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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44238 ***
+
+Das Bildnis des Dorian Gray
+
+
+ Oscar Wilde
+
+ Das Bildnis des Dorian Gray
+
+ Ins Deutsche übertragen von
+ Richard Zoozmann
+
+ Berlin ~W~ 50
+
+ Schreitersche Verlagsbuchhandlung
+
+ Alle Rechte vorbehalten
+
+ Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
+
+
+
+
+Vorbekenntnis
+
+
+Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.
+
+Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen, ist die Aufgabe der
+Kunst.
+
+Ein Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in eine andere
+Form oder in einen anderen Stoff zu übertragen vermag.
+
+Die höchste wie die niederste Form der Kritik ist eine Art
+Autobiographie.
+
+Wer in schönen Dingen einen häßlichen Sinn findet, ist verderbt, ohne
+anmutig zu sein. Das ist ein Fehler.
+
+Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn findet, hat Kultur. Er
+berechtigt zu Hoffnungen.
+
+Das sind die Auserwählten, für die schöne Dinge lediglich Schönheit
+bedeuten.
+
+Ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt's überhaupt nicht. Bücher
+sind gut oder schlecht geschrieben. Sonst nichts.
+
+Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die
+Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel erblickt.
+
+Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die
+Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel nicht sieht.
+
+Das sittliche Dasein des Menschen liefert dem Künstler einen Teil des
+Stoffgebietes, aber die Sittlichkeit der Kunst besteht im vollkommenen
+Gebrauch eines unvollkommenen Mittels.
+
+Kein Künstler empfindet das Verlangen, etwas zu beweisen. Selbst
+Wahrheiten können bewiesen werden.
+
+Kein Künstler hat ethische Neigungen. Eine ethische Neigung beim
+Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.
+
+Kein Künstler ist an sich krankhaft. Der Künstler kann alles
+aussprechen.
+
+Gedanken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst.
+
+Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe einer Kunst.
+
+Was die Form betrifft, so ist die Kunst des Musikers die Urform aller
+Künste. Was das Gefühl betrifft, so ist der Beruf des Schauspielers
+diese Urform.
+
+Alle Kunst ist gleichzeitig Oberfläche und Symbol.
+
+Wer unter der Oberfläche schürft, tut es auf eigene Gefahr.
+
+Wer das Symbol herausdeutet, tut es auf eigene Gefahr.
+
+In Wahrheit wird der Betrachter und nicht das Leben abgespiegelt.
+
+Meinungsunterschiede über ein Kunstwerk beweisen seine Neuheit,
+Vielfältigkeit und Lebenskraft.
+
+Sind die Kritiker uneinig, so ist der Künstler einig mit sich selbst.
+
+Man kann einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches schafft,
+solang er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung für den, der
+etwas Nutzloses schuf, besteht darin, daß es äußerst bewundert wird.
+
+Alle Kunst ist völlig nutzlos.
+
+
+
+
+Erstes Kapitel
+
+
+Das Atelier schwamm in einem starken Rosendufte, und wenn der leichte
+Sommerwind die Bäume im Garten wiegte, so floß durch die offene Tür der
+schwere Geruch des Flieders herein oder der zartere Duft des Rotdorns.
+
+Aus der Ecke seines Diwans mit persischen Satteltaschen, auf dem Lord
+Henry Wotton lag und wie gewöhnlich unzählige Zigaretten rauchte, konnte
+er gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbigen Blüten
+eines Goldregenstrauches wahrnehmen, dessen zitternde Zweige nur
+seufzend die Last einer so flammenden Schönheit zu tragen schienen, und
+dann und wann huschten die phantastischen Schatten vorbeifliegender
+Vögel über die langen bastseidenen Vorhänge, die vor das große Fenster
+gezogen waren. Das gab einen Augenblick lang eine Art japanischer
+Stimmung und ließ den Lord an die bleichen, nephritgelben Maler der
+Stadt Tokio denken, die mit Hilfe einer Kunst, die notwendigerweise
+erstarrt genannt werden muß, das Gefühl von Schnelligkeit und Bewegung
+hervorzubringen suchen. Das tiefe Gesumme der Bienen, die ihren
+zweifelnden Flug durch das hohe, ungemähte Gras nahmen oder mit
+eintöniger Zähigkeit um die bestaubten Goldtrichter des wuchernden
+Geißblattes kreisten, ließ die Stille noch drückender scheinen. Das
+dumpfe Brausen Londons murrte dazu wie die Baßtöne einer fernen Orgel.
+
+In der Mitte des Gemaches stand auf einer hoch aufgestellten Staffelei
+das lebensgroße Bildnis eines außerordentlich schönen Jünglings, und ihm
+gegenüber, ein paar Schritte entfernt, saß sein Schöpfer, der Maler
+Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren bei
+der Menge so viel Aufsehen gemacht und zu so vielen seltsamen
+Vermutungen Anlaß gegeben hatte.
+
+Während der Maler die anmutige und liebenswürdige Gestalt betrachtete,
+die seine Kunst so prachtvoll wiedergespiegelt hatte, huschte ein
+freudiges Lächeln über sein Gesicht und schien dort verweilen zu wollen.
+Plötzlich aber fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Lider mit
+den Fingern zu, als fürchte er, aus einem absonderlichen Traume zu
+erwachen, und als suche er ihn im Gehirn einzuschließen.
+
+»Es ist dein bestes Werk, Basil, das beste, was du jemals gemacht hast«,
+sagte Lord Henry schläfrig-müde. »Du mußt es nächstes Jahr unbedingt ins
+Grosvenor schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich.
+Jedesmal, wenn ich hinging, waren entweder so viele Leute da, daß ich
+die Bilder nicht sehen konnte, und das war schlimm, oder so viel Bilder,
+daß ich die Leute nicht sehen konnte, und das war noch schlimmer. Das
+Grosvenor ist der einzig richtige Platz.«
+
+»Ich denke überhaupt nicht daran, es auszustellen«, antwortete der Maler
+und warf den Kopf in jener merkwürdigen Art zurück, über die schon oft
+seine Freunde in Oxford gelacht hatten. »Nein, ich will es nirgends
+ausstellen.«
+
+Lord Henry hob die Augenbrauen und sah den anderen erstaunt durch die
+dünnen blauen Raucharabesken an, die in so abenteuerlichen Wirbeln von
+der starken opiumgetränkten Zigarette aufstiegen. »Nirgends ausstellen?
+Ja warum, mein Lieber? Hast du einen Grund dafür? Was ihr Maler doch für
+Käuze seid! Ihr tut alles in der Welt, um euch einen Namen zu machen.
+Habt ihr ihn endlich, so wollt ihr ihn scheinbar wieder loswerden. Das
+ist albern von dir, denn es gibt nur ein leidiges Ding auf Erden, das
+peinlicher ist als in aller Leute Munde zu sein, und das ist: nicht in
+aller Leute Munde zu sein. Ein Porträt wie das da höbe dich weit über
+alle jungen Leute in England empor und würde die Alten vor Neid platzen
+lassen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung fähig sind.«
+
+»Ich weiß, du wirst mich auslachen,« entgegnete er, »aber ich kann es
+wahrhaftig nicht ausstellen. Es steckt da zuviel von mir selbst drin.«
+
+Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.
+
+»Ja, ich habe das gewußt; es bleibt aber doch wahr, ganz sicher.«
+
+»Zuviel von dir soll darin sein? Auf mein Wort, Basil, ich hätte nie
+geahnt, daß du so eitel bist; ich kann wirklich nicht die blasseste
+Ähnlichkeit entdecken zwischen dir mit deinem groben, eckigen Gesicht
+und deinem kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis, der so aussieht,
+als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Nein, mein
+lieber Basil, es ist ein Narziß, und du -- natürlich hast du ein
+geistvolles Gesicht und so weiter. Aber Schönheit, wirkliche Schönheit
+hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck anfängt. Geist ist an sich eine
+Art Übermaß und zerstört das Ebenmaß jedes Gesichts. Im Moment, wo man
+sich ans Denken begibt, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder sonst
+etwas Greuliches. Sieh dir doch mal alle die Männer an, die in gelehrten
+Berufen etwas geleistet haben. Sind sie nicht alle ausgesprochen
+häßlich? Natürlich die Männer der Kirche ausgenommen. Aber in der Kirche
+denken sie eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig Jahren noch
+unveränderlich dasselbe, was ihm als achtzehnjährigem Bengel beigebracht
+wurde, und infolgedessen sieht er immer entzückend aus. Dein
+geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast,
+dessen Bild mich aber tatsächlich bezaubert, denkt niemals. Davon bin
+ich felsenfest überzeugt. Es ist irgendein hirnloses schönes Geschöpf,
+das wir im Winter immer bei uns haben sollten, wenn es keine Blumen zum
+Anschauen gibt, und im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres
+Geistes gebrauchen. Schmeichle dir also nicht, Basil: du siehst ihm ganz
+und gar nicht ähnlich.«
+
+»Du verstehst mich gar nicht, Henry«, antwortete der Künstler.
+»Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich. Das weiß ich selbst. In
+Wirklichkeit wäre ich sogar traurig, sähe ich ihm ähnlich. Du brauchst
+nicht mit den Achseln zu zucken. Ich sage dir die Wahrheit. Jede
+körperliche und geistige Besonderheit umschwebt eine gewisse Tragik; so
+eine Tragik etwa, wie sich das Schicksal der Könige auf ihren Irrwegen
+in der Weltgeschichte an die Füße zu heften scheint. Es ist besser,
+nicht anders zu sein als die Nebenmenschen. Die Häßlichen und die Dummen
+haben das beste Leben der Welt. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel
+sorglos begaffen. Sie wissen zwar nichts von Siegen, aber dafür bleibt
+ihnen auch die Bekanntschaft mit den Niederlagen erspart. Sie leben
+dahin, wie wir es alle sollten: ungestört, gleichgültig und ohne
+Mißbehagen. Sie bringen anderen kein Unheil und empfangen es auch nicht
+von fremder Hand. Dein Stand und dein Reichtum, Harry, mein Geist,
+soviel ich davon habe, meine Kunst, soviel sie wert ist, Dorian Gray für
+sein schönes Aussehen -- wir müssen alle für die Geschenke der Götter
+leiden, schrecklich leiden.«
+
+»Dorian Gray? Heißt er so?« fragte Lord Henry und ging durch das Atelier
+auf Basil Hallward zu.
+
+»Ja, so heißt er. Ich wollte dir's eigentlich nicht sagen.«
+
+»Aber warum nicht?«
+
+»Oh, ich kann's nicht so erklären. Wenn ich einen Menschen sehr, sehr
+lieb habe, verrate ich an niemand seinen Namen. Das käme mir so vor, als
+lieferte ich damit einen Teil von seinem Selbst aus. In mir hat sich
+allmählich eine förmliche Liebe zu Geheimnissen entwickelt. Das scheint
+noch die einzige Art zu sein, das Leben unserer Zeit mysteriös und
+wunderbar zu machen. Die gewöhnlichste Begebenheit wird reich an
+Schönheit, wenn man sie verbirgt. Ich sage auch nie, wohin ich reise,
+wenn ich mal die Stadt verlasse. Wenn ich's täte, wäre meine ganze
+Freude daran hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie bringt
+doch irgendwie ein bißchen Romantik ins Leben. Du denkst jetzt gewiß,
+ich bin furchtbar närrisch?«
+
+»Nicht im geringsten,« antwortete Lord Henry, »nicht im geringsten, mein
+lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, daß ich verheiratet bin, und daß
+der Hauptreiz der Ehe darin liegt, daß sie beiden Teilen ein Leben der
+Täuschung zur Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau ist, und
+meine Frau weiß nie, was ich tue und treibe. Wenn wir beisammen sind --
+wir sind gelegentlich beisammen, wenn wir zu einem Diner eingeladen sind
+oder zum Herzog aufs Land fahren -- so erzählen wir uns die
+verrücktesten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht. Meine Frau
+versteht das vorzüglich, ohne Frage besser als ich. Sie verwickelt sich
+bei den Tatsachen nie in Widersprüche, und bei mir kommt es beständig
+vor. Wenn sie mich aber ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Ich
+wünschte manchmal, sie täte es. Aber sie lacht mich nur aus.«
+
+»Ich kann die Art nicht leiden, wie du über deine Ehe sprichst«, sagte
+Basil Hallward und ging langsam auf die Tür zu, die in den Garten
+führte. »Ich glaube, du bist in Wirklichkeit ein ganz guter Ehemann und
+schämst dich nur immer über diese Tugend. Du bist überhaupt ein
+sonderbarer Kauz: du sagst nie was Moralisches und tust nie was
+Schlechtes. Dein Zynismus ist nichts als Pose.«
+
+»Natürlichkeit ist immer eine Pose, und zwar die ärgerlichste Pose, die
+ich kenne«, rief Lord Henry lachend aus, und die beiden jungen Männer
+gingen zusammen in den Garten und ließen sich auf einer langen
+Bambusbank nieder, die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand.
+Das Sonnenlicht flirrte tanzend über die glatten Blätter. Im Grase
+zitterten weiße Gänseblümchen.
+
+Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr: »Ich fürchte, ich muß gleich
+fort, Basil,« brummte er, »aber bevor ich gehe, mußt du mir noch
+unbedingt die Frage beantworten, die ich vorhin an dich gerichtet habe.«
+
+»Was war das?« sagte der Maler, die Augen fest zu Boden gerichtet.
+
+»Na, du weißt doch.«
+
+»Sicher nicht, Harry.«
+
+»Gut, dann will ich's dir nochmals sagen. Du sollst mir erklären, warum
+du Dorian Grays Porträt nicht ausstellen willst. Ich bestehe darauf, den
+wirklichen Grund zu wissen.«
+
+»Ich habe dir den wirklichen Grund schon gesagt.«
+
+»Nein, das hast du nicht getan. Du hast nur gesagt, weil zuviel von dir
+selbst in dem Bilde stecke. Das ist aber kindisch.«
+
+»Harry,« sagte Basil Hallward und sah dem anderen gerade ins Gesicht,
+»jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt ist, ist ein Porträt des
+Künstlers, nicht des Modells. Das Modell ist nur der Anlaß, die
+Gelegenheit. Nicht dies wird vom Maler enthüllt; nein, der Maler
+offenbart auf der farbigen Leinwand eher sich selbst. Ich will also dies
+Bild darum nicht ausstellen, weil ich fürchte, ich habe das Geheimnis
+meiner eigenen Seele darin aufgedeckt.«
+
+Lord Henry lachte. »Und worin bestünde das?« fragte er.
+
+»Ich will es sagen«, antwortete Hallward; aber in sein Gesicht trat ein
+Ausdruck von Ratlosigkeit.
+
+»Ich bin äußerst gespannt, Basil«, fuhr sein Gefährte mit einem Blick
+nach ihm fort.
+
+»Oh, es ist wirklich nicht viel zu berichten, Harry,« entgegnete der
+Maler, »und du verstehst es wohl kaum, wie ich fürchte. Vielleicht auch
+glaubst du mir nicht einmal.«
+
+Lord Henry lächelte und bückte sich dann, um ein rosa angehauchtes
+Gänseblümchen aus dem Grase zu pflücken, das er betrachtete. »Ich werde
+dich ganz gewiß verstehen,« erwiderte er, die Blicke aufmerksam auf die
+kleine, goldene, weißgefiederte Blütenscheibe gerichtet, »und was das
+Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, daß es
+unwahrscheinlich genug ist.«
+
+Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen, und die schweren,
+vielgesternten Traubendolden der Fliederbüsche bewegten sich in der
+schwülen Luft. Eine Grille begann an der Gartenmauer zu zirpen, und wie
+ein blauer Faden huschte eine lange, dünne Wasserjungfer auf ihren
+braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil Hallwards Herz
+pochen zu hören und war neugierig, was wohl kommen möchte.
+
+»Die Geschichte ist einfach die«, sagte der Maler nach einer Weile. »Vor
+zwei Monaten ging ich mal zu einem der Massenempfänge bei Lady Brandon.
+Du weißt, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der
+Gesellschaft zeigen, um das Publikum daran zu erinnern, daß wir keine
+Wilden sind. Du sagtest mir einmal: in Frack und weißer Binde kann
+selbst ein Börsenmensch in den Verdacht von Bildung kommen. Nun also,
+ich war etwa zehn Minuten da und redete mit korpulenten, aufgeputzten,
+vornehmen Witwen und platten Akademikern, da merkte ich plötzlich, daß
+mich jemand anblickte. Ich drehte mich halb um und sah zum ersten Male
+Dorian Gray. Ich spürte, wie ich blaß wurde, als sich unsere Blicke
+begegneten. Ein seltsames Angstgefühl überkam mich. Ich wußte, ich stand
+einem Menschen Aug-in-Auge gegenüber, dessen bloße Erscheinung so
+bezaubernd auf mich wirkte, daß sie, wenn ich sie gewähren ließe, meine
+ganze Natur, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst an sich reißen
+müßte. Ich bedurfte nie in meinem Leben irgendwelcher Einwirkung von
+außen her. Du weißt ja selbst, Harry, wie unabhängig ich von Haus aus
+bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen; war es wenigstens so
+lange, bis ich Dorian Gray traf. Dann -- aber ich weiß nicht, wie ich
+dir das begreiflich machen soll. Irgend etwas schien mir im voraus zu
+sagen, daß ich an einem schrecklichen Wendepunkt in meinem Leben stand.
+Ich hatte die eigentümliche Empfindung, das Schicksal halte für mich die
+ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten Schmerzen in
+Bereitschaft. Ich bekam Furcht, und ich wandte mich zum Gehen. Das
+Gewissen trieb mich nicht dazu: es war eine Art Feigheit. Ich bilde mir
+nichts darauf ein, daß ich diese Flucht versuchte.«
+
+»In Wirklichkeit sind Gewissen und Feigheit ein und dasselbe. Gewissen
+lautet nur die eingetragene Firma. Weiter gar nichts.«
+
+»Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube, du wohl auch nicht.
+Einerlei aber, aus welchem Grunde es geschah -- es mag auch Stolz
+gewesen sein, denn ich war schon immer sehr stolz -- jedenfalls eilte
+ich der Türe zu. Natürlich prallte ich dabei mit Lady Brandon zusammen.
+>Sie wollen doch nicht etwa schon davonlaufen, Herr Hallward?< kreischte
+sie auf. Du kennst ja ihre schrille Stimme.«
+
+»Ja, sie ist ein Pfau in allem, bis auf die Schönheit«, sagte Lord Henry
+und zerrupfte das Gänseblümchen zwischen seinen langen nervösen Fingern.
+
+»Ich konnte ihrer nicht loswerden. Sie zerrte mich zu den königlichen
+Hoheiten hin, zu den Leuten mit Orden und Sternen und zu den ältlichen
+Damen mit riesenhaften Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich
+dabei ihren besten Freund. Ich hatte sie nur ein einziges Mal vorher
+gesehen, aber sie setzte es sich in den Kopf, aus mir den Löwen des
+Tages zu machen. Ich glaube, damals hatte gerade ein Bild von mir großen
+Erfolg gehabt, wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz
+darüber gebracht, und das ist ja im neunzehnten Jahrhundert das
+Eichungsmaß der Unsterblichkeit. Plötzlich stand ich dem jungen Manne
+gegenüber, dessen Äußeres mich vorhin so merkwürdig erschüttert hatte.
+Wir standen ganz nahe beieinander und berührten uns beinah. Unsere
+Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig von mir, aber ich bat
+Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Vielleicht war es aber doch alles
+in allem nicht so leichtsinnig. Es war einfach nicht zu umgehen. Wir
+hätten auch ohne Vorstellung miteinander gesprochen. Ich bin dessen
+gewiß. Dorian sagte es mir nachher. Auch er fühlte, daß unsere
+Bekanntschaft Schicksalsfügung war.«
+
+»Und wie hat Lady Brandon den wunderbaren Jüngling beschrieben?« fragte
+sein Gefährte. »Ich weiß, es ist ihre Manier, von jedem ihrer Gäste eine
+kleine Skizze zu geben. Ich erinnere mich, wie sie mich mal einem
+schrecklichen, alten Herrn mit puterrotem Gesicht vorstellte, dessen
+Brust mit Orden und Bändern beklext war, und mir in einem tragischen
+Flüsterton, der für jedermann im Zimmer hörbar war, die erstaunlichsten
+Einzelheiten über ihn ins Ohr zischelte. Ich mußte einfach davonlaufen.
+Ich entdecke die Leute gerne von mir selbst aus. Aber Lady Brandon
+behandelt ihre Gäste genau so, wie ein Auktionator seine Waren. Sie
+erklärt sie einem entweder so lange, bis nichts mehr davon übrigbleibt,
+oder sie sagt alles, gerade mit Ausnahme dessen, was man wissen will.«
+
+»Die arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie«, sagte Hallward
+zerstreut.
+
+»Mein guter Junge, sie wollte einen Salon gründen und hat es nur bis zu
+einem Restaurant gebracht. Wie soll ich sie da bewundern? Aber sage nun
+endlich, was sie über Herrn Dorian Gray erzählt hat?«
+
+»Oh, so irgend was wie >Entzückender junger Mensch -- seine arme Mutter
+und ich ganz unzertrennlich -- vergaß ganz was er treibt -- fürchte fast
+-- gar nichts -- ach ja, spielt Klavier -- oder war es die Geige, lieber
+Herr Gray?< Wir mußten beide lachen und wurden sofort Freunde.«
+
+»Lachen ist wohl lange nicht der schlechteste Anfang für eine
+Freundschaft, und gewiß ihr schönstes Ende«, sagte der junge Lord und
+pflückte sich noch ein Gänseblümchen.
+
+Hallward schüttelte den Kopf. »Du hast ja keine Ahnung, was Freundschaft
+ist, Harry,« murmelte er, »und ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast
+alle Welt gern; mit anderen Worten: dir sind alle gleichgültig.«
+
+»Wie grausam ungerecht von dir!« rief Lord Henry, stieß seinen Hut in
+den Nacken und sah zu den Lämmerwolken empor, die gleich verwirrten
+Knäueln glänzendweißer Seide über das türkisfarbene Gewölbe des Himmels
+dahinschifften. »Ja, grausam ungerecht von dir. Ich unterscheide die
+Leute sehr scharf. Ich wählte meine Freunde nach ihrem guten Aussehen,
+meine Bekannten nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem
+guten Verstande. Der Mensch kann nicht vorsichtig genug sein in der Wahl
+seiner Feinde. Ich habe keinen einzigen, der ein Narr ist. Es sind
+sämtlich Leute von einer gewissen geistigen Höhe, und daher schätzen sie
+mich auch alle. Bin ich sehr eitel? Ich glaube, es ist ein bißchen
+eitel.«
+
+»Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung zählte ich nur
+unter deine Bekanntschaften.«
+
+»Mein lieber, alter Basil, du bist weit, weit mehr als ein Bekannter.«
+
+»Und weit weniger als ein Freund! Wohl so eine Art Bruder?«
+
+»Pah, Bruder! Bleibe mir mit Brüdern vom Halse. Mein ältester will nicht
+sterben, und meine jüngeren tun scheinbar nichts anderes.«
+
+»Harry!« rief Basil mit gerunzelter Stirne.
+
+»Mein lieber Junge, ich meine es nicht so ernst. Aber ich kann mir nicht
+helfen, ich verabscheue meine Verwandten. Ich vermute, das schreibt sich
+daher, daß kein Mensch bei einem anderen seine eigenen Fehler vertragen
+kann. Ich verstehe durchaus die Wut der englischen Demokraten auf die
+sogenannten Laster der oberen Stände. Die Massen fühlen, daß
+Trunkenheit, Dummheit und Unsittlichkeit zu ihren Vorrechten gehören
+sollten, und daß jeder von uns, der sich darin bloßstellt, gewissermaßen
+auf ihrem Gebiete wildert. Als damals der Scheidungsprozeß des armen
+Southwark spielte, war ihre Entrüstung wirklich prachtvoll. Und trotzdem
+lebt meiner Überzeugung nach nicht der zehnte Teil des Proletariats der
+Sitte gemäß.«
+
+»Ich stimme keinem einzigen deiner Worte bei, und, was mehr ist, Harry,
+du selbst glaubst ja auch nicht im mindesten daran.«
+
+Lord Henry strich seinen braunen Spitzbart und stieß mit dem zierlichen
+Spazierstock aus Ebenholz gegen die Kappe seines eleganten Lackstiefels.
+»Wie englisch du bist, Basil! Du machst heute zum zweitenmal diesen
+Einwurf. Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt -- an
+sich schon immer eine Unüberlegtheit --, so fällt es ihm nicht im Traum
+ein, zu erwägen, ob die Idee richtig oder falsch ist. Das einzige, was
+ihm von Belang scheint, ist das, ob der Sprecher selbst daran glaubt.
+Aber der Wert einer Idee hat nicht das geringste mit der Aufrichtigkeit
+dessen zu schaffen, der sie ausspricht. Aller Wahrscheinlichkeit nach
+wird die Idee um so geistreicher sein, je unaufrichtiger der Mann ist,
+weil sie in diesem Fall weder die Färbung seiner Bedürfnisse noch seiner
+Wünsche noch seiner Vorurteile annehmen wird. Indes habe ich nicht die
+Absicht, politische, soziale oder metaphysische Diskussionen mit dir zu
+führen. Mir sind Menschen lieber als Grundsätze und grundsatzlose
+Menschen überhaupt das Liebste auf Erden. Erzähle mir mehr von Dorian
+Gray. Wie oft siehst du ihn?«
+
+»Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn mal einen Tag nicht sähe.
+Er ist für mich einfach ein Bedürfnis.«
+
+»Wie merkwürdig! Ich glaubte immer, du kümmertest dich um nichts anderes
+als um deine Kunst.«
+
+»Er ist für mich jetzt meine ganze Kunst«, sagte der Maler ernsthaft.
+»Manchmal glaube ich, Harry, daß es nur zwei wichtige Epochen in der
+Weltgeschichte gibt. Die erste ist das Auftreten einer neuen
+Kunsttechnik und die zweite die Erscheinung einer neuen Persönlichkeit
+in der Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war,
+das war das Gesicht des Antinous für die spätgriechische Bildhauerkunst,
+und das wird eines Tages für mich das Gesicht Dorian Grays sein. Worauf
+es dabei ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere.
+Natürlich hab' ich das alles getan. Aber er ist weit mehr für mich als
+ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich will gewiß nicht
+behaupten, daß ich unzufrieden mit dem bin, was ich nach ihm gemacht
+habe, oder daß seine Schönheit derart ist, daß sie die Kunst nicht
+ausdrücken könne. Es gibt überhaupt nichts, was die Kunst nicht
+ausdrücken kann, und ich weiß: was ich gemacht habe, seitdem ich Dorian
+Gray kenne, ist gute Arbeit, ja, die gelungenste Arbeit meines Lebens.
+Aber auf irgendeine seltsame Weise -- ich glaube kaum, daß du das
+verstehen wirst -- hat mir seine Persönlichkeit eine vollständig neue
+Art der Kunst, einen durchaus neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge
+anders, ich denke darüber anders. Ich kann jetzt das Leben auf eine Art
+festhalten, die mir früher nicht gegeben war. >Ein Traum von Form in
+unseren Tagen des Denkens<: wer war es, der so sagte? Ich hab's
+vergessen, aber das bedeutet Dorian Gray für mich. Die bloße sichtbare
+Gegenwart dieses Knaben -- denn für mich ist er kaum mehr als das, wenn
+er auch schon über die Zwanzig -- seine bloße sichtbare Gegenwart --
+ach! ich glaube nicht, daß du einen Begriff davon hast, was sie für mich
+bedeutet! Ohne selbst es zu wissen, enthüllt er mir die Linien einer
+neuen Schule, einer Schule, in der enthalten ist die ganze Leidenschaft
+der Romantik und die ganze Vollkommenheit des griechischen Geistes. Die
+Harmonie von Seele und Leib, wieviel ist das doch! Wir in unserer
+Verblendung haben die beiden voneinander gerissen und haben uns einen
+Realismus erfunden, der gewöhnlich ist, und einen Idealismus, der leer
+ist. Harry! wenn du wissen könntest, was mir Dorian Gray ist! Erinnerst
+du dich an die Landschaft von mir, für die mir Agnew ein so wahnsinniges
+Geld angeboten hat und von der ich mich doch nie trennen wollte? Es ist
+sicher eins der besten Stücke, die ich je gemacht habe. Und warum? Weil
+Dorian Gray neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein ganz feines
+Fluidum strömte von ihm zu mir, und zum erstenmal in meinem Leben
+entdeckte ich in der simpeln Waldlandschaft das Wunder, nach dem ich
+immer gesucht und das ich nie gefunden hatte.«
+
+»Basil, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte. Ich muß Dorian
+Gray kennenlernen.«
+
+Hallward schnellte von der Bank auf und ging im Garten hin und her. Nach
+einer Weile kam er zurück.
+
+»Harry,« sagte er, »Dorian Gray ist für mich nichts als ein
+künstlerisches Motiv. Vielleicht fändest du gar nichts in ihm. Ich finde
+alles in ihm. Er ist in Wirklichkeit nie mehr in meiner Arbeit lebendig,
+als wenn kein Schatten von ihm darin ist. Er ist für mich, wie ich
+sagte, die Anregung zu einem Stil. Ich finde ihn in den Schwingungen
+gewisser Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit gewisser
+Farben. Das ist alles.«
+
+»Warum aber willst du dann sein Bild nicht ausstellen?« fragte Lord
+Henry.
+
+»Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck all dieser ganz
+merkwürdigen Künstlervergötterung hineingelegt habe, von der ich
+natürlich nie zu ihm sprechen wollte. Er hat von alledem keine Ahnung.
+Er soll nie etwas davon ahnen. Aber die Welt könnte es erraten; und ich
+will meine Seele ihren seichten, spähenden Augen nicht entblößen. Mein
+Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop bekommen. Es ist zu viel von mir
+selbst in dem Dinge, Harry -- zu viel von mir selbst.«
+
+»Dichter nehmen's nicht so genau wie du. Die wissen, wie einträglich es
+ist, Leidenschaft zu veröffentlichen. Ein gebrochenes Herz bringt es
+heutzutage zu einer ganzen Reihe von Auflagen.«
+
+»Ich finde sie darum eben abscheulich!« rief Hallward aus. »Ein Künstler
+soll Schönes schaffen, aber er soll nichts von seinem eigenen Leben
+hineintragen. Wir leben in einer Zeit, wo die Menschen aus der Kunst
+eine Art Autobiographie zu machen wünschen. Wir haben eben den klaren
+Begriff für Schönheit verloren. Eines Tages will ich der Welt zeigen,
+was sie ist, und deshalb soll die Welt mein Bild Dorian Grays niemals
+sehen.«
+
+»Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will mit dir nicht
+streiten. Nur die geistig Entkernten streiten sich gern. Sag' mir, hat
+dich Dorian Gray sehr lieb?«
+
+Der Maler dachte ein paar Augenblicke nach. »Er hat mich gern«,
+antwortete er nach einer Weile; »sicher hat er mich gern. Natürlich
+schmeichle ich ihm fürchterlich. Ich finde eine ganz besondere Lust
+daran, ihm Dinge zu sagen, die mir später leid tun, wie ich ganz genau
+weiß. In der Regel ist er auch reizend zu mir, und wir sitzen dann im
+Atelier und schwatzen von tausend Dingen. Dann und wann ist er
+allerdings greulich gedankenlos und scheint große Freude darin zu
+finden, mir wehe zu tun. Dann, Harry, habe ich das Gefühl, daß ich
+jemand meine ganze Seele überantwortet habe, der sie behandelt wie eine
+Blume für das Knopfloch, wie ein kleines Ehrenzeichen, mit dem man seine
+Eitelkeit befriedigt, wie einen Zierat für einen Sommertag.«
+
+»Sommertage, Basil, pflegen manchmal lange zu währen«, murmelte Lord
+Henry. »Vielleicht wirst du seiner früher müde, als er deiner. Es ist
+sehr traurig, daran zu denken, aber es ist ohne Zweifel wahr, daß das
+Genie die Schönheit überlebt. Das erklärt auch die Tatsache, daß wir uns
+soviel Mühe geben, uns mit Bildung vollzupfropfen. In dem wilden
+Existenzkampfe ums Dasein wollen wir alle etwas Dauerhaftes haben, und
+so füllen wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der dummen
+Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten. Der durch und durch
+unterrichtete Mann -- das ist das moderne Ideal. Und das Gehirn dieses
+durch und durch unterrichteten Mannes hat etwas Fürchterliches. Es
+gleicht einem Kuriositätenladen, in dem es lauter Ungeheuerlichkeiten
+voll Staub gibt, und wo jeder Gegenstand über seinen wahren Wert hinaus
+ausgezeichnet. Immerhin, ich glaube, du wirst zuerst müde werden. Eines
+Tages wirst du deinen jungen Freund anschauen und finden, daß er etwas
+verzeichnet ist, oder du wirst an seiner Farbe etwas auszusetzen haben
+oder irgend so etwas. Du wirst ihm dann in deinem Herzen bittere
+Vorwürfe machen und ganz ernsthaft überzeugt sein, daß er sich recht
+schlecht gegen dich benommen hat. Wenn er dich dann das nächstemal
+besucht, wirst du völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Das wird
+sehr schade sein, denn es wird dich selbst verändern. Was du mir da
+erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, eine Romanze der Kunst möchte man
+es nennen, und das Schlimmste beim Erleben von Gedichten ist nur, daß es
+einen so ganz unpoetisch zurückläßt.«
+
+»Harry, ich bitte, sprich nicht so. Solang' ich lebe, wird mich die
+Persönlichkeit Dorian Grays beherrschen. Du kannst meine Empfindung
+nicht nachfühlen. Du wandelst dich zu oft.«
+
+»Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich sie nachempfinden. Die
+treuen Menschen kennen nur die triviale Seite der Liebe; die Treulosen
+allein erfahren die Tragödien der Liebe.« Und Lord Henry zündete an
+einem zierlichen silbernen Büchschen ein Streichholz an und begann eine
+Zigarette zu rauchen, mit jener so selbstbewußten, zufriedenen Miene,
+als hätte er den Sinn der ganzen Welt in einen Satz zusammengefaßt. Man
+hörte ein leises Rauschen von zirpenden Sperlingen in den grünen, wie
+mit glänzendem Lack überzogenen Efeublättern, und die blauen
+Wolkenschatten jagten wie Schwalben über das Gras. Wie reizend war es
+doch in dem Garten und wie entzückend waren die Gefühlsregungen anderer
+Leute! -- weit entzückender als ihre Gedanken, so schien es ihm. Des
+Menschen eigene Seele und die Leidenschaft seiner Freunde -- das sind
+die fesselnden Dinge des Lebens. Er stellte sich mit geheimem Vergnügen
+das langweilige Frühstück vor, das er durch seinen langen Besuch bei
+Basil Hallward versäumt hatte. Wäre er zu seiner Tante gegangen, hätte
+er dort sicher Lord Goodbody getroffen, und das ganze Gespräch hätte
+sich mit der Armenernährung und der Notwendigkeit von Musterwohnhäusern
+beschäftigt. Menschen jedes Standes hätten die Wichtigkeit gerade jener
+Tugenden gepredigt, für die sie in ihrem eigenen Leben gar keine
+Verwendung hatten. Der Reiche hätte von dem Werte der Sparsamkeit
+geredet, und der Träge mit wahrhafter Beredsamkeit über die Würde der
+Arbeit. Es war reizend, all dem entgangen zu sein. Als er an seine Tante
+dachte, schien ihm etwas einzufallen. Er wandte sich zu Basil und sagte:
+»Mein lieber Junge, ich erinnere mich jetzt.«
+
+»Woran erinnerst du dich, Harry?«
+
+»Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.«
+
+»Wo war das?« fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln.
+
+»Schau' doch nicht so böse drein, Basil. Es war bei meiner Tante, Lady
+Agatha. Sie erzählte mir, sie sei einem wunderhübschen jungen Menschen
+begegnet, der ihr im East-End helfen wolle, und er heiße Dorian Gray.
+Ich muß zugeben, sie hat mir nie etwas darüber gesagt, daß er so hübsch
+sei. Frauen haben kein Verständnis für Schönheit, wenigstens gute Frauen
+nicht. Sie sagte, daß er sehr ernst sei und eine edle Seele habe. Ich
+stellte mir natürlich sofort ein Wesen mit Brille und wallendem Haar und
+gräßlich vielen Sommersprossen vor, das auf riesigen Füßen umherstapfe.
+Ich wünsche jetzt, ich hätte gewußt, daß er dein Freund ist.«
+
+»Ich bin sehr froh, daß du es nicht gewußt hast, Harry.«
+
+»Warum?«
+
+»Ich will nicht, daß du ihn kennenlernst.«
+
+»Du willst nicht, daß ich ihn kennenlerne?«
+
+»Nein.«
+
+»Herr Dorian Gray ist im Atelier«, sagte der Diener, der in den Garten
+hinaustrat.
+
+»Jetzt mußt du mich vorstellen!« rief Lord Henry lachend. Der Maler
+wandte sich zu seinem Diener, der blinzelnd in der Sonne dastand:
+»Bitten Sie Herrn Gray, zu warten, Parker; ich komme in ein paar
+Minuten.« Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus.
+
+Dann sah der Maler Lord Henry an. »Dorian Gray ist mein teuerster
+Freund«, sagte er. »Er hat eine schlichte und edle Seele. Deine Tante
+hatte ganz recht mit dem, was sie über ihn sagte. Verdirb ihn mir nicht.
+Versuche nicht, Einfluß auf ihn auszuüben. Dein Einfluß wäre
+verderblich. Die Welt ist groß, und es gibt eine Menge köstlicher
+Menschen auf ihr. Raube mir nicht den einzigen Menschen, der meiner
+Kunst ihren ganzen Zauber verleiht, den sie hat: mein Leben als Künstler
+hängt von ihm ab! Denke daran, Harry, ich vertraue dir.« Er sprach sehr
+langsam, und die Worte schienen sich ihm gegen seinen Willen zu
+entringen.
+
+»Was für Unsinn du redest!« sagte Lord Henry lächelnd, nahm Hallward
+unter den Arm und führte ihn in das Haus.
+
+
+
+
+Zweites Kapitel
+
+
+Als sie eintraten, erblickten sie Dorian Gray. Er saß am Klavier, mit
+dem Rücken ihnen zu, und blätterte in einem Notenbande mit Schumanns
+Waldszenen. »Die mußt du mir leihen, Basil!« rief er aus. »Ich möchte
+sie spielen lernen. Sie sind geradezu entzückend.«
+
+»Das hängt ganz davon ab, wie du mir heute sitzen wirst, Dorian.«
+
+»Ach, ich habe das Sitzen lange satt, und ich will gar kein lebensgroßes
+Bild von mir«, antwortete der Jüngling und schwang sich in dem
+Musikstuhl auf eine eigensinnige, launische Knabenart herum. Als er aber
+Lord Henry erblickte, stieg für einen Augenblick ein schwaches Rot in
+seine Wangen, und er sprang auf. »Ich bitte um Entschuldigung, Basil,
+ich wußte nicht, daß jemand bei dir ist.«
+
+»Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter Freund von Oxford her. Ich
+habe ihm gerade erzählt, wie musterhaft du sitzen kannst, und jetzt hast
+du alles verdorben.«
+
+»Mir haben Sie das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, nicht
+verdorben, Herr Gray«, sagte Lord Henry, ging auf ihn zu und streckte
+ihm die Hand entgegen. »Meine Tante hat oft von Ihnen gesprochen. Sie
+sind einer ihrer Lieblinge und, wie ich fürchte, auch ihrer Opfer.«
+
+»Ich stehe zur Zeit auf Lady Agathas schwarzer Liste«, antwortete Dorian
+mit einem komisch reuigen Gesichtsausdruck. »Ich hatte ihr versprochen,
+sie letzten Dienstag nach einem Klub in Whitechapel zu begleiten, und
+ich habe dann die Abmachung vergessen. Wir sollten da miteinander
+vierhändig spielen -- drei Stücke glaube ich. Ich weiß nun nicht, was
+sie mir dazu sagen wird. Ich habe Angst, ihr einen Besuch zu machen.«
+
+»Oh, ich werde Sie mit meiner Tante versöhnen. Sie ist Ihnen äußerst
+zugetan. Und ich glaube auch, es schadet nichts, daß Sie nicht dort
+waren. Die Zuhörer haben sicher angenommen, es sei vierhändig gespielt
+worden. Wenn sich Tante Agatha ans Klavier setzt, macht sie für zwei
+Personen reichlich Lärm.«
+
+»Sie sprechen sehr schlecht von ihr, und mir machen Sie auch gerade kein
+Kompliment damit«, antwortete Dorian lachend.
+
+Lord Henry sah ihn an. Ja, er war wirklich wunderbar schön, mit seinen
+feingeschwungenen dunkelroten Lippen, seinen offenen blauen Augen und
+seinem gewellten, goldblonden Haar. In seinem Gesicht war ein Ausdruck,
+der sofort Vertrauen erweckte. Aller Glanz der Jugend lag darin und
+ebenso all die leidenschaftliche Reinheit der Jugend. Man fühlte, daß er
+bisher noch nicht von der Welt befleckt war. Kein Wunder, daß ihn Basil
+Hallward anbetete.
+
+»Sie sind viel zu hübsch, um sich mit Wohltätigkeit abzugeben, Herr Gray
+-- viel zu hübsch!« Und Lord Henry warf sich auf den Diwan und öffnete
+seine Zigarettendose.
+
+Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt und seine Pinsel
+zurechtgemacht. Er sah etwas gequält aus, und als er Lord Henrys letzte
+Bemerkung hörte, blickte er zu ihm hin, sann einen Augenblick nach und
+sagte dann: »Harry, ich möchte das Bild heute fertig kriegen. Fändest du
+es sehr grob von mir, wenn ich dich jetzt bäte, uns allein zu lassen?«
+
+Lord Henry lächelte und sah Dorian Gray an. »Soll ich gehen, Herr Gray?«
+fragte er.
+
+»Oh, bitte, nein, Lord Henry. Ich sehe, Basil hat wieder einen seiner
+schlechten Tage, und ich kann ihn nicht vertragen, wenn er so brummt.
+Außerdem möchte ich von Ihnen erfahren, warum ich mich nicht mit
+Wohltätigkeit befassen soll?«
+
+»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Herr Gray. Es ist ein so
+langweiliges Thema, daß man schon ernsthaft darüber reden müßte. Aber
+jetzt geh ich auf keinen Fall, nachdem Sie mir erlaubt haben,
+dazubleiben. Du hast doch nichts im Ernst dagegen, Basil? Du hast mir
+oft genug gesagt, daß es dir angenehm sei, wenn deine Modelle mit jemand
+plaudern können.«
+
+Hallward biß sich auf die Lippe. »Wenn es Dorian wünscht, wirst du
+natürlich dableiben. Dorians Launen sind Gesetze für jedermann, außer
+für ihn selbst.«
+
+Lord Henry nahm seinen Hut und seine Handschuhe. »Trotz deiner
+dringenden Aufforderung, Basil, fürchte ich, gehen zu müssen. Ich habe
+mit jemand eine Verabredung im Orleans-Klub. Adieu, Herr Gray! Bitte,
+besuchen Sie mich doch mal eines Nachmittags in Curzon Street. Um fünf
+Uhr treffen Sie mich fast immer. Schreiben Sie mir, bitte, wann Sie
+kommen. Es täte mir sehr leid, wenn Sie mich verfehlten.«
+
+»Basil,« rief Dorian Gray, »wenn Lord Henry Wotton geht, dann gehe ich
+auch. Du bringst ja beim Malen nie die Lippen auseinander, und es ist
+furchtbar ermüdend, auf einem Podium zu stehen und sich anzustrengen,
+freundlich auszusehen. Bitte ihn, dazubleiben. Ich bestehe darauf.«
+
+»Bleib, Harry, du machst Dorian damit ein Vergnügen und auch mir«,
+sagte Hallward, ohne von seinem Bilde aufzublicken. »Er hat ganz recht,
+ich spreche nie ein Wort während der Arbeit und höre ebensowenig zu, und
+das muß sehr langweilig für meine unglücklichen Modelle sein. Ich bitte
+dich also, bleib.«
+
+»Was fange ich aber mit meinem Mann im Orleans an?«
+
+Der Maler lachte. »Ich glaube, damit wird es keine Schwierigkeit haben.
+Setz dich nur wieder, Harry. Und jetzt, Dorian, geh auf das Podium und
+bewege dich nicht zuviel und achte auch nicht auf das, was Lord Henry
+sagt. Er hat einen sehr bösen Einfluß auf alle seine Freunde, nur mich
+ausgenommen.«
+
+Dorian Gray bestieg das Podium mit der Miene eines jungen griechischen
+Märtyrers und stieß, zu Lord Henry gewandt, der ihm gleich gut gefallen
+hatte, einen kleinen drolligen Seufzer aus. Dieser Mann war so ganz
+anders als Basil. Die beiden bildeten einen entzückenden Gegensatz. Und
+er hatte ein so schönes Organ. Nach ein paar Augenblicken sagte Dorian
+zu ihm: »Haben Sie wirklich einen so bösen Einfluß, Lord Henry? Ist es
+so arg, wie Basil sagt?«
+
+»Es gibt keinen sogenannten guten Einfluß, Herr Gray. Jeder Einfluß ist
+unmoralisch -- unmoralisch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus.«
+
+»Wieso?«
+
+»Weil jemand beeinflussen soviel ist wie ihm die eigene Seele leihen. Er
+denkt dann nicht mehr seine natürlichen Gedanken und brennt nicht mehr
+in seinem natürlichen Feuer. Seine Tugenden sind gar nicht seine
+Tugenden. Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind nur
+ausgeborgte. Er wird ein Echo für die Töne eines anderen, Schauspieler
+einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben wurde. Der Sinn des Daseins
+ist: Selbstentwicklung. Die eigene Natur voll zum Ausdruck zu bringen --
+diese Aufgabe hat jeder von uns hier zu lösen. Heutzutage hat jeder
+Mensch Angst vor sich. Sie haben ihre heiligste Pflicht vergessen,
+nämlich die gegen sich selbst. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren
+den Hungernden und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen darben
+und gehen nackt. Der Mut ist unserem Geschlecht abhanden gekommen.
+Vielleicht haben wir ihn nie wirklich besessen. Die Furcht vor der
+Gesellschaft als der Grundlage der Sittlichkeit, und die Furcht vor
+Gott, als dem Geheimnis der Religion -- das sind die zwei Dinge, die uns
+beherrschen. Und doch --«
+
+»Dorian, dreh den Kopf mal ein wenig mehr nach rechts, sei so gut«,
+sagte der Maler, der ganz in sein Werk vertieft war, aber doch gemerkt
+hatte, daß in des Jünglings Gesicht ein Ausdruck getreten war, den er
+vorher nie darin gesehen hatte.
+
+»Und doch,« fuhr Lord Henry mit seiner tiefen musikalischen Stimme fort,
+während er die Hand in der anmutigen Art bewegte, die er schon
+seinerzeit in Eton gehabt hatte, »ich glaube, wenn die Menschen nur ihr
+eigenes Leben voll, bis auf den letzten Rest ausleben würden, jedes
+Gefühl Gestalt bekommen lassen, jeden Gedanken ausdrücken, jeden Traum
+in Dasein umsetzen wollten -- ich glaube, dann käme in die Welt ein
+solcher Schwung von neuer Freudigkeit, daß wir alle die Krankheiten des
+Mittelalters vergäßen und zum hellenischen Ideal zurückkehrten, ja wir
+kämen vielleicht zu etwas Feinerem und Reicherem, als das hellenische
+Ideal war. Aber selbst der Tapferste unter uns hat Angst vor sich
+selber. Die Selbstverstümmelung der Wilden hat ihr tragisches
+Überbleibsel in der Selbstverleugnung, die unser Leben verstümmelt. Wir
+büßen für unsere Entsagungen. Jeder Trieb, den wir zu ersticken suchen,
+frißt im Innern weiter und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal
+und hat sich durch die Sünde befreit, denn Tat ist immer eine Art
+Reinigung. Nichts bleibt davon zurück als die Erinnerung an ein
+Vergnügen oder die schmerzliche Wollust der Reue. Der einzige Weg, eine
+Versuchung zu bestehen, ist, sich ihr hinzugeben. Widerstehen Sie ihr,
+und Ihre Seele erkrankt vor Sehnsucht nach der Erfüllung, die sie sich
+selber verweigert hat, erkrankt vor dem Verlangen nach dem, was ihre
+ungeheuerlichen Gesetze ungeheuerlich und ungesetzmäßig gemacht haben.
+Es ist wohl gesagt worden, die großen Ereignisse der Welt gingen im
+Gehirn vor sich. Im Gehirn und ganz allein im Gehirn werden auch die
+großen Sünden der Welt begangen. Sie, Herr Gray, Sie selbst mit Ihrer
+rosenroten Jugend und Ihrer rosenblassen Knabenunschuld, Sie haben schon
+Leidenschaften erlebt, die Ihnen Angst einjagten, haben Gedanken gehabt,
+die Sie in Schrecken setzten, haben wachend und schlafend Träume gehabt,
+deren bloße Erinnerung Ihre Wangen schamrot werden ließ --«
+
+»Hören Sie auf,« stammelte Dorian Gray, »hören Sie auf, Sie machen mich
+ganz wirr. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Antwort
+darauf, aber ich kann sie nicht finden. Sagen Sie nichts mehr! Lassen
+Sie mich nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, dem nicht
+nachzudenken.«
+
+Etwa zehn Minuten stand er bewegungslos da, mit halboffenen Lippen und
+seltsam leuchtenden Augen. Er war sich dumpf bewußt, daß ganz neue
+Einflüsse in ihm arbeiteten. Und doch schien es, als kämen sie in
+Wirklichkeit aus seinem eigenen Innern. Die paar Worte, die Basils
+Freund zu ihm gesagt hatte -- ohne Zweifel zufällig hingeworfene Worte
+voll absichtlicher Paradoxie -- hatten eine geheime Saite seiner Seele
+berührt, die vordem nie berührt worden war, die er aber nun zittern und
+in seltsamer Wildheit schluchzen hörte.
+
+Musik hatte ihn so ähnlich aufgewühlt. Musik hatte ihn oft in Aufruhr
+gebracht. Aber Musik war etwas Unbestimmtes. Sie bringt keine neue Welt
+in uns hervor; schafft eher ein neues Chaos in uns. Worte! Bloße Worte!
+Wie schrecklich die waren! Wie klar und lebendig und grausam! Man konnte
+ihnen nicht entrinnen. Und doch, welch tiefer Zauber steckte in ihnen!
+Sie schienen die Kraft zu haben, formlosen Dingen eine greifbare Gestalt
+zu geben, und schienen eine Musik in sich zu bergen, so süß wie die der
+Geige oder der Laute. Bloße Worte! Gab es denn irgend etwas so
+Wirkliches wie Worte?
+
+Ja; es hatte in seiner Knabenzeit Dinge gegeben, die ihm unbegreiflich
+geblieben waren. Jetzt verstand er sie. Plötzlich bekam das Leben für
+ihn lodernde Farben. Nun schien es ihm, als sei er mittenhin durch Feuer
+gewandelt. Warum hatte er es nie gemerkt?
+
+Lord Henry beobachtete ihn mit einem feinspürenden Lächeln. Er verstand
+sich gut auf jenen psychologischen Moment, in dem man kein Wort sagen
+darf. Er fühlte sich sehr stark interessiert. Die jähe Wirkung seiner
+Worte machte ihn erstaunen; nun entsann er sich eines Buches, das er mit
+sechzehn Jahren gelesen und das ihm viel bis dahin Unbekanntes enthüllt
+hatte, und er fragte sich, ob Dorian Gray jetzt wohl eine ähnliche
+Erfahrung erlebe. Er hatte nur einen Pfeil ins Blaue geschossen. Hatte
+er das Ziel getroffen? Wie anziehend doch dieser Junge war!
+
+Inzwischen malte Hallward in jenen wundervollen, kühnen Zügen weiter,
+die das Zeichen aller wahren Feinheit und Vollkommenheit sind, denn die
+kann der Kunst nur aus der Kraft werden. Er merkte die wortlose Stille
+gar nicht.
+
+»Basil, ich habe jetzt genug von dem Stehen!« rief Dorian plötzlich aus.
+»Ich muß hinaus und mich im Garten hinsetzen. Die Luft hier ist zum
+Ersticken.«
+
+»Mein Bester, das tut mir wirklich leid. Wenn ich male, kann ich an
+nichts anderes denken. Aber du hast nie besser Modell gestanden. Du
+warst ganz ruhig. Und ich habe endlich den Ausdruck herausgebracht, den
+ich gesucht habe -- die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen.
+Ich weiß nicht, was Harry dir erzählt hat, aber sicher hat er es
+bewirkt, daß du den prachtvollsten Ausdruck hast. Ich vermute, er hat
+dir Komplimente gemacht. Du darfst ihm nur kein einziges Wort glauben.«
+
+»Er hat mir nicht das kleinste Kompliment gemacht. Vielleicht ist das
+der Grund, daß ich wirklich kein Wort von dem glaube, was er gesagt
+hat.«
+
+»Sie wissen selbst, daß Sie jedes Wort davon glauben«, erwiderte Lord
+Harry, der ihn mit seinen weichen, träumerischen Augen ansah. »Wir
+wollen zusammen in den Garten gehen. Es ist furchtbar heiß hier im
+Atelier. Basil, laß uns irgendein Eisgetränk geben, irgendwas mit
+Erdbeeren darin.«
+
+»Gern, Harry. Klingele nur selbst, und wenn Parker kommt, will ich ihm
+sagen, was Ihr haben wollt. Ich muß erst den Hintergrund hier noch
+fertig machen und komme dann später nach. Halte mir Dorian aber nicht zu
+lange fest. Ich war nie in besserer Malstimmung als heute. Dies Porträt
+wird mein Meisterwerk. Wie es da steht, ist es schon mein Meisterwerk.«
+
+Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand dort Dorian Gray, wie er
+sein Gesicht hinter den großen, kühlen Blütenbüscheln der
+Fliedersträuche versteckte und fieberhaft ihren Duft einsog, als tränke
+er Wein. Er trat nahe an ihn heran und legte ihm die Hand auf die
+Achsel. »Sie haben ganz recht, so zu tun«, sagte er leise. »Nichts hilft
+der Seele besser als die Sinne, sowie den Sinnen nichts besser als die
+Seele helfen kann.«
+
+Der Jüngling schreckte auf und trat einen Schritt zurück. Er war ohne
+Hut, und das Blattgewirr hatte seine widerspenstigen Locken aufgewühlt
+und ihre goldblonden Strähnen in Unordnung gebracht. In seinen Augen lag
+ein Ausdruck von Furcht, wie ihn Menschen haben, die man jäh aus dem
+Schlaf reißt. Seine zartgeformten Nasenflügel bebten, und ein geheimer
+Nerv zuckte leis an den scharlachroten Lippen, so daß sie beständig
+zitterten.
+
+»Ja,« fuhr Lord Henry fort, »das ist eines der großen Geheimnisse des
+Daseins -- die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele
+heilen können. Sie sind ein wunderbares Menschenkind! Sie wissen mehr,
+als Ihnen bewußt ist, gerade wie Sie weniger wissen, als Ihnen dienlich
+ist.«
+
+Dorian Gray runzelte die Stirn und wendete den Kopf weg. Ein
+unwiderstehlicher Reiz zog ihn zu diesem großen, anmutigen jungen Mann
+hin, der da neben ihm stand. Sein romantisches, olivenfarbiges Gesicht
+und der müde Ausdruck darin fesselten ihn. Es war etwas in dem müden Ton
+seiner Stimme, was völlig in Bann schlug. Auch seine Hände, kühl, weiß
+und blumenhaft, zogen an. Sie bewegten sich bei seinen Worten,
+begleiteten sie wie Musik und schienen ihre eigene Sprache zu reden.
+Aber er hatte auch Angst vor ihm und schämte sich dieser Angst. Warum
+hatte ein Fremder kommen müssen, um ihn sich selber zu offenbaren? Er
+kannte Basil Hallward nun seit Monaten, aber diese Freundschaft hatte
+ihn niemals verwandelt. Jetzt war plötzlich jemand in sein Leben
+getreten, der ihm des Lebens Mysterium enthüllt zu haben schien. Und
+doch, wovor sollte er sich fürchten? Er war kein Schulknabe und kein
+kleines Mädchen. Es war töricht, Angst zu haben.
+
+»Kommen Sie und setzen wir uns in den Schatten«, sagte Lord Henry.
+»Parker hat uns was zu trinken gebracht, und wenn Sie noch länger in
+solcher Sonnenglut stehenbleiben, werden Sie sich Ihren Teint verderben,
+und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich nicht von
+der Sonne verbrennen lassen. Es würde Ihnen schlecht stehen.«
+
+»Was läge weiter daran?« rief Dorian Gray und lachte, als er sich auf
+eine Bank am Ende des Gartens setzte.
+
+»Alles sollte Ihnen daran liegen, Herr Gray.«
+
+»Wieso?«
+
+»Weil Sie die wundervollste Jugend haben, und Jugend ist das einzige,
+dessen Besitz einen Wert hat.«
+
+»Ich empfinde das nicht, Lord Henry.«
+
+»Nein, jetzt empfinden Sie es nicht. Später einmal, wenn Sie alt,
+runzlig und häßlich sind, wenn das Denken Furchen in Ihre Stirne
+gegraben und die Leidenschaft Ihre Lippen mit ihrem schrecklichen Feuer
+verbrannt hat, dann werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt
+können Sie hingehen, wo Sie wollen, und Sie berücken die ganze Welt!
+Wird das immer so sein?... Sie haben ein wundervoll schönes Gesicht,
+Herr Gray. Runzeln Sie nicht die Stirn. Sie haben es. Und Schönheit ist
+eine Form des Genies -- steht in Wahrheit noch höher als das Genie, da
+sie keinerlei Erklärung bedarf. Sie ist eine der großen Lebenstatsachen,
+wie das Sonnenlicht oder der Lenz oder wie in dunkeln Gewässern der
+Widerschein der Silbermuschel, die wir Mond nennen. Sie kann nicht
+bestritten werden. Sie hat ein göttliches, erhabenes Recht. Wer sie
+hat, den macht sie zu einem Prinzen. Sie lächeln? Oh, wenn Sie sie
+verloren haben, lächeln Sie nicht mehr... Die Leute sagen manchmal,
+Schönheit sei nur etwas Äußerliches. Mag sein. Aber zum mindesten ist
+sie nicht so äußerlich wie das Denken. Für mich ist Schönheit aller
+Wunder Wunder. Nur die Hohlköpfe urteilen nicht nach dem Äußeren. Das
+wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare...
+Ja, Herr Gray, die Götter haben es gut mit Ihnen gemeint. Aber was die
+Götter schenken, rauben sie bald wieder. Sie haben nur ein paar Jahre,
+wo Sie wahrhaftig vollkommen, restlos leben können. Indem Ihre Jugend
+verrauscht ist, nimmt sie die Schönheit mit, und dann werden Sie
+plötzlich entdecken, daß Ihrer keine Siege mehr warten, oder daß Sie
+sich mit jenen traurigen Siegen werden begnügen müssen, die Ihnen die
+Erinnerung an die Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen.
+Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie näher einem schrecklichen Ziele.
+Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und kämpft gegen Ihre Lilien und
+Rosen. Sie werden fahl und hohlwangig, und Ihre Augen werden sich
+trüben. Sie werden unsäglich leiden... Ach! leben Sie Ihre Jugend,
+solange sie da ist. Vergeuden Sie das Gold Ihrer Tage nicht, leihen Sie
+Ihr Ohr nicht den Philistern, mühen Sie sich nicht, hoffnungslose
+Verhängnisse zu verbessern, geben Sie Ihr Leben nicht den Unwissenden,
+Niedrigen, den gemeinen Leuten hin! Das sind die kranken Ziele, die
+falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das wunderschöne
+Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich nichts verloren sein! Suchen
+Sie rastlos nach neuen Sinneseindrücken! Fürchten Sie nichts... Ein
+neuer Hedonismus -- der täte unserem Jahrhundert not. Sie könnten sein
+sichtbares Symbol werden. Mit Ihrer Persönlichkeit können Sie alles
+wagen. Die Welt gehört Ihnen einen Sommer hindurch... Im Augenblick, da
+ich Sie sah, merkte ich, daß Sie keine Ahnung davon haben, was Sie
+wirklich sind, was Sie wirklich sein könnten. So viel in Ihnen entzückte
+mich, daß ich förmlich gezwungen war, Ihnen etwas über Ihre Natur zu
+sagen. Ich dachte mir, welche Tragik darin läge, wenn Sie vergebens
+lebten. Denn Ihre Jugend währt nur so kurze Zeit -- so kurze Zeit. Die
+alltäglichen Wiesenblumen welken, aber sie blühen wieder. Der Goldregen
+wird im nächsten Juni genau so gelb sein wie heute. In einem Monat setzt
+die Klematis purpurne Sterne an, und Jahr für Jahr umhüllt die grüne
+Nacht ihrer Blätter solche Purpursterne. Aber wir Menschen bekommen
+unsere Jugend nie wieder. Die Freude, die den Puls des Zwanzigjährigen
+peitscht, läßt nach. Unsere Glieder versagen, die Sinne werden seicht.
+Wir verkommen und werden greuliche Verpuppungen, werden verfolgt von den
+Erinnerungen an die Leidenschaften, vor denen wir zurückgeschreckt sind,
+und an die reizenden Versuchungen, denen zu erliegen wir nicht den Mut
+hatten. Jugend! Jugend! Es gibt in der Welt nichts weiter als Jugend!«
+
+Dorian Gray hörte zu, mit aufgerissenen Augen und staunend. Der
+Fliederzweig, den er in der Hand hielt, fiel auf den Kies. Eine Biene in
+ihrem Pelzkleid schoß her und umsummte ihn einen Augenblick. Dann
+krabbelte sie eifrig auf den kleinen Blumensternen herum. Er beobachtete
+sie mit dem seltsamen Interesse an gewöhnlichen Dingen, das wir in uns
+heranzubilden suchen, wenn wir uns vor entscheidenden Dingen fürchten,
+oder wenn uns ein neues Gefühl erschüttert, für das wir noch keine
+Formel haben, oder wenn ein schrecklicher Gedanke das Hirn umklammert
+und verlangt, daß wir uns ihm ausliefern sollen. Nach einer Weile
+schwirrte die Biene weg. Er sah sie in den bunten Trompetentrichter
+einer tyrischen Winde kriechen. Die Blume schien zusammenzuzucken und
+bewegte sich dann mit Grazie hin und her.
+
+Plötzlich erschien der Maler unter der Tür des Ateliers und forderte sie
+mit kurzen wiederholten Zeichen auf, hereinzukommen. Sie sahen sich
+einander an und lächelten.
+
+»Ich warte!« rief er. »Kommt herein! Das Licht ist ganz prächtig, und
+ihr könnt eure Gläser mitbringen.«
+
+Sie standen auf und schlenderten den Weg zurück. Zwei grünlichweiße
+Schmetterlinge flatterten an ihnen vorüber, und in dem Birnbaum an der
+Gartenecke begann eine Drossel zu flöten.
+
+»Es freut Sie, mich kennengelernt zu haben, Herr Gray?« fragte Lord
+Henry und blickte ihn an,
+
+»Ja, jetzt bin ich erfreut darüber. Ich weiß nicht, ob ich's immer sein
+werde!«
+
+»Immer! das ist ein schreckliches Wort. Ich schaudere, wenn ich es höre.
+Die Frauen haben es so gern. Sie zerstören sich jedes Abenteuer, indem
+sie ihm Ewigkeit verleihen wollen. Außerdem ist es ein sinnloses Wort.
+Der einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer Leidenschaft,
+die ein Leben lang dauert, ist, daß die Laune ein bißchen länger
+dauert.«
+
+Als sie ins Atelier traten, legte Dorian Gray seine Hand auf Lord Henrys
+Arm. »Lassen Sie also unsere Freundschaft eine Laune sein«, sagte er
+leise und errötete über seine eigene Kühnheit. Dann bestieg er das
+Podium und nahm wieder seine Stellung ein.
+
+Lord Henry warf sich in einen bequemen Korbsessel und beobachtete ihn.
+Das Hin- und Herfahren des Pinsels auf der Leinwand war das einzige, die
+Stille unterbrechende Geräusch, nur manchmal hörte man den Schritt
+Hallwards, wenn er zurücktrat, um sein Werk aus der Entfernung zu
+prüfen. In den schrägen Sonnenstrahlen, die durch die offene Tür
+fluteten, tanzte der Staub in goldenen Schuppen. Über allem lagerte der
+schwere Duft der Rosen.
+
+Als etwa eine Viertelstunde vergangen war, hörte Hallward zu malen auf,
+betrachtete Dorian lange Zeit, sah dann lange auf das Bildnis, nagte an
+dem Stiel eines seiner großen Pinsel und runzelte die Stirn. »Ganz
+fertig«, rief er endlich, bückte sich und schrieb in großen grellroten
+Lettern seinen Namen in die linke Ecke der Leinwand.
+
+Lord Henry trat heran und betrachtete das Bild mit Kennerblick. Es war
+in der Tat ein wunderbares Kunstwerk und auch wunderbar ähnlich.
+
+»Lieber Junge,« sagte er, »ich wünsche dir herzlich Glück. Es ist das
+beste Porträt unserer ganzen Zeit. Herr Gray, kommen Sie und sehen Sie
+selbst!«
+
+Der Jüngling schrak wie aus einem Traume auf. »Ist es wirklich fertig?«
+murmelte er, als er vom Podium herabstieg.
+
+»Ganz fertig«, antwortete der Maler. »Und du hast heute glänzend Modell
+gestanden. Ich bin dir sehr, sehr dankbar.«
+
+»Das ist nur mein Verdienst«, warf Lord Henry ein. »Nicht wahr, Herr
+Gray?«
+
+Dorian gab keine Antwort, sondern trat, ohne hinzuhören, vor sein Bild
+und wandte sich dem Werke zu. Als er es sah, zuckte er zusammen, und
+seine Wangen röteten sich einen Augenblick vor Vergnügen. Ein Ausdruck
+der Freude blitzte in seinen Augen, als erkenne er sich selbst jetzt zum
+ersten Male. Bewegungslos und in Staunen versunken, stand er da und
+merkte dumpf, daß Hallward zu ihm sprach, ohne daß er den Sinn der Worte
+erfaßte. Das Gefühl seiner eigenen Schönheit kam über ihn wie eine
+Offenbarung. Er hatte es nie vorher empfunden. Basil Hallwards
+Komplimente hatte er nur für liebenswürdige Übertreibungen der
+Freundschaft gehalten. Er hatte sie gehört, über sie gelacht und sie
+vergessen. Sein Wesen hatten sie niemals beeinflußt. Dann war Lord Henry
+Wotton gekommen mit seinem sonderbaren Hymnus auf die Jugend, seiner
+schrecklichen Warnung von ihrer Flüchtigkeit. Das hatte ihn rechtzeitig
+aufgerüttelt, und als er jetzt dastand und das Abbild der eigenen
+Schönheit betrachtete, durchdrang ihn die volle Wirklichkeit jener
+Schilderung. Ja, der Tag mußte kommen, da sein Gesicht verrunzelt und
+verwelkt, die Augen trüb und farblos, die Anmut seiner Gestalt geknickt
+und entstellt sein würde. Das Scharlachrot der Lippen würde verblassen,
+der Goldglanz des Haares sich wegstehlen. Das Leben, das von seiner
+Seele gebildet wurde, zerstörte seinen Körper. Er würde häßlich,
+abscheuerregend und formlos werden.
+
+Als er daran dachte, durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz wie ein
+Messerstich und ließ die feinsten Nerven seines Ichs erbeben. Seine
+Augen verdunkelten sich zu Amethysten, und ein Tränenflor umschleierte
+sie. Es war, als hätte sich ihm eine eiskalte Hand aufs Herz gelegt.
+
+»Gefällt es dir nicht?« rief endlich Hallward, ein wenig gereizt durch
+das Schweigen des Jünglings, dessen Grund er nicht begriff.
+
+»Natürlich gefällt's ihm«, sagte Lord Henry. »Wem würde es nicht
+gefallen? Es gehört zu den größten Werken der modernen Kunst. Ich gebe
+dir jeden Betrag dafür, den du verlangst. Ich muß es haben.«
+
+»Es gehört nicht mir, Harry.«
+
+»Wem denn?«
+
+»Dorian natürlich«, antwortete der Maler.
+
+»Da hat er Glück...«
+
+»Wie traurig!« flüsterte Dorian und hielt die Augen noch immer fest auf
+das Bild gerichtet. »Wie traurig! Ich werde alt werden und häßlich und
+widerlich. Aber dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über den
+heutigen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt sein könnte!
+Wenn ich ewig jung bliebe und dafür das Bild altern könnte! Dafür --
+dafür -- gäbe ich alles! Ja, nichts in aller Welt wäre mir dafür
+zuviel! Ich gäbe meine Seele dafür!«
+
+»Dieser Tausch würde dir schwerlich passen, Basil«, rief Lord Henry
+lachend. »Das wäre schlimm für dein Bild.«
+
+»Ich würde mich ernstlich dagegen wehren, Harry«, sagte Hallward.
+
+Dorian Gray wandte sich zu ihm und sah ihn an. »Ich bin davon überzeugt,
+Basil. Die Kunst ist dir mehr als deine Freunde. Ich bedeute für dich
+nicht mehr als eine grüne Bronzefigur. Vielleicht kaum so viel, müßte
+ich sagen.«
+
+Der Maler war starr vor Erstaunen. So zu sprechen sah Dorian gar nicht
+ähnlich. Was war geschehen? Er schien ganz erregt. Sein Gesicht war
+gerötet, und die Wangen brannten.
+
+»Ja,« fuhr er fort, »ich bin dir weniger als dieser Hermes aus Elfenbein
+oder der silberne Faun da. Die wirst du immer liebbehalten. Wie lange
+wirst du mich liebhaben? Vermutlich bis die erste Runzel mein Gesicht
+entstellt. Ich weiß jetzt, wenn man erst seine Schönheit verliert, hat
+man alles verloren. Dein Bild hat mich dies gelehrt. Lord Henry Wotton
+hat ganz recht. Jugend ist das einzige, was Wert hat auf der Welt. Sowie
+ich entdecke, daß ich alt werde, bringe ich mich um.«
+
+Hallward wurde bleich und faßte ihn bei der Hand. »Dorian, Dorian!« rief
+er, »sage so etwas nicht. Ich habe nie einen Freund gehabt wie dich und
+werde nie wieder so einen haben. Du bist doch nicht auf leblose Dinge
+eifersüchtig? Du, der schöner ist als irgendeines von ihnen.«
+
+»Ich bin eifersüchtig auf jedes Ding, dessen Schönheit nicht stirbt. Ich
+bin eifersüchtig auf das Bild, das du von mir gemalt hast. Warum darf es
+behalten, was ich verlieren muß? Jeder Augenblick, der verfliegt, raubt
+mir etwas und schenkt ihm etwas. Oh, wenn es doch umgekehrt wäre! Wenn
+sich das Bild verändern und ich immer bleiben könnte, wie ich jetzt bin!
+Warum hast du es gemalt? Es wird mich dereinst verhöhnen -- furchtbar
+verhöhnen!« Die heißen Tränen traten ihm in die Augen, er zog seine Hand
+weg, warf sich auf den Diwan und vergrub sein Gesicht in den Kissen, als
+betete er.
+
+»Das ist dein Werk, Harry«, sagte der Maler bitter.
+
+Lord Henry zuckte die Achseln. »Es ist der wahre Dorian Gray -- sonst
+nichts.«
+
+»Das ist er nicht.«
+
+»Wenn er es nicht ist, was habe ich damit zu schaffen?«
+
+»Du hättest weggehen sollen, als ich dich darum bat«, grollte er.
+
+»Ich blieb, als du mich darum batest«, war Lord Henrys Erwiderung.
+
+»Harry, ich kann nicht auf einmal mit meinen beiden besten Freunden
+Streit anfangen, aber ihr beide habt schuld, daß ich das beste Stück,
+das mir je gelungen ist, hassen muß, und ich werde es vernichten. Ist es
+schließlich mehr als Leinwand und Farbe? Ich will es nicht eingreifen
+lassen in drei Leben und sie zerstören.«
+
+Dorian Gray hob seinen goldschimmernden Kopf von dem Kissen und blickte
+ihn mit bleichem Gesicht und tränenfeuchten Augen an, als er zu dem
+Maltische aus Kiefernholz trat, der unter dem hohen verhängten Fenster
+stand. Was wollte Basil beginnen? Seine Finger wühlten zwischen dem Wust
+von Blechtuben und trockenen Pinseln herum, als suchten sie etwas. Ja,
+sie suchten das lange Schabmesser mit der schmalen Klinge aus
+schmiegsamem Stahl. Endlich hatte er es gefunden. Er wollte die Leinwand
+zerschlitzen.
+
+Mit einem erstickten Schluchzen sprang der Jüngling vom Diwan auf, schoß
+auf Hallward zu, riß ihm das Messer aus der Hand und schleuderte es in
+den äußersten Winkel des Ateliers. »Tu es nicht, Basil, tu es nicht«,
+schrie er. »Es wäre Mord.«
+
+»Ich freue mich, daß dir meine Arbeit endlich doch gefällt, Dorian«,
+sagte der Maler kühl, als er sich von seinem Erstaunen erholt hatte.
+»Ich hätte es gar nicht geglaubt.«
+
+»Gefällt? Ich bin verliebt in dies Bild, Basil. Es ist ja ein Teil von
+mir selbst. Ich fühle es.«
+
+»Schön, sobald du trocken bist, sollst du gefirnißt, gerahmt und zu dir
+hingeschickt werden. Dann kannst du mit dir anfangen, was dir beliebt.«
+Er schritt durch den Raum und klingelte nach Tee. »Du trinkst doch Tee,
+Dorian? Du auch, Harry? Oder machst du dir nichts aus so einfachen
+Genüssen?«
+
+»Ich bete einfache Genüsse an«, sagte Lord Henry. »Sie sind die letzte
+Zuflucht komplizierter Naturen. Aber für Szenen schwärme ich nicht,
+außer auf der Bühne. Was für tolle Burschen seid ihr doch, ihr beide!
+Wer war es doch gleich, der den Menschen als ein vernünftiges Tier
+definiert hat? Das war eine der voreiligsten Definitionen, die je
+aufgestellt wurden. Der Mensch hat eine ganze Menge Eigenschaften, aber
+gewiß keine Vernunft. Alles in allem übrigens: Gott sei Dank, obwohl
+mir's eigentlich lieber wäre, ihr beiden Wirbelköpfe zanktet euch nicht
+um das Bild. Du solltest es lieber mir gegeben haben, Basil. Dieses
+törichte Knäblein braucht es eigentlich gar nicht, und ich brauche es
+sehr.«
+
+»Wenn du es einem anderen geben willst als mir, Basil, verzeihe ich es
+dir nie«, rief Dorian Gray; »und ich erlaube niemand, mich ein törichtes
+Knäblein zu nennen.«
+
+»Du weißt, Dorian, das Bild gehört dir. Ich hab' es dir geschenkt, noch
+ehe es vorhanden war.«
+
+»Und Sie wissen, Herr Gray, daß Sie ein wenig töricht waren und daß Sie
+ernstlich gar nichts dagegen haben können, an Ihre große Jugend erinnert
+zu werden.«
+
+»Heute früh hätte ich sehr viel dagegen gehabt, Lord Henry.«
+
+»Ah! heute früh. Seitdem haben Sie einiges erlebt.«
+
+Es klopfte an die Tür, und der Diener trat mit einem besetzten Teebrett
+ein und servierte auf einem kleinen japanischen Tisch den Tee. Die
+Tassen und Löffel klapperten, und ein georgischer Samowar begann zu
+summen. Zwei gewölbte chinesische Porzellanschüsseln wurden von einem
+jungen Diener hereingebracht. Dorian Gray ging hin und goß den Tee ein.
+Die beiden Männer schlenderten zum Tische und sahen nach, was unter den
+Deckeln der Schüsseln war.
+
+»Wir wollen heute abend ins Theater gehen«, meinte Lord Henry.
+»Irgendwo wird sicher was los sein. Ich habe zwar zugesagt, im
+White-Klub zu soupieren, aber mich erwartet nur ein alter Freund; ich
+kann ihm also ein Telegramm schicken, daß ich nicht wohl sei oder
+infolge einer späteren Verabredung nicht kommen könne. Das würde ich für
+eine reizende Entschuldigung halten. Sie hat einen förmlich
+überraschenden Duft von Aufrichtigkeit.«
+
+»Es ist so lästig, sich den Frack anzuzerren«, murmelte Hallward. »Und
+wenn man ihn anhat, sieht man so gräßlich aus.«
+
+»Ja,« antwortete Lord Henry träumerisch, »die Kleidung des neunzehnten
+Jahrhunderts ist abscheulich. Sie ist so düster, so deprimierend. Die
+Sünde ist noch das einzig Farbenfreudige, das im modernen Leben
+übriggeblieben ist.«
+
+»Du solltest wirklich nicht solche Dinge vor Dorian sagen, Harry!«
+
+»Vor welchem Dorian? Vor dem, der uns den Tee einschenkt, oder dem
+anderen auf dem Bilde?«
+
+»Vor keinem.«
+
+»Ich ginge gerne mit Ihnen ins Theater, Lord Henry«, sagte der Jüngling.
+
+»Dann kommen Sie doch. Und du auch, Basil, nicht wahr?«
+
+»Ich kann nicht, wirklich nicht. Es ist mir lieber so. Ich habe eine
+Unmenge zu tun.«
+
+»Schön also. Dann müssen wir zwei allein gehen, Herr Gray.«
+
+»Ich freue mich riesig darauf.«
+
+Der Maler biß sich auf die Lippe und schritt, die Teetasse in der Hand,
+zum Bilde. »Ich bleibe hier bei dem wirklichen Dorian«, sagte er
+traurig.
+
+»Ist das der wirkliche?« rief das Original und ging gleichfalls langsam
+zu ihm hin. »Bin ich wirklich so?«
+
+»Ja, genau so bist du.«
+
+»Wie wundervoll, Basil!«
+
+»Du siehst wenigstens jetzt so aus. Aber das Bild wird sich nie ändern«,
+seufzte Hallward. »Das ist schon etwas.«
+
+»Was man heute für ein großes Wesen aus der Treue macht!« rief Lord
+Henry aus. »Und doch ist sie selbst in der Liebe eine rein
+physiologische Frage. Sie hat auch nicht das mindeste mit unserem
+eigenen Willen zu tun. Junge Männer wären gerne treu und sind es nicht;
+alte würden gerne untreu sein und können es nicht: das ist alles, was
+sich darüber sagen läßt.«
+
+»Geh heute abend nicht ins Theater, Dorian«, bat Hallward. »Bleibe hier
+und speise mit mir.«
+
+»Ich kann nicht, Basil.«
+
+»Warum?«
+
+»Weil ich Lord Henry Wotton zugesagt habe, ihn zu begleiten.«
+
+»Er wird dir darum nicht mehr zugetan sein, wenn du so treu deine
+Versprechungen hältst. Er bricht seine immer. Ich bitte dich, nicht zu
+gehen.«
+
+Dorian Gray schüttelte lachend den Kopf.
+
+»Ich beschwöre dich.«
+
+Der junge Mann schwankte und blickte zu Lord Henry hinüber, der die
+beiden mit einem belustigten Lächeln vom Teetische aus beobachtete.
+
+»Ich muß mit, Basil«, antwortete er.
+
+»Schön«, sagte Hallward und ging zum Tische hinüber, wo er seine Tasse
+hinstellte. »Es ist ziemlich spät, und da ihr euch noch umziehen müßt,
+habt ihr keine Zeit mehr zu verlieren. Adieu, Harry! Adieu, Dorian! Komm
+bald wieder. Komm morgen.«
+
+»Bestimmt.«
+
+»Aber nicht vergessen!«
+
+»Nein, natürlich nicht!« rief Dorian.
+
+»Und... Harry!«
+
+»Ja, Basil?«
+
+»Vergiß nicht, was ich dir sagte, als wir am Vormittag im Garten saßen.«
+
+»Ich habe es vergessen.«
+
+»Ich vertraue dir.«
+
+»Ich wünschte, ich könnte mir selbst vertrauen«, sagte Lord Henry
+lachend. »Kommen Sie, Herr Gray, mein Wagen steht unten, und ich kann
+Sie an Ihrer Wohnung absetzen. Adieu, Basil! Es war ein sehr
+unterhaltender Nachmittag.«
+
+Als sich die Tür hinter ihnen schloß, warf sich der Maler auf den Diwan,
+und in sein Gesicht trat ein schmerzlicher Ausdruck.
+
+
+
+
+Drittes Kapitel
+
+
+Um zwölfeinhalb Uhr am nächsten Tage schlenderte Lord Henry Wotton von
+Curzon Street nach Albany hinüber, um einen Besuch zu machen bei seinem
+Onkel Lord Fermor, einem heiteren, aber ziemlich rauhen alten
+Junggesellen, den die Außenwelt einen Egoisten nannte, weil sie keinen
+besonderen Nutzen aus ihm ziehen konnte, der aber in der Gesellschaft
+als freigebig verschrien war, weil er die Leute, die ihn amüsierten,
+aufs beste fütterte. Sein Vater war britischer Gesandter in Madrid
+gewesen, als Isabella noch jung war und man noch nichts von Prim wußte,
+hatte sich aber in einem Augenblicke launischen Ärgers aus dem
+diplomatischen Dienste zurückgezogen, weil man ihm nicht den
+Gesandtenposten in Paris angeboten hatte, zu dem er sich vollauf
+berechtigt geglaubt hatte durch seine Geburt, seine Arbeitsunlust, sein
+gutes Englisch in seinen Depeschen und durch seine zügellose
+Vergnügungssucht. Der Sohn, der des Vaters Privatsekretär gewesen war,
+hatte mit seinem Chef zugleich den Abschied genommen, was man damals
+ziemlich verrückt fand, und als der Titel einige Monate später auf ihn
+überging, hatte er sich ernstlich dem großen aristokratischen Studium
+gewidmet, absolut nichts zu tun. Er besaß zwei große Häuser in der
+Stadt, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung zu hausen, weil das
+weniger Umstände machte, und speiste meistens im Klub. Er beschäftigte
+sich ein wenig mit der Verwaltung seiner Kohlenminen in den
+Midlandgrafschaften und entschuldigte diese verwerfliche industrielle
+Tätigkeit damit, daß er sagte, der einzige Vorteil, Kohlen zu besitzen,
+sei der, es einem Gentleman möglich zu machen, in seinem eigenen Kamin
+Holz zu brennen. Politisch war er ein Tory, außer wenn die Tories
+Regierungspartei waren, denn in solchen Zeiten verlästerte er sie und
+schimpfte sie radikales Gesindel. Er war ein Held für seinen
+Kammerdiener, der ihn drangsalierte, und ein Schrecken für die meisten
+seiner Verwandten, die er drangsalierte. Nur England konnte ihn erzeugt
+haben, und er selber sagte immer, daß das Land mehr und mehr auf den
+Hund käme. Seine Grundsätze waren altmodisch, aber an seinen Vorurteilen
+war etwas dran.
+
+Als Lord Henry ins Zimmer trat, fand er seinen Onkel in einem flockigen
+Jagdrock, eine ziemlich wohlfeile Zigarre im Munde und brummend in den
+»Times« lesend.
+
+»Na, Harry,« sagte der alte Herr, »was bringt dich so früh her? Ich
+dachte immer, ihr Dandies steht nie vor zwei Uhr auf und werdet nie vor
+fünf Uhr sichtbar.«
+
+»Reine Familienliebe, auf mein Wort, Onkel Georg; ich brauche etwas von
+dir.«
+
+»Geld vermutlich«, sagte Lord Fermor und machte ein saures Gesicht. »Na
+gut, so setz' dich und sag' mir alles. Ihr jungen Leute von heutzutage
+bildet euch ein, das Geld wäre alles.«
+
+»Ja,« brummelte Lord Henry, während er seine Blume im Knopfloch
+zurechtrückte, »und wenn sie älter werden, dann wissen sie es. Aber ich
+brauche kein Geld. Nur Leute, die ihre Rechnungen zahlen, brauchen
+Geld, Onkel Georg, und ich bezahle meine nie. Kredit ist das Kapital
+eines zweitältesten Sohnes, und man kann brillant davon leben. Außerdem
+kaufe ich immer bei Dartmoors Lieferanten, und daher habe ich nie
+Scherereien. Was ich brauche, ist eine Auskunft, keine nützliche
+Auskunft natürlich, sondern nur eine wertlose.«
+
+»Ich kann dir alles sagen, Harry, was je in einem englischen Blaubuch
+gestanden hat, obwohl diese Bengels heutzutage einen Haufen Unsinn
+zusammensudeln. Als ich noch Diplomat war, lagen die Dinge besser. Aber
+ich höre, man stellt jetzt die Leute auf Grund einer Prüfung ein. Was
+kann man da noch erwarten? Prüfungen, mein Bester, sind der reine Humbug
+von A bis Z. Wenn einer Gentleman ist, weiß er schon genug, und wenn er
+kein Gentleman ist, so mag er alles Mögliche wissen, es hilft ihm doch
+nichts.«
+
+»Herr Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu schaffen«, sagte Lord
+Henry in seinem schläfrigen Tone.
+
+»Herr Dorian Gray? Wer ist das?« fragte Lord Fermor, seine buschigen
+weißen Augenbrauen zusammenkneifend.
+
+»Um das zu erfahren, bin ich gerade hergekommen, Onkel Georg. Oder
+genauer gesagt, wer es ist, weiß ich. Nämlich der Enkel des verstorbenen
+Lord Kelso. Seine Mutter war eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich
+möchte, daß du mir etwas über seine Mutter erzählst. Was weißt du von
+ihr? Wen hat sie geheiratet? Du hast zu deiner Zeit doch so ziemlich
+alle Leute gekannt, also wahrscheinlich auch sie. Ich interessiere mich
+gegenwärtig ungemein für Herrn Gray. Ich habe ihn erst gestern
+kennengelernt.«
+
+»Kelsos Enkel!« wiederholte der alte Herr, »Kelsos Enkel! ... natürlich
+... ich war mit seiner Mutter sehr intim. Ich glaube, ich war sogar bei
+ihrer Taufe. Es war ein ganz außergewöhnlich schönes Mädchen, diese
+Margaret Devereux, und hat dann alle jungen Männer toll gemacht, als sie
+mit einem jungen Habenichts davonlief, einer absoluten Null, mein
+Bester, einem Fähnrich bei der Infanterie oder so was Ähnliches.
+Natürlich. Ich erinnere mich jetzt an die ganze Geschichte, als wäre sie
+gestern passiert. Der arme Kerl wurde dann ein paar Monate nach der
+Hochzeit in einem Duell in Spa getötet. Man erzählte damals eine
+häßliche Geschichte darüber. Man sagte, der alte Kelso hätte irgendeinen
+Schuft, so einen Abenteurer aus Belgien gemietet, um seinen
+Schwiegersohn öffentlich zu beleidigen, hätte ihn dafür bezahlt, mein
+Bester, einfach bezahlt, damit er es täte, und dieser Kerl spießte dann
+sein Opfer auf wie eine Taube. Die Geschichte wurde natürlich vertuscht,
+aber Kelso mußte eine Zeitlang sein Kotelett allein im Klub essen. Ich
+hörte, er brachte seine Tochter wieder mit, doch sie sprach nie mehr ein
+Wort mit ihm. O jawohl, das war eine böse Sache. Das Mädel starb dann
+auch, kaum ein Jahr später. So, sie hat also einen Sohn hinterlassen?
+Das hatte ich ganz vergessen. Was für ein Junge ist es denn? Wenn er
+seiner Mutter ähnlich sieht, muß es ein hübsches Kerlchen sein.«
+
+»Er ist sehr hübsch«, stimmte Lord Henry bei.
+
+»Ich hoffe, er wird in die rechten Hände kommen«, fuhr der alte Mann
+fort. »Es muß ein Haufen Geld auf ihn warten, wenn Kelso pflichtgemäß an
+ihm handelte. Seine Mutter hatte übrigens auch Geld. Der ganze Selbysche
+Besitz fiel ihr durch ihren Großvater zu. Ihr Großvater haßte Kelso,
+hielt ihn für einen gemeinen Köter. War es übrigens auch. Er kam mal
+nach Madrid, als ich dort war. Na, ich mußte mich des Kerls schämen. Die
+Königin pflegte mich nach dem englischen Edelmann zu fragen, der sich
+immer mit den Kutschern über die Taxe zankte. Man machte einen ganzen
+Roman daraus. Ich wagte einen Monat lang nicht, bei Hof zu erscheinen.
+Ich hoffe, er hat seinen Enkel besser behandelt als die
+Droschkenkutscher.«
+
+»Darüber weiß ich nichts«, erwiderte Lord Henry. »Ich vermute aber, der
+junge Mann wird einmal wohlhabend werden. Er ist noch nicht volljährig.
+Selby gehört ihm, das weiß ich. Er hat es mir gesagt. Und... seine
+Mutter war also sehr schön?«
+
+»Margaret Devereux war eines der entzückendsten Geschöpfe, die ich je
+gesehen habe, Harry. Was in aller Welt sie dazu getrieben hat, so zu
+handeln, habe ich nie verstehen können. Sie hätte jeden Mann heiraten
+können, den sie wollte. Carlington war wahnsinnig verschossen in sie.
+Aber sie war romantisch veranlagt. Alle Frauen dieser Familie waren so.
+Die Männer waren ein trauriges Gesindel, aber beim Himmel! die Weiber
+waren wunderbar! Carlington lag vor ihr auf den Knien. Hat's mir selber
+gebeichtet. Sie lachte ihn aus, und es gab damals in London kein Mädel,
+das nicht hinter ihm hergewesen wäre. Übrigens, Harry, da wir schon über
+Mesalliancen reden: was ist das für ein Unsinn, den mir dein Vater von
+Dartmoor erzählt, der eine Amerikanerin heiraten will? Sind englische
+Mädels für ihn nicht gut genug?«
+
+»Es ist jetzt Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel Georg.«
+
+»Ich verteidige die englischen Frauen gegen die ganze Welt, Harry«,
+sagte Lord Fermor und schlug mit der Faust auf den Tisch.
+
+»Man reißt sich um die Amerikanerinnen.«
+
+»Sie halten sich nicht, hat man mir gesagt«, brummte der Onkel.
+
+»Ein langes Verlobtsein erschöpft sie, aber für eine Steeplechase sind
+sie brillant. Sie sind Flieger. Ich glaube nicht, daß Dartmoor Chance
+hat.«
+
+»Was ist's für eine Familie?« murrte der alte Herr. »Hat sie überhaupt
+eine?«
+
+Lord Henry schüttelte den Kopf. »Amerikanische Mädchen sind ebenso klug,
+ihre Eltern zu verbergen, wie englische Frauen im Verbergen ihrer
+Vergangenheit«, antwortete er und stand auf, um wegzugehen.
+
+»Also vermutlich Schweinefleischhändler.«
+
+»Das hoffe ich, Onkel Georg, in Dartmoors Interesse. Man hat mir gesagt,
+mit Schweinefleischbüchsen zu handeln, soll nächst der Politik der
+einträglichste Beruf in Amerika sein.«
+
+»Ist sie hübsch?«
+
+»Sie benimmt sich so, als wäre sie es. Das tun die meisten
+Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihres magnetischen Reizes.«
+
+»Warum bleiben diese amerikanischen Weiber nicht in ihrem Lande? Sie
+sagen doch immer, es sei das Paradies für Frauen.«
+
+»Das ist es auch. Und das ist auch der Grund, warum sie wie Eva so gern
+daraus weg wollen«, sagte Lord Henry. »Adieu, Onkel Georg! Ich komme zu
+spät zum Frühstück, wenn ich noch länger bleibe. Danke sehr für die
+Auskunft, die du mir gabst. Ich habe immer das Bedürfnis, von meinen
+neuen Freunden alles zu hören und möglichst nichts von meinen alten.«
+
+»Wo wirst du frühstücken, Harry?«
+
+»Bei Tante Agatha. Ich habe mich mit Herrn Gray dort angesagt. Es ist
+ihr neuestes Protektionskind.«
+
+»Hm! sag' der Tante Agatha, Harry, sie soll mich mit ihrem
+Wohltätigkeitskrempel ungeschoren lassen. Ich habe sie bis hierher! Weiß
+Gott, das gute Frauenzimmer meint, ich hätte nichts zu tun als Schecks
+für ihre langweiligen Vereinsmeiereien auszuschreiben.«
+
+»Abgemacht, Onkel Georg, ich werde es ihr bestellen, aber es wird nichts
+nutzen. Wohltätigkeitsmegären verlieren alle Menschlichkeit. Das ist ihr
+hervorstechendstes Merkmal.«
+
+Der alte Herr brummte zustimmend und klingelte seinem Diener. Lord Henry
+schritt durch die niedrigen Arkaden nach Burlington Street und lenkte
+dann seine Schritte in die Richtung nach Berkeley Square.
+
+Das war also die Geschichte von Dorian Grays Eltern. So roh umrissen sie
+ihm auch geschildert worden war, sie hatte ihn doch nach Art eines
+seltsamen, geradezu modernen Romans erregt. Eine schöne Frau, die alles
+für eine wahnsinnige Leidenschaft einsetzt. Ein paar wilde, wonnige
+Wochen, jäh abgeschnitten durch ein abscheuliches, heimtückisches
+Verbrechen, Monate stummer Todesverzweiflung, und dann ein Kind unter
+Schmerzen geboren. Die Mutter vom Tode weggemäht, der Knabe der
+Einsamkeit und der Tyrannei eines alten, lieblosen Mannes ausgeliefert.
+Ja, das war ein interessanter Hintergrund. Er gab dem jungen Menschen
+Relief, machte ihn noch vollkommener. Hinter allem Köstlichen in der
+Welt lauert eine geheime Tragödie, Welten müssen in Schwingung sein,
+damit die kleinste Blume erblühen kann... Und wie entzückend war er
+gestern abend gewesen, als er ihm mit erschreckten Augen, die Lippen in
+scheuem Verlangen geöffnet, im Klub gegenüber gesessen und die roten
+Kerzenschirme das erwachende Wunder seines Gesichts in einen noch
+rosenfarbenen Ton getaucht hatten. Mit ihm sprechen, das war wie auf
+einer auserlesenen Geige spielen. Er gab jedem Druck nach, jeder
+zitternden Berührung des Bogens... Es lag doch etwas unerhört
+Knechtendes darin, auf jemand Einfluß auszuüben. Keine andere Tätigkeit
+kam dem gleich. Seine eigene Seele in eine anmutige Form gießen und sie
+darin einen Augenblick lang verweilen lassen: seine eigenen
+Gedankenakkorde im Echo zurückbekommen, bereichert durch die Musik der
+Leidenschaft und Jugend: sein eigenes Temperament in ein anderes
+hineinversenken, als wäre es das allerätherischste Fluidum oder ein
+seltener Wohlgeruch: darin lag eine wahre Lust -- vielleicht die
+allerbefriedigendste Lust, die uns übriggeblieben ist, in einer so
+beschränkten und ordinären Zeit wie die unsere, die so derbfleischlich
+in ihren Genüssen und so grobzufassend in ihren Begierden ist... Auch
+war er ein wundervoller Typus, dieser junge Mensch, den er durch einen
+so wunderbaren Zufall in Basils Atelier kennengelernt hatte, oder konnte
+jedenfalls zu einem wunderbaren Typus umgemodelt werden. Anmut war ihm
+verliehen und die schneeige Reinheit der Jünglingschaft, und eine
+Schönheit, wie man sie bei alten griechischen Marmorbildern findet.
+Nichts gab es, was sich nicht aus ihm machen ließe. Man konnte einen
+Titanen oder ein Spielzeug aus ihm machen. Welch Jammer, daß solche
+Schönheit dahinwelken muß... Und Basil? Wie interessant war doch er für
+den Psychologen! Diese neue Art von Kunst, diese neue Weise, das Leben
+anzuschauen, die ihm auf das seltsamste durch die sichtbare Gegenwart
+eines Menschen erweckt wurde, der von alledem nichts wußte: der stille
+Geist, der in einer düsteren Waldlandschaft wohnte und ungesehen ins
+offene Feld entwandelte, enthüllte sich plötzlich wie eine Dryade, und
+ohne Scheu, weil in der Seele, die sehnsüchtig nach ihm suchte, jene
+wundersame Vision wach geworden war, der nur die außerordentlichen Dinge
+offenbar werden: die bloßen Formen und Linien der Dinge wurden gleichsam
+edler und bekamen eine Art von symbolischer Bedeutung, als wären sie
+selbst nur Schatten einer anderen und vollendeteren Form, deren Abbilder
+sie zur Wirklichkeit erhoben: wie merkwürdig das alles war! Er erinnerte
+sich, daß es in der Geschichte irgend etwas Ähnliches gab. War es nicht
+Plato, dieser Künstler in der Welt der Gedanken, der es als erster
+untersucht hatte? War es nicht Buonarotti, der es in den farbigen Marmor
+seiner Sonettreihe gemeißelt hatte? Aber in unserem Jahrhundert war es
+etwas Seltenes... Ja, er wollte versuchen, für Dorian Gray das zu sein,
+was der Jüngling, ohne es zu wissen, für den Maler war, der das
+prächtige Bildnis geschaffen hatte. Er wollte versuchen, in ihm zu
+herrschen -- hatte es in Wahrheit schon zum Teil getan. Er wollte diesen
+wunderbaren Geist zu seinem eigenen machen. Es war etwas unwiderstehlich
+Magnetisches in diesem Abkömmling von Tod und Liebe.
+
+Plötzlich blieb er stehen und sah an den Häusern hinauf. Er entdeckte,
+daß er bereits an dem Hause seiner Tante vorbeigegangen sei, und ging
+stillächelnd zurück. Als er in die etwas düstere Halle eintrat, sagte
+ihm der Diener, die Herrschaften seien schon beim Frühstück. Er gab
+einem Lakai Hut und Stock und ging in den Speisesaal.
+
+»Spät wie immer, Harry«, rief seine Tante, ihm zunickend.
+
+Er erfand eine glaubwürdige Entschuldigung, setzte sich auf den leeren
+Platz neben sie und sah sich um, zu sehen, wer noch da war. Dorian
+begrüßte ihn schüchtern vom Ende des Tisches her, und seine Wangen
+wurden vor geheimer Freude rot. Gegenüber saß die Herzogin von Harley,
+eine Dame von bewunderungswürdig guter Laune und ebensolchem Charakter,
+die jeder gern hatte und deren Körper in jenen erhabenen
+architektonischen Maßen aufgebaut war, der von zeitgenössischen
+Geschichtsschreibern bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind, als
+Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß Sir Thomas Burdon, ein
+radikales Parlamentsmitglied, das im öffentlichen Leben seinem
+Parteichef Gefolge leistete und im privaten den besten Küchenchefs, der
+nach einer weisen und allgemein verbreiteten Lebensregel mit den Tories
+dinierte und mit den Liberalen geistig übereinstimmte. Den Platz an
+ihrer Linken nahm Herr Erskine of Treadley ein, ein alter prächtiger und
+gebildeter Herr, der sich die schlechte Gewohnheit des Schweigens
+angeeignet hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte, schon vor
+seinem dreißigsten Lebensjahr alles gesagt hatte, was er überhaupt zu
+sagen hatte. Seine Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten
+Freundinnen seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den Frauen, aber
+so geschmacklos verputzt, daß man bei ihrem Anblick immer an ein
+schlechtgebundenes Gebetbuch denken mußte. Zu seinem Glück saß an ihrer
+anderen Seite Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in den
+besten Jahren, der so kahl war wie der Bericht eines Ministers auf eine
+Interpellation im Unterhaus, und mit ihm unterhielt sie sich in jenem
+intensiv-ernsten Tone, der, wie Lord Henry einmal selbst geäußert hatte,
+der eine unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten Menschen
+verfallen, und den keiner von ihnen völlig vermeiden kann.
+
+»Wir sprechen über den bedauernswerten Dartmoor, Henry«, rief die
+Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch zunickend. »Glauben Sie, daß er
+wirklich die berückende junge Dame heiratet?«
+
+»Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich fest vorgenommen, um das Jawort
+zu bitten.«
+
+»Wie schrecklich«, rief Lady Agatha. »Dann sollte sich wirklich jemand
+ins Mittel legen.«
+
+»Ich erfahre aus einer ganz vorzüglichen Quelle, daß ihr Vater ein
+Kurzwarengeschäft in Amerika hat«, sagte Sir Thomas Burdon mit einem
+überlegenen Blicke.
+
+»Mein Onkel hat behauptet: Schweinefleischlieferant, Sir Thomas.«
+
+»Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?« fragte die Herzogin und
+erhob staunend ihre großen Hände und dabei jede Silbe betonend.
+
+»Amerikanische Romane«, antwortete Lord Henry und nahm von den Wachteln.
+
+Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht.
+
+»Geben Sie nicht acht auf ihn, meine Liebe,« wisperte ihr Lady Agatha
+zu, »er meint nie im Ernst, was er sagt.«
+
+»Als Amerika entdeckt wurde,« sagte der radikale Abgeordnete und ließ
+einige langweilige Tatsachen vom Stapel. Wie alle Menschen, die bestrebt
+sind, ein Thema zu erschöpfen, erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin
+seufzte und benützte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. -- »Wollte Gott, es
+wäre überhaupt nicht entdeckt worden«, rief sie aus. »Unsere Töchter
+haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr. Das ist geradezu
+empörend!«
+
+»Vielleicht ist Amerika überhaupt nicht entdeckt worden, wenn man's
+recht betrachtet«, sagte Herr Erskine. »Ich würde eher sagen, daß es nur
+aufgefunden worden ist.«
+
+»Oh, ich muß aber gestehen, daß ich einige Exemplare seiner
+Bewohnerinnen gesehen habe,« antwortete die Herzogin zerstreut, »ich muß
+zugeben, die meisten von ihnen sind ausgesprochen hübsch. Und außerdem
+ziehen sie sich gut an. Sie beziehen alle ihre Kleider aus Paris. Ich
+wollte, ich könnte mir das auch leisten.«
+
+»Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie nach Paris«,
+gluckste Sir Thomas, der eine große Kiste voll abgelegter Scherze sein
+eigen nannte.
+
+»In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?«
+fragte die Herzogin.
+
+»Sie gehen nach Amerika«, murmelte Lord Henry.
+
+Sir Thomas runzelte die Stirn. »Ich fürchte, Ihr Neffe hat Vorurteile
+gegen dieses große Land«, sagte er zu Lady Agatha. »Ich habe es ganz
+bereist im Eisenbahnwagen, die mir die Direktionen zur Verfügung
+stellten. Man ist da in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich
+versichere Ihnen, es ist eine vorzüglich bildende Reise da drüben.«
+
+»Aber müssen wir wirklich nach Chicago schwimmen, um unsere Bildung zu
+vervollständigen?« fragte Herr Erskine wehmütig. »Ich fühle mich
+wirklich zu solcher Reise nicht aufgelegt.«
+
+Sir Thomas winkte mit der Hand. »Herr Erskine of Treadley besitzt die
+Welt auf seinen Bücherregalen. Wir Männer des praktischen Lebens lieben
+es, die Dinge zu sehen, nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein
+außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig
+Vernunftmenschen. Ich glaube, das ist ihr Charaktermerkmal. Ja, Herr
+Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft beherrschtes Volk. Ich
+versichere Ihnen, es gibt bei den Amerikanern keinerlei Unsinn.«
+
+»Wie schrecklich!« rief Lord Henry aus. »Ich kann rohe Gewalt vertragen,
+aber rohe Vernunft ist mir unerträglich. Ich finde immer, daß ihre
+Anwendung unbillig ist. Es heißt den Geist unterjochen.«
+
+»Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Sir Thomas und wurde etwas rot.
+
+»Ich verstehe Sie, Lord Henry«, murmelte Herr Erskine lächelnd.
+
+»Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut...«, nahm der
+Baronet wieder das Wort.
+
+»War das ein Paradoxon?« fragte Herr Erskine. »Ich habe es nicht dafür
+gehalten. Vielleicht war es eins. Nun, der Weg zur Wahrheit scheint mit
+Paradoxen gepflastert zu sein. Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir
+sie auf gespanntem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten
+werden, können wir sie beurteilen.«
+
+»Mein großer Gott!« sagte Lady Agatha, »was für eine Art zu diskutieren
+habt ihr Männer. Ich verstehe nie ein einziges Wort von eurem Gerede.
+Mit dir, Harry, oh! bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren
+lieben Herrn Dorian Gray zu überreden, nicht mehr ins East-End zu gehen?
+Ich versichere dir, er wäre dort für uns unschätzbar; sein Spiel würde
+die Leute ungemein begeistern.«
+
+»Mir ist es lieber, wenn er für mich spielt«, rief Lord Henry lächelnd,
+sah am Tisch hinunter, wo ihn ein fröhlich antwortender Blick traf.
+
+»Aber sie sind in Whitechapel so unglücklich«, fuhr Lady Agatha wieder
+fort.
+
+»Ich kann mit allem möglichen Mitgefühl haben,« sagte Lord Henry, die
+Achseln zuckend, »außer mit Leiden. Damit kann ich keine Sympathie
+haben. Es ist zu häßlich, zu schrecklich, zu niederdrückend. In der heut
+modernen Sympathie für die Leiden liegt etwas schrecklich Krankhaftes.
+Man sollte mit Farben sympathisieren, mit Schönheit, mit Lebensfreude.
+Je weniger man über das Elend des Lebens sagt, desto besser.«
+
+»Aber das East-End ist ein sehr wichtiges Problem«, bemerkte Sir Thomas
+mit ernstem Kopfschütteln.
+
+»Sicherlich«, antwortete der junge Lord. »Es ist das Problem der
+Sklaverei, und wir versuchen es derart zu lösen, daß wir die Sklaven
+amüsieren.«
+
+Der Politiker sah ihn mit einem forschenden Blicke an. »Welche Änderung
+schlagen Sie also vor?«
+
+Lord Henry lachte. »Ich habe gar nicht das Verlangen, in England etwas
+zu ändern außer dem Wetter«, entgegnete er. »Ich begnüge mich mit
+philosophischer Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch
+übermäßigen Verbrauch von Sympathie Bankrott geworden ist, möchte ich
+vorschlagen, daß man sich an die Wissenschaft hält, damit diese uns
+wieder aufrichtet. Der Vorteil der Gefühle liegt darin, daß sie uns in
+die Irre führen, und der Vorteil der Wissenschaft darin, daß sie sich
+mit Gefühlen nicht abgibt.«
+
+»Aber auf uns liegen so ernste Verantwortlichkeiten«, warf Frau
+Vandeleur schüchtern ein.
+
+»Entsetzlich schwere«, stimmte Lady Agatha ein.
+
+Lord Henry sah zu Herrn Erskine hinüber. »Die Menschheit nimmt sich
+selber zu ernst. Das ist die Todsünde der Welt. Wenn die Höhlenmenschen
+schon hätten lachen können, hätte die Weltgeschichte andere Wege
+eingeschlagen.«
+
+»Ihre Worte klingen sehr tröstlich«, trillerte die Herzogin. »Ich habe
+immer eine Art Schuldgefühl gehabt, wenn ich Ihre liebe Tante besuchte,
+denn ich nehme nicht das geringste Interesse an East-End. In Zukunft
+werde ich ihr ohne zu erröten ins Gesicht sehen können.«
+
+»Erröten ist ein vorzügliches Schönheitsmittel«, bemerkte Lord Henry.
+
+»Nur wenn man jung ist«, antwortete sie. »Wenn eine alte Frau wie ich
+errötet, ist es ein sehr schlechtes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich
+wünschte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird!«
+
+Er dachte einen Augenblick nach. »Können Sie sich an irgendeinen großen
+Fehler erinnern, den Sie in der Jugend begangen haben?« fragte er dann,
+sie fest über den Tisch hin ansehend.
+
+»An eine ganze Menge, fürchte ich!« rief sie aus.
+
+»Dann begehen Sie sie wieder«, entgegnete er ernst. »Um seine Jugend
+zurückzubekommen, braucht man nur seine Torheiten zu wiederholen.«
+
+»Eine allerliebste Theorie!« rief sie. »Ich muß sie mal in die Praxis
+umsetzen.«
+
+»Eine gefährliche Theorie«, sagte Sir Thomas, seine dünnen Lippen
+zusammenkneifend. Lady Agatha schüttelte den Kopf, aber sie amüsierte
+sich doch. Herr Erskine lauschte.
+
+»Ja,« fuhr Henry fort, »das ist eines der großen Lebensgeheimnisse.
+Heutzutage sterben die meisten Leute an einer Art von schleichender
+Verständigkeit, und erst, wenn es zu spät ist, kommen sie dahinter, daß
+die einzigen Dinge, die man niemals bereut, die Torheiten sind.«
+
+Nun lachte der ganze Tisch.
+
+Er spielte jetzt mit diesem Einfall nach Willkür; warf ihn in die Luft
+und änderte ihn um: ließ ihn entwischen und haschte ihn wieder auf: ließ
+ihn phantastisch glitzern und gab ihm Paradoxe als Flügel. Als er
+fortfuhr, rundete sich dieser Ruhm der Narretei in ein philosophisches
+System und die Philosophie selbst wurde dabei jung und tanzte, begleitet
+von der tollen Musik der Lust, in ihrem von Wein befleckten Gewande und
+mit Efeu bekränzten Locken, wie eine Bacchantin über die Hügel des
+Lebens und neckte den plumpen Silen, weil er nüchtern blieb. Die
+Tatsachen flüchteten vor ihr wie das erschreckte Getier des Waldes. Ihre
+weißen Füße stampften in der ungefügen Kelter, an der der weise Omar
+sitzt, bis der schäumende Traubensaft in purpurblasigen Wellen an ihren
+nackten Gliedern aufspritzte oder in rotem Gischt über die dunkeln,
+triefenden, gewölbten Seiten der Kufe herabrann. Es war eine ganz
+brillante Improvision. Er empfand, daß die Augen Dorian Grays auf ihn
+gerichtet waren, und das Bewußtsein, daß es unter seinen Zuhörern einen
+gab, dessen Temperament er zu bezaubern wünschte, gab seinem Witz
+Würzigkeit und seiner Phantasie Farbe. Er war geistreich,
+phantasievoll, unwiderstehlich. Er begeisterte seine Zuhörer dahin, aus
+sich heraus zu gehen, und lachend folgten sie seiner Rattenfängerpfeife.
+Dorian Gray verwandte seinen Blick nicht von ihm, sondern saß wie unter
+einem Zauberbanne da, während ein Lächeln nach dem andern auf seine
+Lippen trat und sich das Staunen in seinen dunklen Augen immer mehr
+vertiefte.
+
+Endlich betrat die Wirklichkeit im Kleide des Alltags das Zimmer, und
+zwar in Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin meldete, daß ihr Wagen
+warte. Sie rang ihre Hände in geschauspielerter Verzweiflung. »Wie
+schade!« rief sie aus. »Ich muß fort. Muß meinen Mann im Klub abholen
+und mit ihm zu irgendeiner albernen Sitzung bei Willis fahren, wo er
+präsidiert. Wenn ich zu spät komme, ist er sicher ärgerlich, und in dem
+Hut, den ich aufhabe, könnte ich eine Szene nicht vertragen. Er ist viel
+zu gebrechlich dazu. Ein rauhes Wort und er wäre ruiniert. Nein, liebe
+Agatha, ich muß fort. Adieu, Lord Henry! Sie sind ein ganz entzückender
+Mensch und fürchterlich unmoralisch. Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich
+zu Ihren Ansichten sagen soll. Sie müssen mal bei uns zu Abend essen.
+Dienstag? Sind Sie Dienstag frei?«
+
+»Für Sie würde ich jede andere Verabredung im Stich lassen, Frau
+Herzogin«, sagte Lord Henry, sich verbeugend.
+
+»Ah! Das ist sehr nett und sehr abscheulich von Ihnen«, rief sie;
+»vergessen Sie also nicht zu kommen«, und sie rauschte aus dem Zimmer,
+von Lady Agatha und den anderen Damen begleitet.
+
+Als sich Lord Henry wieder gesetzt hatte, kam Herr Erskine zu ihm, zog
+seinen Stuhl ganz nahe zu ihm hin und legte die Hand auf seinen Arm.
+
+»Sie reden wie ein Buch«, sagte er; »warum schreiben Sie keins?«
+
+»Ich lese Bücher viel zu gerne, als daß ich Lust hätte, eins zu
+schreiben, Herr Erskine. Gewiß möchte ich manchmal einen Roman
+schreiben, der so entzückend und ebenso unwirklich sein müßte wie ein
+persischer Teppich. Aber in England gibt es ja kein literarisches
+Publikum außer für Zeitungen, Katechismen und Konversationslexika. Von
+allen Völkern des Erdballs haben die Engländer den am wenigsten
+entwickelten Sinn für die Schönheit der Literatur.«
+
+»Ich fürchte, Sie haben recht«, antwortete Herr Erskine. »Ich selbst
+habe einstmals literarischen Ehrgeiz gehabt, aber ich habe ihn längst
+abgelegt. Und nun, mein lieber junger Freund, wenn Sie mir erlauben
+wollen, Sie so zu nennen, darf ich Sie fragen, ob Sie wirklich alles im
+Ernst meinten, was Sie uns bei Tisch gesagt haben?«
+
+»Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe«, antwortete Lord Henry
+lächelnd. »Es war wohl sehr toll?«
+
+»Allerdings, sehr toll! Ich glaube wirklich, daß Sie ein äußerst
+gefährlicher Mensch sind, und wenn unserer guten Herzogin irgend etwas
+zustößt, so werden wir alle Sie in erster Linie dafür verantwortlich
+machen. Aber ich würde mit Ihnen gern einmal länger über das Leben
+debattieren. Die Generation, in die ich hineingeboren wurde, war sehr
+langweilig. Wenn Sie mal londonmüde sind, kommen Sie doch nach Treadley
+und setzen Sie mir da Ihre Philosophie des Genusses auseinander bei
+einem ganz köstlichen Burgunder, den zu besitzen ich so glücklich bin.«
+
+»Das wird mir ein großes Vergnügen sein. Ein Besuch in Treadley ist ein
+großer Vorzug. Es hat einen vollkommenen Wirt und eine vollkommene
+Bibliothek.«
+
+»Die mit Ihnen vollständig werden wird«, antwortete der alte Herr mit
+einer höflichen Verbeugung. »Und jetzt muß ich Ihrer trefflichen Tante
+adieu sagen. Ich muß ins Athenäum. Es ist die Stunde, wo wir dort
+schlafen.«
+
+»Sie alle, Herr Erskine?«
+
+»Vierzig von uns in vierzig Klubsesseln. Wir üben uns für eine Akademie
+anglaise.«
+
+Lord Henry lachte und stand auf. »Ich gehe in den Park!« rief er aus.
+
+Als er durch den Türrahmen schritt, berührte ihn Dorian Gray am Arm.
+»Erlauben Sie mir, mitzukommen«, flüsterte er.
+
+»Aber ich dachte, Sie haben Basil Hallward versprochen, ihn zu
+besuchen«, wandte Lord Henry ein.
+
+»Ich möchte lieber mit Ihnen gehen; ja ich fühle, ich muß mit Ihnen
+mitkommen. Bitte, erlauben Sie es. Und versprechen Sie mir, die ganze
+Zeit zu erzählen? Niemand spricht so entzückend wie Sie.«
+
+»Ah! Ich habe für heute gerade genug geredet«, sagte Lord Henry und
+lächelte. »Alles, was ich jetzt möchte, ist, das Leben zu beschauen. Sie
+können mitkommen und mitanschauen, wenn Sie wollen.«
+
+
+
+
+Viertes Kapitel
+
+
+Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian Gray zurückgelehnt in
+einem schwellenden Sessel der kleinen Bibliothek in Lord Henrys Hause in
+Mayfair. Es war in seiner Art ein allerliebster Raum, bis hoch hinauf
+mit olivenfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen
+Deckenfries und mit Stuckverzierungen und mit einem ziegelfarbigen
+Filzteppich, der in langen Seidenfransen auslief. Auf einem niedlichen
+Tischchen aus Satinholz stand eine Figur von Clodion, und daneben lag
+eine Ausgabe der Cent Nouvelles, die für Margarete von Valois von Clovis
+Eve eingebunden und mit goldenen Gänseblümchen verziert war, wie sie die
+Königin auf ihr Wappenzeichen gewählt hatte. Auf dem Kaminsims standen
+ein paar große blaue Porzellanvasen mit Papageientulpen, und durch die
+schmalen, bleigerahmten Rautenfelder der Fenster drang das
+aprikosenfarbene Licht eines Londoner Sommertages.
+
+Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er kam grundsätzlich zu
+spät, da sein Grundsatz war, Pünktlichkeit stehle einem die Zeit. Daher
+sah der junge Mann etwas gelangweilt aus, als er mit lässigen Fingern
+die Seiten einer reichillustrierten Ausgabe von Manon Lescaut
+durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden hatte. Das
+abgemessene gleichförmige Ticktack der Louis-Quatorze-Uhr machte ihn
+nervös. Ein- oder zweimal machte er schon Miene, wegzugehen.
+
+Endlich hörte er draußen einen Schritt und die Tür öffnete sich. »Wie
+spät du kommst, Harry!« sagte er leisen Vorwurfs.
+
+»Zu meinem Bedauern ist es nicht Harry, Herr Gray«, antwortete eine
+schrille Stimme.
+
+Er sah sich rasch um und sprang auf die Füße.
+
+»Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte --«
+
+»Sie glaubten, es sei mein Mann. Es ist nur seine Frau. Ich muß mich
+schon selbst vorstellen. Ich kenne Sie aus Ihren Photographien ganz gut.
+Ich glaube, mein Mann hat ihrer siebzehn.«
+
+»Nicht siebzehn, Lady Henry.«
+
+»Schön, also achtzehn. Und dann habe ich Sie gestern abend mit ihm in
+der Oper gesehen.« Während sie sprach, lachte sie nervös und beobachtete
+ihn mit ihren verschwommenen Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine
+absonderliche Frau, deren Kleider immer so aussahen, als wären sie in
+einem Wutanfall gezeichnet und während eines Gewitters angezogen worden.
+Sie war gewöhnlich in irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft
+nie erwidert wurde, hatte sie sich alle ihre Illusionen bewahrt. Sie
+machte den Versuch, malerisch zu erscheinen, aber es gelang ihr nur,
+unordentlich auszusehen. Sie hieß Viktoria und hatte eine krankhafte
+Leidenschaft, in die Kirche zu laufen.
+
+»Das war im Lohengrin, Lady Henry, nicht wahr?«
+
+»Ja, es war bei dem entzückenden Lohengrin. Ich liebe Wagners Musik mehr
+als die irgendeines anderen. Sie ist so laut, daß man sich die ganze
+Zeit unterhalten kann, ohne daß die Nachbarn hören, was man sagt. Das
+ist ein dankenswerter Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Herr Gray?«
+
+Über ihre dünnen Lippen kam wieder das nervöse Stakkatolachen, und ihre
+Finger begannen mit einem langen Papiermesser aus Schildkrot zu spielen.
+
+Dorian schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bedaure, Lady Henry, das ist
+nicht meine Meinung. Ich unterhalte mich nie, während man spielt --
+wenigstens nicht, wenn es gute Musik ist. Wenn man schlechte Musik hört,
+ist man freilich verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu ertränken.«
+
+»Ah, das ist eine von Harrys Sentenzen, nicht wahr, Herr Gray? Ich
+bekomme Harrys Ansichten immer von seinen Freunden zu hören. Das ist die
+einzige Art, wie ich sie überhaupt erfahre. Aber Sie dürfen nicht
+glauben, daß ich nicht auch gute Musik liebe. Ich vergöttere sie, aber
+ich fürchte mich vor ihr. Sie macht mich zu romantisch. Ich habe
+Klavierspieler geradezu angebetet -- manchmal zwei auf einmal,
+versichert Harry. Ich weiß nicht, was es für eine Bewandtnis mit ihnen
+hat. Vielleicht rührt es daher, daß sie Ausländer sind. Das sind sie
+doch alle, nicht wahr? Selbst die in England Geborenen werden nach
+einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Es ist sehr gescheit von ihnen und
+für die Kunst sehr vorteilhaft. Das macht sie zu Kosmopoliten, nicht
+wahr? Sie waren nie auf einer meiner Gesellschaften, Herr Gray. Sie
+müssen einmal kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber
+ich scheue in der Anschaffung von Ausländern keine Ausgabe. Sie geben
+dem Hause ein so pittoreskes Aussehen. Aber da ist Harry. -- Harry, ich
+kam her, um dich zu suchen, um dich etwas zu fragen -- ich habe ganz
+vergessen, was -- und ich habe Herrn Gray hier getroffen. Wir haben so
+entzückend über Musik gesprochen. Unsere Ansichten darüber sind die
+gleichen. Nein, ich glaube, unsere Ansichten darüber sind ganz
+verschieden. Aber er ist ganz allerliebst gewesen. Ich freue mich so
+sehr, ihn einmal gesehen zu haben.«
+
+»Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend«, sagte Lord Henry, seine
+dunkeln geschwungenen Brauen hebend und beide mit vergnügtem Lächeln
+ansehend. »Es tut mir so leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich
+war in Wardour Street, um mir einen alten Brokat anzusehen, und mußte
+stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen die Leute den Preis von
+jeder Sache und den Wert von keiner.«
+
+»Ich muß leider gehen!« rief Lady Henry aus und unterbrach ein
+verlegenes Schweigen mit ihrem jähen, grundlosen Lachen. »Ich habe
+versprochen, mit der Herzogin auszufahren. Adieu, Herr Gray. Adieu,
+Harry. Du speist wohl nicht zu Hause, wie? Ich auch nicht, vielleicht
+sehe ich dich bei Lady Thornbury.«
+
+»Höchstwahrscheinlich, meine Liebe«, sagte Lord Henry und schloß die Tür
+hinter ihr, als sie gleich einem Paradiesvogel, der die ganze Nacht dem
+Regen ausgesetzt gewesen war, aus dem Zimmer hinausflatterte, einen
+feinen Jasmingeruch hinterlassend. Harry zündete sich eine Zigarette an
+und warf sich auf das Sofa. »Heirate nie eine Frau mit strohgelbem Haar,
+Dorian«, sagte er nach einigen Zügen.
+
+»Warum nicht, Harry?«
+
+»Weil sie so sentimental sind.«
+
+»Aber ich habe sentimentale Menschen gern.«
+
+»Heirate überhaupt nie, Dorian! Männer heiraten, weil sie müde sind;
+Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden enttäuscht.«
+
+»Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Harry. Dazu bin ich zu
+verliebt. Das ist einer deiner Aphorismen. Ich setze ihn in die
+Wirklichkeit um, wie alles, was du sagst.«
+
+»In wen bist du verliebt?« fragte Lord Harry nach einer Pause.
+
+»In eine Schauspielerin«, sagte Dorian Gray errötend.
+
+Lord Henry zuckte die Achseln. »Ein recht landläufiger Anfang.«
+
+»Das würdest du nicht sagen, wenn du sie kenntest.«
+
+»Wer ist's denn?«
+
+»Sie heißt Sibyl Vane.«
+
+»Nie von ihr gehört.«
+
+»Das hat niemand. Aber später einmal wird man von ihr hören. Sie ist ein
+Genie.«
+
+»Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie wäre. Die Frauen
+sind ein dekoratives Geschlecht. Sie haben niemals etwas zu sagen, aber
+sie sagen es entzückend. Die Frauen bedeuten den Triumph der Materie
+über den Geist, wie die Männer den Triumph des Geistes über die
+Sittlichkeit.«
+
+»Harry, wie kannst du?«
+
+»Mein lieber Dorian, es ist aber wahr. Ich beschäftige mich gerade mit
+der Analyse der Frauen, daher muß ich das wissen. Das Thema ist nicht
+so verwickelt, wie ich glaubte. Ich finde, daß es schließlich nur zwei
+Arten von Frauen gibt, die einfachen und die geschminkten. Die einfachen
+Frauen sind sehr nützlich. Wenn du als ehrbarer Mensch gelten willst,
+mußt du nur eine von ihnen zu Tisch führen. Die andern Frauen sind zum
+Entzücken. Aber sie begehen einen Fehler. Sie schminken sich, um jung
+auszusehen. Unsere Großmütter schminkten sich, um geistreich zu
+plaudern. Rouge und Esprit gingen Hand in Hand. Das ist jetzt alles
+vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre jünger aussehen kann als ihre
+Tochter, ist sie gänzlich zufrieden. Was die Konversation betrifft, so
+gibt es in ganz London höchstens fünf Frauen, mit denen sich's zu reden
+lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft nicht möglich.
+Aber genug, erzähl' mir was von deinem Genie! Wie lange kennst du sie?«
+
+»Ach, Harry, deine Ansichten erschrecken mich!«
+
+»Mach' dir darum keine Kopfschmerzen. Wie lange kennst du sie also?«
+
+»Ungefähr drei Wochen.«
+
+»Und wo hast du die Entdeckung gemacht?«
+
+»Ich will dir's erzählen, Harry, aber du mußt nicht häßlich darüber
+reden. Übrigens wär's gar nicht dazu gekommen, wenn ich dich nicht
+kennengelernt hätte. Du hast mich mit einer wilden Begierde, alles im
+Leben kennenzulernen, angefüllt. Noch viele Tage, nachdem ich dich
+zuerst gesehen hatte, schien in meinen Adern etwas zu rumoren. Wenn ich
+im Park spazierte oder Piccadilly hinunterschlenderte, schaute ich jeden
+an, der mir entgegenkam, und wollte mit einer tollen Neugierde
+herauskriegen, was für eine Art Leben die Leute alle führten. Einige von
+ihnen fesselten mich. Andere erfüllten mich mit Schauder. Es schwamm ein
+verführerisches Gift in der Luft. Mich hatte eine Leidenschaft nach
+Erlebnissen gepackt... Eines Abends also gegen sieben beschloß ich,
+mich auf die Suche nach einem Abenteuer zu begeben. Ich hatte solch
+Gefühl, daß unser graues, riesenhaftes London mit seinen vielen
+Hunderttausenden schmutzigen Sündern und seinen schillernden Sünden, wie
+du dich mal ausdrücktest, irgend etwas für mich in Bereitschaft halten
+müsse. Ich erfand mir tausenderlei Dinge. Schon die bloße Gefahr
+schenkte mir einen gewissen Genuß. Ich erinnerte mich an das, was du mir
+sagtest an dem wunderbaren Abend, als wir das erstemal zusammen
+speisten: daß nämlich das Suchen nach Schönheit das eigentliche
+Geheimnis des Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich
+ging drauflos und wanderte nach dem Osten, wo ich meinen Weg bald in
+einem Wirrwarr von rußigen Straßen und schwarzen, graslosen Plätzen
+verlor. Gegen halb acht kam ich an einem kleinen, schnurrigen Theater
+mit großen, flackernden Gasflammen und grellen Plakaten vorbei. Ein
+widerlicher Jude, in dem erstaunlichsten Rock, den ich mein Lebtag
+gesehen habe, stand an der Tür und paffte eine stänkrige Zigarre. Er
+hatte fettige Peies, und ein riesiger Brillant glitzerte auf seiner
+schmutzigen Hemdenbrust. >Eine Loge, Herr Baron?< fragte er mich und
+nahm seinen Hut mit grandioser Unterwürfigkeit ab. Er hatte etwas an
+sich, Harry, was mich belustigte. Er war das reine Monstrum. Du wirst
+mich auslachen, ich weiß schon, aber ich trat wirklich ein und erlegte
+ein Zwanzigmarkstück für die Proszeniumsloge. Ich kann mir noch heute
+nicht erklären, warum ich das tat; und doch -- wenn ich's nicht getan
+hätte -- bester Harry, ich wäre um das größte Ereignis meines Lebens
+gekommen. Ja, lach du nur. Es ist häßlich von dir.«
+
+»Ich lache nicht, Dorian, wenigstens nicht über dich. Aber du solltest
+es nicht das größte Ereignis deines Lebens nennen. Sage lieber, das
+erste Ereignis deines Lebens. Du wirst immer geliebt werden, und du
+wirst in die Liebe immer verliebt sein. Die grande Passion ist das
+Vorrecht aller Leute, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige
+Nutzen, den die Tagediebe eines Landes bringen. Habe keine Angst!
+Himmlische Dinge warten noch deiner. Das ist der bloße Anfang.«
+
+»Hältst du meine Natur für so oberflächlich?« rief Dorian Gray gekränkt.
+
+»Nein, ich halte sie für so tief.«
+
+»Wie meinst du das?«
+
+»Mein lieber Junge, die Leute, die nur einmal im Leben lieben, das sind
+in Wirklichkeit die Oberflächlichen. Was sie Anstand und Treue nennen,
+nenne ich entweder die Trägheit der Gewohnheit oder Mangel an
+Einbildungskraft. Treue ist im Gefühlsleben dasselbe, was Konsequenz im
+Geistesleben ist, nichts als das Zugeständnis von Schwäche. Treue! Ich
+muß ihren Begriff später mal analysieren. Freude am Besitz liegt darin.
+Welche Menge von Dingen würden wir wegwerfen, wenn wir nicht fürchten
+müßten, andere könnten sie auflesen. Aber ich möchte dich nicht
+unterbrechen. Erzähle weiter.«
+
+»Ich saß also in einer schauderhaften kleinen Loge, und ein ordinärer
+Vorhang starrte mir gerade ins Gesicht. Ich schaute hinter der Gardine
+vor und sah mich im Hause um. Es war ein schäbig-elegantes Ding,
+gestopft voll mit Amoretten und Füllhörnern, wie auf einem
+Hochzeitskuchen billigster Sorte. Galerie und Stehparterre waren
+leidlich voll, aber die zwei Reihen schmieriger Fauteuils vorne waren
+ganz leer und auf dem Platze, den sie vermutlich ersten Rang
+titulierten, saß kaum ein Mensch. Weiber gingen mit Orangen und
+Ingwerbier herum, und eine unglaubliche Masse von Nüssen wurde
+verknackt.«
+
+»Es muß ganz wie in der Glanzzeit des britischen Dramas gewesen sein.«
+
+»Ganz so, vermute ich, und sehr niederdrückend. Ich begann, zu
+überlegen, was um Himmels willen ich da anfangen sollte, als mein Blick
+auf den Theaterzettel fiel. Was glaubst du, was sie spielten, Harry?«
+
+»Ich vermute, der >kleine Kretin< oder >Blödsinnig, aber unschuldig<.
+Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube ich. Je länger ich lebe,
+Dorian, je stärker fühle ich, daß alles, was für unsere Väter gut genug
+war, für uns noch lange nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der
+Politik ~les grandpères ont toujours tort~.«
+
+»Das Stück war gut genug für uns, Harry. Es war >Romeo und Julia<. Ich
+muß zugeben, daß mich der Gedanke, Shakespeare in einer so elenden
+Spelunke zu sehen, ärgerte. Und doch interessierte es mich irgendwie.
+Jedenfalls entschloß ich mich, den ersten Akt abzuwarten. Es spielte da
+ein schauderöses Orchester, das ein junger Hebräer dirigierte, der an
+einem schnarrenden Klavier saß, mich beinah zum Davonlaufen brachte;
+aber schließlich ging doch der Vorhang in die Höhe und das Stück fing
+an. Romeo war ein hahnebüchener älterer Herr mit dick gemalten Brauen,
+einer versoffenen Tragödenstimme und einer Falstaffgestalt wie eine
+Biertonne. Mercutio war fast ebenso arg. Er wurde vom Komiker gespielt,
+der Mätzchen eigener Improvisation einstreute und in der
+verwandtschaftlichsten Beziehung zur Galerie stand. Sie waren beide
+genau so grotesk wie die Szenerie, und die sah aus, als käme sie vom
+Jahrmarktsrummel. Aber Julia! Harry, stell dir ein Mädchen vor, kaum
+siebzehn Jahre alt, mit einem blumenhaften Gesichtchen, einem schmalen
+griechischen Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen, wie veilchenblaue
+Brunnen heißer Leidenschaft, mit Lippen wie Rosenblätter. Das
+entzückendste Geschöpf, das ich je im Leben gesehen habe. Du sagtest mal
+zu mir, Pathos ergreife dich nicht, aber Schönheit, keusche Schönheit an
+sich, könnte deine Augen wohl mit Tränen füllen. Ich sage dir, Harry,
+ich konnte dieses Mädchen kaum sehen, von dem Tränenflor über meinen
+Augen. Und ihre Stimme -- ich habe so eine Stimme nie gehört. Zuerst
+sehr leise in tiefen, vollen Molltönen, die langsam und jeder für sich
+allein ins Ohr zu träufeln schienen. Dann etwas lauter und erklingend
+wie eine Flöte oder eine ferne Hoboe. In der Gartenszene hatte sie jene
+zitternde Inbrunst, die man hört, wenn die Nachtigallen singen vor Tag
+und Tau. Es gab dann Augenblicke, wo ihre Stimme die verhaltene
+Leidenschaftsglut von Geigentönen hatte. Du weißt, wie eine Stimme einen
+erschüttern kann. Deine Stimme und die Stimme von Sibyl Vane, die beiden
+werde ich nie vergessen. Wenn ich meine Augen schließe, höre ich sie,
+und jede von ihnen sagt etwas anderes. Ich weiß nicht, welcher ich
+folgen soll. Warum sollte ich sie nicht lieben? Harry, ich liebe sie.
+Sie ist alles in meinem Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie
+spielen zu sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten Imogen.
+Ich habe sie im Düster eines italienischen Grabgewölbes sterben sehen,
+wie sie das Gift von den Lippen des Geliebten trinkt. Ich bin ihrer
+Wanderung durch die Ardennen gefolgt, wie sie als hübscher Knabe mit
+Hose, Wams und einem kleinen Barett verkleidet war. Sie war wahnsinnig
+und ist vor einen schuldbewußten König hingetreten und ließ ihn Rauten
+tragen und bittere Kräuter kosten. Sie war unschuldig, und die schwarzen
+Hände der Eifersucht haben ihren zarten Hals zusammengepreßt. Ich habe
+sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht gesehen. Gewöhnliche Frauen
+sagen unserer Phantasie nichts. Sie sind in ihre Zeit hineingebannt.
+Kein Zauber kann sie umwandeln. Man kennt ihren Geist ebenso schnell wie
+ihre Güte. Man kennt sie immer heraus. Es gibt kein Geheimnis in ihnen.
+Sie reiten morgens in den Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie
+haben ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Modemanieren. Aber eine
+Schauspielerin! Wie anders solche Schauspielerin! Harry! Warum hast du
+mir nicht gesagt, daß nichts geliebt zu werden verdient als eine
+Schauspielerin?«
+
+»Weil ich so viele von ihnen geliebt habe, Dorian.«
+
+»Oh, gewiß, gräßliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren und geschminkten
+Gesichtern.«
+
+»Schmähe nicht gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter. Es liegt
+zuweilen ein ganz besonderer Reiz darin«, sagte Lord Henry.
+
+»Ich wollte, ich hätte dir nie etwas von Sibyl Vane gesagt.«
+
+»Du hättest gar nicht anders können, Dorian. Dein ganzes Leben lang
+wirst du mir alles sagen, was du tust.«
+
+»Ja, Harry, ich glaube, es ist so. Ich bin geradezu gezwungen, dir alles
+zu sagen. Du hast eine seltsame Macht über mich. Wenn ich je ein
+Verbrechen beginge, käme ich gleich zu dir und beichtete es dir. Du
+würdest mich verstehen.«
+
+»Menschen wie du -- die kühnen Sonnenstrahlen des Lebens -- begehen
+keine Verbrechen, Dorian. Aber ich danke dir trotzdem für dein
+Kompliment. Und nun sag' mir -- bitte gib mir mal die Streichhölzer
+herüber; danke -- wie sind deine wirklichen Beziehungen zu Sibyl Vane?«
+
+Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und blitzenden Augen auf.
+»Harry! Sibyl Vane ist mir heilig.«
+
+»Nur heilige Dinge sind wert, sie anzurühren, Dorian«, sagte Lord Henry
+mit einem merkwürdigen pathetischen Ton in seiner Stimme. »Aber warum
+fühlst du dich verletzt? Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören.
+Wenn man verliebt ist, fängt man immer damit an, sich selbst zu
+betrügen, und hört immer damit auf, andere zu betrügen. Das nennt die
+Welt eine Liebesgeschichte. Auf jeden Fall denke ich, du kennst sie?«
+
+»Natürlich kenne ich sie. Schon am ersten Abend im Theater kam der
+gräßliche alte Jude nach der Vorstellung in meine Loge und bot mir an,
+mich hinter die Kulissen zu führen und ihr vorzustellen. Ich war wütend
+und sagte ihm, daß Julia seit Hunderten von Jahren tot sei und daß ihr
+Körper in einem Marmorgrabe zu Verona liege. Nach dem bestürzten
+Ausdruck in seinem Gesicht vermute ich, daß er glaubte, ich hätte zuviel
+Champagner oder Ähnliches getrunken.«
+
+»Kein Wunder!«
+
+»Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung schreibe. Ich sagte
+ihm, daß ich nicht mal eine lese. Das schien ihn furchtbar zu
+enttäuschen, und er vertraute mir an, alle Theaterkritiker hätten sich
+gegen ihn verschworen und jeder einzelne von ihnen wäre käuflich.«
+
+»Es sollte mich nicht wundern, wenn er ganz recht hätte. Andererseits
+aber, nach ihrem Aussehen zu schließen, können sie meistens gar nicht
+teuer sein.«
+
+»Einerlei, sie schienen über seine Mittel zu gehen«, sagte Dorian
+lachend. »Inzwischen aber wurden die Lichter im Theater ausgedreht und
+ich mußte fort. Er bat mich noch, einige Zigarren zu probieren, die er
+mir sehr warm empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend ging ich natürlich
+wieder hin. Als er mich sah, machte er eine tiefe Verbeugung und
+versicherte mir, ich sei ein edelmütiger Kunstmäzen. Er ist eine höchst
+abstoßende Kreatur, obwohl er eine außerordentliche Leidenschaft für
+Shakespeare hegt. Er erzählte mir mal mit einem Anflug von Stolz, seine
+fünf Bankrotte verdanke er nur dem >Barden<; so nannte er nämlich
+hartnäckig Shakespeare. Er schien das für ein Verdienst zu halten.«
+
+»Es ist ein Verdienst, lieber Dorian -- ein großes Verdienst. Die
+meisten Leute werden bankrott, weil sie zuviel in der Prosa des Lebens
+angelegt haben. Sich mit Poesie ruiniert zu haben, ist eine ehrenvolle
+Auszeichnung. Aber wann hast du Fräulein Sibyl Vane zum erstenmal
+gesprochen?«
+
+»Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt. Ich mußte hinter
+die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein paar Blumen zugeworfen, und sie hatte
+zu mir hingesehen, wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war
+beharrlich. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu nehmen, und
+so gab ich nach. Es war sonderbar, daß ich sie nicht kennenlernen
+wollte, nicht wahr?«
+
+»Nein, ich glaube nicht.«
+
+»Warum, lieber Harry?«
+
+»Ich erkläre dir das ein andermal. Jetzt möchte ich gern von dem Mädchen
+hören.«
+
+»Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und lieb. Sie ist noch fast wie
+ein Kind. Ihre Augen öffneten sich in einem allerliebsten Staunen, als
+ich ihr sagte, was ich über ihr Spiel dachte, und sie schien sich ihres
+eigenen Könnens gar nicht bewußt zu sein. Ich glaube, wir waren beide
+recht nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür der staubigen
+Garderobe und hielt theatralische Reden über uns beide, während wir uns
+wie Kinder anstarrten. Er bestand darauf, mich >Herr Baron< zu nennen,
+so daß ich Sibyl versichern mußte, ich sei nichts der Art. Sie sagte in
+ganz schlichter Weise zu mir: >Sie sehen mehr wie ein Prinz aus. Ich
+will Sie Prinz Märchenschön nennen<.«
+
+»Mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht es, Schmeicheleien zu
+sagen.«
+
+»Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur wie eine Figur
+in einem Theaterstück. Sie weiß gar nichts vom Leben. Sie wohnt bei
+ihrer Mutter, einer verblühten, ältlichen Frau, die am ersten Abend in
+einer Art türkisch-rotem Schlafrock die Lady Capulet spielte und den
+Eindruck machte, als hätte sie bessere Tage gesehen.«
+
+»Ich kenne diese Art, auszusehen. Sie stimmt mich unbehaglich«, sagte
+Lord Henry mit verhaltener Stimme und betrachtete seine Ringe.
+
+»Der Jude wollte mir ihre Lebensgeschichte erzählen, aber ich bemerkte,
+sie interessiere mich nicht.«
+
+»Da hattest du recht. Die Tragödien anderer Leute haben immer etwas
+unglaublich Gewöhnliches an sich.«
+
+»Sibyl ist das einzige, um das ich mich kümmere. Was geht's mich an,
+woher sie stammt? Von ihrem kleinen Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist
+sie ein himmlisches Wesen. Jeden Abend, den ich erlebe, gehe ich hin, um
+sie spielen zu sehen, und jeden Abend ist sie entzückender.«
+
+»Ich vermute darin den Grund, weshalb du jetzt nie mehr mit mir zusammen
+ißt. Ich dachte mir gleich, daß dahinter irgendeine merkwürdige
+Geschichte stecke. Das ist so, aber es ist nicht ganz, was ich
+erwartete.«
+
+»Lieber Harry, wir sind jeden Tag entweder beim Frühstück oder beim
+Abendessen zusammen, und ich bin mehrere Male mit dir in der Oper
+gewesen«, sagte Dorian und öffnete verwundert seine blauen Augen.
+
+»Du kommst immer furchtbar spät.«
+
+»Ja, ich muß hin und Sibyl spielen sehen, und wenn auch nur einen Akt
+lang. Ich hungere nach ihrem Anblick, und wenn ich an die himmlische
+Seele denke, die in diesem zierlichen Elfenbeinkörper eingeschlossen
+ist, packt mich stille Ehrfurcht.«
+
+»Kannst du heute abend mit mir essen, Dorian?«
+
+Er schüttelte den Kopf. »Heute abend ist sie Imogen,« antwortete er,
+»und morgen abend Julia.«
+
+»Wann ist sie Sibyl Vane?«
+
+»Nie!«
+
+»Da wünsche ich dir Glück.«
+
+»Wie schrecklich du bist! Sie verkörpert alle die großen Frauengestalten
+der Weltgeschichte in sich. Sie ist mehr als ein Geschöpf. Du lachst,
+aber ich sage dir, sie ist ein Genie. Ich liebe sie und ich will's
+erreichen, daß sie mich auch liebt. Dir sind alle Geheimnisse des Lebens
+bekannt, du mußt mir sagen, wie ich Sibyl Vane so bezaubern kann, daß
+sie mich liebt. Ich will Romeo eifersüchtig machen. Ich will, daß die
+toten Liebhaber der Welt unser Lachen hören und sich grämen. Ich will,
+daß unsere strahlende Leidenschaft ihren Staub wieder beleben und ihre
+Asche zu Schmerzen auferwecken soll. O Gott, Harry, wie bete ich sie
+an!« Er ging, während er sprach, im Zimmer auf und ab. Rote hektische
+Flecken brannten auf seinen Wangen. Er war furchtbar erregt.
+
+Lord Henry betrachtete ihn mit stillem Wohlbehagen. Wie anders war er
+jetzt als jener verlegene, schüchterne Knabe, den er in Basil Hallwards
+Atelier angetroffen hatte! Seine Natur hatte sich entwickelt wie eine
+Blume und trug Blüten von brennendrotem Scharlach. Aus ihrem geheimen
+Versteck war seine Seele hervorgekrochen, und die Wollust war ihr auf
+halbem Wege entgegengekommen.
+
+»Und was hast du nun vor?« sagte Lord Henry schließlich.
+
+»Ich will, du und Basil sollt mich an einem Abend begleiten und sie
+spielen sehen. Ich setze nicht die leiseste Besorgnis in die Wirkung.
+Ihr werdet zugeben müssen, daß sie Genie hat. Dann müssen wir sie dem
+Juden aus den Händen winden. Sie ist noch drei Jahre -- genau zwei Jahre
+und acht Monate -- an ihn gebunden. Natürlich werde ich ihm etwas zahlen
+müssen. Wenn das alles in Ordnung ist, suche ich mir ein Theater im
+Westend und lasse sie dort erst mal richtig auftreten. Sie wird die Welt
+ebenso verrückt machen wie mich.«
+
+»Das wird kaum gehen, lieber Junge.«
+
+»Ja, sie wird es; denn in ihr ist nicht nur Kunst, vollendetster
+Kunstinstinkt, sondern sie hat auch Persönlichkeit; und du selbst hast
+mir oft genug gesagt, daß nur Persönlichkeiten, nicht Prinzipien die
+Welt beherrschen.«
+
+»Schön, wann sollen wir also hingehen?«
+
+»Laß mich mal nachdenken. Heute ist Dienstag. Wollen wir morgen
+festsetzen? Morgen spielt sie die Julia.«
+
+»Abgemacht! Morgen um acht im Bristol. Ich werde Basil mitbringen.«
+
+»Bitte, nicht um acht Uhr, Harry. Halbsieben. Wir müssen dort sein, ehe
+der Vorhang aufgeht. Du mußt sie im ersten Akt bei der Begegnung mit
+Romeo sehen.«
+
+»Halbsieben Uhr! Was für eine Tageszeit! Das wäre ja gerade so, wie ein
+Abendbrot am Nachmittag essen oder einen englischen Roman lesen. Vor
+sieben Uhr geht's nicht. Kein Gentleman speist vor sieben. Siehst du
+Basil bis dahin? Oder soll ich ihm schreiben?«
+
+»Der liebe Basil! Ich habe mich eine ganze Woche lang nicht um ihn
+gekümmert. Das ist sehr häßlich von mir, denn er hat mir mein Porträt in
+einem prachtvollen Rahmen, den er selbst entworfen hat, geschickt, und
+obwohl ich ein bißchen eifersüchtig auf das Bild bin, weil es einen
+ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich doch zugeben, daß es mich ganz
+entzückt. Ich bitte, schreib lieber. Ich möchte ihn nicht allein
+wiedersehen. Er sagt mir Dinge, die mich verstimmen. Er gibt mir gute
+Lehren.«
+
+Lord Henry lächelte. »Die Menschen haben eine starke Vorliebe, das
+wegzuschenken, was sie selber am nötigsten hätten. Ich nenne das den
+Chimborasso Freigebigkeit.«
+
+»Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir doch ein klein
+bißchen Philister zu sein. Seit ich dich kenne, Harry, hab' ich das
+entdeckt.«
+
+»Basil, mein lieber Junge, tränkt seine Werke mit allem, was an ihm
+entzückend ist. Die Folge ist, daß ihm fürs Leben nichts übrigbleibt als
+seine Vorurteile, seine Grundsätze und sein gesunder Menschenverstand.
+Alle Künstler, die ich kennengelernt habe, und die persönlich von
+Anziehungskraft sind, waren schlechte Künstler. Gute Künstler leben nur
+in ihren Schöpfungen und sind daher im Leben vollständig uninteressant.
+Ein großer Dichter, ein wirklich großer Dichter ist das unpoetischste
+Geschöpf von der Welt. Aber untergeordnete Dichter bezaubern immer. Je
+schlechter ihre Reime sind, desto malerischer ist ihr Aussehen. Die
+bloße Tatsache, eine Sammlung mittelmäßiger Sonette veröffentlicht zu
+haben, macht solchen Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die
+Poesie, die er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Poesie,
+die sie nicht zu leben wagen.«
+
+»Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry«, sagte Dorian Gray,
+der inzwischen aus einem großen goldgefaßten Flakon auf dem Tische etwas
+Parfüm auf sein Taschentuch gegossen hatte. »Es wird wohl sein, wenn du
+es sagst. Jetzt aber muß ich fort. Imogen wartet auf mich. Vergiß nicht,
+morgen! Adieu!«
+
+Als er das Zimmer verlassen hatte, schloß Lord Henry die schweren Lider
+und begann nachzudenken. Gewiß hatten ihn wenige Menschen bisher so
+interessiert wie Dorian Gray, und doch verursachte ihm die wahnsinnige
+Leidenschaft des Jünglings für eine andere Person nicht im entferntesten
+Ärger oder Eifersucht. Es freute ihn. Dorian wurde dadurch nur noch
+interessanter. Die Methoden der Naturwissenschaft hatten ihn immer
+entzückt, aber der gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm
+kleinlich und belanglos erschienen, und so hatte er begonnen, sich
+selbst zu vivisezieren und hatte damit geendet, andere zu vivisezieren.
+Das Menschenleben -- das schien ihm der einzige einer Untersuchung werte
+Gegenstand. Verglichen damit war alles andere ohne jegliche Bedeutung.
+Freilich, wenn man das Leben in dem seltsamen Schmelztiegel des
+Schmerzes und der Lust beobachtete, konnte man keine Glasmaske über dem
+Gesicht tragen, konnte auch nicht die Schwefeldämpfe abhalten, die einem
+das Gehirn verwirrten und die Phantasie mit monströsen Ausgeburten und
+mißratenen Träumen umwirbelten. Es gab so feine Gifte, daß man an ihnen
+erkrankt sein mußte, um ihre Eigenheiten zu kennen. Es gab so seltsame
+Krankheiten, daß man sie durchgemacht haben mußte, um ihre Art zu
+begreifen. Und doch, welchen Lohn empfing man dafür! Wie wunderbar
+wandelt sich einem dann die ganze Welt! Die merkwürdig strenge Logik der
+Leidenschaft und das buntgefärbte Trieb- und Gefühlsleben des Geistes
+anzumerken -- zu beobachten, wo sich die beiden Linien schneiden und wo
+sie auseinandergehen, in welchem Punkte sie in Eintracht leben und in
+welchem sie sich wieder bekriegen -- das ist ein Genuß! Was liegt an dem
+Preise dafür! Man kann nie einen zu hohen Preis für ein Sinnenerlebnis
+geben.
+
+Er war sich bewußt -- und dieser Gedanke brachte einen freudigen Glanz
+in seine achatbraunen Augen -- daß sich durch gewisse Worte, die er
+gesprochen hatte, musikalische Worte in melodischem Tonfall, Dorian
+Grays Seele diesem weißen Mädchen zugewendet und sich in Verehrung vor
+ihr gebeugt hatte. In hohem Maße war der Jüngling sein Geschöpf. Er
+hatte ihn vor der Zeit reifen lassen. Das war schon was. Die
+gewöhnlichen Menschen warten, bis ihnen das Leben seine Geheimnisse
+aufschließt, aber den wenigen Auserwählten werden die Mysterien des
+Daseins enthüllt, bevor der Schleier weggezogen wird. Manchmal ist das
+die Wirkung der Kunst, besonders der Dichtung, die ja unmittelbar die
+Leidenschaften und den Intellekt behandelt. Ab und zu nimmt aber eine
+komplizierte Persönlichkeit diesen Platz ein und übt das Amt der Kunst
+aus, ist eigentlich auf ihre Weise ein richtiges Kunstwerk, denn das
+Leben schafft ebenso seine vollendeten Meisterwerke wie die Poesie oder
+die Bildhauerkunst oder die Malerei.
+
+Ja, dieser Jüngling war vor der Zeit reich. Er erntete, während er noch
+lenzte. Der Puls und die Leidenschaft der Jugend wohnten in ihm, und er
+begann, seiner bewußt zu werden. Es war entzückend, ihn zu beobachten.
+Mit seinem schönen Angesicht und seiner schönen Seele war er ein Stück
+Leben zum Anstaunen. Es lag nichts daran, wie das alles endete, oder
+enden sollte. Er glich einer der graziösen Gestalten auf einem Gobelin
+oder in einem Schauspiel, deren Freuden von den unseren weit entfernt zu
+sein scheinen, aber deren Schmerzen unseren Schönheitssinn erregen und
+deren Wunden wie rote Rosen sind.
+
+Seele und Leib, Leib und Seele -- wie geheimnisvoll das alles ist!
+Animalisches ist in der Seele, und der Leib hat seine Augenblicke
+geistiger Veredlung. Die Sinne können sich läutern, und der Intellekt
+kann sich vergröbern. Wer kann sagen, wo die fleischlichen Triebe
+endigen und die seelischen beginnen? Wie flach sind die willkürlichen
+Erklärungen der handwerksmäßigen Psychologen! Und doch, wie schwierig
+ist die Entscheidung zwischen den Lehren der einzelnen Schulen. Ist die
+Seele ein Schatten, der im Hause der Sünde wohnt? Oder ist der Körper
+wirklich in der Seele eingeschlossen, wie es sich Giordano Bruno dachte?
+Die Trennung von Geist und Stoff ist ein Geheimnis, und die Vereinigung
+von Geist und Stoff ist abermals ein Geheimnis.
+
+Er dachte darüber nach, ob wir je die Psychologie zu einer so exakten
+Wissenschaft machen können, daß uns auch das kleinste Triebrädchen des
+Lebens offenbar würde. Wie die Dinge heute liegen, begreifen wir uns
+selbst nie und die anderen nur selten. Die Erfahrung hat keinerlei
+ethische Bedeutung. Sie ist nur das Firmenschild, das die Menschen ihren
+Irrtümern anhängen. Die Moralisten haben sie meist als eine Art Warnung
+betrachtet, haben für sie eine gewisse ethische Wirksamkeit in der
+Bildung der Charaktere beansprucht, haben sie als Mittel gepriesen, das
+uns darüber aufklärt, was wir tun und lassen sollen. Aber in der
+Erfahrung liegt keine bewegende Kraft. Sie ist ebensowenig eine tätige
+Ursache wie das Gewissen. Alles, was sie in Wirklichkeit lehrt, ist, daß
+unsere Zukunft ebenso sein wird wie unsere Vergangenheit, und daß wir
+die Sünde, die wir dereinst mit Abscheu und Widerwillen begangen haben,
+immer und immer wieder und dann mit Genuß wiederholen werden.
+
+Er war sich darüber klar, daß die Versuchsmethode die einzige sei, durch
+die man zu irgendeiner wissenschaftlichen Erklärung der Leidenschaften
+kommen könne; und sicher war ihm Dorian Gray ein bequemes Objekt und
+schien reiche und wertvolle Erfolge zu versprechen. Seine jähe
+sturmartige Liebe zu Sibyl Vane war eine psychologische Tatsache von
+großem Interesse. Kein Zweifel, daß die Neugier dabei stark im Spiele
+war, Neugier und Lust an neuen Erlebnissen; doch es war keine einfache,
+sondern eher eine recht komplizierte Leidenschaft. Was von dem rein
+sinnlichen Triebe des Knabenalters in ihr war, das hatte die Mitarbeit
+der Phantasie umgebildet, in irgendwas verwandelt, das dem Jüngling
+selbst ganz fern von allem Sinnlichen schien und gerade deshalb um so
+gefährlicher war. Alle Leidenschaften, über deren Ursprung wir uns
+selbst täuschen, üben die stärkste Herrschaft auf uns aus. Unsere
+schwächsten Triebkräfte sind die, über deren Natur wir klar sehen. Es
+kommt oft vor, daß wir im Denken mit uns selbst Experimente anstellen
+und glauben, sie mit anderen zu versuchen.
+
+Während Lord Henry noch dasaß und über diese Dinge nachgrübelte, wurde
+an die Tür geklopft; ein Diener trat ein und erinnerte ihn, daß es Zeit
+sei, sich für das Abendessen umzukleiden. Er erhob sich und blickte auf
+die Straße hinab. Der Sonnenuntergang hatte die oberen Fenster der
+gegenüberliegenden Häuser in ein feuerrotes Gold getaucht. Die Scheiben
+glühten wie erhitzte Metallplatten. Der Himmel drüber glich einer
+verwelkten Rose. Es erinnerte ihn an das junge, flammenlodernde Leben
+seines Freundes, und er fragte sich, wie das alles enden würde.
+
+Als er dann gegen halb ein Uhr nachts nach Hause kam, fand er im Vorflur
+auf dem Tische ein Telegramm liegen. Er öffnete es und sah, daß es von
+Dorian Gray war. Es teilte ihm mit, daß er sich mit Sibyl Vane verlobt
+habe.
+
+
+
+
+Fünftes Kapitel
+
+
+»Mutter, Mutter, ich bin so glücklich!« flüsterte das Mädchen und barg
+ihr Gesicht im Schoße der verblühten, müde aussehenden Frau, die mit dem
+Rücken gegen das grell eindringende Licht in dem einzigen Armstuhl saß,
+den ihr armseliges Wohnzimmer enthielt. »Ich bin so glücklich!«
+wiederholte sie, »und du wirst auch glücklich sein.«
+
+Frau Vane zuckte zusammen und legte ihre dünnen, wismutweißen Hände auf
+den Kopf ihrer Tochter. »Glücklich!« echote sie, »ich bin nur glücklich,
+Sibyl, wenn ich dich spielen sehe. Du darfst an nichts anderes denken
+als an deine Rollen. Herr Isaacs ist sehr gut gegen uns gewesen, und wir
+sind ihm Geld schuldig.«
+
+Das Mädchen sah auf und ließ die Lippen hängen. »Geld, Mutter?« rief
+sie, »was liegt an Geld? Liebe ist mehr als Geld!«
+
+»Herr Isaacs hat uns tausend Mark Vorschuß gegeben, damit wir unsere
+Schulden zahlen und für James eine anständige Ausrüstung anschaffen
+können. Das darfst du nicht vergessen, Sibyl. Tausend Mark sind ein sehr
+großer Betrag. Herr Isaacs benahm sich sehr anständig.«
+
+»Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art, wie er mit mir
+spricht«, sagte das Mädchen, stand auf und trat ans Fenster.
+
+»Ich wüßte nicht, wie wir ohne ihn vorwärts kämen«, entgegnete die alte
+Frau weinerlich.
+
+Sibyl Vane warf den Kopf in den Nacken und lachte: »Wir brauchen ihn
+nicht mehr, Mutter, der Prinz Märchenschön bestimmt von jetzt ab über
+unser Leben.« Dann schwieg sie. Eine Blutwelle schoß in ihre Wangen und
+tauchte sie in ein dunkles Rot. Der rasche Atem öffnete ihre blühenden
+Lippen. Sie zitterten. Ein Südwind heißer Leidenschaft durchbrauste sie
+und bewegte die glatten Falten ihrer Gewandung. »Ich liebe ihn«, sagte
+sie mit einfachem Ausdruck.
+
+»Närrisches Kind! närrisches Kind!« waren die papageienhaften Worte, die
+ihr als Antwort entgegenflogen. Dabei machte die beschwörende Bewegung
+ihrer gekrümmten, mit unechten Ringen gezierten Finger diesen Ausruf
+noch komischer.
+
+Das Mädchen lachte wieder. In ihrer Stimme lag etwas wie der Jubel eines
+Vogels im Käfig. Ihre Augen fingen die Lachmelodie auf und wiederholten
+sie in ihrem Glanze: dann schlossen sie sich einen Augenblick, als
+wollten sie ihr Geheimnis verbergen. Als sie sich wieder öffneten, war
+der Schimmer eines Traumes über sie dahingegangen.
+
+Aus dem abgenutzten Stuhl sprach die Weisheit zu ihr mit dünnen Lippen,
+mahnte zur Besinnung und gab Ratschläge aus dem Buch der Feigheit, dem
+sein Autor irrtümlich den Titel »Gesunder Menschenverstand« beigelegt
+hat. Sie hörte nicht hin. Im Kerker ihrer Leidenschaft fühlte sie sich
+frei. Ihr Prinz, der Prinz Märchenschön, war bei ihr. Sie hatte das
+Gedächtnis beschworen, ihn herbeizuschaffen. Sie hatte ihre Seele auf
+die Suche nach ihm geschickt, und die hatte ihn wieder hergebracht.
+Sein Kuß brannte wieder auf ihrem Munde. Ihre Lider brannten wieder von
+seinem Atem.
+
+Dann zog die Weisheit andere Register auf und sprach von Erkundigen und
+Nachforschen. Es mochte ja sein, daß dieser junge Mann reich sei. Wenn
+dem so wäre, dann müßte man ans Heiraten denken. Um die Ohrmuschel des
+Mädchens plätscherten die Wellen weltlicher Schlauheit. Die Pfeile der
+Weltklugheit schwirrten an ihr vorüber. Sie sah, wie sich die dünnen
+Lippen bewegten, und lächelte.
+
+Plötzlich fühlte sie das Bedürfnis, zu sprechen. Die wortüberfüllte
+Schweigsamkeit verwirrte sie. »Mutter, Mutter,« rief sie, »warum liebt
+er mich so innig? Ich weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er
+so ist, wie die Liebe selbst sein muß. Aber was findet er an mir? Ich
+bin seiner nicht wert. Und doch -- ich weiß nicht, warum -- ich fühle
+mich wohl tief unter ihm, aber ich fühle mich nicht gering. Stolz bin
+ich, schrecklich stolz. Mutter, hast du meinen Vater so geliebt, wie ich
+den Prinzen Märchenschön liebe?«
+
+Die alte Frau wurde bleich unter dem dicken Puder, womit ihre Wangen
+beklebt waren, und ihre verwelkten Lippen zitterten in krampfigem
+Schmerz. Sibyl stürzte zu ihr hin, schlang ihr ihre Arme um den Hals und
+küßte sie. »Verzeih mir, Mutter! Ich weiß, es schmerzt dich, an unseren
+Vater zu denken. Aber es schmerzt dich nur, weil du ihn so lieb gehabt
+hast. Sieh nicht so traurig drein. Heute bin ich so glücklich, wie du es
+warst vor zwanzig Jahren. Ach, könnte ich für immer so glücklich sein!«
+
+»Mein Kind, du bist viel zu jung, um an eine Liebschaft zu denken.
+Zudem, was weißt du von diesem jungen Mann? Du weißt nicht mal seinen
+Namen. Die ganze Sache ist höchst unpassend, und wahrhaftig, gerade
+jetzt, wo sich James nach Australien rüstet, und ich an so viele Dinge
+zu denken habe, da muß ich sagen, du hättest mehr Überlegung zeigen
+sollen. Immerhin, wie ich schon sagte, wenn er reich ist...«
+
+»Ach Mutter, Mutter, laß mich glücklich sein!«
+
+Frau Vane blickte sie an und schloß sie plötzlich mit einer der unwahren
+theatralischen Gesten in die Arme, wie sie den Schauspielern oft zur
+zweiten Natur werden. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein
+junger Bursche mit struppigem, braunem Haar kam in die Stube. Er war von
+untersetzter Gestalt, und seine Hände und Füße waren groß und bewegten
+sich etwas ungelenk. Er war nicht so gut erzogen wie seine Schwester.
+Man hätte kaum die nahe Verwandtschaft erraten können, die zwischen
+beiden bestand. Frau Vane richtete ihre Augen auf ihn, und ihr Lächeln
+verstärkte sich. In ihrem Geiste ließ sie ihren Sohn die Rolle des
+Publikums spielen. Sie war überzeugt, daß das Tableau interessant war.
+
+»Du könntest dir wohl ein paar Küsse für mich aufheben, Sibyl«, sagte
+der Bursche mit gutmütigem Knurren.
+
+»Ach, Jim, du machst dir doch gar nichts aus Küssen!« rief sie. »Du bist
+ein greulicher alter Bär!« Und sie hüpfte durchs Zimmer zu ihm hin und
+umhalste ihn.
+
+James Vane sah seiner Schwester zärtlich in das Gesicht. »Ich möchte mit
+dir spazieren gehen, Sibyl. Ich glaube kaum, daß ich dies schreckliche
+London jemals wiedersehe. Ich mache mir auch wirklich nicht im
+geringsten was draus.«
+
+»Mein Sohn, rede doch nicht so schreckliche Dinge«, grollte Frau Vane,
+während sie seufzend ein flitteriges Theaterkostüm zur Hand nahm und es
+auszubessern begann. Sie fühlte eine kleine Enttäuschung, daß er sich
+der Gruppe nicht angeschlossen hatte. Es hätte die malerische Wirkung
+der Szene so hübsch erhöht.
+
+»Warum nicht, Mutter? Ich meine es im Ernst.«
+
+»Du kränkst mich, mein Sohn. Ich hoffe, daß du von Australien als ein
+gemachter Mann zurückkehrst. Ich vermute, es gibt in den Kolonien
+sozusagen keine Gesellschaft, wenigstens nichts, was ich Gesellschaft
+nenne; wenn du also dein Glück gemacht hast, mußt du zurückkommen und
+dich zur Geltung bringen in London.«
+
+»Gesellschaft«, brummelte der junge Mann. »Will davon nichts wissen.
+Möchte nur soviel Geld verdienen, um dich und Sibyl vom Theater
+wegzukriegen. Ich hasse es.«
+
+»O Jim,« sagte Sibyl lachend, »wie unfreundlich von dir! Aber, willst du
+wirklich mit mir spazieren gehen? Das ist nett! Ich fürchtete schon, du
+wolltest dich bei deinen Freunden verabschieden, bei Tom Hardy, der dir
+diese gräßliche Pfeife geschenkt hat, oder bei Nell Langton, der dich
+auslacht, weil du sie rauchst. Es ist sehr hübsch von dir, daß du mir
+deinen letzten Nachmittag schenkst. Wohin werden wir gehen? Komm, wir
+wollen in den Park.«
+
+»Dazu bin ich zu schäbig angezogen«, antwortete er mit gerunzelter
+Stirn. »Nur Elegants gehen in den Park.«
+
+»Unsinn, Jim«, flüsterte sie, und streichelte seinen Ärmel.
+
+Er zauderte einen Augenblick. »Schön denn,« sagte er schließlich, »mach'
+aber nicht zu lang mit dem Anziehen.«
+
+Sie tanzte zur Tür hinaus. Man konnte sie singen hören, während sie die
+Treppe hinauflief. Ihre kleinen Füße trippelten oben.
+
+Er ging zwei oder dreimal durch die Stube, dann wandte er sich zu der
+schweigsamen Gestalt im Lehnstuhl.
+
+»Mutter, sind meine Sachen gepackt?« fragte er.
+
+»Alles fertig, James«, antwortete sie, ohne von ihrer Arbeit
+aufzuschauen. Seit einigen Monaten war es ihr unbehaglich, wenn sie mit
+ihrem rauhen, finsteren Sohn allein war. Ihre oberflächliche Natur mit
+ihrem unterdrückten Geheimnis wurde beunruhigt, wenn sich ihre Augen
+trafen. Sie fragte sich, ob er einen Verdacht habe. Sein Schweigen, da
+er sonst keine Bemerkungen machte, wurde ihr unerträglich. Sie fing also
+zu jammern an. Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade, wie
+sie dadurch angreifen, daß sie unvermutet die Waffen strecken. »Ich
+hoffe, James, dein Seefahrerleben wird dich befriedigen. Du darfst nie
+vergessen, daß es deine eigene Wahl war. Du hättest in das Bureau eines
+Anwalts treten können. Anwälte sind eine sehr geachtete Menschenklasse
+und werden auf dem Lande oft in den besten Familien eingeladen.«
+
+»Ich hasse Bureaus und ich hasse Schreiber«, erwiderte er. »Aber du
+hast ganz recht, mein Leben habe ich mir selbst gewählt. Alles, was ich
+sage, ist: Wache über Sibyl! Laß ihr kein Unglück zustoßen. Mutter, du
+mußt über sie wachen!«
+
+»James, du hast eine merkwürdige Art, zu sprechen. Natürlich wache ich
+über sie.«
+
+»Ich höre, ein Herr kommt jeden Abend ins Theater und geht hinter die
+Kulissen und spricht mit ihr. Ist das wahr? Wie verhält sich's damit?«
+
+»James, du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst. Wir in unserem
+Beruf sind gewöhnt, eine Menge wohltuender Aufmerksamkeiten zu
+empfangen. Ich selbst habe zu meiner Zeit viel Blumen bekommen. Damals
+verstand man noch etwas vom Spielen. Was Sibyl betrifft, so weiß ich im
+Augenblick nicht, ob ihre Neigung ernst ist oder nicht. Aber darüber
+besteht kein Zweifel, daß der fragliche junge Mann ein vollendeter
+Kavalier ist. Er ist immer ausgesucht höflich zu mir. Auch sieht er aus,
+als ob er reich wäre, und die Buketts, die er schickt, sind ganz
+allerliebst.«
+
+»Aber du weißt nicht mal seinen Namen«, warf der junge Mann barsch ein.
+
+»Nein«, antwortete die Mutter mit gelassener Miene. »Er hat uns seinen
+wirklichen Namen noch nicht verraten. Ich finde das sehr romantisch von
+ihm. Wahrscheinlich ist er ein Herr von Adel.«
+
+James Vane biß sich auf die Lippen. »Wache über Sibyl!« schrie er.
+»Wache über sie!«
+
+»Mein Sohn, du verletzt mich ungemein. Sibyl steht unablässig unter
+meiner besonderen Obhut. Natürlich, falls dieser Herr vermögend ist,
+sehe ich den Grund nicht ein, um einer Verbindung mit ihm auszuweichen.
+Ich bin fest davon überzeugt, er gehört zur Aristokratie. Er sieht ganz
+so aus, muß ich sagen. Es wird eine brillante Partie für Sibyl werden.
+Sie würden ein entzückendes Paar abgeben. Seine Schönheit ist wirklich
+ganz bedeutend; sie fällt jedem auf.«
+
+Der junge Mann brummte etwas in sich hinein und trommelte mit seinen
+dicken Fingern gegen die Fensterscheibe. Er hatte sich gerade umgewandt,
+um etwas zu sagen, als die Tür aufging und Sibyl hereinflitzte.
+
+»Was macht ihr beide denn für ernste Gesichter!« rief sie aus. »Was
+gibt's denn?«
+
+»Nichts«, antwortete er. »Man muß auch mal ernst sein. Adieu, Mutter;
+ich will um fünf essen. Alles ist gepackt bis auf die Hemden; du
+brauchst dich also um nichts mehr zu kümmern.«
+
+»Adieu, mein Sohn«, antwortete sie mit einer Verbeugung gemachter
+hoheitsvoller Würde.
+
+Sie war äußerst gekränkt durch den Ton, den er ihr gegenüber
+angeschlagen hatte, und in seinem Blick lag etwas, das ihr Angst
+eingeflößt hatte.
+
+»Gib mir einen Kuß, Mutter«, sagte das Mädchen. Ihre blütengleichen
+Lippen berührten die welken Wangen und wärmten ihre Frostigkeit.
+
+»Mein Kind! Mein Kind!« rief Frau Vane und schaute zur Decke auf, als
+suchte sie in ihrer Einbildung eine Galerie.
+
+»Komm, Sibyl«, sagte ihr Bruder ungeduldig. Er konnte die Attitüden
+seiner Mutter nicht ausstehen.
+
+Sie traten hinaus in den flimmernden, windbewegten Sonnenschein und
+schlenderten die trostlose Euston Road hinab. Die Vorübergehenden
+blickten verwundert auf den unfreundlichen, schwerfälligen jungen
+Menschen in den groben schlechtsitzenden Kleidern, den ein so
+liebliches, fein aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem
+Gärtnerburschen, der eine Rose trägt.
+
+Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den forschenden Blick
+eines Fremden bemerkte. Er hatte jene Abneigung gegen das
+Angestarrtwerden, die Menschen von Geist erst spät im Leben bekommen und
+die den Herdenmenschen nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts von der
+Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf ihren lächelnden
+Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen, und damit sie um so besser
+an ihn denken könnte, sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte nur
+von dem Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, von dem Gold, das er sicher
+finden würde, von der wunderhübschen Millionenerbin, deren Leben er
+verruchten rotblusigen Buschräubern entreißen sollte. Denn er würde
+nicht Matrose bleiben oder Verfrachter oder was er jetzt fürs erste
+werden sollte. O nein! Solch Matrosendasein war schrecklich. Er solle
+nur daran denken, in ein schreckliches Schiff hineingepfercht zu sein,
+wenn die brüllenden, katzenbuckelnden Wellen immer eindringen wollen und
+ein schwarzer Wind die Masten umblase und die Segel in lange,
+klatschnasse Streifen zerreiße. Er sollte in Melbourne das Schiff
+verlassen, dem Kapitän höflich Lebewohl sagen und sich sofort in die
+Goldfelder begeben. Bevor noch eine Woche um sei, werde er auf einen
+großen Klumpen puren Goldes stoßen, auf den größten, der je gefunden
+worden sei, und werde ihn zur Küste schaffen in einem großen Wagen, den
+sechs berittene Polizisten bewachen sollten. Die Buschklepper überfielen
+sie dreimal, würden aber nach einem ungeheuren Gemetzel zurückgeschlagen
+werden. Oder nein! Er sollte überhaupt nicht in die Goldfelder wandern.
+Das sind schreckliche Örter, wo sich die Leute betrinken und einander in
+Kneipen totschössen und eine schreckliche Sprache führten. Er sollte ein
+friedsamer Viehzüchter werden, und eines Abends, wenn er heimritte,
+begegnete er der schönen Erbin, die gerade von einem Räuber auf einem
+Rappen entführt würde, und dann setzt er ihm nach und befreit sie.
+Natürlich würde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und sie
+heirateten dann und kehrten heim und wohnten in einem großen Palais in
+London. Ja, entzückende Dinge warteten auf ihn. Aber er müsse auch sehr
+brav sein, nie die Geduld verlieren oder sein Geld vergeuden. Sie sei
+nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse schon genügend mehr vom Leben.
+Er müsse ihr auch zuverlässig an jedem Posttag schreiben und jeden
+Abend, wenn er schlafen gehe, beten. Gott sei sehr gut und werde über
+ihn wachen. Auch sie werde für ihn beten, und in ein paar Jahren werde
+er reich und glücklich nach Hause kommen.
+
+Der Bursche hörte ihr brummig zu und gab keine Antwort. Ihm tat das Herz
+weh, weil er von der Heimat weg mußte.
+
+Aber es war nicht das allein, was ihn düster und verstimmt sein ließ. So
+unerfahren er war, fühlte er doch sehr die Gefahr, die in Sibyls
+Stellung lag. Dieser junge Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte es
+nicht ehrlich mit ihr meinen. Es war ein vornehmes Herrchen, und das
+trug ihm seinen Haß ein, einen Haß, der aus einem sonderbaren
+Rasseinstinkt herrührte, von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte
+und der ihn gerade deshalb um so stärker beherrschte. Er kannte auch die
+Oberflächlichkeit und Eitelkeit seiner Mutter und sah darin ungeheure
+Gefahren für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder fangen damit an, ihre Eltern
+zu lieben; wenn sie älter werden, sitzen sie über ihnen zu Gericht,
+manchmal vergeben sie ihnen auch.
+
+Seine Mutter! Es brütete in ihm, sie über etwas zu fragen, was er viele
+schweigsame Monate hindurch mit sich herumgeschleppt hatte. Ein
+zufälliges Wort, das er im Theater aufgeschnappt hatte, ein
+hingeflüstertes Scherzwort, das er eines Abends auffing, als er an der
+Bühnentür wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken entfesselt.
+Die Erinnerung daran schmerzte ihn wie der Hieb einer Reitpeitsche in
+sein Gesicht. Seine Brauen kniffen sich in eine tiefe Furche zusammen,
+und in schmerzlichem Krampf biß er sich auf die Lippen.
+
+»Du hörst auch nicht ein einziges Wort, das ich sage, Jim!« rief Sibyl,
+»und ich schmiede die entzückendsten Pläne für deine Zukunft. Sag' doch
+mal was!«
+
+»Was soll ich denn sagen?«
+
+»Oh, daß du ein braver Bursche sein willst und uns nicht vergessen«,
+antwortete sie und lächelte ihn an.
+
+Er zuckte die Schultern. »Es wäre eher möglich, daß du mich vergißt, als
+daß ich dich vergesse, Sibyl.«
+
+Sie errötete. »Wie meinst du das, Jim?« fragte sie.
+
+»Du hast einen neuen Freund, wie ich höre. Wer ist es? Warum hast du mir
+nicht von ihm erzählt? Er meint es nicht gut mit dir.«
+
+»Hör' auf, Jim«, rief sie aus. »Du darfst nichts gegen ihn sagen. Ich
+liebe ihn.«
+
+»Was, und du weißt nicht mal seinen Namen?« erwiderte er. »Wer ist es?
+Ich habe ein Recht, das zu wissen.«
+
+»Er heißt der Prinz Märchenschön. Gefällt dir der Name nicht? Oh, du
+törichtes Jungchen! du solltest ihn nie vergessen. Wenn du ihn nur ein
+einzigesmal sähest, müßtest du ihn für den entzückendsten Menschen auf
+Erden halten. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen: wenn du von
+Australien zurückkommst. Er wird dir sehr gefallen. Allen Menschen
+gefällt er, und ich ... ich liebe ihn. Ich wollte, du könntest heute
+abend ins Theater kommen. Er wird kommen, und ich spiele die Julia! Oh,
+wie ich sie spielen werde! Denk dir, Jim, lieben und die Julia spielen!
+Wissen, daß er dasitzt! Zu seiner Freude spielen! Ich fürchte, ich werde
+meine Kollegen erschrecken, erschrecken oder hinreißen. Lieben heißt,
+hinauswachsen über sich selbst. Der gräßliche Herr Isaacs wird seinen
+Kumpanen am Schenktisch zuschreien, ich sei ein Genie. Er hat mich wie
+ein Dogma ausposaunt; heute abend wird er mich als Offenbarung
+verkündigen. Ich fühle das. Und all das ist sein Werk, nur sein, des
+Prinzen Märchenschön, meines wunderbaren Geliebten, meines Musengottes.
+Aber ich bin ein armes Ding neben ihm. Arm. Was liegt daran? Schleicht
+Armut in ein Haus, fliegt Liebe durchs Fenster hinaus. Unsere
+Sprichwörter müssen umgeändert werden. Sie sind im Winter erdacht
+worden, und jetzt ist Sommer, für mich freilich Frühling, ein Tanz von
+Blüten unter blauem Himmel.«
+
+»Er ist ein Herr der feinen Gesellschaft«, sagte der Bursche finster.
+
+»Ein Prinz!« rief sie mit melodischer Stimme. »Was willst du mehr?«
+
+»Er wird dich zu seiner Sklavin machen.«
+
+»Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein!«
+
+»Ich rate dir, dich vor ihm zu hüten.«
+
+»Ihn sehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm vertrauen!«
+
+»Sibyl, deine Liebe macht dich verrückt.«
+
+Sie lachte und nahm seinen Arm. »Du lieber, alter Jim, du sprichst, als
+wärest du hundert Jahre alt. Eines schönen Tages wirst du selbst lieben.
+Dann wirst du wissen, was das heißt. Guck mich nicht so brummig an. Du
+solltest dich freuen in dem Bewußtsein, daß du mich, obwohl du gehst,
+glücklicher zurückläßt, als ich je gewesen bin. Das Leben ist bisher
+hart für uns gewesen, furchtbar hart und schwer. Aber jetzt wird's
+anders. Du gehst in eine neue Welt, und ich habe eine neue gefunden. --
+Da sind zwei Stühle frei, wir wollen uns setzen und die eleganten Leute
+Revue passieren lassen.«
+
+Sie setzten sich mitten in eine Menge von Zuschauern. Die Tulpenbeete
+längs des Weges flammten wie beschwörende Feuerglocken. Ein weißer
+Dunst wie eine zitternde Wolke von Veilchenpuder hing in der schwülen
+Luft. Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten auf und ab wie
+Riesenschmetterlinge.
+
+Sie brachte ihren Bruder dazu, daß er von sich, seinen Aussichten und
+seinen Plänen sprach. Er redete zögernd und mühsam. Sie ließen ihre
+Worte langsam aufeinanderfolgen, wie sich Spieler ihre Points ansagen.
+Sibyl fühlte sich niedergedrückt. Sie konnte ihre Freude nicht
+mitteilen. Ein schwaches Lächeln, das seinen vergrämten Mund umspielte,
+war die einzige Antwort, die sie erhielt. Nach einiger Zeit verstummten
+sie beide. Plötzlich erblickte sie den Schimmer goldenen Haares und
+lachende Lippen, und in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei
+Damen vorbei.
+
+Sie sprang auf. »Da ist er!« rief sie.
+
+»Wer?« fragte Jim Vane.
+
+»Der Märchenprinz«, antwortete sie, und spähte dem Wagen nach.
+
+Er sprang auf und faßte rauh ihren Arm. »Zeig' ihn mir. Welcher ist es?
+Zeig' ihn mir, ich muß ihn sehen!« rief er. Aber in diesem Augenblick
+fuhr der Viererzug des Herzogs von Verwick dazwischen, und als die
+Aussicht wieder frei war, hatte der Wagen schon den Park verlassen.
+
+»Er ist fort«, murmelte Sibyl traurig. »Ich wünschte, du hättest ihn
+gesehen.«
+
+»Ich wünschte es auch, denn so wahr ein Gott im Himmel ist, wenn er dir
+je ein Leides antut, bring' ich ihn um!«
+
+Sie sah ihn erschreckt an. Er wiederholte seine Worte. Sie
+durchschnitten die Luft wie ein Dolch. Die Leute ringsherum fingen an,
+auf sie hinzustarren. Eine Dame ganz in der Nähe kicherte.
+
+»Komm fort, Jim; komm fort«, flüsterte sie. Er ging ihr verbissenen
+Mundes nach, als sie die Menge durchschritt. Er war zufrieden, daß er
+das gesagt hatte.
+
+Als sie bei der Achillesstatue war, drehte sie sich nach ihm um. In
+ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren Lippen zu einem Lachen wurde. Sie
+schüttelte den Kopf über ihn. »Du bist verdreht, Jim, völlig verdreht;
+ein ungezogener Bubi, sonst nichts. Wie kannst du so was Häßliches
+sagen? Du weißt gar nicht, was du zusammensprichst. Du bist einfach
+eifersüchtig und unfreundlich. Ach! ich wollte, daß du dich einmal
+verliebst. Liebe macht die Menschen gut, und was du gesagt hast, war
+schlecht.«
+
+»Ich bin erst sechzehn,« antwortete er, »aber ich weiß, was ich zu tun
+habe. Mutter kann dir nicht helfen. Sie versteht es nicht, dich zu
+beschützen. Ich wünschte jetzt, ich ginge überhaupt nicht nach
+Australien. Ich hab' nicht übel Lust, die ganze Sache zu lassen. Ich
+tät's, wenn mein Vertrag nicht schon unterschrieben wäre.«
+
+»Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim. Du bist wie einer von den Helden aus
+den albernen Melodramen, in denen Mutter so gern gespielt hat. Ich will
+mich mit dir nicht streiten. Ich hab' ihn gesehen, und ihn sehen, ist
+vollkommenes Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, daß du einem,
+den ich liebe, nie etwas antun wirst, nicht?«
+
+»Solange du ihn liebst, wohl kaum«, war die finstere Antwort.
+
+»Ich werde ihn immer lieben!« rief sie.
+
+»Und er?«
+
+»Auch immer.«
+
+»Das ist sein Glück!«
+
+Sie schrak vor ihm zurück. Dann lachte sie und legte die Hand auf seinen
+Arm. Er war doch nur ein Junge.
+
+Am Marble Arch bestiegen sie einen Omnibus, der sie in die Nähe ihrer
+armseligen Wohnung in Euston Road brachte. Es war schon fünf Uhr
+vorüber, und Sibyl mußte sich noch, bevor sie auftrat, ein paar
+Stündchen niederlegen. Jim bestand darauf, daß sie es täte. Er sagte, er
+würde lieber von ihr Abschied nehmen, wenn die Mutter nicht dabei wäre.
+Sie würde sicher eine Szene machen, und er verabscheue Szenen aller Art.
+
+Sie nahmen in Sibyls Zimmer Abschied. Im Herzen des jungen Menschen
+brannte Eifersucht und ein grimmer, mörderischer Haß auf den Fremden,
+der, wie er meinte, zwischen sie getreten war. Als sich aber ihre Arme
+um seinen Hals schlangen, und ihre Finger durch sein Haar fuhren, wurde
+er sanfter und küßte sie mit wirklicher Zärtlichkeit. Als er
+hinunterging, standen Tränen in seinen Augen.
+
+Die Mutter wartete unten auf ihn. Als er eintrat, murrte sie über seine
+Unpünktlichkeit. Er gab keine Antwort, sondern setzte sich an sein
+kärgliches Mahl. Die Fliegen summten um den Tisch und krochen über das
+fleckige Tischtuch. Durch das Gerassel der Omnibusse und das Rackern der
+Droschken konnte er die einförmige Stimme hören, die ihn um jede Minute
+beraubte, die ihm noch übrig blieb.
+
+Nach einer Weile schob er seinen Teller zurück und stützte den Kopf in
+die Hände. Er fühlte, daß er ein Recht habe, es zu wissen. Wenn die
+Dinge lagen, wie er vermutete, hätte man es ihm längst sagen sollen.
+Gepeinigt von Furcht, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte tröpfelten
+ihr mechanisch von den Lippen. Ihre Finger zerknüllten ein zerrissenes
+Spitzentaschentuch. Als die Uhr sechs schlug, stand er auf und ging zur
+Tür. Dann wandte er sich um und sah sie an. Ihre Blicke begegneten sich.
+In den ihren las er ein inbrünstiges Bitten um Mitleid. Das machte ihn
+erst recht zornig.
+
+»Mutter, ich muß dich was fragen«, sagte er. Ihre Augen irrten im Zimmer
+umher. Sie gab keine Antwort. »Sag' mir die Wahrheit! Ich hab' ein
+Recht, es zu erfahren! Warst du mit meinem Vater verheiratet?«
+
+Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ein Seufzer der
+Erleichterung. Der schreckliche Augenblick, der Augenblick, vor dem sie
+Tag und Nacht seit Wochen und Monaten gebangt hatte, war endlich
+gekommen, und doch empfand sie keine Furcht. Ja, es war für sie
+gewissermaßen eine Enttäuschung. Die grobe Unumwundenheit der Frage
+heischte eine unumwundene Antwort. Die Situation war nicht langsam
+gesteigert worden. Es war roh. Es erinnerte sie an eine mißlungene
+Deklamation.
+
+»Nein«, antwortete sie, erstaunt über die harte Einfachheit des Lebens.
+
+»Dann war mein Vater ein Schuft!« schrie der Bursche und ballte die
+Faust.
+
+Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß er nicht frei war. Wir haben
+uns sehr lieb gehabt. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er für uns
+gesorgt. Sage nichts gegen ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein
+Gentleman. Er hatte wirklich hohe Verbindungen.«
+
+Ein Fluch kam über seine Lippen. »Es bekümmert mich nicht meinetwegen,«
+rief er, »aber laß Sibyl nicht... Ist es ein Gentleman oder nicht, der
+sie liebt, oder so sagt? Mit hohen Verbindungen, vermute ich.«
+
+Einen Augenblick lang kam ein schreckliches Gefühl der Demütigung über
+die Frau. Ihr Kopf sank herab. Mit zitternden Händen wischte sie sich
+die Augen. »Sibyl hat eine Mutter,« flüsterte sie, »ich hatte keine.«
+
+Der junge Mensch war gerührt. Er ging zu ihr hin, beugte sich über sie
+und küßte sie. »Es tut mir leid, wenn ich dich mit der Frage nach meinem
+Vater verletzt habe,« sagte er, »aber ich konnte nicht anders. Jetzt muß
+ich fort. Lebewohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind zu
+beschützen hast, und glaube mir, wenn dieser Mann meiner Schwester ein
+Leid zufügt, dann bringe ich schon heraus, wer es ist, spüre ihn auf und
+schlage ihn tot wie einen Hund. Das schwöre ich dir!«
+
+Die wahnwitzige Übertreibung seines Schwurs, die leidenschaftlichen
+Handbewegungen, die ihn begleiteten, die tollen, melodramatischen Worte
+machten der alten Frau das Leben wieder interessanter. Diese Atmosphäre
+war ihr vertraut. Sie atmete wie erlöst, und zum erstenmal seit vielen
+Monaten bewunderte sie förmlich ihren Sohn. Sie hätte die Szene gern auf
+derselben Gefühlshöhe fortgesetzt, aber er brach sie kurz ab. Koffer
+mußten heruntergebracht und Decken beschafft werden. Der Hausknecht des
+Mietshauses rannte geschäftig hin und her. Mit dem Kutscher wurde der
+Preis abgehandelt. So wurde der Augenblick durch gemeine Einzelheiten
+verzettelt. Mit einem erneuten Gefühl der Enttäuschung stand sie am
+Fenster und ließ das zerrissene Spitzentaschentuch durch die Luft
+wimpeln, als ihr Sohn wegfuhr. Es war ihr zumute, als sei eine große
+Gelegenheit verpaßt worden. Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte,
+wie öde künftig ihr Leben sein werde, da sie jetzt nur ein einziges Kind
+zu behüten habe. Diesen Satz hatte sie sich gemerkt. Er hatte ihr
+gefallen. Von seinem Schwur sagte sie nichts. Er war lebendig und
+dramatisch deklamiert worden. Sie hatte die Empfindung, daß sie alle
+eines Tages darüber lachen würden.
+
+
+
+
+Sechstes Kapitel
+
+
+»Du hast doch schon die letzte Neuigkeit gehört, Basil?« sagte Lord
+Henry am selben Abend, als Hallward in das kleine Separatzimmer im
+Bristol trat, wo für drei Personen zum Essen gedeckt war.
+
+»Nein, Harry«, antwortete der Künstler, während er Hut und Rock dem
+dienernden Kellner gab. »Was ist es? Nichts über Politik, hoffe ich. Die
+interessiert mich nicht. Im ganzen Unterhause gibts keinen einzigen
+Menschen, den man malen möchte; wenn auch einigen von ihnen zur
+Aufbesserung etwas Firnis nicht schaden könnte.«
+
+»Dorian Gray hat sich verlobt«, sagte Lord Henry und beobachtete ihn,
+während er sprach.
+
+Hallward fuhr zurück und runzelte sofort die Stirn. »Dorian verlobt!«
+rief er. »Unmöglich!«
+
+»Es ist wahrhaftig wahr.«
+
+»Mit wem?«
+
+»Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin.«
+
+»Ich kann's nicht glauben. Dorian ist viel zu verständig.«
+
+»Dorian ist viel zu klug, um nicht von Zeit zu Zeit verrückte Sachen zu
+begehen, lieber Basil.«
+
+»Heiraten ist kaum eine Sache, die man von Zeit zu Zeit tun kann,
+Harry.«
+
+»Außer in Amerika«, erwiderte Lord Henry nachlässig. »Aber ich habe ja
+nicht gesagt, daß er verheiratet sei. Ich sagte, er sei verlobt. Das ist
+ein großer Unterschied. Ich erinnere mich ganz deutlich, verheiratet zu
+sein, aber ich kann mich nicht erinnern, verlobt gewesen zu sein. Ich
+glaube fast, daß ich mich nie verlobt habe.«
+
+»Aber überlege doch Dorians Geburt, seine Stellung, sein Vermögen. Es
+wäre sinnlos, wenn er so tief unter seinem Stande heiraten würde.«
+
+»Wenn du willst, daß er dies Mädchen heiratet, so brauchst du ihm das
+nur zu sagen, Basil. Dann tut er's gewiß. Wenn ein Mann etwas auserlesen
+Dummes tut, tut er's immer aus den edelsten Beweggründen.«
+
+»Ich hoffe, es ist ein gutes Mädchen, Harry. Ich möchte Dorian nicht an
+irgendein gewöhnliches Wesen gefesselt sehen, das ihn herabzieht und
+seinen Geist verdirbt.«
+
+»Oh, sie ist mehr als gut -- sie ist schön«, sagte Lord Henry und nippte
+an einem Glas Wermut mit Pomeranzen. »Dorian sagt, sie ist schön, und in
+Dingen dieser Art irrt er nicht häufig. Sein Bild von ihm hat sein
+Urteil über die äußere Erscheinung anderer Menschen geschärft. Es hat
+unter anderem diesen glänzenden Erfolg gezeigt. Wir sollen sie heute
+abend sehen, wenn der Junge seine Abmachung nicht vergißt.«
+
+»Ist das dein Ernst?«
+
+»Vollständig, Basil. Es würde schlimm für mich sein, wenn ich je im
+Leben ernsthafter sein müßte als jetzt.«
+
+»Aber billigst du es denn, Harry?« fragte der Maler, der im Zimmer auf
+und ab ging und sich auf die Lippen biß. »Du kannst es doch ganz
+unmöglich billigen. Es ist eine törichte Verblendung.«
+
+»Ich billige oder mißbillige nie wieder etwas. Sowas bringt einen in
+eine ganz verrückte Stellungnahme zum Leben. Wir sind nicht in die Welt
+geschickt worden, um unsere moralischen Vorurteile glänzen zu lassen.
+Ich nehme nie Notiz von dem, was gewöhnliche Leute sagen, und ich mische
+mich nie in Dinge, die reizende Leute vorhaben. Wenn mich eine
+Persönlichkeit fesselt, dann ist jede Ausdrucksform, die sich diese
+Persönlichkeit aussucht, für mich erfreulich. Dorian Gray verliebt sich
+in ein schönes Mädchen, das die Julia spielt, und will sie heiraten.
+Warum nicht? Wenn er Messalina heiraten wollte, würde er nicht weniger
+interessant sein. Du weißt, ich bin kein Eheapostel. Der eigentliche
+Nachteil der Ehe ist, daß man selbstlos wird. Und selbstlose Menschen
+sind farblos. Sie werden unpersönlich. Jedoch gibt es gewisse
+Temperamente, die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten ihren
+Egoismus und erweitern ihn durch eine Reihe anderer Ichs. Sie sehen sich
+gezwungen, mehr als ein einzelnes Leben zu führen. Sie werden feiner
+organisiert, und feiner organisiert zu werden, scheint mir der Zweck des
+menschlichen Lebens. Überdies hat jede Erfahrung ihren Wert, und was man
+auch gegen die Ehe sagen kann, eine Erfahrung ist sie sicher. Ich hoffe,
+Dorian Gray wird dies Mädchen heiraten, wird sie sechs Monate hindurch
+leidenschaftlich anbeten, und dann wird ihn plötzlich eine andere
+anziehen. Es wäre prachtvoll, das zu beobachten.«
+
+»Du glaubst kein einziges Wort von alledem, Harry; und das weißt du
+auch. Wenn Dorian Grays Leben zerstört würde, wäre kein Mensch trauriger
+als du. Du bist viel besser, als du vorgibst.«
+
+Lord Henry lachte. »Der Grund, weshalb wir alle so gut von anderen
+denken, ist der, daß wir alle Angst vor uns selber haben. Die Grundlage
+des Optimismus ist nichts als Furcht. Wir halten uns für großherzig,
+weil wir unserem Nachbar Tugenden zuschreiben, aus denen für uns ein
+Nutzen erwachsen könnte. Wir rühmen den Bankier, damit wir unser Konto
+überschreiten können, und finden im Buschklepper gute Eigenschaften in
+der Hoffnung, daß er unseren Geldbeutel verschonen wird. Ich glaube
+jedes Wort, das ich gesprochen habe. Ich habe die größte Verachtung für
+den Optimismus. Was das zerstörte Leben betrifft, so ist kein Leben
+zerstört, dessen Wachstum nicht gehemmt wird. Wenn man eine
+Persönlichkeit verderben will, braucht man sie nur zu verbessern. Die
+Ehe allerdings ist eine Narretei, aber es gibt andere und interessantere
+Bande zwischen Mann und Frau. Natürlich würde ich dazu eher raten. Sie
+haben den Reiz, fashionabel zu sein. Aber da ist Dorian selbst. Er wird
+dir mehr sagen, als ich es kann.«
+
+»Lieber Harry, lieber Basil, ihr müßt mir beide Glück wünschen«, sagte
+der Jüngling, während er den Abendmantel mit den atlasgefütterten
+Flügeln abwarf und den Freunden die Hand schüttelte. »Ich war niemals so
+selig. Natürlich ist alles plötzlich gekommen; alles Entzückende kommt
+plötzlich. Und doch scheint es das einzige gewesen zu sein, wonach ich
+mein Leben lang auf der Suche war.« Er glühte vor Aufregung und Freude
+und sah außerordentlich hübsch aus.
+
+»Ich hoffe, du wirst immer sehr glücklich sein, Dorian,« sagte Hallward,
+»aber ich kann es dir nicht ganz verzeihen, daß du mir deine Verlobung
+nicht mitgeteilt hast. Harry hast du es mitgeteilt.«
+
+»Und ich kann es dir nicht verzeihen, daß du zu spät kommst«, fiel Lord
+Henry lächelnd ein und legte seine Hand auf die Schulter des jungen
+Mannes. »Komm, wir wollen uns setzen und versuchen, was der neue Chef
+hier kann, und dann erzählst du uns, wie alles gekommen ist.«
+
+»Da ist wirklich nicht viel zu erzählen!« rief Dorian, als sie sich um
+den kleinen Tisch gesetzt hatten. »Was geschah, war einfach so. Als ich
+dich gestern abend verließ, Harry, zog ich mich an, aß in dem kleinen
+italienischen Restaurant in Rupert Street, das ich durch dich
+kennengelernt habe, und ging um acht Uhr ins Theater. Sibyl spielte die
+Rosalinde. Natürlich war die Dekoration greulich und der Orlando zum
+Lachen. Aber Sibyl! Ihr hättet sie sehen sollen. Als sie in ihren
+Knabenkleidern auftrat, war sie einfach wunderbar. Sie trug ein
+moosgrünes Samtwams mit zimtbraunen Ärmeln, eine kurze, braune, überm
+Knie kreuzweise geschnürte Hose, ein reizendes grünes Barett mit einer
+Falkenfeder, die von einem funkelnden Stein gehalten wurde, und war in
+einen dunkelrot gefütterten Kapuzenmantel gehüllt. Sie war mir nie
+schöner vorgekommen. Sie hatte all die zarte Grazie der Tanagrafigur,
+die du in deinem Atelier hast, Basil. Das Haar schlang sich um ihr
+Gesicht wie dunkles Laub um eine blasse Rose. Und ihr Spiel -- nun, ihr
+werdet sie heute abend sehen. Sie ist eben eine geborene Künstlerin. Ich
+saß ganz verzaubert in der schmierigen Loge. Ich vergaß, daß ich in
+London war und im neunzehnten Jahrhundert lebte. Ich war mit meiner
+Geliebten weit fort in einem Wald, den noch kein Menschenauge gesehen
+hatte. Nach der Vorstellung ging ich hinter die Bühne und sprach mit
+ihr. Als wir nebeneinander saßen, trat plötzlich ein Ausdruck in ihre
+Augen, den ich nie vorher gesehen hatte. Meine Lippen fühlten sich zu
+ihr hingezogen. Wir küßten uns beide. Ich kann euch nicht beschreiben,
+was ich in dem Augenblick gefühlt habe. Mir schien, daß all mein Leben
+in einen vollkommenen Moment rosenfarbiger Wonne zusammengepreßt wäre.
+Sie zitterte am ganzen Leibe und bebte wie eine weiße Narzisse. Dann
+warf sie sich auf die Knie und küßte meine Hände. Ich weiß, ich sollte
+euch das alles nicht erzählen, aber ich kann mir nicht helfen. Natürlich
+ist unsere Verlobung tiefstes Geheimnis. Sie hat nicht einmal zu ihrer
+Mutter davon gesprochen. Ich weiß nicht, was meine Vormünder dazu sagen
+werden. Lord Radley wird sicher wütend sein. Ist mir ganz gleich. In
+weniger als einem Jahre bin ich volljährig und kann dann machen, was ich
+will. Hatte ich nicht recht, Basil, meine Geliebte aus dem Reich der
+Dichtung wegzuholen und meine Frau in Shakespeares Stücken zu finden?
+Lippen, die Shakespeare reden gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis ins
+Ohr geflüstert. Rosalindens Arme lagen um meinen Hals, und ich habe
+Julia auf den Mund geküßt.«
+
+»Ja, Dorian, ich glaube, du tatest recht«, sagte Hallward langsam.
+
+»Hast du sie heute schon gesehen?« fragte Lord Henry.
+
+Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Ich verließ sie im Ardennenwald und
+werde sie in einem Garten von Verona wiederfinden.«
+
+Lord Henry schlürfte nachdenklich seinen Champagner. »In welchem
+Augenblick hast du von Heirat gesprochen, Dorian? Und was erwiderte sie
+darauf? Vielleicht hast du das schon ganz vergessen.«
+
+»Lieber Harry, ich habe es nicht als Geschäft behandelt und habe ihr
+keinen förmlichen Antrag gemacht. Ich sagte ihr, daß ich sie liebe, und
+sie sagte, sie verdiene nicht, mein Weib zu sein. Nicht verdienen! Was
+ist denn die ganze Welt für mich, wenn ich sie mit ihr vergleiche!«
+
+»Die Frauen sind wunderbar praktisch,« murmelte Lord Henry -- »viel
+praktischer als wir. In Situationen dieser Art vergessen wir oft, etwas
+von Heirat zu erwähnen, und sie erinnern uns immer daran.«
+
+Hallward legte die Hand auf seinen Arm. »Nicht doch, Harry. Du kränkst
+Dorian. Er ist nicht wie andere Männer. Er würde nie jemand unglücklich
+machen. Seine Natur ist dafür zu edel.«
+
+Lord Henry blickte über den Tisch. »Dorian fühlt sich nie gekränkt durch
+mich«, antwortete er. »Ich habe aus dem besten Grund gefragt, den es
+geben kann, aus dem einzigen Grund, der eine Entschuldigung für eine
+Frage ist -- einfach aus Neugier. Ich habe eine Theorie, wonach es immer
+Frauen sind, die uns einen Antrag machen, und nicht wir den Frauen.
+Natürlich ausgenommen die Mittelklassen. Aber die Mittelklassen sind
+eben nicht modern.«
+
+Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. »Du bist ganz
+unverbesserlich, Harry; aber ich bin nicht böse. Man kann dir ja gar
+nicht böse sein. Wenn du Sibyl Vane siehst, wirst du fühlen, daß der
+Mann, der ihr ein Leid antun kann, ein Tier sein muß, ein herzloses
+Tier. Ich kann nicht begreifen, wie man es über sich gewinnen kann, ein
+Wesen, das man liebt, in Schande zu bringen. Ich liebe Sibyl Vane. Ich
+möchte sie auf einen goldenen Sockel stellen und dann sehen, wie die
+ganze Welt das Weib anbetet, das mir gehört. Was ist Ehe? Ein
+unwiderrufliches Gelübde. Du spottest deshalb darüber. Ach, spotte
+nicht! Ein unwiderrufliches Gelübde will ich ablegen. Ihr Vertrauen
+macht mich treu, ihr Glaube macht mich gut. Wenn ich bei ihr bin,
+verleugne ich alles, was du mich gelehrt hast. Ich werde ein ganz
+anderer Mensch als der, den du in mir siehst. Ich bin verwandelt, und
+die bloße Berührung von Sibyl Vanes Hand läßt mich alle deine falschen,
+bezaubernden, vergifteten, entzückenden Theorien vergessen.«
+
+»Und die wären?« fragte Lord Henry, während er Salat nahm.
+
+»Oh, deine Theorien über das Leben, deine Theorien über die Liebe, deine
+Theorien über den Genuß. Tatsächlich alle deine Theorien, Harry.«
+
+»Genuß ist das einzige auf der Welt, das eine Theorie verdient«,
+antwortete er mit seiner sanften, musikalischen Stimme. »Aber ich
+fürchte, es ist nicht meine eigene Theorie. Sie gehört der Natur, nicht
+mir. Genuß ist das Siegel der Natur, das Zeichen ihrer Zustimmung. Wenn
+wir glücklich sind, dann sind wir immer gut, aber wenn wir gut sind,
+sind wir nicht immer glücklich.«
+
+»Ah, doch, was verstehst du unter gut?« rief Basil Hallward.
+
+»Ja,« wiederholte Dorian, indem er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und
+über den massigen Strauß rotblutiger Schwertlilien in der Mitte des
+Tisches zu Lord Henry blickte, »was verstehst du unter gut, Harry?«
+
+»Gut sein, heißt mit sich selbst im Einklang sein«, antwortete er, den
+dünnen Stengel seines Glases mit blassen, feingespitzten Fingern
+umfassend. »Mißklang heißt es, mit anderen übereinstimmen müssen. Das
+eigene Leben -- das ist es, worauf es ankommt. Was das Leben unserer
+Nachbarn betrifft, nun, wenn man durchaus ein Affe oder ein Puritaner
+sein will, dann mag man ihnen ja seine moralischen Ansichten ins Gesicht
+schleudern, aber sie gehen einen schließlich gar nichts an. Abgesehen
+davon, hat der Individualismus in der Tat die höheren Ziele. Die moderne
+Sittlichkeit besteht darin, daß man den Maßstab seiner Zeit anerkennt.
+Ich habe die Meinung, daß jeder kultivierte Mensch, der den Maßstab
+seiner Zeit anerkennt, damit eines der gröbsten Sittlichkeitsverbrechen
+begeht.«
+
+»Wenn man aber nur für sich selbst lebt, Harry, muß man da nicht einen
+furchtbaren Preis dafür zahlen?« fragte der Maler.
+
+»Ja, heutzutage werden wir in allem überteuert. Ich glaube, die
+wirkliche Tragödie der Armut ist die, daß sich die Armen nichts leisten
+können als Selbstverleugnung. Schöne Sünden sind wie alle schönen Dinge
+ein Vorrecht der begüterten Klassen.«
+
+»Man muß in anderer Münze zahlen als mit Geld.«
+
+»In welcher Münze, Basil?«
+
+»Ich meine mit Gewissensbissen, mit Schmerzen, mit... na eben mit dem
+Gefühl der Erniedrigung.«
+
+Lord Henry zuckte die Achseln. »Mein lieber Junge, die mittelalterliche
+Kunst ist etwas Entzückendes, aber mittelalterliche Gefühle sind nicht
+mehr Mode. Man kann sie freilich in der Dichtung gebrauchen. Aber die
+einzigen Dinge, die in Dichtungen zu verwerten sind, sind solche, um die
+man sich in der Wirklichkeit nicht mehr kümmert. Glaube mir, kein
+zivilisierter Mensch bereut einen durchlebten Genuß, und kein
+unzivilisierter Mensch weiß, was ein Genuß ist.«
+
+»Ich weiß, was ein Genuß ist!« rief Dorian Gray. »Jemand anbeten.«
+
+»Das ist jedenfalls besser, als angebetet zu werden«, antwortete Harry,
+während er mit einigen Früchten spielte. »Angebetet zu werden, ist
+peinlich. Die Weiber behandeln uns genau so wie die Menschheit ihre
+Götter. Sie beten uns an und quälen uns unaufhörlich, irgendwas für sie
+zu tun.«
+
+»Ich würde sagen, alles, was sie von uns verlangen, haben sie uns zuerst
+geschenkt«, sagte der Jüngling ernst und leise. »Sie erzeugen die Liebe
+in uns. Sie haben ein Recht, sie dann zurückzuverlangen.«
+
+»Das ist ganz richtig, Dorian«, rief Hallward.
+
+»Ganz richtig ist niemals etwas«, sagte Lord Henry.
+
+»Das ist es«, unterbrach Dorian. »Du mußt zugeben, Harry, daß nur die
+Frauen den Männern das reinste Gold des Lebens schenken.«
+
+»Vielleicht,« seufzte er, »aber unweigerlich verlangen sie es dann in
+Kleingeld umgewechselt zurück. Das ist der Jammer dabei. >Die Frauen,<
+hat einmal ein witziger Franzose gesagt, >regen uns an, Meisterwerke zu
+schaffen, und verhindern uns immer, sie auszuführen.<«
+
+»Harry, du bist schrecklich! Ich weiß gar nicht, warum ich dich so gern
+habe.«
+
+»Du wirst mich immer gern haben, Dorian«, antwortete er. »Wollen wir
+Kaffee trinken, Kinder? -- Kellner, bringen Sie Kaffee, fine Champagne
+und Zigaretten. Nein, lassen Sie die Zigaretten, ich habe selbst bei
+mir. Basil, ich kann dir nicht erlauben, Zigarren zu rauchen. Du mußt
+eine Zigarette nehmen. Eine Zigarette ist der vollendete Ausdruck eines
+vollendeten Genusses. Er ist köstlich und läßt dabei unbefriedigt. Was
+will man mehr verlangen? Ja, Dorian, du wirst mich immer lieb haben. Ich
+bin für dich der Inbegriff aller Sünden, die du zu begehen nie den Mut
+haben wirst.«
+
+»Was für Unsinn du redest, Harry!« rief der junge Mann, während er seine
+Zigarette an dem feuerspeienden Silberdrachen anzündete, den der Kellner
+auf den Tisch gestellt hatte. »Wir wollen jetzt ins Theater. Wenn Sibyl
+auftritt, werdet ihr ein neues Lebensideal bekommen. Sie wird euch etwas
+offenbaren, das ihr noch nicht gekannt habt.«
+
+»Ich habe alles kennengelernt,« sagte Lord Henry mit einem müden
+Ausdruck in den Augen, »aber ich bin immer bereit, mir eine neue Emotion
+zu verschaffen. Nur fürchte ich, daß es für mich derlei kaum noch gibt.
+Immerhin, dein wunderbares Mädchen wird mich vielleicht erschüttern. Ich
+liebe die Schauspielkunst. Sie ist soviel wirklicher als das Leben. Wir
+wollen gehen. Dorian, du kannst bei mir einsteigen. Basil, es tut mir
+leid, aber in meinem Brougham ist nur Platz für zwei. Du mußt schon in
+einer Droschke nachfahren.«
+
+Sie standen auf, zogen ihre Röcke an und tranken den Kaffee im Stehen.
+Der Maler war schweigsam und bedrückt. Ein düsteres Gefühl lastete auf
+ihm. Er konnte diese Ehe nicht gutheißen, und sie schien ihm doch besser
+zu sein als manches andere, das hätte geschehen können. Nach einigen
+Minuten gingen sie gemeinsam die Treppe hinunter. Er fuhr, wie
+verabredet, allein, und sah auf die blitzenden Lichter des kleinen
+Wagens, der vor ihm dahinrollte. Das seltsame Gefühl eines großen
+Verlustes überkam ihn. Er fühlte, daß Dorian Gray nie wieder das für ihn
+sein würde, was er ihm früher gewesen war. Das Leben war zwischen sie
+getreten... Vor seinen Augen ward es dunkel, und die menschenvollen,
+erleuchteten Straßen verschwammen vor seinem Blick. Als seine Droschke
+am Theater vorfuhr, schien es ihm, als sei er um viele Jahre älter
+geworden.
+
+
+
+
+Siebentes Kapitel
+
+
+Aus irgendeinem Grunde war das Haus an diesem Abend besonders dicht
+gefüllt, und der fette jüdische Direktor, der sie an der Tür empfing,
+strahlte von einem Ohr zum anderen in einem öligen, zuckenden Lächeln.
+Er begleitete sie zu ihrer Loge mit einer gewissen prahlerischen Demut,
+die feisten, juwelenbedeckten Hände hastig bewegend und sich mit der
+Stimme beinahe überschlagend. Dorian verabscheute ihn mehr als je. Er
+hatte das Gefühl, als sei er gekommen, um Miranda zu besuchen und
+Caliban habe ihn empfangen. Dagegen hatte Lord Henry etwas für ihn
+übrig. Wenigstens erklärte er, daß er ihm gefiele, bestand darauf, ihm
+die Hand zu schütteln und versicherte ihm, er sei stolz darauf, einen
+Mann kennenzulernen, der ein bedeutendes Genie entdeckt habe und an
+einem Dichter bankerott geworden sei. Hallward unterhielt sich damit,
+die Gestalten im Stehparterre zu beobachten. Die Hitze war äußerst
+drückend, und der riesige Sonnenkronleuchter flammte wie eine
+gigantische Dahlie mit Blättern von gelbem Feuer. Die jungen Leute auf
+der Galerie hatten Röcke und Westen ausgezogen und sie über die Brüstung
+gehängt. Sie riefen einander quer über das ganze Theater zu und
+fütterten die grell gekleideten Mädchen neben ihnen mit Orangen. Ein
+paar Weiber unten im Stehparterre lachten. Ihre Stimmen waren
+schrecklich schrill und unangenehm. Vom Büfett her hörte man Flaschen
+entkorken.
+
+»Was für ein sonderbarer Platz, um seine Göttin zu finden!« sagte Lord
+Henry.
+
+»Ja«, erwiderte Dorian Gray. »Hier habe ich sie gefunden, und sie ist
+göttlicher als alles Lebendige. Wenn sie spielt, wirst du alles
+vergessen. Diese gewöhnlichen rohen Leute mit ihren alltäglichen
+Gesichtern und brutalen Bewegungen werden ganz verwandelt, sobald sie
+auf der Bühne steht. Sie sitzen stumm da und beobachten sie. Sie weinen
+und lachen, wenn sie es will. Sie hält sie in Stimmung, wie man es mit
+einer Geige tut. Sie veredelt sie, und man spürt, daß sie vom selben
+Fleisch und Blut sind wie man selbst.«
+
+»Vom selben Fleisch und Blut wie man selbst? Oh, ich hoffe nicht!« rief
+Lord Henry, der die Leute auf der Galerie mit seinem Opernglas musterte.
+
+»Höre nicht auf ihn, Dorian!« sagte der Maler. »Ich begreife, was du
+meinst, und ich glaube an dies Mädchen. Der Mensch, den du liebst, muß
+wunderbar sein, und jedes Mädchen, das die von dir geschilderte Wirkung
+erzielt, muß fein und edel sein. Seine Mitmenschen veredeln -- das
+verlohnt der Mühe. Wenn dies Mädchen die beseelen kann, die seelenlos
+gelebt haben, wenn sie in Menschen, deren Dasein schmutzig und häßlich
+war, einen Sinn für Schönheit wecken kann, wenn sie sie aus ihrem
+Eigennutze losreißen und ihnen Tränen um Sorgen entlocken kann, die
+nicht ihre eigenen sind, dann ist sie deiner Verehrung wert, dann ist
+sie der Verehrung der ganzen Welt wert. Solche Heirat ist ganz das
+Rechte. Ich dachte zuerst nicht so, aber jetzt gebe ich es zu. Die
+Götter haben Sibyl Vane für dich geschaffen. Ohne sie wärst du nur
+unvollständig gewesen.«
+
+»Danke, Basil«, antwortete Dorian Gray und drückte ihm die Hand. »Ich
+wußte, daß du mich verstehst. Harry ist ein Zyniker, er erschreckt mich.
+Aber da kommt das Orchester. Es ist furchtbar, aber es dauert nur knappe
+fünf Minuten. Dann geht der Vorhang auf und du erblickst ein Mädchen,
+dem ich mein ganzes Leben schenken will, dem ich alles überantwortet
+habe, was gut ist in mir.«
+
+Eine Viertelstunde später betrat Sibyl Vane unter einem geräuschvollen
+Beifallssturm die Bühne. Ja, sie war wirklich entzückend -- eins der
+entzückendsten Geschöpfe, dachte Lord Henry, die er je gesehen hatte. Es
+lag etwas von einem Reh in ihrer scheuen Grazie und ihren erstaunten
+Augen. Ein schwaches Erröten wie der Widerschein einer Rose in einem
+silbernen Spiegel trat auf ihre Wangen, als sie das überfüllte und
+begeisterte Haus erblickte. Sie trat ein paar Schritte zurück, und ihre
+Lippen schienen zu zittern. Basil Hallward sprang auf und begann zu
+klatschen. Bewegungslos, und wie in tiefem Traume, saß Dorian Gray da
+und sah sie an. Lord Henry starrte unverwandt durch sein Glas und
+murmelte: »Entzückend! Entzückend!«
+
+Die Szene stellte die Halle in Capulets Hause dar, und Romeo war in
+seinem Pilgerkleid mit Mercutio und seinen anderen Freunden aufgetreten.
+Die Musik präludierte, so gut sie konnte, mit ein paar Akkorden, und der
+Tanz fing an. Mitten in dem Gewimmel von ungeschickten, schäbig
+gekleideten Schauspielern bewegte sich Sibyl Vane wie ein Geschöpf aus
+einer höheren Welt. Ihr Körper schwebte im Tanze wie eine Blume auf dem
+Wasser. Die Linien ihres Halses glichen denen einer weißen Lilie. Ihre
+Hände schienen aus kühlem Elfenbein zu sein.
+
+Und doch schien sie von seltsamer Abwesenheit. Sie zeigte kein Zeichen
+der Freude, während ihr Auge auf Romeo ruhte. Die wenigen Worte, die sie
+zu sprechen hatte --
+
+ Nein, Pilger, lege nichts der Hand zuschulden
+ Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß;
+ Der Heiligen Rechte darf Berührung dulden,
+ Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuß --
+
+mit dem kurzen Dialog, der folgt, sprach sie in einem ganz gekünstelten
+Tone. Die Stimme klang wundervoll, aber der Ton ganz verfehlt. Er traf
+die Stimmungsfarbe nicht. Er nahm den Versen alles Leben. Er machte die
+Leidenschaft unwahr.
+
+Dorian Gray erbleichte, als er es hörte. Er war verlegen und erschreckt.
+Seine beiden Freunde wagten nicht, ihm etwas zu sagen. Sie schien ja
+ganz talentlos zu sein. Sie waren furchtbar enttäuscht.
+
+Aber sie wußten, daß der wahre Prüfstein für jede Julia die Balkonszene
+im zweiten Akt sei. Darauf warteten sie. Wenn sie hier versagte, war
+nichts an ihr.
+
+Sie sah reizend aus, als sie im Mondschein auftrat. Das konnte niemand
+leugnen. Aber das Theatralische ihres Spiels war unerträglich und wurde
+im Verlauf immer ärger. Ihre Gesten waren lächerlich gekünstelt. Sie
+übertrieb das Pathos von allem, was sie zu sagen hatte. Die wundervollen
+Verse --
+
+ Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht,
+ Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen
+ Um das, was du vorhin mich sagen hörtest --
+
+deklamierte sie mit der peinlichen Genauigkeit eines Schulmädchens, das
+einen mittelmäßigen Vortragslehrer in der Schule gehabt hat. Als sie
+sich über den Balkon lehnte und zu den herrlichen Versen kam --
+
+ Obwohl ich dein mich freue,
+ Freu' ich mich nicht des Bundes dieser Nacht:
+ Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich,
+ Gleicht allzusehr dem Blitz, der schon vorbei,
+ Noch eh' man sagen kann: es blitzt. -- Schlaf süß!
+ Mag warmer Sommerhauch die Liebesknospe
+ Zur Blume bis zum Wiedersehn entfalten --
+
+sprach sie die Worte, als enthielten sie keinerlei Sinn für sie. Es war
+nicht Aufregung. Nein, weit entfernt davon, erregt zu sein, schien sie
+ganz mit sich zufrieden. Es war einfach schlechte Kunst. Es war ein
+richtiger Abfall.
+
+Selbst das gewöhnliche, ungebildete Publikum auf Stehplatz und Galerie
+verlor sein Interesse am Stück. Man wurde unruhig und begann laut zu
+sprechen und zu zischen. Der jüdische Direktor, der im Hintergrunde des
+ersten Ranges stand, stampfte mit den Füßen und fluchte vor Wut. Einzig
+und allein unbewegt war das Mädchen selbst.
+
+Als der zweite Akt vorüber war, brach ein Sturm von Zischen los, und
+Lord Henry stand von seinem Stuhl auf und zog seinen Rock an. »Sie ist
+wunderschön, Dorian,« sagte er, »aber sie kann nicht spielen. Wir wollen
+gehen.«
+
+»Ich will das Stück zu Ende sehen«, antwortete der junge Mann mit
+harter, bitterer Stimme. »Es tut mir äußerst leid, daß ich dich
+veranlaßt habe, einen Abend zu vergeuden, Harry. Ich muß mich bei euch
+beiden entschuldigen.«
+
+»Mein lieber Dorian, ich glaube, Miß Vane war krank«, unterbrach ihn
+Hallward. »Wir wollen an einem anderen Abend wiederkommen.«
+
+»Ich wünschte, sie wäre krank«, erwiderte er. »Aber ich glaube, sie hat
+nur kein Gefühl und ist kalt. Sie ist völlig verändert. Gestern abend
+war sie eine große Künstlerin. Heute abend ist sie nur eine gewöhnliche,
+mittelmäßige Schauspielerin.«
+
+»Sprich nicht so über jemand, den du liebst, Dorian. Liebe ist etwas
+viel Wunderbareres als Kunst.«
+
+»Es sind beides nur Formen der Nachahmung«, bemerkte Lord Henry. »Aber
+wir wollen gehen. Dorian, du darfst nicht länger hier bleiben. Es
+schadet der Moral, schlechte Schauspielkunst zu sehen. Ich glaube
+übrigens nicht, daß du deine Frau auftreten lassen wirst. Was liegt also
+daran, ob sie die Julia wie eine Holzpuppe spielt! Sie ist wirklich
+bezaubernd, und wenn sie so wenig vom Leben weiß wie vom Theaterspielen,
+wird sie dir eine köstliche Erfahrung sein. Es gibt nur zwei Arten
+fesselnder Menschen -- solche, die alles wissen, und solche, die gar
+nichts wissen. Großer Gott, mein lieber Junge, mach' kein so tragisches
+Gesicht! Das Rezept, jung zu bleiben, besteht einfach darin, nie eine
+Erregung haben, die unzuträglich ist. Komm mit Basil und mir in den
+Klub! Wir wollen Zigaretten rauchen und auf Sibyl Vanes Schönheit
+trinken. Sie ist schön. Was willst du noch mehr?«
+
+»Geh, Harry!« rief der Jüngling. »Ich will allein sein. Basil, geh! Ach,
+könnt ihr nicht sehen, daß mir das Herz bricht?« Heiße Tränen traten ihm
+in die Augen. Seine Lippen bebten, er drückte sich in die dunkelste Ecke
+der Loge, lehnte sich an die Wand und verbarg sein Gesicht in den
+Händen.
+
+»Komm, Basil«, sagte Lord Henry mit seltsam zärtlicher Stimme; und die
+beiden jungen Männer gingen zusammen hinaus.
+
+Ein paar Augenblicke später flammte die Rampe wieder auf, und der
+Vorhang rauschte zum dritten Akt in die Höhe. Dorian Gray ging auf
+seinen Platz zurück. Er sah bleich, abwesend, gleichgültig aus. Das
+Spiel schleppte sich weiter und schien endlos zu sein. Die Hälfte des
+Publikums ging weg, auf schweren Stiefeln trampelnd und lachend. Das
+Ganze war ein richtiges Fiasko. Der letzte Akt wurde beinah vor leeren
+Bänken gespielt. Der Vorhang fiel unter Zischen und höhnischem Gegrunze.
+
+Sobald es aus war, stürzte Dorian Gray hinter die Kulissen in die
+Garderobe. Das Mädchen stand allein da, mit einem triumphierenden Zuge
+im Antlitz. Die Augen leuchteten in einem merkwürdigen Feuer. Eine Art
+Glanz umschwebte sie. Ihre halbgeöffneten Lippen lächelten wie ein
+Geheimnis, das ihnen allein bewußt war.
+
+Als er eintrat, blickte sie ihn an und ein Ausdruck unsäglichen Glückes
+kam über sie. »Wie schlecht ich heute gespielt habe, Dorian!« rief sie.
+
+»Schrecklich«, antwortete er und sah sie voll Staunen an --
+»schrecklich. Es war geradezu fürchterlich. Bist du krank? Du hast keine
+Ahnung, wie es war. Keine Ahnung, was ich durchgemacht habe.«
+
+Das Mädchen lächelte. »Dorian«, antwortete sie und zog seinen Namen mit
+einem musikalischen Klang in die Länge, als wäre er den roten Blüten
+ihres Mundes süßer als Honig -- »Dorian, du hättest begreifen sollen.
+Aber jetzt begreifst du, nicht wahr?«
+
+»Was?« fragte er heftig.
+
+»Warum ich heute abend so schlecht spielte. Warum ich immer schlecht
+spielen werde. Warum ich nie mehr gut spielen werde.«
+
+Er zuckte die Achseln. »Du bist gewiß krank. Wenn du krank bist,
+solltest du nicht spielen. Du machst dich nur lächerlich. Meine Freunde
+haben sich gelangweilt. Ich ebenfalls.«
+
+Sie schien nicht zu hören, was er sagte. Sie war wie verklärt vor
+Vergnügen. Eine Ekstase des Glücks beherrschte sie.
+
+»Dorian, Dorian,« rief sie, »bevor ich dich kannte, war Spielen die
+einzige Wirklichkeit in meinem Leben. Nur im Theater lebte ich. Ich
+hielt das alles für wahr. An einem Abend war ich Rosalinde und Portia am
+andern. Beatrices Glück war mein Glück, und Kordelias Tränen waren die
+meinen. Ich glaubte an alles. Dies gewöhnliche Volk, das mit mir
+spielte, schien mir göttlich. Die bemalten Kulissen bedeuteten für mich
+die Welt. Ich kannte nichts als Schatten, und ich nahm sie für
+Wirklichkeit. Da kamst du -- o mein schöner Geliebter -- und befreitest
+meine Seele aus der Kerkerhaft. Du hast mich gelehrt, was die wahre
+Wirklichkeit ist. Heute habe ich zum erstenmal die ganze Hohlheit
+durchschaut, den Betrug, die Albernheit des falschen, verlogenen
+Flittertandes, zwischen dem ich bisher gespielt habe. Heute abend wußte
+ich zum ersten Male, daß dieser Romeo abscheulich und alt und geschminkt
+ist, daß der Mond im Garten Blendwerk, die ganze Szenerie ordinär ist
+und daß die Worte, die ich zu sprechen hatte, nicht wahr, nicht meine
+Worte sind, nicht, was ich hätte sagen müssen. Du hast mir etwas Höheres
+geschenkt, etwas, von dem alle Kunst nur Abglanz ist. Du hast mich
+begreifen gelehrt, was Liebe ist. Mein Geliebter! Mein Geliebter! Prinz
+Märchenschön! Prinz meines Lebens! Ich kann die Schatten nicht mehr
+ertragen. Du bist mir mehr, als mir alle Kunst je sein kann. Was hab'
+ich mit den Puppen eines Spiels zu schaffen? Als ich heute abend
+auftrat, konnte ich nicht begreifen, wie es gekommen war, daß alles
+verschwunden sein sollte. Ich hatte gedacht, ich würde wundervoll sein.
+Ich merkte, daß ich durchaus versagte. Plötzlich dämmerte es meiner
+Seele, was das alles bedeutete. Es war ein herrliches Wissen. Ich hörte
+sie zischen und lächelte. Was konnten die wissen von einer Liebe wie die
+unsere? Nimm mich fort, Dorian -- nimm mich mit dir irgendwohin, wo wir
+allein sein können. Ich hasse das Theater. Ich konnte vielleicht ein
+Gefühl darstellen, das ich nicht spüre, aber ich kann doch nicht eins
+spielen, das mich verbrennt wie Feuer. Ach, Dorian, Dorian, begreifst du
+jetzt, was das bedeutet? Selbst wenn ich es zustande brächte, wär' es
+Entweihung, zu spielen, während ich liebe. Du hast mich sehend gemacht.«
+
+Er warf sich auf das Sofa und wandte sein Gesicht ab. »Du hast meine
+Liebe getötet«, murmelte er.
+
+Sie sah ihn staunend an und lachte. Er gab keine Antwort. Sie kam hin zu
+ihm und strich mit ihren kleinen Fingern durch sein Haar. Sie kniete
+nieder und preßte seine Hände an ihre Lippen. Er schob sie weg, und ein
+Schauder überlief ihn.
+
+Dann sprang er auf und schritt zur Tür. »Ja,« rief er, »du hast meine
+Liebe getötet. Bisher hast du meine Phantasie gefesselt. Jetzt fesselst
+du nicht einmal meine Neugier. Du wirkst einfach nicht. Ich liebte dich,
+weil du ein Wunder warst, weil du Genie und Geist hattest, weil du die
+Träume großer Dichter verkörpertest und den Schatten der Kunst Gestalt
+und Körper verliehest. All das hast du weggeworfen. Jetzt bist du leer
+und seicht. Mein Gott. Was für ein Narr war ich, dich zu lieben! Wie
+verblendet war ich! Jetzt bist du mir nichts mehr. Ich will dich niemals
+wiedersehen. Nie mehr an dich denken. Nie mehr deinen Namen aussprechen.
+Du weißt nicht, was du mir einmal warst. Ja, einmal, einmal... Oh, ich
+ertrage es nicht, daran zu denken. Ich wünschte, ich hätte dich niemals
+gesehen. Du hast die Poesie meines Lebens vernichtet. Wie wenig mußt du
+von Liebe wissen, wenn du sagst, sie lähme deine Kunst! Ohne deine Kunst
+bist du nichts. Ich hätte dich berühmt gemacht, zu einem Sterne, zu
+etwas Herrlichem. Die Welt hätte dich angebetet, und du hättest meinen
+Namen getragen. Was bist du jetzt? Eine Schauspielerin dritten Ranges
+mit einem hübschen Gesichtchen.«
+
+Das Mädchen war totenblaß geworden und zitterte. Sie preßte die Hände
+zusammen, und die Sprache schien ihr in der Kehle erstickt zu sein. »Du
+meinst es doch nicht im Ernst, Dorian?« flüsterte sie. »Du verstellst
+dich nur.«
+
+»Verstellen? Das überlaß ich dir. Du verstehst es ja so gut«, entgegnete
+er bitter.
+
+Sie erhob sich von den Knien und ging mit einem wehen, qualvollen
+Antlitz zu ihm hin. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und sah ihm in
+die Augen. Er stieß sie zurück. »Berühre mich nicht!« schrie er.
+
+Ein leises Stöhnen brach aus ihr hervor, und sie warf sich ihm zu Füßen
+und lag da wie eine zertretene Blume. »Dorian, Dorian, geh nicht fort
+von mir!« rief sie leise. »Ich bin so betrübt, daß ich nicht gut
+gespielt habe. Ich dachte nur immer an dich. Aber ich will es wieder
+versuchen -- wirklich, ich will es versuchen. Es kam so jäh über mich,
+die Liebe zu dir. Ich glaube, ich hätte nie etwas von ihr gewußt, wenn
+du mich nicht geküßt hättest -- wenn wir uns nicht geküßt hätten. Küß
+mich wieder, Geliebter! Geh nicht von mir! Ich könnte es nicht
+überleben. Oh, verlaß mich nicht! Mein Bruder... nein, nichts darüber.
+Er meinte es nicht im Ernst. Er scherzte nur... Aber du, oh! Kannst du
+mir nie den heutigen Abend verzeihen? Ich werde so fleißig sein und mir
+Mühe geben, besser zu werden. Sei nicht grausam gegen mich, weil ich
+dich mehr liebe als alles in der Welt. Es ist doch nur ein einziges Mal,
+wo ich dir mißfallen habe. Aber du hast ganz recht, Dorian. Ich hätte
+mich mehr als Künstlerin zeigen sollen. Es war närrisch von mir; und
+doch konnte ich nicht anders. Ach, verlaß mich nicht, verlaß mich
+nicht.« Leidenschaftliches Schluchzen erschütterte sie. Sie kauerte sich
+nieder wie ein wundes Tier, und Dorian Gray sah mit seinen schönen Augen
+zu ihr herab, und seine feingeschnittenen Lippen kräuselten sich in
+tiefster Verachtung. Die Gefühlsregungen von Menschen, die man nicht
+mehr liebt, haben immer etwas Lächerliches an sich. Sibyl Vane schien
+ihm überspannt melodramatisch zu sein. Ihre Tränen und ihr Schluchzen
+langweilten ihn nur.
+
+»Ich gehe«, sagte er schließlich mit seiner klaren, ruhigen Stimme. »Ich
+möchte nicht hart sein, aber ich kann dich nicht mehr sehen. Du hast
+mich enttäuscht.«
+
+Sie weinte still weiter und sagte nichts, sondern kroch näher. Ihre
+kleinen Hände streckten sich ins Leere hinaus und schienen ihn zu
+suchen. Er wandte sich stehenden Fußes herum und verließ das Zimmer.
+Wenige Augenblicke später hatte er das Theater hinter sich.
+
+Wohin er ging, wußte er selber kaum. Er erinnerte sich, durch schwach
+beleuchtete Gassen gewandert, an traurigen, in schwarze Schatten
+getauchten Türbogen und elend aussehenden Häusern vorbeigekommen zu
+sein, Weiber mit heiseren Stimmen und schrillem Lachen hatten hinter ihm
+her gerufen. Betrunkene waren fluchend und mit sich selber sprechend,
+wie Riesenaffen, an ihm vorbeigetaumelt. Er hatte putzige Kinder auf den
+Stufen kauern sehen und Schreien und Schimpfen aus düsteren Höfen
+gehört.
+
+Als der Morgen graute, fand er sich dicht bei Covent Garden. Die
+Dunkelheit schwand, die Luft rötete sich in blaßrotem Feuer, und der
+Himmel wölbte sich zu einer vollendeten Perle. Mächtige Wagen voll
+nickender Lilien rumpelten langsam die gerade, leere Straße hinab. Die
+Luft war schwer vom Dufte der Blumen, und die Schönheit schien seinem
+Schmerz Linderung zu bringen. Er trat in die Markthalle und sah den
+Männern zu, die ihre Wagen ausluden. Ein Fuhrmann in weißem Kittel bot
+ihm von seinen Kirschen an. Er dankte ihm, wunderte sich, warum er kein
+Geld dafür annehmen wollte, und begann zerstreut davon zu essen. Sie
+waren um Mitternacht gepflückt worden, und sie hatten die Kühle des
+Mondes in sich. Burschen in langer Reihe schleppten Körbe voll
+gestreifter Tulpen und von gelben und roten Rosen herbei, trotteten an
+ihm vorbei, als sie sich ihren Weg durch die großen, gelblichgrünen
+Gemüsestapel suchten. Unter den grauen, in der Sonne bleichen Säulen der
+Vorhalle lungerte ein Trupp von schmuddeligen Mädchen ohne Hüte und
+warteten, bis die Versteigerung vorbei war. Andere drängten sich um die
+auf- und zugehenden Türen des Kaffeehauses auf der Piazza. Die schweren
+Lastgäule glitten auf dem Pflaster aus und stampften über die holperigen
+Steine, ihre Glocken und Geschirre schüttelnd. Einige Fuhrmänner lagen
+schlafend auf einem Haufen von Säcken. Mit regenbogenfarbenen Hälsen und
+rötlichen Füßen trippelten die Tauben mitten darin umher und pickten
+sich Körner auf.
+
+Nach einer Weile rief er sich eine Droschke und fuhr nach Hause. Ein
+paar Augenblicke blieb er zögernd auf der Schwelle stehen, blickte über
+den schweigenden Platz und auf die Häuser mit den blanken, geschlossenen
+Fenstern und den hellen Gardinen. Der Himmel war jetzt ein wirklicher
+Opal, und die Dächer der Häuser glitzerten ihm wie Silber entgegen. Von
+einem Schornstein gegenüber stieg eine dünne Rauchsäule in die Höhe. Sie
+schlängelte sich wie ein violettes Band durch die perlmutterfarbene
+Luft.
+
+In der großen venezianischen Goldlaterne, einer Beute von der Barke
+irgendeines Dogen, die von der Decke der großen eichengetäfelten
+Vorhalle herabhing, brannten noch drei flackernde Gaslichter: wie dünne
+blaue Feuerblüten, von weißen Flammen umsäumt. Er drehte sie aus, warf
+Hut und Mantel auf den Tisch und ging durch die Bibliothek zur Tür
+seines Schlafzimmers. Das war ein großer, achteckiger Raum zu ebener
+Erde, den er in seinem neu erwachten Gefühl für Luxus erst unlängst
+einrichten und mit einigen schnurrigen Renaissancegobelins hatte
+bespannen lassen, die er in einer nicht mehr gebrauchten Dachkammer in
+Selby Royal entdeckt hatte. Als er eben nach der Klinke griff, fiel sein
+Blick auf das Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Erstaunt
+schrak er zurück. Dann ging er in sein Zimmer und sah nachdenklich und
+betroffen aus. Nachdem er die Blume aus seinem Knopfloch genommen hatte,
+schien er zu zögern. Schließlich ging er zurück, trat vor das Bild und
+musterte es. In dem unbestimmten, gedämpften Licht, das durch die
+mattgelblichen Seidenvorhänge drang, schien ihm das Gesicht ein wenig
+verändert. Der Ausdruck war anders. Man hätte sagen können, daß ein
+grausamer Zug um den Mund läge. Es war wirklich seltsam.
+
+Er drehte sich um, ging zum Fenster und zog den Vorhang auf. Der helle
+Morgen flutete durch das Zimmer und fegte die phantastischen Schatten in
+düstere Winkel, wo sie zitternd liegenblieben. Aber der seltsame
+Ausdruck, den er im Gesicht des Bildes bemerkt hatte, schien nicht nur
+dazubleiben, sondern sich noch verstärkt zu haben. Das heiße, zitternde
+Sonnenlicht zeigte ihm den grausamen Zug um den Mund so deutlich, als
+sähe er sich in einem Spiegel, nachdem er etwas Furchtbares verübt
+hätte.
+
+Er fuhr zusammen und nahm vom Tisch einen ovalen Spiegel, dessen Fassung
+von elfenbeinernen Liebesgöttern gebildet wurde, eines der vielen
+Geschenke Lord Henrys, und blickte hastig in die glänzende Tiefe. Keine
+Linie solcher Art verunstaltete seine roten Lippen. Was sollte dies
+bedeuten?
+
+Er rieb sich die Augen und trat ganz nahe an das Bild heran, um es
+abermals zu mustern. An der Technik der Malerei konnte man gar keine
+Spur einer Veränderung bemerken, und doch war kein Zweifel, daß sich der
+Ausdruck im ganzen verändert hatte. Es war keine Einbildung von ihm. Die
+Sache war schrecklich klar.
+
+Er warf sich in einen Stuhl und begann zu grübeln. Plötzlich überkam ihn
+die Erinnerung an die Worte, die er in Basil Hallwards Atelier an dem
+Tage gesagt hatte, wo das Bild fertig geworden war. Ja, er erinnerte
+sich ganz deutlich. Er hatte den sinnlosen Wunsch ausgesprochen, daß er
+selbst jung bleiben solle, und das Porträt altern: daß seine eigene
+Schönheit fleckenlos bleiben, und das Antlitz auf der Leinwand die Last
+seiner Leidenschaften und Sünden tragen solle: daß das gemalte Bildnis
+von den Linien des Leidens und Denkens durchfurcht werden und er selbst
+den feinen Schmelz und alle Lieblichkeit seiner Jugend behalten solle,
+deren er sich damals gerade bewußt geworden war. Sein Wunsch war doch
+nicht erfüllt worden? Solche Dinge bleiben unmöglich. Nur so etwas zu
+denken, schien ungeheuerlich. Und doch, da stand das Bild vor ihm und
+hatte den Zug von Grausamkeit um den Mund.
+
+Grausamkeit! War er grausam gewesen? Das Mädchen hatte schuld, nicht er.
+Er hatte von ihr geträumt, als einer großen Künstlerin, hatte ihr seine
+Liebe geschenkt, weil er sie für groß gehalten hatte. Dann hatte sie ihn
+enttäuscht. Sie war hohl und wertlos gewesen. Und doch überkam ihn ein
+Gefühl unendlichen Mitleids, als er daran dachte, wie sie zu seinen
+Füßen gelegen und wie ein kleines Kind geschluchzt hatte. Er erinnerte
+sich, mit welcher Gefühllosigkeit er sie betrachtet hatte. Warum war er
+so geschaffen worden? Warum war ihm eine solche Seele verliehen worden?
+Aber auch er hatte gelitten. In den drei schrecklichen Stunden, die das
+Stück dauerte, hatte er Jahrhunderte von Schmerzen, Ewigkeiten über
+Ewigkeiten von Qualen durchlebt. Sein Leben war gewiß soviel wert als
+das ihre, wenn er sie für das ganze Leben verwundet hatte. Sie hatte ihn
+für einen Augenblick vernichtet. Außerdem sind die Frauen besser dafür
+geeignet, Leiden zu ertragen als Männer. Sie leben von ihren Gefühlen.
+Sie denken nur an ihre Gefühle. Wenn sie einen Geliebten haben, so ist
+es nur, um jemand zu haben, dem sie Szenen machen können. Lord Henry
+hatte ihm das gesagt, und Lord Henry wußte, wie es mit den Frauen
+bestellt war. Warum sollte er sich um Sibyl Vane beunruhigen? Sie war
+ihm jetzt nichts mehr.
+
+Aber das Bild? Was sollte er dazu sagen? Es barg das Geheimnis seines
+Lebens in sich und erzählte seine Geschichte. Es hatte ihn die Liebe zur
+eigenen Schönheit gelehrt. Sollte es ihn lehren, seine eigene Seele zu
+verabscheuen? Könnte er es je wieder anblicken?
+
+Nein; es war nur eine Einbildung, ein Gewebe der verwirrten Sinne. Die
+fürchterliche Nacht, die er durchlebte, hatte Gespenster zurückgelassen.
+Der winzige scharlachrote Fleck, der die Menschen zum Wahnsinn treibt,
+war plötzlich auf seinem Gehirn zum Vorschein gekommen. Das Bild war
+nicht anders geworden. Es war Wahnsinn, das anzunehmen.
+
+Aber es blickte ihn an mit seinem wunderschönen, entstellten Gesicht und
+seinem grausamen Lächeln. Sein helles Haar leuchtete im Sonnengold der
+Frühe. Seine blauen Augen blickten in seine eigenen. Ein Gefühl
+grenzenlosen Mitleids durchdrang ihn, nicht mit sich selbst, nein, mit
+dem gemalten Abbild. Schon hatte es sich verändert und würde sich noch
+mehr verändern. Sein Gold wird zum Grau erbleichen. Seine roten und
+weißen Rosen werden welken. Für jede Sünde, die er begehen würde, wird
+ein Fleck hervortreten und seine Schönheit besudeln. Aber er wird nicht
+sündigen. Das Bildnis, verwandelt oder unverwandelt, soll für ihn das
+sichtbare Wahrzeichen des Gewissens sein. Er wird jeder Versuchung
+widerstehen. Er wird Lord Henry nicht wiedersehen -- wenigstens nicht
+mehr seinen blendenden, giftigen Theorien lauschen, die in Basil
+Hallwards Garten zum erstenmal in ihm die Leidenschaft für unmögliche
+Dinge aufgerüttelt hatten. Er wird zu Sibyl Vane zurückeilen, sich
+bestreben, sie in ihrer Kunst zu verfeinern, sie heiraten und versuchen,
+sie wieder zu lieben. Ja, es war seine Pflicht, das zu tun. Sie mußte ja
+mehr gelitten haben als er. Armes Kind! Er war selbstsüchtig und grausam
+gegen sie gewesen. Der Zauber, den sie auf ihn ausgeübt hatte, würde
+wiederkehren. Sie würden glücklich miteinander werden. Sein Leben mit
+ihr würde schon und rein sein.
+
+Er stand von seinem Stuhl auf und schob einen großen Wandschirm vor das
+Bildnis. Er schrak zusammen, als er es anblickte. »Wie schrecklich«,
+flüsterte er. Dann schritt er zur Glastür und öffnete sie. Als er in das
+Grüne hinaus trat, atmete er tief auf. Die frische Morgenluft schien all
+die düsteren Leidenschaften zu verjagen. Er dachte nur noch an Sibyl.
+Ein schwacher Glanz seiner Liebe kehrte zurück. Er wiederholte ihren
+Namen immer wieder, immer wieder. Die Vögel, die in dem taubeperlten
+Garten sangen, schienen den Blumen von ihr zu erzählen.
+
+
+
+
+Achtes Kapitel
+
+
+Mittag war längst vorüber, als er erwachte. Sein Diener war mehrmals auf
+den Fußspitzen in das Zimmer geschlichen, um zu sehen, ob er wach wäre,
+und er hatte sich gewundert, weshalb sein junger Herr so lange schlafe.
+Schließlich klingelte es, und Viktor trat leise ein mit einer Schale Tee
+und einem Stoß Postsachen auf einer schmalen Sevresplatte und zog die
+olivengelben Atlasvorhänge mit ihrem blauglänzenden Futter vor den drei
+großen Fenstern zurück.
+
+»Monsieur hat heute morgen gut geschlafen«, sagte er lächelnd.
+
+»Wieviel Uhr ist es?« fragte Dorian Gray noch verschlafen.
+
+»Ein Viertel zwei, Monsieur!«
+
+Wie spät es war! Er setzte sich auf, schlürfte einige Züge Tee und
+durchblätterte die Briefe. Einer davon war von Lord Henry und war diesen
+Morgen von einem Boten abgegeben worden. Er zögerte einen Augenblick und
+legte ihn dann zur Seite. Die anderen öffnete er zerstreut. Sie
+enthielten die gewöhnliche Sammlung von Karten, Einladungen zum Essen,
+Ausstellungsbilletts, Programmen für Wohltätigkeitskonzerte und
+ähnlichen Aufforderungen, wie sie einem jungen Mann der Gesellschaft
+während der Saison jeden Morgen ins Haus regnen. Es war auch eine recht
+große Rechnung dabei für ein Toiletteservice im Stile Louis des
+Fünfzehnten, aus getriebenem Silber, die er noch nicht mutig genug
+gewesen war, seinen Vormündern vorzulegen, die außerordentlich
+altmodische Herren waren und nicht begreifen konnten, daß man in einer
+Zeit lebe, wo die unnötigen Dinge unsere einzige Notwendigkeit sind; und
+außerdem war eine Reihe sehr höflich abgefaßter Mitteilungen aus Jermyn
+Street da, in denen man sich anbot, ihm in der kürzesten Zeit jeden
+Geldbetrag zu dem mäßigsten Zinsfuße vorzustrecken.
+
+Etwa nach zehn Minuten stand er auf, schlüpfte in einen raffinierten
+Schlafrock aus Kaschmirwolle mit Seidenstickereien, und ging in das
+onyxgepflasterte Badezimmer. Das kalte Wasser erquickte ihn nach dem
+langen Schlaf. Er schien alles vergessen zu haben, was er hinter sich
+hatte. Ein- oder zweimal durchzuckte ihn ein undeutliches Gefühl, als
+wäre er irgendwie in eine seltsame Tragödie verwickelt gewesen, aber die
+Unwirklichkeit eines Traumes webte darüber.
+
+Sobald er angezogen war, ging er in das Bibliothekszimmer und setzte
+sich zu einem leichten französischen Frühstück nieder, das auf einem
+kleinen, runden Tische nahe beim offenen Fenster bereit stand. Es war
+ein entzückender Tag. Die warme Luft schien mit Wohlgerüchen gewürzt.
+Eine Biene flog herein und summte um die Schale aus blauem
+Drachenporzellan, die voller schwefelgelber Rosen vor ihm stand. Er
+fühlte sich vollkommen glücklich.
+
+Plötzlich fiel sein Blick auf den Wandschirm, den er vor das Bild
+gestellt hatte, und er zuckte zusammen.
+
+»Ist es zu kalt für den gnädigen Herrn?« fragte der Diener, während er
+eine Omelette auf den Tisch stellte. »Soll ich das Fenster schließen?«
+
+Dorian schüttelte den Kopf. »Mir ist nicht kalt«, antwortete er.
+
+War es alles wahr? Hatte sich das Bild wirklich verändert? Oder war es
+lediglich seine eigene Phantasie gewesen, die ihm einen Zug von
+Schlechtigkeit vorgespiegelt hatte, wo nur ein Zug von Freude gewesen
+war? Eine gemalte Leinwand konnte sich doch nicht verändern? Das war
+doch Tollheit! Das würde er eines Tages Basil als Märchen erzählen. Er
+würde darüber lächeln.
+
+Und doch, wie lebendig war die Erinnerung an die ganze Sache! Zuerst in
+dem schwankenden Zwielicht und dann in der hellen Morgenfrühe hatte er
+den Zug von Grausamkeit um die geschwungenen Lippen bemerkt. Er
+fürchtete sich förmlich davor, daß sein Diener hinausgehen könnte. Er
+wußte, er würde, sowie er allein sei, das Bild betrachten müssen. Er
+fürchtete sich vor dieser Gewißheit. Als der Diener Kaffee und
+Zigaretten gebracht hatte und sich zum Gehen wandte, empfand er den
+heftigsten Wunsch, ihn dableiben zu lassen. Als sich hinter ihm die Tür
+geschlossen hatte, rief er ihn zurück. Der Mann stand da und wartete auf
+seine Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick an. »Ich bin für niemand
+zu Hause, Viktor«, sagte er mit einem Seufzer. Der Mann verbeugte sich
+und ging hinaus.
+
+Dann stand er vom Tische auf, zündete sich eine Zigarette an und warf
+sich auf eine üppig gepolsterte Ottomane, die gegenüber dem Schirme
+stand. Es war ein alter Wandschirm aus vergoldetem spanischen Leder, in
+das ein blumiges Louis-Quatorze-Muster getrieben war. Er musterte ihn
+forschend und fragte sich, ob der Schirm wohl schon jemals das Geheimnis
+eines Menschenlebens verhüllt habe.
+
+Sollte er ihn überhaupt wegschieben? Warum ihn nicht da stehen lassen?
+Was half die Gewißheit? War die Sache wahr, so war es schrecklich. War
+sie nicht wahr, wozu sich darüber beunruhigen? Aber wie, wenn durch
+Schicksalstücke oder irgendeinen tödlichen Zufall andere Augen als die
+seinen dahinter blickten und die fürchterliche Veränderung sähen? Was
+wollte er tun, wenn Basil Hallward kam und sein eigenes Bild sehen
+wollte? Das würde Basil sicher tun. Nein, die Sache mußte untersucht
+werden, und zwar auf der Stelle. Alles war besser als diese schreckliche
+Ungewißheit.
+
+Er stand auf und verschloß beide Türen. Er wollte wenigstens allein
+sein, wenn er die Maske seiner Schande betrachtete. Dann schob er den
+Schirm zur Seite und sah sich selbst von Angesicht zu Angesicht. Es war
+vollständig wahr. Das Bildnis hatte sich verändert.
+
+Er erinnerte sich später oft und immer mit nicht geringer Verwunderung,
+daß er zuerst das Bild mit einem Gefühl von wissenschaftlichem Interesse
+geprüft habe. Daß eine solche Veränderung möglich sei, schien ihm nicht
+glaublich. Und doch war es Tatsache. Gab es irgendeine geheime
+Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen, die auf der Leinwand Form
+und Farbe werden, und der Seele, die in ihm lebte? Konnte es sein, daß
+sie in Wirklichkeit ausdrückten, was seine Seele dachte? -- daß sie zur
+Wahrheit machten, was sie träumte? Oder gab es eine andere schreckliche
+Beziehung? Er schauderte zusammen und fühlte sich von Angst gepackt.
+Dann ging er zu der Ottomane zurück und lag nun da, das Bildnis in
+krankhaftem Schrecken anstierend.
+
+Eine Wirkung aber, das fühlte er, hatte es gehabt. Es hatte ihm
+klargemacht, wie ungerecht, wie grausam er gegen Sibyl Vane gewesen war.
+Noch war es nicht zu spät, das wieder gut zu machen. Sie konnte noch
+sein Weib werden. Seine unwahre, selbstsüchtige Liebe sollte einer
+höheren Kraft den Platz einräumen, sollte sich zu einer edleren
+Leidenschaft erhöhen und das Bildnis, das Basil Hallward gemalt hatte,
+sollte sein Führer durchs Leben, sollte das für ihn sein, was Heiligkeit
+für einige ist, Gewissen für andere und Gottesfurcht für uns alle ist.
+Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Medikamente, die das
+Sittlichkeitsgefühl in Schlaf lullen konnten. Aber hier war das durch
+Sündigkeit hervorgerufene sichtbare Symbol der Erniedrigung. Hier war
+das ewig unauslöschliche Zeichen des Verderbens, das Menschen der
+eigenen Seele zufügen.
+
+Es schlug drei und vier, und noch eine halbe Stunde ließ das doppelte
+Zeichen erklingen, aber Dorian Gray rührte sich nicht. Er bemühte sich,
+die scharlachroten Fäden des Lebens zu entwirren und sie in ein Muster
+zu verschlingen; seinen Weg zu finden aus dem blutroten Irrgarten der
+Leidenschaft, den er durchwanderte. Er wußte nicht, was er tun, nicht,
+was er denken sollte. Endlich trat er an den Tisch und schrieb einen
+leidenschaftlichen Brief an das Mädchen, das er geliebt hatte, flehte
+sie an, ihm zu verzeihen, und beschuldigte sich des Wahnsinns. Er
+bedeckte Seite um Seite mit wilden Worten der Sorge und noch heftigeren
+des Schmerzes. Es gibt eine Wollust in Selbstanklagen. Wenn wir uns
+selbst tadeln, haben wir das Gefühl, daß uns kein anderer tadeln dürfe.
+Die Beichte, nicht der Priester, erteilt uns Absolution. Als Dorian den
+Brief beendet hatte, fühlte er, daß ihm vergeben worden sei.
+
+Plötzlich pochte man an die Tür und er hörte Lord Henrys Stimme draußen.
+»Lieber Junge, ich muß dich sehen. Laß mich gleich herein! Ich kann es
+nicht zugeben, daß du dich so absperrst!«
+
+Er gab zuerst keine Antwort, sondern blieb ganz still. Das Klopfen
+wiederholte sich und wurde lauter. Ja, es war besser, Lord Henry
+einzulassen und ihm zu erklären, daß er ein neues Leben führen wolle,
+mit ihm zu streiten, wenn Streit nötig wäre, und sich von ihm zu
+trennen, wenn Trennung stattfinden mußte. Er sprang auf, schob den
+Wandschirm hastig vor das Bild und schloß die Tür auf.
+
+»Es tut mir alles so sehr leid, Dorian«, sagte Lord Henry, als er
+eintrat. »Aber du mußt nicht zuviel daran denken.«
+
+»Meinst du an Sibyl Vane?« fragte der Jüngling.
+
+»Ja, natürlich«, erwiderte Lord Henry, ließ sich in einen Stuhl nieder
+und zog seine gelben Handschuhe langsam aus. »Es ist gewiß, einerseits
+betrachtet, schrecklich, aber es war doch nicht deine Schuld. Sag' mal,
+bist du hinter die Bühne gegangen und hast du sie gesehen, als das Stück
+aus war?«
+
+»Ja.«
+
+»Ich war davon überzeugt. Hast du ihr eine Szene gemacht?«
+
+»Ich war brutal, Harry, offen gesagt, brutal. Aber jetzt ist alles
+wieder gut. Was geschehen ist, tut mir nicht mehr leid. Es hat mich
+gelehrt, mich selbst besser kennenzulernen.«
+
+»Ach, Dorian, da bin ich sehr froh, daß du es so auffaßt. Ich fürchtete,
+dich von Gewissensbissen zermartert zu finden und wie du dir die
+hübschen lockigen Haare zerraufst.«
+
+»Das habe ich alles durchgemacht«, sagte Dorian und schüttelte lächelnd
+den Kopf. »Jetzt bin ich vollkommen glücklich. Vor allem weiß ich jetzt,
+was es heißt, ein Gewissen zu haben. Es ist nicht das, was du mir gesagt
+hast. Es ist das Göttlichste in uns. Spotte nicht darüber, nie mehr,
+Harry -- wenigstens nie mehr in meiner Gegenwart. Ich will jetzt gut
+sein. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, meine Seele befleckt zu
+haben.«
+
+»Wirklich eine entzückende, künstlerische Grundlage für Moral, Dorian.
+Ich gratuliere dir dazu. Aber wie willst du damit anfangen?«
+
+»Indem ich Sibyl Vane heirate.«
+
+»Sibyl Vane heiraten?« schrie Lord Henry auf, erhob sich und sah ihn mit
+der bestürztesten Verwunderung an. »Aber mein lieber Dorian --«
+
+»Ja, Harry, ich weiß, was du sagen willst. Irgend etwas Häßliches über
+die Ehe. Sag' es nicht. Sag' mir nie wieder solche Dinge. Vor zwei Tagen
+habe ich Sibyl gebeten, mich zu heiraten. Ich werde mein Wort nicht
+brechen. Sie soll meine Frau werden.«
+
+»Deine Frau, Dorian... Hast du denn meinen Brief nicht bekommen? Ich
+habe dir heute früh geschrieben und schickte die Mitteilung durch meinen
+Diener her.«
+
+»Deinen Brief? Ach ja, ich erinnere mich. Ich hab' ihn noch nicht
+gelesen, Harry. Ich fürchtete, daß etwas drin stünde, was mir nicht
+gefallen könnte. Du vivisezierst das Leben mit deinen Aphorismen.«
+
+»Dann weißt du also nichts.«
+
+»Wovon sprichst du?«
+
+Lord Henry wanderte durch das Zimmer, setzte sich dann neben Dorian
+Gray, nahm seine beiden Hände und hielt sie fest. »Dorian,« sagte er,
+»mein Brief -- erschrick nicht -- sollte dir melden, daß Sibyl Vane tot
+ist.«
+
+Ein Schmerzensschrei gellte von den Lippen des Jünglings, und er sprang
+auf und riß seine Hände aus Lord Henrys Umklammerung los. »Tot! Sibyl
+tot!« Es ist nicht wahr. Es ist eine furchtbare Lüge. Wie wagst du es,
+das zu sagen?«
+
+»Es ist völlig wahr, Dorian«, sagte Lord Henry ernst. »Es steht in allen
+Morgenblättern. Ich schrieb dir's gleich und bat, du solltest niemand
+empfangen, bis ich käme. Es muß natürlich eine Untersuchung stattfinden,
+und du darfst da nicht hineingezogen werden. Dinge dieser Art machen in
+Paris einen Mann zum Helden des Tages. Aber in London haben die Leute
+zuviel Vorurteile. Hier darf man nie mit einem Skandal debütieren. Man
+muß sich das aufheben, um im Alter noch interessant zu sein. Ich nehme
+an, man weiß im Theater deinen Namen nicht. In dem Fall ist alles gut.
+Hat dich jemand in die Garderobe gehen sehen? Das ist ein wichtiger
+Faktor.«
+
+Ein paar Augenblicke lang antwortete Dorian nicht. Er war vor Entsetzen
+gelähmt. Schließlich stammelte er mit erstickter Stimme: »Harry, sagtest
+du eine Untersuchung? Was meintest du damit? Hat sich Sibyl --? Oh,
+Harry, ich kann's nicht ertragen. Mach's kurz. Sag' mir alles auf
+einmal.«
+
+»Ich zweifle nicht daran, daß es kein Versehen war, Dorian, wenn man es
+auch dem Publikum so darstellen muß. Es scheint, sie hat das Theater mit
+ihrer Mutter verlassen, gegen halb eins ungefähr, und dann sagte sie
+plötzlich, sie habe oben etwas vergessen. Man wartete einige Zeit auf
+sie, aber sie kam nicht wieder herunter. Schließlich fanden sie sie tot
+auf dem Boden in ihrem Ankleidezimmer. Sie hatte aus Versehen irgend
+etwas getrunken, irgend solche gräßliche Sache, die man in den Theatern
+braucht. Ich weiß nicht genau, was es war, aber es muß entweder
+Blausäure oder Bleiweiß gewesen sein. Ich vermute, Blausäure, denn sie
+scheint sofort tot gewesen zu sein.«
+
+»Harry, Harry, es ist furchtbar!« schrie der Jüngling.
+
+»Ja; natürlich ist's sehr tragisch, aber du mußt sehen, nicht mit in die
+Sache verwickelt zu wenden. Ich habe im >Standard< gelesen, daß sie
+siebzehn Jahre alt war. Ich hätte sie noch eher für jünger gehalten. Sie
+sah ganz wie ein Kind aus und schien so wenig von der Schauspielerei zu
+verstehen. Dorian, du darfst die Sache nicht so an die Nerven gehen
+lassen. Du mußt mitkommen und mit mir essen, und nachher wollen wir noch
+'n bißchen in die Oper gehen. Die Patti singt, und alle Welt wird da
+sein. Du kannst mit in die Loge von meiner Schwester kommen. Sie bringt
+ein paar famose Frauen mit.«
+
+»So habe ich also Sibyl Vane gemordet,« sagte Dorian Gray halb zu sich
+selbst -- »sie gemordet, so sicher, als hätte ich ihre zarte Kehle mit
+einem Messer durchschnitten. Und doch sind darum die Rosen nicht weniger
+entzückend. Die Vögel in meinem Garten singen genau so lustig. Und heute
+abend geh' ich mit dir essen und dann in die Oper und nachher vermutlich
+irgendwo soupieren. Wie merkwürdig dramatisch das Leben ist. Wenn ich
+das alles in einem Buche gelesen hätte, Harry, ich glaube, ich hätte
+darüber geweint. Aber jetzt, wo es in Wirklichkeit geschehen ist, wo es
+mir selbst geschehen ist, scheint es mir zu wunderbar für Tränen. Da
+liegt der erste leidenschaftliche Liebesbrief, den ich in meinem Leben
+geschrieben habe. Seltsam, daß mein erster leidenschaftlicher
+Liebesbrief an ein totes Mädchen gerichtet ist. Ich möchte wohl wissen,
+ob sie noch ein Gefühl haben, diese weißen, verstummten Menschen, die
+wir Tote nennen. Sibyl! Kann sie fühlen, oder wissen, oder hören? O
+Harry, wie hab' ich sie einmal geliebt! Es scheint mir jetzt vor Jahren
+gewesen zu sein. Sie war mir alles. Dann kam dieser schreckliche Abend,
+-- war es wirklich erst gestern? wo sie so schlecht spielte und mir fast
+das Herz zerriß. Sie hat mir alles erklärt. Es war furchtbar rührend.
+Aber es machte nicht den mindesten Eindruck auf mich. Ich hielt sie für
+ein oberflächliches Geschöpf. Dann geschah plötzlich etwas, was mir
+Furcht einjagte. Ich kann dir nicht sagen, was es war, aber es war
+furchtbar. Ich nahm mir vor, zu ihr zurückzukehren. Ich empfand, daß ich
+unrecht gehabt habe. Und jetzt ist sie tot. Mein Gott! Mein Gott! Harry,
+was soll ich tun? Du kennst die Gefahr nicht, in der ich schwebe und es
+gibt nichts, was mich aufrechterhalten könnte. Sie hätte es für mich
+getan. Sie hatte kein Recht, sich umzubringen. Es war selbstsüchtig von
+ihr.«
+
+»Mein lieber Dorian,« antwortete Lord Harry, während er eine Zigarette
+aus dem Etui nahm und ein goldenes Streichholzbüchschen hervorholte,
+»die einzige Art, auf die eine Frau einen Mann bessern kann, besteht
+darin, sie langweilt ihn so gründlich, daß er alles Interesse am Leben
+verliert. Wenn du dieses Mädchen geheiratet hättest, wärst du verdorben
+worden. Natürlich hättest du sie gütig behandelt. Menschen, für die man
+nichts übrig hat, kann man immer gütig behandeln. Aber sie hätte bald
+herausgefunden, daß du gar nichts für sie übrig hast. Und wenn eine Frau
+bei ihrem Mann Gleichgültigkeit wittert, vernachlässigt sie sich
+entweder schrecklich, oder sie trägt überelegante Hüte, die der Mann
+einer anderen Frau bezahlen muß. Ich will nichts über das soziale
+Mißverhältnis sagen, das schauderhaft gewesen wäre; ich hätte
+selbstverständlich die Sache nie zugegeben, aber ich versichere dir, die
+Sache wäre in jedem Falle ganz verfehlt gewesen.«
+
+»Vermutlich«, murmelte der junge Mann, während er mit furchtbar blassem
+Gesicht im Zimmer auf und ab schritt. »Aber ich glaube, es sei meine
+Pflicht. Es ist nicht meine Schuld, daß mich dieses schreckliche
+Trauerspiel verhindert hat, das Rechte zu tun. Ich erinnere mich, daß du
+einmal gesagt hast, ein sonderbares Verhängnis schwebe über guten
+Vorsätzen -- daß man sie nämlich immer zu spät fasse. Bei meinem war es
+gewiß der Fall.«
+
+»Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, Naturgesetze umzustoßen. Ihr
+Ursprung ist reine Eitelkeit. Ihr Erfolg ist absolut gleich Null. Sie
+geben uns dann und wann etwas jener unfruchtbaren Lustempfindungen, die
+auf schwache Menschen einen gewissen Reiz ausüben. Das ist alles, was
+man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind bloße Schecks, die man
+auf eine Bank ausstellt, bei der man kein Konto hat.«
+
+»Harry«, rief Dorian Gray, der sich näherte und neben ihn setzte. »Warum
+kann ich diese Tragödie nicht so stark empfinden, wie ich müßte? Ich
+kann nicht glauben, daß ich herzlos bin. Glaubst du das von mir?«
+
+»Du hast in den letzten vierzehn Tagen zuviel törichte Streiche
+begangen, als daß du einen Anspruch auf diesen Ehrentitel haben
+könntest, Dorian«, erwiderte Lord Harry mit seinem stillen,
+melancholischen Lächeln.
+
+Der Jüngling runzelte die Stirn. »Diese Erklärung besagt mir eigentlich
+nichts, Harry, aber ich bin dennoch froh, daß du mich nicht für herzlos
+hältst. Ich bin es gewiß nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin. Und doch
+muß ich zugeben, daß dies Ereignis mich nicht so angreift, wie es
+sollte. Es kommt mir wie der wunderbare Szenenschluß eines wunderbaren
+Dramas vor. Es hat die schreckliche Schönheit einer griechischen
+Tragödie, einer Tragödie, in der ich eine große Rolle gespielt habe,
+aber in der ich selbst nicht verwundet worden bin.«
+
+»Es ist eine interessante Frage,« sagte Lord Harry, dem es ein
+ausgesuchtes Vergnügen bereitete, mit dem unbewußten Egoismus des jungen
+Mannes zu spielen -- »eine außerordentlich interessante Frage. Ich
+meine, die wahre Erklärung ist wohl die. Es kommt oft vor, daß sich die
+Wirklichkeits-Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen Form
+abspielen, daß sie uns durch ihre rohe Gewalt, ihren absoluten Mangel an
+Zusammenhang, durch ihre lächerliche Sinnlosigkeit und ihre
+außerordentliche Stillosigkeit verletzen. Sie betrüben uns genau so, wie
+es die Gemeinheit tut. Sie geben uns ein Gefühl einer jähen, brutalen
+Gewalt, und wir lehnen uns dagegen auf. Manchmal aber kreuzt eine
+Tragödie unser Leben, die künstlerische Schönheitselemente in sich
+birgt. Wenn diese Schönheitselemente wirklich vorhanden sind, dann
+ergreift die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische Wirkung. Wir
+entdecken auf einmal, daß wir nicht mehr die Darsteller, sondern die
+Zuschauer des Stückes sind. Oder richtiger, wir sind beides. Wir
+beobachten uns selbst und werden von dem Wundersamen des Schicksals
+erschüttert. Was ist in vorliegendem Falle wirklich geschehen? Jemand
+hat sich aus Liebe zu dir umgebracht. Ich wollte, mir wäre je so ein
+Erlebnis passiert. Ich wäre den Rest meines Lebens in die Liebe verliebt
+gewesen. Die Menschen, die mich angebetet haben -- es waren ihrer nicht
+sehr viele, aber doch immerhin einige --, waren immer darauf versessen,
+weiterzuleben, noch lange, nachdem ich aufgehört hatte, mich um sie zu
+kümmern, oder sie, sich um mich zu kümmern. Sie sind dann dick und
+langweilig geworden, und wenn ich ihnen jetzt begegne, schwelgen sie
+sofort in Erinnerungen. Dies furchtbare zähe Gedächtnis der Frauen! Was
+für 'ne schreckliche Sache das ist! Und was für einen völligen geistigen
+Stillstand offenbart es. Man sollte die Farbe des Lebens in sich
+aufsaugen, aber sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind
+immer gewöhnlich.«
+
+»Ich muß Mohnblumen in meinen Garten säen«, seufzte Dorian.
+
+»Das ist nicht notwendig«, erwiderte sein Gefährte. »Das Leben selbst
+hat immer Mohnblumen vorrätig. Natürlich, dann und wann halten die Dinge
+länger an. Einmal habe ich eine ganze Saison lang nichts als Veilchen
+getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen Roman, der nicht
+sterben wollte. Schließlich indessen ist er gestorben. Ich kann mich
+nicht mehr erinnern, was ihn getötet hat. Ich vermute, es kam durch
+ihren Vorschlag, mir die ganze Welt aufzuopfern. Das ist immer ein
+schrecklicher Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecknissen der
+Ewigkeit. Schon -- würdest du es nun glauben? -- Vorige Woche, bei Lady
+Hampshire, saß ich bei Tisch neben der fraglichen Dame, und sie konnte
+wiederum nicht anders, als die ganze Sache durchzunehmen, die
+Vergangenheit aufzuwühlen und die Zukunft auszumalen. Ich hatte den
+ganzen Roman unter einem Asphodelosbeet begraben. Sie scharrte ihn
+wieder aus und versicherte mir, daß ich ihr Leben zerstört habe. Ich
+fühle mich verpflichtet festzustellen, daß sie trotzdem mit
+staunenswertem Appetite aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse empfand.
+Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie! Der einzige Reiz der
+Vergangenheit liegt eben darin, daß sie vergangen ist. Aber Frauen
+wissen nie, wann der Vorhang gefallen ist. Sie wollen immer noch einen
+sechsten Akt, und sowie das ganze Interesse an dem Stück erlahmt ist,
+schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man ihnen ihren Willen ließe,
+erlebte jede Komödie einen tragischen Schluß, und jede Komödie gipfelte
+in einer Farce. Sie sind oft entzückende Kunstprodukte, aber sie haben
+keinen Sinn für die Kunst. Du bist glücklicher als ich. Ich versichere
+dir, Dorian, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt habe, hätte für
+mich getan, was Sibyl Vane für dich vollbrachte. Gewöhnliche Frauen
+trösten sich immer. Einige von ihnen tun es, indem sie sich in
+empfindsame Farben verlieben. Traue niemals einer Frau, die Malven
+trägt, wie alt sie auch sein mag, oder einer Frau über fünfunddreißig,
+die rosa Bänder liebt. Das bedeutet immer, daß sie eine Geschichte
+haben. Andere finden starken Trost darin, plötzlich die Vorzüge ihrer
+Männer zu entdecken. Sie reiben einem ihr eheliches Glück unter die
+Nase, als wäre das die fesselndste Sünde. Einige wieder tröstet die
+Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize einer Liebelei an sich, hat
+mir einmal eine Frau versichert und ich kann es wohl verstehen. Übrigens
+macht unsereinen nichts so eitel, als wenn einem gesagt wird, man wäre
+ein Sünder. Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten. Ja; die Tröstungen
+haben wirklich kein Ende, die die Frauen im modernen Leben finden. Die
+wichtigste habe ich noch gar nicht erwähnt.«
+
+»Welche ist das, Harry?« fragte der junge Mann zerstreut.
+
+»Oh, der alltäglichste Trost. Einer anderen Frau ihren Anbeter nehmen,
+wenn man den eigenen verloren hat. In der guten Gesellschaft findet eine
+Frau auf solche Weise immer ihr Fahrwasser wieder. Aber wirklich,
+Dorian, wie anders muß Sibyl Vane gewesen sein als alle die sonstigen
+Frauen, denen man begegnet. Für mich liegt in ihrem Tod etwas ganz
+Wunderschönes. Es freut mich, daß ich in einem Jahrhundert lebe, wo
+solche Wunder noch geschehen. Sie geben uns neuen Glauben an die
+Wirklichkeit der Dinge, mit denen wir sonst spielen, wie Romantik,
+Leidenschaft und Liebe.«
+
+»Ich war furchtbar grausam gegen sie. Du vergißt das.«
+
+»Ich fürchte, die Frauen schätzen die Grausamkeit, die ganz alltägliche
+Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes. Sie haben wundervoll
+primitive Instinkte. Wir haben sie emanzipiert, aber sie bleiben
+Sklavinnen, die den Blick auf ihre Herren gerichtet halten, trotz
+allem. Sie lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin überzeugt, daß du
+glänzend aufgetreten bist. Ich habe dich nie wirklich und durchaus
+erzürnt gesehen, aber ich kann mir vorstellen, wie entzückend du
+ausgesehen haben mußt. Und außerdem sagtest du vorgestern etwas zu mir,
+was mir damals nur ein phantastischer Einfall schien, aber jetzt sehe
+ich, daß es völlig wahr gewesen ist, und ich halte es für den Schlüssel
+zu dem ganzen Ereignis.«
+
+»Was war das, Harry?«
+
+»Du hast zu mir gesagt, Sibyl Vane verkörpere dir alle Frauengestalten
+der Romantik -- sie sei an einem Abend Desdemona und am anderen Ophelia;
+wenn sie als Julia sterbe, erwache sie als Imogen wieder zum Leben.«
+
+»Sie wird nie wieder zum Leben erwachen«, ächzte der Jüngling und barg
+sein Gesicht in den Händen.
+
+»Nein, sie wird nie wieder zum Leben erwachen. Sie hat ihre letzte Rolle
+gespielt. Aber du mußt an diesen einsamen Tod in dem ärmlichen
+Garderobenzimmer denken wie an ein seltsam schauriges Fragment aus einer
+Tragödie von der Zeit König Jakobs her, wie an eine wunderbare Szene bei
+Webster oder Ford oder Cyril Tourneur. Das Mädchen hat nie wirklich
+gelebt, also ist sie auch nie wirklich gestorben. Für dich war sie ja
+niemals mehr als ein Traum, ein Schattengeist, der durch Shakespeares
+Dramen huschte und sie durch ihr Dasein noch reizvoller machte, der Ton
+einer Flöte, durch die Shakespeares Musik noch reicher und freudiger
+ertönte. Im Augenblick, wo sie das wirkliche Leben berührte, zerstörte
+sie es, und es zerstörte sie, und so schied sie dahin. Trauere um
+Ophelia, wenn es dir behagt. Streu Asche auf dein Haupt, weil Kordelia
+erwürgt wurde. Schrei zum Himmel, weil die Tochter des Brabantio starb.
+Aber verschwende deine Tränen nicht um Sibyl Vane. Sie war weniger
+wirklich, als jene sind.«
+
+Es entstand ein Schweigen. Der Abend dämmerte im Zimmer. Geräuschlos auf
+silbernen Fußen schlichen die Schatten aus dem Garten herein. Die Farben
+verschwanden müde aus allen Dingen.
+
+Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. »Du hast mich mir selber
+klargemacht«, flüsterte er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Alles,
+was du gesagt hast, habe ich auch gefühlt, nur hab' ich mich davor
+geängstigt, und ich konnte es mir selbst nicht ausdrücken. Wie gut du
+mich kennst! Aber wir wollen, von dem was geschehen ist, nie wieder
+sprechen. Es war ein wundersames Erlebnis. Das ist alles. Ich möchte
+wissen, ob meiner noch etwas so Wunderbares im Leben harrt.«
+
+»Das Leben hat alles für dich vorrätig, Dorian. Es gibt nichts, was du
+mit deiner außerordentlichen Schönheit nicht tun könntest.«
+
+»Aber stelle dir vor, Harry, wenn ich hager und alt und runzlich würde,
+was dann?«
+
+»Ach dann,« sagte Lord Harry und erhob sich zum Gehen -- »dann, mein
+bester Dorian, würdest du um deine Siege kämpfen müssen. Wie es ist,
+werden sie dir noch entgegengetragen. Nein, du mußt schön bleiben, wie
+du noch bist. Wir leben in einer Zeit, in der zuviel gelesen wird, als
+daß sie weise wäre, und in der zuviel gedacht wird, als daß sie schön
+wäre. Wir können dich nicht entbehren. Und jetzt tätest du besser, dich
+anzuziehen und in den Klub zu fahren. Wir kommen ohnehin schon zu spät.«
+
+»Ich meine, ich treffe dich lieber in der Oper, Harry. Ich bin zu müde,
+um etwas zu essen. Welche Nummer hat die Loge deiner Schwester?«
+
+»Siebenundzwanzig, glaub' ich, sie liegt im ersten Rang. Du findest
+ihren Namen an der Tür. Aber es tut mir leid, daß du nicht mit essen
+kommst.«
+
+»Ich bin nicht aufgelegt dazu,« sagte Dorian zerstreut, »aber ich bin
+dir sehr dankbar für alles, was du zu mir gesagt hast. Du bist wirklich
+mein bester Freund. Niemand hat mich je richtiger verstanden als du.«
+
+»Wir stehen erst am Anfang unserer Freundschaft, Dorian«, erwiderte Lord
+Harry und schüttelte ihm die Hand. »Adieu! Ich hoffe, dich vor halb zehn
+zu sehen. Vergiß nicht: die Patti singt.«
+
+Als sich die Tür hinter ihm schloß, klingelte Dorian Gray, und nach ein
+paar Minuten erschien Viktor mit den Lampen und ließ die Vorhänge herab.
+Er wartete ungeduldig, daß der Diener wieder verschwände. Der Mann
+schien eine unglaubliche Zeit für alles zu gebrauchen.
+
+Sobald er wieder draußen war, stürzte Dorian auf den Schirm zu und schob
+ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich nicht wieder verändert. Es hatte
+die Nachricht von Sibyl Vanes Tod erhalten, bevor er selbst davon gewußt
+hatte. Es kannte die Ereignisse des Lebens, sobald sie sich ereigneten.
+Dieser Zug böser Grausamkeit, der die feinen Linien des Mundes
+verunstaltete, war zweifellos im Augenblick aufgetaucht, als das Mädchen
+das Gift genommen hatte. Oder kümmerte sich das Bild nicht um die
+Wirkungen einer Tat? Nahm es nur von Vorgängen in der Seele Kenntnis? Er
+hätte es gar zu gern gewußt und hoffte, eines Tages solche Wandlung vor
+seinen Augen geschehen zu sehen, und er schauderte, während er es
+hoffte.
+
+Die arme Sibyl! Wie sonderbar romantisch alles gewesen war! Sie hatte
+oft den Tod auf der Bühne dargestellt. Dann hatte sie der Tod selbst
+gepackt und weggeholt. Wie mochte sie die grauenvolle letzte Szene
+gespielt haben? Hatte sie ihn im Sterben verflucht? Nein; sie war aus
+Liebe zu ihm gestorben, und die Liebe sollte ihm von jetzt ab immer ein
+Heiligtum bleiben. Sie hatte alles gebüßt durch das Opfer ihres Lebens.
+Er wollte nicht mehr daran denken, was er ihretwegen an jenem
+schrecklichen Theaterabend durchgemacht hatte. Wenn er an sie dachte,
+sollte es sein wie an eine wundersam tragische Gestalt, die auf die
+Weltbühne gestellt worden war, um die höchste Verwirklichung der Liebe
+zu künden. Eine wundersam tragische Gestalt? Tränen traten ihm in die
+Augen, als er sich ihres kindlichen Aussehens, ihrer fröhlichen,
+phantastischen Art, ihrer scheuen, zaghaften Anmut entsann. Er
+verscheuchte alles hastig und blickte wieder auf das Porträt.
+
+Er fühlte, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, zu wählen. Oder war die
+Wahl schon getroffen? Ja, das Leben hatte für ihn entschieden -- das
+Leben und seine unermeßliche Neugier auf das Leben. Ewige Jugend,
+unerschöpfliche Leidenschaft, ausgesuchte, geheimnisvolle Genüsse, wilde
+Freuden und noch wildere Sünden -- all das sollte er haben. Das Bildnis
+sollte die Last seiner Schmach tragen: das war alles.
+
+Ein peinliches Gefühl beschlich ihn, als er an die Entweihung dachte,
+die dieses schönen Gesichtes auf der Leinwand harrte. Einmal hatte er in
+knabenhafter Parodie des Narzissus die gemalten Lippen, die ihn jetzt so
+grausam anlächelten, geküßt oder doch zum Schein geküßt. Morgen für
+Morgen hatte er vor dem Bild gesessen und seine Schönheit angestaunt; zu
+Zeiten kam es ihm vor, als sei er in sein eigenes Bild verliebt. Sollte
+es sich nun wandeln mit jeder Laune, der er nachgab? Sollte es ein
+ungeheuerliches, widerliches Ding werden, das man im verhängten Winkel
+verschließen müsse vor dem Glanz der Sonne, der so oft das lockige
+Wunder seines Haares noch goldiger hatte aufleuchten lassen? Wie schade!
+Wie schade!
+
+Einen Augenblick dachte er daran, zu beten, daß die entsetzliche
+Beziehung zwischen ihm und dem Bilde aufhören möge. Es hatte sich
+verwandelt, da er darum gebeten hatte; es könnte vielleicht, wenn er
+darum bäte, auch wieder unverändert bleiben. Und doch, wer, der eine
+Ahnung vom Leben hat, würde die Möglichkeit, immer jung zu bleiben,
+aufgeben, mochte die Möglichkeit noch so phantastisch und mit noch so
+verhängnisreichen Folgen verknüpft sein? Überdies, stand es wirklich in
+seiner Macht? War wirklich das Gebet die Ursache der Verwandlung? Konnte
+es für die ganze Sache nicht irgendeine merkwürdige wissenschaftliche
+Ursache geben? Wenn das Denken eine Wirkung auf einen lebenden
+Organismus ausüben konnte, konnte da nicht das Denken auch auf tote
+unorganische Dinge Einfluß haben? Ja, konnten nicht ohne Gedanken und
+bewußte Wünsche Dinge eingreifen, die ganz außerhalb unserer Person
+stehen, im Einklange mit unseren Launen und Leidenschaftsanfällen
+erzittern, konnte nicht Atom zu Atom sprechen in geheimer Neigung oder
+seltsamer Verwandtschaft? Aber schließlich waren die Ursachen
+gleichgültig. Er wollte durch Gebet nie wieder eine schreckliche Macht
+versuchen. Wenn das Bildnis sich wandeln wollte, so sollte es sich
+wandeln. Das war einmal so. Warum zu tief in ein Geheimnis eindringen?
+
+Allerdings müßte es ein starker Genuß sein, solchen Vorgang zu
+beobachten. Er würde befähigt werden, seinem Geist in geheime
+Schlupfwinkel zu folgen. Dies Bild sollte ihm der zauberhafteste Spiegel
+werden. Wie es ihm seinen Körper geoffenbart hatte, so sollte es ihm nun
+die Seele enthüllen. Und wenn der Winter über das Gemälde hereinbrach,
+dann stand er immer noch da, wo der Frühling schwankt, ob er die zum
+Sommer führende Schwelle überschreiten soll. Wenn das Blut aus seinem
+Antlitz fortschliche und eine kreidebleiche Maske mit stummen Augen
+zurückließe, dann bewahrte er immer noch den Glanz des Säuglingsalters.
+Keine Blüte seiner Lieblichkeit sollte jemals welken. Kein Pulsschlag
+seines Lebens jemals erlahmen. Wie die Götter der Griechen würde er
+stark und behend und heiter bleiben. Was lag daran, was aus dem gemalten
+Abbild auf der Leinwand wurde? Er selbst war seiner sicher. Darauf kam
+alles an.
+
+Er schob den Schirm wieder auf den alten Platz vor dem Bilde und
+lächelte, indem er es tat. Dann ging er in sein Schlafzimmer, wo sein
+Diener schon auf ihn wartete. Eine Stunde später war er in der Oper, und
+Lord Harry beugte sich über seinen Stuhl.
+
+
+
+
+Neuntes Kapitel
+
+
+Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat Basil Hallward ins
+Zimmer.
+
+»Ich bin so froh, daß ich dich treffe, Dorian«, sagte er ernsten Tons.
+»Ich war gestern abend hier, und man sagte mir, daß du in der Oper
+seist. Ich wußte natürlich, daß es ja unmöglich ist. Aber es wäre mir
+lieber gewesen, du hättest ein Wörtchen hinterlassen, wo du wirklich
+warst. Ich habe eine schreckliche Nacht verbracht, und fürchtete halb,
+daß eine Tragödie der anderen folgen würde. Ich meine, du hättest mir
+wohl depeschieren können, so wie du die Nachricht erhieltst. Ich hab' es
+durch Zufall im letzten Abendblatt des Globe gelesen, das mir im Klub in
+die Hände geriet. Ich eilte sofort hierher und war unglücklich, dich
+nicht zu Hause anzutreffen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie tief mir
+die ganze Sache ins Herz schneidet. Ich weiß, was du leiden mußt. Aber
+wo warst du denn? Bist du hingegangen, um die Mutter des Mädchens zu
+sehen? Einen Moment dachte ich daran, dir dorthin zu folgen. In der
+Zeitung stand die Adresse. Irgendwo in Euston Road, nicht wahr? Aber ich
+hatte Angst, zudringlich zu sein in einem Schmerze, wo ich doch nicht
+abhelfen konnte. Die arme Frau! In was für einem Zustand muß sie sein!
+Und dazu ihr einziges Kind! Was hat sie zu all dem gesagt?«
+
+»Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?« sagte Dorian Gray, nippte
+etwas hellgelben Wein aus einem reizenden bauchigen venezianischen
+Glase, das mit Goldperlen inkrustiert war, und sah ganz unwillig aus.
+»Ich war in der Oper. Du hättest auch hinkommen sollen. Ich habe dort
+Harrys Schwester, Lady Gwendolen, kennengelernt. Wir waren in ihrer
+Loge. Sie ist ein bezauberndes Weib; und die Patti hat göttlich
+gesungen. Sprich nicht von schrecklichen Dingen! Wenn man über eine
+Sache nicht spricht, ist sie nicht geschehen. Nur was man äußert, sagt
+Harry, gibt den Dingen ihre Wirklichkeit. Erwähnen möcht' ich aber, daß
+sie nicht das einzige Kind der Frau war. Es ist noch ein Sohn da, ein
+famoser Junge vermutlich. Aber er ist nicht beim Theater. Matrose oder
+so was ähnliches. Und jetzt erzähle mir was von dir, was malst du?«
+
+»Du warst in der Oper?« sagte Hallward gedehnt, und seine Stimme war
+gepreßt vor Schmerz. »Du warst in der Oper, während Sibyl Vane tot in
+irgendeiner schmutzigen Stube lag? Du kannst mir von anderen
+bezaubernden Weibern erzählen, und daß die Patti göttlich gesungen hat,
+noch ehe das Mädchen, das du geliebt hast, die Ruhe des Grabes gefunden
+hat, darin sie schlafen soll? Mensch, bedenke doch, welche Schrecknisse
+auf den kleinen weißen Körper warten!«
+
+»Hör' auf, Basil, ich will davon nichts hören!« rief Dorian und sprang
+auf. »Du darfst mir über diese Dinge nichts sagen. Was geschehen ist,
+ist geschehen, was vergangen ist, ist vergangen.«
+
+»Nennst du gestern die Vergangenheit?«
+
+»Was hat die wirklich verstrichene Zeit damit zu tun? Nur seichtes Volk
+braucht Jahre, um ein Gefühl zu überwinden. Ein Mensch, der Herr über
+sich selbst ist, kann einen Schmerz ebenso leicht überwinden, wie er
+einen Genuß entdecken kann. Ich will nicht der Spielball meiner
+Empfindungen sein. Ich will sie ausnützen, mich an ihnen freuen und sie
+beherrschen.«
+
+»Dorian, es ist schauderhaft! Irgend etwas hat dich ganz verändert. Du
+siehst noch genau so aus wie der wunderhübsche Junge, der Tag für Tag in
+mein Atelier kam, um für mein Bild zu sitzen. Aber damals warst du
+einfacher, natürlich und herzlich. Du warst das unverdorbenste
+Menschenkind auf der ganzen Welt. Ich weiß nicht, was jetzt über dich
+gekommen ist. Du sprichst, als hättest du kein Herz, kein Mitleid in
+dir. Das ist Harrys Einfluß. Ich sehe es.«
+
+Der junge Mensch wurde rot, ging ans Fenster, sah ein paar Augenblicke
+auf den grün schimmernden, von der Sonne betupften Garten. »Ich schulde
+Harry sehr viel, sehr viel, Basil,« sagte er schließlich -- »mehr als
+ich dir schulde. Du hast mir nur Eitelkeit beigebracht.«
+
+»Ich bin bestraft worden dafür, Dorian -- oder werde es eines Tages
+sein.«
+
+»Ich weiß nicht, was du meinst, Basil«, rief Dorian aus und drehte sich
+um. »Ich weiß nicht, was du willst. Was willst du?«
+
+»Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt habe«, sagte der
+Künstler traurig.
+
+»Basil,« erwiderte der Jüngling, trat vor ihn hin und legte ihm die Hand
+auf die Schulter, »du bist zu spät gekommen. Als ich gestern hörte, daß
+sich Sibyl Vane getötet habe -- --«
+
+»Sich getötet! Gott im Himmel! ist das ganz sicher?« schrie Hallward und
+stierte ihn mit dem Ausdruck äußersten Schreckens an.
+
+»Mein lieber Basil! Du glaubst doch nicht, daß es nur ein gewöhnlicher
+Unglücksfall war? Natürlich hat sie sich selbst getötet.«
+
+Der ältere Mann vergrub sein Gesicht in den Händen. »Wie schrecklich!«
+flüsterte er und ein Schauer durchrann ihn.
+
+»Nein,« sagte Dorian Gray, »es ist gar nichts Schreckliches daran. Es
+ist eine der größten romantischen Tragödien unserer Zeit. In der Regel
+führen Schauspieler das alltäglichste Leben. Sie sind gute Ehemänner
+oder treue Ehefrauen oder sonst irgendwas Langweiliges. Du verstehst,
+was ich meine -- hausbackene Tugend und lauter solche Dinge. Wie anders
+war Sibyl! Sie lebte ihre beste Tragödie. Sie war immer eine Heldin. Am
+letzten Abend, wo sie spielte -- an dem Abend, wo du sie gesehen hast
+--, spielte sie schlecht, weil sie die Liebe als Wirklichkeit erkannt
+hatte. Als sie ihre Unwirklichkeit erfuhr, starb sie, wie Julia daran
+gestorben wäre. Sie entschwand wieder in das Reich der Kunst. Sie
+umschwebt etwas von einer Märtyrerin. Ihr Tod hat all die pathetische
+Nutzlosigkeit der Märtyrerschaft, all seine vergeudete Schönheit. Aber
+wie gesagt, du brauchst nicht zu glauben, daß ich nicht gelitten hätte.
+Wenn du gestern in einem bestimmten Augenblick, etwa um halb sechs oder
+um drei Viertel sechs gekommen wärst -- dann hättest du mich in Tränen
+aufgelöst gefunden. Selbst Harry, der hier war und mir erst die
+Nachricht brachte, hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Ich litt
+namenlos. Dann ging es vorüber. Ich kann das Gefühl nicht wiederholen.
+Niemand kann das, sentimentale Menschen ausgenommen. Und du bist
+furchtbar ungerecht, Basil. Du kommst hierher, um mich zu trösten. Das
+ist gut und lieb von dir. Du findest mich getröstet und bist wütend. So
+sieht dein Mitgefühl aus! Du erinnerst mich an eine Geschichte, die mir
+Harry über einen Philantropen erzählt hat, der sich zwanzig Jahre seines
+Lebens damit abquälte, irgendeinen Mißstand aus der Welt zu schaffen
+oder ein ungerechtes Gesetz abzuändern -- ich kann mich nicht mehr genau
+erinnern. Schließlich gelang es ihm, und nichts konnte größer sein als
+seine Enttäuschung. Er hatte nun absolut nichts mehr zu tun, starb
+beinah vor Langerweile und wurde ein unversöhnlicher Menschenhasser. Und
+außerdem, mein lieber, alter Basil, wenn du mich wirklich trösten
+wolltest, so lehre mich lieber vergessen, was geschehen ist, oder lehre
+mich's von rein künstlerischer Seite ansehen. War es nicht Gautier, der
+gern über die >~consolation des arts~< geschrieben hat? Ich erinnere
+mich, daß mir mal in deinem Atelier ein kleines Buch in Pergamentband
+in die Hand fiel, und ich darin auf diesen entzückenden Ausdruck stieß.
+Nun, ich bin ja nicht wie der junge Mann, von dem du mir einmal in
+Marlow erzählt hast, und der zu sagen pflegte, gelber Atlas könne einen
+über alles Elend im Leben hinwegtrösten. Ich liebe schöne Dinge, die man
+in die Hand nehmen und angreifen kann. Alter Brokat, grünpatinierte
+Bronzen, Lackarbeiten, Elfenbeinschnitzereien, eine erlesene
+Zimmerkunst, Luxus, Prunk, das sind alles Dinge, die einem viel geben
+können. Aber die künstlerische Seelenstimmung, die sie erzeugen oder
+mindestens offenbaren, bedeutet mir doch noch mehr. Ein Zuschauer seines
+eigenen Lebens sein, wie Harry sagt, das heißt, den Schmerzen des Lebens
+entrinnen. Ich weiß, du bist erstaunt, daß ich so zu dir spreche. Du
+hast noch nicht bemerkt, wie ich mich entwickelt habe. Ich war ein
+Schulknabe, als du mich kennenlerntest. Jetzt bin ich ein Mann. Ich habe
+neue Leidenschaften, neue Gedanken, neue Vorstellungen. Ich bin anders,
+aber du mußt mich trotzdem nicht weniger lieb haben. Ich bin verändert,
+aber du mußt immer mein Freund bleiben. Natürlich habe ich Harry sehr
+gern. Aber ich weiß auch, daß du besser bist als er. Du bist nicht
+stärker -- dazu ängstigst du dich zu viel vorm Leben -- aber du bist
+besser. Und wie glücklich waren wir doch miteinander! Verlaß mich nicht,
+Basil, und zanke nicht mit mir. Ich bin, was ich bin. Mehr kann ich dazu
+nicht sagen.«
+
+Der Maler war seltsam bewegt. Der junge Mensch war ihm unsagbar teuer,
+und seine Erscheinung war der große Wendepunkt in seiner Kunst gewesen.
+Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihm noch weitere Vorwürfe zu
+machen. Am Ende war seine Gleichgültigkeit nur eine vorübergehende
+Laune. Es steckte ja soviel Gutes, soviel Edles in ihm.
+
+»Gut, Dorian,« sagte er endlich mit einem wehmütigen Lächeln, »ich will
+von heut an nie wieder über diese furchtbare Sache sprechen. Ich hoffe
+nur, dein Name wird nicht in Verbindung damit genannt. Die Leichenschau
+soll heute nachmittag stattfinden. Bist du vorgeladen?«
+
+Dorian schüttelte den Kopf, und eine unangenehme Empfindung glitt bei
+dem Wort »Leichenschau« über sein Gesicht. In all diesen Dingen lag
+etwas so Rohes und Gemeines. »Sie kennen meinen Namen nicht«, antwortete
+er.
+
+»Aber sie wußte ihn doch?«
+
+»Nur meinen Vornamen, und den hat sie gewiß niemand gesagt. Sie erzählte
+mir einmal, daß alle sehr begierig seien, zu erfahren, wer ich sei und
+daß sie ihnen beständig sage, ich heiße der Prinz Märchenschön. Das war
+hübsch von ihr. Du mußt mir eine Zeichnung von Sibyl machen, Basil. Ich
+möchte von ihr gern etwas mehr haben als die Erinnerung an ein paar
+Küsse und einige gestammelte pathetische Worte.«
+
+»Ich will versuchen, etwas zu machen, Dorian, wenn ich dir damit eine
+Freude bereite. Aber du mußt zu mir kommen und mir selbst wieder sitzen.
+Ich komme ohne dich nicht vom Fleck.«
+
+»Ich kann dir nie wieder sitzen, Basil. Das ist unmöglich!« rief Dorian
+und schrak zurück.
+
+Der Maler starrte ihn an. »Mein lieber Junge, was für ein Unsinn«, rief
+er. »Willst du damit sagen, daß du mein Bild nicht gut findest? Wo ist
+es? Warum hast du den Wandschirm vorgestellt? Laß es mich sehen. Es ist
+die beste Arbeit, die ich je gemacht habe. Nimm den Schirm weg, Dorian!
+Es ist eine Schande, daß dein Bedienter mein Bild so versteckt. Ich
+merkte gleich, wie ich eintrat, daß das Zimmer ganz verändert sei.«
+
+»Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Du glaubst doch nicht etwa,
+daß ich ihm irgendeine Anordnung in meinem Zimmer überlasse? Er ordnet
+zuweilen meine Blumen -- das ist alles. Nein, ich habe es selbst getan.
+Das Licht war zu stark für das Bild.«
+
+»Zu stark? Gewiß nicht, mein Lieber. Es hat einen untadeligen Platz. Laß
+mich's mal sehen!« und Hallward schritt in die Zimmerecke.
+
+Ein Schrei des Entsetzens entrang sich den Lippen Dorian Grays, und er
+stürzte sich zwischen den Maler und den Schirm. »Basil,« sagte er und
+sah ganz bleich aus, »du darfst es nicht sehen. Ich will es nicht.«
+
+»Mein eigenes Bild nicht sehen? Du meinst das doch nicht im Ernst! Warum
+soll ich es nicht sehen?« rief Hallward lachend.
+
+»Wenn du versuchst, es anzusehen, Basil, gebe ich dir mein Ehrenwort,
+daß ich, solange ich lebe, nie wieder ein Wort mit dir spreche. Es ist
+mein völliger Ernst. Ich gebe keine Erklärung, und du wirst um keine
+bitten. Aber denke daran, wenn du diesen Wandschirm anrührst, dann ist
+alles aus zwischen uns!«
+
+Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Dorian Gray ganz verblüfft
+an. So hatte er ihn vorher nie gesehen. Der Jüngling war wirklich ganz
+bleich vor Zorn. Seine Hände waren zusammengeballt, und die Pupillen
+seiner Augen sahen aus wie blaue Feuerräder. Er zitterte am ganzen
+Leibe.
+
+»Dorian!«
+
+»Sprich nicht!«
+
+»Aber was ist los? Ich sehe das Bild natürlich nicht an, wenn du es
+nicht willst«, sagte der Maler ziemlich kühl, drehte sich um und ging
+zum Fenster hinüber. »Aber es scheint mir wahrhaftig ganz verrückt, daß
+ich mein eigenes Werk nicht sehen soll, besonders, wo ich es im Herbst
+in Paris ausstellen will. Ich werde es wahrscheinlich vorher nochmals
+firnissen müssen, werde es also eines Tages doch gewiß sehen, also warum
+nicht heute?«
+
+»Es ausstellen? Du willst es ausstellen?« rief Dorian Gray, den ein
+seltsames Angstgefühl überkam. Sollte alle Welt sein Geheimnis erfahren?
+Sollte das Volk das Geheimnis seines Lebens begaffen? Das war unmöglich.
+Irgend etwas -- er wußte noch nicht was -- mußte sofort geschehen.
+
+»Ja, ich denke nicht, daß du etwas dagegen haben wirst. Georges Petit
+will nächstens meine besten Bilder für eine Sonderausstellung in der Rue
+de Sèze sammeln, die in der ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll.
+Das Bild wird nur einen Monat lang weg sein. Ich meine, solange könntest
+du es leicht entbehren. Du bist ohnehin während dieser Zeit nicht in der
+Stadt. Und wenn du es überhaupt hinter einem Schirm versteckt halten
+willst, kann dir ja nicht viel daran gelegen sein.«
+
+Dorian Gray fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Schweißtropfen
+standen darauf. Er fühlte, daß er am Rande einer fürchterlichen Gefahr
+stehe. »Du hast mir vor einem Monat gesagt, du würdest es nie
+ausstellen«, rief er. »Warum hast du dich anders entschlossen? Ihr
+Leute, die ihr viel Aufhebens von der Konsequenz macht, habt genau
+soviel Launen wie andere. Der einzige Unterschied ist der, daß eure
+Launen wenig Sinn haben. Du kannst nicht vergessen haben, daß du mir
+feierlichst versichert hast, nichts in der Welt könne dich bewegen, das
+Bild auf eine Ausstellung zu bringen. Du sagtest zu Harry ganz
+dasselbe.« Er stockte plötzlich, und ein Glanz erwachte in seinen Augen.
+Er erinnerte sich, daß ihm Lord Harry einmal halb ernst und halb
+scherzend gesagt hatte: Willst du mal eine merkwürdige Viertelstunde
+erleben, dann laß dir von Basil sagen, warum er dein Porträt nicht
+ausstellen will. Er hat mir den Grund erzählt, und es war für mich eine
+Offenbarung. Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis. Er wollte
+ihn fragen und auf die Probe stellen.
+
+»Basil,« sagte er, und trat ganz dicht zu ihm heran und sah ihm fest ins
+Gesicht, »jeder von uns hat ein Geheimnis. Sage mir das deine, und ich
+laß dich meines wissen. Was für einen Grund hattest du, die Ausstellung
+meines Bildes zu verweigern?«
+
+Der Maler erschauderte, ohne daß er es wollte. »Dorian, wenn ich es dir
+sagte, hättest du mich wahrscheinlich weniger lieb und würdest mich
+gewiß auslachen. Keines von beiden könnte ich ertragen. Wenn du willst,
+daß ich nie mehr dein Bild ansehen soll, dann geb' ich mich zufrieden.
+Ich kann dich selbst ja immer ansehen. Wenn du die beste Arbeit, die ich
+je gemacht habe, vor der Welt versteckt halten willst, soll es mir recht
+sein. Deine Freundschaft ist mir mehr wert als Ruhm und Anerkennung.«
+
+»Nein, Basil, du mußt es mir sagen. Ich glaube, ich habe ein Recht, es
+zu wissen.« Sein Angstgefühl hatte ihn verlassen, und Neugier war an
+dessen Stelle getreten. Er war entschlossen, hinter Basil Hallwards
+Geheimnis zu kommen.
+
+»Setzen wir uns, Dorian«, sagte der Maler, der verwirrt aussah. »Setzen
+wir uns und beantworte mir eine Frage. Hast du an dem Bild etwas
+Merkwürdiges bemerkt? -- etwas, das dir vielleicht anfänglich nicht
+aufgefallen ist, was sich dir dann aber plötzlich enthüllte?«
+
+»Basil!« schrie der Jüngling, umklammerte die Armlehnen seines Stuhles
+mit zitternden Händen und starrte ihn mit wilden, verstörten Augen an.
+
+»Ich sehe, du hast es bemerkt. Sage nichts. Warte, bis du gehört hast,
+was ich zu sagen habe. Dorian, von dem Augenblick an, wo ich dich
+kennengelernt habe, übte deine Persönlichkeit den außerordentlichsten
+Einfluß auf mich aus. Ich war beherrscht von dir, meine Seele, mein
+Gehirn, meine ganze Kraft war es. Du wurdest für mich die sichtbare
+Verkörperung des unsichtbaren Ideals, dessen Bild uns Künstler wie ein
+köstlicher Traum verfolgt. Ich habe dich angebetet. Ich wurde
+eifersüchtig auf jeden Menschen, mit dem du sprachst. Ich wollte dich
+ganz für mich allein haben. Ich war nur glücklich, wenn ich mit dir
+zusammen war. Wenn du fort von mir warst, lebtest du trotzdem in meiner
+Kunst weiter... Natürlich ließ ich dich nie etwas davon wissen. Das
+wäre unmöglich gewesen. Du hättest es nicht verstanden. Ich selbst hab'
+es kaum verstanden. Ich wußte nur, daß ich Auge in Auge die
+Vollkommenheit gesehen hatte und daß sich die Welt meinen Augen als ein
+Wunder erschlossen hatte -- vielleicht als ein zu mächtiges Wunder, denn
+in so wahnsinniger Anbetung liegt eine Gefahr, die Gefahr, daß die
+Anbetung aufhört, und die Gefahr, daß sie bleibt... Wochen und Wochen
+verstrichen, und ich ging immer mehr und mehr in dir verloren. Dann kam
+ein neues Stadium. Ich hatte dich als Paris in strahlender Rüstung
+gemalt und als Adonis im Jägergewand mit blitzendem Speer. Mit schweren
+Lotusblüten bekränzt hast du auf dem Bug von Hadrians Barke gesessen und
+in den grünen, schlammigen Nil geblickt. Du hast dich über das stille
+Gewässer einer griechischen Waldlandschaft gelehnt und im stummen
+Silberspiegel das Wunder deines eigenen Antlitzes gesehen. Und es war
+alles gewesen, wie die Kunst sein soll, unbewußt, ideal und entrückt.
+Eines Tages, manchmal denke ich, eines verhängnisvollen Tages, entschloß
+ich mich, ein wundervolles Bildnis von dir zu malen, wie du wirklich
+bist, nicht im Kostüm toter Zeiten, sondern in deiner eigenen Tracht und
+deiner eigenen Zeit. Ob es nun die Realistik der Methode war, oder der
+Zauber deiner eigenen Persönlichkeit, der mir so ohne jeden Schleier und
+Nebel entgegentrat, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, daß mir bei der
+Arbeit jede Schicht Farben mein Geheimnis zu enthüllen schien. Ich
+ängstigte mich, andere könnten die Abgötterei, die ich mit dir trieb,
+entdecken. Ich fühlte, Dorian, daß ich zuviel gesagt, daß ich zuviel von
+mir selber hineingelegt hatte. Damals beschloß ich, das Bild nie
+auszustellen. Es kränkte dich ein wenig, aber damals verstandest du eben
+nicht, was es für mich bedeutete; Harry, dem ich davon erzählte, lachte
+mich aus. Aber das machte mich nicht irrig. Als das Bild fertig war, und
+ich allein vor ihm dasaß, fühlte ich, daß ich recht hatte... Schön, ein
+paar Tage später, als es mein Atelier verlassen, und ich alsbald den
+unerträglichen Zauber seiner Gegenwart überwunden hatte, schien es mir,
+daß es verrückt von mir gewesen war, mehr darin zu sehen, als daß du
+sehr hübsch seist, und ich wohl malen könne. Selbst jetzt kann ich nicht
+umhin, zu fühlen, daß es ein Irrtum sein muß, wenn man glaubt, daß die
+Begeisterung, die man beim Schaffen hat, in dem Werke, das man schafft,
+leibhaftig zum Ausdruck käme. Die Kunst ist immer abstrakter, als wir
+uns einbilden. Form und Farbe erzählen uns von Form und Farbe -- weiter
+nichts. Es scheint mir oft, daß die Kunst den Künstler viel mehr
+verbirgt als offenbart. Und als ich dann den Antrag aus Paris bekam,
+entschloß ich mich, dein Bild zum Hauptstück meiner Ausstellung zu
+machen. Es fiel mir nie ein, daß du es nicht zulassen würdest. Ich sehe
+jetzt, daß du recht hast. Das Bild darf nicht ausgestellt werden. Du
+mußt mir nicht böse sein, Dorian, wegen der Dinge, die ich gesagt habe.
+Ich habe früher einmal Harry gesagt, du bist dazu geschaffen, angebetet
+zu werden.«
+
+Dorian Gray atmete tief auf. Seine Wangen bekamen wieder Farbe, und ein
+Lächeln umspielte seine Lippen. Die Gefahr war vorbei. Für den
+Augenblick war er gerettet. Doch er mußte unendliches Mitleid fühlen mit
+dem Maler, der ihm eben diese seltsame Beichte abgelegt hatte, und er
+fragte sich, ob er selbst jemals so stark von der Persönlichkeit eines
+Freundes beherrscht werden könnte. Lord Henry hatte den Reiz, sehr
+gefährlich zu sein. Aber das war alles. Er war zu klug und zu zynisch,
+als daß man ihn wirklich lieben könnte. Würde es je einen Menschen
+geben, den er merkwürdig abgöttisch anbeten könnte? War das eines von
+den Dingen, die ihm das Leben noch aufsparte?
+
+»Es ist mir wirklich ein reines Rätsel,« sagte Hallward, »daß du das dem
+Porträt angesehen haben willst. Hast du es wirklich gesehen?«
+
+»Ich habe etwas darin gesehen,« antwortete er, »etwas, das mir sehr
+sonderbar vorkam.«
+
+»Und jetzt hast du wohl nichts mehr dawider, es einmal zu betrachten?«
+
+Dorian schüttelte den Kopf. »Das darfst du von mir nicht verlangen,
+Basil. Es ist mir unmöglich, dich vor dem Bilde stehen zu sehen.«
+
+»Aber doch ein andermal?«
+
+»Nie!«
+
+»Schön, vielleicht hast du recht. Und jetzt adieu, Dorian. Du bist der
+einzige Mensch in meinem Leben gewesen, der wirklichen Einfluß auf meine
+Kunst ausgeübt hat. Was ich je Gutes gemacht habe, danke ich dir. Ach!
+Du kannst dir nicht vorstellen, was es mich gekostet hat, dir all das
+zu sagen, was ich gesagt habe.«
+
+»Mein lieber Basil,« sagte Dorian, »was hast du mir denn gesagt? Nichts,
+als daß du das Gefühl habest, mich zu sehr zu bewundern. Das ist nicht
+einmal ein Kompliment.«
+
+»Es sollte auch kein Kompliment sein. Es war eine Beichte. Jetzt, da ich
+sie abgelegt habe, kommt es mir so vor, als ob ich etwas verloren hätte.
+Man sollte seiner Verehrung niemals das Kleid der Worte umhängen.«
+
+»Deine Beichte hat mich enttäuscht.«
+
+»Ja, was hast du denn erwartet, Dorian? Du hast doch nicht sonst noch
+etwas in dem Bilde gesehen? Es war doch nicht sonst noch etwas anderes
+zu sehen?«
+
+»Nein, es war sonst nichts anderes zu sehen. Warum fragst du? Aber du
+solltest nicht von Verehrung sprechen. Das ist Narrheit. Du und ich, wir
+sind Freunde, Basil, und müssen es immer bleiben.«
+
+»Du hast jetzt Harry«, sagte der Maler traurig.
+
+»Oh, Harry!« rief der junge Mann mit einem fröhlichen Lachen. »Harry
+verbringt seine Tage damit, unglaubliche Dinge zu sagen, und seine
+Abende, unwahrscheinliche Dinge zu tun. Das ist genau die Art Leben, das
+ich führen möchte. Immerhin glaube ich nicht, daß ich je zu Harry ginge,
+wenn mich Kummer drückte. Ich würde eher zu dir kommen.«
+
+»Du willst mir wieder sitzen?«
+
+»Unmöglich!«
+
+»Du vernichtest meine künstlerische Existenz, wenn du dich weigerst.
+Kein Mensch begegnet zwei Idealen. Wenige finden eines.«
+
+»Ich kann es dir nicht erklären, Basil, aber ich darf dir nie wieder
+sitzen. Es schwebt etwas Verhängnisvolles um das Bildnis eines Menschen.
+Es hat ein Leben für sich. Ich werde zu dir kommen und mit dir Tee
+trinken, das wird ebenso hübsch sein.«
+
+»Für dich hübscher, fürchte ich«, sagte Hallward bekümmert vor sich hin.
+»Und jetzt adieu. Es tut mir leid, daß du mich nicht noch einmal das
+Bild sehen lassen wolltest. Aber dabei ist nichts zu tun. Ich verstehe
+sehr gut, was du dabei fühlst.«
+
+Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte sich Dorian Gray zu. Der
+arme Basil! Wie wenig ahnte der doch von dem wahren Grunde! Und wie
+seltsam es war, daß er es, statt sein eigenes Geheimnis offenbaren zu
+müssen, fast durch einen Zufall erreicht hatte, dem Freunde das seine zu
+entreißen. Wie viel erklärte ihm doch diese merkwürdige Beichte! Die
+unverständlichen Eifersuchtsanfälle des Malers, seine ungestüme
+Verehrung, seine übertriebenen Lobeshymnen, sein sonderbares Verstummen
+-- das alles verstand er jetzt, und er tat ihm leid. Einer Freundschaft,
+die so stark von Romantik gefärbt war, schien ihm eine gewisse Tragik
+inne zu wohnen.
+
+Er seufzte und drückte auf die Klingel. Das Porträt mußte um jeden Preis
+versteckt werden. Er konnte sich nicht ein zweitesmal der Gefahr solcher
+Entdeckung aussetzen. Es war wahnsinnig von ihm gewesen, das Ding da
+überhaupt nur eine Stunde lang in einem Zimmer zu lassen, zu dem jeder
+seiner Freunde Zutritt hatte.
+
+
+
+
+Zehntes Kapitel
+
+
+Als sein Bedienter eintrat, sah er ihn forschend an und fragte sich, ob
+es ihm wohl schon eingefallen sei, hinter den Schirm zu blicken. Der
+Mann sah aber ganz harmlos aus und wartete auf seine Befehle. Dorian
+zündete sich eine Zigarette an, ging zum Spiegel hinüber und sah hinein.
