener wurde die
+<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
+Harmonie dieser, vom Dianenhaften so getragenen
+Gestalt. Nur tragischen Naturen aber ist es gegeben,
+sich zu erfüllen. Die Norm ringt sich vom Fragmentarischen
+nicht los.
+</p>
+
+<p>
+Oh Marguerite! Daß meine Worte sich aufrichten
+dürften wie Säulen, und daß sie sich zusammenschlössen
+dir eine Stätte zu bilden des Innehaltens
+und der Rast, wo du &mdash; staunend vielleicht, doch
+ohne Gram &mdash; zurückblicktest auf dein Leben; oh daß
+es zwischen seinen Ufern an dir vorüberzöge und
+dein sinnendes Auge so darauf verweilte, wie einst
+in deinem Garten auf das Getürme der Wolken im
+verglühenden Tag.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+SEPTEMBER. Meine Zimmer waren zum Glück bis
+in den Oktober hinein vermietet, und ich trieb mich
+bald hier, bald dort herum, bald in Zürich, bald in
+Luzern, in Montreux oder Genf, nur nicht in Bern.
+</p>
+
+<p>
+Die Ära Kühlmann war ein Grund mehr, es zu
+meiden. Man erinnerte sich prompt, daß ich in
+London in seinem Hause verkehrt hatte, und meine
+Stellung gestaltete sich noch um ein Stückchen
+schiefer. Ich hatte jetzt zu schreiben wie ein Minister,
+und es regnete Briefe. Sie betrafen zumeist Todesurteile,
+Deportationen, versprengte französische oder
+belgische Kinder. Dabei hielten jetzt die Zensuren
+meine Korrespondenz scharf im Auge; die harmloseste
+<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
+Post aus Deutschland erreichte mich erst in
+vier, Expreßbriefe erst in sechs Wochen. Um an
+Kühlmann zu schreiben, mußte ich schon seinetwegen
+den Umweg über die Gesandtschaft wählen.
+Meist wandte ich mich an Schreckenburg oder an
+den Grafen Carry. Zu Anfang ging&rsquo;s. Zwei junge
+Belgierinnen hatten ihren eigenen Landsleuten Warnungen
+zukommen lassen; dafür sollte die eine erschossen
+werden. Kühlmann erreichte ziemlich
+rasch eine Rückgängigmachung des Urteils. Auch eine
+kranke Dame aus Cambrai brachte er noch über die
+Grenze. Als ich aber wegen der Familie des
+Professors von L.-P. bestürmt wurde, die Frau
+und fünf Kinder, (der älteste Sohn im deportationsfähigen
+Alter<a href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a>), in die Schweiz zu retten, schickte
+<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
+mir Kühlmann ohne Kommentar den Zettel, auf
+welchem die hohe Militärbehörde eine Bewilligung
+seines Gesuches kurz und bündig verweigerte. Auch
+ohne dies &mdash; acht Tage nach seiner Ernennung &mdash;
+wußte ich ihn verloren.
+</p>
+
+<p>
+Ich muß hier bis in den Londoner Sommer 1913
+zurückgreifen, und zwar bis zu dem Abend meiner Abreise
+nach Irland. Kühlmann war damals jener Pläne
+stolz und froh, welche ein Jahr später in der von ihm
+inspirierten Broschüre &bdquo;Weltpolitik ohne Krieg&ldquo; ihren
+Ausdruck fanden. Ich erinnere mich jenes Besuches
+noch sehr genau; die Teemaschine sang, wir besahen
+einige Bilder, und dann fuhr mein Zug, der um
+Mitternacht die Küste erreichte. Alle Kabinen des
+Schiffes jedoch waren besetzt, und ich hatte vergessen,
+<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
+eine zu reservieren. So blieb nur der große Schiffsalon,
+wo ein freundlicher Steward mir in den tiefen
+Ecken des die Wände entlanglaufenden Sofas ein
+herrliches Lager bereitete. Der Länge nach ausgestreckt,
+hatte ich auf diese Weise eine Riesenkabine
+für mich allein und konnte mich vor Freude gar nicht
+beruhigen. In meine lange Lederschaukel tief
+hineingebettet wie in eine Muschel, hoch hinauf
+und hinunter schwingend mit dem nächtlichen,
+heftig bewegten irischen Meer als Wiege.
+Wie sang, wie rauschte es mich zur Ruh! Wie
+segnete ich den Steward und meine eigene Vergeßlichkeit.
+Hin und wieder waren mir die Götter
+doch hold.
+</p>
+
+<p>
+Doch weh, ach wie schlug ihre Gunst in die grausamste
+Ungnade um! Oh des zerrissenen Schiffes,
+das schon aufgehört hatte zu sein! In ein Rettungsboot
+gestoßen, auf eine Planke geworfen und nichts
+anderes als den Tod von den eben so gepriesenen
+Wellen zu gewärtigen, wühlten sie sich zu Felsen auf,
+hart und unbarmherzig mich zu begraben. Vor mir
+ruderte Kühlmann wie besinnungslos, und seine Anstrengungen
+angesichts eines solchen Orkanes dünkten
+mir lächerlich. Aber ich ruderte ja selbst mechanisch
+aufs Geratewohl, und dann stürzten die schwarzen
+Berge über das Boot.
+</p>
+
+<p>
+Wieder rauschte das Meer im eintönigen Sang,
+über mir war schon erkennbar in der ergrauten Nacht
+<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
+die Decke des Schiffes, und ich lag wie zuvor in der
+ledernen Muschel gewiegt. Aber für kein anderes
+Lied als für das finstere Echo meines Traums hatte
+ich ein Ohr. Alle Freude war tot. Ich warf die Decken
+fort und saß zusammengekauert, schlaflos, verwüstet,
+uralt.
+</p>
+
+<p>
+Durch den Krieg glaubte ich meinen Traum erfüllt.
+Die Ernennung Kühlmanns hatte mich zuerst gefreut.
+Er hatte von Jugend auf mit allen Kräften dem Krieg
+entgegengearbeitet, und ich hoffte, es würde ihm
+gelingen, sein Ende herbeizuführen.
+</p>
+
+<p>
+Aber er waltete noch keine acht Tage seines Amtes &mdash;
+ich war in Wengen und lag in der Sonne &mdash; als im
+Halbschlaf das Bild eines hohen Gerüstes sich aufdrängte,
+ähnlich dem Eiffelturm, und auf der Spitze
+Kühlmann, aber schon im Begriffe kopfüber abzustürzen,
+so zwar, daß er sich in der Luft zu drei Malen
+überschlug.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Am Tage nach seinem &bdquo;Niemals&ldquo; kam Abigail
+mit einer stoßbereiten Miene, wie ein Widder zu mir.
+Zur Annahme einer schroffen Haltung Kühlmanns
+war ich jedoch um so weniger berechtigt, als mein
+frühestes Buch Aufsätze, welche auf seinen Rat den
+französischen Titel &bdquo;L&rsquo;âme aux deux patries&ldquo; führten,
+die Behauptung aufrechthielt (denn mit der Feder
+war ich von jeher sehr dreist), die Annektion Elsaß-Lothringens
+<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
+sei ein Fehler, den Bismarck, wenn er
+noch lebte, kein zweites Mal begehen würde: er
+hätte ein anderes Äquivalent dafür ersonnen. Dies
+Büchlein, das im übrigen ganz unter den Tisch
+fiel, fand nur durch ihn eine so kräftige Verbreitung,
+daß sich der Verdacht regte, er sei dessen
+Verfasser.
+</p>
+
+<p>
+Auch zu jener Unterredung mit Zimmermann im
+Januar 1917, die einzig der Notwendigkeit einer Diskussion
+des elsaß-lothringischen Problems galt, hatte
+er mir verholfen, und im Nebenzimmer eine Unterhaltung
+geführt, damit wir ungestört blieben. Auch
+waren mir die Worte erinnerlich, welche er im Jahre
+1915 diesbezüglich fallen ließ, zu einer Zeit, wo die
+Aussichten für Deutschland noch günstig erschienen.
+Sein &bdquo;Niemals&ldquo;, konnte ich daher nur als einen
+Brocken ansehen, den man Kläffern vorwirft, um sie
+von sich abzuhalten und weitergehen zu können:
+ein nach innen und in die Kulissen, nicht nach
+außen gerichtetes Wort.
+</p>
+
+<p class="dat">
+OKTOBER. Statt der drei kleinen hatte ich jetzt ein
+einziges großes, fast saalartiges Zimmer nach Norden,
+auf die Lauben hinaus. Schmuck, ja zierlich stand
+hier der Flügel im Raum. Die Wände hatten
+lichte Täfelungen, und der indische Schal mit dem
+weißen Feld fiel von der Decke bis zum Boden
+und schien eine Türe. Der Toilettentisch blitzte
+<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
+im Schatten auf: sein Hauptschmuck waren jetzt
+zwei silberne Renaissanceleuchter, vom Seidenaffen
+beschert.
+</p>
+
+<p>
+Über das Zimmer selbst ist weiter nichts zu bemerken,
+als daß eine Reihe von Unterredungen dort
+stattfanden, die alle zu nichts führten. Ein Wort über
+meine politische Wirksamkeit. Wir wollen sie so
+nennen. Eine ganze Weile brachte ich gewiß alle
+Spionagen und Gegenspionagen zur Verzweiflung.
+Scheinbar für eine jede ein kinderleichter Fang, war
+das Verwirrende gewiß, daß ich gleichzeitig in Diensten
+<em class="em">sämtlicher</em> Regierungen zu stehen den Anschein
+haben mußte. Wenn jemand keine Parteien kannte,
+so war ich es. Außer Japan, China, Rußland und
+Marokko durften nur noch Schweden, Norwegen
+und Dänemark sich rühmen, daß keiner ihrer Staatsangehörigen
+bei mir gewesen sei. Mein Zimmer war
+so recht die Halle der vergeblichen Zusammenkünfte,
+und wenn ich auch keine einzige vom Zaune brach,
+schob ich doch auch keiner einzigen den Riegel vor,
+selbst als mir kein Zweifel über ihre Vergeblichkeiten
+blieb. Der &bdquo;Friede&ldquo;, ein Wort, das mich im
+Schlaf elektrisierte, war wie das große Los oder
+wie das Leben eines aufgegebenen Kranken immer
+eine Möglichkeit. Und ob ich auch anfing, dem
+Kopfschütteln Fortunios beizustimmen, stürzte ich
+doch, wie Kundry im ersten Akt, bei jeder Veranlassung
+nach dem Heilkraut davon, das keine Linderung
+<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
+mehr bringen konnte. So setzte ich mich in
+Bewegung, so braute ich mit Todesverachtung meine
+Tees, ob mich auch schon ein wahres Grauen vor
+all den Nieten faßte, die sich zu Bergen vor meinem
+Tische häuften .&nbsp;.&nbsp;. Den dümmsten und ungeschicktesten
+Leuten schenkte ich dennoch Gehör. Vielleicht
+war gerade dieser Narr der reine Tor, vielleicht hatte
+ich doch recht.
+</p>
+
+<p>
+Meine Verständnislosigkeit für Natur und Beschaffenheit
+dieses Krieges ging ja so weit, daß ich
+vom ersten Tage seines Bestehens an von Monat zu
+Monat überzeugt war, länger als sechs Wochen
+könne er nicht mehr dauern. Immer schien mir alles
+sein nahes Ende zu künden. Als zum ersten Male
+von zahlreichen Gefangenen die Rede war, dachte
+ich: jetzt ist bald Schluß. Als Ruhleben entstand,
+dachte ich: jetzt wird man verhandeln. Wer ließe
+seine eigenen Leute so im Stich? Obwohl ich, was
+die Schlechtigkeit des einzelnen anging, einen so
+radikalen Standpunkt vertrat und immer darauf
+aufmerksam machte, daß die Larven triumphierten
+und der Edle geopfert würde, ja, daß es stets ein
+besonderer Glücksfall sei, wenn er nicht unterliege,
+so hatte ich den so naheliegenden Schluß von der
+Familie zum Staat (und was ist sie anders, wenn nicht
+die Welt und Geschichte im kleinen?) merkwürdigerweise
+noch immer nicht gemacht. Immer noch
+wähnend, es ginge um den Frieden, da es ja gar nicht
+<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
+ihn, sondern Sieg und Niederlage galt, glaubte ich,
+durch meine Absicht und durch meine Gesinnung
+alle endlich zu überzeugen und für mich zu gewinnen,
+bis ich mit Entsetzen merkte, daß gerade meine
+Naivität Bedenken erweckte. Wie hätte auch Aramis,
+da es mir keineswegs an Menschenkenntnis gebrach,
+eine so große Weltunkenntnis bei mir vermutet?
+Und daß ich unter Kapitalismus immer noch einige
+Bankiers verstand? Vielmehr war es natürlich, daß
+eine Gesellschaft, welche den Krieg als eine Institution
+begriff, an meiner Friedensmanie Ärgernis nahm. Ich
+hielt mich für besser als sie, während ich vor allen
+Dingen unwissender war. Und diese Unwissenheit
+stellte zu meiner Soloarie den verdrießlichen Baß.
+</p>
+
+<p>
+Dennoch war, als mir endlich ein Licht über die
+Welt und zugleich über mich selbst aufging, die erste
+Folge die Furcht. Ging ich spät die Lauben entlang,
+so faßte mich Schrecken, wenn nur die Umrisse eines
+Mannes oder nur sein Schatten hinter einer Säule
+sichtbar wurde. Da war ja eines jener unerklärlichen
+und gefährlichen Wesen, die es so eingerichtet hatten,
+daß ihresgleichen heute vielfach auf einem Beine
+durch die Lande hopsten.
+</p>
+
+<p>
+Meine Tätigkeit, die sich vor jeder Offensive verdoppelt
+hatte, war nur mehr mechanisch. Die letzte
+Zusammenkunft, die sich in meinem Zimmer begab,
+fand mit Professor H. statt. Er berief sich auf wichtige
+Eröffnungen auf Grund amerikanischer Aufträge,
+<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
+die er zu machen habe. Es erfolgte noch einmal ein
+Depeschenwechsel mit den Restbeständen dessen, was
+man noch deutsche Regierung nannte, und was längst
+unter den Hufen der Militärkavalla zertreten lag.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+In diesem über alle Maßen traurigen Winter
+strich ich eines Abends müde durch die Lauben, als
+Abigail an mir vorüberschoß. Busoni spielt heute
+Abend! rief er mir zu. Nun lief auch ich und kam
+noch gerade recht, bevor er eine Orchesterfantasie
+von Weber zu spielen anfing. Und siehe da, man
+lebte, war seiner Ketten ledig und richtete sich auf.
+</p>
+
+<p>
+Von nun an befaßte ich mich stark mit seinen Kompositionen
+und fuhr nach Zürich, wenn dort ein neues
+Werk von ihm zur Aufführung gelangte. Eine bequeme
+Gabe ist es ja nicht, den Wert eines überragenden
+Typs zu erkennen; sie legt Verpflichtungen auf; es
+ist nicht, als ginge sein Wohl und Wehe uns nichts an.
+</p>
+
+<p>
+Verdrießlich genug ist es ja vielfach mit seiner
+Anhängerschaft bestellt. Wie an den Reichen die
+Profiteure, so drängen sich an den Schaffenden die
+Parasiten des Geistes heran. Und vielleicht, wer weiß,
+ist ihm in mancher Feierstunde, die ohne Anregung
+verlief, der Chor seiner Widersacher minder fatal
+wie der seiner Anbeter.
+</p>
+
+<p>
+Von dem Unmut des alten und stark zensurierten
+Wagner, von einem verzweifelten Versuch sogar, den,
+<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
+öden Sockel auszureißen, auf dem er sich wie ein
+Götze gestellt sah, drang nur durch Zufall etwas in
+die Außenwelt. Während seine Umgebung den ungeheuren
+Überdruß der nachwagnerischen Ära bereiten
+half, ließ er selbst seine Werke weit und ungeduldig
+hinter sich zurück. Lange ehe seinem Lohengrin
+die grausige Popularität beschieden war, hatte
+er &bdquo;mit Ekel in die Partitur gestarrt&ldquo;<a href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a>. Später eilte
+er schnell mit dem Nachtzug davon, wenn eine Stadt,
+die er bereiste, ihm zu Ehren eine seiner Opern ansetzte.
+Er hatte den schönen und naiven, wenn auch
+natürlich vergeblichen Wunsch geäußert, seinen &bdquo;Ring&ldquo;
+ein einziges Mal auf einer eigens errichteten Bühne
+in höchster Vollendung zur Aufführung zu bringen,
+um sodann Bretter und Partitur auf immer zusammenzuschlagen<a href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a>.
+</p>
+
+<p>
+Wer ein einziges Mal Friedrichs, den unvergleichlichen
+Darsteller des Alberich, während seiner kurzen
+Laufbahn vernommen hat, der vergißt <a id="corr-4"></a>nie die unheimliche
+Wirkung seines plötzlichen Vortretens, als er,
+hart vor der Rampe, mit seinem dunklen und prachtvollen
+Organ den Fluchgesang erhob. Sich selbst,
+die ganze Welt fühlte man da bedroht, und wer die
+Alberiche, wer die Nibelungen sind, und welche
+Bewandtnis es hienieden mit ihnen hat, wurde einem
+in unmißverständlichster Weise gelehrt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
+Was aber kann so nichtssagend gemacht werden
+wie das Bedeutsame?
+</p>
+
+<p>
+Gerade von groß angelegter Musik gilt das Wort:
+&bdquo;La musique doit toujours nous surprendre.&ldquo; Laßt
+Dezennien des Schweigens und der Vergessenheit
+den &bdquo;Ring&ldquo; begraben, damit sich von neuem
+offenbaren könne, welcher Vorhang da zurückschlug
+vor einer bis auf den Grund durchschauten
+Welt .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Erst die Züge des späten, weltberühmten und gefeierten
+Wagner zeigen den trüben, resignierten und
+abgewandten Schein, als dünke ihm jetzt erst, da
+alles erreicht war, alles vergebens. Mime und Cie.
+rächten sich, indem sie ihn ableierten. Als Kassenstücke
+ausgebeutet, wurde das Wagnersche Werk zum
+Unding, zur Säge, zur Obstruktion .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Schafft neues!&ldquo; war sein immerwährender Ruf;
+dafür wurde à la Wagner weiter komponiert.
+</p>
+
+<p>
+Sehr wagnerisch bewegt und sehr unwagnerianisch
+(denn was könnte es unwagnerischeres geben als den
+Wagnerianer?) ging ich eines Abends, von Busonis
+Hause kommend, durch die nächtlichen Straßen
+Zürichs, wo einst Wagner gerungen hat und heute
+Busoni ringt, und wo beide ein Asyl gefunden
+hatten. Mit letzter Gewißheit wußte ich da, daß
+der viel mißbrauchte Meister, der sich gerade
+über den so weit von ihm abliegenden Mozart so
+begeistert äußerte, heute gerade an dem selbstherrlichen
+<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
+Busoni und dessen von ihm sich entfernenden
+Wegen sein tiefstes Gefallen fände. Weit über das
+Leben hin tragen sich ja die wichtigsten Gegensätze aus.
+Denn sachte nur beliebt es den Göttern. Einen nach
+dem andern nur lassen sie zu Worte kommen. Ihr
+Neid duldet nicht das gleichzeitige Auftreten zweier
+allzu interessanter Fechter. Eher hielten sie ihnen eine
+Binde vor die Augen, als zu gestatten, daß sie ihre
+Klingen kreuzten.
+</p>
+
+<p>
+Höchst merkwürdig aber ist es, daß die Persönlichkeit
+nie wichtiger gewesen ist, als jetzt in dieser
+Zeit der Massenschicksale der Hungers und der
+Kohlennöte. Nicht nur alle Spreu sehen wir heute
+inmitten der Äquinoktien aufwirbeln, auch manche
+Gesetztafel zerschlägt aufs neue. Der Heilige des
+Tages sucht nicht mehr die Wüste, sondern tritt mitten
+unter die Menschen und fällt unter ihren Streichen,
+nicht weil er die Abkehr predigt von der Welt, sondern
+um seiner Beglückungstheorien willen.
+</p>
+
+<p>
+Aber nicht lange mehr wird der Auserwählte als
+ein Dulder gehen. Entweder sehen wir ihn bald als
+eine verlorengegangene Spezies ganz um die Ecke
+gebracht, oder sein Reich wird kommen. Es ist eine
+Täuschung, zu glauben, daß eine Welt, deren Schlechtigkeit
+und Gewalttätigkeit sich derart nach oben
+kehrte, so bleiben könnte, wie sie ist.
+</p>
+
+<p>
+Hier mag stehen, was ich zwei Jahre später schrieb:
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-4">
+<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
+Busoni.
+</h3>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">I</span>ch hörte Busoni zum ersten Male vor zwei Jahren
+in Bern. Er sah mit einem Blick weit hinausgerückter
+Vereinsamung, den man an diesem Gesicht sofort
+begriff, gleichsam zu sich selber auf und fing an zu
+spielen.
+</p>
+
+<p>
+Das gibt es also noch, dachte ich nach einer Weile.
+Da geht man mühselig seinen Weg, und plötzlich
+dies &mdash; dies plötzliche Angelangtsein, diesen Schauer
+der Ruh, diese unvermutete Herberge.
+</p>
+
+<p>
+Bei Busonis Spiel, so herrlich es ist, will ich jedoch
+nur kurz verweilen. Er ist wohl deshalb der größte
+Pianist, weil er implizite einer ist, weil unter der
+Zauberformel, welche seine Finger darüber sprechen,
+die Metamorphose eines an sich zweifelhaften Instrumentes
+sich ergibt.
+</p>
+
+<p>
+Wir kennen so manche vorzügliche Pianisten. Aber
+wie wenige machten uns das Klavier vergessen! Da
+ist Holz, sage ich, da sind Pedale, ein schöner Anschlag
+vielleicht und ein großes Können dazu. Aber
+für den Hörer nicht eben sehr nachhaltig: <em class="em">Klavier</em>.
+Besinnt euch. Ist es anders?
+</p>
+
+<p>
+Eher ließ noch das orchestrale Klavier Illusionen
+zu; ich habe große Dirigenten gehört, die es zu einem
+prachtvollen Notbehelf gestalteten. Von solchen Vorspiegelungen
+jedoch kann bei Busoni nicht die Rede sein.
+Dazu ist er zu sehr Kenner des Instrumentes, belauschte
+er es in allen Fibern zu genau. Etwas ganz
+<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
+anderes ist hier am Werk: Mozart hatte sich eine
+verzauberte Flöte ausgedacht: hier nun wurde tatsächlich
+das &bdquo;Piano enchanté&ldquo; zur Wirklichkeit. Wir
+brauchen dabei nur an seinen Vortrag, der an sich
+kaum noch erträglichen Pianofortekompositionen Liszts
+zu erinnern, dieses riesenhaften und vermoderten
+Rosenbuketts mit verschossener Bandschleife .&nbsp;.&nbsp;. statt
+dessen wird eine ganze Epoche, die des zweiten
+Kaiserreichs, vor uns lebendig: Pracht, Tand und
+Duft, Fächerspiel, lächelnde Augen, Krinoline, Vergessenheit;
+alles retrospektiv gesehen, mit magischer
+Schärfe aufgerufen. Daher auch die ernste Maske
+im Hintergrund.
+</p>
+
+<p>
+Schließlich, wenn alles gesagt ist, bleibt von einem
+Menschen immer nur das Neue. Die Geschichte
+unseres Geistes sind weitergegebene Signale. Aber
+nicht immer das zuletzt Gegebene wird von dem
+Kommenden aufgegriffen. Die Schrift ist kraus. Und
+die, welche an ihr schreiben, haben vor allem ihr
+<em class="em">geistiges</em> Elternpaar, ihre geistige Familie und
+ihre geistige Sippe. Falls wir eine neue Zeit zusammenbringen,
+wird auch eine neue Heraldik mit ihr aufkommen.
+Gar merkwürdige Erzhäuser, Dynastien
+und ihre Nebenlinien werden sich da herausstellen.
+Und kaum einen Stammbaum dürfte es heute geben,
+der weiter verzweigt und interessanter zu erforschen
+wäre, wie der des so universalen Busoni. Keine
+Vaterschaft, die ihm an der Wiege gesungen wurde,
+<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
+sondern die sich vielmehr vor ihm verbarg, ihm
+vielmehr auferlegte, sie zu entdecken.
+</p>
+
+<p>
+Viele Jahre hindurch ist es in seinen Werken wie
+ein umsichblicken, ein plötzliches horchen, sichunterbrechen
+und stillestehen. Konzessionen kennt
+er nicht. Was das unvorbereitete Ohr noch grau,
+abstrus, bizarr anmutet, sind die Schatten des Weges,
+auf dem er sich entfernt. Seine Zeitgenossen verlieren
+ihn aus dem Gesicht. Mit dem embarras de richesse,
+welchen Berlioz, Liszt und Wagner in das Orchester
+hineingetragen haben, ließ sich ja noch lange
+wirtschaften. Richard Strauß buchtete das von den
+Vätern Erworbene noch weiter aus, erstand noch die
+oder jene Pagode hinzu, und zum Beweis, daß er ein
+Allerweltskönner sei, schuf er in seiner &bdquo;Ariadne&ldquo; eine
+antike Seite &mdash; ich brauche sie nicht zu nennen &mdash;
+von ewigem Wert.
+</p>
+
+<p>
+Auch bei dem feinen, wenn auch kurzatmigen
+Debussy horchten wir auf. Einige noch unvernommene
+Töne schlugen da an, wie in Farbe getaucht, morbid,
+verzückt, nur scheinbar dekadent, nicht dekadenter,
+sagte ich schon, als ein Mondreflex auf einem verrosteten
+Gitter. Jedoch viel zu sagen hatte er nicht;
+auch er fragte sich nicht, wie es weitergehen sollte,
+und er verstummte schnell.
+</p>
+
+<p>
+Genie ist nicht nur Fleiß (neben vielem anderen),
+sondern auch ein heroischer Ernst. Vielleicht ist
+Busoni nicht der einzige, welcher erkannte, daß die
+<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
+Musik in die wild überwuchernde Flora der Neuromantik
+nicht mehr tiefer hineinführte. Aber man
+kutschierte fatalistisch in derselben Richtung, demselben
+Kreise weiter, denn das Problem schien unlöslich.
+Nur nicht für Busoni. Es reizte gerade den
+Schöpfer in ihm.
+</p>
+
+<p>
+Anfangs waren es nur Anregungen, welche er bot.
+Turandot; immer stärkere Anregungen, wie das Licht
+eines wachsenden Tages, in seiner Schrift &bdquo;Zur
+Ästhetik der Musik&ldquo;, in &bdquo;Arlechino&ldquo;; in seinen immer
+erstaunlichen Klavierkompositionen, welche dem Klavier
+&mdash; dem einstigen Spinett &mdash; so neue Dinge entlocken:
+Klangeinlagen, Klangunterlagen, eingebaute,
+eingetönte Perspektiven (wenn ich so sagen darf!)
+grüßen da aus unvermuteten Tiefen, wie grünleuchtende
+Seen. Auch rein äußerlich genommen, verfährt
+Busoni als Schöpfer mit ihm; auch auf den rein
+äußeren Ausbau dieses Instruments (immer ist ja
+der Entdecker in ihm rege!) drängen seine Kompositionen
+hin.
+</p>
+
+<p>
+Scheint dies vielleicht von mäßigem Belang?
+</p>
+
+<p>
+Welche Stunden äußerster Betrübnis muß das
+Genie durchleben! Wie müssen ihn da die Zweifel
+überwältigen, ob die ewig geschäftige und ewig
+unachtsame Welt das Geschenk denn auch entgegennehmen
+wird, welches ihr zu bereiten er sein Leben
+widmet!
+</p>
+
+<p>
+Während sie von nichts anderem widerhallte, als
+<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
+ihrem sinnlosen Waffengedröhn, hielt Busoni sein
+schweres Ziel im Auge, drang er immer weiter vor,
+nahm er die Kurve, legte er die Schraube an. In
+seiner Isolation fand er die schöpferische Kraft, das
+Tor zu sprengen, und die in ihrem Riesenapparat
+festgefahrene, ja welkende Musik für eine neue
+Jugend flügge zu machen. Es wurden uns bis jetzt
+nur Bruchstücke seines &bdquo;Faust&ldquo; bekanntgegeben, aber
+sie künden ihn ganz. Die reine Linienführung, die
+tempelhaften Umrisse einer neuen Klassizität, sanft
+gerundet, erheben sich wieder! Ein &bdquo;Faust&ldquo; um so
+faustischer nur durch die neuen Streiflichter, die auf
+ihn fallen: die holde Blässe in der Feierlichkeit, ein
+in der Welt noch nicht dagewesener Adel des Klanges
+das Sfumato in der Trauer, Leonardisches, Latinismen
+.&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Wenn ich sage, daß mit diesem seinem und zugleich
+so sehr unserem &bdquo;Faust&ldquo; das Erbe Mozarts angetreten
+wurde, befürchte ich kein Dementi von der Zukunft.
+</p>
+
+<p>
+Darf ich (so nebenbei) in Erinnerung bringen, daß
+Bettina Brentano über Beethoven, daß Julie de Lespinasse
+über Gluck zu beider Lebzeiten das Entscheidendste
+sagten?
+</p>
+
+<p>
+Und wenn ich mich heute so gedrängt fühle, auf
+die Wichtigkeit Busonis immer wieder aufmerksam
+zu machen, so möchte ich hinzufügen, daß es in der
+Kunst sowohl wie in der Politik so etwas gibt wie ein
+&bdquo;zu spät&ldquo;. Auch hier sind die Gelegenheiten dahin,
+<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
+die man verpaßte &mdash; auch den Herren Klavierbauern
+rufe ich dies heute zu.
+</p>
+
+<p>
+Busoni hat ja seinen Lohn sicher nicht dahin. Auf
+der von ihm freigelegten Bahn geht es weiter, und
+der Dank der Kommenden erwartet ihn. Aber sollen
+wir heute, wo die Kronen zu Dutzenden auf das
+Pflaster rollten, sie im Staube verkommen lassen und
+wie im alten Regime die wahren Könige nicht ausrufen
+und nicht unterscheiden?
+</p>
+
+<h2 class="chapter" id="chapter-0-4">
+<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
+Dritter Teil.
+</h2>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span>as traurigste aller Jahre gehörte der Vergangenheit.
+Auch der Januar hatte ein Ende genommen.
+Ich war die Sklavin meines Flügels. Ihm zuliebe
+behielt ich das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte.
+</p>
+
+<p>
+Mit England und den Vereinigten Staaten war der
+Briefwechsel besonders schwierig geworden. Zuletzt
+würde es Mühe geben, sich die Gesichter seiner
+Freunde zu vergegenwärtigen, deren Bild nie eine
+Nachricht näher brachte.
+</p>
+
+<p>
+Eines Nachmittags &mdash; es fing schon an zu dämmern &mdash;
+und meine Gedanken zogen über unerreichbar gewordene
+Küsten den gewohnten Weg, als statt vertrauter
+Züge, die ich wachrief, ein blankes, behendes
+Pferd aufblitzte von intensivstem Braun. Voll Ungestüm,
+beredten Blickes, als hätte es etwas zu verkünden,
+weckte es ein Echo großer Bangigkeit und
+verschwand.
+</p>
+
+<p>
+Dafür blieb der ganze folgende Tag unter dem
+Eindruck eines so beseligenden Traumes, daß es ein
+Frevel wäre, ihn zu schildern.
+</p>
+
+<p>
+Wiederum dämmerte es, und diesmal saß Fortunio
+in meiner Sofaecke, und wir unterhielten uns.
+</p>
+
+<p>
+Das zwiefache an den Menschen, darüber waren
+wir uns ja einig, betraf ihren Ursprung. Insofern
+<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
+hatten die Extremisten recht, als sie nicht glaubten,
+mit dem alten Karren ins gelobte neue Land einzufahren.
+Leider aber brachten sie dabei ihre eigene
+Anhängerschaft ganz nach der alten Manier, nicht etwa
+der Artung, sondern der oft so rein zufälligen Meinung
+nach als wildes Durcheinander unter ein und
+dieselbe Flagge.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wie wunderbar ist der Mensch!&ldquo; sagte ich plötzlich,
+&bdquo;was für Eingebungen er hat! Auf was für
+Dinge er gerät! Zum Beispiel in allen Sprachen
+Vergleiche wie die folgenden zu ziehen: marchez
+comme sur des nuages; to walk on clouds; wie auf
+Wolken gehen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Warum?&ldquo; fragte er.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Weil es das gibt. Nicht etwa nur in euren Dichterphantasien,
+sondern einer höheren, höchsten Physik
+zufolge. Wer ist der verwirrte Tropf gewesen, der
+als erster Wort und Begriff des Wunders startete?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Ich wurde jetzt der Schneereflexe immer bewußter,
+welche in die Mollakkorde eines unvergleichlichen
+Zwielichtes fuhren. Nur wenig Wintertagen eignet
+dieser Schein, trauter als das von Sommerlüften
+durchwärmte, hölzerne Gartenhäuschen. Lange schmeichelte
+er sich an den Fenstern hin.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Eine gesteigerte Natur,&ldquo; fuhr ich fort, &bdquo;Kontakte,
+es sind Füße denkbar, zu welchen die Tragfähigkeit
+der Wolke sich verhielte wie Steg und Brücke zu den
+unseren: Gewänder, die zu solchen Füßen niederflössen,
+<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
+würde durch die Schärfe der Emulsion der
+Äther zum natürlichsten Geleise: weite Geleise solchen
+Füßen, und so sehr ein Teil von ihnen, während sie
+auf ihren Wolkensohlen reisten, <a id="corr-5"></a>daß von einer zifferlosen
+Arithmetik beherrscht, der ganze Himmel, und
+nicht etwa nur ein Stück von ihm, mit in den Raum
+sich drängen würde, über dessen Schwelle sie zögen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Hier verstummte ich, und so gebieterisch schwoll
+die Dämmerung an, daß meine Hände, wie Orgelpunkte
+in der Schwebe gehalten, plötzlich niederfielen,
+ihrer Unzulänglichkeit und Armut zurückgegeben.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wollen Sie Licht machen?&ldquo; fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+Während er sich anschickte, das Zimmer der ganzen
+Länge nach zu durchschreiten, war ich innerlich erstaunt
+über die Ausführlichkeit, mit der sich das
+Detail eines Bildes, welches doch als Ganzes, über
+alle Zeitbegriffe schnell zu Häupten meines Bettes
+aufgeblitzt war, festhalten ließe.
+</p>
+
+<p>
+Doch warum faßte mich da wieder das unerklärliche
+Grauen, das nicht mehr einzufangende Echo
+des Grams des gestrigen Nachmittags, als mir im
+halbwachen Zustand das Pferd beredten Auges entgegenschoß?
+Welche Bewandtnis &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Aber da hatte Fortunio schon geknipst, die Lampe
+erstrahlte, und ich atmete auf.
+</p>
+
+<p class="dat">
+5. FEBRUAR. Am Morgen dieses Tages stand ich
+angekleidet zu Häupten des Bettes und hielt meine
+<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
+Post. Sie war umfangreicher als sonst. Ein Brief
+mit ausländischer Marke und fremder Handschrift,
+den ich zuerst öffnete, umfaßte nur wenig Zeilen
+und meldete einen Tod, der schon vier Monate
+zurücklag.
+</p>
+
+<p>
+Der Zahnarzt erwartete mich schon sehr früh.
+</p>
+
+<p>
+Ganz undeutlich, wie von einem andern Ufer
+herüber, so daß ich nicht daran dachte, mich zu entschuldigen,
+schien er mir ungeduldig über mein verspätetes
+Erscheinen.
+</p>
+
+<p>
+Ich wollte ihn ersuchen, das graue Schmerzenslicht
+von der gegenüberliegenden Mauer zu entfernen.
+Dann besann ich mich: zeigten doch alle
+Dinge, das Fenster, die Instrumente auf dem Tablett
+dieselbe böse und stechende Schärfe.
+</p>
+
+<p>
+Desgleichen die Luft, als ich nach der Sitzung
+unter die Lauben trat. Sollte man sich es wirklich
+antun, sie hinabzugehen? War nicht vielmehr die
+Erde, dieser schwarze und zertretene Schnee, sich
+in ihm einzubetten mit zugekehrtem Gesicht, die
+einzige und unendliche Lockung? Die wehe Fackel
+des Gedächtnisses zu löschen, so zu verlöschen, als
+sei man nie gewesen, dieses war der Himmel. Oh wer
+war das? Wer war die Kreatur, die diesen ganzen
+Tag hindurch alle Gesten des Lebens so staccato
+verrichtete, an den Speisen dieselbe entsetzliche und
+befremdende Miene wahrnahm, wie an den Pinzetten
+auf dem Tablett des Zahnarztes, und wohin sie sich
+<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
+auch wandte, die Flucht ergriff; als wäre sie die aus
+Hoffmanns Erzählung entronnene Olympia &mdash; die
+Lauben hinab, die Treppen hinauf &mdash; in ihr Zimmer
+zurücklief &mdash; und sich umzog! &mdash; Einen blauen Hut
+aufsetzte, einen blauen! &mdash; und einen blauen Schleier
+davorband, und in das betäubte Antlitz starrte, dem
+er so ungewöhnlich stand &mdash; und einen Besuch abstattete
+&mdash; an einem Ofen lehnte, an ein Fenster trat,
+und durch seine, vom leichten Druck getrübte Scheiben
+sah, den die Wärme des Zimmers hervorrief.
+Es saß einer da, der erzählte, doch nur die Türe
+nahm sie wahr, durch welche sie wieder entrinnen
+und ins Freie gelangen konnte .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Dort fing es an zu dunkeln. Es nahm auch dieser
+Tag ein Ende.
+</p>
+
+<p>
+Nur auf dem freien Platz und über der Brücke
+war es noch hell. Rauh, grell und öde brütete ein
+durchnäßter Wintertag. Ungemildert fing ihn der
+&bdquo;Gurten&ldquo; auf: eine dunkle, ansehnliche Masse, und
+dennoch niedrig stellte sich ihm oh, so traumlos entgegen!
+Tropfnaß alle Dächer, die Bäume ein wirres
+und aufgelöstes Haar.
+</p>
+
+<p>
+Das Uhrwerk war abgelaufen, und sie stand nun
+endlich still, wie überwachsen von ihrer Not. Ein
+Martergriffel umriß für sie die ganze Stadt, die sich
+im Widerscheine eines Sterbetages zur Krypta schloß,
+das Siegel seiner Qual für immer aufgebrannt. So
+fiel ein Tor.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
+Beim ersten Laternenschein prallte sie zurück.
+Jedes Licht war eine Tücke. Kein Dunkel war tief
+und ununterbrochen genug. Und riefen ihre Wände
+nicht nach ihr? Zu ihnen nahm sie ihre Zuflucht,
+schloß ihre Türe und überließ sich der Erschöpfung.
+In ihren Kleidern wie auf einem Sarkophag, ohne
+sich zu rühren, ausgestreckt, lag sie in den Armen
+und am Herzen dieser Nacht.
+</p>
+
+<p>
+Siehe &mdash; was tauchte da wieder vor ihr auf? &mdash;
+Sturmentlassen, mit verhängten Zügeln, wie einem
+geisterhaften Stalle zugekehrt, das entfärbte, fahlgewordene
+Roß, dessen Botendienst geschehen war.
+</p>
+
+<p>
+Zum ersten Male entsann sie sich da auch des
+andern Bildes, das sich zwischen einer Kunde und
+ihrer Ankündigung gnädig und wie eine Gnade
+stellte.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Und nun, oh Leser, fasse meine Hand, daß ich von
+dir selber gehalten, durch Dornen und Gestrüpp,
+Ziel, Sinn und Ende dieses Buches erreiche. Verlasse
+auf immer mit mir das Zimmer der vergeblichen
+Zusammenkünfte und folge mir nach Genf. Ferne
+dem traumlosen Berg, über der malerischen Stadt
+des nüchternen Lichtes, durch die Turmspitze versinnbildlicht,
+welche den Unterbau des Münsters
+niederdrückt, und seine Schönheit immerzu und
+immerzu verneint.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
+Selbst bei der schärfsten Bise leuchtete die Luft
+in Genf so abgetönt. Dort hauste ich nun, in einem
+unheizbaren Studentenstübchen im fünften Stock des
+hotel de Russie. Ein kleiner Balkon überhing die
+stets von Schwänen überzogene Insel Rousseau.
+Meine Taschen waren in diesen Tagen der Brotkarten
+mit Krumen wohlgefüllt, und mit heimlicher
+Befriedigung warf ich ihnen die rargewordene Speise
+zu. Nicht vergeblich glitten sie mir da immer sogleich,
+doch ohne jede unziemliche Eile entgegen. Ich sah
+ihnen oft lange zu. Sie standen in der Tierwelt so
+abseits; fast ein wenig abgerückt von der Natur.
+Bald würden sie zwischen ihren stolz aufgerichteten
+Flügeln ihre Jungen wie in einer geschlossenen Krone
+durchs Blaue tragen. Vielleicht gab ihnen ihre Ungefährdetheit
+die Muße, um den Tod zu wissen.
+</p>
+
+<p>
+Die Zeiten waren derart, daß der Ortswechsel selbst
+einer so unwichtigen Person wie mir nicht unvermerkt
+blieb. Dinge aber, die mich vor kurzem in
+Aufruhr versetzt hätten, machten mir nicht das
+geringste. An der Telephonkabine war eines Morgens
+der Türgriff ausgekurbelt und wurde nicht wieder
+instand gesetzt. Dicht bei verbrachte ein dicker Herr
+seine Tage und rauchte Zigarren, indem er unverfroren
+horchte.
+</p>
+
+<p>
+Indessen wurde ich von Herrn L&nbsp;&mdash;&nbsp;P.&nbsp;.&nbsp;.&nbsp;. dem Vater
+der im deportationsfähigen Alter stehenden Kinder aufs
+neue bestürmt. Seiner Frau blieben die Pässe verweigert.
+<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
+Ich schrieb jetzt auf gut Glück dem Grafen
+Carry, er möge mich über den Sonntag besuchen.
+Und richtig stand er da. Es war strahlendes Wetter,
+wir streunten über die Kais und aßen zusammen.
+An seine natürliche Güte hatte ich nie vergebens
+appelliert, und schließlich bildete sein Propagandawerk
+eine Art von Rettungsstation. An ihm klebte
+kein Blut. Da mir aber seine Beziehungen zur obersten
+Heeresleitung bekannt waren, log ich jetzt über die
+politische Zweckmäßigkeit einer Paßverleihung an
+die Familie L .&nbsp;. P .&nbsp;.&nbsp;. einiges Blaue vom Himmel.
+Wir setzten uns ins Freie. Erstaunliche Magnolien
+prangten schon in voller Blüte; an eine Tanne, grünblau,
+weiten Hauptes wie eine Pinie, und immerzu
+umschwirrt, preßte sich ein glückliches Vogelhaus.
+Carrys Augen hingen voll Entzücken daran.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Da geht mein schlimmster Feind&ldquo;, sagte er plötzlich.
+Klein, mit niederträchtiger Visage, kam hinter
+den Magnolien ein Landsmann von uns hervor. Von
+übelster Vergangenheit, dabei Träger eines großen
+Namens, für den Nachrichtendienst also wie geboren,
+lauerte er dem Frieden um so emsiger auf, als die
+Dauer des Krieges mit dem Interim seiner Rehabilitierung
+zusammenfiel.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Natürlich haßt er Sie&ldquo;, sagte ich zerstreut. &bdquo;Was
+erwarten Sie sonst?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Abends &mdash; der Graf war schon abgereist &mdash; kreuzte
+ich mich nochmals, über die Brücke zu den Schwänen
+<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
+gehend, mit der hochgeborenen Krapüle, die mit
+einem Basiliskenblick an mir vorüberging. Tags
+darauf &mdash; ich dachte gerade an das blauzerfließende
+Grün der Tanne und an den großen Blumenbaum,
+der in dieser Sonnenhelle wohl noch heller erblüht
+war, als ich ans Telephon gerufen wurde. Vor der
+Zelle saß trägen Auges der mir zugeteilte Herr mit
+der Nachmittagszigarre im Mund. Heute aber sollte
+er auf seine Kosten kommen. Denn im höchst aufgeregten
+Ton forderte mich eine Genfer Dame zu
+sofortiger Aussprache auf. Ihr Haus sei mir offengestanden,
+sie habe mir ihr Vertrauen geschenkt, und
+nun müsse sie hören, daß ich es mißbrauchte.
+</p>
+
+<p>
+Ich machte mich ziemlich gemächlich auf den
+Weg zu ihrem Hause. Seit jenem Tage, als sich Bern
+für mich zur Krypta schloß, war mir erst bewußt,
+daß ich mit nichten ein verkannter oder verlassener,
+sondern einer der wenigen innerlich wirklich beschützten
+und durchschauten Menschen gewesen war.
+</p>
+
+<p>
+Wie oft hatte &mdash; weit vorgreifend, ach! &mdash; mein Ohr
+das melodische Lachen zu hören geglaubt, wenn ich
+dereinst alles erzählen würde, alle Zwickmühlen und
+alle Abenteuer, in die ich geraten war.
+</p>
+
+<p>
+Ein ganzer, ein wirklich unvergeßlicher Mensch,
+dachte ich, von Trauer niedergedrückt, ist nirgends
+zu Ende. Unerschöpft und ganz unausgespielt sinkt
+er zu Grabe. Abgerissen, doch nicht abgesponnen,
+ist der Faden eines solchen Lebens.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
+Wenn aber Kinder des Lichtes zusammentreffen,
+ist das schon ein Glück des Himmels. In dem hin
+und her ihrer Blicke und ihres erkennens liegt das
+Vorgefühl ihrer Macht. Zu uns komme ihr Reich.
+</p>
+
+<p>
+Mit der Genfer Dame war ich schnell im reinen.
+Wir spielten beiderseits mit offenen Karten. Die
+hochgeborene Krapüle hatte verbreiten lassen, die
+deutsche Propaganda arbeite nunmehr mit so raffinierten
+Mitteln, daß sie kompromittierte Personen,
+wie mich, zu Werkzeugen mache. Den Beweis hielte
+er in der Hand. (Es war mein Frühstück mit dem
+Grafen Carry.) Natürlich war seine Behauptung wohl
+geeignet, mich in Genf unmöglich zu machen. Er
+hatte sich nur insofern verrechnet, als meine dortigen
+Freunde sich unverweilt mit mir ins Vertrauen setzten.
+Dieser Zwischenfall war also beigelegt.
+</p>
+
+<p>
+Als ich wieder in die Allee einbog, welche von ihrem
+Hause bis hart an die Straße führte, drangen durch
+ein offengebliebenes Fenster die Worte: &bdquo;Je suis bien
+contente de le lui avoir dit&ldquo; laut und vernehmlich
+ins Freie; Mir aber saß jetzt ein ödes Gefühl im
+Magen, ein Ekel, das würgen einer allzu krampfhaft
+unterdrückten Bitterkeit. Ein Durst zugleich; das
+lechzen des Trinkers, der nach dem Becher vergeht;
+es mußte etwas, das Palliativ, die Betäubung mußte
+her. Es war das alte Laster, hui! Und lag sie nicht dicht
+bei, die avenue de Florissant? wußte ich nicht,
+zufällig, daß sie dort wohnte, sie, die den Schlüssel
+<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
+zu den geheimen Toren hielt, die ich begehrte?
+Heute noch, nein, sogleich mußte ich hin.
+</p>
+
+<p>
+Und schon betrat ich unangemeldet die großen
+Räume, in welchen die malerische Französin zwischen
+ausgehobenen Türen nach allen Seiten hin den Ausblick
+über Gärten und Büsche genoß. Es war eine
+ganze Welt von Bäumen in ihrem ersten Grün. Mademoiselle
+S., eine Pariserin der ernsten und wenig
+bekannten Art, trug einen orangefarbenen Foulard
+um ihren Kopf gewunden und gestand ihre Kopfschmerzen,
+aber nicht ihr Befremden über meinen
+Besuch. Wir hatten uns ein einziges Mal während
+des Krieges flüchtig kennengelernt, und nun lagerte
+ich, jedem Argwohn zuvorkommend, indem ich ihn
+einfach niedertrat, auf einem Diwan ihres Salons,
+den verwirrenden Frühlingszauber ihres Parkes vor
+Augen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie sind im Besitze der Adresse eines Mediums,&ldquo;
+sagte ich, &bdquo;die ich suche.&ldquo; Und sie erhob sich, an
+ihnen Schreibtisch zu treten; eine hohe und dunkle
+Gestalt, weder so schön, noch so jung vielleicht, als
+sie an diesem Abend schien, den blassen und melancholischen
+Kopf vom seidenen Turban eng umschlossen,
+und all die Wipfel, die in den Rosenhimmel
+ragten, als Hintergrund. Sie reichte mir die Adresse,
+und wir sprachen von allgemeinen Dingen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es muß heute doch ein eigener Segen auf allen
+Schlechtigkeiten ruhen,&ldquo; sagte ich, &bdquo;da, was immer
+<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
+man Gutes und Hilfreiches unternehmen möchte,
+sofort in Mißlingen und Gestank aufgeht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wie könnte es anders sein?&ldquo; gab sie zurück, &bdquo;das
+Geschwür ist noch lange nicht reif. Vorerst muß
+alles ihm allein zugute kommen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es gibt aber Geschwüre en permanence&ldquo;, meinte
+ich. Doch sie schüttelte den Kopf, unbeirrbar in
+ihrem Glauben an eine bessere Zukunft.
+</p>
+
+<p>
+Es herrschte zwischen uns die kurzbefristete Vertraulichkeit
+zweier Reisegefährten eines nächtlichen
+Zuges. Nichts ist so unverbindlich wie ihr Auseinandergehen.
+</p>
+
+<p>
+Denn schon war ich wieder unterwegs, einer andern
+Himmelsrichtung, einem Genf, das ich nicht kannte,
+zugewandt, nicht wissend, daß es auch seine anonymen
+Viertel hatte, die scheinbar nicht zu ihm
+gehörten, sondern in ihrer Bedrücktheit ganz allgemein
+die Straßen einer größeren Stadt darstellen.
+Zwischen solchen Häuserreihen war ich jetzt auf der
+Suche, fand die Nummer, stieg vier Treppen hoch
+und läutete und wartete. Eine im Dunkel undefinierbare
+Gestalt öffnete endlich langsam die Türe.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wollen Sie mich melden?&ldquo; sagte ich, ohne meinen
+Namen anzugeben. Sie rührte sich nicht. &bdquo;Wollen
+Sie mich melden?&ldquo; wiederholte ich. Sie schwieg.
+Sie war es selbst. Stumm standen wir einander gegenüber.
+Unsere Blicke belauerten, betasteten sich. So
+tauschen wohl in einer Höhle des Lasters zwei Eingeweihte
+<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
+zögernd ihre Erkennungszeichen: es waren
+die verschleppten Schatten unserer Augen und ihr
+matter und verlöschter Schein. Und wie loderte
+schon die Luft! Oh welch ein Wellengang! Welcher
+Sturm inmitten der Stille, die zwischen uns entstand.
+Ich folgte der Gestalt, die vor mir zurückwich.
+Sie trat, als hätte ich sie gestoßen, in die Umrahmung
+einer Türe, die hinter ihr nachgab, und
+taumelnd trat ich ein.
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Dem glücklich Liebenden gleich streifte ich in
+jener Nacht, hingerissen, berauscht, von tröstlichen
+Schauern durchrieselt, die Kais entlang. Wie Antäus
+die Erde, hatte so mein Fuß die belebende Leere
+berührt? &mdash; War&rsquo;s ein geistiger Aderlaß gewesen?
+War&rsquo;s der letzten Hingabe entsetzliche Betäubung
+oder die eleusische Flut? Und wird sie einmal einer
+nennen dürfen, die einmaligen Gefilde ohne Wiederkehr
+und Verbieter des Wortes, die ein Blick zu ihnen
+ein Wenden des Kopfes nur, zu ewiger Ungewesenheit
+entstürzen läßt .&nbsp;.&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Oh Eurydike!
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, nahm
+ich das Schiff. Als es in Ouchy anlegte, zog mit einem
+Male Fortunio an Bord. Wir waren beide nicht wenig
+erstaunt. Ihn aber schien die Bläue des Tages und
+das in Verzückung zurücktretende Ufer von sich
+<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
+selbst fortgerissen zu haben, und es war ersichtlich, daß
+er träumte. Das Leben hielt er dann für schön,
+besann sich des Augenblickes und der Weltgeschichte,
+wie auch seines eigenen Erwachens nicht, sondern,
+ganz Echo, war er gefangen von ein paar Weisen,
+welche manchen Tages die Natur anhebt, und den
+verwandelt, der sie hört.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Lassen Sie sich das Neueste erzählen&ldquo;, stieß ich
+ihn an und gab mit allen Details die Mine zum
+besten, von der ich in Genf hätte auffliegen sollen.
+Wie ergiebig Graf Carry dabei mit &bdquo;belegt&ldquo; worden
+war, kam erst später ans Tageslicht. Mit der Warnung
+an meine Schweizer Freunde nämlich, sich vor
+einer deutschen Agentin wie mir etwas in acht zu
+nehmen, erging gleichzeitig eine Meldung an deutsche
+Instanzen in Bern, Graf Carry wisse so wenig die
+Würde seines Amtes zu wahren, daß er sich nicht
+scheue, mit einer französischen Agentin wie mir
+öffentlich herumzuziehen. Aus dem Mittagessen
+wurde der Pikanterie halber ein trautes Souper.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Diese Zeit&ldquo;, sagte ich zu Fortunio, &bdquo;hat den
+Untermenschen doch wirklich den Maibaum ihrer
+Existenzen gebracht, und es gehört mit zu den läuternden
+Wirkungen des Krieges, daß ihn die Krapülen
+überleben. Denn wenn eine, statt als sein Helfershelfer
+reklamiert zu werden, in die fatale Lage gerät,
+selbst an den Heldentod glauben zu müssen, so ist
+das doch ein ganz seltenes Pech.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
+Fortunio fuhr mit dem Abendzug nach Bern zurück,
+und ich blieb in Clarens.
+</p>
+
+<p>
+Um Ostern wollte ich Romain Rolland besuchen
+und sagte mich in Villeneuve an. Allein es war jener
+Karfreitagmorgen, an welchem eine oberste Heeresleitung,
+wie um seiner zu höhnen, die Kanonade von
+Paris nicht unterbrach, eine Kirche während des
+Kultes einstürzte und die Anwesenden unter sich
+begrub. Daß mein angekündeter Besuch auf das
+hin unterblieb, verstand sich von selbst. Für mein
+Gefühl war dieser Karfreitagsvolltreffer das schwarze
+Aß, das sich Deutschland selber ausgeworfen hatte.
+Eine solche Absage an die tragende Idee des Christentums
+war zu zynisch, um nicht ominös zu sein. Sie
+war &mdash; man verstehe mich recht &mdash; wüstester Protestantismus.
+Luther galt mir nur deshalb als einer
+der Ahnherren des Krieges, weil sein auftreten das
+Übergewicht des nördlichen über das westliche und
+südliche Deutschland anbahnte, und ein kahles, unkünstlerisches,
+unmusisches und humorloses Element
+in den Pulsen der Deutschen entsprang: Phantasielosigkeit
+und Unmusik. Wagt es vielleicht einer,
+Sebastian Bach einen Protestanten zu nennen? Der
+Protestantismus stak damals in seinen ersten Anfängen,
+noch belebt von der Wärme des Stammes, von dem
+er sich losriß: protestierender Katholizismus. Der
+wirklich ausgewachsene konsistorialrätliche Protestantismus
+gedieh erst in den letzten Dezennien zu der
+<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
+vollen Reife und dem gleichzeitigen Marasmus. Die
+fürchterlichen Lutherschen Kirchen, das toteste an
+Architektur, was in der Welt zu sehen ist, sind Geist
+von seinem Geiste. Alle unfrohe Geschmacklosigkeit,
+den Mangel an Grazie und Liebenswürdigkeit, das
+Reformkostüm, die Jägerwäsche danken wir ihm.
+Undenkbar, daß von München aus die Reichsbriefmarke,
+als die häßlichste der Welt, hinausgeflattert
+wäre. Nein! fürwahr, diese Germania stieg so recht
+als die fille ainée der protestantischen Kirche. Sie
+brachte den unheilbaren Riß, über den keine äußerliche
+Geeintheit hinweghalf. Denn ihr verdanken
+wir das verständnislose abrücken von der lateinischen
+und abendländischen Welt, das ein südliches, fränkisches
+und westliches Deutschland nie herbeigeführt
+hätte.
+</p>
+
+<p>
+Statt des café du Nord wurde jetzt der Kursaal
+von Montreux meine Schreibstube. Den Nachmittag
+beschloß ich mit Vorliebe im kleinen Saal
+des Konservatoriums, wo ich mit einem russischen
+Cellisten musizierte. Aber A. H. Pax wollte wieder
+einen Beitrag. Es gibt heute nur ein Thema, schrieb
+ich ihm:
+</p>
+
+<p>
+Und wir hätten alles von der Methode jener glücklichen
+Spekulanten zu lernen, welche sich offenkundig
+als die weitaus schärfsten Psychologen erwiesen,
+indem sie irgendein Präparat, eine Zahntinktur oder
+ein Extrakt dadurch zu allgemeinster Geltung verhelfen,
+<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
+daß sie deren Bezeichnungen in grellen Riesenbuchstaben
+an Mauern, Säulen und Schlöten anschlagen,
+sich gleichsam an die Fersen des Vorübergehenden
+heften, selbst auf Bergeshöhen sich zwischen
+ihn und die Aussicht schieben, ja von Felswänden
+herab ihm unerwartet Odol! Haarlin! oder Bovril!
+entgegenschreien.
+</p>
+
+<p>
+Wäre heute nicht die Beachtung gewisser Zustände
+mit einer ebensolchen vorbildlichen Hartnäckigkeit zu
+erzwingen? Durch ein ungeheures Preisausschreiben
+etwa, das an alle Maler, der ältesten wie der neuesten
+Schule, erginge, um auf Bildern und Plakaten, mit
+beliebigem Raumverbrauch, die Wirklichkeit zu illustrieren,
+allen Brücken und Wegen entlang sie immerzu
+neu einer Allgemeinheit zu veranschaulichen, deren
+geistigen Stumpfsinn nur jene Menschenkenner von
+Spekulanten voll ergründeten. Daß es keine intellektuelle
+Notwehr gibt, und daß wir lieber untergehen
+als daß wir dächten, hielten wir ja nicht für möglich,
+bevor wir es erlebten. Wie hätte sonst über unsere
+Köpfe hinweg jene Phalanx der Niedrigen zustande
+kommen können, die sich heute mit so bewundernswerter
+Regie über alle Grenzen hin in die Hände
+arbeiten? Auf uns, die sie gewähren lassen, fällt der
+Fluch dieser Zeit zurück. Nicht auf die schlechten,
+deren Tun im Einklang steht mit ihrem Wollen; auf
+uns, nicht auf die Knechte, welche sich zu unseren
+Herren machten, sondern auf uns, die wir uns von
+<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
+ihnen knechten ließen. Sollte der Tag hereinbrechen,
+an dem es zu spät sein wird für unser zusammengehen,
+so werden wir, die guten Willens sind, als
+die Schuldigen stehen, weil uns der Mut unseres
+besseren Wissens gebrach, dem Genius des Krieges
+die Siegermaske von der gedankenlosen Stirn zu
+reißen. Ah! wir bedachten nicht den tiefen Sinn
+jener Sage, welche den Drachentöter die Sprache
+der Vögel verstehen ließ, als er vom Blut des erlegten
+Ungeheuers genoß!
+</p>
+
+<p>
+Es waren stille Tage. Der Sommer reifte wie eine
+Frucht. Schon rissen Gewitter den Himmel auf
+und schlugen die Wellen bis zu den herabhängenden
+Blüten am Ufer. Und die Nächte verströmten betäubend
+und lau. Es war ein Wandeln wie im Traum,
+bedrückend und begeisternd zugleich. Meine Unterredung
+mit dem Grafen Carry datierte vom 5. Mai.
+Schon am 17. depeschierte er mir, die Pässe für
+Frau v. L .&nbsp;.&nbsp;.&nbsp;. und ihre fünf Kinder seien
+gewährt.
+</p>
+
+<p>
+In den Weinbergen surrte das Licht, die goldenen
+Bienen waren eins mit ihm. Ob man lebte oder gestorben
+war oder eben geboren wurde, machte keinen
+Unterschied. Es war zu heiß. Den schönen Damen
+standen die Koffer gerüstet. Ihre neuesten Kostüme
+und Kleider, die seidenen Sweater und die Hüte
+und die Schuhe kannte man jetzt. Es war Zeit, in
+einem neuen Ort neu darin zu erstehen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
+Für den 29. waren in Zürich Busonis Opern unter
+seiner Leitung angesagt. Dort sollte ich mit Fortunio
+zusammentreffen, und dann an den Thuner See
+mit ihm fahren. Aber statt seiner kam ein Brief,
+und meine Stirne umwölkte sich beim Anblick seiner
+Adresse: Es war ein Mißgriff und eine Illusion, daß
+er die Villa des geölten Nibelungen bezog. Kurz
+herausgesagt, wir beiden konnten einander nicht
+leiden. Ich grollte ihm nicht, weil er meine Haltung
+verurteilt und mir versichert hatte, wir seien immer
+noch zu anständig; sein plötzlicher Radikalismus, vielmehr
+die Art, wie er sich als unser Leithammel
+aufwarf, ärgerte mich. Denn er war keiner von den
+Unseren. Mit Lanze und Speer kam ich ins Spiezer
+Schloßhotel, ihn zu bekämpfen. Dort warteten
+A. H. Pax und seine unschätzbare Gattin seit einer
+Woche meiner. In der Halle stand ein Bechstein,
+und von Paxens tiefer Loggia aus hatte man den Blick
+nach Süden über die Alpen und den See. Bei ihnen
+waltete Überblick, Wissen und Nächstenliebe, dazu
+ein Aroma von Wiener Kaffee und Gemütlichkeit, die
+nicht zu überbieten waren.
+</p>
+
+<p>
+Die Villa des Geölten lag unter den Tannen in der
+Tiefe, einen Kilometer entfernt und in wundervoller
+Lage. Ein kurzer Weg bog vom Gitter bis zum Hause,
+als wäre er unendlich, ein. Die veredelten Kirschbäume,
+die ihn beschatteten, bestahl ich, soviel ich
+konnte. Es verdroß Fortunio, doch ich erklärte,
+<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
+Kirschen nur vom Baume essen zu können, und riß
+im vorbeigehen immer welche herab. Es waren wirklich
+Kirschen für Hesperiden. Die unteren Zweige
+hingen schon leer.
+</p>
+
+<p>
+Der geölte Nibelung gehörte dem Geschlecht derer
+an, die nicht nur geschäftskundig, sondern auch mit regen
+Sinnen für das Schöne begabt, zu überaus tüchtigen
+Faktoren berufen, dabei haarscharf an ihre Stelle zu
+verweisen, ja niederzuhalten sind. Unsachlich, ungedanklich,
+nur der Witterungen, aber keiner Erkenntnisse
+fähig, konnte er sich nach innerer Herkunft
+und Bestimmung höchstens zum Sklavenhalter, niemals
+zum Herren vermögen. Gütiger Regungen sehr
+wohl fähig, war der geölte Nibelung infolge seines
+unbändigen Ehrgeizes der glücklose Knecht, außerstande
+sich zu bescheiden. Über ihn wölbte sich
+der freie Himmel nicht unmittelbar, zwischen ihm
+und dem Äther, den Göttern und der Natur lastete
+eine trennende Kuppel. Fortunio aber, und wenn
+er tausendmal zerschellte, war ein Sohn des Lichts.
+An ihn klammerte sich der Geölte, von trüben Stacheln
+getrieben, und eiferte um die gleiche Stufe der Leiter
+mit ihm; von Eifersucht und Zuneigung gleicherweise
+gequält, suchte er &mdash; immer unbewußt &mdash; ihn
+an sich zu reißen oder ihn zu verderben. Seine Gattin
+liebte es, vierhändig zu spielen, ihr Anschlag war
+eine Pein, und ich stand sehr bald mit beiden übers
+Kreuz. So ging ich nicht mehr den kurzen Weg,
+<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
+der zwischen Gitter und Haus ins Unendliche lief,
+und sah von dieser Stelle aus nicht mehr den Niessen
+wie eine Riesenpyramide inmitten des fruchtbaren
+Tales stehen.
+</p>
+
+<p>
+Der Himmel freilich kam hier nie zur Ruh, und
+die Gegend war mehr eine großartige, opernhafte
+Szenerie, denn eine Landschaft, das Licht ein Beleuchtungsapparat;
+statt der Spiegelungen hatte man
+Effekte. Das Schreckhorn leuchtete in der Verkürzung,
+der See war eine Arie.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Komm, komme!&ldquo; schrieb der Seidenaff aus
+St. Moritz. &bdquo;Wer weiß, was mit uns in einem Jahre
+geschieht.&ldquo; Und eines Morgens reiße ich aus, um den
+Sommer im Engadin zu beschließen.
+</p>
+
+<p>
+Mein Weg führt über Bern, und ich mache bei
+Martin im Walde halt. Er ist schwer niedergedrückt.
+Das deutsche Verhängnis war für jeden, der außerhalb
+des Landes wohnte, unaufhaltsam. Ich schreibe
+eine Depesche unter seinem Diktat und renne damit
+zum bayrischen Gesandten. Dieser besteht darauf,
+Martin im Walde selber zu sprechen: ich also mit
+Windeseile zu ihm zurück und ihn so lange quälend,
+bis er mir folgt. Aber welch ein Interview! Alle
+heißen und kalten Wasserhähne sprühten um die
+Wette, daß es nur so pfiff.
+</p>
+
+<p>
+Die Depesche hat er aber abgeschickt, mache ich
+auf dem Heimweg geltend.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
+Sie übermittelte jedoch diejenige Brause, die man
+sich auf Wochen noch verbat.
+</p>
+
+<p>
+Fluchtartig verließ ich die Stadt der vergeblichen
+Zusammenkünfte.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-1">
+Palace Hotel, St. Moritz.
+</h3>
+
+<p class="dat">
+AUGUST 1918. Man hätte sich auf dem Berge
+Arrarat glauben können, wären unter den Geretteten
+nicht so viele gewesen, die mit einem Mühlstein am
+Halse zu tiefst der angerichteten Sintflut zu liegen
+verdienten. Diese Menschenmetzger, Gewinnler am
+Elend der Menschheit und gemästet von ihrem
+Blut, hier machten sie sich breit und schlemmten.
+</p>
+
+<p>
+Gleich bei meiner Ankunft hatte ich den Seidenaffen
+besucht und war auf der Treppe gestürzt, so
+daß ich bleiben mußte, wo ich war. Doch inmitten
+des Geschwirres begann da für mich ein Leben wirklicher
+Beschaulichkeit. Ich kannte niemanden, mit
+San Cividales verkehrte ich nur in den oberen Räumen,
+unten mieden wir uns, denn wir waren ja Feinde.
+Auf den Stock gestützt, hinkte ich, wenn Sajani mit
+seiner kleinen Kapelle spielte, zu einem Schreibtisch
+in der offenen Galerie, die Berge von Pontresina vor
+Augen, die ekstatisch nach Süden träumten; unten
+der tiefgrüne Bergsee und der Waldweg seinen Ufern
+entlang; St. Moritzbad im Rücken, damit ich es
+nicht zu sehen brauchte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
+Es war sehr oft &bdquo;etwas los&ldquo;. Alles strömte dann
+nach derselben Richtung, um sich im Sportkostüm
+zu treffen, bevor man sich im Abendkleide wieder
+begegnete. Dann spielte die Kapelle ins Leere, ich
+aber zog unter den Baldachin, die Tangonoten verschwanden,
+und wir spielten Trios. Es schlichen
+immer ein paar unbeschäftigte Kellner herein, und
+dies Kellnerpublikum war uns ein Sporn.
+</p>
+
+<p>
+In der Umwertung der Gesellschaft selbst besteht
+heute die eigentliche und tiefe Revolution. Ein rein
+äußerlicher Staat hat merkwürdigerweise aufgehört,
+elegant zu sein; das Prestige einer Klasse als solcher,
+mag es noch einmal aufflackern und sich noch
+eine Weile fortläppern, ist dahin. Diejenige Klasse,
+die überall am Kriege die unschuldigste war, wird
+täglich an Interesse gewinnen und ihren Tag erleben.
+Der Arbeiterstand als Magnet: so schnell reiten die
+Toten! &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Wie faszinierend war es indes, die Herren von
+vorgestern zu beobachten, welche wähnten, daß sie
+es noch seien, und die höchstens noch der Wirt, bei
+dem sie abstiegen, in dem Glauben erhielt; diese
+Herren auf Abbruch, die nicht merkten, daß ihre
+Füße sich schon im Gerölle fingen. Müßigkeit und
+Unwissenheit hatten ihre Norm so tief herabgedrückt,
+daß, um ein Beispiel zu geben, edle Musik eine Zumutung
+für sie gewesen wäre. In der Tat, es lohnte
+sich, sie zu studieren. Sie machten noch die Gesten
+<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
+der Väter, aber schon war der Pöbel bei ihnen eingebrochen
+und schuf sich in diesem äußersten Rechteck
+der Gesellschaft ein Ventil. Nirgends vielleicht
+hatte sich die Achtung für inneren Wert so sehr
+verringert und kam innerer Adel so wenig in Betracht.
+Wie viel ritterlich Gesinnte zählte man unter
+diesen Kavalieren? Wie viel Strebende? Was die
+Unbildung, die zunehmende Verrohung dieser Clique
+betraf, so stand sie den von ihr verhöhnten nouveaux
+riches, welche Wurstkonserven zu Magnaten erhoben
+hatten, innerlich schon am nächsten, und es war
+rührend zu sehen, wie hier die Elite &mdash; denn auch
+die sogenannte Elite hat natürlich ihre Elite, und ich
+weiß keine liebenswertere &mdash; von ihr abrückte und
+sich ihrer schämte.
+</p>
+
+<p>
+Auch den Trost von ein paar wirklich schönen
+Frauen hatte man hier. Der Seidenaff zwar verzog
+sich des Abends immer sehr bald. Sah man nach
+ihr um, war sie wie ein Vogel schon weg.
+</p>
+
+<p>
+Aber die leidende Sylvia, schön wie eine gestirnte
+Nacht, tanzte so gern. Und ob man sich auch sagte,
+die Melancholie ihres Lächelns, ihres Lachens sei
+nur Zufall, nur der Form ihrer göttlichen Lippen,
+dem Licht ihrer Zähne entblüht, sie entzückte darum
+nicht minder.
+</p>
+
+<p>
+Eine andere kam zuweilen von Suvretta herüber,
+ein Püppchen, so zierlich gebildet, als wäre sie in einer
+blitzend ausgeschlagenen Nußschale dahergefahren.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
+Eine vierte war noch da, von der ich noch reden
+werde. Aber laßt mich bei der gestirnten Nacht noch
+einmal verweilen. Meistens trat sie erst, nachdem
+der Tag zu Ende war, scheinbar ausgeruht, in ihrer
+düsteren Pracht hervor, blieb dann bis zum Hahnenschrei,
+wie die Braut von Korinth, und hielt ihre
+Tänzer in Atem.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+ANFANG SEPTEMBER. &bdquo;Ich hörte lange nichts
+von euch&ldquo;, schrieb ich an Fortunio. &bdquo;Was Sie
+nur treiben?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Mein Fuß war endlich hergestellt und einer längeren
+Fußtour gewachsen. Eines Morgens verließ ich früh
+das Palace Hotel in Bluse und Rock, einen Sack
+umgeschnallt, in dem ich eine ganze Reisetasche
+leerte, und einen eigens dafür erstandenen Strohhut,
+der so tief hereinfiel, als man wollte. Also ausgerüstet,
+zog ich nach Maloja, schlug aber bald den Waldweg
+ein, denn die zahlreich einherrollenden Wagen hüllten
+die Straße in Staub. Frech auf den Polstern ausgebreitet,
+mit befriedigten Mundwinkeln, fuhr ein
+Schieber nach dem andern froh zu Tale, oder dem
+Julier entgegen; ein feister und wohlgemuter Korso:
+der Krieg durfte noch dauern.
+</p>
+
+<p>
+Am andern Ufer der Seen jedoch wand sich ein
+stiller Weg um jede Bucht, nimmermüde, sie zu umschreiben,
+leis umplätschert, geduldig und verliebt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
+Ich riß den Hut vom Kopfe, steckte ihn in den Sack,
+und ließ die Stirne frei von den Gletscherwinden
+umwehen. Es war so schön, wieder schnellen und
+gesunden Fußes durch die Wälder zu gehen, die bis
+in ihren tiefsten Schatten von Licht und Hitze
+durchhaucht, statt des Staubes einen Geschmack von
+Harz und Erdbeeren auf die Zunge trieben. Ganz
+plötzlich wurde es kalt. Hoch am Himmel hielten
+die Wolken Rat, ob sie sich zusammenballen und
+den Herbst eröffnen sollten. Dann zerstreuten sie
+sich wieder und ließen die Sonne durch. Aber es
+war ganz deutlich, daß sie sich nur vertagten.
+</p>
+
+<p>
+Spät am Nachmittag saß ich in der berühmten
+Konditorei von Sils Maria, als ein Wagen vorfuhr,
+dem die vierte Schöne des Palace Hotels in Begleitung
+ihres Liebhabers entstieg. Es war die notorische
+liaison des diesjährigen Sommers. Er, so stolz auf
+seine Figur, daß er Modell stand, sowie man nur
+hinsah, aber dabei das Entzücken seines Schneiders
+mit dem des Malers verwechselte; die Stirn niedrig
+und leer, wie die eines Stallbediensteten, und einen
+der Anlage nach gewiß nicht groben, aber schon
+stark vergröberten Kopf. Bald, sehr bald würde von
+dem ganzen Zauber nur noch die Hengstallüre übrigbleiben.
+</p>
+
+<p>
+Die Schöne hatte am nächsten Tische Platz genommen,
+so daß ich ihre kühle und strahlende Erscheinung
+mit Muße betrachten konnte. Der Schmelz,
+<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
+die Zeichnung der Brauen und des Ovals, die Augen,
+wie große, kostbare Edelsteine eingesetzt, waren die
+eines vollendeten Renaissancegesichtes. Man konnte
+sich kein typischeres denken. Ihr Lächeln beunruhigte.
+Und doch war sie so jung! Jugend hielt
+noch, wie die Staubfäden einer Blüte, Fesseln und
+Gelenke zusammen. Sie hatte sich erst ihres Schleiers
+entledigt, nun folgte der Hut. Sie legte ihn neben
+sich hin. Ihr Haar, mit unerhört raffinierter Schlichtheit
+getragen, umschmeichelte nur die Schläfen mit
+seinem Gold und ließ die Stirne frei, jetzt
+wandte sie den Kopf. Da aber kam ein platter Hinterkopf
+zum Vorschein, der Kopf der Viper, da woben
+schon unendlich leise Fäden an ihrer künftigen Häßlichkeit,
+und da kündete sich von fern der nach außen
+gerichtete, erinnerungslose Blick der Vierzigerin, ohne
+Rückwärtsschauen .&nbsp;.&nbsp;. Lange blieben die beiden
+nicht, stand doch die lange Fahrt noch aus, und
+mußte sie doch ruhen, bevor sie sich langsam wieder
+schmückte zum spätesten aller Diners. Nicht nur
+mit ihren Abendkleidern, auch durch spätes Erscheinen
+wetteiferten nämlich die Damen im Palace.
+Konnte auf der Welt etwas ordinäreres sein, als schon
+um neun zu Nacht zu essen? Und war dies nicht
+der Gipfel?
+</p>
+
+<p>
+Ihr Geliebter legte ihr jetzt den Umhang über, mit
+jener tiefen Ehrerbietung, die ein solcher Mann einer
+solchen Dame gegenüber, die solche Perlen mit in
+<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
+die liaison brachte, empfinden mußte. Auf seine
+Hand gestützt und von den Kindern des Dorfes umstaunt,
+schwang sie sich auf das Gefährt und griff
+in die Zügel.
+</p>
+
+<p>
+War es Einbildung? Hatte der Jammer des Krieges
+meine Augen geschärft? In dieser zarten und köstlichen
+Gestalt hatte ich deutlich den Brustkasten der
+Kindsmißhandlerin gesehen. Welch ein Scheinleben
+kutschierte da dahin? Das leichte Getrapp ihrer
+Pferde, dann das Echo ihres Getrappes hallte noch
+lange von den Felsen herüber.
+</p>
+
+<p>
+Was war es, das mich so feierlich stimmte?
+</p>
+
+<p>
+In den Gasthäusern und Hotels ging jetzt überall
+ein Klappern von Tellern und Bestecken los. Es
+wurde geläutet und gegongt, und wer nicht im Restaurant
+aß, der mußte sich bescheiden, vorgekochtes
+der Reihe nach zu essen; ein Zwang wie ein anderer.
+Da war es schöner, noch etwas zu streunen.
+</p>
+
+<p>
+Ein ungewöhnlich starker Mond stand in seiner
+ganzen Fülle; es wuchsen die Berge unter seinem
+Hauch, das Dorf erblaßte wunderbar, eine graue
+Bank ward ganz sie selbst. Die Funksprüche der
+sich bereitenden Nacht liefen wie toll alle Täler
+entlang, und schon waren alle Täler berauscht. Auf
+dem Platze hielt ein Gespann, die Gäule hielten die
+Köpfe gesenkt, als ob sie träumten. Ich lief hinzu.
+Es war die Post, die nach Maloja fuhr. Es gab noch
+einen Platz. Ich sprang hinein. Die Pferde zogen an.
+<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
+Bevor wir noch das Ufer erreichten, stieg ein Reisender
+aus. Außer mir blieb nur ein Liebespaar,
+das sich an den Händen hielt. Es war sich Mondschein
+genug.
+</p>
+
+<p>
+Den Kopf hinausgestreckt, trank ich diese Nacht,
+und hatte sie für mich allein. Nichts war mehr, wie
+es war. Der See lag im Silberschleier regungslos
+wie eine Tote, und der Mond goß Myrthensträuße
+über sie herab. Nur das Gras des Ufers
+erhob sich in gespenstiger Lebendigkeit. Sicher war
+es nur ein Spiel der Luft, daß die Berge hier zerfielen.
+Blöcke sich lösten, als sei die Welt zu Ende; Felsensäle
+bauten sich in die Klüfte ein, Riesengemächer
+warfen sich dazwischen. Es konnte nicht sein, und
+so sah die Welt nicht aus. Auch die Liebesleute
+waren anders wie zuvor. Dieser edle Pensieroso stieg
+als ein unscheinbarer Tourist in Sils Maria ein, und
+sie hatte weder dieses Haar, noch diese Lippen gehabt.
+Morgen würde hier die Sonne auf ödes Schilf vielleicht
+hinbrüten und das Paar nicht zu erkennen sein.
+</p>
+
+<p>
+Als um ein Uhr morgens der Wagen mitten in
+Maloja hielt, stieg es wortlos aus. Ich hatte kein
+Quartier bestellt und kam nicht unter. Außerhalb
+des Ortes lag noch ein Hotel. So marschierte ich
+jetzt allein die taghelle Straße weiter, geradeswegs auf
+einen neuen Absturz zu. Dort stand das Haus. Ein
+junges und verschlafenes Mädchen führte mich über
+manche Treppe hinauf: zufällig stünde das einzige
+<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
+Zimmer frei, das für Gäste reserviert blieb. Alle
+andern hielt während des Krieges die Militärbehörde
+in Beschlag. Die nächste Poststation sei italienisch.
+</p>
+
+<p>
+Sie reichte mir eine Petroleumlampe und verschwand.
+Die Stube hatte zwei Fenster und war
+schneeweiß. Ich warf den Kopf weit auf die mondbeschienenen
+Kissen zurück. So angelangt!
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Aber nicht lange, und der einsetzende Kampf
+zwischen dieser Mondnacht und der Dämmerung
+weckte mich aus dem Schlaf, Nebel mischten sich
+hinein und wollten alles für sich. Endlich ragten
+Tannenspitzen ins Leere; der Absturz war kein
+olympischer; eine Straße schwang sich, breite Kurven
+nehmend, in die Tiefe.
+</p>
+
+<p>
+Gedulde dich, Leser, auch dies Buch geht jäh zu
+Ende. Folge mir noch. Hoch steht schon die Sonne über
+das Bergland, ein anderes freilich als der vergangenen
+Nacht. Von ihrem Spiel erholt, verströmt der See
+sein Blau, nach allen Seiten, ganz verbuhlt. Myrthensträuße
+und Schleier sind vergessen und hängen als
+weiße Fäden im Gesträuch.
+</p>
+
+<p>
+Wie seltsam ist die innere Stimme in uns!
+Welcher Stachel hatte mich zu dem hart an der
+Schwelle des aufgerissenen Gebirges und kaum, daß
+es tagte, hinauf, hinab und wieder emporgetrieben,
+wo sich zu höchst der Wälder und noch in ihrer
+<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
+Mitte der See entzieht, verborgener Tränen zerflossener
+Kristall, ohne Kahn und ohne Erdenstaub;
+und dann wieder zurück in die Gaststube, um zu
+zahlen, und dann wieder aufzubrechen, mit der umgehängten
+Tasche und dem lächerlichen Hut, an der
+Waldseite des Sees den Weg einzuschlagen, den ich
+jetzt lief. Es war ein Notbehelf! Ich lief, um nicht
+zu tanzen. Denn ich war inmitten eines Festes.
+Umgeben und geborgen, als sollte die Gehobenheit
+nicht wieder von mir weichen, erreichte ich ein Dorf,
+das als Landzunge weit in den See hinausstieß und
+jenseits der Zeiten zu liegen schien. Eine alte Frau
+saß auf einer Bank vor ihrem Hause, und ich bat
+sie, mich drinnen ausruhen zu dürfen. Wir verstanden
+einander nicht, aber die Müdigkeit spricht ihre eigene
+Sprache zwischen Frauen. In einer Stube des Erdgeschosses,
+die durch ihre edle Sauberkeit den Eindruck
+des Luxus erweckte, stand eine schmale, gepolsterte
+Bank. Dort schlief ich auf der Stelle ein.
+</p>
+
+<p>
+Als ich erwachte, war der Tag noch hell, aber schon
+gebräunt vom Golde des Abends, und ich mußte
+eilen, um vor Anbruch der Dunkelheit in Sils zu sein.
+Auch für mein Herz ging jetzt die Sonne unter, und
+das Fest verklang. Von den Strapazen ausgeruht,
+war es zugleich, als sei mir durch den kräftigenden
+Schlaf, wie ein Alltagszwilch, ein gröberes Ich übergeworfen
+als das, welches seit gestern das meine
+gewesen war. Ob wohl mein Koffer eingetroffen sei,
+<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
+wo meine Brotkarte stecken konnte, wo ich absteigen
+sollte, derartiges beschäftigte mich wieder. Aber ich
+spreche von verloschenen Kronleuchtern, oh Leser,
+und du weißt noch nicht, warum sie brannten?
+</p>
+
+<p>
+Aber vielleicht hast du erfahren, daß es Träume
+gibt, deren Nachhall, statt zu verklingen, sich bleibend,
+wie ein Echo zwischen Klüften, in unserem Innern
+fängt. &mdash; Solcher Art war der durchdringende Ton
+der Mondnacht in Maloja.
+</p>
+
+<p>
+Es ist nicht gleich und nicht vergänglich, wie sich
+die Kurve eines Fußes, der Umriß einer Schulter
+anläßt, wie ein Knie sich rundet, wie eine Hüfte fällt.
+Es ist das Flüchtigste nicht gleich. Und ganz und
+gar nicht gleich, noch zufällig ist es, welchen Ganges
+wir den Hügel abwärtsgehen. Hochzeitlich können
+solche bald versenkten Dinge unverloren weiterschwingen.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Die Wolkenversammlung war noch immer nicht
+anberaumt; vielmehr vertiefte sich am nächsten
+Tage das weiß des Himmels und musizierte mit dem
+Himmelsblau über das Fextal, das bewegteste der Erde,
+auf und nieder schwingend wie eine Schaukel. Ragte,
+von unten gesehen, ein Kirchlein zu oberster Schneide
+für sich allein, so stand es, war man oben, ganz unsensationell
+in einem Wiesenviereck, und sein rostiges
+Gitter knarrte im Winde, und nur die Berge rückten
+verändert und entschlossener zusammen. Wieder in
+<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
+der Tiefe und weit hinausgeschoben, richtete ein
+Gasthaus seine Glasveranda dem Gletscher entgegen.
+Auf ihn ging ich jetzt zu. Doch mit dem Lichte
+wandelte sich mein Gemüt. Es brütete milchweiß
+von einem hohen, aber sich überziehenden Himmel.
+Hinter mir fuhr ein kleiner Wagen her. Darin saßen
+zwei Herren, die angeregt mit einer noch jungen
+Dame plauderten. Aber der Weg hörte bald auf, fahrbar
+zu sein, und ich verlor sie aus den Augen, graugrünes
+Nadelgehölz war um mich her und der entfärbte
+Fluß zu meinen Füßen. Stolperte ich jetzt
+und stürzte ich hinab, wer würde mich vermissen?
+In welchem Hause entstand eine Lücke, wenn ich
+nicht wiederkam?
+</p>
+
+<p>
+Kein Dach, kein Herd, kein Wesen; überall zu
+Gaste! keinem Menschen ungeteilt und wirklich
+zugehörig; als immer wiederkehrenden Gefährten
+die entsetzliche, gefürchtete Melancholie, die ich so
+feige, so vergeblich floh. Nun stellte sie mich angesichts
+dieses Tales der Verlassenheit. Wozu bist du
+hier? herrschte mich seine Stille an.
+</p>
+
+<p>
+Der sonnenlose Himmel über dem Nadelgehölz,
+mehr noch der Fluß, dem Gletscher hier entlassen,
+und seinen Lauf so blaß beginnend, griff ans Herz.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich stand die noch junge Dame vor mir und
+sprach mich bei meinem Namen an. Nun war stets
+meine erste Sorge, daß er in keine Hotelliste kam.
+&bdquo;Woher wissen Sie, wie ich heiße?&ldquo; fragte ich und
+<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
+wollte die Spröde spielen; aber da gab sie mir zu
+wissen, daß sie meine Bücher kenne. Sie lebte in
+Genf und war Amerikanerin. Wir wechselten einige
+Worte, dann stieg sie wieder hinab. Gleich darauf
+rollte das Wägelchen mühsam aufwärts, in dem die
+noch junge Dame mit ihren Freunden plauderte.
+Gewiß &mdash; man sah es ihr an &mdash; standen, wenn sie
+nach Hause kam, ihre Abendschuhe bereit, und ein
+freundliches, ihr ergebenes Zöfchen half ihr, sie
+anzulegen. Wie verwahrlost ich war!
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Als ich am Morgen darauf erwachte, lag weithin
+Schnee. Ich klingelte entsetzt. Der erste Postwagen
+brachte mich ans andere Ende des Tales, zum Zuge,
+und schnell in eine vom Winter noch nicht heimgesuchte
+Welt hinab, wo Zürich einer entbrannten
+Ebene zulief, die von der Glut des Sommers weiterträumte.
+Hier reißt der See ein weites Fenster nach
+dem Himmel auf: es ist die hellste Stadt der Welt.
+</p>
+
+<p>
+Aber von hier aus jagte mich eine dringende Depesche
+Fortunios fort, der mich bat, sofort nach
+Spiez zu kommen, mit dem Zusatz: &bdquo;Besitzer auf
+zwei Tage verreist.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+So war ich abends unterwegs zur Villa des Geölten,
+die ich nicht wieder zu betreten glaubte. Da war
+das Gitter, der Kiesweg, der sich so schnell verlor.
+Man sah das Haus erst, wenn man davor stand.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
+Fortunio aber war schwer krank. Verfallen, zerfurcht,
+zerwühlt. Wir aßen im Schloßhotel zur Nacht
+und besprachen die Abreise für den morgigen Tag.
+Ich fühlte meine Arme erstarken, in dem Wunsch,
+ihm zu helfen, und unser schier geisterhaft geschwisterlicher
+Bund war durch die Trennung neu erhellt.
+Am nächsten Tage aber lag er zerrüttet, ohne Energie.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Morgen, morgen&ldquo;, sagte er. Ich reiste ab, nach
+Bern, Fortunia zu alarmieren. Ihr Gesicht erinnerte
+an ein von schwerem Regen heimgesuchtes Land.
+Ohne Schonung schilderte ich seinen Zustand und
+ließ dann die Sache bei ihr. Um nicht in Bern zu
+bleiben, fuhr ich abends nach Montreux.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-2">
+HERBST 1918.
+</h3>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-3">
+Montreux.
+</h3>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">N</span>ur lachenden Auges werden hier die Zeitungen
+gekauft. Der Belgier und sein Kind waren ohne
+Schadenfreude. Die Filme arbeiten schon stark
+mit elsässischen Hauben. Sie werden lebhaft beklatscht,
+in der Voraussetzung, daß sie nicht mehr lange deutsch
+bleiben. Schließlich ein begreiflicher Jubel. Entsetzlich
+ist nur der Applaus, als englische Munitionskammern
+aufziehen, emsig mit Granatendrehen beschäftigte
+Frauen und Geschosse in unabsehbaren
+Reihen. &bdquo;Gehen wir!&ldquo; rufe ich, und wir verlassen
+das Haus. Süß schlagen die Wellen ans
+Land. Die Berge des andern Ufers erheben sich
+<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a>
+unmittelbar, als gründeten sie in den Tiefen des
+Sees. Sie sind kahl und scheinen dennoch weich,
+selbst im Dunkel der Nacht; wie Gesänge abgestuft,
+steigen und fallen und treten zurück und verhallen
+die Berge Savoyens.
+</p>
+
+<p class="dat">
+5. OKTOBER. Glasenfrosts in Villeneuve geben mir
+die Nachricht, daß Deutschland um einen Waffenstillstand
+nachgekommen ist: Mein einziger Wunsch
+ist, es möge die Welt, die es als Sieger verloren hatte,
+als Besiegter wieder für sich gewinnen. Die In-die-Knie-Zwinger
+Britanniens, die ohne Briey nicht leben
+konnten, sind mit einem Male still.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-4">
+6. OKTOBER bis Anfang NOVEMBER.
+</h3>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">F</span>ortunios sind angekommen, sie wohnen in Vevey,
+und er erholt sich. Zum ersten Male bildete sich unser
+Zusammensein als heller Punkt und geordnete Fläche
+heraus. Augenmerk und Sorge sind durch die Ereignisse
+zu sehr in Anspruch genommen, um uns bewußt zu
+werden, wie sehr es einem bekränzten Floß inmitten
+schwarzer und gestoßener Fluten glich; Und wie
+hätten wir da anders als in der Erinnerung wahrgenommen,
+daß wir schöne Tage verlebten?
+</p>
+
+<p>
+A. H. Pax ist aus Bern gekommen. Der Belgier
+und sein Kind finden sich regelmäßig ein.
+</p>
+
+<p>
+Dabei wütete die Grippe. Viele Särge harrten der
+Bestellung. In den Blumenläden häuften sich die
+<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a>
+Kränze, Halbgenesene, in tiefer Trauer, traten leichenblaß
+das erstemal vors Haus.
+</p>
+
+<p>
+Doch die Zärtlichkeit des Herbstes, seine Zärtlichkeit
+und sein Verweilen, seine Glorie ward unendlich.
+</p>
+
+<p>
+Eines Nachmittags strichen wir in den Höhen des
+Weinberges entlang. Unter einem silbern aufgerollten
+Himmel dehnte sich der See, schimmernd, unbewegt,
+ein wenig müde .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich, mit einem Ruck, fuhr der Wind weit
+und durchdringend auf, als stöhne er die ganze Erdkugel
+entlang das Ende der schönen Jahreszeit hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Im Nu schlugen die Wolken über die Sonne hin.
+Fortunio hatte den Kragen aufgesteckt, sein Hut
+rollte den Berg hinab. Wir lachten. Doch der Weg
+war weit. Schon wußte der See nichts mehr von
+seinen Ufern. Unter Nebelschauern waren alle Berge,
+ja wir selbst, unsichtbar.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Morgen war für jedes Kind ersichtlich,
+daß Fortunio die Grippe hatte, aber wir taten
+nicht dergleichen. Statt im freien, versammelten
+wir uns an seinem Lager. Man hielt es in jenen Tagen
+allein nicht aus. Bang und fröstelnd rückte man
+zusammen. Denn auf dem Streitroß, dessen Nüstern
+von Hoffart, Haß und Vergeltung sprühten, und wie
+ein Sturmgott kam ja der Friede heran. Wehe, es
+war jener Gewaltfriede, jener Macht- und Siegfriede,
+von dem in Deutschland so viel geredet worden war,
+<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a>
+und den abwehren zu wollen, den zu fürchten, als
+ein Verbrechen galt.
+</p>
+
+<p>
+Und indessen lösten sich in unserer kleinen Gruppe
+hineingetragene Dissonanzen weiter aus, und statt
+der chronischen Trübungen stimmten sich ganz ohne
+unser Zutun unsere Gemüter wie Instrumente zu
+täglicher, reinerer Melodie. Fortunias Gesicht glättete
+sich und erlangte seine Pinturichiotöne wieder, und
+während der Aufruhr stieg, bildeten wir eine uns selbst
+unvergeßlich gewordene Insel des Friedens.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Als sich die Sonne nach einer Regenwoche
+wieder zeigte, war die Welt eine andere. Das
+Renommierboot mit seinem rostbraunen Segel zog
+wieder auf, aber es blähte sich über ein gesteiftes
+und gepeitschtes Blau; die weißgeharnischten Berge
+waren näher gerückt, und wo das Laub noch grün
+geblieben war, hatte es ausgeträumt, hing ohne
+Illusion, des Todes gewärtig, und daß es fallen
+würde. Im Hotel spielte die Heizung, und ein von
+sich überzeugtes Ehepaar: le Vicomte Edmond de la
+Province, einem Roman von Claude de Bernard entlaufen:
+Madame korrekt bis ins Grab hinter der
+vorangetragenen Corsage, Monsieur im Bart, Schloßbesitzer,
+zogen schweigend über Flur und Treppe,
+und faszinierten durch ihre abgründige Zurückgebliebenheit.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a>
+Unsere Gruppe indessen hatte sich verkleinert.
+Erst war der Belgier und dann sein Kind erkrankt.
+A. H. Pax saß wieder in der Choisystraße. Das alte
+Deutschland stürzte wie eine Kulisse zusammen, und
+Trümmer waren fürs erste der einzige Ausblick.
+Fortunio, von Ungeduld verzehrt, erklärte aufstehen
+und nach Berlin reisen zu wollen. Fortunia fuhr
+nach Bern, das Haus für die Abwesenheit zu bestellen,
+und ich folgte mit ihm den Morgen darauf. Wir saßen
+einander im Zuge gegenüber, sein Husten war ein
+Gebell. Am selben Nachmittage brachten wir Fortunios
+mit Pax an der Spitze, zur Bahn und ließen sie, wie
+Flammen über das Moor, ins Weglose ziehen. Denn
+schon fluteten die aufgelösten Heere in unbeschreiblicher
+Verwirrung aus den besetzten Gebieten ins
+Land zurück. Die Lauben hinabsehend, unschlüssig
+wo ich absteigen sollte, versagten mir plötzlich die
+Knie, Fröste wie graue Blitze durchfuhren mich,
+und mein Husten war ein Gebell. Diese nicht zu
+verkennenden Symptome jagten mich wieder an die
+Station, um mit dem letzten Zuge nach Montreux
+zurückzufahren. Denn lieber, als angesichts des Gurten
+wollte ich dort erkranken, wo im Hotel Suisse als
+chefesse de réception eine so angenehme Erscheinung
+waltete, und ich den Nachtportier zum Freund besaß,
+ein komischer, alter Schwabe, den ich deutsch ansprach,
+sowie der Lift ohne Insassen und in der
+Schwebe war.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a>
+Nun war es Sonntag. Das heiße Wasser also lief.
+Vielleicht vertrieb mir eine heiße Dusche den Frost.
+Aber das Wasser war schon lau. Dafür gerieten die
+grauen Zickzackblitze in Brand und drückten mir
+eine Feuermütze ins Genick. Da ließ ich mich denn
+grippekrank melden und stellte anheim, mich aus
+dem Hause zu schaffen. Aber die angenehme Erscheinung
+aus dem Bureau kam herauf, mich zu
+beruhigen. Dann äußerte sie einige unverständliche
+Dinge und verschwand. Bald darauf trat ein Mann
+herein, den ich für einen Raubmörder hielt, gefolgt
+von einem fürchterlichen und handfesten Weib ohne
+Kopf, seiner Helfershelferin. Ich wollte rufen, da
+hatten sie mich schon gepackt. Jetzt, dachte ich, ist
+doch alles eins.
+</p>
+
+<p>
+Eine Stunde später lag ich mit aufgerissenem
+Rücken, geschröpft wie ein Hengst. Ich erzähle dies
+nur, weil ich dank dieser so immediaten und buchstäblichen
+Roßkur schon nach zehn Tagen, statt
+vielleicht nach Wochen, die Grippe spurlos überwand.
+</p>
+
+<p>
+Mittlerweile erdröhnte dem so glücklich gewesenen
+Deutschland die im Lauf seiner Geschichte noch
+immer zurückgekehrte Stunde seines Unheils. Es
+war der eine Gedanke meiner leeren Tage und langen
+Nächte; ihn auszuschlagen war unmöglich.
+</p>
+
+<p>
+Im ersten Stadium meines Fiebers fiel mir an dem
+Stubenmädchen, das hin und wieder in mein Zimmer
+trat, nichts bemerkenswertes auf, als daß sie mir
+<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a>
+sehr einsilbig und nicht freundlich vorkam. Pech!
+dachte ich.
+</p>
+
+<p>
+Am dritten Morgen aber, als sie das Zimmer
+räumte, folgte ich ihr mit den Augen, während sie
+wähnte, daß ich schlief, und das Herz stand mir still.
+Hermione! wollte ich rufen. Nein, Andromache
+im Palast des Priamus, ob ihrer Anmut erstaunt, und
+der leichteste aller Tanagra zugleich! So stand sie,
+den Besen führend, in der Mitte des Zimmers. War
+ich im Delirium gelegen, daß ich sie nicht gesehen
+hatte? Sie kam auf mich zu: &bdquo;êtes-vous plus mal?&ldquo;
+Aber ich wehrte ihr mit beiden Händen ab. &bdquo;Cela
+m&rsquo;est égal&ldquo;, sagte sie, &bdquo;de prendre la grippe.&ldquo; Was
+war melodischer, dieser Mund, diese Lippen oder
+diese Stimme? &mdash; Und ein solches Geschöpf umgab
+mich mit ihrer Pflege. Welch unerhörter Luxus!
+Die Sonne ging vor meinem Fenster auf, alles Leben
+im Geleite, und lachte des Todes bis zum Mittag.
+Pauline Glasenfrost kam täglich aus Villeneuve,
+brachte die Zeitungen, beschenkte mich und spottete
+der Ansteckung. Knirschend las ich alle Noten und
+Appelle an die Großmut der Sieger. Welche Verkennung
+der Situation! Aber was bedeutete dieses
+Versagen angesichts der Würde, welche ein solches
+Unglück gab? Und wiederum würden nur die Unschuldigen
+leiden. Die Taktik der Sieger würde es
+den Schuldigen ermöglichen, sich herauszureden.
+Schon damals sah man es kommen. &mdash; Ich läutete
+<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a>
+und bat Hermione, mir von sich zu erzählen. Sie
+stammte aus dem Wadtlande. Ihre Heimat lag hoch
+über den Weinbergen und hatte die Gletscher im
+Auge. Ich bat sie, einen hellen Mantel von mir anzulegen.
+Wie er ihr stand!
+</p>
+
+<p class="dat">
+8. NOVEMBER. Bevor mein Freund, der Nachtportier,
+zur Ruhe ging, brachte er noch die erste
+Post. An diesem Morgen trat er ein, reichte mir ein
+Extrablatt und verkündete lakonisch: &bdquo;In Bayern
+ist Republik.&ldquo; Mein erstes Gefühl war kein gelinder
+Schrecken. &bdquo;Es mußte kommen&ldquo;, sagte ich dann.
+Der Portier war Demokrat. &bdquo;&rsquo;s isch recht. Runter
+mit dem Zeug&ldquo;, sagte er und ging. &mdash; So war also
+Bayern Republik. Das Extrablatt war nur ein
+kurzer Wisch; eins aber wußte man sofort: daß
+dieser so wenig ästhetische König nie wiederkehren
+würde. Die Wittelsbacher waren stets Liebhaber
+des Schönen gewesen, und in ihrer natürlichen
+Diskretion eines der sympathischsten Fürstenhäuser
+der Welt. Daß er aber auch nicht eine einzige
+ihrer typischen Eigenschaften besaß, sondern durch eine
+sture Haltung während des Krieges, sowohl in der
+elsaß-lothringischen, wie in allen politischen Fragen
+statt vermittelnd zu wirken, überall nur Unheil anrichtete,
+flößte die geradezu unwiderstehliche Abneigung
+für ihn ein.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich blieben Briefe und Zeitungen ganz aus,
+<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a>
+und die Spannung wurde unerträglich. Es wehte
+eine scharfe Bise, doch ich fuhr nach Villeneuve.
+Vielleicht hatten Glasenfrosts etwas gehört. Sie
+waren von den rührend beseelten Manifesten Eisners
+sehr eingenommen, und wirklich hatte man in diesen
+Tagen die Illusion, am Anfange einer besseren Zeit
+zu stehen, ob es sich auch nur um eine einzige, schnell
+aufgehaltene Stunde handeln sollte. Und nicht einmal
+ihr ließ man Zeit. &bdquo;Man verlange von uns nicht,&ldquo;
+beeilte sich die die Politik Clemenceaus vertretende
+Freie Zeitung zu schreiben, &bdquo;daß wir uns mit dieser
+Sache da, genannt deutsche Revolution, ernstlich
+befassen.&ldquo; Und man eiferte um die Wette, sie zu
+&bdquo;dieser Sache da&ldquo; zu machen. Sie hatte es schwer,
+alle Konjunkturen dafür um so leichter. Schon war
+sie wie eine Decke, um deren Enden sich die Schuldigen,
+die Unlauteren, die Banditen rissen, und alle
+Karrierejäger gerieten wieder ins Laufen. Wer hätte
+gedacht, daß alle die dienstbeflissenen jungen Herren,
+die mit umgeschnallter Seitentasche so flink und so
+stramm ins Hauptquartier Meldungen überbrachten
+und entgegennahmen, überglücklich, bis zu Ludendorff
+in Person vordringen zu dürfen, daß sie im
+Grunde ihres Herzens solche Feinde des Systems
+und so demokratisch waren? Nie sah die Welt ein
+vom alten Regime so gut besuchtes nouveau régime!
+</p>
+
+<p>
+Suchte man im eigenen Garten das scheue Pflänzchen,
+das mitten im Sturme Morgenluft witterte,
+<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a>
+von allen Seiten an beliebige Stakete zu biegen, und
+sah es das Ausland mit begreiflichem Mißtrauen
+keimen, so erfuhr man in der Schweiz infolge des
+gerade in diesen Tagen einsetzenden Generalstreikes
+überhaupt nichts davon: er stand allein im Vordergrund
+und beschäftigte alle Gemüter. So wurde
+hier, gerade in ihrer kurzen Glanzzeit, die deutsche
+Revolution unterschlagen.
+</p>
+
+<p>
+In jenen aufregenden Wochen kam ich wieder mit
+Romain Rolland zusammen. Mehr als je zeigte er
+sich jetzt als der Mann ohne Illusion, was Wilson,
+ob er auch dessen guten Willen nicht in Frage stellte,
+und was die Entwicklung der Dinge betraf. Ich
+fand ihn viel zu skeptisch.
+</p>
+
+<p>
+Im selben Hotel, wie Glasenfrosts und Rolland,
+wohnte auch eine Schweizer Familie, die sich sehr
+für ihn interessierte, durch seine große Zurückhaltung
+aber in Schach gehalten fühlte. Eines Mittags, da ich
+bei ihr zu Gaste war, bat ich ihn, ein übriges zu
+tun, und sich zu uns zu gesellen.
+</p>
+
+<p>
+Ich sehe ihn so deutlich vor mir, wie er an jenem
+Tage, seine alte Mutter am Arme führend, in seiner
+ruhigen und ein wenig geheimnisvollen Art zu uns
+stieß. Das Gespräch drehte sich natürlich um den
+Generalstreik und dann um den Bolschewismus; für
+die Westschweiz hätte man zum Glück ein treffendes
+Agitationsmittel gegen ihn, da er deutscher Import
+sei. Rolland schwieg.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a>
+&bdquo;Der hat der Welt gerade noch gefehlt&ldquo;, sagte
+ich, und sah einladend zu ihm hinüber, damit er
+sich äußere. Vergebens. Er erwiderte nur auf direkte
+Anfragen und ohne eine Meinung abzugeben. So
+sprachen halt in Gottes Namen nur wir. Ich ging
+dann zu Glasenfrosts hinüber und schilderte das
+mißglückte Beisammensein, bei dem ich zuletzt als
+verzweifelte Wortführerin die Grippe, die Witterung
+und endlich die Tatsache erörtert hatte, daß jede
+Stadt, ja jeder Ort ein anderes Modell für seine
+Leichenwagen besäße. Aber auch diese originelle
+Wendung fiel unter den Tisch.
