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Das ist ein Fehler. + +Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn findet, hat Kultur. Er +berechtigt zu Hoffnungen. + +Das sind die Auserwählten, für die schöne Dinge lediglich Schönheit +bedeuten. + +Ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt's überhaupt nicht. Bücher +sind gut oder schlecht geschrieben. Sonst nichts. + +Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die +Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel erblickt. + +Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die +Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel nicht sieht. + +Das sittliche Dasein des Menschen liefert dem Künstler einen Teil des +Stoffgebietes, aber die Sittlichkeit der Kunst besteht im vollkommenen +Gebrauch eines unvollkommenen Mittels. + +Kein Künstler empfindet das Verlangen, etwas zu beweisen. Selbst +Wahrheiten können bewiesen werden. + +Kein Künstler hat ethische Neigungen. Eine ethische Neigung beim +Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils. + +Kein Künstler ist an sich krankhaft. Der Künstler kann alles +aussprechen. + +Gedanken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst. + +Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe einer Kunst. + +Was die Form betrifft, so ist die Kunst des Musikers die Urform aller +Künste. Was das Gefühl betrifft, so ist der Beruf des Schauspielers +diese Urform. + +Alle Kunst ist gleichzeitig Oberfläche und Symbol. + +Wer unter der Oberfläche schürft, tut es auf eigene Gefahr. + +Wer das Symbol herausdeutet, tut es auf eigene Gefahr. + +In Wahrheit wird der Betrachter und nicht das Leben abgespiegelt. + +Meinungsunterschiede über ein Kunstwerk beweisen seine Neuheit, +Vielfältigkeit und Lebenskraft. + +Sind die Kritiker uneinig, so ist der Künstler einig mit sich selbst. + +Man kann einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches schafft, +solang er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung für den, der +etwas Nutzloses schuf, besteht darin, daß es äußerst bewundert wird. + +Alle Kunst ist völlig nutzlos. + + + + +Erstes Kapitel + + +Das Atelier schwamm in einem starken Rosendufte, und wenn der leichte +Sommerwind die Bäume im Garten wiegte, so floß durch die offene Tür der +schwere Geruch des Flieders herein oder der zartere Duft des Rotdorns. + +Aus der Ecke seines Diwans mit persischen Satteltaschen, auf dem Lord +Henry Wotton lag und wie gewöhnlich unzählige Zigaretten rauchte, konnte +er gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbigen Blüten +eines Goldregenstrauches wahrnehmen, dessen zitternde Zweige nur +seufzend die Last einer so flammenden Schönheit zu tragen schienen, und +dann und wann huschten die phantastischen Schatten vorbeifliegender +Vögel über die langen bastseidenen Vorhänge, die vor das große Fenster +gezogen waren. Das gab einen Augenblick lang eine Art japanischer +Stimmung und ließ den Lord an die bleichen, nephritgelben Maler der +Stadt Tokio denken, die mit Hilfe einer Kunst, die notwendigerweise +erstarrt genannt werden muß, das Gefühl von Schnelligkeit und Bewegung +hervorzubringen suchen. Das tiefe Gesumme der Bienen, die ihren +zweifelnden Flug durch das hohe, ungemähte Gras nahmen oder mit +eintöniger Zähigkeit um die bestaubten Goldtrichter des wuchernden +Geißblattes kreisten, ließ die Stille noch drückender scheinen. Das +dumpfe Brausen Londons murrte dazu wie die Baßtöne einer fernen Orgel. + +In der Mitte des Gemaches stand auf einer hoch aufgestellten Staffelei +das lebensgroße Bildnis eines außerordentlich schönen Jünglings, und ihm +gegenüber, ein paar Schritte entfernt, saß sein Schöpfer, der Maler +Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren bei +der Menge so viel Aufsehen gemacht und zu so vielen seltsamen +Vermutungen Anlaß gegeben hatte. + +Während der Maler die anmutige und liebenswürdige Gestalt betrachtete, +die seine Kunst so prachtvoll wiedergespiegelt hatte, huschte ein +freudiges Lächeln über sein Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. +Plötzlich aber fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Lider mit +den Fingern zu, als fürchte er, aus einem absonderlichen Traume zu +erwachen, und als suche er ihn im Gehirn einzuschließen. + +»Es ist dein bestes Werk, Basil, das beste, was du jemals gemacht hast«, +sagte Lord Henry schläfrig-müde. »Du mußt es nächstes Jahr unbedingt ins +Grosvenor schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich. +Jedesmal, wenn ich hinging, waren entweder so viele Leute da, daß ich +die Bilder nicht sehen konnte, und das war schlimm, oder so viel Bilder, +daß ich die Leute nicht sehen konnte, und das war noch schlimmer. Das +Grosvenor ist der einzig richtige Platz.