+Er konnte Viktors Gesicht darin genau sehen. Es war eine reglose Maske
+der Unterwürfigkeit. Daher war nichts zu fürchten, daher nicht. Doch er
+hielt es für das beste, auf der Hut zu sein.
+
+In sehr leisem Tone trug er ihm auf, die Haushälterin herein zu rufen
+und dann zum Einrahmer zu gehen, damit er sofort zwei Gehilfen schicke.
+Es schien ihm, daß die Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, in
+die Richtung des Schirmes gingen. Oder war das nur Einbildung von ihm?
+
+Nach einigen Augenblicken trat Frau Leaf in ihrem schwarzseidenen Kleid,
+altmodische Zwirnhandschuhe auf den runzligen Händen, in die Bibliothek.
+Er verlangte von ihr den Schlüssel zum Schulzimmer.
+
+»Das alte Schulzimmer, Herr Dorian!« rief sie aus. »Ei, das ist ja
+voller Staub. Es muß erst hergerichtet und in Ordnung gebracht werden,
+bevor Sie hinein können. Es ist jetzt nicht in einem Zustand, daß Sie es
+sehen könnten, gnädiger Herr. Wirklich nicht.«
+
+»Es braucht nicht hergerichtet zu werden, gute Leaf. Ich will nur den
+Schlüssel.«
+
+»Aber gnädiger Herr, Sie werden sich voller Spinnweben machen, wenn Sie
+hineingehen. Ei, es ist ja beinah seit fünf Jahren nicht geöffnet
+worden, seit seine Gnaden gestorben sind.«
+
+Er zuckte zusammen bei der Erwähnung seines Großvaters. Er hatte nur
+gehässige Erinnerungen an ihn. »Das macht nichts«, erwiderte er. »Ich
+will das Zimmer nur sehen -- das ist alles. Geben Sie mir den
+Schlüssel.«
+
+»Hier ist schon der Schlüssel, gnädiger Herr«, sagte die alte Dame, die
+ihren Schlüsselbund mit zitternden, unsicheren Händen durchmustert
+hatte. »Hier ist der Schlüssel, ich werde ihn gleich vom Bund haben.
+Aber Sie denken doch nicht daran, dort hinaufzuziehen, gnädiger Herr, wo
+Sie es hier so gemütlich haben?«
+
+»Nein, nein!« rief er ungeduldig. »Ich danke, gute Leaf. Ich brauche
+sonst nichts.«
+
+Sie verweilte noch ein paar Augenblicke und wollte über irgendeine
+Angelegenheit in der Haushaltung zu quengeln anfangen. Er seufzte und
+sagte, sie solle alles so erledigen, wie sie es fürs beste halte. Mit
+strahlendem Gesichte verließ sie das Zimmer.
+
+Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel in die Tasche
+und blickte sich im Zimmer um. Sein Auge fiel auf eine große purpurne
+Atlasdecke mit schweren Goldstickereien, ein köstliches Stück
+venezianischer Arbeit vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein
+Großvater in einem Kloster nahe bei Bologna aufgestöbert hatte. Ja, die
+paßte trefflich, um das schreckliche Ding damit zu verhüllen. Sie hatte
+vielleicht oft als Bahrtuch für Tote gedient. Jetzt sollte sie etwas
+verhüllen, das eine eigene Art Verwesung in sich hatte, eine ärgere als
+die Verwesung des Todes -- etwas, das Schrecknisse ausbrüten und doch
+nie sterben würde. Was Würmer für einen Leichnam sind, das würden seine
+Sünden für das gemalte Antlitz auf der Leinwand werden. Sie würden seine
+Schönheit zerstören und seine Anmut wegfressen. Sie würden es beflecken
+und schänden. Und doch würde das Bild weiterleben. Es würde immer am
+Leben bleiben.
+
+Er schauderte, und einen Augenblick lang tat es ihm leid, daß er Basil
+nicht den wahren Grund gesagt habe, warum er das Bild verstecken wolle.
+Basil hätte ihm helfen können, sowohl dem Einfluß Lord Henrys zu
+widerstehen, als auch den noch viel giftigeren Einflüssen, die aus
+seiner eigenen Natur herrührten. Die Liebe, die Basil für ihn hegte --
+denn es war wirklich Liebe --, schloß nichts ein, was nicht edel und
+vergeistigt wäre. Es war nicht jene rein physische Bewunderung, die eine
+Geburt der Sinne ist und mit der Ermüdung der Sinne hinstirbt. Es war
+eine Liebe, wie sie Michelangelo gekannt hatte und Montaigne und
+Winkelmann und auch Shakespeare. Ja, Basil hätte ihn retten können. Aber
+jetzt war es zu spät. Die Vergangenheit konnte immer vernichtet werden.
+Reue, Verleugnung oder Vergessenheit konnten das bewirken. Aber die
+Zukunft war unabwendlich. Er hatte Leidenschaften in sich, die ihr
+fürchterliches Ausfalltor bei ihm finden wurden, Träume, die ihre
+sündigen Schatten zur Wirklichkeit umwandeln würden.
+
+Er griff nach dem großen Überwurf aus Purpur und Gold, der den Diwan
+bedeckte, hob ihn mit beiden Händen auf und ging damit hinter den
+Schirm. War das Gesicht auf der Leinwand jetzt häßlicher als vorher? Es
+erschien ihm unverändert; und doch, sein Abscheu davor war noch
+verstärkt. Goldiges Haar, blaue Augen, rosenrote Lippen -- das war alles
+da. Nur der Ausdruck hatte sich verwandelt. Der war erschreckend in
+seiner Grausamkeit. Im Vergleich zu den Vorwürfen und der Rüge, die er
+in dem Bilde sah, wie nichtssagend waren da Basils Vorhaltungen über
+Sibyl Vane gewesen -- nichtssagend und belanglos! Seine eigene Seele sah
+ihn an aus der Leinwand und forderte ihn vors Gericht. Ein schmerzlicher
+Zug legte sich über sein Gesicht, und er warf die prunkvolle Sofadecke
+über das Bild. Während er dies tat, klopfte es an die Tür. Er kam hinter
+dem Wandschirm hervor, als sein Bedienter eintrat.
+
+»Die Leute sind da, Monsieur.«
+
+Er hatte das Gefühl, daß er den Mann jetzt los werden müsse. Er durfte
+nicht wissen, wohin das Bild sollte. Er hatte etwas Listiges an sich und
+nachdenkliche, verräterische Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch,
+kritzelte ein paar Zeilen hin an Lord Henry, worin er bat, ihm etwas zum
+Lesen zu schicken, und worin er ihn daran erinnerte, daß sie sich um
+viertel neun heut abend treffen wollten.
+
+»Warten Sie auf Antwort,« sagte er, indem er ihm den Brief übergab, »und
+lassen Sie die Leute herein.«
+
+Nach zwei bis drei Minuten klopfte es wieder, und Herr Hubbard, der
+berühmte Rahmenfabrikant aus South Audley Street, trat mit einem
+struwwelig aussehenden Gehilfen herein. Herr Hubbard war ein blühend
+aussehender, rotbäckiger, kleiner Mann, dessen Bewunderung für die Kunst
+beträchtlich vermindert worden war durch den althergebrachten Geldmangel
+bei den meisten Künstlern, die mit ihm zu tun hatten. In der Regel
+verließ er seine Werkstatt nie. Er wartete, bis die Leute zu ihm kamen.
+Aber bei Dorian Gray machte er immer eine Ausnahme. Es war etwas an
+Dorian, was jeden entzückte. Ihn nur zu sehen, das war schon ein
+Vergnügen.
+
+»Was steht zu Ihren Diensten, Herr Gray?« fragte er und rieb seine
+fetten, sommersprossigen Hände. »Ich dachte, ich wollte mir selbst die
+Ehre geben, herüberzukommen. Ich habe gerade ein Prachtstück von Rahmen
+da. Bei einer Auktion ergattert. Alt-Florentiner. Stammt aus Fonthill,
+vermute ich. Wundervoll geeignet für einen religiösen Gegenstand, Herr
+Gray.«
+
+»Es tut mir leid, daß Sie sich selbst herbemüht haben, Herr Hubbard. Ich
+werde gern mal vorbeikommen und den Rahmen ansehen -- obwohl ich mich
+gerade jetzt nicht sehr für religiöse Kunst interessiere -- aber heute
+möchte ich nur ein Bild auf den Boden getragen haben. Es ist ziemlich
+schwer, deshalb dachte ich mir, daß Sie so gut wären, mir zwei von Ihren
+Leuten zu leihen.«
+
+»Hat gar nichts zu sagen, Herr Gray. Freue mich, wenn ich Ihnen den
+kleinsten Dienst leisten kann. Wo ist das Kunstwerk, gnädiger Herr?«
+
+»Dies da«, antwortete Dorian und schob den Schirm zurück. »Können Sie es
+so hinaufbringen, wie es jetzt ist, Decke und Bild zusammen? Ich möchte
+nicht, daß es die Treppen hinauf zerschrammt wird.«
+
+»Das werden wir leicht kriegen«, sagte der muntere Rahmenmacher und
+begann mit Hilfe von seinem Gesellen das Bild von den langen
+Messingketten loszumachen, an denen es aufgehängt war. »Und wo soll es
+jetzt hingebracht werden, Herr Gray?«
+
+»Ich will Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn Sie so gut sein
+wollen, mir nur zu folgen. Oder vielleicht gehen Sie lieber voraus. Es
+tut mir leid, aber es ist ganz oben. Wir wollen über die Vordertreppe
+gehen, die ist breiter.«
+
+Er hielt ihnen die Tür auf, und sie gingen in den Vorraum hinaus und
+fingen an, hinaufzusteigen. Die ausladenden Verzierungen des Rahmens
+hatten das Bild sehr umfangreich gemacht, und hin und wieder legte
+Dorian mit Hand an, um ihnen zu helfen, trotz den unterwürfigen
+Einwänden des Herrn Hubbard, der die lebhafte Abneigung des wirklichen
+Handwerkers gegen jede nützliche Beschäftigung eines vornehmen Herrn
+hatte.
+
+»Da hat man ein ziemliches Gewicht zu schleppen«, pustete der kleine
+Mann, als sie den letzten Treppenabsatz erreicht hatten. Und er
+trocknete sich die glänzende Stirn.
+
+»Es tut mir leid, daß es so schwer ist«, murmelte Dorian, während er die
+Tür zu dem Zimmer aufschloß, das dieses sonderbare Geheimnis seines
+Lebens aufbewahren und seine Seele vor den Blicken der Menschheit
+schützen sollte.
+
+Er hatte die Stube wohl länger als vier Jahre nicht betreten -- in
+Wirklichkeit nicht, seitdem sie ihm in seiner Kindheit zuerst als
+Spielzimmer, und dann, als er etwas älter war, als Studierzimmer gedient
+hatte. Es war ein großer Raum von schönen Verhältnissen, den der
+verstorbene Lord Kelso eigens zur Benutzung für seinen kleinen Enkel
+angebaut hatte, den er wegen seiner fabelhaften Ähnlichkeit mit seiner
+Mutter und auch noch aus anderen Gründen immer gehaßt hatte und
+möglichst weit weg von sich haben wollte. Der Raum schien Dorian wenig
+verändert. Da war der mächtige italienische Cassone mit den phantastisch
+bemalten Füllungen und den abgenutzten goldenen Ornamenten, in dem er
+sich als Junge oft versteckt hatte. Da stand der polierte Bücherschrank
+aus Satinholz mit seinen Schulbüchern voll Eselsohren. An der Wand
+darüber hing noch derselbe zerfaserte flämische Gobelin, auf dem ein
+verblichener König und eine Königin in einem Garten Schach spielten,
+während ein Trupp von Falkenieren vorbeiritt, die auf ihren
+Panzerhandschuhen Vögel mit kappenverhüllten Köpfen trugen. Wie gut er
+sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner vereinsamten Kindheit
+kam ihm vors Gedächtnis, während er sich umsah. Er entsann sich der
+fleckenlosen Reinheit seines Knabenlebens, und es schien ihm furchtbar,
+daß gerade hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen werden sollte. Wie
+wenig hatte er in diesen längst verrauschten Tagen von alledem geahnt,
+was seiner warten sollte!
+
+Aber kein anderer Ort im ganzen Hause war so sicher vor neugierigen
+Augen als dieser. Er hatte den Schlüssel, und jetzt konnte niemand
+weiter hinein. Hinter dem purpurnen Bahrtuch konnte nun das gemalte
+Gesicht auf der Leinwand tierisch, gedunsen und lasterhaft werden. Was
+lag daran? Niemand konnte es sehen. Er selbst wollte es nicht sehen.
+Warum sollte er die gräßliche Verwesung seiner Seele verfolgen? Er
+behielt seine Jugend -- das mußte genügen. Und übrigens, konnte sein
+Wesen trotz allem nicht edler werden? Es war kein Grund vorhanden, daß
+die Zukunft so angefüllt von Lastern sein müsse. Die Liebe konnte in
+sein Leben treten und ihn läutern und ihn vor den Sünden beschützen, die
+ihm schon in Geist und Blut zu gähren schienen -- diese seltsamen, nicht
+gemalten Sünden, deren Unbekanntheit ihnen eben den Reiz und die
+Verführung lieh. Eines Tages vielleicht verschwand der grausame Zug von
+dem empfindlichen Scharlachmund, und dann würde er der Welt Basil
+Hallwards Meisterwerk zeigen können.
+
+Nein, das war unmöglich. Stunde für Stunde und Woche für Woche alterte
+das Antlitz auf der Leinwand. Es mochte den Greueln der Sünde
+entfliehen, aber die Greuel des Alters mußten es einholen. Die Wangen
+müssen hohl oder schlaff werden. Gelbe Krähenfüße müssen sich um die
+glanzlosen Augen herumringeln und sie fürchterlich machen. Das Haar
+mußte seinen Glanz verlieren, der Mund klaffen oder einfallen, blöde
+oder gewöhnlich aussehen, wie eben der Mund alter Leute aussieht. Der
+Hals mußte verschrumpfen, die Hände mußten kalt und von blauen Adern
+durchzogen werden, der Körper mußte sich krümmen, wie er ihn bei seinem
+Großvater gesehen hatte, der so streng gegen ihn gewesen war in der
+Knabenzeit. Das Bildnis mußte verborgen bleiben. Da konnte nichts
+helfen.
+
+»Bitte, Herr Hubbard, bringen Sie es herein«, sagte er abgespannt und
+wandte sich um. »Es tut mir leid, daß ich Sie so lange aufhielt. Ich
+dachte gerade nach über etwas.«
+
+»Immer angenehm, sich mal verschnaufen zu können, Herr Gray«, antwortete
+der Rahmenmacher, der noch immer nach Luft schnappte. »Wo sollen wir es
+hinstellen?«
+
+»Ach, irgendwo. Vielleicht hierher: da wird's gut stehen. Ich will's
+nicht aufgehängt haben. Lehnen Sie es nur gegen die Wand. Danke!«
+
+»Darf man das Kunstwerk mal ansehen?«
+
+Dorian erschrak. »Es würde Sie nicht interessieren, Herr Hubbard«, sagte
+er und sah den Mann fest an. Er fühlte sich imstande, auf ihn
+loszustürzen und ihn zu Boden zu werfen, wenn er es wagen sollte, die
+schimmernde Hülle zu lüften, die das Geheimnis seines Lebens barg. »Ich
+will Sie nicht länger aufhalten. Schönsten Dank, daß Sie so freundlich
+waren, herüberzukommen.«
+
+»Kein Anlaß, kein Anlaß, Herr Gray! Es ist mir immer ein Vergnügen, für
+Sie etwas tun zu dürfen.«
+
+Und Herr Hubbard stapfte die Treppe hinab, sein Gehilfe hinterher, der
+noch einmal nach Dorian zurückblickte, mit einem Ausdruck scheuer
+Bewunderung in dem unschönen Alltagsgesicht. Er hatte nie einen Menschen
+gesehen, der so wunderhübsch war.
+
+Als das Geräusch ihrer Fußtritte verklungen war, schloß Dorian die Tür
+zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Jetzt fühlte er sich
+gleichsam gerettet! Nie würde jemand das Schrecknis sehen. Kein Auge als
+seines würde mehr seine Schande erblicken.
+
+Als er wieder in die Bibliothek kam, sah er, daß es gerade fünf Uhr war
+und daß der Tee schon bereit stand. Auf einem kleinen Tisch aus dunklem,
+wohlriechendem Holz, das reich mit Perlmutter ausgelegt war, einem
+Geschenk der Frau seines Vormundes, Lady Radley, einer hübschen Kranken
+von Beruf und Gewohnheit, die den vergangenen Winter in Kairo zugebracht
+hatte, lag ein Briefchen von Lord Henry und daneben ein Buch in gelbem,
+leicht abgenutztem und an den Ecken nicht mehr ganz sauberem Umschlag.
+Ein Exemplar der dritten Tagesausgabe der St.-James-Gazette lag auf dem
+Teebrett. Offenbar war Viktor zurückgekehrt. Er fragte sich, ob er wohl
+die Leute in der Vorhalle getroffen hätte, als sie das Haus verließen,
+und ob er sie ausgeforscht hätte, was sie getan hätten. Er würde sicher
+das Bild vermissen -- hatte es ohne Zweifel schon vermißt, als er den
+Teetisch zurecht machte. Der Schirm war noch nicht an seinen Platz
+zurückgestellt worden, und der leere Raum an der Wand war auffallend.
+Vielleicht würde er ihn eines Nachts ertappen, wie er hinaufschlich und
+die Tür des Bodenzimmers zu sprengen versuchte. Es war schrecklich,
+einen Spion im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten gehört, die
+ihr ganzes Leben hindurch von den Erpressungen eines Bedienten
+ausgesaugt wurden, der mal irgendeinen Brief gelesen oder ein Gespräch
+mitangehört oder eine Karte mit einer Adresse gefunden oder unter einem
+Kissen eine verwelkte Blume oder einen Fetzen zerknitterter Spitze
+entdeckt hatte.
+
+Er seufzte, goß sich etwas Tee ein und öffnete Lord Henrys Billett. Es
+stand nur darin, daß er ihm die Abendzeitung schicke und ein Buch, das
+ihn vielleicht interessieren werde, und daß er ihn um Viertel neun im
+Klub zu treffen hoffe. Er öffnete langsam die St.-James und durchflog
+sie. Ein Strich mit Rotstift auf der fünften Seite fiel ihm auf. Er
+machte auf die folgende Notiz aufmerksam:
+
+ »_Leichenschau einer Schauspielerin._ Eine gerichtliche
+ Untersuchung wurde heute morgen von Herrn Danby, dem
+ Bezirks-Leichenbeschauer in der Bell Tavern, Hoxton Road, über den
+ Leichnam von Sibyl Vane, einer jungen Schauspielerin, die seit
+ kurzem am Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten. Es
+ wurde auf Tod durch einen Unglücksfall erkannt. Reges Mitgefühl
+ erweckte die Mutter der Verblichenen, die während ihrer Aussage und
+ der des ~Dr.~ Birrel, der die Obduktion der Leiche vorgenommen
+ hatte, ihrem Schmerz erschütternden Ausdruck gab.«
+
+Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt, lief im Zimmer auf und ab und
+warf die Papierfetzen weg. Wie häßlich das alles war! Und was für eine
+schreckliche Wirklichkeit die Häßlichkeit allem gab! Er ärgerte sich ein
+wenig über Lord Henry, daß er ihm den Bericht geschickt hatte. Und
+sicher war es albern von ihm, ihn mit Rotschrift anzustreichen. Viktor
+konnte ihn gelesen haben. Der Mann verstand dafür mehr als genug
+Englisch.
+
+Vielleicht hatte er ihn schon gelesen und angefangen, Verdacht zu
+schöpfen. Und wenn schon, was lag daran? Was hatte Dorian Gray mit Sibyl
+Vanes Tod zu tun? Es war kein Grund zur Furcht. Dorian Gray hatte sie
+nicht getötet.
+
+Sein Auge fiel auf das gelbe Buch, das ihm Lord Henry geschickt hatte.
+Er war gespannt, was es sein mochte. Er trat an den kleinen
+perlfarbenen, achteckigen Hocker, der ihm immer wie das Werk seltsamer
+ägyptischer Bienen vorgekommen war, die ihre Waben in Silber trieben,
+nahm den Band zur Hand, warf sich in einen Lehnsessel und begann zu
+blättern. Nach einigen Augenblicken kam er nicht mehr davon los. Es war
+das merkwürdigste Buch, das er je gelesen hatte. Es schien ihm, als
+zögen in erlesenen Prachtgewändern und zum Klange von Flöten die Sünden
+der Welt in stummem Reigentanze an ihm vorbei. Dinge, die er bestimmt
+geträumt hatte, wurden plötzlich zur Wirklichkeit. Dinge, von denen er
+vag geträumt hatte, wurden ihm mählich enthüllt.
+
+Es war ein Roman ohne rechte Handlung, der sich um einen einzigen
+Charakter drehte, eigentlich eine bloße psychologische Studie über einen
+gewissen jungen Pariser, der sein Leben mit dem Versuche hinbrachte, im
+neunzehnten Jahrhundert alle Leidenschaften und Wandlungen der
+Denkungsart in Wirklichkeit umzusetzen, die jedem Jahrhundert, außer
+seinem eigenen, angehört hatten, und so die verschiedenartigen
+psychischen Zustände, die irgend einmal die Weltseele durchgemacht
+hatte, in sich selbst gewissermaßen zu vereinigen, indem er jene
+Entsagungen, die die Menschen in ihrer Torheit Tugend genannt haben,
+ihrer bloßen Künstlichkeit wegen ebenso heftig liebte wie jene
+Empörungen gegen die Natur, die weise Menschen noch immer Sünden nennen.
+Der Stil, in dem das Buch geschrieben war, bestand in jener sonderbaren,
+reich geschmückten Diktion, die lebendig und dunkel zugleich ist, von
+Argotausdrücken und archaistischen Wendungen, von technischen Ausdrücken
+und sorgsam gefeilten Umschreibungen strotzt, wie sie die Arbeiten
+einiger der feinsten Künstler aus der französischen Symbolistenschule
+kennzeichnet. Es waren Metaphern darin, so abenteuerlich an Form wie
+Orchideen und auch so fein angehaucht wie deren Farbentöne. Das Leben
+der Sinne war mit einer Terminologie mystischer Philosophie beschrieben.
+Man wußte manchmal kaum, ob man von den vergeistigten Entzückungen eines
+mittelalterlichen Heiligen las oder die krankhaften Beichtbekenntnisse
+eines modernen Sünders. Es war ein Buch voll Gift. Ein dicker
+Weihrauchnebel schien über den Seiten zu schweben und sein Gehirn zu
+betäuben. Schon der melodische Fall der Sätze, die gesuchte Monotonie
+ihrer Musik mit der Fülle von komplizierten Refrains und Taktgefügen,
+die sich in der raffiniertesten Weise wiederholten, erzeugten im Geist
+des Jünglings, als er von Kapitel zu Kapitel weiterlas, eine Art
+Träumerei, ja eine förmliche Krankheit des Träumens, so daß er den
+sinkenden Tag und die hereinkriechenden Schatten nicht merkte.
+
+Wolkenlos, von den Strahlen keines einzigen Sternes durchstochen,
+glimmerte ein kupfergrüner Himmel durch die Fenster. Er las bei seinem
+matten Licht weiter, bis er nicht mehr lesen konnte. Nachdem ihn sein
+Diener mehrere Male an die späte Stunde erinnert hatte, stand er auf,
+ging ins Nebenzimmer, legte das Buch auf das Florentiner Tischchen, das
+immer neben seinem Bett stand, und begann sich zum Diner umzukleiden.
+
+Es war fast neun Uhr, als er im Klub ankam, wo er Lord Henry allein und
+sehr gelangweilt aussehend, im Frühstückszimmer sitzend, antraf.
+
+»Es tut mir zwar leid, Harry,« rief er, »aber es ist nur deine Schuld.
+Das Buch, das du mir geschickt hast, hat mich wirklich so gefesselt, daß
+ich gar nicht merkte, wo die Zeit geblieben ist.«
+
+»Ja, ich dachte mir, daß es dir gefällt«, antwortete der Freund, sich
+vom Stuhle erhebend.
+
+»Ich habe nicht gesagt, daß es mir gefällt, Harry. Ich habe gesagt, es
+fesselte mich. Das ist ein großer Unterschied.«
+
+»Ah, das hast du entdeckt?« sagte Lord Henry. Und sie gingen zusammen in
+den Speisesaal.
+
+
+
+
+Elftes Kapitel
+
+
+Jahre hindurch konnte sich Dorian Gray von dem Einfluß dieses Buches
+nicht losmachen. Oder es wäre vielleicht richtiger zu sagen, er
+versuchte gar nicht, sich von ihm loszumachen. Er ließ sich aus Paris
+nicht weniger als neun Luxusexemplare der ersten Auflage kommen und ließ
+sie verschiedenfarbig einbinden, damit sie zu den wechselnden Launen und
+veränderlichen Stimmungen seiner Natur paßten, über die er bisweilen
+jede Herrschaft verloren zu haben schien. Der Held, der wunderbare junge
+Pariser, bei dem das romantische und das wissenschaftliche Temperament
+so merkwürdig vermischt waren, wurde für ihn eine Art vorbildlicher
+Idealgestalt seiner selbst. Und in der Tat schien ihm das ganze Buch die
+Geschichte seines Lebens zu enthalten, aufgeschrieben, bevor er selbst
+es gelebt hatte.
+
+In einer Beziehung aber war er glücklicher als der phantastische
+Romanheld. Er kannte nie -- hatte in der Tat auch nie einen Grund dazu
+-- das beinahe groteske Grauen vor Spiegeln und polierten Metallflächen
+und unbewegten Wassern, das den jungen Pariser so früh im Leben überkam
+und das durch den jähen Verfall einer Schönheit verursacht war, die
+allem Anschein nach vorher ganz außerordentlich gewesen sein mußte. Mit
+einer fast grausamen Lust -- und vielleicht liegt in jeder Lust, wie
+gewißlich in jedem Genuß, Grausamkeit -- pflegte er den zweiten Teil des
+Buches zu lesen mit dem wirklich tragischen, wenn auch etwas übertrieben
+geschilderten Bericht von den Leiden und der Verzweiflung eines
+Menschen, der selbst verloren hatte, was er an anderen und an der Welt
+am höchsten schätzte.
+
+Denn die wundervolle Schönheit, die Basil Hallward so gefesselt hatte
+und manchen anderen auch, schien ihn nie zu verlassen. Selbst jene, die
+die häßlichsten Dinge über ihn gehört hatten -- und von Zeit zu Zeit
+schlichen seltsame Gerüchte über seine Lebensweise durch London und
+wurden das Gespräch der Klubs -- konnten, wenn sie ihn sahen, nichts
+glauben, was ihm hätte zur Unehre gereichen können. Er sah immer aus wie
+einer, der sich in der Welt unbefleckt erhalten hatte. Männer, die sich
+anstößige Dinge erzählten, verstummten, wenn Dorian Gray ins Zimmer
+trat. In der Reinheit seines Antlitzes lag ein Etwas, das sie in
+Schranken hielt. Seine bloße Gegenwart schien in ihnen die Erinnerung an
+die Unschuld zu erwecken, die sie beschmutzt hatten. Sie staunten, daß
+ein so reizender und anmutiger Mensch wie er der Befleckung durch eine
+Zeit hatte entgehen können, die zugleich unsauber und sinnlich war.
+
+Oft, wenn er von einer der geheimnisvollen längeren Abwesenheiten
+zurückkehrte, die so merkwürdige Vermutungen bei seinen Freunden
+erregten oder bei jenen, die sich dafür hielten, so schlich er hinauf in
+die verschlossene Dachstube, öffnete die Tür mit dem Schlüssel, der ihn
+nun nie mehr verließ, und stand mit einem Handspiegel vor dem Bildnis,
+das Basil Hallward von ihm gemalt hatte, und sah bald auf das
+schändliche und gealterte Antlitz auf der Leinwand, bald auf das schöne,
+junge Gesicht, das ihn aus der glatten Spiegelfläche anlächelte. Gerade
+die Stärke dieses Kontrastes pflegte seine Lustempfindung zu erhöhen. Er
+verliebte sich mehr und mehr in seine eigene Schönheit und empfand mehr
+und mehr Teilnahme für die Verderbnis seiner eigenen Seele. Er
+untersuchte mit peinlicher Sorgsamkeit und manchmal mit ungeheuerlichem
+und schrecklichem Wonnegefühl die häßlichen Linien, die die runzlige
+Stirn durchfurchten oder sich um den üppigen sinnlichen Mund
+schlängelten, und fragte sich manchmal, ob wohl die Merkmale der Sünde
+schrecklicher seien oder die Spuren des Alters? Er legte seine weißen
+Hände neben die rohen, gedunsenen Hände des Bildes und lächelte. Er
+machte sich lustig über den verunstalteten Leib und die welkenden
+Glieder.
+
+Dann gab es in der Tat Augenblicke, nachts, wenn er schlaflos in seinem
+mild durchdufteten Zimmer lag oder in der schmuddeligen Stube der
+kleinen berüchtigten Kneipe nahe den Docks, die er unter einem
+angenommenen Namen und verkleidet zu besuchen pflegte, wo er mit einem
+Mitgefühl, das um so beklemmender war, als es einen rein ethischen
+Ursprung hatte, an das Elend dachte, das er über seine Seele gebracht
+hatte. Aber Augenblicke wie diese waren selten. Jene Neugier auf das
+Leben, die Lord Henry zuerst in ihm aufgestört hatte, als sie im Garten
+ihres Freundes nebeneinander saßen, schien mit ihrer Befriedigung nur zu
+wachsen. Je mehr er wußte, desto mehr wollte er wissen. Er hatte tolle
+Hungeranfälle, die immer ungestillter wurden, je mehr er sie nährte.
+
+Und doch war er nicht gerade liederlich geworden, wenigstens nicht in
+seinen Beziehungen zur Gesellschaft. Ein- oder zweimal in jedem Monat
+während des Winters und jeden Mittwochabend während der Saison öffnete
+er der Welt sein schönes Haus, und immer waren die berühmtesten Musiker
+da, um seine Gäste mit ihrer erlesenen Kunst zu begeistern. Seine
+kleinen Diners, bei deren Vorbereitung ihm Lord Henry immer half, waren
+ebensosehr wegen der sorgsamen Auswahl und Tischordnung der Eingeladenen
+berühmt, wie wegen des ausgesuchten Geschmackes, der sich in der
+Tafeldekoration mit ihren fein abgetönten, symphonischen Anordnungen
+exotischer Pflanzen, gestickter Decken und antiker Gold- und
+Silbergeräte aussprach. Tatsächlich gab es eine große Zahl, besonders
+von ganz jungen Menschen, die in Dorian Gray die vollkommene
+Verkörperung eines Typus sahen oder zu sehen wähnten, von dem sie oft in
+den Tagen von Eton oder Oxford geträumt hatten, eines Typus, der etwas
+von der wirklichen Bildung des Gelehrten mit der Anmut, Vornehmheit und
+den vollendeten Manieren eines Weltmannes vereinigte. Ihnen erschien er
+als einer aus jener Menschengruppe, von denen Dante sagt, »sie suchten
+sich durch die Anbetung der Schönheit zu vervollkommnen«. Gleich Gautier
+war er einer von denen, »für die die sichtbare Welt da war«.
+
+Und gewiß war für ihn das Leben die erste, die größte Kunst, und alle
+übrigen Künste schienen nur die Vorschule dazu. Natürlich übte auch die
+Mode, durch die das wirklich Phantastische einen Augenblick lang
+Allgemeingut wird, und das Dandytum, das auf seine Weise einen Versuch
+bildet, eine absolut moderne Art von Schönheit zu verkörpern, ihren Reiz
+auf ihn aus. Seine Art, sich zu kleiden, und die besonderen
+Stilabweichungen, die er von Zeit zu Zeit sehen ließ, hatten einen
+ausgesprochenen Einfluß auf die jungen Stutzer der Bälle in Mayfair und
+der Fenster des Pall-Mall-Klubs, die ihm in allem, was er tat,
+nachahmten und jede Exzentrizität aufgriffen, die seine Anmut erhöhte,
+aber ihm selbst nur teilweis ernst war.
+
+Denn er war nur zu leicht bereit, die Stellung anzunehmen, die ihm
+unmittelbar nach seiner Volljährigkeit geboten wurde, und er fand in
+Wahrheit einen besonderen Genuß in dem Gedanken, er könne für das London
+seiner Zeit das werden, was für das Rom des Kaisers Nero der Verfasser
+des »Satyrikon« gewesen war, aber er wünschte doch im innersten Herzen
+mehr zu werden als ein arbiter elegantiarum, und nicht nur über das
+Tragen eines Schmuckstückes oder das Binden einer Krawatte oder die
+Haltung eines Spazierstockes befragt zu werden. Er suchte ein neues
+Schema für die Lebensführung zu entwerfen, das seine philosophische
+Grundlage und seine geordneten Prinzipien haben und in der Vergeistigung
+der Sinne seine höchste Vervollkommnung erreichen sollte.
+
+Die Pflege der Sinne ist oft und mit vielem Recht geschmäht worden, da
+die Menschen einen natürlichen, instinktiven Abscheu vor Leidenschaften
+und Empfindungen haben, die stärker scheinen als sie selbst und die sie
+mit weniger hoch organisierten Formen des Lebendigen gemein zu haben
+sich bewußt sind. Doch kam es Dorian Gray so vor, als ob die wahre Natur
+der Sinne noch nie verstanden worden sei und als ob sie nur deshalb wild
+und tierisch geblieben seien, weil die Welt versuchte, sie durch Hunger
+zur Unterwerfung zu bringen oder durch Schmerzen zu töten, statt
+bestrebt zu sein, sie zu Bestandteilen einer neuen geistigen Welt zu
+machen, in der ein edles Schönheitsbewußtsein die vorherrschende
+Triebfeder sein sollte. Wenn er auf den Gang der Menschen durch die
+Weltgeschichte zurückblickte, verfolgte ihn ein Gefühl des Verlustes. So
+vielem war entsagt worden und zu so geringem Zweck! Es hatte wahnsinnige
+freiwillige Entsagungen gegeben, ungeheuerliche Formen von
+Selbstquälerei und Selbstverleugnung, deren Ursprung die Furcht war und
+deren Ergebnis eine Erniedrigung von unsäglich schrecklicherer Art, als
+jene nur eingebildete Erniedrigung, vor der sie sich in ihrer
+Unwissenheit flüchten wollten, da die Natur in ihrer wunderbaren Ironie
+den Anachoreten hinausjagte, damit er sich in Gesellschaft der Bestien
+der Wüste nährte, und dem Einsiedler die Tiere des Feldes zu Gefährten
+gab.
+
+Ja: es mußte, wie Lord Henry prophezeit hatte, ein neuer Hedonismus
+kommen, um das Leben zu erneuern und es von jenem strengen, häßlichen
+Puritanertum zu erlösen, das in unseren Tagen seine sonderbare
+Auferstehung feierte. Gewiß, er würde dem Intellekt gehorsam sein
+müssen; aber niemals dürfte er eine Theorie oder ein System anerkennen,
+das irgendein leidenschaftliches Erlebnis zum Opfer forderte. Sein
+wahres Ziel sollte gerade die Erfahrung selbst sein und nicht die
+Früchte der Erfahrung, mochten sie nun so süß oder bitter sein, wie sie
+wollten. Von dem Asketentum, das die Sinne tötet, oder von der
+gewöhnlichen Ausschweifung, die sie abstumpft, würde er nichts wissen
+wollen. Aber er sollte die Menschen lehren, sich für die Momente des
+Lebens zu sammeln, da dieses selbst doch nur ein Moment ist.
+
+Es gibt nur wenige unter uns, die nicht manchmal vor Tagesgrauen erwacht
+wären, entweder nach einer jener traumlosen Nächte, die uns den Tod
+lieben lassen, oder nach einer jener Nächte voll Schrecken und
+wollüstiger Albdrücken, wo durch die Kammern des Gehirns Gespenster
+flattern, die schrecklicher sind als die Wirklichkeit selbst und erfüllt
+sind von dem lebendigen Dasein, das in allem Grotesken lauert und das
+der gotischen Kunst ihre ewig lebendige Kraft gibt, weil gerade diese
+Kunst, wie man sagen möchte, die besondere Kunst jener ist, deren Geist
+durch die Krankheit von Fieberträumen verwirrt worden ist. Nach und nach
+strecken sich bleiche Finger zwischen den Vorhängen durch und scheinen
+zu erzittern. In schwarzen, abenteuerlichen Formen kriechen stumme
+Schatten in die Ecken des Zimmers und kauern dort nieder. Draußen regen
+sich die Vögel im Geblätter, oder man hört den Schritt der Menschen, die
+zur Arbeit gehen, oder das Heulen und Schluchzen des Windes, der von den
+Bergen kommt und das schweigsame Haus umwandert, als fürchte er, die
+Schläfer zu wecken, und müsse dennoch den Schlaf aus seiner purpurnen
+Höhle ans Licht rufen. Schleier nach Schleier aus feiner, dunkelfarbener
+Gaze heben sich, und allmählich erhalten die Dinge ihre Formen und
+Farben zurück, und wir sehen es mit an, wie die Frühdämmerung der Welt
+ihre alte Gestalt zurückgibt. Die verschwommenen Spiegel bekommen ihr
+Scheinleben zurück. Die lichtlosen Lampen stehen, wo wir sie gelassen
+haben, und neben ihnen liegt das halb aufgeschnittene Buch, darin wir
+gelesen, oder die verwelkte Blume, die wir auf dem Ball getragen, oder
+der Brief, den zu lesen wir uns gefürchtet oder den wir zu oft gelesen
+haben. Nichts scheint uns geändert. Aus den unwirklichen Schatten der
+Nacht tritt das wirkliche Leben hervor, das wir kannten. Wir haben es da
+wieder aufzunehmen, wo wir es unterbrochen haben, und uns beschleicht
+das fürchterliche Gefühl der Notwendigkeit, seine Energien weiter
+verbrauchen zu müssen in der gleichen ermüdenden Tretmühle stereotyper
+Gewohnheiten, oder vielleicht überschleicht uns eine wilde Sehnsucht,
+daß sich unsere Augen eines Morgens öffnen möchten für eine Welt, die im
+nächtigen Dunkel zu unserer Lust neu erschaffen worden sei, für eine
+Welt, in der die Dinge frische Linien und Farben hätten, verändert seien
+oder andere Geheimnisse bürgen, für eine Welt, in der die Vergangenheit
+nur einen unbedeutenden oder gar keinen Platz hätte oder wenigstens in
+keiner bewußten Form von Verpflichtung oder Reue weiterlebte, wo die
+Erinnerung selbst an die Freude ihre Bitterkeit enthält und dem
+Gedächtnis an den Genuß ein Schmerz beigemischt ist.
+
+Die Erschaffung solcher Welten schien für Dorian Gray der wahre
+Lebensinhalt oder wenigstens sein hauptsächlichster Inhalt zu bedeuten;
+und auf seiner Suche nach Sinnenerlebnissen, die zugleich neu und
+genußreich sein sollten und jenes Element der Seltsamkeit enthielten,
+die für die Romantik so wesentlich ist, eignete er sich oft gewisse
+Arten zu denken an, von denen ihm wohl bewußt war, daß sie seinem Wesen
+in Wirklichkeit fremd waren, gab sich ihren subtilen Einflüssen hin und
+verließ sie dann, wenn er sozusagen ihre Farbe in sich eingesogen und
+seine geistige Neugier befriedigt hatte, mit jener eigentümlichen
+Gleichgültigkeit, die nicht unvereinbar ist mit einem wirklich glühenden
+Temperament, und die in der Tat nach der Meinung gewisser moderner
+Psychologen oft eine Bedingung dafür ist.
+
+Einmal ging ein Gerücht von ihm, er wolle katholisch werden; und gewiß
+hatte der katholische Kult eine große Anziehungskraft für ihn. Das
+tägliche Meßopfer, das wirklich viel ehrfurchterweckender ist als alle
+Opfer der antiken Welt, regte ihn ebensosehr an durch seine prachtvolle
+Unbekümmertheit des sinnlichen Augenscheins wie durch die primitive
+Einfachheit seiner Elemente und das ewige Pathos der menschlichen
+Tragödie, die es zu symbolisieren versuchte. Er liebte es, auf das kalte
+Marmorpflaster hinzuknien und den Priester zu beobachten, der in seiner
+stimmungsvollen, blumengestickten Stola langsam und mit weißen Händen
+den Vorhang vom Tabernakel hinwegzog, oder die laternenförmige
+edelsteingeschmückte Monstranz in die Höhe hob, die jene blasse Hostie
+enthielt, von der man zuzeiten wirklich denken konnte, es sei der panis
+coelestis, das Brot der Engel, oder der, in die Gewänder der
+Christuspassion gehüllt, die Hostie in den Kelch tauchte und sich um
+seiner Sünden willen die Brust schlug. Die rauchenden Weihrauchkessel,
+die die ernsten Knaben in ihren Spitzen- und Scharlachmänteln in der
+Luft schwangen und die wie große, goldene Blumen aussahen, übten einen
+tiefen Zauber auf ihn aus. Wenn er hinaustrat, pflegte er staunend die
+dunkeln Beichtstühle anzublicken und empfand eine Sehnsucht, im düsteren
+Schatten eines solchen zu sitzen und den Männern und Frauen zu lauschen,
+die durch das abgenutzte Gitter die wahre Geschichte ihres Lebens
+flüsterten.
+
+Aber er verfiel nie dem Irrtum, seine geistige Entwicklung durch die
+förmliche Annahme irgendeines Glaubens oder Systems zu hindern oder
+irrtümlich ein Haus, in dem man leben konnte, gleichsam für eine
+Herberge zu halten, die nur zu kurzem Aufenthalt während einer Nacht
+oder nur für ein paar Stunden während einer Nacht taugt, wenn keine
+Sterne leuchten und der Mond im Wechsel begriffen ist. Die Mystik mit
+ihrer wunderbaren Kraft, uns gewöhnliche Dinge seltsam erscheinen zu
+lassen, und jene tiefe Ketzersucht, die sie immer zu begleiten scheint,
+reizte ihn eine Saison hindurch; und dann neigte er sich eine andere
+Saison hindurch wieder den materialistischen Lehren der Darwinistischen
+Bewegung in Deutschland zu und fand einen besonderen Genuß darin, die
+Gedanken und Leidenschaften der Menschen bis auf irgendeine perlgroße
+Zelle im Gehirn oder auf irgendeinen weißen Nerv im Körper
+zurückzuleiten, schwelgte förmlich in der Vorstellung einer absoluten
+Abhängigkeit des Geistes von gewissen physischen Bedingungen, mochten
+sie krankhaft oder gesund, normal oder pathologisch sein. Aber, wie
+schon früher von ihm berichtet wurde, so schien keine Lebenstheorie von
+irgendeiner Bedeutung für ihn, im Vergleich mit dem Leben selbst. Er war
+sich haarscharf bewußt, in welches Irrsal jede geistige Spekulation
+führen mußte, wenn sie von Handlung und Experiment getrennt ist. Er
+wußte, daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre geistigen
+Geheimnisse offenbaren mußten.
+
+Und so ergab er sich zeitweilig dem Studium der Wohlgerüche, bemühte
+sich um die Geheimnisse ihrer Bereitung, destillierte schwerduftende Öle
+und verbrannte wohlriechendes Gummi, das aus dem Orient stammte. Er
+erkannte, daß es keine Stimmung des Geistes gab, die nicht ihr
+Seitenstück im Leben der Sinne fand, und mühte sich, die wirkliche
+Beziehung zwischen beiden zu entdecken, um herauszuklügeln, weshalb der
+Weihrauch den Menschen mystisch stimmte, warum die Ambra die
+Leidenschaften aufstachele, woher der Veilchenduft die Erinnerung an
+gestorbene Romantik erwecke, wieso der Moschus das Gehirn verwirre, und
+wodurch der Tschampak die Phantasie beflecke: und so versuchte er
+manchmal, eine genaue Psychologie der Wohlgerüche auszuarbeiten und ihre
+verschiedenen Wirkungen zu bestimmen, zum Beispiel süßriechender
+Wurzeln, duftiger, samentragender Blüten, aromatischer Balsame, dunkler,
+starkriechender Hölzer, des Baldrians, der zum Erbrechen reizt, der
+Hovenia, die einen toll macht, und der Aloe, die imstande sein soll, die
+Schwermut aus der Seele zu verjagen.
+
+Ein andermal widmete er sich gänzlich der Musik und gab öfter Konzerte
+in einem langen, dämmerigen Saal, dessen Wände mit olivengrünem Lack
+überzogen waren, und dessen Decke aus einem rot und gold Muster bestand,
+wobei tolle Zigeuner kleinen Zithern wilde Musik entlockten oder ernste,
+in gelbe Tücher gehüllte Männer aus Tunis die gespannten Saiten seltsam
+großer Lauten zupften, während grinsende Neger eintönig auf kupferne
+Trommeln schlugen und schlankschmächtige, turbanbedeckte Inder auf
+scharlachroten Matten hockten und auf langen Rohr- oder Messingpfeifen
+bliesen und damit große Brillenschlangen oder schreckliche Hornvipern
+beschworen oder zu beschwören schienen. Die kreischenden Intervalle und
+die schrillen Mißtöne barbarischer Musik reizten ihn zuweilen, wenn
+Schuberts Lieblichkeit oder Chopins süßes Schmachten und die gewaltigen
+Harmonien des großen Beethoven machtvoll in sein Ohr schlugen. Aus allen
+Weltteilen sammelte er die merkwürdigsten Instrumente, die sich finden
+ließen, entweder in den Gräbern toter Völker oder unter den wenigen
+wilden Stämmen, die noch die Berührung mit der westlichen Kultur
+überlebt haben, und er liebte es, sie zu befühlen und zu verfügen. Er
+besaß das mysteriöse Juruparis der Rio-Negro-Indianer, das die Frauen
+nicht ansehen dürfen und selbst die jungen Männer erst dann, wenn sie
+vorher gefastet und sich gegeißelt haben, er besaß die irdenen Klappern
+der Peruaner, die den schrillen Ton des Vogelschreis wiedergeben, und
+Flöten aus Menschenknochen, wie sie Alfonso de Ovalle in Chile gehört
+hat, und die wohlklingenden grünen Jaspissteine, die bei Cuzco gefunden
+werden und einen Ton von eigentümlicher Süße hervorbringen. Er hatte
+bemalte, mit Kieselsteinen gefüllte Kürbisse, die beim Schütteln
+rasselten, er hatte die langen Zinken der Mexikaner, in die der Spieler
+nicht hineinbläst, sondern durch die er die Luft einatmet, das rauhe
+Ture der Amozonenstämme, das die Wachen ertönen lassen, wenn sie den
+ganzen Tag auf hohen Bäumen sitzen, und das, wie man sagt, auf eine
+Entfernung von drei Seemeilen gehört werden kann, das Teponaztli, das
+zwei zitternde Holzzungen hat und auf die man mit Stöcken schlägt, die
+mit einer Art elastischen Kautschuks eingesalbt werden, das aus dem
+milchigen Saft von Pflanzen gewonnen wird, er hatte die Yotlglocken der
+Azteken, die wie Trauben in Büscheln hängen, und eine große
+zylinderförmige Trommel, die bespannt ist mit den Häuten großer
+Schlangen gleich der, die Bernal Diaz sah, als er mit Cortez in den
+mexikanischen Tempel trat, und von deren wehklagendem Tone er uns eine
+so lebendige Schilderung hinterlassen hat. Das phantastische Wesen
+dieser Instrumente wirkte bezaubernd auf ihn, und er empfand einen
+seltsamen Genuß bei dem Gedanken, daß die Kunst wie die Natur ihre
+Ungeheuer hat, Dinge von tierischer Form und mit abscheulichen Stimmen.
+Aber nach einiger Zeit wurde er ihrer müde und saß dann wieder in seiner
+Loge in der Oper, entweder allein oder mit Lord Henry, lauschte
+hingerissen dem Tannhäuser und erkannte in dem Vorspiel zu diesem großen
+Kunstwerk eine Verkörperung des Trauerspiels seiner eigenen Seele.
+
+Wieder ein andermal warf er sich auf das Studium der Edelsteine und
+erschien auf einem Maskenfest als Anne de Joyeuse, Admiral von
+Frankreich, in einem Gewand, das mit fünfhundertsechzig Perlen bestickt
+war. Diese Geschmacksrichtung hielt ihn jahrelang gefangen, ja, man kann
+sagen, daß sie ihn nie verlassen hat. Er verbrachte oft einen ganzen Tag
+damit, die verschiedenen Steine, die er gesammelt hatte, aus ihren
+Schachteln zu nehmen und wieder umzuordnen, wie beispielsweise der
+olivengrüne Chrysoberyll, der im Lampenlicht rot wird, der Cymophan mit
+seinen haarfeinen Silberlinien, der pistazienfarbene Peridot,
+rosenfarbige und weingelbe Topase, scharlachfeurige Karfunkelsteine mit
+zitternden, vierfach ausstrahlenden Sternen, flammenrote Kaneelsteine,
+orangenfarbene und violette Spinelle und Amethyste mit ihren regelmäßig
+wechselnden Schichten von Rubin und Saphir. Er liebte das rote Gold des
+Sonnensteins und die perlfarbene Weiße des Mondsteins und den
+gebrochenen Regenbogen des milchflockigen Opals. Er verschrieb sich aus
+Amsterdam drei Smaragde von außerordentlicher Größe und wunderbarem
+Farbenreichtum und besaß einen Türkis ~de la vieille roche~, um den ihn
+alle Kenner beneideten.
+
+Er entdeckte auch wunderbare Geschichten über Edelsteine. In Alfons
+»~Clericalis disciplina~« wurde eine Schlange erwähnt mit Augen aus
+wirklichen Hyazinthsteinen, und in der romantischen Alexandersage hieß
+es von dem Eroberer Emathias, er habe im Jordantale Schlangen gefunden
+»mit Halsgeschmeiden aus wirklichen Smaragden, die ihnen auf dem Rücken
+gewachsen waren«. Im Gehirn des Drachen war nach dem Bericht des
+Philostratus ein Edelstein, und »durch das Entgegenhalten goldener
+Lettern und eines scharlachroten Gewandes« konnte das Ungeheuer in einen
+magischen Schlaf versetzt und getötet werden. Nach der Meinung des
+großen Alchimisten Pierre de Boniface sollte der Diamant den Menschen
+unsichtbar und der indische Achat ihn beredt machen. Der Karneol
+beschwichtigte den Zorn, und der Hyazinth schläferte ein, und der
+Amethyst verscheuchte den Weindunst. Der Granat trieb Teufel aus, und
+der Hydrophyt beraubte den Mond seiner Farbe. Der Selenit nahm mit dem
+Monde zu und ab, und der Meloceus, der die Diebe entdeckte, verlor seine
+Kraft nur, wenn man ihn mit dem Blut junger Ziegen betropfte. Leonardus
+Camillus hatte einen weißen Stein gesehen, den man aus dem Gehirn einer
+frisch getöteten Kröte genommen hatte und der ein sicheres Gegenmittel
+gegen Gift war. Der Bezoar, den man im Herzen des arabischen Hirsches
+fand, war ein Zauber, der die Pest zu heilen vermochte. In den Nestern
+arabischer Vögel kam der Aspilates vor, der nach der Angabe des Demokrit
+seinen Träger vor jeder Feuersgefahr beschützte.
+
+Der König von Seilan ritt bei seiner Krönungsfeier, mit einem großen
+Rubin in der Hand, durch seine Stadt. Die Tore zum Palast des Johannes,
+des Priesters, waren aus Sarder verfertigt, in den das Horn der
+Hornviper verarbeitet war, so daß kein Mensch Gift in das Haus bringen
+konnte. Über dem Giebel waren »zwei goldene Äpfel, die zwei
+Karfunkelsteine enthielten«, so daß am Tage das Gold glänzen konnte und
+die Karfunkelsteine bei Nacht. In Lodges seltsamem Roman »Eine
+amerikanische Perle« heißt es, daß man in dem Zimmer der Königin »alle
+keuschen Frauen der Welt, wie in Silber getrieben, wahrnehmen konnte,
+wenn man durch fleckenfreie Spiegel aus Chrysolithen, Karfunkelsteinen,
+Saphiren und grünen Smaragden blickte«. Marco Polo hatte gesehen, wie
+die Einwohner von Zipangu den Toten rosenfarbige Perlen in den Mund
+steckten. Ein Seeungeheuer war in die Perle verliebt, die ein Taucher
+dem König Perozes brachte, und es hatte den Dieb getötet und sieben
+Monate lang über den Verlust getrauert. Als die Hunnen den König in den
+großen Hinterhalt lockten, warf er die Perle weg -- Prokopius erzählt
+die Geschichte -- und sie wurde nie wieder gefunden, obwohl Kaiser
+Anastasius dafür fünf Zentner Goldstücke aussetzte. Der König von
+Malabar hatte einmal einem Venezianer einen Rosenkranz aus
+dreihundertvier Perlen gezeigt, eine Perle für jeden Gott, den er
+verehrte.
+
+Als der Herzog von Valentinois, der Sohn Alexanders des Sechsten, Ludwig
+den Zwölften von Frankreich besuchte, war nach Brantôme sein Pferd mit
+goldenen Blättern bedeckt, und ein Barett trug eine doppelte Reihe von
+Rubinen, die ein mächtiges Licht ausstrahlten. Karl von England ritt in
+Steigbügeln, die mit vierhunderteinundzwanzig Diamanten besetzt waren.
+Richard der Zweite hatte ein Gewand, das mit Balasrubinen besetzt war,
+und auf dreißigtausend Mark geschätzt wurde. Hall beschrieb Heinrich den
+Achten auf seinem Wege zur Krönung nach dem Tower folgendermaßen: er
+trug ein »Panzerkleid aus erhabenem Gold, die Brust war mit Diamanten
+und anderen Edelsteinen bestickt, und um den Hals hing ihm eine mächtige
+Kette aus schweren Balasrubinen«. Die Günstlinge Jakobs des Ersten
+trugen Ohrringe aus Smaragden, die in Goldfiligran gefaßt waren. Eduard
+der Zweite schenkte dem Piers Gaveston eine vollständige Rüstung aus
+rotem Golde, die mit Hyazinthsteinen besetzt war, eine Halsberge aus
+goldenen Rosen, in die Türkise eingelassen waren, und eine mit Perlen
+übersäte Sturmhaube. Heinrich der Zweite trug Handschuhe bis zum
+Ellenbogen hinauf, die mit Edelsteinen besetzt waren, und er hatte einen
+Falkenierhandschuh, den zwölf Rubinen und zweiundfünfzig große Perlen
+zierten. Der Herzogshut Karls des Kühnen, des letzten Burgunder Herzogs
+seines Geschlechts, war behängt mit birnenförmigen Perlen und überstreut
+mit Saphiren.
+
+Wie köstlich das Leben einst gewesen war! Wie schwelgerisch in seinem
+Pomp und Schmuck! Von dem Reichtum der Toten auch nur zu lesen war schon
+wunderbar.
+
+Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Stickereien zu und den
+Gobelins, die in den frostigen Räumen der nördlichen Völker Europas die
+Stelle der Freskogemälde vertraten. Als er sich in dieses Gebiet
+vertiefte -- und er besaß immer eine außerordentliche Fähigkeit, sich
+für den Augenblick von allem absorbieren zu lassen, was er in Angriff
+nahm -- wurde er ordentlich traurig bei dem Gedanken an die Vernichtung,
+die die Zeit schönen und wundervollen Dingen bereitete. Er wenigstens
+war ihr entronnen. Sommer folgte dem Sommer, die gelben Jonquillen
+hatten geblüht und waren viele Male verwelkt, und schreckliche Nächte
+wiederholten die Geschichte ihrer Schande, aber er blieb unverändert.
+Kein Winter entstellte sein Antlitz oder beschädigte seinen
+blütengleichen Schmelz. Wie anders war das mit den materiellen Dingen!
+Wohin waren die entschwunden? Wo war das große krokusfarbene Gewand, auf
+dem die Götter die Giganten bekämpft hatten, das von braunen Mädchen der
+Athene zur Freude gestickt worden war? Wo war das große Velarium, das
+Nero über das Kolosseum in Rom hatte ausspannen lassen, dieses
+gigantische Purpursegel, auf dem der Sternenhimmel abgebildet war, und
+Apollo, wie er einen Wagen lenkt, den weiße, von goldenen Zügeln
+gebändigte Streitrosse ziehen? Er sehnte sich, die sonderbaren
+Tischdecken zu sehen, die für den Sonnenpriester gewebt worden waren,
+und in die alle Leckerbissen und Speisen eingewirkt waren, die man für
+ein Festmahl nur wünschen konnte, das Sterbekleid des Königs Hilperich
+mit seinen dreihundert goldenen Bienen, die phantastischen Gewandungen,
+die die Entrüstung des Bischofs von Pontus erregten und auf denen
+»Löwen, Panther, Bären, Hunde, Wälder, Felsen, Jäger -- kurz alles
+dargestellt war, was ein Maler der Natur ablauschen kann«, und den Rock,
+den Karl von Orleans einstmals getragen hatte, auf dessen Ärmel die
+Verse eines Gedichtes gestickt waren, das begann: ~Madame, je suis tout
+joyeux~, während die Noten hierzu mit Goldfäden eingestickt waren und
+jeder Notenkopf, damals noch viereckig, aus vier Perlen gebildet war. Er
+las von dem Zimmer, das man im Palast von Reims für den Gebrauch der
+Königin Johanna von Burgund hergerichtet hatte, »und das ausgeschmückt
+war mit dreizehnhunderteinundzwanzig gestickten Papageien, die das
+Wappen des Königs trugen, und mit fünfhunderteinundsechzig
+Schmetterlingen, deren Flügel auf dieselbe Weise mit dem Wappen der
+Königin geschmückt waren, das Ganze in Gold gearbeitet.« Katharina von
+Medici hatte sich ein Trauerbett machen lassen aus schwarzem Samt,
+bestickt mit Halbmonden und Sonnen. Seine Vorhänge waren aus Damast, und
+auf einem Grunde von Gold und Silber waren Zweige und Girlanden
+gestickt, und die Bordüren bestanden aus Fransen mit Perlen, und es
+stand in einem Zimmer, das mit einem Silbertuch bespannt war, auf dem
+reihenweise die Wahlsprüche der Königin in schwarzem, geschorenem Samt
+appliziert waren. Ludwig der Vierzehnte hatte in seinem Gemach
+goldgestickte, fünfzehn Fuß hohe Karyatiden. Das Staatsbett Sobieskis,
+des Königs von Polen, bestand aus Smyrna-Goldbrokat, und Verse aus dem
+Koran waren aus Türkisen hineingestickt. Seine Füße waren aus
+vergoldetem Silber, schön getrieben und verschwenderisch mit Medaillons
+aus Email und Edelsteinen besetzt. Es war bei der Belagerung von Wien
+aus dem türkischen Lager erbeutet worden, und die Fahne Mohammeds war
+unter dem flimmerigen Gold seines Baldachins angebracht.
+
+Und so suchte er ein ganzes Jahr lang die erlesensten Proben zusammen,
+die er von Webekunst und Stickereiarbeiten auftreiben konnte, er
+verschaffte sich die duftigen Delhi-Musselins, die zart mit goldenen
+Palmblättern und mit irisierenden Käferflügeln bestickt waren, die
+Gazestoffe aus Dhaka, die man im Orient ihrer Durchsichtigkeit wegen
+»gewebte Luft«, »rieselndes Wasser« und »Abendtau« nennt: Tücher aus
+Java mit seltsamen Figuren: feine, gelbe chinesische Gardinen: Bücher,
+die in lohfarbigen Atlas oder hellblaue Seide gebunden und eingepreßte
+heraldinische Lilien, Vögel und Schildereien zeigten
+Pointslace-Schleiergewebe aus Ungarn: sizilianische Brokate und steife
+spanische Sammete: georgische Arbeiten mit ihren goldenen Münzen, und
+japanische Fukusas mit ihren grünen Goldtönen und ihren gefiederten
+Vögeln wunderbarster Arbeit.
+
+Er hatte dann eine besondere Leidenschaft für kirchliche Gewänder wie
+für alles, was mit dem religiösen Ritus zusammenhing. In den langen
+Kästen aus Zedernholz, die auf der westlichen Galerie seines Hauses
+standen, hatte er viele seltene, schöne Proben des wahrhaften Kleides
+der Christusbraut angesammelt, die sich in Purpur, in Edelsteine und
+feines Linnen kleiden muß, um den bleichen, abgezehrten Leib darin zu
+verhüllen, der erschöpft ist von den Leiden, die sie sucht, und
+verwundet von selbst zugefügten Schmerzen. Er besaß einen prachtvollen
+Chorrock aus karminroter Seide und goldgewirktem Damast, der mit einem
+sich wiederholenden Muster von goldenen Granatäpfeln geziert war, die
+auf sechsblättrigen, regelmäßigen Blüten saßen, worunter auf jeder Seite
+ein in Staubperlen gestickter Tannenzapfen war. Die Goldstickereien
+waren in einzelne Felder geteilt, in denen Szenen aus dem Leben der
+Jungfrau abgebildet waren und die Krönung der Jungfrau war in der dazu
+gehörigen Kappe in farbiger Seide oben eingestickt. Es war italienische
+Arbeit aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein anderer Chorrock war aus
+grünem Samt, bestickt mit herzförmigen Bündeln von Akanthusblättern, aus
+denen langgestielte weiße Blüten hervorsprossen, die zart mit silbernen
+Fäden und farbigen Kristallperlen ausgearbeitet waren. Auf der Spange
+war der Kopf eines Seraphs in erhabener Goldstickerei ausgeführt. Die
+Borten waren fortlaufend auf blumigem Tuch in roter und goldener Seide
+eingewebt und mit den Medaillonbildnissen vieler Heiligen und Märtyrer
+ausstaffiert, unter denen sich der heilige Sebastian befand. Er hatte
+auch Meßgewänder aus bernsteinfarbiger Seide und blauer Seide und
+goldenem Brokat und aus gelbem Seidendamast und goldenem Tuch, die
+bedeckt waren mit Darstellungen der Passion und der Kreuzigung Christi,
+und bestickt mit Löwen, Pfauen und anderen Emblemen, er hatte Dalmatikas
+aus weißem Atlas und rosarotem Seidendamast, geziert mit Tulpen,
+Delphinen und heraldischen Lilien: Altardecken aus karmoisinrotem Samt
+und blauem Linnen, und viele Decken für Meßgeräte, Kelchhüllen und
+Schweißtücher. In den mystischen Diensten, zu denen diese Dinge bestimmt
+waren, lag etwas, das seine Einbildungskraft anregte.
+
+Denn diese Schätze und überhaupt alles, was er in seinem wunderbaren
+Hause ansammelte, waren für ihn Mittel zum Vergessen, Liebhabereien,
+durch die er eine Zeitlang der Angst entrinnen konnte, die ihm oft zu
+groß erschien, um sie zu ertragen. An die Wand des verlassenen,
+verschlossenen Raumes, worin er einen so großen Teil seiner Knabenzeit
+verbracht hatte, hatte er mit seinen eigenen Händen das fürchterliche
+Porträt aufgehängt, dessen Züge ihm in ihrer Veränderung die wahrhafte
+Erniedrigung seines Lebens zeigten, und darüber hatte er als Vorhang
+das Bahrtuch aus Gold und Purpur angebracht. Wochenlang mochte er nicht
+dahin gehen, wollte er das gräßliche Gemälde vergessen und gewann dann
+wieder sein leichtes Herz zurück, seine wunderbare Fröhlichkeit und
+seine Kraft zu leidenschaftlicher Versenkung ins Leben. Dann aber
+schlich er plötzlich in einer Nacht aus dem Hause, besuchte schaurige
+Orte in der Nähe von Blue Gate Fields und blieb dort Tag um Tag, bis es
+ihn wieder wegtrieb. Nach seiner Rückkehr saß er dann wohl vor dem
+Bilde, manchmal voll Haß vor ihm und vor sich selbst, ein andermal aber
+erfüllt mit dem Stolze auf das eigene Wesen, der den halben Reiz der
+Sünde ausmacht, und er lächelte dann mit geheimem Vergnügen das
+verunstaltete Abbild an, das die Last zu tragen hatte, die eigentlich
+für ihn bestimmt war.
+
+Nach einigen Jahren konnte er es nicht aushalten, lange von England weg
+zu sein, und gab das Landhaus auf, das er gemeinsam mit Lord Henry in
+Trouville innegehabt hatte, und ebenso das kleine, von weißer Mauer
+umrahmte Haus in Algier, wo sie mehr als einmal den Winter verbracht
+hatten. Er konnte es nicht ertragen, von dem Porträt getrennt zu sein,
+das jetzt gewissermaßen ein Teil seines Lebens geworden war, und er
+fürchtete auch, es könne in seiner Abwesenheit irgend jemand Zutritt
+bekommen trotz den sorgfältig gearbeiteten Sicherheitsschlössern, die er
+an der Türe hatte anbringen lassen.
+
+Er war sich vollauf bewußt, daß niemand etwas verraten könne. Allerdings
+bewahrte das Bild unter all der Gemeinheit und Häßlichkeit seines
+Antlitzes noch eine deutliche Ähnlichkeit mit ihm, aber was konnte das
+den Leuten sagen? Er würde jeden auslachen, der es versuchen wollte, ihn
+zu schmähen. Er hatte es ja nicht gemalt. Was ging es ihn an, wie
+abscheulich und schändlich es aussah? Selbst wenn er jemand die Wahrheit
+erzählte, konnte sie einer glauben?
+
+Und doch hatte er Angst. Wenn er manchmal in seinem großen Hause in
+Nottinghamshire war und die eleganten jungen Leute, die meistens seine
+Gesellschaft bildeten, bewirtete, und die Leute der Grafschaft durch den
+ausschweifenden Luxus und den verschwenderischen Glanz seines Lebens in
+Erstaunen setzte, dann verließ er wohl plötzlich seine Gäste und eilte
+zurück in die Stadt, um nachzusehen, ob sich niemand an der Türe zu
+schaffen gemacht habe und ob das Bild noch da sei. Wie, wenn es jemand
+gestohlen hätte? Der bloße Gedanke erfüllte ihn mit kaltem Entsetzen.
+Gewiß würde dann die Welt sein Geheimnis erfahren. Vielleicht hatte sie
+schon Verdacht geschöpft.
+
+Denn genau wie er viele fesselte, gab es auch nicht wenige, die ihm
+mißtrauten. Er wäre fast schwarz ballotiert worden in einem
+Westend-Klub, zu dessen Mitgliedschaft ihn soziale Stellung und Geburt
+vollständig berechtigten, und es hieß, daß einmal, als ihn ein Freund in
+das Rauchzimmer des Curchill-Klubs mitgebracht hatte, der Herzog von
+Berwick und ein anderer Herr in auffallender Weise aufgestanden und
+hinausgegangen wären. Sonderbare Geschichten waren über ihn im Umlauf,
+als er sein fünfundzwanzigstes Jahr vollendet hatte. Man munkelte, daß
+man ihn in einer elenden Kaschemme in einem entlegenen Winkel
+Whitechapels mit fremden Matrosen habe zechen sehen, und daß er mit
+Dieben und Falschmünzern umgehe und die Geheimnisse ihres Gewerbes
+kenne. Seine auffallende Gewohnheit, zu bestimmten Zeiten zu
+verschwinden, war bekannt, und wenn er dann wieder in der Gesellschaft
+auftauchte, flüsterte man sich in den Ecken Bemerkungen zu oder man ging
+an ihm mit einem unzweideutigen Lächeln oder mit kühlen, forschenden
+Blicken vorbei, als wäre man entschlossen, sein Geheimnis zu enthüllen.
+
+Von diesen Unverschämtheiten und versuchten Beleidigungen nahm er
+natürlich keine Notiz, und in den Augen der meisten Leute war sein
+offenes, freundliches Wesen, sein reizendes Knabenlächeln und die
+unendliche Grazie der wundervollen Jugend, die ihn nie zu verlassen
+schien, an sich eine genügende Antwort auf die Verleumdungen, denn so
+nannte man es, die über ihn im Umlauf waren. Indessen bemerkte man, daß
+einige von denen, die früher sehr innig mit ihm verkehrt hatten, ihn
+nach einiger Zeit zu meiden anfingen. Frauen, die ihn glühend geliebt
+hatten und um seinetwillen allem Tadel der Gesellschaft getrotzt und die
+Konvention verachtet hatten, konnte man vor Scham oder Entsetzen
+erbleichen sehen, wenn Dorian Gray ins Zimmer trat.
+
+Doch dieses Skandalgeflüster erhöhte in den Augen vieler nur seinen
+seltsamen und gefährlichen Reiz. Auch sein großer Reichtum bot ein
+gewisses Unterpfand der Sicherheit. Die Gesellschaft, wenigstens die
+zivilisierte Gesellschaft, ist niemals schnell geneigt, etwas Schlechtes
+von denen zu glauben, die zugleich reich und interessant sind. Sie
+begreift instinktiv, daß Manieren wichtiger sind als Moral, und ihrer
+Meinung nach ist die höchste Ehrbarkeit weniger wert als der Besitz
+eines guten Küchenchefs. Und schließlich ist es auch ein sehr schwacher
+Trost, wenn einem gesagt wird, daß der Mann, bei dem es ein schlechtes
+Diner oder einen elenden Wein gegeben hat, in seinem Privatleben
+unantastbar dasteht. Selbst die Kardinaltugenden können nicht für kalt
+gewordene Entrees entschädigen, bemerkte Lord Henry einmal, als man über
+dieses Thema sprach; und für seine Ansicht spricht wahrscheinlich sehr
+viel. Denn die Gesetze der guten Gesellschaft sind oder sollten
+wenigstens dieselben sein, wie die Regeln der Kunst. Form ist für sie
+unbedingt wesentlich. Sie sollte die Würde ebenso wie die Unwirklichkeit
+einer Zeremonie haben und sollte den unaufrichtigen Schein eines
+romantischen Schauspiels mit dem Witz und der Schönheit verbinden, die
+für uns das Entzücken solcher Spiele ausmachen. Ist Unaufrichtigkeit
+denn etwas so Furchtbares? Ich glaube nicht. Sie ist nur ein Mittel,
+wodurch wir unsere Persönlichkeit vervielfachen können.
+
+Das war wenigstens die Meinung von Dorian Gray. Er pflegte sich über die
+seichte Psychologie derer zu wundern, die sich das Ich eines Menschen
+als etwas Einfaches, Beständiges, Verläßliches und Einheitliches
+vorstellen. Für ihn war der Mensch ein Wesen mit Myriaden von Leben und
+Myriaden von Gefühlen, ein kompliziertes, vielgestaltetes Geschöpf, das
+seltsame Erbschaften in seinen Gedanken und Leidenschaften mit sich
+herumtrug und dessen Fleisch von den ungeheuerlichen Krankheiten der
+Verstorbenen angesteckt war. Er liebte es, die kahle, kalte
+Bildergalerie auf seinem Landsitze zu durchschlendern und die
+verschiedenen Porträts der Menschen zu betrachten, deren Blut in seinen
+Adern floß. Hier war Philipp Herbert, den Francis Osborne in seinen
+»Memoiren über die Herrscherzeit der Königin Elisabeth und des Königs
+Jakob« als einen beschrieb, »den der Hof seines hübschen Gesichtes wegen
+lieb hatte, das ihm aber nicht lange Gesellschaft leistete«. War es das
+Leben des jungen Herbert, das er manchmal führte? Hatte sich irgendein
+merkwürdiger, gifttragender Keim von Körper zu Körper übertragen, bis er
+seinen eigenen erreicht hatte? War es eine dumpfe Erinnerung an diesen
+verwelkten Liebreiz gewesen, die damals in Basil Hallwards Atelier so
+jäh und fast ohne Grund über ihn hereinbrach, daß er jenes wahnsinnige
+Gebet sprechen mußte, das sein Leben so sehr verändert hatte? Hier stand
+in goldgesticktem rotem Wams, in einem mit Juwelen geschmückten Überrock
+und goldgefaßten Hals- und Ärmelkrausen Sir Anthony Sherard, die Beine
+mit silbernen und schwarzen Schienen gepanzert. Was war das Vermächtnis
+dieses Mannes gewesen? Hatte ihm der Geliebte der Giovanna von Neapel
+ein Erbteil der Sünde und Schande hinterlassen? Waren seine eigenen
+Handlungen nur die Träume, die der Tote nicht zu verwirklichen gewagt
+hatte? Hier lächelte von einer verblaßten Leinwand Lady Elisabeth
+Devereux in ihrer Gazehaube, dem perlenbestickten Brustschmuck und den
+roten Schlitzärmeln. Sie hielt in der rechten Hand eine Blume, und die
+linke umfaßte einen emaillierten Halsschmuck aus weißen und Damaszener
+Rosen. Auf einem Tisch neben ihr lag eine Mandoline und ein Apfel. Auf
+ihren kleinen, spitzen Schuhen saßen große, grüne Rosetten. Er kannte
+ihr Leben und die seltsamen Geschichten, die man über ihre Liebhaber
+erzählte. Hatte er etwas von ihrem Temperament an sich? Diese ovalen
+Augen mit den schweren Lidern schienen ihn so sonderbar anzublicken. Wie
+stand es um George Willoughby mit seinem gepuderten Haar und seinen
+phantastischen Schönheitspflästerchen? Wie böse er aussah! Das Gesicht
+war melancholisch und bräunlich, und die sinnlichen Lippen schienen
+verächtlich zusammengekniffen. Kostbare Spitzenmanschetten rieselten
+über die mageren gelben Hände, die mit Ringen so sehr überladen waren.
+Er war im achtzehnten Jahrhundert ein Stutzer gewesen und in seiner
+Jugend ein Freund von Lord Ferrars. Wie war es mit dem zweiten Lord
+Beckenham, dem Gefährten des Prinzregenten in seinen wildesten Tagen und
+einem der Zeugen bei seiner heimlichen Eheschließung mit Frau
+Fitzherbert? Wie stolz und hübsch war er mit seinen kastanienbrauen
+Locken und der herausfordernden Haltung! Welche Leidenschaften hatte er
+ihm vererbt? Die Welt hatte ihn für ehrlos gehalten. Er hatte bei den
+Orgien in Carlton House den Vorsitz geführt. Der Stern des
+Hosenbandordens strahlte auf seiner Brust. Neben ihm hing das Bild
+seiner Gemahlin, einer blassen, dünnlippigen Frau in schwarzem Kleide.
+Auch ihr Blut flutete in ihm. Wie merkwürdig schien das alles! Und seine
+Mutter mit ihrem Lady Hamilton-Gesicht und ihren feuchten, wie vom Wein
+benetzten Lippen -- er wußte, was er von ihr mitbekommen hatte. Von ihr
+hatte er seine Schönheit geerbt und seine Leidenschaft für die
+Schönheit anderer. Sie lachte ihn an in ihrem losen Bacchantinnenkleide.
+In ihrem Haare waren Weinblätter. Über den Becher, den sie hielt,
+schäumte der Purpur. Die Fleischfarbe des Gemäldes war verblaßt, aber
+die Augen waren noch wunderbar in ihrer Tiefe und ihrem Farbenglanz. Sie
+schienen ihm überall hin zu folgen, wo er auch ging.
+
+Aber man hatte Vorfahren ebensogut in der Literatur wie in dem eigenen
+Geschlecht, und viele davon standen einem vielleicht näher in ihrem
+Menschentum und in ihrem Temperament und hatten sicher einen Einfluß,
+von dem man sich genauere Rechenschaft zu geben vermochte. Es gab
+Zeiten, wo Dorian Gray den Eindruck hatte, als wäre die ganze
+Weltgeschichte nur ein Bericht seines eigenen Lebens, nicht wie er es
+nach Taten und Umständen gelebt hatte, sondern wie es seine Phantasie
+für ihn erschaffen hatte, wie es in seinem Gehirn und in seinen
+Sinnentrieben war. Er fühlte, daß er sie alle gekannt hatte, diese
+merkwürdigen schrecklichen Gestalten, die über die Weltenbühne
+geschritten waren und die Sünde so glänzend und das Böse so tief und
+fein gemacht hatten. Es wollte ihm scheinen, daß auf irgendeine
+geheimnisvolle Weise ihr Leben auch sein eigenes gewesen sei.
+
+Der Held des wunderbaren Romans, der sein Leben so stark beeinflußt
+hatte, war auch von diesem seltsamen Einfall ergriffen gewesen. Im
+siebenten Kapitel erzählt er: wie er, bekränzt mit Lorbeer, damit ihn
+der Blitz nicht treffe, als Tiberius in einem Garten von Capri gesessen
+und die schändlichen Bücher von Elephantis gelesen habe, während Zwerge
+und Pfauen um ihn herumstolzierten und der Flötenspieler den
+Weihrauchschwinger verspottete: wie er als Caligula mit den
+grünbeschürzten Stallknechten in ihren Ställen gezecht und aus einer
+elfenbeinernen Krippe ein Mahl genommen habe mit einem Rosse, das ein
+edelsteingeschmücktes Stirnband trug, und wie er als Domitian durch
+einen Korridor gewandert sei, dessen Wände mit Marmorspiegeln bedeckt
+waren, in denen er mit verstörten Augen nach dem Widerschein des Dolches
+gesucht habe, der seine Tage enden sollte, erkrankt an der Langeweile,
+dem schrecklichen ~Taedium vitae~, das alle befällt, denen das Leben
+nichts versagt: und wie er durch einen hellen Smaragd den blutrünstigen
+Schlächterszenen im Zirkus zugeschaut habe und dann in einer Karosse aus
+Perlen und Purpur, die von silberfarbig gesprenkelten Maultieren gezogen
+wurde, durch eine Straße mit Granatbäumen zu einem goldenen Hause
+gefahren sei und gehört habe, wie ihm die Menschenmenge zurief: Kaiser
+Nero, als er vorbeifuhr, und wie er sich als Heliogabal das Gesicht
+geschminkt, mit den Weibern am Spinnrocken gewebt und den Mond aus
+Karthago geholt habe, um ihn in mystischer Ehe mit der Sonne zu
+vermählen.
+
+Wieder und wieder las Dorian dieses phantastische Kapitel und die zwei
+unmittelbar folgenden, in denen wie auf wunderlichen Gobelins oder
+kunstvoll gearbeiteten Emaillen die greulich-schönen Gestalten jener
+dargestellt waren, die Laster und Blut und Übersättigung zu Ungeheuern
+oder Narren gemacht hatte: Filippo, der Herzog von Mailand, der sein
+Weib getötet und ihre Lippen mit scharlachrotem Gift gefärbt hatte,
+damit ihr Geliebter von dem Leichnam, wenn er ihn liebkoste, den Tod
+saugen möge: der Venezianer Pietro Barbi, bekannt als Paul der Zweite,
+der in seiner Eitelkeit den Beinamen Formosus annehmen wollte und dessen
+Tiara, die zweihunderttausend Gulden Wert hatte, mit einer furchtbaren
+Sünde erkauft worden war: Gian Maria Visconti, der Hunde benutzte, um
+auf lebende Menschen Jagd zu machen, und dessen Leichnam nach seiner
+Ermordung von einer Dirne, die ihn geliebt hatte, mit Rosen bedeckt
+ward: der Borgia auf seinem Schimmel, neben dem der Brudermord hoch zu
+Rosse saß, und dessen Mantel mit dem Blute Perottos befleckt war: Pietro
+Riario, der junge Kardinalerzbischof von Florenz, das Kind und der
+Liebling Sixtus des Sechsten, dessen Schönheit nur von seiner
+Lasterhaftigkeit übertroffen wurde, und der Leonora von Aragonien in
+einem Zelt aus weißer und karmesinfarbener Seide empfing, das voll
+Nymphen und Zentauren war, und der einen Knaben vergoldete, damit er bei
+dem Feste als Ganymed oder Hylas aufwarte: Etzelin, dessen Schwermut nur
+durch das Schauspiel des Todes geheilt werden konnte und der eine
+Leidenschaft für rotes Blut hatte, wie andere Menschen für roten Wein --
+den man den Sohn des Satans hieß und der seinen Vater beim Würfeln
+betrogen hatte, als er mit ihm um seine Seele spielte: Giambattista
+Cibo, der aus Hohn den Namen Innozentius annahm und in dessen verdumpfte
+Adern ein jüdischer Arzt das Blut von drei Jünglingen einpumpte:
+Sigismondo Malatesta, der Liebhaber der Isotta und der Herr von Rimini,
+der zu Rom im Bilde als ein Feind Gottes und der Menschen verbrannt
+wurde, und der Polyssena mit einer Serviette erdrosselte, und der
+Ginevra d'Este aus einem Smaragdbecher Gift zu trinken gab und, um eine
+schändliche Leidenschaft zu ehren, einen heidnischen Tempel zur Anbetung
+für die Christen baute: Karl der Sechste, der für das Weib seines
+Bruders so ungestüm erglühte, daß ihm ein Aussätziger den Irrsinn
+prophezeite, der über ihn kommen werde, und der, als sein Geist krank
+geworden war und sich verwirrt hatte, nur durch sarazenische Spielkarten
+besänftigt wurde, auf denen Liebe, Tod und Wahnsinn abgebildet waren:
+und in seinem gezierten Kamisol und in seinem edelsteingeschmückten
+Barett und den akanthusgleichen Locken Grifonetto Baglioni, der Astorre
+bei seiner Braut und Simonetto bei seinem Pagen erschlug, und dessen
+Anmut so groß war, daß, als er sterbend auf der gelben Piazza in Perugia
+lag, selbst seine Hasser das Schluchzen nicht unterdrücken konnten, und
+ihn Atalanta segnete, die ihn verflucht hatte.
+
+Ein grauenhafter Zauber war in alledem. Er sah sie bei Nacht, und
+während des Tages verwirrten sie seine Vorstellungen. Die Renaissance
+kannte seltsame Arten, zu vergiften -- zu vergiften durch einen Helm und
+eine angezündete Fackel, einen bestickten Handschuh und einen
+edelsteinbesetzten Fächer, ein vergoldetes Riechbüchschen und eine
+Bernsteinkette. Dorian Gray war durch ein Buch vergiftet worden. Es gab
+Augenblicke, in denen er die Sünde einzig als eine Möglichkeit ansah,
+seinen Schönheitsbegriff zu verwirklichen.
+
+
+
+
+Zwölftes Kapitel
+
+
+Es war am neunten November, am Vorabend seines achtunddreißigsten
+Geburtstages, wie er sich später oftmals erinnerte.
+
+Er ging gegen elf Uhr aus Lord Henrys Wohnung, bei dem er gegessen
+hatte, nach Hause und war in einen schweren Pelz gehüllt, da die Nacht
+kalt und neblig war. An der Ecke von Grosvenor Square und South Audley
+Street ging im Nebel ein Mann sehr eilig an ihm vorbei, der den Kragen
+seines grauen Ulsters hochgeschlagen hatte. Er trug eine Reisetasche.
+Dorian erkannte ihn. Es war Basil Hallward. Ein seltsames Angstgefühl,
+über das er sich keine Rechenschaft geben konnte, befiel ihn. Er ließ
+nicht merken, daß er ihn erkannt hatte und setzte rasch seinen Weg fort
+in der Richtung seines Hauses.
+
+Aber Hallward hatte ihn gesehen. Dorian hörte, wie er zuerst auf dem
+Trottoir stehenblieb und ihm dann nacheilte. In ein paar Augenblicken
+lag eine Hand auf seinem Arm.
+
+»Dorian! Was für ein besonders glücklicher Zufall! Ich habe seit neun
+Uhr in deiner Bibliothek auf dich gewartet. Schließlich tat mir dein
+ermüdeter Diener leid, und als er mich herunterließ, sagte ich ihm, er
+möchte zu Bett gehen. Ich fahre mit dem Mitternachtszug nach Paris, und
+ich hatte den dringendsten Wunsch, dich vor meiner Abreise noch zu
+sehen. Ich dachte, das mußt du sein, oder mindestens dein Pelz, als du
+vorbeigingst. Aber ich war doch nicht ganz sicher. Hast du mich denn
+nicht erkannt?«
+
+»Bei so einem Nebel, lieber Basil? Ich kann nicht einmal Grosvenor
+Square erkennen. Ich vermute, mein Haus ist hier irgendwo in der Nähe,
+aber ich bin mir nicht ganz sicher. Es tut mir leid, daß du verreist,
+denn ich habe dich ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber ich denke, du
+kommst doch bald wieder?«
+
+»Nein; ich bleibe sechs Monate von England fort. Ich will mir in Paris
+ein Atelier mieten und mich darin einschließen, bis ein großes Bild
+fertig ist, das ich im Kopf habe. Aber ich wollte nicht über mich reden.
+Da sind wir an deiner Tür. Laß mich einen Augenblick mit herein. Ich
+habe dir was zu sagen.«
+
+»Es wird mir eine große Freude sein. Aber versäumst du auch deinen Zug
+nicht?« sagte Dorian Gray mit müder Stimme, als er die Treppe
+hinaufstieg und die Tür mit seinem Drücker öffnete.
+
+Das Lampenlicht kämpfte mit dem Nebel, und Hallward sah auf die Uhr.
+»Ich habe noch eine Menge Zeit«, antwortete er. »Der Zug geht zwölf Uhr
+fünfzehn, und es ist eben elf. Offen gesagt, ich war gerade auf dem Weg
+in den Klub, um dich zu suchen, als ich dich traf. Mein Gepäck wird
+mich, wie du siehst, nicht sehr aufhalten, weil ich die schweren Sachen
+vorausgeschickt habe. Hier in der Tasche ist alles, was ich mitnehme,
+und nach Victoria Station kann ich bequem in zwanzig Minuten kommen!«
+
+Dorian sah ihn lächelnd an. »Für einen berühmten Maler eine merkwürdige
+Art, zu reisen! Eine Handtasche und ein Ulster! Komm herein, sonst
+dringt der Nebel ins Haus! Und bitte, sprich über nichts Ernsthaftes mit
+mir. Nichts ist heutzutage ernsthaft. Wenigstens sollte es nichts sein.«
+
+Hallward schüttelte den Kopf als er eintrat, und folgte Dorian ins
+Bibliothekzimmer. Dort brannte in dem offenen Kamin ein helles
+Holzfeuer. Die Lampen waren angezündet, und ein offenstehender
+holländischer Likörkasten aus Silber stand nebst ein paar
+Sodawassersiphons und großen geschliffenen Gläsern auf einem eingelegten
+Tischchen.
+
+»Du siehst, dein Diener hat es mir gemütlich gemacht, Dorian. Er hat mir
+alles gegeben, was ich brauchte, sogar deine besten Zigaretten mit
+Goldmundstück. Es ist ein recht gastfreundlicher Mensch. Ich mag ihn
+viel lieber als den Franzosen, den du vor ihm hattest. Was ist übrigens
+aus dem Franzosen geworden?«
+
+Dorian zuckte die Achseln. »Ich glaube, er hat Lady Radleys
+Kammermädchen geheiratet und sie in Paris als englische Schneiderin
+etabliert. Ich höre, daß Anglomanie zurzeit drüben sehr Mode ist.
+Scheint mir recht töricht von den Franzosen, nicht wahr? Aber -- weißt
+du noch? -- er war wirklich kein schlechter Bedienter. Ich mochte ihn
+zwar auch nie so recht leiden, aber er gab mir keinen Grund zur Klage.
+Man bildet sich oft Dinge ein, die ganz sinnlos sind. Er war mir
+wirklich sehr ergeben und schien ganz traurig, als er wegging. Willst du
+noch einen Kognak und Soda? Oder lieber Wein mit Selter? Ich nehme immer
+Wein mit Selter. Es ist gewiß etwas im Nebenzimmer.«
+
+»Danke, ich nehme nichts mehr«, sagte der Maler, legte Mütze und
+Überrock ab und warf sie auf die Reisetasche, die er in die Zimmerecke
+gestellt hatte. »Und jetzt, lieber Freund, möchte ich mit dir mal
+ernsthaft sprechen. Du mußt nicht so böse aussehen. Du machst es mir
+dadurch nur schwerer.«
+
+»Was soll das alles?« rief Dorian, offen seine Verdrießlichkeit zeigend
+und warf sich auf das Sofa. »Ich hoffe, es handelt sich nicht um mich.
+Ich habe heute abend genug von mir. Ich wünschte, ich wäre ein anderer.«
+
+»Es handelt sich um dich,« antwortete Hallward mit seiner ernsten,
+tiefen Stimme, »und ich muß es dir sagen. Ich werde dich kaum ein halbes
+Stündchen aufhalten.«
+
+Dorian seufzte und steckte sich eine Zigarette an. »Ein halb Stündchen«,
+flüsterte er.
+
+»Das ist nicht viel von dir verlangt, Dorian, und ich spreche wirklich
+nur zu deinem Besten. Ich halte es für angebracht, daß du endlich die
+schrecklichen Dinge erfährst, die über dich in London geredet werden.«
+
+»Ich will nicht das mindeste davon wissen. Ich habe Tratsch über andere
+Leute recht gern, aber Tratsch über mich interessiert mich ganz und gar
+nicht. Es hat nicht mal den Reiz der Neuheit.«
+
+»Es muß dich interessieren, Dorian. Jeder anständige Mensch ist an
+seinem guten Ruf interessiert. Du darfst doch nicht die Leute von dir
+reden lassen, wie von einem gesunkenen und abscheulich lasterhaften
+Menschen. Natürlich hast du deine Stellung, deinen Reichtum und all
+dergleichen. Aber Stellung und Reichtum sind nicht alles. Auf mein Wort,
+ich glaube von diesen Gerüchten nichts. Wenigstens kann ich ihnen nicht
+glauben, wenn ich dich sehe. Die Sünde steht jedem Menschen auf der
+Stirn geschrieben. Man kann sie nicht verhehlen. Die Menschen schwatzen
+manchmal von geheimen Lastern. So etwas gibt es nicht. Wenn ein
+unseliger Mensch ein Laster hat, so zeigt sichs in den Linien seines
+Mundes, in seinen herabgesunkenen Augenlidern, selbst in der Form seiner
+Hände. Jemand -- ich will seinen Namen nicht nennen, aber du kennst ihn
+-- kam voriges Jahr zu mir und wollte sich malen lassen. Ich hatte ihn
+nie vorher gesehen und damals nie etwas von ihm gehört, seitdem aber hat
+man mir eine Menge von ihm erzählt. Er bot mir einen fabelhaften Preis
+an. Ich habe abgelehnt. An der Form seiner Finger war etwas, das mir
+ekelhaft war. Jetzt weiß ich, daß ich mit meiner Vermutung über ihn ganz
+recht hatte. Sein Leben ist fürchterlich. Aber von dir, Dorian, mit
+deinem reinen, leuchtenden, unschuldigen Gesicht und deiner wunderbaren
+unberührten Jugend -- ich kann nicht das Häßliche glauben, das man gegen
+dich vorbringt. Und doch, ich sehe dich jetzt so selten, und du kommst
+gar nicht mehr in mein Atelier, und wenn ich nicht mit dir zusammen bin
+und alle die abscheulichen Dinge höre, die sich die Leute über dich
+zuflüstern, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Woher kommt es,
+Dorian, daß ein Mann wie der Herzog von Berwick aufsteht und das
+Klubzimmer verläßt, wenn du eintrittst? Warum wollen so viele Männer in
+London nicht zu dir kommen und dich niemals zu sich einladen? Du warst
+doch mit Lord Staveley befreundet. Ich traf ihn vorige Woche bei einem
+Diner. Dein Name tauchte zufällig im Gespräch in Verbindung mit den
+Miniaturen auf, die du der Dudley-Ausstellung hergeliehen hast. Staveley
+verzog die Lippen und sagte, es mag ja sein, daß du einen äußerst
+künstlerischen Geschmack habest, aber du seist ein Mann, den kein reines
+Mädchen kennenlernen solle und mit dem keine anständige Frau im selben
+Zimmer sein dürfe. Ich gab ihm zu verstehen, daß ich dein Freund sei,
+und fragte ihn, was er damit meine. Er sagte es mir. Er sagte es mir vor
+allen Leuten geradeheraus. Es war scheußlich! Warum ist deine
+Freundschaft für junge Männer solch ein Unglück? Da war der unselige
+Bursch in der Leibgarde, der Selbstmord begangen hat. Du warst sein
+bester Freund. Da war Sir Henry Ashton, der England mit einem besudelten
+Namen verlassen mußte. Du und er, ihr beide wart unzertrennlich. Wie ist
+es mit Adrian Singleton bestellt und seinem furchtbaren Ende? Was war
+das mit dem einzigen Sohn Lord Kents und seiner Karriere? Ich traf
+seinen Vater gestern in St. James Street. Er schien vor Schande und
+Herzleid gebrochen. Was hattest du mit dem jungen Herzog von Perth? Was
+für ein Leben führt er jetzt? Welcher Gentleman wollte noch mit ihm
+Umgang haben?«
+
+»Hör auf, Basil, du sprichst von Dingen, von denen du nichts weißt«,
+sagte Dorian Gray, der sich auf die Lippen biß und in seine Stimme einen
+Ton unsäglicher Verachtung legte. »Du fragst mich, warum Berwick aus dem
+Zimmer geht, wenn ich eintrete. Er tut das, weil ich sein Leben durch
+und durch kenne, nicht weil er etwas von mir wüßte. Wie könnte er bei
+dem Blut, das in seinen Adern rollt, nicht viel auf dem Kerbholz haben?
+Du fragst mich nach Henry Ashton und dem jungen Perth. Habe ich dem
+einen seine Laster, dem anderen seine Ausschweifungen beigebracht? Wenn
+sich Kents schwachköpfiger Sohn sein Weib von der Straße holt, was gehts
+mich an? Wenn Adrian Singleton den Namen seines Freundes auf einen
+Wechsel schreibt, bin ich sein Hüter? Ich weiß, wie die Leute in England
+klatschen. Die Mittelklassen spreizen sich bei ihren endlosen Diners mit
+ihren moralischen Vorurteilen und munkeln von etwas, das sie die
+Ausschweifungen derer nennen, denen es besser geht, und um sich damit zu
+brüsten, daß sie in der feinen Gesellschaft verkehren und intim mit den
+Leuten sind, die sie durchhecheln. Bei uns zulande genügt es, daß einer
+Vornehmheit und Geist hat, damit sich jede gemeine Zunge an ihm wetzt.
+Und was für eine Art Leben führen denn diese Menschen selber, die sich
+so auf die Moral hinausspielen? Mein lieber Junge, du vergißt, daß wir
+in der Heimat der Heuchelei leben.«
+
+»Dorian,« rief Hallward, »darum handelt sich's nicht. Wie schlecht es um
+England bestellt ist, weiß ich selbst und wie die englische Gesellschaft
+verrottet ist. Gerade deshalb wünsche ich, daß du gut bleibst. Du bist
+nicht gut geblieben. Man hat ein Recht darauf, einen Menschen nach der
+Wirkung zu beurteilen, die er auf seine Freunde ausübt. Deine Freunde
+scheinen alles Gefühl für Ehre, für Anstand, für Reinheit zu verlieren.
+Du hast sie mit einer wahnsinnigen Genußsucht erfüllt. Sie sind tief
+gesunken. Ja: und du hast sie da hinabgeführt, und doch kannst du
+lächeln, und du lächelst jetzt noch. Und es gibt noch viel Schlimmeres.
+Ich weiß, du und Harry seid unzertrennlich. Schon aus diesem Grunde,
+wenn aus keinem anderen, hättest du den Namen seiner Schwester nicht zum
+Spott machen dürfen!«
+
+»Nimm dich in acht, Basil. Du gehst zu weit.«
+
+»Ich muß sprechen, und du mußt mich hören. Als du Lady Gwendolen
+kennenlerntest, hatte sie noch nicht der leiseste Hauch übler Nachrede
+berührt. Gibt es jetzt eine einzige anständige Frau in London, die mit
+ihr im Park spazieren fahren würde? Ja, nicht einmal ihre Kinder dürfen
+bei ihr wohnen. Dann gibt es andere Geschichten -- Geschichten, daß man
+dich gesehen hat, wie du in der Dämmerung aus schrecklichen Häusern
+herausgeschlichen bist, daß du dich verkleidet in den niederträchtigsten
+Kneipen Londons herumtreibst. Ist das wahr? Kann das wahr sein? Als ich
+das erstemal so etwas hörte, lachte ich. Jetzt höre ich es mit
+Schaudern. Wie steht es mit deinem Landhause und dem Leben, das dort
+geführt wird? Dorian, du weißt nicht, was man über dich spricht. Ich
+will dir das nicht vorhalten, ich will dir keine Predigt halten. Ich
+erinnere mich, daß Harry einmal gesagt hat, jeder Mensch, der sich als
+Moralprediger versuchen will, fängt damit an, daß er sagt, er wolle
+nicht predigen und dann sein Wort bricht. Ich will dir also eine Predigt
+halten. Ich möchte dich ein solches Leben führen sehen, daß die Welt
+Achtung vor dir haben soll. Ich will, daß du einen reinen Namen und
+einen guten Ruf hast. Ich will, daß du dich von den gräßlichen Menschen
+losmachst, mit denen du jetzt fraternisierst. Zucke nicht mit den
+Achseln. Sei nicht so gleichgültig. Du hast einen mächtigen Einfluß. Laß
+ihn zum Guten und nicht zum Bösen wirken. Man sagt, du verderbest jeden
+Menschen, mit dem du intim wirst, und es sei völlig hinreichend, daß du
+ein Haus betrittst, damit dir Schande irgendeiner Art auf dem Fuße
+folge. Ich weiß nicht, ob dem so ist oder nicht. Wie sollte ich's auch
+wissen? Aber man sagte es von dir. Man sagte mir Dinge, die ich
+unmöglich länger anzweifeln kann. Lord Gloucester war einer meiner
+liebsten Freunde in Oxford. Er hat mir den Brief gezeigt, den ihm seine
+Frau geschrieben hat, als sie allein in ihrer Villa in Mentone auf dem
+Sterbebette lag. Dein Name war da in die fürchterlichste Beichte
+verwickelt, die ich je gelesen habe. Ich sagte ihm, daß es Tollheit
+wäre, daß ich dich durch und durch kennte und daß du zu irgend etwas
+Derartigem unfähig wärest. Kenne ich dich? Ich frage mich, kenne ich
+dich! Bevor ich darauf antworten kann, müßte ich deine Seele sehen.«
+
+»Meine Seele sehen«, murmelte Dorian Gray, stand vom Sofa auf und wurde
+beinah weiß vor Angst.
+
+»Ja,« antwortete Hallward ernst und ein tiefschmerzlicher Klang zitterte
+in seiner Stimme -- »deine Seele sehen. Aber das kann nur Gott.«
+
+Ein bitter-höhnisches Gelächter brach aus dem Munde des Jüngeren. »Du
+sollst sie selbst sehen, noch heute nacht!« rief er aus und nahm eine
+Lampe vom Tisch. »Komm: sie ist das Werk deiner eigenen Hand. Warum
+solltest du es nicht sehen? Du kannst nachher aller Welt davon erzählen,
+wenn du willst. Niemand würde dir glauben. Wenn sie dir glaubten, haben
+sie mich deswegen nur um so lieber. Ich kenne unsere Zeit besser als du,
+obwohl du darüber so langweilig faseln kannst. Komm, sag' ich dir. Du
+hast genug über Verderbnis geschwatzt. Jetzt sollst du sie von Angesicht
+zu Angesicht sehen.«
+
+In jedem Wort, das er sprach, klang der Wahnsinn des Hochmuts. Er
+stampfte in seiner knabenhaften, dreisten Art mit dem Fuß auf die
+Dielen. Er empfand ein furchtbares Vergnügen bei dem Gedanken, daß ein
+anderer jetzt sein Geheimnis teilen solle und daß der Mann, der sein
+Bild gemalt hatte, das der Ursprung all seiner Schande war, für den Rest
+seines Lebens die Last der gräßlichen Erinnerung an seine Tat mit sich
+herumschleppen müsse.
+
+»Ja,« fuhr er fort und trat näher zu ihm heran und sah ihm fest in die
+ernsten Augen, »ich werde dir meine Seele zeigen. Du sollst das Machwerk
+sehen, von dem du glaubst, daß es nur Gott sehen kann.«
+
+Hallward schrak zurück. »Das ist Gotteslästerung, Dorian. Du darfst
+nicht solche Dinge sagen. Sie sind schrecklich und unverständig.«
+
+»Glaubst du?« Er lachte wieder.
+
+»Ich weiß es. Was ich dir heute abend gesagt habe, hab' ich zu deinem
+Besten gesagt. Du weißt, ich war dir immer ein guter Freund.«
+
+»Werde nur nicht rührselig. Mach' Schluß mit dem, was du noch zu sagen
+hast.«
+
+Ein wehevolles Zucken ging durch das Gesicht des Malers. Er schwieg
+einen Augenblick und ein heftiger Mitleidsschmerz überkam ihn. Welches
+Recht hatte er schließlich, in Dorian Grays Leben hineinzuspähen? Wenn
+er nur den zehnten Teil von dem getan hatte, wovon die Gerüchte gingen,
+wie qualvoll mußte er gelitten haben! Dann richtete er sich auf, ging
+zum Kamin hinüber und blieb da stehen, versunken in den Anblick der
+brennenden Holzscheite, die mit ihrer weißen Asche wie bereift aussahen
+und stierte ihre zuckenden Feuerherzen an.
+
+»Ich warte, Basil«, sagte der junge Mann mit harter, spitzer Stimme.
+
+Er drehte sich um. »Was ich noch zu sagen habe, ist das«, rief er. »Du
+mußt mir eine Antwort geben auf diese fürchterlichen Anklagen, die gegen
+dich erhoben werden. Wenn du mir sagst, daß sie von Anfang bis zu Ende
+unwahr sind, werde ich dir glauben. Leugne sie ab, Dorian, leugne sie
+ab! Kannst du nicht sehen, was ich durchmache? Mein Gott, sage mir
+nicht, daß du schlecht und verderbt und schändlich bist!«
+
+Dorian Gray lächelte. Seine Lippen krausten sich in Verachtung. »Komm
+hinauf, Basil«, sagte er ruhig. »Ich führe da ein Tagebuch meines
+Lebens, Tag für Tag, und es verläßt niemals das Zimmer, in dem es
+geschrieben wird. Ich will es dir zeigen, wenn du mit mir kommst.«
+
+»Ich komme mit, Dorian, wenn du es haben willst. Ich sehe, daß ich
+meinen Zug versäumt habe. Das tut nichts. Ich kann morgen fahren. Aber
+verlange nicht von mir, daß ich heute nacht noch etwas lese. Was ich
+will, ist eine klare Antwort auf meine Frage.«
+
+»Die soll dir oben zuteil werden. Ich kann sie dir hier nicht geben. Du
+wirst nicht lange zu lesen haben.«
+
+
+
+
+Dreizehntes Kapitel
+
+
+Er verließ das Zimmer und begann die Treppe hinaufzugehen, Basil
+Hallward folgte dicht hinter ihm. Sie gingen leise, wie man es bei Nacht
+instinktiv tut. Die Lampe warf phantastische Schatten auf Wand und
+Treppe. Im Winde, der sich erhoben hatte, klirrten einige Fenster.
+
+Als sie den obersten Absatz erreicht hatten, stellte Dorian die Lampe
+auf den Boden, nahm den Schlüssel heraus und schloß auf. »Du bestehst
+auf einer Antwort, Basil?« fragte er mit gedämpfter Stimme.
+
+»Ja.«
+
+»Das freut mich«, antwortete er lächelnd. Dann fügte er ziemlich scharf
+hinzu: »Du bist der einzige Mensch in der Welt, der alles über mich
+wissen darf. Du hast mehr mit meinem Leben zu schaffen gehabt, als du
+dir denkst«, und damit nahm er die Lampe auf, öffnete die Tür und trat
+ein. Ein kalter Luftzug strich an ihnen vorbei, und das Licht zuckte
+einen Augenblick in einer düstern Orangefarbe auf. Er schauderte.
+»Schließe die Tür hinter dir«, flüsterte er, während er die Lampe auf
+den Tisch stellte.
+
+Hallward blickte erstaunt umher. Das Zimmer sah aus, als wär' es seit
+langen Jahren nicht bewohnt worden. Ein fadenscheiniger flämischer
+Gobelin, ein verhängtes Bild, ein alter italienischer Cassone und ein
+fast leerer Bücherschrank -- das war außer einem Stuhl und einem Tisch
+alles, was darin zu sein schien. Als Dorian Gray eine halb abgebrannte
+Kerze, die auf dem Kamin stand, angezündet hatte, sah der Maler, daß der
+ganze Raum mit Staub bedeckt und der Teppich zerfetzt und durchlöchert
+war. Eine Maus lief erschreckt hinter die Täfelung. Ein dumpfer
+Modergeruch machte sich bemerkbar. --
+
+»Du glaubst also, daß Gott allein die Seele sieht, Basil? Zieh den
+Vorhang zurück, und du wirst die meine sehen.«
+
+Die Stimme, die das sprach, klang kalt und grausam.
+
+»Du bist wahnsinnig, Dorian, oder spielst Komödie«, sagte Hallward und
+runzelte die Stirn.
+
+»Du willst nicht? Dann muß ich es selbst tun«, sagte der junge Mann, und
+riß den Vorhang von seiner Stange und schleuderte ihn zu Boden.
+
+Ein Entsetzensschrei kam von den Lippen des Malers, als er in der
+düsteren Beleuchtung das gräßliche Gesicht auf der Leinwand erblickte,
+das ihm entgegengrinste. In seinem Ausdruck war etwas, das ihn mit Ekel
+und Abscheu erfüllte. Gott im Himmel! Es war Dorian Grays eigenes
+Antlitz, das er sah! Das Schreckliche, was es auch sein mochte, hatte
+die wundervolle Schönheit noch nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold
+in dem gelichteten Haar und etwas Purpur auf dem sinnlichen Mund. Die
+stumpfgewordenen Augen hatten noch etwas von ihrem lieblichen Blau
+behalten, der edle Schwung der Linien um die feingewölbten Nasenflügel
+und den plastischen Hals war noch nicht ganz verschwunden. Ja, es war
+Dorian selbst. Aber wer hatte das gemalt? Er glaubte, das Werk seines
+eigenen Pinsels zu erkennen, und der Rahmen war von ihm selbst
+gezeichnet. Die Vorstellung war ungeheuerlich, und doch fürchtete er
+sich. Er nahm die brennende Kerze und hielt sie nahe an das Bild. In der
+linken Ecke stand ein Name in langen, hellroten Lettern.
+
+Es war irgendeine infame Parodie, eine niederträchtige, elende Satire.
+Er hatte das niemals gemalt. Und doch, es war sein eigenes Bild. Er
+wußte es und ihm war, als ob sich sein Blut in einem Augenblick aus
+Feuer in starrendes Eis verwandelt hätte. Sein eigenes Bild! Was sollte
+das heißen? Warum hatte es sich verändert? Er drehte sich um und sah
+Dorian Gray mit krankhaften Augen an. Sein Mund zuckte, seine trockne
+Zunge schien jedes Lautes ganz unfähig zu sein. Er fuhr sich mit der
+Hand über die Stirn. Kühle Schweißperlen standen darauf.
+
+Der junge Mann lehnte gegen den Kamin und beobachtete ihn mit dem
+merkwürdigen Ausdruck, den man auf den Gesichtern von Menschen sieht,
+die von dem Spiel eines großen Schauspielers hingerissen sind. In seinem
+Gesicht war weder wirklicher Schmerz noch wirkliche Freude. Da war nur
+die Leidenschaft des Zuschauers und höchstens in den Augen flackerte ein
+triumphierendes Leuchten. Er hatte die Blume aus seinem Knopfloch
+genommen und roch daran oder tat mindestens so.
+
+»Was bedeutet das?« rief Hallward endlich. Seine eigene Stimme klang ihm
+schrill und fremd in die Ohren.
+
+»Vor vielen Jahren, als ich noch ein Knabe war,« sagte Dorian Gray,
+während er die Blume in seiner Hand zerdrückte, »hast du mich
+kennengelernt, hast mir geschmeichelt und mich gelehrt, auf meine
+Schönheit eitel zu sein. Eines Tages stelltest du mich einem deiner
+Freunde vor, der mir das Wunder der Jugend erklärte, und damals
+beendetest du ein Porträt von mir, das mir das Wunder der Schönheit
+offenbarte. In einem Augenblick des Wahnsinns, und ich weiß noch jetzt
+nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht, sprach ich einen Wunsch aus,
+vielleicht würdest du es ein Gebet nennen.«
+
+»Ich erinnere mich! Oh, wie gut erinnere ich mich! Nein! so etwas ist
+unmöglich. Das Zimmer ist feucht. Die Leinwand ist stockig geworden. In
+den Farben, die ich verwandte, war irgendein mineralisches Gift
+enthalten. Ich sage dir, so etwas ist unmöglich.«
+
+»Pah, was ist unmöglich?« murmelte der junge Mann, ging zum Fenster und
+preßte seine Stirn an die kalte, nebelfeuchte Scheibe.
+
+»Du sagtest mir, du hättest es zerstört.«
+
+»Ich habe mich geirrt. Es hat mich zerstört.«
+
+»Ich kann's nicht glauben, daß es mein Bild ist.«
+
+»Kannst du dein Ideal nicht darin erkennen?« fragte Dorian bitter.
+
+»Mein Ideal, wie du es nennst...«
+
+»Wie du es nanntest.«
+
+»Es hatte nichts Schlimmes in sich, nichts Schändliches. Du warst für
+mich ein Ideal, wie ich ihm nie wieder begegnen werde. Dies ist das
+Gesicht eines Fauns.«
+
+»Es ist das Gesicht meiner Seele.«
+
+»Jesus, mein! Was für ein Ding habe ich angebetet! Es hat die Augen
+eines Teufels.«
+
+»Jeder von uns hat Himmel und Hölle in sich, Basil«, rief Dorian mit
+einer wilden, verzweifelten Gebärde.
+
+Hallward wandte sich wieder dem Bilde zu und starrte es an. »Mein Gott!
+Es ist wahr,« rief er aus, »und das hast du aus deinem Leben gemacht und
+danach also mußt du noch schlechter sein, als die es ahnen, die gegen
+dich sprechen.« Er hielt das Licht wieder dicht an die Leinwand und
+musterte sie scharf. Die Oberfläche schien ganz unzerstört und so, wie
+sie aus seiner Hand gekommen war. Von innen also war die Fäulnis und das
+Entsetzliche hervorgedrungen. Durch einen sonderbaren inneren
+Zeugungsvorgang fraß der Aussatz der Sünde langsam das ganze Bildnis
+hinweg. Die Verwesung eines Leichnams in einem feuchten Grabe konnte
+nicht so grauenvoll sein.
+
+Seine Hand zitterte und die Kerze fiel aus dem Leuchter auf den Boden
+und lag rauchend da. Er trat mit dem Fuß darauf und erstickte sie. Dann
+warf er sich selbst in den wackligen Stuhl vor dem Tische und vergrub
+das Gesicht in seinen Händen.
+
+»Großer Gott, Dorian, was für eine Lehre! Was für eine furchtbare
+Lehre!« Es kam keine Antwort, aber er konnte den jungen Mann am Fenster
+schluchzen hören. »Bete, Dorian, bete«, sagte er leise. »Was war es
+doch, was man uns in der Kindheit hersagen gelehrt hat? >Führe uns nicht
+in Versuchung! Vergib uns unsere Sünden! Nimm unsere Missetat von uns!<
+Wir wollen das zusammen aufsagen. Das Gebet deines Stolzes ist erhört
+werden. Das Gebet deiner Reue wird auch erhört werden. Ich habe dich zu
+sehr geliebt. Ich bin dafür bestraft worden. Du hast dich selbst zu
+sehr geliebt. Wir haben beide unsere Strafe.«
+
+Dorian Gray wandte sich langsam um und sah ihn mit tränenschimmernden
+Augen an. »Es ist zu spät, Basil«, flüsterte er.
+
+»Es ist nie zu spät, Dorian. Wir wollen niederknien und versuchen, ob
+wir uns nicht an ein Gebet erinnern können. Steht nicht irgendwo ein
+Vers: >Und wären deine Sünden wie Scharlach, ich will sie weiß machen
+wie Schnee?<«
+
+»Solche Worte haben für mich keinen Sinn mehr.«
+
+»Still! Sage nicht so etwas. Du hast genug Böses getan im Leben. Mein
+Gott! Siehst du nicht, wie uns das fürchterliche Ding anstiert?«
+
+Dorian Gray blickte nach dem Bild, und plötzlich überkam ihn ein
+unbezwingliches Haßgefühl auf Basil Hallward, als sei er ihm von dem
+Bildnis auf der Leinwand eingeflößt, von diesen grinsenden Lippen in
+sein Ohr gewispert worden. Die wilde Zornwut eines gehetzten Tieres
+kochte in ihm, und er haßte den Mann, der da an dem Tisch saß, mehr als
+er in seinem ganzen Leben irgend etwas gehaßt hatte. Er spähte wild um
+sich. Auf der Platte der bemalten Truhe, die ihm gegenüberstand,
+glitzerte etwas. Sein Blick fiel darauf. Er erkannte, was es war. Ein
+Messer war's, das er vor einigen Tagen mit hinaufgenommen hatte, um ein
+Stück Schnur zu durchschneiden, und das er wieder mit herunterzunehmen
+vergessen hatte. Er ging langsam darauf zu und mußte dabei an Hallward
+vorüber. Sobald er hinter ihm stand, ergriff er das Messer und drehte
+sich um. Hallward rührte sich in seinem Stuhl, als wollte er soeben
+aufstehen. Er stürzte sich auf ihn und bohrte ihm das Messer tief in die
+Schlagader hinter dem Ohr, preßte den Kopf des Mannes auf den Tisch
+herunter und stieß immer und immer wieder zu.
+
+Man hörte ein unterdrücktes Röcheln und den fürchterlichen Ton eines
+Menschen, der in seinem Blut erstickt. Dreimal schlugen die krampfhaft
+ausgestreckten Arme um sich, und die Hände fuhren mit eigentümlich
+steifen Fingern durch die Luft. Er stieß noch zweimal zu, aber der Mann
+rührte sich nicht mehr. Etwas begann auf den Boden zu tröpfeln. Er
+wartete einen Augenblick und drückte den Kopf immer noch nach unten.
+Dann warf er das Messer auf den Tisch und horchte.
+
+Er konnte nichts hören, als das Tropf-Tropf auf den fadenscheinigen
+Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis an den Treppenabsatz. Das Haus
+war vollständig ruhig. Niemand war wach. Über das Geländer gebeugt,
+stand er ein paar Augenblicke da und forschte hinab in den schwarzen
+brodelnden Schacht von Dunkelheit. Dann zog er den Schlüssel ab, ging in
+das Zimmer zurück und schloß sich darin ein.
+
+Das Wesen saß noch immer in dem Stuhl und hing mit gebeugtem Kopf und
+gekrümmtem Rücken und langen phantastischen Armen über den Tisch. Wäre
+nicht der rote, klaffende Riß im Nacken gewesen und die dunkle,
+geronnene Lache, die sich nach und nach auf dem Tisch vergrößerte, so
+hätte man glauben können, der Mann schlafe nur.
+
+Wie schnell das alles geschehen war! Er fühlte sich merkwürdig ruhig,
+ging zur Balkontür, öffnete sie und trat hinaus. Der Wind hatte die
+Nebeltücher auseinandergeblasen, und der Himmel sah aus wie der Schweif
+eines ungeheuren Pfaus, der mit Myriaden goldener Augen bestirnt war. Er
+blickte hinab und sah, wie der Polizist seine Runde machte und das lange
+Streiflicht seiner Laterne über die Türen der schweigsamen Häuser
+gleiten ließ. Das rotgelbe Licht einer vorbeitrödelnden Droschke glomm
+an der Straßenecke auf und verschwand wieder. Ein Weib in einem
+flatternden Kopftuch schob sich langsam am Gitter des Platzes vorbei und
+taumelte im Gehen. Dann und wann stand sie still und sah zurück. Auf
+einmal begann sie mit heiserer Stimme zu singen. Der Schutzmann
+schlenderte über den Damm her und sagte etwas zu ihr. Sie humpelte
+lachend weiter. Ein scharfer Luftzug fegte über den Platz. Die
+Gasflammen zuckten und wurden blau, und die entlaubten Bäume schüttelten
+ihr schwarzes Geäste hin und her, das wie ein Eisengeflecht aussah. Ihn
+fröstelte und er trat, das Fenster schließend, wieder zurück.
+
+Als er bei der Türe war, drehte er den Schlüssel und öffnete sie. Er
+blickte den Ermordeten mit keinem Blicke mehr an. Er empfand, daß das
+Geheimnis der ganzen Sache darin beruhe, sich die Sachlage nicht zu
+vergegenwärtigen. Der Freund, der das verhängnisvolle Bild gemalt hatte,
+von dem all sein Elend herrührte, war aus seinem Leben verschwunden. Das
+war genug.
+
+Dann fiel ihm die Lampe ein. Es war eine ziemlich merkwürdige maurische
+Arbeit, mattes Silber mit eingelegten Arabesken aus dunkelpoliertem
+Stahl und besetzt mit ungeschliffenen Türkisen. Sie mochte vielleicht
+von seinem Diener vermißt werden und er könnte danach fragen. Er
+zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück und nahm sie vom Tisch.
+Dabei mußte er die tote Gestalt sehen. Wie ruhig sie war! Wie furchtbar
+weiß die langen Hände aussahen! Es schien eine gräßliche Wachsfigur zu
+sein.
+
+Er schloß die Türe hinter sich und schlich langsam die Treppe hinunter.
+Das Holz knarrte und schien wie vor Schmerz aufzustöhnen. Er blieb
+einige Male stehen und wartete. Nein, alles war still. Er hörte nur den
+Widerhall seiner eigenen Schritte.
+
+Als er in seinem Bibliothekszimmer war, erblickte er die Tasche und den
+Rock in der Ecke. Die mußten irgendwo verborgen werden. Er öffnete einen
+Geheimschrank, der in der Holztäfelung war, in dem er seine eigenen
+Verkleidungen aufbewahrte, und schob die Sachen hinein. Er konnte sie
+später leicht einmal verbrennen. Dann zog er seine Uhr. Es war zwanzig
+Minuten vor zwei.
+
+Er setzte sich und begann nachzudenken. Jahr für Jahr -- fast jeden
+Monat -- werden in England Leute gehenkt für so etwas, wie er soeben
+getan hatte. Irgendeine wahnwitzige Mordlust hatte in der Luft gelegen.
+Irgendein blutroter Stern war der Erde zu nahe gekommen... Und doch, wie
+wollte man es ihm beweisen? Basil Hallward hatte das Haus um elf Uhr
+verlassen. Niemand hatte ihn noch einmal wiederkommen sehen. Die meisten
+Diener waren in Selby Royal. Sein eigener Diener war schlafen
+gegangen... Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren, und zwar mit dem
+Mitternachtszug, wie es seine Absicht gewesen war. Bei seinen
+merkwürdigen Gewohnheiten, sich zurückzuziehen, würden Monate vergehen,
+bevor irgendein Verdacht entstehen würde. Monate! Alle Spuren konnten
+lange vorher getilgt sein.
+
+Ein plötzlicher Einfall durchzuckte ihn. Er zog seinen Pelz an, setzte
+seinen Hut auf und ging in die Vorhalle hinaus. Dort blieb er stehen,
+weil er den langsamen, schweren Tritt des Schutzmanns draußen auf dem
+Pflaster hörte und den tanzenden Widerschein seiner Blendlaterne im
+Türfenster sah. Er wartete und hielt den Atem an.
+
+Nach einigen Augenblicken schob er den Riegel zurück und schlüpfte
+hinaus, das Tor ganz leise hinter sich schließend. Dann zog er die
+Klingel. Nach etwa fünf Minuten erschien sein Diener, halb angezogen und
+sehr verschlafen.
+
+»Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis«, sagte er
+eintretend und ging die Stufen hinauf; »aber ich habe meinen
+Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?«
+
+»Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr«, sagte der Mann mit einem
+blinzelnden Blick auf die Uhr.
+
+»Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie müssen mich morgen um
+neun Uhr wecken. Ich habe zu tun.«
+
+»Zu Befehl, gnädiger Herr.«
+
+»War jemand heute abend hier?«
+
+»Herr Hallward, gnädiger Herr. Er hat hier bis elf Uhr gewartet und ging
+dann, um seinen Zug nicht zu versäumen.«
+
+»Es tut mir leid, daß ich ihn nicht getroffen habe. Sollen Sie mir etwas
+bestellen?«
+
+»Nein, gnädiger Herr, nur, daß er von Paris schreiben würde, wenn er Sie
+im Klub nicht treffen sollte.«
+
+»Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen um neun zu
+wecken.«
+
+»Nein, gnädiger Herr!«
+
+Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln durch den Torweg die
+Dienertreppe hinab.
+
+Dorian Gray warf Hut und Stock auf den Tisch und trat ins Bücherzimmer.
+Eine Viertelstunde lang ging er auf und ab, biß sich auf die Lippen und
+grübelte. Dann nahm er das blaue Adreßbuch von einem Regal und begann zu
+blättern. »Alan Campbell, Hertford Street 152, Mayfair.« Ja, das war der
+Mann, den er brauchte.
+
+
+
+
+Vierzehntes Kapitel
+
+
+Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener mit einer Tasse
+Schokolade auf einem Servierbrett herein und öffnete die Fensterläden.
+Dorian lag auf der rechten Seite, eine Hand unter seiner Wange und
+schlief ganz friedlich. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder
+Lernen müde geworden ist.
+
+Der Mann mußte ihn zweimal an der Schulter berühren, bevor er aufwachte,
+und als er die Augen öffnete, huschte ein leichtes Lächeln über seine
+Lippen, als wäre er von einem entzückenden Traum befangen gewesen. Aber
+er hatte gar nicht geträumt. Seine Nacht war weder von Bildern der
+Freude noch des Grauens gestört worden. Doch die Jugend lächelt ohne
+Grund. Das ist einer ihrer besonderen Reize.
+
+Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann seine
+Schokolade zu schlürfen. Die matte Novembersonne strömte in das Zimmer.
+Der Himmel war wolkenlos, eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war
+fast wie ein Maimorgen.
+
+Allmählich schlichen die Vorgänge der vergangenen Nacht auf lautlosen,
+blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn und bauten sich dort mit
+furchtbarer Deutlichkeit wieder auf. Er erschauerte bei dem Gedächtnis
+an alles, was er durchlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte in
+ihm derselbe sonderbare Haß auf Basil Hallward zurück, der ihn dazu
+getrieben hatte, ihn zu töten, als er im Stuhl saß, er wurde kalt vor
+Wut. Der Tote saß noch immer da oben und jetzt dazu im Sonnenlicht. Wie
+schrecklich das war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit,
+nicht an den Tag.
+
+Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig würde, wenn er über das brütete,
+was er hinter sich hatte. Es gibt Sünden, deren Reiz mehr in der
+Erinnerung liegt als in der Begehung, seltsame Siege, die mehr dem Stolz
+Genüge tun als der Leidenschaft und die dem Geist ein Lustgefühl geben,
+das stärker ist als jede Wonne, die sie Sinnen verschaffen oder jemals
+verschaffen können. Aber diesmal war es keine von diesen. Dies war eine,
+die man aus dem Geiste verjagen, die man mit einem Opiat vergiften, die
+man ersticken mußte, da sie einen sonst selbst ersticken würde.
+
+Als es halb schlug, fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, stand dann
+rasch auf und zog sich beinahe mit noch größerer Sorgfalt an, als
+gewöhnlich, indem er die größte Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner
+Krawatte und seiner Nadel verwandte und seine Ringe mehr als einmal
+wechselte. Er verbrachte auch beim Frühstück längere Zeit, kostete von
+den verschiedenen Gerichten, sprach mit seinem Bedienten über neue
+Livreen, die er der Dienerschaft in Selby machen lassen wollte, und sah
+seine Briefschaften durch. Bei einigen Zuschriften lächelte er. Drei
+ödeten ihn an. Einen Brief las er mehrmals durch und zerriß ihn dann mit
+einem leichten Ärger in seinen Mienen. »Was für ein gräßliches Ding das
+Gedächtnis einer Frau ist«, hatte Lord Henry einmal gesagt.
+
+Als er seine Schale schwarzen Kaffee getrunken hatte, trocknete er die
+Lippen langsam an seiner Serviette ab, gab dem Diener ein Zeichen zu
+warten, ging zum Schreibtisch hinüber, setzte sich und schrieb zwei
+Briefe. Einen steckte er in die Tasche, den anderen reichte er dem
+Diener.
+
+»Bringen Sie den nach Hertford Street 152, Francis, und wenn Herr
+Campbell nicht in der Stadt ist, lassen Sie sich seine Adresse geben.«
+
+Sobald er allein war, zündete er sich eine Zigarette an und begann auf
+einem Blatt Papier Skizzen zu machen, zeichnete zuerst Blumen, dann
+Architekturstücke und dann menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er,
+daß jedes Gesicht, das er entwarf, eine phantastische Ähnlichkeit mit
+Basil Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf, ging
+zum Bücherschrank und nahm auf gut Glück einen Band heraus. Er war fest
+entschlossen, an das Geschehene nicht eher zu denken, als bis es
+unbedingt notwendig war.
+
+Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf den Titel des
+Buches. Es waren Gautiers »~Emaux et Camées~«, Charpentiers Ausgabe auf
+japanischem Papier, mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus
+zitronengelbem Leder mit einem Blinddruckmuster von goldenem Laubwerk
+und Granatäpfeln in Punktmanier. Es war ein Geschenk Adrian Singletons.
+Als er darin blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand
+Lacenaires, die kalte gelbe Hand »~du supplice encore mal lavée~«, mit
+ihren rötlichen Flaumhärchen und ihren »~doigts de faune~«. Er blickte
+auf seine eigenen weißen, spitzen Finger, schauderte unwillkürlich
+zusammen, las dann weiter, bis er zu den lieblichen Versen auf Venedig
+kam.
+
+ ~Sur une gamme chromatique,
+ Le sein de perles ruisselant,
+ La Vénus de l'Adriatique
+ Sort de l'eau son corps rose et blanc.
+
+ Les dômes, sur l'azur des ondes
+ Suivant la phrase au pur contur,
+ S'enflent comme des gorges rondes
+ Que soulève un soupir d'amour.
+
+ L'esquif aborde et me dépose,
+ Jetant son amarre au pilier,
+ Devant une façade rose,
+ Sur le marbre d'un escalier.~
+
+Wie entzückend die Verse waren! Wenn man sie las, hatte man die
+Empfindung, durch die grünen Wasserstraßen dieser rot- und perlfarbigen
+Stadt zu gleiten, in einer schwarzen Gondel mit silbernem Schnabel und
+schleppenden Vorhängen. Schon die Zeilen sahen so aus wie die geraden,
+türkisblauen Kiellinien, die einem folgten, wenn man nach dem Lido
+hinausrudert. Die plötzlichen Farbenblitze erinnerten ihn an den
+Schimmer jener Vögel mit opal- und regenbogenfarbenen Hälsen, die um den
+schlanken, wabenartig durchlöcherten Kampanile flattern oder mit
+prächtiger Anmut durch die düstern, staubigen Arkaden trippeln.
+Zurückgelehnt mit halb geschlossenen Augen sagte er immer und immer
+wieder zu sich: --
+
+ ~Devant une façade rose,
+ Sur le marbre d'un escalier.~
+
+Das ganze Venedig war in diesen zwei Versen enthalten. Er dachte an den
+Herbst, den er dort verbracht hatte, und eine himmlische Liebelei, die
+ihn zu wahnsinnigen, entzückenden Torheiten getrieben hatte. Es gab
+Romantik in jedem Erdenwinkel. Aber Venedig hatte noch wie Oxford den
+Hintergrund für Romantik bewahrt, und für den wahren Romantiker ist der
+Hintergrund alles oder fast alles. Basil war einen Teil der Zeit bei ihm
+gewesen und war ganz wild vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme
+Basil! Was für eine schreckliche Art, so zu sterben!
+
+Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen. Er las von
+den Schwalben, die aus- und einfliegen in dem kleinen Café zu Smyrna, wo
+die Hadjis sitzen und ihre Bernsteinperlen durch die Hand laufen lassen,
+und wo die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten Pfeifen
+rauchen und ernsthaft miteinander sprechen: er las von dem Obelisk auf
+der Place de la Concorde, der in seiner vereinsamten, sonnenlosen
+Verbannung granitene Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen,
+lotosbedeckten Nil, wo die Sphinxe sind, und rosenrote Ibisse und weiße
+Geier mit goldenen Klauen und Krokodile mit kleinen Beryllaugen, die
+durch den grünen, dampfenden Schlamm dahinkriechen: er fing an, den
+Versen nachzusinnen, die ihre Musik aus Marmor locken, der von Küssen
+fleckig geworden ist, und die uns von der sonderbaren Statue erzählen,
+die Gautier einer Altstimme vergleicht, von dem »~monstre charmant~«,
+das in dem Porphyrsaal des Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel
+seinen Händen das Buch. Er wurde nervös, und ein gräßlicher Angstanfall
+schüttelte ihn. Was nun tun, wenn Alan Campbell nicht in England war?
+Tage könnten möglicherweise verstreichen, bevor er zurückkäme.
+Vielleicht weigerte er sich, zu kommen. Was sollte er dann tun? Jeder
+Augenblick war von tödlicher Bedeutung.
+
+Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf Jahren -- sogar fast
+unzertrennlich. Dann hatte die Intimität plötzlich ein Ende. Wenn sie
+sich jetzt in Gesellschaft trafen, war es nur noch Dorian Gray, der da
+lächelte, niemals Alan Campbell.
+
+Er war ein außerordentlich begabter junger Mann, wenn er auch kein
+eigentliches Verhältnis zu den sichtbaren Künsten hatte, und der geringe
+Sinn für Poesie, den er besaß, vollständig von Dorian herrührte. Die
+geistige Leidenschaft, die ihn beherrschte, erstreckte sich nur auf die
+Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil seiner Zeit mit
+Arbeiten im Laboratorium verbracht und hatte sein Examen in den
+Naturwissenschaften mit vorzüglich bestanden. Noch jetzt war er dem
+Studium der Chemie ergeben und hatte ein eigenes Laboratorium, in das er
+sich häufig den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum großen Kummer
+seiner Mutter, die sich darauf verbissen hatte, daß er für das Parlament
+kandidieren sollte, und die eine unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker
+sei ein Mensch, der Rezepte anfertige. Indessen war er ein
+ausgezeichneter Musiker und spielte Geige und Klavier besser als die
+meisten Dilettanten. Die Musik war es denn auch wirklich, die Dorian
+Gray und ihn zueinander gebracht hatte -- die Musik und die
+unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian ausüben konnte, wenn er
+wollte, und auch oft ausübte, ohne es zu wissen. Sie hatten sich bei
+Lady Berkshire an dem Abend kennengelernt, als Rubinstein dort spielte,
+und man sah sie von da an immer zusammen in der Oper und überall, wo es
+gute Musik gab. Achtzehn Monate dauerte diese Freundschaft. Campbell war
+regelmäßig entweder in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie
+für viele andere war Dorian Gray die Verkörperung alles dessen, was
+wunderbar und bezaubernd im Leben ist. Ob zwischen ihnen ein Streit
+vorgefallen war oder nicht, wußte kein Mensch. Aber plötzlich bemerkten
+die Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich trafen, und
+daß Campbell jede Gesellschaft frühzeitig verließ, in der Dorian
+anwesend war. Er war auch verändert -- bisweilen merkwürdig
+melancholisch, schien kaum noch Musik hören zu können, spielte nie mehr
+selbst und gab, wenn man ihn dazu aufforderte, als Entschuldigung an,
+daß ihn die Wissenschaft so stark in Anspruch nähme, daß er keine Zeit
+mehr zum Üben habe. Und das war auch der Fall. Er schien jeden Tag mehr
+Interesse für biologische Studien zu gewinnen, und sein Name erschien
+ein- oder zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung mit
+gewissen außergewöhnlichen Experimenten.
+
+Das war der Mann, auf den Dorian Gray wartete. Jede Sekunde blickte er
+auf die Uhr. Als Minute um Minute verstrich, wurde er furchtbar
+aufgeregt. Schließlich stand er auf und begann im Zimmer hin und her zu
+gehen wie irgendeine schöne Bestie im Käfig. Er holte weiten Schrittes,
+fast sprunghaft, aus und trat leise auf. Seine Hände waren eigentümlich
+kalt.
+
+Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien ihm mit bleiernen Füßen
+zu schleichen, während er von ungeheuren Wirbelwinden zum zackigen Grat
+einer schwarzen Kluft oder eines Abgrundes hingefegt wurde. Er wußte,
+was dort seiner harrte; er sah es und preßte schaudernd mit feuchten
+Händen seine brennenden Lider zusammen, als wolle er sein Gehirn der
+Sehkraft berauben und die Augäpfel in ihre Höhlen zurückdrängen. Es war
+umsonst. Das Gehirn hatte seine eigene Nahrung, mit der es sich mästete,
+und die durch den Schrecken grotesk gemachte Einbildungskraft krümmte
+sich vor Schmerz wie ein lebendes Wesen, tanzte wie eine widerwärtige
+Marionette in einer Schaubude und grinste durch bewegliche Masken
+hindurch. Dann blieb auf einmal die Zeit für ihn stehen. Ja, dieses
+blinde, langsamatmende Wesen kroch nicht mehr, und da sie tot war,
+stürzten sich gräßliche Gedanken mit Blitzesschnelle über ihn hin und
+zerrten eine scheußliche Zukunft aus ihrem Grabe und zeigten sie ihm. Er
+starrte darauf hin. Ihre Entsetzlichkeit versteinerte ihn.
+
+Endlich öffnete sich die Tür, und sein Bedienter trat ein. Er wandte ihm
+seine gläsernen Augen zu.
+
+»Herr Campbell, gnädiger Herr«, sagte der Mann.
+
+Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen Lippen und die
+Farbe kehrte in seine Wangen zurück.
+
+»Bitten Sie ihn sofort herein, Francis.« Er fühlte, daß er wieder er
+selbst war. Der Anfall von Feigheit war überwunden.
+
+Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen Augenblicken trat Alan
+Campbell ein, mit sehr strengem Gesicht und etwas bleich, und seine
+blasse Farbe wurde durch das kohlschwarze Haar und die dunkeln Brauen
+noch verstärkt.
+
+»Alan! das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß du gekommen bist.«
+
+»Ich hatte die Absicht, dein Haus nie wieder zu betreten, Gray. Aber du
+schriebst, es handle sich um Leben und Tod.« Seine Stimme war hart und
+kalt. Er sprach langsam und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in dem
+festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er behielt die
+Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes und schien die Bewegung, mit
+der ihm die Hand entgegengestreckt worden war, nicht zu bemerken.
+
+»Ja, es handelt sich um Leben und Tod, und für mehr als einen Menschen,
+Alan. Setze dich.«
+
+Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian setzte sich ihm
+gegenüber. Die Augen der beiden Männer trafen sich. In denen Dorians lag
+unendliches Mitleid. Er wußte, was er jetzt tun werde, war schrecklich.
+
+Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens beugte er sich nach vorn und
+sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes Wortes auf dem Gesicht des Mannes
+ablesend, den er hatte holen lassen: »Alan, in einem verschlossenen
+Dachzimmer dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger Mensch
+außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann an einem Tisch. Er ist jetzt
+seit zehn Stunden tot. Bleib' ruhig sitzen und sieh mich nicht so an.
+Wer der Mann ist, warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die dich
+nicht kümmern. Was du zu tun hast, ist --«
+
+»Halt, Gray! Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was du mir gesagt
+hast, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an. Ich lehne es entschieden
+ab, in dein Leben verwickelt zu werden. Behalte deine fürchterlichen
+Geheimnisse für dich! Sie interessieren mich nicht mehr.«
+
+»Alan, du wirst dafür Interesse haben müssen. Dies eine Geheimnis wird
+dich interessieren müssen. Es tut mir furchtbar leid um dich, Alan.
+Aber ich kann dir nicht helfen. Du bist der einzige Mensch, der mich zu
+retten vermag. Ich bin gezwungen, dich in die Sache hineinzuziehen. Ich
+habe keine Wahl. Alan, du bist ein Mann der Naturwissenschaft. Du
+verstehst dich auf Chemie und diese Dinge. Du hast Experimente gemacht.
+Was du zu tun hast, ist, das Wesen da oben zu vernichten, so zu
+vernichten, daß auch nicht eine Spur davon übrigbleibt. Niemand hat
+diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet ihn im
+Augenblick in Paris. Monatelang wird er nicht vermißt werden. Wenn er
+vermißt wird, darf hier keine Spur von ihm gefunden werden. Alan, du
+mußt ihn, ihn und alles, was zu ihm gehört, in eine Handvoll Asche
+verwandeln, die ich in die Luft streuen kann.«
+
+»Du bist wahnsinnig, Dorian.«
+
+»Ah! wie ich darauf gewartet habe, daß du mich wieder Dorian nennst.«
+
+»Du bist wahnsinnig, sag' ich dir -- wahnsinnig, daß du dir einbildest,
+ich wurde auch nur einen Finger rühren, dir zu helfen, wahnsinnig, daß
+du mir dieses ungeheuerliche Geständnis ablegst. Ich will damit nichts
+zu tun haben, was es auch sei. Glaubst du, ich setze meine Ehre für dich
+aufs Spiel? Was geht's mich an, mit welchem Teufelswerk du zu tun hast.«
+
+»Es war ein Selbstmord, Alan.«
+
+»Das freut mich, aber wer hat ihn dazu getrieben? Du, vermute ich.«
+
+»Weigerst du dich noch immer, das für mich zu tun?«
+
+»Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit zu schaffen
+haben. Es liegt mir gar nichts daran, was für eine Schande über dich
+kommt. Du verdienst es vollauf. Es würde mir nicht leid tun, wenn ich
+dich entehrt, öffentlich entehrt sähe. Wie kannst du es wagen, mich,
+gerade mich von allen Menschen in der Welt in diese Scheußlichkeit
+hineinbringen zu wollen? Ich hätte geglaubt, du verständest mehr vom
+Charakter der Menschen. Dein Freund, Lord Henry Wotton, kann dich nicht
+sehr über Psychologie aufgeklärt haben, worüber er dich auch sonst
+aufgeklärt hat. Nichts wird mich dazu vermögen, auch nur einen Schritt
+zu tun, um dir zu helfen. Du bist an den falschen Mann gekommen. Geh zu
+einem deiner Freunde, nicht zu mir.«
+
+»Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Du weißt nicht, was ich
+durch ihn gelitten habe. Mein Leben mag sein, wie es wolle, er hatte
+mehr damit zu tun, es zu erschaffen und zu zerstören, als der arme
+Harry. Er mag es nicht gewollt haben, die Wirkung ist dieselbe.«
+
+»Mord! Guter Gott, Dorian, bist du jetzt soweit gekommen? Ich werde dich
+nicht anzeigen. Das ist meines Amtes nicht. Im übrigen wird man dich
+fassen, auch wenn ich mich nicht in die Sache mische. Niemand begeht ein
+Verbrechen, ohne dabei eine Dummheit zu machen. Also ich will nichts
+damit zu tun haben.«
+
+»Du mußt etwas damit zu tun haben. Warte, warte noch einen Augenblick;
+hör' mich an. Nur anhören, Alan. Alles, was ich von dir verlange, ist
+ein bestimmtes wissenschaftliches Experiment. Du gehst in Spitäler und
+Leichenhäuser, und das Schreckliche, was du dort tust, rührt dich
+nicht. Wenn du diesen Mann in irgendeinem gräßlichen Seziersaal oder in
+einem mißduftenden Laboratorium auf einem rohen Tisch liegen sähest, mit
+roten Röhren, die man in ihn hineingebohrt hat, damit daraus das Blut
+durchfließen kann, dann würdest du ihn einfach als ein bewundernswertes
+Objekt betrachten. Kein Härchen würde sich dir sträuben. Du hättest
+nicht die Empfindung, irgend etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil, du
+würdest wahrscheinlich glauben, der Menschheit eine Wohltat zu erweisen,
+oder die Summe des menschlichen Wissens zu vermehren oder den
+intellektuellen Wissensdrang zu befriedigen oder so etwas dergleichen.
+Was ich von dir fordere, ist nichts anderes, als was du schon oft getan
+hast. Wahrhaftig, es muß viel weniger gräßlich sein, einen Leichnam aus
+der Welt zu schaffen, als das, was du gewöhnlich tust. Und bedenke, es
+ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn er entdeckt wird, bin ich
+verloren; und er muß sicher entdeckt werden, wenn du mir nicht hilfst.«
+
+»Ich habe keine Lust, dir zu helfen. Du vergißt das. Die ganze Sache ist
+mir gleichgültig. Ich habe nichts damit zu tun.«
+
+»Alan, ich beschwöre dich. Denke an die Lage, in der ich bin. Jetzt
+eben, ehe du kamst, war ich fast ohnmächtig vor Schreck. Du kannst eines
+Tages selbst einmal die Angst kennenlernen. Nein, denke nicht daran!
+Betrachte die Sache vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus. Du
+forschst doch sonst nicht danach, woher die toten Wesen kommen, mit
+denen du experimentierst. Forsche auch jetzt nicht danach. Ich habe dir
+ohnehin zuviel gesagt. Aber ich bitte dich, tu, um was ich dich bat.
+Wir waren doch einmal Freunde, Alan.«
+
+»Sprich nicht von jenen Tagen, Dorian; sie sind tot.«
+
+»Die Toten verweilen manchmal. Der Mann da oben geht nicht weg. Er sitzt
+am Tisch mit vorgebeugtem Kopf und ausgestreckten Armen. Alan! Alan!
+wenn du mir nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! man wird mich
+hängen! Begreifst du nicht? Man wird mich hängen, für das, was ich getan
+habe.«
+
+»Es hat keinen Sinn, diese Szene weiter auszudehnen. Ich weigere mich
+ganz entschieden, etwas damit zu tun zu haben. Es ist Tollheit von dir,
+mich darum zu bitten.«
+
+»Du weigerst dich?«
+
+»Ja!«
+
+»Ich beschwöre dich, Alan!«
+
+»Es ist nutzlos.«
+
+Derselbe mitleidige Ausdruck kam in Dorian Grays Augen. Dann reckte er
+die Hand aus, nahm ein Stück Papier und schrieb etwas darauf. Er las es
+zweimal durch, faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den
+Tisch. Nachdem er dies getan hatte, stand er auf und trat ans Fenster.
+
+Campbell sah ihn verwundert an, nahm dann das Papier und öffnete es. Als
+er es gelesen hatte, wurde sein Gesicht totenblaß und er sank in seinen
+Stuhl zurück. Ein fürchterliches Gefühl der Schwäche überwältigte ihn.
+Ihm war, als ob sich sein Herz in einer leeren Höhle zu Tode schlüge.
+
+Nach zwei oder drei Minuten furchtbaren Schweigens wandte sich Dorian
+um, ging zu ihm hin, stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf
+die Schulter.
+
+»Es tut mir so leid um dich, Alan,« flüsterte er, »aber du läßt mir
+keine Wahl. Ich habe den Brief schon geschrieben. Hier ist er. Du siehst
+die Adresse. Wenn du mir nicht hilfst, muß ich ihn abschicken. Du weißt,
+was darauf erfolgt. Aber du wirst mir helfen. Es ist unmöglich, daß du
+jetzt noch nein sagst. Ich wollte dir das ersparen. Du mußt mir die
+Gerechtigkeit widerfahren lassen, das zuzugeben. Du warst bitter, hart,
+beleidigend. Du hast mich behandelt, wie es nie ein Mensch gewagt hat,
+mich zu behandeln. Wenigstens kein lebender Mensch. Ich ertrug es alles.
+Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren.«
+
+Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und ein Frösteln überlief
+ihn.
+
+»Ja, jetzt ist die Reihe an mir, Bedingungen zu diktieren, Alan. Du
+weißt, was ich verlange. Die Sache ist ganz einfach. Komm, schraube dich
+nicht in ein Fieber hinein. Die Sache muß geschehen. Schau ihr ins
+Gesicht und vollbringe sie.«
+
+Ein Stöhnen klang von Campbells Lippen, und er zitterte am ganzen Leibe.
+Das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims schien ihm die Zeit in einzelne
+Atome eines Todeskampfes zu zerstückeln, von denen das kleinste schon zu
+schrecklich war, um es zu ertragen. Er hatte das Gefühl, als ob ein
+eiserner Ring um seine Stirn nach und nach festgespannt wurde, als ob
+die Schande, mit der man ihn bedrohte, schon über ihn käme. Die Hand auf
+seiner Schulter beschwerte ihn wie ein Gewicht von Blei. Sie war
+unerträglich. Sie schien ihn zu zerquetschen.
+
+»Komm, Alan, du mußt dich gleich entscheiden.«
+
+»Ich kann es nicht tun«, sagte er mechanisch, als könnten die Worte
+etwas ändern.
+
+»Du mußt. Du hast keine Wahl. Zaudere nicht.«
+
+Er schwankte einen Augenblick. »Ist ein Ofen da oben?«
+
+»Ja, ein Gasofen mit Asbest.«
+
+»Dann muß ich nach Hause gehen und einiges aus dem Laboratorium holen.«
+
+»Nein, Alan, du darfst das Haus nicht verlassen. Schreib' auf ein Blatt
+Papier, was du brauchst, und mein Diener nimmt eine Droschke und wird
+dir die Sachen bringen.«
+
+Campbell kritzelte ein paar Zeilen hin, trocknete sie ab und adressierte
+ein Kuvert an seinen Assistenten. Dorian nahm das Briefchen und las es
+aufmerksam durch. Dann klingelte er und gab es seinem Diener mit dem
+Auftrag, so rasch als möglich zurückzukommen und die im Schreiben
+bezeichneten Sachen mitzubringen.
+
+Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös zusammen, stand
+vom Stuhl auf und ging zum Kamin hinüber. Er schüttelte sich in einer
+Art kalten Fiebers. Fast zwanzig Minuten lang sprach keiner der beiden
+Männer. Eine Fliege schwirrte summend durch das Zimmer, und das Ticktack
+der Uhr klang wie der Fall eines Hammers.
+
+Als es eins schlug, drehte sich Campbell um, blickte auf Dorian Gray und
+sah, daß seine Augen mit Tränen gefüllt waren. In den reinen, edlen
+Zügen dieses traurigen Gesichts lag etwas, was ihn wütend zu machen
+schien. »Du bist infam, ganz infam«, rief er mit unterdrückter Stimme.
+
+»Ruhig, Alan, du hast mir das Leben gerettet«, sagte Dorian.
+
+»Dein Leben? Gott im Himmel! Was für ein Leben ist das! Du bist von
+Verderbnis zu Verderbnis geschritten, und jetzt hast du mit Mord den
+Gipfel erreicht. Wenn ich tue, was ich tun werde, was du mich zu tun
+zwingst, so denke ich dabei wahrhaftig nicht an dein Leben.«
+
+»Ach, Alan,« flüsterte Dorian seufzend, »ich wünschte, du hättest den
+tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das ich mit dir habe.« Er kehrte
+sich während dieser Worte ab und stand da und blickte in den Garten
+hinaus. Campbell gab keine Antwort.
+
+Nach etwa zehn Minuten klopfte es an die Tür, und der Diener trat ein
+und brachte einen großen Mahagonikasten mit Chemikalien, eine lange
+Rolle Stahl- und Platindraht und zwei absonderlich geformte
+Eisenklammern.
+
+»Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?« fragte er Campbell.
+
+»Ja«, antwortete Dorian. »Und ich bedaure, Francis, aber ich habe noch
+einen Weg für Sie. Wie heißt der Mann in Richmond, der Selby mit
+Orchideen versorgt?«
+
+»Harden, gnädiger Herr.«
+
+»Richtig -- Harden. Sie müssen gleich nach Richmond fahren, Harden
+selbst sprechen und ihm sagen, er solle doppelt soviel Orchideen
+schicken, als ich bestellt habe, und möglichst wenig weiße dabei.
+Eigentlich will ich überhaupt keine weißen. Es ist ein schöner Tag,
+Francis, und Richmond ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht
+behelligen.«
+
+»Nichts zu sagen, gnädiger Herr. Zu welcher Zeit soll ich zurück sein?«
+
+Dorian sah Campbell an. »Wie lange wird dein Experiment dauern, Alan?«
+fragte er mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. Die Gegenwart eines
+Dritten im Zimmer schien ihm außerordentlichen Mut einzuflößen.
+
+Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. »Es wird
+ungefähr fünf Stunden beanspruchen«, antwortete er.
+
+»Dann ist es früh genug, wenn Sie um sieben zurück sind, Francis. Oder
+halt: legen Sie meine Sachen zum Umkleiden zurecht, Sie können dann den
+Abend für sich verwenden. Ich esse nicht zu Hause, brauche Sie also
+nicht.«
+
+»Ich danke, gnädiger Herr«, sagte der Mann und verließ das Zimmer.
+
+»Jetzt, Alan, ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer der Kasten
+ist! Ich will ihn dir tragen. Nimm du die anderen Sachen.« Er sprach
+hastig und in befehlendem Tone. Campbell fühlte sich von ihm beherrscht.
+Sie verließen das Zimmer gleichzeitig.
+
+Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, nahm Dorian den
+Schlüssel heraus und schloß auf. Dann blieb er stehen, und ein Ausdruck
+von Unruhe zeigte sich in seinem Blick. Er schauderte. »Ich glaube, ich
+kann nicht hineingehen, Alan«, flüsterte er.
+
+»Das ist mir ganz gleich. Ich brauche dich nicht«, sagte Campbell kalt.
+
+Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Als er dies tat, sah er seinem
+Porträt, das im hellen Sonnenlicht hing, grade ins Gesicht. Davor lag
+auf den Dielen der herabgerissene Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in
+der vergangenen Nacht zum ersten Male in seinem Leben vergessen hatte,
+die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen, und wollte eben nach vorn
+stürzen, als er schaudernd zurückprallte.
+
+Was war das für ein widerlicher, roter Fleck, der naß und glänzend an
+einer der Hände klebte, als hätte die Leinwand Blut geschwitzt? Wie
+schrecklich das war! -- Schrecklicher schien es ihm in diesem Augenblick
+als das schweigsame Ding, das, wie er wußte, noch über den Tisch gebeugt
+dasaß, das Ding, dessen grotesker, unglückseliger Schatten auf dem
+fleckigen Teppich ihm zeigte, daß es sich nicht bewegt hatte, sondern
+noch da war, wo er es gelassen hatte.
+
+Er atmete tief auf, öffnete die Tür etwas weiter und ging mit
+halbgeschlossenen Augen und abgewandtem Kopf rasch hinein, entschlossen,
+mit keinem einzigen Blick nach dem Toten hinzusehen. Dann bückte er
+sich, nahm den gold- und purpurschimmernden Vorhang auf und warf ihn
+gerade über das Bild.
+
+Dann blieb er stehen, voll Angst, sich umzuwenden und seine Augen
+richteten sich auf die verschlungenen Muster des Vorhangs. Er hörte
+Campbell den schweren Kasten hereinbringen, und die Eisenklammern und
+die anderen Geräte, die er sich für seine entsetzliche Arbeit hatte
+kommen lassen. Er begann sich zu fragen, ob Campbell und Basil Hallward
+einander je begegnet waren und wenn, welche Meinung sie voneinander
+gehabt hätten.
+
+»Lasse mich jetzt allein«, sagte eine rauhe Stimme hinter ihm.
+
+Er kehrte sich um und lief hinaus, eben noch gerade wahrnehmend, daß der
+Tote in seinen Stuhl zurückgelehnt worden war und daß Campbell in ein
+schimmerndes, gelbes Gesicht starrte. Als er die Stufen hinabging, hörte
+er, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde.
+
+Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell wieder in die Bibliothek
+trat. Er war blaß, aber vollständig ruhig. »Ich habe getan, was du von
+mir verlangt hast«, sagte er leise. »Und jetzt adieu. Wir wollen uns nie
+wiedersehen.«
+
+»Du hast mich vorm Untergang gerettet, Alan«, sagte Dorian ganz
+schlicht. »Ich kann das nie vergessen.«
+
+Sobald ihn Campbell verlassen hatte, ging er hinauf. Ein schrecklicher
+Geruch von Salpetersäure war im Zimmer. Aber das Ding, das am Tisch
+gesessen hatte, war fort.
+
+
+
+
+Fünfzehntes Kapitel
+
+
+Am selben Abend um halb neun Uhr wurde Dorian Gray in sorgfältigster
+Toilette, im Knopfloch einen großen Strauß Parmaveilchen tragend, von
+dienernden Lakaien in den Salon Lady Narboroughs geführt. Er hatte
+heftiges Kopfweh und furchtbar überreizte Nerven, aber seine Gebärde,
+als er sich über die Hand seiner Gastgeberin beugte, war ebenso leicht
+und anmutig wie sonst. Vielleicht sieht man nie gelassener aus, als wenn
+man eine Rolle zu spielen hat. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an
+diesem Abend sah, geglaubt, daß er eine Tragödie hinter sich habe, die
+so schrecklich war wie irgendeine Tragödie unserer Zeit. Diese
+feingeformten Finger konnten doch nie ein Messer gezückt haben, um eine
+Sünde zu begehen, diese lächelnden Lippen nie Gott und Gottes Güte
+geschmäht haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens
+wundern und einen Augenblick lang spürte er in ganzer Stärke den
+grauenvollen Genuß eines Doppeldaseins.
+
+Es war eine kleine Gesellschaft, die Lady Narborough kurzer Hand
+zusammengeladen hatte, und die Gastgeberin war eine sehr gescheite Frau
+mit ansehnlichen Überbleibseln einer unleugbar hervorragenden
+Häßlichkeit, wie es Lord Henry auszudrücken liebte. Sie hatte sich einem
+unserer langweiligsten Botschafter als eine ausgezeichnete Frau
+erwiesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie sich's geziemte, in einem
+marmornen Mausoleum beigesetzt hatte, das nach ihren eigenen Entwürfen
+erbaut worden war, und seitdem sie ihre Töchter an einige reiche, etwas
+angejahrte Herren verheiratet hatte, widmete sie sich den Genüssen
+französischer Romane, französischer Kochkunst und französischen Geistes,
+wenn sie ihn auftreiben konnte.
+
+Dorian war einer ihrer erklärten Lieblinge, und sie sagte ihm immer, sie
+sei äußerst froh darüber, ihn nicht in früheren Jahren kennengelernt zu
+haben. »Ich weiß, mein Lieber, ich hätte mich sinnlos in Sie verliebt,«
+pflegte sie zu sagen, »und wäre Ihretwillen der größten Tollheiten fähig
+gewesen. Es ist ein großes Glück, daß man damals noch gar nicht an Sie
+dachte. Zu meiner Zeit waren die Tollheiten eine so seltene Ware, daß
+ich nicht einmal eine harmlose Liebelei mit jemand gehabt habe. Indessen
+war das nur die Schuld Narboroughs. Er war schrecklich kurzsichtig, und
+es ist alles andere als ein Vergnügen, einen Ehemann zu betrügen, der
+nie etwas sieht.«
+
+Ihre Gäste waren an diesem Abend ziemlich langweilig. Die Sache war so,
+wie sie Dorian hinter einem ziemlich schäbigen Fächer erklärte, daß eine
+ihrer verheirateten Töchter plötzlich zu Besuch gekommen war, und, was
+die Sache noch ärgerlicher machte, obendrein ihren Mann mitgebracht
+hatte.
+
+»Ich finde das sehr unliebenswürdig von ihr, mein Lieber«, flüsterte sie
+ihm zu. »Natürlich bin ich jeden Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von
+Homburg komme, aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal frische
+Luft haben, und außerdem rüttle ich sie dann etwas auf. Sie ahnen ja gar
+nicht, was die für ein Leben da hinten führen. Es ist das reine,
+unverfälschte Landleben. Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun
+haben, und gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben. In der
+ganzen Gegend da hat es seit der Zeit der Königin Elisabeth keinen
+Skandal gegeben, und infolgedessen schlafen sie alle nach dem Essen ein.
+Sie sollen aber nicht neben einem von ihnen sitzen. Sie sollen neben mir
+sitzen und mich amüsieren.«
+
+Dorian murmelte ein anmutiges Kompliment und blickte sich im Zimmer um.
+Ja, es war wirklich eine öde Gesellschaft. Zwei von den Anwesenden hatte
+er vordem nie gesehen, und die anderen waren Ernest Harrowden, eine der
+Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man so häufig in Londoner
+Klubs begegnet, die keine Feinde haben, die aber keiner ihrer Freunde
+leiden kann: dann Lady Ruxton, eine aufgeputzte Dame mit einer
+Papageiennase, im Alter von siebenundvierzig Jahren, die sich unablässig
+bemühte, sich zu kompromittieren, die aber so lächerlich häßlich war,
+daß zu ihrer großen Enttäuschung niemals einer etwas Schlechtes von ihr
+glauben wollte: Frau Erlynne, eine zudringliche Nichtigkeit mit einem
+entzückenden Lispeln und venezianisch rotem Haar: Lady Alice Chapman,
+die Tochter der Wirtin, eine schlechtgekleidete, bedeutungslose Frau mit
+einem der charakteristischen englischen Gesichter, an die man sich nie
+wieder erinnert, wenn man sie einmal gesehen hat, und ihr Mann, ein
+rotbäckiges, weißbärtiges Geschöpf, das, wie so viele seiner Kaste, der
+Überzeugung lebte, daß ungewöhnliche Liebenswürdigkeit den vollständigen
+Mangel an Gedanken ersetzen könne.
+
+Es tat ihm beinah leid, daß er gekommen war, bis Lady Narborough einen
+Blick auf die große goldene Pendeluhr warf, die sich mit ihren
+geschmacklosen Zieraten auf dem malvefarbig behängten Kamin spreizte,
+und ausrief: »Wie häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich
+schickte heute früh auf gut Glück zu ihm hinüber und er hat fest
+zugesagt, mich nicht im Stich zu lassen.«
+
+Es war ein Trost, daß Harry kommen sollte, und als sich die Tür öffnete
+und er seine sanfte musikalische Stimme hörte, die irgendeine läppische
+Ausrede bezaubernd hervorbrachte, schwand seine Verdrießlichkeit.
+
+Aber er konnte bei Tisch dennoch nichts essen. Platte nach Platte wurde,
+von ihm unberührt, weggetragen. Lady Narborough schalt ihn unaufhörlich,
+weil sie darin »eine Beleidigung sah für den armen Adolphe, der das
+ganze Menü eigens für sie erfunden hätte«, und dann und wann blickte
+Lord Henry zu ihm herüber und verwunderte sich über sein Schweigen und
+sein zerstreutes Wesen. Von Zeit zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit
+Champagner. Er trank hastig, und sein Durst schien zu wachsen.
+
+»Dorian,« sagte Lord Henry endlich, als das Chaudfroid herumgereicht
+wurde, »was ist heute abend mit dir los? Du bist ja so verstimmt.«
+
+»Ich glaube, er ist verliebt,« sagte Lady Narborough, »und er hat Angst,
+es mir zu erzählen, aus Furcht, daß ich eifersüchtig würde. Er hat auch
+ganz recht. Ich würde es gewiß.«
+
+»Teure Lady Narborough,« flüsterte Dorian lächelnd, »ich bin seit einer
+vollen Woche nicht verliebt gewesen -- genau gesagt, nicht seitdem
+Madame de Ferrol aus London weg ist.«
+
+»Daß ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!« rief die alte Dame.
+»Ich kann es wirklich nicht verstehen.«
+
+»Das kommt einfach daher, weil sie Sie an die Zeit erinnert, wo Sie ein
+kleines Mädchen waren, Lady Narborough«, sagte Lord Henry. »Sie ist das
+einzige Bindeglied zwischen uns und Ihren kurzen Röckchen.«
+
+»Sie erinnert mich wirklich nicht an meine kurzen Röckchen, Lord Henry.
+Aber ich entsinne mich ihrer sehr gut in Wien vor dreißig Jahren und wie
+sie sich damals dekolletierte.«
+
+»Sie dekolletiert sich noch immer,« antwortete er und nahm eine Olive in
+seine langen Finger, »und wenn sie sehr elegant gekleidet ist, sieht sie
+aus wie die Luxusausgabe eines schlechten, französischen Romans. Sie ist
+wirklich wunderbar und voller Überraschungen. Ihr Talent für
+Familienliebe ist außerordentlich. Als ihr dritter Mann starb, wurde ihr
+Haar vor Trauer ganz goldblond.«
+
+»Wie kannst du so etwas sagen, Harry!« rief Dorian.
+
+»Das ist eine höchst romantische Erklärung«, lachte die Gastgeberin.
+»Aber ihr dritter Mann, Lord Henry! Sie wollen doch nicht sagen, daß
+Ferrol der vierte ist?«
+
+»Doch, Lady Narborough.«
+
+»Ich glaube kein Wort davon.«
+
+»Gut, dann fragen Sie Herrn Gray, er ist einer ihrer intimsten Freunde.«
+
+»Ist das wahr, Herr Gray?«
+
+»Sie versichert es mir, Lady Narborough«, erwiderte Dorian. »Ich fragte
+sie, ob sie wie Margarete von Navarra ihre Herzen einbalsamiert habe und
+am Gürtel trage. Sie sagte mir, sie täte das nicht, weil keiner von
+ihnen überhaupt ein Herz gehabt hätte.«
+
+»Vier Männer! Auf mein Wort, das ist ~trop de zêle~.«
+
+»~Trop d'audace~ sagte ich ihr«, entgegnete Dorian.
+
+»Oh! sie ist mutig genug, alles zu tun, mein Lieber. Und wie ist Ferrol?
+Ich kenne ihn nicht.«
+
+»Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse«, sagte
+Lord Henry und schlürfte seinen Wein.
+
+Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. »Lord Henry, ich bin nicht im
+mindesten überrascht, daß die ganze Welt über Ihre Ruchlosigkeit klagt.«
+
+»Aber welche ganze Welt tut das?« fragte Lord Henry, seine Brauen
+hochziehend. »Es kann nur die Nachwelt sein. Denn diese Welt und ich,
+wir stehen brillant miteinander.«
+
+»Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr ruchlos sind!« rief die alte
+Dame den Kopf schüttelnd.
+
+Lord Henry sah einige Augenblicke ernsthaft aus. »Es ist ganz
+abscheulich,« sagte er schließlich, »wie die Leute heutzutage herumgehen
+und einem hinterm Rücken Dinge nachsagen, die ganz und gar auf Wahrheit
+beruhen.«
+
+»Ist er nicht unverbesserlich?« rief Dorian und beugte sich in seinem
+Stuhl vor.
+
+»Ich hoffe« sagte die Wirtin lachend. »Aber wenn Sie wirklich alle
+Madame de Ferrol in dieser lächerlichen Weise anbeten, so muß ich auch
+wieder heiraten, um in Mode zu kommen.«
+
+»Sie werden nie wieder heiraten, Lady Narborough«, unterbrach Lord
+Henry. »Sie waren viel zu glücklich. Wenn eine Frau wieder heiratet, so
+tut sie es, weil sie ihren ersten Mann verabscheute. Wenn ein Mann
+wieder heiratet, so tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen
+versuchen ihr Glück, Männer setzen das ihre aufs Spiel.«
+
+»Narborough war nicht vollkommen!« rief die alte Dame.
+
+»Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt, meine teure
+Lady«, war die Antwort. »Frauen lieben uns um unserer Fehler willen.
+Wenn wir ihrer genug haben, vergeben sie uns alles, selbst unseren
+Geist. Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zu einem Diner bitten,
+nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough, aber es ist völlig wahr.«
+
+»Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen euch nicht eurer
+Fehler halber liebten, wo wäret ihr alle? Nicht ein einziger von euch
+würde verheiratet sein. Und ihr wäret eine Sekte unglücklicher
+Junggesellen. Das würde aber nicht viel an euch ändern. Heutzutage leben
+alle Ehemänner wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner.«
+
+»~Fin de siècle~«, flüsterte Lord Henry.
+
+»~Fin du globe~«, entgegnete die Gastgeberin.
+
+»Ich wollte, es wäre ~fin du globe~«, sagte Dorian mit einem Seufzer.
+»Das Leben ist eine große Enttäuschung.«
+
+»Ah, mein Lieber!« rief Lady Narborough und zog ihre Handschuhe an,
+»sagen Sie mir nicht, daß Sie das Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann
+das sagt, weiß man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist im
+höchsten Grade ruchlos, und ich wünsche manchmal, ich wäre es auch
+gewesen; aber Sie sind geschaffen, um gut zu sein -- Sie sehen so gut
+aus. Ich muß Ihnen eine hübsche Frau verschaffen. Lord Henry, meinen Sie
+nicht, daß Herr Gray heiraten sollte?«
+
+»Ich sage ihm das immer, Lady Narborough«, erwiderte Lord Henry mit
+einer Verbeugung.
+
+»Schön, so wollen wir uns nach einer guten Partie für ihn umsehen. Ich
+werde heute nacht den Adelskalender aufmerksam durchgehen und eine Liste
+aller in Frage kommenden jungen Damen aufstellen.«
+
+»Mit ihrer Altersangabe, Lady Narborough?« fragte Dorian.
+
+»Natürlich mit ihrem Alter, ein wenig retuschiert. Aber man darf nichts
+übereilen. Ich will, daß es genau das wird, was die Morning Post eine
+passende Verbindung nennt, und ihr sollt beide glücklich werden.«
+
+»Was die Menschen doch für einen Unsinn über glückliche Ehen reden!«
+rief Lord Henry. »Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich werden, solange
+er sie nicht liebt.«
+
+»Pfui! Was sind Sie für ein Zyniker!« rief die alte Dame, schob ihren
+Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu. »Sie müssen bald wiederkommen
+und bei mir essen. Sie sind wirklich ein wunderbarer Appetitanreger,
+viel besser als das, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen mir
+sagen, was für Leute Sie gern treffen würden. Es soll ein entzückendes
+Beisammensein werden.«
+
+»Ich liebe Männer, die eine Zukunft haben, und Frauen, die eine
+Vergangenheit haben«, antwortete er. »Oder beabsichtigen Sie, eine
+Weibergesellschaft zustande zu bringen?«
+
+»Ich fürchte fast«, sagte sie lachend, indem sie sich erhob. »Ach,
+verzeihen Sie tausendmal, Lady Ruxton,« fuhr sie fort, »ich habe nicht
+bemerkt, daß Sie mit Ihrer Zigarette noch nicht fertig waren.«
+
+»Macht nichts, Lady Narborough. Ich rauche viel zuviel. Ich muß mich
+darin in Zukunft einschränken.«
+
+»Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton«, sagte Lord Henry. »Mäßigung ist
+eine unglückliche Sache. Genug ist nicht besser als eine Mahlzeit. Mehr
+als genug ist so gut wie ein Festessen.«
+
+Lady Ruxton sah ihn neugierig an. »Lord Henry, Sie müssen mich eines
+Nachmittags besuchen und mir das erklären. Es klingt wie eine
+verlockende Theorie«, sagte sie, während sie aus dem Zimmer rauschte.
+
+»Jetzt bitte, sitzt mir nicht zu lange bei eurer Politik und euerm
+Klatsch!« rief Lady Narborough von der Tür aus. »Wenn ihr das tut,
+zanken wir sicher mit euch, wenn ihr nach oben kommt.«
+
+Die Männer lachten, und Herr Chapman stand feierlich vom Ende der Tafel
+auf und setzte sich oben hin. Dorian Gray wechselte seinen Platz und
+setzte sich neben Lord Henry. Herr Chapman begann mit lauter Stimme über
+die parlamentarische Lage zu sprechen. Er heulte laut auf über seine
+Widersacher. Das Wort Doktrinär -- ein Wort voller Schrecken für den
+britischen Geist -- tauchte von Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen
+auf. Eine doppelt ausgesprochene Vorsilbe diente seiner Rede als
+Alliteration zum Schmuck. Er hißte den Union Jack auf dem Mast des
+Gedankens auf. Die angestammte Dummheit der Rasse -- gesunder englischer
+Menschenverstand nannte er sie wohlwollend -- wurde als das
+Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt.
+
+Ein Lächeln kräuselte Lord Henrys Lippen, und er drehte sich um und
+blickte zu Dorian hin.
+
+»Geht dir's jetzt besser, lieber Junge?« fragte er. »Du schienst bei
+Tisch gar nicht recht wohl zu sein.«
+
+»Mir ist ganz wohl. Ich bin müde. Sonst nichts.«
+
+»Du warst entzückend gestern abend. Die kleine Herzogin hat dich ganz in
+ihr Herzchen geschlossen. Sie hat mir erzählt, sie käme nach Selby.«
+
+»Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen.«
+
+»Wird Monmouth auch da sein?«
+
+»Oh, gewiß, Harry!«
+
+»Er langweilt mich entsetzlich, fast ebenso sehr, wie er sie langweilt.
+Sie ist sehr verständig, zu verständig für eine Frau. Es fehlt ihr der
+unbeschreibliche Reiz der Schwäche. Die tönernen Füße sind's, die erst
+das Gold der Bildsäule wertvoll machen. Ihre Füße sind ganz allerliebst,
+aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn du willst. Sie
+sind schon im Feuer gewesen, und was das Feuer nicht zerstört, macht es
+hart. Sie hat ihre Erfahrungen.«
+
+»Wie lange ist sie verheiratet?« fragte Dorian.
+
+»Sie sagt, eine Ewigkeit. Nach dem Adelskalender, glaube ich, sind es
+wohl zehn Jahre, aber zehn Jahre mit Monmouth müssen wie eine Ewigkeit
+gewesen sein, wenn man die Zeit mitrechnet. Wer kommt sonst noch?«
+
+»Oh, die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau, unsere Wirtin, Geoffrey
+Clouston, die gewöhnliche Aufmachung. Ich habe auch Lord Grotrian
+gebeten.«
+
+»Den habe ich recht gern«, sagte Lord Henry. »Viele Leute können ihn
+nicht leiden, aber ich finde ihn reizend. Dafür, daß seine Kleidung
+manchmal übertrieben elegant ist, entschädigt er dadurch, daß er immer
+übertrieben gebildet ist. Es ist ein ganz moderner Typus.«
+
+»Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Harry. Es ist möglich, daß er mit
+seinem Vater nach Monte Carlo muß.«
+
+»Ach, was für ein Kreuz die Familiensimpelei ist! Versuch doch, daß er
+kommt. Übrigens, Dorian, du bist gestern abend sehr früh weggelaufen. Du
+hast uns vor elf Uhr sitzen lassen. Was hast du denn noch vorgehabt?
+Bist du gleich nach Hause gegangen?«
+
+Dorian blickte ihn rasch an und runzelte die Stirn. »Nein, Harry,« sagte
+er endlich, »es war schon fast drei, als ich nach Hause kam.«
+
+»Warst du noch im Klub?«
+
+»Ja«, antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen. »Nein, das wollte
+ich nicht sagen. Ich war nicht im Klub. Ich ging nur so herum. Ich weiß
+nicht mehr, was ich getan habe... Wie du einen ins Verhör nimmst,
+Harry! Du willst immer wissen, was man getan hat. Ich will immer
+vergessen, was ich getan habe. Wenn du aber die genaue Zeit wissen
+willst, ich bin um halb drei nach Hause gekommen. Ich hatte meinen
+Hausschlüssel vergessen, und mein Diener mußte mich einlassen. Wenn du
+vielleicht noch eine Zeugenaussage über mein Alibi wünschst, kannst du
+ihn ja fragen.«
+
+Lord Henry zuckte die Achseln. »Aber, lieber Junge, als ob mir daran
+etwas läge? Wir wollen in den Salon hinauf. Keinen Sherry, nein danke,
+Herr Chapman. Dir ist etwas zugestoßen, Dorian. Sage mir, was es ist. Du
+bist heute abend nicht du selber.«
+
+»Sei nicht böse, Harry. Ich bin gereizt und übel gelaunt. Ich komme
+morgen oder übermorgen zu dir. Bitte, entschuldige mich bei Lady
+Narborough. Ich gehe nicht mehr hinauf. Ich gehe nach Hause. Ich muß
+nach Hause gehn.«
+
+»Schön, Dorian. Ich hoffe, dich morgen zum Tee zu sehen. Die Herzogin
+kommt.«
+
+»Ich will versuchen da zu sein, Harry«, sagte er und verließ das Zimmer.
+Als er nach Hause fuhr, merkte er, daß das Angstgefühl wiedergekehrt
+sei, das er erstickt zu haben glaubte. Lord Henrys zufällige Frage hatte
+ihm für einen Moment die Fassung genommen und nervös gemacht und er
+brauchte seine Nerven noch. Dinge, die Gefahr bringen konnten, mußten
+zerstört werden. Er schauerte zusammen. Der Gedanke, sie auch nur zu
+berühren, war ihm furchtbar.
+
+Und doch mußte es geschehen. Er war sich darüber klar, und als er die
+Tür seines Bibliothekzimmers verschlossen hatte, öffnete er den geheimen
+Schrank, in den er Basil Hallwards Mantel und Tasche gesteckt hatte. Es
+loderte ein mächtiges Feuer. Er legte noch ein Stück Holz nach. Der
+Geruch der sengenden Kleider und des schwelenden Leders war entsetzlich.
+Er brauchte drei Viertelstunden, um alles zu verbrennen. Als es vorbei
+war, fühlte er sich schwach und krank, und nachdem er einige algerische
+Räucherkerzchen in einer durchbrochenen Kupferpfanne angezündet hatte,
+wusch er sich Hände und Stirn in kaltem, moschusduftendem Essig.
+
+Plötzlich schrak er zusammen. Seine Augen bekamen einen merkwürdigen
+Glanz und er nagte nervös an der Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern
+stand ein großer Florentiner Ebenholzschrank mit Elfenbein und
+Lapislazuli eingelegt. Er starrte ihn an, als wär er ein Etwas, das
+fesseln und ängstigen könne, als schließe er etwas ein, das er
+sehnsüchtig begehrte und doch beinahe verabscheute. Sein Atem ging
+schneller. Eine wilde Gier überkam ihn. Er zündete eine Zigarette an und
+warf sie gleich wieder weg. Seine Augenlider senkten sich, bis die
+langen Wimpern fast die Wangen berührten. Aber er sah noch immer nach
+dem Schranke hin. Endlich erhob er sich vom Sofa, auf dem er gelegen
+hatte, ging zu dem Schrank hinüber, schloß ihn auf und drückte an eine
+geheime Feder. Ein dreieckiges Schubfach kam langsam zum Vorschein.
+Seine Finger bewegten sich instinktiv danach, griffen hinein und faßten
+etwas. Es war ein kleines chinesisches Kästchen aus schwarzem,
+goldbetupftem Lack, das sehr sorgfältig gearbeitet war, und dessen
+Seiten gekrümmte Wellenlinien zierten, und an dessen seidenen Schnüren
+runde Kristalle mit Quasten aus geflochtenen Metallfäden hingen. Er
+öffnete das Kästchen. Eine grünlich-glänzende, wachsartige Masse von
+seltsam schwerem und durchdringendem Geruch lag darin.
+
+Er zögerte ein paar Augenblicke mit einem seltsam unbeweglichen Lächeln
+auf seinem Antlitz. Dann schauerte er zusammen, obwohl es im Zimmer ganz
+außergewöhnlich heiß war, raffte sich auf und sah nach der Uhr. Es
+fehlten zwanzig Minuten an zwölf. Er legte das Kästchen zurück, schloß
+die Türen des Schrankes und ging in sein Schlafzimmer.
+
+Als die Mitternacht ihre metallenen Schläge durch die dunkle Luft
+schickte, schlich Dorian Gray in ordinärer Kleidung und ein Tuch um den
+Hals geschlungen, leise aus dem Hause. In Bond Street traf er eine
+Droschke mit einem guten Pferd. Er ließ sie halten und sagte dem
+Kutscher mit leiser Stimme eine Adresse.
+
+Der Mann schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu weit«, brummte er.
+
+»Da haben Sie ein Goldstück. Sie sollen noch eins kriegen, wenn Sie
+rasch fahren.«
+
+»Schön, Herr!« antwortete der Mann, »wir werden in einer Stunde da
+sein«, und nachdem sein Fahrgast eingestiegen war, lenkte er um und fuhr
+rasch der Themse zu.
+
+
+
+
+Sechzehntes Kapitel
+
+
+Ein kalter Regen begann zu fallen und die flackernden Laternen sahen in
+dem herabsickernden Nebel geisterhaft aus. Die Schenken wurden eben
+geschlossen, und Männer und Frauen drängten sich in schattenhaften
+Gruppen vor den Türen. Aus einigen Wirtschaften scholl ein gräßliches
+Lachen. In anderen lärmten und grölten Betrunkene.
+
+In die Droschke zurückgelehnt, den Hut tief in die Stirn gezogen,
+blickte Dorian Gray mit gleichgültigen Augen auf das Elend und den
+Schmutz der Großstadt, und dann und wann wiederholte er sich die Worte,
+die ihm Lord Henry am ersten Tage, wo sie sich kennengelernt hatten,
+gesagt hatte: »die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele
+zu heilen«. Ja, das war das Geheimnis. Er hatte es oft versucht und
+wollte es jetzt wieder versuchen. Es gab Opiumkneipen, wo man
+Vergessenheit kaufen konnte, Kneipen des Grauens, wo die Erinnerung an
+alte Sünden durch den Wahnsinn neuer ausgelöscht werden kann.
+
+Der Mond hing tief am Himmel wie eine gelbe Hirnschale. Von Zeit zu Zeit
+streckte eine dicke, unförmige Wolke einen langen Arm nach ihm aus und
+verbarg ihn. Die Gaslaternen wurden spärlicher und die Straßen enger und
+düsterer. Einmal verlor der Kutscher seinen Weg und mußte einige hundert
+Meter zurückfahren. Das Roß dampfte, während es in den Pfützen patschte.
+Die Seitenfenster des Wagens waren wie mit grauem Flanell ausgeschlagen.
+
+»Die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele zu heilen --!«
+Wie ihm die Worte in den Ohren klangen! Seine Seele war jedenfalls
+todkrank. War es denkbar, daß die Sinne sie heilen konnten? Unschuldiges
+Blut war vergossen worden. Welche Sühne konnte es dafür geben? Ach!
+dafür gab es keine Sühne; aber wenn auch Vergebung unmöglich war,
+Vergessen war doch möglich, und er war entschlossen, zu vergessen, die
+Sache zu Boden zu treten, sie zu vernichten wie eine Natter, die einen
+gebissen hat. Welches Recht hatte denn Basil gehabt, so zu ihm zu
+sprechen, wie er es getan hatte? Wer hatte ihn zum Richter über andere
+gesetzt? Er hatte Dinge gesagt, die schrecklich waren, entsetzlich,
+nicht zu ertragen.
+
+Weiter und weiter rollte die Droschke, und es schien ihm, als führe sie
+mit jedem Schritt langsamer. Er riß das Schiebefenster auf und rief dem
+Kutscher hinter ihm zu, schneller zu fahren. Der gräßliche Hunger nach
+Opium fing an, in ihm zu nagen. Die Kehle brannte ihm, und seine zarten
+Finger spielten nervös miteinander. Er schlug mit dem Spazierstock wie
+toll auf den Gaul ein. Der Kutscher lachte und hieb mit der Peitsche zu.
+Er lachte auch dazu, und der Mann auf dem Bocke schwieg.
+
+Der Weg schien endlos zu sein und die Straßen dehnten sich aus wie ein
+schwarzes, durcheinander gewirrtes Spinngewebe. Die Eintönigkeit wurde
+unerträglich, und als sich der Nebel dichter ballte, empfand er Furcht.
+
+Dann fuhren sie an einsamen Ziegeleien vorüber. Der Nebel ward hier
+durchsichtiger, und er konnte die merkwürdigen, kürbisflaschenartigen
+Brennöfen mit ihren orangefarbenen fächerartigen Feuerzungen erkennen.
+Ein Köter schlug an, als sie vorbeirasselten, und weit entfernt in der
+Dunkelheit schrie eine schlaflose Möwe. Das Pferd stolperte in
+irgendeiner Rinne, scheute und verfiel in Galopp.
+
+Nach einiger Zeit verließen sie den Lehmweg und ratterten wieder über
+ein holpriges Straßenpflaster. Die meisten Fenster waren dunkel, aber
+dann und wann sah man phantastische Schatten wie Silhouetten hinter
+einem erleuchteten Rouleau. Er spähte neugierig darauf hin. Sie bewegten
+sich wie riesenhafte Marionetten und gestikulierten wie lebende Wesen.
+Eine Art Haß auf sie überkam ihn. Ein dumpfer Zorn kochte in seinem
+Herzen. Als sie um eine Ecke bogen, rief ihnen ein Weib aus einer
+offenen Tür etwas zu, und zwei Männer rannten ein paar hundert Meter
+hinter der Droschke her. Der Kutscher schlug mit seiner Peitsche nach
+ihnen.
+
+Man sagt, die Leidenschaft wirble einem die Gedanken im Kreise umher.
+Jedenfalls formten die zerbissenen Lippen Dorian Grays in endloser
+Wiederholung die feingesetzten Worte von der Seele und den Sinnen und
+formten sie immer wieder, bis er in ihnen sozusagen den vollsten
+Ausdruck seiner Stimmung gefunden und durch die Zustimmung des
+Verstandes Leidenschaften gerechtfertigt hatte, die auch ohne solche
+Rechtfertigung sein Temperament beherrscht hätten. Von Zelle zu Zelle
+seines Gehirns kroch der eine Gedanke und die wilde Lebensgier, das
+schrecklichste aller menschlichen Hungergelüste, ließ sich jeden
+zuckenden Nerv und Muskel gewaltsam emporbäumen. Das Häßliche, das er
+einst gehaßt hatte, weil es den Dingen Wirklichkeit verlieh, wurde ihm
+jetzt aus demselben Grunde lieb. Das Häßliche war das einzig Wirkliche.
+Das rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die ordinäre Gewalttätigkeit
+eines liederlichen Lebens, die widerliche Verworfenheit der Diebe und
+Verbrecher waren in der intensiven Wirklichkeit ihrer Eindrücke mehr vom
+Leben erfüllt, als all die anmutigen Formen der Kunst, die träumerischen
+Schatten der Dichtung. Das war es, was er zum Vergessen brauchte. In
+drei Tagen würde er frei sein.
+
+Plötzlich hielt der Mann am Ende einer finstern Straße mit einem Ruck
+an. Über die niedrigen Dächer und gezackten Schornsteine der Häuser
+hinaus ragten die schwarzen Maste der Schiffe. Weiße Nebelfetzen hingen
+wie gespensterhafte Segel über den Werften.
+
+»Irgendwo hier, nicht wahr, Herr?« ertönte die rauhe Stimme des
+Kutschers durch das Schiebefenster.
+
+Dorian fuhr auf und blickte sich um. »Schon gut«, antwortete er, stieg
+rasch aus, gab dem Kutscher Trinkgeld, das er ihm versprochen hatte, und
+ging eilig dem Kai zu. Hier und da flimmerte eine Laterne am Heck eines
+großen Kauffahrers. Das Licht zitterte und zersplitterte sich in den
+Pfützen. Ein rotes Geglitzer kam von einem weit draußen ankernden
+Dampfer, der Kohlen verlud. Das schlüpfrige Pflaster sah aus wie ein
+regenglänzender Gummimantel.
+
+Er hastete nach links weiter und blickte sich dann und wann um, ob ihm
+niemand folgte. Nach sieben oder acht Minuten erreichte er ein kleines,
+elendes Haus, das zwischen zwei große Faktoreien eingequetscht war. In
+einem der Giebelfenster brannte eine Lampe. Er blieb stehen und klopfte
+wie auf eine verabredete Art an.
+
+Nach einer kleinen Pause hörte er Schritte im Flur und wie die Türkette
+losgemacht wurde. Die Tür öffnete sich vorsichtig, und er trat hinein,
+ohne ein Wort zu der kleinen erbärmlichen Gestalt zu sagen, die sich in
+den Schatten drückte, als er vorbeischritt. Am Ende des Flurs hing ein
+zerlumpter grüner Vorhang, der sich in dem starken Luftzug, den er von
+der Straße her mitbrachte, hin und her bauschte. Er schob ihn beiseite
+und trat in einen langen, niedrigen Raum, der so aussah, als wäre er
+früher ein Tanzlokal dritten Ranges gewesen. Grell flackernde
+Gasflammen, die in den fliegenbeschmutzten Spiegeln gegenüber matt und
+verzehrt erschienen, brannten rings an den Wänden. Schmierige
+Reflektoren aus geripptem Wellblech waren dahinter angebracht und warfen
+tanzende Lichtkreise. Der Boden war mit ockerfarbigen Sägespänen
+bestreut, die an einzelnen Stellen zu Schmutzklumpen zertreten waren und
+auf denen sich von vergossenen Getränken schwarze Ringe abzeichneten.
+Ein paar Malaien hockten mit untergeschlagenen Beinen an einem kleinen
+Kohlenofen, spielten mit knöchernen Würfeln und zeigten beim Sprechen
+ihre weißlichen Zähne. In einem Winkel, den Kopf auf die Hände gestützt,
+räkelte sich ein Matrose über den Tisch, und an dem schreiend bemalten
+Büfett, das eine ganze Seite des Raumes einnahm, standen zwei
+heruntergekommene Weibspersonen und höhnten einen alten Mann, der mit
+einem Ausdruck des Ekels die Ärmel seines Rockes bürstete. »Er denkt, er
+hat sich Läuse geholt«, lachte die eine, als Dorian vorüberging. Der
+Mann sah sie erschreckt an und begann zu jammern.
+
+Am Ende des Zimmers war eine kleine Treppe, die in eine verdunkelte
+Kammer führte. Als Dorian die drei wackligen Stufen hinaufhastete,
+schlug ihm der schwere Geruch des Opiums entgegen. Er holte tief Atem,
+und seine Nasenflügel zitterten vor Lust. Als er eintrat, blickte ein
+junger Mann mit glattgescheiteltem Blondhaar zu ihm auf, der sich über
+eine Lampe beugte, an der er eine lange, dünne Pfeife anzündete, und
+zögernd nickte.
+
+»Du hier, Adrian?« flüsterte Dorian.
+
+»Wo soll ich sonst sein?« antwortete er gleichgültig. »Kein Mensch will
+jetzt mehr mit mir sprechen.«
+
+»Ich dachte, du wärst aus England fort?«
+
+»Darlington wird nichts gegen mich unternehmen. Mein Bruder hat den
+Wechsel schließlich gezahlt. George spricht auch nicht mehr mit mir ...
+Ist mir auch einerlei«, fügte er seufzend hinzu. »Solange man noch das
+Zeug da hat, braucht man keine Freunde. Ich denke, ich habe zu viele
+Freunde gehabt.«
+
+Dorian zuckte zusammen und sah sich nach den grotesken Gestalten um, die
+da in so abenteuerlichen Stellungen auf den zerlumpten Matratzen lagen.
+Die verkrümmten Glieder, die offenen Mäuler, die stierenden, glanzlosen
+Augen übten eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er kannte die
+absonderlichen Paradiese, in denen sie litten, und welche dumpfe Höllen
+sie in das Geheimnis neuer Genüsse einweihten. Sie waren besser daran
+als er. Ihn hielten seine Gedanken eingekerkert. Die Erinnerung fraß wie
+eine fürchterliche Krankheit an seiner Seele. Von Zeit zu Zeit glaubte
+er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu sehen. Aber er
+fühlte, daß er hier nicht bleiben konnte. Die Anwesenheit Adrian
+Singletons störte ihn. Er wollte irgendwo sein, wo ihn niemand kennt. Er
+wollte sich selbst entfliehen.
+
+»Ich gehe in das andere Lokal«, sagte er nach einer Pause.
+
+»Auf der Werft?«
+
+»Ja.«
+
+»Die tolle Katze ist sicher da. Sie wollen sie hier nicht mehr haben.«
+
+Dorian zuckte die Achseln. »Ich habe die Weiber, die einen lieben,
+satt. Weiber, die einen hassen, sind viel interessanter. Übrigens ist
+dort der Stoff besser.«
+
+»Ganz derselbe.«
+
+»Mir schmeckt er da besser. Komm, wir wollen was trinken. Ich muß was
+haben.«
+
+»Ich brauche nichts«, murmelte der junge Mann.
+
+»Macht nichts.«
+
+Adrian Singleton stand schläfrig auf und folgte Dorian ans Büfett. Ein
+Mischling in zerrissenem Turban und schäbigem Ulster grinste ihnen einen
+widerlichen Gruß zu, als er zwei Gläser und eine Branntweinflasche vor
+sie hinstellte. Die Weiber torkelten herbei und begannen zu schwatzen.
+Dorian kehrte ihnen den Rücken zu und sagte leise etwas zu Adrian
+Singleton.
+
+Ein Grinsen gleich einem krummen malaischen Dolch verzerrte das Gesicht
+des einen Weibes. »Wir sind sehr stolz heute abend«, höhnte sie lachend.
+
+»Um Gottes willen, rede nicht mit mir!« schrie Dorian und stampfte mit
+dem Fuß auf den Boden. »Was willst du? Geld? Da! Aber sprich kein Wort
+mehr zu mir!«
+
+Zwei rote Funken blitzten für einen Augenblick in den wässerigen Augen
+des Weibes auf, dann verloschen sie wieder und ließen sie trübe und
+gläsern erscheinen. Sie warf den Kopf in den Nacken und raffte mit
+gierigen Fingern die Münzen auf dem Schenktisch zusammen. Ihre Gefährtin
+beobachtete sie neidisch.
+
+»Es hat keinen Zweck«, sagte Adrian Singleton seufzend. »Ich will nicht
+mehr zurück. Was macht's aus? Ich fühle mich hier ganz wohl.«
+
+»Du wirst mir doch schreiben, wenn du was brauchst?« fragte Dorian nach
+einer Weile.
+
+»Vielleicht.«
+
+»Dann gute Nacht!«
+
+»Gute Nacht!« antwortete der junge Mann, schritt die Stufen hinauf und
+wischte sich den trockenen Mund mit dem Taschentuch ab.
+
+Dorian schritt mit einem qualvollen Zug im Gesicht zur Tür. Als er den
+Vorhang beiseitezog, scholl ein gräßliches Lachen von den geschminkten
+Lippen des Weibes, das sein Geld genommen hatte. »Da geht er hin, der
+Seelenverschacherer!« stieß sie mit einer heiser glucksenden Stimme
+hervor.
+
+»Der Satan hol' dich!« antwortete er, »du sollst mich nicht so nennen!«
+
+Sie schnippte mit den Fingern. »Was, du willst wohl Prinz Märchenschön
+genannt werden, das paßte dir, he?« kreischte sie hinter ihm her.
+
+Bei diesen Worten sprang der schläfrige Matrose auf und blickte sich
+wild um. Das Geräusch der zufallenden Haustür drang an sein Ohr. Er
+stürzte hinaus, als ob er ihn verfolgen wollte.
+
+Dorian Gray eilte rasch durch den herabstäubenden Regen den Kai entlang.
+Sein Zusammentreffen mit Adrian Singleton hatte ihn sonderbar bewegt,
+und er grübelte darüber nach, ob der Untergang dieses jungen Lebens
+wirklich sein Werk war, wie ihm Basil Hallward mit so schändlicher
+Beschimpfung schuldgegeben hatte. Er biß sich auf die Lippen, und für
+ein paar Augenblicke wurde sein Auge traurig. Aber schließlich, was
+ging es ihn an? Das bißchen Leben war zu kurz, als daß man die Sünden
+anderer auf seine Schultern laden könnte. Jeder lebte sein eigenes Leben
+und zahlte seinen eigenen Preis dafür. Das einzige Unglück war, daß man
+für ein einziges Vergehen so oftmals zahlen mußte. Man mußte immer und
+immer wieder zahlen. In seinem Handel mit dem Menschen glich das
+Schicksal sein Schuldbuch nie aus.
+
+Die Psychologen sagen uns, daß es Augenblicke gibt, wo die Anreizung zu
+Sünden oder zu dem, was die Welt Sünden nennt, eine Natur so beherrscht,
+daß jede Faser des Körpers, jede Zelle des Gehirns von fürchterlichen
+Kräften gestachelt zu sein scheint. Männer und Frauen verlieren in
+solchen Augenblicken die Willensfreiheit. Sie bewegen sich wie Automaten
+ihrem schrecklichen Ende zu. Die Wahl ist ihnen geraubt, und das
+Gewissen ist entweder tot oder, wenn es noch lebt, so lebt es nur, um
+der Empörung ihren Reiz und dem Ungehorsam ihren besonderen Zauber zu
+verleihen. Denn alle Sünden sind, wie die Theologen nicht müde werden,
+uns vorzuhalten, Sünden des Ungehorsams. Als jener hohe Geist, der
+Morgenstern alles Bösen vom Himmel fiel, da fiel er, weil er ein Rebell
+war.
+
+Unempfindlich, nur mit dem einen Gedanken ans Böse erfüllt, mit
+verfinstertem Geist, mit einer Seele, die nach Empörung lechzte, hastete
+Dorian Gray weiter, und beschleunigte, während er ging, seine Schritte
+immer mehr; aber als er in einen dunkeln Torweg einbog, der ihm oft
+genug als abgekürzter Weg zu dem berüchtigten Orte gedient hatte, den
+er jetzt aufsuchen wollte, fühlte er sich plötzlich von rückwärts
+gepackt, und bevor er Zeit hatte, sich zu wehren, wurde er gegen eine
+Mauer geschleudert und fühlte seinen Hals von einer brutalen Hand
+umklammert.
+
+Er kämpfte wie wahnsinnig um sein Leben, und mit furchtbarer Anstrengung
+glückte es ihm, sich aus den umschnürenden Fingern loszureißen. Einen
+Augenblick darauf hörte er das Knacken eines Revolvers und sah den Glanz
+eines blanken Laufes gerade gegen seinen Kopf gerichtet und die dunkle
+Gestalt eines untersetzten Mannes vor sich.
+
+»Was wollen Sie?« keuchte er.
+
+»Sei still«, sagte der Mann. »Wenn du dich rührst, schieß' ich dich
+nieder!«
+
+»Sie sind toll. Was hab' ich Ihnen getan?«
+
+»Du hast das Leben Sibyl Vanes zugrunde gerichtet!« war die Antwort,
+»und Sibyl Vane war meine Schwester. Sie hat sich getötet. Ich weiß es.
+Ihr Tod ist deine Schuld. Ich habe geschworen, dich dafür zu töten.
+Jahrelang habe ich dich gesucht. Aber ich hatte keinen Anhaltspunkt,
+keine Spur. Die zwei Menschen, die dich hätten beschreiben können, waren
+tot. Ich wußte nichts von dir als den Kosenamen, den sie dir gab. Heute
+nacht habe ich ihn durch Zufall gehört. Mach' deinen Frieden mit Gott,
+denn heute nacht mußt du sterben.«
+
+Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Furcht. »Ich habe sie nie
+gekannt«, stammelte er. »Ich habe nie von ihr gehört. Sie sind
+verrückt.«
+
+»Gesteh' lieber deine Sünden ein, denn so wahr ich James Vane heiße, so
+gewiß sollst du jetzt sterben.« Es war ein entsetzlicher Augenblick.
+Dorian wußte nicht, was er sagen oder tun sollte. »Auf die Knie!«
+brüllte der Mann. »Ich geb' dir eine Minute, deinen Frieden zu machen --
+nicht mehr! Ich muß heute nacht an Bord nach Indien, und muß vorher
+meine Arbeit getan haben. Eine Minute. Mehr nicht!«
+
+Dorians Arme sanken herab. Von Todesangst gelähmt, wußte er nicht, was
+er beginnen sollte. Plötzlich zuckte eine jähe Hoffnung in seinem Gehirn
+auf. »Halt!« schrie er. »Wie lang ist es her, daß Ihre Schwester
+gestorben ist? Rasch, sagen Sie!«
+
+»Achtzehn Jahre«, sagte der Mann. »Warum fragst du? Was machen die
+Jahre?«
+
+»Achtzehn Jahre!« lachte Dorian mit einem triumphierenden Ton in seiner
+Stimme. »Achtzehn Jahre! Bringen Sie mich unter die Laterne und sehen
+Sie mein Gesicht an!«
+
+James Vane zögerte einen Augenblick und begriff nicht, was er meinte.
+Dann packte er Dorian Gray und schleifte ihn aus dem Torweg heraus.
+
+So dunkel und flackernd das windverwehte Licht auch war, es genügte
+doch, ihm den furchtbaren Irrtum zu zeigen, in den er geraten zu sein
+schien. Denn das Antlitz des Mannes, den er töten wollte, wies die ganze
+Blütenweichheit der Jugend auf, zeigte all die unbefleckte Reinheit der
+Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling von zwanzig Lenzen, kaum
+älter, als seine Schwester gewesen war, als sie vor so vielen Jahren
+Abschied voneinander genommen hatten. Es war klar, daß dies nicht der
+Mann war, der ihr Leben zerstört hatte.
+
+Er ließ seine Faust von ihm los und taumelte zurück. »Mein Gott, mein
+Gott!« rief er aus, »und ich hätte Sie fast ermordet!«
+
+Dorian Gray schöpfte tief Atem. »Sie waren dicht daran, ein furchtbares
+Verbrechen zu begehen, Mann«, sagte er mit einem strengen Blick. »Lassen
+Sie sich das eine Warnung sein, eine Rache nicht mit eigener Hand zu
+übernehmen.«
+
+»Verzeihen Sie mir, Herr!« stammelte James Vane. »Ich habe mich täuschen
+lassen. Ein zufälliges Wort, das ich in der verfluchten Kneipe hörte,
+brachte mich auf die falsche Spur.«
+
+»Sie sollten lieber nach Hause gehen und Ihre Pistole wegtun, sonst
+kommen Sie noch in Ungelegenheiten«, sagte Dorian, drehte sich um und
+ging langsam die Straße hinunter.
+
+James Vane stand voller Entsetzen auf dem Pflaster. Er zitterte von Kopf
+bis Fuß. Nach einer kleinen Weile bewegte sich ein schwarzer Schatten,
+der längs der regenfeuchten Wand hingeschlichen war, ins Licht hinaus
+und glitt mit verstohlenen Schritten an seine Seite. Er spürte eine Hand
+auf seinem Arm und drehte sich mit jähem Ruck um. Es war eines der
+Weiber, die am Büfett getrunken hatten.
+
+»Warum hast du ihn nicht umgebracht?« zischte sie und brachte ihr
+verlebtes Gesicht ganz dicht an das seine. »Ich wußte, daß du ihm
+folgtest, als du aus Dalys Haus fortranntest. Du Narr! Du hättest ihn
+totschlagen sollen. Er hat einen Haufen Geld und ist schlechter als
+sonst wer.«
+
+»Er ist nicht der Mann, den ich suche,« antwortete er, »und ich suche
+keines Menschen Geld. Ich such' eines Menschen Leben. Der Mann, dessen
+Leben ich suche, muß jetzt an die Vierzig sein. Der da war fast noch ein
+Knabe. Ich danke Gott, daß nicht sein Blut an meinen Händen klebt.«
+
+Das Weib stieß ein bitteres Lachen aus. »Fast noch ein Knabe!« höhnte
+sie. »Wahrhaftig, Mensch, es ist fast achtzehn Jahre her, seit Prinz
+Märchenschön das aus mir gemacht hat, was ich heute bin!«
+
+»Du lügst!« schrie James Vane.
+
+Sie hob die Hände gen Himmel. »Bei Gott, ich sage die Wahrheit!« rief
+sie.
+
+»Bei Gott?«
+
+»Du kannst mich kaltmachen, wenn es nicht so ist. Er ist der
+Schlechteste von allen, die herkommen. Sie sagen, er hat dem Teufel
+seine Seele für sein hübsches Gesicht verkauft. Es sind fast achtzehn
+Jahre, daß ich ihn kennenlernte. Er hat sich seitdem wenig verändert.
+Ich um so mehr«, fügte sie mit einem traurigen Blinzeln hinzu.
+
+»Beschwörst du das?«
+
+»Ich schwöre es«, klang es wie ein heiseres Echo aus ihrem entstellten
+Munde. »Aber verrate mich ihm nicht«, winselte sie; »ich habe Angst vor
+ihm. Gib mir 'n paar Groschen zum Nachtquartier.«
+
+Mit einem Fluch riß er sich von ihr los und stürzte an die Straßenecke;
+aber Dorian Gray war verschwunden. Als er zurückblickte, war auch das
+Weib schon weg.
+
+
+
+
+Siebzehntes Kapitel
+
+
+Eine Woche später saß Dorian Gray im Gewächshaus von Selby Royal und
+plauderte mit der hübschen Herzogin von Monmouth, die sich mit ihrem
+Gatten, einem ermüdet aussehenden Manne von sechzig Jahren, unter seinen
+Gästen befand. Es war zur Teezeit, und das sanfte Licht der großen, mit
+einem Spitzenschleier verhängten Lampe, die auf dem Tische stand,
+erleuchtete das kostbare Porzellan und das getriebene Silberservice, das
+neben der Herzogin stand. Ihre weißen Hände machten sich zierlich
+zwischen den Tassen zu schaffen, und ihre vollen, roten Lippen lächelten
+über etwas, das ihr Dorian zugeflüstert hatte. Lord Henry lag
+zurückgelehnt in einem mit Silberseide bezogenen Rohrsessel und sah
+beide an. Auf einem pfirsichfarbenen Diwan saß Lady Narborough und tat
+so, als ob sie der Beschreibung des Herzogs zuhörte, die den letzten
+brasilianischen Käfer betraf, den er seiner Sammlung einverleibt hatte.
+Drei junge Leute in gewählter Gesellschaftstoilette boten den Damen
+Teekuchen an. Die Gesellschaft bestand aus zwölf Personen, und für den
+nächsten Tag wurden noch einige erwartet.
+
+»Worüber sprecht ihr beide?« fragte Lord Henry, während er gemächlich zu
+dem Teetisch ging und seine Tasse niederstellte. »Ich hoffe, Dorian hat
+dir von meinem Plan, alles umzutaufen, erzählt, Gladys. Es ist eine
+allerliebste Idee.«
+
+»Aber ich will nicht umgetauft werden, Harry«, erwiderte die Herzogin
+und sah ihn mit ihren reizend schönen Augen an. »Ich bin mit meinem
+Namen ganz zufrieden und ich denke, Herr Gray kann auch mit seinem
+zufrieden sein.«
+
+»Meine teure Gladys, ich würde um keinen Preis der Welt einen der beiden
+Namen umändern wollen. Sie sind beide vollendet. Ich dachte
+hauptsächlich an Blumen. Gestern schnitt ich mir eine Orchidee für mein
+Knopfloch. Es war eine wundervoll gesprenkelte Blume, so wirkungsvoll
+wie die sieben Todsünden. In einem Anfall von Gedankenträgheit fragte
+ich einen der Gärtner, wie sie heiße. Er sagte mir, es sei ein schönes
+Exemplar der Robinsoniana oder irgendeine derartige gräßliche
+Bezeichnung. Es ist eine traurige Wahrheit, aber wir haben die
+glückliche Gabe verloren, den Dingen schöne Namen zu geben. Und Namen
+sind alles. Ich kämpfe nie gegen Taten an. Mein einziger Kampf richtet
+sich gegen die Worte. Das ist der Grund, weshalb ich den vulgären
+Realismus in der Literatur verabscheue. Der Mann, der imstande ist,
+einen Spaten einen Spaten zu nennen, sollte gezwungen werden, selbst
+einen in die Hand zu nehmen. Es ist die einzige Sache, zu der er
+tauglich wäre.«
+
+»Wie sollen wir also dich nennen, Harry?« fragte sie.
+
+»Sein Name ist Prinz Paradox«, sagte Dorian.
+
+»Der wird sofort akzeptiert!« rief die Herzogin.
+
+»Ich will ihn nicht hören«, lachte Lord Henry und ließ sich in ein
+Fauteuil fallen. »Vor einem solchen Etikettchen kann man sich nicht
+retten. Ich weise den Titel zurück.«
+
+»Fürstlichkeiten können nicht abdanken«, warnten ihn schöne Lippen.
+
+»Du willst also, daß ich meinen Thron verteidige?«
+
+»Ja.«
+
+»Ich sage die Wahrheiten von morgen.«
+
+»Ich ziehe die Irrtümer von heute vor«, antwortete sie.
+
+»Du entwaffnest mich, Gladys!« rief er, entzückt von ihrer übermütigen
+Laune.
+
+»Deines Schildes, Harry, nicht deines Speeres.«
+
+»Ich kämpfe nie gegen Schönheit«, sagte er mit einer huldigenden
+Handbewegung.
+
+»Das ist dein Fehler, Harry, glaube mir's. Du überschätzest die
+Schönheit.«
+
+»Wie kannst du das sagen? Ich gebe zu, daß ich es für besser halte,
+schön zu sein als gut. Aber andererseits ist niemand eher als ich bereit
+zuzugeben, daß es besser ist, gut zu sein als häßlich.«
+
+»Dann also ist Häßlichkeit eine der sieben tödlichen Sünden?« rief die
+Herzogin. »Wie steht es nun mit deinem Orchideengleichnis?«
+
+»Häßlichkeit ist eine von den sieben tödlichen Tugenden, Gladys. Du als
+gute Tory darfst sie nicht unterschätzen. Das Bier, die Bibel und die
+sieben tödlichen Tugenden haben aus England gemacht, was es heute ist.«
+
+»Du liebst also dein Vaterland nicht?« fragte sie.
+
+»Ich lebe darin.«
+
+»Damit du es besser tadeln kannst.«
+
+»Sähest du es lieber, daß ich mir das Urteil Europas über unser Land
+aneigne?« fragte er.
+
+»Was sagt man von uns?«
+
+»Daß Tartüff nach England ausgewandert sei und dort einen Laden
+aufgemacht habe.«
+
+»Ist das von dir, Harry?«
+
+»Ich schenke es dir.«
+
+»Ich kann's nicht gebrauchen. Es ist zu wahr.«
+
+»Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Unsere Landsleute erkennen sich
+nie in ihrem Steckbrief wieder.«
+
+»Du bist so praktisch.«
+
+»Eher gerissen als praktisch. Wenn sie ihr Kontokorrent abschließen,
+dann saldieren sie Dummheit mit Reichtum und Laster mit Heuchelei.«
+
+»Und doch haben wir große Dinge vollbracht.«
+
+»Große Dinge sind uns auferlegt worden, Gladys.«
+
+»Wir haben ihre Last zu tragen vermocht.«
+
+»Nur bis zur Börse.«
+
+Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube an unsere Rasse!« rief sie.
+
+»Sie vertritt den überlebenden Ellbogenstreber.«
+
+»Sie hat das Zeug zur Entwicklung.«
+
+»Verfall reizt mich mehr.«
+
+»Und die Kunst?« fragte sie.
+
+»Eine Krankheit.«
+
+»Liebe?«
+
+»Einbildung.«
+
+»Religion?«
+
+»Modesurrogat für den Glauben.«
+
+»Du bist ein Skeptiker!«
+
+»Niemals! Skeptizismus ist der Anfang des Glaubens.«
+
+»Was bist du?«
+
+»Definieren heißt beschränken.«
+
+»Reich mir den Ariadnefaden!«
+
+»Fäden zerreißen. Du wurdest deinen Weg im Labyrinth verlieren.«
+
+»Du machst mich wirre. Laß uns von einem anderen sprechen.«
+
+»Unser Wirt ist ein entzückendes Thema. Vor vielen Jahren nannte man ihn
+den Prinz Märchenschön.«
+
+»Ach! Erinnere mich nicht daran!« rief Dorian Gray.
+
+»Unser Wirt ist recht greulich heute abend«, antwortete die Herzogin und
+errötete. »Er denkt wohl, Monmouth habe mich nur aus wissenschaftlichen
+Gründen geheiratet, weil ich das beste Musterbeispiel eines modernen
+Schmetterlings bin.«
+
+»Ich hoffe aber, er wird Sie nicht auf Stecknadeln spießen, Frau
+Herzogin«, lachte Dorian.
+
+»Oh! Das besorgt schon meine Kammerjungfer, Herr Gray, wenn sie sich
+über mich ärgert.«
+
+»Und worüber ärgert sie sich, Frau Herzogin?«
+
+»Über die geringsten Dinge, Herr Gray, glauben Sie nur! Gewöhnlich, wenn
+ich zehn Minuten vor neun nach Hause komme und ihr sage, daß ich bis
+halb neun angezogen sein muß.«
+
+»Wie unvernünftig von ihr! Sie sollten ihr den Laufpaß geben!«
+
+»Das wag' ich nicht, Herr Gray. Sie erfindet nämlich meine Hüte. Sie
+erinnern sich nicht an den Hut, den ich auf Lady Hilstones Gartenfest
+getragen habe? Natürlich nicht, aber es ist hübsch von Ihnen, daß Sie so
+tun. Also der war geradezu aus nichts gemacht. Alle guten Hüte werden
+aus nichts gemacht.«
+
+»Wie jeder gute Ruf, Gladys!« unterbrach Lord Henry. »Jede Wirkung, die
+man erzielt, schafft uns einen Feind. Man muß eine Mittelmäßigkeit sein,
+wenn man eine Beliebtheit sein will.«
+
+»Nicht unter Frauen«, sagte die Herzogin und schüttelte den Kopf; »und
+Frauen regieren die Welt. Ich behaupte steif und fest, wir können
+Mittelmäßigkeiten nicht vertragen. Wir Frauen, hat mal jemand gesagt,
+lieben mit den Ohren, gerade so, wie ihr Männer mit den Augen liebt,
+wenn ihr überhaupt liebt.«
+
+»Es scheint mir, daß wir überhaupt nie etwas anderes tun«, flüsterte
+Dorian.
+
+»Ach! Herr Gray, dann lieben Sie nie in Wirklichkeit«, antwortete die
+Herzogin wie in spöttischer Trauer.
+
+»Meine liebe Gladys.« rief Lord Henry. »Wie kannst du das sagen? Die
+Romantik lebt von Wiederholung, und die Wiederholung verwandelt jeden
+Anreiz in Kunst. Übrigens, jedesmal, wenn man liebt, ist es das
+erstemal, daß man geliebt hat. Die Verschiedenheit des Objektes
+verändert die Einzigkeit der Leidenschaft nicht. Sie macht sie nur
+stärker. Wir können im Leben bestenfalls nur ein einziges großes
+Erlebnis haben, und das Geheimnis des Lebens besteht darin, dieses
+Erlebnis so oft als möglich zu wiederholen.«
+
+»Selbst wenn es einen verwundet hat, Harry?« fragte die Herzogin nach
+einer Pause.
+
+»Besonders wenn es einen verwundet hat«, entgegnete Lord Henry.
+
+Die Herzogin wandte sich um und sah Dorian Gray an mit einem seltsamen
+Ausdruck in ihren Augen. »Was sagen Sie dazu, Herr Gray?« forschte sie.
+
+Dorian zögerte einen Augenblick. Dann warf er den Kopf zurück und
+lachte. »Ich stimme mit Harry immer überein, Frau Herzogin.«
+
+»Auch wenn er unrecht hat?«
+
+»Harry hat nie unrecht, Frau Herzogin.«
+
+»Und macht Sie seine Philosophie glücklich?«
+
+»Glück habe ich nie gesucht. Wer braucht Glück? Ich habe Vergnügen
+gesucht.«
+
+»Und gefunden, Herr Gray?«
+
+»Oft. Zu oft.«
+
+Die Herzogin seufzte. »Ich suche Frieden,« sagte sie, »und wenn ich
+jetzt nicht gehe und mich anziehe, habe ich ihn heut abend nicht.«
+
+»Lassen Sie mich Ihnen ein paar Orchideen holen, Frau Herzogin!« rief
+Dorian, sprang auf und ging ins Gewächshaus hinunter.
+
+»Du flirtest ganz schändlich mit ihm«, sagte Lord Henry zu seiner
+Kusine. »Du solltest dich lieber in acht nehmen. Er kann sehr
+faszinieren.«
+
+»Wenn er es nicht könnte, gäb's keinen Kampf.«
+
+»Also Griechen kämpfen gegen Griechen?«
+
+»Ich bin auf seiten der Trojaner. Sie kämpften für ein Weib.«
+
+»Sie wurden besiegt.«
+
+»Es gibt ärgere Dinge als Gefangenschaft«, erwiderte sie.
+
+»Du galoppierst mit verhängtem Zügel.«
+
+»Das Tempo macht Leben«, war die Antwort.
+
+»Ich will mir das heut abend in mein Tagebuch schreiben.«
+
+»Was?«
+
+»Daß ein gebranntes Kind das Feuer liebt.«
+
+»Ich bin noch nicht einmal versengt. Meine Flügel sind unberührt.«
+
+»Du gebrauchst sie zu allem, nur nicht zur Flucht.«
+
+»Der Mut ist von den Männern zu den Frauen gewandert. Das ist ein neues
+Erlebnis für uns.«
+
+»Du hast eine Rivalin.«
+
+»Wen?«
+
+Er lachte. »Lady Narborough«, flüsterte er. »Sie betet ihn an.«
+
+»Du machst mir Angst. Die Beschwörung des Altertums ist für uns
+Romantiker stets gefährlich.«
+
+»Romantiker! Du hast alle Methoden der Wissenschaft.«
+
+»Männer haben uns erzogen.«
+
+»Aber nicht erklärt.«
+
+»Gib uns eine Definition unseres Geschlechtes«, forderte sie ihn heraus.
+
+»Sphinxe ohne Geheimnisse.«
+
+Sie sah ihn lächelnd an. »Wie lange Herr Gray wegbleibt«, sagte sie.
+»Wir wollen ihm helfen. Ich habe ihm noch nicht einmal die Farbe meines
+Kleides angegeben.«
+
+»Pah! Du mußt dein Kleid seinen Blumen anpassen, Gladys.«
+
+»Das wäre eine zu frühe Übergabe.«
+
+»Die romantische Kunst beginnt mit dem Höhepunkt.«
+
+»Ich muß mir die Möglichkeit des Rückzuges offen halten.«
+
+»Wie die Parther?«
+
+»Sie fanden Schutz in der Wüste. Mir wäre das nicht möglich.«
+
+»Man läßt den Frauen nicht immer die Wahl«, entgegnete er; aber kaum
+hatte er den Satz zu Ende gesprochen, als von dem äußersten Winkel des
+Gewächshauses her ein unterdrücktes Stöhnen kam, dem das dumpfe Gerausch
+eines schweren Falles folgte. Alles sprang auf. Die Herzogin stand
+regungslos da vor Schreck. Mit ängstlichen Augen stürzte Lord Henry
+durch die wehenden Fächer der Palmen und fand Dorian Gray in einer
+todesähnlichen Ohnmacht am Boden liegend, mit dem Gesicht auf den kühlen
+Fliesen.
+
+Er wurde sofort in den blauen Salon gebracht und auf ein Sofa gelegt.
+Nach einer kurzen Weile kam er wieder zu sich und sah sich verstört um.
+
+»Was ist geschehen?« fragte er. »Ach! jetzt fällt mir's ein. Bin ich
+hier sicher, Harry?« Er begann zu zittern.
+
+»Mein lieber Dorian,« antwortete Lord Henry, »es war ein
+Ohnmachtsanfall. Weiter nichts. Du mußt dich wohl übermüdet haben. Komm
+lieber nicht zum Diner hinunter. Ich werde dich vertreten.«
+
+»Nein, ich will herunterkommen«, sagte er und mühte sich, auf den Füßen
+zu stehen. »Ich komme lieber herunter! Ich darf nicht allein sein.«
+
+Er ging in sein Zimmer und zog sich um. Als er bei Tisch saß, war in
+seinem Gehaben eine wilde, übermütige Lustigkeit, aber hin und wieder
+überlief ihn ein Angstschauer, wenn er sich erinnerte, daß er, gegen die
+Fensterscheiben des Gewächshauses gepreßt, das lauernde Gesicht James
+Vanes wie ein weißes Tuch erblickt hatte.
+
+
+
+
+Achtzehntes Kapitel
+
+
+Am nächsten Tage verließ er das Haus nicht und verbrachte den größten
+Teil der Zeit in seinem Zimmer, durchrüttelt von einer wilden
+Todesfurcht und dem Leben gegenüber doch gleichgültig. Das Bewußtsein,
+gejagt, umzingelt, aufgestöbert zu werden, fing an, ihn gänzlich zu
+beherrschen. Wenn nur die Vorhänge im Winde rauschten, schrak er
+zusammen. Die toten Blätter, die gegen die verbleiten Scheiben gefegt
+wurden, schienen ihm seine eigenen vergeudeten Vorsätze und ungestümen
+Gewissensbisse zu sein. Wenn er die Augen schloß, sah er wieder das
+Gesicht des Matrosen vor sich, wie es durch das feuchtbeschlagene Glas
+stierte, und das Entsetzen schien ihm noch einmal seine Hand aufs Herz
+zu legen.
+
+Aber vielleicht war es nur seine Phantasie gewesen, die die Rache aus
+der Nacht heraufbeschworen und ihm die gräßliche Gestalt der Strafe
+vorgetäuscht hatte. Das wirkliche Leben war ein Chaos, aber es war eine
+furchtbare Logik in der Phantasie. Die Phantasie hetzte die
+Gewissensbisse hinter den flüchtigen Sohlen der Sünde her. Die Phantasie
+ließ jedes Verbrechen seine mißgestaltete Brut in sich tragen. In der
+gewöhnlichen Welt der Tatsachen wurden die Schlechten so wenig bestraft
+wie die Guten belohnt. Der Erfolg gehörte den Starken, Unglück machte
+die Schwachen unterliegen. Das war alles. Zudem, wenn ein Fremder um das
+Haus herumgestrolcht wäre, so hätten ihn die Diener oder Wächter
+entdeckt. Wären irgendwelche Fußtapfen in den Beeten bemerkt worden, so
+hätten es die Gärtner gemeldet. Ja: es war alles bloße Einbildung. Sybil
+Vanes Bruder war nicht zurückgekommen, um ihn zu ermorden. Er war mit
+seinem Schiff abgesegelt, um in irgendeiner arktischen See zu ertrinken.
+Vor dem war er also sicher. Der Mann wußte gar nicht, wer er war und
+konnte es nicht wissen. Die Maske der Jugend hatte ihn gerettet.
+
+Und doch, wenn es eine bloße Ausgeburt der Einbildung gewesen war, wie
+schrecklich war doch der Gedanke, daß das Gewissen so fürchterliche
+Hirngespinste entstehen lassen und ihnen sichtbare Form und Bewegung
+geben konnte! Was für eine Art Leben würde er führen, wenn Tag und Nacht
+die Schatten seines Verbrechens aus düsteren Winkeln nach ihm spähten,
+ihn von geheimen Stellen aus neckten, ihm ins Ohr flüsterten, wenn er
+beim Mahle saß, ihn mit eisigen Fingern weckten, wenn er schlief! Als
+dieser Gedanke durch sein Hirn kroch, wurde er blaß vor Schrecken, und
+die Luft schien ihm plötzlich kälter geworden zu sein. Oh! in was für
+einer wilden Wahnsinnsstunde hatte er seinen Freund umgebracht! Wie
+bluterstarrend war nur die Erinnerung an diese Szene! Er sah es alles
+wieder. Jede gräßliche Einzelheit kam mit vermehrtem Entsetzen wieder zu
+ihm. Aus dem schwarzen Grabverlies der Zeit stieg schrecklich und in
+Scharlachrot gehüllt das Bild seiner Sünde empor. Als Lord Henry um
+sechs Uhr eintrat, fand er ihn schluchzend, als ob ihm das Herz brechen
+wolle.
+
+Erst am dritten Tage wagte er auszugehen. Es lag etwas in der klaren,
+tannenduftenden Luft dieses Wintermorgens, das ihm seine Fröhlichkeit
+und seine Lebenslust wiederzugeben schien. Aber nicht nur die physischen
+Bedingungen seiner Umgebung hatten diese Wandlung zuwege gebracht. Seine
+eigene Natur hatte sich gegen das Übermaß der Angst empört, die ihre
+vollendete Ruhe zu stören und zu vernichten versucht hatte. Mit feinen
+und subtil organisierten Temperamenten ist es immer so. Ihre heftigen
+Leidenschaften können nur Hammer oder Amboß sein. Entweder töten sie den
+Menschen oder sterben selbst. Oberflächliche Sorgen, oberflächliche
+Liebesempfindungen können weiter leben. Tiefe Liebesempfindungen und
+große Sorgen gehen durch ihre eigene Überfülle zugrunde. Überdies hatte
+er sich jetzt überzeugt, daß er das Opfer einer erschreckten
+Einbildungskraft gewesen war, und sah jetzt auf seine Ängste mit einer
+Art Mitleid und nicht geringer Verachtung zurück.
+
+Nach dem Frühstück ging er mit der Herzogin ein Stündchen im Garten
+spazieren und fuhr dann durch den Park, um mit der Jagdgesellschaft
+zusammenzutreffen. Der feinperlige Reif lag wie Salz auf dem Rasen. Der
+Himmel sah aus wie ein umgestülpter Pokal aus blauem Metall. Ein dünner
+Eisgallert umsäumte den seichten, schilfbewachsenen Teich.
+
+Am Eingang des Tannenwaldes erblickte er Sir Geoffrey Clouston, den
+Bruder der Herzogin, der eben zwei verschossene Patronen aus seiner
+Flinte stieß. Dorian sprang aus dem Wagen, sagte dem Groom, er solle mit
+dem Gespann nach Hause fahren, und ging durch das welke Farnkraut und
+das gestrüppige Unterholz auf seinen Gast zu.
+
+»Gute Jagd gehabt, Geoffrey?« fragte er.
+
+»Nicht berühmt, Dorian. Die meisten Vögel, glaub' ich, sind auf die
+Felder geflüchtet. Vielleicht wird's nachmittag besser sein, wenn wir
+auf frisches Revier kommen.«
+
+Dorian schlenderte neben ihm weiter. Die starke, aromatische Luft, die
+braunen und roten Lichter, die den Wald durchflimmerten, das rauhe
+Geschrei der Treiber, das von Zeit zu Zeit aufgellte, und der scharfe
+Knall der Flinten, der dann folgte, das alles fesselte ihn und erfüllte
+ihn mit einem Gefühl entzückender Freiheit. Er war beherrscht von einem
+sorglosen Glück, von einer großartigen Gleichgültigkeit der Freude.
+
+Plötzlich brach aus einem dicken Büschel alten Grases, vielleicht
+zwanzig Meter vor ihnen, ein Hase aus, die schwarzgesprenkelten Löffel
+steif aufgerichtet und die langen Hinterläufe nach vorn werfend. Er
+schnellte auf ein Erlendickicht los. Sir Goeffrey riß das Gewehr an die
+Schulter, aber in der anmutigen Bewegung des Tieres lag etwas, das
+Dorian Gray seltsam entzückte, und er rief hastig: »Schieß nicht,
+Geoffrey. Laß ihn laufen!«
+
+»Ach, Unsinn, Dorian«, sagte lachend sein Gefährte, und noch ehe der
+Hase in das Dickicht setzte, schoß er zu. Man hörte zwei Schreie, den
+Schrei eines verwundeten Hasen, der schrecklich ist, und den Schrei
+eines sterbenden Menschen, der noch schrecklicher ist.
+
+»Gott im Himmel, ich habe einen Treiber getroffen!« rief Sir Geoffrey
+aus. »Was für 'n Esel der Mann ist, einem direkt vors Gewehr zu laufen!
+Hört auf mit Schießen!« rief er mit seiner lautesten Stimme. »Ein Mann
+ist getroffen worden!«
+
+Der Hegemeister kam mit einem Stock in der Hand herbeigelaufen.
+
+»Wo, Herr? Wo ist er?« rief er. Im selben Augenblick hörte das Schießen
+auf der ganzen Linie auf.
+
+»Hier!« antwortete Sir Geoffrey ärgerlich und rannte auf das Dickicht
+zu. »Warum, zum Kuckuck, halten Sie Ihre Leute nicht weiter zurück? Für
+heute hab' ich die ganze Jagd im Magen.«
+
+Dorian sah ihnen nach, wie sie in die Erlenbüsche eindrangen und die
+biegsamen Zweige zur Seite bogen. Nach einigen Augenblicken erschienen
+sie wieder und zogen einen Körper ans Tageslicht. Er wandte sich
+entsetzt ab. Es schien ihm, als folge ihm das Mißgeschick überallhin. Er
+hörte, wie Sir Geoffrey fragte, ob der Mann wirklich tot wäre, und
+vernahm die bejahende Antwort des Hegemeisters. Es schien ihm, als
+wimmele der Wald urplötzlich von Gesichtern. Er hörte das Gelaufe von
+unzähligen Füßen und das gedämpfte Flüstern von Stimmen. Ein großer
+Fasan mit kupferfarbener Brust rauschte durch die Äste über ihm dahin.
+
+Nach einigen Augenblicken, die ihm in seiner Fassungslosigkeit wie
+endlose, peinvolle Stunden vorkamen, fühlte er eine Hand auf seiner
+Schulter. Er zuckte zusammen und wandte sich um.
+
+»Dorian,« sagte Lord Henry, »ich halt 's für richtiger, die Jagd für
+heute beendet sein zu lassen. Es würde nicht gut aussehen, sie
+fortzusetzen.«
+
+»Ich wollte, sie wäre für immer beendet, Harry«, antwortete er bitter.
+»Die ganze Geschichte ist gräßlich und grausam ist der Mann...?« Er
+konnte den Satz nicht vollenden.
+
+»Ja leider«, entgegnete Lord Henry. »Er hat die ganze Ladung in die
+Brust gekriegt. Er muß augenblicklich gestorben sein. Komm, wir wollen
+nach Hause.«
+
+Sie schritten nebeneinander auf die Allee zu und sprachen etwa fünfzig
+Meter weit kein Wort. Dann sah Dorian Lord Henry an und sagte mit einem
+tiefen Seufzer: »Das ist ein böses Omen, Harry, ein sehr böses Omen.«
+
+»Was denn?« fragte Lord Henry. »Oh! diesen Unglücksfall meinst du.
+Lieber Junge, daran ist nichts zu ändern. Der Mann hatte ja selber
+schuld. Warum lief er in die Schußlinie? Überdies ist es nicht unsere
+Sache. Für Geoffrey ist es natürlich nicht gerade angenehm! Es ist
+nicht hübsch, Treiber niederzupuffen. Die Leute denken gleich, man wäre
+ein Sonntagsjäger. Und das ist Geoffrey nicht; er schießt sogar
+brillant. Aber es hat keinen Zweck, über den Unfall weiter zu reden.«
+
+Dorian schüttelte den Kopf. »Es ist ein böses Omen, Harry. Ich habe das
+Gefühl, als müßte einem von uns etwas Schreckliches zustoßen. Mir selbst
+vielleicht«, fügte er hinzu und legte mit einer schmerzlichen Bewegung
+die Hand über die Augen.
+
+Der ältere lachte. »Das einzig Schreckliche in der Welt ist Langeweile,
+Dorian. Das ist die einzige Sünde, für die es keine Vergebung gibt. Aber
+wir werden darunter schwerlich zu leiden haben, wenn die Gesellschaft
+bei Tisch nicht etwa noch über die Sache viel Aufhebens macht. Ich muß
+den Leuten sagen, daß dieses Thema einfach Tabu ist. Und Omina --so was
+wie Omina gibt's nicht. Das Geschick sendet uns keine Herolde. Es ist zu
+weise dazu oder zu grausam. Übrigens, was in aller Welt sollte dir
+geschehen, Dorian? Du hast alles, was sich ein Mensch hienieden wünschen
+kann. Ich wüßte niemand, der nicht freudig mit dir tauschen möchte.«
+
+»Es gibt keinen, mit dem ich nicht tauschen möchte, Harry. Lach' nicht
+darüber. Ich spreche die Wahrheit. Der elende Bauer, der da gestorben
+ist, ist besser daran als ich. Ich habe keine Angst vor dem Tode. Das
+Sterben ist's, wovor ich mich ängstige. Seine ungeheuren Flügel scheinen
+mich rings in der bleiernen Luft zu umschatten. Herr des Himmels, siehst
+du nicht, daß da hinter den Bäumen ein Mann auf mich lauert und mich
+beobachtet?«
+
+Lord Henry sah in die Richtung, wohin die behandschuhte Hand zitternd
+wies. »Ja,« sagte er lächelnd, »ich sehe da den Gärtner auf dich warten.
+Er will dich vermutlich fragen, welche Blumen du heute auf dem Tisch
+haben willst. Wie lächerlich nervös du heute bist, lieber Junge! Du mußt
+gleich meinen Doktor konsultieren, wenn wir wieder in der Stadt sind.«
+
+Dorian seufzte erleichtert auf, als er den Gärtner herankommen sah. Der
+Mann legte die Hand an den Hut, blickte erst zaudernd auf Lord Henry und
+zog dann einen Brief hervor, den er seinem Herrn überreichte. »Ihre
+Gnaden hat mir aufgetragen, auf Antwort zu warten«, sagte er halblaut.
+
+Dorian steckte den Brief in die Tasche. »Sagen Sie Ihrer Gnaden, ich
+würde kommen«, sagte er kühl. Der Mann kehrte um und schritt rasch dem
+Hause zu.
+
+»Wie gern doch die Frauen gefährliche Dinge tun!« sagte Lord Henry
+lachend. »Das ist eine von ihren Eigenschaften, die ich am meisten
+bewundere. Eine Frau ist mit jedem auf der Welt zu flirten bereit,
+solange andere Leute dabei Zuschauer sind.«
+
+»Wie gern du doch gefährliche Dinge sagst, Harry! In diesem Falle bist
+du aber ganz auf dem Holzwege. Ich habe die Herzogin sehr gern, aber ich
+liebe sie nicht.«
+
+»Und die Herzogin liebt dich sehr, aber sie hat dich nicht gern, also
+paßt ihr beide famos zusammen.«
+
+»Du machst Klatschereien, Harry, und diesmal ist gar kein Grund zu
+Klatschereien vorhanden.«
+
+»Die Grundlage für jeden Klatsch ist eine unmoralische Verläßlichkeit«,
+sagte Lord Henry und zündete sich eine Zigarette an.
+
+»Du würdest jeden von uns bloßstellen, Harry, um einen Witz zu machen.«
+
+»Die Welt legt sich aus freien Stücken auf den Opferaltar«, war die
+Antwort.
+
+»Ich wollte, ich könnte lieben!« rief Dorian Gray mit einem
+tiefpathetischen Klang in seiner Stimme. »Aber es scheint, ich habe die
+Glut der Leidenschaft verloren und die Sehnsucht des Begehrens
+vergessen. Ich bin zu sehr in mich selber konzentriert. Meine eigene
+Person ist eine Last für mich geworden. Ich möchte entfliehen, weggehen,
+vergessen. Es war albern von mir, überhaupt herzukommen. Ich denke, ich
+telegraphiere an Harvey, daß er die Jacht instand setzt. Auf einer Jacht
+ist man sicher.«
+
+»Wovor sicher, Dorian? Du hast Unruhe. Warum sagst du mir nicht, was es
+ist? Du weißt, daß ich dir helfen könnte.«
+
+»Ich kann es dir nicht sagen, Harry«, erwiderte er traurig. »Und es mag
+wohl alles nur Einbildung sein. Der unglückselige Zwischenfall hat mich
+aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich habe eine schreckliche Vorahnung,
+daß mir etwas Ähnliches zustößt.«
+
+»Was für Unsinn!«
+
+»Ich hoffe, es ist Unsinn, aber ich kann dies Gefühl nicht loswerden.
+Ah! da kommt die Herzogin und sieht aus wie Artemis in einem
+Tailormade-Kleide. Sie sehen, wir sind zurück, Frau Herzogin.«
+
+»Ich habe schon alles gehört, Herr Gray«, antwortete sie. »Der arme
+Geoffrey ist ganz außer Fassung. Und man sagt, Sie hatten ihn gebeten,
+nicht auf den Hasen zu schießen. Wie seltsam!«
+
+»Ja, es war sehr seltsam. Ich kann nicht mal sagen, warum ich es getan
+habe. Eine Eingebung vermute ich. Er sah so niedlich aus, der kleine
+Kerl. Aber ich bedaure sehr, daß man Ihnen von dem Manne erzählt hat. Es
+ist ein peinliches Thema.«
+
+»Es ist ein langweiliges Thema«, unterbrach ihn Lord Henry. »Es hat
+keinerlei psychologischen Wert. Wenn es Geoffrey noch absichtlich getan
+hätte, wie interessant wäre es dann! Ich würde gern jemand kennenlernen,
+der einen wirklichen Mord begangen hat.«
+
+»Wie abscheulich von dir«, schrie die Herzogin auf. »Nicht war, Herr
+Gray? Harry, Herrn Gray ist wieder unwohl. Er wird ohnmächtig.«
+
+Dorian hielt sich gewaltsam aufrecht und lächelte. »Es ist nichts, Frau
+Herzogin,« murmelte er, »meine Nerven sind schrecklich in Unordnung.
+Nichts weiter. Ich fürchte, ich bin heut morgen zuviel gegangen. Ich
+habe gar nicht gehört, was Harry gesagt hat. War es sehr toll? Sie
+müssen es mir ein andermal erzählen. Ich halte es fürs beste, mich jetzt
+ein bißchen hinzulegen. Sie entschuldigen mich, nicht wahr?«
+
+Sie hatten die große Treppe erreicht, deren Stufen vom Gewächshaus auf
+die Terrasse emporführten. Als sich die Glastür hinter Dorian
+geschlossen hatte, wandte sich Lord Henry um und sah die Herzogin mit
+seinen schläfrigen Augen an. »Bist du sehr in ihn verliebt?« fragte er.
+
+Sie gab eine Weile keine Antwort, sondern stand da und blickte auf die
+Landschaft. »Ich möchte es selber wissen«, sagte sie endlich.
+
+Er schüttelte den Kopf. »Wissen, wäre ein Verhängnis. Nur die
+Ungewißheit hat für uns Reiz. Ein Nebel macht die Dinge wunderbar.«
+
+»Man kann darin seinen Weg verlieren.«
+
+»Alle Wege enden am selben Punkt, meine liebe Gladys.«
+
+»Wie heißt der?«
+
+»Enttäuschung.«
+
+»So war mein Debüt im Leben«, seufzte sie.
+
+»Sie kam mit einer Krone zu dir.«
+
+»Ich bin der Erdbeerblätter in unserer Krone müde.«
+
+»Sie steht dir gut.«
+
+»Nur in der Öffentlichkeit.«
+
+»Sie würde dir fehlen«, sagte Lord Henry.
+
+»Ich werde mich von keinem Blättchen trennen.«
+
+»Monmouth hat Ohren.«
+
+»Das Alter ist schwerhörig.«
+
+»War er nie eifersüchtig?«
+
+»Ich wollte, er wäre es.« Dabei lachte sie. Ihre Zähne sahen aus wie
+weiße Kerne in einer scharlachfarbenen Frucht. Indessen lag oben in
+seinem Zimmer Dorian Gray auf einem Sofa, Schrecken in jeder zuckenden
+Fiber seines Körpers. Das Leben war für ihn urplötzlich eine so schwere
+Last geworden, daß er sie nicht mehr tragen konnte. Der gräßliche Tod
+des unglücklichen Treibers, der in dem Dickicht wie ein wildes Tier
+niedergeknallt worden war, schien ihm selbst den Tod vorauszusagen. Er
+war fast in Ohnmacht gefallen bei dem zynischen Scherz, den Lord Henry
+in einer zufälligen Laune gemacht hatte.
+
+Um fünf Uhr klingelte er seinem Diener und hieß ihn seine Sachen für den
+Nachtschnellzug nach London zu packen und den Wagen für halb neun vors
+Tor zu bestellen. Er war entschlossen, keine Nacht mehr in Selby Royal
+zu schlafen. Es war ein Ort voll böser Vorzeichen. Der Tod ging dort am
+hellen Tage um. Das Gras des Waldes war mit Blut befleckt.
+
+Dann schrieb er ein Billett an Lord Henry, in dem er ihm mitteilte, daß
+er in die Stadt fahre, um den Arzt zu konsultieren, und ihn bat, seine
+Gäste in seiner Abwesenheit zu unterhalten. Als er die Zeilen in ein
+Kuvert legte, klopfte es an die Tür, und sein Diener meldete ihm, daß
+ihn der Hegemeister sprechen wolle. Er runzelte die Stirn und biß sich
+auf die Lippen. »Lassen Sie ihn eintreten«, murmelte er nach einigem
+Zögern.
+
+Während der Mann eintrat, holte Dorian sein Scheckbuch aus einer
+Schublade hervor und legte es vor sich hin.
+
+»Sie kommen vermutlich wegen des Unglücksfalles von heute morgen,
+Thornton«, sagte er und nahm eine Feder auf.
+
+»Ja, Herr«, antwortete der Hegemeister.
+
+»War der arme Kerl verheiratet? Hatte er Angehörige zu versorgen?«
+fragte Dorian mit einem müden Gesicht. »Wenn sich's so verhält, möchte
+ich nicht, daß sie in Not zurückbleiben, und ich will ihnen jede Summe
+schicken, die Sie für notwendig halten.«
+
+»Wir wissen nicht, wer es ist, gnädiger Herr. Deshalb war ich so frei,
+herzukommen.«
+
+»Sie wissen nicht, wer es ist?« sagte Dorian zerstreut. »Wie meinen Sie
+das? War es nicht einer von Ihren Leuten?«
+
+»Nein Herr. Ich hab' ihn mein Lebtag nicht gesehen. Er sieht aus wie ein
+Matrose, gnädiger Herr.«
+
+Die Feder fiel Dorian Gray aus der Hand, und er hatte das Gefühl, als
+höre sein Herz plötzlich zu schlagen auf. »Ein Matrose!« schrie er auf.
+»Sagten Sie, ein Matrose?«
+
+»Ja, gnädiger Herr. Er sieht aus wie ein Matrose; auf beiden Armen
+tätowiert und überhaupt so in der Art.«
+
+»Hat man irgend etwas bei ihm gefunden?« fragte Dorian, beugte sich vor
+und sah den Mann mit aufgerissenen Augen an. »Irgend etwas, woraus man
+seinen Namen erführe?«
+
+»Nur Geld, gnädiger Herr -- nicht viel, und einen sechsläufigen
+Revolver. Nichts von Namen. Der Mann sieht sonst anständig aus, aber
+gewöhnlich. Wir halten ihn für eine Art Matrosen.«
+
+Dorian sprang auf die Füße. Eine furchtbare Hoffnung durchblitzte ihn.
+Er klammerte sich wahnsinnig an sie an. »Wo ist der Leichnam?« rief er
+aus. »Rasch, ich muß ihn sofort sehen.«
+
+»Er liegt in einem leeren Stall im Wirtschaftsgebäude, gnädiger Herr.
+Die Leute wollen so was nicht in ihren vier Wänden haben. Sie sagen,
+eine Leiche bringt Unglück.«
+
+»Im Wirtschaftsgebäude! Gehen Sie sogleich voraus und warten Sie da auf
+mich. Sagen Sie einem der Grooms, er soll mein Pferd herbringen. Nein.
+Lieber nicht. Ich will selbst in den Stall kommen. Das geht rascher.«
+
+Kaum eine Viertelstunde später galoppierte Dorian, so rasch er konnte,
+die lange Allee hinunter. Die Bäume schienen in gespenstischer Parade an
+ihm vorbeizufliegen und ihm wilde Schatten in den Weg zu schleudern.
+Einmal scheute die Stute vor einem weißen Pfahle und warf ihn fast ab.
+Er schlug ihr die Gerte um den Hals. Sie durchschnitt die dunkle Luft
+wie ein Pfeil. Die Steine stoben unter ihren Hufen.
+
+Endlich erreichte er das Wirtschaftsgebäude. Zwei Männer lungerten im
+Hof herum. Er sprang aus dem Sattel und warf einem die Zügel hin. In dem
+letzten Stall flimmerte ein Licht. Irgend etwas schien ihm zu sagen, daß
+dort der Leichnam liege, und er ging rasch auf die Tür zu und legte die
+Hand auf die Klinke.
+
+Da hielt er einen Augenblick inne und wurde sich bewußt, daß er vor der
+Schwelle einer Entdeckung stehe, die ihm entweder ein neues Leben gab
+oder es zerstörte. Dann stieß er die Tür auf und trat ein.
+
+Auf einem Haufen Säcke im entferntesten Winkel lag der tote Körper eines
+Mannes, bekleidet mit einem groben Blusenhemd und blauen Hosen. Ein
+unsauberes Taschentuch war ihm übers Gesicht gebreitet worden. Eine
+billige Kerze steckte in einer Flasche und flackerte düster.
+
+Dorian Gray schauerte. Er fühlte, daß er nicht mit eigener Hand das
+Taschentuch wegziehen könne, und rief nach einem der Stallknechte.
+
+»Nehmen Sie das da vom Gesicht weg. Ich will es sehen«, sagte er und
+hielt sich an dem Türpfosten fest.
+
+Als es der Knecht getan hatte, machte er einen Schritt nach vorn. Ein
+Freudenschrei kam von seinen Lippen. Der Mann, der im Dickicht
+erschossen worden war, war James Vane.
+
+Er stand einige Minuten da und starrte auf den toten Körper. Als er nach
+Hause ritt, waren seine Augen von Tränen umschleiert, denn er wußte
+jetzt, daß er gerettet war.
+
+
+
+
+Neunzehntes Kapitel
+
+
+»Es hat gar keinen Sinn, mir zu erzählen, daß du gut werden willst!«
+rief Lord Henry und tauchte seine weißen Finger in eine rote, mit
+Rosenwasser gefüllte Kupferschale. »Du bist vollkommen. Bitte ändere
+dich nicht.«
+
+Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Nein, Harry, ich habe zuviel gräßliche
+Dinge getan in meinem Leben. Ich will keine mehr tun. Ich habe gestern
+mit meinen guten Taten den Anfang gemacht.«
+
+»Wo warst du gestern?«
+
+»Auf dem Lande, Harry. Ich war mutterseelenallein in einem kleinen
+Gasthof.«
+
+»Lieber Junge,« sagte Lord Henry lächelnd, »auf dem Lande kann jeder
+Mensch gut sein. Dort gibt's keine Versuchungen. Das ist der Grund,
+warum Leute, die nicht in der Stadt wohnen, so gänzlich unzivilisiert
+sind. Zivilisation ist wahrhaftig nicht leicht zu erreichen. Es gibt nur
+zwei Wege, um zu ihr zu kommen. Der eine ist Kultur, der andere
+Korruption. Die Landbevölkerung hat keine Gelegenheit zu dieser noch zu
+jener, und so bleiben sie so in ihrer Entwicklung stehen.«
+
+»Kultur und Korruption«, wiederholte Dorian. »Ich habe von beiden etwas
+kennengelernt. Es scheint mir jetzt schrecklich, daß man sie immer
+beisammen findet. Denn ich habe ein neues Ideal, Harry. Ich will anders
+werden. Ich glaube, ich bin schon anders geworden.«
+
+»Du hast mir noch nicht berichtet, worin deine gute Handlung bestand.
+Oder sagtest du nicht, du hättest mehr als eine getan?« fragte der
+Freund und schüttete sich eine kleine rote Pyramide Erdbeeren auf seinen
+Teller, auf die er aus einem muschelförmigen Sieblöffel weißen Zucker
+streute.
+
+»Ich kann dir's ja erzählen, Harry. Es ist eine Geschichte, die ich
+einem anderen nicht erzählen könnte. Ich habe jemand verschont. Es
+klingt eitel, aber du verstehst, was ich meine. Sie war sehr schön und
+hatte eine wunderbare Ähnlichkeit mit Sibyl Vane. Ich glaube, das war
+das erste, was mich bei ihr anzog. Du erinnerst dich doch noch an Sibyl,
+nicht? Wie lange das her ist! Also Hetty gehörte natürlich nicht unserem
+Stand an. Sie war eine Dorfschöne. Aber ich liebte sie wirklich. Ich
+weiß bestimmt, daß ich sie liebte. In dem ganzen wundervollen Maimonat,
+den wir jetzt hatten, bin ich zwei-, dreimal in der Woche hingefahren,
+um sie zu sehen. Gestern erwartete sie mich in einem kleinen Obstgarten.
+Die Apfelblüten schneiten auf ihr Haar herab, und sie lachte. Heute
+morgen in aller Herrgottsfrühe sollte sie mit mir kommen. Plötzlich
+entschloß ich mich, sie so einer Blume gleich zu lassen, wie ich sie
+gefunden hatte.«
+
+»Ich vermute, die Neuheit der Empfindung muß dir einen förmlichen
+Wonneschauer bereitet haben, Dorian«, unterbrach ihn Lord Henry. »Aber
+ich kann dir dein Idyll zu Ende erzählen. Du gabst ihr gute Lehren und
+brachst ihr das Herz. Das ist der Anfang deiner Besserung.«
+
+»Harry, du bist schrecklich! Du darfst so häßliche Dinge nicht sagen.
+Hettys Herz ist nicht gebrochen. Natürlich weinte sie und dergleichen.
+Aber keine Schande ist auf sie gekommen. Sie kann weiterleben wie
+Perdita in ihrem Garten bei Pfefferminze und Ringelblumen.«
+
+»Und einem treulosen Florizel nachweinen«, rief Lord Henry lachend und
+lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Teuerster Dorian, du hast manchmal
+die sonderbarsten Knabenanwandlungen. Glaubst du, dieses Mädchen wird
+sich jemals mit einem ihres eigenen Standes glücklich fühlen? Ich
+vermute, sie wird eines schönen Tages einen rohen Fuhrmann oder einen
+grinsenden Bauernlümmel heiraten. Schön also, die Tatsache, daß sie dich
+kennengelernt und geliebt hat, wird sie dahin bringen, ihren Mann zu
+verachten, und sie wird unglücklich werden. Vom moralischen Standpunkte
+aus kann ich also nicht finden, daß deine Entsagung sehr wertvoll war.
+Selbst als ein Anfang ist sie armselig. Außerdem, woher willst du
+wissen, ob Hetty in diesem Augenblick nicht in einem sternbeglänzten
+Mühlteich schwimmt, von lieblichen Wasserlilien umkränzt wie Ophelia?«
+
+»Ich kann es nicht aushalten, Harry! Du spottest über alles und
+beschwörst dann die ernsthaftesten Tragödien herauf. Es tut mir jetzt
+leid, daß ich es dir erzählt habe. Es kümmert mich auch nicht, was du
+sagst. Ich weiß, ich habe recht gehandelt. Arme Hetty! Als ich heute
+früh am Gehöft vorbeiritt, sah ich ihr Gesicht weiß wie einen
+Jasminzweig am Fenster. Wir wollen nicht länger davon reden, und du
+sollst nicht versuchen, mich zu überzeugen, daß die erste gute Handlung,
+die ich seit Jahren getan habe, das erste kleine Opfer, das ich jemals
+gebracht habe, in Wahrheit eine Art Sünde wäre. Ich will mich jetzt
+bessern. Und ich werde mich bessern. Erzähle mir etwas von dir. Was geht
+in der Stadt vor? Ich war tagelang nicht im Klub.«
+
+»Die Leute sprechen noch immer über das Verschwinden des armen Basil.«
+
+»Ich sollte meinen, daß sie inzwischen davon genug bekommen hätten«,
+sagte Dorian, während er sich etwas Wein einschenkte und leicht die
+Stirn runzelte.
+
+»Mein lieber Junge, sie reden ja erst seit sechs Wochen davon, und das
+englische Publikum ist wirklich nicht der geistigen Anstrengung
+gewachsen, alle drei Monate mehr als ein Gesprächsthema zu haben.
+Immerhin haben sie in der letzten Zeit Glück gehabt. Sie hatten meinen
+eigenen Ehescheidungsprozeß und Alan Campbells Selbstmord. Jetzt haben
+sie das geheimnisvolle Verschwinden eines Künstlers. In Scotland Yard
+bleibt man hartnäckig dabei, daß der Mann im grauen Ulster, der in der
+Nacht des neunten November mit dem Zwölfuhrzug nach Paris fuhr, der arme
+Basil war, und die französische Polizei erklärt, Basil wäre überhaupt
+nie in Paris eingetroffen. Vermutlich wird man uns etwa in vierzehn
+Tagen auftischen, daß er in San Francisco gesehen worden ist. Es ist
+eine schwierige Geschichte, aber von jedem Menschen, der verschwindet,
+heißt es, daß er in San Francisco gesehen worden ist. Das muß eine
+entzückende Stadt sein, die alle Reize der zukünftigen Welt ihr Eigen
+nennt.«
+
+»Was glaubst du, daß Basil zugestoßen sei?« fragte Dorian, hielt seinen
+Burgunder gegen das Licht und wunderte sich, daß er über diese Sache so
+ruhig plaudern konnte.
+
+»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wenn sich Basil ein Vergnügen
+daraus macht, Versteck zu spielen, so ist das nicht meine Sache. Wenn er
+tot ist, will ich nicht weiter an ihn denken. Der Tod ist das einzige,
+was mir Angst macht. Ich hasse ihn.«
+
+»Warum?« fragte der jüngere müde.
+
+»Weil,« sagte Lord Henry und führte die vergoldete Netzöffnung eines
+Riechbüchschens zur Nase, »weil man heutzutage alles überleben kann,
+ausgenommen den Tod. Tod und Philisterei sind die zwei einzigen
+Tatsachen des neunzehnten Jahrhunderts, die man nicht wegerklären kann.
+Wir wollen den Kaffee im Musikzimmer trinken, Dorian. Du mußt mir Chopin
+vorspielen. Der Mann, mit dem meine Frau durchbrannte, spielte Chopin
+hinreißend. Die arme Viktoria! Ich habe sie recht gern gehabt. Das Haus
+ist ohne sie recht einsam. Natürlich ist das Eheleben nur eine
+Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit. Aber schließlich bedauert man den
+Verlust selbst seiner schlechtesten Gewohnheiten. Vielleicht bedauert
+man die gerade am meisten. Sie sind ein so wesentlicher Teil unserer
+Persönlichkeit.«
+
+Dorian sagte nichts, sondern stand vom Tisch auf, ging in das
+Nebenzimmer, setzte sich an das Klavier und ließ seine Finger über das
+weiße und schwarze Elfenbein der Tasten gleiten. Als der Kaffee gebracht
+wurde, hörte er auf, sah zu Lord Henry hinüber und sagte: »Harry, ist es
+dir nie eingefallen, daß Basil ermordet worden sein könnte?«
+
+Lord Henry gähnte. »Basil war sehr populär und trug immer nur eine
+Waterburyuhr. Warum hätte man ihn ermorden sollen? Er war nicht klug
+genug, um Feinde zu haben. Freilich hatte er ein wunderbares Genie als
+Maler. Aber ein Mensch kann malen wie Velasquez und doch so langweilig
+als möglich sein. In Wirklichkeit war Basil ziemlich langweilig. Er
+interessierte mich nur ein einziges Mal, und das war damals, als er mir
+vor vielen Jahren gestand, daß er dich so ungestüm anbete und daß du das
+Leitmotiv seiner Kunst seist.«
+
+»Ich habe Basil sehr gern gehabt«, sagte Dorian mit einem traurigen
+Klang in seiner Stimme. »Aber behauptet denn das Publikum nicht, daß er
+ermordet worden ist?«
+
+»Pah, in einigen Zeitungen steht es. Es scheint mir nicht im geringsten
+wahrscheinlich. Ich weiß, es gibt fürchterliche Orte in Paris, aber
+Basil war nicht die Art Mensch, sie aufzusuchen. Er war nicht neugierig.
+Das war sein Hauptfehler.«
+
+»Was würdest du dazu sagen, Harry, wenn ich dir versicherte, daß ich
+Basil ermordet habe?« fragte der jüngere. Er beobachtete ihn scharf,
+nachdem er das gesagt hatte.
+
+»Lieber Freund, ich würde sagen, daß du einen Charakter posierst, der
+dich nicht kleidet. Jedes Verbrechen ist ordinär, gerade wie alles
+Ordinäre ein Verbrechen ist. Du hast nicht die Gabe, Dorian, einen Mord
+zu begehen. Es sollte mir leid tun, wenn ich dich durch diese Meinung in
+deiner Eitelkeit kränkte, aber ich versichere dich, es ist wahr. Das
+Verbrechen ist ein ausschließliches Vorrecht der unteren Klassen. Ich
+will sie damit durchaus nicht tadeln. Ich vermute einfach, das
+Verbrechen ist für sie, was die Kunst für uns ist, einfach ein
+Verfahren, um sich außerordentliche Empfindungen zu verschaffen.«
+
+»Ein Verfahren, sich Empfindungen zu verschaffen? Glaubst du also, daß
+ein Mensch, der einmal einen Mord begangen hat, imstande wäre, das
+nämliche Verbrechen zu wiederholen? Das rede mir nicht ein.«
+
+»Oh! Alles wird zu einem Vergnügen, wenn man es zu oft tut!« rief Lord
+Henry lachend. »Das ist eines der wichtigsten Geheimnisse des Lebens.
+Immerhin bin ich des Glaubens, daß der Mord stets ein Mißgriff ist. Man
+sollte nie etwas tun, worüber man sich nicht nach dem Essen unterhalten
+kann. Aber wir wollen jetzt den armen Basil lassen. Ich wollte, ich
+könnte glauben, daß er ein so romantisches Ende genommen hat, wie du
+durchblicken läßt; aber ich kann es nicht. Ich glaube eher, daß er von
+einem Omnibus in die Seine gefallen ist und der Kondukteur hat den
+Skandal vertuscht. Ja, ich glaube wirklich, so war sein Ende. Ich sehe
+ihn jetzt auf dem Rücken liegen unter dem dunkelgrünen Wasser, und die
+schweren Lastkähne schwimmen über ihm hin, und lange Tangflechten
+verwickeln sich in sein Haar. Weißt du, ich glaube nicht, daß er noch
+viel Gutes gemacht hätte. In den letzten zehn Jahren ist seine Malerei
+nicht mehr berühmt gewesen.«
+
+Dorian seufzte und Lord Henry schlenderte durch das Zimmer und
+unterhielt sich damit, einem merkwürdigen Papagei aus Java den Kopf zu
+krauen, einem großen, graugefiederten Vogel mit rotem Schopf und
+Schwanz, der auf einem Bambusstab balancierte. Als ihn seine spitzen
+Finger berührten, ließ er die weiße Nickhaut seiner Liderfalten über die
+schwarzen Glaskugelaugen fallen und begann sich hin- und herzuwiegen.
+
+»Ja,« fuhr er fort, während er sich umdrehte, und sein Taschentuch aus
+der Tasche nahm, »seine Malerei ist nicht mehr weither gewesen. Es
+schien mir so, als hätte sie irgend etwas eingebüßt. Sie hatte ein Ideal
+verloren. Als ihr beide aufhörtet, intime Freunde zu sein, hörte er auf,
+ein großer Künstler zu sein. Was hat euch auseinander gebracht? Ich
+vermute, er langweilte dich. Wenn das der Fall war, dann hat er dir nie
+verziehen. Das ist gewöhnlich so bei langweiligen Menschen. Was ist
+übrigens aus dem wundervollen Porträt geworden, das er von dir gemacht
+hat? Ich kann mich nicht erinnern, es jemals wiedergesehen zu haben,
+seit es fertig wurde. Ah! Jetzt besinne ich mich, daß du mir vor Jahren
+erzählt hast, du hättest es nach Selby geschickt und es wäre unterwegs
+auf irgendeine Weise gestohlen worden oder in Verlust geraten. Hast du
+es nie wieder bekommen? Wie schade! Es war faktisch ein Meisterwerk. Ich
+entsinne mich, daß ich es kaufen wollte. Ich wünschte, ich hätte es
+jetzt. Es stammte aus Basils bester Zeit. Seitdem bestanden alle seine
+Arbeiten aus dem eigentümlichen Gemengsel von schlechter Malerei und
+guten Absichten, das einen Mann berechtigt, ein britischer Künstler von
+Bedeutung genannt zu werden. Hast du deswegen eigentlich gar nicht
+annonciert? Das hättest du tun sollen.«
+
+»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete Dorian. »Ich glaube, ich tat es.
+Aber ehrlich gesagt, ich habe das Bild nie gemocht. Es tut mir überhaupt
+leid, daß ich dazu gesessen habe. Schon die Erinnerung an das Ding ist
+mir greulich. Warum sprichst du davon? Es hat mich immer an ein paar
+merkwürdige Zeilen aus einem Theaterstück erinnert -- aus Hamlet, glaube
+ich -- wie heißen sie? --
+
+ >Gleich dem Bildnis eines Grams,
+ ein Antlitz ohne Herz.<
+
+Ja, so sah es aus.«
+
+Lord Henry lachte. »Wenn ein Mensch das Leben künstlerisch behandelt,
+ist sein Hirn sein Herz«, antwortete er und ließ sich in einen Armsessel
+fallen.
+
+Dorian Gray schüttelte den Kopf und schlug ein paar sanfte Akkorde auf
+dem Klavier an. »Gleich dem Bildnis eines Grams, ein Antlitz ohne Herz«,
+wiederholte er, »ein Antlitz ohne Herz.«
+
+Der ältere Freund saß zurückgelehnt und blickte mit halbgeschlossenen
+Augen zu ihm hinüber. »Übrigens, Dorian,« sagte er nach einer Pause,
+»was hülfe es einem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und -- wie
+heißt die Stelle doch? -- seine eigene Seele verlöre?«
+
+Die Musik brach schrill ab und Dorian Gray schnellte auf und starrte
+seinen Freund an. »Warum fragst du mich das, Harry?«
+
+»Aber bester Junge,« sagte Lord Henry und zog verwundert die Augenbrauen
+in die Höhe, »ich habe dich gefragt, weil ich dachte, du könntest mir
+eine Antwort geben. Das ist alles. Ich bin letzten Sonntag durch Hyde
+Park gegangen, und nahe beim Marble Arch stand eine kleine Ansammlung
+schäbig aussehender Menschen, die irgendeinem ordinären Straßenprediger
+lauschten. Als ich vorbeiging, hörte ich den Mann diese Frage seinen
+Zuhörern entgegenschreien. Es berührte mich ordentlich dramatisch.
+London ist sehr reich an seltsamen Wirkungen solcher Art. Ein
+regnerischer Sonntag, ein unmanierlicher Christ in einem Regenmantel,
+ein Kreis krankhafter, bleicher Gesichter unter dem wellenförmigen Dach
+tropfender Regenschirme und ein wunderbarer Satz, von schrillen,
+hysterischen Lippen in die Luft geschleudert, das war auf seine Art
+wirklich sehr gut, es lag geradezu eine gewisse Suggestion darin. Ich
+dachte zuerst daran, dem Propheten zu sagen, daß die Kunst eine Seele
+habe, aber nicht der Mensch, aber ich fürchte, er hätte mich doch nicht
+verstanden.«
+
+»Nein, Harry. Die Seele ist eine fürchterliche Gewißheit. Sie kann
+gekauft werden und verkauft und umgetauscht. Sie kann vergiftet werden
+oder vervollkommnet. In jedem von uns lebt eine Seele. Ich weiß es.«
+
+»Bist du dessen ganz sicher, Dorian?«
+
+»Ganz sicher.«
+
+»Pah! Dann muß es Einbildung sein. Die Dinge, die man für ganz sicher
+hält, sind nun und nimmer wahr. Das ist das Verhängnis des Glaubens und
+die Weisheit der Romantik. Wie feierlich du tust! Sei nicht so
+ernsthaft. Was hast du oder ich mit dem Aberglauben unserer Zeit zu tun?
+Nein: wir haben unseren Glauben an die Seele aufgegeben. Spiel' mir was
+vor. Spiel' mir ein Nokturno, Dorian, und während du spielst, sage mir
+mit leiser Stimme, wie du es möglich gemacht hast, dir deine Jugend zu
+erhalten. Du mußt irgendein Geheimmittel haben. Ich bin nur zehn Jahre
+älter als du, und bin runzlig und verwelkt und gelb. Du bist in der Tat
+wundervoll, Dorian. Du hast nie entzückender ausgesehen als heute abend.
+Du rufst mir den Tag ins Gedächtnis zurück, an dem ich dich zum
+erstenmal sah. Du warst etwas schnippisch, sehr scheu und ganz und gar
+außergewöhnlich. Seitdem hast du dich natürlich verändert, aber nicht im
+Aussehen. Ich wünschte, du verrietest mir dein Geheimnis. Um meine
+Jugend zurückzubekommen, täte ich alles auf der Welt, außer Gymnastik
+treiben, früh aufstehen oder ehrbar sein. Jugend! Nichts kommt ihr
+gleich. Es ist absurd, von der Unwissenheit der Jugend zu schwatzen. Die
+einzigen Leute, deren Ansichten ich jetzt mit einigem Respekt anhöre,
+sind Leute, die viel jünger sind als ich. Die scheinen mir weit voraus
+zu sein. Das Leben hat ihnen sein letztes Wunder enthüllt. Was die
+älteren betrifft, denen widerspreche ich immer. Ich tue es aus Prinzip.
+Wenn du einen um seine Meinung über etwas fragst, das gestern passiert
+ist, dann gibt er dir feierlichen Aufschluß über die Meinungen, die Anno
+1820 im Schwunge waren, als die Leute hohe Halsbinden trugen, an alles
+glaubten und absolut nichts wußten. Wie hübsch das ist, was du da
+spielst! Ich möchte wohl wissen, ob es Chopin in Majorca geschrieben
+hat, während das Meer seine Villa umklagte und der Salzschaum klatschend
+gegen die Fensterscheiben spritzte. Es ist entzückend romantisch. Was
+für ein Segen es ist, daß es doch die eine Kunst gibt, die nicht aus
+Nachahmung besteht. Hör' nicht auf. Ich brauche Musik heut abend. Es
+kommt mir so vor, als ob du der junge Apollo bist und ich Marsyas, der
+dir zuhört. Ich habe meine eigenen Sorgen, Dorian, von denen nicht
+einmal du etwas weißt. Die Tragödie des Alters beruht nicht darin, daß
+man alt ist, sondern daß man jung ist. Ich bin manchmal ganz erschrocken
+über meine eigene Aufrichtigkeit. Ach, Dorian, wie glücklich bist du!
+Was für ein köstliches Leben hast du gehabt! Du hast tief aus jedem
+Quell getrunken! Du hast die Trauben an deinem Gaumen zerdrückt. Nichts
+ist dir verborgen geblieben. Und all das ist dir nicht mehr gewesen als
+ein Klang von Musik. Es hat dir nichts anhaben können. Du bist noch
+heute derselbe.«
+
+»Ich bin nicht derselbe, Harry.«
+
+»Ja, du bist derselbe. Ich bin gespannt, wie dein Leben weiter verlaufen
+wird. Verdirb es nicht durch Entsagung. Jetzt bist du ein vollkommener
+Typus. Mach' dich nicht unvollkommen. Du bist jetzt ganz ohne Tadel. Du
+brauchst den Kopf nicht zu schütteln: du weißt, du bist es. Und dann,
+Dorian, betrüge dich nicht selbst. Das Leben wird nicht durch Willen
+oder Absicht regiert. Das Leben ist eine Angelegenheit der Nerven und
+Muskeln und der langsam aufgemauerten Zellen, in denen die Gedanken
+hausen und die Leidenschaft ihren Träumen nachhängt. Du redest dir ein,
+sicher dazustehen und stark zu sein. Aber ein zufälliger Farbenton in
+einem Zimmer oder ein Morgenhimmel, ein besonderer Geruch, den du einmal
+geliebt hast und der versteckte Erinnerungen aufweckt, eine Zeile aus
+einem vergessenen Gedicht, die dir plötzlich wieder einfällt, ein paar
+Tonreihen aus einem Musikstück, das du längst nicht mehr spielst -- ich
+sage dir, Dorian, von solchen Dingen hängt unser Leben ab. Browning hat
+irgendwo mal darüber geschrieben, aber unsere eigenen Sinne geben uns
+ohnehin davon Gewißheit. Es gibt Augenblicke, da durchblitzt mich
+plötzlich der Geruch von weißem Flieder, und ich muß wieder den
+sonderbarsten Monat meines Daseins durchleben. Ich wollte, ich könnte
+mit dir tauschen, Dorian. Die Welt hat über uns beide gezetert, aber sie
+hat dich immer bewundert. Sie wird dich immer bewundern. Du bist eben
+der Typus dessen, wonach unsere Zeit sucht und was sie fürchtet gefunden
+zu haben. Ich bin so froh darüber, daß du nie etwas getan hast, nie eine
+Statue gemeißelt oder ein Bild gemalt oder irgend etwas aus dir heraus
+produziert hast. Das Leben war deine Kunst. Du hast dich selbst in Musik
+gesetzt. Deine Tage sind deine Sonette.«
+
+Dorian stand vom Klavier auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
+»Ja, das Leben ist himmlisch gewesen,« sagte er vor sich hin, »aber
+dieses Leben werde ich nicht fortsetzen, Harry. Und du sollst nicht so
+überspannte Dinge zu mir sagen. Du weißt nicht alles von mir. Ich
+glaube, wenn du es wüßtest, so würdest selbst du dich von mir abwenden.
+Du lachst. Lache nicht!«
+
+»Warum hast du zu spielen aufgehört, Dorian? Geh wieder ans Klavier und
+spiel' mir nochmal das Nokturno. Sieh den großen honigfarbenen Mond, der
+in der dunklen Luft hängt. Er wartet, daß du ihn bezauberst, und wenn du
+spielst, wird er sich der Erde nähern. Du willst nicht? Dann laß uns in
+den Klub gehen. Es war ein reizender Abend, und wir müssen ihn reizend
+beenden. Bei White wartet jemand, der darauf brennt, dich kennenzulernen
+-- der junge Lord Pool, der älteste Sohn von Bournemouth. Er kopiert
+schon deine Krawatten und hat mich bestürmt, ihn dir vorzustellen. Er
+ist ganz entzückend und erinnert mich ein bißchen an dich.«
+
+»Ich hoffe nicht«, sagte Dorian mit einem wehmütigen Blick in den Augen.
+»Aber ich bin heute abend müde, Harry. Ich gehe nicht mehr in den Klub.
+Es ist fast elf, und ich will früh zu Bett gehen.«
+
+»Bleibe noch, du hast nie so schön gespielt wie diesen Abend. In deinem
+Anschlag lag etwas, es war ganz wundervoll. Es hatte mehr Ausdruck, als
+ich jemals bei dir gehört habe.«
+
+»Das kommt daher, weil ich jetzt gut werden will«, antwortete er
+lächelnd. »Ich bin schon ein bißchen anders.«
+
+»Für mich kannst du kein anderer werden, Dorian«, sagte Lord Henry. »Du
+und ich, wir werden immer Freunde sein.«
+
+»Aber einstmals hast du mich mit einem Buch vergiftet. Ich sollte das
+nicht vergeben. Harry, versprich mir, daß du dieses Buch nie wieder
+jemand leihen willst. Es stiftet Unheil.«
+
+»Mein lieber Junge, du fängst wirklich an, Moralpredigten zu halten. Du
+wirst bald umherlaufen, wie ein Bekehrter und ein Erweckungsprediger,
+und wirst die Menschen vor all den Sünden warnen, deren du müde geworden
+bist. Aber dazu bist du viel zu entzückend. Außerdem hat es keinen
+Zweck. Du und ich, wir sind, was wir sind, und werden immer sein, was
+wir sein werden. Und vergiftet werden durch ein Buch, sowas gibt es
+einfach nicht. Kunst hat keinen Einfluß auf die Tat. Sie vernichtet den
+Trieb zu handeln. Sie ist auf eine herrliche Art zeugungsunfähig. Die
+Bücher, die die Welt unmoralisch nennt, sind Bücher, die der Welt ihre
+eigene Schande vorhalten. Sonst nichts. Aber wir wollen nicht über
+Literatur streiten. Komm morgen wieder her! Ich reite um elf aus. Wir
+können zusammen reiten, und ich nehme dich nachher zum Frühstück zu Lady
+Branksome mit. Es ist eine entzückende Frau und sie will dich zu Rate
+ziehen über ein paar Gobelins, die sie kaufen möchte. Vergiß nicht zu
+kommen. Oder wollen wir bei unserer kleinen Herzogin frühstücken? Sie
+sagt, sie sieht dich jetzt gar nicht mehr. Vielleicht hast du genug von
+Gladys? Ich dachte mir's, daß es so kommen würde. Ihr gewandtes
+Züngelein fällt einem auf die Nerven. Also, jedenfalls bist du um elf
+hier.«
+
+»Muß ich wirklich kommen, Harry?«
+
+»Unbedingt. Der Park ist jetzt herrlich. Ich glaube nicht, daß es wieder
+solchen Flieder gegeben hat seit jenem Jahr, wo ich dich kennenlernte.«
+
+»Gut. Ich werde also um elf hier sein«, sagte Dorian. »Gute Nacht,
+Harry!« Als er an der Tür war, zögerte er einen Augenblick, als hätte er
+noch etwas zu sagen. Dann seufzte er und ging.
+
+
+
+
+Zwanzigstes Kapitel
+
+
+Es war eine wundervolle Nacht, so warm, daß er seinen Mantel über den
+Arm hing und nicht einmal das seidene Halstuch umlegte. Als er nach
+Hause schlenderte, seine Zigarette rauchend, gingen zwei Herren in
+Gesellschaftstoilette an ihm vorbei. Er hörte, wie der eine dem anderen
+zuflüsterte: »Das ist Dorian Gray.« Er erinnerte sich, wie
+schmeichelhaft es ihm früher gewesen war, wenn man auf ihn zeigte oder
+ihn anstarrte oder über ihn sprach. Jetzt war er es müde, seinen eigenen
+Namen zu hören. Der halbe Reiz des kleinen Dorfes, wo er kürzlich so oft
+gewesen war, bestand darin, daß dort niemand wußte, wer er war. Er
+hatte dem Mädchen, das er zur Liebe verlockt hatte, oft gesagt, daß er
+arm sei, und sie hatte es geglaubt. Er hatte ihr einmal gesagt, daß er
+schlecht sei, und sie hatte ihn ausgelacht und geantwortet, schlechte
+Menschen seien immer sehr alt und sehr häßlich. Was für ein Lachen sie
+hatte! -- gerade wie der Gesang einer Drossel. Und wie hübsch sie
+ausgesehen hatte in ihren Kattunkleidern und großen Hüten! Sie wußte
+nichts, aber sie besaß alles, was er verloren hatte.
+
+Als er nach Hause kam, wartete sein Diener auf ihn. Er schickte ihn zu
+Bett und warf sich auf das Sofa in der Bibliothek und begann über
+einiges von dem nachzudenken, was ihm Lord Henry gesagt hatte.
+
+War es wirklich wahr, daß man nie anders werden konnte? Er fühlte eine
+wilde Sehnsucht nach der makellosen Reinheit seiner Knabenzeit -- seiner
+rosenweißen Knabenzeit, wie Lord Henry einmal gesagt hatte. Er wußte, er
+hatte sich besudelt, hatte seinen Geist mit Verderbnis angefüllt und
+sein Gewissen mit Entsetzen belastet, er war ein schlimmer Einfluß für
+andere gewesen und hatte eine schreckliche Freude daran gehabt; und von
+den Menschenleben, die das seine gekreuzt hatten, waren es die reinsten
+und verheißungsvollsten gewesen, die er in Schande gestürzt hatte. Aber
+war da nichts wieder gut zu machen? Gab es keine Hoffnung mehr für ihn?
+
+Ah! In was für einem ungeheuerlichen Augenblick von Hochmut und
+Leidenschaft hatte er gebetet, es möchte das Bildnis die Last seiner
+Tage auf sich nehmen und er sich den ungetrübten Glanz ewiger Jugend
+bewahren! Das war an seinem ganzen verfehlten Leben schuld. Es wäre
+besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde seines Lebens ihre gewisse und
+schnelle Strafe mit sich gebracht hätte. In der Strafe lag Reinigung.
+Nicht »Vergib uns unsere Sünden«, sondern »Züchtige uns für unsere
+Missetaten« sollte das Gebet des Menschen zu einem allgerechten Gotte
+lauten.
+
+Der mit merkwürdigen Schnitzereien umrahmte Spiegel, den ihm Lord Henry
+vor so vielen Jahren geschenkt hatte, stand auf dem Tisch, und die
+weißgliedrigen Liebesgötter lachten ringsherum wie ehedem. Er nahm ihn,
+wie er es in jener Schreckensnacht getan hatte, als er zum ersten Male
+die Veränderung in dem verhängnisvollen Bildnis bemerkt hatte, und
+blickte mit verzweifelten, tränenfeuchten Augen auf die glatte Fläche.
+Einmal hatte ihm jemand, der ihn abgöttisch geliebt hatte, einen
+wahnsinnigen Brief geschrieben, dessen Schluß lautete: »Die Welt ist
+anders geworden, weil du aus Elfenbein und Gold geschaffen wurdest. Der
+Linienschwung deiner Lippen schreibt die Weltgeschichte um.« Diese Sätze
+kamen ihm ins Gedächtnis zurück, und er wiederholte sie immer und immer
+wieder. Dann haßte er seine eigene Schönheit und schleuderte den Spiegel
+zu Boden und zertrat ihn unter seinem Fuße in silberne Splitter. Seine
+Schönheit war es, die ihn zugrunde gerichtet hatte, seine Schönheit und
+Jugend, um die er gefleht hatte. Wären diese beiden nicht gewesen, so
+hätte er sein Leben wohl fleckenlos erhalten können. Die Schönheit war
+für ihn nur eine Maske gewesen, die Jugend nur ein Blendwerk. Was war
+Jugend im besten Falle? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit seichter
+Stimmungen und kranker Einfälle. Warum hatte er ihre Tracht angelegt?
+Die Jugend hatte ihn zugrunde gerichtet.
+
+Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken. Er mußte an sich
+selber und an seine Zukunft denken. James Vane war in einem namenlosen
+Grabe auf dem Kirchhof in Selby geborgen. Alan Campbell hatte sich eines
+Nachts in seinem Laboratorium erschossen, aber das Geheimnis nicht
+verraten, das ihm aufgezwungen worden war. Die Erregung über Basil
+Hallwards Verschwinden würde sich bald legen. Sie hatte schon
+nachgelassen. Da war er völlig sicher. Es war auch in der Tat nicht der
+Tod Basil Hallwards, der sein Gemüt am schwersten belastete. Es war der
+lebendige Tod seiner eigenen Seele, der ihm die Ruhe raubte. Basil hatte
+das Bildnis gemalt, das sein Leben vernichtet hatte. Er konnte ihm das
+nicht vergeben. Das Porträt war an allem schuld. Basil hatte ihm Dinge
+gesagt, die unerträglich waren und die er doch geduldig ertragen hatte.
+Der Mord war nur der Wahnsinn eines Augenblicks gewesen. Was Alan
+Campbell anlangte, so war der Selbstmord seine eigene Tat gewesen. Er
+war sein freier Entschluß. Das ging ihn nichts an.
+
+Ein neues Leben! Das war es, was er wollte. Das war es, worauf er
+wartete. Gewiß hatte er es schon begonnen. Ein unschuldiges Wesen hatte
+er jedenfalls geschont. Nie wieder wollte er die Unschuld in Versuchung
+führen. Er wollte gut sein.
+
+Als er an Hetty Merton dachte, begann er sich zu fragen, ob sich das
+Bild in dem verschlossenen Zimmer oben wohl verändert habe. Es konnte
+doch sicher nicht mehr so häßlich sein, wie es gewesen war. Vielleicht
+könnte er, wenn sein Leben jetzt rein würde, imstande sein, jedes
+Anzeichen niedriger Leidenschaften aus dem Antlitz zu tilgen. Vielleicht
+waren die Spuren des Bösen schon verschwunden. Er wollte hinauf und
+nachsehen.
+
+Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich die Treppe hinan. Als er die Tür
+aufschloß, huschte ein frohes Lächeln über sein seltsam junges Gesicht
+und verweilte einen Augenblick auf seinen Lippen. Ja, er wollte gut
+sein, und das gräßliche Ding, das er verborgen hatte, würde dann nicht
+länger ein Schrecken für ihn sein. Ihm war, als wäre diese Last schon
+jetzt von ihm genommen.
+
+Er ging ruhig hinein, schloß die Tür nach seiner Gewohnheit hinter sich
+ab und zog den Purpurvorhang von dem Bildnis hinweg. Ein Schrei voll
+Schmerz und Entrüstung scholl von seinen Lippen. Er konnte keine
+Verwandlung bemerken, außer daß ein schlauer Ausdruck in den Augen lag
+und um den Mund der gekniffene Zug des Heuchlers. Das Ding war noch
+immer abscheulich, womöglich noch abscheulicher als vordem -- und der
+scharlachrote Tau, der die Hand befleckte, schien heller zu glänzen und
+mehr wie frisch vergossenes Blut auszusehen. Er erzitterte. War es bloße
+Eitelkeit gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, einmal etwas Gutes zu
+tun? Oder die Begier nach einer neuartigen Empfindung, wie Lord Henry
+mit seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte? Oder das Verlangen,
+eine Rolle zu spielen, das uns manchmal Dinge begehen läßt, die edler
+sind als wir selbst? Oder vielleicht das alles zusammen? Und warum war
+der rote Fleck jetzt größer als er vorher war? Er schien sich wie ein
+fürchterlicher Aussatz über die runzligen Finger weiter gefressen zu
+haben. Es war Blut auf den gemalten Füßen, als wäre es von den Händen
+herabgetropft -- Blut selbst auf der Hand, die das Messer nicht geführt
+hatte. Bekennen? Bedeutete dies, daß er bekennen sollte? Sich selbst
+aufgeben und hingerichtet werden? Er lachte. Er fühlte, daß der Einfall
+ungeheuerlich wäre. Überdies selbst wenn er es eingestände, wer würde
+ihm glauben? Nirgends gab es eine Spur des Ermordeten. Alles, was zu ihm
+gehörte, war zerstört. Er selbst hatte verbrannt, was unten geblieben
+war. Die Welt würde einfach sagen, daß er wahnsinnig sei. Sie würden ihn
+irgendwo einsperren, wenn er bei seiner Erzählung beharrte... Aber doch
+war es seine Pflicht, ein Geständnis abzulegen, öffentlich Schande zu
+erleiden und öffentlich Buße zu tun. Es war ein Gott, der den Menschen
+zurief, ihre Sünden der Erde so gut wie dem Himmel zu beichten. Nichts,
+was er sonst tun konnte, würde ihn reinigen, bis er seine Sünde selber
+bekannt hätte. Seine Sünde? Er zuckte die Achseln. Der Tod Basil
+Hallwards schien ihm nur unwesentlich. Er dachte an Hetty Merton. Denn
+es war ein ungerechter Spiegel. Dieser Spiegel seiner Seele, in den er
+hineinblickte. Eitelkeit? Neugier? Heuchelei? War sonst nichts in seinen
+Entsagungen gewesen? Es war noch etwas darin gewesen. Er glaubte es
+wenigstens. Aber wer konnte das sagen...? Nein. Es war weiter nichts
+darin gewesen. Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Aus Heuchelei hatte
+er die Maske der Güte getragen. Aus Neugier hatte er es mit der
+Verzichtleistung versucht. Er erkannte das jetzt.
+
+Aber dieser Mord -- sollte er ihn sein ganzes Leben lang verfolgen?
+Sollte er immer die Last seiner Vergangenheit tragen müssen? Sollte er
+wirklich eingestehen? Niemals. Es gab nur einen einzigen Beweis gegen
+ihn. Das Bildnis selbst -- das war ein Beweis. Er wollte es zerstören.
+Warum hatte er es solange aufgehoben. Früher einmal war es ihm ein
+Vergnügen gewesen, seine Änderung, sein Altern zu beobachten. In der
+letzten Zeit hatte er dieses Vergnügen nicht mehr empfunden. Es hatte
+ihm schlaflose Nächte bereitet. Wenn er außer dem Hause war, erfüllte
+ihn eine Todesangst, daß fremde Augen das Bild erblicken könnten. Es
+hatte Schwermut in seine Leidenschaften getröpfelt. Die bloße Erinnerung
+daran hatte ihm manchen Augenblick der Freude vergällt. Es hatte bei ihm
+die Rolle des Gewissens übernommen. Ja, es war sein Gewissen gewesen. Er
+wollte es zerstören.
+
+Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil Hallward erstochen
+hatte. Er hatte es oft gereinigt, bis kein Fleck mehr darauf war. Es war
+blank und glitzerte. Wie es den Maler getötet hatte, sollte es des
+Malers Werk töten und alles, was es bedeutete. Es sollte die
+Vergangenheit töten, und wenn die tot war, würde er frei sein. Es sollte
+dieses ungeheuerliche Seelenleben töten, und sobald diese gräßlichen
+Warnungen nicht mehr vorhanden waren, würde er Frieden haben. Er
+ergriff es und durchbohrte damit das Bildnis.
+
+Man hörte einen Schrei und einen Fall. Der Schrei war mit seinem
+Todesröcheln so schrecklich, daß die Dienerschaft erschreckt aufwachte
+und aus ihren Kammern stürzte. Zwei Herren, die auf dem Platze unten
+vorbeigingen, blieben stehen und spähten an dem stattlichen Hause empor.
+Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen und dann mit ihm
+umkehrten. Der Mann zog mehrmals die Klingel, aber es erfolgte keine
+Antwort. Bis auf ein Licht in einem der Giebelfenster war das ganze Haus
+dunkel. Nach einiger Zeit ging er weg, stellte sich unter einen Torweg
+in der Nähe und verhielt sich abwartend.
+
+»Wem gehört das Haus, Herr Wachtmeister?« fragte der ältere der beiden
+Herren.
+
+»Herrn Dorian Gray«, antwortete der Schutzmann.
+
+Sie sahen einander an, gingen weiter und lächelten. Einer von ihnen war
+Sir Henry Ashtons Onkel.
+
+Drinnen in den Dienerzimmern sprachen die halbangezogenen Bedienten in
+leisem Wispern miteinander. Die alte Frau Leaf weinte und rang die
+Hände. Francis war bleich wie der Tod.
+
+Nach etwa einer Viertelstunde holte er sich den Kutscher und einen der
+Lakaien und schlich mit ihnen hinauf. Sie klopften, aber es kam keine
+Antwort. Sie riefen. Alles war still. Schließlich, nachdem sie erfolglos
+versucht hatten, die Tür zu sprengen, kletterten sie auf das Dach und
+ließen sich auf den Balkon herab. Die Glastür gab leicht nach; ihre
+Riegel waren alt.
+
+Als sie eintraten, sahen sie an der Wand ein wunderbares Bild ihres
+Herrn hängen, so wie sie ihn zuletzt gesehen hatten, in all dem Glanz
+seiner entzückenden Jugend und Schönheit. Auf dem Boden lag ein toter
+Mann im Gesellschaftsanzug, mit einem Messer im Herzen. Er war welk,
+runzlig und häßlich von Angesicht. Erst als sie die Ringe untersuchten,
+erkannten sie, wer es war.
+
+_Ende_
+
+
+
+
+Anmerkungen zur Transkription:
+
+Die folgende Liste enthält alle geänderten Textstellen, jeweils zuerst
+im Original und darunter in der geänderten Fassung.
+
+ Seite 9: wolllt
+ wollt
+ Seite 80: Dramas gewesen sein.
+ Dramas gewesen sein.«
+ Seite 80: >Romea und Julia<
+ >Romeo und Julia<
+ Seite 85: gesprochen?
+ gesprochen?«
+ Seite 106: Name nicht.
+ Name nicht?
+ Seite 121: Mißklang heißt es, mit
+ »Mißklang heißt es, mit
+ Seite 132: Warum ich nie mehr gut spielen werde.
+ Warum ich nie mehr gut spielen werde.«
+ Seite 166: Harrys Schwester Lady Gwendolen
+ Harrys Schwester, Lady Gwendolen
+ Seite 180: wird ebenso hübsch sein.
+ wird ebenso hübsch sein.«
+ Seite 205: gegestorbene
+ gestorbene
+ Seite 217: eleganganten
+ eleganten
+ Seite 296: Orchideengleichnis?
+ Orchideengleichnis?«
+ Seite 308: Er hat die ganze
+ »Er hat die ganze
+ Seite 309: wovor ich mich änstige
+ wovor ich mich ängstige
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Das Bildnis des Dorian Gray, by Oscar Wilde
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44238 ***
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+<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44238 ***</div>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_1" title="1"> </a></p>
+
+<div class="image-center">
+ <img src="images/cover.jpg" width="519" height="692" alt="Buchumschlag" id="coverpage" />
+</div>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_2" title="2"> </a><br /><a class="pagenum" name="Page_3" title="3"> </a></p>
+<h1>Das Bildnis des Dorian Gray</h1>
+
+<p class="title">Oscar Wilde<br />
+~~~~~~~~~~~~~<br />
+Das<br />
+Bildnis des Dorian Gray</p>
+
+<p class="center">
+<small>Ins Deutsche übertragen von<br />
+Richard Zoozmann</small>
+</p>
+<p class="center" style="margin-top: 6em;">Berlin <span class="antiqua">W</span> 50<br />
+~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~<br />
+Schreitersche Verlagsbuchhandlung<br />
+</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_4" title="4"> </a></p>
+
+<hr />
+
+<p class="center">Alle Rechte vorbehalten</p>
+<p class="center" style="margin-top: 2em;">Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig</p>
+
+<hr />
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_5" title="5"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Vorbekenntnis" id="Vorbekenntnis"></a>Vorbekenntnis</h2>
+
+
+<p>Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.</p>
+
+<p>Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen, ist
+die Aufgabe der Kunst.</p>
+
+<p>Ein Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen
+in eine andere Form oder in einen anderen Stoff zu übertragen
+vermag.</p>
+
+<p>Die höchste wie die niederste Form der Kritik ist eine
+Art Autobiographie.</p>
+
+<p>Wer in schönen Dingen einen häßlichen Sinn findet, ist
+verderbt, ohne anmutig zu sein. Das ist ein Fehler.</p>
+
+<p>Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn findet, hat
+Kultur. Er berechtigt zu Hoffnungen.</p>
+
+<p>Das sind die Auserwählten, für die schöne Dinge lediglich
+Schönheit bedeuten.</p>
+
+<p>Ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt's überhaupt
+nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Sonst
+nichts.</p>
+
+<p>Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen
+den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht
+im Spiegel erblickt.</p>
+
+<p>Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen
+die Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht
+im Spiegel nicht sieht.</p>
+
+<p>Das sittliche Dasein des Menschen liefert dem Künstler
+einen Teil des Stoffgebietes, aber die Sittlichkeit der
+Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen
+Mittels.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_6" title="6"> </a></p>
+
+<p>Kein Künstler empfindet das Verlangen, etwas zu beweisen.
+Selbst Wahrheiten können bewiesen werden.</p>
+
+<p>Kein Künstler hat ethische Neigungen. Eine ethische
+Neigung beim Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit
+des Stils.</p>
+
+<p>Kein Künstler ist an sich krankhaft. Der Künstler kann
+alles aussprechen.</p>
+
+<p>Gedanken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge
+einer Kunst.</p>
+
+<p>Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe einer
+Kunst.</p>
+
+<p>Was die Form betrifft, so ist die Kunst des Musikers
+die Urform aller Künste. Was das Gefühl betrifft, so ist
+der Beruf des Schauspielers diese Urform.</p>
+
+<p>Alle Kunst ist gleichzeitig Oberfläche und Symbol.</p>
+
+<p>Wer unter der Oberfläche schürft, tut es auf eigene
+Gefahr.</p>
+
+<p>Wer das Symbol herausdeutet, tut es auf eigene Gefahr.</p>
+
+<p>In Wahrheit wird der Betrachter und nicht das Leben
+abgespiegelt.</p>
+
+<p>Meinungsunterschiede über ein Kunstwerk beweisen seine
+Neuheit, Vielfältigkeit und Lebenskraft.</p>
+
+<p>Sind die Kritiker uneinig, so ist der Künstler einig mit
+sich selbst.</p>
+
+<p>Man kann einem Menschen verzeihen, daß er etwas
+Nützliches schafft, solang er es nicht bewundert. Die einzige
+Entschuldigung für den, der etwas Nutzloses schuf, besteht
+darin, daß es äußerst bewundert wird.</p>
+
+<p>Alle Kunst ist völlig nutzlos.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_7" title="7"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Erstes_Kapitel" id="Erstes_Kapitel"></a>Erstes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Das Atelier schwamm in einem starken Rosendufte, und
+wenn der leichte Sommerwind die Bäume im Garten
+wiegte, so floß durch die offene Tür der schwere Geruch
+des Flieders herein oder der zartere Duft des Rotdorns.</p>
+
+<p>Aus der Ecke seines Diwans mit persischen Satteltaschen,
+auf dem Lord Henry Wotton lag und wie gewöhnlich unzählige
+Zigaretten rauchte, konnte er gerade noch den
+Schimmer der honigsüßen und honigfarbigen Blüten eines
+Goldregenstrauches wahrnehmen, dessen zitternde Zweige
+nur seufzend die Last einer so flammenden Schönheit zu
+tragen schienen, und dann und wann huschten die phantastischen
+Schatten vorbeifliegender Vögel über die langen
+bastseidenen Vorhänge, die vor das große Fenster
+gezogen waren. Das gab einen Augenblick lang eine Art
+japanischer Stimmung und ließ den Lord an die bleichen,
+nephritgelben Maler der Stadt Tokio denken, die mit
+Hilfe einer Kunst, die notwendigerweise erstarrt genannt
+werden muß, das Gefühl von Schnelligkeit und Bewegung
+hervorzubringen suchen. Das tiefe Gesumme der Bienen,
+die ihren zweifelnden Flug durch das hohe, ungemähte
+Gras nahmen oder mit eintöniger Zähigkeit um die bestaubten
+Goldtrichter des wuchernden Geißblattes kreisten,
+ließ die Stille noch drückender scheinen. Das dumpfe Brausen
+<a class="pagenum" name="Page_8" title="8"> </a>
+Londons murrte dazu wie die Baßtöne einer fernen
+Orgel.</p>
+
+<p>In der Mitte des Gemaches stand auf einer hoch aufgestellten
+Staffelei das lebensgroße Bildnis eines außerordentlich
+schönen Jünglings, und ihm gegenüber, ein paar
+Schritte entfernt, saß sein Schöpfer, der Maler Basil
+Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen
+Jahren bei der Menge so viel Aufsehen gemacht und zu
+so vielen seltsamen Vermutungen Anlaß gegeben hatte.</p>
+
+<p>Während der Maler die anmutige und liebenswürdige
+Gestalt betrachtete, die seine Kunst so prachtvoll wiedergespiegelt
+hatte, huschte ein freudiges Lächeln über sein
+Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. Plötzlich aber
+fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Lider mit
+den Fingern zu, als fürchte er, aus einem absonderlichen
+Traume zu erwachen, und als suche er ihn im Gehirn
+einzuschließen.</p>
+
+<p>„Es ist dein bestes Werk, Basil, das beste, was du jemals
+gemacht hast“, sagte Lord Henry schläfrig-müde.
+„Du mußt es nächstes Jahr unbedingt ins Grosvenor
+schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich.
+Jedesmal, wenn ich hinging, waren entweder so viele
+Leute da, daß ich die Bilder nicht sehen konnte, und das
+war schlimm, oder so viel Bilder, daß ich die Leute nicht
+sehen konnte, und das war noch schlimmer. Das Grosvenor
+ist der einzig richtige Platz.“</p>
+
+<p>„Ich denke überhaupt nicht daran, es auszustellen“, antwortete
+der Maler und warf den Kopf in jener merkwürdigen
+Art zurück, über die schon oft seine Freunde in Oxford
+<a class="pagenum" name="Page_9" title="9"> </a>
+gelacht hatten. „Nein, ich will es nirgends ausstellen.“</p>
+
+<p>Lord Henry hob die Augenbrauen und sah den anderen
+erstaunt durch die dünnen blauen Raucharabesken an, die
+in so abenteuerlichen Wirbeln von der starken opiumgetränkten
+Zigarette aufstiegen. „Nirgends ausstellen?
+Ja warum, mein Lieber? Hast du einen Grund dafür?
+Was ihr Maler doch für Käuze seid! Ihr tut alles in der
+Welt, um euch einen Namen zu machen. Habt ihr ihn
+endlich, so <ins title="wolllt">wollt</ins> ihr ihn scheinbar wieder loswerden. Das
+ist albern von dir, denn es gibt nur ein leidiges Ding auf
+Erden, das peinlicher ist als in aller Leute Munde zu
+sein, und das ist: nicht in aller Leute Munde zu sein. Ein
+Porträt wie das da höbe dich weit über alle jungen Leute
+in England empor und würde die Alten vor Neid platzen
+lassen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung
+fähig sind.“</p>
+
+<p>„Ich weiß, du wirst mich auslachen,“ entgegnete er,
+„aber ich kann es wahrhaftig nicht ausstellen. Es steckt da
+zuviel von mir selbst drin.“</p>
+
+<p>Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.</p>
+
+<p>„Ja, ich habe das gewußt; es bleibt aber doch wahr,
+ganz sicher.“</p>
+
+<p>„Zuviel von dir soll darin sein? Auf mein Wort, Basil,
+ich hätte nie geahnt, daß du so eitel bist; ich kann wirklich
+nicht die blasseste Ähnlichkeit entdecken zwischen dir mit
+deinem groben, eckigen Gesicht und deinem kohlschwarzen
+Haar und diesem jungen Adonis, der so aussieht, als sei
+er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Nein, mein
+<a class="pagenum" name="Page_10" title="10"> </a>
+lieber Basil, es ist ein Narziß, und du &mdash; natürlich hast
+du ein geistvolles Gesicht und so weiter. Aber Schönheit,
+wirkliche Schönheit hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck
+anfängt. Geist ist an sich eine Art Übermaß und zerstört
+das Ebenmaß jedes Gesichts. Im Moment, wo man
+sich ans Denken begibt, wird man ganz Nase oder ganz
+Stirn oder sonst etwas Greuliches. Sieh dir doch mal alle
+die Männer an, die in gelehrten Berufen etwas geleistet
+haben. Sind sie nicht alle ausgesprochen häßlich? Natürlich
+die Männer der Kirche ausgenommen. Aber in der
+Kirche denken sie eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig
+Jahren noch unveränderlich dasselbe, was ihm als
+achtzehnjährigem Bengel beigebracht wurde, und infolgedessen
+sieht er immer entzückend aus. Dein geheimnisvoller
+junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast,
+dessen Bild mich aber tatsächlich bezaubert, denkt niemals.
+Davon bin ich felsenfest überzeugt. Es ist irgendein hirnloses
+schönes Geschöpf, das wir im Winter immer bei uns
+haben sollten, wenn es keine Blumen zum Anschauen gibt,
+und im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres
+Geistes gebrauchen. Schmeichle dir also nicht, Basil: du
+siehst ihm ganz und gar nicht ähnlich.“</p>
+
+<p>„Du verstehst mich gar nicht, Henry“, antwortete der
+Künstler. „Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich. Das weiß
+ich selbst. In Wirklichkeit wäre ich sogar traurig, sähe ich
+ihm ähnlich. Du brauchst nicht mit den Achseln zu zucken.
+Ich sage dir die Wahrheit. Jede körperliche und geistige
+Besonderheit umschwebt eine gewisse Tragik; so eine Tragik
+etwa, wie sich das Schicksal der Könige auf ihren Irrwegen
+<a class="pagenum" name="Page_11" title="11"> </a>
+in der Weltgeschichte an die Füße zu heften scheint.
+Es ist besser, nicht anders zu sein als die Nebenmenschen.
+Die Häßlichen und die Dummen haben das beste Leben
+der Welt. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel sorglos
+begaffen. Sie wissen zwar nichts von Siegen, aber
+dafür bleibt ihnen auch die Bekanntschaft mit den Niederlagen
+erspart. Sie leben dahin, wie wir es alle sollten:
+ungestört, gleichgültig und ohne Mißbehagen. Sie bringen
+anderen kein Unheil und empfangen es auch nicht von
+fremder Hand. Dein Stand und dein Reichtum, Harry,
+mein Geist, soviel ich davon habe, meine Kunst, soviel
+sie wert ist, Dorian Gray für sein schönes Aussehen &mdash;
+wir müssen alle für die Geschenke der Götter leiden, schrecklich
+leiden.“</p>
+
+<p>„Dorian Gray? Heißt er so?“ fragte Lord Henry und
+ging durch das Atelier auf Basil Hallward zu.</p>
+
+<p>„Ja, so heißt er. Ich wollte dir's eigentlich nicht sagen.“</p>
+
+<p>„Aber warum nicht?“</p>
+
+<p>„Oh, ich kann's nicht so erklären. Wenn ich einen Menschen
+sehr, sehr lieb habe, verrate ich an niemand seinen
+Namen. Das käme mir so vor, als lieferte ich damit einen
+Teil von seinem Selbst aus. In mir hat sich allmählich
+eine förmliche Liebe zu Geheimnissen entwickelt. Das scheint
+noch die einzige Art zu sein, das Leben unserer Zeit mysteriös
+und wunderbar zu machen. Die gewöhnlichste Begebenheit
+wird reich an Schönheit, wenn man sie verbirgt.
+Ich sage auch nie, wohin ich reise, wenn ich mal die Stadt
+verlasse. Wenn ich's täte, wäre meine ganze Freude daran
+hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie
+<a class="pagenum" name="Page_12" title="12"> </a>
+bringt doch irgendwie ein bißchen Romantik ins Leben.
+Du denkst jetzt gewiß, ich bin furchtbar närrisch?“</p>
+
+<p>„Nicht im geringsten,“ antwortete Lord Henry, „nicht
+im geringsten, mein lieber Basil. Du scheinst zu vergessen,
+daß ich verheiratet bin, und daß der Hauptreiz der Ehe
+darin liegt, daß sie beiden Teilen ein Leben der Täuschung
+zur Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau
+ist, und meine Frau weiß nie, was ich tue und treibe.
+Wenn wir beisammen sind &mdash; wir sind gelegentlich beisammen,
+wenn wir zu einem Diner eingeladen sind oder
+zum Herzog aufs Land fahren &mdash; so erzählen wir uns
+die verrücktesten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht.
+Meine Frau versteht das vorzüglich, ohne Frage besser
+als ich. Sie verwickelt sich bei den Tatsachen nie in Widersprüche,
+und bei mir kommt es beständig vor. Wenn sie
+mich aber ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Ich
+wünschte manchmal, sie täte es. Aber sie lacht mich nur
+aus.“</p>
+
+<p>„Ich kann die Art nicht leiden, wie du über deine Ehe
+sprichst“, sagte Basil Hallward und ging langsam auf die
+Tür zu, die in den Garten führte. „Ich glaube, du bist
+in Wirklichkeit ein ganz guter Ehemann und schämst dich
+nur immer über diese Tugend. Du bist überhaupt ein sonderbarer
+Kauz: du sagst nie was Moralisches und tust
+nie was Schlechtes. Dein Zynismus ist nichts als Pose.“</p>
+
+<p>„Natürlichkeit ist immer eine Pose, und zwar die ärgerlichste
+Pose, die ich kenne“, rief Lord Henry lachend aus,
+und die beiden jungen Männer gingen zusammen in den
+Garten und ließen sich auf einer langen Bambusbank nieder,
+<a class="pagenum" name="Page_13" title="13"> </a>
+die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand.
+Das Sonnenlicht flirrte tanzend über die glatten Blätter.
+Im Grase zitterten weiße Gänseblümchen.</p>
+
+<p>Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr: „Ich
+fürchte, ich muß gleich fort, Basil,“ brummte er, „aber
+bevor ich gehe, mußt du mir noch unbedingt die Frage
+beantworten, die ich vorhin an dich gerichtet habe.“</p>
+
+<p>„Was war das?“ sagte der Maler, die Augen fest zu
+Boden gerichtet.</p>
+
+<p>„Na, du weißt doch.“</p>
+
+<p>„Sicher nicht, Harry.“</p>
+
+<p>„Gut, dann will ich's dir nochmals sagen. Du sollst
+mir erklären, warum du Dorian Grays Porträt nicht ausstellen
+willst. Ich bestehe darauf, den wirklichen Grund
+zu wissen.“</p>
+
+<p>„Ich habe dir den wirklichen Grund schon gesagt.“</p>
+
+<p>„Nein, das hast du nicht getan. Du hast nur gesagt,
+weil zuviel von dir selbst in dem Bilde stecke. Das ist
+aber kindisch.“</p>
+
+<p>„Harry,“ sagte Basil Hallward und sah dem anderen
+gerade ins Gesicht, „jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt
+ist, ist ein Porträt des Künstlers, nicht des Modells.
+Das Modell ist nur der Anlaß, die Gelegenheit. Nicht
+dies wird vom Maler enthüllt; nein, der Maler offenbart
+auf der farbigen Leinwand eher sich selbst. Ich will also
+dies Bild darum nicht ausstellen, weil ich fürchte, ich habe
+das Geheimnis meiner eigenen Seele darin aufgedeckt.“</p>
+
+<p>Lord Henry lachte. „Und worin bestünde das?“
+fragte er.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_14" title="14"> </a></p>
+<p>„Ich will es sagen“, antwortete Hallward; aber in sein
+Gesicht trat ein Ausdruck von Ratlosigkeit.</p>
+
+<p>„Ich bin äußerst gespannt, Basil“, fuhr sein Gefährte
+mit einem Blick nach ihm fort.</p>
+
+<p>„Oh, es ist wirklich nicht viel zu berichten, Harry,“ entgegnete
+der Maler, „und du verstehst es wohl kaum, wie
+ich fürchte. Vielleicht auch glaubst du mir nicht einmal.“</p>
+
+<p>Lord Henry lächelte und bückte sich dann, um ein rosa
+angehauchtes Gänseblümchen aus dem Grase zu pflücken,
+das er betrachtete. „Ich werde dich ganz gewiß verstehen,“
+erwiderte er, die Blicke aufmerksam auf die kleine, goldene,
+weißgefiederte Blütenscheibe gerichtet, „und was das
+Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt,
+daß es unwahrscheinlich genug ist.“</p>
+
+<p>Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen,
+und die schweren, vielgesternten Traubendolden der Fliederbüsche
+bewegten sich in der schwülen Luft. Eine Grille begann
+an der Gartenmauer zu zirpen, und wie ein blauer
+Faden huschte eine lange, dünne Wasserjungfer auf ihren
+braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil
+Hallwards Herz pochen zu hören und war neugierig, was
+wohl kommen möchte.</p>
+
+<p>„Die Geschichte ist einfach die“, sagte der Maler nach
+einer Weile. „Vor zwei Monaten ging ich mal zu einem
+der Massenempfänge bei Lady Brandon. Du weißt, wir
+armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft
+zeigen, um das Publikum daran zu erinnern,
+daß wir keine Wilden sind. Du sagtest mir einmal: in
+Frack und weißer Binde kann selbst ein Börsenmensch in
+<a class="pagenum" name="Page_15" title="15"> </a>
+den Verdacht von Bildung kommen. Nun also, ich war
+etwa zehn Minuten da und redete mit korpulenten, aufgeputzten,
+vornehmen Witwen und platten Akademikern,
+da merkte ich plötzlich, daß mich jemand anblickte. Ich
+drehte mich halb um und sah zum ersten Male Dorian
+Gray. Ich spürte, wie ich blaß wurde, als sich unsere Blicke
+begegneten. Ein seltsames Angstgefühl überkam mich. Ich
+wußte, ich stand einem Menschen Aug-in-Auge gegenüber,
+dessen bloße Erscheinung so bezaubernd auf mich
+wirkte, daß sie, wenn ich sie gewähren ließe, meine ganze
+Natur, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst an sich
+reißen müßte. Ich bedurfte nie in meinem Leben irgendwelcher
+Einwirkung von außen her. Du weißt ja selbst,
+Harry, wie unabhängig ich von Haus aus bin. Ich bin
+immer mein eigener Herr gewesen; war es wenigstens so
+lange, bis ich Dorian Gray traf. Dann &mdash; aber ich weiß
+nicht, wie ich dir das begreiflich machen soll. Irgend etwas
+schien mir im voraus zu sagen, daß ich an einem schrecklichen
+Wendepunkt in meinem Leben stand. Ich hatte die
+eigentümliche Empfindung, das Schicksal halte für mich
+die ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten
+Schmerzen in Bereitschaft. Ich bekam Furcht, und ich
+wandte mich zum Gehen. Das Gewissen trieb mich nicht
+dazu: es war eine Art Feigheit. Ich bilde mir nichts
+darauf ein, daß ich diese Flucht versuchte.“</p>
+
+<p>„In Wirklichkeit sind Gewissen und Feigheit ein und
+dasselbe. Gewissen lautet nur die eingetragene Firma.
+Weiter gar nichts.“</p>
+
+<p>„Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube, du wohl
+<a class="pagenum" name="Page_16" title="16"> </a>
+auch nicht. Einerlei aber, aus welchem Grunde es geschah
+&mdash; es mag auch Stolz gewesen sein, denn ich war
+schon immer sehr stolz &mdash; jedenfalls eilte ich der Türe zu.
+Natürlich prallte ich dabei mit Lady Brandon zusammen.
+‚Sie wollen doch nicht etwa schon davonlaufen, Herr
+Hallward?‛ kreischte sie auf. Du kennst ja ihre schrille
+Stimme.“</p>
+
+<p>„Ja, sie ist ein Pfau in allem, bis auf die Schönheit“,
+sagte Lord Henry und zerrupfte das Gänseblümchen zwischen
+seinen langen nervösen Fingern.</p>
+
+<p>„Ich konnte ihrer nicht loswerden. Sie zerrte mich zu
+den königlichen Hoheiten hin, zu den Leuten mit Orden und
+Sternen und zu den ältlichen Damen mit riesenhaften
+Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich dabei
+ihren besten Freund. Ich hatte sie nur ein einziges Mal
+vorher gesehen, aber sie setzte es sich in den Kopf, aus
+mir den Löwen des Tages zu machen. Ich glaube, damals
+hatte gerade ein Bild von mir großen Erfolg gehabt,
+wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz
+darüber gebracht, und das ist ja im neunzehnten
+Jahrhundert das Eichungsmaß der Unsterblichkeit. Plötzlich
+stand ich dem jungen Manne gegenüber, dessen Äußeres
+mich vorhin so merkwürdig erschüttert hatte. Wir
+standen ganz nahe beieinander und berührten uns beinah.
+Unsere Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig
+von mir, aber ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen.
+Vielleicht war es aber doch alles in allem nicht so
+leichtsinnig. Es war einfach nicht zu umgehen. Wir hätten
+auch ohne Vorstellung miteinander gesprochen. Ich bin
+<a class="pagenum" name="Page_17" title="17"> </a>
+dessen gewiß. Dorian sagte es mir nachher. Auch er fühlte,
+daß unsere Bekanntschaft Schicksalsfügung war.“</p>
+
+<p>„Und wie hat Lady Brandon den wunderbaren Jüngling
+beschrieben?“ fragte sein Gefährte. „Ich weiß, es ist
+ihre Manier, von jedem ihrer Gäste eine kleine Skizze zu
+geben. Ich erinnere mich, wie sie mich mal einem schrecklichen,
+alten Herrn mit puterrotem Gesicht vorstellte, dessen
+Brust mit Orden und Bändern beklext war, und mir in
+einem tragischen Flüsterton, der für jedermann im Zimmer
+hörbar war, die erstaunlichsten Einzelheiten über ihn
+ins Ohr zischelte. Ich mußte einfach davonlaufen. Ich entdecke
+die Leute gerne von mir selbst aus. Aber Lady
+Brandon behandelt ihre Gäste genau so, wie ein Auktionator
+seine Waren. Sie erklärt sie einem entweder so
+lange, bis nichts mehr davon übrigbleibt, oder sie sagt
+alles, gerade mit Ausnahme dessen, was man wissen will.“</p>
+
+<p>„Die arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie“,
+sagte Hallward zerstreut.</p>
+
+<p>„Mein guter Junge, sie wollte einen Salon gründen
+und hat es nur bis zu einem Restaurant gebracht. Wie
+soll ich sie da bewundern? Aber sage nun endlich, was sie
+über Herrn Dorian Gray erzählt hat?“</p>
+
+<p>„Oh, so irgend was wie ‚Entzückender junger Mensch &mdash;
+seine arme Mutter und ich ganz unzertrennlich &mdash; vergaß
+ganz was er treibt &mdash; fürchte fast &mdash; gar nichts &mdash; ach
+ja, spielt Klavier &mdash; oder war es die Geige, lieber Herr
+Gray?‛ Wir mußten beide lachen und wurden sofort
+Freunde.“</p>
+
+<p>„Lachen ist wohl lange nicht der schlechteste Anfang für
+<a class="pagenum" name="Page_18" title="18"> </a>
+eine Freundschaft, und gewiß ihr schönstes Ende“, sagte
+der junge Lord und pflückte sich noch ein Gänseblümchen.</p>
+
+<p>Hallward schüttelte den Kopf. „Du hast ja keine Ahnung,
+was Freundschaft ist, Harry,“ murmelte er, „und
+ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast alle Welt gern;
+mit anderen Worten: dir sind alle gleichgültig.“</p>
+
+<p>„Wie grausam ungerecht von dir!“ rief Lord Henry,
+stieß seinen Hut in den Nacken und sah zu den Lämmerwolken
+empor, die gleich verwirrten Knäueln glänzendweißer
+Seide über das türkisfarbene Gewölbe des Himmels
+dahinschifften. „Ja, grausam ungerecht von dir. Ich
+unterscheide die Leute sehr scharf. Ich wählte meine
+Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten
+nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem
+guten Verstande. Der Mensch kann nicht vorsichtig genug
+sein in der Wahl seiner Feinde. Ich habe keinen einzigen,
+der ein Narr ist. Es sind sämtlich Leute von einer gewissen
+geistigen Höhe, und daher schätzen sie mich auch alle. Bin
+ich sehr eitel? Ich glaube, es ist ein bißchen eitel.“</p>
+
+<p>„Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung
+zählte ich nur unter deine Bekanntschaften.“</p>
+
+<p>„Mein lieber, alter Basil, du bist weit, weit mehr als
+ein Bekannter.“</p>
+
+<p>„Und weit weniger als ein Freund! Wohl so eine Art
+Bruder?“</p>
+
+<p>„Pah, Bruder! Bleibe mir mit Brüdern vom Halse.
+Mein ältester will nicht sterben, und meine jüngeren tun
+scheinbar nichts anderes.“</p>
+
+<p>„Harry!“ rief Basil mit gerunzelter Stirne.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_19" title="19"> </a></p>
+<p>„Mein lieber Junge, ich meine es nicht so ernst. Aber
+ich kann mir nicht helfen, ich verabscheue meine Verwandten.
+Ich vermute, das schreibt sich daher, daß kein
+Mensch bei einem anderen seine eigenen Fehler vertragen
+kann. Ich verstehe durchaus die Wut der englischen Demokraten
+auf die sogenannten Laster der oberen Stände.
+Die Massen fühlen, daß Trunkenheit, Dummheit und Unsittlichkeit
+zu ihren Vorrechten gehören sollten, und daß
+jeder von uns, der sich darin bloßstellt, gewissermaßen auf
+ihrem Gebiete wildert. Als damals der Scheidungsprozeß
+des armen Southwark spielte, war ihre Entrüstung wirklich
+prachtvoll. Und trotzdem lebt meiner Überzeugung
+nach nicht der zehnte Teil des Proletariats der Sitte
+gemäß.“</p>
+
+<p>„Ich stimme keinem einzigen deiner Worte bei, und,
+was mehr ist, Harry, du selbst glaubst ja auch nicht im
+mindesten daran.“</p>
+
+<p>Lord Henry strich seinen braunen Spitzbart und stieß
+mit dem zierlichen Spazierstock aus Ebenholz gegen die
+Kappe seines eleganten Lackstiefels. „Wie englisch du bist,
+Basil! Du machst heute zum zweitenmal diesen Einwurf.
+Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt
+&mdash; an sich schon immer eine Unüberlegtheit &mdash;, so fällt es
+ihm nicht im Traum ein, zu erwägen, ob die Idee richtig
+oder falsch ist. Das einzige, was ihm von Belang scheint,
+ist das, ob der Sprecher selbst daran glaubt. Aber der
+Wert einer Idee hat nicht das geringste mit der Aufrichtigkeit
+dessen zu schaffen, der sie ausspricht. Aller Wahrscheinlichkeit
+nach wird die Idee um so geistreicher sein, je
+<a class="pagenum" name="Page_20" title="20"> </a>
+unaufrichtiger der Mann ist, weil sie in diesem Fall weder
+die Färbung seiner Bedürfnisse noch seiner Wünsche noch
+seiner Vorurteile annehmen wird. Indes habe ich nicht
+die Absicht, politische, soziale oder metaphysische Diskussionen
+mit dir zu führen. Mir sind Menschen lieber als
+Grundsätze und grundsatzlose Menschen überhaupt das
+Liebste auf Erden. Erzähle mir mehr von Dorian Gray.
+Wie oft siehst du ihn?“</p>
+
+<p>„Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn mal
+einen Tag nicht sähe. Er ist für mich einfach ein Bedürfnis.“</p>
+
+<p>„Wie merkwürdig! Ich glaubte immer, du kümmertest
+dich um nichts anderes als um deine Kunst.“</p>
+
+<p>„Er ist für mich jetzt meine ganze Kunst“, sagte der
+Maler ernsthaft. „Manchmal glaube ich, Harry, daß es
+nur zwei wichtige Epochen in der Weltgeschichte gibt. Die
+erste ist das Auftreten einer neuen Kunsttechnik und die
+zweite die Erscheinung einer neuen Persönlichkeit in der
+Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer
+war, das war das Gesicht des Antinous für die
+spätgriechische Bildhauerkunst, und das wird eines Tages
+für mich das Gesicht Dorian Grays sein. Worauf es dabei
+ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere. Natürlich
+hab' ich das alles getan. Aber er ist weit mehr für
+mich als ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich
+will gewiß nicht behaupten, daß ich unzufrieden mit dem
+bin, was ich nach ihm gemacht habe, oder daß seine Schönheit
+derart ist, daß sie die Kunst nicht ausdrücken könne.
+Es gibt überhaupt nichts, was die Kunst nicht ausdrücken
+<a class="pagenum" name="Page_21" title="21"> </a>
+kann, und ich weiß: was ich gemacht habe, seitdem ich
+Dorian Gray kenne, ist gute Arbeit, ja, die gelungenste
+Arbeit meines Lebens. Aber auf irgendeine seltsame Weise
+&mdash; ich glaube kaum, daß du das verstehen wirst &mdash; hat mir
+seine Persönlichkeit eine vollständig neue Art der Kunst,
+einen durchaus neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge
+anders, ich denke darüber anders. Ich kann jetzt das Leben
+auf eine Art festhalten, die mir früher nicht gegeben war.
+‚Ein Traum von Form in unseren Tagen des Denkens‛:
+wer war es, der so sagte? Ich hab's vergessen, aber das
+bedeutet Dorian Gray für mich. Die bloße sichtbare
+Gegenwart dieses Knaben &mdash; denn für mich ist er kaum
+mehr als das, wenn er auch schon über die Zwanzig &mdash;
+seine bloße sichtbare Gegenwart &mdash; ach! ich glaube nicht,
+daß du einen Begriff davon hast, was sie für mich bedeutet!
+Ohne selbst es zu wissen, enthüllt er mir die Linien
+einer neuen Schule, einer Schule, in der enthalten ist die
+ganze Leidenschaft der Romantik und die ganze Vollkommenheit
+des griechischen Geistes. Die Harmonie von
+Seele und Leib, wieviel ist das doch! Wir in unserer Verblendung
+haben die beiden voneinander gerissen und haben
+uns einen Realismus erfunden, der gewöhnlich ist, und
+einen Idealismus, der leer ist. Harry! wenn du wissen
+könntest, was mir Dorian Gray ist! Erinnerst du dich an
+die Landschaft von mir, für die mir Agnew ein so wahnsinniges
+Geld angeboten hat und von der ich mich doch
+nie trennen wollte? Es ist sicher eins der besten Stücke,
+die ich je gemacht habe. Und warum? Weil Dorian Gray
+neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein ganz
+<a class="pagenum" name="Page_22" title="22"> </a>
+feines Fluidum strömte von ihm zu mir, und zum erstenmal
+in meinem Leben entdeckte ich in der simpeln Waldlandschaft
+das Wunder, nach dem ich immer gesucht und
+das ich nie gefunden hatte.“</p>
+
+<p>„Basil, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte.
+Ich muß Dorian Gray kennenlernen.“</p>
+
+<p>Hallward schnellte von der Bank auf und ging im
+Garten hin und her. Nach einer Weile kam er zurück.</p>
+
+<p>„Harry,“ sagte er, „Dorian Gray ist für mich nichts
+als ein künstlerisches Motiv. Vielleicht fändest du gar
+nichts in ihm. Ich finde alles in ihm. Er ist in Wirklichkeit
+nie mehr in meiner Arbeit lebendig, als wenn kein Schatten
+von ihm darin ist. Er ist für mich, wie ich sagte, die Anregung
+zu einem Stil. Ich finde ihn in den Schwingungen
+gewisser Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit
+gewisser Farben. Das ist alles.“</p>
+
+<p>„Warum aber willst du dann sein Bild nicht ausstellen?“
+fragte Lord Henry.</p>
+
+<p>„Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck
+all dieser ganz merkwürdigen Künstlervergötterung hineingelegt
+habe, von der ich natürlich nie zu ihm sprechen
+wollte. Er hat von alledem keine Ahnung. Er soll nie
+etwas davon ahnen. Aber die Welt könnte es erraten; und
+ich will meine Seele ihren seichten, spähenden Augen nicht
+entblößen. Mein Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop
+bekommen. Es ist zu viel von mir selbst in dem Dinge,
+Harry &mdash; zu viel von mir selbst.“</p>
+
+<p>„Dichter nehmen's nicht so genau wie du. Die wissen,
+wie einträglich es ist, Leidenschaft zu veröffentlichen. Ein
+<a class="pagenum" name="Page_23" title="23"> </a>
+gebrochenes Herz bringt es heutzutage zu einer ganzen
+Reihe von Auflagen.“</p>
+
+<p>„Ich finde sie darum eben abscheulich!“ rief Hallward
+aus. „Ein Künstler soll Schönes schaffen, aber er soll
+nichts von seinem eigenen Leben hineintragen. Wir leben
+in einer Zeit, wo die Menschen aus der Kunst eine Art
+Autobiographie zu machen wünschen. Wir haben eben den
+klaren Begriff für Schönheit verloren. Eines Tages will
+ich der Welt zeigen, was sie ist, und deshalb soll die Welt
+mein Bild Dorian Grays niemals sehen.“</p>
+
+<p>„Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will mit
+dir nicht streiten. Nur die geistig Entkernten streiten sich
+gern. Sag' mir, hat dich Dorian Gray sehr lieb?“</p>
+
+<p>Der Maler dachte ein paar Augenblicke nach. „Er hat
+mich gern“, antwortete er nach einer Weile; „sicher hat er
+mich gern. Natürlich schmeichle ich ihm fürchterlich. Ich
+finde eine ganz besondere Lust daran, ihm Dinge zu sagen,
+die mir später leid tun, wie ich ganz genau weiß. In der
+Regel ist er auch reizend zu mir, und wir sitzen dann im
+Atelier und schwatzen von tausend Dingen. Dann und
+wann ist er allerdings greulich gedankenlos und scheint
+große Freude darin zu finden, mir wehe zu tun. Dann,
+Harry, habe ich das Gefühl, daß ich jemand meine ganze
+Seele überantwortet habe, der sie behandelt wie eine
+Blume für das Knopfloch, wie ein kleines Ehrenzeichen,
+mit dem man seine Eitelkeit befriedigt, wie einen Zierat
+für einen Sommertag.“</p>
+
+<p>„Sommertage, Basil, pflegen manchmal lange zu währen“,
+murmelte Lord Henry. „Vielleicht wirst du seiner
+<a class="pagenum" name="Page_24" title="24"> </a>
+früher müde, als er deiner. Es ist sehr traurig, daran zu
+denken, aber es ist ohne Zweifel wahr, daß das Genie
+die Schönheit überlebt. Das erklärt auch die Tatsache,
+daß wir uns soviel Mühe geben, uns mit Bildung vollzupfropfen.
+In dem wilden Existenzkampfe ums Dasein
+wollen wir alle etwas Dauerhaftes haben, und so füllen
+wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der
+dummen Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten.
+Der durch und durch unterrichtete Mann &mdash; das ist das
+moderne Ideal. Und das Gehirn dieses durch und durch
+unterrichteten Mannes hat etwas Fürchterliches. Es gleicht
+einem Kuriositätenladen, in dem es lauter Ungeheuerlichkeiten
+voll Staub gibt, und wo jeder Gegenstand über
+seinen wahren Wert hinaus ausgezeichnet. Immerhin, ich
+glaube, du wirst zuerst müde werden. Eines Tages wirst
+du deinen jungen Freund anschauen und finden, daß er
+etwas verzeichnet ist, oder du wirst an seiner Farbe etwas
+auszusetzen haben oder irgend so etwas. Du wirst ihm
+dann in deinem Herzen bittere Vorwürfe machen und ganz
+ernsthaft überzeugt sein, daß er sich recht schlecht gegen dich
+benommen hat. Wenn er dich dann das nächstemal besucht,
+wirst du völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Das
+wird sehr schade sein, denn es wird dich selbst verändern.
+Was du mir da erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, eine
+Romanze der Kunst möchte man es nennen, und das
+Schlimmste beim Erleben von Gedichten ist nur, daß es
+einen so ganz unpoetisch zurückläßt.“</p>
+
+<p>„Harry, ich bitte, sprich nicht so. Solang' ich lebe, wird
+mich die Persönlichkeit Dorian Grays beherrschen. Du
+<a class="pagenum" name="Page_25" title="25"> </a>
+kannst meine Empfindung nicht nachfühlen. Du wandelst
+dich zu oft.“</p>
+
+<p>„Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich sie
+nachempfinden. Die treuen Menschen kennen nur die triviale
+Seite der Liebe; die Treulosen allein erfahren die
+Tragödien der Liebe.“ Und Lord Henry zündete an einem
+zierlichen silbernen Büchschen ein Streichholz an und begann
+eine Zigarette zu rauchen, mit jener so selbstbewußten,
+zufriedenen Miene, als hätte er den Sinn der
+ganzen Welt in einen Satz zusammengefaßt. Man hörte
+ein leises Rauschen von zirpenden Sperlingen in den
+grünen, wie mit glänzendem Lack überzogenen Efeublättern,
+und die blauen Wolkenschatten jagten wie Schwalben
+über das Gras. Wie reizend war es doch in dem Garten
+und wie entzückend waren die Gefühlsregungen anderer
+Leute! &mdash; weit entzückender als ihre Gedanken, so schien
+es ihm. Des Menschen eigene Seele und die Leidenschaft
+seiner Freunde &mdash; das sind die fesselnden Dinge des
+Lebens. Er stellte sich mit geheimem Vergnügen das langweilige
+Frühstück vor, das er durch seinen langen Besuch
+bei Basil Hallward versäumt hatte. Wäre er zu seiner
+Tante gegangen, hätte er dort sicher Lord Goodbody getroffen,
+und das ganze Gespräch hätte sich mit der Armenernährung
+und der Notwendigkeit von Musterwohnhäusern
+beschäftigt. Menschen jedes Standes hätten die Wichtigkeit
+gerade jener Tugenden gepredigt, für die sie in
+ihrem eigenen Leben gar keine Verwendung hatten. Der
+Reiche hätte von dem Werte der Sparsamkeit geredet, und
+der Träge mit wahrhafter Beredsamkeit über die Würde<a class="pagenum" name="Page_26" title="26"> </a>
+der Arbeit. Es war reizend, all dem entgangen zu sein.
+Als er an seine Tante dachte, schien ihm etwas einzufallen.
+Er wandte sich zu Basil und sagte: „Mein lieber Junge,
+ich erinnere mich jetzt.“</p>
+
+<p>„Woran erinnerst du dich, Harry?“</p>
+
+<p>„Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.“</p>
+
+<p>„Wo war das?“ fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln.</p>
+
+<p>„Schau' doch nicht so böse drein, Basil. Es war bei
+meiner Tante, Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie sei
+einem wunderhübschen jungen Menschen begegnet, der ihr
+im East-End helfen wolle, und er heiße Dorian Gray.
+Ich muß zugeben, sie hat mir nie etwas darüber gesagt,
+daß er so hübsch sei. Frauen haben kein Verständnis für
+Schönheit, wenigstens gute Frauen nicht. Sie sagte, daß
+er sehr ernst sei und eine edle Seele habe. Ich stellte mir
+natürlich sofort ein Wesen mit Brille und wallendem
+Haar und gräßlich vielen Sommersprossen vor, das auf
+riesigen Füßen umherstapfe. Ich wünsche jetzt, ich hätte
+gewußt, daß er dein Freund ist.“</p>
+
+<p>„Ich bin sehr froh, daß du es nicht gewußt hast, Harry.“</p>
+
+<p>„Warum?“</p>
+
+<p>„Ich will nicht, daß du ihn kennenlernst.“</p>
+
+<p>„Du willst nicht, daß ich ihn kennenlerne?“</p>
+
+<p>„Nein.“</p>
+
+<p>„Herr Dorian Gray ist im Atelier“, sagte der Diener,
+der in den Garten hinaustrat.</p>
+
+<p>„Jetzt mußt du mich vorstellen!“ rief Lord Henry
+lachend. Der Maler wandte sich zu seinem Diener, der<a class="pagenum" name="Page_27" title="27"> </a>
+blinzelnd in der Sonne dastand: „Bitten Sie Herrn
+Gray, zu warten, Parker; ich komme in ein paar Minuten.“
+Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus.</p>
+
+<p>Dann sah der Maler Lord Henry an. „Dorian Gray
+ist mein teuerster Freund“, sagte er. „Er hat eine schlichte
+und edle Seele. Deine Tante hatte ganz recht mit dem,
+was sie über ihn sagte. Verdirb ihn mir nicht. Versuche
+nicht, Einfluß auf ihn auszuüben. Dein Einfluß wäre verderblich.
+Die Welt ist groß, und es gibt eine Menge köstlicher
+Menschen auf ihr. Raube mir nicht den einzigen
+Menschen, der meiner Kunst ihren ganzen Zauber verleiht,
+den sie hat: mein Leben als Künstler hängt von
+ihm ab! Denke daran, Harry, ich vertraue dir.“ Er sprach
+sehr langsam, und die Worte schienen sich ihm gegen
+seinen Willen zu entringen.</p>
+
+<p>„Was für Unsinn du redest!“ sagte Lord Henry lächelnd,
+nahm Hallward unter den Arm und führte ihn in das
+Haus.</p>
+
+<h2><a name="Zweites_Kapitel" id="Zweites_Kapitel"></a>Zweites Kapitel</h2>
+
+
+<p>Als sie eintraten, erblickten sie Dorian Gray. Er saß
+am Klavier, mit dem Rücken ihnen zu, und blätterte in
+einem Notenbande mit Schumanns Waldszenen. „Die
+mußt du mir leihen, Basil!“ rief er aus. „Ich möchte
+sie spielen lernen. Sie sind geradezu entzückend.“</p>
+
+<p>„Das hängt ganz davon ab, wie du mir heute sitzen
+wirst, Dorian.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_28" title="28"> </a></p>
+
+<p>„Ach, ich habe das Sitzen lange satt, und ich will gar
+kein lebensgroßes Bild von mir“, antwortete der Jüngling
+und schwang sich in dem Musikstuhl auf eine eigensinnige,
+launische Knabenart herum. Als er aber Lord
+Henry erblickte, stieg für einen Augenblick ein schwaches
+Rot in seine Wangen, und er sprang auf. „Ich bitte um
+Entschuldigung, Basil, ich wußte nicht, daß jemand bei
+dir ist.“</p>
+
+<p>„Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter
+Freund von Oxford her. Ich habe ihm gerade erzählt,
+wie musterhaft du sitzen kannst, und jetzt hast du alles
+verdorben.“</p>
+
+<p>„Mir haben Sie das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft
+zu machen, nicht verdorben, Herr Gray“, sagte Lord
+Henry, ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.
+„Meine Tante hat oft von Ihnen gesprochen. Sie
+sind einer ihrer Lieblinge und, wie ich fürchte, auch ihrer
+Opfer.“</p>
+
+<p>„Ich stehe zur Zeit auf Lady Agathas schwarzer
+Liste“, antwortete Dorian mit einem komisch reuigen
+Gesichtsausdruck. „Ich hatte ihr versprochen, sie letzten
+Dienstag nach einem Klub in Whitechapel zu begleiten,
+und ich habe dann die Abmachung vergessen. Wir sollten
+da miteinander vierhändig spielen &mdash; drei Stücke
+glaube ich. Ich weiß nun nicht, was sie mir dazu sagen
+wird. Ich habe Angst, ihr einen Besuch zu machen.“</p>
+
+<p>„Oh, ich werde Sie mit meiner Tante versöhnen. Sie
+ist Ihnen äußerst zugetan. Und ich glaube auch, es schadet
+nichts, daß Sie nicht dort waren. Die Zuhörer<a class="pagenum" name="Page_29" title="29"> </a>
+haben sicher angenommen, es sei vierhändig gespielt worden.
+Wenn sich Tante Agatha ans Klavier setzt, macht
+sie für zwei Personen reichlich Lärm.“</p>
+
+<p>„Sie sprechen sehr schlecht von ihr, und mir machen Sie
+auch gerade kein Kompliment damit“, antwortete Dorian
+lachend.</p>
+
+<p>Lord Henry sah ihn an. Ja, er war wirklich wunderbar
+schön, mit seinen feingeschwungenen dunkelroten Lippen,
+seinen offenen blauen Augen und seinem gewellten,
+goldblonden Haar. In seinem Gesicht war ein Ausdruck,
+der sofort Vertrauen erweckte. Aller Glanz der Jugend
+lag darin und ebenso all die leidenschaftliche Reinheit
+der Jugend. Man fühlte, daß er bisher noch nicht von
+der Welt befleckt war. Kein Wunder, daß ihn Basil
+Hallward anbetete.</p>
+
+<p>„Sie sind viel zu hübsch, um sich mit Wohltätigkeit abzugeben,
+Herr Gray &mdash; viel zu hübsch!“ Und Lord
+Henry warf sich auf den Diwan und öffnete seine Zigarettendose.</p>
+
+<p>Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt
+und seine Pinsel zurechtgemacht. Er sah etwas gequält
+aus, und als er Lord Henrys letzte Bemerkung
+hörte, blickte er zu ihm hin, sann einen Augenblick nach
+und sagte dann: „Harry, ich möchte das Bild heute
+fertig kriegen. Fändest du es sehr grob von mir, wenn
+ich dich jetzt bäte, uns allein zu lassen?“</p>
+
+<p>Lord Henry lächelte und sah Dorian Gray an. „Soll
+ich gehen, Herr Gray?“ fragte er.</p>
+
+<p>„Oh, bitte, nein, Lord Henry. Ich sehe, Basil hat<a class="pagenum" name="Page_30" title="30"> </a>
+wieder einen seiner schlechten Tage, und ich kann ihn
+nicht vertragen, wenn er so brummt. Außerdem möchte
+ich von Ihnen erfahren, warum ich mich nicht mit Wohltätigkeit
+befassen soll?“</p>
+
+<p>„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Herr
+Gray. Es ist ein so langweiliges Thema, daß man schon
+ernsthaft darüber reden müßte. Aber jetzt geh ich auf
+keinen Fall, nachdem Sie mir erlaubt haben, dazubleiben.
+Du hast doch nichts im Ernst dagegen, Basil? Du
+hast mir oft genug gesagt, daß es dir angenehm sei,
+wenn deine Modelle mit jemand plaudern können.“</p>
+
+<p>Hallward biß sich auf die Lippe. „Wenn es Dorian
+wünscht, wirst du natürlich dableiben. Dorians Launen
+sind Gesetze für jedermann, außer für ihn selbst.“</p>
+
+<p>Lord Henry nahm seinen Hut und seine Handschuhe.
+„Trotz deiner dringenden Aufforderung, Basil, fürchte
+ich, gehen zu müssen. Ich habe mit jemand eine Verabredung
+im Orleans-Klub. Adieu, Herr Gray! Bitte,
+besuchen Sie mich doch mal eines Nachmittags in Curzon
+Street. Um fünf Uhr treffen Sie mich fast immer. Schreiben
+Sie mir, bitte, wann Sie kommen. Es täte mir sehr
+leid, wenn Sie mich verfehlten.“</p>
+
+<p>„Basil,“ rief Dorian Gray, „wenn Lord Henry Wotton
+geht, dann gehe ich auch. Du bringst ja beim Malen
+nie die Lippen auseinander, und es ist furchtbar ermüdend,
+auf einem Podium zu stehen und sich anzustrengen,
+freundlich auszusehen. Bitte ihn, dazubleiben.
+Ich bestehe darauf.“</p>
+
+<p>„Bleib, Harry, du machst Dorian damit ein Vergnügen<a class="pagenum" name="Page_31" title="31"> </a>
+und auch mir“, sagte Hallward, ohne von seinem
+Bilde aufzublicken. „Er hat ganz recht, ich spreche nie
+ein Wort während der Arbeit und höre ebensowenig zu,
+und das muß sehr langweilig für meine unglücklichen
+Modelle sein. Ich bitte dich also, bleib.“</p>
+
+<p>„Was fange ich aber mit meinem Mann im Orleans
+an?“</p>
+
+<p>Der Maler lachte. „Ich glaube, damit wird es keine
+Schwierigkeit haben. Setz dich nur wieder, Harry. Und
+jetzt, Dorian, geh auf das Podium und bewege dich
+nicht zuviel und achte auch nicht auf das, was Lord Henry
+sagt. Er hat einen sehr bösen Einfluß auf alle seine
+Freunde, nur mich ausgenommen.“</p>
+
+<p>Dorian Gray bestieg das Podium mit der Miene eines
+jungen griechischen Märtyrers und stieß, zu Lord Henry
+gewandt, der ihm gleich gut gefallen hatte, einen kleinen
+drolligen Seufzer aus. Dieser Mann war so ganz anders
+als Basil. Die beiden bildeten einen entzückenden Gegensatz.
+Und er hatte ein so schönes Organ. Nach ein paar
+Augenblicken sagte Dorian zu ihm: „Haben Sie wirklich
+einen so bösen Einfluß, Lord Henry? Ist es so arg,
+wie Basil sagt?“</p>
+
+<p>„Es gibt keinen sogenannten guten Einfluß, Herr Gray.
+Jeder Einfluß ist unmoralisch &mdash; unmoralisch vom wissenschaftlichen
+Standpunkt aus.“</p>
+
+<p>„Wieso?“</p>
+
+<p>„Weil jemand beeinflussen soviel ist wie ihm die eigene
+Seele leihen. Er denkt dann nicht mehr seine natürlichen
+Gedanken und brennt nicht mehr in seinem natürlichen<a class="pagenum" name="Page_32" title="32"> </a>
+Feuer. Seine Tugenden sind gar nicht seine Tugenden.
+Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind
+nur ausgeborgte. Er wird ein Echo für die Töne eines
+anderen, Schauspieler einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben
+wurde. Der Sinn des Daseins ist: Selbstentwicklung.
+Die eigene Natur voll zum Ausdruck zu bringen
+&mdash; diese Aufgabe hat jeder von uns hier zu lösen.
+Heutzutage hat jeder Mensch Angst vor sich. Sie haben
+ihre heiligste Pflicht vergessen, nämlich die gegen sich
+selbst. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren den Hungernden
+und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen
+darben und gehen nackt. Der Mut ist unserem Geschlecht
+abhanden gekommen. Vielleicht haben wir ihn nie
+wirklich besessen. Die Furcht vor der Gesellschaft als der
+Grundlage der Sittlichkeit, und die Furcht vor Gott, als
+dem Geheimnis der Religion &mdash; das sind die zwei Dinge,
+die uns beherrschen. Und doch &mdash;“</p>
+
+<p>„Dorian, dreh den Kopf mal ein wenig mehr nach
+rechts, sei so gut“, sagte der Maler, der ganz in sein
+Werk vertieft war, aber doch gemerkt hatte, daß in des
+Jünglings Gesicht ein Ausdruck getreten war, den er
+vorher nie darin gesehen hatte.</p>
+
+<p>„Und doch,“ fuhr Lord Henry mit seiner tiefen musikalischen
+Stimme fort, während er die Hand in der anmutigen
+Art bewegte, die er schon seinerzeit in Eton gehabt
+hatte, „ich glaube, wenn die Menschen nur ihr
+eigenes Leben voll, bis auf den letzten Rest ausleben
+würden, jedes Gefühl Gestalt bekommen lassen, jeden
+Gedanken ausdrücken, jeden Traum in Dasein umsetzen<a class="pagenum" name="Page_33" title="33"> </a>
+wollten &mdash; ich glaube, dann käme in die Welt ein solcher
+Schwung von neuer Freudigkeit, daß wir alle die Krankheiten
+des Mittelalters vergäßen und zum hellenischen
+Ideal zurückkehrten, ja wir kämen vielleicht zu etwas
+Feinerem und Reicherem, als das hellenische Ideal war.
+Aber selbst der Tapferste unter uns hat Angst vor sich selber.
+Die Selbstverstümmelung der Wilden hat ihr tragisches
+Überbleibsel in der Selbstverleugnung, die unser Leben
+verstümmelt. Wir büßen für unsere Entsagungen. Jeder
+Trieb, den wir zu ersticken suchen, frißt im Innern weiter
+und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal und
+hat sich durch die Sünde befreit, denn Tat ist immer eine
+Art Reinigung. Nichts bleibt davon zurück als die Erinnerung
+an ein Vergnügen oder die schmerzliche Wollust
+der Reue. Der einzige Weg, eine Versuchung zu bestehen,
+ist, sich ihr hinzugeben. Widerstehen Sie ihr, und Ihre
+Seele erkrankt vor Sehnsucht nach der Erfüllung, die
+sie sich selber verweigert hat, erkrankt vor dem Verlangen
+nach dem, was ihre ungeheuerlichen Gesetze ungeheuerlich
+und ungesetzmäßig gemacht haben. Es ist wohl gesagt
+worden, die großen Ereignisse der Welt gingen im Gehirn
+vor sich. Im Gehirn und ganz allein im Gehirn
+werden auch die großen Sünden der Welt begangen. Sie,
+Herr Gray, Sie selbst mit Ihrer rosenroten Jugend und
+Ihrer rosenblassen Knabenunschuld, Sie haben schon Leidenschaften
+erlebt, die Ihnen Angst einjagten, haben Gedanken
+gehabt, die Sie in Schrecken setzten, haben wachend
+und schlafend Träume gehabt, deren bloße Erinnerung
+Ihre Wangen schamrot werden ließ &mdash;“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_34" title="34"> </a></p>
+
+<p>„Hören Sie auf,“ stammelte Dorian Gray, „hören Sie
+auf, Sie machen mich ganz wirr. Ich weiß nicht, was ich
+sagen soll. Es gibt eine Antwort darauf, aber ich kann
+sie nicht finden. Sagen Sie nichts mehr! Lassen Sie mich
+nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, dem
+nicht nachzudenken.“</p>
+
+<p>Etwa zehn Minuten stand er bewegungslos da, mit
+halboffenen Lippen und seltsam leuchtenden Augen. Er
+war sich dumpf bewußt, daß ganz neue Einflüsse in ihm
+arbeiteten. Und doch schien es, als kämen sie in Wirklichkeit
+aus seinem eigenen Innern. Die paar Worte, die
+Basils Freund zu ihm gesagt hatte &mdash; ohne Zweifel zufällig
+hingeworfene Worte voll absichtlicher Paradoxie &mdash;
+hatten eine geheime Saite seiner Seele berührt, die vordem
+nie berührt worden war, die er aber nun zittern und
+in seltsamer Wildheit schluchzen hörte.</p>
+
+<p>Musik hatte ihn so ähnlich aufgewühlt. Musik hatte ihn
+oft in Aufruhr gebracht. Aber Musik war etwas Unbestimmtes.
+Sie bringt keine neue Welt in uns hervor;
+schafft eher ein neues Chaos in uns. Worte! Bloße
+Worte! Wie schrecklich die waren! Wie klar und lebendig
+und grausam! Man konnte ihnen nicht entrinnen. Und
+doch, welch tiefer Zauber steckte in ihnen! Sie schienen
+die Kraft zu haben, formlosen Dingen eine greifbare
+Gestalt zu geben, und schienen eine Musik in sich zu bergen,
+so süß wie die der Geige oder der Laute. Bloße
+Worte! Gab es denn irgend etwas so Wirkliches wie
+Worte?</p>
+
+<p>Ja; es hatte in seiner Knabenzeit Dinge gegeben, die<a class="pagenum" name="Page_35" title="35"> </a>
+ihm unbegreiflich geblieben waren. Jetzt verstand er sie.
+Plötzlich bekam das Leben für ihn lodernde Farben. Nun
+schien es ihm, als sei er mittenhin durch Feuer gewandelt.
+Warum hatte er es nie gemerkt?</p>
+
+<p>Lord Henry beobachtete ihn mit einem feinspürenden
+Lächeln. Er verstand sich gut auf jenen psychologischen
+Moment, in dem man kein Wort sagen darf. Er fühlte
+sich sehr stark interessiert. Die jähe Wirkung seiner Worte
+machte ihn erstaunen; nun entsann er sich eines Buches,
+das er mit sechzehn Jahren gelesen und das ihm viel bis
+dahin Unbekanntes enthüllt hatte, und er fragte sich, ob
+Dorian Gray jetzt wohl eine ähnliche Erfahrung erlebe.
+Er hatte nur einen Pfeil ins Blaue geschossen. Hatte er
+das Ziel getroffen? Wie anziehend doch dieser Junge
+war!</p>
+
+<p>Inzwischen malte Hallward in jenen wundervollen,
+kühnen Zügen weiter, die das Zeichen aller wahren Feinheit
+und Vollkommenheit sind, denn die kann der Kunst
+nur aus der Kraft werden. Er merkte die wortlose Stille
+gar nicht.</p>
+
+<p>„Basil, ich habe jetzt genug von dem Stehen!“ rief
+Dorian plötzlich aus. „Ich muß hinaus und mich im
+Garten hinsetzen. Die Luft hier ist zum Ersticken.“</p>
+
+<p>„Mein Bester, das tut mir wirklich leid. Wenn ich male,
+kann ich an nichts anderes denken. Aber du hast nie besser
+Modell gestanden. Du warst ganz ruhig. Und ich habe
+endlich den Ausdruck herausgebracht, den ich gesucht habe
+&mdash; die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen.
+Ich weiß nicht, was Harry dir erzählt hat, aber sicher hat<a class="pagenum" name="Page_36" title="36"> </a>
+er es bewirkt, daß du den prachtvollsten Ausdruck hast. Ich
+vermute, er hat dir Komplimente gemacht. Du darfst ihm
+nur kein einziges Wort glauben.“</p>
+
+<p>„Er hat mir nicht das kleinste Kompliment gemacht.
+Vielleicht ist das der Grund, daß ich wirklich kein Wort
+von dem glaube, was er gesagt hat.“</p>
+
+<p>„Sie wissen selbst, daß Sie jedes Wort davon glauben“,
+erwiderte Lord Harry, der ihn mit seinen weichen, träumerischen
+Augen ansah. „Wir wollen zusammen in den
+Garten gehen. Es ist furchtbar heiß hier im Atelier. Basil,
+laß uns irgendein Eisgetränk geben, irgendwas mit Erdbeeren
+darin.“</p>
+
+<p>„Gern, Harry. Klingele nur selbst, und wenn Parker
+kommt, will ich ihm sagen, was Ihr haben wollt. Ich
+muß erst den Hintergrund hier noch fertig machen und
+komme dann später nach. Halte mir Dorian aber nicht
+zu lange fest. Ich war nie in besserer Malstimmung als
+heute. Dies Porträt wird mein Meisterwerk. Wie es da
+steht, ist es schon mein Meisterwerk.“</p>
+
+<p>Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand dort
+Dorian Gray, wie er sein Gesicht hinter den großen,
+kühlen Blütenbüscheln der Fliedersträuche versteckte und
+fieberhaft ihren Duft einsog, als tränke er Wein. Er trat
+nahe an ihn heran und legte ihm die Hand auf die
+Achsel. „Sie haben ganz recht, so zu tun“, sagte er leise.
+„Nichts hilft der Seele besser als die Sinne, sowie den
+Sinnen nichts besser als die Seele helfen kann.“</p>
+
+<p>Der Jüngling schreckte auf und trat einen Schritt zurück.
+Er war ohne Hut, und das Blattgewirr hatte seine widerspenstigen<a class="pagenum" name="Page_37" title="37"> </a>
+Locken aufgewühlt und ihre goldblonden Strähnen
+in Unordnung gebracht. In seinen Augen lag ein
+Ausdruck von Furcht, wie ihn Menschen haben, die man
+jäh aus dem Schlaf reißt. Seine zartgeformten Nasenflügel
+bebten, und ein geheimer Nerv zuckte leis an den
+scharlachroten Lippen, so daß sie beständig zitterten.</p>
+
+<p>„Ja,“ fuhr Lord Henry fort, „das ist eines der großen
+Geheimnisse des Daseins &mdash; die Seele durch die Sinne
+und die Sinne durch die Seele heilen können. Sie sind ein
+wunderbares Menschenkind! Sie wissen mehr, als Ihnen
+bewußt ist, gerade wie Sie weniger wissen, als Ihnen
+dienlich ist.“</p>
+
+<p>Dorian Gray runzelte die Stirn und wendete den Kopf
+weg. Ein unwiderstehlicher Reiz zog ihn zu diesem großen,
+anmutigen jungen Mann hin, der da neben ihm stand.
+Sein romantisches, olivenfarbiges Gesicht und der müde
+Ausdruck darin fesselten ihn. Es war etwas in dem müden
+Ton seiner Stimme, was völlig in Bann schlug. Auch seine
+Hände, kühl, weiß und blumenhaft, zogen an. Sie bewegten
+sich bei seinen Worten, begleiteten sie wie Musik
+und schienen ihre eigene Sprache zu reden. Aber er hatte
+auch Angst vor ihm und schämte sich dieser Angst. Warum
+hatte ein Fremder kommen müssen, um ihn sich selber zu
+offenbaren? Er kannte Basil Hallward nun seit Monaten,
+aber diese Freundschaft hatte ihn niemals verwandelt.
+Jetzt war plötzlich jemand in sein Leben getreten, der ihm
+des Lebens Mysterium enthüllt zu haben schien. Und doch,
+wovor sollte er sich fürchten? Er war kein Schulknabe
+und kein kleines Mädchen. Es war töricht, Angst zu haben.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_38" title="38"> </a></p>
+
+<p>„Kommen Sie und setzen wir uns in den Schatten“,
+sagte Lord Henry. „Parker hat uns was zu trinken gebracht,
+und wenn Sie noch länger in solcher Sonnenglut
+stehenbleiben, werden Sie sich Ihren Teint verderben,
+und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich
+nicht von der Sonne verbrennen lassen. Es würde
+Ihnen schlecht stehen.“</p>
+
+<p>„Was läge weiter daran?“ rief Dorian Gray und
+lachte, als er sich auf eine Bank am Ende des Gartens setzte.</p>
+
+<p>„Alles sollte Ihnen daran liegen, Herr Gray.“</p>
+
+<p>„Wieso?“</p>
+
+<p>„Weil Sie die wundervollste Jugend haben, und Jugend
+ist das einzige, dessen Besitz einen Wert hat.“</p>
+
+<p>„Ich empfinde das nicht, Lord Henry.“</p>
+
+<p>„Nein, jetzt empfinden Sie es nicht. Später einmal,
+wenn Sie alt, runzlig und häßlich sind, wenn das Denken
+Furchen in Ihre Stirne gegraben und die Leidenschaft
+Ihre Lippen mit ihrem schrecklichen Feuer verbrannt hat,
+dann werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt
+können Sie hingehen, wo Sie wollen, und Sie berücken
+die ganze Welt! Wird das immer so sein?... Sie haben
+ein wundervoll schönes Gesicht, Herr Gray. Runzeln Sie
+nicht die Stirn. Sie haben es. Und Schönheit ist eine Form
+des Genies &mdash; steht in Wahrheit noch höher als das
+Genie, da sie keinerlei Erklärung bedarf. Sie ist eine der
+großen Lebenstatsachen, wie das Sonnenlicht oder der
+Lenz oder wie in dunkeln Gewässern der Widerschein der
+Silbermuschel, die wir Mond nennen. Sie kann nicht bestritten
+werden. Sie hat ein göttliches, erhabenes Recht.<a class="pagenum" name="Page_39" title="39"> </a>
+Wer sie hat, den macht sie zu einem Prinzen. Sie
+lächeln? Oh, wenn Sie sie verloren haben, lächeln Sie
+nicht mehr... Die Leute sagen manchmal, Schönheit sei
+nur etwas Äußerliches. Mag sein. Aber zum mindesten
+ist sie nicht so äußerlich wie das Denken. Für mich ist
+Schönheit aller Wunder Wunder. Nur die Hohlköpfe urteilen
+nicht nach dem Äußeren. Das wahre Geheimnis der
+Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare... Ja,
+Herr Gray, die Götter haben es gut mit Ihnen gemeint.
+Aber was die Götter schenken, rauben sie bald wieder.
+Sie haben nur ein paar Jahre, wo Sie wahrhaftig vollkommen,
+restlos leben können. Indem Ihre Jugend verrauscht
+ist, nimmt sie die Schönheit mit, und dann werden
+Sie plötzlich entdecken, daß Ihrer keine Siege mehr
+warten, oder daß Sie sich mit jenen traurigen Siegen
+werden begnügen müssen, die Ihnen die Erinnerung an
+die Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen.
+Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie näher einem
+schrecklichen Ziele. Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und
+kämpft gegen Ihre Lilien und Rosen. Sie werden fahl und
+hohlwangig, und Ihre Augen werden sich trüben. Sie
+werden unsäglich leiden... Ach! leben Sie Ihre Jugend,
+solange sie da ist. Vergeuden Sie das Gold Ihrer Tage
+nicht, leihen Sie Ihr Ohr nicht den Philistern, mühen
+Sie sich nicht, hoffnungslose Verhängnisse zu verbessern,
+geben Sie Ihr Leben nicht den Unwissenden, Niedrigen,
+den gemeinen Leuten hin! Das sind die kranken Ziele, die
+falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das
+wunderschöne Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich<a class="pagenum" name="Page_40" title="40"> </a>
+nichts verloren sein! Suchen Sie rastlos nach neuen
+Sinneseindrücken! Fürchten Sie nichts... Ein neuer Hedonismus
+&mdash; der täte unserem Jahrhundert not. Sie könnten
+sein sichtbares Symbol werden. Mit Ihrer Persönlichkeit
+können Sie alles wagen. Die Welt gehört Ihnen
+einen Sommer hindurch... Im Augenblick, da ich Sie
+sah, merkte ich, daß Sie keine Ahnung davon haben, was
+Sie wirklich sind, was Sie wirklich sein könnten. So viel
+in Ihnen entzückte mich, daß ich förmlich gezwungen war,
+Ihnen etwas über Ihre Natur zu sagen. Ich dachte mir,
+welche Tragik darin läge, wenn Sie vergebens lebten.
+Denn Ihre Jugend währt nur so kurze Zeit &mdash; so kurze
+Zeit. Die alltäglichen Wiesenblumen welken, aber sie
+blühen wieder. Der Goldregen wird im nächsten Juni genau
+so gelb sein wie heute. In einem Monat setzt die Klematis
+purpurne Sterne an, und Jahr für Jahr umhüllt
+die grüne Nacht ihrer Blätter solche Purpursterne. Aber
+wir Menschen bekommen unsere Jugend nie wieder. Die
+Freude, die den Puls des Zwanzigjährigen peitscht, läßt
+nach. Unsere Glieder versagen, die Sinne werden seicht.
+Wir verkommen und werden greuliche Verpuppungen,
+werden verfolgt von den Erinnerungen an die Leidenschaften,
+vor denen wir zurückgeschreckt sind, und an die
+reizenden Versuchungen, denen zu erliegen wir nicht den
+Mut hatten. Jugend! Jugend! Es gibt in der Welt nichts
+weiter als Jugend!“</p>
+
+<p>Dorian Gray hörte zu, mit aufgerissenen Augen und
+staunend. Der Fliederzweig, den er in der Hand hielt, fiel
+auf den Kies. Eine Biene in ihrem Pelzkleid schoß her<a class="pagenum" name="Page_41" title="41"> </a>
+und umsummte ihn einen Augenblick. Dann krabbelte sie
+eifrig auf den kleinen Blumensternen herum. Er beobachtete
+sie mit dem seltsamen Interesse an gewöhnlichen Dingen,
+das wir in uns heranzubilden suchen, wenn wir uns vor
+entscheidenden Dingen fürchten, oder wenn uns ein neues
+Gefühl erschüttert, für das wir noch keine Formel haben,
+oder wenn ein schrecklicher Gedanke das Hirn umklammert
+und verlangt, daß wir uns ihm ausliefern sollen. Nach
+einer Weile schwirrte die Biene weg. Er sah sie in den
+bunten Trompetentrichter einer tyrischen Winde kriechen.
+Die Blume schien zusammenzuzucken und bewegte sich dann
+mit Grazie hin und her.</p>
+
+<p>Plötzlich erschien der Maler unter der Tür des Ateliers
+und forderte sie mit kurzen wiederholten Zeichen auf,
+hereinzukommen. Sie sahen sich einander an und lächelten.</p>
+
+<p>„Ich warte!“ rief er. „Kommt herein! Das Licht ist
+ganz prächtig, und ihr könnt eure Gläser mitbringen.“</p>
+
+<p>Sie standen auf und schlenderten den Weg zurück. Zwei
+grünlichweiße Schmetterlinge flatterten an ihnen vorüber,
+und in dem Birnbaum an der Gartenecke begann eine
+Drossel zu flöten.</p>
+
+<p>„Es freut Sie, mich kennengelernt zu haben, Herr
+Gray?“ fragte Lord Henry und blickte ihn an,</p>
+
+<p>„Ja, jetzt bin ich erfreut darüber. Ich weiß nicht, ob
+ich's immer sein werde!“</p>
+
+<p>„Immer! das ist ein schreckliches Wort. Ich schaudere,
+wenn ich es höre. Die Frauen haben es so gern. Sie zerstören
+sich jedes Abenteuer, indem sie ihm Ewigkeit verleihen
+wollen. Außerdem ist es ein sinnloses Wort. Der<a class="pagenum" name="Page_42" title="42"> </a>
+einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer Leidenschaft,
+die ein Leben lang dauert, ist, daß die Laune ein
+bißchen länger dauert.“</p>
+
+<p>Als sie ins Atelier traten, legte Dorian Gray seine
+Hand auf Lord Henrys Arm. „Lassen Sie also unsere
+Freundschaft eine Laune sein“, sagte er leise und errötete
+über seine eigene Kühnheit. Dann bestieg er das Podium
+und nahm wieder seine Stellung ein.</p>
+
+<p>Lord Henry warf sich in einen bequemen Korbsessel und
+beobachtete ihn. Das Hin- und Herfahren des Pinsels
+auf der Leinwand war das einzige, die Stille unterbrechende
+Geräusch, nur manchmal hörte man den Schritt
+Hallwards, wenn er zurücktrat, um sein Werk aus der
+Entfernung zu prüfen. In den schrägen Sonnenstrahlen,
+die durch die offene Tür fluteten, tanzte der Staub in
+goldenen Schuppen. Über allem lagerte der schwere Duft
+der Rosen.</p>
+
+<p>Als etwa eine Viertelstunde vergangen war, hörte Hallward
+zu malen auf, betrachtete Dorian lange Zeit, sah
+dann lange auf das Bildnis, nagte an dem Stiel eines
+seiner großen Pinsel und runzelte die Stirn. „Ganz fertig“,
+rief er endlich, bückte sich und schrieb in großen grellroten
+Lettern seinen Namen in die linke Ecke der Leinwand.</p>
+
+<p>Lord Henry trat heran und betrachtete das Bild mit
+Kennerblick. Es war in der Tat ein wunderbares Kunstwerk
+und auch wunderbar ähnlich.</p>
+
+<p>„Lieber Junge,“ sagte er, „ich wünsche dir herzlich
+Glück. Es ist das beste Porträt unserer ganzen Zeit. Herr
+Gray, kommen Sie und sehen Sie selbst!“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_43" title="43"> </a></p>
+
+<p>Der Jüngling schrak wie aus einem Traume auf. „Ist
+es wirklich fertig?“ murmelte er, als er vom Podium
+herabstieg.</p>
+
+<p>„Ganz fertig“, antwortete der Maler. „Und du hast
+heute glänzend Modell gestanden. Ich bin dir sehr, sehr
+dankbar.“</p>
+
+<p>„Das ist nur mein Verdienst“, warf Lord Henry ein.
+„Nicht wahr, Herr Gray?“</p>
+
+<p>Dorian gab keine Antwort, sondern trat, ohne hinzuhören,
+vor sein Bild und wandte sich dem Werke zu. Als
+er es sah, zuckte er zusammen, und seine Wangen röteten
+sich einen Augenblick vor Vergnügen. Ein Ausdruck der
+Freude blitzte in seinen Augen, als erkenne er sich selbst
+jetzt zum ersten Male. Bewegungslos und in Staunen
+versunken, stand er da und merkte dumpf, daß Hallward
+zu ihm sprach, ohne daß er den Sinn der Worte erfaßte.
+Das Gefühl seiner eigenen Schönheit kam über ihn wie
+eine Offenbarung. Er hatte es nie vorher empfunden.
+Basil Hallwards Komplimente hatte er nur für liebenswürdige
+Übertreibungen der Freundschaft gehalten. Er
+hatte sie gehört, über sie gelacht und sie vergessen. Sein
+Wesen hatten sie niemals beeinflußt. Dann war Lord
+Henry Wotton gekommen mit seinem sonderbaren Hymnus
+auf die Jugend, seiner schrecklichen Warnung von
+ihrer Flüchtigkeit. Das hatte ihn rechtzeitig aufgerüttelt,
+und als er jetzt dastand und das Abbild der eigenen
+Schönheit betrachtete, durchdrang ihn die volle Wirklichkeit
+jener Schilderung. Ja, der Tag mußte kommen,
+da sein Gesicht verrunzelt und verwelkt, die Augen trüb<a class="pagenum" name="Page_44" title="44"> </a>
+und farblos, die Anmut seiner Gestalt geknickt und entstellt
+sein würde. Das Scharlachrot der Lippen würde
+verblassen, der Goldglanz des Haares sich wegstehlen. Das
+Leben, das von seiner Seele gebildet wurde, zerstörte
+seinen Körper. Er würde häßlich, abscheuerregend und
+formlos werden.</p>
+
+<p>Als er daran dachte, durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz
+wie ein Messerstich und ließ die feinsten Nerven seines Ichs
+erbeben. Seine Augen verdunkelten sich zu Amethysten,
+und ein Tränenflor umschleierte sie. Es war, als hätte
+sich ihm eine eiskalte Hand aufs Herz gelegt.</p>
+
+<p>„Gefällt es dir nicht?“ rief endlich Hallward, ein wenig
+gereizt durch das Schweigen des Jünglings, dessen Grund
+er nicht begriff.</p>
+
+<p>„Natürlich gefällt's ihm“, sagte Lord Henry. „Wem
+würde es nicht gefallen? Es gehört zu den größten Werken
+der modernen Kunst. Ich gebe dir jeden Betrag dafür,
+den du verlangst. Ich muß es haben.“</p>
+
+<p>„Es gehört nicht mir, Harry.“</p>
+
+<p>„Wem denn?“</p>
+
+<p>„Dorian natürlich“, antwortete der Maler.</p>
+
+<p>„Da hat er Glück...“</p>
+
+<p>„Wie traurig!“ flüsterte Dorian und hielt die Augen
+noch immer fest auf das Bild gerichtet. „Wie traurig!
+Ich werde alt werden und häßlich und widerlich. Aber
+dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über den
+heutigen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt
+sein könnte! Wenn ich ewig jung bliebe und dafür
+das Bild altern könnte! Dafür &mdash; dafür &mdash; gäbe ich alles!<a class="pagenum" name="Page_45" title="45"> </a>
+Ja, nichts in aller Welt wäre mir dafür zuviel! Ich gäbe
+meine Seele dafür!“</p>
+
+<p>„Dieser Tausch würde dir schwerlich passen, Basil“, rief
+Lord Henry lachend. „Das wäre schlimm für dein Bild.“</p>
+
+<p>„Ich würde mich ernstlich dagegen wehren, Harry“,
+sagte Hallward.</p>
+
+<p>Dorian Gray wandte sich zu ihm und sah ihn an. „Ich
+bin davon überzeugt, Basil. Die Kunst ist dir mehr als
+deine Freunde. Ich bedeute für dich nicht mehr als eine
+grüne Bronzefigur. Vielleicht kaum so viel, müßte ich
+sagen.“</p>
+
+<p>Der Maler war starr vor Erstaunen. So zu sprechen
+sah Dorian gar nicht ähnlich. Was war geschehen? Er
+schien ganz erregt. Sein Gesicht war gerötet, und die
+Wangen brannten.</p>
+
+<p>„Ja,“ fuhr er fort, „ich bin dir weniger als dieser Hermes
+aus Elfenbein oder der silberne Faun da. Die wirst
+du immer liebbehalten. Wie lange wirst du mich liebhaben?
+Vermutlich bis die erste Runzel mein Gesicht entstellt.
+Ich weiß jetzt, wenn man erst seine Schönheit verliert,
+hat man alles verloren. Dein Bild hat mich dies
+gelehrt. Lord Henry Wotton hat ganz recht. Jugend ist
+das einzige, was Wert hat auf der Welt. Sowie ich entdecke,
+daß ich alt werde, bringe ich mich um.“</p>
+
+<p>Hallward wurde bleich und faßte ihn bei der Hand.
+„Dorian, Dorian!“ rief er, „sage so etwas nicht. Ich habe
+nie einen Freund gehabt wie dich und werde nie wieder
+so einen haben. Du bist doch nicht auf leblose Dinge eifersüchtig?
+Du, der schöner ist als irgendeines von ihnen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_46" title="46"> </a></p>
+
+<p>„Ich bin eifersüchtig auf jedes Ding, dessen Schönheit
+nicht stirbt. Ich bin eifersüchtig auf das Bild, das du von
+mir gemalt hast. Warum darf es behalten, was ich verlieren
+muß? Jeder Augenblick, der verfliegt, raubt mir
+etwas und schenkt ihm etwas. Oh, wenn es doch umgekehrt
+wäre! Wenn sich das Bild verändern und ich immer bleiben
+könnte, wie ich jetzt bin! Warum hast du es gemalt?
+Es wird mich dereinst verhöhnen &mdash; furchtbar verhöhnen!“
+Die heißen Tränen traten ihm in die Augen, er zog seine
+Hand weg, warf sich auf den Diwan und vergrub sein
+Gesicht in den Kissen, als betete er.</p>
+
+<p>„Das ist dein Werk, Harry“, sagte der Maler bitter.</p>
+
+<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Es ist der wahre Dorian
+Gray &mdash; sonst nichts.“</p>
+
+<p>„Das ist er nicht.“</p>
+
+<p>„Wenn er es nicht ist, was habe ich damit zu schaffen?“</p>
+
+<p>„Du hättest weggehen sollen, als ich dich darum bat“,
+grollte er.</p>
+
+<p>„Ich blieb, als du mich darum batest“, war Lord
+Henrys Erwiderung.</p>
+
+<p>„Harry, ich kann nicht auf einmal mit meinen beiden
+besten Freunden Streit anfangen, aber ihr beide habt
+schuld, daß ich das beste Stück, das mir je gelungen ist,
+hassen muß, und ich werde es vernichten. Ist es schließlich
+mehr als Leinwand und Farbe? Ich will es nicht eingreifen
+lassen in drei Leben und sie zerstören.“</p>
+
+<p>Dorian Gray hob seinen goldschimmernden Kopf von
+dem Kissen und blickte ihn mit bleichem Gesicht und tränenfeuchten
+Augen an, als er zu dem Maltische aus Kiefernholz<a class="pagenum" name="Page_47" title="47"> </a>
+trat, der unter dem hohen verhängten Fenster stand.
+Was wollte Basil beginnen? Seine Finger wühlten zwischen
+dem Wust von Blechtuben und trockenen Pinseln
+herum, als suchten sie etwas. Ja, sie suchten das lange
+Schabmesser mit der schmalen Klinge aus schmiegsamem
+Stahl. Endlich hatte er es gefunden. Er wollte die Leinwand
+zerschlitzen.</p>
+
+<p>Mit einem erstickten Schluchzen sprang der Jüngling
+vom Diwan auf, schoß auf Hallward zu, riß ihm das
+Messer aus der Hand und schleuderte es in den äußersten
+Winkel des Ateliers. „Tu es nicht, Basil, tu es nicht“,
+schrie er. „Es wäre Mord.“</p>
+
+<p>„Ich freue mich, daß dir meine Arbeit endlich doch gefällt,
+Dorian“, sagte der Maler kühl, als er sich von
+seinem Erstaunen erholt hatte. „Ich hätte es gar nicht
+geglaubt.“</p>
+
+<p>„Gefällt? Ich bin verliebt in dies Bild, Basil. Es ist
+ja ein Teil von mir selbst. Ich fühle es.“</p>
+
+<p>„Schön, sobald du trocken bist, sollst du gefirnißt, gerahmt
+und zu dir hingeschickt werden. Dann kannst du
+mit dir anfangen, was dir beliebt.“ Er schritt durch den
+Raum und klingelte nach Tee. „Du trinkst doch Tee,
+Dorian? Du auch, Harry? Oder machst du dir nichts aus
+so einfachen Genüssen?“</p>
+
+<p>„Ich bete einfache Genüsse an“, sagte Lord Henry.
+„Sie sind die letzte Zuflucht komplizierter Naturen. Aber
+für Szenen schwärme ich nicht, außer auf der Bühne. Was
+für tolle Burschen seid ihr doch, ihr beide! Wer war es
+doch gleich, der den Menschen als ein vernünftiges Tier<a class="pagenum" name="Page_48" title="48"> </a>
+definiert hat? Das war eine der voreiligsten Definitionen,
+die je aufgestellt wurden. Der Mensch hat eine ganze
+Menge Eigenschaften, aber gewiß keine Vernunft. Alles
+in allem übrigens: Gott sei Dank, obwohl mir's eigentlich
+lieber wäre, ihr beiden Wirbelköpfe zanktet euch nicht
+um das Bild. Du solltest es lieber mir gegeben haben,
+Basil. Dieses törichte Knäblein braucht es eigentlich gar
+nicht, und ich brauche es sehr.“</p>
+
+<p>„Wenn du es einem anderen geben willst als mir, Basil,
+verzeihe ich es dir nie“, rief Dorian Gray; „und ich erlaube
+niemand, mich ein törichtes Knäblein zu nennen.“</p>
+
+<p>„Du weißt, Dorian, das Bild gehört dir. Ich hab' es
+dir geschenkt, noch ehe es vorhanden war.“</p>
+
+<p>„Und Sie wissen, Herr Gray, daß Sie ein wenig töricht
+waren und daß Sie ernstlich gar nichts dagegen haben
+können, an Ihre große Jugend erinnert zu werden.“</p>
+
+<p>„Heute früh hätte ich sehr viel dagegen gehabt, Lord
+Henry.“</p>
+
+<p>„Ah! heute früh. Seitdem haben Sie einiges erlebt.“</p>
+
+<p>Es klopfte an die Tür, und der Diener trat mit einem
+besetzten Teebrett ein und servierte auf einem kleinen japanischen
+Tisch den Tee. Die Tassen und Löffel klapperten,
+und ein georgischer Samowar begann zu summen. Zwei
+gewölbte chinesische Porzellanschüsseln wurden von einem
+jungen Diener hereingebracht. Dorian Gray ging hin und
+goß den Tee ein. Die beiden Männer schlenderten zum
+Tische und sahen nach, was unter den Deckeln der Schüsseln
+war.</p>
+
+<p>„Wir wollen heute abend ins Theater gehen“, meinte<a class="pagenum" name="Page_49" title="49"> </a>
+Lord Henry. „Irgendwo wird sicher was los sein. Ich
+habe zwar zugesagt, im White-Klub zu soupieren, aber
+mich erwartet nur ein alter Freund; ich kann ihm also
+ein Telegramm schicken, daß ich nicht wohl sei oder infolge
+einer späteren Verabredung nicht kommen könne.
+Das würde ich für eine reizende Entschuldigung halten.
+Sie hat einen förmlich überraschenden Duft von Aufrichtigkeit.“</p>
+
+<p>„Es ist so lästig, sich den Frack anzuzerren“, murmelte
+Hallward. „Und wenn man ihn anhat, sieht man so gräßlich
+aus.“</p>
+
+<p>„Ja,“ antwortete Lord Henry träumerisch, „die Kleidung
+des neunzehnten Jahrhunderts ist abscheulich. Sie
+ist so düster, so deprimierend. Die Sünde ist noch das
+einzig Farbenfreudige, das im modernen Leben übriggeblieben
+ist.“</p>
+
+<p>„Du solltest wirklich nicht solche Dinge vor Dorian
+sagen, Harry!“</p>
+
+<p>„Vor welchem Dorian? Vor dem, der uns den Tee
+einschenkt, oder dem anderen auf dem Bilde?“</p>
+
+<p>„Vor keinem.“</p>
+
+<p>„Ich ginge gerne mit Ihnen ins Theater, Lord Henry“,
+sagte der Jüngling.</p>
+
+<p>„Dann kommen Sie doch. Und du auch, Basil, nicht
+wahr?“</p>
+
+<p>„Ich kann nicht, wirklich nicht. Es ist mir lieber so. Ich
+habe eine Unmenge zu tun.“</p>
+
+<p>„Schön also. Dann müssen wir zwei allein gehen, Herr
+Gray.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_50" title="50"> </a></p>
+
+<p>„Ich freue mich riesig darauf.“</p>
+
+<p>Der Maler biß sich auf die Lippe und schritt, die Teetasse
+in der Hand, zum Bilde. „Ich bleibe hier bei dem
+wirklichen Dorian“, sagte er traurig.</p>
+
+<p>„Ist das der wirkliche?“ rief das Original und ging
+gleichfalls langsam zu ihm hin. „Bin ich wirklich so?“</p>
+
+<p>„Ja, genau so bist du.“</p>
+
+<p>„Wie wundervoll, Basil!“</p>
+
+<p>„Du siehst wenigstens jetzt so aus. Aber das Bild wird
+sich nie ändern“, seufzte Hallward. „Das ist schon etwas.“</p>
+
+<p>„Was man heute für ein großes Wesen aus der Treue
+macht!“ rief Lord Henry aus. „Und doch ist sie selbst in
+der Liebe eine rein physiologische Frage. Sie hat auch
+nicht das mindeste mit unserem eigenen Willen zu tun.
+Junge Männer wären gerne treu und sind es nicht; alte
+würden gerne untreu sein und können es nicht: das ist
+alles, was sich darüber sagen läßt.“</p>
+
+<p>„Geh heute abend nicht ins Theater, Dorian“, bat
+Hallward. „Bleibe hier und speise mit mir.“</p>
+
+<p>„Ich kann nicht, Basil.“</p>
+
+<p>„Warum?“</p>
+
+<p>„Weil ich Lord Henry Wotton zugesagt habe, ihn zu
+begleiten.“</p>
+
+<p>„Er wird dir darum nicht mehr zugetan sein, wenn du
+so treu deine Versprechungen hältst. Er bricht seine immer.
+Ich bitte dich, nicht zu gehen.“</p>
+
+<p>Dorian Gray schüttelte lachend den Kopf.</p>
+
+<p>„Ich beschwöre dich.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_51" title="51"> </a></p>
+
+<p>Der junge Mann schwankte und blickte zu Lord Henry
+hinüber, der die beiden mit einem belustigten Lächeln vom
+Teetische aus beobachtete.</p>
+
+<p>„Ich muß mit, Basil“, antwortete er.</p>
+
+<p>„Schön“, sagte Hallward und ging zum Tische hinüber,
+wo er seine Tasse hinstellte. „Es ist ziemlich spät, und da
+ihr euch noch umziehen müßt, habt ihr keine Zeit mehr
+zu verlieren. Adieu, Harry! Adieu, Dorian! Komm bald
+wieder. Komm morgen.“</p>
+
+<p>„Bestimmt.“</p>
+
+<p>„Aber nicht vergessen!“</p>
+
+<p>„Nein, natürlich nicht!“ rief Dorian.</p>
+
+<p>„Und... Harry!“</p>
+
+<p>„Ja, Basil?“</p>
+
+<p>„Vergiß nicht, was ich dir sagte, als wir am Vormittag
+im Garten saßen.“</p>
+
+<p>„Ich habe es vergessen.“</p>
+
+<p>„Ich vertraue dir.“</p>
+
+<p>„Ich wünschte, ich könnte mir selbst vertrauen“, sagte
+Lord Henry lachend. „Kommen Sie, Herr Gray, mein
+Wagen steht unten, und ich kann Sie an Ihrer Wohnung
+absetzen. Adieu, Basil! Es war ein sehr unterhaltender
+Nachmittag.“</p>
+
+<p>Als sich die Tür hinter ihnen schloß, warf sich der Maler
+auf den Diwan, und in sein Gesicht trat ein schmerzlicher
+Ausdruck.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_52" title="52"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Drittes_Kapitel" id="Drittes_Kapitel"></a>Drittes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Um zwölfeinhalb Uhr am nächsten Tage schlenderte
+Lord Henry Wotton von Curzon Street nach Albany hinüber,
+um einen Besuch zu machen bei seinem Onkel Lord
+Fermor, einem heiteren, aber ziemlich rauhen alten Junggesellen,
+den die Außenwelt einen Egoisten nannte, weil
+sie keinen besonderen Nutzen aus ihm ziehen konnte, der
+aber in der Gesellschaft als freigebig verschrien war, weil
+er die Leute, die ihn amüsierten, aufs beste fütterte. Sein
+Vater war britischer Gesandter in Madrid gewesen, als
+Isabella noch jung war und man noch nichts von Prim
+wußte, hatte sich aber in einem Augenblicke launischen
+Ärgers aus dem diplomatischen Dienste zurückgezogen,
+weil man ihm nicht den Gesandtenposten in Paris angeboten
+hatte, zu dem er sich vollauf berechtigt geglaubt
+hatte durch seine Geburt, seine Arbeitsunlust, sein gutes
+Englisch in seinen Depeschen und durch seine zügellose Vergnügungssucht.
+Der Sohn, der des Vaters Privatsekretär
+gewesen war, hatte mit seinem Chef zugleich den Abschied
+genommen, was man damals ziemlich verrückt fand, und
+als der Titel einige Monate später auf ihn überging, hatte
+er sich ernstlich dem großen aristokratischen Studium gewidmet,
+absolut nichts zu tun. Er besaß zwei große Häuser
+in der Stadt, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung
+zu hausen, weil das weniger Umstände machte,
+und speiste meistens im Klub. Er beschäftigte sich ein wenig<a class="pagenum" name="Page_53" title="53"> </a>
+mit der Verwaltung seiner Kohlenminen in den Midlandgrafschaften
+und entschuldigte diese verwerfliche industrielle
+Tätigkeit damit, daß er sagte, der einzige Vorteil, Kohlen
+zu besitzen, sei der, es einem Gentleman möglich zu
+machen, in seinem eigenen Kamin Holz zu brennen. Politisch
+war er ein Tory, außer wenn die Tories Regierungspartei
+waren, denn in solchen Zeiten verlästerte er sie
+und schimpfte sie radikales Gesindel. Er war ein Held für
+seinen Kammerdiener, der ihn drangsalierte, und ein
+Schrecken für die meisten seiner Verwandten, die er drangsalierte.
+Nur England konnte ihn erzeugt haben, und
+er selber sagte immer, daß das Land mehr und mehr
+auf den Hund käme. Seine Grundsätze waren altmodisch,
+aber an seinen Vorurteilen war etwas dran.</p>
+
+<p>Als Lord Henry ins Zimmer trat, fand er seinen Onkel
+in einem flockigen Jagdrock, eine ziemlich wohlfeile Zigarre
+im Munde und brummend in den „Times“ lesend.</p>
+
+<p>„Na, Harry,“ sagte der alte Herr, „was bringt dich so
+früh her? Ich dachte immer, ihr Dandies steht nie vor
+zwei Uhr auf und werdet nie vor fünf Uhr sichtbar.“</p>
+
+<p>„Reine Familienliebe, auf mein Wort, Onkel Georg;
+ich brauche etwas von dir.“</p>
+
+<p>„Geld vermutlich“, sagte Lord Fermor und machte ein
+saures Gesicht. „Na gut, so setz' dich und sag' mir alles.
+Ihr jungen Leute von heutzutage bildet euch ein, das
+Geld wäre alles.“</p>
+
+<p>„Ja,“ brummelte Lord Henry, während er seine Blume
+im Knopfloch zurechtrückte, „und wenn sie älter werden,
+dann wissen sie es. Aber ich brauche kein Geld. Nur Leute,<a class="pagenum" name="Page_54" title="54"> </a>
+die ihre Rechnungen zahlen, brauchen Geld, Onkel Georg,
+und ich bezahle meine nie. Kredit ist das Kapital eines
+zweitältesten Sohnes, und man kann brillant davon leben.
+Außerdem kaufe ich immer bei Dartmoors Lieferanten, und
+daher habe ich nie Scherereien. Was ich brauche, ist eine
+Auskunft, keine nützliche Auskunft natürlich, sondern nur
+eine wertlose.“</p>
+
+<p>„Ich kann dir alles sagen, Harry, was je in einem englischen
+Blaubuch gestanden hat, obwohl diese Bengels heutzutage
+einen Haufen Unsinn zusammensudeln. Als ich noch
+Diplomat war, lagen die Dinge besser. Aber ich höre, man
+stellt jetzt die Leute auf Grund einer Prüfung ein. Was
+kann man da noch erwarten? Prüfungen, mein Bester,
+sind der reine Humbug von A bis Z. Wenn einer Gentleman
+ist, weiß er schon genug, und wenn er kein Gentleman
+ist, so mag er alles Mögliche wissen, es hilft ihm doch
+nichts.“</p>
+
+<p>„Herr Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu
+schaffen“, sagte Lord Henry in seinem schläfrigen Tone.</p>
+
+<p>„Herr Dorian Gray? Wer ist das?“ fragte Lord Fermor,
+seine buschigen weißen Augenbrauen zusammenkneifend.</p>
+
+<p>„Um das zu erfahren, bin ich gerade hergekommen, Onkel
+Georg. Oder genauer gesagt, wer es ist, weiß ich. Nämlich
+der Enkel des verstorbenen Lord Kelso. Seine Mutter war
+eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich möchte, daß
+du mir etwas über seine Mutter erzählst. Was weißt du
+von ihr? Wen hat sie geheiratet? Du hast zu deiner Zeit
+doch so ziemlich alle Leute gekannt, also wahrscheinlich auch<a class="pagenum" name="Page_55" title="55"> </a>
+sie. Ich interessiere mich gegenwärtig ungemein für Herrn
+Gray. Ich habe ihn erst gestern kennengelernt.“</p>
+
+<p>„Kelsos Enkel!“ wiederholte der alte Herr, „Kelsos
+Enkel! ... natürlich ... ich war mit seiner Mutter sehr
+intim. Ich glaube, ich war sogar bei ihrer Taufe. Es war
+ein ganz außergewöhnlich schönes Mädchen, diese Margaret
+Devereux, und hat dann alle jungen Männer toll
+gemacht, als sie mit einem jungen Habenichts davonlief,
+einer absoluten Null, mein Bester, einem Fähnrich bei der
+Infanterie oder so was Ähnliches. Natürlich. Ich erinnere
+mich jetzt an die ganze Geschichte, als wäre sie gestern passiert.
+Der arme Kerl wurde dann ein paar Monate nach
+der Hochzeit in einem Duell in Spa getötet. Man erzählte
+damals eine häßliche Geschichte darüber. Man sagte,
+der alte Kelso hätte irgendeinen Schuft, so einen Abenteurer
+aus Belgien gemietet, um seinen Schwiegersohn öffentlich
+zu beleidigen, hätte ihn dafür bezahlt, mein Bester, einfach
+bezahlt, damit er es täte, und dieser Kerl spießte dann sein
+Opfer auf wie eine Taube. Die Geschichte wurde natürlich
+vertuscht, aber Kelso mußte eine Zeitlang sein Kotelett
+allein im Klub essen. Ich hörte, er brachte seine Tochter
+wieder mit, doch sie sprach nie mehr ein Wort mit ihm.
+O jawohl, das war eine böse Sache. Das Mädel starb
+dann auch, kaum ein Jahr später. So, sie hat also einen
+Sohn hinterlassen? Das hatte ich ganz vergessen. Was
+für ein Junge ist es denn? Wenn er seiner Mutter ähnlich
+sieht, muß es ein hübsches Kerlchen sein.“</p>
+
+<p>„Er ist sehr hübsch“, stimmte Lord Henry bei.</p>
+
+<p>„Ich hoffe, er wird in die rechten Hände kommen“, fuhr<a class="pagenum" name="Page_56" title="56"> </a>
+der alte Mann fort. „Es muß ein Haufen Geld auf ihn
+warten, wenn Kelso pflichtgemäß an ihm handelte. Seine
+Mutter hatte übrigens auch Geld. Der ganze Selbysche
+Besitz fiel ihr durch ihren Großvater zu. Ihr Großvater
+haßte Kelso, hielt ihn für einen gemeinen Köter. War es
+übrigens auch. Er kam mal nach Madrid, als ich dort war.
+Na, ich mußte mich des Kerls schämen. Die Königin
+pflegte mich nach dem englischen Edelmann zu fragen, der
+sich immer mit den Kutschern über die Taxe zankte. Man
+machte einen ganzen Roman daraus. Ich wagte einen
+Monat lang nicht, bei Hof zu erscheinen. Ich hoffe, er hat
+seinen Enkel besser behandelt als die Droschkenkutscher.“</p>
+
+<p>„Darüber weiß ich nichts“, erwiderte Lord Henry. „Ich
+vermute aber, der junge Mann wird einmal wohlhabend
+werden. Er ist noch nicht volljährig. Selby gehört ihm,
+das weiß ich. Er hat es mir gesagt. Und... seine Mutter
+war also sehr schön?“</p>
+
+<p>„Margaret Devereux war eines der entzückendsten Geschöpfe,
+die ich je gesehen habe, Harry. Was in aller Welt
+sie dazu getrieben hat, so zu handeln, habe ich nie verstehen
+können. Sie hätte jeden Mann heiraten können, den sie
+wollte. Carlington war wahnsinnig verschossen in sie. Aber
+sie war romantisch veranlagt. Alle Frauen dieser Familie
+waren so. Die Männer waren ein trauriges Gesindel, aber
+beim Himmel! die Weiber waren wunderbar! Carlington
+lag vor ihr auf den Knien. Hat's mir selber gebeichtet.
+Sie lachte ihn aus, und es gab damals in London kein
+Mädel, das nicht hinter ihm hergewesen wäre. Übrigens,
+Harry, da wir schon über Mesalliancen reden: was ist das<a class="pagenum" name="Page_57" title="57"> </a>
+für ein Unsinn, den mir dein Vater von Dartmoor erzählt,
+der eine Amerikanerin heiraten will? Sind englische Mädels
+für ihn nicht gut genug?“</p>
+
+<p>„Es ist jetzt Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel
+Georg.“</p>
+
+<p>„Ich verteidige die englischen Frauen gegen die ganze
+Welt, Harry“, sagte Lord Fermor und schlug mit der
+Faust auf den Tisch.</p>
+
+<p>„Man reißt sich um die Amerikanerinnen.“</p>
+
+<p>„Sie halten sich nicht, hat man mir gesagt“, brummte
+der Onkel.</p>
+
+<p>„Ein langes Verlobtsein erschöpft sie, aber für eine
+Steeplechase sind sie brillant. Sie sind Flieger. Ich glaube
+nicht, daß Dartmoor Chance hat.“</p>
+
+<p>„Was ist's für eine Familie?“ murrte der alte Herr.
+„Hat sie überhaupt eine?“</p>
+
+<p>Lord Henry schüttelte den Kopf. „Amerikanische Mädchen
+sind ebenso klug, ihre Eltern zu verbergen, wie englische
+Frauen im Verbergen ihrer Vergangenheit“, antwortete
+er und stand auf, um wegzugehen.</p>
+
+<p>„Also vermutlich Schweinefleischhändler.“</p>
+
+<p>„Das hoffe ich, Onkel Georg, in Dartmoors Interesse.
+Man hat mir gesagt, mit Schweinefleischbüchsen zu handeln,
+soll nächst der Politik der einträglichste Beruf in
+Amerika sein.“</p>
+
+<p>„Ist sie hübsch?“</p>
+
+<p>„Sie benimmt sich so, als wäre sie es. Das tun die
+meisten Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihres
+magnetischen Reizes.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_58" title="58"> </a></p>
+
+<p>„Warum bleiben diese amerikanischen Weiber nicht in
+ihrem Lande? Sie sagen doch immer, es sei das Paradies
+für Frauen.“</p>
+
+<p>„Das ist es auch. Und das ist auch der Grund, warum
+sie wie Eva so gern daraus weg wollen“, sagte Lord
+Henry. „Adieu, Onkel Georg! Ich komme zu spät zum
+Frühstück, wenn ich noch länger bleibe. Danke sehr für die
+Auskunft, die du mir gabst. Ich habe immer das Bedürfnis,
+von meinen neuen Freunden alles zu hören und
+möglichst nichts von meinen alten.“</p>
+
+<p>„Wo wirst du frühstücken, Harry?“</p>
+
+<p>„Bei Tante Agatha. Ich habe mich mit Herrn Gray
+dort angesagt. Es ist ihr neuestes Protektionskind.“</p>
+
+<p>„Hm! sag' der Tante Agatha, Harry, sie soll mich mit
+ihrem Wohltätigkeitskrempel ungeschoren lassen. Ich habe
+sie bis hierher! Weiß Gott, das gute Frauenzimmer meint,
+ich hätte nichts zu tun als Schecks für ihre langweiligen
+Vereinsmeiereien auszuschreiben.“</p>
+
+<p>„Abgemacht, Onkel Georg, ich werde es ihr bestellen,
+aber es wird nichts nutzen. Wohltätigkeitsmegären verlieren
+alle Menschlichkeit. Das ist ihr hervorstechendstes
+Merkmal.“</p>
+
+<p>Der alte Herr brummte zustimmend und klingelte seinem
+Diener. Lord Henry schritt durch die niedrigen Arkaden
+nach Burlington Street und lenkte dann seine Schritte in
+die Richtung nach Berkeley Square.</p>
+
+<p>Das war also die Geschichte von Dorian Grays Eltern.
+So roh umrissen sie ihm auch geschildert worden war, sie
+hatte ihn doch nach Art eines seltsamen, geradezu modernen<a class="pagenum" name="Page_59" title="59"> </a>
+Romans erregt. Eine schöne Frau, die alles für
+eine wahnsinnige Leidenschaft einsetzt. Ein paar wilde,
+wonnige Wochen, jäh abgeschnitten durch ein abscheuliches,
+heimtückisches Verbrechen, Monate stummer Todesverzweiflung,
+und dann ein Kind unter Schmerzen geboren. Die
+Mutter vom Tode weggemäht, der Knabe der Einsamkeit
+und der Tyrannei eines alten, lieblosen Mannes ausgeliefert.
+Ja, das war ein interessanter Hintergrund. Er
+gab dem jungen Menschen Relief, machte ihn noch vollkommener.
+Hinter allem Köstlichen in der Welt lauert
+eine geheime Tragödie, Welten müssen in Schwingung
+sein, damit die kleinste Blume erblühen kann... Und wie
+entzückend war er gestern abend gewesen, als er ihm mit
+erschreckten Augen, die Lippen in scheuem Verlangen geöffnet,
+im Klub gegenüber gesessen und die roten Kerzenschirme
+das erwachende Wunder seines Gesichts in einen
+noch rosenfarbenen Ton getaucht hatten. Mit ihm
+sprechen, das war wie auf einer auserlesenen Geige spielen.
+Er gab jedem Druck nach, jeder zitternden Berührung
+des Bogens... Es lag doch etwas unerhört Knechtendes
+darin, auf jemand Einfluß auszuüben. Keine andere Tätigkeit
+kam dem gleich. Seine eigene Seele in eine anmutige
+Form gießen und sie darin einen Augenblick lang verweilen
+lassen: seine eigenen Gedankenakkorde im Echo
+zurückbekommen, bereichert durch die Musik der Leidenschaft
+und Jugend: sein eigenes Temperament in ein
+anderes hineinversenken, als wäre es das allerätherischste
+Fluidum oder ein seltener Wohlgeruch: darin lag eine
+wahre Lust &mdash; vielleicht die allerbefriedigendste Lust, die<a class="pagenum" name="Page_60" title="60"> </a>
+uns übriggeblieben ist, in einer so beschränkten und ordinären
+Zeit wie die unsere, die so derbfleischlich in ihren
+Genüssen und so grobzufassend in ihren Begierden ist...
+Auch war er ein wundervoller Typus, dieser junge Mensch,
+den er durch einen so wunderbaren Zufall in Basils Atelier
+kennengelernt hatte, oder konnte jedenfalls zu einem
+wunderbaren Typus umgemodelt werden. Anmut war ihm
+verliehen und die schneeige Reinheit der Jünglingschaft,
+und eine Schönheit, wie man sie bei alten griechischen
+Marmorbildern findet. Nichts gab es, was sich nicht aus
+ihm machen ließe. Man konnte einen Titanen oder ein
+Spielzeug aus ihm machen. Welch Jammer, daß solche
+Schönheit dahinwelken muß... Und Basil? Wie interessant
+war doch er für den Psychologen! Diese neue Art
+von Kunst, diese neue Weise, das Leben anzuschauen, die
+ihm auf das seltsamste durch die sichtbare Gegenwart
+eines Menschen erweckt wurde, der von alledem nichts
+wußte: der stille Geist, der in einer düsteren Waldlandschaft
+wohnte und ungesehen ins offene Feld entwandelte,
+enthüllte sich plötzlich wie eine Dryade, und ohne Scheu,
+weil in der Seele, die sehnsüchtig nach ihm suchte, jene
+wundersame Vision wach geworden war, der nur die
+außerordentlichen Dinge offenbar werden: die bloßen
+Formen und Linien der Dinge wurden gleichsam edler
+und bekamen eine Art von symbolischer Bedeutung, als
+wären sie selbst nur Schatten einer anderen und vollendeteren
+Form, deren Abbilder sie zur Wirklichkeit erhoben:
+wie merkwürdig das alles war! Er erinnerte sich,
+daß es in der Geschichte irgend etwas Ähnliches gab. War<a class="pagenum" name="Page_61" title="61"> </a>
+es nicht Plato, dieser Künstler in der Welt der Gedanken,
+der es als erster untersucht hatte? War es nicht Buonarotti,
+der es in den farbigen Marmor seiner Sonettreihe
+gemeißelt hatte? Aber in unserem Jahrhundert war es
+etwas Seltenes... Ja, er wollte versuchen, für Dorian
+Gray das zu sein, was der Jüngling, ohne es zu wissen,
+für den Maler war, der das prächtige Bildnis geschaffen
+hatte. Er wollte versuchen, in ihm zu herrschen &mdash; hatte
+es in Wahrheit schon zum Teil getan. Er wollte diesen
+wunderbaren Geist zu seinem eigenen machen. Es war
+etwas unwiderstehlich Magnetisches in diesem Abkömmling
+von Tod und Liebe.</p>
+
+<p>Plötzlich blieb er stehen und sah an den Häusern hinauf.
+Er entdeckte, daß er bereits an dem Hause seiner Tante
+vorbeigegangen sei, und ging stillächelnd zurück. Als er
+in die etwas düstere Halle eintrat, sagte ihm der Diener,
+die Herrschaften seien schon beim Frühstück. Er gab einem
+Lakai Hut und Stock und ging in den Speisesaal.</p>
+
+<p>„Spät wie immer, Harry“, rief seine Tante, ihm zunickend.</p>
+
+<p>Er erfand eine glaubwürdige Entschuldigung, setzte sich
+auf den leeren Platz neben sie und sah sich um, zu sehen,
+wer noch da war. Dorian begrüßte ihn schüchtern vom
+Ende des Tisches her, und seine Wangen wurden vor geheimer
+Freude rot. Gegenüber saß die Herzogin von
+Harley, eine Dame von bewunderungswürdig guter
+Laune und ebensolchem Charakter, die jeder gern hatte
+und deren Körper in jenen erhabenen architektonischen
+Maßen aufgebaut war, der von zeitgenössischen Geschichtsschreibern
+bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind,<a class="pagenum" name="Page_62" title="62"> </a>
+als Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß
+Sir Thomas Burdon, ein radikales Parlamentsmitglied,
+das im öffentlichen Leben seinem Parteichef Gefolge leistete
+und im privaten den besten Küchenchefs, der nach
+einer weisen und allgemein verbreiteten Lebensregel mit
+den Tories dinierte und mit den Liberalen geistig übereinstimmte.
+Den Platz an ihrer Linken nahm Herr Erskine
+of Treadley ein, ein alter prächtiger und gebildeter Herr,
+der sich die schlechte Gewohnheit des Schweigens angeeignet
+hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte,
+schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr alles
+gesagt hatte, was er überhaupt zu sagen hatte. Seine
+Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen
+seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den
+Frauen, aber so geschmacklos verputzt, daß man bei ihrem
+Anblick immer an ein schlechtgebundenes Gebetbuch denken
+mußte. Zu seinem Glück saß an ihrer anderen Seite
+Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in den
+besten Jahren, der so kahl war wie der Bericht eines
+Ministers auf eine Interpellation im Unterhaus, und mit
+ihm unterhielt sie sich in jenem intensiv-ernsten Tone, der,
+wie Lord Henry einmal selbst geäußert hatte, der eine
+unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten
+Menschen verfallen, und den keiner von ihnen völlig vermeiden
+kann.</p>
+
+<p>„Wir sprechen über den bedauernswerten Dartmoor,
+Henry“, rief die Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch
+zunickend. „Glauben Sie, daß er wirklich die berückende
+junge Dame heiratet?“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_63" title="63"> </a></p>
+
+<p>„Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich fest vorgenommen,
+um das Jawort zu bitten.“</p>
+
+<p>„Wie schrecklich“, rief Lady Agatha. „Dann sollte sich
+wirklich jemand ins Mittel legen.“</p>
+
+<p>„Ich erfahre aus einer ganz vorzüglichen Quelle, daß ihr
+Vater ein Kurzwarengeschäft in Amerika hat“, sagte Sir
+Thomas Burdon mit einem überlegenen Blicke.</p>
+
+<p>„Mein Onkel hat behauptet: Schweinefleischlieferant,
+Sir Thomas.“</p>
+
+<p>„Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?“
+fragte die Herzogin und erhob staunend ihre großen Hände
+und dabei jede Silbe betonend.</p>
+
+<p>„Amerikanische Romane“, antwortete Lord Henry und
+nahm von den Wachteln.</p>
+
+<p>Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht.</p>
+
+<p>„Geben Sie nicht acht auf ihn, meine Liebe,“ wisperte
+ihr Lady Agatha zu, „er meint nie im Ernst, was er
+sagt.“</p>
+
+<p>„Als Amerika entdeckt wurde,“ sagte der radikale Abgeordnete
+und ließ einige langweilige Tatsachen vom Stapel.
+Wie alle Menschen, die bestrebt sind, ein Thema zu erschöpfen,
+erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin seufzte und
+benützte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. &mdash; „Wollte Gott, es
+wäre überhaupt nicht entdeckt worden“, rief sie aus. „Unsere
+Töchter haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr.
+Das ist geradezu empörend!“</p>
+
+<p>„Vielleicht ist Amerika überhaupt nicht entdeckt worden,
+wenn man's recht betrachtet“, sagte Herr Erskine. „Ich
+würde eher sagen, daß es nur aufgefunden worden ist.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_64" title="64"> </a></p>
+
+<p>„Oh, ich muß aber gestehen, daß ich einige Exemplare
+seiner Bewohnerinnen gesehen habe,“ antwortete die Herzogin
+zerstreut, „ich muß zugeben, die meisten von ihnen
+sind ausgesprochen hübsch. Und außerdem ziehen sie sich gut
+an. Sie beziehen alle ihre Kleider aus Paris. Ich wollte,
+ich könnte mir das auch leisten.“</p>
+
+<p>„Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie
+nach Paris“, gluckste Sir Thomas, der eine große Kiste
+voll abgelegter Scherze sein eigen nannte.</p>
+
+<p>„In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner,
+wenn sie sterben?“ fragte die Herzogin.</p>
+
+<p>„Sie gehen nach Amerika“, murmelte Lord Henry.</p>
+
+<p>Sir Thomas runzelte die Stirn. „Ich fürchte, Ihr Neffe
+hat Vorurteile gegen dieses große Land“, sagte er zu Lady
+Agatha. „Ich habe es ganz bereist im Eisenbahnwagen,
+die mir die Direktionen zur Verfügung stellten. Man ist
+da in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich versichere
+Ihnen, es ist eine vorzüglich bildende Reise da drüben.“</p>
+
+<p>„Aber müssen wir wirklich nach Chicago schwimmen, um
+unsere Bildung zu vervollständigen?“ fragte Herr Erskine
+wehmütig. „Ich fühle mich wirklich zu solcher Reise nicht
+aufgelegt.“</p>
+
+<p>Sir Thomas winkte mit der Hand. „Herr Erskine of
+Treadley besitzt die Welt auf seinen Bücherregalen. Wir
+Männer des praktischen Lebens lieben es, die Dinge zu
+sehen, nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein
+außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig
+Vernunftmenschen. Ich glaube, das ist ihr Charaktermerkmal.
+Ja, Herr Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft<a class="pagenum" name="Page_65" title="65"> </a>
+beherrschtes Volk. Ich versichere Ihnen, es gibt bei den
+Amerikanern keinerlei Unsinn.“</p>
+
+<p>„Wie schrecklich!“ rief Lord Henry aus. „Ich kann rohe
+Gewalt vertragen, aber rohe Vernunft ist mir unerträglich.
+Ich finde immer, daß ihre Anwendung unbillig ist.
+Es heißt den Geist unterjochen.“</p>
+
+<p>„Ich verstehe Sie nicht“, erwiderte Sir Thomas und
+wurde etwas rot.</p>
+
+<p>„Ich verstehe Sie, Lord Henry“, murmelte Herr Erskine
+lächelnd.</p>
+
+<p>„Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut...“,
+nahm der Baronet wieder das Wort.</p>
+
+<p>„War das ein Paradoxon?“ fragte Herr Erskine. „Ich
+habe es nicht dafür gehalten. Vielleicht war es eins. Nun,
+der Weg zur Wahrheit scheint mit Paradoxen gepflastert
+zu sein. Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir sie auf
+gespanntem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten
+Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.“</p>
+
+<p>„Mein großer Gott!“ sagte Lady Agatha, „was für
+eine Art zu diskutieren habt ihr Männer. Ich verstehe
+nie ein einziges Wort von eurem Gerede. Mit dir, Harry,
+oh! bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren lieben
+Herrn Dorian Gray zu überreden, nicht mehr ins East-End
+zu gehen? Ich versichere dir, er wäre dort für uns unschätzbar;
+sein Spiel würde die Leute ungemein begeistern.“</p>
+
+<p>„Mir ist es lieber, wenn er für mich spielt“, rief Lord
+Henry lächelnd, sah am Tisch hinunter, wo ihn ein fröhlich
+antwortender Blick traf.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_66" title="66"> </a></p>
+
+<p>„Aber sie sind in Whitechapel so unglücklich“, fuhr
+Lady Agatha wieder fort.</p>
+
+<p>„Ich kann mit allem möglichen Mitgefühl haben,“ sagte
+Lord Henry, die Achseln zuckend, „außer mit Leiden. Damit
+kann ich keine Sympathie haben. Es ist zu häßlich, zu
+schrecklich, zu niederdrückend. In der heut modernen Sympathie
+für die Leiden liegt etwas schrecklich Krankhaftes.
+Man sollte mit Farben sympathisieren, mit Schönheit, mit
+Lebensfreude. Je weniger man über das Elend des Lebens
+sagt, desto besser.“</p>
+
+<p>„Aber das East-End ist ein sehr wichtiges Problem“,
+bemerkte Sir Thomas mit ernstem Kopfschütteln.</p>
+
+<p>„Sicherlich“, antwortete der junge Lord. „Es ist das
+Problem der Sklaverei, und wir versuchen es derart zu
+lösen, daß wir die Sklaven amüsieren.“</p>
+
+<p>Der Politiker sah ihn mit einem forschenden Blicke an.
+„Welche Änderung schlagen Sie also vor?“</p>
+
+<p>Lord Henry lachte. „Ich habe gar nicht das Verlangen,
+in England etwas zu ändern außer dem Wetter“,
+entgegnete er. „Ich begnüge mich mit philosophischer
+Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch
+übermäßigen Verbrauch von Sympathie Bankrott geworden
+ist, möchte ich vorschlagen, daß man sich an die
+Wissenschaft hält, damit diese uns wieder aufrichtet. Der
+Vorteil der Gefühle liegt darin, daß sie uns in die Irre
+führen, und der Vorteil der Wissenschaft darin, daß sie
+sich mit Gefühlen nicht abgibt.“</p>
+
+<p>„Aber auf uns liegen so ernste Verantwortlichkeiten“,
+warf Frau Vandeleur schüchtern ein.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_67" title="67"> </a></p>
+
+<p>„Entsetzlich schwere“, stimmte Lady Agatha ein.</p>
+
+<p>Lord Henry sah zu Herrn Erskine hinüber. „Die Menschheit
+nimmt sich selber zu ernst. Das ist die Todsünde
+der Welt. Wenn die Höhlenmenschen schon hätten lachen
+können, hätte die Weltgeschichte andere Wege eingeschlagen.“</p>
+
+<p>„Ihre Worte klingen sehr tröstlich“, trillerte die Herzogin.
+„Ich habe immer eine Art Schuldgefühl gehabt, wenn
+ich Ihre liebe Tante besuchte, denn ich nehme nicht das
+geringste Interesse an East-End. In Zukunft werde ich
+ihr ohne zu erröten ins Gesicht sehen können.“</p>
+
+<p>„Erröten ist ein vorzügliches Schönheitsmittel“, bemerkte
+Lord Henry.</p>
+
+<p>„Nur wenn man jung ist“, antwortete sie. „Wenn eine
+alte Frau wie ich errötet, ist es ein sehr schlechtes
+Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wünschte, Sie könnten mir
+sagen, wie man wieder jung wird!“</p>
+
+<p>Er dachte einen Augenblick nach. „Können Sie sich
+an irgendeinen großen Fehler erinnern, den Sie in der
+Jugend begangen haben?“ fragte er dann, sie fest über
+den Tisch hin ansehend.</p>
+
+<p>„An eine ganze Menge, fürchte ich!“ rief sie aus.</p>
+
+<p>„Dann begehen Sie sie wieder“, entgegnete er ernst.
+„Um seine Jugend zurückzubekommen, braucht man nur
+seine Torheiten zu wiederholen.“</p>
+
+<p>„Eine allerliebste Theorie!“ rief sie. „Ich muß sie mal
+in die Praxis umsetzen.“</p>
+
+<p>„Eine gefährliche Theorie“, sagte Sir Thomas, seine
+dünnen Lippen zusammenkneifend. Lady Agatha schüttelte<a class="pagenum" name="Page_68" title="68"> </a>
+den Kopf, aber sie amüsierte sich doch. Herr Erskine
+lauschte.</p>
+
+<p>„Ja,“ fuhr Henry fort, „das ist eines der großen
+Lebensgeheimnisse. Heutzutage sterben die meisten Leute
+an einer Art von schleichender Verständigkeit, und erst,
+wenn es zu spät ist, kommen sie dahinter, daß die einzigen
+Dinge, die man niemals bereut, die Torheiten sind.“</p>
+
+<p>Nun lachte der ganze Tisch.</p>
+
+<p>Er spielte jetzt mit diesem Einfall nach Willkür; warf
+ihn in die Luft und änderte ihn um: ließ ihn entwischen
+und haschte ihn wieder auf: ließ ihn phantastisch glitzern
+und gab ihm Paradoxe als Flügel. Als er fortfuhr, rundete
+sich dieser Ruhm der Narretei in ein philosophisches
+System und die Philosophie selbst wurde dabei jung und
+tanzte, begleitet von der tollen Musik der Lust, in ihrem
+von Wein befleckten Gewande und mit Efeu bekränzten
+Locken, wie eine Bacchantin über die Hügel des Lebens
+und neckte den plumpen Silen, weil er nüchtern blieb. Die
+Tatsachen flüchteten vor ihr wie das erschreckte Getier
+des Waldes. Ihre weißen Füße stampften in der ungefügen
+Kelter, an der der weise Omar sitzt, bis der schäumende
+Traubensaft in purpurblasigen Wellen an ihren nackten
+Gliedern aufspritzte oder in rotem Gischt über die dunkeln,
+triefenden, gewölbten Seiten der Kufe herabrann. Es war
+eine ganz brillante Improvision. Er empfand, daß die
+Augen Dorian Grays auf ihn gerichtet waren, und das
+Bewußtsein, daß es unter seinen Zuhörern einen gab,
+dessen Temperament er zu bezaubern wünschte, gab seinem
+Witz Würzigkeit und seiner Phantasie Farbe. Er<a class="pagenum" name="Page_69" title="69"> </a>
+war geistreich, phantasievoll, unwiderstehlich. Er begeisterte
+seine Zuhörer dahin, aus sich heraus zu gehen,
+und lachend folgten sie seiner Rattenfängerpfeife. Dorian
+Gray verwandte seinen Blick nicht von ihm, sondern saß
+wie unter einem Zauberbanne da, während ein Lächeln
+nach dem andern auf seine Lippen trat und sich das Staunen
+in seinen dunklen Augen immer mehr vertiefte.</p>
+
+<p>Endlich betrat die Wirklichkeit im Kleide des Alltags das
+Zimmer, und zwar in Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin
+meldete, daß ihr Wagen warte. Sie rang ihre Hände
+in geschauspielerter Verzweiflung. „Wie schade!“ rief sie
+aus. „Ich muß fort. Muß meinen Mann im Klub abholen
+und mit ihm zu irgendeiner albernen Sitzung bei Willis
+fahren, wo er präsidiert. Wenn ich zu spät komme, ist er
+sicher ärgerlich, und in dem Hut, den ich aufhabe, könnte
+ich eine Szene nicht vertragen. Er ist viel zu gebrechlich
+dazu. Ein rauhes Wort und er wäre ruiniert. Nein,
+liebe Agatha, ich muß fort. Adieu, Lord Henry! Sie sind
+ein ganz entzückender Mensch und fürchterlich unmoralisch.
+Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich zu Ihren Ansichten
+sagen soll. Sie müssen mal bei uns zu Abend essen. Dienstag?
+Sind Sie Dienstag frei?“</p>
+
+<p>„Für Sie würde ich jede andere Verabredung im
+Stich lassen, Frau Herzogin“, sagte Lord Henry, sich verbeugend.</p>
+
+<p>„Ah! Das ist sehr nett und sehr abscheulich von Ihnen“,
+rief sie; „vergessen Sie also nicht zu kommen“, und sie
+rauschte aus dem Zimmer, von Lady Agatha und den
+anderen Damen begleitet.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_70" title="70"> </a></p>
+
+<p>Als sich Lord Henry wieder gesetzt hatte, kam Herr
+Erskine zu ihm, zog seinen Stuhl ganz nahe zu ihm hin
+und legte die Hand auf seinen Arm.</p>
+
+<p>„Sie reden wie ein Buch“, sagte er; „warum schreiben
+Sie keins?“</p>
+
+<p>„Ich lese Bücher viel zu gerne, als daß ich Lust hätte,
+eins zu schreiben, Herr Erskine. Gewiß möchte ich manchmal
+einen Roman schreiben, der so entzückend und ebenso
+unwirklich sein müßte wie ein persischer Teppich. Aber
+in England gibt es ja kein literarisches Publikum außer
+für Zeitungen, Katechismen und Konversationslexika. Von
+allen Völkern des Erdballs haben die Engländer den
+am wenigsten entwickelten Sinn für die Schönheit der
+Literatur.“</p>
+
+<p>„Ich fürchte, Sie haben recht“, antwortete Herr Erskine.
+„Ich selbst habe einstmals literarischen Ehrgeiz gehabt, aber
+ich habe ihn längst abgelegt. Und nun, mein lieber junger
+Freund, wenn Sie mir erlauben wollen, Sie so zu nennen,
+darf ich Sie fragen, ob Sie wirklich alles im Ernst meinten,
+was Sie uns bei Tisch gesagt haben?“</p>
+
+<p>„Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe“, antwortete
+Lord Henry lächelnd. „Es war wohl sehr toll?“</p>
+
+<p>„Allerdings, sehr toll! Ich glaube wirklich, daß Sie ein
+äußerst gefährlicher Mensch sind, und wenn unserer guten
+Herzogin irgend etwas zustößt, so werden wir alle Sie in
+erster Linie dafür verantwortlich machen. Aber ich würde
+mit Ihnen gern einmal länger über das Leben debattieren.
+Die Generation, in die ich hineingeboren wurde, war sehr
+langweilig. Wenn Sie mal londonmüde sind, kommen Sie<a class="pagenum" name="Page_71" title="71"> </a>
+doch nach Treadley und setzen Sie mir da Ihre Philosophie
+des Genusses auseinander bei einem ganz köstlichen
+Burgunder, den zu besitzen ich so glücklich bin.“</p>
+
+<p>„Das wird mir ein großes Vergnügen sein. Ein Besuch
+in Treadley ist ein großer Vorzug. Es hat einen vollkommenen
+Wirt und eine vollkommene Bibliothek.“</p>
+
+<p>„Die mit Ihnen vollständig werden wird“, antwortete
+der alte Herr mit einer höflichen Verbeugung. „Und jetzt
+muß ich Ihrer trefflichen Tante adieu sagen. Ich muß
+ins Athenäum. Es ist die Stunde, wo wir dort schlafen.“</p>
+
+<p>„Sie alle, Herr Erskine?“</p>
+
+<p>„Vierzig von uns in vierzig Klubsesseln. Wir üben uns
+für eine Akademie anglaise.“</p>
+
+<p>Lord Henry lachte und stand auf. „Ich gehe in den
+Park!“ rief er aus.</p>
+
+<p>Als er durch den Türrahmen schritt, berührte ihn Dorian
+Gray am Arm. „Erlauben Sie mir, mitzukommen“, flüsterte
+er.</p>
+
+<p>„Aber ich dachte, Sie haben Basil Hallward versprochen,
+ihn zu besuchen“, wandte Lord Henry ein.</p>
+
+<p>„Ich möchte lieber mit Ihnen gehen; ja ich fühle, ich
+muß mit Ihnen mitkommen. Bitte, erlauben Sie es. Und
+versprechen Sie mir, die ganze Zeit zu erzählen? Niemand
+spricht so entzückend wie Sie.“</p>
+
+<p>„Ah! Ich habe für heute gerade genug geredet“, sagte
+Lord Henry und lächelte. „Alles, was ich jetzt möchte, ist,
+das Leben zu beschauen. Sie können mitkommen und mitanschauen,
+wenn Sie wollen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_72" title="72"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Viertes_Kapitel" id="Viertes_Kapitel"></a>Viertes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian
+Gray zurückgelehnt in einem schwellenden Sessel der kleinen
+Bibliothek in Lord Henrys Hause in Mayfair. Es war in
+seiner Art ein allerliebster Raum, bis hoch hinauf mit
+olivenfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen
+Deckenfries und mit Stuckverzierungen und mit einem
+ziegelfarbigen Filzteppich, der in langen Seidenfransen
+auslief. Auf einem niedlichen Tischchen aus Satinholz
+stand eine Figur von Clodion, und daneben lag eine Ausgabe
+der Cent Nouvelles, die für Margarete von Valois
+von Clovis Eve eingebunden und mit goldenen Gänseblümchen
+verziert war, wie sie die Königin auf ihr Wappenzeichen
+gewählt hatte. Auf dem Kaminsims standen ein
+paar große blaue Porzellanvasen mit Papageientulpen,
+und durch die schmalen, bleigerahmten Rautenfelder der
+Fenster drang das aprikosenfarbene Licht eines Londoner
+Sommertages.</p>
+
+<p>Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er
+kam grundsätzlich zu spät, da sein Grundsatz war, Pünktlichkeit
+stehle einem die Zeit. Daher sah der junge Mann
+etwas gelangweilt aus, als er mit lässigen Fingern die
+Seiten einer reichillustrierten Ausgabe von Manon Lescaut
+durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden
+hatte. Das abgemessene gleichförmige Ticktack der Louis-Quatorze-Uhr
+machte ihn nervös. Ein- oder zweimal
+machte er schon Miene, wegzugehen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_73" title="73"> </a></p>
+
+<p>Endlich hörte er draußen einen Schritt und die Tür
+öffnete sich. „Wie spät du kommst, Harry!“ sagte er leisen
+Vorwurfs.</p>
+
+<p>„Zu meinem Bedauern ist es nicht Harry, Herr Gray“,
+antwortete eine schrille Stimme.</p>
+
+<p>Er sah sich rasch um und sprang auf die Füße.</p>
+
+<p>„Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte &mdash;“</p>
+
+<p>„Sie glaubten, es sei mein Mann. Es ist nur seine
+Frau. Ich muß mich schon selbst vorstellen. Ich kenne Sie
+aus Ihren Photographien ganz gut. Ich glaube, mein
+Mann hat ihrer siebzehn.“</p>
+
+<p>„Nicht siebzehn, Lady Henry.“</p>
+
+<p>„Schön, also achtzehn. Und dann habe ich Sie gestern
+abend mit ihm in der Oper gesehen.“ Während sie sprach,
+lachte sie nervös und beobachtete ihn mit ihren verschwommenen
+Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine absonderliche
+Frau, deren Kleider immer so aussahen, als wären
+sie in einem Wutanfall gezeichnet und während eines
+Gewitters angezogen worden. Sie war gewöhnlich in
+irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft nie erwidert
+wurde, hatte sie sich alle ihre Illusionen bewahrt.
+Sie machte den Versuch, malerisch zu erscheinen, aber es
+gelang ihr nur, unordentlich auszusehen. Sie hieß Viktoria
+und hatte eine krankhafte Leidenschaft, in die Kirche zu
+laufen.</p>
+
+<p>„Das war im Lohengrin, Lady Henry, nicht wahr?“</p>
+
+<p>„Ja, es war bei dem entzückenden Lohengrin. Ich liebe
+Wagners Musik mehr als die irgendeines anderen. Sie ist
+so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne<a class="pagenum" name="Page_74" title="74"> </a>
+daß die Nachbarn hören, was man sagt. Das ist ein
+dankenswerter Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Herr Gray?“</p>
+
+<p>Über ihre dünnen Lippen kam wieder das nervöse Stakkatolachen,
+und ihre Finger begannen mit einem langen
+Papiermesser aus Schildkrot zu spielen.</p>
+
+<p>Dorian schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bedaure,
+Lady Henry, das ist nicht meine Meinung. Ich unterhalte
+mich nie, während man spielt &mdash; wenigstens nicht, wenn es
+gute Musik ist. Wenn man schlechte Musik hört, ist man
+freilich verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu ertränken.“</p>
+
+<p>„Ah, das ist eine von Harrys Sentenzen, nicht wahr,
+Herr Gray? Ich bekomme Harrys Ansichten immer von
+seinen Freunden zu hören. Das ist die einzige Art, wie ich
+sie überhaupt erfahre. Aber Sie dürfen nicht glauben, daß
+ich nicht auch gute Musik liebe. Ich vergöttere sie, aber ich
+fürchte mich vor ihr. Sie macht mich zu romantisch. Ich
+habe Klavierspieler geradezu angebetet &mdash; manchmal zwei
+auf einmal, versichert Harry. Ich weiß nicht, was es für
+eine Bewandtnis mit ihnen hat. Vielleicht rührt es daher,
+daß sie Ausländer sind. Das sind sie doch alle, nicht
+wahr? Selbst die in England Geborenen werden nach
+einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Es ist sehr gescheit
+von ihnen und für die Kunst sehr vorteilhaft. Das macht
+sie zu Kosmopoliten, nicht wahr? Sie waren nie auf einer
+meiner Gesellschaften, Herr Gray. Sie müssen einmal
+kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber
+ich scheue in der Anschaffung von Ausländern keine Ausgabe.
+Sie geben dem Hause ein so pittoreskes Aussehen.
+Aber da ist Harry. &mdash; Harry, ich kam her, um<a class="pagenum" name="Page_75" title="75"> </a>
+dich zu suchen, um dich etwas zu fragen &mdash; ich habe ganz
+vergessen, was &mdash; und ich habe Herrn Gray hier getroffen.
+Wir haben so entzückend über Musik gesprochen. Unsere
+Ansichten darüber sind die gleichen. Nein, ich glaube, unsere
+Ansichten darüber sind ganz verschieden. Aber er ist ganz
+allerliebst gewesen. Ich freue mich so sehr, ihn einmal gesehen
+zu haben.“</p>
+
+<p>„Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend“, sagte
+Lord Henry, seine dunkeln geschwungenen Brauen hebend
+und beide mit vergnügtem Lächeln ansehend. „Es tut mir
+so leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich war in
+Wardour Street, um mir einen alten Brokat anzusehen,
+und mußte stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen
+die Leute den Preis von jeder Sache und den Wert von
+keiner.“</p>
+
+<p>„Ich muß leider gehen!“ rief Lady Henry aus und
+unterbrach ein verlegenes Schweigen mit ihrem jähen,
+grundlosen Lachen. „Ich habe versprochen, mit der Herzogin
+auszufahren. Adieu, Herr Gray. Adieu, Harry.
+Du speist wohl nicht zu Hause, wie? Ich auch nicht, vielleicht
+sehe ich dich bei Lady Thornbury.“</p>
+
+<p>„Höchstwahrscheinlich, meine Liebe“, sagte Lord Henry
+und schloß die Tür hinter ihr, als sie gleich einem Paradiesvogel,
+der die ganze Nacht dem Regen ausgesetzt gewesen
+war, aus dem Zimmer hinausflatterte, einen feinen
+Jasmingeruch hinterlassend. Harry zündete sich eine Zigarette
+an und warf sich auf das Sofa. „Heirate nie eine
+Frau mit strohgelbem Haar, Dorian“, sagte er nach einigen
+Zügen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_76" title="76"> </a></p>
+
+<p>„Warum nicht, Harry?“</p>
+
+<p>„Weil sie so sentimental sind.“</p>
+
+<p>„Aber ich habe sentimentale Menschen gern.“</p>
+
+<p>„Heirate überhaupt nie, Dorian! Männer heiraten, weil
+sie müde sind; Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden
+enttäuscht.“</p>
+
+<p>„Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Harry. Dazu
+bin ich zu verliebt. Das ist einer deiner Aphorismen. Ich
+setze ihn in die Wirklichkeit um, wie alles, was du sagst.“</p>
+
+<p>„In wen bist du verliebt?“ fragte Lord Harry nach
+einer Pause.</p>
+
+<p>„In eine Schauspielerin“, sagte Dorian Gray errötend.</p>
+
+<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Ein recht landläufiger
+Anfang.“</p>
+
+<p>„Das würdest du nicht sagen, wenn du sie kenntest.“</p>
+
+<p>„Wer ist's denn?“</p>
+
+<p>„Sie heißt Sibyl Vane.“</p>
+
+<p>„Nie von ihr gehört.“</p>
+
+<p>„Das hat niemand. Aber später einmal wird man von
+ihr hören. Sie ist ein Genie.“</p>
+
+<p>„Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie
+wäre. Die Frauen sind ein dekoratives Geschlecht. Sie
+haben niemals etwas zu sagen, aber sie sagen es entzückend.
+Die Frauen bedeuten den Triumph der Materie über den
+Geist, wie die Männer den Triumph des Geistes über die
+Sittlichkeit.“</p>
+
+<p>„Harry, wie kannst du?“</p>
+
+<p>„Mein lieber Dorian, es ist aber wahr. Ich beschäftige
+mich gerade mit der Analyse der Frauen, daher muß ich<a class="pagenum" name="Page_77" title="77"> </a>
+das wissen. Das Thema ist nicht so verwickelt, wie ich
+glaubte. Ich finde, daß es schließlich nur zwei Arten von
+Frauen gibt, die einfachen und die geschminkten. Die einfachen
+Frauen sind sehr nützlich. Wenn du als ehrbarer
+Mensch gelten willst, mußt du nur eine von ihnen zu Tisch
+führen. Die andern Frauen sind zum Entzücken. Aber sie
+begehen einen Fehler. Sie schminken sich, um jung auszusehen.
+Unsere Großmütter schminkten sich, um geistreich
+zu plaudern. Rouge und Esprit gingen Hand in Hand.
+Das ist jetzt alles vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre
+jünger aussehen kann als ihre Tochter, ist sie gänzlich
+zufrieden. Was die Konversation betrifft, so gibt es in
+ganz London höchstens fünf Frauen, mit denen sich's zu
+reden lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft
+nicht möglich. Aber genug, erzähl' mir was von
+deinem Genie! Wie lange kennst du sie?“</p>
+
+<p>„Ach, Harry, deine Ansichten erschrecken mich!“</p>
+
+<p>„Mach' dir darum keine Kopfschmerzen. Wie lange kennst
+du sie also?“</p>
+
+<p>„Ungefähr drei Wochen.“</p>
+
+<p>„Und wo hast du die Entdeckung gemacht?“</p>
+
+<p>„Ich will dir's erzählen, Harry, aber du mußt nicht
+häßlich darüber reden. Übrigens wär's gar nicht dazu
+gekommen, wenn ich dich nicht kennengelernt hätte. Du hast
+mich mit einer wilden Begierde, alles im Leben kennenzulernen,
+angefüllt. Noch viele Tage, nachdem ich dich
+zuerst gesehen hatte, schien in meinen Adern etwas zu rumoren.
+Wenn ich im Park spazierte oder Piccadilly
+hinunterschlenderte, schaute ich jeden an, der mir entgegenkam,<a class="pagenum" name="Page_78" title="78"> </a>
+und wollte mit einer tollen Neugierde herauskriegen,
+was für eine Art Leben die Leute alle führten.
+Einige von ihnen fesselten mich. Andere erfüllten mich
+mit Schauder. Es schwamm ein verführerisches Gift in der
+Luft. Mich hatte eine Leidenschaft nach Erlebnissen gepackt... Eines Abends also gegen sieben beschloß ich, mich
+auf die Suche nach einem Abenteuer zu begeben. Ich hatte
+solch Gefühl, daß unser graues, riesenhaftes London mit
+seinen vielen Hunderttausenden schmutzigen Sündern und
+seinen schillernden Sünden, wie du dich mal ausdrücktest,
+irgend etwas für mich in Bereitschaft halten müsse. Ich
+erfand mir tausenderlei Dinge. Schon die bloße Gefahr
+schenkte mir einen gewissen Genuß. Ich erinnerte mich an
+das, was du mir sagtest an dem wunderbaren Abend, als
+wir das erstemal zusammen speisten: daß nämlich das
+Suchen nach Schönheit das eigentliche Geheimnis des
+Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich
+ging drauflos und wanderte nach dem Osten, wo ich
+meinen Weg bald in einem Wirrwarr von rußigen Straßen
+und schwarzen, graslosen Plätzen verlor. Gegen halb acht
+kam ich an einem kleinen, schnurrigen Theater mit großen,
+flackernden Gasflammen und grellen Plakaten vorbei. Ein
+widerlicher Jude, in dem erstaunlichsten Rock, den ich
+mein Lebtag gesehen habe, stand an der Tür und paffte
+eine stänkrige Zigarre. Er hatte fettige Peies, und ein
+riesiger Brillant glitzerte auf seiner schmutzigen Hemdenbrust.
+‚Eine Loge, Herr Baron?‛ fragte er mich und nahm
+seinen Hut mit grandioser Unterwürfigkeit ab. Er hatte
+etwas an sich, Harry, was mich belustigte. Er war das<a class="pagenum" name="Page_79" title="79"> </a>
+reine Monstrum. Du wirst mich auslachen, ich weiß schon,
+aber ich trat wirklich ein und erlegte ein Zwanzigmarkstück
+für die Proszeniumsloge. Ich kann mir noch heute
+nicht erklären, warum ich das tat; und doch &mdash; wenn ich's
+nicht getan hätte &mdash; bester Harry, ich wäre um das größte
+Ereignis meines Lebens gekommen. Ja, lach du nur. Es
+ist häßlich von dir.“</p>
+
+<p>„Ich lache nicht, Dorian, wenigstens nicht über dich.
+Aber du solltest es nicht das größte Ereignis deines Lebens
+nennen. Sage lieber, das erste Ereignis deines Lebens. Du
+wirst immer geliebt werden, und du wirst in die Liebe
+immer verliebt sein. Die grande Passion ist das Vorrecht
+aller Leute, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige
+Nutzen, den die Tagediebe eines Landes bringen. Habe
+keine Angst! Himmlische Dinge warten noch deiner. Das
+ist der bloße Anfang.“</p>
+
+<p>„Hältst du meine Natur für so oberflächlich?“ rief
+Dorian Gray gekränkt.</p>
+
+<p>„Nein, ich halte sie für so tief.“</p>
+
+<p>„Wie meinst du das?“</p>
+
+<p>„Mein lieber Junge, die Leute, die nur einmal im
+Leben lieben, das sind in Wirklichkeit die Oberflächlichen.
+Was sie Anstand und Treue nennen, nenne ich entweder
+die Trägheit der Gewohnheit oder Mangel an Einbildungskraft.
+Treue ist im Gefühlsleben dasselbe, was
+Konsequenz im Geistesleben ist, nichts als das Zugeständnis
+von Schwäche. Treue! Ich muß ihren Begriff später
+mal analysieren. Freude am Besitz liegt darin. Welche
+Menge von Dingen würden wir wegwerfen, wenn wir nicht<a class="pagenum" name="Page_80" title="80"> </a>
+fürchten müßten, andere könnten sie auflesen. Aber ich
+möchte dich nicht unterbrechen. Erzähle weiter.“</p>
+
+<p>„Ich saß also in einer schauderhaften kleinen Loge, und
+ein ordinärer Vorhang starrte mir gerade ins Gesicht. Ich
+schaute hinter der Gardine vor und sah mich im Hause um.
+Es war ein schäbig-elegantes Ding, gestopft voll mit Amoretten
+und Füllhörnern, wie auf einem Hochzeitskuchen
+billigster Sorte. Galerie und Stehparterre waren leidlich
+voll, aber die zwei Reihen schmieriger Fauteuils vorne
+waren ganz leer und auf dem Platze, den sie vermutlich
+ersten Rang titulierten, saß kaum ein Mensch. Weiber
+gingen mit Orangen und Ingwerbier herum, und eine unglaubliche
+Masse von Nüssen wurde verknackt.“</p>
+
+<p>„Es muß ganz wie in der Glanzzeit des britischen
+Dramas gewesen <ins title="sein.">sein.“</ins></p>
+
+<p>„Ganz so, vermute ich, und sehr niederdrückend. Ich
+begann, zu überlegen, was um Himmels willen ich da
+anfangen sollte, als mein Blick auf den Theaterzettel fiel.
+Was glaubst du, was sie spielten, Harry?“</p>
+
+<p>„Ich vermute, der ‚kleine Kretin‛ oder ‚Blödsinnig, aber
+unschuldig‛. Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube
+ich. Je länger ich lebe, Dorian, je stärker fühle ich, daß
+alles, was für unsere Väter gut genug war, für uns noch
+lange nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der Politik
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">les grandpères ont toujours tort</span>.“</p>
+
+<p>„Das Stück war gut genug für uns, Harry. Es war
+‚<ins title="Romea">Romeo</ins> und Julia‛. Ich muß zugeben, daß mich der Gedanke,
+Shakespeare in einer so elenden Spelunke zu sehen,
+ärgerte. Und doch interessierte es mich irgendwie. Jedenfalls<a class="pagenum" name="Page_81" title="81"> </a>
+entschloß ich mich, den ersten Akt abzuwarten. Es
+spielte da ein schauderöses Orchester, das ein junger Hebräer
+dirigierte, der an einem schnarrenden Klavier saß,
+mich beinah zum Davonlaufen brachte; aber schließlich
+ging doch der Vorhang in die Höhe und das Stück fing
+an. Romeo war ein hahnebüchener älterer Herr mit dick gemalten
+Brauen, einer versoffenen Tragödenstimme und
+einer Falstaffgestalt wie eine Biertonne. Mercutio war
+fast ebenso arg. Er wurde vom Komiker gespielt, der
+Mätzchen eigener Improvisation einstreute und in der verwandtschaftlichsten
+Beziehung zur Galerie stand. Sie waren
+beide genau so grotesk wie die Szenerie, und die sah aus,
+als käme sie vom Jahrmarktsrummel. Aber Julia! Harry,
+stell dir ein Mädchen vor, kaum siebzehn Jahre alt, mit
+einem blumenhaften Gesichtchen, einem schmalen griechischen
+Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen, wie
+veilchenblaue Brunnen heißer Leidenschaft, mit Lippen
+wie Rosenblätter. Das entzückendste Geschöpf, das ich je
+im Leben gesehen habe. Du sagtest mal zu mir, Pathos
+ergreife dich nicht, aber Schönheit, keusche Schönheit an
+sich, könnte deine Augen wohl mit Tränen füllen. Ich
+sage dir, Harry, ich konnte dieses Mädchen kaum sehen,
+von dem Tränenflor über meinen Augen. Und ihre
+Stimme &mdash; ich habe so eine Stimme nie gehört. Zuerst sehr
+leise in tiefen, vollen Molltönen, die langsam und jeder
+für sich allein ins Ohr zu träufeln schienen. Dann etwas
+lauter und erklingend wie eine Flöte oder eine ferne
+Hoboe. In der Gartenszene hatte sie jene zitternde Inbrunst,
+die man hört, wenn die Nachtigallen singen vor<a class="pagenum" name="Page_82" title="82"> </a>
+Tag und Tau. Es gab dann Augenblicke, wo ihre Stimme
+die verhaltene Leidenschaftsglut von Geigentönen hatte.
+Du weißt, wie eine Stimme einen erschüttern kann. Deine
+Stimme und die Stimme von Sibyl Vane, die beiden
+werde ich nie vergessen. Wenn ich meine Augen schließe,
+höre ich sie, und jede von ihnen sagt etwas anderes. Ich
+weiß nicht, welcher ich folgen soll. Warum sollte ich sie
+nicht lieben? Harry, ich liebe sie. Sie ist alles in meinem
+Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie spielen zu
+sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten
+Imogen. Ich habe sie im Düster eines italienischen Grabgewölbes
+sterben sehen, wie sie das Gift von den Lippen
+des Geliebten trinkt. Ich bin ihrer Wanderung durch die
+Ardennen gefolgt, wie sie als hübscher Knabe mit Hose,
+Wams und einem kleinen Barett verkleidet war. Sie war
+wahnsinnig und ist vor einen schuldbewußten König hingetreten
+und ließ ihn Rauten tragen und bittere Kräuter
+kosten. Sie war unschuldig, und die schwarzen Hände der
+Eifersucht haben ihren zarten Hals zusammengepreßt. Ich
+habe sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht gesehen.
+Gewöhnliche Frauen sagen unserer Phantasie nichts.
+Sie sind in ihre Zeit hineingebannt. Kein Zauber kann
+sie umwandeln. Man kennt ihren Geist ebenso schnell
+wie ihre Güte. Man kennt sie immer heraus. Es gibt
+kein Geheimnis in ihnen. Sie reiten morgens in den
+Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie haben
+ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Modemanieren.
+Aber eine Schauspielerin! Wie anders solche Schauspielerin!
+Harry! Warum hast du mir nicht gesagt,<a class="pagenum" name="Page_83" title="83"> </a>
+daß nichts geliebt zu werden verdient als eine Schauspielerin?“</p>
+
+<p>„Weil ich so viele von ihnen geliebt habe, Dorian.“</p>
+
+<p>„Oh, gewiß, gräßliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren
+und geschminkten Gesichtern.“</p>
+
+<p>„Schmähe nicht gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter.
+Es liegt zuweilen ein ganz besonderer Reiz darin“,
+sagte Lord Henry.</p>
+
+<p>„Ich wollte, ich hätte dir nie etwas von Sibyl Vane
+gesagt.“</p>
+
+<p>„Du hättest gar nicht anders können, Dorian. Dein
+ganzes Leben lang wirst du mir alles sagen, was du tust.“</p>
+
+<p>„Ja, Harry, ich glaube, es ist so. Ich bin geradezu gezwungen,
+dir alles zu sagen. Du hast eine seltsame Macht
+über mich. Wenn ich je ein Verbrechen beginge, käme ich
+gleich zu dir und beichtete es dir. Du würdest mich verstehen.“</p>
+
+<p>„Menschen wie du &mdash; die kühnen Sonnenstrahlen des
+Lebens &mdash; begehen keine Verbrechen, Dorian. Aber ich
+danke dir trotzdem für dein Kompliment. Und nun sag'
+mir &mdash; bitte gib mir mal die Streichhölzer herüber; danke
+&mdash; wie sind deine wirklichen Beziehungen zu Sibyl Vane?“</p>
+
+<p>Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und blitzenden
+Augen auf. „Harry! Sibyl Vane ist mir heilig.“</p>
+
+<p>„Nur heilige Dinge sind wert, sie anzurühren, Dorian“,
+sagte Lord Henry mit einem merkwürdigen pathetischen
+Ton in seiner Stimme. „Aber warum fühlst du dich verletzt?
+Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören.
+Wenn man verliebt ist, fängt man immer damit an, sich<a class="pagenum" name="Page_84" title="84"> </a>
+selbst zu betrügen, und hört immer damit auf, andere zu
+betrügen. Das nennt die Welt eine Liebesgeschichte. Auf
+jeden Fall denke ich, du kennst sie?“</p>
+
+<p>„Natürlich kenne ich sie. Schon am ersten Abend im
+Theater kam der gräßliche alte Jude nach der Vorstellung
+in meine Loge und bot mir an, mich hinter die Kulissen zu
+führen und ihr vorzustellen. Ich war wütend und sagte
+ihm, daß Julia seit Hunderten von Jahren tot sei und daß
+ihr Körper in einem Marmorgrabe zu Verona liege. Nach
+dem bestürzten Ausdruck in seinem Gesicht vermute ich,
+daß er glaubte, ich hätte zuviel Champagner oder Ähnliches
+getrunken.“</p>
+
+<p>„Kein Wunder!“</p>
+
+<p>„Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung
+schreibe. Ich sagte ihm, daß ich nicht mal eine lese. Das
+schien ihn furchtbar zu enttäuschen, und er vertraute mir
+an, alle Theaterkritiker hätten sich gegen ihn verschworen
+und jeder einzelne von ihnen wäre käuflich.“</p>
+
+<p>„Es sollte mich nicht wundern, wenn er ganz recht hätte.
+Andererseits aber, nach ihrem Aussehen zu schließen, können
+sie meistens gar nicht teuer sein.“</p>
+
+<p>„Einerlei, sie schienen über seine Mittel zu gehen“, sagte
+Dorian lachend. „Inzwischen aber wurden die Lichter im
+Theater ausgedreht und ich mußte fort. Er bat mich noch,
+einige Zigarren zu probieren, die er mir sehr warm
+empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend ging ich natürlich
+wieder hin. Als er mich sah, machte er eine tiefe Verbeugung
+und versicherte mir, ich sei ein edelmütiger Kunstmäzen.
+Er ist eine höchst abstoßende Kreatur, obwohl er<a class="pagenum" name="Page_85" title="85"> </a>
+eine außerordentliche Leidenschaft für Shakespeare hegt.
+Er erzählte mir mal mit einem Anflug von Stolz, seine
+fünf Bankrotte verdanke er nur dem ‚Barden‛; so nannte
+er nämlich hartnäckig Shakespeare. Er schien das für ein
+Verdienst zu halten.“</p>
+
+<p>„Es ist ein Verdienst, lieber Dorian &mdash; ein großes
+Verdienst. Die meisten Leute werden bankrott, weil sie
+zuviel in der Prosa des Lebens angelegt haben. Sich mit
+Poesie ruiniert zu haben, ist eine ehrenvolle Auszeichnung.
+Aber wann hast du Fräulein Sibyl Vane zum erstenmal
+<ins title="gesprochen?">gesprochen?“</ins></p>
+
+<p>„Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt.
+Ich mußte hinter die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein
+paar Blumen zugeworfen, und sie hatte zu mir hingesehen,
+wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war
+beharrlich. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu
+nehmen, und so gab ich nach. Es war sonderbar, daß ich
+sie nicht kennenlernen wollte, nicht wahr?“</p>
+
+<p>„Nein, ich glaube nicht.“</p>
+
+<p>„Warum, lieber Harry?“</p>
+
+<p>„Ich erkläre dir das ein andermal. Jetzt möchte ich
+gern von dem Mädchen hören.“</p>
+
+<p>„Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und lieb. Sie ist
+noch fast wie ein Kind. Ihre Augen öffneten sich in einem
+allerliebsten Staunen, als ich ihr sagte, was ich über ihr
+Spiel dachte, und sie schien sich ihres eigenen Könnens
+gar nicht bewußt zu sein. Ich glaube, wir waren beide
+recht nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür der
+staubigen Garderobe und hielt theatralische Reden über<a class="pagenum" name="Page_86" title="86"> </a>
+uns beide, während wir uns wie Kinder anstarrten. Er
+bestand darauf, mich ‚Herr Baron‛ zu nennen, so daß ich
+Sibyl versichern mußte, ich sei nichts der Art. Sie sagte in
+ganz schlichter Weise zu mir: ‚Sie sehen mehr wie ein
+Prinz aus. Ich will Sie Prinz Märchenschön nennen‛.“</p>
+
+<p>„Mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht es,
+Schmeicheleien zu sagen.“</p>
+
+<p>„Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur
+wie eine Figur in einem Theaterstück. Sie weiß gar nichts
+vom Leben. Sie wohnt bei ihrer Mutter, einer verblühten,
+ältlichen Frau, die am ersten Abend in einer Art
+türkisch-rotem Schlafrock die Lady Capulet spielte und den
+Eindruck machte, als hätte sie bessere Tage gesehen.“</p>
+
+<p>„Ich kenne diese Art, auszusehen. Sie stimmt mich unbehaglich“,
+sagte Lord Henry mit verhaltener Stimme und
+betrachtete seine Ringe.</p>
+
+<p>„Der Jude wollte mir ihre Lebensgeschichte erzählen,
+aber ich bemerkte, sie interessiere mich nicht.“</p>
+
+<p>„Da hattest du recht. Die Tragödien anderer Leute
+haben immer etwas unglaublich Gewöhnliches an sich.“</p>
+
+<p>„Sibyl ist das einzige, um das ich mich kümmere. Was
+geht's mich an, woher sie stammt? Von ihrem kleinen
+Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist sie ein himmlisches
+Wesen. Jeden Abend, den ich erlebe, gehe ich hin, um sie
+spielen zu sehen, und jeden Abend ist sie entzückender.“</p>
+
+<p>„Ich vermute darin den Grund, weshalb du jetzt nie
+mehr mit mir zusammen ißt. Ich dachte mir gleich, daß dahinter
+irgendeine merkwürdige Geschichte stecke. Das ist so,
+aber es ist nicht ganz, was ich erwartete.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_87" title="87"> </a></p>
+
+<p>„Lieber Harry, wir sind jeden Tag entweder beim Frühstück
+oder beim Abendessen zusammen, und ich bin mehrere
+Male mit dir in der Oper gewesen“, sagte Dorian und
+öffnete verwundert seine blauen Augen.</p>
+
+<p>„Du kommst immer furchtbar spät.“</p>
+
+<p>„Ja, ich muß hin und Sibyl spielen sehen, und wenn
+auch nur einen Akt lang. Ich hungere nach ihrem Anblick,
+und wenn ich an die himmlische Seele denke, die in diesem
+zierlichen Elfenbeinkörper eingeschlossen ist, packt mich stille
+Ehrfurcht.“</p>
+
+<p>„Kannst du heute abend mit mir essen, Dorian?“</p>
+
+<p>Er schüttelte den Kopf. „Heute abend ist sie Imogen,“
+antwortete er, „und morgen abend Julia.“</p>
+
+<p>„Wann ist sie Sibyl Vane?“</p>
+
+<p>„Nie!“</p>
+
+<p>„Da wünsche ich dir Glück.“</p>
+
+<p>„Wie schrecklich du bist! Sie verkörpert alle die großen
+Frauengestalten der Weltgeschichte in sich. Sie ist mehr als
+ein Geschöpf. Du lachst, aber ich sage dir, sie ist ein Genie.
+Ich liebe sie und ich will's erreichen, daß sie mich auch liebt.
+Dir sind alle Geheimnisse des Lebens bekannt, du mußt mir
+sagen, wie ich Sibyl Vane so bezaubern kann, daß sie mich
+liebt. Ich will Romeo eifersüchtig machen. Ich will, daß die
+toten Liebhaber der Welt unser Lachen hören und sich grämen.
+Ich will, daß unsere strahlende Leidenschaft ihren Staub
+wieder beleben und ihre Asche zu Schmerzen auferwecken
+soll. O Gott, Harry, wie bete ich sie an!“ Er ging, während
+er sprach, im Zimmer auf und ab. Rote hektische Flecken
+brannten auf seinen Wangen. Er war furchtbar erregt.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_88" title="88"> </a></p>
+
+<p>Lord Henry betrachtete ihn mit stillem Wohlbehagen.
+Wie anders war er jetzt als jener verlegene, schüchterne
+Knabe, den er in Basil Hallwards Atelier angetroffen
+hatte! Seine Natur hatte sich entwickelt wie eine Blume
+und trug Blüten von brennendrotem Scharlach. Aus ihrem
+geheimen Versteck war seine Seele hervorgekrochen, und
+die Wollust war ihr auf halbem Wege entgegengekommen.</p>
+
+<p>„Und was hast du nun vor?“ sagte Lord Henry schließlich.</p>
+
+<p>„Ich will, du und Basil sollt mich an einem Abend
+begleiten und sie spielen sehen. Ich setze nicht die leiseste
+Besorgnis in die Wirkung. Ihr werdet zugeben müssen,
+daß sie Genie hat. Dann müssen wir sie dem Juden aus
+den Händen winden. Sie ist noch drei Jahre &mdash; genau
+zwei Jahre und acht Monate &mdash; an ihn gebunden. Natürlich
+werde ich ihm etwas zahlen müssen. Wenn das alles
+in Ordnung ist, suche ich mir ein Theater im Westend und
+lasse sie dort erst mal richtig auftreten. Sie wird die Welt
+ebenso verrückt machen wie mich.“</p>
+
+<p>„Das wird kaum gehen, lieber Junge.“</p>
+
+<p>„Ja, sie wird es; denn in ihr ist nicht nur Kunst,
+vollendetster Kunstinstinkt, sondern sie hat auch Persönlichkeit;
+und du selbst hast mir oft genug gesagt, daß nur
+Persönlichkeiten, nicht Prinzipien die Welt beherrschen.“</p>
+
+<p>„Schön, wann sollen wir also hingehen?“</p>
+
+<p>„Laß mich mal nachdenken. Heute ist Dienstag. Wollen
+wir morgen festsetzen? Morgen spielt sie die Julia.“</p>
+
+<p>„Abgemacht! Morgen um acht im Bristol. Ich werde
+Basil mitbringen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_89" title="89"> </a></p>
+
+<p>„Bitte, nicht um acht Uhr, Harry. Halbsieben. Wir
+müssen dort sein, ehe der Vorhang aufgeht. Du mußt sie
+im ersten Akt bei der Begegnung mit Romeo sehen.“</p>
+
+<p>„Halbsieben Uhr! Was für eine Tageszeit! Das wäre
+ja gerade so, wie ein Abendbrot am Nachmittag essen oder
+einen englischen Roman lesen. Vor sieben Uhr geht's nicht.
+Kein Gentleman speist vor sieben. Siehst du Basil bis
+dahin? Oder soll ich ihm schreiben?“</p>
+
+<p>„Der liebe Basil! Ich habe mich eine ganze Woche lang
+nicht um ihn gekümmert. Das ist sehr häßlich von mir,
+denn er hat mir mein Porträt in einem prachtvollen Rahmen,
+den er selbst entworfen hat, geschickt, und obwohl
+ich ein bißchen eifersüchtig auf das Bild bin, weil es einen
+ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich doch zugeben, daß
+es mich ganz entzückt. Ich bitte, schreib lieber. Ich möchte
+ihn nicht allein wiedersehen. Er sagt mir Dinge, die mich
+verstimmen. Er gibt mir gute Lehren.“</p>
+
+<p>Lord Henry lächelte. „Die Menschen haben eine starke
+Vorliebe, das wegzuschenken, was sie selber am nötigsten
+hätten. Ich nenne das den Chimborasso Freigebigkeit.“</p>
+
+<p>„Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir doch
+ein klein bißchen Philister zu sein. Seit ich dich kenne,
+Harry, hab' ich das entdeckt.“</p>
+
+<p>„Basil, mein lieber Junge, tränkt seine Werke mit
+allem, was an ihm entzückend ist. Die Folge ist, daß ihm
+fürs Leben nichts übrigbleibt als seine Vorurteile, seine
+Grundsätze und sein gesunder Menschenverstand. Alle Künstler,
+die ich kennengelernt habe, und die persönlich von
+Anziehungskraft sind, waren schlechte Künstler. Gute Künstler<a class="pagenum" name="Page_90" title="90"> </a>
+leben nur in ihren Schöpfungen und sind daher im
+Leben vollständig uninteressant. Ein großer Dichter, ein
+wirklich großer Dichter ist das unpoetischste Geschöpf von
+der Welt. Aber untergeordnete Dichter bezaubern immer.
+Je schlechter ihre Reime sind, desto malerischer ist ihr
+Aussehen. Die bloße Tatsache, eine Sammlung mittelmäßiger
+Sonette veröffentlicht zu haben, macht solchen
+Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die Poesie, die
+er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Poesie,
+die sie nicht zu leben wagen.“</p>
+
+<p>„Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry“, sagte
+Dorian Gray, der inzwischen aus einem großen goldgefaßten
+Flakon auf dem Tische etwas Parfüm auf sein
+Taschentuch gegossen hatte. „Es wird wohl sein, wenn
+du es sagst. Jetzt aber muß ich fort. Imogen wartet auf
+mich. Vergiß nicht, morgen! Adieu!“</p>
+
+<p>Als er das Zimmer verlassen hatte, schloß Lord Henry
+die schweren Lider und begann nachzudenken. Gewiß hatten
+ihn wenige Menschen bisher so interessiert wie Dorian
+Gray, und doch verursachte ihm die wahnsinnige Leidenschaft
+des Jünglings für eine andere Person nicht im entferntesten
+Ärger oder Eifersucht. Es freute ihn. Dorian
+wurde dadurch nur noch interessanter. Die Methoden der
+Naturwissenschaft hatten ihn immer entzückt, aber der
+gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm kleinlich
+und belanglos erschienen, und so hatte er begonnen,
+sich selbst zu vivisezieren und hatte damit geendet, andere
+zu vivisezieren. Das Menschenleben &mdash; das schien ihm
+der einzige einer Untersuchung werte Gegenstand. Verglichen<a class="pagenum" name="Page_91" title="91"> </a>
+damit war alles andere ohne jegliche Bedeutung.
+Freilich, wenn man das Leben in dem seltsamen
+Schmelztiegel des Schmerzes und der Lust beobachtete,
+konnte man keine Glasmaske über dem Gesicht tragen,
+konnte auch nicht die Schwefeldämpfe abhalten, die einem
+das Gehirn verwirrten und die Phantasie mit monströsen
+Ausgeburten und mißratenen Träumen umwirbelten. Es
+gab so feine Gifte, daß man an ihnen erkrankt sein mußte,
+um ihre Eigenheiten zu kennen. Es gab so seltsame Krankheiten,
+daß man sie durchgemacht haben mußte, um
+ihre Art zu begreifen. Und doch, welchen Lohn empfing
+man dafür! Wie wunderbar wandelt sich einem dann
+die ganze Welt! Die merkwürdig strenge Logik der Leidenschaft
+und das buntgefärbte Trieb- und Gefühlsleben
+des Geistes anzumerken &mdash; zu beobachten, wo sich
+die beiden Linien schneiden und wo sie auseinandergehen,
+in welchem Punkte sie in Eintracht leben und in welchem
+sie sich wieder bekriegen &mdash; das ist ein Genuß! Was liegt
+an dem Preise dafür! Man kann nie einen zu hohen Preis
+für ein Sinnenerlebnis geben.</p>
+
+<p>Er war sich bewußt &mdash; und dieser Gedanke brachte einen
+freudigen Glanz in seine achatbraunen Augen &mdash; daß sich
+durch gewisse Worte, die er gesprochen hatte, musikalische
+Worte in melodischem Tonfall, Dorian Grays
+Seele diesem weißen Mädchen zugewendet und sich in
+Verehrung vor ihr gebeugt hatte. In hohem Maße war
+der Jüngling sein Geschöpf. Er hatte ihn vor der Zeit
+reifen lassen. Das war schon was. Die gewöhnlichen
+Menschen warten, bis ihnen das Leben seine Geheimnisse<a class="pagenum" name="Page_92" title="92"> </a>
+aufschließt, aber den wenigen Auserwählten werden die
+Mysterien des Daseins enthüllt, bevor der Schleier weggezogen
+wird. Manchmal ist das die Wirkung der Kunst,
+besonders der Dichtung, die ja unmittelbar die Leidenschaften
+und den Intellekt behandelt. Ab und zu nimmt
+aber eine komplizierte Persönlichkeit diesen Platz ein und
+übt das Amt der Kunst aus, ist eigentlich auf ihre Weise
+ein richtiges Kunstwerk, denn das Leben schafft ebenso
+seine vollendeten Meisterwerke wie die Poesie oder die
+Bildhauerkunst oder die Malerei.</p>
+
+<p>Ja, dieser Jüngling war vor der Zeit reich. Er erntete,
+während er noch lenzte. Der Puls und die Leidenschaft der
+Jugend wohnten in ihm, und er begann, seiner bewußt zu
+werden. Es war entzückend, ihn zu beobachten. Mit seinem
+schönen Angesicht und seiner schönen Seele war er ein
+Stück Leben zum Anstaunen. Es lag nichts daran, wie das
+alles endete, oder enden sollte. Er glich einer der graziösen
+Gestalten auf einem Gobelin oder in einem Schauspiel,
+deren Freuden von den unseren weit entfernt zu sein
+scheinen, aber deren Schmerzen unseren Schönheitssinn
+erregen und deren Wunden wie rote Rosen sind.</p>
+
+<p>Seele und Leib, Leib und Seele &mdash; wie geheimnisvoll
+das alles ist! Animalisches ist in der Seele, und der Leib
+hat seine Augenblicke geistiger Veredlung. Die Sinne können
+sich läutern, und der Intellekt kann sich vergröbern.
+Wer kann sagen, wo die fleischlichen Triebe endigen und die
+seelischen beginnen? Wie flach sind die willkürlichen Erklärungen
+der handwerksmäßigen Psychologen! Und doch,
+wie schwierig ist die Entscheidung zwischen den Lehren der<a class="pagenum" name="Page_93" title="93"> </a>
+einzelnen Schulen. Ist die Seele ein Schatten, der im
+Hause der Sünde wohnt? Oder ist der Körper wirklich
+in der Seele eingeschlossen, wie es sich Giordano Bruno
+dachte? Die Trennung von Geist und Stoff ist ein Geheimnis,
+und die Vereinigung von Geist und Stoff ist
+abermals ein Geheimnis.</p>
+
+<p>Er dachte darüber nach, ob wir je die Psychologie zu
+einer so exakten Wissenschaft machen können, daß uns auch
+das kleinste Triebrädchen des Lebens offenbar würde.
+Wie die Dinge heute liegen, begreifen wir uns selbst nie
+und die anderen nur selten. Die Erfahrung hat keinerlei
+ethische Bedeutung. Sie ist nur das Firmenschild, das
+die Menschen ihren Irrtümern anhängen. Die Moralisten
+haben sie meist als eine Art Warnung betrachtet, haben für
+sie eine gewisse ethische Wirksamkeit in der Bildung der
+Charaktere beansprucht, haben sie als Mittel gepriesen,
+das uns darüber aufklärt, was wir tun und lassen
+sollen. Aber in der Erfahrung liegt keine bewegende
+Kraft. Sie ist ebensowenig eine tätige Ursache wie das
+Gewissen. Alles, was sie in Wirklichkeit lehrt, ist, daß
+unsere Zukunft ebenso sein wird wie unsere Vergangenheit,
+und daß wir die Sünde, die wir dereinst mit Abscheu und
+Widerwillen begangen haben, immer und immer wieder
+und dann mit Genuß wiederholen werden.</p>
+
+<p>Er war sich darüber klar, daß die Versuchsmethode die
+einzige sei, durch die man zu irgendeiner wissenschaftlichen
+Erklärung der Leidenschaften kommen könne; und sicher
+war ihm Dorian Gray ein bequemes Objekt und schien
+reiche und wertvolle Erfolge zu versprechen. Seine jähe<a class="pagenum" name="Page_94" title="94"> </a>
+sturmartige Liebe zu Sibyl Vane war eine psychologische
+Tatsache von großem Interesse. Kein Zweifel, daß die
+Neugier dabei stark im Spiele war, Neugier und Lust an
+neuen Erlebnissen; doch es war keine einfache, sondern eher
+eine recht komplizierte Leidenschaft. Was von dem rein
+sinnlichen Triebe des Knabenalters in ihr war, das hatte
+die Mitarbeit der Phantasie umgebildet, in irgendwas
+verwandelt, das dem Jüngling selbst ganz fern von allem
+Sinnlichen schien und gerade deshalb um so gefährlicher
+war. Alle Leidenschaften, über deren Ursprung wir uns
+selbst täuschen, üben die stärkste Herrschaft auf uns aus.
+Unsere schwächsten Triebkräfte sind die, über deren Natur
+wir klar sehen. Es kommt oft vor, daß wir im Denken
+mit uns selbst Experimente anstellen und glauben, sie
+mit anderen zu versuchen.</p>
+
+<p>Während Lord Henry noch dasaß und über diese Dinge
+nachgrübelte, wurde an die Tür geklopft; ein Diener trat
+ein und erinnerte ihn, daß es Zeit sei, sich für das Abendessen
+umzukleiden. Er erhob sich und blickte auf die Straße
+hinab. Der Sonnenuntergang hatte die oberen Fenster
+der gegenüberliegenden Häuser in ein feuerrotes Gold
+getaucht. Die Scheiben glühten wie erhitzte Metallplatten.
+Der Himmel drüber glich einer verwelkten Rose. Es erinnerte
+ihn an das junge, flammenlodernde Leben seines
+Freundes, und er fragte sich, wie das alles enden würde.</p>
+
+<p>Als er dann gegen halb ein Uhr nachts nach Hause kam,
+fand er im Vorflur auf dem Tische ein Telegramm liegen.
+Er öffnete es und sah, daß es von Dorian Gray war. Es
+teilte ihm mit, daß er sich mit Sibyl Vane verlobt habe.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_95" title="95"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Funftes_Kapitel" id="Funftes_Kapitel"></a>Fünftes Kapitel</h2>
+
+
+<p>„Mutter, Mutter, ich bin so glücklich!“ flüsterte das
+Mädchen und barg ihr Gesicht im Schoße der verblühten,
+müde aussehenden Frau, die mit dem Rücken
+gegen das grell eindringende Licht in dem einzigen Armstuhl
+saß, den ihr armseliges Wohnzimmer enthielt. „Ich
+bin so glücklich!“ wiederholte sie, „und du wirst auch glücklich
+sein.“</p>
+
+<p>Frau Vane zuckte zusammen und legte ihre dünnen,
+wismutweißen Hände auf den Kopf ihrer Tochter. „Glücklich!“
+echote sie, „ich bin nur glücklich, Sibyl, wenn ich dich
+spielen sehe. Du darfst an nichts anderes denken als an
+deine Rollen. Herr Isaacs ist sehr gut gegen uns gewesen,
+und wir sind ihm Geld schuldig.“</p>
+
+<p>Das Mädchen sah auf und ließ die Lippen hängen.
+„Geld, Mutter?“ rief sie, „was liegt an Geld? Liebe ist
+mehr als Geld!“</p>
+
+<p>„Herr Isaacs hat uns tausend Mark Vorschuß gegeben,
+damit wir unsere Schulden zahlen und für James eine
+anständige Ausrüstung anschaffen können. Das darfst du
+nicht vergessen, Sibyl. Tausend Mark sind ein sehr großer
+Betrag. Herr Isaacs benahm sich sehr anständig.“</p>
+
+<p>„Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art,
+wie er mit mir spricht“, sagte das Mädchen, stand auf
+und trat ans Fenster.</p>
+
+<p>„Ich wüßte nicht, wie wir ohne ihn vorwärts kämen“,
+entgegnete die alte Frau weinerlich.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_96" title="96"> </a></p>
+
+<p>Sibyl Vane warf den Kopf in den Nacken und lachte:
+„Wir brauchen ihn nicht mehr, Mutter, der Prinz Märchenschön
+bestimmt von jetzt ab über unser Leben.“ Dann
+schwieg sie. Eine Blutwelle schoß in ihre Wangen und
+tauchte sie in ein dunkles Rot. Der rasche Atem öffnete
+ihre blühenden Lippen. Sie zitterten. Ein Südwind heißer
+Leidenschaft durchbrauste sie und bewegte die glatten Falten
+ihrer Gewandung. „Ich liebe ihn“, sagte sie mit einfachem
+Ausdruck.</p>
+
+<p>„Närrisches Kind! närrisches Kind!“ waren die papageienhaften
+Worte, die ihr als Antwort entgegenflogen.
+Dabei machte die beschwörende Bewegung ihrer gekrümmten,
+mit unechten Ringen gezierten Finger diesen Ausruf
+noch komischer.</p>
+
+<p>Das Mädchen lachte wieder. In ihrer Stimme lag
+etwas wie der Jubel eines Vogels im Käfig. Ihre Augen
+fingen die Lachmelodie auf und wiederholten sie in ihrem
+Glanze: dann schlossen sie sich einen Augenblick, als wollten
+sie ihr Geheimnis verbergen. Als sie sich wieder öffneten,
+war der Schimmer eines Traumes über sie dahingegangen.</p>
+
+<p>Aus dem abgenutzten Stuhl sprach die Weisheit zu ihr
+mit dünnen Lippen, mahnte zur Besinnung und gab Ratschläge
+aus dem Buch der Feigheit, dem sein Autor irrtümlich
+den Titel „Gesunder Menschenverstand“ beigelegt
+hat. Sie hörte nicht hin. Im Kerker ihrer Leidenschaft
+fühlte sie sich frei. Ihr Prinz, der Prinz Märchenschön,
+war bei ihr. Sie hatte das Gedächtnis beschworen, ihn
+herbeizuschaffen. Sie hatte ihre Seele auf die Suche nach<a class="pagenum" name="Page_97" title="97"> </a>
+ihm geschickt, und die hatte ihn wieder hergebracht. Sein
+Kuß brannte wieder auf ihrem Munde. Ihre Lider brannten
+wieder von seinem Atem.</p>
+
+<p>Dann zog die Weisheit andere Register auf und sprach
+von Erkundigen und Nachforschen. Es mochte ja sein, daß
+dieser junge Mann reich sei. Wenn dem so wäre, dann
+müßte man ans Heiraten denken. Um die Ohrmuschel
+des Mädchens plätscherten die Wellen weltlicher Schlauheit.
+Die Pfeile der Weltklugheit schwirrten an ihr vorüber.
+Sie sah, wie sich die dünnen Lippen bewegten, und
+lächelte.</p>
+
+<p>Plötzlich fühlte sie das Bedürfnis, zu sprechen. Die
+wortüberfüllte Schweigsamkeit verwirrte sie. „Mutter,
+Mutter,“ rief sie, „warum liebt er mich so innig? Ich
+weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er so ist,
+wie die Liebe selbst sein muß. Aber was findet er an mir?
+Ich bin seiner nicht wert. Und doch &mdash; ich weiß nicht,
+warum &mdash; ich fühle mich wohl tief unter ihm, aber ich
+fühle mich nicht gering. Stolz bin ich, schrecklich stolz.
+Mutter, hast du meinen Vater so geliebt, wie ich den
+Prinzen Märchenschön liebe?“</p>
+
+<p>Die alte Frau wurde bleich unter dem dicken Puder,
+womit ihre Wangen beklebt waren, und ihre verwelkten
+Lippen zitterten in krampfigem Schmerz. Sibyl stürzte
+zu ihr hin, schlang ihr ihre Arme um den Hals und küßte
+sie. „Verzeih mir, Mutter! Ich weiß, es schmerzt dich,
+an unseren Vater zu denken. Aber es schmerzt dich nur,
+weil du ihn so lieb gehabt hast. Sieh nicht so traurig
+drein. Heute bin ich so glücklich, wie du es warst vor<a class="pagenum" name="Page_98" title="98"> </a>
+zwanzig Jahren. Ach, könnte ich für immer so glücklich
+sein!“</p>
+
+<p>„Mein Kind, du bist viel zu jung, um an eine Liebschaft
+zu denken. Zudem, was weißt du von diesem jungen
+Mann? Du weißt nicht mal seinen Namen. Die ganze
+Sache ist höchst unpassend, und wahrhaftig, gerade jetzt,
+wo sich James nach Australien rüstet, und ich an so viele
+Dinge zu denken habe, da muß ich sagen, du hättest mehr
+Überlegung zeigen sollen. Immerhin, wie ich schon sagte,
+wenn er reich ist...“</p>
+
+<p>„Ach Mutter, Mutter, laß mich glücklich sein!“</p>
+
+<p>Frau Vane blickte sie an und schloß sie plötzlich mit
+einer der unwahren theatralischen Gesten in die Arme,
+wie sie den Schauspielern oft zur zweiten Natur werden.
+In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein junger
+Bursche mit struppigem, braunem Haar kam in die Stube.
+Er war von untersetzter Gestalt, und seine Hände und
+Füße waren groß und bewegten sich etwas ungelenk. Er
+war nicht so gut erzogen wie seine Schwester. Man hätte
+kaum die nahe Verwandtschaft erraten können, die zwischen
+beiden bestand. Frau Vane richtete ihre Augen auf
+ihn, und ihr Lächeln verstärkte sich. In ihrem Geiste ließ
+sie ihren Sohn die Rolle des Publikums spielen. Sie war
+überzeugt, daß das Tableau interessant war.</p>
+
+<p>„Du könntest dir wohl ein paar Küsse für mich aufheben,
+Sibyl“, sagte der Bursche mit gutmütigem Knurren.</p>
+
+<p>„Ach, Jim, du machst dir doch gar nichts aus Küssen!“
+rief sie. „Du bist ein greulicher alter Bär!“ Und sie
+hüpfte durchs Zimmer zu ihm hin und umhalste ihn.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_99" title="99"> </a></p>
+
+<p>James Vane sah seiner Schwester zärtlich in das Gesicht.
+„Ich möchte mit dir spazieren gehen, Sibyl. Ich
+glaube kaum, daß ich dies schreckliche London jemals
+wiedersehe. Ich mache mir auch wirklich nicht im geringsten
+was draus.“</p>
+
+<p>„Mein Sohn, rede doch nicht so schreckliche Dinge“,
+grollte Frau Vane, während sie seufzend ein flitteriges
+Theaterkostüm zur Hand nahm und es auszubessern begann.
+Sie fühlte eine kleine Enttäuschung, daß er sich
+der Gruppe nicht angeschlossen hatte. Es hätte die malerische
+Wirkung der Szene so hübsch erhöht.</p>
+
+<p>„Warum nicht, Mutter? Ich meine es im Ernst.“</p>
+
+<p>„Du kränkst mich, mein Sohn. Ich hoffe, daß du von
+Australien als ein gemachter Mann zurückkehrst. Ich vermute,
+es gibt in den Kolonien sozusagen keine Gesellschaft,
+wenigstens nichts, was ich Gesellschaft nenne; wenn du
+also dein Glück gemacht hast, mußt du zurückkommen und
+dich zur Geltung bringen in London.“</p>
+
+<p>„Gesellschaft“, brummelte der junge Mann. „Will davon
+nichts wissen. Möchte nur soviel Geld verdienen, um
+dich und Sibyl vom Theater wegzukriegen. Ich hasse es.“</p>
+
+<p>„O Jim,“ sagte Sibyl lachend, „wie unfreundlich von
+dir! Aber, willst du wirklich mit mir spazieren gehen? Das
+ist nett! Ich fürchtete schon, du wolltest dich bei deinen
+Freunden verabschieden, bei Tom Hardy, der dir diese
+gräßliche Pfeife geschenkt hat, oder bei Nell Langton, der
+dich auslacht, weil du sie rauchst. Es ist sehr hübsch von
+dir, daß du mir deinen letzten Nachmittag schenkst. Wohin
+werden wir gehen? Komm, wir wollen in den Park.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_100" title="100"> </a></p>
+
+<p>„Dazu bin ich zu schäbig angezogen“, antwortete er
+mit gerunzelter Stirn. „Nur Elegants gehen in den Park.“</p>
+
+<p>„Unsinn, Jim“, flüsterte sie, und streichelte seinen
+Ärmel.</p>
+
+<p>Er zauderte einen Augenblick. „Schön denn,“ sagte er
+schließlich, „mach' aber nicht zu lang mit dem Anziehen.“</p>
+
+<p>Sie tanzte zur Tür hinaus. Man konnte sie singen
+hören, während sie die Treppe hinauflief. Ihre kleinen
+Füße trippelten oben.</p>
+
+<p>Er ging zwei oder dreimal durch die Stube, dann
+wandte er sich zu der schweigsamen Gestalt im Lehnstuhl.</p>
+
+<p>„Mutter, sind meine Sachen gepackt?“ fragte er.</p>
+
+<p>„Alles fertig, James“, antwortete sie, ohne von ihrer
+Arbeit aufzuschauen. Seit einigen Monaten war es ihr
+unbehaglich, wenn sie mit ihrem rauhen, finsteren Sohn
+allein war. Ihre oberflächliche Natur mit ihrem unterdrückten
+Geheimnis wurde beunruhigt, wenn sich ihre
+Augen trafen. Sie fragte sich, ob er einen Verdacht habe.
+Sein Schweigen, da er sonst keine Bemerkungen machte,
+wurde ihr unerträglich. Sie fing also zu jammern an.
+Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade, wie
+sie dadurch angreifen, daß sie unvermutet die Waffen
+strecken. „Ich hoffe, James, dein Seefahrerleben wird
+dich befriedigen. Du darfst nie vergessen, daß es deine
+eigene Wahl war. Du hättest in das Bureau eines Anwalts
+treten können. Anwälte sind eine sehr geachtete
+Menschenklasse und werden auf dem Lande oft in den
+besten Familien eingeladen.“</p>
+
+<p>„Ich hasse Bureaus und ich hasse Schreiber“, erwiderte<a class="pagenum" name="Page_101" title="101"> </a>
+er. „Aber du hast ganz recht, mein Leben habe ich mir
+selbst gewählt. Alles, was ich sage, ist: Wache über Sibyl!
+Laß ihr kein Unglück zustoßen. Mutter, du mußt über sie
+wachen!“</p>
+
+<p>„James, du hast eine merkwürdige Art, zu sprechen.
+Natürlich wache ich über sie.“</p>
+
+<p>„Ich höre, ein Herr kommt jeden Abend ins Theater
+und geht hinter die Kulissen und spricht mit ihr. Ist das
+wahr? Wie verhält sich's damit?“</p>
+
+<p>„James, du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst.
+Wir in unserem Beruf sind gewöhnt, eine Menge wohltuender
+Aufmerksamkeiten zu empfangen. Ich selbst habe
+zu meiner Zeit viel Blumen bekommen. Damals verstand
+man noch etwas vom Spielen. Was Sibyl betrifft, so
+weiß ich im Augenblick nicht, ob ihre Neigung ernst ist
+oder nicht. Aber darüber besteht kein Zweifel, daß der
+fragliche junge Mann ein vollendeter Kavalier ist. Er ist
+immer ausgesucht höflich zu mir. Auch sieht er aus, als
+ob er reich wäre, und die Buketts, die er schickt, sind ganz
+allerliebst.“</p>
+
+<p>„Aber du weißt nicht mal seinen Namen“, warf der
+junge Mann barsch ein.</p>
+
+<p>„Nein“, antwortete die Mutter mit gelassener Miene.
+„Er hat uns seinen wirklichen Namen noch nicht verraten.
+Ich finde das sehr romantisch von ihm. Wahrscheinlich
+ist er ein Herr von Adel.“</p>
+
+<p>James Vane biß sich auf die Lippen. „Wache über
+Sibyl!“ schrie er. „Wache über sie!“</p>
+
+<p>„Mein Sohn, du verletzt mich ungemein. Sibyl steht<a class="pagenum" name="Page_102" title="102"> </a>
+unablässig unter meiner besonderen Obhut. Natürlich,
+falls dieser Herr vermögend ist, sehe ich den Grund nicht
+ein, um einer Verbindung mit ihm auszuweichen. Ich bin
+fest davon überzeugt, er gehört zur Aristokratie. Er sieht
+ganz so aus, muß ich sagen. Es wird eine brillante Partie
+für Sibyl werden. Sie würden ein entzückendes Paar abgeben.
+Seine Schönheit ist wirklich ganz bedeutend; sie
+fällt jedem auf.“</p>
+
+<p>Der junge Mann brummte etwas in sich hinein und
+trommelte mit seinen dicken Fingern gegen die Fensterscheibe.
+Er hatte sich gerade umgewandt, um etwas zu
+sagen, als die Tür aufging und Sibyl hereinflitzte.</p>
+
+<p>„Was macht ihr beide denn für ernste Gesichter!“ rief
+sie aus. „Was gibt's denn?“</p>
+
+<p>„Nichts“, antwortete er. „Man muß auch mal ernst
+sein. Adieu, Mutter; ich will um fünf essen. Alles ist gepackt
+bis auf die Hemden; du brauchst dich also um nichts
+mehr zu kümmern.“</p>
+
+<p>„Adieu, mein Sohn“, antwortete sie mit einer Verbeugung
+gemachter hoheitsvoller Würde.</p>
+
+<p>Sie war äußerst gekränkt durch den Ton, den er ihr
+gegenüber angeschlagen hatte, und in seinem Blick lag
+etwas, das ihr Angst eingeflößt hatte.</p>
+
+<p>„Gib mir einen Kuß, Mutter“, sagte das Mädchen.
+Ihre blütengleichen Lippen berührten die welken Wangen
+und wärmten ihre Frostigkeit.</p>
+
+<p>„Mein Kind! Mein Kind!“ rief Frau Vane und schaute
+zur Decke auf, als suchte sie in ihrer Einbildung eine Galerie.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_103" title="103"> </a></p>
+
+<p>„Komm, Sibyl“, sagte ihr Bruder ungeduldig. Er konnte
+die Attitüden seiner Mutter nicht ausstehen.</p>
+
+<p>Sie traten hinaus in den flimmernden, windbewegten
+Sonnenschein und schlenderten die trostlose Euston Road
+hinab. Die Vorübergehenden blickten verwundert auf den
+unfreundlichen, schwerfälligen jungen Menschen in den groben
+schlechtsitzenden Kleidern, den ein so liebliches, fein
+aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem Gärtnerburschen,
+der eine Rose trägt.</p>
+
+<p>Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den
+forschenden Blick eines Fremden bemerkte. Er hatte jene
+Abneigung gegen das Angestarrtwerden, die Menschen
+von Geist erst spät im Leben bekommen und die den
+Herdenmenschen nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts
+von der Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf
+ihren lächelnden Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen,
+und damit sie um so besser an ihn denken könnte,
+sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte nur von dem
+Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, von dem Gold, das
+er sicher finden würde, von der wunderhübschen Millionenerbin,
+deren Leben er verruchten rotblusigen Buschräubern
+entreißen sollte. Denn er würde nicht Matrose bleiben
+oder Verfrachter oder was er jetzt fürs erste werden sollte.
+O nein! Solch Matrosendasein war schrecklich. Er solle nur
+daran denken, in ein schreckliches Schiff hineingepfercht zu
+sein, wenn die brüllenden, katzenbuckelnden Wellen immer
+eindringen wollen und ein schwarzer Wind die Masten
+umblase und die Segel in lange, klatschnasse Streifen zerreiße.
+Er sollte in Melbourne das Schiff verlassen, dem<a class="pagenum" name="Page_104" title="104"> </a>
+Kapitän höflich Lebewohl sagen und sich sofort in die
+Goldfelder begeben. Bevor noch eine Woche um sei, werde
+er auf einen großen Klumpen puren Goldes stoßen, auf
+den größten, der je gefunden worden sei, und werde ihn
+zur Küste schaffen in einem großen Wagen, den sechs berittene
+Polizisten bewachen sollten. Die Buschklepper überfielen
+sie dreimal, würden aber nach einem ungeheuren
+Gemetzel zurückgeschlagen werden. Oder nein! Er sollte
+überhaupt nicht in die Goldfelder wandern. Das sind
+schreckliche Örter, wo sich die Leute betrinken und einander
+in Kneipen totschössen und eine schreckliche Sprache führten.
+Er sollte ein friedsamer Viehzüchter werden, und eines
+Abends, wenn er heimritte, begegnete er der schönen Erbin,
+die gerade von einem Räuber auf einem Rappen entführt
+würde, und dann setzt er ihm nach und befreit sie. Natürlich
+würde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und
+sie heirateten dann und kehrten heim und wohnten in
+einem großen Palais in London. Ja, entzückende Dinge
+warteten auf ihn. Aber er müsse auch sehr brav sein, nie
+die Geduld verlieren oder sein Geld vergeuden. Sie sei
+nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse schon genügend
+mehr vom Leben. Er müsse ihr auch zuverlässig an jedem
+Posttag schreiben und jeden Abend, wenn er schlafen gehe,
+beten. Gott sei sehr gut und werde über ihn wachen. Auch
+sie werde für ihn beten, und in ein paar Jahren werde er
+reich und glücklich nach Hause kommen.</p>
+
+<p>Der Bursche hörte ihr brummig zu und gab keine Antwort.
+Ihm tat das Herz weh, weil er von der Heimat
+weg mußte.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_105" title="105"> </a></p>
+
+<p>Aber es war nicht das allein, was ihn düster und verstimmt
+sein ließ. So unerfahren er war, fühlte er doch
+sehr die Gefahr, die in Sibyls Stellung lag. Dieser junge
+Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte es nicht ehrlich
+mit ihr meinen. Es war ein vornehmes Herrchen, und das
+trug ihm seinen Haß ein, einen Haß, der aus einem sonderbaren
+Rasseinstinkt herrührte, von dem er sich keine Rechenschaft
+geben konnte und der ihn gerade deshalb um so
+stärker beherrschte. Er kannte auch die Oberflächlichkeit
+und Eitelkeit seiner Mutter und sah darin ungeheure Gefahren
+für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder fangen damit
+an, ihre Eltern zu lieben; wenn sie älter werden, sitzen sie
+über ihnen zu Gericht, manchmal vergeben sie ihnen auch.</p>
+
+<p>Seine Mutter! Es brütete in ihm, sie über etwas zu
+fragen, was er viele schweigsame Monate hindurch mit
+sich herumgeschleppt hatte. Ein zufälliges Wort, das er
+im Theater aufgeschnappt hatte, ein hingeflüstertes Scherzwort,
+das er eines Abends auffing, als er an der Bühnentür
+wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken entfesselt.
+Die Erinnerung daran schmerzte ihn wie der Hieb
+einer Reitpeitsche in sein Gesicht. Seine Brauen kniffen
+sich in eine tiefe Furche zusammen, und in schmerzlichem
+Krampf biß er sich auf die Lippen.</p>
+
+<p>„Du hörst auch nicht ein einziges Wort, das ich sage,
+Jim!“ rief Sibyl, „und ich schmiede die entzückendsten
+Pläne für deine Zukunft. Sag' doch mal was!“</p>
+
+<p>„Was soll ich denn sagen?“</p>
+
+<p>„Oh, daß du ein braver Bursche sein willst und uns nicht
+vergessen“, antwortete sie und lächelte ihn an.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_106" title="106"> </a></p>
+
+<p>Er zuckte die Schultern. „Es wäre eher möglich, daß du
+mich vergißt, als daß ich dich vergesse, Sibyl.“</p>
+
+<p>Sie errötete. „Wie meinst du das, Jim?“ fragte sie.</p>
+
+<p>„Du hast einen neuen Freund, wie ich höre. Wer ist es?
+Warum hast du mir nicht von ihm erzählt? Er meint es
+nicht gut mit dir.“</p>
+
+<p>„Hör' auf, Jim“, rief sie aus. „Du darfst nichts gegen
+ihn sagen. Ich liebe ihn.“</p>
+
+<p>„Was, und du weißt nicht mal seinen Namen?“ erwiderte
+er. „Wer ist es? Ich habe ein Recht, das zu wissen.“</p>
+
+<p>„Er heißt der Prinz Märchenschön. Gefällt dir der
+Name <ins title="nicht.">nicht?</ins> Oh, du törichtes Jungchen! du solltest ihn
+nie vergessen. Wenn du ihn nur ein einzigesmal sähest,
+müßtest du ihn für den entzückendsten Menschen auf Erden
+halten. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen: wenn du
+von Australien zurückkommst. Er wird dir sehr gefallen.
+Allen Menschen gefällt er, und ich ... ich liebe ihn. Ich
+wollte, du könntest heute abend ins Theater kommen. Er
+wird kommen, und ich spiele die Julia! Oh, wie ich sie
+spielen werde! Denk dir, Jim, lieben und die Julia
+spielen! Wissen, daß er dasitzt! Zu seiner Freude spielen!
+Ich fürchte, ich werde meine Kollegen erschrecken, erschrecken
+oder hinreißen. Lieben heißt, hinauswachsen über sich selbst.
+Der gräßliche Herr Isaacs wird seinen Kumpanen am
+Schenktisch zuschreien, ich sei ein Genie. Er hat mich wie
+ein Dogma ausposaunt; heute abend wird er mich als
+Offenbarung verkündigen. Ich fühle das. Und all das
+ist sein Werk, nur sein, des Prinzen Märchenschön, meines
+wunderbaren Geliebten, meines Musengottes. Aber ich bin<a class="pagenum" name="Page_107" title="107"> </a>
+ein armes Ding neben ihm. Arm. Was liegt daran?
+Schleicht Armut in ein Haus, fliegt Liebe durchs Fenster
+hinaus. Unsere Sprichwörter müssen umgeändert werden.
+Sie sind im Winter erdacht worden, und jetzt ist Sommer,
+für mich freilich Frühling, ein Tanz von Blüten unter
+blauem Himmel.“</p>
+
+<p>„Er ist ein Herr der feinen Gesellschaft“, sagte der
+Bursche finster.</p>
+
+<p>„Ein Prinz!“ rief sie mit melodischer Stimme. „Was
+willst du mehr?“</p>
+
+<p>„Er wird dich zu seiner Sklavin machen.“</p>
+
+<p>„Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein!“</p>
+
+<p>„Ich rate dir, dich vor ihm zu hüten.“</p>
+
+<p>„Ihn sehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm
+vertrauen!“</p>
+
+<p>„Sibyl, deine Liebe macht dich verrückt.“</p>
+
+<p>Sie lachte und nahm seinen Arm. „Du lieber, alter
+Jim, du sprichst, als wärest du hundert Jahre alt. Eines
+schönen Tages wirst du selbst lieben. Dann wirst du wissen,
+was das heißt. Guck mich nicht so brummig an. Du solltest
+dich freuen in dem Bewußtsein, daß du mich, obwohl
+du gehst, glücklicher zurückläßt, als ich je gewesen bin. Das
+Leben ist bisher hart für uns gewesen, furchtbar hart und
+schwer. Aber jetzt wird's anders. Du gehst in eine neue
+Welt, und ich habe eine neue gefunden. &mdash; Da sind zwei
+Stühle frei, wir wollen uns setzen und die eleganten Leute
+Revue passieren lassen.“</p>
+
+<p>Sie setzten sich mitten in eine Menge von Zuschauern.
+Die Tulpenbeete längs des Weges flammten wie beschwörende<a class="pagenum" name="Page_108" title="108"> </a>
+Feuerglocken. Ein weißer Dunst wie eine zitternde
+Wolke von Veilchenpuder hing in der schwülen Luft.
+Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten auf und ab wie
+Riesenschmetterlinge.</p>
+
+<p>Sie brachte ihren Bruder dazu, daß er von sich, seinen
+Aussichten und seinen Plänen sprach. Er redete zögernd
+und mühsam. Sie ließen ihre Worte langsam aufeinanderfolgen,
+wie sich Spieler ihre Points ansagen. Sibyl fühlte
+sich niedergedrückt. Sie konnte ihre Freude nicht mitteilen.
+Ein schwaches Lächeln, das seinen vergrämten Mund umspielte,
+war die einzige Antwort, die sie erhielt. Nach
+einiger Zeit verstummten sie beide. Plötzlich erblickte sie
+den Schimmer goldenen Haares und lachende Lippen, und
+in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei
+Damen vorbei.</p>
+
+<p>Sie sprang auf. „Da ist er!“ rief sie.</p>
+
+<p>„Wer?“ fragte Jim Vane.</p>
+
+<p>„Der Märchenprinz“, antwortete sie, und spähte dem
+Wagen nach.</p>
+
+<p>Er sprang auf und faßte rauh ihren Arm. „Zeig' ihn
+mir. Welcher ist es? Zeig' ihn mir, ich muß ihn sehen!“
+rief er. Aber in diesem Augenblick fuhr der Viererzug des
+Herzogs von Verwick dazwischen, und als die Aussicht wieder
+frei war, hatte der Wagen schon den Park verlassen.</p>
+
+<p>„Er ist fort“, murmelte Sibyl traurig. „Ich wünschte,
+du hättest ihn gesehen.“</p>
+
+<p>„Ich wünschte es auch, denn so wahr ein Gott im Himmel
+ist, wenn er dir je ein Leides antut, bring' ich ihn um!“</p>
+
+<p>Sie sah ihn erschreckt an. Er wiederholte seine Worte.<a class="pagenum" name="Page_109" title="109"> </a>
+Sie durchschnitten die Luft wie ein Dolch. Die Leute
+ringsherum fingen an, auf sie hinzustarren. Eine Dame
+ganz in der Nähe kicherte.</p>
+
+<p>„Komm fort, Jim; komm fort“, flüsterte sie. Er ging
+ihr verbissenen Mundes nach, als sie die Menge durchschritt.
+Er war zufrieden, daß er das gesagt hatte.</p>
+
+<p>Als sie bei der Achillesstatue war, drehte sie sich nach
+ihm um. In ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren
+Lippen zu einem Lachen wurde. Sie schüttelte den Kopf
+über ihn. „Du bist verdreht, Jim, völlig verdreht; ein
+ungezogener Bubi, sonst nichts. Wie kannst du so was
+Häßliches sagen? Du weißt gar nicht, was du zusammensprichst.
+Du bist einfach eifersüchtig und unfreundlich. Ach!
+ich wollte, daß du dich einmal verliebst. Liebe macht die
+Menschen gut, und was du gesagt hast, war schlecht.“</p>
+
+<p>„Ich bin erst sechzehn,“ antwortete er, „aber ich weiß,
+was ich zu tun habe. Mutter kann dir nicht helfen. Sie
+versteht es nicht, dich zu beschützen. Ich wünschte jetzt,
+ich ginge überhaupt nicht nach Australien. Ich hab' nicht
+übel Lust, die ganze Sache zu lassen. Ich tät's, wenn mein
+Vertrag nicht schon unterschrieben wäre.“</p>
+
+<p>„Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim. Du bist wie einer von
+den Helden aus den albernen Melodramen, in denen
+Mutter so gern gespielt hat. Ich will mich mit dir
+nicht streiten. Ich hab' ihn gesehen, und ihn sehen, ist vollkommenes
+Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, daß
+du einem, den ich liebe, nie etwas antun wirst, nicht?“</p>
+
+<p>„Solange du ihn liebst, wohl kaum“, war die finstere
+Antwort.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_110" title="110"> </a></p>
+
+<p>„Ich werde ihn immer lieben!“ rief sie.</p>
+
+<p>„Und er?“</p>
+
+<p>„Auch immer.“</p>
+
+<p>„Das ist sein Glück!“</p>
+
+<p>Sie schrak vor ihm zurück. Dann lachte sie und legte die
+Hand auf seinen Arm. Er war doch nur ein Junge.</p>
+
+<p>Am Marble Arch bestiegen sie einen Omnibus, der sie
+in die Nähe ihrer armseligen Wohnung in Euston Road
+brachte. Es war schon fünf Uhr vorüber, und Sibyl mußte
+sich noch, bevor sie auftrat, ein paar Stündchen niederlegen.
+Jim bestand darauf, daß sie es täte. Er sagte, er
+würde lieber von ihr Abschied nehmen, wenn die Mutter
+nicht dabei wäre. Sie würde sicher eine Szene machen,
+und er verabscheue Szenen aller Art.</p>
+
+<p>Sie nahmen in Sibyls Zimmer Abschied. Im Herzen
+des jungen Menschen brannte Eifersucht und ein grimmer,
+mörderischer Haß auf den Fremden, der, wie er meinte,
+zwischen sie getreten war. Als sich aber ihre Arme um
+seinen Hals schlangen, und ihre Finger durch sein Haar
+fuhren, wurde er sanfter und küßte sie mit wirklicher Zärtlichkeit.
+Als er hinunterging, standen Tränen in seinen Augen.</p>
+
+<p>Die Mutter wartete unten auf ihn. Als er eintrat,
+murrte sie über seine Unpünktlichkeit. Er gab keine Antwort,
+sondern setzte sich an sein kärgliches Mahl. Die
+Fliegen summten um den Tisch und krochen über das
+fleckige Tischtuch. Durch das Gerassel der Omnibusse und
+das Rackern der Droschken konnte er die einförmige
+Stimme hören, die ihn um jede Minute beraubte, die ihm
+noch übrig blieb.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_111" title="111"> </a></p>
+
+<p>Nach einer Weile schob er seinen Teller zurück und
+stützte den Kopf in die Hände. Er fühlte, daß er ein Recht
+habe, es zu wissen. Wenn die Dinge lagen, wie er vermutete,
+hätte man es ihm längst sagen sollen. Gepeinigt
+von Furcht, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte
+tröpfelten ihr mechanisch von den Lippen. Ihre Finger
+zerknüllten ein zerrissenes Spitzentaschentuch. Als die Uhr
+sechs schlug, stand er auf und ging zur Tür. Dann wandte
+er sich um und sah sie an. Ihre Blicke begegneten sich.
+In den ihren las er ein inbrünstiges Bitten um Mitleid.
+Das machte ihn erst recht zornig.</p>
+
+<p>„Mutter, ich muß dich was fragen“, sagte er. Ihre
+Augen irrten im Zimmer umher. Sie gab keine Antwort.
+„Sag' mir die Wahrheit! Ich hab' ein Recht, es zu erfahren!
+Warst du mit meinem Vater verheiratet?“</p>
+
+<p>Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ein Seufzer
+der Erleichterung. Der schreckliche Augenblick, der Augenblick,
+vor dem sie Tag und Nacht seit Wochen und Monaten
+gebangt hatte, war endlich gekommen, und doch
+empfand sie keine Furcht. Ja, es war für sie gewissermaßen
+eine Enttäuschung. Die grobe Unumwundenheit
+der Frage heischte eine unumwundene Antwort. Die Situation
+war nicht langsam gesteigert worden. Es war roh.
+Es erinnerte sie an eine mißlungene Deklamation.</p>
+
+<p>„Nein“, antwortete sie, erstaunt über die harte Einfachheit
+des Lebens.</p>
+
+<p>„Dann war mein Vater ein Schuft!“ schrie der Bursche
+und ballte die Faust.</p>
+
+<p>Sie schüttelte den Kopf. „Ich wußte, daß er nicht frei<a class="pagenum" name="Page_112" title="112"> </a>
+war. Wir haben uns sehr lieb gehabt. Wenn er am Leben
+geblieben wäre, hätte er für uns gesorgt. Sage nichts gegen
+ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein Gentleman.
+Er hatte wirklich hohe Verbindungen.“</p>
+
+<p>Ein Fluch kam über seine Lippen. „Es bekümmert mich
+nicht meinetwegen,“ rief er, „aber laß Sibyl nicht... Ist
+es ein Gentleman oder nicht, der sie liebt, oder so sagt?
+Mit hohen Verbindungen, vermute ich.“</p>
+
+<p>Einen Augenblick lang kam ein schreckliches Gefühl der
+Demütigung über die Frau. Ihr Kopf sank herab. Mit
+zitternden Händen wischte sie sich die Augen. „Sibyl hat
+eine Mutter,“ flüsterte sie, „ich hatte keine.“</p>
+
+<p>Der junge Mensch war gerührt. Er ging zu ihr hin,
+beugte sich über sie und küßte sie. „Es tut mir leid, wenn
+ich dich mit der Frage nach meinem Vater verletzt habe,“
+sagte er, „aber ich konnte nicht anders. Jetzt muß ich fort.
+Lebewohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind
+zu beschützen hast, und glaube mir, wenn dieser Mann
+meiner Schwester ein Leid zufügt, dann bringe ich schon
+heraus, wer es ist, spüre ihn auf und schlage ihn tot wie
+einen Hund. Das schwöre ich dir!“</p>
+
+<p>Die wahnwitzige Übertreibung seines Schwurs, die
+leidenschaftlichen Handbewegungen, die ihn begleiteten,
+die tollen, melodramatischen Worte machten der alten
+Frau das Leben wieder interessanter. Diese Atmosphäre
+war ihr vertraut. Sie atmete wie erlöst, und zum erstenmal
+seit vielen Monaten bewunderte sie förmlich ihren
+Sohn. Sie hätte die Szene gern auf derselben Gefühlshöhe
+fortgesetzt, aber er brach sie kurz ab. Koffer mußten<a class="pagenum" name="Page_113" title="113"> </a>
+heruntergebracht und Decken beschafft werden. Der Hausknecht
+des Mietshauses rannte geschäftig hin und her.
+Mit dem Kutscher wurde der Preis abgehandelt. So
+wurde der Augenblick durch gemeine Einzelheiten verzettelt.
+Mit einem erneuten Gefühl der Enttäuschung stand sie
+am Fenster und ließ das zerrissene Spitzentaschentuch durch
+die Luft wimpeln, als ihr Sohn wegfuhr. Es war ihr
+zumute, als sei eine große Gelegenheit verpaßt worden.
+Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte, wie öde künftig
+ihr Leben sein werde, da sie jetzt nur ein einziges Kind zu
+behüten habe. Diesen Satz hatte sie sich gemerkt. Er hatte
+ihr gefallen. Von seinem Schwur sagte sie nichts. Er war
+lebendig und dramatisch deklamiert worden. Sie hatte die
+Empfindung, daß sie alle eines Tages darüber lachen
+würden.</p>
+
+<h2><a name="Sechstes_Kapitel" id="Sechstes_Kapitel"></a>Sechstes Kapitel</h2>
+
+
+<p>„Du hast doch schon die letzte Neuigkeit gehört, Basil?“
+sagte Lord Henry am selben Abend, als Hallward in das
+kleine Separatzimmer im Bristol trat, wo für drei Personen
+zum Essen gedeckt war.</p>
+
+<p>„Nein, Harry“, antwortete der Künstler, während er
+Hut und Rock dem dienernden Kellner gab. „Was ist es?
+Nichts über Politik, hoffe ich. Die interessiert mich nicht.
+Im ganzen Unterhause gibts keinen einzigen Menschen,
+den man malen möchte; wenn auch einigen von ihnen
+zur Aufbesserung etwas Firnis nicht schaden könnte.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_114" title="114"> </a></p>
+
+<p>„Dorian Gray hat sich verlobt“, sagte Lord Henry und
+beobachtete ihn, während er sprach.</p>
+
+<p>Hallward fuhr zurück und runzelte sofort die Stirn.
+„Dorian verlobt!“ rief er. „Unmöglich!“</p>
+
+<p>„Es ist wahrhaftig wahr.“</p>
+
+<p>„Mit wem?“</p>
+
+<p>„Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin.“</p>
+
+<p>„Ich kann's nicht glauben. Dorian ist viel zu verständig.“</p>
+
+<p>„Dorian ist viel zu klug, um nicht von Zeit zu Zeit
+verrückte Sachen zu begehen, lieber Basil.“</p>
+
+<p>„Heiraten ist kaum eine Sache, die man von Zeit zu
+Zeit tun kann, Harry.“</p>
+
+<p>„Außer in Amerika“, erwiderte Lord Henry nachlässig.
+„Aber ich habe ja nicht gesagt, daß er verheiratet sei. Ich
+sagte, er sei verlobt. Das ist ein großer Unterschied. Ich
+erinnere mich ganz deutlich, verheiratet zu sein, aber ich
+kann mich nicht erinnern, verlobt gewesen zu sein. Ich
+glaube fast, daß ich mich nie verlobt habe.“</p>
+
+<p>„Aber überlege doch Dorians Geburt, seine Stellung,
+sein Vermögen. Es wäre sinnlos, wenn er so tief unter
+seinem Stande heiraten würde.“</p>
+
+<p>„Wenn du willst, daß er dies Mädchen heiratet, so
+brauchst du ihm das nur zu sagen, Basil. Dann tut er's
+gewiß. Wenn ein Mann etwas auserlesen Dummes tut,
+tut er's immer aus den edelsten Beweggründen.“</p>
+
+<p>„Ich hoffe, es ist ein gutes Mädchen, Harry. Ich möchte
+Dorian nicht an irgendein gewöhnliches Wesen gefesselt
+sehen, das ihn herabzieht und seinen Geist verdirbt.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_115" title="115"> </a></p>
+
+<p>„Oh, sie ist mehr als gut &mdash; sie ist schön“, sagte Lord
+Henry und nippte an einem Glas Wermut mit Pomeranzen.
+„Dorian sagt, sie ist schön, und in Dingen dieser
+Art irrt er nicht häufig. Sein Bild von ihm hat sein
+Urteil über die äußere Erscheinung anderer Menschen geschärft.
+Es hat unter anderem diesen glänzenden Erfolg
+gezeigt. Wir sollen sie heute abend sehen, wenn der Junge
+seine Abmachung nicht vergißt.“</p>
+
+<p>„Ist das dein Ernst?“</p>
+
+<p>„Vollständig, Basil. Es würde schlimm für mich sein,
+wenn ich je im Leben ernsthafter sein müßte als jetzt.“</p>
+
+<p>„Aber billigst du es denn, Harry?“ fragte der Maler,
+der im Zimmer auf und ab ging und sich auf die Lippen
+biß. „Du kannst es doch ganz unmöglich billigen. Es ist
+eine törichte Verblendung.“</p>
+
+<p>„Ich billige oder mißbillige nie wieder etwas. Sowas
+bringt einen in eine ganz verrückte Stellungnahme zum
+Leben. Wir sind nicht in die Welt geschickt worden, um
+unsere moralischen Vorurteile glänzen zu lassen. Ich nehme
+nie Notiz von dem, was gewöhnliche Leute sagen, und
+ich mische mich nie in Dinge, die reizende Leute vorhaben.
+Wenn mich eine Persönlichkeit fesselt, dann ist jede Ausdrucksform,
+die sich diese Persönlichkeit aussucht, für
+mich erfreulich. Dorian Gray verliebt sich in ein schönes
+Mädchen, das die Julia spielt, und will sie heiraten.
+Warum nicht? Wenn er Messalina heiraten wollte, würde
+er nicht weniger interessant sein. Du weißt, ich bin kein
+Eheapostel. Der eigentliche Nachteil der Ehe ist, daß man
+selbstlos wird. Und selbstlose Menschen sind farblos. Sie<a class="pagenum" name="Page_116" title="116"> </a>
+werden unpersönlich. Jedoch gibt es gewisse Temperamente,
+die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten
+ihren Egoismus und erweitern ihn durch eine
+Reihe anderer Ichs. Sie sehen sich gezwungen, mehr als
+ein einzelnes Leben zu führen. Sie werden feiner organisiert,
+und feiner organisiert zu werden, scheint mir der
+Zweck des menschlichen Lebens. Überdies hat jede Erfahrung
+ihren Wert, und was man auch gegen die Ehe
+sagen kann, eine Erfahrung ist sie sicher. Ich hoffe, Dorian
+Gray wird dies Mädchen heiraten, wird sie sechs Monate
+hindurch leidenschaftlich anbeten, und dann wird ihn plötzlich
+eine andere anziehen. Es wäre prachtvoll, das zu
+beobachten.“</p>
+
+<p>„Du glaubst kein einziges Wort von alledem, Harry;
+und das weißt du auch. Wenn Dorian Grays Leben zerstört
+würde, wäre kein Mensch trauriger als du. Du bist
+viel besser, als du vorgibst.“</p>
+
+<p>Lord Henry lachte. „Der Grund, weshalb wir alle so
+gut von anderen denken, ist der, daß wir alle Angst
+vor uns selber haben. Die Grundlage des Optimismus
+ist nichts als Furcht. Wir halten uns für großherzig, weil
+wir unserem Nachbar Tugenden zuschreiben, aus denen
+für uns ein Nutzen erwachsen könnte. Wir rühmen den
+Bankier, damit wir unser Konto überschreiten können, und
+finden im Buschklepper gute Eigenschaften in der Hoffnung,
+daß er unseren Geldbeutel verschonen wird. Ich
+glaube jedes Wort, das ich gesprochen habe. Ich habe die
+größte Verachtung für den Optimismus. Was das zerstörte
+Leben betrifft, so ist kein Leben zerstört, dessen<a class="pagenum" name="Page_117" title="117"> </a>
+Wachstum nicht gehemmt wird. Wenn man eine Persönlichkeit
+verderben will, braucht man sie nur zu verbessern.
+Die Ehe allerdings ist eine Narretei, aber es gibt
+andere und interessantere Bande zwischen Mann und Frau.
+Natürlich würde ich dazu eher raten. Sie haben den Reiz,
+fashionabel zu sein. Aber da ist Dorian selbst. Er wird
+dir mehr sagen, als ich es kann.“</p>
+
+<p>„Lieber Harry, lieber Basil, ihr müßt mir beide Glück
+wünschen“, sagte der Jüngling, während er den Abendmantel
+mit den atlasgefütterten Flügeln abwarf und den
+Freunden die Hand schüttelte. „Ich war niemals so selig.
+Natürlich ist alles plötzlich gekommen; alles Entzückende
+kommt plötzlich. Und doch scheint es das einzige gewesen
+zu sein, wonach ich mein Leben lang auf der Suche war.“
+Er glühte vor Aufregung und Freude und sah außerordentlich
+hübsch aus.</p>
+
+<p>„Ich hoffe, du wirst immer sehr glücklich sein, Dorian,“
+sagte Hallward, „aber ich kann es dir nicht ganz verzeihen,
+daß du mir deine Verlobung nicht mitgeteilt hast.
+Harry hast du es mitgeteilt.“</p>
+
+<p>„Und ich kann es dir nicht verzeihen, daß du zu spät
+kommst“, fiel Lord Henry lächelnd ein und legte seine
+Hand auf die Schulter des jungen Mannes. „Komm, wir
+wollen uns setzen und versuchen, was der neue Chef hier
+kann, und dann erzählst du uns, wie alles gekommen ist.“</p>
+
+<p>„Da ist wirklich nicht viel zu erzählen!“ rief Dorian, als
+sie sich um den kleinen Tisch gesetzt hatten. „Was geschah,
+war einfach so. Als ich dich gestern abend verließ, Harry,
+zog ich mich an, aß in dem kleinen italienischen Restaurant<a class="pagenum" name="Page_118" title="118"> </a>
+in Rupert Street, das ich durch dich kennengelernt habe,
+und ging um acht Uhr ins Theater. Sibyl spielte die
+Rosalinde. Natürlich war die Dekoration greulich und der
+Orlando zum Lachen. Aber Sibyl! Ihr hättet sie sehen
+sollen. Als sie in ihren Knabenkleidern auftrat, war sie
+einfach wunderbar. Sie trug ein moosgrünes Samtwams
+mit zimtbraunen Ärmeln, eine kurze, braune, überm Knie
+kreuzweise geschnürte Hose, ein reizendes grünes Barett mit
+einer Falkenfeder, die von einem funkelnden Stein gehalten
+wurde, und war in einen dunkelrot gefütterten
+Kapuzenmantel gehüllt. Sie war mir nie schöner vorgekommen.
+Sie hatte all die zarte Grazie der Tanagrafigur,
+die du in deinem Atelier hast, Basil. Das Haar
+schlang sich um ihr Gesicht wie dunkles Laub um eine
+blasse Rose. Und ihr Spiel &mdash; nun, ihr werdet sie heute
+abend sehen. Sie ist eben eine geborene Künstlerin. Ich
+saß ganz verzaubert in der schmierigen Loge. Ich vergaß,
+daß ich in London war und im neunzehnten Jahrhundert
+lebte. Ich war mit meiner Geliebten weit fort in einem
+Wald, den noch kein Menschenauge gesehen hatte. Nach
+der Vorstellung ging ich hinter die Bühne und sprach mit
+ihr. Als wir nebeneinander saßen, trat plötzlich ein Ausdruck
+in ihre Augen, den ich nie vorher gesehen hatte.
+Meine Lippen fühlten sich zu ihr hingezogen. Wir küßten
+uns beide. Ich kann euch nicht beschreiben, was ich in dem
+Augenblick gefühlt habe. Mir schien, daß all mein Leben
+in einen vollkommenen Moment rosenfarbiger Wonne zusammengepreßt
+wäre. Sie zitterte am ganzen Leibe und
+bebte wie eine weiße Narzisse. Dann warf sie sich auf die<a class="pagenum" name="Page_119" title="119"> </a>
+Knie und küßte meine Hände. Ich weiß, ich sollte euch das
+alles nicht erzählen, aber ich kann mir nicht helfen. Natürlich
+ist unsere Verlobung tiefstes Geheimnis. Sie hat
+nicht einmal zu ihrer Mutter davon gesprochen. Ich weiß
+nicht, was meine Vormünder dazu sagen werden. Lord
+Radley wird sicher wütend sein. Ist mir ganz gleich. In
+weniger als einem Jahre bin ich volljährig und kann dann
+machen, was ich will. Hatte ich nicht recht, Basil, meine
+Geliebte aus dem Reich der Dichtung wegzuholen und
+meine Frau in Shakespeares Stücken zu finden? Lippen,
+die Shakespeare reden gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis
+ins Ohr geflüstert. Rosalindens Arme lagen um
+meinen Hals, und ich habe Julia auf den Mund geküßt.“</p>
+
+<p>„Ja, Dorian, ich glaube, du tatest recht“, sagte Hallward
+langsam.</p>
+
+<p>„Hast du sie heute schon gesehen?“ fragte Lord Henry.</p>
+
+<p>Dorian Gray schüttelte den Kopf. „Ich verließ sie im
+Ardennenwald und werde sie in einem Garten von Verona
+wiederfinden.“</p>
+
+<p>Lord Henry schlürfte nachdenklich seinen Champagner.
+„In welchem Augenblick hast du von Heirat gesprochen,
+Dorian? Und was erwiderte sie darauf? Vielleicht hast
+du das schon ganz vergessen.“</p>
+
+<p>„Lieber Harry, ich habe es nicht als Geschäft behandelt
+und habe ihr keinen förmlichen Antrag gemacht. Ich sagte
+ihr, daß ich sie liebe, und sie sagte, sie verdiene nicht, mein
+Weib zu sein. Nicht verdienen! Was ist denn die ganze
+Welt für mich, wenn ich sie mit ihr vergleiche!“</p>
+
+<p>„Die Frauen sind wunderbar praktisch,“ murmelte Lord<a class="pagenum" name="Page_120" title="120"> </a>
+Henry &mdash; „viel praktischer als wir. In Situationen dieser
+Art vergessen wir oft, etwas von Heirat zu erwähnen, und
+sie erinnern uns immer daran.“</p>
+
+<p>Hallward legte die Hand auf seinen Arm. „Nicht doch,
+Harry. Du kränkst Dorian. Er ist nicht wie andere
+Männer. Er würde nie jemand unglücklich machen. Seine
+Natur ist dafür zu edel.“</p>
+
+<p>Lord Henry blickte über den Tisch. „Dorian fühlt sich
+nie gekränkt durch mich“, antwortete er. „Ich habe aus
+dem besten Grund gefragt, den es geben kann, aus dem
+einzigen Grund, der eine Entschuldigung für eine Frage
+ist &mdash; einfach aus Neugier. Ich habe eine Theorie, wonach
+es immer Frauen sind, die uns einen Antrag machen, und
+nicht wir den Frauen. Natürlich ausgenommen die Mittelklassen.
+Aber die Mittelklassen sind eben nicht modern.“</p>
+
+<p>Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. „Du bist
+ganz unverbesserlich, Harry; aber ich bin nicht böse. Man
+kann dir ja gar nicht böse sein. Wenn du Sibyl Vane
+siehst, wirst du fühlen, daß der Mann, der ihr ein Leid
+antun kann, ein Tier sein muß, ein herzloses Tier. Ich
+kann nicht begreifen, wie man es über sich gewinnen kann,
+ein Wesen, das man liebt, in Schande zu bringen. Ich
+liebe Sibyl Vane. Ich möchte sie auf einen goldenen
+Sockel stellen und dann sehen, wie die ganze Welt das
+Weib anbetet, das mir gehört. Was ist Ehe? Ein unwiderrufliches
+Gelübde. Du spottest deshalb darüber. Ach,
+spotte nicht! Ein unwiderrufliches Gelübde will ich ablegen.
+Ihr Vertrauen macht mich treu, ihr Glaube macht
+mich gut. Wenn ich bei ihr bin, verleugne ich alles, was<a class="pagenum" name="Page_121" title="121"> </a>
+du mich gelehrt hast. Ich werde ein ganz anderer Mensch
+als der, den du in mir siehst. Ich bin verwandelt, und die
+bloße Berührung von Sibyl Vanes Hand läßt mich alle
+deine falschen, bezaubernden, vergifteten, entzückenden
+Theorien vergessen.“</p>
+
+<p>„Und die wären?“ fragte Lord Henry, während er
+Salat nahm.</p>
+
+<p>„Oh, deine Theorien über das Leben, deine Theorien
+über die Liebe, deine Theorien über den Genuß. Tatsächlich
+alle deine Theorien, Harry.“</p>
+
+<p>„Genuß ist das einzige auf der Welt, das eine Theorie
+verdient“, antwortete er mit seiner sanften, musikalischen
+Stimme. „Aber ich fürchte, es ist nicht meine eigene Theorie.
+Sie gehört der Natur, nicht mir. Genuß ist das
+Siegel der Natur, das Zeichen ihrer Zustimmung. Wenn
+wir glücklich sind, dann sind wir immer gut, aber wenn
+wir gut sind, sind wir nicht immer glücklich.“</p>
+
+<p>„Ah, doch, was verstehst du unter gut?“ rief Basil
+Hallward.</p>
+
+<p>„Ja,“ wiederholte Dorian, indem er sich in seinem
+Stuhl zurücklehnte und über den massigen Strauß rotblutiger
+Schwertlilien in der Mitte des Tisches zu Lord
+Henry blickte, „was verstehst du unter gut, Harry?“</p>
+
+<p>„Gut sein, heißt mit sich selbst im Einklang sein“, antwortete
+er, den dünnen Stengel seines Glases mit blassen,
+feingespitzten Fingern umfassend. <ins title="Mißklang">„Mißklang</ins> heißt es, mit
+anderen übereinstimmen müssen. Das eigene Leben &mdash; das
+ist es, worauf es ankommt. Was das Leben unserer Nachbarn
+betrifft, nun, wenn man durchaus ein Affe oder ein<a class="pagenum" name="Page_122" title="122"> </a>
+Puritaner sein will, dann mag man ihnen ja seine moralischen
+Ansichten ins Gesicht schleudern, aber sie gehen
+einen schließlich gar nichts an. Abgesehen davon, hat der
+Individualismus in der Tat die höheren Ziele. Die moderne
+Sittlichkeit besteht darin, daß man den Maßstab
+seiner Zeit anerkennt. Ich habe die Meinung, daß jeder
+kultivierte Mensch, der den Maßstab seiner Zeit anerkennt,
+damit eines der gröbsten Sittlichkeitsverbrechen begeht.“</p>
+
+<p>„Wenn man aber nur für sich selbst lebt, Harry, muß
+man da nicht einen furchtbaren Preis dafür zahlen?“
+fragte der Maler.</p>
+
+<p>„Ja, heutzutage werden wir in allem überteuert. Ich
+glaube, die wirkliche Tragödie der Armut ist die, daß sich
+die Armen nichts leisten können als Selbstverleugnung.
+Schöne Sünden sind wie alle schönen Dinge ein Vorrecht
+der begüterten Klassen.“</p>
+
+<p>„Man muß in anderer Münze zahlen als mit Geld.“</p>
+
+<p>„In welcher Münze, Basil?“</p>
+
+<p>„Ich meine mit Gewissensbissen, mit Schmerzen, mit...
+na eben mit dem Gefühl der Erniedrigung.“</p>
+
+<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Mein lieber Junge, die
+mittelalterliche Kunst ist etwas Entzückendes, aber mittelalterliche
+Gefühle sind nicht mehr Mode. Man kann sie
+freilich in der Dichtung gebrauchen. Aber die einzigen
+Dinge, die in Dichtungen zu verwerten sind, sind solche,
+um die man sich in der Wirklichkeit nicht mehr kümmert.
+Glaube mir, kein zivilisierter Mensch bereut einen durchlebten
+Genuß, und kein unzivilisierter Mensch weiß, was
+ein Genuß ist.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_123" title="123"> </a></p>
+
+<p>„Ich weiß, was ein Genuß ist!“ rief Dorian Gray. „Jemand
+anbeten.“</p>
+
+<p>„Das ist jedenfalls besser, als angebetet zu werden“,
+antwortete Harry, während er mit einigen Früchten spielte.
+„Angebetet zu werden, ist peinlich. Die Weiber behandeln
+uns genau so wie die Menschheit ihre Götter. Sie beten
+uns an und quälen uns unaufhörlich, irgendwas für sie
+zu tun.“</p>
+
+<p>„Ich würde sagen, alles, was sie von uns verlangen,
+haben sie uns zuerst geschenkt“, sagte der Jüngling ernst
+und leise. „Sie erzeugen die Liebe in uns. Sie haben ein
+Recht, sie dann zurückzuverlangen.“</p>
+
+<p>„Das ist ganz richtig, Dorian“, rief Hallward.</p>
+
+<p>„Ganz richtig ist niemals etwas“, sagte Lord Henry.</p>
+
+<p>„Das ist es“, unterbrach Dorian. „Du mußt zugeben,
+Harry, daß nur die Frauen den Männern das reinste
+Gold des Lebens schenken.“</p>
+
+<p>„Vielleicht,“ seufzte er, „aber unweigerlich verlangen sie
+es dann in Kleingeld umgewechselt zurück. Das ist der
+Jammer dabei. ‚Die Frauen,‛ hat einmal ein witziger
+Franzose gesagt, ‚regen uns an, Meisterwerke zu schaffen,
+und verhindern uns immer, sie auszuführen.‛“</p>
+
+<p>„Harry, du bist schrecklich! Ich weiß gar nicht, warum
+ich dich so gern habe.“</p>
+
+<p>„Du wirst mich immer gern haben, Dorian“, antwortete
+er. „Wollen wir Kaffee trinken, Kinder? &mdash; Kellner, bringen
+Sie Kaffee, fine Champagne und Zigaretten. Nein, lassen
+Sie die Zigaretten, ich habe selbst bei mir. Basil, ich kann
+dir nicht erlauben, Zigarren zu rauchen. Du mußt eine<a class="pagenum" name="Page_124" title="124"> </a>
+Zigarette nehmen. Eine Zigarette ist der vollendete Ausdruck
+eines vollendeten Genusses. Er ist köstlich und läßt
+dabei unbefriedigt. Was will man mehr verlangen? Ja,
+Dorian, du wirst mich immer lieb haben. Ich bin für dich
+der Inbegriff aller Sünden, die du zu begehen nie den
+Mut haben wirst.“</p>
+
+<p>„Was für Unsinn du redest, Harry!“ rief der junge
+Mann, während er seine Zigarette an dem feuerspeienden
+Silberdrachen anzündete, den der Kellner auf den Tisch
+gestellt hatte. „Wir wollen jetzt ins Theater. Wenn Sibyl
+auftritt, werdet ihr ein neues Lebensideal bekommen. Sie
+wird euch etwas offenbaren, das ihr noch nicht gekannt
+habt.“</p>
+
+<p>„Ich habe alles kennengelernt,“ sagte Lord Henry mit
+einem müden Ausdruck in den Augen, „aber ich bin immer
+bereit, mir eine neue Emotion zu verschaffen. Nur fürchte
+ich, daß es für mich derlei kaum noch gibt. Immerhin, dein
+wunderbares Mädchen wird mich vielleicht erschüttern. Ich
+liebe die Schauspielkunst. Sie ist soviel wirklicher als das
+Leben. Wir wollen gehen. Dorian, du kannst bei mir einsteigen.
+Basil, es tut mir leid, aber in meinem Brougham
+ist nur Platz für zwei. Du mußt schon in einer Droschke
+nachfahren.“</p>
+
+<p>Sie standen auf, zogen ihre Röcke an und tranken den
+Kaffee im Stehen. Der Maler war schweigsam und bedrückt.
+Ein düsteres Gefühl lastete auf ihm. Er konnte
+diese Ehe nicht gutheißen, und sie schien ihm doch besser
+zu sein als manches andere, das hätte geschehen können.
+Nach einigen Minuten gingen sie gemeinsam die Treppe<a class="pagenum" name="Page_125" title="125"> </a>
+hinunter. Er fuhr, wie verabredet, allein, und sah auf die
+blitzenden Lichter des kleinen Wagens, der vor ihm dahinrollte.
+Das seltsame Gefühl eines großen Verlustes überkam
+ihn. Er fühlte, daß Dorian Gray nie wieder das
+für ihn sein würde, was er ihm früher gewesen war. Das
+Leben war zwischen sie getreten... Vor seinen Augen ward
+es dunkel, und die menschenvollen, erleuchteten Straßen
+verschwammen vor seinem Blick. Als seine Droschke am
+Theater vorfuhr, schien es ihm, als sei er um viele Jahre
+älter geworden.</p>
+
+<h2><a name="Siebentes_Kapitel" id="Siebentes_Kapitel"></a>Siebentes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Aus irgendeinem Grunde war das Haus an diesem
+Abend besonders dicht gefüllt, und der fette jüdische Direktor,
+der sie an der Tür empfing, strahlte von einem
+Ohr zum anderen in einem öligen, zuckenden Lächeln. Er
+begleitete sie zu ihrer Loge mit einer gewissen prahlerischen
+Demut, die feisten, juwelenbedeckten Hände hastig
+bewegend und sich mit der Stimme beinahe überschlagend.
+Dorian verabscheute ihn mehr als je. Er hatte das Gefühl,
+als sei er gekommen, um Miranda zu besuchen und Caliban
+habe ihn empfangen. Dagegen hatte Lord Henry etwas
+für ihn übrig. Wenigstens erklärte er, daß er ihm gefiele,
+bestand darauf, ihm die Hand zu schütteln und versicherte
+ihm, er sei stolz darauf, einen Mann kennenzulernen,
+der ein bedeutendes Genie entdeckt habe und an
+einem Dichter bankerott geworden sei. Hallward unterhielt<a class="pagenum" name="Page_126" title="126"> </a>
+sich damit, die Gestalten im Stehparterre zu beobachten.
+Die Hitze war äußerst drückend, und der riesige
+Sonnenkronleuchter flammte wie eine gigantische Dahlie
+mit Blättern von gelbem Feuer. Die jungen Leute auf
+der Galerie hatten Röcke und Westen ausgezogen und sie
+über die Brüstung gehängt. Sie riefen einander quer über
+das ganze Theater zu und fütterten die grell gekleideten
+Mädchen neben ihnen mit Orangen. Ein paar Weiber
+unten im Stehparterre lachten. Ihre Stimmen waren
+schrecklich schrill und unangenehm. Vom Büfett her hörte
+man Flaschen entkorken.</p>
+
+<p>„Was für ein sonderbarer Platz, um seine Göttin zu
+finden!“ sagte Lord Henry.</p>
+
+<p>„Ja“, erwiderte Dorian Gray. „Hier habe ich sie gefunden,
+und sie ist göttlicher als alles Lebendige. Wenn
+sie spielt, wirst du alles vergessen. Diese gewöhnlichen rohen
+Leute mit ihren alltäglichen Gesichtern und brutalen Bewegungen
+werden ganz verwandelt, sobald sie auf der
+Bühne steht. Sie sitzen stumm da und beobachten sie. Sie
+weinen und lachen, wenn sie es will. Sie hält sie in Stimmung,
+wie man es mit einer Geige tut. Sie veredelt sie,
+und man spürt, daß sie vom selben Fleisch und Blut sind
+wie man selbst.“</p>
+
+<p>„Vom selben Fleisch und Blut wie man selbst? Oh, ich
+hoffe nicht!“ rief Lord Henry, der die Leute auf der
+Galerie mit seinem Opernglas musterte.</p>
+
+<p>„Höre nicht auf ihn, Dorian!“ sagte der Maler. „Ich
+begreife, was du meinst, und ich glaube an dies Mädchen.
+Der Mensch, den du liebst, muß wunderbar sein, und jedes<a class="pagenum" name="Page_127" title="127"> </a>
+Mädchen, das die von dir geschilderte Wirkung erzielt,
+muß fein und edel sein. Seine Mitmenschen veredeln &mdash;
+das verlohnt der Mühe. Wenn dies Mädchen die beseelen
+kann, die seelenlos gelebt haben, wenn sie in Menschen,
+deren Dasein schmutzig und häßlich war, einen Sinn
+für Schönheit wecken kann, wenn sie sie aus ihrem Eigennutze
+losreißen und ihnen Tränen um Sorgen entlocken
+kann, die nicht ihre eigenen sind, dann ist sie deiner Verehrung
+wert, dann ist sie der Verehrung der ganzen Welt
+wert. Solche Heirat ist ganz das Rechte. Ich dachte zuerst
+nicht so, aber jetzt gebe ich es zu. Die Götter haben
+Sibyl Vane für dich geschaffen. Ohne sie wärst du nur
+unvollständig gewesen.“</p>
+
+<p>„Danke, Basil“, antwortete Dorian Gray und drückte
+ihm die Hand. „Ich wußte, daß du mich verstehst. Harry
+ist ein Zyniker, er erschreckt mich. Aber da kommt das
+Orchester. Es ist furchtbar, aber es dauert nur knappe
+fünf Minuten. Dann geht der Vorhang auf und du erblickst
+ein Mädchen, dem ich mein ganzes Leben schenken
+will, dem ich alles überantwortet habe, was gut ist in
+mir.“</p>
+
+<p>Eine Viertelstunde später betrat Sibyl Vane unter
+einem geräuschvollen Beifallssturm die Bühne. Ja, sie war
+wirklich entzückend &mdash; eins der entzückendsten Geschöpfe,
+dachte Lord Henry, die er je gesehen hatte. Es lag etwas
+von einem Reh in ihrer scheuen Grazie und ihren erstaunten
+Augen. Ein schwaches Erröten wie der Widerschein
+einer Rose in einem silbernen Spiegel trat auf ihre
+Wangen, als sie das überfüllte und begeisterte Haus erblickte.<a class="pagenum" name="Page_128" title="128"> </a>
+Sie trat ein paar Schritte zurück, und ihre Lippen
+schienen zu zittern. Basil Hallward sprang auf und begann
+zu klatschen. Bewegungslos, und wie in tiefem Traume,
+saß Dorian Gray da und sah sie an. Lord Henry starrte
+unverwandt durch sein Glas und murmelte: „Entzückend!
+Entzückend!“</p>
+
+<p>Die Szene stellte die Halle in Capulets Hause dar, und
+Romeo war in seinem Pilgerkleid mit Mercutio und seinen
+anderen Freunden aufgetreten. Die Musik präludierte, so
+gut sie konnte, mit ein paar Akkorden, und der Tanz
+fing an. Mitten in dem Gewimmel von ungeschickten,
+schäbig gekleideten Schauspielern bewegte sich Sibyl Vane
+wie ein Geschöpf aus einer höheren Welt. Ihr Körper
+schwebte im Tanze wie eine Blume auf dem Wasser. Die
+Linien ihres Halses glichen denen einer weißen Lilie. Ihre
+Hände schienen aus kühlem Elfenbein zu sein.</p>
+
+<p>Und doch schien sie von seltsamer Abwesenheit. Sie zeigte
+kein Zeichen der Freude, während ihr Auge auf Romeo
+ruhte. Die wenigen Worte, die sie zu sprechen hatte &mdash;</p>
+
+<p class="poem">
+Nein, Pilger, lege nichts der Hand zuschulden<br />
+Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß;<br />
+Der Heiligen Rechte darf Berührung dulden,<br />
+Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuß &mdash;<br />
+</p>
+
+<p class="postpoem">mit dem kurzen Dialog, der folgt, sprach sie in einem
+ganz gekünstelten Tone. Die Stimme klang wundervoll,
+aber der Ton ganz verfehlt. Er traf die Stimmungsfarbe
+nicht. Er nahm den Versen alles Leben. Er machte die
+Leidenschaft unwahr.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_129" title="129"> </a></p>
+
+<p>Dorian Gray erbleichte, als er es hörte. Er war verlegen
+und erschreckt. Seine beiden Freunde wagten nicht,
+ihm etwas zu sagen. Sie schien ja ganz talentlos zu sein.
+Sie waren furchtbar enttäuscht.</p>
+
+<p>Aber sie wußten, daß der wahre Prüfstein für jede
+Julia die Balkonszene im zweiten Akt sei. Darauf warteten
+sie. Wenn sie hier versagte, war nichts an ihr.</p>
+
+<p>Sie sah reizend aus, als sie im Mondschein auftrat.
+Das konnte niemand leugnen. Aber das Theatralische
+ihres Spiels war unerträglich und wurde im Verlauf
+immer ärger. Ihre Gesten waren lächerlich gekünstelt.
+Sie übertrieb das Pathos von allem, was sie zu sagen
+hatte. Die wundervollen Verse &mdash;</p>
+
+<p class="poem">
+Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht,<br />
+Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen<br />
+Um das, was du vorhin mich sagen hörtest &mdash;<br />
+</p>
+
+<p class="postpoem">deklamierte sie mit der peinlichen Genauigkeit eines Schulmädchens,
+das einen mittelmäßigen Vortragslehrer in der
+Schule gehabt hat. Als sie sich über den Balkon lehnte
+und zu den herrlichen Versen kam &mdash;</p>
+
+<p class="poem">
+Obwohl ich dein mich freue,<br />
+Freu' ich mich nicht des Bundes dieser Nacht:<br />
+Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich,<br />
+Gleicht allzusehr dem Blitz, der schon vorbei,<br />
+Noch eh' man sagen kann: es blitzt. &mdash; Schlaf süß!<br />
+Mag warmer Sommerhauch die Liebesknospe<br />
+Zur Blume bis zum Wiedersehn entfalten &mdash;<br />
+</p>
+
+<p class="postpoem"><a class="pagenum" name="Page_130" title="130"> </a>
+sprach sie die Worte, als enthielten sie keinerlei Sinn für
+sie. Es war nicht Aufregung. Nein, weit entfernt davon,
+erregt zu sein, schien sie ganz mit sich zufrieden. Es war
+einfach schlechte Kunst. Es war ein richtiger Abfall.</p>
+
+<p>Selbst das gewöhnliche, ungebildete Publikum auf
+Stehplatz und Galerie verlor sein Interesse am Stück.
+Man wurde unruhig und begann laut zu sprechen und zu
+zischen. Der jüdische Direktor, der im Hintergrunde des ersten
+Ranges stand, stampfte mit den Füßen und fluchte vor
+Wut. Einzig und allein unbewegt war das Mädchen selbst.</p>
+
+<p>Als der zweite Akt vorüber war, brach ein Sturm von
+Zischen los, und Lord Henry stand von seinem Stuhl auf
+und zog seinen Rock an. „Sie ist wunderschön, Dorian,“
+sagte er, „aber sie kann nicht spielen. Wir wollen gehen.“</p>
+
+<p>„Ich will das Stück zu Ende sehen“, antwortete der
+junge Mann mit harter, bitterer Stimme. „Es tut mir
+äußerst leid, daß ich dich veranlaßt habe, einen Abend zu
+vergeuden, Harry. Ich muß mich bei euch beiden entschuldigen.“</p>
+
+<p>„Mein lieber Dorian, ich glaube, Miß Vane war
+krank“, unterbrach ihn Hallward. „Wir wollen an einem
+anderen Abend wiederkommen.“</p>
+
+<p>„Ich wünschte, sie wäre krank“, erwiderte er. „Aber ich
+glaube, sie hat nur kein Gefühl und ist kalt. Sie ist völlig
+verändert. Gestern abend war sie eine große Künstlerin.
+Heute abend ist sie nur eine gewöhnliche, mittelmäßige
+Schauspielerin.“</p>
+
+<p>„Sprich nicht so über jemand, den du liebst, Dorian.
+Liebe ist etwas viel Wunderbareres als Kunst.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_131" title="131"> </a></p>
+
+<p>„Es sind beides nur Formen der Nachahmung“, bemerkte
+Lord Henry. „Aber wir wollen gehen. Dorian, du
+darfst nicht länger hier bleiben. Es schadet der Moral,
+schlechte Schauspielkunst zu sehen. Ich glaube übrigens
+nicht, daß du deine Frau auftreten lassen wirst. Was liegt
+also daran, ob sie die Julia wie eine Holzpuppe spielt!
+Sie ist wirklich bezaubernd, und wenn sie so wenig vom
+Leben weiß wie vom Theaterspielen, wird sie dir eine
+köstliche Erfahrung sein. Es gibt nur zwei Arten fesselnder
+Menschen &mdash; solche, die alles wissen, und solche, die
+gar nichts wissen. Großer Gott, mein lieber Junge, mach'
+kein so tragisches Gesicht! Das Rezept, jung zu bleiben,
+besteht einfach darin, nie eine Erregung haben, die unzuträglich
+ist. Komm mit Basil und mir in den Klub! Wir
+wollen Zigaretten rauchen und auf Sibyl Vanes Schönheit
+trinken. Sie ist schön. Was willst du noch mehr?“</p>
+
+<p>„Geh, Harry!“ rief der Jüngling. „Ich will allein sein.
+Basil, geh! Ach, könnt ihr nicht sehen, daß mir das Herz
+bricht?“ Heiße Tränen traten ihm in die Augen. Seine
+Lippen bebten, er drückte sich in die dunkelste Ecke der
+Loge, lehnte sich an die Wand und verbarg sein Gesicht in
+den Händen.</p>
+
+<p>„Komm, Basil“, sagte Lord Henry mit seltsam zärtlicher
+Stimme; und die beiden jungen Männer gingen zusammen
+hinaus.</p>
+
+<p>Ein paar Augenblicke später flammte die Rampe wieder
+auf, und der Vorhang rauschte zum dritten Akt in die
+Höhe. Dorian Gray ging auf seinen Platz zurück. Er sah
+bleich, abwesend, gleichgültig aus. Das Spiel schleppte sich<a class="pagenum" name="Page_132" title="132"> </a>
+weiter und schien endlos zu sein. Die Hälfte des Publikums
+ging weg, auf schweren Stiefeln trampelnd und
+lachend. Das Ganze war ein richtiges Fiasko. Der letzte
+Akt wurde beinah vor leeren Bänken gespielt. Der Vorhang
+fiel unter Zischen und höhnischem Gegrunze.</p>
+
+<p>Sobald es aus war, stürzte Dorian Gray hinter die Kulissen
+in die Garderobe. Das Mädchen stand allein da, mit
+einem triumphierenden Zuge im Antlitz. Die Augen leuchteten
+in einem merkwürdigen Feuer. Eine Art Glanz umschwebte
+sie. Ihre halbgeöffneten Lippen lächelten wie ein
+Geheimnis, das ihnen allein bewußt war.</p>
+
+<p>Als er eintrat, blickte sie ihn an und ein Ausdruck unsäglichen
+Glückes kam über sie. „Wie schlecht ich heute gespielt
+habe, Dorian!“ rief sie.</p>
+
+<p>„Schrecklich“, antwortete er und sah sie voll Staunen
+an &mdash; „schrecklich. Es war geradezu fürchterlich. Bist du
+krank? Du hast keine Ahnung, wie es war. Keine Ahnung,
+was ich durchgemacht habe.“</p>
+
+<p>Das Mädchen lächelte. „Dorian“, antwortete sie und
+zog seinen Namen mit einem musikalischen Klang in die
+Länge, als wäre er den roten Blüten ihres Mundes süßer
+als Honig &mdash; „Dorian, du hättest begreifen sollen. Aber
+jetzt begreifst du, nicht wahr?“</p>
+
+<p>„Was?“ fragte er heftig.</p>
+
+<p>„Warum ich heute abend so schlecht spielte. Warum ich
+immer schlecht spielen werde. Warum ich nie mehr gut
+spielen <ins title="werde.">werde.“</ins></p>
+
+<p>Er zuckte die Achseln. „Du bist gewiß krank. Wenn du
+krank bist, solltest du nicht spielen. Du machst dich nur<a class="pagenum" name="Page_133" title="133"> </a>
+lächerlich. Meine Freunde haben sich gelangweilt. Ich ebenfalls.“</p>
+
+<p>Sie schien nicht zu hören, was er sagte. Sie war wie verklärt
+vor Vergnügen. Eine Ekstase des Glücks beherrschte sie.</p>
+
+<p>„Dorian, Dorian,“ rief sie, „bevor ich dich kannte, war
+Spielen die einzige Wirklichkeit in meinem Leben. Nur
+im Theater lebte ich. Ich hielt das alles für wahr. An
+einem Abend war ich Rosalinde und Portia am andern.
+Beatrices Glück war mein Glück, und Kordelias Tränen
+waren die meinen. Ich glaubte an alles. Dies gewöhnliche
+Volk, das mit mir spielte, schien mir göttlich. Die bemalten
+Kulissen bedeuteten für mich die Welt. Ich kannte
+nichts als Schatten, und ich nahm sie für Wirklichkeit. Da
+kamst du &mdash; o mein schöner Geliebter &mdash; und befreitest
+meine Seele aus der Kerkerhaft. Du hast mich gelehrt,
+was die wahre Wirklichkeit ist. Heute habe ich zum erstenmal
+die ganze Hohlheit durchschaut, den Betrug, die Albernheit
+des falschen, verlogenen Flittertandes, zwischen
+dem ich bisher gespielt habe. Heute abend wußte ich zum
+ersten Male, daß dieser Romeo abscheulich und alt und
+geschminkt ist, daß der Mond im Garten Blendwerk, die
+ganze Szenerie ordinär ist und daß die Worte, die ich
+zu sprechen hatte, nicht wahr, nicht meine Worte sind,
+nicht, was ich hätte sagen müssen. Du hast mir etwas
+Höheres geschenkt, etwas, von dem alle Kunst nur Abglanz
+ist. Du hast mich begreifen gelehrt, was Liebe ist. Mein
+Geliebter! Mein Geliebter! Prinz Märchenschön! Prinz
+meines Lebens! Ich kann die Schatten nicht mehr ertragen.
+Du bist mir mehr, als mir alle Kunst je sein kann. Was<a class="pagenum" name="Page_134" title="134"> </a>
+hab' ich mit den Puppen eines Spiels zu schaffen? Als ich
+heute abend auftrat, konnte ich nicht begreifen, wie es gekommen
+war, daß alles verschwunden sein sollte. Ich hatte
+gedacht, ich würde wundervoll sein. Ich merkte, daß ich
+durchaus versagte. Plötzlich dämmerte es meiner Seele,
+was das alles bedeutete. Es war ein herrliches Wissen.
+Ich hörte sie zischen und lächelte. Was konnten die wissen
+von einer Liebe wie die unsere? Nimm mich fort,
+Dorian &mdash; nimm mich mit dir irgendwohin, wo wir allein
+sein können. Ich hasse das Theater. Ich konnte vielleicht
+ein Gefühl darstellen, das ich nicht spüre, aber ich kann doch
+nicht eins spielen, das mich verbrennt wie Feuer. Ach,
+Dorian, Dorian, begreifst du jetzt, was das bedeutet?
+Selbst wenn ich es zustande brächte, wär' es Entweihung,
+zu spielen, während ich liebe. Du hast mich sehend gemacht.“</p>
+
+<p>Er warf sich auf das Sofa und wandte sein Gesicht
+ab. „Du hast meine Liebe getötet“, murmelte er.</p>
+
+<p>Sie sah ihn staunend an und lachte. Er gab keine Antwort.
+Sie kam hin zu ihm und strich mit ihren kleinen
+Fingern durch sein Haar. Sie kniete nieder und preßte
+seine Hände an ihre Lippen. Er schob sie weg, und ein
+Schauder überlief ihn.</p>
+
+<p>Dann sprang er auf und schritt zur Tür. „Ja,“ rief er,
+„du hast meine Liebe getötet. Bisher hast du meine Phantasie
+gefesselt. Jetzt fesselst du nicht einmal meine Neugier.
+Du wirkst einfach nicht. Ich liebte dich, weil du ein Wunder
+warst, weil du Genie und Geist hattest, weil du die
+Träume großer Dichter verkörpertest und den Schatten
+der Kunst Gestalt und Körper verliehest. All das hast du<a class="pagenum" name="Page_135" title="135"> </a>
+weggeworfen. Jetzt bist du leer und seicht. Mein Gott.
+Was für ein Narr war ich, dich zu lieben! Wie verblendet
+war ich! Jetzt bist du mir nichts mehr. Ich will dich niemals
+wiedersehen. Nie mehr an dich denken. Nie mehr deinen
+Namen aussprechen. Du weißt nicht, was du mir einmal
+warst. Ja, einmal, einmal... Oh, ich ertrage es
+nicht, daran zu denken. Ich wünschte, ich hätte dich niemals
+gesehen. Du hast die Poesie meines Lebens vernichtet.
+Wie wenig mußt du von Liebe wissen, wenn du sagst, sie
+lähme deine Kunst! Ohne deine Kunst bist du nichts. Ich
+hätte dich berühmt gemacht, zu einem Sterne, zu etwas
+Herrlichem. Die Welt hätte dich angebetet, und du hättest
+meinen Namen getragen. Was bist du jetzt? Eine Schauspielerin
+dritten Ranges mit einem hübschen Gesichtchen.“</p>
+
+<p>Das Mädchen war totenblaß geworden und zitterte. Sie
+preßte die Hände zusammen, und die Sprache schien ihr in
+der Kehle erstickt zu sein. „Du meinst es doch nicht im
+Ernst, Dorian?“ flüsterte sie. „Du verstellst dich nur.“</p>
+
+<p>„Verstellen? Das überlaß ich dir. Du verstehst es ja so
+gut“, entgegnete er bitter.</p>
+
+<p>Sie erhob sich von den Knien und ging mit einem wehen,
+qualvollen Antlitz zu ihm hin. Sie legte ihm die Hand
+auf den Arm und sah ihm in die Augen. Er stieß sie zurück.
+„Berühre mich nicht!“ schrie er.</p>
+
+<p>Ein leises Stöhnen brach aus ihr hervor, und sie warf
+sich ihm zu Füßen und lag da wie eine zertretene Blume.
+„Dorian, Dorian, geh nicht fort von mir!“ rief sie leise.
+„Ich bin so betrübt, daß ich nicht gut gespielt habe. Ich
+dachte nur immer an dich. Aber ich will es wieder versuchen<a class="pagenum" name="Page_136" title="136"> </a>
+&mdash; wirklich, ich will es versuchen. Es kam so jäh über
+mich, die Liebe zu dir. Ich glaube, ich hätte nie etwas von
+ihr gewußt, wenn du mich nicht geküßt hättest &mdash; wenn
+wir uns nicht geküßt hätten. Küß mich wieder, Geliebter!
+Geh nicht von mir! Ich könnte es nicht überleben. Oh, verlaß
+mich nicht! Mein Bruder... nein, nichts darüber. Er
+meinte es nicht im Ernst. Er scherzte nur... Aber du, oh!
+Kannst du mir nie den heutigen Abend verzeihen? Ich
+werde so fleißig sein und mir Mühe geben, besser zu werden.
+Sei nicht grausam gegen mich, weil ich dich mehr
+liebe als alles in der Welt. Es ist doch nur ein einziges
+Mal, wo ich dir mißfallen habe. Aber du hast ganz recht,
+Dorian. Ich hätte mich mehr als Künstlerin zeigen sollen.
+Es war närrisch von mir; und doch konnte ich nicht anders.
+Ach, verlaß mich nicht, verlaß mich nicht.“ Leidenschaftliches
+Schluchzen erschütterte sie. Sie kauerte sich nieder wie ein
+wundes Tier, und Dorian Gray sah mit seinen schönen
+Augen zu ihr herab, und seine feingeschnittenen Lippen
+kräuselten sich in tiefster Verachtung. Die Gefühlsregungen
+von Menschen, die man nicht mehr liebt, haben immer
+etwas Lächerliches an sich. Sibyl Vane schien ihm überspannt
+melodramatisch zu sein. Ihre Tränen und ihr
+Schluchzen langweilten ihn nur.</p>
+
+<p>„Ich gehe“, sagte er schließlich mit seiner klaren, ruhigen
+Stimme. „Ich möchte nicht hart sein, aber ich kann dich
+nicht mehr sehen. Du hast mich enttäuscht.“</p>
+
+<p>Sie weinte still weiter und sagte nichts, sondern kroch
+näher. Ihre kleinen Hände streckten sich ins Leere hinaus
+und schienen ihn zu suchen. Er wandte sich stehenden Fußes<a class="pagenum" name="Page_137" title="137"> </a>
+herum und verließ das Zimmer. Wenige Augenblicke später
+hatte er das Theater hinter sich.</p>
+
+<p>Wohin er ging, wußte er selber kaum. Er erinnerte sich,
+durch schwach beleuchtete Gassen gewandert, an traurigen,
+in schwarze Schatten getauchten Türbogen und elend aussehenden
+Häusern vorbeigekommen zu sein, Weiber mit
+heiseren Stimmen und schrillem Lachen hatten hinter ihm
+her gerufen. Betrunkene waren fluchend und mit sich selber
+sprechend, wie Riesenaffen, an ihm vorbeigetaumelt.
+Er hatte putzige Kinder auf den Stufen kauern sehen und
+Schreien und Schimpfen aus düsteren Höfen gehört.</p>
+
+<p>Als der Morgen graute, fand er sich dicht bei Covent
+Garden. Die Dunkelheit schwand, die Luft rötete sich in
+blaßrotem Feuer, und der Himmel wölbte sich zu einer
+vollendeten Perle. Mächtige Wagen voll nickender Lilien
+rumpelten langsam die gerade, leere Straße hinab. Die
+Luft war schwer vom Dufte der Blumen, und die Schönheit
+schien seinem Schmerz Linderung zu bringen. Er trat
+in die Markthalle und sah den Männern zu, die ihre Wagen
+ausluden. Ein Fuhrmann in weißem Kittel bot ihm
+von seinen Kirschen an. Er dankte ihm, wunderte sich, warum
+er kein Geld dafür annehmen wollte, und begann zerstreut
+davon zu essen. Sie waren um Mitternacht gepflückt
+worden, und sie hatten die Kühle des Mondes in sich.
+Burschen in langer Reihe schleppten Körbe voll gestreifter
+Tulpen und von gelben und roten Rosen herbei, trotteten
+an ihm vorbei, als sie sich ihren Weg durch die großen,
+gelblichgrünen Gemüsestapel suchten. Unter den grauen,
+in der Sonne bleichen Säulen der Vorhalle lungerte ein<a class="pagenum" name="Page_138" title="138"> </a>
+Trupp von schmuddeligen Mädchen ohne Hüte und warteten,
+bis die Versteigerung vorbei war. Andere drängten
+sich um die auf- und zugehenden Türen des Kaffeehauses
+auf der Piazza. Die schweren Lastgäule glitten auf dem
+Pflaster aus und stampften über die holperigen Steine,
+ihre Glocken und Geschirre schüttelnd. Einige Fuhrmänner
+lagen schlafend auf einem Haufen von Säcken. Mit regenbogenfarbenen
+Hälsen und rötlichen Füßen trippelten die
+Tauben mitten darin umher und pickten sich Körner auf.</p>
+
+<p>Nach einer Weile rief er sich eine Droschke und fuhr nach
+Hause. Ein paar Augenblicke blieb er zögernd auf der
+Schwelle stehen, blickte über den schweigenden Platz und
+auf die Häuser mit den blanken, geschlossenen Fenstern
+und den hellen Gardinen. Der Himmel war jetzt ein wirklicher
+Opal, und die Dächer der Häuser glitzerten ihm wie
+Silber entgegen. Von einem Schornstein gegenüber stieg
+eine dünne Rauchsäule in die Höhe. Sie schlängelte sich wie
+ein violettes Band durch die perlmutterfarbene Luft.</p>
+
+<p>In der großen venezianischen Goldlaterne, einer Beute
+von der Barke irgendeines Dogen, die von der Decke der
+großen eichengetäfelten Vorhalle herabhing, brannten noch
+drei flackernde Gaslichter: wie dünne blaue Feuerblüten,
+von weißen Flammen umsäumt. Er drehte sie aus, warf
+Hut und Mantel auf den Tisch und ging durch die Bibliothek
+zur Tür seines Schlafzimmers. Das war ein großer,
+achteckiger Raum zu ebener Erde, den er in seinem neu
+erwachten Gefühl für Luxus erst unlängst einrichten und
+mit einigen schnurrigen Renaissancegobelins hatte bespannen
+lassen, die er in einer nicht mehr gebrauchten<a class="pagenum" name="Page_139" title="139"> </a>
+Dachkammer in Selby Royal entdeckt hatte. Als er eben
+nach der Klinke griff, fiel sein Blick auf das Bildnis, das
+Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Erstaunt schrak
+er zurück. Dann ging er in sein Zimmer und sah nachdenklich
+und betroffen aus. Nachdem er die Blume aus seinem
+Knopfloch genommen hatte, schien er zu zögern. Schließlich
+ging er zurück, trat vor das Bild und musterte es. In dem
+unbestimmten, gedämpften Licht, das durch die mattgelblichen
+Seidenvorhänge drang, schien ihm das Gesicht ein
+wenig verändert. Der Ausdruck war anders. Man hätte
+sagen können, daß ein grausamer Zug um den Mund läge.
+Es war wirklich seltsam.</p>
+
+<p>Er drehte sich um, ging zum Fenster und zog den Vorhang
+auf. Der helle Morgen flutete durch das Zimmer
+und fegte die phantastischen Schatten in düstere Winkel, wo
+sie zitternd liegenblieben. Aber der seltsame Ausdruck, den
+er im Gesicht des Bildes bemerkt hatte, schien nicht nur
+dazubleiben, sondern sich noch verstärkt zu haben. Das
+heiße, zitternde Sonnenlicht zeigte ihm den grausamen Zug
+um den Mund so deutlich, als sähe er sich in einem Spiegel,
+nachdem er etwas Furchtbares verübt hätte.</p>
+
+<p>Er fuhr zusammen und nahm vom Tisch einen ovalen
+Spiegel, dessen Fassung von elfenbeinernen Liebesgöttern
+gebildet wurde, eines der vielen Geschenke Lord Henrys,
+und blickte hastig in die glänzende Tiefe. Keine Linie solcher
+Art verunstaltete seine roten Lippen. Was sollte dies
+bedeuten?</p>
+
+<p>Er rieb sich die Augen und trat ganz nahe an das Bild
+heran, um es abermals zu mustern. An der Technik der<a class="pagenum" name="Page_140" title="140"> </a>
+Malerei konnte man gar keine Spur einer Veränderung bemerken,
+und doch war kein Zweifel, daß sich der Ausdruck
+im ganzen verändert hatte. Es war keine Einbildung von
+ihm. Die Sache war schrecklich klar.</p>
+
+<p>Er warf sich in einen Stuhl und begann zu grübeln.
+Plötzlich überkam ihn die Erinnerung an die Worte, die er
+in Basil Hallwards Atelier an dem Tage gesagt hatte, wo
+das Bild fertig geworden war. Ja, er erinnerte sich ganz
+deutlich. Er hatte den sinnlosen Wunsch ausgesprochen, daß
+er selbst jung bleiben solle, und das Porträt altern: daß
+seine eigene Schönheit fleckenlos bleiben, und das Antlitz
+auf der Leinwand die Last seiner Leidenschaften und Sünden
+tragen solle: daß das gemalte Bildnis von den Linien
+des Leidens und Denkens durchfurcht werden und er selbst
+den feinen Schmelz und alle Lieblichkeit seiner Jugend behalten
+solle, deren er sich damals gerade bewußt geworden
+war. Sein Wunsch war doch nicht erfüllt worden? Solche
+Dinge bleiben unmöglich. Nur so etwas zu denken, schien
+ungeheuerlich. Und doch, da stand das Bild vor ihm und
+hatte den Zug von Grausamkeit um den Mund.</p>
+
+<p>Grausamkeit! War er grausam gewesen? Das Mädchen
+hatte schuld, nicht er. Er hatte von ihr geträumt, als einer
+großen Künstlerin, hatte ihr seine Liebe geschenkt, weil er
+sie für groß gehalten hatte. Dann hatte sie ihn enttäuscht.
+Sie war hohl und wertlos gewesen. Und doch überkam ihn
+ein Gefühl unendlichen Mitleids, als er daran dachte, wie
+sie zu seinen Füßen gelegen und wie ein kleines Kind geschluchzt
+hatte. Er erinnerte sich, mit welcher Gefühllosigkeit
+er sie betrachtet hatte. Warum war er so geschaffen<a class="pagenum" name="Page_141" title="141"> </a>
+worden? Warum war ihm eine solche Seele verliehen worden?
+Aber auch er hatte gelitten. In den drei schrecklichen
+Stunden, die das Stück dauerte, hatte er Jahrhunderte
+von Schmerzen, Ewigkeiten über Ewigkeiten von Qualen
+durchlebt. Sein Leben war gewiß soviel wert als das ihre,
+wenn er sie für das ganze Leben verwundet hatte. Sie
+hatte ihn für einen Augenblick vernichtet. Außerdem sind
+die Frauen besser dafür geeignet, Leiden zu ertragen als
+Männer. Sie leben von ihren Gefühlen. Sie denken nur
+an ihre Gefühle. Wenn sie einen Geliebten haben, so ist es
+nur, um jemand zu haben, dem sie Szenen machen können.
+Lord Henry hatte ihm das gesagt, und Lord Henry wußte,
+wie es mit den Frauen bestellt war. Warum sollte er sich
+um Sibyl Vane beunruhigen? Sie war ihm jetzt nichts
+mehr.</p>
+
+<p>Aber das Bild? Was sollte er dazu sagen? Es barg
+das Geheimnis seines Lebens in sich und erzählte seine
+Geschichte. Es hatte ihn die Liebe zur eigenen Schönheit
+gelehrt. Sollte es ihn lehren, seine eigene Seele zu verabscheuen?
+Könnte er es je wieder anblicken?</p>
+
+<p>Nein; es war nur eine Einbildung, ein Gewebe der verwirrten
+Sinne. Die fürchterliche Nacht, die er durchlebte,
+hatte Gespenster zurückgelassen. Der winzige scharlachrote
+Fleck, der die Menschen zum Wahnsinn treibt, war plötzlich
+auf seinem Gehirn zum Vorschein gekommen. Das
+Bild war nicht anders geworden. Es war Wahnsinn, das
+anzunehmen.</p>
+
+<p>Aber es blickte ihn an mit seinem wunderschönen, entstellten
+Gesicht und seinem grausamen Lächeln. Sein helles<a class="pagenum" name="Page_142" title="142"> </a>
+Haar leuchtete im Sonnengold der Frühe. Seine blauen
+Augen blickten in seine eigenen. Ein Gefühl grenzenlosen
+Mitleids durchdrang ihn, nicht mit sich selbst, nein, mit
+dem gemalten Abbild. Schon hatte es sich verändert und
+würde sich noch mehr verändern. Sein Gold wird zum
+Grau erbleichen. Seine roten und weißen Rosen werden
+welken. Für jede Sünde, die er begehen würde, wird ein
+Fleck hervortreten und seine Schönheit besudeln. Aber er
+wird nicht sündigen. Das Bildnis, verwandelt oder unverwandelt,
+soll für ihn das sichtbare Wahrzeichen des
+Gewissens sein. Er wird jeder Versuchung widerstehen. Er
+wird Lord Henry nicht wiedersehen &mdash; wenigstens nicht
+mehr seinen blendenden, giftigen Theorien lauschen, die
+in Basil Hallwards Garten zum erstenmal in ihm die Leidenschaft
+für unmögliche Dinge aufgerüttelt hatten. Er
+wird zu Sibyl Vane zurückeilen, sich bestreben, sie in ihrer
+Kunst zu verfeinern, sie heiraten und versuchen, sie wieder
+zu lieben. Ja, es war seine Pflicht, das zu tun. Sie mußte
+ja mehr gelitten haben als er. Armes Kind! Er war selbstsüchtig
+und grausam gegen sie gewesen. Der Zauber, den
+sie auf ihn ausgeübt hatte, würde wiederkehren. Sie
+würden glücklich miteinander werden. Sein Leben mit ihr
+würde schon und rein sein.</p>
+
+<p>Er stand von seinem Stuhl auf und schob einen großen
+Wandschirm vor das Bildnis. Er schrak zusammen, als er
+es anblickte. „Wie schrecklich“, flüsterte er. Dann schritt
+er zur Glastür und öffnete sie. Als er in das Grüne hinaus
+trat, atmete er tief auf. Die frische Morgenluft schien
+all die düsteren Leidenschaften zu verjagen. Er dachte nur<a class="pagenum" name="Page_143" title="143"> </a>
+noch an Sibyl. Ein schwacher Glanz seiner Liebe kehrte zurück.
+Er wiederholte ihren Namen immer wieder, immer
+wieder. Die Vögel, die in dem taubeperlten Garten sangen,
+schienen den Blumen von ihr zu erzählen.</p>
+
+<h2><a name="Achtes_Kapitel" id="Achtes_Kapitel"></a>Achtes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Mittag war längst vorüber, als er erwachte. Sein
+Diener war mehrmals auf den Fußspitzen in das Zimmer
+geschlichen, um zu sehen, ob er wach wäre, und er hatte
+sich gewundert, weshalb sein junger Herr so lange schlafe.
+Schließlich klingelte es, und Viktor trat leise ein mit einer
+Schale Tee und einem Stoß Postsachen auf einer schmalen
+Sevresplatte und zog die olivengelben Atlasvorhänge
+mit ihrem blauglänzenden Futter vor den drei großen
+Fenstern zurück.</p>
+
+<p>„Monsieur hat heute morgen gut geschlafen“, sagte er
+lächelnd.</p>
+
+<p>„Wieviel Uhr ist es?“ fragte Dorian Gray noch verschlafen.</p>
+
+<p>„Ein Viertel zwei, Monsieur!“</p>
+
+<p>Wie spät es war! Er setzte sich auf, schlürfte einige Züge
+Tee und durchblätterte die Briefe. Einer davon war von
+Lord Henry und war diesen Morgen von einem Boten abgegeben
+worden. Er zögerte einen Augenblick und legte
+ihn dann zur Seite. Die anderen öffnete er zerstreut. Sie
+enthielten die gewöhnliche Sammlung von Karten, Einladungen<a class="pagenum" name="Page_144" title="144"> </a>
+zum Essen, Ausstellungsbilletts, Programmen
+für Wohltätigkeitskonzerte und ähnlichen Aufforderungen,
+wie sie einem jungen Mann der Gesellschaft während der
+Saison jeden Morgen ins Haus regnen. Es war auch eine
+recht große Rechnung dabei für ein Toiletteservice im
+Stile Louis des Fünfzehnten, aus getriebenem Silber, die
+er noch nicht mutig genug gewesen war, seinen Vormündern
+vorzulegen, die außerordentlich altmodische Herren
+waren und nicht begreifen konnten, daß man in einer
+Zeit lebe, wo die unnötigen Dinge unsere einzige Notwendigkeit
+sind; und außerdem war eine Reihe sehr höflich
+abgefaßter Mitteilungen aus Jermyn Street da, in
+denen man sich anbot, ihm in der kürzesten Zeit jeden
+Geldbetrag zu dem mäßigsten Zinsfuße vorzustrecken.</p>
+
+<p>Etwa nach zehn Minuten stand er auf, schlüpfte in einen
+raffinierten Schlafrock aus Kaschmirwolle mit Seidenstickereien,
+und ging in das onyxgepflasterte Badezimmer.
+Das kalte Wasser erquickte ihn nach dem langen Schlaf.
+Er schien alles vergessen zu haben, was er hinter sich hatte.
+Ein- oder zweimal durchzuckte ihn ein undeutliches Gefühl,
+als wäre er irgendwie in eine seltsame Tragödie verwickelt
+gewesen, aber die Unwirklichkeit eines Traumes webte
+darüber.</p>
+
+<p>Sobald er angezogen war, ging er in das Bibliothekszimmer
+und setzte sich zu einem leichten französischen Frühstück
+nieder, das auf einem kleinen, runden Tische nahe
+beim offenen Fenster bereit stand. Es war ein entzückender
+Tag. Die warme Luft schien mit Wohlgerüchen gewürzt.
+Eine Biene flog herein und summte um die Schale aus<a class="pagenum" name="Page_145" title="145"> </a>
+blauem Drachenporzellan, die voller schwefelgelber Rosen
+vor ihm stand. Er fühlte sich vollkommen glücklich.</p>
+
+<p>Plötzlich fiel sein Blick auf den Wandschirm, den er vor
+das Bild gestellt hatte, und er zuckte zusammen.</p>
+
+<p>„Ist es zu kalt für den gnädigen Herrn?“ fragte der
+Diener, während er eine Omelette auf den Tisch stellte.
+„Soll ich das Fenster schließen?“</p>
+
+<p>Dorian schüttelte den Kopf. „Mir ist nicht kalt“, antwortete
+er.</p>
+
+<p>War es alles wahr? Hatte sich das Bild wirklich verändert?
+Oder war es lediglich seine eigene Phantasie gewesen,
+die ihm einen Zug von Schlechtigkeit vorgespiegelt
+hatte, wo nur ein Zug von Freude gewesen war? Eine gemalte
+Leinwand konnte sich doch nicht verändern? Das
+war doch Tollheit! Das würde er eines Tages Basil als
+Märchen erzählen. Er würde darüber lächeln.</p>
+
+<p>Und doch, wie lebendig war die Erinnerung an die
+ganze Sache! Zuerst in dem schwankenden Zwielicht und
+dann in der hellen Morgenfrühe hatte er den Zug von
+Grausamkeit um die geschwungenen Lippen bemerkt. Er
+fürchtete sich förmlich davor, daß sein Diener hinausgehen
+könnte. Er wußte, er würde, sowie er allein sei, das Bild
+betrachten müssen. Er fürchtete sich vor dieser Gewißheit.
+Als der Diener Kaffee und Zigaretten gebracht hatte und
+sich zum Gehen wandte, empfand er den heftigsten Wunsch,
+ihn dableiben zu lassen. Als sich hinter ihm die Tür geschlossen
+hatte, rief er ihn zurück. Der Mann stand da und
+wartete auf seine Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick
+an. „Ich bin für niemand zu Hause, Viktor“, sagte er<a class="pagenum" name="Page_146" title="146"> </a>
+mit einem Seufzer. Der Mann verbeugte sich und ging
+hinaus.</p>
+
+<p>Dann stand er vom Tische auf, zündete sich eine Zigarette
+an und warf sich auf eine üppig gepolsterte Ottomane,
+die gegenüber dem Schirme stand. Es war ein alter
+Wandschirm aus vergoldetem spanischen Leder, in das ein
+blumiges Louis-Quatorze-Muster getrieben war. Er musterte
+ihn forschend und fragte sich, ob der Schirm wohl
+schon jemals das Geheimnis eines Menschenlebens verhüllt
+habe.</p>
+
+<p>Sollte er ihn überhaupt wegschieben? Warum ihn nicht
+da stehen lassen? Was half die Gewißheit? War die Sache
+wahr, so war es schrecklich. War sie nicht wahr, wozu sich
+darüber beunruhigen? Aber wie, wenn durch Schicksalstücke
+oder irgendeinen tödlichen Zufall andere Augen als die
+seinen dahinter blickten und die fürchterliche Veränderung
+sähen? Was wollte er tun, wenn Basil Hallward kam und
+sein eigenes Bild sehen wollte? Das würde Basil sicher
+tun. Nein, die Sache mußte untersucht werden, und zwar
+auf der Stelle. Alles war besser als diese schreckliche Ungewißheit.</p>
+
+<p>Er stand auf und verschloß beide Türen. Er wollte
+wenigstens allein sein, wenn er die Maske seiner Schande
+betrachtete. Dann schob er den Schirm zur Seite und sah
+sich selbst von Angesicht zu Angesicht. Es war vollständig
+wahr. Das Bildnis hatte sich verändert.</p>
+
+<p>Er erinnerte sich später oft und immer mit nicht geringer
+Verwunderung, daß er zuerst das Bild mit einem
+Gefühl von wissenschaftlichem Interesse geprüft habe. Daß<a class="pagenum" name="Page_147" title="147"> </a>
+eine solche Veränderung möglich sei, schien ihm nicht
+glaublich. Und doch war es Tatsache. Gab es irgendeine
+geheime Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen,
+die auf der Leinwand Form und Farbe werden, und der
+Seele, die in ihm lebte? Konnte es sein, daß sie in Wirklichkeit
+ausdrückten, was seine Seele dachte? &mdash; daß sie
+zur Wahrheit machten, was sie träumte? Oder gab es
+eine andere schreckliche Beziehung? Er schauderte zusammen
+und fühlte sich von Angst gepackt. Dann ging er zu
+der Ottomane zurück und lag nun da, das Bildnis in
+krankhaftem Schrecken anstierend.</p>
+
+<p>Eine Wirkung aber, das fühlte er, hatte es gehabt. Es
+hatte ihm klargemacht, wie ungerecht, wie grausam er
+gegen Sibyl Vane gewesen war. Noch war es nicht zu
+spät, das wieder gut zu machen. Sie konnte noch sein
+Weib werden. Seine unwahre, selbstsüchtige Liebe sollte
+einer höheren Kraft den Platz einräumen, sollte sich zu
+einer edleren Leidenschaft erhöhen und das Bildnis, das
+Basil Hallward gemalt hatte, sollte sein Führer durchs
+Leben, sollte das für ihn sein, was Heiligkeit für einige ist,
+Gewissen für andere und Gottesfurcht für uns alle ist.
+Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Medikamente, die
+das Sittlichkeitsgefühl in Schlaf lullen konnten. Aber hier
+war das durch Sündigkeit hervorgerufene sichtbare Symbol
+der Erniedrigung. Hier war das ewig unauslöschliche
+Zeichen des Verderbens, das Menschen der eigenen Seele
+zufügen.</p>
+
+<p>Es schlug drei und vier, und noch eine halbe Stunde
+ließ das doppelte Zeichen erklingen, aber Dorian Gray<a class="pagenum" name="Page_148" title="148"> </a>
+rührte sich nicht. Er bemühte sich, die scharlachroten Fäden
+des Lebens zu entwirren und sie in ein Muster zu
+verschlingen; seinen Weg zu finden aus dem blutroten Irrgarten
+der Leidenschaft, den er durchwanderte. Er wußte
+nicht, was er tun, nicht, was er denken sollte. Endlich trat
+er an den Tisch und schrieb einen leidenschaftlichen Brief
+an das Mädchen, das er geliebt hatte, flehte sie an, ihm
+zu verzeihen, und beschuldigte sich des Wahnsinns. Er
+bedeckte Seite um Seite mit wilden Worten der Sorge
+und noch heftigeren des Schmerzes. Es gibt eine Wollust
+in Selbstanklagen. Wenn wir uns selbst tadeln, haben wir
+das Gefühl, daß uns kein anderer tadeln dürfe. Die
+Beichte, nicht der Priester, erteilt uns Absolution. Als
+Dorian den Brief beendet hatte, fühlte er, daß ihm vergeben
+worden sei.</p>
+
+<p>Plötzlich pochte man an die Tür und er hörte Lord
+Henrys Stimme draußen. „Lieber Junge, ich muß dich
+sehen. Laß mich gleich herein! Ich kann es nicht zugeben,
+daß du dich so absperrst!“</p>
+
+<p>Er gab zuerst keine Antwort, sondern blieb ganz still.
+Das Klopfen wiederholte sich und wurde lauter. Ja, es
+war besser, Lord Henry einzulassen und ihm zu erklären,
+daß er ein neues Leben führen wolle, mit ihm zu streiten,
+wenn Streit nötig wäre, und sich von ihm zu trennen,
+wenn Trennung stattfinden mußte. Er sprang auf, schob
+den Wandschirm hastig vor das Bild und schloß die
+Tür auf.</p>
+
+<p>„Es tut mir alles so sehr leid, Dorian“, sagte Lord Henry,
+als er eintrat. „Aber du mußt nicht zuviel daran denken.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_149" title="149"> </a></p>
+
+<p>„Meinst du an Sibyl Vane?“ fragte der Jüngling.</p>
+
+<p>„Ja, natürlich“, erwiderte Lord Henry, ließ sich in
+einen Stuhl nieder und zog seine gelben Handschuhe langsam
+aus. „Es ist gewiß, einerseits betrachtet, schrecklich,
+aber es war doch nicht deine Schuld. Sag' mal, bist du
+hinter die Bühne gegangen und hast du sie gesehen, als
+das Stück aus war?“</p>
+
+<p>„Ja.“</p>
+
+<p>„Ich war davon überzeugt. Hast du ihr eine Szene
+gemacht?“</p>
+
+<p>„Ich war brutal, Harry, offen gesagt, brutal. Aber
+jetzt ist alles wieder gut. Was geschehen ist, tut mir nicht
+mehr leid. Es hat mich gelehrt, mich selbst besser kennenzulernen.“</p>
+
+<p>„Ach, Dorian, da bin ich sehr froh, daß du es so auffaßt.
+Ich fürchtete, dich von Gewissensbissen zermartert
+zu finden und wie du dir die hübschen lockigen Haare zerraufst.“</p>
+
+<p>„Das habe ich alles durchgemacht“, sagte Dorian und
+schüttelte lächelnd den Kopf. „Jetzt bin ich vollkommen
+glücklich. Vor allem weiß ich jetzt, was es heißt, ein Gewissen
+zu haben. Es ist nicht das, was du mir gesagt hast.
+Es ist das Göttlichste in uns. Spotte nicht darüber, nie
+mehr, Harry &mdash; wenigstens nie mehr in meiner Gegenwart.
+Ich will jetzt gut sein. Ich kann den Gedanken nicht
+ertragen, meine Seele befleckt zu haben.“</p>
+
+<p>„Wirklich eine entzückende, künstlerische Grundlage für
+Moral, Dorian. Ich gratuliere dir dazu. Aber wie willst
+du damit anfangen?“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_150" title="150"> </a></p>
+
+<p>„Indem ich Sibyl Vane heirate.“</p>
+
+<p>„Sibyl Vane heiraten?“ schrie Lord Henry auf, erhob
+sich und sah ihn mit der bestürztesten Verwunderung an.
+„Aber mein lieber Dorian &mdash;“</p>
+
+<p>„Ja, Harry, ich weiß, was du sagen willst. Irgend
+etwas Häßliches über die Ehe. Sag' es nicht. Sag' mir
+nie wieder solche Dinge. Vor zwei Tagen habe ich Sibyl
+gebeten, mich zu heiraten. Ich werde mein Wort nicht
+brechen. Sie soll meine Frau werden.“</p>
+
+<p>„Deine Frau, Dorian... Hast du denn meinen Brief
+nicht bekommen? Ich habe dir heute früh geschrieben und
+schickte die Mitteilung durch meinen Diener her.“</p>
+
+<p>„Deinen Brief? Ach ja, ich erinnere mich. Ich hab'
+ihn noch nicht gelesen, Harry. Ich fürchtete, daß etwas
+drin stünde, was mir nicht gefallen könnte. Du vivisezierst
+das Leben mit deinen Aphorismen.“</p>
+
+<p>„Dann weißt du also nichts.“</p>
+
+<p>„Wovon sprichst du?“</p>
+
+<p>Lord Henry wanderte durch das Zimmer, setzte sich
+dann neben Dorian Gray, nahm seine beiden Hände und
+hielt sie fest. „Dorian,“ sagte er, „mein Brief &mdash; erschrick
+nicht &mdash; sollte dir melden, daß Sibyl Vane tot ist.“</p>
+
+<p>Ein Schmerzensschrei gellte von den Lippen des Jünglings,
+und er sprang auf und riß seine Hände aus Lord
+Henrys Umklammerung los. „Tot! Sibyl tot!“ Es ist
+nicht wahr. Es ist eine furchtbare Lüge. Wie wagst du
+es, das zu sagen?“</p>
+
+<p>„Es ist völlig wahr, Dorian“, sagte Lord Henry ernst.
+„Es steht in allen Morgenblättern. Ich schrieb dir's gleich<a class="pagenum" name="Page_151" title="151"> </a>
+und bat, du solltest niemand empfangen, bis ich käme.
+Es muß natürlich eine Untersuchung stattfinden, und du
+darfst da nicht hineingezogen werden. Dinge dieser Art
+machen in Paris einen Mann zum Helden des Tages.
+Aber in London haben die Leute zuviel Vorurteile. Hier
+darf man nie mit einem Skandal debütieren. Man muß
+sich das aufheben, um im Alter noch interessant zu sein.
+Ich nehme an, man weiß im Theater deinen Namen
+nicht. In dem Fall ist alles gut. Hat dich jemand in die
+Garderobe gehen sehen? Das ist ein wichtiger Faktor.“</p>
+
+<p>Ein paar Augenblicke lang antwortete Dorian nicht. Er
+war vor Entsetzen gelähmt. Schließlich stammelte er mit
+erstickter Stimme: „Harry, sagtest du eine Untersuchung?
+Was meintest du damit? Hat sich Sibyl &mdash;? Oh, Harry,
+ich kann's nicht ertragen. Mach's kurz. Sag' mir alles
+auf einmal.“</p>
+
+<p>„Ich zweifle nicht daran, daß es kein Versehen war,
+Dorian, wenn man es auch dem Publikum so darstellen
+muß. Es scheint, sie hat das Theater mit ihrer Mutter
+verlassen, gegen halb eins ungefähr, und dann sagte sie
+plötzlich, sie habe oben etwas vergessen. Man wartete
+einige Zeit auf sie, aber sie kam nicht wieder herunter.
+Schließlich fanden sie sie tot auf dem Boden in ihrem
+Ankleidezimmer. Sie hatte aus Versehen irgend etwas
+getrunken, irgend solche gräßliche Sache, die man in den
+Theatern braucht. Ich weiß nicht genau, was es war,
+aber es muß entweder Blausäure oder Bleiweiß gewesen
+sein. Ich vermute, Blausäure, denn sie scheint sofort tot
+gewesen zu sein.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_152" title="152"> </a></p>
+
+<p>„Harry, Harry, es ist furchtbar!“ schrie der Jüngling.</p>
+
+<p>„Ja; natürlich ist's sehr tragisch, aber du mußt sehen,
+nicht mit in die Sache verwickelt zu wenden. Ich habe im
+‚Standard‛ gelesen, daß sie siebzehn Jahre alt war. Ich
+hätte sie noch eher für jünger gehalten. Sie sah ganz wie
+ein Kind aus und schien so wenig von der Schauspielerei
+zu verstehen. Dorian, du darfst die Sache nicht so an die
+Nerven gehen lassen. Du mußt mitkommen und mit mir
+essen, und nachher wollen wir noch 'n bißchen in die Oper
+gehen. Die Patti singt, und alle Welt wird da sein. Du
+kannst mit in die Loge von meiner Schwester kommen.
+Sie bringt ein paar famose Frauen mit.“</p>
+
+<p>„So habe ich also Sibyl Vane gemordet,“ sagte Dorian
+Gray halb zu sich selbst &mdash; „sie gemordet, so sicher, als
+hätte ich ihre zarte Kehle mit einem Messer durchschnitten.
+Und doch sind darum die Rosen nicht weniger entzückend.
+Die Vögel in meinem Garten singen genau so lustig. Und
+heute abend geh' ich mit dir essen und dann in die Oper
+und nachher vermutlich irgendwo soupieren. Wie merkwürdig
+dramatisch das Leben ist. Wenn ich das alles in
+einem Buche gelesen hätte, Harry, ich glaube, ich hätte
+darüber geweint. Aber jetzt, wo es in Wirklichkeit geschehen
+ist, wo es mir selbst geschehen ist, scheint es mir zu wunderbar
+für Tränen. Da liegt der erste leidenschaftliche Liebesbrief,
+den ich in meinem Leben geschrieben habe. Seltsam,
+daß mein erster leidenschaftlicher Liebesbrief an ein totes
+Mädchen gerichtet ist. Ich möchte wohl wissen, ob sie noch
+ein Gefühl haben, diese weißen, verstummten Menschen,
+die wir Tote nennen. Sibyl! Kann sie fühlen, oder wissen,<a class="pagenum" name="Page_153" title="153"> </a>
+oder hören? O Harry, wie hab' ich sie einmal geliebt!
+Es scheint mir jetzt vor Jahren gewesen zu sein. Sie war
+mir alles. Dann kam dieser schreckliche Abend, &mdash; war es
+wirklich erst gestern? wo sie so schlecht spielte und mir fast
+das Herz zerriß. Sie hat mir alles erklärt. Es war furchtbar
+rührend. Aber es machte nicht den mindesten Eindruck
+auf mich. Ich hielt sie für ein oberflächliches Geschöpf.
+Dann geschah plötzlich etwas, was mir Furcht einjagte. Ich
+kann dir nicht sagen, was es war, aber es war furchtbar.
+Ich nahm mir vor, zu ihr zurückzukehren. Ich empfand,
+daß ich unrecht gehabt habe. Und jetzt ist sie tot. Mein
+Gott! Mein Gott! Harry, was soll ich tun? Du kennst
+die Gefahr nicht, in der ich schwebe und es gibt nichts,
+was mich aufrechterhalten könnte. Sie hätte es für mich
+getan. Sie hatte kein Recht, sich umzubringen. Es war
+selbstsüchtig von ihr.“</p>
+
+<p>„Mein lieber Dorian,“ antwortete Lord Harry, während
+er eine Zigarette aus dem Etui nahm und ein goldenes
+Streichholzbüchschen hervorholte, „die einzige Art,
+auf die eine Frau einen Mann bessern kann, besteht darin,
+sie langweilt ihn so gründlich, daß er alles Interesse am
+Leben verliert. Wenn du dieses Mädchen geheiratet
+hättest, wärst du verdorben worden. Natürlich hättest
+du sie gütig behandelt. Menschen, für die man nichts
+übrig hat, kann man immer gütig behandeln. Aber sie
+hätte bald herausgefunden, daß du gar nichts für sie übrig
+hast. Und wenn eine Frau bei ihrem Mann Gleichgültigkeit
+wittert, vernachlässigt sie sich entweder schrecklich, oder
+sie trägt überelegante Hüte, die der Mann einer anderen<a class="pagenum" name="Page_154" title="154"> </a>
+Frau bezahlen muß. Ich will nichts über das soziale Mißverhältnis
+sagen, das schauderhaft gewesen wäre; ich hätte
+selbstverständlich die Sache nie zugegeben, aber ich versichere
+dir, die Sache wäre in jedem Falle ganz verfehlt
+gewesen.“</p>
+
+<p>„Vermutlich“, murmelte der junge Mann, während er
+mit furchtbar blassem Gesicht im Zimmer auf und ab
+schritt. „Aber ich glaube, es sei meine Pflicht. Es ist nicht
+meine Schuld, daß mich dieses schreckliche Trauerspiel verhindert
+hat, das Rechte zu tun. Ich erinnere mich, daß
+du einmal gesagt hast, ein sonderbares Verhängnis schwebe
+über guten Vorsätzen &mdash; daß man sie nämlich immer zu
+spät fasse. Bei meinem war es gewiß der Fall.“</p>
+
+<p>„Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, Naturgesetze umzustoßen.
+Ihr Ursprung ist reine Eitelkeit. Ihr Erfolg ist
+absolut gleich Null. Sie geben uns dann und wann etwas
+jener unfruchtbaren Lustempfindungen, die auf schwache
+Menschen einen gewissen Reiz ausüben. Das ist alles, was
+man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind bloße
+Schecks, die man auf eine Bank ausstellt, bei der man
+kein Konto hat.“</p>
+
+<p>„Harry“, rief Dorian Gray, der sich näherte und
+neben ihn setzte. „Warum kann ich diese Tragödie nicht so
+stark empfinden, wie ich müßte? Ich kann nicht glauben,
+daß ich herzlos bin. Glaubst du das von mir?“</p>
+
+<p>„Du hast in den letzten vierzehn Tagen zuviel törichte
+Streiche begangen, als daß du einen Anspruch auf diesen
+Ehrentitel haben könntest, Dorian“, erwiderte Lord Harry
+mit seinem stillen, melancholischen Lächeln.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_155" title="155"> </a></p>
+
+<p>Der Jüngling runzelte die Stirn. „Diese Erklärung besagt
+mir eigentlich nichts, Harry, aber ich bin dennoch
+froh, daß du mich nicht für herzlos hältst. Ich bin es gewiß
+nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin. Und doch muß ich
+zugeben, daß dies Ereignis mich nicht so angreift, wie es
+sollte. Es kommt mir wie der wunderbare Szenenschluß
+eines wunderbaren Dramas vor. Es hat die schreckliche
+Schönheit einer griechischen Tragödie, einer Tragödie, in
+der ich eine große Rolle gespielt habe, aber in der ich
+selbst nicht verwundet worden bin.“</p>
+
+<p>„Es ist eine interessante Frage,“ sagte Lord Harry, dem
+es ein ausgesuchtes Vergnügen bereitete, mit dem unbewußten
+Egoismus des jungen Mannes zu spielen &mdash; „eine
+außerordentlich interessante Frage. Ich meine, die wahre
+Erklärung ist wohl die. Es kommt oft vor, daß sich die
+Wirklichkeits-Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen
+Form abspielen, daß sie uns durch ihre rohe Gewalt,
+ihren absoluten Mangel an Zusammenhang, durch
+ihre lächerliche Sinnlosigkeit und ihre außerordentliche
+Stillosigkeit verletzen. Sie betrüben uns genau so,
+wie es die Gemeinheit tut. Sie geben uns ein Gefühl
+einer jähen, brutalen Gewalt, und wir lehnen uns
+dagegen auf. Manchmal aber kreuzt eine Tragödie unser
+Leben, die künstlerische Schönheitselemente in sich birgt.
+Wenn diese Schönheitselemente wirklich vorhanden sind,
+dann ergreift die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische
+Wirkung. Wir entdecken auf einmal, daß wir nicht
+mehr die Darsteller, sondern die Zuschauer des Stückes
+sind. Oder richtiger, wir sind beides. Wir beobachten uns<a class="pagenum" name="Page_156" title="156"> </a>
+selbst und werden von dem Wundersamen des Schicksals
+erschüttert. Was ist in vorliegendem Falle wirklich geschehen?
+Jemand hat sich aus Liebe zu dir umgebracht.
+Ich wollte, mir wäre je so ein Erlebnis passiert. Ich wäre
+den Rest meines Lebens in die Liebe verliebt gewesen. Die
+Menschen, die mich angebetet haben &mdash; es waren ihrer
+nicht sehr viele, aber doch immerhin einige &mdash;, waren immer
+darauf versessen, weiterzuleben, noch lange, nachdem ich
+aufgehört hatte, mich um sie zu kümmern, oder sie, sich um
+mich zu kümmern. Sie sind dann dick und langweilig geworden,
+und wenn ich ihnen jetzt begegne, schwelgen sie
+sofort in Erinnerungen. Dies furchtbare zähe Gedächtnis
+der Frauen! Was für 'ne schreckliche Sache das ist! Und
+was für einen völligen geistigen Stillstand offenbart es.
+Man sollte die Farbe des Lebens in sich aufsaugen, aber
+sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind
+immer gewöhnlich.“</p>
+
+<p>„Ich muß Mohnblumen in meinen Garten säen“, seufzte
+Dorian.</p>
+
+<p>„Das ist nicht notwendig“, erwiderte sein Gefährte.
+„Das Leben selbst hat immer Mohnblumen vorrätig.
+Natürlich, dann und wann halten die Dinge länger an.
+Einmal habe ich eine ganze Saison lang nichts als Veilchen
+getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen
+Roman, der nicht sterben wollte. Schließlich indessen ist er
+gestorben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ihn
+getötet hat. Ich vermute, es kam durch ihren Vorschlag,
+mir die ganze Welt aufzuopfern. Das ist immer ein schrecklicher
+Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecknissen<a class="pagenum" name="Page_157" title="157"> </a>
+der Ewigkeit. Schon &mdash; würdest du es nun glauben? &mdash;
+Vorige Woche, bei Lady Hampshire, saß ich bei Tisch
+neben der fraglichen Dame, und sie konnte wiederum nicht
+anders, als die ganze Sache durchzunehmen, die Vergangenheit
+aufzuwühlen und die Zukunft auszumalen.
+Ich hatte den ganzen Roman unter einem Asphodelosbeet
+begraben. Sie scharrte ihn wieder aus und versicherte
+mir, daß ich ihr Leben zerstört habe. Ich fühle mich
+verpflichtet festzustellen, daß sie trotzdem mit staunenswertem
+Appetite aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse
+empfand. Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie!
+Der einzige Reiz der Vergangenheit liegt eben darin,
+daß sie vergangen ist. Aber Frauen wissen nie, wann der
+Vorhang gefallen ist. Sie wollen immer noch einen sechsten
+Akt, und sowie das ganze Interesse an dem Stück erlahmt
+ist, schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man ihnen
+ihren Willen ließe, erlebte jede Komödie einen tragischen
+Schluß, und jede Komödie gipfelte in einer Farce. Sie
+sind oft entzückende Kunstprodukte, aber sie haben keinen
+Sinn für die Kunst. Du bist glücklicher als ich. Ich versichere
+dir, Dorian, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt
+habe, hätte für mich getan, was Sibyl Vane für dich vollbrachte.
+Gewöhnliche Frauen trösten sich immer. Einige
+von ihnen tun es, indem sie sich in empfindsame Farben
+verlieben. Traue niemals einer Frau, die Malven trägt,
+wie alt sie auch sein mag, oder einer Frau über fünfunddreißig,
+die rosa Bänder liebt. Das bedeutet immer,
+daß sie eine Geschichte haben. Andere finden starken Trost
+darin, plötzlich die Vorzüge ihrer Männer zu entdecken.<a class="pagenum" name="Page_158" title="158"> </a>
+Sie reiben einem ihr eheliches Glück unter die Nase, als
+wäre das die fesselndste Sünde. Einige wieder tröstet die
+Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize einer Liebelei
+an sich, hat mir einmal eine Frau versichert und ich kann
+es wohl verstehen. Übrigens macht unsereinen nichts so
+eitel, als wenn einem gesagt wird, man wäre ein Sünder.
+Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten. Ja; die Tröstungen
+haben wirklich kein Ende, die die Frauen im
+modernen Leben finden. Die wichtigste habe ich noch gar
+nicht erwähnt.“</p>
+
+<p>„Welche ist das, Harry?“ fragte der junge Mann zerstreut.</p>
+
+<p>„Oh, der alltäglichste Trost. Einer anderen Frau ihren
+Anbeter nehmen, wenn man den eigenen verloren hat.
+In der guten Gesellschaft findet eine Frau auf solche
+Weise immer ihr Fahrwasser wieder. Aber wirklich, Dorian,
+wie anders muß Sibyl Vane gewesen sein als alle
+die sonstigen Frauen, denen man begegnet. Für mich liegt
+in ihrem Tod etwas ganz Wunderschönes. Es freut mich,
+daß ich in einem Jahrhundert lebe, wo solche Wunder
+noch geschehen. Sie geben uns neuen Glauben an die Wirklichkeit
+der Dinge, mit denen wir sonst spielen, wie Romantik,
+Leidenschaft und Liebe.“</p>
+
+<p>„Ich war furchtbar grausam gegen sie. Du vergißt
+das.“</p>
+
+<p>„Ich fürchte, die Frauen schätzen die Grausamkeit, die
+ganz alltägliche Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes.
+Sie haben wundervoll primitive Instinkte. Wir
+haben sie emanzipiert, aber sie bleiben Sklavinnen, die den<a class="pagenum" name="Page_159" title="159"> </a>
+Blick auf ihre Herren gerichtet halten, trotz allem. Sie
+lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin überzeugt, daß
+du glänzend aufgetreten bist. Ich habe dich nie wirklich
+und durchaus erzürnt gesehen, aber ich kann mir vorstellen,
+wie entzückend du ausgesehen haben mußt. Und
+außerdem sagtest du vorgestern etwas zu mir, was mir
+damals nur ein phantastischer Einfall schien, aber jetzt sehe
+ich, daß es völlig wahr gewesen ist, und ich halte es für
+den Schlüssel zu dem ganzen Ereignis.“</p>
+
+<p>„Was war das, Harry?“</p>
+
+<p>„Du hast zu mir gesagt, Sibyl Vane verkörpere dir alle
+Frauengestalten der Romantik &mdash; sie sei an einem Abend
+Desdemona und am anderen Ophelia; wenn sie als Julia
+sterbe, erwache sie als Imogen wieder zum Leben.“</p>
+
+<p>„Sie wird nie wieder zum Leben erwachen“, ächzte der
+Jüngling und barg sein Gesicht in den Händen.</p>
+
+<p>„Nein, sie wird nie wieder zum Leben erwachen. Sie
+hat ihre letzte Rolle gespielt. Aber du mußt an diesen
+einsamen Tod in dem ärmlichen Garderobenzimmer denken
+wie an ein seltsam schauriges Fragment aus einer Tragödie
+von der Zeit König Jakobs her, wie an eine wunderbare
+Szene bei Webster oder Ford oder Cyril Tourneur. Das
+Mädchen hat nie wirklich gelebt, also ist sie auch nie wirklich
+gestorben. Für dich war sie ja niemals mehr als ein
+Traum, ein Schattengeist, der durch Shakespeares Dramen
+huschte und sie durch ihr Dasein noch reizvoller machte,
+der Ton einer Flöte, durch die Shakespeares Musik noch
+reicher und freudiger ertönte. Im Augenblick, wo sie das
+wirkliche Leben berührte, zerstörte sie es, und es zerstörte<a class="pagenum" name="Page_160" title="160"> </a>
+sie, und so schied sie dahin. Trauere um Ophelia, wenn
+es dir behagt. Streu Asche auf dein Haupt, weil Kordelia
+erwürgt wurde. Schrei zum Himmel, weil die Tochter des
+Brabantio starb. Aber verschwende deine Tränen nicht
+um Sibyl Vane. Sie war weniger wirklich, als jene
+sind.“</p>
+
+<p>Es entstand ein Schweigen. Der Abend dämmerte im
+Zimmer. Geräuschlos auf silbernen Fußen schlichen die
+Schatten aus dem Garten herein. Die Farben verschwanden
+müde aus allen Dingen.</p>
+
+<p>Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. „Du hast mich
+mir selber klargemacht“, flüsterte er mit einem Seufzer
+der Erleichterung. „Alles, was du gesagt hast, habe ich
+auch gefühlt, nur hab' ich mich davor geängstigt, und ich
+konnte es mir selbst nicht ausdrücken. Wie gut du mich
+kennst! Aber wir wollen, von dem was geschehen ist,
+nie wieder sprechen. Es war ein wundersames Erlebnis.
+Das ist alles. Ich möchte wissen, ob meiner noch etwas so
+Wunderbares im Leben harrt.“</p>
+
+<p>„Das Leben hat alles für dich vorrätig, Dorian. Es
+gibt nichts, was du mit deiner außerordentlichen Schönheit
+nicht tun könntest.“</p>
+
+<p>„Aber stelle dir vor, Harry, wenn ich hager und alt
+und runzlich würde, was dann?“</p>
+
+<p>„Ach dann,“ sagte Lord Harry und erhob sich zum
+Gehen &mdash; „dann, mein bester Dorian, würdest du um
+deine Siege kämpfen müssen. Wie es ist, werden sie dir
+noch entgegengetragen. Nein, du mußt schön bleiben, wie
+du noch bist. Wir leben in einer Zeit, in der zuviel gelesen<a class="pagenum" name="Page_161" title="161"> </a>
+wird, als daß sie weise wäre, und in der zuviel
+gedacht wird, als daß sie schön wäre. Wir können dich
+nicht entbehren. Und jetzt tätest du besser, dich anzuziehen
+und in den Klub zu fahren. Wir kommen ohnehin schon
+zu spät.“</p>
+
+<p>„Ich meine, ich treffe dich lieber in der Oper, Harry.
+Ich bin zu müde, um etwas zu essen. Welche Nummer
+hat die Loge deiner Schwester?“</p>
+
+<p>„Siebenundzwanzig, glaub' ich, sie liegt im ersten Rang.
+Du findest ihren Namen an der Tür. Aber es tut mir
+leid, daß du nicht mit essen kommst.“</p>
+
+<p>„Ich bin nicht aufgelegt dazu,“ sagte Dorian zerstreut,
+„aber ich bin dir sehr dankbar für alles, was du zu mir
+gesagt hast. Du bist wirklich mein bester Freund. Niemand
+hat mich je richtiger verstanden als du.“</p>
+
+<p>„Wir stehen erst am Anfang unserer Freundschaft, Dorian“,
+erwiderte Lord Harry und schüttelte ihm die Hand.
+„Adieu! Ich hoffe, dich vor halb zehn zu sehen. Vergiß
+nicht: die Patti singt.“</p>
+
+<p>Als sich die Tür hinter ihm schloß, klingelte Dorian
+Gray, und nach ein paar Minuten erschien Viktor mit den
+Lampen und ließ die Vorhänge herab. Er wartete ungeduldig,
+daß der Diener wieder verschwände. Der Mann
+schien eine unglaubliche Zeit für alles zu gebrauchen.</p>
+
+<p>Sobald er wieder draußen war, stürzte Dorian auf den
+Schirm zu und schob ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich
+nicht wieder verändert. Es hatte die Nachricht von Sibyl
+Vanes Tod erhalten, bevor er selbst davon gewußt hatte.
+Es kannte die Ereignisse des Lebens, sobald sie sich ereigneten.<a class="pagenum" name="Page_162" title="162"> </a>
+Dieser Zug böser Grausamkeit, der die feinen Linien
+des Mundes verunstaltete, war zweifellos im Augenblick
+aufgetaucht, als das Mädchen das Gift genommen hatte.
+Oder kümmerte sich das Bild nicht um die Wirkungen
+einer Tat? Nahm es nur von Vorgängen in der Seele
+Kenntnis? Er hätte es gar zu gern gewußt und hoffte,
+eines Tages solche Wandlung vor seinen Augen geschehen
+zu sehen, und er schauderte, während er es hoffte.</p>
+
+<p>Die arme Sibyl! Wie sonderbar romantisch alles gewesen
+war! Sie hatte oft den Tod auf der Bühne dargestellt.
+Dann hatte sie der Tod selbst gepackt und weggeholt.
+Wie mochte sie die grauenvolle letzte Szene gespielt haben?
+Hatte sie ihn im Sterben verflucht? Nein; sie war aus
+Liebe zu ihm gestorben, und die Liebe sollte ihm von jetzt
+ab immer ein Heiligtum bleiben. Sie hatte alles gebüßt
+durch das Opfer ihres Lebens. Er wollte nicht mehr
+daran denken, was er ihretwegen an jenem schrecklichen
+Theaterabend durchgemacht hatte. Wenn er an sie dachte,
+sollte es sein wie an eine wundersam tragische Gestalt, die
+auf die Weltbühne gestellt worden war, um die höchste
+Verwirklichung der Liebe zu künden. Eine wundersam tragische
+Gestalt? Tränen traten ihm in die Augen, als er
+sich ihres kindlichen Aussehens, ihrer fröhlichen, phantastischen
+Art, ihrer scheuen, zaghaften Anmut entsann. Er
+verscheuchte alles hastig und blickte wieder auf das Porträt.</p>
+
+<p>Er fühlte, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, zu
+wählen. Oder war die Wahl schon getroffen? Ja, das
+Leben hatte für ihn entschieden &mdash; das Leben und seine
+unermeßliche Neugier auf das Leben. Ewige Jugend,<a class="pagenum" name="Page_163" title="163"> </a>
+unerschöpfliche Leidenschaft, ausgesuchte, geheimnisvolle
+Genüsse, wilde Freuden und noch wildere Sünden &mdash; all
+das sollte er haben. Das Bildnis sollte die Last seiner
+Schmach tragen: das war alles.</p>
+
+<p>Ein peinliches Gefühl beschlich ihn, als er an die Entweihung
+dachte, die dieses schönen Gesichtes auf der Leinwand
+harrte. Einmal hatte er in knabenhafter Parodie
+des Narzissus die gemalten Lippen, die ihn jetzt so grausam
+anlächelten, geküßt oder doch zum Schein geküßt.
+Morgen für Morgen hatte er vor dem Bild gesessen und
+seine Schönheit angestaunt; zu Zeiten kam es ihm vor,
+als sei er in sein eigenes Bild verliebt. Sollte es sich nun
+wandeln mit jeder Laune, der er nachgab? Sollte es
+ein ungeheuerliches, widerliches Ding werden, das man im
+verhängten Winkel verschließen müsse vor dem Glanz der
+Sonne, der so oft das lockige Wunder seines Haares noch
+goldiger hatte aufleuchten lassen? Wie schade! Wie schade!</p>
+
+<p>Einen Augenblick dachte er daran, zu beten, daß die
+entsetzliche Beziehung zwischen ihm und dem Bilde aufhören
+möge. Es hatte sich verwandelt, da er darum gebeten
+hatte; es könnte vielleicht, wenn er darum bäte,
+auch wieder unverändert bleiben. Und doch, wer, der eine
+Ahnung vom Leben hat, würde die Möglichkeit, immer
+jung zu bleiben, aufgeben, mochte die Möglichkeit noch so
+phantastisch und mit noch so verhängnisreichen Folgen verknüpft
+sein? Überdies, stand es wirklich in seiner Macht?
+War wirklich das Gebet die Ursache der Verwandlung?
+Konnte es für die ganze Sache nicht irgendeine merkwürdige
+wissenschaftliche Ursache geben? Wenn das Denken<a class="pagenum" name="Page_164" title="164"> </a>
+eine Wirkung auf einen lebenden Organismus ausüben
+konnte, konnte da nicht das Denken auch auf tote unorganische
+Dinge Einfluß haben? Ja, konnten nicht ohne
+Gedanken und bewußte Wünsche Dinge eingreifen, die
+ganz außerhalb unserer Person stehen, im Einklange mit
+unseren Launen und Leidenschaftsanfällen erzittern, konnte
+nicht Atom zu Atom sprechen in geheimer Neigung oder
+seltsamer Verwandtschaft? Aber schließlich waren die Ursachen
+gleichgültig. Er wollte durch Gebet nie wieder eine
+schreckliche Macht versuchen. Wenn das Bildnis sich wandeln
+wollte, so sollte es sich wandeln. Das war einmal
+so. Warum zu tief in ein Geheimnis eindringen?</p>
+
+<p>Allerdings müßte es ein starker Genuß sein, solchen Vorgang
+zu beobachten. Er würde befähigt werden, seinem
+Geist in geheime Schlupfwinkel zu folgen. Dies Bild sollte
+ihm der zauberhafteste Spiegel werden. Wie es ihm seinen
+Körper geoffenbart hatte, so sollte es ihm nun die Seele
+enthüllen. Und wenn der Winter über das Gemälde
+hereinbrach, dann stand er immer noch da, wo der Frühling
+schwankt, ob er die zum Sommer führende Schwelle
+überschreiten soll. Wenn das Blut aus seinem Antlitz fortschliche
+und eine kreidebleiche Maske mit stummen Augen
+zurückließe, dann bewahrte er immer noch den Glanz des
+Säuglingsalters. Keine Blüte seiner Lieblichkeit sollte
+jemals welken. Kein Pulsschlag seines Lebens jemals
+erlahmen. Wie die Götter der Griechen würde er stark
+und behend und heiter bleiben. Was lag daran, was aus
+dem gemalten Abbild auf der Leinwand wurde? Er selbst
+war seiner sicher. Darauf kam alles an.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_165" title="165"> </a></p>
+
+<p>Er schob den Schirm wieder auf den alten Platz vor dem
+Bilde und lächelte, indem er es tat. Dann ging er in sein
+Schlafzimmer, wo sein Diener schon auf ihn wartete. Eine
+Stunde später war er in der Oper, und Lord Harry
+beugte sich über seinen Stuhl.</p>
+
+<h2><a name="Neuntes_Kapitel" id="Neuntes_Kapitel"></a>Neuntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat
+Basil Hallward ins Zimmer.</p>
+
+<p>„Ich bin so froh, daß ich dich treffe, Dorian“, sagte er
+ernsten Tons. „Ich war gestern abend hier, und man
+sagte mir, daß du in der Oper seist. Ich wußte natürlich,
+daß es ja unmöglich ist. Aber es wäre mir lieber gewesen,
+du hättest ein Wörtchen hinterlassen, wo du wirklich
+warst. Ich habe eine schreckliche Nacht verbracht, und fürchtete
+halb, daß eine Tragödie der anderen folgen würde.
+Ich meine, du hättest mir wohl depeschieren können, so wie
+du die Nachricht erhieltst. Ich hab' es durch Zufall im
+letzten Abendblatt des Globe gelesen, das mir im Klub
+in die Hände geriet. Ich eilte sofort hierher und war unglücklich,
+dich nicht zu Hause anzutreffen. Ich kann dir
+gar nicht sagen, wie tief mir die ganze Sache ins Herz
+schneidet. Ich weiß, was du leiden mußt. Aber wo warst
+du denn? Bist du hingegangen, um die Mutter des Mädchens
+zu sehen? Einen Moment dachte ich daran, dir dorthin
+zu folgen. In der Zeitung stand die Adresse. Irgendwo
+in Euston Road, nicht wahr? Aber ich hatte Angst,<a class="pagenum" name="Page_166" title="166"> </a>
+zudringlich zu sein in einem Schmerze, wo ich doch nicht abhelfen
+konnte. Die arme Frau! In was für einem Zustand
+muß sie sein! Und dazu ihr einziges Kind! Was hat sie zu
+all dem gesagt?“</p>
+
+<p>„Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?“ sagte
+Dorian Gray, nippte etwas hellgelben Wein aus einem
+reizenden bauchigen venezianischen Glase, das mit Goldperlen
+inkrustiert war, und sah ganz unwillig aus. „Ich
+war in der Oper. Du hättest auch hinkommen sollen. Ich
+habe dort Harrys <ins title="Schwester">Schwester,</ins> Lady Gwendolen, kennengelernt.
+Wir waren in ihrer Loge. Sie ist ein bezauberndes
+Weib; und die Patti hat göttlich gesungen. Sprich nicht
+von schrecklichen Dingen! Wenn man über eine Sache
+nicht spricht, ist sie nicht geschehen. Nur was man äußert,
+sagt Harry, gibt den Dingen ihre Wirklichkeit. Erwähnen
+möcht' ich aber, daß sie nicht das einzige Kind der Frau
+war. Es ist noch ein Sohn da, ein famoser Junge vermutlich.
+Aber er ist nicht beim Theater. Matrose oder so was
+ähnliches. Und jetzt erzähle mir was von dir, was malst
+du?“</p>
+
+<p>„Du warst in der Oper?“ sagte Hallward gedehnt, und
+seine Stimme war gepreßt vor Schmerz. „Du warst in der
+Oper, während Sibyl Vane tot in irgendeiner schmutzigen
+Stube lag? Du kannst mir von anderen bezaubernden
+Weibern erzählen, und daß die Patti göttlich gesungen
+hat, noch ehe das Mädchen, das du geliebt hast, die Ruhe
+des Grabes gefunden hat, darin sie schlafen soll? Mensch,
+bedenke doch, welche Schrecknisse auf den kleinen weißen
+Körper warten!“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_167" title="167"> </a></p>
+
+<p>„Hör' auf, Basil, ich will davon nichts hören!“ rief
+Dorian und sprang auf. „Du darfst mir über diese Dinge
+nichts sagen. Was geschehen ist, ist geschehen, was vergangen
+ist, ist vergangen.“</p>
+
+<p>„Nennst du gestern die Vergangenheit?“</p>
+
+<p>„Was hat die wirklich verstrichene Zeit damit zu tun?
+Nur seichtes Volk braucht Jahre, um ein Gefühl zu überwinden.
+Ein Mensch, der Herr über sich selbst ist, kann
+einen Schmerz ebenso leicht überwinden, wie er einen
+Genuß entdecken kann. Ich will nicht der Spielball meiner
+Empfindungen sein. Ich will sie ausnützen, mich an ihnen
+freuen und sie beherrschen.“</p>
+
+<p>„Dorian, es ist schauderhaft! Irgend etwas hat dich
+ganz verändert. Du siehst noch genau so aus wie der
+wunderhübsche Junge, der Tag für Tag in mein Atelier
+kam, um für mein Bild zu sitzen. Aber damals warst du
+einfacher, natürlich und herzlich. Du warst das unverdorbenste
+Menschenkind auf der ganzen Welt. Ich weiß
+nicht, was jetzt über dich gekommen ist. Du sprichst, als
+hättest du kein Herz, kein Mitleid in dir. Das ist Harrys
+Einfluß. Ich sehe es.“</p>
+
+<p>Der junge Mensch wurde rot, ging ans Fenster, sah ein
+paar Augenblicke auf den grün schimmernden, von der
+Sonne betupften Garten. „Ich schulde Harry sehr viel, sehr
+viel, Basil,“ sagte er schließlich &mdash; „mehr als ich dir schulde.
+Du hast mir nur Eitelkeit beigebracht.“</p>
+
+<p>„Ich bin bestraft worden dafür, Dorian &mdash; oder werde
+es eines Tages sein.“</p>
+
+<p>„Ich weiß nicht, was du meinst, Basil“, rief Dorian<a class="pagenum" name="Page_168" title="168"> </a>
+aus und drehte sich um. „Ich weiß nicht, was du willst.
+Was willst du?“</p>
+
+<p>„Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt
+habe“, sagte der Künstler traurig.</p>
+
+<p>„Basil,“ erwiderte der Jüngling, trat vor ihn hin und
+legte ihm die Hand auf die Schulter, „du bist zu spät
+gekommen. Als ich gestern hörte, daß sich Sibyl Vane
+getötet habe &mdash; &mdash;“</p>
+
+<p>„Sich getötet! Gott im Himmel! ist das ganz sicher?“
+schrie Hallward und stierte ihn mit dem Ausdruck äußersten
+Schreckens an.</p>
+
+<p>„Mein lieber Basil! Du glaubst doch nicht, daß es nur
+ein gewöhnlicher Unglücksfall war? Natürlich hat sie sich
+selbst getötet.“</p>
+
+<p>Der ältere Mann vergrub sein Gesicht in den Händen.
+„Wie schrecklich!“ flüsterte er und ein Schauer durchrann
+ihn.</p>
+
+<p>„Nein,“ sagte Dorian Gray, „es ist gar nichts Schreckliches
+daran. Es ist eine der größten romantischen Tragödien
+unserer Zeit. In der Regel führen Schauspieler das
+alltäglichste Leben. Sie sind gute Ehemänner oder treue
+Ehefrauen oder sonst irgendwas Langweiliges. Du verstehst,
+was ich meine &mdash; hausbackene Tugend und lauter
+solche Dinge. Wie anders war Sibyl! Sie lebte ihre beste
+Tragödie. Sie war immer eine Heldin. Am letzten Abend,
+wo sie spielte &mdash; an dem Abend, wo du sie gesehen hast &mdash;,
+spielte sie schlecht, weil sie die Liebe als Wirklichkeit
+erkannt hatte. Als sie ihre Unwirklichkeit erfuhr, starb
+sie, wie Julia daran gestorben wäre. Sie entschwand<a class="pagenum" name="Page_169" title="169"> </a>
+wieder in das Reich der Kunst. Sie umschwebt etwas von
+einer Märtyrerin. Ihr Tod hat all die pathetische Nutzlosigkeit
+der Märtyrerschaft, all seine vergeudete Schönheit.
+Aber wie gesagt, du brauchst nicht zu glauben, daß
+ich nicht gelitten hätte. Wenn du gestern in einem bestimmten
+Augenblick, etwa um halb sechs oder um drei Viertel
+sechs gekommen wärst &mdash; dann hättest du mich in Tränen
+aufgelöst gefunden. Selbst Harry, der hier war und mir
+erst die Nachricht brachte, hat keine Ahnung, was ich
+durchgemacht habe. Ich litt namenlos. Dann ging es vorüber.
+Ich kann das Gefühl nicht wiederholen. Niemand
+kann das, sentimentale Menschen ausgenommen. Und du
+bist furchtbar ungerecht, Basil. Du kommst hierher, um
+mich zu trösten. Das ist gut und lieb von dir. Du findest
+mich getröstet und bist wütend. So sieht dein Mitgefühl
+aus! Du erinnerst mich an eine Geschichte, die mir Harry
+über einen Philantropen erzählt hat, der sich zwanzig
+Jahre seines Lebens damit abquälte, irgendeinen Mißstand
+aus der Welt zu schaffen oder ein ungerechtes Gesetz
+abzuändern &mdash; ich kann mich nicht mehr genau erinnern.
+Schließlich gelang es ihm, und nichts konnte größer sein als
+seine Enttäuschung. Er hatte nun absolut nichts mehr zu
+tun, starb beinah vor Langerweile und wurde ein unversöhnlicher
+Menschenhasser. Und außerdem, mein lieber, alter
+Basil, wenn du mich wirklich trösten wolltest, so lehre mich
+lieber vergessen, was geschehen ist, oder lehre mich's
+von rein künstlerischer Seite ansehen. War es nicht Gautier,
+der gern über die ‚<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">consolation des arts</span>‛ geschrieben
+hat? Ich erinnere mich, daß mir mal in deinem Atelier<a class="pagenum" name="Page_170" title="170"> </a>
+ein kleines Buch in Pergamentband in die Hand fiel, und
+ich darin auf diesen entzückenden Ausdruck stieß. Nun, ich
+bin ja nicht wie der junge Mann, von dem du mir einmal
+in Marlow erzählt hast, und der zu sagen pflegte, gelber
+Atlas könne einen über alles Elend im Leben hinwegtrösten.
+Ich liebe schöne Dinge, die man in die Hand nehmen
+und angreifen kann. Alter Brokat, grünpatinierte
+Bronzen, Lackarbeiten, Elfenbeinschnitzereien, eine erlesene
+Zimmerkunst, Luxus, Prunk, das sind alles Dinge, die
+einem viel geben können. Aber die künstlerische Seelenstimmung,
+die sie erzeugen oder mindestens offenbaren,
+bedeutet mir doch noch mehr. Ein Zuschauer seines eigenen
+Lebens sein, wie Harry sagt, das heißt, den Schmerzen
+des Lebens entrinnen. Ich weiß, du bist erstaunt, daß ich
+so zu dir spreche. Du hast noch nicht bemerkt, wie ich mich
+entwickelt habe. Ich war ein Schulknabe, als du mich
+kennenlerntest. Jetzt bin ich ein Mann. Ich habe neue
+Leidenschaften, neue Gedanken, neue Vorstellungen. Ich
+bin anders, aber du mußt mich trotzdem nicht weniger lieb
+haben. Ich bin verändert, aber du mußt immer mein
+Freund bleiben. Natürlich habe ich Harry sehr gern. Aber
+ich weiß auch, daß du besser bist als er. Du bist nicht
+stärker &mdash; dazu ängstigst du dich zu viel vorm Leben &mdash;
+aber du bist besser. Und wie glücklich waren wir doch miteinander!
+Verlaß mich nicht, Basil, und zanke nicht mit
+mir. Ich bin, was ich bin. Mehr kann ich dazu nicht
+sagen.“</p>
+
+<p>Der Maler war seltsam bewegt. Der junge Mensch war
+ihm unsagbar teuer, und seine Erscheinung war der große<a class="pagenum" name="Page_171" title="171"> </a>
+Wendepunkt in seiner Kunst gewesen. Er konnte den Gedanken
+nicht ertragen, ihm noch weitere Vorwürfe zu
+machen. Am Ende war seine Gleichgültigkeit nur eine vorübergehende
+Laune. Es steckte ja soviel Gutes, soviel Edles
+in ihm.</p>
+
+<p>„Gut, Dorian,“ sagte er endlich mit einem wehmütigen
+Lächeln, „ich will von heut an nie wieder über diese furchtbare
+Sache sprechen. Ich hoffe nur, dein Name wird
+nicht in Verbindung damit genannt. Die Leichenschau
+soll heute nachmittag stattfinden. Bist du vorgeladen?“</p>
+
+<p>Dorian schüttelte den Kopf, und eine unangenehme
+Empfindung glitt bei dem Wort „Leichenschau“ über sein
+Gesicht. In all diesen Dingen lag etwas so Rohes und Gemeines.
+„Sie kennen meinen Namen nicht“, antwortete er.</p>
+
+<p>„Aber sie wußte ihn doch?“</p>
+
+<p>„Nur meinen Vornamen, und den hat sie gewiß niemand
+gesagt. Sie erzählte mir einmal, daß alle sehr begierig
+seien, zu erfahren, wer ich sei und daß sie ihnen
+beständig sage, ich heiße der Prinz Märchenschön. Das war
+hübsch von ihr. Du mußt mir eine Zeichnung von Sibyl
+machen, Basil. Ich möchte von ihr gern etwas mehr
+haben als die Erinnerung an ein paar Küsse und einige
+gestammelte pathetische Worte.“</p>
+
+<p>„Ich will versuchen, etwas zu machen, Dorian, wenn ich
+dir damit eine Freude bereite. Aber du mußt zu mir
+kommen und mir selbst wieder sitzen. Ich komme ohne dich
+nicht vom Fleck.“</p>
+
+<p>„Ich kann dir nie wieder sitzen, Basil. Das ist unmöglich!“
+rief Dorian und schrak zurück.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_172" title="172"> </a></p>
+
+<p>Der Maler starrte ihn an. „Mein lieber Junge, was für
+ein Unsinn“, rief er. „Willst du damit sagen, daß du mein
+Bild nicht gut findest? Wo ist es? Warum hast du den
+Wandschirm vorgestellt? Laß es mich sehen. Es ist die
+beste Arbeit, die ich je gemacht habe. Nimm den Schirm
+weg, Dorian! Es ist eine Schande, daß dein Bedienter
+mein Bild so versteckt. Ich merkte gleich, wie ich eintrat,
+daß das Zimmer ganz verändert sei.“</p>
+
+<p>„Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Du
+glaubst doch nicht etwa, daß ich ihm irgendeine Anordnung
+in meinem Zimmer überlasse? Er ordnet zuweilen
+meine Blumen &mdash; das ist alles. Nein, ich habe es selbst
+getan. Das Licht war zu stark für das Bild.“</p>
+
+<p>„Zu stark? Gewiß nicht, mein Lieber. Es hat einen untadeligen
+Platz. Laß mich's mal sehen!“ und Hallward
+schritt in die Zimmerecke.</p>
+
+<p>Ein Schrei des Entsetzens entrang sich den Lippen
+Dorian Grays, und er stürzte sich zwischen den Maler und
+den Schirm. „Basil,“ sagte er und sah ganz bleich aus,
+„du darfst es nicht sehen. Ich will es nicht.“</p>
+
+<p>„Mein eigenes Bild nicht sehen? Du meinst das doch
+nicht im Ernst! Warum soll ich es nicht sehen?“ rief Hallward
+lachend.</p>
+
+<p>„Wenn du versuchst, es anzusehen, Basil, gebe ich dir
+mein Ehrenwort, daß ich, solange ich lebe, nie wieder ein
+Wort mit dir spreche. Es ist mein völliger Ernst. Ich gebe
+keine Erklärung, und du wirst um keine bitten. Aber denke
+daran, wenn du diesen Wandschirm anrührst, dann ist
+alles aus zwischen uns!“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_173" title="173"> </a></p>
+
+<p>Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Dorian
+Gray ganz verblüfft an. So hatte er ihn vorher nie gesehen.
+Der Jüngling war wirklich ganz bleich vor Zorn.
+Seine Hände waren zusammengeballt, und die Pupillen
+seiner Augen sahen aus wie blaue Feuerräder. Er zitterte
+am ganzen Leibe.</p>
+
+<p>„Dorian!“</p>
+
+<p>„Sprich nicht!“</p>
+
+<p>„Aber was ist los? Ich sehe das Bild natürlich nicht
+an, wenn du es nicht willst“, sagte der Maler ziemlich kühl,
+drehte sich um und ging zum Fenster hinüber. „Aber es
+scheint mir wahrhaftig ganz verrückt, daß ich mein eigenes
+Werk nicht sehen soll, besonders, wo ich es im Herbst in
+Paris ausstellen will. Ich werde es wahrscheinlich vorher
+nochmals firnissen müssen, werde es also eines Tages doch
+gewiß sehen, also warum nicht heute?“</p>
+
+<p>„Es ausstellen? Du willst es ausstellen?“ rief Dorian
+Gray, den ein seltsames Angstgefühl überkam. Sollte alle
+Welt sein Geheimnis erfahren? Sollte das Volk das Geheimnis
+seines Lebens begaffen? Das war unmöglich.
+Irgend etwas &mdash; er wußte noch nicht was &mdash; mußte
+sofort geschehen.</p>
+
+<p>„Ja, ich denke nicht, daß du etwas dagegen haben wirst.
+Georges Petit will nächstens meine besten Bilder für eine
+Sonderausstellung in der Rue de Sèze sammeln, die in der
+ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll. Das Bild wird
+nur einen Monat lang weg sein. Ich meine, solange könntest
+du es leicht entbehren. Du bist ohnehin während dieser
+Zeit nicht in der Stadt. Und wenn du es überhaupt hinter<a class="pagenum" name="Page_174" title="174"> </a>
+einem Schirm versteckt halten willst, kann dir ja nicht viel
+daran gelegen sein.“</p>
+
+<p>Dorian Gray fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
+Schweißtropfen standen darauf. Er fühlte, daß er am
+Rande einer fürchterlichen Gefahr stehe. „Du hast mir vor
+einem Monat gesagt, du würdest es nie ausstellen“, rief er.
+„Warum hast du dich anders entschlossen? Ihr Leute,
+die ihr viel Aufhebens von der Konsequenz macht, habt
+genau soviel Launen wie andere. Der einzige Unterschied
+ist der, daß eure Launen wenig Sinn haben. Du kannst
+nicht vergessen haben, daß du mir feierlichst versichert hast,
+nichts in der Welt könne dich bewegen, das Bild auf eine
+Ausstellung zu bringen. Du sagtest zu Harry ganz dasselbe.“
+Er stockte plötzlich, und ein Glanz erwachte in seinen
+Augen. Er erinnerte sich, daß ihm Lord Harry einmal
+halb ernst und halb scherzend gesagt hatte: Willst du mal
+eine merkwürdige Viertelstunde erleben, dann laß dir von
+Basil sagen, warum er dein Porträt nicht ausstellen will.
+Er hat mir den Grund erzählt, und es war für mich eine
+Offenbarung. Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis.
+Er wollte ihn fragen und auf die Probe stellen.</p>
+
+<p>„Basil,“ sagte er, und trat ganz dicht zu ihm heran
+und sah ihm fest ins Gesicht, „jeder von uns hat ein Geheimnis.
+Sage mir das deine, und ich laß dich meines
+wissen. Was für einen Grund hattest du, die Ausstellung
+meines Bildes zu verweigern?“</p>
+
+<p>Der Maler erschauderte, ohne daß er es wollte. „Dorian,
+wenn ich es dir sagte, hättest du mich wahrscheinlich weniger
+lieb und würdest mich gewiß auslachen. Keines von beiden<a class="pagenum" name="Page_175" title="175"> </a>
+könnte ich ertragen. Wenn du willst, daß ich nie mehr dein
+Bild ansehen soll, dann geb' ich mich zufrieden. Ich kann
+dich selbst ja immer ansehen. Wenn du die beste Arbeit,
+die ich je gemacht habe, vor der Welt versteckt halten willst,
+soll es mir recht sein. Deine Freundschaft ist mir mehr
+wert als Ruhm und Anerkennung.“</p>
+
+<p>„Nein, Basil, du mußt es mir sagen. Ich glaube, ich
+habe ein Recht, es zu wissen.“ Sein Angstgefühl hatte ihn
+verlassen, und Neugier war an dessen Stelle getreten. Er
+war entschlossen, hinter Basil Hallwards Geheimnis zu
+kommen.</p>
+
+<p>„Setzen wir uns, Dorian“, sagte der Maler, der verwirrt
+aussah. „Setzen wir uns und beantworte mir eine
+Frage. Hast du an dem Bild etwas Merkwürdiges bemerkt?
+&mdash; etwas, das dir vielleicht anfänglich nicht aufgefallen
+ist, was sich dir dann aber plötzlich enthüllte?“</p>
+
+<p>„Basil!“ schrie der Jüngling, umklammerte die Armlehnen
+seines Stuhles mit zitternden Händen und starrte
+ihn mit wilden, verstörten Augen an.</p>
+
+<p>„Ich sehe, du hast es bemerkt. Sage nichts. Warte, bis
+du gehört hast, was ich zu sagen habe. Dorian, von dem
+Augenblick an, wo ich dich kennengelernt habe, übte deine
+Persönlichkeit den außerordentlichsten Einfluß auf mich aus.
+Ich war beherrscht von dir, meine Seele, mein Gehirn,
+meine ganze Kraft war es. Du wurdest für mich die sichtbare
+Verkörperung des unsichtbaren Ideals, dessen Bild
+uns Künstler wie ein köstlicher Traum verfolgt. Ich habe
+dich angebetet. Ich wurde eifersüchtig auf jeden Menschen,
+mit dem du sprachst. Ich wollte dich ganz für mich allein<a class="pagenum" name="Page_176" title="176"> </a>
+haben. Ich war nur glücklich, wenn ich mit dir zusammen
+war. Wenn du fort von mir warst, lebtest du trotzdem
+in meiner Kunst weiter... Natürlich ließ ich dich nie etwas
+davon wissen. Das wäre unmöglich gewesen. Du hättest
+es nicht verstanden. Ich selbst hab' es kaum verstanden. Ich
+wußte nur, daß ich Auge in Auge die Vollkommenheit gesehen
+hatte und daß sich die Welt meinen Augen als ein
+Wunder erschlossen hatte &mdash; vielleicht als ein zu mächtiges
+Wunder, denn in so wahnsinniger Anbetung liegt eine Gefahr,
+die Gefahr, daß die Anbetung aufhört, und die Gefahr,
+daß sie bleibt... Wochen und Wochen verstrichen,
+und ich ging immer mehr und mehr in dir verloren. Dann
+kam ein neues Stadium. Ich hatte dich als Paris in strahlender
+Rüstung gemalt und als Adonis im Jägergewand
+mit blitzendem Speer. Mit schweren Lotusblüten bekränzt
+hast du auf dem Bug von Hadrians Barke gesessen und in
+den grünen, schlammigen Nil geblickt. Du hast dich über
+das stille Gewässer einer griechischen Waldlandschaft gelehnt
+und im stummen Silberspiegel das Wunder deines
+eigenen Antlitzes gesehen. Und es war alles gewesen, wie
+die Kunst sein soll, unbewußt, ideal und entrückt. Eines
+Tages, manchmal denke ich, eines verhängnisvollen Tages,
+entschloß ich mich, ein wundervolles Bildnis von dir zu
+malen, wie du wirklich bist, nicht im Kostüm toter Zeiten,
+sondern in deiner eigenen Tracht und deiner eigenen Zeit.
+Ob es nun die Realistik der Methode war, oder der Zauber
+deiner eigenen Persönlichkeit, der mir so ohne jeden
+Schleier und Nebel entgegentrat, kann ich nicht sagen. Aber
+ich weiß, daß mir bei der Arbeit jede Schicht Farben mein<a class="pagenum" name="Page_177" title="177"> </a>
+Geheimnis zu enthüllen schien. Ich ängstigte mich, andere
+könnten die Abgötterei, die ich mit dir trieb, entdecken. Ich
+fühlte, Dorian, daß ich zuviel gesagt, daß ich zuviel von
+mir selber hineingelegt hatte. Damals beschloß ich, das
+Bild nie auszustellen. Es kränkte dich ein wenig, aber damals
+verstandest du eben nicht, was es für mich bedeutete;
+Harry, dem ich davon erzählte, lachte mich aus. Aber das
+machte mich nicht irrig. Als das Bild fertig war, und ich
+allein vor ihm dasaß, fühlte ich, daß ich recht hatte...
+Schön, ein paar Tage später, als es mein Atelier verlassen,
+und ich alsbald den unerträglichen Zauber seiner
+Gegenwart überwunden hatte, schien es mir, daß es verrückt
+von mir gewesen war, mehr darin zu sehen, als
+daß du sehr hübsch seist, und ich wohl malen könne. Selbst
+jetzt kann ich nicht umhin, zu fühlen, daß es ein Irrtum sein
+muß, wenn man glaubt, daß die Begeisterung, die man
+beim Schaffen hat, in dem Werke, das man schafft, leibhaftig
+zum Ausdruck käme. Die Kunst ist immer abstrakter,
+als wir uns einbilden. Form und Farbe erzählen uns von
+Form und Farbe &mdash; weiter nichts. Es scheint mir oft,
+daß die Kunst den Künstler viel mehr verbirgt als offenbart.
+Und als ich dann den Antrag aus Paris bekam, entschloß
+ich mich, dein Bild zum Hauptstück meiner Ausstellung
+zu machen. Es fiel mir nie ein, daß du es nicht
+zulassen würdest. Ich sehe jetzt, daß du recht hast. Das Bild
+darf nicht ausgestellt werden. Du mußt mir nicht böse sein,
+Dorian, wegen der Dinge, die ich gesagt habe. Ich habe
+früher einmal Harry gesagt, du bist dazu geschaffen, angebetet
+zu werden.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_178" title="178"> </a></p>
+
+<p>Dorian Gray atmete tief auf. Seine Wangen bekamen
+wieder Farbe, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Die
+Gefahr war vorbei. Für den Augenblick war er gerettet.
+Doch er mußte unendliches Mitleid fühlen mit dem Maler,
+der ihm eben diese seltsame Beichte abgelegt hatte, und
+er fragte sich, ob er selbst jemals so stark von der Persönlichkeit
+eines Freundes beherrscht werden könnte. Lord
+Henry hatte den Reiz, sehr gefährlich zu sein. Aber das
+war alles. Er war zu klug und zu zynisch, als daß man ihn
+wirklich lieben könnte. Würde es je einen Menschen geben,
+den er merkwürdig abgöttisch anbeten könnte? War das
+eines von den Dingen, die ihm das Leben noch aufsparte?</p>
+
+<p>„Es ist mir wirklich ein reines Rätsel,“ sagte Hallward,
+„daß du das dem Porträt angesehen haben willst. Hast
+du es wirklich gesehen?“</p>
+
+<p>„Ich habe etwas darin gesehen,“ antwortete er, „etwas,
+das mir sehr sonderbar vorkam.“</p>
+
+<p>„Und jetzt hast du wohl nichts mehr dawider, es einmal
+zu betrachten?“</p>
+
+<p>Dorian schüttelte den Kopf. „Das darfst du von mir
+nicht verlangen, Basil. Es ist mir unmöglich, dich vor dem
+Bilde stehen zu sehen.“</p>
+
+<p>„Aber doch ein andermal?“</p>
+
+<p>„Nie!“</p>
+
+<p>„Schön, vielleicht hast du recht. Und jetzt adieu, Dorian.
+Du bist der einzige Mensch in meinem Leben gewesen, der
+wirklichen Einfluß auf meine Kunst ausgeübt hat. Was ich
+je Gutes gemacht habe, danke ich dir. Ach! Du kannst dir<a class="pagenum" name="Page_179" title="179"> </a>
+nicht vorstellen, was es mich gekostet hat, dir all das zu
+sagen, was ich gesagt habe.“</p>
+
+<p>„Mein lieber Basil,“ sagte Dorian, „was hast du mir
+denn gesagt? Nichts, als daß du das Gefühl habest, mich
+zu sehr zu bewundern. Das ist nicht einmal ein Kompliment.“</p>
+
+<p>„Es sollte auch kein Kompliment sein. Es war eine
+Beichte. Jetzt, da ich sie abgelegt habe, kommt es mir so
+vor, als ob ich etwas verloren hätte. Man sollte seiner
+Verehrung niemals das Kleid der Worte umhängen.“</p>
+
+<p>„Deine Beichte hat mich enttäuscht.“</p>
+
+<p>„Ja, was hast du denn erwartet, Dorian? Du hast doch
+nicht sonst noch etwas in dem Bilde gesehen? Es war doch
+nicht sonst noch etwas anderes zu sehen?“</p>
+
+<p>„Nein, es war sonst nichts anderes zu sehen. Warum
+fragst du? Aber du solltest nicht von Verehrung sprechen.
+Das ist Narrheit. Du und ich, wir sind Freunde,
+Basil, und müssen es immer bleiben.“</p>
+
+<p>„Du hast jetzt Harry“, sagte der Maler traurig.</p>
+
+<p>„Oh, Harry!“ rief der junge Mann mit einem fröhlichen
+Lachen. „Harry verbringt seine Tage damit, unglaubliche
+Dinge zu sagen, und seine Abende, unwahrscheinliche Dinge
+zu tun. Das ist genau die Art Leben, das ich führen möchte.
+Immerhin glaube ich nicht, daß ich je zu Harry ginge, wenn
+mich Kummer drückte. Ich würde eher zu dir kommen.“</p>
+
+<p>„Du willst mir wieder sitzen?“</p>
+
+<p>„Unmöglich!“</p>
+
+<p>„Du vernichtest meine künstlerische Existenz, wenn du
+dich weigerst. Kein Mensch begegnet zwei Idealen. Wenige
+finden eines.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_180" title="180"> </a></p>
+
+<p>„Ich kann es dir nicht erklären, Basil, aber ich darf dir
+nie wieder sitzen. Es schwebt etwas Verhängnisvolles um
+das Bildnis eines Menschen. Es hat ein Leben für sich.
+Ich werde zu dir kommen und mit dir Tee trinken, das
+wird ebenso hübsch <ins title="sein.">sein.“</ins></p>
+
+<p>„Für dich hübscher, fürchte ich“, sagte Hallward bekümmert
+vor sich hin. „Und jetzt adieu. Es tut mir leid,
+daß du mich nicht noch einmal das Bild sehen lassen
+wolltest. Aber dabei ist nichts zu tun. Ich verstehe sehr
+gut, was du dabei fühlst.“</p>
+
+<p>Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte sich Dorian
+Gray zu. Der arme Basil! Wie wenig ahnte der doch von
+dem wahren Grunde! Und wie seltsam es war, daß er es,
+statt sein eigenes Geheimnis offenbaren zu müssen, fast
+durch einen Zufall erreicht hatte, dem Freunde das seine
+zu entreißen. Wie viel erklärte ihm doch diese merkwürdige
+Beichte! Die unverständlichen Eifersuchtsanfälle des Malers,
+seine ungestüme Verehrung, seine übertriebenen Lobeshymnen,
+sein sonderbares Verstummen &mdash; das alles verstand
+er jetzt, und er tat ihm leid. Einer Freundschaft,
+die so stark von Romantik gefärbt war, schien ihm eine
+gewisse Tragik inne zu wohnen.</p>
+
+<p>Er seufzte und drückte auf die Klingel. Das Porträt
+mußte um jeden Preis versteckt werden. Er konnte sich
+nicht ein zweitesmal der Gefahr solcher Entdeckung aussetzen.