+</p>
+
+<p>
+Es hatten Regenschauer eingesetzt, und Glasenfrosts
+hielten mich noch eine Weile zurück. Wir
+waren uns in diesen Tagen noch sehr einig, und er
+hielt sich bereit, nach München zu fahren und Eisner
+bei Seite zu stehen. Vielleicht hatte doch die Geburtsstunde
+des tausendjährigen Reiches geschlagen, und
+die Gefallenen waren nicht umsonst an seiner Schwelle
+geblieben. Waren sie nicht schon ein einziges Heer?
+</p>
+
+<p>
+Aber Rollands rätselhafte Haltung ließ mir keine
+Ruh, und als ich endlich aufbrach und die langen,
+klosterähnlichen Gänge des Hotels entlangging, machte
+ich plötzlich kehrt und klopfte, ohne mich zu besinnen,
+an seine Türe. Es war ein kleines Durchgangszimmer,
+mit einem bescheidenen Pianino, auf
+dem sich Musikalien häuften. Rolland stand in Hut
+und Mantel, im Begriffe auszugehen, und sah mich
+<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a>
+erstaunt an. &bdquo;Es tut mir sehr leid,&ldquo; sagte ich, &bdquo;Sie
+so zu überfallen. Aber ich möchte wissen, was Sie
+eigentlich denken. Sie schweigen sich aus, Sie lächeln
+ein wenig hämisch, und das ist alles. Wer soll da klug
+daraus werden? &mdash; Ich frage Sie nicht aus Neugier.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Rolland legte seinen Hut auf das Klavier.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie sind so ahnungslos,&ldquo; sagte er, &bdquo;Sie wissen so
+wenig, was sich bereitet.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Aber doch nicht der Bolschewismus&ldquo;, rief ich.
+&bdquo;Das ist doch nicht Ihr Ernst! Und Sie sind doch
+kein Bolschewik.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Nein,&ldquo; sagte er, &bdquo;aber ich habe nicht Ihre summarische
+Auffassung des Problems.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das neuerwachte Deutschland&ldquo;, sagte ich, &bdquo;wird
+die Welt davor retten.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Rollands Züge nahmen einen müden Ausdruck an.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich bin voll guten Mutes&ldquo;, fuhr ich fort. &bdquo;Haben
+Sie die letzten Aufrufe gelesen? Diese Absage an
+jegliche Gewalt? Eine neue Ära hat ihren Anfang
+genommen. Wir haben unseren Militarismus zum
+Teufel gejagt. Endlich schlägt die Stunde, wo man
+sich angesichts eines wahren, befreiten und sympathischen
+Deutschlands auch seiner unsäglichen
+Leiden entsinnen wird.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Kommen Sie,&ldquo; lächelte Rolland, &bdquo;welches Interesse
+haben heute die Sieger an einem sympathischen
+Deutschland?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a>
+&bdquo;Aber nicht nur die Sieger&ldquo;, versicherte ich. &bdquo;Die
+ganze Welt hat ein Interesse daran, daß die deutsche
+Revolution aus den Verirrungen der französischen wie
+der russischen lerne und endlich jene vorbildliche
+und maßvolle sei, welche die Menschheit ihrem
+Glücke näherbringt. Und alle Anzeichen sprechen
+dafür: Hören Sie doch, mit welch reinen Glockentönen
+sie sich kündet. Oh sie wird schön!&ldquo; Rolland
+lächelte nicht mehr. &bdquo;Sie wird furchtbar!&ldquo; sagte er.
+&bdquo;Morgen schon wird Eisner sich überrannt sehen
+und seine Gegner zu beiden Seiten haben. Der
+Bolschewismus ist in Rußland nicht nur durch die
+Stoßkraft der Linken, sondern mehr noch durch den
+Gegendruck der Rechten das geworden, was er heute
+ist. Man kann die Deutschen nicht genug verwarnen.
+Wenn auch bei ihnen die Reaktion eine Bewegung
+zu unterdrücken unternimmt, die wie ein ausgetretener
+Strom heranbricht, so werden sie ganz ähnliche
+Zustände herbeiführen. Es ist absurd, seiner
+elementaren Gewalt morsche Dämme entgegenzustellen,
+statt sich seinem Lauf anzupassen, und was
+er lebendiges heranträgt, zu vertreten. Unsere
+Gesellschaft hat ihre Berechtigung gehabt, aber sie
+hat versagt, und ihre Zeit ist um. Mögen wir es noch
+so sehr bedauern, mag viel Schönes mit ihr untergehen,
+die Reihe ist nicht mehr an uns, sondern an
+den anderen. Nichts kann diese Tatsache aus der
+Welt schaffen. Wir müssen uns zu ihr stellen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a>
+&bdquo;Sollen wir denn alle Holzhacker werden?&ldquo; fragte
+ich betreten.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Der Typ des Literaten,&ldquo; entgegnete Rolland, &bdquo;dem
+wir seit einigen Dezennien so vielfach begegnen, wird
+jedenfalls verschwinden, und ich weine ihm nicht
+nach. Ein Gespräch mit nach Bildung strebenden
+Handwerkern ist mir heute schon viel genußreicher
+und interessanter. Was der Literat mir sagen wird,
+weiß ich von vornherein.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Mein Gott,&ldquo; seufzte ich, &bdquo;es pflegen nicht einmal
+die Könige freiwillig abzutreten, viel weniger
+ganze Kasten. Sie werden den Kampf aufnehmen
+und uns eine blutige Morgenröte bescheren. Was
+ist zu hoffen?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Nichts für die Gegenwart, sie ist zu korrupt&ldquo;,
+sagte er. &bdquo;Aber alles für die Zukunft. Ich bin kein
+Pessimist.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Rollands Worte, die ich auf dem Heimweg überdachte,
+waren viel reichhaltiger und prägnanter, als
+ich sie hier aus dem Gedächtnis wiedergebe. Wenn
+aber eine neue Klasse zur Herrschaft gelangte, würde
+sie weniger versagen, als alle anderen, und war anzunehmen,
+daß ohne furchtbare Erschütterungen die
+frühere Gewalt sich von der neuen aus dem Sattel
+heben ließe und etwa mit Rolland eingestehen würde,
+&bdquo;ihre Zeit sei um?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Meine Eindrücke von St. Moritz schwebten mir
+vor, und ich dachte an Hermione, wie edel sie war.
+<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a>
+Aber war nicht alles erlesene prozentual? Was
+also stand von den Massen zu gewärtigen? Die
+Macht selbst mußte abwirtschaften und sich auf
+neuer Basis konsolidieren. War nicht allem Anschein
+nach die Ära der schlechten Päpste geschlossen,
+weil sie verhältnismäßig machtlos geworden waren?
+Anderseits hätte der Papst die Rolle Wilsons mit mehr
+Glück, mehr Einblick in die europäischen Verhältnisse
+übernehmen können, wäre er so mächtig gewesen
+wie er. Macht also war und blieb die Losung. Eine
+Macht jedoch, die keine Lockung dem Gemeinen
+böte, ganz auf Erprobung ihrer Träger begründet,
+ohne Vorteile für ihn, ohne Befriedigung des Ehrgeizes,
+anonym vielmehr, Verzicht und Selbstentäußerung
+bedingend, als Stein des Weisen der Weise
+selbst. Oh Zarastro, Herr der weltabgewandten,
+namenlosen Gewalt!
+</p>
+
+<p>
+Schwer und langwierig, immer wieder aufgehalten
+und die Anspannung von Generationen erfordernd,
+aber nicht unmöglicher als die endlich geglückte
+Beherrschung der Luft, wäre die gleichsam auf immer
+luftigeren Pfeilern emporgehobene, in sich selbst
+beruhende Macht.
+</p>
+
+<p>
+Ich ging, vom Winde förmlich vorangetragen, den
+Weg nach Montreux. Die Wellen zogen in finsteren
+Reihen zum Angriff, und war dort nicht die Weide
+von Territet, sie, die im Frühling in den Schleiern
+ihres jungen Grüns vor Entzücken über sich selbst
+<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a>
+zerfloß? Nun aber schlug der See mit großem Getöse
+bis zu ihnen auf, die müde niederhingen bis zu ihm;
+Und dort hinter seinem Gatter hatte angesichts der
+Ufer ein Tulpenbeet geblüht. Die stillsten aller
+Blumen standen dort so sanft und so gerade! oh Weide
+von Territet! Oh stille Tulpen, mit denen ich gewesen
+war! Was blieb ich am Gitter hängen, die
+Hände an die Schläfen gepreßt, der Knecht mit dem
+Talent des einzigen Gedankens? Törichte Hoffnungen
+hatten mich schon wieder hingerissen, denn
+der Winter unserer Leiden stand noch aus. Der
+Stein aber, mit dem ich mich schleppe, zermalmt
+mir das Hirn. Wer legt das Fundament des sich
+immer schroffer nach innen ziehenden Baues, mit
+den immer abweisender sich schließenden immer
+geheimeren Pforten, durch keine andere Gewalt zu
+sprengen, als jene, welche der Himmel leidet.
+</p>
+
+<p>
+Die Theorie einer immer strengeren Auslese &mdash;
+der Natur selber entnommen &mdash;, weit entfernt, eine
+hochfahrende zu sein, ist ja die demütigste der Welt.
+Keine führt so tief in unser Inneres hinab, um aufs
+neue dasselbe Schauspiel wie nach außen zu enthüllen.
+Denn hier sieht sich der Berufene noch einmal
+einem ganz ähnlichen Kampfe überwiesen. Wie
+unbegreiflich sind oft seine Schwächen! ebensovielen
+untergeordneten Wesen vergleichbar sind sie gegen
+ihn in Aufruhr und sind beständig die Schlingen
+gelegt. Daß der Gerechte siebenmal des Tages fällt,
+<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a>
+konnte nur ein Gerechter äußern. Zwar ist sein
+Merkmal, sich immer wieder aufzurichten und einzuholen.
+Aber jedes versagen läßt an Boden verlieren,
+die Gelegenheiten sind gezählt, und eines
+Tages ist man hinter sich zurückgeblieben. Keiner
+ist auserwählt, der sich nicht durch eigene Kraft
+dazu vermochte. Berufener und Auserwählter, wie
+gefährdet sind beide! Denn so manchen, der seinen
+behielt, stürzte ein Laster von seiner Höhe.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Und nun kam ein Tag, an dem Montreux, bunt
+wie ein Jahrmarkt, den tollsten Anblick bot, seitdem
+es stand. Alle Länder der Erde &mdash; bis auf die paar
+niedergerungenen &mdash; beflaggten das Ende des Krieges.
+Und nicht nur an den Dächern und von den Fenstern,
+den Mauern und Toren, sogar an den Menschen
+selbst schlugen Fahnen hin und her; von den Jacken,
+den Hüten, ja den Händen der Kinder zogen Fähnchen
+auf. Schon sprangen die internierten Offiziere
+mit sehr deutlicher Siegermiene (kannte man die
+nicht von Potsdam her?) von den Autos ab. Es war
+ein allgemeiner Jubel, von Hohn und Verwünschungen
+untermischt. Wer diesen Tag hier erleben mußte,
+der erwartete nichts. Dem kündete sich der Geist
+des Friedens von Versailles und Saint Germain.
+Das jubelnde Gewoge, die Saturnalien von Fahnen
+raubte mir die Fassung. Ich lief meinen hervorbrechenden
+<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a>
+Tränen davon, die Häuser entlang,
+am Bureau des Hotels vorbei, in mein Zimmer
+hinauf, wo ich mir den Schleier vom Gesicht riß:
+ein Klageweib! &mdash; Prophetin meines eigenen Schicksals,
+als ich zu Anfang dieses Krieges schrieb: &bdquo;Leute
+wie wir, werden am Tage des Sieges sich verkriechen
+müssen, denn immer wird es Jerusalem und seine
+Kinder sein, um die wir weinen werden.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Hungerblockade blieb von den Siegern, die für
+Recht und Menschlichkeit gekämpft hatten, über den
+erdrückten Gegner, auch nach Einstellung der Feindseligkeiten,
+verhängt. Und es lag, wie Rolland mir vorhergesagt
+hatte, nicht im Interesse der Sieger, die edle
+und gepeinigte Opposition in Deutschland zu stützen.
+Eine unsympathische Regierung als Aushängeschild
+des deutschen Volkes aufrechtzuerhalten, gehörte vielmehr
+zu den strategischen Notwendigkeiten dieses
+Winters der Friedenspräliminarien von Versailles. Da
+ich kein Kriegsbuch schreibe, seien die nächsten
+Monate überschlagen.
+</p>
+
+<p>
+Während dieser Zeit fuhren die Militaristen aller
+Länder fort, sich wacker in die Hände zu arbeiten,
+und über jede Härte und Unmenschlichkeit der
+Alliierten triumphierten die Anstifter der Verwüstungen
+und Deportationen. Denn so kam doch ihre Mühle
+wieder ins klappern, und das Wort von der &bdquo;erdolchten
+Front&ldquo; schnupperte aushorchend in der Luft. Damals
+wurde ich aufgefordert, so manchen ganz vergeblichen
+<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a>
+und würdelosen Appell zu unterzeichnen,
+mit dem Hinweise, früher hätte ich zu protestieren
+gewußt, jetzt, wo die Untaten von der andern
+Seite geschähen, schwiege ich mich aus. Ich zog
+es aber vor, auch hier meine Kundgebung solo zu
+verfassen; sie erschien in der Neuen Zürcher
+Zeitung.
+</p>
+
+<p>
+Denn sie hatten ja recht: es galt zu sagen, daß diese
+ganze Welt ununterschiedlich des Teufels war. Traurig
+stimmte es nur, daß all die Mahnrufe und das viele
+Aufbegehren aus den Reihen derer stammten, die
+vielfach kein Recht dazu besaßen, während sie schwiegen,
+die wirklich Unschuldigen, abscheulich in Stich
+gelassenen, Betrogenen, die während des Krieges auf
+Gefahr ihres Lebens ungenannt und langen Mutes
+vor Gottes Angesicht das wahre Deutschtum vertraten.
+</p>
+
+<p>
+In der Opposition entdeckten sie jetzt alle ihr Herz.
+Mit welch herrlichem Gefühl und welch aufrichtendem
+Stolze stand Heinrich Mann der Republik
+zu Pate! dort riß nicht ein einziger aus; bei dem
+vielverfolgten Lichnowsky, laut des Friedensvertrages
+tschechisch gewordenen Magnaten, angefangen,
+der sich als Deutscher erklärte; was ich wirklich
+nicht erwähnen würde, hätten nicht so viele Patrioten
+aus ihren Papieren fremdländische Patente herausgeklügelt
+und sich mit einem Male als Schweden,
+Schweizer, Holländer, sogar als Engländer präsentiert.
+<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a>
+Die beste Illustration für den Nationalismus,
+die es geben kann.
+</p>
+
+<p>
+Jenes Wort, welches mir seinerzeit so verübelt
+wurde, daß es Boches in jedem Lande gäbe, sollte
+sich übrigens nur zu sehr bewahrheiten. Jeder Militarist,
+gleichviel welcher Staatsangehörigkeit, ist ein
+Boche. Und wenn er Schimpanse zu Aufsehern eines
+Volkes bestellte, das der Welt einen Grünwald geschenkt
+hat, so wäre er eben ein Boche; jener Grünwald
+aber, ob er sich ihn noch so oft holte, ei, der
+bleibt deutsch.
+</p>
+
+<p>
+Als ich um die Blütezeit zum ersten Male
+wieder das deutsche Ufer des Bodensees sah,
+war ich von der Pracht seiner Bäume bewegt. Diese
+wenigstens konnten dem armen und geschlagenen
+Lande nicht genommen werden. &mdash; Und diese eben
+hatte es dem andern mit großer Genugtuung meilenweit
+abgehackt. Es ist ja das typische Merkmal des
+Militaristen, zu glauben, daß er den andern trifft,
+wo er sich selber entehrt.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-5">
+FEBRUAR 1919.
+</h3>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">M</span>it dem Berner Internationalen Sozialistenkongreß,
+dem seit August 1914 einzigen Ereignis von wahrhaftem
+Sein, das mitzuerleben mir vergönnt war,
+schließt dieses Buch.
+</p>
+
+<p>
+Hoch über den Bernina-Alpen und dem Julier
+türmten sich die Wolken zu goldenen Toren und
+<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a>
+zu glühenden Rossen. Phaeton, wieder erstanden,
+lenkte sie wieder, die italische Ebene im Angesicht.
+Die Spuren der Räder, waren sie nicht der
+Rauch, der am Himmel verflog, während nach Norden
+hin das Gebirge zu Tod erblaßte? Auch der nach
+Süden gerichtete Wald starrte unter der Last des
+Schnees. Doch die Luft wehte so befiedert leicht
+über ihn hin, und es herrschte ein Licht wie über
+Palmen. Man hatte Glatteis unter den Füßen und
+war dem Winter entronnen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Fortunios Gesicht war wie zerhöhlt von
+Ungeduld. &bdquo;Haase ist schon in Bern,&ldquo; sagte er, &bdquo;der
+Kongreß ist im Gang. Wir müssen hinab.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Da es der erste war, dem ich beiwohnen sollte, verband
+ich weiter keine Vorstellung mit ihm, als die
+mehr oder minder langweiliger Reden, und ohne
+sonderliche Erwartungen betrat ich zum ersten Male
+den Saal. Kein Delegierter aber drängte von nun
+an eiliger zu ihm zurück. Oft war er in der Mittagspause
+noch geschlossen, als ich schon davor wartete.
+</p>
+
+<p>
+Zu den Morgensitzungen ging Frau v. Schreckenburg
+mit mir. Nachmittags saß ich am Tische mit
+Fortunios, vor uns die Franzosen. Da waren Renaudel,
+Cachin, Longuet, Rappaport, Loriot, Faure, dann
+kam der englische Tisch mit Henderson, Macdonald,
+Norman Angel. Von dort leuchtete das leichte Gold
+von Mrs. Snowdens Haar. Sie trug keinen Hut.
+Der schöne, zarte und energische Kopf war der Lichtpunkt
+<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a>
+des Hauses. Die Deutschen und Österreicher
+saßen ganz vorn, zu weit entfernt, um sie zu unterscheiden,
+es sei denn, daß sie sich erhoben.
+</p>
+
+<p>
+Bleich, abgezehrt, den schmalen und ehrwürdigen
+Kopf ein wenig seitwärts, stahl sich im fahlen Schein
+des Wintervormittags der, eben von der Bahn gekommene
+Eduard Bernstein bescheiden herein. Die
+französischen Sozialisten sahen ihn zuerst, eilten auf
+ihn zu und begrüßten ihn stürmisch. Daraufhin
+erhob sich der ganze Saal zu einer Ovation. Wie frohlockte
+da mein undemokratisches Herz!
+</p>
+
+<p>
+Als Viktor Adler auf das Podium trat, gaben
+wiederum die Franzosen das Zeichen zu einem lang
+andauernden Applaus. Adler war der Motor des
+Kongresses. Unerbittlich die Mitte einhaltend, wies
+er jede Parteilichkeit schroff zurück, von welcher Seite
+sie auch stammte; ihm war das gleich. Sein blasser
+Löwenkopf tauchte dann zum Angriff auf: &bdquo;Un homme
+politique, mais pas de bonne politique&ldquo;, forderte er
+Renaudel heraus. Seine Stimme klang wie Erz. Aber
+allen Differenzen, Vorwürfen, Ausreden, Angriffen zum
+Trotz fing eine Einigkeit sich herauszuschweißen an,
+und wie unter einem glühenden Hammer stoben Funken
+zu einer Garbe auf. Haß schmolz zu Mitgefühl. &mdash;
+Zwar wurde jenen deutschen Delegierten, welche die
+Politik ihres Landes zu verteidigen suchten, prompt
+die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens zu
+Gemüte geführt, stellten aber dann ihre Angreifer
+<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a>
+den deutschen Militarismus immer wieder allein an
+den Pranger, so wurden sie regelmäßig von Zwischenrufen
+wie: &bdquo;Et le militarisme français! et le nôtre!
+et tous les militarismes!&ldquo; von der französischen Linken
+unterbrochen.
+</p>
+
+<p>
+Überhaupt war dieser französische Block der beste,
+der wärmste. Von ihm ging das Unbehagen aus, wenn
+ausschließlich das deutsche Sündenregister stieg. Scheu,
+Zartgefühl, Respekt (ja Respekt!) vor dem Geschlagenen
+(weil geschlagen), sie stammten von dort. Und schon
+gärte die Atmosphäre wie ein starker Wein. Klug wie
+ein Erzengel ließ der hochaufgerichtete Huysmans
+mit dem schönen Donatellokopf bei den Reden,
+die er französisch und englisch übersetzte, alles Unwesentliche
+fallen. Oft waren sie lebendiger als im
+Original. Behender löst kein Eichkätzchen die Haselnuß
+aus ihrer Schale.
+</p>
+
+<p>
+Ach, so viele gute Menschen waren hier! Unbeweglich,
+als wäre er nur eine Zimmerpalme, hielt sich
+unser aller A. H. Pax im Hintergrund; und wie
+Kerzenlicht im Mittagsscheine tauchte bald hier, bald
+dort Fortunio unauffällig auf.
+</p>
+
+<p>
+Hin und wieder kam in Frack und weißer Binde,
+pour finir sa soirée, ein Attaché gegangen und wirkte
+in dieser so weit vorgreifenden Luft wie eine Varieténummer
+aus einer veralteten und komisch gewordenen
+Welt. Der eine oder andere blieb gebannt, und die
+Geschniegeltheit fiel von ihm ab.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a>
+Die Fürstin Patschouli aber war sehr ungehalten,
+was sie nicht hinderte, mir zwischen zwei Sitzungen
+ihren stärkenden Kaffee zu brauen. Sie wollte wissen,
+wer mich denn so interessierte. Ich nannte einige.
+&bdquo;Quels noms!&ldquo; sagte sie, zum Himmel emporblickend.
+</p>
+
+<p>
+Als Partei interessierte mich ja der Sozialismus so
+wenig wie jede andere. Aber das Ergebnis der kapitalistischen
+Ära war ein wirrer Knäuel ineinander
+verbissener Verbrecher, und es war eine Welt, welche
+der Sozialismus jedenfalls nicht bereiten half. Er hatte
+keinen Teil an ihr. Deshalb nur gab es keine andere
+Brücke als ihn, denn er war nur ein Weg, der weiterführt,
+indem er zurückgelegt und überwunden wird,
+niemals ein Ziel.
+</p>
+
+<p>
+Woher kam es aber, daß er, der angeblich auf rein
+materialistischer Grundlage beruhte, er allein unter
+allen Parteien, ohne Anstoß zu erregen, christliche
+Gleichnisse anführen durfte. Warum, statt Schamröte
+in die Stirn zu treiben, war es so rührend, wenn
+der geistvolle Longuet, der auf dem Podium auf und
+ab zu gehen pflegte, während er sprach, ein Zitat aus
+den Evangelien gebrauchte, oder wenn Mrs. Snowden
+eine Rede mit den Worten schloß: denn wir sind
+Brüder?
+</p>
+
+<p>
+Nach ein paar Tagen kannten wir einander fast alle.
+Einmal fielen wir an eine Tafel aus im geschlossenen
+Raum; eine unbändige Heiterkeit bemächtigte sich
+unser, aber wir blieben sitzen. Ich spielte mich auf
+<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a>
+die Wirtin auf und machte die Tischordnung, als sei
+das Essen von mir, A. H. Pax vermißte die Schnäpse,
+und wir kamen nicht aus dem Gelächter. Etwas in
+unserer Befreitheit erinnerte dabei ganz deutlich an
+jenes Gastmahl im Neuen Testament, von welchem
+der nicht im Feierkleide erschienene Eindringling in
+die äußerste Finsternis zurückgewiesen wurde. So
+hatten auch wir keine unsicheren Gestalten hereingelassen.
+</p>
+
+<p>
+Ich werde mich schwer hüten zu sagen, wer meine
+Tischnachbarn gewesen sind. In streng geschiedenen
+Gruppen, die einander nicht mehr kannten, fanden
+wir uns im Saale wieder ein. Denn wie der Chor der
+Gefangenen in &bdquo;Fidelio&ldquo; wußte man sich belauscht
+mit Aug&rsquo; und Ohr, und vermied es, von Lager zu
+Lager sich zu grüßen.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-6">
+Der Sonntag.
+</h3>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">E</span>r bildete die große Orgelpause des Kongresses.
+Um so lebhafter war in der Stadt das hin und her.
+Als ich die Treppe des Hotels Bellevue hinabging
+stieß ich mit Kurt Eisner zusammen. Er war schwarz
+und ganz neu angezogen. Auch der schwarze Schlapphut
+war neu. Wir wechselten ein paar Worte. Ich
+kannte ihn zwar noch nicht, aber so hielt man es in
+jenen Tagen.
+</p>
+
+<p>
+Leider war mein Zimmer winzig klein. Um Raum
+für den Kaffeetisch zu schaffen, mußte das Bett zum
+<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a>
+Sofa werden, und ich schüttete Kissen gegen die Wand.
+Um fünf Uhr erschien Haase. Der niedere Kragen,
+Kleidung, Struktur waren die eines Mannes aus dem
+Volk. Dabei lag in der Haltung des Rückens und der
+Schultern eine ungemeine Würde. Aber wenn sie
+Widerstand und Energie ausdrückten, so sprachen sie
+auch von rücksichtslosem Verbrauch sich verzehrender
+Kräfte.
+</p>
+
+<p>
+Auf dieser Figur eines Arbeiters saß ein Kopf,
+ganz beherrscht von stark auseinanderliegenden, majestätisch
+geweiteten Augen. Psychologisch viel zu neu,
+um an einen Rembrandt zu erinnern, schien er zugleich
+durch die Straffheit der bis zum Reißen gespannten
+Züge und ihr tragisches Kolorit nach begeisterten
+Evokationen seines Pinsels zu rufen. Wie der Ratsherr
+einer noch nicht errichteten Stadt &mdash; die Leidenswerkzeuge
+unsichtbar im Wappen eingetragen &mdash;, so
+blickte, so ging, so bewegte sich Haase, so saß er
+jetzt in unserer Mitte, die Zeit besprechend und die
+Gefahren des revolutionären Deutschlands. Wir
+hörten zu. Es wäre falsch, von Ahnungen zu reden.
+Die Bangigkeit um einen Mann von Haases Edelsinn
+und Güte war ganz instinktiv.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich klopfte es. Die Stimmung und Geborgenheit
+unseres Zusammenseins war mit großem Geklirre
+dahin. Bestürzt sah ich Eisner eintreten, den ich doch
+gebeten hatte. Aber eine so andere Zone des Geistes
+brach mit ihm ein. Er trug sich wie am Morgen
+<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a>
+komplett in Schwarz, kein Stäubchen, vom schwarzen
+Schlapphut bis zu den Stiefeln (wie um die Reporter
+lügen zu strafen, die seine nachlässige Kleidung verkündet
+hatten). Halb Wotan, halb Konfirmand &mdash; grau,
+nur der schüttere Bart und die müde Farbe des Gesichtes.
+&mdash; Fortunios und ich saßen jetzt zu dritt auf
+dem Bett, und alle allgemeineren Themen traten vor
+dem besonderen der bayrischen Revolution zurück.
+</p>
+
+<p>
+Eisners romantische Schwäche für Bayern verriet
+sich sogar in einem hin und wieder freiwillig angeschlagenen
+Dialekt, dessen Unnatur etwas rührendes
+hatte. Und so war es mit der Revolution; sie war das
+Abenteuer seines Herzens, sein Geniestreich; was
+aber an dem Bilde fehlte, war die Kenntnis Bayerns:
+die Bayern, die sich hinreißen lassen, sind nicht dieselben,
+die sich wieder eines anderen besinnen .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Etwas an München wird vielleicht noch lange bewirken,
+daß neue Sterne darüber aufgehen, etwas
+bewirkt aber, daß sie schnell wieder zu verlöschen
+drohen, günstige Konstellationen geraten dort sogleich
+mit entgegengesetzten in Brand. Eisner erzählte wie
+ein Rhapsode und besaß kein Ohr für das vielfältige
+Rauschen der mitten im Sturm entrissenen Meeresmuschel.
+Dies gab seinem Liede den schrillen und
+beängstigenden Ton. Haase das Wort abschneidend,
+erzählte er von dieser und jener Episode, die alles verderben
+sollte, und wider erwarten alles gelingen
+machte. Und Haase ließ ihn, wie ein älterer Bruder
+<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a>
+gewähren. Bei ihm war die Basis viel breiter; er wirkte
+harmonisch wie eine Orgel, die Macht war die Sache
+für ihn, für Eisner dagegen war sie die Arie, seine
+Bravourarie, an die sein Ohr sich fing. Nur wer näher
+zusah, gewahrte inmitten der scheinbar selbstgefälligen
+Glorie den erloschenen, weltabgewandten Blick und
+die bereite, heroische Absage an das Leben. Zu Haase
+gewendet: &bdquo;Das wäre der Gipfel meiner Laufbahn,&ldquo;
+sagte er, &bdquo;mit blauweißen Fahnen gegen Preußen zu
+ziehen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Aber &bdquo;Fahnen&ldquo; hatte er gesagt. Fahnen, Feste,
+Ansprachen, solcher Art waren die sündenlosen Waffen,
+zu welchen er griff. Für so ehrwürdige Ansichten
+belehrte ihn die rohe Kugel eines besseren, und schlug
+sich dies musische Haupt gegen das Pflaster zu Tode.
+</p>
+
+<p>
+Spät verließen wir an jenem aufregenden Abend
+meine Zelle: die beiden Delegierten gingen noch zu
+einer Ausschußsitzung; viel zu erschöpft und aufgewühlt,
+um allein zurückzubleiben, aß ich mit
+Fortunio zu Nacht. Lange sprachen wir noch von
+den beiden. Er meinte, Eisner sei viel zu feinfühlig,
+als daß ihm entgangen wäre, wie sehr wir Haase vorgezogen
+hatten. Nun hatte ich einen neuen Grund,
+bedrückt zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Leider reiste Haase schon am nächsten Morgen ab,
+und wir andern saßen wie gewöhnlich im &bdquo;Volkshause&ldquo;,
+als, eine große Stille entstand, weil Eisner
+das Podium betrat. Es war aber der Morgen jenes
+<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a>
+Tages, an dem er seine denkwürdige und verhängnisvolle
+Rede zugunsten der Gefangenen hielt. Sie begann
+mit einer schonungslosen Preisgabe der deutschen
+Kriegführung, deren Verbrechen er nicht beschönigte,
+deren Recht, etwas zu fordern, er vielmehr verneinte.
+Dann eine abrupte Wendung nehmend, stellte er fest,
+daß in keinem Lande die Gegner des Krieges so tief
+gelitten hätten wie die deutschen, und mit jedem Worte
+wurde sein tonloses und dabei scharfes Organ gebieterischer.
+Es war unerhört, wie Eisner jetzt über sich selbst
+hinauswuchs. So buchstäblich war der Geist über ihn,
+daß seine Person nur mehr wie ein von ihm verlassener
+und vergessener Schatten die Tribüne behauptete.
+Was nun verlautete, war ein Plädoyer für Deutschland,
+wie es niemals ergreifender formuliert wurde.
+Seine kalte Stimme beibehaltend, die in die Gemüter
+schnitt, enthüllte er die ganze Tragik seines unglückseligen
+Volkes. &bdquo;Die Stimmen derer, welche im Kampf
+um die Ideen einer besseren Welt namenlos in den
+Kerkern verblichen,&ldquo; rief er schneidend den fremden
+Delegierten zu, &bdquo;drangen nicht bis zu euch! Stumm
+verbluteten sie.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Im Namen jener neuen und besseren Welt
+verlangte er die Freigabe der zurückgehaltenen Gefangenen.
+</p>
+
+<p>
+Man hielt den Atem an.
+</p>
+
+<p>
+Da stand ein Entronnener aus eben jener Schar
+stummer Blutzeugen für die Ideen der Gewaltlosigkeit
+<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a>
+der Wahrheit und der Menschenliebe. Dies war ihr
+Los wie vor 2000 Jahren!
+</p>
+
+<p>
+In Eisner hatte der Kongreß wohl seine eindrücklichste
+Figur. Mochte er durch seine Parteilichkeit
+für Renaudel bei den Radikalen einigen Widerspruch
+erregen, so stellte sich bald heraus, daß er gerade
+dadurch seine Vorschläge durchzudrücken verstand,
+wie überhaupt die Taktik eine große Rolle bei ihm
+spielte.
+</p>
+
+<p>
+Als ich das Haus verließ, standen Fortunios unten
+an der Treppe und schienen auf jemanden zu warten.
+Ich wandte mich um; Eisner ging langsam, allein und
+vollkommen versonnen die Treppe herab. Er hielt
+eine rote Nelke mit etwas abstehender Geste, wie
+um sie zu schützen, daß sie nicht zu Schaden komme.
+Steif, fast geziert, die Schultern mit barocker Würde
+tragend, bot er einen wahrhaft phantastischen Anblick.
+Wir begrüßten ihn. Er sah uns erloschenen Auges an
+und erwiderte kein Wort. Hätten aber urplötzlich die
+Türen sich geteilt und Teppiche unter den Füßen
+der mit großem Zeremoniell vorgeführten Esther entrollt,
+ich wäre nicht erstaunt gewesen. Assuerus!
+dachte ich. Ein fast gespensterhaft abstrakter, beschämend
+unverjudeter, rein biblischer Jude stand
+da vor uns. Und siehe! &mdash; Hier war zum ersten Male
+wieder dasjenige Israel, aus welchem merkwürdigerweise
+der Begriff des Christentums mit der Gestalt
+seines Stifters, der Begriff des unjüdischen also, die
+<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a>
+Welt der Mystik, des erblassens, der Gotik hervorging.
+So dachte ich, stockenden Herzens .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah Eisner noch einmal, als er im Begriffe stand,
+mit Renaudel nach Basel zu fahren. &bdquo;Wenn ich
+stürze,&ldquo; sagte er, &bdquo;ist in München der Bolschewismus
+unvermeidlich. Die geistige Verwirrung der Jugend
+ist zu groß.&ldquo; Überhaupt sprach er sehr oft von seinem
+Sturz. Ich glaube, die Entfernung ließ ihn die allgemeine,
+wie seine besondere Situation sehr scharf
+und nüchtern übersehen.
+</p>
+
+<p>
+Gerade die Illusionen, die phantastischen Züge in
+diesem bedeutenden Menschen, die springenden Schatten
+machten ihn zu der Shakespeareschen Gestalt,
+als die wir ihn heute sehen. Wir aber, die in Bern
+Zeugen der ungeheuren Wirkung seines Auftretens
+waren, welche Werbekraft für Deutschland er dort
+entfaltete, welch stürmische Sympathien für Deutschland
+er dort erweckte, oh welch bitterlichen Eindruck
+machte es auf uns, in München nicht etwa die Züge
+dieses heldenhaften Vorläufers, nein, das unbesonnene
+Leutnantsgesicht seines Mörders in den Auslagen
+vorzufinden, dessen hirnloses und unheilvollstes Verbrechen
+die Schrecken der Räteregierung und alle
+Greuel, die von links, und dann von rechts daraus
+erfolgten, verursachte. Mag ein Herr Studiosus die
+Frei(spruch)kugel gegen mich drehen, dafür, daß in
+diesem wahrscheinlich vielgelesenen Buche diese
+Wahrheit steht.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a>
+Für den letzten Tag war eine Rede Macdonalds
+über den Bolschewismus angesagt; aber der Tag verging,
+ohne daß er hervortrat. Die Lichter brannten
+schon lange, und es war Abend geworden, als man
+ihn endlich erblickte. Es sprachen viele, deren Organ
+im Halse stecken und auf die langweiligste Weise
+eins mit demselben blieb. Der deutsche Dolmetsch
+ging deshalb schwer auf die Nerven. Bei jenen Delegierten
+hingegen, welche die Rednergabe besaßen,
+hob sich nach wenigen Minuten die Stimme von ihnen
+fort, um wie ein Albatroß ganz für sich allein die
+gewichtigen Schwingen auszubreiten. Dieser Prozeß
+vollzog sich auch bei Macdonald. Sein Organ erfüllte
+den Saal mit Wohllaut, als käme es gar nicht
+von ihm, sondern hinge nur infolge eines rhythmischen
+Gesetzes mit seiner Miene und den Bewegungen seiner
+Arme zusammen. Die Rede war ein Warnungsruf an
+den hohen Rat in Versailles, die Zeichen der Zeit zu
+verstehen, und sie verglich den Bolschewismus mit
+einem Brande, der, hier halb erstickt, dort scheinbar
+gelöscht, immer wieder hervorbrechend und unter der
+Asche weiterglimmend, an der Verblendung des
+Imperialismus seine Nahrung fand.
+</p>
+
+<p>
+Da ich kein Wort verlieren wollte, schlängelte ich
+mich langsam durch die Zuhörer, hart bis zur Rampe
+vor, und hatte so zum ersten Male den ganzen Zuschauerraum
+vor Augen. Der Saal verlor auch bei
+Lampenschein nichts von seiner Schmucklosigkeit.
+<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a>
+Unschön war er und kahl. Sein Glanz, seine Erlesenheit
+waren rein innerlich. Sie gingen von den Menschen
+aus, welche hier tagten. Nicht die Zartheit
+freilich, noch der Reiz eines seit Generationen vor
+rauhen Kontakten geschützten Lebens, sondern Anstrengung,
+Leidenschaft und Begeisterung durchleuchtete
+sie so stark, daß jenseits dieses alltäglichen
+Raumes alle Alltäglichkeit, jenseits seines nüchternen
+Scheines alle Nüchternheit zu liegen schien. Der
+Winter der Menschheit sank hier zu Grabe. Von
+Feuerzungen war die Luft durchbebt, und eine Pfingstatmosphäre
+brauste durch die Türen über die Treppen
+dahin, bis hinab in die Gassen des nächtlichen Bern.
+Und sie würde, ob auch der kommende Morgen diesem
+Fest das Ende bereitete, nach allen Himmelsrichtungen
+wehen. Ich zweifelte daran nicht. Ich hoffte schon
+wieder!
+</p>
+
+<p>
+Natürlich waren auch geringere zugegen. Aber nicht
+sie gaben den Ausschlag. Hier herrschte der Wert.
+Rang und Vortritt waren hier durch das Talent, das
+Verdienst, die Lauterkeit bestimmt, und ein Wille
+zur Güte hatte sich durchgerungen.
+</p>
+
+<p>
+Mit einem Blick des Hohnes war ich vorhin an
+Telramund vorbeigegangen, alle Krallen gezückt, weil
+er sich vermessen wollte, mich zu grüßen, und fast
+wäre ich dabei über seine Bocksfüße gestolpert. Nein!
+Hier richtete der nichts aus. Hier war er schachmatt.
+Warum kam er denn her? &mdash; &mdash; Auch er &mdash; zum ersten
+<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a>
+Male fiel es mir auf &mdash; hatte allen Sitzungen beigewohnt
+und war einer der regelmäßigsten Besucher
+gewesen. Oh, nicht nur er! &mdash; Die ganze Rotte saß
+ja hier! &mdash; und die Kontrolle war doch so streng!
+Aber die Rotte war vollzählig hier! &mdash; Durch die Ritzen
+der Türe hätte sie noch einzudringen gewußt. Wo
+hatte ich die Augen gehabt all die Tage hindurch,
+ich Verblendete! Im Ernst wähnend, hier würde die
+Schwelle zu einer neuen Welt gelegt, derweil sie
+täglich zerfiel.
+</p>
+
+<p>
+Die Schützlinge der Militärspionagen, von welchen
+erst die eine, dann die andere den Verständigungsfrieden
+hintertrieben hatte, tagten hier als Delegierte des
+Teufels, den verschiedensten Nationen entspieen. Wie
+emsig sie notierten! &mdash; Oh wie fleißig sie die niedrigen
+Stirnen gesenkt hielten, um alles zu nichte zu schreiben,
+was hier von Völkerversöhnung gesprochen wurde!
+Und wie gesittet sie dasaßen, diese Wölfe im Schafpelz,
+die sich innerlich eins lachten über den sabotierten
+Kongreß. Und sie waren geduldet! &mdash; selbst
+hier! &mdash; Die Spreu durfte auch hier, ungesichtet, den
+Weizen verderben. Ach, es gehört zu den Merkmalen
+dieser Zeit, daß die Dinge noch schlimmer zu
+kommen pflegen, als die Schwarzseher sie künden,
+und noch heißer gegessen werden, als gekocht.
+</p>
+
+<p>
+So ahnte ich noch nicht, daß die verstümmelten
+Berichte der Eisnerschen Rede, deren erster Teil einfach
+unterschlagen wurde, schon munter unterwegs
+<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a>
+waren, und seine anonymen Mordanstifter, wohlgeschützt
+unter der Flagge einer Zeitung, sich
+für die furchtbaren Wahrheiten und Anschuldigungen,
+die er in diesem Hause der Presse aller
+Länder ins Gesicht zu schleudern wagte, ein für
+alle Male gerächt hatten.
+</p>
+
+<p>
+Die Stimme Macdonalds drang nur mehr undeutlich
+zu mir. Es war doch jedes Wort vergebens. Mochte
+er den Bolschewismus an die Wand malen! Mit ihm
+stand es gewiß, wie Rolland sagte. Bot nicht jede
+Partei genau dasselbe Bild von ein paar ehrlichen
+und ehrenwerten Männern, die ein fürchterlicher
+Zulauf überschwemmt? jene paar Vortrefflichen, deren
+Kampf allein ersprießlich und von Interesse wäre,
+tragen ihre Gegensätze abseits voneinander aus. Sie sind
+nicht so zahlreich, Europa nicht zu groß für eine
+einzige Arena. In Wirklichkeit ist der Klassenhaß
+(statt des Klassenkampfes) ein ebensolcher Humbug
+wie der Haß der nur nach Frieden lechzenden Völker.
+Wer aber diesen Saal mit den angeblich so scharf
+bewachten Toren näher ins Auge faßte, ließ alle Hoffnung
+fahren. Den Schleier Penelopens woben sie hier!
+Es gab ja keine gute Sache, solange der Nichtswürdige
+sich zu ihr bekennen durfte und statt der
+Gesinnung die Meinung den Ausschlag gab. Freie
+Bahn den Tüchtigen! oh nein! Erst geschlossene Bahn
+den Unwürdigen! Die andere Parole bleibt so lang
+die leereste der Phrasen! Hatte nicht Telramund in
+<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a>
+seinem eigensten Blatt eine &bdquo;Partei der anständigen
+Leute&ldquo; beantragt, wie um diesem Gedanken den Fluch
+der Lächerlichkeit auf immer anzuhaften. Oh Zarastro!
+Herr des Tempels mit den unauffindbaren Toren,
+der nur den Geprüften mit Macht belieh! Von allen,
+die heute leben, wird keiner den Bau betreten, zu
+dessen Grundlegung ich Steine herbeischleppen möchte.
+&mdash; Das Gerüst allein dürfte die Arbeit von Generationen
+sein, sein Ausbau die von Jahrhunderten vielleicht.
+Vielleicht sind die ewig unvollendet gebliebenen
+Kathedralen sein Symbol. Aber worauf es, wie gesagt,
+ankommt: er ist möglich.
+</p>
+
+<p>
+Die richtige Einsicht, daß es (merkwürdigerweise)
+niedrige und hohe Menschen gibt, führte folgerichtig
+zu Rang- und Standesunterschieden. Bei ihrer Aufrechthaltung
+aber gerieten jene Ungleichheiten,
+welche doch erst die Berechtigung solcher Klassifikationen
+bilden, immer mehr außer acht, und bei
+dem Schrittmachen, das im Schwunge blieb, mischte
+sich in immer gemeinerer Weise das Bestreben über
+jene Distanzen, welche der Wert zwischen den einzelnen
+liegt, hinwegzusehen. Das Mißverständnis
+artete immer wilder aus: der königliche Mozart speiste
+mit dem Gesinde, und ein lakaienhafter Kavalier
+warf ihn mit einem Fußtritt ohne weiteres vor die
+Türe. In der Tat, wir wissen alle, was wir der französischen
+Revolution verdanken. Doch, als sie das
+falsche Spiegelbild in edler Empörung zerschlug,
+<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a>
+wurde mit diesem drastischen Vorgehen leider erst
+recht nur eine halbe Maßnahme getroffen.
+</p>
+
+<p>
+Kein Mißbrauch wurde an der Wurzel gefaßt, vielmehr
+entrann der Missetäter froh durch die Türe.
+So brach die französische Revolution wie das Christentum,
+dem sie entsprang, in sich selber zusammen, und
+wir sind heute wie bankrotte Leute, die von vorn
+anfangen müssen. Wir stehen wieder am Anfang
+aller Tage: das heißt am Ende. Denn für das erkennende
+Auge sind ja die Menschen längst in jene
+zwei Lager zerfallen, von welchen geschrieben steht.
+Freilich ist vorläufig erst der Aufmarsch der Böcke
+geglückt. Unsere Absicht, ihrem Konsortium entgegenzutreten,
+dürfte ein frommer Wunsch verbleiben,
+solange wir jene geheimnisvolle Tatsache nicht ergründeten,
+daß die von schlechten Instinkten Gemeisterten
+so viel deutlicher die Hochgesinnten herausspüren,
+als diese sich unter sich erkennen. Diese
+dunkle und rätselhafte Tatsache birgt Perspektiven,
+die sich wie weite Zimmerflüchte nach allen Richtungen,
+reich an Verborgenheiten, ziehen.
+</p>
+
+<p>
+Um Machtfragen werden sich nach wie vor die
+Dinge drehen, und nach wie vor wird sich herausstellen,
+daß es nichts neues unter der Sonne gibt.
+Macht wird vor Recht gehen, denn Macht geht vor
+Recht. Es ist Sache des Rechts, die Macht an sich
+zu reißen, eine neue Realpolitik zu ermöglichen, nicht
+ausdrückbar durch Lüge, Feuer und Mord; eine
+<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a>
+Exekutive zu befestigen, welche die aus Lüge, Feuer
+und Mord errungenen Vorteile verachten, und Lüge,
+Feuer und Mord nicht ausspielen würde gegen Lüge,
+Feuer und Mord. Sache des Rechts ist es, die Bahn
+solcher Gewalthaber zu bereiten. Ach die Heftigkeit,
+mit welcher wir unsere Notsignale abgeben,
+hindert nicht, daß sie unter dem Druck grauser Langeweile
+aufziehen, und unser eigner Pathos lastet mit
+der ganzen Öde eines Frondienstes auf uns. Denn
+es sind zukünftige, für ein feineres Ohr heute schon
+monströse Gemeinplätze, die wir hier äußern.
+</p>
+
+<p class="vspace3">
+&nbsp;
+</p>
+
+<p class="center">
+<em class="em">Ende</em>
+</p>
+
+<div class="ads">
+
+<hr />
+
+<p class="center">
+<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a>
+Von<br />
+<em class="em">Annette Kolb</em><br />
+erschien im gleichen Verlag:
+</p>
+
+<p class="hdr">
+DAS EXEMPLAR
+</p>
+
+<p class="center">
+Roman. 5. Auflage.
+</p>
+
+<p>
+Man hat durchaus das Gefühl, daß dieses Buch zu
+jenen gehört, die unter einem starken inneren Drange,
+einem unwiderstehlichen, geschrieben werden. Ein
+Bekenntnis. Aber eins von solcher Keuschheit, solcher
+Verhülltheit, trotz aller Enthüllung subtilster seelischer
+Vorgänge, wie es uns nur zu selten gemacht wird.
+Gerade diese Schilderungen erweisen die hohe Vollendung
+von Annette Kolbs sprachlichem Ausdrucksvermögen,
+das ihr jedoch nie zum Selbstzweck wird.
+</p>
+
+<p class="right">
+B. Z. am Mittag.
+</p>
+
+<p>
+Der erste Eindruck des Buches, schon nach wenigen
+Seiten, ist Kultur. Es gibt wenig Bücher, die so scharf
+wie dieses die Zeitseele enthüllen. Und im übrigen
+ist das Buch reich an allerlei entzückenden Dingen.
+Man wird in ihm sehr heimisch in London und auf den
+Landsitzen der Gesellschaft. Denn das Buch vereint
+wirklich zwei selten verträgliche Eigenschaften: geistige
+Tiefe und Charme. Es ist nicht nur ein bedeutendes, sondern
+auch ein liebenswürdiges Buch.
+</p>
+
+<p class="right">
+Die Zeit, Essen.
+</p>
+
+<p>
+Ein feines, stilles Buch von einer romantischen
+Dichterin über eine romantische Frau. Es wird in
+diesem Buch von den letzten Dingen gesprochen.
+</p>
+
+<p class="right">
+Berliner Tageblatt.
+</p>
+
+<hr />
+
+<p class="printer">
+Druck von Frankenstein &amp; Wagner, Leipzig.
+</p>
+
+</div>
+
+
+<h2 class="chapter footnote" id="footnotes">Fußnoten</h2>
+
+<dl class="footnote">
+<dt class="footnote" id="footnote-1"><a href="#fnote-1">[1]</a></dt> <dd class="footnote"> Als ich das erstemal in der Schweiz war, gab mir Aramis
+ein Dossier über die Deportationen, von deren Einzelheiten ich noch
+keine Ahnung hatte. Wer die französische Familie kennt, und weiß,
+wie sehr sie ihre Töchter hegt und hütet, der sah hier wahre Abgründe
+des Hasses und der Rachgier bereiten. Ich fuhr damals von
+Bern direkt nach Berlin, kannte aber von den Ministern jener Tage
+nur Solf, und auch diesen nur ganz flüchtig. Ihn bat ich in einem aufgeregten
+Brief um eine sofortige Unterredung. Er war gerade an
+einer Angina erkrankt und empfing mich zu Bett mit einem hochroten
+Gesicht, Eisbeutel auf dem Kopf. Am Fenster, mit dem Rücken
+gegen das Licht, stand ein Oberst. Ich kramte nun die Notizen hervor,
+die ich vor der Grenzüberschreitung in den Bodensee geworfen,
+und zwischen Lindau und Kempten wieder ins reine geschrieben
+hatte; der Oberst sprach die Befürchtung aus, daß sie der Wahrheit
+nur allzusehr entsprachen.</dd>
+<dt class="footnote2">&nbsp;</dt><dd class="footnote2">Mit Hilfe dieses militärischen Freundes setzte Solf, obwohl gerade
+damals grimmig von den Alldeutschen angefeindet eine enquete durch.
+Und schon glaubte ich die Partie gewonnen und das Handwerk der
+Herren Ludendorff und Konsorten gelegt. Denn wirklich konnten
+Tausende von Frauen damals nach Hause zurück, und in ihrer
+ärgsten Form wurde die Methode eingedämmt. Aber das Hauptquartier
+war noch Trumpf. Meine Darstellungen, so hieß es, seien
+nicht nur die hellste Übertreibung gewesen, oh nein! sondern die
+deportierten Töchter wären sehr erfreut, sich dem öden Einerlei ihres
+untätigen Lebens entzogen zu sehen; man gewann richtig den Eindruck,
+als müßte es für ein junges Mädchen von guter Familie geradezu eine
+Lust sein, deportiert zu werden, und nur eine Bagatelle für die Eltern,
+ihre Kinder &mdash; manches Mal auf Nimmerwiedersehen &mdash; aus ihrem
+Hause gerissen zu sehen, ohne die Möglichkeit von ihnen zu hören und
+ohne zu wissen, wohin man sie führte. Soll die Axt nie begraben
+werden? &mdash; Eine Versöhnung der beiden Nationen ist eine so große
+Notwendigkeit, daß schon aus praktischen Gründen nicht immer einseitig
+nur über das erlittene Unrecht Buch geführt werden sollte. Und es
+ist für die Deutschen die große Gelegenheit gekommen! Heute, wo
+der französische Militarismus seine Stunde begeht, haben sie nur ein Mittel,
+Frankreich von seiner Rachepolitik abzubringen, indem sie &mdash; statt
+wiederum von Rache zu reden &mdash; es zu fühlen geben, daß sie beklagen,
+es zu dieser Rachepolitik so schwer gereizt zu haben.</dd>
+<dt class="footnote" id="footnote-2"><a href="#fnote-2">[2]</a></dt> <dd class="footnote"> Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.</dd>
+<dt class="footnote" id="footnote-3"><a href="#fnote-3">[3]</a></dt> <dd class="footnote"> Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.</dd>
+</dl>
+
+
+<div class="trnote">
+<p id="trnote"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
+
+<p>
+Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):
+</p>
+
+<ul>
+
+<li>
+... <span class="underline">Hocusai</span>. ...<br />
+... <a href="#corr-0"><span class="underline">Hokusai</span></a>. ...<br />
+</li>
+
+<li>
+... mit Carry und Fortunio. Dieser <span class="underline">enfaltet</span> mir gegenüber ...<br />
+... mit Carry und Fortunio. Dieser <a href="#corr-1"><span class="underline">entfaltet</span></a> mir gegenüber ...<br />
+</li>
+
+<li>
+... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in <span class="underline">den</span> ...<br />
+... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in <a href="#corr-2"><span class="underline">dem</span></a> ...<br />
+</li>
+
+<li>
+... Arbeiten zur Hand, mit <span class="underline">welchem</span> dieses Haus geschmückt ...<br />
+... Arbeiten zur Hand, mit <a href="#corr-3"><span class="underline">welchen</span></a> dieses Haus geschmückt ...<br />
+</li>
+
+<li>
+... Laufbahn vernommen hat, der vergißt <span class="underline">die nie</span> unheimliche ...<br />
+... Laufbahn vernommen hat, der vergißt <a href="#corr-4"><span class="underline">nie die</span></a> unheimliche ...<br />
+</li>
+
+<li>
+... auf ihren Wolkensohlen reisten, <span class="underline">das</span> von einer zifferlosen ...<br />
+... auf ihren Wolkensohlen reisten, <a href="#corr-5"><span class="underline">daß</span></a> von einer zifferlosen ...<br />
+</li>
+</ul>
+</div>
+
+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44243 ***</div>
+</body>
+</html>
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
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+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
+eBook #44243 (https://www.gutenberg.org/ebooks/44243)
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+The Project Gutenberg EBook of Zarastro, by Annette Kolb
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Zarastro
+ Westliche Tage
+
+Author: Annette Kolb
+
+Release Date: November 21, 2013 [EBook #44243]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZARASTRO ***
+
+
+
+
+Produced by Jens Sadowski
+
+
+
+
+
+
+
+
+ ZARASTRO
+
+
+ Westliche Tage
+ von
+ Annette Kolb
+
+
+
+
+ 1921
+ S. Fischer / Verlag / Berlin
+
+
+
+
+ 1.--5. Auflage.
+ Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.
+ Copyright 1920 by S. Fischer Verlag, Berlin.
+
+
+
+
+
+
+
+
+Zarastro
+
+
+Dieses Buch, das auf Grund täglicher Aufzeichnungen entstand, enthält
+Enttäuschungen als sein Wesen. Es ist ein Tagebuch der Enttäuschungen, ich
+verhehle es nicht. Gerade sie sind das einzig wertvolle daran. Denn an
+allen Erlebnissen während dieser Jahre, an allen Szenen, allen Ereignissen,
+allen Episoden hat sich die Beobachtung ergeben, daß im wachsenden Umfang
+die besten Hoffnungen, die reinsten Zugehörigkeiten ihre dramatische
+Zerstörung nach sich zogen. Zu sehen, wie sie immer sehr buchstäblich
+zuschanden kommen mußten, versetzte mich erst in eine dumpfe,
+herabgestimmte Unruhe, und nur allmählich entdeckte ich, daß sich in allem
+die kleine wie die große Höllenmaschine menschlicher Niedrigkeit gleichsam
+eingebaut hielt, überall, auf dieselbe Weise und mit derselben Wirkung jede
+edle, jede vernünftige Absicht, jede Harmonie im Keim vernichtete. Diese
+Gefolgschaft, dies enge Schritthalten der Bösen -- jeder Zufälligkeit bar
+-- zeigt sich vom Anekdotischen bis zur Entladung so konform, daß es die
+Schicksale des einzelnen zur genauesten Replik der Weltschicksale prägt.
+
+
+
+
+Erster Teil.
+
+
+Am 1. Februar 1917 kam ich gegen Abend definitiv nach Bern. Im Zug -- am
+Fenster -- schlief ich zwischen Zürich und Baden auf einige Sekunden ein.
+Dabei rückten sich Bilder aus meiner Wohnung, aber um ein Drittel
+vergrößert -- die sich also selbst vergrößert hatten --, selbst an einer
+Wand zurecht. --
+
+Trotz dieser so unvermittelt aufblitzenden Vision wurde die Mutlosigkeit,
+gegen die ich anzukämpfen hatte, immer drückender, und geradezu trostlos
+gestaltete sich meine Einfahrt in die Bahnhofhalle. Es goß so recht von
+innen heraus, wie nur der Berner Himmel zu gießen versteht. So begibt man
+sich wohl ins Gefängnis, wie ich in das Haus, um dessen anheimelnder alten
+Stiege willen ich im zweiten Stock zwei kleine Zimmer mit einem Alkoven
+gemietet hatte. Übrigens waren sie noch nicht frei, und indessen wurde mir
+ein großes niedriges angewiesen, das sofort meine Abneigung erregte: bis
+auf einen gewaltigen Tisch von wahrhaft tröstlichem Umfang. Er stand mitten
+in der Stube, ganz auf sich beruhend:
+
+Sieh mein geräumiges Rund, und wie gefällig es ist! Sahst du ein weiteres
+je?
+
+Bürde nur füglich mir auf, was immer du willst. Ich schaffe noch Platz dir.
+Na also!
+
+So redete er, halb in Hexametern, halb wie eine alte Kindsfrau zu mir, war
+immer optimistisch und richtete mich auf.
+
+Das Münster aber, das so gut anhebt und so schlecht verläuft, beschattet
+und beherrscht den Platz, und die Aussicht hart vor meinen Fenstern ist
+durch ihn versperrt. Auch mein Herz schlägt hinter Riegeln. Ich bin nicht
+mit den Illusionen hergekommen wie das erstemal.
+
+ * * * * *
+
+4. FEBRUAR. Kalte regnerische Tage, unfroh wie die Stunde meiner Ankunft,
+welche Telramunds, als sei dies unvermeidlich, zuerst erfuhren. Die Lauben
+sind, wie es scheint, ihr Jagdrevier, denn kaum trete ich vors Haus, so
+schießen sie mir schon wie auf Rollschuhen der Neugierde entgegen, jedesmal
+mit einer Einladung zum Tee. Ich bin entschlossen, ihr nicht zu folgen,
+denn sie ist natürlich nur verhörsweise gedacht. Fortunio rät von einer so
+schroffen Haltung ab. Wir diskutieren hin und her, und ich lasse mich
+leider überreden.
+
+6. FEBRUAR. Tee bei Telramunds. Ich trage meinen teuren Pelz, denn es ist
+kalt, dazu aber ausgebesserte Schuhe, weil es regnet. Der Empfang ist
+übrigens von so glänzend imitierter Herzlichkeit, daß er mich fürs erste
+ganz beschämt. Wie unverkennbar ist doch im Grunde Telramunds Zuneigung für
+mich! Er erörtert meinen Roman in den höchsten Tönen, und wie freut sich
+Ortrud, mich zu sehen! Wie ungerechtfertigt ist der Name, den ich ihnen
+gebe! Wie funkeln Teekanne, Dose und réchaud! Wir sitzen ein wenig
+merkwürdig zusammen, es ist wahr! unsere sechs Knie eng aneinander gerückt:
+die meinen in der Mitte, wie die eines Delinquenten, von den beiden andern
+flankiert. Doch ist das nur zufällig vielleicht.
+
+Wenn aber drei Leute sich äußerlich in so enger Gemeinschaft befinden, und
+zwei von ihnen werfen sich Blicke zu, so wird es der Dritte bemerken, auch
+ohne es zu wollen und ohne hinzusehen. Ortrud guckte wertschätzend von
+meinem Mantel herab auf mein Schuhwerk. Der Pelz einerseits und die
+Reparatur anderseits gaben zu denken. Wie aber konnten sich die beiden so
+vergessen, daß sie plötzlich anfingen, wie mit Fliegenklappen nach mir
+auszuholen und sich hochbefriedigt ansahen, wenn sie glaubten, mich ertappt
+zu haben?
+
+Zwar lag es auf der Hand, daß ein so leicht zu überführendes Geschöpf
+unmöglich zugleich jene raffinierte Person sein konnte, für welche ich
+wußte, daß sie mich hielten. Aber wie resolut Leute von schlechten
+Instinkten jegliche hemmende Logik von sich weisen, wußte ich auch. Von
+neuem auf der Hut, beantwortete ich jede Frage mit einem Kunstbogen; als
+jedoch der Name Elisabeth Rotten fiel, hielt ich krampfhaft an diesem Thema
+fest. Telramund konnte ihren politischen Scharfsinn nicht genug loben
+(später stritt er ihn ihr öffentlich ab). So erzählte ich denn von ihrer
+schwer angegriffenen Gesundheit und ihrem Wunsch nach einer Erholungsreise.
+Diese aber sei nur durch List und Tücke zu erreichen. Es müßte also, meinte
+ich, mehr mitteilsam wie raffiniert, unter Vorspiegelung eines Vortrags,
+welchen sie dann natürlich nicht halten würde, ein Paß für sie erschlichen
+werden.
+
+Die Idee wurde stillschweigend zur Kenntnis genommen. Blicke flogen . . .
+und es war unverkennbar, daß etwas nicht stimmte.
+
+Bin ich nach Bern gekommen, dachte ich auf dem Rückweg, um mit Leuten zu
+verkehren, die ich zu Hause nie ertragen hätte?
+
+Das Wetter hatte sich auf einige Stunden aufgehellt, und über der Brücke
+von Kirchenfeld flammten plötzlich die Alpen auf. Blaß und verheißungsvoll
+leuchtete die losgelöste Jungfrau über das Gewölk, das sich in schwarzen
+Massen zu Tale schob. Wie ganz und gar nicht existierend, dachte ich da,
+ist doch letzten Endes das Gemeine! Nur unser träges und verwischtes Sehen
+leiht ihm den Schein von Wesenheit, und Leuten wie Telramunds das Gesicht.
+Und zwei verschwisterte Seelen hatten da einen Bund geschlossen, wie die
+Hölle ihn liebt. Dabei war Telramund Berliner und Ortrud, wie zum
+Schulexempel, eine Französin aus der Provinz. Ach! Welch ein Schabernack
+wird doch über alle Grenzen hin mit unseren Gesetzen getrieben! Keine Feder
+wiegen sie auf gegen die Schleuderwaffen, über welche schlaue Unvernunft
+gebietet. Wohl haben wir gelernt, Weingärten und Äcker zu bestellen,
+veredelt hängen uns die Früchte von den Bäumen hernieder, und wie
+umsichtig, wie bewundernswert ist der Mensch angesichts seiner Felder! Nur
+vor sich selbst ist er stehengeblieben. Da jätet er nicht. Da steht überall
+goldener Weizen, von wild um sich greifendem, allgewaltigem Unkraut
+erstickt. Gegen die Natur, die Elemente, die Erde, ja die Luft selber
+schritten wir ein, nur vor uns selbst sinken uns die Arme, und wir lassen
+geschehen. Dies ist die bisherige Logik der Welt, der Nationen. Nicht
+einmal bis zu unseren Verbrecherstatistiken besannen wir uns -- wie hätten
+wir da bis zu den Tabellen unserer verkleideten und ganz undrastischen
+Übeltätern gedacht? --
+
+ * * * * *
+
+Allseitige Verstimmung. Mein Wunsch, Fräulein Rottens Wunsch zu erfüllen,
+hat schwärzesten Verdacht erregt. Ich kannte die in Bern geschaffene
+Atmosphäre noch zu wenig, um zu verstehen. Warum in aller Welt, beschwert
+sich Fortunio bei mir, mischte ich mich da hinein! Welches Interesse hatte
+ich an dieser Reise?
+
+Und diese Idee eines Vortrags! (Sogar er, es war unverkennbar, hat Argwohn
+geschöpft!)
+
+Nur ein Vorwand natürlich! ich sagte es ja Telramund.
+
+Fortunio zuckte die Achseln: er hat es Ihnen natürlich nicht geglaubt.
+
+Die beiden werden uns noch sprengen!, brach ich aus, alle unsere
+Anstrengungen hintertreiben und uns alle zu Grabe tragen.
+
+Mit Martin im Walde hatte ich ja meine Not. Die Verdächtigungen auf ihn
+regneten ohne Unterlaß. Schon während jenes Diners, welches Aramis bei
+meiner ersten Berner Ankunft gab, hatte ihn Telramund als einen Agenten mit
+doppeltem Schubfach bezeichnet, und Ortrud pfiff förmlich vor Hohn wie eine
+Maus. Daß ich widersprach, fiel nur auf mich zurück. Für einen ehemaligen
+Kruppdirektor also machte ich Reklame! Sprach dies nicht Bände? Daß er
+tatsächlich seine Stellung seinen Überzeugungen geopfert hatte, war ein
+Beweis mehr für seine Verschlagenheit. Den Bruder kannte er. »Den Bruder
+kenne ich!« war sein Refrain.
+
+ * * * * *
+
+9. FEBRUAR. Ich miete einen Flügel: ohne Schmelz, ohne Tiefe, es ist wahr,
+und doch edel, weil immerhin ein Flügel. Gott sei Dank! Flügel sind jetzt
+sehr schwer zu kriegen! Ich bin einen ganzen halben Tag glücklich. Welches
+Glück! -- es ist ein Glück, das ich der Protektion eines jungen Berner
+Pianisten verdanke. Wir hatten ein Zusammentreffen verabredet, um in die
+Fabrik zu fahren. In den Lauben kam Ortrud auf mich zu und äußerte den
+Wunsch, mich zu besuchen, und da ich ungeheuer eilig tat, begleitete sie
+mich, um zu sehen, ob es wirklich der junge Pianist war, der mich erwartet.
+Da er es wirklich war, denke ich mir, sie beruhigt sich jetzt.
+
+10. FEBRUAR. Telramund erzählt mit vielsagender Miene, daß ich einen Flügel
+gemietet habe. Kein Zweifel mehr: ich bin eine Spionin.
+
+11. FEBRUAR. Aramis gibt mir zu wissen, daß er sich wundere, weil ich ihm
+noch kein Lebenszeichen gebe. Ich unterließ es nur, denn er ist mir
+sympathisch, weil mir versichert wurde, daß er mir nicht mehr traue.
+
+Es sei kein Grund, sagt mir Fortunio, ihn zu schneiden. Seufzend (da er mir
+ja mißtraut!) rufe ich ihn ans Telephon, und vor seiner Sprache, ach! wird
+mein zerrissenes Herz sofort wie eine Geige, in welche diese Sprache (auch
+die meine, ach!) hineingreift wie ein Bogen.
+
+13. FEBRUAR. Gestern abend war ich bei Fortunio, und Martin im Walde fand
+sich zum ersten Male bei ihm ein. Vor dem Kriege hätte ich sie nicht
+einander zugeführt: Fortunio so musisch und sternengebannt, aber auch
+stemschnuppenhaft, Martin im Walde so schwerblütig, so problematisch und so
+vorbedacht! Heute aber muß alles zusammenstehen, was aufrecht blieb. Wie
+errichten wir sonst jene Dämme gegen die blinde Gewalt, den Schutzmauern
+vergleichbar, die sich so wacker gegen die Bergwände stemmen, um zur Zeit
+der Schmelze die Lawinen aufzuhalten? Auch unserem Planeten stand der
+Frühling nahe bevor, als die Lawine sich entlud, die allen Schutt nach oben
+warf und eine grünende Welt und alle Glocken der Vernunft mit ihren toten
+Blöcken und ihrem schmutzigen Geröll brüllend und dröhnend überzog. Jene
+Mauern, Lawinenschutz genannt, sind natürlich nur roh aufeinander
+geschichtete, jedoch wetterfeste Steine, die nichts anderes zum Ausdruck
+bringen, als die Not des Augenblicks, dem sie entstanden sind. So scheint
+mir heute, wo es den Kampf des menschlichen gegen das unmenschliche gilt,
+das wichtige nicht, glattes einzufügen, nicht einmal der inneren
+Gemeinsamkeit den Ausschlag zu lassen, sondern die Widerstandskraft und das
+Gewicht der Dinge zu bedenken.
+
+Doch ach! Der als Schachfigur so schwer festzulegende Fortunio war heute
+auf meine Opportunismen nicht gestimmt, sondern wie zum Trotz in einer ganz
+herausfordernden, ganz interpellierenden, ganz konträren, um ihre eigene
+Wirkung ganz unbekümmerten Laune. Zu machen war da gar nichts. Im stillen
+nur nahm ich mir vor, auf dem Heimweg Fortunios Wesensart, welche Martin im
+Walde nicht geläufig war, so beweglich wie möglich zu schildern. Aber nicht
+einmal diese nachträgliche Intervention sollte mir gelingen. Denn als ich
+auf der Stiege in die Taschen meines Mantels griff, war mein Hausschlüssel
+nicht darin, die Nacht aber viel zu weit vorgeschritten, um meine Pension
+durch Glockenreißen zu alarmieren. Die übermüdete Fortunia, über die Rampe
+gebeugt, rief mich wieder zurück. Neben dem großen Empfangsraum lag ein
+schmales Zimmer. Ich bezog es ohne viel Worte und warf mich mit meinen
+Kleidern auf den breiten Diwan, der dort stand, ganz erledigt für den Rest
+der Nacht. Immer verschärfter schwebte mir die Bilanz des mißratenen Abends
+vor und regte mich auf. Wie ungut ließ sich doch alles an!
+
+Eine tiefe Stille lag jetzt über dem ganzen Hause, den Wänden, den Fenstern
+und der Luft, als ob sie ein Signal erwarteten. Denn nebenan war plötzlich
+ein anderes Leben erwacht, eine andere Unruhe, als die des Tages, ein
+Rücken, Geknister, ein Gewisper, Disput und Ungeduld. -- -- Zwar ist dem
+Herzen kein Organ verliehen, das unsichtbare zu sehen, aber so mancher
+kennt gewiß jenes aussetzen seines Schlages, bevor es tiefer zu horchen
+beginnt . . . Es fiel mir ein, daß die ganze Häuserreihe dieser alten Gasse
+für mehr oder minder spukhaft galt; doch ein so wenig grauenhafter,
+höchstens malitiöser, nicht einmal boshafter Spuk war mir noch nicht
+begegnet. Neugierde trieb mich endlich hin zur Türe, hinter der er sich
+begab. Aber jenseits derselben hatte augenblicklich -- als sei nie Lärm
+gewesen -- Totenstille eingesetzt, und die Klinke, von Tücke besessen,
+widerstand allem drücken, drehen und schieben. Mit schmerzenden Händen ließ
+ich sie los und kehrte auf meinen Diwan zurück. Alsbald war Geknister und
+Getusche, rücken und huschen, Unruhe, Aufregung, heiseres Eifern und
+Streiterei im verstärkten Grade wieder da. Offenbar wollte die Gesellschaft
+von mir nichts wissen und boykottierte mich. Wie aber kam es, daß ich
+plötzlich wie unter freiem Himmel lag und den Arm aufstützte, als schirmten
+mich die Zweige eines Baumes, und als horchte ich statt zur Seite hin, tief
+unter die Erde hinab? Was immer mir jetzt in den Sinn kam, bot sich wie
+eine Zwiesprache dar. Dem Nixenbegriff lag wohl eine tiefe Erkenntnis
+zugrunde. Wie diesseits des Menschengeschlechtes, so sind aber auch
+jenseits desselben Geschöpfe Gottes denkbar, die an der entgegengesetzten
+Peripherie des Lebens beschattet stehen und hinausgerückt; und winzige,
+kaum bemerkbare Dinge könnten es sein, die ihnen ein leises Grauen vor
+ihrem eigenen Wesen entgegenhauchen: ihr unakkurater Sinn für
+Wirklichkeiten, ihr vorwegnehmen des Zieles über Hindernisse hinweg, ist
+wie ein gestörter Sehwinkel oder wie ein verkürzter Fuß, den solche
+Menschen durchs Leben ziehen, und sie erschauern, verzagen und vereinsamen
+bis ins Mark, wenn sie daran erinnert werden. Über die fernest abliegenden
+Dinge dachte ich hin und her. Aber warum in aller Welt überkam mich ein
+Heimweh nach dieser verschlossenen Tür, und um was für Dinge war mir denn
+leid? Du lieber Gott, wollte ich denn von allem haben!
+
+Der ganze tumultarische Betrieb setzte übrigens mit einer spurlosen
+Plötzlichkeit aus, als hätte er nie geherrscht. Nur eins war deutlich:
+durch die Türe verzog er sich nicht. Es kam etwas anderes: aus dem unteren,
+nachts unbewohnten Stockwerk drangen sanfte Trommelwirbel, oh, so deutlich
+zu mir, und dann ertönten gedämpft, aber klangvoll, tamponierte Posaunen.
+Und dann kam das huschen und fegen eines Kleides, das schleifen einer
+Schleppe, ja! im Takt dieser erstickten Musik. Ich horchte mit allen
+Fasern. So fein, so spöttisch, so leicht! oh! in der Tat geistreich war der
+Rhythmus dieses pas-de-deux, waren die Füße, die Grazie, die
+Unkörperlichkeit dieses balancierenden Körpers im Klang der wonnig
+umhüllten Posaunchen. Tod und Leben in lächelnder Umarmung -- Leben noch im
+Tode? Liebe selbst bei ihm? -- Was verfing sich da eine Uhr, mit vier
+groben Schlägen in den Zauber hineinzufahren? Nichts rührte sich mehr. Im
+Augenblicke alles längst verflogen und verweht -- welchem Sterne, welcher
+Nacht entgegen?
+
+Nunmehr versank die Dunkelheit in ihrer eigenen Stille, und der Schlaf
+atmete mir jetzt -- als käme er von außen -- seltsam genug! -- mit weiten
+Flügeln entgegen. Ich fühlte noch den Wunsch, mich ihm ganz zu überlassen,
+aber daß er mich dahintrug, schon nicht mehr. Gespannten, wachen Sinnes
+stand ich in der Mitte eines Saales -- nicht wissend, daß ich schlief. Die
+Wände lagen im Zwielicht, und ein paar Leute saßen dort als Zuschauer
+herum. Ich fragte mich, was es zu sehen gab und merkte dann erst, daß ich
+es war, welche nun tanzte. Die Rhythmen nämlich, nach welchen ich mich
+drehte, »geschahen«, ohne zu verlauten, als stünden hier die Gesetze am
+Anfang aller Musik, noch ehe, oder ohne daß sie sich vertonten. Dabei
+geboten sie mit so wunderbarer und zwingender Macht, daß es unmöglich war,
+ihnen nicht zu folgen, und unwiderstehlich kreiste ich dahin. Mit einem
+Male hörte ich Fortunios Stimme von der Wand herüber auf französisch sagen:
+»Comme elle danse bien«! aber sehen konnte man ihn nicht, denn der Saal war
+nur in der Mitte hell. »Pourquoi dites-vous que je danse bien«? rief ich
+tanzend zurück. Und tanzte dahin, denn es gab nichts anderes mehr. Nur den
+Tanz. Ganz allein nur ihn; ohne innehalten, ohne Unterlaß, den Tanz allein
+in diesem Raume, der aufgehört hatte, ein Saal zu sein, denn seine Wände
+traten ins Endlose zurück. Nur allmählich merkte ich, daß sich jemand zu
+mir gesellt hatte und mich hielt und mit mir tanzte. Es kümmerte mich
+nicht. Die Erfüllung war zu tief, meine Augendeckel zu schwer, sie
+aufzuschlagen die Mühe zu groß! In den Rhythmen lag alle Wonne. Und sie
+gebaren ohne Übergang eine neue Phase, denn halb abwesend, halb aufmerksam
+sah ich nun doch meinem Tänzer groß ins Gesicht: matt von Farbe, mit
+schwarzem, glattanliegendem Haar war er mir gänzlich unbekannt und zugleich
+vollkommen vertraut; der sehr edle Umriß von Kopf und Schultern so
+geschlossen, daß er fast ausschloß, was er nicht selber war, fast negierte,
+was er nicht kannte. Was dünkte mir daran so fremd und so verwandt
+zugleich? Die Melodie einer Rasse, der ich entstammte, und doch nicht mehr
+die meine? von ihr hinausgerückt? verabschiedet von ihr? wiederum der
+Boykott? Gleichviel! wir tanzten. Eines Schrittes! Diese Zeitmaße kannten
+keine Zeit. So mögen Sterne kreisen. Aber auch was ich dachte, war nicht
+mehr aus seiner Bahn zu drängen: aus reinstem Lateinertum setzten sich die
+Elemente dieses Tänzers zusammen. Nicht das Gesicht eines bestimmten
+Menschen sah mich da an. Nicht dieses oder jenes -- was dann? Das Sinnbild
+einer Rasse war zu mir hingetreten und tanzte mit mir. Jetzt wußte ich's!
+-- Aber die Entdeckung sprengte die Fesseln des Traumes: Ich lag auf dem
+Diwan gerade ausgestreckt, vor mir das Fenster, in dessen Scheiben sich von
+der Straße herauf der Reflex einer Laterne fing. Aber gleich darauf stand
+ich auf den Füßen. Noch nie so hoch aufgerichtet gewiß! Die Türklinke
+drehte sich lautlos und glatt, wie geölt. Aber die Kälte der Frühluft nach
+der Hitze der Nacht hatte vielleicht die Wandlung besorgt. Ich schlich
+durch den Gang, die Stiege hinab und ließ mich zum Tore hinaus. Ins Freie!
+Hinter den Scheiben leuchtete hie und da schon ein Licht aus den Lauben
+hervor. Im Hause, in dem ich wohnte, war eine Bäckerei. Unbemerkt kam ich
+in mein Zimmer. Es tagte noch nicht. Nach oben unkenntlich stand das
+Münster vor meinen Fenstern aufgerichtet, viel schöner und gewaltiger so,
+als mit dem übel verlaufenden Turm. Wie schien aber dies alles eine
+Wirklichkeit zweiten Ranges, sozusagen, wenn ich sie mit jener verglich,
+die mich in dieser Nacht umgab. Ich wußte zur Stunde mit der letzten
+Sicherheit, daß mein Traum sich erfüllen würde. Die beiden Rassen, die
+heute zu vereinigen solches Elend, solche Zerrissenheit bedeutet, werden
+eines Tages, allen Höllenhunden zum Trotz, das Glück der Welt durch ihren
+Bund begründen. Ach! Danach darf man nicht fragen, ob man selbst längst ein
+Schatten sein wird, wenn diese Dinge sich ereignen. Nur Mut, mein Herz!
+rief ich mir an diesem Morgen öfters zu, denn mit seinem fahlen Licht
+wuchsen die üblichen Ernüchterungen an.
+
+Gegen Mittag kaufte ich Blumen und wählte Kuchen mit Bedacht, denn um vier
+erwartete ich Monsieur Aramis zum Tee. Nicht ohne Bangigkeit. Seinen ersten
+günstigen Eindruck hatte ihm ja Telramund gründlich auszureden verstanden.
+Als er in meine niedere Stube trat und mir die Hand entgegenstreckte und
+mich ansah, wurde es mir wieder fühlbar. Das Echo der Worte: »Sie lügt! sie
+lügt!«, die er von jener Seite unausgesetzt vernahm, war zu eindringlich,
+um mir zu entgehen.
+
+Daß die unteren Zimmer nun endlich frei werden und mein Flügel sogar schon
+unten steht, interessiert ihn gar nicht; wen ich in Deutschland gesehen
+habe, um so mehr. Die Grenze hatte ich gerade am Vorabend des Tages
+überschritten, an welchem der verschärfte Unterseebootkrieg verkündet
+wurde; als diese Nachricht alle Anschlagmauern verfinsterte, wäre ich am
+liebsten umgekehrt, denn jetzt lag doch alles in Scherben.
+
+»Une bêtise capitale,« sagte er, »et qui fait bien notre affaire.« Nichts
+mehr von Klavier! Ich möchte mich gar nicht mehr mit Politik befassen, sage
+ich, und lese: »Sie lügt! sie lügt!« in seinen Augen. Er blieb lange,
+sprach jedoch nur wenig und hörte zu. Ich dagegen redete die ganze Zeit,
+hemmungslos und aufs Geratewohl. Es überzeugte ihn auch dieses keineswegs.
+Sie lügt! sie lügt! blieb das Echo, das zwischen dem Vertrauen, welches er
+instinktiv zu mir gefaßt hatte, und den Dingen hallte, die er über mich
+hört. Kaum ist er gegangen, so erscheint Fortunio auf dem Plan, gespannt zu
+hören, wie der Besuch verlief. Ich komme ihm jedoch zuvor: Wenn Aramis mir
+mißtraut, so mißtraue ich seiner Menschenkenntnis. Es ist zu leicht, mich
+zu durchschauen, als daß es erlaubt sein dürfte, mich zu verkennen. Ich bin
+so eindeutig wie ein Pferd. Seine Gangart ist unmißverständlich genug!
+
+»Sie sind aber kein Pferd,« sagte Fortunio, »und gerade Ihre Eindeutigkeit
+ist mit Ihrer sonstigen Art nicht so ohne weiteres in Einklang zu bringen.«
+
+Daß er dabei eine so bedenkliche Miene beibehielt, riß an meinen ohnedies
+zerzupften Nerven. Er erinnerte mich allzusehr an einen Schreibtisch, der,
+mit großen und kleinen, inneren und äußeren, ja sogar mit geheimen
+Schubfächern ausgestattet, für mich aber nur eine einzige Lade offen hielt.
+Ich fühlte mich plötzlich tödlich gekränkt. Und womit hält er heute zurück?
+Auch er, auch er! sage ich mir.
+
+»Ihr Roman kursiert jetzt in Bern«, geruhte er mitzuteilen.
+
+»Um so besser. Zeit wär's, daß hier das rechte Licht über mich aufgeht.«
+
+»Leider nein«, sagte Fortunio. »Das Buch schadet Ihnen.«
+
+»Schadet mir!?«
+
+»Ich hätte es auch nicht gedacht. Aber die große Zielbewußtheit, welche Sie
+Ihrer Heldin einverleiben . . .«
+
+»Aber gerade die Natur dieser Zielbewußtheit . . .« unterbrach ich ihn.
+
+»Gewiß, man sollte glauben . . .«
+
+»Hören Sie, das ist nicht möglich!« Und in höchster Ungeduld riß ich an
+allen Schubladen zugleich.
+
+»Ich selbst«, machte nun Fortunio mich vertraut, »habe die Leute auf das
+Buch hingewiesen. Ich glaubte, Ihnen nicht besser dienen zu können.«
+
+»Es ist nicht möglich, daß Aramis sich verdreht dazu stellt«, rief ich
+wieder. »Es kann nicht sein!«
+
+Fortunio zuckte die Achseln.
+
+»Aber sogar Telramund, dieser Gräuel, lobte es über den Klee.«
+
+Er schwieg. Es entstand eine Pause.
+
+»Das ist furchtbar«, sagte ich. »Es geht also um ein Duell zwischen mir und
+diesen Leuten.«
+
+»Sie sind so ungeduldig! Die Dinge wollen ihre Zeit. Letzten Endes ist es
+immer die gute Gesinnung, welche triumphiert.«
+
+»Oh! letzten Endes«, wehrte ich ab. »Daß meine Grabrede besser ausfallen
+wird, glaube ich ohne weiteres. Mais d'ici là . . .«
+
+Fortunio wollte mich überreden, mit ihm auszugehen, doch ich blieb zurück.
+Was ich ihm dabei nicht verriet, war meine Absicht, im Laufe des Abends
+nach Martin im Walde zu sehen; denn mir lag das gestrige Zusammensein, dem
+Fortunio keinen Gedanken mehr schenkte, schwer im Gedächtnis.
+
+Fürs erste war meine Niedergeschlagenheit zu groß, um nicht allein mit ihr
+zu bleiben.
+
+Die Tatsache, daß in Ermangelung anderen Beweismaterials nun gar mein Roman
+als Belastung herhalten sollte, war insofern der comble, als sich ja dann,
+auf diesem kürzesten Wege, so ziemlich alles auf den Kopf stellen ließ.
+Gegen solche Waffen war jedenfalls nicht aufzukommen. Sie waren zu alt
+erprobt. Ich hatte zuviel erfahren. Ich wußte zu viel.
+
+Oh Fortunio! es ist dir nicht bekannt, warum ich lebe. Wie ein nach Süden
+schauendes Ufer fängst du die Sonne auf; wie eine nach Norden aufgerichtete
+Mauer stehe ich zu ihr.
+
+»Von allen Menschen weg«, dachte ich da, »und zur Sonne hin!« Angebetete
+Sonne! Ohne dich zu sein! Beseelt, doch unbeseligt steht mein Haus. Wo du
+undeutlich werden und verflimmern läßt, wo du begünstigest, ja, wo du
+lügst, hast du doch immer recht, und nichts bestünde vor deiner Glorie.
+
+Es hatte längst durch alle Stockwerke gegongt, doch ich blieb wie ein
+Wetterwinkel am Fenster haften, jenen Bergkuppen vergleichbar am Rande des
+Tals, die alle Wolken an sich ziehen; so schien auch ich alle Düsterkeiten
+heranzulocken. Und es gab dann nur zwei Möglichkeiten, um dagegen
+aufzukommen: entweder die Arbeit, die auch wirklich die Atmosphäre läutert,
+oder der Umgang mit Menschen: ein Notbehelf nur, welcher zwar, wie der im
+Unwetter aufgespannte Schirm die ärgsten Güsse von uns abhält, an der
+Witterung aber nicht das geringste ändert.
+
+Augenblicklich war mir jedoch der Mut so gänzlich ausgepustet, daß ich mich
+plötzlich im Sturmschritt zu Martin im Walde aufmachte, sehr in Sorge
+sogar, ihn zu verfehlen. Ja, die Sorge steigerte sich zur Angst, so
+windschief stand es um mich. Aber die Herrschaften ließen, Gott sei's
+gelobt und gedankt, bitten, und ich jagte die Treppe zu ihnen hinauf. Die
+Stimmung, welche dort betreffs der gestrigen Fete herrschte, war natürlich
+schlecht. Mit sehr unerwarteter Schauspielkunst gab Martin im Walde alle
+Figuranten des Abends in einer Person zum besten, wobei er die ihm
+zugewiesene Rolle gar grimmig unterstrich. Ich lachte fürs erste aus vollem
+Halse, wenn auch mit recht halbem Herzen, brachte dann alle meine Glätt-
+und Bügelkünste zur Anwendung, zog meine Döschen, Fläschchen und
+Beruhigungstropfen hervor, mußte mir aber dabei sagen, daß hier wieder
+einmal ein wünschenswerter Zusammenschluß vorbeigeglückt war.
+
+14. FEBRUAR. Ich kann erst morgen die unteren Zimmer beziehen: ein hübscher
+alter Sekretär, ein altmodisches Sofa und ein schönes Tischchen kommen mit
+mir. Auch die Kiste mit meinen Sachen ist eingetroffen. Als ich nachmittags
+die Lauben hinunterging und an die Zimmer dachte, wie sie mit ein paar
+indischen Schals, der schier vergessenen blauen Seidendecke und ein paar
+Bildern am besten auszustaffieren wären, lächelten plötzlich von rechts
+Telramund, von links Ortrud auf mich ein: »Wohin des Wegs?«
+
+»Nach Hause«, war meine erschrockene Antwort.
+
+»Wie sich das trifft! Wir sind gerade auf dem Weg zu Ihnen.«
+
+»Das ist ja reizend«, rief ich entsetzt. »Leider bin ich mitten im Umzug
+und darf Sie nicht heraufbemühen.«
+
+»Das macht uns gar nichts! Wenn wir Sie nicht stören.«
+
+»Im Gegenteil. Kommen Sie nur.«
+
+War es nicht besser, die kamen noch in meine alte Stube, als daß sie mit
+ihren malocchios meine neuen Räume behexten? »Nur herauf, Ihr beiden! es
+ist das letztemal.« Und die Treppe voransteigend, führte ich sie zu mir.
+
+Dort stand der altväterische Tisch, der mich beschützte und nicht mit mir
+ziehen würde.
+
+Wir nahmen Platz.
+
+»Aramis war gestern bei Ihnen«, sagte Telramund. »Er hat es uns erzählt.«
+
+»Warum auch?« dachte ich.
+
+»Er wird immer launischer«, bemerkte Ortrud.
+
+»Launisch?«
+
+»Haben Sie das noch nicht herausgefunden?« fragte Telramund und heckelte
+ihn eine Weile durch. »Im Grunde«, klang es fast drohend von diesen
+Berliner Lippen, »ist er ein ganz germanophiler Bursche.«
+
+Ich goß Tee ein und erwiderte nichts. Aber mir wurde bang und bänger über
+das Gespräch.
+
+Daß die beiden es wagten, vor mir, die selbst obenan und mit so fetten
+Lettern auf ihrer Proskriptionsliste stand, derart rückhaltlos Leute
+auszurichten, mit welchen sie scheinbar die besten Beziehungen
+unterhielten, war das nicht ein Beweis für die Rückversicherungen, deren
+sie sich versehen hatten? Und wie weit mochten diese gehen?
+
+Und woher wußte -- von allen Deckungen abgesehen -- dies im wiedererzählen
+so blitzschnelle Paar, daß sich unsere usancen voneinander unterschieden?
+
+War es die starke Gegenwärtigkeit des wuchtigen Tisches, um den wir saßen,
+und der wohl einst am Waldesrand Jahrhunderte hindurch als mächtiger Baum
+-- wissend und weise -- in rauschender Verschwiegenheit sein Gezweige
+ausbreitete -- oder welch überspringender Funke war es nur, der mir da mit
+der unbewiesenen und doch stahlharten Sicherheit intuitiver Erkenntnis die
+Tatsache enthüllte, daß die Niederträchtigen, aus ihrer, mit
+Selbsterhaltungstrieb gepaarten Verdorbenheit heraus, die Menschen, welche
+guten Willens sind, ungleich deutlicher erkennen, als diese sich unter sich
+durchschauen. Fortunio, von Martin im Walde nicht zu reden, kannte mich
+nicht entfernt so gut wie diese zwei: welche Waffen ich gegen sie anwenden
+und welche nicht, ihnen war es nicht zweifelhaft, und für sie war ich wie
+durchsichtiges Glas. Indem sie mich haßten, wußten sie sogar, daß ich nicht
+ihrer Person, sondern ihrer Schlechtigkeit den Haß vergalt, und wenn meine
+hiesigen neuen Freunde vielleicht in ihrem Urteil über mich noch
+schwankten, diese meine erbittertsten Feinde werteten mich nach Verdienst.
+Dies war der Grund, warum sie mich verfolgten. Wer in der Tat stand
+einander im Wege, wenn nicht wir? Soweit ich zurückdenken konnte, und lange
+ehe er ausbrach, dieser elende Krieg, und dann wieder vom Tage seines
+Bestehens an, war ich für einen Frieden um jeden Preis. Mich interessierte,
+noch freute kein einziger Sieg. Nur dem Frieden gönnte ich den Sieg über
+eine so schmähliche Niederlage wie diesen Krieg.
+
+Für dieses Paar jedoch waren Versöhnung und Verständigung zwei Dinge, deren
+Möglichkeit sie mit allen Mitteln zu hintertreiben entschlossen waren.
+Dafür lebte es. Wehe dem Franzosen, der kein Jusqu'auboutiste war. Er hatte
+allen Grund, vor diesem deutschen Telramund zu zittern, und wenn nur der
+letzte Deutsche verblich, durfte für diese französische Ortrud der
+vorletzte Franzose unbesehen verbluten. Denn die Saite, auf welche sie
+beide gestimmt waren, ihr Element war der Haß. In welcher Tropenluft aber
+lebten wir heute, daß die Gemüter sich mit solcher Fieberhitze entfalten
+oder zersetzen durften? Nie hat Gelegenheit ärgere Diebe gemacht. Hier war
+Telramund -- vor dem Kriege ein ränkespinnendes, sonst aber vielleicht ganz
+traitables Männchen -- zum professionellen Verleumder und Verräter
+entartet, und Ortrud, einstens eine gehässige Klatschbase und weiter
+nichts, nunmehr zur angriffswütigen Ratte, zur erbarmungslosen
+Menschenfresserin von Hokusai.
+
+Mit solchen Wesen aber paktierte, tergiversierte, lavierte man.
+
+Und zu denken (dachte ich), daß doch sonst so viele Schutz- und
+Trutzverbände bestehen. Der Adel, die Juden, die Ärzte, Arbeiter, Bäcker,
+Schneider und Hoteliers, alle bilden sie ihre geschlossenen Gilden und
+Vereine. Und nur ausgerechnet die Menschen, die guten Willens sind, sie
+allein, die überall verstreuten und ausgelieferten, setzten sich noch nicht
+zur Wehr, berieten und versammelten sich noch nicht. Ihr Klub ist der
+einzige, der noch nicht zustande kam, ihre Statuten, ihre Geschlossenheit,
+ihre Einigung, welche doch gleichbedeutend wäre mit ihrer Vorherrschaft,
+über alle Grenzen hin. Denn nichts scheut ja das Geschmeiße so sehr wie
+seinen Namen und ihren Boykott.
+
+Nicht äußerste Vorsicht (die nützte gar nichts!), sondern schroffste
+Ablehnung war Telramund gegenüber am Platze. Aus jedem Wort, das ich sagte
+oder zu erwidern unterließ, wurden jetzt handfeste Stricke wider mich
+gedreht. Solche Leute zu kennen, sie zu sehen, _dies_ war der kapitale
+Fehler.
+
+Ortrud kam immer wieder auf meinen Flügel zu sprechen, und als sie sich zum
+Gehen anschickte, bezeigte sie eine Neugierde, ihn zu besichtigen, als
+handelte es sich um einen neuentdeckten Raffael. Der Gedanke aber, daß die
+beiden als die ersten meine unteren Zimmer betreten sollten, bevor ich sie
+noch bezog, versetzte mich in eine so abergläubische Verwirrung, daß ich
+die Treppe hinablief, um sie daran zu hindern. Allein die Türen standen
+offen, und ehe ich sie schließen konnte, hatten Telramunds meine Schwelle
+überschritten und waren meine ersten Besucher gewesen.
+
+Abends bei A. H. Pax. Ich ärgere mich über Bemerkungen, die dort fallen:
+Brücke von Kirchenfeld; die müsse ich doch kennen. Was ist das nun wieder?
+
+18. FEBRUAR. Meine »Wohnung« ist ursprünglich ein großes Zimmer mit Alkoven
+gewesen und nun durch eine eingebaute Wand so unwirsch in zwei geschnitten,
+daß sich das Auge an den falschen Massen immerwährend stößt. Aber die
+Farben bringen einen gewissen Trost, eine Suleikaportiere, indisch mit
+scharlachrotem Rand, führt in ein drittes vorgebliches Gemach, und der
+Flügel macht sich ausgezeichnet.
+
+ * * * * *
+
+Besuch der Miß Annie A. Wir hatten uns seit dem Kriege nicht mehr gesehen.
+Sie ist mütterlicherseits deutsch wie ich französisch, väterlicherseits
+englisch wie ich deutsch. Nur ist sie nebenbei auch ein Engel von Güte, und
+das bin ich nicht. Doch ach! andere werden schon mit mir bemerkt haben, daß
+gerade solche Engel von Güte es so oft nicht über sich bringen, die
+Vortrefflichkeit derjenigen anzuzweifeln, deren Instanz sie zunächst
+unterstehen, ja die es für eine Perfidie halten würden, ihren eigenen
+Zeitungen und eigenen Machthabern nicht zu glauben. Wer kennt sie nicht,
+diese Engel von Güte, mit ihren »they say«, ihren »man sagt«, ihren »on
+dit« und ihren »si dice«. Unbesehen ist für sie der Teufel überall nur
+drüben.
+
+»Mein Deutschtum ist tot in mir«, sagte sie. »Auch Sie sollten sich
+entscheiden.«
+
+Dasselbe Ansinnen, nur umgekehrt natürlich, war mir in Deutschland zu oft
+gemacht worden, und ich war in solchen Dingen sehr abgebrüht. »Was brauchen
+mich die Franzosen,« seufzte ich, »die ganze Welt steht ja auf ihrer
+Seite.«
+
+Da sie mich traurig sah, schaute sie mich betrübt mit ihren guten und
+veilchenblauen Augen an. »I thank God on my knees«, brach sie dann aus,
+»that I am English.«
+
+Auch die Variationen _dieser_ Formel waren mir vertraut. Und ich konnte
+nicht umhin, ihr von den Halbengländerinnen zu erzählen, die in Deutschland
+unter die Patriotinnen gegangen waren, von Marie von B . . ., die mich wie
+keine andere deutsche Frau in den deutschen Blättern verriß, und von jener
+jungen englischen Gouvernante in München, die ich in Tränen fand, weil
+ihre, an einen norddeutschen Offizier verheiratete Schwester soeben,
+anläßlich eines Luftangriffes auf London, von den Zeppelinen als von »our
+glorious zeps« geschrieben hatte. Aber kaum hatte ich meine Pfeile
+abgeschossen, so war mir's schon leid. Unser Wiedersehen fand also nur
+statt, um uns unsere Trennung nur um so fühlbarer zu machen.
+
+»Nichts ist mehr, wie es war!« rufe ich aus, indem ich sie in meine Arme
+schließe. Denn sie ist ein Engel.
+
+ * * * * *
+
+Bevor Annie A. . . mich gestern verließ, zog sie ein Fünffrankenstück
+hervor, das sie mir im Auftrage der Fürstin Patschouli, einer gemeinsamen
+rumänischen Bekannten, einhändigte, welche vorgab, es mir zu schulden.
+Dieser so kurzerhand beim Schopf gefaßte Annäherungsversuch war zum
+mindesten originell. Ich machte ein sauberes Päckchen aus dem Geldstück,
+bedankte mich für die schöne Gabe und bat um die Erlaubnis, ihr ein
+ebensolches Gegengeschenk machen zu dürfen. Daraufhin schlug sie per
+Telephon die Brücke zu mir und lobte einen schwarzen Kaffee, den sie selber
+braue. »Bonjour, je vous attends!« und damit hing sie das Hörrohr aus.
+
+Ich wußte in der Tat nicht, was erfrischender war, ihr Kaffee oder sie
+selbst in ihrer herzstärkenden und vorgefaßten Oberflächlichkeit. Die
+Fürstin, deren Röcke unten zusammengebunden schienen, ging mit kurzen und
+kleinen, aber heftigen Schritten, war braun wie ein Maikäfer, die
+auffallendste Erscheinung von ganz Bern, brüsk, witzig und ohne Stachel. Da
+sie eine Villa in Tegernsee und Freunde in München hatte, war sie im Grunde
+germanophil, jedenfalls bayernfreundlich, und stand außerdem stark unter
+dem Eindruck der deutschen Siege. »Je suis l'amie des bons jours«, erklärte
+sie.
+
+ * * * * *
+
+25. FEBRUAR. Zwar scheint die Sonne hin und wieder, und die Zauberwand der
+Berge stellt sich dann strahlend auf, doch das Licht bleibt spröde. Nie
+träumt dieser kalte Himmel dahin, nie ermatten die Reflexe; stets rufen
+sie: gedenk! und nie: vergiß! und ewige Gegenwart ist die Fanfare. Oder
+liegt es an mir? --
+
+»Mein gutestes Fräulein,« sagte mir einmal ein dickgebliebener Berliner
+Aufsichtsrat, »wer sagt Ihnen, daß nicht am Ende mit dem Frieden so bunte
+Zeiten kommen, daß wir uns nach den Kriegszeiten zurücksehnen werden --,
+bis auf die Schlachten natürlich«, hing er mit einer Handbewegung an, als
+wären sie ein Detail.
+
+ * * * * *
+
+ENDE FEBRUAR. Die Tage haben soviel widerwärtiges gebracht, daß mir das
+Schreiben verging. Man sollte hier mit seiner Aufenthaltsbewilligung
+zugleich ein Vorhängeschloß wie Papageno erhalten; statt dessen wird einem
+ein Nessushemd übergeworfen. Schreckliche Stöße mit Fortunio, schwere
+Havarie mit Martin im Walde. Telramund, dessen Hochöfen alle in Betrieb
+stehen, erstattete ihm einen formellen Besuch und brachte ihm zugleich mit
+dem Ausdruck seiner Hochachtung sein Bedauern vor, durch mich und meine
+Darstellungen ein so falsches Bild von seinem Charakter gewonnen zu haben.
+Halb lachend wird es mir erzählt. Ich mache ihm Vorwürfe, daß er den Mann
+vorläßt. »Ihnen danke ich ja die angenehme Bekanntschaft.« Das war im
+Herbst, sage ich, wo man noch glauben durfte, es stecke vielleicht doch
+etwas Gutes in ihm, an das man sich halten könne. Heute dürfen Sie keinen
+Umgang mehr mit ihm pflegen.
+
+Einem Glücksfall, der allen Glanz eines Hintertreppenklatsches trägt, danke
+ich es im übrigen, daß von dieser Seite wenigstens Fortunio nicht mehr irre
+an mir werden kann: er saß mit einem Freunde, als Telramund sich zu ihm
+gesellte und Äußerungen wiederholte, die er von mir vernommen haben wollte.
+»Und nun sehen Sie,« schloß er, »wie sie lügt«, zahlte sein Schöppchen und
+ging. Aber in der Eile, mir zu schaden, übersah er, daß Fortunios Freund
+zufällig Zeuge gewesen war, wie ich jene Worte nicht nur nicht gesagt,
+sondern heftig dagegen protestiert hatte, als sie vor mir fielen. Dies also
+wäre, gottlob, besorgt.
+
+ * * * * *
+
+Es ist gewiß nur recht und billig, daß auch die Überlebenden heute auf der
+Verlustliste stehen. Wie man dem Kranken, der nicht teilnehmen kann an dem
+Treiben der Gesunden, gerne darauf hinweist, wenn es draußen stürmt und die
+Fußgänger gegen Frost und Wind ankämpfen, während er in der geschützten
+Stube liegt, so möchte man heute denen, welche fallen, nachrufen: Ihr habt
+nichts verloren!
+
+Ich schreibe der Königin im Auftrage ihrer Mutter, die seit Monaten ohne
+Nachricht von ihr ist. Die Idee des Königtums ist gewiß nur deshalb in
+Diskredit geraten, weil ein verrohter, subalterner Mensch oder auch ein,
+Idiot höchst widersinnigerweise zum Herrscher avancieren konnte. Wegen
+meiner Ansichten werde ich hier viel ausgelacht. Aber wie würden sie erst
+lachen, wenn sie wüßten, wie gern ich selbst regieren möchte. Da würde man
+doch was Richtiges erleben! Kein mittelmäßiger Künstler käme bei mir hoch,
+welche Unsummen aber flössen den andern zu; kein Lämpchen ließe ich mir je
+als ein Lumen aufschwätzen, also auch kein Talent, das sich zum Genie
+aufblasen möchte. Herr Pfitzner bewürbe sich also vergebens um eine
+Dirigentenstelle an meinem Theater, und gar Herr Weingartner, welcher die
+Wiener Philharmonie herunterbrachte, wage es nicht, vor mich zu treten. Ich
+verarge es heute noch der Pariser Kritik, welche ihn seinerzeit »un jeune
+dieu« genannt hat. Denn nie hatten die Götter das Geringste mit ihm zu tun.
+
+Ach, und was für schöne Häuser ich erbauen, was für Gärten ich anlegen
+ließe! was für prachtvolle Katzen würden meine Marmorbrunnen entlang
+schweifen!
+
+Doch genug über meine Herrscherzeit.
+
+Über Weingartner, dessen Überschätzung ich der Pariser Presse verdenke,
+fällt mir die Äußerung ein, die kürzlich ein Pariser, den ich nicht nennen
+werde, einem Deutschen gegenüber, dessen Namen ich gleichfalls
+unterschlage, gefällt hat: »il y a une chose, monsieur, que nous ne vous
+pardonnerons jamais, c'est de nous avoir forcés d'aimer les Belges.«
+
+ * * * * *
+
+Den Abend bei A. H. Pax verbracht. Bei ihm kann man sagen, was einem gerade
+einfällt, ohne Gefahr zu laufen, daß es entstellt in alle Winde
+hinauswirbelt. Dieser Vorkämpfer des Friedensgedankens, der mit so
+feierlichem Ernst seine Stimme zu erheben weiß, ist bei strengster
+Sachlichkeit der gemütlichste Mann der Welt, in dessen Atmosphäre man sein
+bißchen Humor und sein verlorenes Lachen auf Augenblicke rettet. Gestern
+sprach er zwar tief entmutigt über die vollkommene Unmöglichkeit, gegen den
+so geschickt angerichteten, so eifersüchtig gehegten und drinnen und
+draußen immer neu genährten Wirrwarr in den Köpfen der allermeisten
+Deutschen auch nur das geringste auszurichten. Plötzlich tauchte ein
+Nachmittag in München aus dem Sommer 1916, ein schattiger Garten, ein
+gedeckter Tisch, zwei Damen, die davor saßen, vor mir auf, und wie eine
+phonographische Platte spielte sich in hemmungslosem Bayrisch ein
+halbvergessenes Gespräch so getreulich in mir ab, daß ich mit einem Male
+alle Rollen in einer Person herunterspielte.