« + +»Ich denke überhaupt nicht daran, es auszustellen«, antwortete der Maler +und warf den Kopf in jener merkwürdigen Art zurück, über die schon oft +seine Freunde in Oxford gelacht hatten. »Nein, ich will es nirgends +ausstellen.« + +Lord Henry hob die Augenbrauen und sah den anderen erstaunt durch die +dünnen blauen Raucharabesken an, die in so abenteuerlichen Wirbeln von +der starken opiumgetränkten Zigarette aufstiegen. »Nirgends ausstellen? +Ja warum, mein Lieber? Hast du einen Grund dafür? Was ihr Maler doch für +Käuze seid! Ihr tut alles in der Welt, um euch einen Namen zu machen. +Habt ihr ihn endlich, so wollt ihr ihn scheinbar wieder loswerden. Das +ist albern von dir, denn es gibt nur ein leidiges Ding auf Erden, das +peinlicher ist als in aller Leute Munde zu sein, und das ist: nicht in +aller Leute Munde zu sein. Ein Porträt wie das da höbe dich weit über +alle jungen Leute in England empor und würde die Alten vor Neid platzen +lassen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung fähig sind.« + +»Ich weiß, du wirst mich auslachen,« entgegnete er, »aber ich kann es +wahrhaftig nicht ausstellen. Es steckt da zuviel von mir selbst drin.« + +Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte. + +»Ja, ich habe das gewußt; es bleibt aber doch wahr, ganz sicher.« + +»Zuviel von dir soll darin sein? Auf mein Wort, Basil, ich hätte nie +geahnt, daß du so eitel bist; ich kann wirklich nicht die blasseste +Ähnlichkeit entdecken zwischen dir mit deinem groben, eckigen Gesicht +und deinem kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis, der so aussieht, +als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Nein, mein +lieber Basil, es ist ein Narziß, und du -- natürlich hast du ein +geistvolles Gesicht und so weiter. Aber Schönheit, wirkliche Schönheit +hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck anfängt. Geist ist an sich eine +Art Übermaß und zerstört das Ebenmaß jedes Gesichts. Im Moment, wo man +sich ans Denken begibt, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder sonst +etwas Greuliches. Sieh dir doch mal alle die Männer an, die in gelehrten +Berufen etwas geleistet haben. Sind sie nicht alle ausgesprochen +häßlich? Natürlich die Männer der Kirche ausgenommen. Aber in der Kirche +denken sie eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig Jahren noch +unveränderlich dasselbe, was ihm als achtzehnjährigem Bengel beigebracht +wurde, und infolgedessen sieht er immer entzückend aus. Dein +geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast, +dessen Bild mich aber tatsächlich bezaubert, denkt niemals. Davon bin +ich felsenfest überzeugt. Es ist irgendein hirnloses schönes Geschöpf, +das wir im Winter immer bei uns haben sollten, wenn es keine Blumen zum +Anschauen gibt, und im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres +Geistes gebrauchen. Schmeichle dir also nicht, Basil: du siehst ihm ganz +und gar nicht ähnlich.« + +»Du verstehst mich gar nicht, Henry«, antwortete der Künstler. +»Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich. Das weiß ich selbst. In +Wirklichkeit wäre ich sogar traurig, sähe ich ihm ähnlich. Du brauchst +nicht mit den Achseln zu zucken. Ich sage dir die Wahrheit. Jede +körperliche und geistige Besonderheit umschwebt eine gewisse Tragik; so +eine Tragik etwa, wie sich das Schicksal der Könige auf ihren Irrwegen +in der Weltgeschichte an die Füße zu heften scheint. Es ist besser, +nicht anders zu sein als die Nebenmenschen. Die Häßlichen und die Dummen +haben das beste Leben der Welt. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel +sorglos begaffen. Sie wissen zwar nichts von Siegen, aber dafür bleibt +ihnen auch die Bekanntschaft mit den Niederlagen erspart. Sie leben +dahin, wie wir es alle sollten: ungestört, gleichgültig und ohne +Mißbehagen. Sie bringen anderen kein Unheil und empfangen es auch nicht +von fremder Hand. Dein Stand und dein Reichtum, Harry, mein Geist, +soviel ich davon habe, meine Kunst, soviel sie wert ist, Dorian Gray für +sein schönes Aussehen -- wir müssen alle für die Geschenke der Götter +leiden, schrecklich leiden.« + +»Dorian Gray? Heißt er so?« fragte Lord Henry und ging durch das Atelier +auf Basil Hallward zu. + +»Ja, so heißt er. Ich wollte dir's eigentlich nicht sagen.« + +»Aber warum nicht?« + +»Oh, ich kann's nicht so erklären. Wenn ich einen Menschen sehr, sehr +lieb habe, verrate ich an niemand seinen Namen. Das käme mir so vor, als +lieferte ich damit einen Teil von seinem Selbst aus. In mir hat sich +allmählich eine förmliche Liebe zu Geheimnissen entwickelt. Das scheint +noch die einzige Art zu sein, das Leben unserer Zeit mysteriös und +wunderbar zu machen. Die gewöhnlichste Begebenheit wird reich an +Schönheit, wenn man sie verbirgt. Ich sage auch nie, wohin ich reise, +wenn ich mal die Stadt verlasse. Wenn ich's täte, wäre meine ganze +Freude daran hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie bringt +doch irgendwie ein bißchen Romantik ins Leben. Du denkst jetzt gewiß, +ich bin furchtbar närrisch?« + +»Nicht im geringsten,« antwortete Lord Henry, »nicht im geringsten, mein +lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, daß ich verheiratet bin, und daß +der Hauptreiz der Ehe darin liegt, daß sie beiden Teilen ein Leben der +Täuschung zur Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau ist, und +meine Frau weiß nie, was ich tue und treibe. Wenn wir beisammen sind -- +wir sind gelegentlich beisammen, wenn wir zu einem Diner eingeladen sind +oder zum Herzog aufs Land fahren -- so erzählen wir uns die +verrücktesten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht. Meine Frau +versteht das vorzüglich, ohne Frage besser als ich. Sie verwickelt sich +bei den Tatsachen nie in Widersprüche, und bei mir kommt es beständig +vor. Wenn sie mich aber ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Ich +wünschte manchmal, sie täte es. Aber sie lacht mich nur aus.« + +»Ich kann die Art nicht leiden, wie du über deine Ehe sprichst«, sagte +Basil Hallward und ging langsam auf die Tür zu, die in den Garten +führte. »Ich glaube, du bist in Wirklichkeit ein ganz guter Ehemann und +schämst dich nur immer über diese Tugend. Du bist überhaupt ein +sonderbarer Kauz: du sagst nie was Moralisches und tust nie was +Schlechtes. Dein Zynismus ist nichts als Pose.« + +»Natürlichkeit ist immer eine Pose, und zwar die ärgerlichste Pose, die +ich kenne«, rief Lord Henry lachend aus, und die beiden jungen Männer +gingen zusammen in den Garten und ließen sich auf einer langen +Bambusbank nieder, die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand. +Das Sonnenlicht flirrte tanzend über die glatten Blätter. Im Grase +zitterten weiße Gänseblümchen. + +Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr: »Ich fürchte, ich muß gleich +fort, Basil,« brummte er, »aber bevor ich gehe, mußt du mir noch +unbedingt die Frage beantworten, die ich vorhin an dich gerichtet habe.« + +»Was war das?« sagte der Maler, die Augen fest zu Boden gerichtet. + +»Na, du weißt doch.« + +»Sicher nicht, Harry.« + +»Gut, dann will ich's dir nochmals sagen. Du sollst mir erklären, warum +du Dorian Grays Porträt nicht ausstellen willst. Ich bestehe darauf, den +wirklichen Grund zu wissen.« + +»Ich habe dir den wirklichen Grund schon gesagt.« + +»Nein, das hast du nicht getan. Du hast nur gesagt, weil zuviel von dir +selbst in dem Bilde stecke. Das ist aber kindisch.« + +»Harry,« sagte Basil Hallward und sah dem anderen gerade ins Gesicht, +»jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt ist, ist ein Porträt des +Künstlers, nicht des Modells. Das Modell ist nur der Anlaß, die +Gelegenheit. Nicht dies wird vom Maler enthüllt; nein, der Maler +offenbart auf der farbigen Leinwand eher sich selbst. Ich will also dies +Bild darum nicht ausstellen, weil ich fürchte, ich habe das Geheimnis +meiner eigenen Seele darin aufgedeckt.