+Es war wahnsinnig von ihm gewesen, das Ding da
+überhaupt nur eine Stunde lang in einem Zimmer zu
+lassen, zu dem jeder seiner Freunde Zutritt hatte.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_181" title="181"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Zehntes_Kapitel" id="Zehntes_Kapitel"></a>Zehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Als sein Bedienter eintrat, sah er ihn forschend an und
+fragte sich, ob es ihm wohl schon eingefallen sei, hinter
+den Schirm zu blicken. Der Mann sah aber ganz harmlos
+aus und wartete auf seine Befehle. Dorian zündete sich
+eine Zigarette an, ging zum Spiegel hinüber und sah
+hinein. Er konnte Viktors Gesicht darin genau sehen. Es
+war eine reglose Maske der Unterwürfigkeit. Daher war
+nichts zu fürchten, daher nicht. Doch er hielt es für das
+beste, auf der Hut zu sein.</p>
+
+<p>In sehr leisem Tone trug er ihm auf, die Haushälterin
+herein zu rufen und dann zum Einrahmer zu gehen, damit
+er sofort zwei Gehilfen schicke. Es schien ihm, daß die
+Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, in die
+Richtung des Schirmes gingen. Oder war das nur Einbildung
+von ihm?</p>
+
+<p>Nach einigen Augenblicken trat Frau Leaf in ihrem
+schwarzseidenen Kleid, altmodische Zwirnhandschuhe auf
+den runzligen Händen, in die Bibliothek. Er verlangte von
+ihr den Schlüssel zum Schulzimmer.</p>
+
+<p>„Das alte Schulzimmer, Herr Dorian!“ rief sie aus.
+„Ei, das ist ja voller Staub. Es muß erst hergerichtet und
+in Ordnung gebracht werden, bevor Sie hinein können.
+Es ist jetzt nicht in einem Zustand, daß Sie es sehen könnten,
+gnädiger Herr. Wirklich nicht.“</p>
+
+<p>„Es braucht nicht hergerichtet zu werden, gute Leaf.
+Ich will nur den Schlüssel.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_182" title="182"> </a></p>
+
+<p>„Aber gnädiger Herr, Sie werden sich voller Spinnweben
+machen, wenn Sie hineingehen. Ei, es ist ja beinah
+seit fünf Jahren nicht geöffnet worden, seit seine Gnaden
+gestorben sind.“</p>
+
+<p>Er zuckte zusammen bei der Erwähnung seines Großvaters.
+Er hatte nur gehässige Erinnerungen an ihn. „Das
+macht nichts“, erwiderte er. „Ich will das Zimmer nur
+sehen &mdash; das ist alles. Geben Sie mir den Schlüssel.“</p>
+
+<p>„Hier ist schon der Schlüssel, gnädiger Herr“, sagte die
+alte Dame, die ihren Schlüsselbund mit zitternden, unsicheren
+Händen durchmustert hatte. „Hier ist der Schlüssel,
+ich werde ihn gleich vom Bund haben. Aber Sie denken
+doch nicht daran, dort hinaufzuziehen, gnädiger Herr,
+wo Sie es hier so gemütlich haben?“</p>
+
+<p>„Nein, nein!“ rief er ungeduldig. „Ich danke, gute
+Leaf. Ich brauche sonst nichts.“</p>
+
+<p>Sie verweilte noch ein paar Augenblicke und wollte über
+irgendeine Angelegenheit in der Haushaltung zu quengeln
+anfangen. Er seufzte und sagte, sie solle alles so erledigen,
+wie sie es fürs beste halte. Mit strahlendem Gesichte verließ
+sie das Zimmer.</p>
+
+<p>Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel
+in die Tasche und blickte sich im Zimmer um. Sein
+Auge fiel auf eine große purpurne Atlasdecke mit schweren
+Goldstickereien, ein köstliches Stück venezianischer Arbeit
+vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein Großvater
+in einem Kloster nahe bei Bologna aufgestöbert
+hatte. Ja, die paßte trefflich, um das schreckliche Ding
+damit zu verhüllen. Sie hatte vielleicht oft als Bahrtuch<a class="pagenum" name="Page_183" title="183"> </a>
+für Tote gedient. Jetzt sollte sie etwas verhüllen, das eine
+eigene Art Verwesung in sich hatte, eine ärgere als die
+Verwesung des Todes &mdash; etwas, das Schrecknisse ausbrüten
+und doch nie sterben würde. Was Würmer für
+einen Leichnam sind, das würden seine Sünden für das
+gemalte Antlitz auf der Leinwand werden. Sie würden
+seine Schönheit zerstören und seine Anmut wegfressen.
+Sie würden es beflecken und schänden. Und doch würde
+das Bild weiterleben. Es würde immer am Leben
+bleiben.</p>
+
+<p>Er schauderte, und einen Augenblick lang tat es ihm
+leid, daß er Basil nicht den wahren Grund gesagt habe,
+warum er das Bild verstecken wolle. Basil hätte ihm helfen
+können, sowohl dem Einfluß Lord Henrys zu widerstehen,
+als auch den noch viel giftigeren Einflüssen, die aus seiner
+eigenen Natur herrührten. Die Liebe, die Basil für ihn
+hegte &mdash; denn es war wirklich Liebe &mdash;, schloß nichts ein,
+was nicht edel und vergeistigt wäre. Es war nicht jene
+rein physische Bewunderung, die eine Geburt der Sinne
+ist und mit der Ermüdung der Sinne hinstirbt. Es war
+eine Liebe, wie sie Michelangelo gekannt hatte und Montaigne
+und Winkelmann und auch Shakespeare. Ja, Basil
+hätte ihn retten können. Aber jetzt war es zu spät. Die
+Vergangenheit konnte immer vernichtet werden. Reue,
+Verleugnung oder Vergessenheit konnten das bewirken.
+Aber die Zukunft war unabwendlich. Er hatte Leidenschaften
+in sich, die ihr fürchterliches Ausfalltor bei ihm
+finden wurden, Träume, die ihre sündigen Schatten zur
+Wirklichkeit umwandeln würden.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_184" title="184"> </a></p>
+
+<p>Er griff nach dem großen Überwurf aus Purpur und
+Gold, der den Diwan bedeckte, hob ihn mit beiden Händen
+auf und ging damit hinter den Schirm. War das Gesicht
+auf der Leinwand jetzt häßlicher als vorher? Es erschien
+ihm unverändert; und doch, sein Abscheu davor
+war noch verstärkt. Goldiges Haar, blaue Augen, rosenrote
+Lippen &mdash; das war alles da. Nur der Ausdruck hatte
+sich verwandelt. Der war erschreckend in seiner Grausamkeit.
+Im Vergleich zu den Vorwürfen und der Rüge, die
+er in dem Bilde sah, wie nichtssagend waren da Basils
+Vorhaltungen über Sibyl Vane gewesen &mdash; nichtssagend
+und belanglos! Seine eigene Seele sah ihn an aus der
+Leinwand und forderte ihn vors Gericht. Ein schmerzlicher
+Zug legte sich über sein Gesicht, und er warf die prunkvolle
+Sofadecke über das Bild. Während er dies tat, klopfte
+es an die Tür. Er kam hinter dem Wandschirm hervor, als
+sein Bedienter eintrat.</p>
+
+<p>„Die Leute sind da, Monsieur.“</p>
+
+<p>Er hatte das Gefühl, daß er den Mann jetzt los werden
+müsse. Er durfte nicht wissen, wohin das Bild sollte. Er
+hatte etwas Listiges an sich und nachdenkliche, verräterische
+Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch, kritzelte ein paar
+Zeilen hin an Lord Henry, worin er bat, ihm etwas zum
+Lesen zu schicken, und worin er ihn daran erinnerte, daß
+sie sich um viertel neun heut abend treffen wollten.</p>
+
+<p>„Warten Sie auf Antwort,“ sagte er, indem er ihm
+den Brief übergab, „und lassen Sie die Leute herein.“</p>
+
+<p>Nach zwei bis drei Minuten klopfte es wieder, und Herr
+Hubbard, der berühmte Rahmenfabrikant aus South<a class="pagenum" name="Page_185" title="185"> </a>
+Audley Street, trat mit einem struwwelig aussehenden
+Gehilfen herein. Herr Hubbard war ein blühend aussehender,
+rotbäckiger, kleiner Mann, dessen Bewunderung für
+die Kunst beträchtlich vermindert worden war durch den
+althergebrachten Geldmangel bei den meisten Künstlern,
+die mit ihm zu tun hatten. In der Regel verließ er seine
+Werkstatt nie. Er wartete, bis die Leute zu ihm kamen.
+Aber bei Dorian Gray machte er immer eine Ausnahme.
+Es war etwas an Dorian, was jeden entzückte. Ihn nur
+zu sehen, das war schon ein Vergnügen.</p>
+
+<p>„Was steht zu Ihren Diensten, Herr Gray?“ fragte er
+und rieb seine fetten, sommersprossigen Hände. „Ich
+dachte, ich wollte mir selbst die Ehre geben, herüberzukommen.
+Ich habe gerade ein Prachtstück von Rahmen da.
+Bei einer Auktion ergattert. Alt-Florentiner. Stammt
+aus Fonthill, vermute ich. Wundervoll geeignet für einen
+religiösen Gegenstand, Herr Gray.“</p>
+
+<p>„Es tut mir leid, daß Sie sich selbst herbemüht haben,
+Herr Hubbard. Ich werde gern mal vorbeikommen und
+den Rahmen ansehen &mdash; obwohl ich mich gerade jetzt nicht
+sehr für religiöse Kunst interessiere &mdash; aber heute möchte
+ich nur ein Bild auf den Boden getragen haben. Es ist
+ziemlich schwer, deshalb dachte ich mir, daß Sie so gut
+wären, mir zwei von Ihren Leuten zu leihen.“</p>
+
+<p>„Hat gar nichts zu sagen, Herr Gray. Freue mich,
+wenn ich Ihnen den kleinsten Dienst leisten kann. Wo ist
+das Kunstwerk, gnädiger Herr?“</p>
+
+<p>„Dies da“, antwortete Dorian und schob den Schirm zurück.
+„Können Sie es so hinaufbringen, wie es jetzt ist,<a class="pagenum" name="Page_186" title="186"> </a>
+Decke und Bild zusammen? Ich möchte nicht, daß es die
+Treppen hinauf zerschrammt wird.“</p>
+
+<p>„Das werden wir leicht kriegen“, sagte der muntere
+Rahmenmacher und begann mit Hilfe von seinem Gesellen
+das Bild von den langen Messingketten loszumachen, an
+denen es aufgehängt war. „Und wo soll es jetzt hingebracht
+werden, Herr Gray?“</p>
+
+<p>„Ich will Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn
+Sie so gut sein wollen, mir nur zu folgen. Oder vielleicht
+gehen Sie lieber voraus. Es tut mir leid, aber es ist ganz
+oben. Wir wollen über die Vordertreppe gehen, die ist
+breiter.“</p>
+
+<p>Er hielt ihnen die Tür auf, und sie gingen in den Vorraum
+hinaus und fingen an, hinaufzusteigen. Die ausladenden
+Verzierungen des Rahmens hatten das Bild sehr
+umfangreich gemacht, und hin und wieder legte Dorian mit
+Hand an, um ihnen zu helfen, trotz den unterwürfigen
+Einwänden des Herrn Hubbard, der die lebhafte Abneigung
+des wirklichen Handwerkers gegen jede nützliche Beschäftigung
+eines vornehmen Herrn hatte.</p>
+
+<p>„Da hat man ein ziemliches Gewicht zu schleppen“,
+pustete der kleine Mann, als sie den letzten Treppenabsatz
+erreicht hatten. Und er trocknete sich die glänzende Stirn.</p>
+
+<p>„Es tut mir leid, daß es so schwer ist“, murmelte Dorian,
+während er die Tür zu dem Zimmer aufschloß, das
+dieses sonderbare Geheimnis seines Lebens aufbewahren
+und seine Seele vor den Blicken der Menschheit schützen
+sollte.</p>
+
+<p>Er hatte die Stube wohl länger als vier Jahre nicht<a class="pagenum" name="Page_187" title="187"> </a>
+betreten &mdash; in Wirklichkeit nicht, seitdem sie ihm in seiner
+Kindheit zuerst als Spielzimmer, und dann, als er etwas
+älter war, als Studierzimmer gedient hatte. Es war ein
+großer Raum von schönen Verhältnissen, den der verstorbene
+Lord Kelso eigens zur Benutzung für seinen
+kleinen Enkel angebaut hatte, den er wegen seiner fabelhaften
+Ähnlichkeit mit seiner Mutter und auch noch aus
+anderen Gründen immer gehaßt hatte und möglichst
+weit weg von sich haben wollte. Der Raum schien Dorian
+wenig verändert. Da war der mächtige italienische Cassone
+mit den phantastisch bemalten Füllungen und den abgenutzten
+goldenen Ornamenten, in dem er sich als Junge
+oft versteckt hatte. Da stand der polierte Bücherschrank
+aus Satinholz mit seinen Schulbüchern voll Eselsohren.
+An der Wand darüber hing noch derselbe zerfaserte flämische
+Gobelin, auf dem ein verblichener König und eine
+Königin in einem Garten Schach spielten, während ein
+Trupp von Falkenieren vorbeiritt, die auf ihren Panzerhandschuhen
+Vögel mit kappenverhüllten Köpfen trugen.
+Wie gut er sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner
+vereinsamten Kindheit kam ihm vors Gedächtnis, während
+er sich umsah. Er entsann sich der fleckenlosen Reinheit
+seines Knabenlebens, und es schien ihm furchtbar,
+daß gerade hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen
+werden sollte. Wie wenig hatte er in diesen längst verrauschten
+Tagen von alledem geahnt, was seiner warten
+sollte!</p>
+
+<p>Aber kein anderer Ort im ganzen Hause war so sicher
+vor neugierigen Augen als dieser. Er hatte den Schlüssel,<a class="pagenum" name="Page_188" title="188"> </a>
+und jetzt konnte niemand weiter hinein. Hinter dem purpurnen
+Bahrtuch konnte nun das gemalte Gesicht auf der
+Leinwand tierisch, gedunsen und lasterhaft werden. Was
+lag daran? Niemand konnte es sehen. Er selbst wollte es
+nicht sehen. Warum sollte er die gräßliche Verwesung
+seiner Seele verfolgen? Er behielt seine Jugend &mdash; das
+mußte genügen. Und übrigens, konnte sein Wesen trotz
+allem nicht edler werden? Es war kein Grund vorhanden,
+daß die Zukunft so angefüllt von Lastern sein müsse. Die
+Liebe konnte in sein Leben treten und ihn läutern und
+ihn vor den Sünden beschützen, die ihm schon in Geist
+und Blut zu gähren schienen &mdash; diese seltsamen, nicht
+gemalten Sünden, deren Unbekanntheit ihnen eben den
+Reiz und die Verführung lieh. Eines Tages vielleicht
+verschwand der grausame Zug von dem empfindlichen
+Scharlachmund, und dann würde er der Welt Basil
+Hallwards Meisterwerk zeigen können.</p>
+
+<p>Nein, das war unmöglich. Stunde für Stunde und
+Woche für Woche alterte das Antlitz auf der Leinwand.
+Es mochte den Greueln der Sünde entfliehen, aber die
+Greuel des Alters mußten es einholen. Die Wangen
+müssen hohl oder schlaff werden. Gelbe Krähenfüße müssen
+sich um die glanzlosen Augen herumringeln und sie fürchterlich
+machen. Das Haar mußte seinen Glanz verlieren,
+der Mund klaffen oder einfallen, blöde oder gewöhnlich
+aussehen, wie eben der Mund alter Leute aussieht. Der
+Hals mußte verschrumpfen, die Hände mußten kalt und von
+blauen Adern durchzogen werden, der Körper mußte sich
+krümmen, wie er ihn bei seinem Großvater gesehen hatte,<a class="pagenum" name="Page_189" title="189"> </a>
+der so streng gegen ihn gewesen war in der Knabenzeit.
+Das Bildnis mußte verborgen bleiben. Da konnte nichts
+helfen.</p>
+
+<p>„Bitte, Herr Hubbard, bringen Sie es herein“, sagte
+er abgespannt und wandte sich um. „Es tut mir leid, daß
+ich Sie so lange aufhielt. Ich dachte gerade nach über
+etwas.“</p>
+
+<p>„Immer angenehm, sich mal verschnaufen zu können,
+Herr Gray“, antwortete der Rahmenmacher, der noch
+immer nach Luft schnappte. „Wo sollen wir es hinstellen?“</p>
+
+<p>„Ach, irgendwo. Vielleicht hierher: da wird's gut
+stehen. Ich will's nicht aufgehängt haben. Lehnen Sie es
+nur gegen die Wand. Danke!“</p>
+
+<p>„Darf man das Kunstwerk mal ansehen?“</p>
+
+<p>Dorian erschrak. „Es würde Sie nicht interessieren, Herr
+Hubbard“, sagte er und sah den Mann fest an. Er fühlte
+sich imstande, auf ihn loszustürzen und ihn zu Boden zu
+werfen, wenn er es wagen sollte, die schimmernde Hülle
+zu lüften, die das Geheimnis seines Lebens barg. „Ich will
+Sie nicht länger aufhalten. Schönsten Dank, daß Sie so
+freundlich waren, herüberzukommen.“</p>
+
+<p>„Kein Anlaß, kein Anlaß, Herr Gray! Es ist mir
+immer ein Vergnügen, für Sie etwas tun zu dürfen.“</p>
+
+<p>Und Herr Hubbard stapfte die Treppe hinab, sein
+Gehilfe hinterher, der noch einmal nach Dorian zurückblickte,
+mit einem Ausdruck scheuer Bewunderung in dem unschönen
+Alltagsgesicht. Er hatte nie einen Menschen gesehen,
+der so wunderhübsch war.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_190" title="190"> </a></p>
+
+<p>Als das Geräusch ihrer Fußtritte verklungen war,
+schloß Dorian die Tür zu und steckte den Schlüssel in die
+Tasche. Jetzt fühlte er sich gleichsam gerettet! Nie würde
+jemand das Schrecknis sehen. Kein Auge als seines würde
+mehr seine Schande erblicken.</p>
+
+<p>Als er wieder in die Bibliothek kam, sah er, daß es
+gerade fünf Uhr war und daß der Tee schon bereit stand.
+Auf einem kleinen Tisch aus dunklem, wohlriechendem
+Holz, das reich mit Perlmutter ausgelegt war, einem
+Geschenk der Frau seines Vormundes, Lady Radley, einer
+hübschen Kranken von Beruf und Gewohnheit, die den vergangenen
+Winter in Kairo zugebracht hatte, lag ein
+Briefchen von Lord Henry und daneben ein Buch in
+gelbem, leicht abgenutztem und an den Ecken nicht mehr
+ganz sauberem Umschlag. Ein Exemplar der dritten Tagesausgabe
+der St.-James-Gazette lag auf dem Teebrett.
+Offenbar war Viktor zurückgekehrt. Er fragte sich, ob
+er wohl die Leute in der Vorhalle getroffen hätte, als
+sie das Haus verließen, und ob er sie ausgeforscht hätte,
+was sie getan hätten. Er würde sicher das Bild vermissen
+&mdash; hatte es ohne Zweifel schon vermißt, als er den Teetisch
+zurecht machte. Der Schirm war noch nicht an seinen
+Platz zurückgestellt worden, und der leere Raum an der
+Wand war auffallend. Vielleicht würde er ihn eines Nachts
+ertappen, wie er hinaufschlich und die Tür des Bodenzimmers
+zu sprengen versuchte. Es war schrecklich, einen
+Spion im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten
+gehört, die ihr ganzes Leben hindurch von den Erpressungen
+eines Bedienten ausgesaugt wurden, der mal irgendeinen<a class="pagenum" name="Page_191" title="191"> </a>
+Brief gelesen oder ein Gespräch mitangehört oder
+eine Karte mit einer Adresse gefunden oder unter einem
+Kissen eine verwelkte Blume oder einen Fetzen zerknitterter
+Spitze entdeckt hatte.</p>
+
+<p>Er seufzte, goß sich etwas Tee ein und öffnete Lord
+Henrys Billett. Es stand nur darin, daß er ihm die
+Abendzeitung schicke und ein Buch, das ihn vielleicht
+interessieren werde, und daß er ihn um Viertel neun im
+Klub zu treffen hoffe. Er öffnete langsam die St.-James
+und durchflog sie. Ein Strich mit Rotstift auf der fünften
+Seite fiel ihm auf. Er machte auf die folgende Notiz
+aufmerksam:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Leichenschau einer Schauspielerin.</em> Eine
+gerichtliche Untersuchung wurde heute morgen von Herrn
+Danby, dem Bezirks-Leichenbeschauer in der Bell Tavern,
+Hoxton Road, über den Leichnam von Sibyl
+Vane, einer jungen Schauspielerin, die seit kurzem am
+Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten.
+Es wurde auf Tod durch einen Unglücksfall erkannt.
+Reges Mitgefühl erweckte die Mutter der Verblichenen,
+die während ihrer Aussage und der des <span class="antiqua">Dr.</span> Birrel,
+der die Obduktion der Leiche vorgenommen hatte, ihrem
+Schmerz erschütternden Ausdruck gab.“</p></blockquote>
+
+<p>Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt, lief im Zimmer
+auf und ab und warf die Papierfetzen weg. Wie
+häßlich das alles war! Und was für eine schreckliche
+Wirklichkeit die Häßlichkeit allem gab! Er ärgerte sich
+ein wenig über Lord Henry, daß er ihm den Bericht geschickt
+hatte. Und sicher war es albern von ihm, ihn mit<a class="pagenum" name="Page_192" title="192"> </a>
+Rotschrift anzustreichen. Viktor konnte ihn gelesen haben.
+Der Mann verstand dafür mehr als genug Englisch.</p>
+
+<p>Vielleicht hatte er ihn schon gelesen und angefangen,
+Verdacht zu schöpfen. Und wenn schon, was lag daran?
+Was hatte Dorian Gray mit Sibyl Vanes Tod zu tun?
+Es war kein Grund zur Furcht. Dorian Gray hatte sie
+nicht getötet.</p>
+
+<p>Sein Auge fiel auf das gelbe Buch, das ihm Lord
+Henry geschickt hatte. Er war gespannt, was es sein mochte.
+Er trat an den kleinen perlfarbenen, achteckigen Hocker,
+der ihm immer wie das Werk seltsamer ägyptischer Bienen
+vorgekommen war, die ihre Waben in Silber trieben,
+nahm den Band zur Hand, warf sich in einen Lehnsessel
+und begann zu blättern. Nach einigen Augenblicken kam
+er nicht mehr davon los. Es war das merkwürdigste Buch,
+das er je gelesen hatte. Es schien ihm, als zögen in erlesenen
+Prachtgewändern und zum Klange von Flöten
+die Sünden der Welt in stummem Reigentanze an ihm
+vorbei. Dinge, die er bestimmt geträumt hatte, wurden
+plötzlich zur Wirklichkeit. Dinge, von denen er vag geträumt
+hatte, wurden ihm mählich enthüllt.</p>
+
+<p>Es war ein Roman ohne rechte Handlung, der sich um
+einen einzigen Charakter drehte, eigentlich eine bloße
+psychologische Studie über einen gewissen jungen Pariser,
+der sein Leben mit dem Versuche hinbrachte, im neunzehnten
+Jahrhundert alle Leidenschaften und Wandlungen
+der Denkungsart in Wirklichkeit umzusetzen, die jedem
+Jahrhundert, außer seinem eigenen, angehört hatten,
+und so die verschiedenartigen psychischen Zustände, die<a class="pagenum" name="Page_193" title="193"> </a>
+irgend einmal die Weltseele durchgemacht hatte, in sich
+selbst gewissermaßen zu vereinigen, indem er jene Entsagungen,
+die die Menschen in ihrer Torheit Tugend genannt
+haben, ihrer bloßen Künstlichkeit wegen ebenso
+heftig liebte wie jene Empörungen gegen die Natur, die
+weise Menschen noch immer Sünden nennen. Der Stil, in
+dem das Buch geschrieben war, bestand in jener sonderbaren,
+reich geschmückten Diktion, die lebendig und dunkel
+zugleich ist, von Argotausdrücken und archaistischen Wendungen,
+von technischen Ausdrücken und sorgsam gefeilten
+Umschreibungen strotzt, wie sie die Arbeiten einiger der
+feinsten Künstler aus der französischen Symbolistenschule
+kennzeichnet. Es waren Metaphern darin, so abenteuerlich
+an Form wie Orchideen und auch so fein angehaucht
+wie deren Farbentöne. Das Leben der Sinne war mit
+einer Terminologie mystischer Philosophie beschrieben. Man
+wußte manchmal kaum, ob man von den vergeistigten
+Entzückungen eines mittelalterlichen Heiligen las oder die
+krankhaften Beichtbekenntnisse eines modernen Sünders.
+Es war ein Buch voll Gift. Ein dicker Weihrauchnebel
+schien über den Seiten zu schweben und sein Gehirn zu
+betäuben. Schon der melodische Fall der Sätze, die gesuchte
+Monotonie ihrer Musik mit der Fülle von komplizierten
+Refrains und Taktgefügen, die sich in der raffiniertesten
+Weise wiederholten, erzeugten im Geist des
+Jünglings, als er von Kapitel zu Kapitel weiterlas, eine
+Art Träumerei, ja eine förmliche Krankheit des Träumens,
+so daß er den sinkenden Tag und die hereinkriechenden
+Schatten nicht merkte.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_194" title="194"> </a></p>
+
+<p>Wolkenlos, von den Strahlen keines einzigen Sternes
+durchstochen, glimmerte ein kupfergrüner Himmel durch die
+Fenster. Er las bei seinem matten Licht weiter, bis er
+nicht mehr lesen konnte. Nachdem ihn sein Diener mehrere
+Male an die späte Stunde erinnert hatte, stand er auf,
+ging ins Nebenzimmer, legte das Buch auf das Florentiner
+Tischchen, das immer neben seinem Bett stand, und begann
+sich zum Diner umzukleiden.</p>
+
+<p>Es war fast neun Uhr, als er im Klub ankam, wo er
+Lord Henry allein und sehr gelangweilt aussehend, im
+Frühstückszimmer sitzend, antraf.</p>
+
+<p>„Es tut mir zwar leid, Harry,“ rief er, „aber es ist
+nur deine Schuld. Das Buch, das du mir geschickt hast,
+hat mich wirklich so gefesselt, daß ich gar nicht merkte,
+wo die Zeit geblieben ist.“</p>
+
+<p>„Ja, ich dachte mir, daß es dir gefällt“, antwortete
+der Freund, sich vom Stuhle erhebend.</p>
+
+<p>„Ich habe nicht gesagt, daß es mir gefällt, Harry. Ich
+habe gesagt, es fesselte mich. Das ist ein großer Unterschied.“</p>
+
+<p>„Ah, das hast du entdeckt?“ sagte Lord Henry. Und
+sie gingen zusammen in den Speisesaal.</p>
+
+<h2><a name="Elftes_Kapitel" id="Elftes_Kapitel"></a>Elftes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Jahre hindurch konnte sich Dorian Gray von dem Einfluß
+dieses Buches nicht losmachen. Oder es wäre vielleicht
+richtiger zu sagen, er versuchte gar nicht, sich von<a class="pagenum" name="Page_195" title="195"> </a>
+ihm loszumachen. Er ließ sich aus Paris nicht weniger
+als neun Luxusexemplare der ersten Auflage kommen und
+ließ sie verschiedenfarbig einbinden, damit sie zu den
+wechselnden Launen und veränderlichen Stimmungen seiner
+Natur paßten, über die er bisweilen jede Herrschaft verloren
+zu haben schien. Der Held, der wunderbare junge
+Pariser, bei dem das romantische und das wissenschaftliche
+Temperament so merkwürdig vermischt waren, wurde
+für ihn eine Art vorbildlicher Idealgestalt seiner selbst.
+Und in der Tat schien ihm das ganze Buch die Geschichte
+seines Lebens zu enthalten, aufgeschrieben, bevor er selbst
+es gelebt hatte.</p>
+
+<p>In einer Beziehung aber war er glücklicher als der
+phantastische Romanheld. Er kannte nie &mdash; hatte in der
+Tat auch nie einen Grund dazu &mdash; das beinahe groteske
+Grauen vor Spiegeln und polierten Metallflächen und
+unbewegten Wassern, das den jungen Pariser so früh im
+Leben überkam und das durch den jähen Verfall einer
+Schönheit verursacht war, die allem Anschein nach vorher
+ganz außerordentlich gewesen sein mußte. Mit einer fast
+grausamen Lust &mdash; und vielleicht liegt in jeder Lust,
+wie gewißlich in jedem Genuß, Grausamkeit &mdash; pflegte er
+den zweiten Teil des Buches zu lesen mit dem wirklich
+tragischen, wenn auch etwas übertrieben geschilderten Bericht
+von den Leiden und der Verzweiflung eines Menschen,
+der selbst verloren hatte, was er an anderen und an der
+Welt am höchsten schätzte.</p>
+
+<p>Denn die wundervolle Schönheit, die Basil Hallward
+so gefesselt hatte und manchen anderen auch, schien ihn nie<a class="pagenum" name="Page_196" title="196"> </a>
+zu verlassen. Selbst jene, die die häßlichsten Dinge über
+ihn gehört hatten &mdash; und von Zeit zu Zeit schlichen seltsame
+Gerüchte über seine Lebensweise durch London und
+wurden das Gespräch der Klubs &mdash; konnten, wenn sie ihn
+sahen, nichts glauben, was ihm hätte zur Unehre gereichen
+können. Er sah immer aus wie einer, der sich in
+der Welt unbefleckt erhalten hatte. Männer, die sich anstößige
+Dinge erzählten, verstummten, wenn Dorian Gray
+ins Zimmer trat. In der Reinheit seines Antlitzes lag ein
+Etwas, das sie in Schranken hielt. Seine bloße Gegenwart
+schien in ihnen die Erinnerung an die Unschuld zu erwecken,
+die sie beschmutzt hatten. Sie staunten, daß ein
+so reizender und anmutiger Mensch wie er der Befleckung
+durch eine Zeit hatte entgehen können, die zugleich unsauber
+und sinnlich war.</p>
+
+<p>Oft, wenn er von einer der geheimnisvollen längeren
+Abwesenheiten zurückkehrte, die so merkwürdige Vermutungen
+bei seinen Freunden erregten oder bei jenen, die sich
+dafür hielten, so schlich er hinauf in die verschlossene Dachstube,
+öffnete die Tür mit dem Schlüssel, der ihn nun nie
+mehr verließ, und stand mit einem Handspiegel vor dem
+Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte,
+und sah bald auf das schändliche und gealterte Antlitz auf
+der Leinwand, bald auf das schöne, junge Gesicht, das ihn
+aus der glatten Spiegelfläche anlächelte. Gerade die Stärke
+dieses Kontrastes pflegte seine Lustempfindung zu erhöhen.
+Er verliebte sich mehr und mehr in seine eigene Schönheit
+und empfand mehr und mehr Teilnahme für die Verderbnis
+seiner eigenen Seele. Er untersuchte mit peinlicher<a class="pagenum" name="Page_197" title="197"> </a>
+Sorgsamkeit und manchmal mit ungeheuerlichem
+und schrecklichem Wonnegefühl die häßlichen Linien, die
+die runzlige Stirn durchfurchten oder sich um den üppigen
+sinnlichen Mund schlängelten, und fragte sich manchmal,
+ob wohl die Merkmale der Sünde schrecklicher seien oder
+die Spuren des Alters? Er legte seine weißen Hände
+neben die rohen, gedunsenen Hände des Bildes und lächelte.
+Er machte sich lustig über den verunstalteten Leib und die
+welkenden Glieder.</p>
+
+<p>Dann gab es in der Tat Augenblicke, nachts, wenn er
+schlaflos in seinem mild durchdufteten Zimmer lag oder in
+der schmuddeligen Stube der kleinen berüchtigten Kneipe
+nahe den Docks, die er unter einem angenommenen Namen
+und verkleidet zu besuchen pflegte, wo er mit einem
+Mitgefühl, das um so beklemmender war, als es einen
+rein ethischen Ursprung hatte, an das Elend dachte, das
+er über seine Seele gebracht hatte. Aber Augenblicke wie
+diese waren selten. Jene Neugier auf das Leben, die Lord
+Henry zuerst in ihm aufgestört hatte, als sie im Garten
+ihres Freundes nebeneinander saßen, schien mit ihrer Befriedigung
+nur zu wachsen. Je mehr er wußte, desto mehr
+wollte er wissen. Er hatte tolle Hungeranfälle, die immer
+ungestillter wurden, je mehr er sie nährte.</p>
+
+<p>Und doch war er nicht gerade liederlich geworden, wenigstens
+nicht in seinen Beziehungen zur Gesellschaft. Ein-
+oder zweimal in jedem Monat während des Winters und
+jeden Mittwochabend während der Saison öffnete er der
+Welt sein schönes Haus, und immer waren die berühmtesten
+Musiker da, um seine Gäste mit ihrer erlesenen Kunst<a class="pagenum" name="Page_198" title="198"> </a>
+zu begeistern. Seine kleinen Diners, bei deren Vorbereitung
+ihm Lord Henry immer half, waren ebensosehr wegen der
+sorgsamen Auswahl und Tischordnung der Eingeladenen
+berühmt, wie wegen des ausgesuchten Geschmackes, der
+sich in der Tafeldekoration mit ihren fein abgetönten, symphonischen
+Anordnungen exotischer Pflanzen, gestickter
+Decken und antiker Gold- und Silbergeräte aussprach.
+Tatsächlich gab es eine große Zahl, besonders von ganz
+jungen Menschen, die in Dorian Gray die vollkommene
+Verkörperung eines Typus sahen oder zu sehen wähnten,
+von dem sie oft in den Tagen von Eton oder Oxford geträumt
+hatten, eines Typus, der etwas von der wirklichen
+Bildung des Gelehrten mit der Anmut, Vornehmheit und
+den vollendeten Manieren eines Weltmannes vereinigte.
+Ihnen erschien er als einer aus jener Menschengruppe, von
+denen Dante sagt, „sie suchten sich durch die Anbetung
+der Schönheit zu vervollkommnen“. Gleich Gautier war
+er einer von denen, „für die die sichtbare Welt da war“.</p>
+
+<p>Und gewiß war für ihn das Leben die erste, die größte
+Kunst, und alle übrigen Künste schienen nur die Vorschule
+dazu. Natürlich übte auch die Mode, durch die das
+wirklich Phantastische einen Augenblick lang Allgemeingut
+wird, und das Dandytum, das auf seine Weise einen
+Versuch bildet, eine absolut moderne Art von Schönheit
+zu verkörpern, ihren Reiz auf ihn aus. Seine Art, sich zu
+kleiden, und die besonderen Stilabweichungen, die er von
+Zeit zu Zeit sehen ließ, hatten einen ausgesprochenen Einfluß
+auf die jungen Stutzer der Bälle in Mayfair und
+der Fenster des Pall-Mall-Klubs, die ihm in allem, was<a class="pagenum" name="Page_199" title="199"> </a>
+er tat, nachahmten und jede Exzentrizität aufgriffen, die
+seine Anmut erhöhte, aber ihm selbst nur teilweis ernst
+war.</p>
+
+<p>Denn er war nur zu leicht bereit, die Stellung anzunehmen,
+die ihm unmittelbar nach seiner Volljährigkeit
+geboten wurde, und er fand in Wahrheit einen besonderen
+Genuß in dem Gedanken, er könne für das London seiner
+Zeit das werden, was für das Rom des Kaisers Nero
+der Verfasser des „Satyrikon“ gewesen war, aber er
+wünschte doch im innersten Herzen mehr zu werden als ein
+arbiter elegantiarum, und nicht nur über das Tragen
+eines Schmuckstückes oder das Binden einer Krawatte oder
+die Haltung eines Spazierstockes befragt zu werden. Er
+suchte ein neues Schema für die Lebensführung zu entwerfen,
+das seine philosophische Grundlage und seine geordneten
+Prinzipien haben und in der Vergeistigung der
+Sinne seine höchste Vervollkommnung erreichen sollte.</p>
+
+<p>Die Pflege der Sinne ist oft und mit vielem Recht geschmäht
+worden, da die Menschen einen natürlichen, instinktiven
+Abscheu vor Leidenschaften und Empfindungen
+haben, die stärker scheinen als sie selbst und die sie mit
+weniger hoch organisierten Formen des Lebendigen gemein
+zu haben sich bewußt sind. Doch kam es Dorian Gray so
+vor, als ob die wahre Natur der Sinne noch nie verstanden
+worden sei und als ob sie nur deshalb wild und tierisch
+geblieben seien, weil die Welt versuchte, sie durch Hunger
+zur Unterwerfung zu bringen oder durch Schmerzen zu
+töten, statt bestrebt zu sein, sie zu Bestandteilen einer
+neuen geistigen Welt zu machen, in der ein edles Schönheitsbewußtsein<a class="pagenum" name="Page_200" title="200"> </a>
+die vorherrschende Triebfeder sein sollte.
+Wenn er auf den Gang der Menschen durch die Weltgeschichte
+zurückblickte, verfolgte ihn ein Gefühl des Verlustes.
+So vielem war entsagt worden und zu so geringem
+Zweck! Es hatte wahnsinnige freiwillige Entsagungen
+gegeben, ungeheuerliche Formen von Selbstquälerei und
+Selbstverleugnung, deren Ursprung die Furcht war und
+deren Ergebnis eine Erniedrigung von unsäglich schrecklicherer
+Art, als jene nur eingebildete Erniedrigung, vor
+der sie sich in ihrer Unwissenheit flüchten wollten, da die
+Natur in ihrer wunderbaren Ironie den Anachoreten
+hinausjagte, damit er sich in Gesellschaft der Bestien der
+Wüste nährte, und dem Einsiedler die Tiere des Feldes
+zu Gefährten gab.</p>
+
+<p>Ja: es mußte, wie Lord Henry prophezeit hatte, ein
+neuer Hedonismus kommen, um das Leben zu erneuern
+und es von jenem strengen, häßlichen Puritanertum zu erlösen,
+das in unseren Tagen seine sonderbare Auferstehung
+feierte. Gewiß, er würde dem Intellekt gehorsam sein
+müssen; aber niemals dürfte er eine Theorie oder ein
+System anerkennen, das irgendein leidenschaftliches Erlebnis
+zum Opfer forderte. Sein wahres Ziel sollte gerade
+die Erfahrung selbst sein und nicht die Früchte der Erfahrung,
+mochten sie nun so süß oder bitter sein, wie sie
+wollten. Von dem Asketentum, das die Sinne tötet, oder
+von der gewöhnlichen Ausschweifung, die sie abstumpft,
+würde er nichts wissen wollen. Aber er sollte die Menschen
+lehren, sich für die Momente des Lebens zu sammeln,
+da dieses selbst doch nur ein Moment ist.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_201" title="201"> </a></p>
+
+<p>Es gibt nur wenige unter uns, die nicht manchmal vor
+Tagesgrauen erwacht wären, entweder nach einer jener
+traumlosen Nächte, die uns den Tod lieben lassen, oder
+nach einer jener Nächte voll Schrecken und wollüstiger Albdrücken,
+wo durch die Kammern des Gehirns Gespenster
+flattern, die schrecklicher sind als die Wirklichkeit selbst
+und erfüllt sind von dem lebendigen Dasein, das in allem
+Grotesken lauert und das der gotischen Kunst ihre ewig
+lebendige Kraft gibt, weil gerade diese Kunst, wie man
+sagen möchte, die besondere Kunst jener ist, deren Geist
+durch die Krankheit von Fieberträumen verwirrt worden
+ist. Nach und nach strecken sich bleiche Finger zwischen den
+Vorhängen durch und scheinen zu erzittern. In schwarzen,
+abenteuerlichen Formen kriechen stumme Schatten in die
+Ecken des Zimmers und kauern dort nieder. Draußen regen
+sich die Vögel im Geblätter, oder man hört den Schritt
+der Menschen, die zur Arbeit gehen, oder das Heulen und
+Schluchzen des Windes, der von den Bergen kommt und
+das schweigsame Haus umwandert, als fürchte er, die
+Schläfer zu wecken, und müsse dennoch den Schlaf aus
+seiner purpurnen Höhle ans Licht rufen. Schleier nach
+Schleier aus feiner, dunkelfarbener Gaze heben sich, und
+allmählich erhalten die Dinge ihre Formen und Farben
+zurück, und wir sehen es mit an, wie die Frühdämmerung
+der Welt ihre alte Gestalt zurückgibt. Die verschwommenen
+Spiegel bekommen ihr Scheinleben zurück. Die lichtlosen
+Lampen stehen, wo wir sie gelassen haben, und neben ihnen
+liegt das halb aufgeschnittene Buch, darin wir gelesen, oder
+die verwelkte Blume, die wir auf dem Ball getragen, oder<a class="pagenum" name="Page_202" title="202"> </a>
+der Brief, den zu lesen wir uns gefürchtet oder den wir
+zu oft gelesen haben. Nichts scheint uns geändert. Aus
+den unwirklichen Schatten der Nacht tritt das wirkliche
+Leben hervor, das wir kannten. Wir haben es da wieder
+aufzunehmen, wo wir es unterbrochen haben, und uns
+beschleicht das fürchterliche Gefühl der Notwendigkeit, seine
+Energien weiter verbrauchen zu müssen in der gleichen ermüdenden
+Tretmühle stereotyper Gewohnheiten, oder vielleicht
+überschleicht uns eine wilde Sehnsucht, daß sich
+unsere Augen eines Morgens öffnen möchten für eine
+Welt, die im nächtigen Dunkel zu unserer Lust neu
+erschaffen worden sei, für eine Welt, in der die Dinge
+frische Linien und Farben hätten, verändert seien oder
+andere Geheimnisse bürgen, für eine Welt, in der die Vergangenheit
+nur einen unbedeutenden oder gar keinen
+Platz hätte oder wenigstens in keiner bewußten Form
+von Verpflichtung oder Reue weiterlebte, wo die Erinnerung
+selbst an die Freude ihre Bitterkeit enthält
+und dem Gedächtnis an den Genuß ein Schmerz beigemischt
+ist.</p>
+
+<p>Die Erschaffung solcher Welten schien für Dorian Gray
+der wahre Lebensinhalt oder wenigstens sein hauptsächlichster
+Inhalt zu bedeuten; und auf seiner Suche
+nach Sinnenerlebnissen, die zugleich neu und genußreich
+sein sollten und jenes Element der Seltsamkeit
+enthielten, die für die Romantik so wesentlich ist, eignete
+er sich oft gewisse Arten zu denken an, von denen ihm
+wohl bewußt war, daß sie seinem Wesen in Wirklichkeit
+fremd waren, gab sich ihren subtilen Einflüssen<a class="pagenum" name="Page_203" title="203"> </a>
+hin und verließ sie dann, wenn er sozusagen ihre Farbe
+in sich eingesogen und seine geistige Neugier befriedigt
+hatte, mit jener eigentümlichen Gleichgültigkeit,
+die nicht unvereinbar ist mit einem wirklich glühenden
+Temperament, und die in der Tat nach der Meinung
+gewisser moderner Psychologen oft eine Bedingung dafür
+ist.</p>
+
+<p>Einmal ging ein Gerücht von ihm, er wolle katholisch
+werden; und gewiß hatte der katholische Kult eine große
+Anziehungskraft für ihn. Das tägliche Meßopfer, das
+wirklich viel ehrfurchterweckender ist als alle Opfer der
+antiken Welt, regte ihn ebensosehr an durch seine prachtvolle
+Unbekümmertheit des sinnlichen Augenscheins wie
+durch die primitive Einfachheit seiner Elemente und das
+ewige Pathos der menschlichen Tragödie, die es zu symbolisieren
+versuchte. Er liebte es, auf das kalte Marmorpflaster
+hinzuknien und den Priester zu beobachten, der
+in seiner stimmungsvollen, blumengestickten Stola langsam
+und mit weißen Händen den Vorhang vom Tabernakel
+hinwegzog, oder die laternenförmige edelsteingeschmückte
+Monstranz in die Höhe hob, die jene blasse Hostie enthielt,
+von der man zuzeiten wirklich denken konnte, es sei der
+panis coelestis, das Brot der Engel, oder der, in die Gewänder
+der Christuspassion gehüllt, die Hostie in den
+Kelch tauchte und sich um seiner Sünden willen die Brust
+schlug. Die rauchenden Weihrauchkessel, die die ernsten
+Knaben in ihren Spitzen- und Scharlachmänteln in der
+Luft schwangen und die wie große, goldene Blumen aussahen,
+übten einen tiefen Zauber auf ihn aus. Wenn er<a class="pagenum" name="Page_204" title="204"> </a>
+hinaustrat, pflegte er staunend die dunkeln Beichtstühle
+anzublicken und empfand eine Sehnsucht, im düsteren
+Schatten eines solchen zu sitzen und den Männern und
+Frauen zu lauschen, die durch das abgenutzte Gitter die
+wahre Geschichte ihres Lebens flüsterten.</p>
+
+<p>Aber er verfiel nie dem Irrtum, seine geistige Entwicklung
+durch die förmliche Annahme irgendeines Glaubens
+oder Systems zu hindern oder irrtümlich ein Haus, in dem
+man leben konnte, gleichsam für eine Herberge zu halten,
+die nur zu kurzem Aufenthalt während einer Nacht oder
+nur für ein paar Stunden während einer Nacht taugt,
+wenn keine Sterne leuchten und der Mond im Wechsel
+begriffen ist. Die Mystik mit ihrer wunderbaren Kraft,
+uns gewöhnliche Dinge seltsam erscheinen zu lassen, und
+jene tiefe Ketzersucht, die sie immer zu begleiten scheint,
+reizte ihn eine Saison hindurch; und dann neigte er sich
+eine andere Saison hindurch wieder den materialistischen
+Lehren der Darwinistischen Bewegung in Deutschland zu
+und fand einen besonderen Genuß darin, die Gedanken und
+Leidenschaften der Menschen bis auf irgendeine perlgroße
+Zelle im Gehirn oder auf irgendeinen weißen Nerv im
+Körper zurückzuleiten, schwelgte förmlich in der Vorstellung
+einer absoluten Abhängigkeit des Geistes von gewissen
+physischen Bedingungen, mochten sie krankhaft oder gesund,
+normal oder pathologisch sein. Aber, wie schon früher
+von ihm berichtet wurde, so schien keine Lebenstheorie
+von irgendeiner Bedeutung für ihn, im Vergleich mit dem
+Leben selbst. Er war sich haarscharf bewußt, in welches
+Irrsal jede geistige Spekulation führen mußte, wenn sie<a class="pagenum" name="Page_205" title="205"> </a>
+von Handlung und Experiment getrennt ist. Er wußte,
+daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre geistigen
+Geheimnisse offenbaren mußten.</p>
+
+<p>Und so ergab er sich zeitweilig dem Studium der
+Wohlgerüche, bemühte sich um die Geheimnisse ihrer Bereitung,
+destillierte schwerduftende Öle und verbrannte
+wohlriechendes Gummi, das aus dem Orient stammte. Er
+erkannte, daß es keine Stimmung des Geistes gab, die nicht
+ihr Seitenstück im Leben der Sinne fand, und mühte sich,
+die wirkliche Beziehung zwischen beiden zu entdecken, um
+herauszuklügeln, weshalb der Weihrauch den Menschen
+mystisch stimmte, warum die Ambra die Leidenschaften aufstachele,
+woher der Veilchenduft die Erinnerung an <ins title="gegestorbene">gestorbene</ins>
+Romantik erwecke, wieso der Moschus das
+Gehirn verwirre, und wodurch der Tschampak die Phantasie
+beflecke: und so versuchte er manchmal, eine genaue
+Psychologie der Wohlgerüche auszuarbeiten und ihre verschiedenen
+Wirkungen zu bestimmen, zum Beispiel süßriechender
+Wurzeln, duftiger, samentragender Blüten, aromatischer
+Balsame, dunkler, starkriechender Hölzer, des
+Baldrians, der zum Erbrechen reizt, der Hovenia, die einen
+toll macht, und der Aloe, die imstande sein soll, die Schwermut
+aus der Seele zu verjagen.</p>
+
+<p>Ein andermal widmete er sich gänzlich der Musik und
+gab öfter Konzerte in einem langen, dämmerigen Saal,
+dessen Wände mit olivengrünem Lack überzogen waren,
+und dessen Decke aus einem rot und gold Muster bestand,
+wobei tolle Zigeuner kleinen Zithern wilde Musik entlockten
+oder ernste, in gelbe Tücher gehüllte Männer aus<a class="pagenum" name="Page_206" title="206"> </a>
+Tunis die gespannten Saiten seltsam großer Lauten zupften,
+während grinsende Neger eintönig auf kupferne Trommeln
+schlugen und schlankschmächtige, turbanbedeckte Inder
+auf scharlachroten Matten hockten und auf langen Rohr-
+oder Messingpfeifen bliesen und damit große Brillenschlangen
+oder schreckliche Hornvipern beschworen oder zu
+beschwören schienen. Die kreischenden Intervalle und die
+schrillen Mißtöne barbarischer Musik reizten ihn zuweilen,
+wenn Schuberts Lieblichkeit oder Chopins süßes Schmachten
+und die gewaltigen Harmonien des großen Beethoven
+machtvoll in sein Ohr schlugen. Aus allen Weltteilen
+sammelte er die merkwürdigsten Instrumente, die sich
+finden ließen, entweder in den Gräbern toter Völker oder
+unter den wenigen wilden Stämmen, die noch die Berührung
+mit der westlichen Kultur überlebt haben, und
+er liebte es, sie zu befühlen und zu verfügen. Er besaß das
+mysteriöse Juruparis der Rio-Negro-Indianer, das die
+Frauen nicht ansehen dürfen und selbst die jungen Männer
+erst dann, wenn sie vorher gefastet und sich gegeißelt haben,
+er besaß die irdenen Klappern der Peruaner, die den
+schrillen Ton des Vogelschreis wiedergeben, und Flöten
+aus Menschenknochen, wie sie Alfonso de Ovalle in Chile
+gehört hat, und die wohlklingenden grünen Jaspissteine,
+die bei Cuzco gefunden werden und einen Ton von eigentümlicher
+Süße hervorbringen. Er hatte bemalte, mit
+Kieselsteinen gefüllte Kürbisse, die beim Schütteln rasselten,
+er hatte die langen Zinken der Mexikaner, in die der
+Spieler nicht hineinbläst, sondern durch die er die Luft
+einatmet, das rauhe Ture der Amozonenstämme, das die<a class="pagenum" name="Page_207" title="207"> </a>
+Wachen ertönen lassen, wenn sie den ganzen Tag auf hohen
+Bäumen sitzen, und das, wie man sagt, auf eine Entfernung
+von drei Seemeilen gehört werden kann, das Teponaztli,
+das zwei zitternde Holzzungen hat und auf die
+man mit Stöcken schlägt, die mit einer Art elastischen Kautschuks
+eingesalbt werden, das aus dem milchigen Saft
+von Pflanzen gewonnen wird, er hatte die Yotlglocken
+der Azteken, die wie Trauben in Büscheln hängen, und
+eine große zylinderförmige Trommel, die bespannt ist mit
+den Häuten großer Schlangen gleich der, die Bernal Diaz
+sah, als er mit Cortez in den mexikanischen Tempel trat,
+und von deren wehklagendem Tone er uns eine so lebendige
+Schilderung hinterlassen hat. Das phantastische Wesen
+dieser Instrumente wirkte bezaubernd auf ihn, und er empfand
+einen seltsamen Genuß bei dem Gedanken, daß die
+Kunst wie die Natur ihre Ungeheuer hat, Dinge von tierischer
+Form und mit abscheulichen Stimmen. Aber nach
+einiger Zeit wurde er ihrer müde und saß dann wieder in
+seiner Loge in der Oper, entweder allein oder mit Lord
+Henry, lauschte hingerissen dem Tannhäuser und erkannte
+in dem Vorspiel zu diesem großen Kunstwerk eine Verkörperung
+des Trauerspiels seiner eigenen Seele.</p>
+
+<p>Wieder ein andermal warf er sich auf das Studium der
+Edelsteine und erschien auf einem Maskenfest als Anne de
+Joyeuse, Admiral von Frankreich, in einem Gewand, das
+mit fünfhundertsechzig Perlen bestickt war. Diese Geschmacksrichtung
+hielt ihn jahrelang gefangen, ja, man kann
+sagen, daß sie ihn nie verlassen hat. Er verbrachte oft
+einen ganzen Tag damit, die verschiedenen Steine, die er<a class="pagenum" name="Page_208" title="208"> </a>
+gesammelt hatte, aus ihren Schachteln zu nehmen und
+wieder umzuordnen, wie beispielsweise der olivengrüne
+Chrysoberyll, der im Lampenlicht rot wird, der Cymophan
+mit seinen haarfeinen Silberlinien, der pistazienfarbene
+Peridot, rosenfarbige und weingelbe Topase, scharlachfeurige
+Karfunkelsteine mit zitternden, vierfach ausstrahlenden
+Sternen, flammenrote Kaneelsteine, orangenfarbene
+und violette Spinelle und Amethyste mit ihren
+regelmäßig wechselnden Schichten von Rubin und Saphir.
+Er liebte das rote Gold des Sonnensteins und die perlfarbene
+Weiße des Mondsteins und den gebrochenen
+Regenbogen des milchflockigen Opals. Er verschrieb sich
+aus Amsterdam drei Smaragde von außerordentlicher
+Größe und wunderbarem Farbenreichtum und besaß einen
+Türkis <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">de la vieille roche</span>, um den ihn alle Kenner beneideten.</p>
+
+<p>Er entdeckte auch wunderbare Geschichten über Edelsteine.
+In Alfons „<span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Clericalis disciplina</span>“ wurde eine
+Schlange erwähnt mit Augen aus wirklichen Hyazinthsteinen,
+und in der romantischen Alexandersage hieß es
+von dem Eroberer Emathias, er habe im Jordantale
+Schlangen gefunden „mit Halsgeschmeiden aus wirklichen
+Smaragden, die ihnen auf dem Rücken gewachsen waren“.
+Im Gehirn des Drachen war nach dem Bericht des Philostratus
+ein Edelstein, und „durch das Entgegenhalten
+goldener Lettern und eines scharlachroten Gewandes“
+konnte das Ungeheuer in einen magischen Schlaf versetzt
+und getötet werden. Nach der Meinung des großen Alchimisten
+Pierre de Boniface sollte der Diamant den Menschen<a class="pagenum" name="Page_209" title="209"> </a>
+unsichtbar und der indische Achat ihn beredt machen.
+Der Karneol beschwichtigte den Zorn, und der Hyazinth
+schläferte ein, und der Amethyst verscheuchte den Weindunst.
+Der Granat trieb Teufel aus, und der Hydrophyt
+beraubte den Mond seiner Farbe. Der Selenit nahm mit
+dem Monde zu und ab, und der Meloceus, der die Diebe
+entdeckte, verlor seine Kraft nur, wenn man ihn mit dem
+Blut junger Ziegen betropfte. Leonardus Camillus hatte
+einen weißen Stein gesehen, den man aus dem Gehirn
+einer frisch getöteten Kröte genommen hatte und der ein
+sicheres Gegenmittel gegen Gift war. Der Bezoar, den
+man im Herzen des arabischen Hirsches fand, war ein
+Zauber, der die Pest zu heilen vermochte. In den Nestern
+arabischer Vögel kam der Aspilates vor, der nach der
+Angabe des Demokrit seinen Träger vor jeder Feuersgefahr
+beschützte.</p>
+
+<p>Der König von Seilan ritt bei seiner Krönungsfeier,
+mit einem großen Rubin in der Hand, durch seine Stadt.
+Die Tore zum Palast des Johannes, des Priesters, waren
+aus Sarder verfertigt, in den das Horn der Hornviper
+verarbeitet war, so daß kein Mensch Gift in das Haus
+bringen konnte. Über dem Giebel waren „zwei goldene
+Äpfel, die zwei Karfunkelsteine enthielten“, so daß am
+Tage das Gold glänzen konnte und die Karfunkelsteine bei
+Nacht. In Lodges seltsamem Roman „Eine amerikanische
+Perle“ heißt es, daß man in dem Zimmer der Königin
+„alle keuschen Frauen der Welt, wie in Silber getrieben,
+wahrnehmen konnte, wenn man durch fleckenfreie Spiegel
+aus Chrysolithen, Karfunkelsteinen, Saphiren und grünen<a class="pagenum" name="Page_210" title="210"> </a>
+Smaragden blickte“. Marco Polo hatte gesehen, wie die
+Einwohner von Zipangu den Toten rosenfarbige Perlen
+in den Mund steckten. Ein Seeungeheuer war in die Perle
+verliebt, die ein Taucher dem König Perozes brachte, und
+es hatte den Dieb getötet und sieben Monate lang über
+den Verlust getrauert. Als die Hunnen den König in den
+großen Hinterhalt lockten, warf er die Perle weg &mdash; Prokopius
+erzählt die Geschichte &mdash; und sie wurde nie wieder
+gefunden, obwohl Kaiser Anastasius dafür fünf Zentner
+Goldstücke aussetzte. Der König von Malabar hatte einmal
+einem Venezianer einen Rosenkranz aus dreihundertvier
+Perlen gezeigt, eine Perle für jeden Gott, den er verehrte.</p>
+
+<p>Als der Herzog von Valentinois, der Sohn Alexanders
+des Sechsten, Ludwig den Zwölften von Frankreich besuchte,
+war nach Brantôme sein Pferd mit goldenen Blättern
+bedeckt, und ein Barett trug eine doppelte Reihe von
+Rubinen, die ein mächtiges Licht ausstrahlten. Karl von
+England ritt in Steigbügeln, die mit vierhunderteinundzwanzig
+Diamanten besetzt waren. Richard der Zweite hatte
+ein Gewand, das mit Balasrubinen besetzt war, und auf
+dreißigtausend Mark geschätzt wurde. Hall beschrieb Heinrich
+den Achten auf seinem Wege zur Krönung nach dem
+Tower folgendermaßen: er trug ein „Panzerkleid aus
+erhabenem Gold, die Brust war mit Diamanten und
+anderen Edelsteinen bestickt, und um den Hals hing ihm
+eine mächtige Kette aus schweren Balasrubinen“. Die
+Günstlinge Jakobs des Ersten trugen Ohrringe aus Smaragden,
+die in Goldfiligran gefaßt waren. Eduard der<a class="pagenum" name="Page_211" title="211"> </a>
+Zweite schenkte dem Piers Gaveston eine vollständige
+Rüstung aus rotem Golde, die mit Hyazinthsteinen besetzt
+war, eine Halsberge aus goldenen Rosen, in die Türkise
+eingelassen waren, und eine mit Perlen übersäte Sturmhaube.
+Heinrich der Zweite trug Handschuhe bis zum
+Ellenbogen hinauf, die mit Edelsteinen besetzt waren, und er
+hatte einen Falkenierhandschuh, den zwölf Rubinen und
+zweiundfünfzig große Perlen zierten. Der Herzogshut
+Karls des Kühnen, des letzten Burgunder Herzogs seines
+Geschlechts, war behängt mit birnenförmigen Perlen und
+überstreut mit Saphiren.</p>
+
+<p>Wie köstlich das Leben einst gewesen war! Wie schwelgerisch
+in seinem Pomp und Schmuck! Von dem Reichtum
+der Toten auch nur zu lesen war schon wunderbar.</p>
+
+<p>Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den
+Stickereien zu und den Gobelins, die in den frostigen
+Räumen der nördlichen Völker Europas die Stelle der
+Freskogemälde vertraten. Als er sich in dieses Gebiet
+vertiefte &mdash; und er besaß immer eine außerordentliche
+Fähigkeit, sich für den Augenblick von allem absorbieren zu
+lassen, was er in Angriff nahm &mdash; wurde er ordentlich
+traurig bei dem Gedanken an die Vernichtung, die die
+Zeit schönen und wundervollen Dingen bereitete. Er
+wenigstens war ihr entronnen. Sommer folgte dem Sommer,
+die gelben Jonquillen hatten geblüht und waren
+viele Male verwelkt, und schreckliche Nächte wiederholten
+die Geschichte ihrer Schande, aber er blieb unverändert.
+Kein Winter entstellte sein Antlitz oder beschädigte seinen
+blütengleichen Schmelz. Wie anders war das mit den<a class="pagenum" name="Page_212" title="212"> </a>
+materiellen Dingen! Wohin waren die entschwunden?
+Wo war das große krokusfarbene Gewand, auf dem die
+Götter die Giganten bekämpft hatten, das von braunen
+Mädchen der Athene zur Freude gestickt worden war? Wo
+war das große Velarium, das Nero über das Kolosseum
+in Rom hatte ausspannen lassen, dieses gigantische Purpursegel,
+auf dem der Sternenhimmel abgebildet war, und
+Apollo, wie er einen Wagen lenkt, den weiße, von goldenen
+Zügeln gebändigte Streitrosse ziehen? Er sehnte sich, die
+sonderbaren Tischdecken zu sehen, die für den Sonnenpriester
+gewebt worden waren, und in die alle Leckerbissen
+und Speisen eingewirkt waren, die man für ein Festmahl
+nur wünschen konnte, das Sterbekleid des Königs Hilperich
+mit seinen dreihundert goldenen Bienen, die phantastischen
+Gewandungen, die die Entrüstung des Bischofs
+von Pontus erregten und auf denen „Löwen, Panther,
+Bären, Hunde, Wälder, Felsen, Jäger &mdash; kurz alles dargestellt
+war, was ein Maler der Natur ablauschen kann“,
+und den Rock, den Karl von Orleans einstmals getragen
+hatte, auf dessen Ärmel die Verse eines Gedichtes gestickt
+waren, das begann: <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Madame, je suis tout joyeux</span>, während
+die Noten hierzu mit Goldfäden eingestickt waren
+und jeder Notenkopf, damals noch viereckig, aus vier Perlen
+gebildet war. Er las von dem Zimmer, das man im
+Palast von Reims für den Gebrauch der Königin Johanna
+von Burgund hergerichtet hatte, „und das ausgeschmückt
+war mit dreizehnhunderteinundzwanzig gestickten Papageien,
+die das Wappen des Königs trugen, und mit fünfhunderteinundsechzig
+Schmetterlingen, deren Flügel auf<a class="pagenum" name="Page_213" title="213"> </a>
+dieselbe Weise mit dem Wappen der Königin geschmückt
+waren, das Ganze in Gold gearbeitet.“ Katharina von
+Medici hatte sich ein Trauerbett machen lassen aus schwarzem
+Samt, bestickt mit Halbmonden und Sonnen. Seine
+Vorhänge waren aus Damast, und auf einem Grunde
+von Gold und Silber waren Zweige und Girlanden gestickt,
+und die Bordüren bestanden aus Fransen mit Perlen,
+und es stand in einem Zimmer, das mit einem Silbertuch
+bespannt war, auf dem reihenweise die Wahlsprüche der
+Königin in schwarzem, geschorenem Samt appliziert waren.
+Ludwig der Vierzehnte hatte in seinem Gemach goldgestickte,
+fünfzehn Fuß hohe Karyatiden. Das Staatsbett
+Sobieskis, des Königs von Polen, bestand aus Smyrna-Goldbrokat,
+und Verse aus dem Koran waren aus Türkisen
+hineingestickt. Seine Füße waren aus vergoldetem
+Silber, schön getrieben und verschwenderisch mit Medaillons
+aus Email und Edelsteinen besetzt. Es war bei
+der Belagerung von Wien aus dem türkischen Lager erbeutet
+worden, und die Fahne Mohammeds war unter
+dem flimmerigen Gold seines Baldachins angebracht.</p>
+
+<p>Und so suchte er ein ganzes Jahr lang die erlesensten
+Proben zusammen, die er von Webekunst und Stickereiarbeiten
+auftreiben konnte, er verschaffte sich die duftigen
+Delhi-Musselins, die zart mit goldenen Palmblättern
+und mit irisierenden Käferflügeln bestickt waren, die Gazestoffe
+aus Dhaka, die man im Orient ihrer Durchsichtigkeit
+wegen „gewebte Luft“, „rieselndes Wasser“ und „Abendtau“
+nennt: Tücher aus Java mit seltsamen Figuren:
+feine, gelbe chinesische Gardinen: Bücher, die in lohfarbigen<a class="pagenum" name="Page_214" title="214"> </a>
+Atlas oder hellblaue Seide gebunden und eingepreßte
+heraldinische Lilien, Vögel und Schildereien zeigten Pointslace-Schleiergewebe
+aus Ungarn: sizilianische Brokate
+und steife spanische Sammete: georgische Arbeiten mit
+ihren goldenen Münzen, und japanische Fukusas mit
+ihren grünen Goldtönen und ihren gefiederten Vögeln
+wunderbarster Arbeit.</p>
+
+<p>Er hatte dann eine besondere Leidenschaft für kirchliche
+Gewänder wie für alles, was mit dem religiösen Ritus
+zusammenhing. In den langen Kästen aus Zedernholz,
+die auf der westlichen Galerie seines Hauses standen, hatte
+er viele seltene, schöne Proben des wahrhaften Kleides
+der Christusbraut angesammelt, die sich in Purpur, in
+Edelsteine und feines Linnen kleiden muß, um den bleichen,
+abgezehrten Leib darin zu verhüllen, der erschöpft ist von
+den Leiden, die sie sucht, und verwundet von selbst zugefügten
+Schmerzen. Er besaß einen prachtvollen Chorrock
+aus karminroter Seide und goldgewirktem Damast,
+der mit einem sich wiederholenden Muster von goldenen
+Granatäpfeln geziert war, die auf sechsblättrigen, regelmäßigen
+Blüten saßen, worunter auf jeder Seite ein in
+Staubperlen gestickter Tannenzapfen war. Die Goldstickereien
+waren in einzelne Felder geteilt, in denen Szenen
+aus dem Leben der Jungfrau abgebildet waren und die
+Krönung der Jungfrau war in der dazu gehörigen Kappe
+in farbiger Seide oben eingestickt. Es war italienische
+Arbeit aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein anderer
+Chorrock war aus grünem Samt, bestickt mit herzförmigen
+Bündeln von Akanthusblättern, aus denen langgestielte<a class="pagenum" name="Page_215" title="215"> </a>
+weiße Blüten hervorsprossen, die zart mit silbernen Fäden
+und farbigen Kristallperlen ausgearbeitet waren. Auf der
+Spange war der Kopf eines Seraphs in erhabener
+Goldstickerei ausgeführt. Die Borten waren fortlaufend
+auf blumigem Tuch in roter und goldener Seide eingewebt
+und mit den Medaillonbildnissen vieler Heiligen und Märtyrer
+ausstaffiert, unter denen sich der heilige Sebastian
+befand. Er hatte auch Meßgewänder aus bernsteinfarbiger
+Seide und blauer Seide und goldenem Brokat und
+aus gelbem Seidendamast und goldenem Tuch, die bedeckt
+waren mit Darstellungen der Passion und der Kreuzigung
+Christi, und bestickt mit Löwen, Pfauen und anderen Emblemen,
+er hatte Dalmatikas aus weißem Atlas und
+rosarotem Seidendamast, geziert mit Tulpen, Delphinen
+und heraldischen Lilien: Altardecken aus karmoisinrotem
+Samt und blauem Linnen, und viele Decken für Meßgeräte,
+Kelchhüllen und Schweißtücher. In den mystischen
+Diensten, zu denen diese Dinge bestimmt waren, lag
+etwas, das seine Einbildungskraft anregte.</p>
+
+<p>Denn diese Schätze und überhaupt alles, was er in
+seinem wunderbaren Hause ansammelte, waren für ihn
+Mittel zum Vergessen, Liebhabereien, durch die er eine
+Zeitlang der Angst entrinnen konnte, die ihm oft zu groß
+erschien, um sie zu ertragen. An die Wand des verlassenen,
+verschlossenen Raumes, worin er einen so großen Teil seiner
+Knabenzeit verbracht hatte, hatte er mit seinen eigenen
+Händen das fürchterliche Porträt aufgehängt, dessen Züge
+ihm in ihrer Veränderung die wahrhafte Erniedrigung
+seines Lebens zeigten, und darüber hatte er als Vorhang<a class="pagenum" name="Page_216" title="216"> </a>
+das Bahrtuch aus Gold und Purpur angebracht. Wochenlang
+mochte er nicht dahin gehen, wollte er das gräßliche
+Gemälde vergessen und gewann dann wieder sein leichtes
+Herz zurück, seine wunderbare Fröhlichkeit und seine
+Kraft zu leidenschaftlicher Versenkung ins Leben. Dann
+aber schlich er plötzlich in einer Nacht aus dem Hause,
+besuchte schaurige Orte in der Nähe von Blue Gate Fields
+und blieb dort Tag um Tag, bis es ihn wieder wegtrieb.
+Nach seiner Rückkehr saß er dann wohl vor dem Bilde,
+manchmal voll Haß vor ihm und vor sich selbst, ein
+andermal aber erfüllt mit dem Stolze auf das eigene
+Wesen, der den halben Reiz der Sünde ausmacht, und
+er lächelte dann mit geheimem Vergnügen das verunstaltete
+Abbild an, das die Last zu tragen hatte, die eigentlich
+für ihn bestimmt war.</p>
+
+<p>Nach einigen Jahren konnte er es nicht aushalten, lange
+von England weg zu sein, und gab das Landhaus auf,
+das er gemeinsam mit Lord Henry in Trouville innegehabt
+hatte, und ebenso das kleine, von weißer Mauer umrahmte
+Haus in Algier, wo sie mehr als einmal den
+Winter verbracht hatten. Er konnte es nicht ertragen, von
+dem Porträt getrennt zu sein, das jetzt gewissermaßen
+ein Teil seines Lebens geworden war, und er fürchtete
+auch, es könne in seiner Abwesenheit irgend jemand Zutritt
+bekommen trotz den sorgfältig gearbeiteten Sicherheitsschlössern,
+die er an der Türe hatte anbringen lassen.</p>
+
+<p>Er war sich vollauf bewußt, daß niemand etwas verraten
+könne. Allerdings bewahrte das Bild unter all der
+Gemeinheit und Häßlichkeit seines Antlitzes noch eine deutliche<a class="pagenum" name="Page_217" title="217"> </a>
+Ähnlichkeit mit ihm, aber was konnte das den Leuten
+sagen? Er würde jeden auslachen, der es versuchen wollte, ihn
+zu schmähen. Er hatte es ja nicht gemalt. Was ging es ihn
+an, wie abscheulich und schändlich es aussah? Selbst wenn
+er jemand die Wahrheit erzählte, konnte sie einer glauben?</p>
+
+<p>Und doch hatte er Angst. Wenn er manchmal in seinem
+großen Hause in Nottinghamshire war und die <ins title="eleganganten">eleganten</ins>
+jungen Leute, die meistens seine Gesellschaft bildeten,
+bewirtete, und die Leute der Grafschaft durch den
+ausschweifenden Luxus und den verschwenderischen Glanz
+seines Lebens in Erstaunen setzte, dann verließ er wohl
+plötzlich seine Gäste und eilte zurück in die Stadt, um nachzusehen,
+ob sich niemand an der Türe zu schaffen gemacht
+habe und ob das Bild noch da sei. Wie, wenn es jemand
+gestohlen hätte? Der bloße Gedanke erfüllte ihn mit kaltem
+Entsetzen. Gewiß würde dann die Welt sein Geheimnis
+erfahren. Vielleicht hatte sie schon Verdacht geschöpft.</p>
+
+<p>Denn genau wie er viele fesselte, gab es auch nicht wenige,
+die ihm mißtrauten. Er wäre fast schwarz ballotiert
+worden in einem Westend-Klub, zu dessen Mitgliedschaft
+ihn soziale Stellung und Geburt vollständig berechtigten,
+und es hieß, daß einmal, als ihn ein Freund in das
+Rauchzimmer des Curchill-Klubs mitgebracht hatte, der
+Herzog von Berwick und ein anderer Herr in auffallender
+Weise aufgestanden und hinausgegangen wären. Sonderbare
+Geschichten waren über ihn im Umlauf, als er sein
+fünfundzwanzigstes Jahr vollendet hatte. Man munkelte,
+daß man ihn in einer elenden Kaschemme in einem entlegenen
+Winkel Whitechapels mit fremden Matrosen habe<a class="pagenum" name="Page_218" title="218"> </a>
+zechen sehen, und daß er mit Dieben und Falschmünzern
+umgehe und die Geheimnisse ihres Gewerbes kenne. Seine
+auffallende Gewohnheit, zu bestimmten Zeiten zu verschwinden,
+war bekannt, und wenn er dann wieder in der
+Gesellschaft auftauchte, flüsterte man sich in den Ecken Bemerkungen
+zu oder man ging an ihm mit einem unzweideutigen
+Lächeln oder mit kühlen, forschenden Blicken vorbei,
+als wäre man entschlossen, sein Geheimnis zu enthüllen.</p>
+
+<p>Von diesen Unverschämtheiten und versuchten Beleidigungen
+nahm er natürlich keine Notiz, und in den Augen
+der meisten Leute war sein offenes, freundliches Wesen,
+sein reizendes Knabenlächeln und die unendliche Grazie
+der wundervollen Jugend, die ihn nie zu verlassen schien,
+an sich eine genügende Antwort auf die Verleumdungen,
+denn so nannte man es, die über ihn im Umlauf waren.
+Indessen bemerkte man, daß einige von denen, die früher
+sehr innig mit ihm verkehrt hatten, ihn nach einiger Zeit
+zu meiden anfingen. Frauen, die ihn glühend geliebt
+hatten und um seinetwillen allem Tadel der Gesellschaft
+getrotzt und die Konvention verachtet hatten, konnte man
+vor Scham oder Entsetzen erbleichen sehen, wenn Dorian
+Gray ins Zimmer trat.</p>
+
+<p>Doch dieses Skandalgeflüster erhöhte in den Augen vieler
+nur seinen seltsamen und gefährlichen Reiz. Auch sein
+großer Reichtum bot ein gewisses Unterpfand der Sicherheit.
+Die Gesellschaft, wenigstens die zivilisierte Gesellschaft,
+ist niemals schnell geneigt, etwas Schlechtes von
+denen zu glauben, die zugleich reich und interessant sind.
+Sie begreift instinktiv, daß Manieren wichtiger sind als<a class="pagenum" name="Page_219" title="219"> </a>
+Moral, und ihrer Meinung nach ist die höchste Ehrbarkeit
+weniger wert als der Besitz eines guten Küchenchefs. Und
+schließlich ist es auch ein sehr schwacher Trost, wenn einem
+gesagt wird, daß der Mann, bei dem es ein schlechtes
+Diner oder einen elenden Wein gegeben hat, in seinem
+Privatleben unantastbar dasteht. Selbst die Kardinaltugenden
+können nicht für kalt gewordene Entrees entschädigen,
+bemerkte Lord Henry einmal, als man über
+dieses Thema sprach; und für seine Ansicht spricht wahrscheinlich
+sehr viel. Denn die Gesetze der guten Gesellschaft
+sind oder sollten wenigstens dieselben sein, wie die Regeln
+der Kunst. Form ist für sie unbedingt wesentlich. Sie
+sollte die Würde ebenso wie die Unwirklichkeit einer
+Zeremonie haben und sollte den unaufrichtigen Schein
+eines romantischen Schauspiels mit dem Witz und der
+Schönheit verbinden, die für uns das Entzücken solcher
+Spiele ausmachen. Ist Unaufrichtigkeit denn etwas so
+Furchtbares? Ich glaube nicht. Sie ist nur ein Mittel,
+wodurch wir unsere Persönlichkeit vervielfachen können.</p>
+
+<p>Das war wenigstens die Meinung von Dorian Gray. Er
+pflegte sich über die seichte Psychologie derer zu wundern,
+die sich das Ich eines Menschen als etwas Einfaches,
+Beständiges, Verläßliches und Einheitliches vorstellen. Für
+ihn war der Mensch ein Wesen mit Myriaden von Leben
+und Myriaden von Gefühlen, ein kompliziertes, vielgestaltetes
+Geschöpf, das seltsame Erbschaften in seinen Gedanken
+und Leidenschaften mit sich herumtrug und dessen
+Fleisch von den ungeheuerlichen Krankheiten der Verstorbenen
+angesteckt war. Er liebte es, die kahle, kalte<a class="pagenum" name="Page_220" title="220"> </a>
+Bildergalerie auf seinem Landsitze zu durchschlendern
+und die verschiedenen Porträts der Menschen zu betrachten,
+deren Blut in seinen Adern floß. Hier war Philipp
+Herbert, den Francis Osborne in seinen „Memoiren
+über die Herrscherzeit der Königin Elisabeth und des
+Königs Jakob“ als einen beschrieb, „den der Hof seines
+hübschen Gesichtes wegen lieb hatte, das ihm aber nicht
+lange Gesellschaft leistete“. War es das Leben des jungen
+Herbert, das er manchmal führte? Hatte sich irgendein
+merkwürdiger, gifttragender Keim von Körper zu Körper
+übertragen, bis er seinen eigenen erreicht hatte? War es
+eine dumpfe Erinnerung an diesen verwelkten Liebreiz
+gewesen, die damals in Basil Hallwards Atelier so jäh
+und fast ohne Grund über ihn hereinbrach, daß er jenes
+wahnsinnige Gebet sprechen mußte, das sein Leben so sehr
+verändert hatte? Hier stand in goldgesticktem rotem
+Wams, in einem mit Juwelen geschmückten Überrock
+und goldgefaßten Hals- und Ärmelkrausen Sir Anthony
+Sherard, die Beine mit silbernen und schwarzen Schienen
+gepanzert. Was war das Vermächtnis dieses Mannes
+gewesen? Hatte ihm der Geliebte der Giovanna von
+Neapel ein Erbteil der Sünde und Schande hinterlassen?
+Waren seine eigenen Handlungen nur die Träume, die der
+Tote nicht zu verwirklichen gewagt hatte? Hier lächelte
+von einer verblaßten Leinwand Lady Elisabeth Devereux
+in ihrer Gazehaube, dem perlenbestickten Brustschmuck und
+den roten Schlitzärmeln. Sie hielt in der rechten Hand
+eine Blume, und die linke umfaßte einen emaillierten
+Halsschmuck aus weißen und Damaszener Rosen. Auf<a class="pagenum" name="Page_221" title="221"> </a>
+einem Tisch neben ihr lag eine Mandoline und ein Apfel.
+Auf ihren kleinen, spitzen Schuhen saßen große, grüne Rosetten.
+Er kannte ihr Leben und die seltsamen Geschichten,
+die man über ihre Liebhaber erzählte. Hatte er etwas von
+ihrem Temperament an sich? Diese ovalen Augen mit den
+schweren Lidern schienen ihn so sonderbar anzublicken.
+Wie stand es um George Willoughby mit seinem gepuderten
+Haar und seinen phantastischen Schönheitspflästerchen?
+Wie böse er aussah! Das Gesicht war melancholisch
+und bräunlich, und die sinnlichen Lippen schienen verächtlich
+zusammengekniffen. Kostbare Spitzenmanschetten rieselten
+über die mageren gelben Hände, die mit Ringen so
+sehr überladen waren. Er war im achtzehnten Jahrhundert
+ein Stutzer gewesen und in seiner Jugend ein Freund von
+Lord Ferrars. Wie war es mit dem zweiten Lord Beckenham,
+dem Gefährten des Prinzregenten in seinen wildesten
+Tagen und einem der Zeugen bei seiner heimlichen Eheschließung
+mit Frau Fitzherbert? Wie stolz und hübsch
+war er mit seinen kastanienbrauen Locken und der herausfordernden
+Haltung! Welche Leidenschaften hatte er ihm
+vererbt? Die Welt hatte ihn für ehrlos gehalten. Er hatte
+bei den Orgien in Carlton House den Vorsitz geführt. Der
+Stern des Hosenbandordens strahlte auf seiner Brust.
+Neben ihm hing das Bild seiner Gemahlin, einer blassen,
+dünnlippigen Frau in schwarzem Kleide. Auch ihr Blut
+flutete in ihm. Wie merkwürdig schien das alles! Und seine
+Mutter mit ihrem Lady Hamilton-Gesicht und ihren feuchten,
+wie vom Wein benetzten Lippen &mdash; er wußte, was er
+von ihr mitbekommen hatte. Von ihr hatte er seine Schönheit<a class="pagenum" name="Page_222" title="222"> </a>
+geerbt und seine Leidenschaft für die Schönheit anderer.
+Sie lachte ihn an in ihrem losen Bacchantinnenkleide. In
+ihrem Haare waren Weinblätter. Über den Becher, den
+sie hielt, schäumte der Purpur. Die Fleischfarbe des Gemäldes
+war verblaßt, aber die Augen waren noch wunderbar
+in ihrer Tiefe und ihrem Farbenglanz. Sie schienen
+ihm überall hin zu folgen, wo er auch ging.</p>
+
+<p>Aber man hatte Vorfahren ebensogut in der Literatur
+wie in dem eigenen Geschlecht, und viele davon standen
+einem vielleicht näher in ihrem Menschentum und in ihrem
+Temperament und hatten sicher einen Einfluß, von dem
+man sich genauere Rechenschaft zu geben vermochte. Es gab
+Zeiten, wo Dorian Gray den Eindruck hatte, als wäre
+die ganze Weltgeschichte nur ein Bericht seines eigenen
+Lebens, nicht wie er es nach Taten und Umständen gelebt
+hatte, sondern wie es seine Phantasie für ihn erschaffen
+hatte, wie es in seinem Gehirn und in seinen Sinnentrieben
+war. Er fühlte, daß er sie alle gekannt hatte, diese merkwürdigen
+schrecklichen Gestalten, die über die Weltenbühne
+geschritten waren und die Sünde so glänzend und
+das Böse so tief und fein gemacht hatten. Es wollte ihm
+scheinen, daß auf irgendeine geheimnisvolle Weise ihr
+Leben auch sein eigenes gewesen sei.</p>
+
+<p>Der Held des wunderbaren Romans, der sein Leben so
+stark beeinflußt hatte, war auch von diesem seltsamen
+Einfall ergriffen gewesen. Im siebenten Kapitel erzählt
+er: wie er, bekränzt mit Lorbeer, damit ihn der Blitz
+nicht treffe, als Tiberius in einem Garten von Capri gesessen
+und die schändlichen Bücher von Elephantis gelesen<a class="pagenum" name="Page_223" title="223"> </a>
+habe, während Zwerge und Pfauen um ihn herumstolzierten
+und der Flötenspieler den Weihrauchschwinger verspottete:
+wie er als Caligula mit den grünbeschürzten
+Stallknechten in ihren Ställen gezecht und aus einer elfenbeinernen
+Krippe ein Mahl genommen habe mit einem
+Rosse, das ein edelsteingeschmücktes Stirnband trug, und
+wie er als Domitian durch einen Korridor gewandert sei,
+dessen Wände mit Marmorspiegeln bedeckt waren, in denen
+er mit verstörten Augen nach dem Widerschein des Dolches
+gesucht habe, der seine Tage enden sollte, erkrankt an der
+Langeweile, dem schrecklichen <span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Taedium vitae</span>, das alle
+befällt, denen das Leben nichts versagt: und wie er durch
+einen hellen Smaragd den blutrünstigen Schlächterszenen
+im Zirkus zugeschaut habe und dann in einer Karosse aus
+Perlen und Purpur, die von silberfarbig gesprenkelten
+Maultieren gezogen wurde, durch eine Straße mit Granatbäumen
+zu einem goldenen Hause gefahren sei und gehört
+habe, wie ihm die Menschenmenge zurief: Kaiser Nero,
+als er vorbeifuhr, und wie er sich als Heliogabal das Gesicht
+geschminkt, mit den Weibern am Spinnrocken gewebt
+und den Mond aus Karthago geholt habe, um ihn in
+mystischer Ehe mit der Sonne zu vermählen.</p>
+
+<p>Wieder und wieder las Dorian dieses phantastische Kapitel
+und die zwei unmittelbar folgenden, in denen wie auf
+wunderlichen Gobelins oder kunstvoll gearbeiteten Emaillen
+die greulich-schönen Gestalten jener dargestellt waren, die
+Laster und Blut und Übersättigung zu Ungeheuern oder
+Narren gemacht hatte: Filippo, der Herzog von Mailand,
+der sein Weib getötet und ihre Lippen mit scharlachrotem<a class="pagenum" name="Page_224" title="224"> </a>
+Gift gefärbt hatte, damit ihr Geliebter von dem Leichnam,
+wenn er ihn liebkoste, den Tod saugen möge: der
+Venezianer Pietro Barbi, bekannt als Paul der Zweite,
+der in seiner Eitelkeit den Beinamen Formosus annehmen
+wollte und dessen Tiara, die zweihunderttausend Gulden
+Wert hatte, mit einer furchtbaren Sünde erkauft worden
+war: Gian Maria Visconti, der Hunde benutzte, um auf
+lebende Menschen Jagd zu machen, und dessen Leichnam
+nach seiner Ermordung von einer Dirne, die ihn geliebt
+hatte, mit Rosen bedeckt ward: der Borgia auf seinem
+Schimmel, neben dem der Brudermord hoch zu Rosse saß,
+und dessen Mantel mit dem Blute Perottos befleckt war:
+Pietro Riario, der junge Kardinalerzbischof von Florenz,
+das Kind und der Liebling Sixtus des Sechsten, dessen
+Schönheit nur von seiner Lasterhaftigkeit übertroffen
+wurde, und der Leonora von Aragonien in einem Zelt aus
+weißer und karmesinfarbener Seide empfing, das voll
+Nymphen und Zentauren war, und der einen Knaben vergoldete,
+damit er bei dem Feste als Ganymed oder Hylas
+aufwarte: Etzelin, dessen Schwermut nur durch das Schauspiel
+des Todes geheilt werden konnte und der eine Leidenschaft
+für rotes Blut hatte, wie andere Menschen für roten
+Wein &mdash; den man den Sohn des Satans hieß und der
+seinen Vater beim Würfeln betrogen hatte, als er mit
+ihm um seine Seele spielte: Giambattista Cibo, der aus
+Hohn den Namen Innozentius annahm und in dessen
+verdumpfte Adern ein jüdischer Arzt das Blut von drei
+Jünglingen einpumpte: Sigismondo Malatesta, der Liebhaber
+der Isotta und der Herr von Rimini, der zu Rom<a class="pagenum" name="Page_225" title="225"> </a>
+im Bilde als ein Feind Gottes und der Menschen verbrannt
+wurde, und der Polyssena mit einer Serviette erdrosselte,
+und der Ginevra d'Este aus einem Smaragdbecher
+Gift zu trinken gab und, um eine schändliche Leidenschaft
+zu ehren, einen heidnischen Tempel zur Anbetung
+für die Christen baute: Karl der Sechste, der für das Weib
+seines Bruders so ungestüm erglühte, daß ihm ein Aussätziger
+den Irrsinn prophezeite, der über ihn kommen
+werde, und der, als sein Geist krank geworden war und
+sich verwirrt hatte, nur durch sarazenische Spielkarten besänftigt
+wurde, auf denen Liebe, Tod und Wahnsinn abgebildet
+waren: und in seinem gezierten Kamisol und in
+seinem edelsteingeschmückten Barett und den akanthusgleichen
+Locken Grifonetto Baglioni, der Astorre bei seiner
+Braut und Simonetto bei seinem Pagen erschlug, und
+dessen Anmut so groß war, daß, als er sterbend auf der
+gelben Piazza in Perugia lag, selbst seine Hasser das
+Schluchzen nicht unterdrücken konnten, und ihn Atalanta
+segnete, die ihn verflucht hatte.</p>
+
+<p>Ein grauenhafter Zauber war in alledem. Er sah sie
+bei Nacht, und während des Tages verwirrten sie seine
+Vorstellungen. Die Renaissance kannte seltsame Arten, zu
+vergiften &mdash; zu vergiften durch einen Helm und eine angezündete
+Fackel, einen bestickten Handschuh und einen
+edelsteinbesetzten Fächer, ein vergoldetes Riechbüchschen
+und eine Bernsteinkette. Dorian Gray war durch ein Buch
+vergiftet worden. Es gab Augenblicke, in denen er die
+Sünde einzig als eine Möglichkeit ansah, seinen Schönheitsbegriff
+zu verwirklichen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_226" title="226"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Zwolftes_Kapitel" id="Zwolftes_Kapitel"></a>Zwölftes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Es war am neunten November, am Vorabend seines
+achtunddreißigsten Geburtstages, wie er sich später oftmals
+erinnerte.</p>
+
+<p>Er ging gegen elf Uhr aus Lord Henrys Wohnung,
+bei dem er gegessen hatte, nach Hause und war in einen
+schweren Pelz gehüllt, da die Nacht kalt und neblig war.
+An der Ecke von Grosvenor Square und South Audley
+Street ging im Nebel ein Mann sehr eilig an ihm vorbei,
+der den Kragen seines grauen Ulsters hochgeschlagen hatte.
+Er trug eine Reisetasche. Dorian erkannte ihn. Es war
+Basil Hallward. Ein seltsames Angstgefühl, über das er
+sich keine Rechenschaft geben konnte, befiel ihn. Er ließ
+nicht merken, daß er ihn erkannt hatte und setzte rasch
+seinen Weg fort in der Richtung seines Hauses.</p>
+
+<p>Aber Hallward hatte ihn gesehen. Dorian hörte, wie er
+zuerst auf dem Trottoir stehenblieb und ihm dann nacheilte.
+In ein paar Augenblicken lag eine Hand auf seinem
+Arm.</p>
+
+<p>„Dorian! Was für ein besonders glücklicher Zufall! Ich
+habe seit neun Uhr in deiner Bibliothek auf dich gewartet.
+Schließlich tat mir dein ermüdeter Diener leid, und
+als er mich herunterließ, sagte ich ihm, er möchte zu Bett
+gehen. Ich fahre mit dem Mitternachtszug nach Paris,
+und ich hatte den dringendsten Wunsch, dich vor meiner
+Abreise noch zu sehen. Ich dachte, das mußt du sein,
+oder mindestens dein Pelz, als du vorbeigingst. Aber ich<a class="pagenum" name="Page_227" title="227"> </a>
+war doch nicht ganz sicher. Hast du mich denn nicht erkannt?“</p>
+
+<p>„Bei so einem Nebel, lieber Basil? Ich kann nicht einmal
+Grosvenor Square erkennen. Ich vermute, mein Haus
+ist hier irgendwo in der Nähe, aber ich bin mir nicht ganz
+sicher. Es tut mir leid, daß du verreist, denn ich habe dich
+ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber ich denke, du kommst
+doch bald wieder?“</p>
+
+<p>„Nein; ich bleibe sechs Monate von England fort. Ich
+will mir in Paris ein Atelier mieten und mich darin einschließen,
+bis ein großes Bild fertig ist, das ich im Kopf
+habe. Aber ich wollte nicht über mich reden. Da sind wir
+an deiner Tür. Laß mich einen Augenblick mit herein. Ich
+habe dir was zu sagen.“</p>
+
+<p>„Es wird mir eine große Freude sein. Aber versäumst
+du auch deinen Zug nicht?“ sagte Dorian Gray mit müder
+Stimme, als er die Treppe hinaufstieg und die Tür mit
+seinem Drücker öffnete.</p>
+
+<p>Das Lampenlicht kämpfte mit dem Nebel, und Hallward
+sah auf die Uhr. „Ich habe noch eine Menge Zeit“,
+antwortete er. „Der Zug geht zwölf Uhr fünfzehn, und
+es ist eben elf. Offen gesagt, ich war gerade auf dem Weg
+in den Klub, um dich zu suchen, als ich dich traf. Mein
+Gepäck wird mich, wie du siehst, nicht sehr aufhalten, weil
+ich die schweren Sachen vorausgeschickt habe. Hier in der
+Tasche ist alles, was ich mitnehme, und nach Victoria
+Station kann ich bequem in zwanzig Minuten kommen!“</p>
+
+<p>Dorian sah ihn lächelnd an. „Für einen berühmten Maler
+eine merkwürdige Art, zu reisen! Eine Handtasche und<a class="pagenum" name="Page_228" title="228"> </a>
+ein Ulster! Komm herein, sonst dringt der Nebel ins Haus!
+Und bitte, sprich über nichts Ernsthaftes mit mir. Nichts
+ist heutzutage ernsthaft. Wenigstens sollte es nichts sein.“</p>
+
+<p>Hallward schüttelte den Kopf als er eintrat, und folgte
+Dorian ins Bibliothekzimmer. Dort brannte in dem offenen
+Kamin ein helles Holzfeuer. Die Lampen waren angezündet,
+und ein offenstehender holländischer Likörkasten aus
+Silber stand nebst ein paar Sodawassersiphons und großen
+geschliffenen Gläsern auf einem eingelegten Tischchen.</p>
+
+<p>„Du siehst, dein Diener hat es mir gemütlich gemacht,
+Dorian. Er hat mir alles gegeben, was ich brauchte, sogar
+deine besten Zigaretten mit Goldmundstück. Es ist ein recht
+gastfreundlicher Mensch. Ich mag ihn viel lieber als den
+Franzosen, den du vor ihm hattest. Was ist übrigens aus
+dem Franzosen geworden?“</p>
+
+<p>Dorian zuckte die Achseln. „Ich glaube, er hat Lady
+Radleys Kammermädchen geheiratet und sie in Paris als
+englische Schneiderin etabliert. Ich höre, daß Anglomanie
+zurzeit drüben sehr Mode ist. Scheint mir recht töricht von
+den Franzosen, nicht wahr? Aber &mdash; weißt du noch? &mdash; er
+war wirklich kein schlechter Bedienter. Ich mochte ihn
+zwar auch nie so recht leiden, aber er gab mir keinen
+Grund zur Klage. Man bildet sich oft Dinge ein, die ganz
+sinnlos sind. Er war mir wirklich sehr ergeben und schien
+ganz traurig, als er wegging. Willst du noch einen Kognak
+und Soda? Oder lieber Wein mit Selter? Ich
+nehme immer Wein mit Selter. Es ist gewiß etwas im
+Nebenzimmer.“</p>
+
+<p>„Danke, ich nehme nichts mehr“, sagte der Maler, legte<a class="pagenum" name="Page_229" title="229"> </a>
+Mütze und Überrock ab und warf sie auf die Reisetasche,
+die er in die Zimmerecke gestellt hatte. „Und jetzt, lieber
+Freund, möchte ich mit dir mal ernsthaft sprechen. Du
+mußt nicht so böse aussehen. Du machst es mir dadurch
+nur schwerer.“</p>
+
+<p>„Was soll das alles?“ rief Dorian, offen seine Verdrießlichkeit
+zeigend und warf sich auf das Sofa. „Ich
+hoffe, es handelt sich nicht um mich. Ich habe heute abend
+genug von mir. Ich wünschte, ich wäre ein anderer.“</p>
+
+<p>„Es handelt sich um dich,“ antwortete Hallward mit
+seiner ernsten, tiefen Stimme, „und ich muß es dir sagen.
+Ich werde dich kaum ein halbes Stündchen aufhalten.“</p>
+
+<p>Dorian seufzte und steckte sich eine Zigarette an. „Ein
+halb Stündchen“, flüsterte er.</p>
+
+<p>„Das ist nicht viel von dir verlangt, Dorian, und ich
+spreche wirklich nur zu deinem Besten. Ich halte es für
+angebracht, daß du endlich die schrecklichen Dinge erfährst,
+die über dich in London geredet werden.“</p>
+
+<p>„Ich will nicht das mindeste davon wissen. Ich habe
+Tratsch über andere Leute recht gern, aber Tratsch über
+mich interessiert mich ganz und gar nicht. Es hat nicht mal
+den Reiz der Neuheit.“</p>
+
+<p>„Es muß dich interessieren, Dorian. Jeder anständige
+Mensch ist an seinem guten Ruf interessiert. Du darfst doch
+nicht die Leute von dir reden lassen, wie von einem gesunkenen
+und abscheulich lasterhaften Menschen. Natürlich
+hast du deine Stellung, deinen Reichtum und all dergleichen.
+Aber Stellung und Reichtum sind nicht alles. Auf
+mein Wort, ich glaube von diesen Gerüchten nichts. Wenigstens<a class="pagenum" name="Page_230" title="230"> </a>
+kann ich ihnen nicht glauben, wenn ich dich sehe. Die
+Sünde steht jedem Menschen auf der Stirn geschrieben.
+Man kann sie nicht verhehlen. Die Menschen schwatzen
+manchmal von geheimen Lastern. So etwas gibt es nicht.
+Wenn ein unseliger Mensch ein Laster hat, so zeigt sichs
+in den Linien seines Mundes, in seinen herabgesunkenen
+Augenlidern, selbst in der Form seiner Hände. Jemand
+&mdash; ich will seinen Namen nicht nennen, aber du kennst ihn
+&mdash; kam voriges Jahr zu mir und wollte sich malen lassen.
+Ich hatte ihn nie vorher gesehen und damals nie etwas
+von ihm gehört, seitdem aber hat man mir eine Menge
+von ihm erzählt. Er bot mir einen fabelhaften Preis an.
+Ich habe abgelehnt. An der Form seiner Finger war
+etwas, das mir ekelhaft war. Jetzt weiß ich, daß ich mit
+meiner Vermutung über ihn ganz recht hatte. Sein Leben
+ist fürchterlich. Aber von dir, Dorian, mit deinem reinen,
+leuchtenden, unschuldigen Gesicht und deiner wunderbaren
+unberührten Jugend &mdash; ich kann nicht das Häßliche glauben,
+das man gegen dich vorbringt. Und doch, ich sehe
+dich jetzt so selten, und du kommst gar nicht mehr in mein
+Atelier, und wenn ich nicht mit dir zusammen bin und alle
+die abscheulichen Dinge höre, die sich die Leute über dich
+zuflüstern, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Woher
+kommt es, Dorian, daß ein Mann wie der Herzog von
+Berwick aufsteht und das Klubzimmer verläßt, wenn du
+eintrittst? Warum wollen so viele Männer in London nicht
+zu dir kommen und dich niemals zu sich einladen? Du
+warst doch mit Lord Staveley befreundet. Ich traf ihn
+vorige Woche bei einem Diner. Dein Name tauchte zufällig<a class="pagenum" name="Page_231" title="231"> </a>
+im Gespräch in Verbindung mit den Miniaturen
+auf, die du der Dudley-Ausstellung hergeliehen hast. Staveley
+verzog die Lippen und sagte, es mag ja sein, daß
+du einen äußerst künstlerischen Geschmack habest, aber
+du seist ein Mann, den kein reines Mädchen kennenlernen
+solle und mit dem keine anständige Frau im selben Zimmer
+sein dürfe. Ich gab ihm zu verstehen, daß ich dein Freund
+sei, und fragte ihn, was er damit meine. Er sagte es mir.
+Er sagte es mir vor allen Leuten geradeheraus. Es war
+scheußlich! Warum ist deine Freundschaft für junge Männer
+solch ein Unglück? Da war der unselige Bursch in
+der Leibgarde, der Selbstmord begangen hat. Du warst
+sein bester Freund. Da war Sir Henry Ashton, der England
+mit einem besudelten Namen verlassen mußte. Du
+und er, ihr beide wart unzertrennlich. Wie ist es mit
+Adrian Singleton bestellt und seinem furchtbaren Ende?
+Was war das mit dem einzigen Sohn Lord Kents und
+seiner Karriere? Ich traf seinen Vater gestern in St. James
+Street. Er schien vor Schande und Herzleid gebrochen.
+Was hattest du mit dem jungen Herzog von Perth? Was
+für ein Leben führt er jetzt? Welcher Gentleman wollte
+noch mit ihm Umgang haben?“</p>
+
+<p>„Hör auf, Basil, du sprichst von Dingen, von denen du
+nichts weißt“, sagte Dorian Gray, der sich auf die Lippen
+biß und in seine Stimme einen Ton unsäglicher Verachtung
+legte. „Du fragst mich, warum Berwick aus dem
+Zimmer geht, wenn ich eintrete. Er tut das, weil ich sein
+Leben durch und durch kenne, nicht weil er etwas von mir
+wüßte. Wie könnte er bei dem Blut, das in seinen Adern<a class="pagenum" name="Page_232" title="232"> </a>
+rollt, nicht viel auf dem Kerbholz haben? Du fragst
+mich nach Henry Ashton und dem jungen Perth. Habe
+ich dem einen seine Laster, dem anderen seine Ausschweifungen
+beigebracht? Wenn sich Kents schwachköpfiger Sohn
+sein Weib von der Straße holt, was gehts mich an? Wenn
+Adrian Singleton den Namen seines Freundes auf einen
+Wechsel schreibt, bin ich sein Hüter? Ich weiß, wie die
+Leute in England klatschen. Die Mittelklassen spreizen sich
+bei ihren endlosen Diners mit ihren moralischen Vorurteilen
+und munkeln von etwas, das sie die Ausschweifungen
+derer nennen, denen es besser geht, und um sich damit zu
+brüsten, daß sie in der feinen Gesellschaft verkehren und
+intim mit den Leuten sind, die sie durchhecheln. Bei uns
+zulande genügt es, daß einer Vornehmheit und Geist hat,
+damit sich jede gemeine Zunge an ihm wetzt. Und was
+für eine Art Leben führen denn diese Menschen selber, die
+sich so auf die Moral hinausspielen? Mein lieber Junge,
+du vergißt, daß wir in der Heimat der Heuchelei leben.“</p>
+
+<p>„Dorian,“ rief Hallward, „darum handelt sich's nicht.
+Wie schlecht es um England bestellt ist, weiß ich selbst
+und wie die englische Gesellschaft verrottet ist. Gerade
+deshalb wünsche ich, daß du gut bleibst. Du bist nicht
+gut geblieben. Man hat ein Recht darauf, einen Menschen
+nach der Wirkung zu beurteilen, die er auf seine Freunde
+ausübt. Deine Freunde scheinen alles Gefühl für Ehre,
+für Anstand, für Reinheit zu verlieren. Du hast sie mit
+einer wahnsinnigen Genußsucht erfüllt. Sie sind tief gesunken.
+Ja: und du hast sie da hinabgeführt, und doch
+kannst du lächeln, und du lächelst jetzt noch. Und es gibt<a class="pagenum" name="Page_233" title="233"> </a>
+noch viel Schlimmeres. Ich weiß, du und Harry seid unzertrennlich.
+Schon aus diesem Grunde, wenn aus keinem
+anderen, hättest du den Namen seiner Schwester nicht
+zum Spott machen dürfen!“</p>
+
+<p>„Nimm dich in acht, Basil. Du gehst zu weit.“</p>
+
+<p>„Ich muß sprechen, und du mußt mich hören. Als du
+Lady Gwendolen kennenlerntest, hatte sie noch nicht der
+leiseste Hauch übler Nachrede berührt. Gibt es jetzt eine
+einzige anständige Frau in London, die mit ihr im Park
+spazieren fahren würde? Ja, nicht einmal ihre Kinder
+dürfen bei ihr wohnen. Dann gibt es andere Geschichten
+&mdash; Geschichten, daß man dich gesehen hat, wie du in der
+Dämmerung aus schrecklichen Häusern herausgeschlichen
+bist, daß du dich verkleidet in den niederträchtigsten Kneipen
+Londons herumtreibst. Ist das wahr? Kann das
+wahr sein? Als ich das erstemal so etwas hörte, lachte
+ich. Jetzt höre ich es mit Schaudern. Wie steht es mit
+deinem Landhause und dem Leben, das dort geführt wird?
+Dorian, du weißt nicht, was man über dich spricht. Ich
+will dir das nicht vorhalten, ich will dir keine Predigt
+halten. Ich erinnere mich, daß Harry einmal gesagt hat,
+jeder Mensch, der sich als Moralprediger versuchen will,
+fängt damit an, daß er sagt, er wolle nicht predigen und
+dann sein Wort bricht. Ich will dir also eine Predigt
+halten. Ich möchte dich ein solches Leben führen sehen,
+daß die Welt Achtung vor dir haben soll. Ich will,
+daß du einen reinen Namen und einen guten Ruf hast.
+Ich will, daß du dich von den gräßlichen Menschen losmachst,
+mit denen du jetzt fraternisierst. Zucke nicht mit<a class="pagenum" name="Page_234" title="234"> </a>
+den Achseln. Sei nicht so gleichgültig. Du hast einen mächtigen
+Einfluß. Laß ihn zum Guten und nicht zum Bösen
+wirken. Man sagt, du verderbest jeden Menschen, mit dem
+du intim wirst, und es sei völlig hinreichend, daß du ein
+Haus betrittst, damit dir Schande irgendeiner Art auf
+dem Fuße folge. Ich weiß nicht, ob dem so ist oder nicht.
+Wie sollte ich's auch wissen? Aber man sagte es von dir.
+Man sagte mir Dinge, die ich unmöglich länger anzweifeln
+kann. Lord Gloucester war einer meiner liebsten
+Freunde in Oxford. Er hat mir den Brief gezeigt, den ihm
+seine Frau geschrieben hat, als sie allein in ihrer Villa in
+Mentone auf dem Sterbebette lag. Dein Name war da in
+die fürchterlichste Beichte verwickelt, die ich je gelesen habe.
+Ich sagte ihm, daß es Tollheit wäre, daß ich dich durch
+und durch kennte und daß du zu irgend etwas Derartigem
+unfähig wärest. Kenne ich dich? Ich frage mich, kenne
+ich dich! Bevor ich darauf antworten kann, müßte ich
+deine Seele sehen.“</p>
+
+<p>„Meine Seele sehen“, murmelte Dorian Gray, stand
+vom Sofa auf und wurde beinah weiß vor Angst.</p>
+
+<p>„Ja,“ antwortete Hallward ernst und ein tiefschmerzlicher
+Klang zitterte in seiner Stimme &mdash; „deine Seele
+sehen. Aber das kann nur Gott.“</p>
+
+<p>Ein bitter-höhnisches Gelächter brach aus dem Munde
+des Jüngeren. „Du sollst sie selbst sehen, noch heute nacht!“
+rief er aus und nahm eine Lampe vom Tisch. „Komm:
+sie ist das Werk deiner eigenen Hand. Warum solltest
+du es nicht sehen? Du kannst nachher aller Welt davon
+erzählen, wenn du willst. Niemand würde dir glauben.<a class="pagenum" name="Page_235" title="235"> </a>
+Wenn sie dir glaubten, haben sie mich deswegen nur um
+so lieber. Ich kenne unsere Zeit besser als du, obwohl du
+darüber so langweilig faseln kannst. Komm, sag' ich dir.
+Du hast genug über Verderbnis geschwatzt. Jetzt sollst du
+sie von Angesicht zu Angesicht sehen.“</p>
+
+<p>In jedem Wort, das er sprach, klang der Wahnsinn
+des Hochmuts. Er stampfte in seiner knabenhaften, dreisten
+Art mit dem Fuß auf die Dielen. Er empfand ein furchtbares
+Vergnügen bei dem Gedanken, daß ein anderer jetzt
+sein Geheimnis teilen solle und daß der Mann, der sein
+Bild gemalt hatte, das der Ursprung all seiner Schande
+war, für den Rest seines Lebens die Last der gräßlichen
+Erinnerung an seine Tat mit sich herumschleppen müsse.</p>
+
+<p>„Ja,“ fuhr er fort und trat näher zu ihm heran und
+sah ihm fest in die ernsten Augen, „ich werde dir meine
+Seele zeigen. Du sollst das Machwerk sehen, von dem du
+glaubst, daß es nur Gott sehen kann.“</p>
+
+<p>Hallward schrak zurück. „Das ist Gotteslästerung, Dorian.
+Du darfst nicht solche Dinge sagen. Sie sind schrecklich
+und unverständig.“</p>
+
+<p>„Glaubst du?“ Er lachte wieder.</p>
+
+<p>„Ich weiß es. Was ich dir heute abend gesagt habe,
+hab' ich zu deinem Besten gesagt. Du weißt, ich war dir
+immer ein guter Freund.“</p>
+
+<p>„Werde nur nicht rührselig. Mach' Schluß mit dem,
+was du noch zu sagen hast.“</p>
+
+<p>Ein wehevolles Zucken ging durch das Gesicht des Malers.
+Er schwieg einen Augenblick und ein heftiger Mitleidsschmerz
+überkam ihn. Welches Recht hatte er schließlich,<a class="pagenum" name="Page_236" title="236"> </a>
+in Dorian Grays Leben hineinzuspähen? Wenn er
+nur den zehnten Teil von dem getan hatte, wovon die
+Gerüchte gingen, wie qualvoll mußte er gelitten haben!
+Dann richtete er sich auf, ging zum Kamin hinüber und
+blieb da stehen, versunken in den Anblick der brennenden
+Holzscheite, die mit ihrer weißen Asche wie bereift aussahen
+und stierte ihre zuckenden Feuerherzen an.</p>
+
+<p>„Ich warte, Basil“, sagte der junge Mann mit harter,
+spitzer Stimme.</p>
+
+<p>Er drehte sich um. „Was ich noch zu sagen habe, ist
+das“, rief er. „Du mußt mir eine Antwort geben auf diese
+fürchterlichen Anklagen, die gegen dich erhoben werden.
+Wenn du mir sagst, daß sie von Anfang bis zu Ende
+unwahr sind, werde ich dir glauben. Leugne sie ab, Dorian,
+leugne sie ab! Kannst du nicht sehen, was ich durchmache?
+Mein Gott, sage mir nicht, daß du schlecht und
+verderbt und schändlich bist!“</p>
+
+<p>Dorian Gray lächelte. Seine Lippen krausten sich in
+Verachtung. „Komm hinauf, Basil“, sagte er ruhig. „Ich
+führe da ein Tagebuch meines Lebens, Tag für Tag, und
+es verläßt niemals das Zimmer, in dem es geschrieben
+wird. Ich will es dir zeigen, wenn du mit mir kommst.“</p>
+
+<p>„Ich komme mit, Dorian, wenn du es haben willst.
+Ich sehe, daß ich meinen Zug versäumt habe. Das tut
+nichts. Ich kann morgen fahren. Aber verlange nicht von
+mir, daß ich heute nacht noch etwas lese. Was ich will,
+ist eine klare Antwort auf meine Frage.“</p>
+
+<p>„Die soll dir oben zuteil werden. Ich kann sie dir hier
+nicht geben. Du wirst nicht lange zu lesen haben.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_237" title="237"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Dreizehntes_Kapitel" id="Dreizehntes_Kapitel"></a>Dreizehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Er verließ das Zimmer und begann die Treppe hinaufzugehen,
+Basil Hallward folgte dicht hinter ihm. Sie
+gingen leise, wie man es bei Nacht instinktiv tut. Die
+Lampe warf phantastische Schatten auf Wand und
+Treppe. Im Winde, der sich erhoben hatte, klirrten einige
+Fenster.</p>
+
+<p>Als sie den obersten Absatz erreicht hatten, stellte Dorian
+die Lampe auf den Boden, nahm den Schlüssel heraus
+und schloß auf. „Du bestehst auf einer Antwort, Basil?“
+fragte er mit gedämpfter Stimme.</p>
+
+<p>„Ja.“</p>
+
+<p>„Das freut mich“, antwortete er lächelnd. Dann fügte
+er ziemlich scharf hinzu: „Du bist der einzige Mensch in
+der Welt, der alles über mich wissen darf. Du hast mehr
+mit meinem Leben zu schaffen gehabt, als du dir denkst“,
+und damit nahm er die Lampe auf, öffnete die Tür und
+trat ein. Ein kalter Luftzug strich an ihnen vorbei, und
+das Licht zuckte einen Augenblick in einer düstern Orangefarbe
+auf. Er schauderte. „Schließe die Tür hinter dir“,
+flüsterte er, während er die Lampe auf den Tisch stellte.</p>
+
+<p>Hallward blickte erstaunt umher. Das Zimmer sah aus,
+als wär' es seit langen Jahren nicht bewohnt worden. Ein
+fadenscheiniger flämischer Gobelin, ein verhängtes Bild, ein
+alter italienischer Cassone und ein fast leerer Bücherschrank
+&mdash; das war außer einem Stuhl und einem Tisch alles,
+was darin zu sein schien. Als Dorian Gray eine halb<a class="pagenum" name="Page_238" title="238"> </a>
+abgebrannte Kerze, die auf dem Kamin stand, angezündet
+hatte, sah der Maler, daß der ganze Raum mit Staub
+bedeckt und der Teppich zerfetzt und durchlöchert war.
+Eine Maus lief erschreckt hinter die Täfelung. Ein dumpfer
+Modergeruch machte sich bemerkbar. &mdash;</p>
+
+<p>„Du glaubst also, daß Gott allein die Seele sieht, Basil?
+Zieh den Vorhang zurück, und du wirst die meine
+sehen.“</p>
+
+<p>Die Stimme, die das sprach, klang kalt und grausam.</p>
+
+<p>„Du bist wahnsinnig, Dorian, oder spielst Komödie“,
+sagte Hallward und runzelte die Stirn.</p>
+
+<p>„Du willst nicht? Dann muß ich es selbst tun“, sagte
+der junge Mann, und riß den Vorhang von seiner Stange
+und schleuderte ihn zu Boden.</p>
+
+<p>Ein Entsetzensschrei kam von den Lippen des Malers,
+als er in der düsteren Beleuchtung das gräßliche Gesicht
+auf der Leinwand erblickte, das ihm entgegengrinste. In
+seinem Ausdruck war etwas, das ihn mit Ekel und Abscheu
+erfüllte. Gott im Himmel! Es war Dorian Grays
+eigenes Antlitz, das er sah! Das Schreckliche, was es
+auch sein mochte, hatte die wundervolle Schönheit noch
+nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold in dem gelichteten
+Haar und etwas Purpur auf dem sinnlichen Mund.
+Die stumpfgewordenen Augen hatten noch etwas von
+ihrem lieblichen Blau behalten, der edle Schwung der
+Linien um die feingewölbten Nasenflügel und den plastischen
+Hals war noch nicht ganz verschwunden. Ja, es war
+Dorian selbst. Aber wer hatte das gemalt? Er glaubte,
+das Werk seines eigenen Pinsels zu erkennen, und der<a class="pagenum" name="Page_239" title="239"> </a>
+Rahmen war von ihm selbst gezeichnet. Die Vorstellung
+war ungeheuerlich, und doch fürchtete er sich. Er nahm die
+brennende Kerze und hielt sie nahe an das Bild. In der
+linken Ecke stand ein Name in langen, hellroten Lettern.</p>
+
+<p>Es war irgendeine infame Parodie, eine niederträchtige,
+elende Satire. Er hatte das niemals gemalt. Und doch, es
+war sein eigenes Bild. Er wußte es und ihm war, als ob
+sich sein Blut in einem Augenblick aus Feuer in starrendes
+Eis verwandelt hätte. Sein eigenes Bild! Was sollte das
+heißen? Warum hatte es sich verändert? Er drehte sich um
+und sah Dorian Gray mit krankhaften Augen an. Sein
+Mund zuckte, seine trockne Zunge schien jedes Lautes ganz
+unfähig zu sein. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
+Kühle Schweißperlen standen darauf.</p>
+
+<p>Der junge Mann lehnte gegen den Kamin und beobachtete
+ihn mit dem merkwürdigen Ausdruck, den man auf
+den Gesichtern von Menschen sieht, die von dem Spiel
+eines großen Schauspielers hingerissen sind. In seinem Gesicht
+war weder wirklicher Schmerz noch wirkliche Freude.
+Da war nur die Leidenschaft des Zuschauers und höchstens
+in den Augen flackerte ein triumphierendes Leuchten. Er
+hatte die Blume aus seinem Knopfloch genommen und
+roch daran oder tat mindestens so.</p>
+
+<p>„Was bedeutet das?“ rief Hallward endlich. Seine
+eigene Stimme klang ihm schrill und fremd in die Ohren.</p>
+
+<p>„Vor vielen Jahren, als ich noch ein Knabe war,“ sagte
+Dorian Gray, während er die Blume in seiner Hand zerdrückte,
+„hast du mich kennengelernt, hast mir geschmeichelt
+und mich gelehrt, auf meine Schönheit eitel zu sein. Eines<a class="pagenum" name="Page_240" title="240"> </a>
+Tages stelltest du mich einem deiner Freunde vor, der mir
+das Wunder der Jugend erklärte, und damals beendetest
+du ein Porträt von mir, das mir das Wunder der Schönheit
+offenbarte. In einem Augenblick des Wahnsinns, und
+ich weiß noch jetzt nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht,
+sprach ich einen Wunsch aus, vielleicht würdest du es ein
+Gebet nennen.“</p>
+
+<p>„Ich erinnere mich! Oh, wie gut erinnere ich mich!
+Nein! so etwas ist unmöglich. Das Zimmer ist feucht.
+Die Leinwand ist stockig geworden. In den Farben, die ich
+verwandte, war irgendein mineralisches Gift enthalten.
+Ich sage dir, so etwas ist unmöglich.“</p>
+
+<p>„Pah, was ist unmöglich?“ murmelte der junge Mann,
+ging zum Fenster und preßte seine Stirn an die kalte,
+nebelfeuchte Scheibe.</p>
+
+<p>„Du sagtest mir, du hättest es zerstört.“</p>
+
+<p>„Ich habe mich geirrt. Es hat mich zerstört.“</p>
+
+<p>„Ich kann's nicht glauben, daß es mein Bild ist.“</p>
+
+<p>„Kannst du dein Ideal nicht darin erkennen?“ fragte
+Dorian bitter.</p>
+
+<p>„Mein Ideal, wie du es nennst...“</p>
+
+<p>„Wie du es nanntest.“</p>
+
+<p>„Es hatte nichts Schlimmes in sich, nichts Schändliches.
+Du warst für mich ein Ideal, wie ich ihm nie wieder begegnen
+werde. Dies ist das Gesicht eines Fauns.“</p>
+
+<p>„Es ist das Gesicht meiner Seele.“</p>
+
+<p>„Jesus, mein! Was für ein Ding habe ich angebetet!
+Es hat die Augen eines Teufels.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_241" title="241"> </a></p>
+
+<p>„Jeder von uns hat Himmel und Hölle in sich, Basil“,
+rief Dorian mit einer wilden, verzweifelten Gebärde.</p>
+
+<p>Hallward wandte sich wieder dem Bilde zu und starrte
+es an. „Mein Gott! Es ist wahr,“ rief er aus, „und das
+hast du aus deinem Leben gemacht und danach also mußt
+du noch schlechter sein, als die es ahnen, die gegen dich
+sprechen.“ Er hielt das Licht wieder dicht an die Leinwand
+und musterte sie scharf. Die Oberfläche schien ganz unzerstört
+und so, wie sie aus seiner Hand gekommen war.
+Von innen also war die Fäulnis und das Entsetzliche hervorgedrungen.
+Durch einen sonderbaren inneren Zeugungsvorgang
+fraß der Aussatz der Sünde langsam das ganze
+Bildnis hinweg. Die Verwesung eines Leichnams in einem
+feuchten Grabe konnte nicht so grauenvoll sein.</p>
+
+<p>Seine Hand zitterte und die Kerze fiel aus dem Leuchter
+auf den Boden und lag rauchend da. Er trat mit dem
+Fuß darauf und erstickte sie. Dann warf er sich selbst in
+den wackligen Stuhl vor dem Tische und vergrub das Gesicht
+in seinen Händen.</p>
+
+<p>„Großer Gott, Dorian, was für eine Lehre! Was für
+eine furchtbare Lehre!“ Es kam keine Antwort, aber er
+konnte den jungen Mann am Fenster schluchzen hören.
+„Bete, Dorian, bete“, sagte er leise. „Was war es doch,
+was man uns in der Kindheit hersagen gelehrt hat? ‚Führe
+uns nicht in Versuchung! Vergib uns unsere Sünden!
+Nimm unsere Missetat von uns!‛ Wir wollen das zusammen
+aufsagen. Das Gebet deines Stolzes ist erhört
+werden. Das Gebet deiner Reue wird auch erhört werden.
+Ich habe dich zu sehr geliebt. Ich bin dafür bestraft worden.<a class="pagenum" name="Page_242" title="242"> </a>
+Du hast dich selbst zu sehr geliebt. Wir haben beide
+unsere Strafe.“</p>
+
+<p>Dorian Gray wandte sich langsam um und sah ihn mit
+tränenschimmernden Augen an. „Es ist zu spät, Basil“,
+flüsterte er.</p>
+
+<p>„Es ist nie zu spät, Dorian. Wir wollen niederknien und
+versuchen, ob wir uns nicht an ein Gebet erinnern können.
+Steht nicht irgendwo ein Vers: ‚Und wären deine Sünden
+wie Scharlach, ich will sie weiß machen wie Schnee?‛“</p>
+
+<p>„Solche Worte haben für mich keinen Sinn mehr.“</p>
+
+<p>„Still! Sage nicht so etwas. Du hast genug Böses getan
+im Leben. Mein Gott! Siehst du nicht, wie uns das fürchterliche
+Ding anstiert?“</p>
+
+<p>Dorian Gray blickte nach dem Bild, und plötzlich überkam
+ihn ein unbezwingliches Haßgefühl auf Basil Hallward,
+als sei er ihm von dem Bildnis auf der Leinwand
+eingeflößt, von diesen grinsenden Lippen in sein Ohr gewispert
+worden. Die wilde Zornwut eines gehetzten Tieres
+kochte in ihm, und er haßte den Mann, der da an dem
+Tisch saß, mehr als er in seinem ganzen Leben irgend
+etwas gehaßt hatte. Er spähte wild um sich. Auf der
+Platte der bemalten Truhe, die ihm gegenüberstand, glitzerte
+etwas. Sein Blick fiel darauf. Er erkannte, was es
+war. Ein Messer war's, das er vor einigen Tagen mit
+hinaufgenommen hatte, um ein Stück Schnur zu durchschneiden,
+und das er wieder mit herunterzunehmen vergessen
+hatte. Er ging langsam darauf zu und mußte dabei
+an Hallward vorüber. Sobald er hinter ihm stand, ergriff
+er das Messer und drehte sich um. Hallward rührte sich<a class="pagenum" name="Page_243" title="243"> </a>
+in seinem Stuhl, als wollte er soeben aufstehen. Er stürzte
+sich auf ihn und bohrte ihm das Messer tief in die Schlagader
+hinter dem Ohr, preßte den Kopf des Mannes auf
+den Tisch herunter und stieß immer und immer wieder zu.</p>
+
+<p>Man hörte ein unterdrücktes Röcheln und den fürchterlichen
+Ton eines Menschen, der in seinem Blut erstickt.
+Dreimal schlugen die krampfhaft ausgestreckten Arme um
+sich, und die Hände fuhren mit eigentümlich steifen Fingern
+durch die Luft. Er stieß noch zweimal zu, aber der Mann
+rührte sich nicht mehr. Etwas begann auf den Boden zu
+tröpfeln. Er wartete einen Augenblick und drückte den Kopf
+immer noch nach unten. Dann warf er das Messer auf den
+Tisch und horchte.</p>
+
+<p>Er konnte nichts hören, als das Tropf-Tropf auf den
+fadenscheinigen Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis
+an den Treppenabsatz. Das Haus war vollständig ruhig.
+Niemand war wach. Über das Geländer gebeugt, stand er
+ein paar Augenblicke da und forschte hinab in den schwarzen
+brodelnden Schacht von Dunkelheit. Dann zog er den
+Schlüssel ab, ging in das Zimmer zurück und schloß sich
+darin ein.</p>
+
+<p>Das Wesen saß noch immer in dem Stuhl und hing mit
+gebeugtem Kopf und gekrümmtem Rücken und langen phantastischen
+Armen über den Tisch. Wäre nicht der rote,
+klaffende Riß im Nacken gewesen und die dunkle, geronnene
+Lache, die sich nach und nach auf dem Tisch vergrößerte,
+so hätte man glauben können, der Mann schlafe nur.</p>
+
+<p>Wie schnell das alles geschehen war! Er fühlte sich
+merkwürdig ruhig, ging zur Balkontür, öffnete sie und<a class="pagenum" name="Page_244" title="244"> </a>
+trat hinaus. Der Wind hatte die Nebeltücher auseinandergeblasen,
+und der Himmel sah aus wie der Schweif eines
+ungeheuren Pfaus, der mit Myriaden goldener Augen
+bestirnt war. Er blickte hinab und sah, wie der Polizist
+seine Runde machte und das lange Streiflicht seiner Laterne
+über die Türen der schweigsamen Häuser gleiten ließ.
+Das rotgelbe Licht einer vorbeitrödelnden Droschke glomm
+an der Straßenecke auf und verschwand wieder. Ein Weib
+in einem flatternden Kopftuch schob sich langsam am Gitter
+des Platzes vorbei und taumelte im Gehen. Dann und
+wann stand sie still und sah zurück. Auf einmal begann sie
+mit heiserer Stimme zu singen. Der Schutzmann schlenderte
+über den Damm her und sagte etwas zu ihr. Sie humpelte
+lachend weiter. Ein scharfer Luftzug fegte über den Platz.
+Die Gasflammen zuckten und wurden blau, und die entlaubten
+Bäume schüttelten ihr schwarzes Geäste hin und
+her, das wie ein Eisengeflecht aussah. Ihn fröstelte und
+er trat, das Fenster schließend, wieder zurück.</p>
+
+<p>Als er bei der Türe war, drehte er den Schlüssel und
+öffnete sie. Er blickte den Ermordeten mit keinem Blicke
+mehr an. Er empfand, daß das Geheimnis der ganzen
+Sache darin beruhe, sich die Sachlage nicht zu vergegenwärtigen.
+Der Freund, der das verhängnisvolle Bild gemalt
+hatte, von dem all sein Elend herrührte, war aus
+seinem Leben verschwunden. Das war genug.</p>
+
+<p>Dann fiel ihm die Lampe ein. Es war eine ziemlich
+merkwürdige maurische Arbeit, mattes Silber mit eingelegten
+Arabesken aus dunkelpoliertem Stahl und besetzt
+mit ungeschliffenen Türkisen. Sie mochte vielleicht von<a class="pagenum" name="Page_245" title="245"> </a>
+seinem Diener vermißt werden und er könnte danach fragen.
+Er zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück und
+nahm sie vom Tisch. Dabei mußte er die tote Gestalt
+sehen. Wie ruhig sie war! Wie furchtbar weiß die langen
+Hände aussahen! Es schien eine gräßliche Wachsfigur zu
+sein.</p>
+
+<p>Er schloß die Türe hinter sich und schlich langsam die
+Treppe hinunter. Das Holz knarrte und schien wie vor
+Schmerz aufzustöhnen. Er blieb einige Male stehen und
+wartete. Nein, alles war still. Er hörte nur den Widerhall
+seiner eigenen Schritte.</p>
+
+<p>Als er in seinem Bibliothekszimmer war, erblickte er die
+Tasche und den Rock in der Ecke. Die mußten irgendwo
+verborgen werden. Er öffnete einen Geheimschrank, der in
+der Holztäfelung war, in dem er seine eigenen Verkleidungen
+aufbewahrte, und schob die Sachen hinein. Er
+konnte sie später leicht einmal verbrennen. Dann zog er
+seine Uhr. Es war zwanzig Minuten vor zwei.</p>
+
+<p>Er setzte sich und begann nachzudenken. Jahr für Jahr
+&mdash; fast jeden Monat &mdash; werden in England Leute gehenkt
+für so etwas, wie er soeben getan hatte. Irgendeine wahnwitzige
+Mordlust hatte in der Luft gelegen. Irgendein
+blutroter Stern war der Erde zu nahe gekommen... Und
+doch, wie wollte man es ihm beweisen? Basil Hallward
+hatte das Haus um elf Uhr verlassen. Niemand hatte ihn
+noch einmal wiederkommen sehen. Die meisten Diener
+waren in Selby Royal. Sein eigener Diener war schlafen
+gegangen... Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren,
+und zwar mit dem Mitternachtszug, wie es seine Absicht<a class="pagenum" name="Page_246" title="246"> </a>
+gewesen war. Bei seinen merkwürdigen Gewohnheiten, sich
+zurückzuziehen, würden Monate vergehen, bevor irgendein
+Verdacht entstehen würde. Monate! Alle Spuren konnten
+lange vorher getilgt sein.</p>
+
+<p>Ein plötzlicher Einfall durchzuckte ihn. Er zog seinen
+Pelz an, setzte seinen Hut auf und ging in die Vorhalle
+hinaus. Dort blieb er stehen, weil er den langsamen,
+schweren Tritt des Schutzmanns draußen auf dem Pflaster
+hörte und den tanzenden Widerschein seiner Blendlaterne
+im Türfenster sah. Er wartete und hielt den
+Atem an.</p>
+
+<p>Nach einigen Augenblicken schob er den Riegel zurück
+und schlüpfte hinaus, das Tor ganz leise hinter sich schließend.
+Dann zog er die Klingel. Nach etwa fünf Minuten
+erschien sein Diener, halb angezogen und sehr verschlafen.</p>
+
+<p>„Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis“,
+sagte er eintretend und ging die Stufen hinauf; „aber ich
+habe meinen Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?“</p>
+
+<p>„Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr“, sagte der
+Mann mit einem blinzelnden Blick auf die Uhr.</p>
+
+<p>„Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie
+müssen mich morgen um neun Uhr wecken. Ich habe zu
+tun.“</p>
+
+<p>„Zu Befehl, gnädiger Herr.“</p>
+
+<p>„War jemand heute abend hier?“</p>
+
+<p>„Herr Hallward, gnädiger Herr. Er hat hier bis elf
+Uhr gewartet und ging dann, um seinen Zug nicht zu versäumen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_247" title="247"> </a></p>
+
+<p>„Es tut mir leid, daß ich ihn nicht getroffen habe.
+Sollen Sie mir etwas bestellen?“</p>
+
+<p>„Nein, gnädiger Herr, nur, daß er von Paris schreiben
+würde, wenn er Sie im Klub nicht treffen sollte.“</p>
+
+<p>„Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen
+um neun zu wecken.“</p>
+
+<p>„Nein, gnädiger Herr!“</p>
+
+<p>Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln durch den Torweg
+die Dienertreppe hinab.</p>
+
+<p>Dorian Gray warf Hut und Stock auf den Tisch und
+trat ins Bücherzimmer. Eine Viertelstunde lang ging er
+auf und ab, biß sich auf die Lippen und grübelte. Dann
+nahm er das blaue Adreßbuch von einem Regal und begann
+zu blättern. „Alan Campbell, Hertford Street 152,
+Mayfair.“ Ja, das war der Mann, den er brauchte.</p>
+
+<h2><a name="Vierzehntes_Kapitel" id="Vierzehntes_Kapitel"></a>Vierzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener
+mit einer Tasse Schokolade auf einem Servierbrett herein
+und öffnete die Fensterläden. Dorian lag auf der rechten
+Seite, eine Hand unter seiner Wange und schlief ganz
+friedlich. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder
+Lernen müde geworden ist.</p>
+
+<p>Der Mann mußte ihn zweimal an der Schulter berühren,
+bevor er aufwachte, und als er die Augen öffnete,
+huschte ein leichtes Lächeln über seine Lippen, als wäre
+er von einem entzückenden Traum befangen gewesen. Aber<a class="pagenum" name="Page_248" title="248"> </a>
+er hatte gar nicht geträumt. Seine Nacht war weder
+von Bildern der Freude noch des Grauens gestört worden.
+Doch die Jugend lächelt ohne Grund. Das ist einer ihrer
+besonderen Reize.</p>
+
+<p>Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann
+seine Schokolade zu schlürfen. Die matte Novembersonne
+strömte in das Zimmer. Der Himmel war wolkenlos,
+eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war fast wie ein
+Maimorgen.</p>
+
+<p>Allmählich schlichen die Vorgänge der vergangenen
+Nacht auf lautlosen, blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn
+und bauten sich dort mit furchtbarer Deutlichkeit wieder
+auf. Er erschauerte bei dem Gedächtnis an alles, was er
+durchlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte in ihm
+derselbe sonderbare Haß auf Basil Hallward zurück, der
+ihn dazu getrieben hatte, ihn zu töten, als er im Stuhl
+saß, er wurde kalt vor Wut. Der Tote saß noch immer da
+oben und jetzt dazu im Sonnenlicht. Wie schrecklich das
+war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit,
+nicht an den Tag.</p>
+
+<p>Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig würde, wenn
+er über das brütete, was er hinter sich hatte. Es gibt
+Sünden, deren Reiz mehr in der Erinnerung liegt als in
+der Begehung, seltsame Siege, die mehr dem Stolz Genüge
+tun als der Leidenschaft und die dem Geist ein
+Lustgefühl geben, das stärker ist als jede Wonne, die sie
+Sinnen verschaffen oder jemals verschaffen können. Aber
+diesmal war es keine von diesen. Dies war eine, die man
+aus dem Geiste verjagen, die man mit einem Opiat vergiften,<a class="pagenum" name="Page_249" title="249"> </a>
+die man ersticken mußte, da sie einen sonst selbst
+ersticken würde.</p>
+
+<p>Als es halb schlug, fuhr er sich mit der Hand über die
+Stirn, stand dann rasch auf und zog sich beinahe mit noch
+größerer Sorgfalt an, als gewöhnlich, indem er die größte
+Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner Krawatte und seiner
+Nadel verwandte und seine Ringe mehr als einmal wechselte.
+Er verbrachte auch beim Frühstück längere Zeit,
+kostete von den verschiedenen Gerichten, sprach mit seinem
+Bedienten über neue Livreen, die er der Dienerschaft in
+Selby machen lassen wollte, und sah seine Briefschaften
+durch. Bei einigen Zuschriften lächelte er. Drei ödeten
+ihn an. Einen Brief las er mehrmals durch und zerriß ihn
+dann mit einem leichten Ärger in seinen Mienen. „Was für
+ein gräßliches Ding das Gedächtnis einer Frau ist“,
+hatte Lord Henry einmal gesagt.</p>
+
+<p>Als er seine Schale schwarzen Kaffee getrunken hatte,
+trocknete er die Lippen langsam an seiner Serviette ab,
+gab dem Diener ein Zeichen zu warten, ging zum Schreibtisch
+hinüber, setzte sich und schrieb zwei Briefe. Einen
+steckte er in die Tasche, den anderen reichte er dem
+Diener.</p>
+
+<p>„Bringen Sie den nach Hertford Street 152, Francis,
+und wenn Herr Campbell nicht in der Stadt ist, lassen Sie
+sich seine Adresse geben.“</p>
+
+<p>Sobald er allein war, zündete er sich eine Zigarette an
+und begann auf einem Blatt Papier Skizzen zu machen,
+zeichnete zuerst Blumen, dann Architekturstücke und dann
+menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er, daß jedes Gesicht,<a class="pagenum" name="Page_250" title="250"> </a>
+das er entwarf, eine phantastische Ähnlichkeit mit Basil
+Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf,
+ging zum Bücherschrank und nahm auf gut Glück einen
+Band heraus. Er war fest entschlossen, an das Geschehene
+nicht eher zu denken, als bis es unbedingt notwendig
+war.</p>
+
+<p>Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf
+den Titel des Buches. Es waren Gautiers „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Emaux et
+Camées</span>“, Charpentiers Ausgabe auf japanischem Papier,
+mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus
+zitronengelbem Leder mit einem Blinddruckmuster von
+goldenem Laubwerk und Granatäpfeln in Punktmanier.
+Es war ein Geschenk Adrian Singletons. Als er darin
+blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand
+Lacenaires, die kalte gelbe Hand „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">du supplice encore
+mal lavée</span>“, mit ihren rötlichen Flaumhärchen und ihren
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">doigts de faune</span>“. Er blickte auf seine eigenen weißen,
+spitzen Finger, schauderte unwillkürlich zusammen, las
+dann weiter, bis er zu den lieblichen Versen auf Venedig
+kam.</p>
+
+<p class="poem"><span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">
+Sur une gamme chromatique,</span><br />
+<span style="margin-left: 1em;">Le sein de perles ruisselant,</span><br />
+La Vénus de l'Adriatique<br />
+<span style="margin-left: 1em;">Sort de l'eau son corps rose et blanc.</span></p>
+
+<p class="poem" style="margin-top: 0;"><span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">
+Les dômes, sur l'azur des ondes<br />
+<span style="margin-left: 1em;">Suivant la phrase au pur contur,</span><br />
+S'enflent comme des gorges rondes<br />
+<span style="margin-left: 1em;">Que soulève un soupir d'amour.</span></span><a class="pagenum" name="Page_251" title="251"> </a></p>
+
+
+<p class="poem" style="margin-top: 0;"><span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">
+L'esquif aborde et me dépose,<br />
+<span style="margin-left: 1em;">Jetant son amarre au pilier,</span><br />
+Devant une façade rose,<br />
+<span style="margin-left: 1em;">Sur le marbre d'un escalier.</span></span><br />
+</p>
+
+<p>Wie entzückend die Verse waren! Wenn man sie las,
+hatte man die Empfindung, durch die grünen Wasserstraßen
+dieser rot- und perlfarbigen Stadt zu gleiten, in
+einer schwarzen Gondel mit silbernem Schnabel und schleppenden
+Vorhängen. Schon die Zeilen sahen so aus wie die
+geraden, türkisblauen Kiellinien, die einem folgten, wenn
+man nach dem Lido hinausrudert. Die plötzlichen Farbenblitze
+erinnerten ihn an den Schimmer jener Vögel mit
+opal- und regenbogenfarbenen Hälsen, die um den schlanken,
+wabenartig durchlöcherten Kampanile flattern oder
+mit prächtiger Anmut durch die düstern, staubigen Arkaden
+trippeln. Zurückgelehnt mit halb geschlossenen Augen
+sagte er immer und immer wieder zu sich: &mdash;</p>
+
+<p class="poem">
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Devant une façade rose,<br />
+<span style="margin-left: 1em;">Sur le marbre d'un escalier.</span></span>
+</p>
+
+<p class="postpoem">Das ganze Venedig war in diesen zwei Versen enthalten.
+Er dachte an den Herbst, den er dort verbracht hatte, und
+eine himmlische Liebelei, die ihn zu wahnsinnigen, entzückenden
+Torheiten getrieben hatte. Es gab Romantik in
+jedem Erdenwinkel. Aber Venedig hatte noch wie Oxford
+den Hintergrund für Romantik bewahrt, und für den wahren
+Romantiker ist der Hintergrund alles oder fast alles.
+Basil war einen Teil der Zeit bei ihm gewesen und war<a class="pagenum" name="Page_252" title="252"> </a>
+ganz wild vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme
+Basil! Was für eine schreckliche Art, so zu sterben!</p>
+
+<p>Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen.
+Er las von den Schwalben, die aus- und einfliegen
+in dem kleinen Café zu Smyrna, wo die Hadjis sitzen und
+ihre Bernsteinperlen durch die Hand laufen lassen, und wo
+die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten
+Pfeifen rauchen und ernsthaft miteinander sprechen: er las
+von dem Obelisk auf der Place de la Concorde, der in
+seiner vereinsamten, sonnenlosen Verbannung granitene
+Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen, lotosbedeckten
+Nil, wo die Sphinxe sind, und rosenrote Ibisse
+und weiße Geier mit goldenen Klauen und Krokodile mit
+kleinen Beryllaugen, die durch den grünen, dampfenden
+Schlamm dahinkriechen: er fing an, den Versen nachzusinnen,
+die ihre Musik aus Marmor locken, der von Küssen
+fleckig geworden ist, und die uns von der sonderbaren
+Statue erzählen, die Gautier einer Altstimme vergleicht, von
+dem „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">monstre charmant</span>“, das in dem Porphyrsaal des
+Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel seinen Händen
+das Buch. Er wurde nervös, und ein gräßlicher Angstanfall
+schüttelte ihn. Was nun tun, wenn Alan Campbell nicht
+in England war? Tage könnten möglicherweise verstreichen,
+bevor er zurückkäme. Vielleicht weigerte er sich, zu kommen.
+Was sollte er dann tun? Jeder Augenblick war von tödlicher
+Bedeutung.</p>
+
+<p>Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf
+Jahren &mdash; sogar fast unzertrennlich. Dann hatte die
+Intimität plötzlich ein Ende. Wenn sie sich jetzt in Gesellschaft<a class="pagenum" name="Page_253" title="253"> </a>
+trafen, war es nur noch Dorian Gray, der da
+lächelte, niemals Alan Campbell.</p>
+
+<p>Er war ein außerordentlich begabter junger Mann,
+wenn er auch kein eigentliches Verhältnis zu den sichtbaren
+Künsten hatte, und der geringe Sinn für Poesie, den er
+besaß, vollständig von Dorian herrührte. Die geistige
+Leidenschaft, die ihn beherrschte, erstreckte sich nur auf die
+Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil
+seiner Zeit mit Arbeiten im Laboratorium verbracht und
+hatte sein Examen in den Naturwissenschaften mit vorzüglich
+bestanden. Noch jetzt war er dem Studium der Chemie
+ergeben und hatte ein eigenes Laboratorium, in das er
+sich häufig den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum
+großen Kummer seiner Mutter, die sich darauf verbissen
+hatte, daß er für das Parlament kandidieren sollte, und die
+eine unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker sei ein Mensch,
+der Rezepte anfertige. Indessen war er ein ausgezeichneter
+Musiker und spielte Geige und Klavier besser als die
+meisten Dilettanten. Die Musik war es denn auch wirklich,
+die Dorian Gray und ihn zueinander gebracht hatte &mdash; die
+Musik und die unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian
+ausüben konnte, wenn er wollte, und auch oft ausübte,
+ohne es zu wissen. Sie hatten sich bei Lady Berkshire an
+dem Abend kennengelernt, als Rubinstein dort spielte, und
+man sah sie von da an immer zusammen in der Oper und
+überall, wo es gute Musik gab. Achtzehn Monate dauerte
+diese Freundschaft. Campbell war regelmäßig entweder
+in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie
+für viele andere war Dorian Gray die Verkörperung<a class="pagenum" name="Page_254" title="254"> </a>
+alles dessen, was wunderbar und bezaubernd im Leben
+ist. Ob zwischen ihnen ein Streit vorgefallen war oder
+nicht, wußte kein Mensch. Aber plötzlich bemerkten die
+Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich
+trafen, und daß Campbell jede Gesellschaft frühzeitig
+verließ, in der Dorian anwesend war. Er war auch verändert
+&mdash; bisweilen merkwürdig melancholisch, schien kaum
+noch Musik hören zu können, spielte nie mehr selbst und
+gab, wenn man ihn dazu aufforderte, als Entschuldigung
+an, daß ihn die Wissenschaft so stark in Anspruch nähme,
+daß er keine Zeit mehr zum Üben habe. Und das war auch
+der Fall. Er schien jeden Tag mehr Interesse für biologische
+Studien zu gewinnen, und sein Name erschien ein- oder
+zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung
+mit gewissen außergewöhnlichen Experimenten.</p>
+
+<p>Das war der Mann, auf den Dorian Gray wartete.
+Jede Sekunde blickte er auf die Uhr. Als Minute um
+Minute verstrich, wurde er furchtbar aufgeregt. Schließlich
+stand er auf und begann im Zimmer hin und her
+zu gehen wie irgendeine schöne Bestie im Käfig. Er holte
+weiten Schrittes, fast sprunghaft, aus und trat leise auf.
+Seine Hände waren eigentümlich kalt.</p>
+
+<p>Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien ihm
+mit bleiernen Füßen zu schleichen, während er von ungeheuren
+Wirbelwinden zum zackigen Grat einer schwarzen
+Kluft oder eines Abgrundes hingefegt wurde. Er wußte,
+was dort seiner harrte; er sah es und preßte schaudernd
+mit feuchten Händen seine brennenden Lider zusammen,
+als wolle er sein Gehirn der Sehkraft berauben und die<a class="pagenum" name="Page_255" title="255"> </a>
+Augäpfel in ihre Höhlen zurückdrängen. Es war umsonst.
+Das Gehirn hatte seine eigene Nahrung, mit der es sich
+mästete, und die durch den Schrecken grotesk gemachte Einbildungskraft
+krümmte sich vor Schmerz wie ein lebendes
+Wesen, tanzte wie eine widerwärtige Marionette in einer
+Schaubude und grinste durch bewegliche Masken hindurch.
+Dann blieb auf einmal die Zeit für ihn stehen. Ja, dieses
+blinde, langsamatmende Wesen kroch nicht mehr, und da
+sie tot war, stürzten sich gräßliche Gedanken mit Blitzesschnelle
+über ihn hin und zerrten eine scheußliche Zukunft
+aus ihrem Grabe und zeigten sie ihm. Er starrte darauf hin.
+Ihre Entsetzlichkeit versteinerte ihn.</p>
+
+<p>Endlich öffnete sich die Tür, und sein Bedienter trat ein.
+Er wandte ihm seine gläsernen Augen zu.</p>
+
+<p>„Herr Campbell, gnädiger Herr“, sagte der Mann.</p>
+
+<p>Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen
+Lippen und die Farbe kehrte in seine Wangen zurück.</p>
+
+<p>„Bitten Sie ihn sofort herein, Francis.“ Er fühlte,
+daß er wieder er selbst war. Der Anfall von Feigheit war
+überwunden.</p>
+
+<p>Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen
+Augenblicken trat Alan Campbell ein, mit sehr strengem
+Gesicht und etwas bleich, und seine blasse Farbe wurde
+durch das kohlschwarze Haar und die dunkeln Brauen noch
+verstärkt.</p>
+
+<p>„Alan! das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß
+du gekommen bist.“</p>
+
+<p>„Ich hatte die Absicht, dein Haus nie wieder zu betreten,
+Gray. Aber du schriebst, es handle sich um Leben und<a class="pagenum" name="Page_256" title="256"> </a>
+Tod.“ Seine Stimme war hart und kalt. Er sprach langsam
+und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in dem
+festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er
+behielt die Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes
+und schien die Bewegung, mit der ihm die Hand entgegengestreckt
+worden war, nicht zu bemerken.</p>
+
+<p>„Ja, es handelt sich um Leben und Tod, und für mehr
+als einen Menschen, Alan. Setze dich.“</p>
+
+<p>Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian
+setzte sich ihm gegenüber. Die Augen der beiden Männer
+trafen sich. In denen Dorians lag unendliches Mitleid.
+Er wußte, was er jetzt tun werde, war schrecklich.</p>
+
+<p>Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens beugte er
+sich nach vorn und sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes
+Wortes auf dem Gesicht des Mannes ablesend, den er
+hatte holen lassen: „Alan, in einem verschlossenen Dachzimmer
+dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger
+Mensch außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann
+an einem Tisch. Er ist jetzt seit zehn Stunden tot. Bleib'
+ruhig sitzen und sieh mich nicht so an. Wer der Mann ist,
+warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die dich nicht
+kümmern. Was du zu tun hast, ist &mdash;“</p>
+
+<p>„Halt, Gray! Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was
+du mir gesagt hast, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an.
+Ich lehne es entschieden ab, in dein Leben verwickelt zu
+werden. Behalte deine fürchterlichen Geheimnisse für dich!
+Sie interessieren mich nicht mehr.“</p>
+
+<p>„Alan, du wirst dafür Interesse haben müssen. Dies
+eine Geheimnis wird dich interessieren müssen. Es tut mir<a class="pagenum" name="Page_257" title="257"> </a>
+furchtbar leid um dich, Alan. Aber ich kann dir nicht
+helfen. Du bist der einzige Mensch, der mich zu retten vermag.
+Ich bin gezwungen, dich in die Sache hineinzuziehen.
+Ich habe keine Wahl. Alan, du bist ein Mann der Naturwissenschaft.
+Du verstehst dich auf Chemie und diese Dinge.
+Du hast Experimente gemacht. Was du zu tun hast, ist,
+das Wesen da oben zu vernichten, so zu vernichten, daß
+auch nicht eine Spur davon übrigbleibt. Niemand hat
+diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet
+ihn im Augenblick in Paris. Monatelang wird er
+nicht vermißt werden. Wenn er vermißt wird, darf hier
+keine Spur von ihm gefunden werden. Alan, du mußt ihn,
+ihn und alles, was zu ihm gehört, in eine Handvoll Asche
+verwandeln, die ich in die Luft streuen kann.“</p>
+
+<p>„Du bist wahnsinnig, Dorian.“</p>
+
+<p>„Ah! wie ich darauf gewartet habe, daß du mich
+wieder Dorian nennst.“</p>
+
+<p>„Du bist wahnsinnig, sag' ich dir &mdash; wahnsinnig, daß
+du dir einbildest, ich wurde auch nur einen Finger rühren,
+dir zu helfen, wahnsinnig, daß du mir dieses ungeheuerliche
+Geständnis ablegst. Ich will damit nichts zu tun
+haben, was es auch sei. Glaubst du, ich setze meine Ehre
+für dich aufs Spiel? Was geht's mich an, mit welchem
+Teufelswerk du zu tun hast.“</p>
+
+<p>„Es war ein Selbstmord, Alan.“</p>
+
+<p>„Das freut mich, aber wer hat ihn dazu getrieben? Du,
+vermute ich.“</p>
+
+<p>„Weigerst du dich noch immer, das für mich zu tun?“</p>
+
+<p>„Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit<a class="pagenum" name="Page_258" title="258"> </a>
+zu schaffen haben. Es liegt mir gar nichts daran, was
+für eine Schande über dich kommt. Du verdienst es vollauf.
+Es würde mir nicht leid tun, wenn ich dich entehrt,
+öffentlich entehrt sähe. Wie kannst du es wagen, mich,
+gerade mich von allen Menschen in der Welt in diese
+Scheußlichkeit hineinbringen zu wollen? Ich hätte geglaubt,
+du verständest mehr vom Charakter der Menschen.
+Dein Freund, Lord Henry Wotton, kann dich nicht sehr
+über Psychologie aufgeklärt haben, worüber er dich auch
+sonst aufgeklärt hat. Nichts wird mich dazu vermögen,
+auch nur einen Schritt zu tun, um dir zu helfen. Du bist
+an den falschen Mann gekommen. Geh zu einem deiner
+Freunde, nicht zu mir.“</p>
+
+<p>„Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Du
+weißt nicht, was ich durch ihn gelitten habe. Mein Leben
+mag sein, wie es wolle, er hatte mehr damit zu tun, es zu
+erschaffen und zu zerstören, als der arme Harry. Er mag
+es nicht gewollt haben, die Wirkung ist dieselbe.“</p>
+
+<p>„Mord! Guter Gott, Dorian, bist du jetzt soweit gekommen?
+Ich werde dich nicht anzeigen. Das ist meines
+Amtes nicht. Im übrigen wird man dich fassen, auch wenn
+ich mich nicht in die Sache mische. Niemand begeht ein
+Verbrechen, ohne dabei eine Dummheit zu machen. Also
+ich will nichts damit zu tun haben.“</p>
+
+<p>„Du mußt etwas damit zu tun haben. Warte, warte
+noch einen Augenblick; hör' mich an. Nur anhören, Alan.
+Alles, was ich von dir verlange, ist ein bestimmtes wissenschaftliches
+Experiment. Du gehst in Spitäler und Leichenhäuser,
+und das Schreckliche, was du dort tust, rührt dich<a class="pagenum" name="Page_259" title="259"> </a>
+nicht. Wenn du diesen Mann in irgendeinem gräßlichen
+Seziersaal oder in einem mißduftenden Laboratorium auf
+einem rohen Tisch liegen sähest, mit roten Röhren, die
+man in ihn hineingebohrt hat, damit daraus das Blut
+durchfließen kann, dann würdest du ihn einfach als ein
+bewundernswertes Objekt betrachten. Kein Härchen würde
+sich dir sträuben. Du hättest nicht die Empfindung, irgend
+etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil, du würdest wahrscheinlich
+glauben, der Menschheit eine Wohltat zu erweisen,
+oder die Summe des menschlichen Wissens zu vermehren
+oder den intellektuellen Wissensdrang zu befriedigen
+oder so etwas dergleichen. Was ich von dir fordere,
+ist nichts anderes, als was du schon oft getan hast. Wahrhaftig,
+es muß viel weniger gräßlich sein, einen Leichnam
+aus der Welt zu schaffen, als das, was du gewöhnlich tust.
+Und bedenke, es ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn
+er entdeckt wird, bin ich verloren; und er muß sicher entdeckt
+werden, wenn du mir nicht hilfst.“</p>
+
+<p>„Ich habe keine Lust, dir zu helfen. Du vergißt das.
+Die ganze Sache ist mir gleichgültig. Ich habe nichts damit
+zu tun.“</p>
+
+<p>„Alan, ich beschwöre dich. Denke an die Lage, in der ich
+bin. Jetzt eben, ehe du kamst, war ich fast ohnmächtig vor
+Schreck. Du kannst eines Tages selbst einmal die Angst
+kennenlernen. Nein, denke nicht daran! Betrachte die
+Sache vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus. Du
+forschst doch sonst nicht danach, woher die toten Wesen
+kommen, mit denen du experimentierst. Forsche auch jetzt
+nicht danach. Ich habe dir ohnehin zuviel gesagt. Aber<a class="pagenum" name="Page_260" title="260"> </a>
+ich bitte dich, tu, um was ich dich bat. Wir waren doch einmal
+Freunde, Alan.“</p>
+
+<p>„Sprich nicht von jenen Tagen, Dorian; sie sind tot.“</p>
+
+<p>„Die Toten verweilen manchmal. Der Mann da oben
+geht nicht weg. Er sitzt am Tisch mit vorgebeugtem Kopf
+und ausgestreckten Armen. Alan! Alan! wenn du mir
+nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! man wird
+mich hängen! Begreifst du nicht? Man wird mich hängen,
+für das, was ich getan habe.“</p>
+
+<p>„Es hat keinen Sinn, diese Szene weiter auszudehnen.
+Ich weigere mich ganz entschieden, etwas damit zu tun
+zu haben. Es ist Tollheit von dir, mich darum zu
+bitten.“</p>
+
+<p>„Du weigerst dich?“</p>
+
+<p>„Ja!“</p>
+
+<p>„Ich beschwöre dich, Alan!“</p>
+
+<p>„Es ist nutzlos.“</p>
+
+<p>Derselbe mitleidige Ausdruck kam in Dorian Grays
+Augen. Dann reckte er die Hand aus, nahm ein Stück
+Papier und schrieb etwas darauf. Er las es zweimal durch,
+faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den Tisch.
+Nachdem er dies getan hatte, stand er auf und trat ans
+Fenster.</p>
+
+<p>Campbell sah ihn verwundert an, nahm dann das Papier
+und öffnete es. Als er es gelesen hatte, wurde sein
+Gesicht totenblaß und er sank in seinen Stuhl zurück. Ein
+fürchterliches Gefühl der Schwäche überwältigte ihn. Ihm
+war, als ob sich sein Herz in einer leeren Höhle zu Tode
+schlüge.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_261" title="261"> </a></p>
+
+<p>Nach zwei oder drei Minuten furchtbaren Schweigens
+wandte sich Dorian um, ging zu ihm hin, stellte sich hinter
+ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.</p>
+
+<p>„Es tut mir so leid um dich, Alan,“ flüsterte er, „aber
+du läßt mir keine Wahl. Ich habe den Brief schon geschrieben.
+Hier ist er. Du siehst die Adresse. Wenn du mir
+nicht hilfst, muß ich ihn abschicken. Du weißt, was darauf
+erfolgt. Aber du wirst mir helfen. Es ist unmöglich, daß
+du jetzt noch nein sagst. Ich wollte dir das ersparen. Du
+mußt mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, das zuzugeben.
+Du warst bitter, hart, beleidigend. Du hast mich
+behandelt, wie es nie ein Mensch gewagt hat, mich zu behandeln.
+Wenigstens kein lebender Mensch. Ich ertrug es
+alles. Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren.“</p>
+
+<p>Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und ein
+Frösteln überlief ihn.</p>
+
+<p>„Ja, jetzt ist die Reihe an mir, Bedingungen zu diktieren,
+Alan. Du weißt, was ich verlange. Die Sache ist
+ganz einfach. Komm, schraube dich nicht in ein Fieber
+hinein. Die Sache muß geschehen. Schau ihr ins Gesicht
+und vollbringe sie.“</p>
+
+<p>Ein Stöhnen klang von Campbells Lippen, und er
+zitterte am ganzen Leibe. Das Ticken der Uhr auf dem
+Kaminsims schien ihm die Zeit in einzelne Atome eines
+Todeskampfes zu zerstückeln, von denen das kleinste schon
+zu schrecklich war, um es zu ertragen. Er hatte das Gefühl,
+als ob ein eiserner Ring um seine Stirn nach und
+nach festgespannt wurde, als ob die Schande, mit der man
+ihn bedrohte, schon über ihn käme. Die Hand auf seiner<a class="pagenum" name="Page_262" title="262"> </a>
+Schulter beschwerte ihn wie ein Gewicht von Blei. Sie war
+unerträglich. Sie schien ihn zu zerquetschen.</p>
+
+<p>„Komm, Alan, du mußt dich gleich entscheiden.“</p>
+
+<p>„Ich kann es nicht tun“, sagte er mechanisch, als könnten
+die Worte etwas ändern.</p>
+
+<p>„Du mußt. Du hast keine Wahl. Zaudere nicht.“</p>
+
+<p>Er schwankte einen Augenblick. „Ist ein Ofen da oben?“</p>
+
+<p>„Ja, ein Gasofen mit Asbest.“</p>
+
+<p>„Dann muß ich nach Hause gehen und einiges aus dem
+Laboratorium holen.“</p>
+
+<p>„Nein, Alan, du darfst das Haus nicht verlassen.
+Schreib' auf ein Blatt Papier, was du brauchst, und mein
+Diener nimmt eine Droschke und wird dir die Sachen
+bringen.“</p>
+
+<p>Campbell kritzelte ein paar Zeilen hin, trocknete sie ab
+und adressierte ein Kuvert an seinen Assistenten. Dorian
+nahm das Briefchen und las es aufmerksam durch. Dann
+klingelte er und gab es seinem Diener mit dem Auftrag, so
+rasch als möglich zurückzukommen und die im Schreiben
+bezeichneten Sachen mitzubringen.</p>
+
+<p>Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös
+zusammen, stand vom Stuhl auf und ging zum Kamin
+hinüber. Er schüttelte sich in einer Art kalten Fiebers. Fast
+zwanzig Minuten lang sprach keiner der beiden Männer.
+Eine Fliege schwirrte summend durch das Zimmer, und das
+Ticktack der Uhr klang wie der Fall eines Hammers.</p>
+
+<p>Als es eins schlug, drehte sich Campbell um, blickte auf
+Dorian Gray und sah, daß seine Augen mit Tränen gefüllt
+waren. In den reinen, edlen Zügen dieses traurigen Gesichts<a class="pagenum" name="Page_263" title="263"> </a>
+lag etwas, was ihn wütend zu machen schien.
+„Du bist infam, ganz infam“, rief er mit unterdrückter
+Stimme.</p>
+
+<p>„Ruhig, Alan, du hast mir das Leben gerettet“, sagte
+Dorian.</p>
+
+<p>„Dein Leben? Gott im Himmel! Was für ein Leben
+ist das! Du bist von Verderbnis zu Verderbnis geschritten,
+und jetzt hast du mit Mord den Gipfel erreicht. Wenn ich
+tue, was ich tun werde, was du mich zu tun zwingst, so
+denke ich dabei wahrhaftig nicht an dein Leben.“</p>
+
+<p>„Ach, Alan,“ flüsterte Dorian seufzend, „ich wünschte,
+du hättest den tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das
+ich mit dir habe.“ Er kehrte sich während dieser Worte ab
+und stand da und blickte in den Garten hinaus. Campbell
+gab keine Antwort.</p>
+
+<p>Nach etwa zehn Minuten klopfte es an die Tür, und
+der Diener trat ein und brachte einen großen Mahagonikasten
+mit Chemikalien, eine lange Rolle Stahl- und
+Platindraht und zwei absonderlich geformte Eisenklammern.</p>
+
+<p>„Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?“ fragte
+er Campbell.</p>
+
+<p>„Ja“, antwortete Dorian. „Und ich bedaure, Francis,
+aber ich habe noch einen Weg für Sie. Wie heißt der
+Mann in Richmond, der Selby mit Orchideen versorgt?“</p>
+
+<p>„Harden, gnädiger Herr.“</p>
+
+<p>„Richtig &mdash; Harden. Sie müssen gleich nach Richmond
+fahren, Harden selbst sprechen und ihm sagen, er solle doppelt
+soviel Orchideen schicken, als ich bestellt habe, und
+möglichst wenig weiße dabei. Eigentlich will ich überhaupt<a class="pagenum" name="Page_264" title="264"> </a>
+keine weißen. Es ist ein schöner Tag, Francis, und Richmond
+ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht
+behelligen.“</p>
+
+<p>„Nichts zu sagen, gnädiger Herr. Zu welcher Zeit soll
+ich zurück sein?“</p>
+
+<p>Dorian sah Campbell an. „Wie lange wird dein Experiment
+dauern, Alan?“ fragte er mit ruhiger, gleichgültiger
+Stimme. Die Gegenwart eines Dritten im Zimmer
+schien ihm außerordentlichen Mut einzuflößen.</p>
+
+<p>Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen.
+„Es wird ungefähr fünf Stunden beanspruchen“, antwortete
+er.</p>
+
+<p>„Dann ist es früh genug, wenn Sie um sieben zurück
+sind, Francis. Oder halt: legen Sie meine Sachen zum
+Umkleiden zurecht, Sie können dann den Abend für sich
+verwenden. Ich esse nicht zu Hause, brauche Sie also
+nicht.“</p>
+
+<p>„Ich danke, gnädiger Herr“, sagte der Mann und verließ
+das Zimmer.</p>
+
+<p>„Jetzt, Alan, ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer
+der Kasten ist! Ich will ihn dir tragen. Nimm du die anderen
+Sachen.“ Er sprach hastig und in befehlendem Tone.
+Campbell fühlte sich von ihm beherrscht. Sie verließen
+das Zimmer gleichzeitig.</p>
+
+<p>Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, nahm
+Dorian den Schlüssel heraus und schloß auf. Dann blieb
+er stehen, und ein Ausdruck von Unruhe zeigte sich in
+seinem Blick. Er schauderte. „Ich glaube, ich kann nicht
+hineingehen, Alan“, flüsterte er.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_265" title="265"> </a></p>
+
+<p>„Das ist mir ganz gleich. Ich brauche dich nicht“, sagte
+Campbell kalt.</p>
+
+<p>Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Als er dies tat, sah
+er seinem Porträt, das im hellen Sonnenlicht hing, grade
+ins Gesicht. Davor lag auf den Dielen der herabgerissene
+Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in der vergangenen
+Nacht zum ersten Male in seinem Leben vergessen hatte,
+die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen, und wollte
+eben nach vorn stürzen, als er schaudernd zurückprallte.</p>
+
+<p>Was war das für ein widerlicher, roter Fleck, der naß
+und glänzend an einer der Hände klebte, als hätte die
+Leinwand Blut geschwitzt? Wie schrecklich das war! &mdash;
+Schrecklicher schien es ihm in diesem Augenblick als das
+schweigsame Ding, das, wie er wußte, noch über den Tisch
+gebeugt dasaß, das Ding, dessen grotesker, unglückseliger
+Schatten auf dem fleckigen Teppich ihm zeigte, daß es sich
+nicht bewegt hatte, sondern noch da war, wo er es gelassen
+hatte.</p>
+
+<p>Er atmete tief auf, öffnete die Tür etwas weiter und
+ging mit halbgeschlossenen Augen und abgewandtem Kopf
+rasch hinein, entschlossen, mit keinem einzigen Blick nach
+dem Toten hinzusehen. Dann bückte er sich, nahm den gold-
+und purpurschimmernden Vorhang auf und warf ihn
+gerade über das Bild.</p>
+
+<p>Dann blieb er stehen, voll Angst, sich umzuwenden und
+seine Augen richteten sich auf die verschlungenen Muster
+des Vorhangs. Er hörte Campbell den schweren Kasten
+hereinbringen, und die Eisenklammern und die anderen
+Geräte, die er sich für seine entsetzliche Arbeit hatte kommen<a class="pagenum" name="Page_266" title="266"> </a>
+lassen. Er begann sich zu fragen, ob Campbell und Basil
+Hallward einander je begegnet waren und wenn, welche
+Meinung sie voneinander gehabt hätten.</p>
+
+<p>„Lasse mich jetzt allein“, sagte eine rauhe Stimme
+hinter ihm.</p>
+
+<p>Er kehrte sich um und lief hinaus, eben noch gerade wahrnehmend,
+daß der Tote in seinen Stuhl zurückgelehnt worden
+war und daß Campbell in ein schimmerndes, gelbes
+Gesicht starrte. Als er die Stufen hinabging, hörte er,
+wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde.</p>
+
+<p>Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell wieder
+in die Bibliothek trat. Er war blaß, aber vollständig
+ruhig. „Ich habe getan, was du von mir verlangt hast“,
+sagte er leise. „Und jetzt adieu. Wir wollen uns nie wiedersehen.“</p>
+
+<p>„Du hast mich vorm Untergang gerettet, Alan“, sagte
+Dorian ganz schlicht. „Ich kann das nie vergessen.“</p>
+
+<p>Sobald ihn Campbell verlassen hatte, ging er hinauf.
+Ein schrecklicher Geruch von Salpetersäure war im Zimmer.
+Aber das Ding, das am Tisch gesessen hatte, war fort.</p>
+
+<h2><a name="Funfzehntes_Kapitel" id="Funfzehntes_Kapitel"></a>Fünfzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Am selben Abend um halb neun Uhr wurde Dorian
+Gray in sorgfältigster Toilette, im Knopfloch einen großen
+Strauß Parmaveilchen tragend, von dienernden Lakaien
+in den Salon Lady Narboroughs geführt. Er hatte heftiges<a class="pagenum" name="Page_267" title="267"> </a>
+Kopfweh und furchtbar überreizte Nerven, aber seine
+Gebärde, als er sich über die Hand seiner Gastgeberin
+beugte, war ebenso leicht und anmutig wie sonst. Vielleicht
+sieht man nie gelassener aus, als wenn man eine Rolle
+zu spielen hat. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an
+diesem Abend sah, geglaubt, daß er eine Tragödie hinter
+sich habe, die so schrecklich war wie irgendeine Tragödie
+unserer Zeit. Diese feingeformten Finger konnten doch nie
+ein Messer gezückt haben, um eine Sünde zu begehen, diese
+lächelnden Lippen nie Gott und Gottes Güte geschmäht
+haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens
+wundern und einen Augenblick lang spürte er in ganzer
+Stärke den grauenvollen Genuß eines Doppeldaseins.</p>
+
+<p>Es war eine kleine Gesellschaft, die Lady Narborough
+kurzer Hand zusammengeladen hatte, und die Gastgeberin
+war eine sehr gescheite Frau mit ansehnlichen Überbleibseln
+einer unleugbar hervorragenden Häßlichkeit, wie es
+Lord Henry auszudrücken liebte. Sie hatte sich einem unserer
+langweiligsten Botschafter als eine ausgezeichnete
+Frau erwiesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie sich's
+geziemte, in einem marmornen Mausoleum beigesetzt hatte,
+das nach ihren eigenen Entwürfen erbaut worden war,
+und seitdem sie ihre Töchter an einige reiche, etwas angejahrte
+Herren verheiratet hatte, widmete sie sich den
+Genüssen französischer Romane, französischer Kochkunst und
+französischen Geistes, wenn sie ihn auftreiben konnte.</p>
+
+<p>Dorian war einer ihrer erklärten Lieblinge, und sie sagte
+ihm immer, sie sei äußerst froh darüber, ihn nicht in früheren
+Jahren kennengelernt zu haben. „Ich weiß, mein<a class="pagenum" name="Page_268" title="268"> </a>
+Lieber, ich hätte mich sinnlos in Sie verliebt,“ pflegte sie
+zu sagen, „und wäre Ihretwillen der größten Tollheiten
+fähig gewesen. Es ist ein großes Glück, daß man damals
+noch gar nicht an Sie dachte. Zu meiner Zeit waren die
+Tollheiten eine so seltene Ware, daß ich nicht einmal eine
+harmlose Liebelei mit jemand gehabt habe. Indessen war
+das nur die Schuld Narboroughs. Er war schrecklich kurzsichtig,
+und es ist alles andere als ein Vergnügen, einen
+Ehemann zu betrügen, der nie etwas sieht.“</p>
+
+<p>Ihre Gäste waren an diesem Abend ziemlich langweilig.
+Die Sache war so, wie sie Dorian hinter einem ziemlich
+schäbigen Fächer erklärte, daß eine ihrer verheirateten Töchter
+plötzlich zu Besuch gekommen war, und, was die Sache
+noch ärgerlicher machte, obendrein ihren Mann mitgebracht
+hatte.</p>
+
+<p>„Ich finde das sehr unliebenswürdig von ihr, mein
+Lieber“, flüsterte sie ihm zu. „Natürlich bin ich jeden
+Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von Homburg
+komme, aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal
+frische Luft haben, und außerdem rüttle ich sie dann etwas
+auf. Sie ahnen ja gar nicht, was die für ein Leben da
+hinten führen. Es ist das reine, unverfälschte Landleben.
+Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun haben, und
+gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben.
+In der ganzen Gegend da hat es seit der Zeit der Königin
+Elisabeth keinen Skandal gegeben, und infolgedessen schlafen
+sie alle nach dem Essen ein. Sie sollen aber nicht neben
+einem von ihnen sitzen. Sie sollen neben mir sitzen und
+mich amüsieren.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_269" title="269"> </a></p>
+
+<p>Dorian murmelte ein anmutiges Kompliment und blickte
+sich im Zimmer um. Ja, es war wirklich eine öde Gesellschaft.
+Zwei von den Anwesenden hatte er vordem nie
+gesehen, und die anderen waren Ernest Harrowden, eine
+der Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man so
+häufig in Londoner Klubs begegnet, die keine Feinde
+haben, die aber keiner ihrer Freunde leiden kann: dann
+Lady Ruxton, eine aufgeputzte Dame mit einer Papageiennase,
+im Alter von siebenundvierzig Jahren, die sich unablässig
+bemühte, sich zu kompromittieren, die aber so lächerlich
+häßlich war, daß zu ihrer großen Enttäuschung niemals
+einer etwas Schlechtes von ihr glauben wollte: Frau
+Erlynne, eine zudringliche Nichtigkeit mit einem entzückenden
+Lispeln und venezianisch rotem Haar: Lady Alice
+Chapman, die Tochter der Wirtin, eine schlechtgekleidete,
+bedeutungslose Frau mit einem der charakteristischen englischen
+Gesichter, an die man sich nie wieder erinnert, wenn
+man sie einmal gesehen hat, und ihr Mann, ein rotbäckiges,
+weißbärtiges Geschöpf, das, wie so viele seiner Kaste, der
+Überzeugung lebte, daß ungewöhnliche Liebenswürdigkeit
+den vollständigen Mangel an Gedanken ersetzen könne.</p>
+
+<p>Es tat ihm beinah leid, daß er gekommen war, bis Lady
+Narborough einen Blick auf die große goldene Pendeluhr
+warf, die sich mit ihren geschmacklosen Zieraten auf dem
+malvefarbig behängten Kamin spreizte, und ausrief: „Wie
+häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich
+schickte heute früh auf gut Glück zu ihm hinüber und er hat
+fest zugesagt, mich nicht im Stich zu lassen.“</p>
+
+<p>Es war ein Trost, daß Harry kommen sollte, und als<a class="pagenum" name="Page_270" title="270"> </a>
+sich die Tür öffnete und er seine sanfte musikalische
+Stimme hörte, die irgendeine läppische Ausrede bezaubernd
+hervorbrachte, schwand seine Verdrießlichkeit.</p>
+
+<p>Aber er konnte bei Tisch dennoch nichts essen. Platte
+nach Platte wurde, von ihm unberührt, weggetragen. Lady
+Narborough schalt ihn unaufhörlich, weil sie darin „eine
+Beleidigung sah für den armen Adolphe, der das ganze
+Menü eigens für sie erfunden hätte“, und dann und wann
+blickte Lord Henry zu ihm herüber und verwunderte sich
+über sein Schweigen und sein zerstreutes Wesen. Von Zeit
+zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit Champagner. Er
+trank hastig, und sein Durst schien zu wachsen.</p>
+
+<p>„Dorian,“ sagte Lord Henry endlich, als das Chaudfroid
+herumgereicht wurde, „was ist heute abend mit dir
+los? Du bist ja so verstimmt.“</p>
+
+<p>„Ich glaube, er ist verliebt,“ sagte Lady Narborough,
+„und er hat Angst, es mir zu erzählen, aus Furcht, daß ich
+eifersüchtig würde. Er hat auch ganz recht. Ich würde es
+gewiß.“</p>
+
+<p>„Teure Lady Narborough,“ flüsterte Dorian lächelnd,
+„ich bin seit einer vollen Woche nicht verliebt gewesen &mdash;
+genau gesagt, nicht seitdem Madame de Ferrol aus London
+weg ist.“</p>
+
+<p>„Daß ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!“
+rief die alte Dame. „Ich kann es wirklich nicht verstehen.“</p>
+
+<p>„Das kommt einfach daher, weil sie Sie an die Zeit
+erinnert, wo Sie ein kleines Mädchen waren, Lady Narborough“,
+sagte Lord Henry. „Sie ist das einzige Bindeglied
+zwischen uns und Ihren kurzen Röckchen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_271" title="271"> </a></p>
+
+<p>„Sie erinnert mich wirklich nicht an meine kurzen Röckchen,
+Lord Henry. Aber ich entsinne mich ihrer sehr gut
+in Wien vor dreißig Jahren und wie sie sich damals
+dekolletierte.“</p>
+
+<p>„Sie dekolletiert sich noch immer,“ antwortete er und
+nahm eine Olive in seine langen Finger, „und wenn sie
+sehr elegant gekleidet ist, sieht sie aus wie die Luxusausgabe
+eines schlechten, französischen Romans. Sie ist wirklich
+wunderbar und voller Überraschungen. Ihr Talent
+für Familienliebe ist außerordentlich. Als ihr dritter Mann
+starb, wurde ihr Haar vor Trauer ganz goldblond.“</p>
+
+<p>„Wie kannst du so etwas sagen, Harry!“ rief Dorian.</p>
+
+<p>„Das ist eine höchst romantische Erklärung“, lachte die
+Gastgeberin. „Aber ihr dritter Mann, Lord Henry! Sie
+wollen doch nicht sagen, daß Ferrol der vierte ist?“</p>
+
+<p>„Doch, Lady Narborough.“</p>
+
+<p>„Ich glaube kein Wort davon.“</p>
+
+<p>„Gut, dann fragen Sie Herrn Gray, er ist einer ihrer
+intimsten Freunde.“</p>
+
+<p>„Ist das wahr, Herr Gray?“</p>
+
+<p>„Sie versichert es mir, Lady Narborough“, erwiderte
+Dorian. „Ich fragte sie, ob sie wie Margarete von Navarra
+ihre Herzen einbalsamiert habe und am Gürtel
+trage. Sie sagte mir, sie täte das nicht, weil keiner von
+ihnen überhaupt ein Herz gehabt hätte.“</p>
+
+<p>„Vier Männer! Auf mein Wort, das ist <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">trop de zêle</span>.“</p>
+
+<p>„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Trop d'audace</span> sagte ich ihr“, entgegnete Dorian.</p>
+
+<p>„Oh! sie ist mutig genug, alles zu tun, mein Lieber.
+Und wie ist Ferrol? Ich kenne ihn nicht.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_272" title="272"> </a></p>
+
+<p>„Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse“,
+sagte Lord Henry und schlürfte seinen Wein.</p>
+
+<p>Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. „Lord
+Henry, ich bin nicht im mindesten überrascht, daß die ganze
+Welt über Ihre Ruchlosigkeit klagt.“</p>
+
+<p>„Aber welche ganze Welt tut das?“ fragte Lord Henry,
+seine Brauen hochziehend. „Es kann nur die Nachwelt
+sein. Denn diese Welt und ich, wir stehen brillant miteinander.“</p>
+
+<p>„Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr ruchlos
+sind!“ rief die alte Dame den Kopf schüttelnd.</p>
+
+<p>Lord Henry sah einige Augenblicke ernsthaft aus. „Es
+ist ganz abscheulich,“ sagte er schließlich, „wie die Leute
+heutzutage herumgehen und einem hinterm Rücken Dinge
+nachsagen, die ganz und gar auf Wahrheit beruhen.“</p>
+
+<p>„Ist er nicht unverbesserlich?“ rief Dorian und beugte
+sich in seinem Stuhl vor.</p>
+
+<p>„Ich hoffe“ sagte die Wirtin lachend. „Aber wenn Sie
+wirklich alle Madame de Ferrol in dieser lächerlichen
+Weise anbeten, so muß ich auch wieder heiraten, um in
+Mode zu kommen.“</p>
+
+<p>„Sie werden nie wieder heiraten, Lady Narborough“,
+unterbrach Lord Henry. „Sie waren viel zu glücklich. Wenn
+eine Frau wieder heiratet, so tut sie es, weil sie ihren ersten
+Mann verabscheute. Wenn ein Mann wieder heiratet, so
+tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen versuchen
+ihr Glück, Männer setzen das ihre aufs Spiel.“</p>
+
+<p>„Narborough war nicht vollkommen!“ rief die alte
+Dame.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_273" title="273"> </a></p>
+
+<p>„Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt,
+meine teure Lady“, war die Antwort. „Frauen
+lieben uns um unserer Fehler willen. Wenn wir ihrer genug
+haben, vergeben sie uns alles, selbst unseren Geist.
+Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zu einem Diner
+bitten, nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough,
+aber es ist völlig wahr.“</p>
+
+<p>„Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen
+euch nicht eurer Fehler halber liebten, wo wäret ihr alle?
+Nicht ein einziger von euch würde verheiratet sein. Und ihr
+wäret eine Sekte unglücklicher Junggesellen. Das würde
+aber nicht viel an euch ändern. Heutzutage leben alle Ehemänner
+wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner.“</p>
+
+<p>„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Fin de siècle</span>“, flüsterte Lord Henry.</p>
+
+<p>„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Fin du globe</span>“, entgegnete die Gastgeberin.</p>
+
+<p>„Ich wollte, es wäre <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">fin du globe</span>“, sagte Dorian mit
+einem Seufzer. „Das Leben ist eine große Enttäuschung.“</p>
+
+<p>„Ah, mein Lieber!“ rief Lady Narborough und zog
+ihre Handschuhe an, „sagen Sie mir nicht, daß Sie das
+Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann das sagt, weiß
+man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist im
+höchsten Grade ruchlos, und ich wünsche manchmal, ich wäre
+es auch gewesen; aber Sie sind geschaffen, um gut zu
+sein &mdash; Sie sehen so gut aus. Ich muß Ihnen eine hübsche
+Frau verschaffen. Lord Henry, meinen Sie nicht, daß Herr
+Gray heiraten sollte?“</p>
+
+<p>„Ich sage ihm das immer, Lady Narborough“, erwiderte
+Lord Henry mit einer Verbeugung.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_274" title="274"> </a></p>
+
+<p>„Schön, so wollen wir uns nach einer guten Partie für
+ihn umsehen. Ich werde heute nacht den Adelskalender
+aufmerksam durchgehen und eine Liste aller in Frage
+kommenden jungen Damen aufstellen.“</p>
+
+<p>„Mit ihrer Altersangabe, Lady Narborough?“ fragte
+Dorian.</p>
+
+<p>„Natürlich mit ihrem Alter, ein wenig retuschiert. Aber
+man darf nichts übereilen. Ich will, daß es genau das
+wird, was die Morning Post eine passende Verbindung
+nennt, und ihr sollt beide glücklich werden.“</p>
+
+<p>„Was die Menschen doch für einen Unsinn über
+glückliche Ehen reden!“ rief Lord Henry. „Ein Mann
+kann mit jeder Frau glücklich werden, solange er sie nicht
+liebt.“</p>
+
+<p>„Pfui! Was sind Sie für ein Zyniker!“ rief die alte
+Dame, schob ihren Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu.
+„Sie müssen bald wiederkommen und bei mir essen. Sie
+sind wirklich ein wunderbarer Appetitanreger, viel besser
+als das, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen
+mir sagen, was für Leute Sie gern treffen würden. Es
+soll ein entzückendes Beisammensein werden.“</p>
+
+<p>„Ich liebe Männer, die eine Zukunft haben, und
+Frauen, die eine Vergangenheit haben“, antwortete er.
+„Oder beabsichtigen Sie, eine Weibergesellschaft zustande
+zu bringen?“</p>
+
+<p>„Ich fürchte fast“, sagte sie lachend, indem sie sich erhob.
+„Ach, verzeihen Sie tausendmal, Lady Ruxton,“ fuhr
+sie fort, „ich habe nicht bemerkt, daß Sie mit Ihrer Zigarette
+noch nicht fertig waren.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_275" title="275"> </a></p>
+
+<p>„Macht nichts, Lady Narborough. Ich rauche viel zuviel.
+Ich muß mich darin in Zukunft einschränken.“</p>
+
+<p>„Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton“, sagte Lord
+Henry. „Mäßigung ist eine unglückliche Sache. Genug ist
+nicht besser als eine Mahlzeit. Mehr als genug ist so gut
+wie ein Festessen.“</p>
+
+<p>Lady Ruxton sah ihn neugierig an. „Lord Henry, Sie
+müssen mich eines Nachmittags besuchen und mir das erklären.
+Es klingt wie eine verlockende Theorie“, sagte sie,
+während sie aus dem Zimmer rauschte.</p>
+
+<p>„Jetzt bitte, sitzt mir nicht zu lange bei eurer Politik
+und euerm Klatsch!“ rief Lady Narborough von der Tür
+aus. „Wenn ihr das tut, zanken wir sicher mit euch, wenn
+ihr nach oben kommt.“</p>
+
+<p>Die Männer lachten, und Herr Chapman stand feierlich
+vom Ende der Tafel auf und setzte sich oben hin. Dorian
+Gray wechselte seinen Platz und setzte sich neben Lord
+Henry. Herr Chapman begann mit lauter Stimme über
+die parlamentarische Lage zu sprechen. Er heulte laut auf
+über seine Widersacher. Das Wort Doktrinär &mdash; ein Wort
+voller Schrecken für den britischen Geist &mdash; tauchte von
+Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen auf. Eine doppelt ausgesprochene
+Vorsilbe diente seiner Rede als Alliteration zum
+Schmuck. Er hißte den Union Jack auf dem Mast des Gedankens
+auf. Die angestammte Dummheit der Rasse &mdash; gesunder
+englischer Menschenverstand nannte er sie wohlwollend
+&mdash; wurde als das Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt.</p>
+
+<p>Ein Lächeln kräuselte Lord Henrys Lippen, und er drehte
+sich um und blickte zu Dorian hin.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_276" title="276"> </a></p>
+
+<p>„Geht dir's jetzt besser, lieber Junge?“ fragte er. „Du
+schienst bei Tisch gar nicht recht wohl zu sein.“</p>
+
+<p>„Mir ist ganz wohl. Ich bin müde. Sonst nichts.“</p>
+
+<p>„Du warst entzückend gestern abend. Die kleine Herzogin
+hat dich ganz in ihr Herzchen geschlossen. Sie hat mir
+erzählt, sie käme nach Selby.“</p>
+
+<p>„Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen.“</p>
+
+<p>„Wird Monmouth auch da sein?“</p>
+
+<p>„Oh, gewiß, Harry!“</p>
+
+<p>„Er langweilt mich entsetzlich, fast ebenso sehr, wie er sie
+langweilt. Sie ist sehr verständig, zu verständig für eine
+Frau. Es fehlt ihr der unbeschreibliche Reiz der Schwäche.
+Die tönernen Füße sind's, die erst das Gold der Bildsäule
+wertvoll machen. Ihre Füße sind ganz allerliebst,
+aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn
+du willst. Sie sind schon im Feuer gewesen, und was das
+Feuer nicht zerstört, macht es hart. Sie hat ihre Erfahrungen.“</p>
+
+<p>„Wie lange ist sie verheiratet?“ fragte Dorian.</p>
+
+<p>„Sie sagt, eine Ewigkeit. Nach dem Adelskalender,
+glaube ich, sind es wohl zehn Jahre, aber zehn Jahre mit
+Monmouth müssen wie eine Ewigkeit gewesen sein, wenn
+man die Zeit mitrechnet. Wer kommt sonst noch?“</p>
+
+<p>„Oh, die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau,
+unsere Wirtin, Geoffrey Clouston, die gewöhnliche Aufmachung.
+Ich habe auch Lord Grotrian gebeten.“</p>
+
+<p>„Den habe ich recht gern“, sagte Lord Henry. „Viele
+Leute können ihn nicht leiden, aber ich finde ihn reizend.
+Dafür, daß seine Kleidung manchmal übertrieben elegant<a class="pagenum" name="Page_277" title="277"> </a>
+ist, entschädigt er dadurch, daß er immer übertrieben gebildet
+ist. Es ist ein ganz moderner Typus.“</p>
+
+<p>„Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Harry. Es ist
+möglich, daß er mit seinem Vater nach Monte Carlo muß.“</p>
+
+<p>„Ach, was für ein Kreuz die Familiensimpelei ist! Versuch
+doch, daß er kommt. Übrigens, Dorian, du bist gestern
+abend sehr früh weggelaufen. Du hast uns vor elf Uhr
+sitzen lassen. Was hast du denn noch vorgehabt? Bist du
+gleich nach Hause gegangen?“</p>
+
+<p>Dorian blickte ihn rasch an und runzelte die Stirn.
+„Nein, Harry,“ sagte er endlich, „es war schon fast drei,
+als ich nach Hause kam.“</p>
+
+<p>„Warst du noch im Klub?“</p>
+
+<p>„Ja“, antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen.
+„Nein, das wollte ich nicht sagen. Ich war nicht im Klub.
+Ich ging nur so herum. Ich weiß nicht mehr, was ich getan
+habe... Wie du einen ins Verhör nimmst, Harry!
+Du willst immer wissen, was man getan hat. Ich will
+immer vergessen, was ich getan habe. Wenn du aber
+die genaue Zeit wissen willst, ich bin um halb drei nach
+Hause gekommen. Ich hatte meinen Hausschlüssel vergessen,
+und mein Diener mußte mich einlassen. Wenn du
+vielleicht noch eine Zeugenaussage über mein Alibi
+wünschst, kannst du ihn ja fragen.“</p>
+
+<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Aber, lieber Junge,
+als ob mir daran etwas läge? Wir wollen in den Salon
+hinauf. Keinen Sherry, nein danke, Herr Chapman. Dir
+ist etwas zugestoßen, Dorian. Sage mir, was es ist. Du
+bist heute abend nicht du selber.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_278" title="278"> </a></p>
+
+<p>„Sei nicht böse, Harry. Ich bin gereizt und übel gelaunt.
+Ich komme morgen oder übermorgen zu dir. Bitte,
+entschuldige mich bei Lady Narborough. Ich gehe nicht
+mehr hinauf. Ich gehe nach Hause. Ich muß nach Hause
+gehn.“</p>
+
+<p>„Schön, Dorian. Ich hoffe, dich morgen zum Tee zu
+sehen. Die Herzogin kommt.“</p>
+
+<p>„Ich will versuchen da zu sein, Harry“, sagte er und
+verließ das Zimmer. Als er nach Hause fuhr, merkte er,
+daß das Angstgefühl wiedergekehrt sei, das er erstickt zu
+haben glaubte. Lord Henrys zufällige Frage hatte ihm für
+einen Moment die Fassung genommen und nervös gemacht
+und er brauchte seine Nerven noch. Dinge, die Gefahr
+bringen konnten, mußten zerstört werden. Er schauerte
+zusammen. Der Gedanke, sie auch nur zu berühren, war
+ihm furchtbar.</p>
+
+<p>Und doch mußte es geschehen. Er war sich darüber klar,
+und als er die Tür seines Bibliothekzimmers verschlossen
+hatte, öffnete er den geheimen Schrank, in den er Basil
+Hallwards Mantel und Tasche gesteckt hatte. Es loderte
+ein mächtiges Feuer. Er legte noch ein Stück Holz nach.
+Der Geruch der sengenden Kleider und des schwelenden
+Leders war entsetzlich. Er brauchte drei Viertelstunden,
+um alles zu verbrennen. Als es vorbei war, fühlte er sich
+schwach und krank, und nachdem er einige algerische Räucherkerzchen
+in einer durchbrochenen Kupferpfanne angezündet
+hatte, wusch er sich Hände und Stirn in kaltem,
+moschusduftendem Essig.</p>
+
+<p>Plötzlich schrak er zusammen. Seine Augen bekamen<a class="pagenum" name="Page_279" title="279"> </a>
+einen merkwürdigen Glanz und er nagte nervös an der
+Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern stand ein großer Florentiner
+Ebenholzschrank mit Elfenbein und Lapislazuli
+eingelegt. Er starrte ihn an, als wär er ein Etwas, das
+fesseln und ängstigen könne, als schließe er etwas ein, das
+er sehnsüchtig begehrte und doch beinahe verabscheute. Sein
+Atem ging schneller. Eine wilde Gier überkam ihn. Er zündete
+eine Zigarette an und warf sie gleich wieder weg.
+Seine Augenlider senkten sich, bis die langen Wimpern fast
+die Wangen berührten. Aber er sah noch immer nach dem
+Schranke hin. Endlich erhob er sich vom Sofa, auf dem er
+gelegen hatte, ging zu dem Schrank hinüber, schloß ihn auf
+und drückte an eine geheime Feder. Ein dreieckiges Schubfach
+kam langsam zum Vorschein. Seine Finger bewegten
+sich instinktiv danach, griffen hinein und faßten etwas.
+Es war ein kleines chinesisches Kästchen aus schwarzem,
+goldbetupftem Lack, das sehr sorgfältig gearbeitet war,
+und dessen Seiten gekrümmte Wellenlinien zierten, und
+an dessen seidenen Schnüren runde Kristalle mit Quasten
+aus geflochtenen Metallfäden hingen. Er öffnete das Kästchen.
+Eine grünlich-glänzende, wachsartige Masse von seltsam
+schwerem und durchdringendem Geruch lag darin.</p>
+
+<p>Er zögerte ein paar Augenblicke mit einem seltsam unbeweglichen
+Lächeln auf seinem Antlitz. Dann schauerte er
+zusammen, obwohl es im Zimmer ganz außergewöhnlich
+heiß war, raffte sich auf und sah nach der Uhr. Es fehlten
+zwanzig Minuten an zwölf. Er legte das Kästchen zurück,
+schloß die Türen des Schrankes und ging in sein Schlafzimmer.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_280" title="280"> </a></p>
+
+<p>Als die Mitternacht ihre metallenen Schläge durch die
+dunkle Luft schickte, schlich Dorian Gray in ordinärer
+Kleidung und ein Tuch um den Hals geschlungen, leise
+aus dem Hause. In Bond Street traf er eine Droschke
+mit einem guten Pferd. Er ließ sie halten und sagte dem
+Kutscher mit leiser Stimme eine Adresse.</p>
+
+<p>Der Mann schüttelte den Kopf. „Das ist mir zu weit“,
+brummte er.</p>
+
+<p>„Da haben Sie ein Goldstück. Sie sollen noch eins kriegen,
+wenn Sie rasch fahren.“</p>
+
+<p>„Schön, Herr!“ antwortete der Mann, „wir werden in
+einer Stunde da sein“, und nachdem sein Fahrgast eingestiegen
+war, lenkte er um und fuhr rasch der Themse zu.</p>
+
+
+<h2><a name="Sechzehntes_Kapitel" id="Sechzehntes_Kapitel"></a>Sechzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Ein kalter Regen begann zu fallen und die flackernden
+Laternen sahen in dem herabsickernden Nebel geisterhaft
+aus. Die Schenken wurden eben geschlossen, und Männer
+und Frauen drängten sich in schattenhaften Gruppen vor
+den Türen. Aus einigen Wirtschaften scholl ein gräßliches
+Lachen. In anderen lärmten und grölten Betrunkene.</p>
+
+<p>In die Droschke zurückgelehnt, den Hut tief in die Stirn
+gezogen, blickte Dorian Gray mit gleichgültigen Augen
+auf das Elend und den Schmutz der Großstadt, und dann
+und wann wiederholte er sich die Worte, die ihm Lord
+Henry am ersten Tage, wo sie sich kennengelernt hatten,<a class="pagenum" name="Page_281" title="281"> </a>
+gesagt hatte: „die Seele durch die Sinne und die Sinne
+durch die Seele zu heilen“. Ja, das war das Geheimnis.
+Er hatte es oft versucht und wollte es jetzt wieder versuchen.
+Es gab Opiumkneipen, wo man Vergessenheit
+kaufen konnte, Kneipen des Grauens, wo die Erinnerung
+an alte Sünden durch den Wahnsinn neuer ausgelöscht
+werden kann.</p>
+
+<p>Der Mond hing tief am Himmel wie eine gelbe Hirnschale.
+Von Zeit zu Zeit streckte eine dicke, unförmige
+Wolke einen langen Arm nach ihm aus und verbarg ihn.
+Die Gaslaternen wurden spärlicher und die Straßen enger
+und düsterer. Einmal verlor der Kutscher seinen Weg und
+mußte einige hundert Meter zurückfahren. Das Roß
+dampfte, während es in den Pfützen patschte. Die Seitenfenster
+des Wagens waren wie mit grauem Flanell ausgeschlagen.</p>
+
+<p>„Die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die
+Seele zu heilen &mdash;!“ Wie ihm die Worte in den Ohren
+klangen! Seine Seele war jedenfalls todkrank. War es
+denkbar, daß die Sinne sie heilen konnten? Unschuldiges
+Blut war vergossen worden. Welche Sühne konnte es dafür
+geben? Ach! dafür gab es keine Sühne; aber wenn auch
+Vergebung unmöglich war, Vergessen war doch möglich,
+und er war entschlossen, zu vergessen, die Sache zu Boden
+zu treten, sie zu vernichten wie eine Natter, die einen gebissen
+hat. Welches Recht hatte denn Basil gehabt, so zu
+ihm zu sprechen, wie er es getan hatte? Wer hatte ihn
+zum Richter über andere gesetzt? Er hatte Dinge gesagt,
+die schrecklich waren, entsetzlich, nicht zu ertragen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_282" title="282"> </a></p>
+
+<p>Weiter und weiter rollte die Droschke, und es schien ihm,
+als führe sie mit jedem Schritt langsamer. Er riß das
+Schiebefenster auf und rief dem Kutscher hinter ihm zu,
+schneller zu fahren. Der gräßliche Hunger nach Opium
+fing an, in ihm zu nagen. Die Kehle brannte ihm, und
+seine zarten Finger spielten nervös miteinander. Er schlug
+mit dem Spazierstock wie toll auf den Gaul ein. Der
+Kutscher lachte und hieb mit der Peitsche zu. Er lachte
+auch dazu, und der Mann auf dem Bocke schwieg.</p>
+
+<p>Der Weg schien endlos zu sein und die Straßen dehnten
+sich aus wie ein schwarzes, durcheinander gewirrtes Spinngewebe.
+Die Eintönigkeit wurde unerträglich, und als sich
+der Nebel dichter ballte, empfand er Furcht.</p>
+
+<p>Dann fuhren sie an einsamen Ziegeleien vorüber. Der
+Nebel ward hier durchsichtiger, und er konnte die merkwürdigen,
+kürbisflaschenartigen Brennöfen mit ihren orangefarbenen
+fächerartigen Feuerzungen erkennen. Ein Köter
+schlug an, als sie vorbeirasselten, und weit entfernt in der
+Dunkelheit schrie eine schlaflose Möwe. Das Pferd stolperte
+in irgendeiner Rinne, scheute und verfiel in Galopp.</p>
+
+<p>Nach einiger Zeit verließen sie den Lehmweg und ratterten
+wieder über ein holpriges Straßenpflaster. Die meisten
+Fenster waren dunkel, aber dann und wann sah man phantastische
+Schatten wie Silhouetten hinter einem erleuchteten
+Rouleau. Er spähte neugierig darauf hin. Sie bewegten
+sich wie riesenhafte Marionetten und gestikulierten wie
+lebende Wesen. Eine Art Haß auf sie überkam ihn. Ein
+dumpfer Zorn kochte in seinem Herzen. Als sie um eine<a class="pagenum" name="Page_283" title="283"> </a>
+Ecke bogen, rief ihnen ein Weib aus einer offenen Tür
+etwas zu, und zwei Männer rannten ein paar hundert
+Meter hinter der Droschke her. Der Kutscher schlug mit
+seiner Peitsche nach ihnen.</p>
+
+<p>Man sagt, die Leidenschaft wirble einem die Gedanken
+im Kreise umher. Jedenfalls formten die zerbissenen Lippen
+Dorian Grays in endloser Wiederholung die feingesetzten
+Worte von der Seele und den Sinnen und formten
+sie immer wieder, bis er in ihnen sozusagen den vollsten
+Ausdruck seiner Stimmung gefunden und durch die Zustimmung
+des Verstandes Leidenschaften gerechtfertigt hatte,
+die auch ohne solche Rechtfertigung sein Temperament beherrscht
+hätten. Von Zelle zu Zelle seines Gehirns kroch
+der eine Gedanke und die wilde Lebensgier, das schrecklichste
+aller menschlichen Hungergelüste, ließ sich jeden
+zuckenden Nerv und Muskel gewaltsam emporbäumen.
+Das Häßliche, das er einst gehaßt hatte, weil es den
+Dingen Wirklichkeit verlieh, wurde ihm jetzt aus demselben
+Grunde lieb. Das Häßliche war das einzig Wirkliche. Das
+rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die ordinäre Gewalttätigkeit
+eines liederlichen Lebens, die widerliche Verworfenheit
+der Diebe und Verbrecher waren in der intensiven
+Wirklichkeit ihrer Eindrücke mehr vom Leben erfüllt,
+als all die anmutigen Formen der Kunst, die träumerischen
+Schatten der Dichtung. Das war es, was er zum
+Vergessen brauchte. In drei Tagen würde er frei sein.</p>
+
+<p>Plötzlich hielt der Mann am Ende einer finstern Straße
+mit einem Ruck an. Über die niedrigen Dächer und gezackten
+Schornsteine der Häuser hinaus ragten die schwarzen<a class="pagenum" name="Page_284" title="284"> </a>
+Maste der Schiffe. Weiße Nebelfetzen hingen wie gespensterhafte
+Segel über den Werften.</p>
+
+<p>„Irgendwo hier, nicht wahr, Herr?“ ertönte die rauhe
+Stimme des Kutschers durch das Schiebefenster.</p>
+
+<p>Dorian fuhr auf und blickte sich um. „Schon gut“, antwortete
+er, stieg rasch aus, gab dem Kutscher Trinkgeld,
+das er ihm versprochen hatte, und ging eilig dem Kai zu.
+Hier und da flimmerte eine Laterne am Heck eines großen
+Kauffahrers. Das Licht zitterte und zersplitterte sich in den
+Pfützen. Ein rotes Geglitzer kam von einem weit draußen
+ankernden Dampfer, der Kohlen verlud. Das schlüpfrige
+Pflaster sah aus wie ein regenglänzender Gummimantel.</p>
+
+<p>Er hastete nach links weiter und blickte sich dann und
+wann um, ob ihm niemand folgte. Nach sieben oder acht
+Minuten erreichte er ein kleines, elendes Haus, das zwischen
+zwei große Faktoreien eingequetscht war. In einem
+der Giebelfenster brannte eine Lampe. Er blieb stehen und
+klopfte wie auf eine verabredete Art an.</p>
+
+<p>Nach einer kleinen Pause hörte er Schritte im Flur und
+wie die Türkette losgemacht wurde. Die Tür öffnete sich
+vorsichtig, und er trat hinein, ohne ein Wort zu der kleinen
+erbärmlichen Gestalt zu sagen, die sich in den Schatten
+drückte, als er vorbeischritt. Am Ende des Flurs hing ein
+zerlumpter grüner Vorhang, der sich in dem starken Luftzug,
+den er von der Straße her mitbrachte, hin und her
+bauschte. Er schob ihn beiseite und trat in einen langen,
+niedrigen Raum, der so aussah, als wäre er früher ein
+Tanzlokal dritten Ranges gewesen. Grell flackernde Gasflammen,
+die in den fliegenbeschmutzten Spiegeln gegenüber<a class="pagenum" name="Page_285" title="285"> </a>
+matt und verzehrt erschienen, brannten rings an den
+Wänden. Schmierige Reflektoren aus geripptem Wellblech
+waren dahinter angebracht und warfen tanzende Lichtkreise.
+Der Boden war mit ockerfarbigen Sägespänen bestreut, die
+an einzelnen Stellen zu Schmutzklumpen zertreten waren
+und auf denen sich von vergossenen Getränken schwarze
+Ringe abzeichneten. Ein paar Malaien hockten mit untergeschlagenen
+Beinen an einem kleinen Kohlenofen, spielten
+mit knöchernen Würfeln und zeigten beim Sprechen ihre
+weißlichen Zähne. In einem Winkel, den Kopf auf die
+Hände gestützt, räkelte sich ein Matrose über den Tisch, und
+an dem schreiend bemalten Büfett, das eine ganze Seite
+des Raumes einnahm, standen zwei heruntergekommene
+Weibspersonen und höhnten einen alten Mann, der mit
+einem Ausdruck des Ekels die Ärmel seines Rockes bürstete.
+„Er denkt, er hat sich Läuse geholt“, lachte die eine, als
+Dorian vorüberging. Der Mann sah sie erschreckt an und
+begann zu jammern.</p>
+
+<p>Am Ende des Zimmers war eine kleine Treppe, die in
+eine verdunkelte Kammer führte. Als Dorian die drei
+wackligen Stufen hinaufhastete, schlug ihm der schwere
+Geruch des Opiums entgegen. Er holte tief Atem, und
+seine Nasenflügel zitterten vor Lust. Als er eintrat, blickte
+ein junger Mann mit glattgescheiteltem Blondhaar zu ihm
+auf, der sich über eine Lampe beugte, an der er eine lange,
+dünne Pfeife anzündete, und zögernd nickte.</p>
+
+<p>„Du hier, Adrian?“ flüsterte Dorian.</p>
+
+<p>„Wo soll ich sonst sein?“ antwortete er gleichgültig.
+„Kein Mensch will jetzt mehr mit mir sprechen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_286" title="286"> </a></p>
+
+<p>„Ich dachte, du wärst aus England fort?“</p>
+
+<p>„Darlington wird nichts gegen mich unternehmen. Mein
+Bruder hat den Wechsel schließlich gezahlt. George spricht
+auch nicht mehr mit mir ... Ist mir auch einerlei“, fügte
+er seufzend hinzu. „Solange man noch das Zeug da hat,
+braucht man keine Freunde. Ich denke, ich habe zu viele
+Freunde gehabt.“</p>
+
+<p>Dorian zuckte zusammen und sah sich nach den grotesken
+Gestalten um, die da in so abenteuerlichen Stellungen auf
+den zerlumpten Matratzen lagen. Die verkrümmten Glieder,
+die offenen Mäuler, die stierenden, glanzlosen Augen
+übten eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er kannte
+die absonderlichen Paradiese, in denen sie litten, und
+welche dumpfe Höllen sie in das Geheimnis neuer Genüsse
+einweihten. Sie waren besser daran als er. Ihn hielten
+seine Gedanken eingekerkert. Die Erinnerung fraß wie eine
+fürchterliche Krankheit an seiner Seele. Von Zeit zu Zeit
+glaubte er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu
+sehen. Aber er fühlte, daß er hier nicht bleiben konnte.
+Die Anwesenheit Adrian Singletons störte ihn. Er wollte
+irgendwo sein, wo ihn niemand kennt. Er wollte sich selbst
+entfliehen.</p>
+
+<p>„Ich gehe in das andere Lokal“, sagte er nach einer
+Pause.</p>
+
+<p>„Auf der Werft?“</p>
+
+<p>„Ja.“</p>
+
+<p>„Die tolle Katze ist sicher da. Sie wollen sie hier nicht
+mehr haben.“</p>
+
+<p>Dorian zuckte die Achseln. „Ich habe die Weiber, die<a class="pagenum" name="Page_287" title="287"> </a>
+einen lieben, satt. Weiber, die einen hassen, sind viel
+interessanter. Übrigens ist dort der Stoff besser.“</p>
+
+<p>„Ganz derselbe.“</p>
+
+<p>„Mir schmeckt er da besser. Komm, wir wollen was
+trinken. Ich muß was haben.“</p>
+
+<p>„Ich brauche nichts“, murmelte der junge Mann.</p>
+
+<p>„Macht nichts.“</p>
+
+<p>Adrian Singleton stand schläfrig auf und folgte Dorian
+ans Büfett. Ein Mischling in zerrissenem Turban und
+schäbigem Ulster grinste ihnen einen widerlichen Gruß zu,
+als er zwei Gläser und eine Branntweinflasche vor sie hinstellte.
+Die Weiber torkelten herbei und begannen zu
+schwatzen. Dorian kehrte ihnen den Rücken zu und sagte
+leise etwas zu Adrian Singleton.</p>
+
+<p>Ein Grinsen gleich einem krummen malaischen Dolch verzerrte
+das Gesicht des einen Weibes. „Wir sind sehr stolz
+heute abend“, höhnte sie lachend.</p>
+
+<p>„Um Gottes willen, rede nicht mit mir!“ schrie Dorian
+und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. „Was willst
+du? Geld? Da! Aber sprich kein Wort mehr zu mir!“</p>
+
+<p>Zwei rote Funken blitzten für einen Augenblick in den
+wässerigen Augen des Weibes auf, dann verloschen sie
+wieder und ließen sie trübe und gläsern erscheinen. Sie
+warf den Kopf in den Nacken und raffte mit gierigen
+Fingern die Münzen auf dem Schenktisch zusammen. Ihre
+Gefährtin beobachtete sie neidisch.</p>
+
+<p>„Es hat keinen Zweck“, sagte Adrian Singleton seufzend.
+„Ich will nicht mehr zurück. Was macht's aus? Ich
+fühle mich hier ganz wohl.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_288" title="288"> </a></p>
+
+<p>„Du wirst mir doch schreiben, wenn du was brauchst?“
+fragte Dorian nach einer Weile.</p>
+
+<p>„Vielleicht.“</p>
+
+<p>„Dann gute Nacht!“</p>
+
+<p>„Gute Nacht!“ antwortete der junge Mann, schritt die
+Stufen hinauf und wischte sich den trockenen Mund mit
+dem Taschentuch ab.</p>
+
+<p>Dorian schritt mit einem qualvollen Zug im Gesicht zur
+Tür. Als er den Vorhang beiseitezog, scholl ein gräßliches
+Lachen von den geschminkten Lippen des Weibes,
+das sein Geld genommen hatte. „Da geht er hin, der
+Seelenverschacherer!“ stieß sie mit einer heiser glucksenden
+Stimme hervor.</p>
+
+<p>„Der Satan hol' dich!“ antwortete er, „du sollst mich
+nicht so nennen!“</p>
+
+<p>Sie schnippte mit den Fingern. „Was, du willst wohl
+Prinz Märchenschön genannt werden, das paßte dir, he?“
+kreischte sie hinter ihm her.</p>
+
+<p>Bei diesen Worten sprang der schläfrige Matrose auf
+und blickte sich wild um. Das Geräusch der zufallenden
+Haustür drang an sein Ohr. Er stürzte hinaus, als ob er
+ihn verfolgen wollte.</p>
+
+<p>Dorian Gray eilte rasch durch den herabstäubenden
+Regen den Kai entlang. Sein Zusammentreffen mit
+Adrian Singleton hatte ihn sonderbar bewegt, und er
+grübelte darüber nach, ob der Untergang dieses jungen
+Lebens wirklich sein Werk war, wie ihm Basil Hallward
+mit so schändlicher Beschimpfung schuldgegeben hatte. Er
+biß sich auf die Lippen, und für ein paar Augenblicke<a class="pagenum" name="Page_289" title="289"> </a>
+wurde sein Auge traurig. Aber schließlich, was ging es ihn
+an? Das bißchen Leben war zu kurz, als daß man die
+Sünden anderer auf seine Schultern laden könnte. Jeder
+lebte sein eigenes Leben und zahlte seinen eigenen Preis
+dafür. Das einzige Unglück war, daß man für ein einziges
+Vergehen so oftmals zahlen mußte. Man mußte immer
+und immer wieder zahlen. In seinem Handel mit dem
+Menschen glich das Schicksal sein Schuldbuch nie aus.</p>
+
+<p>Die Psychologen sagen uns, daß es Augenblicke gibt,
+wo die Anreizung zu Sünden oder zu dem, was die Welt
+Sünden nennt, eine Natur so beherrscht, daß jede Faser
+des Körpers, jede Zelle des Gehirns von fürchterlichen
+Kräften gestachelt zu sein scheint. Männer und Frauen
+verlieren in solchen Augenblicken die Willensfreiheit. Sie
+bewegen sich wie Automaten ihrem schrecklichen Ende zu.
+Die Wahl ist ihnen geraubt, und das Gewissen ist entweder
+tot oder, wenn es noch lebt, so lebt es nur, um der Empörung
+ihren Reiz und dem Ungehorsam ihren besonderen
+Zauber zu verleihen. Denn alle Sünden sind, wie die Theologen
+nicht müde werden, uns vorzuhalten, Sünden des
+Ungehorsams. Als jener hohe Geist, der Morgenstern
+alles Bösen vom Himmel fiel, da fiel er, weil er ein
+Rebell war.</p>
+
+<p>Unempfindlich, nur mit dem einen Gedanken ans Böse
+erfüllt, mit verfinstertem Geist, mit einer Seele, die nach
+Empörung lechzte, hastete Dorian Gray weiter, und beschleunigte,
+während er ging, seine Schritte immer mehr;
+aber als er in einen dunkeln Torweg einbog, der ihm oft
+genug als abgekürzter Weg zu dem berüchtigten Orte gedient<a class="pagenum" name="Page_290" title="290"> </a>
+hatte, den er jetzt aufsuchen wollte, fühlte er sich plötzlich
+von rückwärts gepackt, und bevor er Zeit hatte, sich
+zu wehren, wurde er gegen eine Mauer geschleudert und
+fühlte seinen Hals von einer brutalen Hand umklammert.</p>
+
+<p>Er kämpfte wie wahnsinnig um sein Leben, und mit
+furchtbarer Anstrengung glückte es ihm, sich aus den umschnürenden
+Fingern loszureißen. Einen Augenblick darauf
+hörte er das Knacken eines Revolvers und sah den Glanz
+eines blanken Laufes gerade gegen seinen Kopf gerichtet
+und die dunkle Gestalt eines untersetzten Mannes vor
+sich.</p>
+
+<p>„Was wollen Sie?“ keuchte er.</p>
+
+<p>„Sei still“, sagte der Mann. „Wenn du dich rührst,
+schieß' ich dich nieder!“</p>
+
+<p>„Sie sind toll. Was hab' ich Ihnen getan?“</p>
+
+<p>„Du hast das Leben Sibyl Vanes zugrunde gerichtet!“
+war die Antwort, „und Sibyl Vane war meine Schwester.
+Sie hat sich getötet. Ich weiß es. Ihr Tod ist deine
+Schuld. Ich habe geschworen, dich dafür zu töten. Jahrelang
+habe ich dich gesucht. Aber ich hatte keinen Anhaltspunkt,
+keine Spur. Die zwei Menschen, die dich hätten beschreiben
+können, waren tot. Ich wußte nichts von dir als den
+Kosenamen, den sie dir gab. Heute nacht habe ich ihn durch
+Zufall gehört. Mach' deinen Frieden mit Gott, denn heute
+nacht mußt du sterben.“</p>
+
+<p>Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Furcht. „Ich
+habe sie nie gekannt“, stammelte er. „Ich habe nie von ihr
+gehört. Sie sind verrückt.“</p>
+
+<p>„Gesteh' lieber deine Sünden ein, denn so wahr ich<a class="pagenum" name="Page_291" title="291"> </a>
+James Vane heiße, so gewiß sollst du jetzt sterben.“ Es
+war ein entsetzlicher Augenblick. Dorian wußte nicht, was
+er sagen oder tun sollte. „Auf die Knie!“ brüllte der
+Mann. „Ich geb' dir eine Minute, deinen Frieden zu
+machen &mdash; nicht mehr! Ich muß heute nacht an Bord
+nach Indien, und muß vorher meine Arbeit getan haben.
+Eine Minute. Mehr nicht!“</p>
+
+<p>Dorians Arme sanken herab. Von Todesangst gelähmt,
+wußte er nicht, was er beginnen sollte. Plötzlich zuckte eine
+jähe Hoffnung in seinem Gehirn auf. „Halt!“ schrie er.
+„Wie lang ist es her, daß Ihre Schwester gestorben ist?
+Rasch, sagen Sie!“</p>
+
+<p>„Achtzehn Jahre“, sagte der Mann. „Warum fragst
+du? Was machen die Jahre?“</p>
+
+<p>„Achtzehn Jahre!“ lachte Dorian mit einem triumphierenden
+Ton in seiner Stimme. „Achtzehn Jahre!
+Bringen Sie mich unter die Laterne und sehen Sie mein
+Gesicht an!“</p>
+
+<p>James Vane zögerte einen Augenblick und begriff nicht,
+was er meinte. Dann packte er Dorian Gray und schleifte
+ihn aus dem Torweg heraus.</p>
+
+<p>So dunkel und flackernd das windverwehte Licht auch
+war, es genügte doch, ihm den furchtbaren Irrtum zu
+zeigen, in den er geraten zu sein schien. Denn das Antlitz
+des Mannes, den er töten wollte, wies die ganze Blütenweichheit
+der Jugend auf, zeigte all die unbefleckte Reinheit
+der Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling
+von zwanzig Lenzen, kaum älter, als seine Schwester gewesen
+war, als sie vor so vielen Jahren Abschied voneinander<a class="pagenum" name="Page_292" title="292"> </a>
+genommen hatten. Es war klar, daß dies nicht der
+Mann war, der ihr Leben zerstört hatte.</p>
+
+<p>Er ließ seine Faust von ihm los und taumelte zurück.
+„Mein Gott, mein Gott!“ rief er aus, „und ich hätte Sie
+fast ermordet!“</p>
+
+<p>Dorian Gray schöpfte tief Atem. „Sie waren dicht
+daran, ein furchtbares Verbrechen zu begehen, Mann“,
+sagte er mit einem strengen Blick. „Lassen Sie sich das eine
+Warnung sein, eine Rache nicht mit eigener Hand zu übernehmen.“</p>
+
+<p>„Verzeihen Sie mir, Herr!“ stammelte James Vane.
+„Ich habe mich täuschen lassen. Ein zufälliges Wort, das
+ich in der verfluchten Kneipe hörte, brachte mich auf die
+falsche Spur.“</p>
+
+<p>„Sie sollten lieber nach Hause gehen und Ihre Pistole
+wegtun, sonst kommen Sie noch in Ungelegenheiten“,
+sagte Dorian, drehte sich um und ging langsam die Straße
+hinunter.</p>
+
+<p>James Vane stand voller Entsetzen auf dem Pflaster. Er
+zitterte von Kopf bis Fuß. Nach einer kleinen Weile bewegte
+sich ein schwarzer Schatten, der längs der regenfeuchten
+Wand hingeschlichen war, ins Licht hinaus und
+glitt mit verstohlenen Schritten an seine Seite. Er spürte
+eine Hand auf seinem Arm und drehte sich mit jähem Ruck
+um. Es war eines der Weiber, die am Büfett getrunken
+hatten.</p>
+
+<p>„Warum hast du ihn nicht umgebracht?“ zischte sie und
+brachte ihr verlebtes Gesicht ganz dicht an das seine. „Ich
+wußte, daß du ihm folgtest, als du aus Dalys Haus fortranntest.<a class="pagenum" name="Page_293" title="293"> </a>
+Du Narr! Du hättest ihn totschlagen sollen. Er
+hat einen Haufen Geld und ist schlechter als sonst wer.“</p>
+
+<p>„Er ist nicht der Mann, den ich suche,“ antwortete er,
+„und ich suche keines Menschen Geld. Ich such' eines Menschen
+Leben. Der Mann, dessen Leben ich suche, muß jetzt
+an die Vierzig sein. Der da war fast noch ein Knabe. Ich
+danke Gott, daß nicht sein Blut an meinen Händen klebt.“</p>
+
+<p>Das Weib stieß ein bitteres Lachen aus. „Fast noch ein
+Knabe!“ höhnte sie. „Wahrhaftig, Mensch, es ist fast
+achtzehn Jahre her, seit Prinz Märchenschön das aus mir
+gemacht hat, was ich heute bin!“</p>
+
+<p>„Du lügst!“ schrie James Vane.</p>
+
+<p>Sie hob die Hände gen Himmel. „Bei Gott, ich sage die
+Wahrheit!“ rief sie.</p>
+
+<p>„Bei Gott?“</p>
+
+<p>„Du kannst mich kaltmachen, wenn es nicht so ist. Er ist
+der Schlechteste von allen, die herkommen. Sie sagen, er
+hat dem Teufel seine Seele für sein hübsches Gesicht verkauft.
+Es sind fast achtzehn Jahre, daß ich ihn kennenlernte.
+Er hat sich seitdem wenig verändert. Ich um so
+mehr“, fügte sie mit einem traurigen Blinzeln hinzu.</p>
+
+<p>„Beschwörst du das?“</p>
+
+<p>„Ich schwöre es“, klang es wie ein heiseres Echo aus
+ihrem entstellten Munde. „Aber verrate mich ihm nicht“,
+winselte sie; „ich habe Angst vor ihm. Gib mir 'n paar
+Groschen zum Nachtquartier.“</p>
+
+<p>Mit einem Fluch riß er sich von ihr los und stürzte an
+die Straßenecke; aber Dorian Gray war verschwunden.
+Als er zurückblickte, war auch das Weib schon weg.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_294" title="294"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Siebzehntes_Kapitel" id="Siebzehntes_Kapitel"></a>Siebzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Eine Woche später saß Dorian Gray im Gewächshaus
+von Selby Royal und plauderte mit der hübschen Herzogin
+von Monmouth, die sich mit ihrem Gatten, einem ermüdet
+aussehenden Manne von sechzig Jahren, unter seinen
+Gästen befand. Es war zur Teezeit, und das sanfte Licht
+der großen, mit einem Spitzenschleier verhängten Lampe,
+die auf dem Tische stand, erleuchtete das kostbare Porzellan
+und das getriebene Silberservice, das neben der
+Herzogin stand. Ihre weißen Hände machten sich zierlich
+zwischen den Tassen zu schaffen, und ihre vollen, roten
+Lippen lächelten über etwas, das ihr Dorian zugeflüstert
+hatte. Lord Henry lag zurückgelehnt in einem mit Silberseide
+bezogenen Rohrsessel und sah beide an. Auf einem
+pfirsichfarbenen Diwan saß Lady Narborough und tat so,
+als ob sie der Beschreibung des Herzogs zuhörte, die den
+letzten brasilianischen Käfer betraf, den er seiner Sammlung
+einverleibt hatte. Drei junge Leute in gewählter Gesellschaftstoilette
+boten den Damen Teekuchen an. Die Gesellschaft
+bestand aus zwölf Personen, und für den nächsten
+Tag wurden noch einige erwartet.</p>
+
+<p>„Worüber sprecht ihr beide?“ fragte Lord Henry,
+während er gemächlich zu dem Teetisch ging und seine Tasse
+niederstellte. „Ich hoffe, Dorian hat dir von meinem
+Plan, alles umzutaufen, erzählt, Gladys. Es ist eine allerliebste
+Idee.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_295" title="295"> </a></p>
+
+<p>„Aber ich will nicht umgetauft werden, Harry“, erwiderte
+die Herzogin und sah ihn mit ihren reizend schönen
+Augen an. „Ich bin mit meinem Namen ganz zufrieden
+und ich denke, Herr Gray kann auch mit seinem zufrieden
+sein.“</p>
+
+<p>„Meine teure Gladys, ich würde um keinen Preis der
+Welt einen der beiden Namen umändern wollen. Sie sind
+beide vollendet. Ich dachte hauptsächlich an Blumen.
+Gestern schnitt ich mir eine Orchidee für mein Knopfloch. Es
+war eine wundervoll gesprenkelte Blume, so wirkungsvoll
+wie die sieben Todsünden. In einem Anfall von Gedankenträgheit
+fragte ich einen der Gärtner, wie sie heiße. Er sagte
+mir, es sei ein schönes Exemplar der Robinsoniana oder
+irgendeine derartige gräßliche Bezeichnung. Es ist eine
+traurige Wahrheit, aber wir haben die glückliche Gabe
+verloren, den Dingen schöne Namen zu geben. Und
+Namen sind alles. Ich kämpfe nie gegen Taten an. Mein
+einziger Kampf richtet sich gegen die Worte. Das ist der
+Grund, weshalb ich den vulgären Realismus in der
+Literatur verabscheue. Der Mann, der imstande ist,
+einen Spaten einen Spaten zu nennen, sollte gezwungen
+werden, selbst einen in die Hand zu nehmen. Es ist die
+einzige Sache, zu der er tauglich wäre.“</p>
+
+<p>„Wie sollen wir also dich nennen, Harry?“ fragte sie.</p>
+
+<p>„Sein Name ist Prinz Paradox“, sagte Dorian.</p>
+
+<p>„Der wird sofort akzeptiert!“ rief die Herzogin.</p>
+
+<p>„Ich will ihn nicht hören“, lachte Lord Henry und ließ
+sich in ein Fauteuil fallen. „Vor einem solchen Etikettchen
+kann man sich nicht retten. Ich weise den Titel zurück.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_296" title="296"> </a></p>
+
+<p>„Fürstlichkeiten können nicht abdanken“, warnten ihn
+schöne Lippen.</p>
+
+<p>„Du willst also, daß ich meinen Thron verteidige?“</p>
+
+<p>„Ja.“</p>
+
+<p>„Ich sage die Wahrheiten von morgen.“</p>
+
+<p>„Ich ziehe die Irrtümer von heute vor“, antwortete
+sie.</p>
+
+<p>„Du entwaffnest mich, Gladys!“ rief er, entzückt von
+ihrer übermütigen Laune.</p>
+
+<p>„Deines Schildes, Harry, nicht deines Speeres.“</p>
+
+<p>„Ich kämpfe nie gegen Schönheit“, sagte er mit einer
+huldigenden Handbewegung.</p>
+
+<p>„Das ist dein Fehler, Harry, glaube mir's. Du überschätzest
+die Schönheit.“</p>
+
+<p>„Wie kannst du das sagen? Ich gebe zu, daß ich es für
+besser halte, schön zu sein als gut. Aber andererseits ist
+niemand eher als ich bereit zuzugeben, daß es besser ist,
+gut zu sein als häßlich.“</p>
+
+<p>„Dann also ist Häßlichkeit eine der sieben tödlichen Sünden?“
+rief die Herzogin. „Wie steht es nun mit deinem
+<ins title="Orchideengleichnis?">Orchideengleichnis?“</ins></p>
+
+<p>„Häßlichkeit ist eine von den sieben tödlichen Tugenden,
+Gladys. Du als gute Tory darfst sie nicht unterschätzen.
+Das Bier, die Bibel und die sieben tödlichen Tugenden
+haben aus England gemacht, was es heute ist.“</p>
+
+<p>„Du liebst also dein Vaterland nicht?“ fragte sie.</p>
+
+<p>„Ich lebe darin.“</p>
+
+<p>„Damit du es besser tadeln kannst.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_297" title="297"> </a></p>
+
+<p>„Sähest du es lieber, daß ich mir das Urteil Europas
+über unser Land aneigne?“ fragte er.</p>
+
+<p>„Was sagt man von uns?“</p>
+
+<p>„Daß Tartüff nach England ausgewandert sei und dort
+einen Laden aufgemacht habe.“</p>
+
+<p>„Ist das von dir, Harry?“</p>
+
+<p>„Ich schenke es dir.“</p>
+
+<p>„Ich kann's nicht gebrauchen. Es ist zu wahr.“</p>
+
+<p>„Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Unsere Landsleute
+erkennen sich nie in ihrem Steckbrief wieder.“</p>
+
+<p>„Du bist so praktisch.“</p>
+
+<p>„Eher gerissen als praktisch. Wenn sie ihr Kontokorrent
+abschließen, dann saldieren sie Dummheit mit Reichtum
+und Laster mit Heuchelei.“</p>
+
+<p>„Und doch haben wir große Dinge vollbracht.“</p>
+
+<p>„Große Dinge sind uns auferlegt worden, Gladys.“</p>
+
+<p>„Wir haben ihre Last zu tragen vermocht.“</p>
+
+<p>„Nur bis zur Börse.“</p>
+
+<p>Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube an unsere Rasse!“
+rief sie.</p>
+
+<p>„Sie vertritt den überlebenden Ellbogenstreber.“</p>
+
+<p>„Sie hat das Zeug zur Entwicklung.“</p>
+
+<p>„Verfall reizt mich mehr.“</p>
+
+<p>„Und die Kunst?“ fragte sie.</p>
+
+<p>„Eine Krankheit.“</p>
+
+<p>„Liebe?“</p>
+
+<p>„Einbildung.“</p>
+
+<p>„Religion?“</p>
+
+<p>„Modesurrogat für den Glauben.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_298" title="298"> </a></p>
+
+<p>„Du bist ein Skeptiker!“</p>
+
+<p>„Niemals! Skeptizismus ist der Anfang des Glaubens.“</p>
+
+<p>„Was bist du?“</p>
+
+<p>„Definieren heißt beschränken.“</p>
+
+<p>„Reich mir den Ariadnefaden!“</p>
+
+<p>„Fäden zerreißen. Du wurdest deinen Weg im Labyrinth
+verlieren.“</p>
+
+<p>„Du machst mich wirre. Laß uns von einem anderen
+sprechen.“</p>
+
+<p>„Unser Wirt ist ein entzückendes Thema. Vor vielen
+Jahren nannte man ihn den Prinz Märchenschön.“</p>
+
+<p>„Ach! Erinnere mich nicht daran!“ rief Dorian Gray.</p>
+
+<p>„Unser Wirt ist recht greulich heute abend“, antwortete
+die Herzogin und errötete. „Er denkt wohl, Monmouth
+habe mich nur aus wissenschaftlichen Gründen geheiratet,
+weil ich das beste Musterbeispiel eines modernen Schmetterlings
+bin.“</p>
+
+<p>„Ich hoffe aber, er wird Sie nicht auf Stecknadeln
+spießen, Frau Herzogin“, lachte Dorian.</p>
+
+<p>„Oh! Das besorgt schon meine Kammerjungfer, Herr
+Gray, wenn sie sich über mich ärgert.“</p>
+
+<p>„Und worüber ärgert sie sich, Frau Herzogin?“</p>
+
+<p>„Über die geringsten Dinge, Herr Gray, glauben Sie
+nur! Gewöhnlich, wenn ich zehn Minuten vor neun nach
+Hause komme und ihr sage, daß ich bis halb neun angezogen
+sein muß.“</p>
+
+<p>„Wie unvernünftig von ihr! Sie sollten ihr den Laufpaß
+geben!“</p>
+
+<p>„Das wag' ich nicht, Herr Gray. Sie erfindet nämlich<a class="pagenum" name="Page_299" title="299"> </a>
+meine Hüte. Sie erinnern sich nicht an den Hut, den ich
+auf Lady Hilstones Gartenfest getragen habe? Natürlich
+nicht, aber es ist hübsch von Ihnen, daß Sie so tun. Also
+der war geradezu aus nichts gemacht. Alle guten Hüte
+werden aus nichts gemacht.“</p>
+
+<p>„Wie jeder gute Ruf, Gladys!“ unterbrach Lord Henry.
+„Jede Wirkung, die man erzielt, schafft uns einen
+Feind. Man muß eine Mittelmäßigkeit sein, wenn man
+eine Beliebtheit sein will.“</p>
+
+<p>„Nicht unter Frauen“, sagte die Herzogin und schüttelte
+den Kopf; „und Frauen regieren die Welt. Ich behaupte
+steif und fest, wir können Mittelmäßigkeiten nicht vertragen.
+Wir Frauen, hat mal jemand gesagt, lieben mit
+den Ohren, gerade so, wie ihr Männer mit den Augen
+liebt, wenn ihr überhaupt liebt.“</p>
+
+<p>„Es scheint mir, daß wir überhaupt nie etwas anderes
+tun“, flüsterte Dorian.</p>
+
+<p>„Ach! Herr Gray, dann lieben Sie nie in Wirklichkeit“,
+antwortete die Herzogin wie in spöttischer Trauer.</p>
+
+<p>„Meine liebe Gladys.“ rief Lord Henry. „Wie kannst
+du das sagen? Die Romantik lebt von Wiederholung,
+und die Wiederholung verwandelt jeden Anreiz in Kunst.
+Übrigens, jedesmal, wenn man liebt, ist es das erstemal,
+daß man geliebt hat. Die Verschiedenheit des Objektes
+verändert die Einzigkeit der Leidenschaft nicht. Sie macht
+sie nur stärker. Wir können im Leben bestenfalls nur ein
+einziges großes Erlebnis haben, und das Geheimnis des
+Lebens besteht darin, dieses Erlebnis so oft als möglich zu
+wiederholen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_300" title="300"> </a></p>
+
+<p>„Selbst wenn es einen verwundet hat, Harry?“ fragte
+die Herzogin nach einer Pause.</p>
+
+<p>„Besonders wenn es einen verwundet hat“, entgegnete
+Lord Henry.</p>
+
+<p>Die Herzogin wandte sich um und sah Dorian Gray an
+mit einem seltsamen Ausdruck in ihren Augen. „Was sagen
+Sie dazu, Herr Gray?“ forschte sie.</p>
+
+<p>Dorian zögerte einen Augenblick. Dann warf er den
+Kopf zurück und lachte. „Ich stimme mit Harry immer
+überein, Frau Herzogin.“</p>
+
+<p>„Auch wenn er unrecht hat?“</p>
+
+<p>„Harry hat nie unrecht, Frau Herzogin.“</p>
+
+<p>„Und macht Sie seine Philosophie glücklich?“</p>
+
+<p>„Glück habe ich nie gesucht. Wer braucht Glück? Ich
+habe Vergnügen gesucht.“</p>
+
+<p>„Und gefunden, Herr Gray?“</p>
+
+<p>„Oft. Zu oft.“</p>
+
+<p>Die Herzogin seufzte. „Ich suche Frieden,“ sagte sie,
+„und wenn ich jetzt nicht gehe und mich anziehe, habe ich
+ihn heut abend nicht.“</p>
+
+<p>„Lassen Sie mich Ihnen ein paar Orchideen holen,
+Frau Herzogin!“ rief Dorian, sprang auf und ging ins
+Gewächshaus hinunter.</p>
+
+<p>„Du flirtest ganz schändlich mit ihm“, sagte Lord Henry
+zu seiner Kusine. „Du solltest dich lieber in acht nehmen.
+Er kann sehr faszinieren.“</p>
+
+<p>„Wenn er es nicht könnte, gäb's keinen Kampf.“</p>
+
+<p>„Also Griechen kämpfen gegen Griechen?“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_301" title="301"> </a></p>
+
+<p>„Ich bin auf seiten der Trojaner. Sie kämpften für ein
+Weib.“</p>
+
+<p>„Sie wurden besiegt.“</p>
+
+<p>„Es gibt ärgere Dinge als Gefangenschaft“, erwiderte
+sie.</p>
+
+<p>„Du galoppierst mit verhängtem Zügel.“</p>
+
+<p>„Das Tempo macht Leben“, war die Antwort.</p>
+
+<p>„Ich will mir das heut abend in mein Tagebuch schreiben.“</p>
+
+<p>„Was?“</p>
+
+<p>„Daß ein gebranntes Kind das Feuer liebt.“</p>
+
+<p>„Ich bin noch nicht einmal versengt. Meine Flügel
+sind unberührt.“</p>
+
+<p>„Du gebrauchst sie zu allem, nur nicht zur Flucht.“</p>
+
+<p>„Der Mut ist von den Männern zu den Frauen gewandert.
+Das ist ein neues Erlebnis für uns.“</p>
+
+<p>„Du hast eine Rivalin.“</p>
+
+<p>„Wen?“</p>
+
+<p>Er lachte. „Lady Narborough“, flüsterte er. „Sie betet
+ihn an.“</p>
+
+<p>„Du machst mir Angst. Die Beschwörung des Altertums
+ist für uns Romantiker stets gefährlich.“</p>
+
+<p>„Romantiker! Du hast alle Methoden der Wissenschaft.“</p>
+
+<p>„Männer haben uns erzogen.“</p>
+
+<p>„Aber nicht erklärt.“</p>
+
+<p>„Gib uns eine Definition unseres Geschlechtes“, forderte
+sie ihn heraus.</p>
+
+<p>„Sphinxe ohne Geheimnisse.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_302" title="302"> </a></p>
+
+<p>Sie sah ihn lächelnd an. „Wie lange Herr Gray wegbleibt“,
+sagte sie. „Wir wollen ihm helfen. Ich habe ihm
+noch nicht einmal die Farbe meines Kleides angegeben.“</p>
+
+<p>„Pah! Du mußt dein Kleid seinen Blumen anpassen,
+Gladys.“</p>
+
+<p>„Das wäre eine zu frühe Übergabe.“</p>
+
+<p>„Die romantische Kunst beginnt mit dem Höhepunkt.“</p>
+
+<p>„Ich muß mir die Möglichkeit des Rückzuges offen
+halten.“</p>
+
+<p>„Wie die Parther?“</p>
+
+<p>„Sie fanden Schutz in der Wüste. Mir wäre das nicht
+möglich.“</p>
+
+<p>„Man läßt den Frauen nicht immer die Wahl“, entgegnete
+er; aber kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen,
+als von dem äußersten Winkel des Gewächshauses
+her ein unterdrücktes Stöhnen kam, dem das dumpfe Gerausch
+eines schweren Falles folgte. Alles sprang auf.
+Die Herzogin stand regungslos da vor Schreck. Mit ängstlichen
+Augen stürzte Lord Henry durch die wehenden
+Fächer der Palmen und fand Dorian Gray in einer
+todesähnlichen Ohnmacht am Boden liegend, mit dem Gesicht
+auf den kühlen Fliesen.</p>
+
+<p>Er wurde sofort in den blauen Salon gebracht und auf
+ein Sofa gelegt. Nach einer kurzen Weile kam er wieder
+zu sich und sah sich verstört um.</p>
+
+<p>„Was ist geschehen?“ fragte er. „Ach! jetzt fällt mir's
+ein. Bin ich hier sicher, Harry?“ Er begann zu zittern.</p>
+
+<p>„Mein lieber Dorian,“ antwortete Lord Henry, „es war
+ein Ohnmachtsanfall. Weiter nichts. Du mußt dich wohl<a class="pagenum" name="Page_303" title="303"> </a>
+übermüdet haben. Komm lieber nicht zum Diner hinunter.
+Ich werde dich vertreten.“</p>
+
+<p>„Nein, ich will herunterkommen“, sagte er und mühte
+sich, auf den Füßen zu stehen. „Ich komme lieber herunter!
+Ich darf nicht allein sein.“</p>
+
+<p>Er ging in sein Zimmer und zog sich um. Als er bei
+Tisch saß, war in seinem Gehaben eine wilde, übermütige
+Lustigkeit, aber hin und wieder überlief ihn ein Angstschauer,
+wenn er sich erinnerte, daß er, gegen die Fensterscheiben
+des Gewächshauses gepreßt, das lauernde Gesicht
+James Vanes wie ein weißes Tuch erblickt hatte.</p>
+
+<h2><a name="Achtzehntes_Kapitel" id="Achtzehntes_Kapitel"></a>Achtzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Am nächsten Tage verließ er das Haus nicht und verbrachte
+den größten Teil der Zeit in seinem Zimmer,
+durchrüttelt von einer wilden Todesfurcht und dem Leben
+gegenüber doch gleichgültig. Das Bewußtsein, gejagt, umzingelt,
+aufgestöbert zu werden, fing an, ihn gänzlich zu
+beherrschen. Wenn nur die Vorhänge im Winde rauschten,
+schrak er zusammen. Die toten Blätter, die gegen die verbleiten
+Scheiben gefegt wurden, schienen ihm seine eigenen
+vergeudeten Vorsätze und ungestümen Gewissensbisse zu
+sein. Wenn er die Augen schloß, sah er wieder das Gesicht
+des Matrosen vor sich, wie es durch das feuchtbeschlagene
+Glas stierte, und das Entsetzen schien ihm noch einmal seine
+Hand aufs Herz zu legen.</p>
+
+<p>Aber vielleicht war es nur seine Phantasie gewesen, die<a class="pagenum" name="Page_304" title="304"> </a>
+die Rache aus der Nacht heraufbeschworen und ihm die
+gräßliche Gestalt der Strafe vorgetäuscht hatte. Das wirkliche
+Leben war ein Chaos, aber es war eine furchtbare
+Logik in der Phantasie. Die Phantasie hetzte die Gewissensbisse
+hinter den flüchtigen Sohlen der Sünde her.
+Die Phantasie ließ jedes Verbrechen seine mißgestaltete
+Brut in sich tragen. In der gewöhnlichen Welt der Tatsachen
+wurden die Schlechten so wenig bestraft wie die
+Guten belohnt. Der Erfolg gehörte den Starken, Unglück
+machte die Schwachen unterliegen. Das war alles. Zudem,
+wenn ein Fremder um das Haus herumgestrolcht
+wäre, so hätten ihn die Diener oder Wächter entdeckt.
+Wären irgendwelche Fußtapfen in den Beeten bemerkt
+worden, so hätten es die Gärtner gemeldet. Ja: es war
+alles bloße Einbildung. Sybil Vanes Bruder war nicht
+zurückgekommen, um ihn zu ermorden. Er war mit seinem
+Schiff abgesegelt, um in irgendeiner arktischen See zu ertrinken.
+Vor dem war er also sicher. Der Mann wußte
+gar nicht, wer er war und konnte es nicht wissen. Die
+Maske der Jugend hatte ihn gerettet.</p>
+
+<p>Und doch, wenn es eine bloße Ausgeburt der Einbildung
+gewesen war, wie schrecklich war doch der Gedanke,
+daß das Gewissen so fürchterliche Hirngespinste entstehen
+lassen und ihnen sichtbare Form und Bewegung geben
+konnte! Was für eine Art Leben würde er führen, wenn
+Tag und Nacht die Schatten seines Verbrechens aus düsteren
+Winkeln nach ihm spähten, ihn von geheimen Stellen
+aus neckten, ihm ins Ohr flüsterten, wenn er beim Mahle
+saß, ihn mit eisigen Fingern weckten, wenn er schlief! Als<a class="pagenum" name="Page_305" title="305"> </a>
+dieser Gedanke durch sein Hirn kroch, wurde er blaß vor
+Schrecken, und die Luft schien ihm plötzlich kälter geworden
+zu sein. Oh! in was für einer wilden Wahnsinnsstunde
+hatte er seinen Freund umgebracht! Wie bluterstarrend
+war nur die Erinnerung an diese Szene! Er sah es alles
+wieder. Jede gräßliche Einzelheit kam mit vermehrtem
+Entsetzen wieder zu ihm. Aus dem schwarzen Grabverlies
+der Zeit stieg schrecklich und in Scharlachrot gehüllt das
+Bild seiner Sünde empor. Als Lord Henry um sechs Uhr
+eintrat, fand er ihn schluchzend, als ob ihm das Herz
+brechen wolle.</p>
+
+<p>Erst am dritten Tage wagte er auszugehen. Es lag
+etwas in der klaren, tannenduftenden Luft dieses Wintermorgens,
+das ihm seine Fröhlichkeit und seine Lebenslust
+wiederzugeben schien. Aber nicht nur die physischen Bedingungen
+seiner Umgebung hatten diese Wandlung zuwege
+gebracht. Seine eigene Natur hatte sich gegen das Übermaß
+der Angst empört, die ihre vollendete Ruhe zu stören
+und zu vernichten versucht hatte. Mit feinen und subtil
+organisierten Temperamenten ist es immer so. Ihre heftigen
+Leidenschaften können nur Hammer oder Amboß
+sein. Entweder töten sie den Menschen oder sterben selbst.
+Oberflächliche Sorgen, oberflächliche Liebesempfindungen
+können weiter leben. Tiefe Liebesempfindungen und große
+Sorgen gehen durch ihre eigene Überfülle zugrunde. Überdies
+hatte er sich jetzt überzeugt, daß er das Opfer einer
+erschreckten Einbildungskraft gewesen war, und sah jetzt auf
+seine Ängste mit einer Art Mitleid und nicht geringer Verachtung
+zurück.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_306" title="306"> </a></p>
+
+<p>Nach dem Frühstück ging er mit der Herzogin ein
+Stündchen im Garten spazieren und fuhr dann durch den
+Park, um mit der Jagdgesellschaft zusammenzutreffen.
+Der feinperlige Reif lag wie Salz auf dem Rasen. Der
+Himmel sah aus wie ein umgestülpter Pokal aus blauem
+Metall. Ein dünner Eisgallert umsäumte den seichten,
+schilfbewachsenen Teich.</p>
+
+<p>Am Eingang des Tannenwaldes erblickte er Sir Geoffrey
+Clouston, den Bruder der Herzogin, der eben zwei
+verschossene Patronen aus seiner Flinte stieß. Dorian
+sprang aus dem Wagen, sagte dem Groom, er solle mit
+dem Gespann nach Hause fahren, und ging durch das welke
+Farnkraut und das gestrüppige Unterholz auf seinen
+Gast zu.</p>
+
+<p>„Gute Jagd gehabt, Geoffrey?“ fragte er.</p>
+
+<p>„Nicht berühmt, Dorian. Die meisten Vögel, glaub' ich,
+sind auf die Felder geflüchtet. Vielleicht wird's nachmittag
+besser sein, wenn wir auf frisches Revier kommen.“</p>
+
+<p>Dorian schlenderte neben ihm weiter. Die starke, aromatische
+Luft, die braunen und roten Lichter, die den Wald
+durchflimmerten, das rauhe Geschrei der Treiber, das von
+Zeit zu Zeit aufgellte, und der scharfe Knall der Flinten,
+der dann folgte, das alles fesselte ihn und erfüllte ihn mit
+einem Gefühl entzückender Freiheit. Er war beherrscht von
+einem sorglosen Glück, von einer großartigen Gleichgültigkeit
+der Freude.</p>
+
+<p>Plötzlich brach aus einem dicken Büschel alten Grases,
+vielleicht zwanzig Meter vor ihnen, ein Hase aus, die
+schwarzgesprenkelten Löffel steif aufgerichtet und die langen<a class="pagenum" name="Page_307" title="307"> </a>
+Hinterläufe nach vorn werfend. Er schnellte auf ein
+Erlendickicht los. Sir Goeffrey riß das Gewehr an die
+Schulter, aber in der anmutigen Bewegung des Tieres
+lag etwas, das Dorian Gray seltsam entzückte, und er
+rief hastig: „Schieß nicht, Geoffrey. Laß ihn laufen!“</p>
+
+<p>„Ach, Unsinn, Dorian“, sagte lachend sein Gefährte,
+und noch ehe der Hase in das Dickicht setzte, schoß er zu.
+Man hörte zwei Schreie, den Schrei eines verwundeten
+Hasen, der schrecklich ist, und den Schrei eines sterbenden
+Menschen, der noch schrecklicher ist.</p>
+
+<p>„Gott im Himmel, ich habe einen Treiber getroffen!“
+rief Sir Geoffrey aus. „Was für 'n Esel der Mann ist,
+einem direkt vors Gewehr zu laufen! Hört auf mit Schießen!“
+rief er mit seiner lautesten Stimme. „Ein Mann ist
+getroffen worden!“</p>
+
+<p>Der Hegemeister kam mit einem Stock in der Hand herbeigelaufen.</p>
+
+<p>„Wo, Herr? Wo ist er?“ rief er. Im selben Augenblick
+hörte das Schießen auf der ganzen Linie auf.</p>
+
+<p>„Hier!“ antwortete Sir Geoffrey ärgerlich und rannte
+auf das Dickicht zu. „Warum, zum Kuckuck, halten Sie
+Ihre Leute nicht weiter zurück? Für heute hab' ich die
+ganze Jagd im Magen.“</p>
+
+<p>Dorian sah ihnen nach, wie sie in die Erlenbüsche eindrangen
+und die biegsamen Zweige zur Seite bogen. Nach
+einigen Augenblicken erschienen sie wieder und zogen einen
+Körper ans Tageslicht. Er wandte sich entsetzt ab. Es schien
+ihm, als folge ihm das Mißgeschick überallhin. Er hörte,
+wie Sir Geoffrey fragte, ob der Mann wirklich tot wäre,<a class="pagenum" name="Page_308" title="308"> </a>
+und vernahm die bejahende Antwort des Hegemeisters.
+Es schien ihm, als wimmele der Wald urplötzlich von Gesichtern.
+Er hörte das Gelaufe von unzähligen Füßen
+und das gedämpfte Flüstern von Stimmen. Ein großer
+Fasan mit kupferfarbener Brust rauschte durch die Äste
+über ihm dahin.</p>
+
+<p>Nach einigen Augenblicken, die ihm in seiner Fassungslosigkeit
+wie endlose, peinvolle Stunden vorkamen, fühlte
+er eine Hand auf seiner Schulter. Er zuckte zusammen
+und wandte sich um.</p>
+
+<p>„Dorian,“ sagte Lord Henry, „ich halt 's für richtiger,
+die Jagd für heute beendet sein zu lassen. Es würde nicht
+gut aussehen, sie fortzusetzen.“</p>
+
+<p>„Ich wollte, sie wäre für immer beendet, Harry“, antwortete
+er bitter. „Die ganze Geschichte ist gräßlich und
+grausam ist der Mann...?“ Er konnte den Satz nicht
+vollenden.</p>
+
+<p>„Ja leider“, entgegnete Lord Henry. <ins title="Er">„Er</ins> hat die ganze
+Ladung in die Brust gekriegt. Er muß augenblicklich gestorben
+sein. Komm, wir wollen nach Hause.“</p>
+
+<p>Sie schritten nebeneinander auf die Allee zu und sprachen
+etwa fünfzig Meter weit kein Wort. Dann sah Dorian
+Lord Henry an und sagte mit einem tiefen Seufzer: „Das
+ist ein böses Omen, Harry, ein sehr böses Omen.“</p>
+
+<p>„Was denn?“ fragte Lord Henry. „Oh! diesen Unglücksfall
+meinst du. Lieber Junge, daran ist nichts zu
+ändern. Der Mann hatte ja selber schuld. Warum lief
+er in die Schußlinie? Überdies ist es nicht unsere Sache.
+Für Geoffrey ist es natürlich nicht gerade angenehm! Es<a class="pagenum" name="Page_309" title="309"> </a>
+ist nicht hübsch, Treiber niederzupuffen. Die Leute denken
+gleich, man wäre ein Sonntagsjäger. Und das ist Geoffrey
+nicht; er schießt sogar brillant. Aber es hat keinen
+Zweck, über den Unfall weiter zu reden.“</p>
+
+<p>Dorian schüttelte den Kopf. „Es ist ein böses Omen,
+Harry. Ich habe das Gefühl, als müßte einem von uns
+etwas Schreckliches zustoßen. Mir selbst vielleicht“, fügte
+er hinzu und legte mit einer schmerzlichen Bewegung die
+Hand über die Augen.</p>
+
+<p>Der ältere lachte. „Das einzig Schreckliche in der Welt
+ist Langeweile, Dorian. Das ist die einzige Sünde, für die
+es keine Vergebung gibt. Aber wir werden darunter
+schwerlich zu leiden haben, wenn die Gesellschaft bei Tisch
+nicht etwa noch über die Sache viel Aufhebens macht.
+Ich muß den Leuten sagen, daß dieses Thema einfach
+Tabu ist. Und Omina &mdash;so was wie Omina gibt's nicht.
+Das Geschick sendet uns keine Herolde. Es ist zu weise
+dazu oder zu grausam. Übrigens, was in aller Welt sollte
+dir geschehen, Dorian? Du hast alles, was sich ein Mensch
+hienieden wünschen kann. Ich wüßte niemand, der nicht
+freudig mit dir tauschen möchte.“</p>
+
+<p>„Es gibt keinen, mit dem ich nicht tauschen möchte,
+Harry. Lach' nicht darüber. Ich spreche die Wahrheit.
+Der elende Bauer, der da gestorben ist, ist besser daran
+als ich. Ich habe keine Angst vor dem Tode. Das Sterben
+ist's, wovor ich mich <ins title="änstige">ängstige</ins>. Seine ungeheuren Flügel
+scheinen mich rings in der bleiernen Luft zu umschatten.
+Herr des Himmels, siehst du nicht, daß da hinter den Bäumen
+ein Mann auf mich lauert und mich beobachtet?“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_310" title="310"> </a></p>
+
+<p>Lord Henry sah in die Richtung, wohin die behandschuhte
+Hand zitternd wies. „Ja,“ sagte er lächelnd, „ich
+sehe da den Gärtner auf dich warten. Er will dich vermutlich
+fragen, welche Blumen du heute auf dem Tisch
+haben willst. Wie lächerlich nervös du heute bist, lieber
+Junge! Du mußt gleich meinen Doktor konsultieren, wenn
+wir wieder in der Stadt sind.“</p>
+
+<p>Dorian seufzte erleichtert auf, als er den Gärtner herankommen
+sah. Der Mann legte die Hand an den Hut,
+blickte erst zaudernd auf Lord Henry und zog dann einen
+Brief hervor, den er seinem Herrn überreichte. „Ihre Gnaden
+hat mir aufgetragen, auf Antwort zu warten“, sagte
+er halblaut.</p>
+
+<p>Dorian steckte den Brief in die Tasche. „Sagen Sie
+Ihrer Gnaden, ich würde kommen“, sagte er kühl. Der
+Mann kehrte um und schritt rasch dem Hause zu.</p>
+
+<p>„Wie gern doch die Frauen gefährliche Dinge tun!“
+sagte Lord Henry lachend. „Das ist eine von ihren Eigenschaften,
+die ich am meisten bewundere. Eine Frau ist
+mit jedem auf der Welt zu flirten bereit, solange andere
+Leute dabei Zuschauer sind.“</p>
+
+<p>„Wie gern du doch gefährliche Dinge sagst, Harry!
+In diesem Falle bist du aber ganz auf dem Holzwege. Ich
+habe die Herzogin sehr gern, aber ich liebe sie nicht.“</p>
+
+<p>„Und die Herzogin liebt dich sehr, aber sie hat dich nicht
+gern, also paßt ihr beide famos zusammen.“</p>
+
+<p>„Du machst Klatschereien, Harry, und diesmal ist gar
+kein Grund zu Klatschereien vorhanden.“</p>
+
+<p>„Die Grundlage für jeden Klatsch ist eine unmoralische<a class="pagenum" name="Page_311" title="311"> </a>
+Verläßlichkeit“, sagte Lord Henry und zündete sich eine
+Zigarette an.</p>
+
+<p>„Du würdest jeden von uns bloßstellen, Harry, um einen
+Witz zu machen.“</p>
+
+<p>„Die Welt legt sich aus freien Stücken auf den Opferaltar“,
+war die Antwort.</p>
+
+<p>„Ich wollte, ich könnte lieben!“ rief Dorian Gray mit
+einem tiefpathetischen Klang in seiner Stimme. „Aber es
+scheint, ich habe die Glut der Leidenschaft verloren und
+die Sehnsucht des Begehrens vergessen. Ich bin zu sehr in
+mich selber konzentriert. Meine eigene Person ist eine Last
+für mich geworden. Ich möchte entfliehen, weggehen, vergessen.
+Es war albern von mir, überhaupt herzukommen.
+Ich denke, ich telegraphiere an Harvey, daß er die Jacht
+instand setzt. Auf einer Jacht ist man sicher.“</p>
+
+<p>„Wovor sicher, Dorian? Du hast Unruhe. Warum sagst
+du mir nicht, was es ist? Du weißt, daß ich dir helfen
+könnte.“</p>
+
+<p>„Ich kann es dir nicht sagen, Harry“, erwiderte er traurig.
+„Und es mag wohl alles nur Einbildung sein. Der
+unglückselige Zwischenfall hat mich aus dem Gleichgewicht
+gebracht. Ich habe eine schreckliche Vorahnung, daß mir
+etwas Ähnliches zustößt.“</p>
+
+<p>„Was für Unsinn!“</p>
+
+<p>„Ich hoffe, es ist Unsinn, aber ich kann dies Gefühl
+nicht loswerden. Ah! da kommt die Herzogin und sieht aus
+wie Artemis in einem Tailormade-Kleide. Sie sehen, wir
+sind zurück, Frau Herzogin.“</p>
+
+<p>„Ich habe schon alles gehört, Herr Gray“, antwortete<a class="pagenum" name="Page_312" title="312"> </a>
+sie. „Der arme Geoffrey ist ganz außer Fassung. Und
+man sagt, Sie hatten ihn gebeten, nicht auf den Hasen zu
+schießen. Wie seltsam!“</p>
+
+<p>„Ja, es war sehr seltsam. Ich kann nicht mal sagen,
+warum ich es getan habe. Eine Eingebung vermute ich.
+Er sah so niedlich aus, der kleine Kerl. Aber ich bedaure
+sehr, daß man Ihnen von dem Manne erzählt hat.
+Es ist ein peinliches Thema.“</p>
+
+<p>„Es ist ein langweiliges Thema“, unterbrach ihn Lord
+Henry. „Es hat keinerlei psychologischen Wert. Wenn es
+Geoffrey noch absichtlich getan hätte, wie interessant wäre
+es dann! Ich würde gern jemand kennenlernen, der einen
+wirklichen Mord begangen hat.“</p>
+
+<p>„Wie abscheulich von dir“, schrie die Herzogin auf.
+„Nicht war, Herr Gray? Harry, Herrn Gray ist wieder
+unwohl. Er wird ohnmächtig.“</p>
+
+<p>Dorian hielt sich gewaltsam aufrecht und lächelte. „Es
+ist nichts, Frau Herzogin,“ murmelte er, „meine Nerven
+sind schrecklich in Unordnung. Nichts weiter. Ich fürchte,
+ich bin heut morgen zuviel gegangen. Ich habe gar nicht
+gehört, was Harry gesagt hat. War es sehr toll? Sie
+müssen es mir ein andermal erzählen. Ich halte es fürs
+beste, mich jetzt ein bißchen hinzulegen. Sie entschuldigen
+mich, nicht wahr?“</p>
+
+<p>Sie hatten die große Treppe erreicht, deren Stufen vom
+Gewächshaus auf die Terrasse emporführten. Als sich die
+Glastür hinter Dorian geschlossen hatte, wandte sich Lord
+Henry um und sah die Herzogin mit seinen schläfrigen
+Augen an. „Bist du sehr in ihn verliebt?“ fragte er.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_313" title="313"> </a></p>
+
+<p>Sie gab eine Weile keine Antwort, sondern stand da
+und blickte auf die Landschaft. „Ich möchte es selber
+wissen“, sagte sie endlich.</p>
+
+<p>Er schüttelte den Kopf. „Wissen, wäre ein Verhängnis.
+Nur die Ungewißheit hat für uns Reiz. Ein Nebel macht
+die Dinge wunderbar.“</p>
+
+<p>„Man kann darin seinen Weg verlieren.“</p>
+
+<p>„Alle Wege enden am selben Punkt, meine liebe Gladys.“</p>
+
+<p>„Wie heißt der?“</p>
+
+<p>„Enttäuschung.“</p>
+
+<p>„So war mein Debüt im Leben“, seufzte sie.</p>
+
+<p>„Sie kam mit einer Krone zu dir.“</p>
+
+<p>„Ich bin der Erdbeerblätter in unserer Krone müde.“</p>
+
+<p>„Sie steht dir gut.“</p>
+
+<p>„Nur in der Öffentlichkeit.“</p>
+
+<p>„Sie würde dir fehlen“, sagte Lord Henry.</p>
+
+<p>„Ich werde mich von keinem Blättchen trennen.“</p>
+
+<p>„Monmouth hat Ohren.“</p>
+
+<p>„Das Alter ist schwerhörig.“</p>
+
+<p>„War er nie eifersüchtig?“</p>
+
+<p>„Ich wollte, er wäre es.“ Dabei lachte sie. Ihre Zähne
+sahen aus wie weiße Kerne in einer scharlachfarbenen
+Frucht. Indessen lag oben in seinem Zimmer Dorian Gray
+auf einem Sofa, Schrecken in jeder zuckenden Fiber seines
+Körpers. Das Leben war für ihn urplötzlich eine so
+schwere Last geworden, daß er sie nicht mehr tragen konnte.
+Der gräßliche Tod des unglücklichen Treibers, der in dem
+Dickicht wie ein wildes Tier niedergeknallt worden war,
+schien ihm selbst den Tod vorauszusagen. Er war fast in<a class="pagenum" name="Page_314" title="314"> </a>
+Ohnmacht gefallen bei dem zynischen Scherz, den Lord
+Henry in einer zufälligen Laune gemacht hatte.</p>
+
+<p>Um fünf Uhr klingelte er seinem Diener und hieß ihn
+seine Sachen für den Nachtschnellzug nach London zu
+packen und den Wagen für halb neun vors Tor zu bestellen.
+Er war entschlossen, keine Nacht mehr in Selby
+Royal zu schlafen. Es war ein Ort voll böser Vorzeichen.
+Der Tod ging dort am hellen Tage um. Das Gras des
+Waldes war mit Blut befleckt.</p>
+
+<p>Dann schrieb er ein Billett an Lord Henry, in dem er
+ihm mitteilte, daß er in die Stadt fahre, um den Arzt zu
+konsultieren, und ihn bat, seine Gäste in seiner Abwesenheit
+zu unterhalten. Als er die Zeilen in ein Kuvert legte,
+klopfte es an die Tür, und sein Diener meldete ihm, daß
+ihn der Hegemeister sprechen wolle. Er runzelte die Stirn
+und biß sich auf die Lippen. „Lassen Sie ihn eintreten“,
+murmelte er nach einigem Zögern.</p>
+
+<p>Während der Mann eintrat, holte Dorian sein Scheckbuch
+aus einer Schublade hervor und legte es vor sich
+hin.</p>
+
+<p>„Sie kommen vermutlich wegen des Unglücksfalles von
+heute morgen, Thornton“, sagte er und nahm eine Feder
+auf.</p>
+
+<p>„Ja, Herr“, antwortete der Hegemeister.</p>
+
+<p>„War der arme Kerl verheiratet? Hatte er Angehörige
+zu versorgen?“ fragte Dorian mit einem müden Gesicht.
+„Wenn sich's so verhält, möchte ich nicht, daß sie in Not
+zurückbleiben, und ich will ihnen jede Summe schicken, die
+Sie für notwendig halten.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_315" title="315"> </a></p>
+
+<p>„Wir wissen nicht, wer es ist, gnädiger Herr. Deshalb
+war ich so frei, herzukommen.“</p>
+
+<p>„Sie wissen nicht, wer es ist?“ sagte Dorian zerstreut.
+„Wie meinen Sie das? War es nicht einer von Ihren
+Leuten?“</p>
+
+<p>„Nein Herr. Ich hab' ihn mein Lebtag nicht gesehen.
+Er sieht aus wie ein Matrose, gnädiger Herr.“</p>
+
+<p>Die Feder fiel Dorian Gray aus der Hand, und er
+hatte das Gefühl, als höre sein Herz plötzlich zu schlagen
+auf. „Ein Matrose!“ schrie er auf. „Sagten Sie, ein
+Matrose?“</p>
+
+<p>„Ja, gnädiger Herr. Er sieht aus wie ein Matrose;
+auf beiden Armen tätowiert und überhaupt so in der Art.“</p>
+
+<p>„Hat man irgend etwas bei ihm gefunden?“ fragte
+Dorian, beugte sich vor und sah den Mann mit aufgerissenen
+Augen an. „Irgend etwas, woraus man seinen Namen
+erführe?“</p>
+
+<p>„Nur Geld, gnädiger Herr &mdash; nicht viel, und einen
+sechsläufigen Revolver. Nichts von Namen. Der Mann
+sieht sonst anständig aus, aber gewöhnlich. Wir halten ihn
+für eine Art Matrosen.“</p>
+
+<p>Dorian sprang auf die Füße. Eine furchtbare Hoffnung
+durchblitzte ihn. Er klammerte sich wahnsinnig an sie an.
+„Wo ist der Leichnam?“ rief er aus. „Rasch, ich muß
+ihn sofort sehen.“</p>
+
+<p>„Er liegt in einem leeren Stall im Wirtschaftsgebäude,
+gnädiger Herr. Die Leute wollen so was nicht in ihren
+vier Wänden haben. Sie sagen, eine Leiche bringt Unglück.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_316" title="316"> </a></p>
+
+<p>„Im Wirtschaftsgebäude! Gehen Sie sogleich voraus
+und warten Sie da auf mich. Sagen Sie einem der
+Grooms, er soll mein Pferd herbringen. Nein. Lieber
+nicht. Ich will selbst in den Stall kommen. Das geht
+rascher.“</p>
+
+<p>Kaum eine Viertelstunde später galoppierte Dorian,
+so rasch er konnte, die lange Allee hinunter. Die Bäume
+schienen in gespenstischer Parade an ihm vorbeizufliegen
+und ihm wilde Schatten in den Weg zu schleudern. Einmal
+scheute die Stute vor einem weißen Pfahle und warf ihn
+fast ab. Er schlug ihr die Gerte um den Hals. Sie durchschnitt
+die dunkle Luft wie ein Pfeil. Die Steine stoben
+unter ihren Hufen.</p>
+
+<p>Endlich erreichte er das Wirtschaftsgebäude. Zwei Männer
+lungerten im Hof herum. Er sprang aus dem Sattel
+und warf einem die Zügel hin. In dem letzten Stall
+flimmerte ein Licht. Irgend etwas schien ihm zu sagen,
+daß dort der Leichnam liege, und er ging rasch auf die
+Tür zu und legte die Hand auf die Klinke.</p>
+
+<p>Da hielt er einen Augenblick inne und wurde sich bewußt,
+daß er vor der Schwelle einer Entdeckung stehe,
+die ihm entweder ein neues Leben gab oder es zerstörte.
+Dann stieß er die Tür auf und trat ein.</p>
+
+<p>Auf einem Haufen Säcke im entferntesten Winkel lag
+der tote Körper eines Mannes, bekleidet mit einem groben
+Blusenhemd und blauen Hosen. Ein unsauberes Taschentuch
+war ihm übers Gesicht gebreitet worden. Eine billige
+Kerze steckte in einer Flasche und flackerte düster.</p>
+
+<p>Dorian Gray schauerte. Er fühlte, daß er nicht mit<a class="pagenum" name="Page_317" title="317"> </a>
+eigener Hand das Taschentuch wegziehen könne, und rief
+nach einem der Stallknechte.</p>
+
+<p>„Nehmen Sie das da vom Gesicht weg. Ich will es
+sehen“, sagte er und hielt sich an dem Türpfosten fest.</p>
+
+<p>Als es der Knecht getan hatte, machte er einen Schritt
+nach vorn. Ein Freudenschrei kam von seinen Lippen.
+Der Mann, der im Dickicht erschossen worden war, war
+James Vane.</p>
+
+<p>Er stand einige Minuten da und starrte auf den toten
+Körper. Als er nach Hause ritt, waren seine Augen von
+Tränen umschleiert, denn er wußte jetzt, daß er gerettet
+war.</p>
+
+<h2><a name="Neunzehntes_Kapitel" id="Neunzehntes_Kapitel"></a>Neunzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>„Es hat gar keinen Sinn, mir zu erzählen, daß du gut
+werden willst!“ rief Lord Henry und tauchte seine weißen
+Finger in eine rote, mit Rosenwasser gefüllte Kupferschale.
+„Du bist vollkommen. Bitte ändere dich nicht.“</p>
+
+<p>Dorian Gray schüttelte den Kopf. „Nein, Harry, ich
+habe zuviel gräßliche Dinge getan in meinem Leben.
+Ich will keine mehr tun. Ich habe gestern mit meinen
+guten Taten den Anfang gemacht.“</p>
+
+<p>„Wo warst du gestern?“</p>
+
+<p>„Auf dem Lande, Harry. Ich war mutterseelenallein
+in einem kleinen Gasthof.“</p>
+
+<p>„Lieber Junge,“ sagte Lord Henry lächelnd, „auf dem
+Lande kann jeder Mensch gut sein. Dort gibt's keine Versuchungen.<a class="pagenum" name="Page_318" title="318"> </a>
+Das ist der Grund, warum Leute, die nicht
+in der Stadt wohnen, so gänzlich unzivilisiert sind. Zivilisation
+ist wahrhaftig nicht leicht zu erreichen. Es gibt nur
+zwei Wege, um zu ihr zu kommen. Der eine ist Kultur, der
+andere Korruption. Die Landbevölkerung hat keine Gelegenheit
+zu dieser noch zu jener, und so bleiben sie so in
+ihrer Entwicklung stehen.“</p>
+
+<p>„Kultur und Korruption“, wiederholte Dorian. „Ich
+habe von beiden etwas kennengelernt. Es scheint mir jetzt
+schrecklich, daß man sie immer beisammen findet. Denn
+ich habe ein neues Ideal, Harry. Ich will anders werden.
+Ich glaube, ich bin schon anders geworden.“</p>
+
+<p>„Du hast mir noch nicht berichtet, worin deine gute
+Handlung bestand. Oder sagtest du nicht, du hättest mehr
+als eine getan?“ fragte der Freund und schüttete sich eine
+kleine rote Pyramide Erdbeeren auf seinen Teller, auf
+die er aus einem muschelförmigen Sieblöffel weißen Zucker
+streute.</p>
+
+<p>„Ich kann dir's ja erzählen, Harry. Es ist eine Geschichte,
+die ich einem anderen nicht erzählen könnte. Ich
+habe jemand verschont. Es klingt eitel, aber du verstehst,
+was ich meine. Sie war sehr schön und hatte eine wunderbare
+Ähnlichkeit mit Sibyl Vane. Ich glaube, das war das
+erste, was mich bei ihr anzog. Du erinnerst dich doch noch an
+Sibyl, nicht? Wie lange das her ist! Also Hetty gehörte
+natürlich nicht unserem Stand an. Sie war eine Dorfschöne.
+Aber ich liebte sie wirklich. Ich weiß bestimmt,
+daß ich sie liebte. In dem ganzen wundervollen Maimonat,
+den wir jetzt hatten, bin ich zwei-, dreimal in der Woche<a class="pagenum" name="Page_319" title="319"> </a>
+hingefahren, um sie zu sehen. Gestern erwartete sie mich
+in einem kleinen Obstgarten. Die Apfelblüten schneiten
+auf ihr Haar herab, und sie lachte. Heute morgen in aller
+Herrgottsfrühe sollte sie mit mir kommen. Plötzlich entschloß
+ich mich, sie so einer Blume gleich zu lassen, wie ich
+sie gefunden hatte.“</p>
+
+<p>„Ich vermute, die Neuheit der Empfindung muß dir
+einen förmlichen Wonneschauer bereitet haben, Dorian“,
+unterbrach ihn Lord Henry. „Aber ich kann dir dein
+Idyll zu Ende erzählen. Du gabst ihr gute Lehren und
+brachst ihr das Herz. Das ist der Anfang deiner Besserung.“</p>
+
+<p>„Harry, du bist schrecklich! Du darfst so häßliche Dinge
+nicht sagen. Hettys Herz ist nicht gebrochen. Natürlich
+weinte sie und dergleichen. Aber keine Schande ist auf sie
+gekommen. Sie kann weiterleben wie Perdita in ihrem
+Garten bei Pfefferminze und Ringelblumen.“</p>
+
+<p>„Und einem treulosen Florizel nachweinen“, rief Lord
+Henry lachend und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
+„Teuerster Dorian, du hast manchmal die sonderbarsten
+Knabenanwandlungen. Glaubst du, dieses Mädchen wird
+sich jemals mit einem ihres eigenen Standes glücklich
+fühlen? Ich vermute, sie wird eines schönen Tages
+einen rohen Fuhrmann oder einen grinsenden Bauernlümmel
+heiraten. Schön also, die Tatsache, daß sie dich
+kennengelernt und geliebt hat, wird sie dahin bringen,
+ihren Mann zu verachten, und sie wird unglücklich werden.
+Vom moralischen Standpunkte aus kann ich also nicht
+finden, daß deine Entsagung sehr wertvoll war. Selbst<a class="pagenum" name="Page_320" title="320"> </a>
+als ein Anfang ist sie armselig. Außerdem, woher
+willst du wissen, ob Hetty in diesem Augenblick nicht in
+einem sternbeglänzten Mühlteich schwimmt, von lieblichen
+Wasserlilien umkränzt wie Ophelia?“</p>
+
+<p>„Ich kann es nicht aushalten, Harry! Du spottest über
+alles und beschwörst dann die ernsthaftesten Tragödien
+herauf. Es tut mir jetzt leid, daß ich es dir erzählt habe.
+Es kümmert mich auch nicht, was du sagst. Ich weiß, ich
+habe recht gehandelt. Arme Hetty! Als ich heute früh am
+Gehöft vorbeiritt, sah ich ihr Gesicht weiß wie einen
+Jasminzweig am Fenster. Wir wollen nicht länger davon
+reden, und du sollst nicht versuchen, mich zu überzeugen,
+daß die erste gute Handlung, die ich seit Jahren getan
+habe, das erste kleine Opfer, das ich jemals gebracht
+habe, in Wahrheit eine Art Sünde wäre. Ich will mich
+jetzt bessern. Und ich werde mich bessern. Erzähle mir etwas
+von dir. Was geht in der Stadt vor? Ich war tagelang
+nicht im Klub.“</p>
+
+<p>„Die Leute sprechen noch immer über das Verschwinden
+des armen Basil.“</p>
+
+<p>„Ich sollte meinen, daß sie inzwischen davon genug
+bekommen hätten“, sagte Dorian, während er sich etwas
+Wein einschenkte und leicht die Stirn runzelte.</p>
+
+<p>„Mein lieber Junge, sie reden ja erst seit sechs Wochen
+davon, und das englische Publikum ist wirklich nicht der
+geistigen Anstrengung gewachsen, alle drei Monate mehr
+als ein Gesprächsthema zu haben. Immerhin haben sie
+in der letzten Zeit Glück gehabt. Sie hatten meinen eigenen
+Ehescheidungsprozeß und Alan Campbells Selbstmord.<a class="pagenum" name="Page_321" title="321"> </a>
+Jetzt haben sie das geheimnisvolle Verschwinden eines
+Künstlers. In Scotland Yard bleibt man hartnäckig dabei,
+daß der Mann im grauen Ulster, der in der Nacht des
+neunten November mit dem Zwölfuhrzug nach Paris fuhr,
+der arme Basil war, und die französische Polizei erklärt,
+Basil wäre überhaupt nie in Paris eingetroffen. Vermutlich
+wird man uns etwa in vierzehn Tagen auftischen, daß
+er in San Francisco gesehen worden ist. Es ist eine
+schwierige Geschichte, aber von jedem Menschen, der verschwindet,
+heißt es, daß er in San Francisco gesehen
+worden ist. Das muß eine entzückende Stadt sein, die alle
+Reize der zukünftigen Welt ihr Eigen nennt.“</p>
+
+<p>„Was glaubst du, daß Basil zugestoßen sei?“ fragte
+Dorian, hielt seinen Burgunder gegen das Licht und
+wunderte sich, daß er über diese Sache so ruhig plaudern
+konnte.</p>
+
+<p>„Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wenn sich Basil
+ein Vergnügen daraus macht, Versteck zu spielen, so ist
+das nicht meine Sache. Wenn er tot ist, will ich nicht
+weiter an ihn denken. Der Tod ist das einzige, was mir
+Angst macht. Ich hasse ihn.“</p>
+
+<p>„Warum?“ fragte der jüngere müde.</p>
+
+<p>„Weil,“ sagte Lord Henry und führte die vergoldete
+Netzöffnung eines Riechbüchschens zur Nase, „weil man
+heutzutage alles überleben kann, ausgenommen den Tod.
+Tod und Philisterei sind die zwei einzigen Tatsachen des
+neunzehnten Jahrhunderts, die man nicht wegerklären
+kann. Wir wollen den Kaffee im Musikzimmer trinken,
+Dorian. Du mußt mir Chopin vorspielen. Der Mann, mit<a class="pagenum" name="Page_322" title="322"> </a>
+dem meine Frau durchbrannte, spielte Chopin hinreißend.
+Die arme Viktoria! Ich habe sie recht gern gehabt. Das
+Haus ist ohne sie recht einsam. Natürlich ist das Eheleben
+nur eine Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit. Aber
+schließlich bedauert man den Verlust selbst seiner schlechtesten
+Gewohnheiten. Vielleicht bedauert man die gerade
+am meisten. Sie sind ein so wesentlicher Teil unserer Persönlichkeit.“</p>
+
+<p>Dorian sagte nichts, sondern stand vom Tisch auf,
+ging in das Nebenzimmer, setzte sich an das Klavier und
+ließ seine Finger über das weiße und schwarze Elfenbein
+der Tasten gleiten. Als der Kaffee gebracht wurde, hörte
+er auf, sah zu Lord Henry hinüber und sagte: „Harry,
+ist es dir nie eingefallen, daß Basil ermordet worden sein
+könnte?“</p>
+
+<p>Lord Henry gähnte. „Basil war sehr populär und trug
+immer nur eine Waterburyuhr. Warum hätte man ihn ermorden
+sollen? Er war nicht klug genug, um Feinde zu
+haben. Freilich hatte er ein wunderbares Genie als Maler.
+Aber ein Mensch kann malen wie Velasquez und doch so
+langweilig als möglich sein. In Wirklichkeit war Basil
+ziemlich langweilig. Er interessierte mich nur ein einziges
+Mal, und das war damals, als er mir vor vielen Jahren
+gestand, daß er dich so ungestüm anbete und daß du das
+Leitmotiv seiner Kunst seist.“</p>
+
+<p>„Ich habe Basil sehr gern gehabt“, sagte Dorian mit
+einem traurigen Klang in seiner Stimme. „Aber behauptet
+denn das Publikum nicht, daß er ermordet worden
+ist?“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_323" title="323"> </a></p>
+
+<p>„Pah, in einigen Zeitungen steht es. Es scheint mir nicht
+im geringsten wahrscheinlich. Ich weiß, es gibt fürchterliche
+Orte in Paris, aber Basil war nicht die Art
+Mensch, sie aufzusuchen. Er war nicht neugierig. Das war
+sein Hauptfehler.“</p>
+
+<p>„Was würdest du dazu sagen, Harry, wenn ich dir versicherte,
+daß ich Basil ermordet habe?“ fragte der jüngere.
+Er beobachtete ihn scharf, nachdem er das gesagt hatte.</p>
+
+<p>„Lieber Freund, ich würde sagen, daß du einen Charakter
+posierst, der dich nicht kleidet. Jedes Verbrechen ist
+ordinär, gerade wie alles Ordinäre ein Verbrechen ist.
+Du hast nicht die Gabe, Dorian, einen Mord zu begehen.
+Es sollte mir leid tun, wenn ich dich durch diese Meinung
+in deiner Eitelkeit kränkte, aber ich versichere dich, es ist
+wahr. Das Verbrechen ist ein ausschließliches Vorrecht der
+unteren Klassen. Ich will sie damit durchaus nicht tadeln.
+Ich vermute einfach, das Verbrechen ist für sie, was die
+Kunst für uns ist, einfach ein Verfahren, um sich außerordentliche
+Empfindungen zu verschaffen.“</p>
+
+<p>„Ein Verfahren, sich Empfindungen zu verschaffen?
+Glaubst du also, daß ein Mensch, der einmal einen Mord
+begangen hat, imstande wäre, das nämliche Verbrechen
+zu wiederholen? Das rede mir nicht ein.“</p>
+
+<p>„Oh! Alles wird zu einem Vergnügen, wenn man es
+zu oft tut!“ rief Lord Henry lachend. „Das ist eines der
+wichtigsten Geheimnisse des Lebens. Immerhin bin ich
+des Glaubens, daß der Mord stets ein Mißgriff ist. Man
+sollte nie etwas tun, worüber man sich nicht nach dem Essen
+unterhalten kann. Aber wir wollen jetzt den armen Basil<a class="pagenum" name="Page_324" title="324"> </a>
+lassen. Ich wollte, ich könnte glauben, daß er ein so romantisches
+Ende genommen hat, wie du durchblicken läßt; aber
+ich kann es nicht. Ich glaube eher, daß er von einem Omnibus
+in die Seine gefallen ist und der Kondukteur hat
+den Skandal vertuscht. Ja, ich glaube wirklich, so war sein
+Ende. Ich sehe ihn jetzt auf dem Rücken liegen unter dem
+dunkelgrünen Wasser, und die schweren Lastkähne schwimmen
+über ihm hin, und lange Tangflechten verwickeln sich
+in sein Haar. Weißt du, ich glaube nicht, daß er noch viel
+Gutes gemacht hätte. In den letzten zehn Jahren ist seine
+Malerei nicht mehr berühmt gewesen.“</p>
+
+<p>Dorian seufzte und Lord Henry schlenderte durch das
+Zimmer und unterhielt sich damit, einem merkwürdigen
+Papagei aus Java den Kopf zu krauen, einem großen,
+graugefiederten Vogel mit rotem Schopf und Schwanz,
+der auf einem Bambusstab balancierte. Als ihn seine
+spitzen Finger berührten, ließ er die weiße Nickhaut seiner
+Liderfalten über die schwarzen Glaskugelaugen fallen und
+begann sich hin- und herzuwiegen.</p>
+
+<p>„Ja,“ fuhr er fort, während er sich umdrehte, und sein
+Taschentuch aus der Tasche nahm, „seine Malerei ist nicht
+mehr weither gewesen. Es schien mir so, als hätte sie
+irgend etwas eingebüßt. Sie hatte ein Ideal verloren.
+Als ihr beide aufhörtet, intime Freunde zu sein, hörte er
+auf, ein großer Künstler zu sein. Was hat euch auseinander
+gebracht? Ich vermute, er langweilte dich. Wenn das der
+Fall war, dann hat er dir nie verziehen. Das ist gewöhnlich
+so bei langweiligen Menschen. Was ist übrigens aus dem
+wundervollen Porträt geworden, das er von dir gemacht<a class="pagenum" name="Page_325" title="325"> </a>
+hat? Ich kann mich nicht erinnern, es jemals wiedergesehen
+zu haben, seit es fertig wurde. Ah! Jetzt besinne ich mich,
+daß du mir vor Jahren erzählt hast, du hättest es nach
+Selby geschickt und es wäre unterwegs auf irgendeine
+Weise gestohlen worden oder in Verlust geraten. Hast du
+es nie wieder bekommen? Wie schade! Es war faktisch
+ein Meisterwerk. Ich entsinne mich, daß ich es kaufen
+wollte. Ich wünschte, ich hätte es jetzt. Es stammte aus
+Basils bester Zeit. Seitdem bestanden alle seine Arbeiten
+aus dem eigentümlichen Gemengsel von schlechter Malerei
+und guten Absichten, das einen Mann berechtigt, ein britischer
+Künstler von Bedeutung genannt zu werden. Hast
+du deswegen eigentlich gar nicht annonciert? Das hättest
+du tun sollen.“</p>
+
+<p>„Ich weiß es nicht mehr“, antwortete Dorian. „Ich
+glaube, ich tat es. Aber ehrlich gesagt, ich habe das Bild
+nie gemocht. Es tut mir überhaupt leid, daß ich dazu gesessen
+habe. Schon die Erinnerung an das Ding ist mir
+greulich. Warum sprichst du davon? Es hat mich immer
+an ein paar merkwürdige Zeilen aus einem Theaterstück
+erinnert &mdash; aus Hamlet, glaube ich &mdash; wie heißen
+sie? &mdash;</p>
+
+<p class="poem">
+‚Gleich dem Bildnis eines Grams,<br />
+ein Antlitz ohne Herz.‛<br />
+</p>
+
+<p>Ja, so sah es aus.“</p>
+
+<p>Lord Henry lachte. „Wenn ein Mensch das Leben
+künstlerisch behandelt, ist sein Hirn sein Herz“, antwortete
+er und ließ sich in einen Armsessel fallen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_326" title="326"> </a></p>
+
+<p>Dorian Gray schüttelte den Kopf und schlug ein paar
+sanfte Akkorde auf dem Klavier an. „Gleich dem Bildnis
+eines Grams, ein Antlitz ohne Herz“, wiederholte er, „ein
+Antlitz ohne Herz.“</p>
+
+<p>Der ältere Freund saß zurückgelehnt und blickte mit halbgeschlossenen
+Augen zu ihm hinüber. „Übrigens, Dorian,“
+sagte er nach einer Pause, „was hülfe es einem Menschen,
+so er die ganze Welt gewönne und &mdash; wie heißt die Stelle
+doch? &mdash; seine eigene Seele verlöre?“</p>
+
+<p>Die Musik brach schrill ab und Dorian Gray schnellte
+auf und starrte seinen Freund an. „Warum fragst du mich
+das, Harry?“</p>
+
+<p>„Aber bester Junge,“ sagte Lord Henry und zog verwundert
+die Augenbrauen in die Höhe, „ich habe dich
+gefragt, weil ich dachte, du könntest mir eine Antwort
+geben. Das ist alles. Ich bin letzten Sonntag durch Hyde
+Park gegangen, und nahe beim Marble Arch stand eine
+kleine Ansammlung schäbig aussehender Menschen, die
+irgendeinem ordinären Straßenprediger lauschten. Als ich
+vorbeiging, hörte ich den Mann diese Frage seinen Zuhörern
+entgegenschreien. Es berührte mich ordentlich dramatisch.
+London ist sehr reich an seltsamen Wirkungen
+solcher Art. Ein regnerischer Sonntag, ein unmanierlicher
+Christ in einem Regenmantel, ein Kreis krankhafter, bleicher
+Gesichter unter dem wellenförmigen Dach tropfender Regenschirme
+und ein wunderbarer Satz, von schrillen, hysterischen
+Lippen in die Luft geschleudert, das war auf seine
+Art wirklich sehr gut, es lag geradezu eine gewisse Suggestion
+darin. Ich dachte zuerst daran, dem Propheten zu<a class="pagenum" name="Page_327" title="327"> </a>
+sagen, daß die Kunst eine Seele habe, aber nicht der
+Mensch, aber ich fürchte, er hätte mich doch nicht verstanden.“</p>
+
+<p>„Nein, Harry. Die Seele ist eine fürchterliche Gewißheit.
+Sie kann gekauft werden und verkauft und umgetauscht.
+Sie kann vergiftet werden oder vervollkommnet.
+In jedem von uns lebt eine Seele. Ich weiß es.“</p>
+
+<p>„Bist du dessen ganz sicher, Dorian?“</p>
+
+<p>„Ganz sicher.“</p>
+
+<p>„Pah! Dann muß es Einbildung sein. Die Dinge, die
+man für ganz sicher hält, sind nun und nimmer wahr. Das
+ist das Verhängnis des Glaubens und die Weisheit der
+Romantik. Wie feierlich du tust! Sei nicht so ernsthaft.
+Was hast du oder ich mit dem Aberglauben unserer Zeit
+zu tun? Nein: wir haben unseren Glauben an die Seele
+aufgegeben. Spiel' mir was vor. Spiel' mir ein Nokturno,
+Dorian, und während du spielst, sage mir mit leiser Stimme,
+wie du es möglich gemacht hast, dir deine Jugend zu erhalten.
+Du mußt irgendein Geheimmittel haben. Ich bin
+nur zehn Jahre älter als du, und bin runzlig und verwelkt
+und gelb. Du bist in der Tat wundervoll, Dorian. Du hast
+nie entzückender ausgesehen als heute abend. Du rufst mir
+den Tag ins Gedächtnis zurück, an dem ich dich zum
+erstenmal sah. Du warst etwas schnippisch, sehr scheu und
+ganz und gar außergewöhnlich. Seitdem hast du dich natürlich
+verändert, aber nicht im Aussehen. Ich wünschte, du
+verrietest mir dein Geheimnis. Um meine Jugend zurückzubekommen,
+täte ich alles auf der Welt, außer Gymnastik
+treiben, früh aufstehen oder ehrbar sein. Jugend! Nichts<a class="pagenum" name="Page_328" title="328"> </a>
+kommt ihr gleich. Es ist absurd, von der Unwissenheit der
+Jugend zu schwatzen. Die einzigen Leute, deren Ansichten
+ich jetzt mit einigem Respekt anhöre, sind Leute, die viel
+jünger sind als ich. Die scheinen mir weit voraus zu sein.
+Das Leben hat ihnen sein letztes Wunder enthüllt. Was
+die älteren betrifft, denen widerspreche ich immer. Ich tue
+es aus Prinzip. Wenn du einen um seine Meinung über
+etwas fragst, das gestern passiert ist, dann gibt er dir feierlichen
+Aufschluß über die Meinungen, die Anno 1820 im
+Schwunge waren, als die Leute hohe Halsbinden trugen,
+an alles glaubten und absolut nichts wußten. Wie hübsch
+das ist, was du da spielst! Ich möchte wohl wissen, ob es
+Chopin in Majorca geschrieben hat, während das Meer
+seine Villa umklagte und der Salzschaum klatschend gegen
+die Fensterscheiben spritzte. Es ist entzückend romantisch.
+Was für ein Segen es ist, daß es doch die eine Kunst
+gibt, die nicht aus Nachahmung besteht. Hör' nicht auf. Ich
+brauche Musik heut abend. Es kommt mir so vor, als ob
+du der junge Apollo bist und ich Marsyas, der dir zuhört.
+Ich habe meine eigenen Sorgen, Dorian, von denen nicht
+einmal du etwas weißt. Die Tragödie des Alters beruht
+nicht darin, daß man alt ist, sondern daß man jung ist.
+Ich bin manchmal ganz erschrocken über meine eigene Aufrichtigkeit.
+Ach, Dorian, wie glücklich bist du! Was für
+ein köstliches Leben hast du gehabt! Du hast tief aus jedem
+Quell getrunken! Du hast die Trauben an deinem Gaumen
+zerdrückt. Nichts ist dir verborgen geblieben. Und all das
+ist dir nicht mehr gewesen als ein Klang von Musik. Es hat
+dir nichts anhaben können. Du bist noch heute derselbe.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_329" title="329"> </a></p>
+
+<p>„Ich bin nicht derselbe, Harry.“</p>
+
+<p>„Ja, du bist derselbe. Ich bin gespannt, wie dein
+Leben weiter verlaufen wird. Verdirb es nicht durch Entsagung.
+Jetzt bist du ein vollkommener Typus. Mach' dich
+nicht unvollkommen. Du bist jetzt ganz ohne Tadel. Du
+brauchst den Kopf nicht zu schütteln: du weißt, du bist
+es. Und dann, Dorian, betrüge dich nicht selbst. Das Leben
+wird nicht durch Willen oder Absicht regiert. Das Leben
+ist eine Angelegenheit der Nerven und Muskeln und der
+langsam aufgemauerten Zellen, in denen die Gedanken
+hausen und die Leidenschaft ihren Träumen nachhängt.
+Du redest dir ein, sicher dazustehen und stark zu sein. Aber
+ein zufälliger Farbenton in einem Zimmer oder ein Morgenhimmel,
+ein besonderer Geruch, den du einmal geliebt
+hast und der versteckte Erinnerungen aufweckt, eine Zeile
+aus einem vergessenen Gedicht, die dir plötzlich wieder einfällt,
+ein paar Tonreihen aus einem Musikstück, das du
+längst nicht mehr spielst &mdash; ich sage dir, Dorian, von solchen
+Dingen hängt unser Leben ab. Browning hat irgendwo
+mal darüber geschrieben, aber unsere eigenen Sinne geben
+uns ohnehin davon Gewißheit. Es gibt Augenblicke, da
+durchblitzt mich plötzlich der Geruch von weißem Flieder,
+und ich muß wieder den sonderbarsten Monat meines Daseins
+durchleben. Ich wollte, ich könnte mit dir tauschen,
+Dorian. Die Welt hat über uns beide gezetert, aber sie
+hat dich immer bewundert. Sie wird dich immer bewundern.
+Du bist eben der Typus dessen, wonach unsere Zeit
+sucht und was sie fürchtet gefunden zu haben. Ich bin so
+froh darüber, daß du nie etwas getan hast, nie eine Statue<a class="pagenum" name="Page_330" title="330"> </a>
+gemeißelt oder ein Bild gemalt oder irgend etwas aus
+dir heraus produziert hast. Das Leben war deine Kunst.
+Du hast dich selbst in Musik gesetzt. Deine Tage sind deine
+Sonette.“</p>
+
+<p>Dorian stand vom Klavier auf und fuhr sich mit der
+Hand durchs Haar. „Ja, das Leben ist himmlisch gewesen,“
+sagte er vor sich hin, „aber dieses Leben werde ich nicht
+fortsetzen, Harry. Und du sollst nicht so überspannte Dinge
+zu mir sagen. Du weißt nicht alles von mir. Ich glaube,
+wenn du es wüßtest, so würdest selbst du dich von mir abwenden.
+Du lachst. Lache nicht!“</p>
+
+<p>„Warum hast du zu spielen aufgehört, Dorian? Geh
+wieder ans Klavier und spiel' mir nochmal das Nokturno.
+Sieh den großen honigfarbenen Mond, der in der dunklen
+Luft hängt. Er wartet, daß du ihn bezauberst, und wenn
+du spielst, wird er sich der Erde nähern. Du willst nicht?
+Dann laß uns in den Klub gehen. Es war ein reizender
+Abend, und wir müssen ihn reizend beenden. Bei White
+wartet jemand, der darauf brennt, dich kennenzulernen &mdash;
+der junge Lord Pool, der älteste Sohn von Bournemouth.
+Er kopiert schon deine Krawatten und hat mich bestürmt,
+ihn dir vorzustellen. Er ist ganz entzückend und erinnert
+mich ein bißchen an dich.“</p>
+
+<p>„Ich hoffe nicht“, sagte Dorian mit einem wehmütigen
+Blick in den Augen. „Aber ich bin heute abend müde,
+Harry. Ich gehe nicht mehr in den Klub. Es ist fast elf,
+und ich will früh zu Bett gehen.“</p>
+
+<p>„Bleibe noch, du hast nie so schön gespielt wie diesen
+Abend. In deinem Anschlag lag etwas, es war ganz wundervoll.<a class="pagenum" name="Page_331" title="331"> </a>
+Es hatte mehr Ausdruck, als ich jemals bei dir
+gehört habe.“</p>
+
+<p>„Das kommt daher, weil ich jetzt gut werden will“, antwortete
+er lächelnd. „Ich bin schon ein bißchen anders.“</p>
+
+<p>„Für mich kannst du kein anderer werden, Dorian“,
+sagte Lord Henry. „Du und ich, wir werden immer
+Freunde sein.“</p>
+
+<p>„Aber einstmals hast du mich mit einem Buch vergiftet.
+Ich sollte das nicht vergeben. Harry, versprich mir, daß
+du dieses Buch nie wieder jemand leihen willst. Es stiftet
+Unheil.“</p>
+
+<p>„Mein lieber Junge, du fängst wirklich an, Moralpredigten
+zu halten. Du wirst bald umherlaufen, wie ein
+Bekehrter und ein Erweckungsprediger, und wirst die Menschen
+vor all den Sünden warnen, deren du müde geworden
+bist. Aber dazu bist du viel zu entzückend. Außerdem
+hat es keinen Zweck. Du und ich, wir sind, was wir sind,
+und werden immer sein, was wir sein werden. Und vergiftet
+werden durch ein Buch, sowas gibt es einfach nicht.
+Kunst hat keinen Einfluß auf die Tat. Sie vernichtet den
+Trieb zu handeln. Sie ist auf eine herrliche Art zeugungsunfähig.
+Die Bücher, die die Welt unmoralisch nennt,
+sind Bücher, die der Welt ihre eigene Schande vorhalten.
+Sonst nichts. Aber wir wollen nicht über Literatur streiten.
+Komm morgen wieder her! Ich reite um elf aus. Wir
+können zusammen reiten, und ich nehme dich nachher zum
+Frühstück zu Lady Branksome mit. Es ist eine entzückende
+Frau und sie will dich zu Rate ziehen über ein paar Gobelins,
+die sie kaufen möchte. Vergiß nicht zu kommen. Oder<a class="pagenum" name="Page_332" title="332"> </a>
+wollen wir bei unserer kleinen Herzogin frühstücken? Sie
+sagt, sie sieht dich jetzt gar nicht mehr. Vielleicht hast du
+genug von Gladys? Ich dachte mir's, daß es so kommen
+würde. Ihr gewandtes Züngelein fällt einem auf die
+Nerven. Also, jedenfalls bist du um elf hier.“</p>
+
+<p>„Muß ich wirklich kommen, Harry?“</p>
+
+<p>„Unbedingt. Der Park ist jetzt herrlich. Ich glaube nicht,
+daß es wieder solchen Flieder gegeben hat seit jenem Jahr,
+wo ich dich kennenlernte.“</p>
+
+<p>„Gut. Ich werde also um elf hier sein“, sagte Dorian.
+„Gute Nacht, Harry!“ Als er an der Tür war, zögerte er
+einen Augenblick, als hätte er noch etwas zu sagen. Dann
+seufzte er und ging.</p>
+
+<h2><a name="Zwanzigstes_Kapitel" id="Zwanzigstes_Kapitel"></a>Zwanzigstes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Es war eine wundervolle Nacht, so warm, daß er seinen
+Mantel über den Arm hing und nicht einmal das seidene
+Halstuch umlegte. Als er nach Hause schlenderte, seine Zigarette
+rauchend, gingen zwei Herren in Gesellschaftstoilette
+an ihm vorbei. Er hörte, wie der eine dem anderen
+zuflüsterte: „Das ist Dorian Gray.“ Er erinnerte sich,
+wie schmeichelhaft es ihm früher gewesen war, wenn man
+auf ihn zeigte oder ihn anstarrte oder über ihn sprach. Jetzt
+war er es müde, seinen eigenen Namen zu hören. Der
+halbe Reiz des kleinen Dorfes, wo er kürzlich so oft gewesen<a class="pagenum" name="Page_333" title="333"> </a>
+war, bestand darin, daß dort niemand wußte, wer
+er war. Er hatte dem Mädchen, das er zur Liebe verlockt
+hatte, oft gesagt, daß er arm sei, und sie hatte es geglaubt.
+Er hatte ihr einmal gesagt, daß er schlecht sei, und sie hatte
+ihn ausgelacht und geantwortet, schlechte Menschen seien
+immer sehr alt und sehr häßlich. Was für ein Lachen sie
+hatte! &mdash; gerade wie der Gesang einer Drossel. Und wie
+hübsch sie ausgesehen hatte in ihren Kattunkleidern und
+großen Hüten! Sie wußte nichts, aber sie besaß alles,
+was er verloren hatte.</p>
+
+<p>Als er nach Hause kam, wartete sein Diener auf ihn.
+Er schickte ihn zu Bett und warf sich auf das Sofa in der
+Bibliothek und begann über einiges von dem nachzudenken,
+was ihm Lord Henry gesagt hatte.</p>
+
+<p>War es wirklich wahr, daß man nie anders werden
+konnte? Er fühlte eine wilde Sehnsucht nach der makellosen
+Reinheit seiner Knabenzeit &mdash; seiner rosenweißen
+Knabenzeit, wie Lord Henry einmal gesagt hatte. Er
+wußte, er hatte sich besudelt, hatte seinen Geist mit Verderbnis
+angefüllt und sein Gewissen mit Entsetzen belastet,
+er war ein schlimmer Einfluß für andere gewesen und hatte
+eine schreckliche Freude daran gehabt; und von den Menschenleben,
+die das seine gekreuzt hatten, waren es die
+reinsten und verheißungsvollsten gewesen, die er in Schande
+gestürzt hatte. Aber war da nichts wieder gut zu machen?
+Gab es keine Hoffnung mehr für ihn?</p>
+
+<p>Ah! In was für einem ungeheuerlichen Augenblick von
+Hochmut und Leidenschaft hatte er gebetet, es möchte das
+Bildnis die Last seiner Tage auf sich nehmen und er sich<a class="pagenum" name="Page_334" title="334"> </a>
+den ungetrübten Glanz ewiger Jugend bewahren! Das
+war an seinem ganzen verfehlten Leben schuld. Es wäre
+besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde seines Lebens ihre
+gewisse und schnelle Strafe mit sich gebracht hätte. In
+der Strafe lag Reinigung. Nicht „Vergib uns unsere
+Sünden“, sondern „Züchtige uns für unsere Missetaten“
+sollte das Gebet des Menschen zu einem allgerechten
+Gotte lauten.</p>
+
+<p>Der mit merkwürdigen Schnitzereien umrahmte Spiegel,
+den ihm Lord Henry vor so vielen Jahren geschenkt hatte,
+stand auf dem Tisch, und die weißgliedrigen Liebesgötter
+lachten ringsherum wie ehedem. Er nahm ihn, wie er es
+in jener Schreckensnacht getan hatte, als er zum ersten
+Male die Veränderung in dem verhängnisvollen Bildnis
+bemerkt hatte, und blickte mit verzweifelten, tränenfeuchten
+Augen auf die glatte Fläche. Einmal hatte ihm jemand,
+der ihn abgöttisch geliebt hatte, einen wahnsinnigen Brief
+geschrieben, dessen Schluß lautete: „Die Welt ist anders
+geworden, weil du aus Elfenbein und Gold geschaffen
+wurdest. Der Linienschwung deiner Lippen schreibt die
+Weltgeschichte um.“ Diese Sätze kamen ihm ins Gedächtnis
+zurück, und er wiederholte sie immer und immer wieder.
+Dann haßte er seine eigene Schönheit und schleuderte den
+Spiegel zu Boden und zertrat ihn unter seinem Fuße in
+silberne Splitter. Seine Schönheit war es, die ihn zugrunde
+gerichtet hatte, seine Schönheit und Jugend, um
+die er gefleht hatte. Wären diese beiden nicht gewesen, so
+hätte er sein Leben wohl fleckenlos erhalten können. Die
+Schönheit war für ihn nur eine Maske gewesen, die Jugend<a class="pagenum" name="Page_335" title="335"> </a>
+nur ein Blendwerk. Was war Jugend im besten
+Falle? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit seichter Stimmungen
+und kranker Einfälle. Warum hatte er ihre Tracht
+angelegt? Die Jugend hatte ihn zugrunde gerichtet.</p>
+
+<p>Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken.
+Er mußte an sich selber und an seine Zukunft denken.
+James Vane war in einem namenlosen Grabe auf dem
+Kirchhof in Selby geborgen. Alan Campbell hatte sich
+eines Nachts in seinem Laboratorium erschossen, aber das
+Geheimnis nicht verraten, das ihm aufgezwungen worden
+war. Die Erregung über Basil Hallwards Verschwinden
+würde sich bald legen. Sie hatte schon nachgelassen. Da
+war er völlig sicher. Es war auch in der Tat nicht der
+Tod Basil Hallwards, der sein Gemüt am schwersten belastete.
+Es war der lebendige Tod seiner eigenen Seele,
+der ihm die Ruhe raubte. Basil hatte das Bildnis gemalt,
+das sein Leben vernichtet hatte. Er konnte ihm das nicht
+vergeben. Das Porträt war an allem schuld. Basil hatte
+ihm Dinge gesagt, die unerträglich waren und die er doch
+geduldig ertragen hatte. Der Mord war nur der Wahnsinn
+eines Augenblicks gewesen. Was Alan Campbell
+anlangte, so war der Selbstmord seine eigene Tat gewesen.
+Er war sein freier Entschluß. Das ging ihn
+nichts an.</p>
+
+<p>Ein neues Leben! Das war es, was er wollte. Das war
+es, worauf er wartete. Gewiß hatte er es schon begonnen.
+Ein unschuldiges Wesen hatte er jedenfalls geschont. Nie
+wieder wollte er die Unschuld in Versuchung führen. Er
+wollte gut sein.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_336" title="336"> </a></p>
+
+<p>Als er an Hetty Merton dachte, begann er sich zu fragen,
+ob sich das Bild in dem verschlossenen Zimmer oben
+wohl verändert habe. Es konnte doch sicher nicht mehr
+so häßlich sein, wie es gewesen war. Vielleicht könnte er,
+wenn sein Leben jetzt rein würde, imstande sein, jedes Anzeichen
+niedriger Leidenschaften aus dem Antlitz zu tilgen.
+Vielleicht waren die Spuren des Bösen schon verschwunden.
+Er wollte hinauf und nachsehen.</p>
+
+<p>Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich die Treppe
+hinan. Als er die Tür aufschloß, huschte ein frohes Lächeln
+über sein seltsam junges Gesicht und verweilte einen
+Augenblick auf seinen Lippen. Ja, er wollte gut sein, und
+das gräßliche Ding, das er verborgen hatte, würde dann
+nicht länger ein Schrecken für ihn sein. Ihm war, als
+wäre diese Last schon jetzt von ihm genommen.</p>
+
+<p>Er ging ruhig hinein, schloß die Tür nach seiner Gewohnheit
+hinter sich ab und zog den Purpurvorhang von
+dem Bildnis hinweg. Ein Schrei voll Schmerz und Entrüstung
+scholl von seinen Lippen. Er konnte keine Verwandlung
+bemerken, außer daß ein schlauer Ausdruck in
+den Augen lag und um den Mund der gekniffene Zug des
+Heuchlers. Das Ding war noch immer abscheulich, womöglich
+noch abscheulicher als vordem &mdash; und der scharlachrote
+Tau, der die Hand befleckte, schien heller zu glänzen
+und mehr wie frisch vergossenes Blut auszusehen. Er
+erzitterte. War es bloße Eitelkeit gewesen, die ihn dazu
+getrieben hatte, einmal etwas Gutes zu tun? Oder die
+Begier nach einer neuartigen Empfindung, wie Lord
+Henry mit seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte?<a class="pagenum" name="Page_337" title="337"> </a>
+Oder das Verlangen, eine Rolle zu spielen, das uns
+manchmal Dinge begehen läßt, die edler sind als wir
+selbst? Oder vielleicht das alles zusammen? Und warum
+war der rote Fleck jetzt größer als er vorher war? Er
+schien sich wie ein fürchterlicher Aussatz über die runzligen
+Finger weiter gefressen zu haben. Es war Blut auf den
+gemalten Füßen, als wäre es von den Händen herabgetropft
+&mdash; Blut selbst auf der Hand, die das Messer nicht
+geführt hatte. Bekennen? Bedeutete dies, daß er bekennen
+sollte? Sich selbst aufgeben und hingerichtet werden?
+Er lachte. Er fühlte, daß der Einfall ungeheuerlich wäre.
+Überdies selbst wenn er es eingestände, wer würde ihm
+glauben? Nirgends gab es eine Spur des Ermordeten.
+Alles, was zu ihm gehörte, war zerstört. Er selbst hatte
+verbrannt, was unten geblieben war. Die Welt würde einfach
+sagen, daß er wahnsinnig sei. Sie würden ihn irgendwo
+einsperren, wenn er bei seiner Erzählung beharrte...
+Aber doch war es seine Pflicht, ein Geständnis abzulegen,
+öffentlich Schande zu erleiden und öffentlich Buße zu tun.
+Es war ein Gott, der den Menschen zurief, ihre Sünden
+der Erde so gut wie dem Himmel zu beichten. Nichts, was
+er sonst tun konnte, würde ihn reinigen, bis er seine Sünde
+selber bekannt hätte. Seine Sünde? Er zuckte die Achseln.
+Der Tod Basil Hallwards schien ihm nur unwesentlich.
+Er dachte an Hetty Merton. Denn es war ein ungerechter
+Spiegel. Dieser Spiegel seiner Seele, in den er hineinblickte.
+Eitelkeit? Neugier? Heuchelei? War sonst nichts in
+seinen Entsagungen gewesen? Es war noch etwas darin
+gewesen. Er glaubte es wenigstens. Aber wer konnte das<a class="pagenum" name="Page_338" title="338"> </a>
+sagen...? Nein. Es war weiter nichts darin gewesen.
+Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Aus Heuchelei hatte
+er die Maske der Güte getragen. Aus Neugier hatte
+er es mit der Verzichtleistung versucht. Er erkannte das
+jetzt.</p>
+
+<p>Aber dieser Mord &mdash; sollte er ihn sein ganzes Leben
+lang verfolgen? Sollte er immer die Last seiner Vergangenheit
+tragen müssen? Sollte er wirklich eingestehen?
+Niemals. Es gab nur einen einzigen Beweis gegen ihn.
+Das Bildnis selbst &mdash; das war ein Beweis. Er wollte es
+zerstören. Warum hatte er es solange aufgehoben. Früher
+einmal war es ihm ein Vergnügen gewesen, seine Änderung,
+sein Altern zu beobachten. In der letzten Zeit hatte
+er dieses Vergnügen nicht mehr empfunden. Es hatte ihm
+schlaflose Nächte bereitet. Wenn er außer dem Hause war,
+erfüllte ihn eine Todesangst, daß fremde Augen das Bild
+erblicken könnten. Es hatte Schwermut in seine Leidenschaften
+getröpfelt. Die bloße Erinnerung daran hatte ihm
+manchen Augenblick der Freude vergällt. Es hatte bei
+ihm die Rolle des Gewissens übernommen. Ja, es war
+sein Gewissen gewesen. Er wollte es zerstören.</p>
+
+<p>Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil
+Hallward erstochen hatte. Er hatte es oft gereinigt, bis
+kein Fleck mehr darauf war. Es war blank und glitzerte.
+Wie es den Maler getötet hatte, sollte es des Malers
+Werk töten und alles, was es bedeutete. Es sollte die
+Vergangenheit töten, und wenn die tot war, würde er
+frei sein. Es sollte dieses ungeheuerliche Seelenleben töten,
+und sobald diese gräßlichen Warnungen nicht mehr vorhanden<a class="pagenum" name="Page_339" title="339"> </a>
+waren, würde er Frieden haben. Er ergriff es
+und durchbohrte damit das Bildnis.</p>
+
+<p>Man hörte einen Schrei und einen Fall. Der Schrei
+war mit seinem Todesröcheln so schrecklich, daß die Dienerschaft
+erschreckt aufwachte und aus ihren Kammern stürzte.
+Zwei Herren, die auf dem Platze unten vorbeigingen, blieben
+stehen und spähten an dem stattlichen Hause empor.
+Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen und
+dann mit ihm umkehrten. Der Mann zog mehrmals die
+Klingel, aber es erfolgte keine Antwort. Bis auf ein Licht
+in einem der Giebelfenster war das ganze Haus dunkel.
+Nach einiger Zeit ging er weg, stellte sich unter einen Torweg
+in der Nähe und verhielt sich abwartend.</p>
+
+<p>„Wem gehört das Haus, Herr Wachtmeister?“ fragte
+der ältere der beiden Herren.</p>
+
+<p>„Herrn Dorian Gray“, antwortete der Schutzmann.</p>
+
+<p>Sie sahen einander an, gingen weiter und lächelten.
+Einer von ihnen war Sir Henry Ashtons Onkel.</p>
+
+<p>Drinnen in den Dienerzimmern sprachen die halbangezogenen
+Bedienten in leisem Wispern miteinander.
+Die alte Frau Leaf weinte und rang die Hände. Francis
+war bleich wie der Tod.</p>
+
+<p>Nach etwa einer Viertelstunde holte er sich den Kutscher
+und einen der Lakaien und schlich mit ihnen hinauf. Sie
+klopften, aber es kam keine Antwort. Sie riefen. Alles
+war still. Schließlich, nachdem sie erfolglos versucht hatten,
+die Tür zu sprengen, kletterten sie auf das Dach und
+ließen sich auf den Balkon herab. Die Glastür gab leicht
+nach; ihre Riegel waren alt.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_340" title="340"> </a></p>
+
+<p>Als sie eintraten, sahen sie an der Wand ein wunderbares
+Bild ihres Herrn hängen, so wie sie ihn zuletzt
+gesehen hatten, in all dem Glanz seiner entzückenden Jugend
+und Schönheit. Auf dem Boden lag ein toter Mann
+im Gesellschaftsanzug, mit einem Messer im Herzen. Er
+war welk, runzlig und häßlich von Angesicht. Erst als sie
+die Ringe untersuchten, erkannten sie, wer es war.</p>
+
+<p class="center" style="margin-top:2em;"><em class="gesperrt">Ende</em></p>
+
+
+<div class="transcribers-note">
+<p class="center"><a name="tn-bottom"><b>Anmerkungen zur Transkription:</b></a></p>
+
+<p>Die folgende Liste enthält alle geänderten Textstellen,
+jeweils zuerst im Original und darunter in der geänderten Fassung.</p>
+
+<ul id="corrections">
+<li><a href="#Page_9">Seite 9</a>:<br />
+Habt ihr ihn endlich, so <span class="correction">wolllt</span> ihr ihn scheinbar<br />
+Habt ihr ihn endlich, so <span class="correction">wollt</span> ihr ihn scheinbar
+</li>
+<li><a href="#Page_80">Seite 80</a>:<br />
+Dramas gewesen sein.<br />
+Dramas gewesen sein.<span class="correction">“</span>
+</li>
+<li><a href="#Page_80">Seite 80</a>:<br />
+Es war ‚<span class="correction">Romea</span> und Julia‛.<br />
+Es war ‚<span class="correction">Romeo</span> und Julia‛.
+</li>
+<li><a href="#Page_85">Seite 85</a>:<br />
+zum erstenmal gesprochen?<br />
+zum erstenmal gesprochen?<span class="correction">“</span>
+</li>
+<li><a href="#Page_106">Seite 106</a>:<br />
+Gefällt dir der Name nicht<span class="correction">.</span><br />
+Gefällt dir der Name nicht<span class="correction">?</span>
+</li>
+<li><a href="#Page_121">Seite 121</a>:<br />
+Mißklang heißt es, mit<br />
+<span class="correction">„</span>Mißklang heißt es, mit
+</li>
+<li><a href="#Page_132">Seite 132</a>:<br />
+Warum ich nie mehr gut spielen werde.<br />
+Warum ich nie mehr gut spielen werde.<span class="correction">“</span>
+</li>
+<li><a href="#Page_166">Seite 166</a>:<br />
+Harrys Schwester Lady Gwendolen, kennengelernt.<br />
+Harrys Schwester<span class="correction">,</span> Lady Gwendolen, kennengelernt.
+</li>
+<li><a href="#Page_180">Seite 180</a>:<br />
+wird ebenso hübsch sein.<br />
+wird ebenso hübsch sein.<span class="correction">“</span>
+</li>
+<li><a href="#Page_205">Seite 205</a>:<br />
+die Erinnerung an <span class="correction">gegestorbene</span> Romantik<br />
+die Erinnerung an <span class="correction">gestorbene</span> Romantik
+</li>
+<li><a href="#Page_217">Seite 217</a>:<br />
+und die <span class="correction">eleganganten</span> jungen Leute,<br />
+und die <span class="correction">eleganten</span> jungen Leute,
+</li>
+<li><a href="#Page_296">Seite 296</a>:<br />
+mit deinem Orchideengleichnis?<br />
+mit deinem Orchideengleichnis?<span class="correction">“</span>
+</li>
+<li><a href="#Page_308">Seite 308</a>:<br />
+Er hat die ganze<br />
+<span class="correction">„</span>Er hat die ganze
+</li>
+<li><a href="#Page_309">Seite 309</a>:<br />
+wovor ich mich <span class="correction">änstige</span><br />
+wovor ich mich <span class="correction">ängstige</span>
+</li>
+</ul>
+</div>
+
+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44238 ***</div>
+</body>
+</html>
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
+eBook #44238 (https://www.gutenberg.org/ebooks/44238)
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@@ -0,0 +1,9824 @@
+The Project Gutenberg EBook of Das Bildnis des Dorian Gray, by Oscar Wilde
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Das Bildnis des Dorian Gray
+
+Author: Oscar Wilde
+
+Translator: Richard Zoozmann
+
+Release Date: November 20, 2013 [EBook #44238]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY ***
+
+
+
+
+Produced by Norbert H. Langkau, Marc-Andre Seekamp and the
+Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+Das Bildnis des Dorian Gray
+
+
+ Oscar Wilde
+
+ Das Bildnis des Dorian Gray
+
+ Ins Deutsche übertragen von
+ Richard Zoozmann
+
+ Berlin ~W~ 50
+
+ Schreitersche Verlagsbuchhandlung
+
+ Alle Rechte vorbehalten
+
+ Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
+
+
+
+
+Vorbekenntnis
+
+
+Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.
+
+Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen, ist die Aufgabe der
+Kunst.