+
+Wir brachen alle in ein schier trostloses Gelächter aus. Waren nicht ganze
+Generationen mit allen brauchbaren Argumenten des Scheins in ein Wirrsal
+gelockt, dessen Dunkel den Tag derer ausmachte, die es unterhielten, so daß
+sie jede anbrechende Helle augenblicklich verscheuchten?
+
+Und mußten nicht fast alle Gehirne vermodern, ohne zu erfahren, was denn
+eigentlich los ist? Mit so teuflischem Geschick sind alle Ausgänge der
+Lügenburg zementiert, in welcher sie sich narren ließen. Unschuldig
+Betörte. War es nicht überall so?
+
+Unter den Tagebüchern, welche an den deutschen Gefallenen vorgefunden
+wurden, erzählte neulich Abigail von der agence, seien manche sehr schöne
+zum Vorschein gekommen. »Warum veröffentlicht Ihr diese nicht auch?« rief
+ich. »Nous n'avons« sagte er, »qu'à nous occuper des atrocités.«
+
+ * * * * *
+
+Dafür, daß ich so viele Dinge nicht verstehe, werde ich mit den paar
+Gedanken, die mir im Kopfe sitzen, viele Jahre nach meinem Tode
+wahrscheinlich recht behalten, so zum Beispiel mit meiner Skepsis betreffs
+der Demokratie. Aber natürlich ist es für andere ärgerlich, das, was immer
+sie mich lehren, und was immer ich lerne, gerade nur eben jene paar
+Überzeugungen weiter ausbaut und nur ihnen zugute kommt. Jede Erkenntnis
+geht nun einmal bei mir auf Kosten einer ganz exemplarischen Unbegabtheit.
+
+Es müßte einer blind sein natürlich, um an den Sozialismus und seine
+Unerläßlichkeit nicht zu glauben. Aber in Wirklichkeit ist heute keiner
+sozialistischer geworden, als er es von je gewesen ist. Es scheint nur so.
+Machen wir uns nichts vor. Wir haben uns den Sozialismus eingebrockt. Dank
+unserer Verkehrtheit nur ist er die einzig richtige Parole. Er ist kein
+Ziel, sondern ein Weg. Keine andere Brücke ist stark genug, uns aus unserer
+baufälligen Welt zu den neuen Ufern hinzutragen, wo die neuen Autokratien
+auf ganz neuer Basis sich erheben werden. Nur durch den Sozialismus, dieser
+fausse sortie aus einer Welt der Standesunterschiede, kommen wir zu einer
+neuen Welt der Standesunterschiede, der Herrenkaste und der Knechteschar.
+
+Für diesen Glauben will ich mich gerne köpfen lassen, denn geköpft, sagen
+die andern, werde ich ja doch, entweder von rechts oder von links.
+
+Mittlerweile bin ich viel zuviel unter Menschen. Es geschieht aus Trägheit
+und einer Art von Furcht. Denn bin ich nicht zufriedener allein und so viel
+weniger allein, wenn ich allein bin? Füllt sich dann nicht die Luft mit
+Geistern guter und hilfreicher Art? Und bin ich dann nicht umgeben?
+
+28. FEBRUAR. Forsell als Don Juan: der Tod als Objekt der Kunst. Forsell
+ruft ihn und mißt sich mit ihm. Gewiß ist der Tod nur was wir aus ihm
+machen: der größte Individualist fürwahr! Welche Feigheit jagt mich so oft
+von mir selber fort zu den Menschen hin, oder hält mich ab, mich ihnen zu
+entziehen? Ist es das grauschleichende Verzagen vor jener eisigen
+Verlassenheit, in die wir eingehen werden? Hinter dem ganzen
+Geselligkeitstrieb der Menschen steckt ja viel mehr Todesangst, als man
+glaubt. Die einen fürchten sich vor dem Sterben, die andern vor dem
+Gestorbensein; auf dieses, nicht auf jenes gilt es, sich zu bereiten.
+
+3. MÄRZ. Ich fahre nach Lausanne und gehe dann nach Ouchy hinab, eine
+Bekannte aus München zu besuchen. Beißend kalter Wind. Wir besprechen die
+letzte Affäre. »Das Schreckliche ist, daß immer alles aufkommt bei uns«,
+äußerte sie. So ein Pech! Im übrigen sagte mein guter Vater immer: »In der
+Politik gibt es keine Moral«; à qui la faute, wenn die Deutschen dies für
+ein unabänderliches Weltgesetz halten, so feststehend wie Tag und Nacht und
+die vier Jahreszeiten? gewiß an ihrer Gedankenlosigkeit, aber gewiß noch
+mehr an den Vorbildern, welche sie haben. In der Politik gibt es keine
+Moral. Sie sagen es wie: Ehre Vater und Mutter, oder: Du sollst nicht
+stehlen. Ihre Fantasie liegt ja nicht auf diesem Gebiet.
+
+8. MÄRZ. Besuch des sozialistischen Reichstagsabgeordneten W. H. Er ist
+gegen den Unterseebootkrieg. Ich glaube, daß er unter dem Krieg leidet.
+Aber was mich an diesen Sozialisten so furchtbar erbittert, ist die
+Preisgabe des deutschen Volkes, auf das sie sich berufen, indem sie
+vorgeben, diese oder jene Konzession an die Gegner »ihm nicht zumuten zu
+können«. Vor August 1914 gab es kein friedfertigeres auf der Welt: wie die
+Posaune des letzten Gerichtes erscholl ihm der Schlachtenruf; es stand auf,
+und von da ab glaubte es alles. Wäre es unglücklicher und beunruhigter
+gewesen, man hätte es weniger leichtgläubig gesehen. Aber weil es sich
+belügen ließ, sollte es nicht auch noch verleumdet werden. Im Januar 1917
+lauerte ich im Hause einer Bekannten dem damaligen Staatssekretär
+Zimmermann auf. Er trat ein mit der forschen Bonhomie eines
+Kegelklubpräsidenten, der mir jede Schüchternheit benahm, und als ich mit
+meiner Rede über die elsässische Frage zu Ende war, nickte er ganz kulant
+und bemerkte; »Wir müssen nur bedenken, was wir dem deutschen Volk zumuten
+können.« »In vier Tagen haben wir es hineingelogen, vielleicht lügen wir es
+in acht Tagen wieder heraus«, sagte ich. Er schien kein bißchen choquiert.
+In der Politik gibt es ja keine Moral.
+
+10. MÄRZ. Heute kam Herr v. Sch. mit der erstaunlichen und fatalen
+Eröffnung zu mir, daß sein Chef mich zu sehen wünsche. Herr v. Sch., den
+ich von London her kenne, hatte sich große Mühe um meinen Paß gegeben, und
+im ersten Schrecken fiel mir keine Ausflucht ein. Ich wagte nicht, es
+Fortunio mitzuteilen, der sicher dagegen gewesen wäre, sondern spielte
+wieder einmal mit dem Feuer und bat Aramis zu mir. Sollte ich wirklich über
+die Brücke von Kirchenfeld, so wollte ich keine Anspielungen darauf,
+sondern wünschte um so mehr, daß man es wisse, als man es ja doch wissen
+würde.
+
+Aramis kam sofort zu mir. Wir verabreden ein paar sehr direkte Sätze, die
+ich während meines bevorstehenden Besuchs möglichst pointiert anzubringen
+hätte, und daß ich nachher zu ihm kommen würde, ihm die Wirkung jener Worte
+mitzuteilen.
+
+11. MÄRZ. Sonntag. Das Wetter ist schön und warm. Die Sonne lacht bis in
+das Auto hinein, in dem ich neben Herrn v. Sch. Platz genommen habe.
+Schafwölkchen treiben so zuversichtlich am Himmel, und er hängt so hoch,
+daß ich nicht sogleich die leise Hoffnung unterdrücke, der Besuch würde am
+Ende doch nicht ganz resultatlos sein. Aber nichts von Sonne an Herrn von
+Rittersporn, vielmehr der Widerschein des sterbenden Tags. Ich hatte vor
+mir einen jener persönlich uranständigen, autoritätsgläubigen Deutschen
+strengster Observanz, die vor lauter Gewissenhaftigkeit und Loyalität und
+Treue und Ehrenhaftigkeit zur Vertretung der unehrenhaftesten Methoden
+unverbrüchlich auf dem Posten ausharren, ein Mann, der privatim gewiß nie
+eine Lüge sagte und nur offiziell und in Gottes Namen log. Mit seltsamer
+Distanzierung, als sei ich die Angehörige eines fremden Staates, fing er
+das ganze Weißbuch mit einer so deprimierenden Weitschweifigkeit an
+aufzusagen, daß wirklich nur das fehlte, was es selber wegließ. Er war
+bleich, müde, sichtlich schwer unter dem Kriege leidend. Endlich wurde er
+fertig mit seinem récital, und ich hatte das Wort in diesem großen,
+vielfenstrigen, hellen und doch so unfrohen Salon, in dem keine rechte
+Zuversicht aufkommen wollte. Zwar schien auch ihm die französische Frage
+vor allen andern am Herzen zu liegen, aber das Feuer, mit dem ich sprach,
+dünkte mir selber deplaciert. Hier ist ein Stuhl, schloß ich, faßte ihn mit
+beiden Händen und sprang auf, hier ist ein Tisch: nur eins ist heute
+wichtig auf der Welt: die Formel zu finden, welche es den Franzosen
+ermöglicht, in diesem Stuhle Platz zu nehmen! »Ich bin vollkommen Ihrer
+Ansicht«, sagte er. Und zum ersten Male schwante mir, wie wenig er
+vermochte. Auf Aramis übergehend, hob ich jetzt seine Beziehungen, sein
+Geschick, seinen guten Willen hervor, sowie die Chancen, die er als
+Vermittler bot. Hier jedoch fiel ein Schatten. Ich fand keinen Anklang. Es
+war die alte Kamarilla, ich merkte es wohl, vielleicht auf indirekte
+Umtriebe Telramunds zurückzuführen, aber auch Widerstände,
+Unsachlichkeiten. Ich hatte Carry mit Aramis zusammengeführt, ohne
+Parteinahme, weil es sich von selbst ergab, und man mißgönnte ihm den
+Vorsprung. Auch Carry war voll Ehrgeiz, aber er besaß Schwung, eine
+künstlerische Ader, Sinn für Kameradschaft, Ritterlichkeit. Man wußte, wie
+man mit ihm dran war. Auf seine Fehler wie auf seine Tugenden fiel das
+Mittagslicht. Il ne ment pas, hieß es auf gegnerischer Seite von ihm. Dies
+besagte so viel in Tagen wie den unsern! In der europäischen Literatur
+ungemein bewandert und von regstem Geiste, besaß er zudem eine glückliche
+und wohltuende Art mit Menschen umzugehen und hatte etwas Jünglinghaftes
+bewahrt. Selbst ein Mischling, war er rassenmäßig den andern lange nicht so
+fremd wie seine zünftigeren Kollegen.
+
+Es war nahe an zwei Uhr. Vergebens mahnte man zu Tisch. Daß die Unterredung
+sich so in die Länge zog, unterstrich ihre Nutzlosigkeit nur noch mehr. Auf
+dem Heimweg, in dem schneidend kalten Alpensonnenlicht wurde es mir mit
+jedem Schritt bewußter. Die Aare floß so leuchtend blau wie vor zwei
+Stunden, als ich über die Brücke fuhr. Mutlosigkeit aber drückte mich in
+diesem Augenblick zur Greisin nieder. Wie eine Hundertjährige lehnte ich
+über das Geländer und sah zu den Kindern hinab, die wie besessen schrien.
+Dann raffte ich mich auf und rannte die kalten Schatten der Keßlergasse
+entlang zu mir hinauf. Plötzlich fühlte ich, wie verausgabt ich war, warf
+mich auf den Diwan und schlief ein. Aber um vier Uhr erwartete mich Aramis,
+und dies weckte mich beizeiten. Ich strich jetzt die Lauben auf der
+Sonnenseite hinauf. Oh wie deutlich ist mir der Schein, in dem sie lagen!
+Wie ein tobender Schmerz, der auf Sekunden aussetzt, riß er mich auf einen
+langen Augenblick in seinen Bann, tauchte mich schonungslos unter in sein
+Gold, ließ mich bewußtlos werden wie die uralten Häuserreihen, die es
+durchdrang: unempfindlich werden vor Empfindung.
+
+Bei Aramis herrschte an diesem Vorfrühlingstage schon sommerliche Kühle.
+Eine leise Spannung lag in seinen Zügen, und die Wärme, mit der er mich
+begrüßte, kontrastierte doch recht seltsam mit dem Empfang, der mir vor ein
+paar Stunden zuteil geworden war. Was ich ihm aber zu sagen hatte, war so
+verdammt unwesentlich, derart neben hinaus, daß ich erschrak, indem ich es
+formulierte. Es ließ keine Spur von Bereitwilligkeit, ihn ernst zu nehmen,
+verraten. Und da es vollkommen zwecklos gewesen wäre, ihm etwas vorzulügen,
+durchschaute er natürlich die ganze rettungslose Sturigkeit, in die man ihm
+gegenüber sich versteifte.
+
+17. MÄRZ. Abends bei Dätwyler im kleinen Zimmer mit Carry und Fortunio.
+Dieser entfaltet mir gegenüber eine aggressive, ja feindselige Haltung
+größten Stiles, die keinen Zweifel läßt, daß er von den Vorkommnissen der
+letzten Tage gehört hat. Heftige, immer heftigere Szenen auf dem Heimweg.
+Ich bebe vor Zorn und sehe ihn so haßerfüllt an, daß er erschrickt. Eine
+schlaflose Nacht krönt die Explosion.
+
+Wie ungerecht war Fortunio! Wie falsch wurde ich hier gesehen! Im Juni
+wollte ich nach München fahren und dachte heute schon an das Schlößchen im
+bayrischen Vorgebirge wie an eine selige Insel. Waltete dann Telramund noch
+hier -- soviel stand fest --, so kam ich nicht zurück.
+
+Und ich suchte Trost, indem ich an das Schlößchen dachte, angelehnt an den
+ernsten Berg: an die lange hölzerne Laube mit dem hölzernen Gartensaal; wie
+von Adalbert Stifter für eine seiner Verlobungsszenen erdichtet. Und die
+Freundin selbst, die immer Werdende mit der weiten Note der Leidenschaft,
+wer, kam ihr gleich? Ging, blickte, lächelte, lebte sie ihren Tag von Jahr
+zu Jahr nicht Göttinnen ähnlicher? Wer kannte sie? Wie schön und insgeheim
+war unsere Freundschaft verkapselt! Wie verlor die innere Einsamkeit so
+manche Schärfe zwischen uns! Weil ich den Spiegel ihres Wesens
+unausgesprochen mit mir führte und sie es wußte, war ich, die immer
+Zusammenbrechende, ihr Halt. Wer vergalt mir dies hier? -- Eine Fratze sah
+man statt meiner.
+
+18. MÄRZ. Sonntag. Fortunio in dunkelblau und Strohhut holt mich ab, um
+nach Worb zu fahren. Es hat sich auf die Feindschaft von gestern wie ein
+neuer Friede zwischen uns aufgetan. Wieder liegt das Land in jenem
+schonungslosen Licht des Berner Oberlands, das, ich weiß nicht warum, in
+die Seele schneidet. Aber das Wetter war so warm und strahlend, daß man
+immer wieder innehielt, vor einer ersten Blume, ein paar Schafen, einem
+Hause. Wir sprechen heute in aller Ruhe über die Dinge, über die wir
+gestern stritten. Ich sagte ihm, daß ich manchmal mit der Sicherheit einer
+Mondsüchtigen Dachrinnen entlanglaufen müsse; wenn sie dann herunterfällt,
+ist es ganz und gar ihre Sache. -- »Ich fürchte weniger, daß Sie vom Dach
+als zwischen zwei Stühle fallen.« -- »Aber das ist ja gerade mein Platz!
+Jeder von uns ist heute stärker sich selbst, handelt unweigerlicher seiner
+Natur nach als jemals zuvor, und ich habe es halt immer mit dem Vermitteln
+gehabt.« -- Er schüttelte den Kopf: »Es sieht nichts dabei heraus.« Und
+weil auch ich davon überzeugt bin, beteuerte ich, sind es nur mehr
+Gelegenheiten, die sich mir aufdrängen, welche ich ergreife. Niemand hätte
+ungerner die Brücke passiert.
+
+»Ich hätte es nicht getan«, sagte Fortunio.
+
+»Es gibt Leute, die nicht dazu da sind, nein zu sagen. Zugegeben,« sagte
+ich, »daß es die Belangloseren sind.«
+
+Wir kehrten in ein dunkles, altes Gasthaus ein, und es gab wundervolles
+Brot, wundervolle Butter und ebensolche Marmelade. Wahrscheinlich war es
+heute auch in Deutschland schön, und die Menschen suchten das Freie dort
+wie hier. Es sei denn, daß sie es vorzogen, sich nicht hungrig zu laufen,
+da es ja in keiner Herberge etwas Richtiges für sie gab. Besonders die
+Kinder . . . so ist einem heute alles vergällt.
+
+21. MÄRZ. Der Brief einer Deutsch-Amerikanerin, die sich auf der Rückreise
+nach New York in Zürich aufhielt, setzte mich in großes Erstaunen.
+Kinderlos, von Haus aus eine biedere Württembergerin mit steinschweren
+Augen, war sie, in Ermangelung jeglichen Ventils für ihre natürliche
+Schwermut, dem Okkultismus verfallen und ein Schreibmedium geworden. Sonst
+ohne andere Interessen -- selbst während des Krieges -- als ihren Mann,
+ihren Haushalt und allenfalls ihre letzte Häkelarbeit, paßte dieser vom
+Zaun gebrochene Brief -- wir kannten uns kaum -- in keiner Weise zu ihrem
+Phlegma. Wie kam sie zu meiner Adresse? -- Sie schrieb mir, daß sie mich
+warnen müsse.
+
+
+Zürich.
+
+22. MÄRZ. Der Brief der schwäbischen Amerikanerin ließ mir keine Ruhe, und
+ich fuhr hierher. Am Berner Bahnhof kaufte ich Zeitungen für unterwegs. Sie
+waren alle von Berichten über Verwüstungen der deutschen Truppen auf ihrem
+Rückzug aus Nordfrankreich erfüllt: eine künstlich gestartete Agitation,
+dachte ich erst, um dem, in den letzten Wochen abflauenden Haß neue Nahrung
+zu geben und Öl in das abnehmende Feuer zu gießen. Denn leise, leise war
+von der Möglichkeit zu vermitteln die Rede gewesen. Da koppelten sich denn
+die Interessenten des Krieges zu neuen Präventivminen zusammen. Glich ihnen
+dieses nicht auf ein Haar? Aber zu meinem Entsetzen fand ich da jene
+Verwüstungen, und zwar mit unleugbarer Genugtuung als »militärische
+Notwendigkeit« in den deutschen Blättern bestätigt. So war jenem so
+aufgerissenen und gemarterten Boden eine neue Schmach zugefügt, und ein
+genarrtes Volk gehorchte als sein eigener Henker den Befehlen, die ein Hut
+voll toll gewordener Idioten, »Oberste Heeresleitung« genannt, ihm
+erteilte. Diese »militärischen Notwendigkeiten«! Oh, wieviel deutsche
+Landsmänner würden ihretwillen kläglich verderben! -- Ein Sturm brach in
+mir los, um so heftiger nur, als er in Ohnmacht sich entfesselte und seinem
+Rasen nichts im Wege stand, als die Wurzeln meines Seins, an welchen er riß
+und, wilden Regentropfen gleich, kalte Tränen aus meinen Augen schlug.
+Stäupen hätte ich sie lassen mögen, diese Herren Befehlshaber, keine Strafe
+wäre mir jämmerlich genug erschienen für diese menschenunwürdigen Köpfe,
+deren Nasen kurz ausliefen wie die Schnauzen der Hunde, oh! ebenso unfähig
+wie Hunde den geistigen Gang der Dinge zu spüren! Und die erbärmlichen
+Blasen dieser infantilen Gehirne, durch ein Wunder des Teufels für
+wirkliche Felsengebirge gehalten, beherrschten und verrammelten heute als
+»militärische Notwendigkeiten« alle Straßen der Welt! Nein! das war kein
+Leben! Es war nicht zu ertragen! Es war mir fremd das Geschlecht, das
+solche Dinge befahl und sich nicht scheute, sie auszuführen. Und ich war
+betroffen! und ich war mitgefangen. Mitgehangen war ich, ohne mitzugehen!
+-- Der Zug lief in die Halle ein; die Passagiere verließen ihn. Hatte der
+Wahnsinn der Welt mir den Verstand geraubt? -- Ich konnte mich nicht
+besinnen, weshalb ich da auf dem Zürcher Bahnhof stand. Er war von
+beißendem Nebel erfüllt, und mit hochgestülpten Kragen eilten alle dem
+Ausgang zu, während ich, den Mantel am Arme, im dünnen Kleide dastand, in
+unerträglicher Hitze und stürmisch bereit, aus dieser Welt, wie sie sich
+drehte, davonzulaufen. Ein Dienstmann fragte, wohin ich wollte, und ich
+sagte, daß ich es nicht wisse. Uralte Instinkte der Rachsucht und der
+Wildheit tobten in mir wie einst die Peitschen des Xerxes gegen das Meer!
+Ha! was wollten sie noch in der Weltgeschichte, diese verspäteten
+Hanswurste in dem lächerlichen Aufzug ihrer frisierten Helmbusche, ihrer
+aus gelbem Blech gedrehten Achselrollen, den zurückgeschlagenen roten
+Eselsohren ihrer Mäntel, ihren albernen Säbeln, gut für ein Possenstück,
+gut für ein Schaukelpferd, ein Ulk, bevor wir uns erniedrigten, davor zu
+zittern.
+
+Wie es zusammenhing, daß ein fliegender Zeitungsstand die Erinnerung
+zurückrief, welche mir doch gerade die Zeitungen geraubt hatten, mögen
+andere erklären, ich telephonierte an Frau Eleonore Grell: sie war zu
+Hause. Aber auch ihr Gatte, Onkel Sam aus Mannheim, der flinke
+Geschäftsmann mit dem schnurrigen Schnurr- und Vollbart, befand sich at
+home. Er hatte sich das okkulte Getaste seiner Frau energisch verbeten und
+glaubte es infolgedessen längst unterdrückt. So trafen wir uns denn bei
+Huguenin, aber sie beteuerte mir, nichts anderes sagen zu können, als was
+sie mir auf ein inneres Drängen hin geschrieben hatte. Ich ließ ihr aber
+keine Ruhe und folgte ihr auf gut Glück in ihr Hotel. Und richtig war ihr
+Mann inzwischen ins Freie spaziert.
+
+Wir setzten uns ans Fenster, welches die Limmat überhing. Der See, die
+Wolken und das ferne Bergland leuchteten im Abendschein grüßend und
+verträumt in dies hochgelegene Zimmer.
+
+ * * * * *
+
+Hier schalte ich für den Leser eine Warnung ein: die Unwirklichkeit spielt
+in diesem Buch so stark in die gröbste Wirklichkeit hinein, daß ich gerade
+die besten, an die ich mich doch wenden möchte, abzustoßen befürchte. Aber
+ich muß mich streng an die Begebenheiten und ihre Reihenfolge halten, und
+wenn ich nicht ebenso chronologisch das große Spiel der Schatten mit
+hereinbeziehe, ist dieses Buch nicht wahr.
+
+Sobald wird ja der Okkultismus seine besondere Peinlichkeit gewiß nicht
+los. Denn für Namenloses ziehen da Benennungen mit großem Schwalle herauf,
+und geistiger Brechreiz ist die unweigerliche Folge. Wer sich heute auf den
+Weg zum Nichts aufmacht, ist jenen Steinklopfern vergleichbar, die auf ein
+fragliches Echo hin die Felsenwand behämmern, und mitten im treibenden
+Geröll Schutt ablagern, wo kein Liebhaber des Schönen seinen Fuß noch
+setzt. Und doch wird für ihn vielleicht die Straße hier gelegt, die nach
+dem dornenumwachsenen Reiche schaut, vor welchem Ferne, Wachstum und
+Allmählichkeit entstürzt. Denn ob dein Sarg noch auf den Schultern derer
+lastet, die ihn hinaustragen, oder ob deine Grabesinschrift seit Jahr und
+Tag verwitterte, ist gleich.
+
+ * * * * *
+
+Ich kehre zurück in das hochgelegene Hotelzimmer, wo wir auf einem roten
+Repssofa beim Fenster saßen, das die Limmat und den See und Ferne und
+Gebirge übersah. Von Heerscharen erfüllte sich die Luft. -- Auf den Ruf
+welches Jagdhorns -- uns Tauben nur unhörbar -- eilten sie her? -- Wie
+durchsickertes Gestein so schwoll die Stube an. War der Ansturm der
+Schatten das Neue, was es unter der Sonne gibt? -- Aber schon war ich des
+einfachsten Denkens nicht mehr fähig: alle Poren des Gesichtes sanft
+gebläht, ergoß sich unaussprechliche Verlorenheit, ein hinträumen,
+unbeweglich wie ein Leben lang. Das Herz erstickte von all dem Sang und
+Braus. Kein Mißton trübte den unendlichen Chor. Ein Chor sage ich. Kein
+Ungebetener darin. _Hier war die Sichtung:_ volles Orchester, nicht wie in
+unserer Mitte unreines dazwischenfahren, grelles übertönen eines unbefugten
+Soprans. _Ausgekämpft!_
+
+Ganz versunken in den Vielen oder in mich, selbst? -- (ich unterschied es
+nicht) -- faßte ihr wissen und ihr begreifen das, ganze Herz. Des Mediums
+hatte ich vergessen. Mir zu Liebe, es ist wahr, doch auf sein Geheiß nur
+waren sie hergewallt, so _dicht_! so feierlich gedrängt! »Sieh dich vor, du
+kannst nicht wissen, du bleibst allein, oh!« . . . stammelte die Feder.
+
+Wozu war ich denn hergereist, wenn nicht sie zu vernehmen? Und nun dünkte
+mich dies so fremd und kindisch, ein Bilderbuchbegriff. Gab es denn im
+Scheine dieser wogenden Luft etwas wie eine Zukunft? Führte man sie nicht
+mit sich wie ein Geweih? Wuchs sie nicht an mit uns? War sie denn nicht der
+eigene Hauch, der eigene emporstrebende oder schwankende, flackernde oder
+in nichts zerrinnende Schatten? Stand sie nicht als der Wald, der aus
+seinen Tiefen unsern eigenen Ruf zurückhallt? -- so die Völker, so der
+einzelne. Was immer ihnen glückliches oder grausames begegnet, jeden Zufall
+riefen, beriefen sie herauf. Wir nennen's Zukunft! --
+
+Frau Eleonore Grell hielt mir ein Blatt entgegen, das mit den Schriftzügen
+eines zehnjährigen Mädchens überzogen war. Es besagte immer dasselbe: Im Nu
+war alle Weisheit abgeworfen und die Furcht, die mich hierher getrieben
+hatte, wieder da.
+
+Verwirre sie nicht, schrieb jetzt Eleonore, und als sie diese Worte gelesen
+hatte, legte sie augenblicklich die Feder weg. Nichts hätte sie vermocht,
+sie wieder aufzunehmen. Die Sitzung war zu Ende.
+
+23. MÄRZ. Ich fahre nach Bern zurück. Fortunio kommt mir entgegen, und ich
+frage ihn, was von den Berichten über die Verwüstungen zu halten sei. »Die
+deutschen Communiqués geben sie ja selber zu,« seufzte er, »sie brüsten
+sich sogar.« Wir überschritten den Platz zum Kasino. Das Gebirge strahlte
+im vollen Ornat. Wir setzten uns ins Freie und starrten, Verbündete der
+Verzweiflung, ohne zu reden, vor uns hin.
+
+ * * * * *
+
+Fortunio fragte, warum ich in Zürich gewesen sei, und ich verweigerte die
+Auskunft.
+
+24. MÄRZ. Auch meine vier Wände sind mir verleidet. Die Sonne scheint
+grell, verletzend, und nachts faßt mich der Schlaf nur wie eine Kranke, um
+mich zu erschrecken. Ein Gesicht wendet mir so gemarterte Augen zu, daß ich
+erschüttert frage: »Hast du Arme denn nicht ausgelitten?« und fahre
+stöhnend auf, weil es nur der Reflex von einem Kummer war, den diese Augen
+spiegelten. Nur ein überschwängliches Mitgefühl.
+
+25. MÄRZ. Gestern abend bei Fortunio war Abigail von der Agence, der
+hartnäckig am Thema der Verwüstungen festhielt. Auf dem Heimweg wurde er
+immer dringlicher. Logisch, folgerichtig wäre es, zu den Ereignissen
+Stellung zu nehmen; unvereinbar mit meiner bisherigen Haltung, wenn ich
+schwiege. »In der Tat!« rufe ich in einem Tone, der bitterer ist als Galle.
+»Sie reden, als wüßte ich nicht, daß Ihr die Dinge glaubt, die Telramund
+Euch von mir sagt.«
+
+Doch Abigail nahm alsbald seinen Vorteil wahr: »Sie haben es ja in der
+Hand, Ihre Freiheit des Handelns zu dokumentieren!« Je mehr er mich in die
+Enge trieb, desto schwerer wurde mir zumute, hatte er mir doch meine
+eigenen Gedanken verraten.
+
+»Es wird nicht gut.« Und ich erzählte ihm meine Züricher Reise.
+
+Er war mächtig interessiert. Ich ließ ihn trotz der späten Stunde zu mir
+herauf und zeigte ihm das Blatt Eleonorens. Es enthielt nichts, was ihm
+behagte. »Die Hand eines Kindes«, sagte er wegwerfend. Ich bereute schon,
+es ihm gezeigt zu haben, und wünschte ihn die Treppe hinab, riß die Fenster
+auf, als er gegangen war, und warf sie ruhlos, verlassen, gepeinigt wieder
+zu.
+
+25. MÄRZ. Wie in aller Welt haftete Pech meinen zehn Fingern an? Aber ich
+täuschte mich ja! Es war ein Irrtum . . . ah, es war ein Traum, so lebhaft
+aber, daß ich mit beiden Händen in die Höhe fuhr.
+
+Nachmittags bei der Fürstin, in der Hoffnung, ihre nüchterne Atmosphäre
+würde mir Ernüchterung bringen.
+
+»Et la Calicie«, sagte sie. »Ah! ils se valent bien tous, allez!«
+
+Mir wurde nicht besser, und ich ging.
+
+Über der Kornhausbrücke hing sehr niedrig eine Mondsichel, so wunderbar
+ausgeprägt, so sprechend, so beseelt, so festlich!
+
+27. MÄRZ. Nicht nur in meinem, nein, ich darf es sagen: mehr noch im Namen
+der vielen in Deutschland (oder der wenigen, gleichviel!), welche sich
+nicht äußern konnten, wollte ich gegen die neueste Kraftprobe der Herren
+Militärs protestieren, und es dabei genau so halten wie die oberste
+Heeresleitung, nur umgekehrt: das heißt mit eben derselben Arroganz über
+militärische Notwendigkeiten hinwegsehen, wie sie über menschliche und
+moralische. Meine Wohnung aber, meine Sachen, meine zurückgelassenen
+Briefe, ein gewisses Schlößchen im bayrischen Vorgebirge, das selbst mitten
+im Kriege so zauberhafte Kreise zog, dies alles sah ich vielleicht nicht
+wieder. Und, die Trennung von meinen Freunden, meine Geborgenheit? Hier war
+ich so fremd! Warum aber verhielt sich dies alles bleich, ohne Licht,
+unvorhanden, ohne Resonanz, da mir doch wohl bewußt war, daß es wieder in
+ganzer Kraft ausziehen würde? Wie jene rein umrissene und sehnsuchtsvolle
+Mondsichel, die gestern über der Brücke so tief am Himmel hing und ihn
+beherrschte. Was weiß er noch von ihr, sobald die Sonne brennt? So waren
+alle Beweggründe, die mich zurückhielten, von einer stärkeren Forderung
+entkräftet und verdrängt.
+
+29. MÄRZ. Kaum war an diesem 29. März mein Protest an das Journal de Genève
+abgeschickt, als mir eines jener erprobten Warnsignale übler Vorbedeutung,
+die wie mit Hellebarden mein so ganz auf innere Stimmen angewiesenes Sein
+umstellt halten, auf einem Rad, als hätte es höchste Eile, entgegensauste.
+
+30. MÄRZ. Schon verschieben sich sachte wie auf einer Wandelbühne die
+Kulissen: Verstummtes, Unterdrücktes belebt sich aufs neue, findet wieder
+Farbe und Gestalt.
+
+31. MÄRZ. Eine Antwort. Schon! -- »Die vielen Zuschriften, der Raummangel
+. . . meinen Brief jedoch gedächte man zu bringen.« Es steht nichts von
+einem Termin. Aber ins Ungewisse ertrage ich diesen Zwiespalt nicht. Morgen
+fahre ich nach Genf zu Romain Rolland.
+
+1. APRIL. Sonntag. Unter strömendem Regen bin ich nach Champel gefahren.
+Rolland wußte schon, warum ich kam. Er war zufällig auf der Redaktion
+gewesen, als mein Brief dort eintraf, hatte ihn gelesen und war unbedingt
+für dessen Veröffentlichung.
+
+Ich sprach dann beim Journal de Genève vor und erwirkte, daß der Protest am
+übernächsten Tage erscheinen würde. Somit war die Sache erledigt, und ich
+ging.
+
+Das Wetter hatte plötzlich umgeschlagen. Es wehte eine schneidende Luft,
+aber See und Himmel strahlten in frühlinghafter Bläue. In mir derselbe jähe
+Szeneriewechsel.
+
+Ein erstickend schwerer Vorhang riß magisch in die Höhe. Nicht der Salève,
+der sich hier an allen Straßenecken türmte, sondern die bayrischen Berge in
+ihrem seelenvollen Dunst und ihre Waldungen verstellten mir den Weg, und
+die betrübten und bestürzten Mienen meiner zurückgelassenen Freunde. Es war
+die Trennung von ihnen, das Exil. Drüben im Vorgebirge das Schlößchen, das
+wie eine selige Insel auf dem dunkeln Meer dieser Zeiten träumte, die
+schöne und musenhafte Freundin, die mich dort erwartete, die dort
+verbrachten Herbst- und Sommerwochen.
+
+Tausend Erinnerungen setzten sich wie Trauerglocken in Bewegung. Oh teuer
+erkaufte Ruh!
+
+4. APRIL. Bern. Abigail besucht mich; sehr gespannt. Ich sage ihm, wie
+Rolland, den er immer anschwärzt, sich verhielt.
+
+5. APRIL. Der Protest ist heute erschienen. Ich kaufe das Blatt, ohne den
+Mut zu finden, es zu entfalten.
+
+ * * * * *
+
+Ich übergehe die nächsten Tage. Diese Aufzeichnungen sind ja nicht verfaßt,
+um Gemütsbewegungen zu schildern. Ganz andere Zwecke verfolgt dieses Buch.
+Auch ist die Zeit nicht mehr, und man wird härter. Nur im Hinblick einer
+Einsicht, einer Erkenntnis, wo Erfahrungen mit immer verstärkter
+Deutlichkeit den Charakter des Lebens kennzeichnen und Kommentare stellen
+zum Schicksal überhaupt, dürfen wir dabei verweilen. Kein größerer Wahn als
+der, zu glauben, man kenne das Leben, um es ausgekostet, sich mit allen
+seinen Genüssen, Schrecknissen und Abenteuern vertraut gemacht, viele
+Männer oder Frauen gekannt oder geliebt zu haben. Es starb so mancher
+ahnungslos dahin, welcher die ganze Welt bereiste. Auch nicht wer Gefahren
+überstand, nein, sondern wer die Gefährlichkeit des Daseins, dessen
+Gefährdetheit durchschaute, die wie ein giftiger Trank sich unablässig
+bereitet und immer die Hefe zurückläßt, um sich neu zu mischen, nur wessen
+Auge geschärft wurde für die Schatten, die im Tageslicht aufpassen, nur der
+weiß über diese Welt Bescheid, und in ihm lebt das Bewußtsein -- bitter wie
+die Aloe --, daß er umsonst gelebt hat, wenn die Schule, durch die er ging,
+anderen nicht zur Lehre dienen wird.
+
+Das erste war übrigens, daß mich die Fürstin ans Telephon rief: »C'est
+désastreux! quelle folie!« sagte sie unverblümt; und als ich sie besuchte:
+»Je dis ce que je pense, mais est-ce que j'écris, moi? -- Pas si bête!«
+empfing sie mich und kochte mir mit heftigen Bewegungen Kaffee.
+
+Dann aber kam Besuch: eine offiziöse Engländerin, deren Mann mit atrocités
+allemandes einen schwunghaften Handel trieb, und ein russischer Diplomat
+von professioneller Verlogenheit, die mir Komplimente machten und mich
+einluden. Wie schwül mir da wurde! Nein, so war es nicht gemeint, und ich
+gehörte nicht hierher! Nicht hierher und nicht dorthin. Bevor die Fürstin
+mich mit einer ihrer Brüskerien zurückhalten konnte, war ich ausgerissen
+und die Treppe hinabgeeilt.
+
+Fortunio, der mir auf der Straße begegnete, nahm dieses typische
+Palaceerlebnis von der komischen Seite und lachte. Wir saßen zusammen, als
+Telramund im biederen Pelzrock, an seiner Rechten die Menschenfresserin von
+Hokusai, mit jener so charakteristischen Verleumderwärme, die unbedingt
+etwas anderes scheinen möchte, auf uns zueilte. Seine Hand weit
+entgegenstreckend, brachte er mir rückhaltlose Schmeicheleien zu
+herzhaftestem Ausdruck. Fortunio, welcher fühlte, wie bitter sie mir
+mundeten, lenkte das Gespräch auf andere Dinge.
+
+13. APRIL. Den Abend mit Fortunio und Abigail verbracht. Wir sprachen von
+Träumen. Abigails sehr spekulatives Gehirn kann sich in so feinen Windungen
+verlieren, daß es sich beizeiten von seiner höchst stofflichen Person
+vollkommen losgelöst darstellt. Plötzlich, mitten in einem Satz, den er
+sagte, lebte ein geradezu abscheulicher Traum der vergangenen Nacht in mir
+auf, und schon begriff ich nicht mehr, daß ich mich jetzt erst auf ihn
+besann, unterbrach aber sofort das Gespräch, um ihn zu erzählen. --
+»Achtung!« rief ich, »so etwas Widerliches habt Ihr noch nicht gehört:
+
+Ein Mann, von dessen schwarzem, fettem, unbeschreiblich schmutzigem Haare
+dichte graue Schuppen auf seinen Anzug regneten, war dicht an meine Seite
+getreten. Dabei zog er mit einem Kamm durch diese Strähne von nie
+dagewesener Schmierigkeit, so daß der graue Regen immer dichter fiel. Ich
+rückte unwillkürlich von ihm weg, da fuhr er weitausholend mit diesem
+treibenden Kamm in mein eigenes Haar, ich fühlte ihn noch darin stecken und
+erwachte vor Ekel.«
+
+Fortunio schwieg. Auch der zu Kommentaren schnell bereite Abigail äußerte
+sich mit keinem Ton.
+
+»Es steht mir natürlich etwas höchst Widerwärtiges bevor!« nahm ich selber
+auf. Auch diese Bemerkung weckte kein Echo. -- Man ging auf konkrete Dinge
+über. Es wurde spät. Fortunio erwähnte das neue Blatt, welches Telramund
+schon in den nächsten Tagen zu starten gedachte und wie jemand, der sich
+ungern etwas zu sagen entschließt: »Er, beabsichtigt übrigens, eine
+Übersetzung Ihres Protestes in seiner ersten Nummer abzudrucken.«
+
+»Was fällt ihm ein!« rief ich. »Das kann er nicht.«
+
+»Er kann es schon«, sagte Fortunio.
+
+»Die Friedenswarte bringt sie.«
+
+»Er will ihr zuvorkommen.«
+
+»Ungefragt? Ohne sie nur zu zeigen?« fuhr ich im lichterlohen Zorne auf.
+»Sie sind Zeuge, daß er mir nichts von einer solchen Absicht verriet, als
+er vorgestern zu uns stieß. Ich figuriere nicht in diesem Blatt.«
+
+»Fassen Sie sich doch!« sagte Fortunio.
+
+»Nein, ich fasse mich nicht. Oh Fortunio!« rief ich, »oh mein Traum!«
+
+»Schreiben Sie ihm halt.«
+
+Ich ließ sofort das Nötige herbeischaffen und schrieb zitternd vor
+Aufregung, was er mir diktierte. Dann brachen wir auf. Der gänzlich
+verstummte Abigail blieb an unserer Seite. »Die Gefahr ist natürlich,«
+bemerkte Fortunio, »daß der Brief zu spät eintrifft.«
+
+Dies sagte genug. Er wußte mehr. Meine Empörung, meine Wut steigerte sich
+mit jeder Sekunde. Je ungezügelter ich mich über den Charakter des
+bevorstehenden Blattes ausließ, desto reservierter wurde Fortunio. Je mehr
+ich sah, daß er sich ärgerte, desto mehr ärgerte ich mich über seinen
+Ärger. Der meine richtete sich besonders gegen Abigail, dessen Schweigen
+mir mißfiel. Nicht das Ungestüm, mit welchem ich auf den mir zugedachten
+Schlag reagierte, sondern die ausgemachte Tücke desselben schien mir das
+wesentliche, was unbedingt eine Parteinahme für mich verlangte. Auf eine
+solche ließ jedoch nichts in der, all die letzten Tage so überschwänglich
+gewesenen Haltung Abigails schließen.
+
+Oben in meinen sorgfältig geschmückten, aber von Telramund behexten Räumen,
+in welchen ich noch nicht eine einzige frohe Stunde verlebt hatte, noch
+fernerhin erfahren würde, brach ich in helle Flammen der Verzweiflung aus.
+Dies also war das Resultat! Zu diesem Ende also hatte ich die Worte, zu
+welchen ich glaubte, mich entschließen zu müssen, so bang gewogen, so
+behorcht. War ich dafür bis an die äußerste Kante einer abschüssigen Stelle
+vorgetreten, so weit, als mein Fuß noch Boden unter sich fassen konnte, um
+hinterrücks diesen Stoß zu erhalten? Denn was für eine Übersetzung und zu
+welchem Zwecke sie fabriziert wurde, wußte ich genau. Am Arme Telramunds,
+dieses Verräters, sollte ich an die Öffentlichkeit. Ich hatte mich, es ist
+wahr, vom Anfang des Krieges an zur Opposition geschlagen. Aber sie galt
+seinen Anstiftern und deren verworfener Gefolgschaft. Das Volk selbst tat
+mir unabänderlich leid. In meiner, von kalten Wirbelwinden der Abneigung
+durchsackten und durchkreuzten, aber dabei tiefen Liebe zu Deutschland, lag
+das Band zwischen Fortunio und mir. Oft sprachen wir davon. Und dünkten uns
+allein. Gerade unsere gallische Seite setzte uns ja auf Grund unserer
+Abgerücktheit in Besitz des Spiegels, den die unvermischt Deutschen nicht
+führen. Ihr Nationalismus ist ja Import, ihr Fremdenhaß unecht, imitiert,
+immer bereit, wie Mörtel von ihnen abzufallen. Im übrigen ist die Gefahr
+derjenigen Deutschen, welche Selbstkritik üben, viel eher, daß sie
+erstarren. Wenn es kein französisches Wort für »Gemüt« gibt, so gibt es
+noch weniger ein deutsches Wort für »affectueux«. Die Deutschen -- und das
+ist es, was einem oft an ihnen erbarmt -- sind nicht imstande, sich im
+geringsten zu hegen. Weil jede Nation seine so typischen Unholde hat, war
+Telramund, allen deutschen Germanophoben voran, gerade in dieser
+Germanophobie ein so typischer Boche. Jedenfalls durfte der Mann von Glück
+reden, daß sein und seiner Gesponsin Leben an diesem Abend nicht in meine
+Hand gegeben war. Statt dessen war es _ihr_ Trick natürlich, welcher aufs
+beste gelingen mußte, und weit entfernt, daß die beiden verdienterweise und
+auf meine Order hin vor Sonnenaufgang baumelten, haftete meinem
+Frühstückstablett am Morgen dieses 14. April die erste Nummer der
+Telramundschen Zeitung an. Sie umfaßte vier Seiten. Alle Beiträge waren
+anonym. Nur mein fettgedruckter, im Reporterdeutsch übertragener Protest
+trug meinen Namen. Ich übergehe den Zorn, mit dem ich diese wüste
+Revolverprosa las, welche hier als meine eigene stand; wie vortrefflich war
+dabei ihre Wirkung auf mich selber berechnet! Denn die Feindschaft von
+Leuten wie Telramund ist wie mit tausend Augen auf uns gerichtet, mit
+tausend Fühlern in uns verbissen. Sie kennen ja die Ablenkung ins Reich der
+Ideen nicht! Sie spinnen keine eigenen Gedanken! Ich Törin hatte, wie über
+einen Witz, lustig darüber aufgelacht, daß Telramund meinen Protest als
+eine »Manoeuvre allemande« bezeichnet hatte, ohne zu erwägen, daß er
+natürlich auf Mittel und Wege sinnen würde, dies zu bekräftigen. So galt es
+denn, mich gewaltsam über die Linie zu ziehen, die ich mir selbst gesteckt
+hatte. Dies ergab sich ohne weiteres durch den gehässigen Ton der
+Übersetzung. Das andere würde ich schon selber besorgen; denn daß ich
+reagieren, ja mich hinreißen lassen und ihm in die Hände arbeiten würde,
+wußte niemand so gut wie dieser ausgezeichnete Kenner meiner Person. Ja, es
+kam noch besser für ihn, als er wohl dachte.
+
+Fortunio, den ich sofort benachrichtigte, ließ mir sagen, er könne mich
+erst gegen zwölf Uhr sehen. Dies war mir viel zu spät. Gleich, in einer
+Viertelstunde, bevor noch irgend jemand auf die Gasse trat, mußte meines
+Erachtens etwas geschehen. Wahn! überall Wahn! In der Redaktion des Bundes
+bestand ich darauf, daß meine Verwahrung sofort in der nächsten Nummer
+stehen müsse. Es wurde mir versprochen. Immer noch war es Morgen. Rückte
+denn heute die Zeit nicht vor? Alle Hauptstraßen meidend, kam ich im
+Sturmtempo zu Fortunio, ihm das fait accompli mitzuteilen.
+
+Wenn es wahr ist, daß kein Sperling versehentlich vom Dache fällt, nun dann
+steht gewiß auch ein jeder unserer Tage unter einer bestimmten
+Konstellation, und mein Unstern feierte gerade seinen Mittag. Fortunia, die
+auf der Treppe stand, empfing mich mit einem unglücklich gewählten Wort.
+Schließlich war es ihr Haus, ich konnte sie nicht niederstoßen. An ihr
+vorbei, geradeswegs in Fortunios Arbeitszimmer, der die Mitteilung von
+meiner zu erscheinenden Notiz mit einer Kälte aufnahm, die mich unsagbar
+erbitterte. Hier bin ich fehl am Ort, dachte ich, und nahm eilends
+Abschied. Auf der Straße war es kalt. Ich sah mich um: sie war leer. »Ich
+bin verraten«, sagte ich laut. Ich hatte nur ein paar Schritte bis zum
+Haus, in dem ich wohnte. Die Hand vor den Augen haltend, als sei mir etwas
+hineingeflogen, eilte ich die Treppe hinauf und schloß mich ein.
+
+15. APRIL. Telramund (immer anonym natürlich) veröffentlicht eine hämische
+Erwiderung auf die meinige. Meinen französischen Text und seine Übertragung
+würde die nächste Nummer seiner Zeitung zusammen abdrucken. Der Leser möge
+sich dann selbst ein Urteil über mich bilden. Ich sofort wie eine
+Windsbraut, auf Flügeln des Zorns, in die Redaktion mit einer
+»Schlußerklärung«. Auch diese wollte ich sofort eingerückt sehen.
+
+Daraufhin vertiefte sich das Waldesschweigen um mich her. Fortunio war ohne
+ein Wort nach Lugano abgereist. Ich begriff es nicht. In meiner Unkenntnis
+alles dessen, was mit Partei- oder Presseinteressen zusammenhing, wollte
+mir ein Überblick der besonderen Situation nicht gelingen. Ein paar Dinge
+sah und erkannte ich mit unbeeinflußbarer Sicherheit, gleichsam durch ein
+Brennglas, mußte aber jede Einsicht mit einer Unzulänglichkeit überzahlen,
+jedes Überbieten mit einem Versagen. Wer mich für dumm erklärte, dem hatte
+ich von jeher meinen Segen gegeben. Es will keine Geographie in meinen
+Kopf; vergebens starre ich auf einen Globus; ein Morseapparat bleibt mir
+ein unergründliches Geheimnis; in scheuer Bewunderung starre ich während
+einer Panne auf die Mechanikerkünste des Chauffeurs, und so teilnahmslos
+ist gewiß kein Mensch, daß er, ohne mir beizustehen, zusehen könnte, wie
+ich meine Koffer packe. Durch Vorzüge, wie durch Mängel isoliert, muß ich
+mich selber auf mich nehmen wie ein Kreuz. Es kann geschehen, daß ich vom
+Blatt begleite auf eine Weise, die jeden Musiker empfinden läßt, welche
+Entbehrung es für mich ist, ohne Musik zu leben, und mir selbst wird zumute
+gewesen sein wie einem plötzlich freigelassenen Pferd, das über eine Ebene
+voll Sonnenlicht und Schatten fliegt. Nichts kommt seinem Rausche gleich.
+Von solchen Augenblicken wahren Lebens erwache ich zum Tode des Alltags wie
+ein Gefangener aus seinem Freiheitstraum. Gerade nach solchen seelischen
+Abenteuern aber wird es am leichtesten vorkommen, daß ich mit einer
+aufgeregten Hilflosigkeit, viel eher eines Dorftrottels, als meiner würdig,
+nach meinen vergessenen oder verirrten Habseligkeiten suche, und keiner der
+Musiker von vorhin würde mich wiedererkennen.
+
+ * * * * *
+
+21. APRIL. Besuch Abigails. Oh nichts von Komplimenten mehr! Nichts mehr
+von »femme exquise«. Wir prasselten uns Vorwürfe, groß wie Taubeneier, ins
+Gesicht. Meine Schlußerklärung sei eine Abschwächung gewesen. Ob dies der
+Moment wäre, zu sagen, daß es Boches in jedem Lande gäbe.
+
+Es sei die Wahrheit.
+
+In der Tat hätte ich die richtige Gelegenheit ergriffen, dies zu äußern.
+
+»Ihr habt ja meinen Protest als eine manoeuvre allemande angesehen.«
+
+»Cest donc une vengeance«, sagte er, indem er sich zum Gehen anschickte.
+Ich eilte zur Tür, und, vor ihr aufgepflanzt, gedachte ich das letzte Wort
+zu haben, als mir plötzlich ein Licht aufging, auch Fortunios wortlose
+Abreise mir erklärte. »Sie haben das Wort >Abschwächung< gebraucht«, sagte
+ich, »und werden dieses Zimmer nicht verlassen, bevor Sie mir selbst,
+geholfen haben, einen Nachsatz aufzusetzen, der jede Möglichkeit einer
+solchen Auffassung ausschließt. Alles andere ist mir im Augenblick egal.«
+
+Mein Entschluß einer neuen Bekräftigung konnte ihm nur erwünscht sein. Es
+setzte ihn in den Stand, zum zweiten Male Heu einzufahren, nachdem das
+erste verregnet war. Zum dritten Male schlug ich nun den Weg in die
+Redaktion des »Bundes« ein. Nicht mit Unrecht wurde ich aber dort darauf
+hingewiesen, daß sich eine Schlußerklärung mit keinen neuen Erklärungen
+vertrüge. Ich führte mit aller Vehemenz dagegen aus, sie sei für mich
+Ehrensache, und setzte endlich ihre Veröffentlichung durch. Natürlich mußte
+sie wieder auf der Stelle her.
+
+Daß hiermit ein Loch an Stelle eines Fleckens trat, war mir zwar klar. Und
+nach der deutschen Seite hin verschlechterte sich natürlich meine
+Situation, war eine Herausforderung mehr. Doch auch die formvollendetste
+Blamage durfte ich in diesem Augenblick riskieren, nur nicht, daß behauptet
+werden durfte, ich liefe vor meinem eigenen Mute davon. Ich war froh, daß
+jetzt um mich her eine solche Leere bestand, und niemand in Sicht, der mir
+einen Rat erteilen konnte. Denn der Fall lag allzu klar. Hier war es nicht
+le ridicule qui tuait.
+
+23. APRIL. An der Schnelligkeit jedoch, mit welcher jetzt meine Stimmung
+umschlug, merkte ich den Stoß, den mein Gleichgewicht erfahren hatte: meine
+Gemütsverfassung war eins mit dem herrschenden Wetter: Regen, Finsternis,
+zerrissenes Gewölke, Himmelsblau, Sonne und wieder Sturm und Schnee. Kurz
+entschlossen löste ich eine Karte, um einer Aufforderung A. H. Paxens nach
+Lugano zu folgen.
+
+Abigail, der sich nachmittags bei mir meldete, war sichtlich erfreut über
+die inzwischen schon erschienene Notiz. Aber ich hatte jetzt reichlich
+genug von der leidigen Geschichte, deren dickes Ende ja noch bevorstand,
+denn bis jetzt hatte noch kein deutsches Blatt auf meinen Vorstoß reagiert.
+
+23. APRIL. In Luzern unterbreche ich meine Fahrt und steige im Hotel Tivoli
+ab, bei Glasenfrosts.
+
+Warum aber fallen nachts Felsenblöcke über mich hin? Warum sehe ich einen
+Baum an einem unsichtbaren und doch so verzehrenden Feuer verbrennen, daß
+er im Nu nur ein Gerippe ist von einem Baum? Ohne Flamme und ohne, daß ein
+Blitz ihn traf, nur ein gespaltener Stamm?
+
+Warum stürzt von zwei Leuchtern der eine mit herabgebrannter, erloschener
+und tränender Kerze zu Boden? Eine trübe Bildersprache, die ich in diesem
+Jahre noch nicht entziffern sollte.
+
+Um Mittag fahre ich weiter. Jenseits des Gotthard gerät der Himmel ins
+Lachen. Er findet offenbar die Welt noch schön. Tröstlich prangende
+Blütenhänge und endlich, tief unten, das hingezauberte Blau des Sees, einem
+verliebten Abendhimmel hingegeben. Und die Bäume stehen hier wie sanfte,
+begütigende Bräute.
+
+Der Weg nach Paradiso ist holperig genug, auf den Bergen oben leuchten
+feurige Spieldosen auf. Die Natur ist ein Zwischenakt mit
+Verwandlungsmusik, und die Nachtluft wird von Amoretten hingetragen. Oh
+Plansee im bayrischen Gebirg! Du See auf dem Plan, so hoch oben im Wind!
+Warum schwebst du, Verwunschener, mir vor? Vor mir liegt lächelnde
+Erfüllung. Du aber bist unbegrenzte Sehnsucht und Verweigerung.
+
+Ein nachgesandter Brief von ihr, die von jenen Bergen spricht, hatte mich
+in Luzern ereilt. »Bald kommt der Sommer, schreibt sie, rücken wir ihm vor.
+Der Flügel wird schon in der Halle aufgestellt, die Schwalben fliegen gewiß
+schon ein und aus.«
+
+Die Droschke rollt jetzt auf glatter Fähre den See entlang.
+
+25. APRIL. Fortunio, welcher von meiner Ankunft bei Paxens erfahren hatte,
+kommt, verfehlt mich, telephoniert und bittet mich zum Tee.
+
+Ha! denke ich, diesen Tee soll er sich merken bis in sein achtzigstes Jahr.
+Mit vielem Bedacht staffiere ich mich zu diesem Wiedersehen heraus, um die
+Meinung, die ich mir von seinen Ritterdiensten gemacht habe, möglichst
+wirkungsvoll zu unterstreichen.
+
+Wie dem auch sei, ich trug an diesem Tage ein, wenn auch nicht neues, so
+doch neu beschlagenes Kleid mit halblangen, weit auslaufenden Ärmeln. Weiße
+Besätze, federleicht und schwarz besäumt, schlossen sie am Ellbogen in zwei
+Reihen ab. Zwischen ihnen lag wieder eine Spanne Stoffes, den sie ein wenig
+heruntergezogen, denn so dünn ihr Gewebe war, durch ihre Fülle beschwerten
+sie ihn doch. Beim Gehen glockten sie ganz leise ab und zu und hingen dann
+still, bevor sie sich von neuem bewegten. Es war in der Tat ein sehr
+rhythmisches und geglücktes Ärmelpaar. Vor allen Dingen aber -- andere
+mögen dies gewiß auch schon beobachtet haben -- können wir von einer
+»geistigen Schminke« angeflogen werden, chimärisch wie jene, welche die
+Kosmetiker bereiten -- denn auch sie, wenn sie von uns fällt, läßt uns
+fahler, aufgeriebener als zuvor. -- Indes gewährte ich den ausgestandenen
+Nöten der vergangenen Tage ihr beredtes Schattenspiel, ja ein
+selbstbewußter Schleier chiffrierte noch ein übriges dazu. Also gepanzert,
+höchst intangibel und durchaus bestechend ging ich, die ihm zugedachte
+Szene wohl im Kopf, gewandten Schrittes, als hätte ich soeben meine besten
+Erfolge hinter mir, auf ihn zu.
+
+Es gehört jedoch irgendwie mit zum Leben, daß im geringfügigen, wie im
+großen die Dinge anders verlaufen, als man sie erwartete.
+
+Zwar in der Tat eilte da Fortunio wie mit neubeschwingter Freundschaft mir
+entgegen.
+
+Seine Sympathie, erklärte er dabei, hätte nun wirklich die Feuerprobe
+bestanden.
+
+»Wie meinen?«
+
+Da nicht einmal die desaströse Erklärerei im »Bunde« vermocht hätte, daran
+zu rütteln. »Sie kennen die letzte nicht«, erwiderte ich mit der
+erkünstelten und flackernden Würde einer Überrumpelten.
+
+»Was!?« schrie er entsetzt und fuhr mit den Armen in die Luft. »Noch
+eine?!« Unglücklicherweise mußte ich lachen, und da mir dies seit drei
+Wochen nicht mehr vorgekommen war, hielt ich nicht sogleich inne, sondern
+geriet ins lachen, wie einer ins laufen gerät, und ehe Fortunios Arme sich
+wieder gesenkt hatten, war er angesteckt. Es gab kein Aufhalten mehr.
+Lachraketen stiegen jetzt in die verblaute Luft, in einer vor Wonne
+irrsinnigen Natur. Wäre ich zehnmal bedrückter noch gewesen, ich hätte
+gelacht.
+
+Bald fingen denn auch die Berge wieder an, ihre funkelnden Spieldosen
+aufzuziehen. Nicht einmal nachts wollte diese Landschaft zum Ernste
+gelangen; des Krieges selber schien sie zu spotten. Wer hatte denn recht,
+wenn nicht die Bäume hier am Strand des Sees, die ihre Düfte einander
+zuhauchten und vertauschten, und wenn sie welkten, wieder erblühten, und
+wenn sie verdorrten, andere dafür erwuchsen. Es war mir ein Schlag ins
+Wasser geglückt. Und was dann?
+
+Ich zog Fortunio mit in den Kursaal, sah den Dämchen zu, wie sie tanzten,
+gewann sechs Franken und verlor deren zwölf.
+
+ * * * * *
+
+Und nunmehr ging ein Tag blitzender als wie der andere auf, und wie in
+einer leuchtenden Schale der Vergessenheit zerfloß der See. Vergiß! Vergiß!
+
+Es hinderte nicht, daß ich Fortunio bei Gelegenheit das alte Leitmotiv
+vernehmen ließ, solange Telramunds im Hintergrunde säßen, sei jede Aktion,
+jeder Versuch, dem Haß entgegenzuwirken, im vornherein eine gescheiterte
+Sache. Er ist für das »abwirtschaftenlassen« solcher Elemente, und ich
+nicht. Denn bis sie abgewirtschaftet haben, ist ja zuviel verdorben,
+aufgehalten, zugrunde gerichtet. Fortunio, in vielen Dingen weit
+beschlagener als ich, sieht nicht, wo ich erfahrener bin als er. Gewiß sind
+ihm die Götter hold. Taucht er unter, so fischt er gleich etwas Schönes,
+hält's gegen das Licht, freut sich des Prismas und läßt sich von den Wellen
+schaukeln.
+
+Die paar Meinungen dagegen, die mir unverrückbar im Kopfe horsten, muß ich
+zu Markte tragen, und habe keine Ruhe. Muße bleibt Müßiggang für mich,
+solange ich sie nicht formulierte. Und die Aufgabe ist doch so schwer, daß
+ich vor jedem Anlauf von neuem zögere. Bis mein Tagewerk gelingt, sofern es
+mir gelingt, wird der Abend für mich herangebrochen und meine Gastrolle in
+dieser zweifelhaften Welt ausgespielt sein. Sollten meine Bücher mich
+überleben und ich selber wiederkommen, so lese ich sie vielleicht, und
+vielleicht wird mir dabei etwas sonderbar zumute. Ein Dirigent möchte ich
+dann werden. Regieren möchte ich!
+
+Die erste Katze möchte ich sein, die keine Vögel mordet. Ich bin in diese
+beiden Tiere vernarrt und wünschte, sie schlössen Frieden.
+
+Um auf Fortunio zurückzukommen: darüber sei man sich vollkommen einig,
+sagte er, wie Telramunds Verfahren mir gegenüber zu qualifizieren sei.
+
+Warum ergriff denn keiner meine Partei?
+
+Er zuckte die Achseln, wie jemand, der es aufgibt, etwas zu erklären.
+Gerade dieses Achselzucken aber gab mir endlich voll und ganz zu verstehen,
+mit welch unsäglich trübem Wasser in Politicis gekocht wurde; so zwar, als
+müßte es so sein. Diese Notwendigkeit war es gerade, die ich mich
+anzuerkennen weigerte.
+
+Ich kann gar nicht aussprechen, wie grausam mich der Plan von einem
+»Zusammenschluß der Geistigen« anlächert . . . Wie sollte ein
+Zusammenschluß der Geistigen zustande kommen, da noch ganz und gar kein
+Zusammenschluß gegen die Ungeistigen besteht? Ach, kennt ihr Geistigen die
+Welt noch immer nicht? Was redet ihr groß von eurem Zusammenschluß? Sprecht
+von Aufgebot, von einem Kampfesruf gegen den Zusammenschluß jener, denen
+alle Waffen zu Gebote stehen, welche die Gemeinheit führt, dem einzigen
+Zusammenschluß, der sich bisher verwirklichte, denn dort gebietet der
+Verworfene über den Verworfeneren, und der Verworfenste ist es, der das
+Zepter schwingt.
+
+Sprecht von Ausschluß, sprecht von Sorge. Davon sprecht, daß es keine gute
+Sache geben kann, solange schlechte Elemente sich zu ihr bekennen dürfen,
+um sie zu untergraben, ist doch an ihrer eigenen nichts mehr zu verderben.
+Zum Zerstören aber sind sie da.
+
+Gelänge es mir, auf diese noch immer nicht genügend beachtete
+Beschaffenheit der Dinge die Aufmerksamkeit zu lenken, ich hätte nicht
+umsonst gelebt. Ich weiß ja, wie sehr mein Scharfblick auf Kosten von
+Kurzsichtigkeiten geht. Welche Pein ist das! Ich stürme nicht voran, ohne
+über das Nächstliegende zu stolpern. Von ausgemachter Selbstherrlichkeit,
+wo ich meiner Sache sicher bin, unheilbar blöde, unheimlich schlau, so
+harmlos, daß man kichert, so gerissen, daß man mir mißtraut . . .
+
+27. APRIL. Ein Berliner Kriegsgewinnler, den Paxens von Wien her kennen,
+meldete sich bei ihnen zu Besuch. Der erste, dem ich mit Bewußtsein
+begegne. Nie habe man bei Hiller so gut gegessen, nie bei Borchard soviel
+Champagner getrunken. Die Welt habe jetzt die deutsche Faust
+kennenzulernen. Was Ludendorff befahl, sei _unbesehen_ das Richtige, und
+keine Kritik gestattet; (das galt mir!) Gott, wie gemütlich man hier
+beisammen säße, während die Völker einander schlachteten. (Dies sagte er,
+wie man am warmen Kamin vom Schneesturm spricht, der draußen wütet.) Allen
+könne es nicht gut gehen, bemerkte er auch. »Schweigen Sie«, rief Frau A.
+H. Pax. Er guckte etwas verdutzt. »Das ist ja schrecklich mit unserer
+Valuta«, lenkte er dann ein. »Und mit der geistigen erst!« fuhr A. H. Pax
+dazwischen.
+
+
+Kunstwerk der Zukunft.
+
+28. APRIL. Heute früh bin ich in einer Messe gewesen. Aber welche Messe! In
+einem sehr alten, dem See gegenüberliegenden und köstlichen Bau: Traumhafte
+Fresken, das übrige mit roten, langverjährten, rosagewordenen Damasten
+ausgeschlagen. So gut wie leer. Die Schellen, die der Ministrant in
+Bewegung setzt, erklingen abgetönt und sind gewiß aus Silber,
+Weihrauchwolken steigen vom Altar. Dunkel -- nein nicht dunkel, von einer
+lichten Penombra wie eine bedeckte Vollmondnacht, ohne Orgel und Gesang,
+und dennoch brausend, unendlich groß, ja wie zum Firmament -- (wie wurde
+mir?) weitete sich das stille und verlassene Haus und schwamm im All.
+
+Endlich wieder eine schöne Kirche. Die in Bern hatte ich aufgeben müssen,
+denn so war die Messe wirklich nicht gemeint. Als ich aber jetzt durch die
+schwerbehangene Türe ins Freie trat, auf den noch leeren Platz und den
+besonnten Strand, wo die Platanen ihre eben erschlossenen Kronen so
+bräutlich dem Licht entgegenhielten, da schien dies alles, diese Natur mit
+den dekorativ vor und wieder zurücktretenden Wänden ihrer Berge und das
+gekräuselte, wie in sich selbst verliebt hinziehende Gewässer, selbst der
+Himmel, der darüber hing, schien nicht so weit wie der eben verlassene,
+leicht zu umspannende Bau mit den damastenen Wänden von verblaßtem Rot.
+
+2. MAI. Die Pforte, die ins Weglose führt, wurde bisher nur im Vorübergehen
+angekreidet. Ziemt es sich doch nicht, es zu beschreiten. --
+
+Diejenigen aber, welche solange über die Schiffbarmachung der Luft
+gegrübelt haben, sind nicht dieselben, welche sich auf Äroplane schwingen,
+sondern viele Jahrhunderte werfen ihre wilde Brandung zwischen sie. Und
+doch, und doch . . .
+
+Wie in der nunmehr erkrankten Luft die Menschheit eine infizierte oder
+jedenfalls, auch ohne es zu merken, eine affizierte ist, wie vielleicht ein
+Pesthauch so allmählich unseren Planeten umschichtet, daß wir es nicht
+gewahrten, ebenso glaube ich, daß bei vielen unter uns der innere Sinn dem
+lautlos tumultarischen drängen und wogen (wo gäbe es Worte?) der so zahllos
+und so jäh entströmten Leben zugewandter ist, als sie es wissen. Da sind
+Akzente, da sind Lockrufe, die noch nicht ergingen . . . Da treiben wehe
+Schwingungen der Wonne von unaussprechlicher Pein, da greifen Klänge ans
+Herz, zerspringen und ermatten wieder, ohne zu ertönen, und da sind uns
+Zaubertränke hingehalten, als hätten wir geistige Lippen, sie zu genießen
+. . .
+
+Es war nicht mehr Nacht, aber der Tag dämmerte noch nicht. Ich schlief
+nicht mehr und war noch nicht wach. Eine Gestalt, höchst eindrücklich in
+ihrer Schattenhaftigkeit, erfüllte die Atmosphäre bis an den Rand, als
+müsse diese wie ein zu voller Becher überfließen, das Zimmer sprengen oder
+sich entflammen. Und schon war das Unnennbare ungegenwärtig, und es wäre
+lächerlich unzureichend, wenn ich sagte, es hätte sich entfernt, so ganz
+außer jeder Beziehung stand es zu Zeit und Raum.
+
+Was aber war inzwischen nochmals vor mir aufgeschimmert? Locken? -- von
+einer Gelocktheit, die es nicht gab, von einer goldenen Blondheit, die
+nicht vorkommt, ein Licht, das ich nicht kannte, schärfer, und dabei nicht
+so grell wie das des Tages. Geisterhaft? Aber es war ja von einer
+schärferen, wärmeren, pulsierenderen Lebendigkeit gewesen, als wir sie
+kennen. Wir sind nicht lebendig genug, dachte ich bestürzt, und schlug die
+Augen auf. Draußen hatte sich ein Wind erhoben. Die Fenster sahen auf den
+Garten; der Himmel ganz blaß, aber im vollen Staat. Kleine Wolken als
+Vorreiter ausgesandt. Die Bahn war frei, die Vögel vollzählig, Brust
+heraus, in Positur und einzustimmen bereit. Höchste Spannung in den Bäumen:
+kommt sie schon? Blumengeflüster: ist sie schon da? -- Es war alles wie am
+ersten Tag.
+
+ * * * * *
+
+3. MAI. Sicher haben die Menschen ihr Hofzeremoniell dem Sonnenaufgang
+abgelauscht. An sich gewiß eine hübsche Idee. Mit acht Jahren war ich im
+Kloster Page der schönen Gelmini, die an Epiphania mit dem Beinamen die
+Gerechte zur Königin ausgerufen wurde. Meine Haare wurden Tage hindurch im
+Hinblick der zu drehenden Locken mit gezuckertem Wasser gedrillt. Dem
+Hofnarren fielen sie aus der Schellenkappe tief ins Gesicht. Denn gelockt
+standen wir alle am Tage unseres Umzugs. Gelmini wurde zweimal gewählt und
+starb das Jahr darauf. Wie groß war mein Staunen, als ich später erfuhr,
+eine erwiesene Larve könne ihr Lebtag lang unter Zimbeln und Trompeten als
+»Majestät« aufziehen. Und welches Gelächter erntete meine Entrüstung! Aber
+wie oft hat der verspottete recht! Jede Epoche hat ihren wahren
+Fürstenkonzern. Wir verkannten dies ganz: darum sind heute unsere goldenen
+Kutschen remisiert. Großherzogliche Hoflieferanten, Palast- und
+Schlüsseldamen, wo seid ihr? Terror der Wiener Komtessen, wo bist du? Kurz,
+kurz ist's her.
+
+Abends im Kursaal bei Musik geschrieben. A. H. Pax will in der
+»Friedenswarte« eine tongetreue Übersetzung meines Protestes bringen, und
+da er zugleich einen Beitrag für das Maiheft wünscht, setze ich meinen
+Apparat in Bewegung. Es ist, als träten ungeheure Wasserwerke in Kraft, um
+einen Fingerhut voll zu kredenzen. Stirnrunzelnd sitze ich inmitten des Hin
+und Her von Eisschokolade und Tangotänzen, um einige Sätze über die
+elsässische Frage zu formulieren. Ich begann mit ein paar Anspielungen und
+zitierte mich aus einem Essay, den ich über die Markgräfin von Bayreuth
+geschrieben hatte: der Frau fehle es zwar nicht an literarischer Begabung,
+wohl aber an literarischer Perspektive, und für die Realität des
+geschriebenen Wortes wohne ihr auch nicht entfernt dasselbe scharfe Gefühl
+inne wie dem Mann. Heute sei hinzuzufügen, fuhr ich fort, ihr Interesse und
+ihr Verständnis für Presse- und Parteiwesen sei in der Regel gering, und
+auf jene allerletzten Endes so gedankenlose Parole: right or wrong my
+country, wäre die Frau nicht verfallen.
+
+So wird sie denn, erzählte ich von ihr, und meinte _mich_, nur wenig von
+bisheriger Politik verstehen, dafür um so mehr von der kommenden. Denn es
+ist ganz gewiß falsch, zu behaupten, man dürfe Politik nicht mit dem Gefühl
+treiben. Wie veraltet die ohne Gefühl betriebene sogenannte Realpolitik im
+Grunde schon war, hätten die zuletzt auf dem Plan erschienenen
+jugoslawischen Völker sehr wohl erkannt, als sie einst jenen brüderlichen
+Balkanbund zu gründen beschlossen, welcher dann am Widerstand der
+europäischen Kabinette gescheitert war.
+
+Es läge auch ein vollkommen richtiger Instinkt einer Versinnbildlichung der
+Nationen durch überlebensgroße Menschengestalten zugrunde: Marianne, John
+Bull, Michel, Onkel Sam . . . Von hieraus zieht sich deutlich ein Weg zur
+Einsicht, daß den Beziehungen zwischen hochstehenden Völkern genau
+dieselben Grundsätze unterliegen sollten wie zwischen hochstehenden
+Menschen. Statt sich zu überlisten und brutal zu übervorteilen, suchen sich
+diese im Gegenteil an Schonung, Großmut und Rücksicht gegenseitig zu
+überbieten. Der Wetteifer um den Rücksitz hat als Ergebnis, daß man sich
+darin teilt; statt einander zu berauben, hilft man einander aus. Man
+gesteht sein Unrecht und wird vernommen, statt verdammt. Wäre somit eine
+solche Politik nicht auch die praktischere?
+
+Ich hätte mir vorstellen können, fuhr ich fort, daß auf einer solchen
+Grundlage hin ein Dialog zustande gekommen wäre zwischen Michel und der
+unversöhnlich von ihm abgewandten Marianne. Ich könnte mir wahrhaftigen
+Gottes vorstellen, daß er -- nach Art der Liebhaber -- zu ihren Füßen
+hingerissen, die elsässische Frage vor ihr zur Sprache brächte; ich könnte
+mir vorstellen, daß im Laufe dieses Dialogs endlich ein Wendepunkt sich
+ergäbe, von wo ab beteuert würde, was verneint worden war . . . und in
+dieser Tonart lange hin und wieder so beharrlich, bis die wunde Frage sich
+zwischen ihnen isolierte, auf einen höheren Plan gehoben, langsam über
+ihren Häuptern wie eine Morgengabe schillerte.
+
+Aber den Realpolitikern dünkte die andere Alternative, der wir heute
+zusehen müssen, die gerissenere. Spätere Europäer werden sich freilich an
+den Kopf greifen; dann aber wird vermutlich das andere Schlagwort aufkommen
+vom Antagonismus der weißen und der gelben Rasse; und dann wird sich der
+Himmel verfinstern von den neuen Schrecknissen; und dann erst werden die
+Überlebenden nicht mehr bestreiten, daß die europäische Psyche durch
+Assimilierung der asiatischen die endliche Bereicherung, ja ihre letzte
+Vollendung erführe.
+
+Nicht allein, daß die grauenvollen Erfahrungen, die geopferten
+Generationen, die vergeudeten Jahrzehnte, Jahrhunderte notwendig sind, um
+diese Welt zu Anschauungen zu bekehren, welche sich der einfachen
+Nachdenklichkeit aufdrängen, sondern all diese Kriege, und die gewesenen
+sind nur Vorstufen zu einem letzten Kampf, dessen Stunde zugleich mit der
+Stunde der Vergeltung schlagen wird für jene Elemente, welche von jeher die
+schlechte Sache in der Welt betrieben oder die gute verdorben haben. Die
+Leute also, schloß ich meinen Aufsatz, welche auf den ewigen Krieg
+schwören, mögen zufrieden mit mir sein; denn bevor jene Elemente (und es
+sind stets überall dieselben) nicht gekennzeichnet und untergeordnet
+werden, glaube auch ich an keinen dauernden Frieden.
+
+ * * * * *
+
+Um mich von der Anstrengung zu erholen, setzte ich zehn Franken und gewann
+zwei. Plötzlich taucht der Kriegsgewinnler vor mir auf und fragt, ob er
+mich nach Hause begleiten dürfe. Es war sehr spät, ja, er dürfe. Er
+begleitet mich also, ich aber leuchte ihm heim. Und siehe da, in dieser
+nächtlichen Weile scheinen ihm sehr andere Bilder vorzuschweben als die,
+mit welchen er noch gestern renommierte. »Es geht uns ja so lausedreckig,«
+jammerte er, »warum verfolgt ihr das in den Brunnen gefallene Kind?« »Also
+so steht es«, rief ich. Mein fertiger Aufsatz stimmte mich frech. »So steht
+es, und ihr blufft weiter mit Schwertfrieden und Grenzverbesserungen in Tod
+und Ruin hinein. Ich sehe schon, was für Argumente ihr schmiedet, falls es
+schief ausgeht mit eurem Verbrechen!« Es läßt sich gar nicht sagen, wie
+weinerlich, wie persönlich gutmütig dieser eingepeitschte Alldeutsche sich
+herausstellte; wahrscheinlich der beste Gatte und Vater dabei, ein
+gewissenhafter Arbeitgeber vielleicht.
+
+ * * * * *
+
+Melide. Fortunio hat drei Elsässer getroffen. Im Schein der Windlichter
+schlage ich ihm die Karten, er dagegen liest mir aus der Hand. Die
+Edeljüdin hat ein rotes Tuch umgeschlagen, und wir sind vergnügt. Doch oh,
+die Nachtigall, die wir am Heimweg schlagen hören. Mein Herz hing sich an
+sie und drang in den Busch zu ihr. Ich hätte mich so gern nicht mehr von
+der Stelle gerührt.
+
+Der Himmel blieb die ganze Zeit über so blau, daß sich die Wolken in meinem
+Gemüt angesichts soviel Sonne nicht behaupten konnten. Der erste bedeckte
+Tag war auch der unserer Abfahrt. Ich nahm den Frühzug mit Paxens und
+steckte meine Post gerade noch zu mir. Fürs erste galten dann meine Blicke
+nur dem schwindenden See und den schnell sich verstellenden Bergen.
+
+In Bellinzona trennten wir uns. A. H. Pax wünschte die Mitarbeit der Gräfin
+Reventlow, und ich sollte sie zu ernsterer Arbeit ermuntern. Es stellte
+sich aber heraus, daß nur 40 Minuten in Locarno blieben, so depeschierte
+ich ihr auf gut Glück und fuhr dann durch das breite, lange Tal zum Lago
+Maggiore. Sie stand am Bahnhof. Wir erkannten einander, ohne uns je gesehen
+zu haben, und gingen mit einer Art von kalter Vertraulichkeit hinab zum
+See. Ihr Zynismus kannte keine Grenzen, doch immer alles mit Grazie. Vom
+Schreiben wollte sie nichts mehr wissen und hatte eine Übersetzung
+unternommen. Bei jeder Seite freue ich mich, daß ich das nicht selber
+geschrieben habe, sagte sie. Ich drängte sie zu größerem Fleiß, ohne
+Anklang zu finden. »Mein Ideal wäre die Leitung eines großen Hotels«,
+versicherte sie. Ihre Augen waren wunderschön. Ich sprach von ihren
+Schriften, und daß keine Bücher dieses leichten Kalibers mit ähnlicher
+Qualität geschrieben worden seien, so blaß, so spöttisch, so geistreich.
+Aber sie schüttelte den Kopf: es sei zu schwer.
+
+Wir gingen in der Mittagsschwüle den bergigen Weg zur Station zurück.
+Einige Wochen später sollte sie in Konstanz ihrem Sohn zur Desertion
+verhelfen. Heute amüsiert sie die Geisterwelt mit ihrem Witz. Schreiben
+werden wir beide kein zweites Mal.
+
+Ich hatte gerade Zeit, in den Zug zu springen: er bewegte sich schon, wir
+riefen uns noch einmal auf Wiedersehen zu, bevor wir einander für immer aus
+den Augen verloren. -- Zu lesen hatte ich gar nichts mehr, mit Ausnahme
+einer französischen Zeitung, die unter meiner Post gewesen war. Sie
+enthielt auf der zweiten Seite einen Angriff gegen mich: Erbitterte Zeilen
+mit dem deutlichen Wunsch, mich zu verletzen. Fürwahr, dachte ich, das ist
+wirklich zu unverdient. Aber der Verfasser täuscht sich: es ist mir egal.
+
+Ich legte die Zeitung weg und sah in die Gegend hinaus. Merkwürdig
+durchdrang mich da ganz und gar die Weite des Tals. Wie ein prächtiger
+Festsaal der Natur, gemeint, als sei er auch bei Nacht zu erglänzen. Als
+fehlten nur die Riesenkandelaber an den gleichmäßigen und feierlichen
+Wänden der Berge.
+
+Die Lokalbahn hatte Anschluß an den zweiten Zug, der von Lugano kam. Er war
+schon eingelaufen. Fortunio und der Redakteur der Humanité standen auf dem
+Perron. Ich reichte ihnen das Blatt, das mir unter Kreuzband zugeschickt
+worden war, und wollte etwas dazu bemerken, es stellte sich jedoch heraus,
+daß meine Stimme zwischen Locarno und Bellinzona hängengeblieben war. Hatte
+die Luft sich abgekühlt? Wie Fanfaren drang das Blau durch die dunstigen
+Wolken. Dicht vor dem Platz am Fenster, den Fortunio mir gesichert hatte,
+zogen jetzt die grauen Riesenwände des Gotthard vorüber, durchstrichen von
+zahllosen Wildbächen, die aus ihren unversiegbaren Gründen senkrecht im
+hellen Jubel herabschossen. Es war ein Hals über Kopf sich überstürzendes
+Geglitzer. Ich behielt sie im Auge, diese Flüsse, einen nach dem andern,
+und zählte sie. Wie eine Rettung war's, als die table d'hôte ausgerufen
+wurde und alles in den Speisewagen ging, Fortunio ganz besonders und der
+Redakteur. Der Wunsch, allein zu bleiben, brannte wie ein Durst. Welchen
+Auges mag der Hirsch das Laub, das sein Geweih vom Aste schlägt, das Tal,
+die Tiefe einbegreifen, bevor er sich getroffen weiß? Wir wissen nicht, wie
+seine Welt da vor ihm aufleuchtet. -- Was für ein selbstherrliches Ding ist
+doch das Herz! Du rufst ihm zu, und es vernimmt kein Wort, als gehörte es
+sich selber und nicht dir.
+
+Verstrickte und sich selbst widerstreitende Liebesgefühle haben ihre
+eigentümlichen Reflexbewegungen wie Zerreißungen und Wunden. Ich hatte mich
+getäuscht: der Angriff in der französischen Zeitung war mir nicht egal. Und
+wie aber hätte die Erbitterung zwischen den Zeilen mich nicht bewegt?
+Zwischen den Erbfeinden des Abendlandes stand in Wahrheit reinste und
+einzigste Erotik am Spiel. Was hier von jeher, was von neuem auf
+Menschenalter zertreten wurde, war der Keim aller Verjüngung und Erneuerung
+eines Kontinents, die Blume aller Allianzen. Alle andern sind unfruchtbare
+Bündnisse dagegen, Geschwisterehen. Sagt mir nicht, daß es anders sei. Ich
+weiß es besser.
+
+Ach! Grund genug, wenn es jetzt den Augen unaufhaltsam entströmte wie über
+die grauen Furchen der Gotthardfelsen. Oh! und nichts von bayrischem
+Gebirg! Was sich da drüben hinter Schleiern spiegelte, das war Paris am
+lauen Septembertag, der eigenen Erfüllung hingegeben, und einem Himmel, der
+keine andere Stadt so überhing wie sie. War sie nicht meine eigenste
+Heimat? War sie nicht die unerreichbarste Geliebte? War sie nicht eine
+Göttin? Oh mein beraubtes Herz! Jedes Bild, jede Erinnerung an sie zerriß
+es neu.
+
+ * * * * *
+
+Abends in Bern, wo inzwischen auch der Frühling gekommen, sozusagen
+ausgebrochen ist, leidenschaftlich abgetrotzt wie etwas, das sich
+keineswegs von selbst versteht wie im Süden. Ich liebe im Norden nur den
+Sommer.
+
+4. MAI. Abigail stattete mir eine richtige Sympathievisite ab. Es fehlte
+nur der Zylinder. Dieser neue Ziegelstein auf mein Dach dünkt ihm
+entschieden de trop. »Erklären Sie mir nur,« sage, ich, »liegt denn eine
+solche Ungerechtigkeit in eurem Interesse?« »Wir fragen heute nicht nach
+Gerechtigkeit«, erwidert er. »Wir verlangen alles oder nichts, Sie bieten
+uns die Hälfte, das ist zu wenig.«
+
+»Sie vergessen, daß ich Deutschland liebe.«
+
+»Es sind Gefühle, die wir zu wenig teilen, als daß sie uns interessieren
+könnten«, erwiderte er steif.
+
+Wir sprachen dann von anderen Dingen.
+
+6. MAI. Besuch von Frau Karfunkel. Sie fragt mich, ob ich eine
+Revolutionärin sei, und ich bin im Augenblick zu müde, es zu wissen. Das
+Wort »gekrönte Republik« fällt mir ein, das kürzlich vor mir gefallen war.
+Mochte es herhalten. »Eine gekrönte Republik«, sage ich und gähne.
+
+Daß Frau Karfunkel mich kaum kannte, hinderte sie nicht, mir jetzt eine
+jener Szenen zu machen, die man wie ein Unwetter über sich ergehen läßt.
+Die Worte wie krasse Ignoranz gehörten zu den mildesten, die sie mir
+vorsetzte. Sollte ich ihr sagen, warum? ihr bekennen, in welchen Gedanken
+sie mich unterbrochen hatte? ihr den Grund jener mangelhaften Kenntnis
+eingestehen, die sie so richtig erraten hatte?
+
+Welchen Kriegsbericht hatte ich zu Ende gelesen? Von welcher Phase des
+Krieges mir auch nur einigermaßen ein Bild gemacht? Über die erdrückende
+Tatsache, daß er herrschte und kein Friede kommen konnte, sah ich nicht
+hinaus. Für seinen Verlauf, seine Geschichte blieb mein Interesse ungefähr.
+
+Was wollte die Frau bei mir?
+
+Sie hatte mich aus der Arbeit gerissen, und ich war froh um die
+Unterbrechung gewesen; so mühselig war die Pein, daß ihr Stigma sich den
+Schläfen aufdrückt, und daß sie einsinken wie zermürbt. Oder gleicht eine
+geistige Not der immerwährenden Welle vielleicht und die Schläfen dem
+Stein, der von ihr zernagt und bearbeitet wird? Von den Dingen selbst ist
+mein Verständnis so karg! Der Kommentar zu ihnen ist meine Sparte: ihn
+stets von neuem, zergliederter, ausgreifender zu formulieren, ist der
+Stachel, der mir keine Ruhe läßt, meine Einzelhaft mitten im Leben. Denn
+über die Vielfältigkeit unserer Wege hin, sehe ich die Einfältigkeit der
+Gefahr; die ewig selbe Fratze, die jeder edlen Bestrebung wie eine
+verruchte Karikatur noch immer auf dem Fuße folgte. So schmal, schwankend
+und immerzu gefährdet zieht unser Weg empor! Aber naiver als ein Soldat,
+der mitten im Treffen nicht weiß, wo er steht, führte der Mensch bisher
+seinen Kampf. Auch ihn trafen die Geschosse, ohne daß er sah, aus welchem
+Hinterhalt sie stammten, und von der unheimlichen Geschäftigkeit, mit
+welcher in den Niederungen sein Verderben betrieben wurde, merkte er nur
+das Resultat. Unermüdlich und nahezu ungestört dürfen die Untermenschen,
+von Herrschsucht besessen, in der Familie, dem Staat, der Gemeinde, der
+Partei ihre zersetzende Arbeit verrichten. Aus Tausenden von Schlagwörtern
+sind ihre Netze gewoben, der ganze ungeheure Nationalitätenschwindel hält
+seit Jahrhunderten den Zusammenschluß der Vollwertigen auf. Notsignale zu
+geben, bin ich hier. Unvernommen? Gleichviel! Ohnmächtig wie im Traum
+hinauszurufen: Richtet Wälle auf! Seht euch vor! Achtet der Stufen! Schützt
+eure Häuser! Mit unschuldiger Miene, ja mit dem Antlitz eines Engels
+vielleicht, kauert das Unheil an euerm Herd. Oh Brüder, Freunde, nehmt es
+nicht in eure Arme, wie ihr den Fuß nicht auf die sanft beschneite Stelle
+setzt, ihr hättet sie zuvor geprüft.
+
+»Ich glaube,« schreibt René Schickele, »daß der Sozialismus kommen muß mit
+einer großen, tiefen Flut von Licht, die alle Menschen durchdringt.«
+
+Und ich sehe, wie emsig die Schatten sich sammeln, welche danach dürsten,
+dies Licht zu verschlingen.
+
+8. MAI. Abigail klopft wieder an meine Türe. Er trägt sein breitestes
+Lächeln, reicht mir die Münchner Zeitungen und lacht noch stärker. Sie
+enthalten meinen Protest in der Telramundschen Übertragung, wahrscheinlich
+von ihm selbst eingesandt.
+
+»Und das sind die Leute, mit welchen Ihr Euch einlaßt«, brach ich aus. »Ihr
+seid mir schöne Richter!«
+
+Doch Abigail war in einer nicht zu verderbenden Laune. »Einigen wir uns,«
+sagte er, »mag er denn Telramund heißen, unter einer Bedingung, verlangen
+Sie nicht, daß wir Sie Elsa nennen.«
+
+Die »Pressestimmen« ließ er mir zum Geschenk. Ich las u. a., daß ich »ein
+hysterisches Weib von abgrundtiefer Gemeinheit sei«.
+
+9. MAI. Beim bayrischen Gesandten; er kannte mich von Kind auf. Er empfing
+mich. Aber der Verwirrtere, der Trostbedürftigere schien durchaus er. Es
+war bei ihm wie bei den Hähnen der modernen Waschtische, die gleichzeitig
+heißes und kaltes Wasser ausströmen: zwei Sprachen wie zwei Denkungsarten
+entflossen da immer zugleich: seine eigene und die anbefohlene.
+
+»Vous êtes déshonorée!« jammerte er.
+
+»So schlimm ist es nicht«, redete ich ihm zu. »Kommen Sie, lassen Sie Gras
+wachsen über die Geschichte.«
+
+»Gras? Da wächst kein Gras. Je vous supplie ne rentrez pas en Allemagne; on
+vous jettera dans les fers; je ne pourrai rien faire pour vous. Bleiben Sie
+um Gottes willen da.«
+
+»Ich bleibe schon da.«
+
+»Ja, bleiben Sie da. Was wollen Sie in München? Es ist ja alles verpreußt.
+Diese entsetzlichen Preußen haben uns ja alle aufgefressen. Ich bin der
+letzte Bayer.«
+
+»Ich auch.«
+
+»Sie sind gar nichts. Vous êtes une criminelle. Ce n'est pas moi, qui vous
+condamnerai, je suis votre ami. Vous êtes une criminelle«, unterbrach er
+sich laut. »Oh, so viel Phantasie zu haben und so wenig Verstand! Sie sind
+erledigt. Wir sind gefressen.«
+
+Damit entließ er mich.
+
+Daß dem alten Herrn der Krieg so über den Kopf wuchs, machte ihn mir nur
+sympathisch. Es wäre jedoch hartherzig gewesen, ihn praktisch in Anspruch
+zu nehmen. Ich hatte es gar nicht versucht.
+
+MITTE MAI. Gerade in diesen Tagen lud mich Frau v. Schreckenburg, ohne mich
+zu kennen, zu sich ein. Engländerin von Geburt, trug sie dabei den
+gefürchtetsten deutschen Namen. Ihr Mann, von dem die Franzosen sagten:
+»Heureusement qu'il n'en a pas l'air«, und die Engländer: »He is worth a
+better name«, stand an der Spitze der Gefangenenfürsorge. Durch seinen
+unzeitgemäßen Mangel jeglichen Strebertums fiel er gänzlich aus dem Rahmen.
+Still, unermüdlich und geschickt verrichtete er sein humanitäres Werk.
+
+Es nahte Felix Mottls Todestag. Ich wollte die Münchner erinnern, daß ich
+es nicht von ihnen verdiente, unvernommen und mit Knüppeln vor das Stadttor
+gewiesen zu werden, denn ich habe sie einmal vor einer großen Weltblamage
+bewahrt. Einige Redakteure waren damals meinetwegen geflogen, und ich hatte
+gesiegt. Waren solche Reminiszenzen angetan, den Herrn Chefredakteur zu
+rühren? Er sandte mir meine Eingabe, obwohl durch Schreckenburg
+übermittelt, mit dem Vermerk zurück, daß er sich für die Beiträge einer
+Hochverräterin heute wie fernerhin bedanke.
+
+An jenem Abend ging ich lange die beiden Brücken auf und nieder. Die
+Jungfrau hatte eine Schärpe übergeworfen. Ein kalter Wind trieb von den
+Gletschern herüber. Ich ging und ging. Es war wieder bei Fortunio viel von
+einem Zusammenschluß der Geistigen gesprochen worden, und wieder ließ
+keiner das Ausschließen seine Sorge sein. Was aber ging aus dem ungeheuren
+Trugwerk dieses Krieges hervor, wenn nicht der vollendete und riesenhafte
+Triumph des Sklaven über den Freien, wenn nicht die immer drohendere
+Forderung, uns selbst jenes letzte Gericht erstehen zu lassen, von dem
+geschrieben steht, daß es auf immer die Scheidung zwischen den Menschen,
+die guten Willens sind und den anderen bestimmen soll? Ja, nicht die große
+Einigung, den großen Bruch gilt es zuerst zustande zu bringen: die
+herrische und heilige Offensive der menschenwürdigen Menschen, gegen jene
+»Untermenschen«, welche Villiers de l'lle Adam als erster mit so großem
+Nachdruck kennzeichnete. Erst gilt es, jenen allzulange geduldeten
+Elementen das Stimmrecht zu entreißen. Sahen wir nicht alle großen und
+bahnbrechenden Ideen in Verwirrung ausarten, das Christentum selbst unter
+die Räder geraten und eine Sache um so sicherer verderben, je edler sie
+war, weil Unzulänglichkeit und Niedertracht das große Wort zu führen in der
+Lage sind; Solange diese Gattung ihre Gleichberechtigung behält, hat die
+Menschheit nichts zu hoffen. Sie wird wie ein Kranker sein, der sein Übel
+zu betäuben sucht, indem er sich auf seinem Schmerzenslager dreht und
+wendet, oder hochaufgerichtet nach Atem ringt, um doch nur eine
+illusorische Erleichterung zu finden. Sie wird alle Regierungsformen, eine
+nach der andern, erproben, und ob sie auch ihre Könige gegen Republiken
+eintauscht -- es werden doch nur falsche Republiken sein, und auch die
+Anarchie wird sich als nichts anderes herausstellen als einen Mißbrauch der
+Macht.
+
+Und wie könnte die einzig wirkliche Freiheit entstehen, wenn nicht durch
+die Knechtung desjenigen Pöbels, der allerorts alle Klassen, von den
+höchsten bis zu den sogenannten niedrigsten verheert. Hierarchien aber sind
+es ja gerade -- weniger rudimentär und kindisch nur als diejenigen, welche
+man sich aufoktroyieren ließ -- Hierarchien aber sind es, die auf neuer und
+gerechtfertigter Basis zu errichten sind: geben wir uns keinen Täuschungen
+hin: die Klasse der Könige, der Fürsten und Herren, ja der ganze Troß der
+kleinen Gentry sogar, er ist vorhanden (nur so anders!), und alle wahren
+Adelsbriefe, die sich in unendlichen Fluktuationen aus der menschlichen
+Würde ergeben, existieren auch. In allen Kreisen aber und durch alle Zeiten
+hindurch wurde die wahre Elite gepeinigt, geopfert oder zur Ohnmacht
+verdammt, weil urteilslose oder niedriggesinnte Elemente, die sich weder in
+Gleichheit, noch in Brüderlichkeit zu ihr verhalten, dasselbe Stimmrecht
+genießen.
+
+Man rede mir also nicht von Zusammenschlüssen, sondern vorerst von neuen
+Gesetzbüchern und neuen Statuten. Auf einen treibenden Sumpf, einer Welt
+wie sie ist, Ringmauern aufzurichten, daran glaube ich nicht. Wozu führte
+der vielgehegte voto pietoso Deutschland und Frankreich zu einigen? Statt
+der stolzesten aller Galleonen ein Wrack, beiden nahezu unnennbar geworden.
+Dieses Wrack ist mein eigenster Boden, ich verlasse ihn nicht. Die paar
+Einsichten aber, die mich sehr bestimmte Erfahrungen lehrten mit der
+Persistenz des Marktschreiers zu verkünden, ist mein Beruf.
+
+Ich lehnte über der Brücke von Kirchenfeld. Hat die Nacht ihre eigene
+Helle, daß sie uns die Dinge mit größerer Schärfe zeigt? Sie deckte jetzt
+den Fluß, der unten den Bergen zurauschte. Von den Häusern in der Tiefe, so
+eng geschart, fast ein Gerümpel, auf zartesten Säulenarkaden gehoben, und
+wie edel! leuchteten jetzt munter die tagsüber so verschlossenen Fenster.
+Wie wenig löste schließlich und endlich unsere zufällige Existenz von
+unserem wirklichen Wesen aus! Vielleicht war sie nur eine Jahreszeit
+unseres weitverästeten Seins. Wozu sich alterieren, redete ich mir zu, wozu
+die Hast, wozu die Ungeduld? -- Es wurde zuletzt ein Spazieren mit der
+Nacht, statt in die Nacht hinein, und ich war um eine größere Fassung,
+etwas mehr Gleichgültigkeit für meine persönlichen Geschicke aus allen
+Kräften bemüht.
+
+
+
+
+Zweiter Teil.
+
+
+Sie sah bezaubernd aus; ihre Achseln schienen der Ansatz zu Flügeln, und da
+sie sozusagen zwischen zwei Fingern hochzuheben war, nannten wir sie mit
+Fortunio das Zirkuspferdchen oder der Seidenaff. Wenn sie ernst zu sein
+wünschte, waren wir grausam genug, sie auszulachen, doch nicht, um sie zu
+verspotten, sondern weil ihr alles so gut stand. Ihr Gatte war San
+Cividale, der Longobarde, wir hatten uns angefreundet, und es wurde ein
+richtiger Anschluß.
+
+Von den Ärzten ins Bad geschickt, depeschierte mir der Seidenaff aus
+Rheinfelden, und nie kam eine Einladung gerufener. Ich suchte einen Mieter
+für meine Zimmer und hatte ihn schnell. Bern war mir verleidet, ich hatte
+dort vieles zu vergessen, Geldsorgen besaß ich auch. Nur die
+Mozartaufführungen, welche unter Richard Straußens Leitung bevorstanden,
+wartete ich noch ab. Sein schöpferisches Erschöpfen eines Werkes ist
+sicherlich ein neues und interessantes Moment in der Kunst des Dirigierens.
+Einem Don Juan, der ein großer Erfolg war, folgte jedoch eine Zauberflöte,
+welche einige Kritik hervorrief; mich entzückte letztere weit mehr, so
+zwar, daß sie einem ersten Eindruck gleichkam. Strauß hatte eine Pamina
+mitgebracht, welche gesanglich und darstellerisch und durch eine merkwürdig
+schöne Erscheinung der Partie so wohl entsprach, daß Symbolik wie Illusion
+des Fabelreiches durchweg bestanden, bis der Vorhang vor dieser besseren
+und geordneteren Welt endgültig fiel. Was bedeuteten Regiestörungen (tags
+darauf hieß es, sie sei einem Engländer zu danken, der sich zu diesem Zweck
+als Maschinist für den Abend verdingte) vor dem unvergleichlich hohen
+Niveau dieser Vorstellung?
+
+Am lautesten wurde am Schluß von jener Sorte Deutscher Beifall gespendet,
+welche ihren schimpflichen Spitznamen so recht aus dem vollen verdienten.
+Diese wandelnden Erreger des Deutschenhasses gingen mit dem deutlichen
+Gepräge von Leuten einher, welche zwar rechneten und berechneten, aber
+nicht mehr dachten, dafür seit einer Generation zuviel gegessen hatten. Sie
+waren die Regisseure und Leugner des großen Kindersterbens, das jetzt in
+ihrem Lande hinter den Kulissen um sich griff, und Scharen Deutscher,
+würdig dieses Namens und liebenswert, gingen um jener Boches willen
+zugrunde. Doppelt verrucht erschienen sie im Lichte der eben erfolgten
+herrlichen Darbietung. Ich ersticke! sagte ich zu Fortunio, denn ein Knäuel
+dieser wohlbestallten Patrioten schlenkerte vor uns über den Platz. Auch im
+Dunkeln sah man ihnen an, daß sie jetzt schmausen gingen.
+
+ * * * * *
+
+
+Rheinfelden.
+
+21. JUNI. Mußte da dicht vor meinem Fenster hochgewölbt der Rhein
+vorüberrauschen? Eine Brücke mit Schilderhäuschen in der Mitte legt schon
+im Badischen an; freudlos, wie mit erblindeten Scheiben, sehen von dort die
+Häuser herüber.
+
+Heiterer war der Park. Wir lagen in Korbstühlen und schwatzten. Doch
+Erinnerungen kamen nicht zur Ruhe. Aufgescheuchten Vögeln gleich schwirrten
+sie hierher und dorthin und kehrten zurück . . . Der Sommer war im Land.
+Das Schlößchen der schönen Marguerite, das selbst mitten im Kriege
+Zauberkreise zog, wartete unser, und die Schwalben nisteten längst im
+flachen Strohhut, der in der Halle von der Decke hing. Jetzt standen auch
+ihre Koffer gepackt; . . . es türmten sich wohlgefaltet ihre schönen
+Kleider . . . Die Unrast der Verbannten trieb mich aus dem Park ins
+Städtchen hinunter, wo von der viereckigen Plattform des Turmes aus die
+Störche ins Blaue steuerten. Was gab es schöneres wie ihren Flug? Klein
+erschien mir die Schweiz. Wie ein herrlicher, aber für mich nach allen
+Seiten hin verbarrikadierter Garten. Ich ging den Weg zurück, der ganz
+umwachsen unter Bäumen führt. Wer nicht wollte, brauchte weder Fluß noch
+Land zu sehen. Im Hotel aber lag eine Depesche für mich. Ich floh entsetzt
+auf mein Zimmer. Die Freundin war tot. Mochte das Schlößchen am Berg Tür
+und Tor sperrangelweit offen halten und warten, solange es stand, ins Leere
+starrte fortan sein breitschrötiges Türmchen. Sie zog die Straße nie mehr
+herauf, kutschierte nie mehr aufmerksamen Auges ihr Wägelchen in den Wald.
+Fort von Rheinfelden, dachte ich, nur fort!
+
+Es traf sich, daß die Kur nahezu beendet war. Wir fuhren nach Wengen. Der
+Seidenaff durfte nicht steigen, ich kletterte drauflos. Hier waren alle
+Höhen zur Hand. Hinter der kleinen Scheidegg setzten sie von neuem ein. In
+weiten Senkungen kreiste ein Tal. Ich saß in einer Nische aus Fels und
+Gras, die Füße hingen ins Leere.
+
+Plötzlich, wie auf einen geheimnisvollen Anruf, ein lauter Stoß, ein
+Gegenruf des Herzens. Denn es hat ja Arme, ich sagte es schon, und Flügel,
+schwerausgebreitete und leichte, es hat sein geheimnisvolles Dasein für
+sich allein. Vom Tode weiß es so wenig wie wir, nur dies hat es erkundet:
+daß, wenn er uns nicht austilgt, der Lebende dem Toten zu Anfang mehr sein
+kann, als dieser ihm. Dann wäre unser Eingedenken der Halt vielleicht, an
+dem er seine ersten Schritte geht, und unsere Trauer sein Gewand.
+
+Es war für die Verstorbene ein Gedenkbuch geplant, und ich hatte
+versprochen, mich daran zu beteiligen.
+
+Mag es noch so mannigfache Welten geben, sicherlich gebietet über alle eine
+einzige Natur, ein allmähliches Sprießen, eine Reife, von trüben Himmeln
+die sie aufzuhalten scheinen nur gezeitigt. Vor allen Dingen aber jenes
+letzte und sehr tragische Zurückbleiben des Erreichten hinter dem
+Gewollten. Wie ein letzter Same, der sich wieder in die Erde senkt, um
+einer nächsten Ernte zu gedeihen.