« + +Lord Henry lachte. »Und worin bestünde das?« fragte er. + +»Ich will es sagen«, antwortete Hallward; aber in sein Gesicht trat ein +Ausdruck von Ratlosigkeit. + +»Ich bin äußerst gespannt, Basil«, fuhr sein Gefährte mit einem Blick +nach ihm fort. + +»Oh, es ist wirklich nicht viel zu berichten, Harry,« entgegnete der +Maler, »und du verstehst es wohl kaum, wie ich fürchte. Vielleicht auch +glaubst du mir nicht einmal.« + +Lord Henry lächelte und bückte sich dann, um ein rosa angehauchtes +Gänseblümchen aus dem Grase zu pflücken, das er betrachtete. »Ich werde +dich ganz gewiß verstehen,« erwiderte er, die Blicke aufmerksam auf die +kleine, goldene, weißgefiederte Blütenscheibe gerichtet, »und was das +Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, daß es +unwahrscheinlich genug ist.« + +Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen, und die schweren, +vielgesternten Traubendolden der Fliederbüsche bewegten sich in der +schwülen Luft. Eine Grille begann an der Gartenmauer zu zirpen, und wie +ein blauer Faden huschte eine lange, dünne Wasserjungfer auf ihren +braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil Hallwards Herz +pochen zu hören und war neugierig, was wohl kommen möchte. + +»Die Geschichte ist einfach die«, sagte der Maler nach einer Weile. »Vor +zwei Monaten ging ich mal zu einem der Massenempfänge bei Lady Brandon. +Du weißt, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der +Gesellschaft zeigen, um das Publikum daran zu erinnern, daß wir keine +Wilden sind. Du sagtest mir einmal: in Frack und weißer Binde kann +selbst ein Börsenmensch in den Verdacht von Bildung kommen. Nun also, +ich war etwa zehn Minuten da und redete mit korpulenten, aufgeputzten, +vornehmen Witwen und platten Akademikern, da merkte ich plötzlich, daß +mich jemand anblickte. Ich drehte mich halb um und sah zum ersten Male +Dorian Gray. Ich spürte, wie ich blaß wurde, als sich unsere Blicke +begegneten. Ein seltsames Angstgefühl überkam mich. Ich wußte, ich stand +einem Menschen Aug-in-Auge gegenüber, dessen bloße Erscheinung so +bezaubernd auf mich wirkte, daß sie, wenn ich sie gewähren ließe, meine +ganze Natur, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst an sich reißen +müßte. Ich bedurfte nie in meinem Leben irgendwelcher Einwirkung von +außen her. Du weißt ja selbst, Harry, wie unabhängig ich von Haus aus +bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen; war es wenigstens so +lange, bis ich Dorian Gray traf. Dann -- aber ich weiß nicht, wie ich +dir das begreiflich machen soll. Irgend etwas schien mir im voraus zu +sagen, daß ich an einem schrecklichen Wendepunkt in meinem Leben stand. +Ich hatte die eigentümliche Empfindung, das Schicksal halte für mich die +ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten Schmerzen in +Bereitschaft. Ich bekam Furcht, und ich wandte mich zum Gehen. Das +Gewissen trieb mich nicht dazu: es war eine Art Feigheit. Ich bilde mir +nichts darauf ein, daß ich diese Flucht versuchte.« + +»In Wirklichkeit sind Gewissen und Feigheit ein und dasselbe. Gewissen +lautet nur die eingetragene Firma. Weiter gar nichts.« + +»Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube, du wohl auch nicht. +Einerlei aber, aus welchem Grunde es geschah -- es mag auch Stolz +gewesen sein, denn ich war schon immer sehr stolz -- jedenfalls eilte +ich der Türe zu. Natürlich prallte ich dabei mit Lady Brandon zusammen. +>Sie wollen doch nicht etwa schon davonlaufen, Herr Hallward?< kreischte +sie auf. Du kennst ja ihre schrille Stimme.