+
+Ein Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in eine andere
+Form oder in einen anderen Stoff zu übertragen vermag.
+
+Die höchste wie die niederste Form der Kritik ist eine Art
+Autobiographie.
+
+Wer in schönen Dingen einen häßlichen Sinn findet, ist verderbt, ohne
+anmutig zu sein. Das ist ein Fehler.
+
+Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn findet, hat Kultur. Er
+berechtigt zu Hoffnungen.
+
+Das sind die Auserwählten, für die schöne Dinge lediglich Schönheit
+bedeuten.
+
+Ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt's überhaupt nicht. Bücher
+sind gut oder schlecht geschrieben. Sonst nichts.
+
+Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die
+Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel erblickt.
+
+Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die
+Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel nicht sieht.
+
+Das sittliche Dasein des Menschen liefert dem Künstler einen Teil des
+Stoffgebietes, aber die Sittlichkeit der Kunst besteht im vollkommenen
+Gebrauch eines unvollkommenen Mittels.
+
+Kein Künstler empfindet das Verlangen, etwas zu beweisen. Selbst
+Wahrheiten können bewiesen werden.
+
+Kein Künstler hat ethische Neigungen. Eine ethische Neigung beim
+Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.
+
+Kein Künstler ist an sich krankhaft. Der Künstler kann alles
+aussprechen.
+
+Gedanken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst.
+
+Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe einer Kunst.
+
+Was die Form betrifft, so ist die Kunst des Musikers die Urform aller
+Künste. Was das Gefühl betrifft, so ist der Beruf des Schauspielers
+diese Urform.
+
+Alle Kunst ist gleichzeitig Oberfläche und Symbol.
+
+Wer unter der Oberfläche schürft, tut es auf eigene Gefahr.
+
+Wer das Symbol herausdeutet, tut es auf eigene Gefahr.
+
+In Wahrheit wird der Betrachter und nicht das Leben abgespiegelt.
+
+Meinungsunterschiede über ein Kunstwerk beweisen seine Neuheit,
+Vielfältigkeit und Lebenskraft.
+
+Sind die Kritiker uneinig, so ist der Künstler einig mit sich selbst.
+
+Man kann einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches schafft,
+solang er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung für den, der
+etwas Nutzloses schuf, besteht darin, daß es äußerst bewundert wird.
+
+Alle Kunst ist völlig nutzlos.
+
+
+
+
+Erstes Kapitel
+
+
+Das Atelier schwamm in einem starken Rosendufte, und wenn der leichte
+Sommerwind die Bäume im Garten wiegte, so floß durch die offene Tür der
+schwere Geruch des Flieders herein oder der zartere Duft des Rotdorns.
+
+Aus der Ecke seines Diwans mit persischen Satteltaschen, auf dem Lord
+Henry Wotton lag und wie gewöhnlich unzählige Zigaretten rauchte, konnte
+er gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbigen Blüten
+eines Goldregenstrauches wahrnehmen, dessen zitternde Zweige nur
+seufzend die Last einer so flammenden Schönheit zu tragen schienen, und
+dann und wann huschten die phantastischen Schatten vorbeifliegender
+Vögel über die langen bastseidenen Vorhänge, die vor das große Fenster
+gezogen waren. Das gab einen Augenblick lang eine Art japanischer
+Stimmung und ließ den Lord an die bleichen, nephritgelben Maler der
+Stadt Tokio denken, die mit Hilfe einer Kunst, die notwendigerweise
+erstarrt genannt werden muß, das Gefühl von Schnelligkeit und Bewegung
+hervorzubringen suchen. Das tiefe Gesumme der Bienen, die ihren
+zweifelnden Flug durch das hohe, ungemähte Gras nahmen oder mit
+eintöniger Zähigkeit um die bestaubten Goldtrichter des wuchernden
+Geißblattes kreisten, ließ die Stille noch drückender scheinen. Das
+dumpfe Brausen Londons murrte dazu wie die Baßtöne einer fernen Orgel.
+
+In der Mitte des Gemaches stand auf einer hoch aufgestellten Staffelei
+das lebensgroße Bildnis eines außerordentlich schönen Jünglings, und ihm
+gegenüber, ein paar Schritte entfernt, saß sein Schöpfer, der Maler
+Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren bei
+der Menge so viel Aufsehen gemacht und zu so vielen seltsamen
+Vermutungen Anlaß gegeben hatte.
+
+Während der Maler die anmutige und liebenswürdige Gestalt betrachtete,
+die seine Kunst so prachtvoll wiedergespiegelt hatte, huschte ein
+freudiges Lächeln über sein Gesicht und schien dort verweilen zu wollen.
+Plötzlich aber fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Lider mit
+den Fingern zu, als fürchte er, aus einem absonderlichen Traume zu
+erwachen, und als suche er ihn im Gehirn einzuschließen.
+
+»Es ist dein bestes Werk, Basil, das beste, was du jemals gemacht hast«,
+sagte Lord Henry schläfrig-müde. »Du mußt es nächstes Jahr unbedingt ins
+Grosvenor schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich.
+Jedesmal, wenn ich hinging, waren entweder so viele Leute da, daß ich
+die Bilder nicht sehen konnte, und das war schlimm, oder so viel Bilder,
+daß ich die Leute nicht sehen konnte, und das war noch schlimmer. Das
+Grosvenor ist der einzig richtige Platz.«
+
+»Ich denke überhaupt nicht daran, es auszustellen«, antwortete der Maler
+und warf den Kopf in jener merkwürdigen Art zurück, über die schon oft
+seine Freunde in Oxford gelacht hatten. »Nein, ich will es nirgends
+ausstellen.«
+
+Lord Henry hob die Augenbrauen und sah den anderen erstaunt durch die
+dünnen blauen Raucharabesken an, die in so abenteuerlichen Wirbeln von
+der starken opiumgetränkten Zigarette aufstiegen. »Nirgends ausstellen?
+Ja warum, mein Lieber? Hast du einen Grund dafür? Was ihr Maler doch für
+Käuze seid! Ihr tut alles in der Welt, um euch einen Namen zu machen.
+Habt ihr ihn endlich, so wollt ihr ihn scheinbar wieder loswerden. Das
+ist albern von dir, denn es gibt nur ein leidiges Ding auf Erden, das
+peinlicher ist als in aller Leute Munde zu sein, und das ist: nicht in
+aller Leute Munde zu sein. Ein Porträt wie das da höbe dich weit über
+alle jungen Leute in England empor und würde die Alten vor Neid platzen
+lassen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung fähig sind.«
+
+»Ich weiß, du wirst mich auslachen,« entgegnete er, »aber ich kann es
+wahrhaftig nicht ausstellen. Es steckt da zuviel von mir selbst drin.«
+
+Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.
+
+»Ja, ich habe das gewußt; es bleibt aber doch wahr, ganz sicher.«
+
+»Zuviel von dir soll darin sein? Auf mein Wort, Basil, ich hätte nie
+geahnt, daß du so eitel bist; ich kann wirklich nicht die blasseste
+Ähnlichkeit entdecken zwischen dir mit deinem groben, eckigen Gesicht
+und deinem kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis, der so aussieht,
+als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Nein, mein
+lieber Basil, es ist ein Narziß, und du -- natürlich hast du ein
+geistvolles Gesicht und so weiter. Aber Schönheit, wirkliche Schönheit
+hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck anfängt. Geist ist an sich eine
+Art Übermaß und zerstört das Ebenmaß jedes Gesichts. Im Moment, wo man
+sich ans Denken begibt, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder sonst
+etwas Greuliches. Sieh dir doch mal alle die Männer an, die in gelehrten
+Berufen etwas geleistet haben. Sind sie nicht alle ausgesprochen
+häßlich? Natürlich die Männer der Kirche ausgenommen. Aber in der Kirche
+denken sie eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig Jahren noch
+unveränderlich dasselbe, was ihm als achtzehnjährigem Bengel beigebracht
+wurde, und infolgedessen sieht er immer entzückend aus. Dein
+geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast,
+dessen Bild mich aber tatsächlich bezaubert, denkt niemals. Davon bin
+ich felsenfest überzeugt. Es ist irgendein hirnloses schönes Geschöpf,
+das wir im Winter immer bei uns haben sollten, wenn es keine Blumen zum
+Anschauen gibt, und im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres
+Geistes gebrauchen. Schmeichle dir also nicht, Basil: du siehst ihm ganz
+und gar nicht ähnlich.«
+
+»Du verstehst mich gar nicht, Henry«, antwortete der Künstler.
+»Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich. Das weiß ich selbst. In
+Wirklichkeit wäre ich sogar traurig, sähe ich ihm ähnlich. Du brauchst
+nicht mit den Achseln zu zucken. Ich sage dir die Wahrheit. Jede
+körperliche und geistige Besonderheit umschwebt eine gewisse Tragik; so
+eine Tragik etwa, wie sich das Schicksal der Könige auf ihren Irrwegen
+in der Weltgeschichte an die Füße zu heften scheint. Es ist besser,
+nicht anders zu sein als die Nebenmenschen. Die Häßlichen und die Dummen
+haben das beste Leben der Welt. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel
+sorglos begaffen. Sie wissen zwar nichts von Siegen, aber dafür bleibt
+ihnen auch die Bekanntschaft mit den Niederlagen erspart. Sie leben
+dahin, wie wir es alle sollten: ungestört, gleichgültig und ohne
+Mißbehagen. Sie bringen anderen kein Unheil und empfangen es auch nicht
+von fremder Hand. Dein Stand und dein Reichtum, Harry, mein Geist,
+soviel ich davon habe, meine Kunst, soviel sie wert ist, Dorian Gray für
+sein schönes Aussehen -- wir müssen alle für die Geschenke der Götter
+leiden, schrecklich leiden.«
+
+»Dorian Gray? Heißt er so?« fragte Lord Henry und ging durch das Atelier
+auf Basil Hallward zu.
+
+»Ja, so heißt er. Ich wollte dir's eigentlich nicht sagen.«
+
+»Aber warum nicht?«
+
+»Oh, ich kann's nicht so erklären. Wenn ich einen Menschen sehr, sehr
+lieb habe, verrate ich an niemand seinen Namen. Das käme mir so vor, als
+lieferte ich damit einen Teil von seinem Selbst aus. In mir hat sich
+allmählich eine förmliche Liebe zu Geheimnissen entwickelt. Das scheint
+noch die einzige Art zu sein, das Leben unserer Zeit mysteriös und
+wunderbar zu machen. Die gewöhnlichste Begebenheit wird reich an
+Schönheit, wenn man sie verbirgt. Ich sage auch nie, wohin ich reise,
+wenn ich mal die Stadt verlasse. Wenn ich's täte, wäre meine ganze
+Freude daran hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie bringt
+doch irgendwie ein bißchen Romantik ins Leben. Du denkst jetzt gewiß,
+ich bin furchtbar närrisch?«
+
+»Nicht im geringsten,« antwortete Lord Henry, »nicht im geringsten, mein
+lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, daß ich verheiratet bin, und daß
+der Hauptreiz der Ehe darin liegt, daß sie beiden Teilen ein Leben der
+Täuschung zur Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau ist, und
+meine Frau weiß nie, was ich tue und treibe. Wenn wir beisammen sind --
+wir sind gelegentlich beisammen, wenn wir zu einem Diner eingeladen sind
+oder zum Herzog aufs Land fahren -- so erzählen wir uns die
+verrücktesten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht. Meine Frau
+versteht das vorzüglich, ohne Frage besser als ich. Sie verwickelt sich
+bei den Tatsachen nie in Widersprüche, und bei mir kommt es beständig
+vor. Wenn sie mich aber ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Ich
+wünschte manchmal, sie täte es. Aber sie lacht mich nur aus.«
+
+»Ich kann die Art nicht leiden, wie du über deine Ehe sprichst«, sagte
+Basil Hallward und ging langsam auf die Tür zu, die in den Garten
+führte. »Ich glaube, du bist in Wirklichkeit ein ganz guter Ehemann und
+schämst dich nur immer über diese Tugend. Du bist überhaupt ein
+sonderbarer Kauz: du sagst nie was Moralisches und tust nie was
+Schlechtes. Dein Zynismus ist nichts als Pose.«
+
+»Natürlichkeit ist immer eine Pose, und zwar die ärgerlichste Pose, die
+ich kenne«, rief Lord Henry lachend aus, und die beiden jungen Männer
+gingen zusammen in den Garten und ließen sich auf einer langen
+Bambusbank nieder, die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand.
+Das Sonnenlicht flirrte tanzend über die glatten Blätter. Im Grase
+zitterten weiße Gänseblümchen.
+
+Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr: »Ich fürchte, ich muß gleich
+fort, Basil,« brummte er, »aber bevor ich gehe, mußt du mir noch
+unbedingt die Frage beantworten, die ich vorhin an dich gerichtet habe.«
+
+»Was war das?« sagte der Maler, die Augen fest zu Boden gerichtet.
+
+»Na, du weißt doch.«
+
+»Sicher nicht, Harry.«
+
+»Gut, dann will ich's dir nochmals sagen. Du sollst mir erklären, warum
+du Dorian Grays Porträt nicht ausstellen willst. Ich bestehe darauf, den
+wirklichen Grund zu wissen.«
+
+»Ich habe dir den wirklichen Grund schon gesagt.«
+
+»Nein, das hast du nicht getan. Du hast nur gesagt, weil zuviel von dir
+selbst in dem Bilde stecke. Das ist aber kindisch.«
+
+»Harry,« sagte Basil Hallward und sah dem anderen gerade ins Gesicht,
+»jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt ist, ist ein Porträt des
+Künstlers, nicht des Modells. Das Modell ist nur der Anlaß, die
+Gelegenheit. Nicht dies wird vom Maler enthüllt; nein, der Maler
+offenbart auf der farbigen Leinwand eher sich selbst. Ich will also dies
+Bild darum nicht ausstellen, weil ich fürchte, ich habe das Geheimnis
+meiner eigenen Seele darin aufgedeckt.«
+
+Lord Henry lachte. »Und worin bestünde das?« fragte er.
+
+»Ich will es sagen«, antwortete Hallward; aber in sein Gesicht trat ein
+Ausdruck von Ratlosigkeit.
+
+»Ich bin äußerst gespannt, Basil«, fuhr sein Gefährte mit einem Blick
+nach ihm fort.
+
+»Oh, es ist wirklich nicht viel zu berichten, Harry,« entgegnete der
+Maler, »und du verstehst es wohl kaum, wie ich fürchte. Vielleicht auch
+glaubst du mir nicht einmal.«
+
+Lord Henry lächelte und bückte sich dann, um ein rosa angehauchtes
+Gänseblümchen aus dem Grase zu pflücken, das er betrachtete. »Ich werde
+dich ganz gewiß verstehen,« erwiderte er, die Blicke aufmerksam auf die
+kleine, goldene, weißgefiederte Blütenscheibe gerichtet, »und was das
+Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, daß es
+unwahrscheinlich genug ist.«
+
+Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen, und die schweren,
+vielgesternten Traubendolden der Fliederbüsche bewegten sich in der
+schwülen Luft. Eine Grille begann an der Gartenmauer zu zirpen, und wie
+ein blauer Faden huschte eine lange, dünne Wasserjungfer auf ihren
+braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil Hallwards Herz
+pochen zu hören und war neugierig, was wohl kommen möchte.
+
+»Die Geschichte ist einfach die«, sagte der Maler nach einer Weile. »Vor
+zwei Monaten ging ich mal zu einem der Massenempfänge bei Lady Brandon.
+Du weißt, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der
+Gesellschaft zeigen, um das Publikum daran zu erinnern, daß wir keine
+Wilden sind. Du sagtest mir einmal: in Frack und weißer Binde kann
+selbst ein Börsenmensch in den Verdacht von Bildung kommen. Nun also,
+ich war etwa zehn Minuten da und redete mit korpulenten, aufgeputzten,
+vornehmen Witwen und platten Akademikern, da merkte ich plötzlich, daß
+mich jemand anblickte. Ich drehte mich halb um und sah zum ersten Male
+Dorian Gray. Ich spürte, wie ich blaß wurde, als sich unsere Blicke
+begegneten. Ein seltsames Angstgefühl überkam mich. Ich wußte, ich stand
+einem Menschen Aug-in-Auge gegenüber, dessen bloße Erscheinung so
+bezaubernd auf mich wirkte, daß sie, wenn ich sie gewähren ließe, meine
+ganze Natur, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst an sich reißen
+müßte. Ich bedurfte nie in meinem Leben irgendwelcher Einwirkung von
+außen her. Du weißt ja selbst, Harry, wie unabhängig ich von Haus aus
+bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen; war es wenigstens so
+lange, bis ich Dorian Gray traf. Dann -- aber ich weiß nicht, wie ich
+dir das begreiflich machen soll. Irgend etwas schien mir im voraus zu
+sagen, daß ich an einem schrecklichen Wendepunkt in meinem Leben stand.
+Ich hatte die eigentümliche Empfindung, das Schicksal halte für mich die
+ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten Schmerzen in
+Bereitschaft. Ich bekam Furcht, und ich wandte mich zum Gehen. Das
+Gewissen trieb mich nicht dazu: es war eine Art Feigheit. Ich bilde mir
+nichts darauf ein, daß ich diese Flucht versuchte.«
+
+»In Wirklichkeit sind Gewissen und Feigheit ein und dasselbe. Gewissen
+lautet nur die eingetragene Firma. Weiter gar nichts.«
+
+»Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube, du wohl auch nicht.
+Einerlei aber, aus welchem Grunde es geschah -- es mag auch Stolz
+gewesen sein, denn ich war schon immer sehr stolz -- jedenfalls eilte
+ich der Türe zu. Natürlich prallte ich dabei mit Lady Brandon zusammen.
+>Sie wollen doch nicht etwa schon davonlaufen, Herr Hallward?< kreischte
+sie auf. Du kennst ja ihre schrille Stimme.«
+
+»Ja, sie ist ein Pfau in allem, bis auf die Schönheit«, sagte Lord Henry
+und zerrupfte das Gänseblümchen zwischen seinen langen nervösen Fingern.
+
+»Ich konnte ihrer nicht loswerden. Sie zerrte mich zu den königlichen
+Hoheiten hin, zu den Leuten mit Orden und Sternen und zu den ältlichen
+Damen mit riesenhaften Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich
+dabei ihren besten Freund. Ich hatte sie nur ein einziges Mal vorher
+gesehen, aber sie setzte es sich in den Kopf, aus mir den Löwen des
+Tages zu machen. Ich glaube, damals hatte gerade ein Bild von mir großen
+Erfolg gehabt, wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz
+darüber gebracht, und das ist ja im neunzehnten Jahrhundert das
+Eichungsmaß der Unsterblichkeit. Plötzlich stand ich dem jungen Manne
+gegenüber, dessen Äußeres mich vorhin so merkwürdig erschüttert hatte.
+Wir standen ganz nahe beieinander und berührten uns beinah. Unsere
+Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig von mir, aber ich bat
+Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Vielleicht war es aber doch alles
+in allem nicht so leichtsinnig. Es war einfach nicht zu umgehen. Wir
+hätten auch ohne Vorstellung miteinander gesprochen. Ich bin dessen
+gewiß. Dorian sagte es mir nachher. Auch er fühlte, daß unsere
+Bekanntschaft Schicksalsfügung war.«
+
+»Und wie hat Lady Brandon den wunderbaren Jüngling beschrieben?« fragte
+sein Gefährte. »Ich weiß, es ist ihre Manier, von jedem ihrer Gäste eine
+kleine Skizze zu geben. Ich erinnere mich, wie sie mich mal einem
+schrecklichen, alten Herrn mit puterrotem Gesicht vorstellte, dessen
+Brust mit Orden und Bändern beklext war, und mir in einem tragischen
+Flüsterton, der für jedermann im Zimmer hörbar war, die erstaunlichsten
+Einzelheiten über ihn ins Ohr zischelte. Ich mußte einfach davonlaufen.
+Ich entdecke die Leute gerne von mir selbst aus. Aber Lady Brandon
+behandelt ihre Gäste genau so, wie ein Auktionator seine Waren. Sie
+erklärt sie einem entweder so lange, bis nichts mehr davon übrigbleibt,
+oder sie sagt alles, gerade mit Ausnahme dessen, was man wissen will.«
+
+»Die arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie«, sagte Hallward
+zerstreut.
+
+»Mein guter Junge, sie wollte einen Salon gründen und hat es nur bis zu
+einem Restaurant gebracht. Wie soll ich sie da bewundern? Aber sage nun
+endlich, was sie über Herrn Dorian Gray erzählt hat?«
+
+»Oh, so irgend was wie >Entzückender junger Mensch -- seine arme Mutter
+und ich ganz unzertrennlich -- vergaß ganz was er treibt -- fürchte fast
+-- gar nichts -- ach ja, spielt Klavier -- oder war es die Geige, lieber
+Herr Gray?< Wir mußten beide lachen und wurden sofort Freunde.«
+
+»Lachen ist wohl lange nicht der schlechteste Anfang für eine
+Freundschaft, und gewiß ihr schönstes Ende«, sagte der junge Lord und
+pflückte sich noch ein Gänseblümchen.
+
+Hallward schüttelte den Kopf. »Du hast ja keine Ahnung, was Freundschaft
+ist, Harry,« murmelte er, »und ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast
+alle Welt gern; mit anderen Worten: dir sind alle gleichgültig.«
+
+»Wie grausam ungerecht von dir!« rief Lord Henry, stieß seinen Hut in
+den Nacken und sah zu den Lämmerwolken empor, die gleich verwirrten
+Knäueln glänzendweißer Seide über das türkisfarbene Gewölbe des Himmels
+dahinschifften. »Ja, grausam ungerecht von dir. Ich unterscheide die
+Leute sehr scharf. Ich wählte meine Freunde nach ihrem guten Aussehen,
+meine Bekannten nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem
+guten Verstande. Der Mensch kann nicht vorsichtig genug sein in der Wahl
+seiner Feinde. Ich habe keinen einzigen, der ein Narr ist. Es sind
+sämtlich Leute von einer gewissen geistigen Höhe, und daher schätzen sie
+mich auch alle. Bin ich sehr eitel? Ich glaube, es ist ein bißchen
+eitel.«
+
+»Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung zählte ich nur
+unter deine Bekanntschaften.«
+
+»Mein lieber, alter Basil, du bist weit, weit mehr als ein Bekannter.«
+
+»Und weit weniger als ein Freund! Wohl so eine Art Bruder?«
+
+»Pah, Bruder! Bleibe mir mit Brüdern vom Halse. Mein ältester will nicht
+sterben, und meine jüngeren tun scheinbar nichts anderes.«
+
+»Harry!« rief Basil mit gerunzelter Stirne.
+
+»Mein lieber Junge, ich meine es nicht so ernst. Aber ich kann mir nicht
+helfen, ich verabscheue meine Verwandten. Ich vermute, das schreibt sich
+daher, daß kein Mensch bei einem anderen seine eigenen Fehler vertragen
+kann. Ich verstehe durchaus die Wut der englischen Demokraten auf die
+sogenannten Laster der oberen Stände. Die Massen fühlen, daß
+Trunkenheit, Dummheit und Unsittlichkeit zu ihren Vorrechten gehören
+sollten, und daß jeder von uns, der sich darin bloßstellt, gewissermaßen
+auf ihrem Gebiete wildert. Als damals der Scheidungsprozeß des armen
+Southwark spielte, war ihre Entrüstung wirklich prachtvoll. Und trotzdem
+lebt meiner Überzeugung nach nicht der zehnte Teil des Proletariats der
+Sitte gemäß.«
+
+»Ich stimme keinem einzigen deiner Worte bei, und, was mehr ist, Harry,
+du selbst glaubst ja auch nicht im mindesten daran.«
+
+Lord Henry strich seinen braunen Spitzbart und stieß mit dem zierlichen
+Spazierstock aus Ebenholz gegen die Kappe seines eleganten Lackstiefels.
+»Wie englisch du bist, Basil! Du machst heute zum zweitenmal diesen
+Einwurf. Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt -- an
+sich schon immer eine Unüberlegtheit --, so fällt es ihm nicht im Traum
+ein, zu erwägen, ob die Idee richtig oder falsch ist. Das einzige, was
+ihm von Belang scheint, ist das, ob der Sprecher selbst daran glaubt.
+Aber der Wert einer Idee hat nicht das geringste mit der Aufrichtigkeit
+dessen zu schaffen, der sie ausspricht. Aller Wahrscheinlichkeit nach
+wird die Idee um so geistreicher sein, je unaufrichtiger der Mann ist,
+weil sie in diesem Fall weder die Färbung seiner Bedürfnisse noch seiner
+Wünsche noch seiner Vorurteile annehmen wird. Indes habe ich nicht die
+Absicht, politische, soziale oder metaphysische Diskussionen mit dir zu
+führen. Mir sind Menschen lieber als Grundsätze und grundsatzlose
+Menschen überhaupt das Liebste auf Erden. Erzähle mir mehr von Dorian
+Gray. Wie oft siehst du ihn?«
+
+»Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn mal einen Tag nicht sähe.
+Er ist für mich einfach ein Bedürfnis.«
+
+»Wie merkwürdig! Ich glaubte immer, du kümmertest dich um nichts anderes
+als um deine Kunst.«
+
+»Er ist für mich jetzt meine ganze Kunst«, sagte der Maler ernsthaft.
+»Manchmal glaube ich, Harry, daß es nur zwei wichtige Epochen in der
+Weltgeschichte gibt. Die erste ist das Auftreten einer neuen
+Kunsttechnik und die zweite die Erscheinung einer neuen Persönlichkeit
+in der Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war,
+das war das Gesicht des Antinous für die spätgriechische Bildhauerkunst,
+und das wird eines Tages für mich das Gesicht Dorian Grays sein. Worauf
+es dabei ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere.
+Natürlich hab' ich das alles getan. Aber er ist weit mehr für mich als
+ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich will gewiß nicht
+behaupten, daß ich unzufrieden mit dem bin, was ich nach ihm gemacht
+habe, oder daß seine Schönheit derart ist, daß sie die Kunst nicht
+ausdrücken könne. Es gibt überhaupt nichts, was die Kunst nicht
+ausdrücken kann, und ich weiß: was ich gemacht habe, seitdem ich Dorian
+Gray kenne, ist gute Arbeit, ja, die gelungenste Arbeit meines Lebens.
+Aber auf irgendeine seltsame Weise -- ich glaube kaum, daß du das
+verstehen wirst -- hat mir seine Persönlichkeit eine vollständig neue
+Art der Kunst, einen durchaus neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge
+anders, ich denke darüber anders. Ich kann jetzt das Leben auf eine Art
+festhalten, die mir früher nicht gegeben war. >Ein Traum von Form in
+unseren Tagen des Denkens<: wer war es, der so sagte? Ich hab's
+vergessen, aber das bedeutet Dorian Gray für mich. Die bloße sichtbare
+Gegenwart dieses Knaben -- denn für mich ist er kaum mehr als das, wenn
+er auch schon über die Zwanzig -- seine bloße sichtbare Gegenwart --
+ach! ich glaube nicht, daß du einen Begriff davon hast, was sie für mich
+bedeutet! Ohne selbst es zu wissen, enthüllt er mir die Linien einer
+neuen Schule, einer Schule, in der enthalten ist die ganze Leidenschaft
+der Romantik und die ganze Vollkommenheit des griechischen Geistes. Die
+Harmonie von Seele und Leib, wieviel ist das doch! Wir in unserer
+Verblendung haben die beiden voneinander gerissen und haben uns einen
+Realismus erfunden, der gewöhnlich ist, und einen Idealismus, der leer
+ist. Harry! wenn du wissen könntest, was mir Dorian Gray ist! Erinnerst
+du dich an die Landschaft von mir, für die mir Agnew ein so wahnsinniges
+Geld angeboten hat und von der ich mich doch nie trennen wollte? Es ist
+sicher eins der besten Stücke, die ich je gemacht habe. Und warum? Weil
+Dorian Gray neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein ganz feines
+Fluidum strömte von ihm zu mir, und zum erstenmal in meinem Leben
+entdeckte ich in der simpeln Waldlandschaft das Wunder, nach dem ich
+immer gesucht und das ich nie gefunden hatte.«
+
+»Basil, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte. Ich muß Dorian
+Gray kennenlernen.«
+
+Hallward schnellte von der Bank auf und ging im Garten hin und her. Nach
+einer Weile kam er zurück.
+
+»Harry,« sagte er, »Dorian Gray ist für mich nichts als ein
+künstlerisches Motiv. Vielleicht fändest du gar nichts in ihm. Ich finde
+alles in ihm. Er ist in Wirklichkeit nie mehr in meiner Arbeit lebendig,
+als wenn kein Schatten von ihm darin ist. Er ist für mich, wie ich
+sagte, die Anregung zu einem Stil. Ich finde ihn in den Schwingungen
+gewisser Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit gewisser
+Farben. Das ist alles.«
+
+»Warum aber willst du dann sein Bild nicht ausstellen?« fragte Lord
+Henry.
+
+»Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck all dieser ganz
+merkwürdigen Künstlervergötterung hineingelegt habe, von der ich
+natürlich nie zu ihm sprechen wollte. Er hat von alledem keine Ahnung.
+Er soll nie etwas davon ahnen. Aber die Welt könnte es erraten; und ich
+will meine Seele ihren seichten, spähenden Augen nicht entblößen. Mein
+Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop bekommen. Es ist zu viel von mir
+selbst in dem Dinge, Harry -- zu viel von mir selbst.«
+
+»Dichter nehmen's nicht so genau wie du. Die wissen, wie einträglich es
+ist, Leidenschaft zu veröffentlichen. Ein gebrochenes Herz bringt es
+heutzutage zu einer ganzen Reihe von Auflagen.«
+
+»Ich finde sie darum eben abscheulich!« rief Hallward aus. »Ein Künstler
+soll Schönes schaffen, aber er soll nichts von seinem eigenen Leben
+hineintragen. Wir leben in einer Zeit, wo die Menschen aus der Kunst
+eine Art Autobiographie zu machen wünschen. Wir haben eben den klaren
+Begriff für Schönheit verloren. Eines Tages will ich der Welt zeigen,
+was sie ist, und deshalb soll die Welt mein Bild Dorian Grays niemals
+sehen.«
+
+»Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will mit dir nicht
+streiten. Nur die geistig Entkernten streiten sich gern. Sag' mir, hat
+dich Dorian Gray sehr lieb?«
+
+Der Maler dachte ein paar Augenblicke nach. »Er hat mich gern«,
+antwortete er nach einer Weile; »sicher hat er mich gern. Natürlich
+schmeichle ich ihm fürchterlich. Ich finde eine ganz besondere Lust
+daran, ihm Dinge zu sagen, die mir später leid tun, wie ich ganz genau
+weiß. In der Regel ist er auch reizend zu mir, und wir sitzen dann im
+Atelier und schwatzen von tausend Dingen. Dann und wann ist er
+allerdings greulich gedankenlos und scheint große Freude darin zu
+finden, mir wehe zu tun. Dann, Harry, habe ich das Gefühl, daß ich
+jemand meine ganze Seele überantwortet habe, der sie behandelt wie eine
+Blume für das Knopfloch, wie ein kleines Ehrenzeichen, mit dem man seine
+Eitelkeit befriedigt, wie einen Zierat für einen Sommertag.«
+
+»Sommertage, Basil, pflegen manchmal lange zu währen«, murmelte Lord
+Henry. »Vielleicht wirst du seiner früher müde, als er deiner. Es ist
+sehr traurig, daran zu denken, aber es ist ohne Zweifel wahr, daß das
+Genie die Schönheit überlebt. Das erklärt auch die Tatsache, daß wir uns
+soviel Mühe geben, uns mit Bildung vollzupfropfen. In dem wilden
+Existenzkampfe ums Dasein wollen wir alle etwas Dauerhaftes haben, und
+so füllen wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der dummen
+Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten. Der durch und durch
+unterrichtete Mann -- das ist das moderne Ideal. Und das Gehirn dieses
+durch und durch unterrichteten Mannes hat etwas Fürchterliches. Es
+gleicht einem Kuriositätenladen, in dem es lauter Ungeheuerlichkeiten
+voll Staub gibt, und wo jeder Gegenstand über seinen wahren Wert hinaus
+ausgezeichnet. Immerhin, ich glaube, du wirst zuerst müde werden. Eines
+Tages wirst du deinen jungen Freund anschauen und finden, daß er etwas
+verzeichnet ist, oder du wirst an seiner Farbe etwas auszusetzen haben
+oder irgend so etwas. Du wirst ihm dann in deinem Herzen bittere
+Vorwürfe machen und ganz ernsthaft überzeugt sein, daß er sich recht
+schlecht gegen dich benommen hat. Wenn er dich dann das nächstemal
+besucht, wirst du völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Das wird
+sehr schade sein, denn es wird dich selbst verändern. Was du mir da
+erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, eine Romanze der Kunst möchte man
+es nennen, und das Schlimmste beim Erleben von Gedichten ist nur, daß es
+einen so ganz unpoetisch zurückläßt.«
+
+»Harry, ich bitte, sprich nicht so. Solang' ich lebe, wird mich die
+Persönlichkeit Dorian Grays beherrschen. Du kannst meine Empfindung
+nicht nachfühlen. Du wandelst dich zu oft.«
+
+»Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich sie nachempfinden. Die
+treuen Menschen kennen nur die triviale Seite der Liebe; die Treulosen
+allein erfahren die Tragödien der Liebe.« Und Lord Henry zündete an
+einem zierlichen silbernen Büchschen ein Streichholz an und begann eine
+Zigarette zu rauchen, mit jener so selbstbewußten, zufriedenen Miene,
+als hätte er den Sinn der ganzen Welt in einen Satz zusammengefaßt. Man
+hörte ein leises Rauschen von zirpenden Sperlingen in den grünen, wie
+mit glänzendem Lack überzogenen Efeublättern, und die blauen
+Wolkenschatten jagten wie Schwalben über das Gras. Wie reizend war es
+doch in dem Garten und wie entzückend waren die Gefühlsregungen anderer
+Leute! -- weit entzückender als ihre Gedanken, so schien es ihm. Des
+Menschen eigene Seele und die Leidenschaft seiner Freunde -- das sind
+die fesselnden Dinge des Lebens. Er stellte sich mit geheimem Vergnügen
+das langweilige Frühstück vor, das er durch seinen langen Besuch bei
+Basil Hallward versäumt hatte. Wäre er zu seiner Tante gegangen, hätte
+er dort sicher Lord Goodbody getroffen, und das ganze Gespräch hätte
+sich mit der Armenernährung und der Notwendigkeit von Musterwohnhäusern
+beschäftigt. Menschen jedes Standes hätten die Wichtigkeit gerade jener
+Tugenden gepredigt, für die sie in ihrem eigenen Leben gar keine
+Verwendung hatten. Der Reiche hätte von dem Werte der Sparsamkeit
+geredet, und der Träge mit wahrhafter Beredsamkeit über die Würde der
+Arbeit. Es war reizend, all dem entgangen zu sein. Als er an seine Tante
+dachte, schien ihm etwas einzufallen. Er wandte sich zu Basil und sagte:
+»Mein lieber Junge, ich erinnere mich jetzt.«
+
+»Woran erinnerst du dich, Harry?«
+
+»Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.«
+
+»Wo war das?« fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln.
+
+»Schau' doch nicht so böse drein, Basil. Es war bei meiner Tante, Lady
+Agatha. Sie erzählte mir, sie sei einem wunderhübschen jungen Menschen
+begegnet, der ihr im East-End helfen wolle, und er heiße Dorian Gray.
+Ich muß zugeben, sie hat mir nie etwas darüber gesagt, daß er so hübsch
+sei. Frauen haben kein Verständnis für Schönheit, wenigstens gute Frauen
+nicht. Sie sagte, daß er sehr ernst sei und eine edle Seele habe. Ich
+stellte mir natürlich sofort ein Wesen mit Brille und wallendem Haar und
+gräßlich vielen Sommersprossen vor, das auf riesigen Füßen umherstapfe.
+Ich wünsche jetzt, ich hätte gewußt, daß er dein Freund ist.«
+
+»Ich bin sehr froh, daß du es nicht gewußt hast, Harry.«
+
+»Warum?«
+
+»Ich will nicht, daß du ihn kennenlernst.«
+
+»Du willst nicht, daß ich ihn kennenlerne?«
+
+»Nein.«
+
+»Herr Dorian Gray ist im Atelier«, sagte der Diener, der in den Garten
+hinaustrat.
+
+»Jetzt mußt du mich vorstellen!« rief Lord Henry lachend. Der Maler
+wandte sich zu seinem Diener, der blinzelnd in der Sonne dastand:
+»Bitten Sie Herrn Gray, zu warten, Parker; ich komme in ein paar
+Minuten.« Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus.
+
+Dann sah der Maler Lord Henry an. »Dorian Gray ist mein teuerster
+Freund«, sagte er. »Er hat eine schlichte und edle Seele. Deine Tante
+hatte ganz recht mit dem, was sie über ihn sagte. Verdirb ihn mir nicht.
+Versuche nicht, Einfluß auf ihn auszuüben. Dein Einfluß wäre
+verderblich. Die Welt ist groß, und es gibt eine Menge köstlicher
+Menschen auf ihr. Raube mir nicht den einzigen Menschen, der meiner
+Kunst ihren ganzen Zauber verleiht, den sie hat: mein Leben als Künstler
+hängt von ihm ab! Denke daran, Harry, ich vertraue dir.« Er sprach sehr
+langsam, und die Worte schienen sich ihm gegen seinen Willen zu
+entringen.
+
+»Was für Unsinn du redest!« sagte Lord Henry lächelnd, nahm Hallward
+unter den Arm und führte ihn in das Haus.
+
+
+
+
+Zweites Kapitel
+
+
+Als sie eintraten, erblickten sie Dorian Gray. Er saß am Klavier, mit
+dem Rücken ihnen zu, und blätterte in einem Notenbande mit Schumanns
+Waldszenen. »Die mußt du mir leihen, Basil!« rief er aus. »Ich möchte
+sie spielen lernen. Sie sind geradezu entzückend.«
+
+»Das hängt ganz davon ab, wie du mir heute sitzen wirst, Dorian.«
+
+»Ach, ich habe das Sitzen lange satt, und ich will gar kein lebensgroßes
+Bild von mir«, antwortete der Jüngling und schwang sich in dem
+Musikstuhl auf eine eigensinnige, launische Knabenart herum. Als er aber
+Lord Henry erblickte, stieg für einen Augenblick ein schwaches Rot in
+seine Wangen, und er sprang auf. »Ich bitte um Entschuldigung, Basil,
+ich wußte nicht, daß jemand bei dir ist.«
+
+»Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter Freund von Oxford her. Ich
+habe ihm gerade erzählt, wie musterhaft du sitzen kannst, und jetzt hast
+du alles verdorben.«
+
+»Mir haben Sie das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, nicht
+verdorben, Herr Gray«, sagte Lord Henry, ging auf ihn zu und streckte
+ihm die Hand entgegen. »Meine Tante hat oft von Ihnen gesprochen. Sie
+sind einer ihrer Lieblinge und, wie ich fürchte, auch ihrer Opfer.«
+
+»Ich stehe zur Zeit auf Lady Agathas schwarzer Liste«, antwortete Dorian
+mit einem komisch reuigen Gesichtsausdruck. »Ich hatte ihr versprochen,
+sie letzten Dienstag nach einem Klub in Whitechapel zu begleiten, und
+ich habe dann die Abmachung vergessen. Wir sollten da miteinander
+vierhändig spielen -- drei Stücke glaube ich. Ich weiß nun nicht, was
+sie mir dazu sagen wird. Ich habe Angst, ihr einen Besuch zu machen.«
+
+»Oh, ich werde Sie mit meiner Tante versöhnen. Sie ist Ihnen äußerst
+zugetan. Und ich glaube auch, es schadet nichts, daß Sie nicht dort
+waren. Die Zuhörer haben sicher angenommen, es sei vierhändig gespielt
+worden. Wenn sich Tante Agatha ans Klavier setzt, macht sie für zwei
+Personen reichlich Lärm.«
+
+»Sie sprechen sehr schlecht von ihr, und mir machen Sie auch gerade kein
+Kompliment damit«, antwortete Dorian lachend.
+
+Lord Henry sah ihn an. Ja, er war wirklich wunderbar schön, mit seinen
+feingeschwungenen dunkelroten Lippen, seinen offenen blauen Augen und
+seinem gewellten, goldblonden Haar. In seinem Gesicht war ein Ausdruck,
+der sofort Vertrauen erweckte. Aller Glanz der Jugend lag darin und
+ebenso all die leidenschaftliche Reinheit der Jugend. Man fühlte, daß er
+bisher noch nicht von der Welt befleckt war. Kein Wunder, daß ihn Basil
+Hallward anbetete.
+
+»Sie sind viel zu hübsch, um sich mit Wohltätigkeit abzugeben, Herr Gray
+-- viel zu hübsch!« Und Lord Henry warf sich auf den Diwan und öffnete
+seine Zigarettendose.
+
+Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt und seine Pinsel
+zurechtgemacht. Er sah etwas gequält aus, und als er Lord Henrys letzte
+Bemerkung hörte, blickte er zu ihm hin, sann einen Augenblick nach und
+sagte dann: »Harry, ich möchte das Bild heute fertig kriegen. Fändest du
+es sehr grob von mir, wenn ich dich jetzt bäte, uns allein zu lassen?«
+
+Lord Henry lächelte und sah Dorian Gray an. »Soll ich gehen, Herr Gray?«
+fragte er.
+
+»Oh, bitte, nein, Lord Henry. Ich sehe, Basil hat wieder einen seiner
+schlechten Tage, und ich kann ihn nicht vertragen, wenn er so brummt.
+Außerdem möchte ich von Ihnen erfahren, warum ich mich nicht mit
+Wohltätigkeit befassen soll?«
+
+»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Herr Gray. Es ist ein so
+langweiliges Thema, daß man schon ernsthaft darüber reden müßte. Aber
+jetzt geh ich auf keinen Fall, nachdem Sie mir erlaubt haben,
+dazubleiben. Du hast doch nichts im Ernst dagegen, Basil? Du hast mir
+oft genug gesagt, daß es dir angenehm sei, wenn deine Modelle mit jemand
+plaudern können.«
+
+Hallward biß sich auf die Lippe. »Wenn es Dorian wünscht, wirst du
+natürlich dableiben. Dorians Launen sind Gesetze für jedermann, außer
+für ihn selbst.«
+
+Lord Henry nahm seinen Hut und seine Handschuhe. »Trotz deiner
+dringenden Aufforderung, Basil, fürchte ich, gehen zu müssen. Ich habe
+mit jemand eine Verabredung im Orleans-Klub. Adieu, Herr Gray! Bitte,
+besuchen Sie mich doch mal eines Nachmittags in Curzon Street. Um fünf
+Uhr treffen Sie mich fast immer. Schreiben Sie mir, bitte, wann Sie
+kommen. Es täte mir sehr leid, wenn Sie mich verfehlten.«
+
+»Basil,« rief Dorian Gray, »wenn Lord Henry Wotton geht, dann gehe ich
+auch. Du bringst ja beim Malen nie die Lippen auseinander, und es ist
+furchtbar ermüdend, auf einem Podium zu stehen und sich anzustrengen,
+freundlich auszusehen. Bitte ihn, dazubleiben. Ich bestehe darauf.«
+
+»Bleib, Harry, du machst Dorian damit ein Vergnügen und auch mir«,
+sagte Hallward, ohne von seinem Bilde aufzublicken. »Er hat ganz recht,
+ich spreche nie ein Wort während der Arbeit und höre ebensowenig zu, und
+das muß sehr langweilig für meine unglücklichen Modelle sein. Ich bitte
+dich also, bleib.«
+
+»Was fange ich aber mit meinem Mann im Orleans an?«
+
+Der Maler lachte. »Ich glaube, damit wird es keine Schwierigkeit haben.
+Setz dich nur wieder, Harry. Und jetzt, Dorian, geh auf das Podium und
+bewege dich nicht zuviel und achte auch nicht auf das, was Lord Henry
+sagt. Er hat einen sehr bösen Einfluß auf alle seine Freunde, nur mich
+ausgenommen.«
+
+Dorian Gray bestieg das Podium mit der Miene eines jungen griechischen
+Märtyrers und stieß, zu Lord Henry gewandt, der ihm gleich gut gefallen
+hatte, einen kleinen drolligen Seufzer aus. Dieser Mann war so ganz
+anders als Basil. Die beiden bildeten einen entzückenden Gegensatz. Und
+er hatte ein so schönes Organ. Nach ein paar Augenblicken sagte Dorian
+zu ihm: »Haben Sie wirklich einen so bösen Einfluß, Lord Henry? Ist es
+so arg, wie Basil sagt?«
+
+»Es gibt keinen sogenannten guten Einfluß, Herr Gray. Jeder Einfluß ist
+unmoralisch -- unmoralisch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus.«
+
+»Wieso?«
+
+»Weil jemand beeinflussen soviel ist wie ihm die eigene Seele leihen. Er
+denkt dann nicht mehr seine natürlichen Gedanken und brennt nicht mehr
+in seinem natürlichen Feuer. Seine Tugenden sind gar nicht seine
+Tugenden. Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind nur
+ausgeborgte. Er wird ein Echo für die Töne eines anderen, Schauspieler
+einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben wurde. Der Sinn des Daseins
+ist: Selbstentwicklung. Die eigene Natur voll zum Ausdruck zu bringen --
+diese Aufgabe hat jeder von uns hier zu lösen. Heutzutage hat jeder
+Mensch Angst vor sich. Sie haben ihre heiligste Pflicht vergessen,
+nämlich die gegen sich selbst. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren
+den Hungernden und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen darben
+und gehen nackt. Der Mut ist unserem Geschlecht abhanden gekommen.
+Vielleicht haben wir ihn nie wirklich besessen. Die Furcht vor der
+Gesellschaft als der Grundlage der Sittlichkeit, und die Furcht vor
+Gott, als dem Geheimnis der Religion -- das sind die zwei Dinge, die uns
+beherrschen. Und doch --«
+
+»Dorian, dreh den Kopf mal ein wenig mehr nach rechts, sei so gut«,
+sagte der Maler, der ganz in sein Werk vertieft war, aber doch gemerkt
+hatte, daß in des Jünglings Gesicht ein Ausdruck getreten war, den er
+vorher nie darin gesehen hatte.
+
+»Und doch,« fuhr Lord Henry mit seiner tiefen musikalischen Stimme fort,
+während er die Hand in der anmutigen Art bewegte, die er schon
+seinerzeit in Eton gehabt hatte, »ich glaube, wenn die Menschen nur ihr
+eigenes Leben voll, bis auf den letzten Rest ausleben würden, jedes
+Gefühl Gestalt bekommen lassen, jeden Gedanken ausdrücken, jeden Traum
+in Dasein umsetzen wollten -- ich glaube, dann käme in die Welt ein
+solcher Schwung von neuer Freudigkeit, daß wir alle die Krankheiten des
+Mittelalters vergäßen und zum hellenischen Ideal zurückkehrten, ja wir
+kämen vielleicht zu etwas Feinerem und Reicherem, als das hellenische
+Ideal war. Aber selbst der Tapferste unter uns hat Angst vor sich
+selber. Die Selbstverstümmelung der Wilden hat ihr tragisches
+Überbleibsel in der Selbstverleugnung, die unser Leben verstümmelt. Wir
+büßen für unsere Entsagungen. Jeder Trieb, den wir zu ersticken suchen,
+frißt im Innern weiter und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal
+und hat sich durch die Sünde befreit, denn Tat ist immer eine Art
+Reinigung. Nichts bleibt davon zurück als die Erinnerung an ein
+Vergnügen oder die schmerzliche Wollust der Reue. Der einzige Weg, eine
+Versuchung zu bestehen, ist, sich ihr hinzugeben. Widerstehen Sie ihr,
+und Ihre Seele erkrankt vor Sehnsucht nach der Erfüllung, die sie sich
+selber verweigert hat, erkrankt vor dem Verlangen nach dem, was ihre
+ungeheuerlichen Gesetze ungeheuerlich und ungesetzmäßig gemacht haben.
+Es ist wohl gesagt worden, die großen Ereignisse der Welt gingen im
+Gehirn vor sich. Im Gehirn und ganz allein im Gehirn werden auch die
+großen Sünden der Welt begangen. Sie, Herr Gray, Sie selbst mit Ihrer
+rosenroten Jugend und Ihrer rosenblassen Knabenunschuld, Sie haben schon
+Leidenschaften erlebt, die Ihnen Angst einjagten, haben Gedanken gehabt,
+die Sie in Schrecken setzten, haben wachend und schlafend Träume gehabt,
+deren bloße Erinnerung Ihre Wangen schamrot werden ließ --«
+
+»Hören Sie auf,« stammelte Dorian Gray, »hören Sie auf, Sie machen mich
+ganz wirr. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Antwort
+darauf, aber ich kann sie nicht finden. Sagen Sie nichts mehr! Lassen
+Sie mich nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, dem nicht
+nachzudenken.«
+
+Etwa zehn Minuten stand er bewegungslos da, mit halboffenen Lippen und
+seltsam leuchtenden Augen. Er war sich dumpf bewußt, daß ganz neue
+Einflüsse in ihm arbeiteten. Und doch schien es, als kämen sie in
+Wirklichkeit aus seinem eigenen Innern. Die paar Worte, die Basils
+Freund zu ihm gesagt hatte -- ohne Zweifel zufällig hingeworfene Worte
+voll absichtlicher Paradoxie -- hatten eine geheime Saite seiner Seele
+berührt, die vordem nie berührt worden war, die er aber nun zittern und
+in seltsamer Wildheit schluchzen hörte.
+
+Musik hatte ihn so ähnlich aufgewühlt. Musik hatte ihn oft in Aufruhr
+gebracht. Aber Musik war etwas Unbestimmtes. Sie bringt keine neue Welt
+in uns hervor; schafft eher ein neues Chaos in uns. Worte! Bloße Worte!
+Wie schrecklich die waren! Wie klar und lebendig und grausam! Man konnte
+ihnen nicht entrinnen. Und doch, welch tiefer Zauber steckte in ihnen!
+Sie schienen die Kraft zu haben, formlosen Dingen eine greifbare Gestalt
+zu geben, und schienen eine Musik in sich zu bergen, so süß wie die der
+Geige oder der Laute. Bloße Worte! Gab es denn irgend etwas so
+Wirkliches wie Worte?
+
+Ja; es hatte in seiner Knabenzeit Dinge gegeben, die ihm unbegreiflich
+geblieben waren. Jetzt verstand er sie. Plötzlich bekam das Leben für
+ihn lodernde Farben. Nun schien es ihm, als sei er mittenhin durch Feuer
+gewandelt. Warum hatte er es nie gemerkt?
+
+Lord Henry beobachtete ihn mit einem feinspürenden Lächeln. Er verstand
+sich gut auf jenen psychologischen Moment, in dem man kein Wort sagen
+darf. Er fühlte sich sehr stark interessiert. Die jähe Wirkung seiner
+Worte machte ihn erstaunen; nun entsann er sich eines Buches, das er mit
+sechzehn Jahren gelesen und das ihm viel bis dahin Unbekanntes enthüllt
+hatte, und er fragte sich, ob Dorian Gray jetzt wohl eine ähnliche
+Erfahrung erlebe. Er hatte nur einen Pfeil ins Blaue geschossen. Hatte
+er das Ziel getroffen? Wie anziehend doch dieser Junge war!
+
+Inzwischen malte Hallward in jenen wundervollen, kühnen Zügen weiter,
+die das Zeichen aller wahren Feinheit und Vollkommenheit sind, denn die
+kann der Kunst nur aus der Kraft werden. Er merkte die wortlose Stille
+gar nicht.
+
+»Basil, ich habe jetzt genug von dem Stehen!« rief Dorian plötzlich aus.
+»Ich muß hinaus und mich im Garten hinsetzen. Die Luft hier ist zum
+Ersticken.«
+
+»Mein Bester, das tut mir wirklich leid. Wenn ich male, kann ich an
+nichts anderes denken. Aber du hast nie besser Modell gestanden. Du
+warst ganz ruhig. Und ich habe endlich den Ausdruck herausgebracht, den
+ich gesucht habe -- die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen.
+Ich weiß nicht, was Harry dir erzählt hat, aber sicher hat er es
+bewirkt, daß du den prachtvollsten Ausdruck hast. Ich vermute, er hat
+dir Komplimente gemacht. Du darfst ihm nur kein einziges Wort glauben.«
+
+»Er hat mir nicht das kleinste Kompliment gemacht. Vielleicht ist das
+der Grund, daß ich wirklich kein Wort von dem glaube, was er gesagt
+hat.«
+
+»Sie wissen selbst, daß Sie jedes Wort davon glauben«, erwiderte Lord
+Harry, der ihn mit seinen weichen, träumerischen Augen ansah. »Wir
+wollen zusammen in den Garten gehen. Es ist furchtbar heiß hier im
+Atelier. Basil, laß uns irgendein Eisgetränk geben, irgendwas mit
+Erdbeeren darin.«
+
+»Gern, Harry. Klingele nur selbst, und wenn Parker kommt, will ich ihm
+sagen, was Ihr haben wollt. Ich muß erst den Hintergrund hier noch
+fertig machen und komme dann später nach. Halte mir Dorian aber nicht zu
+lange fest. Ich war nie in besserer Malstimmung als heute. Dies Porträt
+wird mein Meisterwerk. Wie es da steht, ist es schon mein Meisterwerk.«
+
+Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand dort Dorian Gray, wie er
+sein Gesicht hinter den großen, kühlen Blütenbüscheln der
+Fliedersträuche versteckte und fieberhaft ihren Duft einsog, als tränke
+er Wein. Er trat nahe an ihn heran und legte ihm die Hand auf die
+Achsel. »Sie haben ganz recht, so zu tun«, sagte er leise. »Nichts hilft
+der Seele besser als die Sinne, sowie den Sinnen nichts besser als die
+Seele helfen kann.«
+
+Der Jüngling schreckte auf und trat einen Schritt zurück. Er war ohne
+Hut, und das Blattgewirr hatte seine widerspenstigen Locken aufgewühlt
+und ihre goldblonden Strähnen in Unordnung gebracht. In seinen Augen lag
+ein Ausdruck von Furcht, wie ihn Menschen haben, die man jäh aus dem
+Schlaf reißt. Seine zartgeformten Nasenflügel bebten, und ein geheimer
+Nerv zuckte leis an den scharlachroten Lippen, so daß sie beständig
+zitterten.
+
+»Ja,« fuhr Lord Henry fort, »das ist eines der großen Geheimnisse des
+Daseins -- die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele
+heilen können. Sie sind ein wunderbares Menschenkind! Sie wissen mehr,
+als Ihnen bewußt ist, gerade wie Sie weniger wissen, als Ihnen dienlich
+ist.«
+
+Dorian Gray runzelte die Stirn und wendete den Kopf weg. Ein
+unwiderstehlicher Reiz zog ihn zu diesem großen, anmutigen jungen Mann
+hin, der da neben ihm stand. Sein romantisches, olivenfarbiges Gesicht
+und der müde Ausdruck darin fesselten ihn. Es war etwas in dem müden Ton
+seiner Stimme, was völlig in Bann schlug. Auch seine Hände, kühl, weiß
+und blumenhaft, zogen an. Sie bewegten sich bei seinen Worten,
+begleiteten sie wie Musik und schienen ihre eigene Sprache zu reden.
+Aber er hatte auch Angst vor ihm und schämte sich dieser Angst. Warum
+hatte ein Fremder kommen müssen, um ihn sich selber zu offenbaren? Er
+kannte Basil Hallward nun seit Monaten, aber diese Freundschaft hatte
+ihn niemals verwandelt. Jetzt war plötzlich jemand in sein Leben
+getreten, der ihm des Lebens Mysterium enthüllt zu haben schien. Und
+doch, wovor sollte er sich fürchten? Er war kein Schulknabe und kein
+kleines Mädchen. Es war töricht, Angst zu haben.
+
+»Kommen Sie und setzen wir uns in den Schatten«, sagte Lord Henry.
+»Parker hat uns was zu trinken gebracht, und wenn Sie noch länger in
+solcher Sonnenglut stehenbleiben, werden Sie sich Ihren Teint verderben,
+und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich nicht von
+der Sonne verbrennen lassen. Es würde Ihnen schlecht stehen.«
+
+»Was läge weiter daran?« rief Dorian Gray und lachte, als er sich auf
+eine Bank am Ende des Gartens setzte.
+
+»Alles sollte Ihnen daran liegen, Herr Gray.«
+
+»Wieso?«
+
+»Weil Sie die wundervollste Jugend haben, und Jugend ist das einzige,
+dessen Besitz einen Wert hat.«
+
+»Ich empfinde das nicht, Lord Henry.«
+
+»Nein, jetzt empfinden Sie es nicht. Später einmal, wenn Sie alt,
+runzlig und häßlich sind, wenn das Denken Furchen in Ihre Stirne
+gegraben und die Leidenschaft Ihre Lippen mit ihrem schrecklichen Feuer
+verbrannt hat, dann werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt
+können Sie hingehen, wo Sie wollen, und Sie berücken die ganze Welt!
+Wird das immer so sein?... Sie haben ein wundervoll schönes Gesicht,
+Herr Gray. Runzeln Sie nicht die Stirn. Sie haben es. Und Schönheit ist
+eine Form des Genies -- steht in Wahrheit noch höher als das Genie, da
+sie keinerlei Erklärung bedarf. Sie ist eine der großen Lebenstatsachen,
+wie das Sonnenlicht oder der Lenz oder wie in dunkeln Gewässern der
+Widerschein der Silbermuschel, die wir Mond nennen. Sie kann nicht
+bestritten werden. Sie hat ein göttliches, erhabenes Recht. Wer sie
+hat, den macht sie zu einem Prinzen. Sie lächeln? Oh, wenn Sie sie
+verloren haben, lächeln Sie nicht mehr... Die Leute sagen manchmal,
+Schönheit sei nur etwas Äußerliches. Mag sein. Aber zum mindesten ist
+sie nicht so äußerlich wie das Denken. Für mich ist Schönheit aller
+Wunder Wunder. Nur die Hohlköpfe urteilen nicht nach dem Äußeren. Das
+wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare...
+Ja, Herr Gray, die Götter haben es gut mit Ihnen gemeint. Aber was die
+Götter schenken, rauben sie bald wieder. Sie haben nur ein paar Jahre,
+wo Sie wahrhaftig vollkommen, restlos leben können. Indem Ihre Jugend
+verrauscht ist, nimmt sie die Schönheit mit, und dann werden Sie
+plötzlich entdecken, daß Ihrer keine Siege mehr warten, oder daß Sie
+sich mit jenen traurigen Siegen werden begnügen müssen, die Ihnen die
+Erinnerung an die Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen.
+Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie näher einem schrecklichen Ziele.
+Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und kämpft gegen Ihre Lilien und
+Rosen. Sie werden fahl und hohlwangig, und Ihre Augen werden sich
+trüben. Sie werden unsäglich leiden... Ach! leben Sie Ihre Jugend,
+solange sie da ist. Vergeuden Sie das Gold Ihrer Tage nicht, leihen Sie
+Ihr Ohr nicht den Philistern, mühen Sie sich nicht, hoffnungslose
+Verhängnisse zu verbessern, geben Sie Ihr Leben nicht den Unwissenden,
+Niedrigen, den gemeinen Leuten hin! Das sind die kranken Ziele, die
+falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das wunderschöne
+Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich nichts verloren sein! Suchen
+Sie rastlos nach neuen Sinneseindrücken! Fürchten Sie nichts... Ein
+neuer Hedonismus -- der täte unserem Jahrhundert not. Sie könnten sein
+sichtbares Symbol werden. Mit Ihrer Persönlichkeit können Sie alles
+wagen. Die Welt gehört Ihnen einen Sommer hindurch... Im Augenblick, da
+ich Sie sah, merkte ich, daß Sie keine Ahnung davon haben, was Sie
+wirklich sind, was Sie wirklich sein könnten. So viel in Ihnen entzückte
+mich, daß ich förmlich gezwungen war, Ihnen etwas über Ihre Natur zu
+sagen. Ich dachte mir, welche Tragik darin läge, wenn Sie vergebens
+lebten. Denn Ihre Jugend währt nur so kurze Zeit -- so kurze Zeit. Die
+alltäglichen Wiesenblumen welken, aber sie blühen wieder. Der Goldregen
+wird im nächsten Juni genau so gelb sein wie heute. In einem Monat setzt
+die Klematis purpurne Sterne an, und Jahr für Jahr umhüllt die grüne
+Nacht ihrer Blätter solche Purpursterne. Aber wir Menschen bekommen
+unsere Jugend nie wieder. Die Freude, die den Puls des Zwanzigjährigen
+peitscht, läßt nach. Unsere Glieder versagen, die Sinne werden seicht.
+Wir verkommen und werden greuliche Verpuppungen, werden verfolgt von den
+Erinnerungen an die Leidenschaften, vor denen wir zurückgeschreckt sind,
+und an die reizenden Versuchungen, denen zu erliegen wir nicht den Mut
+hatten. Jugend! Jugend! Es gibt in der Welt nichts weiter als Jugend!«
+
+Dorian Gray hörte zu, mit aufgerissenen Augen und staunend. Der
+Fliederzweig, den er in der Hand hielt, fiel auf den Kies. Eine Biene in
+ihrem Pelzkleid schoß her und umsummte ihn einen Augenblick. Dann
+krabbelte sie eifrig auf den kleinen Blumensternen herum. Er beobachtete
+sie mit dem seltsamen Interesse an gewöhnlichen Dingen, das wir in uns
+heranzubilden suchen, wenn wir uns vor entscheidenden Dingen fürchten,
+oder wenn uns ein neues Gefühl erschüttert, für das wir noch keine
+Formel haben, oder wenn ein schrecklicher Gedanke das Hirn umklammert
+und verlangt, daß wir uns ihm ausliefern sollen. Nach einer Weile
+schwirrte die Biene weg. Er sah sie in den bunten Trompetentrichter
+einer tyrischen Winde kriechen. Die Blume schien zusammenzuzucken und
+bewegte sich dann mit Grazie hin und her.
+
+Plötzlich erschien der Maler unter der Tür des Ateliers und forderte sie
+mit kurzen wiederholten Zeichen auf, hereinzukommen. Sie sahen sich
+einander an und lächelten.
+
+»Ich warte!« rief er. »Kommt herein! Das Licht ist ganz prächtig, und
+ihr könnt eure Gläser mitbringen.«
+
+Sie standen auf und schlenderten den Weg zurück. Zwei grünlichweiße
+Schmetterlinge flatterten an ihnen vorüber, und in dem Birnbaum an der
+Gartenecke begann eine Drossel zu flöten.
+
+»Es freut Sie, mich kennengelernt zu haben, Herr Gray?« fragte Lord
+Henry und blickte ihn an,
+
+»Ja, jetzt bin ich erfreut darüber. Ich weiß nicht, ob ich's immer sein
+werde!«
+
+»Immer! das ist ein schreckliches Wort. Ich schaudere, wenn ich es höre.
+Die Frauen haben es so gern. Sie zerstören sich jedes Abenteuer, indem
+sie ihm Ewigkeit verleihen wollen. Außerdem ist es ein sinnloses Wort.
+Der einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer Leidenschaft,
+die ein Leben lang dauert, ist, daß die Laune ein bißchen länger
+dauert.«
+
+Als sie ins Atelier traten, legte Dorian Gray seine Hand auf Lord Henrys
+Arm. »Lassen Sie also unsere Freundschaft eine Laune sein«, sagte er
+leise und errötete über seine eigene Kühnheit. Dann bestieg er das
+Podium und nahm wieder seine Stellung ein.
+
+Lord Henry warf sich in einen bequemen Korbsessel und beobachtete ihn.
+Das Hin- und Herfahren des Pinsels auf der Leinwand war das einzige, die
+Stille unterbrechende Geräusch, nur manchmal hörte man den Schritt
+Hallwards, wenn er zurücktrat, um sein Werk aus der Entfernung zu
+prüfen. In den schrägen Sonnenstrahlen, die durch die offene Tür
+fluteten, tanzte der Staub in goldenen Schuppen. Über allem lagerte der
+schwere Duft der Rosen.
+
+Als etwa eine Viertelstunde vergangen war, hörte Hallward zu malen auf,
+betrachtete Dorian lange Zeit, sah dann lange auf das Bildnis, nagte an
+dem Stiel eines seiner großen Pinsel und runzelte die Stirn. »Ganz
+fertig«, rief er endlich, bückte sich und schrieb in großen grellroten
+Lettern seinen Namen in die linke Ecke der Leinwand.
+
+Lord Henry trat heran und betrachtete das Bild mit Kennerblick. Es war
+in der Tat ein wunderbares Kunstwerk und auch wunderbar ähnlich.
+
+»Lieber Junge,« sagte er, »ich wünsche dir herzlich Glück. Es ist das
+beste Porträt unserer ganzen Zeit. Herr Gray, kommen Sie und sehen Sie
+selbst!«
+
+Der Jüngling schrak wie aus einem Traume auf. »Ist es wirklich fertig?«
+murmelte er, als er vom Podium herabstieg.
+
+»Ganz fertig«, antwortete der Maler. »Und du hast heute glänzend Modell
+gestanden. Ich bin dir sehr, sehr dankbar.«
+
+»Das ist nur mein Verdienst«, warf Lord Henry ein. »Nicht wahr, Herr
+Gray?«
+
+Dorian gab keine Antwort, sondern trat, ohne hinzuhören, vor sein Bild
+und wandte sich dem Werke zu. Als er es sah, zuckte er zusammen, und
+seine Wangen röteten sich einen Augenblick vor Vergnügen. Ein Ausdruck
+der Freude blitzte in seinen Augen, als erkenne er sich selbst jetzt zum
+ersten Male. Bewegungslos und in Staunen versunken, stand er da und
+merkte dumpf, daß Hallward zu ihm sprach, ohne daß er den Sinn der Worte
+erfaßte. Das Gefühl seiner eigenen Schönheit kam über ihn wie eine
+Offenbarung. Er hatte es nie vorher empfunden. Basil Hallwards
+Komplimente hatte er nur für liebenswürdige Übertreibungen der
+Freundschaft gehalten. Er hatte sie gehört, über sie gelacht und sie
+vergessen. Sein Wesen hatten sie niemals beeinflußt. Dann war Lord Henry
+Wotton gekommen mit seinem sonderbaren Hymnus auf die Jugend, seiner
+schrecklichen Warnung von ihrer Flüchtigkeit. Das hatte ihn rechtzeitig
+aufgerüttelt, und als er jetzt dastand und das Abbild der eigenen
+Schönheit betrachtete, durchdrang ihn die volle Wirklichkeit jener
+Schilderung. Ja, der Tag mußte kommen, da sein Gesicht verrunzelt und
+verwelkt, die Augen trüb und farblos, die Anmut seiner Gestalt geknickt
+und entstellt sein würde. Das Scharlachrot der Lippen würde verblassen,
+der Goldglanz des Haares sich wegstehlen. Das Leben, das von seiner
+Seele gebildet wurde, zerstörte seinen Körper. Er würde häßlich,
+abscheuerregend und formlos werden.
+
+Als er daran dachte, durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz wie ein
+Messerstich und ließ die feinsten Nerven seines Ichs erbeben. Seine
+Augen verdunkelten sich zu Amethysten, und ein Tränenflor umschleierte
+sie. Es war, als hätte sich ihm eine eiskalte Hand aufs Herz gelegt.
+
+»Gefällt es dir nicht?« rief endlich Hallward, ein wenig gereizt durch
+das Schweigen des Jünglings, dessen Grund er nicht begriff.
+
+»Natürlich gefällt's ihm«, sagte Lord Henry. »Wem würde es nicht
+gefallen? Es gehört zu den größten Werken der modernen Kunst. Ich gebe
+dir jeden Betrag dafür, den du verlangst. Ich muß es haben.«
+
+»Es gehört nicht mir, Harry.«
+
+»Wem denn?«
+
+»Dorian natürlich«, antwortete der Maler.
+
+»Da hat er Glück...«
+
+»Wie traurig!« flüsterte Dorian und hielt die Augen noch immer fest auf
+das Bild gerichtet. »Wie traurig! Ich werde alt werden und häßlich und
+widerlich. Aber dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über den
+heutigen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt sein könnte!
+Wenn ich ewig jung bliebe und dafür das Bild altern könnte! Dafür --
+dafür -- gäbe ich alles! Ja, nichts in aller Welt wäre mir dafür
+zuviel! Ich gäbe meine Seele dafür!«
+
+»Dieser Tausch würde dir schwerlich passen, Basil«, rief Lord Henry
+lachend. »Das wäre schlimm für dein Bild.«
+
+»Ich würde mich ernstlich dagegen wehren, Harry«, sagte Hallward.
+
+Dorian Gray wandte sich zu ihm und sah ihn an. »Ich bin davon überzeugt,
+Basil. Die Kunst ist dir mehr als deine Freunde. Ich bedeute für dich
+nicht mehr als eine grüne Bronzefigur. Vielleicht kaum so viel, müßte
+ich sagen.«
+
+Der Maler war starr vor Erstaunen. So zu sprechen sah Dorian gar nicht
+ähnlich. Was war geschehen? Er schien ganz erregt. Sein Gesicht war
+gerötet, und die Wangen brannten.
+
+»Ja,« fuhr er fort, »ich bin dir weniger als dieser Hermes aus Elfenbein
+oder der silberne Faun da. Die wirst du immer liebbehalten. Wie lange
+wirst du mich liebhaben? Vermutlich bis die erste Runzel mein Gesicht
+entstellt. Ich weiß jetzt, wenn man erst seine Schönheit verliert, hat
+man alles verloren. Dein Bild hat mich dies gelehrt. Lord Henry Wotton
+hat ganz recht. Jugend ist das einzige, was Wert hat auf der Welt. Sowie
+ich entdecke, daß ich alt werde, bringe ich mich um.«
+
+Hallward wurde bleich und faßte ihn bei der Hand. »Dorian, Dorian!« rief
+er, »sage so etwas nicht. Ich habe nie einen Freund gehabt wie dich und
+werde nie wieder so einen haben. Du bist doch nicht auf leblose Dinge
+eifersüchtig? Du, der schöner ist als irgendeines von ihnen.«
+
+»Ich bin eifersüchtig auf jedes Ding, dessen Schönheit nicht stirbt. Ich
+bin eifersüchtig auf das Bild, das du von mir gemalt hast. Warum darf es
+behalten, was ich verlieren muß? Jeder Augenblick, der verfliegt, raubt
+mir etwas und schenkt ihm etwas. Oh, wenn es doch umgekehrt wäre! Wenn
+sich das Bild verändern und ich immer bleiben könnte, wie ich jetzt bin!
+Warum hast du es gemalt? Es wird mich dereinst verhöhnen -- furchtbar
+verhöhnen!« Die heißen Tränen traten ihm in die Augen, er zog seine Hand
+weg, warf sich auf den Diwan und vergrub sein Gesicht in den Kissen, als
+betete er.
+
+»Das ist dein Werk, Harry«, sagte der Maler bitter.
+
+Lord Henry zuckte die Achseln. »Es ist der wahre Dorian Gray -- sonst
+nichts.«
+
+»Das ist er nicht.«
+
+»Wenn er es nicht ist, was habe ich damit zu schaffen?«
+
+»Du hättest weggehen sollen, als ich dich darum bat«, grollte er.
+
+»Ich blieb, als du mich darum batest«, war Lord Henrys Erwiderung.
+
+»Harry, ich kann nicht auf einmal mit meinen beiden besten Freunden
+Streit anfangen, aber ihr beide habt schuld, daß ich das beste Stück,
+das mir je gelungen ist, hassen muß, und ich werde es vernichten. Ist es
+schließlich mehr als Leinwand und Farbe? Ich will es nicht eingreifen
+lassen in drei Leben und sie zerstören.«
+
+Dorian Gray hob seinen goldschimmernden Kopf von dem Kissen und blickte
+ihn mit bleichem Gesicht und tränenfeuchten Augen an, als er zu dem
+Maltische aus Kiefernholz trat, der unter dem hohen verhängten Fenster
+stand. Was wollte Basil beginnen? Seine Finger wühlten zwischen dem Wust
+von Blechtuben und trockenen Pinseln herum, als suchten sie etwas. Ja,
+sie suchten das lange Schabmesser mit der schmalen Klinge aus
+schmiegsamem Stahl. Endlich hatte er es gefunden. Er wollte die Leinwand
+zerschlitzen.
+
+Mit einem erstickten Schluchzen sprang der Jüngling vom Diwan auf, schoß
+auf Hallward zu, riß ihm das Messer aus der Hand und schleuderte es in
+den äußersten Winkel des Ateliers. »Tu es nicht, Basil, tu es nicht«,
+schrie er. »Es wäre Mord.«
+
+»Ich freue mich, daß dir meine Arbeit endlich doch gefällt, Dorian«,
+sagte der Maler kühl, als er sich von seinem Erstaunen erholt hatte.
+»Ich hätte es gar nicht geglaubt.«
+
+»Gefällt? Ich bin verliebt in dies Bild, Basil. Es ist ja ein Teil von
+mir selbst. Ich fühle es.«
+
+»Schön, sobald du trocken bist, sollst du gefirnißt, gerahmt und zu dir
+hingeschickt werden. Dann kannst du mit dir anfangen, was dir beliebt.«
+Er schritt durch den Raum und klingelte nach Tee. »Du trinkst doch Tee,
+Dorian? Du auch, Harry? Oder machst du dir nichts aus so einfachen
+Genüssen?«
+
+»Ich bete einfache Genüsse an«, sagte Lord Henry. »Sie sind die letzte
+Zuflucht komplizierter Naturen. Aber für Szenen schwärme ich nicht,
+außer auf der Bühne. Was für tolle Burschen seid ihr doch, ihr beide!
+Wer war es doch gleich, der den Menschen als ein vernünftiges Tier
+definiert hat? Das war eine der voreiligsten Definitionen, die je
+aufgestellt wurden. Der Mensch hat eine ganze Menge Eigenschaften, aber
+gewiß keine Vernunft. Alles in allem übrigens: Gott sei Dank, obwohl
+mir's eigentlich lieber wäre, ihr beiden Wirbelköpfe zanktet euch nicht
+um das Bild. Du solltest es lieber mir gegeben haben, Basil. Dieses
+törichte Knäblein braucht es eigentlich gar nicht, und ich brauche es
+sehr.«
+
+»Wenn du es einem anderen geben willst als mir, Basil, verzeihe ich es
+dir nie«, rief Dorian Gray; »und ich erlaube niemand, mich ein törichtes
+Knäblein zu nennen.«
+
+»Du weißt, Dorian, das Bild gehört dir. Ich hab' es dir geschenkt, noch
+ehe es vorhanden war.«
+
+»Und Sie wissen, Herr Gray, daß Sie ein wenig töricht waren und daß Sie
+ernstlich gar nichts dagegen haben können, an Ihre große Jugend erinnert
+zu werden.«
+
+»Heute früh hätte ich sehr viel dagegen gehabt, Lord Henry.«
+
+»Ah! heute früh. Seitdem haben Sie einiges erlebt.«
+
+Es klopfte an die Tür, und der Diener trat mit einem besetzten Teebrett
+ein und servierte auf einem kleinen japanischen Tisch den Tee. Die
+Tassen und Löffel klapperten, und ein georgischer Samowar begann zu
+summen. Zwei gewölbte chinesische Porzellanschüsseln wurden von einem
+jungen Diener hereingebracht. Dorian Gray ging hin und goß den Tee ein.
+Die beiden Männer schlenderten zum Tische und sahen nach, was unter den
+Deckeln der Schüsseln war.
+
+»Wir wollen heute abend ins Theater gehen«, meinte Lord Henry.
+»Irgendwo wird sicher was los sein. Ich habe zwar zugesagt, im
+White-Klub zu soupieren, aber mich erwartet nur ein alter Freund; ich
+kann ihm also ein Telegramm schicken, daß ich nicht wohl sei oder
+infolge einer späteren Verabredung nicht kommen könne. Das würde ich für
+eine reizende Entschuldigung halten. Sie hat einen förmlich
+überraschenden Duft von Aufrichtigkeit.«
+
+»Es ist so lästig, sich den Frack anzuzerren«, murmelte Hallward. »Und
+wenn man ihn anhat, sieht man so gräßlich aus.«
+
+»Ja,« antwortete Lord Henry träumerisch, »die Kleidung des neunzehnten
+Jahrhunderts ist abscheulich. Sie ist so düster, so deprimierend. Die
+Sünde ist noch das einzig Farbenfreudige, das im modernen Leben
+übriggeblieben ist.«
+
+»Du solltest wirklich nicht solche Dinge vor Dorian sagen, Harry!«
+
+»Vor welchem Dorian? Vor dem, der uns den Tee einschenkt, oder dem
+anderen auf dem Bilde?«
+
+»Vor keinem.«
+
+»Ich ginge gerne mit Ihnen ins Theater, Lord Henry«, sagte der Jüngling.
+
+»Dann kommen Sie doch. Und du auch, Basil, nicht wahr?«
+
+»Ich kann nicht, wirklich nicht. Es ist mir lieber so. Ich habe eine
+Unmenge zu tun.«
+
+»Schön also. Dann müssen wir zwei allein gehen, Herr Gray.«
+
+»Ich freue mich riesig darauf.«
+
+Der Maler biß sich auf die Lippe und schritt, die Teetasse in der Hand,
+zum Bilde. »Ich bleibe hier bei dem wirklichen Dorian«, sagte er
+traurig.
+
+»Ist das der wirkliche?« rief das Original und ging gleichfalls langsam
+zu ihm hin. »Bin ich wirklich so?«
+
+»Ja, genau so bist du.«
+
+»Wie wundervoll, Basil!«
+
+»Du siehst wenigstens jetzt so aus. Aber das Bild wird sich nie ändern«,
+seufzte Hallward. »Das ist schon etwas.«
+
+»Was man heute für ein großes Wesen aus der Treue macht!« rief Lord
+Henry aus. »Und doch ist sie selbst in der Liebe eine rein
+physiologische Frage. Sie hat auch nicht das mindeste mit unserem
+eigenen Willen zu tun. Junge Männer wären gerne treu und sind es nicht;
+alte würden gerne untreu sein und können es nicht: das ist alles, was
+sich darüber sagen läßt.«
+
+»Geh heute abend nicht ins Theater, Dorian«, bat Hallward. »Bleibe hier
+und speise mit mir.«
+
+»Ich kann nicht, Basil.«
+
+»Warum?«
+
+»Weil ich Lord Henry Wotton zugesagt habe, ihn zu begleiten.«
+
+»Er wird dir darum nicht mehr zugetan sein, wenn du so treu deine
+Versprechungen hältst. Er bricht seine immer. Ich bitte dich, nicht zu
+gehen.«
+
+Dorian Gray schüttelte lachend den Kopf.
+
+»Ich beschwöre dich.«
+
+Der junge Mann schwankte und blickte zu Lord Henry hinüber, der die
+beiden mit einem belustigten Lächeln vom Teetische aus beobachtete.
+
+»Ich muß mit, Basil«, antwortete er.
+
+»Schön«, sagte Hallward und ging zum Tische hinüber, wo er seine Tasse
+hinstellte. »Es ist ziemlich spät, und da ihr euch noch umziehen müßt,
+habt ihr keine Zeit mehr zu verlieren. Adieu, Harry! Adieu, Dorian! Komm
+bald wieder. Komm morgen.«
+
+»Bestimmt.«
+
+»Aber nicht vergessen!«
+
+»Nein, natürlich nicht!« rief Dorian.
+
+»Und... Harry!«
+
+»Ja, Basil?«
+
+»Vergiß nicht, was ich dir sagte, als wir am Vormittag im Garten saßen.«
+
+»Ich habe es vergessen.«
+
+»Ich vertraue dir.«
+
+»Ich wünschte, ich könnte mir selbst vertrauen«, sagte Lord Henry
+lachend. »Kommen Sie, Herr Gray, mein Wagen steht unten, und ich kann
+Sie an Ihrer Wohnung absetzen. Adieu, Basil! Es war ein sehr
+unterhaltender Nachmittag.«
+
+Als sich die Tür hinter ihnen schloß, warf sich der Maler auf den Diwan,
+und in sein Gesicht trat ein schmerzlicher Ausdruck.
+
+
+
+
+Drittes Kapitel
+
+
+Um zwölfeinhalb Uhr am nächsten Tage schlenderte Lord Henry Wotton von
+Curzon Street nach Albany hinüber, um einen Besuch zu machen bei seinem
+Onkel Lord Fermor, einem heiteren, aber ziemlich rauhen alten
+Junggesellen, den die Außenwelt einen Egoisten nannte, weil sie keinen
+besonderen Nutzen aus ihm ziehen konnte, der aber in der Gesellschaft
+als freigebig verschrien war, weil er die Leute, die ihn amüsierten,
+aufs beste fütterte. Sein Vater war britischer Gesandter in Madrid
+gewesen, als Isabella noch jung war und man noch nichts von Prim wußte,
+hatte sich aber in einem Augenblicke launischen Ärgers aus dem
+diplomatischen Dienste zurückgezogen, weil man ihm nicht den
+Gesandtenposten in Paris angeboten hatte, zu dem er sich vollauf
+berechtigt geglaubt hatte durch seine Geburt, seine Arbeitsunlust, sein
+gutes Englisch in seinen Depeschen und durch seine zügellose
+Vergnügungssucht. Der Sohn, der des Vaters Privatsekretär gewesen war,
+hatte mit seinem Chef zugleich den Abschied genommen, was man damals
+ziemlich verrückt fand, und als der Titel einige Monate später auf ihn
+überging, hatte er sich ernstlich dem großen aristokratischen Studium
+gewidmet, absolut nichts zu tun. Er besaß zwei große Häuser in der
+Stadt, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung zu hausen, weil das
+weniger Umstände machte, und speiste meistens im Klub. Er beschäftigte
+sich ein wenig mit der Verwaltung seiner Kohlenminen in den
+Midlandgrafschaften und entschuldigte diese verwerfliche industrielle
+Tätigkeit damit, daß er sagte, der einzige Vorteil, Kohlen zu besitzen,
+sei der, es einem Gentleman möglich zu machen, in seinem eigenen Kamin
+Holz zu brennen. Politisch war er ein Tory, außer wenn die Tories
+Regierungspartei waren, denn in solchen Zeiten verlästerte er sie und
+schimpfte sie radikales Gesindel. Er war ein Held für seinen
+Kammerdiener, der ihn drangsalierte, und ein Schrecken für die meisten
+seiner Verwandten, die er drangsalierte. Nur England konnte ihn erzeugt
+haben, und er selber sagte immer, daß das Land mehr und mehr auf den
+Hund käme. Seine Grundsätze waren altmodisch, aber an seinen Vorurteilen
+war etwas dran.
+
+Als Lord Henry ins Zimmer trat, fand er seinen Onkel in einem flockigen
+Jagdrock, eine ziemlich wohlfeile Zigarre im Munde und brummend in den
+»Times« lesend.
+
+»Na, Harry,« sagte der alte Herr, »was bringt dich so früh her? Ich
+dachte immer, ihr Dandies steht nie vor zwei Uhr auf und werdet nie vor
+fünf Uhr sichtbar.«
+
+»Reine Familienliebe, auf mein Wort, Onkel Georg; ich brauche etwas von
+dir.«
+
+»Geld vermutlich«, sagte Lord Fermor und machte ein saures Gesicht. »Na
+gut, so setz' dich und sag' mir alles. Ihr jungen Leute von heutzutage
+bildet euch ein, das Geld wäre alles.«
+
+»Ja,« brummelte Lord Henry, während er seine Blume im Knopfloch
+zurechtrückte, »und wenn sie älter werden, dann wissen sie es. Aber ich
+brauche kein Geld. Nur Leute, die ihre Rechnungen zahlen, brauchen
+Geld, Onkel Georg, und ich bezahle meine nie. Kredit ist das Kapital
+eines zweitältesten Sohnes, und man kann brillant davon leben. Außerdem
+kaufe ich immer bei Dartmoors Lieferanten, und daher habe ich nie
+Scherereien. Was ich brauche, ist eine Auskunft, keine nützliche
+Auskunft natürlich, sondern nur eine wertlose.«
+
+»Ich kann dir alles sagen, Harry, was je in einem englischen Blaubuch
+gestanden hat, obwohl diese Bengels heutzutage einen Haufen Unsinn
+zusammensudeln. Als ich noch Diplomat war, lagen die Dinge besser. Aber
+ich höre, man stellt jetzt die Leute auf Grund einer Prüfung ein. Was
+kann man da noch erwarten? Prüfungen, mein Bester, sind der reine Humbug
+von A bis Z. Wenn einer Gentleman ist, weiß er schon genug, und wenn er
+kein Gentleman ist, so mag er alles Mögliche wissen, es hilft ihm doch
+nichts.«
+
+»Herr Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu schaffen«, sagte Lord
+Henry in seinem schläfrigen Tone.
+
+»Herr Dorian Gray? Wer ist das?« fragte Lord Fermor, seine buschigen
+weißen Augenbrauen zusammenkneifend.
+
+»Um das zu erfahren, bin ich gerade hergekommen, Onkel Georg. Oder
+genauer gesagt, wer es ist, weiß ich. Nämlich der Enkel des verstorbenen
+Lord Kelso. Seine Mutter war eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich
+möchte, daß du mir etwas über seine Mutter erzählst. Was weißt du von
+ihr? Wen hat sie geheiratet? Du hast zu deiner Zeit doch so ziemlich
+alle Leute gekannt, also wahrscheinlich auch sie. Ich interessiere mich
+gegenwärtig ungemein für Herrn Gray. Ich habe ihn erst gestern
+kennengelernt.«
+
+»Kelsos Enkel!« wiederholte der alte Herr, »Kelsos Enkel! ... natürlich
+... ich war mit seiner Mutter sehr intim. Ich glaube, ich war sogar bei
+ihrer Taufe. Es war ein ganz außergewöhnlich schönes Mädchen, diese
+Margaret Devereux, und hat dann alle jungen Männer toll gemacht, als sie
+mit einem jungen Habenichts davonlief, einer absoluten Null, mein
+Bester, einem Fähnrich bei der Infanterie oder so was Ähnliches.
+Natürlich. Ich erinnere mich jetzt an die ganze Geschichte, als wäre sie
+gestern passiert. Der arme Kerl wurde dann ein paar Monate nach der
+Hochzeit in einem Duell in Spa getötet. Man erzählte damals eine
+häßliche Geschichte darüber. Man sagte, der alte Kelso hätte irgendeinen
+Schuft, so einen Abenteurer aus Belgien gemietet, um seinen
+Schwiegersohn öffentlich zu beleidigen, hätte ihn dafür bezahlt, mein
+Bester, einfach bezahlt, damit er es täte, und dieser Kerl spießte dann
+sein Opfer auf wie eine Taube. Die Geschichte wurde natürlich vertuscht,
+aber Kelso mußte eine Zeitlang sein Kotelett allein im Klub essen. Ich
+hörte, er brachte seine Tochter wieder mit, doch sie sprach nie mehr ein
+Wort mit ihm. O jawohl, das war eine böse Sache. Das Mädel starb dann
+auch, kaum ein Jahr später. So, sie hat also einen Sohn hinterlassen?
+Das hatte ich ganz vergessen. Was für ein Junge ist es denn? Wenn er
+seiner Mutter ähnlich sieht, muß es ein hübsches Kerlchen sein.«
+
+»Er ist sehr hübsch«, stimmte Lord Henry bei.
+
+»Ich hoffe, er wird in die rechten Hände kommen«, fuhr der alte Mann
+fort. »Es muß ein Haufen Geld auf ihn warten, wenn Kelso pflichtgemäß an
+ihm handelte. Seine Mutter hatte übrigens auch Geld. Der ganze Selbysche
+Besitz fiel ihr durch ihren Großvater zu. Ihr Großvater haßte Kelso,
+hielt ihn für einen gemeinen Köter. War es übrigens auch. Er kam mal
+nach Madrid, als ich dort war. Na, ich mußte mich des Kerls schämen. Die
+Königin pflegte mich nach dem englischen Edelmann zu fragen, der sich
+immer mit den Kutschern über die Taxe zankte. Man machte einen ganzen
+Roman daraus. Ich wagte einen Monat lang nicht, bei Hof zu erscheinen.
+Ich hoffe, er hat seinen Enkel besser behandelt als die
+Droschkenkutscher.«
+
+»Darüber weiß ich nichts«, erwiderte Lord Henry. »Ich vermute aber, der
+junge Mann wird einmal wohlhabend werden. Er ist noch nicht volljährig.
+Selby gehört ihm, das weiß ich. Er hat es mir gesagt. Und... seine
+Mutter war also sehr schön?«
+
+»Margaret Devereux war eines der entzückendsten Geschöpfe, die ich je
+gesehen habe, Harry. Was in aller Welt sie dazu getrieben hat, so zu
+handeln, habe ich nie verstehen können. Sie hätte jeden Mann heiraten
+können, den sie wollte. Carlington war wahnsinnig verschossen in sie.
+Aber sie war romantisch veranlagt. Alle Frauen dieser Familie waren so.
+Die Männer waren ein trauriges Gesindel, aber beim Himmel! die Weiber
+waren wunderbar! Carlington lag vor ihr auf den Knien. Hat's mir selber
+gebeichtet. Sie lachte ihn aus, und es gab damals in London kein Mädel,
+das nicht hinter ihm hergewesen wäre. Übrigens, Harry, da wir schon über
+Mesalliancen reden: was ist das für ein Unsinn, den mir dein Vater von
+Dartmoor erzählt, der eine Amerikanerin heiraten will? Sind englische
+Mädels für ihn nicht gut genug?«
+
+»Es ist jetzt Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel Georg.«
+
+»Ich verteidige die englischen Frauen gegen die ganze Welt, Harry«,
+sagte Lord Fermor und schlug mit der Faust auf den Tisch.
+
+»Man reißt sich um die Amerikanerinnen.«
+
+»Sie halten sich nicht, hat man mir gesagt«, brummte der Onkel.
+
+»Ein langes Verlobtsein erschöpft sie, aber für eine Steeplechase sind
+sie brillant. Sie sind Flieger. Ich glaube nicht, daß Dartmoor Chance
+hat.«
+
+»Was ist's für eine Familie?« murrte der alte Herr. »Hat sie überhaupt
+eine?«
+
+Lord Henry schüttelte den Kopf. »Amerikanische Mädchen sind ebenso klug,
+ihre Eltern zu verbergen, wie englische Frauen im Verbergen ihrer
+Vergangenheit«, antwortete er und stand auf, um wegzugehen.
+
+»Also vermutlich Schweinefleischhändler.«
+
+»Das hoffe ich, Onkel Georg, in Dartmoors Interesse. Man hat mir gesagt,
+mit Schweinefleischbüchsen zu handeln, soll nächst der Politik der
+einträglichste Beruf in Amerika sein.«
+
+»Ist sie hübsch?«
+
+»Sie benimmt sich so, als wäre sie es. Das tun die meisten
+Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihres magnetischen Reizes.«
+
+»Warum bleiben diese amerikanischen Weiber nicht in ihrem Lande? Sie
+sagen doch immer, es sei das Paradies für Frauen.«
+
+»Das ist es auch. Und das ist auch der Grund, warum sie wie Eva so gern
+daraus weg wollen«, sagte Lord Henry. »Adieu, Onkel Georg! Ich komme zu
+spät zum Frühstück, wenn ich noch länger bleibe. Danke sehr für die
+Auskunft, die du mir gabst. Ich habe immer das Bedürfnis, von meinen
+neuen Freunden alles zu hören und möglichst nichts von meinen alten.«
+
+»Wo wirst du frühstücken, Harry?«
+
+»Bei Tante Agatha. Ich habe mich mit Herrn Gray dort angesagt. Es ist
+ihr neuestes Protektionskind.«
+
+»Hm! sag' der Tante Agatha, Harry, sie soll mich mit ihrem
+Wohltätigkeitskrempel ungeschoren lassen. Ich habe sie bis hierher! Weiß
+Gott, das gute Frauenzimmer meint, ich hätte nichts zu tun als Schecks
+für ihre langweiligen Vereinsmeiereien auszuschreiben.«
+
+»Abgemacht, Onkel Georg, ich werde es ihr bestellen, aber es wird nichts
+nutzen. Wohltätigkeitsmegären verlieren alle Menschlichkeit. Das ist ihr
+hervorstechendstes Merkmal.«
+
+Der alte Herr brummte zustimmend und klingelte seinem Diener. Lord Henry
+schritt durch die niedrigen Arkaden nach Burlington Street und lenkte
+dann seine Schritte in die Richtung nach Berkeley Square.
+
+Das war also die Geschichte von Dorian Grays Eltern. So roh umrissen sie
+ihm auch geschildert worden war, sie hatte ihn doch nach Art eines
+seltsamen, geradezu modernen Romans erregt. Eine schöne Frau, die alles
+für eine wahnsinnige Leidenschaft einsetzt. Ein paar wilde, wonnige
+Wochen, jäh abgeschnitten durch ein abscheuliches, heimtückisches
+Verbrechen, Monate stummer Todesverzweiflung, und dann ein Kind unter
+Schmerzen geboren. Die Mutter vom Tode weggemäht, der Knabe der
+Einsamkeit und der Tyrannei eines alten, lieblosen Mannes ausgeliefert.
+Ja, das war ein interessanter Hintergrund. Er gab dem jungen Menschen
+Relief, machte ihn noch vollkommener. Hinter allem Köstlichen in der
+Welt lauert eine geheime Tragödie, Welten müssen in Schwingung sein,
+damit die kleinste Blume erblühen kann... Und wie entzückend war er
+gestern abend gewesen, als er ihm mit erschreckten Augen, die Lippen in
+scheuem Verlangen geöffnet, im Klub gegenüber gesessen und die roten
+Kerzenschirme das erwachende Wunder seines Gesichts in einen noch
+rosenfarbenen Ton getaucht hatten. Mit ihm sprechen, das war wie auf
+einer auserlesenen Geige spielen. Er gab jedem Druck nach, jeder
+zitternden Berührung des Bogens... Es lag doch etwas unerhört
+Knechtendes darin, auf jemand Einfluß auszuüben. Keine andere Tätigkeit
+kam dem gleich. Seine eigene Seele in eine anmutige Form gießen und sie
+darin einen Augenblick lang verweilen lassen: seine eigenen
+Gedankenakkorde im Echo zurückbekommen, bereichert durch die Musik der
+Leidenschaft und Jugend: sein eigenes Temperament in ein anderes
+hineinversenken, als wäre es das allerätherischste Fluidum oder ein
+seltener Wohlgeruch: darin lag eine wahre Lust -- vielleicht die
+allerbefriedigendste Lust, die uns übriggeblieben ist, in einer so
+beschränkten und ordinären Zeit wie die unsere, die so derbfleischlich
+in ihren Genüssen und so grobzufassend in ihren Begierden ist... Auch
+war er ein wundervoller Typus, dieser junge Mensch, den er durch einen
+so wunderbaren Zufall in Basils Atelier kennengelernt hatte, oder konnte
+jedenfalls zu einem wunderbaren Typus umgemodelt werden. Anmut war ihm
+verliehen und die schneeige Reinheit der Jünglingschaft, und eine
+Schönheit, wie man sie bei alten griechischen Marmorbildern findet.
+Nichts gab es, was sich nicht aus ihm machen ließe. Man konnte einen
+Titanen oder ein Spielzeug aus ihm machen. Welch Jammer, daß solche
+Schönheit dahinwelken muß... Und Basil? Wie interessant war doch er für
+den Psychologen! Diese neue Art von Kunst, diese neue Weise, das Leben
+anzuschauen, die ihm auf das seltsamste durch die sichtbare Gegenwart
+eines Menschen erweckt wurde, der von alledem nichts wußte: der stille
+Geist, der in einer düsteren Waldlandschaft wohnte und ungesehen ins
+offene Feld entwandelte, enthüllte sich plötzlich wie eine Dryade, und
+ohne Scheu, weil in der Seele, die sehnsüchtig nach ihm suchte, jene
+wundersame Vision wach geworden war, der nur die außerordentlichen Dinge
+offenbar werden: die bloßen Formen und Linien der Dinge wurden gleichsam
+edler und bekamen eine Art von symbolischer Bedeutung, als wären sie
+selbst nur Schatten einer anderen und vollendeteren Form, deren Abbilder
+sie zur Wirklichkeit erhoben: wie merkwürdig das alles war! Er erinnerte
+sich, daß es in der Geschichte irgend etwas Ähnliches gab. War es nicht
+Plato, dieser Künstler in der Welt der Gedanken, der es als erster
+untersucht hatte? War es nicht Buonarotti, der es in den farbigen Marmor
+seiner Sonettreihe gemeißelt hatte? Aber in unserem Jahrhundert war es
+etwas Seltenes... Ja, er wollte versuchen, für Dorian Gray das zu sein,
+was der Jüngling, ohne es zu wissen, für den Maler war, der das
+prächtige Bildnis geschaffen hatte. Er wollte versuchen, in ihm zu
+herrschen -- hatte es in Wahrheit schon zum Teil getan. Er wollte diesen
+wunderbaren Geist zu seinem eigenen machen. Es war etwas unwiderstehlich
+Magnetisches in diesem Abkömmling von Tod und Liebe.
+
+Plötzlich blieb er stehen und sah an den Häusern hinauf. Er entdeckte,
+daß er bereits an dem Hause seiner Tante vorbeigegangen sei, und ging
+stillächelnd zurück. Als er in die etwas düstere Halle eintrat, sagte
+ihm der Diener, die Herrschaften seien schon beim Frühstück. Er gab
+einem Lakai Hut und Stock und ging in den Speisesaal.
+
+»Spät wie immer, Harry«, rief seine Tante, ihm zunickend.
+
+Er erfand eine glaubwürdige Entschuldigung, setzte sich auf den leeren
+Platz neben sie und sah sich um, zu sehen, wer noch da war. Dorian
+begrüßte ihn schüchtern vom Ende des Tisches her, und seine Wangen
+wurden vor geheimer Freude rot. Gegenüber saß die Herzogin von Harley,
+eine Dame von bewunderungswürdig guter Laune und ebensolchem Charakter,
+die jeder gern hatte und deren Körper in jenen erhabenen
+architektonischen Maßen aufgebaut war, der von zeitgenössischen
+Geschichtsschreibern bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind, als
+Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß Sir Thomas Burdon, ein
+radikales Parlamentsmitglied, das im öffentlichen Leben seinem
+Parteichef Gefolge leistete und im privaten den besten Küchenchefs, der
+nach einer weisen und allgemein verbreiteten Lebensregel mit den Tories
+dinierte und mit den Liberalen geistig übereinstimmte. Den Platz an
+ihrer Linken nahm Herr Erskine of Treadley ein, ein alter prächtiger und
+gebildeter Herr, der sich die schlechte Gewohnheit des Schweigens
+angeeignet hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte, schon vor
+seinem dreißigsten Lebensjahr alles gesagt hatte, was er überhaupt zu
+sagen hatte. Seine Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten
+Freundinnen seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den Frauen, aber
+so geschmacklos verputzt, daß man bei ihrem Anblick immer an ein
+schlechtgebundenes Gebetbuch denken mußte. Zu seinem Glück saß an ihrer
+anderen Seite Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in den
+besten Jahren, der so kahl war wie der Bericht eines Ministers auf eine
+Interpellation im Unterhaus, und mit ihm unterhielt sie sich in jenem
+intensiv-ernsten Tone, der, wie Lord Henry einmal selbst geäußert hatte,
+der eine unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten Menschen
+verfallen, und den keiner von ihnen völlig vermeiden kann.
+
+»Wir sprechen über den bedauernswerten Dartmoor, Henry«, rief die
+Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch zunickend. »Glauben Sie, daß er
+wirklich die berückende junge Dame heiratet?«
+
+»Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich fest vorgenommen, um das Jawort
+zu bitten.«
+
+»Wie schrecklich«, rief Lady Agatha. »Dann sollte sich wirklich jemand
+ins Mittel legen.«
+
+»Ich erfahre aus einer ganz vorzüglichen Quelle, daß ihr Vater ein
+Kurzwarengeschäft in Amerika hat«, sagte Sir Thomas Burdon mit einem
+überlegenen Blicke.
+
+»Mein Onkel hat behauptet: Schweinefleischlieferant, Sir Thomas.«
+
+»Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?« fragte die Herzogin und
+erhob staunend ihre großen Hände und dabei jede Silbe betonend.
+
+»Amerikanische Romane«, antwortete Lord Henry und nahm von den Wachteln.
+
+Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht.
+
+»Geben Sie nicht acht auf ihn, meine Liebe,« wisperte ihr Lady Agatha
+zu, »er meint nie im Ernst, was er sagt.«
+
+»Als Amerika entdeckt wurde,« sagte der radikale Abgeordnete und ließ
+einige langweilige Tatsachen vom Stapel. Wie alle Menschen, die bestrebt
+sind, ein Thema zu erschöpfen, erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin
+seufzte und benützte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. -- »Wollte Gott, es
+wäre überhaupt nicht entdeckt worden«, rief sie aus. »Unsere Töchter
+haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr. Das ist geradezu
+empörend!«
+
+»Vielleicht ist Amerika überhaupt nicht entdeckt worden, wenn man's
+recht betrachtet«, sagte Herr Erskine. »Ich würde eher sagen, daß es nur
+aufgefunden worden ist.«
+
+»Oh, ich muß aber gestehen, daß ich einige Exemplare seiner
+Bewohnerinnen gesehen habe,« antwortete die Herzogin zerstreut, »ich muß
+zugeben, die meisten von ihnen sind ausgesprochen hübsch. Und außerdem
+ziehen sie sich gut an. Sie beziehen alle ihre Kleider aus Paris. Ich
+wollte, ich könnte mir das auch leisten.«
+
+»Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie nach Paris«,
+gluckste Sir Thomas, der eine große Kiste voll abgelegter Scherze sein
+eigen nannte.
+
+»In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?«
+fragte die Herzogin.
+
+»Sie gehen nach Amerika«, murmelte Lord Henry.
+
+Sir Thomas runzelte die Stirn. »Ich fürchte, Ihr Neffe hat Vorurteile
+gegen dieses große Land«, sagte er zu Lady Agatha. »Ich habe es ganz
+bereist im Eisenbahnwagen, die mir die Direktionen zur Verfügung
+stellten. Man ist da in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich
+versichere Ihnen, es ist eine vorzüglich bildende Reise da drüben.«
+
+»Aber müssen wir wirklich nach Chicago schwimmen, um unsere Bildung zu
+vervollständigen?« fragte Herr Erskine wehmütig. »Ich fühle mich
+wirklich zu solcher Reise nicht aufgelegt.«
+
+Sir Thomas winkte mit der Hand. »Herr Erskine of Treadley besitzt die
+Welt auf seinen Bücherregalen. Wir Männer des praktischen Lebens lieben
+es, die Dinge zu sehen, nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein
+außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig
+Vernunftmenschen. Ich glaube, das ist ihr Charaktermerkmal. Ja, Herr
+Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft beherrschtes Volk. Ich
+versichere Ihnen, es gibt bei den Amerikanern keinerlei Unsinn.«
+
+»Wie schrecklich!« rief Lord Henry aus. »Ich kann rohe Gewalt vertragen,
+aber rohe Vernunft ist mir unerträglich. Ich finde immer, daß ihre
+Anwendung unbillig ist. Es heißt den Geist unterjochen.«
+
+»Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Sir Thomas und wurde etwas rot.
+
+»Ich verstehe Sie, Lord Henry«, murmelte Herr Erskine lächelnd.
+
+»Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut...«, nahm der
+Baronet wieder das Wort.
+
+»War das ein Paradoxon?« fragte Herr Erskine. »Ich habe es nicht dafür
+gehalten. Vielleicht war es eins. Nun, der Weg zur Wahrheit scheint mit
+Paradoxen gepflastert zu sein. Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir
+sie auf gespanntem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten
+werden, können wir sie beurteilen.«
+
+»Mein großer Gott!« sagte Lady Agatha, »was für eine Art zu diskutieren
+habt ihr Männer. Ich verstehe nie ein einziges Wort von eurem Gerede.
+Mit dir, Harry, oh! bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren
+lieben Herrn Dorian Gray zu überreden, nicht mehr ins East-End zu gehen?
+Ich versichere dir, er wäre dort für uns unschätzbar; sein Spiel würde
+die Leute ungemein begeistern.«
+
+»Mir ist es lieber, wenn er für mich spielt«, rief Lord Henry lächelnd,
+sah am Tisch hinunter, wo ihn ein fröhlich antwortender Blick traf.
+
+»Aber sie sind in Whitechapel so unglücklich«, fuhr Lady Agatha wieder
+fort.
+
+»Ich kann mit allem möglichen Mitgefühl haben,« sagte Lord Henry, die
+Achseln zuckend, »außer mit Leiden. Damit kann ich keine Sympathie
+haben. Es ist zu häßlich, zu schrecklich, zu niederdrückend. In der heut
+modernen Sympathie für die Leiden liegt etwas schrecklich Krankhaftes.
+Man sollte mit Farben sympathisieren, mit Schönheit, mit Lebensfreude.
+Je weniger man über das Elend des Lebens sagt, desto besser.«
+
+»Aber das East-End ist ein sehr wichtiges Problem«, bemerkte Sir Thomas
+mit ernstem Kopfschütteln.
+
+»Sicherlich«, antwortete der junge Lord. »Es ist das Problem der
+Sklaverei, und wir versuchen es derart zu lösen, daß wir die Sklaven
+amüsieren.«
+
+Der Politiker sah ihn mit einem forschenden Blicke an. »Welche Änderung
+schlagen Sie also vor?«
+
+Lord Henry lachte. »Ich habe gar nicht das Verlangen, in England etwas
+zu ändern außer dem Wetter«, entgegnete er. »Ich begnüge mich mit
+philosophischer Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch
+übermäßigen Verbrauch von Sympathie Bankrott geworden ist, möchte ich
+vorschlagen, daß man sich an die Wissenschaft hält, damit diese uns
+wieder aufrichtet. Der Vorteil der Gefühle liegt darin, daß sie uns in
+die Irre führen, und der Vorteil der Wissenschaft darin, daß sie sich
+mit Gefühlen nicht abgibt.«
+
+»Aber auf uns liegen so ernste Verantwortlichkeiten«, warf Frau
+Vandeleur schüchtern ein.
+
+»Entsetzlich schwere«, stimmte Lady Agatha ein.
+
+Lord Henry sah zu Herrn Erskine hinüber. »Die Menschheit nimmt sich
+selber zu ernst. Das ist die Todsünde der Welt. Wenn die Höhlenmenschen
+schon hätten lachen können, hätte die Weltgeschichte andere Wege
+eingeschlagen.«
+
+»Ihre Worte klingen sehr tröstlich«, trillerte die Herzogin. »Ich habe
+immer eine Art Schuldgefühl gehabt, wenn ich Ihre liebe Tante besuchte,
+denn ich nehme nicht das geringste Interesse an East-End. In Zukunft
+werde ich ihr ohne zu erröten ins Gesicht sehen können.«
+
+»Erröten ist ein vorzügliches Schönheitsmittel«, bemerkte Lord Henry.
+
+»Nur wenn man jung ist«, antwortete sie. »Wenn eine alte Frau wie ich
+errötet, ist es ein sehr schlechtes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich
+wünschte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird!«
+
+Er dachte einen Augenblick nach. »Können Sie sich an irgendeinen großen
+Fehler erinnern, den Sie in der Jugend begangen haben?« fragte er dann,
+sie fest über den Tisch hin ansehend.
+
+»An eine ganze Menge, fürchte ich!« rief sie aus.
+
+»Dann begehen Sie sie wieder«, entgegnete er ernst. »Um seine Jugend
+zurückzubekommen, braucht man nur seine Torheiten zu wiederholen.«
+
+»Eine allerliebste Theorie!« rief sie. »Ich muß sie mal in die Praxis
+umsetzen.«
+
+»Eine gefährliche Theorie«, sagte Sir Thomas, seine dünnen Lippen
+zusammenkneifend. Lady Agatha schüttelte den Kopf, aber sie amüsierte
+sich doch. Herr Erskine lauschte.
+
+»Ja,« fuhr Henry fort, »das ist eines der großen Lebensgeheimnisse.
+Heutzutage sterben die meisten Leute an einer Art von schleichender
+Verständigkeit, und erst, wenn es zu spät ist, kommen sie dahinter, daß
+die einzigen Dinge, die man niemals bereut, die Torheiten sind.«
+
+Nun lachte der ganze Tisch.
+
+Er spielte jetzt mit diesem Einfall nach Willkür; warf ihn in die Luft
+und änderte ihn um: ließ ihn entwischen und haschte ihn wieder auf: ließ
+ihn phantastisch glitzern und gab ihm Paradoxe als Flügel. Als er
+fortfuhr, rundete sich dieser Ruhm der Narretei in ein philosophisches
+System und die Philosophie selbst wurde dabei jung und tanzte, begleitet
+von der tollen Musik der Lust, in ihrem von Wein befleckten Gewande und
+mit Efeu bekränzten Locken, wie eine Bacchantin über die Hügel des
+Lebens und neckte den plumpen Silen, weil er nüchtern blieb. Die
+Tatsachen flüchteten vor ihr wie das erschreckte Getier des Waldes. Ihre
+weißen Füße stampften in der ungefügen Kelter, an der der weise Omar
+sitzt, bis der schäumende Traubensaft in purpurblasigen Wellen an ihren
+nackten Gliedern aufspritzte oder in rotem Gischt über die dunkeln,
+triefenden, gewölbten Seiten der Kufe herabrann. Es war eine ganz
+brillante Improvision. Er empfand, daß die Augen Dorian Grays auf ihn
+gerichtet waren, und das Bewußtsein, daß es unter seinen Zuhörern einen
+gab, dessen Temperament er zu bezaubern wünschte, gab seinem Witz
+Würzigkeit und seiner Phantasie Farbe. Er war geistreich,
+phantasievoll, unwiderstehlich. Er begeisterte seine Zuhörer dahin, aus
+sich heraus zu gehen, und lachend folgten sie seiner Rattenfängerpfeife.
+Dorian Gray verwandte seinen Blick nicht von ihm, sondern saß wie unter
+einem Zauberbanne da, während ein Lächeln nach dem andern auf seine
+Lippen trat und sich das Staunen in seinen dunklen Augen immer mehr
+vertiefte.
+
+Endlich betrat die Wirklichkeit im Kleide des Alltags das Zimmer, und
+zwar in Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin meldete, daß ihr Wagen
+warte. Sie rang ihre Hände in geschauspielerter Verzweiflung. »Wie
+schade!« rief sie aus. »Ich muß fort. Muß meinen Mann im Klub abholen
+und mit ihm zu irgendeiner albernen Sitzung bei Willis fahren, wo er
+präsidiert. Wenn ich zu spät komme, ist er sicher ärgerlich, und in dem
+Hut, den ich aufhabe, könnte ich eine Szene nicht vertragen. Er ist viel
+zu gebrechlich dazu. Ein rauhes Wort und er wäre ruiniert. Nein, liebe
+Agatha, ich muß fort. Adieu, Lord Henry! Sie sind ein ganz entzückender
+Mensch und fürchterlich unmoralisch. Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich
+zu Ihren Ansichten sagen soll. Sie müssen mal bei uns zu Abend essen.
+Dienstag? Sind Sie Dienstag frei?«
+
+»Für Sie würde ich jede andere Verabredung im Stich lassen, Frau
+Herzogin«, sagte Lord Henry, sich verbeugend.
+
+»Ah! Das ist sehr nett und sehr abscheulich von Ihnen«, rief sie;
+»vergessen Sie also nicht zu kommen«, und sie rauschte aus dem Zimmer,
+von Lady Agatha und den anderen Damen begleitet.
+
+Als sich Lord Henry wieder gesetzt hatte, kam Herr Erskine zu ihm, zog
+seinen Stuhl ganz nahe zu ihm hin und legte die Hand auf seinen Arm.
+
+»Sie reden wie ein Buch«, sagte er; »warum schreiben Sie keins?«
+
+»Ich lese Bücher viel zu gerne, als daß ich Lust hätte, eins zu
+schreiben, Herr Erskine. Gewiß möchte ich manchmal einen Roman
+schreiben, der so entzückend und ebenso unwirklich sein müßte wie ein
+persischer Teppich. Aber in England gibt es ja kein literarisches
+Publikum außer für Zeitungen, Katechismen und Konversationslexika. Von
+allen Völkern des Erdballs haben die Engländer den am wenigsten
+entwickelten Sinn für die Schönheit der Literatur.«
+
+»Ich fürchte, Sie haben recht«, antwortete Herr Erskine. »Ich selbst
+habe einstmals literarischen Ehrgeiz gehabt, aber ich habe ihn längst
+abgelegt. Und nun, mein lieber junger Freund, wenn Sie mir erlauben
+wollen, Sie so zu nennen, darf ich Sie fragen, ob Sie wirklich alles im
+Ernst meinten, was Sie uns bei Tisch gesagt haben?«
+
+»Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe«, antwortete Lord Henry
+lächelnd. »Es war wohl sehr toll?«
+
+»Allerdings, sehr toll! Ich glaube wirklich, daß Sie ein äußerst
+gefährlicher Mensch sind, und wenn unserer guten Herzogin irgend etwas
+zustößt, so werden wir alle Sie in erster Linie dafür verantwortlich
+machen. Aber ich würde mit Ihnen gern einmal länger über das Leben
+debattieren. Die Generation, in die ich hineingeboren wurde, war sehr
+langweilig. Wenn Sie mal londonmüde sind, kommen Sie doch nach Treadley
+und setzen Sie mir da Ihre Philosophie des Genusses auseinander bei
+einem ganz köstlichen Burgunder, den zu besitzen ich so glücklich bin.«
+
+»Das wird mir ein großes Vergnügen sein. Ein Besuch in Treadley ist ein
+großer Vorzug. Es hat einen vollkommenen Wirt und eine vollkommene
+Bibliothek.«
+
+»Die mit Ihnen vollständig werden wird«, antwortete der alte Herr mit
+einer höflichen Verbeugung. »Und jetzt muß ich Ihrer trefflichen Tante
+adieu sagen. Ich muß ins Athenäum. Es ist die Stunde, wo wir dort
+schlafen.«
+
+»Sie alle, Herr Erskine?«
+
+»Vierzig von uns in vierzig Klubsesseln. Wir üben uns für eine Akademie
+anglaise.«
+
+Lord Henry lachte und stand auf. »Ich gehe in den Park!« rief er aus.
+
+Als er durch den Türrahmen schritt, berührte ihn Dorian Gray am Arm.
+»Erlauben Sie mir, mitzukommen«, flüsterte er.
+
+»Aber ich dachte, Sie haben Basil Hallward versprochen, ihn zu
+besuchen«, wandte Lord Henry ein.
+
+»Ich möchte lieber mit Ihnen gehen; ja ich fühle, ich muß mit Ihnen
+mitkommen. Bitte, erlauben Sie es. Und versprechen Sie mir, die ganze
+Zeit zu erzählen? Niemand spricht so entzückend wie Sie.«
+
+»Ah! Ich habe für heute gerade genug geredet«, sagte Lord Henry und
+lächelte. »Alles, was ich jetzt möchte, ist, das Leben zu beschauen. Sie
+können mitkommen und mitanschauen, wenn Sie wollen.«
+
+
+
+
+Viertes Kapitel
+
+
+Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian Gray zurückgelehnt in
+einem schwellenden Sessel der kleinen Bibliothek in Lord Henrys Hause in
+Mayfair. Es war in seiner Art ein allerliebster Raum, bis hoch hinauf
+mit olivenfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen
+Deckenfries und mit Stuckverzierungen und mit einem ziegelfarbigen
+Filzteppich, der in langen Seidenfransen auslief. Auf einem niedlichen
+Tischchen aus Satinholz stand eine Figur von Clodion, und daneben lag
+eine Ausgabe der Cent Nouvelles, die für Margarete von Valois von Clovis
+Eve eingebunden und mit goldenen Gänseblümchen verziert war, wie sie die
+Königin auf ihr Wappenzeichen gewählt hatte. Auf dem Kaminsims standen
+ein paar große blaue Porzellanvasen mit Papageientulpen, und durch die
+schmalen, bleigerahmten Rautenfelder der Fenster drang das
+aprikosenfarbene Licht eines Londoner Sommertages.
+
+Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er kam grundsätzlich zu
+spät, da sein Grundsatz war, Pünktlichkeit stehle einem die Zeit. Daher
+sah der junge Mann etwas gelangweilt aus, als er mit lässigen Fingern
+die Seiten einer reichillustrierten Ausgabe von Manon Lescaut
+durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden hatte. Das
+abgemessene gleichförmige Ticktack der Louis-Quatorze-Uhr machte ihn
+nervös. Ein- oder zweimal machte er schon Miene, wegzugehen.
+
+Endlich hörte er draußen einen Schritt und die Tür öffnete sich. »Wie
+spät du kommst, Harry!« sagte er leisen Vorwurfs.
+
+»Zu meinem Bedauern ist es nicht Harry, Herr Gray«, antwortete eine
+schrille Stimme.
+
+Er sah sich rasch um und sprang auf die Füße.
+
+»Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte --«
+
+»Sie glaubten, es sei mein Mann. Es ist nur seine Frau. Ich muß mich
+schon selbst vorstellen. Ich kenne Sie aus Ihren Photographien ganz gut.
+Ich glaube, mein Mann hat ihrer siebzehn.«
+
+»Nicht siebzehn, Lady Henry.«
+
+»Schön, also achtzehn. Und dann habe ich Sie gestern abend mit ihm in
+der Oper gesehen.« Während sie sprach, lachte sie nervös und beobachtete
+ihn mit ihren verschwommenen Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine
+absonderliche Frau, deren Kleider immer so aussahen, als wären sie in
+einem Wutanfall gezeichnet und während eines Gewitters angezogen worden.
+Sie war gewöhnlich in irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft
+nie erwidert wurde, hatte sie sich alle ihre Illusionen bewahrt. Sie
+machte den Versuch, malerisch zu erscheinen, aber es gelang ihr nur,
+unordentlich auszusehen. Sie hieß Viktoria und hatte eine krankhafte
+Leidenschaft, in die Kirche zu laufen.
+
+»Das war im Lohengrin, Lady Henry, nicht wahr?«
+
+»Ja, es war bei dem entzückenden Lohengrin. Ich liebe Wagners Musik mehr
+als die irgendeines anderen. Sie ist so laut, daß man sich die ganze
+Zeit unterhalten kann, ohne daß die Nachbarn hören, was man sagt. Das
+ist ein dankenswerter Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Herr Gray?«
+
+Über ihre dünnen Lippen kam wieder das nervöse Stakkatolachen, und ihre
+Finger begannen mit einem langen Papiermesser aus Schildkrot zu spielen.
+
+Dorian schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bedaure, Lady Henry, das ist
+nicht meine Meinung. Ich unterhalte mich nie, während man spielt --
+wenigstens nicht, wenn es gute Musik ist. Wenn man schlechte Musik hört,
+ist man freilich verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu ertränken.«
+
+»Ah, das ist eine von Harrys Sentenzen, nicht wahr, Herr Gray? Ich
+bekomme Harrys Ansichten immer von seinen Freunden zu hören. Das ist die
+einzige Art, wie ich sie überhaupt erfahre. Aber Sie dürfen nicht
+glauben, daß ich nicht auch gute Musik liebe. Ich vergöttere sie, aber
+ich fürchte mich vor ihr. Sie macht mich zu romantisch. Ich habe
+Klavierspieler geradezu angebetet -- manchmal zwei auf einmal,
+versichert Harry. Ich weiß nicht, was es für eine Bewandtnis mit ihnen
+hat. Vielleicht rührt es daher, daß sie Ausländer sind. Das sind sie
+doch alle, nicht wahr? Selbst die in England Geborenen werden nach
+einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Es ist sehr gescheit von ihnen und
+für die Kunst sehr vorteilhaft. Das macht sie zu Kosmopoliten, nicht
+wahr? Sie waren nie auf einer meiner Gesellschaften, Herr Gray. Sie
+müssen einmal kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber
+ich scheue in der Anschaffung von Ausländern keine Ausgabe. Sie geben
+dem Hause ein so pittoreskes Aussehen. Aber da ist Harry. -- Harry, ich
+kam her, um dich zu suchen, um dich etwas zu fragen -- ich habe ganz
+vergessen, was -- und ich habe Herrn Gray hier getroffen. Wir haben so
+entzückend über Musik gesprochen. Unsere Ansichten darüber sind die
+gleichen. Nein, ich glaube, unsere Ansichten darüber sind ganz
+verschieden. Aber er ist ganz allerliebst gewesen. Ich freue mich so
+sehr, ihn einmal gesehen zu haben.«
+
+»Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend«, sagte Lord Henry, seine
+dunkeln geschwungenen Brauen hebend und beide mit vergnügtem Lächeln
+ansehend. »Es tut mir so leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich
+war in Wardour Street, um mir einen alten Brokat anzusehen, und mußte
+stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen die Leute den Preis von
+jeder Sache und den Wert von keiner.«
+
+»Ich muß leider gehen!« rief Lady Henry aus und unterbrach ein
+verlegenes Schweigen mit ihrem jähen, grundlosen Lachen. »Ich habe
+versprochen, mit der Herzogin auszufahren. Adieu, Herr Gray. Adieu,
+Harry. Du speist wohl nicht zu Hause, wie? Ich auch nicht, vielleicht
+sehe ich dich bei Lady Thornbury.«
+
+»Höchstwahrscheinlich, meine Liebe«, sagte Lord Henry und schloß die Tür
+hinter ihr, als sie gleich einem Paradiesvogel, der die ganze Nacht dem
+Regen ausgesetzt gewesen war, aus dem Zimmer hinausflatterte, einen
+feinen Jasmingeruch hinterlassend. Harry zündete sich eine Zigarette an
+und warf sich auf das Sofa. »Heirate nie eine Frau mit strohgelbem Haar,
+Dorian«, sagte er nach einigen Zügen.
+
+»Warum nicht, Harry?«
+
+»Weil sie so sentimental sind.«
+
+»Aber ich habe sentimentale Menschen gern.«
+
+»Heirate überhaupt nie, Dorian! Männer heiraten, weil sie müde sind;
+Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden enttäuscht.«
+
+»Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Harry. Dazu bin ich zu
+verliebt. Das ist einer deiner Aphorismen. Ich setze ihn in die
+Wirklichkeit um, wie alles, was du sagst.«
+
+»In wen bist du verliebt?« fragte Lord Harry nach einer Pause.
+
+»In eine Schauspielerin«, sagte Dorian Gray errötend.
+
+Lord Henry zuckte die Achseln. »Ein recht landläufiger Anfang.«
+
+»Das würdest du nicht sagen, wenn du sie kenntest.«
+
+»Wer ist's denn?«
+
+»Sie heißt Sibyl Vane.«
+
+»Nie von ihr gehört.«
+
+»Das hat niemand. Aber später einmal wird man von ihr hören. Sie ist ein
+Genie.«
+
+»Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie wäre. Die Frauen
+sind ein dekoratives Geschlecht. Sie haben niemals etwas zu sagen, aber
+sie sagen es entzückend. Die Frauen bedeuten den Triumph der Materie
+über den Geist, wie die Männer den Triumph des Geistes über die
+Sittlichkeit.«
+
+»Harry, wie kannst du?«
+
+»Mein lieber Dorian, es ist aber wahr. Ich beschäftige mich gerade mit
+der Analyse der Frauen, daher muß ich das wissen. Das Thema ist nicht
+so verwickelt, wie ich glaubte. Ich finde, daß es schließlich nur zwei
+Arten von Frauen gibt, die einfachen und die geschminkten. Die einfachen
+Frauen sind sehr nützlich. Wenn du als ehrbarer Mensch gelten willst,
+mußt du nur eine von ihnen zu Tisch führen. Die andern Frauen sind zum
+Entzücken. Aber sie begehen einen Fehler. Sie schminken sich, um jung
+auszusehen. Unsere Großmütter schminkten sich, um geistreich zu
+plaudern. Rouge und Esprit gingen Hand in Hand. Das ist jetzt alles
+vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre jünger aussehen kann als ihre
+Tochter, ist sie gänzlich zufrieden. Was die Konversation betrifft, so
+gibt es in ganz London höchstens fünf Frauen, mit denen sich's zu reden
+lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft nicht möglich.
+Aber genug, erzähl' mir was von deinem Genie! Wie lange kennst du sie?«
+
+»Ach, Harry, deine Ansichten erschrecken mich!«
+
+»Mach' dir darum keine Kopfschmerzen. Wie lange kennst du sie also?«
+
+»Ungefähr drei Wochen.«
+
+»Und wo hast du die Entdeckung gemacht?«
+
+»Ich will dir's erzählen, Harry, aber du mußt nicht häßlich darüber
+reden. Übrigens wär's gar nicht dazu gekommen, wenn ich dich nicht
+kennengelernt hätte. Du hast mich mit einer wilden Begierde, alles im
+Leben kennenzulernen, angefüllt. Noch viele Tage, nachdem ich dich
+zuerst gesehen hatte, schien in meinen Adern etwas zu rumoren. Wenn ich
+im Park spazierte oder Piccadilly hinunterschlenderte, schaute ich jeden
+an, der mir entgegenkam, und wollte mit einer tollen Neugierde
+herauskriegen, was für eine Art Leben die Leute alle führten. Einige von
+ihnen fesselten mich. Andere erfüllten mich mit Schauder. Es schwamm ein
+verführerisches Gift in der Luft. Mich hatte eine Leidenschaft nach
+Erlebnissen gepackt... Eines Abends also gegen sieben beschloß ich,
+mich auf die Suche nach einem Abenteuer zu begeben. Ich hatte solch
+Gefühl, daß unser graues, riesenhaftes London mit seinen vielen
+Hunderttausenden schmutzigen Sündern und seinen schillernden Sünden, wie
+du dich mal ausdrücktest, irgend etwas für mich in Bereitschaft halten
+müsse. Ich erfand mir tausenderlei Dinge. Schon die bloße Gefahr
+schenkte mir einen gewissen Genuß. Ich erinnerte mich an das, was du mir
+sagtest an dem wunderbaren Abend, als wir das erstemal zusammen
+speisten: daß nämlich das Suchen nach Schönheit das eigentliche
+Geheimnis des Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich
+ging drauflos und wanderte nach dem Osten, wo ich meinen Weg bald in
+einem Wirrwarr von rußigen Straßen und schwarzen, graslosen Plätzen
+verlor. Gegen halb acht kam ich an einem kleinen, schnurrigen Theater
+mit großen, flackernden Gasflammen und grellen Plakaten vorbei. Ein
+widerlicher Jude, in dem erstaunlichsten Rock, den ich mein Lebtag
+gesehen habe, stand an der Tür und paffte eine stänkrige Zigarre. Er
+hatte fettige Peies, und ein riesiger Brillant glitzerte auf seiner
+schmutzigen Hemdenbrust. >Eine Loge, Herr Baron?< fragte er mich und
+nahm seinen Hut mit grandioser Unterwürfigkeit ab. Er hatte etwas an
+sich, Harry, was mich belustigte. Er war das reine Monstrum. Du wirst
+mich auslachen, ich weiß schon, aber ich trat wirklich ein und erlegte
+ein Zwanzigmarkstück für die Proszeniumsloge. Ich kann mir noch heute
+nicht erklären, warum ich das tat; und doch -- wenn ich's nicht getan
+hätte -- bester Harry, ich wäre um das größte Ereignis meines Lebens
+gekommen. Ja, lach du nur. Es ist häßlich von dir.«
+
+»Ich lache nicht, Dorian, wenigstens nicht über dich. Aber du solltest
+es nicht das größte Ereignis deines Lebens nennen. Sage lieber, das
+erste Ereignis deines Lebens. Du wirst immer geliebt werden, und du
+wirst in die Liebe immer verliebt sein. Die grande Passion ist das
+Vorrecht aller Leute, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige
+Nutzen, den die Tagediebe eines Landes bringen. Habe keine Angst!
+Himmlische Dinge warten noch deiner. Das ist der bloße Anfang.«
+
+»Hältst du meine Natur für so oberflächlich?« rief Dorian Gray gekränkt.
+
+»Nein, ich halte sie für so tief.«
+
+»Wie meinst du das?«
+
+»Mein lieber Junge, die Leute, die nur einmal im Leben lieben, das sind
+in Wirklichkeit die Oberflächlichen. Was sie Anstand und Treue nennen,
+nenne ich entweder die Trägheit der Gewohnheit oder Mangel an
+Einbildungskraft. Treue ist im Gefühlsleben dasselbe, was Konsequenz im
+Geistesleben ist, nichts als das Zugeständnis von Schwäche. Treue! Ich
+muß ihren Begriff später mal analysieren. Freude am Besitz liegt darin.
+Welche Menge von Dingen würden wir wegwerfen, wenn wir nicht fürchten
+müßten, andere könnten sie auflesen. Aber ich möchte dich nicht
+unterbrechen. Erzähle weiter.«
+
+»Ich saß also in einer schauderhaften kleinen Loge, und ein ordinärer
+Vorhang starrte mir gerade ins Gesicht. Ich schaute hinter der Gardine
+vor und sah mich im Hause um. Es war ein schäbig-elegantes Ding,
+gestopft voll mit Amoretten und Füllhörnern, wie auf einem
+Hochzeitskuchen billigster Sorte. Galerie und Stehparterre waren
+leidlich voll, aber die zwei Reihen schmieriger Fauteuils vorne waren
+ganz leer und auf dem Platze, den sie vermutlich ersten Rang
+titulierten, saß kaum ein Mensch. Weiber gingen mit Orangen und
+Ingwerbier herum, und eine unglaubliche Masse von Nüssen wurde
+verknackt.«
+
+»Es muß ganz wie in der Glanzzeit des britischen Dramas gewesen sein.«
+
+»Ganz so, vermute ich, und sehr niederdrückend. Ich begann, zu
+überlegen, was um Himmels willen ich da anfangen sollte, als mein Blick
+auf den Theaterzettel fiel. Was glaubst du, was sie spielten, Harry?«
+
+»Ich vermute, der >kleine Kretin< oder >Blödsinnig, aber unschuldig<.
+Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube ich. Je länger ich lebe,
+Dorian, je stärker fühle ich, daß alles, was für unsere Väter gut genug
+war, für uns noch lange nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der
+Politik ~les grandpères ont toujours tort~.«
+
+»Das Stück war gut genug für uns, Harry. Es war >Romeo und Julia<. Ich
+muß zugeben, daß mich der Gedanke, Shakespeare in einer so elenden
+Spelunke zu sehen, ärgerte. Und doch interessierte es mich irgendwie.
+Jedenfalls entschloß ich mich, den ersten Akt abzuwarten. Es spielte da
+ein schauderöses Orchester, das ein junger Hebräer dirigierte, der an
+einem schnarrenden Klavier saß, mich beinah zum Davonlaufen brachte;
+aber schließlich ging doch der Vorhang in die Höhe und das Stück fing
+an. Romeo war ein hahnebüchener älterer Herr mit dick gemalten Brauen,
+einer versoffenen Tragödenstimme und einer Falstaffgestalt wie eine
+Biertonne. Mercutio war fast ebenso arg. Er wurde vom Komiker gespielt,
+der Mätzchen eigener Improvisation einstreute und in der
+verwandtschaftlichsten Beziehung zur Galerie stand. Sie waren beide
+genau so grotesk wie die Szenerie, und die sah aus, als käme sie vom
+Jahrmarktsrummel. Aber Julia! Harry, stell dir ein Mädchen vor, kaum
+siebzehn Jahre alt, mit einem blumenhaften Gesichtchen, einem schmalen
+griechischen Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen, wie veilchenblaue
+Brunnen heißer Leidenschaft, mit Lippen wie Rosenblätter. Das
+entzückendste Geschöpf, das ich je im Leben gesehen habe. Du sagtest mal
+zu mir, Pathos ergreife dich nicht, aber Schönheit, keusche Schönheit an
+sich, könnte deine Augen wohl mit Tränen füllen. Ich sage dir, Harry,
+ich konnte dieses Mädchen kaum sehen, von dem Tränenflor über meinen
+Augen. Und ihre Stimme -- ich habe so eine Stimme nie gehört. Zuerst
+sehr leise in tiefen, vollen Molltönen, die langsam und jeder für sich
+allein ins Ohr zu träufeln schienen. Dann etwas lauter und erklingend
+wie eine Flöte oder eine ferne Hoboe. In der Gartenszene hatte sie jene
+zitternde Inbrunst, die man hört, wenn die Nachtigallen singen vor Tag
+und Tau. Es gab dann Augenblicke, wo ihre Stimme die verhaltene
+Leidenschaftsglut von Geigentönen hatte. Du weißt, wie eine Stimme einen
+erschüttern kann. Deine Stimme und die Stimme von Sibyl Vane, die beiden
+werde ich nie vergessen. Wenn ich meine Augen schließe, höre ich sie,
+und jede von ihnen sagt etwas anderes. Ich weiß nicht, welcher ich
+folgen soll. Warum sollte ich sie nicht lieben? Harry, ich liebe sie.
+Sie ist alles in meinem Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie
+spielen zu sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten Imogen.
+Ich habe sie im Düster eines italienischen Grabgewölbes sterben sehen,
+wie sie das Gift von den Lippen des Geliebten trinkt. Ich bin ihrer
+Wanderung durch die Ardennen gefolgt, wie sie als hübscher Knabe mit
+Hose, Wams und einem kleinen Barett verkleidet war. Sie war wahnsinnig
+und ist vor einen schuldbewußten König hingetreten und ließ ihn Rauten
+tragen und bittere Kräuter kosten. Sie war unschuldig, und die schwarzen
+Hände der Eifersucht haben ihren zarten Hals zusammengepreßt. Ich habe
+sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht gesehen. Gewöhnliche Frauen
+sagen unserer Phantasie nichts. Sie sind in ihre Zeit hineingebannt.
+Kein Zauber kann sie umwandeln. Man kennt ihren Geist ebenso schnell wie
+ihre Güte. Man kennt sie immer heraus. Es gibt kein Geheimnis in ihnen.
+Sie reiten morgens in den Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie
+haben ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Modemanieren. Aber eine
+Schauspielerin! Wie anders solche Schauspielerin! Harry! Warum hast du
+mir nicht gesagt, daß nichts geliebt zu werden verdient als eine
+Schauspielerin?«
+
+»Weil ich so viele von ihnen geliebt habe, Dorian.«
+
+»Oh, gewiß, gräßliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren und geschminkten
+Gesichtern.«
+
+»Schmähe nicht gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter. Es liegt
+zuweilen ein ganz besonderer Reiz darin«, sagte Lord Henry.
+
+»Ich wollte, ich hätte dir nie etwas von Sibyl Vane gesagt.«
+
+»Du hättest gar nicht anders können, Dorian. Dein ganzes Leben lang
+wirst du mir alles sagen, was du tust.«
+
+»Ja, Harry, ich glaube, es ist so. Ich bin geradezu gezwungen, dir alles
+zu sagen. Du hast eine seltsame Macht über mich. Wenn ich je ein
+Verbrechen beginge, käme ich gleich zu dir und beichtete es dir. Du
+würdest mich verstehen.«
+
+»Menschen wie du -- die kühnen Sonnenstrahlen des Lebens -- begehen
+keine Verbrechen, Dorian. Aber ich danke dir trotzdem für dein
+Kompliment. Und nun sag' mir -- bitte gib mir mal die Streichhölzer
+herüber; danke -- wie sind deine wirklichen Beziehungen zu Sibyl Vane?«
+
+Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und blitzenden Augen auf.
+»Harry! Sibyl Vane ist mir heilig.«
+
+»Nur heilige Dinge sind wert, sie anzurühren, Dorian«, sagte Lord Henry
+mit einem merkwürdigen pathetischen Ton in seiner Stimme. »Aber warum
+fühlst du dich verletzt? Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören.
+Wenn man verliebt ist, fängt man immer damit an, sich selbst zu
+betrügen, und hört immer damit auf, andere zu betrügen. Das nennt die
+Welt eine Liebesgeschichte. Auf jeden Fall denke ich, du kennst sie?«
+
+»Natürlich kenne ich sie. Schon am ersten Abend im Theater kam der
+gräßliche alte Jude nach der Vorstellung in meine Loge und bot mir an,
+mich hinter die Kulissen zu führen und ihr vorzustellen. Ich war wütend
+und sagte ihm, daß Julia seit Hunderten von Jahren tot sei und daß ihr
+Körper in einem Marmorgrabe zu Verona liege. Nach dem bestürzten
+Ausdruck in seinem Gesicht vermute ich, daß er glaubte, ich hätte zuviel
+Champagner oder Ähnliches getrunken.«
+
+»Kein Wunder!«
+
+»Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung schreibe. Ich sagte
+ihm, daß ich nicht mal eine lese. Das schien ihn furchtbar zu
+enttäuschen, und er vertraute mir an, alle Theaterkritiker hätten sich
+gegen ihn verschworen und jeder einzelne von ihnen wäre käuflich.«
+
+»Es sollte mich nicht wundern, wenn er ganz recht hätte. Andererseits
+aber, nach ihrem Aussehen zu schließen, können sie meistens gar nicht
+teuer sein.«
+
+»Einerlei, sie schienen über seine Mittel zu gehen«, sagte Dorian
+lachend. »Inzwischen aber wurden die Lichter im Theater ausgedreht und
+ich mußte fort. Er bat mich noch, einige Zigarren zu probieren, die er
+mir sehr warm empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend ging ich natürlich
+wieder hin. Als er mich sah, machte er eine tiefe Verbeugung und
+versicherte mir, ich sei ein edelmütiger Kunstmäzen. Er ist eine höchst
+abstoßende Kreatur, obwohl er eine außerordentliche Leidenschaft für
+Shakespeare hegt. Er erzählte mir mal mit einem Anflug von Stolz, seine
+fünf Bankrotte verdanke er nur dem >Barden<; so nannte er nämlich
+hartnäckig Shakespeare. Er schien das für ein Verdienst zu halten.«
+
+»Es ist ein Verdienst, lieber Dorian -- ein großes Verdienst. Die
+meisten Leute werden bankrott, weil sie zuviel in der Prosa des Lebens
+angelegt haben. Sich mit Poesie ruiniert zu haben, ist eine ehrenvolle
+Auszeichnung. Aber wann hast du Fräulein Sibyl Vane zum erstenmal
+gesprochen?«
+
+»Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt. Ich mußte hinter
+die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein paar Blumen zugeworfen, und sie hatte
+zu mir hingesehen, wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war
+beharrlich. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu nehmen, und
+so gab ich nach. Es war sonderbar, daß ich sie nicht kennenlernen
+wollte, nicht wahr?«
+
+»Nein, ich glaube nicht.«
+
+»Warum, lieber Harry?«
+
+»Ich erkläre dir das ein andermal. Jetzt möchte ich gern von dem Mädchen
+hören.«
+
+»Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und lieb. Sie ist noch fast wie
+ein Kind. Ihre Augen öffneten sich in einem allerliebsten Staunen, als
+ich ihr sagte, was ich über ihr Spiel dachte, und sie schien sich ihres
+eigenen Könnens gar nicht bewußt zu sein. Ich glaube, wir waren beide
+recht nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür der staubigen
+Garderobe und hielt theatralische Reden über uns beide, während wir uns
+wie Kinder anstarrten. Er bestand darauf, mich >Herr Baron< zu nennen,
+so daß ich Sibyl versichern mußte, ich sei nichts der Art. Sie sagte in
+ganz schlichter Weise zu mir: >Sie sehen mehr wie ein Prinz aus. Ich
+will Sie Prinz Märchenschön nennen<.«
+
+»Mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht es, Schmeicheleien zu
+sagen.«
+
+»Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur wie eine Figur
+in einem Theaterstück. Sie weiß gar nichts vom Leben. Sie wohnt bei
+ihrer Mutter, einer verblühten, ältlichen Frau, die am ersten Abend in
+einer Art türkisch-rotem Schlafrock die Lady Capulet spielte und den
+Eindruck machte, als hätte sie bessere Tage gesehen.«
+
+»Ich kenne diese Art, auszusehen. Sie stimmt mich unbehaglich«, sagte
+Lord Henry mit verhaltener Stimme und betrachtete seine Ringe.
+
+»Der Jude wollte mir ihre Lebensgeschichte erzählen, aber ich bemerkte,
+sie interessiere mich nicht.«
+
+»Da hattest du recht. Die Tragödien anderer Leute haben immer etwas
+unglaublich Gewöhnliches an sich.«
+
+»Sibyl ist das einzige, um das ich mich kümmere. Was geht's mich an,
+woher sie stammt? Von ihrem kleinen Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist
+sie ein himmlisches Wesen. Jeden Abend, den ich erlebe, gehe ich hin, um
+sie spielen zu sehen, und jeden Abend ist sie entzückender.«
+
+»Ich vermute darin den Grund, weshalb du jetzt nie mehr mit mir zusammen
+ißt. Ich dachte mir gleich, daß dahinter irgendeine merkwürdige
+Geschichte stecke. Das ist so, aber es ist nicht ganz, was ich
+erwartete.«
+
+»Lieber Harry, wir sind jeden Tag entweder beim Frühstück oder beim
+Abendessen zusammen, und ich bin mehrere Male mit dir in der Oper
+gewesen«, sagte Dorian und öffnete verwundert seine blauen Augen.
+
+»Du kommst immer furchtbar spät.«
+
+»Ja, ich muß hin und Sibyl spielen sehen, und wenn auch nur einen Akt
+lang. Ich hungere nach ihrem Anblick, und wenn ich an die himmlische
+Seele denke, die in diesem zierlichen Elfenbeinkörper eingeschlossen
+ist, packt mich stille Ehrfurcht.«
+
+»Kannst du heute abend mit mir essen, Dorian?«
+
+Er schüttelte den Kopf. »Heute abend ist sie Imogen,« antwortete er,
+»und morgen abend Julia.«
+
+»Wann ist sie Sibyl Vane?«
+
+»Nie!«
+
+»Da wünsche ich dir Glück.«
+
+»Wie schrecklich du bist! Sie verkörpert alle die großen Frauengestalten
+der Weltgeschichte in sich. Sie ist mehr als ein Geschöpf. Du lachst,
+aber ich sage dir, sie ist ein Genie. Ich liebe sie und ich will's
+erreichen, daß sie mich auch liebt. Dir sind alle Geheimnisse des Lebens
+bekannt, du mußt mir sagen, wie ich Sibyl Vane so bezaubern kann, daß
+sie mich liebt. Ich will Romeo eifersüchtig machen. Ich will, daß die
+toten Liebhaber der Welt unser Lachen hören und sich grämen. Ich will,
+daß unsere strahlende Leidenschaft ihren Staub wieder beleben und ihre
+Asche zu Schmerzen auferwecken soll. O Gott, Harry, wie bete ich sie
+an!« Er ging, während er sprach, im Zimmer auf und ab. Rote hektische
+Flecken brannten auf seinen Wangen. Er war furchtbar erregt.
+
+Lord Henry betrachtete ihn mit stillem Wohlbehagen. Wie anders war er
+jetzt als jener verlegene, schüchterne Knabe, den er in Basil Hallwards
+Atelier angetroffen hatte! Seine Natur hatte sich entwickelt wie eine
+Blume und trug Blüten von brennendrotem Scharlach. Aus ihrem geheimen
+Versteck war seine Seele hervorgekrochen, und die Wollust war ihr auf
+halbem Wege entgegengekommen.
+
+»Und was hast du nun vor?« sagte Lord Henry schließlich.
+
+»Ich will, du und Basil sollt mich an einem Abend begleiten und sie
+spielen sehen. Ich setze nicht die leiseste Besorgnis in die Wirkung.
+Ihr werdet zugeben müssen, daß sie Genie hat. Dann müssen wir sie dem
+Juden aus den Händen winden. Sie ist noch drei Jahre -- genau zwei Jahre
+und acht Monate -- an ihn gebunden. Natürlich werde ich ihm etwas zahlen
+müssen. Wenn das alles in Ordnung ist, suche ich mir ein Theater im
+Westend und lasse sie dort erst mal richtig auftreten. Sie wird die Welt
+ebenso verrückt machen wie mich.«
+
+»Das wird kaum gehen, lieber Junge.«
+
+»Ja, sie wird es; denn in ihr ist nicht nur Kunst, vollendetster
+Kunstinstinkt, sondern sie hat auch Persönlichkeit; und du selbst hast
+mir oft genug gesagt, daß nur Persönlichkeiten, nicht Prinzipien die
+Welt beherrschen.«
+
+»Schön, wann sollen wir also hingehen?«
+
+»Laß mich mal nachdenken. Heute ist Dienstag. Wollen wir morgen
+festsetzen? Morgen spielt sie die Julia.«
+
+»Abgemacht! Morgen um acht im Bristol. Ich werde Basil mitbringen.«
+
+»Bitte, nicht um acht Uhr, Harry. Halbsieben. Wir müssen dort sein, ehe
+der Vorhang aufgeht. Du mußt sie im ersten Akt bei der Begegnung mit
+Romeo sehen.«
+
+»Halbsieben Uhr! Was für eine Tageszeit! Das wäre ja gerade so, wie ein
+Abendbrot am Nachmittag essen oder einen englischen Roman lesen. Vor
+sieben Uhr geht's nicht. Kein Gentleman speist vor sieben. Siehst du
+Basil bis dahin? Oder soll ich ihm schreiben?«
+
+»Der liebe Basil! Ich habe mich eine ganze Woche lang nicht um ihn
+gekümmert. Das ist sehr häßlich von mir, denn er hat mir mein Porträt in
+einem prachtvollen Rahmen, den er selbst entworfen hat, geschickt, und
+obwohl ich ein bißchen eifersüchtig auf das Bild bin, weil es einen
+ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich doch zugeben, daß es mich ganz
+entzückt. Ich bitte, schreib lieber. Ich möchte ihn nicht allein
+wiedersehen. Er sagt mir Dinge, die mich verstimmen. Er gibt mir gute
+Lehren.«
+
+Lord Henry lächelte. »Die Menschen haben eine starke Vorliebe, das
+wegzuschenken, was sie selber am nötigsten hätten. Ich nenne das den
+Chimborasso Freigebigkeit.«
+
+»Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir doch ein klein
+bißchen Philister zu sein. Seit ich dich kenne, Harry, hab' ich das
+entdeckt.«
+
+»Basil, mein lieber Junge, tränkt seine Werke mit allem, was an ihm
+entzückend ist. Die Folge ist, daß ihm fürs Leben nichts übrigbleibt als
+seine Vorurteile, seine Grundsätze und sein gesunder Menschenverstand.
+Alle Künstler, die ich kennengelernt habe, und die persönlich von
+Anziehungskraft sind, waren schlechte Künstler. Gute Künstler leben nur
+in ihren Schöpfungen und sind daher im Leben vollständig uninteressant.
+Ein großer Dichter, ein wirklich großer Dichter ist das unpoetischste
+Geschöpf von der Welt. Aber untergeordnete Dichter bezaubern immer. Je
+schlechter ihre Reime sind, desto malerischer ist ihr Aussehen. Die
+bloße Tatsache, eine Sammlung mittelmäßiger Sonette veröffentlicht zu
+haben, macht solchen Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die
+Poesie, die er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Poesie,
+die sie nicht zu leben wagen.«
+
+»Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry«, sagte Dorian Gray,
+der inzwischen aus einem großen goldgefaßten Flakon auf dem Tische etwas
+Parfüm auf sein Taschentuch gegossen hatte. »Es wird wohl sein, wenn du
+es sagst. Jetzt aber muß ich fort. Imogen wartet auf mich. Vergiß nicht,
+morgen! Adieu!«
+
+Als er das Zimmer verlassen hatte, schloß Lord Henry die schweren Lider
+und begann nachzudenken. Gewiß hatten ihn wenige Menschen bisher so
+interessiert wie Dorian Gray, und doch verursachte ihm die wahnsinnige
+Leidenschaft des Jünglings für eine andere Person nicht im entferntesten
+Ärger oder Eifersucht. Es freute ihn. Dorian wurde dadurch nur noch
+interessanter. Die Methoden der Naturwissenschaft hatten ihn immer
+entzückt, aber der gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm
+kleinlich und belanglos erschienen, und so hatte er begonnen, sich
+selbst zu vivisezieren und hatte damit geendet, andere zu vivisezieren.
+Das Menschenleben -- das schien ihm der einzige einer Untersuchung werte
+Gegenstand. Verglichen damit war alles andere ohne jegliche Bedeutung.
+Freilich, wenn man das Leben in dem seltsamen Schmelztiegel des
+Schmerzes und der Lust beobachtete, konnte man keine Glasmaske über dem
+Gesicht tragen, konnte auch nicht die Schwefeldämpfe abhalten, die einem
+das Gehirn verwirrten und die Phantasie mit monströsen Ausgeburten und
+mißratenen Träumen umwirbelten. Es gab so feine Gifte, daß man an ihnen
+erkrankt sein mußte, um ihre Eigenheiten zu kennen. Es gab so seltsame
+Krankheiten, daß man sie durchgemacht haben mußte, um ihre Art zu
+begreifen. Und doch, welchen Lohn empfing man dafür! Wie wunderbar
+wandelt sich einem dann die ganze Welt! Die merkwürdig strenge Logik der
+Leidenschaft und das buntgefärbte Trieb- und Gefühlsleben des Geistes
+anzumerken -- zu beobachten, wo sich die beiden Linien schneiden und wo
+sie auseinandergehen, in welchem Punkte sie in Eintracht leben und in
+welchem sie sich wieder bekriegen -- das ist ein Genuß! Was liegt an dem
+Preise dafür! Man kann nie einen zu hohen Preis für ein Sinnenerlebnis
+geben.
+
+Er war sich bewußt -- und dieser Gedanke brachte einen freudigen Glanz
+in seine achatbraunen Augen -- daß sich durch gewisse Worte, die er
+gesprochen hatte, musikalische Worte in melodischem Tonfall, Dorian
+Grays Seele diesem weißen Mädchen zugewendet und sich in Verehrung vor
+ihr gebeugt hatte. In hohem Maße war der Jüngling sein Geschöpf. Er
+hatte ihn vor der Zeit reifen lassen. Das war schon was. Die
+gewöhnlichen Menschen warten, bis ihnen das Leben seine Geheimnisse
+aufschließt, aber den wenigen Auserwählten werden die Mysterien des
+Daseins enthüllt, bevor der Schleier weggezogen wird. Manchmal ist das
+die Wirkung der Kunst, besonders der Dichtung, die ja unmittelbar die
+Leidenschaften und den Intellekt behandelt. Ab und zu nimmt aber eine
+komplizierte Persönlichkeit diesen Platz ein und übt das Amt der Kunst
+aus, ist eigentlich auf ihre Weise ein richtiges Kunstwerk, denn das
+Leben schafft ebenso seine vollendeten Meisterwerke wie die Poesie oder
+die Bildhauerkunst oder die Malerei.
+
+Ja, dieser Jüngling war vor der Zeit reich. Er erntete, während er noch
+lenzte. Der Puls und die Leidenschaft der Jugend wohnten in ihm, und er
+begann, seiner bewußt zu werden. Es war entzückend, ihn zu beobachten.
+Mit seinem schönen Angesicht und seiner schönen Seele war er ein Stück
+Leben zum Anstaunen. Es lag nichts daran, wie das alles endete, oder
+enden sollte. Er glich einer der graziösen Gestalten auf einem Gobelin
+oder in einem Schauspiel, deren Freuden von den unseren weit entfernt zu
+sein scheinen, aber deren Schmerzen unseren Schönheitssinn erregen und
+deren Wunden wie rote Rosen sind.
+
+Seele und Leib, Leib und Seele -- wie geheimnisvoll das alles ist!
+Animalisches ist in der Seele, und der Leib hat seine Augenblicke
+geistiger Veredlung. Die Sinne können sich läutern, und der Intellekt
+kann sich vergröbern. Wer kann sagen, wo die fleischlichen Triebe
+endigen und die seelischen beginnen? Wie flach sind die willkürlichen
+Erklärungen der handwerksmäßigen Psychologen! Und doch, wie schwierig
+ist die Entscheidung zwischen den Lehren der einzelnen Schulen. Ist die
+Seele ein Schatten, der im Hause der Sünde wohnt? Oder ist der Körper
+wirklich in der Seele eingeschlossen, wie es sich Giordano Bruno dachte?
+Die Trennung von Geist und Stoff ist ein Geheimnis, und die Vereinigung
+von Geist und Stoff ist abermals ein Geheimnis.
+
+Er dachte darüber nach, ob wir je die Psychologie zu einer so exakten
+Wissenschaft machen können, daß uns auch das kleinste Triebrädchen des
+Lebens offenbar würde. Wie die Dinge heute liegen, begreifen wir uns
+selbst nie und die anderen nur selten. Die Erfahrung hat keinerlei
+ethische Bedeutung. Sie ist nur das Firmenschild, das die Menschen ihren
+Irrtümern anhängen. Die Moralisten haben sie meist als eine Art Warnung
+betrachtet, haben für sie eine gewisse ethische Wirksamkeit in der
+Bildung der Charaktere beansprucht, haben sie als Mittel gepriesen, das
+uns darüber aufklärt, was wir tun und lassen sollen. Aber in der
+Erfahrung liegt keine bewegende Kraft. Sie ist ebensowenig eine tätige
+Ursache wie das Gewissen. Alles, was sie in Wirklichkeit lehrt, ist, daß
+unsere Zukunft ebenso sein wird wie unsere Vergangenheit, und daß wir
+die Sünde, die wir dereinst mit Abscheu und Widerwillen begangen haben,
+immer und immer wieder und dann mit Genuß wiederholen werden.
+
+Er war sich darüber klar, daß die Versuchsmethode die einzige sei, durch
+die man zu irgendeiner wissenschaftlichen Erklärung der Leidenschaften
+kommen könne; und sicher war ihm Dorian Gray ein bequemes Objekt und
+schien reiche und wertvolle Erfolge zu versprechen. Seine jähe
+sturmartige Liebe zu Sibyl Vane war eine psychologische Tatsache von
+großem Interesse. Kein Zweifel, daß die Neugier dabei stark im Spiele
+war, Neugier und Lust an neuen Erlebnissen; doch es war keine einfache,
+sondern eher eine recht komplizierte Leidenschaft. Was von dem rein
+sinnlichen Triebe des Knabenalters in ihr war, das hatte die Mitarbeit
+der Phantasie umgebildet, in irgendwas verwandelt, das dem Jüngling
+selbst ganz fern von allem Sinnlichen schien und gerade deshalb um so
+gefährlicher war. Alle Leidenschaften, über deren Ursprung wir uns
+selbst täuschen, üben die stärkste Herrschaft auf uns aus. Unsere
+schwächsten Triebkräfte sind die, über deren Natur wir klar sehen. Es
+kommt oft vor, daß wir im Denken mit uns selbst Experimente anstellen
+und glauben, sie mit anderen zu versuchen.
+
+Während Lord Henry noch dasaß und über diese Dinge nachgrübelte, wurde
+an die Tür geklopft; ein Diener trat ein und erinnerte ihn, daß es Zeit
+sei, sich für das Abendessen umzukleiden. Er erhob sich und blickte auf
+die Straße hinab. Der Sonnenuntergang hatte die oberen Fenster der
+gegenüberliegenden Häuser in ein feuerrotes Gold getaucht. Die Scheiben
+glühten wie erhitzte Metallplatten. Der Himmel drüber glich einer
+verwelkten Rose. Es erinnerte ihn an das junge, flammenlodernde Leben
+seines Freundes, und er fragte sich, wie das alles enden würde.
+
+Als er dann gegen halb ein Uhr nachts nach Hause kam, fand er im Vorflur
+auf dem Tische ein Telegramm liegen. Er öffnete es und sah, daß es von
+Dorian Gray war. Es teilte ihm mit, daß er sich mit Sibyl Vane verlobt
+habe.
+
+
+
+
+Fünftes Kapitel
+
+
+»Mutter, Mutter, ich bin so glücklich!« flüsterte das Mädchen und barg
+ihr Gesicht im Schoße der verblühten, müde aussehenden Frau, die mit dem
+Rücken gegen das grell eindringende Licht in dem einzigen Armstuhl saß,
+den ihr armseliges Wohnzimmer enthielt. »Ich bin so glücklich!«
+wiederholte sie, »und du wirst auch glücklich sein.«
+
+Frau Vane zuckte zusammen und legte ihre dünnen, wismutweißen Hände auf
+den Kopf ihrer Tochter. »Glücklich!« echote sie, »ich bin nur glücklich,
+Sibyl, wenn ich dich spielen sehe. Du darfst an nichts anderes denken
+als an deine Rollen. Herr Isaacs ist sehr gut gegen uns gewesen, und wir
+sind ihm Geld schuldig.«
+
+Das Mädchen sah auf und ließ die Lippen hängen. »Geld, Mutter?« rief
+sie, »was liegt an Geld? Liebe ist mehr als Geld!«
+
+»Herr Isaacs hat uns tausend Mark Vorschuß gegeben, damit wir unsere
+Schulden zahlen und für James eine anständige Ausrüstung anschaffen
+können. Das darfst du nicht vergessen, Sibyl. Tausend Mark sind ein sehr
+großer Betrag. Herr Isaacs benahm sich sehr anständig.«
+
+»Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art, wie er mit mir
+spricht«, sagte das Mädchen, stand auf und trat ans Fenster.
+
+»Ich wüßte nicht, wie wir ohne ihn vorwärts kämen«, entgegnete die alte
+Frau weinerlich.
+
+Sibyl Vane warf den Kopf in den Nacken und lachte: »Wir brauchen ihn
+nicht mehr, Mutter, der Prinz Märchenschön bestimmt von jetzt ab über
+unser Leben.« Dann schwieg sie. Eine Blutwelle schoß in ihre Wangen und
+tauchte sie in ein dunkles Rot. Der rasche Atem öffnete ihre blühenden
+Lippen. Sie zitterten. Ein Südwind heißer Leidenschaft durchbrauste sie
+und bewegte die glatten Falten ihrer Gewandung. »Ich liebe ihn«, sagte
+sie mit einfachem Ausdruck.
+
+»Närrisches Kind! närrisches Kind!« waren die papageienhaften Worte, die
+ihr als Antwort entgegenflogen. Dabei machte die beschwörende Bewegung
+ihrer gekrümmten, mit unechten Ringen gezierten Finger diesen Ausruf
+noch komischer.
+
+Das Mädchen lachte wieder. In ihrer Stimme lag etwas wie der Jubel eines
+Vogels im Käfig. Ihre Augen fingen die Lachmelodie auf und wiederholten
+sie in ihrem Glanze: dann schlossen sie sich einen Augenblick, als
+wollten sie ihr Geheimnis verbergen. Als sie sich wieder öffneten, war
+der Schimmer eines Traumes über sie dahingegangen.
+
+Aus dem abgenutzten Stuhl sprach die Weisheit zu ihr mit dünnen Lippen,
+mahnte zur Besinnung und gab Ratschläge aus dem Buch der Feigheit, dem
+sein Autor irrtümlich den Titel »Gesunder Menschenverstand« beigelegt
+hat. Sie hörte nicht hin. Im Kerker ihrer Leidenschaft fühlte sie sich
+frei. Ihr Prinz, der Prinz Märchenschön, war bei ihr. Sie hatte das
+Gedächtnis beschworen, ihn herbeizuschaffen. Sie hatte ihre Seele auf
+die Suche nach ihm geschickt, und die hatte ihn wieder hergebracht.
+Sein Kuß brannte wieder auf ihrem Munde. Ihre Lider brannten wieder von
+seinem Atem.
+
+Dann zog die Weisheit andere Register auf und sprach von Erkundigen und
+Nachforschen. Es mochte ja sein, daß dieser junge Mann reich sei. Wenn
+dem so wäre, dann müßte man ans Heiraten denken. Um die Ohrmuschel des
+Mädchens plätscherten die Wellen weltlicher Schlauheit. Die Pfeile der
+Weltklugheit schwirrten an ihr vorüber. Sie sah, wie sich die dünnen
+Lippen bewegten, und lächelte.
+
+Plötzlich fühlte sie das Bedürfnis, zu sprechen. Die wortüberfüllte
+Schweigsamkeit verwirrte sie. »Mutter, Mutter,« rief sie, »warum liebt
+er mich so innig? Ich weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er
+so ist, wie die Liebe selbst sein muß. Aber was findet er an mir? Ich
+bin seiner nicht wert. Und doch -- ich weiß nicht, warum -- ich fühle
+mich wohl tief unter ihm, aber ich fühle mich nicht gering. Stolz bin
+ich, schrecklich stolz. Mutter, hast du meinen Vater so geliebt, wie ich
+den Prinzen Märchenschön liebe?«
+
+Die alte Frau wurde bleich unter dem dicken Puder, womit ihre Wangen
+beklebt waren, und ihre verwelkten Lippen zitterten in krampfigem
+Schmerz. Sibyl stürzte zu ihr hin, schlang ihr ihre Arme um den Hals und
+küßte sie. »Verzeih mir, Mutter! Ich weiß, es schmerzt dich, an unseren
+Vater zu denken. Aber es schmerzt dich nur, weil du ihn so lieb gehabt
+hast. Sieh nicht so traurig drein. Heute bin ich so glücklich, wie du es
+warst vor zwanzig Jahren. Ach, könnte ich für immer so glücklich sein!«
+
+»Mein Kind, du bist viel zu jung, um an eine Liebschaft zu denken.
+Zudem, was weißt du von diesem jungen Mann? Du weißt nicht mal seinen
+Namen. Die ganze Sache ist höchst unpassend, und wahrhaftig, gerade
+jetzt, wo sich James nach Australien rüstet, und ich an so viele Dinge
+zu denken habe, da muß ich sagen, du hättest mehr Überlegung zeigen
+sollen. Immerhin, wie ich schon sagte, wenn er reich ist...«
+
+»Ach Mutter, Mutter, laß mich glücklich sein!«
+
+Frau Vane blickte sie an und schloß sie plötzlich mit einer der unwahren
+theatralischen Gesten in die Arme, wie sie den Schauspielern oft zur
+zweiten Natur werden. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein
+junger Bursche mit struppigem, braunem Haar kam in die Stube. Er war von
+untersetzter Gestalt, und seine Hände und Füße waren groß und bewegten
+sich etwas ungelenk. Er war nicht so gut erzogen wie seine Schwester.
+Man hätte kaum die nahe Verwandtschaft erraten können, die zwischen
+beiden bestand. Frau Vane richtete ihre Augen auf ihn, und ihr Lächeln
+verstärkte sich. In ihrem Geiste ließ sie ihren Sohn die Rolle des
+Publikums spielen. Sie war überzeugt, daß das Tableau interessant war.
+
+»Du könntest dir wohl ein paar Küsse für mich aufheben, Sibyl«, sagte
+der Bursche mit gutmütigem Knurren.
+
+»Ach, Jim, du machst dir doch gar nichts aus Küssen!« rief sie. »Du bist
+ein greulicher alter Bär!« Und sie hüpfte durchs Zimmer zu ihm hin und
+umhalste ihn.
+
+James Vane sah seiner Schwester zärtlich in das Gesicht. »Ich möchte mit
+dir spazieren gehen, Sibyl. Ich glaube kaum, daß ich dies schreckliche
+London jemals wiedersehe. Ich mache mir auch wirklich nicht im
+geringsten was draus.«
+
+»Mein Sohn, rede doch nicht so schreckliche Dinge«, grollte Frau Vane,
+während sie seufzend ein flitteriges Theaterkostüm zur Hand nahm und es
+auszubessern begann. Sie fühlte eine kleine Enttäuschung, daß er sich
+der Gruppe nicht angeschlossen hatte. Es hätte die malerische Wirkung
+der Szene so hübsch erhöht.
+
+»Warum nicht, Mutter? Ich meine es im Ernst.«
+
+»Du kränkst mich, mein Sohn. Ich hoffe, daß du von Australien als ein
+gemachter Mann zurückkehrst. Ich vermute, es gibt in den Kolonien
+sozusagen keine Gesellschaft, wenigstens nichts, was ich Gesellschaft
+nenne; wenn du also dein Glück gemacht hast, mußt du zurückkommen und
+dich zur Geltung bringen in London.«
+
+»Gesellschaft«, brummelte der junge Mann. »Will davon nichts wissen.
+Möchte nur soviel Geld verdienen, um dich und Sibyl vom Theater
+wegzukriegen. Ich hasse es.«
+
+»O Jim,« sagte Sibyl lachend, »wie unfreundlich von dir! Aber, willst du
+wirklich mit mir spazieren gehen? Das ist nett! Ich fürchtete schon, du
+wolltest dich bei deinen Freunden verabschieden, bei Tom Hardy, der dir
+diese gräßliche Pfeife geschenkt hat, oder bei Nell Langton, der dich
+auslacht, weil du sie rauchst. Es ist sehr hübsch von dir, daß du mir
+deinen letzten Nachmittag schenkst. Wohin werden wir gehen? Komm, wir
+wollen in den Park.«
+
+»Dazu bin ich zu schäbig angezogen«, antwortete er mit gerunzelter
+Stirn. »Nur Elegants gehen in den Park.«
+
+»Unsinn, Jim«, flüsterte sie, und streichelte seinen Ärmel.
+
+Er zauderte einen Augenblick. »Schön denn,« sagte er schließlich, »mach'
+aber nicht zu lang mit dem Anziehen.«
+
+Sie tanzte zur Tür hinaus. Man konnte sie singen hören, während sie die
+Treppe hinauflief. Ihre kleinen Füße trippelten oben.
+
+Er ging zwei oder dreimal durch die Stube, dann wandte er sich zu der
+schweigsamen Gestalt im Lehnstuhl.
+
+»Mutter, sind meine Sachen gepackt?« fragte er.
+
+»Alles fertig, James«, antwortete sie, ohne von ihrer Arbeit
+aufzuschauen. Seit einigen Monaten war es ihr unbehaglich, wenn sie mit
+ihrem rauhen, finsteren Sohn allein war. Ihre oberflächliche Natur mit
+ihrem unterdrückten Geheimnis wurde beunruhigt, wenn sich ihre Augen
+trafen. Sie fragte sich, ob er einen Verdacht habe. Sein Schweigen, da
+er sonst keine Bemerkungen machte, wurde ihr unerträglich. Sie fing also
+zu jammern an. Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade, wie
+sie dadurch angreifen, daß sie unvermutet die Waffen strecken. »Ich
+hoffe, James, dein Seefahrerleben wird dich befriedigen. Du darfst nie
+vergessen, daß es deine eigene Wahl war. Du hättest in das Bureau eines
+Anwalts treten können. Anwälte sind eine sehr geachtete Menschenklasse
+und werden auf dem Lande oft in den besten Familien eingeladen.«
+
+»Ich hasse Bureaus und ich hasse Schreiber«, erwiderte er. »Aber du
+hast ganz recht, mein Leben habe ich mir selbst gewählt. Alles, was ich
+sage, ist: Wache über Sibyl! Laß ihr kein Unglück zustoßen. Mutter, du
+mußt über sie wachen!«
+
+»James, du hast eine merkwürdige Art, zu sprechen. Natürlich wache ich
+über sie.«
+
+»Ich höre, ein Herr kommt jeden Abend ins Theater und geht hinter die
+Kulissen und spricht mit ihr. Ist das wahr? Wie verhält sich's damit?«
+
+»James, du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst. Wir in unserem
+Beruf sind gewöhnt, eine Menge wohltuender Aufmerksamkeiten zu
+empfangen. Ich selbst habe zu meiner Zeit viel Blumen bekommen. Damals
+verstand man noch etwas vom Spielen. Was Sibyl betrifft, so weiß ich im
+Augenblick nicht, ob ihre Neigung ernst ist oder nicht. Aber darüber
+besteht kein Zweifel, daß der fragliche junge Mann ein vollendeter
+Kavalier ist. Er ist immer ausgesucht höflich zu mir. Auch sieht er aus,
+als ob er reich wäre, und die Buketts, die er schickt, sind ganz
+allerliebst.«
+
+»Aber du weißt nicht mal seinen Namen«, warf der junge Mann barsch ein.
+
+»Nein«, antwortete die Mutter mit gelassener Miene. »Er hat uns seinen
+wirklichen Namen noch nicht verraten. Ich finde das sehr romantisch von
+ihm. Wahrscheinlich ist er ein Herr von Adel.«
+
+James Vane biß sich auf die Lippen. »Wache über Sibyl!« schrie er.
+»Wache über sie!«
+
+»Mein Sohn, du verletzt mich ungemein. Sibyl steht unablässig unter
+meiner besonderen Obhut. Natürlich, falls dieser Herr vermögend ist,
+sehe ich den Grund nicht ein, um einer Verbindung mit ihm auszuweichen.
+Ich bin fest davon überzeugt, er gehört zur Aristokratie. Er sieht ganz
+so aus, muß ich sagen. Es wird eine brillante Partie für Sibyl werden.
+Sie würden ein entzückendes Paar abgeben. Seine Schönheit ist wirklich
+ganz bedeutend; sie fällt jedem auf.«
+
+Der junge Mann brummte etwas in sich hinein und trommelte mit seinen
+dicken Fingern gegen die Fensterscheibe. Er hatte sich gerade umgewandt,
+um etwas zu sagen, als die Tür aufging und Sibyl hereinflitzte.
+
+»Was macht ihr beide denn für ernste Gesichter!« rief sie aus. »Was
+gibt's denn?«
+
+»Nichts«, antwortete er. »Man muß auch mal ernst sein. Adieu, Mutter;
+ich will um fünf essen. Alles ist gepackt bis auf die Hemden; du
+brauchst dich also um nichts mehr zu kümmern.«
+
+»Adieu, mein Sohn«, antwortete sie mit einer Verbeugung gemachter
+hoheitsvoller Würde.
+
+Sie war äußerst gekränkt durch den Ton, den er ihr gegenüber
+angeschlagen hatte, und in seinem Blick lag etwas, das ihr Angst
+eingeflößt hatte.
+
+»Gib mir einen Kuß, Mutter«, sagte das Mädchen. Ihre blütengleichen
+Lippen berührten die welken Wangen und wärmten ihre Frostigkeit.
+
+»Mein Kind! Mein Kind!« rief Frau Vane und schaute zur Decke auf, als
+suchte sie in ihrer Einbildung eine Galerie.
+
+»Komm, Sibyl«, sagte ihr Bruder ungeduldig. Er konnte die Attitüden
+seiner Mutter nicht ausstehen.
+
+Sie traten hinaus in den flimmernden, windbewegten Sonnenschein und
+schlenderten die trostlose Euston Road hinab. Die Vorübergehenden
+blickten verwundert auf den unfreundlichen, schwerfälligen jungen
+Menschen in den groben schlechtsitzenden Kleidern, den ein so
+liebliches, fein aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem
+Gärtnerburschen, der eine Rose trägt.
+
+Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den forschenden Blick
+eines Fremden bemerkte. Er hatte jene Abneigung gegen das
+Angestarrtwerden, die Menschen von Geist erst spät im Leben bekommen und
+die den Herdenmenschen nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts von der
+Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf ihren lächelnden
+Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen, und damit sie um so besser
+an ihn denken könnte, sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte nur
+von dem Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, von dem Gold, das er sicher
+finden würde, von der wunderhübschen Millionenerbin, deren Leben er
+verruchten rotblusigen Buschräubern entreißen sollte. Denn er würde
+nicht Matrose bleiben oder Verfrachter oder was er jetzt fürs erste
+werden sollte. O nein! Solch Matrosendasein war schrecklich. Er solle
+nur daran denken, in ein schreckliches Schiff hineingepfercht zu sein,
+wenn die brüllenden, katzenbuckelnden Wellen immer eindringen wollen und
+ein schwarzer Wind die Masten umblase und die Segel in lange,
+klatschnasse Streifen zerreiße. Er sollte in Melbourne das Schiff
+verlassen, dem Kapitän höflich Lebewohl sagen und sich sofort in die
+Goldfelder begeben. Bevor noch eine Woche um sei, werde er auf einen
+großen Klumpen puren Goldes stoßen, auf den größten, der je gefunden
+worden sei, und werde ihn zur Küste schaffen in einem großen Wagen, den
+sechs berittene Polizisten bewachen sollten. Die Buschklepper überfielen
+sie dreimal, würden aber nach einem ungeheuren Gemetzel zurückgeschlagen
+werden. Oder nein! Er sollte überhaupt nicht in die Goldfelder wandern.
+Das sind schreckliche Örter, wo sich die Leute betrinken und einander in
+Kneipen totschössen und eine schreckliche Sprache führten. Er sollte ein
+friedsamer Viehzüchter werden, und eines Abends, wenn er heimritte,
+begegnete er der schönen Erbin, die gerade von einem Räuber auf einem
+Rappen entführt würde, und dann setzt er ihm nach und befreit sie.
+Natürlich würde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und sie
+heirateten dann und kehrten heim und wohnten in einem großen Palais in
+London. Ja, entzückende Dinge warteten auf ihn. Aber er müsse auch sehr
+brav sein, nie die Geduld verlieren oder sein Geld vergeuden. Sie sei
+nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse schon genügend mehr vom Leben.
+Er müsse ihr auch zuverlässig an jedem Posttag schreiben und jeden
+Abend, wenn er schlafen gehe, beten. Gott sei sehr gut und werde über
+ihn wachen. Auch sie werde für ihn beten, und in ein paar Jahren werde
+er reich und glücklich nach Hause kommen.
+
+Der Bursche hörte ihr brummig zu und gab keine Antwort. Ihm tat das Herz
+weh, weil er von der Heimat weg mußte.
+
+Aber es war nicht das allein, was ihn düster und verstimmt sein ließ. So
+unerfahren er war, fühlte er doch sehr die Gefahr, die in Sibyls
+Stellung lag. Dieser junge Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte es
+nicht ehrlich mit ihr meinen. Es war ein vornehmes Herrchen, und das
+trug ihm seinen Haß ein, einen Haß, der aus einem sonderbaren
+Rasseinstinkt herrührte, von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte
+und der ihn gerade deshalb um so stärker beherrschte. Er kannte auch die
+Oberflächlichkeit und Eitelkeit seiner Mutter und sah darin ungeheure
+Gefahren für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder fangen damit an, ihre Eltern
+zu lieben; wenn sie älter werden, sitzen sie über ihnen zu Gericht,
+manchmal vergeben sie ihnen auch.
+
+Seine Mutter! Es brütete in ihm, sie über etwas zu fragen, was er viele
+schweigsame Monate hindurch mit sich herumgeschleppt hatte. Ein
+zufälliges Wort, das er im Theater aufgeschnappt hatte, ein
+hingeflüstertes Scherzwort, das er eines Abends auffing, als er an der
+Bühnentür wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken entfesselt.
+Die Erinnerung daran schmerzte ihn wie der Hieb einer Reitpeitsche in
+sein Gesicht. Seine Brauen kniffen sich in eine tiefe Furche zusammen,
+und in schmerzlichem Krampf biß er sich auf die Lippen.
+
+»Du hörst auch nicht ein einziges Wort, das ich sage, Jim!« rief Sibyl,
+»und ich schmiede die entzückendsten Pläne für deine Zukunft. Sag' doch
+mal was!«
+
+»Was soll ich denn sagen?«
+
+»Oh, daß du ein braver Bursche sein willst und uns nicht vergessen«,
+antwortete sie und lächelte ihn an.
+
+Er zuckte die Schultern. »Es wäre eher möglich, daß du mich vergißt, als
+daß ich dich vergesse, Sibyl.«
+
+Sie errötete. »Wie meinst du das, Jim?« fragte sie.
+
+»Du hast einen neuen Freund, wie ich höre. Wer ist es? Warum hast du mir
+nicht von ihm erzählt? Er meint es nicht gut mit dir.«
+
+»Hör' auf, Jim«, rief sie aus. »Du darfst nichts gegen ihn sagen. Ich
+liebe ihn.«
+
+»Was, und du weißt nicht mal seinen Namen?« erwiderte er. »Wer ist es?
+Ich habe ein Recht, das zu wissen.«
+
+»Er heißt der Prinz Märchenschön. Gefällt dir der Name nicht? Oh, du
+törichtes Jungchen! du solltest ihn nie vergessen. Wenn du ihn nur ein
+einzigesmal sähest, müßtest du ihn für den entzückendsten Menschen auf
+Erden halten. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen: wenn du von
+Australien zurückkommst. Er wird dir sehr gefallen. Allen Menschen
+gefällt er, und ich ... ich liebe ihn. Ich wollte, du könntest heute
+abend ins Theater kommen. Er wird kommen, und ich spiele die Julia! Oh,
+wie ich sie spielen werde! Denk dir, Jim, lieben und die Julia spielen!
+Wissen, daß er dasitzt! Zu seiner Freude spielen! Ich fürchte, ich werde
+meine Kollegen erschrecken, erschrecken oder hinreißen. Lieben heißt,
+hinauswachsen über sich selbst. Der gräßliche Herr Isaacs wird seinen
+Kumpanen am Schenktisch zuschreien, ich sei ein Genie. Er hat mich wie
+ein Dogma ausposaunt; heute abend wird er mich als Offenbarung
+verkündigen. Ich fühle das. Und all das ist sein Werk, nur sein, des
+Prinzen Märchenschön, meines wunderbaren Geliebten, meines Musengottes.
+Aber ich bin ein armes Ding neben ihm. Arm. Was liegt daran? Schleicht
+Armut in ein Haus, fliegt Liebe durchs Fenster hinaus. Unsere
+Sprichwörter müssen umgeändert werden. Sie sind im Winter erdacht
+worden, und jetzt ist Sommer, für mich freilich Frühling, ein Tanz von
+Blüten unter blauem Himmel.«
+
+»Er ist ein Herr der feinen Gesellschaft«, sagte der Bursche finster.
+
+»Ein Prinz!« rief sie mit melodischer Stimme. »Was willst du mehr?«
+
+»Er wird dich zu seiner Sklavin machen.«
+
+»Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein!«
+
+»Ich rate dir, dich vor ihm zu hüten.«
+
+»Ihn sehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm vertrauen!«
+
+»Sibyl, deine Liebe macht dich verrückt.«
+
+Sie lachte und nahm seinen Arm. »Du lieber, alter Jim, du sprichst, als
+wärest du hundert Jahre alt. Eines schönen Tages wirst du selbst lieben.
+Dann wirst du wissen, was das heißt. Guck mich nicht so brummig an. Du
+solltest dich freuen in dem Bewußtsein, daß du mich, obwohl du gehst,
+glücklicher zurückläßt, als ich je gewesen bin. Das Leben ist bisher
+hart für uns gewesen, furchtbar hart und schwer. Aber jetzt wird's
+anders. Du gehst in eine neue Welt, und ich habe eine neue gefunden. --
+Da sind zwei Stühle frei, wir wollen uns setzen und die eleganten Leute
+Revue passieren lassen.«
+
+Sie setzten sich mitten in eine Menge von Zuschauern. Die Tulpenbeete
+längs des Weges flammten wie beschwörende Feuerglocken. Ein weißer
+Dunst wie eine zitternde Wolke von Veilchenpuder hing in der schwülen
+Luft. Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten auf und ab wie
+Riesenschmetterlinge.
+
+Sie brachte ihren Bruder dazu, daß er von sich, seinen Aussichten und
+seinen Plänen sprach. Er redete zögernd und mühsam. Sie ließen ihre
+Worte langsam aufeinanderfolgen, wie sich Spieler ihre Points ansagen.
+Sibyl fühlte sich niedergedrückt. Sie konnte ihre Freude nicht
+mitteilen. Ein schwaches Lächeln, das seinen vergrämten Mund umspielte,
+war die einzige Antwort, die sie erhielt. Nach einiger Zeit verstummten
+sie beide. Plötzlich erblickte sie den Schimmer goldenen Haares und
+lachende Lippen, und in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei
+Damen vorbei.
+
+Sie sprang auf. »Da ist er!« rief sie.
+
+»Wer?« fragte Jim Vane.
+
+»Der Märchenprinz«, antwortete sie, und spähte dem Wagen nach.
+
+Er sprang auf und faßte rauh ihren Arm. »Zeig' ihn mir. Welcher ist es?
+Zeig' ihn mir, ich muß ihn sehen!« rief er. Aber in diesem Augenblick
+fuhr der Viererzug des Herzogs von Verwick dazwischen, und als die
+Aussicht wieder frei war, hatte der Wagen schon den Park verlassen.
+
+»Er ist fort«, murmelte Sibyl traurig. »Ich wünschte, du hättest ihn
+gesehen.«
+
+»Ich wünschte es auch, denn so wahr ein Gott im Himmel ist, wenn er dir
+je ein Leides antut, bring' ich ihn um!«
+
+Sie sah ihn erschreckt an. Er wiederholte seine Worte. Sie
+durchschnitten die Luft wie ein Dolch. Die Leute ringsherum fingen an,
+auf sie hinzustarren. Eine Dame ganz in der Nähe kicherte.
+
+»Komm fort, Jim; komm fort«, flüsterte sie. Er ging ihr verbissenen
+Mundes nach, als sie die Menge durchschritt. Er war zufrieden, daß er
+das gesagt hatte.
+
+Als sie bei der Achillesstatue war, drehte sie sich nach ihm um. In
+ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren Lippen zu einem Lachen wurde. Sie
+schüttelte den Kopf über ihn. »Du bist verdreht, Jim, völlig verdreht;
+ein ungezogener Bubi, sonst nichts. Wie kannst du so was Häßliches
+sagen? Du weißt gar nicht, was du zusammensprichst. Du bist einfach
+eifersüchtig und unfreundlich. Ach! ich wollte, daß du dich einmal
+verliebst. Liebe macht die Menschen gut, und was du gesagt hast, war
+schlecht.«
+
+»Ich bin erst sechzehn,« antwortete er, »aber ich weiß, was ich zu tun
+habe. Mutter kann dir nicht helfen. Sie versteht es nicht, dich zu
+beschützen. Ich wünschte jetzt, ich ginge überhaupt nicht nach
+Australien. Ich hab' nicht übel Lust, die ganze Sache zu lassen. Ich
+tät's, wenn mein Vertrag nicht schon unterschrieben wäre.«
+
+»Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim. Du bist wie einer von den Helden aus
+den albernen Melodramen, in denen Mutter so gern gespielt hat. Ich will
+mich mit dir nicht streiten. Ich hab' ihn gesehen, und ihn sehen, ist
+vollkommenes Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, daß du einem,
+den ich liebe, nie etwas antun wirst, nicht?«
+
+»Solange du ihn liebst, wohl kaum«, war die finstere Antwort.
+
+»Ich werde ihn immer lieben!« rief sie.
+
+»Und er?«
+
+»Auch immer.«
+
+»Das ist sein Glück!«
+
+Sie schrak vor ihm zurück. Dann lachte sie und legte die Hand auf seinen
+Arm. Er war doch nur ein Junge.
+
+Am Marble Arch bestiegen sie einen Omnibus, der sie in die Nähe ihrer
+armseligen Wohnung in Euston Road brachte. Es war schon fünf Uhr
+vorüber, und Sibyl mußte sich noch, bevor sie auftrat, ein paar
+Stündchen niederlegen. Jim bestand darauf, daß sie es täte. Er sagte, er
+würde lieber von ihr Abschied nehmen, wenn die Mutter nicht dabei wäre.
+Sie würde sicher eine Szene machen, und er verabscheue Szenen aller Art.
+
+Sie nahmen in Sibyls Zimmer Abschied. Im Herzen des jungen Menschen
+brannte Eifersucht und ein grimmer, mörderischer Haß auf den Fremden,
+der, wie er meinte, zwischen sie getreten war. Als sich aber ihre Arme
+um seinen Hals schlangen, und ihre Finger durch sein Haar fuhren, wurde
+er sanfter und küßte sie mit wirklicher Zärtlichkeit. Als er
+hinunterging, standen Tränen in seinen Augen.
+
+Die Mutter wartete unten auf ihn. Als er eintrat, murrte sie über seine
+Unpünktlichkeit. Er gab keine Antwort, sondern setzte sich an sein
+kärgliches Mahl. Die Fliegen summten um den Tisch und krochen über das
+fleckige Tischtuch. Durch das Gerassel der Omnibusse und das Rackern der
+Droschken konnte er die einförmige Stimme hören, die ihn um jede Minute
+beraubte, die ihm noch übrig blieb.
+
+Nach einer Weile schob er seinen Teller zurück und stützte den Kopf in
+die Hände. Er fühlte, daß er ein Recht habe, es zu wissen. Wenn die
+Dinge lagen, wie er vermutete, hätte man es ihm längst sagen sollen.
+Gepeinigt von Furcht, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte tröpfelten
+ihr mechanisch von den Lippen. Ihre Finger zerknüllten ein zerrissenes
+Spitzentaschentuch. Als die Uhr sechs schlug, stand er auf und ging zur
+Tür. Dann wandte er sich um und sah sie an. Ihre Blicke begegneten sich.
+In den ihren las er ein inbrünstiges Bitten um Mitleid. Das machte ihn
+erst recht zornig.
+
+»Mutter, ich muß dich was fragen«, sagte er. Ihre Augen irrten im Zimmer
+umher. Sie gab keine Antwort. »Sag' mir die Wahrheit! Ich hab' ein
+Recht, es zu erfahren! Warst du mit meinem Vater verheiratet?«
+
+Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ein Seufzer der
+Erleichterung. Der schreckliche Augenblick, der Augenblick, vor dem sie
+Tag und Nacht seit Wochen und Monaten gebangt hatte, war endlich
+gekommen, und doch empfand sie keine Furcht. Ja, es war für sie
+gewissermaßen eine Enttäuschung. Die grobe Unumwundenheit der Frage
+heischte eine unumwundene Antwort. Die Situation war nicht langsam
+gesteigert worden. Es war roh. Es erinnerte sie an eine mißlungene
+Deklamation.
+
+»Nein«, antwortete sie, erstaunt über die harte Einfachheit des Lebens.
+
+»Dann war mein Vater ein Schuft!« schrie der Bursche und ballte die
+Faust.
+
+Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß er nicht frei war. Wir haben
+uns sehr lieb gehabt. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er für uns
+gesorgt. Sage nichts gegen ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein
+Gentleman. Er hatte wirklich hohe Verbindungen.«
+
+Ein Fluch kam über seine Lippen. »Es bekümmert mich nicht meinetwegen,«
+rief er, »aber laß Sibyl nicht... Ist es ein Gentleman oder nicht, der
+sie liebt, oder so sagt? Mit hohen Verbindungen, vermute ich.«
+
+Einen Augenblick lang kam ein schreckliches Gefühl der Demütigung über
+die Frau. Ihr Kopf sank herab. Mit zitternden Händen wischte sie sich
+die Augen. »Sibyl hat eine Mutter,« flüsterte sie, »ich hatte keine.«
+
+Der junge Mensch war gerührt. Er ging zu ihr hin, beugte sich über sie
+und küßte sie. »Es tut mir leid, wenn ich dich mit der Frage nach meinem
+Vater verletzt habe,« sagte er, »aber ich konnte nicht anders. Jetzt muß
+ich fort. Lebewohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind zu
+beschützen hast, und glaube mir, wenn dieser Mann meiner Schwester ein
+Leid zufügt, dann bringe ich schon heraus, wer es ist, spüre ihn auf und
+schlage ihn tot wie einen Hund. Das schwöre ich dir!«
+
+Die wahnwitzige Übertreibung seines Schwurs, die leidenschaftlichen
+Handbewegungen, die ihn begleiteten, die tollen, melodramatischen Worte
+machten der alten Frau das Leben wieder interessanter. Diese Atmosphäre
+war ihr vertraut. Sie atmete wie erlöst, und zum erstenmal seit vielen
+Monaten bewunderte sie förmlich ihren Sohn. Sie hätte die Szene gern auf
+derselben Gefühlshöhe fortgesetzt, aber er brach sie kurz ab. Koffer
+mußten heruntergebracht und Decken beschafft werden. Der Hausknecht des
+Mietshauses rannte geschäftig hin und her. Mit dem Kutscher wurde der
+Preis abgehandelt. So wurde der Augenblick durch gemeine Einzelheiten
+verzettelt. Mit einem erneuten Gefühl der Enttäuschung stand sie am
+Fenster und ließ das zerrissene Spitzentaschentuch durch die Luft
+wimpeln, als ihr Sohn wegfuhr. Es war ihr zumute, als sei eine große
+Gelegenheit verpaßt worden. Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte,
+wie öde künftig ihr Leben sein werde, da sie jetzt nur ein einziges Kind
+zu behüten habe. Diesen Satz hatte sie sich gemerkt. Er hatte ihr
+gefallen. Von seinem Schwur sagte sie nichts. Er war lebendig und
+dramatisch deklamiert worden. Sie hatte die Empfindung, daß sie alle
+eines Tages darüber lachen würden.
+
+
+
+
+Sechstes Kapitel
+
+
+»Du hast doch schon die letzte Neuigkeit gehört, Basil?« sagte Lord
+Henry am selben Abend, als Hallward in das kleine Separatzimmer im
+Bristol trat, wo für drei Personen zum Essen gedeckt war.
+
+»Nein, Harry«, antwortete der Künstler, während er Hut und Rock dem
+dienernden Kellner gab. »Was ist es? Nichts über Politik, hoffe ich. Die
+interessiert mich nicht. Im ganzen Unterhause gibts keinen einzigen
+Menschen, den man malen möchte; wenn auch einigen von ihnen zur
+Aufbesserung etwas Firnis nicht schaden könnte.«
+
+»Dorian Gray hat sich verlobt«, sagte Lord Henry und beobachtete ihn,
+während er sprach.
+
+Hallward fuhr zurück und runzelte sofort die Stirn. »Dorian verlobt!«
+rief er. »Unmöglich!«
+
+»Es ist wahrhaftig wahr.«
+
+»Mit wem?«
+
+»Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin.«
+
+»Ich kann's nicht glauben. Dorian ist viel zu verständig.«
+
+»Dorian ist viel zu klug, um nicht von Zeit zu Zeit verrückte Sachen zu
+begehen, lieber Basil.«
+
+»Heiraten ist kaum eine Sache, die man von Zeit zu Zeit tun kann,
+Harry.«
+
+»Außer in Amerika«, erwiderte Lord Henry nachlässig. »Aber ich habe ja
+nicht gesagt, daß er verheiratet sei. Ich sagte, er sei verlobt. Das ist
+ein großer Unterschied. Ich erinnere mich ganz deutlich, verheiratet zu
+sein, aber ich kann mich nicht erinnern, verlobt gewesen zu sein. Ich
+glaube fast, daß ich mich nie verlobt habe.«
+
+»Aber überlege doch Dorians Geburt, seine Stellung, sein Vermögen. Es
+wäre sinnlos, wenn er so tief unter seinem Stande heiraten würde.«
+
+»Wenn du willst, daß er dies Mädchen heiratet, so brauchst du ihm das
+nur zu sagen, Basil. Dann tut er's gewiß. Wenn ein Mann etwas auserlesen
+Dummes tut, tut er's immer aus den edelsten Beweggründen.«
+
+»Ich hoffe, es ist ein gutes Mädchen, Harry. Ich möchte Dorian nicht an
+irgendein gewöhnliches Wesen gefesselt sehen, das ihn herabzieht und
+seinen Geist verdirbt.«
+
+»Oh, sie ist mehr als gut -- sie ist schön«, sagte Lord Henry und nippte
+an einem Glas Wermut mit Pomeranzen. »Dorian sagt, sie ist schön, und in
+Dingen dieser Art irrt er nicht häufig. Sein Bild von ihm hat sein
+Urteil über die äußere Erscheinung anderer Menschen geschärft. Es hat
+unter anderem diesen glänzenden Erfolg gezeigt. Wir sollen sie heute
+abend sehen, wenn der Junge seine Abmachung nicht vergißt.«
+
+»Ist das dein Ernst?«
+
+»Vollständig, Basil. Es würde schlimm für mich sein, wenn ich je im
+Leben ernsthafter sein müßte als jetzt.«
+
+»Aber billigst du es denn, Harry?« fragte der Maler, der im Zimmer auf
+und ab ging und sich auf die Lippen biß. »Du kannst es doch ganz
+unmöglich billigen. Es ist eine törichte Verblendung.«
+
+»Ich billige oder mißbillige nie wieder etwas. Sowas bringt einen in
+eine ganz verrückte Stellungnahme zum Leben. Wir sind nicht in die Welt
+geschickt worden, um unsere moralischen Vorurteile glänzen zu lassen.
+Ich nehme nie Notiz von dem, was gewöhnliche Leute sagen, und ich mische
+mich nie in Dinge, die reizende Leute vorhaben. Wenn mich eine
+Persönlichkeit fesselt, dann ist jede Ausdrucksform, die sich diese
+Persönlichkeit aussucht, für mich erfreulich. Dorian Gray verliebt sich
+in ein schönes Mädchen, das die Julia spielt, und will sie heiraten.
+Warum nicht? Wenn er Messalina heiraten wollte, würde er nicht weniger
+interessant sein. Du weißt, ich bin kein Eheapostel. Der eigentliche
+Nachteil der Ehe ist, daß man selbstlos wird. Und selbstlose Menschen
+sind farblos. Sie werden unpersönlich. Jedoch gibt es gewisse
+Temperamente, die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten ihren
+Egoismus und erweitern ihn durch eine Reihe anderer Ichs. Sie sehen sich
+gezwungen, mehr als ein einzelnes Leben zu führen. Sie werden feiner
+organisiert, und feiner organisiert zu werden, scheint mir der Zweck des
+menschlichen Lebens. Überdies hat jede Erfahrung ihren Wert, und was man
+auch gegen die Ehe sagen kann, eine Erfahrung ist sie sicher. Ich hoffe,
+Dorian Gray wird dies Mädchen heiraten, wird sie sechs Monate hindurch
+leidenschaftlich anbeten, und dann wird ihn plötzlich eine andere
+anziehen. Es wäre prachtvoll, das zu beobachten.«
+
+»Du glaubst kein einziges Wort von alledem, Harry; und das weißt du
+auch. Wenn Dorian Grays Leben zerstört würde, wäre kein Mensch trauriger
+als du. Du bist viel besser, als du vorgibst.«
+
+Lord Henry lachte. »Der Grund, weshalb wir alle so gut von anderen
+denken, ist der, daß wir alle Angst vor uns selber haben. Die Grundlage
+des Optimismus ist nichts als Furcht. Wir halten uns für großherzig,
+weil wir unserem Nachbar Tugenden zuschreiben, aus denen für uns ein
+Nutzen erwachsen könnte. Wir rühmen den Bankier, damit wir unser Konto
+überschreiten können, und finden im Buschklepper gute Eigenschaften in
+der Hoffnung, daß er unseren Geldbeutel verschonen wird. Ich glaube
+jedes Wort, das ich gesprochen habe. Ich habe die größte Verachtung für
+den Optimismus. Was das zerstörte Leben betrifft, so ist kein Leben
+zerstört, dessen Wachstum nicht gehemmt wird. Wenn man eine
+Persönlichkeit verderben will, braucht man sie nur zu verbessern. Die
+Ehe allerdings ist eine Narretei, aber es gibt andere und interessantere
+Bande zwischen Mann und Frau. Natürlich würde ich dazu eher raten. Sie
+haben den Reiz, fashionabel zu sein. Aber da ist Dorian selbst. Er wird
+dir mehr sagen, als ich es kann.«
+
+»Lieber Harry, lieber Basil, ihr müßt mir beide Glück wünschen«, sagte
+der Jüngling, während er den Abendmantel mit den atlasgefütterten
+Flügeln abwarf und den Freunden die Hand schüttelte. »Ich war niemals so
+selig. Natürlich ist alles plötzlich gekommen; alles Entzückende kommt
+plötzlich. Und doch scheint es das einzige gewesen zu sein, wonach ich
+mein Leben lang auf der Suche war.« Er glühte vor Aufregung und Freude
+und sah außerordentlich hübsch aus.
+
+»Ich hoffe, du wirst immer sehr glücklich sein, Dorian,« sagte Hallward,
+»aber ich kann es dir nicht ganz verzeihen, daß du mir deine Verlobung
+nicht mitgeteilt hast. Harry hast du es mitgeteilt.«
+
+»Und ich kann es dir nicht verzeihen, daß du zu spät kommst«, fiel Lord
+Henry lächelnd ein und legte seine Hand auf die Schulter des jungen
+Mannes. »Komm, wir wollen uns setzen und versuchen, was der neue Chef
+hier kann, und dann erzählst du uns, wie alles gekommen ist.«
+
+»Da ist wirklich nicht viel zu erzählen!« rief Dorian, als sie sich um
+den kleinen Tisch gesetzt hatten. »Was geschah, war einfach so. Als ich
+dich gestern abend verließ, Harry, zog ich mich an, aß in dem kleinen
+italienischen Restaurant in Rupert Street, das ich durch dich
+kennengelernt habe, und ging um acht Uhr ins Theater. Sibyl spielte die
+Rosalinde. Natürlich war die Dekoration greulich und der Orlando zum
+Lachen. Aber Sibyl! Ihr hättet sie sehen sollen. Als sie in ihren
+Knabenkleidern auftrat, war sie einfach wunderbar. Sie trug ein
+moosgrünes Samtwams mit zimtbraunen Ärmeln, eine kurze, braune, überm
+Knie kreuzweise geschnürte Hose, ein reizendes grünes Barett mit einer
+Falkenfeder, die von einem funkelnden Stein gehalten wurde, und war in
+einen dunkelrot gefütterten Kapuzenmantel gehüllt. Sie war mir nie
+schöner vorgekommen. Sie hatte all die zarte Grazie der Tanagrafigur,
+die du in deinem Atelier hast, Basil. Das Haar schlang sich um ihr
+Gesicht wie dunkles Laub um eine blasse Rose. Und ihr Spiel -- nun, ihr
+werdet sie heute abend sehen. Sie ist eben eine geborene Künstlerin. Ich
+saß ganz verzaubert in der schmierigen Loge. Ich vergaß, daß ich in
+London war und im neunzehnten Jahrhundert lebte. Ich war mit meiner
+Geliebten weit fort in einem Wald, den noch kein Menschenauge gesehen
+hatte. Nach der Vorstellung ging ich hinter die Bühne und sprach mit
+ihr. Als wir nebeneinander saßen, trat plötzlich ein Ausdruck in ihre
+Augen, den ich nie vorher gesehen hatte. Meine Lippen fühlten sich zu
+ihr hingezogen. Wir küßten uns beide. Ich kann euch nicht beschreiben,
+was ich in dem Augenblick gefühlt habe. Mir schien, daß all mein Leben
+in einen vollkommenen Moment rosenfarbiger Wonne zusammengepreßt wäre.
+Sie zitterte am ganzen Leibe und bebte wie eine weiße Narzisse. Dann
+warf sie sich auf die Knie und küßte meine Hände. Ich weiß, ich sollte
+euch das alles nicht erzählen, aber ich kann mir nicht helfen. Natürlich
+ist unsere Verlobung tiefstes Geheimnis. Sie hat nicht einmal zu ihrer
+Mutter davon gesprochen. Ich weiß nicht, was meine Vormünder dazu sagen
+werden. Lord Radley wird sicher wütend sein. Ist mir ganz gleich. In
+weniger als einem Jahre bin ich volljährig und kann dann machen, was ich
+will. Hatte ich nicht recht, Basil, meine Geliebte aus dem Reich der
+Dichtung wegzuholen und meine Frau in Shakespeares Stücken zu finden?
+Lippen, die Shakespeare reden gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis ins
+Ohr geflüstert. Rosalindens Arme lagen um meinen Hals, und ich habe
+Julia auf den Mund geküßt.«
+
+»Ja, Dorian, ich glaube, du tatest recht«, sagte Hallward langsam.
+
+»Hast du sie heute schon gesehen?« fragte Lord Henry.
+
+Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Ich verließ sie im Ardennenwald und
+werde sie in einem Garten von Verona wiederfinden.«
+
+Lord Henry schlürfte nachdenklich seinen Champagner. »In welchem
+Augenblick hast du von Heirat gesprochen, Dorian? Und was erwiderte sie
+darauf? Vielleicht hast du das schon ganz vergessen.«
+
+»Lieber Harry, ich habe es nicht als Geschäft behandelt und habe ihr
+keinen förmlichen Antrag gemacht. Ich sagte ihr, daß ich sie liebe, und
+sie sagte, sie verdiene nicht, mein Weib zu sein. Nicht verdienen! Was
+ist denn die ganze Welt für mich, wenn ich sie mit ihr vergleiche!«
+
+»Die Frauen sind wunderbar praktisch,« murmelte Lord Henry -- »viel
+praktischer als wir. In Situationen dieser Art vergessen wir oft, etwas
+von Heirat zu erwähnen, und sie erinnern uns immer daran.«
+
+Hallward legte die Hand auf seinen Arm. »Nicht doch, Harry. Du kränkst
+Dorian. Er ist nicht wie andere Männer. Er würde nie jemand unglücklich
+machen. Seine Natur ist dafür zu edel.«
+
+Lord Henry blickte über den Tisch. »Dorian fühlt sich nie gekränkt durch
+mich«, antwortete er. »Ich habe aus dem besten Grund gefragt, den es
+geben kann, aus dem einzigen Grund, der eine Entschuldigung für eine
+Frage ist -- einfach aus Neugier. Ich habe eine Theorie, wonach es immer
+Frauen sind, die uns einen Antrag machen, und nicht wir den Frauen.
+Natürlich ausgenommen die Mittelklassen. Aber die Mittelklassen sind
+eben nicht modern.«
+
+Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. »Du bist ganz
+unverbesserlich, Harry; aber ich bin nicht böse. Man kann dir ja gar
+nicht böse sein. Wenn du Sibyl Vane siehst, wirst du fühlen, daß der
+Mann, der ihr ein Leid antun kann, ein Tier sein muß, ein herzloses
+Tier. Ich kann nicht begreifen, wie man es über sich gewinnen kann, ein
+Wesen, das man liebt, in Schande zu bringen. Ich liebe Sibyl Vane. Ich
+möchte sie auf einen goldenen Sockel stellen und dann sehen, wie die
+ganze Welt das Weib anbetet, das mir gehört. Was ist Ehe? Ein
+unwiderrufliches Gelübde. Du spottest deshalb darüber. Ach, spotte
+nicht! Ein unwiderrufliches Gelübde will ich ablegen. Ihr Vertrauen
+macht mich treu, ihr Glaube macht mich gut. Wenn ich bei ihr bin,
+verleugne ich alles, was du mich gelehrt hast. Ich werde ein ganz
+anderer Mensch als der, den du in mir siehst. Ich bin verwandelt, und
+die bloße Berührung von Sibyl Vanes Hand läßt mich alle deine falschen,
+bezaubernden, vergifteten, entzückenden Theorien vergessen.«
+
+»Und die wären?« fragte Lord Henry, während er Salat nahm.
+
+»Oh, deine Theorien über das Leben, deine Theorien über die Liebe, deine
+Theorien über den Genuß. Tatsächlich alle deine Theorien, Harry.«
+
+»Genuß ist das einzige auf der Welt, das eine Theorie verdient«,
+antwortete er mit seiner sanften, musikalischen Stimme. »Aber ich
+fürchte, es ist nicht meine eigene Theorie. Sie gehört der Natur, nicht
+mir. Genuß ist das Siegel der Natur, das Zeichen ihrer Zustimmung. Wenn
+wir glücklich sind, dann sind wir immer gut, aber wenn wir gut sind,
+sind wir nicht immer glücklich.«
+
+»Ah, doch, was verstehst du unter gut?« rief Basil Hallward.
+
+»Ja,« wiederholte Dorian, indem er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und
+über den massigen Strauß rotblutiger Schwertlilien in der Mitte des
+Tisches zu Lord Henry blickte, »was verstehst du unter gut, Harry?«
+
+»Gut sein, heißt mit sich selbst im Einklang sein«, antwortete er, den
+dünnen Stengel seines Glases mit blassen, feingespitzten Fingern
+umfassend. »Mißklang heißt es, mit anderen übereinstimmen müssen. Das
+eigene Leben -- das ist es, worauf es ankommt. Was das Leben unserer
+Nachbarn betrifft, nun, wenn man durchaus ein Affe oder ein Puritaner
+sein will, dann mag man ihnen ja seine moralischen Ansichten ins Gesicht
+schleudern, aber sie gehen einen schließlich gar nichts an. Abgesehen
+davon, hat der Individualismus in der Tat die höheren Ziele. Die moderne
+Sittlichkeit besteht darin, daß man den Maßstab seiner Zeit anerkennt.
+Ich habe die Meinung, daß jeder kultivierte Mensch, der den Maßstab
+seiner Zeit anerkennt, damit eines der gröbsten Sittlichkeitsverbrechen
+begeht.«
+
+»Wenn man aber nur für sich selbst lebt, Harry, muß man da nicht einen
+furchtbaren Preis dafür zahlen?« fragte der Maler.
+
+»Ja, heutzutage werden wir in allem überteuert. Ich glaube, die
+wirkliche Tragödie der Armut ist die, daß sich die Armen nichts leisten
+können als Selbstverleugnung. Schöne Sünden sind wie alle schönen Dinge
+ein Vorrecht der begüterten Klassen.«
+
+»Man muß in anderer Münze zahlen als mit Geld.«
+
+»In welcher Münze, Basil?«
+
+»Ich meine mit Gewissensbissen, mit Schmerzen, mit... na eben mit dem
+Gefühl der Erniedrigung.«
+
+Lord Henry zuckte die Achseln. »Mein lieber Junge, die mittelalterliche
+Kunst ist etwas Entzückendes, aber mittelalterliche Gefühle sind nicht
+mehr Mode. Man kann sie freilich in der Dichtung gebrauchen. Aber die
+einzigen Dinge, die in Dichtungen zu verwerten sind, sind solche, um die
+man sich in der Wirklichkeit nicht mehr kümmert. Glaube mir, kein
+zivilisierter Mensch bereut einen durchlebten Genuß, und kein
+unzivilisierter Mensch weiß, was ein Genuß ist.«
+
+»Ich weiß, was ein Genuß ist!« rief Dorian Gray. »Jemand anbeten.«
+
+»Das ist jedenfalls besser, als angebetet zu werden«, antwortete Harry,
+während er mit einigen Früchten spielte. »Angebetet zu werden, ist
+peinlich. Die Weiber behandeln uns genau so wie die Menschheit ihre
+Götter. Sie beten uns an und quälen uns unaufhörlich, irgendwas für sie
+zu tun.«
+
+»Ich würde sagen, alles, was sie von uns verlangen, haben sie uns zuerst
+geschenkt«, sagte der Jüngling ernst und leise. »Sie erzeugen die Liebe
+in uns. Sie haben ein Recht, sie dann zurückzuverlangen.«
+
+»Das ist ganz richtig, Dorian«, rief Hallward.
+
+»Ganz richtig ist niemals etwas«, sagte Lord Henry.
+
+»Das ist es«, unterbrach Dorian. »Du mußt zugeben, Harry, daß nur die
+Frauen den Männern das reinste Gold des Lebens schenken.«
+
+»Vielleicht,« seufzte er, »aber unweigerlich verlangen sie es dann in
+Kleingeld umgewechselt zurück. Das ist der Jammer dabei. >Die Frauen,<
+hat einmal ein witziger Franzose gesagt, >regen uns an, Meisterwerke zu
+schaffen, und verhindern uns immer, sie auszuführen.<«
+
+»Harry, du bist schrecklich! Ich weiß gar nicht, warum ich dich so gern
+habe.«
+
+»Du wirst mich immer gern haben, Dorian«, antwortete er. »Wollen wir
+Kaffee trinken, Kinder? -- Kellner, bringen Sie Kaffee, fine Champagne
+und Zigaretten. Nein, lassen Sie die Zigaretten, ich habe selbst bei
+mir. Basil, ich kann dir nicht erlauben, Zigarren zu rauchen. Du mußt
+eine Zigarette nehmen. Eine Zigarette ist der vollendete Ausdruck eines
+vollendeten Genusses. Er ist köstlich und läßt dabei unbefriedigt. Was
+will man mehr verlangen? Ja, Dorian, du wirst mich immer lieb haben. Ich
+bin für dich der Inbegriff aller Sünden, die du zu begehen nie den Mut
+haben wirst.«
+
+»Was für Unsinn du redest, Harry!« rief der junge Mann, während er seine
+Zigarette an dem feuerspeienden Silberdrachen anzündete, den der Kellner
+auf den Tisch gestellt hatte. »Wir wollen jetzt ins Theater. Wenn Sibyl
+auftritt, werdet ihr ein neues Lebensideal bekommen. Sie wird euch etwas
+offenbaren, das ihr noch nicht gekannt habt.«
+
+»Ich habe alles kennengelernt,« sagte Lord Henry mit einem müden
+Ausdruck in den Augen, »aber ich bin immer bereit, mir eine neue Emotion
+zu verschaffen. Nur fürchte ich, daß es für mich derlei kaum noch gibt.
+Immerhin, dein wunderbares Mädchen wird mich vielleicht erschüttern. Ich
+liebe die Schauspielkunst. Sie ist soviel wirklicher als das Leben. Wir
+wollen gehen. Dorian, du kannst bei mir einsteigen. Basil, es tut mir
+leid, aber in meinem Brougham ist nur Platz für zwei. Du mußt schon in
+einer Droschke nachfahren.«
+
+Sie standen auf, zogen ihre Röcke an und tranken den Kaffee im Stehen.
+Der Maler war schweigsam und bedrückt. Ein düsteres Gefühl lastete auf
+ihm. Er konnte diese Ehe nicht gutheißen, und sie schien ihm doch besser
+zu sein als manches andere, das hätte geschehen können. Nach einigen
+Minuten gingen sie gemeinsam die Treppe hinunter. Er fuhr, wie
+verabredet, allein, und sah auf die blitzenden Lichter des kleinen
+Wagens, der vor ihm dahinrollte. Das seltsame Gefühl eines großen
+Verlustes überkam ihn. Er fühlte, daß Dorian Gray nie wieder das für ihn
+sein würde, was er ihm früher gewesen war. Das Leben war zwischen sie
+getreten... Vor seinen Augen ward es dunkel, und die menschenvollen,
+erleuchteten Straßen verschwammen vor seinem Blick. Als seine Droschke
+am Theater vorfuhr, schien es ihm, als sei er um viele Jahre älter
+geworden.
+
+
+
+
+Siebentes Kapitel
+
+
+Aus irgendeinem Grunde war das Haus an diesem Abend besonders dicht
+gefüllt, und der fette jüdische Direktor, der sie an der Tür empfing,
+strahlte von einem Ohr zum anderen in einem öligen, zuckenden Lächeln.
+Er begleitete sie zu ihrer Loge mit einer gewissen prahlerischen Demut,
+die feisten, juwelenbedeckten Hände hastig bewegend und sich mit der
+Stimme beinahe überschlagend. Dorian verabscheute ihn mehr als je. Er
+hatte das Gefühl, als sei er gekommen, um Miranda zu besuchen und
+Caliban habe ihn empfangen. Dagegen hatte Lord Henry etwas für ihn
+übrig. Wenigstens erklärte er, daß er ihm gefiele, bestand darauf, ihm
+die Hand zu schütteln und versicherte ihm, er sei stolz darauf, einen
+Mann kennenzulernen, der ein bedeutendes Genie entdeckt habe und an
+einem Dichter bankerott geworden sei. Hallward unterhielt sich damit,
+die Gestalten im Stehparterre zu beobachten. Die Hitze war äußerst
+drückend, und der riesige Sonnenkronleuchter flammte wie eine
+gigantische Dahlie mit Blättern von gelbem Feuer. Die jungen Leute auf
+der Galerie hatten Röcke und Westen ausgezogen und sie über die Brüstung
+gehängt. Sie riefen einander quer über das ganze Theater zu und
+fütterten die grell gekleideten Mädchen neben ihnen mit Orangen. Ein
+paar Weiber unten im Stehparterre lachten. Ihre Stimmen waren
+schrecklich schrill und unangenehm. Vom Büfett her hörte man Flaschen
+entkorken.
+
+»Was für ein sonderbarer Platz, um seine Göttin zu finden!« sagte Lord
+Henry.
+
+»Ja«, erwiderte Dorian Gray. »Hier habe ich sie gefunden, und sie ist
+göttlicher als alles Lebendige. Wenn sie spielt, wirst du alles
+vergessen. Diese gewöhnlichen rohen Leute mit ihren alltäglichen
+Gesichtern und brutalen Bewegungen werden ganz verwandelt, sobald sie
+auf der Bühne steht. Sie sitzen stumm da und beobachten sie. Sie weinen
+und lachen, wenn sie es will. Sie hält sie in Stimmung, wie man es mit
+einer Geige tut. Sie veredelt sie, und man spürt, daß sie vom selben
+Fleisch und Blut sind wie man selbst.«
+
+»Vom selben Fleisch und Blut wie man selbst? Oh, ich hoffe nicht!« rief
+Lord Henry, der die Leute auf der Galerie mit seinem Opernglas musterte.
+
+»Höre nicht auf ihn, Dorian!« sagte der Maler. »Ich begreife, was du
+meinst, und ich glaube an dies Mädchen. Der Mensch, den du liebst, muß
+wunderbar sein, und jedes Mädchen, das die von dir geschilderte Wirkung
+erzielt, muß fein und edel sein. Seine Mitmenschen veredeln -- das
+verlohnt der Mühe. Wenn dies Mädchen die beseelen kann, die seelenlos
+gelebt haben, wenn sie in Menschen, deren Dasein schmutzig und häßlich
+war, einen Sinn für Schönheit wecken kann, wenn sie sie aus ihrem
+Eigennutze losreißen und ihnen Tränen um Sorgen entlocken kann, die
+nicht ihre eigenen sind, dann ist sie deiner Verehrung wert, dann ist
+sie der Verehrung der ganzen Welt wert. Solche Heirat ist ganz das
+Rechte. Ich dachte zuerst nicht so, aber jetzt gebe ich es zu. Die
+Götter haben Sibyl Vane für dich geschaffen. Ohne sie wärst du nur
+unvollständig gewesen.«
+
+»Danke, Basil«, antwortete Dorian Gray und drückte ihm die Hand. »Ich
+wußte, daß du mich verstehst. Harry ist ein Zyniker, er erschreckt mich.
+Aber da kommt das Orchester. Es ist furchtbar, aber es dauert nur knappe
+fünf Minuten. Dann geht der Vorhang auf und du erblickst ein Mädchen,
+dem ich mein ganzes Leben schenken will, dem ich alles überantwortet
+habe, was gut ist in mir.«
+
+Eine Viertelstunde später betrat Sibyl Vane unter einem geräuschvollen
+Beifallssturm die Bühne. Ja, sie war wirklich entzückend -- eins der
+entzückendsten Geschöpfe, dachte Lord Henry, die er je gesehen hatte. Es
+lag etwas von einem Reh in ihrer scheuen Grazie und ihren erstaunten
+Augen. Ein schwaches Erröten wie der Widerschein einer Rose in einem
+silbernen Spiegel trat auf ihre Wangen, als sie das überfüllte und
+begeisterte Haus erblickte. Sie trat ein paar Schritte zurück, und ihre
+Lippen schienen zu zittern. Basil Hallward sprang auf und begann zu
+klatschen. Bewegungslos, und wie in tiefem Traume, saß Dorian Gray da
+und sah sie an. Lord Henry starrte unverwandt durch sein Glas und
+murmelte: »Entzückend! Entzückend!«
+
+Die Szene stellte die Halle in Capulets Hause dar, und Romeo war in
+seinem Pilgerkleid mit Mercutio und seinen anderen Freunden aufgetreten.
+Die Musik präludierte, so gut sie konnte, mit ein paar Akkorden, und der
+Tanz fing an. Mitten in dem Gewimmel von ungeschickten, schäbig
+gekleideten Schauspielern bewegte sich Sibyl Vane wie ein Geschöpf aus
+einer höheren Welt. Ihr Körper schwebte im Tanze wie eine Blume auf dem
+Wasser. Die Linien ihres Halses glichen denen einer weißen Lilie. Ihre
+Hände schienen aus kühlem Elfenbein zu sein.
+
+Und doch schien sie von seltsamer Abwesenheit. Sie zeigte kein Zeichen
+der Freude, während ihr Auge auf Romeo ruhte. Die wenigen Worte, die sie
+zu sprechen hatte --
+
+ Nein, Pilger, lege nichts der Hand zuschulden
+ Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß;
+ Der Heiligen Rechte darf Berührung dulden,
+ Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuß --
+
+mit dem kurzen Dialog, der folgt, sprach sie in einem ganz gekünstelten
+Tone. Die Stimme klang wundervoll, aber der Ton ganz verfehlt. Er traf
+die Stimmungsfarbe nicht. Er nahm den Versen alles Leben. Er machte die
+Leidenschaft unwahr.
+
+Dorian Gray erbleichte, als er es hörte. Er war verlegen und erschreckt.
+Seine beiden Freunde wagten nicht, ihm etwas zu sagen. Sie schien ja
+ganz talentlos zu sein. Sie waren furchtbar enttäuscht.
+
+Aber sie wußten, daß der wahre Prüfstein für jede Julia die Balkonszene
+im zweiten Akt sei. Darauf warteten sie. Wenn sie hier versagte, war
+nichts an ihr.
+
+Sie sah reizend aus, als sie im Mondschein auftrat. Das konnte niemand
+leugnen. Aber das Theatralische ihres Spiels war unerträglich und wurde
+im Verlauf immer ärger. Ihre Gesten waren lächerlich gekünstelt. Sie
+übertrieb das Pathos von allem, was sie zu sagen hatte. Die wundervollen
+Verse --
+
+ Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht,
+ Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen
+ Um das, was du vorhin mich sagen hörtest --
+
+deklamierte sie mit der peinlichen Genauigkeit eines Schulmädchens, das
+einen mittelmäßigen Vortragslehrer in der Schule gehabt hat. Als sie
+sich über den Balkon lehnte und zu den herrlichen Versen kam --
+
+ Obwohl ich dein mich freue,
+ Freu' ich mich nicht des Bundes dieser Nacht:
+ Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich,
+ Gleicht allzusehr dem Blitz, der schon vorbei,
+ Noch eh' man sagen kann: es blitzt. -- Schlaf süß!
+ Mag warmer Sommerhauch die Liebesknospe
+ Zur Blume bis zum Wiedersehn entfalten --
+
+sprach sie die Worte, als enthielten sie keinerlei Sinn für sie. Es war
+nicht Aufregung. Nein, weit entfernt davon, erregt zu sein, schien sie
+ganz mit sich zufrieden. Es war einfach schlechte Kunst. Es war ein
+richtiger Abfall.
+
+Selbst das gewöhnliche, ungebildete Publikum auf Stehplatz und Galerie
+verlor sein Interesse am Stück. Man wurde unruhig und begann laut zu
+sprechen und zu zischen. Der jüdische Direktor, der im Hintergrunde des
+ersten Ranges stand, stampfte mit den Füßen und fluchte vor Wut. Einzig
+und allein unbewegt war das Mädchen selbst.
+
+Als der zweite Akt vorüber war, brach ein Sturm von Zischen los, und
+Lord Henry stand von seinem Stuhl auf und zog seinen Rock an. »Sie ist
+wunderschön, Dorian,« sagte er, »aber sie kann nicht spielen. Wir wollen
+gehen.«
+
+»Ich will das Stück zu Ende sehen«, antwortete der junge Mann mit
+harter, bitterer Stimme. »Es tut mir äußerst leid, daß ich dich
+veranlaßt habe, einen Abend zu vergeuden, Harry. Ich muß mich bei euch
+beiden entschuldigen.«
+
+»Mein lieber Dorian, ich glaube, Miß Vane war krank«, unterbrach ihn
+Hallward. »Wir wollen an einem anderen Abend wiederkommen.«
+
+»Ich wünschte, sie wäre krank«, erwiderte er. »Aber ich glaube, sie hat
+nur kein Gefühl und ist kalt. Sie ist völlig verändert. Gestern abend
+war sie eine große Künstlerin. Heute abend ist sie nur eine gewöhnliche,
+mittelmäßige Schauspielerin.«
+
+»Sprich nicht so über jemand, den du liebst, Dorian. Liebe ist etwas
+viel Wunderbareres als Kunst.«
+
+»Es sind beides nur Formen der Nachahmung«, bemerkte Lord Henry. »Aber
+wir wollen gehen. Dorian, du darfst nicht länger hier bleiben. Es
+schadet der Moral, schlechte Schauspielkunst zu sehen. Ich glaube
+übrigens nicht, daß du deine Frau auftreten lassen wirst. Was liegt also
+daran, ob sie die Julia wie eine Holzpuppe spielt! Sie ist wirklich
+bezaubernd, und wenn sie so wenig vom Leben weiß wie vom Theaterspielen,
+wird sie dir eine köstliche Erfahrung sein. Es gibt nur zwei Arten
+fesselnder Menschen -- solche, die alles wissen, und solche, die gar
+nichts wissen. Großer Gott, mein lieber Junge, mach' kein so tragisches
+Gesicht! Das Rezept, jung zu bleiben, besteht einfach darin, nie eine
+Erregung haben, die unzuträglich ist. Komm mit Basil und mir in den
+Klub! Wir wollen Zigaretten rauchen und auf Sibyl Vanes Schönheit
+trinken. Sie ist schön. Was willst du noch mehr?«
+
+»Geh, Harry!« rief der Jüngling. »Ich will allein sein. Basil, geh! Ach,
+könnt ihr nicht sehen, daß mir das Herz bricht?« Heiße Tränen traten ihm
+in die Augen. Seine Lippen bebten, er drückte sich in die dunkelste Ecke
+der Loge, lehnte sich an die Wand und verbarg sein Gesicht in den
+Händen.
+
+»Komm, Basil«, sagte Lord Henry mit seltsam zärtlicher Stimme; und die
+beiden jungen Männer gingen zusammen hinaus.
+
+Ein paar Augenblicke später flammte die Rampe wieder auf, und der
+Vorhang rauschte zum dritten Akt in die Höhe. Dorian Gray ging auf
+seinen Platz zurück. Er sah bleich, abwesend, gleichgültig aus. Das
+Spiel schleppte sich weiter und schien endlos zu sein. Die Hälfte des
+Publikums ging weg, auf schweren Stiefeln trampelnd und lachend. Das
+Ganze war ein richtiges Fiasko. Der letzte Akt wurde beinah vor leeren
+Bänken gespielt. Der Vorhang fiel unter Zischen und höhnischem Gegrunze.
+
+Sobald es aus war, stürzte Dorian Gray hinter die Kulissen in die
+Garderobe. Das Mädchen stand allein da, mit einem triumphierenden Zuge
+im Antlitz. Die Augen leuchteten in einem merkwürdigen Feuer. Eine Art
+Glanz umschwebte sie. Ihre halbgeöffneten Lippen lächelten wie ein
+Geheimnis, das ihnen allein bewußt war.
+
+Als er eintrat, blickte sie ihn an und ein Ausdruck unsäglichen Glückes
+kam über sie. »Wie schlecht ich heute gespielt habe, Dorian!« rief sie.
+
+»Schrecklich«, antwortete er und sah sie voll Staunen an --
+»schrecklich. Es war geradezu fürchterlich. Bist du krank? Du hast keine
+Ahnung, wie es war. Keine Ahnung, was ich durchgemacht habe.«
+
+Das Mädchen lächelte. »Dorian«, antwortete sie und zog seinen Namen mit
+einem musikalischen Klang in die Länge, als wäre er den roten Blüten
+ihres Mundes süßer als Honig -- »Dorian, du hättest begreifen sollen.
+Aber jetzt begreifst du, nicht wahr?«
+
+»Was?« fragte er heftig.
+
+»Warum ich heute abend so schlecht spielte. Warum ich immer schlecht
+spielen werde. Warum ich nie mehr gut spielen werde.«
+
+Er zuckte die Achseln. »Du bist gewiß krank. Wenn du krank bist,
+solltest du nicht spielen. Du machst dich nur lächerlich. Meine Freunde
+haben sich gelangweilt. Ich ebenfalls.«
+
+Sie schien nicht zu hören, was er sagte. Sie war wie verklärt vor
+Vergnügen. Eine Ekstase des Glücks beherrschte sie.
+
+»Dorian, Dorian,« rief sie, »bevor ich dich kannte, war Spielen die
+einzige Wirklichkeit in meinem Leben. Nur im Theater lebte ich. Ich
+hielt das alles für wahr. An einem Abend war ich Rosalinde und Portia am
+andern. Beatrices Glück war mein Glück, und Kordelias Tränen waren die
+meinen. Ich glaubte an alles. Dies gewöhnliche Volk, das mit mir
+spielte, schien mir göttlich. Die bemalten Kulissen bedeuteten für mich
+die Welt. Ich kannte nichts als Schatten, und ich nahm sie für
+Wirklichkeit. Da kamst du -- o mein schöner Geliebter -- und befreitest
+meine Seele aus der Kerkerhaft. Du hast mich gelehrt, was die wahre
+Wirklichkeit ist. Heute habe ich zum erstenmal die ganze Hohlheit
+durchschaut, den Betrug, die Albernheit des falschen, verlogenen
+Flittertandes, zwischen dem ich bisher gespielt habe. Heute abend wußte
+ich zum ersten Male, daß dieser Romeo abscheulich und alt und geschminkt
+ist, daß der Mond im Garten Blendwerk, die ganze Szenerie ordinär ist
+und daß die Worte, die ich zu sprechen hatte, nicht wahr, nicht meine
+Worte sind, nicht, was ich hätte sagen müssen. Du hast mir etwas Höheres
+geschenkt, etwas, von dem alle Kunst nur Abglanz ist. Du hast mich
+begreifen gelehrt, was Liebe ist. Mein Geliebter! Mein Geliebter! Prinz
+Märchenschön! Prinz meines Lebens! Ich kann die Schatten nicht mehr
+ertragen. Du bist mir mehr, als mir alle Kunst je sein kann. Was hab'
+ich mit den Puppen eines Spiels zu schaffen? Als ich heute abend
+auftrat, konnte ich nicht begreifen, wie es gekommen war, daß alles
+verschwunden sein sollte. Ich hatte gedacht, ich würde wundervoll sein.
+Ich merkte, daß ich durchaus versagte. Plötzlich dämmerte es meiner
+Seele, was das alles bedeutete. Es war ein herrliches Wissen. Ich hörte
+sie zischen und lächelte. Was konnten die wissen von einer Liebe wie die
+unsere? Nimm mich fort, Dorian -- nimm mich mit dir irgendwohin, wo wir
+allein sein können. Ich hasse das Theater. Ich konnte vielleicht ein
+Gefühl darstellen, das ich nicht spüre, aber ich kann doch nicht eins
+spielen, das mich verbrennt wie Feuer. Ach, Dorian, Dorian, begreifst du
+jetzt, was das bedeutet? Selbst wenn ich es zustande brächte, wär' es
+Entweihung, zu spielen, während ich liebe. Du hast mich sehend gemacht.«
+
+Er warf sich auf das Sofa und wandte sein Gesicht ab. »Du hast meine
+Liebe getötet«, murmelte er.
+
+Sie sah ihn staunend an und lachte. Er gab keine Antwort. Sie kam hin zu
+ihm und strich mit ihren kleinen Fingern durch sein Haar. Sie kniete
+nieder und preßte seine Hände an ihre Lippen. Er schob sie weg, und ein
+Schauder überlief ihn.
+
+Dann sprang er auf und schritt zur Tür. »Ja,« rief er, »du hast meine
+Liebe getötet. Bisher hast du meine Phantasie gefesselt. Jetzt fesselst
+du nicht einmal meine Neugier. Du wirkst einfach nicht. Ich liebte dich,
+weil du ein Wunder warst, weil du Genie und Geist hattest, weil du die
+Träume großer Dichter verkörpertest und den Schatten der Kunst Gestalt
+und Körper verliehest. All das hast du weggeworfen. Jetzt bist du leer
+und seicht. Mein Gott. Was für ein Narr war ich, dich zu lieben! Wie
+verblendet war ich! Jetzt bist du mir nichts mehr. Ich will dich niemals
+wiedersehen. Nie mehr an dich denken. Nie mehr deinen Namen aussprechen.
+Du weißt nicht, was du mir einmal warst. Ja, einmal, einmal... Oh, ich
+ertrage es nicht, daran zu denken. Ich wünschte, ich hätte dich niemals
+gesehen. Du hast die Poesie meines Lebens vernichtet. Wie wenig mußt du
+von Liebe wissen, wenn du sagst, sie lähme deine Kunst! Ohne deine Kunst
+bist du nichts. Ich hätte dich berühmt gemacht, zu einem Sterne, zu
+etwas Herrlichem. Die Welt hätte dich angebetet, und du hättest meinen
+Namen getragen. Was bist du jetzt? Eine Schauspielerin dritten Ranges
+mit einem hübschen Gesichtchen.«
+
+Das Mädchen war totenblaß geworden und zitterte. Sie preßte die Hände
+zusammen, und die Sprache schien ihr in der Kehle erstickt zu sein. »Du
+meinst es doch nicht im Ernst, Dorian?« flüsterte sie. »Du verstellst
+dich nur.«
+
+»Verstellen? Das überlaß ich dir. Du verstehst es ja so gut«, entgegnete
+er bitter.
+
+Sie erhob sich von den Knien und ging mit einem wehen, qualvollen
+Antlitz zu ihm hin. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und sah ihm in
+die Augen. Er stieß sie zurück. »Berühre mich nicht!« schrie er.
+
+Ein leises Stöhnen brach aus ihr hervor, und sie warf sich ihm zu Füßen
+und lag da wie eine zertretene Blume. »Dorian, Dorian, geh nicht fort
+von mir!« rief sie leise. »Ich bin so betrübt, daß ich nicht gut
+gespielt habe. Ich dachte nur immer an dich. Aber ich will es wieder
+versuchen -- wirklich, ich will es versuchen. Es kam so jäh über mich,
+die Liebe zu dir. Ich glaube, ich hätte nie etwas von ihr gewußt, wenn
+du mich nicht geküßt hättest -- wenn wir uns nicht geküßt hätten. Küß
+mich wieder, Geliebter! Geh nicht von mir! Ich könnte es nicht
+überleben. Oh, verlaß mich nicht! Mein Bruder... nein, nichts darüber.
+Er meinte es nicht im Ernst. Er scherzte nur... Aber du, oh! Kannst du
+mir nie den heutigen Abend verzeihen? Ich werde so fleißig sein und mir
+Mühe geben, besser zu werden. Sei nicht grausam gegen mich, weil ich
+dich mehr liebe als alles in der Welt. Es ist doch nur ein einziges Mal,
+wo ich dir mißfallen habe. Aber du hast ganz recht, Dorian. Ich hätte
+mich mehr als Künstlerin zeigen sollen. Es war närrisch von mir; und
+doch konnte ich nicht anders. Ach, verlaß mich nicht, verlaß mich
+nicht.« Leidenschaftliches Schluchzen erschütterte sie. Sie kauerte sich
+nieder wie ein wundes Tier, und Dorian Gray sah mit seinen schönen Augen
+zu ihr herab, und seine feingeschnittenen Lippen kräuselten sich in
+tiefster Verachtung. Die Gefühlsregungen von Menschen, die man nicht
+mehr liebt, haben immer etwas Lächerliches an sich. Sibyl Vane schien
+ihm überspannt melodramatisch zu sein. Ihre Tränen und ihr Schluchzen
+langweilten ihn nur.
+
+»Ich gehe«, sagte er schließlich mit seiner klaren, ruhigen Stimme. »Ich
+möchte nicht hart sein, aber ich kann dich nicht mehr sehen. Du hast
+mich enttäuscht.«
+
+Sie weinte still weiter und sagte nichts, sondern kroch näher. Ihre
+kleinen Hände streckten sich ins Leere hinaus und schienen ihn zu
+suchen. Er wandte sich stehenden Fußes herum und verließ das Zimmer.
+Wenige Augenblicke später hatte er das Theater hinter sich.
+
+Wohin er ging, wußte er selber kaum. Er erinnerte sich, durch schwach
+beleuchtete Gassen gewandert, an traurigen, in schwarze Schatten
+getauchten Türbogen und elend aussehenden Häusern vorbeigekommen zu
+sein, Weiber mit heiseren Stimmen und schrillem Lachen hatten hinter ihm
+her gerufen. Betrunkene waren fluchend und mit sich selber sprechend,
+wie Riesenaffen, an ihm vorbeigetaumelt. Er hatte putzige Kinder auf den
+Stufen kauern sehen und Schreien und Schimpfen aus düsteren Höfen
+gehört.
+
+Als der Morgen graute, fand er sich dicht bei Covent Garden. Die
+Dunkelheit schwand, die Luft rötete sich in blaßrotem Feuer, und der
+Himmel wölbte sich zu einer vollendeten Perle. Mächtige Wagen voll
+nickender Lilien rumpelten langsam die gerade, leere Straße hinab. Die
+Luft war schwer vom Dufte der Blumen, und die Schönheit schien seinem
+Schmerz Linderung zu bringen. Er trat in die Markthalle und sah den
+Männern zu, die ihre Wagen ausluden. Ein Fuhrmann in weißem Kittel bot
+ihm von seinen Kirschen an. Er dankte ihm, wunderte sich, warum er kein
+Geld dafür annehmen wollte, und begann zerstreut davon zu essen. Sie
+waren um Mitternacht gepflückt worden, und sie hatten die Kühle des
+Mondes in sich. Burschen in langer Reihe schleppten Körbe voll
+gestreifter Tulpen und von gelben und roten Rosen herbei, trotteten an
+ihm vorbei, als sie sich ihren Weg durch die großen, gelblichgrünen
+Gemüsestapel suchten. Unter den grauen, in der Sonne bleichen Säulen der
+Vorhalle lungerte ein Trupp von schmuddeligen Mädchen ohne Hüte und
+warteten, bis die Versteigerung vorbei war. Andere drängten sich um die
+auf- und zugehenden Türen des Kaffeehauses auf der Piazza. Die schweren
+Lastgäule glitten auf dem Pflaster aus und stampften über die holperigen
+Steine, ihre Glocken und Geschirre schüttelnd. Einige Fuhrmänner lagen
+schlafend auf einem Haufen von Säcken. Mit regenbogenfarbenen Hälsen und
+rötlichen Füßen trippelten die Tauben mitten darin umher und pickten
+sich Körner auf.
+
+Nach einer Weile rief er sich eine Droschke und fuhr nach Hause. Ein
+paar Augenblicke blieb er zögernd auf der Schwelle stehen, blickte über
+den schweigenden Platz und auf die Häuser mit den blanken, geschlossenen
+Fenstern und den hellen Gardinen. Der Himmel war jetzt ein wirklicher
+Opal, und die Dächer der Häuser glitzerten ihm wie Silber entgegen. Von
+einem Schornstein gegenüber stieg eine dünne Rauchsäule in die Höhe. Sie
+schlängelte sich wie ein violettes Band durch die perlmutterfarbene
+Luft.
+
+In der großen venezianischen Goldlaterne, einer Beute von der Barke
+irgendeines Dogen, die von der Decke der großen eichengetäfelten
+Vorhalle herabhing, brannten noch drei flackernde Gaslichter: wie dünne
+blaue Feuerblüten, von weißen Flammen umsäumt. Er drehte sie aus, warf
+Hut und Mantel auf den Tisch und ging durch die Bibliothek zur Tür
+seines Schlafzimmers. Das war ein großer, achteckiger Raum zu ebener
+Erde, den er in seinem neu erwachten Gefühl für Luxus erst unlängst
+einrichten und mit einigen schnurrigen Renaissancegobelins hatte
+bespannen lassen, die er in einer nicht mehr gebrauchten Dachkammer in
+Selby Royal entdeckt hatte. Als er eben nach der Klinke griff, fiel sein
+Blick auf das Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Erstaunt
+schrak er zurück. Dann ging er in sein Zimmer und sah nachdenklich und
+betroffen aus. Nachdem er die Blume aus seinem Knopfloch genommen hatte,
+schien er zu zögern. Schließlich ging er zurück, trat vor das Bild und
+musterte es. In dem unbestimmten, gedämpften Licht, das durch die
+mattgelblichen Seidenvorhänge drang, schien ihm das Gesicht ein wenig
+verändert. Der Ausdruck war anders. Man hätte sagen können, daß ein
+grausamer Zug um den Mund läge. Es war wirklich seltsam.
+
+Er drehte sich um, ging zum Fenster und zog den Vorhang auf. Der helle
+Morgen flutete durch das Zimmer und fegte die phantastischen Schatten in
+düstere Winkel, wo sie zitternd liegenblieben. Aber der seltsame
+Ausdruck, den er im Gesicht des Bildes bemerkt hatte, schien nicht nur
+dazubleiben, sondern sich noch verstärkt zu haben. Das heiße, zitternde
+Sonnenlicht zeigte ihm den grausamen Zug um den Mund so deutlich, als
+sähe er sich in einem Spiegel, nachdem er etwas Furchtbares verübt
+hätte.
+
+Er fuhr zusammen und nahm vom Tisch einen ovalen Spiegel, dessen Fassung
+von elfenbeinernen Liebesgöttern gebildet wurde, eines der vielen
+Geschenke Lord Henrys, und blickte hastig in die glänzende Tiefe. Keine
+Linie solcher Art verunstaltete seine roten Lippen. Was sollte dies
+bedeuten?
+
+Er rieb sich die Augen und trat ganz nahe an das Bild heran, um es
+abermals zu mustern. An der Technik der Malerei konnte man gar keine
+Spur einer Veränderung bemerken, und doch war kein Zweifel, daß sich der
+Ausdruck im ganzen verändert hatte. Es war keine Einbildung von ihm. Die
+Sache war schrecklich klar.
+
+Er warf sich in einen Stuhl und begann zu grübeln. Plötzlich überkam ihn
+die Erinnerung an die Worte, die er in Basil Hallwards Atelier an dem
+Tage gesagt hatte, wo das Bild fertig geworden war. Ja, er erinnerte
+sich ganz deutlich. Er hatte den sinnlosen Wunsch ausgesprochen, daß er
+selbst jung bleiben solle, und das Porträt altern: daß seine eigene
+Schönheit fleckenlos bleiben, und das Antlitz auf der Leinwand die Last
+seiner Leidenschaften und Sünden tragen solle: daß das gemalte Bildnis
+von den Linien des Leidens und Denkens durchfurcht werden und er selbst
+den feinen Schmelz und alle Lieblichkeit seiner Jugend behalten solle,
+deren er sich damals gerade bewußt geworden war. Sein Wunsch war doch
+nicht erfüllt worden? Solche Dinge bleiben unmöglich. Nur so etwas zu
+denken, schien ungeheuerlich. Und doch, da stand das Bild vor ihm und
+hatte den Zug von Grausamkeit um den Mund.
+
+Grausamkeit! War er grausam gewesen? Das Mädchen hatte schuld, nicht er.
+Er hatte von ihr geträumt, als einer großen Künstlerin, hatte ihr seine
+Liebe geschenkt, weil er sie für groß gehalten hatte. Dann hatte sie ihn
+enttäuscht. Sie war hohl und wertlos gewesen. Und doch überkam ihn ein
+Gefühl unendlichen Mitleids, als er daran dachte, wie sie zu seinen
+Füßen gelegen und wie ein kleines Kind geschluchzt hatte. Er erinnerte
+sich, mit welcher Gefühllosigkeit er sie betrachtet hatte. Warum war er
+so geschaffen worden? Warum war ihm eine solche Seele verliehen worden?
+Aber auch er hatte gelitten. In den drei schrecklichen Stunden, die das
+Stück dauerte, hatte er Jahrhunderte von Schmerzen, Ewigkeiten über
+Ewigkeiten von Qualen durchlebt. Sein Leben war gewiß soviel wert als
+das ihre, wenn er sie für das ganze Leben verwundet hatte. Sie hatte ihn
+für einen Augenblick vernichtet. Außerdem sind die Frauen besser dafür
+geeignet, Leiden zu ertragen als Männer. Sie leben von ihren Gefühlen.
+Sie denken nur an ihre Gefühle. Wenn sie einen Geliebten haben, so ist
+es nur, um jemand zu haben, dem sie Szenen machen können. Lord Henry
+hatte ihm das gesagt, und Lord Henry wußte, wie es mit den Frauen
+bestellt war. Warum sollte er sich um Sibyl Vane beunruhigen? Sie war
+ihm jetzt nichts mehr.
+
+Aber das Bild? Was sollte er dazu sagen? Es barg das Geheimnis seines
+Lebens in sich und erzählte seine Geschichte. Es hatte ihn die Liebe zur
+eigenen Schönheit gelehrt. Sollte es ihn lehren, seine eigene Seele zu
+verabscheuen? Könnte er es je wieder anblicken?
+
+Nein; es war nur eine Einbildung, ein Gewebe der verwirrten Sinne. Die
+fürchterliche Nacht, die er durchlebte, hatte Gespenster zurückgelassen.
+Der winzige scharlachrote Fleck, der die Menschen zum Wahnsinn treibt,
+war plötzlich auf seinem Gehirn zum Vorschein gekommen. Das Bild war
+nicht anders geworden. Es war Wahnsinn, das anzunehmen.
+
+Aber es blickte ihn an mit seinem wunderschönen, entstellten Gesicht und
+seinem grausamen Lächeln. Sein helles Haar leuchtete im Sonnengold der
+Frühe. Seine blauen Augen blickten in seine eigenen. Ein Gefühl
+grenzenlosen Mitleids durchdrang ihn, nicht mit sich selbst, nein, mit
+dem gemalten Abbild. Schon hatte es sich verändert und würde sich noch
+mehr verändern. Sein Gold wird zum Grau erbleichen. Seine roten und
+weißen Rosen werden welken. Für jede Sünde, die er begehen würde, wird
+ein Fleck hervortreten und seine Schönheit besudeln. Aber er wird nicht
+sündigen. Das Bildnis, verwandelt oder unverwandelt, soll für ihn das
+sichtbare Wahrzeichen des Gewissens sein. Er wird jeder Versuchung
+widerstehen. Er wird Lord Henry nicht wiedersehen -- wenigstens nicht
+mehr seinen blendenden, giftigen Theorien lauschen, die in Basil
+Hallwards Garten zum erstenmal in ihm die Leidenschaft für unmögliche
+Dinge aufgerüttelt hatten. Er wird zu Sibyl Vane zurückeilen, sich
+bestreben, sie in ihrer Kunst zu verfeinern, sie heiraten und versuchen,
+sie wieder zu lieben. Ja, es war seine Pflicht, das zu tun. Sie mußte ja
+mehr gelitten haben als er. Armes Kind! Er war selbstsüchtig und grausam
+gegen sie gewesen. Der Zauber, den sie auf ihn ausgeübt hatte, würde
+wiederkehren. Sie würden glücklich miteinander werden. Sein Leben mit
+ihr würde schon und rein sein.
+
+Er stand von seinem Stuhl auf und schob einen großen Wandschirm vor das
+Bildnis. Er schrak zusammen, als er es anblickte. »Wie schrecklich«,
+flüsterte er. Dann schritt er zur Glastür und öffnete sie. Als er in das
+Grüne hinaus trat, atmete er tief auf. Die frische Morgenluft schien all
+die düsteren Leidenschaften zu verjagen. Er dachte nur noch an Sibyl.
+Ein schwacher Glanz seiner Liebe kehrte zurück. Er wiederholte ihren
+Namen immer wieder, immer wieder. Die Vögel, die in dem taubeperlten
+Garten sangen, schienen den Blumen von ihr zu erzählen.
+
+
+
+
+Achtes Kapitel
+
+
+Mittag war längst vorüber, als er erwachte. Sein Diener war mehrmals auf
+den Fußspitzen in das Zimmer geschlichen, um zu sehen, ob er wach wäre,
+und er hatte sich gewundert, weshalb sein junger Herr so lange schlafe.
+Schließlich klingelte es, und Viktor trat leise ein mit einer Schale Tee
+und einem Stoß Postsachen auf einer schmalen Sevresplatte und zog die
+olivengelben Atlasvorhänge mit ihrem blauglänzenden Futter vor den drei
+großen Fenstern zurück.
+
+»Monsieur hat heute morgen gut geschlafen«, sagte er lächelnd.
+
+»Wieviel Uhr ist es?« fragte Dorian Gray noch verschlafen.
+
+»Ein Viertel zwei, Monsieur!«
+
+Wie spät es war! Er setzte sich auf, schlürfte einige Züge Tee und
+durchblätterte die Briefe. Einer davon war von Lord Henry und war diesen
+Morgen von einem Boten abgegeben worden. Er zögerte einen Augenblick und
+legte ihn dann zur Seite. Die anderen öffnete er zerstreut. Sie
+enthielten die gewöhnliche Sammlung von Karten, Einladungen zum Essen,
+Ausstellungsbilletts, Programmen für Wohltätigkeitskonzerte und
+ähnlichen Aufforderungen, wie sie einem jungen Mann der Gesellschaft
+während der Saison jeden Morgen ins Haus regnen. Es war auch eine recht
+große Rechnung dabei für ein Toiletteservice im Stile Louis des
+Fünfzehnten, aus getriebenem Silber, die er noch nicht mutig genug
+gewesen war, seinen Vormündern vorzulegen, die außerordentlich
+altmodische Herren waren und nicht begreifen konnten, daß man in einer
+Zeit lebe, wo die unnötigen Dinge unsere einzige Notwendigkeit sind; und
+außerdem war eine Reihe sehr höflich abgefaßter Mitteilungen aus Jermyn
+Street da, in denen man sich anbot, ihm in der kürzesten Zeit jeden
+Geldbetrag zu dem mäßigsten Zinsfuße vorzustrecken.
+
+Etwa nach zehn Minuten stand er auf, schlüpfte in einen raffinierten
+Schlafrock aus Kaschmirwolle mit Seidenstickereien, und ging in das
+onyxgepflasterte Badezimmer. Das kalte Wasser erquickte ihn nach dem
+langen Schlaf. Er schien alles vergessen zu haben, was er hinter sich
+hatte. Ein- oder zweimal durchzuckte ihn ein undeutliches Gefühl, als
+wäre er irgendwie in eine seltsame Tragödie verwickelt gewesen, aber die
+Unwirklichkeit eines Traumes webte darüber.
+
+Sobald er angezogen war, ging er in das Bibliothekszimmer und setzte
+sich zu einem leichten französischen Frühstück nieder, das auf einem
+kleinen, runden Tische nahe beim offenen Fenster bereit stand. Es war
+ein entzückender Tag. Die warme Luft schien mit Wohlgerüchen gewürzt.
+Eine Biene flog herein und summte um die Schale aus blauem
+Drachenporzellan, die voller schwefelgelber Rosen vor ihm stand. Er
+fühlte sich vollkommen glücklich.
+
+Plötzlich fiel sein Blick auf den Wandschirm, den er vor das Bild
+gestellt hatte, und er zuckte zusammen.
+
+»Ist es zu kalt für den gnädigen Herrn?« fragte der Diener, während er
+eine Omelette auf den Tisch stellte. »Soll ich das Fenster schließen?«
+
+Dorian schüttelte den Kopf. »Mir ist nicht kalt«, antwortete er.
+
+War es alles wahr? Hatte sich das Bild wirklich verändert? Oder war es
+lediglich seine eigene Phantasie gewesen, die ihm einen Zug von
+Schlechtigkeit vorgespiegelt hatte, wo nur ein Zug von Freude gewesen
+war? Eine gemalte Leinwand konnte sich doch nicht verändern? Das war
+doch Tollheit! Das würde er eines Tages Basil als Märchen erzählen. Er
+würde darüber lächeln.
+
+Und doch, wie lebendig war die Erinnerung an die ganze Sache! Zuerst in
+dem schwankenden Zwielicht und dann in der hellen Morgenfrühe hatte er
+den Zug von Grausamkeit um die geschwungenen Lippen bemerkt. Er
+fürchtete sich förmlich davor, daß sein Diener hinausgehen könnte. Er
+wußte, er würde, sowie er allein sei, das Bild betrachten müssen. Er
+fürchtete sich vor dieser Gewißheit. Als der Diener Kaffee und
+Zigaretten gebracht hatte und sich zum Gehen wandte, empfand er den
+heftigsten Wunsch, ihn dableiben zu lassen. Als sich hinter ihm die Tür
+geschlossen hatte, rief er ihn zurück. Der Mann stand da und wartete auf
+seine Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick an. »Ich bin für niemand
+zu Hause, Viktor«, sagte er mit einem Seufzer. Der Mann verbeugte sich
+und ging hinaus.
+
+Dann stand er vom Tische auf, zündete sich eine Zigarette an und warf
+sich auf eine üppig gepolsterte Ottomane, die gegenüber dem Schirme
+stand. Es war ein alter Wandschirm aus vergoldetem spanischen Leder, in
+das ein blumiges Louis-Quatorze-Muster getrieben war. Er musterte ihn
+forschend und fragte sich, ob der Schirm wohl schon jemals das Geheimnis
+eines Menschenlebens verhüllt habe.
+
+Sollte er ihn überhaupt wegschieben? Warum ihn nicht da stehen lassen?
+Was half die Gewißheit? War die Sache wahr, so war es schrecklich. War
+sie nicht wahr, wozu sich darüber beunruhigen? Aber wie, wenn durch
+Schicksalstücke oder irgendeinen tödlichen Zufall andere Augen als die
+seinen dahinter blickten und die fürchterliche Veränderung sähen? Was
+wollte er tun, wenn Basil Hallward kam und sein eigenes Bild sehen
+wollte? Das würde Basil sicher tun. Nein, die Sache mußte untersucht
+werden, und zwar auf der Stelle. Alles war besser als diese schreckliche
+Ungewißheit.
+
+Er stand auf und verschloß beide Türen. Er wollte wenigstens allein
+sein, wenn er die Maske seiner Schande betrachtete. Dann schob er den
+Schirm zur Seite und sah sich selbst von Angesicht zu Angesicht. Es war
+vollständig wahr. Das Bildnis hatte sich verändert.
+
+Er erinnerte sich später oft und immer mit nicht geringer Verwunderung,
+daß er zuerst das Bild mit einem Gefühl von wissenschaftlichem Interesse
+geprüft habe. Daß eine solche Veränderung möglich sei, schien ihm nicht
+glaublich. Und doch war es Tatsache. Gab es irgendeine geheime
+Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen, die auf der Leinwand Form
+und Farbe werden, und der Seele, die in ihm lebte? Konnte es sein, daß
+sie in Wirklichkeit ausdrückten, was seine Seele dachte? -- daß sie zur
+Wahrheit machten, was sie träumte? Oder gab es eine andere schreckliche
+Beziehung? Er schauderte zusammen und fühlte sich von Angst gepackt.
+Dann ging er zu der Ottomane zurück und lag nun da, das Bildnis in
+krankhaftem Schrecken anstierend.
+
+Eine Wirkung aber, das fühlte er, hatte es gehabt. Es hatte ihm
+klargemacht, wie ungerecht, wie grausam er gegen Sibyl Vane gewesen war.
+Noch war es nicht zu spät, das wieder gut zu machen. Sie konnte noch
+sein Weib werden. Seine unwahre, selbstsüchtige Liebe sollte einer
+höheren Kraft den Platz einräumen, sollte sich zu einer edleren
+Leidenschaft erhöhen und das Bildnis, das Basil Hallward gemalt hatte,
+sollte sein Führer durchs Leben, sollte das für ihn sein, was Heiligkeit
+für einige ist, Gewissen für andere und Gottesfurcht für uns alle ist.
+Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Medikamente, die das
+Sittlichkeitsgefühl in Schlaf lullen konnten. Aber hier war das durch
+Sündigkeit hervorgerufene sichtbare Symbol der Erniedrigung. Hier war
+das ewig unauslöschliche Zeichen des Verderbens, das Menschen der
+eigenen Seele zufügen.
+
+Es schlug drei und vier, und noch eine halbe Stunde ließ das doppelte
+Zeichen erklingen, aber Dorian Gray rührte sich nicht. Er bemühte sich,
+die scharlachroten Fäden des Lebens zu entwirren und sie in ein Muster
+zu verschlingen; seinen Weg zu finden aus dem blutroten Irrgarten der
+Leidenschaft, den er durchwanderte. Er wußte nicht, was er tun, nicht,
+was er denken sollte. Endlich trat er an den Tisch und schrieb einen
+leidenschaftlichen Brief an das Mädchen, das er geliebt hatte, flehte
+sie an, ihm zu verzeihen, und beschuldigte sich des Wahnsinns. Er
+bedeckte Seite um Seite mit wilden Worten der Sorge und noch heftigeren
+des Schmerzes. Es gibt eine Wollust in Selbstanklagen. Wenn wir uns
+selbst tadeln, haben wir das Gefühl, daß uns kein anderer tadeln dürfe.
+Die Beichte, nicht der Priester, erteilt uns Absolution. Als Dorian den
+Brief beendet hatte, fühlte er, daß ihm vergeben worden sei.
+
+Plötzlich pochte man an die Tür und er hörte Lord Henrys Stimme draußen.
+»Lieber Junge, ich muß dich sehen. Laß mich gleich herein! Ich kann es
+nicht zugeben, daß du dich so absperrst!«
+
+Er gab zuerst keine Antwort, sondern blieb ganz still. Das Klopfen
+wiederholte sich und wurde lauter. Ja, es war besser, Lord Henry
+einzulassen und ihm zu erklären, daß er ein neues Leben führen wolle,
+mit ihm zu streiten, wenn Streit nötig wäre, und sich von ihm zu
+trennen, wenn Trennung stattfinden mußte. Er sprang auf, schob den
+Wandschirm hastig vor das Bild und schloß die Tür auf.
+
+»Es tut mir alles so sehr leid, Dorian«, sagte Lord Henry, als er
+eintrat. »Aber du mußt nicht zuviel daran denken.«
+
+»Meinst du an Sibyl Vane?« fragte der Jüngling.
+
+»Ja, natürlich«, erwiderte Lord Henry, ließ sich in einen Stuhl nieder
+und zog seine gelben Handschuhe langsam aus. »Es ist gewiß, einerseits
+betrachtet, schrecklich, aber es war doch nicht deine Schuld. Sag' mal,
+bist du hinter die Bühne gegangen und hast du sie gesehen, als das Stück
+aus war?«
+
+»Ja.«
+
+»Ich war davon überzeugt. Hast du ihr eine Szene gemacht?«
+
+»Ich war brutal, Harry, offen gesagt, brutal. Aber jetzt ist alles
+wieder gut. Was geschehen ist, tut mir nicht mehr leid. Es hat mich
+gelehrt, mich selbst besser kennenzulernen.«
+
+»Ach, Dorian, da bin ich sehr froh, daß du es so auffaßt. Ich fürchtete,
+dich von Gewissensbissen zermartert zu finden und wie du dir die
+hübschen lockigen Haare zerraufst.«
+
+»Das habe ich alles durchgemacht«, sagte Dorian und schüttelte lächelnd
+den Kopf. »Jetzt bin ich vollkommen glücklich. Vor allem weiß ich jetzt,
+was es heißt, ein Gewissen zu haben. Es ist nicht das, was du mir gesagt
+hast. Es ist das Göttlichste in uns. Spotte nicht darüber, nie mehr,
+Harry -- wenigstens nie mehr in meiner Gegenwart. Ich will jetzt gut
+sein. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, meine Seele befleckt zu
+haben.«
+
+»Wirklich eine entzückende, künstlerische Grundlage für Moral, Dorian.
+Ich gratuliere dir dazu. Aber wie willst du damit anfangen?«
+
+»Indem ich Sibyl Vane heirate.«
+
+»Sibyl Vane heiraten?« schrie Lord Henry auf, erhob sich und sah ihn mit
+der bestürztesten Verwunderung an. »Aber mein lieber Dorian --«
+
+»Ja, Harry, ich weiß, was du sagen willst. Irgend etwas Häßliches über
+die Ehe. Sag' es nicht. Sag' mir nie wieder solche Dinge. Vor zwei Tagen
+habe ich Sibyl gebeten, mich zu heiraten. Ich werde mein Wort nicht
+brechen. Sie soll meine Frau werden.«
+
+»Deine Frau, Dorian... Hast du denn meinen Brief nicht bekommen? Ich
+habe dir heute früh geschrieben und schickte die Mitteilung durch meinen
+Diener her.«
+
+»Deinen Brief? Ach ja, ich erinnere mich. Ich hab' ihn noch nicht
+gelesen, Harry. Ich fürchtete, daß etwas drin stünde, was mir nicht
+gefallen könnte. Du vivisezierst das Leben mit deinen Aphorismen.«
+
+»Dann weißt du also nichts.«
+
+»Wovon sprichst du?«
+
+Lord Henry wanderte durch das Zimmer, setzte sich dann neben Dorian
+Gray, nahm seine beiden Hände und hielt sie fest. »Dorian,« sagte er,
+»mein Brief -- erschrick nicht -- sollte dir melden, daß Sibyl Vane tot
+ist.«
+
+Ein Schmerzensschrei gellte von den Lippen des Jünglings, und er sprang
+auf und riß seine Hände aus Lord Henrys Umklammerung los. »Tot! Sibyl
+tot!« Es ist nicht wahr. Es ist eine furchtbare Lüge. Wie wagst du es,
+das zu sagen?«
+
+»Es ist völlig wahr, Dorian«, sagte Lord Henry ernst. »Es steht in allen
+Morgenblättern. Ich schrieb dir's gleich und bat, du solltest niemand
+empfangen, bis ich käme. Es muß natürlich eine Untersuchung stattfinden,
+und du darfst da nicht hineingezogen werden. Dinge dieser Art machen in
+Paris einen Mann zum Helden des Tages. Aber in London haben die Leute
+zuviel Vorurteile. Hier darf man nie mit einem Skandal debütieren. Man
+muß sich das aufheben, um im Alter noch interessant zu sein. Ich nehme
+an, man weiß im Theater deinen Namen nicht. In dem Fall ist alles gut.
+Hat dich jemand in die Garderobe gehen sehen? Das ist ein wichtiger
+Faktor.«
+
+Ein paar Augenblicke lang antwortete Dorian nicht. Er war vor Entsetzen
+gelähmt. Schließlich stammelte er mit erstickter Stimme: »Harry, sagtest
+du eine Untersuchung? Was meintest du damit? Hat sich Sibyl --? Oh,
+Harry, ich kann's nicht ertragen. Mach's kurz. Sag' mir alles auf
+einmal.«
+
+»Ich zweifle nicht daran, daß es kein Versehen war, Dorian, wenn man es
+auch dem Publikum so darstellen muß. Es scheint, sie hat das Theater mit
+ihrer Mutter verlassen, gegen halb eins ungefähr, und dann sagte sie
+plötzlich, sie habe oben etwas vergessen. Man wartete einige Zeit auf
+sie, aber sie kam nicht wieder herunter. Schließlich fanden sie sie tot
+auf dem Boden in ihrem Ankleidezimmer. Sie hatte aus Versehen irgend
+etwas getrunken, irgend solche gräßliche Sache, die man in den Theatern
+braucht. Ich weiß nicht genau, was es war, aber es muß entweder
+Blausäure oder Bleiweiß gewesen sein. Ich vermute, Blausäure, denn sie
+scheint sofort tot gewesen zu sein.«
+
+»Harry, Harry, es ist furchtbar!« schrie der Jüngling.
+
+»Ja; natürlich ist's sehr tragisch, aber du mußt sehen, nicht mit in die
+Sache verwickelt zu wenden. Ich habe im >Standard< gelesen, daß sie
+siebzehn Jahre alt war. Ich hätte sie noch eher für jünger gehalten. Sie
+sah ganz wie ein Kind aus und schien so wenig von der Schauspielerei zu
+verstehen. Dorian, du darfst die Sache nicht so an die Nerven gehen
+lassen. Du mußt mitkommen und mit mir essen, und nachher wollen wir noch
+'n bißchen in die Oper gehen. Die Patti singt, und alle Welt wird da
+sein. Du kannst mit in die Loge von meiner Schwester kommen. Sie bringt
+ein paar famose Frauen mit.«
+
+»So habe ich also Sibyl Vane gemordet,« sagte Dorian Gray halb zu sich
+selbst -- »sie gemordet, so sicher, als hätte ich ihre zarte Kehle mit
+einem Messer durchschnitten. Und doch sind darum die Rosen nicht weniger
+entzückend. Die Vögel in meinem Garten singen genau so lustig. Und heute
+abend geh' ich mit dir essen und dann in die Oper und nachher vermutlich
+irgendwo soupieren. Wie merkwürdig dramatisch das Leben ist. Wenn ich
+das alles in einem Buche gelesen hätte, Harry, ich glaube, ich hätte
+darüber geweint. Aber jetzt, wo es in Wirklichkeit geschehen ist, wo es
+mir selbst geschehen ist, scheint es mir zu wunderbar für Tränen. Da
+liegt der erste leidenschaftliche Liebesbrief, den ich in meinem Leben
+geschrieben habe. Seltsam, daß mein erster leidenschaftlicher
+Liebesbrief an ein totes Mädchen gerichtet ist. Ich möchte wohl wissen,
+ob sie noch ein Gefühl haben, diese weißen, verstummten Menschen, die
+wir Tote nennen. Sibyl! Kann sie fühlen, oder wissen, oder hören? O
+Harry, wie hab' ich sie einmal geliebt! Es scheint mir jetzt vor Jahren
+gewesen zu sein. Sie war mir alles. Dann kam dieser schreckliche Abend,
+-- war es wirklich erst gestern? wo sie so schlecht spielte und mir fast
+das Herz zerriß. Sie hat mir alles erklärt. Es war furchtbar rührend.
+Aber es machte nicht den mindesten Eindruck auf mich. Ich hielt sie für
+ein oberflächliches Geschöpf. Dann geschah plötzlich etwas, was mir
+Furcht einjagte. Ich kann dir nicht sagen, was es war, aber es war
+furchtbar. Ich nahm mir vor, zu ihr zurückzukehren. Ich empfand, daß ich
+unrecht gehabt habe. Und jetzt ist sie tot. Mein Gott! Mein Gott! Harry,
+was soll ich tun? Du kennst die Gefahr nicht, in der ich schwebe und es
+gibt nichts, was mich aufrechterhalten könnte. Sie hätte es für mich
+getan. Sie hatte kein Recht, sich umzubringen. Es war selbstsüchtig von
+ihr.«
+
+»Mein lieber Dorian,« antwortete Lord Harry, während er eine Zigarette
+aus dem Etui nahm und ein goldenes Streichholzbüchschen hervorholte,
+»die einzige Art, auf die eine Frau einen Mann bessern kann, besteht
+darin, sie langweilt ihn so gründlich, daß er alles Interesse am Leben
+verliert. Wenn du dieses Mädchen geheiratet hättest, wärst du verdorben
+worden. Natürlich hättest du sie gütig behandelt. Menschen, für die man
+nichts übrig hat, kann man immer gütig behandeln. Aber sie hätte bald
+herausgefunden, daß du gar nichts für sie übrig hast. Und wenn eine Frau
+bei ihrem Mann Gleichgültigkeit wittert, vernachlässigt sie sich
+entweder schrecklich, oder sie trägt überelegante Hüte, die der Mann
+einer anderen Frau bezahlen muß. Ich will nichts über das soziale
+Mißverhältnis sagen, das schauderhaft gewesen wäre; ich hätte
+selbstverständlich die Sache nie zugegeben, aber ich versichere dir, die
+Sache wäre in jedem Falle ganz verfehlt gewesen.«
+
+»Vermutlich«, murmelte der junge Mann, während er mit furchtbar blassem
+Gesicht im Zimmer auf und ab schritt. »Aber ich glaube, es sei meine
+Pflicht. Es ist nicht meine Schuld, daß mich dieses schreckliche
+Trauerspiel verhindert hat, das Rechte zu tun. Ich erinnere mich, daß du
+einmal gesagt hast, ein sonderbares Verhängnis schwebe über guten
+Vorsätzen -- daß man sie nämlich immer zu spät fasse. Bei meinem war es
+gewiß der Fall.«
+
+»Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, Naturgesetze umzustoßen. Ihr
+Ursprung ist reine Eitelkeit. Ihr Erfolg ist absolut gleich Null. Sie
+geben uns dann und wann etwas jener unfruchtbaren Lustempfindungen, die
+auf schwache Menschen einen gewissen Reiz ausüben. Das ist alles, was
+man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind bloße Schecks, die man
+auf eine Bank ausstellt, bei der man kein Konto hat.«
+
+»Harry«, rief Dorian Gray, der sich näherte und neben ihn setzte. »Warum
+kann ich diese Tragödie nicht so stark empfinden, wie ich müßte? Ich
+kann nicht glauben, daß ich herzlos bin. Glaubst du das von mir?«
+
+»Du hast in den letzten vierzehn Tagen zuviel törichte Streiche
+begangen, als daß du einen Anspruch auf diesen Ehrentitel haben
+könntest, Dorian«, erwiderte Lord Harry mit seinem stillen,
+melancholischen Lächeln.
+
+Der Jüngling runzelte die Stirn. »Diese Erklärung besagt mir eigentlich
+nichts, Harry, aber ich bin dennoch froh, daß du mich nicht für herzlos
+hältst. Ich bin es gewiß nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin. Und doch
+muß ich zugeben, daß dies Ereignis mich nicht so angreift, wie es
+sollte. Es kommt mir wie der wunderbare Szenenschluß eines wunderbaren
+Dramas vor. Es hat die schreckliche Schönheit einer griechischen
+Tragödie, einer Tragödie, in der ich eine große Rolle gespielt habe,
+aber in der ich selbst nicht verwundet worden bin.«
+
+»Es ist eine interessante Frage,« sagte Lord Harry, dem es ein
+ausgesuchtes Vergnügen bereitete, mit dem unbewußten Egoismus des jungen
+Mannes zu spielen -- »eine außerordentlich interessante Frage. Ich
+meine, die wahre Erklärung ist wohl die. Es kommt oft vor, daß sich die
+Wirklichkeits-Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen Form
+abspielen, daß sie uns durch ihre rohe Gewalt, ihren absoluten Mangel an
+Zusammenhang, durch ihre lächerliche Sinnlosigkeit und ihre
+außerordentliche Stillosigkeit verletzen. Sie betrüben uns genau so, wie
+es die Gemeinheit tut. Sie geben uns ein Gefühl einer jähen, brutalen
+Gewalt, und wir lehnen uns dagegen auf. Manchmal aber kreuzt eine
+Tragödie unser Leben, die künstlerische Schönheitselemente in sich
+birgt. Wenn diese Schönheitselemente wirklich vorhanden sind, dann
+ergreift die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische Wirkung. Wir
+entdecken auf einmal, daß wir nicht mehr die Darsteller, sondern die
+Zuschauer des Stückes sind. Oder richtiger, wir sind beides. Wir
+beobachten uns selbst und werden von dem Wundersamen des Schicksals
+erschüttert. Was ist in vorliegendem Falle wirklich geschehen? Jemand
+hat sich aus Liebe zu dir umgebracht. Ich wollte, mir wäre je so ein
+Erlebnis passiert. Ich wäre den Rest meines Lebens in die Liebe verliebt
+gewesen. Die Menschen, die mich angebetet haben -- es waren ihrer nicht
+sehr viele, aber doch immerhin einige --, waren immer darauf versessen,
+weiterzuleben, noch lange, nachdem ich aufgehört hatte, mich um sie zu
+kümmern, oder sie, sich um mich zu kümmern. Sie sind dann dick und
+langweilig geworden, und wenn ich ihnen jetzt begegne, schwelgen sie
+sofort in Erinnerungen. Dies furchtbare zähe Gedächtnis der Frauen! Was
+für 'ne schreckliche Sache das ist! Und was für einen völligen geistigen
+Stillstand offenbart es. Man sollte die Farbe des Lebens in sich
+aufsaugen, aber sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind
+immer gewöhnlich.«
+
+»Ich muß Mohnblumen in meinen Garten säen«, seufzte Dorian.
+
+»Das ist nicht notwendig«, erwiderte sein Gefährte. »Das Leben selbst
+hat immer Mohnblumen vorrätig. Natürlich, dann und wann halten die Dinge
+länger an. Einmal habe ich eine ganze Saison lang nichts als Veilchen
+getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen Roman, der nicht
+sterben wollte. Schließlich indessen ist er gestorben. Ich kann mich
+nicht mehr erinnern, was ihn getötet hat. Ich vermute, es kam durch
+ihren Vorschlag, mir die ganze Welt aufzuopfern. Das ist immer ein
+schrecklicher Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecknissen der
+Ewigkeit. Schon -- würdest du es nun glauben? -- Vorige Woche, bei Lady
+Hampshire, saß ich bei Tisch neben der fraglichen Dame, und sie konnte
+wiederum nicht anders, als die ganze Sache durchzunehmen, die
+Vergangenheit aufzuwühlen und die Zukunft auszumalen. Ich hatte den
+ganzen Roman unter einem Asphodelosbeet begraben. Sie scharrte ihn
+wieder aus und versicherte mir, daß ich ihr Leben zerstört habe. Ich
+fühle mich verpflichtet festzustellen, daß sie trotzdem mit
+staunenswertem Appetite aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse empfand.
+Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie! Der einzige Reiz der
+Vergangenheit liegt eben darin, daß sie vergangen ist. Aber Frauen
+wissen nie, wann der Vorhang gefallen ist. Sie wollen immer noch einen
+sechsten Akt, und sowie das ganze Interesse an dem Stück erlahmt ist,
+schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man ihnen ihren Willen ließe,
+erlebte jede Komödie einen tragischen Schluß, und jede Komödie gipfelte
+in einer Farce. Sie sind oft entzückende Kunstprodukte, aber sie haben
+keinen Sinn für die Kunst. Du bist glücklicher als ich. Ich versichere
+dir, Dorian, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt habe, hätte für
+mich getan, was Sibyl Vane für dich vollbrachte. Gewöhnliche Frauen
+trösten sich immer. Einige von ihnen tun es, indem sie sich in
+empfindsame Farben verlieben. Traue niemals einer Frau, die Malven
+trägt, wie alt sie auch sein mag, oder einer Frau über fünfunddreißig,
+die rosa Bänder liebt. Das bedeutet immer, daß sie eine Geschichte
+haben. Andere finden starken Trost darin, plötzlich die Vorzüge ihrer
+Männer zu entdecken. Sie reiben einem ihr eheliches Glück unter die
+Nase, als wäre das die fesselndste Sünde. Einige wieder tröstet die
+Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize einer Liebelei an sich, hat
+mir einmal eine Frau versichert und ich kann es wohl verstehen. Übrigens
+macht unsereinen nichts so eitel, als wenn einem gesagt wird, man wäre
+ein Sünder. Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten. Ja; die Tröstungen
+haben wirklich kein Ende, die die Frauen im modernen Leben finden. Die
+wichtigste habe ich noch gar nicht erwähnt.«
+
+»Welche ist das, Harry?« fragte der junge Mann zerstreut.
+
+»Oh, der alltäglichste Trost. Einer anderen Frau ihren Anbeter nehmen,
+wenn man den eigenen verloren hat. In der guten Gesellschaft findet eine
+Frau auf solche Weise immer ihr Fahrwasser wieder. Aber wirklich,
+Dorian, wie anders muß Sibyl Vane gewesen sein als alle die sonstigen
+Frauen, denen man begegnet. Für mich liegt in ihrem Tod etwas ganz
+Wunderschönes. Es freut mich, daß ich in einem Jahrhundert lebe, wo
+solche Wunder noch geschehen. Sie geben uns neuen Glauben an die
+Wirklichkeit der Dinge, mit denen wir sonst spielen, wie Romantik,
+Leidenschaft und Liebe.«
+
+»Ich war furchtbar grausam gegen sie. Du vergißt das.«
+
+»Ich fürchte, die Frauen schätzen die Grausamkeit, die ganz alltägliche
+Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes. Sie haben wundervoll
+primitive Instinkte. Wir haben sie emanzipiert, aber sie bleiben
+Sklavinnen, die den Blick auf ihre Herren gerichtet halten, trotz
+allem. Sie lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin überzeugt, daß du
+glänzend aufgetreten bist. Ich habe dich nie wirklich und durchaus
+erzürnt gesehen, aber ich kann mir vorstellen, wie entzückend du
+ausgesehen haben mußt. Und außerdem sagtest du vorgestern etwas zu mir,
+was mir damals nur ein phantastischer Einfall schien, aber jetzt sehe
+ich, daß es völlig wahr gewesen ist, und ich halte es für den Schlüssel
+zu dem ganzen Ereignis.«
+
+»Was war das, Harry?«
+
+»Du hast zu mir gesagt, Sibyl Vane verkörpere dir alle Frauengestalten
+der Romantik -- sie sei an einem Abend Desdemona und am anderen Ophelia;
+wenn sie als Julia sterbe, erwache sie als Imogen wieder zum Leben.«
+
+»Sie wird nie wieder zum Leben erwachen«, ächzte der Jüngling und barg
+sein Gesicht in den Händen.
+
+»Nein, sie wird nie wieder zum Leben erwachen. Sie hat ihre letzte Rolle
+gespielt. Aber du mußt an diesen einsamen Tod in dem ärmlichen
+Garderobenzimmer denken wie an ein seltsam schauriges Fragment aus einer
+Tragödie von der Zeit König Jakobs her, wie an eine wunderbare Szene bei
+Webster oder Ford oder Cyril Tourneur. Das Mädchen hat nie wirklich
+gelebt, also ist sie auch nie wirklich gestorben. Für dich war sie ja
+niemals mehr als ein Traum, ein Schattengeist, der durch Shakespeares
+Dramen huschte und sie durch ihr Dasein noch reizvoller machte, der Ton
+einer Flöte, durch die Shakespeares Musik noch reicher und freudiger
+ertönte. Im Augenblick, wo sie das wirkliche Leben berührte, zerstörte
+sie es, und es zerstörte sie, und so schied sie dahin. Trauere um
+Ophelia, wenn es dir behagt. Streu Asche auf dein Haupt, weil Kordelia
+erwürgt wurde. Schrei zum Himmel, weil die Tochter des Brabantio starb.
+Aber verschwende deine Tränen nicht um Sibyl Vane. Sie war weniger
+wirklich, als jene sind.«
+
+Es entstand ein Schweigen. Der Abend dämmerte im Zimmer. Geräuschlos auf
+silbernen Fußen schlichen die Schatten aus dem Garten herein. Die Farben
+verschwanden müde aus allen Dingen.
+
+Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. »Du hast mich mir selber
+klargemacht«, flüsterte er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Alles,
+was du gesagt hast, habe ich auch gefühlt, nur hab' ich mich davor
+geängstigt, und ich konnte es mir selbst nicht ausdrücken. Wie gut du
+mich kennst! Aber wir wollen, von dem was geschehen ist, nie wieder
+sprechen. Es war ein wundersames Erlebnis. Das ist alles. Ich möchte
+wissen, ob meiner noch etwas so Wunderbares im Leben harrt.«
+
+»Das Leben hat alles für dich vorrätig, Dorian. Es gibt nichts, was du
+mit deiner außerordentlichen Schönheit nicht tun könntest.«
+
+»Aber stelle dir vor, Harry, wenn ich hager und alt und runzlich würde,
+was dann?«
+
+»Ach dann,« sagte Lord Harry und erhob sich zum Gehen -- »dann, mein
+bester Dorian, würdest du um deine Siege kämpfen müssen. Wie es ist,
+werden sie dir noch entgegengetragen. Nein, du mußt schön bleiben, wie
+du noch bist. Wir leben in einer Zeit, in der zuviel gelesen wird, als
+daß sie weise wäre, und in der zuviel gedacht wird, als daß sie schön
+wäre. Wir können dich nicht entbehren. Und jetzt tätest du besser, dich
+anzuziehen und in den Klub zu fahren. Wir kommen ohnehin schon zu spät.«
+
+»Ich meine, ich treffe dich lieber in der Oper, Harry. Ich bin zu müde,
+um etwas zu essen. Welche Nummer hat die Loge deiner Schwester?«
+
+»Siebenundzwanzig, glaub' ich, sie liegt im ersten Rang. Du findest
+ihren Namen an der Tür. Aber es tut mir leid, daß du nicht mit essen
+kommst.«
+
+»Ich bin nicht aufgelegt dazu,« sagte Dorian zerstreut, »aber ich bin
+dir sehr dankbar für alles, was du zu mir gesagt hast. Du bist wirklich
+mein bester Freund. Niemand hat mich je richtiger verstanden als du.«
+
+»Wir stehen erst am Anfang unserer Freundschaft, Dorian«, erwiderte Lord
+Harry und schüttelte ihm die Hand. »Adieu! Ich hoffe, dich vor halb zehn
+zu sehen. Vergiß nicht: die Patti singt.«
+
+Als sich die Tür hinter ihm schloß, klingelte Dorian Gray, und nach ein
+paar Minuten erschien Viktor mit den Lampen und ließ die Vorhänge herab.
+Er wartete ungeduldig, daß der Diener wieder verschwände. Der Mann
+schien eine unglaubliche Zeit für alles zu gebrauchen.
+
+Sobald er wieder draußen war, stürzte Dorian auf den Schirm zu und schob
+ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich nicht wieder verändert. Es hatte
+die Nachricht von Sibyl Vanes Tod erhalten, bevor er selbst davon gewußt
+hatte. Es kannte die Ereignisse des Lebens, sobald sie sich ereigneten.
+Dieser Zug böser Grausamkeit, der die feinen Linien des Mundes
+verunstaltete, war zweifellos im Augenblick aufgetaucht, als das Mädchen
+das Gift genommen hatte. Oder kümmerte sich das Bild nicht um die
+Wirkungen einer Tat? Nahm es nur von Vorgängen in der Seele Kenntnis? Er
+hätte es gar zu gern gewußt und hoffte, eines Tages solche Wandlung vor
+seinen Augen geschehen zu sehen, und er schauderte, während er es
+hoffte.
+
+Die arme Sibyl! Wie sonderbar romantisch alles gewesen war! Sie hatte
+oft den Tod auf der Bühne dargestellt. Dann hatte sie der Tod selbst
+gepackt und weggeholt. Wie mochte sie die grauenvolle letzte Szene
+gespielt haben? Hatte sie ihn im Sterben verflucht? Nein; sie war aus
+Liebe zu ihm gestorben, und die Liebe sollte ihm von jetzt ab immer ein
+Heiligtum bleiben. Sie hatte alles gebüßt durch das Opfer ihres Lebens.
+Er wollte nicht mehr daran denken, was er ihretwegen an jenem
+schrecklichen Theaterabend durchgemacht hatte. Wenn er an sie dachte,
+sollte es sein wie an eine wundersam tragische Gestalt, die auf die
+Weltbühne gestellt worden war, um die höchste Verwirklichung der Liebe
+zu künden. Eine wundersam tragische Gestalt? Tränen traten ihm in die
+Augen, als er sich ihres kindlichen Aussehens, ihrer fröhlichen,
+phantastischen Art, ihrer scheuen, zaghaften Anmut entsann. Er
+verscheuchte alles hastig und blickte wieder auf das Porträt.
+
+Er fühlte, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, zu wählen. Oder war die
+Wahl schon getroffen? Ja, das Leben hatte für ihn entschieden -- das
+Leben und seine unermeßliche Neugier auf das Leben. Ewige Jugend,
+unerschöpfliche Leidenschaft, ausgesuchte, geheimnisvolle Genüsse, wilde
+Freuden und noch wildere Sünden -- all das sollte er haben. Das Bildnis
+sollte die Last seiner Schmach tragen: das war alles.
+
+Ein peinliches Gefühl beschlich ihn, als er an die Entweihung dachte,
+die dieses schönen Gesichtes auf der Leinwand harrte. Einmal hatte er in
+knabenhafter Parodie des Narzissus die gemalten Lippen, die ihn jetzt so
+grausam anlächelten, geküßt oder doch zum Schein geküßt. Morgen für
+Morgen hatte er vor dem Bild gesessen und seine Schönheit angestaunt; zu
+Zeiten kam es ihm vor, als sei er in sein eigenes Bild verliebt. Sollte
+es sich nun wandeln mit jeder Laune, der er nachgab? Sollte es ein
+ungeheuerliches, widerliches Ding werden, das man im verhängten Winkel
+verschließen müsse vor dem Glanz der Sonne, der so oft das lockige
+Wunder seines Haares noch goldiger hatte aufleuchten lassen? Wie schade!
+Wie schade!
+
+Einen Augenblick dachte er daran, zu beten, daß die entsetzliche
+Beziehung zwischen ihm und dem Bilde aufhören möge. Es hatte sich
+verwandelt, da er darum gebeten hatte; es könnte vielleicht, wenn er
+darum bäte, auch wieder unverändert bleiben. Und doch, wer, der eine
+Ahnung vom Leben hat, würde die Möglichkeit, immer jung zu bleiben,
+aufgeben, mochte die Möglichkeit noch so phantastisch und mit noch so
+verhängnisreichen Folgen verknüpft sein? Überdies, stand es wirklich in
+seiner Macht? War wirklich das Gebet die Ursache der Verwandlung? Konnte
+es für die ganze Sache nicht irgendeine merkwürdige wissenschaftliche
+Ursache geben? Wenn das Denken eine Wirkung auf einen lebenden
+Organismus ausüben konnte, konnte da nicht das Denken auch auf tote
+unorganische Dinge Einfluß haben? Ja, konnten nicht ohne Gedanken und
+bewußte Wünsche Dinge eingreifen, die ganz außerhalb unserer Person
+stehen, im Einklange mit unseren Launen und Leidenschaftsanfällen
+erzittern, konnte nicht Atom zu Atom sprechen in geheimer Neigung oder
+seltsamer Verwandtschaft? Aber schließlich waren die Ursachen
+gleichgültig. Er wollte durch Gebet nie wieder eine schreckliche Macht
+versuchen. Wenn das Bildnis sich wandeln wollte, so sollte es sich
+wandeln. Das war einmal so. Warum zu tief in ein Geheimnis eindringen?
+
+Allerdings müßte es ein starker Genuß sein, solchen Vorgang zu
+beobachten. Er würde befähigt werden, seinem Geist in geheime
+Schlupfwinkel zu folgen. Dies Bild sollte ihm der zauberhafteste Spiegel
+werden. Wie es ihm seinen Körper geoffenbart hatte, so sollte es ihm nun
+die Seele enthüllen. Und wenn der Winter über das Gemälde hereinbrach,
+dann stand er immer noch da, wo der Frühling schwankt, ob er die zum
+Sommer führende Schwelle überschreiten soll. Wenn das Blut aus seinem
+Antlitz fortschliche und eine kreidebleiche Maske mit stummen Augen
+zurückließe, dann bewahrte er immer noch den Glanz des Säuglingsalters.
+Keine Blüte seiner Lieblichkeit sollte jemals welken. Kein Pulsschlag
+seines Lebens jemals erlahmen. Wie die Götter der Griechen würde er
+stark und behend und heiter bleiben. Was lag daran, was aus dem gemalten
+Abbild auf der Leinwand wurde? Er selbst war seiner sicher. Darauf kam
+alles an.
+
+Er schob den Schirm wieder auf den alten Platz vor dem Bilde und
+lächelte, indem er es tat. Dann ging er in sein Schlafzimmer, wo sein
+Diener schon auf ihn wartete. Eine Stunde später war er in der Oper, und
+Lord Harry beugte sich über seinen Stuhl.
+
+
+
+
+Neuntes Kapitel
+
+
+Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat Basil Hallward ins
+Zimmer.
+
+»Ich bin so froh, daß ich dich treffe, Dorian«, sagte er ernsten Tons.
+»Ich war gestern abend hier, und man sagte mir, daß du in der Oper
+seist. Ich wußte natürlich, daß es ja unmöglich ist. Aber es wäre mir
+lieber gewesen, du hättest ein Wörtchen hinterlassen, wo du wirklich
+warst. Ich habe eine schreckliche Nacht verbracht, und fürchtete halb,
+daß eine Tragödie der anderen folgen würde. Ich meine, du hättest mir
+wohl depeschieren können, so wie du die Nachricht erhieltst. Ich hab' es
+durch Zufall im letzten Abendblatt des Globe gelesen, das mir im Klub in
+die Hände geriet. Ich eilte sofort hierher und war unglücklich, dich
+nicht zu Hause anzutreffen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie tief mir
+die ganze Sache ins Herz schneidet. Ich weiß, was du leiden mußt. Aber
+wo warst du denn? Bist du hingegangen, um die Mutter des Mädchens zu
+sehen? Einen Moment dachte ich daran, dir dorthin zu folgen. In der
+Zeitung stand die Adresse. Irgendwo in Euston Road, nicht wahr? Aber ich
+hatte Angst, zudringlich zu sein in einem Schmerze, wo ich doch nicht
+abhelfen konnte. Die arme Frau! In was für einem Zustand muß sie sein!
+Und dazu ihr einziges Kind! Was hat sie zu all dem gesagt?«
+
+»Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?« sagte Dorian Gray, nippte
+etwas hellgelben Wein aus einem reizenden bauchigen venezianischen
+Glase, das mit Goldperlen inkrustiert war, und sah ganz unwillig aus.
+»Ich war in der Oper. Du hättest auch hinkommen sollen. Ich habe dort
+Harrys Schwester, Lady Gwendolen, kennengelernt. Wir waren in ihrer
+Loge. Sie ist ein bezauberndes Weib; und die Patti hat göttlich
+gesungen. Sprich nicht von schrecklichen Dingen! Wenn man über eine
+Sache nicht spricht, ist sie nicht geschehen. Nur was man äußert, sagt
+Harry, gibt den Dingen ihre Wirklichkeit. Erwähnen möcht' ich aber, daß
+sie nicht das einzige Kind der Frau war. Es ist noch ein Sohn da, ein
+famoser Junge vermutlich. Aber er ist nicht beim Theater. Matrose oder
+so was ähnliches. Und jetzt erzähle mir was von dir, was malst du?«
+
+»Du warst in der Oper?« sagte Hallward gedehnt, und seine Stimme war
+gepreßt vor Schmerz. »Du warst in der Oper, während Sibyl Vane tot in
+irgendeiner schmutzigen Stube lag? Du kannst mir von anderen
+bezaubernden Weibern erzählen, und daß die Patti göttlich gesungen hat,
+noch ehe das Mädchen, das du geliebt hast, die Ruhe des Grabes gefunden
+hat, darin sie schlafen soll? Mensch, bedenke doch, welche Schrecknisse
+auf den kleinen weißen Körper warten!«
+
+»Hör' auf, Basil, ich will davon nichts hören!« rief Dorian und sprang
+auf. »Du darfst mir über diese Dinge nichts sagen. Was geschehen ist,
+ist geschehen, was vergangen ist, ist vergangen.«
+
+»Nennst du gestern die Vergangenheit?«
+
+»Was hat die wirklich verstrichene Zeit damit zu tun? Nur seichtes Volk
+braucht Jahre, um ein Gefühl zu überwinden. Ein Mensch, der Herr über
+sich selbst ist, kann einen Schmerz ebenso leicht überwinden, wie er
+einen Genuß entdecken kann. Ich will nicht der Spielball meiner
+Empfindungen sein. Ich will sie ausnützen, mich an ihnen freuen und sie
+beherrschen.«
+
+»Dorian, es ist schauderhaft! Irgend etwas hat dich ganz verändert. Du
+siehst noch genau so aus wie der wunderhübsche Junge, der Tag für Tag in
+mein Atelier kam, um für mein Bild zu sitzen. Aber damals warst du
+einfacher, natürlich und herzlich. Du warst das unverdorbenste
+Menschenkind auf der ganzen Welt. Ich weiß nicht, was jetzt über dich
+gekommen ist. Du sprichst, als hättest du kein Herz, kein Mitleid in
+dir. Das ist Harrys Einfluß. Ich sehe es.«
+
+Der junge Mensch wurde rot, ging ans Fenster, sah ein paar Augenblicke
+auf den grün schimmernden, von der Sonne betupften Garten. »Ich schulde
+Harry sehr viel, sehr viel, Basil,« sagte er schließlich -- »mehr als
+ich dir schulde. Du hast mir nur Eitelkeit beigebracht.«
+
+»Ich bin bestraft worden dafür, Dorian -- oder werde es eines Tages
+sein.«
+
+»Ich weiß nicht, was du meinst, Basil«, rief Dorian aus und drehte sich
+um. »Ich weiß nicht, was du willst. Was willst du?«
+
+»Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt habe«, sagte der
+Künstler traurig.
+
+»Basil,« erwiderte der Jüngling, trat vor ihn hin und legte ihm die Hand
+auf die Schulter, »du bist zu spät gekommen. Als ich gestern hörte, daß
+sich Sibyl Vane getötet habe -- --«
+
+»Sich getötet! Gott im Himmel! ist das ganz sicher?« schrie Hallward und
+stierte ihn mit dem Ausdruck äußersten Schreckens an.
+
+»Mein lieber Basil! Du glaubst doch nicht, daß es nur ein gewöhnlicher
+Unglücksfall war? Natürlich hat sie sich selbst getötet.«
+
+Der ältere Mann vergrub sein Gesicht in den Händen. »Wie schrecklich!«
+flüsterte er und ein Schauer durchrann ihn.
+
+»Nein,« sagte Dorian Gray, »es ist gar nichts Schreckliches daran. Es
+ist eine der größten romantischen Tragödien unserer Zeit. In der Regel
+führen Schauspieler das alltäglichste Leben. Sie sind gute Ehemänner
+oder treue Ehefrauen oder sonst irgendwas Langweiliges. Du verstehst,
+was ich meine -- hausbackene Tugend und lauter solche Dinge. Wie anders
+war Sibyl! Sie lebte ihre beste Tragödie. Sie war immer eine Heldin. Am
+letzten Abend, wo sie spielte -- an dem Abend, wo du sie gesehen hast
+--, spielte sie schlecht, weil sie die Liebe als Wirklichkeit erkannt
+hatte. Als sie ihre Unwirklichkeit erfuhr, starb sie, wie Julia daran
+gestorben wäre. Sie entschwand wieder in das Reich der Kunst. Sie
+umschwebt etwas von einer Märtyrerin. Ihr Tod hat all die pathetische
+Nutzlosigkeit der Märtyrerschaft, all seine vergeudete Schönheit. Aber
+wie gesagt, du brauchst nicht zu glauben, daß ich nicht gelitten hätte.
+Wenn du gestern in einem bestimmten Augenblick, etwa um halb sechs oder
+um drei Viertel sechs gekommen wärst -- dann hättest du mich in Tränen
+aufgelöst gefunden. Selbst Harry, der hier war und mir erst die
+Nachricht brachte, hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Ich litt
+namenlos. Dann ging es vorüber. Ich kann das Gefühl nicht wiederholen.
+Niemand kann das, sentimentale Menschen ausgenommen. Und du bist
+furchtbar ungerecht, Basil. Du kommst hierher, um mich zu trösten. Das
+ist gut und lieb von dir. Du findest mich getröstet und bist wütend. So
+sieht dein Mitgefühl aus! Du erinnerst mich an eine Geschichte, die mir
+Harry über einen Philantropen erzählt hat, der sich zwanzig Jahre seines
+Lebens damit abquälte, irgendeinen Mißstand aus der Welt zu schaffen
+oder ein ungerechtes Gesetz abzuändern -- ich kann mich nicht mehr genau
+erinnern. Schließlich gelang es ihm, und nichts konnte größer sein als
+seine Enttäuschung. Er hatte nun absolut nichts mehr zu tun, starb
+beinah vor Langerweile und wurde ein unversöhnlicher Menschenhasser. Und
+außerdem, mein lieber, alter Basil, wenn du mich wirklich trösten
+wolltest, so lehre mich lieber vergessen, was geschehen ist, oder lehre
+mich's von rein künstlerischer Seite ansehen. War es nicht Gautier, der
+gern über die >~consolation des arts~< geschrieben hat? Ich erinnere
+mich, daß mir mal in deinem Atelier ein kleines Buch in Pergamentband
+in die Hand fiel, und ich darin auf diesen entzückenden Ausdruck stieß.
+Nun, ich bin ja nicht wie der junge Mann, von dem du mir einmal in
+Marlow erzählt hast, und der zu sagen pflegte, gelber Atlas könne einen
+über alles Elend im Leben hinwegtrösten. Ich liebe schöne Dinge, die man
+in die Hand nehmen und angreifen kann. Alter Brokat, grünpatinierte
+Bronzen, Lackarbeiten, Elfenbeinschnitzereien, eine erlesene
+Zimmerkunst, Luxus, Prunk, das sind alles Dinge, die einem viel geben
+können. Aber die künstlerische Seelenstimmung, die sie erzeugen oder
+mindestens offenbaren, bedeutet mir doch noch mehr. Ein Zuschauer seines
+eigenen Lebens sein, wie Harry sagt, das heißt, den Schmerzen des Lebens
+entrinnen. Ich weiß, du bist erstaunt, daß ich so zu dir spreche. Du
+hast noch nicht bemerkt, wie ich mich entwickelt habe. Ich war ein
+Schulknabe, als du mich kennenlerntest. Jetzt bin ich ein Mann. Ich habe
+neue Leidenschaften, neue Gedanken, neue Vorstellungen. Ich bin anders,
+aber du mußt mich trotzdem nicht weniger lieb haben. Ich bin verändert,
+aber du mußt immer mein Freund bleiben. Natürlich habe ich Harry sehr
+gern. Aber ich weiß auch, daß du besser bist als er. Du bist nicht
+stärker -- dazu ängstigst du dich zu viel vorm Leben -- aber du bist
+besser. Und wie glücklich waren wir doch miteinander! Verlaß mich nicht,
+Basil, und zanke nicht mit mir. Ich bin, was ich bin. Mehr kann ich dazu
+nicht sagen.«
+
+Der Maler war seltsam bewegt. Der junge Mensch war ihm unsagbar teuer,
+und seine Erscheinung war der große Wendepunkt in seiner Kunst gewesen.
+Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihm noch weitere Vorwürfe zu
+machen. Am Ende war seine Gleichgültigkeit nur eine vorübergehende
+Laune. Es steckte ja soviel Gutes, soviel Edles in ihm.
+
+»Gut, Dorian,« sagte er endlich mit einem wehmütigen Lächeln, »ich will
+von heut an nie wieder über diese furchtbare Sache sprechen. Ich hoffe
+nur, dein Name wird nicht in Verbindung damit genannt. Die Leichenschau
+soll heute nachmittag stattfinden. Bist du vorgeladen?«
+
+Dorian schüttelte den Kopf, und eine unangenehme Empfindung glitt bei
+dem Wort »Leichenschau« über sein Gesicht. In all diesen Dingen lag
+etwas so Rohes und Gemeines. »Sie kennen meinen Namen nicht«, antwortete
+er.
+
+»Aber sie wußte ihn doch?«
+
+»Nur meinen Vornamen, und den hat sie gewiß niemand gesagt. Sie erzählte
+mir einmal, daß alle sehr begierig seien, zu erfahren, wer ich sei und
+daß sie ihnen beständig sage, ich heiße der Prinz Märchenschön. Das war
+hübsch von ihr. Du mußt mir eine Zeichnung von Sibyl machen, Basil. Ich
+möchte von ihr gern etwas mehr haben als die Erinnerung an ein paar
+Küsse und einige gestammelte pathetische Worte.«
+
+»Ich will versuchen, etwas zu machen, Dorian, wenn ich dir damit eine
+Freude bereite. Aber du mußt zu mir kommen und mir selbst wieder sitzen.
+Ich komme ohne dich nicht vom Fleck.«
+
+»Ich kann dir nie wieder sitzen, Basil. Das ist unmöglich!« rief Dorian
+und schrak zurück.
+
+Der Maler starrte ihn an. »Mein lieber Junge, was für ein Unsinn«, rief
+er. »Willst du damit sagen, daß du mein Bild nicht gut findest? Wo ist
+es? Warum hast du den Wandschirm vorgestellt? Laß es mich sehen. Es ist
+die beste Arbeit, die ich je gemacht habe. Nimm den Schirm weg, Dorian!
+Es ist eine Schande, daß dein Bedienter mein Bild so versteckt. Ich
+merkte gleich, wie ich eintrat, daß das Zimmer ganz verändert sei.«
+
+»Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Du glaubst doch nicht etwa,
+daß ich ihm irgendeine Anordnung in meinem Zimmer überlasse? Er ordnet
+zuweilen meine Blumen -- das ist alles. Nein, ich habe es selbst getan.
+Das Licht war zu stark für das Bild.«
+
+»Zu stark? Gewiß nicht, mein Lieber. Es hat einen untadeligen Platz. Laß
+mich's mal sehen!« und Hallward schritt in die Zimmerecke.
+
+Ein Schrei des Entsetzens entrang sich den Lippen Dorian Grays, und er
+stürzte sich zwischen den Maler und den Schirm. »Basil,« sagte er und
+sah ganz bleich aus, »du darfst es nicht sehen. Ich will es nicht.«
+
+»Mein eigenes Bild nicht sehen? Du meinst das doch nicht im Ernst! Warum
+soll ich es nicht sehen?« rief Hallward lachend.
+
+»Wenn du versuchst, es anzusehen, Basil, gebe ich dir mein Ehrenwort,
+daß ich, solange ich lebe, nie wieder ein Wort mit dir spreche. Es ist
+mein völliger Ernst. Ich gebe keine Erklärung, und du wirst um keine
+bitten. Aber denke daran, wenn du diesen Wandschirm anrührst, dann ist
+alles aus zwischen uns!«
+
+Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Dorian Gray ganz verblüfft
+an. So hatte er ihn vorher nie gesehen. Der Jüngling war wirklich ganz
+bleich vor Zorn. Seine Hände waren zusammengeballt, und die Pupillen
+seiner Augen sahen aus wie blaue Feuerräder. Er zitterte am ganzen
+Leibe.
+
+»Dorian!«
+
+»Sprich nicht!«
+
+»Aber was ist los? Ich sehe das Bild natürlich nicht an, wenn du es
+nicht willst«, sagte der Maler ziemlich kühl, drehte sich um und ging
+zum Fenster hinüber. »Aber es scheint mir wahrhaftig ganz verrückt, daß
+ich mein eigenes Werk nicht sehen soll, besonders, wo ich es im Herbst
+in Paris ausstellen will. Ich werde es wahrscheinlich vorher nochmals
+firnissen müssen, werde es also eines Tages doch gewiß sehen, also warum
+nicht heute?«
+
+»Es ausstellen? Du willst es ausstellen?« rief Dorian Gray, den ein
+seltsames Angstgefühl überkam. Sollte alle Welt sein Geheimnis erfahren?
+Sollte das Volk das Geheimnis seines Lebens begaffen? Das war unmöglich.
+Irgend etwas -- er wußte noch nicht was -- mußte sofort geschehen.
+
+»Ja, ich denke nicht, daß du etwas dagegen haben wirst. Georges Petit
+will nächstens meine besten Bilder für eine Sonderausstellung in der Rue
+de Sèze sammeln, die in der ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll.
+Das Bild wird nur einen Monat lang weg sein. Ich meine, solange könntest
+du es leicht entbehren. Du bist ohnehin während dieser Zeit nicht in der
+Stadt. Und wenn du es überhaupt hinter einem Schirm versteckt halten
+willst, kann dir ja nicht viel daran gelegen sein.«
+
+Dorian Gray fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Schweißtropfen
+standen darauf. Er fühlte, daß er am Rande einer fürchterlichen Gefahr
+stehe. »Du hast mir vor einem Monat gesagt, du würdest es nie
+ausstellen«, rief er. »Warum hast du dich anders entschlossen? Ihr
+Leute, die ihr viel Aufhebens von der Konsequenz macht, habt genau
+soviel Launen wie andere. Der einzige Unterschied ist der, daß eure
+Launen wenig Sinn haben. Du kannst nicht vergessen haben, daß du mir
+feierlichst versichert hast, nichts in der Welt könne dich bewegen, das
+Bild auf eine Ausstellung zu bringen. Du sagtest zu Harry ganz
+dasselbe.« Er stockte plötzlich, und ein Glanz erwachte in seinen Augen.
+Er erinnerte sich, daß ihm Lord Harry einmal halb ernst und halb
+scherzend gesagt hatte: Willst du mal eine merkwürdige Viertelstunde
+erleben, dann laß dir von Basil sagen, warum er dein Porträt nicht
+ausstellen will. Er hat mir den Grund erzählt, und es war für mich eine
+Offenbarung. Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis. Er wollte
+ihn fragen und auf die Probe stellen.
+
+»Basil,« sagte er, und trat ganz dicht zu ihm heran und sah ihm fest ins
+Gesicht, »jeder von uns hat ein Geheimnis. Sage mir das deine, und ich
+laß dich meines wissen. Was für einen Grund hattest du, die Ausstellung
+meines Bildes zu verweigern?«
+
+Der Maler erschauderte, ohne daß er es wollte. »Dorian, wenn ich es dir
+sagte, hättest du mich wahrscheinlich weniger lieb und würdest mich
+gewiß auslachen. Keines von beiden könnte ich ertragen. Wenn du willst,
+daß ich nie mehr dein Bild ansehen soll, dann geb' ich mich zufrieden.
+Ich kann dich selbst ja immer ansehen. Wenn du die beste Arbeit, die ich
+je gemacht habe, vor der Welt versteckt halten willst, soll es mir recht
+sein. Deine Freundschaft ist mir mehr wert als Ruhm und Anerkennung.«
+
+»Nein, Basil, du mußt es mir sagen. Ich glaube, ich habe ein Recht, es
+zu wissen.« Sein Angstgefühl hatte ihn verlassen, und Neugier war an
+dessen Stelle getreten. Er war entschlossen, hinter Basil Hallwards
+Geheimnis zu kommen.
+
+»Setzen wir uns, Dorian«, sagte der Maler, der verwirrt aussah. »Setzen
+wir uns und beantworte mir eine Frage. Hast du an dem Bild etwas
+Merkwürdiges bemerkt? -- etwas, das dir vielleicht anfänglich nicht
+aufgefallen ist, was sich dir dann aber plötzlich enthüllte?«
+
+»Basil!« schrie der Jüngling, umklammerte die Armlehnen seines Stuhles
+mit zitternden Händen und starrte ihn mit wilden, verstörten Augen an.
+
+»Ich sehe, du hast es bemerkt. Sage nichts. Warte, bis du gehört hast,
+was ich zu sagen habe. Dorian, von dem Augenblick an, wo ich dich
+kennengelernt habe, übte deine Persönlichkeit den außerordentlichsten
+Einfluß auf mich aus. Ich war beherrscht von dir, meine Seele, mein
+Gehirn, meine ganze Kraft war es. Du wurdest für mich die sichtbare
+Verkörperung des unsichtbaren Ideals, dessen Bild uns Künstler wie ein
+köstlicher Traum verfolgt. Ich habe dich angebetet. Ich wurde
+eifersüchtig auf jeden Menschen, mit dem du sprachst. Ich wollte dich
+ganz für mich allein haben. Ich war nur glücklich, wenn ich mit dir
+zusammen war. Wenn du fort von mir warst, lebtest du trotzdem in meiner
+Kunst weiter... Natürlich ließ ich dich nie etwas davon wissen. Das
+wäre unmöglich gewesen. Du hättest es nicht verstanden. Ich selbst hab'
+es kaum verstanden. Ich wußte nur, daß ich Auge in Auge die
+Vollkommenheit gesehen hatte und daß sich die Welt meinen Augen als ein
+Wunder erschlossen hatte -- vielleicht als ein zu mächtiges Wunder, denn
+in so wahnsinniger Anbetung liegt eine Gefahr, die Gefahr, daß die
+Anbetung aufhört, und die Gefahr, daß sie bleibt... Wochen und Wochen
+verstrichen, und ich ging immer mehr und mehr in dir verloren. Dann kam
+ein neues Stadium. Ich hatte dich als Paris in strahlender Rüstung
+gemalt und als Adonis im Jägergewand mit blitzendem Speer. Mit schweren
+Lotusblüten bekränzt hast du auf dem Bug von Hadrians Barke gesessen und
+in den grünen, schlammigen Nil geblickt. Du hast dich über das stille
+Gewässer einer griechischen Waldlandschaft gelehnt und im stummen
+Silberspiegel das Wunder deines eigenen Antlitzes gesehen. Und es war
+alles gewesen, wie die Kunst sein soll, unbewußt, ideal und entrückt.
+Eines Tages, manchmal denke ich, eines verhängnisvollen Tages, entschloß
+ich mich, ein wundervolles Bildnis von dir zu malen, wie du wirklich
+bist, nicht im Kostüm toter Zeiten, sondern in deiner eigenen Tracht und
+deiner eigenen Zeit. Ob es nun die Realistik der Methode war, oder der
+Zauber deiner eigenen Persönlichkeit, der mir so ohne jeden Schleier und
+Nebel entgegentrat, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, daß mir bei der
+Arbeit jede Schicht Farben mein Geheimnis zu enthüllen schien. Ich
+ängstigte mich, andere könnten die Abgötterei, die ich mit dir trieb,
+entdecken. Ich fühlte, Dorian, daß ich zuviel gesagt, daß ich zuviel von
+mir selber hineingelegt hatte. Damals beschloß ich, das Bild nie
+auszustellen. Es kränkte dich ein wenig, aber damals verstandest du eben
+nicht, was es für mich bedeutete; Harry, dem ich davon erzählte, lachte
+mich aus. Aber das machte mich nicht irrig. Als das Bild fertig war, und
+ich allein vor ihm dasaß, fühlte ich, daß ich recht hatte... Schön, ein
+paar Tage später, als es mein Atelier verlassen, und ich alsbald den
+unerträglichen Zauber seiner Gegenwart überwunden hatte, schien es mir,
+daß es verrückt von mir gewesen war, mehr darin zu sehen, als daß du
+sehr hübsch seist, und ich wohl malen könne. Selbst jetzt kann ich nicht
+umhin, zu fühlen, daß es ein Irrtum sein muß, wenn man glaubt, daß die
+Begeisterung, die man beim Schaffen hat, in dem Werke, das man schafft,
+leibhaftig zum Ausdruck käme. Die Kunst ist immer abstrakter, als wir
+uns einbilden. Form und Farbe erzählen uns von Form und Farbe -- weiter
+nichts. Es scheint mir oft, daß die Kunst den Künstler viel mehr
+verbirgt als offenbart. Und als ich dann den Antrag aus Paris bekam,
+entschloß ich mich, dein Bild zum Hauptstück meiner Ausstellung zu
+machen. Es fiel mir nie ein, daß du es nicht zulassen würdest. Ich sehe
+jetzt, daß du recht hast. Das Bild darf nicht ausgestellt werden. Du
+mußt mir nicht böse sein, Dorian, wegen der Dinge, die ich gesagt habe.
+Ich habe früher einmal Harry gesagt, du bist dazu geschaffen, angebetet
+zu werden.«
+
+Dorian Gray atmete tief auf. Seine Wangen bekamen wieder Farbe, und ein
+Lächeln umspielte seine Lippen. Die Gefahr war vorbei. Für den
+Augenblick war er gerettet. Doch er mußte unendliches Mitleid fühlen mit
+dem Maler, der ihm eben diese seltsame Beichte abgelegt hatte, und er
+fragte sich, ob er selbst jemals so stark von der Persönlichkeit eines
+Freundes beherrscht werden könnte. Lord Henry hatte den Reiz, sehr
+gefährlich zu sein. Aber das war alles. Er war zu klug und zu zynisch,
+als daß man ihn wirklich lieben könnte. Würde es je einen Menschen
+geben, den er merkwürdig abgöttisch anbeten könnte? War das eines von
+den Dingen, die ihm das Leben noch aufsparte?
+
+»Es ist mir wirklich ein reines Rätsel,« sagte Hallward, »daß du das dem
+Porträt angesehen haben willst. Hast du es wirklich gesehen?«
+
+»Ich habe etwas darin gesehen,« antwortete er, »etwas, das mir sehr
+sonderbar vorkam.«
+
+»Und jetzt hast du wohl nichts mehr dawider, es einmal zu betrachten?«
+
+Dorian schüttelte den Kopf. »Das darfst du von mir nicht verlangen,
+Basil. Es ist mir unmöglich, dich vor dem Bilde stehen zu sehen.«
+
+»Aber doch ein andermal?«
+
+»Nie!«
+
+»Schön, vielleicht hast du recht. Und jetzt adieu, Dorian. Du bist der
+einzige Mensch in meinem Leben gewesen, der wirklichen Einfluß auf meine
+Kunst ausgeübt hat. Was ich je Gutes gemacht habe, danke ich dir. Ach!
+Du kannst dir nicht vorstellen, was es mich gekostet hat, dir all das
+zu sagen, was ich gesagt habe.«
+
+»Mein lieber Basil,« sagte Dorian, »was hast du mir denn gesagt? Nichts,
+als daß du das Gefühl habest, mich zu sehr zu bewundern. Das ist nicht
+einmal ein Kompliment.«
+
+»Es sollte auch kein Kompliment sein. Es war eine Beichte. Jetzt, da ich
+sie abgelegt habe, kommt es mir so vor, als ob ich etwas verloren hätte.
+Man sollte seiner Verehrung niemals das Kleid der Worte umhängen.«
+
+»Deine Beichte hat mich enttäuscht.«
+
+»Ja, was hast du denn erwartet, Dorian? Du hast doch nicht sonst noch
+etwas in dem Bilde gesehen? Es war doch nicht sonst noch etwas anderes
+zu sehen?«
+
+»Nein, es war sonst nichts anderes zu sehen. Warum fragst du? Aber du
+solltest nicht von Verehrung sprechen. Das ist Narrheit. Du und ich, wir
+sind Freunde, Basil, und müssen es immer bleiben.«
+
+»Du hast jetzt Harry«, sagte der Maler traurig.
+
+»Oh, Harry!« rief der junge Mann mit einem fröhlichen Lachen. »Harry
+verbringt seine Tage damit, unglaubliche Dinge zu sagen, und seine
+Abende, unwahrscheinliche Dinge zu tun. Das ist genau die Art Leben, das
+ich führen möchte. Immerhin glaube ich nicht, daß ich je zu Harry ginge,
+wenn mich Kummer drückte. Ich würde eher zu dir kommen.«
+
+»Du willst mir wieder sitzen?«
+
+»Unmöglich!«
+
+»Du vernichtest meine künstlerische Existenz, wenn du dich weigerst.
+Kein Mensch begegnet zwei Idealen. Wenige finden eines.«
+
+»Ich kann es dir nicht erklären, Basil, aber ich darf dir nie wieder
+sitzen. Es schwebt etwas Verhängnisvolles um das Bildnis eines Menschen.
+Es hat ein Leben für sich. Ich werde zu dir kommen und mit dir Tee
+trinken, das wird ebenso hübsch sein.«
+
+»Für dich hübscher, fürchte ich«, sagte Hallward bekümmert vor sich hin.
+»Und jetzt adieu. Es tut mir leid, daß du mich nicht noch einmal das
+Bild sehen lassen wolltest. Aber dabei ist nichts zu tun. Ich verstehe
+sehr gut, was du dabei fühlst.«
+
+Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte sich Dorian Gray zu. Der
+arme Basil! Wie wenig ahnte der doch von dem wahren Grunde! Und wie
+seltsam es war, daß er es, statt sein eigenes Geheimnis offenbaren zu
+müssen, fast durch einen Zufall erreicht hatte, dem Freunde das seine zu
+entreißen. Wie viel erklärte ihm doch diese merkwürdige Beichte! Die
+unverständlichen Eifersuchtsanfälle des Malers, seine ungestüme
+Verehrung, seine übertriebenen Lobeshymnen, sein sonderbares Verstummen
+-- das alles verstand er jetzt, und er tat ihm leid. Einer Freundschaft,
+die so stark von Romantik gefärbt war, schien ihm eine gewisse Tragik
+inne zu wohnen.
+
+Er seufzte und drückte auf die Klingel. Das Porträt mußte um jeden Preis
+versteckt werden. Er konnte sich nicht ein zweitesmal der Gefahr solcher
+Entdeckung aussetzen. Es war wahnsinnig von ihm gewesen, das Ding da
+überhaupt nur eine Stunde lang in einem Zimmer zu lassen, zu dem jeder
+seiner Freunde Zutritt hatte.
+
+
+
+
+Zehntes Kapitel
+
+
+Als sein Bedienter eintrat, sah er ihn forschend an und fragte sich, ob
+es ihm wohl schon eingefallen sei, hinter den Schirm zu blicken. Der
+Mann sah aber ganz harmlos aus und wartete auf seine Befehle. Dorian
+zündete sich eine Zigarette an, ging zum Spiegel hinüber und sah hinein.
+Er konnte Viktors Gesicht darin genau sehen. Es war eine reglose Maske
+der Unterwürfigkeit. Daher war nichts zu fürchten, daher nicht. Doch er
+hielt es für das beste, auf der Hut zu sein.
+
+In sehr leisem Tone trug er ihm auf, die Haushälterin herein zu rufen
+und dann zum Einrahmer zu gehen, damit er sofort zwei Gehilfen schicke.