+
+Ich schrieb auf meinem hohen Sitz angesichts des kelchartigen Tales mit den
+sanftanschwellenden Rändern. Die Sonne war gestiegen. Wie ein zieres Band
+umschlang ein Pfad den ganzen Berg und lockte mich unwiderstehlich in die
+Höhe. So kam ich zu einem kleinen Gasthaus und stapfte dann auf die Spitze
+des »Männlichen« hinauf. Dort fing sich der Wind und wehte kreuz und quer;
+dann aber stürzte ein Steig, schmal wie ein Strich, so pfeilartig hinab,
+daß man, von einem Taumel erfaßt, zu rennen anfing und zu fliegen
+verlangte. Von dem Tempo erfaßt, das von hier oben gesehen, die Jungfrau
+entfaltete, die mit mächtiger Schulter die ganze Kette der Alpen mit sich
+riß. Unglaublich schnell griffen jetzt die Schatten in dem verströmenden
+Gold dieses Tages um sich; schon profilierte sich diese oder jene
+Bergeskante zu einem grotesken, dort zu einem erhabenen Riesenhaupt,
+schlafend, offenen Mundes zurückgeworfen, oder wie entseelt mit
+beschneiten, eingesunkenen Schläfen zur Seite gekehrt, die Luft darüber wie
+ein unendliches Gewölbe.
+
+Auch manche Felsenburg tat jetzt entbrannte Zacken auf; kurz, eine andere
+Welt als die des Tages stand schon gerüstet. Plötzlich hielten mich
+zwischen zwei scharf vorspringenden Felsen zahllose Schafe auf, die mächtig
+wie ein Volk auf halber Höhe den Berg belagerten. Mit ihnen zog eine Anzahl
+Widder, die innehielten, als sie mich kommen sahen, und mich aufmerksam,
+wenn auch stolz, betrachteten. Nirgends ein Hirt zu sehen, als wären sie
+die Führer. Ihre geschneckten Hörner abwartend mir zugekehrt, versperrten
+sie den Weg. Um weiterzukommen, mußte ich halb quer hindurch, halb mit der
+Herde laufen. Eine überwältigende Ruhe, ja ein Glück ging von ihr aus, daß
+man, am liebsten auf vieren gestellt, eins mit ihr geworden wäre.
+
+Der Weg nahm gar kein Ende. Meine Schuhe gingen in Stücke. Meine Füße waren
+zerschunden. Schwer hinkend erreichte ich endlich das schon a giorno
+beleuchtete Wengen. Aus der Halle des Hotels trat der Seidenaff im
+Tuchbrokat von silberigem Weiß, hoch mit Zobel verbrämt. Doch der Jugend
+kommt alles zugute; kostbare Gewänder unterstreichen sie nur. Die leichte
+Gestalt wird durch den schweren Staat gehoben, nicht gedrückt. Lang und
+gewichtig hing die Perlenschnur herab. Das Haar war braun. Gerade seinem
+weichen Schimmer schmeichelte die Härte des diamantenen Reifs. In
+Treibhäusern wird heute die gefüllte, immer gefülltere Nelke gezogen. Mit
+solchen gefüllten Nelkenaugen, gut und klug, doch fern dem Ziele, blickte
+der Seidenaff.
+
+Tags darauf fuhren wir zu Tale, San Cividale, dem Longobarden entgegen.
+Fortunios schrieben aus Beatenberg, wo ich mich denn herumtriebe, und fürs
+erste blieb ich jetzt in Interlaken, um meinen Nachruf zu beenden. Da mir
+keine Seele des Ortes bekannt war, verbrachte ich meine Tage ohne zu
+sprechen, und schon lebte ich eingesponnen und wie unter Glas, als die
+Lektüre eines Zeitungsartikels mich ganz aus der Stimmung riß. Es war ein
+Aufruf von Andreas Latzko, der wesentlich aus Vorwürfen, und zwar sehr
+berechtigten Vorwürfen an die Frauen bestand. Nun haben diese ja im Kriege
+versagt und die härtesten Dinge zu hören verdient, doch nur ihnen selbst
+kann es zustehen, sie zu äußern, dem Manne heute mit keinem Wort. Ihre
+Unzulänglichkeiten sind sein Werk, von ihm gezüchtet und beabsichtigt,
+selbst sein Überdruß an ihr war als Triumphgasse für seine Eitelkeit
+gedacht, was er vollends ihre Ungleichheit nannte, war seine Politik. Wie
+stark seine Krone zerzaust ist, ahnen beide noch nicht. Die »Penalty of the
+war«, von der soviel die Rede ist, wird noch eine ganz andere sein, als man
+im allgemeinen glaubt. Die Frau wird ihre Chance haben. Mag der Mann noch
+auf Jahrhunderte das Überragende leisten, ihr Aufstieg wird sich
+unaufhaltsam als eine Folgeerscheinung seines Bankrotts vollziehen. Bilder
+schwebten mir vor . . . . war sie nicht schon im Begriff, mit jedem
+Jahrgang schöner, individueller zu werden? Erhob sich ihre Gestalt nicht
+freier, knabenhafter, mehr auf sich selbst gestellt, von Jahr zu Jahr?
+
+Schlimmstenfalls konnte ihr Regime zu keinem ärgeren Chaos führen, als das,
+welches wir unter der ausschließlichen Führerschaft der Männer und ihrer
+Gesetzbücher erleben. Oh diese Gesetzbücher! Sie forderten, daß man vom Tag
+eines Krieges an nurmehr mit seinem Vater verwandt sei.
+
+In meiner Aufregung, meiner Bedrücktheit, lief ich in der Mittagshitze den
+Brienzer See entlang, bis zur Erschöpfung. Und mit einem Male wurde mir das
+Karthäuserschweigen viel zu viel; da zudem schwere Regentage einsetzten,
+brach ich auf und fuhr nach Beatenberg.
+
+
+Beatenberg.
+
+AUGUST. Ich wohnte eine halbe Stunde von Fortunios entfernt, und mein Hotel
+stand zu Anfang der breiten Straße, die über tausend Meter hoch ganz eben
+dahinläuft, den großen Rat der Gletscher stets im Angesicht. Wie zu einer
+Riesenpolonäse aufgestellt, schienen sie, je nach der Beleuchtung,
+zurückzutreten oder loszuschreiten bereit. Nur der Regen sprengte den Bund.
+Dann verschwand jeder einzeln in seinem Zelt und wußte nichts mehr vom
+andern. Wusch sich aber nachts der Himmel wieder rein, so hielt beim
+Morgengrauen die Jungfrau entgeistert Cercle, als harre sie nur des
+Zauberrufes, um der Sonne bei ihrem ersten Strahl ekstatisch
+entgegenzutanzen. Leider kam auch hier die Arbeit nicht in Fluß; das sehr
+geräuschvolle Haus bot keine Möglichkeit, sich abzusondern. Unmittelbar
+daran grenzte der Wald und führte sogleich sehr steil ins Weglose hinab.
+Und hier nun entdeckte ich eines Morgens, ganz hinter Tannen versteckt und
+der Tiefe zugewandt, ein kleines, verlassenes Blockhaus. Ich rannte ins
+Hotel zurück, forschte nach dem Schlüssel und erlangte ihn. So gehörte das
+Chalet mir, da ich es beziehen durfte. Den Schlüssel ans Herz gedrückt,
+eilte ich zurück. Im Raum des Erdgeschosses verbrachte ich nun meine Tage.
+Die Läden blieben herabgelassen. Nur durch die Türe, die ins Freie führte,
+drang das Licht; auch die Bäume hielten es auf. Nur Tannen, Wald und Moos
+und keine Aussicht außer sie. Hier hatte man vor den ewigen Gletschern Ruh.
+Und keinen Laut als den der Vögel.
+
+Oh Sommersmitte! Oh göttlicher Augenblick des Innehaltens, du ohne Zeitmaß,
+ohne Intervall, mitten ins Jahr gesetzter Orgelpunkt!
+
+Groß aber blieb die Not der unterbrochenen Arbeit.
+
+Zwischen Tür und Fenster lief eine Ruhebank mit daraufgeschütteten Kissen
+die Bretterwand entlang. Ich warf mich hin; ächzend. Es roch nach Tannen,
+Blumen, des Morgens im Walde gepflückt, hingen schon ermattet im Glase. In
+diese holde Schwüle tanzte ein geflammter Schmetterling herein. Mein
+rechter Arm hing herab, ich war zu lässig, ihn zu heben. Vor Wonne fielen
+mir die Augen zu. Hält die Einsamkeit der Gemeinschaft Letztes, die wir
+Lebende ersehen? Was war geschehen? Verloren blickte ich auf. Der Falter?
+War er als Bote hereingeflogen? -- Wer war gegangen? --
+
+Flüchtig ist kein Wort. Und doch . . Von welcher Gegenwart und welch
+durchdringendem Ton vibrierte nunmehr auf immer die Luft dieser Hütte? War
+sie, deren Bild ich festzuhalten suchte, ein Elf? Denn der Griff einer Hand
+von elfenhafter Feinheit hatte deutlich die meinige erfaßt. In
+unbeschreiblicher Rührung hob ich den Arm, sprang auf, saß wieder vor dem
+Tisch, das Gesicht in den Händen vergraben, und fuhr nun endlich wie in
+einen Schacht tief in meine Arbeit ein.
+
+Da fiel ein Schatten -- jemand trat unter die Türe. Es war Fortunio. Ich
+stieß einen Schrei aus, als sei er ein Gespenst, und fühlte Nervenstränge,
+deren Vorhandensein mir jetzt erst zum Bewußtsein kamen, zerreißen. »Wissen
+Sie, wie spät es ist?« lachte er. Seltsam. Sogar seine Stimme erfüllte den
+Raum mit Schrecken. Das Ganze war zu arg, es zu erörtern. So machte ich
+mich denn bereit, das Chalet zu verlassen, warf aber, die Türe
+abschließend, noch einen Blick zur Ruhebank zurück, zum Tisch mit den
+Blumen im Glase, zu diesen Wänden, in welchen ich eins geworden war mit der
+Luft und der Seele dieses Tages.
+
+Was war noch immer kurzatmiger als wie mein Flug? Nicht von Schwingen
+durfte da die Rede sein, die ausgebreitet und aus eigener Kraft die Höhen
+beherrschen und sie behalten. Eher einer Rakete vergleichbar, die, wenn das
+Glück es will, emporschnellt und höher! höher! ruft, weil sie doch gleich
+verstiebt. Da ist es Pech natürlich, wenn man sie herunterholt.
+
+Wir gingen nun zum Hotel hinauf und setzten uns auf die Veranda. In der
+Tat, der Abend war sehr vorgeschritten. Beschaulich hing Fortunio an der
+Gegend. Die eben noch umglühten Gletscher traten jetzt, als sei die Sonne
+auf immer von ihnen geschieden, von Blässe wie erschöpft, zurück. Welch ein
+Tag! -- Und schon faßte mich Grauen bei dem Gedanken, ihn einsam
+beschließen zu müssen oder ins Chalet zurückzugehen. Stand es noch? War's
+nicht versunken? Oder nur erträumt? So zog ich denn mit Fortunio die lange
+Bergstraße zurück. Endlos dehnte sich hier der Ort. Ganze Strecken zeigte
+sich kein Haus. Und siehe, schon herrschte der Mond. In seiner ganzen Fülle
+und unerschöpflich überfließend, umschlang er streitsüchtig jeden Schatten
+und brachte seine Schwärze ans Licht, kroch unter jeden Baum, durchquillte
+alle Wälder und stieg und stieg in immer geharnischterem Glanz, bis eine
+trunkene Erde, von ihm umsponnen und ganz mit ihm vermählt, mit allen
+Pulsen zum Himmel schlug. Voll Entzücken hatte sich die Jungfrau
+aufgerichtet -- Mönch und Eiger an der Hand, loszutanzen bereit.
+
+ * * * * *
+
+Tags darauf fuhren San Cividale, der Longobarde und der Seidenaff die
+steile Höhe herauf. Von weitem schwang sie als Erkennungszeichen ihren
+Schirm rundum. Jungfer und Kofferbestände hatte sie unten gelassen und trug
+eine äußerst gerissene Sportjacke, in der ihre Figur zu zergehen schien,
+und eine zwischen mausgrau und mauve spielende Hemdbluse aus japanischer
+Seide, deren perfide kleine Männerkrawatte das ultrafeminine ihres
+Gesichtes zu letzter Wirkung erhob. Die gefüllten Nelkenaugen, die das
+alles sehr wohl wußten, blickten unbeteiligt flüchtig und beschattet. Es
+war nur ein kurzer Besuch. Das Bähnchen trug sie bald wieder davon. Und mit
+einem Male waren mir diese ewig hingerissenen Gletscher, die nie
+marschierten, verleidet. Herrlich in der Tat war auch der Mantel der
+Vorberge, der in so tiefen Falten über sie hinschlug, und herrlich war's,
+wie er -- von oben gesehen -- den See nachschleifte, gleich einem
+köstlichen Saum. Beseelter aber blickte dennoch das Gebirge am Säntis, Jura
+oder Engadin, als in dem gewaltigen und dekorativen, aber fast überall
+stark abgekehrten Oberland. Ich sehnte mich nach mehr brüderlichen Weiten,
+und sehr plötzlich, ohne das Chalet wieder betreten zu haben, fuhr ich
+hinab. In Spiez schrieb ich meinen Nachruf ins reine.
+
+
+Marguerite Kühlmann.
+
+An den Kreis ihrer engsten Freunde wende ich mich, sie, die zu ihr standen
+wie die Strahlen der Sternblume, deren Name sie trug; denn so hingen sie
+ihr an, und so faßt sie nunmehr die gemeinsame Klage zusammen. Wie
+beneidenswert sind sie gewesen! --
+
+Nicht, als seien sie sich dessen zu spät bewußt. Hier trifft sie kein
+Vorwurf. Vielmehr hegten sie ihr Wissen um das Werden dieser bedeutsamen
+und seltenen Gestalt, die von ihrem schönen und guten Wesen so viel weniger
+genießen durfte, als der gleichsam von ihr ausgestrahlte Kreis, dem sie es
+zuwandte. Denn wieviel Sonne war in ihr verwoben, und wie beschattet ging
+sie doch! Unter der rhythmischen und unzerstörbaren Ruhe ihrer Bewegungen
+welch unaufhaltsames Vorwärtsschreiten! Wer hat sie je hastig gesehen? Und
+doch welch ahnungsvolle Eile, sich zu erfüllen!
+
+Geistigen Dingen zugewandte Menschen finden sich gewiß nicht selten; der
+Maler und Musiker, auch der Liebhaber der Künste sind viele. Aber wie
+wenige gibt es, die auf das Schöne selbst Anziehungskraft besitzen, so daß
+es wie auf mystischen Ruderschlägen ihrer Atmosphäre zugeführt, immer mehr
+Natur und Element bei ihnen wird, und tatsächlich eine Art von
+Wechselwirkung sich ergibt.
+
+So aber war das Schöne -- wie ein Meister an seinem Marmor -- bei ihr am
+Werk. So umhing es ihre Erscheinung, so meißelte es an ihren Zügen und hob
+sie zu letzter Vollkommenheit der Linien und des Ausdrucks. Unsere Herzen
+sind wund von der Erinnerung ihrer Hände, so schwebend, einsam und
+gesammelt, verklungen, auch sie mit der weiten Melodie ihres Seins.
+
+Den wahren Hintergrund zu ihrem Bilde aber stellt einzig jene offene und
+merkwürdige Gegend, in der sie sich so heimisch fühlte, weil sie ihr glich.
+Dort, wo ihr kleiner Landsitz hart an der dunkeln Bergwand lehnte, von
+Mauern lang umfriedet, vor dem Tor die hohe Linde schon den Bergfluß
+überhing, und sein Gestein, und schon wie vor den Almen leere Bergwiesen
+ansteigen, auf welchen die Kühe bis hin zu den nahen Wäldern weiden; und
+diese sind wenig begangen, schwer verträumt und düster fast, weil hier
+sogleich das Hochgebirge seinen feierlichen Zug beginnt.
+
+Doch öffnete man das Tor zum Hause, ach! Wie rauschte es da von den
+kunstvollen Brunnen und den Fontänen, in welcher Fülle zogen sich die
+Blumenreihen hochaufgerichtet durch den Garten hin! Und die Ebene ist's,
+nach welcher dieser steile Garten niederfällt, und schaut: auf halber Höhe,
+wie zur Freude hingemalt, der Kirchturm von Murnau, links die ersten Berge,
+ansehnlich, aber noch vereinzelt, sanft umrissene Präludien des Gebirges.
+Nach Osten aber, wo sich anstatt der Mauer die lange Wandelbahn und
+hölzerne Gartenzimmer nachsommerlich hindehnen, wölbt sich als Abschluß der
+finstere Berg.
+
+Hier waltete sie im lichten Kleide inmitten ihrer Blumen, wenn in der Ferne
+ein goldener Sonnenstaub den Tag begrub, oder sie sah wartend nach dem
+Mond, der so plötzlich hinter dem schwarzen Grat aufging und dann sogleich
+alle Grotten und Beete übergoß, und nur die finstere Bergwand noch
+finsterer beließ. Und auf erhöhtem Stande der Apfelbaum, wie sie ihn
+zeichnete, mit den Windlaternen bunt über dem Tische wehend!
+
+Hier fühlte sie sich heimisch, hier drang das Lachen ihrer Kinder immer bis
+zu ihr, und die Schwalben zogen durch die Fenster unermüdlich ein und aus.
+Und drinnen der Tisch vor den breiten Scheiben, ach Freunde: vor dem sie
+saß -- niemals müßig --, lesend oder malend, oder eine jener kunstvollen
+Arbeiten zur Hand, mit welchen dieses Haus geschmückt ist, dessen Bau,
+dessen edle Räume wie für sie erdacht, durch ihre eigene Anmut etwas so
+Zauberhaftes wurden, daß sie durch ihren Tod für uns verschüttet liegen.
+Die Türen, ach, durch die sie trat.
+
+Doch jenseits der Vorberge, in einer versteinerten Welt, ganz klein und auf
+unwahrscheinlicher Höhe steht die Jagdhütte, an deren winzigen Fenstern sie
+die rot- und weißgewürfelten Gardinchen hing; sie liebte das Frohe. Ganz
+dem Schauen hingegeben, lief sie dort die Kanten der Berge entlang, denn
+das einzig Verweilende an ihr, von allem Persönlichen unmittelbar
+Losgelöste war ihr Auge. Bald lockten sie die Höhen, bald die Weite und das
+Moor, oder sie stellte dort ihren Malstuhl auf, wo der kleine, von der
+Abendsonne warm getönte Fluß so rasch den gemiedenen und immer trauernden
+Hügel umfließt.
+
+Diese reichhaltige Landschaft, die sich wie ein Fächer dem Auge entfaltet
+und verschließt, glich ihr so ganz, daß für uns, die sie dort sahen, ihr
+Bild wie eingetragen bleibt in diese Gegend.
+
+Nicht auf Festen schwebt es uns vor, deren Glanz das sanfte Feuer ihrer
+Schönheit so sehr erhöhte, und nicht in großen Städten, weder in Paris,
+dessen geistiges und künstlerisches Leben ihr so nahe ging, noch in London,
+wo sie gefeiert und bewundert wurde. Denn in ihr hatte Deutschland eine so
+liebenswürdige und seltene Vertreterin gefunden, daß die Sympathien, welche
+sie sich erwarb, durch die Ereignisse nur verstummten, aber nicht verloren
+gingen. Denn weit über die Gräben hin, welche die Nationen voneinander
+trennten, klang ein Echo der Trauer über die Kunde ihres Todes herüber.
+
+Es mag ja sein, daß ihre großen Erfolge im Ausland ihr um so neidloser
+zugestanden wurden, als man sah, welch flüchtigen Gast sie krönten. Denn
+ehe man sich's versah, lagen ihre viel bewunderten Kleider in Kisten
+wohlverpackt, und sie selbst stand am Perron, Sehnsucht im Auge, um nach
+ihrem geliebten Ohlstadt zurückzufahren. Sie erzählte noch im letzten
+Sommer ihres Lebens, sie habe mit Freudentränen um sich her geschaut, als
+sie den »Raunerhof« zum ersten Male und zugleich als ihr Eigentum
+besichtigte.
+
+So nah berührte sie der Ort.
+
+Es waren pantheistische Anklänge in ihr, die man nicht überhören durfte, um
+sie zu kennen.
+
+Denn so edler Natur war die zu weite Spannung ihres Wesens, die eine Lücke
+ließ zwischen dem Leben und ihr. Ein suchendes, verlorenes Etwas fand hier
+seine Brandung, und was Wunder, daß sich ihr Blick, allen Sicherungen zum
+Trotz, so häufig aus dem Alltag, wie aus einem zu engen Hause stahl.
+
+Und kannte ihn doch kaum.
+
+Seine immer neu sich bereitende Unsicherheit, böse und gefährlich wie die
+Gärungen der Gletscher, seine Verweigerungen, seine Öde erfuhr sie nicht.
+Ja, sie blieb von einer zu deutlichen Kenntnis dieser Welt bewahrt; ob sie
+es merkte oder nicht, ihr Kontakt mit ihr war immer umgeschaltet, ja sie
+war geschützt. Aber wir wissen heute, warum die so innig Umringte dennoch
+einsam und beschattet ging, als sei alles vergebens; was dies heimliche,
+innere Versagen und ihre unrobuste Art bedeutete. Denn wir wissen nicht,
+was sich in denjenigen bereitet, die inmitten ihrer Jugend von den Höhen
+des Lebens weg, einzeln und jäh zu den Toren des Todes hintreten und in
+seine Verlassenheit gehen. Keine letzte Verklärung, kein noch so sanftes
+Verlöschen nimmt einem solchen Los etwas von seiner Schwere.
+
+Ach die besten Freundesherzen sind noch zu träge! Allzu leichten Sinnes
+nahmen wir das schöne Geschenk ihrer Gegenwart hin und bedachten die
+deutlichen Merkmale eines frühen Scheidens an ihr nicht. --
+
+Wer hat nicht jene Flugzeuge gesehen, die als dünner Korb, nur durch Taue
+einem Riesenball verbunden, ganz ohne Geknatter vorüberschweben? Ein
+Windhauch streift die von ihm Getragenen. Je höher sie sich steigen sehen,
+desto langsamer dünkt ihnen sein Flug. Da zieht vielleicht eine Wolke
+vorüber, von einer schwarzen Kugel pfeilschnell durchzuckt und alsbald
+überflogen, die nichts anderes war, als der Schatten des Balles, der
+unbewegt und still wie eine Ampel in der Luft zu hängen schien.
+
+Dies aber war bei stillem und oft schwer verträumtem Wesen das Tempo ihres
+inneren Werdens; mit so verzehrender Eile durchmaß sie ihre Bahn, und nur
+wer ganz zuletzt in ihrem Umkreis lebte, vermöchte auch das Letzte über sie
+zu sagen. Denn immer merkwürdiger und geschlossener wurde die Harmonie
+dieser, vom Dianenhaften so getragenen Gestalt. Nur tragischen Naturen aber
+ist es gegeben, sich zu erfüllen. Die Norm ringt sich vom Fragmentarischen
+nicht los.
+
+Oh Marguerite! Daß meine Worte sich aufrichten dürften wie Säulen, und daß
+sie sich zusammenschlössen dir eine Stätte zu bilden des Innehaltens und
+der Rast, wo du -- staunend vielleicht, doch ohne Gram -- zurückblicktest
+auf dein Leben; oh daß es zwischen seinen Ufern an dir vorüberzöge und dein
+sinnendes Auge so darauf verweilte, wie einst in deinem Garten auf das
+Getürme der Wolken im verglühenden Tag.
+
+ * * * * *
+
+SEPTEMBER. Meine Zimmer waren zum Glück bis in den Oktober hinein
+vermietet, und ich trieb mich bald hier, bald dort herum, bald in Zürich,
+bald in Luzern, in Montreux oder Genf, nur nicht in Bern.
+
+Die Ära Kühlmann war ein Grund mehr, es zu meiden. Man erinnerte sich
+prompt, daß ich in London in seinem Hause verkehrt hatte, und meine
+Stellung gestaltete sich noch um ein Stückchen schiefer. Ich hatte jetzt zu
+schreiben wie ein Minister, und es regnete Briefe. Sie betrafen zumeist
+Todesurteile, Deportationen, versprengte französische oder belgische
+Kinder. Dabei hielten jetzt die Zensuren meine Korrespondenz scharf im
+Auge; die harmloseste Post aus Deutschland erreichte mich erst in vier,
+Expreßbriefe erst in sechs Wochen. Um an Kühlmann zu schreiben, mußte ich
+schon seinetwegen den Umweg über die Gesandtschaft wählen. Meist wandte ich
+mich an Schreckenburg oder an den Grafen Carry. Zu Anfang ging's. Zwei
+junge Belgierinnen hatten ihren eigenen Landsleuten Warnungen zukommen
+lassen; dafür sollte die eine erschossen werden. Kühlmann erreichte
+ziemlich rasch eine Rückgängigmachung des Urteils. Auch eine kranke Dame
+aus Cambrai brachte er noch über die Grenze. Als ich aber wegen der Familie
+des Professors von L.-P. bestürmt wurde, die Frau und fünf Kinder, (der
+älteste Sohn im deportationsfähigen Alter[1]), in die Schweiz zu retten,
+schickte mir Kühlmann ohne Kommentar den Zettel, auf welchem die hohe
+Militärbehörde eine Bewilligung seines Gesuches kurz und bündig
+verweigerte. Auch ohne dies -- acht Tage nach seiner Ernennung -- wußte ich
+ihn verloren.
+
+[Fußnote 1: Als ich das erstemal in der Schweiz war, gab mir Aramis ein
+Dossier über die Deportationen, von deren Einzelheiten ich noch keine
+Ahnung hatte. Wer die französische Familie kennt, und weiß, wie sehr sie
+ihre Töchter hegt und hütet, der sah hier wahre Abgründe des Hasses und der
+Rachgier bereiten. Ich fuhr damals von Bern direkt nach Berlin, kannte aber
+von den Ministern jener Tage nur Solf, und auch diesen nur ganz flüchtig.
+Ihn bat ich in einem aufgeregten Brief um eine sofortige Unterredung. Er
+war gerade an einer Angina erkrankt und empfing mich zu Bett mit einem
+hochroten Gesicht, Eisbeutel auf dem Kopf. Am Fenster, mit dem Rücken gegen
+das Licht, stand ein Oberst. Ich kramte nun die Notizen hervor, die ich vor
+der Grenzüberschreitung in den Bodensee geworfen, und zwischen Lindau und
+Kempten wieder ins reine geschrieben hatte; der Oberst sprach die
+Befürchtung aus, daß sie der Wahrheit nur allzusehr entsprachen.
+
+Mit Hilfe dieses militärischen Freundes setzte Solf, obwohl gerade damals
+grimmig von den Alldeutschen angefeindet eine enquete durch. Und schon
+glaubte ich die Partie gewonnen und das Handwerk der Herren Ludendorff und
+Konsorten gelegt. Denn wirklich konnten Tausende von Frauen damals nach
+Hause zurück, und in ihrer ärgsten Form wurde die Methode eingedämmt. Aber
+das Hauptquartier war noch Trumpf. Meine Darstellungen, so hieß es, seien
+nicht nur die hellste Übertreibung gewesen, oh nein! sondern die
+deportierten Töchter wären sehr erfreut, sich dem öden Einerlei ihres
+untätigen Lebens entzogen zu sehen; man gewann richtig den Eindruck, als
+müßte es für ein junges Mädchen von guter Familie geradezu eine Lust sein,
+deportiert zu werden, und nur eine Bagatelle für die Eltern, ihre Kinder --
+manches Mal auf Nimmerwiedersehen -- aus ihrem Hause gerissen zu sehen,
+ohne die Möglichkeit von ihnen zu hören und ohne zu wissen, wohin man sie
+führte. Soll die Axt nie begraben werden? -- Eine Versöhnung der beiden
+Nationen ist eine so große Notwendigkeit, daß schon aus praktischen Gründen
+nicht immer einseitig nur über das erlittene Unrecht Buch geführt werden
+sollte. Und es ist für die Deutschen die große Gelegenheit gekommen! Heute,
+wo der französische Militarismus seine Stunde begeht, haben sie nur ein
+Mittel, Frankreich von seiner Rachepolitik abzubringen, indem sie -- statt
+wiederum von Rache zu reden -- es zu fühlen geben, daß sie beklagen, es zu
+dieser Rachepolitik so schwer gereizt zu haben.]
+
+Ich muß hier bis in den Londoner Sommer 1913 zurückgreifen, und zwar bis zu
+dem Abend meiner Abreise nach Irland. Kühlmann war damals jener Pläne stolz
+und froh, welche ein Jahr später in der von ihm inspirierten Broschüre
+»Weltpolitik ohne Krieg« ihren Ausdruck fanden. Ich erinnere mich jenes
+Besuches noch sehr genau; die Teemaschine sang, wir besahen einige Bilder,
+und dann fuhr mein Zug, der um Mitternacht die Küste erreichte. Alle
+Kabinen des Schiffes jedoch waren besetzt, und ich hatte vergessen, eine zu
+reservieren. So blieb nur der große Schiffsalon, wo ein freundlicher
+Steward mir in den tiefen Ecken des die Wände entlanglaufenden Sofas ein
+herrliches Lager bereitete. Der Länge nach ausgestreckt, hatte ich auf
+diese Weise eine Riesenkabine für mich allein und konnte mich vor Freude
+gar nicht beruhigen. In meine lange Lederschaukel tief hineingebettet wie
+in eine Muschel, hoch hinauf und hinunter schwingend mit dem nächtlichen,
+heftig bewegten irischen Meer als Wiege. Wie sang, wie rauschte es mich zur
+Ruh! Wie segnete ich den Steward und meine eigene Vergeßlichkeit. Hin und
+wieder waren mir die Götter doch hold.
+
+Doch weh, ach wie schlug ihre Gunst in die grausamste Ungnade um! Oh des
+zerrissenen Schiffes, das schon aufgehört hatte zu sein! In ein
+Rettungsboot gestoßen, auf eine Planke geworfen und nichts anderes als den
+Tod von den eben so gepriesenen Wellen zu gewärtigen, wühlten sie sich zu
+Felsen auf, hart und unbarmherzig mich zu begraben. Vor mir ruderte
+Kühlmann wie besinnungslos, und seine Anstrengungen angesichts eines
+solchen Orkanes dünkten mir lächerlich. Aber ich ruderte ja selbst
+mechanisch aufs Geratewohl, und dann stürzten die schwarzen Berge über das
+Boot.
+
+Wieder rauschte das Meer im eintönigen Sang, über mir war schon erkennbar
+in der ergrauten Nacht die Decke des Schiffes, und ich lag wie zuvor in der
+ledernen Muschel gewiegt. Aber für kein anderes Lied als für das finstere
+Echo meines Traums hatte ich ein Ohr. Alle Freude war tot. Ich warf die
+Decken fort und saß zusammengekauert, schlaflos, verwüstet, uralt.
+
+Durch den Krieg glaubte ich meinen Traum erfüllt. Die Ernennung Kühlmanns
+hatte mich zuerst gefreut. Er hatte von Jugend auf mit allen Kräften dem
+Krieg entgegengearbeitet, und ich hoffte, es würde ihm gelingen, sein Ende
+herbeizuführen.
+
+Aber er waltete noch keine acht Tage seines Amtes -- ich war in Wengen und
+lag in der Sonne -- als im Halbschlaf das Bild eines hohen Gerüstes sich
+aufdrängte, ähnlich dem Eiffelturm, und auf der Spitze Kühlmann, aber schon
+im Begriffe kopfüber abzustürzen, so zwar, daß er sich in der Luft zu drei
+Malen überschlug.
+
+ * * * * *
+
+Am Tage nach seinem »Niemals« kam Abigail mit einer stoßbereiten Miene, wie
+ein Widder zu mir. Zur Annahme einer schroffen Haltung Kühlmanns war ich
+jedoch um so weniger berechtigt, als mein frühestes Buch Aufsätze, welche
+auf seinen Rat den französischen Titel »L'âme aux deux patries« führten,
+die Behauptung aufrechthielt (denn mit der Feder war ich von jeher sehr
+dreist), die Annektion Elsaß-Lothringens sei ein Fehler, den Bismarck, wenn
+er noch lebte, kein zweites Mal begehen würde: er hätte ein anderes
+Äquivalent dafür ersonnen. Dies Büchlein, das im übrigen ganz unter den
+Tisch fiel, fand nur durch ihn eine so kräftige Verbreitung, daß sich der
+Verdacht regte, er sei dessen Verfasser.
+
+Auch zu jener Unterredung mit Zimmermann im Januar 1917, die einzig der
+Notwendigkeit einer Diskussion des elsaß-lothringischen Problems galt,
+hatte er mir verholfen, und im Nebenzimmer eine Unterhaltung geführt, damit
+wir ungestört blieben. Auch waren mir die Worte erinnerlich, welche er im
+Jahre 1915 diesbezüglich fallen ließ, zu einer Zeit, wo die Aussichten für
+Deutschland noch günstig erschienen. Sein »Niemals«, konnte ich daher nur
+als einen Brocken ansehen, den man Kläffern vorwirft, um sie von sich
+abzuhalten und weitergehen zu können: ein nach innen und in die Kulissen,
+nicht nach außen gerichtetes Wort.
+
+OKTOBER. Statt der drei kleinen hatte ich jetzt ein einziges großes, fast
+saalartiges Zimmer nach Norden, auf die Lauben hinaus. Schmuck, ja zierlich
+stand hier der Flügel im Raum. Die Wände hatten lichte Täfelungen, und der
+indische Schal mit dem weißen Feld fiel von der Decke bis zum Boden und
+schien eine Türe. Der Toilettentisch blitzte im Schatten auf: sein
+Hauptschmuck waren jetzt zwei silberne Renaissanceleuchter, vom Seidenaffen
+beschert.
+
+Über das Zimmer selbst ist weiter nichts zu bemerken, als daß eine Reihe
+von Unterredungen dort stattfanden, die alle zu nichts führten. Ein Wort
+über meine politische Wirksamkeit. Wir wollen sie so nennen. Eine ganze
+Weile brachte ich gewiß alle Spionagen und Gegenspionagen zur Verzweiflung.
+Scheinbar für eine jede ein kinderleichter Fang, war das Verwirrende gewiß,
+daß ich gleichzeitig in Diensten _sämtlicher_ Regierungen zu stehen den
+Anschein haben mußte. Wenn jemand keine Parteien kannte, so war ich es.
+Außer Japan, China, Rußland und Marokko durften nur noch Schweden, Norwegen
+und Dänemark sich rühmen, daß keiner ihrer Staatsangehörigen bei mir
+gewesen sei. Mein Zimmer war so recht die Halle der vergeblichen
+Zusammenkünfte, und wenn ich auch keine einzige vom Zaune brach, schob ich
+doch auch keiner einzigen den Riegel vor, selbst als mir kein Zweifel über
+ihre Vergeblichkeiten blieb. Der »Friede«, ein Wort, das mich im Schlaf
+elektrisierte, war wie das große Los oder wie das Leben eines aufgegebenen
+Kranken immer eine Möglichkeit. Und ob ich auch anfing, dem Kopfschütteln
+Fortunios beizustimmen, stürzte ich doch, wie Kundry im ersten Akt, bei
+jeder Veranlassung nach dem Heilkraut davon, das keine Linderung mehr
+bringen konnte. So setzte ich mich in Bewegung, so braute ich mit
+Todesverachtung meine Tees, ob mich auch schon ein wahres Grauen vor all
+den Nieten faßte, die sich zu Bergen vor meinem Tische häuften . . . Den
+dümmsten und ungeschicktesten Leuten schenkte ich dennoch Gehör. Vielleicht
+war gerade dieser Narr der reine Tor, vielleicht hatte ich doch recht.
+
+Meine Verständnislosigkeit für Natur und Beschaffenheit dieses Krieges ging
+ja so weit, daß ich vom ersten Tage seines Bestehens an von Monat zu Monat
+überzeugt war, länger als sechs Wochen könne er nicht mehr dauern. Immer
+schien mir alles sein nahes Ende zu künden. Als zum ersten Male von
+zahlreichen Gefangenen die Rede war, dachte ich: jetzt ist bald Schluß. Als
+Ruhleben entstand, dachte ich: jetzt wird man verhandeln. Wer ließe seine
+eigenen Leute so im Stich? Obwohl ich, was die Schlechtigkeit des einzelnen
+anging, einen so radikalen Standpunkt vertrat und immer darauf aufmerksam
+machte, daß die Larven triumphierten und der Edle geopfert würde, ja, daß
+es stets ein besonderer Glücksfall sei, wenn er nicht unterliege, so hatte
+ich den so naheliegenden Schluß von der Familie zum Staat (und was ist sie
+anders, wenn nicht die Welt und Geschichte im kleinen?) merkwürdigerweise
+noch immer nicht gemacht. Immer noch wähnend, es ginge um den Frieden, da
+es ja gar nicht ihn, sondern Sieg und Niederlage galt, glaubte ich, durch
+meine Absicht und durch meine Gesinnung alle endlich zu überzeugen und für
+mich zu gewinnen, bis ich mit Entsetzen merkte, daß gerade meine Naivität
+Bedenken erweckte. Wie hätte auch Aramis, da es mir keineswegs an
+Menschenkenntnis gebrach, eine so große Weltunkenntnis bei mir vermutet?
+Und daß ich unter Kapitalismus immer noch einige Bankiers verstand?
+Vielmehr war es natürlich, daß eine Gesellschaft, welche den Krieg als eine
+Institution begriff, an meiner Friedensmanie Ärgernis nahm. Ich hielt mich
+für besser als sie, während ich vor allen Dingen unwissender war. Und diese
+Unwissenheit stellte zu meiner Soloarie den verdrießlichen Baß.
+
+Dennoch war, als mir endlich ein Licht über die Welt und zugleich über mich
+selbst aufging, die erste Folge die Furcht. Ging ich spät die Lauben
+entlang, so faßte mich Schrecken, wenn nur die Umrisse eines Mannes oder
+nur sein Schatten hinter einer Säule sichtbar wurde. Da war ja eines jener
+unerklärlichen und gefährlichen Wesen, die es so eingerichtet hatten, daß
+ihresgleichen heute vielfach auf einem Beine durch die Lande hopsten.
+
+Meine Tätigkeit, die sich vor jeder Offensive verdoppelt hatte, war nur
+mehr mechanisch. Die letzte Zusammenkunft, die sich in meinem Zimmer begab,
+fand mit Professor H. statt. Er berief sich auf wichtige Eröffnungen auf
+Grund amerikanischer Aufträge, die er zu machen habe. Es erfolgte noch
+einmal ein Depeschenwechsel mit den Restbeständen dessen, was man noch
+deutsche Regierung nannte, und was längst unter den Hufen der
+Militärkavalla zertreten lag.
+
+ * * * * *
+
+In diesem über alle Maßen traurigen Winter strich ich eines Abends müde
+durch die Lauben, als Abigail an mir vorüberschoß. Busoni spielt heute
+Abend! rief er mir zu. Nun lief auch ich und kam noch gerade recht, bevor
+er eine Orchesterfantasie von Weber zu spielen anfing. Und siehe da, man
+lebte, war seiner Ketten ledig und richtete sich auf.
+
+Von nun an befaßte ich mich stark mit seinen Kompositionen und fuhr nach
+Zürich, wenn dort ein neues Werk von ihm zur Aufführung gelangte. Eine
+bequeme Gabe ist es ja nicht, den Wert eines überragenden Typs zu erkennen;
+sie legt Verpflichtungen auf; es ist nicht, als ginge sein Wohl und Wehe
+uns nichts an.
+
+Verdrießlich genug ist es ja vielfach mit seiner Anhängerschaft bestellt.
+Wie an den Reichen die Profiteure, so drängen sich an den Schaffenden die
+Parasiten des Geistes heran. Und vielleicht, wer weiß, ist ihm in mancher
+Feierstunde, die ohne Anregung verlief, der Chor seiner Widersacher minder
+fatal wie der seiner Anbeter.
+
+Von dem Unmut des alten und stark zensurierten Wagner, von einem
+verzweifelten Versuch sogar, den, öden Sockel auszureißen, auf dem er sich
+wie ein Götze gestellt sah, drang nur durch Zufall etwas in die Außenwelt.
+Während seine Umgebung den ungeheuren Überdruß der nachwagnerischen Ära
+bereiten half, ließ er selbst seine Werke weit und ungeduldig hinter sich
+zurück. Lange ehe seinem Lohengrin die grausige Popularität beschieden war,
+hatte er »mit Ekel in die Partitur gestarrt«[2]. Später eilte er schnell
+mit dem Nachtzug davon, wenn eine Stadt, die er bereiste, ihm zu Ehren eine
+seiner Opern ansetzte. Er hatte den schönen und naiven, wenn auch natürlich
+vergeblichen Wunsch geäußert, seinen »Ring« ein einziges Mal auf einer
+eigens errichteten Bühne in höchster Vollendung zur Aufführung zu bringen,
+um sodann Bretter und Partitur auf immer zusammenzuschlagen[3].
+
+Wer ein einziges Mal Friedrichs, den unvergleichlichen Darsteller des
+Alberich, während seiner kurzen Laufbahn vernommen hat, der vergißt nie die
+unheimliche Wirkung seines plötzlichen Vortretens, als er, hart vor der
+Rampe, mit seinem dunklen und prachtvollen Organ den Fluchgesang erhob.
+Sich selbst, die ganze Welt fühlte man da bedroht, und wer die Alberiche,
+wer die Nibelungen sind, und welche Bewandtnis es hienieden mit ihnen hat,
+wurde einem in unmißverständlichster Weise gelehrt.
+
+[Fußnote 2: Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.]
+
+[Fußnote 3: Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.]
+
+Was aber kann so nichtssagend gemacht werden wie das Bedeutsame?
+
+Gerade von groß angelegter Musik gilt das Wort: »La musique doit toujours
+nous surprendre.« Laßt Dezennien des Schweigens und der Vergessenheit den
+»Ring« begraben, damit sich von neuem offenbaren könne, welcher Vorhang da
+zurückschlug vor einer bis auf den Grund durchschauten Welt . . .
+
+Erst die Züge des späten, weltberühmten und gefeierten Wagner zeigen den
+trüben, resignierten und abgewandten Schein, als dünke ihm jetzt erst, da
+alles erreicht war, alles vergebens. Mime und Cie. rächten sich, indem sie
+ihn ableierten. Als Kassenstücke ausgebeutet, wurde das Wagnersche Werk zum
+Unding, zur Säge, zur Obstruktion . . .
+
+»Schafft neues!« war sein immerwährender Ruf; dafür wurde à la Wagner
+weiter komponiert.
+
+Sehr wagnerisch bewegt und sehr unwagnerianisch (denn was könnte es
+unwagnerischeres geben als den Wagnerianer?) ging ich eines Abends, von
+Busonis Hause kommend, durch die nächtlichen Straßen Zürichs, wo einst
+Wagner gerungen hat und heute Busoni ringt, und wo beide ein Asyl gefunden
+hatten. Mit letzter Gewißheit wußte ich da, daß der viel mißbrauchte
+Meister, der sich gerade über den so weit von ihm abliegenden Mozart so
+begeistert äußerte, heute gerade an dem selbstherrlichen Busoni und dessen
+von ihm sich entfernenden Wegen sein tiefstes Gefallen fände. Weit über das
+Leben hin tragen sich ja die wichtigsten Gegensätze aus. Denn sachte nur
+beliebt es den Göttern. Einen nach dem andern nur lassen sie zu Worte
+kommen. Ihr Neid duldet nicht das gleichzeitige Auftreten zweier allzu
+interessanter Fechter. Eher hielten sie ihnen eine Binde vor die Augen, als
+zu gestatten, daß sie ihre Klingen kreuzten.
+
+Höchst merkwürdig aber ist es, daß die Persönlichkeit nie wichtiger gewesen
+ist, als jetzt in dieser Zeit der Massenschicksale der Hungers und der
+Kohlennöte. Nicht nur alle Spreu sehen wir heute inmitten der Äquinoktien
+aufwirbeln, auch manche Gesetztafel zerschlägt aufs neue. Der Heilige des
+Tages sucht nicht mehr die Wüste, sondern tritt mitten unter die Menschen
+und fällt unter ihren Streichen, nicht weil er die Abkehr predigt von der
+Welt, sondern um seiner Beglückungstheorien willen.
+
+Aber nicht lange mehr wird der Auserwählte als ein Dulder gehen. Entweder
+sehen wir ihn bald als eine verlorengegangene Spezies ganz um die Ecke
+gebracht, oder sein Reich wird kommen. Es ist eine Täuschung, zu glauben,
+daß eine Welt, deren Schlechtigkeit und Gewalttätigkeit sich derart nach
+oben kehrte, so bleiben könnte, wie sie ist.
+
+Hier mag stehen, was ich zwei Jahre später schrieb:
+
+
+Busoni.
+
+Ich hörte Busoni zum ersten Male vor zwei Jahren in Bern. Er sah mit einem
+Blick weit hinausgerückter Vereinsamung, den man an diesem Gesicht sofort
+begriff, gleichsam zu sich selber auf und fing an zu spielen.
+
+Das gibt es also noch, dachte ich nach einer Weile. Da geht man mühselig
+seinen Weg, und plötzlich dies -- dies plötzliche Angelangtsein, diesen
+Schauer der Ruh, diese unvermutete Herberge.
+
+Bei Busonis Spiel, so herrlich es ist, will ich jedoch nur kurz verweilen.
+Er ist wohl deshalb der größte Pianist, weil er implizite einer ist, weil
+unter der Zauberformel, welche seine Finger darüber sprechen, die
+Metamorphose eines an sich zweifelhaften Instrumentes sich ergibt.
+
+Wir kennen so manche vorzügliche Pianisten. Aber wie wenige machten uns das
+Klavier vergessen! Da ist Holz, sage ich, da sind Pedale, ein schöner
+Anschlag vielleicht und ein großes Können dazu. Aber für den Hörer nicht
+eben sehr nachhaltig: _Klavier_. Besinnt euch. Ist es anders?
+
+Eher ließ noch das orchestrale Klavier Illusionen zu; ich habe große
+Dirigenten gehört, die es zu einem prachtvollen Notbehelf gestalteten. Von
+solchen Vorspiegelungen jedoch kann bei Busoni nicht die Rede sein. Dazu
+ist er zu sehr Kenner des Instrumentes, belauschte er es in allen Fibern zu
+genau. Etwas ganz anderes ist hier am Werk: Mozart hatte sich eine
+verzauberte Flöte ausgedacht: hier nun wurde tatsächlich das »Piano
+enchanté« zur Wirklichkeit. Wir brauchen dabei nur an seinen Vortrag, der
+an sich kaum noch erträglichen Pianofortekompositionen Liszts zu erinnern,
+dieses riesenhaften und vermoderten Rosenbuketts mit verschossener
+Bandschleife . . . statt dessen wird eine ganze Epoche, die des zweiten
+Kaiserreichs, vor uns lebendig: Pracht, Tand und Duft, Fächerspiel,
+lächelnde Augen, Krinoline, Vergessenheit; alles retrospektiv gesehen, mit
+magischer Schärfe aufgerufen. Daher auch die ernste Maske im Hintergrund.
+
+Schließlich, wenn alles gesagt ist, bleibt von einem Menschen immer nur das
+Neue. Die Geschichte unseres Geistes sind weitergegebene Signale. Aber
+nicht immer das zuletzt Gegebene wird von dem Kommenden aufgegriffen. Die
+Schrift ist kraus. Und die, welche an ihr schreiben, haben vor allem ihr
+_geistiges_ Elternpaar, ihre geistige Familie und ihre geistige Sippe.
+Falls wir eine neue Zeit zusammenbringen, wird auch eine neue Heraldik mit
+ihr aufkommen. Gar merkwürdige Erzhäuser, Dynastien und ihre Nebenlinien
+werden sich da herausstellen. Und kaum einen Stammbaum dürfte es heute
+geben, der weiter verzweigt und interessanter zu erforschen wäre, wie der
+des so universalen Busoni. Keine Vaterschaft, die ihm an der Wiege gesungen
+wurde, sondern die sich vielmehr vor ihm verbarg, ihm vielmehr auferlegte,
+sie zu entdecken.
+
+Viele Jahre hindurch ist es in seinen Werken wie ein umsichblicken, ein
+plötzliches horchen, sichunterbrechen und stillestehen. Konzessionen kennt
+er nicht. Was das unvorbereitete Ohr noch grau, abstrus, bizarr anmutet,
+sind die Schatten des Weges, auf dem er sich entfernt. Seine Zeitgenossen
+verlieren ihn aus dem Gesicht. Mit dem embarras de richesse, welchen
+Berlioz, Liszt und Wagner in das Orchester hineingetragen haben, ließ sich
+ja noch lange wirtschaften. Richard Strauß buchtete das von den Vätern
+Erworbene noch weiter aus, erstand noch die oder jene Pagode hinzu, und zum
+Beweis, daß er ein Allerweltskönner sei, schuf er in seiner »Ariadne« eine
+antike Seite -- ich brauche sie nicht zu nennen -- von ewigem Wert.
+
+Auch bei dem feinen, wenn auch kurzatmigen Debussy horchten wir auf. Einige
+noch unvernommene Töne schlugen da an, wie in Farbe getaucht, morbid,
+verzückt, nur scheinbar dekadent, nicht dekadenter, sagte ich schon, als
+ein Mondreflex auf einem verrosteten Gitter. Jedoch viel zu sagen hatte er
+nicht; auch er fragte sich nicht, wie es weitergehen sollte, und er
+verstummte schnell.
+
+Genie ist nicht nur Fleiß (neben vielem anderen), sondern auch ein
+heroischer Ernst. Vielleicht ist Busoni nicht der einzige, welcher
+erkannte, daß die Musik in die wild überwuchernde Flora der Neuromantik
+nicht mehr tiefer hineinführte. Aber man kutschierte fatalistisch in
+derselben Richtung, demselben Kreise weiter, denn das Problem schien
+unlöslich. Nur nicht für Busoni. Es reizte gerade den Schöpfer in ihm.
+
+Anfangs waren es nur Anregungen, welche er bot. Turandot; immer stärkere
+Anregungen, wie das Licht eines wachsenden Tages, in seiner Schrift »Zur
+Ästhetik der Musik«, in »Arlechino«; in seinen immer erstaunlichen
+Klavierkompositionen, welche dem Klavier -- dem einstigen Spinett -- so
+neue Dinge entlocken: Klangeinlagen, Klangunterlagen, eingebaute,
+eingetönte Perspektiven (wenn ich so sagen darf!) grüßen da aus
+unvermuteten Tiefen, wie grünleuchtende Seen. Auch rein äußerlich genommen,
+verfährt Busoni als Schöpfer mit ihm; auch auf den rein äußeren Ausbau
+dieses Instruments (immer ist ja der Entdecker in ihm rege!) drängen seine
+Kompositionen hin.
+
+Scheint dies vielleicht von mäßigem Belang?
+
+Welche Stunden äußerster Betrübnis muß das Genie durchleben! Wie müssen ihn
+da die Zweifel überwältigen, ob die ewig geschäftige und ewig unachtsame
+Welt das Geschenk denn auch entgegennehmen wird, welches ihr zu bereiten er
+sein Leben widmet!
+
+Während sie von nichts anderem widerhallte, als ihrem sinnlosen
+Waffengedröhn, hielt Busoni sein schweres Ziel im Auge, drang er immer
+weiter vor, nahm er die Kurve, legte er die Schraube an. In seiner
+Isolation fand er die schöpferische Kraft, das Tor zu sprengen, und die in
+ihrem Riesenapparat festgefahrene, ja welkende Musik für eine neue Jugend
+flügge zu machen. Es wurden uns bis jetzt nur Bruchstücke seines »Faust«
+bekanntgegeben, aber sie künden ihn ganz. Die reine Linienführung, die
+tempelhaften Umrisse einer neuen Klassizität, sanft gerundet, erheben sich
+wieder! Ein »Faust« um so faustischer nur durch die neuen Streiflichter,
+die auf ihn fallen: die holde Blässe in der Feierlichkeit, ein in der Welt
+noch nicht dagewesener Adel des Klanges das Sfumato in der Trauer,
+Leonardisches, Latinismen . . .
+
+Wenn ich sage, daß mit diesem seinem und zugleich so sehr unserem »Faust«
+das Erbe Mozarts angetreten wurde, befürchte ich kein Dementi von der
+Zukunft.
+
+Darf ich (so nebenbei) in Erinnerung bringen, daß Bettina Brentano über
+Beethoven, daß Julie de Lespinasse über Gluck zu beider Lebzeiten das
+Entscheidendste sagten?
+
+Und wenn ich mich heute so gedrängt fühle, auf die Wichtigkeit Busonis
+immer wieder aufmerksam zu machen, so möchte ich hinzufügen, daß es in der
+Kunst sowohl wie in der Politik so etwas gibt wie ein »zu spät«. Auch hier
+sind die Gelegenheiten dahin, die man verpaßte -- auch den Herren
+Klavierbauern rufe ich dies heute zu.
+
+Busoni hat ja seinen Lohn sicher nicht dahin. Auf der von ihm freigelegten
+Bahn geht es weiter, und der Dank der Kommenden erwartet ihn. Aber sollen
+wir heute, wo die Kronen zu Dutzenden auf das Pflaster rollten, sie im
+Staube verkommen lassen und wie im alten Regime die wahren Könige nicht
+ausrufen und nicht unterscheiden?
+
+
+
+
+Dritter Teil.
+
+
+Das traurigste aller Jahre gehörte der Vergangenheit. Auch der Januar hatte
+ein Ende genommen. Ich war die Sklavin meines Flügels. Ihm zuliebe behielt
+ich das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte.
+
+Mit England und den Vereinigten Staaten war der Briefwechsel besonders
+schwierig geworden. Zuletzt würde es Mühe geben, sich die Gesichter seiner
+Freunde zu vergegenwärtigen, deren Bild nie eine Nachricht näher brachte.
+
+Eines Nachmittags -- es fing schon an zu dämmern -- und meine Gedanken
+zogen über unerreichbar gewordene Küsten den gewohnten Weg, als statt
+vertrauter Züge, die ich wachrief, ein blankes, behendes Pferd aufblitzte
+von intensivstem Braun. Voll Ungestüm, beredten Blickes, als hätte es etwas
+zu verkünden, weckte es ein Echo großer Bangigkeit und verschwand.
+
+Dafür blieb der ganze folgende Tag unter dem Eindruck eines so beseligenden
+Traumes, daß es ein Frevel wäre, ihn zu schildern.
+
+Wiederum dämmerte es, und diesmal saß Fortunio in meiner Sofaecke, und wir
+unterhielten uns.
+
+Das zwiefache an den Menschen, darüber waren wir uns ja einig, betraf ihren
+Ursprung. Insofern hatten die Extremisten recht, als sie nicht glaubten,
+mit dem alten Karren ins gelobte neue Land einzufahren. Leider aber
+brachten sie dabei ihre eigene Anhängerschaft ganz nach der alten Manier,
+nicht etwa der Artung, sondern der oft so rein zufälligen Meinung nach als
+wildes Durcheinander unter ein und dieselbe Flagge.
+
+»Wie wunderbar ist der Mensch!« sagte ich plötzlich, »was für Eingebungen
+er hat! Auf was für Dinge er gerät! Zum Beispiel in allen Sprachen
+Vergleiche wie die folgenden zu ziehen: marchez comme sur des nuages; to
+walk on clouds; wie auf Wolken gehen.«
+
+»Warum?« fragte er.
+
+»Weil es das gibt. Nicht etwa nur in euren Dichterphantasien, sondern einer
+höheren, höchsten Physik zufolge. Wer ist der verwirrte Tropf gewesen, der
+als erster Wort und Begriff des Wunders startete?«
+
+Ich wurde jetzt der Schneereflexe immer bewußter, welche in die Mollakkorde
+eines unvergleichlichen Zwielichtes fuhren. Nur wenig Wintertagen eignet
+dieser Schein, trauter als das von Sommerlüften durchwärmte, hölzerne
+Gartenhäuschen. Lange schmeichelte er sich an den Fenstern hin.
+
+»Eine gesteigerte Natur,« fuhr ich fort, »Kontakte, es sind Füße denkbar,
+zu welchen die Tragfähigkeit der Wolke sich verhielte wie Steg und Brücke
+zu den unseren: Gewänder, die zu solchen Füßen niederflössen, würde durch
+die Schärfe der Emulsion der Äther zum natürlichsten Geleise: weite Geleise
+solchen Füßen, und so sehr ein Teil von ihnen, während sie auf ihren
+Wolkensohlen reisten, daß von einer zifferlosen Arithmetik beherrscht, der
+ganze Himmel, und nicht etwa nur ein Stück von ihm, mit in den Raum sich
+drängen würde, über dessen Schwelle sie zögen.«
+
+Hier verstummte ich, und so gebieterisch schwoll die Dämmerung an, daß
+meine Hände, wie Orgelpunkte in der Schwebe gehalten, plötzlich
+niederfielen, ihrer Unzulänglichkeit und Armut zurückgegeben.
+
+»Wollen Sie Licht machen?« fragte ich.
+
+Während er sich anschickte, das Zimmer der ganzen Länge nach zu
+durchschreiten, war ich innerlich erstaunt über die Ausführlichkeit, mit
+der sich das Detail eines Bildes, welches doch als Ganzes, über alle
+Zeitbegriffe schnell zu Häupten meines Bettes aufgeblitzt war, festhalten
+ließe.
+
+Doch warum faßte mich da wieder das unerklärliche Grauen, das nicht mehr
+einzufangende Echo des Grams des gestrigen Nachmittags, als mir im
+halbwachen Zustand das Pferd beredten Auges entgegenschoß? Welche
+Bewandtnis -- -- -- -- --
+
+Aber da hatte Fortunio schon geknipst, die Lampe erstrahlte, und ich atmete
+auf.
+
+5. FEBRUAR. Am Morgen dieses Tages stand ich angekleidet zu Häupten des
+Bettes und hielt meine Post. Sie war umfangreicher als sonst. Ein Brief mit
+ausländischer Marke und fremder Handschrift, den ich zuerst öffnete,
+umfaßte nur wenig Zeilen und meldete einen Tod, der schon vier Monate
+zurücklag.
+
+Der Zahnarzt erwartete mich schon sehr früh.
+
+Ganz undeutlich, wie von einem andern Ufer herüber, so daß ich nicht daran
+dachte, mich zu entschuldigen, schien er mir ungeduldig über mein
+verspätetes Erscheinen.
+
+Ich wollte ihn ersuchen, das graue Schmerzenslicht von der
+gegenüberliegenden Mauer zu entfernen. Dann besann ich mich: zeigten doch
+alle Dinge, das Fenster, die Instrumente auf dem Tablett dieselbe böse und
+stechende Schärfe.
+
+Desgleichen die Luft, als ich nach der Sitzung unter die Lauben trat.
+Sollte man sich es wirklich antun, sie hinabzugehen? War nicht vielmehr die
+Erde, dieser schwarze und zertretene Schnee, sich in ihm einzubetten mit
+zugekehrtem Gesicht, die einzige und unendliche Lockung? Die wehe Fackel
+des Gedächtnisses zu löschen, so zu verlöschen, als sei man nie gewesen,
+dieses war der Himmel. Oh wer war das? Wer war die Kreatur, die diesen
+ganzen Tag hindurch alle Gesten des Lebens so staccato verrichtete, an den
+Speisen dieselbe entsetzliche und befremdende Miene wahrnahm, wie an den
+Pinzetten auf dem Tablett des Zahnarztes, und wohin sie sich auch wandte,
+die Flucht ergriff; als wäre sie die aus Hoffmanns Erzählung entronnene
+Olympia -- die Lauben hinab, die Treppen hinauf -- in ihr Zimmer zurücklief
+-- und sich umzog! -- Einen blauen Hut aufsetzte, einen blauen! -- und
+einen blauen Schleier davorband, und in das betäubte Antlitz starrte, dem
+er so ungewöhnlich stand -- und einen Besuch abstattete -- an einem Ofen
+lehnte, an ein Fenster trat, und durch seine, vom leichten Druck getrübte
+Scheiben sah, den die Wärme des Zimmers hervorrief. Es saß einer da, der
+erzählte, doch nur die Türe nahm sie wahr, durch welche sie wieder
+entrinnen und ins Freie gelangen konnte . . .
+
+Dort fing es an zu dunkeln. Es nahm auch dieser Tag ein Ende.
+
+Nur auf dem freien Platz und über der Brücke war es noch hell. Rauh, grell
+und öde brütete ein durchnäßter Wintertag. Ungemildert fing ihn der
+»Gurten« auf: eine dunkle, ansehnliche Masse, und dennoch niedrig stellte
+sich ihm oh, so traumlos entgegen! Tropfnaß alle Dächer, die Bäume ein
+wirres und aufgelöstes Haar.
+
+Das Uhrwerk war abgelaufen, und sie stand nun endlich still, wie
+überwachsen von ihrer Not. Ein Martergriffel umriß für sie die ganze Stadt,
+die sich im Widerscheine eines Sterbetages zur Krypta schloß, das Siegel
+seiner Qual für immer aufgebrannt. So fiel ein Tor.
+
+Beim ersten Laternenschein prallte sie zurück. Jedes Licht war eine Tücke.
+Kein Dunkel war tief und ununterbrochen genug. Und riefen ihre Wände nicht
+nach ihr? Zu ihnen nahm sie ihre Zuflucht, schloß ihre Türe und überließ
+sich der Erschöpfung. In ihren Kleidern wie auf einem Sarkophag, ohne sich
+zu rühren, ausgestreckt, lag sie in den Armen und am Herzen dieser Nacht.
+
+Siehe -- was tauchte da wieder vor ihr auf? -- Sturmentlassen, mit
+verhängten Zügeln, wie einem geisterhaften Stalle zugekehrt, das entfärbte,
+fahlgewordene Roß, dessen Botendienst geschehen war.
+
+Zum ersten Male entsann sie sich da auch des andern Bildes, das sich
+zwischen einer Kunde und ihrer Ankündigung gnädig und wie eine Gnade
+stellte.
+
+ * * * * *
+
+Und nun, oh Leser, fasse meine Hand, daß ich von dir selber gehalten, durch
+Dornen und Gestrüpp, Ziel, Sinn und Ende dieses Buches erreiche. Verlasse
+auf immer mit mir das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte und folge mir
+nach Genf. Ferne dem traumlosen Berg, über der malerischen Stadt des
+nüchternen Lichtes, durch die Turmspitze versinnbildlicht, welche den
+Unterbau des Münsters niederdrückt, und seine Schönheit immerzu und immerzu
+verneint.
+
+Selbst bei der schärfsten Bise leuchtete die Luft in Genf so abgetönt. Dort
+hauste ich nun, in einem unheizbaren Studentenstübchen im fünften Stock des
+hotel de Russie. Ein kleiner Balkon überhing die stets von Schwänen
+überzogene Insel Rousseau. Meine Taschen waren in diesen Tagen der
+Brotkarten mit Krumen wohlgefüllt, und mit heimlicher Befriedigung warf ich
+ihnen die rargewordene Speise zu. Nicht vergeblich glitten sie mir da immer
+sogleich, doch ohne jede unziemliche Eile entgegen. Ich sah ihnen oft lange
+zu. Sie standen in der Tierwelt so abseits; fast ein wenig abgerückt von
+der Natur. Bald würden sie zwischen ihren stolz aufgerichteten Flügeln ihre
+Jungen wie in einer geschlossenen Krone durchs Blaue tragen. Vielleicht gab
+ihnen ihre Ungefährdetheit die Muße, um den Tod zu wissen.
+
+Die Zeiten waren derart, daß der Ortswechsel selbst einer so unwichtigen
+Person wie mir nicht unvermerkt blieb. Dinge aber, die mich vor kurzem in
+Aufruhr versetzt hätten, machten mir nicht das geringste. An der
+Telephonkabine war eines Morgens der Türgriff ausgekurbelt und wurde nicht
+wieder instand gesetzt. Dicht bei verbrachte ein dicker Herr seine Tage und
+rauchte Zigarren, indem er unverfroren horchte.
+
+Indessen wurde ich von Herrn L -- P. . . . dem Vater der im
+deportationsfähigen Alter stehenden Kinder aufs neue bestürmt. Seiner Frau
+blieben die Pässe verweigert. Ich schrieb jetzt auf gut Glück dem Grafen
+Carry, er möge mich über den Sonntag besuchen. Und richtig stand er da. Es
+war strahlendes Wetter, wir streunten über die Kais und aßen zusammen. An
+seine natürliche Güte hatte ich nie vergebens appelliert, und schließlich
+bildete sein Propagandawerk eine Art von Rettungsstation. An ihm klebte
+kein Blut. Da mir aber seine Beziehungen zur obersten Heeresleitung bekannt
+waren, log ich jetzt über die politische Zweckmäßigkeit einer Paßverleihung
+an die Familie L . . P . . . einiges Blaue vom Himmel. Wir setzten uns ins
+Freie. Erstaunliche Magnolien prangten schon in voller Blüte; an eine
+Tanne, grünblau, weiten Hauptes wie eine Pinie, und immerzu umschwirrt,
+preßte sich ein glückliches Vogelhaus. Carrys Augen hingen voll Entzücken
+daran.
+
+»Da geht mein schlimmster Feind«, sagte er plötzlich. Klein, mit
+niederträchtiger Visage, kam hinter den Magnolien ein Landsmann von uns
+hervor. Von übelster Vergangenheit, dabei Träger eines großen Namens, für
+den Nachrichtendienst also wie geboren, lauerte er dem Frieden um so
+emsiger auf, als die Dauer des Krieges mit dem Interim seiner
+Rehabilitierung zusammenfiel.
+
+»Natürlich haßt er Sie«, sagte ich zerstreut. »Was erwarten Sie sonst?«
+
+Abends -- der Graf war schon abgereist -- kreuzte ich mich nochmals, über
+die Brücke zu den Schwänen gehend, mit der hochgeborenen Krapüle, die mit
+einem Basiliskenblick an mir vorüberging. Tags darauf -- ich dachte gerade
+an das blauzerfließende Grün der Tanne und an den großen Blumenbaum, der in
+dieser Sonnenhelle wohl noch heller erblüht war, als ich ans Telephon
+gerufen wurde. Vor der Zelle saß trägen Auges der mir zugeteilte Herr mit
+der Nachmittagszigarre im Mund. Heute aber sollte er auf seine Kosten
+kommen. Denn im höchst aufgeregten Ton forderte mich eine Genfer Dame zu
+sofortiger Aussprache auf. Ihr Haus sei mir offengestanden, sie habe mir
+ihr Vertrauen geschenkt, und nun müsse sie hören, daß ich es mißbrauchte.
+
+Ich machte mich ziemlich gemächlich auf den Weg zu ihrem Hause. Seit jenem
+Tage, als sich Bern für mich zur Krypta schloß, war mir erst bewußt, daß
+ich mit nichten ein verkannter oder verlassener, sondern einer der wenigen
+innerlich wirklich beschützten und durchschauten Menschen gewesen war.
+
+Wie oft hatte -- weit vorgreifend, ach! -- mein Ohr das melodische Lachen
+zu hören geglaubt, wenn ich dereinst alles erzählen würde, alle Zwickmühlen
+und alle Abenteuer, in die ich geraten war.
+
+Ein ganzer, ein wirklich unvergeßlicher Mensch, dachte ich, von Trauer
+niedergedrückt, ist nirgends zu Ende. Unerschöpft und ganz unausgespielt
+sinkt er zu Grabe. Abgerissen, doch nicht abgesponnen, ist der Faden eines
+solchen Lebens.
+
+Wenn aber Kinder des Lichtes zusammentreffen, ist das schon ein Glück des
+Himmels. In dem hin und her ihrer Blicke und ihres erkennens liegt das
+Vorgefühl ihrer Macht. Zu uns komme ihr Reich.
+
+Mit der Genfer Dame war ich schnell im reinen. Wir spielten beiderseits mit
+offenen Karten. Die hochgeborene Krapüle hatte verbreiten lassen, die
+deutsche Propaganda arbeite nunmehr mit so raffinierten Mitteln, daß sie
+kompromittierte Personen, wie mich, zu Werkzeugen mache. Den Beweis hielte
+er in der Hand. (Es war mein Frühstück mit dem Grafen Carry.) Natürlich war
+seine Behauptung wohl geeignet, mich in Genf unmöglich zu machen. Er hatte
+sich nur insofern verrechnet, als meine dortigen Freunde sich unverweilt
+mit mir ins Vertrauen setzten. Dieser Zwischenfall war also beigelegt.
+
+Als ich wieder in die Allee einbog, welche von ihrem Hause bis hart an die
+Straße führte, drangen durch ein offengebliebenes Fenster die Worte: »Je
+suis bien contente de le lui avoir dit« laut und vernehmlich ins Freie; Mir
+aber saß jetzt ein ödes Gefühl im Magen, ein Ekel, das würgen einer allzu
+krampfhaft unterdrückten Bitterkeit. Ein Durst zugleich; das lechzen des
+Trinkers, der nach dem Becher vergeht; es mußte etwas, das Palliativ, die
+Betäubung mußte her. Es war das alte Laster, hui! Und lag sie nicht dicht
+bei, die avenue de Florissant? wußte ich nicht, zufällig, daß sie dort
+wohnte, sie, die den Schlüssel zu den geheimen Toren hielt, die ich
+begehrte? Heute noch, nein, sogleich mußte ich hin.
+
+Und schon betrat ich unangemeldet die großen Räume, in welchen die
+malerische Französin zwischen ausgehobenen Türen nach allen Seiten hin den
+Ausblick über Gärten und Büsche genoß. Es war eine ganze Welt von Bäumen in
+ihrem ersten Grün. Mademoiselle S., eine Pariserin der ernsten und wenig
+bekannten Art, trug einen orangefarbenen Foulard um ihren Kopf gewunden und
+gestand ihre Kopfschmerzen, aber nicht ihr Befremden über meinen Besuch.
+Wir hatten uns ein einziges Mal während des Krieges flüchtig kennengelernt,
+und nun lagerte ich, jedem Argwohn zuvorkommend, indem ich ihn einfach
+niedertrat, auf einem Diwan ihres Salons, den verwirrenden Frühlingszauber
+ihres Parkes vor Augen.
+
+»Sie sind im Besitze der Adresse eines Mediums,« sagte ich, »die ich
+suche.« Und sie erhob sich, an ihnen Schreibtisch zu treten; eine hohe und
+dunkle Gestalt, weder so schön, noch so jung vielleicht, als sie an diesem
+Abend schien, den blassen und melancholischen Kopf vom seidenen Turban eng
+umschlossen, und all die Wipfel, die in den Rosenhimmel ragten, als
+Hintergrund. Sie reichte mir die Adresse, und wir sprachen von allgemeinen
+Dingen.
+
+»Es muß heute doch ein eigener Segen auf allen Schlechtigkeiten ruhen,«
+sagte ich, »da, was immer man Gutes und Hilfreiches unternehmen möchte,
+sofort in Mißlingen und Gestank aufgeht.«
+
+»Wie könnte es anders sein?« gab sie zurück, »das Geschwür ist noch lange
+nicht reif. Vorerst muß alles ihm allein zugute kommen.«
+
+»Es gibt aber Geschwüre en permanence«, meinte ich. Doch sie schüttelte den
+Kopf, unbeirrbar in ihrem Glauben an eine bessere Zukunft.
+
+Es herrschte zwischen uns die kurzbefristete Vertraulichkeit zweier
+Reisegefährten eines nächtlichen Zuges. Nichts ist so unverbindlich wie ihr
+Auseinandergehen.
+
+Denn schon war ich wieder unterwegs, einer andern Himmelsrichtung, einem
+Genf, das ich nicht kannte, zugewandt, nicht wissend, daß es auch seine
+anonymen Viertel hatte, die scheinbar nicht zu ihm gehörten, sondern in
+ihrer Bedrücktheit ganz allgemein die Straßen einer größeren Stadt
+darstellen. Zwischen solchen Häuserreihen war ich jetzt auf der Suche, fand
+die Nummer, stieg vier Treppen hoch und läutete und wartete. Eine im Dunkel
+undefinierbare Gestalt öffnete endlich langsam die Türe.
+
+»Wollen Sie mich melden?« sagte ich, ohne meinen Namen anzugeben. Sie
+rührte sich nicht. »Wollen Sie mich melden?« wiederholte ich. Sie schwieg.
+Sie war es selbst. Stumm standen wir einander gegenüber. Unsere Blicke
+belauerten, betasteten sich. So tauschen wohl in einer Höhle des Lasters
+zwei Eingeweihte zögernd ihre Erkennungszeichen: es waren die verschleppten
+Schatten unserer Augen und ihr matter und verlöschter Schein. Und wie
+loderte schon die Luft! Oh welch ein Wellengang! Welcher Sturm inmitten der
+Stille, die zwischen uns entstand. Ich folgte der Gestalt, die vor mir
+zurückwich. Sie trat, als hätte ich sie gestoßen, in die Umrahmung einer
+Türe, die hinter ihr nachgab, und taumelnd trat ich ein.
+
+ * * * * *
+
+Dem glücklich Liebenden gleich streifte ich in jener Nacht, hingerissen,
+berauscht, von tröstlichen Schauern durchrieselt, die Kais entlang. Wie
+Antäus die Erde, hatte so mein Fuß die belebende Leere berührt? -- War's
+ein geistiger Aderlaß gewesen? War's der letzten Hingabe entsetzliche
+Betäubung oder die eleusische Flut? Und wird sie einmal einer nennen
+dürfen, die einmaligen Gefilde ohne Wiederkehr und Verbieter des Wortes,
+die ein Blick zu ihnen ein Wenden des Kopfes nur, zu ewiger Ungewesenheit
+entstürzen läßt . . . .
+
+Oh Eurydike!
+
+ * * * * *
+
+Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, nahm ich das Schiff. Als es in
+Ouchy anlegte, zog mit einem Male Fortunio an Bord. Wir waren beide nicht
+wenig erstaunt. Ihn aber schien die Bläue des Tages und das in Verzückung
+zurücktretende Ufer von sich selbst fortgerissen zu haben, und es war
+ersichtlich, daß er träumte. Das Leben hielt er dann für schön, besann sich
+des Augenblickes und der Weltgeschichte, wie auch seines eigenen Erwachens
+nicht, sondern, ganz Echo, war er gefangen von ein paar Weisen, welche
+manchen Tages die Natur anhebt, und den verwandelt, der sie hört.
+
+»Lassen Sie sich das Neueste erzählen«, stieß ich ihn an und gab mit allen
+Details die Mine zum besten, von der ich in Genf hätte auffliegen sollen.
+Wie ergiebig Graf Carry dabei mit »belegt« worden war, kam erst später ans
+Tageslicht. Mit der Warnung an meine Schweizer Freunde nämlich, sich vor
+einer deutschen Agentin wie mir etwas in acht zu nehmen, erging
+gleichzeitig eine Meldung an deutsche Instanzen in Bern, Graf Carry wisse
+so wenig die Würde seines Amtes zu wahren, daß er sich nicht scheue, mit
+einer französischen Agentin wie mir öffentlich herumzuziehen. Aus dem
+Mittagessen wurde der Pikanterie halber ein trautes Souper.
+
+»Diese Zeit«, sagte ich zu Fortunio, »hat den Untermenschen doch wirklich
+den Maibaum ihrer Existenzen gebracht, und es gehört mit zu den läuternden
+Wirkungen des Krieges, daß ihn die Krapülen überleben. Denn wenn eine,
+statt als sein Helfershelfer reklamiert zu werden, in die fatale Lage
+gerät, selbst an den Heldentod glauben zu müssen, so ist das doch ein ganz
+seltenes Pech.«
+
+Fortunio fuhr mit dem Abendzug nach Bern zurück, und ich blieb in Clarens.
+
+Um Ostern wollte ich Romain Rolland besuchen und sagte mich in Villeneuve
+an. Allein es war jener Karfreitagmorgen, an welchem eine oberste
+Heeresleitung, wie um seiner zu höhnen, die Kanonade von Paris nicht
+unterbrach, eine Kirche während des Kultes einstürzte und die Anwesenden
+unter sich begrub. Daß mein angekündeter Besuch auf das hin unterblieb,
+verstand sich von selbst. Für mein Gefühl war dieser Karfreitagsvolltreffer
+das schwarze Aß, das sich Deutschland selber ausgeworfen hatte. Eine solche
+Absage an die tragende Idee des Christentums war zu zynisch, um nicht
+ominös zu sein. Sie war -- man verstehe mich recht -- wüstester
+Protestantismus. Luther galt mir nur deshalb als einer der Ahnherren des
+Krieges, weil sein auftreten das Übergewicht des nördlichen über das
+westliche und südliche Deutschland anbahnte, und ein kahles,
+unkünstlerisches, unmusisches und humorloses Element in den Pulsen der
+Deutschen entsprang: Phantasielosigkeit und Unmusik. Wagt es vielleicht
+einer, Sebastian Bach einen Protestanten zu nennen? Der Protestantismus
+stak damals in seinen ersten Anfängen, noch belebt von der Wärme des
+Stammes, von dem er sich losriß: protestierender Katholizismus. Der
+wirklich ausgewachsene konsistorialrätliche Protestantismus gedieh erst in
+den letzten Dezennien zu der vollen Reife und dem gleichzeitigen Marasmus.
+Die fürchterlichen Lutherschen Kirchen, das toteste an Architektur, was in
+der Welt zu sehen ist, sind Geist von seinem Geiste. Alle unfrohe
+Geschmacklosigkeit, den Mangel an Grazie und Liebenswürdigkeit, das
+Reformkostüm, die Jägerwäsche danken wir ihm. Undenkbar, daß von München
+aus die Reichsbriefmarke, als die häßlichste der Welt, hinausgeflattert
+wäre. Nein! fürwahr, diese Germania stieg so recht als die fille ainée der
+protestantischen Kirche. Sie brachte den unheilbaren Riß, über den keine
+äußerliche Geeintheit hinweghalf. Denn ihr verdanken wir das
+verständnislose abrücken von der lateinischen und abendländischen Welt, das
+ein südliches, fränkisches und westliches Deutschland nie herbeigeführt
+hätte.
+
+Statt des café du Nord wurde jetzt der Kursaal von Montreux meine
+Schreibstube. Den Nachmittag beschloß ich mit Vorliebe im kleinen Saal des
+Konservatoriums, wo ich mit einem russischen Cellisten musizierte. Aber A.
+H. Pax wollte wieder einen Beitrag. Es gibt heute nur ein Thema, schrieb
+ich ihm:
+
+Und wir hätten alles von der Methode jener glücklichen Spekulanten zu
+lernen, welche sich offenkundig als die weitaus schärfsten Psychologen
+erwiesen, indem sie irgendein Präparat, eine Zahntinktur oder ein Extrakt
+dadurch zu allgemeinster Geltung verhelfen, daß sie deren Bezeichnungen in
+grellen Riesenbuchstaben an Mauern, Säulen und Schlöten anschlagen, sich
+gleichsam an die Fersen des Vorübergehenden heften, selbst auf Bergeshöhen
+sich zwischen ihn und die Aussicht schieben, ja von Felswänden herab ihm
+unerwartet Odol! Haarlin! oder Bovril! entgegenschreien.
+
+Wäre heute nicht die Beachtung gewisser Zustände mit einer ebensolchen
+vorbildlichen Hartnäckigkeit zu erzwingen? Durch ein ungeheures
+Preisausschreiben etwa, das an alle Maler, der ältesten wie der neuesten
+Schule, erginge, um auf Bildern und Plakaten, mit beliebigem Raumverbrauch,
+die Wirklichkeit zu illustrieren, allen Brücken und Wegen entlang sie
+immerzu neu einer Allgemeinheit zu veranschaulichen, deren geistigen
+Stumpfsinn nur jene Menschenkenner von Spekulanten voll ergründeten. Daß es
+keine intellektuelle Notwehr gibt, und daß wir lieber untergehen als daß
+wir dächten, hielten wir ja nicht für möglich, bevor wir es erlebten. Wie
+hätte sonst über unsere Köpfe hinweg jene Phalanx der Niedrigen zustande
+kommen können, die sich heute mit so bewundernswerter Regie über alle
+Grenzen hin in die Hände arbeiten? Auf uns, die sie gewähren lassen, fällt
+der Fluch dieser Zeit zurück. Nicht auf die schlechten, deren Tun im
+Einklang steht mit ihrem Wollen; auf uns, nicht auf die Knechte, welche
+sich zu unseren Herren machten, sondern auf uns, die wir uns von ihnen
+knechten ließen. Sollte der Tag hereinbrechen, an dem es zu spät sein wird
+für unser zusammengehen, so werden wir, die guten Willens sind, als die
+Schuldigen stehen, weil uns der Mut unseres besseren Wissens gebrach, dem
+Genius des Krieges die Siegermaske von der gedankenlosen Stirn zu reißen.
+Ah! wir bedachten nicht den tiefen Sinn jener Sage, welche den Drachentöter
+die Sprache der Vögel verstehen ließ, als er vom Blut des erlegten
+Ungeheuers genoß!
+
+Es waren stille Tage. Der Sommer reifte wie eine Frucht. Schon rissen
+Gewitter den Himmel auf und schlugen die Wellen bis zu den herabhängenden
+Blüten am Ufer. Und die Nächte verströmten betäubend und lau. Es war ein
+Wandeln wie im Traum, bedrückend und begeisternd zugleich. Meine
+Unterredung mit dem Grafen Carry datierte vom 5. Mai. Schon am 17.
+depeschierte er mir, die Pässe für Frau v. L . . . . und ihre fünf Kinder
+seien gewährt.
+
+In den Weinbergen surrte das Licht, die goldenen Bienen waren eins mit ihm.
+Ob man lebte oder gestorben war oder eben geboren wurde, machte keinen
+Unterschied. Es war zu heiß. Den schönen Damen standen die Koffer gerüstet.
+Ihre neuesten Kostüme und Kleider, die seidenen Sweater und die Hüte und
+die Schuhe kannte man jetzt. Es war Zeit, in einem neuen Ort neu darin zu
+erstehen.
+
+Für den 29. waren in Zürich Busonis Opern unter seiner Leitung angesagt.
+Dort sollte ich mit Fortunio zusammentreffen, und dann an den Thuner See
+mit ihm fahren. Aber statt seiner kam ein Brief, und meine Stirne umwölkte
+sich beim Anblick seiner Adresse: Es war ein Mißgriff und eine Illusion,
+daß er die Villa des geölten Nibelungen bezog. Kurz herausgesagt, wir
+beiden konnten einander nicht leiden. Ich grollte ihm nicht, weil er meine
+Haltung verurteilt und mir versichert hatte, wir seien immer noch zu
+anständig; sein plötzlicher Radikalismus, vielmehr die Art, wie er sich als
+unser Leithammel aufwarf, ärgerte mich. Denn er war keiner von den Unseren.
+Mit Lanze und Speer kam ich ins Spiezer Schloßhotel, ihn zu bekämpfen. Dort
+warteten A. H. Pax und seine unschätzbare Gattin seit einer Woche meiner.
+In der Halle stand ein Bechstein, und von Paxens tiefer Loggia aus hatte
+man den Blick nach Süden über die Alpen und den See. Bei ihnen waltete
+Überblick, Wissen und Nächstenliebe, dazu ein Aroma von Wiener Kaffee und
+Gemütlichkeit, die nicht zu überbieten waren.
+
+Die Villa des Geölten lag unter den Tannen in der Tiefe, einen Kilometer
+entfernt und in wundervoller Lage. Ein kurzer Weg bog vom Gitter bis zum
+Hause, als wäre er unendlich, ein. Die veredelten Kirschbäume, die ihn
+beschatteten, bestahl ich, soviel ich konnte. Es verdroß Fortunio, doch ich
+erklärte, Kirschen nur vom Baume essen zu können, und riß im vorbeigehen
+immer welche herab. Es waren wirklich Kirschen für Hesperiden. Die unteren
+Zweige hingen schon leer.
+
+Der geölte Nibelung gehörte dem Geschlecht derer an, die nicht nur
+geschäftskundig, sondern auch mit regen Sinnen für das Schöne begabt, zu
+überaus tüchtigen Faktoren berufen, dabei haarscharf an ihre Stelle zu
+verweisen, ja niederzuhalten sind. Unsachlich, ungedanklich, nur der
+Witterungen, aber keiner Erkenntnisse fähig, konnte er sich nach innerer
+Herkunft und Bestimmung höchstens zum Sklavenhalter, niemals zum Herren
+vermögen. Gütiger Regungen sehr wohl fähig, war der geölte Nibelung infolge
+seines unbändigen Ehrgeizes der glücklose Knecht, außerstande sich zu
+bescheiden. Über ihn wölbte sich der freie Himmel nicht unmittelbar,
+zwischen ihm und dem Äther, den Göttern und der Natur lastete eine
+trennende Kuppel. Fortunio aber, und wenn er tausendmal zerschellte, war
+ein Sohn des Lichts. An ihn klammerte sich der Geölte, von trüben Stacheln
+getrieben, und eiferte um die gleiche Stufe der Leiter mit ihm; von
+Eifersucht und Zuneigung gleicherweise gequält, suchte er -- immer unbewußt
+-- ihn an sich zu reißen oder ihn zu verderben. Seine Gattin liebte es,
+vierhändig zu spielen, ihr Anschlag war eine Pein, und ich stand sehr bald
+mit beiden übers Kreuz. So ging ich nicht mehr den kurzen Weg, der zwischen
+Gitter und Haus ins Unendliche lief, und sah von dieser Stelle aus nicht
+mehr den Niessen wie eine Riesenpyramide inmitten des fruchtbaren Tales
+stehen.
+
+Der Himmel freilich kam hier nie zur Ruh, und die Gegend war mehr eine
+großartige, opernhafte Szenerie, denn eine Landschaft, das Licht ein
+Beleuchtungsapparat; statt der Spiegelungen hatte man Effekte. Das
+Schreckhorn leuchtete in der Verkürzung, der See war eine Arie.
+
+»Komm, komme!« schrieb der Seidenaff aus St. Moritz. »Wer weiß, was mit uns
+in einem Jahre geschieht.« Und eines Morgens reiße ich aus, um den Sommer
+im Engadin zu beschließen.
+
+Mein Weg führt über Bern, und ich mache bei Martin im Walde halt. Er ist
+schwer niedergedrückt. Das deutsche Verhängnis war für jeden, der außerhalb
+des Landes wohnte, unaufhaltsam. Ich schreibe eine Depesche unter seinem
+Diktat und renne damit zum bayrischen Gesandten. Dieser besteht darauf,
+Martin im Walde selber zu sprechen: ich also mit Windeseile zu ihm zurück
+und ihn so lange quälend, bis er mir folgt. Aber welch ein Interview! Alle
+heißen und kalten Wasserhähne sprühten um die Wette, daß es nur so pfiff.
+
+Die Depesche hat er aber abgeschickt, mache ich auf dem Heimweg geltend.
+
+Sie übermittelte jedoch diejenige Brause, die man sich auf Wochen noch
+verbat.
+
+Fluchtartig verließ ich die Stadt der vergeblichen Zusammenkünfte.
+
+ * * * * *
+
+
+Palace Hotel, St. Moritz.
+
+AUGUST 1918. Man hätte sich auf dem Berge Arrarat glauben können, wären
+unter den Geretteten nicht so viele gewesen, die mit einem Mühlstein am
+Halse zu tiefst der angerichteten Sintflut zu liegen verdienten. Diese
+Menschenmetzger, Gewinnler am Elend der Menschheit und gemästet von ihrem
+Blut, hier machten sie sich breit und schlemmten.
+
+Gleich bei meiner Ankunft hatte ich den Seidenaffen besucht und war auf der
+Treppe gestürzt, so daß ich bleiben mußte, wo ich war. Doch inmitten des
+Geschwirres begann da für mich ein Leben wirklicher Beschaulichkeit. Ich
+kannte niemanden, mit San Cividales verkehrte ich nur in den oberen Räumen,
+unten mieden wir uns, denn wir waren ja Feinde. Auf den Stock gestützt,
+hinkte ich, wenn Sajani mit seiner kleinen Kapelle spielte, zu einem
+Schreibtisch in der offenen Galerie, die Berge von Pontresina vor Augen,
+die ekstatisch nach Süden träumten; unten der tiefgrüne Bergsee und der
+Waldweg seinen Ufern entlang; St. Moritzbad im Rücken, damit ich es nicht
+zu sehen brauchte.
+
+Es war sehr oft »etwas los«. Alles strömte dann nach derselben Richtung, um
+sich im Sportkostüm zu treffen, bevor man sich im Abendkleide wieder
+begegnete. Dann spielte die Kapelle ins Leere, ich aber zog unter den
+Baldachin, die Tangonoten verschwanden, und wir spielten Trios. Es
+schlichen immer ein paar unbeschäftigte Kellner herein, und dies
+Kellnerpublikum war uns ein Sporn.
+
+In der Umwertung der Gesellschaft selbst besteht heute die eigentliche und
+tiefe Revolution. Ein rein äußerlicher Staat hat merkwürdigerweise
+aufgehört, elegant zu sein; das Prestige einer Klasse als solcher, mag es
+noch einmal aufflackern und sich noch eine Weile fortläppern, ist dahin.
+Diejenige Klasse, die überall am Kriege die unschuldigste war, wird täglich
+an Interesse gewinnen und ihren Tag erleben. Der Arbeiterstand als Magnet:
+so schnell reiten die Toten! --
+
+Wie faszinierend war es indes, die Herren von vorgestern zu beobachten,
+welche wähnten, daß sie es noch seien, und die höchstens noch der Wirt, bei
+dem sie abstiegen, in dem Glauben erhielt; diese Herren auf Abbruch, die
+nicht merkten, daß ihre Füße sich schon im Gerölle fingen. Müßigkeit und
+Unwissenheit hatten ihre Norm so tief herabgedrückt, daß, um ein Beispiel
+zu geben, edle Musik eine Zumutung für sie gewesen wäre. In der Tat, es
+lohnte sich, sie zu studieren. Sie machten noch die Gesten der Väter, aber
+schon war der Pöbel bei ihnen eingebrochen und schuf sich in diesem
+äußersten Rechteck der Gesellschaft ein Ventil. Nirgends vielleicht hatte
+sich die Achtung für inneren Wert so sehr verringert und kam innerer Adel
+so wenig in Betracht. Wie viel ritterlich Gesinnte zählte man unter diesen
+Kavalieren? Wie viel Strebende? Was die Unbildung, die zunehmende Verrohung
+dieser Clique betraf, so stand sie den von ihr verhöhnten nouveaux riches,
+welche Wurstkonserven zu Magnaten erhoben hatten, innerlich schon am
+nächsten, und es war rührend zu sehen, wie hier die Elite -- denn auch die
+sogenannte Elite hat natürlich ihre Elite, und ich weiß keine
+liebenswertere -- von ihr abrückte und sich ihrer schämte.
+
+Auch den Trost von ein paar wirklich schönen Frauen hatte man hier. Der
+Seidenaff zwar verzog sich des Abends immer sehr bald. Sah man nach ihr um,
+war sie wie ein Vogel schon weg.
+
+Aber die leidende Sylvia, schön wie eine gestirnte Nacht, tanzte so gern.
+Und ob man sich auch sagte, die Melancholie ihres Lächelns, ihres Lachens
+sei nur Zufall, nur der Form ihrer göttlichen Lippen, dem Licht ihrer Zähne
+entblüht, sie entzückte darum nicht minder.
+
+Eine andere kam zuweilen von Suvretta herüber, ein Püppchen, so zierlich
+gebildet, als wäre sie in einer blitzend ausgeschlagenen Nußschale
+dahergefahren.
+
+Eine vierte war noch da, von der ich noch reden werde. Aber laßt mich bei
+der gestirnten Nacht noch einmal verweilen. Meistens trat sie erst, nachdem
+der Tag zu Ende war, scheinbar ausgeruht, in ihrer düsteren Pracht hervor,
+blieb dann bis zum Hahnenschrei, wie die Braut von Korinth, und hielt ihre
+Tänzer in Atem.
+
+ * * * * *
+
+ANFANG SEPTEMBER. »Ich hörte lange nichts von euch«, schrieb ich an
+Fortunio. »Was Sie nur treiben?«
+
+Mein Fuß war endlich hergestellt und einer längeren Fußtour gewachsen.
+Eines Morgens verließ ich früh das Palace Hotel in Bluse und Rock, einen
+Sack umgeschnallt, in dem ich eine ganze Reisetasche leerte, und einen
+eigens dafür erstandenen Strohhut, der so tief hereinfiel, als man wollte.
+Also ausgerüstet, zog ich nach Maloja, schlug aber bald den Waldweg ein,
+denn die zahlreich einherrollenden Wagen hüllten die Straße in Staub. Frech
+auf den Polstern ausgebreitet, mit befriedigten Mundwinkeln, fuhr ein
+Schieber nach dem andern froh zu Tale, oder dem Julier entgegen; ein
+feister und wohlgemuter Korso: der Krieg durfte noch dauern.
+
+Am andern Ufer der Seen jedoch wand sich ein stiller Weg um jede Bucht,
+nimmermüde, sie zu umschreiben, leis umplätschert, geduldig und verliebt.
+
+Ich riß den Hut vom Kopfe, steckte ihn in den Sack, und ließ die Stirne
+frei von den Gletscherwinden umwehen. Es war so schön, wieder schnellen und
+gesunden Fußes durch die Wälder zu gehen, die bis in ihren tiefsten
+Schatten von Licht und Hitze durchhaucht, statt des Staubes einen Geschmack
+von Harz und Erdbeeren auf die Zunge trieben. Ganz plötzlich wurde es kalt.
+Hoch am Himmel hielten die Wolken Rat, ob sie sich zusammenballen und den
+Herbst eröffnen sollten. Dann zerstreuten sie sich wieder und ließen die
+Sonne durch. Aber es war ganz deutlich, daß sie sich nur vertagten.
+
+Spät am Nachmittag saß ich in der berühmten Konditorei von Sils Maria, als
+ein Wagen vorfuhr, dem die vierte Schöne des Palace Hotels in Begleitung
+ihres Liebhabers entstieg. Es war die notorische liaison des diesjährigen
+Sommers. Er, so stolz auf seine Figur, daß er Modell stand, sowie man nur
+hinsah, aber dabei das Entzücken seines Schneiders mit dem des Malers
+verwechselte; die Stirn niedrig und leer, wie die eines Stallbediensteten,
+und einen der Anlage nach gewiß nicht groben, aber schon stark vergröberten
+Kopf. Bald, sehr bald würde von dem ganzen Zauber nur noch die Hengstallüre
+übrigbleiben.
+
+Die Schöne hatte am nächsten Tische Platz genommen, so daß ich ihre kühle
+und strahlende Erscheinung mit Muße betrachten konnte. Der Schmelz, die
+Zeichnung der Brauen und des Ovals, die Augen, wie große, kostbare
+Edelsteine eingesetzt, waren die eines vollendeten Renaissancegesichtes.
+Man konnte sich kein typischeres denken. Ihr Lächeln beunruhigte. Und doch
+war sie so jung! Jugend hielt noch, wie die Staubfäden einer Blüte, Fesseln
+und Gelenke zusammen. Sie hatte sich erst ihres Schleiers entledigt, nun
+folgte der Hut. Sie legte ihn neben sich hin. Ihr Haar, mit unerhört
+raffinierter Schlichtheit getragen, umschmeichelte nur die Schläfen mit
+seinem Gold und ließ die Stirne frei, jetzt wandte sie den Kopf. Da aber
+kam ein platter Hinterkopf zum Vorschein, der Kopf der Viper, da woben
+schon unendlich leise Fäden an ihrer künftigen Häßlichkeit, und da kündete
+sich von fern der nach außen gerichtete, erinnerungslose Blick der
+Vierzigerin, ohne Rückwärtsschauen . . . Lange blieben die beiden nicht,
+stand doch die lange Fahrt noch aus, und mußte sie doch ruhen, bevor sie
+sich langsam wieder schmückte zum spätesten aller Diners. Nicht nur mit
+ihren Abendkleidern, auch durch spätes Erscheinen wetteiferten nämlich die
+Damen im Palace. Konnte auf der Welt etwas ordinäreres sein, als schon um
+neun zu Nacht zu essen? Und war dies nicht der Gipfel?
+
+Ihr Geliebter legte ihr jetzt den Umhang über, mit jener tiefen
+Ehrerbietung, die ein solcher Mann einer solchen Dame gegenüber, die solche
+Perlen mit in die liaison brachte, empfinden mußte. Auf seine Hand gestützt
+und von den Kindern des Dorfes umstaunt, schwang sie sich auf das Gefährt
+und griff in die Zügel.
+
+War es Einbildung? Hatte der Jammer des Krieges meine Augen geschärft? In
+dieser zarten und köstlichen Gestalt hatte ich deutlich den Brustkasten der
+Kindsmißhandlerin gesehen. Welch ein Scheinleben kutschierte da dahin? Das
+leichte Getrapp ihrer Pferde, dann das Echo ihres Getrappes hallte noch
+lange von den Felsen herüber.
+
+Was war es, das mich so feierlich stimmte?
+
+In den Gasthäusern und Hotels ging jetzt überall ein Klappern von Tellern
+und Bestecken los. Es wurde geläutet und gegongt, und wer nicht im
+Restaurant aß, der mußte sich bescheiden, vorgekochtes der Reihe nach zu
+essen; ein Zwang wie ein anderer. Da war es schöner, noch etwas zu
+streunen.
+
+Ein ungewöhnlich starker Mond stand in seiner ganzen Fülle; es wuchsen die
+Berge unter seinem Hauch, das Dorf erblaßte wunderbar, eine graue Bank ward
+ganz sie selbst. Die Funksprüche der sich bereitenden Nacht liefen wie toll
+alle Täler entlang, und schon waren alle Täler berauscht. Auf dem Platze
+hielt ein Gespann, die Gäule hielten die Köpfe gesenkt, als ob sie
+träumten. Ich lief hinzu. Es war die Post, die nach Maloja fuhr. Es gab
+noch einen Platz. Ich sprang hinein. Die Pferde zogen an. Bevor wir noch
+das Ufer erreichten, stieg ein Reisender aus. Außer mir blieb nur ein
+Liebespaar, das sich an den Händen hielt. Es war sich Mondschein genug.
+
+Den Kopf hinausgestreckt, trank ich diese Nacht, und hatte sie für mich
+allein. Nichts war mehr, wie es war. Der See lag im Silberschleier
+regungslos wie eine Tote, und der Mond goß Myrthensträuße über sie herab.
+Nur das Gras des Ufers erhob sich in gespenstiger Lebendigkeit. Sicher war
+es nur ein Spiel der Luft, daß die Berge hier zerfielen. Blöcke sich
+lösten, als sei die Welt zu Ende; Felsensäle bauten sich in die Klüfte ein,
+Riesengemächer warfen sich dazwischen. Es konnte nicht sein, und so sah die
+Welt nicht aus. Auch die Liebesleute waren anders wie zuvor. Dieser edle
+Pensieroso stieg als ein unscheinbarer Tourist in Sils Maria ein, und sie
+hatte weder dieses Haar, noch diese Lippen gehabt. Morgen würde hier die
+Sonne auf ödes Schilf vielleicht hinbrüten und das Paar nicht zu erkennen
+sein.
+
+Als um ein Uhr morgens der Wagen mitten in Maloja hielt, stieg es wortlos
+aus. Ich hatte kein Quartier bestellt und kam nicht unter. Außerhalb des
+Ortes lag noch ein Hotel. So marschierte ich jetzt allein die taghelle
+Straße weiter, geradeswegs auf einen neuen Absturz zu. Dort stand das Haus.
+Ein junges und verschlafenes Mädchen führte mich über manche Treppe hinauf:
+zufällig stünde das einzige Zimmer frei, das für Gäste reserviert blieb.
+Alle andern hielt während des Krieges die Militärbehörde in Beschlag. Die
+nächste Poststation sei italienisch.
+
+Sie reichte mir eine Petroleumlampe und verschwand. Die Stube hatte zwei
+Fenster und war schneeweiß. Ich warf den Kopf weit auf die mondbeschienenen
+Kissen zurück. So angelangt!
+
+ * * * * *
+
+Aber nicht lange, und der einsetzende Kampf zwischen dieser Mondnacht und
+der Dämmerung weckte mich aus dem Schlaf, Nebel mischten sich hinein und
+wollten alles für sich. Endlich ragten Tannenspitzen ins Leere; der Absturz
+war kein olympischer; eine Straße schwang sich, breite Kurven nehmend, in
+die Tiefe.
+
+Gedulde dich, Leser, auch dies Buch geht jäh zu Ende. Folge mir noch. Hoch
+steht schon die Sonne über das Bergland, ein anderes freilich als der
+vergangenen Nacht. Von ihrem Spiel erholt, verströmt der See sein Blau,
+nach allen Seiten, ganz verbuhlt. Myrthensträuße und Schleier sind
+vergessen und hängen als weiße Fäden im Gesträuch.
+
+Wie seltsam ist die innere Stimme in uns! Welcher Stachel hatte mich zu dem
+hart an der Schwelle des aufgerissenen Gebirges und kaum, daß es tagte,
+hinauf, hinab und wieder emporgetrieben, wo sich zu höchst der Wälder und
+noch in ihrer Mitte der See entzieht, verborgener Tränen zerflossener
+Kristall, ohne Kahn und ohne Erdenstaub; und dann wieder zurück in die
+Gaststube, um zu zahlen, und dann wieder aufzubrechen, mit der umgehängten
+Tasche und dem lächerlichen Hut, an der Waldseite des Sees den Weg
+einzuschlagen, den ich jetzt lief. Es war ein Notbehelf! Ich lief, um nicht
+zu tanzen. Denn ich war inmitten eines Festes. Umgeben und geborgen, als
+sollte die Gehobenheit nicht wieder von mir weichen, erreichte ich ein
+Dorf, das als Landzunge weit in den See hinausstieß und jenseits der Zeiten
+zu liegen schien. Eine alte Frau saß auf einer Bank vor ihrem Hause, und
+ich bat sie, mich drinnen ausruhen zu dürfen. Wir verstanden einander
+nicht, aber die Müdigkeit spricht ihre eigene Sprache zwischen Frauen. In
+einer Stube des Erdgeschosses, die durch ihre edle Sauberkeit den Eindruck
+des Luxus erweckte, stand eine schmale, gepolsterte Bank. Dort schlief ich
+auf der Stelle ein.
+
+Als ich erwachte, war der Tag noch hell, aber schon gebräunt vom Golde des
+Abends, und ich mußte eilen, um vor Anbruch der Dunkelheit in Sils zu sein.
+Auch für mein Herz ging jetzt die Sonne unter, und das Fest verklang. Von
+den Strapazen ausgeruht, war es zugleich, als sei mir durch den
+kräftigenden Schlaf, wie ein Alltagszwilch, ein gröberes Ich übergeworfen
+als das, welches seit gestern das meine gewesen war. Ob wohl mein Koffer
+eingetroffen sei, wo meine Brotkarte stecken konnte, wo ich absteigen
+sollte, derartiges beschäftigte mich wieder. Aber ich spreche von
+verloschenen Kronleuchtern, oh Leser, und du weißt noch nicht, warum sie
+brannten?
+
+Aber vielleicht hast du erfahren, daß es Träume gibt, deren Nachhall, statt
+zu verklingen, sich bleibend, wie ein Echo zwischen Klüften, in unserem
+Innern fängt. -- Solcher Art war der durchdringende Ton der Mondnacht in
+Maloja.
+
+Es ist nicht gleich und nicht vergänglich, wie sich die Kurve eines Fußes,
+der Umriß einer Schulter anläßt, wie ein Knie sich rundet, wie eine Hüfte
+fällt. Es ist das Flüchtigste nicht gleich. Und ganz und gar nicht gleich,
+noch zufällig ist es, welchen Ganges wir den Hügel abwärtsgehen.
+Hochzeitlich können solche bald versenkten Dinge unverloren
+weiterschwingen.
+
+ * * * * *
+
+Die Wolkenversammlung war noch immer nicht anberaumt; vielmehr vertiefte
+sich am nächsten Tage das weiß des Himmels und musizierte mit dem
+Himmelsblau über das Fextal, das bewegteste der Erde, auf und nieder
+schwingend wie eine Schaukel. Ragte, von unten gesehen, ein Kirchlein zu
+oberster Schneide für sich allein, so stand es, war man oben, ganz
+unsensationell in einem Wiesenviereck, und sein rostiges Gitter knarrte im
+Winde, und nur die Berge rückten verändert und entschlossener zusammen.
+Wieder in der Tiefe und weit hinausgeschoben, richtete ein Gasthaus seine
+Glasveranda dem Gletscher entgegen. Auf ihn ging ich jetzt zu. Doch mit dem
+Lichte wandelte sich mein Gemüt. Es brütete milchweiß von einem hohen, aber
+sich überziehenden Himmel. Hinter mir fuhr ein kleiner Wagen her. Darin
+saßen zwei Herren, die angeregt mit einer noch jungen Dame plauderten. Aber
+der Weg hörte bald auf, fahrbar zu sein, und ich verlor sie aus den Augen,
+graugrünes Nadelgehölz war um mich her und der entfärbte Fluß zu meinen
+Füßen. Stolperte ich jetzt und stürzte ich hinab, wer würde mich vermissen?
+In welchem Hause entstand eine Lücke, wenn ich nicht wiederkam?