« + +»Ja, sie ist ein Pfau in allem, bis auf die Schönheit«, sagte Lord Henry +und zerrupfte das Gänseblümchen zwischen seinen langen nervösen Fingern. + +»Ich konnte ihrer nicht loswerden. Sie zerrte mich zu den königlichen +Hoheiten hin, zu den Leuten mit Orden und Sternen und zu den ältlichen +Damen mit riesenhaften Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich +dabei ihren besten Freund. Ich hatte sie nur ein einziges Mal vorher +gesehen, aber sie setzte es sich in den Kopf, aus mir den Löwen des +Tages zu machen. Ich glaube, damals hatte gerade ein Bild von mir großen +Erfolg gehabt, wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz +darüber gebracht, und das ist ja im neunzehnten Jahrhundert das +Eichungsmaß der Unsterblichkeit. Plötzlich stand ich dem jungen Manne +gegenüber, dessen Äußeres mich vorhin so merkwürdig erschüttert hatte. +Wir standen ganz nahe beieinander und berührten uns beinah. Unsere +Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig von mir, aber ich bat +Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Vielleicht war es aber doch alles +in allem nicht so leichtsinnig. Es war einfach nicht zu umgehen. Wir +hätten auch ohne Vorstellung miteinander gesprochen. Ich bin dessen +gewiß. Dorian sagte es mir nachher. Auch er fühlte, daß unsere +Bekanntschaft Schicksalsfügung war.« + +»Und wie hat Lady Brandon den wunderbaren Jüngling beschrieben?« fragte +sein Gefährte. »Ich weiß, es ist ihre Manier, von jedem ihrer Gäste eine +kleine Skizze zu geben. Ich erinnere mich, wie sie mich mal einem +schrecklichen, alten Herrn mit puterrotem Gesicht vorstellte, dessen +Brust mit Orden und Bändern beklext war, und mir in einem tragischen +Flüsterton, der für jedermann im Zimmer hörbar war, die erstaunlichsten +Einzelheiten über ihn ins Ohr zischelte. Ich mußte einfach davonlaufen. +Ich entdecke die Leute gerne von mir selbst aus. Aber Lady Brandon +behandelt ihre Gäste genau so, wie ein Auktionator seine Waren. Sie +erklärt sie einem entweder so lange, bis nichts mehr davon übrigbleibt, +oder sie sagt alles, gerade mit Ausnahme dessen, was man wissen will.« + +»Die arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie«, sagte Hallward +zerstreut. + +»Mein guter Junge, sie wollte einen Salon gründen und hat es nur bis zu +einem Restaurant gebracht. Wie soll ich sie da bewundern? Aber sage nun +endlich, was sie über Herrn Dorian Gray erzählt hat?« + +»Oh, so irgend was wie >Entzückender junger Mensch -- seine arme Mutter +und ich ganz unzertrennlich -- vergaß ganz was er treibt -- fürchte fast +-- gar nichts -- ach ja, spielt Klavier -- oder war es die Geige, lieber +Herr Gray?< Wir mußten beide lachen und wurden sofort Freunde.« + +»Lachen ist wohl lange nicht der schlechteste Anfang für eine +Freundschaft, und gewiß ihr schönstes Ende«, sagte der junge Lord und +pflückte sich noch ein Gänseblümchen. + +Hallward schüttelte den Kopf. »Du hast ja keine Ahnung, was Freundschaft +ist, Harry,« murmelte er, »und ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast +alle Welt gern; mit anderen Worten: dir sind alle gleichgültig.« + +»Wie grausam ungerecht von dir!« rief Lord Henry, stieß seinen Hut in +den Nacken und sah zu den Lämmerwolken empor, die gleich verwirrten +Knäueln glänzendweißer Seide über das türkisfarbene Gewölbe des Himmels +dahinschifften. »Ja, grausam ungerecht von dir. Ich unterscheide die +Leute sehr scharf. Ich wählte meine Freunde nach ihrem guten Aussehen, +meine Bekannten nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem +guten Verstande. Der Mensch kann nicht vorsichtig genug sein in der Wahl +seiner Feinde. Ich habe keinen einzigen, der ein Narr ist. Es sind +sämtlich Leute von einer gewissen geistigen Höhe, und daher schätzen sie +mich auch alle. Bin ich sehr eitel? Ich glaube, es ist ein bißchen +eitel.« + +»Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung zählte ich nur +unter deine Bekanntschaften.« + +»Mein lieber, alter Basil, du bist weit, weit mehr als ein Bekannter.« + +»Und weit weniger als ein Freund! Wohl so eine Art Bruder?« + +»Pah, Bruder! Bleibe mir mit Brüdern vom Halse. Mein ältester will nicht +sterben, und meine jüngeren tun scheinbar nichts anderes.« + +»Harry!« rief Basil mit gerunzelter Stirne. + +»Mein lieber Junge, ich meine es nicht so ernst. Aber ich kann mir nicht +helfen, ich verabscheue meine Verwandten. Ich vermute, das schreibt sich +daher, daß kein Mensch bei einem anderen seine eigenen Fehler vertragen +kann. Ich verstehe durchaus die Wut der englischen Demokraten auf die +sogenannten Laster der oberen Stände. Die Massen fühlen, daß +Trunkenheit, Dummheit und Unsittlichkeit zu ihren Vorrechten gehören +sollten, und daß jeder von uns, der sich darin bloßstellt, gewissermaßen +auf ihrem Gebiete wildert. Als damals der Scheidungsprozeß des armen +Southwark spielte, war ihre Entrüstung wirklich prachtvoll. Und trotzdem +lebt meiner Überzeugung nach nicht der zehnte Teil des Proletariats der +Sitte gemäß.