+Es schien ihm, daß die Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, in
+die Richtung des Schirmes gingen. Oder war das nur Einbildung von ihm?
+
+Nach einigen Augenblicken trat Frau Leaf in ihrem schwarzseidenen Kleid,
+altmodische Zwirnhandschuhe auf den runzligen Händen, in die Bibliothek.
+Er verlangte von ihr den Schlüssel zum Schulzimmer.
+
+»Das alte Schulzimmer, Herr Dorian!« rief sie aus. »Ei, das ist ja
+voller Staub. Es muß erst hergerichtet und in Ordnung gebracht werden,
+bevor Sie hinein können. Es ist jetzt nicht in einem Zustand, daß Sie es
+sehen könnten, gnädiger Herr. Wirklich nicht.«
+
+»Es braucht nicht hergerichtet zu werden, gute Leaf. Ich will nur den
+Schlüssel.«
+
+»Aber gnädiger Herr, Sie werden sich voller Spinnweben machen, wenn Sie
+hineingehen. Ei, es ist ja beinah seit fünf Jahren nicht geöffnet
+worden, seit seine Gnaden gestorben sind.«
+
+Er zuckte zusammen bei der Erwähnung seines Großvaters. Er hatte nur
+gehässige Erinnerungen an ihn. »Das macht nichts«, erwiderte er. »Ich
+will das Zimmer nur sehen -- das ist alles. Geben Sie mir den
+Schlüssel.«
+
+»Hier ist schon der Schlüssel, gnädiger Herr«, sagte die alte Dame, die
+ihren Schlüsselbund mit zitternden, unsicheren Händen durchmustert
+hatte. »Hier ist der Schlüssel, ich werde ihn gleich vom Bund haben.
+Aber Sie denken doch nicht daran, dort hinaufzuziehen, gnädiger Herr, wo
+Sie es hier so gemütlich haben?«
+
+»Nein, nein!« rief er ungeduldig. »Ich danke, gute Leaf. Ich brauche
+sonst nichts.«
+
+Sie verweilte noch ein paar Augenblicke und wollte über irgendeine
+Angelegenheit in der Haushaltung zu quengeln anfangen. Er seufzte und
+sagte, sie solle alles so erledigen, wie sie es fürs beste halte. Mit
+strahlendem Gesichte verließ sie das Zimmer.
+
+Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel in die Tasche
+und blickte sich im Zimmer um. Sein Auge fiel auf eine große purpurne
+Atlasdecke mit schweren Goldstickereien, ein köstliches Stück
+venezianischer Arbeit vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein
+Großvater in einem Kloster nahe bei Bologna aufgestöbert hatte. Ja, die
+paßte trefflich, um das schreckliche Ding damit zu verhüllen. Sie hatte
+vielleicht oft als Bahrtuch für Tote gedient. Jetzt sollte sie etwas
+verhüllen, das eine eigene Art Verwesung in sich hatte, eine ärgere als
+die Verwesung des Todes -- etwas, das Schrecknisse ausbrüten und doch
+nie sterben würde. Was Würmer für einen Leichnam sind, das würden seine
+Sünden für das gemalte Antlitz auf der Leinwand werden. Sie würden seine
+Schönheit zerstören und seine Anmut wegfressen. Sie würden es beflecken
+und schänden. Und doch würde das Bild weiterleben. Es würde immer am
+Leben bleiben.
+
+Er schauderte, und einen Augenblick lang tat es ihm leid, daß er Basil
+nicht den wahren Grund gesagt habe, warum er das Bild verstecken wolle.
+Basil hätte ihm helfen können, sowohl dem Einfluß Lord Henrys zu
+widerstehen, als auch den noch viel giftigeren Einflüssen, die aus
+seiner eigenen Natur herrührten. Die Liebe, die Basil für ihn hegte --
+denn es war wirklich Liebe --, schloß nichts ein, was nicht edel und
+vergeistigt wäre. Es war nicht jene rein physische Bewunderung, die eine
+Geburt der Sinne ist und mit der Ermüdung der Sinne hinstirbt. Es war
+eine Liebe, wie sie Michelangelo gekannt hatte und Montaigne und
+Winkelmann und auch Shakespeare. Ja, Basil hätte ihn retten können. Aber
+jetzt war es zu spät. Die Vergangenheit konnte immer vernichtet werden.
+Reue, Verleugnung oder Vergessenheit konnten das bewirken. Aber die
+Zukunft war unabwendlich. Er hatte Leidenschaften in sich, die ihr
+fürchterliches Ausfalltor bei ihm finden wurden, Träume, die ihre
+sündigen Schatten zur Wirklichkeit umwandeln würden.
+
+Er griff nach dem großen Überwurf aus Purpur und Gold, der den Diwan
+bedeckte, hob ihn mit beiden Händen auf und ging damit hinter den
+Schirm. War das Gesicht auf der Leinwand jetzt häßlicher als vorher? Es
+erschien ihm unverändert; und doch, sein Abscheu davor war noch
+verstärkt. Goldiges Haar, blaue Augen, rosenrote Lippen -- das war alles
+da. Nur der Ausdruck hatte sich verwandelt. Der war erschreckend in
+seiner Grausamkeit. Im Vergleich zu den Vorwürfen und der Rüge, die er
+in dem Bilde sah, wie nichtssagend waren da Basils Vorhaltungen über
+Sibyl Vane gewesen -- nichtssagend und belanglos! Seine eigene Seele sah
+ihn an aus der Leinwand und forderte ihn vors Gericht. Ein schmerzlicher
+Zug legte sich über sein Gesicht, und er warf die prunkvolle Sofadecke
+über das Bild. Während er dies tat, klopfte es an die Tür. Er kam hinter
+dem Wandschirm hervor, als sein Bedienter eintrat.
+
+»Die Leute sind da, Monsieur.«
+
+Er hatte das Gefühl, daß er den Mann jetzt los werden müsse. Er durfte
+nicht wissen, wohin das Bild sollte. Er hatte etwas Listiges an sich und
+nachdenkliche, verräterische Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch,
+kritzelte ein paar Zeilen hin an Lord Henry, worin er bat, ihm etwas zum
+Lesen zu schicken, und worin er ihn daran erinnerte, daß sie sich um
+viertel neun heut abend treffen wollten.
+
+»Warten Sie auf Antwort,« sagte er, indem er ihm den Brief übergab, »und
+lassen Sie die Leute herein.«
+
+Nach zwei bis drei Minuten klopfte es wieder, und Herr Hubbard, der
+berühmte Rahmenfabrikant aus South Audley Street, trat mit einem
+struwwelig aussehenden Gehilfen herein. Herr Hubbard war ein blühend
+aussehender, rotbäckiger, kleiner Mann, dessen Bewunderung für die Kunst
+beträchtlich vermindert worden war durch den althergebrachten Geldmangel
+bei den meisten Künstlern, die mit ihm zu tun hatten. In der Regel
+verließ er seine Werkstatt nie. Er wartete, bis die Leute zu ihm kamen.
+Aber bei Dorian Gray machte er immer eine Ausnahme. Es war etwas an
+Dorian, was jeden entzückte. Ihn nur zu sehen, das war schon ein
+Vergnügen.
+
+»Was steht zu Ihren Diensten, Herr Gray?« fragte er und rieb seine
+fetten, sommersprossigen Hände. »Ich dachte, ich wollte mir selbst die
+Ehre geben, herüberzukommen. Ich habe gerade ein Prachtstück von Rahmen
+da. Bei einer Auktion ergattert. Alt-Florentiner. Stammt aus Fonthill,
+vermute ich. Wundervoll geeignet für einen religiösen Gegenstand, Herr
+Gray.«
+
+»Es tut mir leid, daß Sie sich selbst herbemüht haben, Herr Hubbard. Ich
+werde gern mal vorbeikommen und den Rahmen ansehen -- obwohl ich mich
+gerade jetzt nicht sehr für religiöse Kunst interessiere -- aber heute
+möchte ich nur ein Bild auf den Boden getragen haben. Es ist ziemlich
+schwer, deshalb dachte ich mir, daß Sie so gut wären, mir zwei von Ihren
+Leuten zu leihen.«
+
+»Hat gar nichts zu sagen, Herr Gray. Freue mich, wenn ich Ihnen den
+kleinsten Dienst leisten kann. Wo ist das Kunstwerk, gnädiger Herr?«
+
+»Dies da«, antwortete Dorian und schob den Schirm zurück. »Können Sie es
+so hinaufbringen, wie es jetzt ist, Decke und Bild zusammen? Ich möchte
+nicht, daß es die Treppen hinauf zerschrammt wird.«
+
+»Das werden wir leicht kriegen«, sagte der muntere Rahmenmacher und
+begann mit Hilfe von seinem Gesellen das Bild von den langen
+Messingketten loszumachen, an denen es aufgehängt war. »Und wo soll es
+jetzt hingebracht werden, Herr Gray?«
+
+»Ich will Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn Sie so gut sein
+wollen, mir nur zu folgen. Oder vielleicht gehen Sie lieber voraus. Es
+tut mir leid, aber es ist ganz oben. Wir wollen über die Vordertreppe
+gehen, die ist breiter.«
+
+Er hielt ihnen die Tür auf, und sie gingen in den Vorraum hinaus und
+fingen an, hinaufzusteigen. Die ausladenden Verzierungen des Rahmens
+hatten das Bild sehr umfangreich gemacht, und hin und wieder legte
+Dorian mit Hand an, um ihnen zu helfen, trotz den unterwürfigen
+Einwänden des Herrn Hubbard, der die lebhafte Abneigung des wirklichen
+Handwerkers gegen jede nützliche Beschäftigung eines vornehmen Herrn
+hatte.
+
+»Da hat man ein ziemliches Gewicht zu schleppen«, pustete der kleine
+Mann, als sie den letzten Treppenabsatz erreicht hatten. Und er
+trocknete sich die glänzende Stirn.
+
+»Es tut mir leid, daß es so schwer ist«, murmelte Dorian, während er die
+Tür zu dem Zimmer aufschloß, das dieses sonderbare Geheimnis seines
+Lebens aufbewahren und seine Seele vor den Blicken der Menschheit
+schützen sollte.
+
+Er hatte die Stube wohl länger als vier Jahre nicht betreten -- in
+Wirklichkeit nicht, seitdem sie ihm in seiner Kindheit zuerst als
+Spielzimmer, und dann, als er etwas älter war, als Studierzimmer gedient
+hatte. Es war ein großer Raum von schönen Verhältnissen, den der
+verstorbene Lord Kelso eigens zur Benutzung für seinen kleinen Enkel
+angebaut hatte, den er wegen seiner fabelhaften Ähnlichkeit mit seiner
+Mutter und auch noch aus anderen Gründen immer gehaßt hatte und
+möglichst weit weg von sich haben wollte. Der Raum schien Dorian wenig
+verändert. Da war der mächtige italienische Cassone mit den phantastisch
+bemalten Füllungen und den abgenutzten goldenen Ornamenten, in dem er
+sich als Junge oft versteckt hatte. Da stand der polierte Bücherschrank
+aus Satinholz mit seinen Schulbüchern voll Eselsohren. An der Wand
+darüber hing noch derselbe zerfaserte flämische Gobelin, auf dem ein
+verblichener König und eine Königin in einem Garten Schach spielten,
+während ein Trupp von Falkenieren vorbeiritt, die auf ihren
+Panzerhandschuhen Vögel mit kappenverhüllten Köpfen trugen. Wie gut er
+sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner vereinsamten Kindheit
+kam ihm vors Gedächtnis, während er sich umsah. Er entsann sich der
+fleckenlosen Reinheit seines Knabenlebens, und es schien ihm furchtbar,
+daß gerade hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen werden sollte. Wie
+wenig hatte er in diesen längst verrauschten Tagen von alledem geahnt,
+was seiner warten sollte!
+
+Aber kein anderer Ort im ganzen Hause war so sicher vor neugierigen
+Augen als dieser. Er hatte den Schlüssel, und jetzt konnte niemand
+weiter hinein. Hinter dem purpurnen Bahrtuch konnte nun das gemalte
+Gesicht auf der Leinwand tierisch, gedunsen und lasterhaft werden. Was
+lag daran? Niemand konnte es sehen. Er selbst wollte es nicht sehen.
+Warum sollte er die gräßliche Verwesung seiner Seele verfolgen? Er
+behielt seine Jugend -- das mußte genügen. Und übrigens, konnte sein
+Wesen trotz allem nicht edler werden? Es war kein Grund vorhanden, daß
+die Zukunft so angefüllt von Lastern sein müsse. Die Liebe konnte in
+sein Leben treten und ihn läutern und ihn vor den Sünden beschützen, die
+ihm schon in Geist und Blut zu gähren schienen -- diese seltsamen, nicht
+gemalten Sünden, deren Unbekanntheit ihnen eben den Reiz und die
+Verführung lieh. Eines Tages vielleicht verschwand der grausame Zug von
+dem empfindlichen Scharlachmund, und dann würde er der Welt Basil
+Hallwards Meisterwerk zeigen können.
+
+Nein, das war unmöglich. Stunde für Stunde und Woche für Woche alterte
+das Antlitz auf der Leinwand. Es mochte den Greueln der Sünde
+entfliehen, aber die Greuel des Alters mußten es einholen. Die Wangen
+müssen hohl oder schlaff werden. Gelbe Krähenfüße müssen sich um die
+glanzlosen Augen herumringeln und sie fürchterlich machen. Das Haar
+mußte seinen Glanz verlieren, der Mund klaffen oder einfallen, blöde
+oder gewöhnlich aussehen, wie eben der Mund alter Leute aussieht. Der
+Hals mußte verschrumpfen, die Hände mußten kalt und von blauen Adern
+durchzogen werden, der Körper mußte sich krümmen, wie er ihn bei seinem
+Großvater gesehen hatte, der so streng gegen ihn gewesen war in der
+Knabenzeit. Das Bildnis mußte verborgen bleiben. Da konnte nichts
+helfen.
+
+»Bitte, Herr Hubbard, bringen Sie es herein«, sagte er abgespannt und
+wandte sich um. »Es tut mir leid, daß ich Sie so lange aufhielt. Ich
+dachte gerade nach über etwas.«
+
+»Immer angenehm, sich mal verschnaufen zu können, Herr Gray«, antwortete
+der Rahmenmacher, der noch immer nach Luft schnappte. »Wo sollen wir es
+hinstellen?«
+
+»Ach, irgendwo. Vielleicht hierher: da wird's gut stehen. Ich will's
+nicht aufgehängt haben. Lehnen Sie es nur gegen die Wand. Danke!«
+
+»Darf man das Kunstwerk mal ansehen?«
+
+Dorian erschrak. »Es würde Sie nicht interessieren, Herr Hubbard«, sagte
+er und sah den Mann fest an. Er fühlte sich imstande, auf ihn
+loszustürzen und ihn zu Boden zu werfen, wenn er es wagen sollte, die
+schimmernde Hülle zu lüften, die das Geheimnis seines Lebens barg. »Ich
+will Sie nicht länger aufhalten. Schönsten Dank, daß Sie so freundlich
+waren, herüberzukommen.«
+
+»Kein Anlaß, kein Anlaß, Herr Gray! Es ist mir immer ein Vergnügen, für
+Sie etwas tun zu dürfen.«
+
+Und Herr Hubbard stapfte die Treppe hinab, sein Gehilfe hinterher, der
+noch einmal nach Dorian zurückblickte, mit einem Ausdruck scheuer
+Bewunderung in dem unschönen Alltagsgesicht. Er hatte nie einen Menschen
+gesehen, der so wunderhübsch war.
+
+Als das Geräusch ihrer Fußtritte verklungen war, schloß Dorian die Tür
+zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Jetzt fühlte er sich
+gleichsam gerettet! Nie würde jemand das Schrecknis sehen. Kein Auge als
+seines würde mehr seine Schande erblicken.
+
+Als er wieder in die Bibliothek kam, sah er, daß es gerade fünf Uhr war
+und daß der Tee schon bereit stand. Auf einem kleinen Tisch aus dunklem,
+wohlriechendem Holz, das reich mit Perlmutter ausgelegt war, einem
+Geschenk der Frau seines Vormundes, Lady Radley, einer hübschen Kranken
+von Beruf und Gewohnheit, die den vergangenen Winter in Kairo zugebracht
+hatte, lag ein Briefchen von Lord Henry und daneben ein Buch in gelbem,
+leicht abgenutztem und an den Ecken nicht mehr ganz sauberem Umschlag.
+Ein Exemplar der dritten Tagesausgabe der St.-James-Gazette lag auf dem
+Teebrett. Offenbar war Viktor zurückgekehrt. Er fragte sich, ob er wohl
+die Leute in der Vorhalle getroffen hätte, als sie das Haus verließen,
+und ob er sie ausgeforscht hätte, was sie getan hätten. Er würde sicher
+das Bild vermissen -- hatte es ohne Zweifel schon vermißt, als er den
+Teetisch zurecht machte. Der Schirm war noch nicht an seinen Platz
+zurückgestellt worden, und der leere Raum an der Wand war auffallend.
+Vielleicht würde er ihn eines Nachts ertappen, wie er hinaufschlich und
+die Tür des Bodenzimmers zu sprengen versuchte. Es war schrecklich,
+einen Spion im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten gehört, die
+ihr ganzes Leben hindurch von den Erpressungen eines Bedienten
+ausgesaugt wurden, der mal irgendeinen Brief gelesen oder ein Gespräch
+mitangehört oder eine Karte mit einer Adresse gefunden oder unter einem
+Kissen eine verwelkte Blume oder einen Fetzen zerknitterter Spitze
+entdeckt hatte.
+
+Er seufzte, goß sich etwas Tee ein und öffnete Lord Henrys Billett. Es
+stand nur darin, daß er ihm die Abendzeitung schicke und ein Buch, das
+ihn vielleicht interessieren werde, und daß er ihn um Viertel neun im
+Klub zu treffen hoffe. Er öffnete langsam die St.-James und durchflog
+sie. Ein Strich mit Rotstift auf der fünften Seite fiel ihm auf. Er
+machte auf die folgende Notiz aufmerksam:
+
+ »_Leichenschau einer Schauspielerin._ Eine gerichtliche
+ Untersuchung wurde heute morgen von Herrn Danby, dem
+ Bezirks-Leichenbeschauer in der Bell Tavern, Hoxton Road, über den
+ Leichnam von Sibyl Vane, einer jungen Schauspielerin, die seit
+ kurzem am Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten. Es
+ wurde auf Tod durch einen Unglücksfall erkannt. Reges Mitgefühl
+ erweckte die Mutter der Verblichenen, die während ihrer Aussage und
+ der des ~Dr.~ Birrel, der die Obduktion der Leiche vorgenommen
+ hatte, ihrem Schmerz erschütternden Ausdruck gab.«
+
+Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt, lief im Zimmer auf und ab und
+warf die Papierfetzen weg. Wie häßlich das alles war! Und was für eine
+schreckliche Wirklichkeit die Häßlichkeit allem gab! Er ärgerte sich ein
+wenig über Lord Henry, daß er ihm den Bericht geschickt hatte. Und
+sicher war es albern von ihm, ihn mit Rotschrift anzustreichen. Viktor
+konnte ihn gelesen haben. Der Mann verstand dafür mehr als genug
+Englisch.
+
+Vielleicht hatte er ihn schon gelesen und angefangen, Verdacht zu
+schöpfen. Und wenn schon, was lag daran? Was hatte Dorian Gray mit Sibyl
+Vanes Tod zu tun? Es war kein Grund zur Furcht. Dorian Gray hatte sie
+nicht getötet.
+
+Sein Auge fiel auf das gelbe Buch, das ihm Lord Henry geschickt hatte.
+Er war gespannt, was es sein mochte. Er trat an den kleinen
+perlfarbenen, achteckigen Hocker, der ihm immer wie das Werk seltsamer
+ägyptischer Bienen vorgekommen war, die ihre Waben in Silber trieben,
+nahm den Band zur Hand, warf sich in einen Lehnsessel und begann zu
+blättern. Nach einigen Augenblicken kam er nicht mehr davon los. Es war
+das merkwürdigste Buch, das er je gelesen hatte. Es schien ihm, als
+zögen in erlesenen Prachtgewändern und zum Klange von Flöten die Sünden
+der Welt in stummem Reigentanze an ihm vorbei. Dinge, die er bestimmt
+geträumt hatte, wurden plötzlich zur Wirklichkeit. Dinge, von denen er
+vag geträumt hatte, wurden ihm mählich enthüllt.
+
+Es war ein Roman ohne rechte Handlung, der sich um einen einzigen
+Charakter drehte, eigentlich eine bloße psychologische Studie über einen
+gewissen jungen Pariser, der sein Leben mit dem Versuche hinbrachte, im
+neunzehnten Jahrhundert alle Leidenschaften und Wandlungen der
+Denkungsart in Wirklichkeit umzusetzen, die jedem Jahrhundert, außer
+seinem eigenen, angehört hatten, und so die verschiedenartigen
+psychischen Zustände, die irgend einmal die Weltseele durchgemacht
+hatte, in sich selbst gewissermaßen zu vereinigen, indem er jene
+Entsagungen, die die Menschen in ihrer Torheit Tugend genannt haben,
+ihrer bloßen Künstlichkeit wegen ebenso heftig liebte wie jene
+Empörungen gegen die Natur, die weise Menschen noch immer Sünden nennen.
+Der Stil, in dem das Buch geschrieben war, bestand in jener sonderbaren,
+reich geschmückten Diktion, die lebendig und dunkel zugleich ist, von
+Argotausdrücken und archaistischen Wendungen, von technischen Ausdrücken
+und sorgsam gefeilten Umschreibungen strotzt, wie sie die Arbeiten
+einiger der feinsten Künstler aus der französischen Symbolistenschule
+kennzeichnet. Es waren Metaphern darin, so abenteuerlich an Form wie
+Orchideen und auch so fein angehaucht wie deren Farbentöne. Das Leben
+der Sinne war mit einer Terminologie mystischer Philosophie beschrieben.
+Man wußte manchmal kaum, ob man von den vergeistigten Entzückungen eines
+mittelalterlichen Heiligen las oder die krankhaften Beichtbekenntnisse
+eines modernen Sünders. Es war ein Buch voll Gift. Ein dicker
+Weihrauchnebel schien über den Seiten zu schweben und sein Gehirn zu
+betäuben. Schon der melodische Fall der Sätze, die gesuchte Monotonie
+ihrer Musik mit der Fülle von komplizierten Refrains und Taktgefügen,
+die sich in der raffiniertesten Weise wiederholten, erzeugten im Geist
+des Jünglings, als er von Kapitel zu Kapitel weiterlas, eine Art
+Träumerei, ja eine förmliche Krankheit des Träumens, so daß er den
+sinkenden Tag und die hereinkriechenden Schatten nicht merkte.
+
+Wolkenlos, von den Strahlen keines einzigen Sternes durchstochen,
+glimmerte ein kupfergrüner Himmel durch die Fenster. Er las bei seinem
+matten Licht weiter, bis er nicht mehr lesen konnte. Nachdem ihn sein
+Diener mehrere Male an die späte Stunde erinnert hatte, stand er auf,
+ging ins Nebenzimmer, legte das Buch auf das Florentiner Tischchen, das
+immer neben seinem Bett stand, und begann sich zum Diner umzukleiden.
+
+Es war fast neun Uhr, als er im Klub ankam, wo er Lord Henry allein und
+sehr gelangweilt aussehend, im Frühstückszimmer sitzend, antraf.
+
+»Es tut mir zwar leid, Harry,« rief er, »aber es ist nur deine Schuld.
+Das Buch, das du mir geschickt hast, hat mich wirklich so gefesselt, daß
+ich gar nicht merkte, wo die Zeit geblieben ist.«
+
+»Ja, ich dachte mir, daß es dir gefällt«, antwortete der Freund, sich
+vom Stuhle erhebend.
+
+»Ich habe nicht gesagt, daß es mir gefällt, Harry. Ich habe gesagt, es
+fesselte mich. Das ist ein großer Unterschied.«
+
+»Ah, das hast du entdeckt?« sagte Lord Henry. Und sie gingen zusammen in
+den Speisesaal.
+
+
+
+
+Elftes Kapitel
+
+
+Jahre hindurch konnte sich Dorian Gray von dem Einfluß dieses Buches
+nicht losmachen. Oder es wäre vielleicht richtiger zu sagen, er
+versuchte gar nicht, sich von ihm loszumachen. Er ließ sich aus Paris
+nicht weniger als neun Luxusexemplare der ersten Auflage kommen und ließ
+sie verschiedenfarbig einbinden, damit sie zu den wechselnden Launen und
+veränderlichen Stimmungen seiner Natur paßten, über die er bisweilen
+jede Herrschaft verloren zu haben schien. Der Held, der wunderbare junge
+Pariser, bei dem das romantische und das wissenschaftliche Temperament
+so merkwürdig vermischt waren, wurde für ihn eine Art vorbildlicher
+Idealgestalt seiner selbst. Und in der Tat schien ihm das ganze Buch die
+Geschichte seines Lebens zu enthalten, aufgeschrieben, bevor er selbst
+es gelebt hatte.
+
+In einer Beziehung aber war er glücklicher als der phantastische
+Romanheld. Er kannte nie -- hatte in der Tat auch nie einen Grund dazu
+-- das beinahe groteske Grauen vor Spiegeln und polierten Metallflächen
+und unbewegten Wassern, das den jungen Pariser so früh im Leben überkam
+und das durch den jähen Verfall einer Schönheit verursacht war, die
+allem Anschein nach vorher ganz außerordentlich gewesen sein mußte. Mit
+einer fast grausamen Lust -- und vielleicht liegt in jeder Lust, wie
+gewißlich in jedem Genuß, Grausamkeit -- pflegte er den zweiten Teil des
+Buches zu lesen mit dem wirklich tragischen, wenn auch etwas übertrieben
+geschilderten Bericht von den Leiden und der Verzweiflung eines
+Menschen, der selbst verloren hatte, was er an anderen und an der Welt
+am höchsten schätzte.
+
+Denn die wundervolle Schönheit, die Basil Hallward so gefesselt hatte
+und manchen anderen auch, schien ihn nie zu verlassen. Selbst jene, die
+die häßlichsten Dinge über ihn gehört hatten -- und von Zeit zu Zeit
+schlichen seltsame Gerüchte über seine Lebensweise durch London und
+wurden das Gespräch der Klubs -- konnten, wenn sie ihn sahen, nichts
+glauben, was ihm hätte zur Unehre gereichen können. Er sah immer aus wie
+einer, der sich in der Welt unbefleckt erhalten hatte. Männer, die sich
+anstößige Dinge erzählten, verstummten, wenn Dorian Gray ins Zimmer
+trat. In der Reinheit seines Antlitzes lag ein Etwas, das sie in
+Schranken hielt. Seine bloße Gegenwart schien in ihnen die Erinnerung an
+die Unschuld zu erwecken, die sie beschmutzt hatten. Sie staunten, daß
+ein so reizender und anmutiger Mensch wie er der Befleckung durch eine
+Zeit hatte entgehen können, die zugleich unsauber und sinnlich war.
+
+Oft, wenn er von einer der geheimnisvollen längeren Abwesenheiten
+zurückkehrte, die so merkwürdige Vermutungen bei seinen Freunden
+erregten oder bei jenen, die sich dafür hielten, so schlich er hinauf in
+die verschlossene Dachstube, öffnete die Tür mit dem Schlüssel, der ihn
+nun nie mehr verließ, und stand mit einem Handspiegel vor dem Bildnis,
+das Basil Hallward von ihm gemalt hatte, und sah bald auf das
+schändliche und gealterte Antlitz auf der Leinwand, bald auf das schöne,
+junge Gesicht, das ihn aus der glatten Spiegelfläche anlächelte. Gerade
+die Stärke dieses Kontrastes pflegte seine Lustempfindung zu erhöhen. Er
+verliebte sich mehr und mehr in seine eigene Schönheit und empfand mehr
+und mehr Teilnahme für die Verderbnis seiner eigenen Seele. Er
+untersuchte mit peinlicher Sorgsamkeit und manchmal mit ungeheuerlichem
+und schrecklichem Wonnegefühl die häßlichen Linien, die die runzlige
+Stirn durchfurchten oder sich um den üppigen sinnlichen Mund
+schlängelten, und fragte sich manchmal, ob wohl die Merkmale der Sünde
+schrecklicher seien oder die Spuren des Alters? Er legte seine weißen
+Hände neben die rohen, gedunsenen Hände des Bildes und lächelte. Er
+machte sich lustig über den verunstalteten Leib und die welkenden
+Glieder.
+
+Dann gab es in der Tat Augenblicke, nachts, wenn er schlaflos in seinem
+mild durchdufteten Zimmer lag oder in der schmuddeligen Stube der
+kleinen berüchtigten Kneipe nahe den Docks, die er unter einem
+angenommenen Namen und verkleidet zu besuchen pflegte, wo er mit einem
+Mitgefühl, das um so beklemmender war, als es einen rein ethischen
+Ursprung hatte, an das Elend dachte, das er über seine Seele gebracht
+hatte. Aber Augenblicke wie diese waren selten. Jene Neugier auf das
+Leben, die Lord Henry zuerst in ihm aufgestört hatte, als sie im Garten
+ihres Freundes nebeneinander saßen, schien mit ihrer Befriedigung nur zu
+wachsen. Je mehr er wußte, desto mehr wollte er wissen. Er hatte tolle
+Hungeranfälle, die immer ungestillter wurden, je mehr er sie nährte.
+
+Und doch war er nicht gerade liederlich geworden, wenigstens nicht in
+seinen Beziehungen zur Gesellschaft. Ein- oder zweimal in jedem Monat
+während des Winters und jeden Mittwochabend während der Saison öffnete
+er der Welt sein schönes Haus, und immer waren die berühmtesten Musiker
+da, um seine Gäste mit ihrer erlesenen Kunst zu begeistern. Seine
+kleinen Diners, bei deren Vorbereitung ihm Lord Henry immer half, waren
+ebensosehr wegen der sorgsamen Auswahl und Tischordnung der Eingeladenen
+berühmt, wie wegen des ausgesuchten Geschmackes, der sich in der
+Tafeldekoration mit ihren fein abgetönten, symphonischen Anordnungen
+exotischer Pflanzen, gestickter Decken und antiker Gold- und
+Silbergeräte aussprach. Tatsächlich gab es eine große Zahl, besonders
+von ganz jungen Menschen, die in Dorian Gray die vollkommene
+Verkörperung eines Typus sahen oder zu sehen wähnten, von dem sie oft in
+den Tagen von Eton oder Oxford geträumt hatten, eines Typus, der etwas
+von der wirklichen Bildung des Gelehrten mit der Anmut, Vornehmheit und
+den vollendeten Manieren eines Weltmannes vereinigte. Ihnen erschien er
+als einer aus jener Menschengruppe, von denen Dante sagt, »sie suchten
+sich durch die Anbetung der Schönheit zu vervollkommnen«. Gleich Gautier
+war er einer von denen, »für die die sichtbare Welt da war«.
+
+Und gewiß war für ihn das Leben die erste, die größte Kunst, und alle
+übrigen Künste schienen nur die Vorschule dazu. Natürlich übte auch die
+Mode, durch die das wirklich Phantastische einen Augenblick lang
+Allgemeingut wird, und das Dandytum, das auf seine Weise einen Versuch
+bildet, eine absolut moderne Art von Schönheit zu verkörpern, ihren Reiz
+auf ihn aus. Seine Art, sich zu kleiden, und die besonderen
+Stilabweichungen, die er von Zeit zu Zeit sehen ließ, hatten einen
+ausgesprochenen Einfluß auf die jungen Stutzer der Bälle in Mayfair und
+der Fenster des Pall-Mall-Klubs, die ihm in allem, was er tat,
+nachahmten und jede Exzentrizität aufgriffen, die seine Anmut erhöhte,
+aber ihm selbst nur teilweis ernst war.
+
+Denn er war nur zu leicht bereit, die Stellung anzunehmen, die ihm
+unmittelbar nach seiner Volljährigkeit geboten wurde, und er fand in
+Wahrheit einen besonderen Genuß in dem Gedanken, er könne für das London
+seiner Zeit das werden, was für das Rom des Kaisers Nero der Verfasser
+des »Satyrikon« gewesen war, aber er wünschte doch im innersten Herzen
+mehr zu werden als ein arbiter elegantiarum, und nicht nur über das
+Tragen eines Schmuckstückes oder das Binden einer Krawatte oder die
+Haltung eines Spazierstockes befragt zu werden. Er suchte ein neues
+Schema für die Lebensführung zu entwerfen, das seine philosophische
+Grundlage und seine geordneten Prinzipien haben und in der Vergeistigung
+der Sinne seine höchste Vervollkommnung erreichen sollte.
+
+Die Pflege der Sinne ist oft und mit vielem Recht geschmäht worden, da
+die Menschen einen natürlichen, instinktiven Abscheu vor Leidenschaften
+und Empfindungen haben, die stärker scheinen als sie selbst und die sie
+mit weniger hoch organisierten Formen des Lebendigen gemein zu haben
+sich bewußt sind. Doch kam es Dorian Gray so vor, als ob die wahre Natur
+der Sinne noch nie verstanden worden sei und als ob sie nur deshalb wild
+und tierisch geblieben seien, weil die Welt versuchte, sie durch Hunger
+zur Unterwerfung zu bringen oder durch Schmerzen zu töten, statt
+bestrebt zu sein, sie zu Bestandteilen einer neuen geistigen Welt zu
+machen, in der ein edles Schönheitsbewußtsein die vorherrschende
+Triebfeder sein sollte. Wenn er auf den Gang der Menschen durch die
+Weltgeschichte zurückblickte, verfolgte ihn ein Gefühl des Verlustes. So
+vielem war entsagt worden und zu so geringem Zweck! Es hatte wahnsinnige
+freiwillige Entsagungen gegeben, ungeheuerliche Formen von
+Selbstquälerei und Selbstverleugnung, deren Ursprung die Furcht war und
+deren Ergebnis eine Erniedrigung von unsäglich schrecklicherer Art, als
+jene nur eingebildete Erniedrigung, vor der sie sich in ihrer
+Unwissenheit flüchten wollten, da die Natur in ihrer wunderbaren Ironie
+den Anachoreten hinausjagte, damit er sich in Gesellschaft der Bestien
+der Wüste nährte, und dem Einsiedler die Tiere des Feldes zu Gefährten
+gab.
+
+Ja: es mußte, wie Lord Henry prophezeit hatte, ein neuer Hedonismus
+kommen, um das Leben zu erneuern und es von jenem strengen, häßlichen
+Puritanertum zu erlösen, das in unseren Tagen seine sonderbare
+Auferstehung feierte. Gewiß, er würde dem Intellekt gehorsam sein
+müssen; aber niemals dürfte er eine Theorie oder ein System anerkennen,
+das irgendein leidenschaftliches Erlebnis zum Opfer forderte. Sein
+wahres Ziel sollte gerade die Erfahrung selbst sein und nicht die
+Früchte der Erfahrung, mochten sie nun so süß oder bitter sein, wie sie
+wollten. Von dem Asketentum, das die Sinne tötet, oder von der
+gewöhnlichen Ausschweifung, die sie abstumpft, würde er nichts wissen
+wollen. Aber er sollte die Menschen lehren, sich für die Momente des
+Lebens zu sammeln, da dieses selbst doch nur ein Moment ist.
+
+Es gibt nur wenige unter uns, die nicht manchmal vor Tagesgrauen erwacht
+wären, entweder nach einer jener traumlosen Nächte, die uns den Tod
+lieben lassen, oder nach einer jener Nächte voll Schrecken und
+wollüstiger Albdrücken, wo durch die Kammern des Gehirns Gespenster
+flattern, die schrecklicher sind als die Wirklichkeit selbst und erfüllt
+sind von dem lebendigen Dasein, das in allem Grotesken lauert und das
+der gotischen Kunst ihre ewig lebendige Kraft gibt, weil gerade diese
+Kunst, wie man sagen möchte, die besondere Kunst jener ist, deren Geist
+durch die Krankheit von Fieberträumen verwirrt worden ist. Nach und nach
+strecken sich bleiche Finger zwischen den Vorhängen durch und scheinen
+zu erzittern. In schwarzen, abenteuerlichen Formen kriechen stumme
+Schatten in die Ecken des Zimmers und kauern dort nieder. Draußen regen
+sich die Vögel im Geblätter, oder man hört den Schritt der Menschen, die
+zur Arbeit gehen, oder das Heulen und Schluchzen des Windes, der von den
+Bergen kommt und das schweigsame Haus umwandert, als fürchte er, die
+Schläfer zu wecken, und müsse dennoch den Schlaf aus seiner purpurnen
+Höhle ans Licht rufen. Schleier nach Schleier aus feiner, dunkelfarbener
+Gaze heben sich, und allmählich erhalten die Dinge ihre Formen und
+Farben zurück, und wir sehen es mit an, wie die Frühdämmerung der Welt
+ihre alte Gestalt zurückgibt. Die verschwommenen Spiegel bekommen ihr
+Scheinleben zurück. Die lichtlosen Lampen stehen, wo wir sie gelassen
+haben, und neben ihnen liegt das halb aufgeschnittene Buch, darin wir
+gelesen, oder die verwelkte Blume, die wir auf dem Ball getragen, oder
+der Brief, den zu lesen wir uns gefürchtet oder den wir zu oft gelesen
+haben. Nichts scheint uns geändert. Aus den unwirklichen Schatten der
+Nacht tritt das wirkliche Leben hervor, das wir kannten. Wir haben es da
+wieder aufzunehmen, wo wir es unterbrochen haben, und uns beschleicht
+das fürchterliche Gefühl der Notwendigkeit, seine Energien weiter
+verbrauchen zu müssen in der gleichen ermüdenden Tretmühle stereotyper
+Gewohnheiten, oder vielleicht überschleicht uns eine wilde Sehnsucht,
+daß sich unsere Augen eines Morgens öffnen möchten für eine Welt, die im
+nächtigen Dunkel zu unserer Lust neu erschaffen worden sei, für eine
+Welt, in der die Dinge frische Linien und Farben hätten, verändert seien
+oder andere Geheimnisse bürgen, für eine Welt, in der die Vergangenheit
+nur einen unbedeutenden oder gar keinen Platz hätte oder wenigstens in
+keiner bewußten Form von Verpflichtung oder Reue weiterlebte, wo die
+Erinnerung selbst an die Freude ihre Bitterkeit enthält und dem
+Gedächtnis an den Genuß ein Schmerz beigemischt ist.
+
+Die Erschaffung solcher Welten schien für Dorian Gray der wahre
+Lebensinhalt oder wenigstens sein hauptsächlichster Inhalt zu bedeuten;
+und auf seiner Suche nach Sinnenerlebnissen, die zugleich neu und
+genußreich sein sollten und jenes Element der Seltsamkeit enthielten,
+die für die Romantik so wesentlich ist, eignete er sich oft gewisse
+Arten zu denken an, von denen ihm wohl bewußt war, daß sie seinem Wesen
+in Wirklichkeit fremd waren, gab sich ihren subtilen Einflüssen hin und
+verließ sie dann, wenn er sozusagen ihre Farbe in sich eingesogen und
+seine geistige Neugier befriedigt hatte, mit jener eigentümlichen
+Gleichgültigkeit, die nicht unvereinbar ist mit einem wirklich glühenden
+Temperament, und die in der Tat nach der Meinung gewisser moderner
+Psychologen oft eine Bedingung dafür ist.
+
+Einmal ging ein Gerücht von ihm, er wolle katholisch werden; und gewiß
+hatte der katholische Kult eine große Anziehungskraft für ihn. Das
+tägliche Meßopfer, das wirklich viel ehrfurchterweckender ist als alle
+Opfer der antiken Welt, regte ihn ebensosehr an durch seine prachtvolle
+Unbekümmertheit des sinnlichen Augenscheins wie durch die primitive
+Einfachheit seiner Elemente und das ewige Pathos der menschlichen
+Tragödie, die es zu symbolisieren versuchte. Er liebte es, auf das kalte
+Marmorpflaster hinzuknien und den Priester zu beobachten, der in seiner
+stimmungsvollen, blumengestickten Stola langsam und mit weißen Händen
+den Vorhang vom Tabernakel hinwegzog, oder die laternenförmige
+edelsteingeschmückte Monstranz in die Höhe hob, die jene blasse Hostie
+enthielt, von der man zuzeiten wirklich denken konnte, es sei der panis
+coelestis, das Brot der Engel, oder der, in die Gewänder der
+Christuspassion gehüllt, die Hostie in den Kelch tauchte und sich um
+seiner Sünden willen die Brust schlug. Die rauchenden Weihrauchkessel,
+die die ernsten Knaben in ihren Spitzen- und Scharlachmänteln in der
+Luft schwangen und die wie große, goldene Blumen aussahen, übten einen
+tiefen Zauber auf ihn aus. Wenn er hinaustrat, pflegte er staunend die
+dunkeln Beichtstühle anzublicken und empfand eine Sehnsucht, im düsteren
+Schatten eines solchen zu sitzen und den Männern und Frauen zu lauschen,
+die durch das abgenutzte Gitter die wahre Geschichte ihres Lebens
+flüsterten.
+
+Aber er verfiel nie dem Irrtum, seine geistige Entwicklung durch die
+förmliche Annahme irgendeines Glaubens oder Systems zu hindern oder
+irrtümlich ein Haus, in dem man leben konnte, gleichsam für eine
+Herberge zu halten, die nur zu kurzem Aufenthalt während einer Nacht
+oder nur für ein paar Stunden während einer Nacht taugt, wenn keine
+Sterne leuchten und der Mond im Wechsel begriffen ist. Die Mystik mit
+ihrer wunderbaren Kraft, uns gewöhnliche Dinge seltsam erscheinen zu
+lassen, und jene tiefe Ketzersucht, die sie immer zu begleiten scheint,
+reizte ihn eine Saison hindurch; und dann neigte er sich eine andere
+Saison hindurch wieder den materialistischen Lehren der Darwinistischen
+Bewegung in Deutschland zu und fand einen besonderen Genuß darin, die
+Gedanken und Leidenschaften der Menschen bis auf irgendeine perlgroße
+Zelle im Gehirn oder auf irgendeinen weißen Nerv im Körper
+zurückzuleiten, schwelgte förmlich in der Vorstellung einer absoluten
+Abhängigkeit des Geistes von gewissen physischen Bedingungen, mochten
+sie krankhaft oder gesund, normal oder pathologisch sein. Aber, wie
+schon früher von ihm berichtet wurde, so schien keine Lebenstheorie von
+irgendeiner Bedeutung für ihn, im Vergleich mit dem Leben selbst. Er war
+sich haarscharf bewußt, in welches Irrsal jede geistige Spekulation
+führen mußte, wenn sie von Handlung und Experiment getrennt ist. Er
+wußte, daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre geistigen
+Geheimnisse offenbaren mußten.
+
+Und so ergab er sich zeitweilig dem Studium der Wohlgerüche, bemühte
+sich um die Geheimnisse ihrer Bereitung, destillierte schwerduftende Öle
+und verbrannte wohlriechendes Gummi, das aus dem Orient stammte. Er
+erkannte, daß es keine Stimmung des Geistes gab, die nicht ihr
+Seitenstück im Leben der Sinne fand, und mühte sich, die wirkliche
+Beziehung zwischen beiden zu entdecken, um herauszuklügeln, weshalb der
+Weihrauch den Menschen mystisch stimmte, warum die Ambra die
+Leidenschaften aufstachele, woher der Veilchenduft die Erinnerung an
+gestorbene Romantik erwecke, wieso der Moschus das Gehirn verwirre, und
+wodurch der Tschampak die Phantasie beflecke: und so versuchte er
+manchmal, eine genaue Psychologie der Wohlgerüche auszuarbeiten und ihre
+verschiedenen Wirkungen zu bestimmen, zum Beispiel süßriechender
+Wurzeln, duftiger, samentragender Blüten, aromatischer Balsame, dunkler,
+starkriechender Hölzer, des Baldrians, der zum Erbrechen reizt, der
+Hovenia, die einen toll macht, und der Aloe, die imstande sein soll, die
+Schwermut aus der Seele zu verjagen.
+
+Ein andermal widmete er sich gänzlich der Musik und gab öfter Konzerte
+in einem langen, dämmerigen Saal, dessen Wände mit olivengrünem Lack
+überzogen waren, und dessen Decke aus einem rot und gold Muster bestand,
+wobei tolle Zigeuner kleinen Zithern wilde Musik entlockten oder ernste,
+in gelbe Tücher gehüllte Männer aus Tunis die gespannten Saiten seltsam
+großer Lauten zupften, während grinsende Neger eintönig auf kupferne
+Trommeln schlugen und schlankschmächtige, turbanbedeckte Inder auf
+scharlachroten Matten hockten und auf langen Rohr- oder Messingpfeifen
+bliesen und damit große Brillenschlangen oder schreckliche Hornvipern
+beschworen oder zu beschwören schienen. Die kreischenden Intervalle und
+die schrillen Mißtöne barbarischer Musik reizten ihn zuweilen, wenn
+Schuberts Lieblichkeit oder Chopins süßes Schmachten und die gewaltigen
+Harmonien des großen Beethoven machtvoll in sein Ohr schlugen. Aus allen
+Weltteilen sammelte er die merkwürdigsten Instrumente, die sich finden
+ließen, entweder in den Gräbern toter Völker oder unter den wenigen
+wilden Stämmen, die noch die Berührung mit der westlichen Kultur
+überlebt haben, und er liebte es, sie zu befühlen und zu verfügen. Er
+besaß das mysteriöse Juruparis der Rio-Negro-Indianer, das die Frauen
+nicht ansehen dürfen und selbst die jungen Männer erst dann, wenn sie
+vorher gefastet und sich gegeißelt haben, er besaß die irdenen Klappern
+der Peruaner, die den schrillen Ton des Vogelschreis wiedergeben, und
+Flöten aus Menschenknochen, wie sie Alfonso de Ovalle in Chile gehört
+hat, und die wohlklingenden grünen Jaspissteine, die bei Cuzco gefunden
+werden und einen Ton von eigentümlicher Süße hervorbringen. Er hatte
+bemalte, mit Kieselsteinen gefüllte Kürbisse, die beim Schütteln
+rasselten, er hatte die langen Zinken der Mexikaner, in die der Spieler
+nicht hineinbläst, sondern durch die er die Luft einatmet, das rauhe
+Ture der Amozonenstämme, das die Wachen ertönen lassen, wenn sie den
+ganzen Tag auf hohen Bäumen sitzen, und das, wie man sagt, auf eine
+Entfernung von drei Seemeilen gehört werden kann, das Teponaztli, das
+zwei zitternde Holzzungen hat und auf die man mit Stöcken schlägt, die
+mit einer Art elastischen Kautschuks eingesalbt werden, das aus dem
+milchigen Saft von Pflanzen gewonnen wird, er hatte die Yotlglocken der
+Azteken, die wie Trauben in Büscheln hängen, und eine große
+zylinderförmige Trommel, die bespannt ist mit den Häuten großer
+Schlangen gleich der, die Bernal Diaz sah, als er mit Cortez in den
+mexikanischen Tempel trat, und von deren wehklagendem Tone er uns eine
+so lebendige Schilderung hinterlassen hat. Das phantastische Wesen
+dieser Instrumente wirkte bezaubernd auf ihn, und er empfand einen
+seltsamen Genuß bei dem Gedanken, daß die Kunst wie die Natur ihre
+Ungeheuer hat, Dinge von tierischer Form und mit abscheulichen Stimmen.
+Aber nach einiger Zeit wurde er ihrer müde und saß dann wieder in seiner
+Loge in der Oper, entweder allein oder mit Lord Henry, lauschte
+hingerissen dem Tannhäuser und erkannte in dem Vorspiel zu diesem großen
+Kunstwerk eine Verkörperung des Trauerspiels seiner eigenen Seele.
+
+Wieder ein andermal warf er sich auf das Studium der Edelsteine und
+erschien auf einem Maskenfest als Anne de Joyeuse, Admiral von
+Frankreich, in einem Gewand, das mit fünfhundertsechzig Perlen bestickt
+war. Diese Geschmacksrichtung hielt ihn jahrelang gefangen, ja, man kann
+sagen, daß sie ihn nie verlassen hat. Er verbrachte oft einen ganzen Tag
+damit, die verschiedenen Steine, die er gesammelt hatte, aus ihren
+Schachteln zu nehmen und wieder umzuordnen, wie beispielsweise der
+olivengrüne Chrysoberyll, der im Lampenlicht rot wird, der Cymophan mit
+seinen haarfeinen Silberlinien, der pistazienfarbene Peridot,
+rosenfarbige und weingelbe Topase, scharlachfeurige Karfunkelsteine mit
+zitternden, vierfach ausstrahlenden Sternen, flammenrote Kaneelsteine,
+orangenfarbene und violette Spinelle und Amethyste mit ihren regelmäßig
+wechselnden Schichten von Rubin und Saphir. Er liebte das rote Gold des
+Sonnensteins und die perlfarbene Weiße des Mondsteins und den
+gebrochenen Regenbogen des milchflockigen Opals. Er verschrieb sich aus
+Amsterdam drei Smaragde von außerordentlicher Größe und wunderbarem
+Farbenreichtum und besaß einen Türkis ~de la vieille roche~, um den ihn
+alle Kenner beneideten.
+
+Er entdeckte auch wunderbare Geschichten über Edelsteine. In Alfons
+»~Clericalis disciplina~« wurde eine Schlange erwähnt mit Augen aus
+wirklichen Hyazinthsteinen, und in der romantischen Alexandersage hieß
+es von dem Eroberer Emathias, er habe im Jordantale Schlangen gefunden
+»mit Halsgeschmeiden aus wirklichen Smaragden, die ihnen auf dem Rücken
+gewachsen waren«. Im Gehirn des Drachen war nach dem Bericht des
+Philostratus ein Edelstein, und »durch das Entgegenhalten goldener
+Lettern und eines scharlachroten Gewandes« konnte das Ungeheuer in einen
+magischen Schlaf versetzt und getötet werden. Nach der Meinung des
+großen Alchimisten Pierre de Boniface sollte der Diamant den Menschen
+unsichtbar und der indische Achat ihn beredt machen. Der Karneol
+beschwichtigte den Zorn, und der Hyazinth schläferte ein, und der
+Amethyst verscheuchte den Weindunst. Der Granat trieb Teufel aus, und
+der Hydrophyt beraubte den Mond seiner Farbe. Der Selenit nahm mit dem
+Monde zu und ab, und der Meloceus, der die Diebe entdeckte, verlor seine
+Kraft nur, wenn man ihn mit dem Blut junger Ziegen betropfte. Leonardus
+Camillus hatte einen weißen Stein gesehen, den man aus dem Gehirn einer
+frisch getöteten Kröte genommen hatte und der ein sicheres Gegenmittel
+gegen Gift war. Der Bezoar, den man im Herzen des arabischen Hirsches
+fand, war ein Zauber, der die Pest zu heilen vermochte. In den Nestern
+arabischer Vögel kam der Aspilates vor, der nach der Angabe des Demokrit
+seinen Träger vor jeder Feuersgefahr beschützte.
+
+Der König von Seilan ritt bei seiner Krönungsfeier, mit einem großen
+Rubin in der Hand, durch seine Stadt. Die Tore zum Palast des Johannes,
+des Priesters, waren aus Sarder verfertigt, in den das Horn der
+Hornviper verarbeitet war, so daß kein Mensch Gift in das Haus bringen
+konnte. Über dem Giebel waren »zwei goldene Äpfel, die zwei
+Karfunkelsteine enthielten«, so daß am Tage das Gold glänzen konnte und
+die Karfunkelsteine bei Nacht. In Lodges seltsamem Roman »Eine
+amerikanische Perle« heißt es, daß man in dem Zimmer der Königin »alle
+keuschen Frauen der Welt, wie in Silber getrieben, wahrnehmen konnte,
+wenn man durch fleckenfreie Spiegel aus Chrysolithen, Karfunkelsteinen,
+Saphiren und grünen Smaragden blickte«. Marco Polo hatte gesehen, wie
+die Einwohner von Zipangu den Toten rosenfarbige Perlen in den Mund
+steckten. Ein Seeungeheuer war in die Perle verliebt, die ein Taucher
+dem König Perozes brachte, und es hatte den Dieb getötet und sieben
+Monate lang über den Verlust getrauert. Als die Hunnen den König in den
+großen Hinterhalt lockten, warf er die Perle weg -- Prokopius erzählt
+die Geschichte -- und sie wurde nie wieder gefunden, obwohl Kaiser
+Anastasius dafür fünf Zentner Goldstücke aussetzte. Der König von
+Malabar hatte einmal einem Venezianer einen Rosenkranz aus
+dreihundertvier Perlen gezeigt, eine Perle für jeden Gott, den er
+verehrte.
+
+Als der Herzog von Valentinois, der Sohn Alexanders des Sechsten, Ludwig
+den Zwölften von Frankreich besuchte, war nach Brantôme sein Pferd mit
+goldenen Blättern bedeckt, und ein Barett trug eine doppelte Reihe von
+Rubinen, die ein mächtiges Licht ausstrahlten. Karl von England ritt in
+Steigbügeln, die mit vierhunderteinundzwanzig Diamanten besetzt waren.
+Richard der Zweite hatte ein Gewand, das mit Balasrubinen besetzt war,
+und auf dreißigtausend Mark geschätzt wurde. Hall beschrieb Heinrich den
+Achten auf seinem Wege zur Krönung nach dem Tower folgendermaßen: er
+trug ein »Panzerkleid aus erhabenem Gold, die Brust war mit Diamanten
+und anderen Edelsteinen bestickt, und um den Hals hing ihm eine mächtige
+Kette aus schweren Balasrubinen«. Die Günstlinge Jakobs des Ersten
+trugen Ohrringe aus Smaragden, die in Goldfiligran gefaßt waren. Eduard
+der Zweite schenkte dem Piers Gaveston eine vollständige Rüstung aus
+rotem Golde, die mit Hyazinthsteinen besetzt war, eine Halsberge aus
+goldenen Rosen, in die Türkise eingelassen waren, und eine mit Perlen
+übersäte Sturmhaube. Heinrich der Zweite trug Handschuhe bis zum
+Ellenbogen hinauf, die mit Edelsteinen besetzt waren, und er hatte einen
+Falkenierhandschuh, den zwölf Rubinen und zweiundfünfzig große Perlen
+zierten. Der Herzogshut Karls des Kühnen, des letzten Burgunder Herzogs
+seines Geschlechts, war behängt mit birnenförmigen Perlen und überstreut
+mit Saphiren.
+
+Wie köstlich das Leben einst gewesen war! Wie schwelgerisch in seinem
+Pomp und Schmuck! Von dem Reichtum der Toten auch nur zu lesen war schon
+wunderbar.
+
+Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Stickereien zu und den
+Gobelins, die in den frostigen Räumen der nördlichen Völker Europas die
+Stelle der Freskogemälde vertraten. Als er sich in dieses Gebiet
+vertiefte -- und er besaß immer eine außerordentliche Fähigkeit, sich
+für den Augenblick von allem absorbieren zu lassen, was er in Angriff
+nahm -- wurde er ordentlich traurig bei dem Gedanken an die Vernichtung,
+die die Zeit schönen und wundervollen Dingen bereitete. Er wenigstens
+war ihr entronnen. Sommer folgte dem Sommer, die gelben Jonquillen
+hatten geblüht und waren viele Male verwelkt, und schreckliche Nächte
+wiederholten die Geschichte ihrer Schande, aber er blieb unverändert.
+Kein Winter entstellte sein Antlitz oder beschädigte seinen
+blütengleichen Schmelz. Wie anders war das mit den materiellen Dingen!
+Wohin waren die entschwunden? Wo war das große krokusfarbene Gewand, auf
+dem die Götter die Giganten bekämpft hatten, das von braunen Mädchen der
+Athene zur Freude gestickt worden war? Wo war das große Velarium, das
+Nero über das Kolosseum in Rom hatte ausspannen lassen, dieses
+gigantische Purpursegel, auf dem der Sternenhimmel abgebildet war, und
+Apollo, wie er einen Wagen lenkt, den weiße, von goldenen Zügeln
+gebändigte Streitrosse ziehen? Er sehnte sich, die sonderbaren
+Tischdecken zu sehen, die für den Sonnenpriester gewebt worden waren,
+und in die alle Leckerbissen und Speisen eingewirkt waren, die man für
+ein Festmahl nur wünschen konnte, das Sterbekleid des Königs Hilperich
+mit seinen dreihundert goldenen Bienen, die phantastischen Gewandungen,
+die die Entrüstung des Bischofs von Pontus erregten und auf denen
+»Löwen, Panther, Bären, Hunde, Wälder, Felsen, Jäger -- kurz alles
+dargestellt war, was ein Maler der Natur ablauschen kann«, und den Rock,
+den Karl von Orleans einstmals getragen hatte, auf dessen Ärmel die
+Verse eines Gedichtes gestickt waren, das begann: ~Madame, je suis tout
+joyeux~, während die Noten hierzu mit Goldfäden eingestickt waren und
+jeder Notenkopf, damals noch viereckig, aus vier Perlen gebildet war. Er
+las von dem Zimmer, das man im Palast von Reims für den Gebrauch der
+Königin Johanna von Burgund hergerichtet hatte, »und das ausgeschmückt
+war mit dreizehnhunderteinundzwanzig gestickten Papageien, die das
+Wappen des Königs trugen, und mit fünfhunderteinundsechzig
+Schmetterlingen, deren Flügel auf dieselbe Weise mit dem Wappen der
+Königin geschmückt waren, das Ganze in Gold gearbeitet.« Katharina von
+Medici hatte sich ein Trauerbett machen lassen aus schwarzem Samt,
+bestickt mit Halbmonden und Sonnen. Seine Vorhänge waren aus Damast, und
+auf einem Grunde von Gold und Silber waren Zweige und Girlanden
+gestickt, und die Bordüren bestanden aus Fransen mit Perlen, und es
+stand in einem Zimmer, das mit einem Silbertuch bespannt war, auf dem
+reihenweise die Wahlsprüche der Königin in schwarzem, geschorenem Samt
+appliziert waren. Ludwig der Vierzehnte hatte in seinem Gemach
+goldgestickte, fünfzehn Fuß hohe Karyatiden. Das Staatsbett Sobieskis,
+des Königs von Polen, bestand aus Smyrna-Goldbrokat, und Verse aus dem
+Koran waren aus Türkisen hineingestickt. Seine Füße waren aus
+vergoldetem Silber, schön getrieben und verschwenderisch mit Medaillons
+aus Email und Edelsteinen besetzt. Es war bei der Belagerung von Wien
+aus dem türkischen Lager erbeutet worden, und die Fahne Mohammeds war
+unter dem flimmerigen Gold seines Baldachins angebracht.
+
+Und so suchte er ein ganzes Jahr lang die erlesensten Proben zusammen,
+die er von Webekunst und Stickereiarbeiten auftreiben konnte, er
+verschaffte sich die duftigen Delhi-Musselins, die zart mit goldenen
+Palmblättern und mit irisierenden Käferflügeln bestickt waren, die
+Gazestoffe aus Dhaka, die man im Orient ihrer Durchsichtigkeit wegen
+»gewebte Luft«, »rieselndes Wasser« und »Abendtau« nennt: Tücher aus
+Java mit seltsamen Figuren: feine, gelbe chinesische Gardinen: Bücher,
+die in lohfarbigen Atlas oder hellblaue Seide gebunden und eingepreßte
+heraldinische Lilien, Vögel und Schildereien zeigten
+Pointslace-Schleiergewebe aus Ungarn: sizilianische Brokate und steife
+spanische Sammete: georgische Arbeiten mit ihren goldenen Münzen, und
+japanische Fukusas mit ihren grünen Goldtönen und ihren gefiederten
+Vögeln wunderbarster Arbeit.
+
+Er hatte dann eine besondere Leidenschaft für kirchliche Gewänder wie
+für alles, was mit dem religiösen Ritus zusammenhing. In den langen
+Kästen aus Zedernholz, die auf der westlichen Galerie seines Hauses
+standen, hatte er viele seltene, schöne Proben des wahrhaften Kleides
+der Christusbraut angesammelt, die sich in Purpur, in Edelsteine und
+feines Linnen kleiden muß, um den bleichen, abgezehrten Leib darin zu
+verhüllen, der erschöpft ist von den Leiden, die sie sucht, und
+verwundet von selbst zugefügten Schmerzen. Er besaß einen prachtvollen
+Chorrock aus karminroter Seide und goldgewirktem Damast, der mit einem
+sich wiederholenden Muster von goldenen Granatäpfeln geziert war, die
+auf sechsblättrigen, regelmäßigen Blüten saßen, worunter auf jeder Seite
+ein in Staubperlen gestickter Tannenzapfen war. Die Goldstickereien
+waren in einzelne Felder geteilt, in denen Szenen aus dem Leben der
+Jungfrau abgebildet waren und die Krönung der Jungfrau war in der dazu
+gehörigen Kappe in farbiger Seide oben eingestickt. Es war italienische
+Arbeit aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein anderer Chorrock war aus
+grünem Samt, bestickt mit herzförmigen Bündeln von Akanthusblättern, aus
+denen langgestielte weiße Blüten hervorsprossen, die zart mit silbernen
+Fäden und farbigen Kristallperlen ausgearbeitet waren. Auf der Spange
+war der Kopf eines Seraphs in erhabener Goldstickerei ausgeführt. Die
+Borten waren fortlaufend auf blumigem Tuch in roter und goldener Seide
+eingewebt und mit den Medaillonbildnissen vieler Heiligen und Märtyrer
+ausstaffiert, unter denen sich der heilige Sebastian befand. Er hatte
+auch Meßgewänder aus bernsteinfarbiger Seide und blauer Seide und
+goldenem Brokat und aus gelbem Seidendamast und goldenem Tuch, die
+bedeckt waren mit Darstellungen der Passion und der Kreuzigung Christi,
+und bestickt mit Löwen, Pfauen und anderen Emblemen, er hatte Dalmatikas
+aus weißem Atlas und rosarotem Seidendamast, geziert mit Tulpen,
+Delphinen und heraldischen Lilien: Altardecken aus karmoisinrotem Samt
+und blauem Linnen, und viele Decken für Meßgeräte, Kelchhüllen und
+Schweißtücher. In den mystischen Diensten, zu denen diese Dinge bestimmt
+waren, lag etwas, das seine Einbildungskraft anregte.
+
+Denn diese Schätze und überhaupt alles, was er in seinem wunderbaren
+Hause ansammelte, waren für ihn Mittel zum Vergessen, Liebhabereien,
+durch die er eine Zeitlang der Angst entrinnen konnte, die ihm oft zu
+groß erschien, um sie zu ertragen. An die Wand des verlassenen,
+verschlossenen Raumes, worin er einen so großen Teil seiner Knabenzeit
+verbracht hatte, hatte er mit seinen eigenen Händen das fürchterliche
+Porträt aufgehängt, dessen Züge ihm in ihrer Veränderung die wahrhafte
+Erniedrigung seines Lebens zeigten, und darüber hatte er als Vorhang
+das Bahrtuch aus Gold und Purpur angebracht. Wochenlang mochte er nicht
+dahin gehen, wollte er das gräßliche Gemälde vergessen und gewann dann
+wieder sein leichtes Herz zurück, seine wunderbare Fröhlichkeit und
+seine Kraft zu leidenschaftlicher Versenkung ins Leben. Dann aber
+schlich er plötzlich in einer Nacht aus dem Hause, besuchte schaurige
+Orte in der Nähe von Blue Gate Fields und blieb dort Tag um Tag, bis es
+ihn wieder wegtrieb. Nach seiner Rückkehr saß er dann wohl vor dem
+Bilde, manchmal voll Haß vor ihm und vor sich selbst, ein andermal aber
+erfüllt mit dem Stolze auf das eigene Wesen, der den halben Reiz der
+Sünde ausmacht, und er lächelte dann mit geheimem Vergnügen das
+verunstaltete Abbild an, das die Last zu tragen hatte, die eigentlich
+für ihn bestimmt war.
+
+Nach einigen Jahren konnte er es nicht aushalten, lange von England weg
+zu sein, und gab das Landhaus auf, das er gemeinsam mit Lord Henry in
+Trouville innegehabt hatte, und ebenso das kleine, von weißer Mauer
+umrahmte Haus in Algier, wo sie mehr als einmal den Winter verbracht
+hatten. Er konnte es nicht ertragen, von dem Porträt getrennt zu sein,
+das jetzt gewissermaßen ein Teil seines Lebens geworden war, und er
+fürchtete auch, es könne in seiner Abwesenheit irgend jemand Zutritt
+bekommen trotz den sorgfältig gearbeiteten Sicherheitsschlössern, die er
+an der Türe hatte anbringen lassen.
+
+Er war sich vollauf bewußt, daß niemand etwas verraten könne. Allerdings
+bewahrte das Bild unter all der Gemeinheit und Häßlichkeit seines
+Antlitzes noch eine deutliche Ähnlichkeit mit ihm, aber was konnte das
+den Leuten sagen? Er würde jeden auslachen, der es versuchen wollte, ihn
+zu schmähen. Er hatte es ja nicht gemalt. Was ging es ihn an, wie
+abscheulich und schändlich es aussah? Selbst wenn er jemand die Wahrheit
+erzählte, konnte sie einer glauben?
+
+Und doch hatte er Angst. Wenn er manchmal in seinem großen Hause in
+Nottinghamshire war und die eleganten jungen Leute, die meistens seine
+Gesellschaft bildeten, bewirtete, und die Leute der Grafschaft durch den
+ausschweifenden Luxus und den verschwenderischen Glanz seines Lebens in
+Erstaunen setzte, dann verließ er wohl plötzlich seine Gäste und eilte
+zurück in die Stadt, um nachzusehen, ob sich niemand an der Türe zu
+schaffen gemacht habe und ob das Bild noch da sei. Wie, wenn es jemand
+gestohlen hätte? Der bloße Gedanke erfüllte ihn mit kaltem Entsetzen.
+Gewiß würde dann die Welt sein Geheimnis erfahren. Vielleicht hatte sie
+schon Verdacht geschöpft.
+
+Denn genau wie er viele fesselte, gab es auch nicht wenige, die ihm
+mißtrauten. Er wäre fast schwarz ballotiert worden in einem
+Westend-Klub, zu dessen Mitgliedschaft ihn soziale Stellung und Geburt
+vollständig berechtigten, und es hieß, daß einmal, als ihn ein Freund in
+das Rauchzimmer des Curchill-Klubs mitgebracht hatte, der Herzog von
+Berwick und ein anderer Herr in auffallender Weise aufgestanden und
+hinausgegangen wären. Sonderbare Geschichten waren über ihn im Umlauf,
+als er sein fünfundzwanzigstes Jahr vollendet hatte. Man munkelte, daß
+man ihn in einer elenden Kaschemme in einem entlegenen Winkel
+Whitechapels mit fremden Matrosen habe zechen sehen, und daß er mit
+Dieben und Falschmünzern umgehe und die Geheimnisse ihres Gewerbes
+kenne. Seine auffallende Gewohnheit, zu bestimmten Zeiten zu
+verschwinden, war bekannt, und wenn er dann wieder in der Gesellschaft
+auftauchte, flüsterte man sich in den Ecken Bemerkungen zu oder man ging
+an ihm mit einem unzweideutigen Lächeln oder mit kühlen, forschenden
+Blicken vorbei, als wäre man entschlossen, sein Geheimnis zu enthüllen.
+
+Von diesen Unverschämtheiten und versuchten Beleidigungen nahm er
+natürlich keine Notiz, und in den Augen der meisten Leute war sein
+offenes, freundliches Wesen, sein reizendes Knabenlächeln und die
+unendliche Grazie der wundervollen Jugend, die ihn nie zu verlassen
+schien, an sich eine genügende Antwort auf die Verleumdungen, denn so
+nannte man es, die über ihn im Umlauf waren. Indessen bemerkte man, daß
+einige von denen, die früher sehr innig mit ihm verkehrt hatten, ihn
+nach einiger Zeit zu meiden anfingen. Frauen, die ihn glühend geliebt
+hatten und um seinetwillen allem Tadel der Gesellschaft getrotzt und die
+Konvention verachtet hatten, konnte man vor Scham oder Entsetzen
+erbleichen sehen, wenn Dorian Gray ins Zimmer trat.
+
+Doch dieses Skandalgeflüster erhöhte in den Augen vieler nur seinen
+seltsamen und gefährlichen Reiz. Auch sein großer Reichtum bot ein
+gewisses Unterpfand der Sicherheit. Die Gesellschaft, wenigstens die
+zivilisierte Gesellschaft, ist niemals schnell geneigt, etwas Schlechtes
+von denen zu glauben, die zugleich reich und interessant sind. Sie
+begreift instinktiv, daß Manieren wichtiger sind als Moral, und ihrer
+Meinung nach ist die höchste Ehrbarkeit weniger wert als der Besitz
+eines guten Küchenchefs. Und schließlich ist es auch ein sehr schwacher
+Trost, wenn einem gesagt wird, daß der Mann, bei dem es ein schlechtes
+Diner oder einen elenden Wein gegeben hat, in seinem Privatleben
+unantastbar dasteht. Selbst die Kardinaltugenden können nicht für kalt
+gewordene Entrees entschädigen, bemerkte Lord Henry einmal, als man über
+dieses Thema sprach; und für seine Ansicht spricht wahrscheinlich sehr
+viel. Denn die Gesetze der guten Gesellschaft sind oder sollten
+wenigstens dieselben sein, wie die Regeln der Kunst. Form ist für sie
+unbedingt wesentlich. Sie sollte die Würde ebenso wie die Unwirklichkeit
+einer Zeremonie haben und sollte den unaufrichtigen Schein eines
+romantischen Schauspiels mit dem Witz und der Schönheit verbinden, die
+für uns das Entzücken solcher Spiele ausmachen. Ist Unaufrichtigkeit
+denn etwas so Furchtbares? Ich glaube nicht. Sie ist nur ein Mittel,
+wodurch wir unsere Persönlichkeit vervielfachen können.
+
+Das war wenigstens die Meinung von Dorian Gray. Er pflegte sich über die
+seichte Psychologie derer zu wundern, die sich das Ich eines Menschen
+als etwas Einfaches, Beständiges, Verläßliches und Einheitliches
+vorstellen. Für ihn war der Mensch ein Wesen mit Myriaden von Leben und
+Myriaden von Gefühlen, ein kompliziertes, vielgestaltetes Geschöpf, das
+seltsame Erbschaften in seinen Gedanken und Leidenschaften mit sich
+herumtrug und dessen Fleisch von den ungeheuerlichen Krankheiten der
+Verstorbenen angesteckt war. Er liebte es, die kahle, kalte
+Bildergalerie auf seinem Landsitze zu durchschlendern und die
+verschiedenen Porträts der Menschen zu betrachten, deren Blut in seinen
+Adern floß. Hier war Philipp Herbert, den Francis Osborne in seinen
+»Memoiren über die Herrscherzeit der Königin Elisabeth und des Königs
+Jakob« als einen beschrieb, »den der Hof seines hübschen Gesichtes wegen
+lieb hatte, das ihm aber nicht lange Gesellschaft leistete«. War es das
+Leben des jungen Herbert, das er manchmal führte? Hatte sich irgendein
+merkwürdiger, gifttragender Keim von Körper zu Körper übertragen, bis er
+seinen eigenen erreicht hatte? War es eine dumpfe Erinnerung an diesen
+verwelkten Liebreiz gewesen, die damals in Basil Hallwards Atelier so
+jäh und fast ohne Grund über ihn hereinbrach, daß er jenes wahnsinnige
+Gebet sprechen mußte, das sein Leben so sehr verändert hatte? Hier stand
+in goldgesticktem rotem Wams, in einem mit Juwelen geschmückten Überrock
+und goldgefaßten Hals- und Ärmelkrausen Sir Anthony Sherard, die Beine
+mit silbernen und schwarzen Schienen gepanzert. Was war das Vermächtnis
+dieses Mannes gewesen? Hatte ihm der Geliebte der Giovanna von Neapel
+ein Erbteil der Sünde und Schande hinterlassen? Waren seine eigenen
+Handlungen nur die Träume, die der Tote nicht zu verwirklichen gewagt
+hatte? Hier lächelte von einer verblaßten Leinwand Lady Elisabeth
+Devereux in ihrer Gazehaube, dem perlenbestickten Brustschmuck und den
+roten Schlitzärmeln. Sie hielt in der rechten Hand eine Blume, und die
+linke umfaßte einen emaillierten Halsschmuck aus weißen und Damaszener
+Rosen. Auf einem Tisch neben ihr lag eine Mandoline und ein Apfel. Auf
+ihren kleinen, spitzen Schuhen saßen große, grüne Rosetten. Er kannte
+ihr Leben und die seltsamen Geschichten, die man über ihre Liebhaber
+erzählte. Hatte er etwas von ihrem Temperament an sich? Diese ovalen
+Augen mit den schweren Lidern schienen ihn so sonderbar anzublicken. Wie
+stand es um George Willoughby mit seinem gepuderten Haar und seinen
+phantastischen Schönheitspflästerchen? Wie böse er aussah! Das Gesicht
+war melancholisch und bräunlich, und die sinnlichen Lippen schienen
+verächtlich zusammengekniffen. Kostbare Spitzenmanschetten rieselten
+über die mageren gelben Hände, die mit Ringen so sehr überladen waren.
+Er war im achtzehnten Jahrhundert ein Stutzer gewesen und in seiner
+Jugend ein Freund von Lord Ferrars. Wie war es mit dem zweiten Lord
+Beckenham, dem Gefährten des Prinzregenten in seinen wildesten Tagen und
+einem der Zeugen bei seiner heimlichen Eheschließung mit Frau
+Fitzherbert? Wie stolz und hübsch war er mit seinen kastanienbrauen
+Locken und der herausfordernden Haltung! Welche Leidenschaften hatte er
+ihm vererbt? Die Welt hatte ihn für ehrlos gehalten. Er hatte bei den
+Orgien in Carlton House den Vorsitz geführt. Der Stern des
+Hosenbandordens strahlte auf seiner Brust. Neben ihm hing das Bild
+seiner Gemahlin, einer blassen, dünnlippigen Frau in schwarzem Kleide.
+Auch ihr Blut flutete in ihm. Wie merkwürdig schien das alles! Und seine
+Mutter mit ihrem Lady Hamilton-Gesicht und ihren feuchten, wie vom Wein
+benetzten Lippen -- er wußte, was er von ihr mitbekommen hatte. Von ihr
+hatte er seine Schönheit geerbt und seine Leidenschaft für die
+Schönheit anderer. Sie lachte ihn an in ihrem losen Bacchantinnenkleide.
+In ihrem Haare waren Weinblätter. Über den Becher, den sie hielt,
+schäumte der Purpur. Die Fleischfarbe des Gemäldes war verblaßt, aber
+die Augen waren noch wunderbar in ihrer Tiefe und ihrem Farbenglanz. Sie
+schienen ihm überall hin zu folgen, wo er auch ging.
+
+Aber man hatte Vorfahren ebensogut in der Literatur wie in dem eigenen
+Geschlecht, und viele davon standen einem vielleicht näher in ihrem
+Menschentum und in ihrem Temperament und hatten sicher einen Einfluß,
+von dem man sich genauere Rechenschaft zu geben vermochte. Es gab
+Zeiten, wo Dorian Gray den Eindruck hatte, als wäre die ganze
+Weltgeschichte nur ein Bericht seines eigenen Lebens, nicht wie er es
+nach Taten und Umständen gelebt hatte, sondern wie es seine Phantasie
+für ihn erschaffen hatte, wie es in seinem Gehirn und in seinen
+Sinnentrieben war. Er fühlte, daß er sie alle gekannt hatte, diese
+merkwürdigen schrecklichen Gestalten, die über die Weltenbühne
+geschritten waren und die Sünde so glänzend und das Böse so tief und
+fein gemacht hatten. Es wollte ihm scheinen, daß auf irgendeine
+geheimnisvolle Weise ihr Leben auch sein eigenes gewesen sei.
+
+Der Held des wunderbaren Romans, der sein Leben so stark beeinflußt
+hatte, war auch von diesem seltsamen Einfall ergriffen gewesen. Im
+siebenten Kapitel erzählt er: wie er, bekränzt mit Lorbeer, damit ihn
+der Blitz nicht treffe, als Tiberius in einem Garten von Capri gesessen
+und die schändlichen Bücher von Elephantis gelesen habe, während Zwerge
+und Pfauen um ihn herumstolzierten und der Flötenspieler den
+Weihrauchschwinger verspottete: wie er als Caligula mit den
+grünbeschürzten Stallknechten in ihren Ställen gezecht und aus einer
+elfenbeinernen Krippe ein Mahl genommen habe mit einem Rosse, das ein
+edelsteingeschmücktes Stirnband trug, und wie er als Domitian durch
+einen Korridor gewandert sei, dessen Wände mit Marmorspiegeln bedeckt
+waren, in denen er mit verstörten Augen nach dem Widerschein des Dolches
+gesucht habe, der seine Tage enden sollte, erkrankt an der Langeweile,
+dem schrecklichen ~Taedium vitae~, das alle befällt, denen das Leben
+nichts versagt: und wie er durch einen hellen Smaragd den blutrünstigen
+Schlächterszenen im Zirkus zugeschaut habe und dann in einer Karosse aus
+Perlen und Purpur, die von silberfarbig gesprenkelten Maultieren gezogen
+wurde, durch eine Straße mit Granatbäumen zu einem goldenen Hause
+gefahren sei und gehört habe, wie ihm die Menschenmenge zurief: Kaiser
+Nero, als er vorbeifuhr, und wie er sich als Heliogabal das Gesicht
+geschminkt, mit den Weibern am Spinnrocken gewebt und den Mond aus
+Karthago geholt habe, um ihn in mystischer Ehe mit der Sonne zu
+vermählen.
+
+Wieder und wieder las Dorian dieses phantastische Kapitel und die zwei
+unmittelbar folgenden, in denen wie auf wunderlichen Gobelins oder
+kunstvoll gearbeiteten Emaillen die greulich-schönen Gestalten jener
+dargestellt waren, die Laster und Blut und Übersättigung zu Ungeheuern
+oder Narren gemacht hatte: Filippo, der Herzog von Mailand, der sein
+Weib getötet und ihre Lippen mit scharlachrotem Gift gefärbt hatte,
+damit ihr Geliebter von dem Leichnam, wenn er ihn liebkoste, den Tod
+saugen möge: der Venezianer Pietro Barbi, bekannt als Paul der Zweite,
+der in seiner Eitelkeit den Beinamen Formosus annehmen wollte und dessen
+Tiara, die zweihunderttausend Gulden Wert hatte, mit einer furchtbaren
+Sünde erkauft worden war: Gian Maria Visconti, der Hunde benutzte, um
+auf lebende Menschen Jagd zu machen, und dessen Leichnam nach seiner
+Ermordung von einer Dirne, die ihn geliebt hatte, mit Rosen bedeckt
+ward: der Borgia auf seinem Schimmel, neben dem der Brudermord hoch zu
+Rosse saß, und dessen Mantel mit dem Blute Perottos befleckt war: Pietro
+Riario, der junge Kardinalerzbischof von Florenz, das Kind und der
+Liebling Sixtus des Sechsten, dessen Schönheit nur von seiner
+Lasterhaftigkeit übertroffen wurde, und der Leonora von Aragonien in
+einem Zelt aus weißer und karmesinfarbener Seide empfing, das voll
+Nymphen und Zentauren war, und der einen Knaben vergoldete, damit er bei
+dem Feste als Ganymed oder Hylas aufwarte: Etzelin, dessen Schwermut nur
+durch das Schauspiel des Todes geheilt werden konnte und der eine
+Leidenschaft für rotes Blut hatte, wie andere Menschen für roten Wein --
+den man den Sohn des Satans hieß und der seinen Vater beim Würfeln
+betrogen hatte, als er mit ihm um seine Seele spielte: Giambattista
+Cibo, der aus Hohn den Namen Innozentius annahm und in dessen verdumpfte
+Adern ein jüdischer Arzt das Blut von drei Jünglingen einpumpte:
+Sigismondo Malatesta, der Liebhaber der Isotta und der Herr von Rimini,
+der zu Rom im Bilde als ein Feind Gottes und der Menschen verbrannt
+wurde, und der Polyssena mit einer Serviette erdrosselte, und der
+Ginevra d'Este aus einem Smaragdbecher Gift zu trinken gab und, um eine
+schändliche Leidenschaft zu ehren, einen heidnischen Tempel zur Anbetung
+für die Christen baute: Karl der Sechste, der für das Weib seines
+Bruders so ungestüm erglühte, daß ihm ein Aussätziger den Irrsinn
+prophezeite, der über ihn kommen werde, und der, als sein Geist krank
+geworden war und sich verwirrt hatte, nur durch sarazenische Spielkarten
+besänftigt wurde, auf denen Liebe, Tod und Wahnsinn abgebildet waren:
+und in seinem gezierten Kamisol und in seinem edelsteingeschmückten
+Barett und den akanthusgleichen Locken Grifonetto Baglioni, der Astorre
+bei seiner Braut und Simonetto bei seinem Pagen erschlug, und dessen
+Anmut so groß war, daß, als er sterbend auf der gelben Piazza in Perugia
+lag, selbst seine Hasser das Schluchzen nicht unterdrücken konnten, und
+ihn Atalanta segnete, die ihn verflucht hatte.
+
+Ein grauenhafter Zauber war in alledem. Er sah sie bei Nacht, und
+während des Tages verwirrten sie seine Vorstellungen. Die Renaissance
+kannte seltsame Arten, zu vergiften -- zu vergiften durch einen Helm und
+eine angezündete Fackel, einen bestickten Handschuh und einen
+edelsteinbesetzten Fächer, ein vergoldetes Riechbüchschen und eine
+Bernsteinkette. Dorian Gray war durch ein Buch vergiftet worden. Es gab
+Augenblicke, in denen er die Sünde einzig als eine Möglichkeit ansah,
+seinen Schönheitsbegriff zu verwirklichen.
+
+
+
+
+Zwölftes Kapitel
+
+
+Es war am neunten November, am Vorabend seines achtunddreißigsten
+Geburtstages, wie er sich später oftmals erinnerte.
+
+Er ging gegen elf Uhr aus Lord Henrys Wohnung, bei dem er gegessen
+hatte, nach Hause und war in einen schweren Pelz gehüllt, da die Nacht
+kalt und neblig war. An der Ecke von Grosvenor Square und South Audley
+Street ging im Nebel ein Mann sehr eilig an ihm vorbei, der den Kragen
+seines grauen Ulsters hochgeschlagen hatte. Er trug eine Reisetasche.
+Dorian erkannte ihn. Es war Basil Hallward. Ein seltsames Angstgefühl,
+über das er sich keine Rechenschaft geben konnte, befiel ihn. Er ließ
+nicht merken, daß er ihn erkannt hatte und setzte rasch seinen Weg fort
+in der Richtung seines Hauses.
+
+Aber Hallward hatte ihn gesehen. Dorian hörte, wie er zuerst auf dem
+Trottoir stehenblieb und ihm dann nacheilte. In ein paar Augenblicken
+lag eine Hand auf seinem Arm.
+
+»Dorian! Was für ein besonders glücklicher Zufall! Ich habe seit neun
+Uhr in deiner Bibliothek auf dich gewartet. Schließlich tat mir dein
+ermüdeter Diener leid, und als er mich herunterließ, sagte ich ihm, er
+möchte zu Bett gehen. Ich fahre mit dem Mitternachtszug nach Paris, und
+ich hatte den dringendsten Wunsch, dich vor meiner Abreise noch zu
+sehen. Ich dachte, das mußt du sein, oder mindestens dein Pelz, als du
+vorbeigingst. Aber ich war doch nicht ganz sicher. Hast du mich denn
+nicht erkannt?«
+
+»Bei so einem Nebel, lieber Basil? Ich kann nicht einmal Grosvenor
+Square erkennen. Ich vermute, mein Haus ist hier irgendwo in der Nähe,
+aber ich bin mir nicht ganz sicher. Es tut mir leid, daß du verreist,
+denn ich habe dich ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber ich denke, du
+kommst doch bald wieder?«
+
+»Nein; ich bleibe sechs Monate von England fort. Ich will mir in Paris
+ein Atelier mieten und mich darin einschließen, bis ein großes Bild
+fertig ist, das ich im Kopf habe. Aber ich wollte nicht über mich reden.
+Da sind wir an deiner Tür. Laß mich einen Augenblick mit herein. Ich
+habe dir was zu sagen.«
+
+»Es wird mir eine große Freude sein. Aber versäumst du auch deinen Zug
+nicht?« sagte Dorian Gray mit müder Stimme, als er die Treppe
+hinaufstieg und die Tür mit seinem Drücker öffnete.
+
+Das Lampenlicht kämpfte mit dem Nebel, und Hallward sah auf die Uhr.
+»Ich habe noch eine Menge Zeit«, antwortete er. »Der Zug geht zwölf Uhr
+fünfzehn, und es ist eben elf. Offen gesagt, ich war gerade auf dem Weg
+in den Klub, um dich zu suchen, als ich dich traf. Mein Gepäck wird
+mich, wie du siehst, nicht sehr aufhalten, weil ich die schweren Sachen
+vorausgeschickt habe. Hier in der Tasche ist alles, was ich mitnehme,
+und nach Victoria Station kann ich bequem in zwanzig Minuten kommen!«
+
+Dorian sah ihn lächelnd an. »Für einen berühmten Maler eine merkwürdige
+Art, zu reisen! Eine Handtasche und ein Ulster! Komm herein, sonst
+dringt der Nebel ins Haus! Und bitte, sprich über nichts Ernsthaftes mit
+mir. Nichts ist heutzutage ernsthaft. Wenigstens sollte es nichts sein.«
+
+Hallward schüttelte den Kopf als er eintrat, und folgte Dorian ins
+Bibliothekzimmer. Dort brannte in dem offenen Kamin ein helles
+Holzfeuer. Die Lampen waren angezündet, und ein offenstehender
+holländischer Likörkasten aus Silber stand nebst ein paar
+Sodawassersiphons und großen geschliffenen Gläsern auf einem eingelegten
+Tischchen.
+
+»Du siehst, dein Diener hat es mir gemütlich gemacht, Dorian. Er hat mir
+alles gegeben, was ich brauchte, sogar deine besten Zigaretten mit
+Goldmundstück. Es ist ein recht gastfreundlicher Mensch. Ich mag ihn
+viel lieber als den Franzosen, den du vor ihm hattest. Was ist übrigens
+aus dem Franzosen geworden?«
+
+Dorian zuckte die Achseln. »Ich glaube, er hat Lady Radleys
+Kammermädchen geheiratet und sie in Paris als englische Schneiderin
+etabliert. Ich höre, daß Anglomanie zurzeit drüben sehr Mode ist.
+Scheint mir recht töricht von den Franzosen, nicht wahr? Aber -- weißt
+du noch? -- er war wirklich kein schlechter Bedienter. Ich mochte ihn
+zwar auch nie so recht leiden, aber er gab mir keinen Grund zur Klage.
+Man bildet sich oft Dinge ein, die ganz sinnlos sind. Er war mir
+wirklich sehr ergeben und schien ganz traurig, als er wegging. Willst du
+noch einen Kognak und Soda? Oder lieber Wein mit Selter? Ich nehme immer
+Wein mit Selter. Es ist gewiß etwas im Nebenzimmer.«
+
+»Danke, ich nehme nichts mehr«, sagte der Maler, legte Mütze und
+Überrock ab und warf sie auf die Reisetasche, die er in die Zimmerecke
+gestellt hatte. »Und jetzt, lieber Freund, möchte ich mit dir mal
+ernsthaft sprechen. Du mußt nicht so böse aussehen. Du machst es mir
+dadurch nur schwerer.«
+
+»Was soll das alles?« rief Dorian, offen seine Verdrießlichkeit zeigend
+und warf sich auf das Sofa. »Ich hoffe, es handelt sich nicht um mich.
+Ich habe heute abend genug von mir. Ich wünschte, ich wäre ein anderer.«
+
+»Es handelt sich um dich,« antwortete Hallward mit seiner ernsten,
+tiefen Stimme, »und ich muß es dir sagen. Ich werde dich kaum ein halbes
+Stündchen aufhalten.«
+
+Dorian seufzte und steckte sich eine Zigarette an. »Ein halb Stündchen«,
+flüsterte er.
+
+»Das ist nicht viel von dir verlangt, Dorian, und ich spreche wirklich
+nur zu deinem Besten. Ich halte es für angebracht, daß du endlich die
+schrecklichen Dinge erfährst, die über dich in London geredet werden.«
+
+»Ich will nicht das mindeste davon wissen. Ich habe Tratsch über andere
+Leute recht gern, aber Tratsch über mich interessiert mich ganz und gar
+nicht. Es hat nicht mal den Reiz der Neuheit.«
+
+»Es muß dich interessieren, Dorian. Jeder anständige Mensch ist an
+seinem guten Ruf interessiert. Du darfst doch nicht die Leute von dir
+reden lassen, wie von einem gesunkenen und abscheulich lasterhaften
+Menschen. Natürlich hast du deine Stellung, deinen Reichtum und all
+dergleichen. Aber Stellung und Reichtum sind nicht alles. Auf mein Wort,
+ich glaube von diesen Gerüchten nichts. Wenigstens kann ich ihnen nicht
+glauben, wenn ich dich sehe. Die Sünde steht jedem Menschen auf der
+Stirn geschrieben. Man kann sie nicht verhehlen. Die Menschen schwatzen
+manchmal von geheimen Lastern. So etwas gibt es nicht. Wenn ein
+unseliger Mensch ein Laster hat, so zeigt sichs in den Linien seines
+Mundes, in seinen herabgesunkenen Augenlidern, selbst in der Form seiner
+Hände. Jemand -- ich will seinen Namen nicht nennen, aber du kennst ihn
+-- kam voriges Jahr zu mir und wollte sich malen lassen. Ich hatte ihn
+nie vorher gesehen und damals nie etwas von ihm gehört, seitdem aber hat
+man mir eine Menge von ihm erzählt. Er bot mir einen fabelhaften Preis
+an. Ich habe abgelehnt. An der Form seiner Finger war etwas, das mir
+ekelhaft war. Jetzt weiß ich, daß ich mit meiner Vermutung über ihn ganz
+recht hatte. Sein Leben ist fürchterlich. Aber von dir, Dorian, mit
+deinem reinen, leuchtenden, unschuldigen Gesicht und deiner wunderbaren
+unberührten Jugend -- ich kann nicht das Häßliche glauben, das man gegen
+dich vorbringt. Und doch, ich sehe dich jetzt so selten, und du kommst
+gar nicht mehr in mein Atelier, und wenn ich nicht mit dir zusammen bin
+und alle die abscheulichen Dinge höre, die sich die Leute über dich
+zuflüstern, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Woher kommt es,
+Dorian, daß ein Mann wie der Herzog von Berwick aufsteht und das
+Klubzimmer verläßt, wenn du eintrittst? Warum wollen so viele Männer in
+London nicht zu dir kommen und dich niemals zu sich einladen? Du warst
+doch mit Lord Staveley befreundet. Ich traf ihn vorige Woche bei einem
+Diner. Dein Name tauchte zufällig im Gespräch in Verbindung mit den
+Miniaturen auf, die du der Dudley-Ausstellung hergeliehen hast. Staveley
+verzog die Lippen und sagte, es mag ja sein, daß du einen äußerst
+künstlerischen Geschmack habest, aber du seist ein Mann, den kein reines
+Mädchen kennenlernen solle und mit dem keine anständige Frau im selben
+Zimmer sein dürfe. Ich gab ihm zu verstehen, daß ich dein Freund sei,
+und fragte ihn, was er damit meine. Er sagte es mir. Er sagte es mir vor
+allen Leuten geradeheraus. Es war scheußlich! Warum ist deine
+Freundschaft für junge Männer solch ein Unglück? Da war der unselige
+Bursch in der Leibgarde, der Selbstmord begangen hat. Du warst sein
+bester Freund. Da war Sir Henry Ashton, der England mit einem besudelten
+Namen verlassen mußte. Du und er, ihr beide wart unzertrennlich. Wie ist
+es mit Adrian Singleton bestellt und seinem furchtbaren Ende? Was war
+das mit dem einzigen Sohn Lord Kents und seiner Karriere? Ich traf
+seinen Vater gestern in St. James Street. Er schien vor Schande und
+Herzleid gebrochen. Was hattest du mit dem jungen Herzog von Perth? Was
+für ein Leben führt er jetzt? Welcher Gentleman wollte noch mit ihm
+Umgang haben?«
+
+»Hör auf, Basil, du sprichst von Dingen, von denen du nichts weißt«,
+sagte Dorian Gray, der sich auf die Lippen biß und in seine Stimme einen
+Ton unsäglicher Verachtung legte. »Du fragst mich, warum Berwick aus dem
+Zimmer geht, wenn ich eintrete. Er tut das, weil ich sein Leben durch
+und durch kenne, nicht weil er etwas von mir wüßte. Wie könnte er bei
+dem Blut, das in seinen Adern rollt, nicht viel auf dem Kerbholz haben?
+Du fragst mich nach Henry Ashton und dem jungen Perth. Habe ich dem
+einen seine Laster, dem anderen seine Ausschweifungen beigebracht? Wenn
+sich Kents schwachköpfiger Sohn sein Weib von der Straße holt, was gehts
+mich an? Wenn Adrian Singleton den Namen seines Freundes auf einen
+Wechsel schreibt, bin ich sein Hüter? Ich weiß, wie die Leute in England
+klatschen. Die Mittelklassen spreizen sich bei ihren endlosen Diners mit
+ihren moralischen Vorurteilen und munkeln von etwas, das sie die
+Ausschweifungen derer nennen, denen es besser geht, und um sich damit zu
+brüsten, daß sie in der feinen Gesellschaft verkehren und intim mit den
+Leuten sind, die sie durchhecheln. Bei uns zulande genügt es, daß einer
+Vornehmheit und Geist hat, damit sich jede gemeine Zunge an ihm wetzt.
+Und was für eine Art Leben führen denn diese Menschen selber, die sich
+so auf die Moral hinausspielen? Mein lieber Junge, du vergißt, daß wir
+in der Heimat der Heuchelei leben.«
+
+»Dorian,« rief Hallward, »darum handelt sich's nicht. Wie schlecht es um
+England bestellt ist, weiß ich selbst und wie die englische Gesellschaft
+verrottet ist. Gerade deshalb wünsche ich, daß du gut bleibst. Du bist
+nicht gut geblieben. Man hat ein Recht darauf, einen Menschen nach der
+Wirkung zu beurteilen, die er auf seine Freunde ausübt. Deine Freunde
+scheinen alles Gefühl für Ehre, für Anstand, für Reinheit zu verlieren.
+Du hast sie mit einer wahnsinnigen Genußsucht erfüllt. Sie sind tief
+gesunken. Ja: und du hast sie da hinabgeführt, und doch kannst du
+lächeln, und du lächelst jetzt noch. Und es gibt noch viel Schlimmeres.
+Ich weiß, du und Harry seid unzertrennlich. Schon aus diesem Grunde,
+wenn aus keinem anderen, hättest du den Namen seiner Schwester nicht zum
+Spott machen dürfen!«
+
+»Nimm dich in acht, Basil. Du gehst zu weit.«
+
+»Ich muß sprechen, und du mußt mich hören. Als du Lady Gwendolen
+kennenlerntest, hatte sie noch nicht der leiseste Hauch übler Nachrede
+berührt. Gibt es jetzt eine einzige anständige Frau in London, die mit
+ihr im Park spazieren fahren würde? Ja, nicht einmal ihre Kinder dürfen
+bei ihr wohnen. Dann gibt es andere Geschichten -- Geschichten, daß man
+dich gesehen hat, wie du in der Dämmerung aus schrecklichen Häusern
+herausgeschlichen bist, daß du dich verkleidet in den niederträchtigsten
+Kneipen Londons herumtreibst. Ist das wahr? Kann das wahr sein? Als ich
+das erstemal so etwas hörte, lachte ich. Jetzt höre ich es mit
+Schaudern. Wie steht es mit deinem Landhause und dem Leben, das dort
+geführt wird? Dorian, du weißt nicht, was man über dich spricht. Ich
+will dir das nicht vorhalten, ich will dir keine Predigt halten. Ich
+erinnere mich, daß Harry einmal gesagt hat, jeder Mensch, der sich als
+Moralprediger versuchen will, fängt damit an, daß er sagt, er wolle
+nicht predigen und dann sein Wort bricht. Ich will dir also eine Predigt
+halten. Ich möchte dich ein solches Leben führen sehen, daß die Welt
+Achtung vor dir haben soll. Ich will, daß du einen reinen Namen und
+einen guten Ruf hast. Ich will, daß du dich von den gräßlichen Menschen
+losmachst, mit denen du jetzt fraternisierst. Zucke nicht mit den
+Achseln. Sei nicht so gleichgültig. Du hast einen mächtigen Einfluß. Laß
+ihn zum Guten und nicht zum Bösen wirken. Man sagt, du verderbest jeden
+Menschen, mit dem du intim wirst, und es sei völlig hinreichend, daß du
+ein Haus betrittst, damit dir Schande irgendeiner Art auf dem Fuße
+folge. Ich weiß nicht, ob dem so ist oder nicht. Wie sollte ich's auch
+wissen? Aber man sagte es von dir. Man sagte mir Dinge, die ich
+unmöglich länger anzweifeln kann. Lord Gloucester war einer meiner
+liebsten Freunde in Oxford. Er hat mir den Brief gezeigt, den ihm seine
+Frau geschrieben hat, als sie allein in ihrer Villa in Mentone auf dem
+Sterbebette lag. Dein Name war da in die fürchterlichste Beichte
+verwickelt, die ich je gelesen habe. Ich sagte ihm, daß es Tollheit
+wäre, daß ich dich durch und durch kennte und daß du zu irgend etwas
+Derartigem unfähig wärest. Kenne ich dich? Ich frage mich, kenne ich
+dich! Bevor ich darauf antworten kann, müßte ich deine Seele sehen.«
+
+»Meine Seele sehen«, murmelte Dorian Gray, stand vom Sofa auf und wurde
+beinah weiß vor Angst.
+
+»Ja,« antwortete Hallward ernst und ein tiefschmerzlicher Klang zitterte
+in seiner Stimme -- »deine Seele sehen. Aber das kann nur Gott.«
+
+Ein bitter-höhnisches Gelächter brach aus dem Munde des Jüngeren. »Du
+sollst sie selbst sehen, noch heute nacht!« rief er aus und nahm eine
+Lampe vom Tisch. »Komm: sie ist das Werk deiner eigenen Hand. Warum
+solltest du es nicht sehen? Du kannst nachher aller Welt davon erzählen,
+wenn du willst. Niemand würde dir glauben. Wenn sie dir glaubten, haben
+sie mich deswegen nur um so lieber. Ich kenne unsere Zeit besser als du,
+obwohl du darüber so langweilig faseln kannst. Komm, sag' ich dir. Du
+hast genug über Verderbnis geschwatzt. Jetzt sollst du sie von Angesicht
+zu Angesicht sehen.«
+
+In jedem Wort, das er sprach, klang der Wahnsinn des Hochmuts. Er
+stampfte in seiner knabenhaften, dreisten Art mit dem Fuß auf die
+Dielen. Er empfand ein furchtbares Vergnügen bei dem Gedanken, daß ein
+anderer jetzt sein Geheimnis teilen solle und daß der Mann, der sein
+Bild gemalt hatte, das der Ursprung all seiner Schande war, für den Rest
+seines Lebens die Last der gräßlichen Erinnerung an seine Tat mit sich
+herumschleppen müsse.
+
+»Ja,« fuhr er fort und trat näher zu ihm heran und sah ihm fest in die
+ernsten Augen, »ich werde dir meine Seele zeigen. Du sollst das Machwerk
+sehen, von dem du glaubst, daß es nur Gott sehen kann.«
+
+Hallward schrak zurück. »Das ist Gotteslästerung, Dorian. Du darfst
+nicht solche Dinge sagen. Sie sind schrecklich und unverständig.«
+
+»Glaubst du?« Er lachte wieder.
+
+»Ich weiß es. Was ich dir heute abend gesagt habe, hab' ich zu deinem
+Besten gesagt. Du weißt, ich war dir immer ein guter Freund.«
+
+»Werde nur nicht rührselig. Mach' Schluß mit dem, was du noch zu sagen
+hast.«
+
+Ein wehevolles Zucken ging durch das Gesicht des Malers. Er schwieg
+einen Augenblick und ein heftiger Mitleidsschmerz überkam ihn. Welches
+Recht hatte er schließlich, in Dorian Grays Leben hineinzuspähen? Wenn
+er nur den zehnten Teil von dem getan hatte, wovon die Gerüchte gingen,
+wie qualvoll mußte er gelitten haben! Dann richtete er sich auf, ging
+zum Kamin hinüber und blieb da stehen, versunken in den Anblick der
+brennenden Holzscheite, die mit ihrer weißen Asche wie bereift aussahen
+und stierte ihre zuckenden Feuerherzen an.
+
+»Ich warte, Basil«, sagte der junge Mann mit harter, spitzer Stimme.
+
+Er drehte sich um. »Was ich noch zu sagen habe, ist das«, rief er. »Du
+mußt mir eine Antwort geben auf diese fürchterlichen Anklagen, die gegen
+dich erhoben werden. Wenn du mir sagst, daß sie von Anfang bis zu Ende
+unwahr sind, werde ich dir glauben. Leugne sie ab, Dorian, leugne sie
+ab! Kannst du nicht sehen, was ich durchmache? Mein Gott, sage mir
+nicht, daß du schlecht und verderbt und schändlich bist!«
+
+Dorian Gray lächelte. Seine Lippen krausten sich in Verachtung. »Komm
+hinauf, Basil«, sagte er ruhig. »Ich führe da ein Tagebuch meines
+Lebens, Tag für Tag, und es verläßt niemals das Zimmer, in dem es
+geschrieben wird. Ich will es dir zeigen, wenn du mit mir kommst.«
+
+»Ich komme mit, Dorian, wenn du es haben willst. Ich sehe, daß ich
+meinen Zug versäumt habe. Das tut nichts. Ich kann morgen fahren. Aber
+verlange nicht von mir, daß ich heute nacht noch etwas lese. Was ich
+will, ist eine klare Antwort auf meine Frage.«
+
+»Die soll dir oben zuteil werden. Ich kann sie dir hier nicht geben. Du
+wirst nicht lange zu lesen haben.«
+
+
+
+
+Dreizehntes Kapitel
+
+
+Er verließ das Zimmer und begann die Treppe hinaufzugehen, Basil
+Hallward folgte dicht hinter ihm. Sie gingen leise, wie man es bei Nacht
+instinktiv tut. Die Lampe warf phantastische Schatten auf Wand und
+Treppe. Im Winde, der sich erhoben hatte, klirrten einige Fenster.
+
+Als sie den obersten Absatz erreicht hatten, stellte Dorian die Lampe
+auf den Boden, nahm den Schlüssel heraus und schloß auf. »Du bestehst
+auf einer Antwort, Basil?« fragte er mit gedämpfter Stimme.
+
+»Ja.«
+
+»Das freut mich«, antwortete er lächelnd. Dann fügte er ziemlich scharf
+hinzu: »Du bist der einzige Mensch in der Welt, der alles über mich
+wissen darf. Du hast mehr mit meinem Leben zu schaffen gehabt, als du
+dir denkst«, und damit nahm er die Lampe auf, öffnete die Tür und trat
+ein. Ein kalter Luftzug strich an ihnen vorbei, und das Licht zuckte
+einen Augenblick in einer düstern Orangefarbe auf. Er schauderte.
+»Schließe die Tür hinter dir«, flüsterte er, während er die Lampe auf
+den Tisch stellte.
+
+Hallward blickte erstaunt umher. Das Zimmer sah aus, als wär' es seit
+langen Jahren nicht bewohnt worden. Ein fadenscheiniger flämischer
+Gobelin, ein verhängtes Bild, ein alter italienischer Cassone und ein
+fast leerer Bücherschrank -- das war außer einem Stuhl und einem Tisch
+alles, was darin zu sein schien. Als Dorian Gray eine halb abgebrannte
+Kerze, die auf dem Kamin stand, angezündet hatte, sah der Maler, daß der
+ganze Raum mit Staub bedeckt und der Teppich zerfetzt und durchlöchert
+war. Eine Maus lief erschreckt hinter die Täfelung. Ein dumpfer
+Modergeruch machte sich bemerkbar. --
+
+»Du glaubst also, daß Gott allein die Seele sieht, Basil? Zieh den
+Vorhang zurück, und du wirst die meine sehen.«
+
+Die Stimme, die das sprach, klang kalt und grausam.
+
+»Du bist wahnsinnig, Dorian, oder spielst Komödie«, sagte Hallward und
+runzelte die Stirn.
+
+»Du willst nicht? Dann muß ich es selbst tun«, sagte der junge Mann, und
+riß den Vorhang von seiner Stange und schleuderte ihn zu Boden.
+
+Ein Entsetzensschrei kam von den Lippen des Malers, als er in der
+düsteren Beleuchtung das gräßliche Gesicht auf der Leinwand erblickte,
+das ihm entgegengrinste. In seinem Ausdruck war etwas, das ihn mit Ekel
+und Abscheu erfüllte. Gott im Himmel! Es war Dorian Grays eigenes
+Antlitz, das er sah! Das Schreckliche, was es auch sein mochte, hatte
+die wundervolle Schönheit noch nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold
+in dem gelichteten Haar und etwas Purpur auf dem sinnlichen Mund. Die
+stumpfgewordenen Augen hatten noch etwas von ihrem lieblichen Blau
+behalten, der edle Schwung der Linien um die feingewölbten Nasenflügel
+und den plastischen Hals war noch nicht ganz verschwunden. Ja, es war
+Dorian selbst. Aber wer hatte das gemalt? Er glaubte, das Werk seines
+eigenen Pinsels zu erkennen, und der Rahmen war von ihm selbst
+gezeichnet. Die Vorstellung war ungeheuerlich, und doch fürchtete er
+sich. Er nahm die brennende Kerze und hielt sie nahe an das Bild. In der
+linken Ecke stand ein Name in langen, hellroten Lettern.
+
+Es war irgendeine infame Parodie, eine niederträchtige, elende Satire.
+Er hatte das niemals gemalt. Und doch, es war sein eigenes Bild. Er
+wußte es und ihm war, als ob sich sein Blut in einem Augenblick aus
+Feuer in starrendes Eis verwandelt hätte. Sein eigenes Bild! Was sollte
+das heißen? Warum hatte es sich verändert? Er drehte sich um und sah
+Dorian Gray mit krankhaften Augen an. Sein Mund zuckte, seine trockne
+Zunge schien jedes Lautes ganz unfähig zu sein. Er fuhr sich mit der
+Hand über die Stirn. Kühle Schweißperlen standen darauf.
+
+Der junge Mann lehnte gegen den Kamin und beobachtete ihn mit dem
+merkwürdigen Ausdruck, den man auf den Gesichtern von Menschen sieht,
+die von dem Spiel eines großen Schauspielers hingerissen sind. In seinem
+Gesicht war weder wirklicher Schmerz noch wirkliche Freude. Da war nur
+die Leidenschaft des Zuschauers und höchstens in den Augen flackerte ein
+triumphierendes Leuchten. Er hatte die Blume aus seinem Knopfloch
+genommen und roch daran oder tat mindestens so.
+
+»Was bedeutet das?« rief Hallward endlich. Seine eigene Stimme klang ihm
+schrill und fremd in die Ohren.
+
+»Vor vielen Jahren, als ich noch ein Knabe war,« sagte Dorian Gray,
+während er die Blume in seiner Hand zerdrückte, »hast du mich
+kennengelernt, hast mir geschmeichelt und mich gelehrt, auf meine
+Schönheit eitel zu sein. Eines Tages stelltest du mich einem deiner
+Freunde vor, der mir das Wunder der Jugend erklärte, und damals
+beendetest du ein Porträt von mir, das mir das Wunder der Schönheit
+offenbarte. In einem Augenblick des Wahnsinns, und ich weiß noch jetzt
+nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht, sprach ich einen Wunsch aus,
+vielleicht würdest du es ein Gebet nennen.«
+
+»Ich erinnere mich! Oh, wie gut erinnere ich mich! Nein! so etwas ist
+unmöglich. Das Zimmer ist feucht. Die Leinwand ist stockig geworden. In
+den Farben, die ich verwandte, war irgendein mineralisches Gift
+enthalten. Ich sage dir, so etwas ist unmöglich.«
+
+»Pah, was ist unmöglich?« murmelte der junge Mann, ging zum Fenster und
+preßte seine Stirn an die kalte, nebelfeuchte Scheibe.
+
+»Du sagtest mir, du hättest es zerstört.«
+
+»Ich habe mich geirrt. Es hat mich zerstört.«
+
+»Ich kann's nicht glauben, daß es mein Bild ist.«
+
+»Kannst du dein Ideal nicht darin erkennen?« fragte Dorian bitter.
+
+»Mein Ideal, wie du es nennst...«
+
+»Wie du es nanntest.«
+
+»Es hatte nichts Schlimmes in sich, nichts Schändliches. Du warst für
+mich ein Ideal, wie ich ihm nie wieder begegnen werde. Dies ist das
+Gesicht eines Fauns.«
+
+»Es ist das Gesicht meiner Seele.«
+
+»Jesus, mein! Was für ein Ding habe ich angebetet! Es hat die Augen
+eines Teufels.«
+
+»Jeder von uns hat Himmel und Hölle in sich, Basil«, rief Dorian mit
+einer wilden, verzweifelten Gebärde.
+
+Hallward wandte sich wieder dem Bilde zu und starrte es an. »Mein Gott!
+Es ist wahr,« rief er aus, »und das hast du aus deinem Leben gemacht und
+danach also mußt du noch schlechter sein, als die es ahnen, die gegen
+dich sprechen.« Er hielt das Licht wieder dicht an die Leinwand und
+musterte sie scharf. Die Oberfläche schien ganz unzerstört und so, wie
+sie aus seiner Hand gekommen war. Von innen also war die Fäulnis und das
+Entsetzliche hervorgedrungen. Durch einen sonderbaren inneren
+Zeugungsvorgang fraß der Aussatz der Sünde langsam das ganze Bildnis
+hinweg. Die Verwesung eines Leichnams in einem feuchten Grabe konnte
+nicht so grauenvoll sein.
+
+Seine Hand zitterte und die Kerze fiel aus dem Leuchter auf den Boden
+und lag rauchend da. Er trat mit dem Fuß darauf und erstickte sie. Dann
+warf er sich selbst in den wackligen Stuhl vor dem Tische und vergrub
+das Gesicht in seinen Händen.
+
+»Großer Gott, Dorian, was für eine Lehre! Was für eine furchtbare
+Lehre!« Es kam keine Antwort, aber er konnte den jungen Mann am Fenster
+schluchzen hören. »Bete, Dorian, bete«, sagte er leise. »Was war es
+doch, was man uns in der Kindheit hersagen gelehrt hat? >Führe uns nicht
+in Versuchung! Vergib uns unsere Sünden! Nimm unsere Missetat von uns!<
+Wir wollen das zusammen aufsagen. Das Gebet deines Stolzes ist erhört
+werden. Das Gebet deiner Reue wird auch erhört werden. Ich habe dich zu
+sehr geliebt. Ich bin dafür bestraft worden. Du hast dich selbst zu
+sehr geliebt. Wir haben beide unsere Strafe.«
+
+Dorian Gray wandte sich langsam um und sah ihn mit tränenschimmernden
+Augen an. »Es ist zu spät, Basil«, flüsterte er.
+
+»Es ist nie zu spät, Dorian. Wir wollen niederknien und versuchen, ob
+wir uns nicht an ein Gebet erinnern können. Steht nicht irgendwo ein
+Vers: >Und wären deine Sünden wie Scharlach, ich will sie weiß machen
+wie Schnee?<«
+
+»Solche Worte haben für mich keinen Sinn mehr.«
+
+»Still! Sage nicht so etwas. Du hast genug Böses getan im Leben. Mein
+Gott! Siehst du nicht, wie uns das fürchterliche Ding anstiert?«
+
+Dorian Gray blickte nach dem Bild, und plötzlich überkam ihn ein
+unbezwingliches Haßgefühl auf Basil Hallward, als sei er ihm von dem
+Bildnis auf der Leinwand eingeflößt, von diesen grinsenden Lippen in
+sein Ohr gewispert worden. Die wilde Zornwut eines gehetzten Tieres
+kochte in ihm, und er haßte den Mann, der da an dem Tisch saß, mehr als
+er in seinem ganzen Leben irgend etwas gehaßt hatte. Er spähte wild um
+sich. Auf der Platte der bemalten Truhe, die ihm gegenüberstand,
+glitzerte etwas. Sein Blick fiel darauf. Er erkannte, was es war. Ein
+Messer war's, das er vor einigen Tagen mit hinaufgenommen hatte, um ein
+Stück Schnur zu durchschneiden, und das er wieder mit herunterzunehmen
+vergessen hatte. Er ging langsam darauf zu und mußte dabei an Hallward
+vorüber. Sobald er hinter ihm stand, ergriff er das Messer und drehte
+sich um. Hallward rührte sich in seinem Stuhl, als wollte er soeben
+aufstehen. Er stürzte sich auf ihn und bohrte ihm das Messer tief in die
+Schlagader hinter dem Ohr, preßte den Kopf des Mannes auf den Tisch
+herunter und stieß immer und immer wieder zu.
+
+Man hörte ein unterdrücktes Röcheln und den fürchterlichen Ton eines
+Menschen, der in seinem Blut erstickt. Dreimal schlugen die krampfhaft
+ausgestreckten Arme um sich, und die Hände fuhren mit eigentümlich
+steifen Fingern durch die Luft. Er stieß noch zweimal zu, aber der Mann
+rührte sich nicht mehr. Etwas begann auf den Boden zu tröpfeln. Er
+wartete einen Augenblick und drückte den Kopf immer noch nach unten.
+Dann warf er das Messer auf den Tisch und horchte.
+
+Er konnte nichts hören, als das Tropf-Tropf auf den fadenscheinigen
+Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis an den Treppenabsatz. Das Haus
+war vollständig ruhig. Niemand war wach. Über das Geländer gebeugt,
+stand er ein paar Augenblicke da und forschte hinab in den schwarzen
+brodelnden Schacht von Dunkelheit. Dann zog er den Schlüssel ab, ging in
+das Zimmer zurück und schloß sich darin ein.
+
+Das Wesen saß noch immer in dem Stuhl und hing mit gebeugtem Kopf und
+gekrümmtem Rücken und langen phantastischen Armen über den Tisch. Wäre
+nicht der rote, klaffende Riß im Nacken gewesen und die dunkle,
+geronnene Lache, die sich nach und nach auf dem Tisch vergrößerte, so
+hätte man glauben können, der Mann schlafe nur.
+
+Wie schnell das alles geschehen war! Er fühlte sich merkwürdig ruhig,
+ging zur Balkontür, öffnete sie und trat hinaus. Der Wind hatte die
+Nebeltücher auseinandergeblasen, und der Himmel sah aus wie der Schweif
+eines ungeheuren Pfaus, der mit Myriaden goldener Augen bestirnt war. Er
+blickte hinab und sah, wie der Polizist seine Runde machte und das lange
+Streiflicht seiner Laterne über die Türen der schweigsamen Häuser
+gleiten ließ. Das rotgelbe Licht einer vorbeitrödelnden Droschke glomm
+an der Straßenecke auf und verschwand wieder. Ein Weib in einem
+flatternden Kopftuch schob sich langsam am Gitter des Platzes vorbei und
+taumelte im Gehen. Dann und wann stand sie still und sah zurück. Auf
+einmal begann sie mit heiserer Stimme zu singen. Der Schutzmann
+schlenderte über den Damm her und sagte etwas zu ihr. Sie humpelte
+lachend weiter. Ein scharfer Luftzug fegte über den Platz. Die
+Gasflammen zuckten und wurden blau, und die entlaubten Bäume schüttelten
+ihr schwarzes Geäste hin und her, das wie ein Eisengeflecht aussah. Ihn
+fröstelte und er trat, das Fenster schließend, wieder zurück.
+
+Als er bei der Türe war, drehte er den Schlüssel und öffnete sie. Er
+blickte den Ermordeten mit keinem Blicke mehr an. Er empfand, daß das
+Geheimnis der ganzen Sache darin beruhe, sich die Sachlage nicht zu
+vergegenwärtigen. Der Freund, der das verhängnisvolle Bild gemalt hatte,
+von dem all sein Elend herrührte, war aus seinem Leben verschwunden. Das
+war genug.
+
+Dann fiel ihm die Lampe ein. Es war eine ziemlich merkwürdige maurische
+Arbeit, mattes Silber mit eingelegten Arabesken aus dunkelpoliertem
+Stahl und besetzt mit ungeschliffenen Türkisen. Sie mochte vielleicht
+von seinem Diener vermißt werden und er könnte danach fragen. Er
+zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück und nahm sie vom Tisch.
+Dabei mußte er die tote Gestalt sehen. Wie ruhig sie war! Wie furchtbar
+weiß die langen Hände aussahen! Es schien eine gräßliche Wachsfigur zu
+sein.
+
+Er schloß die Türe hinter sich und schlich langsam die Treppe hinunter.
+Das Holz knarrte und schien wie vor Schmerz aufzustöhnen. Er blieb
+einige Male stehen und wartete. Nein, alles war still. Er hörte nur den
+Widerhall seiner eigenen Schritte.
+
+Als er in seinem Bibliothekszimmer war, erblickte er die Tasche und den
+Rock in der Ecke. Die mußten irgendwo verborgen werden. Er öffnete einen
+Geheimschrank, der in der Holztäfelung war, in dem er seine eigenen
+Verkleidungen aufbewahrte, und schob die Sachen hinein. Er konnte sie
+später leicht einmal verbrennen. Dann zog er seine Uhr. Es war zwanzig
+Minuten vor zwei.
+
+Er setzte sich und begann nachzudenken. Jahr für Jahr -- fast jeden
+Monat -- werden in England Leute gehenkt für so etwas, wie er soeben
+getan hatte. Irgendeine wahnwitzige Mordlust hatte in der Luft gelegen.
+Irgendein blutroter Stern war der Erde zu nahe gekommen... Und doch, wie
+wollte man es ihm beweisen? Basil Hallward hatte das Haus um elf Uhr
+verlassen. Niemand hatte ihn noch einmal wiederkommen sehen. Die meisten
+Diener waren in Selby Royal. Sein eigener Diener war schlafen
+gegangen... Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren, und zwar mit dem
+Mitternachtszug, wie es seine Absicht gewesen war. Bei seinen
+merkwürdigen Gewohnheiten, sich zurückzuziehen, würden Monate vergehen,
+bevor irgendein Verdacht entstehen würde. Monate! Alle Spuren konnten
+lange vorher getilgt sein.
+
+Ein plötzlicher Einfall durchzuckte ihn. Er zog seinen Pelz an, setzte
+seinen Hut auf und ging in die Vorhalle hinaus. Dort blieb er stehen,
+weil er den langsamen, schweren Tritt des Schutzmanns draußen auf dem
+Pflaster hörte und den tanzenden Widerschein seiner Blendlaterne im
+Türfenster sah. Er wartete und hielt den Atem an.
+
+Nach einigen Augenblicken schob er den Riegel zurück und schlüpfte
+hinaus, das Tor ganz leise hinter sich schließend. Dann zog er die
+Klingel. Nach etwa fünf Minuten erschien sein Diener, halb angezogen und
+sehr verschlafen.
+
+»Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis«, sagte er
+eintretend und ging die Stufen hinauf; »aber ich habe meinen
+Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?«
+
+»Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr«, sagte der Mann mit einem
+blinzelnden Blick auf die Uhr.
+
+»Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie müssen mich morgen um
+neun Uhr wecken. Ich habe zu tun.«
+
+»Zu Befehl, gnädiger Herr.«
+
+»War jemand heute abend hier?«
+
+»Herr Hallward, gnädiger Herr. Er hat hier bis elf Uhr gewartet und ging
+dann, um seinen Zug nicht zu versäumen.«
+
+»Es tut mir leid, daß ich ihn nicht getroffen habe. Sollen Sie mir etwas
+bestellen?«
+
+»Nein, gnädiger Herr, nur, daß er von Paris schreiben würde, wenn er Sie
+im Klub nicht treffen sollte.«
+
+»Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen um neun zu
+wecken.«
+
+»Nein, gnädiger Herr!«
+
+Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln durch den Torweg die
+Dienertreppe hinab.
+
+Dorian Gray warf Hut und Stock auf den Tisch und trat ins Bücherzimmer.
+Eine Viertelstunde lang ging er auf und ab, biß sich auf die Lippen und
+grübelte. Dann nahm er das blaue Adreßbuch von einem Regal und begann zu
+blättern. »Alan Campbell, Hertford Street 152, Mayfair.« Ja, das war der
+Mann, den er brauchte.
+
+
+
+
+Vierzehntes Kapitel
+
+
+Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener mit einer Tasse
+Schokolade auf einem Servierbrett herein und öffnete die Fensterläden.
+Dorian lag auf der rechten Seite, eine Hand unter seiner Wange und
+schlief ganz friedlich. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder
+Lernen müde geworden ist.
+
+Der Mann mußte ihn zweimal an der Schulter berühren, bevor er aufwachte,
+und als er die Augen öffnete, huschte ein leichtes Lächeln über seine
+Lippen, als wäre er von einem entzückenden Traum befangen gewesen. Aber
+er hatte gar nicht geträumt. Seine Nacht war weder von Bildern der
+Freude noch des Grauens gestört worden. Doch die Jugend lächelt ohne
+Grund. Das ist einer ihrer besonderen Reize.
+
+Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann seine
+Schokolade zu schlürfen. Die matte Novembersonne strömte in das Zimmer.
+Der Himmel war wolkenlos, eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war
+fast wie ein Maimorgen.
+
+Allmählich schlichen die Vorgänge der vergangenen Nacht auf lautlosen,
+blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn und bauten sich dort mit
+furchtbarer Deutlichkeit wieder auf. Er erschauerte bei dem Gedächtnis
+an alles, was er durchlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte in
+ihm derselbe sonderbare Haß auf Basil Hallward zurück, der ihn dazu
+getrieben hatte, ihn zu töten, als er im Stuhl saß, er wurde kalt vor
+Wut. Der Tote saß noch immer da oben und jetzt dazu im Sonnenlicht. Wie
+schrecklich das war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit,
+nicht an den Tag.
+
+Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig würde, wenn er über das brütete,
+was er hinter sich hatte. Es gibt Sünden, deren Reiz mehr in der
+Erinnerung liegt als in der Begehung, seltsame Siege, die mehr dem Stolz
+Genüge tun als der Leidenschaft und die dem Geist ein Lustgefühl geben,
+das stärker ist als jede Wonne, die sie Sinnen verschaffen oder jemals
+verschaffen können. Aber diesmal war es keine von diesen. Dies war eine,
+die man aus dem Geiste verjagen, die man mit einem Opiat vergiften, die
+man ersticken mußte, da sie einen sonst selbst ersticken würde.
+
+Als es halb schlug, fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, stand dann
+rasch auf und zog sich beinahe mit noch größerer Sorgfalt an, als
+gewöhnlich, indem er die größte Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner
+Krawatte und seiner Nadel verwandte und seine Ringe mehr als einmal
+wechselte. Er verbrachte auch beim Frühstück längere Zeit, kostete von
+den verschiedenen Gerichten, sprach mit seinem Bedienten über neue
+Livreen, die er der Dienerschaft in Selby machen lassen wollte, und sah
+seine Briefschaften durch. Bei einigen Zuschriften lächelte er. Drei
+ödeten ihn an. Einen Brief las er mehrmals durch und zerriß ihn dann mit
+einem leichten Ärger in seinen Mienen. »Was für ein gräßliches Ding das
+Gedächtnis einer Frau ist«, hatte Lord Henry einmal gesagt.
+
+Als er seine Schale schwarzen Kaffee getrunken hatte, trocknete er die
+Lippen langsam an seiner Serviette ab, gab dem Diener ein Zeichen zu
+warten, ging zum Schreibtisch hinüber, setzte sich und schrieb zwei
+Briefe. Einen steckte er in die Tasche, den anderen reichte er dem
+Diener.
+
+»Bringen Sie den nach Hertford Street 152, Francis, und wenn Herr
+Campbell nicht in der Stadt ist, lassen Sie sich seine Adresse geben.«
+
+Sobald er allein war, zündete er sich eine Zigarette an und begann auf
+einem Blatt Papier Skizzen zu machen, zeichnete zuerst Blumen, dann
+Architekturstücke und dann menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er,
+daß jedes Gesicht, das er entwarf, eine phantastische Ähnlichkeit mit
+Basil Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf, ging
+zum Bücherschrank und nahm auf gut Glück einen Band heraus. Er war fest
+entschlossen, an das Geschehene nicht eher zu denken, als bis es
+unbedingt notwendig war.
+
+Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf den Titel des
+Buches. Es waren Gautiers »~Emaux et Camées~«, Charpentiers Ausgabe auf
+japanischem Papier, mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus
+zitronengelbem Leder mit einem Blinddruckmuster von goldenem Laubwerk
+und Granatäpfeln in Punktmanier. Es war ein Geschenk Adrian Singletons.
+Als er darin blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand
+Lacenaires, die kalte gelbe Hand »~du supplice encore mal lavée~«, mit
+ihren rötlichen Flaumhärchen und ihren »~doigts de faune~«. Er blickte
+auf seine eigenen weißen, spitzen Finger, schauderte unwillkürlich
+zusammen, las dann weiter, bis er zu den lieblichen Versen auf Venedig
+kam.
+
+ ~Sur une gamme chromatique,
+ Le sein de perles ruisselant,
+ La Vénus de l'Adriatique
+ Sort de l'eau son corps rose et blanc.
+
+ Les dômes, sur l'azur des ondes
+ Suivant la phrase au pur contur,
+ S'enflent comme des gorges rondes
+ Que soulève un soupir d'amour.
+
+ L'esquif aborde et me dépose,
+ Jetant son amarre au pilier,
+ Devant une façade rose,
+ Sur le marbre d'un escalier.~
+
+Wie entzückend die Verse waren! Wenn man sie las, hatte man die
+Empfindung, durch die grünen Wasserstraßen dieser rot- und perlfarbigen
+Stadt zu gleiten, in einer schwarzen Gondel mit silbernem Schnabel und
+schleppenden Vorhängen. Schon die Zeilen sahen so aus wie die geraden,
+türkisblauen Kiellinien, die einem folgten, wenn man nach dem Lido
+hinausrudert. Die plötzlichen Farbenblitze erinnerten ihn an den
+Schimmer jener Vögel mit opal- und regenbogenfarbenen Hälsen, die um den
+schlanken, wabenartig durchlöcherten Kampanile flattern oder mit
+prächtiger Anmut durch die düstern, staubigen Arkaden trippeln.
+Zurückgelehnt mit halb geschlossenen Augen sagte er immer und immer
+wieder zu sich: --
+
+ ~Devant une façade rose,
+ Sur le marbre d'un escalier.~
+
+Das ganze Venedig war in diesen zwei Versen enthalten. Er dachte an den
+Herbst, den er dort verbracht hatte, und eine himmlische Liebelei, die
+ihn zu wahnsinnigen, entzückenden Torheiten getrieben hatte. Es gab
+Romantik in jedem Erdenwinkel. Aber Venedig hatte noch wie Oxford den
+Hintergrund für Romantik bewahrt, und für den wahren Romantiker ist der
+Hintergrund alles oder fast alles. Basil war einen Teil der Zeit bei ihm
+gewesen und war ganz wild vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme
+Basil! Was für eine schreckliche Art, so zu sterben!
+
+Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen. Er las von
+den Schwalben, die aus- und einfliegen in dem kleinen Café zu Smyrna, wo
+die Hadjis sitzen und ihre Bernsteinperlen durch die Hand laufen lassen,
+und wo die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten Pfeifen
+rauchen und ernsthaft miteinander sprechen: er las von dem Obelisk auf
+der Place de la Concorde, der in seiner vereinsamten, sonnenlosen
+Verbannung granitene Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen,
+lotosbedeckten Nil, wo die Sphinxe sind, und rosenrote Ibisse und weiße
+Geier mit goldenen Klauen und Krokodile mit kleinen Beryllaugen, die
+durch den grünen, dampfenden Schlamm dahinkriechen: er fing an, den
+Versen nachzusinnen, die ihre Musik aus Marmor locken, der von Küssen
+fleckig geworden ist, und die uns von der sonderbaren Statue erzählen,
+die Gautier einer Altstimme vergleicht, von dem »~monstre charmant~«,
+das in dem Porphyrsaal des Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel
+seinen Händen das Buch. Er wurde nervös, und ein gräßlicher Angstanfall
+schüttelte ihn. Was nun tun, wenn Alan Campbell nicht in England war?
+Tage könnten möglicherweise verstreichen, bevor er zurückkäme.
+Vielleicht weigerte er sich, zu kommen. Was sollte er dann tun? Jeder
+Augenblick war von tödlicher Bedeutung.
+
+Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf Jahren -- sogar fast
+unzertrennlich. Dann hatte die Intimität plötzlich ein Ende. Wenn sie
+sich jetzt in Gesellschaft trafen, war es nur noch Dorian Gray, der da
+lächelte, niemals Alan Campbell.
+
+Er war ein außerordentlich begabter junger Mann, wenn er auch kein
+eigentliches Verhältnis zu den sichtbaren Künsten hatte, und der geringe
+Sinn für Poesie, den er besaß, vollständig von Dorian herrührte. Die
+geistige Leidenschaft, die ihn beherrschte, erstreckte sich nur auf die
+Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil seiner Zeit mit
+Arbeiten im Laboratorium verbracht und hatte sein Examen in den
+Naturwissenschaften mit vorzüglich bestanden. Noch jetzt war er dem
+Studium der Chemie ergeben und hatte ein eigenes Laboratorium, in das er
+sich häufig den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum großen Kummer
+seiner Mutter, die sich darauf verbissen hatte, daß er für das Parlament
+kandidieren sollte, und die eine unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker
+sei ein Mensch, der Rezepte anfertige. Indessen war er ein
+ausgezeichneter Musiker und spielte Geige und Klavier besser als die
+meisten Dilettanten. Die Musik war es denn auch wirklich, die Dorian
+Gray und ihn zueinander gebracht hatte -- die Musik und die
+unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian ausüben konnte, wenn er
+wollte, und auch oft ausübte, ohne es zu wissen. Sie hatten sich bei
+Lady Berkshire an dem Abend kennengelernt, als Rubinstein dort spielte,
+und man sah sie von da an immer zusammen in der Oper und überall, wo es
+gute Musik gab. Achtzehn Monate dauerte diese Freundschaft. Campbell war
+regelmäßig entweder in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie
+für viele andere war Dorian Gray die Verkörperung alles dessen, was
+wunderbar und bezaubernd im Leben ist. Ob zwischen ihnen ein Streit
+vorgefallen war oder nicht, wußte kein Mensch. Aber plötzlich bemerkten
+die Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich trafen, und
+daß Campbell jede Gesellschaft frühzeitig verließ, in der Dorian
+anwesend war. Er war auch verändert -- bisweilen merkwürdig
+melancholisch, schien kaum noch Musik hören zu können, spielte nie mehr
+selbst und gab, wenn man ihn dazu aufforderte, als Entschuldigung an,
+daß ihn die Wissenschaft so stark in Anspruch nähme, daß er keine Zeit
+mehr zum Üben habe. Und das war auch der Fall. Er schien jeden Tag mehr
+Interesse für biologische Studien zu gewinnen, und sein Name erschien
+ein- oder zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung mit
+gewissen außergewöhnlichen Experimenten.
+
+Das war der Mann, auf den Dorian Gray wartete. Jede Sekunde blickte er
+auf die Uhr. Als Minute um Minute verstrich, wurde er furchtbar
+aufgeregt. Schließlich stand er auf und begann im Zimmer hin und her zu
+gehen wie irgendeine schöne Bestie im Käfig. Er holte weiten Schrittes,
+fast sprunghaft, aus und trat leise auf. Seine Hände waren eigentümlich
+kalt.
+
+Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien ihm mit bleiernen Füßen
+zu schleichen, während er von ungeheuren Wirbelwinden zum zackigen Grat
+einer schwarzen Kluft oder eines Abgrundes hingefegt wurde. Er wußte,
+was dort seiner harrte; er sah es und preßte schaudernd mit feuchten
+Händen seine brennenden Lider zusammen, als wolle er sein Gehirn der
+Sehkraft berauben und die Augäpfel in ihre Höhlen zurückdrängen. Es war
+umsonst. Das Gehirn hatte seine eigene Nahrung, mit der es sich mästete,
+und die durch den Schrecken grotesk gemachte Einbildungskraft krümmte
+sich vor Schmerz wie ein lebendes Wesen, tanzte wie eine widerwärtige
+Marionette in einer Schaubude und grinste durch bewegliche Masken
+hindurch. Dann blieb auf einmal die Zeit für ihn stehen. Ja, dieses
+blinde, langsamatmende Wesen kroch nicht mehr, und da sie tot war,
+stürzten sich gräßliche Gedanken mit Blitzesschnelle über ihn hin und
+zerrten eine scheußliche Zukunft aus ihrem Grabe und zeigten sie ihm. Er
+starrte darauf hin. Ihre Entsetzlichkeit versteinerte ihn.
+
+Endlich öffnete sich die Tür, und sein Bedienter trat ein. Er wandte ihm
+seine gläsernen Augen zu.
+
+»Herr Campbell, gnädiger Herr«, sagte der Mann.
+
+Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen Lippen und die
+Farbe kehrte in seine Wangen zurück.
+
+»Bitten Sie ihn sofort herein, Francis.« Er fühlte, daß er wieder er
+selbst war. Der Anfall von Feigheit war überwunden.
+
+Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen Augenblicken trat Alan
+Campbell ein, mit sehr strengem Gesicht und etwas bleich, und seine
+blasse Farbe wurde durch das kohlschwarze Haar und die dunkeln Brauen
+noch verstärkt.
+
+»Alan! das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß du gekommen bist.«
+
+»Ich hatte die Absicht, dein Haus nie wieder zu betreten, Gray. Aber du
+schriebst, es handle sich um Leben und Tod.« Seine Stimme war hart und
+kalt. Er sprach langsam und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in dem
+festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er behielt die
+Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes und schien die Bewegung, mit
+der ihm die Hand entgegengestreckt worden war, nicht zu bemerken.
+
+»Ja, es handelt sich um Leben und Tod, und für mehr als einen Menschen,
+Alan. Setze dich.«
+
+Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian setzte sich ihm
+gegenüber. Die Augen der beiden Männer trafen sich. In denen Dorians lag
+unendliches Mitleid. Er wußte, was er jetzt tun werde, war schrecklich.
+
+Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens beugte er sich nach vorn und
+sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes Wortes auf dem Gesicht des Mannes
+ablesend, den er hatte holen lassen: »Alan, in einem verschlossenen
+Dachzimmer dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger Mensch
+außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann an einem Tisch. Er ist jetzt
+seit zehn Stunden tot. Bleib' ruhig sitzen und sieh mich nicht so an.
+Wer der Mann ist, warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die dich
+nicht kümmern. Was du zu tun hast, ist --«
+
+»Halt, Gray! Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was du mir gesagt
+hast, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an. Ich lehne es entschieden
+ab, in dein Leben verwickelt zu werden. Behalte deine fürchterlichen
+Geheimnisse für dich! Sie interessieren mich nicht mehr.«
+
+»Alan, du wirst dafür Interesse haben müssen. Dies eine Geheimnis wird
+dich interessieren müssen. Es tut mir furchtbar leid um dich, Alan.
+Aber ich kann dir nicht helfen. Du bist der einzige Mensch, der mich zu
+retten vermag. Ich bin gezwungen, dich in die Sache hineinzuziehen. Ich
+habe keine Wahl. Alan, du bist ein Mann der Naturwissenschaft. Du
+verstehst dich auf Chemie und diese Dinge. Du hast Experimente gemacht.
+Was du zu tun hast, ist, das Wesen da oben zu vernichten, so zu
+vernichten, daß auch nicht eine Spur davon übrigbleibt. Niemand hat
+diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet ihn im
+Augenblick in Paris. Monatelang wird er nicht vermißt werden. Wenn er
+vermißt wird, darf hier keine Spur von ihm gefunden werden. Alan, du
+mußt ihn, ihn und alles, was zu ihm gehört, in eine Handvoll Asche
+verwandeln, die ich in die Luft streuen kann.«
+
+»Du bist wahnsinnig, Dorian.«
+
+»Ah! wie ich darauf gewartet habe, daß du mich wieder Dorian nennst.«
+
+»Du bist wahnsinnig, sag' ich dir -- wahnsinnig, daß du dir einbildest,
+ich wurde auch nur einen Finger rühren, dir zu helfen, wahnsinnig, daß
+du mir dieses ungeheuerliche Geständnis ablegst. Ich will damit nichts
+zu tun haben, was es auch sei. Glaubst du, ich setze meine Ehre für dich
+aufs Spiel? Was geht's mich an, mit welchem Teufelswerk du zu tun hast.«
+
+»Es war ein Selbstmord, Alan.«
+
+»Das freut mich, aber wer hat ihn dazu getrieben? Du, vermute ich.«
+
+»Weigerst du dich noch immer, das für mich zu tun?«
+
+»Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit zu schaffen
+haben. Es liegt mir gar nichts daran, was für eine Schande über dich
+kommt. Du verdienst es vollauf. Es würde mir nicht leid tun, wenn ich
+dich entehrt, öffentlich entehrt sähe. Wie kannst du es wagen, mich,
+gerade mich von allen Menschen in der Welt in diese Scheußlichkeit
+hineinbringen zu wollen? Ich hätte geglaubt, du verständest mehr vom
+Charakter der Menschen. Dein Freund, Lord Henry Wotton, kann dich nicht
+sehr über Psychologie aufgeklärt haben, worüber er dich auch sonst
+aufgeklärt hat. Nichts wird mich dazu vermögen, auch nur einen Schritt
+zu tun, um dir zu helfen. Du bist an den falschen Mann gekommen. Geh zu
+einem deiner Freunde, nicht zu mir.«
+
+»Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Du weißt nicht, was ich
+durch ihn gelitten habe. Mein Leben mag sein, wie es wolle, er hatte
+mehr damit zu tun, es zu erschaffen und zu zerstören, als der arme
+Harry. Er mag es nicht gewollt haben, die Wirkung ist dieselbe.«
+
+»Mord! Guter Gott, Dorian, bist du jetzt soweit gekommen? Ich werde dich
+nicht anzeigen. Das ist meines Amtes nicht. Im übrigen wird man dich
+fassen, auch wenn ich mich nicht in die Sache mische. Niemand begeht ein
+Verbrechen, ohne dabei eine Dummheit zu machen. Also ich will nichts
+damit zu tun haben.«
+
+»Du mußt etwas damit zu tun haben. Warte, warte noch einen Augenblick;
+hör' mich an. Nur anhören, Alan. Alles, was ich von dir verlange, ist
+ein bestimmtes wissenschaftliches Experiment. Du gehst in Spitäler und
+Leichenhäuser, und das Schreckliche, was du dort tust, rührt dich
+nicht. Wenn du diesen Mann in irgendeinem gräßlichen Seziersaal oder in
+einem mißduftenden Laboratorium auf einem rohen Tisch liegen sähest, mit
+roten Röhren, die man in ihn hineingebohrt hat, damit daraus das Blut
+durchfließen kann, dann würdest du ihn einfach als ein bewundernswertes
+Objekt betrachten. Kein Härchen würde sich dir sträuben. Du hättest
+nicht die Empfindung, irgend etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil, du
+würdest wahrscheinlich glauben, der Menschheit eine Wohltat zu erweisen,
+oder die Summe des menschlichen Wissens zu vermehren oder den
+intellektuellen Wissensdrang zu befriedigen oder so etwas dergleichen.
+Was ich von dir fordere, ist nichts anderes, als was du schon oft getan
+hast. Wahrhaftig, es muß viel weniger gräßlich sein, einen Leichnam aus
+der Welt zu schaffen, als das, was du gewöhnlich tust. Und bedenke, es
+ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn er entdeckt wird, bin ich
+verloren; und er muß sicher entdeckt werden, wenn du mir nicht hilfst.«
+
+»Ich habe keine Lust, dir zu helfen. Du vergißt das. Die ganze Sache ist
+mir gleichgültig. Ich habe nichts damit zu tun.«
+
+»Alan, ich beschwöre dich. Denke an die Lage, in der ich bin. Jetzt
+eben, ehe du kamst, war ich fast ohnmächtig vor Schreck. Du kannst eines
+Tages selbst einmal die Angst kennenlernen. Nein, denke nicht daran!
+Betrachte die Sache vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus. Du
+forschst doch sonst nicht danach, woher die toten Wesen kommen, mit
+denen du experimentierst. Forsche auch jetzt nicht danach. Ich habe dir
+ohnehin zuviel gesagt. Aber ich bitte dich, tu, um was ich dich bat.
+Wir waren doch einmal Freunde, Alan.«
+
+»Sprich nicht von jenen Tagen, Dorian; sie sind tot.«
+
+»Die Toten verweilen manchmal. Der Mann da oben geht nicht weg. Er sitzt
+am Tisch mit vorgebeugtem Kopf und ausgestreckten Armen. Alan! Alan!
+wenn du mir nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! man wird mich
+hängen! Begreifst du nicht? Man wird mich hängen, für das, was ich getan
+habe.«
+
+»Es hat keinen Sinn, diese Szene weiter auszudehnen. Ich weigere mich
+ganz entschieden, etwas damit zu tun zu haben. Es ist Tollheit von dir,
+mich darum zu bitten.«
+
+»Du weigerst dich?«
+
+»Ja!«
+
+»Ich beschwöre dich, Alan!«
+
+»Es ist nutzlos.«
+
+Derselbe mitleidige Ausdruck kam in Dorian Grays Augen. Dann reckte er
+die Hand aus, nahm ein Stück Papier und schrieb etwas darauf. Er las es
+zweimal durch, faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den
+Tisch. Nachdem er dies getan hatte, stand er auf und trat ans Fenster.
+
+Campbell sah ihn verwundert an, nahm dann das Papier und öffnete es. Als
+er es gelesen hatte, wurde sein Gesicht totenblaß und er sank in seinen
+Stuhl zurück. Ein fürchterliches Gefühl der Schwäche überwältigte ihn.
+Ihm war, als ob sich sein Herz in einer leeren Höhle zu Tode schlüge.
+
+Nach zwei oder drei Minuten furchtbaren Schweigens wandte sich Dorian
+um, ging zu ihm hin, stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf
+die Schulter.
+
+»Es tut mir so leid um dich, Alan,« flüsterte er, »aber du läßt mir
+keine Wahl. Ich habe den Brief schon geschrieben. Hier ist er. Du siehst
+die Adresse. Wenn du mir nicht hilfst, muß ich ihn abschicken. Du weißt,
+was darauf erfolgt. Aber du wirst mir helfen. Es ist unmöglich, daß du
+jetzt noch nein sagst. Ich wollte dir das ersparen. Du mußt mir die
+Gerechtigkeit widerfahren lassen, das zuzugeben. Du warst bitter, hart,
+beleidigend. Du hast mich behandelt, wie es nie ein Mensch gewagt hat,
+mich zu behandeln. Wenigstens kein lebender Mensch. Ich ertrug es alles.
+Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren.«
+
+Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und ein Frösteln überlief
+ihn.
+
+»Ja, jetzt ist die Reihe an mir, Bedingungen zu diktieren, Alan. Du
+weißt, was ich verlange. Die Sache ist ganz einfach. Komm, schraube dich
+nicht in ein Fieber hinein. Die Sache muß geschehen. Schau ihr ins
+Gesicht und vollbringe sie.«
+
+Ein Stöhnen klang von Campbells Lippen, und er zitterte am ganzen Leibe.
+Das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims schien ihm die Zeit in einzelne
+Atome eines Todeskampfes zu zerstückeln, von denen das kleinste schon zu
+schrecklich war, um es zu ertragen. Er hatte das Gefühl, als ob ein
+eiserner Ring um seine Stirn nach und nach festgespannt wurde, als ob
+die Schande, mit der man ihn bedrohte, schon über ihn käme. Die Hand auf
+seiner Schulter beschwerte ihn wie ein Gewicht von Blei. Sie war
+unerträglich. Sie schien ihn zu zerquetschen.
+
+»Komm, Alan, du mußt dich gleich entscheiden.«
+
+»Ich kann es nicht tun«, sagte er mechanisch, als könnten die Worte
+etwas ändern.
+
+»Du mußt. Du hast keine Wahl. Zaudere nicht.«
+
+Er schwankte einen Augenblick. »Ist ein Ofen da oben?«
+
+»Ja, ein Gasofen mit Asbest.«
+
+»Dann muß ich nach Hause gehen und einiges aus dem Laboratorium holen.«
+
+»Nein, Alan, du darfst das Haus nicht verlassen. Schreib' auf ein Blatt
+Papier, was du brauchst, und mein Diener nimmt eine Droschke und wird
+dir die Sachen bringen.«
+
+Campbell kritzelte ein paar Zeilen hin, trocknete sie ab und adressierte
+ein Kuvert an seinen Assistenten. Dorian nahm das Briefchen und las es
+aufmerksam durch. Dann klingelte er und gab es seinem Diener mit dem
+Auftrag, so rasch als möglich zurückzukommen und die im Schreiben
+bezeichneten Sachen mitzubringen.
+
+Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös zusammen, stand
+vom Stuhl auf und ging zum Kamin hinüber. Er schüttelte sich in einer
+Art kalten Fiebers. Fast zwanzig Minuten lang sprach keiner der beiden
+Männer. Eine Fliege schwirrte summend durch das Zimmer, und das Ticktack
+der Uhr klang wie der Fall eines Hammers.
+
+Als es eins schlug, drehte sich Campbell um, blickte auf Dorian Gray und
+sah, daß seine Augen mit Tränen gefüllt waren. In den reinen, edlen
+Zügen dieses traurigen Gesichts lag etwas, was ihn wütend zu machen
+schien. »Du bist infam, ganz infam«, rief er mit unterdrückter Stimme.
+
+»Ruhig, Alan, du hast mir das Leben gerettet«, sagte Dorian.
+
+»Dein Leben? Gott im Himmel! Was für ein Leben ist das! Du bist von
+Verderbnis zu Verderbnis geschritten, und jetzt hast du mit Mord den
+Gipfel erreicht. Wenn ich tue, was ich tun werde, was du mich zu tun
+zwingst, so denke ich dabei wahrhaftig nicht an dein Leben.«
+
+»Ach, Alan,« flüsterte Dorian seufzend, »ich wünschte, du hättest den
+tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das ich mit dir habe.« Er kehrte
+sich während dieser Worte ab und stand da und blickte in den Garten
+hinaus. Campbell gab keine Antwort.
+
+Nach etwa zehn Minuten klopfte es an die Tür, und der Diener trat ein
+und brachte einen großen Mahagonikasten mit Chemikalien, eine lange
+Rolle Stahl- und Platindraht und zwei absonderlich geformte
+Eisenklammern.
+
+»Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?« fragte er Campbell.
+
+»Ja«, antwortete Dorian. »Und ich bedaure, Francis, aber ich habe noch
+einen Weg für Sie. Wie heißt der Mann in Richmond, der Selby mit
+Orchideen versorgt?«
+
+»Harden, gnädiger Herr.«
+
+»Richtig -- Harden. Sie müssen gleich nach Richmond fahren, Harden
+selbst sprechen und ihm sagen, er solle doppelt soviel Orchideen
+schicken, als ich bestellt habe, und möglichst wenig weiße dabei.
+Eigentlich will ich überhaupt keine weißen. Es ist ein schöner Tag,
+Francis, und Richmond ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht
+behelligen.«
+
+»Nichts zu sagen, gnädiger Herr. Zu welcher Zeit soll ich zurück sein?«
+
+Dorian sah Campbell an. »Wie lange wird dein Experiment dauern, Alan?«
+fragte er mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. Die Gegenwart eines
+Dritten im Zimmer schien ihm außerordentlichen Mut einzuflößen.
+
+Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. »Es wird
+ungefähr fünf Stunden beanspruchen«, antwortete er.
+
+»Dann ist es früh genug, wenn Sie um sieben zurück sind, Francis. Oder
+halt: legen Sie meine Sachen zum Umkleiden zurecht, Sie können dann den
+Abend für sich verwenden. Ich esse nicht zu Hause, brauche Sie also
+nicht.«
+
+»Ich danke, gnädiger Herr«, sagte der Mann und verließ das Zimmer.
+
+»Jetzt, Alan, ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer der Kasten
+ist! Ich will ihn dir tragen. Nimm du die anderen Sachen.« Er sprach
+hastig und in befehlendem Tone. Campbell fühlte sich von ihm beherrscht.
+Sie verließen das Zimmer gleichzeitig.
+
+Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, nahm Dorian den
+Schlüssel heraus und schloß auf. Dann blieb er stehen, und ein Ausdruck
+von Unruhe zeigte sich in seinem Blick. Er schauderte. »Ich glaube, ich
+kann nicht hineingehen, Alan«, flüsterte er.
+
+»Das ist mir ganz gleich. Ich brauche dich nicht«, sagte Campbell kalt.
+
+Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Als er dies tat, sah er seinem
+Porträt, das im hellen Sonnenlicht hing, grade ins Gesicht. Davor lag
+auf den Dielen der herabgerissene Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in
+der vergangenen Nacht zum ersten Male in seinem Leben vergessen hatte,
+die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen, und wollte eben nach vorn
+stürzen, als er schaudernd zurückprallte.
+
+Was war das für ein widerlicher, roter Fleck, der naß und glänzend an
+einer der Hände klebte, als hätte die Leinwand Blut geschwitzt? Wie
+schrecklich das war! -- Schrecklicher schien es ihm in diesem Augenblick
+als das schweigsame Ding, das, wie er wußte, noch über den Tisch gebeugt
+dasaß, das Ding, dessen grotesker, unglückseliger Schatten auf dem
+fleckigen Teppich ihm zeigte, daß es sich nicht bewegt hatte, sondern
+noch da war, wo er es gelassen hatte.
+
+Er atmete tief auf, öffnete die Tür etwas weiter und ging mit
+halbgeschlossenen Augen und abgewandtem Kopf rasch hinein, entschlossen,
+mit keinem einzigen Blick nach dem Toten hinzusehen. Dann bückte er
+sich, nahm den gold- und purpurschimmernden Vorhang auf und warf ihn
+gerade über das Bild.
+
+Dann blieb er stehen, voll Angst, sich umzuwenden und seine Augen
+richteten sich auf die verschlungenen Muster des Vorhangs. Er hörte
+Campbell den schweren Kasten hereinbringen, und die Eisenklammern und
+die anderen Geräte, die er sich für seine entsetzliche Arbeit hatte
+kommen lassen. Er begann sich zu fragen, ob Campbell und Basil Hallward
+einander je begegnet waren und wenn, welche Meinung sie voneinander
+gehabt hätten.
+
+»Lasse mich jetzt allein«, sagte eine rauhe Stimme hinter ihm.
+
+Er kehrte sich um und lief hinaus, eben noch gerade wahrnehmend, daß der
+Tote in seinen Stuhl zurückgelehnt worden war und daß Campbell in ein
+schimmerndes, gelbes Gesicht starrte. Als er die Stufen hinabging, hörte
+er, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde.
+
+Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell wieder in die Bibliothek
+trat. Er war blaß, aber vollständig ruhig. »Ich habe getan, was du von
+mir verlangt hast«, sagte er leise. »Und jetzt adieu. Wir wollen uns nie
+wiedersehen.«
+
+»Du hast mich vorm Untergang gerettet, Alan«, sagte Dorian ganz
+schlicht. »Ich kann das nie vergessen.«
+
+Sobald ihn Campbell verlassen hatte, ging er hinauf. Ein schrecklicher
+Geruch von Salpetersäure war im Zimmer. Aber das Ding, das am Tisch
+gesessen hatte, war fort.
+
+
+
+
+Fünfzehntes Kapitel
+
+
+Am selben Abend um halb neun Uhr wurde Dorian Gray in sorgfältigster
+Toilette, im Knopfloch einen großen Strauß Parmaveilchen tragend, von
+dienernden Lakaien in den Salon Lady Narboroughs geführt. Er hatte
+heftiges Kopfweh und furchtbar überreizte Nerven, aber seine Gebärde,
+als er sich über die Hand seiner Gastgeberin beugte, war ebenso leicht
+und anmutig wie sonst. Vielleicht sieht man nie gelassener aus, als wenn
+man eine Rolle zu spielen hat. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an
+diesem Abend sah, geglaubt, daß er eine Tragödie hinter sich habe, die
+so schrecklich war wie irgendeine Tragödie unserer Zeit. Diese
+feingeformten Finger konnten doch nie ein Messer gezückt haben, um eine
+Sünde zu begehen, diese lächelnden Lippen nie Gott und Gottes Güte
+geschmäht haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens
+wundern und einen Augenblick lang spürte er in ganzer Stärke den
+grauenvollen Genuß eines Doppeldaseins.
+
+Es war eine kleine Gesellschaft, die Lady Narborough kurzer Hand
+zusammengeladen hatte, und die Gastgeberin war eine sehr gescheite Frau
+mit ansehnlichen Überbleibseln einer unleugbar hervorragenden
+Häßlichkeit, wie es Lord Henry auszudrücken liebte. Sie hatte sich einem
+unserer langweiligsten Botschafter als eine ausgezeichnete Frau
+erwiesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie sich's geziemte, in einem
+marmornen Mausoleum beigesetzt hatte, das nach ihren eigenen Entwürfen
+erbaut worden war, und seitdem sie ihre Töchter an einige reiche, etwas
+angejahrte Herren verheiratet hatte, widmete sie sich den Genüssen
+französischer Romane, französischer Kochkunst und französischen Geistes,
+wenn sie ihn auftreiben konnte.
+
+Dorian war einer ihrer erklärten Lieblinge, und sie sagte ihm immer, sie
+sei äußerst froh darüber, ihn nicht in früheren Jahren kennengelernt zu
+haben. »Ich weiß, mein Lieber, ich hätte mich sinnlos in Sie verliebt,«
+pflegte sie zu sagen, »und wäre Ihretwillen der größten Tollheiten fähig
+gewesen. Es ist ein großes Glück, daß man damals noch gar nicht an Sie
+dachte. Zu meiner Zeit waren die Tollheiten eine so seltene Ware, daß
+ich nicht einmal eine harmlose Liebelei mit jemand gehabt habe. Indessen
+war das nur die Schuld Narboroughs. Er war schrecklich kurzsichtig, und
+es ist alles andere als ein Vergnügen, einen Ehemann zu betrügen, der
+nie etwas sieht.«
+
+Ihre Gäste waren an diesem Abend ziemlich langweilig. Die Sache war so,
+wie sie Dorian hinter einem ziemlich schäbigen Fächer erklärte, daß eine
+ihrer verheirateten Töchter plötzlich zu Besuch gekommen war, und, was
+die Sache noch ärgerlicher machte, obendrein ihren Mann mitgebracht
+hatte.
+
+»Ich finde das sehr unliebenswürdig von ihr, mein Lieber«, flüsterte sie
+ihm zu. »Natürlich bin ich jeden Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von
+Homburg komme, aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal frische
+Luft haben, und außerdem rüttle ich sie dann etwas auf. Sie ahnen ja gar
+nicht, was die für ein Leben da hinten führen. Es ist das reine,
+unverfälschte Landleben. Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun
+haben, und gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben. In der
+ganzen Gegend da hat es seit der Zeit der Königin Elisabeth keinen
+Skandal gegeben, und infolgedessen schlafen sie alle nach dem Essen ein.
+Sie sollen aber nicht neben einem von ihnen sitzen. Sie sollen neben mir
+sitzen und mich amüsieren.«
+
+Dorian murmelte ein anmutiges Kompliment und blickte sich im Zimmer um.
+Ja, es war wirklich eine öde Gesellschaft. Zwei von den Anwesenden hatte
+er vordem nie gesehen, und die anderen waren Ernest Harrowden, eine der
+Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man so häufig in Londoner
+Klubs begegnet, die keine Feinde haben, die aber keiner ihrer Freunde
+leiden kann: dann Lady Ruxton, eine aufgeputzte Dame mit einer
+Papageiennase, im Alter von siebenundvierzig Jahren, die sich unablässig
+bemühte, sich zu kompromittieren, die aber so lächerlich häßlich war,
+daß zu ihrer großen Enttäuschung niemals einer etwas Schlechtes von ihr
+glauben wollte: Frau Erlynne, eine zudringliche Nichtigkeit mit einem
+entzückenden Lispeln und venezianisch rotem Haar: Lady Alice Chapman,
+die Tochter der Wirtin, eine schlechtgekleidete, bedeutungslose Frau mit
+einem der charakteristischen englischen Gesichter, an die man sich nie
+wieder erinnert, wenn man sie einmal gesehen hat, und ihr Mann, ein
+rotbäckiges, weißbärtiges Geschöpf, das, wie so viele seiner Kaste, der
+Überzeugung lebte, daß ungewöhnliche Liebenswürdigkeit den vollständigen
+Mangel an Gedanken ersetzen könne.
+
+Es tat ihm beinah leid, daß er gekommen war, bis Lady Narborough einen
+Blick auf die große goldene Pendeluhr warf, die sich mit ihren
+geschmacklosen Zieraten auf dem malvefarbig behängten Kamin spreizte,
+und ausrief: »Wie häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich
+schickte heute früh auf gut Glück zu ihm hinüber und er hat fest
+zugesagt, mich nicht im Stich zu lassen.«
+
+Es war ein Trost, daß Harry kommen sollte, und als sich die Tür öffnete
+und er seine sanfte musikalische Stimme hörte, die irgendeine läppische
+Ausrede bezaubernd hervorbrachte, schwand seine Verdrießlichkeit.
+
+Aber er konnte bei Tisch dennoch nichts essen. Platte nach Platte wurde,
+von ihm unberührt, weggetragen. Lady Narborough schalt ihn unaufhörlich,
+weil sie darin »eine Beleidigung sah für den armen Adolphe, der das
+ganze Menü eigens für sie erfunden hätte«, und dann und wann blickte
+Lord Henry zu ihm herüber und verwunderte sich über sein Schweigen und
+sein zerstreutes Wesen. Von Zeit zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit
+Champagner. Er trank hastig, und sein Durst schien zu wachsen.
+
+»Dorian,« sagte Lord Henry endlich, als das Chaudfroid herumgereicht
+wurde, »was ist heute abend mit dir los? Du bist ja so verstimmt.«
+
+»Ich glaube, er ist verliebt,« sagte Lady Narborough, »und er hat Angst,
+es mir zu erzählen, aus Furcht, daß ich eifersüchtig würde. Er hat auch
+ganz recht. Ich würde es gewiß.«
+
+»Teure Lady Narborough,« flüsterte Dorian lächelnd, »ich bin seit einer
+vollen Woche nicht verliebt gewesen -- genau gesagt, nicht seitdem
+Madame de Ferrol aus London weg ist.«
+
+»Daß ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!« rief die alte Dame.
+»Ich kann es wirklich nicht verstehen.«
+
+»Das kommt einfach daher, weil sie Sie an die Zeit erinnert, wo Sie ein
+kleines Mädchen waren, Lady Narborough«, sagte Lord Henry. »Sie ist das
+einzige Bindeglied zwischen uns und Ihren kurzen Röckchen.«
+
+»Sie erinnert mich wirklich nicht an meine kurzen Röckchen, Lord Henry.
+Aber ich entsinne mich ihrer sehr gut in Wien vor dreißig Jahren und wie
+sie sich damals dekolletierte.«
+
+»Sie dekolletiert sich noch immer,« antwortete er und nahm eine Olive in
+seine langen Finger, »und wenn sie sehr elegant gekleidet ist, sieht sie
+aus wie die Luxusausgabe eines schlechten, französischen Romans. Sie ist
+wirklich wunderbar und voller Überraschungen. Ihr Talent für
+Familienliebe ist außerordentlich. Als ihr dritter Mann starb, wurde ihr
+Haar vor Trauer ganz goldblond.«
+
+»Wie kannst du so etwas sagen, Harry!« rief Dorian.
+
+»Das ist eine höchst romantische Erklärung«, lachte die Gastgeberin.
+»Aber ihr dritter Mann, Lord Henry! Sie wollen doch nicht sagen, daß
+Ferrol der vierte ist?«
+
+»Doch, Lady Narborough.«
+
+»Ich glaube kein Wort davon.«
+
+»Gut, dann fragen Sie Herrn Gray, er ist einer ihrer intimsten Freunde.«
+
+»Ist das wahr, Herr Gray?«
+
+»Sie versichert es mir, Lady Narborough«, erwiderte Dorian. »Ich fragte
+sie, ob sie wie Margarete von Navarra ihre Herzen einbalsamiert habe und
+am Gürtel trage. Sie sagte mir, sie täte das nicht, weil keiner von
+ihnen überhaupt ein Herz gehabt hätte.«
+
+»Vier Männer! Auf mein Wort, das ist ~trop de zêle~.«
+
+»~Trop d'audace~ sagte ich ihr«, entgegnete Dorian.
+
+»Oh! sie ist mutig genug, alles zu tun, mein Lieber. Und wie ist Ferrol?
+Ich kenne ihn nicht.«
+
+»Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse«, sagte
+Lord Henry und schlürfte seinen Wein.
+
+Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. »Lord Henry, ich bin nicht im
+mindesten überrascht, daß die ganze Welt über Ihre Ruchlosigkeit klagt.«
+
+»Aber welche ganze Welt tut das?« fragte Lord Henry, seine Brauen
+hochziehend. »Es kann nur die Nachwelt sein. Denn diese Welt und ich,
+wir stehen brillant miteinander.«
+
+»Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr ruchlos sind!« rief die alte
+Dame den Kopf schüttelnd.
+
+Lord Henry sah einige Augenblicke ernsthaft aus. »Es ist ganz
+abscheulich,« sagte er schließlich, »wie die Leute heutzutage herumgehen
+und einem hinterm Rücken Dinge nachsagen, die ganz und gar auf Wahrheit
+beruhen.«
+
+»Ist er nicht unverbesserlich?« rief Dorian und beugte sich in seinem
+Stuhl vor.
+
+»Ich hoffe« sagte die Wirtin lachend. »Aber wenn Sie wirklich alle
+Madame de Ferrol in dieser lächerlichen Weise anbeten, so muß ich auch
+wieder heiraten, um in Mode zu kommen.«
+
+»Sie werden nie wieder heiraten, Lady Narborough«, unterbrach Lord
+Henry. »Sie waren viel zu glücklich. Wenn eine Frau wieder heiratet, so
+tut sie es, weil sie ihren ersten Mann verabscheute. Wenn ein Mann
+wieder heiratet, so tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen
+versuchen ihr Glück, Männer setzen das ihre aufs Spiel.«
+
+»Narborough war nicht vollkommen!« rief die alte Dame.
+
+»Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt, meine teure
+Lady«, war die Antwort. »Frauen lieben uns um unserer Fehler willen.
+Wenn wir ihrer genug haben, vergeben sie uns alles, selbst unseren
+Geist. Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zu einem Diner bitten,
+nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough, aber es ist völlig wahr.«
+
+»Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen euch nicht eurer
+Fehler halber liebten, wo wäret ihr alle? Nicht ein einziger von euch
+würde verheiratet sein. Und ihr wäret eine Sekte unglücklicher
+Junggesellen. Das würde aber nicht viel an euch ändern. Heutzutage leben
+alle Ehemänner wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner.«
+
+»~Fin de siècle~«, flüsterte Lord Henry.
+
+»~Fin du globe~«, entgegnete die Gastgeberin.
+
+»Ich wollte, es wäre ~fin du globe~«, sagte Dorian mit einem Seufzer.
+»Das Leben ist eine große Enttäuschung.«
+
+»Ah, mein Lieber!« rief Lady Narborough und zog ihre Handschuhe an,
+»sagen Sie mir nicht, daß Sie das Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann
+das sagt, weiß man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist im
+höchsten Grade ruchlos, und ich wünsche manchmal, ich wäre es auch
+gewesen; aber Sie sind geschaffen, um gut zu sein -- Sie sehen so gut
+aus. Ich muß Ihnen eine hübsche Frau verschaffen. Lord Henry, meinen Sie
+nicht, daß Herr Gray heiraten sollte?«
+
+»Ich sage ihm das immer, Lady Narborough«, erwiderte Lord Henry mit
+einer Verbeugung.
+
+»Schön, so wollen wir uns nach einer guten Partie für ihn umsehen. Ich
+werde heute nacht den Adelskalender aufmerksam durchgehen und eine Liste
+aller in Frage kommenden jungen Damen aufstellen.«
+
+»Mit ihrer Altersangabe, Lady Narborough?« fragte Dorian.
+
+»Natürlich mit ihrem Alter, ein wenig retuschiert. Aber man darf nichts
+übereilen. Ich will, daß es genau das wird, was die Morning Post eine
+passende Verbindung nennt, und ihr sollt beide glücklich werden.«
+
+»Was die Menschen doch für einen Unsinn über glückliche Ehen reden!«
+rief Lord Henry. »Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich werden, solange
+er sie nicht liebt.«
+
+»Pfui! Was sind Sie für ein Zyniker!« rief die alte Dame, schob ihren
+Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu. »Sie müssen bald wiederkommen
+und bei mir essen. Sie sind wirklich ein wunderbarer Appetitanreger,
+viel besser als das, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen mir
+sagen, was für Leute Sie gern treffen würden. Es soll ein entzückendes
+Beisammensein werden.«
+
+»Ich liebe Männer, die eine Zukunft haben, und Frauen, die eine
+Vergangenheit haben«, antwortete er. »Oder beabsichtigen Sie, eine
+Weibergesellschaft zustande zu bringen?«
+
+»Ich fürchte fast«, sagte sie lachend, indem sie sich erhob. »Ach,
+verzeihen Sie tausendmal, Lady Ruxton,« fuhr sie fort, »ich habe nicht
+bemerkt, daß Sie mit Ihrer Zigarette noch nicht fertig waren.«
+
+»Macht nichts, Lady Narborough. Ich rauche viel zuviel. Ich muß mich
+darin in Zukunft einschränken.«
+
+»Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton«, sagte Lord Henry. »Mäßigung ist
+eine unglückliche Sache. Genug ist nicht besser als eine Mahlzeit. Mehr
+als genug ist so gut wie ein Festessen.«
+
+Lady Ruxton sah ihn neugierig an. »Lord Henry, Sie müssen mich eines
+Nachmittags besuchen und mir das erklären. Es klingt wie eine
+verlockende Theorie«, sagte sie, während sie aus dem Zimmer rauschte.
+
+»Jetzt bitte, sitzt mir nicht zu lange bei eurer Politik und euerm
+Klatsch!« rief Lady Narborough von der Tür aus. »Wenn ihr das tut,
+zanken wir sicher mit euch, wenn ihr nach oben kommt.«
+
+Die Männer lachten, und Herr Chapman stand feierlich vom Ende der Tafel
+auf und setzte sich oben hin. Dorian Gray wechselte seinen Platz und
+setzte sich neben Lord Henry. Herr Chapman begann mit lauter Stimme über
+die parlamentarische Lage zu sprechen. Er heulte laut auf über seine
+Widersacher. Das Wort Doktrinär -- ein Wort voller Schrecken für den
+britischen Geist -- tauchte von Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen
+auf. Eine doppelt ausgesprochene Vorsilbe diente seiner Rede als
+Alliteration zum Schmuck. Er hißte den Union Jack auf dem Mast des
+Gedankens auf. Die angestammte Dummheit der Rasse -- gesunder englischer
+Menschenverstand nannte er sie wohlwollend -- wurde als das
+Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt.
+
+Ein Lächeln kräuselte Lord Henrys Lippen, und er drehte sich um und
+blickte zu Dorian hin.
+
+»Geht dir's jetzt besser, lieber Junge?« fragte er. »Du schienst bei
+Tisch gar nicht recht wohl zu sein.«
+
+»Mir ist ganz wohl. Ich bin müde. Sonst nichts.«
+
+»Du warst entzückend gestern abend. Die kleine Herzogin hat dich ganz in
+ihr Herzchen geschlossen. Sie hat mir erzählt, sie käme nach Selby.«
+
+»Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen.«
+
+»Wird Monmouth auch da sein?«
+
+»Oh, gewiß, Harry!«
+
+»Er langweilt mich entsetzlich, fast ebenso sehr, wie er sie langweilt.
+Sie ist sehr verständig, zu verständig für eine Frau. Es fehlt ihr der
+unbeschreibliche Reiz der Schwäche. Die tönernen Füße sind's, die erst
+das Gold der Bildsäule wertvoll machen. Ihre Füße sind ganz allerliebst,
+aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn du willst. Sie
+sind schon im Feuer gewesen, und was das Feuer nicht zerstört, macht es
+hart. Sie hat ihre Erfahrungen.«
+
+»Wie lange ist sie verheiratet?« fragte Dorian.
+
+»Sie sagt, eine Ewigkeit. Nach dem Adelskalender, glaube ich, sind es
+wohl zehn Jahre, aber zehn Jahre mit Monmouth müssen wie eine Ewigkeit
+gewesen sein, wenn man die Zeit mitrechnet. Wer kommt sonst noch?«
+
+»Oh, die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau, unsere Wirtin, Geoffrey
+Clouston, die gewöhnliche Aufmachung. Ich habe auch Lord Grotrian
+gebeten.«
+
+»Den habe ich recht gern«, sagte Lord Henry. »Viele Leute können ihn
+nicht leiden, aber ich finde ihn reizend. Dafür, daß seine Kleidung
+manchmal übertrieben elegant ist, entschädigt er dadurch, daß er immer
+übertrieben gebildet ist. Es ist ein ganz moderner Typus.«
+
+»Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Harry. Es ist möglich, daß er mit
+seinem Vater nach Monte Carlo muß.«
+
+»Ach, was für ein Kreuz die Familiensimpelei ist! Versuch doch, daß er
+kommt. Übrigens, Dorian, du bist gestern abend sehr früh weggelaufen. Du
+hast uns vor elf Uhr sitzen lassen. Was hast du denn noch vorgehabt?
+Bist du gleich nach Hause gegangen?«
+
+Dorian blickte ihn rasch an und runzelte die Stirn. »Nein, Harry,« sagte
+er endlich, »es war schon fast drei, als ich nach Hause kam.«
+
+»Warst du noch im Klub?«
+
+»Ja«, antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen. »Nein, das wollte
+ich nicht sagen. Ich war nicht im Klub. Ich ging nur so herum. Ich weiß
+nicht mehr, was ich getan habe... Wie du einen ins Verhör nimmst,
+Harry! Du willst immer wissen, was man getan hat. Ich will immer
+vergessen, was ich getan habe. Wenn du aber die genaue Zeit wissen
+willst, ich bin um halb drei nach Hause gekommen. Ich hatte meinen
+Hausschlüssel vergessen, und mein Diener mußte mich einlassen. Wenn du
+vielleicht noch eine Zeugenaussage über mein Alibi wünschst, kannst du
+ihn ja fragen.«
+
+Lord Henry zuckte die Achseln. »Aber, lieber Junge, als ob mir daran
+etwas läge? Wir wollen in den Salon hinauf. Keinen Sherry, nein danke,
+Herr Chapman. Dir ist etwas zugestoßen, Dorian. Sage mir, was es ist. Du
+bist heute abend nicht du selber.«
+
+»Sei nicht böse, Harry. Ich bin gereizt und übel gelaunt. Ich komme
+morgen oder übermorgen zu dir. Bitte, entschuldige mich bei Lady
+Narborough. Ich gehe nicht mehr hinauf. Ich gehe nach Hause. Ich muß
+nach Hause gehn.«
+
+»Schön, Dorian. Ich hoffe, dich morgen zum Tee zu sehen. Die Herzogin
+kommt.«
+
+»Ich will versuchen da zu sein, Harry«, sagte er und verließ das Zimmer.
+Als er nach Hause fuhr, merkte er, daß das Angstgefühl wiedergekehrt
+sei, das er erstickt zu haben glaubte. Lord Henrys zufällige Frage hatte
+ihm für einen Moment die Fassung genommen und nervös gemacht und er
+brauchte seine Nerven noch. Dinge, die Gefahr bringen konnten, mußten
+zerstört werden. Er schauerte zusammen. Der Gedanke, sie auch nur zu
+berühren, war ihm furchtbar.
+
+Und doch mußte es geschehen. Er war sich darüber klar, und als er die
+Tür seines Bibliothekzimmers verschlossen hatte, öffnete er den geheimen
+Schrank, in den er Basil Hallwards Mantel und Tasche gesteckt hatte. Es
+loderte ein mächtiges Feuer. Er legte noch ein Stück Holz nach. Der
+Geruch der sengenden Kleider und des schwelenden Leders war entsetzlich.
+Er brauchte drei Viertelstunden, um alles zu verbrennen. Als es vorbei
+war, fühlte er sich schwach und krank, und nachdem er einige algerische
+Räucherkerzchen in einer durchbrochenen Kupferpfanne angezündet hatte,
+wusch er sich Hände und Stirn in kaltem, moschusduftendem Essig.
+
+Plötzlich schrak er zusammen. Seine Augen bekamen einen merkwürdigen
+Glanz und er nagte nervös an der Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern
+stand ein großer Florentiner Ebenholzschrank mit Elfenbein und
+Lapislazuli eingelegt. Er starrte ihn an, als wär er ein Etwas, das
+fesseln und ängstigen könne, als schließe er etwas ein, das er
+sehnsüchtig begehrte und doch beinahe verabscheute. Sein Atem ging
+schneller. Eine wilde Gier überkam ihn. Er zündete eine Zigarette an und
+warf sie gleich wieder weg. Seine Augenlider senkten sich, bis die
+langen Wimpern fast die Wangen berührten. Aber er sah noch immer nach
+dem Schranke hin. Endlich erhob er sich vom Sofa, auf dem er gelegen
+hatte, ging zu dem Schrank hinüber, schloß ihn auf und drückte an eine
+geheime Feder. Ein dreieckiges Schubfach kam langsam zum Vorschein.
+Seine Finger bewegten sich instinktiv danach, griffen hinein und faßten
+etwas. Es war ein kleines chinesisches Kästchen aus schwarzem,
+goldbetupftem Lack, das sehr sorgfältig gearbeitet war, und dessen
+Seiten gekrümmte Wellenlinien zierten, und an dessen seidenen Schnüren
+runde Kristalle mit Quasten aus geflochtenen Metallfäden hingen. Er
+öffnete das Kästchen. Eine grünlich-glänzende, wachsartige Masse von
+seltsam schwerem und durchdringendem Geruch lag darin.
+
+Er zögerte ein paar Augenblicke mit einem seltsam unbeweglichen Lächeln
+auf seinem Antlitz. Dann schauerte er zusammen, obwohl es im Zimmer ganz
+außergewöhnlich heiß war, raffte sich auf und sah nach der Uhr. Es
+fehlten zwanzig Minuten an zwölf. Er legte das Kästchen zurück, schloß
+die Türen des Schrankes und ging in sein Schlafzimmer.
+
+Als die Mitternacht ihre metallenen Schläge durch die dunkle Luft
+schickte, schlich Dorian Gray in ordinärer Kleidung und ein Tuch um den
+Hals geschlungen, leise aus dem Hause. In Bond Street traf er eine
+Droschke mit einem guten Pferd. Er ließ sie halten und sagte dem
+Kutscher mit leiser Stimme eine Adresse.
+
+Der Mann schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu weit«, brummte er.
+
+»Da haben Sie ein Goldstück. Sie sollen noch eins kriegen, wenn Sie
+rasch fahren.«
+
+»Schön, Herr!« antwortete der Mann, »wir werden in einer Stunde da
+sein«, und nachdem sein Fahrgast eingestiegen war, lenkte er um und fuhr
+rasch der Themse zu.
+
+
+
+
+Sechzehntes Kapitel
+
+
+Ein kalter Regen begann zu fallen und die flackernden Laternen sahen in
+dem herabsickernden Nebel geisterhaft aus. Die Schenken wurden eben
+geschlossen, und Männer und Frauen drängten sich in schattenhaften
+Gruppen vor den Türen. Aus einigen Wirtschaften scholl ein gräßliches
+Lachen. In anderen lärmten und grölten Betrunkene.
+
+In die Droschke zurückgelehnt, den Hut tief in die Stirn gezogen,
+blickte Dorian Gray mit gleichgültigen Augen auf das Elend und den
+Schmutz der Großstadt, und dann und wann wiederholte er sich die Worte,
+die ihm Lord Henry am ersten Tage, wo sie sich kennengelernt hatten,
+gesagt hatte: »die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele
+zu heilen«. Ja, das war das Geheimnis. Er hatte es oft versucht und
+wollte es jetzt wieder versuchen. Es gab Opiumkneipen, wo man
+Vergessenheit kaufen konnte, Kneipen des Grauens, wo die Erinnerung an
+alte Sünden durch den Wahnsinn neuer ausgelöscht werden kann.
+
+Der Mond hing tief am Himmel wie eine gelbe Hirnschale. Von Zeit zu Zeit
+streckte eine dicke, unförmige Wolke einen langen Arm nach ihm aus und
+verbarg ihn. Die Gaslaternen wurden spärlicher und die Straßen enger und
+düsterer. Einmal verlor der Kutscher seinen Weg und mußte einige hundert
+Meter zurückfahren. Das Roß dampfte, während es in den Pfützen patschte.
+Die Seitenfenster des Wagens waren wie mit grauem Flanell ausgeschlagen.
+
+»Die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele zu heilen --!«
+Wie ihm die Worte in den Ohren klangen! Seine Seele war jedenfalls
+todkrank. War es denkbar, daß die Sinne sie heilen konnten? Unschuldiges
+Blut war vergossen worden. Welche Sühne konnte es dafür geben? Ach!
+dafür gab es keine Sühne; aber wenn auch Vergebung unmöglich war,
+Vergessen war doch möglich, und er war entschlossen, zu vergessen, die
+Sache zu Boden zu treten, sie zu vernichten wie eine Natter, die einen
+gebissen hat. Welches Recht hatte denn Basil gehabt, so zu ihm zu
+sprechen, wie er es getan hatte? Wer hatte ihn zum Richter über andere
+gesetzt? Er hatte Dinge gesagt, die schrecklich waren, entsetzlich,
+nicht zu ertragen.
+
+Weiter und weiter rollte die Droschke, und es schien ihm, als führe sie
+mit jedem Schritt langsamer. Er riß das Schiebefenster auf und rief dem
+Kutscher hinter ihm zu, schneller zu fahren. Der gräßliche Hunger nach
+Opium fing an, in ihm zu nagen. Die Kehle brannte ihm, und seine zarten
+Finger spielten nervös miteinander. Er schlug mit dem Spazierstock wie
+toll auf den Gaul ein. Der Kutscher lachte und hieb mit der Peitsche zu.
+Er lachte auch dazu, und der Mann auf dem Bocke schwieg.
+
+Der Weg schien endlos zu sein und die Straßen dehnten sich aus wie ein
+schwarzes, durcheinander gewirrtes Spinngewebe. Die Eintönigkeit wurde
+unerträglich, und als sich der Nebel dichter ballte, empfand er Furcht.
+
+Dann fuhren sie an einsamen Ziegeleien vorüber. Der Nebel ward hier
+durchsichtiger, und er konnte die merkwürdigen, kürbisflaschenartigen
+Brennöfen mit ihren orangefarbenen fächerartigen Feuerzungen erkennen.
+Ein Köter schlug an, als sie vorbeirasselten, und weit entfernt in der
+Dunkelheit schrie eine schlaflose Möwe. Das Pferd stolperte in
+irgendeiner Rinne, scheute und verfiel in Galopp.
+
+Nach einiger Zeit verließen sie den Lehmweg und ratterten wieder über
+ein holpriges Straßenpflaster. Die meisten Fenster waren dunkel, aber
+dann und wann sah man phantastische Schatten wie Silhouetten hinter
+einem erleuchteten Rouleau. Er spähte neugierig darauf hin. Sie bewegten
+sich wie riesenhafte Marionetten und gestikulierten wie lebende Wesen.
+Eine Art Haß auf sie überkam ihn. Ein dumpfer Zorn kochte in seinem
+Herzen. Als sie um eine Ecke bogen, rief ihnen ein Weib aus einer
+offenen Tür etwas zu, und zwei Männer rannten ein paar hundert Meter
+hinter der Droschke her. Der Kutscher schlug mit seiner Peitsche nach
+ihnen.
+
+Man sagt, die Leidenschaft wirble einem die Gedanken im Kreise umher.
+Jedenfalls formten die zerbissenen Lippen Dorian Grays in endloser
+Wiederholung die feingesetzten Worte von der Seele und den Sinnen und
+formten sie immer wieder, bis er in ihnen sozusagen den vollsten
+Ausdruck seiner Stimmung gefunden und durch die Zustimmung des
+Verstandes Leidenschaften gerechtfertigt hatte, die auch ohne solche
+Rechtfertigung sein Temperament beherrscht hätten. Von Zelle zu Zelle
+seines Gehirns kroch der eine Gedanke und die wilde Lebensgier, das
+schrecklichste aller menschlichen Hungergelüste, ließ sich jeden
+zuckenden Nerv und Muskel gewaltsam emporbäumen. Das Häßliche, das er
+einst gehaßt hatte, weil es den Dingen Wirklichkeit verlieh, wurde ihm
+jetzt aus demselben Grunde lieb. Das Häßliche war das einzig Wirkliche.
+Das rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die ordinäre Gewalttätigkeit
+eines liederlichen Lebens, die widerliche Verworfenheit der Diebe und
+Verbrecher waren in der intensiven Wirklichkeit ihrer Eindrücke mehr vom
+Leben erfüllt, als all die anmutigen Formen der Kunst, die träumerischen
+Schatten der Dichtung. Das war es, was er zum Vergessen brauchte. In
+drei Tagen würde er frei sein.
+
+Plötzlich hielt der Mann am Ende einer finstern Straße mit einem Ruck
+an. Über die niedrigen Dächer und gezackten Schornsteine der Häuser
+hinaus ragten die schwarzen Maste der Schiffe. Weiße Nebelfetzen hingen
+wie gespensterhafte Segel über den Werften.
+
+»Irgendwo hier, nicht wahr, Herr?« ertönte die rauhe Stimme des
+Kutschers durch das Schiebefenster.
+
+Dorian fuhr auf und blickte sich um. »Schon gut«, antwortete er, stieg
+rasch aus, gab dem Kutscher Trinkgeld, das er ihm versprochen hatte, und
+ging eilig dem Kai zu. Hier und da flimmerte eine Laterne am Heck eines
+großen Kauffahrers. Das Licht zitterte und zersplitterte sich in den
+Pfützen. Ein rotes Geglitzer kam von einem weit draußen ankernden
+Dampfer, der Kohlen verlud. Das schlüpfrige Pflaster sah aus wie ein
+regenglänzender Gummimantel.
+
+Er hastete nach links weiter und blickte sich dann und wann um, ob ihm
+niemand folgte. Nach sieben oder acht Minuten erreichte er ein kleines,
+elendes Haus, das zwischen zwei große Faktoreien eingequetscht war. In
+einem der Giebelfenster brannte eine Lampe. Er blieb stehen und klopfte
+wie auf eine verabredete Art an.
+
+Nach einer kleinen Pause hörte er Schritte im Flur und wie die Türkette
+losgemacht wurde. Die Tür öffnete sich vorsichtig, und er trat hinein,
+ohne ein Wort zu der kleinen erbärmlichen Gestalt zu sagen, die sich in
+den Schatten drückte, als er vorbeischritt. Am Ende des Flurs hing ein
+zerlumpter grüner Vorhang, der sich in dem starken Luftzug, den er von
+der Straße her mitbrachte, hin und her bauschte. Er schob ihn beiseite
+und trat in einen langen, niedrigen Raum, der so aussah, als wäre er
+früher ein Tanzlokal dritten Ranges gewesen. Grell flackernde
+Gasflammen, die in den fliegenbeschmutzten Spiegeln gegenüber matt und
+verzehrt erschienen, brannten rings an den Wänden. Schmierige
+Reflektoren aus geripptem Wellblech waren dahinter angebracht und warfen
+tanzende Lichtkreise. Der Boden war mit ockerfarbigen Sägespänen
+bestreut, die an einzelnen Stellen zu Schmutzklumpen zertreten waren und
+auf denen sich von vergossenen Getränken schwarze Ringe abzeichneten.
+Ein paar Malaien hockten mit untergeschlagenen Beinen an einem kleinen
+Kohlenofen, spielten mit knöchernen Würfeln und zeigten beim Sprechen
+ihre weißlichen Zähne. In einem Winkel, den Kopf auf die Hände gestützt,
+räkelte sich ein Matrose über den Tisch, und an dem schreiend bemalten
+Büfett, das eine ganze Seite des Raumes einnahm, standen zwei
+heruntergekommene Weibspersonen und höhnten einen alten Mann, der mit
+einem Ausdruck des Ekels die Ärmel seines Rockes bürstete. »Er denkt, er
+hat sich Läuse geholt«, lachte die eine, als Dorian vorüberging. Der
+Mann sah sie erschreckt an und begann zu jammern.
+
+Am Ende des Zimmers war eine kleine Treppe, die in eine verdunkelte
+Kammer führte. Als Dorian die drei wackligen Stufen hinaufhastete,
+schlug ihm der schwere Geruch des Opiums entgegen. Er holte tief Atem,
+und seine Nasenflügel zitterten vor Lust. Als er eintrat, blickte ein
+junger Mann mit glattgescheiteltem Blondhaar zu ihm auf, der sich über
+eine Lampe beugte, an der er eine lange, dünne Pfeife anzündete, und
+zögernd nickte.
+
+»Du hier, Adrian?« flüsterte Dorian.
+
+»Wo soll ich sonst sein?« antwortete er gleichgültig. »Kein Mensch will
+jetzt mehr mit mir sprechen.«
+
+»Ich dachte, du wärst aus England fort?«
+
+»Darlington wird nichts gegen mich unternehmen. Mein Bruder hat den
+Wechsel schließlich gezahlt. George spricht auch nicht mehr mit mir ...
+Ist mir auch einerlei«, fügte er seufzend hinzu. »Solange man noch das
+Zeug da hat, braucht man keine Freunde. Ich denke, ich habe zu viele
+Freunde gehabt.«
+
+Dorian zuckte zusammen und sah sich nach den grotesken Gestalten um, die
+da in so abenteuerlichen Stellungen auf den zerlumpten Matratzen lagen.
+Die verkrümmten Glieder, die offenen Mäuler, die stierenden, glanzlosen
+Augen übten eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er kannte die
+absonderlichen Paradiese, in denen sie litten, und welche dumpfe Höllen
+sie in das Geheimnis neuer Genüsse einweihten. Sie waren besser daran
+als er. Ihn hielten seine Gedanken eingekerkert. Die Erinnerung fraß wie
+eine fürchterliche Krankheit an seiner Seele. Von Zeit zu Zeit glaubte
+er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu sehen. Aber er
+fühlte, daß er hier nicht bleiben konnte. Die Anwesenheit Adrian
+Singletons störte ihn. Er wollte irgendwo sein, wo ihn niemand kennt. Er
+wollte sich selbst entfliehen.
+
+»Ich gehe in das andere Lokal«, sagte er nach einer Pause.
+
+»Auf der Werft?«
+
+»Ja.«
+
+»Die tolle Katze ist sicher da. Sie wollen sie hier nicht mehr haben.«
+
+Dorian zuckte die Achseln. »Ich habe die Weiber, die einen lieben,
+satt. Weiber, die einen hassen, sind viel interessanter. Übrigens ist
+dort der Stoff besser.«
+
+»Ganz derselbe.«
+
+»Mir schmeckt er da besser. Komm, wir wollen was trinken. Ich muß was
+haben.«
+
+»Ich brauche nichts«, murmelte der junge Mann.
+
+»Macht nichts.«
+
+Adrian Singleton stand schläfrig auf und folgte Dorian ans Büfett. Ein
+Mischling in zerrissenem Turban und schäbigem Ulster grinste ihnen einen
+widerlichen Gruß zu, als er zwei Gläser und eine Branntweinflasche vor
+sie hinstellte. Die Weiber torkelten herbei und begannen zu schwatzen.
+Dorian kehrte ihnen den Rücken zu und sagte leise etwas zu Adrian
+Singleton.
+
+Ein Grinsen gleich einem krummen malaischen Dolch verzerrte das Gesicht
+des einen Weibes. »Wir sind sehr stolz heute abend«, höhnte sie lachend.
+
+»Um Gottes willen, rede nicht mit mir!« schrie Dorian und stampfte mit
+dem Fuß auf den Boden. »Was willst du? Geld? Da! Aber sprich kein Wort
+mehr zu mir!«
+
+Zwei rote Funken blitzten für einen Augenblick in den wässerigen Augen
+des Weibes auf, dann verloschen sie wieder und ließen sie trübe und
+gläsern erscheinen. Sie warf den Kopf in den Nacken und raffte mit
+gierigen Fingern die Münzen auf dem Schenktisch zusammen. Ihre Gefährtin
+beobachtete sie neidisch.
+
+»Es hat keinen Zweck«, sagte Adrian Singleton seufzend. »Ich will nicht
+mehr zurück. Was macht's aus? Ich fühle mich hier ganz wohl.«
+
+»Du wirst mir doch schreiben, wenn du was brauchst?« fragte Dorian nach
+einer Weile.
+
+»Vielleicht.«
+
+»Dann gute Nacht!«
+
+»Gute Nacht!« antwortete der junge Mann, schritt die Stufen hinauf und
+wischte sich den trockenen Mund mit dem Taschentuch ab.
+
+Dorian schritt mit einem qualvollen Zug im Gesicht zur Tür. Als er den
+Vorhang beiseitezog, scholl ein gräßliches Lachen von den geschminkten
+Lippen des Weibes, das sein Geld genommen hatte. »Da geht er hin, der
+Seelenverschacherer!« stieß sie mit einer heiser glucksenden Stimme
+hervor.
+
+»Der Satan hol' dich!« antwortete er, »du sollst mich nicht so nennen!«
+
+Sie schnippte mit den Fingern. »Was, du willst wohl Prinz Märchenschön
+genannt werden, das paßte dir, he?« kreischte sie hinter ihm her.
+
+Bei diesen Worten sprang der schläfrige Matrose auf und blickte sich
+wild um. Das Geräusch der zufallenden Haustür drang an sein Ohr. Er
+stürzte hinaus, als ob er ihn verfolgen wollte.
+
+Dorian Gray eilte rasch durch den herabstäubenden Regen den Kai entlang.
+Sein Zusammentreffen mit Adrian Singleton hatte ihn sonderbar bewegt,
+und er grübelte darüber nach, ob der Untergang dieses jungen Lebens
+wirklich sein Werk war, wie ihm Basil Hallward mit so schändlicher
+Beschimpfung schuldgegeben hatte. Er biß sich auf die Lippen, und für
+ein paar Augenblicke wurde sein Auge traurig. Aber schließlich, was
+ging es ihn an? Das bißchen Leben war zu kurz, als daß man die Sünden
+anderer auf seine Schultern laden könnte. Jeder lebte sein eigenes Leben
+und zahlte seinen eigenen Preis dafür. Das einzige Unglück war, daß man
+für ein einziges Vergehen so oftmals zahlen mußte. Man mußte immer und
+immer wieder zahlen. In seinem Handel mit dem Menschen glich das
+Schicksal sein Schuldbuch nie aus.
+
+Die Psychologen sagen uns, daß es Augenblicke gibt, wo die Anreizung zu
+Sünden oder zu dem, was die Welt Sünden nennt, eine Natur so beherrscht,
+daß jede Faser des Körpers, jede Zelle des Gehirns von fürchterlichen
+Kräften gestachelt zu sein scheint. Männer und Frauen verlieren in
+solchen Augenblicken die Willensfreiheit. Sie bewegen sich wie Automaten
+ihrem schrecklichen Ende zu. Die Wahl ist ihnen geraubt, und das
+Gewissen ist entweder tot oder, wenn es noch lebt, so lebt es nur, um
+der Empörung ihren Reiz und dem Ungehorsam ihren besonderen Zauber zu
+verleihen. Denn alle Sünden sind, wie die Theologen nicht müde werden,
+uns vorzuhalten, Sünden des Ungehorsams. Als jener hohe Geist, der
+Morgenstern alles Bösen vom Himmel fiel, da fiel er, weil er ein Rebell
+war.
+
+Unempfindlich, nur mit dem einen Gedanken ans Böse erfüllt, mit
+verfinstertem Geist, mit einer Seele, die nach Empörung lechzte, hastete
+Dorian Gray weiter, und beschleunigte, während er ging, seine Schritte
+immer mehr; aber als er in einen dunkeln Torweg einbog, der ihm oft
+genug als abgekürzter Weg zu dem berüchtigten Orte gedient hatte, den
+er jetzt aufsuchen wollte, fühlte er sich plötzlich von rückwärts
+gepackt, und bevor er Zeit hatte, sich zu wehren, wurde er gegen eine
+Mauer geschleudert und fühlte seinen Hals von einer brutalen Hand
+umklammert.
+
+Er kämpfte wie wahnsinnig um sein Leben, und mit furchtbarer Anstrengung
+glückte es ihm, sich aus den umschnürenden Fingern loszureißen. Einen
+Augenblick darauf hörte er das Knacken eines Revolvers und sah den Glanz
+eines blanken Laufes gerade gegen seinen Kopf gerichtet und die dunkle
+Gestalt eines untersetzten Mannes vor sich.
+
+»Was wollen Sie?« keuchte er.
+
+»Sei still«, sagte der Mann. »Wenn du dich rührst, schieß' ich dich
+nieder!«
+
+»Sie sind toll. Was hab' ich Ihnen getan?«
+
+»Du hast das Leben Sibyl Vanes zugrunde gerichtet!« war die Antwort,
+»und Sibyl Vane war meine Schwester. Sie hat sich getötet. Ich weiß es.
+Ihr Tod ist deine Schuld. Ich habe geschworen, dich dafür zu töten.
+Jahrelang habe ich dich gesucht. Aber ich hatte keinen Anhaltspunkt,
+keine Spur. Die zwei Menschen, die dich hätten beschreiben können, waren
+tot. Ich wußte nichts von dir als den Kosenamen, den sie dir gab. Heute
+nacht habe ich ihn durch Zufall gehört. Mach' deinen Frieden mit Gott,
+denn heute nacht mußt du sterben.«
+
+Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Furcht. »Ich habe sie nie
+gekannt«, stammelte er. »Ich habe nie von ihr gehört. Sie sind
+verrückt.«
+
+»Gesteh' lieber deine Sünden ein, denn so wahr ich James Vane heiße, so
+gewiß sollst du jetzt sterben.« Es war ein entsetzlicher Augenblick.
+Dorian wußte nicht, was er sagen oder tun sollte. »Auf die Knie!«
+brüllte der Mann. »Ich geb' dir eine Minute, deinen Frieden zu machen --
+nicht mehr! Ich muß heute nacht an Bord nach Indien, und muß vorher
+meine Arbeit getan haben. Eine Minute. Mehr nicht!«
+
+Dorians Arme sanken herab. Von Todesangst gelähmt, wußte er nicht, was
+er beginnen sollte. Plötzlich zuckte eine jähe Hoffnung in seinem Gehirn
+auf. »Halt!« schrie er. »Wie lang ist es her, daß Ihre Schwester
+gestorben ist? Rasch, sagen Sie!«
+
+»Achtzehn Jahre«, sagte der Mann. »Warum fragst du? Was machen die
+Jahre?«
+
+»Achtzehn Jahre!« lachte Dorian mit einem triumphierenden Ton in seiner
+Stimme. »Achtzehn Jahre! Bringen Sie mich unter die Laterne und sehen
+Sie mein Gesicht an!«
+
+James Vane zögerte einen Augenblick und begriff nicht, was er meinte.
+Dann packte er Dorian Gray und schleifte ihn aus dem Torweg heraus.
+
+So dunkel und flackernd das windverwehte Licht auch war, es genügte
+doch, ihm den furchtbaren Irrtum zu zeigen, in den er geraten zu sein
+schien. Denn das Antlitz des Mannes, den er töten wollte, wies die ganze
+Blütenweichheit der Jugend auf, zeigte all die unbefleckte Reinheit der
+Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling von zwanzig Lenzen, kaum
+älter, als seine Schwester gewesen war, als sie vor so vielen Jahren
+Abschied voneinander genommen hatten. Es war klar, daß dies nicht der
+Mann war, der ihr Leben zerstört hatte.
+
+Er ließ seine Faust von ihm los und taumelte zurück. »Mein Gott, mein
+Gott!« rief er aus, »und ich hätte Sie fast ermordet!«
+
+Dorian Gray schöpfte tief Atem. »Sie waren dicht daran, ein furchtbares
+Verbrechen zu begehen, Mann«, sagte er mit einem strengen Blick. »Lassen
+Sie sich das eine Warnung sein, eine Rache nicht mit eigener Hand zu
+übernehmen.«
+
+»Verzeihen Sie mir, Herr!« stammelte James Vane. »Ich habe mich täuschen
+lassen. Ein zufälliges Wort, das ich in der verfluchten Kneipe hörte,
+brachte mich auf die falsche Spur.«
+
+»Sie sollten lieber nach Hause gehen und Ihre Pistole wegtun, sonst
+kommen Sie noch in Ungelegenheiten«, sagte Dorian, drehte sich um und
+ging langsam die Straße hinunter.
+
+James Vane stand voller Entsetzen auf dem Pflaster. Er zitterte von Kopf
+bis Fuß. Nach einer kleinen Weile bewegte sich ein schwarzer Schatten,
+der längs der regenfeuchten Wand hingeschlichen war, ins Licht hinaus
+und glitt mit verstohlenen Schritten an seine Seite. Er spürte eine Hand
+auf seinem Arm und drehte sich mit jähem Ruck um. Es war eines der
+Weiber, die am Büfett getrunken hatten.
+
+»Warum hast du ihn nicht umgebracht?« zischte sie und brachte ihr
+verlebtes Gesicht ganz dicht an das seine. »Ich wußte, daß du ihm
+folgtest, als du aus Dalys Haus fortranntest. Du Narr! Du hättest ihn
+totschlagen sollen. Er hat einen Haufen Geld und ist schlechter als
+sonst wer.«
+
+»Er ist nicht der Mann, den ich suche,« antwortete er, »und ich suche
+keines Menschen Geld. Ich such' eines Menschen Leben. Der Mann, dessen
+Leben ich suche, muß jetzt an die Vierzig sein. Der da war fast noch ein
+Knabe. Ich danke Gott, daß nicht sein Blut an meinen Händen klebt.«
+
+Das Weib stieß ein bitteres Lachen aus. »Fast noch ein Knabe!« höhnte
+sie. »Wahrhaftig, Mensch, es ist fast achtzehn Jahre her, seit Prinz
+Märchenschön das aus mir gemacht hat, was ich heute bin!«
+
+»Du lügst!« schrie James Vane.
+
+Sie hob die Hände gen Himmel. »Bei Gott, ich sage die Wahrheit!« rief
+sie.
+
+»Bei Gott?«
+
+»Du kannst mich kaltmachen, wenn es nicht so ist. Er ist der
+Schlechteste von allen, die herkommen. Sie sagen, er hat dem Teufel
+seine Seele für sein hübsches Gesicht verkauft. Es sind fast achtzehn
+Jahre, daß ich ihn kennenlernte. Er hat sich seitdem wenig verändert.
+Ich um so mehr«, fügte sie mit einem traurigen Blinzeln hinzu.
+
+»Beschwörst du das?«
+
+»Ich schwöre es«, klang es wie ein heiseres Echo aus ihrem entstellten
+Munde. »Aber verrate mich ihm nicht«, winselte sie; »ich habe Angst vor
+ihm. Gib mir 'n paar Groschen zum Nachtquartier.«
+
+Mit einem Fluch riß er sich von ihr los und stürzte an die Straßenecke;
+aber Dorian Gray war verschwunden. Als er zurückblickte, war auch das
+Weib schon weg.
+
+
+
+
+Siebzehntes Kapitel
+
+
+Eine Woche später saß Dorian Gray im Gewächshaus von Selby Royal und
+plauderte mit der hübschen Herzogin von Monmouth, die sich mit ihrem
+Gatten, einem ermüdet aussehenden Manne von sechzig Jahren, unter seinen
+Gästen befand. Es war zur Teezeit, und das sanfte Licht der großen, mit
+einem Spitzenschleier verhängten Lampe, die auf dem Tische stand,
+erleuchtete das kostbare Porzellan und das getriebene Silberservice, das
+neben der Herzogin stand. Ihre weißen Hände machten sich zierlich
+zwischen den Tassen zu schaffen, und ihre vollen, roten Lippen lächelten
+über etwas, das ihr Dorian zugeflüstert hatte. Lord Henry lag
+zurückgelehnt in einem mit Silberseide bezogenen Rohrsessel und sah
+beide an. Auf einem pfirsichfarbenen Diwan saß Lady Narborough und tat
+so, als ob sie der Beschreibung des Herzogs zuhörte, die den letzten
+brasilianischen Käfer betraf, den er seiner Sammlung einverleibt hatte.
+Drei junge Leute in gewählter Gesellschaftstoilette boten den Damen
+Teekuchen an. Die Gesellschaft bestand aus zwölf Personen, und für den
+nächsten Tag wurden noch einige erwartet.
+
+»Worüber sprecht ihr beide?« fragte Lord Henry, während er gemächlich zu
+dem Teetisch ging und seine Tasse niederstellte. »Ich hoffe, Dorian hat
+dir von meinem Plan, alles umzutaufen, erzählt, Gladys. Es ist eine
+allerliebste Idee.«
+
+»Aber ich will nicht umgetauft werden, Harry«, erwiderte die Herzogin
+und sah ihn mit ihren reizend schönen Augen an. »Ich bin mit meinem
+Namen ganz zufrieden und ich denke, Herr Gray kann auch mit seinem
+zufrieden sein.«
+
+»Meine teure Gladys, ich würde um keinen Preis der Welt einen der beiden
+Namen umändern wollen. Sie sind beide vollendet. Ich dachte
+hauptsächlich an Blumen. Gestern schnitt ich mir eine Orchidee für mein
+Knopfloch. Es war eine wundervoll gesprenkelte Blume, so wirkungsvoll
+wie die sieben Todsünden. In einem Anfall von Gedankenträgheit fragte
+ich einen der Gärtner, wie sie heiße. Er sagte mir, es sei ein schönes
+Exemplar der Robinsoniana oder irgendeine derartige gräßliche
+Bezeichnung. Es ist eine traurige Wahrheit, aber wir haben die
+glückliche Gabe verloren, den Dingen schöne Namen zu geben. Und Namen
+sind alles. Ich kämpfe nie gegen Taten an. Mein einziger Kampf richtet
+sich gegen die Worte. Das ist der Grund, weshalb ich den vulgären
+Realismus in der Literatur verabscheue. Der Mann, der imstande ist,
+einen Spaten einen Spaten zu nennen, sollte gezwungen werden, selbst
+einen in die Hand zu nehmen. Es ist die einzige Sache, zu der er
+tauglich wäre.«
+
+»Wie sollen wir also dich nennen, Harry?« fragte sie.
+
+»Sein Name ist Prinz Paradox«, sagte Dorian.
+
+»Der wird sofort akzeptiert!« rief die Herzogin.
+
+»Ich will ihn nicht hören«, lachte Lord Henry und ließ sich in ein
+Fauteuil fallen. »Vor einem solchen Etikettchen kann man sich nicht
+retten. Ich weise den Titel zurück.«
+
+»Fürstlichkeiten können nicht abdanken«, warnten ihn schöne Lippen.
+
+»Du willst also, daß ich meinen Thron verteidige?«
+
+»Ja.«
+
+»Ich sage die Wahrheiten von morgen.«
+
+»Ich ziehe die Irrtümer von heute vor«, antwortete sie.
+
+»Du entwaffnest mich, Gladys!« rief er, entzückt von ihrer übermütigen
+Laune.
+
+»Deines Schildes, Harry, nicht deines Speeres.«
+
+»Ich kämpfe nie gegen Schönheit«, sagte er mit einer huldigenden
+Handbewegung.
+
+»Das ist dein Fehler, Harry, glaube mir's. Du überschätzest die
+Schönheit.«
+
+»Wie kannst du das sagen? Ich gebe zu, daß ich es für besser halte,
+schön zu sein als gut. Aber andererseits ist niemand eher als ich bereit
+zuzugeben, daß es besser ist, gut zu sein als häßlich.«
+
+»Dann also ist Häßlichkeit eine der sieben tödlichen Sünden?« rief die
+Herzogin. »Wie steht es nun mit deinem Orchideengleichnis?«
+
+»Häßlichkeit ist eine von den sieben tödlichen Tugenden, Gladys. Du als
+gute Tory darfst sie nicht unterschätzen. Das Bier, die Bibel und die
+sieben tödlichen Tugenden haben aus England gemacht, was es heute ist.«
+
+»Du liebst also dein Vaterland nicht?« fragte sie.
+
+»Ich lebe darin.«
+
+»Damit du es besser tadeln kannst.«
+
+»Sähest du es lieber, daß ich mir das Urteil Europas über unser Land
+aneigne?« fragte er.
+
+»Was sagt man von uns?«
+
+»Daß Tartüff nach England ausgewandert sei und dort einen Laden
+aufgemacht habe.«
+
+»Ist das von dir, Harry?«
+
+»Ich schenke es dir.«
+
+»Ich kann's nicht gebrauchen. Es ist zu wahr.«
+
+»Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Unsere Landsleute erkennen sich
+nie in ihrem Steckbrief wieder.«
+
+»Du bist so praktisch.«
+
+»Eher gerissen als praktisch. Wenn sie ihr Kontokorrent abschließen,
+dann saldieren sie Dummheit mit Reichtum und Laster mit Heuchelei.«
+
+»Und doch haben wir große Dinge vollbracht.«
+
+»Große Dinge sind uns auferlegt worden, Gladys.«
+
+»Wir haben ihre Last zu tragen vermocht.«
+
+»Nur bis zur Börse.«
+
+Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube an unsere Rasse!« rief sie.
+
+»Sie vertritt den überlebenden Ellbogenstreber.«
+
+»Sie hat das Zeug zur Entwicklung.«
+
+»Verfall reizt mich mehr.«
+
+»Und die Kunst?« fragte sie.
+
+»Eine Krankheit.«
+
+»Liebe?«
+
+»Einbildung.«
+
+»Religion?«
+
+»Modesurrogat für den Glauben.«
+
+»Du bist ein Skeptiker!«
+
+»Niemals! Skeptizismus ist der Anfang des Glaubens.«
+
+»Was bist du?«
+
+»Definieren heißt beschränken.«
+
+»Reich mir den Ariadnefaden!«
+
+»Fäden zerreißen. Du wurdest deinen Weg im Labyrinth verlieren.«
+
+»Du machst mich wirre. Laß uns von einem anderen sprechen.«
+
+»Unser Wirt ist ein entzückendes Thema. Vor vielen Jahren nannte man ihn
+den Prinz Märchenschön.«
+
+»Ach! Erinnere mich nicht daran!« rief Dorian Gray.
+
+»Unser Wirt ist recht greulich heute abend«, antwortete die Herzogin und
+errötete. »Er denkt wohl, Monmouth habe mich nur aus wissenschaftlichen
+Gründen geheiratet, weil ich das beste Musterbeispiel eines modernen
+Schmetterlings bin.«
+
+»Ich hoffe aber, er wird Sie nicht auf Stecknadeln spießen, Frau
+Herzogin«, lachte Dorian.
+
+»Oh! Das besorgt schon meine Kammerjungfer, Herr Gray, wenn sie sich
+über mich ärgert.«
+
+»Und worüber ärgert sie sich, Frau Herzogin?«
+
+»Über die geringsten Dinge, Herr Gray, glauben Sie nur! Gewöhnlich, wenn
+ich zehn Minuten vor neun nach Hause komme und ihr sage, daß ich bis
+halb neun angezogen sein muß.«
+
+»Wie unvernünftig von ihr! Sie sollten ihr den Laufpaß geben!«
+
+»Das wag' ich nicht, Herr Gray. Sie erfindet nämlich meine Hüte. Sie
+erinnern sich nicht an den Hut, den ich auf Lady Hilstones Gartenfest
+getragen habe? Natürlich nicht, aber es ist hübsch von Ihnen, daß Sie so
+tun. Also der war geradezu aus nichts gemacht. Alle guten Hüte werden
+aus nichts gemacht.«
+
+»Wie jeder gute Ruf, Gladys!« unterbrach Lord Henry. »Jede Wirkung, die
+man erzielt, schafft uns einen Feind. Man muß eine Mittelmäßigkeit sein,
+wenn man eine Beliebtheit sein will.«
+
+»Nicht unter Frauen«, sagte die Herzogin und schüttelte den Kopf; »und
+Frauen regieren die Welt. Ich behaupte steif und fest, wir können
+Mittelmäßigkeiten nicht vertragen. Wir Frauen, hat mal jemand gesagt,
+lieben mit den Ohren, gerade so, wie ihr Männer mit den Augen liebt,
+wenn ihr überhaupt liebt.«
+
+»Es scheint mir, daß wir überhaupt nie etwas anderes tun«, flüsterte
+Dorian.
+
+»Ach! Herr Gray, dann lieben Sie nie in Wirklichkeit«, antwortete die
+Herzogin wie in spöttischer Trauer.
+
+»Meine liebe Gladys.« rief Lord Henry. »Wie kannst du das sagen? Die
+Romantik lebt von Wiederholung, und die Wiederholung verwandelt jeden
+Anreiz in Kunst. Übrigens, jedesmal, wenn man liebt, ist es das
+erstemal, daß man geliebt hat. Die Verschiedenheit des Objektes
+verändert die Einzigkeit der Leidenschaft nicht. Sie macht sie nur
+stärker. Wir können im Leben bestenfalls nur ein einziges großes
+Erlebnis haben, und das Geheimnis des Lebens besteht darin, dieses
+Erlebnis so oft als möglich zu wiederholen.«
+
+»Selbst wenn es einen verwundet hat, Harry?« fragte die Herzogin nach
+einer Pause.
+
+»Besonders wenn es einen verwundet hat«, entgegnete Lord Henry.
+
+Die Herzogin wandte sich um und sah Dorian Gray an mit einem seltsamen
+Ausdruck in ihren Augen. »Was sagen Sie dazu, Herr Gray?« forschte sie.
+
+Dorian zögerte einen Augenblick. Dann warf er den Kopf zurück und
+lachte. »Ich stimme mit Harry immer überein, Frau Herzogin.«
+
+»Auch wenn er unrecht hat?«
+
+»Harry hat nie unrecht, Frau Herzogin.«
+
+»Und macht Sie seine Philosophie glücklich?«
+
+»Glück habe ich nie gesucht. Wer braucht Glück? Ich habe Vergnügen
+gesucht.«
+
+»Und gefunden, Herr Gray?«
+
+»Oft. Zu oft.«
+
+Die Herzogin seufzte. »Ich suche Frieden,« sagte sie, »und wenn ich
+jetzt nicht gehe und mich anziehe, habe ich ihn heut abend nicht.«
+
+»Lassen Sie mich Ihnen ein paar Orchideen holen, Frau Herzogin!« rief
+Dorian, sprang auf und ging ins Gewächshaus hinunter.
+
+»Du flirtest ganz schändlich mit ihm«, sagte Lord Henry zu seiner
+Kusine. »Du solltest dich lieber in acht nehmen. Er kann sehr
+faszinieren.«
+
+»Wenn er es nicht könnte, gäb's keinen Kampf.«
+
+»Also Griechen kämpfen gegen Griechen?«
+
+»Ich bin auf seiten der Trojaner. Sie kämpften für ein Weib.«
+
+»Sie wurden besiegt.«
+
+»Es gibt ärgere Dinge als Gefangenschaft«, erwiderte sie.
+
+»Du galoppierst mit verhängtem Zügel.«
+
+»Das Tempo macht Leben«, war die Antwort.
+
+»Ich will mir das heut abend in mein Tagebuch schreiben.«
+
+»Was?«
+
+»Daß ein gebranntes Kind das Feuer liebt.«
+
+»Ich bin noch nicht einmal versengt. Meine Flügel sind unberührt.«
+
+»Du gebrauchst sie zu allem, nur nicht zur Flucht.«
+
+»Der Mut ist von den Männern zu den Frauen gewandert. Das ist ein neues
+Erlebnis für uns.«
+
+»Du hast eine Rivalin.«
+
+»Wen?«
+
+Er lachte. »Lady Narborough«, flüsterte er. »Sie betet ihn an.«
+
+»Du machst mir Angst. Die Beschwörung des Altertums ist für uns
+Romantiker stets gefährlich.«
+
+»Romantiker! Du hast alle Methoden der Wissenschaft.«
+
+»Männer haben uns erzogen.«
+
+»Aber nicht erklärt.«
+
+»Gib uns eine Definition unseres Geschlechtes«, forderte sie ihn heraus.
+
+»Sphinxe ohne Geheimnisse.«
+
+Sie sah ihn lächelnd an. »Wie lange Herr Gray wegbleibt«, sagte sie.
+»Wir wollen ihm helfen. Ich habe ihm noch nicht einmal die Farbe meines
+Kleides angegeben.«
+
+»Pah! Du mußt dein Kleid seinen Blumen anpassen, Gladys.«
+
+»Das wäre eine zu frühe Übergabe.«
+
+»Die romantische Kunst beginnt mit dem Höhepunkt.«
+
+»Ich muß mir die Möglichkeit des Rückzuges offen halten.«
+
+»Wie die Parther?«
+
+»Sie fanden Schutz in der Wüste. Mir wäre das nicht möglich.«
+
+»Man läßt den Frauen nicht immer die Wahl«, entgegnete er; aber kaum
+hatte er den Satz zu Ende gesprochen, als von dem äußersten Winkel des
+Gewächshauses her ein unterdrücktes Stöhnen kam, dem das dumpfe Gerausch
+eines schweren Falles folgte. Alles sprang auf. Die Herzogin stand
+regungslos da vor Schreck. Mit ängstlichen Augen stürzte Lord Henry
+durch die wehenden Fächer der Palmen und fand Dorian Gray in einer
+todesähnlichen Ohnmacht am Boden liegend, mit dem Gesicht auf den kühlen
+Fliesen.
+
+Er wurde sofort in den blauen Salon gebracht und auf ein Sofa gelegt.
+Nach einer kurzen Weile kam er wieder zu sich und sah sich verstört um.
+
+»Was ist geschehen?« fragte er. »Ach! jetzt fällt mir's ein. Bin ich
+hier sicher, Harry?« Er begann zu zittern.
+
+»Mein lieber Dorian,« antwortete Lord Henry, »es war ein
+Ohnmachtsanfall. Weiter nichts. Du mußt dich wohl übermüdet haben. Komm
+lieber nicht zum Diner hinunter. Ich werde dich vertreten.«
+
+»Nein, ich will herunterkommen«, sagte er und mühte sich, auf den Füßen
+zu stehen. »Ich komme lieber herunter! Ich darf nicht allein sein.«
+
+Er ging in sein Zimmer und zog sich um. Als er bei Tisch saß, war in
+seinem Gehaben eine wilde, übermütige Lustigkeit, aber hin und wieder
+überlief ihn ein Angstschauer, wenn er sich erinnerte, daß er, gegen die
+Fensterscheiben des Gewächshauses gepreßt, das lauernde Gesicht James
+Vanes wie ein weißes Tuch erblickt hatte.
+
+
+
+
+Achtzehntes Kapitel
+
+
+Am nächsten Tage verließ er das Haus nicht und verbrachte den größten
+Teil der Zeit in seinem Zimmer, durchrüttelt von einer wilden
+Todesfurcht und dem Leben gegenüber doch gleichgültig. Das Bewußtsein,
+gejagt, umzingelt, aufgestöbert zu werden, fing an, ihn gänzlich zu
+beherrschen. Wenn nur die Vorhänge im Winde rauschten, schrak er
+zusammen. Die toten Blätter, die gegen die verbleiten Scheiben gefegt
+wurden, schienen ihm seine eigenen vergeudeten Vorsätze und ungestümen
+Gewissensbisse zu sein. Wenn er die Augen schloß, sah er wieder das
+Gesicht des Matrosen vor sich, wie es durch das feuchtbeschlagene Glas
+stierte, und das Entsetzen schien ihm noch einmal seine Hand aufs Herz
+zu legen.
+
+Aber vielleicht war es nur seine Phantasie gewesen, die die Rache aus
+der Nacht heraufbeschworen und ihm die gräßliche Gestalt der Strafe
+vorgetäuscht hatte. Das wirkliche Leben war ein Chaos, aber es war eine
+furchtbare Logik in der Phantasie. Die Phantasie hetzte die
+Gewissensbisse hinter den flüchtigen Sohlen der Sünde her. Die Phantasie
+ließ jedes Verbrechen seine mißgestaltete Brut in sich tragen. In der
+gewöhnlichen Welt der Tatsachen wurden die Schlechten so wenig bestraft
+wie die Guten belohnt. Der Erfolg gehörte den Starken, Unglück machte
+die Schwachen unterliegen. Das war alles. Zudem, wenn ein Fremder um das
+Haus herumgestrolcht wäre, so hätten ihn die Diener oder Wächter
+entdeckt. Wären irgendwelche Fußtapfen in den Beeten bemerkt worden, so
+hätten es die Gärtner gemeldet. Ja: es war alles bloße Einbildung. Sybil
+Vanes Bruder war nicht zurückgekommen, um ihn zu ermorden. Er war mit
+seinem Schiff abgesegelt, um in irgendeiner arktischen See zu ertrinken.
+Vor dem war er also sicher. Der Mann wußte gar nicht, wer er war und
+konnte es nicht wissen. Die Maske der Jugend hatte ihn gerettet.
+
+Und doch, wenn es eine bloße Ausgeburt der Einbildung gewesen war, wie
+schrecklich war doch der Gedanke, daß das Gewissen so fürchterliche
+Hirngespinste entstehen lassen und ihnen sichtbare Form und Bewegung
+geben konnte! Was für eine Art Leben würde er führen, wenn Tag und Nacht
+die Schatten seines Verbrechens aus düsteren Winkeln nach ihm spähten,
+ihn von geheimen Stellen aus neckten, ihm ins Ohr flüsterten, wenn er
+beim Mahle saß, ihn mit eisigen Fingern weckten, wenn er schlief! Als
+dieser Gedanke durch sein Hirn kroch, wurde er blaß vor Schrecken, und
+die Luft schien ihm plötzlich kälter geworden zu sein. Oh! in was für
+einer wilden Wahnsinnsstunde hatte er seinen Freund umgebracht! Wie
+bluterstarrend war nur die Erinnerung an diese Szene! Er sah es alles
+wieder. Jede gräßliche Einzelheit kam mit vermehrtem Entsetzen wieder zu
+ihm. Aus dem schwarzen Grabverlies der Zeit stieg schrecklich und in
+Scharlachrot gehüllt das Bild seiner Sünde empor. Als Lord Henry um
+sechs Uhr eintrat, fand er ihn schluchzend, als ob ihm das Herz brechen
+wolle.
+
+Erst am dritten Tage wagte er auszugehen. Es lag etwas in der klaren,
+tannenduftenden Luft dieses Wintermorgens, das ihm seine Fröhlichkeit
+und seine Lebenslust wiederzugeben schien. Aber nicht nur die physischen
+Bedingungen seiner Umgebung hatten diese Wandlung zuwege gebracht. Seine
+eigene Natur hatte sich gegen das Übermaß der Angst empört, die ihre
+vollendete Ruhe zu stören und zu vernichten versucht hatte. Mit feinen
+und subtil organisierten Temperamenten ist es immer so. Ihre heftigen
+Leidenschaften können nur Hammer oder Amboß sein. Entweder töten sie den
+Menschen oder sterben selbst. Oberflächliche Sorgen, oberflächliche
+Liebesempfindungen können weiter leben. Tiefe Liebesempfindungen und
+große Sorgen gehen durch ihre eigene Überfülle zugrunde. Überdies hatte
+er sich jetzt überzeugt, daß er das Opfer einer erschreckten
+Einbildungskraft gewesen war, und sah jetzt auf seine Ängste mit einer
+Art Mitleid und nicht geringer Verachtung zurück.
+
+Nach dem Frühstück ging er mit der Herzogin ein Stündchen im Garten
+spazieren und fuhr dann durch den Park, um mit der Jagdgesellschaft
+zusammenzutreffen. Der feinperlige Reif lag wie Salz auf dem Rasen. Der
+Himmel sah aus wie ein umgestülpter Pokal aus blauem Metall. Ein dünner
+Eisgallert umsäumte den seichten, schilfbewachsenen Teich.
+
+Am Eingang des Tannenwaldes erblickte er Sir Geoffrey Clouston, den
+Bruder der Herzogin, der eben zwei verschossene Patronen aus seiner
+Flinte stieß. Dorian sprang aus dem Wagen, sagte dem Groom, er solle mit
+dem Gespann nach Hause fahren, und ging durch das welke Farnkraut und
+das gestrüppige Unterholz auf seinen Gast zu.
+
+»Gute Jagd gehabt, Geoffrey?« fragte er.
+
+»Nicht berühmt, Dorian. Die meisten Vögel, glaub' ich, sind auf die
+Felder geflüchtet. Vielleicht wird's nachmittag besser sein, wenn wir
+auf frisches Revier kommen.«
+
+Dorian schlenderte neben ihm weiter. Die starke, aromatische Luft, die
+braunen und roten Lichter, die den Wald durchflimmerten, das rauhe
+Geschrei der Treiber, das von Zeit zu Zeit aufgellte, und der scharfe
+Knall der Flinten, der dann folgte, das alles fesselte ihn und erfüllte
+ihn mit einem Gefühl entzückender Freiheit. Er war beherrscht von einem
+sorglosen Glück, von einer großartigen Gleichgültigkeit der Freude.
+
+Plötzlich brach aus einem dicken Büschel alten Grases, vielleicht
+zwanzig Meter vor ihnen, ein Hase aus, die schwarzgesprenkelten Löffel
+steif aufgerichtet und die langen Hinterläufe nach vorn werfend. Er
+schnellte auf ein Erlendickicht los. Sir Goeffrey riß das Gewehr an die
+Schulter, aber in der anmutigen Bewegung des Tieres lag etwas, das
+Dorian Gray seltsam entzückte, und er rief hastig: »Schieß nicht,
+Geoffrey. Laß ihn laufen!«
+
+»Ach, Unsinn, Dorian«, sagte lachend sein Gefährte, und noch ehe der
+Hase in das Dickicht setzte, schoß er zu. Man hörte zwei Schreie, den
+Schrei eines verwundeten Hasen, der schrecklich ist, und den Schrei
+eines sterbenden Menschen, der noch schrecklicher ist.
+
+»Gott im Himmel, ich habe einen Treiber getroffen!« rief Sir Geoffrey
+aus. »Was für 'n Esel der Mann ist, einem direkt vors Gewehr zu laufen!
+Hört auf mit Schießen!« rief er mit seiner lautesten Stimme. »Ein Mann
+ist getroffen worden!«
+
+Der Hegemeister kam mit einem Stock in der Hand herbeigelaufen.
+
+»Wo, Herr? Wo ist er?« rief er. Im selben Augenblick hörte das Schießen
+auf der ganzen Linie auf.
+
+»Hier!« antwortete Sir Geoffrey ärgerlich und rannte auf das Dickicht
+zu. »Warum, zum Kuckuck, halten Sie Ihre Leute nicht weiter zurück? Für
+heute hab' ich die ganze Jagd im Magen.«
+
+Dorian sah ihnen nach, wie sie in die Erlenbüsche eindrangen und die
+biegsamen Zweige zur Seite bogen. Nach einigen Augenblicken erschienen
+sie wieder und zogen einen Körper ans Tageslicht. Er wandte sich
+entsetzt ab. Es schien ihm, als folge ihm das Mißgeschick überallhin. Er
+hörte, wie Sir Geoffrey fragte, ob der Mann wirklich tot wäre, und
+vernahm die bejahende Antwort des Hegemeisters. Es schien ihm, als
+wimmele der Wald urplötzlich von Gesichtern. Er hörte das Gelaufe von
+unzähligen Füßen und das gedämpfte Flüstern von Stimmen. Ein großer
+Fasan mit kupferfarbener Brust rauschte durch die Äste über ihm dahin.
+
+Nach einigen Augenblicken, die ihm in seiner Fassungslosigkeit wie
+endlose, peinvolle Stunden vorkamen, fühlte er eine Hand auf seiner
+Schulter. Er zuckte zusammen und wandte sich um.
+
+»Dorian,« sagte Lord Henry, »ich halt 's für richtiger, die Jagd für
+heute beendet sein zu lassen. Es würde nicht gut aussehen, sie
+fortzusetzen.«
+
+»Ich wollte, sie wäre für immer beendet, Harry«, antwortete er bitter.
+»Die ganze Geschichte ist gräßlich und grausam ist der Mann...?« Er
+konnte den Satz nicht vollenden.
+
+»Ja leider«, entgegnete Lord Henry. »Er hat die ganze Ladung in die
+Brust gekriegt. Er muß augenblicklich gestorben sein. Komm, wir wollen
+nach Hause.«
+
+Sie schritten nebeneinander auf die Allee zu und sprachen etwa fünfzig
+Meter weit kein Wort. Dann sah Dorian Lord Henry an und sagte mit einem
+tiefen Seufzer: »Das ist ein böses Omen, Harry, ein sehr böses Omen.«
+
+»Was denn?« fragte Lord Henry. »Oh! diesen Unglücksfall meinst du.
+Lieber Junge, daran ist nichts zu ändern. Der Mann hatte ja selber
+schuld. Warum lief er in die Schußlinie? Überdies ist es nicht unsere
+Sache. Für Geoffrey ist es natürlich nicht gerade angenehm! Es ist
+nicht hübsch, Treiber niederzupuffen. Die Leute denken gleich, man wäre
+ein Sonntagsjäger. Und das ist Geoffrey nicht; er schießt sogar
+brillant. Aber es hat keinen Zweck, über den Unfall weiter zu reden.«
+
+Dorian schüttelte den Kopf. »Es ist ein böses Omen, Harry. Ich habe das
+Gefühl, als müßte einem von uns etwas Schreckliches zustoßen. Mir selbst
+vielleicht«, fügte er hinzu und legte mit einer schmerzlichen Bewegung
+die Hand über die Augen.
+
+Der ältere lachte. »Das einzig Schreckliche in der Welt ist Langeweile,
+Dorian. Das ist die einzige Sünde, für die es keine Vergebung gibt. Aber
+wir werden darunter schwerlich zu leiden haben, wenn die Gesellschaft
+bei Tisch nicht etwa noch über die Sache viel Aufhebens macht. Ich muß
+den Leuten sagen, daß dieses Thema einfach Tabu ist. Und Omina --so was
+wie Omina gibt's nicht. Das Geschick sendet uns keine Herolde. Es ist zu
+weise dazu oder zu grausam. Übrigens, was in aller Welt sollte dir
+geschehen, Dorian? Du hast alles, was sich ein Mensch hienieden wünschen
+kann. Ich wüßte niemand, der nicht freudig mit dir tauschen möchte.«
+
+»Es gibt keinen, mit dem ich nicht tauschen möchte, Harry. Lach' nicht
+darüber. Ich spreche die Wahrheit. Der elende Bauer, der da gestorben
+ist, ist besser daran als ich. Ich habe keine Angst vor dem Tode. Das
+Sterben ist's, wovor ich mich ängstige. Seine ungeheuren Flügel scheinen
+mich rings in der bleiernen Luft zu umschatten. Herr des Himmels, siehst
+du nicht, daß da hinter den Bäumen ein Mann auf mich lauert und mich
+beobachtet?«
+
+Lord Henry sah in die Richtung, wohin die behandschuhte Hand zitternd
+wies. »Ja,« sagte er lächelnd, »ich sehe da den Gärtner auf dich warten.
+Er will dich vermutlich fragen, welche Blumen du heute auf dem Tisch
+haben willst. Wie lächerlich nervös du heute bist, lieber Junge! Du mußt
+gleich meinen Doktor konsultieren, wenn wir wieder in der Stadt sind.«
+
+Dorian seufzte erleichtert auf, als er den Gärtner herankommen sah. Der
+Mann legte die Hand an den Hut, blickte erst zaudernd auf Lord Henry und
+zog dann einen Brief hervor, den er seinem Herrn überreichte. »Ihre
+Gnaden hat mir aufgetragen, auf Antwort zu warten«, sagte er halblaut.
+
+Dorian steckte den Brief in die Tasche. »Sagen Sie Ihrer Gnaden, ich
+würde kommen«, sagte er kühl. Der Mann kehrte um und schritt rasch dem
+Hause zu.
+
+»Wie gern doch die Frauen gefährliche Dinge tun!« sagte Lord Henry
+lachend. »Das ist eine von ihren Eigenschaften, die ich am meisten
+bewundere. Eine Frau ist mit jedem auf der Welt zu flirten bereit,
+solange andere Leute dabei Zuschauer sind.«
+
+»Wie gern du doch gefährliche Dinge sagst, Harry! In diesem Falle bist
+du aber ganz auf dem Holzwege. Ich habe die Herzogin sehr gern, aber ich
+liebe sie nicht.«
+
+»Und die Herzogin liebt dich sehr, aber sie hat dich nicht gern, also
+paßt ihr beide famos zusammen.«
+
+»Du machst Klatschereien, Harry, und diesmal ist gar kein Grund zu
+Klatschereien vorhanden.«
+
+»Die Grundlage für jeden Klatsch ist eine unmoralische Verläßlichkeit«,
+sagte Lord Henry und zündete sich eine Zigarette an.
+
+»Du würdest jeden von uns bloßstellen, Harry, um einen Witz zu machen.«
+
+»Die Welt legt sich aus freien Stücken auf den Opferaltar«, war die
+Antwort.
+
+»Ich wollte, ich könnte lieben!« rief Dorian Gray mit einem
+tiefpathetischen Klang in seiner Stimme. »Aber es scheint, ich habe die
+Glut der Leidenschaft verloren und die Sehnsucht des Begehrens
+vergessen. Ich bin zu sehr in mich selber konzentriert. Meine eigene
+Person ist eine Last für mich geworden. Ich möchte entfliehen, weggehen,
+vergessen. Es war albern von mir, überhaupt herzukommen. Ich denke, ich
+telegraphiere an Harvey, daß er die Jacht instand setzt. Auf einer Jacht
+ist man sicher.«
+
+»Wovor sicher, Dorian? Du hast Unruhe. Warum sagst du mir nicht, was es
+ist? Du weißt, daß ich dir helfen könnte.«
+
+»Ich kann es dir nicht sagen, Harry«, erwiderte er traurig. »Und es mag
+wohl alles nur Einbildung sein. Der unglückselige Zwischenfall hat mich
+aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich habe eine schreckliche Vorahnung,
+daß mir etwas Ähnliches zustößt.«
+
+»Was für Unsinn!«
+
+»Ich hoffe, es ist Unsinn, aber ich kann dies Gefühl nicht loswerden.
+Ah! da kommt die Herzogin und sieht aus wie Artemis in einem
+Tailormade-Kleide. Sie sehen, wir sind zurück, Frau Herzogin.«
+
+»Ich habe schon alles gehört, Herr Gray«, antwortete sie. »Der arme
+Geoffrey ist ganz außer Fassung. Und man sagt, Sie hatten ihn gebeten,
+nicht auf den Hasen zu schießen. Wie seltsam!«
+
+»Ja, es war sehr seltsam. Ich kann nicht mal sagen, warum ich es getan
+habe. Eine Eingebung vermute ich. Er sah so niedlich aus, der kleine
+Kerl. Aber ich bedaure sehr, daß man Ihnen von dem Manne erzählt hat. Es
+ist ein peinliches Thema.«
+
+»Es ist ein langweiliges Thema«, unterbrach ihn Lord Henry. »Es hat
+keinerlei psychologischen Wert. Wenn es Geoffrey noch absichtlich getan
+hätte, wie interessant wäre es dann! Ich würde gern jemand kennenlernen,
+der einen wirklichen Mord begangen hat.«
+
+»Wie abscheulich von dir«, schrie die Herzogin auf. »Nicht war, Herr
+Gray? Harry, Herrn Gray ist wieder unwohl. Er wird ohnmächtig.«
+
+Dorian hielt sich gewaltsam aufrecht und lächelte. »Es ist nichts, Frau
+Herzogin,« murmelte er, »meine Nerven sind schrecklich in Unordnung.
+Nichts weiter. Ich fürchte, ich bin heut morgen zuviel gegangen. Ich
+habe gar nicht gehört, was Harry gesagt hat. War es sehr toll? Sie
+müssen es mir ein andermal erzählen. Ich halte es fürs beste, mich jetzt
+ein bißchen hinzulegen. Sie entschuldigen mich, nicht wahr?«
+
+Sie hatten die große Treppe erreicht, deren Stufen vom Gewächshaus auf
+die Terrasse emporführten. Als sich die Glastür hinter Dorian
+geschlossen hatte, wandte sich Lord Henry um und sah die Herzogin mit
+seinen schläfrigen Augen an. »Bist du sehr in ihn verliebt?« fragte er.
+
+Sie gab eine Weile keine Antwort, sondern stand da und blickte auf die
+Landschaft. »Ich möchte es selber wissen«, sagte sie endlich.
+
+Er schüttelte den Kopf. »Wissen, wäre ein Verhängnis. Nur die
+Ungewißheit hat für uns Reiz. Ein Nebel macht die Dinge wunderbar.«
+
+»Man kann darin seinen Weg verlieren.«
+
+»Alle Wege enden am selben Punkt, meine liebe Gladys.«
+
+»Wie heißt der?«
+
+»Enttäuschung.«
+
+»So war mein Debüt im Leben«, seufzte sie.
+
+»Sie kam mit einer Krone zu dir.«
+
+»Ich bin der Erdbeerblätter in unserer Krone müde.«
+
+»Sie steht dir gut.«
+
+»Nur in der Öffentlichkeit.«
+
+»Sie würde dir fehlen«, sagte Lord Henry.
+
+»Ich werde mich von keinem Blättchen trennen.«
+
+»Monmouth hat Ohren.«
+
+»Das Alter ist schwerhörig.«
+
+»War er nie eifersüchtig?«
+
+»Ich wollte, er wäre es.« Dabei lachte sie. Ihre Zähne sahen aus wie
+weiße Kerne in einer scharlachfarbenen Frucht. Indessen lag oben in
+seinem Zimmer Dorian Gray auf einem Sofa, Schrecken in jeder zuckenden
+Fiber seines Körpers. Das Leben war für ihn urplötzlich eine so schwere
+Last geworden, daß er sie nicht mehr tragen konnte. Der gräßliche Tod
+des unglücklichen Treibers, der in dem Dickicht wie ein wildes Tier
+niedergeknallt worden war, schien ihm selbst den Tod vorauszusagen. Er
+war fast in Ohnmacht gefallen bei dem zynischen Scherz, den Lord Henry
+in einer zufälligen Laune gemacht hatte.
+
+Um fünf Uhr klingelte er seinem Diener und hieß ihn seine Sachen für den
+Nachtschnellzug nach London zu packen und den Wagen für halb neun vors
+Tor zu bestellen. Er war entschlossen, keine Nacht mehr in Selby Royal
+zu schlafen. Es war ein Ort voll böser Vorzeichen. Der Tod ging dort am
+hellen Tage um. Das Gras des Waldes war mit Blut befleckt.
+
+Dann schrieb er ein Billett an Lord Henry, in dem er ihm mitteilte, daß
+er in die Stadt fahre, um den Arzt zu konsultieren, und ihn bat, seine
+Gäste in seiner Abwesenheit zu unterhalten. Als er die Zeilen in ein
+Kuvert legte, klopfte es an die Tür, und sein Diener meldete ihm, daß
+ihn der Hegemeister sprechen wolle. Er runzelte die Stirn und biß sich
+auf die Lippen. »Lassen Sie ihn eintreten«, murmelte er nach einigem
+Zögern.
+
+Während der Mann eintrat, holte Dorian sein Scheckbuch aus einer
+Schublade hervor und legte es vor sich hin.
+
+»Sie kommen vermutlich wegen des Unglücksfalles von heute morgen,
+Thornton«, sagte er und nahm eine Feder auf.
+
+»Ja, Herr«, antwortete der Hegemeister.
+
+»War der arme Kerl verheiratet? Hatte er Angehörige zu versorgen?«
+fragte Dorian mit einem müden Gesicht. »Wenn sich's so verhält, möchte
+ich nicht, daß sie in Not zurückbleiben, und ich will ihnen jede Summe
+schicken, die Sie für notwendig halten.«
+
+»Wir wissen nicht, wer es ist, gnädiger Herr. Deshalb war ich so frei,
+herzukommen.«
+
+»Sie wissen nicht, wer es ist?« sagte Dorian zerstreut. »Wie meinen Sie
+das? War es nicht einer von Ihren Leuten?«
+
+»Nein Herr. Ich hab' ihn mein Lebtag nicht gesehen. Er sieht aus wie ein
+Matrose, gnädiger Herr.«
+
+Die Feder fiel Dorian Gray aus der Hand, und er hatte das Gefühl, als
+höre sein Herz plötzlich zu schlagen auf. »Ein Matrose!« schrie er auf.
+»Sagten Sie, ein Matrose?«
+
+»Ja, gnädiger Herr. Er sieht aus wie ein Matrose; auf beiden Armen
+tätowiert und überhaupt so in der Art.«
+
+»Hat man irgend etwas bei ihm gefunden?« fragte Dorian, beugte sich vor
+und sah den Mann mit aufgerissenen Augen an. »Irgend etwas, woraus man
+seinen Namen erführe?«
+
+»Nur Geld, gnädiger Herr -- nicht viel, und einen sechsläufigen
+Revolver. Nichts von Namen. Der Mann sieht sonst anständig aus, aber
+gewöhnlich. Wir halten ihn für eine Art Matrosen.«
+
+Dorian sprang auf die Füße. Eine furchtbare Hoffnung durchblitzte ihn.
+Er klammerte sich wahnsinnig an sie an. »Wo ist der Leichnam?« rief er
+aus. »Rasch, ich muß ihn sofort sehen.«
+
+»Er liegt in einem leeren Stall im Wirtschaftsgebäude, gnädiger Herr.
+Die Leute wollen so was nicht in ihren vier Wänden haben. Sie sagen,
+eine Leiche bringt Unglück.«
+
+»Im Wirtschaftsgebäude! Gehen Sie sogleich voraus und warten Sie da auf
+mich. Sagen Sie einem der Grooms, er soll mein Pferd herbringen. Nein.
+Lieber nicht. Ich will selbst in den Stall kommen. Das geht rascher.«
+
+Kaum eine Viertelstunde später galoppierte Dorian, so rasch er konnte,
+die lange Allee hinunter. Die Bäume schienen in gespenstischer Parade an
+ihm vorbeizufliegen und ihm wilde Schatten in den Weg zu schleudern.
+Einmal scheute die Stute vor einem weißen Pfahle und warf ihn fast ab.
+Er schlug ihr die Gerte um den Hals. Sie durchschnitt die dunkle Luft
+wie ein Pfeil. Die Steine stoben unter ihren Hufen.
+
+Endlich erreichte er das Wirtschaftsgebäude. Zwei Männer lungerten im
+Hof herum. Er sprang aus dem Sattel und warf einem die Zügel hin. In dem
+letzten Stall flimmerte ein Licht. Irgend etwas schien ihm zu sagen, daß
+dort der Leichnam liege, und er ging rasch auf die Tür zu und legte die
+Hand auf die Klinke.
+
+Da hielt er einen Augenblick inne und wurde sich bewußt, daß er vor der
+Schwelle einer Entdeckung stehe, die ihm entweder ein neues Leben gab
+oder es zerstörte. Dann stieß er die Tür auf und trat ein.
+
+Auf einem Haufen Säcke im entferntesten Winkel lag der tote Körper eines
+Mannes, bekleidet mit einem groben Blusenhemd und blauen Hosen. Ein
+unsauberes Taschentuch war ihm übers Gesicht gebreitet worden. Eine
+billige Kerze steckte in einer Flasche und flackerte düster.
+
+Dorian Gray schauerte. Er fühlte, daß er nicht mit eigener Hand das
+Taschentuch wegziehen könne, und rief nach einem der Stallknechte.
+
+»Nehmen Sie das da vom Gesicht weg. Ich will es sehen«, sagte er und
+hielt sich an dem Türpfosten fest.
+
+Als es der Knecht getan hatte, machte er einen Schritt nach vorn. Ein
+Freudenschrei kam von seinen Lippen. Der Mann, der im Dickicht
+erschossen worden war, war James Vane.
+
+Er stand einige Minuten da und starrte auf den toten Körper. Als er nach
+Hause ritt, waren seine Augen von Tränen umschleiert, denn er wußte
+jetzt, daß er gerettet war.
+
+
+
+
+Neunzehntes Kapitel
+
+
+»Es hat gar keinen Sinn, mir zu erzählen, daß du gut werden willst!«
+rief Lord Henry und tauchte seine weißen Finger in eine rote, mit
+Rosenwasser gefüllte Kupferschale. »Du bist vollkommen. Bitte ändere
+dich nicht.«
+
+Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Nein, Harry, ich habe zuviel gräßliche
+Dinge getan in meinem Leben. Ich will keine mehr tun. Ich habe gestern
+mit meinen guten Taten den Anfang gemacht.«
+
+»Wo warst du gestern?«
+
+»Auf dem Lande, Harry. Ich war mutterseelenallein in einem kleinen
+Gasthof.«
+
+»Lieber Junge,« sagte Lord Henry lächelnd, »auf dem Lande kann jeder
+Mensch gut sein. Dort gibt's keine Versuchungen. Das ist der Grund,
+warum Leute, die nicht in der Stadt wohnen, so gänzlich unzivilisiert
+sind. Zivilisation ist wahrhaftig nicht leicht zu erreichen. Es gibt nur
+zwei Wege, um zu ihr zu kommen. Der eine ist Kultur, der andere
+Korruption. Die Landbevölkerung hat keine Gelegenheit zu dieser noch zu
+jener, und so bleiben sie so in ihrer Entwicklung stehen.«
+
+»Kultur und Korruption«, wiederholte Dorian. »Ich habe von beiden etwas
+kennengelernt. Es scheint mir jetzt schrecklich, daß man sie immer
+beisammen findet. Denn ich habe ein neues Ideal, Harry. Ich will anders
+werden. Ich glaube, ich bin schon anders geworden.«
+
+»Du hast mir noch nicht berichtet, worin deine gute Handlung bestand.
+Oder sagtest du nicht, du hättest mehr als eine getan?« fragte der
+Freund und schüttete sich eine kleine rote Pyramide Erdbeeren auf seinen
+Teller, auf die er aus einem muschelförmigen Sieblöffel weißen Zucker
+streute.
+
+»Ich kann dir's ja erzählen, Harry. Es ist eine Geschichte, die ich
+einem anderen nicht erzählen könnte. Ich habe jemand verschont. Es
+klingt eitel, aber du verstehst, was ich meine. Sie war sehr schön und
+hatte eine wunderbare Ähnlichkeit mit Sibyl Vane. Ich glaube, das war
+das erste, was mich bei ihr anzog. Du erinnerst dich doch noch an Sibyl,
+nicht? Wie lange das her ist! Also Hetty gehörte natürlich nicht unserem
+Stand an. Sie war eine Dorfschöne. Aber ich liebte sie wirklich. Ich
+weiß bestimmt, daß ich sie liebte. In dem ganzen wundervollen Maimonat,
+den wir jetzt hatten, bin ich zwei-, dreimal in der Woche hingefahren,
+um sie zu sehen. Gestern erwartete sie mich in einem kleinen Obstgarten.
+Die Apfelblüten schneiten auf ihr Haar herab, und sie lachte. Heute
+morgen in aller Herrgottsfrühe sollte sie mit mir kommen. Plötzlich
+entschloß ich mich, sie so einer Blume gleich zu lassen, wie ich sie
+gefunden hatte.«
+
+»Ich vermute, die Neuheit der Empfindung muß dir einen förmlichen
+Wonneschauer bereitet haben, Dorian«, unterbrach ihn Lord Henry. »Aber
+ich kann dir dein Idyll zu Ende erzählen. Du gabst ihr gute Lehren und
+brachst ihr das Herz. Das ist der Anfang deiner Besserung.«
+
+»Harry, du bist schrecklich! Du darfst so häßliche Dinge nicht sagen.
+Hettys Herz ist nicht gebrochen. Natürlich weinte sie und dergleichen.
+Aber keine Schande ist auf sie gekommen. Sie kann weiterleben wie
+Perdita in ihrem Garten bei Pfefferminze und Ringelblumen.«
+
+»Und einem treulosen Florizel nachweinen«, rief Lord Henry lachend und
+lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Teuerster Dorian, du hast manchmal
+die sonderbarsten Knabenanwandlungen. Glaubst du, dieses Mädchen wird
+sich jemals mit einem ihres eigenen Standes glücklich fühlen? Ich
+vermute, sie wird eines schönen Tages einen rohen Fuhrmann oder einen
+grinsenden Bauernlümmel heiraten. Schön also, die Tatsache, daß sie dich
+kennengelernt und geliebt hat, wird sie dahin bringen, ihren Mann zu
+verachten, und sie wird unglücklich werden. Vom moralischen Standpunkte
+aus kann ich also nicht finden, daß deine Entsagung sehr wertvoll war.
+Selbst als ein Anfang ist sie armselig. Außerdem, woher willst du
+wissen, ob Hetty in diesem Augenblick nicht in einem sternbeglänzten
+Mühlteich schwimmt, von lieblichen Wasserlilien umkränzt wie Ophelia?«
+
+»Ich kann es nicht aushalten, Harry! Du spottest über alles und
+beschwörst dann die ernsthaftesten Tragödien herauf. Es tut mir jetzt
+leid, daß ich es dir erzählt habe. Es kümmert mich auch nicht, was du
+sagst. Ich weiß, ich habe recht gehandelt. Arme Hetty! Als ich heute
+früh am Gehöft vorbeiritt, sah ich ihr Gesicht weiß wie einen
+Jasminzweig am Fenster. Wir wollen nicht länger davon reden, und du
+sollst nicht versuchen, mich zu überzeugen, daß die erste gute Handlung,
+die ich seit Jahren getan habe, das erste kleine Opfer, das ich jemals
+gebracht habe, in Wahrheit eine Art Sünde wäre. Ich will mich jetzt
+bessern. Und ich werde mich bessern. Erzähle mir etwas von dir. Was geht
+in der Stadt vor? Ich war tagelang nicht im Klub.«
+
+»Die Leute sprechen noch immer über das Verschwinden des armen Basil.«
+
+»Ich sollte meinen, daß sie inzwischen davon genug bekommen hätten«,
+sagte Dorian, während er sich etwas Wein einschenkte und leicht die
+Stirn runzelte.
+
+»Mein lieber Junge, sie reden ja erst seit sechs Wochen davon, und das
+englische Publikum ist wirklich nicht der geistigen Anstrengung
+gewachsen, alle drei Monate mehr als ein Gesprächsthema zu haben.
+Immerhin haben sie in der letzten Zeit Glück gehabt. Sie hatten meinen
+eigenen Ehescheidungsprozeß und Alan Campbells Selbstmord. Jetzt haben
+sie das geheimnisvolle Verschwinden eines Künstlers. In Scotland Yard
+bleibt man hartnäckig dabei, daß der Mann im grauen Ulster, der in der
+Nacht des neunten November mit dem Zwölfuhrzug nach Paris fuhr, der arme
+Basil war, und die französische Polizei erklärt, Basil wäre überhaupt
+nie in Paris eingetroffen. Vermutlich wird man uns etwa in vierzehn
+Tagen auftischen, daß er in San Francisco gesehen worden ist. Es ist
+eine schwierige Geschichte, aber von jedem Menschen, der verschwindet,
+heißt es, daß er in San Francisco gesehen worden ist. Das muß eine
+entzückende Stadt sein, die alle Reize der zukünftigen Welt ihr Eigen
+nennt.«
+
+»Was glaubst du, daß Basil zugestoßen sei?« fragte Dorian, hielt seinen
+Burgunder gegen das Licht und wunderte sich, daß er über diese Sache so
+ruhig plaudern konnte.
+
+»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wenn sich Basil ein Vergnügen
+daraus macht, Versteck zu spielen, so ist das nicht meine Sache. Wenn er
+tot ist, will ich nicht weiter an ihn denken. Der Tod ist das einzige,
+was mir Angst macht. Ich hasse ihn.«
+
+»Warum?« fragte der jüngere müde.
+
+»Weil,« sagte Lord Henry und führte die vergoldete Netzöffnung eines
+Riechbüchschens zur Nase, »weil man heutzutage alles überleben kann,
+ausgenommen den Tod. Tod und Philisterei sind die zwei einzigen
+Tatsachen des neunzehnten Jahrhunderts, die man nicht wegerklären kann.
+Wir wollen den Kaffee im Musikzimmer trinken, Dorian. Du mußt mir Chopin
+vorspielen. Der Mann, mit dem meine Frau durchbrannte, spielte Chopin
+hinreißend. Die arme Viktoria! Ich habe sie recht gern gehabt. Das Haus
+ist ohne sie recht einsam. Natürlich ist das Eheleben nur eine
+Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit. Aber schließlich bedauert man den
+Verlust selbst seiner schlechtesten Gewohnheiten. Vielleicht bedauert
+man die gerade am meisten. Sie sind ein so wesentlicher Teil unserer
+Persönlichkeit.«
+
+Dorian sagte nichts, sondern stand vom Tisch auf, ging in das
+Nebenzimmer, setzte sich an das Klavier und ließ seine Finger über das
+weiße und schwarze Elfenbein der Tasten gleiten. Als der Kaffee gebracht
+wurde, hörte er auf, sah zu Lord Henry hinüber und sagte: »Harry, ist es
+dir nie eingefallen, daß Basil ermordet worden sein könnte?«
+
+Lord Henry gähnte. »Basil war sehr populär und trug immer nur eine
+Waterburyuhr. Warum hätte man ihn ermorden sollen? Er war nicht klug
+genug, um Feinde zu haben. Freilich hatte er ein wunderbares Genie als
+Maler. Aber ein Mensch kann malen wie Velasquez und doch so langweilig
+als möglich sein. In Wirklichkeit war Basil ziemlich langweilig. Er
+interessierte mich nur ein einziges Mal, und das war damals, als er mir
+vor vielen Jahren gestand, daß er dich so ungestüm anbete und daß du das
+Leitmotiv seiner Kunst seist.«
+
+»Ich habe Basil sehr gern gehabt«, sagte Dorian mit einem traurigen
+Klang in seiner Stimme. »Aber behauptet denn das Publikum nicht, daß er
+ermordet worden ist?«
+
+»Pah, in einigen Zeitungen steht es. Es scheint mir nicht im geringsten
+wahrscheinlich. Ich weiß, es gibt fürchterliche Orte in Paris, aber
+Basil war nicht die Art Mensch, sie aufzusuchen. Er war nicht neugierig.
+Das war sein Hauptfehler.«
+
+»Was würdest du dazu sagen, Harry, wenn ich dir versicherte, daß ich
+Basil ermordet habe?« fragte der jüngere. Er beobachtete ihn scharf,
+nachdem er das gesagt hatte.
+
+»Lieber Freund, ich würde sagen, daß du einen Charakter posierst, der
+dich nicht kleidet. Jedes Verbrechen ist ordinär, gerade wie alles
+Ordinäre ein Verbrechen ist. Du hast nicht die Gabe, Dorian, einen Mord
+zu begehen. Es sollte mir leid tun, wenn ich dich durch diese Meinung in
+deiner Eitelkeit kränkte, aber ich versichere dich, es ist wahr. Das
+Verbrechen ist ein ausschließliches Vorrecht der unteren Klassen. Ich
+will sie damit durchaus nicht tadeln. Ich vermute einfach, das
+Verbrechen ist für sie, was die Kunst für uns ist, einfach ein
+Verfahren, um sich außerordentliche Empfindungen zu verschaffen.«
+
+»Ein Verfahren, sich Empfindungen zu verschaffen? Glaubst du also, daß
+ein Mensch, der einmal einen Mord begangen hat, imstande wäre, das
+nämliche Verbrechen zu wiederholen? Das rede mir nicht ein.«
+
+»Oh! Alles wird zu einem Vergnügen, wenn man es zu oft tut!« rief Lord
+Henry lachend. »Das ist eines der wichtigsten Geheimnisse des Lebens.
+Immerhin bin ich des Glaubens, daß der Mord stets ein Mißgriff ist. Man
+sollte nie etwas tun, worüber man sich nicht nach dem Essen unterhalten
+kann. Aber wir wollen jetzt den armen Basil lassen. Ich wollte, ich
+könnte glauben, daß er ein so romantisches Ende genommen hat, wie du
+durchblicken läßt; aber ich kann es nicht. Ich glaube eher, daß er von
+einem Omnibus in die Seine gefallen ist und der Kondukteur hat den
+Skandal vertuscht. Ja, ich glaube wirklich, so war sein Ende. Ich sehe
+ihn jetzt auf dem Rücken liegen unter dem dunkelgrünen Wasser, und die
+schweren Lastkähne schwimmen über ihm hin, und lange Tangflechten
+verwickeln sich in sein Haar. Weißt du, ich glaube nicht, daß er noch
+viel Gutes gemacht hätte. In den letzten zehn Jahren ist seine Malerei
+nicht mehr berühmt gewesen.«
+
+Dorian seufzte und Lord Henry schlenderte durch das Zimmer und
+unterhielt sich damit, einem merkwürdigen Papagei aus Java den Kopf zu
+krauen, einem großen, graugefiederten Vogel mit rotem Schopf und
+Schwanz, der auf einem Bambusstab balancierte. Als ihn seine spitzen
+Finger berührten, ließ er die weiße Nickhaut seiner Liderfalten über die
+schwarzen Glaskugelaugen fallen und begann sich hin- und herzuwiegen.
+
+»Ja,« fuhr er fort, während er sich umdrehte, und sein Taschentuch aus
+der Tasche nahm, »seine Malerei ist nicht mehr weither gewesen. Es
+schien mir so, als hätte sie irgend etwas eingebüßt. Sie hatte ein Ideal
+verloren. Als ihr beide aufhörtet, intime Freunde zu sein, hörte er auf,
+ein großer Künstler zu sein. Was hat euch auseinander gebracht? Ich
+vermute, er langweilte dich. Wenn das der Fall war, dann hat er dir nie
+verziehen. Das ist gewöhnlich so bei langweiligen Menschen. Was ist
+übrigens aus dem wundervollen Porträt geworden, das er von dir gemacht
+hat? Ich kann mich nicht erinnern, es jemals wiedergesehen zu haben,
+seit es fertig wurde. Ah! Jetzt besinne ich mich, daß du mir vor Jahren
+erzählt hast, du hättest es nach Selby geschickt und es wäre unterwegs
+auf irgendeine Weise gestohlen worden oder in Verlust geraten. Hast du
+es nie wieder bekommen? Wie schade! Es war faktisch ein Meisterwerk. Ich
+entsinne mich, daß ich es kaufen wollte. Ich wünschte, ich hätte es
+jetzt. Es stammte aus Basils bester Zeit. Seitdem bestanden alle seine
+Arbeiten aus dem eigentümlichen Gemengsel von schlechter Malerei und
+guten Absichten, das einen Mann berechtigt, ein britischer Künstler von
+Bedeutung genannt zu werden. Hast du deswegen eigentlich gar nicht
+annonciert? Das hättest du tun sollen.«
+
+»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete Dorian. »Ich glaube, ich tat es.
+Aber ehrlich gesagt, ich habe das Bild nie gemocht. Es tut mir überhaupt
+leid, daß ich dazu gesessen habe. Schon die Erinnerung an das Ding ist
+mir greulich. Warum sprichst du davon? Es hat mich immer an ein paar
+merkwürdige Zeilen aus einem Theaterstück erinnert -- aus Hamlet, glaube
+ich -- wie heißen sie? --
+
+ >Gleich dem Bildnis eines Grams,
+ ein Antlitz ohne Herz.<
+
+Ja, so sah es aus.«
+
+Lord Henry lachte. »Wenn ein Mensch das Leben künstlerisch behandelt,
+ist sein Hirn sein Herz«, antwortete er und ließ sich in einen Armsessel
+fallen.
+
+Dorian Gray schüttelte den Kopf und schlug ein paar sanfte Akkorde auf
+dem Klavier an. »Gleich dem Bildnis eines Grams, ein Antlitz ohne Herz«,
+wiederholte er, »ein Antlitz ohne Herz.«
+
+Der ältere Freund saß zurückgelehnt und blickte mit halbgeschlossenen
+Augen zu ihm hinüber. »Übrigens, Dorian,« sagte er nach einer Pause,
+»was hülfe es einem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und -- wie
+heißt die Stelle doch? -- seine eigene Seele verlöre?«
+
+Die Musik brach schrill ab und Dorian Gray schnellte auf und starrte
+seinen Freund an. »Warum fragst du mich das, Harry?«
+
+»Aber bester Junge,« sagte Lord Henry und zog verwundert die Augenbrauen
+in die Höhe, »ich habe dich gefragt, weil ich dachte, du könntest mir
+eine Antwort geben. Das ist alles. Ich bin letzten Sonntag durch Hyde
+Park gegangen, und nahe beim Marble Arch stand eine kleine Ansammlung
+schäbig aussehender Menschen, die irgendeinem ordinären Straßenprediger
+lauschten. Als ich vorbeiging, hörte ich den Mann diese Frage seinen
+Zuhörern entgegenschreien. Es berührte mich ordentlich dramatisch.
+London ist sehr reich an seltsamen Wirkungen solcher Art. Ein
+regnerischer Sonntag, ein unmanierlicher Christ in einem Regenmantel,
+ein Kreis krankhafter, bleicher Gesichter unter dem wellenförmigen Dach
+tropfender Regenschirme und ein wunderbarer Satz, von schrillen,
+hysterischen Lippen in die Luft geschleudert, das war auf seine Art
+wirklich sehr gut, es lag geradezu eine gewisse Suggestion darin. Ich
+dachte zuerst daran, dem Propheten zu sagen, daß die Kunst eine Seele
+habe, aber nicht der Mensch, aber ich fürchte, er hätte mich doch nicht
+verstanden.«
+
+»Nein, Harry. Die Seele ist eine fürchterliche Gewißheit. Sie kann
+gekauft werden und verkauft und umgetauscht. Sie kann vergiftet werden
+oder vervollkommnet. In jedem von uns lebt eine Seele. Ich weiß es.«
+
+»Bist du dessen ganz sicher, Dorian?«
+
+»Ganz sicher.«
+
+»Pah! Dann muß es Einbildung sein. Die Dinge, die man für ganz sicher
+hält, sind nun und nimmer wahr. Das ist das Verhängnis des Glaubens und
+die Weisheit der Romantik. Wie feierlich du tust! Sei nicht so
+ernsthaft. Was hast du oder ich mit dem Aberglauben unserer Zeit zu tun?
+Nein: wir haben unseren Glauben an die Seele aufgegeben. Spiel' mir was
+vor. Spiel' mir ein Nokturno, Dorian, und während du spielst, sage mir
+mit leiser Stimme, wie du es möglich gemacht hast, dir deine Jugend zu
+erhalten. Du mußt irgendein Geheimmittel haben. Ich bin nur zehn Jahre
+älter als du, und bin runzlig und verwelkt und gelb. Du bist in der Tat
+wundervoll, Dorian. Du hast nie entzückender ausgesehen als heute abend.
+Du rufst mir den Tag ins Gedächtnis zurück, an dem ich dich zum
+erstenmal sah. Du warst etwas schnippisch, sehr scheu und ganz und gar
+außergewöhnlich. Seitdem hast du dich natürlich verändert, aber nicht im
+Aussehen. Ich wünschte, du verrietest mir dein Geheimnis. Um meine
+Jugend zurückzubekommen, täte ich alles auf der Welt, außer Gymnastik
+treiben, früh aufstehen oder ehrbar sein. Jugend! Nichts kommt ihr
+gleich. Es ist absurd, von der Unwissenheit der Jugend zu schwatzen. Die
+einzigen Leute, deren Ansichten ich jetzt mit einigem Respekt anhöre,
+sind Leute, die viel jünger sind als ich. Die scheinen mir weit voraus
+zu sein. Das Leben hat ihnen sein letztes Wunder enthüllt. Was die
+älteren betrifft, denen widerspreche ich immer. Ich tue es aus Prinzip.
+Wenn du einen um seine Meinung über etwas fragst, das gestern passiert
+ist, dann gibt er dir feierlichen Aufschluß über die Meinungen, die Anno
+1820 im Schwunge waren, als die Leute hohe Halsbinden trugen, an alles
+glaubten und absolut nichts wußten. Wie hübsch das ist, was du da
+spielst! Ich möchte wohl wissen, ob es Chopin in Majorca geschrieben
+hat, während das Meer seine Villa umklagte und der Salzschaum klatschend
+gegen die Fensterscheiben spritzte. Es ist entzückend romantisch. Was
+für ein Segen es ist, daß es doch die eine Kunst gibt, die nicht aus
+Nachahmung besteht. Hör' nicht auf. Ich brauche Musik heut abend. Es
+kommt mir so vor, als ob du der junge Apollo bist und ich Marsyas, der
+dir zuhört. Ich habe meine eigenen Sorgen, Dorian, von denen nicht
+einmal du etwas weißt. Die Tragödie des Alters beruht nicht darin, daß
+man alt ist, sondern daß man jung ist. Ich bin manchmal ganz erschrocken
+über meine eigene Aufrichtigkeit. Ach, Dorian, wie glücklich bist du!
+Was für ein köstliches Leben hast du gehabt! Du hast tief aus jedem
+Quell getrunken! Du hast die Trauben an deinem Gaumen zerdrückt. Nichts
+ist dir verborgen geblieben. Und all das ist dir nicht mehr gewesen als
+ein Klang von Musik. Es hat dir nichts anhaben können. Du bist noch
+heute derselbe.«
+
+»Ich bin nicht derselbe, Harry.«
+
+»Ja, du bist derselbe. Ich bin gespannt, wie dein Leben weiter verlaufen
+wird. Verdirb es nicht durch Entsagung. Jetzt bist du ein vollkommener
+Typus. Mach' dich nicht unvollkommen. Du bist jetzt ganz ohne Tadel. Du
+brauchst den Kopf nicht zu schütteln: du weißt, du bist es. Und dann,
+Dorian, betrüge dich nicht selbst. Das Leben wird nicht durch Willen
+oder Absicht regiert. Das Leben ist eine Angelegenheit der Nerven und
+Muskeln und der langsam aufgemauerten Zellen, in denen die Gedanken
+hausen und die Leidenschaft ihren Träumen nachhängt. Du redest dir ein,
+sicher dazustehen und stark zu sein. Aber ein zufälliger Farbenton in
+einem Zimmer oder ein Morgenhimmel, ein besonderer Geruch, den du einmal
+geliebt hast und der versteckte Erinnerungen aufweckt, eine Zeile aus
+einem vergessenen Gedicht, die dir plötzlich wieder einfällt, ein paar
+Tonreihen aus einem Musikstück, das du längst nicht mehr spielst -- ich
+sage dir, Dorian, von solchen Dingen hängt unser Leben ab. Browning hat
+irgendwo mal darüber geschrieben, aber unsere eigenen Sinne geben uns
+ohnehin davon Gewißheit. Es gibt Augenblicke, da durchblitzt mich
+plötzlich der Geruch von weißem Flieder, und ich muß wieder den
+sonderbarsten Monat meines Daseins durchleben. Ich wollte, ich könnte
+mit dir tauschen, Dorian. Die Welt hat über uns beide gezetert, aber sie
+hat dich immer bewundert. Sie wird dich immer bewundern. Du bist eben
+der Typus dessen, wonach unsere Zeit sucht und was sie fürchtet gefunden
+zu haben. Ich bin so froh darüber, daß du nie etwas getan hast, nie eine
+Statue gemeißelt oder ein Bild gemalt oder irgend etwas aus dir heraus
+produziert hast. Das Leben war deine Kunst. Du hast dich selbst in Musik
+gesetzt. Deine Tage sind deine Sonette.«
+
+Dorian stand vom Klavier auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
+»Ja, das Leben ist himmlisch gewesen,« sagte er vor sich hin, »aber
+dieses Leben werde ich nicht fortsetzen, Harry. Und du sollst nicht so
+überspannte Dinge zu mir sagen. Du weißt nicht alles von mir. Ich
+glaube, wenn du es wüßtest, so würdest selbst du dich von mir abwenden.
+Du lachst. Lache nicht!«
+
+»Warum hast du zu spielen aufgehört, Dorian? Geh wieder ans Klavier und
+spiel' mir nochmal das Nokturno. Sieh den großen honigfarbenen Mond, der
+in der dunklen Luft hängt. Er wartet, daß du ihn bezauberst, und wenn du
+spielst, wird er sich der Erde nähern. Du willst nicht? Dann laß uns in
+den Klub gehen. Es war ein reizender Abend, und wir müssen ihn reizend
+beenden. Bei White wartet jemand, der darauf brennt, dich kennenzulernen
+-- der junge Lord Pool, der älteste Sohn von Bournemouth. Er kopiert
+schon deine Krawatten und hat mich bestürmt, ihn dir vorzustellen. Er
+ist ganz entzückend und erinnert mich ein bißchen an dich.«
+
+»Ich hoffe nicht«, sagte Dorian mit einem wehmütigen Blick in den Augen.
+»Aber ich bin heute abend müde, Harry. Ich gehe nicht mehr in den Klub.
+Es ist fast elf, und ich will früh zu Bett gehen.«
+
+»Bleibe noch, du hast nie so schön gespielt wie diesen Abend. In deinem
+Anschlag lag etwas, es war ganz wundervoll. Es hatte mehr Ausdruck, als
+ich jemals bei dir gehört habe.«
+
+»Das kommt daher, weil ich jetzt gut werden will«, antwortete er
+lächelnd. »Ich bin schon ein bißchen anders.«
+
+»Für mich kannst du kein anderer werden, Dorian«, sagte Lord Henry. »Du
+und ich, wir werden immer Freunde sein.«
+
+»Aber einstmals hast du mich mit einem Buch vergiftet. Ich sollte das
+nicht vergeben. Harry, versprich mir, daß du dieses Buch nie wieder
+jemand leihen willst. Es stiftet Unheil.«
+
+»Mein lieber Junge, du fängst wirklich an, Moralpredigten zu halten. Du
+wirst bald umherlaufen, wie ein Bekehrter und ein Erweckungsprediger,
+und wirst die Menschen vor all den Sünden warnen, deren du müde geworden
+bist. Aber dazu bist du viel zu entzückend. Außerdem hat es keinen
+Zweck. Du und ich, wir sind, was wir sind, und werden immer sein, was
+wir sein werden. Und vergiftet werden durch ein Buch, sowas gibt es
+einfach nicht. Kunst hat keinen Einfluß auf die Tat. Sie vernichtet den
+Trieb zu handeln. Sie ist auf eine herrliche Art zeugungsunfähig. Die
+Bücher, die die Welt unmoralisch nennt, sind Bücher, die der Welt ihre
+eigene Schande vorhalten. Sonst nichts. Aber wir wollen nicht über
+Literatur streiten. Komm morgen wieder her! Ich reite um elf aus. Wir
+können zusammen reiten, und ich nehme dich nachher zum Frühstück zu Lady
+Branksome mit. Es ist eine entzückende Frau und sie will dich zu Rate
+ziehen über ein paar Gobelins, die sie kaufen möchte. Vergiß nicht zu
+kommen. Oder wollen wir bei unserer kleinen Herzogin frühstücken? Sie
+sagt, sie sieht dich jetzt gar nicht mehr. Vielleicht hast du genug von
+Gladys? Ich dachte mir's, daß es so kommen würde. Ihr gewandtes
+Züngelein fällt einem auf die Nerven. Also, jedenfalls bist du um elf
+hier.«
+
+»Muß ich wirklich kommen, Harry?«
+
+»Unbedingt. Der Park ist jetzt herrlich. Ich glaube nicht, daß es wieder
+solchen Flieder gegeben hat seit jenem Jahr, wo ich dich kennenlernte.«
+
+»Gut. Ich werde also um elf hier sein«, sagte Dorian. »Gute Nacht,
+Harry!« Als er an der Tür war, zögerte er einen Augenblick, als hätte er
+noch etwas zu sagen. Dann seufzte er und ging.
+
+
+
+
+Zwanzigstes Kapitel
+
+
+Es war eine wundervolle Nacht, so warm, daß er seinen Mantel über den
+Arm hing und nicht einmal das seidene Halstuch umlegte. Als er nach
+Hause schlenderte, seine Zigarette rauchend, gingen zwei Herren in
+Gesellschaftstoilette an ihm vorbei. Er hörte, wie der eine dem anderen
+zuflüsterte: »Das ist Dorian Gray.« Er erinnerte sich, wie
+schmeichelhaft es ihm früher gewesen war, wenn man auf ihn zeigte oder
+ihn anstarrte oder über ihn sprach. Jetzt war er es müde, seinen eigenen
+Namen zu hören. Der halbe Reiz des kleinen Dorfes, wo er kürzlich so oft
+gewesen war, bestand darin, daß dort niemand wußte, wer er war. Er
+hatte dem Mädchen, das er zur Liebe verlockt hatte, oft gesagt, daß er
+arm sei, und sie hatte es geglaubt. Er hatte ihr einmal gesagt, daß er
+schlecht sei, und sie hatte ihn ausgelacht und geantwortet, schlechte
+Menschen seien immer sehr alt und sehr häßlich. Was für ein Lachen sie
+hatte! -- gerade wie der Gesang einer Drossel. Und wie hübsch sie
+ausgesehen hatte in ihren Kattunkleidern und großen Hüten! Sie wußte
+nichts, aber sie besaß alles, was er verloren hatte.
+
+Als er nach Hause kam, wartete sein Diener auf ihn. Er schickte ihn zu
+Bett und warf sich auf das Sofa in der Bibliothek und begann über
+einiges von dem nachzudenken, was ihm Lord Henry gesagt hatte.
+
+War es wirklich wahr, daß man nie anders werden konnte? Er fühlte eine
+wilde Sehnsucht nach der makellosen Reinheit seiner Knabenzeit -- seiner
+rosenweißen Knabenzeit, wie Lord Henry einmal gesagt hatte. Er wußte, er
+hatte sich besudelt, hatte seinen Geist mit Verderbnis angefüllt und
+sein Gewissen mit Entsetzen belastet, er war ein schlimmer Einfluß für
+andere gewesen und hatte eine schreckliche Freude daran gehabt; und von
+den Menschenleben, die das seine gekreuzt hatten, waren es die reinsten
+und verheißungsvollsten gewesen, die er in Schande gestürzt hatte. Aber
+war da nichts wieder gut zu machen? Gab es keine Hoffnung mehr für ihn?
+
+Ah! In was für einem ungeheuerlichen Augenblick von Hochmut und
+Leidenschaft hatte er gebetet, es möchte das Bildnis die Last seiner
+Tage auf sich nehmen und er sich den ungetrübten Glanz ewiger Jugend
+bewahren! Das war an seinem ganzen verfehlten Leben schuld. Es wäre
+besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde seines Lebens ihre gewisse und
+schnelle Strafe mit sich gebracht hätte. In der Strafe lag Reinigung.
+Nicht »Vergib uns unsere Sünden«, sondern »Züchtige uns für unsere
+Missetaten« sollte das Gebet des Menschen zu einem allgerechten Gotte
+lauten.
+
+Der mit merkwürdigen Schnitzereien umrahmte Spiegel, den ihm Lord Henry
+vor so vielen Jahren geschenkt hatte, stand auf dem Tisch, und die
+weißgliedrigen Liebesgötter lachten ringsherum wie ehedem. Er nahm ihn,
+wie er es in jener Schreckensnacht getan hatte, als er zum ersten Male
+die Veränderung in dem verhängnisvollen Bildnis bemerkt hatte, und
+blickte mit verzweifelten, tränenfeuchten Augen auf die glatte Fläche.
+Einmal hatte ihm jemand, der ihn abgöttisch geliebt hatte, einen
+wahnsinnigen Brief geschrieben, dessen Schluß lautete: »Die Welt ist
+anders geworden, weil du aus Elfenbein und Gold geschaffen wurdest. Der
+Linienschwung deiner Lippen schreibt die Weltgeschichte um.« Diese Sätze
+kamen ihm ins Gedächtnis zurück, und er wiederholte sie immer und immer
+wieder. Dann haßte er seine eigene Schönheit und schleuderte den Spiegel
+zu Boden und zertrat ihn unter seinem Fuße in silberne Splitter. Seine
+Schönheit war es, die ihn zugrunde gerichtet hatte, seine Schönheit und
+Jugend, um die er gefleht hatte. Wären diese beiden nicht gewesen, so
+hätte er sein Leben wohl fleckenlos erhalten können. Die Schönheit war
+für ihn nur eine Maske gewesen, die Jugend nur ein Blendwerk. Was war
+Jugend im besten Falle? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit seichter
+Stimmungen und kranker Einfälle. Warum hatte er ihre Tracht angelegt?
+Die Jugend hatte ihn zugrunde gerichtet.
+
+Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken. Er mußte an sich
+selber und an seine Zukunft denken. James Vane war in einem namenlosen
+Grabe auf dem Kirchhof in Selby geborgen. Alan Campbell hatte sich eines
+Nachts in seinem Laboratorium erschossen, aber das Geheimnis nicht
+verraten, das ihm aufgezwungen worden war. Die Erregung über Basil
+Hallwards Verschwinden würde sich bald legen. Sie hatte schon
+nachgelassen. Da war er völlig sicher. Es war auch in der Tat nicht der
+Tod Basil Hallwards, der sein Gemüt am schwersten belastete. Es war der
+lebendige Tod seiner eigenen Seele, der ihm die Ruhe raubte. Basil hatte
+das Bildnis gemalt, das sein Leben vernichtet hatte. Er konnte ihm das
+nicht vergeben. Das Porträt war an allem schuld. Basil hatte ihm Dinge
+gesagt, die unerträglich waren und die er doch geduldig ertragen hatte.
+Der Mord war nur der Wahnsinn eines Augenblicks gewesen. Was Alan
+Campbell anlangte, so war der Selbstmord seine eigene Tat gewesen. Er
+war sein freier Entschluß. Das ging ihn nichts an.
+
+Ein neues Leben! Das war es, was er wollte. Das war es, worauf er
+wartete. Gewiß hatte er es schon begonnen. Ein unschuldiges Wesen hatte
+er jedenfalls geschont. Nie wieder wollte er die Unschuld in Versuchung
+führen. Er wollte gut sein.
+
+Als er an Hetty Merton dachte, begann er sich zu fragen, ob sich das
+Bild in dem verschlossenen Zimmer oben wohl verändert habe. Es konnte
+doch sicher nicht mehr so häßlich sein, wie es gewesen war. Vielleicht
+könnte er, wenn sein Leben jetzt rein würde, imstande sein, jedes
+Anzeichen niedriger Leidenschaften aus dem Antlitz zu tilgen. Vielleicht
+waren die Spuren des Bösen schon verschwunden. Er wollte hinauf und
+nachsehen.
+
+Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich die Treppe hinan. Als er die Tür
+aufschloß, huschte ein frohes Lächeln über sein seltsam junges Gesicht
+und verweilte einen Augenblick auf seinen Lippen. Ja, er wollte gut
+sein, und das gräßliche Ding, das er verborgen hatte, würde dann nicht
+länger ein Schrecken für ihn sein. Ihm war, als wäre diese Last schon
+jetzt von ihm genommen.
+
+Er ging ruhig hinein, schloß die Tür nach seiner Gewohnheit hinter sich
+ab und zog den Purpurvorhang von dem Bildnis hinweg. Ein Schrei voll
+Schmerz und Entrüstung scholl von seinen Lippen. Er konnte keine
+Verwandlung bemerken, außer daß ein schlauer Ausdruck in den Augen lag
+und um den Mund der gekniffene Zug des Heuchlers. Das Ding war noch
+immer abscheulich, womöglich noch abscheulicher als vordem -- und der
+scharlachrote Tau, der die Hand befleckte, schien heller zu glänzen und
+mehr wie frisch vergossenes Blut auszusehen. Er erzitterte. War es bloße
+Eitelkeit gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, einmal etwas Gutes zu
+tun? Oder die Begier nach einer neuartigen Empfindung, wie Lord Henry
+mit seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte? Oder das Verlangen,
+eine Rolle zu spielen, das uns manchmal Dinge begehen läßt, die edler
+sind als wir selbst? Oder vielleicht das alles zusammen? Und warum war
+der rote Fleck jetzt größer als er vorher war? Er schien sich wie ein
+fürchterlicher Aussatz über die runzligen Finger weiter gefressen zu
+haben. Es war Blut auf den gemalten Füßen, als wäre es von den Händen
+herabgetropft -- Blut selbst auf der Hand, die das Messer nicht geführt
+hatte. Bekennen? Bedeutete dies, daß er bekennen sollte? Sich selbst
+aufgeben und hingerichtet werden? Er lachte. Er fühlte, daß der Einfall
+ungeheuerlich wäre. Überdies selbst wenn er es eingestände, wer würde
+ihm glauben? Nirgends gab es eine Spur des Ermordeten. Alles, was zu ihm
+gehörte, war zerstört. Er selbst hatte verbrannt, was unten geblieben
+war. Die Welt würde einfach sagen, daß er wahnsinnig sei. Sie würden ihn
+irgendwo einsperren, wenn er bei seiner Erzählung beharrte... Aber doch
+war es seine Pflicht, ein Geständnis abzulegen, öffentlich Schande zu
+erleiden und öffentlich Buße zu tun. Es war ein Gott, der den Menschen
+zurief, ihre Sünden der Erde so gut wie dem Himmel zu beichten. Nichts,
+was er sonst tun konnte, würde ihn reinigen, bis er seine Sünde selber
+bekannt hätte. Seine Sünde? Er zuckte die Achseln. Der Tod Basil
+Hallwards schien ihm nur unwesentlich. Er dachte an Hetty Merton. Denn
+es war ein ungerechter Spiegel. Dieser Spiegel seiner Seele, in den er
+hineinblickte. Eitelkeit? Neugier? Heuchelei? War sonst nichts in seinen
+Entsagungen gewesen? Es war noch etwas darin gewesen. Er glaubte es
+wenigstens. Aber wer konnte das sagen...? Nein. Es war weiter nichts
+darin gewesen. Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Aus Heuchelei hatte
+er die Maske der Güte getragen. Aus Neugier hatte er es mit der
+Verzichtleistung versucht. Er erkannte das jetzt.
+
+Aber dieser Mord -- sollte er ihn sein ganzes Leben lang verfolgen?
+Sollte er immer die Last seiner Vergangenheit tragen müssen? Sollte er
+wirklich eingestehen? Niemals. Es gab nur einen einzigen Beweis gegen
+ihn. Das Bildnis selbst -- das war ein Beweis. Er wollte es zerstören.
+Warum hatte er es solange aufgehoben. Früher einmal war es ihm ein
+Vergnügen gewesen, seine Änderung, sein Altern zu beobachten. In der
+letzten Zeit hatte er dieses Vergnügen nicht mehr empfunden. Es hatte
+ihm schlaflose Nächte bereitet. Wenn er außer dem Hause war, erfüllte
+ihn eine Todesangst, daß fremde Augen das Bild erblicken könnten. Es
+hatte Schwermut in seine Leidenschaften getröpfelt. Die bloße Erinnerung
+daran hatte ihm manchen Augenblick der Freude vergällt. Es hatte bei ihm
+die Rolle des Gewissens übernommen. Ja, es war sein Gewissen gewesen. Er
+wollte es zerstören.
+
+Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil Hallward erstochen
+hatte. Er hatte es oft gereinigt, bis kein Fleck mehr darauf war. Es war
+blank und glitzerte. Wie es den Maler getötet hatte, sollte es des
+Malers Werk töten und alles, was es bedeutete. Es sollte die
+Vergangenheit töten, und wenn die tot war, würde er frei sein. Es sollte
+dieses ungeheuerliche Seelenleben töten, und sobald diese gräßlichen
+Warnungen nicht mehr vorhanden waren, würde er Frieden haben. Er
+ergriff es und durchbohrte damit das Bildnis.
+
+Man hörte einen Schrei und einen Fall. Der Schrei war mit seinem
+Todesröcheln so schrecklich, daß die Dienerschaft erschreckt aufwachte
+und aus ihren Kammern stürzte. Zwei Herren, die auf dem Platze unten
+vorbeigingen, blieben stehen und spähten an dem stattlichen Hause empor.
+Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen und dann mit ihm
+umkehrten. Der Mann zog mehrmals die Klingel, aber es erfolgte keine
+Antwort. Bis auf ein Licht in einem der Giebelfenster war das ganze Haus
+dunkel. Nach einiger Zeit ging er weg, stellte sich unter einen Torweg
+in der Nähe und verhielt sich abwartend.
+
+»Wem gehört das Haus, Herr Wachtmeister?« fragte der ältere der beiden
+Herren.
+
+»Herrn Dorian Gray«, antwortete der Schutzmann.
+
+Sie sahen einander an, gingen weiter und lächelten. Einer von ihnen war
+Sir Henry Ashtons Onkel.
+
+Drinnen in den Dienerzimmern sprachen die halbangezogenen Bedienten in
+leisem Wispern miteinander. Die alte Frau Leaf weinte und rang die
+Hände. Francis war bleich wie der Tod.
+
+Nach etwa einer Viertelstunde holte er sich den Kutscher und einen der
+Lakaien und schlich mit ihnen hinauf. Sie klopften, aber es kam keine
+Antwort. Sie riefen. Alles war still. Schließlich, nachdem sie erfolglos
+versucht hatten, die Tür zu sprengen, kletterten sie auf das Dach und
+ließen sich auf den Balkon herab. Die Glastür gab leicht nach; ihre
+Riegel waren alt.
+
+Als sie eintraten, sahen sie an der Wand ein wunderbares Bild ihres
+Herrn hängen, so wie sie ihn zuletzt gesehen hatten, in all dem Glanz
+seiner entzückenden Jugend und Schönheit. Auf dem Boden lag ein toter
+Mann im Gesellschaftsanzug, mit einem Messer im Herzen. Er war welk,
+runzlig und häßlich von Angesicht. Erst als sie die Ringe untersuchten,
+erkannten sie, wer es war.
+
+_Ende_
+
+
+
+
+Anmerkungen zur Transkription:
+
+Die folgende Liste enthält alle geänderten Textstellen, jeweils zuerst
+im Original und darunter in der geänderten Fassung.
+
+ Seite 9: wolllt
+ wollt
+ Seite 80: Dramas gewesen sein.
+ Dramas gewesen sein.«
+ Seite 80: >Romea und Julia<
+ >Romeo und Julia<
+ Seite 85: gesprochen?
+ gesprochen?«
+ Seite 106: Name nicht.
+ Name nicht?
+ Seite 121: Mißklang heißt es, mit
+ »Mißklang heißt es, mit
+ Seite 132: Warum ich nie mehr gut spielen werde.
+ Warum ich nie mehr gut spielen werde.«
+ Seite 166: Harrys Schwester Lady Gwendolen
+ Harrys Schwester, Lady Gwendolen
+ Seite 180: wird ebenso hübsch sein.
+ wird ebenso hübsch sein.«
+ Seite 205: gegestorbene
+ gestorbene
+ Seite 217: eleganganten
+ eleganten
+ Seite 296: Orchideengleichnis?
+ Orchideengleichnis?«
+ Seite 308: Er hat die ganze
+ »Er hat die ganze
+ Seite 309: wovor ich mich änstige
+ wovor ich mich ängstige
+
+
+
+
+
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+
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+Foundation as set forth in Section 3 below.
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+1.F.
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+INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
+DAMAGE.
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+refund. If you received the work electronically, the person or entity
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+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
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+1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO OTHER
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+WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
+warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
+law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
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+trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
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+with this agreement, and any volunteers associated with the production,
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+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
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+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
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+
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+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
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+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
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+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation information page at www.gutenberg.org
+
+
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+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
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+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
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+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
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+Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact
+
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@@ -0,0 +1,12160 @@
+<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN"
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+a[title].pagenum
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+ </head>
+<body>
+
+
+<pre>
+
+The Project Gutenberg EBook of Das Bildnis des Dorian Gray, by Oscar Wilde
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Das Bildnis des Dorian Gray
+
+Author: Oscar Wilde
+
+Translator: Richard Zoozmann
+
+Release Date: November 27, 2013 [EBook #44238]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: UTF-8
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY ***
+
+
+
+
+Produced by Norbert H. Langkau, Marc-Andre Seekamp and the
+Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
+
+
+
+
+
+
+</pre>
+
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_1" title="1"> </a></p>
+
+<div class="image-center">
+ <img src="images/cover.jpg" width="519" height="692" alt="Buchumschlag" id="coverpage" />
+</div>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_2" title="2"> </a><br /><a class="pagenum" name="Page_3" title="3"> </a></p>
+<h1>Das Bildnis des Dorian Gray</h1>
+
+<p class="title">Oscar Wilde<br />
+~~~~~~~~~~~~~<br />
+Das<br />
+Bildnis des Dorian Gray</p>
+
+<p class="center">
+<small>Ins Deutsche übertragen von<br />
+Richard Zoozmann</small>
+</p>
+<p class="center" style="margin-top: 6em;">Berlin <span class="antiqua">W</span> 50<br />
+~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~<br />
+Schreitersche Verlagsbuchhandlung<br />
+</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_4" title="4"> </a></p>
+
+<hr />
+
+<p class="center">Alle Rechte vorbehalten</p>
+<p class="center" style="margin-top: 2em;">Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig</p>
+
+<hr />
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_5" title="5"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Vorbekenntnis" id="Vorbekenntnis"></a>Vorbekenntnis</h2>
+
+
+<p>Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.</p>
+
+<p>Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen, ist
+die Aufgabe der Kunst.</p>
+
+<p>Ein Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen
+in eine andere Form oder in einen anderen Stoff zu übertragen
+vermag.</p>
+
+<p>Die höchste wie die niederste Form der Kritik ist eine
+Art Autobiographie.</p>
+
+<p>Wer in schönen Dingen einen häßlichen Sinn findet, ist
+verderbt, ohne anmutig zu sein. Das ist ein Fehler.</p>
+
+<p>Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn findet, hat
+Kultur. Er berechtigt zu Hoffnungen.</p>
+
+<p>Das sind die Auserwählten, für die schöne Dinge lediglich
+Schönheit bedeuten.</p>
+
+<p>Ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt's überhaupt
+nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Sonst
+nichts.</p>
+
+<p>Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen
+den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht
+im Spiegel erblickt.</p>
+
+<p>Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen
+die Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht
+im Spiegel nicht sieht.</p>
+
+<p>Das sittliche Dasein des Menschen liefert dem Künstler
+einen Teil des Stoffgebietes, aber die Sittlichkeit der
+Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen
+Mittels.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_6" title="6"> </a></p>
+
+<p>Kein Künstler empfindet das Verlangen, etwas zu beweisen.
+Selbst Wahrheiten können bewiesen werden.</p>
+
+<p>Kein Künstler hat ethische Neigungen. Eine ethische
+Neigung beim Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit
+des Stils.</p>
+
+<p>Kein Künstler ist an sich krankhaft. Der Künstler kann
+alles aussprechen.</p>
+
+<p>Gedanken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge
+einer Kunst.</p>
+
+<p>Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe einer
+Kunst.</p>
+
+<p>Was die Form betrifft, so ist die Kunst des Musikers
+die Urform aller Künste. Was das Gefühl betrifft, so ist
+der Beruf des Schauspielers diese Urform.</p>
+
+<p>Alle Kunst ist gleichzeitig Oberfläche und Symbol.</p>
+
+<p>Wer unter der Oberfläche schürft, tut es auf eigene
+Gefahr.</p>
+
+<p>Wer das Symbol herausdeutet, tut es auf eigene Gefahr.</p>
+
+<p>In Wahrheit wird der Betrachter und nicht das Leben
+abgespiegelt.</p>
+
+<p>Meinungsunterschiede über ein Kunstwerk beweisen seine
+Neuheit, Vielfältigkeit und Lebenskraft.</p>
+
+<p>Sind die Kritiker uneinig, so ist der Künstler einig mit
+sich selbst.</p>
+
+<p>Man kann einem Menschen verzeihen, daß er etwas
+Nützliches schafft, solang er es nicht bewundert. Die einzige
+Entschuldigung für den, der etwas Nutzloses schuf, besteht
+darin, daß es äußerst bewundert wird.</p>
+
+<p>Alle Kunst ist völlig nutzlos.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_7" title="7"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Erstes_Kapitel" id="Erstes_Kapitel"></a>Erstes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Das Atelier schwamm in einem starken Rosendufte, und
+wenn der leichte Sommerwind die Bäume im Garten
+wiegte, so floß durch die offene Tür der schwere Geruch
+des Flieders herein oder der zartere Duft des Rotdorns.</p>
+
+<p>Aus der Ecke seines Diwans mit persischen Satteltaschen,
+auf dem Lord Henry Wotton lag und wie gewöhnlich unzählige
+Zigaretten rauchte, konnte er gerade noch den
+Schimmer der honigsüßen und honigfarbigen Blüten eines
+Goldregenstrauches wahrnehmen, dessen zitternde Zweige
+nur seufzend die Last einer so flammenden Schönheit zu
+tragen schienen, und dann und wann huschten die phantastischen
+Schatten vorbeifliegender Vögel über die langen
+bastseidenen Vorhänge, die vor das große Fenster
+gezogen waren. Das gab einen Augenblick lang eine Art
+japanischer Stimmung und ließ den Lord an die bleichen,
+nephritgelben Maler der Stadt Tokio denken, die mit
+Hilfe einer Kunst, die notwendigerweise erstarrt genannt
+werden muß, das Gefühl von Schnelligkeit und Bewegung
+hervorzubringen suchen. Das tiefe Gesumme der Bienen,
+die ihren zweifelnden Flug durch das hohe, ungemähte
+Gras nahmen oder mit eintöniger Zähigkeit um die bestaubten
+Goldtrichter des wuchernden Geißblattes kreisten,
+ließ die Stille noch drückender scheinen. Das dumpfe Brausen
+<a class="pagenum" name="Page_8" title="8"> </a>
+Londons murrte dazu wie die Baßtöne einer fernen
+Orgel.</p>
+
+<p>In der Mitte des Gemaches stand auf einer hoch aufgestellten
+Staffelei das lebensgroße Bildnis eines außerordentlich
+schönen Jünglings, und ihm gegenüber, ein paar
+Schritte entfernt, saß sein Schöpfer, der Maler Basil
+Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen
+Jahren bei der Menge so viel Aufsehen gemacht und zu
+so vielen seltsamen Vermutungen Anlaß gegeben hatte.</p>
+
+<p>Während der Maler die anmutige und liebenswürdige
+Gestalt betrachtete, die seine Kunst so prachtvoll wiedergespiegelt
+hatte, huschte ein freudiges Lächeln über sein
+Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. Plötzlich aber
+fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Lider mit
+den Fingern zu, als fürchte er, aus einem absonderlichen
+Traume zu erwachen, und als suche er ihn im Gehirn
+einzuschließen.</p>
+
+<p>„Es ist dein bestes Werk, Basil, das beste, was du jemals
+gemacht hast“, sagte Lord Henry schläfrig-müde.
+„Du mußt es nächstes Jahr unbedingt ins Grosvenor
+schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich.
+Jedesmal, wenn ich hinging, waren entweder so viele
+Leute da, daß ich die Bilder nicht sehen konnte, und das
+war schlimm, oder so viel Bilder, daß ich die Leute nicht
+sehen konnte, und das war noch schlimmer. Das Grosvenor
+ist der einzig richtige Platz.“</p>
+
+<p>„Ich denke überhaupt nicht daran, es auszustellen“, antwortete
+der Maler und warf den Kopf in jener merkwürdigen
+Art zurück, über die schon oft seine Freunde in Oxford
+<a class="pagenum" name="Page_9" title="9"> </a>
+gelacht hatten. „Nein, ich will es nirgends ausstellen.“</p>
+
+<p>Lord Henry hob die Augenbrauen und sah den anderen
+erstaunt durch die dünnen blauen Raucharabesken an, die
+in so abenteuerlichen Wirbeln von der starken opiumgetränkten
+Zigarette aufstiegen. „Nirgends ausstellen?
+Ja warum, mein Lieber? Hast du einen Grund dafür?
+Was ihr Maler doch für Käuze seid! Ihr tut alles in der
+Welt, um euch einen Namen zu machen. Habt ihr ihn
+endlich, so <ins title="wolllt">wollt</ins> ihr ihn scheinbar wieder loswerden. Das
+ist albern von dir, denn es gibt nur ein leidiges Ding auf
+Erden, das peinlicher ist als in aller Leute Munde zu
+sein, und das ist: nicht in aller Leute Munde zu sein. Ein
+Porträt wie das da höbe dich weit über alle jungen Leute
+in England empor und würde die Alten vor Neid platzen
+lassen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung
+fähig sind.“</p>
+
+<p>„Ich weiß, du wirst mich auslachen,“ entgegnete er,
+„aber ich kann es wahrhaftig nicht ausstellen. Es steckt da
+zuviel von mir selbst drin.“</p>
+
+<p>Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.</p>
+
+<p>„Ja, ich habe das gewußt; es bleibt aber doch wahr,
+ganz sicher.“</p>
+
+<p>„Zuviel von dir soll darin sein? Auf mein Wort, Basil,
+ich hätte nie geahnt, daß du so eitel bist; ich kann wirklich
+nicht die blasseste Ähnlichkeit entdecken zwischen dir mit
+deinem groben, eckigen Gesicht und deinem kohlschwarzen
+Haar und diesem jungen Adonis, der so aussieht, als sei
+er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Nein, mein
+<a class="pagenum" name="Page_10" title="10"> </a>
+lieber Basil, es ist ein Narziß, und du &mdash; natürlich hast
+du ein geistvolles Gesicht und so weiter. Aber Schönheit,
+wirkliche Schönheit hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck
+anfängt. Geist ist an sich eine Art Übermaß und zerstört
+das Ebenmaß jedes Gesichts. Im Moment, wo man
+sich ans Denken begibt, wird man ganz Nase oder ganz
+Stirn oder sonst etwas Greuliches. Sieh dir doch mal alle
+die Männer an, die in gelehrten Berufen etwas geleistet
+haben. Sind sie nicht alle ausgesprochen häßlich? Natürlich
+die Männer der Kirche ausgenommen. Aber in der
+Kirche denken sie eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig
+Jahren noch unveränderlich dasselbe, was ihm als
+achtzehnjährigem Bengel beigebracht wurde, und infolgedessen
+sieht er immer entzückend aus. Dein geheimnisvoller
+junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast,
+dessen Bild mich aber tatsächlich bezaubert, denkt niemals.
+Davon bin ich felsenfest überzeugt. Es ist irgendein hirnloses
+schönes Geschöpf, das wir im Winter immer bei uns
+haben sollten, wenn es keine Blumen zum Anschauen gibt,
+und im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres
+Geistes gebrauchen. Schmeichle dir also nicht, Basil: du
+siehst ihm ganz und gar nicht ähnlich.“</p>
+
+<p>„Du verstehst mich gar nicht, Henry“, antwortete der
+Künstler. „Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich. Das weiß
+ich selbst. In Wirklichkeit wäre ich sogar traurig, sähe ich
+ihm ähnlich. Du brauchst nicht mit den Achseln zu zucken.
+Ich sage dir die Wahrheit. Jede körperliche und geistige
+Besonderheit umschwebt eine gewisse Tragik; so eine Tragik
+etwa, wie sich das Schicksal der Könige auf ihren Irrwegen
+<a class="pagenum" name="Page_11" title="11"> </a>
+in der Weltgeschichte an die Füße zu heften scheint.
+Es ist besser, nicht anders zu sein als die Nebenmenschen.
+Die Häßlichen und die Dummen haben das beste Leben
+der Welt. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel sorglos
+begaffen. Sie wissen zwar nichts von Siegen, aber
+dafür bleibt ihnen auch die Bekanntschaft mit den Niederlagen
+erspart. Sie leben dahin, wie wir es alle sollten:
+ungestört, gleichgültig und ohne Mißbehagen. Sie bringen
+anderen kein Unheil und empfangen es auch nicht von
+fremder Hand. Dein Stand und dein Reichtum, Harry,
+mein Geist, soviel ich davon habe, meine Kunst, soviel
+sie wert ist, Dorian Gray für sein schönes Aussehen &mdash;
+wir müssen alle für die Geschenke der Götter leiden, schrecklich
+leiden.“</p>
+
+<p>„Dorian Gray? Heißt er so?“ fragte Lord Henry und
+ging durch das Atelier auf Basil Hallward zu.</p>
+
+<p>„Ja, so heißt er. Ich wollte dir's eigentlich nicht sagen.“</p>
+
+<p>„Aber warum nicht?“</p>
+
+<p>„Oh, ich kann's nicht so erklären. Wenn ich einen Menschen
+sehr, sehr lieb habe, verrate ich an niemand seinen
+Namen. Das käme mir so vor, als lieferte ich damit einen
+Teil von seinem Selbst aus. In mir hat sich allmählich
+eine förmliche Liebe zu Geheimnissen entwickelt. Das scheint
+noch die einzige Art zu sein, das Leben unserer Zeit mysteriös
+und wunderbar zu machen. Die gewöhnlichste Begebenheit
+wird reich an Schönheit, wenn man sie verbirgt.
+Ich sage auch nie, wohin ich reise, wenn ich mal die Stadt
+verlasse. Wenn ich's täte, wäre meine ganze Freude daran
+hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie
+<a class="pagenum" name="Page_12" title="12"> </a>
+bringt doch irgendwie ein bißchen Romantik ins Leben.
+Du denkst jetzt gewiß, ich bin furchtbar närrisch?“</p>
+
+<p>„Nicht im geringsten,“ antwortete Lord Henry, „nicht
+im geringsten, mein lieber Basil. Du scheinst zu vergessen,
+daß ich verheiratet bin, und daß der Hauptreiz der Ehe
+darin liegt, daß sie beiden Teilen ein Leben der Täuschung
+zur Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau
+ist, und meine Frau weiß nie, was ich tue und treibe.
+Wenn wir beisammen sind &mdash; wir sind gelegentlich beisammen,
+wenn wir zu einem Diner eingeladen sind oder
+zum Herzog aufs Land fahren &mdash; so erzählen wir uns
+die verrücktesten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht.
+Meine Frau versteht das vorzüglich, ohne Frage besser
+als ich. Sie verwickelt sich bei den Tatsachen nie in Widersprüche,
+und bei mir kommt es beständig vor. Wenn sie
+mich aber ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Ich
+wünschte manchmal, sie täte es. Aber sie lacht mich nur
+aus.“</p>
+
+<p>„Ich kann die Art nicht leiden, wie du über deine Ehe
+sprichst“, sagte Basil Hallward und ging langsam auf die
+Tür zu, die in den Garten führte. „Ich glaube, du bist
+in Wirklichkeit ein ganz guter Ehemann und schämst dich
+nur immer über diese Tugend. Du bist überhaupt ein sonderbarer
+Kauz: du sagst nie was Moralisches und tust
+nie was Schlechtes. Dein Zynismus ist nichts als Pose.“</p>
+
+<p>„Natürlichkeit ist immer eine Pose, und zwar die ärgerlichste
+Pose, die ich kenne“, rief Lord Henry lachend aus,
+und die beiden jungen Männer gingen zusammen in den
+Garten und ließen sich auf einer langen Bambusbank nieder,
+<a class="pagenum" name="Page_13" title="13"> </a>
+die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand.
+Das Sonnenlicht flirrte tanzend über die glatten Blätter.
+Im Grase zitterten weiße Gänseblümchen.</p>
+
+<p>Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr: „Ich
+fürchte, ich muß gleich fort, Basil,“ brummte er, „aber
+bevor ich gehe, mußt du mir noch unbedingt die Frage
+beantworten, die ich vorhin an dich gerichtet habe.“</p>
+
+<p>„Was war das?“ sagte der Maler, die Augen fest zu
+Boden gerichtet.</p>
+
+<p>„Na, du weißt doch.“</p>
+
+<p>„Sicher nicht, Harry.“</p>
+
+<p>„Gut, dann will ich's dir nochmals sagen. Du sollst
+mir erklären, warum du Dorian Grays Porträt nicht ausstellen
+willst. Ich bestehe darauf, den wirklichen Grund
+zu wissen.“</p>
+
+<p>„Ich habe dir den wirklichen Grund schon gesagt.“</p>
+
+<p>„Nein, das hast du nicht getan. Du hast nur gesagt,
+weil zuviel von dir selbst in dem Bilde stecke. Das ist
+aber kindisch.“</p>
+
+<p>„Harry,“ sagte Basil Hallward und sah dem anderen
+gerade ins Gesicht, „jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt
+ist, ist ein Porträt des Künstlers, nicht des Modells.
+Das Modell ist nur der Anlaß, die Gelegenheit. Nicht
+dies wird vom Maler enthüllt; nein, der Maler offenbart
+auf der farbigen Leinwand eher sich selbst. Ich will also
+dies Bild darum nicht ausstellen, weil ich fürchte, ich habe
+das Geheimnis meiner eigenen Seele darin aufgedeckt.“</p>
+
+<p>Lord Henry lachte. „Und worin bestünde das?“
+fragte er.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_14" title="14"> </a></p>
+<p>„Ich will es sagen“, antwortete Hallward; aber in sein
+Gesicht trat ein Ausdruck von Ratlosigkeit.</p>
+
+<p>„Ich bin äußerst gespannt, Basil“, fuhr sein Gefährte
+mit einem Blick nach ihm fort.</p>
+
+<p>„Oh, es ist wirklich nicht viel zu berichten, Harry,“ entgegnete
+der Maler, „und du verstehst es wohl kaum, wie
+ich fürchte. Vielleicht auch glaubst du mir nicht einmal.“</p>
+
+<p>Lord Henry lächelte und bückte sich dann, um ein rosa
+angehauchtes Gänseblümchen aus dem Grase zu pflücken,
+das er betrachtete. „Ich werde dich ganz gewiß verstehen,“
+erwiderte er, die Blicke aufmerksam auf die kleine, goldene,
+weißgefiederte Blütenscheibe gerichtet, „und was das
+Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt,
+daß es unwahrscheinlich genug ist.“</p>
+
+<p>Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen,
+und die schweren, vielgesternten Traubendolden der Fliederbüsche
+bewegten sich in der schwülen Luft. Eine Grille begann
+an der Gartenmauer zu zirpen, und wie ein blauer
+Faden huschte eine lange, dünne Wasserjungfer auf ihren
+braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil
+Hallwards Herz pochen zu hören und war neugierig, was
+wohl kommen möchte.</p>
+
+<p>„Die Geschichte ist einfach die“, sagte der Maler nach
+einer Weile. „Vor zwei Monaten ging ich mal zu einem
+der Massenempfänge bei Lady Brandon. Du weißt, wir
+armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft
+zeigen, um das Publikum daran zu erinnern,
+daß wir keine Wilden sind. Du sagtest mir einmal: in
+Frack und weißer Binde kann selbst ein Börsenmensch in
+<a class="pagenum" name="Page_15" title="15"> </a>
+den Verdacht von Bildung kommen. Nun also, ich war
+etwa zehn Minuten da und redete mit korpulenten, aufgeputzten,
+vornehmen Witwen und platten Akademikern,
+da merkte ich plötzlich, daß mich jemand anblickte. Ich
+drehte mich halb um und sah zum ersten Male Dorian
+Gray. Ich spürte, wie ich blaß wurde, als sich unsere Blicke
+begegneten. Ein seltsames Angstgefühl überkam mich. Ich
+wußte, ich stand einem Menschen Aug-in-Auge gegenüber,
+dessen bloße Erscheinung so bezaubernd auf mich
+wirkte, daß sie, wenn ich sie gewähren ließe, meine ganze
+Natur, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst an sich
+reißen müßte. Ich bedurfte nie in meinem Leben irgendwelcher
+Einwirkung von außen her. Du weißt ja selbst,
+Harry, wie unabhängig ich von Haus aus bin. Ich bin
+immer mein eigener Herr gewesen; war es wenigstens so
+lange, bis ich Dorian Gray traf. Dann &mdash; aber ich weiß
+nicht, wie ich dir das begreiflich machen soll. Irgend etwas
+schien mir im voraus zu sagen, daß ich an einem schrecklichen
+Wendepunkt in meinem Leben stand. Ich hatte die
+eigentümliche Empfindung, das Schicksal halte für mich
+die ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten
+Schmerzen in Bereitschaft. Ich bekam Furcht, und ich
+wandte mich zum Gehen. Das Gewissen trieb mich nicht
+dazu: es war eine Art Feigheit. Ich bilde mir nichts
+darauf ein, daß ich diese Flucht versuchte.“</p>
+
+<p>„In Wirklichkeit sind Gewissen und Feigheit ein und
+dasselbe. Gewissen lautet nur die eingetragene Firma.
+Weiter gar nichts.“</p>
+
+<p>„Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube, du wohl
+<a class="pagenum" name="Page_16" title="16"> </a>
+auch nicht. Einerlei aber, aus welchem Grunde es geschah
+&mdash; es mag auch Stolz gewesen sein, denn ich war
+schon immer sehr stolz &mdash; jedenfalls eilte ich der Türe zu.
+Natürlich prallte ich dabei mit Lady Brandon zusammen.
+‚Sie wollen doch nicht etwa schon davonlaufen, Herr
+Hallward?‛ kreischte sie auf. Du kennst ja ihre schrille
+Stimme.“</p>
+
+<p>„Ja, sie ist ein Pfau in allem, bis auf die Schönheit“,
+sagte Lord Henry und zerrupfte das Gänseblümchen zwischen
+seinen langen nervösen Fingern.</p>
+
+<p>„Ich konnte ihrer nicht loswerden. Sie zerrte mich zu
+den königlichen Hoheiten hin, zu den Leuten mit Orden und
+Sternen und zu den ältlichen Damen mit riesenhaften
+Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich dabei
+ihren besten Freund. Ich hatte sie nur ein einziges Mal
+vorher gesehen, aber sie setzte es sich in den Kopf, aus
+mir den Löwen des Tages zu machen. Ich glaube, damals
+hatte gerade ein Bild von mir großen Erfolg gehabt,
+wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz
+darüber gebracht, und das ist ja im neunzehnten
+Jahrhundert das Eichungsmaß der Unsterblichkeit. Plötzlich
+stand ich dem jungen Manne gegenüber, dessen Äußeres
+mich vorhin so merkwürdig erschüttert hatte. Wir
+standen ganz nahe beieinander und berührten uns beinah.
+Unsere Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig
+von mir, aber ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen.
+Vielleicht war es aber doch alles in allem nicht so
+leichtsinnig. Es war einfach nicht zu umgehen. Wir hätten
+auch ohne Vorstellung miteinander gesprochen. Ich bin
+<a class="pagenum" name="Page_17" title="17"> </a>
+dessen gewiß. Dorian sagte es mir nachher. Auch er fühlte,
+daß unsere Bekanntschaft Schicksalsfügung war.“</p>
+
+<p>„Und wie hat Lady Brandon den wunderbaren Jüngling
+beschrieben?“ fragte sein Gefährte. „Ich weiß, es ist
+ihre Manier, von jedem ihrer Gäste eine kleine Skizze zu
+geben. Ich erinnere mich, wie sie mich mal einem schrecklichen,
+alten Herrn mit puterrotem Gesicht vorstellte, dessen
+Brust mit Orden und Bändern beklext war, und mir in
+einem tragischen Flüsterton, der für jedermann im Zimmer
+hörbar war, die erstaunlichsten Einzelheiten über ihn
+ins Ohr zischelte. Ich mußte einfach davonlaufen. Ich entdecke
+die Leute gerne von mir selbst aus. Aber Lady
+Brandon behandelt ihre Gäste genau so, wie ein Auktionator
+seine Waren. Sie erklärt sie einem entweder so
+lange, bis nichts mehr davon übrigbleibt, oder sie sagt
+alles, gerade mit Ausnahme dessen, was man wissen will.“</p>
+
+<p>„Die arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie“,
+sagte Hallward zerstreut.</p>
+
+<p>„Mein guter Junge, sie wollte einen Salon gründen
+und hat es nur bis zu einem Restaurant gebracht. Wie
+soll ich sie da bewundern? Aber sage nun endlich, was sie
+über Herrn Dorian Gray erzählt hat?“</p>
+
+<p>„Oh, so irgend was wie ‚Entzückender junger Mensch &mdash;
+seine arme Mutter und ich ganz unzertrennlich &mdash; vergaß
+ganz was er treibt &mdash; fürchte fast &mdash; gar nichts &mdash; ach
+ja, spielt Klavier &mdash; oder war es die Geige, lieber Herr
+Gray?‛ Wir mußten beide lachen und wurden sofort
+Freunde.“</p>
+
+<p>„Lachen ist wohl lange nicht der schlechteste Anfang für
+<a class="pagenum" name="Page_18" title="18"> </a>
+eine Freundschaft, und gewiß ihr schönstes Ende“, sagte
+der junge Lord und pflückte sich noch ein Gänseblümchen.</p>
+
+<p>Hallward schüttelte den Kopf. „Du hast ja keine Ahnung,
+was Freundschaft ist, Harry,“ murmelte er, „und
+ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast alle Welt gern;
+mit anderen Worten: dir sind alle gleichgültig.“</p>
+
+<p>„Wie grausam ungerecht von dir!“ rief Lord Henry,
+stieß seinen Hut in den Nacken und sah zu den Lämmerwolken
+empor, die gleich verwirrten Knäueln glänzendweißer
+Seide über das türkisfarbene Gewölbe des Himmels
+dahinschifften. „Ja, grausam ungerecht von dir. Ich
+unterscheide die Leute sehr scharf. Ich wählte meine
+Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten
+nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem
+guten Verstande. Der Mensch kann nicht vorsichtig genug
+sein in der Wahl seiner Feinde. Ich habe keinen einzigen,
+der ein Narr ist. Es sind sämtlich Leute von einer gewissen
+geistigen Höhe, und daher schätzen sie mich auch alle. Bin
+ich sehr eitel? Ich glaube, es ist ein bißchen eitel.“</p>
+
+<p>„Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung
+zählte ich nur unter deine Bekanntschaften.“</p>
+
+<p>„Mein lieber, alter Basil, du bist weit, weit mehr als
+ein Bekannter.“</p>
+
+<p>„Und weit weniger als ein Freund! Wohl so eine Art
+Bruder?“</p>
+
+<p>„Pah, Bruder! Bleibe mir mit Brüdern vom Halse.
+Mein ältester will nicht sterben, und meine jüngeren tun
+scheinbar nichts anderes.“</p>
+
+<p>„Harry!“ rief Basil mit gerunzelter Stirne.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_19" title="19"> </a></p>
+<p>„Mein lieber Junge, ich meine es nicht so ernst. Aber
+ich kann mir nicht helfen, ich verabscheue meine Verwandten.
+Ich vermute, das schreibt sich daher, daß kein
+Mensch bei einem anderen seine eigenen Fehler vertragen
+kann. Ich verstehe durchaus die Wut der englischen Demokraten
+auf die sogenannten Laster der oberen Stände.
+Die Massen fühlen, daß Trunkenheit, Dummheit und Unsittlichkeit
+zu ihren Vorrechten gehören sollten, und daß
+jeder von uns, der sich darin bloßstellt, gewissermaßen auf
+ihrem Gebiete wildert. Als damals der Scheidungsprozeß
+des armen Southwark spielte, war ihre Entrüstung wirklich
+prachtvoll. Und trotzdem lebt meiner Überzeugung
+nach nicht der zehnte Teil des Proletariats der Sitte
+gemäß.“</p>
+
+<p>„Ich stimme keinem einzigen deiner Worte bei, und,
+was mehr ist, Harry, du selbst glaubst ja auch nicht im
+mindesten daran.“</p>
+
+<p>Lord Henry strich seinen braunen Spitzbart und stieß
+mit dem zierlichen Spazierstock aus Ebenholz gegen die
+Kappe seines eleganten Lackstiefels. „Wie englisch du bist,
+Basil! Du machst heute zum zweitenmal diesen Einwurf.
+Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt
+&mdash; an sich schon immer eine Unüberlegtheit &mdash;, so fällt es
+ihm nicht im Traum ein, zu erwägen, ob die Idee richtig
+oder falsch ist. Das einzige, was ihm von Belang scheint,
+ist das, ob der Sprecher selbst daran glaubt. Aber der
+Wert einer Idee hat nicht das geringste mit der Aufrichtigkeit
+dessen zu schaffen, der sie ausspricht. Aller Wahrscheinlichkeit
+nach wird die Idee um so geistreicher sein, je
+<a class="pagenum" name="Page_20" title="20"> </a>
+unaufrichtiger der Mann ist, weil sie in diesem Fall weder
+die Färbung seiner Bedürfnisse noch seiner Wünsche noch
+seiner Vorurteile annehmen wird. Indes habe ich nicht
+die Absicht, politische, soziale oder metaphysische Diskussionen
+mit dir zu führen. Mir sind Menschen lieber als
+Grundsätze und grundsatzlose Menschen überhaupt das
+Liebste auf Erden. Erzähle mir mehr von Dorian Gray.
+Wie oft siehst du ihn?“</p>
+
+<p>„Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn mal
+einen Tag nicht sähe. Er ist für mich einfach ein Bedürfnis.“</p>
+
+<p>„Wie merkwürdig! Ich glaubte immer, du kümmertest
+dich um nichts anderes als um deine Kunst.“</p>
+
+<p>„Er ist für mich jetzt meine ganze Kunst“, sagte der
+Maler ernsthaft. „Manchmal glaube ich, Harry, daß es
+nur zwei wichtige Epochen in der Weltgeschichte gibt. Die
+erste ist das Auftreten einer neuen Kunsttechnik und die
+zweite die Erscheinung einer neuen Persönlichkeit in der
+Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer
+war, das war das Gesicht des Antinous für die
+spätgriechische Bildhauerkunst, und das wird eines Tages
+für mich das Gesicht Dorian Grays sein. Worauf es dabei
+ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere. Natürlich
+hab' ich das alles getan. Aber er ist weit mehr für
+mich als ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich
+will gewiß nicht behaupten, daß ich unzufrieden mit dem
+bin, was ich nach ihm gemacht habe, oder daß seine Schönheit
+derart ist, daß sie die Kunst nicht ausdrücken könne.
+Es gibt überhaupt nichts, was die Kunst nicht ausdrücken
+<a class="pagenum" name="Page_21" title="21"> </a>
+kann, und ich weiß: was ich gemacht habe, seitdem ich
+Dorian Gray kenne, ist gute Arbeit, ja, die gelungenste
+Arbeit meines Lebens. Aber auf irgendeine seltsame Weise
+&mdash; ich glaube kaum, daß du das verstehen wirst &mdash; hat mir
+seine Persönlichkeit eine vollständig neue Art der Kunst,
+einen durchaus neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge
+anders, ich denke darüber anders. Ich kann jetzt das Leben
+auf eine Art festhalten, die mir früher nicht gegeben war.
+‚Ein Traum von Form in unseren Tagen des Denkens‛:
+wer war es, der so sagte? Ich hab's vergessen, aber das
+bedeutet Dorian Gray für mich. Die bloße sichtbare
+Gegenwart dieses Knaben &mdash; denn für mich ist er kaum
+mehr als das, wenn er auch schon über die Zwanzig &mdash;
+seine bloße sichtbare Gegenwart &mdash; ach! ich glaube nicht,
+daß du einen Begriff davon hast, was sie für mich bedeutet!
+Ohne selbst es zu wissen, enthüllt er mir die Linien
+einer neuen Schule, einer Schule, in der enthalten ist die
+ganze Leidenschaft der Romantik und die ganze Vollkommenheit
+des griechischen Geistes. Die Harmonie von
+Seele und Leib, wieviel ist das doch! Wir in unserer Verblendung
+haben die beiden voneinander gerissen und haben
+uns einen Realismus erfunden, der gewöhnlich ist, und
+einen Idealismus, der leer ist. Harry! wenn du wissen
+könntest, was mir Dorian Gray ist! Erinnerst du dich an
+die Landschaft von mir, für die mir Agnew ein so wahnsinniges
+Geld angeboten hat und von der ich mich doch
+nie trennen wollte? Es ist sicher eins der besten Stücke,
+die ich je gemacht habe. Und warum? Weil Dorian Gray
+neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein ganz
+<a class="pagenum" name="Page_22" title="22"> </a>
+feines Fluidum strömte von ihm zu mir, und zum erstenmal
+in meinem Leben entdeckte ich in der simpeln Waldlandschaft
+das Wunder, nach dem ich immer gesucht und
+das ich nie gefunden hatte.“</p>
+
+<p>„Basil, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte.
+Ich muß Dorian Gray kennenlernen.“</p>
+
+<p>Hallward schnellte von der Bank auf und ging im
+Garten hin und her. Nach einer Weile kam er zurück.</p>
+
+<p>„Harry,“ sagte er, „Dorian Gray ist für mich nichts
+als ein künstlerisches Motiv. Vielleicht fändest du gar
+nichts in ihm. Ich finde alles in ihm. Er ist in Wirklichkeit
+nie mehr in meiner Arbeit lebendig, als wenn kein Schatten
+von ihm darin ist. Er ist für mich, wie ich sagte, die Anregung
+zu einem Stil. Ich finde ihn in den Schwingungen
+gewisser Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit
+gewisser Farben. Das ist alles.“</p>
+
+<p>„Warum aber willst du dann sein Bild nicht ausstellen?“
+fragte Lord Henry.</p>
+
+<p>„Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck
+all dieser ganz merkwürdigen Künstlervergötterung hineingelegt
+habe, von der ich natürlich nie zu ihm sprechen
+wollte. Er hat von alledem keine Ahnung. Er soll nie
+etwas davon ahnen. Aber die Welt könnte es erraten; und
+ich will meine Seele ihren seichten, spähenden Augen nicht
+entblößen. Mein Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop
+bekommen. Es ist zu viel von mir selbst in dem Dinge,
+Harry &mdash; zu viel von mir selbst.“</p>
+
+<p>„Dichter nehmen's nicht so genau wie du. Die wissen,
+wie einträglich es ist, Leidenschaft zu veröffentlichen. Ein
+<a class="pagenum" name="Page_23" title="23"> </a>
+gebrochenes Herz bringt es heutzutage zu einer ganzen
+Reihe von Auflagen.“</p>
+
+<p>„Ich finde sie darum eben abscheulich!“ rief Hallward
+aus. „Ein Künstler soll Schönes schaffen, aber er soll
+nichts von seinem eigenen Leben hineintragen. Wir leben
+in einer Zeit, wo die Menschen aus der Kunst eine Art
+Autobiographie zu machen wünschen. Wir haben eben den
+klaren Begriff für Schönheit verloren. Eines Tages will
+ich der Welt zeigen, was sie ist, und deshalb soll die Welt
+mein Bild Dorian Grays niemals sehen.“</p>
+
+<p>„Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will mit
+dir nicht streiten. Nur die geistig Entkernten streiten sich
+gern. Sag' mir, hat dich Dorian Gray sehr lieb?“</p>
+
+<p>Der Maler dachte ein paar Augenblicke nach. „Er hat
+mich gern“, antwortete er nach einer Weile; „sicher hat er
+mich gern. Natürlich schmeichle ich ihm fürchterlich. Ich
+finde eine ganz besondere Lust daran, ihm Dinge zu sagen,
+die mir später leid tun, wie ich ganz genau weiß. In der
+Regel ist er auch reizend zu mir, und wir sitzen dann im
+Atelier und schwatzen von tausend Dingen. Dann und
+wann ist er allerdings greulich gedankenlos und scheint
+große Freude darin zu finden, mir wehe zu tun. Dann,
+Harry, habe ich das Gefühl, daß ich jemand meine ganze
+Seele überantwortet habe, der sie behandelt wie eine
+Blume für das Knopfloch, wie ein kleines Ehrenzeichen,
+mit dem man seine Eitelkeit befriedigt, wie einen Zierat
+für einen Sommertag.“</p>
+
+<p>„Sommertage, Basil, pflegen manchmal lange zu währen“,
+murmelte Lord Henry. „Vielleicht wirst du seiner
+<a class="pagenum" name="Page_24" title="24"> </a>
+früher müde, als er deiner. Es ist sehr traurig, daran zu
+denken, aber es ist ohne Zweifel wahr, daß das Genie
+die Schönheit überlebt. Das erklärt auch die Tatsache,
+daß wir uns soviel Mühe geben, uns mit Bildung vollzupfropfen.
+In dem wilden Existenzkampfe ums Dasein
+wollen wir alle etwas Dauerhaftes haben, und so füllen
+wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der
+dummen Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten.
+Der durch und durch unterrichtete Mann &mdash; das ist das
+moderne Ideal. Und das Gehirn dieses durch und durch
+unterrichteten Mannes hat etwas Fürchterliches. Es gleicht
+einem Kuriositätenladen, in dem es lauter Ungeheuerlichkeiten
+voll Staub gibt, und wo jeder Gegenstand über
+seinen wahren Wert hinaus ausgezeichnet. Immerhin, ich
+glaube, du wirst zuerst müde werden. Eines Tages wirst
+du deinen jungen Freund anschauen und finden, daß er
+etwas verzeichnet ist, oder du wirst an seiner Farbe etwas
+auszusetzen haben oder irgend so etwas. Du wirst ihm
+dann in deinem Herzen bittere Vorwürfe machen und ganz
+ernsthaft überzeugt sein, daß er sich recht schlecht gegen dich
+benommen hat. Wenn er dich dann das nächstemal besucht,
+wirst du völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Das
+wird sehr schade sein, denn es wird dich selbst verändern.
+Was du mir da erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, eine
+Romanze der Kunst möchte man es nennen, und das
+Schlimmste beim Erleben von Gedichten ist nur, daß es
+einen so ganz unpoetisch zurückläßt.“</p>
+
+<p>„Harry, ich bitte, sprich nicht so. Solang' ich lebe, wird
+mich die Persönlichkeit Dorian Grays beherrschen. Du
+<a class="pagenum" name="Page_25" title="25"> </a>
+kannst meine Empfindung nicht nachfühlen. Du wandelst
+dich zu oft.“</p>
+
+<p>„Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich sie
+nachempfinden. Die treuen Menschen kennen nur die triviale
+Seite der Liebe; die Treulosen allein erfahren die
+Tragödien der Liebe.“ Und Lord Henry zündete an einem
+zierlichen silbernen Büchschen ein Streichholz an und begann
+eine Zigarette zu rauchen, mit jener so selbstbewußten,
+zufriedenen Miene, als hätte er den Sinn der
+ganzen Welt in einen Satz zusammengefaßt. Man hörte
+ein leises Rauschen von zirpenden Sperlingen in den
+grünen, wie mit glänzendem Lack überzogenen Efeublättern,
+und die blauen Wolkenschatten jagten wie Schwalben
+über das Gras. Wie reizend war es doch in dem Garten
+und wie entzückend waren die Gefühlsregungen anderer
+Leute! &mdash; weit entzückender als ihre Gedanken, so schien
+es ihm. Des Menschen eigene Seele und die Leidenschaft
+seiner Freunde &mdash; das sind die fesselnden Dinge des
+Lebens. Er stellte sich mit geheimem Vergnügen das langweilige
+Frühstück vor, das er durch seinen langen Besuch
+bei Basil Hallward versäumt hatte. Wäre er zu seiner
+Tante gegangen, hätte er dort sicher Lord Goodbody getroffen,
+und das ganze Gespräch hätte sich mit der Armenernährung
+und der Notwendigkeit von Musterwohnhäusern
+beschäftigt. Menschen jedes Standes hätten die Wichtigkeit
+gerade jener Tugenden gepredigt, für die sie in
+ihrem eigenen Leben gar keine Verwendung hatten. Der
+Reiche hätte von dem Werte der Sparsamkeit geredet, und
+der Träge mit wahrhafter Beredsamkeit über die Würde<a class="pagenum" name="Page_26" title="26"> </a>
+der Arbeit. Es war reizend, all dem entgangen zu sein.
+Als er an seine Tante dachte, schien ihm etwas einzufallen.
+Er wandte sich zu Basil und sagte: „Mein lieber Junge,
+ich erinnere mich jetzt.“</p>
+
+<p>„Woran erinnerst du dich, Harry?“</p>
+
+<p>„Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.“</p>
+
+<p>„Wo war das?“ fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln.</p>
+
+<p>„Schau' doch nicht so böse drein, Basil. Es war bei
+meiner Tante, Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie sei
+einem wunderhübschen jungen Menschen begegnet, der ihr
+im East-End helfen wolle, und er heiße Dorian Gray.
+Ich muß zugeben, sie hat mir nie etwas darüber gesagt,
+daß er so hübsch sei. Frauen haben kein Verständnis für
+Schönheit, wenigstens gute Frauen nicht. Sie sagte, daß
+er sehr ernst sei und eine edle Seele habe. Ich stellte mir
+natürlich sofort ein Wesen mit Brille und wallendem
+Haar und gräßlich vielen Sommersprossen vor, das auf
+riesigen Füßen umherstapfe. Ich wünsche jetzt, ich hätte
+gewußt, daß er dein Freund ist.“</p>
+
+<p>„Ich bin sehr froh, daß du es nicht gewußt hast, Harry.“</p>
+
+<p>„Warum?“</p>
+
+<p>„Ich will nicht, daß du ihn kennenlernst.“</p>
+
+<p>„Du willst nicht, daß ich ihn kennenlerne?“</p>
+
+<p>„Nein.“</p>
+
+<p>„Herr Dorian Gray ist im Atelier“, sagte der Diener,
+der in den Garten hinaustrat.</p>
+
+<p>„Jetzt mußt du mich vorstellen!“ rief Lord Henry
+lachend. Der Maler wandte sich zu seinem Diener, der<a class="pagenum" name="Page_27" title="27"> </a>
+blinzelnd in der Sonne dastand: „Bitten Sie Herrn
+Gray, zu warten, Parker; ich komme in ein paar Minuten.“
+Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus.</p>
+
+<p>Dann sah der Maler Lord Henry an. „Dorian Gray
+ist mein teuerster Freund“, sagte er. „Er hat eine schlichte
+und edle Seele. Deine Tante hatte ganz recht mit dem,
+was sie über ihn sagte. Verdirb ihn mir nicht. Versuche
+nicht, Einfluß auf ihn auszuüben. Dein Einfluß wäre verderblich.
+Die Welt ist groß, und es gibt eine Menge köstlicher
+Menschen auf ihr. Raube mir nicht den einzigen
+Menschen, der meiner Kunst ihren ganzen Zauber verleiht,
+den sie hat: mein Leben als Künstler hängt von
+ihm ab! Denke daran, Harry, ich vertraue dir.“ Er sprach
+sehr langsam, und die Worte schienen sich ihm gegen
+seinen Willen zu entringen.</p>
+
+<p>„Was für Unsinn du redest!“ sagte Lord Henry lächelnd,
+nahm Hallward unter den Arm und führte ihn in das
+Haus.</p>
+
+<h2><a name="Zweites_Kapitel" id="Zweites_Kapitel"></a>Zweites Kapitel</h2>
+
+
+<p>Als sie eintraten, erblickten sie Dorian Gray. Er saß
+am Klavier, mit dem Rücken ihnen zu, und blätterte in
+einem Notenbande mit Schumanns Waldszenen. „Die
+mußt du mir leihen, Basil!“ rief er aus. „Ich möchte
+sie spielen lernen. Sie sind geradezu entzückend.“</p>
+
+<p>„Das hängt ganz davon ab, wie du mir heute sitzen
+wirst, Dorian.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_28" title="28"> </a></p>
+
+<p>„Ach, ich habe das Sitzen lange satt, und ich will gar
+kein lebensgroßes Bild von mir“, antwortete der Jüngling
+und schwang sich in dem Musikstuhl auf eine eigensinnige,
+launische Knabenart herum. Als er aber Lord
+Henry erblickte, stieg für einen Augenblick ein schwaches
+Rot in seine Wangen, und er sprang auf. „Ich bitte um
+Entschuldigung, Basil, ich wußte nicht, daß jemand bei
+dir ist.“</p>
+
+<p>„Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter
+Freund von Oxford her. Ich habe ihm gerade erzählt,
+wie musterhaft du sitzen kannst, und jetzt hast du alles
+verdorben.“</p>
+
+<p>„Mir haben Sie das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft
+zu machen, nicht verdorben, Herr Gray“, sagte Lord
+Henry, ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.
+„Meine Tante hat oft von Ihnen gesprochen. Sie
+sind einer ihrer Lieblinge und, wie ich fürchte, auch ihrer
+Opfer.“</p>
+
+<p>„Ich stehe zur Zeit auf Lady Agathas schwarzer
+Liste“, antwortete Dorian mit einem komisch reuigen
+Gesichtsausdruck. „Ich hatte ihr versprochen, sie letzten
+Dienstag nach einem Klub in Whitechapel zu begleiten,
+und ich habe dann die Abmachung vergessen. Wir sollten
+da miteinander vierhändig spielen &mdash; drei Stücke
+glaube ich. Ich weiß nun nicht, was sie mir dazu sagen
+wird. Ich habe Angst, ihr einen Besuch zu machen.“</p>
+
+<p>„Oh, ich werde Sie mit meiner Tante versöhnen. Sie
+ist Ihnen äußerst zugetan. Und ich glaube auch, es schadet
+nichts, daß Sie nicht dort waren. Die Zuhörer<a class="pagenum" name="Page_29" title="29"> </a>
+haben sicher angenommen, es sei vierhändig gespielt worden.
+Wenn sich Tante Agatha ans Klavier setzt, macht
+sie für zwei Personen reichlich Lärm.“</p>
+
+<p>„Sie sprechen sehr schlecht von ihr, und mir machen Sie
+auch gerade kein Kompliment damit“, antwortete Dorian
+lachend.</p>
+
+<p>Lord Henry sah ihn an. Ja, er war wirklich wunderbar
+schön, mit seinen feingeschwungenen dunkelroten Lippen,
+seinen offenen blauen Augen und seinem gewellten,
+goldblonden Haar. In seinem Gesicht war ein Ausdruck,
+der sofort Vertrauen erweckte. Aller Glanz der Jugend
+lag darin und ebenso all die leidenschaftliche Reinheit
+der Jugend. Man fühlte, daß er bisher noch nicht von
+der Welt befleckt war. Kein Wunder, daß ihn Basil
+Hallward anbetete.</p>
+
+<p>„Sie sind viel zu hübsch, um sich mit Wohltätigkeit abzugeben,
+Herr Gray &mdash; viel zu hübsch!“ Und Lord
+Henry warf sich auf den Diwan und öffnete seine Zigarettendose.</p>
+
+<p>Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt
+und seine Pinsel zurechtgemacht. Er sah etwas gequält
+aus, und als er Lord Henrys letzte Bemerkung
+hörte, blickte er zu ihm hin, sann einen Augenblick nach
+und sagte dann: „Harry, ich möchte das Bild heute
+fertig kriegen. Fändest du es sehr grob von mir, wenn
+ich dich jetzt bäte, uns allein zu lassen?“</p>
+
+<p>Lord Henry lächelte und sah Dorian Gray an. „Soll
+ich gehen, Herr Gray?“ fragte er.</p>
+
+<p>„Oh, bitte, nein, Lord Henry. Ich sehe, Basil hat<a class="pagenum" name="Page_30" title="30"> </a>
+wieder einen seiner schlechten Tage, und ich kann ihn
+nicht vertragen, wenn er so brummt. Außerdem möchte
+ich von Ihnen erfahren, warum ich mich nicht mit Wohltätigkeit
+befassen soll?“</p>
+
+<p>„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Herr
+Gray. Es ist ein so langweiliges Thema, daß man schon
+ernsthaft darüber reden müßte. Aber jetzt geh ich auf
+keinen Fall, nachdem Sie mir erlaubt haben, dazubleiben.
+Du hast doch nichts im Ernst dagegen, Basil? Du
+hast mir oft genug gesagt, daß es dir angenehm sei,
+wenn deine Modelle mit jemand plaudern können.“</p>
+
+<p>Hallward biß sich auf die Lippe. „Wenn es Dorian
+wünscht, wirst du natürlich dableiben. Dorians Launen
+sind Gesetze für jedermann, außer für ihn selbst.“</p>
+
+<p>Lord Henry nahm seinen Hut und seine Handschuhe.
+„Trotz deiner dringenden Aufforderung, Basil, fürchte
+ich, gehen zu müssen. Ich habe mit jemand eine Verabredung
+im Orleans-Klub. Adieu, Herr Gray! Bitte,
+besuchen Sie mich doch mal eines Nachmittags in Curzon
+Street. Um fünf Uhr treffen Sie mich fast immer. Schreiben
+Sie mir, bitte, wann Sie kommen. Es täte mir sehr
+leid, wenn Sie mich verfehlten.“</p>
+
+<p>„Basil,“ rief Dorian Gray, „wenn Lord Henry Wotton
+geht, dann gehe ich auch. Du bringst ja beim Malen
+nie die Lippen auseinander, und es ist furchtbar ermüdend,
+auf einem Podium zu stehen und sich anzustrengen,
+freundlich auszusehen. Bitte ihn, dazubleiben.
+Ich bestehe darauf.“</p>
+
+<p>„Bleib, Harry, du machst Dorian damit ein Vergnügen<a class="pagenum" name="Page_31" title="31"> </a>
+und auch mir“, sagte Hallward, ohne von seinem
+Bilde aufzublicken. „Er hat ganz recht, ich spreche nie
+ein Wort während der Arbeit und höre ebensowenig zu,
+und das muß sehr langweilig für meine unglücklichen
+Modelle sein. Ich bitte dich also, bleib.“</p>
+
+<p>„Was fange ich aber mit meinem Mann im Orleans
+an?“</p>
+
+<p>Der Maler lachte. „Ich glaube, damit wird es keine
+Schwierigkeit haben. Setz dich nur wieder, Harry. Und
+jetzt, Dorian, geh auf das Podium und bewege dich
+nicht zuviel und achte auch nicht auf das, was Lord Henry
+sagt. Er hat einen sehr bösen Einfluß auf alle seine
+Freunde, nur mich ausgenommen.“</p>
+
+<p>Dorian Gray bestieg das Podium mit der Miene eines
+jungen griechischen Märtyrers und stieß, zu Lord Henry
+gewandt, der ihm gleich gut gefallen hatte, einen kleinen
+drolligen Seufzer aus. Dieser Mann war so ganz anders
+als Basil. Die beiden bildeten einen entzückenden Gegensatz.
+Und er hatte ein so schönes Organ. Nach ein paar
+Augenblicken sagte Dorian zu ihm: „Haben Sie wirklich
+einen so bösen Einfluß, Lord Henry? Ist es so arg,
+wie Basil sagt?“</p>
+
+<p>„Es gibt keinen sogenannten guten Einfluß, Herr Gray.
+Jeder Einfluß ist unmoralisch &mdash; unmoralisch vom wissenschaftlichen
+Standpunkt aus.“</p>
+
+<p>„Wieso?“</p>
+
+<p>„Weil jemand beeinflussen soviel ist wie ihm die eigene
+Seele leihen. Er denkt dann nicht mehr seine natürlichen
+Gedanken und brennt nicht mehr in seinem natürlichen<a class="pagenum" name="Page_32" title="32"> </a>
+Feuer. Seine Tugenden sind gar nicht seine Tugenden.
+Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind
+nur ausgeborgte. Er wird ein Echo für die Töne eines
+anderen, Schauspieler einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben
+wurde. Der Sinn des Daseins ist: Selbstentwicklung.
+Die eigene Natur voll zum Ausdruck zu bringen
+&mdash; diese Aufgabe hat jeder von uns hier zu lösen.
+Heutzutage hat jeder Mensch Angst vor sich. Sie haben
+ihre heiligste Pflicht vergessen, nämlich die gegen sich
+selbst. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren den Hungernden
+und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen
+darben und gehen nackt. Der Mut ist unserem Geschlecht
+abhanden gekommen. Vielleicht haben wir ihn nie
+wirklich besessen. Die Furcht vor der Gesellschaft als der
+Grundlage der Sittlichkeit, und die Furcht vor Gott, als
+dem Geheimnis der Religion &mdash; das sind die zwei Dinge,
+die uns beherrschen. Und doch &mdash;“</p>
+
+<p>„Dorian, dreh den Kopf mal ein wenig mehr nach
+rechts, sei so gut“, sagte der Maler, der ganz in sein
+Werk vertieft war, aber doch gemerkt hatte, daß in des
+Jünglings Gesicht ein Ausdruck getreten war, den er
+vorher nie darin gesehen hatte.</p>
+
+<p>„Und doch,“ fuhr Lord Henry mit seiner tiefen musikalischen
+Stimme fort, während er die Hand in der anmutigen
+Art bewegte, die er schon seinerzeit in Eton gehabt
+hatte, „ich glaube, wenn die Menschen nur ihr
+eigenes Leben voll, bis auf den letzten Rest ausleben
+würden, jedes Gefühl Gestalt bekommen lassen, jeden
+Gedanken ausdrücken, jeden Traum in Dasein umsetzen<a class="pagenum" name="Page_33" title="33"> </a>
+wollten &mdash; ich glaube, dann käme in die Welt ein solcher
+Schwung von neuer Freudigkeit, daß wir alle die Krankheiten
+des Mittelalters vergäßen und zum hellenischen
+Ideal zurückkehrten, ja wir kämen vielleicht zu etwas
+Feinerem und Reicherem, als das hellenische Ideal war.
+Aber selbst der Tapferste unter uns hat Angst vor sich selber.
+Die Selbstverstümmelung der Wilden hat ihr tragisches
+Überbleibsel in der Selbstverleugnung, die unser Leben
+verstümmelt. Wir büßen für unsere Entsagungen. Jeder
+Trieb, den wir zu ersticken suchen, frißt im Innern weiter
+und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal und
+hat sich durch die Sünde befreit, denn Tat ist immer eine
+Art Reinigung. Nichts bleibt davon zurück als die Erinnerung
+an ein Vergnügen oder die schmerzliche Wollust
+der Reue. Der einzige Weg, eine Versuchung zu bestehen,
+ist, sich ihr hinzugeben. Widerstehen Sie ihr, und Ihre
+Seele erkrankt vor Sehnsucht nach der Erfüllung, die
+sie sich selber verweigert hat, erkrankt vor dem Verlangen
+nach dem, was ihre ungeheuerlichen Gesetze ungeheuerlich
+und ungesetzmäßig gemacht haben. Es ist wohl gesagt
+worden, die großen Ereignisse der Welt gingen im Gehirn
+vor sich. Im Gehirn und ganz allein im Gehirn
+werden auch die großen Sünden der Welt begangen. Sie,
+Herr Gray, Sie selbst mit Ihrer rosenroten Jugend und
+Ihrer rosenblassen Knabenunschuld, Sie haben schon Leidenschaften
+erlebt, die Ihnen Angst einjagten, haben Gedanken
+gehabt, die Sie in Schrecken setzten, haben wachend
+und schlafend Träume gehabt, deren bloße Erinnerung
+Ihre Wangen schamrot werden ließ &mdash;“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_34" title="34"> </a></p>
+
+<p>„Hören Sie auf,“ stammelte Dorian Gray, „hören Sie
+auf, Sie machen mich ganz wirr. Ich weiß nicht, was ich
+sagen soll. Es gibt eine Antwort darauf, aber ich kann
+sie nicht finden. Sagen Sie nichts mehr! Lassen Sie mich
+nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, dem
+nicht nachzudenken.“</p>
+
+<p>Etwa zehn Minuten stand er bewegungslos da, mit
+halboffenen Lippen und seltsam leuchtenden Augen. Er
+war sich dumpf bewußt, daß ganz neue Einflüsse in ihm
+arbeiteten. Und doch schien es, als kämen sie in Wirklichkeit
+aus seinem eigenen Innern. Die paar Worte, die
+Basils Freund zu ihm gesagt hatte &mdash; ohne Zweifel zufällig
+hingeworfene Worte voll absichtlicher Paradoxie &mdash;
+hatten eine geheime Saite seiner Seele berührt, die vordem
+nie berührt worden war, die er aber nun zittern und
+in seltsamer Wildheit schluchzen hörte.</p>
+
+<p>Musik hatte ihn so ähnlich aufgewühlt. Musik hatte ihn
+oft in Aufruhr gebracht. Aber Musik war etwas Unbestimmtes.
+Sie bringt keine neue Welt in uns hervor;
+schafft eher ein neues Chaos in uns. Worte! Bloße
+Worte! Wie schrecklich die waren! Wie klar und lebendig
+und grausam! Man konnte ihnen nicht entrinnen. Und
+doch, welch tiefer Zauber steckte in ihnen! Sie schienen
+die Kraft zu haben, formlosen Dingen eine greifbare
+Gestalt zu geben, und schienen eine Musik in sich zu bergen,
+so süß wie die der Geige oder der Laute. Bloße
+Worte! Gab es denn irgend etwas so Wirkliches wie
+Worte?</p>
+
+<p>Ja; es hatte in seiner Knabenzeit Dinge gegeben, die<a class="pagenum" name="Page_35" title="35"> </a>
+ihm unbegreiflich geblieben waren. Jetzt verstand er sie.
+Plötzlich bekam das Leben für ihn lodernde Farben. Nun
+schien es ihm, als sei er mittenhin durch Feuer gewandelt.
+Warum hatte er es nie gemerkt?</p>
+
+<p>Lord Henry beobachtete ihn mit einem feinspürenden
+Lächeln. Er verstand sich gut auf jenen psychologischen
+Moment, in dem man kein Wort sagen darf. Er fühlte
+sich sehr stark interessiert. Die jähe Wirkung seiner Worte
+machte ihn erstaunen; nun entsann er sich eines Buches,
+das er mit sechzehn Jahren gelesen und das ihm viel bis
+dahin Unbekanntes enthüllt hatte, und er fragte sich, ob
+Dorian Gray jetzt wohl eine ähnliche Erfahrung erlebe.
+Er hatte nur einen Pfeil ins Blaue geschossen. Hatte er
+das Ziel getroffen? Wie anziehend doch dieser Junge
+war!</p>
+
+<p>Inzwischen malte Hallward in jenen wundervollen,
+kühnen Zügen weiter, die das Zeichen aller wahren Feinheit
+und Vollkommenheit sind, denn die kann der Kunst
+nur aus der Kraft werden. Er merkte die wortlose Stille
+gar nicht.</p>
+
+<p>„Basil, ich habe jetzt genug von dem Stehen!“ rief
+Dorian plötzlich aus. „Ich muß hinaus und mich im
+Garten hinsetzen. Die Luft hier ist zum Ersticken.“</p>
+
+<p>„Mein Bester, das tut mir wirklich leid. Wenn ich male,
+kann ich an nichts anderes denken. Aber du hast nie besser
+Modell gestanden. Du warst ganz ruhig. Und ich habe
+endlich den Ausdruck herausgebracht, den ich gesucht habe
+&mdash; die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen.
+Ich weiß nicht, was Harry dir erzählt hat, aber sicher hat<a class="pagenum" name="Page_36" title="36"> </a>
+er es bewirkt, daß du den prachtvollsten Ausdruck hast. Ich
+vermute, er hat dir Komplimente gemacht. Du darfst ihm
+nur kein einziges Wort glauben.“</p>
+
+<p>„Er hat mir nicht das kleinste Kompliment gemacht.
+Vielleicht ist das der Grund, daß ich wirklich kein Wort
+von dem glaube, was er gesagt hat.“</p>
+
+<p>„Sie wissen selbst, daß Sie jedes Wort davon glauben“,
+erwiderte Lord Harry, der ihn mit seinen weichen, träumerischen
+Augen ansah. „Wir wollen zusammen in den
+Garten gehen. Es ist furchtbar heiß hier im Atelier. Basil,
+laß uns irgendein Eisgetränk geben, irgendwas mit Erdbeeren
+darin.“</p>
+
+<p>„Gern, Harry. Klingele nur selbst, und wenn Parker
+kommt, will ich ihm sagen, was Ihr haben wollt. Ich
+muß erst den Hintergrund hier noch fertig machen und
+komme dann später nach. Halte mir Dorian aber nicht
+zu lange fest. Ich war nie in besserer Malstimmung als
+heute. Dies Porträt wird mein Meisterwerk. Wie es da
+steht, ist es schon mein Meisterwerk.“</p>
+
+<p>Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand dort
+Dorian Gray, wie er sein Gesicht hinter den großen,
+kühlen Blütenbüscheln der Fliedersträuche versteckte und
+fieberhaft ihren Duft einsog, als tränke er Wein. Er trat
+nahe an ihn heran und legte ihm die Hand auf die
+Achsel. „Sie haben ganz recht, so zu tun“, sagte er leise.
+„Nichts hilft der Seele besser als die Sinne, sowie den
+Sinnen nichts besser als die Seele helfen kann.“</p>
+
+<p>Der Jüngling schreckte auf und trat einen Schritt zurück.
+Er war ohne Hut, und das Blattgewirr hatte seine widerspenstigen<a class="pagenum" name="Page_37" title="37"> </a>
+Locken aufgewühlt und ihre goldblonden Strähnen
+in Unordnung gebracht. In seinen Augen lag ein
+Ausdruck von Furcht, wie ihn Menschen haben, die man
+jäh aus dem Schlaf reißt. Seine zartgeformten Nasenflügel
+bebten, und ein geheimer Nerv zuckte leis an den
+scharlachroten Lippen, so daß sie beständig zitterten.</p>
+
+<p>„Ja,“ fuhr Lord Henry fort, „das ist eines der großen
+Geheimnisse des Daseins &mdash; die Seele durch die Sinne
+und die Sinne durch die Seele heilen können. Sie sind ein
+wunderbares Menschenkind! Sie wissen mehr, als Ihnen
+bewußt ist, gerade wie Sie weniger wissen, als Ihnen
+dienlich ist.“</p>
+
+<p>Dorian Gray runzelte die Stirn und wendete den Kopf
+weg. Ein unwiderstehlicher Reiz zog ihn zu diesem großen,
+anmutigen jungen Mann hin, der da neben ihm stand.
+Sein romantisches, olivenfarbiges Gesicht und der müde
+Ausdruck darin fesselten ihn. Es war etwas in dem müden
+Ton seiner Stimme, was völlig in Bann schlug. Auch seine
+Hände, kühl, weiß und blumenhaft, zogen an. Sie bewegten
+sich bei seinen Worten, begleiteten sie wie Musik
+und schienen ihre eigene Sprache zu reden. Aber er hatte
+auch Angst vor ihm und schämte sich dieser Angst. Warum
+hatte ein Fremder kommen müssen, um ihn sich selber zu
+offenbaren? Er kannte Basil Hallward nun seit Monaten,
+aber diese Freundschaft hatte ihn niemals verwandelt.
+Jetzt war plötzlich jemand in sein Leben getreten, der ihm
+des Lebens Mysterium enthüllt zu haben schien. Und doch,
+wovor sollte er sich fürchten? Er war kein Schulknabe
+und kein kleines Mädchen. Es war töricht, Angst zu haben.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_38" title="38"> </a></p>
+
+<p>„Kommen Sie und setzen wir uns in den Schatten“,
+sagte Lord Henry. „Parker hat uns was zu trinken gebracht,
+und wenn Sie noch länger in solcher Sonnenglut
+stehenbleiben, werden Sie sich Ihren Teint verderben,
+und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich
+nicht von der Sonne verbrennen lassen. Es würde
+Ihnen schlecht stehen.“</p>
+
+<p>„Was läge weiter daran?“ rief Dorian Gray und
+lachte, als er sich auf eine Bank am Ende des Gartens setzte.</p>
+
+<p>„Alles sollte Ihnen daran liegen, Herr Gray.“</p>
+
+<p>„Wieso?“</p>
+
+<p>„Weil Sie die wundervollste Jugend haben, und Jugend
+ist das einzige, dessen Besitz einen Wert hat.“</p>
+
+<p>„Ich empfinde das nicht, Lord Henry.“</p>
+
+<p>„Nein, jetzt empfinden Sie es nicht. Später einmal,
+wenn Sie alt, runzlig und häßlich sind, wenn das Denken
+Furchen in Ihre Stirne gegraben und die Leidenschaft
+Ihre Lippen mit ihrem schrecklichen Feuer verbrannt hat,
+dann werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt
+können Sie hingehen, wo Sie wollen, und Sie berücken
+die ganze Welt! Wird das immer so sein?... Sie haben
+ein wundervoll schönes Gesicht, Herr Gray. Runzeln Sie
+nicht die Stirn. Sie haben es. Und Schönheit ist eine Form
+des Genies &mdash; steht in Wahrheit noch höher als das
+Genie, da sie keinerlei Erklärung bedarf. Sie ist eine der
+großen Lebenstatsachen, wie das Sonnenlicht oder der
+Lenz oder wie in dunkeln Gewässern der Widerschein der
+Silbermuschel, die wir Mond nennen. Sie kann nicht bestritten
+werden. Sie hat ein göttliches, erhabenes Recht.<a class="pagenum" name="Page_39" title="39"> </a>
+Wer sie hat, den macht sie zu einem Prinzen. Sie
+lächeln? Oh, wenn Sie sie verloren haben, lächeln Sie
+nicht mehr... Die Leute sagen manchmal, Schönheit sei
+nur etwas Äußerliches. Mag sein. Aber zum mindesten
+ist sie nicht so äußerlich wie das Denken. Für mich ist
+Schönheit aller Wunder Wunder. Nur die Hohlköpfe urteilen
+nicht nach dem Äußeren. Das wahre Geheimnis der
+Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare... Ja,
+Herr Gray, die Götter haben es gut mit Ihnen gemeint.
+Aber was die Götter schenken, rauben sie bald wieder.
+Sie haben nur ein paar Jahre, wo Sie wahrhaftig vollkommen,
+restlos leben können. Indem Ihre Jugend verrauscht
+ist, nimmt sie die Schönheit mit, und dann werden
+Sie plötzlich entdecken, daß Ihrer keine Siege mehr
+warten, oder daß Sie sich mit jenen traurigen Siegen
+werden begnügen müssen, die Ihnen die Erinnerung an
+die Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen.
+Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie näher einem
+schrecklichen Ziele. Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und
+kämpft gegen Ihre Lilien und Rosen. Sie werden fahl und
+hohlwangig, und Ihre Augen werden sich trüben. Sie
+werden unsäglich leiden... Ach! leben Sie Ihre Jugend,
+solange sie da ist. Vergeuden Sie das Gold Ihrer Tage
+nicht, leihen Sie Ihr Ohr nicht den Philistern, mühen
+Sie sich nicht, hoffnungslose Verhängnisse zu verbessern,
+geben Sie Ihr Leben nicht den Unwissenden, Niedrigen,
+den gemeinen Leuten hin! Das sind die kranken Ziele, die
+falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das
+wunderschöne Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich<a class="pagenum" name="Page_40" title="40"> </a>
+nichts verloren sein! Suchen Sie rastlos nach neuen
+Sinneseindrücken! Fürchten Sie nichts... Ein neuer Hedonismus
+&mdash; der täte unserem Jahrhundert not. Sie könnten
+sein sichtbares Symbol werden. Mit Ihrer Persönlichkeit
+können Sie alles wagen. Die Welt gehört Ihnen
+einen Sommer hindurch... Im Augenblick, da ich Sie
+sah, merkte ich, daß Sie keine Ahnung davon haben, was
+Sie wirklich sind, was Sie wirklich sein könnten. So viel
+in Ihnen entzückte mich, daß ich förmlich gezwungen war,
+Ihnen etwas über Ihre Natur zu sagen. Ich dachte mir,
+welche Tragik darin läge, wenn Sie vergebens lebten.
+Denn Ihre Jugend währt nur so kurze Zeit &mdash; so kurze
+Zeit. Die alltäglichen Wiesenblumen welken, aber sie
+blühen wieder. Der Goldregen wird im nächsten Juni genau
+so gelb sein wie heute. In einem Monat setzt die Klematis
+purpurne Sterne an, und Jahr für Jahr umhüllt
+die grüne Nacht ihrer Blätter solche Purpursterne. Aber
+wir Menschen bekommen unsere Jugend nie wieder. Die
+Freude, die den Puls des Zwanzigjährigen peitscht, läßt
+nach. Unsere Glieder versagen, die Sinne werden seicht.
+Wir verkommen und werden greuliche Verpuppungen,
+werden verfolgt von den Erinnerungen an die Leidenschaften,
+vor denen wir zurückgeschreckt sind, und an die
+reizenden Versuchungen, denen zu erliegen wir nicht den
+Mut hatten. Jugend! Jugend! Es gibt in der Welt nichts
+weiter als Jugend!“</p>
+
+<p>Dorian Gray hörte zu, mit aufgerissenen Augen und
+staunend. Der Fliederzweig, den er in der Hand hielt, fiel
+auf den Kies. Eine Biene in ihrem Pelzkleid schoß her<a class="pagenum" name="Page_41" title="41"> </a>
+und umsummte ihn einen Augenblick. Dann krabbelte sie
+eifrig auf den kleinen Blumensternen herum. Er beobachtete
+sie mit dem seltsamen Interesse an gewöhnlichen Dingen,
+das wir in uns heranzubilden suchen, wenn wir uns vor
+entscheidenden Dingen fürchten, oder wenn uns ein neues
+Gefühl erschüttert, für das wir noch keine Formel haben,
+oder wenn ein schrecklicher Gedanke das Hirn umklammert
+und verlangt, daß wir uns ihm ausliefern sollen. Nach
+einer Weile schwirrte die Biene weg. Er sah sie in den
+bunten Trompetentrichter einer tyrischen Winde kriechen.
+Die Blume schien zusammenzuzucken und bewegte sich dann
+mit Grazie hin und her.</p>
+
+<p>Plötzlich erschien der Maler unter der Tür des Ateliers
+und forderte sie mit kurzen wiederholten Zeichen auf,
+hereinzukommen. Sie sahen sich einander an und lächelten.</p>
+
+<p>„Ich warte!“ rief er. „Kommt herein! Das Licht ist
+ganz prächtig, und ihr könnt eure Gläser mitbringen.“</p>
+
+<p>Sie standen auf und schlenderten den Weg zurück. Zwei
+grünlichweiße Schmetterlinge flatterten an ihnen vorüber,
+und in dem Birnbaum an der Gartenecke begann eine
+Drossel zu flöten.</p>
+
+<p>„Es freut Sie, mich kennengelernt zu haben, Herr
+Gray?“ fragte Lord Henry und blickte ihn an,</p>
+
+<p>„Ja, jetzt bin ich erfreut darüber. Ich weiß nicht, ob
+ich's immer sein werde!“</p>
+
+<p>„Immer! das ist ein schreckliches Wort. Ich schaudere,
+wenn ich es höre. Die Frauen haben es so gern. Sie zerstören
+sich jedes Abenteuer, indem sie ihm Ewigkeit verleihen
+wollen. Außerdem ist es ein sinnloses Wort. Der<a class="pagenum" name="Page_42" title="42"> </a>
+einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer Leidenschaft,
+die ein Leben lang dauert, ist, daß die Laune ein
+bißchen länger dauert.“</p>
+
+<p>Als sie ins Atelier traten, legte Dorian Gray seine
+Hand auf Lord Henrys Arm. „Lassen Sie also unsere
+Freundschaft eine Laune sein“, sagte er leise und errötete
+über seine eigene Kühnheit. Dann bestieg er das Podium
+und nahm wieder seine Stellung ein.</p>
+
+<p>Lord Henry warf sich in einen bequemen Korbsessel und
+beobachtete ihn. Das Hin- und Herfahren des Pinsels
+auf der Leinwand war das einzige, die Stille unterbrechende
+Geräusch, nur manchmal hörte man den Schritt
+Hallwards, wenn er zurücktrat, um sein Werk aus der
+Entfernung zu prüfen. In den schrägen Sonnenstrahlen,
+die durch die offene Tür fluteten, tanzte der Staub in
+goldenen Schuppen. Über allem lagerte der schwere Duft
+der Rosen.</p>
+
+<p>Als etwa eine Viertelstunde vergangen war, hörte Hallward
+zu malen auf, betrachtete Dorian lange Zeit, sah
+dann lange auf das Bildnis, nagte an dem Stiel eines
+seiner großen Pinsel und runzelte die Stirn. „Ganz fertig“,
+rief er endlich, bückte sich und schrieb in großen grellroten
+Lettern seinen Namen in die linke Ecke der Leinwand.</p>
+
+<p>Lord Henry trat heran und betrachtete das Bild mit
+Kennerblick. Es war in der Tat ein wunderbares Kunstwerk
+und auch wunderbar ähnlich.</p>
+
+<p>„Lieber Junge,“ sagte er, „ich wünsche dir herzlich
+Glück. Es ist das beste Porträt unserer ganzen Zeit. Herr
+Gray, kommen Sie und sehen Sie selbst!“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_43" title="43"> </a></p>
+
+<p>Der Jüngling schrak wie aus einem Traume auf. „Ist
+es wirklich fertig?“ murmelte er, als er vom Podium
+herabstieg.</p>
+
+<p>„Ganz fertig“, antwortete der Maler. „Und du hast
+heute glänzend Modell gestanden. Ich bin dir sehr, sehr
+dankbar.“</p>
+
+<p>„Das ist nur mein Verdienst“, warf Lord Henry ein.
+„Nicht wahr, Herr Gray?“</p>
+
+<p>Dorian gab keine Antwort, sondern trat, ohne hinzuhören,
+vor sein Bild und wandte sich dem Werke zu. Als
+er es sah, zuckte er zusammen, und seine Wangen röteten
+sich einen Augenblick vor Vergnügen. Ein Ausdruck der
+Freude blitzte in seinen Augen, als erkenne er sich selbst
+jetzt zum ersten Male. Bewegungslos und in Staunen
+versunken, stand er da und merkte dumpf, daß Hallward
+zu ihm sprach, ohne daß er den Sinn der Worte erfaßte.
+Das Gefühl seiner eigenen Schönheit kam über ihn wie
+eine Offenbarung. Er hatte es nie vorher empfunden.
+Basil Hallwards Komplimente hatte er nur für liebenswürdige
+Übertreibungen der Freundschaft gehalten. Er
+hatte sie gehört, über sie gelacht und sie vergessen. Sein
+Wesen hatten sie niemals beeinflußt. Dann war Lord
+Henry Wotton gekommen mit seinem sonderbaren Hymnus
+auf die Jugend, seiner schrecklichen Warnung von
+ihrer Flüchtigkeit. Das hatte ihn rechtzeitig aufgerüttelt,
+und als er jetzt dastand und das Abbild der eigenen
+Schönheit betrachtete, durchdrang ihn die volle Wirklichkeit
+jener Schilderung. Ja, der Tag mußte kommen,
+da sein Gesicht verrunzelt und verwelkt, die Augen trüb<a class="pagenum" name="Page_44" title="44"> </a>
+und farblos, die Anmut seiner Gestalt geknickt und entstellt
+sein würde. Das Scharlachrot der Lippen würde
+verblassen, der Goldglanz des Haares sich wegstehlen. Das
+Leben, das von seiner Seele gebildet wurde, zerstörte
+seinen Körper. Er würde häßlich, abscheuerregend und
+formlos werden.</p>
+
+<p>Als er daran dachte, durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz
+wie ein Messerstich und ließ die feinsten Nerven seines Ichs
+erbeben. Seine Augen verdunkelten sich zu Amethysten,
+und ein Tränenflor umschleierte sie. Es war, als hätte
+sich ihm eine eiskalte Hand aufs Herz gelegt.</p>
+
+<p>„Gefällt es dir nicht?“ rief endlich Hallward, ein wenig
+gereizt durch das Schweigen des Jünglings, dessen Grund
+er nicht begriff.</p>
+
+<p>„Natürlich gefällt's ihm“, sagte Lord Henry. „Wem
+würde es nicht gefallen? Es gehört zu den größten Werken
+der modernen Kunst. Ich gebe dir jeden Betrag dafür,
+den du verlangst. Ich muß es haben.“</p>
+
+<p>„Es gehört nicht mir, Harry.“</p>
+
+<p>„Wem denn?“</p>
+
+<p>„Dorian natürlich“, antwortete der Maler.</p>
+
+<p>„Da hat er Glück...“</p>
+
+<p>„Wie traurig!“ flüsterte Dorian und hielt die Augen
+noch immer fest auf das Bild gerichtet. „Wie traurig!
+Ich werde alt werden und häßlich und widerlich. Aber
+dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über den
+heutigen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt
+sein könnte! Wenn ich ewig jung bliebe und dafür
+das Bild altern könnte! Dafür &mdash; dafür &mdash; gäbe ich alles!<a class="pagenum" name="Page_45" title="45"> </a>
+Ja, nichts in aller Welt wäre mir dafür zuviel! Ich gäbe
+meine Seele dafür!“</p>
+
+<p>„Dieser Tausch würde dir schwerlich passen, Basil“, rief
+Lord Henry lachend. „Das wäre schlimm für dein Bild.“</p>
+
+<p>„Ich würde mich ernstlich dagegen wehren, Harry“,
+sagte Hallward.</p>
+
+<p>Dorian Gray wandte sich zu ihm und sah ihn an. „Ich
+bin davon überzeugt, Basil. Die Kunst ist dir mehr als
+deine Freunde. Ich bedeute für dich nicht mehr als eine
+grüne Bronzefigur. Vielleicht kaum so viel, müßte ich
+sagen.“</p>
+
+<p>Der Maler war starr vor Erstaunen. So zu sprechen
+sah Dorian gar nicht ähnlich. Was war geschehen? Er
+schien ganz erregt. Sein Gesicht war gerötet, und die
+Wangen brannten.</p>
+
+<p>„Ja,“ fuhr er fort, „ich bin dir weniger als dieser Hermes
+aus Elfenbein oder der silberne Faun da. Die wirst
+du immer liebbehalten. Wie lange wirst du mich liebhaben?
+Vermutlich bis die erste Runzel mein Gesicht entstellt.
+Ich weiß jetzt, wenn man erst seine Schönheit verliert,
+hat man alles verloren. Dein Bild hat mich dies
+gelehrt. Lord Henry Wotton hat ganz recht. Jugend ist
+das einzige, was Wert hat auf der Welt. Sowie ich entdecke,
+daß ich alt werde, bringe ich mich um.“</p>
+
+<p>Hallward wurde bleich und faßte ihn bei der Hand.
+„Dorian, Dorian!“ rief er, „sage so etwas nicht. Ich habe
+nie einen Freund gehabt wie dich und werde nie wieder
+so einen haben. Du bist doch nicht auf leblose Dinge eifersüchtig?
+Du, der schöner ist als irgendeines von ihnen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_46" title="46"> </a></p>
+
+<p>„Ich bin eifersüchtig auf jedes Ding, dessen Schönheit
+nicht stirbt. Ich bin eifersüchtig auf das Bild, das du von
+mir gemalt hast. Warum darf es behalten, was ich verlieren
+muß? Jeder Augenblick, der verfliegt, raubt mir
+etwas und schenkt ihm etwas. Oh, wenn es doch umgekehrt
+wäre! Wenn sich das Bild verändern und ich immer bleiben
+könnte, wie ich jetzt bin! Warum hast du es gemalt?
+Es wird mich dereinst verhöhnen &mdash; furchtbar verhöhnen!“
+Die heißen Tränen traten ihm in die Augen, er zog seine
+Hand weg, warf sich auf den Diwan und vergrub sein
+Gesicht in den Kissen, als betete er.</p>
+
+<p>„Das ist dein Werk, Harry“, sagte der Maler bitter.</p>
+
+<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Es ist der wahre Dorian
+Gray &mdash; sonst nichts.“</p>
+
+<p>„Das ist er nicht.“</p>
+
+<p>„Wenn er es nicht ist, was habe ich damit zu schaffen?“</p>
+
+<p>„Du hättest weggehen sollen, als ich dich darum bat“,
+grollte er.</p>
+
+<p>„Ich blieb, als du mich darum batest“, war Lord
+Henrys Erwiderung.</p>
+
+<p>„Harry, ich kann nicht auf einmal mit meinen beiden
+besten Freunden Streit anfangen, aber ihr beide habt
+schuld, daß ich das beste Stück, das mir je gelungen ist,
+hassen muß, und ich werde es vernichten. Ist es schließlich
+mehr als Leinwand und Farbe? Ich will es nicht eingreifen
+lassen in drei Leben und sie zerstören.“</p>
+
+<p>Dorian Gray hob seinen goldschimmernden Kopf von
+dem Kissen und blickte ihn mit bleichem Gesicht und tränenfeuchten
+Augen an, als er zu dem Maltische aus Kiefernholz<a class="pagenum" name="Page_47" title="47"> </a>
+trat, der unter dem hohen verhängten Fenster stand.
+Was wollte Basil beginnen? Seine Finger wühlten zwischen
+dem Wust von Blechtuben und trockenen Pinseln
+herum, als suchten sie etwas. Ja, sie suchten das lange
+Schabmesser mit der schmalen Klinge aus schmiegsamem
+Stahl. Endlich hatte er es gefunden. Er wollte die Leinwand
+zerschlitzen.</p>
+
+<p>Mit einem erstickten Schluchzen sprang der Jüngling
+vom Diwan auf, schoß auf Hallward zu, riß ihm das
+Messer aus der Hand und schleuderte es in den äußersten
+Winkel des Ateliers. „Tu es nicht, Basil, tu es nicht“,
+schrie er. „Es wäre Mord.“</p>
+
+<p>„Ich freue mich, daß dir meine Arbeit endlich doch gefällt,
+Dorian“, sagte der Maler kühl, als er sich von
+seinem Erstaunen erholt hatte. „Ich hätte es gar nicht
+geglaubt.“</p>
+
+<p>„Gefällt? Ich bin verliebt in dies Bild, Basil. Es ist
+ja ein Teil von mir selbst. Ich fühle es.“</p>
+
+<p>„Schön, sobald du trocken bist, sollst du gefirnißt, gerahmt
+und zu dir hingeschickt werden. Dann kannst du
+mit dir anfangen, was dir beliebt.“ Er schritt durch den
+Raum und klingelte nach Tee. „Du trinkst doch Tee,
+Dorian? Du auch, Harry? Oder machst du dir nichts aus
+so einfachen Genüssen?“</p>
+
+<p>„Ich bete einfache Genüsse an“, sagte Lord Henry.
+„Sie sind die letzte Zuflucht komplizierter Naturen. Aber
+für Szenen schwärme ich nicht, außer auf der Bühne. Was
+für tolle Burschen seid ihr doch, ihr beide! Wer war es
+doch gleich, der den Menschen als ein vernünftiges Tier<a class="pagenum" name="Page_48" title="48"> </a>
+definiert hat? Das war eine der voreiligsten Definitionen,
+die je aufgestellt wurden. Der Mensch hat eine ganze
+Menge Eigenschaften, aber gewiß keine Vernunft. Alles
+in allem übrigens: Gott sei Dank, obwohl mir's eigentlich
+lieber wäre, ihr beiden Wirbelköpfe zanktet euch nicht
+um das Bild. Du solltest es lieber mir gegeben haben,
+Basil. Dieses törichte Knäblein braucht es eigentlich gar
+nicht, und ich brauche es sehr.“</p>
+
+<p>„Wenn du es einem anderen geben willst als mir, Basil,
+verzeihe ich es dir nie“, rief Dorian Gray; „und ich erlaube
+niemand, mich ein törichtes Knäblein zu nennen.“</p>
+
+<p>„Du weißt, Dorian, das Bild gehört dir. Ich hab' es
+dir geschenkt, noch ehe es vorhanden war.“</p>
+
+<p>„Und Sie wissen, Herr Gray, daß Sie ein wenig töricht
+waren und daß Sie ernstlich gar nichts dagegen haben
+können, an Ihre große Jugend erinnert zu werden.“</p>
+
+<p>„Heute früh hätte ich sehr viel dagegen gehabt, Lord
+Henry.“</p>
+
+<p>„Ah! heute früh. Seitdem haben Sie einiges erlebt.“</p>
+
+<p>Es klopfte an die Tür, und der Diener trat mit einem
+besetzten Teebrett ein und servierte auf einem kleinen japanischen
+Tisch den Tee. Die Tassen und Löffel klapperten,
+und ein georgischer Samowar begann zu summen. Zwei
+gewölbte chinesische Porzellanschüsseln wurden von einem
+jungen Diener hereingebracht. Dorian Gray ging hin und
+goß den Tee ein. Die beiden Männer schlenderten zum
+Tische und sahen nach, was unter den Deckeln der Schüsseln
+war.</p>
+
+<p>„Wir wollen heute abend ins Theater gehen“, meinte<a class="pagenum" name="Page_49" title="49"> </a>
+Lord Henry. „Irgendwo wird sicher was los sein. Ich
+habe zwar zugesagt, im White-Klub zu soupieren, aber
+mich erwartet nur ein alter Freund; ich kann ihm also
+ein Telegramm schicken, daß ich nicht wohl sei oder infolge
+einer späteren Verabredung nicht kommen könne.
+Das würde ich für eine reizende Entschuldigung halten.
+Sie hat einen förmlich überraschenden Duft von Aufrichtigkeit.“</p>
+
+<p>„Es ist so lästig, sich den Frack anzuzerren“, murmelte
+Hallward. „Und wenn man ihn anhat, sieht man so gräßlich
+aus.“</p>
+
+<p>„Ja,“ antwortete Lord Henry träumerisch, „die Kleidung
+des neunzehnten Jahrhunderts ist abscheulich. Sie
+ist so düster, so deprimierend. Die Sünde ist noch das
+einzig Farbenfreudige, das im modernen Leben übriggeblieben
+ist.“</p>
+
+<p>„Du solltest wirklich nicht solche Dinge vor Dorian
+sagen, Harry!“</p>
+
+<p>„Vor welchem Dorian? Vor dem, der uns den Tee
+einschenkt, oder dem anderen auf dem Bilde?“</p>
+
+<p>„Vor keinem.“</p>
+
+<p>„Ich ginge gerne mit Ihnen ins Theater, Lord Henry“,
+sagte der Jüngling.</p>
+
+<p>„Dann kommen Sie doch. Und du auch, Basil, nicht
+wahr?“</p>
+
+<p>„Ich kann nicht, wirklich nicht. Es ist mir lieber so. Ich
+habe eine Unmenge zu tun.“</p>
+
+<p>„Schön also. Dann müssen wir zwei allein gehen, Herr
+Gray.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_50" title="50"> </a></p>
+
+<p>„Ich freue mich riesig darauf.“</p>
+
+<p>Der Maler biß sich auf die Lippe und schritt, die Teetasse
+in der Hand, zum Bilde. „Ich bleibe hier bei dem
+wirklichen Dorian“, sagte er traurig.</p>
+
+<p>„Ist das der wirkliche?“ rief das Original und ging
+gleichfalls langsam zu ihm hin. „Bin ich wirklich so?“</p>
+
+<p>„Ja, genau so bist du.“</p>
+
+<p>„Wie wundervoll, Basil!“</p>
+
+<p>„Du siehst wenigstens jetzt so aus. Aber das Bild wird
+sich nie ändern“, seufzte Hallward. „Das ist schon etwas.“</p>
+
+<p>„Was man heute für ein großes Wesen aus der Treue
+macht!“ rief Lord Henry aus. „Und doch ist sie selbst in
+der Liebe eine rein physiologische Frage. Sie hat auch
+nicht das mindeste mit unserem eigenen Willen zu tun.
+Junge Männer wären gerne treu und sind es nicht; alte
+würden gerne untreu sein und können es nicht: das ist
+alles, was sich darüber sagen läßt.“</p>
+
+<p>„Geh heute abend nicht ins Theater, Dorian“, bat
+Hallward. „Bleibe hier und speise mit mir.“</p>
+
+<p>„Ich kann nicht, Basil.“</p>
+
+<p>„Warum?“</p>
+
+<p>„Weil ich Lord Henry Wotton zugesagt habe, ihn zu
+begleiten.“</p>
+
+<p>„Er wird dir darum nicht mehr zugetan sein, wenn du
+so treu deine Versprechungen hältst. Er bricht seine immer.
+Ich bitte dich, nicht zu gehen.“</p>
+
+<p>Dorian Gray schüttelte lachend den Kopf.</p>
+
+<p>„Ich beschwöre dich.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_51" title="51"> </a></p>
+
+<p>Der junge Mann schwankte und blickte zu Lord Henry
+hinüber, der die beiden mit einem belustigten Lächeln vom
+Teetische aus beobachtete.</p>
+
+<p>„Ich muß mit, Basil“, antwortete er.</p>
+
+<p>„Schön“, sagte Hallward und ging zum Tische hinüber,
+wo er seine Tasse hinstellte. „Es ist ziemlich spät, und da
+ihr euch noch umziehen müßt, habt ihr keine Zeit mehr
+zu verlieren. Adieu, Harry! Adieu, Dorian! Komm bald
+wieder. Komm morgen.“</p>
+
+<p>„Bestimmt.“</p>
+
+<p>„Aber nicht vergessen!“</p>
+
+<p>„Nein, natürlich nicht!“ rief Dorian.</p>
+
+<p>„Und... Harry!“</p>
+
+<p>„Ja, Basil?“</p>
+
+<p>„Vergiß nicht, was ich dir sagte, als wir am Vormittag
+im Garten saßen.“</p>
+
+<p>„Ich habe es vergessen.“</p>
+
+<p>„Ich vertraue dir.“</p>
+
+<p>„Ich wünschte, ich könnte mir selbst vertrauen“, sagte
+Lord Henry lachend. „Kommen Sie, Herr Gray, mein
+Wagen steht unten, und ich kann Sie an Ihrer Wohnung
+absetzen. Adieu, Basil! Es war ein sehr unterhaltender
+Nachmittag.“</p>
+
+<p>Als sich die Tür hinter ihnen schloß, warf sich der Maler
+auf den Diwan, und in sein Gesicht trat ein schmerzlicher
+Ausdruck.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_52" title="52"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Drittes_Kapitel" id="Drittes_Kapitel"></a>Drittes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Um zwölfeinhalb Uhr am nächsten Tage schlenderte
+Lord Henry Wotton von Curzon Street nach Albany hinüber,
+um einen Besuch zu machen bei seinem Onkel Lord
+Fermor, einem heiteren, aber ziemlich rauhen alten Junggesellen,
+den die Außenwelt einen Egoisten nannte, weil
+sie keinen besonderen Nutzen aus ihm ziehen konnte, der
+aber in der Gesellschaft als freigebig verschrien war, weil
+er die Leute, die ihn amüsierten, aufs beste fütterte. Sein
+Vater war britischer Gesandter in Madrid gewesen, als
+Isabella noch jung war und man noch nichts von Prim
+wußte, hatte sich aber in einem Augenblicke launischen
+Ärgers aus dem diplomatischen Dienste zurückgezogen,
+weil man ihm nicht den Gesandtenposten in Paris angeboten
+hatte, zu dem er sich vollauf berechtigt geglaubt
+hatte durch seine Geburt, seine Arbeitsunlust, sein gutes
+Englisch in seinen Depeschen und durch seine zügellose Vergnügungssucht.
+Der Sohn, der des Vaters Privatsekretär
+gewesen war, hatte mit seinem Chef zugleich den Abschied
+genommen, was man damals ziemlich verrückt fand, und
+als der Titel einige Monate später auf ihn überging, hatte
+er sich ernstlich dem großen aristokratischen Studium gewidmet,
+absolut nichts zu tun. Er besaß zwei große Häuser
+in der Stadt, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung
+zu hausen, weil das weniger Umstände machte,
+und speiste meistens im Klub. Er beschäftigte sich ein wenig<a class="pagenum" name="Page_53" title="53"> </a>
+mit der Verwaltung seiner Kohlenminen in den Midlandgrafschaften
+und entschuldigte diese verwerfliche industrielle
+Tätigkeit damit, daß er sagte, der einzige Vorteil, Kohlen
+zu besitzen, sei der, es einem Gentleman möglich zu
+machen, in seinem eigenen Kamin Holz zu brennen. Politisch
+war er ein Tory, außer wenn die Tories Regierungspartei
+waren, denn in solchen Zeiten verlästerte er sie
+und schimpfte sie radikales Gesindel. Er war ein Held für
+seinen Kammerdiener, der ihn drangsalierte, und ein
+Schrecken für die meisten seiner Verwandten, die er drangsalierte.
+Nur England konnte ihn erzeugt haben, und
+er selber sagte immer, daß das Land mehr und mehr
+auf den Hund käme. Seine Grundsätze waren altmodisch,
+aber an seinen Vorurteilen war etwas dran.</p>
+
+<p>Als Lord Henry ins Zimmer trat, fand er seinen Onkel
+in einem flockigen Jagdrock, eine ziemlich wohlfeile Zigarre
+im Munde und brummend in den „Times“ lesend.</p>
+
+<p>„Na, Harry,“ sagte der alte Herr, „was bringt dich so
+früh her? Ich dachte immer, ihr Dandies steht nie vor
+zwei Uhr auf und werdet nie vor fünf Uhr sichtbar.“</p>
+
+<p>„Reine Familienliebe, auf mein Wort, Onkel Georg;
+ich brauche etwas von dir.“</p>
+
+<p>„Geld vermutlich“, sagte Lord Fermor und machte ein
+saures Gesicht. „Na gut, so setz' dich und sag' mir alles.
+Ihr jungen Leute von heutzutage bildet euch ein, das
+Geld wäre alles.“</p>
+
+<p>„Ja,“ brummelte Lord Henry, während er seine Blume
+im Knopfloch zurechtrückte, „und wenn sie älter werden,
+dann wissen sie es. Aber ich brauche kein Geld. Nur Leute,<a class="pagenum" name="Page_54" title="54"> </a>
+die ihre Rechnungen zahlen, brauchen Geld, Onkel Georg,
+und ich bezahle meine nie. Kredit ist das Kapital eines
+zweitältesten Sohnes, und man kann brillant davon leben.
+Außerdem kaufe ich immer bei Dartmoors Lieferanten, und
+daher habe ich nie Scherereien. Was ich brauche, ist eine
+Auskunft, keine nützliche Auskunft natürlich, sondern nur
+eine wertlose.“</p>
+
+<p>„Ich kann dir alles sagen, Harry, was je in einem englischen
+Blaubuch gestanden hat, obwohl diese Bengels heutzutage
+einen Haufen Unsinn zusammensudeln. Als ich noch
+Diplomat war, lagen die Dinge besser. Aber ich höre, man
+stellt jetzt die Leute auf Grund einer Prüfung ein. Was
+kann man da noch erwarten? Prüfungen, mein Bester,
+sind der reine Humbug von A bis Z. Wenn einer Gentleman
+ist, weiß er schon genug, und wenn er kein Gentleman
+ist, so mag er alles Mögliche wissen, es hilft ihm doch
+nichts.“</p>
+
+<p>„Herr Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu
+schaffen“, sagte Lord Henry in seinem schläfrigen Tone.</p>
+
+<p>„Herr Dorian Gray? Wer ist das?“ fragte Lord Fermor,
+seine buschigen weißen Augenbrauen zusammenkneifend.</p>
+
+<p>„Um das zu erfahren, bin ich gerade hergekommen, Onkel
+Georg. Oder genauer gesagt, wer es ist, weiß ich. Nämlich
+der Enkel des verstorbenen Lord Kelso. Seine Mutter war
+eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich möchte, daß
+du mir etwas über seine Mutter erzählst. Was weißt du
+von ihr? Wen hat sie geheiratet? Du hast zu deiner Zeit
+doch so ziemlich alle Leute gekannt, also wahrscheinlich auch<a class="pagenum" name="Page_55" title="55"> </a>
+sie. Ich interessiere mich gegenwärtig ungemein für Herrn
+Gray. Ich habe ihn erst gestern kennengelernt.“</p>
+
+<p>„Kelsos Enkel!“ wiederholte der alte Herr, „Kelsos
+Enkel! ... natürlich ... ich war mit seiner Mutter sehr
+intim. Ich glaube, ich war sogar bei ihrer Taufe. Es war
+ein ganz außergewöhnlich schönes Mädchen, diese Margaret
+Devereux, und hat dann alle jungen Männer toll
+gemacht, als sie mit einem jungen Habenichts davonlief,
+einer absoluten Null, mein Bester, einem Fähnrich bei der
+Infanterie oder so was Ähnliches. Natürlich. Ich erinnere
+mich jetzt an die ganze Geschichte, als wäre sie gestern passiert.
+Der arme Kerl wurde dann ein paar Monate nach
+der Hochzeit in einem Duell in Spa getötet. Man erzählte
+damals eine häßliche Geschichte darüber. Man sagte,
+der alte Kelso hätte irgendeinen Schuft, so einen Abenteurer
+aus Belgien gemietet, um seinen Schwiegersohn öffentlich
+zu beleidigen, hätte ihn dafür bezahlt, mein Bester, einfach
+bezahlt, damit er es täte, und dieser Kerl spießte dann sein
+Opfer auf wie eine Taube. Die Geschichte wurde natürlich
+vertuscht, aber Kelso mußte eine Zeitlang sein Kotelett
+allein im Klub essen. Ich hörte, er brachte seine Tochter
+wieder mit, doch sie sprach nie mehr ein Wort mit ihm.
+O jawohl, das war eine böse Sache. Das Mädel starb
+dann auch, kaum ein Jahr später. So, sie hat also einen
+Sohn hinterlassen? Das hatte ich ganz vergessen. Was
+für ein Junge ist es denn? Wenn er seiner Mutter ähnlich
+sieht, muß es ein hübsches Kerlchen sein.“</p>
+
+<p>„Er ist sehr hübsch“, stimmte Lord Henry bei.</p>
+
+<p>„Ich hoffe, er wird in die rechten Hände kommen“, fuhr<a class="pagenum" name="Page_56" title="56"> </a>
+der alte Mann fort. „Es muß ein Haufen Geld auf ihn
+warten, wenn Kelso pflichtgemäß an ihm handelte. Seine
+Mutter hatte übrigens auch Geld. Der ganze Selbysche
+Besitz fiel ihr durch ihren Großvater zu. Ihr Großvater
+haßte Kelso, hielt ihn für einen gemeinen Köter. War es
+übrigens auch. Er kam mal nach Madrid, als ich dort war.
+Na, ich mußte mich des Kerls schämen. Die Königin
+pflegte mich nach dem englischen Edelmann zu fragen, der
+sich immer mit den Kutschern über die Taxe zankte. Man
+machte einen ganzen Roman daraus. Ich wagte einen
+Monat lang nicht, bei Hof zu erscheinen. Ich hoffe, er hat
+seinen Enkel besser behandelt als die Droschkenkutscher.“</p>
+
+<p>„Darüber weiß ich nichts“, erwiderte Lord Henry. „Ich
+vermute aber, der junge Mann wird einmal wohlhabend
+werden. Er ist noch nicht volljährig. Selby gehört ihm,
+das weiß ich. Er hat es mir gesagt. Und... seine Mutter
+war also sehr schön?“</p>
+
+<p>„Margaret Devereux war eines der entzückendsten Geschöpfe,
+die ich je gesehen habe, Harry. Was in aller Welt
+sie dazu getrieben hat, so zu handeln, habe ich nie verstehen
+können. Sie hätte jeden Mann heiraten können, den sie
+wollte. Carlington war wahnsinnig verschossen in sie. Aber
+sie war romantisch veranlagt. Alle Frauen dieser Familie
+waren so. Die Männer waren ein trauriges Gesindel, aber
+beim Himmel! die Weiber waren wunderbar! Carlington
+lag vor ihr auf den Knien. Hat's mir selber gebeichtet.
+Sie lachte ihn aus, und es gab damals in London kein
+Mädel, das nicht hinter ihm hergewesen wäre. Übrigens,
+Harry, da wir schon über Mesalliancen reden: was ist das<a class="pagenum" name="Page_57" title="57"> </a>
+für ein Unsinn, den mir dein Vater von Dartmoor erzählt,
+der eine Amerikanerin heiraten will? Sind englische Mädels
+für ihn nicht gut genug?“</p>
+
+<p>„Es ist jetzt Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel
+Georg.“</p>
+
+<p>„Ich verteidige die englischen Frauen gegen die ganze
+Welt, Harry“, sagte Lord Fermor und schlug mit der
+Faust auf den Tisch.</p>
+
+<p>„Man reißt sich um die Amerikanerinnen.“</p>
+
+<p>„Sie halten sich nicht, hat man mir gesagt“, brummte
+der Onkel.</p>
+
+<p>„Ein langes Verlobtsein erschöpft sie, aber für eine
+Steeplechase sind sie brillant. Sie sind Flieger. Ich glaube
+nicht, daß Dartmoor Chance hat.“</p>
+
+<p>„Was ist's für eine Familie?“ murrte der alte Herr.
+„Hat sie überhaupt eine?“</p>
+
+<p>Lord Henry schüttelte den Kopf. „Amerikanische Mädchen
+sind ebenso klug, ihre Eltern zu verbergen, wie englische
+Frauen im Verbergen ihrer Vergangenheit“, antwortete
+er und stand auf, um wegzugehen.</p>
+
+<p>„Also vermutlich Schweinefleischhändler.“</p>
+
+<p>„Das hoffe ich, Onkel Georg, in Dartmoors Interesse.
+Man hat mir gesagt, mit Schweinefleischbüchsen zu handeln,
+soll nächst der Politik der einträglichste Beruf in
+Amerika sein.“</p>
+
+<p>„Ist sie hübsch?“</p>
+
+<p>„Sie benimmt sich so, als wäre sie es. Das tun die
+meisten Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihres
+magnetischen Reizes.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_58" title="58"> </a></p>
+
+<p>„Warum bleiben diese amerikanischen Weiber nicht in
+ihrem Lande? Sie sagen doch immer, es sei das Paradies
+für Frauen.“</p>
+
+<p>„Das ist es auch. Und das ist auch der Grund, warum
+sie wie Eva so gern daraus weg wollen“, sagte Lord
+Henry. „Adieu, Onkel Georg! Ich komme zu spät zum
+Frühstück, wenn ich noch länger bleibe. Danke sehr für die
+Auskunft, die du mir gabst. Ich habe immer das Bedürfnis,
+von meinen neuen Freunden alles zu hören und
+möglichst nichts von meinen alten.“</p>
+
+<p>„Wo wirst du frühstücken, Harry?“</p>
+
+<p>„Bei Tante Agatha. Ich habe mich mit Herrn Gray
+dort angesagt. Es ist ihr neuestes Protektionskind.“</p>
+
+<p>„Hm! sag' der Tante Agatha, Harry, sie soll mich mit
+ihrem Wohltätigkeitskrempel ungeschoren lassen. Ich habe
+sie bis hierher! Weiß Gott, das gute Frauenzimmer meint,
+ich hätte nichts zu tun als Schecks für ihre langweiligen
+Vereinsmeiereien auszuschreiben.“</p>
+
+<p>„Abgemacht, Onkel Georg, ich werde es ihr bestellen,
+aber es wird nichts nutzen. Wohltätigkeitsmegären verlieren
+alle Menschlichkeit. Das ist ihr hervorstechendstes
+Merkmal.“</p>
+
+<p>Der alte Herr brummte zustimmend und klingelte seinem
+Diener. Lord Henry schritt durch die niedrigen Arkaden
+nach Burlington Street und lenkte dann seine Schritte in
+die Richtung nach Berkeley Square.</p>
+
+<p>Das war also die Geschichte von Dorian Grays Eltern.
+So roh umrissen sie ihm auch geschildert worden war, sie
+hatte ihn doch nach Art eines seltsamen, geradezu modernen<a class="pagenum" name="Page_59" title="59"> </a>
+Romans erregt. Eine schöne Frau, die alles für
+eine wahnsinnige Leidenschaft einsetzt. Ein paar wilde,
+wonnige Wochen, jäh abgeschnitten durch ein abscheuliches,
+heimtückisches Verbrechen, Monate stummer Todesverzweiflung,
+und dann ein Kind unter Schmerzen geboren. Die
+Mutter vom Tode weggemäht, der Knabe der Einsamkeit
+und der Tyrannei eines alten, lieblosen Mannes ausgeliefert.
+Ja, das war ein interessanter Hintergrund. Er
+gab dem jungen Menschen Relief, machte ihn noch vollkommener.
+Hinter allem Köstlichen in der Welt lauert
+eine geheime Tragödie, Welten müssen in Schwingung
+sein, damit die kleinste Blume erblühen kann... Und wie
+entzückend war er gestern abend gewesen, als er ihm mit
+erschreckten Augen, die Lippen in scheuem Verlangen geöffnet,
+im Klub gegenüber gesessen und die roten Kerzenschirme
+das erwachende Wunder seines Gesichts in einen
+noch rosenfarbenen Ton getaucht hatten. Mit ihm
+sprechen, das war wie auf einer auserlesenen Geige spielen.
+Er gab jedem Druck nach, jeder zitternden Berührung
+des Bogens... Es lag doch etwas unerhört Knechtendes
+darin, auf jemand Einfluß auszuüben. Keine andere Tätigkeit
+kam dem gleich. Seine eigene Seele in eine anmutige
+Form gießen und sie darin einen Augenblick lang verweilen
+lassen: seine eigenen Gedankenakkorde im Echo
+zurückbekommen, bereichert durch die Musik der Leidenschaft
+und Jugend: sein eigenes Temperament in ein
+anderes hineinversenken, als wäre es das allerätherischste
+Fluidum oder ein seltener Wohlgeruch: darin lag eine
+wahre Lust &mdash; vielleicht die allerbefriedigendste Lust, die<a class="pagenum" name="Page_60" title="60"> </a>
+uns übriggeblieben ist, in einer so beschränkten und ordinären
+Zeit wie die unsere, die so derbfleischlich in ihren
+Genüssen und so grobzufassend in ihren Begierden ist...
+Auch war er ein wundervoller Typus, dieser junge Mensch,
+den er durch einen so wunderbaren Zufall in Basils Atelier
+kennengelernt hatte, oder konnte jedenfalls zu einem
+wunderbaren Typus umgemodelt werden. Anmut war ihm
+verliehen und die schneeige Reinheit der Jünglingschaft,
+und eine Schönheit, wie man sie bei alten griechischen
+Marmorbildern findet. Nichts gab es, was sich nicht aus
+ihm machen ließe. Man konnte einen Titanen oder ein
+Spielzeug aus ihm machen. Welch Jammer, daß solche
+Schönheit dahinwelken muß... Und Basil? Wie interessant
+war doch er für den Psychologen! Diese neue Art
+von Kunst, diese neue Weise, das Leben anzuschauen, die
+ihm auf das seltsamste durch die sichtbare Gegenwart
+eines Menschen erweckt wurde, der von alledem nichts
+wußte: der stille Geist, der in einer düsteren Waldlandschaft
+wohnte und ungesehen ins offene Feld entwandelte,
+enthüllte sich plötzlich wie eine Dryade, und ohne Scheu,
+weil in der Seele, die sehnsüchtig nach ihm suchte, jene
+wundersame Vision wach geworden war, der nur die
+außerordentlichen Dinge offenbar werden: die bloßen
+Formen und Linien der Dinge wurden gleichsam edler
+und bekamen eine Art von symbolischer Bedeutung, als
+wären sie selbst nur Schatten einer anderen und vollendeteren
+Form, deren Abbilder sie zur Wirklichkeit erhoben:
+wie merkwürdig das alles war! Er erinnerte sich,
+daß es in der Geschichte irgend etwas Ähnliches gab. War<a class="pagenum" name="Page_61" title="61"> </a>
+es nicht Plato, dieser Künstler in der Welt der Gedanken,
+der es als erster untersucht hatte? War es nicht Buonarotti,
+der es in den farbigen Marmor seiner Sonettreihe
+gemeißelt hatte? Aber in unserem Jahrhundert war es
+etwas Seltenes... Ja, er wollte versuchen, für Dorian
+Gray das zu sein, was der Jüngling, ohne es zu wissen,
+für den Maler war, der das prächtige Bildnis geschaffen
+hatte. Er wollte versuchen, in ihm zu herrschen &mdash; hatte
+es in Wahrheit schon zum Teil getan. Er wollte diesen
+wunderbaren Geist zu seinem eigenen machen. Es war
+etwas unwiderstehlich Magnetisches in diesem Abkömmling
+von Tod und Liebe.</p>
+
+<p>Plötzlich blieb er stehen und sah an den Häusern hinauf.
+Er entdeckte, daß er bereits an dem Hause seiner Tante
+vorbeigegangen sei, und ging stillächelnd zurück. Als er
+in die etwas düstere Halle eintrat, sagte ihm der Diener,
+die Herrschaften seien schon beim Frühstück. Er gab einem
+Lakai Hut und Stock und ging in den Speisesaal.</p>
+
+<p>„Spät wie immer, Harry“, rief seine Tante, ihm zunickend.</p>
+
+<p>Er erfand eine glaubwürdige Entschuldigung, setzte sich
+auf den leeren Platz neben sie und sah sich um, zu sehen,
+wer noch da war. Dorian begrüßte ihn schüchtern vom
+Ende des Tisches her, und seine Wangen wurden vor geheimer
+Freude rot. Gegenüber saß die Herzogin von
+Harley, eine Dame von bewunderungswürdig guter
+Laune und ebensolchem Charakter, die jeder gern hatte
+und deren Körper in jenen erhabenen architektonischen
+Maßen aufgebaut war, der von zeitgenössischen Geschichtsschreibern
+bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind,<a class="pagenum" name="Page_62" title="62"> </a>
+als Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß
+Sir Thomas Burdon, ein radikales Parlamentsmitglied,
+das im öffentlichen Leben seinem Parteichef Gefolge leistete
+und im privaten den besten Küchenchefs, der nach
+einer weisen und allgemein verbreiteten Lebensregel mit
+den Tories dinierte und mit den Liberalen geistig übereinstimmte.
+Den Platz an ihrer Linken nahm Herr Erskine
+of Treadley ein, ein alter prächtiger und gebildeter Herr,
+der sich die schlechte Gewohnheit des Schweigens angeeignet
+hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte,
+schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr alles
+gesagt hatte, was er überhaupt zu sagen hatte. Seine
+Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen
+seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den
+Frauen, aber so geschmacklos verputzt, daß man bei ihrem
+Anblick immer an ein schlechtgebundenes Gebetbuch denken
+mußte. Zu seinem Glück saß an ihrer anderen Seite
+Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in den
+besten Jahren, der so kahl war wie der Bericht eines
+Ministers auf eine Interpellation im Unterhaus, und mit
+ihm unterhielt sie sich in jenem intensiv-ernsten Tone, der,
+wie Lord Henry einmal selbst geäußert hatte, der eine
+unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten
+Menschen verfallen, und den keiner von ihnen völlig vermeiden
+kann.</p>
+
+<p>„Wir sprechen über den bedauernswerten Dartmoor,
+Henry“, rief die Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch
+zunickend. „Glauben Sie, daß er wirklich die berückende
+junge Dame heiratet?“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_63" title="63"> </a></p>
+
+<p>„Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich fest vorgenommen,
+um das Jawort zu bitten.“</p>
+
+<p>„Wie schrecklich“, rief Lady Agatha. „Dann sollte sich
+wirklich jemand ins Mittel legen.“</p>
+
+<p>„Ich erfahre aus einer ganz vorzüglichen Quelle, daß ihr
+Vater ein Kurzwarengeschäft in Amerika hat“, sagte Sir
+Thomas Burdon mit einem überlegenen Blicke.</p>
+
+<p>„Mein Onkel hat behauptet: Schweinefleischlieferant,
+Sir Thomas.“</p>
+
+<p>„Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?“
+fragte die Herzogin und erhob staunend ihre großen Hände
+und dabei jede Silbe betonend.</p>
+
+<p>„Amerikanische Romane“, antwortete Lord Henry und
+nahm von den Wachteln.</p>
+
+<p>Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht.</p>
+
+<p>„Geben Sie nicht acht auf ihn, meine Liebe,“ wisperte
+ihr Lady Agatha zu, „er meint nie im Ernst, was er
+sagt.“</p>
+
+<p>„Als Amerika entdeckt wurde,“ sagte der radikale Abgeordnete
+und ließ einige langweilige Tatsachen vom Stapel.
+Wie alle Menschen, die bestrebt sind, ein Thema zu erschöpfen,
+erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin seufzte und
+benützte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. &mdash; „Wollte Gott, es
+wäre überhaupt nicht entdeckt worden“, rief sie aus. „Unsere
+Töchter haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr.
+Das ist geradezu empörend!“</p>
+
+<p>„Vielleicht ist Amerika überhaupt nicht entdeckt worden,
+wenn man's recht betrachtet“, sagte Herr Erskine. „Ich
+würde eher sagen, daß es nur aufgefunden worden ist.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_64" title="64"> </a></p>
+
+<p>„Oh, ich muß aber gestehen, daß ich einige Exemplare
+seiner Bewohnerinnen gesehen habe,“ antwortete die Herzogin
+zerstreut, „ich muß zugeben, die meisten von ihnen
+sind ausgesprochen hübsch. Und außerdem ziehen sie sich gut
+an. Sie beziehen alle ihre Kleider aus Paris. Ich wollte,
+ich könnte mir das auch leisten.“</p>
+
+<p>„Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie
+nach Paris“, gluckste Sir Thomas, der eine große Kiste
+voll abgelegter Scherze sein eigen nannte.</p>
+
+<p>„In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner,
+wenn sie sterben?“ fragte die Herzogin.</p>
+
+<p>„Sie gehen nach Amerika“, murmelte Lord Henry.</p>
+
+<p>Sir Thomas runzelte die Stirn. „Ich fürchte, Ihr Neffe
+hat Vorurteile gegen dieses große Land“, sagte er zu Lady
+Agatha. „Ich habe es ganz bereist im Eisenbahnwagen,
+die mir die Direktionen zur Verfügung stellten. Man ist
+da in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich versichere
+Ihnen, es ist eine vorzüglich bildende Reise da drüben.“</p>
+
+<p>„Aber müssen wir wirklich nach Chicago schwimmen, um
+unsere Bildung zu vervollständigen?“ fragte Herr Erskine
+wehmütig. „Ich fühle mich wirklich zu solcher Reise nicht
+aufgelegt.“</p>
+
+<p>Sir Thomas winkte mit der Hand. „Herr Erskine of
+Treadley besitzt die Welt auf seinen Bücherregalen. Wir
+Männer des praktischen Lebens lieben es, die Dinge zu
+sehen, nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein
+außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig
+Vernunftmenschen. Ich glaube, das ist ihr Charaktermerkmal.
+Ja, Herr Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft<a class="pagenum" name="Page_65" title="65"> </a>
+beherrschtes Volk. Ich versichere Ihnen, es gibt bei den
+Amerikanern keinerlei Unsinn.“</p>
+
+<p>„Wie schrecklich!“ rief Lord Henry aus. „Ich kann rohe
+Gewalt vertragen, aber rohe Vernunft ist mir unerträglich.
+Ich finde immer, daß ihre Anwendung unbillig ist.
+Es heißt den Geist unterjochen.“</p>
+
+<p>„Ich verstehe Sie nicht“, erwiderte Sir Thomas und
+wurde etwas rot.</p>
+
+<p>„Ich verstehe Sie, Lord Henry“, murmelte Herr Erskine
+lächelnd.</p>
+
+<p>„Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut...“,
+nahm der Baronet wieder das Wort.</p>
+
+<p>„War das ein Paradoxon?“ fragte Herr Erskine. „Ich
+habe es nicht dafür gehalten. Vielleicht war es eins. Nun,
+der Weg zur Wahrheit scheint mit Paradoxen gepflastert
+zu sein. Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir sie auf
+gespanntem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten
+Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.“</p>
+
+<p>„Mein großer Gott!“ sagte Lady Agatha, „was für
+eine Art zu diskutieren habt ihr Männer. Ich verstehe
+nie ein einziges Wort von eurem Gerede. Mit dir, Harry,
+oh! bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren lieben
+Herrn Dorian Gray zu überreden, nicht mehr ins East-End
+zu gehen? Ich versichere dir, er wäre dort für uns unschätzbar;
+sein Spiel würde die Leute ungemein begeistern.“</p>
+
+<p>„Mir ist es lieber, wenn er für mich spielt“, rief Lord
+Henry lächelnd, sah am Tisch hinunter, wo ihn ein fröhlich
+antwortender Blick traf.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_66" title="66"> </a></p>
+
+<p>„Aber sie sind in Whitechapel so unglücklich“, fuhr
+Lady Agatha wieder fort.</p>
+
+<p>„Ich kann mit allem möglichen Mitgefühl haben,“ sagte
+Lord Henry, die Achseln zuckend, „außer mit Leiden. Damit
+kann ich keine Sympathie haben. Es ist zu häßlich, zu
+schrecklich, zu niederdrückend. In der heut modernen Sympathie
+für die Leiden liegt etwas schrecklich Krankhaftes.
+Man sollte mit Farben sympathisieren, mit Schönheit, mit
+Lebensfreude. Je weniger man über das Elend des Lebens
+sagt, desto besser.“</p>
+
+<p>„Aber das East-End ist ein sehr wichtiges Problem“,
+bemerkte Sir Thomas mit ernstem Kopfschütteln.</p>
+
+<p>„Sicherlich“, antwortete der junge Lord. „Es ist das
+Problem der Sklaverei, und wir versuchen es derart zu
+lösen, daß wir die Sklaven amüsieren.“</p>
+
+<p>Der Politiker sah ihn mit einem forschenden Blicke an.
+„Welche Änderung schlagen Sie also vor?“</p>
+
+<p>Lord Henry lachte. „Ich habe gar nicht das Verlangen,
+in England etwas zu ändern außer dem Wetter“,
+entgegnete er. „Ich begnüge mich mit philosophischer
+Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch
+übermäßigen Verbrauch von Sympathie Bankrott geworden
+ist, möchte ich vorschlagen, daß man sich an die
+Wissenschaft hält, damit diese uns wieder aufrichtet. Der
+Vorteil der Gefühle liegt darin, daß sie uns in die Irre
+führen, und der Vorteil der Wissenschaft darin, daß sie
+sich mit Gefühlen nicht abgibt.“</p>
+
+<p>„Aber auf uns liegen so ernste Verantwortlichkeiten“,
+warf Frau Vandeleur schüchtern ein.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_67" title="67"> </a></p>
+
+<p>„Entsetzlich schwere“, stimmte Lady Agatha ein.</p>
+
+<p>Lord Henry sah zu Herrn Erskine hinüber. „Die Menschheit
+nimmt sich selber zu ernst. Das ist die Todsünde
+der Welt. Wenn die Höhlenmenschen schon hätten lachen
+können, hätte die Weltgeschichte andere Wege eingeschlagen.“</p>
+
+<p>„Ihre Worte klingen sehr tröstlich“, trillerte die Herzogin.
+„Ich habe immer eine Art Schuldgefühl gehabt, wenn
+ich Ihre liebe Tante besuchte, denn ich nehme nicht das
+geringste Interesse an East-End. In Zukunft werde ich
+ihr ohne zu erröten ins Gesicht sehen können.“</p>
+
+<p>„Erröten ist ein vorzügliches Schönheitsmittel“, bemerkte
+Lord Henry.</p>
+
+<p>„Nur wenn man jung ist“, antwortete sie. „Wenn eine
+alte Frau wie ich errötet, ist es ein sehr schlechtes
+Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wünschte, Sie könnten mir
+sagen, wie man wieder jung wird!“</p>
+
+<p>Er dachte einen Augenblick nach. „Können Sie sich
+an irgendeinen großen Fehler erinnern, den Sie in der
+Jugend begangen haben?“ fragte er dann, sie fest über
+den Tisch hin ansehend.</p>
+
+<p>„An eine ganze Menge, fürchte ich!“ rief sie aus.</p>
+
+<p>„Dann begehen Sie sie wieder“, entgegnete er ernst.
+„Um seine Jugend zurückzubekommen, braucht man nur
+seine Torheiten zu wiederholen.“</p>
+
+<p>„Eine allerliebste Theorie!“ rief sie. „Ich muß sie mal
+in die Praxis umsetzen.“</p>
+
+<p>„Eine gefährliche Theorie“, sagte Sir Thomas, seine
+dünnen Lippen zusammenkneifend. Lady Agatha schüttelte<a class="pagenum" name="Page_68" title="68"> </a>
+den Kopf, aber sie amüsierte sich doch. Herr Erskine
+lauschte.</p>
+
+<p>„Ja,“ fuhr Henry fort, „das ist eines der großen
+Lebensgeheimnisse. Heutzutage sterben die meisten Leute
+an einer Art von schleichender Verständigkeit, und erst,
+wenn es zu spät ist, kommen sie dahinter, daß die einzigen
+Dinge, die man niemals bereut, die Torheiten sind.“</p>
+
+<p>Nun lachte der ganze Tisch.</p>
+
+<p>Er spielte jetzt mit diesem Einfall nach Willkür; warf
+ihn in die Luft und änderte ihn um: ließ ihn entwischen
+und haschte ihn wieder auf: ließ ihn phantastisch glitzern
+und gab ihm Paradoxe als Flügel. Als er fortfuhr, rundete
+sich dieser Ruhm der Narretei in ein philosophisches
+System und die Philosophie selbst wurde dabei jung und
+tanzte, begleitet von der tollen Musik der Lust, in ihrem
+von Wein befleckten Gewande und mit Efeu bekränzten
+Locken, wie eine Bacchantin über die Hügel des Lebens
+und neckte den plumpen Silen, weil er nüchtern blieb. Die
+Tatsachen flüchteten vor ihr wie das erschreckte Getier
+des Waldes. Ihre weißen Füße stampften in der ungefügen
+Kelter, an der der weise Omar sitzt, bis der schäumende
+Traubensaft in purpurblasigen Wellen an ihren nackten
+Gliedern aufspritzte oder in rotem Gischt über die dunkeln,
+triefenden, gewölbten Seiten der Kufe herabrann. Es war
+eine ganz brillante Improvision. Er empfand, daß die
+Augen Dorian Grays auf ihn gerichtet waren, und das
+Bewußtsein, daß es unter seinen Zuhörern einen gab,
+dessen Temperament er zu bezaubern wünschte, gab seinem
+Witz Würzigkeit und seiner Phantasie Farbe. Er<a class="pagenum" name="Page_69" title="69"> </a>
+war geistreich, phantasievoll, unwiderstehlich. Er begeisterte
+seine Zuhörer dahin, aus sich heraus zu gehen,
+und lachend folgten sie seiner Rattenfängerpfeife. Dorian
+Gray verwandte seinen Blick nicht von ihm, sondern saß
+wie unter einem Zauberbanne da, während ein Lächeln
+nach dem andern auf seine Lippen trat und sich das Staunen
+in seinen dunklen Augen immer mehr vertiefte.</p>
+
+<p>Endlich betrat die Wirklichkeit im Kleide des Alltags das
+Zimmer, und zwar in Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin
+meldete, daß ihr Wagen warte. Sie rang ihre Hände
+in geschauspielerter Verzweiflung. „Wie schade!“ rief sie
+aus. „Ich muß fort. Muß meinen Mann im Klub abholen
+und mit ihm zu irgendeiner albernen Sitzung bei Willis
+fahren, wo er präsidiert. Wenn ich zu spät komme, ist er
+sicher ärgerlich, und in dem Hut, den ich aufhabe, könnte
+ich eine Szene nicht vertragen. Er ist viel zu gebrechlich
+dazu. Ein rauhes Wort und er wäre ruiniert. Nein,
+liebe Agatha, ich muß fort. Adieu, Lord Henry! Sie sind
+ein ganz entzückender Mensch und fürchterlich unmoralisch.
+Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich zu Ihren Ansichten
+sagen soll. Sie müssen mal bei uns zu Abend essen. Dienstag?
+Sind Sie Dienstag frei?“</p>
+
+<p>„Für Sie würde ich jede andere Verabredung im
+Stich lassen, Frau Herzogin“, sagte Lord Henry, sich verbeugend.</p>
+
+<p>„Ah! Das ist sehr nett und sehr abscheulich von Ihnen“,
+rief sie; „vergessen Sie also nicht zu kommen“, und sie
+rauschte aus dem Zimmer, von Lady Agatha und den
+anderen Damen begleitet.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_70" title="70"> </a></p>
+
+<p>Als sich Lord Henry wieder gesetzt hatte, kam Herr
+Erskine zu ihm, zog seinen Stuhl ganz nahe zu ihm hin
+und legte die Hand auf seinen Arm.</p>
+
+<p>„Sie reden wie ein Buch“, sagte er; „warum schreiben
+Sie keins?“</p>
+
+<p>„Ich lese Bücher viel zu gerne, als daß ich Lust hätte,
+eins zu schreiben, Herr Erskine. Gewiß möchte ich manchmal
+einen Roman schreiben, der so entzückend und ebenso
+unwirklich sein müßte wie ein persischer Teppich. Aber
+in England gibt es ja kein literarisches Publikum außer
+für Zeitungen, Katechismen und Konversationslexika. Von
+allen Völkern des Erdballs haben die Engländer den
+am wenigsten entwickelten Sinn für die Schönheit der
+Literatur.“</p>
+
+<p>„Ich fürchte, Sie haben recht“, antwortete Herr Erskine.
+„Ich selbst habe einstmals literarischen Ehrgeiz gehabt, aber
+ich habe ihn längst abgelegt. Und nun, mein lieber junger
+Freund, wenn Sie mir erlauben wollen, Sie so zu nennen,
+darf ich Sie fragen, ob Sie wirklich alles im Ernst meinten,
+was Sie uns bei Tisch gesagt haben?“</p>
+
+<p>„Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe“, antwortete
+Lord Henry lächelnd. „Es war wohl sehr toll?“</p>
+
+<p>„Allerdings, sehr toll! Ich glaube wirklich, daß Sie ein
+äußerst gefährlicher Mensch sind, und wenn unserer guten
+Herzogin irgend etwas zustößt, so werden wir alle Sie in
+erster Linie dafür verantwortlich machen. Aber ich würde
+mit Ihnen gern einmal länger über das Leben debattieren.
+Die Generation, in die ich hineingeboren wurde, war sehr
+langweilig. Wenn Sie mal londonmüde sind, kommen Sie<a class="pagenum" name="Page_71" title="71"> </a>
+doch nach Treadley und setzen Sie mir da Ihre Philosophie
+des Genusses auseinander bei einem ganz köstlichen
+Burgunder, den zu besitzen ich so glücklich bin.“</p>
+
+<p>„Das wird mir ein großes Vergnügen sein. Ein Besuch
+in Treadley ist ein großer Vorzug. Es hat einen vollkommenen
+Wirt und eine vollkommene Bibliothek.“</p>
+
+<p>„Die mit Ihnen vollständig werden wird“, antwortete
+der alte Herr mit einer höflichen Verbeugung. „Und jetzt
+muß ich Ihrer trefflichen Tante adieu sagen. Ich muß
+ins Athenäum. Es ist die Stunde, wo wir dort schlafen.“</p>
+
+<p>„Sie alle, Herr Erskine?“</p>
+
+<p>„Vierzig von uns in vierzig Klubsesseln. Wir üben uns
+für eine Akademie anglaise.“</p>
+
+<p>Lord Henry lachte und stand auf. „Ich gehe in den
+Park!“ rief er aus.</p>
+
+<p>Als er durch den Türrahmen schritt, berührte ihn Dorian
+Gray am Arm. „Erlauben Sie mir, mitzukommen“, flüsterte
+er.</p>
+
+<p>„Aber ich dachte, Sie haben Basil Hallward versprochen,
+ihn zu besuchen“, wandte Lord Henry ein.</p>
+
+<p>„Ich möchte lieber mit Ihnen gehen; ja ich fühle, ich
+muß mit Ihnen mitkommen. Bitte, erlauben Sie es. Und
+versprechen Sie mir, die ganze Zeit zu erzählen? Niemand
+spricht so entzückend wie Sie.“</p>
+
+<p>„Ah! Ich habe für heute gerade genug geredet“, sagte
+Lord Henry und lächelte. „Alles, was ich jetzt möchte, ist,
+das Leben zu beschauen. Sie können mitkommen und mitanschauen,
+wenn Sie wollen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_72" title="72"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Viertes_Kapitel" id="Viertes_Kapitel"></a>Viertes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian
+Gray zurückgelehnt in einem schwellenden Sessel der kleinen
+Bibliothek in Lord Henrys Hause in Mayfair. Es war in
+seiner Art ein allerliebster Raum, bis hoch hinauf mit
+olivenfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen
+Deckenfries und mit Stuckverzierungen und mit einem
+ziegelfarbigen Filzteppich, der in langen Seidenfransen
+auslief. Auf einem niedlichen Tischchen aus Satinholz
+stand eine Figur von Clodion, und daneben lag eine Ausgabe
+der Cent Nouvelles, die für Margarete von Valois
+von Clovis Eve eingebunden und mit goldenen Gänseblümchen
+verziert war, wie sie die Königin auf ihr Wappenzeichen
+gewählt hatte. Auf dem Kaminsims standen ein
+paar große blaue Porzellanvasen mit Papageientulpen,
+und durch die schmalen, bleigerahmten Rautenfelder der
+Fenster drang das aprikosenfarbene Licht eines Londoner
+Sommertages.</p>
+
+<p>Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er
+kam grundsätzlich zu spät, da sein Grundsatz war, Pünktlichkeit
+stehle einem die Zeit. Daher sah der junge Mann
+etwas gelangweilt aus, als er mit lässigen Fingern die
+Seiten einer reichillustrierten Ausgabe von Manon Lescaut
+durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden
+hatte. Das abgemessene gleichförmige Ticktack der Louis-Quatorze-Uhr
+machte ihn nervös. Ein- oder zweimal
+machte er schon Miene, wegzugehen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_73" title="73"> </a></p>
+
+<p>Endlich hörte er draußen einen Schritt und die Tür
+öffnete sich. „Wie spät du kommst, Harry!“ sagte er leisen
+Vorwurfs.</p>
+
+<p>„Zu meinem Bedauern ist es nicht Harry, Herr Gray“,
+antwortete eine schrille Stimme.</p>
+
+<p>Er sah sich rasch um und sprang auf die Füße.</p>
+
+<p>„Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte &mdash;“</p>
+
+<p>„Sie glaubten, es sei mein Mann. Es ist nur seine
+Frau. Ich muß mich schon selbst vorstellen. Ich kenne Sie
+aus Ihren Photographien ganz gut. Ich glaube, mein
+Mann hat ihrer siebzehn.“</p>
+
+<p>„Nicht siebzehn, Lady Henry.“</p>
+
+<p>„Schön, also achtzehn. Und dann habe ich Sie gestern
+abend mit ihm in der Oper gesehen.“ Während sie sprach,
+lachte sie nervös und beobachtete ihn mit ihren verschwommenen
+Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine absonderliche
+Frau, deren Kleider immer so aussahen, als wären
+sie in einem Wutanfall gezeichnet und während eines
+Gewitters angezogen worden. Sie war gewöhnlich in
+irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft nie erwidert
+wurde, hatte sie sich alle ihre Illusionen bewahrt.
+Sie machte den Versuch, malerisch zu erscheinen, aber es
+gelang ihr nur, unordentlich auszusehen. Sie hieß Viktoria
+und hatte eine krankhafte Leidenschaft, in die Kirche zu
+laufen.</p>
+
+<p>„Das war im Lohengrin, Lady Henry, nicht wahr?“</p>
+
+<p>„Ja, es war bei dem entzückenden Lohengrin. Ich liebe
+Wagners Musik mehr als die irgendeines anderen. Sie ist
+so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne<a class="pagenum" name="Page_74" title="74"> </a>
+daß die Nachbarn hören, was man sagt. Das ist ein
+dankenswerter Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Herr Gray?“</p>
+
+<p>Über ihre dünnen Lippen kam wieder das nervöse Stakkatolachen,
+und ihre Finger begannen mit einem langen
+Papiermesser aus Schildkrot zu spielen.</p>
+
+<p>Dorian schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bedaure,
+Lady Henry, das ist nicht meine Meinung. Ich unterhalte
+mich nie, während man spielt &mdash; wenigstens nicht, wenn es
+gute Musik ist. Wenn man schlechte Musik hört, ist man
+freilich verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu ertränken.“</p>
+
+<p>„Ah, das ist eine von Harrys Sentenzen, nicht wahr,
+Herr Gray? Ich bekomme Harrys Ansichten immer von
+seinen Freunden zu hören. Das ist die einzige Art, wie ich
+sie überhaupt erfahre. Aber Sie dürfen nicht glauben, daß
+ich nicht auch gute Musik liebe. Ich vergöttere sie, aber ich
+fürchte mich vor ihr. Sie macht mich zu romantisch. Ich
+habe Klavierspieler geradezu angebetet &mdash; manchmal zwei
+auf einmal, versichert Harry. Ich weiß nicht, was es für
+eine Bewandtnis mit ihnen hat. Vielleicht rührt es daher,
+daß sie Ausländer sind. Das sind sie doch alle, nicht
+wahr? Selbst die in England Geborenen werden nach
+einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Es ist sehr gescheit
+von ihnen und für die Kunst sehr vorteilhaft. Das macht
+sie zu Kosmopoliten, nicht wahr? Sie waren nie auf einer
+meiner Gesellschaften, Herr Gray. Sie müssen einmal
+kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber
+ich scheue in der Anschaffung von Ausländern keine Ausgabe.
+Sie geben dem Hause ein so pittoreskes Aussehen.
+Aber da ist Harry. &mdash; Harry, ich kam her, um<a class="pagenum" name="Page_75" title="75"> </a>
+dich zu suchen, um dich etwas zu fragen &mdash; ich habe ganz
+vergessen, was &mdash; und ich habe Herrn Gray hier getroffen.
+Wir haben so entzückend über Musik gesprochen. Unsere
+Ansichten darüber sind die gleichen. Nein, ich glaube, unsere
+Ansichten darüber sind ganz verschieden. Aber er ist ganz
+allerliebst gewesen. Ich freue mich so sehr, ihn einmal gesehen
+zu haben.“</p>
+
+<p>„Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend“, sagte
+Lord Henry, seine dunkeln geschwungenen Brauen hebend
+und beide mit vergnügtem Lächeln ansehend. „Es tut mir
+so leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich war in
+Wardour Street, um mir einen alten Brokat anzusehen,
+und mußte stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen
+die Leute den Preis von jeder Sache und den Wert von
+keiner.“</p>
+
+<p>„Ich muß leider gehen!“ rief Lady Henry aus und
+unterbrach ein verlegenes Schweigen mit ihrem jähen,
+grundlosen Lachen. „Ich habe versprochen, mit der Herzogin
+auszufahren. Adieu, Herr Gray. Adieu, Harry.
+Du speist wohl nicht zu Hause, wie? Ich auch nicht, vielleicht
+sehe ich dich bei Lady Thornbury.“</p>
+
+<p>„Höchstwahrscheinlich, meine Liebe“, sagte Lord Henry
+und schloß die Tür hinter ihr, als sie gleich einem Paradiesvogel,
+der die ganze Nacht dem Regen ausgesetzt gewesen
+war, aus dem Zimmer hinausflatterte, einen feinen
+Jasmingeruch hinterlassend. Harry zündete sich eine Zigarette
+an und warf sich auf das Sofa. „Heirate nie eine
+Frau mit strohgelbem Haar, Dorian“, sagte er nach einigen
+Zügen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_76" title="76"> </a></p>
+
+<p>„Warum nicht, Harry?“</p>
+
+<p>„Weil sie so sentimental sind.“</p>
+
+<p>„Aber ich habe sentimentale Menschen gern.“</p>
+
+<p>„Heirate überhaupt nie, Dorian! Männer heiraten, weil
+sie müde sind; Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden
+enttäuscht.“</p>
+
+<p>„Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Harry. Dazu
+bin ich zu verliebt. Das ist einer deiner Aphorismen. Ich
+setze ihn in die Wirklichkeit um, wie alles, was du sagst.“</p>
+
+<p>„In wen bist du verliebt?“ fragte Lord Harry nach
+einer Pause.</p>
+
+<p>„In eine Schauspielerin“, sagte Dorian Gray errötend.</p>
+
+<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Ein recht landläufiger
+Anfang.“</p>
+
+<p>„Das würdest du nicht sagen, wenn du sie kenntest.“</p>
+
+<p>„Wer ist's denn?“</p>
+
+<p>„Sie heißt Sibyl Vane.“</p>
+
+<p>„Nie von ihr gehört.“</p>
+
+<p>„Das hat niemand. Aber später einmal wird man von
+ihr hören. Sie ist ein Genie.“</p>
+
+<p>„Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie
+wäre. Die Frauen sind ein dekoratives Geschlecht. Sie
+haben niemals etwas zu sagen, aber sie sagen es entzückend.
+Die Frauen bedeuten den Triumph der Materie über den
+Geist, wie die Männer den Triumph des Geistes über die
+Sittlichkeit.“</p>
+
+<p>„Harry, wie kannst du?“</p>
+
+<p>„Mein lieber Dorian, es ist aber wahr. Ich beschäftige
+mich gerade mit der Analyse der Frauen, daher muß ich<a class="pagenum" name="Page_77" title="77"> </a>
+das wissen. Das Thema ist nicht so verwickelt, wie ich
+glaubte. Ich finde, daß es schließlich nur zwei Arten von
+Frauen gibt, die einfachen und die geschminkten. Die einfachen
+Frauen sind sehr nützlich. Wenn du als ehrbarer
+Mensch gelten willst, mußt du nur eine von ihnen zu Tisch
+führen. Die andern Frauen sind zum Entzücken. Aber sie
+begehen einen Fehler. Sie schminken sich, um jung auszusehen.
+Unsere Großmütter schminkten sich, um geistreich
+zu plaudern. Rouge und Esprit gingen Hand in Hand.
+Das ist jetzt alles vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre
+jünger aussehen kann als ihre Tochter, ist sie gänzlich
+zufrieden. Was die Konversation betrifft, so gibt es in
+ganz London höchstens fünf Frauen, mit denen sich's zu
+reden lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft
+nicht möglich. Aber genug, erzähl' mir was von
+deinem Genie! Wie lange kennst du sie?“</p>
+
+<p>„Ach, Harry, deine Ansichten erschrecken mich!“</p>
+
+<p>„Mach' dir darum keine Kopfschmerzen. Wie lange kennst
+du sie also?“</p>
+
+<p>„Ungefähr drei Wochen.“</p>
+
+<p>„Und wo hast du die Entdeckung gemacht?“</p>
+
+<p>„Ich will dir's erzählen, Harry, aber du mußt nicht
+häßlich darüber reden. Übrigens wär's gar nicht dazu
+gekommen, wenn ich dich nicht kennengelernt hätte. Du hast
+mich mit einer wilden Begierde, alles im Leben kennenzulernen,
+angefüllt. Noch viele Tage, nachdem ich dich
+zuerst gesehen hatte, schien in meinen Adern etwas zu rumoren.
+Wenn ich im Park spazierte oder Piccadilly
+hinunterschlenderte, schaute ich jeden an, der mir entgegenkam,<a class="pagenum" name="Page_78" title="78"> </a>
+und wollte mit einer tollen Neugierde herauskriegen,
+was für eine Art Leben die Leute alle führten.
+Einige von ihnen fesselten mich. Andere erfüllten mich
+mit Schauder. Es schwamm ein verführerisches Gift in der
+Luft. Mich hatte eine Leidenschaft nach Erlebnissen gepackt... Eines Abends also gegen sieben beschloß ich, mich
+auf die Suche nach einem Abenteuer zu begeben. Ich hatte
+solch Gefühl, daß unser graues, riesenhaftes London mit
+seinen vielen Hunderttausenden schmutzigen Sündern und
+seinen schillernden Sünden, wie du dich mal ausdrücktest,
+irgend etwas für mich in Bereitschaft halten müsse. Ich
+erfand mir tausenderlei Dinge. Schon die bloße Gefahr
+schenkte mir einen gewissen Genuß. Ich erinnerte mich an
+das, was du mir sagtest an dem wunderbaren Abend, als
+wir das erstemal zusammen speisten: daß nämlich das
+Suchen nach Schönheit das eigentliche Geheimnis des
+Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich
+ging drauflos und wanderte nach dem Osten, wo ich
+meinen Weg bald in einem Wirrwarr von rußigen Straßen
+und schwarzen, graslosen Plätzen verlor. Gegen halb acht
+kam ich an einem kleinen, schnurrigen Theater mit großen,
+flackernden Gasflammen und grellen Plakaten vorbei. Ein
+widerlicher Jude, in dem erstaunlichsten Rock, den ich
+mein Lebtag gesehen habe, stand an der Tür und paffte
+eine stänkrige Zigarre. Er hatte fettige Peies, und ein
+riesiger Brillant glitzerte auf seiner schmutzigen Hemdenbrust.
+‚Eine Loge, Herr Baron?‛ fragte er mich und nahm
+seinen Hut mit grandioser Unterwürfigkeit ab. Er hatte
+etwas an sich, Harry, was mich belustigte. Er war das<a class="pagenum" name="Page_79" title="79"> </a>
+reine Monstrum. Du wirst mich auslachen, ich weiß schon,
+aber ich trat wirklich ein und erlegte ein Zwanzigmarkstück
+für die Proszeniumsloge. Ich kann mir noch heute
+nicht erklären, warum ich das tat; und doch &mdash; wenn ich's
+nicht getan hätte &mdash; bester Harry, ich wäre um das größte
+Ereignis meines Lebens gekommen. Ja, lach du nur. Es
+ist häßlich von dir.“</p>
+
+<p>„Ich lache nicht, Dorian, wenigstens nicht über dich.
+Aber du solltest es nicht das größte Ereignis deines Lebens
+nennen. Sage lieber, das erste Ereignis deines Lebens. Du
+wirst immer geliebt werden, und du wirst in die Liebe
+immer verliebt sein. Die grande Passion ist das Vorrecht
+aller Leute, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige
+Nutzen, den die Tagediebe eines Landes bringen. Habe
+keine Angst! Himmlische Dinge warten noch deiner. Das
+ist der bloße Anfang.“</p>
+
+<p>„Hältst du meine Natur für so oberflächlich?“ rief
+Dorian Gray gekränkt.</p>
+
+<p>„Nein, ich halte sie für so tief.“</p>
+
+<p>„Wie meinst du das?“</p>
+
+<p>„Mein lieber Junge, die Leute, die nur einmal im
+Leben lieben, das sind in Wirklichkeit die Oberflächlichen.
+Was sie Anstand und Treue nennen, nenne ich entweder
+die Trägheit der Gewohnheit oder Mangel an Einbildungskraft.
+Treue ist im Gefühlsleben dasselbe, was
+Konsequenz im Geistesleben ist, nichts als das Zugeständnis
+von Schwäche. Treue! Ich muß ihren Begriff später
+mal analysieren. Freude am Besitz liegt darin. Welche
+Menge von Dingen würden wir wegwerfen, wenn wir nicht<a class="pagenum" name="Page_80" title="80"> </a>
+fürchten müßten, andere könnten sie auflesen. Aber ich
+möchte dich nicht unterbrechen. Erzähle weiter.“</p>
+
+<p>„Ich saß also in einer schauderhaften kleinen Loge, und
+ein ordinärer Vorhang starrte mir gerade ins Gesicht. Ich
+schaute hinter der Gardine vor und sah mich im Hause um.
+Es war ein schäbig-elegantes Ding, gestopft voll mit Amoretten
+und Füllhörnern, wie auf einem Hochzeitskuchen
+billigster Sorte. Galerie und Stehparterre waren leidlich
+voll, aber die zwei Reihen schmieriger Fauteuils vorne
+waren ganz leer und auf dem Platze, den sie vermutlich
+ersten Rang titulierten, saß kaum ein Mensch. Weiber
+gingen mit Orangen und Ingwerbier herum, und eine unglaubliche
+Masse von Nüssen wurde verknackt.“</p>
+
+<p>„Es muß ganz wie in der Glanzzeit des britischen
+Dramas gewesen <ins title="sein.">sein.“</ins></p>
+
+<p>„Ganz so, vermute ich, und sehr niederdrückend. Ich
+begann, zu überlegen, was um Himmels willen ich da
+anfangen sollte, als mein Blick auf den Theaterzettel fiel.
+Was glaubst du, was sie spielten, Harry?“</p>
+
+<p>„Ich vermute, der ‚kleine Kretin‛ oder ‚Blödsinnig, aber
+unschuldig‛. Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube
+ich. Je länger ich lebe, Dorian, je stärker fühle ich, daß
+alles, was für unsere Väter gut genug war, für uns noch
+lange nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der Politik
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">les grandpères ont toujours tort</span>.“</p>
+
+<p>„Das Stück war gut genug für uns, Harry. Es war
+‚<ins title="Romea">Romeo</ins> und Julia‛. Ich muß zugeben, daß mich der Gedanke,
+Shakespeare in einer so elenden Spelunke zu sehen,
+ärgerte. Und doch interessierte es mich irgendwie. Jedenfalls<a class="pagenum" name="Page_81" title="81"> </a>
+entschloß ich mich, den ersten Akt abzuwarten. Es
+spielte da ein schauderöses Orchester, das ein junger Hebräer
+dirigierte, der an einem schnarrenden Klavier saß,
+mich beinah zum Davonlaufen brachte; aber schließlich
+ging doch der Vorhang in die Höhe und das Stück fing
+an. Romeo war ein hahnebüchener älterer Herr mit dick gemalten
+Brauen, einer versoffenen Tragödenstimme und
+einer Falstaffgestalt wie eine Biertonne. Mercutio war
+fast ebenso arg. Er wurde vom Komiker gespielt, der
+Mätzchen eigener Improvisation einstreute und in der verwandtschaftlichsten
+Beziehung zur Galerie stand. Sie waren
+beide genau so grotesk wie die Szenerie, und die sah aus,
+als käme sie vom Jahrmarktsrummel. Aber Julia! Harry,
+stell dir ein Mädchen vor, kaum siebzehn Jahre alt, mit
+einem blumenhaften Gesichtchen, einem schmalen griechischen
+Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen, wie
+veilchenblaue Brunnen heißer Leidenschaft, mit Lippen
+wie Rosenblätter. Das entzückendste Geschöpf, das ich je
+im Leben gesehen habe. Du sagtest mal zu mir, Pathos
+ergreife dich nicht, aber Schönheit, keusche Schönheit an
+sich, könnte deine Augen wohl mit Tränen füllen. Ich
+sage dir, Harry, ich konnte dieses Mädchen kaum sehen,
+von dem Tränenflor über meinen Augen. Und ihre
+Stimme &mdash; ich habe so eine Stimme nie gehört. Zuerst sehr
+leise in tiefen, vollen Molltönen, die langsam und jeder
+für sich allein ins Ohr zu träufeln schienen. Dann etwas
+lauter und erklingend wie eine Flöte oder eine ferne
+Hoboe. In der Gartenszene hatte sie jene zitternde Inbrunst,
+die man hört, wenn die Nachtigallen singen vor<a class="pagenum" name="Page_82" title="82"> </a>
+Tag und Tau. Es gab dann Augenblicke, wo ihre Stimme
+die verhaltene Leidenschaftsglut von Geigentönen hatte.
+Du weißt, wie eine Stimme einen erschüttern kann. Deine
+Stimme und die Stimme von Sibyl Vane, die beiden
+werde ich nie vergessen. Wenn ich meine Augen schließe,
+höre ich sie, und jede von ihnen sagt etwas anderes. Ich
+weiß nicht, welcher ich folgen soll. Warum sollte ich sie
+nicht lieben? Harry, ich liebe sie. Sie ist alles in meinem
+Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie spielen zu
+sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten
+Imogen. Ich habe sie im Düster eines italienischen Grabgewölbes
+sterben sehen, wie sie das Gift von den Lippen
+des Geliebten trinkt. Ich bin ihrer Wanderung durch die
+Ardennen gefolgt, wie sie als hübscher Knabe mit Hose,
+Wams und einem kleinen Barett verkleidet war. Sie war
+wahnsinnig und ist vor einen schuldbewußten König hingetreten
+und ließ ihn Rauten tragen und bittere Kräuter
+kosten. Sie war unschuldig, und die schwarzen Hände der
+Eifersucht haben ihren zarten Hals zusammengepreßt. Ich
+habe sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht gesehen.
+Gewöhnliche Frauen sagen unserer Phantasie nichts.
+Sie sind in ihre Zeit hineingebannt. Kein Zauber kann
+sie umwandeln. Man kennt ihren Geist ebenso schnell
+wie ihre Güte. Man kennt sie immer heraus. Es gibt
+kein Geheimnis in ihnen. Sie reiten morgens in den
+Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie haben
+ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Modemanieren.
+Aber eine Schauspielerin! Wie anders solche Schauspielerin!
+Harry! Warum hast du mir nicht gesagt,<a class="pagenum" name="Page_83" title="83"> </a>
+daß nichts geliebt zu werden verdient als eine Schauspielerin?“</p>
+
+<p>„Weil ich so viele von ihnen geliebt habe, Dorian.“</p>
+
+<p>„Oh, gewiß, gräßliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren
+und geschminkten Gesichtern.“</p>
+
+<p>„Schmähe nicht gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter.
+Es liegt zuweilen ein ganz besonderer Reiz darin“,
+sagte Lord Henry.</p>
+
+<p>„Ich wollte, ich hätte dir nie etwas von Sibyl Vane
+gesagt.“</p>
+
+<p>„Du hättest gar nicht anders können, Dorian. Dein
+ganzes Leben lang wirst du mir alles sagen, was du tust.“</p>
+
+<p>„Ja, Harry, ich glaube, es ist so. Ich bin geradezu gezwungen,
+dir alles zu sagen. Du hast eine seltsame Macht
+über mich. Wenn ich je ein Verbrechen beginge, käme ich
+gleich zu dir und beichtete es dir. Du würdest mich verstehen.“</p>
+
+<p>„Menschen wie du &mdash; die kühnen Sonnenstrahlen des
+Lebens &mdash; begehen keine Verbrechen, Dorian. Aber ich
+danke dir trotzdem für dein Kompliment. Und nun sag'
+mir &mdash; bitte gib mir mal die Streichhölzer herüber; danke
+&mdash; wie sind deine wirklichen Beziehungen zu Sibyl Vane?“</p>
+
+<p>Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und blitzenden
+Augen auf. „Harry! Sibyl Vane ist mir heilig.“</p>
+
+<p>„Nur heilige Dinge sind wert, sie anzurühren, Dorian“,
+sagte Lord Henry mit einem merkwürdigen pathetischen
+Ton in seiner Stimme. „Aber warum fühlst du dich verletzt?
+Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören.
+Wenn man verliebt ist, fängt man immer damit an, sich<a class="pagenum" name="Page_84" title="84"> </a>
+selbst zu betrügen, und hört immer damit auf, andere zu
+betrügen. Das nennt die Welt eine Liebesgeschichte. Auf
+jeden Fall denke ich, du kennst sie?“</p>
+
+<p>„Natürlich kenne ich sie. Schon am ersten Abend im
+Theater kam der gräßliche alte Jude nach der Vorstellung
+in meine Loge und bot mir an, mich hinter die Kulissen zu
+führen und ihr vorzustellen. Ich war wütend und sagte
+ihm, daß Julia seit Hunderten von Jahren tot sei und daß
+ihr Körper in einem Marmorgrabe zu Verona liege. Nach
+dem bestürzten Ausdruck in seinem Gesicht vermute ich,
+daß er glaubte, ich hätte zuviel Champagner oder Ähnliches
+getrunken.“</p>
+
+<p>„Kein Wunder!“</p>
+
+<p>„Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung
+schreibe. Ich sagte ihm, daß ich nicht mal eine lese. Das
+schien ihn furchtbar zu enttäuschen, und er vertraute mir
+an, alle Theaterkritiker hätten sich gegen ihn verschworen
+und jeder einzelne von ihnen wäre käuflich.“</p>
+
+<p>„Es sollte mich nicht wundern, wenn er ganz recht hätte.
+Andererseits aber, nach ihrem Aussehen zu schließen, können
+sie meistens gar nicht teuer sein.“</p>
+
+<p>„Einerlei, sie schienen über seine Mittel zu gehen“, sagte
+Dorian lachend. „Inzwischen aber wurden die Lichter im
+Theater ausgedreht und ich mußte fort. Er bat mich noch,
+einige Zigarren zu probieren, die er mir sehr warm
+empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend ging ich natürlich
+wieder hin. Als er mich sah, machte er eine tiefe Verbeugung
+und versicherte mir, ich sei ein edelmütiger Kunstmäzen.
+Er ist eine höchst abstoßende Kreatur, obwohl er<a class="pagenum" name="Page_85" title="85"> </a>
+eine außerordentliche Leidenschaft für Shakespeare hegt.
+Er erzählte mir mal mit einem Anflug von Stolz, seine
+fünf Bankrotte verdanke er nur dem ‚Barden‛; so nannte
+er nämlich hartnäckig Shakespeare. Er schien das für ein
+Verdienst zu halten.“</p>
+
+<p>„Es ist ein Verdienst, lieber Dorian &mdash; ein großes
+Verdienst. Die meisten Leute werden bankrott, weil sie
+zuviel in der Prosa des Lebens angelegt haben. Sich mit
+Poesie ruiniert zu haben, ist eine ehrenvolle Auszeichnung.
+Aber wann hast du Fräulein Sibyl Vane zum erstenmal
+<ins title="gesprochen?">gesprochen?“</ins></p>
+
+<p>„Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt.
+Ich mußte hinter die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein
+paar Blumen zugeworfen, und sie hatte zu mir hingesehen,
+wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war
+beharrlich. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu
+nehmen, und so gab ich nach. Es war sonderbar, daß ich
+sie nicht kennenlernen wollte, nicht wahr?“</p>
+
+<p>„Nein, ich glaube nicht.“</p>
+
+<p>„Warum, lieber Harry?“</p>
+
+<p>„Ich erkläre dir das ein andermal. Jetzt möchte ich
+gern von dem Mädchen hören.“</p>
+
+<p>„Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und lieb. Sie ist
+noch fast wie ein Kind. Ihre Augen öffneten sich in einem
+allerliebsten Staunen, als ich ihr sagte, was ich über ihr
+Spiel dachte, und sie schien sich ihres eigenen Könnens
+gar nicht bewußt zu sein. Ich glaube, wir waren beide
+recht nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür der
+staubigen Garderobe und hielt theatralische Reden über<a class="pagenum" name="Page_86" title="86"> </a>
+uns beide, während wir uns wie Kinder anstarrten. Er
+bestand darauf, mich ‚Herr Baron‛ zu nennen, so daß ich
+Sibyl versichern mußte, ich sei nichts der Art. Sie sagte in
+ganz schlichter Weise zu mir: ‚Sie sehen mehr wie ein
+Prinz aus. Ich will Sie Prinz Märchenschön nennen‛.“</p>
+
+<p>„Mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht es,
+Schmeicheleien zu sagen.“</p>
+
+<p>„Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur
+wie eine Figur in einem Theaterstück. Sie weiß gar nichts
+vom Leben. Sie wohnt bei ihrer Mutter, einer verblühten,
+ältlichen Frau, die am ersten Abend in einer Art
+türkisch-rotem Schlafrock die Lady Capulet spielte und den
+Eindruck machte, als hätte sie bessere Tage gesehen.“</p>
+
+<p>„Ich kenne diese Art, auszusehen. Sie stimmt mich unbehaglich“,
+sagte Lord Henry mit verhaltener Stimme und
+betrachtete seine Ringe.</p>
+
+<p>„Der Jude wollte mir ihre Lebensgeschichte erzählen,
+aber ich bemerkte, sie interessiere mich nicht.“</p>
+
+<p>„Da hattest du recht. Die Tragödien anderer Leute
+haben immer etwas unglaublich Gewöhnliches an sich.“</p>
+
+<p>„Sibyl ist das einzige, um das ich mich kümmere. Was
+geht's mich an, woher sie stammt? Von ihrem kleinen
+Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist sie ein himmlisches
+Wesen. Jeden Abend, den ich erlebe, gehe ich hin, um sie
+spielen zu sehen, und jeden Abend ist sie entzückender.“</p>
+
+<p>„Ich vermute darin den Grund, weshalb du jetzt nie
+mehr mit mir zusammen ißt. Ich dachte mir gleich, daß dahinter
+irgendeine merkwürdige Geschichte stecke. Das ist so,
+aber es ist nicht ganz, was ich erwartete.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_87" title="87"> </a></p>
+
+<p>„Lieber Harry, wir sind jeden Tag entweder beim Frühstück
+oder beim Abendessen zusammen, und ich bin mehrere
+Male mit dir in der Oper gewesen“, sagte Dorian und
+öffnete verwundert seine blauen Augen.</p>
+
+<p>„Du kommst immer furchtbar spät.“</p>
+
+<p>„Ja, ich muß hin und Sibyl spielen sehen, und wenn
+auch nur einen Akt lang. Ich hungere nach ihrem Anblick,
+und wenn ich an die himmlische Seele denke, die in diesem
+zierlichen Elfenbeinkörper eingeschlossen ist, packt mich stille
+Ehrfurcht.“</p>
+
+<p>„Kannst du heute abend mit mir essen, Dorian?“</p>
+
+<p>Er schüttelte den Kopf. „Heute abend ist sie Imogen,“
+antwortete er, „und morgen abend Julia.“</p>
+
+<p>„Wann ist sie Sibyl Vane?“</p>
+
+<p>„Nie!“</p>
+
+<p>„Da wünsche ich dir Glück.“</p>
+
+<p>„Wie schrecklich du bist! Sie verkörpert alle die großen
+Frauengestalten der Weltgeschichte in sich. Sie ist mehr als
+ein Geschöpf. Du lachst, aber ich sage dir, sie ist ein Genie.
+Ich liebe sie und ich will's erreichen, daß sie mich auch liebt.
+Dir sind alle Geheimnisse des Lebens bekannt, du mußt mir
+sagen, wie ich Sibyl Vane so bezaubern kann, daß sie mich
+liebt. Ich will Romeo eifersüchtig machen. Ich will, daß die
+toten Liebhaber der Welt unser Lachen hören und sich grämen.
+Ich will, daß unsere strahlende Leidenschaft ihren Staub
+wieder beleben und ihre Asche zu Schmerzen auferwecken
+soll. O Gott, Harry, wie bete ich sie an!“ Er ging, während
+er sprach, im Zimmer auf und ab. Rote hektische Flecken
+brannten auf seinen Wangen. Er war furchtbar erregt.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_88" title="88"> </a></p>
+
+<p>Lord Henry betrachtete ihn mit stillem Wohlbehagen.
+Wie anders war er jetzt als jener verlegene, schüchterne
+Knabe, den er in Basil Hallwards Atelier angetroffen
+hatte! Seine Natur hatte sich entwickelt wie eine Blume
+und trug Blüten von brennendrotem Scharlach. Aus ihrem
+geheimen Versteck war seine Seele hervorgekrochen, und
+die Wollust war ihr auf halbem Wege entgegengekommen.</p>
+
+<p>„Und was hast du nun vor?“ sagte Lord Henry schließlich.</p>
+
+<p>„Ich will, du und Basil sollt mich an einem Abend
+begleiten und sie spielen sehen. Ich setze nicht die leiseste
+Besorgnis in die Wirkung. Ihr werdet zugeben müssen,
+daß sie Genie hat. Dann müssen wir sie dem Juden aus
+den Händen winden. Sie ist noch drei Jahre &mdash; genau
+zwei Jahre und acht Monate &mdash; an ihn gebunden. Natürlich
+werde ich ihm etwas zahlen müssen. Wenn das alles
+in Ordnung ist, suche ich mir ein Theater im Westend und
+lasse sie dort erst mal richtig auftreten. Sie wird die Welt
+ebenso verrückt machen wie mich.“</p>
+
+<p>„Das wird kaum gehen, lieber Junge.“</p>
+
+<p>„Ja, sie wird es; denn in ihr ist nicht nur Kunst,
+vollendetster Kunstinstinkt, sondern sie hat auch Persönlichkeit;
+und du selbst hast mir oft genug gesagt, daß nur
+Persönlichkeiten, nicht Prinzipien die Welt beherrschen.“</p>
+
+<p>„Schön, wann sollen wir also hingehen?“</p>
+
+<p>„Laß mich mal nachdenken. Heute ist Dienstag. Wollen
+wir morgen festsetzen? Morgen spielt sie die Julia.“</p>
+
+<p>„Abgemacht! Morgen um acht im Bristol. Ich werde
+Basil mitbringen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_89" title="89"> </a></p>
+
+<p>„Bitte, nicht um acht Uhr, Harry. Halbsieben. Wir
+müssen dort sein, ehe der Vorhang aufgeht. Du mußt sie
+im ersten Akt bei der Begegnung mit Romeo sehen.“</p>
+
+<p>„Halbsieben Uhr! Was für eine Tageszeit! Das wäre
+ja gerade so, wie ein Abendbrot am Nachmittag essen oder
+einen englischen Roman lesen. Vor sieben Uhr geht's nicht.
+Kein Gentleman speist vor sieben. Siehst du Basil bis
+dahin? Oder soll ich ihm schreiben?“</p>
+
+<p>„Der liebe Basil! Ich habe mich eine ganze Woche lang
+nicht um ihn gekümmert. Das ist sehr häßlich von mir,
+denn er hat mir mein Porträt in einem prachtvollen Rahmen,
+den er selbst entworfen hat, geschickt, und obwohl
+ich ein bißchen eifersüchtig auf das Bild bin, weil es einen
+ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich doch zugeben, daß
+es mich ganz entzückt. Ich bitte, schreib lieber. Ich möchte
+ihn nicht allein wiedersehen. Er sagt mir Dinge, die mich
+verstimmen. Er gibt mir gute Lehren.“</p>
+
+<p>Lord Henry lächelte. „Die Menschen haben eine starke
+Vorliebe, das wegzuschenken, was sie selber am nötigsten
+hätten. Ich nenne das den Chimborasso Freigebigkeit.“</p>
+
+<p>„Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir doch
+ein klein bißchen Philister zu sein. Seit ich dich kenne,
+Harry, hab' ich das entdeckt.“</p>
+
+<p>„Basil, mein lieber Junge, tränkt seine Werke mit
+allem, was an ihm entzückend ist. Die Folge ist, daß ihm
+fürs Leben nichts übrigbleibt als seine Vorurteile, seine
+Grundsätze und sein gesunder Menschenverstand. Alle Künstler,
+die ich kennengelernt habe, und die persönlich von
+Anziehungskraft sind, waren schlechte Künstler. Gute Künstler<a class="pagenum" name="Page_90" title="90"> </a>
+leben nur in ihren Schöpfungen und sind daher im
+Leben vollständig uninteressant. Ein großer Dichter, ein
+wirklich großer Dichter ist das unpoetischste Geschöpf von
+der Welt. Aber untergeordnete Dichter bezaubern immer.
+Je schlechter ihre Reime sind, desto malerischer ist ihr
+Aussehen. Die bloße Tatsache, eine Sammlung mittelmäßiger
+Sonette veröffentlicht zu haben, macht solchen
+Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die Poesie, die
+er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Poesie,
+die sie nicht zu leben wagen.“</p>
+
+<p>„Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry“, sagte
+Dorian Gray, der inzwischen aus einem großen goldgefaßten
+Flakon auf dem Tische etwas Parfüm auf sein
+Taschentuch gegossen hatte. „Es wird wohl sein, wenn
+du es sagst. Jetzt aber muß ich fort. Imogen wartet auf
+mich. Vergiß nicht, morgen! Adieu!“</p>
+
+<p>Als er das Zimmer verlassen hatte, schloß Lord Henry
+die schweren Lider und begann nachzudenken. Gewiß hatten
+ihn wenige Menschen bisher so interessiert wie Dorian
+Gray, und doch verursachte ihm die wahnsinnige Leidenschaft
+des Jünglings für eine andere Person nicht im entferntesten
+Ärger oder Eifersucht. Es freute ihn. Dorian
+wurde dadurch nur noch interessanter. Die Methoden der
+Naturwissenschaft hatten ihn immer entzückt, aber der
+gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm kleinlich
+und belanglos erschienen, und so hatte er begonnen,
+sich selbst zu vivisezieren und hatte damit geendet, andere
+zu vivisezieren. Das Menschenleben &mdash; das schien ihm
+der einzige einer Untersuchung werte Gegenstand. Verglichen<a class="pagenum" name="Page_91" title="91"> </a>
+damit war alles andere ohne jegliche Bedeutung.
+Freilich, wenn man das Leben in dem seltsamen
+Schmelztiegel des Schmerzes und der Lust beobachtete,
+konnte man keine Glasmaske über dem Gesicht tragen,
+konnte auch nicht die Schwefeldämpfe abhalten, die einem
+das Gehirn verwirrten und die Phantasie mit monströsen
+Ausgeburten und mißratenen Träumen umwirbelten. Es
+gab so feine Gifte, daß man an ihnen erkrankt sein mußte,
+um ihre Eigenheiten zu kennen. Es gab so seltsame Krankheiten,
+daß man sie durchgemacht haben mußte, um
+ihre Art zu begreifen. Und doch, welchen Lohn empfing
+man dafür! Wie wunderbar wandelt sich einem dann
+die ganze Welt! Die merkwürdig strenge Logik der Leidenschaft
+und das buntgefärbte Trieb- und Gefühlsleben
+des Geistes anzumerken &mdash; zu beobachten, wo sich
+die beiden Linien schneiden und wo sie auseinandergehen,
+in welchem Punkte sie in Eintracht leben und in welchem
+sie sich wieder bekriegen &mdash; das ist ein Genuß! Was liegt
+an dem Preise dafür! Man kann nie einen zu hohen Preis
+für ein Sinnenerlebnis geben.</p>
+
+<p>Er war sich bewußt &mdash; und dieser Gedanke brachte einen
+freudigen Glanz in seine achatbraunen Augen &mdash; daß sich
+durch gewisse Worte, die er gesprochen hatte, musikalische
+Worte in melodischem Tonfall, Dorian Grays
+Seele diesem weißen Mädchen zugewendet und sich in
+Verehrung vor ihr gebeugt hatte. In hohem Maße war
+der Jüngling sein Geschöpf. Er hatte ihn vor der Zeit
+reifen lassen. Das war schon was. Die gewöhnlichen
+Menschen warten, bis ihnen das Leben seine Geheimnisse<a class="pagenum" name="Page_92" title="92"> </a>
+aufschließt, aber den wenigen Auserwählten werden die
+Mysterien des Daseins enthüllt, bevor der Schleier weggezogen
+wird. Manchmal ist das die Wirkung der Kunst,
+besonders der Dichtung, die ja unmittelbar die Leidenschaften
+und den Intellekt behandelt. Ab und zu nimmt
+aber eine komplizierte Persönlichkeit diesen Platz ein und
+übt das Amt der Kunst aus, ist eigentlich auf ihre Weise
+ein richtiges Kunstwerk, denn das Leben schafft ebenso
+seine vollendeten Meisterwerke wie die Poesie oder die
+Bildhauerkunst oder die Malerei.</p>
+
+<p>Ja, dieser Jüngling war vor der Zeit reich. Er erntete,
+während er noch lenzte. Der Puls und die Leidenschaft der
+Jugend wohnten in ihm, und er begann, seiner bewußt zu
+werden. Es war entzückend, ihn zu beobachten. Mit seinem
+schönen Angesicht und seiner schönen Seele war er ein
+Stück Leben zum Anstaunen. Es lag nichts daran, wie das
+alles endete, oder enden sollte. Er glich einer der graziösen
+Gestalten auf einem Gobelin oder in einem Schauspiel,
+deren Freuden von den unseren weit entfernt zu sein
+scheinen, aber deren Schmerzen unseren Schönheitssinn
+erregen und deren Wunden wie rote Rosen sind.</p>
+
+<p>Seele und Leib, Leib und Seele &mdash; wie geheimnisvoll
+das alles ist! Animalisches ist in der Seele, und der Leib
+hat seine Augenblicke geistiger Veredlung. Die Sinne können
+sich läutern, und der Intellekt kann sich vergröbern.
+Wer kann sagen, wo die fleischlichen Triebe endigen und die
+seelischen beginnen? Wie flach sind die willkürlichen Erklärungen
+der handwerksmäßigen Psychologen! Und doch,
+wie schwierig ist die Entscheidung zwischen den Lehren der<a class="pagenum" name="Page_93" title="93"> </a>
+einzelnen Schulen. Ist die Seele ein Schatten, der im
+Hause der Sünde wohnt? Oder ist der Körper wirklich
+in der Seele eingeschlossen, wie es sich Giordano Bruno
+dachte? Die Trennung von Geist und Stoff ist ein Geheimnis,
+und die Vereinigung von Geist und Stoff ist
+abermals ein Geheimnis.</p>
+
+<p>Er dachte darüber nach, ob wir je die Psychologie zu
+einer so exakten Wissenschaft machen können, daß uns auch
+das kleinste Triebrädchen des Lebens offenbar würde.
+Wie die Dinge heute liegen, begreifen wir uns selbst nie
+und die anderen nur selten. Die Erfahrung hat keinerlei
+ethische Bedeutung. Sie ist nur das Firmenschild, das
+die Menschen ihren Irrtümern anhängen. Die Moralisten
+haben sie meist als eine Art Warnung betrachtet, haben für
+sie eine gewisse ethische Wirksamkeit in der Bildung der
+Charaktere beansprucht, haben sie als Mittel gepriesen,
+das uns darüber aufklärt, was wir tun und lassen
+sollen. Aber in der Erfahrung liegt keine bewegende
+Kraft. Sie ist ebensowenig eine tätige Ursache wie das
+Gewissen. Alles, was sie in Wirklichkeit lehrt, ist, daß
+unsere Zukunft ebenso sein wird wie unsere Vergangenheit,
+und daß wir die Sünde, die wir dereinst mit Abscheu und
+Widerwillen begangen haben, immer und immer wieder
+und dann mit Genuß wiederholen werden.</p>
+
+<p>Er war sich darüber klar, daß die Versuchsmethode die
+einzige sei, durch die man zu irgendeiner wissenschaftlichen
+Erklärung der Leidenschaften kommen könne; und sicher
+war ihm Dorian Gray ein bequemes Objekt und schien
+reiche und wertvolle Erfolge zu versprechen. Seine jähe<a class="pagenum" name="Page_94" title="94"> </a>
+sturmartige Liebe zu Sibyl Vane war eine psychologische
+Tatsache von großem Interesse. Kein Zweifel, daß die
+Neugier dabei stark im Spiele war, Neugier und Lust an
+neuen Erlebnissen; doch es war keine einfache, sondern eher
+eine recht komplizierte Leidenschaft. Was von dem rein
+sinnlichen Triebe des Knabenalters in ihr war, das hatte
+die Mitarbeit der Phantasie umgebildet, in irgendwas
+verwandelt, das dem Jüngling selbst ganz fern von allem
+Sinnlichen schien und gerade deshalb um so gefährlicher
+war. Alle Leidenschaften, über deren Ursprung wir uns
+selbst täuschen, üben die stärkste Herrschaft auf uns aus.
+Unsere schwächsten Triebkräfte sind die, über deren Natur
+wir klar sehen. Es kommt oft vor, daß wir im Denken
+mit uns selbst Experimente anstellen und glauben, sie
+mit anderen zu versuchen.</p>
+
+<p>Während Lord Henry noch dasaß und über diese Dinge
+nachgrübelte, wurde an die Tür geklopft; ein Diener trat
+ein und erinnerte ihn, daß es Zeit sei, sich für das Abendessen
+umzukleiden. Er erhob sich und blickte auf die Straße
+hinab. Der Sonnenuntergang hatte die oberen Fenster
+der gegenüberliegenden Häuser in ein feuerrotes Gold
+getaucht. Die Scheiben glühten wie erhitzte Metallplatten.
+Der Himmel drüber glich einer verwelkten Rose. Es erinnerte
+ihn an das junge, flammenlodernde Leben seines
+Freundes, und er fragte sich, wie das alles enden würde.</p>
+
+<p>Als er dann gegen halb ein Uhr nachts nach Hause kam,
+fand er im Vorflur auf dem Tische ein Telegramm liegen.
+Er öffnete es und sah, daß es von Dorian Gray war. Es
+teilte ihm mit, daß er sich mit Sibyl Vane verlobt habe.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_95" title="95"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Funftes_Kapitel" id="Funftes_Kapitel"></a>Fünftes Kapitel</h2>
+
+
+<p>„Mutter, Mutter, ich bin so glücklich!“ flüsterte das
+Mädchen und barg ihr Gesicht im Schoße der verblühten,
+müde aussehenden Frau, die mit dem Rücken
+gegen das grell eindringende Licht in dem einzigen Armstuhl
+saß, den ihr armseliges Wohnzimmer enthielt. „Ich
+bin so glücklich!“ wiederholte sie, „und du wirst auch glücklich
+sein.“</p>
+
+<p>Frau Vane zuckte zusammen und legte ihre dünnen,
+wismutweißen Hände auf den Kopf ihrer Tochter. „Glücklich!“
+echote sie, „ich bin nur glücklich, Sibyl, wenn ich dich
+spielen sehe. Du darfst an nichts anderes denken als an
+deine Rollen. Herr Isaacs ist sehr gut gegen uns gewesen,
+und wir sind ihm Geld schuldig.“</p>
+
+<p>Das Mädchen sah auf und ließ die Lippen hängen.
+„Geld, Mutter?“ rief sie, „was liegt an Geld? Liebe ist
+mehr als Geld!“</p>
+
+<p>„Herr Isaacs hat uns tausend Mark Vorschuß gegeben,
+damit wir unsere Schulden zahlen und für James eine
+anständige Ausrüstung anschaffen können. Das darfst du
+nicht vergessen, Sibyl. Tausend Mark sind ein sehr großer
+Betrag. Herr Isaacs benahm sich sehr anständig.“</p>
+
+<p>„Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art,
+wie er mit mir spricht“, sagte das Mädchen, stand auf
+und trat ans Fenster.</p>
+
+<p>„Ich wüßte nicht, wie wir ohne ihn vorwärts kämen“,
+entgegnete die alte Frau weinerlich.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_96" title="96"> </a></p>
+
+<p>Sibyl Vane warf den Kopf in den Nacken und lachte:
+„Wir brauchen ihn nicht mehr, Mutter, der Prinz Märchenschön
+bestimmt von jetzt ab über unser Leben.“ Dann
+schwieg sie. Eine Blutwelle schoß in ihre Wangen und
+tauchte sie in ein dunkles Rot. Der rasche Atem öffnete
+ihre blühenden Lippen. Sie zitterten. Ein Südwind heißer
+Leidenschaft durchbrauste sie und bewegte die glatten Falten
+ihrer Gewandung. „Ich liebe ihn“, sagte sie mit einfachem
+Ausdruck.</p>
+
+<p>„Närrisches Kind! närrisches Kind!“ waren die papageienhaften
+Worte, die ihr als Antwort entgegenflogen.
+Dabei machte die beschwörende Bewegung ihrer gekrümmten,
+mit unechten Ringen gezierten Finger diesen Ausruf
+noch komischer.</p>
+
+<p>Das Mädchen lachte wieder. In ihrer Stimme lag
+etwas wie der Jubel eines Vogels im Käfig. Ihre Augen
+fingen die Lachmelodie auf und wiederholten sie in ihrem
+Glanze: dann schlossen sie sich einen Augenblick, als wollten
+sie ihr Geheimnis verbergen. Als sie sich wieder öffneten,
+war der Schimmer eines Traumes über sie dahingegangen.</p>
+
+<p>Aus dem abgenutzten Stuhl sprach die Weisheit zu ihr
+mit dünnen Lippen, mahnte zur Besinnung und gab Ratschläge
+aus dem Buch der Feigheit, dem sein Autor irrtümlich
+den Titel „Gesunder Menschenverstand“ beigelegt
+hat. Sie hörte nicht hin. Im Kerker ihrer Leidenschaft
+fühlte sie sich frei. Ihr Prinz, der Prinz Märchenschön,
+war bei ihr. Sie hatte das Gedächtnis beschworen, ihn
+herbeizuschaffen. Sie hatte ihre Seele auf die Suche nach<a class="pagenum" name="Page_97" title="97"> </a>
+ihm geschickt, und die hatte ihn wieder hergebracht. Sein
+Kuß brannte wieder auf ihrem Munde. Ihre Lider brannten
+wieder von seinem Atem.</p>
+
+<p>Dann zog die Weisheit andere Register auf und sprach
+von Erkundigen und Nachforschen. Es mochte ja sein, daß
+dieser junge Mann reich sei. Wenn dem so wäre, dann
+müßte man ans Heiraten denken. Um die Ohrmuschel
+des Mädchens plätscherten die Wellen weltlicher Schlauheit.
+Die Pfeile der Weltklugheit schwirrten an ihr vorüber.
+Sie sah, wie sich die dünnen Lippen bewegten, und
+lächelte.</p>
+
+<p>Plötzlich fühlte sie das Bedürfnis, zu sprechen. Die
+wortüberfüllte Schweigsamkeit verwirrte sie. „Mutter,
+Mutter,“ rief sie, „warum liebt er mich so innig? Ich
+weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er so ist,
+wie die Liebe selbst sein muß. Aber was findet er an mir?
+Ich bin seiner nicht wert. Und doch &mdash; ich weiß nicht,
+warum &mdash; ich fühle mich wohl tief unter ihm, aber ich
+fühle mich nicht gering. Stolz bin ich, schrecklich stolz.
+Mutter, hast du meinen Vater so geliebt, wie ich den
+Prinzen Märchenschön liebe?“</p>
+
+<p>Die alte Frau wurde bleich unter dem dicken Puder,
+womit ihre Wangen beklebt waren, und ihre verwelkten
+Lippen zitterten in krampfigem Schmerz. Sibyl stürzte
+zu ihr hin, schlang ihr ihre Arme um den Hals und küßte
+sie. „Verzeih mir, Mutter! Ich weiß, es schmerzt dich,
+an unseren Vater zu denken. Aber es schmerzt dich nur,
+weil du ihn so lieb gehabt hast. Sieh nicht so traurig
+drein. Heute bin ich so glücklich, wie du es warst vor<a class="pagenum" name="Page_98" title="98"> </a>
+zwanzig Jahren. Ach, könnte ich für immer so glücklich
+sein!“</p>
+
+<p>„Mein Kind, du bist viel zu jung, um an eine Liebschaft
+zu denken. Zudem, was weißt du von diesem jungen
+Mann? Du weißt nicht mal seinen Namen. Die ganze
+Sache ist höchst unpassend, und wahrhaftig, gerade jetzt,
+wo sich James nach Australien rüstet, und ich an so viele
+Dinge zu denken habe, da muß ich sagen, du hättest mehr
+Überlegung zeigen sollen. Immerhin, wie ich schon sagte,
+wenn er reich ist...“</p>
+
+<p>„Ach Mutter, Mutter, laß mich glücklich sein!“</p>
+
+<p>Frau Vane blickte sie an und schloß sie plötzlich mit
+einer der unwahren theatralischen Gesten in die Arme,
+wie sie den Schauspielern oft zur zweiten Natur werden.
+In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein junger
+Bursche mit struppigem, braunem Haar kam in die Stube.
+Er war von untersetzter Gestalt, und seine Hände und
+Füße waren groß und bewegten sich etwas ungelenk. Er
+war nicht so gut erzogen wie seine Schwester. Man hätte
+kaum die nahe Verwandtschaft erraten können, die zwischen
+beiden bestand. Frau Vane richtete ihre Augen auf
+ihn, und ihr Lächeln verstärkte sich. In ihrem Geiste ließ
+sie ihren Sohn die Rolle des Publikums spielen. Sie war
+überzeugt, daß das Tableau interessant war.</p>
+
+<p>„Du könntest dir wohl ein paar Küsse für mich aufheben,
+Sibyl“, sagte der Bursche mit gutmütigem Knurren.</p>
+
+<p>„Ach, Jim, du machst dir doch gar nichts aus Küssen!“
+rief sie. „Du bist ein greulicher alter Bär!“ Und sie
+hüpfte durchs Zimmer zu ihm hin und umhalste ihn.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_99" title="99"> </a></p>
+
+<p>James Vane sah seiner Schwester zärtlich in das Gesicht.
+„Ich möchte mit dir spazieren gehen, Sibyl. Ich
+glaube kaum, daß ich dies schreckliche London jemals
+wiedersehe. Ich mache mir auch wirklich nicht im geringsten
+was draus.“</p>
+
+<p>„Mein Sohn, rede doch nicht so schreckliche Dinge“,
+grollte Frau Vane, während sie seufzend ein flitteriges
+Theaterkostüm zur Hand nahm und es auszubessern begann.
+Sie fühlte eine kleine Enttäuschung, daß er sich
+der Gruppe nicht angeschlossen hatte. Es hätte die malerische
+Wirkung der Szene so hübsch erhöht.</p>
+
+<p>„Warum nicht, Mutter? Ich meine es im Ernst.“</p>
+
+<p>„Du kränkst mich, mein Sohn. Ich hoffe, daß du von
+Australien als ein gemachter Mann zurückkehrst. Ich vermute,
+es gibt in den Kolonien sozusagen keine Gesellschaft,
+wenigstens nichts, was ich Gesellschaft nenne; wenn du
+also dein Glück gemacht hast, mußt du zurückkommen und
+dich zur Geltung bringen in London.“</p>
+
+<p>„Gesellschaft“, brummelte der junge Mann. „Will davon
+nichts wissen. Möchte nur soviel Geld verdienen, um
+dich und Sibyl vom Theater wegzukriegen. Ich hasse es.“</p>
+
+<p>„O Jim,“ sagte Sibyl lachend, „wie unfreundlich von
+dir! Aber, willst du wirklich mit mir spazieren gehen? Das
+ist nett! Ich fürchtete schon, du wolltest dich bei deinen
+Freunden verabschieden, bei Tom Hardy, der dir diese
+gräßliche Pfeife geschenkt hat, oder bei Nell Langton, der
+dich auslacht, weil du sie rauchst. Es ist sehr hübsch von
+dir, daß du mir deinen letzten Nachmittag schenkst. Wohin
+werden wir gehen? Komm, wir wollen in den Park.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_100" title="100"> </a></p>
+
+<p>„Dazu bin ich zu schäbig angezogen“, antwortete er
+mit gerunzelter Stirn. „Nur Elegants gehen in den Park.“</p>
+
+<p>„Unsinn, Jim“, flüsterte sie, und streichelte seinen
+Ärmel.</p>
+
+<p>Er zauderte einen Augenblick. „Schön denn,“ sagte er
+schließlich, „mach' aber nicht zu lang mit dem Anziehen.“</p>
+
+<p>Sie tanzte zur Tür hinaus. Man konnte sie singen
+hören, während sie die Treppe hinauflief. Ihre kleinen
+Füße trippelten oben.</p>
+
+<p>Er ging zwei oder dreimal durch die Stube, dann
+wandte er sich zu der schweigsamen Gestalt im Lehnstuhl.</p>
+
+<p>„Mutter, sind meine Sachen gepackt?“ fragte er.</p>
+
+<p>„Alles fertig, James“, antwortete sie, ohne von ihrer
+Arbeit aufzuschauen. Seit einigen Monaten war es ihr
+unbehaglich, wenn sie mit ihrem rauhen, finsteren Sohn
+allein war. Ihre oberflächliche Natur mit ihrem unterdrückten
+Geheimnis wurde beunruhigt, wenn sich ihre
+Augen trafen. Sie fragte sich, ob er einen Verdacht habe.
+Sein Schweigen, da er sonst keine Bemerkungen machte,
+wurde ihr unerträglich. Sie fing also zu jammern an.
+Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade, wie
+sie dadurch angreifen, daß sie unvermutet die Waffen
+strecken. „Ich hoffe, James, dein Seefahrerleben wird
+dich befriedigen. Du darfst nie vergessen, daß es deine
+eigene Wahl war. Du hättest in das Bureau eines Anwalts
+treten können. Anwälte sind eine sehr geachtete
+Menschenklasse und werden auf dem Lande oft in den
+besten Familien eingeladen.“</p>
+
+<p>„Ich hasse Bureaus und ich hasse Schreiber“, erwiderte<a class="pagenum" name="Page_101" title="101"> </a>
+er. „Aber du hast ganz recht, mein Leben habe ich mir
+selbst gewählt. Alles, was ich sage, ist: Wache über Sibyl!
+Laß ihr kein Unglück zustoßen. Mutter, du mußt über sie
+wachen!“</p>
+
+<p>„James, du hast eine merkwürdige Art, zu sprechen.
+Natürlich wache ich über sie.“</p>
+
+<p>„Ich höre, ein Herr kommt jeden Abend ins Theater
+und geht hinter die Kulissen und spricht mit ihr. Ist das
+wahr? Wie verhält sich's damit?“</p>
+
+<p>„James, du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst.
+Wir in unserem Beruf sind gewöhnt, eine Menge wohltuender
+Aufmerksamkeiten zu empfangen. Ich selbst habe
+zu meiner Zeit viel Blumen bekommen. Damals verstand
+man noch etwas vom Spielen. Was Sibyl betrifft, so
+weiß ich im Augenblick nicht, ob ihre Neigung ernst ist
+oder nicht. Aber darüber besteht kein Zweifel, daß der
+fragliche junge Mann ein vollendeter Kavalier ist. Er ist
+immer ausgesucht höflich zu mir. Auch sieht er aus, als
+ob er reich wäre, und die Buketts, die er schickt, sind ganz
+allerliebst.“</p>
+
+<p>„Aber du weißt nicht mal seinen Namen“, warf der
+junge Mann barsch ein.</p>
+
+<p>„Nein“, antwortete die Mutter mit gelassener Miene.
+„Er hat uns seinen wirklichen Namen noch nicht verraten.
+Ich finde das sehr romantisch von ihm. Wahrscheinlich
+ist er ein Herr von Adel.“</p>
+
+<p>James Vane biß sich auf die Lippen. „Wache über
+Sibyl!“ schrie er. „Wache über sie!“</p>
+
+<p>„Mein Sohn, du verletzt mich ungemein. Sibyl steht<a class="pagenum" name="Page_102" title="102"> </a>
+unablässig unter meiner besonderen Obhut. Natürlich,
+falls dieser Herr vermögend ist, sehe ich den Grund nicht
+ein, um einer Verbindung mit ihm auszuweichen. Ich bin
+fest davon überzeugt, er gehört zur Aristokratie. Er sieht
+ganz so aus, muß ich sagen. Es wird eine brillante Partie
+für Sibyl werden. Sie würden ein entzückendes Paar abgeben.
+Seine Schönheit ist wirklich ganz bedeutend; sie
+fällt jedem auf.“</p>
+
+<p>Der junge Mann brummte etwas in sich hinein und
+trommelte mit seinen dicken Fingern gegen die Fensterscheibe.
+Er hatte sich gerade umgewandt, um etwas zu
+sagen, als die Tür aufging und Sibyl hereinflitzte.</p>
+
+<p>„Was macht ihr beide denn für ernste Gesichter!“ rief
+sie aus. „Was gibt's denn?“</p>
+
+<p>„Nichts“, antwortete er. „Man muß auch mal ernst
+sein. Adieu, Mutter; ich will um fünf essen. Alles ist gepackt
+bis auf die Hemden; du brauchst dich also um nichts
+mehr zu kümmern.“</p>
+
+<p>„Adieu, mein Sohn“, antwortete sie mit einer Verbeugung
+gemachter hoheitsvoller Würde.</p>
+
+<p>Sie war äußerst gekränkt durch den Ton, den er ihr
+gegenüber angeschlagen hatte, und in seinem Blick lag
+etwas, das ihr Angst eingeflößt hatte.</p>
+
+<p>„Gib mir einen Kuß, Mutter“, sagte das Mädchen.
+Ihre blütengleichen Lippen berührten die welken Wangen
+und wärmten ihre Frostigkeit.</p>
+
+<p>„Mein Kind! Mein Kind!“ rief Frau Vane und schaute
+zur Decke auf, als suchte sie in ihrer Einbildung eine Galerie.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_103" title="103"> </a></p>
+
+<p>„Komm, Sibyl“, sagte ihr Bruder ungeduldig. Er konnte
+die Attitüden seiner Mutter nicht ausstehen.</p>
+
+<p>Sie traten hinaus in den flimmernden, windbewegten
+Sonnenschein und schlenderten die trostlose Euston Road
+hinab. Die Vorübergehenden blickten verwundert auf den
+unfreundlichen, schwerfälligen jungen Menschen in den groben
+schlechtsitzenden Kleidern, den ein so liebliches, fein
+aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem Gärtnerburschen,
+der eine Rose trägt.</p>
+
+<p>Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den
+forschenden Blick eines Fremden bemerkte. Er hatte jene
+Abneigung gegen das Angestarrtwerden, die Menschen
+von Geist erst spät im Leben bekommen und die den
+Herdenmenschen nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts
+von der Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf
+ihren lächelnden Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen,
+und damit sie um so besser an ihn denken könnte,
+sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte nur von dem
+Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, von dem Gold, das
+er sicher finden würde, von der wunderhübschen Millionenerbin,
+deren Leben er verruchten rotblusigen Buschräubern
+entreißen sollte. Denn er würde nicht Matrose bleiben
+oder Verfrachter oder was er jetzt fürs erste werden sollte.
+O nein! Solch Matrosendasein war schrecklich. Er solle nur
+daran denken, in ein schreckliches Schiff hineingepfercht zu
+sein, wenn die brüllenden, katzenbuckelnden Wellen immer
+eindringen wollen und ein schwarzer Wind die Masten
+umblase und die Segel in lange, klatschnasse Streifen zerreiße.
+Er sollte in Melbourne das Schiff verlassen, dem<a class="pagenum" name="Page_104" title="104"> </a>
+Kapitän höflich Lebewohl sagen und sich sofort in die
+Goldfelder begeben. Bevor noch eine Woche um sei, werde
+er auf einen großen Klumpen puren Goldes stoßen, auf
+den größten, der je gefunden worden sei, und werde ihn
+zur Küste schaffen in einem großen Wagen, den sechs berittene
+Polizisten bewachen sollten. Die Buschklepper überfielen
+sie dreimal, würden aber nach einem ungeheuren
+Gemetzel zurückgeschlagen werden. Oder nein! Er sollte
+überhaupt nicht in die Goldfelder wandern. Das sind
+schreckliche Örter, wo sich die Leute betrinken und einander
+in Kneipen totschössen und eine schreckliche Sprache führten.
+Er sollte ein friedsamer Viehzüchter werden, und eines
+Abends, wenn er heimritte, begegnete er der schönen Erbin,
+die gerade von einem Räuber auf einem Rappen entführt
+würde, und dann setzt er ihm nach und befreit sie. Natürlich
+würde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und
+sie heirateten dann und kehrten heim und wohnten in
+einem großen Palais in London. Ja, entzückende Dinge
+warteten auf ihn. Aber er müsse auch sehr brav sein, nie
+die Geduld verlieren oder sein Geld vergeuden. Sie sei
+nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse schon genügend
+mehr vom Leben. Er müsse ihr auch zuverlässig an jedem
+Posttag schreiben und jeden Abend, wenn er schlafen gehe,
+beten. Gott sei sehr gut und werde über ihn wachen. Auch
+sie werde für ihn beten, und in ein paar Jahren werde er
+reich und glücklich nach Hause kommen.</p>
+
+<p>Der Bursche hörte ihr brummig zu und gab keine Antwort.
+Ihm tat das Herz weh, weil er von der Heimat
+weg mußte.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_105" title="105"> </a></p>
+
+<p>Aber es war nicht das allein, was ihn düster und verstimmt
+sein ließ. So unerfahren er war, fühlte er doch
+sehr die Gefahr, die in Sibyls Stellung lag. Dieser junge
+Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte es nicht ehrlich
+mit ihr meinen. Es war ein vornehmes Herrchen, und das
+trug ihm seinen Haß ein, einen Haß, der aus einem sonderbaren
+Rasseinstinkt herrührte, von dem er sich keine Rechenschaft
+geben konnte und der ihn gerade deshalb um so
+stärker beherrschte. Er kannte auch die Oberflächlichkeit
+und Eitelkeit seiner Mutter und sah darin ungeheure Gefahren
+für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder fangen damit
+an, ihre Eltern zu lieben; wenn sie älter werden, sitzen sie
+über ihnen zu Gericht, manchmal vergeben sie ihnen auch.</p>
+
+<p>Seine Mutter! Es brütete in ihm, sie über etwas zu
+fragen, was er viele schweigsame Monate hindurch mit
+sich herumgeschleppt hatte. Ein zufälliges Wort, das er
+im Theater aufgeschnappt hatte, ein hingeflüstertes Scherzwort,
+das er eines Abends auffing, als er an der Bühnentür
+wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken entfesselt.
+Die Erinnerung daran schmerzte ihn wie der Hieb
+einer Reitpeitsche in sein Gesicht. Seine Brauen kniffen
+sich in eine tiefe Furche zusammen, und in schmerzlichem
+Krampf biß er sich auf die Lippen.</p>
+
+<p>„Du hörst auch nicht ein einziges Wort, das ich sage,
+Jim!“ rief Sibyl, „und ich schmiede die entzückendsten
+Pläne für deine Zukunft. Sag' doch mal was!“</p>
+
+<p>„Was soll ich denn sagen?“</p>
+
+<p>„Oh, daß du ein braver Bursche sein willst und uns nicht
+vergessen“, antwortete sie und lächelte ihn an.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_106" title="106"> </a></p>
+
+<p>Er zuckte die Schultern. „Es wäre eher möglich, daß du
+mich vergißt, als daß ich dich vergesse, Sibyl.“</p>
+
+<p>Sie errötete. „Wie meinst du das, Jim?“ fragte sie.</p>
+
+<p>„Du hast einen neuen Freund, wie ich höre. Wer ist es?
+Warum hast du mir nicht von ihm erzählt? Er meint es
+nicht gut mit dir.“</p>
+
+<p>„Hör' auf, Jim“, rief sie aus. „Du darfst nichts gegen
+ihn sagen. Ich liebe ihn.“</p>
+
+<p>„Was, und du weißt nicht mal seinen Namen?“ erwiderte
+er. „Wer ist es? Ich habe ein Recht, das zu wissen.“</p>
+
+<p>„Er heißt der Prinz Märchenschön. Gefällt dir der
+Name <ins title="nicht.">nicht?</ins> Oh, du törichtes Jungchen! du solltest ihn
+nie vergessen. Wenn du ihn nur ein einzigesmal sähest,
+müßtest du ihn für den entzückendsten Menschen auf Erden
+halten. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen: wenn du
+von Australien zurückkommst. Er wird dir sehr gefallen.
+Allen Menschen gefällt er, und ich ... ich liebe ihn. Ich
+wollte, du könntest heute abend ins Theater kommen. Er
+wird kommen, und ich spiele die Julia! Oh, wie ich sie
+spielen werde! Denk dir, Jim, lieben und die Julia
+spielen! Wissen, daß er dasitzt! Zu seiner Freude spielen!
+Ich fürchte, ich werde meine Kollegen erschrecken, erschrecken
+oder hinreißen. Lieben heißt, hinauswachsen über sich selbst.
+Der gräßliche Herr Isaacs wird seinen Kumpanen am
+Schenktisch zuschreien, ich sei ein Genie. Er hat mich wie
+ein Dogma ausposaunt; heute abend wird er mich als
+Offenbarung verkündigen. Ich fühle das. Und all das
+ist sein Werk, nur sein, des Prinzen Märchenschön, meines
+wunderbaren Geliebten, meines Musengottes. Aber ich bin<a class="pagenum" name="Page_107" title="107"> </a>
+ein armes Ding neben ihm. Arm. Was liegt daran?
+Schleicht Armut in ein Haus, fliegt Liebe durchs Fenster
+hinaus. Unsere Sprichwörter müssen umgeändert werden.
+Sie sind im Winter erdacht worden, und jetzt ist Sommer,
+für mich freilich Frühling, ein Tanz von Blüten unter
+blauem Himmel.“</p>
+
+<p>„Er ist ein Herr der feinen Gesellschaft“, sagte der
+Bursche finster.</p>
+
+<p>„Ein Prinz!“ rief sie mit melodischer Stimme. „Was
+willst du mehr?“</p>
+
+<p>„Er wird dich zu seiner Sklavin machen.“</p>
+
+<p>„Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein!“</p>
+
+<p>„Ich rate dir, dich vor ihm zu hüten.“</p>
+
+<p>„Ihn sehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm
+vertrauen!“</p>
+
+<p>„Sibyl, deine Liebe macht dich verrückt.“</p>
+
+<p>Sie lachte und nahm seinen Arm. „Du lieber, alter
+Jim, du sprichst, als wärest du hundert Jahre alt. Eines
+schönen Tages wirst du selbst lieben. Dann wirst du wissen,
+was das heißt. Guck mich nicht so brummig an. Du solltest
+dich freuen in dem Bewußtsein, daß du mich, obwohl
+du gehst, glücklicher zurückläßt, als ich je gewesen bin. Das
+Leben ist bisher hart für uns gewesen, furchtbar hart und
+schwer. Aber jetzt wird's anders. Du gehst in eine neue
+Welt, und ich habe eine neue gefunden. &mdash; Da sind zwei
+Stühle frei, wir wollen uns setzen und die eleganten Leute
+Revue passieren lassen.“</p>
+
+<p>Sie setzten sich mitten in eine Menge von Zuschauern.
+Die Tulpenbeete längs des Weges flammten wie beschwörende<a class="pagenum" name="Page_108" title="108"> </a>
+Feuerglocken. Ein weißer Dunst wie eine zitternde
+Wolke von Veilchenpuder hing in der schwülen Luft.
+Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten auf und ab wie
+Riesenschmetterlinge.</p>
+
+<p>Sie brachte ihren Bruder dazu, daß er von sich, seinen
+Aussichten und seinen Plänen sprach. Er redete zögernd
+und mühsam. Sie ließen ihre Worte langsam aufeinanderfolgen,
+wie sich Spieler ihre Points ansagen. Sibyl fühlte
+sich niedergedrückt. Sie konnte ihre Freude nicht mitteilen.
+Ein schwaches Lächeln, das seinen vergrämten Mund umspielte,
+war die einzige Antwort, die sie erhielt. Nach
+einiger Zeit verstummten sie beide. Plötzlich erblickte sie
+den Schimmer goldenen Haares und lachende Lippen, und
+in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei
+Damen vorbei.</p>
+
+<p>Sie sprang auf. „Da ist er!“ rief sie.</p>
+
+<p>„Wer?“ fragte Jim Vane.</p>
+
+<p>„Der Märchenprinz“, antwortete sie, und spähte dem
+Wagen nach.</p>
+
+<p>Er sprang auf und faßte rauh ihren Arm. „Zeig' ihn
+mir. Welcher ist es? Zeig' ihn mir, ich muß ihn sehen!“
+rief er. Aber in diesem Augenblick fuhr der Viererzug des
+Herzogs von Verwick dazwischen, und als die Aussicht wieder
+frei war, hatte der Wagen schon den Park verlassen.</p>
+
+<p>„Er ist fort“, murmelte Sibyl traurig. „Ich wünschte,
+du hättest ihn gesehen.“</p>
+
+<p>„Ich wünschte es auch, denn so wahr ein Gott im Himmel
+ist, wenn er dir je ein Leides antut, bring' ich ihn um!“</p>
+
+<p>Sie sah ihn erschreckt an. Er wiederholte seine Worte.<a class="pagenum" name="Page_109" title="109"> </a>
+Sie durchschnitten die Luft wie ein Dolch. Die Leute
+ringsherum fingen an, auf sie hinzustarren. Eine Dame
+ganz in der Nähe kicherte.</p>
+
+<p>„Komm fort, Jim; komm fort“, flüsterte sie. Er ging
+ihr verbissenen Mundes nach, als sie die Menge durchschritt.
+Er war zufrieden, daß er das gesagt hatte.</p>
+
+<p>Als sie bei der Achillesstatue war, drehte sie sich nach
+ihm um. In ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren
+Lippen zu einem Lachen wurde. Sie schüttelte den Kopf
+über ihn. „Du bist verdreht, Jim, völlig verdreht; ein
+ungezogener Bubi, sonst nichts. Wie kannst du so was
+Häßliches sagen? Du weißt gar nicht, was du zusammensprichst.
+Du bist einfach eifersüchtig und unfreundlich. Ach!
+ich wollte, daß du dich einmal verliebst. Liebe macht die
+Menschen gut, und was du gesagt hast, war schlecht.“</p>
+
+<p>„Ich bin erst sechzehn,“ antwortete er, „aber ich weiß,
+was ich zu tun habe. Mutter kann dir nicht helfen. Sie
+versteht es nicht, dich zu beschützen. Ich wünschte jetzt,
+ich ginge überhaupt nicht nach Australien. Ich hab' nicht
+übel Lust, die ganze Sache zu lassen. Ich tät's, wenn mein
+Vertrag nicht schon unterschrieben wäre.“</p>
+
+<p>„Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim. Du bist wie einer von
+den Helden aus den albernen Melodramen, in denen
+Mutter so gern gespielt hat. Ich will mich mit dir
+nicht streiten. Ich hab' ihn gesehen, und ihn sehen, ist vollkommenes
+Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, daß
+du einem, den ich liebe, nie etwas antun wirst, nicht?“</p>
+
+<p>„Solange du ihn liebst, wohl kaum“, war die finstere
+Antwort.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_110" title="110"> </a></p>
+
+<p>„Ich werde ihn immer lieben!“ rief sie.</p>
+
+<p>„Und er?“</p>
+
+<p>„Auch immer.“</p>
+
+<p>„Das ist sein Glück!“</p>
+
+<p>Sie schrak vor ihm zurück. Dann lachte sie und legte die
+Hand auf seinen Arm. Er war doch nur ein Junge.</p>
+
+<p>Am Marble Arch bestiegen sie einen Omnibus, der sie
+in die Nähe ihrer armseligen Wohnung in Euston Road
+brachte. Es war schon fünf Uhr vorüber, und Sibyl mußte
+sich noch, bevor sie auftrat, ein paar Stündchen niederlegen.
+Jim bestand darauf, daß sie es täte. Er sagte, er
+würde lieber von ihr Abschied nehmen, wenn die Mutter
+nicht dabei wäre. Sie würde sicher eine Szene machen,
+und er verabscheue Szenen aller Art.</p>
+
+<p>Sie nahmen in Sibyls Zimmer Abschied. Im Herzen
+des jungen Menschen brannte Eifersucht und ein grimmer,
+mörderischer Haß auf den Fremden, der, wie er meinte,
+zwischen sie getreten war. Als sich aber ihre Arme um
+seinen Hals schlangen, und ihre Finger durch sein Haar
+fuhren, wurde er sanfter und küßte sie mit wirklicher Zärtlichkeit.
+Als er hinunterging, standen Tränen in seinen Augen.</p>
+
+<p>Die Mutter wartete unten auf ihn. Als er eintrat,
+murrte sie über seine Unpünktlichkeit. Er gab keine Antwort,
+sondern setzte sich an sein kärgliches Mahl. Die
+Fliegen summten um den Tisch und krochen über das
+fleckige Tischtuch. Durch das Gerassel der Omnibusse und
+das Rackern der Droschken konnte er die einförmige
+Stimme hören, die ihn um jede Minute beraubte, die ihm
+noch übrig blieb.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_111" title="111"> </a></p>
+
+<p>Nach einer Weile schob er seinen Teller zurück und
+stützte den Kopf in die Hände. Er fühlte, daß er ein Recht
+habe, es zu wissen. Wenn die Dinge lagen, wie er vermutete,
+hätte man es ihm längst sagen sollen. Gepeinigt
+von Furcht, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte
+tröpfelten ihr mechanisch von den Lippen. Ihre Finger
+zerknüllten ein zerrissenes Spitzentaschentuch. Als die Uhr
+sechs schlug, stand er auf und ging zur Tür. Dann wandte
+er sich um und sah sie an. Ihre Blicke begegneten sich.
+In den ihren las er ein inbrünstiges Bitten um Mitleid.
+Das machte ihn erst recht zornig.</p>
+
+<p>„Mutter, ich muß dich was fragen“, sagte er. Ihre
+Augen irrten im Zimmer umher. Sie gab keine Antwort.
+„Sag' mir die Wahrheit! Ich hab' ein Recht, es zu erfahren!
+Warst du mit meinem Vater verheiratet?“</p>
+
+<p>Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ein Seufzer
+der Erleichterung. Der schreckliche Augenblick, der Augenblick,
+vor dem sie Tag und Nacht seit Wochen und Monaten
+gebangt hatte, war endlich gekommen, und doch
+empfand sie keine Furcht. Ja, es war für sie gewissermaßen
+eine Enttäuschung. Die grobe Unumwundenheit
+der Frage heischte eine unumwundene Antwort. Die Situation
+war nicht langsam gesteigert worden. Es war roh.
+Es erinnerte sie an eine mißlungene Deklamation.</p>
+
+<p>„Nein“, antwortete sie, erstaunt über die harte Einfachheit
+des Lebens.</p>
+
+<p>„Dann war mein Vater ein Schuft!“ schrie der Bursche
+und ballte die Faust.</p>
+
+<p>Sie schüttelte den Kopf. „Ich wußte, daß er nicht frei<a class="pagenum" name="Page_112" title="112"> </a>
+war. Wir haben uns sehr lieb gehabt. Wenn er am Leben
+geblieben wäre, hätte er für uns gesorgt. Sage nichts gegen
+ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein Gentleman.
+Er hatte wirklich hohe Verbindungen.“</p>
+
+<p>Ein Fluch kam über seine Lippen. „Es bekümmert mich
+nicht meinetwegen,“ rief er, „aber laß Sibyl nicht... Ist
+es ein Gentleman oder nicht, der sie liebt, oder so sagt?
+Mit hohen Verbindungen, vermute ich.“</p>
+
+<p>Einen Augenblick lang kam ein schreckliches Gefühl der
+Demütigung über die Frau. Ihr Kopf sank herab. Mit
+zitternden Händen wischte sie sich die Augen. „Sibyl hat
+eine Mutter,“ flüsterte sie, „ich hatte keine.“</p>
+
+<p>Der junge Mensch war gerührt. Er ging zu ihr hin,
+beugte sich über sie und küßte sie. „Es tut mir leid, wenn
+ich dich mit der Frage nach meinem Vater verletzt habe,“
+sagte er, „aber ich konnte nicht anders. Jetzt muß ich fort.
+Lebewohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind
+zu beschützen hast, und glaube mir, wenn dieser Mann
+meiner Schwester ein Leid zufügt, dann bringe ich schon
+heraus, wer es ist, spüre ihn auf und schlage ihn tot wie
+einen Hund. Das schwöre ich dir!“</p>
+
+<p>Die wahnwitzige Übertreibung seines Schwurs, die
+leidenschaftlichen Handbewegungen, die ihn begleiteten,
+die tollen, melodramatischen Worte machten der alten
+Frau das Leben wieder interessanter. Diese Atmosphäre
+war ihr vertraut. Sie atmete wie erlöst, und zum erstenmal
+seit vielen Monaten bewunderte sie förmlich ihren
+Sohn. Sie hätte die Szene gern auf derselben Gefühlshöhe
+fortgesetzt, aber er brach sie kurz ab. Koffer mußten<a class="pagenum" name="Page_113" title="113"> </a>
+heruntergebracht und Decken beschafft werden. Der Hausknecht
+des Mietshauses rannte geschäftig hin und her.
+Mit dem Kutscher wurde der Preis abgehandelt. So
+wurde der Augenblick durch gemeine Einzelheiten verzettelt.
+Mit einem erneuten Gefühl der Enttäuschung stand sie
+am Fenster und ließ das zerrissene Spitzentaschentuch durch
+die Luft wimpeln, als ihr Sohn wegfuhr. Es war ihr
+zumute, als sei eine große Gelegenheit verpaßt worden.
+Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte, wie öde künftig
+ihr Leben sein werde, da sie jetzt nur ein einziges Kind zu
+behüten habe. Diesen Satz hatte sie sich gemerkt. Er hatte
+ihr gefallen. Von seinem Schwur sagte sie nichts. Er war
+lebendig und dramatisch deklamiert worden. Sie hatte die
+Empfindung, daß sie alle eines Tages darüber lachen
+würden.</p>
+
+<h2><a name="Sechstes_Kapitel" id="Sechstes_Kapitel"></a>Sechstes Kapitel</h2>
+
+
+<p>„Du hast doch schon die letzte Neuigkeit gehört, Basil?“
+sagte Lord Henry am selben Abend, als Hallward in das
+kleine Separatzimmer im Bristol trat, wo für drei Personen
+zum Essen gedeckt war.</p>
+
+<p>„Nein, Harry“, antwortete der Künstler, während er
+Hut und Rock dem dienernden Kellner gab. „Was ist es?
+Nichts über Politik, hoffe ich. Die interessiert mich nicht.
+Im ganzen Unterhause gibts keinen einzigen Menschen,
+den man malen möchte; wenn auch einigen von ihnen
+zur Aufbesserung etwas Firnis nicht schaden könnte.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_114" title="114"> </a></p>
+
+<p>„Dorian Gray hat sich verlobt“, sagte Lord Henry und
+beobachtete ihn, während er sprach.</p>
+
+<p>Hallward fuhr zurück und runzelte sofort die Stirn.
+„Dorian verlobt!“ rief er. „Unmöglich!“</p>
+
+<p>„Es ist wahrhaftig wahr.“</p>
+
+<p>„Mit wem?“</p>
+
+<p>„Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin.“</p>
+
+<p>„Ich kann's nicht glauben. Dorian ist viel zu verständig.“</p>
+
+<p>„Dorian ist viel zu klug, um nicht von Zeit zu Zeit
+verrückte Sachen zu begehen, lieber Basil.“</p>
+
+<p>„Heiraten ist kaum eine Sache, die man von Zeit zu
+Zeit tun kann, Harry.“</p>
+
+<p>„Außer in Amerika“, erwiderte Lord Henry nachlässig.
+„Aber ich habe ja nicht gesagt, daß er verheiratet sei. Ich
+sagte, er sei verlobt. Das ist ein großer Unterschied. Ich
+erinnere mich ganz deutlich, verheiratet zu sein, aber ich
+kann mich nicht erinnern, verlobt gewesen zu sein. Ich
+glaube fast, daß ich mich nie verlobt habe.“</p>
+
+<p>„Aber überlege doch Dorians Geburt, seine Stellung,
+sein Vermögen. Es wäre sinnlos, wenn er so tief unter
+seinem Stande heiraten würde.“</p>
+
+<p>„Wenn du willst, daß er dies Mädchen heiratet, so
+brauchst du ihm das nur zu sagen, Basil. Dann tut er's
+gewiß. Wenn ein Mann etwas auserlesen Dummes tut,
+tut er's immer aus den edelsten Beweggründen.“</p>
+
+<p>„Ich hoffe, es ist ein gutes Mädchen, Harry. Ich möchte
+Dorian nicht an irgendein gewöhnliches Wesen gefesselt
+sehen, das ihn herabzieht und seinen Geist verdirbt.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_115" title="115"> </a></p>
+
+<p>„Oh, sie ist mehr als gut &mdash; sie ist schön“, sagte Lord
+Henry und nippte an einem Glas Wermut mit Pomeranzen.
+„Dorian sagt, sie ist schön, und in Dingen dieser
+Art irrt er nicht häufig. Sein Bild von ihm hat sein
+Urteil über die äußere Erscheinung anderer Menschen geschärft.
+Es hat unter anderem diesen glänzenden Erfolg
+gezeigt. Wir sollen sie heute abend sehen, wenn der Junge
+seine Abmachung nicht vergißt.“</p>
+
+<p>„Ist das dein Ernst?“</p>
+
+<p>„Vollständig, Basil. Es würde schlimm für mich sein,
+wenn ich je im Leben ernsthafter sein müßte als jetzt.“</p>
+
+<p>„Aber billigst du es denn, Harry?“ fragte der Maler,
+der im Zimmer auf und ab ging und sich auf die Lippen
+biß. „Du kannst es doch ganz unmöglich billigen. Es ist
+eine törichte Verblendung.“</p>
+
+<p>„Ich billige oder mißbillige nie wieder etwas. Sowas
+bringt einen in eine ganz verrückte Stellungnahme zum
+Leben. Wir sind nicht in die Welt geschickt worden, um
+unsere moralischen Vorurteile glänzen zu lassen. Ich nehme
+nie Notiz von dem, was gewöhnliche Leute sagen, und
+ich mische mich nie in Dinge, die reizende Leute vorhaben.
+Wenn mich eine Persönlichkeit fesselt, dann ist jede Ausdrucksform,
+die sich diese Persönlichkeit aussucht, für
+mich erfreulich. Dorian Gray verliebt sich in ein schönes
+Mädchen, das die Julia spielt, und will sie heiraten.
+Warum nicht? Wenn er Messalina heiraten wollte, würde
+er nicht weniger interessant sein. Du weißt, ich bin kein
+Eheapostel. Der eigentliche Nachteil der Ehe ist, daß man
+selbstlos wird. Und selbstlose Menschen sind farblos. Sie<a class="pagenum" name="Page_116" title="116"> </a>
+werden unpersönlich. Jedoch gibt es gewisse Temperamente,
+die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten
+ihren Egoismus und erweitern ihn durch eine
+Reihe anderer Ichs. Sie sehen sich gezwungen, mehr als
+ein einzelnes Leben zu führen. Sie werden feiner organisiert,
+und feiner organisiert zu werden, scheint mir der
+Zweck des menschlichen Lebens. Überdies hat jede Erfahrung
+ihren Wert, und was man auch gegen die Ehe
+sagen kann, eine Erfahrung ist sie sicher. Ich hoffe, Dorian
+Gray wird dies Mädchen heiraten, wird sie sechs Monate
+hindurch leidenschaftlich anbeten, und dann wird ihn plötzlich
+eine andere anziehen. Es wäre prachtvoll, das zu
+beobachten.“</p>
+
+<p>„Du glaubst kein einziges Wort von alledem, Harry;
+und das weißt du auch. Wenn Dorian Grays Leben zerstört
+würde, wäre kein Mensch trauriger als du. Du bist
+viel besser, als du vorgibst.“</p>
+
+<p>Lord Henry lachte. „Der Grund, weshalb wir alle so
+gut von anderen denken, ist der, daß wir alle Angst
+vor uns selber haben. Die Grundlage des Optimismus
+ist nichts als Furcht. Wir halten uns für großherzig, weil
+wir unserem Nachbar Tugenden zuschreiben, aus denen
+für uns ein Nutzen erwachsen könnte. Wir rühmen den
+Bankier, damit wir unser Konto überschreiten können, und
+finden im Buschklepper gute Eigenschaften in der Hoffnung,
+daß er unseren Geldbeutel verschonen wird. Ich
+glaube jedes Wort, das ich gesprochen habe. Ich habe die
+größte Verachtung für den Optimismus. Was das zerstörte
+Leben betrifft, so ist kein Leben zerstört, dessen<a class="pagenum" name="Page_117" title="117"> </a>
+Wachstum nicht gehemmt wird. Wenn man eine Persönlichkeit
+verderben will, braucht man sie nur zu verbessern.
+Die Ehe allerdings ist eine Narretei, aber es gibt
+andere und interessantere Bande zwischen Mann und Frau.
+Natürlich würde ich dazu eher raten. Sie haben den Reiz,
+fashionabel zu sein. Aber da ist Dorian selbst. Er wird
+dir mehr sagen, als ich es kann.“</p>
+
+<p>„Lieber Harry, lieber Basil, ihr müßt mir beide Glück
+wünschen“, sagte der Jüngling, während er den Abendmantel
+mit den atlasgefütterten Flügeln abwarf und den
+Freunden die Hand schüttelte. „Ich war niemals so selig.
+Natürlich ist alles plötzlich gekommen; alles Entzückende
+kommt plötzlich. Und doch scheint es das einzige gewesen
+zu sein, wonach ich mein Leben lang auf der Suche war.“
+Er glühte vor Aufregung und Freude und sah außerordentlich
+hübsch aus.</p>
+
+<p>„Ich hoffe, du wirst immer sehr glücklich sein, Dorian,“
+sagte Hallward, „aber ich kann es dir nicht ganz verzeihen,
+daß du mir deine Verlobung nicht mitgeteilt hast.
+Harry hast du es mitgeteilt.“</p>
+
+<p>„Und ich kann es dir nicht verzeihen, daß du zu spät
+kommst“, fiel Lord Henry lächelnd ein und legte seine
+Hand auf die Schulter des jungen Mannes. „Komm, wir
+wollen uns setzen und versuchen, was der neue Chef hier
+kann, und dann erzählst du uns, wie alles gekommen ist.“</p>
+
+<p>„Da ist wirklich nicht viel zu erzählen!“ rief Dorian, als
+sie sich um den kleinen Tisch gesetzt hatten. „Was geschah,
+war einfach so. Als ich dich gestern abend verließ, Harry,
+zog ich mich an, aß in dem kleinen italienischen Restaurant<a class="pagenum" name="Page_118" title="118"> </a>
+in Rupert Street, das ich durch dich kennengelernt habe,
+und ging um acht Uhr ins Theater. Sibyl spielte die
+Rosalinde. Natürlich war die Dekoration greulich und der
+Orlando zum Lachen. Aber Sibyl! Ihr hättet sie sehen
+sollen. Als sie in ihren Knabenkleidern auftrat, war sie
+einfach wunderbar. Sie trug ein moosgrünes Samtwams
+mit zimtbraunen Ärmeln, eine kurze, braune, überm Knie
+kreuzweise geschnürte Hose, ein reizendes grünes Barett mit
+einer Falkenfeder, die von einem funkelnden Stein gehalten
+wurde, und war in einen dunkelrot gefütterten
+Kapuzenmantel gehüllt. Sie war mir nie schöner vorgekommen.
+Sie hatte all die zarte Grazie der Tanagrafigur,
+die du in deinem Atelier hast, Basil. Das Haar
+schlang sich um ihr Gesicht wie dunkles Laub um eine
+blasse Rose. Und ihr Spiel &mdash; nun, ihr werdet sie heute
+abend sehen. Sie ist eben eine geborene Künstlerin. Ich
+saß ganz verzaubert in der schmierigen Loge. Ich vergaß,
+daß ich in London war und im neunzehnten Jahrhundert
+lebte. Ich war mit meiner Geliebten weit fort in einem
+Wald, den noch kein Menschenauge gesehen hatte. Nach
+der Vorstellung ging ich hinter die Bühne und sprach mit
+ihr. Als wir nebeneinander saßen, trat plötzlich ein Ausdruck
+in ihre Augen, den ich nie vorher gesehen hatte.
+Meine Lippen fühlten sich zu ihr hingezogen. Wir küßten
+uns beide. Ich kann euch nicht beschreiben, was ich in dem
+Augenblick gefühlt habe. Mir schien, daß all mein Leben
+in einen vollkommenen Moment rosenfarbiger Wonne zusammengepreßt
+wäre. Sie zitterte am ganzen Leibe und
+bebte wie eine weiße Narzisse. Dann warf sie sich auf die<a class="pagenum" name="Page_119" title="119"> </a>
+Knie und küßte meine Hände. Ich weiß, ich sollte euch das
+alles nicht erzählen, aber ich kann mir nicht helfen. Natürlich
+ist unsere Verlobung tiefstes Geheimnis. Sie hat
+nicht einmal zu ihrer Mutter davon gesprochen. Ich weiß
+nicht, was meine Vormünder dazu sagen werden. Lord
+Radley wird sicher wütend sein. Ist mir ganz gleich. In
+weniger als einem Jahre bin ich volljährig und kann dann
+machen, was ich will. Hatte ich nicht recht, Basil, meine
+Geliebte aus dem Reich der Dichtung wegzuholen und
+meine Frau in Shakespeares Stücken zu finden? Lippen,
+die Shakespeare reden gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis
+ins Ohr geflüstert. Rosalindens Arme lagen um
+meinen Hals, und ich habe Julia auf den Mund geküßt.“</p>
+
+<p>„Ja, Dorian, ich glaube, du tatest recht“, sagte Hallward
+langsam.</p>
+
+<p>„Hast du sie heute schon gesehen?“ fragte Lord Henry.</p>
+
+<p>Dorian Gray schüttelte den Kopf. „Ich verließ sie im
+Ardennenwald und werde sie in einem Garten von Verona
+wiederfinden.“</p>
+
+<p>Lord Henry schlürfte nachdenklich seinen Champagner.
+„In welchem Augenblick hast du von Heirat gesprochen,
+Dorian? Und was erwiderte sie darauf? Vielleicht hast
+du das schon ganz vergessen.“</p>
+
+<p>„Lieber Harry, ich habe es nicht als Geschäft behandelt
+und habe ihr keinen förmlichen Antrag gemacht. Ich sagte
+ihr, daß ich sie liebe, und sie sagte, sie verdiene nicht, mein
+Weib zu sein. Nicht verdienen! Was ist denn die ganze
+Welt für mich, wenn ich sie mit ihr vergleiche!“</p>
+
+<p>„Die Frauen sind wunderbar praktisch,“ murmelte Lord<a class="pagenum" name="Page_120" title="120"> </a>
+Henry &mdash; „viel praktischer als wir. In Situationen dieser
+Art vergessen wir oft, etwas von Heirat zu erwähnen, und
+sie erinnern uns immer daran.“</p>
+
+<p>Hallward legte die Hand auf seinen Arm. „Nicht doch,
+Harry. Du kränkst Dorian. Er ist nicht wie andere
+Männer. Er würde nie jemand unglücklich machen. Seine
+Natur ist dafür zu edel.“</p>
+
+<p>Lord Henry blickte über den Tisch. „Dorian fühlt sich
+nie gekränkt durch mich“, antwortete er. „Ich habe aus
+dem besten Grund gefragt, den es geben kann, aus dem
+einzigen Grund, der eine Entschuldigung für eine Frage
+ist &mdash; einfach aus Neugier. Ich habe eine Theorie, wonach
+es immer Frauen sind, die uns einen Antrag machen, und
+nicht wir den Frauen. Natürlich ausgenommen die Mittelklassen.
+Aber die Mittelklassen sind eben nicht modern.“</p>
+
+<p>Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. „Du bist
+ganz unverbesserlich, Harry; aber ich bin nicht böse. Man
+kann dir ja gar nicht böse sein. Wenn du Sibyl Vane
+siehst, wirst du fühlen, daß der Mann, der ihr ein Leid
+antun kann, ein Tier sein muß, ein herzloses Tier. Ich
+kann nicht begreifen, wie man es über sich gewinnen kann,
+ein Wesen, das man liebt, in Schande zu bringen. Ich
+liebe Sibyl Vane. Ich möchte sie auf einen goldenen
+Sockel stellen und dann sehen, wie die ganze Welt das
+Weib anbetet, das mir gehört. Was ist Ehe? Ein unwiderrufliches
+Gelübde. Du spottest deshalb darüber. Ach,
+spotte nicht! Ein unwiderrufliches Gelübde will ich ablegen.
+Ihr Vertrauen macht mich treu, ihr Glaube macht
+mich gut. Wenn ich bei ihr bin, verleugne ich alles, was<a class="pagenum" name="Page_121" title="121"> </a>
+du mich gelehrt hast. Ich werde ein ganz anderer Mensch
+als der, den du in mir siehst. Ich bin verwandelt, und die
+bloße Berührung von Sibyl Vanes Hand läßt mich alle
+deine falschen, bezaubernden, vergifteten, entzückenden
+Theorien vergessen.“</p>
+
+<p>„Und die wären?“ fragte Lord Henry, während er
+Salat nahm.</p>
+
+<p>„Oh, deine Theorien über das Leben, deine Theorien
+über die Liebe, deine Theorien über den Genuß. Tatsächlich
+alle deine Theorien, Harry.“</p>
+
+<p>„Genuß ist das einzige auf der Welt, das eine Theorie
+verdient“, antwortete er mit seiner sanften, musikalischen
+Stimme. „Aber ich fürchte, es ist nicht meine eigene Theorie.
+Sie gehört der Natur, nicht mir. Genuß ist das
+Siegel der Natur, das Zeichen ihrer Zustimmung. Wenn
+wir glücklich sind, dann sind wir immer gut, aber wenn
+wir gut sind, sind wir nicht immer glücklich.“</p>
+
+<p>„Ah, doch, was verstehst du unter gut?“ rief Basil
+Hallward.</p>
+
+<p>„Ja,“ wiederholte Dorian, indem er sich in seinem
+Stuhl zurücklehnte und über den massigen Strauß rotblutiger
+Schwertlilien in der Mitte des Tisches zu Lord
+Henry blickte, „was verstehst du unter gut, Harry?“</p>
+
+<p>„Gut sein, heißt mit sich selbst im Einklang sein“, antwortete
+er, den dünnen Stengel seines Glases mit blassen,
+feingespitzten Fingern umfassend. <ins title="Mißklang">„Mißklang</ins> heißt es, mit
+anderen übereinstimmen müssen. Das eigene Leben &mdash; das
+ist es, worauf es ankommt. Was das Leben unserer Nachbarn
+betrifft, nun, wenn man durchaus ein Affe oder ein<a class="pagenum" name="Page_122" title="122"> </a>
+Puritaner sein will, dann mag man ihnen ja seine moralischen
+Ansichten ins Gesicht schleudern, aber sie gehen
+einen schließlich gar nichts an. Abgesehen davon, hat der
+Individualismus in der Tat die höheren Ziele. Die moderne
+Sittlichkeit besteht darin, daß man den Maßstab
+seiner Zeit anerkennt. Ich habe die Meinung, daß jeder
+kultivierte Mensch, der den Maßstab seiner Zeit anerkennt,
+damit eines der gröbsten Sittlichkeitsverbrechen begeht.“</p>
+
+<p>„Wenn man aber nur für sich selbst lebt, Harry, muß
+man da nicht einen furchtbaren Preis dafür zahlen?“
+fragte der Maler.</p>
+
+<p>„Ja, heutzutage werden wir in allem überteuert. Ich
+glaube, die wirkliche Tragödie der Armut ist die, daß sich
+die Armen nichts leisten können als Selbstverleugnung.
+Schöne Sünden sind wie alle schönen Dinge ein Vorrecht
+der begüterten Klassen.“</p>
+
+<p>„Man muß in anderer Münze zahlen als mit Geld.“</p>
+
+<p>„In welcher Münze, Basil?“</p>
+
+<p>„Ich meine mit Gewissensbissen, mit Schmerzen, mit...
+na eben mit dem Gefühl der Erniedrigung.“</p>
+
+<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Mein lieber Junge, die
+mittelalterliche Kunst ist etwas Entzückendes, aber mittelalterliche
+Gefühle sind nicht mehr Mode. Man kann sie
+freilich in der Dichtung gebrauchen. Aber die einzigen
+Dinge, die in Dichtungen zu verwerten sind, sind solche,
+um die man sich in der Wirklichkeit nicht mehr kümmert.
+Glaube mir, kein zivilisierter Mensch bereut einen durchlebten
+Genuß, und kein unzivilisierter Mensch weiß, was
+ein Genuß ist.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_123" title="123"> </a></p>
+
+<p>„Ich weiß, was ein Genuß ist!“ rief Dorian Gray. „Jemand
+anbeten.“</p>
+
+<p>„Das ist jedenfalls besser, als angebetet zu werden“,
+antwortete Harry, während er mit einigen Früchten spielte.
+„Angebetet zu werden, ist peinlich. Die Weiber behandeln
+uns genau so wie die Menschheit ihre Götter. Sie beten
+uns an und quälen uns unaufhörlich, irgendwas für sie
+zu tun.“</p>
+
+<p>„Ich würde sagen, alles, was sie von uns verlangen,
+haben sie uns zuerst geschenkt“, sagte der Jüngling ernst
+und leise. „Sie erzeugen die Liebe in uns. Sie haben ein
+Recht, sie dann zurückzuverlangen.“</p>
+
+<p>„Das ist ganz richtig, Dorian“, rief Hallward.</p>
+
+<p>„Ganz richtig ist niemals etwas“, sagte Lord Henry.</p>
+
+<p>„Das ist es“, unterbrach Dorian. „Du mußt zugeben,
+Harry, daß nur die Frauen den Männern das reinste
+Gold des Lebens schenken.“</p>
+
+<p>„Vielleicht,“ seufzte er, „aber unweigerlich verlangen sie
+es dann in Kleingeld umgewechselt zurück. Das ist der
+Jammer dabei. ‚Die Frauen,‛ hat einmal ein witziger
+Franzose gesagt, ‚regen uns an, Meisterwerke zu schaffen,
+und verhindern uns immer, sie auszuführen.‛“</p>
+
+<p>„Harry, du bist schrecklich! Ich weiß gar nicht, warum
+ich dich so gern habe.“</p>
+
+<p>„Du wirst mich immer gern haben, Dorian“, antwortete
+er. „Wollen wir Kaffee trinken, Kinder? &mdash; Kellner, bringen
+Sie Kaffee, fine Champagne und Zigaretten. Nein, lassen
+Sie die Zigaretten, ich habe selbst bei mir. Basil, ich kann
+dir nicht erlauben, Zigarren zu rauchen. Du mußt eine<a class="pagenum" name="Page_124" title="124"> </a>
+Zigarette nehmen. Eine Zigarette ist der vollendete Ausdruck
+eines vollendeten Genusses. Er ist köstlich und läßt
+dabei unbefriedigt. Was will man mehr verlangen? Ja,
+Dorian, du wirst mich immer lieb haben. Ich bin für dich
+der Inbegriff aller Sünden, die du zu begehen nie den
+Mut haben wirst.“</p>
+
+<p>„Was für Unsinn du redest, Harry!“ rief der junge
+Mann, während er seine Zigarette an dem feuerspeienden
+Silberdrachen anzündete, den der Kellner auf den Tisch
+gestellt hatte. „Wir wollen jetzt ins Theater. Wenn Sibyl
+auftritt, werdet ihr ein neues Lebensideal bekommen. Sie
+wird euch etwas offenbaren, das ihr noch nicht gekannt
+habt.“</p>
+
+<p>„Ich habe alles kennengelernt,“ sagte Lord Henry mit
+einem müden Ausdruck in den Augen, „aber ich bin immer
+bereit, mir eine neue Emotion zu verschaffen. Nur fürchte
+ich, daß es für mich derlei kaum noch gibt. Immerhin, dein
+wunderbares Mädchen wird mich vielleicht erschüttern. Ich
+liebe die Schauspielkunst. Sie ist soviel wirklicher als das
+Leben. Wir wollen gehen. Dorian, du kannst bei mir einsteigen.
+Basil, es tut mir leid, aber in meinem Brougham
+ist nur Platz für zwei. Du mußt schon in einer Droschke
+nachfahren.“</p>
+
+<p>Sie standen auf, zogen ihre Röcke an und tranken den
+Kaffee im Stehen. Der Maler war schweigsam und bedrückt.
+Ein düsteres Gefühl lastete auf ihm. Er konnte
+diese Ehe nicht gutheißen, und sie schien ihm doch besser
+zu sein als manches andere, das hätte geschehen können.
+Nach einigen Minuten gingen sie gemeinsam die Treppe<a class="pagenum" name="Page_125" title="125"> </a>
+hinunter. Er fuhr, wie verabredet, allein, und sah auf die
+blitzenden Lichter des kleinen Wagens, der vor ihm dahinrollte.
+Das seltsame Gefühl eines großen Verlustes überkam
+ihn. Er fühlte, daß Dorian Gray nie wieder das
+für ihn sein würde, was er ihm früher gewesen war. Das
+Leben war zwischen sie getreten... Vor seinen Augen ward
+es dunkel, und die menschenvollen, erleuchteten Straßen
+verschwammen vor seinem Blick. Als seine Droschke am
+Theater vorfuhr, schien es ihm, als sei er um viele Jahre
+älter geworden.</p>
+
+<h2><a name="Siebentes_Kapitel" id="Siebentes_Kapitel"></a>Siebentes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Aus irgendeinem Grunde war das Haus an diesem
+Abend besonders dicht gefüllt, und der fette jüdische Direktor,
+der sie an der Tür empfing, strahlte von einem
+Ohr zum anderen in einem öligen, zuckenden Lächeln. Er
+begleitete sie zu ihrer Loge mit einer gewissen prahlerischen
+Demut, die feisten, juwelenbedeckten Hände hastig
+bewegend und sich mit der Stimme beinahe überschlagend.
+Dorian verabscheute ihn mehr als je. Er hatte das Gefühl,
+als sei er gekommen, um Miranda zu besuchen und Caliban
+habe ihn empfangen. Dagegen hatte Lord Henry etwas
+für ihn übrig. Wenigstens erklärte er, daß er ihm gefiele,
+bestand darauf, ihm die Hand zu schütteln und versicherte
+ihm, er sei stolz darauf, einen Mann kennenzulernen,
+der ein bedeutendes Genie entdeckt habe und an
+einem Dichter bankerott geworden sei. Hallward unterhielt<a class="pagenum" name="Page_126" title="126"> </a>
+sich damit, die Gestalten im Stehparterre zu beobachten.
+Die Hitze war äußerst drückend, und der riesige
+Sonnenkronleuchter flammte wie eine gigantische Dahlie
+mit Blättern von gelbem Feuer. Die jungen Leute auf
+der Galerie hatten Röcke und Westen ausgezogen und sie
+über die Brüstung gehängt. Sie riefen einander quer über
+das ganze Theater zu und fütterten die grell gekleideten
+Mädchen neben ihnen mit Orangen. Ein paar Weiber
+unten im Stehparterre lachten. Ihre Stimmen waren
+schrecklich schrill und unangenehm. Vom Büfett her hörte
+man Flaschen entkorken.</p>
+
+<p>„Was für ein sonderbarer Platz, um seine Göttin zu
+finden!“ sagte Lord Henry.</p>
+
+<p>„Ja“, erwiderte Dorian Gray. „Hier habe ich sie gefunden,
+und sie ist göttlicher als alles Lebendige. Wenn
+sie spielt, wirst du alles vergessen. Diese gewöhnlichen rohen
+Leute mit ihren alltäglichen Gesichtern und brutalen Bewegungen
+werden ganz verwandelt, sobald sie auf der
+Bühne steht. Sie sitzen stumm da und beobachten sie. Sie
+weinen und lachen, wenn sie es will. Sie hält sie in Stimmung,
+wie man es mit einer Geige tut. Sie veredelt sie,
+und man spürt, daß sie vom selben Fleisch und Blut sind
+wie man selbst.“</p>
+
+<p>„Vom selben Fleisch und Blut wie man selbst? Oh, ich
+hoffe nicht!“ rief Lord Henry, der die Leute auf der
+Galerie mit seinem Opernglas musterte.</p>
+
+<p>„Höre nicht auf ihn, Dorian!“ sagte der Maler. „Ich
+begreife, was du meinst, und ich glaube an dies Mädchen.
+Der Mensch, den du liebst, muß wunderbar sein, und jedes<a class="pagenum" name="Page_127" title="127"> </a>
+Mädchen, das die von dir geschilderte Wirkung erzielt,
+muß fein und edel sein. Seine Mitmenschen veredeln &mdash;
+das verlohnt der Mühe. Wenn dies Mädchen die beseelen
+kann, die seelenlos gelebt haben, wenn sie in Menschen,
+deren Dasein schmutzig und häßlich war, einen Sinn
+für Schönheit wecken kann, wenn sie sie aus ihrem Eigennutze
+losreißen und ihnen Tränen um Sorgen entlocken
+kann, die nicht ihre eigenen sind, dann ist sie deiner Verehrung
+wert, dann ist sie der Verehrung der ganzen Welt
+wert. Solche Heirat ist ganz das Rechte. Ich dachte zuerst
+nicht so, aber jetzt gebe ich es zu. Die Götter haben
+Sibyl Vane für dich geschaffen. Ohne sie wärst du nur
+unvollständig gewesen.“</p>
+
+<p>„Danke, Basil“, antwortete Dorian Gray und drückte
+ihm die Hand. „Ich wußte, daß du mich verstehst. Harry
+ist ein Zyniker, er erschreckt mich. Aber da kommt das
+Orchester. Es ist furchtbar, aber es dauert nur knappe
+fünf Minuten. Dann geht der Vorhang auf und du erblickst
+ein Mädchen, dem ich mein ganzes Leben schenken
+will, dem ich alles überantwortet habe, was gut ist in
+mir.“</p>
+
+<p>Eine Viertelstunde später betrat Sibyl Vane unter
+einem geräuschvollen Beifallssturm die Bühne. Ja, sie war
+wirklich entzückend &mdash; eins der entzückendsten Geschöpfe,
+dachte Lord Henry, die er je gesehen hatte. Es lag etwas
+von einem Reh in ihrer scheuen Grazie und ihren erstaunten
+Augen. Ein schwaches Erröten wie der Widerschein
+einer Rose in einem silbernen Spiegel trat auf ihre
+Wangen, als sie das überfüllte und begeisterte Haus erblickte.<a class="pagenum" name="Page_128" title="128"> </a>
+Sie trat ein paar Schritte zurück, und ihre Lippen
+schienen zu zittern. Basil Hallward sprang auf und begann
+zu klatschen. Bewegungslos, und wie in tiefem Traume,
+saß Dorian Gray da und sah sie an. Lord Henry starrte
+unverwandt durch sein Glas und murmelte: „Entzückend!
+Entzückend!“</p>
+
+<p>Die Szene stellte die Halle in Capulets Hause dar, und
+Romeo war in seinem Pilgerkleid mit Mercutio und seinen
+anderen Freunden aufgetreten. Die Musik präludierte, so
+gut sie konnte, mit ein paar Akkorden, und der Tanz
+fing an. Mitten in dem Gewimmel von ungeschickten,
+schäbig gekleideten Schauspielern bewegte sich Sibyl Vane
+wie ein Geschöpf aus einer höheren Welt. Ihr Körper
+schwebte im Tanze wie eine Blume auf dem Wasser. Die
+Linien ihres Halses glichen denen einer weißen Lilie. Ihre
+Hände schienen aus kühlem Elfenbein zu sein.</p>
+
+<p>Und doch schien sie von seltsamer Abwesenheit. Sie zeigte
+kein Zeichen der Freude, während ihr Auge auf Romeo
+ruhte. Die wenigen Worte, die sie zu sprechen hatte &mdash;</p>
+
+<p class="poem">
+Nein, Pilger, lege nichts der Hand zuschulden<br />
+Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß;<br />
+Der Heiligen Rechte darf Berührung dulden,<br />
+Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuß &mdash;<br />
+</p>
+
+<p class="postpoem">mit dem kurzen Dialog, der folgt, sprach sie in einem
+ganz gekünstelten Tone. Die Stimme klang wundervoll,
+aber der Ton ganz verfehlt. Er traf die Stimmungsfarbe
+nicht. Er nahm den Versen alles Leben. Er machte die
+Leidenschaft unwahr.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_129" title="129"> </a></p>
+
+<p>Dorian Gray erbleichte, als er es hörte. Er war verlegen
+und erschreckt. Seine beiden Freunde wagten nicht,
+ihm etwas zu sagen. Sie schien ja ganz talentlos zu sein.
+Sie waren furchtbar enttäuscht.</p>
+
+<p>Aber sie wußten, daß der wahre Prüfstein für jede
+Julia die Balkonszene im zweiten Akt sei. Darauf warteten
+sie. Wenn sie hier versagte, war nichts an ihr.</p>
+
+<p>Sie sah reizend aus, als sie im Mondschein auftrat.
+Das konnte niemand leugnen. Aber das Theatralische
+ihres Spiels war unerträglich und wurde im Verlauf
+immer ärger. Ihre Gesten waren lächerlich gekünstelt.
+Sie übertrieb das Pathos von allem, was sie zu sagen
+hatte. Die wundervollen Verse &mdash;</p>
+
+<p class="poem">
+Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht,<br />
+Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen<br />
+Um das, was du vorhin mich sagen hörtest &mdash;<br />
+</p>
+
+<p class="postpoem">deklamierte sie mit der peinlichen Genauigkeit eines Schulmädchens,
+das einen mittelmäßigen Vortragslehrer in der
+Schule gehabt hat. Als sie sich über den Balkon lehnte
+und zu den herrlichen Versen kam &mdash;</p>
+
+<p class="poem">
+Obwohl ich dein mich freue,<br />
+Freu' ich mich nicht des Bundes dieser Nacht:<br />
+Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich,<br />
+Gleicht allzusehr dem Blitz, der schon vorbei,<br />
+Noch eh' man sagen kann: es blitzt. &mdash; Schlaf süß!<br />
+Mag warmer Sommerhauch die Liebesknospe<br />
+Zur Blume bis zum Wiedersehn entfalten &mdash;<br />
+</p>
+
+<p class="postpoem"><a class="pagenum" name="Page_130" title="130"> </a>
+sprach sie die Worte, als enthielten sie keinerlei Sinn für
+sie. Es war nicht Aufregung. Nein, weit entfernt davon,
+erregt zu sein, schien sie ganz mit sich zufrieden. Es war
+einfach schlechte Kunst. Es war ein richtiger Abfall.</p>
+
+<p>Selbst das gewöhnliche, ungebildete Publikum auf
+Stehplatz und Galerie verlor sein Interesse am Stück.
+Man wurde unruhig und begann laut zu sprechen und zu
+zischen. Der jüdische Direktor, der im Hintergrunde des ersten
+Ranges stand, stampfte mit den Füßen und fluchte vor
+Wut. Einzig und allein unbewegt war das Mädchen selbst.</p>
+
+<p>Als der zweite Akt vorüber war, brach ein Sturm von
+Zischen los, und Lord Henry stand von seinem Stuhl auf
+und zog seinen Rock an. „Sie ist wunderschön, Dorian,“
+sagte er, „aber sie kann nicht spielen. Wir wollen gehen.“</p>
+
+<p>„Ich will das Stück zu Ende sehen“, antwortete der
+junge Mann mit harter, bitterer Stimme. „Es tut mir
+äußerst leid, daß ich dich veranlaßt habe, einen Abend zu
+vergeuden, Harry. Ich muß mich bei euch beiden entschuldigen.“</p>
+
+<p>„Mein lieber Dorian, ich glaube, Miß Vane war
+krank“, unterbrach ihn Hallward. „Wir wollen an einem
+anderen Abend wiederkommen.“</p>
+
+<p>„Ich wünschte, sie wäre krank“, erwiderte er. „Aber ich
+glaube, sie hat nur kein Gefühl und ist kalt. Sie ist völlig
+verändert. Gestern abend war sie eine große Künstlerin.
+Heute abend ist sie nur eine gewöhnliche, mittelmäßige
+Schauspielerin.“</p>
+
+<p>„Sprich nicht so über jemand, den du liebst, Dorian.
+Liebe ist etwas viel Wunderbareres als Kunst.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_131" title="131"> </a></p>
+
+<p>„Es sind beides nur Formen der Nachahmung“, bemerkte
+Lord Henry. „Aber wir wollen gehen. Dorian, du
+darfst nicht länger hier bleiben. Es schadet der Moral,
+schlechte Schauspielkunst zu sehen. Ich glaube übrigens
+nicht, daß du deine Frau auftreten lassen wirst. Was liegt
+also daran, ob sie die Julia wie eine Holzpuppe spielt!
+Sie ist wirklich bezaubernd, und wenn sie so wenig vom
+Leben weiß wie vom Theaterspielen, wird sie dir eine
+köstliche Erfahrung sein. Es gibt nur zwei Arten fesselnder
+Menschen &mdash; solche, die alles wissen, und solche, die
+gar nichts wissen. Großer Gott, mein lieber Junge, mach'
+kein so tragisches Gesicht! Das Rezept, jung zu bleiben,
+besteht einfach darin, nie eine Erregung haben, die unzuträglich
+ist. Komm mit Basil und mir in den Klub! Wir
+wollen Zigaretten rauchen und auf Sibyl Vanes Schönheit
+trinken. Sie ist schön. Was willst du noch mehr?“</p>
+
+<p>„Geh, Harry!“ rief der Jüngling. „Ich will allein sein.
+Basil, geh! Ach, könnt ihr nicht sehen, daß mir das Herz
+bricht?“ Heiße Tränen traten ihm in die Augen. Seine
+Lippen bebten, er drückte sich in die dunkelste Ecke der
+Loge, lehnte sich an die Wand und verbarg sein Gesicht in
+den Händen.</p>
+
+<p>„Komm, Basil“, sagte Lord Henry mit seltsam zärtlicher
+Stimme; und die beiden jungen Männer gingen zusammen
+hinaus.</p>
+
+<p>Ein paar Augenblicke später flammte die Rampe wieder
+auf, und der Vorhang rauschte zum dritten Akt in die
+Höhe. Dorian Gray ging auf seinen Platz zurück. Er sah
+bleich, abwesend, gleichgültig aus. Das Spiel schleppte sich<a class="pagenum" name="Page_132" title="132"> </a>
+weiter und schien endlos zu sein. Die Hälfte des Publikums
+ging weg, auf schweren Stiefeln trampelnd und
+lachend. Das Ganze war ein richtiges Fiasko. Der letzte
+Akt wurde beinah vor leeren Bänken gespielt. Der Vorhang
+fiel unter Zischen und höhnischem Gegrunze.</p>
+
+<p>Sobald es aus war, stürzte Dorian Gray hinter die Kulissen
+in die Garderobe. Das Mädchen stand allein da, mit
+einem triumphierenden Zuge im Antlitz. Die Augen leuchteten
+in einem merkwürdigen Feuer. Eine Art Glanz umschwebte
+sie. Ihre halbgeöffneten Lippen lächelten wie ein
+Geheimnis, das ihnen allein bewußt war.</p>
+
+<p>Als er eintrat, blickte sie ihn an und ein Ausdruck unsäglichen
+Glückes kam über sie. „Wie schlecht ich heute gespielt
+habe, Dorian!“ rief sie.</p>
+
+<p>„Schrecklich“, antwortete er und sah sie voll Staunen
+an &mdash; „schrecklich. Es war geradezu fürchterlich. Bist du
+krank? Du hast keine Ahnung, wie es war. Keine Ahnung,
+was ich durchgemacht habe.“</p>
+
+<p>Das Mädchen lächelte. „Dorian“, antwortete sie und
+zog seinen Namen mit einem musikalischen Klang in die
+Länge, als wäre er den roten Blüten ihres Mundes süßer
+als Honig &mdash; „Dorian, du hättest begreifen sollen. Aber
+jetzt begreifst du, nicht wahr?“</p>
+
+<p>„Was?“ fragte er heftig.</p>
+
+<p>„Warum ich heute abend so schlecht spielte. Warum ich
+immer schlecht spielen werde. Warum ich nie mehr gut
+spielen <ins title="werde.">werde.“</ins></p>
+
+<p>Er zuckte die Achseln. „Du bist gewiß krank. Wenn du
+krank bist, solltest du nicht spielen. Du machst dich nur<a class="pagenum" name="Page_133" title="133"> </a>
+lächerlich. Meine Freunde haben sich gelangweilt. Ich ebenfalls.“</p>
+
+<p>Sie schien nicht zu hören, was er sagte. Sie war wie verklärt
+vor Vergnügen. Eine Ekstase des Glücks beherrschte sie.</p>
+
+<p>„Dorian, Dorian,“ rief sie, „bevor ich dich kannte, war
+Spielen die einzige Wirklichkeit in meinem Leben. Nur
+im Theater lebte ich. Ich hielt das alles für wahr. An
+einem Abend war ich Rosalinde und Portia am andern.
+Beatrices Glück war mein Glück, und Kordelias Tränen
+waren die meinen. Ich glaubte an alles. Dies gewöhnliche
+Volk, das mit mir spielte, schien mir göttlich. Die bemalten
+Kulissen bedeuteten für mich die Welt. Ich kannte
+nichts als Schatten, und ich nahm sie für Wirklichkeit. Da
+kamst du &mdash; o mein schöner Geliebter &mdash; und befreitest
+meine Seele aus der Kerkerhaft. Du hast mich gelehrt,
+was die wahre Wirklichkeit ist. Heute habe ich zum erstenmal
+die ganze Hohlheit durchschaut, den Betrug, die Albernheit
+des falschen, verlogenen Flittertandes, zwischen
+dem ich bisher gespielt habe. Heute abend wußte ich zum
+ersten Male, daß dieser Romeo abscheulich und alt und
+geschminkt ist, daß der Mond im Garten Blendwerk, die
+ganze Szenerie ordinär ist und daß die Worte, die ich
+zu sprechen hatte, nicht wahr, nicht meine Worte sind,
+nicht, was ich hätte sagen müssen. Du hast mir etwas
+Höheres geschenkt, etwas, von dem alle Kunst nur Abglanz
+ist. Du hast mich begreifen gelehrt, was Liebe ist. Mein
+Geliebter! Mein Geliebter! Prinz Märchenschön! Prinz
+meines Lebens! Ich kann die Schatten nicht mehr ertragen.
+Du bist mir mehr, als mir alle Kunst je sein kann. Was<a class="pagenum" name="Page_134" title="134"> </a>
+hab' ich mit den Puppen eines Spiels zu schaffen? Als ich
+heute abend auftrat, konnte ich nicht begreifen, wie es gekommen
+war, daß alles verschwunden sein sollte. Ich hatte
+gedacht, ich würde wundervoll sein. Ich merkte, daß ich
+durchaus versagte. Plötzlich dämmerte es meiner Seele,
+was das alles bedeutete. Es war ein herrliches Wissen.
+Ich hörte sie zischen und lächelte. Was konnten die wissen
+von einer Liebe wie die unsere? Nimm mich fort,
+Dorian &mdash; nimm mich mit dir irgendwohin, wo wir allein
+sein können. Ich hasse das Theater. Ich konnte vielleicht
+ein Gefühl darstellen, das ich nicht spüre, aber ich kann doch
+nicht eins spielen, das mich verbrennt wie Feuer. Ach,
+Dorian, Dorian, begreifst du jetzt, was das bedeutet?
+Selbst wenn ich es zustande brächte, wär' es Entweihung,
+zu spielen, während ich liebe. Du hast mich sehend gemacht.“</p>
+
+<p>Er warf sich auf das Sofa und wandte sein Gesicht
+ab. „Du hast meine Liebe getötet“, murmelte er.</p>
+
+<p>Sie sah ihn staunend an und lachte. Er gab keine Antwort.
+Sie kam hin zu ihm und strich mit ihren kleinen
+Fingern durch sein Haar. Sie kniete nieder und preßte
+seine Hände an ihre Lippen. Er schob sie weg, und ein
+Schauder überlief ihn.</p>
+
+<p>Dann sprang er auf und schritt zur Tür. „Ja,“ rief er,
+„du hast meine Liebe getötet. Bisher hast du meine Phantasie
+gefesselt. Jetzt fesselst du nicht einmal meine Neugier.
+Du wirkst einfach nicht. Ich liebte dich, weil du ein Wunder
+warst, weil du Genie und Geist hattest, weil du die
+Träume großer Dichter verkörpertest und den Schatten
+der Kunst Gestalt und Körper verliehest. All das hast du<a class="pagenum" name="Page_135" title="135"> </a>
+weggeworfen. Jetzt bist du leer und seicht. Mein Gott.
+Was für ein Narr war ich, dich zu lieben! Wie verblendet
+war ich! Jetzt bist du mir nichts mehr. Ich will dich niemals
+wiedersehen. Nie mehr an dich denken. Nie mehr deinen
+Namen aussprechen. Du weißt nicht, was du mir einmal
+warst. Ja, einmal, einmal... Oh, ich ertrage es
+nicht, daran zu denken. Ich wünschte, ich hätte dich niemals
+gesehen. Du hast die Poesie meines Lebens vernichtet.
+Wie wenig mußt du von Liebe wissen, wenn du sagst, sie
+lähme deine Kunst! Ohne deine Kunst bist du nichts. Ich
+hätte dich berühmt gemacht, zu einem Sterne, zu etwas
+Herrlichem. Die Welt hätte dich angebetet, und du hättest
+meinen Namen getragen. Was bist du jetzt? Eine Schauspielerin
+dritten Ranges mit einem hübschen Gesichtchen.“</p>
+
+<p>Das Mädchen war totenblaß geworden und zitterte. Sie
+preßte die Hände zusammen, und die Sprache schien ihr in
+der Kehle erstickt zu sein. „Du meinst es doch nicht im
+Ernst, Dorian?“ flüsterte sie. „Du verstellst dich nur.“</p>
+
+<p>„Verstellen? Das überlaß ich dir. Du verstehst es ja so
+gut“, entgegnete er bitter.</p>
+
+<p>Sie erhob sich von den Knien und ging mit einem wehen,
+qualvollen Antlitz zu ihm hin. Sie legte ihm die Hand
+auf den Arm und sah ihm in die Augen. Er stieß sie zurück.
+„Berühre mich nicht!“ schrie er.</p>
+
+<p>Ein leises Stöhnen brach aus ihr hervor, und sie warf
+sich ihm zu Füßen und lag da wie eine zertretene Blume.
+„Dorian, Dorian, geh nicht fort von mir!“ rief sie leise.
+„Ich bin so betrübt, daß ich nicht gut gespielt habe. Ich
+dachte nur immer an dich. Aber ich will es wieder versuchen<a class="pagenum" name="Page_136" title="136"> </a>
+&mdash; wirklich, ich will es versuchen. Es kam so jäh über
+mich, die Liebe zu dir. Ich glaube, ich hätte nie etwas von
+ihr gewußt, wenn du mich nicht geküßt hättest &mdash; wenn
+wir uns nicht geküßt hätten. Küß mich wieder, Geliebter!
+Geh nicht von mir! Ich könnte es nicht überleben. Oh, verlaß
+mich nicht! Mein Bruder... nein, nichts darüber. Er
+meinte es nicht im Ernst. Er scherzte nur... Aber du, oh!
+Kannst du mir nie den heutigen Abend verzeihen? Ich
+werde so fleißig sein und mir Mühe geben, besser zu werden.
+Sei nicht grausam gegen mich, weil ich dich mehr
+liebe als alles in der Welt. Es ist doch nur ein einziges
+Mal, wo ich dir mißfallen habe. Aber du hast ganz recht,
+Dorian. Ich hätte mich mehr als Künstlerin zeigen sollen.
+Es war närrisch von mir; und doch konnte ich nicht anders.
+Ach, verlaß mich nicht, verlaß mich nicht.“ Leidenschaftliches
+Schluchzen erschütterte sie. Sie kauerte sich nieder wie ein
+wundes Tier, und Dorian Gray sah mit seinen schönen
+Augen zu ihr herab, und seine feingeschnittenen Lippen
+kräuselten sich in tiefster Verachtung. Die Gefühlsregungen
+von Menschen, die man nicht mehr liebt, haben immer
+etwas Lächerliches an sich. Sibyl Vane schien ihm überspannt
+melodramatisch zu sein. Ihre Tränen und ihr
+Schluchzen langweilten ihn nur.</p>
+
+<p>„Ich gehe“, sagte er schließlich mit seiner klaren, ruhigen
+Stimme. „Ich möchte nicht hart sein, aber ich kann dich
+nicht mehr sehen. Du hast mich enttäuscht.“</p>
+
+<p>Sie weinte still weiter und sagte nichts, sondern kroch
+näher. Ihre kleinen Hände streckten sich ins Leere hinaus
+und schienen ihn zu suchen. Er wandte sich stehenden Fußes<a class="pagenum" name="Page_137" title="137"> </a>
+herum und verließ das Zimmer. Wenige Augenblicke später
+hatte er das Theater hinter sich.</p>
+
+<p>Wohin er ging, wußte er selber kaum. Er erinnerte sich,
+durch schwach beleuchtete Gassen gewandert, an traurigen,
+in schwarze Schatten getauchten Türbogen und elend aussehenden
+Häusern vorbeigekommen zu sein, Weiber mit
+heiseren Stimmen und schrillem Lachen hatten hinter ihm
+her gerufen. Betrunkene waren fluchend und mit sich selber
+sprechend, wie Riesenaffen, an ihm vorbeigetaumelt.
+Er hatte putzige Kinder auf den Stufen kauern sehen und
+Schreien und Schimpfen aus düsteren Höfen gehört.</p>
+
+<p>Als der Morgen graute, fand er sich dicht bei Covent
+Garden. Die Dunkelheit schwand, die Luft rötete sich in
+blaßrotem Feuer, und der Himmel wölbte sich zu einer
+vollendeten Perle. Mächtige Wagen voll nickender Lilien
+rumpelten langsam die gerade, leere Straße hinab. Die
+Luft war schwer vom Dufte der Blumen, und die Schönheit
+schien seinem Schmerz Linderung zu bringen. Er trat
+in die Markthalle und sah den Männern zu, die ihre Wagen
+ausluden. Ein Fuhrmann in weißem Kittel bot ihm
+von seinen Kirschen an. Er dankte ihm, wunderte sich, warum
+er kein Geld dafür annehmen wollte, und begann zerstreut
+davon zu essen. Sie waren um Mitternacht gepflückt
+worden, und sie hatten die Kühle des Mondes in sich.
+Burschen in langer Reihe schleppten Körbe voll gestreifter
+Tulpen und von gelben und roten Rosen herbei, trotteten
+an ihm vorbei, als sie sich ihren Weg durch die großen,
+gelblichgrünen Gemüsestapel suchten. Unter den grauen,
+in der Sonne bleichen Säulen der Vorhalle lungerte ein<a class="pagenum" name="Page_138" title="138"> </a>
+Trupp von schmuddeligen Mädchen ohne Hüte und warteten,
+bis die Versteigerung vorbei war. Andere drängten
+sich um die auf- und zugehenden Türen des Kaffeehauses
+auf der Piazza. Die schweren Lastgäule glitten auf dem
+Pflaster aus und stampften über die holperigen Steine,
+ihre Glocken und Geschirre schüttelnd. Einige Fuhrmänner
+lagen schlafend auf einem Haufen von Säcken. Mit regenbogenfarbenen
+Hälsen und rötlichen Füßen trippelten die
+Tauben mitten darin umher und pickten sich Körner auf.</p>
+
+<p>Nach einer Weile rief er sich eine Droschke und fuhr nach
+Hause. Ein paar Augenblicke blieb er zögernd auf der
+Schwelle stehen, blickte über den schweigenden Platz und
+auf die Häuser mit den blanken, geschlossenen Fenstern
+und den hellen Gardinen. Der Himmel war jetzt ein wirklicher
+Opal, und die Dächer der Häuser glitzerten ihm wie
+Silber entgegen. Von einem Schornstein gegenüber stieg
+eine dünne Rauchsäule in die Höhe. Sie schlängelte sich wie
+ein violettes Band durch die perlmutterfarbene Luft.</p>
+
+<p>In der großen venezianischen Goldlaterne, einer Beute
+von der Barke irgendeines Dogen, die von der Decke der
+großen eichengetäfelten Vorhalle herabhing, brannten noch
+drei flackernde Gaslichter: wie dünne blaue Feuerblüten,
+von weißen Flammen umsäumt. Er drehte sie aus, warf
+Hut und Mantel auf den Tisch und ging durch die Bibliothek
+zur Tür seines Schlafzimmers. Das war ein großer,
+achteckiger Raum zu ebener Erde, den er in seinem neu
+erwachten Gefühl für Luxus erst unlängst einrichten und
+mit einigen schnurrigen Renaissancegobelins hatte bespannen
+lassen, die er in einer nicht mehr gebrauchten<a class="pagenum" name="Page_139" title="139"> </a>
+Dachkammer in Selby Royal entdeckt hatte. Als er eben
+nach der Klinke griff, fiel sein Blick auf das Bildnis, das
+Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Erstaunt schrak
+er zurück. Dann ging er in sein Zimmer und sah nachdenklich
+und betroffen aus. Nachdem er die Blume aus seinem
+Knopfloch genommen hatte, schien er zu zögern. Schließlich
+ging er zurück, trat vor das Bild und musterte es. In dem
+unbestimmten, gedämpften Licht, das durch die mattgelblichen
+Seidenvorhänge drang, schien ihm das Gesicht ein
+wenig verändert. Der Ausdruck war anders. Man hätte
+sagen können, daß ein grausamer Zug um den Mund läge.
+Es war wirklich seltsam.</p>
+
+<p>Er drehte sich um, ging zum Fenster und zog den Vorhang
+auf. Der helle Morgen flutete durch das Zimmer
+und fegte die phantastischen Schatten in düstere Winkel, wo
+sie zitternd liegenblieben. Aber der seltsame Ausdruck, den
+er im Gesicht des Bildes bemerkt hatte, schien nicht nur
+dazubleiben, sondern sich noch verstärkt zu haben. Das
+heiße, zitternde Sonnenlicht zeigte ihm den grausamen Zug
+um den Mund so deutlich, als sähe er sich in einem Spiegel,
+nachdem er etwas Furchtbares verübt hätte.</p>
+
+<p>Er fuhr zusammen und nahm vom Tisch einen ovalen
+Spiegel, dessen Fassung von elfenbeinernen Liebesgöttern
+gebildet wurde, eines der vielen Geschenke Lord Henrys,
+und blickte hastig in die glänzende Tiefe. Keine Linie solcher
+Art verunstaltete seine roten Lippen. Was sollte dies
+bedeuten?</p>
+
+<p>Er rieb sich die Augen und trat ganz nahe an das Bild
+heran, um es abermals zu mustern. An der Technik der<a class="pagenum" name="Page_140" title="140"> </a>
+Malerei konnte man gar keine Spur einer Veränderung bemerken,
+und doch war kein Zweifel, daß sich der Ausdruck
+im ganzen verändert hatte. Es war keine Einbildung von
+ihm. Die Sache war schrecklich klar.</p>
+
+<p>Er warf sich in einen Stuhl und begann zu grübeln.
+Plötzlich überkam ihn die Erinnerung an die Worte, die er
+in Basil Hallwards Atelier an dem Tage gesagt hatte, wo
+das Bild fertig geworden war. Ja, er erinnerte sich ganz
+deutlich. Er hatte den sinnlosen Wunsch ausgesprochen, daß
+er selbst jung bleiben solle, und das Porträt altern: daß
+seine eigene Schönheit fleckenlos bleiben, und das Antlitz
+auf der Leinwand die Last seiner Leidenschaften und Sünden
+tragen solle: daß das gemalte Bildnis von den Linien
+des Leidens und Denkens durchfurcht werden und er selbst
+den feinen Schmelz und alle Lieblichkeit seiner Jugend behalten
+solle, deren er sich damals gerade bewußt geworden
+war. Sein Wunsch war doch nicht erfüllt worden? Solche
+Dinge bleiben unmöglich. Nur so etwas zu denken, schien
+ungeheuerlich. Und doch, da stand das Bild vor ihm und
+hatte den Zug von Grausamkeit um den Mund.</p>
+
+<p>Grausamkeit! War er grausam gewesen? Das Mädchen
+hatte schuld, nicht er. Er hatte von ihr geträumt, als einer
+großen Künstlerin, hatte ihr seine Liebe geschenkt, weil er
+sie für groß gehalten hatte. Dann hatte sie ihn enttäuscht.
+Sie war hohl und wertlos gewesen. Und doch überkam ihn
+ein Gefühl unendlichen Mitleids, als er daran dachte, wie
+sie zu seinen Füßen gelegen und wie ein kleines Kind geschluchzt
+hatte. Er erinnerte sich, mit welcher Gefühllosigkeit
+er sie betrachtet hatte. Warum war er so geschaffen<a class="pagenum" name="Page_141" title="141"> </a>
+worden? Warum war ihm eine solche Seele verliehen worden?
+Aber auch er hatte gelitten. In den drei schrecklichen
+Stunden, die das Stück dauerte, hatte er Jahrhunderte
+von Schmerzen, Ewigkeiten über Ewigkeiten von Qualen
+durchlebt. Sein Leben war gewiß soviel wert als das ihre,
+wenn er sie für das ganze Leben verwundet hatte. Sie
+hatte ihn für einen Augenblick vernichtet. Außerdem sind
+die Frauen besser dafür geeignet, Leiden zu ertragen als
+Männer. Sie leben von ihren Gefühlen. Sie denken nur
+an ihre Gefühle. Wenn sie einen Geliebten haben, so ist es
+nur, um jemand zu haben, dem sie Szenen machen können.
+Lord Henry hatte ihm das gesagt, und Lord Henry wußte,
+wie es mit den Frauen bestellt war. Warum sollte er sich
+um Sibyl Vane beunruhigen? Sie war ihm jetzt nichts
+mehr.</p>
+
+<p>Aber das Bild? Was sollte er dazu sagen? Es barg
+das Geheimnis seines Lebens in sich und erzählte seine
+Geschichte. Es hatte ihn die Liebe zur eigenen Schönheit
+gelehrt. Sollte es ihn lehren, seine eigene Seele zu verabscheuen?
+Könnte er es je wieder anblicken?</p>
+
+<p>Nein; es war nur eine Einbildung, ein Gewebe der verwirrten
+Sinne. Die fürchterliche Nacht, die er durchlebte,
+hatte Gespenster zurückgelassen. Der winzige scharlachrote
+Fleck, der die Menschen zum Wahnsinn treibt, war plötzlich
+auf seinem Gehirn zum Vorschein gekommen. Das
+Bild war nicht anders geworden. Es war Wahnsinn, das
+anzunehmen.</p>
+
+<p>Aber es blickte ihn an mit seinem wunderschönen, entstellten
+Gesicht und seinem grausamen Lächeln. Sein helles<a class="pagenum" name="Page_142" title="142"> </a>
+Haar leuchtete im Sonnengold der Frühe. Seine blauen
+Augen blickten in seine eigenen. Ein Gefühl grenzenlosen
+Mitleids durchdrang ihn, nicht mit sich selbst, nein, mit
+dem gemalten Abbild. Schon hatte es sich verändert und
+würde sich noch mehr verändern. Sein Gold wird zum
+Grau erbleichen. Seine roten und weißen Rosen werden
+welken. Für jede Sünde, die er begehen würde, wird ein
+Fleck hervortreten und seine Schönheit besudeln. Aber er
+wird nicht sündigen. Das Bildnis, verwandelt oder unverwandelt,
+soll für ihn das sichtbare Wahrzeichen des
+Gewissens sein. Er wird jeder Versuchung widerstehen. Er
+wird Lord Henry nicht wiedersehen &mdash; wenigstens nicht
+mehr seinen blendenden, giftigen Theorien lauschen, die
+in Basil Hallwards Garten zum erstenmal in ihm die Leidenschaft
+für unmögliche Dinge aufgerüttelt hatten. Er
+wird zu Sibyl Vane zurückeilen, sich bestreben, sie in ihrer
+Kunst zu verfeinern, sie heiraten und versuchen, sie wieder
+zu lieben. Ja, es war seine Pflicht, das zu tun. Sie mußte
+ja mehr gelitten haben als er. Armes Kind! Er war selbstsüchtig
+und grausam gegen sie gewesen. Der Zauber, den
+sie auf ihn ausgeübt hatte, würde wiederkehren. Sie
+würden glücklich miteinander werden. Sein Leben mit ihr
+würde schon und rein sein.</p>
+
+<p>Er stand von seinem Stuhl auf und schob einen großen
+Wandschirm vor das Bildnis. Er schrak zusammen, als er
+es anblickte. „Wie schrecklich“, flüsterte er. Dann schritt
+er zur Glastür und öffnete sie. Als er in das Grüne hinaus
+trat, atmete er tief auf. Die frische Morgenluft schien
+all die düsteren Leidenschaften zu verjagen. Er dachte nur<a class="pagenum" name="Page_143" title="143"> </a>
+noch an Sibyl. Ein schwacher Glanz seiner Liebe kehrte zurück.
+Er wiederholte ihren Namen immer wieder, immer
+wieder. Die Vögel, die in dem taubeperlten Garten sangen,
+schienen den Blumen von ihr zu erzählen.</p>
+
+<h2><a name="Achtes_Kapitel" id="Achtes_Kapitel"></a>Achtes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Mittag war längst vorüber, als er erwachte. Sein
+Diener war mehrmals auf den Fußspitzen in das Zimmer
+geschlichen, um zu sehen, ob er wach wäre, und er hatte
+sich gewundert, weshalb sein junger Herr so lange schlafe.
+Schließlich klingelte es, und Viktor trat leise ein mit einer
+Schale Tee und einem Stoß Postsachen auf einer schmalen
+Sevresplatte und zog die olivengelben Atlasvorhänge
+mit ihrem blauglänzenden Futter vor den drei großen
+Fenstern zurück.</p>
+
+<p>„Monsieur hat heute morgen gut geschlafen“, sagte er
+lächelnd.</p>
+
+<p>„Wieviel Uhr ist es?“ fragte Dorian Gray noch verschlafen.</p>
+
+<p>„Ein Viertel zwei, Monsieur!“</p>
+
+<p>Wie spät es war! Er setzte sich auf, schlürfte einige Züge
+Tee und durchblätterte die Briefe. Einer davon war von
+Lord Henry und war diesen Morgen von einem Boten abgegeben
+worden. Er zögerte einen Augenblick und legte
+ihn dann zur Seite. Die anderen öffnete er zerstreut. Sie
+enthielten die gewöhnliche Sammlung von Karten, Einladungen<a class="pagenum" name="Page_144" title="144"> </a>
+zum Essen, Ausstellungsbilletts, Programmen
+für Wohltätigkeitskonzerte und ähnlichen Aufforderungen,
+wie sie einem jungen Mann der Gesellschaft während der
+Saison jeden Morgen ins Haus regnen. Es war auch eine
+recht große Rechnung dabei für ein Toiletteservice im
+Stile Louis des Fünfzehnten, aus getriebenem Silber, die
+er noch nicht mutig genug gewesen war, seinen Vormündern
+vorzulegen, die außerordentlich altmodische Herren
+waren und nicht begreifen konnten, daß man in einer
+Zeit lebe, wo die unnötigen Dinge unsere einzige Notwendigkeit
+sind; und außerdem war eine Reihe sehr höflich
+abgefaßter Mitteilungen aus Jermyn Street da, in
+denen man sich anbot, ihm in der kürzesten Zeit jeden
+Geldbetrag zu dem mäßigsten Zinsfuße vorzustrecken.</p>
+
+<p>Etwa nach zehn Minuten stand er auf, schlüpfte in einen
+raffinierten Schlafrock aus Kaschmirwolle mit Seidenstickereien,
+und ging in das onyxgepflasterte Badezimmer.
+Das kalte Wasser erquickte ihn nach dem langen Schlaf.
+Er schien alles vergessen zu haben, was er hinter sich hatte.
+Ein- oder zweimal durchzuckte ihn ein undeutliches Gefühl,
+als wäre er irgendwie in eine seltsame Tragödie verwickelt
+gewesen, aber die Unwirklichkeit eines Traumes webte
+darüber.</p>
+
+<p>Sobald er angezogen war, ging er in das Bibliothekszimmer
+und setzte sich zu einem leichten französischen Frühstück
+nieder, das auf einem kleinen, runden Tische nahe
+beim offenen Fenster bereit stand. Es war ein entzückender
+Tag. Die warme Luft schien mit Wohlgerüchen gewürzt.
+Eine Biene flog herein und summte um die Schale aus<a class="pagenum" name="Page_145" title="145"> </a>
+blauem Drachenporzellan, die voller schwefelgelber Rosen
+vor ihm stand. Er fühlte sich vollkommen glücklich.</p>
+
+<p>Plötzlich fiel sein Blick auf den Wandschirm, den er vor
+das Bild gestellt hatte, und er zuckte zusammen.</p>
+
+<p>„Ist es zu kalt für den gnädigen Herrn?“ fragte der
+Diener, während er eine Omelette auf den Tisch stellte.
+„Soll ich das Fenster schließen?“</p>
+
+<p>Dorian schüttelte den Kopf. „Mir ist nicht kalt“, antwortete
+er.</p>
+
+<p>War es alles wahr? Hatte sich das Bild wirklich verändert?
+Oder war es lediglich seine eigene Phantasie gewesen,
+die ihm einen Zug von Schlechtigkeit vorgespiegelt
+hatte, wo nur ein Zug von Freude gewesen war? Eine gemalte
+Leinwand konnte sich doch nicht verändern? Das
+war doch Tollheit! Das würde er eines Tages Basil als
+Märchen erzählen. Er würde darüber lächeln.</p>
+
+<p>Und doch, wie lebendig war die Erinnerung an die
+ganze Sache! Zuerst in dem schwankenden Zwielicht und
+dann in der hellen Morgenfrühe hatte er den Zug von
+Grausamkeit um die geschwungenen Lippen bemerkt. Er
+fürchtete sich förmlich davor, daß sein Diener hinausgehen
+könnte. Er wußte, er würde, sowie er allein sei, das Bild
+betrachten müssen. Er fürchtete sich vor dieser Gewißheit.
+Als der Diener Kaffee und Zigaretten gebracht hatte und
+sich zum Gehen wandte, empfand er den heftigsten Wunsch,
+ihn dableiben zu lassen. Als sich hinter ihm die Tür geschlossen
+hatte, rief er ihn zurück. Der Mann stand da und
+wartete auf seine Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick
+an. „Ich bin für niemand zu Hause, Viktor“, sagte er<a class="pagenum" name="Page_146" title="146"> </a>
+mit einem Seufzer. Der Mann verbeugte sich und ging
+hinaus.</p>
+
+<p>Dann stand er vom Tische auf, zündete sich eine Zigarette
+an und warf sich auf eine üppig gepolsterte Ottomane,
+die gegenüber dem Schirme stand. Es war ein alter
+Wandschirm aus vergoldetem spanischen Leder, in das ein
+blumiges Louis-Quatorze-Muster getrieben war. Er musterte
+ihn forschend und fragte sich, ob der Schirm wohl
+schon jemals das Geheimnis eines Menschenlebens verhüllt
+habe.</p>
+
+<p>Sollte er ihn überhaupt wegschieben? Warum ihn nicht
+da stehen lassen? Was half die Gewißheit? War die Sache
+wahr, so war es schrecklich. War sie nicht wahr, wozu sich
+darüber beunruhigen? Aber wie, wenn durch Schicksalstücke
+oder irgendeinen tödlichen Zufall andere Augen als die
+seinen dahinter blickten und die fürchterliche Veränderung
+sähen? Was wollte er tun, wenn Basil Hallward kam und
+sein eigenes Bild sehen wollte? Das würde Basil sicher
+tun. Nein, die Sache mußte untersucht werden, und zwar
+auf der Stelle. Alles war besser als diese schreckliche Ungewißheit.</p>
+
+<p>Er stand auf und verschloß beide Türen. Er wollte
+wenigstens allein sein, wenn er die Maske seiner Schande
+betrachtete. Dann schob er den Schirm zur Seite und sah
+sich selbst von Angesicht zu Angesicht. Es war vollständig
+wahr. Das Bildnis hatte sich verändert.</p>
+
+<p>Er erinnerte sich später oft und immer mit nicht geringer
+Verwunderung, daß er zuerst das Bild mit einem
+Gefühl von wissenschaftlichem Interesse geprüft habe. Daß<a class="pagenum" name="Page_147" title="147"> </a>
+eine solche Veränderung möglich sei, schien ihm nicht
+glaublich. Und doch war es Tatsache. Gab es irgendeine
+geheime Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen,
+die auf der Leinwand Form und Farbe werden, und der
+Seele, die in ihm lebte? Konnte es sein, daß sie in Wirklichkeit
+ausdrückten, was seine Seele dachte? &mdash; daß sie
+zur Wahrheit machten, was sie träumte? Oder gab es
+eine andere schreckliche Beziehung? Er schauderte zusammen
+und fühlte sich von Angst gepackt. Dann ging er zu
+der Ottomane zurück und lag nun da, das Bildnis in
+krankhaftem Schrecken anstierend.</p>
+
+<p>Eine Wirkung aber, das fühlte er, hatte es gehabt. Es
+hatte ihm klargemacht, wie ungerecht, wie grausam er
+gegen Sibyl Vane gewesen war. Noch war es nicht zu
+spät, das wieder gut zu machen. Sie konnte noch sein
+Weib werden. Seine unwahre, selbstsüchtige Liebe sollte
+einer höheren Kraft den Platz einräumen, sollte sich zu
+einer edleren Leidenschaft erhöhen und das Bildnis, das
+Basil Hallward gemalt hatte, sollte sein Führer durchs
+Leben, sollte das für ihn sein, was Heiligkeit für einige ist,
+Gewissen für andere und Gottesfurcht für uns alle ist.
+Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Medikamente, die
+das Sittlichkeitsgefühl in Schlaf lullen konnten. Aber hier
+war das durch Sündigkeit hervorgerufene sichtbare Symbol
+der Erniedrigung. Hier war das ewig unauslöschliche
+Zeichen des Verderbens, das Menschen der eigenen Seele
+zufügen.</p>
+
+<p>Es schlug drei und vier, und noch eine halbe Stunde
+ließ das doppelte Zeichen erklingen, aber Dorian Gray<a class="pagenum" name="Page_148" title="148"> </a>
+rührte sich nicht. Er bemühte sich, die scharlachroten Fäden
+des Lebens zu entwirren und sie in ein Muster zu
+verschlingen; seinen Weg zu finden aus dem blutroten Irrgarten
+der Leidenschaft, den er durchwanderte. Er wußte
+nicht, was er tun, nicht, was er denken sollte. Endlich trat
+er an den Tisch und schrieb einen leidenschaftlichen Brief
+an das Mädchen, das er geliebt hatte, flehte sie an, ihm
+zu verzeihen, und beschuldigte sich des Wahnsinns. Er
+bedeckte Seite um Seite mit wilden Worten der Sorge
+und noch heftigeren des Schmerzes. Es gibt eine Wollust
+in Selbstanklagen. Wenn wir uns selbst tadeln, haben wir
+das Gefühl, daß uns kein anderer tadeln dürfe. Die
+Beichte, nicht der Priester, erteilt uns Absolution. Als
+Dorian den Brief beendet hatte, fühlte er, daß ihm vergeben
+worden sei.</p>
+
+<p>Plötzlich pochte man an die Tür und er hörte Lord
+Henrys Stimme draußen. „Lieber Junge, ich muß dich
+sehen. Laß mich gleich herein! Ich kann es nicht zugeben,
+daß du dich so absperrst!“</p>
+
+<p>Er gab zuerst keine Antwort, sondern blieb ganz still.
+Das Klopfen wiederholte sich und wurde lauter. Ja, es
+war besser, Lord Henry einzulassen und ihm zu erklären,
+daß er ein neues Leben führen wolle, mit ihm zu streiten,
+wenn Streit nötig wäre, und sich von ihm zu trennen,
+wenn Trennung stattfinden mußte. Er sprang auf, schob
+den Wandschirm hastig vor das Bild und schloß die
+Tür auf.</p>
+
+<p>„Es tut mir alles so sehr leid, Dorian“, sagte Lord Henry,
+als er eintrat. „Aber du mußt nicht zuviel daran denken.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_149" title="149"> </a></p>
+
+<p>„Meinst du an Sibyl Vane?“ fragte der Jüngling.</p>
+
+<p>„Ja, natürlich“, erwiderte Lord Henry, ließ sich in
+einen Stuhl nieder und zog seine gelben Handschuhe langsam
+aus. „Es ist gewiß, einerseits betrachtet, schrecklich,
+aber es war doch nicht deine Schuld. Sag' mal, bist du
+hinter die Bühne gegangen und hast du sie gesehen, als
+das Stück aus war?“</p>
+
+<p>„Ja.“</p>
+
+<p>„Ich war davon überzeugt. Hast du ihr eine Szene
+gemacht?“</p>
+
+<p>„Ich war brutal, Harry, offen gesagt, brutal. Aber
+jetzt ist alles wieder gut. Was geschehen ist, tut mir nicht
+mehr leid. Es hat mich gelehrt, mich selbst besser kennenzulernen.“</p>
+
+<p>„Ach, Dorian, da bin ich sehr froh, daß du es so auffaßt.
+Ich fürchtete, dich von Gewissensbissen zermartert
+zu finden und wie du dir die hübschen lockigen Haare zerraufst.“</p>
+
+<p>„Das habe ich alles durchgemacht“, sagte Dorian und
+schüttelte lächelnd den Kopf. „Jetzt bin ich vollkommen
+glücklich. Vor allem weiß ich jetzt, was es heißt, ein Gewissen
+zu haben. Es ist nicht das, was du mir gesagt hast.
+Es ist das Göttlichste in uns. Spotte nicht darüber, nie
+mehr, Harry &mdash; wenigstens nie mehr in meiner Gegenwart.
+Ich will jetzt gut sein. Ich kann den Gedanken nicht
+ertragen, meine Seele befleckt zu haben.“</p>
+
+<p>„Wirklich eine entzückende, künstlerische Grundlage für
+Moral, Dorian. Ich gratuliere dir dazu. Aber wie willst
+du damit anfangen?“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_150" title="150"> </a></p>
+
+<p>„Indem ich Sibyl Vane heirate.“</p>
+
+<p>„Sibyl Vane heiraten?“ schrie Lord Henry auf, erhob
+sich und sah ihn mit der bestürztesten Verwunderung an.
+„Aber mein lieber Dorian &mdash;“</p>
+
+<p>„Ja, Harry, ich weiß, was du sagen willst. Irgend
+etwas Häßliches über die Ehe. Sag' es nicht. Sag' mir
+nie wieder solche Dinge. Vor zwei Tagen habe ich Sibyl
+gebeten, mich zu heiraten. Ich werde mein Wort nicht
+brechen. Sie soll meine Frau werden.“</p>
+
+<p>„Deine Frau, Dorian... Hast du denn meinen Brief
+nicht bekommen? Ich habe dir heute früh geschrieben und
+schickte die Mitteilung durch meinen Diener her.“</p>
+
+<p>„Deinen Brief? Ach ja, ich erinnere mich. Ich hab'
+ihn noch nicht gelesen, Harry. Ich fürchtete, daß etwas
+drin stünde, was mir nicht gefallen könnte. Du vivisezierst
+das Leben mit deinen Aphorismen.“</p>
+
+<p>„Dann weißt du also nichts.“</p>
+
+<p>„Wovon sprichst du?“</p>
+
+<p>Lord Henry wanderte durch das Zimmer, setzte sich
+dann neben Dorian Gray, nahm seine beiden Hände und
+hielt sie fest. „Dorian,“ sagte er, „mein Brief &mdash; erschrick
+nicht &mdash; sollte dir melden, daß Sibyl Vane tot ist.“</p>
+
+<p>Ein Schmerzensschrei gellte von den Lippen des Jünglings,
+und er sprang auf und riß seine Hände aus Lord
+Henrys Umklammerung los. „Tot! Sibyl tot!“ Es ist
+nicht wahr. Es ist eine furchtbare Lüge. Wie wagst du
+es, das zu sagen?“</p>
+
+<p>„Es ist völlig wahr, Dorian“, sagte Lord Henry ernst.
+„Es steht in allen Morgenblättern. Ich schrieb dir's gleich<a class="pagenum" name="Page_151" title="151"> </a>
+und bat, du solltest niemand empfangen, bis ich käme.
+Es muß natürlich eine Untersuchung stattfinden, und du
+darfst da nicht hineingezogen werden. Dinge dieser Art
+machen in Paris einen Mann zum Helden des Tages.
+Aber in London haben die Leute zuviel Vorurteile. Hier
+darf man nie mit einem Skandal debütieren. Man muß
+sich das aufheben, um im Alter noch interessant zu sein.
+Ich nehme an, man weiß im Theater deinen Namen
+nicht. In dem Fall ist alles gut. Hat dich jemand in die
+Garderobe gehen sehen? Das ist ein wichtiger Faktor.“</p>
+
+<p>Ein paar Augenblicke lang antwortete Dorian nicht. Er
+war vor Entsetzen gelähmt. Schließlich stammelte er mit
+erstickter Stimme: „Harry, sagtest du eine Untersuchung?
+Was meintest du damit? Hat sich Sibyl &mdash;? Oh, Harry,
+ich kann's nicht ertragen. Mach's kurz. Sag' mir alles
+auf einmal.“</p>
+
+<p>„Ich zweifle nicht daran, daß es kein Versehen war,
+Dorian, wenn man es auch dem Publikum so darstellen
+muß. Es scheint, sie hat das Theater mit ihrer Mutter
+verlassen, gegen halb eins ungefähr, und dann sagte sie
+plötzlich, sie habe oben etwas vergessen. Man wartete
+einige Zeit auf sie, aber sie kam nicht wieder herunter.
+Schließlich fanden sie sie tot auf dem Boden in ihrem
+Ankleidezimmer. Sie hatte aus Versehen irgend etwas
+getrunken, irgend solche gräßliche Sache, die man in den
+Theatern braucht. Ich weiß nicht genau, was es war,
+aber es muß entweder Blausäure oder Bleiweiß gewesen
+sein. Ich vermute, Blausäure, denn sie scheint sofort tot
+gewesen zu sein.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_152" title="152"> </a></p>
+
+<p>„Harry, Harry, es ist furchtbar!“ schrie der Jüngling.</p>
+
+<p>„Ja; natürlich ist's sehr tragisch, aber du mußt sehen,
+nicht mit in die Sache verwickelt zu wenden. Ich habe im
+‚Standard‛ gelesen, daß sie siebzehn Jahre alt war. Ich
+hätte sie noch eher für jünger gehalten. Sie sah ganz wie
+ein Kind aus und schien so wenig von der Schauspielerei
+zu verstehen. Dorian, du darfst die Sache nicht so an die
+Nerven gehen lassen. Du mußt mitkommen und mit mir
+essen, und nachher wollen wir noch 'n bißchen in die Oper
+gehen. Die Patti singt, und alle Welt wird da sein. Du
+kannst mit in die Loge von meiner Schwester kommen.
+Sie bringt ein paar famose Frauen mit.“</p>
+
+<p>„So habe ich also Sibyl Vane gemordet,“ sagte Dorian
+Gray halb zu sich selbst &mdash; „sie gemordet, so sicher, als
+hätte ich ihre zarte Kehle mit einem Messer durchschnitten.
+Und doch sind darum die Rosen nicht weniger entzückend.
+Die Vögel in meinem Garten singen genau so lustig. Und
+heute abend geh' ich mit dir essen und dann in die Oper
+und nachher vermutlich irgendwo soupieren. Wie merkwürdig
+dramatisch das Leben ist. Wenn ich das alles in
+einem Buche gelesen hätte, Harry, ich glaube, ich hätte
+darüber geweint. Aber jetzt, wo es in Wirklichkeit geschehen
+ist, wo es mir selbst geschehen ist, scheint es mir zu wunderbar
+für Tränen. Da liegt der erste leidenschaftliche Liebesbrief,
+den ich in meinem Leben geschrieben habe. Seltsam,
+daß mein erster leidenschaftlicher Liebesbrief an ein totes
+Mädchen gerichtet ist. Ich möchte wohl wissen, ob sie noch
+ein Gefühl haben, diese weißen, verstummten Menschen,
+die wir Tote nennen. Sibyl! Kann sie fühlen, oder wissen,<a class="pagenum" name="Page_153" title="153"> </a>
+oder hören? O Harry, wie hab' ich sie einmal geliebt!
+Es scheint mir jetzt vor Jahren gewesen zu sein. Sie war
+mir alles. Dann kam dieser schreckliche Abend, &mdash; war es
+wirklich erst gestern? wo sie so schlecht spielte und mir fast
+das Herz zerriß. Sie hat mir alles erklärt. Es war furchtbar
+rührend. Aber es machte nicht den mindesten Eindruck
+auf mich. Ich hielt sie für ein oberflächliches Geschöpf.
+Dann geschah plötzlich etwas, was mir Furcht einjagte. Ich
+kann dir nicht sagen, was es war, aber es war furchtbar.
+Ich nahm mir vor, zu ihr zurückzukehren. Ich empfand,
+daß ich unrecht gehabt habe. Und jetzt ist sie tot. Mein
+Gott! Mein Gott! Harry, was soll ich tun? Du kennst
+die Gefahr nicht, in der ich schwebe und es gibt nichts,
+was mich aufrechterhalten könnte. Sie hätte es für mich
+getan. Sie hatte kein Recht, sich umzubringen. Es war
+selbstsüchtig von ihr.“</p>
+
+<p>„Mein lieber Dorian,“ antwortete Lord Harry, während
+er eine Zigarette aus dem Etui nahm und ein goldenes
+Streichholzbüchschen hervorholte, „die einzige Art,
+auf die eine Frau einen Mann bessern kann, besteht darin,
+sie langweilt ihn so gründlich, daß er alles Interesse am
+Leben verliert. Wenn du dieses Mädchen geheiratet
+hättest, wärst du verdorben worden. Natürlich hättest
+du sie gütig behandelt. Menschen, für die man nichts
+übrig hat, kann man immer gütig behandeln. Aber sie
+hätte bald herausgefunden, daß du gar nichts für sie übrig
+hast. Und wenn eine Frau bei ihrem Mann Gleichgültigkeit
+wittert, vernachlässigt sie sich entweder schrecklich, oder
+sie trägt überelegante Hüte, die der Mann einer anderen<a class="pagenum" name="Page_154" title="154"> </a>
+Frau bezahlen muß. Ich will nichts über das soziale Mißverhältnis
+sagen, das schauderhaft gewesen wäre; ich hätte
+selbstverständlich die Sache nie zugegeben, aber ich versichere
+dir, die Sache wäre in jedem Falle ganz verfehlt
+gewesen.“</p>
+
+<p>„Vermutlich“, murmelte der junge Mann, während er
+mit furchtbar blassem Gesicht im Zimmer auf und ab
+schritt. „Aber ich glaube, es sei meine Pflicht. Es ist nicht
+meine Schuld, daß mich dieses schreckliche Trauerspiel verhindert
+hat, das Rechte zu tun. Ich erinnere mich, daß
+du einmal gesagt hast, ein sonderbares Verhängnis schwebe
+über guten Vorsätzen &mdash; daß man sie nämlich immer zu
+spät fasse. Bei meinem war es gewiß der Fall.“</p>
+
+<p>„Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, Naturgesetze umzustoßen.
+Ihr Ursprung ist reine Eitelkeit. Ihr Erfolg ist
+absolut gleich Null. Sie geben uns dann und wann etwas
+jener unfruchtbaren Lustempfindungen, die auf schwache
+Menschen einen gewissen Reiz ausüben. Das ist alles, was
+man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind bloße
+Schecks, die man auf eine Bank ausstellt, bei der man
+kein Konto hat.“</p>
+
+<p>„Harry“, rief Dorian Gray, der sich näherte und
+neben ihn setzte. „Warum kann ich diese Tragödie nicht so
+stark empfinden, wie ich müßte? Ich kann nicht glauben,
+daß ich herzlos bin. Glaubst du das von mir?“</p>
+
+<p>„Du hast in den letzten vierzehn Tagen zuviel törichte
+Streiche begangen, als daß du einen Anspruch auf diesen
+Ehrentitel haben könntest, Dorian“, erwiderte Lord Harry
+mit seinem stillen, melancholischen Lächeln.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_155" title="155"> </a></p>
+
+<p>Der Jüngling runzelte die Stirn. „Diese Erklärung besagt
+mir eigentlich nichts, Harry, aber ich bin dennoch
+froh, daß du mich nicht für herzlos hältst. Ich bin es gewiß
+nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin. Und doch muß ich
+zugeben, daß dies Ereignis mich nicht so angreift, wie es
+sollte. Es kommt mir wie der wunderbare Szenenschluß
+eines wunderbaren Dramas vor. Es hat die schreckliche
+Schönheit einer griechischen Tragödie, einer Tragödie, in
+der ich eine große Rolle gespielt habe, aber in der ich
+selbst nicht verwundet worden bin.“</p>
+
+<p>„Es ist eine interessante Frage,“ sagte Lord Harry, dem
+es ein ausgesuchtes Vergnügen bereitete, mit dem unbewußten
+Egoismus des jungen Mannes zu spielen &mdash; „eine
+außerordentlich interessante Frage. Ich meine, die wahre
+Erklärung ist wohl die. Es kommt oft vor, daß sich die
+Wirklichkeits-Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen
+Form abspielen, daß sie uns durch ihre rohe Gewalt,
+ihren absoluten Mangel an Zusammenhang, durch
+ihre lächerliche Sinnlosigkeit und ihre außerordentliche
+Stillosigkeit verletzen. Sie betrüben uns genau so,
+wie es die Gemeinheit tut. Sie geben uns ein Gefühl
+einer jähen, brutalen Gewalt, und wir lehnen uns
+dagegen auf. Manchmal aber kreuzt eine Tragödie unser
+Leben, die künstlerische Schönheitselemente in sich birgt.
+Wenn diese Schönheitselemente wirklich vorhanden sind,
+dann ergreift die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische
+Wirkung. Wir entdecken auf einmal, daß wir nicht
+mehr die Darsteller, sondern die Zuschauer des Stückes
+sind. Oder richtiger, wir sind beides. Wir beobachten uns<a class="pagenum" name="Page_156" title="156"> </a>
+selbst und werden von dem Wundersamen des Schicksals
+erschüttert. Was ist in vorliegendem Falle wirklich geschehen?
+Jemand hat sich aus Liebe zu dir umgebracht.
+Ich wollte, mir wäre je so ein Erlebnis passiert. Ich wäre
+den Rest meines Lebens in die Liebe verliebt gewesen. Die
+Menschen, die mich angebetet haben &mdash; es waren ihrer
+nicht sehr viele, aber doch immerhin einige &mdash;, waren immer
+darauf versessen, weiterzuleben, noch lange, nachdem ich
+aufgehört hatte, mich um sie zu kümmern, oder sie, sich um
+mich zu kümmern. Sie sind dann dick und langweilig geworden,
+und wenn ich ihnen jetzt begegne, schwelgen sie
+sofort in Erinnerungen. Dies furchtbare zähe Gedächtnis
+der Frauen! Was für 'ne schreckliche Sache das ist! Und
+was für einen völligen geistigen Stillstand offenbart es.
+Man sollte die Farbe des Lebens in sich aufsaugen, aber
+sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind
+immer gewöhnlich.“</p>
+
+<p>„Ich muß Mohnblumen in meinen Garten säen“, seufzte
+Dorian.</p>
+
+<p>„Das ist nicht notwendig“, erwiderte sein Gefährte.
+„Das Leben selbst hat immer Mohnblumen vorrätig.
+Natürlich, dann und wann halten die Dinge länger an.
+Einmal habe ich eine ganze Saison lang nichts als Veilchen
+getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen
+Roman, der nicht sterben wollte. Schließlich indessen ist er
+gestorben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ihn
+getötet hat. Ich vermute, es kam durch ihren Vorschlag,
+mir die ganze Welt aufzuopfern. Das ist immer ein schrecklicher
+Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecknissen<a class="pagenum" name="Page_157" title="157"> </a>
+der Ewigkeit. Schon &mdash; würdest du es nun glauben? &mdash;
+Vorige Woche, bei Lady Hampshire, saß ich bei Tisch
+neben der fraglichen Dame, und sie konnte wiederum nicht
+anders, als die ganze Sache durchzunehmen, die Vergangenheit
+aufzuwühlen und die Zukunft auszumalen.
+Ich hatte den ganzen Roman unter einem Asphodelosbeet
+begraben. Sie scharrte ihn wieder aus und versicherte
+mir, daß ich ihr Leben zerstört habe. Ich fühle mich
+verpflichtet festzustellen, daß sie trotzdem mit staunenswertem
+Appetite aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse
+empfand. Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie!
+Der einzige Reiz der Vergangenheit liegt eben darin,
+daß sie vergangen ist. Aber Frauen wissen nie, wann der
+Vorhang gefallen ist. Sie wollen immer noch einen sechsten
+Akt, und sowie das ganze Interesse an dem Stück erlahmt
+ist, schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man ihnen
+ihren Willen ließe, erlebte jede Komödie einen tragischen
+Schluß, und jede Komödie gipfelte in einer Farce. Sie
+sind oft entzückende Kunstprodukte, aber sie haben keinen
+Sinn für die Kunst. Du bist glücklicher als ich. Ich versichere
+dir, Dorian, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt
+habe, hätte für mich getan, was Sibyl Vane für dich vollbrachte.
+Gewöhnliche Frauen trösten sich immer. Einige
+von ihnen tun es, indem sie sich in empfindsame Farben
+verlieben. Traue niemals einer Frau, die Malven trägt,
+wie alt sie auch sein mag, oder einer Frau über fünfunddreißig,
+die rosa Bänder liebt. Das bedeutet immer,
+daß sie eine Geschichte haben. Andere finden starken Trost
+darin, plötzlich die Vorzüge ihrer Männer zu entdecken.<a class="pagenum" name="Page_158" title="158"> </a>
+Sie reiben einem ihr eheliches Glück unter die Nase, als
+wäre das die fesselndste Sünde. Einige wieder tröstet die
+Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize einer Liebelei
+an sich, hat mir einmal eine Frau versichert und ich kann
+es wohl verstehen. Übrigens macht unsereinen nichts so
+eitel, als wenn einem gesagt wird, man wäre ein Sünder.
+Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten. Ja; die Tröstungen
+haben wirklich kein Ende, die die Frauen im
+modernen Leben finden. Die wichtigste habe ich noch gar
+nicht erwähnt.“</p>
+
+<p>„Welche ist das, Harry?“ fragte der junge Mann zerstreut.</p>
+
+<p>„Oh, der alltäglichste Trost. Einer anderen Frau ihren
+Anbeter nehmen, wenn man den eigenen verloren hat.
+In der guten Gesellschaft findet eine Frau auf solche
+Weise immer ihr Fahrwasser wieder. Aber wirklich, Dorian,
+wie anders muß Sibyl Vane gewesen sein als alle
+die sonstigen Frauen, denen man begegnet. Für mich liegt
+in ihrem Tod etwas ganz Wunderschönes. Es freut mich,
+daß ich in einem Jahrhundert lebe, wo solche Wunder
+noch geschehen. Sie geben uns neuen Glauben an die Wirklichkeit
+der Dinge, mit denen wir sonst spielen, wie Romantik,
+Leidenschaft und Liebe.“</p>
+
+<p>„Ich war furchtbar grausam gegen sie. Du vergißt
+das.“</p>
+
+<p>„Ich fürchte, die Frauen schätzen die Grausamkeit, die
+ganz alltägliche Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes.
+Sie haben wundervoll primitive Instinkte. Wir
+haben sie emanzipiert, aber sie bleiben Sklavinnen, die den<a class="pagenum" name="Page_159" title="159"> </a>
+Blick auf ihre Herren gerichtet halten, trotz allem. Sie
+lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin überzeugt, daß
+du glänzend aufgetreten bist. Ich habe dich nie wirklich
+und durchaus erzürnt gesehen, aber ich kann mir vorstellen,
+wie entzückend du ausgesehen haben mußt. Und
+außerdem sagtest du vorgestern etwas zu mir, was mir
+damals nur ein phantastischer Einfall schien, aber jetzt sehe
+ich, daß es völlig wahr gewesen ist, und ich halte es für
+den Schlüssel zu dem ganzen Ereignis.“</p>
+
+<p>„Was war das, Harry?“</p>
+
+<p>„Du hast zu mir gesagt, Sibyl Vane verkörpere dir alle
+Frauengestalten der Romantik &mdash; sie sei an einem Abend
+Desdemona und am anderen Ophelia; wenn sie als Julia
+sterbe, erwache sie als Imogen wieder zum Leben.“</p>
+
+<p>„Sie wird nie wieder zum Leben erwachen“, ächzte der
+Jüngling und barg sein Gesicht in den Händen.</p>
+
+<p>„Nein, sie wird nie wieder zum Leben erwachen. Sie
+hat ihre letzte Rolle gespielt. Aber du mußt an diesen
+einsamen Tod in dem ärmlichen Garderobenzimmer denken
+wie an ein seltsam schauriges Fragment aus einer Tragödie
+von der Zeit König Jakobs her, wie an eine wunderbare
+Szene bei Webster oder Ford oder Cyril Tourneur. Das
+Mädchen hat nie wirklich gelebt, also ist sie auch nie wirklich
+gestorben. Für dich war sie ja niemals mehr als ein
+Traum, ein Schattengeist, der durch Shakespeares Dramen
+huschte und sie durch ihr Dasein noch reizvoller machte,
+der Ton einer Flöte, durch die Shakespeares Musik noch
+reicher und freudiger ertönte. Im Augenblick, wo sie das
+wirkliche Leben berührte, zerstörte sie es, und es zerstörte<a class="pagenum" name="Page_160" title="160"> </a>
+sie, und so schied sie dahin. Trauere um Ophelia, wenn
+es dir behagt. Streu Asche auf dein Haupt, weil Kordelia
+erwürgt wurde. Schrei zum Himmel, weil die Tochter des
+Brabantio starb. Aber verschwende deine Tränen nicht
+um Sibyl Vane. Sie war weniger wirklich, als jene
+sind.“</p>
+
+<p>Es entstand ein Schweigen. Der Abend dämmerte im
+Zimmer. Geräuschlos auf silbernen Fußen schlichen die
+Schatten aus dem Garten herein. Die Farben verschwanden
+müde aus allen Dingen.</p>
+
+<p>Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. „Du hast mich
+mir selber klargemacht“, flüsterte er mit einem Seufzer
+der Erleichterung. „Alles, was du gesagt hast, habe ich
+auch gefühlt, nur hab' ich mich davor geängstigt, und ich
+konnte es mir selbst nicht ausdrücken. Wie gut du mich
+kennst! Aber wir wollen, von dem was geschehen ist,
+nie wieder sprechen. Es war ein wundersames Erlebnis.
+Das ist alles. Ich möchte wissen, ob meiner noch etwas so
+Wunderbares im Leben harrt.“</p>
+
+<p>„Das Leben hat alles für dich vorrätig, Dorian. Es
+gibt nichts, was du mit deiner außerordentlichen Schönheit
+nicht tun könntest.“</p>
+
+<p>„Aber stelle dir vor, Harry, wenn ich hager und alt
+und runzlich würde, was dann?“</p>
+
+<p>„Ach dann,“ sagte Lord Harry und erhob sich zum
+Gehen &mdash; „dann, mein bester Dorian, würdest du um
+deine Siege kämpfen müssen. Wie es ist, werden sie dir
+noch entgegengetragen. Nein, du mußt schön bleiben, wie
+du noch bist. Wir leben in einer Zeit, in der zuviel gelesen<a class="pagenum" name="Page_161" title="161"> </a>
+wird, als daß sie weise wäre, und in der zuviel
+gedacht wird, als daß sie schön wäre. Wir können dich
+nicht entbehren. Und jetzt tätest du besser, dich anzuziehen
+und in den Klub zu fahren. Wir kommen ohnehin schon
+zu spät.“</p>
+
+<p>„Ich meine, ich treffe dich lieber in der Oper, Harry.
+Ich bin zu müde, um etwas zu essen. Welche Nummer
+hat die Loge deiner Schwester?“</p>
+
+<p>„Siebenundzwanzig, glaub' ich, sie liegt im ersten Rang.
+Du findest ihren Namen an der Tür. Aber es tut mir
+leid, daß du nicht mit essen kommst.“</p>
+
+<p>„Ich bin nicht aufgelegt dazu,“ sagte Dorian zerstreut,
+„aber ich bin dir sehr dankbar für alles, was du zu mir
+gesagt hast. Du bist wirklich mein bester Freund. Niemand
+hat mich je richtiger verstanden als du.“</p>
+
+<p>„Wir stehen erst am Anfang unserer Freundschaft, Dorian“,
+erwiderte Lord Harry und schüttelte ihm die Hand.
+„Adieu! Ich hoffe, dich vor halb zehn zu sehen. Vergiß
+nicht: die Patti singt.“</p>
+
+<p>Als sich die Tür hinter ihm schloß, klingelte Dorian
+Gray, und nach ein paar Minuten erschien Viktor mit den
+Lampen und ließ die Vorhänge herab. Er wartete ungeduldig,
+daß der Diener wieder verschwände. Der Mann
+schien eine unglaubliche Zeit für alles zu gebrauchen.</p>
+
+<p>Sobald er wieder draußen war, stürzte Dorian auf den
+Schirm zu und schob ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich
+nicht wieder verändert. Es hatte die Nachricht von Sibyl
+Vanes Tod erhalten, bevor er selbst davon gewußt hatte.
+Es kannte die Ereignisse des Lebens, sobald sie sich ereigneten.<a class="pagenum" name="Page_162" title="162"> </a>
+Dieser Zug böser Grausamkeit, der die feinen Linien
+des Mundes verunstaltete, war zweifellos im Augenblick
+aufgetaucht, als das Mädchen das Gift genommen hatte.
+Oder kümmerte sich das Bild nicht um die Wirkungen
+einer Tat? Nahm es nur von Vorgängen in der Seele
+Kenntnis? Er hätte es gar zu gern gewußt und hoffte,
+eines Tages solche Wandlung vor seinen Augen geschehen
+zu sehen, und er schauderte, während er es hoffte.</p>
+
+<p>Die arme Sibyl! Wie sonderbar romantisch alles gewesen
+war! Sie hatte oft den Tod auf der Bühne dargestellt.
+Dann hatte sie der Tod selbst gepackt und weggeholt.
+Wie mochte sie die grauenvolle letzte Szene gespielt haben?
+Hatte sie ihn im Sterben verflucht? Nein; sie war aus
+Liebe zu ihm gestorben, und die Liebe sollte ihm von jetzt
+ab immer ein Heiligtum bleiben. Sie hatte alles gebüßt
+durch das Opfer ihres Lebens. Er wollte nicht mehr
+daran denken, was er ihretwegen an jenem schrecklichen
+Theaterabend durchgemacht hatte. Wenn er an sie dachte,
+sollte es sein wie an eine wundersam tragische Gestalt, die
+auf die Weltbühne gestellt worden war, um die höchste
+Verwirklichung der Liebe zu künden. Eine wundersam tragische
+Gestalt? Tränen traten ihm in die Augen, als er
+sich ihres kindlichen Aussehens, ihrer fröhlichen, phantastischen
+Art, ihrer scheuen, zaghaften Anmut entsann. Er
+verscheuchte alles hastig und blickte wieder auf das Porträt.</p>
+
+<p>Er fühlte, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, zu
+wählen. Oder war die Wahl schon getroffen? Ja, das
+Leben hatte für ihn entschieden &mdash; das Leben und seine
+unermeßliche Neugier auf das Leben. Ewige Jugend,<a class="pagenum" name="Page_163" title="163"> </a>
+unerschöpfliche Leidenschaft, ausgesuchte, geheimnisvolle
+Genüsse, wilde Freuden und noch wildere Sünden &mdash; all
+das sollte er haben. Das Bildnis sollte die Last seiner
+Schmach tragen: das war alles.</p>
+
+<p>Ein peinliches Gefühl beschlich ihn, als er an die Entweihung
+dachte, die dieses schönen Gesichtes auf der Leinwand
+harrte. Einmal hatte er in knabenhafter Parodie
+des Narzissus die gemalten Lippen, die ihn jetzt so grausam
+anlächelten, geküßt oder doch zum Schein geküßt.
+Morgen für Morgen hatte er vor dem Bild gesessen und
+seine Schönheit angestaunt; zu Zeiten kam es ihm vor,
+als sei er in sein eigenes Bild verliebt. Sollte es sich nun
+wandeln mit jeder Laune, der er nachgab? Sollte es
+ein ungeheuerliches, widerliches Ding werden, das man im
+verhängten Winkel verschließen müsse vor dem Glanz der
+Sonne, der so oft das lockige Wunder seines Haares noch
+goldiger hatte aufleuchten lassen? Wie schade! Wie schade!</p>
+
+<p>Einen Augenblick dachte er daran, zu beten, daß die
+entsetzliche Beziehung zwischen ihm und dem Bilde aufhören
+möge. Es hatte sich verwandelt, da er darum gebeten
+hatte; es könnte vielleicht, wenn er darum bäte,
+auch wieder unverändert bleiben. Und doch, wer, der eine
+Ahnung vom Leben hat, würde die Möglichkeit, immer
+jung zu bleiben, aufgeben, mochte die Möglichkeit noch so
+phantastisch und mit noch so verhängnisreichen Folgen verknüpft
+sein? Überdies, stand es wirklich in seiner Macht?
+War wirklich das Gebet die Ursache der Verwandlung?
+Konnte es für die ganze Sache nicht irgendeine merkwürdige
+wissenschaftliche Ursache geben? Wenn das Denken<a class="pagenum" name="Page_164" title="164"> </a>
+eine Wirkung auf einen lebenden Organismus ausüben
+konnte, konnte da nicht das Denken auch auf tote unorganische
+Dinge Einfluß haben? Ja, konnten nicht ohne
+Gedanken und bewußte Wünsche Dinge eingreifen, die
+ganz außerhalb unserer Person stehen, im Einklange mit
+unseren Launen und Leidenschaftsanfällen erzittern, konnte
+nicht Atom zu Atom sprechen in geheimer Neigung oder
+seltsamer Verwandtschaft? Aber schließlich waren die Ursachen
+gleichgültig. Er wollte durch Gebet nie wieder eine
+schreckliche Macht versuchen. Wenn das Bildnis sich wandeln
+wollte, so sollte es sich wandeln. Das war einmal
+so. Warum zu tief in ein Geheimnis eindringen?</p>
+
+<p>Allerdings müßte es ein starker Genuß sein, solchen Vorgang
+zu beobachten. Er würde befähigt werden, seinem
+Geist in geheime Schlupfwinkel zu folgen. Dies Bild sollte
+ihm der zauberhafteste Spiegel werden. Wie es ihm seinen
+Körper geoffenbart hatte, so sollte es ihm nun die Seele
+enthüllen. Und wenn der Winter über das Gemälde
+hereinbrach, dann stand er immer noch da, wo der Frühling
+schwankt, ob er die zum Sommer führende Schwelle
+überschreiten soll. Wenn das Blut aus seinem Antlitz fortschliche
+und eine kreidebleiche Maske mit stummen Augen
+zurückließe, dann bewahrte er immer noch den Glanz des
+Säuglingsalters. Keine Blüte seiner Lieblichkeit sollte
+jemals welken. Kein Pulsschlag seines Lebens jemals
+erlahmen. Wie die Götter der Griechen würde er stark
+und behend und heiter bleiben. Was lag daran, was aus
+dem gemalten Abbild auf der Leinwand wurde? Er selbst
+war seiner sicher. Darauf kam alles an.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_165" title="165"> </a></p>
+
+<p>Er schob den Schirm wieder auf den alten Platz vor dem
+Bilde und lächelte, indem er es tat. Dann ging er in sein
+Schlafzimmer, wo sein Diener schon auf ihn wartete. Eine
+Stunde später war er in der Oper, und Lord Harry
+beugte sich über seinen Stuhl.</p>
+
+<h2><a name="Neuntes_Kapitel" id="Neuntes_Kapitel"></a>Neuntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat
+Basil Hallward ins Zimmer.</p>
+
+<p>„Ich bin so froh, daß ich dich treffe, Dorian“, sagte er
+ernsten Tons. „Ich war gestern abend hier, und man
+sagte mir, daß du in der Oper seist. Ich wußte natürlich,
+daß es ja unmöglich ist. Aber es wäre mir lieber gewesen,
+du hättest ein Wörtchen hinterlassen, wo du wirklich
+warst. Ich habe eine schreckliche Nacht verbracht, und fürchtete
+halb, daß eine Tragödie der anderen folgen würde.
+Ich meine, du hättest mir wohl depeschieren können, so wie
+du die Nachricht erhieltst. Ich hab' es durch Zufall im
+letzten Abendblatt des Globe gelesen, das mir im Klub
+in die Hände geriet. Ich eilte sofort hierher und war unglücklich,
+dich nicht zu Hause anzutreffen. Ich kann dir
+gar nicht sagen, wie tief mir die ganze Sache ins Herz
+schneidet. Ich weiß, was du leiden mußt. Aber wo warst
+du denn? Bist du hingegangen, um die Mutter des Mädchens
+zu sehen? Einen Moment dachte ich daran, dir dorthin
+zu folgen. In der Zeitung stand die Adresse. Irgendwo
+in Euston Road, nicht wahr? Aber ich hatte Angst,<a class="pagenum" name="Page_166" title="166"> </a>
+zudringlich zu sein in einem Schmerze, wo ich doch nicht abhelfen
+konnte. Die arme Frau! In was für einem Zustand
+muß sie sein! Und dazu ihr einziges Kind! Was hat sie zu
+all dem gesagt?“</p>
+
+<p>„Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?“ sagte
+Dorian Gray, nippte etwas hellgelben Wein aus einem
+reizenden bauchigen venezianischen Glase, das mit Goldperlen
+inkrustiert war, und sah ganz unwillig aus. „Ich
+war in der Oper. Du hättest auch hinkommen sollen. Ich
+habe dort Harrys <ins title="Schwester">Schwester,</ins> Lady Gwendolen, kennengelernt.
+Wir waren in ihrer Loge. Sie ist ein bezauberndes
+Weib; und die Patti hat göttlich gesungen. Sprich nicht
+von schrecklichen Dingen! Wenn man über eine Sache
+nicht spricht, ist sie nicht geschehen. Nur was man äußert,
+sagt Harry, gibt den Dingen ihre Wirklichkeit. Erwähnen
+möcht' ich aber, daß sie nicht das einzige Kind der Frau
+war. Es ist noch ein Sohn da, ein famoser Junge vermutlich.
+Aber er ist nicht beim Theater. Matrose oder so was
+ähnliches. Und jetzt erzähle mir was von dir, was malst
+du?“</p>
+
+<p>„Du warst in der Oper?“ sagte Hallward gedehnt, und
+seine Stimme war gepreßt vor Schmerz. „Du warst in der
+Oper, während Sibyl Vane tot in irgendeiner schmutzigen
+Stube lag? Du kannst mir von anderen bezaubernden
+Weibern erzählen, und daß die Patti göttlich gesungen
+hat, noch ehe das Mädchen, das du geliebt hast, die Ruhe
+des Grabes gefunden hat, darin sie schlafen soll? Mensch,
+bedenke doch, welche Schrecknisse auf den kleinen weißen
+Körper warten!“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_167" title="167"> </a></p>
+
+<p>„Hör' auf, Basil, ich will davon nichts hören!“ rief
+Dorian und sprang auf. „Du darfst mir über diese Dinge
+nichts sagen. Was geschehen ist, ist geschehen, was vergangen
+ist, ist vergangen.“</p>
+
+<p>„Nennst du gestern die Vergangenheit?“</p>
+
+<p>„Was hat die wirklich verstrichene Zeit damit zu tun?
+Nur seichtes Volk braucht Jahre, um ein Gefühl zu überwinden.
+Ein Mensch, der Herr über sich selbst ist, kann
+einen Schmerz ebenso leicht überwinden, wie er einen
+Genuß entdecken kann. Ich will nicht der Spielball meiner
+Empfindungen sein. Ich will sie ausnützen, mich an ihnen
+freuen und sie beherrschen.“</p>
+
+<p>„Dorian, es ist schauderhaft! Irgend etwas hat dich
+ganz verändert. Du siehst noch genau so aus wie der
+wunderhübsche Junge, der Tag für Tag in mein Atelier
+kam, um für mein Bild zu sitzen. Aber damals warst du
+einfacher, natürlich und herzlich. Du warst das unverdorbenste
+Menschenkind auf der ganzen Welt. Ich weiß
+nicht, was jetzt über dich gekommen ist. Du sprichst, als
+hättest du kein Herz, kein Mitleid in dir. Das ist Harrys
+Einfluß. Ich sehe es.“</p>
+
+<p>Der junge Mensch wurde rot, ging ans Fenster, sah ein
+paar Augenblicke auf den grün schimmernden, von der
+Sonne betupften Garten. „Ich schulde Harry sehr viel, sehr
+viel, Basil,“ sagte er schließlich &mdash; „mehr als ich dir schulde.
+Du hast mir nur Eitelkeit beigebracht.“</p>
+
+<p>„Ich bin bestraft worden dafür, Dorian &mdash; oder werde
+es eines Tages sein.“</p>
+
+<p>„Ich weiß nicht, was du meinst, Basil“, rief Dorian<a class="pagenum" name="Page_168" title="168"> </a>
+aus und drehte sich um. „Ich weiß nicht, was du willst.
+Was willst du?“</p>
+
+<p>„Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt
+habe“, sagte der Künstler traurig.</p>
+
+<p>„Basil,“ erwiderte der Jüngling, trat vor ihn hin und
+legte ihm die Hand auf die Schulter, „du bist zu spät
+gekommen. Als ich gestern hörte, daß sich Sibyl Vane
+getötet habe &mdash; &mdash;“</p>
+
+<p>„Sich getötet! Gott im Himmel! ist das ganz sicher?“
+schrie Hallward und stierte ihn mit dem Ausdruck äußersten
+Schreckens an.</p>
+
+<p>„Mein lieber Basil! Du glaubst doch nicht, daß es nur
+ein gewöhnlicher Unglücksfall war? Natürlich hat sie sich
+selbst getötet.“</p>
+
+<p>Der ältere Mann vergrub sein Gesicht in den Händen.
+„Wie schrecklich!“ flüsterte er und ein Schauer durchrann
+ihn.</p>
+
+<p>„Nein,“ sagte Dorian Gray, „es ist gar nichts Schreckliches
+daran. Es ist eine der größten romantischen Tragödien
+unserer Zeit. In der Regel führen Schauspieler das
+alltäglichste Leben. Sie sind gute Ehemänner oder treue
+Ehefrauen oder sonst irgendwas Langweiliges. Du verstehst,
+was ich meine &mdash; hausbackene Tugend und lauter
+solche Dinge. Wie anders war Sibyl! Sie lebte ihre beste
+Tragödie. Sie war immer eine Heldin. Am letzten Abend,
+wo sie spielte &mdash; an dem Abend, wo du sie gesehen hast &mdash;,
+spielte sie schlecht, weil sie die Liebe als Wirklichkeit
+erkannt hatte. Als sie ihre Unwirklichkeit erfuhr, starb
+sie, wie Julia daran gestorben wäre. Sie entschwand<a class="pagenum" name="Page_169" title="169"> </a>
+wieder in das Reich der Kunst. Sie umschwebt etwas von
+einer Märtyrerin. Ihr Tod hat all die pathetische Nutzlosigkeit
+der Märtyrerschaft, all seine vergeudete Schönheit.
+Aber wie gesagt, du brauchst nicht zu glauben, daß
+ich nicht gelitten hätte. Wenn du gestern in einem bestimmten
+Augenblick, etwa um halb sechs oder um drei Viertel
+sechs gekommen wärst &mdash; dann hättest du mich in Tränen
+aufgelöst gefunden. Selbst Harry, der hier war und mir
+erst die Nachricht brachte, hat keine Ahnung, was ich
+durchgemacht habe. Ich litt namenlos. Dann ging es vorüber.
+Ich kann das Gefühl nicht wiederholen. Niemand
+kann das, sentimentale Menschen ausgenommen. Und du
+bist furchtbar ungerecht, Basil. Du kommst hierher, um
+mich zu trösten. Das ist gut und lieb von dir. Du findest
+mich getröstet und bist wütend. So sieht dein Mitgefühl
+aus! Du erinnerst mich an eine Geschichte, die mir Harry
+über einen Philantropen erzählt hat, der sich zwanzig
+Jahre seines Lebens damit abquälte, irgendeinen Mißstand
+aus der Welt zu schaffen oder ein ungerechtes Gesetz
+abzuändern &mdash; ich kann mich nicht mehr genau erinnern.
+Schließlich gelang es ihm, und nichts konnte größer sein als
+seine Enttäuschung. Er hatte nun absolut nichts mehr zu
+tun, starb beinah vor Langerweile und wurde ein unversöhnlicher
+Menschenhasser. Und außerdem, mein lieber, alter
+Basil, wenn du mich wirklich trösten wolltest, so lehre mich
+lieber vergessen, was geschehen ist, oder lehre mich's
+von rein künstlerischer Seite ansehen. War es nicht Gautier,
+der gern über die ‚<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">consolation des arts</span>‛ geschrieben
+hat? Ich erinnere mich, daß mir mal in deinem Atelier<a class="pagenum" name="Page_170" title="170"> </a>
+ein kleines Buch in Pergamentband in die Hand fiel, und
+ich darin auf diesen entzückenden Ausdruck stieß. Nun, ich
+bin ja nicht wie der junge Mann, von dem du mir einmal
+in Marlow erzählt hast, und der zu sagen pflegte, gelber
+Atlas könne einen über alles Elend im Leben hinwegtrösten.
+Ich liebe schöne Dinge, die man in die Hand nehmen
+und angreifen kann. Alter Brokat, grünpatinierte
+Bronzen, Lackarbeiten, Elfenbeinschnitzereien, eine erlesene
+Zimmerkunst, Luxus, Prunk, das sind alles Dinge, die
+einem viel geben können. Aber die künstlerische Seelenstimmung,
+die sie erzeugen oder mindestens offenbaren,
+bedeutet mir doch noch mehr. Ein Zuschauer seines eigenen
+Lebens sein, wie Harry sagt, das heißt, den Schmerzen
+des Lebens entrinnen. Ich weiß, du bist erstaunt, daß ich
+so zu dir spreche. Du hast noch nicht bemerkt, wie ich mich
+entwickelt habe. Ich war ein Schulknabe, als du mich
+kennenlerntest. Jetzt bin ich ein Mann. Ich habe neue
+Leidenschaften, neue Gedanken, neue Vorstellungen. Ich
+bin anders, aber du mußt mich trotzdem nicht weniger lieb
+haben. Ich bin verändert, aber du mußt immer mein
+Freund bleiben. Natürlich habe ich Harry sehr gern. Aber
+ich weiß auch, daß du besser bist als er. Du bist nicht
+stärker &mdash; dazu ängstigst du dich zu viel vorm Leben &mdash;
+aber du bist besser. Und wie glücklich waren wir doch miteinander!
+Verlaß mich nicht, Basil, und zanke nicht mit
+mir. Ich bin, was ich bin. Mehr kann ich dazu nicht
+sagen.“</p>
+
+<p>Der Maler war seltsam bewegt. Der junge Mensch war
+ihm unsagbar teuer, und seine Erscheinung war der große<a class="pagenum" name="Page_171" title="171"> </a>
+Wendepunkt in seiner Kunst gewesen. Er konnte den Gedanken
+nicht ertragen, ihm noch weitere Vorwürfe zu
+machen. Am Ende war seine Gleichgültigkeit nur eine vorübergehende
+Laune. Es steckte ja soviel Gutes, soviel Edles
+in ihm.</p>
+
+<p>„Gut, Dorian,“ sagte er endlich mit einem wehmütigen
+Lächeln, „ich will von heut an nie wieder über diese furchtbare
+Sache sprechen. Ich hoffe nur, dein Name wird
+nicht in Verbindung damit genannt. Die Leichenschau
+soll heute nachmittag stattfinden. Bist du vorgeladen?“</p>
+
+<p>Dorian schüttelte den Kopf, und eine unangenehme
+Empfindung glitt bei dem Wort „Leichenschau“ über sein
+Gesicht. In all diesen Dingen lag etwas so Rohes und Gemeines.
+„Sie kennen meinen Namen nicht“, antwortete er.</p>
+
+<p>„Aber sie wußte ihn doch?“</p>
+
+<p>„Nur meinen Vornamen, und den hat sie gewiß niemand
+gesagt. Sie erzählte mir einmal, daß alle sehr begierig
+seien, zu erfahren, wer ich sei und daß sie ihnen
+beständig sage, ich heiße der Prinz Märchenschön. Das war
+hübsch von ihr. Du mußt mir eine Zeichnung von Sibyl
+machen, Basil. Ich möchte von ihr gern etwas mehr
+haben als die Erinnerung an ein paar Küsse und einige
+gestammelte pathetische Worte.“</p>
+
+<p>„Ich will versuchen, etwas zu machen, Dorian, wenn ich
+dir damit eine Freude bereite. Aber du mußt zu mir
+kommen und mir selbst wieder sitzen. Ich komme ohne dich
+nicht vom Fleck.“</p>
+
+<p>„Ich kann dir nie wieder sitzen, Basil. Das ist unmöglich!“
+rief Dorian und schrak zurück.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_172" title="172"> </a></p>
+
+<p>Der Maler starrte ihn an. „Mein lieber Junge, was für
+ein Unsinn“, rief er. „Willst du damit sagen, daß du mein
+Bild nicht gut findest? Wo ist es? Warum hast du den
+Wandschirm vorgestellt? Laß es mich sehen. Es ist die
+beste Arbeit, die ich je gemacht habe. Nimm den Schirm
+weg, Dorian! Es ist eine Schande, daß dein Bedienter
+mein Bild so versteckt. Ich merkte gleich, wie ich eintrat,
+daß das Zimmer ganz verändert sei.“</p>
+
+<p>„Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Du
+glaubst doch nicht etwa, daß ich ihm irgendeine Anordnung
+in meinem Zimmer überlasse? Er ordnet zuweilen
+meine Blumen &mdash; das ist alles. Nein, ich habe es selbst
+getan. Das Licht war zu stark für das Bild.“</p>
+
+<p>„Zu stark? Gewiß nicht, mein Lieber. Es hat einen untadeligen
+Platz. Laß mich's mal sehen!“ und Hallward
+schritt in die Zimmerecke.</p>
+
+<p>Ein Schrei des Entsetzens entrang sich den Lippen
+Dorian Grays, und er stürzte sich zwischen den Maler und
+den Schirm. „Basil,“ sagte er und sah ganz bleich aus,
+„du darfst es nicht sehen. Ich will es nicht.“</p>
+
+<p>„Mein eigenes Bild nicht sehen? Du meinst das doch
+nicht im Ernst! Warum soll ich es nicht sehen?“ rief Hallward
+lachend.</p>
+
+<p>„Wenn du versuchst, es anzusehen, Basil, gebe ich dir
+mein Ehrenwort, daß ich, solange ich lebe, nie wieder ein
+Wort mit dir spreche. Es ist mein völliger Ernst. Ich gebe
+keine Erklärung, und du wirst um keine bitten. Aber denke
+daran, wenn du diesen Wandschirm anrührst, dann ist
+alles aus zwischen uns!“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_173" title="173"> </a></p>
+
+<p>Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Dorian
+Gray ganz verblüfft an. So hatte er ihn vorher nie gesehen.
+Der Jüngling war wirklich ganz bleich vor Zorn.
+Seine Hände waren zusammengeballt, und die Pupillen
+seiner Augen sahen aus wie blaue Feuerräder. Er zitterte
+am ganzen Leibe.</p>
+
+<p>„Dorian!“</p>
+
+<p>„Sprich nicht!“</p>
+
+<p>„Aber was ist los? Ich sehe das Bild natürlich nicht
+an, wenn du es nicht willst“, sagte der Maler ziemlich kühl,
+drehte sich um und ging zum Fenster hinüber. „Aber es
+scheint mir wahrhaftig ganz verrückt, daß ich mein eigenes
+Werk nicht sehen soll, besonders, wo ich es im Herbst in
+Paris ausstellen will. Ich werde es wahrscheinlich vorher
+nochmals firnissen müssen, werde es also eines Tages doch
+gewiß sehen, also warum nicht heute?“</p>
+
+<p>„Es ausstellen? Du willst es ausstellen?“ rief Dorian
+Gray, den ein seltsames Angstgefühl überkam. Sollte alle
+Welt sein Geheimnis erfahren? Sollte das Volk das Geheimnis
+seines Lebens begaffen? Das war unmöglich.
+Irgend etwas &mdash; er wußte noch nicht was &mdash; mußte
+sofort geschehen.</p>
+
+<p>„Ja, ich denke nicht, daß du etwas dagegen haben wirst.
+Georges Petit will nächstens meine besten Bilder für eine
+Sonderausstellung in der Rue de Sèze sammeln, die in der
+ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll. Das Bild wird
+nur einen Monat lang weg sein. Ich meine, solange könntest
+du es leicht entbehren. Du bist ohnehin während dieser
+Zeit nicht in der Stadt. Und wenn du es überhaupt hinter<a class="pagenum" name="Page_174" title="174"> </a>
+einem Schirm versteckt halten willst, kann dir ja nicht viel
+daran gelegen sein.“</p>
+
+<p>Dorian Gray fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
+Schweißtropfen standen darauf. Er fühlte, daß er am
+Rande einer fürchterlichen Gefahr stehe. „Du hast mir vor
+einem Monat gesagt, du würdest es nie ausstellen“, rief er.
+„Warum hast du dich anders entschlossen? Ihr Leute,
+die ihr viel Aufhebens von der Konsequenz macht, habt
+genau soviel Launen wie andere. Der einzige Unterschied
+ist der, daß eure Launen wenig Sinn haben. Du kannst
+nicht vergessen haben, daß du mir feierlichst versichert hast,
+nichts in der Welt könne dich bewegen, das Bild auf eine
+Ausstellung zu bringen. Du sagtest zu Harry ganz dasselbe.“
+Er stockte plötzlich, und ein Glanz erwachte in seinen
+Augen. Er erinnerte sich, daß ihm Lord Harry einmal
+halb ernst und halb scherzend gesagt hatte: Willst du mal
+eine merkwürdige Viertelstunde erleben, dann laß dir von
+Basil sagen, warum er dein Porträt nicht ausstellen will.
+Er hat mir den Grund erzählt, und es war für mich eine
+Offenbarung. Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis.
+Er wollte ihn fragen und auf die Probe stellen.</p>
+
+<p>„Basil,“ sagte er, und trat ganz dicht zu ihm heran
+und sah ihm fest ins Gesicht, „jeder von uns hat ein Geheimnis.
+Sage mir das deine, und ich laß dich meines
+wissen. Was für einen Grund hattest du, die Ausstellung
+meines Bildes zu verweigern?“</p>
+
+<p>Der Maler erschauderte, ohne daß er es wollte. „Dorian,
+wenn ich es dir sagte, hättest du mich wahrscheinlich weniger
+lieb und würdest mich gewiß auslachen. Keines von beiden<a class="pagenum" name="Page_175" title="175"> </a>
+könnte ich ertragen. Wenn du willst, daß ich nie mehr dein
+Bild ansehen soll, dann geb' ich mich zufrieden. Ich kann
+dich selbst ja immer ansehen. Wenn du die beste Arbeit,
+die ich je gemacht habe, vor der Welt versteckt halten willst,
+soll es mir recht sein. Deine Freundschaft ist mir mehr
+wert als Ruhm und Anerkennung.“</p>
+
+<p>„Nein, Basil, du mußt es mir sagen. Ich glaube, ich
+habe ein Recht, es zu wissen.“ Sein Angstgefühl hatte ihn
+verlassen, und Neugier war an dessen Stelle getreten. Er
+war entschlossen, hinter Basil Hallwards Geheimnis zu
+kommen.</p>
+
+<p>„Setzen wir uns, Dorian“, sagte der Maler, der verwirrt
+aussah. „Setzen wir uns und beantworte mir eine
+Frage. Hast du an dem Bild etwas Merkwürdiges bemerkt?
+&mdash; etwas, das dir vielleicht anfänglich nicht aufgefallen
+ist, was sich dir dann aber plötzlich enthüllte?“</p>
+
+<p>„Basil!“ schrie der Jüngling, umklammerte die Armlehnen
+seines Stuhles mit zitternden Händen und starrte
+ihn mit wilden, verstörten Augen an.</p>
+
+<p>„Ich sehe, du hast es bemerkt. Sage nichts. Warte, bis
+du gehört hast, was ich zu sagen habe. Dorian, von dem
+Augenblick an, wo ich dich kennengelernt habe, übte deine
+Persönlichkeit den außerordentlichsten Einfluß auf mich aus.
+Ich war beherrscht von dir, meine Seele, mein Gehirn,
+meine ganze Kraft war es. Du wurdest für mich die sichtbare
+Verkörperung des unsichtbaren Ideals, dessen Bild
+uns Künstler wie ein köstlicher Traum verfolgt. Ich habe
+dich angebetet. Ich wurde eifersüchtig auf jeden Menschen,
+mit dem du sprachst. Ich wollte dich ganz für mich allein<a class="pagenum" name="Page_176" title="176"> </a>
+haben. Ich war nur glücklich, wenn ich mit dir zusammen
+war. Wenn du fort von mir warst, lebtest du trotzdem
+in meiner Kunst weiter... Natürlich ließ ich dich nie etwas
+davon wissen. Das wäre unmöglich gewesen. Du hättest
+es nicht verstanden. Ich selbst hab' es kaum verstanden. Ich
+wußte nur, daß ich Auge in Auge die Vollkommenheit gesehen
+hatte und daß sich die Welt meinen Augen als ein
+Wunder erschlossen hatte &mdash; vielleicht als ein zu mächtiges
+Wunder, denn in so wahnsinniger Anbetung liegt eine Gefahr,
+die Gefahr, daß die Anbetung aufhört, und die Gefahr,
+daß sie bleibt... Wochen und Wochen verstrichen,
+und ich ging immer mehr und mehr in dir verloren. Dann
+kam ein neues Stadium. Ich hatte dich als Paris in strahlender
+Rüstung gemalt und als Adonis im Jägergewand
+mit blitzendem Speer. Mit schweren Lotusblüten bekränzt
+hast du auf dem Bug von Hadrians Barke gesessen und in
+den grünen, schlammigen Nil geblickt. Du hast dich über
+das stille Gewässer einer griechischen Waldlandschaft gelehnt
+und im stummen Silberspiegel das Wunder deines
+eigenen Antlitzes gesehen. Und es war alles gewesen, wie
+die Kunst sein soll, unbewußt, ideal und entrückt. Eines
+Tages, manchmal denke ich, eines verhängnisvollen Tages,
+entschloß ich mich, ein wundervolles Bildnis von dir zu
+malen, wie du wirklich bist, nicht im Kostüm toter Zeiten,
+sondern in deiner eigenen Tracht und deiner eigenen Zeit.
+Ob es nun die Realistik der Methode war, oder der Zauber
+deiner eigenen Persönlichkeit, der mir so ohne jeden
+Schleier und Nebel entgegentrat, kann ich nicht sagen. Aber
+ich weiß, daß mir bei der Arbeit jede Schicht Farben mein<a class="pagenum" name="Page_177" title="177"> </a>
+Geheimnis zu enthüllen schien. Ich ängstigte mich, andere
+könnten die Abgötterei, die ich mit dir trieb, entdecken. Ich
+fühlte, Dorian, daß ich zuviel gesagt, daß ich zuviel von
+mir selber hineingelegt hatte. Damals beschloß ich, das
+Bild nie auszustellen. Es kränkte dich ein wenig, aber damals
+verstandest du eben nicht, was es für mich bedeutete;
+Harry, dem ich davon erzählte, lachte mich aus. Aber das
+machte mich nicht irrig. Als das Bild fertig war, und ich
+allein vor ihm dasaß, fühlte ich, daß ich recht hatte...
+Schön, ein paar Tage später, als es mein Atelier verlassen,
+und ich alsbald den unerträglichen Zauber seiner
+Gegenwart überwunden hatte, schien es mir, daß es verrückt
+von mir gewesen war, mehr darin zu sehen, als
+daß du sehr hübsch seist, und ich wohl malen könne. Selbst
+jetzt kann ich nicht umhin, zu fühlen, daß es ein Irrtum sein
+muß, wenn man glaubt, daß die Begeisterung, die man
+beim Schaffen hat, in dem Werke, das man schafft, leibhaftig
+zum Ausdruck käme. Die Kunst ist immer abstrakter,
+als wir uns einbilden. Form und Farbe erzählen uns von
+Form und Farbe &mdash; weiter nichts. Es scheint mir oft,
+daß die Kunst den Künstler viel mehr verbirgt als offenbart.
+Und als ich dann den Antrag aus Paris bekam, entschloß
+ich mich, dein Bild zum Hauptstück meiner Ausstellung
+zu machen. Es fiel mir nie ein, daß du es nicht
+zulassen würdest. Ich sehe jetzt, daß du recht hast. Das Bild
+darf nicht ausgestellt werden. Du mußt mir nicht böse sein,
+Dorian, wegen der Dinge, die ich gesagt habe. Ich habe
+früher einmal Harry gesagt, du bist dazu geschaffen, angebetet
+zu werden.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_178" title="178"> </a></p>
+
+<p>Dorian Gray atmete tief auf. Seine Wangen bekamen
+wieder Farbe, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Die
+Gefahr war vorbei. Für den Augenblick war er gerettet.
+Doch er mußte unendliches Mitleid fühlen mit dem Maler,
+der ihm eben diese seltsame Beichte abgelegt hatte, und
+er fragte sich, ob er selbst jemals so stark von der Persönlichkeit
+eines Freundes beherrscht werden könnte. Lord
+Henry hatte den Reiz, sehr gefährlich zu sein. Aber das
+war alles. Er war zu klug und zu zynisch, als daß man ihn
+wirklich lieben könnte. Würde es je einen Menschen geben,
+den er merkwürdig abgöttisch anbeten könnte? War das
+eines von den Dingen, die ihm das Leben noch aufsparte?</p>
+
+<p>„Es ist mir wirklich ein reines Rätsel,“ sagte Hallward,
+„daß du das dem Porträt angesehen haben willst. Hast
+du es wirklich gesehen?“</p>
+
+<p>„Ich habe etwas darin gesehen,“ antwortete er, „etwas,
+das mir sehr sonderbar vorkam.“</p>
+
+<p>„Und jetzt hast du wohl nichts mehr dawider, es einmal
+zu betrachten?“</p>
+
+<p>Dorian schüttelte den Kopf. „Das darfst du von mir
+nicht verlangen, Basil. Es ist mir unmöglich, dich vor dem
+Bilde stehen zu sehen.“</p>
+
+<p>„Aber doch ein andermal?“</p>
+
+<p>„Nie!“</p>
+
+<p>„Schön, vielleicht hast du recht. Und jetzt adieu, Dorian.
+Du bist der einzige Mensch in meinem Leben gewesen, der
+wirklichen Einfluß auf meine Kunst ausgeübt hat. Was ich
+je Gutes gemacht habe, danke ich dir. Ach! Du kannst dir<a class="pagenum" name="Page_179" title="179"> </a>
+nicht vorstellen, was es mich gekostet hat, dir all das zu
+sagen, was ich gesagt habe.“</p>
+
+<p>„Mein lieber Basil,“ sagte Dorian, „was hast du mir
+denn gesagt? Nichts, als daß du das Gefühl habest, mich
+zu sehr zu bewundern. Das ist nicht einmal ein Kompliment.“</p>
+
+<p>„Es sollte auch kein Kompliment sein. Es war eine
+Beichte. Jetzt, da ich sie abgelegt habe, kommt es mir so
+vor, als ob ich etwas verloren hätte. Man sollte seiner
+Verehrung niemals das Kleid der Worte umhängen.“</p>
+
+<p>„Deine Beichte hat mich enttäuscht.“</p>
+
+<p>„Ja, was hast du denn erwartet, Dorian? Du hast doch
+nicht sonst noch etwas in dem Bilde gesehen? Es war doch
+nicht sonst noch etwas anderes zu sehen?“</p>
+
+<p>„Nein, es war sonst nichts anderes zu sehen. Warum
+fragst du? Aber du solltest nicht von Verehrung sprechen.
+Das ist Narrheit. Du und ich, wir sind Freunde,
+Basil, und müssen es immer bleiben.“</p>
+
+<p>„Du hast jetzt Harry“, sagte der Maler traurig.</p>
+
+<p>„Oh, Harry!“ rief der junge Mann mit einem fröhlichen
+Lachen. „Harry verbringt seine Tage damit, unglaubliche
+Dinge zu sagen, und seine Abende, unwahrscheinliche Dinge
+zu tun. Das ist genau die Art Leben, das ich führen möchte.
+Immerhin glaube ich nicht, daß ich je zu Harry ginge, wenn
+mich Kummer drückte. Ich würde eher zu dir kommen.“</p>
+
+<p>„Du willst mir wieder sitzen?“</p>
+
+<p>„Unmöglich!“</p>
+
+<p>„Du vernichtest meine künstlerische Existenz, wenn du
+dich weigerst. Kein Mensch begegnet zwei Idealen. Wenige
+finden eines.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_180" title="180"> </a></p>
+
+<p>„Ich kann es dir nicht erklären, Basil, aber ich darf dir
+nie wieder sitzen. Es schwebt etwas Verhängnisvolles um
+das Bildnis eines Menschen. Es hat ein Leben für sich.
+Ich werde zu dir kommen und mit dir Tee trinken, das
+wird ebenso hübsch <ins title="sein.">sein.“</ins></p>
+
+<p>„Für dich hübscher, fürchte ich“, sagte Hallward bekümmert
+vor sich hin. „Und jetzt adieu. Es tut mir leid,
+daß du mich nicht noch einmal das Bild sehen lassen
+wolltest. Aber dabei ist nichts zu tun. Ich verstehe sehr
+gut, was du dabei fühlst.“</p>
+
+<p>Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte sich Dorian
+Gray zu. Der arme Basil! Wie wenig ahnte der doch von
+dem wahren Grunde! Und wie seltsam es war, daß er es,
+statt sein eigenes Geheimnis offenbaren zu müssen, fast
+durch einen Zufall erreicht hatte, dem Freunde das seine
+zu entreißen. Wie viel erklärte ihm doch diese merkwürdige
+Beichte! Die unverständlichen Eifersuchtsanfälle des Malers,
+seine ungestüme Verehrung, seine übertriebenen Lobeshymnen,
+sein sonderbares Verstummen &mdash; das alles verstand
+er jetzt, und er tat ihm leid. Einer Freundschaft,
+die so stark von Romantik gefärbt war, schien ihm eine
+gewisse Tragik inne zu wohnen.</p>
+
+<p>Er seufzte und drückte auf die Klingel. Das Porträt
+mußte um jeden Preis versteckt werden. Er konnte sich
+nicht ein zweitesmal der Gefahr solcher Entdeckung aussetzen.