+
+Kein Dach, kein Herd, kein Wesen; überall zu Gaste! keinem Menschen
+ungeteilt und wirklich zugehörig; als immer wiederkehrenden Gefährten die
+entsetzliche, gefürchtete Melancholie, die ich so feige, so vergeblich
+floh. Nun stellte sie mich angesichts dieses Tales der Verlassenheit. Wozu
+bist du hier? herrschte mich seine Stille an.
+
+Der sonnenlose Himmel über dem Nadelgehölz, mehr noch der Fluß, dem
+Gletscher hier entlassen, und seinen Lauf so blaß beginnend, griff ans
+Herz.
+
+Plötzlich stand die noch junge Dame vor mir und sprach mich bei meinem
+Namen an. Nun war stets meine erste Sorge, daß er in keine Hotelliste kam.
+»Woher wissen Sie, wie ich heiße?« fragte ich und wollte die Spröde
+spielen; aber da gab sie mir zu wissen, daß sie meine Bücher kenne. Sie
+lebte in Genf und war Amerikanerin. Wir wechselten einige Worte, dann stieg
+sie wieder hinab. Gleich darauf rollte das Wägelchen mühsam aufwärts, in
+dem die noch junge Dame mit ihren Freunden plauderte. Gewiß -- man sah es
+ihr an -- standen, wenn sie nach Hause kam, ihre Abendschuhe bereit, und
+ein freundliches, ihr ergebenes Zöfchen half ihr, sie anzulegen. Wie
+verwahrlost ich war!
+
+ * * * * *
+
+Als ich am Morgen darauf erwachte, lag weithin Schnee. Ich klingelte
+entsetzt. Der erste Postwagen brachte mich ans andere Ende des Tales, zum
+Zuge, und schnell in eine vom Winter noch nicht heimgesuchte Welt hinab, wo
+Zürich einer entbrannten Ebene zulief, die von der Glut des Sommers
+weiterträumte. Hier reißt der See ein weites Fenster nach dem Himmel auf:
+es ist die hellste Stadt der Welt.
+
+Aber von hier aus jagte mich eine dringende Depesche Fortunios fort, der
+mich bat, sofort nach Spiez zu kommen, mit dem Zusatz: »Besitzer auf zwei
+Tage verreist.«
+
+So war ich abends unterwegs zur Villa des Geölten, die ich nicht wieder zu
+betreten glaubte. Da war das Gitter, der Kiesweg, der sich so schnell
+verlor. Man sah das Haus erst, wenn man davor stand.
+
+Fortunio aber war schwer krank. Verfallen, zerfurcht, zerwühlt. Wir aßen im
+Schloßhotel zur Nacht und besprachen die Abreise für den morgigen Tag. Ich
+fühlte meine Arme erstarken, in dem Wunsch, ihm zu helfen, und unser schier
+geisterhaft geschwisterlicher Bund war durch die Trennung neu erhellt. Am
+nächsten Tage aber lag er zerrüttet, ohne Energie.
+
+»Morgen, morgen«, sagte er. Ich reiste ab, nach Bern, Fortunia zu
+alarmieren. Ihr Gesicht erinnerte an ein von schwerem Regen heimgesuchtes
+Land. Ohne Schonung schilderte ich seinen Zustand und ließ dann die Sache
+bei ihr. Um nicht in Bern zu bleiben, fuhr ich abends nach Montreux.
+
+
+HERBST 1918.
+
+
+Montreux.
+
+Nur lachenden Auges werden hier die Zeitungen gekauft. Der Belgier und sein
+Kind waren ohne Schadenfreude. Die Filme arbeiten schon stark mit
+elsässischen Hauben. Sie werden lebhaft beklatscht, in der Voraussetzung,
+daß sie nicht mehr lange deutsch bleiben. Schließlich ein begreiflicher
+Jubel. Entsetzlich ist nur der Applaus, als englische Munitionskammern
+aufziehen, emsig mit Granatendrehen beschäftigte Frauen und Geschosse in
+unabsehbaren Reihen. »Gehen wir!« rufe ich, und wir verlassen das Haus. Süß
+schlagen die Wellen ans Land. Die Berge des andern Ufers erheben sich
+unmittelbar, als gründeten sie in den Tiefen des Sees. Sie sind kahl und
+scheinen dennoch weich, selbst im Dunkel der Nacht; wie Gesänge abgestuft,
+steigen und fallen und treten zurück und verhallen die Berge Savoyens.
+
+5. OKTOBER. Glasenfrosts in Villeneuve geben mir die Nachricht, daß
+Deutschland um einen Waffenstillstand nachgekommen ist: Mein einziger
+Wunsch ist, es möge die Welt, die es als Sieger verloren hatte, als
+Besiegter wieder für sich gewinnen. Die In-die-Knie-Zwinger Britanniens,
+die ohne Briey nicht leben konnten, sind mit einem Male still.
+
+
+6. OKTOBER bis Anfang NOVEMBER.
+
+Fortunios sind angekommen, sie wohnen in Vevey, und er erholt sich. Zum
+ersten Male bildete sich unser Zusammensein als heller Punkt und geordnete
+Fläche heraus. Augenmerk und Sorge sind durch die Ereignisse zu sehr in
+Anspruch genommen, um uns bewußt zu werden, wie sehr es einem bekränzten
+Floß inmitten schwarzer und gestoßener Fluten glich; Und wie hätten wir da
+anders als in der Erinnerung wahrgenommen, daß wir schöne Tage verlebten?
+
+A. H. Pax ist aus Bern gekommen. Der Belgier und sein Kind finden sich
+regelmäßig ein.
+
+Dabei wütete die Grippe. Viele Särge harrten der Bestellung. In den
+Blumenläden häuften sich die Kränze, Halbgenesene, in tiefer Trauer, traten
+leichenblaß das erstemal vors Haus.
+
+Doch die Zärtlichkeit des Herbstes, seine Zärtlichkeit und sein Verweilen,
+seine Glorie ward unendlich.
+
+Eines Nachmittags strichen wir in den Höhen des Weinberges entlang. Unter
+einem silbern aufgerollten Himmel dehnte sich der See, schimmernd,
+unbewegt, ein wenig müde . . .
+
+Plötzlich, mit einem Ruck, fuhr der Wind weit und durchdringend auf, als
+stöhne er die ganze Erdkugel entlang das Ende der schönen Jahreszeit
+hinaus.
+
+Im Nu schlugen die Wolken über die Sonne hin. Fortunio hatte den Kragen
+aufgesteckt, sein Hut rollte den Berg hinab. Wir lachten. Doch der Weg war
+weit. Schon wußte der See nichts mehr von seinen Ufern. Unter Nebelschauern
+waren alle Berge, ja wir selbst, unsichtbar.
+
+Am nächsten Morgen war für jedes Kind ersichtlich, daß Fortunio die Grippe
+hatte, aber wir taten nicht dergleichen. Statt im freien, versammelten wir
+uns an seinem Lager. Man hielt es in jenen Tagen allein nicht aus. Bang und
+fröstelnd rückte man zusammen. Denn auf dem Streitroß, dessen Nüstern von
+Hoffart, Haß und Vergeltung sprühten, und wie ein Sturmgott kam ja der
+Friede heran. Wehe, es war jener Gewaltfriede, jener Macht- und Siegfriede,
+von dem in Deutschland so viel geredet worden war, und den abwehren zu
+wollen, den zu fürchten, als ein Verbrechen galt.
+
+Und indessen lösten sich in unserer kleinen Gruppe hineingetragene
+Dissonanzen weiter aus, und statt der chronischen Trübungen stimmten sich
+ganz ohne unser Zutun unsere Gemüter wie Instrumente zu täglicher, reinerer
+Melodie. Fortunias Gesicht glättete sich und erlangte seine Pinturichiotöne
+wieder, und während der Aufruhr stieg, bildeten wir eine uns selbst
+unvergeßlich gewordene Insel des Friedens.
+
+ * * * * *
+
+Als sich die Sonne nach einer Regenwoche wieder zeigte, war die Welt eine
+andere. Das Renommierboot mit seinem rostbraunen Segel zog wieder auf, aber
+es blähte sich über ein gesteiftes und gepeitschtes Blau; die
+weißgeharnischten Berge waren näher gerückt, und wo das Laub noch grün
+geblieben war, hatte es ausgeträumt, hing ohne Illusion, des Todes
+gewärtig, und daß es fallen würde. Im Hotel spielte die Heizung, und ein
+von sich überzeugtes Ehepaar: le Vicomte Edmond de la Province, einem Roman
+von Claude de Bernard entlaufen: Madame korrekt bis ins Grab hinter der
+vorangetragenen Corsage, Monsieur im Bart, Schloßbesitzer, zogen schweigend
+über Flur und Treppe, und faszinierten durch ihre abgründige
+Zurückgebliebenheit.
+
+Unsere Gruppe indessen hatte sich verkleinert. Erst war der Belgier und
+dann sein Kind erkrankt. A. H. Pax saß wieder in der Choisystraße. Das alte
+Deutschland stürzte wie eine Kulisse zusammen, und Trümmer waren fürs erste
+der einzige Ausblick. Fortunio, von Ungeduld verzehrt, erklärte aufstehen
+und nach Berlin reisen zu wollen. Fortunia fuhr nach Bern, das Haus für die
+Abwesenheit zu bestellen, und ich folgte mit ihm den Morgen darauf. Wir
+saßen einander im Zuge gegenüber, sein Husten war ein Gebell. Am selben
+Nachmittage brachten wir Fortunios mit Pax an der Spitze, zur Bahn und
+ließen sie, wie Flammen über das Moor, ins Weglose ziehen. Denn schon
+fluteten die aufgelösten Heere in unbeschreiblicher Verwirrung aus den
+besetzten Gebieten ins Land zurück. Die Lauben hinabsehend, unschlüssig wo
+ich absteigen sollte, versagten mir plötzlich die Knie, Fröste wie graue
+Blitze durchfuhren mich, und mein Husten war ein Gebell. Diese nicht zu
+verkennenden Symptome jagten mich wieder an die Station, um mit dem letzten
+Zuge nach Montreux zurückzufahren. Denn lieber, als angesichts des Gurten
+wollte ich dort erkranken, wo im Hotel Suisse als chefesse de réception
+eine so angenehme Erscheinung waltete, und ich den Nachtportier zum Freund
+besaß, ein komischer, alter Schwabe, den ich deutsch ansprach, sowie der
+Lift ohne Insassen und in der Schwebe war.
+
+Nun war es Sonntag. Das heiße Wasser also lief. Vielleicht vertrieb mir
+eine heiße Dusche den Frost. Aber das Wasser war schon lau. Dafür gerieten
+die grauen Zickzackblitze in Brand und drückten mir eine Feuermütze ins
+Genick. Da ließ ich mich denn grippekrank melden und stellte anheim, mich
+aus dem Hause zu schaffen. Aber die angenehme Erscheinung aus dem Bureau
+kam herauf, mich zu beruhigen. Dann äußerte sie einige unverständliche
+Dinge und verschwand. Bald darauf trat ein Mann herein, den ich für einen
+Raubmörder hielt, gefolgt von einem fürchterlichen und handfesten Weib ohne
+Kopf, seiner Helfershelferin. Ich wollte rufen, da hatten sie mich schon
+gepackt. Jetzt, dachte ich, ist doch alles eins.
+
+Eine Stunde später lag ich mit aufgerissenem Rücken, geschröpft wie ein
+Hengst. Ich erzähle dies nur, weil ich dank dieser so immediaten und
+buchstäblichen Roßkur schon nach zehn Tagen, statt vielleicht nach Wochen,
+die Grippe spurlos überwand.
+
+Mittlerweile erdröhnte dem so glücklich gewesenen Deutschland die im Lauf
+seiner Geschichte noch immer zurückgekehrte Stunde seines Unheils. Es war
+der eine Gedanke meiner leeren Tage und langen Nächte; ihn auszuschlagen
+war unmöglich.
+
+Im ersten Stadium meines Fiebers fiel mir an dem Stubenmädchen, das hin und
+wieder in mein Zimmer trat, nichts bemerkenswertes auf, als daß sie mir
+sehr einsilbig und nicht freundlich vorkam. Pech! dachte ich.
+
+Am dritten Morgen aber, als sie das Zimmer räumte, folgte ich ihr mit den
+Augen, während sie wähnte, daß ich schlief, und das Herz stand mir still.
+Hermione! wollte ich rufen. Nein, Andromache im Palast des Priamus, ob
+ihrer Anmut erstaunt, und der leichteste aller Tanagra zugleich! So stand
+sie, den Besen führend, in der Mitte des Zimmers. War ich im Delirium
+gelegen, daß ich sie nicht gesehen hatte? Sie kam auf mich zu: »êtes-vous
+plus mal?« Aber ich wehrte ihr mit beiden Händen ab. »Cela m'est égal«,
+sagte sie, »de prendre la grippe.« Was war melodischer, dieser Mund, diese
+Lippen oder diese Stimme? -- Und ein solches Geschöpf umgab mich mit ihrer
+Pflege. Welch unerhörter Luxus! Die Sonne ging vor meinem Fenster auf,
+alles Leben im Geleite, und lachte des Todes bis zum Mittag. Pauline
+Glasenfrost kam täglich aus Villeneuve, brachte die Zeitungen, beschenkte
+mich und spottete der Ansteckung. Knirschend las ich alle Noten und Appelle
+an die Großmut der Sieger. Welche Verkennung der Situation! Aber was
+bedeutete dieses Versagen angesichts der Würde, welche ein solches Unglück
+gab? Und wiederum würden nur die Unschuldigen leiden. Die Taktik der Sieger
+würde es den Schuldigen ermöglichen, sich herauszureden. Schon damals sah
+man es kommen. -- Ich läutete und bat Hermione, mir von sich zu erzählen.
+Sie stammte aus dem Wadtlande. Ihre Heimat lag hoch über den Weinbergen und
+hatte die Gletscher im Auge. Ich bat sie, einen hellen Mantel von mir
+anzulegen. Wie er ihr stand!
+
+8. NOVEMBER. Bevor mein Freund, der Nachtportier, zur Ruhe ging, brachte er
+noch die erste Post. An diesem Morgen trat er ein, reichte mir ein
+Extrablatt und verkündete lakonisch: »In Bayern ist Republik.« Mein erstes
+Gefühl war kein gelinder Schrecken. »Es mußte kommen«, sagte ich dann. Der
+Portier war Demokrat. »'s isch recht. Runter mit dem Zeug«, sagte er und
+ging. -- So war also Bayern Republik. Das Extrablatt war nur ein kurzer
+Wisch; eins aber wußte man sofort: daß dieser so wenig ästhetische König
+nie wiederkehren würde. Die Wittelsbacher waren stets Liebhaber des Schönen
+gewesen, und in ihrer natürlichen Diskretion eines der sympathischsten
+Fürstenhäuser der Welt. Daß er aber auch nicht eine einzige ihrer typischen
+Eigenschaften besaß, sondern durch eine sture Haltung während des Krieges,
+sowohl in der elsaß-lothringischen, wie in allen politischen Fragen statt
+vermittelnd zu wirken, überall nur Unheil anrichtete, flößte die geradezu
+unwiderstehliche Abneigung für ihn ein.
+
+Plötzlich blieben Briefe und Zeitungen ganz aus, und die Spannung wurde
+unerträglich. Es wehte eine scharfe Bise, doch ich fuhr nach Villeneuve.
+Vielleicht hatten Glasenfrosts etwas gehört. Sie waren von den rührend
+beseelten Manifesten Eisners sehr eingenommen, und wirklich hatte man in
+diesen Tagen die Illusion, am Anfange einer besseren Zeit zu stehen, ob es
+sich auch nur um eine einzige, schnell aufgehaltene Stunde handeln sollte.
+Und nicht einmal ihr ließ man Zeit. »Man verlange von uns nicht,« beeilte
+sich die die Politik Clemenceaus vertretende Freie Zeitung zu schreiben,
+»daß wir uns mit dieser Sache da, genannt deutsche Revolution, ernstlich
+befassen.« Und man eiferte um die Wette, sie zu »dieser Sache da« zu
+machen. Sie hatte es schwer, alle Konjunkturen dafür um so leichter. Schon
+war sie wie eine Decke, um deren Enden sich die Schuldigen, die Unlauteren,
+die Banditen rissen, und alle Karrierejäger gerieten wieder ins Laufen. Wer
+hätte gedacht, daß alle die dienstbeflissenen jungen Herren, die mit
+umgeschnallter Seitentasche so flink und so stramm ins Hauptquartier
+Meldungen überbrachten und entgegennahmen, überglücklich, bis zu Ludendorff
+in Person vordringen zu dürfen, daß sie im Grunde ihres Herzens solche
+Feinde des Systems und so demokratisch waren? Nie sah die Welt ein vom
+alten Regime so gut besuchtes nouveau régime!
+
+Suchte man im eigenen Garten das scheue Pflänzchen, das mitten im Sturme
+Morgenluft witterte, von allen Seiten an beliebige Stakete zu biegen, und
+sah es das Ausland mit begreiflichem Mißtrauen keimen, so erfuhr man in der
+Schweiz infolge des gerade in diesen Tagen einsetzenden Generalstreikes
+überhaupt nichts davon: er stand allein im Vordergrund und beschäftigte
+alle Gemüter. So wurde hier, gerade in ihrer kurzen Glanzzeit, die deutsche
+Revolution unterschlagen.
+
+In jenen aufregenden Wochen kam ich wieder mit Romain Rolland zusammen.
+Mehr als je zeigte er sich jetzt als der Mann ohne Illusion, was Wilson, ob
+er auch dessen guten Willen nicht in Frage stellte, und was die Entwicklung
+der Dinge betraf. Ich fand ihn viel zu skeptisch.
+
+Im selben Hotel, wie Glasenfrosts und Rolland, wohnte auch eine Schweizer
+Familie, die sich sehr für ihn interessierte, durch seine große
+Zurückhaltung aber in Schach gehalten fühlte. Eines Mittags, da ich bei ihr
+zu Gaste war, bat ich ihn, ein übriges zu tun, und sich zu uns zu gesellen.
+
+Ich sehe ihn so deutlich vor mir, wie er an jenem Tage, seine alte Mutter
+am Arme führend, in seiner ruhigen und ein wenig geheimnisvollen Art zu uns
+stieß. Das Gespräch drehte sich natürlich um den Generalstreik und dann um
+den Bolschewismus; für die Westschweiz hätte man zum Glück ein treffendes
+Agitationsmittel gegen ihn, da er deutscher Import sei. Rolland schwieg.
+
+»Der hat der Welt gerade noch gefehlt«, sagte ich, und sah einladend zu ihm
+hinüber, damit er sich äußere. Vergebens. Er erwiderte nur auf direkte
+Anfragen und ohne eine Meinung abzugeben. So sprachen halt in Gottes Namen
+nur wir. Ich ging dann zu Glasenfrosts hinüber und schilderte das
+mißglückte Beisammensein, bei dem ich zuletzt als verzweifelte Wortführerin
+die Grippe, die Witterung und endlich die Tatsache erörtert hatte, daß jede
+Stadt, ja jeder Ort ein anderes Modell für seine Leichenwagen besäße. Aber
+auch diese originelle Wendung fiel unter den Tisch.
+
+Es hatten Regenschauer eingesetzt, und Glasenfrosts hielten mich noch eine
+Weile zurück. Wir waren uns in diesen Tagen noch sehr einig, und er hielt
+sich bereit, nach München zu fahren und Eisner bei Seite zu stehen.
+Vielleicht hatte doch die Geburtsstunde des tausendjährigen Reiches
+geschlagen, und die Gefallenen waren nicht umsonst an seiner Schwelle
+geblieben. Waren sie nicht schon ein einziges Heer?
+
+Aber Rollands rätselhafte Haltung ließ mir keine Ruh, und als ich endlich
+aufbrach und die langen, klosterähnlichen Gänge des Hotels entlangging,
+machte ich plötzlich kehrt und klopfte, ohne mich zu besinnen, an seine
+Türe. Es war ein kleines Durchgangszimmer, mit einem bescheidenen Pianino,
+auf dem sich Musikalien häuften. Rolland stand in Hut und Mantel, im
+Begriffe auszugehen, und sah mich erstaunt an. »Es tut mir sehr leid,«
+sagte ich, »Sie so zu überfallen. Aber ich möchte wissen, was Sie
+eigentlich denken. Sie schweigen sich aus, Sie lächeln ein wenig hämisch,
+und das ist alles. Wer soll da klug daraus werden? -- Ich frage Sie nicht
+aus Neugier.«
+
+Rolland legte seinen Hut auf das Klavier.
+
+»Sie sind so ahnungslos,« sagte er, »Sie wissen so wenig, was sich
+bereitet.«
+
+»Aber doch nicht der Bolschewismus«, rief ich. »Das ist doch nicht Ihr
+Ernst! Und Sie sind doch kein Bolschewik.«
+
+»Nein,« sagte er, »aber ich habe nicht Ihre summarische Auffassung des
+Problems.«
+
+»Das neuerwachte Deutschland«, sagte ich, »wird die Welt davor retten.«
+
+Rollands Züge nahmen einen müden Ausdruck an.
+
+»Ich bin voll guten Mutes«, fuhr ich fort. »Haben Sie die letzten Aufrufe
+gelesen? Diese Absage an jegliche Gewalt? Eine neue Ära hat ihren Anfang
+genommen. Wir haben unseren Militarismus zum Teufel gejagt. Endlich schlägt
+die Stunde, wo man sich angesichts eines wahren, befreiten und
+sympathischen Deutschlands auch seiner unsäglichen Leiden entsinnen wird.«
+
+»Kommen Sie,« lächelte Rolland, »welches Interesse haben heute die Sieger
+an einem sympathischen Deutschland?«
+
+»Aber nicht nur die Sieger«, versicherte ich. »Die ganze Welt hat ein
+Interesse daran, daß die deutsche Revolution aus den Verirrungen der
+französischen wie der russischen lerne und endlich jene vorbildliche und
+maßvolle sei, welche die Menschheit ihrem Glücke näherbringt. Und alle
+Anzeichen sprechen dafür: Hören Sie doch, mit welch reinen Glockentönen sie
+sich kündet. Oh sie wird schön!« Rolland lächelte nicht mehr. »Sie wird
+furchtbar!« sagte er. »Morgen schon wird Eisner sich überrannt sehen und
+seine Gegner zu beiden Seiten haben. Der Bolschewismus ist in Rußland nicht
+nur durch die Stoßkraft der Linken, sondern mehr noch durch den Gegendruck
+der Rechten das geworden, was er heute ist. Man kann die Deutschen nicht
+genug verwarnen. Wenn auch bei ihnen die Reaktion eine Bewegung zu
+unterdrücken unternimmt, die wie ein ausgetretener Strom heranbricht, so
+werden sie ganz ähnliche Zustände herbeiführen. Es ist absurd, seiner
+elementaren Gewalt morsche Dämme entgegenzustellen, statt sich seinem Lauf
+anzupassen, und was er lebendiges heranträgt, zu vertreten. Unsere
+Gesellschaft hat ihre Berechtigung gehabt, aber sie hat versagt, und ihre
+Zeit ist um. Mögen wir es noch so sehr bedauern, mag viel Schönes mit ihr
+untergehen, die Reihe ist nicht mehr an uns, sondern an den anderen. Nichts
+kann diese Tatsache aus der Welt schaffen. Wir müssen uns zu ihr stellen.«
+
+»Sollen wir denn alle Holzhacker werden?« fragte ich betreten.
+
+»Der Typ des Literaten,« entgegnete Rolland, »dem wir seit einigen
+Dezennien so vielfach begegnen, wird jedenfalls verschwinden, und ich weine
+ihm nicht nach. Ein Gespräch mit nach Bildung strebenden Handwerkern ist
+mir heute schon viel genußreicher und interessanter. Was der Literat mir
+sagen wird, weiß ich von vornherein.«
+
+»Mein Gott,« seufzte ich, »es pflegen nicht einmal die Könige freiwillig
+abzutreten, viel weniger ganze Kasten. Sie werden den Kampf aufnehmen und
+uns eine blutige Morgenröte bescheren. Was ist zu hoffen?«
+
+»Nichts für die Gegenwart, sie ist zu korrupt«, sagte er. »Aber alles für
+die Zukunft. Ich bin kein Pessimist.«
+
+Rollands Worte, die ich auf dem Heimweg überdachte, waren viel
+reichhaltiger und prägnanter, als ich sie hier aus dem Gedächtnis
+wiedergebe. Wenn aber eine neue Klasse zur Herrschaft gelangte, würde sie
+weniger versagen, als alle anderen, und war anzunehmen, daß ohne furchtbare
+Erschütterungen die frühere Gewalt sich von der neuen aus dem Sattel heben
+ließe und etwa mit Rolland eingestehen würde, »ihre Zeit sei um?«
+
+Meine Eindrücke von St. Moritz schwebten mir vor, und ich dachte an
+Hermione, wie edel sie war. Aber war nicht alles erlesene prozentual? Was
+also stand von den Massen zu gewärtigen? Die Macht selbst mußte
+abwirtschaften und sich auf neuer Basis konsolidieren. War nicht allem
+Anschein nach die Ära der schlechten Päpste geschlossen, weil sie
+verhältnismäßig machtlos geworden waren? Anderseits hätte der Papst die
+Rolle Wilsons mit mehr Glück, mehr Einblick in die europäischen
+Verhältnisse übernehmen können, wäre er so mächtig gewesen wie er. Macht
+also war und blieb die Losung. Eine Macht jedoch, die keine Lockung dem
+Gemeinen böte, ganz auf Erprobung ihrer Träger begründet, ohne Vorteile für
+ihn, ohne Befriedigung des Ehrgeizes, anonym vielmehr, Verzicht und
+Selbstentäußerung bedingend, als Stein des Weisen der Weise selbst. Oh
+Zarastro, Herr der weltabgewandten, namenlosen Gewalt!
+
+Schwer und langwierig, immer wieder aufgehalten und die Anspannung von
+Generationen erfordernd, aber nicht unmöglicher als die endlich geglückte
+Beherrschung der Luft, wäre die gleichsam auf immer luftigeren Pfeilern
+emporgehobene, in sich selbst beruhende Macht.
+
+Ich ging, vom Winde förmlich vorangetragen, den Weg nach Montreux. Die
+Wellen zogen in finsteren Reihen zum Angriff, und war dort nicht die Weide
+von Territet, sie, die im Frühling in den Schleiern ihres jungen Grüns vor
+Entzücken über sich selbst zerfloß? Nun aber schlug der See mit großem
+Getöse bis zu ihnen auf, die müde niederhingen bis zu ihm; Und dort hinter
+seinem Gatter hatte angesichts der Ufer ein Tulpenbeet geblüht. Die
+stillsten aller Blumen standen dort so sanft und so gerade! oh Weide von
+Territet! Oh stille Tulpen, mit denen ich gewesen war! Was blieb ich am
+Gitter hängen, die Hände an die Schläfen gepreßt, der Knecht mit dem Talent
+des einzigen Gedankens? Törichte Hoffnungen hatten mich schon wieder
+hingerissen, denn der Winter unserer Leiden stand noch aus. Der Stein aber,
+mit dem ich mich schleppe, zermalmt mir das Hirn. Wer legt das Fundament
+des sich immer schroffer nach innen ziehenden Baues, mit den immer
+abweisender sich schließenden immer geheimeren Pforten, durch keine andere
+Gewalt zu sprengen, als jene, welche der Himmel leidet.
+
+Die Theorie einer immer strengeren Auslese -- der Natur selber entnommen
+--, weit entfernt, eine hochfahrende zu sein, ist ja die demütigste der
+Welt. Keine führt so tief in unser Inneres hinab, um aufs neue dasselbe
+Schauspiel wie nach außen zu enthüllen. Denn hier sieht sich der Berufene
+noch einmal einem ganz ähnlichen Kampfe überwiesen. Wie unbegreiflich sind
+oft seine Schwächen! ebensovielen untergeordneten Wesen vergleichbar sind
+sie gegen ihn in Aufruhr und sind beständig die Schlingen gelegt. Daß der
+Gerechte siebenmal des Tages fällt, konnte nur ein Gerechter äußern. Zwar
+ist sein Merkmal, sich immer wieder aufzurichten und einzuholen. Aber jedes
+versagen läßt an Boden verlieren, die Gelegenheiten sind gezählt, und eines
+Tages ist man hinter sich zurückgeblieben. Keiner ist auserwählt, der sich
+nicht durch eigene Kraft dazu vermochte. Berufener und Auserwählter, wie
+gefährdet sind beide! Denn so manchen, der seinen behielt, stürzte ein
+Laster von seiner Höhe.
+
+ * * * * *
+
+Und nun kam ein Tag, an dem Montreux, bunt wie ein Jahrmarkt, den tollsten
+Anblick bot, seitdem es stand. Alle Länder der Erde -- bis auf die paar
+niedergerungenen -- beflaggten das Ende des Krieges. Und nicht nur an den
+Dächern und von den Fenstern, den Mauern und Toren, sogar an den Menschen
+selbst schlugen Fahnen hin und her; von den Jacken, den Hüten, ja den
+Händen der Kinder zogen Fähnchen auf. Schon sprangen die internierten
+Offiziere mit sehr deutlicher Siegermiene (kannte man die nicht von Potsdam
+her?) von den Autos ab. Es war ein allgemeiner Jubel, von Hohn und
+Verwünschungen untermischt. Wer diesen Tag hier erleben mußte, der
+erwartete nichts. Dem kündete sich der Geist des Friedens von Versailles
+und Saint Germain. Das jubelnde Gewoge, die Saturnalien von Fahnen raubte
+mir die Fassung. Ich lief meinen hervorbrechenden Tränen davon, die Häuser
+entlang, am Bureau des Hotels vorbei, in mein Zimmer hinauf, wo ich mir den
+Schleier vom Gesicht riß: ein Klageweib! -- Prophetin meines eigenen
+Schicksals, als ich zu Anfang dieses Krieges schrieb: »Leute wie wir,
+werden am Tage des Sieges sich verkriechen müssen, denn immer wird es
+Jerusalem und seine Kinder sein, um die wir weinen werden.«
+
+Die Hungerblockade blieb von den Siegern, die für Recht und Menschlichkeit
+gekämpft hatten, über den erdrückten Gegner, auch nach Einstellung der
+Feindseligkeiten, verhängt. Und es lag, wie Rolland mir vorhergesagt hatte,
+nicht im Interesse der Sieger, die edle und gepeinigte Opposition in
+Deutschland zu stützen. Eine unsympathische Regierung als Aushängeschild
+des deutschen Volkes aufrechtzuerhalten, gehörte vielmehr zu den
+strategischen Notwendigkeiten dieses Winters der Friedenspräliminarien von
+Versailles. Da ich kein Kriegsbuch schreibe, seien die nächsten Monate
+überschlagen.
+
+Während dieser Zeit fuhren die Militaristen aller Länder fort, sich wacker
+in die Hände zu arbeiten, und über jede Härte und Unmenschlichkeit der
+Alliierten triumphierten die Anstifter der Verwüstungen und Deportationen.
+Denn so kam doch ihre Mühle wieder ins klappern, und das Wort von der
+»erdolchten Front« schnupperte aushorchend in der Luft. Damals wurde ich
+aufgefordert, so manchen ganz vergeblichen und würdelosen Appell zu
+unterzeichnen, mit dem Hinweise, früher hätte ich zu protestieren gewußt,
+jetzt, wo die Untaten von der andern Seite geschähen, schwiege ich mich
+aus. Ich zog es aber vor, auch hier meine Kundgebung solo zu verfassen; sie
+erschien in der Neuen Zürcher Zeitung.
+
+Denn sie hatten ja recht: es galt zu sagen, daß diese ganze Welt
+ununterschiedlich des Teufels war. Traurig stimmte es nur, daß all die
+Mahnrufe und das viele Aufbegehren aus den Reihen derer stammten, die
+vielfach kein Recht dazu besaßen, während sie schwiegen, die wirklich
+Unschuldigen, abscheulich in Stich gelassenen, Betrogenen, die während des
+Krieges auf Gefahr ihres Lebens ungenannt und langen Mutes vor Gottes
+Angesicht das wahre Deutschtum vertraten.
+
+In der Opposition entdeckten sie jetzt alle ihr Herz. Mit welch herrlichem
+Gefühl und welch aufrichtendem Stolze stand Heinrich Mann der Republik zu
+Pate! dort riß nicht ein einziger aus; bei dem vielverfolgten Lichnowsky,
+laut des Friedensvertrages tschechisch gewordenen Magnaten, angefangen, der
+sich als Deutscher erklärte; was ich wirklich nicht erwähnen würde, hätten
+nicht so viele Patrioten aus ihren Papieren fremdländische Patente
+herausgeklügelt und sich mit einem Male als Schweden, Schweizer, Holländer,
+sogar als Engländer präsentiert. Die beste Illustration für den
+Nationalismus, die es geben kann.
+
+Jenes Wort, welches mir seinerzeit so verübelt wurde, daß es Boches in
+jedem Lande gäbe, sollte sich übrigens nur zu sehr bewahrheiten. Jeder
+Militarist, gleichviel welcher Staatsangehörigkeit, ist ein Boche. Und wenn
+er Schimpanse zu Aufsehern eines Volkes bestellte, das der Welt einen
+Grünwald geschenkt hat, so wäre er eben ein Boche; jener Grünwald aber, ob
+er sich ihn noch so oft holte, ei, der bleibt deutsch.
+
+Als ich um die Blütezeit zum ersten Male wieder das deutsche Ufer des
+Bodensees sah, war ich von der Pracht seiner Bäume bewegt. Diese wenigstens
+konnten dem armen und geschlagenen Lande nicht genommen werden. -- Und
+diese eben hatte es dem andern mit großer Genugtuung meilenweit abgehackt.
+Es ist ja das typische Merkmal des Militaristen, zu glauben, daß er den
+andern trifft, wo er sich selber entehrt.
+
+
+FEBRUAR 1919.
+
+Mit dem Berner Internationalen Sozialistenkongreß, dem seit August 1914
+einzigen Ereignis von wahrhaftem Sein, das mitzuerleben mir vergönnt war,
+schließt dieses Buch.
+
+Hoch über den Bernina-Alpen und dem Julier türmten sich die Wolken zu
+goldenen Toren und zu glühenden Rossen. Phaeton, wieder erstanden, lenkte
+sie wieder, die italische Ebene im Angesicht. Die Spuren der Räder, waren
+sie nicht der Rauch, der am Himmel verflog, während nach Norden hin das
+Gebirge zu Tod erblaßte? Auch der nach Süden gerichtete Wald starrte unter
+der Last des Schnees. Doch die Luft wehte so befiedert leicht über ihn hin,
+und es herrschte ein Licht wie über Palmen. Man hatte Glatteis unter den
+Füßen und war dem Winter entronnen.
+
+Aber Fortunios Gesicht war wie zerhöhlt von Ungeduld. »Haase ist schon in
+Bern,« sagte er, »der Kongreß ist im Gang. Wir müssen hinab.«
+
+Da es der erste war, dem ich beiwohnen sollte, verband ich weiter keine
+Vorstellung mit ihm, als die mehr oder minder langweiliger Reden, und ohne
+sonderliche Erwartungen betrat ich zum ersten Male den Saal. Kein
+Delegierter aber drängte von nun an eiliger zu ihm zurück. Oft war er in
+der Mittagspause noch geschlossen, als ich schon davor wartete.
+
+Zu den Morgensitzungen ging Frau v. Schreckenburg mit mir. Nachmittags saß
+ich am Tische mit Fortunios, vor uns die Franzosen. Da waren Renaudel,
+Cachin, Longuet, Rappaport, Loriot, Faure, dann kam der englische Tisch mit
+Henderson, Macdonald, Norman Angel. Von dort leuchtete das leichte Gold von
+Mrs. Snowdens Haar. Sie trug keinen Hut. Der schöne, zarte und energische
+Kopf war der Lichtpunkt des Hauses. Die Deutschen und Österreicher saßen
+ganz vorn, zu weit entfernt, um sie zu unterscheiden, es sei denn, daß sie
+sich erhoben.
+
+Bleich, abgezehrt, den schmalen und ehrwürdigen Kopf ein wenig seitwärts,
+stahl sich im fahlen Schein des Wintervormittags der, eben von der Bahn
+gekommene Eduard Bernstein bescheiden herein. Die französischen Sozialisten
+sahen ihn zuerst, eilten auf ihn zu und begrüßten ihn stürmisch. Daraufhin
+erhob sich der ganze Saal zu einer Ovation. Wie frohlockte da mein
+undemokratisches Herz!
+
+Als Viktor Adler auf das Podium trat, gaben wiederum die Franzosen das
+Zeichen zu einem lang andauernden Applaus. Adler war der Motor des
+Kongresses. Unerbittlich die Mitte einhaltend, wies er jede Parteilichkeit
+schroff zurück, von welcher Seite sie auch stammte; ihm war das gleich.
+Sein blasser Löwenkopf tauchte dann zum Angriff auf: »Un homme politique,
+mais pas de bonne politique«, forderte er Renaudel heraus. Seine Stimme
+klang wie Erz. Aber allen Differenzen, Vorwürfen, Ausreden, Angriffen zum
+Trotz fing eine Einigkeit sich herauszuschweißen an, und wie unter einem
+glühenden Hammer stoben Funken zu einer Garbe auf. Haß schmolz zu
+Mitgefühl. -- Zwar wurde jenen deutschen Delegierten, welche die Politik
+ihres Landes zu verteidigen suchten, prompt die Unmöglichkeit eines solchen
+Unterfangens zu Gemüte geführt, stellten aber dann ihre Angreifer den
+deutschen Militarismus immer wieder allein an den Pranger, so wurden sie
+regelmäßig von Zwischenrufen wie: »Et le militarisme français! et le nôtre!
+et tous les militarismes!« von der französischen Linken unterbrochen.
+
+Überhaupt war dieser französische Block der beste, der wärmste. Von ihm
+ging das Unbehagen aus, wenn ausschließlich das deutsche Sündenregister
+stieg. Scheu, Zartgefühl, Respekt (ja Respekt!) vor dem Geschlagenen (weil
+geschlagen), sie stammten von dort. Und schon gärte die Atmosphäre wie ein
+starker Wein. Klug wie ein Erzengel ließ der hochaufgerichtete Huysmans mit
+dem schönen Donatellokopf bei den Reden, die er französisch und englisch
+übersetzte, alles Unwesentliche fallen. Oft waren sie lebendiger als im
+Original. Behender löst kein Eichkätzchen die Haselnuß aus ihrer Schale.
+
+Ach, so viele gute Menschen waren hier! Unbeweglich, als wäre er nur eine
+Zimmerpalme, hielt sich unser aller A. H. Pax im Hintergrund; und wie
+Kerzenlicht im Mittagsscheine tauchte bald hier, bald dort Fortunio
+unauffällig auf.
+
+Hin und wieder kam in Frack und weißer Binde, pour finir sa soirée, ein
+Attaché gegangen und wirkte in dieser so weit vorgreifenden Luft wie eine
+Varieténummer aus einer veralteten und komisch gewordenen Welt. Der eine
+oder andere blieb gebannt, und die Geschniegeltheit fiel von ihm ab.
+
+Die Fürstin Patschouli aber war sehr ungehalten, was sie nicht hinderte,
+mir zwischen zwei Sitzungen ihren stärkenden Kaffee zu brauen. Sie wollte
+wissen, wer mich denn so interessierte. Ich nannte einige. »Quels noms!«
+sagte sie, zum Himmel emporblickend.
+
+Als Partei interessierte mich ja der Sozialismus so wenig wie jede andere.
+Aber das Ergebnis der kapitalistischen Ära war ein wirrer Knäuel ineinander
+verbissener Verbrecher, und es war eine Welt, welche der Sozialismus
+jedenfalls nicht bereiten half. Er hatte keinen Teil an ihr. Deshalb nur
+gab es keine andere Brücke als ihn, denn er war nur ein Weg, der
+weiterführt, indem er zurückgelegt und überwunden wird, niemals ein Ziel.
+
+Woher kam es aber, daß er, der angeblich auf rein materialistischer
+Grundlage beruhte, er allein unter allen Parteien, ohne Anstoß zu erregen,
+christliche Gleichnisse anführen durfte. Warum, statt Schamröte in die
+Stirn zu treiben, war es so rührend, wenn der geistvolle Longuet, der auf
+dem Podium auf und ab zu gehen pflegte, während er sprach, ein Zitat aus
+den Evangelien gebrauchte, oder wenn Mrs. Snowden eine Rede mit den Worten
+schloß: denn wir sind Brüder?
+
+Nach ein paar Tagen kannten wir einander fast alle. Einmal fielen wir an
+eine Tafel aus im geschlossenen Raum; eine unbändige Heiterkeit bemächtigte
+sich unser, aber wir blieben sitzen. Ich spielte mich auf die Wirtin auf
+und machte die Tischordnung, als sei das Essen von mir, A. H. Pax vermißte
+die Schnäpse, und wir kamen nicht aus dem Gelächter. Etwas in unserer
+Befreitheit erinnerte dabei ganz deutlich an jenes Gastmahl im Neuen
+Testament, von welchem der nicht im Feierkleide erschienene Eindringling in
+die äußerste Finsternis zurückgewiesen wurde. So hatten auch wir keine
+unsicheren Gestalten hereingelassen.
+
+Ich werde mich schwer hüten zu sagen, wer meine Tischnachbarn gewesen sind.
+In streng geschiedenen Gruppen, die einander nicht mehr kannten, fanden wir
+uns im Saale wieder ein. Denn wie der Chor der Gefangenen in »Fidelio«
+wußte man sich belauscht mit Aug' und Ohr, und vermied es, von Lager zu
+Lager sich zu grüßen.
+
+
+Der Sonntag.
+
+Er bildete die große Orgelpause des Kongresses. Um so lebhafter war in der
+Stadt das hin und her. Als ich die Treppe des Hotels Bellevue hinabging
+stieß ich mit Kurt Eisner zusammen. Er war schwarz und ganz neu angezogen.
+Auch der schwarze Schlapphut war neu. Wir wechselten ein paar Worte. Ich
+kannte ihn zwar noch nicht, aber so hielt man es in jenen Tagen.
+
+Leider war mein Zimmer winzig klein. Um Raum für den Kaffeetisch zu
+schaffen, mußte das Bett zum Sofa werden, und ich schüttete Kissen gegen
+die Wand. Um fünf Uhr erschien Haase. Der niedere Kragen, Kleidung,
+Struktur waren die eines Mannes aus dem Volk. Dabei lag in der Haltung des
+Rückens und der Schultern eine ungemeine Würde. Aber wenn sie Widerstand
+und Energie ausdrückten, so sprachen sie auch von rücksichtslosem Verbrauch
+sich verzehrender Kräfte.
+
+Auf dieser Figur eines Arbeiters saß ein Kopf, ganz beherrscht von stark
+auseinanderliegenden, majestätisch geweiteten Augen. Psychologisch viel zu
+neu, um an einen Rembrandt zu erinnern, schien er zugleich durch die
+Straffheit der bis zum Reißen gespannten Züge und ihr tragisches Kolorit
+nach begeisterten Evokationen seines Pinsels zu rufen. Wie der Ratsherr
+einer noch nicht errichteten Stadt -- die Leidenswerkzeuge unsichtbar im
+Wappen eingetragen --, so blickte, so ging, so bewegte sich Haase, so saß
+er jetzt in unserer Mitte, die Zeit besprechend und die Gefahren des
+revolutionären Deutschlands. Wir hörten zu. Es wäre falsch, von Ahnungen zu
+reden. Die Bangigkeit um einen Mann von Haases Edelsinn und Güte war ganz
+instinktiv.
+
+Plötzlich klopfte es. Die Stimmung und Geborgenheit unseres Zusammenseins
+war mit großem Geklirre dahin. Bestürzt sah ich Eisner eintreten, den ich
+doch gebeten hatte. Aber eine so andere Zone des Geistes brach mit ihm ein.
+Er trug sich wie am Morgen komplett in Schwarz, kein Stäubchen, vom
+schwarzen Schlapphut bis zu den Stiefeln (wie um die Reporter lügen zu
+strafen, die seine nachlässige Kleidung verkündet hatten). Halb Wotan, halb
+Konfirmand -- grau, nur der schüttere Bart und die müde Farbe des
+Gesichtes. -- Fortunios und ich saßen jetzt zu dritt auf dem Bett, und alle
+allgemeineren Themen traten vor dem besonderen der bayrischen Revolution
+zurück.
+
+Eisners romantische Schwäche für Bayern verriet sich sogar in einem hin und
+wieder freiwillig angeschlagenen Dialekt, dessen Unnatur etwas rührendes
+hatte. Und so war es mit der Revolution; sie war das Abenteuer seines
+Herzens, sein Geniestreich; was aber an dem Bilde fehlte, war die Kenntnis
+Bayerns: die Bayern, die sich hinreißen lassen, sind nicht dieselben, die
+sich wieder eines anderen besinnen . . .
+
+Etwas an München wird vielleicht noch lange bewirken, daß neue Sterne
+darüber aufgehen, etwas bewirkt aber, daß sie schnell wieder zu verlöschen
+drohen, günstige Konstellationen geraten dort sogleich mit
+entgegengesetzten in Brand. Eisner erzählte wie ein Rhapsode und besaß kein
+Ohr für das vielfältige Rauschen der mitten im Sturm entrissenen
+Meeresmuschel. Dies gab seinem Liede den schrillen und beängstigenden Ton.
+Haase das Wort abschneidend, erzählte er von dieser und jener Episode, die
+alles verderben sollte, und wider erwarten alles gelingen machte. Und Haase
+ließ ihn, wie ein älterer Bruder gewähren. Bei ihm war die Basis viel
+breiter; er wirkte harmonisch wie eine Orgel, die Macht war die Sache für
+ihn, für Eisner dagegen war sie die Arie, seine Bravourarie, an die sein
+Ohr sich fing. Nur wer näher zusah, gewahrte inmitten der scheinbar
+selbstgefälligen Glorie den erloschenen, weltabgewandten Blick und die
+bereite, heroische Absage an das Leben. Zu Haase gewendet: »Das wäre der
+Gipfel meiner Laufbahn,« sagte er, »mit blauweißen Fahnen gegen Preußen zu
+ziehen.«
+
+Aber »Fahnen« hatte er gesagt. Fahnen, Feste, Ansprachen, solcher Art waren
+die sündenlosen Waffen, zu welchen er griff. Für so ehrwürdige Ansichten
+belehrte ihn die rohe Kugel eines besseren, und schlug sich dies musische
+Haupt gegen das Pflaster zu Tode.
+
+Spät verließen wir an jenem aufregenden Abend meine Zelle: die beiden
+Delegierten gingen noch zu einer Ausschußsitzung; viel zu erschöpft und
+aufgewühlt, um allein zurückzubleiben, aß ich mit Fortunio zu Nacht. Lange
+sprachen wir noch von den beiden. Er meinte, Eisner sei viel zu feinfühlig,
+als daß ihm entgangen wäre, wie sehr wir Haase vorgezogen hatten. Nun hatte
+ich einen neuen Grund, bedrückt zu sein.
+
+Leider reiste Haase schon am nächsten Morgen ab, und wir andern saßen wie
+gewöhnlich im »Volkshause«, als, eine große Stille entstand, weil Eisner
+das Podium betrat. Es war aber der Morgen jenes Tages, an dem er seine
+denkwürdige und verhängnisvolle Rede zugunsten der Gefangenen hielt. Sie
+begann mit einer schonungslosen Preisgabe der deutschen Kriegführung, deren
+Verbrechen er nicht beschönigte, deren Recht, etwas zu fordern, er vielmehr
+verneinte. Dann eine abrupte Wendung nehmend, stellte er fest, daß in
+keinem Lande die Gegner des Krieges so tief gelitten hätten wie die
+deutschen, und mit jedem Worte wurde sein tonloses und dabei scharfes Organ
+gebieterischer. Es war unerhört, wie Eisner jetzt über sich selbst
+hinauswuchs. So buchstäblich war der Geist über ihn, daß seine Person nur
+mehr wie ein von ihm verlassener und vergessener Schatten die Tribüne
+behauptete. Was nun verlautete, war ein Plädoyer für Deutschland, wie es
+niemals ergreifender formuliert wurde. Seine kalte Stimme beibehaltend, die
+in die Gemüter schnitt, enthüllte er die ganze Tragik seines unglückseligen
+Volkes. »Die Stimmen derer, welche im Kampf um die Ideen einer besseren
+Welt namenlos in den Kerkern verblichen,« rief er schneidend den fremden
+Delegierten zu, »drangen nicht bis zu euch! Stumm verbluteten sie.«
+
+Im Namen jener neuen und besseren Welt verlangte er die Freigabe der
+zurückgehaltenen Gefangenen.
+
+Man hielt den Atem an.
+
+Da stand ein Entronnener aus eben jener Schar stummer Blutzeugen für die
+Ideen der Gewaltlosigkeit der Wahrheit und der Menschenliebe. Dies war ihr
+Los wie vor 2000 Jahren!
+
+In Eisner hatte der Kongreß wohl seine eindrücklichste Figur. Mochte er
+durch seine Parteilichkeit für Renaudel bei den Radikalen einigen
+Widerspruch erregen, so stellte sich bald heraus, daß er gerade dadurch
+seine Vorschläge durchzudrücken verstand, wie überhaupt die Taktik eine
+große Rolle bei ihm spielte.
+
+Als ich das Haus verließ, standen Fortunios unten an der Treppe und
+schienen auf jemanden zu warten. Ich wandte mich um; Eisner ging langsam,
+allein und vollkommen versonnen die Treppe herab. Er hielt eine rote Nelke
+mit etwas abstehender Geste, wie um sie zu schützen, daß sie nicht zu
+Schaden komme. Steif, fast geziert, die Schultern mit barocker Würde
+tragend, bot er einen wahrhaft phantastischen Anblick. Wir begrüßten ihn.
+Er sah uns erloschenen Auges an und erwiderte kein Wort. Hätten aber
+urplötzlich die Türen sich geteilt und Teppiche unter den Füßen der mit
+großem Zeremoniell vorgeführten Esther entrollt, ich wäre nicht erstaunt
+gewesen. Assuerus! dachte ich. Ein fast gespensterhaft abstrakter,
+beschämend unverjudeter, rein biblischer Jude stand da vor uns. Und siehe!
+-- Hier war zum ersten Male wieder dasjenige Israel, aus welchem
+merkwürdigerweise der Begriff des Christentums mit der Gestalt seines
+Stifters, der Begriff des unjüdischen also, die Welt der Mystik, des
+erblassens, der Gotik hervorging. So dachte ich, stockenden Herzens . . .
+
+Ich sah Eisner noch einmal, als er im Begriffe stand, mit Renaudel nach
+Basel zu fahren. »Wenn ich stürze,« sagte er, »ist in München der
+Bolschewismus unvermeidlich. Die geistige Verwirrung der Jugend ist zu
+groß.« Überhaupt sprach er sehr oft von seinem Sturz. Ich glaube, die
+Entfernung ließ ihn die allgemeine, wie seine besondere Situation sehr
+scharf und nüchtern übersehen.
+
+Gerade die Illusionen, die phantastischen Züge in diesem bedeutenden
+Menschen, die springenden Schatten machten ihn zu der Shakespeareschen
+Gestalt, als die wir ihn heute sehen. Wir aber, die in Bern Zeugen der
+ungeheuren Wirkung seines Auftretens waren, welche Werbekraft für
+Deutschland er dort entfaltete, welch stürmische Sympathien für Deutschland
+er dort erweckte, oh welch bitterlichen Eindruck machte es auf uns, in
+München nicht etwa die Züge dieses heldenhaften Vorläufers, nein, das
+unbesonnene Leutnantsgesicht seines Mörders in den Auslagen vorzufinden,
+dessen hirnloses und unheilvollstes Verbrechen die Schrecken der
+Räteregierung und alle Greuel, die von links, und dann von rechts daraus
+erfolgten, verursachte. Mag ein Herr Studiosus die Frei(spruch)kugel gegen
+mich drehen, dafür, daß in diesem wahrscheinlich vielgelesenen Buche diese
+Wahrheit steht.
+
+Für den letzten Tag war eine Rede Macdonalds über den Bolschewismus
+angesagt; aber der Tag verging, ohne daß er hervortrat. Die Lichter
+brannten schon lange, und es war Abend geworden, als man ihn endlich
+erblickte. Es sprachen viele, deren Organ im Halse stecken und auf die
+langweiligste Weise eins mit demselben blieb. Der deutsche Dolmetsch ging
+deshalb schwer auf die Nerven. Bei jenen Delegierten hingegen, welche die
+Rednergabe besaßen, hob sich nach wenigen Minuten die Stimme von ihnen
+fort, um wie ein Albatroß ganz für sich allein die gewichtigen Schwingen
+auszubreiten. Dieser Prozeß vollzog sich auch bei Macdonald. Sein Organ
+erfüllte den Saal mit Wohllaut, als käme es gar nicht von ihm, sondern
+hinge nur infolge eines rhythmischen Gesetzes mit seiner Miene und den
+Bewegungen seiner Arme zusammen. Die Rede war ein Warnungsruf an den hohen
+Rat in Versailles, die Zeichen der Zeit zu verstehen, und sie verglich den
+Bolschewismus mit einem Brande, der, hier halb erstickt, dort scheinbar
+gelöscht, immer wieder hervorbrechend und unter der Asche weiterglimmend,
+an der Verblendung des Imperialismus seine Nahrung fand.
+
+Da ich kein Wort verlieren wollte, schlängelte ich mich langsam durch die
+Zuhörer, hart bis zur Rampe vor, und hatte so zum ersten Male den ganzen
+Zuschauerraum vor Augen. Der Saal verlor auch bei Lampenschein nichts von
+seiner Schmucklosigkeit. Unschön war er und kahl. Sein Glanz, seine
+Erlesenheit waren rein innerlich. Sie gingen von den Menschen aus, welche
+hier tagten. Nicht die Zartheit freilich, noch der Reiz eines seit
+Generationen vor rauhen Kontakten geschützten Lebens, sondern Anstrengung,
+Leidenschaft und Begeisterung durchleuchtete sie so stark, daß jenseits
+dieses alltäglichen Raumes alle Alltäglichkeit, jenseits seines nüchternen
+Scheines alle Nüchternheit zu liegen schien. Der Winter der Menschheit sank
+hier zu Grabe. Von Feuerzungen war die Luft durchbebt, und eine
+Pfingstatmosphäre brauste durch die Türen über die Treppen dahin, bis hinab
+in die Gassen des nächtlichen Bern. Und sie würde, ob auch der kommende
+Morgen diesem Fest das Ende bereitete, nach allen Himmelsrichtungen wehen.
+Ich zweifelte daran nicht. Ich hoffte schon wieder!
+
+Natürlich waren auch geringere zugegen. Aber nicht sie gaben den Ausschlag.
+Hier herrschte der Wert. Rang und Vortritt waren hier durch das Talent, das
+Verdienst, die Lauterkeit bestimmt, und ein Wille zur Güte hatte sich
+durchgerungen.
+
+Mit einem Blick des Hohnes war ich vorhin an Telramund vorbeigegangen, alle
+Krallen gezückt, weil er sich vermessen wollte, mich zu grüßen, und fast
+wäre ich dabei über seine Bocksfüße gestolpert. Nein! Hier richtete der
+nichts aus. Hier war er schachmatt. Warum kam er denn her? -- -- Auch er --
+zum ersten Male fiel es mir auf -- hatte allen Sitzungen beigewohnt und war
+einer der regelmäßigsten Besucher gewesen. Oh, nicht nur er! -- Die ganze
+Rotte saß ja hier! -- und die Kontrolle war doch so streng! Aber die Rotte
+war vollzählig hier! -- Durch die Ritzen der Türe hätte sie noch
+einzudringen gewußt. Wo hatte ich die Augen gehabt all die Tage hindurch,
+ich Verblendete! Im Ernst wähnend, hier würde die Schwelle zu einer neuen
+Welt gelegt, derweil sie täglich zerfiel.
+
+Die Schützlinge der Militärspionagen, von welchen erst die eine, dann die
+andere den Verständigungsfrieden hintertrieben hatte, tagten hier als
+Delegierte des Teufels, den verschiedensten Nationen entspieen. Wie emsig
+sie notierten! -- Oh wie fleißig sie die niedrigen Stirnen gesenkt hielten,
+um alles zu nichte zu schreiben, was hier von Völkerversöhnung gesprochen
+wurde! Und wie gesittet sie dasaßen, diese Wölfe im Schafpelz, die sich
+innerlich eins lachten über den sabotierten Kongreß. Und sie waren
+geduldet! -- selbst hier! -- Die Spreu durfte auch hier, ungesichtet, den
+Weizen verderben. Ach, es gehört zu den Merkmalen dieser Zeit, daß die
+Dinge noch schlimmer zu kommen pflegen, als die Schwarzseher sie künden,
+und noch heißer gegessen werden, als gekocht.
+
+So ahnte ich noch nicht, daß die verstümmelten Berichte der Eisnerschen
+Rede, deren erster Teil einfach unterschlagen wurde, schon munter unterwegs
+waren, und seine anonymen Mordanstifter, wohlgeschützt unter der Flagge
+einer Zeitung, sich für die furchtbaren Wahrheiten und Anschuldigungen, die
+er in diesem Hause der Presse aller Länder ins Gesicht zu schleudern wagte,
+ein für alle Male gerächt hatten.
+
+Die Stimme Macdonalds drang nur mehr undeutlich zu mir. Es war doch jedes
+Wort vergebens. Mochte er den Bolschewismus an die Wand malen! Mit ihm
+stand es gewiß, wie Rolland sagte. Bot nicht jede Partei genau dasselbe
+Bild von ein paar ehrlichen und ehrenwerten Männern, die ein fürchterlicher
+Zulauf überschwemmt? jene paar Vortrefflichen, deren Kampf allein
+ersprießlich und von Interesse wäre, tragen ihre Gegensätze abseits
+voneinander aus. Sie sind nicht so zahlreich, Europa nicht zu groß für eine
+einzige Arena. In Wirklichkeit ist der Klassenhaß (statt des
+Klassenkampfes) ein ebensolcher Humbug wie der Haß der nur nach Frieden
+lechzenden Völker. Wer aber diesen Saal mit den angeblich so scharf
+bewachten Toren näher ins Auge faßte, ließ alle Hoffnung fahren. Den
+Schleier Penelopens woben sie hier! Es gab ja keine gute Sache, solange der
+Nichtswürdige sich zu ihr bekennen durfte und statt der Gesinnung die
+Meinung den Ausschlag gab. Freie Bahn den Tüchtigen! oh nein! Erst
+geschlossene Bahn den Unwürdigen! Die andere Parole bleibt so lang die
+leereste der Phrasen! Hatte nicht Telramund in seinem eigensten Blatt eine
+»Partei der anständigen Leute« beantragt, wie um diesem Gedanken den Fluch
+der Lächerlichkeit auf immer anzuhaften. Oh Zarastro! Herr des Tempels mit
+den unauffindbaren Toren, der nur den Geprüften mit Macht belieh! Von
+allen, die heute leben, wird keiner den Bau betreten, zu dessen Grundlegung
+ich Steine herbeischleppen möchte. -- Das Gerüst allein dürfte die Arbeit
+von Generationen sein, sein Ausbau die von Jahrhunderten vielleicht.
+Vielleicht sind die ewig unvollendet gebliebenen Kathedralen sein Symbol.
+Aber worauf es, wie gesagt, ankommt: er ist möglich.
+
+Die richtige Einsicht, daß es (merkwürdigerweise) niedrige und hohe
+Menschen gibt, führte folgerichtig zu Rang- und Standesunterschieden. Bei
+ihrer Aufrechthaltung aber gerieten jene Ungleichheiten, welche doch erst
+die Berechtigung solcher Klassifikationen bilden, immer mehr außer acht,
+und bei dem Schrittmachen, das im Schwunge blieb, mischte sich in immer
+gemeinerer Weise das Bestreben über jene Distanzen, welche der Wert
+zwischen den einzelnen liegt, hinwegzusehen. Das Mißverständnis artete
+immer wilder aus: der königliche Mozart speiste mit dem Gesinde, und ein
+lakaienhafter Kavalier warf ihn mit einem Fußtritt ohne weiteres vor die
+Türe. In der Tat, wir wissen alle, was wir der französischen Revolution
+verdanken. Doch, als sie das falsche Spiegelbild in edler Empörung
+zerschlug, wurde mit diesem drastischen Vorgehen leider erst recht nur eine
+halbe Maßnahme getroffen.
+
+Kein Mißbrauch wurde an der Wurzel gefaßt, vielmehr entrann der Missetäter
+froh durch die Türe. So brach die französische Revolution wie das
+Christentum, dem sie entsprang, in sich selber zusammen, und wir sind heute
+wie bankrotte Leute, die von vorn anfangen müssen. Wir stehen wieder am
+Anfang aller Tage: das heißt am Ende. Denn für das erkennende Auge sind ja
+die Menschen längst in jene zwei Lager zerfallen, von welchen geschrieben
+steht. Freilich ist vorläufig erst der Aufmarsch der Böcke geglückt. Unsere
+Absicht, ihrem Konsortium entgegenzutreten, dürfte ein frommer Wunsch
+verbleiben, solange wir jene geheimnisvolle Tatsache nicht ergründeten, daß
+die von schlechten Instinkten Gemeisterten so viel deutlicher die
+Hochgesinnten herausspüren, als diese sich unter sich erkennen. Diese
+dunkle und rätselhafte Tatsache birgt Perspektiven, die sich wie weite
+Zimmerflüchte nach allen Richtungen, reich an Verborgenheiten, ziehen.
+
+Um Machtfragen werden sich nach wie vor die Dinge drehen, und nach wie vor
+wird sich herausstellen, daß es nichts neues unter der Sonne gibt. Macht
+wird vor Recht gehen, denn Macht geht vor Recht. Es ist Sache des Rechts,
+die Macht an sich zu reißen, eine neue Realpolitik zu ermöglichen, nicht
+ausdrückbar durch Lüge, Feuer und Mord; eine Exekutive zu befestigen,
+welche die aus Lüge, Feuer und Mord errungenen Vorteile verachten, und
+Lüge, Feuer und Mord nicht ausspielen würde gegen Lüge, Feuer und Mord.
+Sache des Rechts ist es, die Bahn solcher Gewalthaber zu bereiten. Ach die
+Heftigkeit, mit welcher wir unsere Notsignale abgeben, hindert nicht, daß
+sie unter dem Druck grauser Langeweile aufziehen, und unser eigner Pathos
+lastet mit der ganzen Öde eines Frondienstes auf uns. Denn es sind
+zukünftige, für ein feineres Ohr heute schon monströse Gemeinplätze, die
+wir hier äußern.
+
+_Ende_
+
+Von _Annette Kolb_ erschien im gleichen Verlag:
+
+DAS EXEMPLAR
+
+Roman. 5. Auflage.
+
+Man hat durchaus das Gefühl, daß dieses Buch zu jenen gehört, die unter
+einem starken inneren Drange, einem unwiderstehlichen, geschrieben werden.
+Ein Bekenntnis. Aber eins von solcher Keuschheit, solcher Verhülltheit,
+trotz aller Enthüllung subtilster seelischer Vorgänge, wie es uns nur zu
+selten gemacht wird. Gerade diese Schilderungen erweisen die hohe
+Vollendung von Annette Kolbs sprachlichem Ausdrucksvermögen, das ihr jedoch
+nie zum Selbstzweck wird.
+
+B. Z. am Mittag.
+
+Der erste Eindruck des Buches, schon nach wenigen Seiten, ist Kultur. Es
+gibt wenig Bücher, die so scharf wie dieses die Zeitseele enthüllen. Und im
+übrigen ist das Buch reich an allerlei entzückenden Dingen. Man wird in ihm
+sehr heimisch in London und auf den Landsitzen der Gesellschaft. Denn das
+Buch vereint wirklich zwei selten verträgliche Eigenschaften: geistige
+Tiefe und Charme. Es ist nicht nur ein bedeutendes, sondern auch ein
+liebenswürdiges Buch.
+
+Die Zeit, Essen.
+
+Ein feines, stilles Buch von einer romantischen Dichterin über eine
+romantische Frau. Es wird in diesem Buch von den letzten Dingen gesprochen.
+
+Berliner Tageblatt.
+
+Druck von Frankenstein & Wagner, Leipzig.
+
+
+
+
+Anmerkungen zur Transkription
+
+
+Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
+(vorher/nachher):
+
+ [p. 33]:
+ ... Hocusai. ...
+ ... Hokusai. ...
+
+ [p. 50]:
+ ... mit Carry und Fortunio. Dieser enfaltet mir gegenüber ...
+ ... mit Carry und Fortunio. Dieser entfaltet mir gegenüber ...
+
+ [p. 114]:
+ ... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in den ...
+ ... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in dem ...
+
+ [p. 117]:
+ ... Arbeiten zur Hand, mit welchem dieses Haus geschmückt ...
+ ... Arbeiten zur Hand, mit welchen dieses Haus geschmückt ...
+
+ [p. 131]:
+ ... Laufbahn vernommen hat, der vergißt die nie unheimliche ...
+ ... Laufbahn vernommen hat, der vergißt nie die unheimliche ...
+
+ [p. 142]:
+ ... auf ihren Wolkensohlen reisten, das von einer zifferlosen ...
+ ... auf ihren Wolkensohlen reisten, daß von einer zifferlosen ...
+
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Zarastro, by Annette Kolb
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZARASTRO ***
+
+***** This file should be named 44243-8.txt or 44243-8.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
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+
+Produced by Jens Sadowski
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+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
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+such as creation of derivative works, reports, performances and
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+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
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+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
+located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
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+are removed. Of course, we hope that you will support the Project
+Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
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+Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.
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+what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in
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+and distributed to anyone in the United States without paying any fees
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+through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
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+1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
+with the permission of the copyright holder, your use and distribution
+must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
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+Gutenberg-tm License.
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+compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
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+ the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
+ you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
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+- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
+ you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
+ does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
+ License. You must require such a user to return or
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+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
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+- You comply with all other terms of this agreement for free
+ distribution of Project Gutenberg-tm works.
+
+1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
+electronic work or group of works on different terms than are set
+forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
+both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
+Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
+Foundation as set forth in Section 3 below.
+
+1.F.
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+LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
+PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
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+LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
+INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
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+your written explanation. The person or entity that provided you with
+the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
+refund. If you received the work electronically, the person or entity
+providing it to you may choose to give you a second opportunity to
+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
+
+1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
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+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
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+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
+law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
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+1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
+trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
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+with this agreement, and any volunteers associated with the production,
+promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation information page at www.gutenberg.org
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
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+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at 809
+North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email
+contact links and up to date contact information can be found at the
+Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit www.gutenberg.org/donate
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For forty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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+/* Transcriber's note */
+.trnote { font-family: sans-serif; font-size: small; background-color: #ccc;
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+/* page numbers */
+span.pagenum { position: absolute; right: 1%; color: gray; background-color: inherit;
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+
+/* footnotes list */
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+dd.footnote2 { margin: 0 0 1ex 4em; text-align:justify; }
+
+/* rulers */
+hr { margin:auto; margin-top:1em; margin-bottom:1em; border:0;
+ border-top:2px solid; color:black; }
+hr.fat { margin:auto; margin-top:0.5em; margin-bottom:0.5em; border:0;
+ border-top:4px solid gray; }
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+hr.hr10 { margin-left:45%; width:10%; }
+
+/* images */
+.centerpic { text-align:center; text-indent:0; display:block; margin-left:auto;
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+<pre>
+
+The Project Gutenberg EBook of Zarastro, by Annette Kolb
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
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+with this eBook or online at www.gutenberg.org
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+Title: Zarastro
+ Westliche Tage
+
+Author: Annette Kolb
+
+Release Date: November 21, 2013 [EBook #44243]
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+Language: German
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+Character set encoding: ISO-8859-1
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+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZARASTRO ***
+
+
+
+
+Produced by Jens Sadowski
+
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+</pre>
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+<h1 style="margin-top:1em; margin-bottom:4em; letter-spacing:0.2em;">
+<span style="font-size:1em;">ZARASTRO</span><br />
+<br />
+<span style="font-size:0.5em;">Westliche Tage</span><br />
+<span style="font-size:0.5em;">von</span><br />
+<span style="font-size:0.7em;">Annette Kolb</span>
+</h1>
+
+<p class="center" style="line-height:1.5em; letter-spacing:0.2em;">
+1921<br />
+<span style="border-top:4px double black;">
+S. Fischer / Verlag / Berlin
+</span>
+</p>
+
+<p class="center" style="font-size:0.8em; margin-top:6em; margin-bottom:6em; page-break-before:always;">
+1.&mdash;5. Auflage<br />
+Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.<br />
+Copyright 1920 by S. Fischer, Verlag, Berlin
+</p>
+<h2 class="title" id="chapter-0-1">
+<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
+Zarastro
+</h2>
+
+<p class="pagebreak first">
+<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
+<span class="firstchar">D</span>ieses Buch, das auf Grund täglicher Aufzeichnungen
+entstand, enthält Enttäuschungen als sein
+Wesen. Es ist ein Tagebuch der Enttäuschungen, ich
+verhehle es nicht. Gerade sie sind das einzig wertvolle
+daran. Denn an allen Erlebnissen während dieser
+Jahre, an allen Szenen, allen Ereignissen, allen Episoden
+hat sich die Beobachtung ergeben, daß im
+wachsenden Umfang die besten Hoffnungen, die
+reinsten Zugehörigkeiten ihre dramatische Zerstörung
+nach sich zogen. Zu sehen, wie sie immer sehr buchstäblich
+zuschanden kommen mußten, versetzte mich
+erst in eine dumpfe, herabgestimmte Unruhe, und
+nur allmählich entdeckte ich, daß sich in allem die
+kleine wie die große Höllenmaschine menschlicher
+Niedrigkeit gleichsam eingebaut hielt, überall, auf
+dieselbe Weise und mit derselben Wirkung jede edle,
+jede vernünftige Absicht, jede Harmonie im Keim
+vernichtete. Diese Gefolgschaft, dies enge Schritthalten
+der Bösen &mdash; jeder Zufälligkeit bar &mdash; zeigt
+sich vom Anekdotischen bis zur Entladung so konform,
+daß es die Schicksale des einzelnen zur genauesten
+Replik der Weltschicksale prägt.
+</p>
+
+<h2 class="chapter" id="chapter-0-2">
+<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
+Erster Teil.
+</h2>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">A</span>m 1. Februar 1917 kam ich gegen Abend definitiv
+nach Bern. Im Zug &mdash; am Fenster &mdash; schlief ich
+zwischen Zürich und Baden auf einige Sekunden ein.
+Dabei rückten sich Bilder aus meiner Wohnung,
+aber um ein Drittel vergrößert &mdash; die sich also selbst
+vergrößert hatten &mdash;, selbst an einer Wand zurecht. &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Trotz dieser so unvermittelt aufblitzenden Vision
+wurde die Mutlosigkeit, gegen die ich anzukämpfen
+hatte, immer drückender, und geradezu trostlos gestaltete
+sich meine Einfahrt in die Bahnhofhalle. Es
+goß so recht von innen heraus, wie nur der Berner
+Himmel zu gießen versteht. So begibt man sich wohl
+ins Gefängnis, wie ich in das Haus, um dessen anheimelnder
+alten Stiege willen ich im zweiten Stock
+zwei kleine Zimmer mit einem Alkoven gemietet hatte.
+Übrigens waren sie noch nicht frei, und indessen
+wurde mir ein großes niedriges angewiesen, das sofort
+meine Abneigung erregte: bis auf einen gewaltigen
+Tisch von wahrhaft tröstlichem Umfang. Er stand
+mitten in der Stube, ganz auf sich beruhend:
+</p>
+
+<p>
+Sieh mein geräumiges Rund, und wie gefällig es
+ist! Sahst du ein weiteres je?
+</p>
+
+<p>
+Bürde nur füglich mir auf, was immer du willst.
+Ich schaffe noch Platz dir. Na also!
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
+So redete er, halb in Hexametern, halb wie eine
+alte Kindsfrau zu mir, war immer optimistisch und
+richtete mich auf.
+</p>
+
+<p>
+Das Münster aber, das so gut anhebt und so schlecht
+verläuft, beschattet und beherrscht den Platz, und
+die Aussicht hart vor meinen Fenstern ist durch ihn
+versperrt. Auch mein Herz schlägt hinter Riegeln.
+Ich bin nicht mit den Illusionen hergekommen wie
+das erstemal.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+4. FEBRUAR. Kalte regnerische Tage, unfroh wie die
+Stunde meiner Ankunft, welche Telramunds, als sei
+dies unvermeidlich, zuerst erfuhren. Die Lauben
+sind, wie es scheint, ihr Jagdrevier, denn kaum trete
+ich vors Haus, so schießen sie mir schon wie auf
+Rollschuhen der Neugierde entgegen, jedesmal mit
+einer Einladung zum Tee. Ich bin entschlossen, ihr
+nicht zu folgen, denn sie ist natürlich nur verhörsweise
+gedacht. Fortunio rät von einer so schroffen
+Haltung ab. Wir diskutieren hin und her, und ich
+lasse mich leider überreden.
+</p>
+
+<p class="dat">
+6. FEBRUAR. Tee bei Telramunds. Ich trage meinen
+teuren Pelz, denn es ist kalt, dazu aber ausgebesserte
+Schuhe, weil es regnet. Der Empfang ist übrigens
+von so glänzend imitierter Herzlichkeit, daß er mich
+fürs erste ganz beschämt. Wie unverkennbar ist doch
+<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
+im Grunde Telramunds Zuneigung für mich! Er
+erörtert meinen Roman in den höchsten Tönen, und
+wie freut sich Ortrud, mich zu sehen! Wie ungerechtfertigt
+ist der Name, den ich ihnen gebe! Wie funkeln
+Teekanne, Dose und réchaud! Wir sitzen ein wenig
+merkwürdig zusammen, es ist wahr! unsere sechs
+Knie eng aneinander gerückt: die meinen in der
+Mitte, wie die eines Delinquenten, von den beiden
+andern flankiert. Doch ist das nur zufällig vielleicht.
+</p>
+
+<p>
+Wenn aber drei Leute sich äußerlich in so enger
+Gemeinschaft befinden, und zwei von ihnen werfen
+sich Blicke zu, so wird es der Dritte bemerken, auch
+ohne es zu wollen und ohne hinzusehen. Ortrud
+guckte wertschätzend von meinem Mantel herab auf
+mein Schuhwerk. Der Pelz einerseits und die Reparatur
+anderseits gaben zu denken. Wie aber konnten
+sich die beiden so vergessen, daß sie plötzlich anfingen,
+wie mit Fliegenklappen nach mir auszuholen und sich
+hochbefriedigt ansahen, wenn sie glaubten, mich
+ertappt zu haben?
+</p>
+
+<p>
+Zwar lag es auf der Hand, daß ein so leicht zu
+überführendes Geschöpf unmöglich zugleich jene
+raffinierte Person sein konnte, für welche ich wußte,
+daß sie mich hielten. Aber wie resolut Leute von
+schlechten Instinkten jegliche hemmende Logik von
+sich weisen, wußte ich auch. Von neuem auf der Hut,
+beantwortete ich jede Frage mit einem Kunstbogen;
+als jedoch der Name Elisabeth Rotten fiel, hielt ich
+<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
+krampfhaft an diesem Thema fest. Telramund konnte
+ihren politischen Scharfsinn nicht genug loben (später
+stritt er ihn ihr öffentlich ab). So erzählte ich denn
+von ihrer schwer angegriffenen Gesundheit und ihrem
+Wunsch nach einer Erholungsreise. Diese aber sei
+nur durch List und Tücke zu erreichen. Es müßte
+also, meinte ich, mehr mitteilsam wie raffiniert,
+unter Vorspiegelung eines Vortrags, welchen sie dann
+natürlich nicht halten würde, ein Paß für sie erschlichen
+werden.
+</p>
+
+<p>
+Die Idee wurde stillschweigend zur Kenntnis genommen.
+Blicke flogen .&nbsp;.&nbsp;. und es war unverkennbar,
+daß etwas nicht stimmte.
+</p>
+
+<p>
+Bin ich nach Bern gekommen, dachte ich auf dem
+Rückweg, um mit Leuten zu verkehren, die ich zu
+Hause nie ertragen hätte?
+</p>
+
+<p>
+Das Wetter hatte sich auf einige Stunden aufgehellt,
+und über der Brücke von Kirchenfeld flammten plötzlich
+die Alpen auf. Blaß und verheißungsvoll leuchtete
+die losgelöste Jungfrau über das Gewölk, das sich
+in schwarzen Massen zu Tale schob. Wie ganz und
+gar nicht existierend, dachte ich da, ist doch letzten
+Endes das Gemeine! Nur unser träges und verwischtes
+Sehen leiht ihm den Schein von Wesenheit, und
+Leuten wie Telramunds das Gesicht. Und zwei verschwisterte
+Seelen hatten da einen Bund geschlossen,
+wie die Hölle ihn liebt. Dabei war Telramund Berliner
+und Ortrud, wie zum Schulexempel, eine Französin
+<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
+aus der Provinz. Ach! Welch ein Schabernack
+wird doch über alle Grenzen hin mit unseren Gesetzen
+getrieben! Keine Feder wiegen sie auf gegen die
+Schleuderwaffen, über welche schlaue Unvernunft
+gebietet. Wohl haben wir gelernt, Weingärten und
+Äcker zu bestellen, veredelt hängen uns die Früchte
+von den Bäumen hernieder, und wie umsichtig, wie
+bewundernswert ist der Mensch angesichts seiner
+Felder! Nur vor sich selbst ist er stehengeblieben.
+Da jätet er nicht. Da steht überall goldener Weizen,
+von wild um sich greifendem, allgewaltigem Unkraut
+erstickt. Gegen die Natur, die Elemente, die Erde,
+ja die Luft selber schritten wir ein, nur vor uns selbst
+sinken uns die Arme, und wir lassen geschehen. Dies
+ist die bisherige Logik der Welt, der Nationen. Nicht
+einmal bis zu unseren Verbrecherstatistiken besannen
+wir uns &mdash; wie hätten wir da bis zu den Tabellen
+unserer verkleideten und ganz undrastischen Übeltätern
+gedacht? &mdash;
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Allseitige Verstimmung. Mein Wunsch, Fräulein
+Rottens Wunsch zu erfüllen, hat schwärzesten Verdacht
+erregt. Ich kannte die in Bern geschaffene
+Atmosphäre noch zu wenig, um zu verstehen. Warum
+in aller Welt, beschwert sich Fortunio bei mir, mischte
+ich mich da hinein! Welches Interesse hatte ich an
+dieser Reise?
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
+Und diese Idee eines Vortrags! (Sogar er, es war
+unverkennbar, hat Argwohn geschöpft!)
+</p>
+
+<p>
+Nur ein Vorwand natürlich! ich sagte es ja Telramund.
+</p>
+
+<p>
+Fortunio zuckte die Achseln: er hat es Ihnen
+natürlich nicht geglaubt.
+</p>
+
+<p>
+Die beiden werden uns noch sprengen!, brach ich
+aus, alle unsere Anstrengungen hintertreiben und
+uns alle zu Grabe tragen.
+</p>
+
+<p>
+Mit Martin im Walde hatte ich ja meine Not. Die
+Verdächtigungen auf ihn regneten ohne Unterlaß.
+Schon während jenes Diners, welches Aramis bei
+meiner ersten Berner Ankunft gab, hatte ihn Telramund
+als einen Agenten mit doppeltem Schubfach
+bezeichnet, und Ortrud pfiff förmlich vor Hohn wie
+eine Maus. Daß ich widersprach, fiel nur auf mich
+zurück. Für einen ehemaligen Kruppdirektor also
+machte ich Reklame! Sprach dies nicht Bände?
+Daß er tatsächlich seine Stellung seinen Überzeugungen
+geopfert hatte, war ein Beweis mehr für
+seine Verschlagenheit. Den Bruder kannte er. &bdquo;Den
+Bruder kenne ich!&ldquo; war sein Refrain.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+9. FEBRUAR. Ich miete einen Flügel: ohne Schmelz,
+ohne Tiefe, es ist wahr, und doch edel, weil immerhin
+ein Flügel. Gott sei Dank! Flügel sind jetzt sehr
+schwer zu kriegen! Ich bin einen ganzen halben Tag
+<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
+glücklich. Welches Glück! &mdash; es ist ein Glück, das
+ich der Protektion eines jungen Berner Pianisten verdanke.
+Wir hatten ein Zusammentreffen verabredet,
+um in die Fabrik zu fahren. In den Lauben kam
+Ortrud auf mich zu und äußerte den Wunsch, mich
+zu besuchen, und da ich ungeheuer eilig tat, begleitete
+sie mich, um zu sehen, ob es wirklich der junge Pianist
+war, der mich erwartet. Da er es wirklich war, denke
+ich mir, sie beruhigt sich jetzt.
+</p>
+
+<p class="dat">
+10. FEBRUAR. Telramund erzählt mit vielsagender
+Miene, daß ich einen Flügel gemietet habe. Kein
+Zweifel mehr: ich bin eine Spionin.
+</p>
+
+<p class="dat">
+11. FEBRUAR. Aramis gibt mir zu wissen, daß er sich
+wundere, weil ich ihm noch kein Lebenszeichen gebe.
+Ich unterließ es nur, denn er ist mir sympathisch,
+weil mir versichert wurde, daß er mir nicht mehr
+traue.
+</p>
+
+<p>
+Es sei kein Grund, sagt mir Fortunio, ihn zu schneiden.
+Seufzend (da er mir ja mißtraut!) rufe ich ihn
+ans Telephon, und vor seiner Sprache, ach! wird
+mein zerrissenes Herz sofort wie eine Geige, in welche
+diese Sprache (auch die meine, ach!) hineingreift
+wie ein Bogen.
+</p>
+
+<p class="dat">
+13. FEBRUAR. Gestern abend war ich bei Fortunio,
+und Martin im Walde fand sich zum ersten Male
+<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
+bei ihm ein. Vor dem Kriege hätte ich sie nicht
+einander zugeführt: Fortunio so musisch und sternengebannt,
+aber auch stemschnuppenhaft, Martin im
+Walde so schwerblütig, so problematisch und so vorbedacht!
+Heute aber muß alles zusammenstehen,
+was aufrecht blieb. Wie errichten wir sonst jene
+Dämme gegen die blinde Gewalt, den Schutzmauern
+vergleichbar, die sich so wacker gegen die Bergwände
+stemmen, um zur Zeit der Schmelze die Lawinen
+aufzuhalten? Auch unserem Planeten stand der Frühling
+nahe bevor, als die Lawine sich entlud, die allen
+Schutt nach oben warf und eine grünende Welt und
+alle Glocken der Vernunft mit ihren toten Blöcken
+und ihrem schmutzigen Geröll brüllend und dröhnend
+überzog. Jene Mauern, Lawinenschutz genannt,
+sind natürlich nur roh aufeinander geschichtete, jedoch
+wetterfeste Steine, die nichts anderes zum Ausdruck
+bringen, als die Not des Augenblicks, dem sie entstanden
+sind. So scheint mir heute, wo es den Kampf
+des menschlichen gegen das unmenschliche gilt, das
+wichtige nicht, glattes einzufügen, nicht einmal der
+inneren Gemeinsamkeit den Ausschlag zu lassen,
+sondern die Widerstandskraft und das Gewicht der
+Dinge zu bedenken.
+</p>
+
+<p>
+Doch ach! Der als Schachfigur so schwer festzulegende
+Fortunio war heute auf meine Opportunismen
+nicht gestimmt, sondern wie zum Trotz in einer ganz
+herausfordernden, ganz interpellierenden, ganz konträren,
+<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
+um ihre eigene Wirkung ganz unbekümmerten
+Laune. Zu machen war da gar nichts. Im stillen
+nur nahm ich mir vor, auf dem Heimweg Fortunios
+Wesensart, welche Martin im Walde nicht geläufig
+war, so beweglich wie möglich zu schildern. Aber
+nicht einmal diese nachträgliche Intervention sollte
+mir gelingen. Denn als ich auf der Stiege in die
+Taschen meines Mantels griff, war mein Hausschlüssel
+nicht darin, die Nacht aber viel zu weit
+vorgeschritten, um meine Pension durch Glockenreißen
+zu alarmieren. Die übermüdete Fortunia,
+über die Rampe gebeugt, rief mich wieder zurück.
+Neben dem großen Empfangsraum lag ein schmales
+Zimmer. Ich bezog es ohne viel Worte und warf
+mich mit meinen Kleidern auf den breiten Diwan,
+der dort stand, ganz erledigt für den Rest der Nacht.
+Immer verschärfter schwebte mir die Bilanz des mißratenen
+Abends vor und regte mich auf. Wie ungut
+ließ sich doch alles an!
+</p>
+
+<p>
+Eine tiefe Stille lag jetzt über dem ganzen Hause,
+den Wänden, den Fenstern und der Luft, als ob sie
+ein Signal erwarteten. Denn nebenan war plötzlich
+ein anderes Leben erwacht, eine andere Unruhe, als
+die des Tages, ein Rücken, Geknister, ein Gewisper,
+Disput und Ungeduld. &mdash; &mdash; Zwar ist dem Herzen
+kein Organ verliehen, das unsichtbare zu sehen, aber
+so mancher kennt gewiß jenes aussetzen seines
+Schlages, bevor es tiefer zu horchen beginnt .&nbsp;.&nbsp;. Es
+<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
+fiel mir ein, daß die ganze Häuserreihe dieser alten
+Gasse für mehr oder minder spukhaft galt; doch ein
+so wenig grauenhafter, höchstens malitiöser, nicht
+einmal boshafter Spuk war mir noch nicht begegnet.
+Neugierde trieb mich endlich hin zur Türe, hinter
+der er sich begab. Aber jenseits derselben hatte
+augenblicklich &mdash; als sei nie Lärm gewesen &mdash; Totenstille
+eingesetzt, und die Klinke, von Tücke besessen,
+widerstand allem drücken, drehen und schieben.
+Mit schmerzenden Händen ließ ich sie los und kehrte
+auf meinen Diwan zurück. Alsbald war Geknister
+und Getusche, rücken und huschen, Unruhe, Aufregung,
+heiseres Eifern und Streiterei im verstärkten
+Grade wieder da. Offenbar wollte die Gesellschaft
+von mir nichts wissen und boykottierte mich. Wie
+aber kam es, daß ich plötzlich wie unter freiem Himmel
+lag und den Arm aufstützte, als schirmten mich die
+Zweige eines Baumes, und als horchte ich statt zur
+Seite hin, tief unter die Erde hinab? Was immer
+mir jetzt in den Sinn kam, bot sich wie eine Zwiesprache
+dar. Dem Nixenbegriff lag wohl eine tiefe
+Erkenntnis zugrunde. Wie diesseits des Menschengeschlechtes,
+so sind aber auch jenseits desselben
+Geschöpfe Gottes denkbar, die an der entgegengesetzten
+Peripherie des Lebens beschattet stehen
+und hinausgerückt; und winzige, kaum bemerkbare
+Dinge könnten es sein, die ihnen ein leises Grauen
+vor ihrem eigenen Wesen entgegenhauchen: ihr unakkurater
+<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
+Sinn für Wirklichkeiten, ihr vorwegnehmen
+des Zieles über Hindernisse hinweg, ist wie
+ein gestörter Sehwinkel oder wie ein verkürzter Fuß,
+den solche Menschen durchs Leben ziehen, und sie
+erschauern, verzagen und vereinsamen bis ins Mark,
+wenn sie daran erinnert werden. Über die fernest
+abliegenden Dinge dachte ich hin und her. Aber
+warum in aller Welt überkam mich ein Heimweh
+nach dieser verschlossenen Tür, und um was für
+Dinge war mir denn leid? Du lieber Gott, wollte
+ich denn von allem haben!
+</p>
+
+<p>
+Der ganze tumultarische Betrieb setzte übrigens
+mit einer spurlosen Plötzlichkeit aus, als hätte er nie
+geherrscht. Nur eins war deutlich: durch die Türe
+verzog er sich nicht. Es kam etwas anderes: aus
+dem unteren, nachts unbewohnten Stockwerk drangen
+sanfte Trommelwirbel, oh, so deutlich zu mir, und
+dann ertönten gedämpft, aber klangvoll, tamponierte
+Posaunen. Und dann kam das huschen und fegen
+eines Kleides, das schleifen einer Schleppe, ja! im
+Takt dieser erstickten Musik. Ich horchte mit allen
+Fasern. So fein, so spöttisch, so leicht! oh! in der
+Tat geistreich war der Rhythmus dieses pas-de-deux,
+waren die Füße, die Grazie, die Unkörperlichkeit
+dieses balancierenden Körpers im Klang der wonnig
+umhüllten Posaunchen. Tod und Leben in lächelnder
+Umarmung &mdash; Leben noch im Tode? Liebe selbst
+bei ihm? &mdash; Was verfing sich da eine Uhr, mit vier
+<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
+groben Schlägen in den Zauber hineinzufahren?
+Nichts rührte sich mehr. Im Augenblicke alles längst
+verflogen und verweht &mdash; welchem Sterne, welcher
+Nacht entgegen?
+</p>
+
+<p>
+Nunmehr versank die Dunkelheit in ihrer eigenen
+Stille, und der Schlaf atmete mir jetzt &mdash; als käme
+er von außen &mdash; seltsam genug! &mdash; mit weiten Flügeln
+entgegen. Ich fühlte noch den Wunsch, mich ihm
+ganz zu überlassen, aber daß er mich dahintrug,
+schon nicht mehr. Gespannten, wachen Sinnes stand
+ich in der Mitte eines Saales &mdash; nicht wissend, daß ich
+schlief. Die Wände lagen im Zwielicht, und ein paar
+Leute saßen dort als Zuschauer herum. Ich fragte
+mich, was es zu sehen gab und merkte dann erst,
+daß ich es war, welche nun tanzte. Die Rhythmen
+nämlich, nach welchen ich mich drehte, &bdquo;geschahen&ldquo;,
+ohne zu verlauten, als stünden hier die Gesetze am
+Anfang aller Musik, noch ehe, oder ohne daß sie sich
+vertonten. Dabei geboten sie mit so wunderbarer
+und zwingender Macht, daß es unmöglich war, ihnen
+nicht zu folgen, und unwiderstehlich kreiste ich
+dahin. Mit einem Male hörte ich Fortunios Stimme
+von der Wand herüber auf französisch sagen: &bdquo;Comme
+elle danse bien&ldquo;! aber sehen konnte man ihn nicht,
+denn der Saal war nur in der Mitte hell. &bdquo;Pourquoi
+dites-vous que je danse bien&ldquo;? rief ich tanzend zurück.
+Und tanzte dahin, denn es gab nichts anderes mehr.
+Nur den Tanz. Ganz allein nur ihn; ohne innehalten,
+<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
+ohne Unterlaß, den Tanz allein in diesem Raume,
+der aufgehört hatte, ein Saal zu sein, denn seine
+Wände traten ins Endlose zurück. Nur allmählich
+merkte ich, daß sich jemand zu mir gesellt hatte
+und mich hielt und mit mir tanzte. Es kümmerte
+mich nicht. Die Erfüllung war zu tief, meine Augendeckel
+zu schwer, sie aufzuschlagen die Mühe zu groß!
+In den Rhythmen lag alle Wonne. Und sie gebaren ohne
+Übergang eine neue Phase, denn halb abwesend,
+halb aufmerksam sah ich nun doch meinem Tänzer
+groß ins Gesicht: matt von Farbe, mit schwarzem,
+glattanliegendem Haar war er mir gänzlich unbekannt
+und zugleich vollkommen vertraut; der sehr
+edle Umriß von Kopf und Schultern so geschlossen,
+daß er fast ausschloß, was er nicht selber
+war, fast negierte, was er nicht kannte. Was dünkte mir
+daran so fremd und so verwandt zugleich? Die Melodie
+einer Rasse, der ich entstammte, und doch nicht
+mehr die meine? von ihr hinausgerückt? verabschiedet
+von ihr? wiederum der Boykott? Gleichviel! wir
+tanzten. Eines Schrittes! Diese Zeitmaße kannten
+keine Zeit. So mögen Sterne kreisen. Aber auch
+was ich dachte, war nicht mehr aus seiner Bahn zu
+drängen: aus reinstem Lateinertum setzten sich die
+Elemente dieses Tänzers zusammen. Nicht das Gesicht
+eines bestimmten Menschen sah mich da an.
+Nicht dieses oder jenes &mdash; was dann? Das Sinnbild
+einer Rasse war zu mir hingetreten und tanzte mit
+<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
+mir. Jetzt wußte ich&rsquo;s! &mdash; Aber die Entdeckung
+sprengte die Fesseln des Traumes: Ich lag auf dem
+Diwan gerade ausgestreckt, vor mir das Fenster, in
+dessen Scheiben sich von der Straße herauf der
+Reflex einer Laterne fing. Aber gleich darauf stand
+ich auf den Füßen. Noch nie so hoch aufgerichtet
+gewiß! Die Türklinke drehte sich lautlos und glatt,
+wie geölt. Aber die Kälte der Frühluft nach der Hitze
+der Nacht hatte vielleicht die Wandlung besorgt.
+Ich schlich durch den Gang, die Stiege hinab und
+ließ mich zum Tore hinaus. Ins Freie! Hinter den
+Scheiben leuchtete hie und da schon ein Licht aus
+den Lauben hervor. Im Hause, in dem ich wohnte,
+war eine Bäckerei. Unbemerkt kam ich in mein
+Zimmer. Es tagte noch nicht. Nach oben unkenntlich
+stand das Münster vor meinen Fenstern aufgerichtet,
+viel schöner und gewaltiger so, als mit dem
+übel verlaufenden Turm. Wie schien aber dies alles
+eine Wirklichkeit zweiten Ranges, sozusagen, wenn
+ich sie mit jener verglich, die mich in dieser Nacht
+umgab. Ich wußte zur Stunde mit der letzten Sicherheit,
+daß mein Traum sich erfüllen würde. Die
+beiden Rassen, die heute zu vereinigen solches Elend,
+solche Zerrissenheit bedeutet, werden eines Tages,
+allen Höllenhunden zum Trotz, das Glück der Welt
+durch ihren Bund begründen. Ach! Danach darf
+man nicht fragen, ob man selbst längst ein Schatten
+sein wird, wenn diese Dinge sich ereignen. Nur Mut,
+<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
+mein Herz! rief ich mir an diesem Morgen öfters
+zu, denn mit seinem fahlen Licht wuchsen die üblichen
+Ernüchterungen an.
+</p>
+
+<p>
+Gegen Mittag kaufte ich Blumen und wählte
+Kuchen mit Bedacht, denn um vier erwartete ich
+Monsieur Aramis zum Tee. Nicht ohne Bangigkeit.
+Seinen ersten günstigen Eindruck hatte ihm ja Telramund
+gründlich auszureden verstanden. Als er in
+meine niedere Stube trat und mir die Hand entgegenstreckte
+und mich ansah, wurde es mir wieder fühlbar.
+Das Echo der Worte: &bdquo;Sie lügt! sie lügt!&ldquo;, die
+er von jener Seite unausgesetzt vernahm, war zu eindringlich,
+um mir zu entgehen.
+</p>
+
+<p>
+Daß die unteren Zimmer nun endlich frei werden
+und mein Flügel sogar schon unten steht, interessiert
+ihn gar nicht; wen ich in Deutschland gesehen habe,
+um so mehr. Die Grenze hatte ich gerade am Vorabend
+des Tages überschritten, an welchem der verschärfte
+Unterseebootkrieg verkündet wurde; als diese
+Nachricht alle Anschlagmauern verfinsterte, wäre ich
+am liebsten umgekehrt, denn jetzt lag doch alles in
+Scherben.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Une bêtise capitale,&ldquo; sagte er, &bdquo;et qui fait bien notre
+affaire.&ldquo; Nichts mehr von Klavier! Ich möchte mich
+gar nicht mehr mit Politik befassen, sage ich, und
+lese: &bdquo;Sie lügt! sie lügt!&ldquo; in seinen Augen. Er blieb
+lange, sprach jedoch nur wenig und hörte zu. Ich
+dagegen redete die ganze Zeit, hemmungslos und aufs
+<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
+Geratewohl. Es überzeugte ihn auch dieses keineswegs.
+Sie lügt! sie lügt! blieb das Echo, das zwischen
+dem Vertrauen, welches er instinktiv zu mir gefaßt
+hatte, und den Dingen hallte, die er über mich hört.
+Kaum ist er gegangen, so erscheint Fortunio auf dem
+Plan, gespannt zu hören, wie der Besuch verlief.
+Ich komme ihm jedoch zuvor: Wenn Aramis mir
+mißtraut, so mißtraue ich seiner Menschenkenntnis.
+Es ist zu leicht, mich zu durchschauen, als daß es
+erlaubt sein dürfte, mich zu verkennen. Ich bin so
+eindeutig wie ein Pferd. Seine Gangart ist unmißverständlich
+genug!
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie sind aber kein Pferd,&ldquo; sagte Fortunio, &bdquo;und
+gerade Ihre Eindeutigkeit ist mit Ihrer sonstigen Art
+nicht so ohne weiteres in Einklang zu bringen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Daß er dabei eine so bedenkliche Miene beibehielt,
+riß an meinen ohnedies zerzupften Nerven. Er
+erinnerte mich allzusehr an einen Schreibtisch, der,
+mit großen und kleinen, inneren und äußeren, ja
+sogar mit geheimen Schubfächern ausgestattet, für
+mich aber nur eine einzige Lade offen hielt. Ich
+fühlte mich plötzlich tödlich gekränkt. Und womit
+hält er heute zurück? Auch er, auch er! sage
+ich mir.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ihr Roman kursiert jetzt in Bern&ldquo;, geruhte er
+mitzuteilen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Um so besser. Zeit wär&rsquo;s, daß hier das rechte
+Licht über mich aufgeht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
+&bdquo;Leider nein&ldquo;, sagte Fortunio. &bdquo;Das Buch schadet
+Ihnen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Schadet mir!?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich hätte es auch nicht gedacht. Aber die große
+Zielbewußtheit, welche Sie Ihrer Heldin einverleiben
+.&nbsp;.&nbsp;.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Aber gerade die Natur dieser Zielbewußtheit .&nbsp;.&nbsp;.&ldquo;
+unterbrach ich ihn.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Gewiß, man sollte glauben .&nbsp;.&nbsp;.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Hören Sie, das ist nicht möglich!&ldquo; Und in höchster
+Ungeduld riß ich an allen Schubladen zugleich.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich selbst&ldquo;, machte nun Fortunio mich vertraut,
+&bdquo;habe die Leute auf das Buch hingewiesen. Ich
+glaubte, Ihnen nicht besser dienen zu können.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es ist nicht möglich, daß Aramis sich verdreht
+dazu stellt&ldquo;, rief ich wieder. &bdquo;Es kann nicht sein!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Fortunio zuckte die Achseln.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Aber sogar Telramund, dieser Gräuel, lobte es
+über den Klee.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Er schwieg. Es entstand eine Pause.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das ist furchtbar&ldquo;, sagte ich. &bdquo;Es geht also um
+ein Duell zwischen mir und diesen Leuten.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie sind so ungeduldig! Die Dinge wollen ihre
+Zeit. Letzten Endes ist es immer die gute Gesinnung,
+welche triumphiert.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Oh! letzten Endes&ldquo;, wehrte ich ab. &bdquo;Daß meine
+Grabrede besser ausfallen wird, glaube ich ohne
+weiteres. Mais d&rsquo;ici là .&nbsp;.&nbsp;.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
+Fortunio wollte mich überreden, mit ihm auszugehen,
+doch ich blieb zurück. Was ich ihm dabei
+nicht verriet, war meine Absicht, im Laufe des Abends
+nach Martin im Walde zu sehen; denn mir lag das
+gestrige Zusammensein, dem Fortunio keinen Gedanken
+mehr schenkte, schwer im Gedächtnis.
+</p>
+
+<p>
+Fürs erste war meine Niedergeschlagenheit zu
+groß, um nicht allein mit ihr zu bleiben.
+</p>
+
+<p>
+Die Tatsache, daß in Ermangelung anderen Beweismaterials
+nun gar mein Roman als Belastung herhalten
+sollte, war insofern der comble, als sich ja
+dann, auf diesem kürzesten Wege, so ziemlich alles
+auf den Kopf stellen ließ. Gegen solche Waffen war
+jedenfalls nicht aufzukommen. Sie waren zu alt
+erprobt. Ich hatte zuviel erfahren. Ich wußte
+zu viel.
+</p>
+
+<p>
+Oh Fortunio! es ist dir nicht bekannt, warum ich
+lebe. Wie ein nach Süden schauendes Ufer fängst
+du die Sonne auf; wie eine nach Norden aufgerichtete
+Mauer stehe ich zu ihr.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Von allen Menschen weg&ldquo;, dachte ich da, &bdquo;und
+zur Sonne hin!&ldquo; Angebetete Sonne! Ohne dich zu
+sein! Beseelt, doch unbeseligt steht mein Haus.
+Wo du undeutlich werden und verflimmern läßt, wo
+du begünstigest, ja, wo du lügst, hast du doch immer
+recht, und nichts bestünde vor deiner Glorie.
+</p>
+
+<p>
+Es hatte längst durch alle Stockwerke gegongt,
+doch ich blieb wie ein Wetterwinkel am Fenster
+<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
+haften, jenen Bergkuppen vergleichbar am Rande des
+Tals, die alle Wolken an sich ziehen; so schien auch
+ich alle Düsterkeiten heranzulocken. Und es gab
+dann nur zwei Möglichkeiten, um dagegen aufzukommen:
+entweder die Arbeit, die auch wirklich die
+Atmosphäre läutert, oder der Umgang mit Menschen:
+ein Notbehelf nur, welcher zwar, wie der im Unwetter
+aufgespannte Schirm die ärgsten Güsse von
+uns abhält, an der Witterung aber nicht das geringste
+ändert.
+</p>
+
+<p>
+Augenblicklich war mir jedoch der Mut so gänzlich
+ausgepustet, daß ich mich plötzlich im Sturmschritt
+zu Martin im Walde aufmachte, sehr in Sorge
+sogar, ihn zu verfehlen. Ja, die Sorge steigerte sich
+zur Angst, so windschief stand es um mich. Aber
+die Herrschaften ließen, Gott sei&rsquo;s gelobt und gedankt,
+bitten, und ich jagte die Treppe zu ihnen
+hinauf. Die Stimmung, welche dort betreffs der
+gestrigen Fete herrschte, war natürlich schlecht.
+Mit sehr unerwarteter Schauspielkunst gab Martin
+im Walde alle Figuranten des Abends in einer
+Person zum besten, wobei er die ihm zugewiesene
+Rolle gar grimmig unterstrich. Ich lachte fürs
+erste aus vollem Halse, wenn auch mit recht
+halbem Herzen, brachte dann alle meine Glätt- und
+Bügelkünste zur Anwendung, zog meine Döschen,
+Fläschchen und Beruhigungstropfen hervor, mußte
+mir aber dabei sagen, daß hier wieder einmal
+<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
+ein wünschenswerter Zusammenschluß vorbeigeglückt
+war.
+</p>
+
+<p class="dat">
+14. FEBRUAR. Ich kann erst morgen die unteren
+Zimmer beziehen: ein hübscher alter Sekretär, ein altmodisches
+Sofa und ein schönes Tischchen kommen
+mit mir. Auch die Kiste mit meinen Sachen ist
+eingetroffen. Als ich nachmittags die Lauben hinunterging
+und an die Zimmer dachte, wie sie mit
+ein paar indischen Schals, der schier vergessenen
+blauen Seidendecke und ein paar Bildern am besten
+auszustaffieren wären, lächelten plötzlich von rechts
+Telramund, von links Ortrud auf mich ein: &bdquo;Wohin
+des Wegs?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Nach Hause&ldquo;, war meine erschrockene Antwort.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wie sich das trifft! Wir sind gerade auf dem
+Weg zu Ihnen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das ist ja reizend&ldquo;, rief ich entsetzt. &bdquo;Leider
+bin ich mitten im Umzug und darf Sie nicht heraufbemühen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das macht uns gar nichts! Wenn wir Sie nicht
+stören.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Im Gegenteil. Kommen Sie nur.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+War es nicht besser, die kamen noch in meine
+alte Stube, als daß sie mit ihren malocchios meine
+neuen Räume behexten? &bdquo;Nur herauf, Ihr beiden!
+es ist das letztemal.&ldquo; Und die Treppe voransteigend,
+führte ich sie zu mir.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
+Dort stand der altväterische Tisch, der mich beschützte
+und nicht mit mir ziehen würde.
+</p>
+
+<p>
+Wir nahmen Platz.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Aramis war gestern bei Ihnen&ldquo;, sagte Telramund.
+&bdquo;Er hat es uns erzählt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Warum auch?&ldquo; dachte ich.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Er wird immer launischer&ldquo;, bemerkte Ortrud.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Launisch?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Haben Sie das noch nicht herausgefunden?&ldquo;
+fragte Telramund und heckelte ihn eine Weile durch.
+&bdquo;Im Grunde&ldquo;, klang es fast drohend von diesen
+Berliner Lippen, &bdquo;ist er ein ganz germanophiler
+Bursche.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Ich goß Tee ein und erwiderte nichts. Aber mir
+wurde bang und bänger über das Gespräch.