« + +»Ich stimme keinem einzigen deiner Worte bei, und, was mehr ist, Harry, +du selbst glaubst ja auch nicht im mindesten daran.« + +Lord Henry strich seinen braunen Spitzbart und stieß mit dem zierlichen +Spazierstock aus Ebenholz gegen die Kappe seines eleganten Lackstiefels. +»Wie englisch du bist, Basil! Du machst heute zum zweitenmal diesen +Einwurf. Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt -- an +sich schon immer eine Unüberlegtheit --, so fällt es ihm nicht im Traum +ein, zu erwägen, ob die Idee richtig oder falsch ist. Das einzige, was +ihm von Belang scheint, ist das, ob der Sprecher selbst daran glaubt. +Aber der Wert einer Idee hat nicht das geringste mit der Aufrichtigkeit +dessen zu schaffen, der sie ausspricht. Aller Wahrscheinlichkeit nach +wird die Idee um so geistreicher sein, je unaufrichtiger der Mann ist, +weil sie in diesem Fall weder die Färbung seiner Bedürfnisse noch seiner +Wünsche noch seiner Vorurteile annehmen wird. Indes habe ich nicht die +Absicht, politische, soziale oder metaphysische Diskussionen mit dir zu +führen. Mir sind Menschen lieber als Grundsätze und grundsatzlose +Menschen überhaupt das Liebste auf Erden. Erzähle mir mehr von Dorian +Gray. Wie oft siehst du ihn?« + +»Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn mal einen Tag nicht sähe. +Er ist für mich einfach ein Bedürfnis.« + +»Wie merkwürdig! Ich glaubte immer, du kümmertest dich um nichts anderes +als um deine Kunst.« + +»Er ist für mich jetzt meine ganze Kunst«, sagte der Maler ernsthaft. +»Manchmal glaube ich, Harry, daß es nur zwei wichtige Epochen in der +Weltgeschichte gibt. Die erste ist das Auftreten einer neuen +Kunsttechnik und die zweite die Erscheinung einer neuen Persönlichkeit +in der Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war, +das war das Gesicht des Antinous für die spätgriechische Bildhauerkunst, +und das wird eines Tages für mich das Gesicht Dorian Grays sein. Worauf +es dabei ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere. +Natürlich hab' ich das alles getan. Aber er ist weit mehr für mich als +ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich will gewiß nicht +behaupten, daß ich unzufrieden mit dem bin, was ich nach ihm gemacht +habe, oder daß seine Schönheit derart ist, daß sie die Kunst nicht +ausdrücken könne. Es gibt überhaupt nichts, was die Kunst nicht +ausdrücken kann, und ich weiß: was ich gemacht habe, seitdem ich Dorian +Gray kenne, ist gute Arbeit, ja, die gelungenste Arbeit meines Lebens. +Aber auf irgendeine seltsame Weise -- ich glaube kaum, daß du das +verstehen wirst -- hat mir seine Persönlichkeit eine vollständig neue +Art der Kunst, einen durchaus neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge +anders, ich denke darüber anders. Ich kann jetzt das Leben auf eine Art +festhalten, die mir früher nicht gegeben war. >Ein Traum von Form in +unseren Tagen des Denkens<: wer war es, der so sagte? Ich hab's +vergessen, aber das bedeutet Dorian Gray für mich. Die bloße sichtbare +Gegenwart dieses Knaben -- denn für mich ist er kaum mehr als das, wenn +er auch schon über die Zwanzig -- seine bloße sichtbare Gegenwart -- +ach! ich glaube nicht, daß du einen Begriff davon hast, was sie für mich +bedeutet! Ohne selbst es zu wissen, enthüllt er mir die Linien einer +neuen Schule, einer Schule, in der enthalten ist die ganze Leidenschaft +der Romantik und die ganze Vollkommenheit des griechischen Geistes. Die +Harmonie von Seele und Leib, wieviel ist das doch! Wir in unserer +Verblendung haben die beiden voneinander gerissen und haben uns einen +Realismus erfunden, der gewöhnlich ist, und einen Idealismus, der leer +ist. Harry! wenn du wissen könntest, was mir Dorian Gray ist! Erinnerst +du dich an die Landschaft von mir, für die mir Agnew ein so wahnsinniges +Geld angeboten hat und von der ich mich doch nie trennen wollte? Es ist +sicher eins der besten Stücke, die ich je gemacht habe. Und warum? Weil +Dorian Gray neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein ganz feines +Fluidum strömte von ihm zu mir, und zum erstenmal in meinem Leben +entdeckte ich in der simpeln Waldlandschaft das Wunder, nach dem ich +immer gesucht und das ich nie gefunden hatte.