+Es war wahnsinnig von ihm gewesen, das Ding da
+überhaupt nur eine Stunde lang in einem Zimmer zu
+lassen, zu dem jeder seiner Freunde Zutritt hatte.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_181" title="181"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Zehntes_Kapitel" id="Zehntes_Kapitel"></a>Zehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Als sein Bedienter eintrat, sah er ihn forschend an und
+fragte sich, ob es ihm wohl schon eingefallen sei, hinter
+den Schirm zu blicken. Der Mann sah aber ganz harmlos
+aus und wartete auf seine Befehle. Dorian zündete sich
+eine Zigarette an, ging zum Spiegel hinüber und sah
+hinein. Er konnte Viktors Gesicht darin genau sehen. Es
+war eine reglose Maske der Unterwürfigkeit. Daher war
+nichts zu fürchten, daher nicht. Doch er hielt es für das
+beste, auf der Hut zu sein.</p>
+
+<p>In sehr leisem Tone trug er ihm auf, die Haushälterin
+herein zu rufen und dann zum Einrahmer zu gehen, damit
+er sofort zwei Gehilfen schicke. Es schien ihm, daß die
+Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, in die
+Richtung des Schirmes gingen. Oder war das nur Einbildung
+von ihm?</p>
+
+<p>Nach einigen Augenblicken trat Frau Leaf in ihrem
+schwarzseidenen Kleid, altmodische Zwirnhandschuhe auf
+den runzligen Händen, in die Bibliothek. Er verlangte von
+ihr den Schlüssel zum Schulzimmer.</p>
+
+<p>„Das alte Schulzimmer, Herr Dorian!“ rief sie aus.
+„Ei, das ist ja voller Staub. Es muß erst hergerichtet und
+in Ordnung gebracht werden, bevor Sie hinein können.
+Es ist jetzt nicht in einem Zustand, daß Sie es sehen könnten,
+gnädiger Herr. Wirklich nicht.“</p>
+
+<p>„Es braucht nicht hergerichtet zu werden, gute Leaf.
+Ich will nur den Schlüssel.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_182" title="182"> </a></p>
+
+<p>„Aber gnädiger Herr, Sie werden sich voller Spinnweben
+machen, wenn Sie hineingehen. Ei, es ist ja beinah
+seit fünf Jahren nicht geöffnet worden, seit seine Gnaden
+gestorben sind.“</p>
+
+<p>Er zuckte zusammen bei der Erwähnung seines Großvaters.
+Er hatte nur gehässige Erinnerungen an ihn. „Das
+macht nichts“, erwiderte er. „Ich will das Zimmer nur
+sehen &mdash; das ist alles. Geben Sie mir den Schlüssel.“</p>
+
+<p>„Hier ist schon der Schlüssel, gnädiger Herr“, sagte die
+alte Dame, die ihren Schlüsselbund mit zitternden, unsicheren
+Händen durchmustert hatte. „Hier ist der Schlüssel,
+ich werde ihn gleich vom Bund haben. Aber Sie denken
+doch nicht daran, dort hinaufzuziehen, gnädiger Herr,
+wo Sie es hier so gemütlich haben?“</p>
+
+<p>„Nein, nein!“ rief er ungeduldig. „Ich danke, gute
+Leaf. Ich brauche sonst nichts.“</p>
+
+<p>Sie verweilte noch ein paar Augenblicke und wollte über
+irgendeine Angelegenheit in der Haushaltung zu quengeln
+anfangen. Er seufzte und sagte, sie solle alles so erledigen,
+wie sie es fürs beste halte. Mit strahlendem Gesichte verließ
+sie das Zimmer.</p>
+
+<p>Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel
+in die Tasche und blickte sich im Zimmer um. Sein
+Auge fiel auf eine große purpurne Atlasdecke mit schweren
+Goldstickereien, ein köstliches Stück venezianischer Arbeit
+vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein Großvater
+in einem Kloster nahe bei Bologna aufgestöbert
+hatte. Ja, die paßte trefflich, um das schreckliche Ding
+damit zu verhüllen. Sie hatte vielleicht oft als Bahrtuch<a class="pagenum" name="Page_183" title="183"> </a>
+für Tote gedient. Jetzt sollte sie etwas verhüllen, das eine
+eigene Art Verwesung in sich hatte, eine ärgere als die
+Verwesung des Todes &mdash; etwas, das Schrecknisse ausbrüten
+und doch nie sterben würde. Was Würmer für
+einen Leichnam sind, das würden seine Sünden für das
+gemalte Antlitz auf der Leinwand werden. Sie würden
+seine Schönheit zerstören und seine Anmut wegfressen.
+Sie würden es beflecken und schänden. Und doch würde
+das Bild weiterleben. Es würde immer am Leben
+bleiben.</p>
+
+<p>Er schauderte, und einen Augenblick lang tat es ihm
+leid, daß er Basil nicht den wahren Grund gesagt habe,
+warum er das Bild verstecken wolle. Basil hätte ihm helfen
+können, sowohl dem Einfluß Lord Henrys zu widerstehen,
+als auch den noch viel giftigeren Einflüssen, die aus seiner
+eigenen Natur herrührten. Die Liebe, die Basil für ihn
+hegte &mdash; denn es war wirklich Liebe &mdash;, schloß nichts ein,
+was nicht edel und vergeistigt wäre. Es war nicht jene
+rein physische Bewunderung, die eine Geburt der Sinne
+ist und mit der Ermüdung der Sinne hinstirbt. Es war
+eine Liebe, wie sie Michelangelo gekannt hatte und Montaigne
+und Winkelmann und auch Shakespeare. Ja, Basil
+hätte ihn retten können. Aber jetzt war es zu spät. Die
+Vergangenheit konnte immer vernichtet werden. Reue,
+Verleugnung oder Vergessenheit konnten das bewirken.
+Aber die Zukunft war unabwendlich. Er hatte Leidenschaften
+in sich, die ihr fürchterliches Ausfalltor bei ihm
+finden wurden, Träume, die ihre sündigen Schatten zur
+Wirklichkeit umwandeln würden.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_184" title="184"> </a></p>
+
+<p>Er griff nach dem großen Überwurf aus Purpur und
+Gold, der den Diwan bedeckte, hob ihn mit beiden Händen
+auf und ging damit hinter den Schirm. War das Gesicht
+auf der Leinwand jetzt häßlicher als vorher? Es erschien
+ihm unverändert; und doch, sein Abscheu davor
+war noch verstärkt. Goldiges Haar, blaue Augen, rosenrote
+Lippen &mdash; das war alles da. Nur der Ausdruck hatte
+sich verwandelt. Der war erschreckend in seiner Grausamkeit.
+Im Vergleich zu den Vorwürfen und der Rüge, die
+er in dem Bilde sah, wie nichtssagend waren da Basils
+Vorhaltungen über Sibyl Vane gewesen &mdash; nichtssagend
+und belanglos! Seine eigene Seele sah ihn an aus der
+Leinwand und forderte ihn vors Gericht. Ein schmerzlicher
+Zug legte sich über sein Gesicht, und er warf die prunkvolle
+Sofadecke über das Bild. Während er dies tat, klopfte
+es an die Tür. Er kam hinter dem Wandschirm hervor, als
+sein Bedienter eintrat.</p>
+
+<p>„Die Leute sind da, Monsieur.“</p>
+
+<p>Er hatte das Gefühl, daß er den Mann jetzt los werden
+müsse. Er durfte nicht wissen, wohin das Bild sollte. Er
+hatte etwas Listiges an sich und nachdenkliche, verräterische
+Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch, kritzelte ein paar
+Zeilen hin an Lord Henry, worin er bat, ihm etwas zum
+Lesen zu schicken, und worin er ihn daran erinnerte, daß
+sie sich um viertel neun heut abend treffen wollten.</p>
+
+<p>„Warten Sie auf Antwort,“ sagte er, indem er ihm
+den Brief übergab, „und lassen Sie die Leute herein.“</p>
+
+<p>Nach zwei bis drei Minuten klopfte es wieder, und Herr
+Hubbard, der berühmte Rahmenfabrikant aus South<a class="pagenum" name="Page_185" title="185"> </a>
+Audley Street, trat mit einem struwwelig aussehenden
+Gehilfen herein. Herr Hubbard war ein blühend aussehender,
+rotbäckiger, kleiner Mann, dessen Bewunderung für
+die Kunst beträchtlich vermindert worden war durch den
+althergebrachten Geldmangel bei den meisten Künstlern,
+die mit ihm zu tun hatten. In der Regel verließ er seine
+Werkstatt nie. Er wartete, bis die Leute zu ihm kamen.
+Aber bei Dorian Gray machte er immer eine Ausnahme.
+Es war etwas an Dorian, was jeden entzückte. Ihn nur
+zu sehen, das war schon ein Vergnügen.</p>
+
+<p>„Was steht zu Ihren Diensten, Herr Gray?“ fragte er
+und rieb seine fetten, sommersprossigen Hände. „Ich
+dachte, ich wollte mir selbst die Ehre geben, herüberzukommen.
+Ich habe gerade ein Prachtstück von Rahmen da.
+Bei einer Auktion ergattert. Alt-Florentiner. Stammt
+aus Fonthill, vermute ich. Wundervoll geeignet für einen
+religiösen Gegenstand, Herr Gray.“</p>
+
+<p>„Es tut mir leid, daß Sie sich selbst herbemüht haben,
+Herr Hubbard. Ich werde gern mal vorbeikommen und
+den Rahmen ansehen &mdash; obwohl ich mich gerade jetzt nicht
+sehr für religiöse Kunst interessiere &mdash; aber heute möchte
+ich nur ein Bild auf den Boden getragen haben. Es ist
+ziemlich schwer, deshalb dachte ich mir, daß Sie so gut
+wären, mir zwei von Ihren Leuten zu leihen.“</p>
+
+<p>„Hat gar nichts zu sagen, Herr Gray. Freue mich,
+wenn ich Ihnen den kleinsten Dienst leisten kann. Wo ist
+das Kunstwerk, gnädiger Herr?“</p>
+
+<p>„Dies da“, antwortete Dorian und schob den Schirm zurück.
+„Können Sie es so hinaufbringen, wie es jetzt ist,<a class="pagenum" name="Page_186" title="186"> </a>
+Decke und Bild zusammen? Ich möchte nicht, daß es die
+Treppen hinauf zerschrammt wird.“</p>
+
+<p>„Das werden wir leicht kriegen“, sagte der muntere
+Rahmenmacher und begann mit Hilfe von seinem Gesellen
+das Bild von den langen Messingketten loszumachen, an
+denen es aufgehängt war. „Und wo soll es jetzt hingebracht
+werden, Herr Gray?“</p>
+
+<p>„Ich will Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn
+Sie so gut sein wollen, mir nur zu folgen. Oder vielleicht
+gehen Sie lieber voraus. Es tut mir leid, aber es ist ganz
+oben. Wir wollen über die Vordertreppe gehen, die ist
+breiter.“</p>
+
+<p>Er hielt ihnen die Tür auf, und sie gingen in den Vorraum
+hinaus und fingen an, hinaufzusteigen. Die ausladenden
+Verzierungen des Rahmens hatten das Bild sehr
+umfangreich gemacht, und hin und wieder legte Dorian mit
+Hand an, um ihnen zu helfen, trotz den unterwürfigen
+Einwänden des Herrn Hubbard, der die lebhafte Abneigung
+des wirklichen Handwerkers gegen jede nützliche Beschäftigung
+eines vornehmen Herrn hatte.</p>
+
+<p>„Da hat man ein ziemliches Gewicht zu schleppen“,
+pustete der kleine Mann, als sie den letzten Treppenabsatz
+erreicht hatten. Und er trocknete sich die glänzende Stirn.</p>
+
+<p>„Es tut mir leid, daß es so schwer ist“, murmelte Dorian,
+während er die Tür zu dem Zimmer aufschloß, das
+dieses sonderbare Geheimnis seines Lebens aufbewahren
+und seine Seele vor den Blicken der Menschheit schützen
+sollte.</p>
+
+<p>Er hatte die Stube wohl länger als vier Jahre nicht<a class="pagenum" name="Page_187" title="187"> </a>
+betreten &mdash; in Wirklichkeit nicht, seitdem sie ihm in seiner
+Kindheit zuerst als Spielzimmer, und dann, als er etwas
+älter war, als Studierzimmer gedient hatte. Es war ein
+großer Raum von schönen Verhältnissen, den der verstorbene
+Lord Kelso eigens zur Benutzung für seinen
+kleinen Enkel angebaut hatte, den er wegen seiner fabelhaften
+Ähnlichkeit mit seiner Mutter und auch noch aus
+anderen Gründen immer gehaßt hatte und möglichst
+weit weg von sich haben wollte. Der Raum schien Dorian
+wenig verändert. Da war der mächtige italienische Cassone
+mit den phantastisch bemalten Füllungen und den abgenutzten
+goldenen Ornamenten, in dem er sich als Junge
+oft versteckt hatte. Da stand der polierte Bücherschrank
+aus Satinholz mit seinen Schulbüchern voll Eselsohren.
+An der Wand darüber hing noch derselbe zerfaserte flämische
+Gobelin, auf dem ein verblichener König und eine
+Königin in einem Garten Schach spielten, während ein
+Trupp von Falkenieren vorbeiritt, die auf ihren Panzerhandschuhen
+Vögel mit kappenverhüllten Köpfen trugen.
+Wie gut er sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner
+vereinsamten Kindheit kam ihm vors Gedächtnis, während
+er sich umsah. Er entsann sich der fleckenlosen Reinheit
+seines Knabenlebens, und es schien ihm furchtbar,
+daß gerade hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen
+werden sollte. Wie wenig hatte er in diesen längst verrauschten
+Tagen von alledem geahnt, was seiner warten
+sollte!</p>
+
+<p>Aber kein anderer Ort im ganzen Hause war so sicher
+vor neugierigen Augen als dieser. Er hatte den Schlüssel,<a class="pagenum" name="Page_188" title="188"> </a>
+und jetzt konnte niemand weiter hinein. Hinter dem purpurnen
+Bahrtuch konnte nun das gemalte Gesicht auf der
+Leinwand tierisch, gedunsen und lasterhaft werden. Was
+lag daran? Niemand konnte es sehen. Er selbst wollte es
+nicht sehen. Warum sollte er die gräßliche Verwesung
+seiner Seele verfolgen? Er behielt seine Jugend &mdash; das
+mußte genügen. Und übrigens, konnte sein Wesen trotz
+allem nicht edler werden? Es war kein Grund vorhanden,
+daß die Zukunft so angefüllt von Lastern sein müsse. Die
+Liebe konnte in sein Leben treten und ihn läutern und
+ihn vor den Sünden beschützen, die ihm schon in Geist
+und Blut zu gähren schienen &mdash; diese seltsamen, nicht
+gemalten Sünden, deren Unbekanntheit ihnen eben den
+Reiz und die Verführung lieh. Eines Tages vielleicht
+verschwand der grausame Zug von dem empfindlichen
+Scharlachmund, und dann würde er der Welt Basil
+Hallwards Meisterwerk zeigen können.</p>
+
+<p>Nein, das war unmöglich. Stunde für Stunde und
+Woche für Woche alterte das Antlitz auf der Leinwand.
+Es mochte den Greueln der Sünde entfliehen, aber die
+Greuel des Alters mußten es einholen. Die Wangen
+müssen hohl oder schlaff werden. Gelbe Krähenfüße müssen
+sich um die glanzlosen Augen herumringeln und sie fürchterlich
+machen. Das Haar mußte seinen Glanz verlieren,
+der Mund klaffen oder einfallen, blöde oder gewöhnlich
+aussehen, wie eben der Mund alter Leute aussieht. Der
+Hals mußte verschrumpfen, die Hände mußten kalt und von
+blauen Adern durchzogen werden, der Körper mußte sich
+krümmen, wie er ihn bei seinem Großvater gesehen hatte,<a class="pagenum" name="Page_189" title="189"> </a>
+der so streng gegen ihn gewesen war in der Knabenzeit.
+Das Bildnis mußte verborgen bleiben. Da konnte nichts
+helfen.</p>
+
+<p>„Bitte, Herr Hubbard, bringen Sie es herein“, sagte
+er abgespannt und wandte sich um. „Es tut mir leid, daß
+ich Sie so lange aufhielt. Ich dachte gerade nach über
+etwas.“</p>
+
+<p>„Immer angenehm, sich mal verschnaufen zu können,
+Herr Gray“, antwortete der Rahmenmacher, der noch
+immer nach Luft schnappte. „Wo sollen wir es hinstellen?“</p>
+
+<p>„Ach, irgendwo. Vielleicht hierher: da wird's gut
+stehen. Ich will's nicht aufgehängt haben. Lehnen Sie es
+nur gegen die Wand. Danke!“</p>
+
+<p>„Darf man das Kunstwerk mal ansehen?“</p>
+
+<p>Dorian erschrak. „Es würde Sie nicht interessieren, Herr
+Hubbard“, sagte er und sah den Mann fest an. Er fühlte
+sich imstande, auf ihn loszustürzen und ihn zu Boden zu
+werfen, wenn er es wagen sollte, die schimmernde Hülle
+zu lüften, die das Geheimnis seines Lebens barg. „Ich will
+Sie nicht länger aufhalten. Schönsten Dank, daß Sie so
+freundlich waren, herüberzukommen.“</p>
+
+<p>„Kein Anlaß, kein Anlaß, Herr Gray! Es ist mir
+immer ein Vergnügen, für Sie etwas tun zu dürfen.“</p>
+
+<p>Und Herr Hubbard stapfte die Treppe hinab, sein
+Gehilfe hinterher, der noch einmal nach Dorian zurückblickte,
+mit einem Ausdruck scheuer Bewunderung in dem unschönen
+Alltagsgesicht. Er hatte nie einen Menschen gesehen,
+der so wunderhübsch war.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_190" title="190"> </a></p>
+
+<p>Als das Geräusch ihrer Fußtritte verklungen war,
+schloß Dorian die Tür zu und steckte den Schlüssel in die
+Tasche. Jetzt fühlte er sich gleichsam gerettet! Nie würde
+jemand das Schrecknis sehen. Kein Auge als seines würde
+mehr seine Schande erblicken.</p>
+
+<p>Als er wieder in die Bibliothek kam, sah er, daß es
+gerade fünf Uhr war und daß der Tee schon bereit stand.
+Auf einem kleinen Tisch aus dunklem, wohlriechendem
+Holz, das reich mit Perlmutter ausgelegt war, einem
+Geschenk der Frau seines Vormundes, Lady Radley, einer
+hübschen Kranken von Beruf und Gewohnheit, die den vergangenen
+Winter in Kairo zugebracht hatte, lag ein
+Briefchen von Lord Henry und daneben ein Buch in
+gelbem, leicht abgenutztem und an den Ecken nicht mehr
+ganz sauberem Umschlag. Ein Exemplar der dritten Tagesausgabe
+der St.-James-Gazette lag auf dem Teebrett.
+Offenbar war Viktor zurückgekehrt. Er fragte sich, ob
+er wohl die Leute in der Vorhalle getroffen hätte, als
+sie das Haus verließen, und ob er sie ausgeforscht hätte,
+was sie getan hätten. Er würde sicher das Bild vermissen
+&mdash; hatte es ohne Zweifel schon vermißt, als er den Teetisch
+zurecht machte. Der Schirm war noch nicht an seinen
+Platz zurückgestellt worden, und der leere Raum an der
+Wand war auffallend. Vielleicht würde er ihn eines Nachts
+ertappen, wie er hinaufschlich und die Tür des Bodenzimmers
+zu sprengen versuchte. Es war schrecklich, einen
+Spion im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten
+gehört, die ihr ganzes Leben hindurch von den Erpressungen
+eines Bedienten ausgesaugt wurden, der mal irgendeinen<a class="pagenum" name="Page_191" title="191"> </a>
+Brief gelesen oder ein Gespräch mitangehört oder
+eine Karte mit einer Adresse gefunden oder unter einem
+Kissen eine verwelkte Blume oder einen Fetzen zerknitterter
+Spitze entdeckt hatte.</p>
+
+<p>Er seufzte, goß sich etwas Tee ein und öffnete Lord
+Henrys Billett. Es stand nur darin, daß er ihm die
+Abendzeitung schicke und ein Buch, das ihn vielleicht
+interessieren werde, und daß er ihn um Viertel neun im
+Klub zu treffen hoffe. Er öffnete langsam die St.-James
+und durchflog sie. Ein Strich mit Rotstift auf der fünften
+Seite fiel ihm auf. Er machte auf die folgende Notiz
+aufmerksam:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Leichenschau einer Schauspielerin.</em> Eine
+gerichtliche Untersuchung wurde heute morgen von Herrn
+Danby, dem Bezirks-Leichenbeschauer in der Bell Tavern,
+Hoxton Road, über den Leichnam von Sibyl
+Vane, einer jungen Schauspielerin, die seit kurzem am
+Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten.
+Es wurde auf Tod durch einen Unglücksfall erkannt.
+Reges Mitgefühl erweckte die Mutter der Verblichenen,
+die während ihrer Aussage und der des <span class="antiqua">Dr.</span> Birrel,
+der die Obduktion der Leiche vorgenommen hatte, ihrem
+Schmerz erschütternden Ausdruck gab.“</p></blockquote>
+
+<p>Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt, lief im Zimmer
+auf und ab und warf die Papierfetzen weg. Wie
+häßlich das alles war! Und was für eine schreckliche
+Wirklichkeit die Häßlichkeit allem gab! Er ärgerte sich
+ein wenig über Lord Henry, daß er ihm den Bericht geschickt
+hatte. Und sicher war es albern von ihm, ihn mit<a class="pagenum" name="Page_192" title="192"> </a>
+Rotschrift anzustreichen. Viktor konnte ihn gelesen haben.
+Der Mann verstand dafür mehr als genug Englisch.</p>
+
+<p>Vielleicht hatte er ihn schon gelesen und angefangen,
+Verdacht zu schöpfen. Und wenn schon, was lag daran?
+Was hatte Dorian Gray mit Sibyl Vanes Tod zu tun?
+Es war kein Grund zur Furcht. Dorian Gray hatte sie
+nicht getötet.</p>
+
+<p>Sein Auge fiel auf das gelbe Buch, das ihm Lord
+Henry geschickt hatte. Er war gespannt, was es sein mochte.
+Er trat an den kleinen perlfarbenen, achteckigen Hocker,
+der ihm immer wie das Werk seltsamer ägyptischer Bienen
+vorgekommen war, die ihre Waben in Silber trieben,
+nahm den Band zur Hand, warf sich in einen Lehnsessel
+und begann zu blättern. Nach einigen Augenblicken kam
+er nicht mehr davon los. Es war das merkwürdigste Buch,
+das er je gelesen hatte. Es schien ihm, als zögen in erlesenen
+Prachtgewändern und zum Klange von Flöten
+die Sünden der Welt in stummem Reigentanze an ihm
+vorbei. Dinge, die er bestimmt geträumt hatte, wurden
+plötzlich zur Wirklichkeit. Dinge, von denen er vag geträumt
+hatte, wurden ihm mählich enthüllt.</p>
+
+<p>Es war ein Roman ohne rechte Handlung, der sich um
+einen einzigen Charakter drehte, eigentlich eine bloße
+psychologische Studie über einen gewissen jungen Pariser,
+der sein Leben mit dem Versuche hinbrachte, im neunzehnten
+Jahrhundert alle Leidenschaften und Wandlungen
+der Denkungsart in Wirklichkeit umzusetzen, die jedem
+Jahrhundert, außer seinem eigenen, angehört hatten,
+und so die verschiedenartigen psychischen Zustände, die<a class="pagenum" name="Page_193" title="193"> </a>
+irgend einmal die Weltseele durchgemacht hatte, in sich
+selbst gewissermaßen zu vereinigen, indem er jene Entsagungen,
+die die Menschen in ihrer Torheit Tugend genannt
+haben, ihrer bloßen Künstlichkeit wegen ebenso
+heftig liebte wie jene Empörungen gegen die Natur, die
+weise Menschen noch immer Sünden nennen. Der Stil, in
+dem das Buch geschrieben war, bestand in jener sonderbaren,
+reich geschmückten Diktion, die lebendig und dunkel
+zugleich ist, von Argotausdrücken und archaistischen Wendungen,
+von technischen Ausdrücken und sorgsam gefeilten
+Umschreibungen strotzt, wie sie die Arbeiten einiger der
+feinsten Künstler aus der französischen Symbolistenschule
+kennzeichnet. Es waren Metaphern darin, so abenteuerlich
+an Form wie Orchideen und auch so fein angehaucht
+wie deren Farbentöne. Das Leben der Sinne war mit
+einer Terminologie mystischer Philosophie beschrieben. Man
+wußte manchmal kaum, ob man von den vergeistigten
+Entzückungen eines mittelalterlichen Heiligen las oder die
+krankhaften Beichtbekenntnisse eines modernen Sünders.
+Es war ein Buch voll Gift. Ein dicker Weihrauchnebel
+schien über den Seiten zu schweben und sein Gehirn zu
+betäuben. Schon der melodische Fall der Sätze, die gesuchte
+Monotonie ihrer Musik mit der Fülle von komplizierten
+Refrains und Taktgefügen, die sich in der raffiniertesten
+Weise wiederholten, erzeugten im Geist des
+Jünglings, als er von Kapitel zu Kapitel weiterlas, eine
+Art Träumerei, ja eine förmliche Krankheit des Träumens,
+so daß er den sinkenden Tag und die hereinkriechenden
+Schatten nicht merkte.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_194" title="194"> </a></p>
+
+<p>Wolkenlos, von den Strahlen keines einzigen Sternes
+durchstochen, glimmerte ein kupfergrüner Himmel durch die
+Fenster. Er las bei seinem matten Licht weiter, bis er
+nicht mehr lesen konnte. Nachdem ihn sein Diener mehrere
+Male an die späte Stunde erinnert hatte, stand er auf,
+ging ins Nebenzimmer, legte das Buch auf das Florentiner
+Tischchen, das immer neben seinem Bett stand, und begann
+sich zum Diner umzukleiden.</p>
+
+<p>Es war fast neun Uhr, als er im Klub ankam, wo er
+Lord Henry allein und sehr gelangweilt aussehend, im
+Frühstückszimmer sitzend, antraf.</p>
+
+<p>„Es tut mir zwar leid, Harry,“ rief er, „aber es ist
+nur deine Schuld. Das Buch, das du mir geschickt hast,
+hat mich wirklich so gefesselt, daß ich gar nicht merkte,
+wo die Zeit geblieben ist.“</p>
+
+<p>„Ja, ich dachte mir, daß es dir gefällt“, antwortete
+der Freund, sich vom Stuhle erhebend.</p>
+
+<p>„Ich habe nicht gesagt, daß es mir gefällt, Harry. Ich
+habe gesagt, es fesselte mich. Das ist ein großer Unterschied.“</p>
+
+<p>„Ah, das hast du entdeckt?“ sagte Lord Henry. Und
+sie gingen zusammen in den Speisesaal.</p>
+
+<h2><a name="Elftes_Kapitel" id="Elftes_Kapitel"></a>Elftes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Jahre hindurch konnte sich Dorian Gray von dem Einfluß
+dieses Buches nicht losmachen. Oder es wäre vielleicht
+richtiger zu sagen, er versuchte gar nicht, sich von<a class="pagenum" name="Page_195" title="195"> </a>
+ihm loszumachen. Er ließ sich aus Paris nicht weniger
+als neun Luxusexemplare der ersten Auflage kommen und
+ließ sie verschiedenfarbig einbinden, damit sie zu den
+wechselnden Launen und veränderlichen Stimmungen seiner
+Natur paßten, über die er bisweilen jede Herrschaft verloren
+zu haben schien. Der Held, der wunderbare junge
+Pariser, bei dem das romantische und das wissenschaftliche
+Temperament so merkwürdig vermischt waren, wurde
+für ihn eine Art vorbildlicher Idealgestalt seiner selbst.
+Und in der Tat schien ihm das ganze Buch die Geschichte
+seines Lebens zu enthalten, aufgeschrieben, bevor er selbst
+es gelebt hatte.</p>
+
+<p>In einer Beziehung aber war er glücklicher als der
+phantastische Romanheld. Er kannte nie &mdash; hatte in der
+Tat auch nie einen Grund dazu &mdash; das beinahe groteske
+Grauen vor Spiegeln und polierten Metallflächen und
+unbewegten Wassern, das den jungen Pariser so früh im
+Leben überkam und das durch den jähen Verfall einer
+Schönheit verursacht war, die allem Anschein nach vorher
+ganz außerordentlich gewesen sein mußte. Mit einer fast
+grausamen Lust &mdash; und vielleicht liegt in jeder Lust,
+wie gewißlich in jedem Genuß, Grausamkeit &mdash; pflegte er
+den zweiten Teil des Buches zu lesen mit dem wirklich
+tragischen, wenn auch etwas übertrieben geschilderten Bericht
+von den Leiden und der Verzweiflung eines Menschen,
+der selbst verloren hatte, was er an anderen und an der
+Welt am höchsten schätzte.</p>
+
+<p>Denn die wundervolle Schönheit, die Basil Hallward
+so gefesselt hatte und manchen anderen auch, schien ihn nie<a class="pagenum" name="Page_196" title="196"> </a>
+zu verlassen. Selbst jene, die die häßlichsten Dinge über
+ihn gehört hatten &mdash; und von Zeit zu Zeit schlichen seltsame
+Gerüchte über seine Lebensweise durch London und
+wurden das Gespräch der Klubs &mdash; konnten, wenn sie ihn
+sahen, nichts glauben, was ihm hätte zur Unehre gereichen
+können. Er sah immer aus wie einer, der sich in
+der Welt unbefleckt erhalten hatte. Männer, die sich anstößige
+Dinge erzählten, verstummten, wenn Dorian Gray
+ins Zimmer trat. In der Reinheit seines Antlitzes lag ein
+Etwas, das sie in Schranken hielt. Seine bloße Gegenwart
+schien in ihnen die Erinnerung an die Unschuld zu erwecken,
+die sie beschmutzt hatten. Sie staunten, daß ein
+so reizender und anmutiger Mensch wie er der Befleckung
+durch eine Zeit hatte entgehen können, die zugleich unsauber
+und sinnlich war.</p>
+
+<p>Oft, wenn er von einer der geheimnisvollen längeren
+Abwesenheiten zurückkehrte, die so merkwürdige Vermutungen
+bei seinen Freunden erregten oder bei jenen, die sich
+dafür hielten, so schlich er hinauf in die verschlossene Dachstube,
+öffnete die Tür mit dem Schlüssel, der ihn nun nie
+mehr verließ, und stand mit einem Handspiegel vor dem
+Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte,
+und sah bald auf das schändliche und gealterte Antlitz auf
+der Leinwand, bald auf das schöne, junge Gesicht, das ihn
+aus der glatten Spiegelfläche anlächelte. Gerade die Stärke
+dieses Kontrastes pflegte seine Lustempfindung zu erhöhen.
+Er verliebte sich mehr und mehr in seine eigene Schönheit
+und empfand mehr und mehr Teilnahme für die Verderbnis
+seiner eigenen Seele. Er untersuchte mit peinlicher<a class="pagenum" name="Page_197" title="197"> </a>
+Sorgsamkeit und manchmal mit ungeheuerlichem
+und schrecklichem Wonnegefühl die häßlichen Linien, die
+die runzlige Stirn durchfurchten oder sich um den üppigen
+sinnlichen Mund schlängelten, und fragte sich manchmal,
+ob wohl die Merkmale der Sünde schrecklicher seien oder
+die Spuren des Alters? Er legte seine weißen Hände
+neben die rohen, gedunsenen Hände des Bildes und lächelte.
+Er machte sich lustig über den verunstalteten Leib und die
+welkenden Glieder.</p>
+
+<p>Dann gab es in der Tat Augenblicke, nachts, wenn er
+schlaflos in seinem mild durchdufteten Zimmer lag oder in
+der schmuddeligen Stube der kleinen berüchtigten Kneipe
+nahe den Docks, die er unter einem angenommenen Namen
+und verkleidet zu besuchen pflegte, wo er mit einem
+Mitgefühl, das um so beklemmender war, als es einen
+rein ethischen Ursprung hatte, an das Elend dachte, das
+er über seine Seele gebracht hatte. Aber Augenblicke wie
+diese waren selten. Jene Neugier auf das Leben, die Lord
+Henry zuerst in ihm aufgestört hatte, als sie im Garten
+ihres Freundes nebeneinander saßen, schien mit ihrer Befriedigung
+nur zu wachsen. Je mehr er wußte, desto mehr
+wollte er wissen. Er hatte tolle Hungeranfälle, die immer
+ungestillter wurden, je mehr er sie nährte.</p>
+
+<p>Und doch war er nicht gerade liederlich geworden, wenigstens
+nicht in seinen Beziehungen zur Gesellschaft. Ein-
+oder zweimal in jedem Monat während des Winters und
+jeden Mittwochabend während der Saison öffnete er der
+Welt sein schönes Haus, und immer waren die berühmtesten
+Musiker da, um seine Gäste mit ihrer erlesenen Kunst<a class="pagenum" name="Page_198" title="198"> </a>
+zu begeistern. Seine kleinen Diners, bei deren Vorbereitung
+ihm Lord Henry immer half, waren ebensosehr wegen der
+sorgsamen Auswahl und Tischordnung der Eingeladenen
+berühmt, wie wegen des ausgesuchten Geschmackes, der
+sich in der Tafeldekoration mit ihren fein abgetönten, symphonischen
+Anordnungen exotischer Pflanzen, gestickter
+Decken und antiker Gold- und Silbergeräte aussprach.
+Tatsächlich gab es eine große Zahl, besonders von ganz
+jungen Menschen, die in Dorian Gray die vollkommene
+Verkörperung eines Typus sahen oder zu sehen wähnten,
+von dem sie oft in den Tagen von Eton oder Oxford geträumt
+hatten, eines Typus, der etwas von der wirklichen
+Bildung des Gelehrten mit der Anmut, Vornehmheit und
+den vollendeten Manieren eines Weltmannes vereinigte.
+Ihnen erschien er als einer aus jener Menschengruppe, von
+denen Dante sagt, „sie suchten sich durch die Anbetung
+der Schönheit zu vervollkommnen“. Gleich Gautier war
+er einer von denen, „für die die sichtbare Welt da war“.</p>
+
+<p>Und gewiß war für ihn das Leben die erste, die größte
+Kunst, und alle übrigen Künste schienen nur die Vorschule
+dazu. Natürlich übte auch die Mode, durch die das
+wirklich Phantastische einen Augenblick lang Allgemeingut
+wird, und das Dandytum, das auf seine Weise einen
+Versuch bildet, eine absolut moderne Art von Schönheit
+zu verkörpern, ihren Reiz auf ihn aus. Seine Art, sich zu
+kleiden, und die besonderen Stilabweichungen, die er von
+Zeit zu Zeit sehen ließ, hatten einen ausgesprochenen Einfluß
+auf die jungen Stutzer der Bälle in Mayfair und
+der Fenster des Pall-Mall-Klubs, die ihm in allem, was<a class="pagenum" name="Page_199" title="199"> </a>
+er tat, nachahmten und jede Exzentrizität aufgriffen, die
+seine Anmut erhöhte, aber ihm selbst nur teilweis ernst
+war.</p>
+
+<p>Denn er war nur zu leicht bereit, die Stellung anzunehmen,
+die ihm unmittelbar nach seiner Volljährigkeit
+geboten wurde, und er fand in Wahrheit einen besonderen
+Genuß in dem Gedanken, er könne für das London seiner
+Zeit das werden, was für das Rom des Kaisers Nero
+der Verfasser des „Satyrikon“ gewesen war, aber er
+wünschte doch im innersten Herzen mehr zu werden als ein
+arbiter elegantiarum, und nicht nur über das Tragen
+eines Schmuckstückes oder das Binden einer Krawatte oder
+die Haltung eines Spazierstockes befragt zu werden. Er
+suchte ein neues Schema für die Lebensführung zu entwerfen,
+das seine philosophische Grundlage und seine geordneten
+Prinzipien haben und in der Vergeistigung der
+Sinne seine höchste Vervollkommnung erreichen sollte.</p>
+
+<p>Die Pflege der Sinne ist oft und mit vielem Recht geschmäht
+worden, da die Menschen einen natürlichen, instinktiven
+Abscheu vor Leidenschaften und Empfindungen
+haben, die stärker scheinen als sie selbst und die sie mit
+weniger hoch organisierten Formen des Lebendigen gemein
+zu haben sich bewußt sind. Doch kam es Dorian Gray so
+vor, als ob die wahre Natur der Sinne noch nie verstanden
+worden sei und als ob sie nur deshalb wild und tierisch
+geblieben seien, weil die Welt versuchte, sie durch Hunger
+zur Unterwerfung zu bringen oder durch Schmerzen zu
+töten, statt bestrebt zu sein, sie zu Bestandteilen einer
+neuen geistigen Welt zu machen, in der ein edles Schönheitsbewußtsein<a class="pagenum" name="Page_200" title="200"> </a>
+die vorherrschende Triebfeder sein sollte.
+Wenn er auf den Gang der Menschen durch die Weltgeschichte
+zurückblickte, verfolgte ihn ein Gefühl des Verlustes.
+So vielem war entsagt worden und zu so geringem
+Zweck! Es hatte wahnsinnige freiwillige Entsagungen
+gegeben, ungeheuerliche Formen von Selbstquälerei und
+Selbstverleugnung, deren Ursprung die Furcht war und
+deren Ergebnis eine Erniedrigung von unsäglich schrecklicherer
+Art, als jene nur eingebildete Erniedrigung, vor
+der sie sich in ihrer Unwissenheit flüchten wollten, da die
+Natur in ihrer wunderbaren Ironie den Anachoreten
+hinausjagte, damit er sich in Gesellschaft der Bestien der
+Wüste nährte, und dem Einsiedler die Tiere des Feldes
+zu Gefährten gab.</p>
+
+<p>Ja: es mußte, wie Lord Henry prophezeit hatte, ein
+neuer Hedonismus kommen, um das Leben zu erneuern
+und es von jenem strengen, häßlichen Puritanertum zu erlösen,
+das in unseren Tagen seine sonderbare Auferstehung
+feierte. Gewiß, er würde dem Intellekt gehorsam sein
+müssen; aber niemals dürfte er eine Theorie oder ein
+System anerkennen, das irgendein leidenschaftliches Erlebnis
+zum Opfer forderte. Sein wahres Ziel sollte gerade
+die Erfahrung selbst sein und nicht die Früchte der Erfahrung,
+mochten sie nun so süß oder bitter sein, wie sie
+wollten. Von dem Asketentum, das die Sinne tötet, oder
+von der gewöhnlichen Ausschweifung, die sie abstumpft,
+würde er nichts wissen wollen. Aber er sollte die Menschen
+lehren, sich für die Momente des Lebens zu sammeln,
+da dieses selbst doch nur ein Moment ist.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_201" title="201"> </a></p>
+
+<p>Es gibt nur wenige unter uns, die nicht manchmal vor
+Tagesgrauen erwacht wären, entweder nach einer jener
+traumlosen Nächte, die uns den Tod lieben lassen, oder
+nach einer jener Nächte voll Schrecken und wollüstiger Albdrücken,
+wo durch die Kammern des Gehirns Gespenster
+flattern, die schrecklicher sind als die Wirklichkeit selbst
+und erfüllt sind von dem lebendigen Dasein, das in allem
+Grotesken lauert und das der gotischen Kunst ihre ewig
+lebendige Kraft gibt, weil gerade diese Kunst, wie man
+sagen möchte, die besondere Kunst jener ist, deren Geist
+durch die Krankheit von Fieberträumen verwirrt worden
+ist. Nach und nach strecken sich bleiche Finger zwischen den
+Vorhängen durch und scheinen zu erzittern. In schwarzen,
+abenteuerlichen Formen kriechen stumme Schatten in die
+Ecken des Zimmers und kauern dort nieder. Draußen regen
+sich die Vögel im Geblätter, oder man hört den Schritt
+der Menschen, die zur Arbeit gehen, oder das Heulen und
+Schluchzen des Windes, der von den Bergen kommt und
+das schweigsame Haus umwandert, als fürchte er, die
+Schläfer zu wecken, und müsse dennoch den Schlaf aus
+seiner purpurnen Höhle ans Licht rufen. Schleier nach
+Schleier aus feiner, dunkelfarbener Gaze heben sich, und
+allmählich erhalten die Dinge ihre Formen und Farben
+zurück, und wir sehen es mit an, wie die Frühdämmerung
+der Welt ihre alte Gestalt zurückgibt. Die verschwommenen
+Spiegel bekommen ihr Scheinleben zurück. Die lichtlosen
+Lampen stehen, wo wir sie gelassen haben, und neben ihnen
+liegt das halb aufgeschnittene Buch, darin wir gelesen, oder
+die verwelkte Blume, die wir auf dem Ball getragen, oder<a class="pagenum" name="Page_202" title="202"> </a>
+der Brief, den zu lesen wir uns gefürchtet oder den wir
+zu oft gelesen haben. Nichts scheint uns geändert. Aus
+den unwirklichen Schatten der Nacht tritt das wirkliche
+Leben hervor, das wir kannten. Wir haben es da wieder
+aufzunehmen, wo wir es unterbrochen haben, und uns
+beschleicht das fürchterliche Gefühl der Notwendigkeit, seine
+Energien weiter verbrauchen zu müssen in der gleichen ermüdenden
+Tretmühle stereotyper Gewohnheiten, oder vielleicht
+überschleicht uns eine wilde Sehnsucht, daß sich
+unsere Augen eines Morgens öffnen möchten für eine
+Welt, die im nächtigen Dunkel zu unserer Lust neu
+erschaffen worden sei, für eine Welt, in der die Dinge
+frische Linien und Farben hätten, verändert seien oder
+andere Geheimnisse bürgen, für eine Welt, in der die Vergangenheit
+nur einen unbedeutenden oder gar keinen
+Platz hätte oder wenigstens in keiner bewußten Form
+von Verpflichtung oder Reue weiterlebte, wo die Erinnerung
+selbst an die Freude ihre Bitterkeit enthält
+und dem Gedächtnis an den Genuß ein Schmerz beigemischt
+ist.</p>
+
+<p>Die Erschaffung solcher Welten schien für Dorian Gray
+der wahre Lebensinhalt oder wenigstens sein hauptsächlichster
+Inhalt zu bedeuten; und auf seiner Suche
+nach Sinnenerlebnissen, die zugleich neu und genußreich
+sein sollten und jenes Element der Seltsamkeit
+enthielten, die für die Romantik so wesentlich ist, eignete
+er sich oft gewisse Arten zu denken an, von denen ihm
+wohl bewußt war, daß sie seinem Wesen in Wirklichkeit
+fremd waren, gab sich ihren subtilen Einflüssen<a class="pagenum" name="Page_203" title="203"> </a>
+hin und verließ sie dann, wenn er sozusagen ihre Farbe
+in sich eingesogen und seine geistige Neugier befriedigt
+hatte, mit jener eigentümlichen Gleichgültigkeit,
+die nicht unvereinbar ist mit einem wirklich glühenden
+Temperament, und die in der Tat nach der Meinung
+gewisser moderner Psychologen oft eine Bedingung dafür
+ist.</p>
+
+<p>Einmal ging ein Gerücht von ihm, er wolle katholisch
+werden; und gewiß hatte der katholische Kult eine große
+Anziehungskraft für ihn. Das tägliche Meßopfer, das
+wirklich viel ehrfurchterweckender ist als alle Opfer der
+antiken Welt, regte ihn ebensosehr an durch seine prachtvolle
+Unbekümmertheit des sinnlichen Augenscheins wie
+durch die primitive Einfachheit seiner Elemente und das
+ewige Pathos der menschlichen Tragödie, die es zu symbolisieren
+versuchte. Er liebte es, auf das kalte Marmorpflaster
+hinzuknien und den Priester zu beobachten, der
+in seiner stimmungsvollen, blumengestickten Stola langsam
+und mit weißen Händen den Vorhang vom Tabernakel
+hinwegzog, oder die laternenförmige edelsteingeschmückte
+Monstranz in die Höhe hob, die jene blasse Hostie enthielt,
+von der man zuzeiten wirklich denken konnte, es sei der
+panis coelestis, das Brot der Engel, oder der, in die Gewänder
+der Christuspassion gehüllt, die Hostie in den
+Kelch tauchte und sich um seiner Sünden willen die Brust
+schlug. Die rauchenden Weihrauchkessel, die die ernsten
+Knaben in ihren Spitzen- und Scharlachmänteln in der
+Luft schwangen und die wie große, goldene Blumen aussahen,
+übten einen tiefen Zauber auf ihn aus. Wenn er<a class="pagenum" name="Page_204" title="204"> </a>
+hinaustrat, pflegte er staunend die dunkeln Beichtstühle
+anzublicken und empfand eine Sehnsucht, im düsteren
+Schatten eines solchen zu sitzen und den Männern und
+Frauen zu lauschen, die durch das abgenutzte Gitter die
+wahre Geschichte ihres Lebens flüsterten.</p>
+
+<p>Aber er verfiel nie dem Irrtum, seine geistige Entwicklung
+durch die förmliche Annahme irgendeines Glaubens
+oder Systems zu hindern oder irrtümlich ein Haus, in dem
+man leben konnte, gleichsam für eine Herberge zu halten,
+die nur zu kurzem Aufenthalt während einer Nacht oder
+nur für ein paar Stunden während einer Nacht taugt,
+wenn keine Sterne leuchten und der Mond im Wechsel
+begriffen ist. Die Mystik mit ihrer wunderbaren Kraft,
+uns gewöhnliche Dinge seltsam erscheinen zu lassen, und
+jene tiefe Ketzersucht, die sie immer zu begleiten scheint,
+reizte ihn eine Saison hindurch; und dann neigte er sich
+eine andere Saison hindurch wieder den materialistischen
+Lehren der Darwinistischen Bewegung in Deutschland zu
+und fand einen besonderen Genuß darin, die Gedanken und
+Leidenschaften der Menschen bis auf irgendeine perlgroße
+Zelle im Gehirn oder auf irgendeinen weißen Nerv im
+Körper zurückzuleiten, schwelgte förmlich in der Vorstellung
+einer absoluten Abhängigkeit des Geistes von gewissen
+physischen Bedingungen, mochten sie krankhaft oder gesund,
+normal oder pathologisch sein. Aber, wie schon früher
+von ihm berichtet wurde, so schien keine Lebenstheorie
+von irgendeiner Bedeutung für ihn, im Vergleich mit dem
+Leben selbst. Er war sich haarscharf bewußt, in welches
+Irrsal jede geistige Spekulation führen mußte, wenn sie<a class="pagenum" name="Page_205" title="205"> </a>
+von Handlung und Experiment getrennt ist. Er wußte,
+daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre geistigen
+Geheimnisse offenbaren mußten.</p>
+
+<p>Und so ergab er sich zeitweilig dem Studium der
+Wohlgerüche, bemühte sich um die Geheimnisse ihrer Bereitung,
+destillierte schwerduftende Öle und verbrannte
+wohlriechendes Gummi, das aus dem Orient stammte. Er
+erkannte, daß es keine Stimmung des Geistes gab, die nicht
+ihr Seitenstück im Leben der Sinne fand, und mühte sich,
+die wirkliche Beziehung zwischen beiden zu entdecken, um
+herauszuklügeln, weshalb der Weihrauch den Menschen
+mystisch stimmte, warum die Ambra die Leidenschaften aufstachele,
+woher der Veilchenduft die Erinnerung an <ins title="gegestorbene">gestorbene</ins>
+Romantik erwecke, wieso der Moschus das
+Gehirn verwirre, und wodurch der Tschampak die Phantasie
+beflecke: und so versuchte er manchmal, eine genaue
+Psychologie der Wohlgerüche auszuarbeiten und ihre verschiedenen
+Wirkungen zu bestimmen, zum Beispiel süßriechender
+Wurzeln, duftiger, samentragender Blüten, aromatischer
+Balsame, dunkler, starkriechender Hölzer, des
+Baldrians, der zum Erbrechen reizt, der Hovenia, die einen
+toll macht, und der Aloe, die imstande sein soll, die Schwermut
+aus der Seele zu verjagen.</p>
+
+<p>Ein andermal widmete er sich gänzlich der Musik und
+gab öfter Konzerte in einem langen, dämmerigen Saal,
+dessen Wände mit olivengrünem Lack überzogen waren,
+und dessen Decke aus einem rot und gold Muster bestand,
+wobei tolle Zigeuner kleinen Zithern wilde Musik entlockten
+oder ernste, in gelbe Tücher gehüllte Männer aus<a class="pagenum" name="Page_206" title="206"> </a>
+Tunis die gespannten Saiten seltsam großer Lauten zupften,
+während grinsende Neger eintönig auf kupferne Trommeln
+schlugen und schlankschmächtige, turbanbedeckte Inder
+auf scharlachroten Matten hockten und auf langen Rohr-
+oder Messingpfeifen bliesen und damit große Brillenschlangen
+oder schreckliche Hornvipern beschworen oder zu
+beschwören schienen. Die kreischenden Intervalle und die
+schrillen Mißtöne barbarischer Musik reizten ihn zuweilen,
+wenn Schuberts Lieblichkeit oder Chopins süßes Schmachten
+und die gewaltigen Harmonien des großen Beethoven
+machtvoll in sein Ohr schlugen. Aus allen Weltteilen
+sammelte er die merkwürdigsten Instrumente, die sich
+finden ließen, entweder in den Gräbern toter Völker oder
+unter den wenigen wilden Stämmen, die noch die Berührung
+mit der westlichen Kultur überlebt haben, und
+er liebte es, sie zu befühlen und zu verfügen. Er besaß das
+mysteriöse Juruparis der Rio-Negro-Indianer, das die
+Frauen nicht ansehen dürfen und selbst die jungen Männer
+erst dann, wenn sie vorher gefastet und sich gegeißelt haben,
+er besaß die irdenen Klappern der Peruaner, die den
+schrillen Ton des Vogelschreis wiedergeben, und Flöten
+aus Menschenknochen, wie sie Alfonso de Ovalle in Chile
+gehört hat, und die wohlklingenden grünen Jaspissteine,
+die bei Cuzco gefunden werden und einen Ton von eigentümlicher
+Süße hervorbringen. Er hatte bemalte, mit
+Kieselsteinen gefüllte Kürbisse, die beim Schütteln rasselten,
+er hatte die langen Zinken der Mexikaner, in die der
+Spieler nicht hineinbläst, sondern durch die er die Luft
+einatmet, das rauhe Ture der Amozonenstämme, das die<a class="pagenum" name="Page_207" title="207"> </a>
+Wachen ertönen lassen, wenn sie den ganzen Tag auf hohen
+Bäumen sitzen, und das, wie man sagt, auf eine Entfernung
+von drei Seemeilen gehört werden kann, das Teponaztli,
+das zwei zitternde Holzzungen hat und auf die
+man mit Stöcken schlägt, die mit einer Art elastischen Kautschuks
+eingesalbt werden, das aus dem milchigen Saft
+von Pflanzen gewonnen wird, er hatte die Yotlglocken
+der Azteken, die wie Trauben in Büscheln hängen, und
+eine große zylinderförmige Trommel, die bespannt ist mit
+den Häuten großer Schlangen gleich der, die Bernal Diaz
+sah, als er mit Cortez in den mexikanischen Tempel trat,
+und von deren wehklagendem Tone er uns eine so lebendige
+Schilderung hinterlassen hat. Das phantastische Wesen
+dieser Instrumente wirkte bezaubernd auf ihn, und er empfand
+einen seltsamen Genuß bei dem Gedanken, daß die
+Kunst wie die Natur ihre Ungeheuer hat, Dinge von tierischer
+Form und mit abscheulichen Stimmen. Aber nach
+einiger Zeit wurde er ihrer müde und saß dann wieder in
+seiner Loge in der Oper, entweder allein oder mit Lord
+Henry, lauschte hingerissen dem Tannhäuser und erkannte
+in dem Vorspiel zu diesem großen Kunstwerk eine Verkörperung
+des Trauerspiels seiner eigenen Seele.</p>
+
+<p>Wieder ein andermal warf er sich auf das Studium der
+Edelsteine und erschien auf einem Maskenfest als Anne de
+Joyeuse, Admiral von Frankreich, in einem Gewand, das
+mit fünfhundertsechzig Perlen bestickt war. Diese Geschmacksrichtung
+hielt ihn jahrelang gefangen, ja, man kann
+sagen, daß sie ihn nie verlassen hat. Er verbrachte oft
+einen ganzen Tag damit, die verschiedenen Steine, die er<a class="pagenum" name="Page_208" title="208"> </a>
+gesammelt hatte, aus ihren Schachteln zu nehmen und
+wieder umzuordnen, wie beispielsweise der olivengrüne
+Chrysoberyll, der im Lampenlicht rot wird, der Cymophan
+mit seinen haarfeinen Silberlinien, der pistazienfarbene
+Peridot, rosenfarbige und weingelbe Topase, scharlachfeurige
+Karfunkelsteine mit zitternden, vierfach ausstrahlenden
+Sternen, flammenrote Kaneelsteine, orangenfarbene
+und violette Spinelle und Amethyste mit ihren
+regelmäßig wechselnden Schichten von Rubin und Saphir.
+Er liebte das rote Gold des Sonnensteins und die perlfarbene
+Weiße des Mondsteins und den gebrochenen
+Regenbogen des milchflockigen Opals. Er verschrieb sich
+aus Amsterdam drei Smaragde von außerordentlicher
+Größe und wunderbarem Farbenreichtum und besaß einen
+Türkis <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">de la vieille roche</span>, um den ihn alle Kenner beneideten.</p>
+
+<p>Er entdeckte auch wunderbare Geschichten über Edelsteine.
+In Alfons „<span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Clericalis disciplina</span>“ wurde eine
+Schlange erwähnt mit Augen aus wirklichen Hyazinthsteinen,
+und in der romantischen Alexandersage hieß es
+von dem Eroberer Emathias, er habe im Jordantale
+Schlangen gefunden „mit Halsgeschmeiden aus wirklichen
+Smaragden, die ihnen auf dem Rücken gewachsen waren“.
+Im Gehirn des Drachen war nach dem Bericht des Philostratus
+ein Edelstein, und „durch das Entgegenhalten
+goldener Lettern und eines scharlachroten Gewandes“
+konnte das Ungeheuer in einen magischen Schlaf versetzt
+und getötet werden. Nach der Meinung des großen Alchimisten
+Pierre de Boniface sollte der Diamant den Menschen<a class="pagenum" name="Page_209" title="209"> </a>
+unsichtbar und der indische Achat ihn beredt machen.
+Der Karneol beschwichtigte den Zorn, und der Hyazinth
+schläferte ein, und der Amethyst verscheuchte den Weindunst.
+Der Granat trieb Teufel aus, und der Hydrophyt
+beraubte den Mond seiner Farbe. Der Selenit nahm mit
+dem Monde zu und ab, und der Meloceus, der die Diebe
+entdeckte, verlor seine Kraft nur, wenn man ihn mit dem
+Blut junger Ziegen betropfte. Leonardus Camillus hatte
+einen weißen Stein gesehen, den man aus dem Gehirn
+einer frisch getöteten Kröte genommen hatte und der ein
+sicheres Gegenmittel gegen Gift war. Der Bezoar, den
+man im Herzen des arabischen Hirsches fand, war ein
+Zauber, der die Pest zu heilen vermochte. In den Nestern
+arabischer Vögel kam der Aspilates vor, der nach der
+Angabe des Demokrit seinen Träger vor jeder Feuersgefahr
+beschützte.</p>
+
+<p>Der König von Seilan ritt bei seiner Krönungsfeier,
+mit einem großen Rubin in der Hand, durch seine Stadt.
+Die Tore zum Palast des Johannes, des Priesters, waren
+aus Sarder verfertigt, in den das Horn der Hornviper
+verarbeitet war, so daß kein Mensch Gift in das Haus
+bringen konnte. Über dem Giebel waren „zwei goldene
+Äpfel, die zwei Karfunkelsteine enthielten“, so daß am
+Tage das Gold glänzen konnte und die Karfunkelsteine bei
+Nacht. In Lodges seltsamem Roman „Eine amerikanische
+Perle“ heißt es, daß man in dem Zimmer der Königin
+„alle keuschen Frauen der Welt, wie in Silber getrieben,
+wahrnehmen konnte, wenn man durch fleckenfreie Spiegel
+aus Chrysolithen, Karfunkelsteinen, Saphiren und grünen<a class="pagenum" name="Page_210" title="210"> </a>
+Smaragden blickte“. Marco Polo hatte gesehen, wie die
+Einwohner von Zipangu den Toten rosenfarbige Perlen
+in den Mund steckten. Ein Seeungeheuer war in die Perle
+verliebt, die ein Taucher dem König Perozes brachte, und
+es hatte den Dieb getötet und sieben Monate lang über
+den Verlust getrauert. Als die Hunnen den König in den
+großen Hinterhalt lockten, warf er die Perle weg &mdash; Prokopius
+erzählt die Geschichte &mdash; und sie wurde nie wieder
+gefunden, obwohl Kaiser Anastasius dafür fünf Zentner
+Goldstücke aussetzte. Der König von Malabar hatte einmal
+einem Venezianer einen Rosenkranz aus dreihundertvier
+Perlen gezeigt, eine Perle für jeden Gott, den er verehrte.</p>
+
+<p>Als der Herzog von Valentinois, der Sohn Alexanders
+des Sechsten, Ludwig den Zwölften von Frankreich besuchte,
+war nach Brantôme sein Pferd mit goldenen Blättern
+bedeckt, und ein Barett trug eine doppelte Reihe von
+Rubinen, die ein mächtiges Licht ausstrahlten. Karl von
+England ritt in Steigbügeln, die mit vierhunderteinundzwanzig
+Diamanten besetzt waren. Richard der Zweite hatte
+ein Gewand, das mit Balasrubinen besetzt war, und auf
+dreißigtausend Mark geschätzt wurde. Hall beschrieb Heinrich
+den Achten auf seinem Wege zur Krönung nach dem
+Tower folgendermaßen: er trug ein „Panzerkleid aus
+erhabenem Gold, die Brust war mit Diamanten und
+anderen Edelsteinen bestickt, und um den Hals hing ihm
+eine mächtige Kette aus schweren Balasrubinen“. Die
+Günstlinge Jakobs des Ersten trugen Ohrringe aus Smaragden,
+die in Goldfiligran gefaßt waren. Eduard der<a class="pagenum" name="Page_211" title="211"> </a>
+Zweite schenkte dem Piers Gaveston eine vollständige
+Rüstung aus rotem Golde, die mit Hyazinthsteinen besetzt
+war, eine Halsberge aus goldenen Rosen, in die Türkise
+eingelassen waren, und eine mit Perlen übersäte Sturmhaube.
+Heinrich der Zweite trug Handschuhe bis zum
+Ellenbogen hinauf, die mit Edelsteinen besetzt waren, und er
+hatte einen Falkenierhandschuh, den zwölf Rubinen und
+zweiundfünfzig große Perlen zierten. Der Herzogshut
+Karls des Kühnen, des letzten Burgunder Herzogs seines
+Geschlechts, war behängt mit birnenförmigen Perlen und
+überstreut mit Saphiren.</p>
+
+<p>Wie köstlich das Leben einst gewesen war! Wie schwelgerisch
+in seinem Pomp und Schmuck! Von dem Reichtum
+der Toten auch nur zu lesen war schon wunderbar.</p>
+
+<p>Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den
+Stickereien zu und den Gobelins, die in den frostigen
+Räumen der nördlichen Völker Europas die Stelle der
+Freskogemälde vertraten. Als er sich in dieses Gebiet
+vertiefte &mdash; und er besaß immer eine außerordentliche
+Fähigkeit, sich für den Augenblick von allem absorbieren zu
+lassen, was er in Angriff nahm &mdash; wurde er ordentlich
+traurig bei dem Gedanken an die Vernichtung, die die
+Zeit schönen und wundervollen Dingen bereitete. Er
+wenigstens war ihr entronnen. Sommer folgte dem Sommer,
+die gelben Jonquillen hatten geblüht und waren
+viele Male verwelkt, und schreckliche Nächte wiederholten
+die Geschichte ihrer Schande, aber er blieb unverändert.
+Kein Winter entstellte sein Antlitz oder beschädigte seinen
+blütengleichen Schmelz. Wie anders war das mit den<a class="pagenum" name="Page_212" title="212"> </a>
+materiellen Dingen! Wohin waren die entschwunden?
+Wo war das große krokusfarbene Gewand, auf dem die
+Götter die Giganten bekämpft hatten, das von braunen
+Mädchen der Athene zur Freude gestickt worden war? Wo
+war das große Velarium, das Nero über das Kolosseum
+in Rom hatte ausspannen lassen, dieses gigantische Purpursegel,
+auf dem der Sternenhimmel abgebildet war, und
+Apollo, wie er einen Wagen lenkt, den weiße, von goldenen
+Zügeln gebändigte Streitrosse ziehen? Er sehnte sich, die
+sonderbaren Tischdecken zu sehen, die für den Sonnenpriester
+gewebt worden waren, und in die alle Leckerbissen
+und Speisen eingewirkt waren, die man für ein Festmahl
+nur wünschen konnte, das Sterbekleid des Königs Hilperich
+mit seinen dreihundert goldenen Bienen, die phantastischen
+Gewandungen, die die Entrüstung des Bischofs
+von Pontus erregten und auf denen „Löwen, Panther,
+Bären, Hunde, Wälder, Felsen, Jäger &mdash; kurz alles dargestellt
+war, was ein Maler der Natur ablauschen kann“,
+und den Rock, den Karl von Orleans einstmals getragen
+hatte, auf dessen Ärmel die Verse eines Gedichtes gestickt
+waren, das begann: <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Madame, je suis tout joyeux</span>, während
+die Noten hierzu mit Goldfäden eingestickt waren
+und jeder Notenkopf, damals noch viereckig, aus vier Perlen
+gebildet war. Er las von dem Zimmer, das man im
+Palast von Reims für den Gebrauch der Königin Johanna
+von Burgund hergerichtet hatte, „und das ausgeschmückt
+war mit dreizehnhunderteinundzwanzig gestickten Papageien,
+die das Wappen des Königs trugen, und mit fünfhunderteinundsechzig
+Schmetterlingen, deren Flügel auf<a class="pagenum" name="Page_213" title="213"> </a>
+dieselbe Weise mit dem Wappen der Königin geschmückt
+waren, das Ganze in Gold gearbeitet.“ Katharina von
+Medici hatte sich ein Trauerbett machen lassen aus schwarzem
+Samt, bestickt mit Halbmonden und Sonnen. Seine
+Vorhänge waren aus Damast, und auf einem Grunde
+von Gold und Silber waren Zweige und Girlanden gestickt,
+und die Bordüren bestanden aus Fransen mit Perlen,
+und es stand in einem Zimmer, das mit einem Silbertuch
+bespannt war, auf dem reihenweise die Wahlsprüche der
+Königin in schwarzem, geschorenem Samt appliziert waren.
+Ludwig der Vierzehnte hatte in seinem Gemach goldgestickte,
+fünfzehn Fuß hohe Karyatiden. Das Staatsbett
+Sobieskis, des Königs von Polen, bestand aus Smyrna-Goldbrokat,
+und Verse aus dem Koran waren aus Türkisen
+hineingestickt. Seine Füße waren aus vergoldetem
+Silber, schön getrieben und verschwenderisch mit Medaillons
+aus Email und Edelsteinen besetzt. Es war bei
+der Belagerung von Wien aus dem türkischen Lager erbeutet
+worden, und die Fahne Mohammeds war unter
+dem flimmerigen Gold seines Baldachins angebracht.</p>
+
+<p>Und so suchte er ein ganzes Jahr lang die erlesensten
+Proben zusammen, die er von Webekunst und Stickereiarbeiten
+auftreiben konnte, er verschaffte sich die duftigen
+Delhi-Musselins, die zart mit goldenen Palmblättern
+und mit irisierenden Käferflügeln bestickt waren, die Gazestoffe
+aus Dhaka, die man im Orient ihrer Durchsichtigkeit
+wegen „gewebte Luft“, „rieselndes Wasser“ und „Abendtau“
+nennt: Tücher aus Java mit seltsamen Figuren:
+feine, gelbe chinesische Gardinen: Bücher, die in lohfarbigen<a class="pagenum" name="Page_214" title="214"> </a>
+Atlas oder hellblaue Seide gebunden und eingepreßte
+heraldinische Lilien, Vögel und Schildereien zeigten Pointslace-Schleiergewebe
+aus Ungarn: sizilianische Brokate
+und steife spanische Sammete: georgische Arbeiten mit
+ihren goldenen Münzen, und japanische Fukusas mit
+ihren grünen Goldtönen und ihren gefiederten Vögeln
+wunderbarster Arbeit.</p>
+
+<p>Er hatte dann eine besondere Leidenschaft für kirchliche
+Gewänder wie für alles, was mit dem religiösen Ritus
+zusammenhing. In den langen Kästen aus Zedernholz,
+die auf der westlichen Galerie seines Hauses standen, hatte
+er viele seltene, schöne Proben des wahrhaften Kleides
+der Christusbraut angesammelt, die sich in Purpur, in
+Edelsteine und feines Linnen kleiden muß, um den bleichen,
+abgezehrten Leib darin zu verhüllen, der erschöpft ist von
+den Leiden, die sie sucht, und verwundet von selbst zugefügten
+Schmerzen. Er besaß einen prachtvollen Chorrock
+aus karminroter Seide und goldgewirktem Damast,
+der mit einem sich wiederholenden Muster von goldenen
+Granatäpfeln geziert war, die auf sechsblättrigen, regelmäßigen
+Blüten saßen, worunter auf jeder Seite ein in
+Staubperlen gestickter Tannenzapfen war. Die Goldstickereien
+waren in einzelne Felder geteilt, in denen Szenen
+aus dem Leben der Jungfrau abgebildet waren und die
+Krönung der Jungfrau war in der dazu gehörigen Kappe
+in farbiger Seide oben eingestickt. Es war italienische
+Arbeit aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein anderer
+Chorrock war aus grünem Samt, bestickt mit herzförmigen
+Bündeln von Akanthusblättern, aus denen langgestielte<a class="pagenum" name="Page_215" title="215"> </a>
+weiße Blüten hervorsprossen, die zart mit silbernen Fäden
+und farbigen Kristallperlen ausgearbeitet waren. Auf der
+Spange war der Kopf eines Seraphs in erhabener
+Goldstickerei ausgeführt. Die Borten waren fortlaufend
+auf blumigem Tuch in roter und goldener Seide eingewebt
+und mit den Medaillonbildnissen vieler Heiligen und Märtyrer
+ausstaffiert, unter denen sich der heilige Sebastian
+befand. Er hatte auch Meßgewänder aus bernsteinfarbiger
+Seide und blauer Seide und goldenem Brokat und
+aus gelbem Seidendamast und goldenem Tuch, die bedeckt
+waren mit Darstellungen der Passion und der Kreuzigung
+Christi, und bestickt mit Löwen, Pfauen und anderen Emblemen,
+er hatte Dalmatikas aus weißem Atlas und
+rosarotem Seidendamast, geziert mit Tulpen, Delphinen
+und heraldischen Lilien: Altardecken aus karmoisinrotem
+Samt und blauem Linnen, und viele Decken für Meßgeräte,
+Kelchhüllen und Schweißtücher. In den mystischen
+Diensten, zu denen diese Dinge bestimmt waren, lag
+etwas, das seine Einbildungskraft anregte.</p>
+
+<p>Denn diese Schätze und überhaupt alles, was er in
+seinem wunderbaren Hause ansammelte, waren für ihn
+Mittel zum Vergessen, Liebhabereien, durch die er eine
+Zeitlang der Angst entrinnen konnte, die ihm oft zu groß
+erschien, um sie zu ertragen. An die Wand des verlassenen,
+verschlossenen Raumes, worin er einen so großen Teil seiner
+Knabenzeit verbracht hatte, hatte er mit seinen eigenen
+Händen das fürchterliche Porträt aufgehängt, dessen Züge
+ihm in ihrer Veränderung die wahrhafte Erniedrigung
+seines Lebens zeigten, und darüber hatte er als Vorhang<a class="pagenum" name="Page_216" title="216"> </a>
+das Bahrtuch aus Gold und Purpur angebracht. Wochenlang
+mochte er nicht dahin gehen, wollte er das gräßliche
+Gemälde vergessen und gewann dann wieder sein leichtes
+Herz zurück, seine wunderbare Fröhlichkeit und seine
+Kraft zu leidenschaftlicher Versenkung ins Leben. Dann
+aber schlich er plötzlich in einer Nacht aus dem Hause,
+besuchte schaurige Orte in der Nähe von Blue Gate Fields
+und blieb dort Tag um Tag, bis es ihn wieder wegtrieb.
+Nach seiner Rückkehr saß er dann wohl vor dem Bilde,
+manchmal voll Haß vor ihm und vor sich selbst, ein
+andermal aber erfüllt mit dem Stolze auf das eigene
+Wesen, der den halben Reiz der Sünde ausmacht, und
+er lächelte dann mit geheimem Vergnügen das verunstaltete
+Abbild an, das die Last zu tragen hatte, die eigentlich
+für ihn bestimmt war.</p>
+
+<p>Nach einigen Jahren konnte er es nicht aushalten, lange
+von England weg zu sein, und gab das Landhaus auf,
+das er gemeinsam mit Lord Henry in Trouville innegehabt
+hatte, und ebenso das kleine, von weißer Mauer umrahmte
+Haus in Algier, wo sie mehr als einmal den
+Winter verbracht hatten. Er konnte es nicht ertragen, von
+dem Porträt getrennt zu sein, das jetzt gewissermaßen
+ein Teil seines Lebens geworden war, und er fürchtete
+auch, es könne in seiner Abwesenheit irgend jemand Zutritt
+bekommen trotz den sorgfältig gearbeiteten Sicherheitsschlössern,
+die er an der Türe hatte anbringen lassen.</p>
+
+<p>Er war sich vollauf bewußt, daß niemand etwas verraten
+könne. Allerdings bewahrte das Bild unter all der
+Gemeinheit und Häßlichkeit seines Antlitzes noch eine deutliche<a class="pagenum" name="Page_217" title="217"> </a>
+Ähnlichkeit mit ihm, aber was konnte das den Leuten
+sagen? Er würde jeden auslachen, der es versuchen wollte, ihn
+zu schmähen. Er hatte es ja nicht gemalt. Was ging es ihn
+an, wie abscheulich und schändlich es aussah? Selbst wenn
+er jemand die Wahrheit erzählte, konnte sie einer glauben?</p>
+
+<p>Und doch hatte er Angst. Wenn er manchmal in seinem
+großen Hause in Nottinghamshire war und die <ins title="eleganganten">eleganten</ins>
+jungen Leute, die meistens seine Gesellschaft bildeten,
+bewirtete, und die Leute der Grafschaft durch den
+ausschweifenden Luxus und den verschwenderischen Glanz
+seines Lebens in Erstaunen setzte, dann verließ er wohl
+plötzlich seine Gäste und eilte zurück in die Stadt, um nachzusehen,
+ob sich niemand an der Türe zu schaffen gemacht
+habe und ob das Bild noch da sei. Wie, wenn es jemand
+gestohlen hätte? Der bloße Gedanke erfüllte ihn mit kaltem
+Entsetzen. Gewiß würde dann die Welt sein Geheimnis
+erfahren. Vielleicht hatte sie schon Verdacht geschöpft.</p>
+
+<p>Denn genau wie er viele fesselte, gab es auch nicht wenige,
+die ihm mißtrauten. Er wäre fast schwarz ballotiert
+worden in einem Westend-Klub, zu dessen Mitgliedschaft
+ihn soziale Stellung und Geburt vollständig berechtigten,
+und es hieß, daß einmal, als ihn ein Freund in das
+Rauchzimmer des Curchill-Klubs mitgebracht hatte, der
+Herzog von Berwick und ein anderer Herr in auffallender
+Weise aufgestanden und hinausgegangen wären. Sonderbare
+Geschichten waren über ihn im Umlauf, als er sein
+fünfundzwanzigstes Jahr vollendet hatte. Man munkelte,
+daß man ihn in einer elenden Kaschemme in einem entlegenen
+Winkel Whitechapels mit fremden Matrosen habe<a class="pagenum" name="Page_218" title="218"> </a>
+zechen sehen, und daß er mit Dieben und Falschmünzern
+umgehe und die Geheimnisse ihres Gewerbes kenne. Seine
+auffallende Gewohnheit, zu bestimmten Zeiten zu verschwinden,
+war bekannt, und wenn er dann wieder in der
+Gesellschaft auftauchte, flüsterte man sich in den Ecken Bemerkungen
+zu oder man ging an ihm mit einem unzweideutigen
+Lächeln oder mit kühlen, forschenden Blicken vorbei,
+als wäre man entschlossen, sein Geheimnis zu enthüllen.</p>
+
+<p>Von diesen Unverschämtheiten und versuchten Beleidigungen
+nahm er natürlich keine Notiz, und in den Augen
+der meisten Leute war sein offenes, freundliches Wesen,
+sein reizendes Knabenlächeln und die unendliche Grazie
+der wundervollen Jugend, die ihn nie zu verlassen schien,
+an sich eine genügende Antwort auf die Verleumdungen,
+denn so nannte man es, die über ihn im Umlauf waren.
+Indessen bemerkte man, daß einige von denen, die früher
+sehr innig mit ihm verkehrt hatten, ihn nach einiger Zeit
+zu meiden anfingen. Frauen, die ihn glühend geliebt
+hatten und um seinetwillen allem Tadel der Gesellschaft
+getrotzt und die Konvention verachtet hatten, konnte man
+vor Scham oder Entsetzen erbleichen sehen, wenn Dorian
+Gray ins Zimmer trat.</p>
+
+<p>Doch dieses Skandalgeflüster erhöhte in den Augen vieler
+nur seinen seltsamen und gefährlichen Reiz. Auch sein
+großer Reichtum bot ein gewisses Unterpfand der Sicherheit.
+Die Gesellschaft, wenigstens die zivilisierte Gesellschaft,
+ist niemals schnell geneigt, etwas Schlechtes von
+denen zu glauben, die zugleich reich und interessant sind.
+Sie begreift instinktiv, daß Manieren wichtiger sind als<a class="pagenum" name="Page_219" title="219"> </a>
+Moral, und ihrer Meinung nach ist die höchste Ehrbarkeit
+weniger wert als der Besitz eines guten Küchenchefs. Und
+schließlich ist es auch ein sehr schwacher Trost, wenn einem
+gesagt wird, daß der Mann, bei dem es ein schlechtes
+Diner oder einen elenden Wein gegeben hat, in seinem
+Privatleben unantastbar dasteht. Selbst die Kardinaltugenden
+können nicht für kalt gewordene Entrees entschädigen,
+bemerkte Lord Henry einmal, als man über
+dieses Thema sprach; und für seine Ansicht spricht wahrscheinlich
+sehr viel. Denn die Gesetze der guten Gesellschaft
+sind oder sollten wenigstens dieselben sein, wie die Regeln
+der Kunst. Form ist für sie unbedingt wesentlich. Sie
+sollte die Würde ebenso wie die Unwirklichkeit einer
+Zeremonie haben und sollte den unaufrichtigen Schein
+eines romantischen Schauspiels mit dem Witz und der
+Schönheit verbinden, die für uns das Entzücken solcher
+Spiele ausmachen. Ist Unaufrichtigkeit denn etwas so
+Furchtbares? Ich glaube nicht. Sie ist nur ein Mittel,
+wodurch wir unsere Persönlichkeit vervielfachen können.</p>
+
+<p>Das war wenigstens die Meinung von Dorian Gray. Er
+pflegte sich über die seichte Psychologie derer zu wundern,
+die sich das Ich eines Menschen als etwas Einfaches,
+Beständiges, Verläßliches und Einheitliches vorstellen. Für
+ihn war der Mensch ein Wesen mit Myriaden von Leben
+und Myriaden von Gefühlen, ein kompliziertes, vielgestaltetes
+Geschöpf, das seltsame Erbschaften in seinen Gedanken
+und Leidenschaften mit sich herumtrug und dessen
+Fleisch von den ungeheuerlichen Krankheiten der Verstorbenen
+angesteckt war. Er liebte es, die kahle, kalte<a class="pagenum" name="Page_220" title="220"> </a>
+Bildergalerie auf seinem Landsitze zu durchschlendern
+und die verschiedenen Porträts der Menschen zu betrachten,
+deren Blut in seinen Adern floß. Hier war Philipp
+Herbert, den Francis Osborne in seinen „Memoiren
+über die Herrscherzeit der Königin Elisabeth und des
+Königs Jakob“ als einen beschrieb, „den der Hof seines
+hübschen Gesichtes wegen lieb hatte, das ihm aber nicht
+lange Gesellschaft leistete“. War es das Leben des jungen
+Herbert, das er manchmal führte? Hatte sich irgendein
+merkwürdiger, gifttragender Keim von Körper zu Körper
+übertragen, bis er seinen eigenen erreicht hatte? War es
+eine dumpfe Erinnerung an diesen verwelkten Liebreiz
+gewesen, die damals in Basil Hallwards Atelier so jäh
+und fast ohne Grund über ihn hereinbrach, daß er jenes
+wahnsinnige Gebet sprechen mußte, das sein Leben so sehr
+verändert hatte? Hier stand in goldgesticktem rotem
+Wams, in einem mit Juwelen geschmückten Überrock
+und goldgefaßten Hals- und Ärmelkrausen Sir Anthony
+Sherard, die Beine mit silbernen und schwarzen Schienen
+gepanzert. Was war das Vermächtnis dieses Mannes
+gewesen? Hatte ihm der Geliebte der Giovanna von
+Neapel ein Erbteil der Sünde und Schande hinterlassen?
+Waren seine eigenen Handlungen nur die Träume, die der
+Tote nicht zu verwirklichen gewagt hatte? Hier lächelte
+von einer verblaßten Leinwand Lady Elisabeth Devereux
+in ihrer Gazehaube, dem perlenbestickten Brustschmuck und
+den roten Schlitzärmeln. Sie hielt in der rechten Hand
+eine Blume, und die linke umfaßte einen emaillierten
+Halsschmuck aus weißen und Damaszener Rosen. Auf<a class="pagenum" name="Page_221" title="221"> </a>
+einem Tisch neben ihr lag eine Mandoline und ein Apfel.
+Auf ihren kleinen, spitzen Schuhen saßen große, grüne Rosetten.
+Er kannte ihr Leben und die seltsamen Geschichten,
+die man über ihre Liebhaber erzählte. Hatte er etwas von
+ihrem Temperament an sich? Diese ovalen Augen mit den
+schweren Lidern schienen ihn so sonderbar anzublicken.
+Wie stand es um George Willoughby mit seinem gepuderten
+Haar und seinen phantastischen Schönheitspflästerchen?
+Wie böse er aussah! Das Gesicht war melancholisch
+und bräunlich, und die sinnlichen Lippen schienen verächtlich
+zusammengekniffen. Kostbare Spitzenmanschetten rieselten
+über die mageren gelben Hände, die mit Ringen so
+sehr überladen waren. Er war im achtzehnten Jahrhundert
+ein Stutzer gewesen und in seiner Jugend ein Freund von
+Lord Ferrars. Wie war es mit dem zweiten Lord Beckenham,
+dem Gefährten des Prinzregenten in seinen wildesten
+Tagen und einem der Zeugen bei seiner heimlichen Eheschließung
+mit Frau Fitzherbert? Wie stolz und hübsch
+war er mit seinen kastanienbrauen Locken und der herausfordernden
+Haltung! Welche Leidenschaften hatte er ihm
+vererbt? Die Welt hatte ihn für ehrlos gehalten. Er hatte
+bei den Orgien in Carlton House den Vorsitz geführt. Der
+Stern des Hosenbandordens strahlte auf seiner Brust.
+Neben ihm hing das Bild seiner Gemahlin, einer blassen,
+dünnlippigen Frau in schwarzem Kleide. Auch ihr Blut
+flutete in ihm. Wie merkwürdig schien das alles! Und seine
+Mutter mit ihrem Lady Hamilton-Gesicht und ihren feuchten,
+wie vom Wein benetzten Lippen &mdash; er wußte, was er
+von ihr mitbekommen hatte. Von ihr hatte er seine Schönheit<a class="pagenum" name="Page_222" title="222"> </a>
+geerbt und seine Leidenschaft für die Schönheit anderer.
+Sie lachte ihn an in ihrem losen Bacchantinnenkleide. In
+ihrem Haare waren Weinblätter. Über den Becher, den
+sie hielt, schäumte der Purpur. Die Fleischfarbe des Gemäldes
+war verblaßt, aber die Augen waren noch wunderbar
+in ihrer Tiefe und ihrem Farbenglanz. Sie schienen
+ihm überall hin zu folgen, wo er auch ging.</p>
+
+<p>Aber man hatte Vorfahren ebensogut in der Literatur
+wie in dem eigenen Geschlecht, und viele davon standen
+einem vielleicht näher in ihrem Menschentum und in ihrem
+Temperament und hatten sicher einen Einfluß, von dem
+man sich genauere Rechenschaft zu geben vermochte. Es gab
+Zeiten, wo Dorian Gray den Eindruck hatte, als wäre
+die ganze Weltgeschichte nur ein Bericht seines eigenen
+Lebens, nicht wie er es nach Taten und Umständen gelebt
+hatte, sondern wie es seine Phantasie für ihn erschaffen
+hatte, wie es in seinem Gehirn und in seinen Sinnentrieben
+war. Er fühlte, daß er sie alle gekannt hatte, diese merkwürdigen
+schrecklichen Gestalten, die über die Weltenbühne
+geschritten waren und die Sünde so glänzend und
+das Böse so tief und fein gemacht hatten. Es wollte ihm
+scheinen, daß auf irgendeine geheimnisvolle Weise ihr
+Leben auch sein eigenes gewesen sei.</p>
+
+<p>Der Held des wunderbaren Romans, der sein Leben so
+stark beeinflußt hatte, war auch von diesem seltsamen
+Einfall ergriffen gewesen. Im siebenten Kapitel erzählt
+er: wie er, bekränzt mit Lorbeer, damit ihn der Blitz
+nicht treffe, als Tiberius in einem Garten von Capri gesessen
+und die schändlichen Bücher von Elephantis gelesen<a class="pagenum" name="Page_223" title="223"> </a>
+habe, während Zwerge und Pfauen um ihn herumstolzierten
+und der Flötenspieler den Weihrauchschwinger verspottete:
+wie er als Caligula mit den grünbeschürzten
+Stallknechten in ihren Ställen gezecht und aus einer elfenbeinernen
+Krippe ein Mahl genommen habe mit einem
+Rosse, das ein edelsteingeschmücktes Stirnband trug, und
+wie er als Domitian durch einen Korridor gewandert sei,
+dessen Wände mit Marmorspiegeln bedeckt waren, in denen
+er mit verstörten Augen nach dem Widerschein des Dolches
+gesucht habe, der seine Tage enden sollte, erkrankt an der
+Langeweile, dem schrecklichen <span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Taedium vitae</span>, das alle
+befällt, denen das Leben nichts versagt: und wie er durch
+einen hellen Smaragd den blutrünstigen Schlächterszenen
+im Zirkus zugeschaut habe und dann in einer Karosse aus
+Perlen und Purpur, die von silberfarbig gesprenkelten
+Maultieren gezogen wurde, durch eine Straße mit Granatbäumen
+zu einem goldenen Hause gefahren sei und gehört
+habe, wie ihm die Menschenmenge zurief: Kaiser Nero,
+als er vorbeifuhr, und wie er sich als Heliogabal das Gesicht
+geschminkt, mit den Weibern am Spinnrocken gewebt
+und den Mond aus Karthago geholt habe, um ihn in
+mystischer Ehe mit der Sonne zu vermählen.</p>
+
+<p>Wieder und wieder las Dorian dieses phantastische Kapitel
+und die zwei unmittelbar folgenden, in denen wie auf
+wunderlichen Gobelins oder kunstvoll gearbeiteten Emaillen
+die greulich-schönen Gestalten jener dargestellt waren, die
+Laster und Blut und Übersättigung zu Ungeheuern oder
+Narren gemacht hatte: Filippo, der Herzog von Mailand,
+der sein Weib getötet und ihre Lippen mit scharlachrotem<a class="pagenum" name="Page_224" title="224"> </a>
+Gift gefärbt hatte, damit ihr Geliebter von dem Leichnam,
+wenn er ihn liebkoste, den Tod saugen möge: der
+Venezianer Pietro Barbi, bekannt als Paul der Zweite,
+der in seiner Eitelkeit den Beinamen Formosus annehmen
+wollte und dessen Tiara, die zweihunderttausend Gulden
+Wert hatte, mit einer furchtbaren Sünde erkauft worden
+war: Gian Maria Visconti, der Hunde benutzte, um auf
+lebende Menschen Jagd zu machen, und dessen Leichnam
+nach seiner Ermordung von einer Dirne, die ihn geliebt
+hatte, mit Rosen bedeckt ward: der Borgia auf seinem
+Schimmel, neben dem der Brudermord hoch zu Rosse saß,
+und dessen Mantel mit dem Blute Perottos befleckt war:
+Pietro Riario, der junge Kardinalerzbischof von Florenz,
+das Kind und der Liebling Sixtus des Sechsten, dessen
+Schönheit nur von seiner Lasterhaftigkeit übertroffen
+wurde, und der Leonora von Aragonien in einem Zelt aus
+weißer und karmesinfarbener Seide empfing, das voll
+Nymphen und Zentauren war, und der einen Knaben vergoldete,
+damit er bei dem Feste als Ganymed oder Hylas
+aufwarte: Etzelin, dessen Schwermut nur durch das Schauspiel
+des Todes geheilt werden konnte und der eine Leidenschaft
+für rotes Blut hatte, wie andere Menschen für roten
+Wein &mdash; den man den Sohn des Satans hieß und der
+seinen Vater beim Würfeln betrogen hatte, als er mit
+ihm um seine Seele spielte: Giambattista Cibo, der aus
+Hohn den Namen Innozentius annahm und in dessen
+verdumpfte Adern ein jüdischer Arzt das Blut von drei
+Jünglingen einpumpte: Sigismondo Malatesta, der Liebhaber
+der Isotta und der Herr von Rimini, der zu Rom<a class="pagenum" name="Page_225" title="225"> </a>
+im Bilde als ein Feind Gottes und der Menschen verbrannt
+wurde, und der Polyssena mit einer Serviette erdrosselte,
+und der Ginevra d'Este aus einem Smaragdbecher
+Gift zu trinken gab und, um eine schändliche Leidenschaft
+zu ehren, einen heidnischen Tempel zur Anbetung
+für die Christen baute: Karl der Sechste, der für das Weib
+seines Bruders so ungestüm erglühte, daß ihm ein Aussätziger
+den Irrsinn prophezeite, der über ihn kommen
+werde, und der, als sein Geist krank geworden war und
+sich verwirrt hatte, nur durch sarazenische Spielkarten besänftigt
+wurde, auf denen Liebe, Tod und Wahnsinn abgebildet
+waren: und in seinem gezierten Kamisol und in
+seinem edelsteingeschmückten Barett und den akanthusgleichen
+Locken Grifonetto Baglioni, der Astorre bei seiner
+Braut und Simonetto bei seinem Pagen erschlug, und
+dessen Anmut so groß war, daß, als er sterbend auf der
+gelben Piazza in Perugia lag, selbst seine Hasser das
+Schluchzen nicht unterdrücken konnten, und ihn Atalanta
+segnete, die ihn verflucht hatte.</p>
+
+<p>Ein grauenhafter Zauber war in alledem. Er sah sie
+bei Nacht, und während des Tages verwirrten sie seine
+Vorstellungen. Die Renaissance kannte seltsame Arten, zu
+vergiften &mdash; zu vergiften durch einen Helm und eine angezündete
+Fackel, einen bestickten Handschuh und einen
+edelsteinbesetzten Fächer, ein vergoldetes Riechbüchschen
+und eine Bernsteinkette. Dorian Gray war durch ein Buch
+vergiftet worden. Es gab Augenblicke, in denen er die
+Sünde einzig als eine Möglichkeit ansah, seinen Schönheitsbegriff
+zu verwirklichen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_226" title="226"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Zwolftes_Kapitel" id="Zwolftes_Kapitel"></a>Zwölftes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Es war am neunten November, am Vorabend seines
+achtunddreißigsten Geburtstages, wie er sich später oftmals
+erinnerte.</p>
+
+<p>Er ging gegen elf Uhr aus Lord Henrys Wohnung,
+bei dem er gegessen hatte, nach Hause und war in einen
+schweren Pelz gehüllt, da die Nacht kalt und neblig war.
+An der Ecke von Grosvenor Square und South Audley
+Street ging im Nebel ein Mann sehr eilig an ihm vorbei,
+der den Kragen seines grauen Ulsters hochgeschlagen hatte.
+Er trug eine Reisetasche. Dorian erkannte ihn. Es war
+Basil Hallward. Ein seltsames Angstgefühl, über das er
+sich keine Rechenschaft geben konnte, befiel ihn. Er ließ
+nicht merken, daß er ihn erkannt hatte und setzte rasch
+seinen Weg fort in der Richtung seines Hauses.</p>
+
+<p>Aber Hallward hatte ihn gesehen. Dorian hörte, wie er
+zuerst auf dem Trottoir stehenblieb und ihm dann nacheilte.
+In ein paar Augenblicken lag eine Hand auf seinem
+Arm.</p>
+
+<p>„Dorian! Was für ein besonders glücklicher Zufall! Ich
+habe seit neun Uhr in deiner Bibliothek auf dich gewartet.
+Schließlich tat mir dein ermüdeter Diener leid, und
+als er mich herunterließ, sagte ich ihm, er möchte zu Bett
+gehen. Ich fahre mit dem Mitternachtszug nach Paris,
+und ich hatte den dringendsten Wunsch, dich vor meiner
+Abreise noch zu sehen. Ich dachte, das mußt du sein,
+oder mindestens dein Pelz, als du vorbeigingst. Aber ich<a class="pagenum" name="Page_227" title="227"> </a>
+war doch nicht ganz sicher. Hast du mich denn nicht erkannt?“</p>
+
+<p>„Bei so einem Nebel, lieber Basil? Ich kann nicht einmal
+Grosvenor Square erkennen. Ich vermute, mein Haus
+ist hier irgendwo in der Nähe, aber ich bin mir nicht ganz
+sicher. Es tut mir leid, daß du verreist, denn ich habe dich
+ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber ich denke, du kommst
+doch bald wieder?“</p>
+
+<p>„Nein; ich bleibe sechs Monate von England fort. Ich
+will mir in Paris ein Atelier mieten und mich darin einschließen,
+bis ein großes Bild fertig ist, das ich im Kopf
+habe. Aber ich wollte nicht über mich reden. Da sind wir
+an deiner Tür. Laß mich einen Augenblick mit herein. Ich
+habe dir was zu sagen.“</p>
+
+<p>„Es wird mir eine große Freude sein. Aber versäumst
+du auch deinen Zug nicht?“ sagte Dorian Gray mit müder
+Stimme, als er die Treppe hinaufstieg und die Tür mit
+seinem Drücker öffnete.</p>
+
+<p>Das Lampenlicht kämpfte mit dem Nebel, und Hallward
+sah auf die Uhr. „Ich habe noch eine Menge Zeit“,
+antwortete er. „Der Zug geht zwölf Uhr fünfzehn, und
+es ist eben elf. Offen gesagt, ich war gerade auf dem Weg
+in den Klub, um dich zu suchen, als ich dich traf. Mein
+Gepäck wird mich, wie du siehst, nicht sehr aufhalten, weil
+ich die schweren Sachen vorausgeschickt habe. Hier in der
+Tasche ist alles, was ich mitnehme, und nach Victoria
+Station kann ich bequem in zwanzig Minuten kommen!“</p>
+
+<p>Dorian sah ihn lächelnd an. „Für einen berühmten Maler
+eine merkwürdige Art, zu reisen! Eine Handtasche und<a class="pagenum" name="Page_228" title="228"> </a>
+ein Ulster! Komm herein, sonst dringt der Nebel ins Haus!
+Und bitte, sprich über nichts Ernsthaftes mit mir. Nichts
+ist heutzutage ernsthaft. Wenigstens sollte es nichts sein.“</p>
+
+<p>Hallward schüttelte den Kopf als er eintrat, und folgte
+Dorian ins Bibliothekzimmer. Dort brannte in dem offenen
+Kamin ein helles Holzfeuer. Die Lampen waren angezündet,
+und ein offenstehender holländischer Likörkasten aus
+Silber stand nebst ein paar Sodawassersiphons und großen
+geschliffenen Gläsern auf einem eingelegten Tischchen.</p>
+
+<p>„Du siehst, dein Diener hat es mir gemütlich gemacht,
+Dorian. Er hat mir alles gegeben, was ich brauchte, sogar
+deine besten Zigaretten mit Goldmundstück. Es ist ein recht
+gastfreundlicher Mensch. Ich mag ihn viel lieber als den
+Franzosen, den du vor ihm hattest. Was ist übrigens aus
+dem Franzosen geworden?“</p>
+
+<p>Dorian zuckte die Achseln. „Ich glaube, er hat Lady
+Radleys Kammermädchen geheiratet und sie in Paris als
+englische Schneiderin etabliert. Ich höre, daß Anglomanie
+zurzeit drüben sehr Mode ist. Scheint mir recht töricht von
+den Franzosen, nicht wahr? Aber &mdash; weißt du noch? &mdash; er
+war wirklich kein schlechter Bedienter. Ich mochte ihn
+zwar auch nie so recht leiden, aber er gab mir keinen
+Grund zur Klage. Man bildet sich oft Dinge ein, die ganz
+sinnlos sind. Er war mir wirklich sehr ergeben und schien
+ganz traurig, als er wegging. Willst du noch einen Kognak
+und Soda? Oder lieber Wein mit Selter? Ich
+nehme immer Wein mit Selter. Es ist gewiß etwas im
+Nebenzimmer.“</p>
+
+<p>„Danke, ich nehme nichts mehr“, sagte der Maler, legte<a class="pagenum" name="Page_229" title="229"> </a>
+Mütze und Überrock ab und warf sie auf die Reisetasche,
+die er in die Zimmerecke gestellt hatte. „Und jetzt, lieber
+Freund, möchte ich mit dir mal ernsthaft sprechen. Du
+mußt nicht so böse aussehen. Du machst es mir dadurch
+nur schwerer.“</p>
+
+<p>„Was soll das alles?“ rief Dorian, offen seine Verdrießlichkeit
+zeigend und warf sich auf das Sofa. „Ich
+hoffe, es handelt sich nicht um mich. Ich habe heute abend
+genug von mir. Ich wünschte, ich wäre ein anderer.“</p>
+
+<p>„Es handelt sich um dich,“ antwortete Hallward mit
+seiner ernsten, tiefen Stimme, „und ich muß es dir sagen.
+Ich werde dich kaum ein halbes Stündchen aufhalten.“</p>
+
+<p>Dorian seufzte und steckte sich eine Zigarette an. „Ein
+halb Stündchen“, flüsterte er.</p>
+
+<p>„Das ist nicht viel von dir verlangt, Dorian, und ich
+spreche wirklich nur zu deinem Besten. Ich halte es für
+angebracht, daß du endlich die schrecklichen Dinge erfährst,
+die über dich in London geredet werden.“</p>
+
+<p>„Ich will nicht das mindeste davon wissen. Ich habe
+Tratsch über andere Leute recht gern, aber Tratsch über
+mich interessiert mich ganz und gar nicht. Es hat nicht mal
+den Reiz der Neuheit.“</p>
+
+<p>„Es muß dich interessieren, Dorian. Jeder anständige
+Mensch ist an seinem guten Ruf interessiert. Du darfst doch
+nicht die Leute von dir reden lassen, wie von einem gesunkenen
+und abscheulich lasterhaften Menschen. Natürlich
+hast du deine Stellung, deinen Reichtum und all dergleichen.
+Aber Stellung und Reichtum sind nicht alles. Auf
+mein Wort, ich glaube von diesen Gerüchten nichts. Wenigstens<a class="pagenum" name="Page_230" title="230"> </a>
+kann ich ihnen nicht glauben, wenn ich dich sehe. Die
+Sünde steht jedem Menschen auf der Stirn geschrieben.
+Man kann sie nicht verhehlen. Die Menschen schwatzen
+manchmal von geheimen Lastern. So etwas gibt es nicht.
+Wenn ein unseliger Mensch ein Laster hat, so zeigt sichs
+in den Linien seines Mundes, in seinen herabgesunkenen
+Augenlidern, selbst in der Form seiner Hände. Jemand
+&mdash; ich will seinen Namen nicht nennen, aber du kennst ihn
+&mdash; kam voriges Jahr zu mir und wollte sich malen lassen.
+Ich hatte ihn nie vorher gesehen und damals nie etwas
+von ihm gehört, seitdem aber hat man mir eine Menge
+von ihm erzählt. Er bot mir einen fabelhaften Preis an.
+Ich habe abgelehnt. An der Form seiner Finger war
+etwas, das mir ekelhaft war. Jetzt weiß ich, daß ich mit
+meiner Vermutung über ihn ganz recht hatte. Sein Leben
+ist fürchterlich. Aber von dir, Dorian, mit deinem reinen,
+leuchtenden, unschuldigen Gesicht und deiner wunderbaren
+unberührten Jugend &mdash; ich kann nicht das Häßliche glauben,
+das man gegen dich vorbringt. Und doch, ich sehe
+dich jetzt so selten, und du kommst gar nicht mehr in mein
+Atelier, und wenn ich nicht mit dir zusammen bin und alle
+die abscheulichen Dinge höre, die sich die Leute über dich
+zuflüstern, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Woher
+kommt es, Dorian, daß ein Mann wie der Herzog von
+Berwick aufsteht und das Klubzimmer verläßt, wenn du
+eintrittst? Warum wollen so viele Männer in London nicht
+zu dir kommen und dich niemals zu sich einladen? Du
+warst doch mit Lord Staveley befreundet. Ich traf ihn
+vorige Woche bei einem Diner. Dein Name tauchte zufällig<a class="pagenum" name="Page_231" title="231"> </a>
+im Gespräch in Verbindung mit den Miniaturen
+auf, die du der Dudley-Ausstellung hergeliehen hast. Staveley
+verzog die Lippen und sagte, es mag ja sein, daß
+du einen äußerst künstlerischen Geschmack habest, aber
+du seist ein Mann, den kein reines Mädchen kennenlernen
+solle und mit dem keine anständige Frau im selben Zimmer
+sein dürfe. Ich gab ihm zu verstehen, daß ich dein Freund
+sei, und fragte ihn, was er damit meine. Er sagte es mir.
+Er sagte es mir vor allen Leuten geradeheraus. Es war
+scheußlich! Warum ist deine Freundschaft für junge Männer
+solch ein Unglück? Da war der unselige Bursch in
+der Leibgarde, der Selbstmord begangen hat. Du warst
+sein bester Freund. Da war Sir Henry Ashton, der England
+mit einem besudelten Namen verlassen mußte. Du
+und er, ihr beide wart unzertrennlich. Wie ist es mit
+Adrian Singleton bestellt und seinem furchtbaren Ende?
+Was war das mit dem einzigen Sohn Lord Kents und
+seiner Karriere? Ich traf seinen Vater gestern in St. James
+Street. Er schien vor Schande und Herzleid gebrochen.
+Was hattest du mit dem jungen Herzog von Perth? Was
+für ein Leben führt er jetzt? Welcher Gentleman wollte
+noch mit ihm Umgang haben?“</p>
+
+<p>„Hör auf, Basil, du sprichst von Dingen, von denen du
+nichts weißt“, sagte Dorian Gray, der sich auf die Lippen
+biß und in seine Stimme einen Ton unsäglicher Verachtung
+legte. „Du fragst mich, warum Berwick aus dem
+Zimmer geht, wenn ich eintrete. Er tut das, weil ich sein
+Leben durch und durch kenne, nicht weil er etwas von mir
+wüßte. Wie könnte er bei dem Blut, das in seinen Adern<a class="pagenum" name="Page_232" title="232"> </a>
+rollt, nicht viel auf dem Kerbholz haben? Du fragst
+mich nach Henry Ashton und dem jungen Perth. Habe
+ich dem einen seine Laster, dem anderen seine Ausschweifungen
+beigebracht? Wenn sich Kents schwachköpfiger Sohn
+sein Weib von der Straße holt, was gehts mich an? Wenn
+Adrian Singleton den Namen seines Freundes auf einen
+Wechsel schreibt, bin ich sein Hüter? Ich weiß, wie die
+Leute in England klatschen. Die Mittelklassen spreizen sich
+bei ihren endlosen Diners mit ihren moralischen Vorurteilen
+und munkeln von etwas, das sie die Ausschweifungen
+derer nennen, denen es besser geht, und um sich damit zu
+brüsten, daß sie in der feinen Gesellschaft verkehren und
+intim mit den Leuten sind, die sie durchhecheln. Bei uns
+zulande genügt es, daß einer Vornehmheit und Geist hat,
+damit sich jede gemeine Zunge an ihm wetzt. Und was
+für eine Art Leben führen denn diese Menschen selber, die
+sich so auf die Moral hinausspielen? Mein lieber Junge,
+du vergißt, daß wir in der Heimat der Heuchelei leben.“</p>
+
+<p>„Dorian,“ rief Hallward, „darum handelt sich's nicht.
+Wie schlecht es um England bestellt ist, weiß ich selbst
+und wie die englische Gesellschaft verrottet ist. Gerade
+deshalb wünsche ich, daß du gut bleibst. Du bist nicht
+gut geblieben. Man hat ein Recht darauf, einen Menschen
+nach der Wirkung zu beurteilen, die er auf seine Freunde
+ausübt. Deine Freunde scheinen alles Gefühl für Ehre,
+für Anstand, für Reinheit zu verlieren. Du hast sie mit
+einer wahnsinnigen Genußsucht erfüllt. Sie sind tief gesunken.
+Ja: und du hast sie da hinabgeführt, und doch
+kannst du lächeln, und du lächelst jetzt noch. Und es gibt<a class="pagenum" name="Page_233" title="233"> </a>
+noch viel Schlimmeres. Ich weiß, du und Harry seid unzertrennlich.
+Schon aus diesem Grunde, wenn aus keinem
+anderen, hättest du den Namen seiner Schwester nicht
+zum Spott machen dürfen!“</p>
+
+<p>„Nimm dich in acht, Basil. Du gehst zu weit.“</p>
+
+<p>„Ich muß sprechen, und du mußt mich hören. Als du
+Lady Gwendolen kennenlerntest, hatte sie noch nicht der
+leiseste Hauch übler Nachrede berührt. Gibt es jetzt eine
+einzige anständige Frau in London, die mit ihr im Park
+spazieren fahren würde? Ja, nicht einmal ihre Kinder
+dürfen bei ihr wohnen. Dann gibt es andere Geschichten
+&mdash; Geschichten, daß man dich gesehen hat, wie du in der
+Dämmerung aus schrecklichen Häusern herausgeschlichen
+bist, daß du dich verkleidet in den niederträchtigsten Kneipen
+Londons herumtreibst. Ist das wahr? Kann das
+wahr sein? Als ich das erstemal so etwas hörte, lachte
+ich. Jetzt höre ich es mit Schaudern. Wie steht es mit
+deinem Landhause und dem Leben, das dort geführt wird?
+Dorian, du weißt nicht, was man über dich spricht. Ich
+will dir das nicht vorhalten, ich will dir keine Predigt
+halten. Ich erinnere mich, daß Harry einmal gesagt hat,
+jeder Mensch, der sich als Moralprediger versuchen will,
+fängt damit an, daß er sagt, er wolle nicht predigen und
+dann sein Wort bricht. Ich will dir also eine Predigt
+halten. Ich möchte dich ein solches Leben führen sehen,
+daß die Welt Achtung vor dir haben soll. Ich will,
+daß du einen reinen Namen und einen guten Ruf hast.
+Ich will, daß du dich von den gräßlichen Menschen losmachst,
+mit denen du jetzt fraternisierst. Zucke nicht mit<a class="pagenum" name="Page_234" title="234"> </a>
+den Achseln. Sei nicht so gleichgültig. Du hast einen mächtigen
+Einfluß. Laß ihn zum Guten und nicht zum Bösen
+wirken. Man sagt, du verderbest jeden Menschen, mit dem
+du intim wirst, und es sei völlig hinreichend, daß du ein
+Haus betrittst, damit dir Schande irgendeiner Art auf
+dem Fuße folge. Ich weiß nicht, ob dem so ist oder nicht.
+Wie sollte ich's auch wissen? Aber man sagte es von dir.
+Man sagte mir Dinge, die ich unmöglich länger anzweifeln
+kann. Lord Gloucester war einer meiner liebsten
+Freunde in Oxford. Er hat mir den Brief gezeigt, den ihm
+seine Frau geschrieben hat, als sie allein in ihrer Villa in
+Mentone auf dem Sterbebette lag. Dein Name war da in
+die fürchterlichste Beichte verwickelt, die ich je gelesen habe.
+Ich sagte ihm, daß es Tollheit wäre, daß ich dich durch
+und durch kennte und daß du zu irgend etwas Derartigem
+unfähig wärest. Kenne ich dich? Ich frage mich, kenne
+ich dich! Bevor ich darauf antworten kann, müßte ich
+deine Seele sehen.“</p>
+
+<p>„Meine Seele sehen“, murmelte Dorian Gray, stand
+vom Sofa auf und wurde beinah weiß vor Angst.</p>
+
+<p>„Ja,“ antwortete Hallward ernst und ein tiefschmerzlicher
+Klang zitterte in seiner Stimme &mdash; „deine Seele
+sehen. Aber das kann nur Gott.“</p>
+
+<p>Ein bitter-höhnisches Gelächter brach aus dem Munde
+des Jüngeren. „Du sollst sie selbst sehen, noch heute nacht!“
+rief er aus und nahm eine Lampe vom Tisch. „Komm:
+sie ist das Werk deiner eigenen Hand. Warum solltest
+du es nicht sehen? Du kannst nachher aller Welt davon
+erzählen, wenn du willst. Niemand würde dir glauben.<a class="pagenum" name="Page_235" title="235"> </a>
+Wenn sie dir glaubten, haben sie mich deswegen nur um
+so lieber. Ich kenne unsere Zeit besser als du, obwohl du
+darüber so langweilig faseln kannst. Komm, sag' ich dir.
+Du hast genug über Verderbnis geschwatzt. Jetzt sollst du
+sie von Angesicht zu Angesicht sehen.“</p>
+
+<p>In jedem Wort, das er sprach, klang der Wahnsinn
+des Hochmuts. Er stampfte in seiner knabenhaften, dreisten
+Art mit dem Fuß auf die Dielen. Er empfand ein furchtbares
+Vergnügen bei dem Gedanken, daß ein anderer jetzt
+sein Geheimnis teilen solle und daß der Mann, der sein
+Bild gemalt hatte, das der Ursprung all seiner Schande
+war, für den Rest seines Lebens die Last der gräßlichen
+Erinnerung an seine Tat mit sich herumschleppen müsse.</p>
+
+<p>„Ja,“ fuhr er fort und trat näher zu ihm heran und
+sah ihm fest in die ernsten Augen, „ich werde dir meine
+Seele zeigen. Du sollst das Machwerk sehen, von dem du
+glaubst, daß es nur Gott sehen kann.“</p>
+
+<p>Hallward schrak zurück. „Das ist Gotteslästerung, Dorian.
+Du darfst nicht solche Dinge sagen. Sie sind schrecklich
+und unverständig.“</p>
+
+<p>„Glaubst du?“ Er lachte wieder.</p>
+
+<p>„Ich weiß es. Was ich dir heute abend gesagt habe,
+hab' ich zu deinem Besten gesagt. Du weißt, ich war dir
+immer ein guter Freund.“</p>
+
+<p>„Werde nur nicht rührselig. Mach' Schluß mit dem,
+was du noch zu sagen hast.“</p>
+
+<p>Ein wehevolles Zucken ging durch das Gesicht des Malers.
+Er schwieg einen Augenblick und ein heftiger Mitleidsschmerz
+überkam ihn. Welches Recht hatte er schließlich,<a class="pagenum" name="Page_236" title="236"> </a>
+in Dorian Grays Leben hineinzuspähen? Wenn er
+nur den zehnten Teil von dem getan hatte, wovon die
+Gerüchte gingen, wie qualvoll mußte er gelitten haben!
+Dann richtete er sich auf, ging zum Kamin hinüber und
+blieb da stehen, versunken in den Anblick der brennenden
+Holzscheite, die mit ihrer weißen Asche wie bereift aussahen
+und stierte ihre zuckenden Feuerherzen an.</p>
+
+<p>„Ich warte, Basil“, sagte der junge Mann mit harter,
+spitzer Stimme.</p>
+
+<p>Er drehte sich um. „Was ich noch zu sagen habe, ist
+das“, rief er. „Du mußt mir eine Antwort geben auf diese
+fürchterlichen Anklagen, die gegen dich erhoben werden.
+Wenn du mir sagst, daß sie von Anfang bis zu Ende
+unwahr sind, werde ich dir glauben. Leugne sie ab, Dorian,
+leugne sie ab! Kannst du nicht sehen, was ich durchmache?
+Mein Gott, sage mir nicht, daß du schlecht und
+verderbt und schändlich bist!“</p>
+
+<p>Dorian Gray lächelte. Seine Lippen krausten sich in
+Verachtung. „Komm hinauf, Basil“, sagte er ruhig. „Ich
+führe da ein Tagebuch meines Lebens, Tag für Tag, und
+es verläßt niemals das Zimmer, in dem es geschrieben
+wird. Ich will es dir zeigen, wenn du mit mir kommst.“</p>
+
+<p>„Ich komme mit, Dorian, wenn du es haben willst.
+Ich sehe, daß ich meinen Zug versäumt habe. Das tut
+nichts. Ich kann morgen fahren. Aber verlange nicht von
+mir, daß ich heute nacht noch etwas lese. Was ich will,
+ist eine klare Antwort auf meine Frage.“</p>
+
+<p>„Die soll dir oben zuteil werden. Ich kann sie dir hier
+nicht geben. Du wirst nicht lange zu lesen haben.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_237" title="237"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Dreizehntes_Kapitel" id="Dreizehntes_Kapitel"></a>Dreizehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Er verließ das Zimmer und begann die Treppe hinaufzugehen,
+Basil Hallward folgte dicht hinter ihm. Sie
+gingen leise, wie man es bei Nacht instinktiv tut. Die
+Lampe warf phantastische Schatten auf Wand und
+Treppe. Im Winde, der sich erhoben hatte, klirrten einige
+Fenster.</p>
+
+<p>Als sie den obersten Absatz erreicht hatten, stellte Dorian
+die Lampe auf den Boden, nahm den Schlüssel heraus
+und schloß auf. „Du bestehst auf einer Antwort, Basil?“
+fragte er mit gedämpfter Stimme.</p>
+
+<p>„Ja.“</p>
+
+<p>„Das freut mich“, antwortete er lächelnd. Dann fügte
+er ziemlich scharf hinzu: „Du bist der einzige Mensch in
+der Welt, der alles über mich wissen darf. Du hast mehr
+mit meinem Leben zu schaffen gehabt, als du dir denkst“,
+und damit nahm er die Lampe auf, öffnete die Tür und
+trat ein. Ein kalter Luftzug strich an ihnen vorbei, und
+das Licht zuckte einen Augenblick in einer düstern Orangefarbe
+auf. Er schauderte. „Schließe die Tür hinter dir“,
+flüsterte er, während er die Lampe auf den Tisch stellte.</p>
+
+<p>Hallward blickte erstaunt umher. Das Zimmer sah aus,
+als wär' es seit langen Jahren nicht bewohnt worden. Ein
+fadenscheiniger flämischer Gobelin, ein verhängtes Bild, ein
+alter italienischer Cassone und ein fast leerer Bücherschrank
+&mdash; das war außer einem Stuhl und einem Tisch alles,
+was darin zu sein schien. Als Dorian Gray eine halb<a class="pagenum" name="Page_238" title="238"> </a>
+abgebrannte Kerze, die auf dem Kamin stand, angezündet
+hatte, sah der Maler, daß der ganze Raum mit Staub
+bedeckt und der Teppich zerfetzt und durchlöchert war.
+Eine Maus lief erschreckt hinter die Täfelung. Ein dumpfer
+Modergeruch machte sich bemerkbar. &mdash;</p>
+
+<p>„Du glaubst also, daß Gott allein die Seele sieht, Basil?
+Zieh den Vorhang zurück, und du wirst die meine
+sehen.“</p>
+
+<p>Die Stimme, die das sprach, klang kalt und grausam.</p>
+
+<p>„Du bist wahnsinnig, Dorian, oder spielst Komödie“,
+sagte Hallward und runzelte die Stirn.</p>
+
+<p>„Du willst nicht? Dann muß ich es selbst tun“, sagte
+der junge Mann, und riß den Vorhang von seiner Stange
+und schleuderte ihn zu Boden.</p>
+
+<p>Ein Entsetzensschrei kam von den Lippen des Malers,
+als er in der düsteren Beleuchtung das gräßliche Gesicht
+auf der Leinwand erblickte, das ihm entgegengrinste. In
+seinem Ausdruck war etwas, das ihn mit Ekel und Abscheu
+erfüllte. Gott im Himmel! Es war Dorian Grays
+eigenes Antlitz, das er sah! Das Schreckliche, was es
+auch sein mochte, hatte die wundervolle Schönheit noch
+nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold in dem gelichteten
+Haar und etwas Purpur auf dem sinnlichen Mund.
+Die stumpfgewordenen Augen hatten noch etwas von
+ihrem lieblichen Blau behalten, der edle Schwung der
+Linien um die feingewölbten Nasenflügel und den plastischen
+Hals war noch nicht ganz verschwunden. Ja, es war
+Dorian selbst. Aber wer hatte das gemalt? Er glaubte,
+das Werk seines eigenen Pinsels zu erkennen, und der<a class="pagenum" name="Page_239" title="239"> </a>
+Rahmen war von ihm selbst gezeichnet. Die Vorstellung
+war ungeheuerlich, und doch fürchtete er sich. Er nahm die
+brennende Kerze und hielt sie nahe an das Bild. In der
+linken Ecke stand ein Name in langen, hellroten Lettern.</p>
+
+<p>Es war irgendeine infame Parodie, eine niederträchtige,
+elende Satire. Er hatte das niemals gemalt. Und doch, es
+war sein eigenes Bild. Er wußte es und ihm war, als ob
+sich sein Blut in einem Augenblick aus Feuer in starrendes
+Eis verwandelt hätte. Sein eigenes Bild! Was sollte das
+heißen? Warum hatte es sich verändert? Er drehte sich um
+und sah Dorian Gray mit krankhaften Augen an. Sein
+Mund zuckte, seine trockne Zunge schien jedes Lautes ganz
+unfähig zu sein. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
+Kühle Schweißperlen standen darauf.</p>
+
+<p>Der junge Mann lehnte gegen den Kamin und beobachtete
+ihn mit dem merkwürdigen Ausdruck, den man auf
+den Gesichtern von Menschen sieht, die von dem Spiel
+eines großen Schauspielers hingerissen sind. In seinem Gesicht
+war weder wirklicher Schmerz noch wirkliche Freude.
+Da war nur die Leidenschaft des Zuschauers und höchstens
+in den Augen flackerte ein triumphierendes Leuchten. Er
+hatte die Blume aus seinem Knopfloch genommen und
+roch daran oder tat mindestens so.</p>
+
+<p>„Was bedeutet das?“ rief Hallward endlich. Seine
+eigene Stimme klang ihm schrill und fremd in die Ohren.</p>
+
+<p>„Vor vielen Jahren, als ich noch ein Knabe war,“ sagte
+Dorian Gray, während er die Blume in seiner Hand zerdrückte,
+„hast du mich kennengelernt, hast mir geschmeichelt
+und mich gelehrt, auf meine Schönheit eitel zu sein. Eines<a class="pagenum" name="Page_240" title="240"> </a>
+Tages stelltest du mich einem deiner Freunde vor, der mir
+das Wunder der Jugend erklärte, und damals beendetest
+du ein Porträt von mir, das mir das Wunder der Schönheit
+offenbarte. In einem Augenblick des Wahnsinns, und
+ich weiß noch jetzt nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht,
+sprach ich einen Wunsch aus, vielleicht würdest du es ein
+Gebet nennen.“</p>
+
+<p>„Ich erinnere mich! Oh, wie gut erinnere ich mich!
+Nein! so etwas ist unmöglich. Das Zimmer ist feucht.
+Die Leinwand ist stockig geworden. In den Farben, die ich
+verwandte, war irgendein mineralisches Gift enthalten.
+Ich sage dir, so etwas ist unmöglich.“</p>
+
+<p>„Pah, was ist unmöglich?“ murmelte der junge Mann,
+ging zum Fenster und preßte seine Stirn an die kalte,
+nebelfeuchte Scheibe.</p>
+
+<p>„Du sagtest mir, du hättest es zerstört.“</p>
+
+<p>„Ich habe mich geirrt. Es hat mich zerstört.“</p>
+
+<p>„Ich kann's nicht glauben, daß es mein Bild ist.“</p>
+
+<p>„Kannst du dein Ideal nicht darin erkennen?“ fragte
+Dorian bitter.</p>
+
+<p>„Mein Ideal, wie du es nennst...“</p>
+
+<p>„Wie du es nanntest.“</p>
+
+<p>„Es hatte nichts Schlimmes in sich, nichts Schändliches.
+Du warst für mich ein Ideal, wie ich ihm nie wieder begegnen
+werde. Dies ist das Gesicht eines Fauns.“</p>
+
+<p>„Es ist das Gesicht meiner Seele.“</p>
+
+<p>„Jesus, mein! Was für ein Ding habe ich angebetet!
+Es hat die Augen eines Teufels.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_241" title="241"> </a></p>
+
+<p>„Jeder von uns hat Himmel und Hölle in sich, Basil“,
+rief Dorian mit einer wilden, verzweifelten Gebärde.</p>
+
+<p>Hallward wandte sich wieder dem Bilde zu und starrte
+es an. „Mein Gott! Es ist wahr,“ rief er aus, „und das
+hast du aus deinem Leben gemacht und danach also mußt
+du noch schlechter sein, als die es ahnen, die gegen dich
+sprechen.“ Er hielt das Licht wieder dicht an die Leinwand
+und musterte sie scharf. Die Oberfläche schien ganz unzerstört
+und so, wie sie aus seiner Hand gekommen war.
+Von innen also war die Fäulnis und das Entsetzliche hervorgedrungen.
+Durch einen sonderbaren inneren Zeugungsvorgang
+fraß der Aussatz der Sünde langsam das ganze
+Bildnis hinweg. Die Verwesung eines Leichnams in einem
+feuchten Grabe konnte nicht so grauenvoll sein.</p>
+
+<p>Seine Hand zitterte und die Kerze fiel aus dem Leuchter
+auf den Boden und lag rauchend da. Er trat mit dem
+Fuß darauf und erstickte sie. Dann warf er sich selbst in
+den wackligen Stuhl vor dem Tische und vergrub das Gesicht
+in seinen Händen.</p>
+
+<p>„Großer Gott, Dorian, was für eine Lehre! Was für
+eine furchtbare Lehre!“ Es kam keine Antwort, aber er
+konnte den jungen Mann am Fenster schluchzen hören.
+„Bete, Dorian, bete“, sagte er leise. „Was war es doch,
+was man uns in der Kindheit hersagen gelehrt hat? ‚Führe
+uns nicht in Versuchung! Vergib uns unsere Sünden!
+Nimm unsere Missetat von uns!‛ Wir wollen das zusammen
+aufsagen. Das Gebet deines Stolzes ist erhört
+werden. Das Gebet deiner Reue wird auch erhört werden.
+Ich habe dich zu sehr geliebt. Ich bin dafür bestraft worden.<a class="pagenum" name="Page_242" title="242"> </a>
+Du hast dich selbst zu sehr geliebt. Wir haben beide
+unsere Strafe.“</p>
+
+<p>Dorian Gray wandte sich langsam um und sah ihn mit
+tränenschimmernden Augen an. „Es ist zu spät, Basil“,
+flüsterte er.</p>
+
+<p>„Es ist nie zu spät, Dorian. Wir wollen niederknien und
+versuchen, ob wir uns nicht an ein Gebet erinnern können.
+Steht nicht irgendwo ein Vers: ‚Und wären deine Sünden
+wie Scharlach, ich will sie weiß machen wie Schnee?‛“</p>
+
+<p>„Solche Worte haben für mich keinen Sinn mehr.“</p>
+
+<p>„Still! Sage nicht so etwas. Du hast genug Böses getan
+im Leben. Mein Gott! Siehst du nicht, wie uns das fürchterliche
+Ding anstiert?“</p>
+
+<p>Dorian Gray blickte nach dem Bild, und plötzlich überkam
+ihn ein unbezwingliches Haßgefühl auf Basil Hallward,
+als sei er ihm von dem Bildnis auf der Leinwand
+eingeflößt, von diesen grinsenden Lippen in sein Ohr gewispert
+worden. Die wilde Zornwut eines gehetzten Tieres
+kochte in ihm, und er haßte den Mann, der da an dem
+Tisch saß, mehr als er in seinem ganzen Leben irgend
+etwas gehaßt hatte. Er spähte wild um sich. Auf der
+Platte der bemalten Truhe, die ihm gegenüberstand, glitzerte
+etwas. Sein Blick fiel darauf. Er erkannte, was es
+war. Ein Messer war's, das er vor einigen Tagen mit
+hinaufgenommen hatte, um ein Stück Schnur zu durchschneiden,
+und das er wieder mit herunterzunehmen vergessen
+hatte. Er ging langsam darauf zu und mußte dabei
+an Hallward vorüber. Sobald er hinter ihm stand, ergriff
+er das Messer und drehte sich um. Hallward rührte sich<a class="pagenum" name="Page_243" title="243"> </a>
+in seinem Stuhl, als wollte er soeben aufstehen. Er stürzte
+sich auf ihn und bohrte ihm das Messer tief in die Schlagader
+hinter dem Ohr, preßte den Kopf des Mannes auf
+den Tisch herunter und stieß immer und immer wieder zu.</p>
+
+<p>Man hörte ein unterdrücktes Röcheln und den fürchterlichen
+Ton eines Menschen, der in seinem Blut erstickt.
+Dreimal schlugen die krampfhaft ausgestreckten Arme um
+sich, und die Hände fuhren mit eigentümlich steifen Fingern
+durch die Luft. Er stieß noch zweimal zu, aber der Mann
+rührte sich nicht mehr. Etwas begann auf den Boden zu
+tröpfeln. Er wartete einen Augenblick und drückte den Kopf
+immer noch nach unten. Dann warf er das Messer auf den
+Tisch und horchte.</p>
+
+<p>Er konnte nichts hören, als das Tropf-Tropf auf den
+fadenscheinigen Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis
+an den Treppenabsatz. Das Haus war vollständig ruhig.
+Niemand war wach. Über das Geländer gebeugt, stand er
+ein paar Augenblicke da und forschte hinab in den schwarzen
+brodelnden Schacht von Dunkelheit. Dann zog er den
+Schlüssel ab, ging in das Zimmer zurück und schloß sich
+darin ein.</p>
+
+<p>Das Wesen saß noch immer in dem Stuhl und hing mit
+gebeugtem Kopf und gekrümmtem Rücken und langen phantastischen
+Armen über den Tisch. Wäre nicht der rote,
+klaffende Riß im Nacken gewesen und die dunkle, geronnene
+Lache, die sich nach und nach auf dem Tisch vergrößerte,
+so hätte man glauben können, der Mann schlafe nur.</p>
+
+<p>Wie schnell das alles geschehen war! Er fühlte sich
+merkwürdig ruhig, ging zur Balkontür, öffnete sie und<a class="pagenum" name="Page_244" title="244"> </a>
+trat hinaus. Der Wind hatte die Nebeltücher auseinandergeblasen,
+und der Himmel sah aus wie der Schweif eines
+ungeheuren Pfaus, der mit Myriaden goldener Augen
+bestirnt war. Er blickte hinab und sah, wie der Polizist
+seine Runde machte und das lange Streiflicht seiner Laterne
+über die Türen der schweigsamen Häuser gleiten ließ.
+Das rotgelbe Licht einer vorbeitrödelnden Droschke glomm
+an der Straßenecke auf und verschwand wieder. Ein Weib
+in einem flatternden Kopftuch schob sich langsam am Gitter
+des Platzes vorbei und taumelte im Gehen. Dann und
+wann stand sie still und sah zurück. Auf einmal begann sie
+mit heiserer Stimme zu singen. Der Schutzmann schlenderte
+über den Damm her und sagte etwas zu ihr. Sie humpelte
+lachend weiter. Ein scharfer Luftzug fegte über den Platz.
+Die Gasflammen zuckten und wurden blau, und die entlaubten
+Bäume schüttelten ihr schwarzes Geäste hin und
+her, das wie ein Eisengeflecht aussah. Ihn fröstelte und
+er trat, das Fenster schließend, wieder zurück.</p>
+
+<p>Als er bei der Türe war, drehte er den Schlüssel und
+öffnete sie. Er blickte den Ermordeten mit keinem Blicke
+mehr an. Er empfand, daß das Geheimnis der ganzen
+Sache darin beruhe, sich die Sachlage nicht zu vergegenwärtigen.
+Der Freund, der das verhängnisvolle Bild gemalt
+hatte, von dem all sein Elend herrührte, war aus
+seinem Leben verschwunden. Das war genug.</p>
+
+<p>Dann fiel ihm die Lampe ein. Es war eine ziemlich
+merkwürdige maurische Arbeit, mattes Silber mit eingelegten
+Arabesken aus dunkelpoliertem Stahl und besetzt
+mit ungeschliffenen Türkisen. Sie mochte vielleicht von<a class="pagenum" name="Page_245" title="245"> </a>
+seinem Diener vermißt werden und er könnte danach fragen.
+Er zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück und
+nahm sie vom Tisch. Dabei mußte er die tote Gestalt
+sehen. Wie ruhig sie war! Wie furchtbar weiß die langen
+Hände aussahen! Es schien eine gräßliche Wachsfigur zu
+sein.</p>
+
+<p>Er schloß die Türe hinter sich und schlich langsam die
+Treppe hinunter. Das Holz knarrte und schien wie vor
+Schmerz aufzustöhnen. Er blieb einige Male stehen und
+wartete. Nein, alles war still. Er hörte nur den Widerhall
+seiner eigenen Schritte.</p>
+
+<p>Als er in seinem Bibliothekszimmer war, erblickte er die
+Tasche und den Rock in der Ecke. Die mußten irgendwo
+verborgen werden. Er öffnete einen Geheimschrank, der in
+der Holztäfelung war, in dem er seine eigenen Verkleidungen
+aufbewahrte, und schob die Sachen hinein. Er
+konnte sie später leicht einmal verbrennen. Dann zog er
+seine Uhr. Es war zwanzig Minuten vor zwei.</p>
+
+<p>Er setzte sich und begann nachzudenken. Jahr für Jahr
+&mdash; fast jeden Monat &mdash; werden in England Leute gehenkt
+für so etwas, wie er soeben getan hatte. Irgendeine wahnwitzige
+Mordlust hatte in der Luft gelegen. Irgendein
+blutroter Stern war der Erde zu nahe gekommen... Und
+doch, wie wollte man es ihm beweisen? Basil Hallward
+hatte das Haus um elf Uhr verlassen. Niemand hatte ihn
+noch einmal wiederkommen sehen. Die meisten Diener
+waren in Selby Royal. Sein eigener Diener war schlafen
+gegangen... Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren,
+und zwar mit dem Mitternachtszug, wie es seine Absicht<a class="pagenum" name="Page_246" title="246"> </a>
+gewesen war. Bei seinen merkwürdigen Gewohnheiten, sich
+zurückzuziehen, würden Monate vergehen, bevor irgendein
+Verdacht entstehen würde. Monate! Alle Spuren konnten
+lange vorher getilgt sein.</p>
+
+<p>Ein plötzlicher Einfall durchzuckte ihn. Er zog seinen
+Pelz an, setzte seinen Hut auf und ging in die Vorhalle
+hinaus. Dort blieb er stehen, weil er den langsamen,
+schweren Tritt des Schutzmanns draußen auf dem Pflaster
+hörte und den tanzenden Widerschein seiner Blendlaterne
+im Türfenster sah. Er wartete und hielt den
+Atem an.</p>
+
+<p>Nach einigen Augenblicken schob er den Riegel zurück
+und schlüpfte hinaus, das Tor ganz leise hinter sich schließend.
+Dann zog er die Klingel. Nach etwa fünf Minuten
+erschien sein Diener, halb angezogen und sehr verschlafen.</p>
+
+<p>„Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis“,
+sagte er eintretend und ging die Stufen hinauf; „aber ich
+habe meinen Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?“</p>
+
+<p>„Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr“, sagte der
+Mann mit einem blinzelnden Blick auf die Uhr.</p>
+
+<p>„Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie
+müssen mich morgen um neun Uhr wecken. Ich habe zu
+tun.“</p>
+
+<p>„Zu Befehl, gnädiger Herr.“</p>
+
+<p>„War jemand heute abend hier?“</p>
+
+<p>„Herr Hallward, gnädiger Herr. Er hat hier bis elf
+Uhr gewartet und ging dann, um seinen Zug nicht zu versäumen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_247" title="247"> </a></p>
+
+<p>„Es tut mir leid, daß ich ihn nicht getroffen habe.
+Sollen Sie mir etwas bestellen?“</p>
+
+<p>„Nein, gnädiger Herr, nur, daß er von Paris schreiben
+würde, wenn er Sie im Klub nicht treffen sollte.“</p>
+
+<p>„Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen
+um neun zu wecken.“</p>
+
+<p>„Nein, gnädiger Herr!“</p>
+
+<p>Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln durch den Torweg
+die Dienertreppe hinab.</p>
+
+<p>Dorian Gray warf Hut und Stock auf den Tisch und
+trat ins Bücherzimmer. Eine Viertelstunde lang ging er
+auf und ab, biß sich auf die Lippen und grübelte. Dann
+nahm er das blaue Adreßbuch von einem Regal und begann
+zu blättern. „Alan Campbell, Hertford Street 152,
+Mayfair.“ Ja, das war der Mann, den er brauchte.</p>
+
+<h2><a name="Vierzehntes_Kapitel" id="Vierzehntes_Kapitel"></a>Vierzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener
+mit einer Tasse Schokolade auf einem Servierbrett herein
+und öffnete die Fensterläden. Dorian lag auf der rechten
+Seite, eine Hand unter seiner Wange und schlief ganz
+friedlich. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder
+Lernen müde geworden ist.</p>
+
+<p>Der Mann mußte ihn zweimal an der Schulter berühren,
+bevor er aufwachte, und als er die Augen öffnete,
+huschte ein leichtes Lächeln über seine Lippen, als wäre
+er von einem entzückenden Traum befangen gewesen. Aber<a class="pagenum" name="Page_248" title="248"> </a>
+er hatte gar nicht geträumt. Seine Nacht war weder
+von Bildern der Freude noch des Grauens gestört worden.
+Doch die Jugend lächelt ohne Grund. Das ist einer ihrer
+besonderen Reize.</p>
+
+<p>Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann
+seine Schokolade zu schlürfen. Die matte Novembersonne
+strömte in das Zimmer. Der Himmel war wolkenlos,
+eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war fast wie ein
+Maimorgen.</p>
+
+<p>Allmählich schlichen die Vorgänge der vergangenen
+Nacht auf lautlosen, blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn
+und bauten sich dort mit furchtbarer Deutlichkeit wieder
+auf. Er erschauerte bei dem Gedächtnis an alles, was er
+durchlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte in ihm
+derselbe sonderbare Haß auf Basil Hallward zurück, der
+ihn dazu getrieben hatte, ihn zu töten, als er im Stuhl
+saß, er wurde kalt vor Wut. Der Tote saß noch immer da
+oben und jetzt dazu im Sonnenlicht. Wie schrecklich das
+war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit,
+nicht an den Tag.</p>
+
+<p>Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig würde, wenn
+er über das brütete, was er hinter sich hatte. Es gibt
+Sünden, deren Reiz mehr in der Erinnerung liegt als in
+der Begehung, seltsame Siege, die mehr dem Stolz Genüge
+tun als der Leidenschaft und die dem Geist ein
+Lustgefühl geben, das stärker ist als jede Wonne, die sie
+Sinnen verschaffen oder jemals verschaffen können. Aber
+diesmal war es keine von diesen. Dies war eine, die man
+aus dem Geiste verjagen, die man mit einem Opiat vergiften,<a class="pagenum" name="Page_249" title="249"> </a>
+die man ersticken mußte, da sie einen sonst selbst
+ersticken würde.</p>
+
+<p>Als es halb schlug, fuhr er sich mit der Hand über die
+Stirn, stand dann rasch auf und zog sich beinahe mit noch
+größerer Sorgfalt an, als gewöhnlich, indem er die größte
+Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner Krawatte und seiner
+Nadel verwandte und seine Ringe mehr als einmal wechselte.
+Er verbrachte auch beim Frühstück längere Zeit,
+kostete von den verschiedenen Gerichten, sprach mit seinem
+Bedienten über neue Livreen, die er der Dienerschaft in
+Selby machen lassen wollte, und sah seine Briefschaften
+durch. Bei einigen Zuschriften lächelte er. Drei ödeten
+ihn an. Einen Brief las er mehrmals durch und zerriß ihn
+dann mit einem leichten Ärger in seinen Mienen. „Was für
+ein gräßliches Ding das Gedächtnis einer Frau ist“,
+hatte Lord Henry einmal gesagt.</p>
+
+<p>Als er seine Schale schwarzen Kaffee getrunken hatte,
+trocknete er die Lippen langsam an seiner Serviette ab,
+gab dem Diener ein Zeichen zu warten, ging zum Schreibtisch
+hinüber, setzte sich und schrieb zwei Briefe. Einen
+steckte er in die Tasche, den anderen reichte er dem
+Diener.</p>
+
+<p>„Bringen Sie den nach Hertford Street 152, Francis,
+und wenn Herr Campbell nicht in der Stadt ist, lassen Sie
+sich seine Adresse geben.“</p>
+
+<p>Sobald er allein war, zündete er sich eine Zigarette an
+und begann auf einem Blatt Papier Skizzen zu machen,
+zeichnete zuerst Blumen, dann Architekturstücke und dann
+menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er, daß jedes Gesicht,<a class="pagenum" name="Page_250" title="250"> </a>
+das er entwarf, eine phantastische Ähnlichkeit mit Basil
+Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf,
+ging zum Bücherschrank und nahm auf gut Glück einen
+Band heraus. Er war fest entschlossen, an das Geschehene
+nicht eher zu denken, als bis es unbedingt notwendig
+war.</p>
+
+<p>Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf
+den Titel des Buches. Es waren Gautiers „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Emaux et
+Camées</span>“, Charpentiers Ausgabe auf japanischem Papier,
+mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus
+zitronengelbem Leder mit einem Blinddruckmuster von
+goldenem Laubwerk und Granatäpfeln in Punktmanier.
+Es war ein Geschenk Adrian Singletons. Als er darin
+blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand
+Lacenaires, die kalte gelbe Hand „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">du supplice encore
+mal lavée</span>“, mit ihren rötlichen Flaumhärchen und ihren
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">doigts de faune</span>“. Er blickte auf seine eigenen weißen,
+spitzen Finger, schauderte unwillkürlich zusammen, las
+dann weiter, bis er zu den lieblichen Versen auf Venedig
+kam.</p>
+
+<p class="poem"><span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">
+Sur une gamme chromatique,</span><br />
+<span style="margin-left: 1em;">Le sein de perles ruisselant,</span><br />
+La Vénus de l'Adriatique<br />
+<span style="margin-left: 1em;">Sort de l'eau son corps rose et blanc.</span></p>
+
+<p class="poem" style="margin-top: 0;"><span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">
+Les dômes, sur l'azur des ondes<br />
+<span style="margin-left: 1em;">Suivant la phrase au pur contur,</span><br />
+S'enflent comme des gorges rondes<br />
+<span style="margin-left: 1em;">Que soulève un soupir d'amour.</span></span><a class="pagenum" name="Page_251" title="251"> </a></p>
+
+
+<p class="poem" style="margin-top: 0;"><span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">
+L'esquif aborde et me dépose,<br />
+<span style="margin-left: 1em;">Jetant son amarre au pilier,</span><br />
+Devant une façade rose,<br />
+<span style="margin-left: 1em;">Sur le marbre d'un escalier.</span></span><br />
+</p>
+
+<p>Wie entzückend die Verse waren! Wenn man sie las,
+hatte man die Empfindung, durch die grünen Wasserstraßen
+dieser rot- und perlfarbigen Stadt zu gleiten, in
+einer schwarzen Gondel mit silbernem Schnabel und schleppenden
+Vorhängen. Schon die Zeilen sahen so aus wie die
+geraden, türkisblauen Kiellinien, die einem folgten, wenn
+man nach dem Lido hinausrudert. Die plötzlichen Farbenblitze
+erinnerten ihn an den Schimmer jener Vögel mit
+opal- und regenbogenfarbenen Hälsen, die um den schlanken,
+wabenartig durchlöcherten Kampanile flattern oder
+mit prächtiger Anmut durch die düstern, staubigen Arkaden
+trippeln. Zurückgelehnt mit halb geschlossenen Augen
+sagte er immer und immer wieder zu sich: &mdash;</p>
+
+<p class="poem">
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Devant une façade rose,<br />
+<span style="margin-left: 1em;">Sur le marbre d'un escalier.</span></span>
+</p>
+
+<p class="postpoem">Das ganze Venedig war in diesen zwei Versen enthalten.
+Er dachte an den Herbst, den er dort verbracht hatte, und
+eine himmlische Liebelei, die ihn zu wahnsinnigen, entzückenden
+Torheiten getrieben hatte. Es gab Romantik in
+jedem Erdenwinkel. Aber Venedig hatte noch wie Oxford
+den Hintergrund für Romantik bewahrt, und für den wahren
+Romantiker ist der Hintergrund alles oder fast alles.
+Basil war einen Teil der Zeit bei ihm gewesen und war<a class="pagenum" name="Page_252" title="252"> </a>
+ganz wild vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme
+Basil! Was für eine schreckliche Art, so zu sterben!</p>
+
+<p>Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen.
+Er las von den Schwalben, die aus- und einfliegen
+in dem kleinen Café zu Smyrna, wo die Hadjis sitzen und
+ihre Bernsteinperlen durch die Hand laufen lassen, und wo
+die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten
+Pfeifen rauchen und ernsthaft miteinander sprechen: er las
+von dem Obelisk auf der Place de la Concorde, der in
+seiner vereinsamten, sonnenlosen Verbannung granitene
+Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen, lotosbedeckten
+Nil, wo die Sphinxe sind, und rosenrote Ibisse
+und weiße Geier mit goldenen Klauen und Krokodile mit
+kleinen Beryllaugen, die durch den grünen, dampfenden
+Schlamm dahinkriechen: er fing an, den Versen nachzusinnen,
+die ihre Musik aus Marmor locken, der von Küssen
+fleckig geworden ist, und die uns von der sonderbaren
+Statue erzählen, die Gautier einer Altstimme vergleicht, von
+dem „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">monstre charmant</span>“, das in dem Porphyrsaal des
+Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel seinen Händen
+das Buch. Er wurde nervös, und ein gräßlicher Angstanfall
+schüttelte ihn. Was nun tun, wenn Alan Campbell nicht
+in England war? Tage könnten möglicherweise verstreichen,
+bevor er zurückkäme. Vielleicht weigerte er sich, zu kommen.
+Was sollte er dann tun? Jeder Augenblick war von tödlicher
+Bedeutung.</p>
+
+<p>Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf
+Jahren &mdash; sogar fast unzertrennlich. Dann hatte die
+Intimität plötzlich ein Ende. Wenn sie sich jetzt in Gesellschaft<a class="pagenum" name="Page_253" title="253"> </a>
+trafen, war es nur noch Dorian Gray, der da
+lächelte, niemals Alan Campbell.</p>
+
+<p>Er war ein außerordentlich begabter junger Mann,
+wenn er auch kein eigentliches Verhältnis zu den sichtbaren
+Künsten hatte, und der geringe Sinn für Poesie, den er
+besaß, vollständig von Dorian herrührte. Die geistige
+Leidenschaft, die ihn beherrschte, erstreckte sich nur auf die
+Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil
+seiner Zeit mit Arbeiten im Laboratorium verbracht und
+hatte sein Examen in den Naturwissenschaften mit vorzüglich
+bestanden. Noch jetzt war er dem Studium der Chemie
+ergeben und hatte ein eigenes Laboratorium, in das er
+sich häufig den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum
+großen Kummer seiner Mutter, die sich darauf verbissen
+hatte, daß er für das Parlament kandidieren sollte, und die
+eine unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker sei ein Mensch,
+der Rezepte anfertige. Indessen war er ein ausgezeichneter
+Musiker und spielte Geige und Klavier besser als die
+meisten Dilettanten. Die Musik war es denn auch wirklich,
+die Dorian Gray und ihn zueinander gebracht hatte &mdash; die
+Musik und die unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian
+ausüben konnte, wenn er wollte, und auch oft ausübte,
+ohne es zu wissen. Sie hatten sich bei Lady Berkshire an
+dem Abend kennengelernt, als Rubinstein dort spielte, und
+man sah sie von da an immer zusammen in der Oper und
+überall, wo es gute Musik gab. Achtzehn Monate dauerte
+diese Freundschaft. Campbell war regelmäßig entweder
+in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie
+für viele andere war Dorian Gray die Verkörperung<a class="pagenum" name="Page_254" title="254"> </a>
+alles dessen, was wunderbar und bezaubernd im Leben
+ist. Ob zwischen ihnen ein Streit vorgefallen war oder
+nicht, wußte kein Mensch. Aber plötzlich bemerkten die
+Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich
+trafen, und daß Campbell jede Gesellschaft frühzeitig
+verließ, in der Dorian anwesend war. Er war auch verändert
+&mdash; bisweilen merkwürdig melancholisch, schien kaum
+noch Musik hören zu können, spielte nie mehr selbst und
+gab, wenn man ihn dazu aufforderte, als Entschuldigung
+an, daß ihn die Wissenschaft so stark in Anspruch nähme,
+daß er keine Zeit mehr zum Üben habe. Und das war auch
+der Fall. Er schien jeden Tag mehr Interesse für biologische
+Studien zu gewinnen, und sein Name erschien ein- oder
+zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung
+mit gewissen außergewöhnlichen Experimenten.</p>
+
+<p>Das war der Mann, auf den Dorian Gray wartete.
+Jede Sekunde blickte er auf die Uhr. Als Minute um
+Minute verstrich, wurde er furchtbar aufgeregt. Schließlich
+stand er auf und begann im Zimmer hin und her
+zu gehen wie irgendeine schöne Bestie im Käfig. Er holte
+weiten Schrittes, fast sprunghaft, aus und trat leise auf.
+Seine Hände waren eigentümlich kalt.</p>
+
+<p>Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien ihm
+mit bleiernen Füßen zu schleichen, während er von ungeheuren
+Wirbelwinden zum zackigen Grat einer schwarzen
+Kluft oder eines Abgrundes hingefegt wurde. Er wußte,
+was dort seiner harrte; er sah es und preßte schaudernd
+mit feuchten Händen seine brennenden Lider zusammen,
+als wolle er sein Gehirn der Sehkraft berauben und die<a class="pagenum" name="Page_255" title="255"> </a>
+Augäpfel in ihre Höhlen zurückdrängen. Es war umsonst.
+Das Gehirn hatte seine eigene Nahrung, mit der es sich
+mästete, und die durch den Schrecken grotesk gemachte Einbildungskraft
+krümmte sich vor Schmerz wie ein lebendes
+Wesen, tanzte wie eine widerwärtige Marionette in einer
+Schaubude und grinste durch bewegliche Masken hindurch.
+Dann blieb auf einmal die Zeit für ihn stehen. Ja, dieses
+blinde, langsamatmende Wesen kroch nicht mehr, und da
+sie tot war, stürzten sich gräßliche Gedanken mit Blitzesschnelle
+über ihn hin und zerrten eine scheußliche Zukunft
+aus ihrem Grabe und zeigten sie ihm. Er starrte darauf hin.
+Ihre Entsetzlichkeit versteinerte ihn.</p>
+
+<p>Endlich öffnete sich die Tür, und sein Bedienter trat ein.
+Er wandte ihm seine gläsernen Augen zu.</p>
+
+<p>„Herr Campbell, gnädiger Herr“, sagte der Mann.</p>
+
+<p>Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen
+Lippen und die Farbe kehrte in seine Wangen zurück.</p>
+
+<p>„Bitten Sie ihn sofort herein, Francis.“ Er fühlte,
+daß er wieder er selbst war. Der Anfall von Feigheit war
+überwunden.</p>
+
+<p>Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen
+Augenblicken trat Alan Campbell ein, mit sehr strengem
+Gesicht und etwas bleich, und seine blasse Farbe wurde
+durch das kohlschwarze Haar und die dunkeln Brauen noch
+verstärkt.</p>
+
+<p>„Alan! das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß
+du gekommen bist.“</p>
+
+<p>„Ich hatte die Absicht, dein Haus nie wieder zu betreten,
+Gray. Aber du schriebst, es handle sich um Leben und<a class="pagenum" name="Page_256" title="256"> </a>
+Tod.“ Seine Stimme war hart und kalt. Er sprach langsam
+und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in dem
+festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er
+behielt die Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes
+und schien die Bewegung, mit der ihm die Hand entgegengestreckt
+worden war, nicht zu bemerken.</p>
+
+<p>„Ja, es handelt sich um Leben und Tod, und für mehr
+als einen Menschen, Alan. Setze dich.“</p>
+
+<p>Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian
+setzte sich ihm gegenüber. Die Augen der beiden Männer
+trafen sich. In denen Dorians lag unendliches Mitleid.
+Er wußte, was er jetzt tun werde, war schrecklich.</p>
+
+<p>Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens beugte er
+sich nach vorn und sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes
+Wortes auf dem Gesicht des Mannes ablesend, den er
+hatte holen lassen: „Alan, in einem verschlossenen Dachzimmer
+dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger
+Mensch außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann
+an einem Tisch. Er ist jetzt seit zehn Stunden tot. Bleib'
+ruhig sitzen und sieh mich nicht so an. Wer der Mann ist,
+warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die dich nicht
+kümmern. Was du zu tun hast, ist &mdash;“</p>
+
+<p>„Halt, Gray! Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was
+du mir gesagt hast, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an.
+Ich lehne es entschieden ab, in dein Leben verwickelt zu
+werden. Behalte deine fürchterlichen Geheimnisse für dich!
+Sie interessieren mich nicht mehr.“</p>
+
+<p>„Alan, du wirst dafür Interesse haben müssen. Dies
+eine Geheimnis wird dich interessieren müssen. Es tut mir<a class="pagenum" name="Page_257" title="257"> </a>
+furchtbar leid um dich, Alan. Aber ich kann dir nicht
+helfen. Du bist der einzige Mensch, der mich zu retten vermag.
+Ich bin gezwungen, dich in die Sache hineinzuziehen.
+Ich habe keine Wahl. Alan, du bist ein Mann der Naturwissenschaft.
+Du verstehst dich auf Chemie und diese Dinge.
+Du hast Experimente gemacht. Was du zu tun hast, ist,
+das Wesen da oben zu vernichten, so zu vernichten, daß
+auch nicht eine Spur davon übrigbleibt. Niemand hat
+diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet
+ihn im Augenblick in Paris. Monatelang wird er
+nicht vermißt werden. Wenn er vermißt wird, darf hier
+keine Spur von ihm gefunden werden. Alan, du mußt ihn,
+ihn und alles, was zu ihm gehört, in eine Handvoll Asche
+verwandeln, die ich in die Luft streuen kann.“</p>
+
+<p>„Du bist wahnsinnig, Dorian.“</p>
+
+<p>„Ah! wie ich darauf gewartet habe, daß du mich
+wieder Dorian nennst.“</p>
+
+<p>„Du bist wahnsinnig, sag' ich dir &mdash; wahnsinnig, daß
+du dir einbildest, ich wurde auch nur einen Finger rühren,
+dir zu helfen, wahnsinnig, daß du mir dieses ungeheuerliche
+Geständnis ablegst. Ich will damit nichts zu tun
+haben, was es auch sei. Glaubst du, ich setze meine Ehre
+für dich aufs Spiel? Was geht's mich an, mit welchem
+Teufelswerk du zu tun hast.“</p>
+
+<p>„Es war ein Selbstmord, Alan.“</p>
+
+<p>„Das freut mich, aber wer hat ihn dazu getrieben? Du,
+vermute ich.“</p>
+
+<p>„Weigerst du dich noch immer, das für mich zu tun?“</p>
+
+<p>„Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit<a class="pagenum" name="Page_258" title="258"> </a>
+zu schaffen haben. Es liegt mir gar nichts daran, was
+für eine Schande über dich kommt. Du verdienst es vollauf.
+Es würde mir nicht leid tun, wenn ich dich entehrt,
+öffentlich entehrt sähe. Wie kannst du es wagen, mich,
+gerade mich von allen Menschen in der Welt in diese
+Scheußlichkeit hineinbringen zu wollen? Ich hätte geglaubt,
+du verständest mehr vom Charakter der Menschen.
+Dein Freund, Lord Henry Wotton, kann dich nicht sehr
+über Psychologie aufgeklärt haben, worüber er dich auch
+sonst aufgeklärt hat. Nichts wird mich dazu vermögen,
+auch nur einen Schritt zu tun, um dir zu helfen. Du bist
+an den falschen Mann gekommen. Geh zu einem deiner
+Freunde, nicht zu mir.“</p>
+
+<p>„Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Du
+weißt nicht, was ich durch ihn gelitten habe. Mein Leben
+mag sein, wie es wolle, er hatte mehr damit zu tun, es zu
+erschaffen und zu zerstören, als der arme Harry. Er mag
+es nicht gewollt haben, die Wirkung ist dieselbe.“</p>
+
+<p>„Mord! Guter Gott, Dorian, bist du jetzt soweit gekommen?
+Ich werde dich nicht anzeigen. Das ist meines
+Amtes nicht. Im übrigen wird man dich fassen, auch wenn
+ich mich nicht in die Sache mische. Niemand begeht ein
+Verbrechen, ohne dabei eine Dummheit zu machen. Also
+ich will nichts damit zu tun haben.“</p>
+
+<p>„Du mußt etwas damit zu tun haben. Warte, warte
+noch einen Augenblick; hör' mich an. Nur anhören, Alan.
+Alles, was ich von dir verlange, ist ein bestimmtes wissenschaftliches
+Experiment. Du gehst in Spitäler und Leichenhäuser,
+und das Schreckliche, was du dort tust, rührt dich<a class="pagenum" name="Page_259" title="259"> </a>
+nicht. Wenn du diesen Mann in irgendeinem gräßlichen
+Seziersaal oder in einem mißduftenden Laboratorium auf
+einem rohen Tisch liegen sähest, mit roten Röhren, die
+man in ihn hineingebohrt hat, damit daraus das Blut
+durchfließen kann, dann würdest du ihn einfach als ein
+bewundernswertes Objekt betrachten. Kein Härchen würde
+sich dir sträuben. Du hättest nicht die Empfindung, irgend
+etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil, du würdest wahrscheinlich
+glauben, der Menschheit eine Wohltat zu erweisen,
+oder die Summe des menschlichen Wissens zu vermehren
+oder den intellektuellen Wissensdrang zu befriedigen
+oder so etwas dergleichen. Was ich von dir fordere,
+ist nichts anderes, als was du schon oft getan hast. Wahrhaftig,
+es muß viel weniger gräßlich sein, einen Leichnam
+aus der Welt zu schaffen, als das, was du gewöhnlich tust.
+Und bedenke, es ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn
+er entdeckt wird, bin ich verloren; und er muß sicher entdeckt
+werden, wenn du mir nicht hilfst.“</p>
+
+<p>„Ich habe keine Lust, dir zu helfen. Du vergißt das.
+Die ganze Sache ist mir gleichgültig. Ich habe nichts damit
+zu tun.“</p>
+
+<p>„Alan, ich beschwöre dich. Denke an die Lage, in der ich
+bin. Jetzt eben, ehe du kamst, war ich fast ohnmächtig vor
+Schreck. Du kannst eines Tages selbst einmal die Angst
+kennenlernen. Nein, denke nicht daran! Betrachte die
+Sache vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus. Du
+forschst doch sonst nicht danach, woher die toten Wesen
+kommen, mit denen du experimentierst. Forsche auch jetzt
+nicht danach. Ich habe dir ohnehin zuviel gesagt. Aber<a class="pagenum" name="Page_260" title="260"> </a>
+ich bitte dich, tu, um was ich dich bat. Wir waren doch einmal
+Freunde, Alan.“</p>
+
+<p>„Sprich nicht von jenen Tagen, Dorian; sie sind tot.“</p>
+
+<p>„Die Toten verweilen manchmal. Der Mann da oben
+geht nicht weg. Er sitzt am Tisch mit vorgebeugtem Kopf
+und ausgestreckten Armen. Alan! Alan! wenn du mir
+nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! man wird
+mich hängen! Begreifst du nicht? Man wird mich hängen,
+für das, was ich getan habe.“</p>
+
+<p>„Es hat keinen Sinn, diese Szene weiter auszudehnen.
+Ich weigere mich ganz entschieden, etwas damit zu tun
+zu haben. Es ist Tollheit von dir, mich darum zu
+bitten.“</p>
+
+<p>„Du weigerst dich?“</p>
+
+<p>„Ja!“</p>
+
+<p>„Ich beschwöre dich, Alan!“</p>
+
+<p>„Es ist nutzlos.“</p>
+
+<p>Derselbe mitleidige Ausdruck kam in Dorian Grays
+Augen. Dann reckte er die Hand aus, nahm ein Stück
+Papier und schrieb etwas darauf. Er las es zweimal durch,
+faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den Tisch.
+Nachdem er dies getan hatte, stand er auf und trat ans
+Fenster.</p>
+
+<p>Campbell sah ihn verwundert an, nahm dann das Papier
+und öffnete es. Als er es gelesen hatte, wurde sein
+Gesicht totenblaß und er sank in seinen Stuhl zurück. Ein
+fürchterliches Gefühl der Schwäche überwältigte ihn. Ihm
+war, als ob sich sein Herz in einer leeren Höhle zu Tode
+schlüge.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_261" title="261"> </a></p>
+
+<p>Nach zwei oder drei Minuten furchtbaren Schweigens
+wandte sich Dorian um, ging zu ihm hin, stellte sich hinter
+ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.</p>
+
+<p>„Es tut mir so leid um dich, Alan,“ flüsterte er, „aber
+du läßt mir keine Wahl. Ich habe den Brief schon geschrieben.
+Hier ist er. Du siehst die Adresse. Wenn du mir
+nicht hilfst, muß ich ihn abschicken. Du weißt, was darauf
+erfolgt. Aber du wirst mir helfen. Es ist unmöglich, daß
+du jetzt noch nein sagst. Ich wollte dir das ersparen. Du
+mußt mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, das zuzugeben.
+Du warst bitter, hart, beleidigend. Du hast mich
+behandelt, wie es nie ein Mensch gewagt hat, mich zu behandeln.
+Wenigstens kein lebender Mensch. Ich ertrug es
+alles. Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren.“</p>
+
+<p>Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und ein
+Frösteln überlief ihn.</p>
+
+<p>„Ja, jetzt ist die Reihe an mir, Bedingungen zu diktieren,
+Alan. Du weißt, was ich verlange. Die Sache ist
+ganz einfach. Komm, schraube dich nicht in ein Fieber
+hinein. Die Sache muß geschehen. Schau ihr ins Gesicht
+und vollbringe sie.“</p>
+
+<p>Ein Stöhnen klang von Campbells Lippen, und er
+zitterte am ganzen Leibe. Das Ticken der Uhr auf dem
+Kaminsims schien ihm die Zeit in einzelne Atome eines
+Todeskampfes zu zerstückeln, von denen das kleinste schon
+zu schrecklich war, um es zu ertragen. Er hatte das Gefühl,
+als ob ein eiserner Ring um seine Stirn nach und
+nach festgespannt wurde, als ob die Schande, mit der man
+ihn bedrohte, schon über ihn käme. Die Hand auf seiner<a class="pagenum" name="Page_262" title="262"> </a>
+Schulter beschwerte ihn wie ein Gewicht von Blei. Sie war
+unerträglich. Sie schien ihn zu zerquetschen.</p>
+
+<p>„Komm, Alan, du mußt dich gleich entscheiden.“</p>
+
+<p>„Ich kann es nicht tun“, sagte er mechanisch, als könnten
+die Worte etwas ändern.</p>
+
+<p>„Du mußt. Du hast keine Wahl. Zaudere nicht.“</p>
+
+<p>Er schwankte einen Augenblick. „Ist ein Ofen da oben?“</p>
+
+<p>„Ja, ein Gasofen mit Asbest.“</p>
+
+<p>„Dann muß ich nach Hause gehen und einiges aus dem
+Laboratorium holen.“</p>
+
+<p>„Nein, Alan, du darfst das Haus nicht verlassen.
+Schreib' auf ein Blatt Papier, was du brauchst, und mein
+Diener nimmt eine Droschke und wird dir die Sachen
+bringen.“</p>
+
+<p>Campbell kritzelte ein paar Zeilen hin, trocknete sie ab
+und adressierte ein Kuvert an seinen Assistenten. Dorian
+nahm das Briefchen und las es aufmerksam durch. Dann
+klingelte er und gab es seinem Diener mit dem Auftrag, so
+rasch als möglich zurückzukommen und die im Schreiben
+bezeichneten Sachen mitzubringen.</p>
+
+<p>Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös
+zusammen, stand vom Stuhl auf und ging zum Kamin
+hinüber. Er schüttelte sich in einer Art kalten Fiebers. Fast
+zwanzig Minuten lang sprach keiner der beiden Männer.
+Eine Fliege schwirrte summend durch das Zimmer, und das
+Ticktack der Uhr klang wie der Fall eines Hammers.</p>
+
+<p>Als es eins schlug, drehte sich Campbell um, blickte auf
+Dorian Gray und sah, daß seine Augen mit Tränen gefüllt
+waren. In den reinen, edlen Zügen dieses traurigen Gesichts<a class="pagenum" name="Page_263" title="263"> </a>
+lag etwas, was ihn wütend zu machen schien.
+„Du bist infam, ganz infam“, rief er mit unterdrückter
+Stimme.</p>
+
+<p>„Ruhig, Alan, du hast mir das Leben gerettet“, sagte
+Dorian.</p>
+
+<p>„Dein Leben? Gott im Himmel! Was für ein Leben
+ist das! Du bist von Verderbnis zu Verderbnis geschritten,
+und jetzt hast du mit Mord den Gipfel erreicht. Wenn ich
+tue, was ich tun werde, was du mich zu tun zwingst, so
+denke ich dabei wahrhaftig nicht an dein Leben.“</p>
+
+<p>„Ach, Alan,“ flüsterte Dorian seufzend, „ich wünschte,
+du hättest den tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das
+ich mit dir habe.“ Er kehrte sich während dieser Worte ab
+und stand da und blickte in den Garten hinaus. Campbell
+gab keine Antwort.</p>
+
+<p>Nach etwa zehn Minuten klopfte es an die Tür, und
+der Diener trat ein und brachte einen großen Mahagonikasten
+mit Chemikalien, eine lange Rolle Stahl- und
+Platindraht und zwei absonderlich geformte Eisenklammern.</p>
+
+<p>„Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?“ fragte
+er Campbell.</p>
+
+<p>„Ja“, antwortete Dorian. „Und ich bedaure, Francis,
+aber ich habe noch einen Weg für Sie. Wie heißt der
+Mann in Richmond, der Selby mit Orchideen versorgt?“</p>
+
+<p>„Harden, gnädiger Herr.“</p>
+
+<p>„Richtig &mdash; Harden. Sie müssen gleich nach Richmond
+fahren, Harden selbst sprechen und ihm sagen, er solle doppelt
+soviel Orchideen schicken, als ich bestellt habe, und
+möglichst wenig weiße dabei. Eigentlich will ich überhaupt<a class="pagenum" name="Page_264" title="264"> </a>
+keine weißen. Es ist ein schöner Tag, Francis, und Richmond
+ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht
+behelligen.“</p>
+
+<p>„Nichts zu sagen, gnädiger Herr. Zu welcher Zeit soll
+ich zurück sein?“</p>
+
+<p>Dorian sah Campbell an. „Wie lange wird dein Experiment
+dauern, Alan?“ fragte er mit ruhiger, gleichgültiger
+Stimme. Die Gegenwart eines Dritten im Zimmer
+schien ihm außerordentlichen Mut einzuflößen.</p>
+
+<p>Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen.
+„Es wird ungefähr fünf Stunden beanspruchen“, antwortete
+er.</p>
+
+<p>„Dann ist es früh genug, wenn Sie um sieben zurück
+sind, Francis. Oder halt: legen Sie meine Sachen zum
+Umkleiden zurecht, Sie können dann den Abend für sich
+verwenden. Ich esse nicht zu Hause, brauche Sie also
+nicht.“</p>
+
+<p>„Ich danke, gnädiger Herr“, sagte der Mann und verließ
+das Zimmer.</p>
+
+<p>„Jetzt, Alan, ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer
+der Kasten ist! Ich will ihn dir tragen. Nimm du die anderen
+Sachen.“ Er sprach hastig und in befehlendem Tone.
+Campbell fühlte sich von ihm beherrscht. Sie verließen
+das Zimmer gleichzeitig.</p>
+
+<p>Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, nahm
+Dorian den Schlüssel heraus und schloß auf. Dann blieb
+er stehen, und ein Ausdruck von Unruhe zeigte sich in
+seinem Blick. Er schauderte. „Ich glaube, ich kann nicht
+hineingehen, Alan“, flüsterte er.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_265" title="265"> </a></p>
+
+<p>„Das ist mir ganz gleich. Ich brauche dich nicht“, sagte
+Campbell kalt.</p>
+
+<p>Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Als er dies tat, sah
+er seinem Porträt, das im hellen Sonnenlicht hing, grade
+ins Gesicht. Davor lag auf den Dielen der herabgerissene
+Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in der vergangenen
+Nacht zum ersten Male in seinem Leben vergessen hatte,
+die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen, und wollte
+eben nach vorn stürzen, als er schaudernd zurückprallte.</p>
+
+<p>Was war das für ein widerlicher, roter Fleck, der naß
+und glänzend an einer der Hände klebte, als hätte die
+Leinwand Blut geschwitzt? Wie schrecklich das war! &mdash;
+Schrecklicher schien es ihm in diesem Augenblick als das
+schweigsame Ding, das, wie er wußte, noch über den Tisch
+gebeugt dasaß, das Ding, dessen grotesker, unglückseliger
+Schatten auf dem fleckigen Teppich ihm zeigte, daß es sich
+nicht bewegt hatte, sondern noch da war, wo er es gelassen
+hatte.</p>
+
+<p>Er atmete tief auf, öffnete die Tür etwas weiter und
+ging mit halbgeschlossenen Augen und abgewandtem Kopf
+rasch hinein, entschlossen, mit keinem einzigen Blick nach
+dem Toten hinzusehen. Dann bückte er sich, nahm den gold-
+und purpurschimmernden Vorhang auf und warf ihn
+gerade über das Bild.</p>
+
+<p>Dann blieb er stehen, voll Angst, sich umzuwenden und
+seine Augen richteten sich auf die verschlungenen Muster
+des Vorhangs. Er hörte Campbell den schweren Kasten
+hereinbringen, und die Eisenklammern und die anderen
+Geräte, die er sich für seine entsetzliche Arbeit hatte kommen<a class="pagenum" name="Page_266" title="266"> </a>
+lassen. Er begann sich zu fragen, ob Campbell und Basil
+Hallward einander je begegnet waren und wenn, welche
+Meinung sie voneinander gehabt hätten.</p>
+
+<p>„Lasse mich jetzt allein“, sagte eine rauhe Stimme
+hinter ihm.</p>
+
+<p>Er kehrte sich um und lief hinaus, eben noch gerade wahrnehmend,
+daß der Tote in seinen Stuhl zurückgelehnt worden
+war und daß Campbell in ein schimmerndes, gelbes
+Gesicht starrte. Als er die Stufen hinabging, hörte er,
+wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde.</p>
+
+<p>Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell wieder
+in die Bibliothek trat. Er war blaß, aber vollständig
+ruhig. „Ich habe getan, was du von mir verlangt hast“,
+sagte er leise. „Und jetzt adieu. Wir wollen uns nie wiedersehen.“</p>
+
+<p>„Du hast mich vorm Untergang gerettet, Alan“, sagte
+Dorian ganz schlicht. „Ich kann das nie vergessen.“</p>
+
+<p>Sobald ihn Campbell verlassen hatte, ging er hinauf.
+Ein schrecklicher Geruch von Salpetersäure war im Zimmer.
+Aber das Ding, das am Tisch gesessen hatte, war fort.</p>
+
+<h2><a name="Funfzehntes_Kapitel" id="Funfzehntes_Kapitel"></a>Fünfzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Am selben Abend um halb neun Uhr wurde Dorian
+Gray in sorgfältigster Toilette, im Knopfloch einen großen
+Strauß Parmaveilchen tragend, von dienernden Lakaien
+in den Salon Lady Narboroughs geführt. Er hatte heftiges<a class="pagenum" name="Page_267" title="267"> </a>
+Kopfweh und furchtbar überreizte Nerven, aber seine
+Gebärde, als er sich über die Hand seiner Gastgeberin
+beugte, war ebenso leicht und anmutig wie sonst. Vielleicht
+sieht man nie gelassener aus, als wenn man eine Rolle
+zu spielen hat. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an
+diesem Abend sah, geglaubt, daß er eine Tragödie hinter
+sich habe, die so schrecklich war wie irgendeine Tragödie
+unserer Zeit. Diese feingeformten Finger konnten doch nie
+ein Messer gezückt haben, um eine Sünde zu begehen, diese
+lächelnden Lippen nie Gott und Gottes Güte geschmäht
+haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens
+wundern und einen Augenblick lang spürte er in ganzer
+Stärke den grauenvollen Genuß eines Doppeldaseins.</p>
+
+<p>Es war eine kleine Gesellschaft, die Lady Narborough
+kurzer Hand zusammengeladen hatte, und die Gastgeberin
+war eine sehr gescheite Frau mit ansehnlichen Überbleibseln
+einer unleugbar hervorragenden Häßlichkeit, wie es
+Lord Henry auszudrücken liebte. Sie hatte sich einem unserer
+langweiligsten Botschafter als eine ausgezeichnete
+Frau erwiesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie sich's
+geziemte, in einem marmornen Mausoleum beigesetzt hatte,
+das nach ihren eigenen Entwürfen erbaut worden war,
+und seitdem sie ihre Töchter an einige reiche, etwas angejahrte
+Herren verheiratet hatte, widmete sie sich den
+Genüssen französischer Romane, französischer Kochkunst und
+französischen Geistes, wenn sie ihn auftreiben konnte.</p>
+
+<p>Dorian war einer ihrer erklärten Lieblinge, und sie sagte
+ihm immer, sie sei äußerst froh darüber, ihn nicht in früheren
+Jahren kennengelernt zu haben. „Ich weiß, mein<a class="pagenum" name="Page_268" title="268"> </a>
+Lieber, ich hätte mich sinnlos in Sie verliebt,“ pflegte sie
+zu sagen, „und wäre Ihretwillen der größten Tollheiten
+fähig gewesen. Es ist ein großes Glück, daß man damals
+noch gar nicht an Sie dachte. Zu meiner Zeit waren die
+Tollheiten eine so seltene Ware, daß ich nicht einmal eine
+harmlose Liebelei mit jemand gehabt habe. Indessen war
+das nur die Schuld Narboroughs. Er war schrecklich kurzsichtig,
+und es ist alles andere als ein Vergnügen, einen
+Ehemann zu betrügen, der nie etwas sieht.“</p>
+
+<p>Ihre Gäste waren an diesem Abend ziemlich langweilig.
+Die Sache war so, wie sie Dorian hinter einem ziemlich
+schäbigen Fächer erklärte, daß eine ihrer verheirateten Töchter
+plötzlich zu Besuch gekommen war, und, was die Sache
+noch ärgerlicher machte, obendrein ihren Mann mitgebracht
+hatte.</p>
+
+<p>„Ich finde das sehr unliebenswürdig von ihr, mein
+Lieber“, flüsterte sie ihm zu. „Natürlich bin ich jeden
+Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von Homburg
+komme, aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal
+frische Luft haben, und außerdem rüttle ich sie dann etwas
+auf. Sie ahnen ja gar nicht, was die für ein Leben da
+hinten führen. Es ist das reine, unverfälschte Landleben.
+Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun haben, und
+gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben.
+In der ganzen Gegend da hat es seit der Zeit der Königin
+Elisabeth keinen Skandal gegeben, und infolgedessen schlafen
+sie alle nach dem Essen ein. Sie sollen aber nicht neben
+einem von ihnen sitzen. Sie sollen neben mir sitzen und
+mich amüsieren.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_269" title="269"> </a></p>
+
+<p>Dorian murmelte ein anmutiges Kompliment und blickte
+sich im Zimmer um. Ja, es war wirklich eine öde Gesellschaft.
+Zwei von den Anwesenden hatte er vordem nie
+gesehen, und die anderen waren Ernest Harrowden, eine
+der Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man so
+häufig in Londoner Klubs begegnet, die keine Feinde
+haben, die aber keiner ihrer Freunde leiden kann: dann
+Lady Ruxton, eine aufgeputzte Dame mit einer Papageiennase,
+im Alter von siebenundvierzig Jahren, die sich unablässig
+bemühte, sich zu kompromittieren, die aber so lächerlich
+häßlich war, daß zu ihrer großen Enttäuschung niemals
+einer etwas Schlechtes von ihr glauben wollte: Frau
+Erlynne, eine zudringliche Nichtigkeit mit einem entzückenden
+Lispeln und venezianisch rotem Haar: Lady Alice
+Chapman, die Tochter der Wirtin, eine schlechtgekleidete,
+bedeutungslose Frau mit einem der charakteristischen englischen
+Gesichter, an die man sich nie wieder erinnert, wenn
+man sie einmal gesehen hat, und ihr Mann, ein rotbäckiges,
+weißbärtiges Geschöpf, das, wie so viele seiner Kaste, der
+Überzeugung lebte, daß ungewöhnliche Liebenswürdigkeit
+den vollständigen Mangel an Gedanken ersetzen könne.</p>
+
+<p>Es tat ihm beinah leid, daß er gekommen war, bis Lady
+Narborough einen Blick auf die große goldene Pendeluhr
+warf, die sich mit ihren geschmacklosen Zieraten auf dem
+malvefarbig behängten Kamin spreizte, und ausrief: „Wie
+häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich
+schickte heute früh auf gut Glück zu ihm hinüber und er hat
+fest zugesagt, mich nicht im Stich zu lassen.“</p>
+
+<p>Es war ein Trost, daß Harry kommen sollte, und als<a class="pagenum" name="Page_270" title="270"> </a>
+sich die Tür öffnete und er seine sanfte musikalische
+Stimme hörte, die irgendeine läppische Ausrede bezaubernd
+hervorbrachte, schwand seine Verdrießlichkeit.</p>
+
+<p>Aber er konnte bei Tisch dennoch nichts essen. Platte
+nach Platte wurde, von ihm unberührt, weggetragen. Lady
+Narborough schalt ihn unaufhörlich, weil sie darin „eine
+Beleidigung sah für den armen Adolphe, der das ganze
+Menü eigens für sie erfunden hätte“, und dann und wann
+blickte Lord Henry zu ihm herüber und verwunderte sich
+über sein Schweigen und sein zerstreutes Wesen. Von Zeit
+zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit Champagner. Er
+trank hastig, und sein Durst schien zu wachsen.</p>
+
+<p>„Dorian,“ sagte Lord Henry endlich, als das Chaudfroid
+herumgereicht wurde, „was ist heute abend mit dir
+los? Du bist ja so verstimmt.“</p>
+
+<p>„Ich glaube, er ist verliebt,“ sagte Lady Narborough,
+„und er hat Angst, es mir zu erzählen, aus Furcht, daß ich
+eifersüchtig würde. Er hat auch ganz recht. Ich würde es
+gewiß.“</p>
+
+<p>„Teure Lady Narborough,“ flüsterte Dorian lächelnd,
+„ich bin seit einer vollen Woche nicht verliebt gewesen &mdash;
+genau gesagt, nicht seitdem Madame de Ferrol aus London
+weg ist.“</p>
+
+<p>„Daß ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!“
+rief die alte Dame. „Ich kann es wirklich nicht verstehen.“</p>
+
+<p>„Das kommt einfach daher, weil sie Sie an die Zeit
+erinnert, wo Sie ein kleines Mädchen waren, Lady Narborough“,
+sagte Lord Henry. „Sie ist das einzige Bindeglied
+zwischen uns und Ihren kurzen Röckchen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_271" title="271"> </a></p>
+
+<p>„Sie erinnert mich wirklich nicht an meine kurzen Röckchen,
+Lord Henry. Aber ich entsinne mich ihrer sehr gut
+in Wien vor dreißig Jahren und wie sie sich damals
+dekolletierte.“</p>
+
+<p>„Sie dekolletiert sich noch immer,“ antwortete er und
+nahm eine Olive in seine langen Finger, „und wenn sie
+sehr elegant gekleidet ist, sieht sie aus wie die Luxusausgabe
+eines schlechten, französischen Romans. Sie ist wirklich
+wunderbar und voller Überraschungen. Ihr Talent
+für Familienliebe ist außerordentlich. Als ihr dritter Mann
+starb, wurde ihr Haar vor Trauer ganz goldblond.“</p>
+
+<p>„Wie kannst du so etwas sagen, Harry!“ rief Dorian.</p>
+
+<p>„Das ist eine höchst romantische Erklärung“, lachte die
+Gastgeberin. „Aber ihr dritter Mann, Lord Henry! Sie
+wollen doch nicht sagen, daß Ferrol der vierte ist?“</p>
+
+<p>„Doch, Lady Narborough.“</p>
+
+<p>„Ich glaube kein Wort davon.“</p>
+
+<p>„Gut, dann fragen Sie Herrn Gray, er ist einer ihrer
+intimsten Freunde.“</p>
+
+<p>„Ist das wahr, Herr Gray?“</p>
+
+<p>„Sie versichert es mir, Lady Narborough“, erwiderte
+Dorian. „Ich fragte sie, ob sie wie Margarete von Navarra
+ihre Herzen einbalsamiert habe und am Gürtel
+trage. Sie sagte mir, sie täte das nicht, weil keiner von
+ihnen überhaupt ein Herz gehabt hätte.“</p>
+
+<p>„Vier Männer! Auf mein Wort, das ist <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">trop de zêle</span>.“</p>
+
+<p>„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Trop d'audace</span> sagte ich ihr“, entgegnete Dorian.</p>
+
+<p>„Oh! sie ist mutig genug, alles zu tun, mein Lieber.
+Und wie ist Ferrol? Ich kenne ihn nicht.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_272" title="272"> </a></p>
+
+<p>„Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse“,
+sagte Lord Henry und schlürfte seinen Wein.</p>
+
+<p>Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. „Lord
+Henry, ich bin nicht im mindesten überrascht, daß die ganze
+Welt über Ihre Ruchlosigkeit klagt.“</p>
+
+<p>„Aber welche ganze Welt tut das?“ fragte Lord Henry,
+seine Brauen hochziehend. „Es kann nur die Nachwelt
+sein. Denn diese Welt und ich, wir stehen brillant miteinander.“</p>
+
+<p>„Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr ruchlos
+sind!“ rief die alte Dame den Kopf schüttelnd.</p>
+
+<p>Lord Henry sah einige Augenblicke ernsthaft aus. „Es
+ist ganz abscheulich,“ sagte er schließlich, „wie die Leute
+heutzutage herumgehen und einem hinterm Rücken Dinge
+nachsagen, die ganz und gar auf Wahrheit beruhen.“</p>
+
+<p>„Ist er nicht unverbesserlich?“ rief Dorian und beugte
+sich in seinem Stuhl vor.</p>
+
+<p>„Ich hoffe“ sagte die Wirtin lachend. „Aber wenn Sie
+wirklich alle Madame de Ferrol in dieser lächerlichen
+Weise anbeten, so muß ich auch wieder heiraten, um in
+Mode zu kommen.“</p>
+
+<p>„Sie werden nie wieder heiraten, Lady Narborough“,
+unterbrach Lord Henry. „Sie waren viel zu glücklich. Wenn
+eine Frau wieder heiratet, so tut sie es, weil sie ihren ersten
+Mann verabscheute. Wenn ein Mann wieder heiratet, so
+tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen versuchen
+ihr Glück, Männer setzen das ihre aufs Spiel.“</p>
+
+<p>„Narborough war nicht vollkommen!“ rief die alte
+Dame.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_273" title="273"> </a></p>
+
+<p>„Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt,
+meine teure Lady“, war die Antwort. „Frauen
+lieben uns um unserer Fehler willen. Wenn wir ihrer genug
+haben, vergeben sie uns alles, selbst unseren Geist.
+Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zu einem Diner
+bitten, nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough,
+aber es ist völlig wahr.“</p>
+
+<p>„Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen
+euch nicht eurer Fehler halber liebten, wo wäret ihr alle?
+Nicht ein einziger von euch würde verheiratet sein. Und ihr
+wäret eine Sekte unglücklicher Junggesellen. Das würde
+aber nicht viel an euch ändern. Heutzutage leben alle Ehemänner
+wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner.“</p>
+
+<p>„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Fin de siècle</span>“, flüsterte Lord Henry.</p>
+
+<p>„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Fin du globe</span>“, entgegnete die Gastgeberin.</p>
+
+<p>„Ich wollte, es wäre <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">fin du globe</span>“, sagte Dorian mit
+einem Seufzer. „Das Leben ist eine große Enttäuschung.“</p>
+
+<p>„Ah, mein Lieber!“ rief Lady Narborough und zog
+ihre Handschuhe an, „sagen Sie mir nicht, daß Sie das
+Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann das sagt, weiß
+man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist im
+höchsten Grade ruchlos, und ich wünsche manchmal, ich wäre
+es auch gewesen; aber Sie sind geschaffen, um gut zu
+sein &mdash; Sie sehen so gut aus. Ich muß Ihnen eine hübsche
+Frau verschaffen. Lord Henry, meinen Sie nicht, daß Herr
+Gray heiraten sollte?“</p>
+
+<p>„Ich sage ihm das immer, Lady Narborough“, erwiderte
+Lord Henry mit einer Verbeugung.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_274" title="274"> </a></p>
+
+<p>„Schön, so wollen wir uns nach einer guten Partie für
+ihn umsehen. Ich werde heute nacht den Adelskalender
+aufmerksam durchgehen und eine Liste aller in Frage
+kommenden jungen Damen aufstellen.“</p>
+
+<p>„Mit ihrer Altersangabe, Lady Narborough?“ fragte
+Dorian.</p>
+
+<p>„Natürlich mit ihrem Alter, ein wenig retuschiert. Aber
+man darf nichts übereilen. Ich will, daß es genau das
+wird, was die Morning Post eine passende Verbindung
+nennt, und ihr sollt beide glücklich werden.“</p>
+
+<p>„Was die Menschen doch für einen Unsinn über
+glückliche Ehen reden!“ rief Lord Henry. „Ein Mann
+kann mit jeder Frau glücklich werden, solange er sie nicht
+liebt.“</p>
+
+<p>„Pfui! Was sind Sie für ein Zyniker!“ rief die alte
+Dame, schob ihren Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu.
+„Sie müssen bald wiederkommen und bei mir essen. Sie
+sind wirklich ein wunderbarer Appetitanreger, viel besser
+als das, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen
+mir sagen, was für Leute Sie gern treffen würden. Es
+soll ein entzückendes Beisammensein werden.“</p>
+
+<p>„Ich liebe Männer, die eine Zukunft haben, und
+Frauen, die eine Vergangenheit haben“, antwortete er.
+„Oder beabsichtigen Sie, eine Weibergesellschaft zustande
+zu bringen?“</p>
+
+<p>„Ich fürchte fast“, sagte sie lachend, indem sie sich erhob.
+„Ach, verzeihen Sie tausendmal, Lady Ruxton,“ fuhr
+sie fort, „ich habe nicht bemerkt, daß Sie mit Ihrer Zigarette
+noch nicht fertig waren.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_275" title="275"> </a></p>
+
+<p>„Macht nichts, Lady Narborough. Ich rauche viel zuviel.
+Ich muß mich darin in Zukunft einschränken.“</p>
+
+<p>„Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton“, sagte Lord
+Henry. „Mäßigung ist eine unglückliche Sache. Genug ist
+nicht besser als eine Mahlzeit. Mehr als genug ist so gut
+wie ein Festessen.“</p>
+
+<p>Lady Ruxton sah ihn neugierig an. „Lord Henry, Sie
+müssen mich eines Nachmittags besuchen und mir das erklären.
+Es klingt wie eine verlockende Theorie“, sagte sie,
+während sie aus dem Zimmer rauschte.</p>
+
+<p>„Jetzt bitte, sitzt mir nicht zu lange bei eurer Politik
+und euerm Klatsch!“ rief Lady Narborough von der Tür
+aus. „Wenn ihr das tut, zanken wir sicher mit euch, wenn
+ihr nach oben kommt.“</p>
+
+<p>Die Männer lachten, und Herr Chapman stand feierlich
+vom Ende der Tafel auf und setzte sich oben hin. Dorian
+Gray wechselte seinen Platz und setzte sich neben Lord
+Henry. Herr Chapman begann mit lauter Stimme über
+die parlamentarische Lage zu sprechen. Er heulte laut auf
+über seine Widersacher. Das Wort Doktrinär &mdash; ein Wort
+voller Schrecken für den britischen Geist &mdash; tauchte von
+Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen auf. Eine doppelt ausgesprochene
+Vorsilbe diente seiner Rede als Alliteration zum
+Schmuck. Er hißte den Union Jack auf dem Mast des Gedankens
+auf. Die angestammte Dummheit der Rasse &mdash; gesunder
+englischer Menschenverstand nannte er sie wohlwollend
+&mdash; wurde als das Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt.</p>
+
+<p>Ein Lächeln kräuselte Lord Henrys Lippen, und er drehte
+sich um und blickte zu Dorian hin.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_276" title="276"> </a></p>
+
+<p>„Geht dir's jetzt besser, lieber Junge?“ fragte er. „Du
+schienst bei Tisch gar nicht recht wohl zu sein.“</p>
+
+<p>„Mir ist ganz wohl. Ich bin müde. Sonst nichts.“</p>
+
+<p>„Du warst entzückend gestern abend. Die kleine Herzogin
+hat dich ganz in ihr Herzchen geschlossen. Sie hat mir
+erzählt, sie käme nach Selby.“</p>
+
+<p>„Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen.“</p>
+
+<p>„Wird Monmouth auch da sein?“</p>
+
+<p>„Oh, gewiß, Harry!“</p>
+
+<p>„Er langweilt mich entsetzlich, fast ebenso sehr, wie er sie
+langweilt. Sie ist sehr verständig, zu verständig für eine
+Frau. Es fehlt ihr der unbeschreibliche Reiz der Schwäche.
+Die tönernen Füße sind's, die erst das Gold der Bildsäule
+wertvoll machen. Ihre Füße sind ganz allerliebst,
+aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn
+du willst. Sie sind schon im Feuer gewesen, und was das
+Feuer nicht zerstört, macht es hart. Sie hat ihre Erfahrungen.“</p>
+
+<p>„Wie lange ist sie verheiratet?“ fragte Dorian.</p>
+
+<p>„Sie sagt, eine Ewigkeit. Nach dem Adelskalender,
+glaube ich, sind es wohl zehn Jahre, aber zehn Jahre mit
+Monmouth müssen wie eine Ewigkeit gewesen sein, wenn
+man die Zeit mitrechnet. Wer kommt sonst noch?“</p>
+
+<p>„Oh, die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau,
+unsere Wirtin, Geoffrey Clouston, die gewöhnliche Aufmachung.
+Ich habe auch Lord Grotrian gebeten.“</p>
+
+<p>„Den habe ich recht gern“, sagte Lord Henry. „Viele
+Leute können ihn nicht leiden, aber ich finde ihn reizend.
+Dafür, daß seine Kleidung manchmal übertrieben elegant<a class="pagenum" name="Page_277" title="277"> </a>
+ist, entschädigt er dadurch, daß er immer übertrieben gebildet
+ist. Es ist ein ganz moderner Typus.“</p>
+
+<p>„Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Harry. Es ist
+möglich, daß er mit seinem Vater nach Monte Carlo muß.“</p>
+
+<p>„Ach, was für ein Kreuz die Familiensimpelei ist! Versuch
+doch, daß er kommt. Übrigens, Dorian, du bist gestern
+abend sehr früh weggelaufen. Du hast uns vor elf Uhr
+sitzen lassen. Was hast du denn noch vorgehabt? Bist du
+gleich nach Hause gegangen?“</p>
+
+<p>Dorian blickte ihn rasch an und runzelte die Stirn.
+„Nein, Harry,“ sagte er endlich, „es war schon fast drei,
+als ich nach Hause kam.“</p>
+
+<p>„Warst du noch im Klub?“</p>
+
+<p>„Ja“, antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen.
+„Nein, das wollte ich nicht sagen. Ich war nicht im Klub.
+Ich ging nur so herum. Ich weiß nicht mehr, was ich getan
+habe... Wie du einen ins Verhör nimmst, Harry!
+Du willst immer wissen, was man getan hat. Ich will
+immer vergessen, was ich getan habe. Wenn du aber
+die genaue Zeit wissen willst, ich bin um halb drei nach
+Hause gekommen. Ich hatte meinen Hausschlüssel vergessen,
+und mein Diener mußte mich einlassen. Wenn du
+vielleicht noch eine Zeugenaussage über mein Alibi
+wünschst, kannst du ihn ja fragen.“</p>
+
+<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Aber, lieber Junge,
+als ob mir daran etwas läge? Wir wollen in den Salon
+hinauf. Keinen Sherry, nein danke, Herr Chapman. Dir
+ist etwas zugestoßen, Dorian. Sage mir, was es ist. Du
+bist heute abend nicht du selber.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_278" title="278"> </a></p>
+
+<p>„Sei nicht böse, Harry. Ich bin gereizt und übel gelaunt.
+Ich komme morgen oder übermorgen zu dir. Bitte,
+entschuldige mich bei Lady Narborough. Ich gehe nicht
+mehr hinauf. Ich gehe nach Hause. Ich muß nach Hause
+gehn.“</p>
+
+<p>„Schön, Dorian. Ich hoffe, dich morgen zum Tee zu
+sehen. Die Herzogin kommt.“</p>
+
+<p>„Ich will versuchen da zu sein, Harry“, sagte er und
+verließ das Zimmer. Als er nach Hause fuhr, merkte er,
+daß das Angstgefühl wiedergekehrt sei, das er erstickt zu
+haben glaubte. Lord Henrys zufällige Frage hatte ihm für
+einen Moment die Fassung genommen und nervös gemacht
+und er brauchte seine Nerven noch. Dinge, die Gefahr
+bringen konnten, mußten zerstört werden. Er schauerte
+zusammen. Der Gedanke, sie auch nur zu berühren, war
+ihm furchtbar.</p>
+
+<p>Und doch mußte es geschehen. Er war sich darüber klar,
+und als er die Tür seines Bibliothekzimmers verschlossen
+hatte, öffnete er den geheimen Schrank, in den er Basil
+Hallwards Mantel und Tasche gesteckt hatte. Es loderte
+ein mächtiges Feuer. Er legte noch ein Stück Holz nach.
+Der Geruch der sengenden Kleider und des schwelenden
+Leders war entsetzlich. Er brauchte drei Viertelstunden,
+um alles zu verbrennen. Als es vorbei war, fühlte er sich
+schwach und krank, und nachdem er einige algerische Räucherkerzchen
+in einer durchbrochenen Kupferpfanne angezündet
+hatte, wusch er sich Hände und Stirn in kaltem,
+moschusduftendem Essig.</p>
+
+<p>Plötzlich schrak er zusammen. Seine Augen bekamen<a class="pagenum" name="Page_279" title="279"> </a>
+einen merkwürdigen Glanz und er nagte nervös an der
+Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern stand ein großer Florentiner
+Ebenholzschrank mit Elfenbein und Lapislazuli
+eingelegt. Er starrte ihn an, als wär er ein Etwas, das
+fesseln und ängstigen könne, als schließe er etwas ein, das
+er sehnsüchtig begehrte und doch beinahe verabscheute. Sein
+Atem ging schneller. Eine wilde Gier überkam ihn. Er zündete
+eine Zigarette an und warf sie gleich wieder weg.
+Seine Augenlider senkten sich, bis die langen Wimpern fast
+die Wangen berührten. Aber er sah noch immer nach dem
+Schranke hin. Endlich erhob er sich vom Sofa, auf dem er
+gelegen hatte, ging zu dem Schrank hinüber, schloß ihn auf
+und drückte an eine geheime Feder. Ein dreieckiges Schubfach
+kam langsam zum Vorschein. Seine Finger bewegten
+sich instinktiv danach, griffen hinein und faßten etwas.
+Es war ein kleines chinesisches Kästchen aus schwarzem,
+goldbetupftem Lack, das sehr sorgfältig gearbeitet war,
+und dessen Seiten gekrümmte Wellenlinien zierten, und
+an dessen seidenen Schnüren runde Kristalle mit Quasten
+aus geflochtenen Metallfäden hingen. Er öffnete das Kästchen.
+Eine grünlich-glänzende, wachsartige Masse von seltsam
+schwerem und durchdringendem Geruch lag darin.</p>
+
+<p>Er zögerte ein paar Augenblicke mit einem seltsam unbeweglichen
+Lächeln auf seinem Antlitz. Dann schauerte er
+zusammen, obwohl es im Zimmer ganz außergewöhnlich
+heiß war, raffte sich auf und sah nach der Uhr. Es fehlten
+zwanzig Minuten an zwölf. Er legte das Kästchen zurück,
+schloß die Türen des Schrankes und ging in sein Schlafzimmer.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_280" title="280"> </a></p>
+
+<p>Als die Mitternacht ihre metallenen Schläge durch die
+dunkle Luft schickte, schlich Dorian Gray in ordinärer
+Kleidung und ein Tuch um den Hals geschlungen, leise
+aus dem Hause. In Bond Street traf er eine Droschke
+mit einem guten Pferd. Er ließ sie halten und sagte dem
+Kutscher mit leiser Stimme eine Adresse.</p>
+
+<p>Der Mann schüttelte den Kopf. „Das ist mir zu weit“,
+brummte er.</p>
+
+<p>„Da haben Sie ein Goldstück. Sie sollen noch eins kriegen,
+wenn Sie rasch fahren.“</p>
+
+<p>„Schön, Herr!“ antwortete der Mann, „wir werden in
+einer Stunde da sein“, und nachdem sein Fahrgast eingestiegen
+war, lenkte er um und fuhr rasch der Themse zu.</p>
+
+
+<h2><a name="Sechzehntes_Kapitel" id="Sechzehntes_Kapitel"></a>Sechzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Ein kalter Regen begann zu fallen und die flackernden
+Laternen sahen in dem herabsickernden Nebel geisterhaft
+aus. Die Schenken wurden eben geschlossen, und Männer
+und Frauen drängten sich in schattenhaften Gruppen vor
+den Türen. Aus einigen Wirtschaften scholl ein gräßliches
+Lachen. In anderen lärmten und grölten Betrunkene.</p>
+
+<p>In die Droschke zurückgelehnt, den Hut tief in die Stirn
+gezogen, blickte Dorian Gray mit gleichgültigen Augen
+auf das Elend und den Schmutz der Großstadt, und dann
+und wann wiederholte er sich die Worte, die ihm Lord
+Henry am ersten Tage, wo sie sich kennengelernt hatten,<a class="pagenum" name="Page_281" title="281"> </a>
+gesagt hatte: „die Seele durch die Sinne und die Sinne
+durch die Seele zu heilen“. Ja, das war das Geheimnis.
+Er hatte es oft versucht und wollte es jetzt wieder versuchen.
+Es gab Opiumkneipen, wo man Vergessenheit
+kaufen konnte, Kneipen des Grauens, wo die Erinnerung
+an alte Sünden durch den Wahnsinn neuer ausgelöscht
+werden kann.</p>
+
+<p>Der Mond hing tief am Himmel wie eine gelbe Hirnschale.
+Von Zeit zu Zeit streckte eine dicke, unförmige
+Wolke einen langen Arm nach ihm aus und verbarg ihn.
+Die Gaslaternen wurden spärlicher und die Straßen enger
+und düsterer. Einmal verlor der Kutscher seinen Weg und
+mußte einige hundert Meter zurückfahren. Das Roß
+dampfte, während es in den Pfützen patschte. Die Seitenfenster
+des Wagens waren wie mit grauem Flanell ausgeschlagen.</p>
+
+<p>„Die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die
+Seele zu heilen &mdash;!“ Wie ihm die Worte in den Ohren
+klangen! Seine Seele war jedenfalls todkrank. War es
+denkbar, daß die Sinne sie heilen konnten? Unschuldiges
+Blut war vergossen worden. Welche Sühne konnte es dafür
+geben? Ach! dafür gab es keine Sühne; aber wenn auch
+Vergebung unmöglich war, Vergessen war doch möglich,
+und er war entschlossen, zu vergessen, die Sache zu Boden
+zu treten, sie zu vernichten wie eine Natter, die einen gebissen
+hat. Welches Recht hatte denn Basil gehabt, so zu
+ihm zu sprechen, wie er es getan hatte? Wer hatte ihn
+zum Richter über andere gesetzt? Er hatte Dinge gesagt,
+die schrecklich waren, entsetzlich, nicht zu ertragen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_282" title="282"> </a></p>
+
+<p>Weiter und weiter rollte die Droschke, und es schien ihm,
+als führe sie mit jedem Schritt langsamer. Er riß das
+Schiebefenster auf und rief dem Kutscher hinter ihm zu,
+schneller zu fahren. Der gräßliche Hunger nach Opium
+fing an, in ihm zu nagen. Die Kehle brannte ihm, und
+seine zarten Finger spielten nervös miteinander. Er schlug
+mit dem Spazierstock wie toll auf den Gaul ein. Der
+Kutscher lachte und hieb mit der Peitsche zu. Er lachte
+auch dazu, und der Mann auf dem Bocke schwieg.</p>
+
+<p>Der Weg schien endlos zu sein und die Straßen dehnten
+sich aus wie ein schwarzes, durcheinander gewirrtes Spinngewebe.
+Die Eintönigkeit wurde unerträglich, und als sich
+der Nebel dichter ballte, empfand er Furcht.</p>
+
+<p>Dann fuhren sie an einsamen Ziegeleien vorüber. Der
+Nebel ward hier durchsichtiger, und er konnte die merkwürdigen,
+kürbisflaschenartigen Brennöfen mit ihren orangefarbenen
+fächerartigen Feuerzungen erkennen. Ein Köter
+schlug an, als sie vorbeirasselten, und weit entfernt in der
+Dunkelheit schrie eine schlaflose Möwe. Das Pferd stolperte
+in irgendeiner Rinne, scheute und verfiel in Galopp.</p>
+
+<p>Nach einiger Zeit verließen sie den Lehmweg und ratterten
+wieder über ein holpriges Straßenpflaster. Die meisten
+Fenster waren dunkel, aber dann und wann sah man phantastische
+Schatten wie Silhouetten hinter einem erleuchteten
+Rouleau. Er spähte neugierig darauf hin. Sie bewegten
+sich wie riesenhafte Marionetten und gestikulierten wie
+lebende Wesen. Eine Art Haß auf sie überkam ihn. Ein
+dumpfer Zorn kochte in seinem Herzen. Als sie um eine<a class="pagenum" name="Page_283" title="283"> </a>
+Ecke bogen, rief ihnen ein Weib aus einer offenen Tür
+etwas zu, und zwei Männer rannten ein paar hundert
+Meter hinter der Droschke her. Der Kutscher schlug mit
+seiner Peitsche nach ihnen.</p>
+
+<p>Man sagt, die Leidenschaft wirble einem die Gedanken
+im Kreise umher. Jedenfalls formten die zerbissenen Lippen
+Dorian Grays in endloser Wiederholung die feingesetzten
+Worte von der Seele und den Sinnen und formten
+sie immer wieder, bis er in ihnen sozusagen den vollsten
+Ausdruck seiner Stimmung gefunden und durch die Zustimmung
+des Verstandes Leidenschaften gerechtfertigt hatte,
+die auch ohne solche Rechtfertigung sein Temperament beherrscht
+hätten. Von Zelle zu Zelle seines Gehirns kroch
+der eine Gedanke und die wilde Lebensgier, das schrecklichste
+aller menschlichen Hungergelüste, ließ sich jeden
+zuckenden Nerv und Muskel gewaltsam emporbäumen.
+Das Häßliche, das er einst gehaßt hatte, weil es den
+Dingen Wirklichkeit verlieh, wurde ihm jetzt aus demselben
+Grunde lieb. Das Häßliche war das einzig Wirkliche. Das
+rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die ordinäre Gewalttätigkeit
+eines liederlichen Lebens, die widerliche Verworfenheit
+der Diebe und Verbrecher waren in der intensiven
+Wirklichkeit ihrer Eindrücke mehr vom Leben erfüllt,
+als all die anmutigen Formen der Kunst, die träumerischen
+Schatten der Dichtung. Das war es, was er zum
+Vergessen brauchte. In drei Tagen würde er frei sein.</p>
+
+<p>Plötzlich hielt der Mann am Ende einer finstern Straße
+mit einem Ruck an. Über die niedrigen Dächer und gezackten
+Schornsteine der Häuser hinaus ragten die schwarzen<a class="pagenum" name="Page_284" title="284"> </a>
+Maste der Schiffe. Weiße Nebelfetzen hingen wie gespensterhafte
+Segel über den Werften.</p>
+
+<p>„Irgendwo hier, nicht wahr, Herr?“ ertönte die rauhe
+Stimme des Kutschers durch das Schiebefenster.</p>
+
+<p>Dorian fuhr auf und blickte sich um. „Schon gut“, antwortete
+er, stieg rasch aus, gab dem Kutscher Trinkgeld,
+das er ihm versprochen hatte, und ging eilig dem Kai zu.
+Hier und da flimmerte eine Laterne am Heck eines großen
+Kauffahrers. Das Licht zitterte und zersplitterte sich in den
+Pfützen. Ein rotes Geglitzer kam von einem weit draußen
+ankernden Dampfer, der Kohlen verlud. Das schlüpfrige
+Pflaster sah aus wie ein regenglänzender Gummimantel.</p>
+
+<p>Er hastete nach links weiter und blickte sich dann und
+wann um, ob ihm niemand folgte. Nach sieben oder acht
+Minuten erreichte er ein kleines, elendes Haus, das zwischen
+zwei große Faktoreien eingequetscht war. In einem
+der Giebelfenster brannte eine Lampe. Er blieb stehen und
+klopfte wie auf eine verabredete Art an.</p>
+
+<p>Nach einer kleinen Pause hörte er Schritte im Flur und
+wie die Türkette losgemacht wurde. Die Tür öffnete sich
+vorsichtig, und er trat hinein, ohne ein Wort zu der kleinen
+erbärmlichen Gestalt zu sagen, die sich in den Schatten
+drückte, als er vorbeischritt. Am Ende des Flurs hing ein
+zerlumpter grüner Vorhang, der sich in dem starken Luftzug,
+den er von der Straße her mitbrachte, hin und her
+bauschte. Er schob ihn beiseite und trat in einen langen,
+niedrigen Raum, der so aussah, als wäre er früher ein
+Tanzlokal dritten Ranges gewesen. Grell flackernde Gasflammen,
+die in den fliegenbeschmutzten Spiegeln gegenüber<a class="pagenum" name="Page_285" title="285"> </a>
+matt und verzehrt erschienen, brannten rings an den
+Wänden. Schmierige Reflektoren aus geripptem Wellblech
+waren dahinter angebracht und warfen tanzende Lichtkreise.
+Der Boden war mit ockerfarbigen Sägespänen bestreut, die
+an einzelnen Stellen zu Schmutzklumpen zertreten waren
+und auf denen sich von vergossenen Getränken schwarze
+Ringe abzeichneten. Ein paar Malaien hockten mit untergeschlagenen
+Beinen an einem kleinen Kohlenofen, spielten
+mit knöchernen Würfeln und zeigten beim Sprechen ihre
+weißlichen Zähne. In einem Winkel, den Kopf auf die
+Hände gestützt, räkelte sich ein Matrose über den Tisch, und
+an dem schreiend bemalten Büfett, das eine ganze Seite
+des Raumes einnahm, standen zwei heruntergekommene
+Weibspersonen und höhnten einen alten Mann, der mit
+einem Ausdruck des Ekels die Ärmel seines Rockes bürstete.
+„Er denkt, er hat sich Läuse geholt“, lachte die eine, als
+Dorian vorüberging. Der Mann sah sie erschreckt an und
+begann zu jammern.</p>
+
+<p>Am Ende des Zimmers war eine kleine Treppe, die in
+eine verdunkelte Kammer führte. Als Dorian die drei
+wackligen Stufen hinaufhastete, schlug ihm der schwere
+Geruch des Opiums entgegen. Er holte tief Atem, und
+seine Nasenflügel zitterten vor Lust. Als er eintrat, blickte
+ein junger Mann mit glattgescheiteltem Blondhaar zu ihm
+auf, der sich über eine Lampe beugte, an der er eine lange,
+dünne Pfeife anzündete, und zögernd nickte.</p>
+
+<p>„Du hier, Adrian?“ flüsterte Dorian.</p>
+
+<p>„Wo soll ich sonst sein?“ antwortete er gleichgültig.
+„Kein Mensch will jetzt mehr mit mir sprechen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_286" title="286"> </a></p>
+
+<p>„Ich dachte, du wärst aus England fort?“</p>
+
+<p>„Darlington wird nichts gegen mich unternehmen. Mein
+Bruder hat den Wechsel schließlich gezahlt. George spricht
+auch nicht mehr mit mir ... Ist mir auch einerlei“, fügte
+er seufzend hinzu. „Solange man noch das Zeug da hat,
+braucht man keine Freunde. Ich denke, ich habe zu viele
+Freunde gehabt.“</p>
+
+<p>Dorian zuckte zusammen und sah sich nach den grotesken
+Gestalten um, die da in so abenteuerlichen Stellungen auf
+den zerlumpten Matratzen lagen. Die verkrümmten Glieder,
+die offenen Mäuler, die stierenden, glanzlosen Augen
+übten eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er kannte
+die absonderlichen Paradiese, in denen sie litten, und
+welche dumpfe Höllen sie in das Geheimnis neuer Genüsse
+einweihten. Sie waren besser daran als er. Ihn hielten
+seine Gedanken eingekerkert. Die Erinnerung fraß wie eine
+fürchterliche Krankheit an seiner Seele. Von Zeit zu Zeit
+glaubte er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu
+sehen. Aber er fühlte, daß er hier nicht bleiben konnte.
+Die Anwesenheit Adrian Singletons störte ihn. Er wollte
+irgendwo sein, wo ihn niemand kennt. Er wollte sich selbst
+entfliehen.</p>
+
+<p>„Ich gehe in das andere Lokal“, sagte er nach einer
+Pause.</p>
+
+<p>„Auf der Werft?“</p>
+
+<p>„Ja.“</p>
+
+<p>„Die tolle Katze ist sicher da. Sie wollen sie hier nicht
+mehr haben.“</p>
+
+<p>Dorian zuckte die Achseln. „Ich habe die Weiber, die<a class="pagenum" name="Page_287" title="287"> </a>
+einen lieben, satt. Weiber, die einen hassen, sind viel
+interessanter. Übrigens ist dort der Stoff besser.“</p>
+
+<p>„Ganz derselbe.“</p>
+
+<p>„Mir schmeckt er da besser. Komm, wir wollen was
+trinken. Ich muß was haben.“</p>
+
+<p>„Ich brauche nichts“, murmelte der junge Mann.</p>
+
+<p>„Macht nichts.“</p>
+
+<p>Adrian Singleton stand schläfrig auf und folgte Dorian
+ans Büfett. Ein Mischling in zerrissenem Turban und
+schäbigem Ulster grinste ihnen einen widerlichen Gruß zu,
+als er zwei Gläser und eine Branntweinflasche vor sie hinstellte.
+Die Weiber torkelten herbei und begannen zu
+schwatzen. Dorian kehrte ihnen den Rücken zu und sagte
+leise etwas zu Adrian Singleton.</p>
+
+<p>Ein Grinsen gleich einem krummen malaischen Dolch verzerrte
+das Gesicht des einen Weibes. „Wir sind sehr stolz
+heute abend“, höhnte sie lachend.</p>
+
+<p>„Um Gottes willen, rede nicht mit mir!“ schrie Dorian
+und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. „Was willst
+du? Geld? Da! Aber sprich kein Wort mehr zu mir!“</p>
+
+<p>Zwei rote Funken blitzten für einen Augenblick in den
+wässerigen Augen des Weibes auf, dann verloschen sie
+wieder und ließen sie trübe und gläsern erscheinen. Sie
+warf den Kopf in den Nacken und raffte mit gierigen
+Fingern die Münzen auf dem Schenktisch zusammen. Ihre
+Gefährtin beobachtete sie neidisch.</p>
+
+<p>„Es hat keinen Zweck“, sagte Adrian Singleton seufzend.
+„Ich will nicht mehr zurück. Was macht's aus? Ich
+fühle mich hier ganz wohl.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_288" title="288"> </a></p>
+
+<p>„Du wirst mir doch schreiben, wenn du was brauchst?“
+fragte Dorian nach einer Weile.</p>
+
+<p>„Vielleicht.“</p>
+
+<p>„Dann gute Nacht!“</p>
+
+<p>„Gute Nacht!“ antwortete der junge Mann, schritt die
+Stufen hinauf und wischte sich den trockenen Mund mit
+dem Taschentuch ab.</p>
+
+<p>Dorian schritt mit einem qualvollen Zug im Gesicht zur
+Tür. Als er den Vorhang beiseitezog, scholl ein gräßliches
+Lachen von den geschminkten Lippen des Weibes,
+das sein Geld genommen hatte. „Da geht er hin, der
+Seelenverschacherer!“ stieß sie mit einer heiser glucksenden
+Stimme hervor.</p>
+
+<p>„Der Satan hol' dich!“ antwortete er, „du sollst mich
+nicht so nennen!“</p>
+
+<p>Sie schnippte mit den Fingern. „Was, du willst wohl
+Prinz Märchenschön genannt werden, das paßte dir, he?“
+kreischte sie hinter ihm her.</p>
+
+<p>Bei diesen Worten sprang der schläfrige Matrose auf
+und blickte sich wild um. Das Geräusch der zufallenden
+Haustür drang an sein Ohr. Er stürzte hinaus, als ob er
+ihn verfolgen wollte.</p>
+
+<p>Dorian Gray eilte rasch durch den herabstäubenden
+Regen den Kai entlang. Sein Zusammentreffen mit
+Adrian Singleton hatte ihn sonderbar bewegt, und er
+grübelte darüber nach, ob der Untergang dieses jungen
+Lebens wirklich sein Werk war, wie ihm Basil Hallward
+mit so schändlicher Beschimpfung schuldgegeben hatte. Er
+biß sich auf die Lippen, und für ein paar Augenblicke<a class="pagenum" name="Page_289" title="289"> </a>
+wurde sein Auge traurig. Aber schließlich, was ging es ihn
+an? Das bißchen Leben war zu kurz, als daß man die
+Sünden anderer auf seine Schultern laden könnte. Jeder
+lebte sein eigenes Leben und zahlte seinen eigenen Preis
+dafür. Das einzige Unglück war, daß man für ein einziges
+Vergehen so oftmals zahlen mußte. Man mußte immer
+und immer wieder zahlen. In seinem Handel mit dem
+Menschen glich das Schicksal sein Schuldbuch nie aus.</p>
+
+<p>Die Psychologen sagen uns, daß es Augenblicke gibt,
+wo die Anreizung zu Sünden oder zu dem, was die Welt
+Sünden nennt, eine Natur so beherrscht, daß jede Faser
+des Körpers, jede Zelle des Gehirns von fürchterlichen
+Kräften gestachelt zu sein scheint. Männer und Frauen
+verlieren in solchen Augenblicken die Willensfreiheit. Sie
+bewegen sich wie Automaten ihrem schrecklichen Ende zu.
+Die Wahl ist ihnen geraubt, und das Gewissen ist entweder
+tot oder, wenn es noch lebt, so lebt es nur, um der Empörung
+ihren Reiz und dem Ungehorsam ihren besonderen
+Zauber zu verleihen. Denn alle Sünden sind, wie die Theologen
+nicht müde werden, uns vorzuhalten, Sünden des
+Ungehorsams. Als jener hohe Geist, der Morgenstern
+alles Bösen vom Himmel fiel, da fiel er, weil er ein
+Rebell war.</p>
+
+<p>Unempfindlich, nur mit dem einen Gedanken ans Böse
+erfüllt, mit verfinstertem Geist, mit einer Seele, die nach
+Empörung lechzte, hastete Dorian Gray weiter, und beschleunigte,
+während er ging, seine Schritte immer mehr;
+aber als er in einen dunkeln Torweg einbog, der ihm oft
+genug als abgekürzter Weg zu dem berüchtigten Orte gedient<a class="pagenum" name="Page_290" title="290"> </a>
+hatte, den er jetzt aufsuchen wollte, fühlte er sich plötzlich
+von rückwärts gepackt, und bevor er Zeit hatte, sich
+zu wehren, wurde er gegen eine Mauer geschleudert und
+fühlte seinen Hals von einer brutalen Hand umklammert.</p>
+
+<p>Er kämpfte wie wahnsinnig um sein Leben, und mit
+furchtbarer Anstrengung glückte es ihm, sich aus den umschnürenden
+Fingern loszureißen. Einen Augenblick darauf
+hörte er das Knacken eines Revolvers und sah den Glanz
+eines blanken Laufes gerade gegen seinen Kopf gerichtet
+und die dunkle Gestalt eines untersetzten Mannes vor
+sich.</p>
+
+<p>„Was wollen Sie?“ keuchte er.</p>
+
+<p>„Sei still“, sagte der Mann. „Wenn du dich rührst,
+schieß' ich dich nieder!“</p>
+
+<p>„Sie sind toll. Was hab' ich Ihnen getan?“</p>
+
+<p>„Du hast das Leben Sibyl Vanes zugrunde gerichtet!“
+war die Antwort, „und Sibyl Vane war meine Schwester.
+Sie hat sich getötet. Ich weiß es. Ihr Tod ist deine
+Schuld. Ich habe geschworen, dich dafür zu töten. Jahrelang
+habe ich dich gesucht. Aber ich hatte keinen Anhaltspunkt,
+keine Spur. Die zwei Menschen, die dich hätten beschreiben
+können, waren tot. Ich wußte nichts von dir als den
+Kosenamen, den sie dir gab. Heute nacht habe ich ihn durch
+Zufall gehört. Mach' deinen Frieden mit Gott, denn heute
+nacht mußt du sterben.“</p>
+
+<p>Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Furcht. „Ich
+habe sie nie gekannt“, stammelte er. „Ich habe nie von ihr
+gehört. Sie sind verrückt.“</p>
+
+<p>„Gesteh' lieber deine Sünden ein, denn so wahr ich<a class="pagenum" name="Page_291" title="291"> </a>
+James Vane heiße, so gewiß sollst du jetzt sterben.“ Es
+war ein entsetzlicher Augenblick. Dorian wußte nicht, was
+er sagen oder tun sollte. „Auf die Knie!“ brüllte der
+Mann. „Ich geb' dir eine Minute, deinen Frieden zu
+machen &mdash; nicht mehr! Ich muß heute nacht an Bord
+nach Indien, und muß vorher meine Arbeit getan haben.
+Eine Minute. Mehr nicht!“</p>
+
+<p>Dorians Arme sanken herab. Von Todesangst gelähmt,
+wußte er nicht, was er beginnen sollte. Plötzlich zuckte eine
+jähe Hoffnung in seinem Gehirn auf. „Halt!“ schrie er.
+„Wie lang ist es her, daß Ihre Schwester gestorben ist?
+Rasch, sagen Sie!“</p>
+
+<p>„Achtzehn Jahre“, sagte der Mann. „Warum fragst
+du? Was machen die Jahre?“</p>
+
+<p>„Achtzehn Jahre!“ lachte Dorian mit einem triumphierenden
+Ton in seiner Stimme. „Achtzehn Jahre!
+Bringen Sie mich unter die Laterne und sehen Sie mein
+Gesicht an!“</p>
+
+<p>James Vane zögerte einen Augenblick und begriff nicht,
+was er meinte. Dann packte er Dorian Gray und schleifte
+ihn aus dem Torweg heraus.</p>
+
+<p>So dunkel und flackernd das windverwehte Licht auch
+war, es genügte doch, ihm den furchtbaren Irrtum zu
+zeigen, in den er geraten zu sein schien. Denn das Antlitz
+des Mannes, den er töten wollte, wies die ganze Blütenweichheit
+der Jugend auf, zeigte all die unbefleckte Reinheit
+der Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling
+von zwanzig Lenzen, kaum älter, als seine Schwester gewesen
+war, als sie vor so vielen Jahren Abschied voneinander<a class="pagenum" name="Page_292" title="292"> </a>
+genommen hatten. Es war klar, daß dies nicht der
+Mann war, der ihr Leben zerstört hatte.</p>
+
+<p>Er ließ seine Faust von ihm los und taumelte zurück.
+„Mein Gott, mein Gott!“ rief er aus, „und ich hätte Sie
+fast ermordet!“</p>
+
+<p>Dorian Gray schöpfte tief Atem. „Sie waren dicht
+daran, ein furchtbares Verbrechen zu begehen, Mann“,
+sagte er mit einem strengen Blick. „Lassen Sie sich das eine
+Warnung sein, eine Rache nicht mit eigener Hand zu übernehmen.“</p>
+
+<p>„Verzeihen Sie mir, Herr!“ stammelte James Vane.
+„Ich habe mich täuschen lassen. Ein zufälliges Wort, das
+ich in der verfluchten Kneipe hörte, brachte mich auf die
+falsche Spur.“</p>
+
+<p>„Sie sollten lieber nach Hause gehen und Ihre Pistole
+wegtun, sonst kommen Sie noch in Ungelegenheiten“,
+sagte Dorian, drehte sich um und ging langsam die Straße
+hinunter.</p>
+
+<p>James Vane stand voller Entsetzen auf dem Pflaster. Er
+zitterte von Kopf bis Fuß. Nach einer kleinen Weile bewegte
+sich ein schwarzer Schatten, der längs der regenfeuchten
+Wand hingeschlichen war, ins Licht hinaus und
+glitt mit verstohlenen Schritten an seine Seite. Er spürte
+eine Hand auf seinem Arm und drehte sich mit jähem Ruck
+um. Es war eines der Weiber, die am Büfett getrunken
+hatten.</p>
+
+<p>„Warum hast du ihn nicht umgebracht?“ zischte sie und
+brachte ihr verlebtes Gesicht ganz dicht an das seine. „Ich
+wußte, daß du ihm folgtest, als du aus Dalys Haus fortranntest.<a class="pagenum" name="Page_293" title="293"> </a>
+Du Narr! Du hättest ihn totschlagen sollen. Er
+hat einen Haufen Geld und ist schlechter als sonst wer.“</p>
+
+<p>„Er ist nicht der Mann, den ich suche,“ antwortete er,
+„und ich suche keines Menschen Geld. Ich such' eines Menschen
+Leben. Der Mann, dessen Leben ich suche, muß jetzt
+an die Vierzig sein. Der da war fast noch ein Knabe. Ich
+danke Gott, daß nicht sein Blut an meinen Händen klebt.“</p>
+
+<p>Das Weib stieß ein bitteres Lachen aus. „Fast noch ein
+Knabe!“ höhnte sie. „Wahrhaftig, Mensch, es ist fast
+achtzehn Jahre her, seit Prinz Märchenschön das aus mir
+gemacht hat, was ich heute bin!“</p>
+
+<p>„Du lügst!“ schrie James Vane.</p>
+
+<p>Sie hob die Hände gen Himmel. „Bei Gott, ich sage die
+Wahrheit!“ rief sie.</p>
+
+<p>„Bei Gott?“</p>
+
+<p>„Du kannst mich kaltmachen, wenn es nicht so ist. Er ist
+der Schlechteste von allen, die herkommen. Sie sagen, er
+hat dem Teufel seine Seele für sein hübsches Gesicht verkauft.
+Es sind fast achtzehn Jahre, daß ich ihn kennenlernte.
+Er hat sich seitdem wenig verändert. Ich um so
+mehr“, fügte sie mit einem traurigen Blinzeln hinzu.</p>
+
+<p>„Beschwörst du das?“</p>
+
+<p>„Ich schwöre es“, klang es wie ein heiseres Echo aus
+ihrem entstellten Munde. „Aber verrate mich ihm nicht“,
+winselte sie; „ich habe Angst vor ihm. Gib mir 'n paar
+Groschen zum Nachtquartier.“</p>
+
+<p>Mit einem Fluch riß er sich von ihr los und stürzte an
+die Straßenecke; aber Dorian Gray war verschwunden.
+Als er zurückblickte, war auch das Weib schon weg.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_294" title="294"> </a></p>
+
+
+
+
+<h2><a name="Siebzehntes_Kapitel" id="Siebzehntes_Kapitel"></a>Siebzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Eine Woche später saß Dorian Gray im Gewächshaus
+von Selby Royal und plauderte mit der hübschen Herzogin
+von Monmouth, die sich mit ihrem Gatten, einem ermüdet
+aussehenden Manne von sechzig Jahren, unter seinen
+Gästen befand. Es war zur Teezeit, und das sanfte Licht
+der großen, mit einem Spitzenschleier verhängten Lampe,
+die auf dem Tische stand, erleuchtete das kostbare Porzellan
+und das getriebene Silberservice, das neben der
+Herzogin stand. Ihre weißen Hände machten sich zierlich
+zwischen den Tassen zu schaffen, und ihre vollen, roten
+Lippen lächelten über etwas, das ihr Dorian zugeflüstert
+hatte. Lord Henry lag zurückgelehnt in einem mit Silberseide
+bezogenen Rohrsessel und sah beide an. Auf einem
+pfirsichfarbenen Diwan saß Lady Narborough und tat so,
+als ob sie der Beschreibung des Herzogs zuhörte, die den
+letzten brasilianischen Käfer betraf, den er seiner Sammlung
+einverleibt hatte. Drei junge Leute in gewählter Gesellschaftstoilette
+boten den Damen Teekuchen an. Die Gesellschaft
+bestand aus zwölf Personen, und für den nächsten
+Tag wurden noch einige erwartet.</p>
+
+<p>„Worüber sprecht ihr beide?“ fragte Lord Henry,
+während er gemächlich zu dem Teetisch ging und seine Tasse
+niederstellte. „Ich hoffe, Dorian hat dir von meinem
+Plan, alles umzutaufen, erzählt, Gladys. Es ist eine allerliebste
+Idee.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_295" title="295"> </a></p>
+
+<p>„Aber ich will nicht umgetauft werden, Harry“, erwiderte
+die Herzogin und sah ihn mit ihren reizend schönen
+Augen an. „Ich bin mit meinem Namen ganz zufrieden
+und ich denke, Herr Gray kann auch mit seinem zufrieden
+sein.“</p>
+
+<p>„Meine teure Gladys, ich würde um keinen Preis der
+Welt einen der beiden Namen umändern wollen. Sie sind
+beide vollendet. Ich dachte hauptsächlich an Blumen.
+Gestern schnitt ich mir eine Orchidee für mein Knopfloch. Es
+war eine wundervoll gesprenkelte Blume, so wirkungsvoll
+wie die sieben Todsünden. In einem Anfall von Gedankenträgheit
+fragte ich einen der Gärtner, wie sie heiße. Er sagte
+mir, es sei ein schönes Exemplar der Robinsoniana oder
+irgendeine derartige gräßliche Bezeichnung. Es ist eine
+traurige Wahrheit, aber wir haben die glückliche Gabe
+verloren, den Dingen schöne Namen zu geben. Und
+Namen sind alles. Ich kämpfe nie gegen Taten an. Mein
+einziger Kampf richtet sich gegen die Worte. Das ist der
+Grund, weshalb ich den vulgären Realismus in der
+Literatur verabscheue. Der Mann, der imstande ist,
+einen Spaten einen Spaten zu nennen, sollte gezwungen
+werden, selbst einen in die Hand zu nehmen. Es ist die
+einzige Sache, zu der er tauglich wäre.“</p>
+
+<p>„Wie sollen wir also dich nennen, Harry?“ fragte sie.</p>
+
+<p>„Sein Name ist Prinz Paradox“, sagte Dorian.</p>
+
+<p>„Der wird sofort akzeptiert!“ rief die Herzogin.</p>
+
+<p>„Ich will ihn nicht hören“, lachte Lord Henry und ließ
+sich in ein Fauteuil fallen. „Vor einem solchen Etikettchen
+kann man sich nicht retten. Ich weise den Titel zurück.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_296" title="296"> </a></p>
+
+<p>„Fürstlichkeiten können nicht abdanken“, warnten ihn
+schöne Lippen.</p>
+
+<p>„Du willst also, daß ich meinen Thron verteidige?“</p>
+
+<p>„Ja.“</p>
+
+<p>„Ich sage die Wahrheiten von morgen.“</p>
+
+<p>„Ich ziehe die Irrtümer von heute vor“, antwortete
+sie.</p>
+
+<p>„Du entwaffnest mich, Gladys!“ rief er, entzückt von
+ihrer übermütigen Laune.</p>
+
+<p>„Deines Schildes, Harry, nicht deines Speeres.“</p>
+
+<p>„Ich kämpfe nie gegen Schönheit“, sagte er mit einer
+huldigenden Handbewegung.</p>
+
+<p>„Das ist dein Fehler, Harry, glaube mir's. Du überschätzest
+die Schönheit.“</p>
+
+<p>„Wie kannst du das sagen? Ich gebe zu, daß ich es für
+besser halte, schön zu sein als gut. Aber andererseits ist
+niemand eher als ich bereit zuzugeben, daß es besser ist,
+gut zu sein als häßlich.“</p>
+
+<p>„Dann also ist Häßlichkeit eine der sieben tödlichen Sünden?“
+rief die Herzogin. „Wie steht es nun mit deinem
+<ins title="Orchideengleichnis?">Orchideengleichnis?“</ins></p>
+
+<p>„Häßlichkeit ist eine von den sieben tödlichen Tugenden,
+Gladys. Du als gute Tory darfst sie nicht unterschätzen.
+Das Bier, die Bibel und die sieben tödlichen Tugenden
+haben aus England gemacht, was es heute ist.“</p>
+
+<p>„Du liebst also dein Vaterland nicht?“ fragte sie.</p>
+
+<p>„Ich lebe darin.“</p>
+
+<p>„Damit du es besser tadeln kannst.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_297" title="297"> </a></p>
+
+<p>„Sähest du es lieber, daß ich mir das Urteil Europas
+über unser Land aneigne?“ fragte er.</p>
+
+<p>„Was sagt man von uns?“</p>
+
+<p>„Daß Tartüff nach England ausgewandert sei und dort
+einen Laden aufgemacht habe.“</p>
+
+<p>„Ist das von dir, Harry?“</p>
+
+<p>„Ich schenke es dir.“</p>
+
+<p>„Ich kann's nicht gebrauchen. Es ist zu wahr.“</p>
+
+<p>„Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Unsere Landsleute
+erkennen sich nie in ihrem Steckbrief wieder.“</p>
+
+<p>„Du bist so praktisch.“</p>
+
+<p>„Eher gerissen als praktisch. Wenn sie ihr Kontokorrent
+abschließen, dann saldieren sie Dummheit mit Reichtum
+und Laster mit Heuchelei.“</p>
+
+<p>„Und doch haben wir große Dinge vollbracht.“</p>
+
+<p>„Große Dinge sind uns auferlegt worden, Gladys.“</p>
+
+<p>„Wir haben ihre Last zu tragen vermocht.“</p>
+
+<p>„Nur bis zur Börse.“</p>
+
+<p>Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube an unsere Rasse!“
+rief sie.</p>
+
+<p>„Sie vertritt den überlebenden Ellbogenstreber.“</p>
+
+<p>„Sie hat das Zeug zur Entwicklung.“</p>
+
+<p>„Verfall reizt mich mehr.“</p>
+
+<p>„Und die Kunst?“ fragte sie.</p>
+
+<p>„Eine Krankheit.“</p>
+
+<p>„Liebe?“</p>
+
+<p>„Einbildung.“</p>
+
+<p>„Religion?“</p>
+
+<p>„Modesurrogat für den Glauben.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_298" title="298"> </a></p>
+
+<p>„Du bist ein Skeptiker!“</p>
+
+<p>„Niemals! Skeptizismus ist der Anfang des Glaubens.“</p>
+
+<p>„Was bist du?“</p>
+
+<p>„Definieren heißt beschränken.“</p>
+
+<p>„Reich mir den Ariadnefaden!“</p>
+
+<p>„Fäden zerreißen. Du wurdest deinen Weg im Labyrinth
+verlieren.“</p>
+
+<p>„Du machst mich wirre. Laß uns von einem anderen
+sprechen.“</p>
+
+<p>„Unser Wirt ist ein entzückendes Thema. Vor vielen
+Jahren nannte man ihn den Prinz Märchenschön.“</p>
+
+<p>„Ach! Erinnere mich nicht daran!“ rief Dorian Gray.</p>
+
+<p>„Unser Wirt ist recht greulich heute abend“, antwortete
+die Herzogin und errötete. „Er denkt wohl, Monmouth
+habe mich nur aus wissenschaftlichen Gründen geheiratet,
+weil ich das beste Musterbeispiel eines modernen Schmetterlings
+bin.“</p>
+
+<p>„Ich hoffe aber, er wird Sie nicht auf Stecknadeln
+spießen, Frau Herzogin“, lachte Dorian.</p>
+
+<p>„Oh! Das besorgt schon meine Kammerjungfer, Herr
+Gray, wenn sie sich über mich ärgert.“</p>
+
+<p>„Und worüber ärgert sie sich, Frau Herzogin?“</p>
+
+<p>„Über die geringsten Dinge, Herr Gray, glauben Sie
+nur! Gewöhnlich, wenn ich zehn Minuten vor neun nach
+Hause komme und ihr sage, daß ich bis halb neun angezogen
+sein muß.“</p>
+
+<p>„Wie unvernünftig von ihr! Sie sollten ihr den Laufpaß
+geben!“</p>
+
+<p>„Das wag' ich nicht, Herr Gray. Sie erfindet nämlich<a class="pagenum" name="Page_299" title="299"> </a>
+meine Hüte. Sie erinnern sich nicht an den Hut, den ich
+auf Lady Hilstones Gartenfest getragen habe? Natürlich
+nicht, aber es ist hübsch von Ihnen, daß Sie so tun. Also
+der war geradezu aus nichts gemacht. Alle guten Hüte
+werden aus nichts gemacht.“</p>
+
+<p>„Wie jeder gute Ruf, Gladys!“ unterbrach Lord Henry.
+„Jede Wirkung, die man erzielt, schafft uns einen
+Feind. Man muß eine Mittelmäßigkeit sein, wenn man
+eine Beliebtheit sein will.“</p>
+
+<p>„Nicht unter Frauen“, sagte die Herzogin und schüttelte
+den Kopf; „und Frauen regieren die Welt. Ich behaupte
+steif und fest, wir können Mittelmäßigkeiten nicht vertragen.
+Wir Frauen, hat mal jemand gesagt, lieben mit
+den Ohren, gerade so, wie ihr Männer mit den Augen
+liebt, wenn ihr überhaupt liebt.“</p>
+
+<p>„Es scheint mir, daß wir überhaupt nie etwas anderes
+tun“, flüsterte Dorian.</p>
+
+<p>„Ach! Herr Gray, dann lieben Sie nie in Wirklichkeit“,
+antwortete die Herzogin wie in spöttischer Trauer.</p>
+
+<p>„Meine liebe Gladys.“ rief Lord Henry. „Wie kannst
+du das sagen? Die Romantik lebt von Wiederholung,
+und die Wiederholung verwandelt jeden Anreiz in Kunst.
+Übrigens, jedesmal, wenn man liebt, ist es das erstemal,
+daß man geliebt hat. Die Verschiedenheit des Objektes
+verändert die Einzigkeit der Leidenschaft nicht. Sie macht
+sie nur stärker. Wir können im Leben bestenfalls nur ein
+einziges großes Erlebnis haben, und das Geheimnis des
+Lebens besteht darin, dieses Erlebnis so oft als möglich zu
+wiederholen.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_300" title="300"> </a></p>
+
+<p>„Selbst wenn es einen verwundet hat, Harry?“ fragte
+die Herzogin nach einer Pause.</p>
+
+<p>„Besonders wenn es einen verwundet hat“, entgegnete
+Lord Henry.</p>
+
+<p>Die Herzogin wandte sich um und sah Dorian Gray an
+mit einem seltsamen Ausdruck in ihren Augen. „Was sagen
+Sie dazu, Herr Gray?“ forschte sie.</p>
+
+<p>Dorian zögerte einen Augenblick. Dann warf er den
+Kopf zurück und lachte. „Ich stimme mit Harry immer
+überein, Frau Herzogin.“</p>
+
+<p>„Auch wenn er unrecht hat?“</p>
+
+<p>„Harry hat nie unrecht, Frau Herzogin.“</p>
+
+<p>„Und macht Sie seine Philosophie glücklich?“</p>
+
+<p>„Glück habe ich nie gesucht. Wer braucht Glück? Ich
+habe Vergnügen gesucht.“</p>
+
+<p>„Und gefunden, Herr Gray?“</p>
+
+<p>„Oft. Zu oft.“</p>
+
+<p>Die Herzogin seufzte. „Ich suche Frieden,“ sagte sie,
+„und wenn ich jetzt nicht gehe und mich anziehe, habe ich
+ihn heut abend nicht.“</p>
+
+<p>„Lassen Sie mich Ihnen ein paar Orchideen holen,
+Frau Herzogin!“ rief Dorian, sprang auf und ging ins
+Gewächshaus hinunter.</p>
+
+<p>„Du flirtest ganz schändlich mit ihm“, sagte Lord Henry
+zu seiner Kusine. „Du solltest dich lieber in acht nehmen.
+Er kann sehr faszinieren.“</p>
+
+<p>„Wenn er es nicht könnte, gäb's keinen Kampf.“</p>
+
+<p>„Also Griechen kämpfen gegen Griechen?“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_301" title="301"> </a></p>
+
+<p>„Ich bin auf seiten der Trojaner. Sie kämpften für ein
+Weib.“</p>
+
+<p>„Sie wurden besiegt.“</p>
+
+<p>„Es gibt ärgere Dinge als Gefangenschaft“, erwiderte
+sie.</p>
+
+<p>„Du galoppierst mit verhängtem Zügel.“</p>
+
+<p>„Das Tempo macht Leben“, war die Antwort.</p>
+
+<p>„Ich will mir das heut abend in mein Tagebuch schreiben.“</p>
+
+<p>„Was?“</p>
+
+<p>„Daß ein gebranntes Kind das Feuer liebt.“</p>
+
+<p>„Ich bin noch nicht einmal versengt. Meine Flügel
+sind unberührt.“</p>
+
+<p>„Du gebrauchst sie zu allem, nur nicht zur Flucht.“</p>
+
+<p>„Der Mut ist von den Männern zu den Frauen gewandert.
+Das ist ein neues Erlebnis für uns.“</p>
+
+<p>„Du hast eine Rivalin.“</p>
+
+<p>„Wen?“</p>
+
+<p>Er lachte. „Lady Narborough“, flüsterte er. „Sie betet
+ihn an.“</p>
+
+<p>„Du machst mir Angst. Die Beschwörung des Altertums
+ist für uns Romantiker stets gefährlich.“</p>
+
+<p>„Romantiker! Du hast alle Methoden der Wissenschaft.“</p>
+
+<p>„Männer haben uns erzogen.“</p>
+
+<p>„Aber nicht erklärt.“</p>
+
+<p>„Gib uns eine Definition unseres Geschlechtes“, forderte
+sie ihn heraus.</p>
+
+<p>„Sphinxe ohne Geheimnisse.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_302" title="302"> </a></p>
+
+<p>Sie sah ihn lächelnd an. „Wie lange Herr Gray wegbleibt“,
+sagte sie. „Wir wollen ihm helfen. Ich habe ihm
+noch nicht einmal die Farbe meines Kleides angegeben.“</p>
+
+<p>„Pah! Du mußt dein Kleid seinen Blumen anpassen,
+Gladys.“</p>
+
+<p>„Das wäre eine zu frühe Übergabe.“</p>
+
+<p>„Die romantische Kunst beginnt mit dem Höhepunkt.“</p>
+
+<p>„Ich muß mir die Möglichkeit des Rückzuges offen
+halten.“</p>
+
+<p>„Wie die Parther?“</p>
+
+<p>„Sie fanden Schutz in der Wüste. Mir wäre das nicht
+möglich.“</p>
+
+<p>„Man läßt den Frauen nicht immer die Wahl“, entgegnete
+er; aber kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen,
+als von dem äußersten Winkel des Gewächshauses
+her ein unterdrücktes Stöhnen kam, dem das dumpfe Gerausch
+eines schweren Falles folgte. Alles sprang auf.
+Die Herzogin stand regungslos da vor Schreck. Mit ängstlichen
+Augen stürzte Lord Henry durch die wehenden
+Fächer der Palmen und fand Dorian Gray in einer
+todesähnlichen Ohnmacht am Boden liegend, mit dem Gesicht
+auf den kühlen Fliesen.</p>
+
+<p>Er wurde sofort in den blauen Salon gebracht und auf
+ein Sofa gelegt. Nach einer kurzen Weile kam er wieder
+zu sich und sah sich verstört um.</p>
+
+<p>„Was ist geschehen?“ fragte er. „Ach! jetzt fällt mir's
+ein. Bin ich hier sicher, Harry?“ Er begann zu zittern.</p>
+
+<p>„Mein lieber Dorian,“ antwortete Lord Henry, „es war
+ein Ohnmachtsanfall. Weiter nichts. Du mußt dich wohl<a class="pagenum" name="Page_303" title="303"> </a>
+übermüdet haben. Komm lieber nicht zum Diner hinunter.
+Ich werde dich vertreten.“</p>
+
+<p>„Nein, ich will herunterkommen“, sagte er und mühte
+sich, auf den Füßen zu stehen. „Ich komme lieber herunter!
+Ich darf nicht allein sein.“</p>
+
+<p>Er ging in sein Zimmer und zog sich um. Als er bei
+Tisch saß, war in seinem Gehaben eine wilde, übermütige
+Lustigkeit, aber hin und wieder überlief ihn ein Angstschauer,
+wenn er sich erinnerte, daß er, gegen die Fensterscheiben
+des Gewächshauses gepreßt, das lauernde Gesicht
+James Vanes wie ein weißes Tuch erblickt hatte.</p>
+
+<h2><a name="Achtzehntes_Kapitel" id="Achtzehntes_Kapitel"></a>Achtzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Am nächsten Tage verließ er das Haus nicht und verbrachte
+den größten Teil der Zeit in seinem Zimmer,
+durchrüttelt von einer wilden Todesfurcht und dem Leben
+gegenüber doch gleichgültig. Das Bewußtsein, gejagt, umzingelt,
+aufgestöbert zu werden, fing an, ihn gänzlich zu
+beherrschen. Wenn nur die Vorhänge im Winde rauschten,
+schrak er zusammen. Die toten Blätter, die gegen die verbleiten
+Scheiben gefegt wurden, schienen ihm seine eigenen
+vergeudeten Vorsätze und ungestümen Gewissensbisse zu
+sein. Wenn er die Augen schloß, sah er wieder das Gesicht
+des Matrosen vor sich, wie es durch das feuchtbeschlagene
+Glas stierte, und das Entsetzen schien ihm noch einmal seine
+Hand aufs Herz zu legen.</p>
+
+<p>Aber vielleicht war es nur seine Phantasie gewesen, die<a class="pagenum" name="Page_304" title="304"> </a>
+die Rache aus der Nacht heraufbeschworen und ihm die
+gräßliche Gestalt der Strafe vorgetäuscht hatte. Das wirkliche
+Leben war ein Chaos, aber es war eine furchtbare
+Logik in der Phantasie. Die Phantasie hetzte die Gewissensbisse
+hinter den flüchtigen Sohlen der Sünde her.
+Die Phantasie ließ jedes Verbrechen seine mißgestaltete
+Brut in sich tragen. In der gewöhnlichen Welt der Tatsachen
+wurden die Schlechten so wenig bestraft wie die
+Guten belohnt. Der Erfolg gehörte den Starken, Unglück
+machte die Schwachen unterliegen. Das war alles. Zudem,
+wenn ein Fremder um das Haus herumgestrolcht
+wäre, so hätten ihn die Diener oder Wächter entdeckt.
+Wären irgendwelche Fußtapfen in den Beeten bemerkt
+worden, so hätten es die Gärtner gemeldet. Ja: es war
+alles bloße Einbildung. Sybil Vanes Bruder war nicht
+zurückgekommen, um ihn zu ermorden. Er war mit seinem
+Schiff abgesegelt, um in irgendeiner arktischen See zu ertrinken.
+Vor dem war er also sicher. Der Mann wußte
+gar nicht, wer er war und konnte es nicht wissen. Die
+Maske der Jugend hatte ihn gerettet.</p>
+
+<p>Und doch, wenn es eine bloße Ausgeburt der Einbildung
+gewesen war, wie schrecklich war doch der Gedanke,
+daß das Gewissen so fürchterliche Hirngespinste entstehen
+lassen und ihnen sichtbare Form und Bewegung geben
+konnte! Was für eine Art Leben würde er führen, wenn
+Tag und Nacht die Schatten seines Verbrechens aus düsteren
+Winkeln nach ihm spähten, ihn von geheimen Stellen
+aus neckten, ihm ins Ohr flüsterten, wenn er beim Mahle
+saß, ihn mit eisigen Fingern weckten, wenn er schlief! Als<a class="pagenum" name="Page_305" title="305"> </a>
+dieser Gedanke durch sein Hirn kroch, wurde er blaß vor
+Schrecken, und die Luft schien ihm plötzlich kälter geworden
+zu sein. Oh! in was für einer wilden Wahnsinnsstunde
+hatte er seinen Freund umgebracht! Wie bluterstarrend
+war nur die Erinnerung an diese Szene! Er sah es alles
+wieder. Jede gräßliche Einzelheit kam mit vermehrtem
+Entsetzen wieder zu ihm. Aus dem schwarzen Grabverlies
+der Zeit stieg schrecklich und in Scharlachrot gehüllt das
+Bild seiner Sünde empor. Als Lord Henry um sechs Uhr
+eintrat, fand er ihn schluchzend, als ob ihm das Herz
+brechen wolle.</p>
+
+<p>Erst am dritten Tage wagte er auszugehen. Es lag
+etwas in der klaren, tannenduftenden Luft dieses Wintermorgens,
+das ihm seine Fröhlichkeit und seine Lebenslust
+wiederzugeben schien. Aber nicht nur die physischen Bedingungen
+seiner Umgebung hatten diese Wandlung zuwege
+gebracht. Seine eigene Natur hatte sich gegen das Übermaß
+der Angst empört, die ihre vollendete Ruhe zu stören
+und zu vernichten versucht hatte. Mit feinen und subtil
+organisierten Temperamenten ist es immer so. Ihre heftigen
+Leidenschaften können nur Hammer oder Amboß
+sein. Entweder töten sie den Menschen oder sterben selbst.
+Oberflächliche Sorgen, oberflächliche Liebesempfindungen
+können weiter leben. Tiefe Liebesempfindungen und große
+Sorgen gehen durch ihre eigene Überfülle zugrunde. Überdies
+hatte er sich jetzt überzeugt, daß er das Opfer einer
+erschreckten Einbildungskraft gewesen war, und sah jetzt auf
+seine Ängste mit einer Art Mitleid und nicht geringer Verachtung
+zurück.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_306" title="306"> </a></p>
+
+<p>Nach dem Frühstück ging er mit der Herzogin ein
+Stündchen im Garten spazieren und fuhr dann durch den
+Park, um mit der Jagdgesellschaft zusammenzutreffen.
+Der feinperlige Reif lag wie Salz auf dem Rasen. Der
+Himmel sah aus wie ein umgestülpter Pokal aus blauem
+Metall. Ein dünner Eisgallert umsäumte den seichten,
+schilfbewachsenen Teich.</p>
+
+<p>Am Eingang des Tannenwaldes erblickte er Sir Geoffrey
+Clouston, den Bruder der Herzogin, der eben zwei
+verschossene Patronen aus seiner Flinte stieß. Dorian
+sprang aus dem Wagen, sagte dem Groom, er solle mit
+dem Gespann nach Hause fahren, und ging durch das welke
+Farnkraut und das gestrüppige Unterholz auf seinen
+Gast zu.</p>
+
+<p>„Gute Jagd gehabt, Geoffrey?“ fragte er.</p>
+
+<p>„Nicht berühmt, Dorian. Die meisten Vögel, glaub' ich,
+sind auf die Felder geflüchtet. Vielleicht wird's nachmittag
+besser sein, wenn wir auf frisches Revier kommen.“</p>
+
+<p>Dorian schlenderte neben ihm weiter. Die starke, aromatische
+Luft, die braunen und roten Lichter, die den Wald
+durchflimmerten, das rauhe Geschrei der Treiber, das von
+Zeit zu Zeit aufgellte, und der scharfe Knall der Flinten,
+der dann folgte, das alles fesselte ihn und erfüllte ihn mit
+einem Gefühl entzückender Freiheit. Er war beherrscht von
+einem sorglosen Glück, von einer großartigen Gleichgültigkeit
+der Freude.</p>
+
+<p>Plötzlich brach aus einem dicken Büschel alten Grases,
+vielleicht zwanzig Meter vor ihnen, ein Hase aus, die
+schwarzgesprenkelten Löffel steif aufgerichtet und die langen<a class="pagenum" name="Page_307" title="307"> </a>
+Hinterläufe nach vorn werfend. Er schnellte auf ein
+Erlendickicht los. Sir Goeffrey riß das Gewehr an die
+Schulter, aber in der anmutigen Bewegung des Tieres
+lag etwas, das Dorian Gray seltsam entzückte, und er
+rief hastig: „Schieß nicht, Geoffrey. Laß ihn laufen!“</p>
+
+<p>„Ach, Unsinn, Dorian“, sagte lachend sein Gefährte,
+und noch ehe der Hase in das Dickicht setzte, schoß er zu.
+Man hörte zwei Schreie, den Schrei eines verwundeten
+Hasen, der schrecklich ist, und den Schrei eines sterbenden
+Menschen, der noch schrecklicher ist.</p>
+
+<p>„Gott im Himmel, ich habe einen Treiber getroffen!“
+rief Sir Geoffrey aus. „Was für 'n Esel der Mann ist,
+einem direkt vors Gewehr zu laufen! Hört auf mit Schießen!“
+rief er mit seiner lautesten Stimme. „Ein Mann ist
+getroffen worden!“</p>
+
+<p>Der Hegemeister kam mit einem Stock in der Hand herbeigelaufen.</p>
+
+<p>„Wo, Herr? Wo ist er?“ rief er. Im selben Augenblick
+hörte das Schießen auf der ganzen Linie auf.</p>
+
+<p>„Hier!“ antwortete Sir Geoffrey ärgerlich und rannte
+auf das Dickicht zu. „Warum, zum Kuckuck, halten Sie
+Ihre Leute nicht weiter zurück? Für heute hab' ich die
+ganze Jagd im Magen.“</p>
+
+<p>Dorian sah ihnen nach, wie sie in die Erlenbüsche eindrangen
+und die biegsamen Zweige zur Seite bogen. Nach
+einigen Augenblicken erschienen sie wieder und zogen einen
+Körper ans Tageslicht. Er wandte sich entsetzt ab. Es schien
+ihm, als folge ihm das Mißgeschick überallhin. Er hörte,
+wie Sir Geoffrey fragte, ob der Mann wirklich tot wäre,<a class="pagenum" name="Page_308" title="308"> </a>
+und vernahm die bejahende Antwort des Hegemeisters.
+Es schien ihm, als wimmele der Wald urplötzlich von Gesichtern.
+Er hörte das Gelaufe von unzähligen Füßen
+und das gedämpfte Flüstern von Stimmen. Ein großer
+Fasan mit kupferfarbener Brust rauschte durch die Äste
+über ihm dahin.</p>
+
+<p>Nach einigen Augenblicken, die ihm in seiner Fassungslosigkeit
+wie endlose, peinvolle Stunden vorkamen, fühlte
+er eine Hand auf seiner Schulter. Er zuckte zusammen
+und wandte sich um.</p>
+
+<p>„Dorian,“ sagte Lord Henry, „ich halt 's für richtiger,
+die Jagd für heute beendet sein zu lassen. Es würde nicht
+gut aussehen, sie fortzusetzen.“</p>
+
+<p>„Ich wollte, sie wäre für immer beendet, Harry“, antwortete
+er bitter. „Die ganze Geschichte ist gräßlich und
+grausam ist der Mann...?“ Er konnte den Satz nicht
+vollenden.</p>
+
+<p>„Ja leider“, entgegnete Lord Henry. <ins title="Er">„Er</ins> hat die ganze
+Ladung in die Brust gekriegt. Er muß augenblicklich gestorben
+sein. Komm, wir wollen nach Hause.“</p>
+
+<p>Sie schritten nebeneinander auf die Allee zu und sprachen
+etwa fünfzig Meter weit kein Wort. Dann sah Dorian
+Lord Henry an und sagte mit einem tiefen Seufzer: „Das
+ist ein böses Omen, Harry, ein sehr böses Omen.“</p>
+
+<p>„Was denn?“ fragte Lord Henry. „Oh! diesen Unglücksfall
+meinst du. Lieber Junge, daran ist nichts zu
+ändern. Der Mann hatte ja selber schuld. Warum lief
+er in die Schußlinie? Überdies ist es nicht unsere Sache.
+Für Geoffrey ist es natürlich nicht gerade angenehm! Es<a class="pagenum" name="Page_309" title="309"> </a>
+ist nicht hübsch, Treiber niederzupuffen. Die Leute denken
+gleich, man wäre ein Sonntagsjäger. Und das ist Geoffrey
+nicht; er schießt sogar brillant. Aber es hat keinen
+Zweck, über den Unfall weiter zu reden.“</p>
+
+<p>Dorian schüttelte den Kopf. „Es ist ein böses Omen,
+Harry. Ich habe das Gefühl, als müßte einem von uns
+etwas Schreckliches zustoßen. Mir selbst vielleicht“, fügte
+er hinzu und legte mit einer schmerzlichen Bewegung die
+Hand über die Augen.</p>
+
+<p>Der ältere lachte. „Das einzig Schreckliche in der Welt
+ist Langeweile, Dorian. Das ist die einzige Sünde, für die
+es keine Vergebung gibt. Aber wir werden darunter
+schwerlich zu leiden haben, wenn die Gesellschaft bei Tisch
+nicht etwa noch über die Sache viel Aufhebens macht.
+Ich muß den Leuten sagen, daß dieses Thema einfach
+Tabu ist. Und Omina &mdash;so was wie Omina gibt's nicht.
+Das Geschick sendet uns keine Herolde. Es ist zu weise
+dazu oder zu grausam. Übrigens, was in aller Welt sollte
+dir geschehen, Dorian? Du hast alles, was sich ein Mensch
+hienieden wünschen kann. Ich wüßte niemand, der nicht
+freudig mit dir tauschen möchte.“</p>
+
+<p>„Es gibt keinen, mit dem ich nicht tauschen möchte,
+Harry. Lach' nicht darüber. Ich spreche die Wahrheit.
+Der elende Bauer, der da gestorben ist, ist besser daran
+als ich. Ich habe keine Angst vor dem Tode. Das Sterben
+ist's, wovor ich mich <ins title="änstige">ängstige</ins>. Seine ungeheuren Flügel
+scheinen mich rings in der bleiernen Luft zu umschatten.
+Herr des Himmels, siehst du nicht, daß da hinter den Bäumen
+ein Mann auf mich lauert und mich beobachtet?“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_310" title="310"> </a></p>
+
+<p>Lord Henry sah in die Richtung, wohin die behandschuhte
+Hand zitternd wies. „Ja,“ sagte er lächelnd, „ich
+sehe da den Gärtner auf dich warten. Er will dich vermutlich
+fragen, welche Blumen du heute auf dem Tisch
+haben willst. Wie lächerlich nervös du heute bist, lieber
+Junge! Du mußt gleich meinen Doktor konsultieren, wenn
+wir wieder in der Stadt sind.“</p>
+
+<p>Dorian seufzte erleichtert auf, als er den Gärtner herankommen
+sah. Der Mann legte die Hand an den Hut,
+blickte erst zaudernd auf Lord Henry und zog dann einen
+Brief hervor, den er seinem Herrn überreichte. „Ihre Gnaden
+hat mir aufgetragen, auf Antwort zu warten“, sagte
+er halblaut.</p>
+
+<p>Dorian steckte den Brief in die Tasche. „Sagen Sie
+Ihrer Gnaden, ich würde kommen“, sagte er kühl. Der
+Mann kehrte um und schritt rasch dem Hause zu.</p>
+
+<p>„Wie gern doch die Frauen gefährliche Dinge tun!“
+sagte Lord Henry lachend. „Das ist eine von ihren Eigenschaften,
+die ich am meisten bewundere. Eine Frau ist
+mit jedem auf der Welt zu flirten bereit, solange andere
+Leute dabei Zuschauer sind.“</p>
+
+<p>„Wie gern du doch gefährliche Dinge sagst, Harry!
+In diesem Falle bist du aber ganz auf dem Holzwege. Ich
+habe die Herzogin sehr gern, aber ich liebe sie nicht.“</p>
+
+<p>„Und die Herzogin liebt dich sehr, aber sie hat dich nicht
+gern, also paßt ihr beide famos zusammen.“</p>
+
+<p>„Du machst Klatschereien, Harry, und diesmal ist gar
+kein Grund zu Klatschereien vorhanden.“</p>
+
+<p>„Die Grundlage für jeden Klatsch ist eine unmoralische<a class="pagenum" name="Page_311" title="311"> </a>
+Verläßlichkeit“, sagte Lord Henry und zündete sich eine
+Zigarette an.</p>
+
+<p>„Du würdest jeden von uns bloßstellen, Harry, um einen
+Witz zu machen.“</p>
+
+<p>„Die Welt legt sich aus freien Stücken auf den Opferaltar“,
+war die Antwort.</p>
+
+<p>„Ich wollte, ich könnte lieben!“ rief Dorian Gray mit
+einem tiefpathetischen Klang in seiner Stimme. „Aber es
+scheint, ich habe die Glut der Leidenschaft verloren und
+die Sehnsucht des Begehrens vergessen. Ich bin zu sehr in
+mich selber konzentriert. Meine eigene Person ist eine Last
+für mich geworden. Ich möchte entfliehen, weggehen, vergessen.
+Es war albern von mir, überhaupt herzukommen.
+Ich denke, ich telegraphiere an Harvey, daß er die Jacht
+instand setzt. Auf einer Jacht ist man sicher.“</p>
+
+<p>„Wovor sicher, Dorian? Du hast Unruhe. Warum sagst
+du mir nicht, was es ist? Du weißt, daß ich dir helfen
+könnte.“</p>
+
+<p>„Ich kann es dir nicht sagen, Harry“, erwiderte er traurig.
+„Und es mag wohl alles nur Einbildung sein. Der
+unglückselige Zwischenfall hat mich aus dem Gleichgewicht
+gebracht. Ich habe eine schreckliche Vorahnung, daß mir
+etwas Ähnliches zustößt.“</p>
+
+<p>„Was für Unsinn!“</p>
+
+<p>„Ich hoffe, es ist Unsinn, aber ich kann dies Gefühl
+nicht loswerden. Ah! da kommt die Herzogin und sieht aus
+wie Artemis in einem Tailormade-Kleide. Sie sehen, wir
+sind zurück, Frau Herzogin.“</p>
+
+<p>„Ich habe schon alles gehört, Herr Gray“, antwortete<a class="pagenum" name="Page_312" title="312"> </a>
+sie. „Der arme Geoffrey ist ganz außer Fassung. Und
+man sagt, Sie hatten ihn gebeten, nicht auf den Hasen zu
+schießen. Wie seltsam!“</p>
+
+<p>„Ja, es war sehr seltsam. Ich kann nicht mal sagen,
+warum ich es getan habe. Eine Eingebung vermute ich.
+Er sah so niedlich aus, der kleine Kerl. Aber ich bedaure
+sehr, daß man Ihnen von dem Manne erzählt hat.
+Es ist ein peinliches Thema.“</p>
+
+<p>„Es ist ein langweiliges Thema“, unterbrach ihn Lord
+Henry. „Es hat keinerlei psychologischen Wert. Wenn es
+Geoffrey noch absichtlich getan hätte, wie interessant wäre
+es dann! Ich würde gern jemand kennenlernen, der einen
+wirklichen Mord begangen hat.“</p>
+
+<p>„Wie abscheulich von dir“, schrie die Herzogin auf.
+„Nicht war, Herr Gray? Harry, Herrn Gray ist wieder
+unwohl. Er wird ohnmächtig.“</p>
+
+<p>Dorian hielt sich gewaltsam aufrecht und lächelte. „Es
+ist nichts, Frau Herzogin,“ murmelte er, „meine Nerven
+sind schrecklich in Unordnung. Nichts weiter. Ich fürchte,
+ich bin heut morgen zuviel gegangen. Ich habe gar nicht
+gehört, was Harry gesagt hat. War es sehr toll? Sie
+müssen es mir ein andermal erzählen. Ich halte es fürs
+beste, mich jetzt ein bißchen hinzulegen. Sie entschuldigen
+mich, nicht wahr?“</p>
+
+<p>Sie hatten die große Treppe erreicht, deren Stufen vom
+Gewächshaus auf die Terrasse emporführten. Als sich die
+Glastür hinter Dorian geschlossen hatte, wandte sich Lord
+Henry um und sah die Herzogin mit seinen schläfrigen
+Augen an. „Bist du sehr in ihn verliebt?“ fragte er.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_313" title="313"> </a></p>
+
+<p>Sie gab eine Weile keine Antwort, sondern stand da
+und blickte auf die Landschaft. „Ich möchte es selber
+wissen“, sagte sie endlich.</p>
+
+<p>Er schüttelte den Kopf. „Wissen, wäre ein Verhängnis.
+Nur die Ungewißheit hat für uns Reiz. Ein Nebel macht
+die Dinge wunderbar.“</p>
+
+<p>„Man kann darin seinen Weg verlieren.“</p>
+
+<p>„Alle Wege enden am selben Punkt, meine liebe Gladys.“</p>
+
+<p>„Wie heißt der?“</p>
+
+<p>„Enttäuschung.“</p>
+
+<p>„So war mein Debüt im Leben“, seufzte sie.</p>
+
+<p>„Sie kam mit einer Krone zu dir.“</p>
+
+<p>„Ich bin der Erdbeerblätter in unserer Krone müde.“</p>
+
+<p>„Sie steht dir gut.“</p>
+
+<p>„Nur in der Öffentlichkeit.“</p>
+
+<p>„Sie würde dir fehlen“, sagte Lord Henry.</p>
+
+<p>„Ich werde mich von keinem Blättchen trennen.“</p>
+
+<p>„Monmouth hat Ohren.“</p>
+
+<p>„Das Alter ist schwerhörig.“</p>
+
+<p>„War er nie eifersüchtig?“</p>
+
+<p>„Ich wollte, er wäre es.“ Dabei lachte sie. Ihre Zähne
+sahen aus wie weiße Kerne in einer scharlachfarbenen
+Frucht. Indessen lag oben in seinem Zimmer Dorian Gray
+auf einem Sofa, Schrecken in jeder zuckenden Fiber seines
+Körpers. Das Leben war für ihn urplötzlich eine so
+schwere Last geworden, daß er sie nicht mehr tragen konnte.
+Der gräßliche Tod des unglücklichen Treibers, der in dem
+Dickicht wie ein wildes Tier niedergeknallt worden war,
+schien ihm selbst den Tod vorauszusagen. Er war fast in<a class="pagenum" name="Page_314" title="314"> </a>
+Ohnmacht gefallen bei dem zynischen Scherz, den Lord
+Henry in einer zufälligen Laune gemacht hatte.</p>
+
+<p>Um fünf Uhr klingelte er seinem Diener und hieß ihn
+seine Sachen für den Nachtschnellzug nach London zu
+packen und den Wagen für halb neun vors Tor zu bestellen.
+Er war entschlossen, keine Nacht mehr in Selby
+Royal zu schlafen. Es war ein Ort voll böser Vorzeichen.
+Der Tod ging dort am hellen Tage um. Das Gras des
+Waldes war mit Blut befleckt.</p>
+
+<p>Dann schrieb er ein Billett an Lord Henry, in dem er
+ihm mitteilte, daß er in die Stadt fahre, um den Arzt zu
+konsultieren, und ihn bat, seine Gäste in seiner Abwesenheit
+zu unterhalten. Als er die Zeilen in ein Kuvert legte,
+klopfte es an die Tür, und sein Diener meldete ihm, daß
+ihn der Hegemeister sprechen wolle. Er runzelte die Stirn
+und biß sich auf die Lippen. „Lassen Sie ihn eintreten“,
+murmelte er nach einigem Zögern.</p>
+
+<p>Während der Mann eintrat, holte Dorian sein Scheckbuch
+aus einer Schublade hervor und legte es vor sich
+hin.</p>
+
+<p>„Sie kommen vermutlich wegen des Unglücksfalles von
+heute morgen, Thornton“, sagte er und nahm eine Feder
+auf.</p>
+
+<p>„Ja, Herr“, antwortete der Hegemeister.</p>
+
+<p>„War der arme Kerl verheiratet? Hatte er Angehörige
+zu versorgen?“ fragte Dorian mit einem müden Gesicht.
+„Wenn sich's so verhält, möchte ich nicht, daß sie in Not
+zurückbleiben, und ich will ihnen jede Summe schicken, die
+Sie für notwendig halten.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_315" title="315"> </a></p>
+
+<p>„Wir wissen nicht, wer es ist, gnädiger Herr. Deshalb
+war ich so frei, herzukommen.“</p>
+
+<p>„Sie wissen nicht, wer es ist?“ sagte Dorian zerstreut.
+„Wie meinen Sie das? War es nicht einer von Ihren
+Leuten?“</p>
+
+<p>„Nein Herr. Ich hab' ihn mein Lebtag nicht gesehen.
+Er sieht aus wie ein Matrose, gnädiger Herr.“</p>
+
+<p>Die Feder fiel Dorian Gray aus der Hand, und er
+hatte das Gefühl, als höre sein Herz plötzlich zu schlagen
+auf. „Ein Matrose!“ schrie er auf. „Sagten Sie, ein
+Matrose?“</p>
+
+<p>„Ja, gnädiger Herr. Er sieht aus wie ein Matrose;
+auf beiden Armen tätowiert und überhaupt so in der Art.“</p>
+
+<p>„Hat man irgend etwas bei ihm gefunden?“ fragte
+Dorian, beugte sich vor und sah den Mann mit aufgerissenen
+Augen an. „Irgend etwas, woraus man seinen Namen
+erführe?“</p>
+
+<p>„Nur Geld, gnädiger Herr &mdash; nicht viel, und einen
+sechsläufigen Revolver. Nichts von Namen. Der Mann
+sieht sonst anständig aus, aber gewöhnlich. Wir halten ihn
+für eine Art Matrosen.“</p>
+
+<p>Dorian sprang auf die Füße. Eine furchtbare Hoffnung
+durchblitzte ihn. Er klammerte sich wahnsinnig an sie an.
+„Wo ist der Leichnam?“ rief er aus. „Rasch, ich muß
+ihn sofort sehen.“</p>
+
+<p>„Er liegt in einem leeren Stall im Wirtschaftsgebäude,
+gnädiger Herr. Die Leute wollen so was nicht in ihren
+vier Wänden haben. Sie sagen, eine Leiche bringt Unglück.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_316" title="316"> </a></p>
+
+<p>„Im Wirtschaftsgebäude! Gehen Sie sogleich voraus
+und warten Sie da auf mich. Sagen Sie einem der
+Grooms, er soll mein Pferd herbringen. Nein. Lieber
+nicht. Ich will selbst in den Stall kommen. Das geht
+rascher.“</p>
+
+<p>Kaum eine Viertelstunde später galoppierte Dorian,
+so rasch er konnte, die lange Allee hinunter. Die Bäume
+schienen in gespenstischer Parade an ihm vorbeizufliegen
+und ihm wilde Schatten in den Weg zu schleudern. Einmal
+scheute die Stute vor einem weißen Pfahle und warf ihn
+fast ab. Er schlug ihr die Gerte um den Hals. Sie durchschnitt
+die dunkle Luft wie ein Pfeil. Die Steine stoben
+unter ihren Hufen.</p>
+
+<p>Endlich erreichte er das Wirtschaftsgebäude. Zwei Männer
+lungerten im Hof herum. Er sprang aus dem Sattel
+und warf einem die Zügel hin. In dem letzten Stall
+flimmerte ein Licht. Irgend etwas schien ihm zu sagen,
+daß dort der Leichnam liege, und er ging rasch auf die
+Tür zu und legte die Hand auf die Klinke.</p>
+
+<p>Da hielt er einen Augenblick inne und wurde sich bewußt,
+daß er vor der Schwelle einer Entdeckung stehe,
+die ihm entweder ein neues Leben gab oder es zerstörte.
+Dann stieß er die Tür auf und trat ein.</p>
+
+<p>Auf einem Haufen Säcke im entferntesten Winkel lag
+der tote Körper eines Mannes, bekleidet mit einem groben
+Blusenhemd und blauen Hosen. Ein unsauberes Taschentuch
+war ihm übers Gesicht gebreitet worden. Eine billige
+Kerze steckte in einer Flasche und flackerte düster.</p>
+
+<p>Dorian Gray schauerte. Er fühlte, daß er nicht mit<a class="pagenum" name="Page_317" title="317"> </a>
+eigener Hand das Taschentuch wegziehen könne, und rief
+nach einem der Stallknechte.</p>
+
+<p>„Nehmen Sie das da vom Gesicht weg. Ich will es
+sehen“, sagte er und hielt sich an dem Türpfosten fest.</p>
+
+<p>Als es der Knecht getan hatte, machte er einen Schritt
+nach vorn. Ein Freudenschrei kam von seinen Lippen.
+Der Mann, der im Dickicht erschossen worden war, war
+James Vane.</p>
+
+<p>Er stand einige Minuten da und starrte auf den toten
+Körper. Als er nach Hause ritt, waren seine Augen von
+Tränen umschleiert, denn er wußte jetzt, daß er gerettet
+war.</p>
+
+<h2><a name="Neunzehntes_Kapitel" id="Neunzehntes_Kapitel"></a>Neunzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>„Es hat gar keinen Sinn, mir zu erzählen, daß du gut
+werden willst!“ rief Lord Henry und tauchte seine weißen
+Finger in eine rote, mit Rosenwasser gefüllte Kupferschale.
+„Du bist vollkommen. Bitte ändere dich nicht.“</p>
+
+<p>Dorian Gray schüttelte den Kopf. „Nein, Harry, ich
+habe zuviel gräßliche Dinge getan in meinem Leben.
+Ich will keine mehr tun. Ich habe gestern mit meinen
+guten Taten den Anfang gemacht.“</p>
+
+<p>„Wo warst du gestern?“</p>
+
+<p>„Auf dem Lande, Harry. Ich war mutterseelenallein
+in einem kleinen Gasthof.“</p>
+
+<p>„Lieber Junge,“ sagte Lord Henry lächelnd, „auf dem
+Lande kann jeder Mensch gut sein. Dort gibt's keine Versuchungen.<a class="pagenum" name="Page_318" title="318"> </a>
+Das ist der Grund, warum Leute, die nicht
+in der Stadt wohnen, so gänzlich unzivilisiert sind. Zivilisation
+ist wahrhaftig nicht leicht zu erreichen. Es gibt nur
+zwei Wege, um zu ihr zu kommen. Der eine ist Kultur, der
+andere Korruption. Die Landbevölkerung hat keine Gelegenheit
+zu dieser noch zu jener, und so bleiben sie so in
+ihrer Entwicklung stehen.“</p>
+
+<p>„Kultur und Korruption“, wiederholte Dorian. „Ich
+habe von beiden etwas kennengelernt. Es scheint mir jetzt
+schrecklich, daß man sie immer beisammen findet. Denn
+ich habe ein neues Ideal, Harry. Ich will anders werden.
+Ich glaube, ich bin schon anders geworden.“</p>
+
+<p>„Du hast mir noch nicht berichtet, worin deine gute
+Handlung bestand. Oder sagtest du nicht, du hättest mehr
+als eine getan?“ fragte der Freund und schüttete sich eine
+kleine rote Pyramide Erdbeeren auf seinen Teller, auf
+die er aus einem muschelförmigen Sieblöffel weißen Zucker
+streute.</p>
+
+<p>„Ich kann dir's ja erzählen, Harry. Es ist eine Geschichte,
+die ich einem anderen nicht erzählen könnte. Ich
+habe jemand verschont. Es klingt eitel, aber du verstehst,
+was ich meine. Sie war sehr schön und hatte eine wunderbare
+Ähnlichkeit mit Sibyl Vane. Ich glaube, das war das
+erste, was mich bei ihr anzog. Du erinnerst dich doch noch an
+Sibyl, nicht? Wie lange das her ist! Also Hetty gehörte
+natürlich nicht unserem Stand an. Sie war eine Dorfschöne.
+Aber ich liebte sie wirklich. Ich weiß bestimmt,
+daß ich sie liebte. In dem ganzen wundervollen Maimonat,
+den wir jetzt hatten, bin ich zwei-, dreimal in der Woche<a class="pagenum" name="Page_319" title="319"> </a>
+hingefahren, um sie zu sehen. Gestern erwartete sie mich
+in einem kleinen Obstgarten. Die Apfelblüten schneiten
+auf ihr Haar herab, und sie lachte. Heute morgen in aller
+Herrgottsfrühe sollte sie mit mir kommen. Plötzlich entschloß
+ich mich, sie so einer Blume gleich zu lassen, wie ich
+sie gefunden hatte.“</p>
+
+<p>„Ich vermute, die Neuheit der Empfindung muß dir
+einen förmlichen Wonneschauer bereitet haben, Dorian“,
+unterbrach ihn Lord Henry. „Aber ich kann dir dein
+Idyll zu Ende erzählen. Du gabst ihr gute Lehren und
+brachst ihr das Herz. Das ist der Anfang deiner Besserung.“</p>
+
+<p>„Harry, du bist schrecklich! Du darfst so häßliche Dinge
+nicht sagen. Hettys Herz ist nicht gebrochen. Natürlich
+weinte sie und dergleichen. Aber keine Schande ist auf sie
+gekommen. Sie kann weiterleben wie Perdita in ihrem
+Garten bei Pfefferminze und Ringelblumen.“</p>
+
+<p>„Und einem treulosen Florizel nachweinen“, rief Lord
+Henry lachend und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
+„Teuerster Dorian, du hast manchmal die sonderbarsten
+Knabenanwandlungen. Glaubst du, dieses Mädchen wird
+sich jemals mit einem ihres eigenen Standes glücklich
+fühlen? Ich vermute, sie wird eines schönen Tages
+einen rohen Fuhrmann oder einen grinsenden Bauernlümmel
+heiraten. Schön also, die Tatsache, daß sie dich
+kennengelernt und geliebt hat, wird sie dahin bringen,
+ihren Mann zu verachten, und sie wird unglücklich werden.
+Vom moralischen Standpunkte aus kann ich also nicht
+finden, daß deine Entsagung sehr wertvoll war. Selbst<a class="pagenum" name="Page_320" title="320"> </a>
+als ein Anfang ist sie armselig. Außerdem, woher
+willst du wissen, ob Hetty in diesem Augenblick nicht in
+einem sternbeglänzten Mühlteich schwimmt, von lieblichen
+Wasserlilien umkränzt wie Ophelia?“</p>
+
+<p>„Ich kann es nicht aushalten, Harry! Du spottest über
+alles und beschwörst dann die ernsthaftesten Tragödien
+herauf. Es tut mir jetzt leid, daß ich es dir erzählt habe.
+Es kümmert mich auch nicht, was du sagst. Ich weiß, ich
+habe recht gehandelt. Arme Hetty! Als ich heute früh am
+Gehöft vorbeiritt, sah ich ihr Gesicht weiß wie einen
+Jasminzweig am Fenster. Wir wollen nicht länger davon
+reden, und du sollst nicht versuchen, mich zu überzeugen,
+daß die erste gute Handlung, die ich seit Jahren getan
+habe, das erste kleine Opfer, das ich jemals gebracht
+habe, in Wahrheit eine Art Sünde wäre. Ich will mich
+jetzt bessern. Und ich werde mich bessern. Erzähle mir etwas
+von dir. Was geht in der Stadt vor? Ich war tagelang
+nicht im Klub.“</p>
+
+<p>„Die Leute sprechen noch immer über das Verschwinden
+des armen Basil.“</p>
+
+<p>„Ich sollte meinen, daß sie inzwischen davon genug
+bekommen hätten“, sagte Dorian, während er sich etwas
+Wein einschenkte und leicht die Stirn runzelte.</p>
+
+<p>„Mein lieber Junge, sie reden ja erst seit sechs Wochen
+davon, und das englische Publikum ist wirklich nicht der
+geistigen Anstrengung gewachsen, alle drei Monate mehr
+als ein Gesprächsthema zu haben. Immerhin haben sie
+in der letzten Zeit Glück gehabt. Sie hatten meinen eigenen
+Ehescheidungsprozeß und Alan Campbells Selbstmord.<a class="pagenum" name="Page_321" title="321"> </a>
+Jetzt haben sie das geheimnisvolle Verschwinden eines
+Künstlers. In Scotland Yard bleibt man hartnäckig dabei,
+daß der Mann im grauen Ulster, der in der Nacht des
+neunten November mit dem Zwölfuhrzug nach Paris fuhr,
+der arme Basil war, und die französische Polizei erklärt,
+Basil wäre überhaupt nie in Paris eingetroffen. Vermutlich
+wird man uns etwa in vierzehn Tagen auftischen, daß
+er in San Francisco gesehen worden ist. Es ist eine
+schwierige Geschichte, aber von jedem Menschen, der verschwindet,
+heißt es, daß er in San Francisco gesehen
+worden ist. Das muß eine entzückende Stadt sein, die alle
+Reize der zukünftigen Welt ihr Eigen nennt.“</p>
+
+<p>„Was glaubst du, daß Basil zugestoßen sei?“ fragte
+Dorian, hielt seinen Burgunder gegen das Licht und
+wunderte sich, daß er über diese Sache so ruhig plaudern
+konnte.</p>
+
+<p>„Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wenn sich Basil
+ein Vergnügen daraus macht, Versteck zu spielen, so ist
+das nicht meine Sache. Wenn er tot ist, will ich nicht
+weiter an ihn denken. Der Tod ist das einzige, was mir
+Angst macht. Ich hasse ihn.“</p>
+
+<p>„Warum?“ fragte der jüngere müde.</p>
+
+<p>„Weil,“ sagte Lord Henry und führte die vergoldete
+Netzöffnung eines Riechbüchschens zur Nase, „weil man
+heutzutage alles überleben kann, ausgenommen den Tod.
+Tod und Philisterei sind die zwei einzigen Tatsachen des
+neunzehnten Jahrhunderts, die man nicht wegerklären
+kann. Wir wollen den Kaffee im Musikzimmer trinken,
+Dorian. Du mußt mir Chopin vorspielen. Der Mann, mit<a class="pagenum" name="Page_322" title="322"> </a>
+dem meine Frau durchbrannte, spielte Chopin hinreißend.
+Die arme Viktoria! Ich habe sie recht gern gehabt. Das
+Haus ist ohne sie recht einsam. Natürlich ist das Eheleben
+nur eine Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit. Aber
+schließlich bedauert man den Verlust selbst seiner schlechtesten
+Gewohnheiten. Vielleicht bedauert man die gerade
+am meisten. Sie sind ein so wesentlicher Teil unserer Persönlichkeit.“</p>
+
+<p>Dorian sagte nichts, sondern stand vom Tisch auf,
+ging in das Nebenzimmer, setzte sich an das Klavier und
+ließ seine Finger über das weiße und schwarze Elfenbein
+der Tasten gleiten. Als der Kaffee gebracht wurde, hörte
+er auf, sah zu Lord Henry hinüber und sagte: „Harry,
+ist es dir nie eingefallen, daß Basil ermordet worden sein
+könnte?“</p>
+
+<p>Lord Henry gähnte. „Basil war sehr populär und trug
+immer nur eine Waterburyuhr. Warum hätte man ihn ermorden
+sollen? Er war nicht klug genug, um Feinde zu
+haben. Freilich hatte er ein wunderbares Genie als Maler.
+Aber ein Mensch kann malen wie Velasquez und doch so
+langweilig als möglich sein. In Wirklichkeit war Basil
+ziemlich langweilig. Er interessierte mich nur ein einziges
+Mal, und das war damals, als er mir vor vielen Jahren
+gestand, daß er dich so ungestüm anbete und daß du das
+Leitmotiv seiner Kunst seist.“</p>
+
+<p>„Ich habe Basil sehr gern gehabt“, sagte Dorian mit
+einem traurigen Klang in seiner Stimme. „Aber behauptet
+denn das Publikum nicht, daß er ermordet worden
+ist?“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_323" title="323"> </a></p>
+
+<p>„Pah, in einigen Zeitungen steht es. Es scheint mir nicht
+im geringsten wahrscheinlich. Ich weiß, es gibt fürchterliche
+Orte in Paris, aber Basil war nicht die Art
+Mensch, sie aufzusuchen. Er war nicht neugierig. Das war
+sein Hauptfehler.“</p>
+
+<p>„Was würdest du dazu sagen, Harry, wenn ich dir versicherte,
+daß ich Basil ermordet habe?“ fragte der jüngere.
+Er beobachtete ihn scharf, nachdem er das gesagt hatte.</p>
+
+<p>„Lieber Freund, ich würde sagen, daß du einen Charakter
+posierst, der dich nicht kleidet. Jedes Verbrechen ist
+ordinär, gerade wie alles Ordinäre ein Verbrechen ist.
+Du hast nicht die Gabe, Dorian, einen Mord zu begehen.
+Es sollte mir leid tun, wenn ich dich durch diese Meinung
+in deiner Eitelkeit kränkte, aber ich versichere dich, es ist
+wahr. Das Verbrechen ist ein ausschließliches Vorrecht der
+unteren Klassen. Ich will sie damit durchaus nicht tadeln.
+Ich vermute einfach, das Verbrechen ist für sie, was die
+Kunst für uns ist, einfach ein Verfahren, um sich außerordentliche
+Empfindungen zu verschaffen.“</p>
+
+<p>„Ein Verfahren, sich Empfindungen zu verschaffen?
+Glaubst du also, daß ein Mensch, der einmal einen Mord
+begangen hat, imstande wäre, das nämliche Verbrechen
+zu wiederholen? Das rede mir nicht ein.“</p>
+
+<p>„Oh! Alles wird zu einem Vergnügen, wenn man es
+zu oft tut!“ rief Lord Henry lachend. „Das ist eines der
+wichtigsten Geheimnisse des Lebens. Immerhin bin ich
+des Glaubens, daß der Mord stets ein Mißgriff ist. Man
+sollte nie etwas tun, worüber man sich nicht nach dem Essen
+unterhalten kann. Aber wir wollen jetzt den armen Basil<a class="pagenum" name="Page_324" title="324"> </a>
+lassen. Ich wollte, ich könnte glauben, daß er ein so romantisches
+Ende genommen hat, wie du durchblicken läßt; aber
+ich kann es nicht. Ich glaube eher, daß er von einem Omnibus
+in die Seine gefallen ist und der Kondukteur hat
+den Skandal vertuscht. Ja, ich glaube wirklich, so war sein
+Ende. Ich sehe ihn jetzt auf dem Rücken liegen unter dem
+dunkelgrünen Wasser, und die schweren Lastkähne schwimmen
+über ihm hin, und lange Tangflechten verwickeln sich
+in sein Haar. Weißt du, ich glaube nicht, daß er noch viel
+Gutes gemacht hätte. In den letzten zehn Jahren ist seine
+Malerei nicht mehr berühmt gewesen.“</p>
+
+<p>Dorian seufzte und Lord Henry schlenderte durch das
+Zimmer und unterhielt sich damit, einem merkwürdigen
+Papagei aus Java den Kopf zu krauen, einem großen,
+graugefiederten Vogel mit rotem Schopf und Schwanz,
+der auf einem Bambusstab balancierte. Als ihn seine
+spitzen Finger berührten, ließ er die weiße Nickhaut seiner
+Liderfalten über die schwarzen Glaskugelaugen fallen und
+begann sich hin- und herzuwiegen.</p>
+
+<p>„Ja,“ fuhr er fort, während er sich umdrehte, und sein
+Taschentuch aus der Tasche nahm, „seine Malerei ist nicht
+mehr weither gewesen. Es schien mir so, als hätte sie
+irgend etwas eingebüßt. Sie hatte ein Ideal verloren.
+Als ihr beide aufhörtet, intime Freunde zu sein, hörte er
+auf, ein großer Künstler zu sein. Was hat euch auseinander
+gebracht? Ich vermute, er langweilte dich. Wenn das der
+Fall war, dann hat er dir nie verziehen. Das ist gewöhnlich
+so bei langweiligen Menschen. Was ist übrigens aus dem
+wundervollen Porträt geworden, das er von dir gemacht<a class="pagenum" name="Page_325" title="325"> </a>
+hat? Ich kann mich nicht erinnern, es jemals wiedergesehen
+zu haben, seit es fertig wurde. Ah! Jetzt besinne ich mich,
+daß du mir vor Jahren erzählt hast, du hättest es nach
+Selby geschickt und es wäre unterwegs auf irgendeine
+Weise gestohlen worden oder in Verlust geraten. Hast du
+es nie wieder bekommen? Wie schade! Es war faktisch
+ein Meisterwerk. Ich entsinne mich, daß ich es kaufen
+wollte. Ich wünschte, ich hätte es jetzt. Es stammte aus
+Basils bester Zeit. Seitdem bestanden alle seine Arbeiten
+aus dem eigentümlichen Gemengsel von schlechter Malerei
+und guten Absichten, das einen Mann berechtigt, ein britischer
+Künstler von Bedeutung genannt zu werden. Hast
+du deswegen eigentlich gar nicht annonciert? Das hättest
+du tun sollen.“</p>
+
+<p>„Ich weiß es nicht mehr“, antwortete Dorian. „Ich
+glaube, ich tat es. Aber ehrlich gesagt, ich habe das Bild
+nie gemocht. Es tut mir überhaupt leid, daß ich dazu gesessen
+habe. Schon die Erinnerung an das Ding ist mir
+greulich. Warum sprichst du davon? Es hat mich immer
+an ein paar merkwürdige Zeilen aus einem Theaterstück
+erinnert &mdash; aus Hamlet, glaube ich &mdash; wie heißen
+sie? &mdash;</p>
+
+<p class="poem">
+‚Gleich dem Bildnis eines Grams,<br />
+ein Antlitz ohne Herz.‛<br />
+</p>
+
+<p>Ja, so sah es aus.“</p>
+
+<p>Lord Henry lachte. „Wenn ein Mensch das Leben
+künstlerisch behandelt, ist sein Hirn sein Herz“, antwortete
+er und ließ sich in einen Armsessel fallen.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_326" title="326"> </a></p>
+
+<p>Dorian Gray schüttelte den Kopf und schlug ein paar
+sanfte Akkorde auf dem Klavier an. „Gleich dem Bildnis
+eines Grams, ein Antlitz ohne Herz“, wiederholte er, „ein
+Antlitz ohne Herz.“</p>
+
+<p>Der ältere Freund saß zurückgelehnt und blickte mit halbgeschlossenen
+Augen zu ihm hinüber. „Übrigens, Dorian,“
+sagte er nach einer Pause, „was hülfe es einem Menschen,
+so er die ganze Welt gewönne und &mdash; wie heißt die Stelle
+doch? &mdash; seine eigene Seele verlöre?“</p>
+
+<p>Die Musik brach schrill ab und Dorian Gray schnellte
+auf und starrte seinen Freund an. „Warum fragst du mich
+das, Harry?“</p>
+
+<p>„Aber bester Junge,“ sagte Lord Henry und zog verwundert
+die Augenbrauen in die Höhe, „ich habe dich
+gefragt, weil ich dachte, du könntest mir eine Antwort
+geben. Das ist alles. Ich bin letzten Sonntag durch Hyde
+Park gegangen, und nahe beim Marble Arch stand eine
+kleine Ansammlung schäbig aussehender Menschen, die
+irgendeinem ordinären Straßenprediger lauschten. Als ich
+vorbeiging, hörte ich den Mann diese Frage seinen Zuhörern
+entgegenschreien. Es berührte mich ordentlich dramatisch.
+London ist sehr reich an seltsamen Wirkungen
+solcher Art. Ein regnerischer Sonntag, ein unmanierlicher
+Christ in einem Regenmantel, ein Kreis krankhafter, bleicher
+Gesichter unter dem wellenförmigen Dach tropfender Regenschirme
+und ein wunderbarer Satz, von schrillen, hysterischen
+Lippen in die Luft geschleudert, das war auf seine
+Art wirklich sehr gut, es lag geradezu eine gewisse Suggestion
+darin. Ich dachte zuerst daran, dem Propheten zu<a class="pagenum" name="Page_327" title="327"> </a>
+sagen, daß die Kunst eine Seele habe, aber nicht der
+Mensch, aber ich fürchte, er hätte mich doch nicht verstanden.“</p>
+
+<p>„Nein, Harry. Die Seele ist eine fürchterliche Gewißheit.
+Sie kann gekauft werden und verkauft und umgetauscht.
+Sie kann vergiftet werden oder vervollkommnet.
+In jedem von uns lebt eine Seele. Ich weiß es.“</p>
+
+<p>„Bist du dessen ganz sicher, Dorian?“</p>
+
+<p>„Ganz sicher.“</p>
+
+<p>„Pah! Dann muß es Einbildung sein. Die Dinge, die
+man für ganz sicher hält, sind nun und nimmer wahr. Das
+ist das Verhängnis des Glaubens und die Weisheit der
+Romantik. Wie feierlich du tust! Sei nicht so ernsthaft.
+Was hast du oder ich mit dem Aberglauben unserer Zeit
+zu tun? Nein: wir haben unseren Glauben an die Seele
+aufgegeben. Spiel' mir was vor. Spiel' mir ein Nokturno,
+Dorian, und während du spielst, sage mir mit leiser Stimme,
+wie du es möglich gemacht hast, dir deine Jugend zu erhalten.
+Du mußt irgendein Geheimmittel haben. Ich bin
+nur zehn Jahre älter als du, und bin runzlig und verwelkt
+und gelb. Du bist in der Tat wundervoll, Dorian. Du hast
+nie entzückender ausgesehen als heute abend. Du rufst mir
+den Tag ins Gedächtnis zurück, an dem ich dich zum
+erstenmal sah. Du warst etwas schnippisch, sehr scheu und
+ganz und gar außergewöhnlich. Seitdem hast du dich natürlich
+verändert, aber nicht im Aussehen. Ich wünschte, du
+verrietest mir dein Geheimnis. Um meine Jugend zurückzubekommen,
+täte ich alles auf der Welt, außer Gymnastik
+treiben, früh aufstehen oder ehrbar sein. Jugend! Nichts<a class="pagenum" name="Page_328" title="328"> </a>
+kommt ihr gleich. Es ist absurd, von der Unwissenheit der
+Jugend zu schwatzen. Die einzigen Leute, deren Ansichten
+ich jetzt mit einigem Respekt anhöre, sind Leute, die viel
+jünger sind als ich. Die scheinen mir weit voraus zu sein.
+Das Leben hat ihnen sein letztes Wunder enthüllt. Was
+die älteren betrifft, denen widerspreche ich immer. Ich tue
+es aus Prinzip. Wenn du einen um seine Meinung über
+etwas fragst, das gestern passiert ist, dann gibt er dir feierlichen
+Aufschluß über die Meinungen, die Anno 1820 im
+Schwunge waren, als die Leute hohe Halsbinden trugen,
+an alles glaubten und absolut nichts wußten. Wie hübsch
+das ist, was du da spielst! Ich möchte wohl wissen, ob es
+Chopin in Majorca geschrieben hat, während das Meer
+seine Villa umklagte und der Salzschaum klatschend gegen
+die Fensterscheiben spritzte. Es ist entzückend romantisch.
+Was für ein Segen es ist, daß es doch die eine Kunst
+gibt, die nicht aus Nachahmung besteht. Hör' nicht auf. Ich
+brauche Musik heut abend. Es kommt mir so vor, als ob
+du der junge Apollo bist und ich Marsyas, der dir zuhört.
+Ich habe meine eigenen Sorgen, Dorian, von denen nicht
+einmal du etwas weißt. Die Tragödie des Alters beruht
+nicht darin, daß man alt ist, sondern daß man jung ist.
+Ich bin manchmal ganz erschrocken über meine eigene Aufrichtigkeit.
+Ach, Dorian, wie glücklich bist du! Was für
+ein köstliches Leben hast du gehabt! Du hast tief aus jedem
+Quell getrunken! Du hast die Trauben an deinem Gaumen
+zerdrückt. Nichts ist dir verborgen geblieben. Und all das
+ist dir nicht mehr gewesen als ein Klang von Musik. Es hat
+dir nichts anhaben können. Du bist noch heute derselbe.“</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_329" title="329"> </a></p>
+
+<p>„Ich bin nicht derselbe, Harry.“</p>
+
+<p>„Ja, du bist derselbe. Ich bin gespannt, wie dein
+Leben weiter verlaufen wird. Verdirb es nicht durch Entsagung.
+Jetzt bist du ein vollkommener Typus. Mach' dich
+nicht unvollkommen. Du bist jetzt ganz ohne Tadel. Du
+brauchst den Kopf nicht zu schütteln: du weißt, du bist
+es. Und dann, Dorian, betrüge dich nicht selbst. Das Leben
+wird nicht durch Willen oder Absicht regiert. Das Leben
+ist eine Angelegenheit der Nerven und Muskeln und der
+langsam aufgemauerten Zellen, in denen die Gedanken
+hausen und die Leidenschaft ihren Träumen nachhängt.
+Du redest dir ein, sicher dazustehen und stark zu sein. Aber
+ein zufälliger Farbenton in einem Zimmer oder ein Morgenhimmel,
+ein besonderer Geruch, den du einmal geliebt
+hast und der versteckte Erinnerungen aufweckt, eine Zeile
+aus einem vergessenen Gedicht, die dir plötzlich wieder einfällt,
+ein paar Tonreihen aus einem Musikstück, das du
+längst nicht mehr spielst &mdash; ich sage dir, Dorian, von solchen
+Dingen hängt unser Leben ab. Browning hat irgendwo
+mal darüber geschrieben, aber unsere eigenen Sinne geben
+uns ohnehin davon Gewißheit. Es gibt Augenblicke, da
+durchblitzt mich plötzlich der Geruch von weißem Flieder,
+und ich muß wieder den sonderbarsten Monat meines Daseins
+durchleben. Ich wollte, ich könnte mit dir tauschen,
+Dorian. Die Welt hat über uns beide gezetert, aber sie
+hat dich immer bewundert. Sie wird dich immer bewundern.
+Du bist eben der Typus dessen, wonach unsere Zeit
+sucht und was sie fürchtet gefunden zu haben. Ich bin so
+froh darüber, daß du nie etwas getan hast, nie eine Statue<a class="pagenum" name="Page_330" title="330"> </a>
+gemeißelt oder ein Bild gemalt oder irgend etwas aus
+dir heraus produziert hast. Das Leben war deine Kunst.
+Du hast dich selbst in Musik gesetzt. Deine Tage sind deine
+Sonette.“</p>
+
+<p>Dorian stand vom Klavier auf und fuhr sich mit der
+Hand durchs Haar. „Ja, das Leben ist himmlisch gewesen,“
+sagte er vor sich hin, „aber dieses Leben werde ich nicht
+fortsetzen, Harry. Und du sollst nicht so überspannte Dinge
+zu mir sagen. Du weißt nicht alles von mir. Ich glaube,
+wenn du es wüßtest, so würdest selbst du dich von mir abwenden.
+Du lachst. Lache nicht!“</p>
+
+<p>„Warum hast du zu spielen aufgehört, Dorian? Geh
+wieder ans Klavier und spiel' mir nochmal das Nokturno.
+Sieh den großen honigfarbenen Mond, der in der dunklen
+Luft hängt. Er wartet, daß du ihn bezauberst, und wenn
+du spielst, wird er sich der Erde nähern. Du willst nicht?
+Dann laß uns in den Klub gehen. Es war ein reizender
+Abend, und wir müssen ihn reizend beenden. Bei White
+wartet jemand, der darauf brennt, dich kennenzulernen &mdash;
+der junge Lord Pool, der älteste Sohn von Bournemouth.
+Er kopiert schon deine Krawatten und hat mich bestürmt,
+ihn dir vorzustellen. Er ist ganz entzückend und erinnert
+mich ein bißchen an dich.“</p>
+
+<p>„Ich hoffe nicht“, sagte Dorian mit einem wehmütigen
+Blick in den Augen. „Aber ich bin heute abend müde,
+Harry. Ich gehe nicht mehr in den Klub. Es ist fast elf,
+und ich will früh zu Bett gehen.“</p>
+
+<p>„Bleibe noch, du hast nie so schön gespielt wie diesen
+Abend. In deinem Anschlag lag etwas, es war ganz wundervoll.<a class="pagenum" name="Page_331" title="331"> </a>
+Es hatte mehr Ausdruck, als ich jemals bei dir
+gehört habe.“</p>
+
+<p>„Das kommt daher, weil ich jetzt gut werden will“, antwortete
+er lächelnd. „Ich bin schon ein bißchen anders.“</p>
+
+<p>„Für mich kannst du kein anderer werden, Dorian“,
+sagte Lord Henry. „Du und ich, wir werden immer
+Freunde sein.“</p>
+
+<p>„Aber einstmals hast du mich mit einem Buch vergiftet.
+Ich sollte das nicht vergeben. Harry, versprich mir, daß
+du dieses Buch nie wieder jemand leihen willst. Es stiftet
+Unheil.“</p>
+
+<p>„Mein lieber Junge, du fängst wirklich an, Moralpredigten
+zu halten. Du wirst bald umherlaufen, wie ein
+Bekehrter und ein Erweckungsprediger, und wirst die Menschen
+vor all den Sünden warnen, deren du müde geworden
+bist. Aber dazu bist du viel zu entzückend. Außerdem
+hat es keinen Zweck. Du und ich, wir sind, was wir sind,
+und werden immer sein, was wir sein werden. Und vergiftet
+werden durch ein Buch, sowas gibt es einfach nicht.
+Kunst hat keinen Einfluß auf die Tat. Sie vernichtet den
+Trieb zu handeln. Sie ist auf eine herrliche Art zeugungsunfähig.
+Die Bücher, die die Welt unmoralisch nennt,
+sind Bücher, die der Welt ihre eigene Schande vorhalten.
+Sonst nichts. Aber wir wollen nicht über Literatur streiten.
+Komm morgen wieder her! Ich reite um elf aus. Wir
+können zusammen reiten, und ich nehme dich nachher zum
+Frühstück zu Lady Branksome mit. Es ist eine entzückende
+Frau und sie will dich zu Rate ziehen über ein paar Gobelins,
+die sie kaufen möchte. Vergiß nicht zu kommen. Oder<a class="pagenum" name="Page_332" title="332"> </a>
+wollen wir bei unserer kleinen Herzogin frühstücken? Sie
+sagt, sie sieht dich jetzt gar nicht mehr. Vielleicht hast du
+genug von Gladys? Ich dachte mir's, daß es so kommen
+würde. Ihr gewandtes Züngelein fällt einem auf die
+Nerven. Also, jedenfalls bist du um elf hier.“</p>
+
+<p>„Muß ich wirklich kommen, Harry?“</p>
+
+<p>„Unbedingt. Der Park ist jetzt herrlich. Ich glaube nicht,
+daß es wieder solchen Flieder gegeben hat seit jenem Jahr,
+wo ich dich kennenlernte.“</p>
+
+<p>„Gut. Ich werde also um elf hier sein“, sagte Dorian.
+„Gute Nacht, Harry!“ Als er an der Tür war, zögerte er
+einen Augenblick, als hätte er noch etwas zu sagen. Dann
+seufzte er und ging.</p>
+
+<h2><a name="Zwanzigstes_Kapitel" id="Zwanzigstes_Kapitel"></a>Zwanzigstes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Es war eine wundervolle Nacht, so warm, daß er seinen
+Mantel über den Arm hing und nicht einmal das seidene
+Halstuch umlegte. Als er nach Hause schlenderte, seine Zigarette
+rauchend, gingen zwei Herren in Gesellschaftstoilette
+an ihm vorbei. Er hörte, wie der eine dem anderen
+zuflüsterte: „Das ist Dorian Gray.“ Er erinnerte sich,
+wie schmeichelhaft es ihm früher gewesen war, wenn man
+auf ihn zeigte oder ihn anstarrte oder über ihn sprach. Jetzt
+war er es müde, seinen eigenen Namen zu hören. Der
+halbe Reiz des kleinen Dorfes, wo er kürzlich so oft gewesen<a class="pagenum" name="Page_333" title="333"> </a>
+war, bestand darin, daß dort niemand wußte, wer
+er war. Er hatte dem Mädchen, das er zur Liebe verlockt
+hatte, oft gesagt, daß er arm sei, und sie hatte es geglaubt.
+Er hatte ihr einmal gesagt, daß er schlecht sei, und sie hatte
+ihn ausgelacht und geantwortet, schlechte Menschen seien
+immer sehr alt und sehr häßlich. Was für ein Lachen sie
+hatte! &mdash; gerade wie der Gesang einer Drossel. Und wie
+hübsch sie ausgesehen hatte in ihren Kattunkleidern und
+großen Hüten! Sie wußte nichts, aber sie besaß alles,
+was er verloren hatte.</p>
+
+<p>Als er nach Hause kam, wartete sein Diener auf ihn.
+Er schickte ihn zu Bett und warf sich auf das Sofa in der
+Bibliothek und begann über einiges von dem nachzudenken,
+was ihm Lord Henry gesagt hatte.</p>
+
+<p>War es wirklich wahr, daß man nie anders werden
+konnte? Er fühlte eine wilde Sehnsucht nach der makellosen
+Reinheit seiner Knabenzeit &mdash; seiner rosenweißen
+Knabenzeit, wie Lord Henry einmal gesagt hatte. Er
+wußte, er hatte sich besudelt, hatte seinen Geist mit Verderbnis
+angefüllt und sein Gewissen mit Entsetzen belastet,
+er war ein schlimmer Einfluß für andere gewesen und hatte
+eine schreckliche Freude daran gehabt; und von den Menschenleben,
+die das seine gekreuzt hatten, waren es die
+reinsten und verheißungsvollsten gewesen, die er in Schande
+gestürzt hatte. Aber war da nichts wieder gut zu machen?
+Gab es keine Hoffnung mehr für ihn?</p>
+
+<p>Ah! In was für einem ungeheuerlichen Augenblick von
+Hochmut und Leidenschaft hatte er gebetet, es möchte das
+Bildnis die Last seiner Tage auf sich nehmen und er sich<a class="pagenum" name="Page_334" title="334"> </a>
+den ungetrübten Glanz ewiger Jugend bewahren! Das
+war an seinem ganzen verfehlten Leben schuld. Es wäre
+besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde seines Lebens ihre
+gewisse und schnelle Strafe mit sich gebracht hätte. In
+der Strafe lag Reinigung. Nicht „Vergib uns unsere
+Sünden“, sondern „Züchtige uns für unsere Missetaten“
+sollte das Gebet des Menschen zu einem allgerechten
+Gotte lauten.</p>
+
+<p>Der mit merkwürdigen Schnitzereien umrahmte Spiegel,
+den ihm Lord Henry vor so vielen Jahren geschenkt hatte,
+stand auf dem Tisch, und die weißgliedrigen Liebesgötter
+lachten ringsherum wie ehedem. Er nahm ihn, wie er es
+in jener Schreckensnacht getan hatte, als er zum ersten
+Male die Veränderung in dem verhängnisvollen Bildnis
+bemerkt hatte, und blickte mit verzweifelten, tränenfeuchten
+Augen auf die glatte Fläche. Einmal hatte ihm jemand,
+der ihn abgöttisch geliebt hatte, einen wahnsinnigen Brief
+geschrieben, dessen Schluß lautete: „Die Welt ist anders
+geworden, weil du aus Elfenbein und Gold geschaffen
+wurdest. Der Linienschwung deiner Lippen schreibt die
+Weltgeschichte um.“ Diese Sätze kamen ihm ins Gedächtnis
+zurück, und er wiederholte sie immer und immer wieder.
+Dann haßte er seine eigene Schönheit und schleuderte den
+Spiegel zu Boden und zertrat ihn unter seinem Fuße in
+silberne Splitter. Seine Schönheit war es, die ihn zugrunde
+gerichtet hatte, seine Schönheit und Jugend, um
+die er gefleht hatte. Wären diese beiden nicht gewesen, so
+hätte er sein Leben wohl fleckenlos erhalten können. Die
+Schönheit war für ihn nur eine Maske gewesen, die Jugend<a class="pagenum" name="Page_335" title="335"> </a>
+nur ein Blendwerk. Was war Jugend im besten
+Falle? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit seichter Stimmungen
+und kranker Einfälle. Warum hatte er ihre Tracht
+angelegt? Die Jugend hatte ihn zugrunde gerichtet.</p>
+
+<p>Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken.
+Er mußte an sich selber und an seine Zukunft denken.
+James Vane war in einem namenlosen Grabe auf dem
+Kirchhof in Selby geborgen. Alan Campbell hatte sich
+eines Nachts in seinem Laboratorium erschossen, aber das
+Geheimnis nicht verraten, das ihm aufgezwungen worden
+war. Die Erregung über Basil Hallwards Verschwinden
+würde sich bald legen. Sie hatte schon nachgelassen. Da
+war er völlig sicher. Es war auch in der Tat nicht der
+Tod Basil Hallwards, der sein Gemüt am schwersten belastete.
+Es war der lebendige Tod seiner eigenen Seele,
+der ihm die Ruhe raubte. Basil hatte das Bildnis gemalt,
+das sein Leben vernichtet hatte. Er konnte ihm das nicht
+vergeben. Das Porträt war an allem schuld. Basil hatte
+ihm Dinge gesagt, die unerträglich waren und die er doch
+geduldig ertragen hatte. Der Mord war nur der Wahnsinn
+eines Augenblicks gewesen. Was Alan Campbell
+anlangte, so war der Selbstmord seine eigene Tat gewesen.
+Er war sein freier Entschluß. Das ging ihn
+nichts an.</p>
+
+<p>Ein neues Leben! Das war es, was er wollte. Das war
+es, worauf er wartete. Gewiß hatte er es schon begonnen.
+Ein unschuldiges Wesen hatte er jedenfalls geschont. Nie
+wieder wollte er die Unschuld in Versuchung führen. Er
+wollte gut sein.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_336" title="336"> </a></p>
+
+<p>Als er an Hetty Merton dachte, begann er sich zu fragen,
+ob sich das Bild in dem verschlossenen Zimmer oben
+wohl verändert habe. Es konnte doch sicher nicht mehr
+so häßlich sein, wie es gewesen war. Vielleicht könnte er,
+wenn sein Leben jetzt rein würde, imstande sein, jedes Anzeichen
+niedriger Leidenschaften aus dem Antlitz zu tilgen.
+Vielleicht waren die Spuren des Bösen schon verschwunden.
+Er wollte hinauf und nachsehen.</p>
+
+<p>Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich die Treppe
+hinan. Als er die Tür aufschloß, huschte ein frohes Lächeln
+über sein seltsam junges Gesicht und verweilte einen
+Augenblick auf seinen Lippen. Ja, er wollte gut sein, und
+das gräßliche Ding, das er verborgen hatte, würde dann
+nicht länger ein Schrecken für ihn sein. Ihm war, als
+wäre diese Last schon jetzt von ihm genommen.</p>
+
+<p>Er ging ruhig hinein, schloß die Tür nach seiner Gewohnheit
+hinter sich ab und zog den Purpurvorhang von
+dem Bildnis hinweg. Ein Schrei voll Schmerz und Entrüstung
+scholl von seinen Lippen. Er konnte keine Verwandlung
+bemerken, außer daß ein schlauer Ausdruck in
+den Augen lag und um den Mund der gekniffene Zug des
+Heuchlers. Das Ding war noch immer abscheulich, womöglich
+noch abscheulicher als vordem &mdash; und der scharlachrote
+Tau, der die Hand befleckte, schien heller zu glänzen
+und mehr wie frisch vergossenes Blut auszusehen. Er
+erzitterte. War es bloße Eitelkeit gewesen, die ihn dazu
+getrieben hatte, einmal etwas Gutes zu tun? Oder die
+Begier nach einer neuartigen Empfindung, wie Lord
+Henry mit seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte?<a class="pagenum" name="Page_337" title="337"> </a>
+Oder das Verlangen, eine Rolle zu spielen, das uns
+manchmal Dinge begehen läßt, die edler sind als wir
+selbst? Oder vielleicht das alles zusammen? Und warum
+war der rote Fleck jetzt größer als er vorher war? Er
+schien sich wie ein fürchterlicher Aussatz über die runzligen
+Finger weiter gefressen zu haben. Es war Blut auf den
+gemalten Füßen, als wäre es von den Händen herabgetropft
+&mdash; Blut selbst auf der Hand, die das Messer nicht
+geführt hatte. Bekennen? Bedeutete dies, daß er bekennen
+sollte? Sich selbst aufgeben und hingerichtet werden?
+Er lachte. Er fühlte, daß der Einfall ungeheuerlich wäre.
+Überdies selbst wenn er es eingestände, wer würde ihm
+glauben? Nirgends gab es eine Spur des Ermordeten.
+Alles, was zu ihm gehörte, war zerstört. Er selbst hatte
+verbrannt, was unten geblieben war. Die Welt würde einfach
+sagen, daß er wahnsinnig sei. Sie würden ihn irgendwo
+einsperren, wenn er bei seiner Erzählung beharrte...
+Aber doch war es seine Pflicht, ein Geständnis abzulegen,
+öffentlich Schande zu erleiden und öffentlich Buße zu tun.
+Es war ein Gott, der den Menschen zurief, ihre Sünden
+der Erde so gut wie dem Himmel zu beichten. Nichts, was
+er sonst tun konnte, würde ihn reinigen, bis er seine Sünde
+selber bekannt hätte. Seine Sünde? Er zuckte die Achseln.
+Der Tod Basil Hallwards schien ihm nur unwesentlich.
+Er dachte an Hetty Merton. Denn es war ein ungerechter
+Spiegel. Dieser Spiegel seiner Seele, in den er hineinblickte.
+Eitelkeit? Neugier? Heuchelei? War sonst nichts in
+seinen Entsagungen gewesen? Es war noch etwas darin
+gewesen. Er glaubte es wenigstens. Aber wer konnte das<a class="pagenum" name="Page_338" title="338"> </a>
+sagen...? Nein. Es war weiter nichts darin gewesen.
+Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Aus Heuchelei hatte
+er die Maske der Güte getragen. Aus Neugier hatte
+er es mit der Verzichtleistung versucht. Er erkannte das
+jetzt.</p>
+
+<p>Aber dieser Mord &mdash; sollte er ihn sein ganzes Leben
+lang verfolgen? Sollte er immer die Last seiner Vergangenheit
+tragen müssen? Sollte er wirklich eingestehen?
+Niemals. Es gab nur einen einzigen Beweis gegen ihn.
+Das Bildnis selbst &mdash; das war ein Beweis. Er wollte es
+zerstören. Warum hatte er es solange aufgehoben. Früher
+einmal war es ihm ein Vergnügen gewesen, seine Änderung,
+sein Altern zu beobachten. In der letzten Zeit hatte
+er dieses Vergnügen nicht mehr empfunden. Es hatte ihm
+schlaflose Nächte bereitet. Wenn er außer dem Hause war,
+erfüllte ihn eine Todesangst, daß fremde Augen das Bild
+erblicken könnten. Es hatte Schwermut in seine Leidenschaften
+getröpfelt. Die bloße Erinnerung daran hatte ihm
+manchen Augenblick der Freude vergällt. Es hatte bei
+ihm die Rolle des Gewissens übernommen. Ja, es war
+sein Gewissen gewesen. Er wollte es zerstören.</p>
+
+<p>Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil
+Hallward erstochen hatte. Er hatte es oft gereinigt, bis
+kein Fleck mehr darauf war. Es war blank und glitzerte.
+Wie es den Maler getötet hatte, sollte es des Malers
+Werk töten und alles, was es bedeutete. Es sollte die
+Vergangenheit töten, und wenn die tot war, würde er
+frei sein. Es sollte dieses ungeheuerliche Seelenleben töten,
+und sobald diese gräßlichen Warnungen nicht mehr vorhanden<a class="pagenum" name="Page_339" title="339"> </a>
+waren, würde er Frieden haben. Er ergriff es
+und durchbohrte damit das Bildnis.</p>
+
+<p>Man hörte einen Schrei und einen Fall. Der Schrei
+war mit seinem Todesröcheln so schrecklich, daß die Dienerschaft
+erschreckt aufwachte und aus ihren Kammern stürzte.
+Zwei Herren, die auf dem Platze unten vorbeigingen, blieben
+stehen und spähten an dem stattlichen Hause empor.
+Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen und
+dann mit ihm umkehrten. Der Mann zog mehrmals die
+Klingel, aber es erfolgte keine Antwort. Bis auf ein Licht
+in einem der Giebelfenster war das ganze Haus dunkel.
+Nach einiger Zeit ging er weg, stellte sich unter einen Torweg
+in der Nähe und verhielt sich abwartend.</p>
+
+<p>„Wem gehört das Haus, Herr Wachtmeister?“ fragte
+der ältere der beiden Herren.</p>
+
+<p>„Herrn Dorian Gray“, antwortete der Schutzmann.</p>
+
+<p>Sie sahen einander an, gingen weiter und lächelten.
+Einer von ihnen war Sir Henry Ashtons Onkel.</p>
+
+<p>Drinnen in den Dienerzimmern sprachen die halbangezogenen
+Bedienten in leisem Wispern miteinander.
+Die alte Frau Leaf weinte und rang die Hände. Francis
+war bleich wie der Tod.</p>
+
+<p>Nach etwa einer Viertelstunde holte er sich den Kutscher
+und einen der Lakaien und schlich mit ihnen hinauf. Sie
+klopften, aber es kam keine Antwort. Sie riefen. Alles
+war still. Schließlich, nachdem sie erfolglos versucht hatten,
+die Tür zu sprengen, kletterten sie auf das Dach und
+ließen sich auf den Balkon herab. Die Glastür gab leicht
+nach; ihre Riegel waren alt.</p>
+
+<p><a class="pagenum" name="Page_340" title="340"> </a></p>
+
+<p>Als sie eintraten, sahen sie an der Wand ein wunderbares
+Bild ihres Herrn hängen, so wie sie ihn zuletzt
+gesehen hatten, in all dem Glanz seiner entzückenden Jugend
+und Schönheit. Auf dem Boden lag ein toter Mann
+im Gesellschaftsanzug, mit einem Messer im Herzen. Er
+war welk, runzlig und häßlich von Angesicht. Erst als sie
+die Ringe untersuchten, erkannten sie, wer es war.</p>
+
+<p class="center" style="margin-top:2em;"><em class="gesperrt">Ende</em></p>
+
+
+<div class="transcribers-note">
+<p class="center"><a name="tn-bottom"><b>Anmerkungen zur Transkription:</b></a></p>
+
+<p>Die folgende Liste enthält alle geänderten Textstellen,
+jeweils zuerst im Original und darunter in der geänderten Fassung.</p>
+
+<ul id="corrections">
+<li><a href="#Page_9">Seite 9</a>:<br />
+Habt ihr ihn endlich, so <span class="correction">wolllt</span> ihr ihn scheinbar<br />
+Habt ihr ihn endlich, so <span class="correction">wollt</span> ihr ihn scheinbar
+</li>
+<li><a href="#Page_80">Seite 80</a>:<br />
+Dramas gewesen sein.<br />
+Dramas gewesen sein.<span class="correction">“</span>
+</li>
+<li><a href="#Page_80">Seite 80</a>:<br />
+Es war ‚<span class="correction">Romea</span> und Julia‛.<br />
+Es war ‚<span class="correction">Romeo</span> und Julia‛.
+</li>
+<li><a href="#Page_85">Seite 85</a>:<br />
+zum erstenmal gesprochen?<br />
+zum erstenmal gesprochen?<span class="correction">“</span>
+</li>
+<li><a href="#Page_106">Seite 106</a>:<br />
+Gefällt dir der Name nicht<span class="correction">.</span><br />
+Gefällt dir der Name nicht<span class="correction">?</span>
+</li>
+<li><a href="#Page_121">Seite 121</a>:<br />
+Mißklang heißt es, mit<br />
+<span class="correction">„</span>Mißklang heißt es, mit
+</li>
+<li><a href="#Page_132">Seite 132</a>:<br />
+Warum ich nie mehr gut spielen werde.<br />
+Warum ich nie mehr gut spielen werde.<span class="correction">“</span>
+</li>
+<li><a href="#Page_166">Seite 166</a>:<br />
+Harrys Schwester Lady Gwendolen, kennengelernt.<br />
+Harrys Schwester<span class="correction">,</span> Lady Gwendolen, kennengelernt.
+</li>
+<li><a href="#Page_180">Seite 180</a>:<br />
+wird ebenso hübsch sein.<br />
+wird ebenso hübsch sein.<span class="correction">“</span>
+</li>
+<li><a href="#Page_205">Seite 205</a>:<br />
+die Erinnerung an <span class="correction">gegestorbene</span> Romantik<br />
+die Erinnerung an <span class="correction">gestorbene</span> Romantik
+</li>
+<li><a href="#Page_217">Seite 217</a>:<br />
+und die <span class="correction">eleganganten</span> jungen Leute,<br />
+und die <span class="correction">eleganten</span> jungen Leute,
+</li>
+<li><a href="#Page_296">Seite 296</a>:<br />
+mit deinem Orchideengleichnis?<br />
+mit deinem Orchideengleichnis?<span class="correction">“</span>
+</li>
+<li><a href="#Page_308">Seite 308</a>:<br />
+Er hat die ganze<br />
+<span class="correction">„</span>Er hat die ganze
+</li>
+<li><a href="#Page_309">Seite 309</a>:<br />
+wovor ich mich <span class="correction">änstige</span><br />
+wovor ich mich <span class="correction">ängstige</span>
+</li>
+</ul>
+</div>
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Das Bildnis des Dorian Gray, by Oscar Wilde
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY ***
+
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+
+
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+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
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+are removed. Of course, we hope that you will support the Project
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+States.
+
+1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
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+1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate
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+Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
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+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
+from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
+posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
+and distributed to anyone in the United States without paying any fees
+or charges. If you are redistributing or providing access to a work
+with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
+work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
+through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
+Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
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+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation information page at www.gutenberg.org
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at 809
+North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email
+contact links and up to date contact information can be found at the
+Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit www.gutenberg.org/donate
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For forty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
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+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
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