+</p>
+
+<p>
+Daß die beiden es wagten, vor mir, die selbst
+obenan und mit so fetten Lettern auf ihrer Proskriptionsliste
+stand, derart rückhaltlos Leute auszurichten,
+mit welchen sie scheinbar die besten Beziehungen
+unterhielten, war das nicht ein Beweis für
+die Rückversicherungen, deren sie sich versehen
+hatten? Und wie weit mochten diese gehen?
+</p>
+
+<p>
+Und woher wußte &mdash; von allen Deckungen abgesehen
+&mdash; dies im wiedererzählen so blitzschnelle Paar,
+daß sich unsere usancen voneinander unterschieden?
+</p>
+
+<p>
+War es die starke Gegenwärtigkeit des wuchtigen
+Tisches, um den wir saßen, und der wohl einst am
+Waldesrand Jahrhunderte hindurch als mächtiger
+<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
+Baum &mdash; wissend und weise &mdash; in rauschender Verschwiegenheit
+sein Gezweige ausbreitete &mdash; oder
+welch überspringender Funke war es nur, der mir da
+mit der unbewiesenen und doch stahlharten Sicherheit
+intuitiver Erkenntnis die Tatsache enthüllte, daß
+die Niederträchtigen, aus ihrer, mit Selbsterhaltungstrieb
+gepaarten Verdorbenheit heraus, die Menschen,
+welche guten Willens sind, ungleich deutlicher erkennen,
+als diese sich unter sich durchschauen. Fortunio,
+von Martin im Walde nicht zu reden, kannte
+mich nicht entfernt so gut wie diese zwei: welche
+Waffen ich gegen sie anwenden und welche nicht,
+ihnen war es nicht zweifelhaft, und für sie war ich
+wie durchsichtiges Glas. Indem sie mich haßten,
+wußten sie sogar, daß ich nicht ihrer Person, sondern
+ihrer Schlechtigkeit den Haß vergalt, und wenn meine
+hiesigen neuen Freunde vielleicht in ihrem Urteil
+über mich noch schwankten, diese meine erbittertsten
+Feinde werteten mich nach Verdienst. Dies war der
+Grund, warum sie mich verfolgten. Wer in der Tat
+stand einander im Wege, wenn nicht wir? Soweit
+ich zurückdenken konnte, und lange ehe er ausbrach,
+dieser elende Krieg, und dann wieder vom Tage
+seines Bestehens an, war ich für einen Frieden um
+jeden Preis. Mich interessierte, noch freute kein
+einziger Sieg. Nur dem Frieden gönnte ich den Sieg
+über eine so schmähliche Niederlage wie diesen
+Krieg.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
+Für dieses Paar jedoch waren Versöhnung und
+Verständigung zwei Dinge, deren Möglichkeit sie mit
+allen Mitteln zu hintertreiben entschlossen waren.
+Dafür lebte es. Wehe dem Franzosen, der kein
+Jusqu&rsquo;auboutiste war. Er hatte allen Grund, vor
+diesem deutschen Telramund zu zittern, und wenn
+nur der letzte Deutsche verblich, durfte für diese
+französische Ortrud der vorletzte Franzose unbesehen
+verbluten. Denn die Saite, auf welche sie beide
+gestimmt waren, ihr Element war der Haß. In welcher
+Tropenluft aber lebten wir heute, daß die Gemüter
+sich mit solcher Fieberhitze entfalten oder zersetzen
+durften? Nie hat Gelegenheit ärgere Diebe gemacht.
+Hier war Telramund &mdash; vor dem Kriege ein ränkespinnendes,
+sonst aber vielleicht ganz traitables Männchen
+&mdash; zum professionellen Verleumder und Verräter
+entartet, und Ortrud, einstens eine gehässige Klatschbase
+und weiter nichts, nunmehr zur angriffswütigen
+Ratte, zur erbarmungslosen Menschenfresserin von
+<a id="corr-0"></a>Hokusai.
+</p>
+
+<p>
+Mit solchen Wesen aber paktierte, tergiversierte,
+lavierte man.
+</p>
+
+<p>
+Und zu denken (dachte ich), daß doch sonst so
+viele Schutz- und Trutzverbände bestehen. Der
+Adel, die Juden, die Ärzte, Arbeiter, Bäcker, Schneider
+und Hoteliers, alle bilden sie ihre geschlossenen
+Gilden und Vereine. Und nur ausgerechnet die Menschen,
+die guten Willens sind, sie allein, die überall
+<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
+verstreuten und ausgelieferten, setzten sich noch
+nicht zur Wehr, berieten und versammelten sich noch
+nicht. Ihr Klub ist der einzige, der noch nicht zustande
+kam, ihre Statuten, ihre Geschlossenheit,
+ihre Einigung, welche doch gleichbedeutend wäre mit
+ihrer Vorherrschaft, über alle Grenzen hin. Denn
+nichts scheut ja das Geschmeiße so sehr wie seinen
+Namen und ihren Boykott.
+</p>
+
+<p>
+Nicht äußerste Vorsicht (die nützte gar nichts!),
+sondern schroffste Ablehnung war Telramund gegenüber
+am Platze. Aus jedem Wort, das ich sagte oder
+zu erwidern unterließ, wurden jetzt handfeste Stricke
+wider mich gedreht. Solche Leute zu kennen, sie
+zu sehen, <em class="em">dies</em> war der kapitale Fehler.
+</p>
+
+<p>
+Ortrud kam immer wieder auf meinen Flügel zu
+sprechen, und als sie sich zum Gehen anschickte,
+bezeigte sie eine Neugierde, ihn zu besichtigen, als
+handelte es sich um einen neuentdeckten Raffael.
+Der Gedanke aber, daß die beiden als die ersten meine
+unteren Zimmer betreten sollten, bevor ich sie noch
+bezog, versetzte mich in eine so abergläubische Verwirrung,
+daß ich die Treppe hinablief, um sie daran
+zu hindern. Allein die Türen standen offen, und ehe
+ich sie schließen konnte, hatten Telramunds meine
+Schwelle überschritten und waren meine ersten Besucher
+gewesen.
+</p>
+
+<p>
+Abends bei A. H. Pax. Ich ärgere mich über
+Bemerkungen, die dort fallen: Brücke von Kirchenfeld;
+<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
+die müsse ich doch kennen. Was ist das nun
+wieder?
+</p>
+
+<p class="dat">
+18. FEBRUAR. Meine &bdquo;Wohnung&ldquo; ist ursprünglich
+ein großes Zimmer mit Alkoven gewesen und nun
+durch eine eingebaute Wand so unwirsch in zwei
+geschnitten, daß sich das Auge an den falschen Massen
+immerwährend stößt. Aber die Farben bringen einen
+gewissen Trost, eine Suleikaportiere, indisch mit
+scharlachrotem Rand, führt in ein drittes vorgebliches
+Gemach, und der Flügel macht sich ausgezeichnet.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Besuch der Miß Annie A. Wir hatten uns seit
+dem Kriege nicht mehr gesehen. Sie ist mütterlicherseits
+deutsch wie ich französisch, väterlicherseits
+englisch wie ich deutsch. Nur ist sie nebenbei auch
+ein Engel von Güte, und das bin ich nicht. Doch
+ach! andere werden schon mit mir bemerkt haben,
+daß gerade solche Engel von Güte es so oft nicht
+über sich bringen, die Vortrefflichkeit derjenigen anzuzweifeln,
+deren Instanz sie zunächst unterstehen,
+ja die es für eine Perfidie halten würden, ihren eigenen
+Zeitungen und eigenen Machthabern nicht zu glauben.
+Wer kennt sie nicht, diese Engel von Güte, mit ihren
+<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
+&bdquo;they say&ldquo;, ihren &bdquo;man sagt&ldquo;, ihren &bdquo;on dit&ldquo; und
+ihren &bdquo;si dice&ldquo;. Unbesehen ist für sie der Teufel
+überall nur drüben.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Mein Deutschtum ist tot in mir&ldquo;, sagte sie. &bdquo;Auch
+Sie sollten sich entscheiden.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Dasselbe Ansinnen, nur umgekehrt natürlich, war
+mir in Deutschland zu oft gemacht worden, und ich
+war in solchen Dingen sehr abgebrüht. &bdquo;Was brauchen
+mich die Franzosen,&ldquo; seufzte ich, &bdquo;die ganze Welt
+steht ja auf ihrer Seite.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Da sie mich traurig sah, schaute sie mich betrübt
+mit ihren guten und veilchenblauen Augen an.
+&bdquo;I thank God on my knees&ldquo;, brach sie dann aus,
+&bdquo;that I am English.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Auch die Variationen <em class="em">dieser</em> Formel waren mir
+vertraut. Und ich konnte nicht umhin, ihr von den
+Halbengländerinnen zu erzählen, die in Deutschland
+unter die Patriotinnen gegangen waren, von Marie
+von B&nbsp;.&nbsp;.&nbsp;., die mich wie keine andere deutsche Frau
+in den deutschen Blättern verriß, und von jener
+jungen englischen Gouvernante in München, die ich
+in Tränen fand, weil ihre, an einen norddeutschen
+Offizier verheiratete Schwester soeben, anläßlich eines
+Luftangriffes auf London, von den Zeppelinen als von
+&bdquo;our glorious zeps&ldquo; geschrieben hatte. Aber kaum
+hatte ich meine Pfeile abgeschossen, so war mir&rsquo;s
+schon leid. Unser Wiedersehen fand also nur statt,
+<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
+um uns unsere Trennung nur um so fühlbarer zu
+machen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Nichts ist mehr, wie es war!&ldquo; rufe ich aus, indem
+ich sie in meine Arme schließe. Denn sie ist ein
+Engel.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Bevor Annie A.&nbsp;.&nbsp;. mich gestern verließ, zog sie
+ein Fünffrankenstück hervor, das sie mir im Auftrage
+der Fürstin Patschouli, einer gemeinsamen rumänischen
+Bekannten, einhändigte, welche vorgab, es
+mir zu schulden. Dieser so kurzerhand beim
+Schopf gefaßte Annäherungsversuch war zum mindesten
+originell. Ich machte ein sauberes Päckchen
+aus dem Geldstück, bedankte mich für die schöne
+Gabe und bat um die Erlaubnis, ihr ein ebensolches
+Gegengeschenk machen zu dürfen. Daraufhin schlug
+sie per Telephon die Brücke zu mir und lobte einen
+schwarzen Kaffee, den sie selber braue. &bdquo;Bonjour,
+je vous attends!&ldquo; und damit hing sie das Hörrohr aus.
+</p>
+
+<p>
+Ich wußte in der Tat nicht, was erfrischender war,
+ihr Kaffee oder sie selbst in ihrer herzstärkenden und
+vorgefaßten Oberflächlichkeit. Die Fürstin, deren
+Röcke unten zusammengebunden schienen, ging mit
+kurzen und kleinen, aber heftigen Schritten, war
+braun wie ein Maikäfer, die auffallendste Erscheinung
+von ganz Bern, brüsk, witzig und ohne Stachel.
+Da sie eine Villa in Tegernsee und Freunde in München
+<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
+hatte, war sie im Grunde germanophil, jedenfalls
+bayernfreundlich, und stand außerdem stark unter
+dem Eindruck der deutschen Siege. &bdquo;Je suis l&rsquo;amie
+des bons jours&ldquo;, erklärte sie.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+25. FEBRUAR. Zwar scheint die Sonne hin und
+wieder, und die Zauberwand der Berge stellt sich
+dann strahlend auf, doch das Licht bleibt spröde.
+Nie träumt dieser kalte Himmel dahin, nie ermatten
+die Reflexe; stets rufen sie: gedenk! und nie: vergiß!
+und ewige Gegenwart ist die Fanfare. Oder
+liegt es an mir? &mdash;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Mein gutestes Fräulein,&ldquo; sagte mir einmal ein
+dickgebliebener Berliner Aufsichtsrat, &bdquo;wer sagt Ihnen,
+daß nicht am Ende mit dem Frieden so bunte Zeiten
+kommen, daß wir uns nach den Kriegszeiten zurücksehnen
+werden &mdash;, bis auf die Schlachten natürlich&ldquo;,
+hing er mit einer Handbewegung an, als wären sie
+ein Detail.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+ENDE FEBRUAR. Die Tage haben soviel widerwärtiges
+gebracht, daß mir das Schreiben verging.
+Man sollte hier mit seiner Aufenthaltsbewilligung
+zugleich ein Vorhängeschloß wie Papageno erhalten;
+statt dessen wird einem ein Nessushemd übergeworfen.
+<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
+Schreckliche Stöße mit Fortunio, schwere Havarie
+mit Martin im Walde. Telramund, dessen Hochöfen
+alle in Betrieb stehen, erstattete ihm einen formellen
+Besuch und brachte ihm zugleich mit dem Ausdruck
+seiner Hochachtung sein Bedauern vor, durch mich
+und meine Darstellungen ein so falsches Bild von
+seinem Charakter gewonnen zu haben. Halb lachend
+wird es mir erzählt. Ich mache ihm Vorwürfe, daß
+er den Mann vorläßt. &bdquo;Ihnen danke ich ja die angenehme
+Bekanntschaft.&ldquo; Das war im Herbst, sage ich,
+wo man noch glauben durfte, es stecke vielleicht
+doch etwas Gutes in ihm, an das man sich halten
+könne. Heute dürfen Sie keinen Umgang mehr
+mit ihm pflegen.
+</p>
+
+<p>
+Einem Glücksfall, der allen Glanz eines Hintertreppenklatsches
+trägt, danke ich es im übrigen, daß
+von dieser Seite wenigstens Fortunio nicht mehr irre
+an mir werden kann: er saß mit einem Freunde, als
+Telramund sich zu ihm gesellte und Äußerungen
+wiederholte, die er von mir vernommen haben wollte.
+&bdquo;Und nun sehen Sie,&ldquo; schloß er, &bdquo;wie sie lügt&ldquo;,
+zahlte sein Schöppchen und ging. Aber in der Eile,
+mir zu schaden, übersah er, daß Fortunios Freund
+zufällig Zeuge gewesen war, wie ich jene Worte nicht
+nur nicht gesagt, sondern heftig dagegen protestiert
+hatte, als sie vor mir fielen. Dies also wäre, gottlob,
+besorgt.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
+Es ist gewiß nur recht und billig, daß auch die
+Überlebenden heute auf der Verlustliste stehen.
+Wie man dem Kranken, der nicht teilnehmen
+kann an dem Treiben der Gesunden, gerne darauf
+hinweist, wenn es draußen stürmt und die Fußgänger
+gegen Frost und Wind ankämpfen, während
+er in der geschützten Stube liegt, so möchte man
+heute denen, welche fallen, nachrufen: Ihr habt
+nichts verloren!
+</p>
+
+<p>
+Ich schreibe der Königin im Auftrage ihrer Mutter,
+die seit Monaten ohne Nachricht von ihr ist. Die
+Idee des Königtums ist gewiß nur deshalb in Diskredit
+geraten, weil ein verrohter, subalterner Mensch
+oder auch ein, Idiot höchst widersinnigerweise zum
+Herrscher avancieren konnte. Wegen meiner Ansichten
+werde ich hier viel ausgelacht. Aber wie
+würden sie erst lachen, wenn sie wüßten, wie gern
+ich selbst regieren möchte. Da würde man doch
+was Richtiges erleben! Kein mittelmäßiger Künstler
+käme bei mir hoch, welche Unsummen aber flössen
+den andern zu; kein Lämpchen ließe ich mir je als
+ein Lumen aufschwätzen, also auch kein Talent, das
+sich zum Genie aufblasen möchte. Herr Pfitzner
+bewürbe sich also vergebens um eine Dirigentenstelle
+an meinem Theater, und gar Herr Weingartner,
+welcher die Wiener Philharmonie herunterbrachte,
+wage es nicht, vor mich zu treten. Ich verarge es
+heute noch der Pariser Kritik, welche ihn seinerzeit
+<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
+&bdquo;un jeune dieu&ldquo; genannt hat. Denn nie hatten die
+Götter das Geringste mit ihm zu tun.
+</p>
+
+<p>
+Ach, und was für schöne Häuser ich erbauen, was
+für Gärten ich anlegen ließe! was für prachtvolle
+Katzen würden meine Marmorbrunnen entlang
+schweifen!
+</p>
+
+<p>
+Doch genug über meine Herrscherzeit.
+</p>
+
+<p>
+Über Weingartner, dessen Überschätzung ich der
+Pariser Presse verdenke, fällt mir die Äußerung ein,
+die kürzlich ein Pariser, den ich nicht nennen werde,
+einem Deutschen gegenüber, dessen Namen ich gleichfalls
+unterschlage, gefällt hat: &bdquo;il y a une chose,
+monsieur, que nous ne vous pardonnerons jamais,
+c&rsquo;est de nous avoir forcés d&rsquo;aimer les Belges.&ldquo;
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Den Abend bei A. H. Pax verbracht. Bei ihm kann
+man sagen, was einem gerade einfällt, ohne Gefahr
+zu laufen, daß es entstellt in alle Winde hinauswirbelt.
+Dieser Vorkämpfer des Friedensgedankens, der mit
+so feierlichem Ernst seine Stimme zu erheben weiß,
+ist bei strengster Sachlichkeit der gemütlichste Mann
+der Welt, in dessen Atmosphäre man sein bißchen
+Humor und sein verlorenes Lachen auf Augenblicke
+rettet. Gestern sprach er zwar tief entmutigt über
+die vollkommene Unmöglichkeit, gegen den so geschickt
+angerichteten, so eifersüchtig gehegten und
+drinnen und draußen immer neu genährten Wirrwarr
+<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
+in den Köpfen der allermeisten Deutschen auch
+nur das geringste auszurichten. Plötzlich tauchte ein
+Nachmittag in München aus dem Sommer 1916, ein
+schattiger Garten, ein gedeckter Tisch, zwei Damen,
+die davor saßen, vor mir auf, und wie eine phonographische
+Platte spielte sich in hemmungslosem
+Bayrisch ein halbvergessenes Gespräch so getreulich
+in mir ab, daß ich mit einem Male alle Rollen in
+einer Person herunterspielte.
+</p>
+
+<p>
+Wir brachen alle in ein schier trostloses Gelächter
+aus. Waren nicht ganze Generationen mit allen
+brauchbaren Argumenten des Scheins in ein Wirrsal
+gelockt, dessen Dunkel den Tag derer ausmachte, die
+es unterhielten, so daß sie jede anbrechende Helle
+augenblicklich verscheuchten?
+</p>
+
+<p>
+Und mußten nicht fast alle Gehirne vermodern,
+ohne zu erfahren, was denn eigentlich los ist? Mit
+so teuflischem Geschick sind alle Ausgänge der Lügenburg
+zementiert, in welcher sie sich narren ließen.
+Unschuldig Betörte. War es nicht überall so?
+</p>
+
+<p>
+Unter den Tagebüchern, welche an den deutschen
+Gefallenen vorgefunden wurden, erzählte neulich
+Abigail von der agence, seien manche sehr schöne
+zum Vorschein gekommen. &bdquo;Warum veröffentlicht
+Ihr diese nicht auch?&ldquo; rief ich. &bdquo;Nous n&rsquo;avons&ldquo;
+sagte er, &bdquo;qu&rsquo;à nous occuper des atrocités.&ldquo;
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
+Dafür, daß ich so viele Dinge nicht verstehe, werde
+ich mit den paar Gedanken, die mir im Kopfe sitzen,
+viele Jahre nach meinem Tode wahrscheinlich recht
+behalten, so zum Beispiel mit meiner Skepsis betreffs
+der Demokratie. Aber natürlich ist es für andere
+ärgerlich, das, was immer sie mich lehren, und was
+immer ich lerne, gerade nur eben jene paar Überzeugungen
+weiter ausbaut und nur ihnen zugute
+kommt. Jede Erkenntnis geht nun einmal bei mir
+auf Kosten einer ganz exemplarischen Unbegabtheit.
+</p>
+
+<p>
+Es müßte einer blind sein natürlich, um an den
+Sozialismus und seine Unerläßlichkeit nicht zu
+glauben. Aber in Wirklichkeit ist heute keiner sozialistischer
+geworden, als er es von je gewesen ist. Es
+scheint nur so. Machen wir uns nichts vor. Wir
+haben uns den Sozialismus eingebrockt. Dank unserer
+Verkehrtheit nur ist er die einzig richtige Parole. Er
+ist kein Ziel, sondern ein Weg. Keine andere Brücke
+ist stark genug, uns aus unserer baufälligen Welt
+zu den neuen Ufern hinzutragen, wo die neuen Autokratien
+auf ganz neuer Basis sich erheben werden.
+Nur durch den Sozialismus, dieser fausse sortie aus
+einer Welt der Standesunterschiede, kommen wir zu
+einer neuen Welt der Standesunterschiede, der Herrenkaste
+und der Knechteschar.
+</p>
+
+<p>
+Für diesen Glauben will ich mich gerne köpfen
+lassen, denn geköpft, sagen die andern, werde ich
+ja doch, entweder von rechts oder von links.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
+Mittlerweile bin ich viel zuviel unter Menschen.
+Es geschieht aus Trägheit und einer Art von Furcht.
+Denn bin ich nicht zufriedener allein und so viel
+weniger allein, wenn ich allein bin? Füllt sich dann
+nicht die Luft mit Geistern guter und hilfreicher
+Art? Und bin ich dann nicht umgeben?
+</p>
+
+<p class="dat">
+28. FEBRUAR. Forsell als Don Juan: der Tod als
+Objekt der Kunst. Forsell ruft ihn und mißt sich
+mit ihm. Gewiß ist der Tod nur was wir aus ihm
+machen: der größte Individualist fürwahr! Welche
+Feigheit jagt mich so oft von mir selber fort zu den
+Menschen hin, oder hält mich ab, mich ihnen zu
+entziehen? Ist es das grauschleichende Verzagen vor
+jener eisigen Verlassenheit, in die wir eingehen werden?
+Hinter dem ganzen Geselligkeitstrieb der Menschen
+steckt ja viel mehr Todesangst, als man glaubt.
+Die einen fürchten sich vor dem Sterben, die andern
+vor dem Gestorbensein; auf dieses, nicht auf jenes
+gilt es, sich zu bereiten.
+</p>
+
+<p class="dat">
+3. MÄRZ. Ich fahre nach Lausanne und gehe dann
+nach Ouchy hinab, eine Bekannte aus München zu
+besuchen. Beißend kalter Wind. Wir besprechen
+die letzte Affäre. &bdquo;Das Schreckliche ist, daß immer
+alles aufkommt bei uns&ldquo;, äußerte sie. So ein Pech!
+Im übrigen sagte mein guter Vater immer: &bdquo;In der
+Politik gibt es keine Moral&ldquo;; à qui la faute, wenn die
+<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
+Deutschen dies für ein unabänderliches Weltgesetz
+halten, so feststehend wie Tag und Nacht und die
+vier Jahreszeiten? gewiß an ihrer Gedankenlosigkeit,
+aber gewiß noch mehr an den Vorbildern, welche
+sie haben. In der Politik gibt es keine Moral.
+Sie sagen es wie: Ehre Vater und Mutter, oder:
+Du sollst nicht stehlen. Ihre Fantasie liegt ja nicht
+auf diesem Gebiet.
+</p>
+
+<p class="dat">
+8. MÄRZ. Besuch des sozialistischen Reichstagsabgeordneten
+W. H. Er ist gegen den Unterseebootkrieg.
+Ich glaube, daß er unter dem Krieg leidet. Aber was
+mich an diesen Sozialisten so furchtbar erbittert, ist
+die Preisgabe des deutschen Volkes, auf das sie sich berufen,
+indem sie vorgeben, diese oder jene Konzession
+an die Gegner &bdquo;ihm nicht zumuten zu können&ldquo;. Vor
+August 1914 gab es kein friedfertigeres auf der Welt:
+wie die Posaune des letzten Gerichtes erscholl ihm
+der Schlachtenruf; es stand auf, und von da ab glaubte
+es alles. Wäre es unglücklicher und beunruhigter
+gewesen, man hätte es weniger leichtgläubig gesehen.
+Aber weil es sich belügen ließ, sollte es nicht auch
+noch verleumdet werden. Im Januar 1917 lauerte
+ich im Hause einer Bekannten dem damaligen
+Staatssekretär Zimmermann auf. Er trat ein mit der
+forschen Bonhomie eines Kegelklubpräsidenten, der
+mir jede Schüchternheit benahm, und als ich mit
+meiner Rede über die elsässische Frage zu Ende war,
+<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
+nickte er ganz kulant und bemerkte; &bdquo;Wir müssen
+nur bedenken, was wir dem deutschen Volk zumuten
+können.&ldquo; &bdquo;In vier Tagen haben wir es hineingelogen,
+vielleicht lügen wir es in acht Tagen wieder heraus&ldquo;,
+sagte ich. Er schien kein bißchen choquiert. In der
+Politik gibt es ja keine Moral.
+</p>
+
+<p class="dat">
+10. MÄRZ. Heute kam Herr v. Sch. mit der erstaunlichen
+und fatalen Eröffnung zu mir, daß sein Chef
+mich zu sehen wünsche. Herr v. Sch., den ich von
+London her kenne, hatte sich große Mühe um meinen
+Paß gegeben, und im ersten Schrecken fiel mir keine
+Ausflucht ein. Ich wagte nicht, es Fortunio mitzuteilen,
+der sicher dagegen gewesen wäre, sondern
+spielte wieder einmal mit dem Feuer und bat Aramis
+zu mir. Sollte ich wirklich über die Brücke von
+Kirchenfeld, so wollte ich keine Anspielungen darauf,
+sondern wünschte um so mehr, daß man es wisse,
+als man es ja doch wissen würde.
+</p>
+
+<p>
+Aramis kam sofort zu mir. Wir verabreden ein
+paar sehr direkte Sätze, die ich während meines bevorstehenden
+Besuchs möglichst pointiert anzubringen
+hätte, und daß ich nachher zu ihm kommen würde,
+ihm die Wirkung jener Worte mitzuteilen.
+</p>
+
+<p class="dat">
+11. MÄRZ. Sonntag. Das Wetter ist schön und warm.
+Die Sonne lacht bis in das Auto hinein, in dem ich
+neben Herrn v. Sch. Platz genommen habe. Schafwölkchen
+<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
+treiben so zuversichtlich am Himmel, und
+er hängt so hoch, daß ich nicht sogleich die leise
+Hoffnung unterdrücke, der Besuch würde am Ende
+doch nicht ganz resultatlos sein. Aber nichts von
+Sonne an Herrn von Rittersporn, vielmehr der Widerschein
+des sterbenden Tags. Ich hatte vor mir einen
+jener persönlich uranständigen, autoritätsgläubigen
+Deutschen strengster Observanz, die vor lauter Gewissenhaftigkeit
+und Loyalität und Treue und Ehrenhaftigkeit
+zur Vertretung der unehrenhaftesten Methoden
+unverbrüchlich auf dem Posten ausharren, ein
+Mann, der privatim gewiß nie eine Lüge sagte und
+nur offiziell und in Gottes Namen log. Mit seltsamer
+Distanzierung, als sei ich die Angehörige eines fremden
+Staates, fing er das ganze Weißbuch mit einer so
+deprimierenden Weitschweifigkeit an aufzusagen, daß
+wirklich nur das fehlte, was es selber wegließ. Er war
+bleich, müde, sichtlich schwer unter dem Kriege
+leidend. Endlich wurde er fertig mit seinem récital,
+und ich hatte das Wort in diesem großen, vielfenstrigen,
+hellen und doch so unfrohen Salon, in dem keine
+rechte Zuversicht aufkommen wollte. Zwar schien
+auch ihm die französische Frage vor allen andern am
+Herzen zu liegen, aber das Feuer, mit dem ich sprach,
+dünkte mir selber deplaciert. Hier ist ein Stuhl,
+schloß ich, faßte ihn mit beiden Händen und sprang
+auf, hier ist ein Tisch: nur eins ist heute wichtig auf
+der Welt: die Formel zu finden, welche es den Franzosen
+<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
+ermöglicht, in diesem Stuhle Platz zu nehmen!
+&bdquo;Ich bin vollkommen Ihrer Ansicht&ldquo;, sagte er. Und
+zum ersten Male schwante mir, wie wenig er vermochte.
+Auf Aramis übergehend, hob ich jetzt seine
+Beziehungen, sein Geschick, seinen guten Willen
+hervor, sowie die Chancen, die er als Vermittler bot.
+Hier jedoch fiel ein Schatten. Ich fand keinen Anklang.
+Es war die alte Kamarilla, ich merkte es wohl, vielleicht
+auf indirekte Umtriebe Telramunds zurückzuführen,
+aber auch Widerstände, Unsachlichkeiten.
+Ich hatte Carry mit Aramis zusammengeführt, ohne
+Parteinahme, weil es sich von selbst ergab, und man
+mißgönnte ihm den Vorsprung. Auch Carry war voll
+Ehrgeiz, aber er besaß Schwung, eine künstlerische
+Ader, Sinn für Kameradschaft, Ritterlichkeit. Man
+wußte, wie man mit ihm dran war. Auf seine Fehler
+wie auf seine Tugenden fiel das Mittagslicht. Il ne
+ment pas, hieß es auf gegnerischer Seite von ihm.
+Dies besagte so viel in Tagen wie den unsern! In der
+europäischen Literatur ungemein bewandert und von
+regstem Geiste, besaß er zudem eine glückliche und
+wohltuende Art mit Menschen umzugehen und hatte
+etwas Jünglinghaftes bewahrt. Selbst ein Mischling,
+war er rassenmäßig den andern lange nicht so fremd
+wie seine zünftigeren Kollegen.
+</p>
+
+<p>
+Es war nahe an zwei Uhr. Vergebens mahnte man
+zu Tisch. Daß die Unterredung sich so in die Länge
+zog, unterstrich ihre Nutzlosigkeit nur noch mehr.
+<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
+Auf dem Heimweg, in dem schneidend kalten Alpensonnenlicht
+wurde es mir mit jedem Schritt bewußter.
+Die Aare floß so leuchtend blau wie vor zwei Stunden,
+als ich über die Brücke fuhr. Mutlosigkeit aber drückte
+mich in diesem Augenblick zur Greisin nieder. Wie
+eine Hundertjährige lehnte ich über das Geländer
+und sah zu den Kindern hinab, die wie besessen
+schrien. Dann raffte ich mich auf und rannte die
+kalten Schatten der Keßlergasse entlang zu mir
+hinauf. Plötzlich fühlte ich, wie verausgabt ich war,
+warf mich auf den Diwan und schlief ein. Aber um
+vier Uhr erwartete mich Aramis, und dies weckte
+mich beizeiten. Ich strich jetzt die Lauben auf der
+Sonnenseite hinauf. Oh wie deutlich ist mir der Schein,
+in dem sie lagen! Wie ein tobender Schmerz, der
+auf Sekunden aussetzt, riß er mich auf einen langen
+Augenblick in seinen Bann, tauchte mich schonungslos
+unter in sein Gold, ließ mich bewußtlos werden
+wie die uralten Häuserreihen, die es durchdrang:
+unempfindlich werden vor Empfindung.
+</p>
+
+<p>
+Bei Aramis herrschte an diesem Vorfrühlingstage
+schon sommerliche Kühle. Eine leise Spannung lag
+in seinen Zügen, und die Wärme, mit der er mich
+begrüßte, kontrastierte doch recht seltsam mit dem
+Empfang, der mir vor ein paar Stunden zuteil geworden
+war. Was ich ihm aber zu sagen hatte, war
+so verdammt unwesentlich, derart neben hinaus, daß
+ich erschrak, indem ich es formulierte. Es ließ keine
+<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
+Spur von Bereitwilligkeit, ihn ernst zu nehmen, verraten.
+Und da es vollkommen zwecklos gewesen
+wäre, ihm etwas vorzulügen, durchschaute er natürlich
+die ganze rettungslose Sturigkeit, in die man
+ihm gegenüber sich versteifte.
+</p>
+
+<p class="dat">
+17. MÄRZ. Abends bei Dätwyler im kleinen Zimmer
+mit Carry und Fortunio. Dieser <a id="corr-1"></a>entfaltet mir gegenüber
+eine aggressive, ja feindselige Haltung größten
+Stiles, die keinen Zweifel läßt, daß er von den Vorkommnissen
+der letzten Tage gehört hat. Heftige,
+immer heftigere Szenen auf dem Heimweg. Ich bebe
+vor Zorn und sehe ihn so haßerfüllt an, daß er erschrickt.
+Eine schlaflose Nacht krönt die Explosion.
+</p>
+
+<p>
+Wie ungerecht war Fortunio! Wie falsch wurde
+ich hier gesehen! Im Juni wollte ich nach München
+fahren und dachte heute schon an das Schlößchen
+im bayrischen Vorgebirge wie an eine selige Insel.
+Waltete dann Telramund noch hier &mdash; soviel stand
+fest &mdash;, so kam ich nicht zurück.
+</p>
+
+<p>
+Und ich suchte Trost, indem ich an das Schlößchen
+dachte, angelehnt an den ernsten Berg: an die lange
+hölzerne Laube mit dem hölzernen Gartensaal; wie
+von Adalbert Stifter für eine seiner Verlobungsszenen
+erdichtet. Und die Freundin selbst, die immer
+Werdende mit der weiten Note der Leidenschaft,
+wer, kam ihr gleich? Ging, blickte, lächelte, lebte
+sie ihren Tag von Jahr zu Jahr nicht Göttinnen ähnlicher?
+<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
+Wer kannte sie? Wie schön und insgeheim
+war unsere Freundschaft verkapselt! Wie verlor die
+innere Einsamkeit so manche Schärfe zwischen uns!
+Weil ich den Spiegel ihres Wesens unausgesprochen
+mit mir führte und sie es wußte, war ich, die immer
+Zusammenbrechende, ihr Halt. Wer vergalt mir
+dies hier? &mdash; Eine Fratze sah man statt meiner.
+</p>
+
+<p class="dat">
+18. MÄRZ. Sonntag. Fortunio in dunkelblau und
+Strohhut holt mich ab, um nach Worb zu fahren.
+Es hat sich auf die Feindschaft von gestern wie ein
+neuer Friede zwischen uns aufgetan. Wieder liegt
+das Land in jenem schonungslosen Licht des Berner
+Oberlands, das, ich weiß nicht warum, in die Seele
+schneidet. Aber das Wetter war so warm und
+strahlend, daß man immer wieder innehielt, vor einer
+ersten Blume, ein paar Schafen, einem Hause. Wir
+sprechen heute in aller Ruhe über die Dinge, über
+die wir gestern stritten. Ich sagte ihm, daß ich manchmal
+mit der Sicherheit einer Mondsüchtigen Dachrinnen
+entlanglaufen müsse; wenn sie dann herunterfällt, ist
+es ganz und gar ihre Sache. &mdash; &bdquo;Ich fürchte weniger,
+daß Sie vom Dach als zwischen zwei Stühle fallen.&ldquo; &mdash;
+&bdquo;Aber das ist ja gerade mein Platz! Jeder von uns ist
+heute stärker sich selbst, handelt unweigerlicher seiner
+Natur nach als jemals zuvor, und ich habe es halt
+immer mit dem Vermitteln gehabt.&ldquo; &mdash; Er schüttelte
+den Kopf: &bdquo;Es sieht nichts dabei heraus.&ldquo; Und
+<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
+weil auch ich davon überzeugt bin, beteuerte ich,
+sind es nur mehr Gelegenheiten, die sich mir aufdrängen,
+welche ich ergreife. Niemand hätte ungerner
+die Brücke passiert.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich hätte es nicht getan&ldquo;, sagte Fortunio.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es gibt Leute, die nicht dazu da sind, nein zu sagen.
+Zugegeben,&ldquo; sagte ich, &bdquo;daß es die Belangloseren sind.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Wir kehrten in ein dunkles, altes Gasthaus ein, und
+es gab wundervolles Brot, wundervolle Butter und
+ebensolche Marmelade. Wahrscheinlich war es heute
+auch in Deutschland schön, und die Menschen suchten
+das Freie dort wie hier. Es sei denn, daß sie es vorzogen,
+sich nicht hungrig zu laufen, da es ja in keiner
+Herberge etwas Richtiges für sie gab. Besonders die
+Kinder .&nbsp;.&nbsp;. so ist einem heute alles vergällt.
+</p>
+
+<p class="dat">
+21. MÄRZ. Der Brief einer Deutsch-Amerikanerin,
+die sich auf der Rückreise nach New York in Zürich
+aufhielt, setzte mich in großes Erstaunen. Kinderlos,
+von Haus aus eine biedere Württembergerin mit
+steinschweren Augen, war sie, in Ermangelung jeglichen
+Ventils für ihre natürliche Schwermut, dem
+Okkultismus verfallen und ein Schreibmedium geworden.
+Sonst ohne andere Interessen &mdash; selbst
+während des Krieges &mdash; als ihren Mann, ihren Haushalt
+und allenfalls ihre letzte Häkelarbeit, paßte dieser
+vom Zaun gebrochene Brief &mdash; wir kannten uns
+kaum &mdash; in keiner Weise zu ihrem Phlegma. Wie
+<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
+kam sie zu meiner Adresse? &mdash; Sie schrieb mir, daß
+sie mich warnen müsse.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-2-1">
+Zürich.
+</h3>
+
+<p class="dat">
+22. MÄRZ. Der Brief der schwäbischen Amerikanerin
+ließ mir keine Ruhe, und ich fuhr hierher.
+Am Berner Bahnhof kaufte ich Zeitungen für unterwegs.
+Sie waren alle von Berichten über Verwüstungen
+der deutschen Truppen auf ihrem Rückzug aus Nordfrankreich
+erfüllt: eine künstlich gestartete Agitation,
+dachte ich erst, um dem, in den letzten Wochen abflauenden
+Haß neue Nahrung zu geben und Öl in
+das abnehmende Feuer zu gießen. Denn leise, leise
+war von der Möglichkeit zu vermitteln die Rede gewesen.
+Da koppelten sich denn die Interessenten des
+Krieges zu neuen Präventivminen zusammen. Glich
+ihnen dieses nicht auf ein Haar? Aber zu meinem
+Entsetzen fand ich da jene Verwüstungen, und zwar
+mit unleugbarer Genugtuung als &bdquo;militärische Notwendigkeit&ldquo;
+in den deutschen Blättern bestätigt. So
+war jenem so aufgerissenen und gemarterten Boden
+eine neue Schmach zugefügt, und ein genarrtes Volk
+gehorchte als sein eigener Henker den Befehlen, die
+ein Hut voll toll gewordener Idioten, &bdquo;Oberste Heeresleitung&ldquo;
+genannt, ihm erteilte. Diese &bdquo;militärischen
+Notwendigkeiten&ldquo;! Oh, wieviel deutsche Landsmänner
+würden ihretwillen kläglich verderben! &mdash; Ein Sturm
+brach in mir los, um so heftiger nur, als er in Ohnmacht
+<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
+sich entfesselte und seinem Rasen nichts im
+Wege stand, als die Wurzeln meines Seins, an welchen
+er riß und, wilden Regentropfen gleich, kalte Tränen
+aus meinen Augen schlug. Stäupen hätte ich sie lassen
+mögen, diese Herren Befehlshaber, keine Strafe wäre
+mir jämmerlich genug erschienen für diese menschenunwürdigen
+Köpfe, deren Nasen kurz ausliefen wie
+die Schnauzen der Hunde, oh! ebenso unfähig wie
+Hunde den geistigen Gang der Dinge zu spüren! Und
+die erbärmlichen Blasen dieser infantilen Gehirne,
+durch ein Wunder des Teufels für wirkliche Felsengebirge
+gehalten, beherrschten und verrammelten
+heute als &bdquo;militärische Notwendigkeiten&ldquo; alle Straßen
+der Welt! Nein! das war kein Leben! Es war nicht
+zu ertragen! Es war mir fremd das Geschlecht, das
+solche Dinge befahl und sich nicht scheute, sie auszuführen.
+Und ich war betroffen! und ich war mitgefangen.
+Mitgehangen war ich, ohne mitzugehen! &mdash;
+Der Zug lief in die Halle ein; die Passagiere verließen
+ihn. Hatte der Wahnsinn der Welt mir den
+Verstand geraubt? &mdash; Ich konnte mich nicht besinnen,
+weshalb ich da auf dem Zürcher Bahnhof stand. Er
+war von beißendem Nebel erfüllt, und mit hochgestülpten
+Kragen eilten alle dem Ausgang zu, während
+ich, den Mantel am Arme, im dünnen Kleide dastand,
+in unerträglicher Hitze und stürmisch bereit,
+aus dieser Welt, wie sie sich drehte, davonzulaufen.
+Ein Dienstmann fragte, wohin ich wollte, und ich
+<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
+sagte, daß ich es nicht wisse. Uralte Instinkte der
+Rachsucht und der Wildheit tobten in mir wie einst
+die Peitschen des Xerxes gegen das Meer! Ha! was
+wollten sie noch in der Weltgeschichte, diese verspäteten
+Hanswurste in dem lächerlichen Aufzug
+ihrer frisierten Helmbusche, ihrer aus gelbem Blech
+gedrehten Achselrollen, den zurückgeschlagenen roten
+Eselsohren ihrer Mäntel, ihren albernen Säbeln, gut
+für ein Possenstück, gut für ein Schaukelpferd, ein
+Ulk, bevor wir uns erniedrigten, davor zu zittern.
+</p>
+
+<p>
+Wie es zusammenhing, daß ein fliegender Zeitungsstand
+die Erinnerung zurückrief, welche mir doch
+gerade die Zeitungen geraubt hatten, mögen andere
+erklären, ich telephonierte an Frau Eleonore Grell:
+sie war zu Hause. Aber auch ihr Gatte, Onkel Sam
+aus Mannheim, der flinke Geschäftsmann mit dem
+schnurrigen Schnurr- und Vollbart, befand sich at
+home. Er hatte sich das okkulte Getaste seiner Frau
+energisch verbeten und glaubte es infolgedessen
+längst unterdrückt. So trafen wir uns denn bei
+Huguenin, aber sie beteuerte mir, nichts anderes
+sagen zu können, als was sie mir auf ein inneres
+Drängen hin geschrieben hatte. Ich ließ ihr aber
+keine Ruhe und folgte ihr auf gut Glück in ihr Hotel.
+Und richtig war ihr Mann inzwischen ins Freie
+spaziert.
+</p>
+
+<p>
+Wir setzten uns ans Fenster, welches die Limmat
+überhing. Der See, die Wolken und das ferne Bergland
+<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
+leuchteten im Abendschein grüßend und verträumt
+in dies hochgelegene Zimmer.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Hier schalte ich für den Leser eine Warnung ein:
+die Unwirklichkeit spielt in diesem Buch so stark in
+die gröbste Wirklichkeit hinein, daß ich gerade die
+besten, an die ich mich doch wenden möchte, abzustoßen
+befürchte. Aber ich muß mich streng an die
+Begebenheiten und ihre Reihenfolge halten, und wenn
+ich nicht ebenso chronologisch das große Spiel der
+Schatten mit hereinbeziehe, ist dieses Buch nicht wahr.
+</p>
+
+<p>
+Sobald wird ja der Okkultismus seine besondere
+Peinlichkeit gewiß nicht los. Denn für Namenloses
+ziehen da Benennungen mit großem Schwalle herauf,
+und geistiger Brechreiz ist die unweigerliche Folge.
+Wer sich heute auf den Weg zum Nichts aufmacht,
+ist jenen Steinklopfern vergleichbar, die auf ein fragliches
+Echo hin die Felsenwand behämmern, und
+mitten im treibenden Geröll Schutt ablagern, wo
+kein Liebhaber des Schönen seinen Fuß noch setzt.
+Und doch wird für ihn vielleicht die Straße hier gelegt,
+die nach dem dornenumwachsenen Reiche schaut, vor
+welchem Ferne, Wachstum und Allmählichkeit entstürzt.
+Denn ob dein Sarg noch auf den Schultern
+derer lastet, die ihn hinaustragen, oder ob deine Grabesinschrift
+seit Jahr und Tag verwitterte, ist gleich.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
+Ich kehre zurück in das hochgelegene Hotelzimmer,
+wo wir auf einem roten Repssofa beim Fenster saßen,
+das die Limmat und den See und Ferne und Gebirge
+übersah. Von Heerscharen erfüllte sich die Luft. &mdash;
+Auf den Ruf welches Jagdhorns &mdash; uns Tauben nur
+unhörbar &mdash; eilten sie her? &mdash; Wie durchsickertes
+Gestein so schwoll die Stube an. War der Ansturm
+der Schatten das Neue, was es unter der Sonne gibt? &mdash;
+Aber schon war ich des einfachsten Denkens nicht
+mehr fähig: alle Poren des Gesichtes sanft gebläht,
+ergoß sich unaussprechliche Verlorenheit, ein hinträumen,
+unbeweglich wie ein Leben lang. Das Herz
+erstickte von all dem Sang und Braus. Kein Mißton
+trübte den unendlichen Chor. Ein Chor sage ich.
+Kein Ungebetener darin. <em class="em">Hier war die Sichtung:</em>
+volles Orchester, nicht wie in unserer Mitte
+unreines dazwischenfahren, grelles übertönen eines
+unbefugten Soprans. <em class="em">Ausgekämpft!</em>
+</p>
+
+<p>
+Ganz versunken in den Vielen oder in mich, selbst?
+&mdash; (ich unterschied es nicht) &mdash; faßte ihr wissen und
+ihr begreifen das, ganze Herz. Des Mediums hatte
+ich vergessen. Mir zu Liebe, es ist wahr, doch auf
+sein Geheiß nur waren sie hergewallt, so <em class="em">dicht</em>!
+so feierlich gedrängt! &bdquo;Sieh dich vor, du kannst
+nicht wissen, du bleibst allein, oh!&ldquo; .&nbsp;.&nbsp;. stammelte
+die Feder.
+</p>
+
+<p>
+Wozu war ich denn hergereist, wenn nicht sie zu
+vernehmen? Und nun dünkte mich dies so fremd
+<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
+und kindisch, ein Bilderbuchbegriff. Gab es denn
+im Scheine dieser wogenden Luft etwas wie eine
+Zukunft? Führte man sie nicht mit sich wie ein
+Geweih? Wuchs sie nicht an mit uns? War sie denn
+nicht der eigene Hauch, der eigene emporstrebende
+oder schwankende, flackernde oder in nichts zerrinnende
+Schatten? Stand sie nicht als der Wald,
+der aus seinen Tiefen unsern eigenen Ruf zurückhallt?
+&mdash; so die Völker, so der einzelne. Was immer
+ihnen glückliches oder grausames begegnet, jeden
+Zufall riefen, beriefen sie herauf. Wir nennen&rsquo;s
+Zukunft! &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Frau Eleonore Grell hielt mir ein Blatt entgegen,
+das mit den Schriftzügen eines zehnjährigen Mädchens
+überzogen war. Es besagte immer dasselbe: Im
+Nu war alle Weisheit abgeworfen und die Furcht,
+die mich hierher getrieben hatte, wieder da.
+</p>
+
+<p>
+Verwirre sie nicht, schrieb jetzt Eleonore, und als
+sie diese Worte gelesen hatte, legte sie augenblicklich
+die Feder weg. Nichts hätte sie vermocht, sie
+wieder aufzunehmen. Die Sitzung war zu Ende.
+</p>
+
+<p class="dat">
+23. MÄRZ. Ich fahre nach Bern zurück. Fortunio
+kommt mir entgegen, und ich frage ihn, was von den
+Berichten über die Verwüstungen zu halten sei.
+&bdquo;Die deutschen Communiqués geben sie ja selber zu,&ldquo;
+seufzte er, &bdquo;sie brüsten sich sogar.&ldquo; Wir überschritten
+den Platz zum Kasino. Das Gebirge strahlte im
+<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
+vollen Ornat. Wir setzten uns ins Freie und starrten,
+Verbündete der Verzweiflung, ohne zu reden, vor
+uns hin.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Fortunio fragte, warum ich in Zürich gewesen sei,
+und ich verweigerte die Auskunft.
+</p>
+
+<p class="dat">
+24. MÄRZ. Auch meine vier Wände sind mir verleidet.
+Die Sonne scheint grell, verletzend, und
+nachts faßt mich der Schlaf nur wie eine Kranke, um
+mich zu erschrecken. Ein Gesicht wendet mir so
+gemarterte Augen zu, daß ich erschüttert frage: &bdquo;Hast
+du Arme denn nicht ausgelitten?&ldquo; und fahre stöhnend
+auf, weil es nur der Reflex von einem Kummer
+war, den diese Augen spiegelten. Nur ein überschwängliches
+Mitgefühl.
+</p>
+
+<p class="dat">
+25. MÄRZ. Gestern abend bei Fortunio war Abigail
+von der Agence, der hartnäckig am Thema der Verwüstungen
+festhielt. Auf dem Heimweg wurde er
+immer dringlicher. Logisch, folgerichtig wäre es, zu
+den Ereignissen Stellung zu nehmen; unvereinbar mit
+meiner bisherigen Haltung, wenn ich schwiege. &bdquo;In
+der Tat!&ldquo; rufe ich in einem Tone, der bitterer ist
+als Galle. &bdquo;Sie reden, als wüßte ich nicht, daß Ihr
+die Dinge glaubt, die Telramund Euch von mir sagt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Doch Abigail nahm alsbald seinen Vorteil wahr:
+&bdquo;Sie haben es ja in der Hand, Ihre Freiheit des Handelns
+<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
+zu dokumentieren!&ldquo; Je mehr er mich in die
+Enge trieb, desto schwerer wurde mir zumute, hatte
+er mir doch meine eigenen Gedanken verraten.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es wird nicht gut.&ldquo; Und ich erzählte ihm meine
+Züricher Reise.
+</p>
+
+<p>
+Er war mächtig interessiert. Ich ließ ihn trotz der
+späten Stunde zu mir herauf und zeigte ihm das
+Blatt Eleonorens. Es enthielt nichts, was ihm behagte.
+&bdquo;Die Hand eines Kindes&ldquo;, sagte er wegwerfend. Ich
+bereute schon, es ihm gezeigt zu haben, und wünschte
+ihn die Treppe hinab, riß die Fenster auf, als er
+gegangen war, und warf sie ruhlos, verlassen, gepeinigt
+wieder zu.
+</p>
+
+<p class="dat">
+25. MÄRZ. Wie in aller Welt haftete Pech meinen
+zehn Fingern an? Aber ich täuschte mich ja! Es
+war ein Irrtum .&nbsp;.&nbsp;. ah, es war ein Traum, so lebhaft
+aber, daß ich mit beiden Händen in die Höhe
+fuhr.
+</p>
+
+<p>
+Nachmittags bei der Fürstin, in der Hoffnung, ihre
+nüchterne Atmosphäre würde mir Ernüchterung
+bringen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Et la Calicie&ldquo;, sagte sie. &bdquo;Ah! ils se valent bien
+tous, allez!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Mir wurde nicht besser, und ich ging.
+</p>
+
+<p>
+Über der Kornhausbrücke hing sehr niedrig eine
+Mondsichel, so wunderbar ausgeprägt, so sprechend,
+so beseelt, so festlich!
+</p>
+
+<p class="dat">
+<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
+27. MÄRZ. Nicht nur in meinem, nein, ich darf
+es sagen: mehr noch im Namen der vielen in Deutschland
+(oder der wenigen, gleichviel!), welche sich nicht
+äußern konnten, wollte ich gegen die neueste Kraftprobe
+der Herren Militärs protestieren, und es dabei
+genau so halten wie die oberste Heeresleitung,
+nur umgekehrt: das heißt mit eben derselben Arroganz
+über militärische Notwendigkeiten hinwegsehen,
+wie sie über menschliche und moralische. Meine
+Wohnung aber, meine Sachen, meine zurückgelassenen
+Briefe, ein gewisses Schlößchen im bayrischen Vorgebirge,
+das selbst mitten im Kriege so zauberhafte
+Kreise zog, dies alles sah ich vielleicht nicht wieder.
+Und, die Trennung von meinen Freunden, meine
+Geborgenheit? Hier war ich so fremd! Warum aber
+verhielt sich dies alles bleich, ohne Licht, unvorhanden,
+ohne Resonanz, da mir doch wohl bewußt
+war, daß es wieder in ganzer Kraft ausziehen würde?
+Wie jene rein umrissene und sehnsuchtsvolle Mondsichel,
+die gestern über der Brücke so tief am Himmel
+hing und ihn beherrschte. Was weiß er noch von
+ihr, sobald die Sonne brennt? So waren alle Beweggründe,
+die mich zurückhielten, von einer stärkeren
+Forderung entkräftet und verdrängt.
+</p>
+
+<p class="dat">
+29. MÄRZ. Kaum war an diesem 29. März mein
+Protest an das Journal de Genève abgeschickt, als
+mir eines jener erprobten Warnsignale übler Vorbedeutung,
+<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
+die wie mit Hellebarden mein so ganz
+auf innere Stimmen angewiesenes Sein umstellt halten,
+auf einem Rad, als hätte es höchste Eile, entgegensauste.
+</p>
+
+<p class="dat">
+30. MÄRZ. Schon verschieben sich sachte wie auf
+einer Wandelbühne die Kulissen: Verstummtes, Unterdrücktes
+belebt sich aufs neue, findet wieder Farbe
+und Gestalt.
+</p>
+
+<p class="dat">
+31. MÄRZ. Eine Antwort. Schon! &mdash; &bdquo;Die vielen
+Zuschriften, der Raummangel .&nbsp;.&nbsp;. meinen Brief jedoch
+gedächte man zu bringen.&ldquo; Es steht nichts
+von einem Termin. Aber ins Ungewisse ertrage
+ich diesen Zwiespalt nicht. Morgen fahre ich nach
+Genf zu Romain Rolland.
+</p>
+
+<p class="dat">
+1. APRIL. Sonntag. Unter strömendem Regen bin
+ich nach Champel gefahren. Rolland wußte schon,
+warum ich kam. Er war zufällig auf der Redaktion
+gewesen, als mein Brief dort eintraf, hatte ihn
+gelesen und war unbedingt für dessen Veröffentlichung.
+</p>
+
+<p>
+Ich sprach dann beim Journal de Genève vor und
+erwirkte, daß der Protest am übernächsten Tage
+erscheinen würde. Somit war die Sache erledigt,
+und ich ging.
+</p>
+
+<p>
+Das Wetter hatte plötzlich umgeschlagen. Es wehte
+eine schneidende Luft, aber See und Himmel strahlten
+<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
+in frühlinghafter Bläue. In mir derselbe jähe Szeneriewechsel.
+</p>
+
+<p>
+Ein erstickend schwerer Vorhang riß magisch in
+die Höhe. Nicht der Salève, der sich hier an allen
+Straßenecken türmte, sondern die bayrischen Berge
+in ihrem seelenvollen Dunst und ihre Waldungen
+verstellten mir den Weg, und die betrübten und
+bestürzten Mienen meiner zurückgelassenen Freunde.
+Es war die Trennung von ihnen, das Exil. Drüben
+im Vorgebirge das Schlößchen, das wie eine selige
+Insel auf dem dunkeln Meer dieser Zeiten träumte,
+die schöne und musenhafte Freundin, die mich dort
+erwartete, die dort verbrachten Herbst- und Sommerwochen.
+</p>
+
+<p>
+Tausend Erinnerungen setzten sich wie Trauerglocken
+in Bewegung. Oh teuer erkaufte Ruh!
+</p>
+
+<p class="dat">
+4. APRIL. Bern. Abigail besucht mich; sehr gespannt.
+Ich sage ihm, wie Rolland, den er immer
+anschwärzt, sich verhielt.
+</p>
+
+<p class="dat">
+5. APRIL. Der Protest ist heute erschienen. Ich kaufe
+das Blatt, ohne den Mut zu finden, es zu entfalten.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Ich übergehe die nächsten Tage. Diese Aufzeichnungen
+sind ja nicht verfaßt, um Gemütsbewegungen
+zu schildern. Ganz andere Zwecke verfolgt dieses
+<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
+Buch. Auch ist die Zeit nicht mehr, und man wird
+härter. Nur im Hinblick einer Einsicht, einer Erkenntnis,
+wo Erfahrungen mit immer verstärkter
+Deutlichkeit den Charakter des Lebens kennzeichnen
+und Kommentare stellen zum Schicksal überhaupt,
+dürfen wir dabei verweilen. Kein größerer Wahn
+als der, zu glauben, man kenne das Leben, um es
+ausgekostet, sich mit allen seinen Genüssen, Schrecknissen
+und Abenteuern vertraut gemacht, viele Männer
+oder Frauen gekannt oder geliebt zu haben. Es starb
+so mancher ahnungslos dahin, welcher die ganze
+Welt bereiste. Auch nicht wer Gefahren überstand,
+nein, sondern wer die Gefährlichkeit des Daseins,
+dessen Gefährdetheit durchschaute, die wie ein
+giftiger Trank sich unablässig bereitet und immer
+die Hefe zurückläßt, um sich neu zu mischen, nur
+wessen Auge geschärft wurde für die Schatten, die
+im Tageslicht aufpassen, nur der weiß über diese
+Welt Bescheid, und in ihm lebt das Bewußtsein &mdash;
+bitter wie die Aloe &mdash;, daß er umsonst gelebt hat,
+wenn die Schule, durch die er ging, anderen nicht
+zur Lehre dienen wird.
+</p>
+
+<p>
+Das erste war übrigens, daß mich die Fürstin ans
+Telephon rief: &bdquo;C&rsquo;est désastreux! quelle folie!&ldquo; sagte
+sie unverblümt; und als ich sie besuchte: &bdquo;Je dis
+ce que je pense, mais est-ce que j&rsquo;écris, moi? &mdash; Pas
+si bête!&ldquo; empfing sie mich und kochte mir mit heftigen
+Bewegungen Kaffee.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
+Dann aber kam Besuch: eine offiziöse Engländerin,
+deren Mann mit atrocités allemandes einen schwunghaften
+Handel trieb, und ein russischer Diplomat von
+professioneller Verlogenheit, die mir Komplimente
+machten und mich einluden. Wie schwül mir da
+wurde! Nein, so war es nicht gemeint, und ich gehörte
+nicht hierher! Nicht hierher und nicht dorthin. Bevor
+die Fürstin mich mit einer ihrer Brüskerien zurückhalten
+konnte, war ich ausgerissen und die Treppe
+hinabgeeilt.
+</p>
+
+<p>
+Fortunio, der mir auf der Straße begegnete, nahm
+dieses typische Palaceerlebnis von der komischen Seite
+und lachte. Wir saßen zusammen, als Telramund
+im biederen Pelzrock, an seiner Rechten die Menschenfresserin
+von Hokusai, mit jener so charakteristischen
+Verleumderwärme, die unbedingt etwas anderes scheinen
+möchte, auf uns zueilte. Seine Hand weit entgegenstreckend,
+brachte er mir rückhaltlose Schmeicheleien
+zu herzhaftestem Ausdruck. Fortunio,
+welcher fühlte, wie bitter sie mir mundeten, lenkte
+das Gespräch auf andere Dinge.
+</p>
+
+<p class="dat">
+13. APRIL. Den Abend mit Fortunio und Abigail
+verbracht. Wir sprachen von Träumen. Abigails
+sehr spekulatives Gehirn kann sich in so feinen Windungen
+verlieren, daß es sich beizeiten von seiner
+höchst stofflichen Person vollkommen losgelöst darstellt.
+Plötzlich, mitten in einem Satz, den er sagte,
+<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
+lebte ein geradezu abscheulicher Traum der vergangenen
+Nacht in mir auf, und schon begriff ich
+nicht mehr, daß ich mich jetzt erst auf ihn besann,
+unterbrach aber sofort das Gespräch, um ihn zu
+erzählen. &mdash; &bdquo;Achtung!&ldquo; rief ich, &bdquo;so etwas Widerliches
+habt Ihr noch nicht gehört:
+</p>
+
+<p>
+Ein Mann, von dessen schwarzem, fettem, unbeschreiblich
+schmutzigem Haare dichte graue Schuppen
+auf seinen Anzug regneten, war dicht an meine
+Seite getreten. Dabei zog er mit einem Kamm durch
+diese Strähne von nie dagewesener Schmierigkeit, so
+daß der graue Regen immer dichter fiel. Ich rückte
+unwillkürlich von ihm weg, da fuhr er weitausholend
+mit diesem treibenden Kamm in mein eigenes Haar,
+ich fühlte ihn noch darin stecken und erwachte vor
+Ekel.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Fortunio schwieg. Auch der zu Kommentaren
+schnell bereite Abigail äußerte sich mit keinem
+Ton.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es steht mir natürlich etwas höchst Widerwärtiges
+bevor!&ldquo; nahm ich selber auf. Auch diese Bemerkung
+weckte kein Echo. &mdash; Man ging auf konkrete
+Dinge über. Es wurde spät. Fortunio erwähnte das
+neue Blatt, welches Telramund schon in den nächsten
+Tagen zu starten gedachte und wie jemand, der sich
+ungern etwas zu sagen entschließt: &bdquo;Er, beabsichtigt
+übrigens, eine Übersetzung Ihres Protestes in seiner
+ersten Nummer abzudrucken.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
+&bdquo;Was fällt ihm ein!&ldquo; rief ich. &bdquo;Das kann er nicht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Er kann es schon&ldquo;, sagte Fortunio.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Die Friedenswarte bringt sie.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Er will ihr zuvorkommen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ungefragt? Ohne sie nur zu zeigen?&ldquo; fuhr ich
+im lichterlohen Zorne auf. &bdquo;Sie sind Zeuge, daß er
+mir nichts von einer solchen Absicht verriet, als er vorgestern
+zu uns stieß. Ich figuriere nicht in diesem Blatt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Fassen Sie sich doch!&ldquo; sagte Fortunio.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Nein, ich fasse mich nicht. Oh Fortunio!&ldquo; rief
+ich, &bdquo;oh mein Traum!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Schreiben Sie ihm halt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Ich ließ sofort das Nötige herbeischaffen und schrieb
+zitternd vor Aufregung, was er mir diktierte. Dann
+brachen wir auf. Der gänzlich verstummte Abigail
+blieb an unserer Seite. &bdquo;Die Gefahr ist natürlich,&ldquo;
+bemerkte Fortunio, &bdquo;daß der Brief zu spät eintrifft.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Dies sagte genug. Er wußte mehr. Meine Empörung,
+meine Wut steigerte sich mit jeder Sekunde.
+Je ungezügelter ich mich über den Charakter des
+bevorstehenden Blattes ausließ, desto reservierter
+wurde Fortunio. Je mehr ich sah, daß er sich ärgerte,
+desto mehr ärgerte ich mich über seinen Ärger. Der
+meine richtete sich besonders gegen Abigail, dessen
+Schweigen mir mißfiel. Nicht das Ungestüm, mit
+welchem ich auf den mir zugedachten Schlag reagierte,
+sondern die ausgemachte Tücke desselben schien mir
+das wesentliche, was unbedingt eine Parteinahme für
+<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
+mich verlangte. Auf eine solche ließ jedoch nichts
+in der, all die letzten Tage so überschwänglich gewesenen
+Haltung Abigails schließen.
+</p>
+
+<p>
+Oben in meinen sorgfältig geschmückten, aber von
+Telramund behexten Räumen, in welchen ich noch
+nicht eine einzige frohe Stunde verlebt hatte, noch
+fernerhin erfahren würde, brach ich in helle Flammen
+der Verzweiflung aus. Dies also war das Resultat!
+Zu diesem Ende also hatte ich die Worte, zu welchen
+ich glaubte, mich entschließen zu müssen, so bang
+gewogen, so behorcht. War ich dafür bis an die
+äußerste Kante einer abschüssigen Stelle vorgetreten,
+so weit, als mein Fuß noch Boden unter sich fassen
+konnte, um hinterrücks diesen Stoß zu erhalten?
+Denn was für eine Übersetzung und zu welchem
+Zwecke sie fabriziert wurde, wußte ich genau. Am
+Arme Telramunds, dieses Verräters, sollte ich an die
+Öffentlichkeit. Ich hatte mich, es ist wahr, vom
+Anfang des Krieges an zur Opposition geschlagen.
+Aber sie galt seinen Anstiftern und deren verworfener
+Gefolgschaft. Das Volk selbst tat mir unabänderlich
+leid. In meiner, von kalten Wirbelwinden der Abneigung
+durchsackten und durchkreuzten, aber dabei
+tiefen Liebe zu Deutschland, lag das Band zwischen
+Fortunio und mir. Oft sprachen wir davon. Und
+dünkten uns allein. Gerade unsere gallische Seite
+setzte uns ja auf Grund unserer Abgerücktheit in
+Besitz des Spiegels, den die unvermischt Deutschen
+<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
+nicht führen. Ihr Nationalismus ist ja Import, ihr
+Fremdenhaß unecht, imitiert, immer bereit, wie
+Mörtel von ihnen abzufallen. Im übrigen ist die
+Gefahr derjenigen Deutschen, welche Selbstkritik
+üben, viel eher, daß sie erstarren. Wenn es kein
+französisches Wort für &bdquo;Gemüt&ldquo; gibt, so gibt es
+noch weniger ein deutsches Wort für &bdquo;affectueux&ldquo;.
+Die Deutschen &mdash; und das ist es, was einem oft an
+ihnen erbarmt &mdash; sind nicht imstande, sich im geringsten
+zu hegen. Weil jede Nation seine so typischen
+Unholde hat, war Telramund, allen deutschen Germanophoben
+voran, gerade in dieser Germanophobie
+ein so typischer Boche. Jedenfalls durfte der Mann
+von Glück reden, daß sein und seiner Gesponsin
+Leben an diesem Abend nicht in meine Hand gegeben
+war. Statt dessen war es <em class="em">ihr</em> Trick natürlich, welcher
+aufs beste gelingen mußte, und weit entfernt, daß die
+beiden verdienterweise und auf meine Order hin vor
+Sonnenaufgang baumelten, haftete meinem Frühstückstablett
+am Morgen dieses 14. April die erste
+Nummer der Telramundschen Zeitung an. Sie umfaßte
+vier Seiten. Alle Beiträge waren anonym. Nur
+mein fettgedruckter, im Reporterdeutsch übertragener
+Protest trug meinen Namen. Ich übergehe den Zorn,
+mit dem ich diese wüste Revolverprosa las, welche
+hier als meine eigene stand; wie vortrefflich war dabei
+ihre Wirkung auf mich selber berechnet! Denn die
+Feindschaft von Leuten wie Telramund ist wie mit
+<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
+tausend Augen auf uns gerichtet, mit tausend Fühlern
+in uns verbissen. Sie kennen ja die Ablenkung ins
+Reich der Ideen nicht! Sie spinnen keine eigenen
+Gedanken! Ich Törin hatte, wie über einen Witz,
+lustig darüber aufgelacht, daß Telramund meinen
+Protest als eine &bdquo;Manoeuvre allemande&ldquo; bezeichnet
+hatte, ohne zu erwägen, daß er natürlich auf Mittel
+und Wege sinnen würde, dies zu bekräftigen. So
+galt es denn, mich gewaltsam über die Linie zu ziehen,
+die ich mir selbst gesteckt hatte. Dies ergab sich ohne
+weiteres durch den gehässigen Ton der Übersetzung.
+Das andere würde ich schon selber besorgen; denn
+daß ich reagieren, ja mich hinreißen lassen und ihm
+in die Hände arbeiten würde, wußte niemand so gut
+wie dieser ausgezeichnete Kenner meiner Person. Ja,
+es kam noch besser für ihn, als er wohl dachte.
+</p>
+
+<p>
+Fortunio, den ich sofort benachrichtigte, ließ mir
+sagen, er könne mich erst gegen zwölf Uhr sehen. Dies
+war mir viel zu spät. Gleich, in einer Viertelstunde,
+bevor noch irgend jemand auf die Gasse trat, mußte
+meines Erachtens etwas geschehen. Wahn! überall
+Wahn! In der Redaktion des Bundes bestand ich
+darauf, daß meine Verwahrung sofort in der nächsten
+Nummer stehen müsse. Es wurde mir versprochen.
+Immer noch war es Morgen. Rückte denn heute die
+Zeit nicht vor? Alle Hauptstraßen meidend, kam
+ich im Sturmtempo zu Fortunio, ihm das fait accompli
+mitzuteilen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
+Wenn es wahr ist, daß kein Sperling versehentlich
+vom Dache fällt, nun dann steht gewiß auch ein
+jeder unserer Tage unter einer bestimmten Konstellation,
+und mein Unstern feierte gerade seinen
+Mittag. Fortunia, die auf der Treppe stand, empfing
+mich mit einem unglücklich gewählten Wort.
+Schließlich war es ihr Haus, ich konnte sie nicht
+niederstoßen. An ihr vorbei, geradeswegs in Fortunios
+Arbeitszimmer, der die Mitteilung von meiner
+zu erscheinenden Notiz mit einer Kälte aufnahm, die
+mich unsagbar erbitterte. Hier bin ich fehl am Ort,
+dachte ich, und nahm eilends Abschied. Auf der
+Straße war es kalt. Ich sah mich um: sie war leer.
+&bdquo;Ich bin verraten&ldquo;, sagte ich laut. Ich hatte nur ein
+paar Schritte bis zum Haus, in dem ich wohnte. Die
+Hand vor den Augen haltend, als sei mir etwas hineingeflogen,
+eilte ich die Treppe hinauf und schloß
+mich ein.
+</p>
+
+<p class="dat">
+15. APRIL. Telramund (immer anonym natürlich)
+veröffentlicht eine hämische Erwiderung auf die
+meinige. Meinen französischen Text und seine
+Übertragung würde die nächste Nummer seiner Zeitung
+zusammen abdrucken. Der Leser möge sich
+dann selbst ein Urteil über mich bilden. Ich sofort
+wie eine Windsbraut, auf Flügeln des Zorns, in die
+Redaktion mit einer &bdquo;Schlußerklärung&ldquo;. Auch diese
+wollte ich sofort eingerückt sehen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
+Daraufhin vertiefte sich das Waldesschweigen um
+mich her. Fortunio war ohne ein Wort nach Lugano
+abgereist. Ich begriff es nicht. In meiner Unkenntnis
+alles dessen, was mit Partei- oder Presseinteressen
+zusammenhing, wollte mir ein Überblick der besonderen
+Situation nicht gelingen. Ein paar Dinge
+sah und erkannte ich mit unbeeinflußbarer Sicherheit,
+gleichsam durch ein Brennglas, mußte aber jede
+Einsicht mit einer Unzulänglichkeit überzahlen, jedes
+Überbieten mit einem Versagen. Wer mich für
+dumm erklärte, dem hatte ich von jeher meinen Segen
+gegeben. Es will keine Geographie in meinen Kopf;
+vergebens starre ich auf einen Globus; ein Morseapparat
+bleibt mir ein unergründliches Geheimnis;
+in scheuer Bewunderung starre ich während einer
+Panne auf die Mechanikerkünste des Chauffeurs,
+und so teilnahmslos ist gewiß kein Mensch, daß er,
+ohne mir beizustehen, zusehen könnte, wie ich meine
+Koffer packe. Durch Vorzüge, wie durch Mängel
+isoliert, muß ich mich selber auf mich nehmen wie
+ein Kreuz. Es kann geschehen, daß ich vom
+Blatt begleite auf eine Weise, die jeden Musiker
+empfinden läßt, welche Entbehrung es für mich
+ist, ohne Musik zu leben, und mir selbst wird zumute
+gewesen sein wie einem plötzlich freigelassenen Pferd,
+das über eine Ebene voll Sonnenlicht und Schatten
+fliegt. Nichts kommt seinem Rausche gleich. Von
+solchen Augenblicken wahren Lebens erwache ich
+<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
+zum Tode des Alltags wie ein Gefangener aus seinem
+Freiheitstraum. Gerade nach solchen seelischen
+Abenteuern aber wird es am leichtesten vorkommen,
+daß ich mit einer aufgeregten Hilflosigkeit, viel eher
+eines Dorftrottels, als meiner würdig, nach meinen
+vergessenen oder verirrten Habseligkeiten suche, und
+keiner der Musiker von vorhin würde mich wiedererkennen.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+21. APRIL. Besuch Abigails. Oh nichts von Komplimenten
+mehr! Nichts mehr von &bdquo;femme exquise&ldquo;.
+Wir prasselten uns Vorwürfe, groß wie Taubeneier,
+ins Gesicht. Meine Schlußerklärung sei eine Abschwächung
+gewesen. Ob dies der Moment wäre,
+zu sagen, daß es Boches in jedem Lande gäbe.
+</p>
+
+<p>
+Es sei die Wahrheit.
+</p>
+
+<p>
+In der Tat hätte ich die richtige Gelegenheit ergriffen,
+dies zu äußern.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ihr habt ja meinen Protest als eine manoeuvre
+allemande angesehen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Cest donc une vengeance&ldquo;, sagte er, indem er
+sich zum Gehen anschickte. Ich eilte zur Tür, und,
+vor ihr aufgepflanzt, gedachte ich das letzte Wort zu
+haben, als mir plötzlich ein Licht aufging, auch Fortunios
+wortlose Abreise mir erklärte. &bdquo;Sie haben das
+Wort &sbquo;Abschwächung&lsquo; gebraucht&ldquo;, sagte ich, &bdquo;und
+werden dieses Zimmer nicht verlassen, bevor Sie mir
+<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
+selbst, geholfen haben, einen Nachsatz aufzusetzen,
+der jede Möglichkeit einer solchen Auffassung ausschließt.
+Alles andere ist mir im Augenblick egal.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Mein Entschluß einer neuen Bekräftigung konnte
+ihm nur erwünscht sein. Es setzte ihn in den Stand,
+zum zweiten Male Heu einzufahren, nachdem das
+erste verregnet war. Zum dritten Male schlug ich nun
+den Weg in die Redaktion des &bdquo;Bundes&ldquo; ein. Nicht
+mit Unrecht wurde ich aber dort darauf hingewiesen,
+daß sich eine Schlußerklärung mit keinen neuen
+Erklärungen vertrüge. Ich führte mit aller Vehemenz
+dagegen aus, sie sei für mich Ehrensache, und setzte
+endlich ihre Veröffentlichung durch. Natürlich mußte
+sie wieder auf der Stelle her.
+</p>
+
+<p>
+Daß hiermit ein Loch an Stelle eines Fleckens
+trat, war mir zwar klar. Und nach der deutschen
+Seite hin verschlechterte sich natürlich meine Situation,
+war eine Herausforderung mehr. Doch auch die formvollendetste
+Blamage durfte ich in diesem Augenblick
+riskieren, nur nicht, daß behauptet werden
+durfte, ich liefe vor meinem eigenen Mute davon.
+Ich war froh, daß jetzt um mich her eine solche Leere
+bestand, und niemand in Sicht, der mir einen Rat
+erteilen konnte. Denn der Fall lag allzu klar. Hier
+war es nicht le ridicule qui tuait.
+</p>
+
+<p class="dat">
+23. APRIL. An der Schnelligkeit jedoch, mit welcher
+jetzt meine Stimmung umschlug, merkte ich den
+<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
+Stoß, den mein Gleichgewicht erfahren hatte: meine
+Gemütsverfassung war eins mit dem herrschenden
+Wetter: Regen, Finsternis, zerrissenes Gewölke, Himmelsblau,
+Sonne und wieder Sturm und Schnee.
+Kurz entschlossen löste ich eine Karte, um einer
+Aufforderung A. H. Paxens nach Lugano zu folgen.
+</p>
+
+<p>
+Abigail, der sich nachmittags bei mir meldete, war
+sichtlich erfreut über die inzwischen schon erschienene
+Notiz. Aber ich hatte jetzt reichlich genug von der
+leidigen Geschichte, deren dickes Ende ja noch
+bevorstand, denn bis jetzt hatte noch kein deutsches
+Blatt auf meinen Vorstoß reagiert.
+</p>
+
+<p class="dat">
+23. APRIL. In Luzern unterbreche ich meine Fahrt
+und steige im Hotel Tivoli ab, bei Glasenfrosts.
+</p>
+
+<p>
+Warum aber fallen nachts Felsenblöcke über mich
+hin? Warum sehe ich einen Baum an einem unsichtbaren
+und doch so verzehrenden Feuer verbrennen,
+daß er im Nu nur ein Gerippe ist von einem Baum?
+Ohne Flamme und ohne, daß ein Blitz ihn traf, nur
+ein gespaltener Stamm?
+</p>
+
+<p>
+Warum stürzt von zwei Leuchtern der eine mit
+herabgebrannter, erloschener und tränender Kerze zu
+Boden? Eine trübe Bildersprache, die ich in diesem
+Jahre noch nicht entziffern sollte.
+</p>
+
+<p>
+Um Mittag fahre ich weiter. Jenseits des Gotthard
+gerät der Himmel ins Lachen. Er findet offenbar
+die Welt noch schön. Tröstlich prangende Blütenhänge
+<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
+und endlich, tief unten, das hingezauberte
+Blau des Sees, einem verliebten Abendhimmel hingegeben.
+Und die Bäume stehen hier wie sanfte,
+begütigende Bräute.
+</p>
+
+<p>
+Der Weg nach Paradiso ist holperig genug, auf den
+Bergen oben leuchten feurige Spieldosen auf. Die
+Natur ist ein Zwischenakt mit Verwandlungsmusik,
+und die Nachtluft wird von Amoretten hingetragen.
+Oh Plansee im bayrischen Gebirg! Du See auf dem
+Plan, so hoch oben im Wind! Warum schwebst du,
+Verwunschener, mir vor? Vor mir liegt lächelnde
+Erfüllung. Du aber bist unbegrenzte Sehnsucht und
+Verweigerung.
+</p>
+
+<p>
+Ein nachgesandter Brief von ihr, die von jenen
+Bergen spricht, hatte mich in Luzern ereilt. &bdquo;Bald
+kommt der Sommer, schreibt sie, rücken wir ihm
+vor. Der Flügel wird schon in der Halle aufgestellt,
+die Schwalben fliegen gewiß schon ein und aus.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Droschke rollt jetzt auf glatter Fähre den See
+entlang.
+</p>
+
+<p class="dat">
+25. APRIL. Fortunio, welcher von meiner Ankunft
+bei Paxens erfahren hatte, kommt, verfehlt mich,
+telephoniert und bittet mich zum Tee.
+</p>
+
+<p>
+Ha! denke ich, diesen Tee soll er sich merken
+bis in sein achtzigstes Jahr. Mit vielem Bedacht
+staffiere ich mich zu diesem Wiedersehen heraus, um
+die Meinung, die ich mir von seinen Ritterdiensten
+<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
+gemacht habe, möglichst wirkungsvoll zu unterstreichen.
+</p>
+
+<p>
+Wie dem auch sei, ich trug an diesem Tage ein,
+wenn auch nicht neues, so doch neu beschlagenes
+Kleid mit halblangen, weit auslaufenden Ärmeln.
+Weiße Besätze, federleicht und schwarz besäumt,
+schlossen sie am Ellbogen in zwei Reihen ab. Zwischen
+ihnen lag wieder eine Spanne Stoffes, den sie
+ein wenig heruntergezogen, denn so dünn ihr Gewebe
+war, durch ihre Fülle beschwerten sie ihn doch.
+Beim Gehen glockten sie ganz leise ab und zu und
+hingen dann still, bevor sie sich von neuem bewegten.
+Es war in der Tat ein sehr rhythmisches und geglücktes
+Ärmelpaar. Vor allen Dingen aber &mdash; andere
+mögen dies gewiß auch schon beobachtet haben &mdash;
+können wir von einer &bdquo;geistigen Schminke&ldquo; angeflogen
+werden, chimärisch wie jene, welche die Kosmetiker
+bereiten &mdash; denn auch sie, wenn sie von uns
+fällt, läßt uns fahler, aufgeriebener als zuvor. &mdash;
+Indes gewährte ich den ausgestandenen Nöten der
+vergangenen Tage ihr beredtes Schattenspiel, ja ein
+selbstbewußter Schleier chiffrierte noch ein übriges
+dazu. Also gepanzert, höchst intangibel und durchaus
+bestechend ging ich, die ihm zugedachte Szene
+wohl im Kopf, gewandten Schrittes, als hätte
+ich soeben meine besten Erfolge hinter mir, auf
+ihn zu.
+</p>
+
+<p>
+Es gehört jedoch irgendwie mit zum Leben, daß
+<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
+im geringfügigen, wie im großen die Dinge anders
+verlaufen, als man sie erwartete.
+</p>
+
+<p>
+Zwar in der Tat eilte da Fortunio wie mit neubeschwingter
+Freundschaft mir entgegen.
+</p>
+
+<p>
+Seine Sympathie, erklärte er dabei, hätte nun
+wirklich die Feuerprobe bestanden.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wie meinen?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Da nicht einmal die desaströse Erklärerei im
+&bdquo;Bunde&ldquo; vermocht hätte, daran zu rütteln. &bdquo;Sie
+kennen die letzte nicht&ldquo;, erwiderte ich mit der
+erkünstelten und flackernden Würde einer Überrumpelten.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Was!?&ldquo; schrie er entsetzt und fuhr mit den
+Armen in die Luft. &bdquo;Noch eine?!&ldquo; Unglücklicherweise
+mußte ich lachen, und da mir dies seit drei
+Wochen nicht mehr vorgekommen war, hielt ich
+nicht sogleich inne, sondern geriet ins lachen, wie
+einer ins laufen gerät, und ehe Fortunios Arme sich
+wieder gesenkt hatten, war er angesteckt. Es gab
+kein Aufhalten mehr. Lachraketen stiegen jetzt in
+die verblaute Luft, in einer vor Wonne irrsinnigen
+Natur. Wäre ich zehnmal bedrückter noch gewesen,
+ich hätte gelacht.
+</p>
+
+<p>
+Bald fingen denn auch die Berge wieder an, ihre
+funkelnden Spieldosen aufzuziehen. Nicht einmal
+nachts wollte diese Landschaft zum Ernste gelangen;
+des Krieges selber schien sie zu spotten. Wer hatte
+denn recht, wenn nicht die Bäume hier am Strand
+<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
+des Sees, die ihre Düfte einander zuhauchten und
+vertauschten, und wenn sie welkten, wieder erblühten,
+und wenn sie verdorrten, andere dafür erwuchsen.
+Es war mir ein Schlag ins Wasser geglückt. Und
+was dann?
+</p>
+
+<p>
+Ich zog Fortunio mit in den Kursaal, sah den
+Dämchen zu, wie sie tanzten, gewann sechs Franken
+und verlor deren zwölf.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Und nunmehr ging ein Tag blitzender als wie der
+andere auf, und wie in einer leuchtenden Schale der
+Vergessenheit zerfloß der See. Vergiß! Vergiß!
+</p>
+
+<p>
+Es hinderte nicht, daß ich Fortunio bei Gelegenheit
+das alte Leitmotiv vernehmen ließ, solange Telramunds
+im Hintergrunde säßen, sei jede Aktion, jeder
+Versuch, dem Haß entgegenzuwirken, im vornherein
+eine gescheiterte Sache. Er ist für das &bdquo;abwirtschaftenlassen&ldquo;
+solcher Elemente, und ich nicht. Denn bis
+sie abgewirtschaftet haben, ist ja zuviel verdorben,
+aufgehalten, zugrunde gerichtet. Fortunio, in vielen
+Dingen weit beschlagener als ich, sieht nicht, wo ich
+erfahrener bin als er. Gewiß sind ihm die Götter
+hold. Taucht er unter, so fischt er gleich etwas Schönes,
+hält&rsquo;s gegen das Licht, freut sich des Prismas und
+läßt sich von den Wellen schaukeln.
+</p>
+
+<p>
+Die paar Meinungen dagegen, die mir unverrückbar
+im Kopfe horsten, muß ich zu Markte tragen,
+<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
+und habe keine Ruhe. Muße bleibt Müßiggang für
+mich, solange ich sie nicht formulierte. Und die
+Aufgabe ist doch so schwer, daß ich vor jedem Anlauf
+von neuem zögere. Bis mein Tagewerk gelingt,
+sofern es mir gelingt, wird der Abend für mich herangebrochen
+und meine Gastrolle in dieser zweifelhaften
+Welt ausgespielt sein. Sollten meine Bücher
+mich überleben und ich selber wiederkommen, so
+lese ich sie vielleicht, und vielleicht wird mir dabei
+etwas sonderbar zumute. Ein Dirigent möchte ich
+dann werden. Regieren möchte ich!
+</p>
+
+<p>
+Die erste Katze möchte ich sein, die keine Vögel
+mordet. Ich bin in diese beiden Tiere vernarrt und
+wünschte, sie schlössen Frieden.
+</p>
+
+<p>
+Um auf Fortunio zurückzukommen: darüber sei
+man sich vollkommen einig, sagte er, wie Telramunds
+Verfahren mir gegenüber zu qualifizieren sei.
+</p>
+
+<p>
+Warum ergriff denn keiner meine Partei?
+</p>
+
+<p>
+Er zuckte die Achseln, wie jemand, der es aufgibt,
+etwas zu erklären. Gerade dieses Achselzucken aber
+gab mir endlich voll und ganz zu verstehen, mit welch
+unsäglich trübem Wasser in Politicis gekocht wurde;
+so zwar, als müßte es so sein. Diese Notwendigkeit
+war es gerade, die ich mich anzuerkennen weigerte.
+</p>
+
+<p>
+Ich kann gar nicht aussprechen, wie grausam mich
+der Plan von einem &bdquo;Zusammenschluß der Geistigen&ldquo;
+anlächert .&nbsp;.&nbsp;. Wie sollte ein Zusammenschluß der Geistigen
+zustande kommen, da noch ganz und gar kein
+<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
+Zusammenschluß gegen die Ungeistigen besteht? Ach,
+kennt ihr Geistigen die Welt noch immer nicht?
+Was redet ihr groß von eurem Zusammenschluß?
+Sprecht von Aufgebot, von einem Kampfesruf gegen
+den Zusammenschluß jener, denen alle Waffen zu
+Gebote stehen, welche die Gemeinheit führt, dem
+einzigen Zusammenschluß, der sich bisher verwirklichte,
+denn dort gebietet der Verworfene über den
+Verworfeneren, und der Verworfenste ist es, der das
+Zepter schwingt.
+</p>
+
+<p>
+Sprecht von Ausschluß, sprecht von Sorge. Davon
+sprecht, daß es keine gute Sache geben kann, solange
+schlechte Elemente sich zu ihr bekennen dürfen, um
+sie zu untergraben, ist doch an ihrer eigenen nichts
+mehr zu verderben. Zum Zerstören aber sind sie da.
+</p>
+
+<p>
+Gelänge es mir, auf diese noch immer nicht genügend
+beachtete Beschaffenheit der Dinge die Aufmerksamkeit
+zu lenken, ich hätte nicht umsonst gelebt. Ich
+weiß ja, wie sehr mein Scharfblick auf Kosten von
+Kurzsichtigkeiten geht. Welche Pein ist das! Ich
+stürme nicht voran, ohne über das Nächstliegende zu
+stolpern. Von ausgemachter Selbstherrlichkeit, wo
+ich meiner Sache sicher bin, unheilbar blöde, unheimlich
+schlau, so harmlos, daß man kichert, so
+gerissen, daß man mir mißtraut .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p class="dat">
+27. APRIL. Ein Berliner Kriegsgewinnler, den Paxens
+von Wien her kennen, meldete sich bei ihnen zu
+<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
+Besuch. Der erste, dem ich mit Bewußtsein begegne.
+Nie habe man bei Hiller so gut gegessen, nie bei
+Borchard soviel Champagner getrunken. Die Welt
+habe jetzt die deutsche Faust kennenzulernen. Was
+Ludendorff befahl, sei <em class="em">unbesehen</em> das Richtige,
+und keine Kritik gestattet; (das galt mir!) Gott, wie
+gemütlich man hier beisammen säße, während die
+Völker einander schlachteten. (Dies sagte er, wie
+man am warmen Kamin vom Schneesturm spricht,
+der draußen wütet.) Allen könne es nicht gut gehen,
+bemerkte er auch. &bdquo;Schweigen Sie&ldquo;, rief Frau
+A. H. Pax. Er guckte etwas verdutzt. &bdquo;Das ist ja
+schrecklich mit unserer Valuta&ldquo;, lenkte er dann ein.
+&bdquo;Und mit der geistigen erst!&ldquo; fuhr A. H. Pax dazwischen.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-2-2">
+Kunstwerk der Zukunft.
+</h3>
+
+<p class="dat">
+28. APRIL. Heute früh bin ich in einer Messe gewesen.
+Aber welche Messe! In einem sehr alten,
+dem See gegenüberliegenden und köstlichen Bau:
+Traumhafte Fresken, das übrige mit roten, langverjährten,
+rosagewordenen Damasten ausgeschlagen.
+So gut wie leer. Die Schellen, die der Ministrant in
+Bewegung setzt, erklingen abgetönt und sind gewiß
+aus Silber, Weihrauchwolken steigen vom Altar.
+Dunkel &mdash; nein nicht dunkel, von einer lichten
+Penombra wie eine bedeckte Vollmondnacht, ohne
+Orgel und Gesang, und dennoch brausend, unendlich
+<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
+groß, ja wie zum Firmament &mdash; (wie wurde
+mir?) weitete sich das stille und verlassene Haus
+und schwamm im All.
+</p>
+
+<p>
+Endlich wieder eine schöne Kirche. Die in Bern
+hatte ich aufgeben müssen, denn so war die Messe
+wirklich nicht gemeint. Als ich aber jetzt durch die
+schwerbehangene Türe ins Freie trat, auf den noch
+leeren Platz und den besonnten Strand, wo die Platanen
+ihre eben erschlossenen Kronen so bräutlich
+dem Licht entgegenhielten, da schien dies alles, diese
+Natur mit den dekorativ vor und wieder zurücktretenden
+Wänden ihrer Berge und das gekräuselte,
+wie in sich selbst verliebt hinziehende Gewässer, selbst
+der Himmel, der darüber hing, schien nicht so weit
+wie der eben verlassene, leicht zu umspannende Bau
+mit den damastenen Wänden von verblaßtem Rot.
+</p>
+
+<p class="dat">
+2. MAI. Die Pforte, die ins Weglose führt, wurde
+bisher nur im Vorübergehen angekreidet. Ziemt es
+sich doch nicht, es zu beschreiten. &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Diejenigen aber, welche solange über die Schiffbarmachung
+der Luft gegrübelt haben, sind nicht dieselben,
+welche sich auf Äroplane schwingen, sondern
+viele Jahrhunderte werfen ihre wilde Brandung zwischen
+sie. Und doch, und doch .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Wie in der nunmehr erkrankten Luft die Menschheit
+eine infizierte oder jedenfalls, auch ohne es zu
+merken, eine affizierte ist, wie vielleicht ein Pesthauch
+<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
+so allmählich unseren Planeten umschichtet,
+daß wir es nicht gewahrten, ebenso glaube ich, daß
+bei vielen unter uns der innere Sinn dem lautlos
+tumultarischen drängen und wogen (wo gäbe es
+Worte?) der so zahllos und so jäh entströmten Leben
+zugewandter ist, als sie es wissen. Da sind Akzente,
+da sind Lockrufe, die noch nicht ergingen .&nbsp;.&nbsp;. Da
+treiben wehe Schwingungen der Wonne von unaussprechlicher
+Pein, da greifen Klänge ans Herz, zerspringen
+und ermatten wieder, ohne zu ertönen, und
+da sind uns Zaubertränke hingehalten, als hätten wir
+geistige Lippen, sie zu genießen .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Es war nicht mehr Nacht, aber der Tag dämmerte
+noch nicht. Ich schlief nicht mehr und war noch
+nicht wach. Eine Gestalt, höchst eindrücklich in
+ihrer Schattenhaftigkeit, erfüllte die Atmosphäre bis
+an den Rand, als müsse diese wie ein zu voller Becher
+überfließen, das Zimmer sprengen oder sich entflammen.
+Und schon war das Unnennbare ungegenwärtig,
+und es wäre lächerlich unzureichend, wenn
+ich sagte, es hätte sich entfernt, so ganz außer jeder
+Beziehung stand es zu Zeit und Raum.
+</p>
+
+<p>
+Was aber war inzwischen nochmals vor mir aufgeschimmert?
+Locken? &mdash; von einer Gelocktheit,
+die es nicht gab, von einer goldenen Blondheit, die
+nicht vorkommt, ein Licht, das ich nicht kannte,
+schärfer, und dabei nicht so grell wie das des Tages.
+Geisterhaft? Aber es war ja von einer schärferen,
+<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
+wärmeren, pulsierenderen Lebendigkeit gewesen, als
+wir sie kennen. Wir sind nicht lebendig genug, dachte
+ich bestürzt, und schlug die Augen auf. Draußen
+hatte sich ein Wind erhoben. Die Fenster sahen auf
+den Garten; der Himmel ganz blaß, aber im vollen
+Staat. Kleine Wolken als Vorreiter ausgesandt. Die
+Bahn war frei, die Vögel vollzählig, Brust heraus, in
+Positur und einzustimmen bereit. Höchste Spannung
+in den Bäumen: kommt sie schon? Blumengeflüster:
+ist sie schon da? &mdash; Es war alles wie am ersten Tag.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+3. MAI. Sicher haben die Menschen ihr Hofzeremoniell
+dem Sonnenaufgang abgelauscht. An sich
+gewiß eine hübsche Idee. Mit acht Jahren war ich im
+Kloster Page der schönen Gelmini, die an Epiphania
+mit dem Beinamen die Gerechte zur Königin ausgerufen
+wurde. Meine Haare wurden Tage hindurch
+im Hinblick der zu drehenden Locken mit gezuckertem
+Wasser gedrillt. Dem Hofnarren fielen sie
+aus der Schellenkappe tief ins Gesicht. Denn gelockt
+standen wir alle am Tage unseres Umzugs. Gelmini
+wurde zweimal gewählt und starb das Jahr darauf.
+Wie groß war mein Staunen, als ich später erfuhr,
+eine erwiesene Larve könne ihr Lebtag lang unter
+Zimbeln und Trompeten als &bdquo;Majestät&ldquo; aufziehen.
+Und welches Gelächter erntete meine Entrüstung!
+Aber wie oft hat der verspottete recht! Jede Epoche
+<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
+hat ihren wahren Fürstenkonzern. Wir verkannten dies
+ganz: darum sind heute unsere goldenen Kutschen
+remisiert. Großherzogliche Hoflieferanten, Palast- und
+Schlüsseldamen, wo seid ihr? Terror der Wiener
+Komtessen, wo bist du? Kurz, kurz ist&rsquo;s her.
+</p>
+
+<p>
+Abends im Kursaal bei Musik geschrieben. A. H. Pax
+will in der &bdquo;Friedenswarte&ldquo; eine tongetreue Übersetzung
+meines Protestes bringen, und da er zugleich
+einen Beitrag für das Maiheft wünscht, setze ich
+meinen Apparat in Bewegung. Es ist, als träten ungeheure
+Wasserwerke in Kraft, um einen Fingerhut
+voll zu kredenzen. Stirnrunzelnd sitze ich inmitten
+des Hin und Her von Eisschokolade und Tangotänzen,
+um einige Sätze über die elsässische Frage
+zu formulieren. Ich begann mit ein paar Anspielungen
+und zitierte mich aus einem Essay, den ich
+über die Markgräfin von Bayreuth geschrieben hatte:
+der Frau fehle es zwar nicht an literarischer Begabung,
+wohl aber an literarischer Perspektive, und für die
+Realität des geschriebenen Wortes wohne ihr auch
+nicht entfernt dasselbe scharfe Gefühl inne wie dem
+Mann. Heute sei hinzuzufügen, fuhr ich fort, ihr Interesse
+und ihr Verständnis für Presse- und Parteiwesen
+sei in der Regel gering, und auf jene allerletzten Endes
+so gedankenlose Parole: right or wrong my country,
+wäre die Frau nicht verfallen.
+</p>
+
+<p>
+So wird sie denn, erzählte ich von ihr, und meinte
+<em class="em">mich</em>, nur wenig von bisheriger Politik verstehen,
+<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
+dafür um so mehr von der kommenden. Denn es ist
+ganz gewiß falsch, zu behaupten, man dürfe Politik
+nicht mit dem Gefühl treiben. Wie veraltet die ohne
+Gefühl betriebene sogenannte Realpolitik im Grunde
+schon war, hätten die zuletzt auf dem Plan erschienenen
+jugoslawischen Völker sehr wohl erkannt, als
+sie einst jenen brüderlichen Balkanbund zu gründen
+beschlossen, welcher dann am Widerstand der europäischen
+Kabinette gescheitert war.
+</p>
+
+<p>
+Es läge auch ein vollkommen richtiger Instinkt
+einer Versinnbildlichung der Nationen durch überlebensgroße
+Menschengestalten zugrunde: Marianne,
+John Bull, Michel, Onkel Sam .&nbsp;.&nbsp;. Von hieraus zieht
+sich deutlich ein Weg zur Einsicht, daß den Beziehungen
+zwischen hochstehenden Völkern genau dieselben
+Grundsätze unterliegen sollten wie zwischen
+hochstehenden Menschen. Statt sich zu überlisten
+und brutal zu übervorteilen, suchen sich diese im
+Gegenteil an Schonung, Großmut und Rücksicht
+gegenseitig zu überbieten. Der Wetteifer um den
+Rücksitz hat als Ergebnis, daß man sich darin teilt;
+statt einander zu berauben, hilft man einander aus.
+Man gesteht sein Unrecht und wird vernommen,
+statt verdammt. Wäre somit eine solche Politik nicht
+auch die praktischere?
+</p>
+
+<p>
+Ich hätte mir vorstellen können, fuhr ich fort,
+daß auf einer solchen Grundlage hin ein Dialog
+zustande gekommen wäre zwischen Michel und
+<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
+der unversöhnlich von ihm abgewandten Marianne.
+Ich könnte mir wahrhaftigen Gottes vorstellen, daß
+er &mdash; nach Art der Liebhaber &mdash; zu ihren Füßen hingerissen,
+die elsässische Frage vor ihr zur Sprache
+brächte; ich könnte mir vorstellen, daß im Laufe
+dieses Dialogs endlich ein Wendepunkt sich ergäbe,
+von wo ab beteuert würde, was verneint worden
+war .&nbsp;.&nbsp;. und in dieser Tonart lange hin und wieder
+so beharrlich, bis die wunde Frage sich zwischen
+ihnen isolierte, auf einen höheren Plan gehoben,
+langsam über ihren Häuptern wie eine Morgengabe
+schillerte.
+</p>
+
+<p>
+Aber den Realpolitikern dünkte die andere Alternative,
+der wir heute zusehen müssen, die gerissenere.
+Spätere Europäer werden sich freilich an
+den Kopf greifen; dann aber wird vermutlich das
+andere Schlagwort aufkommen vom Antagonismus der
+weißen und der gelben Rasse; und dann wird sich
+der Himmel verfinstern von den neuen Schrecknissen;
+und dann erst werden die Überlebenden nicht
+mehr bestreiten, daß die europäische Psyche durch
+Assimilierung der asiatischen die endliche Bereicherung,
+ja ihre letzte Vollendung erführe.
+</p>
+
+<p>
+Nicht allein, daß die grauenvollen Erfahrungen, die
+geopferten Generationen, die vergeudeten Jahrzehnte,
+Jahrhunderte notwendig sind, um diese Welt zu Anschauungen
+zu bekehren, welche sich der einfachen
+Nachdenklichkeit aufdrängen, sondern all diese Kriege,
+<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
+und die gewesenen sind nur Vorstufen zu einem
+letzten Kampf, dessen Stunde zugleich mit der Stunde
+der Vergeltung schlagen wird für jene Elemente,
+welche von jeher die schlechte Sache in der Welt
+betrieben oder die gute verdorben haben. Die Leute
+also, schloß ich meinen Aufsatz, welche auf den
+ewigen Krieg schwören, mögen zufrieden mit mir
+sein; denn bevor jene Elemente (und es sind stets
+überall dieselben) nicht gekennzeichnet und untergeordnet
+werden, glaube auch ich an keinen dauernden
+Frieden.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Um mich von der Anstrengung zu erholen, setzte
+ich zehn Franken und gewann zwei. Plötzlich taucht
+der Kriegsgewinnler vor mir auf und fragt, ob er
+mich nach Hause begleiten dürfe. Es war sehr spät,
+ja, er dürfe. Er begleitet mich also, ich aber leuchte
+ihm heim. Und siehe da, in dieser nächtlichen Weile
+scheinen ihm sehr andere Bilder vorzuschweben als
+die, mit welchen er noch gestern renommierte. &bdquo;Es
+geht uns ja so lausedreckig,&ldquo; jammerte er, &bdquo;warum
+verfolgt ihr das in den Brunnen gefallene Kind?&ldquo;
+&bdquo;Also so steht es&ldquo;, rief ich. Mein fertiger Aufsatz stimmte
+mich frech. &bdquo;So steht es, und ihr blufft weiter mit
+Schwertfrieden und Grenzverbesserungen in Tod und
+Ruin hinein. Ich sehe schon, was für Argumente
+ihr schmiedet, falls es schief ausgeht mit eurem Verbrechen!&ldquo;
+<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
+Es läßt sich gar nicht sagen, wie weinerlich,
+wie persönlich gutmütig dieser eingepeitschte
+Alldeutsche sich herausstellte; wahrscheinlich der
+beste Gatte und Vater dabei, ein gewissenhafter
+Arbeitgeber vielleicht.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Melide. Fortunio hat drei Elsässer getroffen. Im
+Schein der Windlichter schlage ich ihm die Karten,
+er dagegen liest mir aus der Hand. Die Edeljüdin
+hat ein rotes Tuch umgeschlagen, und wir sind vergnügt.
+Doch oh, die Nachtigall, die wir am Heimweg
+schlagen hören. Mein Herz hing sich an sie
+und drang in den Busch zu ihr. Ich hätte mich so
+gern nicht mehr von der Stelle gerührt.
+</p>
+
+<p>
+Der Himmel blieb die ganze Zeit über so blau,
+daß sich die Wolken in meinem Gemüt angesichts
+soviel Sonne nicht behaupten konnten. Der erste
+bedeckte Tag war auch der unserer Abfahrt. Ich
+nahm den Frühzug mit Paxens und steckte meine
+Post gerade noch zu mir. Fürs erste galten dann meine
+Blicke nur dem schwindenden See und den schnell
+sich verstellenden Bergen.
+</p>
+
+<p>
+In Bellinzona trennten wir uns. A. H. Pax wünschte
+die Mitarbeit der Gräfin Reventlow, und ich sollte
+sie zu ernsterer Arbeit ermuntern. Es stellte sich
+aber heraus, daß nur 40 Minuten in Locarno blieben,
+so depeschierte ich ihr auf gut Glück und fuhr dann
+<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
+durch das breite, lange Tal zum Lago Maggiore. Sie
+stand am Bahnhof. Wir erkannten einander, ohne
+uns je gesehen zu haben, und gingen mit einer Art
+von kalter Vertraulichkeit hinab zum See. Ihr Zynismus
+kannte keine Grenzen, doch immer alles mit
+Grazie. Vom Schreiben wollte sie nichts mehr wissen
+und hatte eine Übersetzung unternommen. Bei jeder
+Seite freue ich mich, daß ich das nicht selber geschrieben
+habe, sagte sie. Ich drängte sie zu größerem
+Fleiß, ohne Anklang zu finden. &bdquo;Mein Ideal wäre
+die Leitung eines großen Hotels&ldquo;, versicherte sie. Ihre
+Augen waren wunderschön. Ich sprach von ihren
+Schriften, und daß keine Bücher dieses leichten
+Kalibers mit ähnlicher Qualität geschrieben worden
+seien, so blaß, so spöttisch, so geistreich. Aber sie
+schüttelte den Kopf: es sei zu schwer.
+</p>
+
+<p>
+Wir gingen in der Mittagsschwüle den bergigen
+Weg zur Station zurück. Einige Wochen später sollte
+sie in Konstanz ihrem Sohn zur Desertion verhelfen.
+Heute amüsiert sie die Geisterwelt mit ihrem Witz.
+Schreiben werden wir beide kein zweites Mal.
+</p>
+
+<p>
+Ich hatte gerade Zeit, in den Zug zu springen: er
+bewegte sich schon, wir riefen uns noch einmal auf
+Wiedersehen zu, bevor wir einander für immer aus
+den Augen verloren. &mdash; Zu lesen hatte ich gar nichts
+mehr, mit Ausnahme einer französischen Zeitung, die
+unter meiner Post gewesen war. Sie enthielt auf der
+zweiten Seite einen Angriff gegen mich: Erbitterte
+<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
+Zeilen mit dem deutlichen Wunsch, mich zu verletzen.
+Fürwahr, dachte ich, das ist wirklich zu unverdient.
+Aber der Verfasser täuscht sich: es ist
+mir egal.
+</p>
+
+<p>
+Ich legte die Zeitung weg und sah in die Gegend
+hinaus. Merkwürdig durchdrang mich da ganz und
+gar die Weite des Tals. Wie ein prächtiger Festsaal
+der Natur, gemeint, als sei er auch bei Nacht zu erglänzen.
+Als fehlten nur die Riesenkandelaber an
+den gleichmäßigen und feierlichen Wänden der Berge.
+</p>
+
+<p>
+Die Lokalbahn hatte Anschluß an den zweiten Zug,
+der von Lugano kam. Er war schon eingelaufen.