« + +»Basil, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte. Ich muß Dorian +Gray kennenlernen.« + +Hallward schnellte von der Bank auf und ging im Garten hin und her. Nach +einer Weile kam er zurück. + +»Harry,« sagte er, »Dorian Gray ist für mich nichts als ein +künstlerisches Motiv. Vielleicht fändest du gar nichts in ihm. Ich finde +alles in ihm. Er ist in Wirklichkeit nie mehr in meiner Arbeit lebendig, +als wenn kein Schatten von ihm darin ist. Er ist für mich, wie ich +sagte, die Anregung zu einem Stil. Ich finde ihn in den Schwingungen +gewisser Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit gewisser +Farben. Das ist alles.« + +»Warum aber willst du dann sein Bild nicht ausstellen?« fragte Lord +Henry. + +»Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck all dieser ganz +merkwürdigen Künstlervergötterung hineingelegt habe, von der ich +natürlich nie zu ihm sprechen wollte. Er hat von alledem keine Ahnung. +Er soll nie etwas davon ahnen. Aber die Welt könnte es erraten; und ich +will meine Seele ihren seichten, spähenden Augen nicht entblößen. Mein +Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop bekommen. Es ist zu viel von mir +selbst in dem Dinge, Harry -- zu viel von mir selbst.« + +»Dichter nehmen's nicht so genau wie du. Die wissen, wie einträglich es +ist, Leidenschaft zu veröffentlichen. Ein gebrochenes Herz bringt es +heutzutage zu einer ganzen Reihe von Auflagen.« + +»Ich finde sie darum eben abscheulich!« rief Hallward aus. »Ein Künstler +soll Schönes schaffen, aber er soll nichts von seinem eigenen Leben +hineintragen. Wir leben in einer Zeit, wo die Menschen aus der Kunst +eine Art Autobiographie zu machen wünschen. Wir haben eben den klaren +Begriff für Schönheit verloren. Eines Tages will ich der Welt zeigen, +was sie ist, und deshalb soll die Welt mein Bild Dorian Grays niemals +sehen.« + +»Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will mit dir nicht +streiten. Nur die geistig Entkernten streiten sich gern. Sag' mir, hat +dich Dorian Gray sehr lieb?« + +Der Maler dachte ein paar Augenblicke nach. »Er hat mich gern«, +antwortete er nach einer Weile; »sicher hat er mich gern. Natürlich +schmeichle ich ihm fürchterlich. Ich finde eine ganz besondere Lust +daran, ihm Dinge zu sagen, die mir später leid tun, wie ich ganz genau +weiß. In der Regel ist er auch reizend zu mir, und wir sitzen dann im +Atelier und schwatzen von tausend Dingen. Dann und wann ist er +allerdings greulich gedankenlos und scheint große Freude darin zu +finden, mir wehe zu tun. Dann, Harry, habe ich das Gefühl, daß ich +jemand meine ganze Seele überantwortet habe, der sie behandelt wie eine +Blume für das Knopfloch, wie ein kleines Ehrenzeichen, mit dem man seine +Eitelkeit befriedigt, wie einen Zierat für einen Sommertag.« + +»Sommertage, Basil, pflegen manchmal lange zu währen«, murmelte Lord +Henry. »Vielleicht wirst du seiner früher müde, als er deiner. Es ist +sehr traurig, daran zu denken, aber es ist ohne Zweifel wahr, daß das +Genie die Schönheit überlebt. Das erklärt auch die Tatsache, daß wir uns +soviel Mühe geben, uns mit Bildung vollzupfropfen. In dem wilden +Existenzkampfe ums Dasein wollen wir alle etwas Dauerhaftes haben, und +so füllen wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der dummen +Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten. Der durch und durch +unterrichtete Mann -- das ist das moderne Ideal. Und das Gehirn dieses +durch und durch unterrichteten Mannes hat etwas Fürchterliches. Es +gleicht einem Kuriositätenladen, in dem es lauter Ungeheuerlichkeiten +voll Staub gibt, und wo jeder Gegenstand über seinen wahren Wert hinaus +ausgezeichnet. Immerhin, ich glaube, du wirst zuerst müde werden. Eines +Tages wirst du deinen jungen Freund anschauen und finden, daß er etwas +verzeichnet ist, oder du wirst an seiner Farbe etwas auszusetzen haben +oder irgend so etwas. Du wirst ihm dann in deinem Herzen bittere +Vorwürfe machen und ganz ernsthaft überzeugt sein, daß er sich recht +schlecht gegen dich benommen hat. Wenn er dich dann das nächstemal +besucht, wirst du völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Das wird +sehr schade sein, denn es wird dich selbst verändern. Was du mir da +erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, eine Romanze der Kunst möchte man +es nennen, und das Schlimmste beim Erleben von Gedichten ist nur, daß es +einen so ganz unpoetisch zurückläßt.