+Fortunio und der Redakteur der Humanité standen
+auf dem Perron. Ich reichte ihnen das Blatt, das mir
+unter Kreuzband zugeschickt worden war, und wollte
+etwas dazu bemerken, es stellte sich jedoch heraus,
+daß meine Stimme zwischen Locarno und Bellinzona
+hängengeblieben war. Hatte die Luft sich abgekühlt?
+Wie Fanfaren drang das Blau durch die dunstigen
+Wolken. Dicht vor dem Platz am Fenster, den Fortunio
+mir gesichert hatte, zogen jetzt die grauen Riesenwände
+des Gotthard vorüber, durchstrichen von zahllosen
+Wildbächen, die aus ihren unversiegbaren Gründen
+senkrecht im hellen Jubel herabschossen. Es
+war ein Hals über Kopf sich überstürzendes Geglitzer.
+Ich behielt sie im Auge, diese Flüsse, einen nach dem
+andern, und zählte sie. Wie eine Rettung war&rsquo;s, als
+die table d&rsquo;hôte ausgerufen wurde und alles in den
+<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
+Speisewagen ging, Fortunio ganz besonders und der
+Redakteur. Der Wunsch, allein zu bleiben, brannte
+wie ein Durst. Welchen Auges mag der Hirsch das
+Laub, das sein Geweih vom Aste schlägt, das Tal,
+die Tiefe einbegreifen, bevor er sich getroffen weiß?
+Wir wissen nicht, wie seine Welt da vor ihm aufleuchtet.
+&mdash; Was für ein selbstherrliches Ding ist
+doch das Herz! Du rufst ihm zu, und es vernimmt
+kein Wort, als gehörte es sich selber und nicht dir.
+</p>
+
+<p>
+Verstrickte und sich selbst widerstreitende Liebesgefühle
+haben ihre eigentümlichen Reflexbewegungen
+wie Zerreißungen und Wunden. Ich hatte mich getäuscht:
+der Angriff in der französischen Zeitung war
+mir nicht egal. Und wie aber hätte die Erbitterung zwischen
+den Zeilen mich nicht bewegt? Zwischen den
+Erbfeinden des Abendlandes stand in Wahrheit reinste
+und einzigste Erotik am Spiel. Was hier von jeher,
+was von neuem auf Menschenalter zertreten wurde,
+war der Keim aller Verjüngung und Erneuerung
+eines Kontinents, die Blume aller Allianzen. Alle
+andern sind unfruchtbare Bündnisse dagegen, Geschwisterehen.
+Sagt mir nicht, daß es anders sei.
+Ich weiß es besser.
+</p>
+
+<p>
+Ach! Grund genug, wenn es jetzt den Augen
+unaufhaltsam entströmte wie über die grauen Furchen
+der Gotthardfelsen. Oh! und nichts von bayrischem
+Gebirg! Was sich da drüben hinter Schleiern spiegelte,
+das war Paris am lauen Septembertag, der eigenen
+<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
+Erfüllung hingegeben, und einem Himmel, der keine
+andere Stadt so überhing wie sie. War sie nicht
+meine eigenste Heimat? War sie nicht die unerreichbarste
+Geliebte? War sie nicht eine Göttin? Oh mein
+beraubtes Herz! Jedes Bild, jede Erinnerung an sie
+zerriß es neu.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Abends in Bern, wo inzwischen auch der Frühling
+gekommen, sozusagen ausgebrochen ist, leidenschaftlich
+abgetrotzt wie etwas, das sich keineswegs von
+selbst versteht wie im Süden. Ich liebe im Norden
+nur den Sommer.
+</p>
+
+<p class="dat">
+4. MAI. Abigail stattete mir eine richtige Sympathievisite
+ab. Es fehlte nur der Zylinder. Dieser neue
+Ziegelstein auf mein Dach dünkt ihm entschieden
+de trop. &bdquo;Erklären Sie mir nur,&ldquo; sage, ich, &bdquo;liegt
+denn eine solche Ungerechtigkeit in eurem Interesse?&ldquo;
+&bdquo;Wir fragen heute nicht nach Gerechtigkeit&ldquo;, erwidert
+er. &bdquo;Wir verlangen alles oder nichts, Sie
+bieten uns die Hälfte, das ist zu wenig.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie vergessen, daß ich Deutschland liebe.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es sind Gefühle, die wir zu wenig teilen, als daß
+sie uns interessieren könnten&ldquo;, erwiderte er steif.
+</p>
+
+<p>
+Wir sprachen dann von anderen Dingen.
+</p>
+
+<p class="dat">
+6. MAI. Besuch von Frau Karfunkel. Sie fragt
+mich, ob ich eine Revolutionärin sei, und ich bin im
+<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
+Augenblick zu müde, es zu wissen. Das Wort &bdquo;gekrönte
+Republik&ldquo; fällt mir ein, das kürzlich vor mir
+gefallen war. Mochte es herhalten. &bdquo;Eine gekrönte
+Republik&ldquo;, sage ich und gähne.
+</p>
+
+<p>
+Daß Frau Karfunkel mich kaum kannte, hinderte sie
+nicht, mir jetzt eine jener Szenen zu machen, die
+man wie ein Unwetter über sich ergehen läßt. Die
+Worte wie krasse Ignoranz gehörten zu den mildesten,
+die sie mir vorsetzte. Sollte ich ihr sagen, warum?
+ihr bekennen, in welchen Gedanken sie mich unterbrochen
+hatte? ihr den Grund jener mangelhaften
+Kenntnis eingestehen, die sie so richtig erraten hatte?
+</p>
+
+<p>
+Welchen Kriegsbericht hatte ich zu Ende gelesen?
+Von welcher Phase des Krieges mir auch nur einigermaßen
+ein Bild gemacht? Über die erdrückende Tatsache,
+daß er herrschte und kein Friede kommen
+konnte, sah ich nicht hinaus. Für seinen Verlauf,
+seine Geschichte blieb mein Interesse ungefähr.
+</p>
+
+<p>
+Was wollte die Frau bei mir?
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte mich aus der Arbeit gerissen, und ich
+war froh um die Unterbrechung gewesen; so mühselig
+war die Pein, daß ihr Stigma sich den Schläfen
+aufdrückt, und daß sie einsinken wie zermürbt. Oder
+gleicht eine geistige Not der immerwährenden Welle
+vielleicht und die Schläfen dem Stein, der von ihr
+zernagt und bearbeitet wird? Von den Dingen
+selbst ist mein Verständnis so karg! Der Kommentar
+zu ihnen ist meine Sparte: ihn stets von neuem, zergliederter,
+<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
+ausgreifender zu formulieren, ist der Stachel,
+der mir keine Ruhe läßt, meine Einzelhaft mitten im
+Leben. Denn über die Vielfältigkeit unserer Wege
+hin, sehe ich die Einfältigkeit der Gefahr; die ewig
+selbe Fratze, die jeder edlen Bestrebung wie eine
+verruchte Karikatur noch immer auf dem Fuße folgte.
+So schmal, schwankend und immerzu gefährdet zieht
+unser Weg empor! Aber naiver als ein Soldat, der
+mitten im Treffen nicht weiß, wo er steht, führte der
+Mensch bisher seinen Kampf. Auch ihn trafen die
+Geschosse, ohne daß er sah, aus welchem Hinterhalt
+sie stammten, und von der unheimlichen Geschäftigkeit,
+mit welcher in den Niederungen sein Verderben
+betrieben wurde, merkte er nur das Resultat.
+Unermüdlich und nahezu ungestört dürfen die Untermenschen,
+von Herrschsucht besessen, in der Familie,
+dem Staat, der Gemeinde, der Partei ihre zersetzende
+Arbeit verrichten. Aus Tausenden von Schlagwörtern
+sind ihre Netze gewoben, der ganze ungeheure Nationalitätenschwindel
+hält seit Jahrhunderten den Zusammenschluß
+der Vollwertigen auf. Notsignale zu
+geben, bin ich hier. Unvernommen? Gleichviel!
+Ohnmächtig wie im Traum hinauszurufen: Richtet
+Wälle auf! Seht euch vor! Achtet der Stufen! Schützt
+eure Häuser! Mit unschuldiger Miene, ja mit dem
+Antlitz eines Engels vielleicht, kauert das Unheil
+an euerm Herd. Oh Brüder, Freunde, nehmt es
+nicht in eure Arme, wie ihr den Fuß nicht auf
+<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
+die sanft beschneite Stelle setzt, ihr hättet sie zuvor
+geprüft.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich glaube,&ldquo; schreibt René Schickele, &bdquo;daß der
+Sozialismus kommen muß mit einer großen, tiefen
+Flut von Licht, die alle Menschen durchdringt.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Und ich sehe, wie emsig die Schatten sich sammeln,
+welche danach dürsten, dies Licht zu verschlingen.
+</p>
+
+<p class="dat">
+8. MAI. Abigail klopft wieder an meine Türe. Er
+trägt sein breitestes Lächeln, reicht mir die Münchner
+Zeitungen und lacht noch stärker. Sie enthalten
+meinen Protest in der Telramundschen Übertragung,
+wahrscheinlich von ihm selbst eingesandt.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Und das sind die Leute, mit welchen Ihr Euch
+einlaßt&ldquo;, brach ich aus. &bdquo;Ihr seid mir schöne Richter!&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Doch Abigail war in einer nicht zu verderbenden
+Laune. &bdquo;Einigen wir uns,&ldquo; sagte er, &bdquo;mag er denn
+Telramund heißen, unter einer Bedingung, verlangen
+Sie nicht, daß wir Sie Elsa nennen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die &bdquo;Pressestimmen&ldquo; ließ er mir zum Geschenk.
+Ich las u.&nbsp;a., daß ich &bdquo;ein hysterisches Weib von abgrundtiefer
+Gemeinheit sei&ldquo;.
+</p>
+
+<p class="dat">
+9. MAI. Beim bayrischen Gesandten; er kannte mich
+von Kind auf. Er empfing mich. Aber der Verwirrtere,
+der Trostbedürftigere schien durchaus er.
+Es war bei ihm wie bei den Hähnen der modernen
+Waschtische, die gleichzeitig heißes und kaltes Wasser
+<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
+ausströmen: zwei Sprachen wie zwei Denkungsarten
+entflossen da immer zugleich: seine eigene und die
+anbefohlene.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Vous êtes déshonorée!&ldquo; jammerte er.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;So schlimm ist es nicht&ldquo;, redete ich ihm zu.
+&bdquo;Kommen Sie, lassen Sie Gras wachsen über die
+Geschichte.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Gras? Da wächst kein Gras. Je vous supplie ne
+rentrez pas en Allemagne; on vous jettera dans les
+fers; je ne pourrai rien faire pour vous. Bleiben
+Sie um Gottes willen da.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich bleibe schon da.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ja, bleiben Sie da. Was wollen Sie in München?
+Es ist ja alles verpreußt. Diese entsetzlichen
+Preußen haben uns ja alle aufgefressen. Ich bin der
+letzte Bayer.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich auch.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie sind gar nichts. Vous êtes une criminelle.
+Ce n&rsquo;est pas moi, qui vous condamnerai, je suis
+votre ami. Vous êtes une criminelle&ldquo;, unterbrach er
+sich laut. &bdquo;Oh, so viel Phantasie zu haben und so wenig
+Verstand! Sie sind erledigt. Wir sind gefressen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Damit entließ er mich.
+</p>
+
+<p>
+Daß dem alten Herrn der Krieg so über den Kopf
+wuchs, machte ihn mir nur sympathisch. Es wäre
+jedoch hartherzig gewesen, ihn praktisch in Anspruch
+zu nehmen. Ich hatte es gar nicht versucht.
+</p>
+
+<p class="dat">
+<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
+MITTE MAI. Gerade in diesen Tagen lud mich Frau
+v. Schreckenburg, ohne mich zu kennen, zu sich
+ein. Engländerin von Geburt, trug sie dabei den
+gefürchtetsten deutschen Namen. Ihr Mann, von
+dem die Franzosen sagten: &bdquo;Heureusement qu&rsquo;il n&rsquo;en a
+pas l&rsquo;air&ldquo;, und die Engländer: &bdquo;He is worth a
+better name&ldquo;, stand an der Spitze der Gefangenenfürsorge.
+Durch seinen unzeitgemäßen Mangel jeglichen
+Strebertums fiel er gänzlich aus dem Rahmen.
+Still, unermüdlich und geschickt verrichtete er sein
+humanitäres Werk.
+</p>
+
+<p>
+Es nahte Felix Mottls Todestag. Ich wollte die
+Münchner erinnern, daß ich es nicht von ihnen verdiente,
+unvernommen und mit Knüppeln vor das
+Stadttor gewiesen zu werden, denn ich habe sie einmal
+vor einer großen Weltblamage bewahrt. Einige
+Redakteure waren damals meinetwegen geflogen, und
+ich hatte gesiegt. Waren solche Reminiszenzen angetan,
+den Herrn Chefredakteur zu rühren? Er
+sandte mir meine Eingabe, obwohl durch Schreckenburg
+übermittelt, mit dem Vermerk zurück, daß er
+sich für die Beiträge einer Hochverräterin heute wie
+fernerhin bedanke.
+</p>
+
+<p>
+An jenem Abend ging ich lange die beiden Brücken
+auf und nieder. Die Jungfrau hatte eine Schärpe
+übergeworfen. Ein kalter Wind trieb von den Gletschern
+herüber. Ich ging und ging. Es war wieder
+bei Fortunio viel von einem Zusammenschluß der
+<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
+Geistigen gesprochen worden, und wieder ließ keiner
+das Ausschließen seine Sorge sein. Was aber ging
+aus dem ungeheuren Trugwerk dieses Krieges hervor,
+wenn nicht der vollendete und riesenhafte Triumph
+des Sklaven über den Freien, wenn nicht die immer
+drohendere Forderung, uns selbst jenes letzte Gericht
+erstehen zu lassen, von dem geschrieben steht, daß
+es auf immer die Scheidung zwischen den Menschen,
+die guten Willens sind und den anderen bestimmen
+soll? Ja, nicht die große Einigung, den großen Bruch
+gilt es zuerst zustande zu bringen: die herrische und
+heilige Offensive der menschenwürdigen Menschen,
+gegen jene &bdquo;Untermenschen&ldquo;, welche Villiers de l&rsquo;lle
+Adam als erster mit so großem Nachdruck kennzeichnete.
+Erst gilt es, jenen allzulange geduldeten Elementen
+das Stimmrecht zu entreißen. Sahen wir
+nicht alle großen und bahnbrechenden Ideen in Verwirrung
+ausarten, das Christentum selbst unter die
+Räder geraten und eine Sache um so sicherer verderben,
+je edler sie war, weil Unzulänglichkeit und
+Niedertracht das große Wort zu führen in der Lage
+sind; Solange diese Gattung ihre Gleichberechtigung
+behält, hat die Menschheit nichts zu hoffen. Sie
+wird wie ein Kranker sein, der sein Übel zu betäuben
+sucht, indem er sich auf seinem Schmerzenslager
+dreht und wendet, oder hochaufgerichtet nach
+Atem ringt, um doch nur eine illusorische Erleichterung
+zu finden. Sie wird alle Regierungsformen,
+<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
+eine nach der andern, erproben, und ob sie auch ihre
+Könige gegen Republiken eintauscht &mdash; es werden
+doch nur falsche Republiken sein, und auch die
+Anarchie wird sich als nichts anderes herausstellen
+als einen Mißbrauch der Macht.
+</p>
+
+<p>
+Und wie könnte die einzig wirkliche Freiheit entstehen,
+wenn nicht durch die Knechtung desjenigen
+Pöbels, der allerorts alle Klassen, von den höchsten
+bis zu den sogenannten niedrigsten verheert. Hierarchien
+aber sind es ja gerade &mdash; weniger rudimentär
+und kindisch nur als diejenigen, welche man sich
+aufoktroyieren ließ &mdash; Hierarchien aber sind es,
+die auf neuer und gerechtfertigter Basis zu errichten
+sind: geben wir uns keinen Täuschungen hin:
+die Klasse der Könige, der Fürsten und Herren, ja
+der ganze Troß der kleinen Gentry sogar, er ist vorhanden
+(nur so anders!), und alle wahren Adelsbriefe,
+die sich in unendlichen Fluktuationen aus der
+menschlichen Würde ergeben, existieren auch. In
+allen Kreisen aber und durch alle Zeiten hindurch
+wurde die wahre Elite gepeinigt, geopfert oder zur
+Ohnmacht verdammt, weil urteilslose oder niedriggesinnte
+Elemente, die sich weder in Gleichheit, noch
+in Brüderlichkeit zu ihr verhalten, dasselbe Stimmrecht
+genießen.
+</p>
+
+<p>
+Man rede mir also nicht von Zusammenschlüssen,
+sondern vorerst von neuen Gesetzbüchern und neuen
+Statuten. Auf einen treibenden Sumpf, einer Welt
+<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
+wie sie ist, Ringmauern aufzurichten, daran glaube
+ich nicht. Wozu führte der vielgehegte voto pietoso
+Deutschland und Frankreich zu einigen? Statt der
+stolzesten aller Galleonen ein Wrack, beiden nahezu
+unnennbar geworden. Dieses Wrack ist mein eigenster
+Boden, ich verlasse ihn nicht. Die paar Einsichten
+aber, die mich sehr bestimmte Erfahrungen lehrten
+mit der Persistenz des Marktschreiers zu verkünden,
+ist mein Beruf.
+</p>
+
+<p>
+Ich lehnte über der Brücke von Kirchenfeld. Hat
+die Nacht ihre eigene Helle, daß sie uns die Dinge
+mit größerer Schärfe zeigt? Sie deckte jetzt den Fluß,
+der unten den Bergen zurauschte. Von den Häusern
+in der Tiefe, so eng geschart, fast ein Gerümpel, auf
+zartesten Säulenarkaden gehoben, und wie edel! leuchteten
+jetzt munter die tagsüber so verschlossenen
+Fenster. Wie wenig löste schließlich und endlich
+unsere zufällige Existenz von unserem wirklichen
+Wesen aus! Vielleicht war sie nur eine Jahreszeit
+unseres weitverästeten Seins. Wozu sich alterieren,
+redete ich mir zu, wozu die Hast, wozu die Ungeduld?
+&mdash; Es wurde zuletzt ein Spazieren mit der Nacht,
+statt in die Nacht hinein, und ich war um eine größere
+Fassung, etwas mehr Gleichgültigkeit für meine persönlichen
+Geschicke aus allen Kräften bemüht.
+</p>
+
+<h2 class="chapter" id="chapter-0-3">
+<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
+Zweiter Teil.
+</h2>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">S</span>ie sah bezaubernd aus; ihre Achseln schienen der
+Ansatz zu Flügeln, und da sie sozusagen zwischen
+zwei Fingern hochzuheben war, nannten wir sie mit
+Fortunio das Zirkuspferdchen oder der Seidenaff.
+Wenn sie ernst zu sein wünschte, waren wir grausam
+genug, sie auszulachen, doch nicht, um sie zu verspotten,
+sondern weil ihr alles so gut stand. Ihr Gatte
+war San Cividale, der Longobarde, wir hatten uns
+angefreundet, und es wurde ein richtiger Anschluß.
+</p>
+
+<p>
+Von den Ärzten ins Bad geschickt, depeschierte mir
+der Seidenaff aus Rheinfelden, und nie kam eine Einladung
+gerufener. Ich suchte einen Mieter für meine
+Zimmer und hatte ihn schnell. Bern war mir verleidet,
+ich hatte dort vieles zu vergessen, Geldsorgen
+besaß ich auch. Nur die Mozartaufführungen, welche
+unter Richard Straußens Leitung bevorstanden, wartete
+ich noch ab. Sein schöpferisches Erschöpfen
+eines Werkes ist sicherlich ein neues und interessantes
+Moment in der Kunst des Dirigierens. Einem Don
+Juan, der ein großer Erfolg war, folgte jedoch eine
+Zauberflöte, welche einige Kritik hervorrief; mich
+entzückte letztere weit mehr, so zwar, daß sie einem
+ersten Eindruck gleichkam. Strauß hatte eine Pamina
+mitgebracht, welche gesanglich und darstellerisch und
+<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
+durch eine merkwürdig schöne Erscheinung der Partie
+so wohl entsprach, daß Symbolik wie Illusion des
+Fabelreiches durchweg bestanden, bis der Vorhang
+vor dieser besseren und geordneteren Welt endgültig
+fiel. Was bedeuteten Regiestörungen (tags darauf hieß
+es, sie sei einem Engländer zu danken, der sich zu
+diesem Zweck als Maschinist für den Abend verdingte)
+vor dem unvergleichlich hohen Niveau dieser
+Vorstellung?
+</p>
+
+<p>
+Am lautesten wurde am Schluß von jener Sorte
+Deutscher Beifall gespendet, welche ihren schimpflichen
+Spitznamen so recht aus dem vollen verdienten.
+Diese wandelnden Erreger des Deutschenhasses gingen
+mit dem deutlichen Gepräge von Leuten einher, welche
+zwar rechneten und berechneten, aber nicht mehr dachten,
+dafür seit einer Generation zuviel gegessen hatten.
+Sie waren die Regisseure und Leugner des großen
+Kindersterbens, das jetzt in ihrem Lande hinter den
+Kulissen um sich griff, und Scharen Deutscher, würdig
+dieses Namens und liebenswert, gingen um jener
+Boches willen zugrunde. Doppelt verrucht erschienen
+sie im Lichte der eben erfolgten herrlichen Darbietung.
+Ich ersticke! sagte ich zu Fortunio, denn
+ein Knäuel dieser wohlbestallten Patrioten schlenkerte
+vor uns über den Platz. Auch im Dunkeln sah man
+ihnen an, daß sie jetzt schmausen gingen.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-1">
+<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
+Rheinfelden.
+</h3>
+
+<p class="dat">
+21. JUNI. Mußte da dicht vor meinem Fenster hochgewölbt
+der Rhein vorüberrauschen? Eine Brücke
+mit Schilderhäuschen in der Mitte legt schon im
+Badischen an; freudlos, wie mit erblindeten Scheiben,
+sehen von dort die Häuser herüber.
+</p>
+
+<p>
+Heiterer war der Park. Wir lagen in Korbstühlen
+und schwatzten. Doch Erinnerungen kamen nicht
+zur Ruhe. Aufgescheuchten Vögeln gleich schwirrten
+sie hierher und dorthin und kehrten zurück .&nbsp;.&nbsp;. Der
+Sommer war im Land. Das Schlößchen der schönen
+Marguerite, das selbst mitten im Kriege Zauberkreise
+zog, wartete unser, und die Schwalben nisteten
+längst im flachen Strohhut, der in der Halle von der
+Decke hing. Jetzt standen auch ihre Koffer gepackt;
+.&nbsp;.&nbsp;. es türmten sich wohlgefaltet ihre schönen Kleider .&nbsp;.&nbsp;.
+Die Unrast der Verbannten trieb mich aus dem Park
+ins Städtchen hinunter, wo von der viereckigen Plattform
+des Turmes aus die Störche ins Blaue steuerten.
+Was gab es schöneres wie ihren Flug? Klein erschien
+mir die Schweiz. Wie ein herrlicher, aber für mich
+nach allen Seiten hin verbarrikadierter Garten. Ich
+ging den Weg zurück, der ganz umwachsen unter
+Bäumen führt. Wer nicht wollte, brauchte weder
+Fluß noch Land zu sehen. Im Hotel aber lag eine
+Depesche für mich. Ich floh entsetzt auf mein
+Zimmer. Die Freundin war tot. Mochte das
+Schlößchen am Berg Tür und Tor sperrangelweit
+<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
+offen halten und warten, solange es stand, ins Leere
+starrte fortan sein breitschrötiges Türmchen. Sie zog
+die Straße nie mehr herauf, kutschierte nie mehr
+aufmerksamen Auges ihr Wägelchen in den Wald.
+Fort von Rheinfelden, dachte ich, nur fort!
+</p>
+
+<p>
+Es traf sich, daß die Kur nahezu beendet war.
+Wir fuhren nach Wengen. Der Seidenaff durfte nicht
+steigen, ich kletterte drauflos. Hier waren alle
+Höhen zur Hand. Hinter der kleinen Scheidegg
+setzten sie von neuem ein. In weiten Senkungen
+kreiste ein Tal. Ich saß in einer Nische aus Fels und
+Gras, die Füße hingen ins Leere.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich, wie auf einen geheimnisvollen Anruf, ein
+lauter Stoß, ein Gegenruf des Herzens. Denn es hat
+ja Arme, ich sagte es schon, und Flügel, schwerausgebreitete
+und leichte, es hat sein geheimnisvolles
+Dasein für sich allein. Vom Tode weiß es so wenig
+wie wir, nur dies hat es erkundet: daß, wenn er
+uns nicht austilgt, der Lebende dem Toten zu Anfang
+mehr sein kann, als dieser ihm. Dann wäre unser Eingedenken
+der Halt vielleicht, an dem er seine ersten
+Schritte geht, und unsere Trauer sein Gewand.
+</p>
+
+<p>
+Es war für die Verstorbene ein Gedenkbuch geplant,
+und ich hatte versprochen, mich daran zu
+beteiligen.
+</p>
+
+<p>
+Mag es noch so mannigfache Welten geben, sicherlich
+gebietet über alle eine einzige Natur, ein allmähliches
+Sprießen, eine Reife, von trüben Himmeln
+<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
+die sie aufzuhalten scheinen nur gezeitigt. Vor allen
+Dingen aber jenes letzte und sehr tragische Zurückbleiben
+des Erreichten hinter dem Gewollten. Wie
+ein letzter Same, der sich wieder in die Erde senkt,
+um einer nächsten Ernte zu gedeihen.
+</p>
+
+<p>
+Ich schrieb auf meinem hohen Sitz angesichts des
+kelchartigen Tales mit den sanftanschwellenden Rändern.
+Die Sonne war gestiegen. Wie ein zieres Band
+umschlang ein Pfad den ganzen Berg und lockte mich
+unwiderstehlich in die Höhe. So kam ich zu einem
+kleinen Gasthaus und stapfte dann auf die Spitze des
+&bdquo;Männlichen&ldquo; hinauf. Dort fing sich der Wind und
+wehte kreuz und quer; dann aber stürzte ein Steig,
+schmal wie ein Strich, so pfeilartig hinab, daß man,
+von einem Taumel erfaßt, zu rennen anfing und zu
+fliegen verlangte. Von dem Tempo erfaßt, das von
+hier oben gesehen, die Jungfrau entfaltete, die mit
+mächtiger Schulter die ganze Kette der Alpen mit
+sich riß. Unglaublich schnell griffen jetzt die Schatten
+in dem verströmenden Gold dieses Tages um sich;
+schon profilierte sich diese oder jene Bergeskante zu
+einem grotesken, dort zu einem erhabenen Riesenhaupt,
+schlafend, offenen Mundes zurückgeworfen,
+oder wie entseelt mit beschneiten, eingesunkenen
+Schläfen zur Seite gekehrt, die Luft darüber wie ein
+unendliches Gewölbe.
+</p>
+
+<p>
+Auch manche Felsenburg tat jetzt entbrannte Zacken
+auf; kurz, eine andere Welt als die des Tages stand
+<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
+schon gerüstet. Plötzlich hielten mich zwischen zwei
+scharf vorspringenden Felsen zahllose Schafe auf, die
+mächtig wie ein Volk auf halber Höhe den Berg belagerten.
+Mit ihnen zog eine Anzahl Widder, die
+innehielten, als sie mich kommen sahen, und mich
+aufmerksam, wenn auch stolz, betrachteten. Nirgends
+ein Hirt zu sehen, als wären sie die Führer. Ihre
+geschneckten Hörner abwartend mir zugekehrt, versperrten
+sie den Weg. Um weiterzukommen, mußte
+ich halb quer hindurch, halb mit der Herde laufen.
+Eine überwältigende Ruhe, ja ein Glück ging von ihr
+aus, daß man, am liebsten auf vieren gestellt, eins
+mit ihr geworden wäre.
+</p>
+
+<p>
+Der Weg nahm gar kein Ende. Meine Schuhe
+gingen in Stücke. Meine Füße waren zerschunden.
+Schwer hinkend erreichte ich endlich das schon
+a giorno beleuchtete Wengen. Aus der Halle des
+Hotels trat der Seidenaff im Tuchbrokat von silberigem
+Weiß, hoch mit Zobel verbrämt. Doch der Jugend
+kommt alles zugute; kostbare Gewänder unterstreichen
+sie nur. Die leichte Gestalt wird durch den
+schweren Staat gehoben, nicht gedrückt. Lang und
+gewichtig hing die Perlenschnur herab. Das Haar
+war braun. Gerade seinem weichen Schimmer schmeichelte
+die Härte des diamantenen Reifs. In Treibhäusern
+wird heute die gefüllte, immer gefülltere
+Nelke gezogen. Mit solchen gefüllten Nelkenaugen,
+gut und klug, doch fern dem Ziele, blickte der Seidenaff.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
+Tags darauf fuhren wir zu Tale, San Cividale, dem
+Longobarden entgegen. Fortunios schrieben aus
+Beatenberg, wo ich mich denn herumtriebe, und fürs
+erste blieb ich jetzt in Interlaken, um meinen Nachruf
+zu beenden. Da mir keine Seele des Ortes bekannt
+war, verbrachte ich meine Tage ohne zu sprechen,
+und schon lebte ich eingesponnen und wie unter
+Glas, als die Lektüre eines Zeitungsartikels mich ganz
+aus der Stimmung riß. Es war ein Aufruf von Andreas
+Latzko, der wesentlich aus Vorwürfen, und zwar sehr
+berechtigten Vorwürfen an die Frauen bestand. Nun
+haben diese ja im Kriege versagt und die härtesten
+Dinge zu hören verdient, doch nur ihnen selbst kann
+es zustehen, sie zu äußern, dem Manne heute mit
+keinem Wort. Ihre Unzulänglichkeiten sind sein
+Werk, von ihm gezüchtet und beabsichtigt, selbst sein
+Überdruß an ihr war als Triumphgasse für seine
+Eitelkeit gedacht, was er vollends ihre Ungleichheit
+nannte, war seine Politik. Wie stark seine Krone
+zerzaust ist, ahnen beide noch nicht. Die &bdquo;Penalty
+of the war&ldquo;, von der soviel die Rede ist, wird noch
+eine ganz andere sein, als man im allgemeinen glaubt.
+Die Frau wird ihre Chance haben. Mag der Mann
+noch auf Jahrhunderte das Überragende leisten, ihr
+Aufstieg wird sich unaufhaltsam als eine Folgeerscheinung
+seines Bankrotts vollziehen. Bilder
+schwebten mir vor .&nbsp;.&nbsp;.&nbsp;. war sie nicht schon im
+Begriff, mit jedem Jahrgang schöner, individueller
+<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
+zu werden? Erhob sich ihre Gestalt nicht freier,
+knabenhafter, mehr auf sich selbst gestellt, von Jahr
+zu Jahr?
+</p>
+
+<p>
+Schlimmstenfalls konnte ihr Regime zu keinem
+ärgeren Chaos führen, als das, welches wir unter der
+ausschließlichen Führerschaft der Männer und ihrer
+Gesetzbücher erleben. Oh diese Gesetzbücher! Sie
+forderten, daß man vom Tag eines Krieges an nurmehr
+mit seinem Vater verwandt sei.
+</p>
+
+<p>
+In meiner Aufregung, meiner Bedrücktheit, lief ich
+in der Mittagshitze den Brienzer See entlang, bis zur
+Erschöpfung. Und mit einem Male wurde mir das
+Karthäuserschweigen viel zu viel; da zudem schwere
+Regentage einsetzten, brach ich auf und fuhr nach
+Beatenberg.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-2">
+Beatenberg.
+</h3>
+
+<p class="dat">
+AUGUST. Ich wohnte eine halbe Stunde von Fortunios
+entfernt, und mein Hotel stand zu Anfang der breiten
+Straße, die über tausend Meter hoch ganz eben dahinläuft,
+den großen Rat der Gletscher stets im Angesicht.
+Wie zu einer Riesenpolonäse aufgestellt, schienen
+sie, je nach der Beleuchtung, zurückzutreten oder
+loszuschreiten bereit. Nur der Regen sprengte den
+Bund. Dann verschwand jeder einzeln in seinem Zelt
+und wußte nichts mehr vom andern. Wusch sich aber
+nachts der Himmel wieder rein, so hielt beim Morgengrauen
+die Jungfrau entgeistert Cercle, als harre sie
+<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
+nur des Zauberrufes, um der Sonne bei ihrem ersten
+Strahl ekstatisch entgegenzutanzen. Leider kam auch
+hier die Arbeit nicht in Fluß; das sehr geräuschvolle
+Haus bot keine Möglichkeit, sich abzusondern. Unmittelbar
+daran grenzte der Wald und führte sogleich
+sehr steil ins Weglose hinab. Und hier nun entdeckte
+ich eines Morgens, ganz hinter Tannen versteckt und
+der Tiefe zugewandt, ein kleines, verlassenes Blockhaus.
+Ich rannte ins Hotel zurück, forschte nach dem
+Schlüssel und erlangte ihn. So gehörte das Chalet
+mir, da ich es beziehen durfte. Den Schlüssel ans
+Herz gedrückt, eilte ich zurück. Im Raum des Erdgeschosses
+verbrachte ich nun meine Tage. Die
+Läden blieben herabgelassen. Nur durch die Türe,
+die ins Freie führte, drang das Licht; auch die Bäume
+hielten es auf. Nur Tannen, Wald und Moos und
+keine Aussicht außer sie. Hier hatte man vor den
+ewigen Gletschern Ruh. Und keinen Laut als den
+der Vögel.
+</p>
+
+<p>
+Oh Sommersmitte! Oh göttlicher Augenblick des
+Innehaltens, du ohne Zeitmaß, ohne Intervall, mitten
+ins Jahr gesetzter Orgelpunkt!
+</p>
+
+<p>
+Groß aber blieb die Not der unterbrochenen Arbeit.
+</p>
+
+<p>
+Zwischen Tür und Fenster lief eine Ruhebank mit
+daraufgeschütteten Kissen die Bretterwand entlang.
+Ich warf mich hin; ächzend. Es roch nach Tannen,
+Blumen, des Morgens im Walde gepflückt, hingen
+schon ermattet im Glase. In diese holde Schwüle
+<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
+tanzte ein geflammter Schmetterling herein. Mein
+rechter Arm hing herab, ich war zu lässig, ihn zu
+heben. Vor Wonne fielen mir die Augen zu. Hält
+die Einsamkeit der Gemeinschaft Letztes, die wir
+Lebende ersehen? Was war geschehen? Verloren
+blickte ich auf. Der Falter? War er als Bote hereingeflogen?
+&mdash; Wer war gegangen? &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Flüchtig ist kein Wort. Und doch .&nbsp;. Von welcher
+Gegenwart und welch durchdringendem Ton
+vibrierte nunmehr auf immer die Luft dieser Hütte?
+War sie, deren Bild ich festzuhalten suchte, ein Elf?
+Denn der Griff einer Hand von elfenhafter Feinheit
+hatte deutlich die meinige erfaßt. In unbeschreiblicher
+Rührung hob ich den Arm, sprang auf, saß wieder
+vor dem Tisch, das Gesicht in den Händen vergraben,
+und fuhr nun endlich wie in einen Schacht tief in
+meine Arbeit ein.
+</p>
+
+<p>
+Da fiel ein Schatten &mdash; jemand trat unter die Türe.
+Es war Fortunio. Ich stieß einen Schrei aus, als sei
+er ein Gespenst, und fühlte Nervenstränge, deren
+Vorhandensein mir jetzt erst zum Bewußtsein kamen,
+zerreißen. &bdquo;Wissen Sie, wie spät es ist?&ldquo; lachte er.
+Seltsam. Sogar seine Stimme erfüllte den Raum mit
+Schrecken. Das Ganze war zu arg, es zu erörtern.
+So machte ich mich denn bereit, das Chalet zu verlassen,
+warf aber, die Türe abschließend, noch einen
+Blick zur Ruhebank zurück, zum Tisch mit den
+Blumen im Glase, zu diesen Wänden, in welchen
+<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
+ich eins geworden war mit der Luft und der Seele
+dieses Tages.
+</p>
+
+<p>
+Was war noch immer kurzatmiger als wie mein
+Flug? Nicht von Schwingen durfte da die Rede sein,
+die ausgebreitet und aus eigener Kraft die Höhen
+beherrschen und sie behalten. Eher einer Rakete
+vergleichbar, die, wenn das Glück es will, emporschnellt
+und höher! höher! ruft, weil sie doch gleich
+verstiebt. Da ist es Pech natürlich, wenn man sie
+herunterholt.
+</p>
+
+<p>
+Wir gingen nun zum Hotel hinauf und setzten uns
+auf die Veranda. In der Tat, der Abend war sehr
+vorgeschritten. Beschaulich hing Fortunio an der
+Gegend. Die eben noch umglühten Gletscher traten
+jetzt, als sei die Sonne auf immer von ihnen geschieden,
+von Blässe wie erschöpft, zurück. Welch ein Tag! &mdash;
+Und schon faßte mich Grauen bei dem Gedanken,
+ihn einsam beschließen zu müssen oder ins Chalet
+zurückzugehen. Stand es noch? War&rsquo;s nicht versunken?
+Oder nur erträumt? So zog ich denn mit
+Fortunio die lange Bergstraße zurück. Endlos dehnte
+sich hier der Ort. Ganze Strecken zeigte sich kein
+Haus. Und siehe, schon herrschte der Mond. In
+seiner ganzen Fülle und unerschöpflich überfließend,
+umschlang er streitsüchtig jeden Schatten und brachte
+seine Schwärze ans Licht, kroch unter jeden Baum,
+durchquillte alle Wälder und stieg und stieg in immer
+geharnischterem Glanz, bis eine trunkene Erde, von
+<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
+ihm umsponnen und ganz mit ihm vermählt, mit
+allen Pulsen zum Himmel schlug. Voll Entzücken
+hatte sich die Jungfrau aufgerichtet &mdash; Mönch und
+Eiger an der Hand, loszutanzen bereit.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Tags darauf fuhren San Cividale, der Longobarde
+und der Seidenaff die steile Höhe herauf. Von weitem
+schwang sie als Erkennungszeichen ihren Schirm
+rundum. Jungfer und Kofferbestände hatte sie unten
+gelassen und trug eine äußerst gerissene Sportjacke,
+in der ihre Figur zu zergehen schien, und eine zwischen
+mausgrau und mauve spielende Hemdbluse aus japanischer
+Seide, deren perfide kleine Männerkrawatte
+das ultrafeminine ihres Gesichtes zu letzter Wirkung
+erhob. Die gefüllten Nelkenaugen, die das alles sehr
+wohl wußten, blickten unbeteiligt flüchtig und beschattet.
+Es war nur ein kurzer Besuch. Das Bähnchen
+trug sie bald wieder davon. Und mit einem Male
+waren mir diese ewig hingerissenen Gletscher, die
+nie marschierten, verleidet. Herrlich in der Tat war
+auch der Mantel der Vorberge, der in so tiefen Falten
+über sie hinschlug, und herrlich war&rsquo;s, wie er &mdash; von
+oben gesehen &mdash; den See nachschleifte, gleich einem
+köstlichen Saum. Beseelter aber blickte dennoch das
+Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in <a id="corr-2"></a>dem
+gewaltigen und dekorativen, aber fast überall stark
+abgekehrten Oberland. Ich sehnte mich nach mehr
+<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
+brüderlichen Weiten, und sehr plötzlich, ohne das
+Chalet wieder betreten zu haben, fuhr ich hinab. In
+Spiez schrieb ich meinen Nachruf ins reine.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-3">
+Marguerite Kühlmann.
+</h3>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">A</span>n den Kreis ihrer engsten Freunde wende ich
+mich, sie, die zu ihr standen wie die Strahlen der
+Sternblume, deren Name sie trug; denn so hingen
+sie ihr an, und so faßt sie nunmehr die gemeinsame
+Klage zusammen. Wie beneidenswert sind sie gewesen!
+&mdash;
+</p>
+
+<p>
+Nicht, als seien sie sich dessen zu spät bewußt.
+Hier trifft sie kein Vorwurf. Vielmehr hegten sie
+ihr Wissen um das Werden dieser bedeutsamen und
+seltenen Gestalt, die von ihrem schönen und guten
+Wesen so viel weniger genießen durfte, als der gleichsam
+von ihr ausgestrahlte Kreis, dem sie es zuwandte.
+Denn wieviel Sonne war in ihr verwoben, und wie
+beschattet ging sie doch! Unter der rhythmischen
+und unzerstörbaren Ruhe ihrer Bewegungen welch
+unaufhaltsames Vorwärtsschreiten! Wer hat sie je
+hastig gesehen? Und doch welch ahnungsvolle Eile,
+sich zu erfüllen!
+</p>
+
+<p>
+Geistigen Dingen zugewandte Menschen finden sich
+gewiß nicht selten; der Maler und Musiker, auch der
+Liebhaber der Künste sind viele. Aber wie wenige
+gibt es, die auf das Schöne selbst Anziehungskraft
+besitzen, so daß es wie auf mystischen Ruderschlägen
+<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
+ihrer Atmosphäre zugeführt, immer mehr Natur und
+Element bei ihnen wird, und tatsächlich eine Art von
+Wechselwirkung sich ergibt.
+</p>
+
+<p>
+So aber war das Schöne &mdash; wie ein Meister an
+seinem Marmor &mdash; bei ihr am Werk. So umhing
+es ihre Erscheinung, so meißelte es an ihren Zügen
+und hob sie zu letzter Vollkommenheit der Linien
+und des Ausdrucks. Unsere Herzen sind wund von
+der Erinnerung ihrer Hände, so schwebend, einsam
+und gesammelt, verklungen, auch sie mit der weiten
+Melodie ihres Seins.
+</p>
+
+<p>
+Den wahren Hintergrund zu ihrem Bilde aber stellt
+einzig jene offene und merkwürdige Gegend, in der
+sie sich so heimisch fühlte, weil sie ihr glich. Dort,
+wo ihr kleiner Landsitz hart an der dunkeln Bergwand
+lehnte, von Mauern lang umfriedet, vor dem
+Tor die hohe Linde schon den Bergfluß überhing, und
+sein Gestein, und schon wie vor den Almen leere
+Bergwiesen ansteigen, auf welchen die Kühe bis hin
+zu den nahen Wäldern weiden; und diese sind wenig
+begangen, schwer verträumt und düster fast, weil
+hier sogleich das Hochgebirge seinen feierlichen Zug
+beginnt.
+</p>
+
+<p>
+Doch öffnete man das Tor zum Hause, ach! Wie
+rauschte es da von den kunstvollen Brunnen und den
+Fontänen, in welcher Fülle zogen sich die Blumenreihen
+hochaufgerichtet durch den Garten hin! Und
+die Ebene ist&rsquo;s, nach welcher dieser steile Garten
+<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
+niederfällt, und schaut: auf halber Höhe, wie zur
+Freude hingemalt, der Kirchturm von Murnau, links
+die ersten Berge, ansehnlich, aber noch vereinzelt,
+sanft umrissene Präludien des Gebirges. Nach Osten
+aber, wo sich anstatt der Mauer die lange Wandelbahn
+und hölzerne Gartenzimmer nachsommerlich
+hindehnen, wölbt sich als Abschluß der finstere Berg.
+</p>
+
+<p>
+Hier waltete sie im lichten Kleide inmitten ihrer
+Blumen, wenn in der Ferne ein goldener Sonnenstaub
+den Tag begrub, oder sie sah wartend nach dem
+Mond, der so plötzlich hinter dem schwarzen Grat
+aufging und dann sogleich alle Grotten und Beete
+übergoß, und nur die finstere Bergwand noch finsterer
+beließ. Und auf erhöhtem Stande der Apfelbaum,
+wie sie ihn zeichnete, mit den Windlaternen bunt
+über dem Tische wehend!
+</p>
+
+<p>
+Hier fühlte sie sich heimisch, hier drang das Lachen
+ihrer Kinder immer bis zu ihr, und die Schwalben
+zogen durch die Fenster unermüdlich ein und aus.
+Und drinnen der Tisch vor den breiten Scheiben,
+ach Freunde: vor dem sie saß &mdash; niemals müßig &mdash;,
+lesend oder malend, oder eine jener kunstvollen
+Arbeiten zur Hand, mit <a id="corr-3"></a>welchen dieses Haus geschmückt
+ist, dessen Bau, dessen edle Räume wie
+für sie erdacht, durch ihre eigene Anmut etwas so
+Zauberhaftes wurden, daß sie durch ihren Tod für
+uns verschüttet liegen. Die Türen, ach, durch die
+sie trat.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
+Doch jenseits der Vorberge, in einer versteinerten
+Welt, ganz klein und auf unwahrscheinlicher Höhe
+steht die Jagdhütte, an deren winzigen Fenstern sie
+die rot- und weißgewürfelten Gardinchen hing; sie
+liebte das Frohe. Ganz dem Schauen hingegeben,
+lief sie dort die Kanten der Berge entlang, denn das
+einzig Verweilende an ihr, von allem Persönlichen
+unmittelbar Losgelöste war ihr Auge. Bald lockten
+sie die Höhen, bald die Weite und das Moor, oder
+sie stellte dort ihren Malstuhl auf, wo der kleine,
+von der Abendsonne warm getönte Fluß so rasch den
+gemiedenen und immer trauernden Hügel umfließt.
+</p>
+
+<p>
+Diese reichhaltige Landschaft, die sich wie ein
+Fächer dem Auge entfaltet und verschließt, glich ihr
+so ganz, daß für uns, die sie dort sahen, ihr Bild wie
+eingetragen bleibt in diese Gegend.
+</p>
+
+<p>
+Nicht auf Festen schwebt es uns vor, deren Glanz
+das sanfte Feuer ihrer Schönheit so sehr erhöhte, und
+nicht in großen Städten, weder in Paris, dessen geistiges
+und künstlerisches Leben ihr so nahe ging, noch in
+London, wo sie gefeiert und bewundert wurde. Denn
+in ihr hatte Deutschland eine so liebenswürdige und
+seltene Vertreterin gefunden, daß die Sympathien,
+welche sie sich erwarb, durch die Ereignisse nur verstummten,
+aber nicht verloren gingen. Denn weit
+über die Gräben hin, welche die Nationen voneinander
+trennten, klang ein Echo der Trauer über die Kunde
+ihres Todes herüber.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
+Es mag ja sein, daß ihre großen Erfolge im Ausland
+ihr um so neidloser zugestanden wurden, als
+man sah, welch flüchtigen Gast sie krönten. Denn
+ehe man sich&rsquo;s versah, lagen ihre viel bewunderten
+Kleider in Kisten wohlverpackt, und sie selbst stand am
+Perron, Sehnsucht im Auge, um nach ihrem geliebten
+Ohlstadt zurückzufahren. Sie erzählte noch im letzten
+Sommer ihres Lebens, sie habe mit Freudentränen um
+sich her geschaut, als sie den &bdquo;Raunerhof&ldquo; zum ersten
+Male und zugleich als ihr Eigentum besichtigte.
+</p>
+
+<p>
+So nah berührte sie der Ort.
+</p>
+
+<p>
+Es waren pantheistische Anklänge in ihr, die man
+nicht überhören durfte, um sie zu kennen.
+</p>
+
+<p>
+Denn so edler Natur war die zu weite Spannung
+ihres Wesens, die eine Lücke ließ zwischen dem
+Leben und ihr. Ein suchendes, verlorenes Etwas
+fand hier seine Brandung, und was Wunder, daß sich
+ihr Blick, allen Sicherungen zum Trotz, so häufig aus
+dem Alltag, wie aus einem zu engen Hause stahl.
+</p>
+
+<p>
+Und kannte ihn doch kaum.
+</p>
+
+<p>
+Seine immer neu sich bereitende Unsicherheit, böse
+und gefährlich wie die Gärungen der Gletscher, seine
+Verweigerungen, seine Öde erfuhr sie nicht. Ja,
+sie blieb von einer zu deutlichen Kenntnis dieser
+Welt bewahrt; ob sie es merkte oder nicht, ihr Kontakt
+mit ihr war immer umgeschaltet, ja sie war geschützt.
+Aber wir wissen heute, warum die so innig
+Umringte dennoch einsam und beschattet ging, als
+<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
+sei alles vergebens; was dies heimliche, innere Versagen
+und ihre unrobuste Art bedeutete. Denn wir
+wissen nicht, was sich in denjenigen bereitet, die inmitten
+ihrer Jugend von den Höhen des Lebens weg,
+einzeln und jäh zu den Toren des Todes hintreten
+und in seine Verlassenheit gehen. Keine letzte Verklärung,
+kein noch so sanftes Verlöschen nimmt
+einem solchen Los etwas von seiner Schwere.
+</p>
+
+<p>
+Ach die besten Freundesherzen sind noch zu träge!
+Allzu leichten Sinnes nahmen wir das schöne Geschenk
+ihrer Gegenwart hin und bedachten die deutlichen
+Merkmale eines frühen Scheidens an ihr nicht. &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Wer hat nicht jene Flugzeuge gesehen, die als
+dünner Korb, nur durch Taue einem Riesenball verbunden,
+ganz ohne Geknatter vorüberschweben?
+Ein Windhauch streift die von ihm Getragenen. Je
+höher sie sich steigen sehen, desto langsamer dünkt
+ihnen sein Flug. Da zieht vielleicht eine Wolke
+vorüber, von einer schwarzen Kugel pfeilschnell
+durchzuckt und alsbald überflogen, die nichts anderes
+war, als der Schatten des Balles, der unbewegt und
+still wie eine Ampel in der Luft zu hängen schien.
+</p>
+
+<p>
+Dies aber war bei stillem und oft schwer verträumtem
+Wesen das Tempo ihres inneren Werdens;
+mit so verzehrender Eile durchmaß sie ihre Bahn,
+und nur wer ganz zuletzt in ihrem Umkreis lebte,
+vermöchte auch das Letzte über sie zu sagen. Denn
+immer merkwürdiger und geschlossener wurde die
+<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
+Harmonie dieser, vom Dianenhaften so getragenen
+Gestalt. Nur tragischen Naturen aber ist es gegeben,
+sich zu erfüllen. Die Norm ringt sich vom Fragmentarischen
+nicht los.
+</p>
+
+<p>
+Oh Marguerite! Daß meine Worte sich aufrichten
+dürften wie Säulen, und daß sie sich zusammenschlössen
+dir eine Stätte zu bilden des Innehaltens
+und der Rast, wo du &mdash; staunend vielleicht, doch
+ohne Gram &mdash; zurückblicktest auf dein Leben; oh daß
+es zwischen seinen Ufern an dir vorüberzöge und
+dein sinnendes Auge so darauf verweilte, wie einst
+in deinem Garten auf das Getürme der Wolken im
+verglühenden Tag.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+SEPTEMBER. Meine Zimmer waren zum Glück bis
+in den Oktober hinein vermietet, und ich trieb mich
+bald hier, bald dort herum, bald in Zürich, bald in
+Luzern, in Montreux oder Genf, nur nicht in Bern.
+</p>
+
+<p>
+Die Ära Kühlmann war ein Grund mehr, es zu
+meiden. Man erinnerte sich prompt, daß ich in
+London in seinem Hause verkehrt hatte, und meine
+Stellung gestaltete sich noch um ein Stückchen
+schiefer. Ich hatte jetzt zu schreiben wie ein Minister,
+und es regnete Briefe. Sie betrafen zumeist Todesurteile,
+Deportationen, versprengte französische oder
+belgische Kinder. Dabei hielten jetzt die Zensuren
+meine Korrespondenz scharf im Auge; die harmloseste
+<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
+Post aus Deutschland erreichte mich erst in
+vier, Expreßbriefe erst in sechs Wochen. Um an
+Kühlmann zu schreiben, mußte ich schon seinetwegen
+den Umweg über die Gesandtschaft wählen.
+Meist wandte ich mich an Schreckenburg oder an
+den Grafen Carry. Zu Anfang ging&rsquo;s. Zwei junge
+Belgierinnen hatten ihren eigenen Landsleuten Warnungen
+zukommen lassen; dafür sollte die eine erschossen
+werden. Kühlmann erreichte ziemlich
+rasch eine Rückgängigmachung des Urteils. Auch eine
+kranke Dame aus Cambrai brachte er noch über die
+Grenze. Als ich aber wegen der Familie des
+Professors von L.-P. bestürmt wurde, die Frau
+und fünf Kinder, (der älteste Sohn im deportationsfähigen
+Alter<a href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a>), in die Schweiz zu retten, schickte
+<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
+mir Kühlmann ohne Kommentar den Zettel, auf
+welchem die hohe Militärbehörde eine Bewilligung
+seines Gesuches kurz und bündig verweigerte. Auch
+ohne dies &mdash; acht Tage nach seiner Ernennung &mdash;
+wußte ich ihn verloren.
+</p>
+
+<p>
+Ich muß hier bis in den Londoner Sommer 1913
+zurückgreifen, und zwar bis zu dem Abend meiner Abreise
+nach Irland. Kühlmann war damals jener Pläne
+stolz und froh, welche ein Jahr später in der von ihm
+inspirierten Broschüre &bdquo;Weltpolitik ohne Krieg&ldquo; ihren
+Ausdruck fanden. Ich erinnere mich jenes Besuches
+noch sehr genau; die Teemaschine sang, wir besahen
+einige Bilder, und dann fuhr mein Zug, der um
+Mitternacht die Küste erreichte. Alle Kabinen des
+Schiffes jedoch waren besetzt, und ich hatte vergessen,
+<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
+eine zu reservieren. So blieb nur der große Schiffsalon,
+wo ein freundlicher Steward mir in den tiefen
+Ecken des die Wände entlanglaufenden Sofas ein
+herrliches Lager bereitete. Der Länge nach ausgestreckt,
+hatte ich auf diese Weise eine Riesenkabine
+für mich allein und konnte mich vor Freude gar nicht
+beruhigen. In meine lange Lederschaukel tief
+hineingebettet wie in eine Muschel, hoch hinauf
+und hinunter schwingend mit dem nächtlichen,
+heftig bewegten irischen Meer als Wiege.
+Wie sang, wie rauschte es mich zur Ruh! Wie
+segnete ich den Steward und meine eigene Vergeßlichkeit.
+Hin und wieder waren mir die Götter
+doch hold.
+</p>
+
+<p>
+Doch weh, ach wie schlug ihre Gunst in die grausamste
+Ungnade um! Oh des zerrissenen Schiffes,
+das schon aufgehört hatte zu sein! In ein Rettungsboot
+gestoßen, auf eine Planke geworfen und nichts
+anderes als den Tod von den eben so gepriesenen
+Wellen zu gewärtigen, wühlten sie sich zu Felsen auf,
+hart und unbarmherzig mich zu begraben. Vor mir
+ruderte Kühlmann wie besinnungslos, und seine Anstrengungen
+angesichts eines solchen Orkanes dünkten
+mir lächerlich. Aber ich ruderte ja selbst mechanisch
+aufs Geratewohl, und dann stürzten die schwarzen
+Berge über das Boot.
+</p>
+
+<p>
+Wieder rauschte das Meer im eintönigen Sang,
+über mir war schon erkennbar in der ergrauten Nacht
+<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
+die Decke des Schiffes, und ich lag wie zuvor in der
+ledernen Muschel gewiegt. Aber für kein anderes
+Lied als für das finstere Echo meines Traums hatte
+ich ein Ohr. Alle Freude war tot. Ich warf die Decken
+fort und saß zusammengekauert, schlaflos, verwüstet,
+uralt.
+</p>
+
+<p>
+Durch den Krieg glaubte ich meinen Traum erfüllt.
+Die Ernennung Kühlmanns hatte mich zuerst gefreut.
+Er hatte von Jugend auf mit allen Kräften dem Krieg
+entgegengearbeitet, und ich hoffte, es würde ihm
+gelingen, sein Ende herbeizuführen.
+</p>
+
+<p>
+Aber er waltete noch keine acht Tage seines Amtes &mdash;
+ich war in Wengen und lag in der Sonne &mdash; als im
+Halbschlaf das Bild eines hohen Gerüstes sich aufdrängte,
+ähnlich dem Eiffelturm, und auf der Spitze
+Kühlmann, aber schon im Begriffe kopfüber abzustürzen,
+so zwar, daß er sich in der Luft zu drei Malen
+überschlug.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Am Tage nach seinem &bdquo;Niemals&ldquo; kam Abigail
+mit einer stoßbereiten Miene, wie ein Widder zu mir.
+Zur Annahme einer schroffen Haltung Kühlmanns
+war ich jedoch um so weniger berechtigt, als mein
+frühestes Buch Aufsätze, welche auf seinen Rat den
+französischen Titel &bdquo;L&rsquo;âme aux deux patries&ldquo; führten,
+die Behauptung aufrechthielt (denn mit der Feder
+war ich von jeher sehr dreist), die Annektion Elsaß-Lothringens
+<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
+sei ein Fehler, den Bismarck, wenn er
+noch lebte, kein zweites Mal begehen würde: er
+hätte ein anderes Äquivalent dafür ersonnen. Dies
+Büchlein, das im übrigen ganz unter den Tisch
+fiel, fand nur durch ihn eine so kräftige Verbreitung,
+daß sich der Verdacht regte, er sei dessen
+Verfasser.
+</p>
+
+<p>
+Auch zu jener Unterredung mit Zimmermann im
+Januar 1917, die einzig der Notwendigkeit einer Diskussion
+des elsaß-lothringischen Problems galt, hatte
+er mir verholfen, und im Nebenzimmer eine Unterhaltung
+geführt, damit wir ungestört blieben. Auch
+waren mir die Worte erinnerlich, welche er im Jahre
+1915 diesbezüglich fallen ließ, zu einer Zeit, wo die
+Aussichten für Deutschland noch günstig erschienen.
+Sein &bdquo;Niemals&ldquo;, konnte ich daher nur als einen
+Brocken ansehen, den man Kläffern vorwirft, um sie
+von sich abzuhalten und weitergehen zu können:
+ein nach innen und in die Kulissen, nicht nach
+außen gerichtetes Wort.
+</p>
+
+<p class="dat">
+OKTOBER. Statt der drei kleinen hatte ich jetzt ein
+einziges großes, fast saalartiges Zimmer nach Norden,
+auf die Lauben hinaus. Schmuck, ja zierlich stand
+hier der Flügel im Raum. Die Wände hatten
+lichte Täfelungen, und der indische Schal mit dem
+weißen Feld fiel von der Decke bis zum Boden
+und schien eine Türe. Der Toilettentisch blitzte
+<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
+im Schatten auf: sein Hauptschmuck waren jetzt
+zwei silberne Renaissanceleuchter, vom Seidenaffen
+beschert.
+</p>
+
+<p>
+Über das Zimmer selbst ist weiter nichts zu bemerken,
+als daß eine Reihe von Unterredungen dort
+stattfanden, die alle zu nichts führten. Ein Wort über
+meine politische Wirksamkeit. Wir wollen sie so
+nennen. Eine ganze Weile brachte ich gewiß alle
+Spionagen und Gegenspionagen zur Verzweiflung.
+Scheinbar für eine jede ein kinderleichter Fang, war
+das Verwirrende gewiß, daß ich gleichzeitig in Diensten
+<em class="em">sämtlicher</em> Regierungen zu stehen den Anschein
+haben mußte. Wenn jemand keine Parteien kannte,
+so war ich es. Außer Japan, China, Rußland und
+Marokko durften nur noch Schweden, Norwegen
+und Dänemark sich rühmen, daß keiner ihrer Staatsangehörigen
+bei mir gewesen sei. Mein Zimmer war
+so recht die Halle der vergeblichen Zusammenkünfte,
+und wenn ich auch keine einzige vom Zaune brach,
+schob ich doch auch keiner einzigen den Riegel vor,
+selbst als mir kein Zweifel über ihre Vergeblichkeiten
+blieb. Der &bdquo;Friede&ldquo;, ein Wort, das mich im
+Schlaf elektrisierte, war wie das große Los oder
+wie das Leben eines aufgegebenen Kranken immer
+eine Möglichkeit. Und ob ich auch anfing, dem
+Kopfschütteln Fortunios beizustimmen, stürzte ich
+doch, wie Kundry im ersten Akt, bei jeder Veranlassung
+nach dem Heilkraut davon, das keine Linderung
+<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
+mehr bringen konnte. So setzte ich mich in
+Bewegung, so braute ich mit Todesverachtung meine
+Tees, ob mich auch schon ein wahres Grauen vor
+all den Nieten faßte, die sich zu Bergen vor meinem
+Tische häuften .&nbsp;.&nbsp;. Den dümmsten und ungeschicktesten
+Leuten schenkte ich dennoch Gehör. Vielleicht
+war gerade dieser Narr der reine Tor, vielleicht hatte
+ich doch recht.
+</p>
+
+<p>
+Meine Verständnislosigkeit für Natur und Beschaffenheit
+dieses Krieges ging ja so weit, daß ich
+vom ersten Tage seines Bestehens an von Monat zu
+Monat überzeugt war, länger als sechs Wochen
+könne er nicht mehr dauern. Immer schien mir alles
+sein nahes Ende zu künden. Als zum ersten Male
+von zahlreichen Gefangenen die Rede war, dachte
+ich: jetzt ist bald Schluß. Als Ruhleben entstand,
+dachte ich: jetzt wird man verhandeln. Wer ließe
+seine eigenen Leute so im Stich? Obwohl ich, was
+die Schlechtigkeit des einzelnen anging, einen so
+radikalen Standpunkt vertrat und immer darauf
+aufmerksam machte, daß die Larven triumphierten
+und der Edle geopfert würde, ja, daß es stets ein
+besonderer Glücksfall sei, wenn er nicht unterliege,
+so hatte ich den so naheliegenden Schluß von der
+Familie zum Staat (und was ist sie anders, wenn nicht
+die Welt und Geschichte im kleinen?) merkwürdigerweise
+noch immer nicht gemacht. Immer noch
+wähnend, es ginge um den Frieden, da es ja gar nicht
+<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
+ihn, sondern Sieg und Niederlage galt, glaubte ich,
+durch meine Absicht und durch meine Gesinnung
+alle endlich zu überzeugen und für mich zu gewinnen,
+bis ich mit Entsetzen merkte, daß gerade meine
+Naivität Bedenken erweckte. Wie hätte auch Aramis,
+da es mir keineswegs an Menschenkenntnis gebrach,
+eine so große Weltunkenntnis bei mir vermutet?
+Und daß ich unter Kapitalismus immer noch einige
+Bankiers verstand? Vielmehr war es natürlich, daß
+eine Gesellschaft, welche den Krieg als eine Institution
+begriff, an meiner Friedensmanie Ärgernis nahm. Ich
+hielt mich für besser als sie, während ich vor allen
+Dingen unwissender war. Und diese Unwissenheit
+stellte zu meiner Soloarie den verdrießlichen Baß.
+</p>
+
+<p>
+Dennoch war, als mir endlich ein Licht über die
+Welt und zugleich über mich selbst aufging, die erste
+Folge die Furcht. Ging ich spät die Lauben entlang,
+so faßte mich Schrecken, wenn nur die Umrisse eines
+Mannes oder nur sein Schatten hinter einer Säule
+sichtbar wurde. Da war ja eines jener unerklärlichen
+und gefährlichen Wesen, die es so eingerichtet hatten,
+daß ihresgleichen heute vielfach auf einem Beine
+durch die Lande hopsten.
+</p>
+
+<p>
+Meine Tätigkeit, die sich vor jeder Offensive verdoppelt
+hatte, war nur mehr mechanisch. Die letzte
+Zusammenkunft, die sich in meinem Zimmer begab,
+fand mit Professor H. statt. Er berief sich auf wichtige
+Eröffnungen auf Grund amerikanischer Aufträge,
+<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
+die er zu machen habe. Es erfolgte noch einmal ein
+Depeschenwechsel mit den Restbeständen dessen, was
+man noch deutsche Regierung nannte, und was längst
+unter den Hufen der Militärkavalla zertreten lag.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+In diesem über alle Maßen traurigen Winter
+strich ich eines Abends müde durch die Lauben, als
+Abigail an mir vorüberschoß. Busoni spielt heute
+Abend! rief er mir zu. Nun lief auch ich und kam
+noch gerade recht, bevor er eine Orchesterfantasie
+von Weber zu spielen anfing. Und siehe da, man
+lebte, war seiner Ketten ledig und richtete sich auf.
+</p>
+
+<p>
+Von nun an befaßte ich mich stark mit seinen Kompositionen
+und fuhr nach Zürich, wenn dort ein neues
+Werk von ihm zur Aufführung gelangte. Eine bequeme
+Gabe ist es ja nicht, den Wert eines überragenden
+Typs zu erkennen; sie legt Verpflichtungen auf; es
+ist nicht, als ginge sein Wohl und Wehe uns nichts an.
+</p>
+
+<p>
+Verdrießlich genug ist es ja vielfach mit seiner
+Anhängerschaft bestellt. Wie an den Reichen die
+Profiteure, so drängen sich an den Schaffenden die
+Parasiten des Geistes heran. Und vielleicht, wer weiß,
+ist ihm in mancher Feierstunde, die ohne Anregung
+verlief, der Chor seiner Widersacher minder fatal
+wie der seiner Anbeter.
+</p>
+
+<p>
+Von dem Unmut des alten und stark zensurierten
+Wagner, von einem verzweifelten Versuch sogar, den,
+<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
+öden Sockel auszureißen, auf dem er sich wie ein
+Götze gestellt sah, drang nur durch Zufall etwas in
+die Außenwelt. Während seine Umgebung den ungeheuren
+Überdruß der nachwagnerischen Ära bereiten
+half, ließ er selbst seine Werke weit und ungeduldig
+hinter sich zurück. Lange ehe seinem Lohengrin
+die grausige Popularität beschieden war, hatte
+er &bdquo;mit Ekel in die Partitur gestarrt&ldquo;<a href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a>. Später eilte
+er schnell mit dem Nachtzug davon, wenn eine Stadt,
+die er bereiste, ihm zu Ehren eine seiner Opern ansetzte.
+Er hatte den schönen und naiven, wenn auch
+natürlich vergeblichen Wunsch geäußert, seinen &bdquo;Ring&ldquo;
+ein einziges Mal auf einer eigens errichteten Bühne
+in höchster Vollendung zur Aufführung zu bringen,
+um sodann Bretter und Partitur auf immer zusammenzuschlagen<a href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a>.
+</p>
+
+<p>
+Wer ein einziges Mal Friedrichs, den unvergleichlichen
+Darsteller des Alberich, während seiner kurzen
+Laufbahn vernommen hat, der vergißt <a id="corr-4"></a>nie die unheimliche
+Wirkung seines plötzlichen Vortretens, als er,
+hart vor der Rampe, mit seinem dunklen und prachtvollen
+Organ den Fluchgesang erhob. Sich selbst,
+die ganze Welt fühlte man da bedroht, und wer die
+Alberiche, wer die Nibelungen sind, und welche
+Bewandtnis es hienieden mit ihnen hat, wurde einem
+in unmißverständlichster Weise gelehrt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
+Was aber kann so nichtssagend gemacht werden
+wie das Bedeutsame?
+</p>
+
+<p>
+Gerade von groß angelegter Musik gilt das Wort:
+&bdquo;La musique doit toujours nous surprendre.&ldquo; Laßt
+Dezennien des Schweigens und der Vergessenheit
+den &bdquo;Ring&ldquo; begraben, damit sich von neuem
+offenbaren könne, welcher Vorhang da zurückschlug
+vor einer bis auf den Grund durchschauten
+Welt .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Erst die Züge des späten, weltberühmten und gefeierten
+Wagner zeigen den trüben, resignierten und
+abgewandten Schein, als dünke ihm jetzt erst, da
+alles erreicht war, alles vergebens. Mime und Cie.
+rächten sich, indem sie ihn ableierten. Als Kassenstücke
+ausgebeutet, wurde das Wagnersche Werk zum
+Unding, zur Säge, zur Obstruktion .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Schafft neues!&ldquo; war sein immerwährender Ruf;
+dafür wurde à la Wagner weiter komponiert.
+</p>
+
+<p>
+Sehr wagnerisch bewegt und sehr unwagnerianisch
+(denn was könnte es unwagnerischeres geben als den
+Wagnerianer?) ging ich eines Abends, von Busonis
+Hause kommend, durch die nächtlichen Straßen
+Zürichs, wo einst Wagner gerungen hat und heute
+Busoni ringt, und wo beide ein Asyl gefunden
+hatten. Mit letzter Gewißheit wußte ich da, daß
+der viel mißbrauchte Meister, der sich gerade
+über den so weit von ihm abliegenden Mozart so
+begeistert äußerte, heute gerade an dem selbstherrlichen
+<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
+Busoni und dessen von ihm sich entfernenden
+Wegen sein tiefstes Gefallen fände. Weit über das
+Leben hin tragen sich ja die wichtigsten Gegensätze aus.
+Denn sachte nur beliebt es den Göttern. Einen nach
+dem andern nur lassen sie zu Worte kommen. Ihr
+Neid duldet nicht das gleichzeitige Auftreten zweier
+allzu interessanter Fechter. Eher hielten sie ihnen eine
+Binde vor die Augen, als zu gestatten, daß sie ihre
+Klingen kreuzten.
+</p>
+
+<p>
+Höchst merkwürdig aber ist es, daß die Persönlichkeit
+nie wichtiger gewesen ist, als jetzt in dieser
+Zeit der Massenschicksale der Hungers und der
+Kohlennöte. Nicht nur alle Spreu sehen wir heute
+inmitten der Äquinoktien aufwirbeln, auch manche
+Gesetztafel zerschlägt aufs neue. Der Heilige des
+Tages sucht nicht mehr die Wüste, sondern tritt mitten
+unter die Menschen und fällt unter ihren Streichen,
+nicht weil er die Abkehr predigt von der Welt, sondern
+um seiner Beglückungstheorien willen.
+</p>
+
+<p>
+Aber nicht lange mehr wird der Auserwählte als
+ein Dulder gehen. Entweder sehen wir ihn bald als
+eine verlorengegangene Spezies ganz um die Ecke
+gebracht, oder sein Reich wird kommen. Es ist eine
+Täuschung, zu glauben, daß eine Welt, deren Schlechtigkeit
+und Gewalttätigkeit sich derart nach oben
+kehrte, so bleiben könnte, wie sie ist.
+</p>
+
+<p>
+Hier mag stehen, was ich zwei Jahre später schrieb:
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-3-4">
+<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
+Busoni.
+</h3>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">I</span>ch hörte Busoni zum ersten Male vor zwei Jahren
+in Bern. Er sah mit einem Blick weit hinausgerückter
+Vereinsamung, den man an diesem Gesicht sofort
+begriff, gleichsam zu sich selber auf und fing an zu
+spielen.
+</p>
+
+<p>
+Das gibt es also noch, dachte ich nach einer Weile.
+Da geht man mühselig seinen Weg, und plötzlich
+dies &mdash; dies plötzliche Angelangtsein, diesen Schauer
+der Ruh, diese unvermutete Herberge.
+</p>
+
+<p>
+Bei Busonis Spiel, so herrlich es ist, will ich jedoch
+nur kurz verweilen. Er ist wohl deshalb der größte
+Pianist, weil er implizite einer ist, weil unter der
+Zauberformel, welche seine Finger darüber sprechen,
+die Metamorphose eines an sich zweifelhaften Instrumentes
+sich ergibt.
+</p>
+
+<p>
+Wir kennen so manche vorzügliche Pianisten. Aber
+wie wenige machten uns das Klavier vergessen! Da
+ist Holz, sage ich, da sind Pedale, ein schöner Anschlag
+vielleicht und ein großes Können dazu. Aber
+für den Hörer nicht eben sehr nachhaltig: <em class="em">Klavier</em>.
+Besinnt euch. Ist es anders?
+</p>
+
+<p>
+Eher ließ noch das orchestrale Klavier Illusionen
+zu; ich habe große Dirigenten gehört, die es zu einem
+prachtvollen Notbehelf gestalteten. Von solchen Vorspiegelungen
+jedoch kann bei Busoni nicht die Rede sein.
+Dazu ist er zu sehr Kenner des Instrumentes, belauschte
+er es in allen Fibern zu genau. Etwas ganz
+<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
+anderes ist hier am Werk: Mozart hatte sich eine
+verzauberte Flöte ausgedacht: hier nun wurde tatsächlich
+das &bdquo;Piano enchanté&ldquo; zur Wirklichkeit. Wir
+brauchen dabei nur an seinen Vortrag, der an sich
+kaum noch erträglichen Pianofortekompositionen Liszts
+zu erinnern, dieses riesenhaften und vermoderten
+Rosenbuketts mit verschossener Bandschleife .&nbsp;.&nbsp;. statt
+dessen wird eine ganze Epoche, die des zweiten
+Kaiserreichs, vor uns lebendig: Pracht, Tand und
+Duft, Fächerspiel, lächelnde Augen, Krinoline, Vergessenheit;
+alles retrospektiv gesehen, mit magischer
+Schärfe aufgerufen. Daher auch die ernste Maske
+im Hintergrund.
+</p>
+
+<p>
+Schließlich, wenn alles gesagt ist, bleibt von einem
+Menschen immer nur das Neue. Die Geschichte
+unseres Geistes sind weitergegebene Signale. Aber
+nicht immer das zuletzt Gegebene wird von dem
+Kommenden aufgegriffen. Die Schrift ist kraus. Und
+die, welche an ihr schreiben, haben vor allem ihr
+<em class="em">geistiges</em> Elternpaar, ihre geistige Familie und
+ihre geistige Sippe. Falls wir eine neue Zeit zusammenbringen,
+wird auch eine neue Heraldik mit ihr aufkommen.
+Gar merkwürdige Erzhäuser, Dynastien
+und ihre Nebenlinien werden sich da herausstellen.
+Und kaum einen Stammbaum dürfte es heute geben,
+der weiter verzweigt und interessanter zu erforschen
+wäre, wie der des so universalen Busoni. Keine
+Vaterschaft, die ihm an der Wiege gesungen wurde,
+<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
+sondern die sich vielmehr vor ihm verbarg, ihm
+vielmehr auferlegte, sie zu entdecken.
+</p>
+
+<p>
+Viele Jahre hindurch ist es in seinen Werken wie
+ein umsichblicken, ein plötzliches horchen, sichunterbrechen
+und stillestehen. Konzessionen kennt
+er nicht. Was das unvorbereitete Ohr noch grau,
+abstrus, bizarr anmutet, sind die Schatten des Weges,
+auf dem er sich entfernt. Seine Zeitgenossen verlieren
+ihn aus dem Gesicht. Mit dem embarras de richesse,
+welchen Berlioz, Liszt und Wagner in das Orchester
+hineingetragen haben, ließ sich ja noch lange
+wirtschaften. Richard Strauß buchtete das von den
+Vätern Erworbene noch weiter aus, erstand noch die
+oder jene Pagode hinzu, und zum Beweis, daß er ein
+Allerweltskönner sei, schuf er in seiner &bdquo;Ariadne&ldquo; eine
+antike Seite &mdash; ich brauche sie nicht zu nennen &mdash;
+von ewigem Wert.
+</p>
+
+<p>
+Auch bei dem feinen, wenn auch kurzatmigen
+Debussy horchten wir auf. Einige noch unvernommene
+Töne schlugen da an, wie in Farbe getaucht, morbid,
+verzückt, nur scheinbar dekadent, nicht dekadenter,
+sagte ich schon, als ein Mondreflex auf einem verrosteten
+Gitter. Jedoch viel zu sagen hatte er nicht;
+auch er fragte sich nicht, wie es weitergehen sollte,
+und er verstummte schnell.
+</p>
+
+<p>
+Genie ist nicht nur Fleiß (neben vielem anderen),
+sondern auch ein heroischer Ernst. Vielleicht ist
+Busoni nicht der einzige, welcher erkannte, daß die
+<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
+Musik in die wild überwuchernde Flora der Neuromantik
+nicht mehr tiefer hineinführte. Aber man
+kutschierte fatalistisch in derselben Richtung, demselben
+Kreise weiter, denn das Problem schien unlöslich.
+Nur nicht für Busoni. Es reizte gerade den
+Schöpfer in ihm.
+</p>
+
+<p>
+Anfangs waren es nur Anregungen, welche er bot.
+Turandot; immer stärkere Anregungen, wie das Licht
+eines wachsenden Tages, in seiner Schrift &bdquo;Zur
+Ästhetik der Musik&ldquo;, in &bdquo;Arlechino&ldquo;; in seinen immer
+erstaunlichen Klavierkompositionen, welche dem Klavier
+&mdash; dem einstigen Spinett &mdash; so neue Dinge entlocken:
+Klangeinlagen, Klangunterlagen, eingebaute,
+eingetönte Perspektiven (wenn ich so sagen darf!)
+grüßen da aus unvermuteten Tiefen, wie grünleuchtende
+Seen. Auch rein äußerlich genommen, verfährt
+Busoni als Schöpfer mit ihm; auch auf den rein
+äußeren Ausbau dieses Instruments (immer ist ja
+der Entdecker in ihm rege!) drängen seine Kompositionen
+hin.
+</p>
+
+<p>
+Scheint dies vielleicht von mäßigem Belang?
+</p>
+
+<p>
+Welche Stunden äußerster Betrübnis muß das
+Genie durchleben! Wie müssen ihn da die Zweifel
+überwältigen, ob die ewig geschäftige und ewig
+unachtsame Welt das Geschenk denn auch entgegennehmen
+wird, welches ihr zu bereiten er sein Leben
+widmet!
+</p>
+
+<p>
+Während sie von nichts anderem widerhallte, als
+<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
+ihrem sinnlosen Waffengedröhn, hielt Busoni sein
+schweres Ziel im Auge, drang er immer weiter vor,
+nahm er die Kurve, legte er die Schraube an. In
+seiner Isolation fand er die schöpferische Kraft, das
+Tor zu sprengen, und die in ihrem Riesenapparat
+festgefahrene, ja welkende Musik für eine neue
+Jugend flügge zu machen. Es wurden uns bis jetzt
+nur Bruchstücke seines &bdquo;Faust&ldquo; bekanntgegeben, aber
+sie künden ihn ganz. Die reine Linienführung, die
+tempelhaften Umrisse einer neuen Klassizität, sanft
+gerundet, erheben sich wieder! Ein &bdquo;Faust&ldquo; um so
+faustischer nur durch die neuen Streiflichter, die auf
+ihn fallen: die holde Blässe in der Feierlichkeit, ein
+in der Welt noch nicht dagewesener Adel des Klanges
+das Sfumato in der Trauer, Leonardisches, Latinismen
+.&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Wenn ich sage, daß mit diesem seinem und zugleich
+so sehr unserem &bdquo;Faust&ldquo; das Erbe Mozarts angetreten
+wurde, befürchte ich kein Dementi von der Zukunft.
+</p>
+
+<p>
+Darf ich (so nebenbei) in Erinnerung bringen, daß
+Bettina Brentano über Beethoven, daß Julie de Lespinasse
+über Gluck zu beider Lebzeiten das Entscheidendste
+sagten?
+</p>
+
+<p>
+Und wenn ich mich heute so gedrängt fühle, auf
+die Wichtigkeit Busonis immer wieder aufmerksam
+zu machen, so möchte ich hinzufügen, daß es in der
+Kunst sowohl wie in der Politik so etwas gibt wie ein
+&bdquo;zu spät&ldquo;. Auch hier sind die Gelegenheiten dahin,
+<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
+die man verpaßte &mdash; auch den Herren Klavierbauern
+rufe ich dies heute zu.
+</p>
+
+<p>
+Busoni hat ja seinen Lohn sicher nicht dahin. Auf
+der von ihm freigelegten Bahn geht es weiter, und
+der Dank der Kommenden erwartet ihn. Aber sollen
+wir heute, wo die Kronen zu Dutzenden auf das
+Pflaster rollten, sie im Staube verkommen lassen und
+wie im alten Regime die wahren Könige nicht ausrufen
+und nicht unterscheiden?
+</p>
+
+<h2 class="chapter" id="chapter-0-4">
+<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
+Dritter Teil.
+</h2>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span>as traurigste aller Jahre gehörte der Vergangenheit.
+Auch der Januar hatte ein Ende genommen.
+Ich war die Sklavin meines Flügels. Ihm zuliebe
+behielt ich das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte.
+</p>
+
+<p>
+Mit England und den Vereinigten Staaten war der
+Briefwechsel besonders schwierig geworden. Zuletzt
+würde es Mühe geben, sich die Gesichter seiner
+Freunde zu vergegenwärtigen, deren Bild nie eine
+Nachricht näher brachte.
+</p>
+
+<p>
+Eines Nachmittags &mdash; es fing schon an zu dämmern &mdash;
+und meine Gedanken zogen über unerreichbar gewordene
+Küsten den gewohnten Weg, als statt vertrauter
+Züge, die ich wachrief, ein blankes, behendes
+Pferd aufblitzte von intensivstem Braun. Voll Ungestüm,
+beredten Blickes, als hätte es etwas zu verkünden,
+weckte es ein Echo großer Bangigkeit und
+verschwand.
+</p>
+
+<p>
+Dafür blieb der ganze folgende Tag unter dem
+Eindruck eines so beseligenden Traumes, daß es ein
+Frevel wäre, ihn zu schildern.
+</p>
+
+<p>
+Wiederum dämmerte es, und diesmal saß Fortunio
+in meiner Sofaecke, und wir unterhielten uns.
+</p>
+
+<p>
+Das zwiefache an den Menschen, darüber waren
+wir uns ja einig, betraf ihren Ursprung. Insofern
+<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
+hatten die Extremisten recht, als sie nicht glaubten,
+mit dem alten Karren ins gelobte neue Land einzufahren.
+Leider aber brachten sie dabei ihre eigene
+Anhängerschaft ganz nach der alten Manier, nicht etwa
+der Artung, sondern der oft so rein zufälligen Meinung
+nach als wildes Durcheinander unter ein und
+dieselbe Flagge.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wie wunderbar ist der Mensch!&ldquo; sagte ich plötzlich,
+&bdquo;was für Eingebungen er hat! Auf was für
+Dinge er gerät! Zum Beispiel in allen Sprachen
+Vergleiche wie die folgenden zu ziehen: marchez
+comme sur des nuages; to walk on clouds; wie auf
+Wolken gehen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Warum?&ldquo; fragte er.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Weil es das gibt. Nicht etwa nur in euren Dichterphantasien,
+sondern einer höheren, höchsten Physik
+zufolge. Wer ist der verwirrte Tropf gewesen, der
+als erster Wort und Begriff des Wunders startete?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Ich wurde jetzt der Schneereflexe immer bewußter,
+welche in die Mollakkorde eines unvergleichlichen
+Zwielichtes fuhren. Nur wenig Wintertagen eignet
+dieser Schein, trauter als das von Sommerlüften
+durchwärmte, hölzerne Gartenhäuschen. Lange schmeichelte
+er sich an den Fenstern hin.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Eine gesteigerte Natur,&ldquo; fuhr ich fort, &bdquo;Kontakte,
+es sind Füße denkbar, zu welchen die Tragfähigkeit
+der Wolke sich verhielte wie Steg und Brücke zu den
+unseren: Gewänder, die zu solchen Füßen niederflössen,
+<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
+würde durch die Schärfe der Emulsion der
+Äther zum natürlichsten Geleise: weite Geleise solchen
+Füßen, und so sehr ein Teil von ihnen, während sie
+auf ihren Wolkensohlen reisten, <a id="corr-5"></a>daß von einer zifferlosen
+Arithmetik beherrscht, der ganze Himmel, und
+nicht etwa nur ein Stück von ihm, mit in den Raum
+sich drängen würde, über dessen Schwelle sie zögen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Hier verstummte ich, und so gebieterisch schwoll
+die Dämmerung an, daß meine Hände, wie Orgelpunkte
+in der Schwebe gehalten, plötzlich niederfielen,
+ihrer Unzulänglichkeit und Armut zurückgegeben.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wollen Sie Licht machen?&ldquo; fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+Während er sich anschickte, das Zimmer der ganzen
+Länge nach zu durchschreiten, war ich innerlich erstaunt
+über die Ausführlichkeit, mit der sich das
+Detail eines Bildes, welches doch als Ganzes, über
+alle Zeitbegriffe schnell zu Häupten meines Bettes
+aufgeblitzt war, festhalten ließe.
+</p>
+
+<p>
+Doch warum faßte mich da wieder das unerklärliche
+Grauen, das nicht mehr einzufangende Echo
+des Grams des gestrigen Nachmittags, als mir im
+halbwachen Zustand das Pferd beredten Auges entgegenschoß?
+Welche Bewandtnis &mdash; &mdash; &mdash; &mdash; &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Aber da hatte Fortunio schon geknipst, die Lampe
+erstrahlte, und ich atmete auf.
+</p>
+
+<p class="dat">
+5. FEBRUAR. Am Morgen dieses Tages stand ich
+angekleidet zu Häupten des Bettes und hielt meine
+<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
+Post. Sie war umfangreicher als sonst. Ein Brief
+mit ausländischer Marke und fremder Handschrift,
+den ich zuerst öffnete, umfaßte nur wenig Zeilen
+und meldete einen Tod, der schon vier Monate
+zurücklag.
+</p>
+
+<p>
+Der Zahnarzt erwartete mich schon sehr früh.
+</p>
+
+<p>
+Ganz undeutlich, wie von einem andern Ufer
+herüber, so daß ich nicht daran dachte, mich zu entschuldigen,
+schien er mir ungeduldig über mein verspätetes
+Erscheinen.
+</p>
+
+<p>
+Ich wollte ihn ersuchen, das graue Schmerzenslicht
+von der gegenüberliegenden Mauer zu entfernen.
+Dann besann ich mich: zeigten doch alle
+Dinge, das Fenster, die Instrumente auf dem Tablett
+dieselbe böse und stechende Schärfe.
+</p>
+
+<p>
+Desgleichen die Luft, als ich nach der Sitzung
+unter die Lauben trat. Sollte man sich es wirklich
+antun, sie hinabzugehen? War nicht vielmehr die
+Erde, dieser schwarze und zertretene Schnee, sich
+in ihm einzubetten mit zugekehrtem Gesicht, die
+einzige und unendliche Lockung? Die wehe Fackel
+des Gedächtnisses zu löschen, so zu verlöschen, als
+sei man nie gewesen, dieses war der Himmel. Oh wer
+war das? Wer war die Kreatur, die diesen ganzen
+Tag hindurch alle Gesten des Lebens so staccato
+verrichtete, an den Speisen dieselbe entsetzliche und
+befremdende Miene wahrnahm, wie an den Pinzetten
+auf dem Tablett des Zahnarztes, und wohin sie sich
+<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
+auch wandte, die Flucht ergriff; als wäre sie die aus
+Hoffmanns Erzählung entronnene Olympia &mdash; die
+Lauben hinab, die Treppen hinauf &mdash; in ihr Zimmer
+zurücklief &mdash; und sich umzog! &mdash; Einen blauen Hut
+aufsetzte, einen blauen! &mdash; und einen blauen Schleier
+davorband, und in das betäubte Antlitz starrte, dem
+er so ungewöhnlich stand &mdash; und einen Besuch abstattete
+&mdash; an einem Ofen lehnte, an ein Fenster trat,
+und durch seine, vom leichten Druck getrübte Scheiben
+sah, den die Wärme des Zimmers hervorrief.
+Es saß einer da, der erzählte, doch nur die Türe
+nahm sie wahr, durch welche sie wieder entrinnen
+und ins Freie gelangen konnte .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Dort fing es an zu dunkeln. Es nahm auch dieser
+Tag ein Ende.
+</p>
+
+<p>
+Nur auf dem freien Platz und über der Brücke
+war es noch hell. Rauh, grell und öde brütete ein
+durchnäßter Wintertag. Ungemildert fing ihn der
+&bdquo;Gurten&ldquo; auf: eine dunkle, ansehnliche Masse, und
+dennoch niedrig stellte sich ihm oh, so traumlos entgegen!
+Tropfnaß alle Dächer, die Bäume ein wirres
+und aufgelöstes Haar.
+</p>
+
+<p>
+Das Uhrwerk war abgelaufen, und sie stand nun
+endlich still, wie überwachsen von ihrer Not. Ein
+Martergriffel umriß für sie die ganze Stadt, die sich
+im Widerscheine eines Sterbetages zur Krypta schloß,
+das Siegel seiner Qual für immer aufgebrannt. So
+fiel ein Tor.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
+Beim ersten Laternenschein prallte sie zurück.
+Jedes Licht war eine Tücke. Kein Dunkel war tief
+und ununterbrochen genug. Und riefen ihre Wände
+nicht nach ihr? Zu ihnen nahm sie ihre Zuflucht,
+schloß ihre Türe und überließ sich der Erschöpfung.
+In ihren Kleidern wie auf einem Sarkophag, ohne
+sich zu rühren, ausgestreckt, lag sie in den Armen
+und am Herzen dieser Nacht.
+</p>
+
+<p>
+Siehe &mdash; was tauchte da wieder vor ihr auf? &mdash;
+Sturmentlassen, mit verhängten Zügeln, wie einem
+geisterhaften Stalle zugekehrt, das entfärbte, fahlgewordene
+Roß, dessen Botendienst geschehen war.
+</p>
+
+<p>
+Zum ersten Male entsann sie sich da auch des
+andern Bildes, das sich zwischen einer Kunde und
+ihrer Ankündigung gnädig und wie eine Gnade
+stellte.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Und nun, oh Leser, fasse meine Hand, daß ich von
+dir selber gehalten, durch Dornen und Gestrüpp,
+Ziel, Sinn und Ende dieses Buches erreiche. Verlasse
+auf immer mit mir das Zimmer der vergeblichen
+Zusammenkünfte und folge mir nach Genf. Ferne
+dem traumlosen Berg, über der malerischen Stadt
+des nüchternen Lichtes, durch die Turmspitze versinnbildlicht,
+welche den Unterbau des Münsters
+niederdrückt, und seine Schönheit immerzu und
+immerzu verneint.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
+Selbst bei der schärfsten Bise leuchtete die Luft
+in Genf so abgetönt. Dort hauste ich nun, in einem
+unheizbaren Studentenstübchen im fünften Stock des
+hotel de Russie. Ein kleiner Balkon überhing die
+stets von Schwänen überzogene Insel Rousseau.
+Meine Taschen waren in diesen Tagen der Brotkarten
+mit Krumen wohlgefüllt, und mit heimlicher
+Befriedigung warf ich ihnen die rargewordene Speise
+zu. Nicht vergeblich glitten sie mir da immer sogleich,
+doch ohne jede unziemliche Eile entgegen. Ich sah
+ihnen oft lange zu. Sie standen in der Tierwelt so
+abseits; fast ein wenig abgerückt von der Natur.
+Bald würden sie zwischen ihren stolz aufgerichteten
+Flügeln ihre Jungen wie in einer geschlossenen Krone
+durchs Blaue tragen. Vielleicht gab ihnen ihre Ungefährdetheit
+die Muße, um den Tod zu wissen.
+</p>
+
+<p>
+Die Zeiten waren derart, daß der Ortswechsel selbst
+einer so unwichtigen Person wie mir nicht unvermerkt
+blieb. Dinge aber, die mich vor kurzem in
+Aufruhr versetzt hätten, machten mir nicht das
+geringste. An der Telephonkabine war eines Morgens
+der Türgriff ausgekurbelt und wurde nicht wieder
+instand gesetzt. Dicht bei verbrachte ein dicker Herr
+seine Tage und rauchte Zigarren, indem er unverfroren
+horchte.
+</p>
+
+<p>
+Indessen wurde ich von Herrn L&nbsp;&mdash;&nbsp;P.&nbsp;.&nbsp;.&nbsp;. dem Vater
+der im deportationsfähigen Alter stehenden Kinder aufs
+neue bestürmt. Seiner Frau blieben die Pässe verweigert.
+<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
+Ich schrieb jetzt auf gut Glück dem Grafen
+Carry, er möge mich über den Sonntag besuchen.
+Und richtig stand er da. Es war strahlendes Wetter,
+wir streunten über die Kais und aßen zusammen.
+An seine natürliche Güte hatte ich nie vergebens
+appelliert, und schließlich bildete sein Propagandawerk
+eine Art von Rettungsstation. An ihm klebte
+kein Blut. Da mir aber seine Beziehungen zur obersten
+Heeresleitung bekannt waren, log ich jetzt über die
+politische Zweckmäßigkeit einer Paßverleihung an
+die Familie L .&nbsp;. P .&nbsp;.&nbsp;. einiges Blaue vom Himmel.
+Wir setzten uns ins Freie. Erstaunliche Magnolien
+prangten schon in voller Blüte; an eine Tanne, grünblau,
+weiten Hauptes wie eine Pinie, und immerzu
+umschwirrt, preßte sich ein glückliches Vogelhaus.
+Carrys Augen hingen voll Entzücken daran.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Da geht mein schlimmster Feind&ldquo;, sagte er plötzlich.
+Klein, mit niederträchtiger Visage, kam hinter
+den Magnolien ein Landsmann von uns hervor. Von
+übelster Vergangenheit, dabei Träger eines großen
+Namens, für den Nachrichtendienst also wie geboren,
+lauerte er dem Frieden um so emsiger auf, als die
+Dauer des Krieges mit dem Interim seiner Rehabilitierung
+zusammenfiel.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Natürlich haßt er Sie&ldquo;, sagte ich zerstreut. &bdquo;Was
+erwarten Sie sonst?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Abends &mdash; der Graf war schon abgereist &mdash; kreuzte
+ich mich nochmals, über die Brücke zu den Schwänen
+<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
+gehend, mit der hochgeborenen Krapüle, die mit
+einem Basiliskenblick an mir vorüberging. Tags
+darauf &mdash; ich dachte gerade an das blauzerfließende
+Grün der Tanne und an den großen Blumenbaum,
+der in dieser Sonnenhelle wohl noch heller erblüht
+war, als ich ans Telephon gerufen wurde. Vor der
+Zelle saß trägen Auges der mir zugeteilte Herr mit
+der Nachmittagszigarre im Mund. Heute aber sollte
+er auf seine Kosten kommen. Denn im höchst aufgeregten
+Ton forderte mich eine Genfer Dame zu
+sofortiger Aussprache auf. Ihr Haus sei mir offengestanden,
+sie habe mir ihr Vertrauen geschenkt, und
+nun müsse sie hören, daß ich es mißbrauchte.
+</p>
+
+<p>
+Ich machte mich ziemlich gemächlich auf den
+Weg zu ihrem Hause. Seit jenem Tage, als sich Bern
+für mich zur Krypta schloß, war mir erst bewußt,
+daß ich mit nichten ein verkannter oder verlassener,
+sondern einer der wenigen innerlich wirklich beschützten
+und durchschauten Menschen gewesen war.
+</p>
+
+<p>
+Wie oft hatte &mdash; weit vorgreifend, ach! &mdash; mein Ohr
+das melodische Lachen zu hören geglaubt, wenn ich
+dereinst alles erzählen würde, alle Zwickmühlen und
+alle Abenteuer, in die ich geraten war.
+</p>
+
+<p>
+Ein ganzer, ein wirklich unvergeßlicher Mensch,
+dachte ich, von Trauer niedergedrückt, ist nirgends
+zu Ende. Unerschöpft und ganz unausgespielt sinkt
+er zu Grabe. Abgerissen, doch nicht abgesponnen,
+ist der Faden eines solchen Lebens.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
+Wenn aber Kinder des Lichtes zusammentreffen,
+ist das schon ein Glück des Himmels. In dem hin
+und her ihrer Blicke und ihres erkennens liegt das
+Vorgefühl ihrer Macht. Zu uns komme ihr Reich.
+</p>
+
+<p>
+Mit der Genfer Dame war ich schnell im reinen.
+Wir spielten beiderseits mit offenen Karten. Die
+hochgeborene Krapüle hatte verbreiten lassen, die
+deutsche Propaganda arbeite nunmehr mit so raffinierten
+Mitteln, daß sie kompromittierte Personen,
+wie mich, zu Werkzeugen mache. Den Beweis hielte
+er in der Hand. (Es war mein Frühstück mit dem
+Grafen Carry.) Natürlich war seine Behauptung wohl
+geeignet, mich in Genf unmöglich zu machen. Er
+hatte sich nur insofern verrechnet, als meine dortigen
+Freunde sich unverweilt mit mir ins Vertrauen setzten.
+Dieser Zwischenfall war also beigelegt.
+</p>
+
+<p>
+Als ich wieder in die Allee einbog, welche von ihrem
+Hause bis hart an die Straße führte, drangen durch
+ein offengebliebenes Fenster die Worte: &bdquo;Je suis bien
+contente de le lui avoir dit&ldquo; laut und vernehmlich
+ins Freie; Mir aber saß jetzt ein ödes Gefühl im
+Magen, ein Ekel, das würgen einer allzu krampfhaft
+unterdrückten Bitterkeit. Ein Durst zugleich; das
+lechzen des Trinkers, der nach dem Becher vergeht;
+es mußte etwas, das Palliativ, die Betäubung mußte
+her. Es war das alte Laster, hui! Und lag sie nicht dicht
+bei, die avenue de Florissant? wußte ich nicht,
+zufällig, daß sie dort wohnte, sie, die den Schlüssel
+<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
+zu den geheimen Toren hielt, die ich begehrte?
+Heute noch, nein, sogleich mußte ich hin.
+</p>
+
+<p>
+Und schon betrat ich unangemeldet die großen
+Räume, in welchen die malerische Französin zwischen
+ausgehobenen Türen nach allen Seiten hin den Ausblick
+über Gärten und Büsche genoß. Es war eine
+ganze Welt von Bäumen in ihrem ersten Grün. Mademoiselle
+S., eine Pariserin der ernsten und wenig
+bekannten Art, trug einen orangefarbenen Foulard
+um ihren Kopf gewunden und gestand ihre Kopfschmerzen,
+aber nicht ihr Befremden über meinen
+Besuch. Wir hatten uns ein einziges Mal während
+des Krieges flüchtig kennengelernt, und nun lagerte
+ich, jedem Argwohn zuvorkommend, indem ich ihn
+einfach niedertrat, auf einem Diwan ihres Salons,
+den verwirrenden Frühlingszauber ihres Parkes vor
+Augen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie sind im Besitze der Adresse eines Mediums,&ldquo;
+sagte ich, &bdquo;die ich suche.&ldquo; Und sie erhob sich, an
+ihnen Schreibtisch zu treten; eine hohe und dunkle
+Gestalt, weder so schön, noch so jung vielleicht, als
+sie an diesem Abend schien, den blassen und melancholischen
+Kopf vom seidenen Turban eng umschlossen,
+und all die Wipfel, die in den Rosenhimmel
+ragten, als Hintergrund. Sie reichte mir die Adresse,
+und wir sprachen von allgemeinen Dingen.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es muß heute doch ein eigener Segen auf allen
+Schlechtigkeiten ruhen,&ldquo; sagte ich, &bdquo;da, was immer
+<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
+man Gutes und Hilfreiches unternehmen möchte,
+sofort in Mißlingen und Gestank aufgeht.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wie könnte es anders sein?&ldquo; gab sie zurück, &bdquo;das
+Geschwür ist noch lange nicht reif. Vorerst muß
+alles ihm allein zugute kommen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Es gibt aber Geschwüre en permanence&ldquo;, meinte
+ich. Doch sie schüttelte den Kopf, unbeirrbar in
+ihrem Glauben an eine bessere Zukunft.
+</p>
+
+<p>
+Es herrschte zwischen uns die kurzbefristete Vertraulichkeit
+zweier Reisegefährten eines nächtlichen
+Zuges. Nichts ist so unverbindlich wie ihr Auseinandergehen.
+</p>
+
+<p>
+Denn schon war ich wieder unterwegs, einer andern
+Himmelsrichtung, einem Genf, das ich nicht kannte,
+zugewandt, nicht wissend, daß es auch seine anonymen
+Viertel hatte, die scheinbar nicht zu ihm
+gehörten, sondern in ihrer Bedrücktheit ganz allgemein
+die Straßen einer größeren Stadt darstellen.
+Zwischen solchen Häuserreihen war ich jetzt auf der
+Suche, fand die Nummer, stieg vier Treppen hoch
+und läutete und wartete. Eine im Dunkel undefinierbare
+Gestalt öffnete endlich langsam die Türe.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Wollen Sie mich melden?&ldquo; sagte ich, ohne meinen
+Namen anzugeben. Sie rührte sich nicht. &bdquo;Wollen
+Sie mich melden?&ldquo; wiederholte ich. Sie schwieg.
+Sie war es selbst. Stumm standen wir einander gegenüber.
+Unsere Blicke belauerten, betasteten sich. So
+tauschen wohl in einer Höhle des Lasters zwei Eingeweihte
+<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
+zögernd ihre Erkennungszeichen: es waren
+die verschleppten Schatten unserer Augen und ihr
+matter und verlöschter Schein. Und wie loderte
+schon die Luft! Oh welch ein Wellengang! Welcher
+Sturm inmitten der Stille, die zwischen uns entstand.
+Ich folgte der Gestalt, die vor mir zurückwich.
+Sie trat, als hätte ich sie gestoßen, in die Umrahmung
+einer Türe, die hinter ihr nachgab, und
+taumelnd trat ich ein.
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Dem glücklich Liebenden gleich streifte ich in
+jener Nacht, hingerissen, berauscht, von tröstlichen
+Schauern durchrieselt, die Kais entlang. Wie Antäus
+die Erde, hatte so mein Fuß die belebende Leere
+berührt? &mdash; War&rsquo;s ein geistiger Aderlaß gewesen?
+War&rsquo;s der letzten Hingabe entsetzliche Betäubung
+oder die eleusische Flut? Und wird sie einmal einer
+nennen dürfen, die einmaligen Gefilde ohne Wiederkehr
+und Verbieter des Wortes, die ein Blick zu ihnen
+ein Wenden des Kopfes nur, zu ewiger Ungewesenheit
+entstürzen läßt .&nbsp;.&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Oh Eurydike!
+</p>
+
+<p class="tb">
+&nbsp;
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, nahm
+ich das Schiff. Als es in Ouchy anlegte, zog mit einem
+Male Fortunio an Bord. Wir waren beide nicht wenig
+erstaunt. Ihn aber schien die Bläue des Tages und
+das in Verzückung zurücktretende Ufer von sich
+<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
+selbst fortgerissen zu haben, und es war ersichtlich, daß
+er träumte. Das Leben hielt er dann für schön,
+besann sich des Augenblickes und der Weltgeschichte,
+wie auch seines eigenen Erwachens nicht, sondern,
+ganz Echo, war er gefangen von ein paar Weisen,
+welche manchen Tages die Natur anhebt, und den
+verwandelt, der sie hört.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Lassen Sie sich das Neueste erzählen&ldquo;, stieß ich
+ihn an und gab mit allen Details die Mine zum
+besten, von der ich in Genf hätte auffliegen sollen.
+Wie ergiebig Graf Carry dabei mit &bdquo;belegt&ldquo; worden
+war, kam erst später ans Tageslicht. Mit der Warnung
+an meine Schweizer Freunde nämlich, sich vor
+einer deutschen Agentin wie mir etwas in acht zu
+nehmen, erging gleichzeitig eine Meldung an deutsche
+Instanzen in Bern, Graf Carry wisse so wenig die
+Würde seines Amtes zu wahren, daß er sich nicht
+scheue, mit einer französischen Agentin wie mir
+öffentlich herumzuziehen. Aus dem Mittagessen
+wurde der Pikanterie halber ein trautes Souper.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Diese Zeit&ldquo;, sagte ich zu Fortunio, &bdquo;hat den
+Untermenschen doch wirklich den Maibaum ihrer
+Existenzen gebracht, und es gehört mit zu den läuternden
+Wirkungen des Krieges, daß ihn die Krapülen
+überleben. Denn wenn eine, statt als sein Helfershelfer
+reklamiert zu werden, in die fatale Lage gerät,
+selbst an den Heldentod glauben zu müssen, so ist
+das doch ein ganz seltenes Pech.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
+Fortunio fuhr mit dem Abendzug nach Bern zurück,
+und ich blieb in Clarens.
+</p>
+
+<p>
+Um Ostern wollte ich Romain Rolland besuchen
+und sagte mich in Villeneuve an. Allein es war jener
+Karfreitagmorgen, an welchem eine oberste Heeresleitung,
+wie um seiner zu höhnen, die Kanonade von
+Paris nicht unterbrach, eine Kirche während des
+Kultes einstürzte und die Anwesenden unter sich
+begrub. Daß mein angekündeter Besuch auf das
+hin unterblieb, verstand sich von selbst. Für mein
+Gefühl war dieser Karfreitagsvolltreffer das schwarze
+Aß, das sich Deutschland selber ausgeworfen hatte.
+Eine solche Absage an die tragende Idee des Christentums
+war zu zynisch, um nicht ominös zu sein. Sie
+war &mdash; man verstehe mich recht &mdash; wüstester Protestantismus.
+Luther galt mir nur deshalb als einer
+der Ahnherren des Krieges, weil sein auftreten das
+Übergewicht des nördlichen über das westliche und
+südliche Deutschland anbahnte, und ein kahles, unkünstlerisches,
+unmusisches und humorloses Element
+in den Pulsen der Deutschen entsprang: Phantasielosigkeit
+und Unmusik. Wagt es vielleicht einer,
+Sebastian Bach einen Protestanten zu nennen? Der
+Protestantismus stak damals in seinen ersten Anfängen,
+noch belebt von der Wärme des Stammes, von dem
+er sich losriß: protestierender Katholizismus. Der
+wirklich ausgewachsene konsistorialrätliche Protestantismus
+gedieh erst in den letzten Dezennien zu der
+<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
+vollen Reife und dem gleichzeitigen Marasmus. Die
+fürchterlichen Lutherschen Kirchen, das toteste an
+Architektur, was in der Welt zu sehen ist, sind Geist
+von seinem Geiste. Alle unfrohe Geschmacklosigkeit,
+den Mangel an Grazie und Liebenswürdigkeit, das
+Reformkostüm, die Jägerwäsche danken wir ihm.
+Undenkbar, daß von München aus die Reichsbriefmarke,
+als die häßlichste der Welt, hinausgeflattert
+wäre. Nein! fürwahr, diese Germania stieg so recht
+als die fille ainée der protestantischen Kirche. Sie
+brachte den unheilbaren Riß, über den keine äußerliche
+Geeintheit hinweghalf. Denn ihr verdanken
+wir das verständnislose abrücken von der lateinischen
+und abendländischen Welt, das ein südliches, fränkisches
+und westliches Deutschland nie herbeigeführt
+hätte.
+</p>
+
+<p>
+Statt des café du Nord wurde jetzt der Kursaal
+von Montreux meine Schreibstube. Den Nachmittag
+beschloß ich mit Vorliebe im kleinen Saal
+des Konservatoriums, wo ich mit einem russischen
+Cellisten musizierte. Aber A. H. Pax wollte wieder
+einen Beitrag. Es gibt heute nur ein Thema, schrieb
+ich ihm:
+</p>
+
+<p>
+Und wir hätten alles von der Methode jener glücklichen
+Spekulanten zu lernen, welche sich offenkundig
+als die weitaus schärfsten Psychologen erwiesen,
+indem sie irgendein Präparat, eine Zahntinktur oder
+ein Extrakt dadurch zu allgemeinster Geltung verhelfen,
+<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
+daß sie deren Bezeichnungen in grellen Riesenbuchstaben
+an Mauern, Säulen und Schlöten anschlagen,
+sich gleichsam an die Fersen des Vorübergehenden
+heften, selbst auf Bergeshöhen sich zwischen
+ihn und die Aussicht schieben, ja von Felswänden
+herab ihm unerwartet Odol! Haarlin! oder Bovril!
+entgegenschreien.
+</p>
+
+<p>
+Wäre heute nicht die Beachtung gewisser Zustände
+mit einer ebensolchen vorbildlichen Hartnäckigkeit zu
+erzwingen? Durch ein ungeheures Preisausschreiben
+etwa, das an alle Maler, der ältesten wie der neuesten
+Schule, erginge, um auf Bildern und Plakaten, mit
+beliebigem Raumverbrauch, die Wirklichkeit zu illustrieren,
+allen Brücken und Wegen entlang sie immerzu
+neu einer Allgemeinheit zu veranschaulichen, deren
+geistigen Stumpfsinn nur jene Menschenkenner von
+Spekulanten voll ergründeten. Daß es keine intellektuelle
+Notwehr gibt, und daß wir lieber untergehen
+als daß wir dächten, hielten wir ja nicht für möglich,
+bevor wir es erlebten. Wie hätte sonst über unsere
+Köpfe hinweg jene Phalanx der Niedrigen zustande
+kommen können, die sich heute mit so bewundernswerter
+Regie über alle Grenzen hin in die Hände
+arbeiten? Auf uns, die sie gewähren lassen, fällt der
+Fluch dieser Zeit zurück. Nicht auf die schlechten,
+deren Tun im Einklang steht mit ihrem Wollen; auf
+uns, nicht auf die Knechte, welche sich zu unseren
+Herren machten, sondern auf uns, die wir uns von
+<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
+ihnen knechten ließen. Sollte der Tag hereinbrechen,
+an dem es zu spät sein wird für unser zusammengehen,
+so werden wir, die guten Willens sind, als
+die Schuldigen stehen, weil uns der Mut unseres
+besseren Wissens gebrach, dem Genius des Krieges
+die Siegermaske von der gedankenlosen Stirn zu
+reißen. Ah! wir bedachten nicht den tiefen Sinn
+jener Sage, welche den Drachentöter die Sprache
+der Vögel verstehen ließ, als er vom Blut des erlegten
+Ungeheuers genoß!
+</p>
+
+<p>
+Es waren stille Tage. Der Sommer reifte wie eine
+Frucht. Schon rissen Gewitter den Himmel auf
+und schlugen die Wellen bis zu den herabhängenden
+Blüten am Ufer. Und die Nächte verströmten betäubend
+und lau. Es war ein Wandeln wie im Traum,
+bedrückend und begeisternd zugleich. Meine Unterredung
+mit dem Grafen Carry datierte vom 5. Mai.
+Schon am 17. depeschierte er mir, die Pässe für
+Frau v. L .&nbsp;.&nbsp;.&nbsp;. und ihre fünf Kinder seien
+gewährt.
+</p>
+
+<p>
+In den Weinbergen surrte das Licht, die goldenen
+Bienen waren eins mit ihm. Ob man lebte oder gestorben
+war oder eben geboren wurde, machte keinen
+Unterschied. Es war zu heiß. Den schönen Damen
+standen die Koffer gerüstet. Ihre neuesten Kostüme
+und Kleider, die seidenen Sweater und die Hüte
+und die Schuhe kannte man jetzt. Es war Zeit, in
+einem neuen Ort neu darin zu erstehen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
+Für den 29. waren in Zürich Busonis Opern unter
+seiner Leitung angesagt. Dort sollte ich mit Fortunio
+zusammentreffen, und dann an den Thuner See
+mit ihm fahren. Aber statt seiner kam ein Brief,
+und meine Stirne umwölkte sich beim Anblick seiner
+Adresse: Es war ein Mißgriff und eine Illusion, daß
+er die Villa des geölten Nibelungen bezog. Kurz
+herausgesagt, wir beiden konnten einander nicht
+leiden. Ich grollte ihm nicht, weil er meine Haltung
+verurteilt und mir versichert hatte, wir seien immer
+noch zu anständig; sein plötzlicher Radikalismus, vielmehr
+die Art, wie er sich als unser Leithammel
+aufwarf, ärgerte mich. Denn er war keiner von den
+Unseren. Mit Lanze und Speer kam ich ins Spiezer
+Schloßhotel, ihn zu bekämpfen. Dort warteten
+A. H. Pax und seine unschätzbare Gattin seit einer
+Woche meiner. In der Halle stand ein Bechstein,
+und von Paxens tiefer Loggia aus hatte man den Blick
+nach Süden über die Alpen und den See. Bei ihnen
+waltete Überblick, Wissen und Nächstenliebe, dazu
+ein Aroma von Wiener Kaffee und Gemütlichkeit, die
+nicht zu überbieten waren.
+</p>
+
+<p>
+Die Villa des Geölten lag unter den Tannen in der
+Tiefe, einen Kilometer entfernt und in wundervoller
+Lage. Ein kurzer Weg bog vom Gitter bis zum Hause,
+als wäre er unendlich, ein. Die veredelten Kirschbäume,
+die ihn beschatteten, bestahl ich, soviel ich
+konnte. Es verdroß Fortunio, doch ich erklärte,
+<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
+Kirschen nur vom Baume essen zu können, und riß
+im vorbeigehen immer welche herab. Es waren wirklich
+Kirschen für Hesperiden. Die unteren Zweige
+hingen schon leer.
+</p>
+
+<p>
+Der geölte Nibelung gehörte dem Geschlecht derer
+an, die nicht nur geschäftskundig, sondern auch mit regen
+Sinnen für das Schöne begabt, zu überaus tüchtigen
+Faktoren berufen, dabei haarscharf an ihre Stelle zu
+verweisen, ja niederzuhalten sind. Unsachlich, ungedanklich,
+nur der Witterungen, aber keiner Erkenntnisse
+fähig, konnte er sich nach innerer Herkunft
+und Bestimmung höchstens zum Sklavenhalter, niemals
+zum Herren vermögen. Gütiger Regungen sehr
+wohl fähig, war der geölte Nibelung infolge seines
+unbändigen Ehrgeizes der glücklose Knecht, außerstande
+sich zu bescheiden. Über ihn wölbte sich
+der freie Himmel nicht unmittelbar, zwischen ihm
+und dem Äther, den Göttern und der Natur lastete
+eine trennende Kuppel. Fortunio aber, und wenn
+er tausendmal zerschellte, war ein Sohn des Lichts.
+An ihn klammerte sich der Geölte, von trüben Stacheln
+getrieben, und eiferte um die gleiche Stufe der Leiter
+mit ihm; von Eifersucht und Zuneigung gleicherweise
+gequält, suchte er &mdash; immer unbewußt &mdash; ihn
+an sich zu reißen oder ihn zu verderben. Seine Gattin
+liebte es, vierhändig zu spielen, ihr Anschlag war
+eine Pein, und ich stand sehr bald mit beiden übers
+Kreuz. So ging ich nicht mehr den kurzen Weg,
+<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
+der zwischen Gitter und Haus ins Unendliche lief,
+und sah von dieser Stelle aus nicht mehr den Niessen
+wie eine Riesenpyramide inmitten des fruchtbaren
+Tales stehen.
+</p>
+
+<p>
+Der Himmel freilich kam hier nie zur Ruh, und
+die Gegend war mehr eine großartige, opernhafte
+Szenerie, denn eine Landschaft, das Licht ein Beleuchtungsapparat;
+statt der Spiegelungen hatte man
+Effekte. Das Schreckhorn leuchtete in der Verkürzung,
+der See war eine Arie.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Komm, komme!&ldquo; schrieb der Seidenaff aus
+St. Moritz. &bdquo;Wer weiß, was mit uns in einem Jahre
+geschieht.&ldquo; Und eines Morgens reiße ich aus, um den
+Sommer im Engadin zu beschließen.
+</p>
+
+<p>
+Mein Weg führt über Bern, und ich mache bei
+Martin im Walde halt. Er ist schwer niedergedrückt.
+Das deutsche Verhängnis war für jeden, der außerhalb
+des Landes wohnte, unaufhaltsam. Ich schreibe
+eine Depesche unter seinem Diktat und renne damit
+zum bayrischen Gesandten. Dieser besteht darauf,
+Martin im Walde selber zu sprechen: ich also mit
+Windeseile zu ihm zurück und ihn so lange quälend,
+bis er mir folgt. Aber welch ein Interview! Alle
+heißen und kalten Wasserhähne sprühten um die
+Wette, daß es nur so pfiff.
+</p>
+
+<p>
+Die Depesche hat er aber abgeschickt, mache ich
+auf dem Heimweg geltend.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
+Sie übermittelte jedoch diejenige Brause, die man
+sich auf Wochen noch verbat.
+</p>
+
+<p>
+Fluchtartig verließ ich die Stadt der vergeblichen
+Zusammenkünfte.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-1">
+Palace Hotel, St. Moritz.
+</h3>
+
+<p class="dat">
+AUGUST 1918. Man hätte sich auf dem Berge
+Arrarat glauben können, wären unter den Geretteten
+nicht so viele gewesen, die mit einem Mühlstein am
+Halse zu tiefst der angerichteten Sintflut zu liegen
+verdienten. Diese Menschenmetzger, Gewinnler am
+Elend der Menschheit und gemästet von ihrem
+Blut, hier machten sie sich breit und schlemmten.
+</p>
+
+<p>
+Gleich bei meiner Ankunft hatte ich den Seidenaffen
+besucht und war auf der Treppe gestürzt, so
+daß ich bleiben mußte, wo ich war. Doch inmitten
+des Geschwirres begann da für mich ein Leben wirklicher
+Beschaulichkeit. Ich kannte niemanden, mit
+San Cividales verkehrte ich nur in den oberen Räumen,
+unten mieden wir uns, denn wir waren ja Feinde.
+Auf den Stock gestützt, hinkte ich, wenn Sajani mit
+seiner kleinen Kapelle spielte, zu einem Schreibtisch
+in der offenen Galerie, die Berge von Pontresina vor
+Augen, die ekstatisch nach Süden träumten; unten
+der tiefgrüne Bergsee und der Waldweg seinen Ufern
+entlang; St. Moritzbad im Rücken, damit ich es
+nicht zu sehen brauchte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
+Es war sehr oft &bdquo;etwas los&ldquo;. Alles strömte dann
+nach derselben Richtung, um sich im Sportkostüm
+zu treffen, bevor man sich im Abendkleide wieder
+begegnete. Dann spielte die Kapelle ins Leere, ich
+aber zog unter den Baldachin, die Tangonoten verschwanden,
+und wir spielten Trios. Es schlichen
+immer ein paar unbeschäftigte Kellner herein, und
+dies Kellnerpublikum war uns ein Sporn.
+</p>
+
+<p>
+In der Umwertung der Gesellschaft selbst besteht
+heute die eigentliche und tiefe Revolution. Ein rein
+äußerlicher Staat hat merkwürdigerweise aufgehört,
+elegant zu sein; das Prestige einer Klasse als solcher,
+mag es noch einmal aufflackern und sich noch
+eine Weile fortläppern, ist dahin. Diejenige Klasse,
+die überall am Kriege die unschuldigste war, wird
+täglich an Interesse gewinnen und ihren Tag erleben.
+Der Arbeiterstand als Magnet: so schnell reiten die
+Toten! &mdash;
+</p>
+
+<p>
+Wie faszinierend war es indes, die Herren von
+vorgestern zu beobachten, welche wähnten, daß sie
+es noch seien, und die höchstens noch der Wirt, bei
+dem sie abstiegen, in dem Glauben erhielt; diese
+Herren auf Abbruch, die nicht merkten, daß ihre
+Füße sich schon im Gerölle fingen. Müßigkeit und
+Unwissenheit hatten ihre Norm so tief herabgedrückt,
+daß, um ein Beispiel zu geben, edle Musik eine Zumutung
+für sie gewesen wäre. In der Tat, es lohnte
+sich, sie zu studieren. Sie machten noch die Gesten
+<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
+der Väter, aber schon war der Pöbel bei ihnen eingebrochen
+und schuf sich in diesem äußersten Rechteck
+der Gesellschaft ein Ventil. Nirgends vielleicht
+hatte sich die Achtung für inneren Wert so sehr
+verringert und kam innerer Adel so wenig in Betracht.
+Wie viel ritterlich Gesinnte zählte man unter
+diesen Kavalieren? Wie viel Strebende? Was die
+Unbildung, die zunehmende Verrohung dieser Clique
+betraf, so stand sie den von ihr verhöhnten nouveaux
+riches, welche Wurstkonserven zu Magnaten erhoben
+hatten, innerlich schon am nächsten, und es war
+rührend zu sehen, wie hier die Elite &mdash; denn auch
+die sogenannte Elite hat natürlich ihre Elite, und ich
+weiß keine liebenswertere &mdash; von ihr abrückte und
+sich ihrer schämte.
+</p>
+
+<p>
+Auch den Trost von ein paar wirklich schönen
+Frauen hatte man hier. Der Seidenaff zwar verzog
+sich des Abends immer sehr bald. Sah man nach
+ihr um, war sie wie ein Vogel schon weg.
+</p>
+
+<p>
+Aber die leidende Sylvia, schön wie eine gestirnte
+Nacht, tanzte so gern. Und ob man sich auch sagte,
+die Melancholie ihres Lächelns, ihres Lachens sei
+nur Zufall, nur der Form ihrer göttlichen Lippen,
+dem Licht ihrer Zähne entblüht, sie entzückte darum
+nicht minder.
+</p>
+
+<p>
+Eine andere kam zuweilen von Suvretta herüber,
+ein Püppchen, so zierlich gebildet, als wäre sie in einer
+blitzend ausgeschlagenen Nußschale dahergefahren.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
+Eine vierte war noch da, von der ich noch reden
+werde. Aber laßt mich bei der gestirnten Nacht noch
+einmal verweilen. Meistens trat sie erst, nachdem
+der Tag zu Ende war, scheinbar ausgeruht, in ihrer
+düsteren Pracht hervor, blieb dann bis zum Hahnenschrei,
+wie die Braut von Korinth, und hielt ihre
+Tänzer in Atem.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="dat">
+ANFANG SEPTEMBER. &bdquo;Ich hörte lange nichts
+von euch&ldquo;, schrieb ich an Fortunio. &bdquo;Was Sie
+nur treiben?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Mein Fuß war endlich hergestellt und einer längeren
+Fußtour gewachsen. Eines Morgens verließ ich früh
+das Palace Hotel in Bluse und Rock, einen Sack
+umgeschnallt, in dem ich eine ganze Reisetasche
+leerte, und einen eigens dafür erstandenen Strohhut,
+der so tief hereinfiel, als man wollte. Also ausgerüstet,
+zog ich nach Maloja, schlug aber bald den Waldweg
+ein, denn die zahlreich einherrollenden Wagen hüllten
+die Straße in Staub. Frech auf den Polstern ausgebreitet,
+mit befriedigten Mundwinkeln, fuhr ein
+Schieber nach dem andern froh zu Tale, oder dem
+Julier entgegen; ein feister und wohlgemuter Korso:
+der Krieg durfte noch dauern.
+</p>
+
+<p>
+Am andern Ufer der Seen jedoch wand sich ein
+stiller Weg um jede Bucht, nimmermüde, sie zu umschreiben,
+leis umplätschert, geduldig und verliebt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
+Ich riß den Hut vom Kopfe, steckte ihn in den Sack,
+und ließ die Stirne frei von den Gletscherwinden
+umwehen. Es war so schön, wieder schnellen und
+gesunden Fußes durch die Wälder zu gehen, die bis
+in ihren tiefsten Schatten von Licht und Hitze
+durchhaucht, statt des Staubes einen Geschmack von
+Harz und Erdbeeren auf die Zunge trieben. Ganz
+plötzlich wurde es kalt. Hoch am Himmel hielten
+die Wolken Rat, ob sie sich zusammenballen und
+den Herbst eröffnen sollten. Dann zerstreuten sie
+sich wieder und ließen die Sonne durch. Aber es
+war ganz deutlich, daß sie sich nur vertagten.
+</p>
+
+<p>
+Spät am Nachmittag saß ich in der berühmten
+Konditorei von Sils Maria, als ein Wagen vorfuhr,
+dem die vierte Schöne des Palace Hotels in Begleitung
+ihres Liebhabers entstieg. Es war die notorische
+liaison des diesjährigen Sommers. Er, so stolz auf
+seine Figur, daß er Modell stand, sowie man nur
+hinsah, aber dabei das Entzücken seines Schneiders
+mit dem des Malers verwechselte; die Stirn niedrig
+und leer, wie die eines Stallbediensteten, und einen
+der Anlage nach gewiß nicht groben, aber schon
+stark vergröberten Kopf. Bald, sehr bald würde von
+dem ganzen Zauber nur noch die Hengstallüre übrigbleiben.
+</p>
+
+<p>
+Die Schöne hatte am nächsten Tische Platz genommen,
+so daß ich ihre kühle und strahlende Erscheinung
+mit Muße betrachten konnte. Der Schmelz,
+<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
+die Zeichnung der Brauen und des Ovals, die Augen,
+wie große, kostbare Edelsteine eingesetzt, waren die
+eines vollendeten Renaissancegesichtes. Man konnte
+sich kein typischeres denken. Ihr Lächeln beunruhigte.
+Und doch war sie so jung! Jugend hielt
+noch, wie die Staubfäden einer Blüte, Fesseln und
+Gelenke zusammen. Sie hatte sich erst ihres Schleiers
+entledigt, nun folgte der Hut. Sie legte ihn neben
+sich hin. Ihr Haar, mit unerhört raffinierter Schlichtheit
+getragen, umschmeichelte nur die Schläfen mit
+seinem Gold und ließ die Stirne frei, jetzt
+wandte sie den Kopf. Da aber kam ein platter Hinterkopf
+zum Vorschein, der Kopf der Viper, da woben
+schon unendlich leise Fäden an ihrer künftigen Häßlichkeit,
+und da kündete sich von fern der nach außen
+gerichtete, erinnerungslose Blick der Vierzigerin, ohne
+Rückwärtsschauen .&nbsp;.&nbsp;. Lange blieben die beiden
+nicht, stand doch die lange Fahrt noch aus, und
+mußte sie doch ruhen, bevor sie sich langsam wieder
+schmückte zum spätesten aller Diners. Nicht nur
+mit ihren Abendkleidern, auch durch spätes Erscheinen
+wetteiferten nämlich die Damen im Palace.
+Konnte auf der Welt etwas ordinäreres sein, als schon
+um neun zu Nacht zu essen? Und war dies nicht
+der Gipfel?
+</p>
+
+<p>
+Ihr Geliebter legte ihr jetzt den Umhang über, mit
+jener tiefen Ehrerbietung, die ein solcher Mann einer
+solchen Dame gegenüber, die solche Perlen mit in
+<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
+die liaison brachte, empfinden mußte. Auf seine
+Hand gestützt und von den Kindern des Dorfes umstaunt,
+schwang sie sich auf das Gefährt und griff
+in die Zügel.
+</p>
+
+<p>
+War es Einbildung? Hatte der Jammer des Krieges
+meine Augen geschärft? In dieser zarten und köstlichen
+Gestalt hatte ich deutlich den Brustkasten der
+Kindsmißhandlerin gesehen. Welch ein Scheinleben
+kutschierte da dahin? Das leichte Getrapp ihrer
+Pferde, dann das Echo ihres Getrappes hallte noch
+lange von den Felsen herüber.
+</p>
+
+<p>
+Was war es, das mich so feierlich stimmte?
+</p>
+
+<p>
+In den Gasthäusern und Hotels ging jetzt überall
+ein Klappern von Tellern und Bestecken los. Es
+wurde geläutet und gegongt, und wer nicht im Restaurant
+aß, der mußte sich bescheiden, vorgekochtes
+der Reihe nach zu essen; ein Zwang wie ein anderer.
+Da war es schöner, noch etwas zu streunen.
+</p>
+
+<p>
+Ein ungewöhnlich starker Mond stand in seiner
+ganzen Fülle; es wuchsen die Berge unter seinem
+Hauch, das Dorf erblaßte wunderbar, eine graue
+Bank ward ganz sie selbst. Die Funksprüche der
+sich bereitenden Nacht liefen wie toll alle Täler
+entlang, und schon waren alle Täler berauscht. Auf
+dem Platze hielt ein Gespann, die Gäule hielten die
+Köpfe gesenkt, als ob sie träumten. Ich lief hinzu.
+Es war die Post, die nach Maloja fuhr. Es gab noch
+einen Platz. Ich sprang hinein. Die Pferde zogen an.
+<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
+Bevor wir noch das Ufer erreichten, stieg ein Reisender
+aus. Außer mir blieb nur ein Liebespaar,
+das sich an den Händen hielt. Es war sich Mondschein
+genug.
+</p>
+
+<p>
+Den Kopf hinausgestreckt, trank ich diese Nacht,
+und hatte sie für mich allein. Nichts war mehr, wie
+es war. Der See lag im Silberschleier regungslos
+wie eine Tote, und der Mond goß Myrthensträuße
+über sie herab. Nur das Gras des Ufers
+erhob sich in gespenstiger Lebendigkeit. Sicher war
+es nur ein Spiel der Luft, daß die Berge hier zerfielen.
+Blöcke sich lösten, als sei die Welt zu Ende; Felsensäle
+bauten sich in die Klüfte ein, Riesengemächer
+warfen sich dazwischen. Es konnte nicht sein, und
+so sah die Welt nicht aus. Auch die Liebesleute
+waren anders wie zuvor. Dieser edle Pensieroso stieg
+als ein unscheinbarer Tourist in Sils Maria ein, und
+sie hatte weder dieses Haar, noch diese Lippen gehabt.
+Morgen würde hier die Sonne auf ödes Schilf vielleicht
+hinbrüten und das Paar nicht zu erkennen sein.
+</p>
+
+<p>
+Als um ein Uhr morgens der Wagen mitten in
+Maloja hielt, stieg es wortlos aus. Ich hatte kein
+Quartier bestellt und kam nicht unter. Außerhalb
+des Ortes lag noch ein Hotel. So marschierte ich
+jetzt allein die taghelle Straße weiter, geradeswegs auf
+einen neuen Absturz zu. Dort stand das Haus. Ein
+junges und verschlafenes Mädchen führte mich über
+manche Treppe hinauf: zufällig stünde das einzige
+<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
+Zimmer frei, das für Gäste reserviert blieb. Alle
+andern hielt während des Krieges die Militärbehörde
+in Beschlag. Die nächste Poststation sei italienisch.
+</p>
+
+<p>
+Sie reichte mir eine Petroleumlampe und verschwand.
+Die Stube hatte zwei Fenster und war
+schneeweiß. Ich warf den Kopf weit auf die mondbeschienenen
+Kissen zurück. So angelangt!
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Aber nicht lange, und der einsetzende Kampf
+zwischen dieser Mondnacht und der Dämmerung
+weckte mich aus dem Schlaf, Nebel mischten sich
+hinein und wollten alles für sich. Endlich ragten
+Tannenspitzen ins Leere; der Absturz war kein
+olympischer; eine Straße schwang sich, breite Kurven
+nehmend, in die Tiefe.
+</p>
+
+<p>
+Gedulde dich, Leser, auch dies Buch geht jäh zu
+Ende. Folge mir noch. Hoch steht schon die Sonne über
+das Bergland, ein anderes freilich als der vergangenen
+Nacht. Von ihrem Spiel erholt, verströmt der See
+sein Blau, nach allen Seiten, ganz verbuhlt. Myrthensträuße
+und Schleier sind vergessen und hängen als
+weiße Fäden im Gesträuch.
+</p>
+
+<p>
+Wie seltsam ist die innere Stimme in uns!
+Welcher Stachel hatte mich zu dem hart an der
+Schwelle des aufgerissenen Gebirges und kaum, daß
+es tagte, hinauf, hinab und wieder emporgetrieben,
+wo sich zu höchst der Wälder und noch in ihrer
+<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
+Mitte der See entzieht, verborgener Tränen zerflossener
+Kristall, ohne Kahn und ohne Erdenstaub;
+und dann wieder zurück in die Gaststube, um zu
+zahlen, und dann wieder aufzubrechen, mit der umgehängten
+Tasche und dem lächerlichen Hut, an der
+Waldseite des Sees den Weg einzuschlagen, den ich
+jetzt lief. Es war ein Notbehelf! Ich lief, um nicht
+zu tanzen. Denn ich war inmitten eines Festes.
+Umgeben und geborgen, als sollte die Gehobenheit
+nicht wieder von mir weichen, erreichte ich ein Dorf,
+das als Landzunge weit in den See hinausstieß und
+jenseits der Zeiten zu liegen schien. Eine alte Frau
+saß auf einer Bank vor ihrem Hause, und ich bat
+sie, mich drinnen ausruhen zu dürfen. Wir verstanden
+einander nicht, aber die Müdigkeit spricht ihre eigene
+Sprache zwischen Frauen. In einer Stube des Erdgeschosses,
+die durch ihre edle Sauberkeit den Eindruck
+des Luxus erweckte, stand eine schmale, gepolsterte
+Bank. Dort schlief ich auf der Stelle ein.
+</p>
+
+<p>
+Als ich erwachte, war der Tag noch hell, aber schon
+gebräunt vom Golde des Abends, und ich mußte
+eilen, um vor Anbruch der Dunkelheit in Sils zu sein.
+Auch für mein Herz ging jetzt die Sonne unter, und
+das Fest verklang. Von den Strapazen ausgeruht,
+war es zugleich, als sei mir durch den kräftigenden
+Schlaf, wie ein Alltagszwilch, ein gröberes Ich übergeworfen
+als das, welches seit gestern das meine
+gewesen war. Ob wohl mein Koffer eingetroffen sei,
+<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
+wo meine Brotkarte stecken konnte, wo ich absteigen
+sollte, derartiges beschäftigte mich wieder. Aber ich
+spreche von verloschenen Kronleuchtern, oh Leser,
+und du weißt noch nicht, warum sie brannten?
+</p>
+
+<p>
+Aber vielleicht hast du erfahren, daß es Träume
+gibt, deren Nachhall, statt zu verklingen, sich bleibend,
+wie ein Echo zwischen Klüften, in unserem Innern
+fängt. &mdash; Solcher Art war der durchdringende Ton
+der Mondnacht in Maloja.
+</p>
+
+<p>
+Es ist nicht gleich und nicht vergänglich, wie sich
+die Kurve eines Fußes, der Umriß einer Schulter
+anläßt, wie ein Knie sich rundet, wie eine Hüfte fällt.
+Es ist das Flüchtigste nicht gleich. Und ganz und
+gar nicht gleich, noch zufällig ist es, welchen Ganges
+wir den Hügel abwärtsgehen. Hochzeitlich können
+solche bald versenkten Dinge unverloren weiterschwingen.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Die Wolkenversammlung war noch immer nicht
+anberaumt; vielmehr vertiefte sich am nächsten
+Tage das weiß des Himmels und musizierte mit dem
+Himmelsblau über das Fextal, das bewegteste der Erde,
+auf und nieder schwingend wie eine Schaukel. Ragte,
+von unten gesehen, ein Kirchlein zu oberster Schneide
+für sich allein, so stand es, war man oben, ganz unsensationell
+in einem Wiesenviereck, und sein rostiges
+Gitter knarrte im Winde, und nur die Berge rückten
+verändert und entschlossener zusammen. Wieder in
+<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
+der Tiefe und weit hinausgeschoben, richtete ein
+Gasthaus seine Glasveranda dem Gletscher entgegen.
+Auf ihn ging ich jetzt zu. Doch mit dem Lichte
+wandelte sich mein Gemüt. Es brütete milchweiß
+von einem hohen, aber sich überziehenden Himmel.
+Hinter mir fuhr ein kleiner Wagen her. Darin saßen
+zwei Herren, die angeregt mit einer noch jungen
+Dame plauderten. Aber der Weg hörte bald auf, fahrbar
+zu sein, und ich verlor sie aus den Augen, graugrünes
+Nadelgehölz war um mich her und der entfärbte
+Fluß zu meinen Füßen. Stolperte ich jetzt
+und stürzte ich hinab, wer würde mich vermissen?
+In welchem Hause entstand eine Lücke, wenn ich
+nicht wiederkam?
+</p>
+
+<p>
+Kein Dach, kein Herd, kein Wesen; überall zu
+Gaste! keinem Menschen ungeteilt und wirklich
+zugehörig; als immer wiederkehrenden Gefährten
+die entsetzliche, gefürchtete Melancholie, die ich so
+feige, so vergeblich floh. Nun stellte sie mich angesichts
+dieses Tales der Verlassenheit. Wozu bist du
+hier? herrschte mich seine Stille an.
+</p>
+
+<p>
+Der sonnenlose Himmel über dem Nadelgehölz,
+mehr noch der Fluß, dem Gletscher hier entlassen,
+und seinen Lauf so blaß beginnend, griff ans Herz.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich stand die noch junge Dame vor mir und
+sprach mich bei meinem Namen an. Nun war stets
+meine erste Sorge, daß er in keine Hotelliste kam.
+&bdquo;Woher wissen Sie, wie ich heiße?&ldquo; fragte ich und
+<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
+wollte die Spröde spielen; aber da gab sie mir zu
+wissen, daß sie meine Bücher kenne. Sie lebte in
+Genf und war Amerikanerin. Wir wechselten einige
+Worte, dann stieg sie wieder hinab. Gleich darauf
+rollte das Wägelchen mühsam aufwärts, in dem die
+noch junge Dame mit ihren Freunden plauderte.
+Gewiß &mdash; man sah es ihr an &mdash; standen, wenn sie
+nach Hause kam, ihre Abendschuhe bereit, und ein
+freundliches, ihr ergebenes Zöfchen half ihr, sie
+anzulegen. Wie verwahrlost ich war!
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Als ich am Morgen darauf erwachte, lag weithin
+Schnee. Ich klingelte entsetzt. Der erste Postwagen
+brachte mich ans andere Ende des Tales, zum Zuge,
+und schnell in eine vom Winter noch nicht heimgesuchte
+Welt hinab, wo Zürich einer entbrannten
+Ebene zulief, die von der Glut des Sommers weiterträumte.
+Hier reißt der See ein weites Fenster nach
+dem Himmel auf: es ist die hellste Stadt der Welt.
+</p>
+
+<p>
+Aber von hier aus jagte mich eine dringende Depesche
+Fortunios fort, der mich bat, sofort nach
+Spiez zu kommen, mit dem Zusatz: &bdquo;Besitzer auf
+zwei Tage verreist.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+So war ich abends unterwegs zur Villa des Geölten,
+die ich nicht wieder zu betreten glaubte. Da war
+das Gitter, der Kiesweg, der sich so schnell verlor.
+Man sah das Haus erst, wenn man davor stand.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
+Fortunio aber war schwer krank. Verfallen, zerfurcht,
+zerwühlt. Wir aßen im Schloßhotel zur Nacht
+und besprachen die Abreise für den morgigen Tag.
+Ich fühlte meine Arme erstarken, in dem Wunsch,
+ihm zu helfen, und unser schier geisterhaft geschwisterlicher
+Bund war durch die Trennung neu erhellt.
+Am nächsten Tage aber lag er zerrüttet, ohne Energie.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Morgen, morgen&ldquo;, sagte er. Ich reiste ab, nach
+Bern, Fortunia zu alarmieren. Ihr Gesicht erinnerte
+an ein von schwerem Regen heimgesuchtes Land.
+Ohne Schonung schilderte ich seinen Zustand und
+ließ dann die Sache bei ihr. Um nicht in Bern zu
+bleiben, fuhr ich abends nach Montreux.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-2">
+HERBST 1918.
+</h3>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-3">
+Montreux.
+</h3>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">N</span>ur lachenden Auges werden hier die Zeitungen
+gekauft. Der Belgier und sein Kind waren ohne
+Schadenfreude. Die Filme arbeiten schon stark
+mit elsässischen Hauben. Sie werden lebhaft beklatscht,
+in der Voraussetzung, daß sie nicht mehr lange deutsch
+bleiben. Schließlich ein begreiflicher Jubel. Entsetzlich
+ist nur der Applaus, als englische Munitionskammern
+aufziehen, emsig mit Granatendrehen beschäftigte
+Frauen und Geschosse in unabsehbaren
+Reihen. &bdquo;Gehen wir!&ldquo; rufe ich, und wir verlassen
+das Haus. Süß schlagen die Wellen ans
+Land. Die Berge des andern Ufers erheben sich
+<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a>
+unmittelbar, als gründeten sie in den Tiefen des
+Sees. Sie sind kahl und scheinen dennoch weich,
+selbst im Dunkel der Nacht; wie Gesänge abgestuft,
+steigen und fallen und treten zurück und verhallen
+die Berge Savoyens.
+</p>
+
+<p class="dat">
+5. OKTOBER. Glasenfrosts in Villeneuve geben mir
+die Nachricht, daß Deutschland um einen Waffenstillstand
+nachgekommen ist: Mein einziger Wunsch
+ist, es möge die Welt, die es als Sieger verloren hatte,
+als Besiegter wieder für sich gewinnen. Die In-die-Knie-Zwinger
+Britanniens, die ohne Briey nicht leben
+konnten, sind mit einem Male still.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-4">
+6. OKTOBER bis Anfang NOVEMBER.
+</h3>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">F</span>ortunios sind angekommen, sie wohnen in Vevey,
+und er erholt sich. Zum ersten Male bildete sich unser
+Zusammensein als heller Punkt und geordnete Fläche
+heraus. Augenmerk und Sorge sind durch die Ereignisse
+zu sehr in Anspruch genommen, um uns bewußt zu
+werden, wie sehr es einem bekränzten Floß inmitten
+schwarzer und gestoßener Fluten glich; Und wie
+hätten wir da anders als in der Erinnerung wahrgenommen,
+daß wir schöne Tage verlebten?
+</p>
+
+<p>
+A. H. Pax ist aus Bern gekommen. Der Belgier
+und sein Kind finden sich regelmäßig ein.
+</p>
+
+<p>
+Dabei wütete die Grippe. Viele Särge harrten der
+Bestellung. In den Blumenläden häuften sich die
+<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a>
+Kränze, Halbgenesene, in tiefer Trauer, traten leichenblaß
+das erstemal vors Haus.
+</p>
+
+<p>
+Doch die Zärtlichkeit des Herbstes, seine Zärtlichkeit
+und sein Verweilen, seine Glorie ward unendlich.
+</p>
+
+<p>
+Eines Nachmittags strichen wir in den Höhen des
+Weinberges entlang. Unter einem silbern aufgerollten
+Himmel dehnte sich der See, schimmernd, unbewegt,
+ein wenig müde .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich, mit einem Ruck, fuhr der Wind weit
+und durchdringend auf, als stöhne er die ganze Erdkugel
+entlang das Ende der schönen Jahreszeit hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Im Nu schlugen die Wolken über die Sonne hin.
+Fortunio hatte den Kragen aufgesteckt, sein Hut
+rollte den Berg hinab. Wir lachten. Doch der Weg
+war weit. Schon wußte der See nichts mehr von
+seinen Ufern. Unter Nebelschauern waren alle Berge,
+ja wir selbst, unsichtbar.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Morgen war für jedes Kind ersichtlich,
+daß Fortunio die Grippe hatte, aber wir taten
+nicht dergleichen. Statt im freien, versammelten
+wir uns an seinem Lager. Man hielt es in jenen Tagen
+allein nicht aus. Bang und fröstelnd rückte man
+zusammen. Denn auf dem Streitroß, dessen Nüstern
+von Hoffart, Haß und Vergeltung sprühten, und wie
+ein Sturmgott kam ja der Friede heran. Wehe, es
+war jener Gewaltfriede, jener Macht- und Siegfriede,
+von dem in Deutschland so viel geredet worden war,
+<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a>
+und den abwehren zu wollen, den zu fürchten, als
+ein Verbrechen galt.
+</p>
+
+<p>
+Und indessen lösten sich in unserer kleinen Gruppe
+hineingetragene Dissonanzen weiter aus, und statt
+der chronischen Trübungen stimmten sich ganz ohne
+unser Zutun unsere Gemüter wie Instrumente zu
+täglicher, reinerer Melodie. Fortunias Gesicht glättete
+sich und erlangte seine Pinturichiotöne wieder, und
+während der Aufruhr stieg, bildeten wir eine uns selbst
+unvergeßlich gewordene Insel des Friedens.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Als sich die Sonne nach einer Regenwoche
+wieder zeigte, war die Welt eine andere. Das
+Renommierboot mit seinem rostbraunen Segel zog
+wieder auf, aber es blähte sich über ein gesteiftes
+und gepeitschtes Blau; die weißgeharnischten Berge
+waren näher gerückt, und wo das Laub noch grün
+geblieben war, hatte es ausgeträumt, hing ohne
+Illusion, des Todes gewärtig, und daß es fallen
+würde. Im Hotel spielte die Heizung, und ein von
+sich überzeugtes Ehepaar: le Vicomte Edmond de la
+Province, einem Roman von Claude de Bernard entlaufen:
+Madame korrekt bis ins Grab hinter der
+vorangetragenen Corsage, Monsieur im Bart, Schloßbesitzer,
+zogen schweigend über Flur und Treppe,
+und faszinierten durch ihre abgründige Zurückgebliebenheit.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a>
+Unsere Gruppe indessen hatte sich verkleinert.
+Erst war der Belgier und dann sein Kind erkrankt.
+A. H. Pax saß wieder in der Choisystraße. Das alte
+Deutschland stürzte wie eine Kulisse zusammen, und
+Trümmer waren fürs erste der einzige Ausblick.
+Fortunio, von Ungeduld verzehrt, erklärte aufstehen
+und nach Berlin reisen zu wollen. Fortunia fuhr
+nach Bern, das Haus für die Abwesenheit zu bestellen,
+und ich folgte mit ihm den Morgen darauf. Wir saßen
+einander im Zuge gegenüber, sein Husten war ein
+Gebell. Am selben Nachmittage brachten wir Fortunios
+mit Pax an der Spitze, zur Bahn und ließen sie, wie
+Flammen über das Moor, ins Weglose ziehen. Denn
+schon fluteten die aufgelösten Heere in unbeschreiblicher
+Verwirrung aus den besetzten Gebieten ins
+Land zurück. Die Lauben hinabsehend, unschlüssig
+wo ich absteigen sollte, versagten mir plötzlich die
+Knie, Fröste wie graue Blitze durchfuhren mich,
+und mein Husten war ein Gebell. Diese nicht zu
+verkennenden Symptome jagten mich wieder an die
+Station, um mit dem letzten Zuge nach Montreux
+zurückzufahren. Denn lieber, als angesichts des Gurten
+wollte ich dort erkranken, wo im Hotel Suisse als
+chefesse de réception eine so angenehme Erscheinung
+waltete, und ich den Nachtportier zum Freund besaß,
+ein komischer, alter Schwabe, den ich deutsch ansprach,
+sowie der Lift ohne Insassen und in der
+Schwebe war.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a>
+Nun war es Sonntag. Das heiße Wasser also lief.
+Vielleicht vertrieb mir eine heiße Dusche den Frost.
+Aber das Wasser war schon lau. Dafür gerieten die
+grauen Zickzackblitze in Brand und drückten mir
+eine Feuermütze ins Genick. Da ließ ich mich denn
+grippekrank melden und stellte anheim, mich aus
+dem Hause zu schaffen. Aber die angenehme Erscheinung
+aus dem Bureau kam herauf, mich zu
+beruhigen. Dann äußerte sie einige unverständliche
+Dinge und verschwand. Bald darauf trat ein Mann
+herein, den ich für einen Raubmörder hielt, gefolgt
+von einem fürchterlichen und handfesten Weib ohne
+Kopf, seiner Helfershelferin. Ich wollte rufen, da
+hatten sie mich schon gepackt. Jetzt, dachte ich, ist
+doch alles eins.
+</p>
+
+<p>
+Eine Stunde später lag ich mit aufgerissenem
+Rücken, geschröpft wie ein Hengst. Ich erzähle dies
+nur, weil ich dank dieser so immediaten und buchstäblichen
+Roßkur schon nach zehn Tagen, statt
+vielleicht nach Wochen, die Grippe spurlos überwand.
+</p>
+
+<p>
+Mittlerweile erdröhnte dem so glücklich gewesenen
+Deutschland die im Lauf seiner Geschichte noch
+immer zurückgekehrte Stunde seines Unheils. Es
+war der eine Gedanke meiner leeren Tage und langen
+Nächte; ihn auszuschlagen war unmöglich.
+</p>
+
+<p>
+Im ersten Stadium meines Fiebers fiel mir an dem
+Stubenmädchen, das hin und wieder in mein Zimmer
+trat, nichts bemerkenswertes auf, als daß sie mir
+<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a>
+sehr einsilbig und nicht freundlich vorkam. Pech!
+dachte ich.
+</p>
+
+<p>
+Am dritten Morgen aber, als sie das Zimmer
+räumte, folgte ich ihr mit den Augen, während sie
+wähnte, daß ich schlief, und das Herz stand mir still.
+Hermione! wollte ich rufen. Nein, Andromache
+im Palast des Priamus, ob ihrer Anmut erstaunt, und
+der leichteste aller Tanagra zugleich! So stand sie,
+den Besen führend, in der Mitte des Zimmers. War
+ich im Delirium gelegen, daß ich sie nicht gesehen
+hatte? Sie kam auf mich zu: &bdquo;êtes-vous plus mal?&ldquo;
+Aber ich wehrte ihr mit beiden Händen ab. &bdquo;Cela
+m&rsquo;est égal&ldquo;, sagte sie, &bdquo;de prendre la grippe.&ldquo; Was
+war melodischer, dieser Mund, diese Lippen oder
+diese Stimme? &mdash; Und ein solches Geschöpf umgab
+mich mit ihrer Pflege. Welch unerhörter Luxus!
+Die Sonne ging vor meinem Fenster auf, alles Leben
+im Geleite, und lachte des Todes bis zum Mittag.
+Pauline Glasenfrost kam täglich aus Villeneuve,
+brachte die Zeitungen, beschenkte mich und spottete
+der Ansteckung. Knirschend las ich alle Noten und
+Appelle an die Großmut der Sieger. Welche Verkennung
+der Situation! Aber was bedeutete dieses
+Versagen angesichts der Würde, welche ein solches
+Unglück gab? Und wiederum würden nur die Unschuldigen
+leiden. Die Taktik der Sieger würde es
+den Schuldigen ermöglichen, sich herauszureden.
+Schon damals sah man es kommen. &mdash; Ich läutete
+<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a>
+und bat Hermione, mir von sich zu erzählen. Sie
+stammte aus dem Wadtlande. Ihre Heimat lag hoch
+über den Weinbergen und hatte die Gletscher im
+Auge. Ich bat sie, einen hellen Mantel von mir anzulegen.
+Wie er ihr stand!
+</p>
+
+<p class="dat">
+8. NOVEMBER. Bevor mein Freund, der Nachtportier,
+zur Ruhe ging, brachte er noch die erste
+Post. An diesem Morgen trat er ein, reichte mir ein
+Extrablatt und verkündete lakonisch: &bdquo;In Bayern
+ist Republik.&ldquo; Mein erstes Gefühl war kein gelinder
+Schrecken. &bdquo;Es mußte kommen&ldquo;, sagte ich dann.
+Der Portier war Demokrat. &bdquo;&rsquo;s isch recht. Runter
+mit dem Zeug&ldquo;, sagte er und ging. &mdash; So war also
+Bayern Republik. Das Extrablatt war nur ein
+kurzer Wisch; eins aber wußte man sofort: daß
+dieser so wenig ästhetische König nie wiederkehren
+würde. Die Wittelsbacher waren stets Liebhaber
+des Schönen gewesen, und in ihrer natürlichen
+Diskretion eines der sympathischsten Fürstenhäuser
+der Welt. Daß er aber auch nicht eine einzige
+ihrer typischen Eigenschaften besaß, sondern durch eine
+sture Haltung während des Krieges, sowohl in der
+elsaß-lothringischen, wie in allen politischen Fragen
+statt vermittelnd zu wirken, überall nur Unheil anrichtete,
+flößte die geradezu unwiderstehliche Abneigung
+für ihn ein.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich blieben Briefe und Zeitungen ganz aus,
+<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a>
+und die Spannung wurde unerträglich. Es wehte
+eine scharfe Bise, doch ich fuhr nach Villeneuve.
+Vielleicht hatten Glasenfrosts etwas gehört. Sie
+waren von den rührend beseelten Manifesten Eisners
+sehr eingenommen, und wirklich hatte man in diesen
+Tagen die Illusion, am Anfange einer besseren Zeit
+zu stehen, ob es sich auch nur um eine einzige, schnell
+aufgehaltene Stunde handeln sollte. Und nicht einmal
+ihr ließ man Zeit. &bdquo;Man verlange von uns nicht,&ldquo;
+beeilte sich die die Politik Clemenceaus vertretende
+Freie Zeitung zu schreiben, &bdquo;daß wir uns mit dieser
+Sache da, genannt deutsche Revolution, ernstlich
+befassen.&ldquo; Und man eiferte um die Wette, sie zu
+&bdquo;dieser Sache da&ldquo; zu machen. Sie hatte es schwer,
+alle Konjunkturen dafür um so leichter. Schon war
+sie wie eine Decke, um deren Enden sich die Schuldigen,
+die Unlauteren, die Banditen rissen, und alle
+Karrierejäger gerieten wieder ins Laufen. Wer hätte
+gedacht, daß alle die dienstbeflissenen jungen Herren,
+die mit umgeschnallter Seitentasche so flink und so
+stramm ins Hauptquartier Meldungen überbrachten
+und entgegennahmen, überglücklich, bis zu Ludendorff
+in Person vordringen zu dürfen, daß sie im
+Grunde ihres Herzens solche Feinde des Systems
+und so demokratisch waren? Nie sah die Welt ein
+vom alten Regime so gut besuchtes nouveau régime!
+</p>
+
+<p>
+Suchte man im eigenen Garten das scheue Pflänzchen,
+das mitten im Sturme Morgenluft witterte,
+<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a>
+von allen Seiten an beliebige Stakete zu biegen, und
+sah es das Ausland mit begreiflichem Mißtrauen
+keimen, so erfuhr man in der Schweiz infolge des
+gerade in diesen Tagen einsetzenden Generalstreikes
+überhaupt nichts davon: er stand allein im Vordergrund
+und beschäftigte alle Gemüter. So wurde
+hier, gerade in ihrer kurzen Glanzzeit, die deutsche
+Revolution unterschlagen.
+</p>
+
+<p>
+In jenen aufregenden Wochen kam ich wieder mit
+Romain Rolland zusammen. Mehr als je zeigte er
+sich jetzt als der Mann ohne Illusion, was Wilson,
+ob er auch dessen guten Willen nicht in Frage stellte,
+und was die Entwicklung der Dinge betraf. Ich
+fand ihn viel zu skeptisch.
+</p>
+
+<p>
+Im selben Hotel, wie Glasenfrosts und Rolland,
+wohnte auch eine Schweizer Familie, die sich sehr
+für ihn interessierte, durch seine große Zurückhaltung
+aber in Schach gehalten fühlte. Eines Mittags, da ich
+bei ihr zu Gaste war, bat ich ihn, ein übriges zu
+tun, und sich zu uns zu gesellen.
+</p>
+
+<p>
+Ich sehe ihn so deutlich vor mir, wie er an jenem
+Tage, seine alte Mutter am Arme führend, in seiner
+ruhigen und ein wenig geheimnisvollen Art zu uns
+stieß. Das Gespräch drehte sich natürlich um den
+Generalstreik und dann um den Bolschewismus; für
+die Westschweiz hätte man zum Glück ein treffendes
+Agitationsmittel gegen ihn, da er deutscher Import
+sei. Rolland schwieg.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a>
+&bdquo;Der hat der Welt gerade noch gefehlt&ldquo;, sagte
+ich, und sah einladend zu ihm hinüber, damit er
+sich äußere. Vergebens. Er erwiderte nur auf direkte
+Anfragen und ohne eine Meinung abzugeben. So
+sprachen halt in Gottes Namen nur wir. Ich ging
+dann zu Glasenfrosts hinüber und schilderte das
+mißglückte Beisammensein, bei dem ich zuletzt als
+verzweifelte Wortführerin die Grippe, die Witterung
+und endlich die Tatsache erörtert hatte, daß jede
+Stadt, ja jeder Ort ein anderes Modell für seine
+Leichenwagen besäße. Aber auch diese originelle
+Wendung fiel unter den Tisch.
+</p>
+
+<p>
+Es hatten Regenschauer eingesetzt, und Glasenfrosts
+hielten mich noch eine Weile zurück. Wir
+waren uns in diesen Tagen noch sehr einig, und er
+hielt sich bereit, nach München zu fahren und Eisner
+bei Seite zu stehen. Vielleicht hatte doch die Geburtsstunde
+des tausendjährigen Reiches geschlagen, und
+die Gefallenen waren nicht umsonst an seiner Schwelle
+geblieben. Waren sie nicht schon ein einziges Heer?
+</p>
+
+<p>
+Aber Rollands rätselhafte Haltung ließ mir keine
+Ruh, und als ich endlich aufbrach und die langen,
+klosterähnlichen Gänge des Hotels entlangging, machte
+ich plötzlich kehrt und klopfte, ohne mich zu besinnen,
+an seine Türe. Es war ein kleines Durchgangszimmer,
+mit einem bescheidenen Pianino, auf
+dem sich Musikalien häuften. Rolland stand in Hut
+und Mantel, im Begriffe auszugehen, und sah mich
+<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a>
+erstaunt an. &bdquo;Es tut mir sehr leid,&ldquo; sagte ich, &bdquo;Sie
+so zu überfallen. Aber ich möchte wissen, was Sie
+eigentlich denken. Sie schweigen sich aus, Sie lächeln
+ein wenig hämisch, und das ist alles. Wer soll da klug
+daraus werden? &mdash; Ich frage Sie nicht aus Neugier.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Rolland legte seinen Hut auf das Klavier.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Sie sind so ahnungslos,&ldquo; sagte er, &bdquo;Sie wissen so
+wenig, was sich bereitet.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Aber doch nicht der Bolschewismus&ldquo;, rief ich.
+&bdquo;Das ist doch nicht Ihr Ernst! Und Sie sind doch
+kein Bolschewik.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Nein,&ldquo; sagte er, &bdquo;aber ich habe nicht Ihre summarische
+Auffassung des Problems.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Das neuerwachte Deutschland&ldquo;, sagte ich, &bdquo;wird
+die Welt davor retten.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Rollands Züge nahmen einen müden Ausdruck an.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Ich bin voll guten Mutes&ldquo;, fuhr ich fort. &bdquo;Haben
+Sie die letzten Aufrufe gelesen? Diese Absage an
+jegliche Gewalt? Eine neue Ära hat ihren Anfang
+genommen. Wir haben unseren Militarismus zum
+Teufel gejagt. Endlich schlägt die Stunde, wo man
+sich angesichts eines wahren, befreiten und sympathischen
+Deutschlands auch seiner unsäglichen
+Leiden entsinnen wird.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Kommen Sie,&ldquo; lächelte Rolland, &bdquo;welches Interesse
+haben heute die Sieger an einem sympathischen
+Deutschland?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a>
+&bdquo;Aber nicht nur die Sieger&ldquo;, versicherte ich. &bdquo;Die
+ganze Welt hat ein Interesse daran, daß die deutsche
+Revolution aus den Verirrungen der französischen wie
+der russischen lerne und endlich jene vorbildliche
+und maßvolle sei, welche die Menschheit ihrem
+Glücke näherbringt. Und alle Anzeichen sprechen
+dafür: Hören Sie doch, mit welch reinen Glockentönen
+sie sich kündet. Oh sie wird schön!&ldquo; Rolland
+lächelte nicht mehr. &bdquo;Sie wird furchtbar!&ldquo; sagte er.
+&bdquo;Morgen schon wird Eisner sich überrannt sehen
+und seine Gegner zu beiden Seiten haben. Der
+Bolschewismus ist in Rußland nicht nur durch die
+Stoßkraft der Linken, sondern mehr noch durch den
+Gegendruck der Rechten das geworden, was er heute
+ist. Man kann die Deutschen nicht genug verwarnen.
+Wenn auch bei ihnen die Reaktion eine Bewegung
+zu unterdrücken unternimmt, die wie ein ausgetretener
+Strom heranbricht, so werden sie ganz ähnliche
+Zustände herbeiführen. Es ist absurd, seiner
+elementaren Gewalt morsche Dämme entgegenzustellen,
+statt sich seinem Lauf anzupassen, und was
+er lebendiges heranträgt, zu vertreten. Unsere
+Gesellschaft hat ihre Berechtigung gehabt, aber sie
+hat versagt, und ihre Zeit ist um. Mögen wir es noch
+so sehr bedauern, mag viel Schönes mit ihr untergehen,
+die Reihe ist nicht mehr an uns, sondern an
+den anderen. Nichts kann diese Tatsache aus der
+Welt schaffen. Wir müssen uns zu ihr stellen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a>
+&bdquo;Sollen wir denn alle Holzhacker werden?&ldquo; fragte
+ich betreten.
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Der Typ des Literaten,&ldquo; entgegnete Rolland, &bdquo;dem
+wir seit einigen Dezennien so vielfach begegnen, wird
+jedenfalls verschwinden, und ich weine ihm nicht
+nach. Ein Gespräch mit nach Bildung strebenden
+Handwerkern ist mir heute schon viel genußreicher
+und interessanter. Was der Literat mir sagen wird,
+weiß ich von vornherein.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Mein Gott,&ldquo; seufzte ich, &bdquo;es pflegen nicht einmal
+die Könige freiwillig abzutreten, viel weniger
+ganze Kasten. Sie werden den Kampf aufnehmen
+und uns eine blutige Morgenröte bescheren. Was
+ist zu hoffen?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+&bdquo;Nichts für die Gegenwart, sie ist zu korrupt&ldquo;,
+sagte er. &bdquo;Aber alles für die Zukunft. Ich bin kein
+Pessimist.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Rollands Worte, die ich auf dem Heimweg überdachte,
+waren viel reichhaltiger und prägnanter, als
+ich sie hier aus dem Gedächtnis wiedergebe. Wenn
+aber eine neue Klasse zur Herrschaft gelangte, würde
+sie weniger versagen, als alle anderen, und war anzunehmen,
+daß ohne furchtbare Erschütterungen die
+frühere Gewalt sich von der neuen aus dem Sattel
+heben ließe und etwa mit Rolland eingestehen würde,
+&bdquo;ihre Zeit sei um?&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Meine Eindrücke von St. Moritz schwebten mir
+vor, und ich dachte an Hermione, wie edel sie war.
+<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a>
+Aber war nicht alles erlesene prozentual? Was
+also stand von den Massen zu gewärtigen? Die
+Macht selbst mußte abwirtschaften und sich auf
+neuer Basis konsolidieren. War nicht allem Anschein
+nach die Ära der schlechten Päpste geschlossen,
+weil sie verhältnismäßig machtlos geworden waren?
+Anderseits hätte der Papst die Rolle Wilsons mit mehr
+Glück, mehr Einblick in die europäischen Verhältnisse
+übernehmen können, wäre er so mächtig gewesen
+wie er. Macht also war und blieb die Losung. Eine
+Macht jedoch, die keine Lockung dem Gemeinen
+böte, ganz auf Erprobung ihrer Träger begründet,
+ohne Vorteile für ihn, ohne Befriedigung des Ehrgeizes,
+anonym vielmehr, Verzicht und Selbstentäußerung
+bedingend, als Stein des Weisen der Weise
+selbst. Oh Zarastro, Herr der weltabgewandten,
+namenlosen Gewalt!
+</p>
+
+<p>
+Schwer und langwierig, immer wieder aufgehalten
+und die Anspannung von Generationen erfordernd,
+aber nicht unmöglicher als die endlich geglückte
+Beherrschung der Luft, wäre die gleichsam auf immer
+luftigeren Pfeilern emporgehobene, in sich selbst
+beruhende Macht.
+</p>
+
+<p>
+Ich ging, vom Winde förmlich vorangetragen, den
+Weg nach Montreux. Die Wellen zogen in finsteren
+Reihen zum Angriff, und war dort nicht die Weide
+von Territet, sie, die im Frühling in den Schleiern
+ihres jungen Grüns vor Entzücken über sich selbst
+<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a>
+zerfloß? Nun aber schlug der See mit großem Getöse
+bis zu ihnen auf, die müde niederhingen bis zu ihm;
+Und dort hinter seinem Gatter hatte angesichts der
+Ufer ein Tulpenbeet geblüht. Die stillsten aller
+Blumen standen dort so sanft und so gerade! oh Weide
+von Territet! Oh stille Tulpen, mit denen ich gewesen
+war! Was blieb ich am Gitter hängen, die
+Hände an die Schläfen gepreßt, der Knecht mit dem
+Talent des einzigen Gedankens? Törichte Hoffnungen
+hatten mich schon wieder hingerissen, denn
+der Winter unserer Leiden stand noch aus. Der
+Stein aber, mit dem ich mich schleppe, zermalmt
+mir das Hirn. Wer legt das Fundament des sich
+immer schroffer nach innen ziehenden Baues, mit
+den immer abweisender sich schließenden immer
+geheimeren Pforten, durch keine andere Gewalt zu
+sprengen, als jene, welche der Himmel leidet.
+</p>
+
+<p>
+Die Theorie einer immer strengeren Auslese &mdash;
+der Natur selber entnommen &mdash;, weit entfernt, eine
+hochfahrende zu sein, ist ja die demütigste der Welt.
+Keine führt so tief in unser Inneres hinab, um aufs
+neue dasselbe Schauspiel wie nach außen zu enthüllen.
+Denn hier sieht sich der Berufene noch einmal
+einem ganz ähnlichen Kampfe überwiesen. Wie
+unbegreiflich sind oft seine Schwächen! ebensovielen
+untergeordneten Wesen vergleichbar sind sie gegen
+ihn in Aufruhr und sind beständig die Schlingen
+gelegt. Daß der Gerechte siebenmal des Tages fällt,
+<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a>
+konnte nur ein Gerechter äußern. Zwar ist sein
+Merkmal, sich immer wieder aufzurichten und einzuholen.
+Aber jedes versagen läßt an Boden verlieren,
+die Gelegenheiten sind gezählt, und eines
+Tages ist man hinter sich zurückgeblieben. Keiner
+ist auserwählt, der sich nicht durch eigene Kraft
+dazu vermochte. Berufener und Auserwählter, wie
+gefährdet sind beide! Denn so manchen, der seinen
+behielt, stürzte ein Laster von seiner Höhe.
+</p>
+
+<p class="tb">
+*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br />*
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Und nun kam ein Tag, an dem Montreux, bunt
+wie ein Jahrmarkt, den tollsten Anblick bot, seitdem
+es stand. Alle Länder der Erde &mdash; bis auf die paar
+niedergerungenen &mdash; beflaggten das Ende des Krieges.
+Und nicht nur an den Dächern und von den Fenstern,
+den Mauern und Toren, sogar an den Menschen
+selbst schlugen Fahnen hin und her; von den Jacken,
+den Hüten, ja den Händen der Kinder zogen Fähnchen
+auf. Schon sprangen die internierten Offiziere
+mit sehr deutlicher Siegermiene (kannte man die
+nicht von Potsdam her?) von den Autos ab. Es war
+ein allgemeiner Jubel, von Hohn und Verwünschungen
+untermischt. Wer diesen Tag hier erleben mußte,
+der erwartete nichts. Dem kündete sich der Geist
+des Friedens von Versailles und Saint Germain.
+Das jubelnde Gewoge, die Saturnalien von Fahnen
+raubte mir die Fassung. Ich lief meinen hervorbrechenden
+<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a>
+Tränen davon, die Häuser entlang,
+am Bureau des Hotels vorbei, in mein Zimmer
+hinauf, wo ich mir den Schleier vom Gesicht riß:
+ein Klageweib! &mdash; Prophetin meines eigenen Schicksals,
+als ich zu Anfang dieses Krieges schrieb: &bdquo;Leute
+wie wir, werden am Tage des Sieges sich verkriechen
+müssen, denn immer wird es Jerusalem und seine
+Kinder sein, um die wir weinen werden.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Die Hungerblockade blieb von den Siegern, die für
+Recht und Menschlichkeit gekämpft hatten, über den
+erdrückten Gegner, auch nach Einstellung der Feindseligkeiten,
+verhängt. Und es lag, wie Rolland mir vorhergesagt
+hatte, nicht im Interesse der Sieger, die edle
+und gepeinigte Opposition in Deutschland zu stützen.
+Eine unsympathische Regierung als Aushängeschild
+des deutschen Volkes aufrechtzuerhalten, gehörte vielmehr
+zu den strategischen Notwendigkeiten dieses
+Winters der Friedenspräliminarien von Versailles. Da
+ich kein Kriegsbuch schreibe, seien die nächsten
+Monate überschlagen.
+</p>
+
+<p>
+Während dieser Zeit fuhren die Militaristen aller
+Länder fort, sich wacker in die Hände zu arbeiten,
+und über jede Härte und Unmenschlichkeit der
+Alliierten triumphierten die Anstifter der Verwüstungen
+und Deportationen. Denn so kam doch ihre Mühle
+wieder ins klappern, und das Wort von der &bdquo;erdolchten
+Front&ldquo; schnupperte aushorchend in der Luft. Damals
+wurde ich aufgefordert, so manchen ganz vergeblichen
+<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a>
+und würdelosen Appell zu unterzeichnen,
+mit dem Hinweise, früher hätte ich zu protestieren
+gewußt, jetzt, wo die Untaten von der andern
+Seite geschähen, schwiege ich mich aus. Ich zog
+es aber vor, auch hier meine Kundgebung solo zu
+verfassen; sie erschien in der Neuen Zürcher
+Zeitung.
+</p>
+
+<p>
+Denn sie hatten ja recht: es galt zu sagen, daß diese
+ganze Welt ununterschiedlich des Teufels war. Traurig
+stimmte es nur, daß all die Mahnrufe und das viele
+Aufbegehren aus den Reihen derer stammten, die
+vielfach kein Recht dazu besaßen, während sie schwiegen,
+die wirklich Unschuldigen, abscheulich in Stich
+gelassenen, Betrogenen, die während des Krieges auf
+Gefahr ihres Lebens ungenannt und langen Mutes
+vor Gottes Angesicht das wahre Deutschtum vertraten.
+</p>
+
+<p>
+In der Opposition entdeckten sie jetzt alle ihr Herz.
+Mit welch herrlichem Gefühl und welch aufrichtendem
+Stolze stand Heinrich Mann der Republik
+zu Pate! dort riß nicht ein einziger aus; bei dem
+vielverfolgten Lichnowsky, laut des Friedensvertrages
+tschechisch gewordenen Magnaten, angefangen,
+der sich als Deutscher erklärte; was ich wirklich
+nicht erwähnen würde, hätten nicht so viele Patrioten
+aus ihren Papieren fremdländische Patente herausgeklügelt
+und sich mit einem Male als Schweden,
+Schweizer, Holländer, sogar als Engländer präsentiert.
+<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a>
+Die beste Illustration für den Nationalismus,
+die es geben kann.
+</p>
+
+<p>
+Jenes Wort, welches mir seinerzeit so verübelt
+wurde, daß es Boches in jedem Lande gäbe, sollte
+sich übrigens nur zu sehr bewahrheiten. Jeder Militarist,
+gleichviel welcher Staatsangehörigkeit, ist ein
+Boche. Und wenn er Schimpanse zu Aufsehern eines
+Volkes bestellte, das der Welt einen Grünwald geschenkt
+hat, so wäre er eben ein Boche; jener Grünwald
+aber, ob er sich ihn noch so oft holte, ei, der
+bleibt deutsch.
+</p>
+
+<p>
+Als ich um die Blütezeit zum ersten Male
+wieder das deutsche Ufer des Bodensees sah,
+war ich von der Pracht seiner Bäume bewegt. Diese
+wenigstens konnten dem armen und geschlagenen
+Lande nicht genommen werden. &mdash; Und diese eben
+hatte es dem andern mit großer Genugtuung meilenweit
+abgehackt. Es ist ja das typische Merkmal des
+Militaristen, zu glauben, daß er den andern trifft,
+wo er sich selber entehrt.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-5">
+FEBRUAR 1919.
+</h3>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">M</span>it dem Berner Internationalen Sozialistenkongreß,
+dem seit August 1914 einzigen Ereignis von wahrhaftem
+Sein, das mitzuerleben mir vergönnt war,
+schließt dieses Buch.
+</p>
+
+<p>
+Hoch über den Bernina-Alpen und dem Julier
+türmten sich die Wolken zu goldenen Toren und
+<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a>
+zu glühenden Rossen. Phaeton, wieder erstanden,
+lenkte sie wieder, die italische Ebene im Angesicht.
+Die Spuren der Räder, waren sie nicht der
+Rauch, der am Himmel verflog, während nach Norden
+hin das Gebirge zu Tod erblaßte? Auch der nach
+Süden gerichtete Wald starrte unter der Last des
+Schnees. Doch die Luft wehte so befiedert leicht
+über ihn hin, und es herrschte ein Licht wie über
+Palmen. Man hatte Glatteis unter den Füßen und
+war dem Winter entronnen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Fortunios Gesicht war wie zerhöhlt von
+Ungeduld. &bdquo;Haase ist schon in Bern,&ldquo; sagte er, &bdquo;der
+Kongreß ist im Gang. Wir müssen hinab.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Da es der erste war, dem ich beiwohnen sollte, verband
+ich weiter keine Vorstellung mit ihm, als die
+mehr oder minder langweiliger Reden, und ohne
+sonderliche Erwartungen betrat ich zum ersten Male
+den Saal. Kein Delegierter aber drängte von nun
+an eiliger zu ihm zurück. Oft war er in der Mittagspause
+noch geschlossen, als ich schon davor wartete.
+</p>
+
+<p>
+Zu den Morgensitzungen ging Frau v. Schreckenburg
+mit mir. Nachmittags saß ich am Tische mit
+Fortunios, vor uns die Franzosen. Da waren Renaudel,
+Cachin, Longuet, Rappaport, Loriot, Faure, dann
+kam der englische Tisch mit Henderson, Macdonald,
+Norman Angel. Von dort leuchtete das leichte Gold
+von Mrs. Snowdens Haar. Sie trug keinen Hut.
+Der schöne, zarte und energische Kopf war der Lichtpunkt
+<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a>
+des Hauses. Die Deutschen und Österreicher
+saßen ganz vorn, zu weit entfernt, um sie zu unterscheiden,
+es sei denn, daß sie sich erhoben.
+</p>
+
+<p>
+Bleich, abgezehrt, den schmalen und ehrwürdigen
+Kopf ein wenig seitwärts, stahl sich im fahlen Schein
+des Wintervormittags der, eben von der Bahn gekommene
+Eduard Bernstein bescheiden herein. Die
+französischen Sozialisten sahen ihn zuerst, eilten auf
+ihn zu und begrüßten ihn stürmisch. Daraufhin
+erhob sich der ganze Saal zu einer Ovation. Wie frohlockte
+da mein undemokratisches Herz!
+</p>
+
+<p>
+Als Viktor Adler auf das Podium trat, gaben
+wiederum die Franzosen das Zeichen zu einem lang
+andauernden Applaus. Adler war der Motor des
+Kongresses. Unerbittlich die Mitte einhaltend, wies
+er jede Parteilichkeit schroff zurück, von welcher Seite
+sie auch stammte; ihm war das gleich. Sein blasser
+Löwenkopf tauchte dann zum Angriff auf: &bdquo;Un homme
+politique, mais pas de bonne politique&ldquo;, forderte er
+Renaudel heraus. Seine Stimme klang wie Erz. Aber
+allen Differenzen, Vorwürfen, Ausreden, Angriffen zum
+Trotz fing eine Einigkeit sich herauszuschweißen an,
+und wie unter einem glühenden Hammer stoben Funken
+zu einer Garbe auf. Haß schmolz zu Mitgefühl. &mdash;
+Zwar wurde jenen deutschen Delegierten, welche die
+Politik ihres Landes zu verteidigen suchten, prompt
+die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens zu
+Gemüte geführt, stellten aber dann ihre Angreifer
+<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a>
+den deutschen Militarismus immer wieder allein an
+den Pranger, so wurden sie regelmäßig von Zwischenrufen
+wie: &bdquo;Et le militarisme français! et le nôtre!
+et tous les militarismes!&ldquo; von der französischen Linken
+unterbrochen.
+</p>
+
+<p>
+Überhaupt war dieser französische Block der beste,
+der wärmste. Von ihm ging das Unbehagen aus, wenn
+ausschließlich das deutsche Sündenregister stieg. Scheu,
+Zartgefühl, Respekt (ja Respekt!) vor dem Geschlagenen
+(weil geschlagen), sie stammten von dort. Und schon
+gärte die Atmosphäre wie ein starker Wein. Klug wie
+ein Erzengel ließ der hochaufgerichtete Huysmans
+mit dem schönen Donatellokopf bei den Reden,
+die er französisch und englisch übersetzte, alles Unwesentliche
+fallen. Oft waren sie lebendiger als im
+Original. Behender löst kein Eichkätzchen die Haselnuß
+aus ihrer Schale.
+</p>
+
+<p>
+Ach, so viele gute Menschen waren hier! Unbeweglich,
+als wäre er nur eine Zimmerpalme, hielt sich
+unser aller A. H. Pax im Hintergrund; und wie
+Kerzenlicht im Mittagsscheine tauchte bald hier, bald
+dort Fortunio unauffällig auf.
+</p>
+
+<p>
+Hin und wieder kam in Frack und weißer Binde,
+pour finir sa soirée, ein Attaché gegangen und wirkte
+in dieser so weit vorgreifenden Luft wie eine Varieténummer
+aus einer veralteten und komisch gewordenen
+Welt. Der eine oder andere blieb gebannt, und die
+Geschniegeltheit fiel von ihm ab.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a>
+Die Fürstin Patschouli aber war sehr ungehalten,
+was sie nicht hinderte, mir zwischen zwei Sitzungen
+ihren stärkenden Kaffee zu brauen. Sie wollte wissen,
+wer mich denn so interessierte. Ich nannte einige.
+&bdquo;Quels noms!&ldquo; sagte sie, zum Himmel emporblickend.
+</p>
+
+<p>
+Als Partei interessierte mich ja der Sozialismus so
+wenig wie jede andere. Aber das Ergebnis der kapitalistischen
+Ära war ein wirrer Knäuel ineinander
+verbissener Verbrecher, und es war eine Welt, welche
+der Sozialismus jedenfalls nicht bereiten half. Er hatte
+keinen Teil an ihr. Deshalb nur gab es keine andere
+Brücke als ihn, denn er war nur ein Weg, der weiterführt,
+indem er zurückgelegt und überwunden wird,
+niemals ein Ziel.
+</p>
+
+<p>
+Woher kam es aber, daß er, der angeblich auf rein
+materialistischer Grundlage beruhte, er allein unter
+allen Parteien, ohne Anstoß zu erregen, christliche
+Gleichnisse anführen durfte. Warum, statt Schamröte
+in die Stirn zu treiben, war es so rührend, wenn
+der geistvolle Longuet, der auf dem Podium auf und
+ab zu gehen pflegte, während er sprach, ein Zitat aus
+den Evangelien gebrauchte, oder wenn Mrs. Snowden
+eine Rede mit den Worten schloß: denn wir sind
+Brüder?
+</p>
+
+<p>
+Nach ein paar Tagen kannten wir einander fast alle.
+Einmal fielen wir an eine Tafel aus im geschlossenen
+Raum; eine unbändige Heiterkeit bemächtigte sich
+unser, aber wir blieben sitzen. Ich spielte mich auf
+<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a>
+die Wirtin auf und machte die Tischordnung, als sei
+das Essen von mir, A. H. Pax vermißte die Schnäpse,
+und wir kamen nicht aus dem Gelächter. Etwas in
+unserer Befreitheit erinnerte dabei ganz deutlich an
+jenes Gastmahl im Neuen Testament, von welchem
+der nicht im Feierkleide erschienene Eindringling in
+die äußerste Finsternis zurückgewiesen wurde. So
+hatten auch wir keine unsicheren Gestalten hereingelassen.
+</p>
+
+<p>
+Ich werde mich schwer hüten zu sagen, wer meine
+Tischnachbarn gewesen sind. In streng geschiedenen
+Gruppen, die einander nicht mehr kannten, fanden
+wir uns im Saale wieder ein. Denn wie der Chor der
+Gefangenen in &bdquo;Fidelio&ldquo; wußte man sich belauscht
+mit Aug&rsquo; und Ohr, und vermied es, von Lager zu
+Lager sich zu grüßen.
+</p>
+
+<h3 class="subchap" id="subchap-0-4-6">
+Der Sonntag.
+</h3>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">E</span>r bildete die große Orgelpause des Kongresses.
+Um so lebhafter war in der Stadt das hin und her.
+Als ich die Treppe des Hotels Bellevue hinabging
+stieß ich mit Kurt Eisner zusammen. Er war schwarz
+und ganz neu angezogen. Auch der schwarze Schlapphut
+war neu. Wir wechselten ein paar Worte. Ich
+kannte ihn zwar noch nicht, aber so hielt man es in
+jenen Tagen.
+</p>
+
+<p>
+Leider war mein Zimmer winzig klein. Um Raum
+für den Kaffeetisch zu schaffen, mußte das Bett zum
+<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a>
+Sofa werden, und ich schüttete Kissen gegen die Wand.
+Um fünf Uhr erschien Haase. Der niedere Kragen,
+Kleidung, Struktur waren die eines Mannes aus dem
+Volk. Dabei lag in der Haltung des Rückens und der
+Schultern eine ungemeine Würde. Aber wenn sie
+Widerstand und Energie ausdrückten, so sprachen sie
+auch von rücksichtslosem Verbrauch sich verzehrender
+Kräfte.
+</p>
+
+<p>
+Auf dieser Figur eines Arbeiters saß ein Kopf,
+ganz beherrscht von stark auseinanderliegenden, majestätisch
+geweiteten Augen. Psychologisch viel zu neu,
+um an einen Rembrandt zu erinnern, schien er zugleich
+durch die Straffheit der bis zum Reißen gespannten
+Züge und ihr tragisches Kolorit nach begeisterten
+Evokationen seines Pinsels zu rufen. Wie der Ratsherr
+einer noch nicht errichteten Stadt &mdash; die Leidenswerkzeuge
+unsichtbar im Wappen eingetragen &mdash;, so
+blickte, so ging, so bewegte sich Haase, so saß er
+jetzt in unserer Mitte, die Zeit besprechend und die
+Gefahren des revolutionären Deutschlands. Wir
+hörten zu. Es wäre falsch, von Ahnungen zu reden.
+Die Bangigkeit um einen Mann von Haases Edelsinn
+und Güte war ganz instinktiv.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich klopfte es. Die Stimmung und Geborgenheit
+unseres Zusammenseins war mit großem Geklirre
+dahin. Bestürzt sah ich Eisner eintreten, den ich doch
+gebeten hatte. Aber eine so andere Zone des Geistes
+brach mit ihm ein. Er trug sich wie am Morgen
+<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a>
+komplett in Schwarz, kein Stäubchen, vom schwarzen
+Schlapphut bis zu den Stiefeln (wie um die Reporter
+lügen zu strafen, die seine nachlässige Kleidung verkündet
+hatten). Halb Wotan, halb Konfirmand &mdash; grau,
+nur der schüttere Bart und die müde Farbe des Gesichtes.
+&mdash; Fortunios und ich saßen jetzt zu dritt auf
+dem Bett, und alle allgemeineren Themen traten vor
+dem besonderen der bayrischen Revolution zurück.
+</p>
+
+<p>
+Eisners romantische Schwäche für Bayern verriet
+sich sogar in einem hin und wieder freiwillig angeschlagenen
+Dialekt, dessen Unnatur etwas rührendes
+hatte. Und so war es mit der Revolution; sie war das
+Abenteuer seines Herzens, sein Geniestreich; was
+aber an dem Bilde fehlte, war die Kenntnis Bayerns:
+die Bayern, die sich hinreißen lassen, sind nicht dieselben,
+die sich wieder eines anderen besinnen .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Etwas an München wird vielleicht noch lange bewirken,
+daß neue Sterne darüber aufgehen, etwas
+bewirkt aber, daß sie schnell wieder zu verlöschen
+drohen, günstige Konstellationen geraten dort sogleich
+mit entgegengesetzten in Brand. Eisner erzählte wie
+ein Rhapsode und besaß kein Ohr für das vielfältige
+Rauschen der mitten im Sturm entrissenen Meeresmuschel.
+Dies gab seinem Liede den schrillen und
+beängstigenden Ton. Haase das Wort abschneidend,
+erzählte er von dieser und jener Episode, die alles verderben
+sollte, und wider erwarten alles gelingen
+machte. Und Haase ließ ihn, wie ein älterer Bruder
+<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a>
+gewähren. Bei ihm war die Basis viel breiter; er wirkte
+harmonisch wie eine Orgel, die Macht war die Sache
+für ihn, für Eisner dagegen war sie die Arie, seine
+Bravourarie, an die sein Ohr sich fing. Nur wer näher
+zusah, gewahrte inmitten der scheinbar selbstgefälligen
+Glorie den erloschenen, weltabgewandten Blick und
+die bereite, heroische Absage an das Leben. Zu Haase
+gewendet: &bdquo;Das wäre der Gipfel meiner Laufbahn,&ldquo;
+sagte er, &bdquo;mit blauweißen Fahnen gegen Preußen zu
+ziehen.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Aber &bdquo;Fahnen&ldquo; hatte er gesagt. Fahnen, Feste,
+Ansprachen, solcher Art waren die sündenlosen Waffen,
+zu welchen er griff. Für so ehrwürdige Ansichten
+belehrte ihn die rohe Kugel eines besseren, und schlug
+sich dies musische Haupt gegen das Pflaster zu Tode.
+</p>
+
+<p>
+Spät verließen wir an jenem aufregenden Abend
+meine Zelle: die beiden Delegierten gingen noch zu
+einer Ausschußsitzung; viel zu erschöpft und aufgewühlt,
+um allein zurückzubleiben, aß ich mit
+Fortunio zu Nacht. Lange sprachen wir noch von
+den beiden. Er meinte, Eisner sei viel zu feinfühlig,
+als daß ihm entgangen wäre, wie sehr wir Haase vorgezogen
+hatten. Nun hatte ich einen neuen Grund,
+bedrückt zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Leider reiste Haase schon am nächsten Morgen ab,
+und wir andern saßen wie gewöhnlich im &bdquo;Volkshause&ldquo;,
+als, eine große Stille entstand, weil Eisner
+das Podium betrat. Es war aber der Morgen jenes
+<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a>
+Tages, an dem er seine denkwürdige und verhängnisvolle
+Rede zugunsten der Gefangenen hielt. Sie begann
+mit einer schonungslosen Preisgabe der deutschen
+Kriegführung, deren Verbrechen er nicht beschönigte,
+deren Recht, etwas zu fordern, er vielmehr verneinte.
+Dann eine abrupte Wendung nehmend, stellte er fest,
+daß in keinem Lande die Gegner des Krieges so tief
+gelitten hätten wie die deutschen, und mit jedem Worte
+wurde sein tonloses und dabei scharfes Organ gebieterischer.
+Es war unerhört, wie Eisner jetzt über sich selbst
+hinauswuchs. So buchstäblich war der Geist über ihn,
+daß seine Person nur mehr wie ein von ihm verlassener
+und vergessener Schatten die Tribüne behauptete.
+Was nun verlautete, war ein Plädoyer für Deutschland,
+wie es niemals ergreifender formuliert wurde.
+Seine kalte Stimme beibehaltend, die in die Gemüter
+schnitt, enthüllte er die ganze Tragik seines unglückseligen
+Volkes. &bdquo;Die Stimmen derer, welche im Kampf
+um die Ideen einer besseren Welt namenlos in den
+Kerkern verblichen,&ldquo; rief er schneidend den fremden
+Delegierten zu, &bdquo;drangen nicht bis zu euch! Stumm
+verbluteten sie.&ldquo;
+</p>
+
+<p>
+Im Namen jener neuen und besseren Welt
+verlangte er die Freigabe der zurückgehaltenen Gefangenen.
+</p>
+
+<p>
+Man hielt den Atem an.
+</p>
+
+<p>
+Da stand ein Entronnener aus eben jener Schar
+stummer Blutzeugen für die Ideen der Gewaltlosigkeit
+<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a>
+der Wahrheit und der Menschenliebe. Dies war ihr
+Los wie vor 2000 Jahren!
+</p>
+
+<p>
+In Eisner hatte der Kongreß wohl seine eindrücklichste
+Figur. Mochte er durch seine Parteilichkeit
+für Renaudel bei den Radikalen einigen Widerspruch
+erregen, so stellte sich bald heraus, daß er gerade
+dadurch seine Vorschläge durchzudrücken verstand,
+wie überhaupt die Taktik eine große Rolle bei ihm
+spielte.
+</p>
+
+<p>
+Als ich das Haus verließ, standen Fortunios unten
+an der Treppe und schienen auf jemanden zu warten.
+Ich wandte mich um; Eisner ging langsam, allein und
+vollkommen versonnen die Treppe herab. Er hielt
+eine rote Nelke mit etwas abstehender Geste, wie
+um sie zu schützen, daß sie nicht zu Schaden komme.
+Steif, fast geziert, die Schultern mit barocker Würde
+tragend, bot er einen wahrhaft phantastischen Anblick.
+Wir begrüßten ihn. Er sah uns erloschenen Auges an
+und erwiderte kein Wort. Hätten aber urplötzlich die
+Türen sich geteilt und Teppiche unter den Füßen
+der mit großem Zeremoniell vorgeführten Esther entrollt,
+ich wäre nicht erstaunt gewesen. Assuerus!
+dachte ich. Ein fast gespensterhaft abstrakter, beschämend
+unverjudeter, rein biblischer Jude stand
+da vor uns. Und siehe! &mdash; Hier war zum ersten Male
+wieder dasjenige Israel, aus welchem merkwürdigerweise
+der Begriff des Christentums mit der Gestalt
+seines Stifters, der Begriff des unjüdischen also, die
+<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a>
+Welt der Mystik, des erblassens, der Gotik hervorging.
+So dachte ich, stockenden Herzens .&nbsp;.&nbsp;.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah Eisner noch einmal, als er im Begriffe stand,
+mit Renaudel nach Basel zu fahren. &bdquo;Wenn ich
+stürze,&ldquo; sagte er, &bdquo;ist in München der Bolschewismus
+unvermeidlich. Die geistige Verwirrung der Jugend
+ist zu groß.&ldquo; Überhaupt sprach er sehr oft von seinem
+Sturz. Ich glaube, die Entfernung ließ ihn die allgemeine,
+wie seine besondere Situation sehr scharf
+und nüchtern übersehen.
+</p>
+
+<p>
+Gerade die Illusionen, die phantastischen Züge in
+diesem bedeutenden Menschen, die springenden Schatten
+machten ihn zu der Shakespeareschen Gestalt,
+als die wir ihn heute sehen. Wir aber, die in Bern
+Zeugen der ungeheuren Wirkung seines Auftretens
+waren, welche Werbekraft für Deutschland er dort
+entfaltete, welch stürmische Sympathien für Deutschland
+er dort erweckte, oh welch bitterlichen Eindruck
+machte es auf uns, in München nicht etwa die Züge
+dieses heldenhaften Vorläufers, nein, das unbesonnene
+Leutnantsgesicht seines Mörders in den Auslagen
+vorzufinden, dessen hirnloses und unheilvollstes Verbrechen
+die Schrecken der Räteregierung und alle
+Greuel, die von links, und dann von rechts daraus
+erfolgten, verursachte. Mag ein Herr Studiosus die
+Frei(spruch)kugel gegen mich drehen, dafür, daß in
+diesem wahrscheinlich vielgelesenen Buche diese
+Wahrheit steht.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a>
+Für den letzten Tag war eine Rede Macdonalds
+über den Bolschewismus angesagt; aber der Tag verging,
+ohne daß er hervortrat. Die Lichter brannten
+schon lange, und es war Abend geworden, als man
+ihn endlich erblickte. Es sprachen viele, deren Organ
+im Halse stecken und auf die langweiligste Weise
+eins mit demselben blieb. Der deutsche Dolmetsch
+ging deshalb schwer auf die Nerven. Bei jenen Delegierten
+hingegen, welche die Rednergabe besaßen,
+hob sich nach wenigen Minuten die Stimme von ihnen
+fort, um wie ein Albatroß ganz für sich allein die
+gewichtigen Schwingen auszubreiten. Dieser Prozeß
+vollzog sich auch bei Macdonald. Sein Organ erfüllte
+den Saal mit Wohllaut, als käme es gar nicht
+von ihm, sondern hinge nur infolge eines rhythmischen
+Gesetzes mit seiner Miene und den Bewegungen seiner
+Arme zusammen. Die Rede war ein Warnungsruf an
+den hohen Rat in Versailles, die Zeichen der Zeit zu
+verstehen, und sie verglich den Bolschewismus mit
+einem Brande, der, hier halb erstickt, dort scheinbar
+gelöscht, immer wieder hervorbrechend und unter der
+Asche weiterglimmend, an der Verblendung des
+Imperialismus seine Nahrung fand.
+</p>
+
+<p>
+Da ich kein Wort verlieren wollte, schlängelte ich
+mich langsam durch die Zuhörer, hart bis zur Rampe
+vor, und hatte so zum ersten Male den ganzen Zuschauerraum
+vor Augen. Der Saal verlor auch bei
+Lampenschein nichts von seiner Schmucklosigkeit.
+<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a>
+Unschön war er und kahl. Sein Glanz, seine Erlesenheit
+waren rein innerlich. Sie gingen von den Menschen
+aus, welche hier tagten. Nicht die Zartheit
+freilich, noch der Reiz eines seit Generationen vor
+rauhen Kontakten geschützten Lebens, sondern Anstrengung,
+Leidenschaft und Begeisterung durchleuchtete
+sie so stark, daß jenseits dieses alltäglichen
+Raumes alle Alltäglichkeit, jenseits seines nüchternen
+Scheines alle Nüchternheit zu liegen schien. Der
+Winter der Menschheit sank hier zu Grabe. Von
+Feuerzungen war die Luft durchbebt, und eine Pfingstatmosphäre
+brauste durch die Türen über die Treppen
+dahin, bis hinab in die Gassen des nächtlichen Bern.
+Und sie würde, ob auch der kommende Morgen diesem
+Fest das Ende bereitete, nach allen Himmelsrichtungen
+wehen. Ich zweifelte daran nicht. Ich hoffte schon
+wieder!
+</p>
+
+<p>
+Natürlich waren auch geringere zugegen. Aber nicht
+sie gaben den Ausschlag. Hier herrschte der Wert.
+Rang und Vortritt waren hier durch das Talent, das
+Verdienst, die Lauterkeit bestimmt, und ein Wille
+zur Güte hatte sich durchgerungen.
+</p>
+
+<p>
+Mit einem Blick des Hohnes war ich vorhin an
+Telramund vorbeigegangen, alle Krallen gezückt, weil
+er sich vermessen wollte, mich zu grüßen, und fast
+wäre ich dabei über seine Bocksfüße gestolpert. Nein!
+Hier richtete der nichts aus. Hier war er schachmatt.
+Warum kam er denn her? &mdash; &mdash; Auch er &mdash; zum ersten
+<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a>
+Male fiel es mir auf &mdash; hatte allen Sitzungen beigewohnt
+und war einer der regelmäßigsten Besucher
+gewesen. Oh, nicht nur er! &mdash; Die ganze Rotte saß
+ja hier! &mdash; und die Kontrolle war doch so streng!
+Aber die Rotte war vollzählig hier! &mdash; Durch die Ritzen
+der Türe hätte sie noch einzudringen gewußt. Wo
+hatte ich die Augen gehabt all die Tage hindurch,
+ich Verblendete! Im Ernst wähnend, hier würde die
+Schwelle zu einer neuen Welt gelegt, derweil sie
+täglich zerfiel.
+</p>
+
+<p>
+Die Schützlinge der Militärspionagen, von welchen
+erst die eine, dann die andere den Verständigungsfrieden
+hintertrieben hatte, tagten hier als Delegierte des
+Teufels, den verschiedensten Nationen entspieen. Wie
+emsig sie notierten! &mdash; Oh wie fleißig sie die niedrigen
+Stirnen gesenkt hielten, um alles zu nichte zu schreiben,
+was hier von Völkerversöhnung gesprochen wurde!
+Und wie gesittet sie dasaßen, diese Wölfe im Schafpelz,
+die sich innerlich eins lachten über den sabotierten
+Kongreß. Und sie waren geduldet! &mdash; selbst
+hier! &mdash; Die Spreu durfte auch hier, ungesichtet, den
+Weizen verderben. Ach, es gehört zu den Merkmalen
+dieser Zeit, daß die Dinge noch schlimmer zu
+kommen pflegen, als die Schwarzseher sie künden,
+und noch heißer gegessen werden, als gekocht.
+</p>
+
+<p>
+So ahnte ich noch nicht, daß die verstümmelten
+Berichte der Eisnerschen Rede, deren erster Teil einfach
+unterschlagen wurde, schon munter unterwegs
+<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a>
+waren, und seine anonymen Mordanstifter, wohlgeschützt
+unter der Flagge einer Zeitung, sich
+für die furchtbaren Wahrheiten und Anschuldigungen,
+die er in diesem Hause der Presse aller
+Länder ins Gesicht zu schleudern wagte, ein für
+alle Male gerächt hatten.
+</p>
+
+<p>
+Die Stimme Macdonalds drang nur mehr undeutlich
+zu mir. Es war doch jedes Wort vergebens. Mochte
+er den Bolschewismus an die Wand malen! Mit ihm
+stand es gewiß, wie Rolland sagte. Bot nicht jede
+Partei genau dasselbe Bild von ein paar ehrlichen
+und ehrenwerten Männern, die ein fürchterlicher
+Zulauf überschwemmt? jene paar Vortrefflichen, deren
+Kampf allein ersprießlich und von Interesse wäre,
+tragen ihre Gegensätze abseits voneinander aus. Sie sind
+nicht so zahlreich, Europa nicht zu groß für eine
+einzige Arena. In Wirklichkeit ist der Klassenhaß
+(statt des Klassenkampfes) ein ebensolcher Humbug
+wie der Haß der nur nach Frieden lechzenden Völker.
+Wer aber diesen Saal mit den angeblich so scharf
+bewachten Toren näher ins Auge faßte, ließ alle Hoffnung
+fahren. Den Schleier Penelopens woben sie hier!
+Es gab ja keine gute Sache, solange der Nichtswürdige
+sich zu ihr bekennen durfte und statt der
+Gesinnung die Meinung den Ausschlag gab. Freie
+Bahn den Tüchtigen! oh nein! Erst geschlossene Bahn
+den Unwürdigen! Die andere Parole bleibt so lang
+die leereste der Phrasen! Hatte nicht Telramund in
+<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a>
+seinem eigensten Blatt eine &bdquo;Partei der anständigen
+Leute&ldquo; beantragt, wie um diesem Gedanken den Fluch
+der Lächerlichkeit auf immer anzuhaften. Oh Zarastro!
+Herr des Tempels mit den unauffindbaren Toren,
+der nur den Geprüften mit Macht belieh! Von allen,
+die heute leben, wird keiner den Bau betreten, zu
+dessen Grundlegung ich Steine herbeischleppen möchte.
+&mdash; Das Gerüst allein dürfte die Arbeit von Generationen
+sein, sein Ausbau die von Jahrhunderten vielleicht.
+Vielleicht sind die ewig unvollendet gebliebenen
+Kathedralen sein Symbol. Aber worauf es, wie gesagt,
+ankommt: er ist möglich.
+</p>
+
+<p>
+Die richtige Einsicht, daß es (merkwürdigerweise)
+niedrige und hohe Menschen gibt, führte folgerichtig
+zu Rang- und Standesunterschieden. Bei ihrer Aufrechthaltung
+aber gerieten jene Ungleichheiten,
+welche doch erst die Berechtigung solcher Klassifikationen
+bilden, immer mehr außer acht, und bei
+dem Schrittmachen, das im Schwunge blieb, mischte
+sich in immer gemeinerer Weise das Bestreben über
+jene Distanzen, welche der Wert zwischen den einzelnen
+liegt, hinwegzusehen. Das Mißverständnis
+artete immer wilder aus: der königliche Mozart speiste
+mit dem Gesinde, und ein lakaienhafter Kavalier
+warf ihn mit einem Fußtritt ohne weiteres vor die
+Türe. In der Tat, wir wissen alle, was wir der französischen
+Revolution verdanken. Doch, als sie das
+falsche Spiegelbild in edler Empörung zerschlug,
+<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a>
+wurde mit diesem drastischen Vorgehen leider erst
+recht nur eine halbe Maßnahme getroffen.
+</p>
+
+<p>
+Kein Mißbrauch wurde an der Wurzel gefaßt, vielmehr
+entrann der Missetäter froh durch die Türe.
+So brach die französische Revolution wie das Christentum,
+dem sie entsprang, in sich selber zusammen, und
+wir sind heute wie bankrotte Leute, die von vorn
+anfangen müssen. Wir stehen wieder am Anfang
+aller Tage: das heißt am Ende. Denn für das erkennende
+Auge sind ja die Menschen längst in jene
+zwei Lager zerfallen, von welchen geschrieben steht.
+Freilich ist vorläufig erst der Aufmarsch der Böcke
+geglückt. Unsere Absicht, ihrem Konsortium entgegenzutreten,
+dürfte ein frommer Wunsch verbleiben,
+solange wir jene geheimnisvolle Tatsache nicht ergründeten,
+daß die von schlechten Instinkten Gemeisterten
+so viel deutlicher die Hochgesinnten herausspüren,
+als diese sich unter sich erkennen. Diese
+dunkle und rätselhafte Tatsache birgt Perspektiven,
+die sich wie weite Zimmerflüchte nach allen Richtungen,
+reich an Verborgenheiten, ziehen.
+</p>
+
+<p>
+Um Machtfragen werden sich nach wie vor die
+Dinge drehen, und nach wie vor wird sich herausstellen,
+daß es nichts neues unter der Sonne gibt.
+Macht wird vor Recht gehen, denn Macht geht vor
+Recht. Es ist Sache des Rechts, die Macht an sich
+zu reißen, eine neue Realpolitik zu ermöglichen, nicht
+ausdrückbar durch Lüge, Feuer und Mord; eine
+<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a>
+Exekutive zu befestigen, welche die aus Lüge, Feuer
+und Mord errungenen Vorteile verachten, und Lüge,
+Feuer und Mord nicht ausspielen würde gegen Lüge,
+Feuer und Mord. Sache des Rechts ist es, die Bahn
+solcher Gewalthaber zu bereiten. Ach die Heftigkeit,
+mit welcher wir unsere Notsignale abgeben,
+hindert nicht, daß sie unter dem Druck grauser Langeweile
+aufziehen, und unser eigner Pathos lastet mit
+der ganzen Öde eines Frondienstes auf uns. Denn
+es sind zukünftige, für ein feineres Ohr heute schon
+monströse Gemeinplätze, die wir hier äußern.
+</p>
+
+<p class="vspace3">
+&nbsp;
+</p>
+
+<p class="center">
+<em class="em">Ende</em>
+</p>
+
+<div class="ads">
+
+<hr />
+
+<p class="center">
+<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a>
+Von<br />
+<em class="em">Annette Kolb</em><br />
+erschien im gleichen Verlag:
+</p>
+
+<p class="hdr">
+DAS EXEMPLAR
+</p>
+
+<p class="center">
+Roman. 5. Auflage.
+</p>
+
+<p>
+Man hat durchaus das Gefühl, daß dieses Buch zu
+jenen gehört, die unter einem starken inneren Drange,
+einem unwiderstehlichen, geschrieben werden. Ein
+Bekenntnis. Aber eins von solcher Keuschheit, solcher
+Verhülltheit, trotz aller Enthüllung subtilster seelischer
+Vorgänge, wie es uns nur zu selten gemacht wird.
+Gerade diese Schilderungen erweisen die hohe Vollendung
+von Annette Kolbs sprachlichem Ausdrucksvermögen,
+das ihr jedoch nie zum Selbstzweck wird.
+</p>
+
+<p class="right">
+B. Z. am Mittag.
+</p>
+
+<p>
+Der erste Eindruck des Buches, schon nach wenigen
+Seiten, ist Kultur. Es gibt wenig Bücher, die so scharf
+wie dieses die Zeitseele enthüllen. Und im übrigen
+ist das Buch reich an allerlei entzückenden Dingen.
+Man wird in ihm sehr heimisch in London und auf den
+Landsitzen der Gesellschaft. Denn das Buch vereint
+wirklich zwei selten verträgliche Eigenschaften: geistige
+Tiefe und Charme. Es ist nicht nur ein bedeutendes, sondern
+auch ein liebenswürdiges Buch.
+</p>
+
+<p class="right">
+Die Zeit, Essen.
+</p>
+
+<p>
+Ein feines, stilles Buch von einer romantischen
+Dichterin über eine romantische Frau. Es wird in
+diesem Buch von den letzten Dingen gesprochen.
+</p>
+
+<p class="right">
+Berliner Tageblatt.
+</p>
+
+<hr />
+
+<p class="printer">
+Druck von Frankenstein &amp; Wagner, Leipzig.
+</p>
+
+</div>
+
+
+<h2 class="chapter footnote" id="footnotes">Fußnoten</h2>
+
+<dl class="footnote">
+<dt class="footnote" id="footnote-1"><a href="#fnote-1">[1]</a></dt> <dd class="footnote"> Als ich das erstemal in der Schweiz war, gab mir Aramis
+ein Dossier über die Deportationen, von deren Einzelheiten ich noch
+keine Ahnung hatte. Wer die französische Familie kennt, und weiß,
+wie sehr sie ihre Töchter hegt und hütet, der sah hier wahre Abgründe
+des Hasses und der Rachgier bereiten. Ich fuhr damals von
+Bern direkt nach Berlin, kannte aber von den Ministern jener Tage
+nur Solf, und auch diesen nur ganz flüchtig. Ihn bat ich in einem aufgeregten
+Brief um eine sofortige Unterredung. Er war gerade an
+einer Angina erkrankt und empfing mich zu Bett mit einem hochroten
+Gesicht, Eisbeutel auf dem Kopf. Am Fenster, mit dem Rücken
+gegen das Licht, stand ein Oberst. Ich kramte nun die Notizen hervor,
+die ich vor der Grenzüberschreitung in den Bodensee geworfen,
+und zwischen Lindau und Kempten wieder ins reine geschrieben
+hatte; der Oberst sprach die Befürchtung aus, daß sie der Wahrheit
+nur allzusehr entsprachen.</dd>
+<dt class="footnote2">&nbsp;</dt><dd class="footnote2">Mit Hilfe dieses militärischen Freundes setzte Solf, obwohl gerade
+damals grimmig von den Alldeutschen angefeindet eine enquete durch.
+Und schon glaubte ich die Partie gewonnen und das Handwerk der
+Herren Ludendorff und Konsorten gelegt. Denn wirklich konnten
+Tausende von Frauen damals nach Hause zurück, und in ihrer
+ärgsten Form wurde die Methode eingedämmt. Aber das Hauptquartier
+war noch Trumpf. Meine Darstellungen, so hieß es, seien
+nicht nur die hellste Übertreibung gewesen, oh nein! sondern die
+deportierten Töchter wären sehr erfreut, sich dem öden Einerlei ihres
+untätigen Lebens entzogen zu sehen; man gewann richtig den Eindruck,
+als müßte es für ein junges Mädchen von guter Familie geradezu eine
+Lust sein, deportiert zu werden, und nur eine Bagatelle für die Eltern,
+ihre Kinder &mdash; manches Mal auf Nimmerwiedersehen &mdash; aus ihrem
+Hause gerissen zu sehen, ohne die Möglichkeit von ihnen zu hören und
+ohne zu wissen, wohin man sie führte. Soll die Axt nie begraben
+werden? &mdash; Eine Versöhnung der beiden Nationen ist eine so große
+Notwendigkeit, daß schon aus praktischen Gründen nicht immer einseitig
+nur über das erlittene Unrecht Buch geführt werden sollte. Und es
+ist für die Deutschen die große Gelegenheit gekommen! Heute, wo
+der französische Militarismus seine Stunde begeht, haben sie nur ein Mittel,
+Frankreich von seiner Rachepolitik abzubringen, indem sie &mdash; statt
+wiederum von Rache zu reden &mdash; es zu fühlen geben, daß sie beklagen,
+es zu dieser Rachepolitik so schwer gereizt zu haben.</dd>
+<dt class="footnote" id="footnote-2"><a href="#fnote-2">[2]</a></dt> <dd class="footnote"> Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.</dd>
+<dt class="footnote" id="footnote-3"><a href="#fnote-3">[3]</a></dt> <dd class="footnote"> Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt.</dd>
+</dl>
+
+
+<div class="trnote">
+<p id="trnote"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
+
+<p>
+Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):
+</p>
+
+<ul>
+
+<li>
+... <span class="underline">Hocusai</span>. ...<br />
+... <a href="#corr-0"><span class="underline">Hokusai</span></a>. ...<br />
+</li>
+
+<li>
+... mit Carry und Fortunio. Dieser <span class="underline">enfaltet</span> mir gegenüber ...<br />
+... mit Carry und Fortunio. Dieser <a href="#corr-1"><span class="underline">entfaltet</span></a> mir gegenüber ...<br />
+</li>
+
+<li>
+... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in <span class="underline">den</span> ...<br />
+... Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in <a href="#corr-2"><span class="underline">dem</span></a> ...<br />
+</li>
+
+<li>
+... Arbeiten zur Hand, mit <span class="underline">welchem</span> dieses Haus geschmückt ...<br />
+... Arbeiten zur Hand, mit <a href="#corr-3"><span class="underline">welchen</span></a> dieses Haus geschmückt ...<br />
+</li>
+
+<li>
+... Laufbahn vernommen hat, der vergißt <span class="underline">die nie</span> unheimliche ...<br />
+... Laufbahn vernommen hat, der vergißt <a href="#corr-4"><span class="underline">nie die</span></a> unheimliche ...<br />
+</li>
+
+<li>
+... auf ihren Wolkensohlen reisten, <span class="underline">das</span> von einer zifferlosen ...<br />
+... auf ihren Wolkensohlen reisten, <a href="#corr-5"><span class="underline">daß</span></a> von einer zifferlosen ...<br />
+</li>
+</ul>
+</div>
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Zarastro, by Annette Kolb
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZARASTRO ***
+
+***** This file should be named 44243-h.htm or 44243-h.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
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+
+Produced by Jens Sadowski
+
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+works. See paragraph 1.E below.
+
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+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
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+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
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+ of receipt of the work.
+
+- You comply with all other terms of this agreement for free
+ distribution of Project Gutenberg-tm works.
+
+1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
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+
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+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO OTHER
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+WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
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+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation information page at www.gutenberg.org
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at 809
+North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email
+contact links and up to date contact information can be found at the
+Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit www.gutenberg.org/donate
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For forty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
+
+
+</pre>
+
+</body>
+</html>