« + +»Harry, ich bitte, sprich nicht so. Solang' ich lebe, wird mich die +Persönlichkeit Dorian Grays beherrschen. Du kannst meine Empfindung +nicht nachfühlen. Du wandelst dich zu oft.« + +»Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich sie nachempfinden. Die +treuen Menschen kennen nur die triviale Seite der Liebe; die Treulosen +allein erfahren die Tragödien der Liebe.« Und Lord Henry zündete an +einem zierlichen silbernen Büchschen ein Streichholz an und begann eine +Zigarette zu rauchen, mit jener so selbstbewußten, zufriedenen Miene, +als hätte er den Sinn der ganzen Welt in einen Satz zusammengefaßt. Man +hörte ein leises Rauschen von zirpenden Sperlingen in den grünen, wie +mit glänzendem Lack überzogenen Efeublättern, und die blauen +Wolkenschatten jagten wie Schwalben über das Gras. Wie reizend war es +doch in dem Garten und wie entzückend waren die Gefühlsregungen anderer +Leute! -- weit entzückender als ihre Gedanken, so schien es ihm. Des +Menschen eigene Seele und die Leidenschaft seiner Freunde -- das sind +die fesselnden Dinge des Lebens. Er stellte sich mit geheimem Vergnügen +das langweilige Frühstück vor, das er durch seinen langen Besuch bei +Basil Hallward versäumt hatte. Wäre er zu seiner Tante gegangen, hätte +er dort sicher Lord Goodbody getroffen, und das ganze Gespräch hätte +sich mit der Armenernährung und der Notwendigkeit von Musterwohnhäusern +beschäftigt. Menschen jedes Standes hätten die Wichtigkeit gerade jener +Tugenden gepredigt, für die sie in ihrem eigenen Leben gar keine +Verwendung hatten. Der Reiche hätte von dem Werte der Sparsamkeit +geredet, und der Träge mit wahrhafter Beredsamkeit über die Würde der +Arbeit. Es war reizend, all dem entgangen zu sein. Als er an seine Tante +dachte, schien ihm etwas einzufallen. Er wandte sich zu Basil und sagte: +»Mein lieber Junge, ich erinnere mich jetzt.« + +»Woran erinnerst du dich, Harry?« + +»Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.« + +»Wo war das?« fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln. + +»Schau' doch nicht so böse drein, Basil. Es war bei meiner Tante, Lady +Agatha. Sie erzählte mir, sie sei einem wunderhübschen jungen Menschen +begegnet, der ihr im East-End helfen wolle, und er heiße Dorian Gray. +Ich muß zugeben, sie hat mir nie etwas darüber gesagt, daß er so hübsch +sei. Frauen haben kein Verständnis für Schönheit, wenigstens gute Frauen +nicht. Sie sagte, daß er sehr ernst sei und eine edle Seele habe. Ich +stellte mir natürlich sofort ein Wesen mit Brille und wallendem Haar und +gräßlich vielen Sommersprossen vor, das auf riesigen Füßen umherstapfe. +Ich wünsche jetzt, ich hätte gewußt, daß er dein Freund ist.« + +»Ich bin sehr froh, daß du es nicht gewußt hast, Harry.« + +»Warum?« + +»Ich will nicht, daß du ihn kennenlernst.« + +»Du willst nicht, daß ich ihn kennenlerne?« + +»Nein.« + +»Herr Dorian Gray ist im Atelier«, sagte der Diener, der in den Garten +hinaustrat. + +»Jetzt mußt du mich vorstellen!« rief Lord Henry lachend. Der Maler +wandte sich zu seinem Diener, der blinzelnd in der Sonne dastand: +»Bitten Sie Herrn Gray, zu warten, Parker; ich komme in ein paar +Minuten.« Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus. + +Dann sah der Maler Lord Henry an. »Dorian Gray ist mein teuerster +Freund«, sagte er. »Er hat eine schlichte und edle Seele. Deine Tante +hatte ganz recht mit dem, was sie über ihn sagte. Verdirb ihn mir nicht. +Versuche nicht, Einfluß auf ihn auszuüben. Dein Einfluß wäre +verderblich. Die Welt ist groß, und es gibt eine Menge köstlicher +Menschen auf ihr. Raube mir nicht den einzigen Menschen, der meiner +Kunst ihren ganzen Zauber verleiht, den sie hat: mein Leben als Künstler +hängt von ihm ab! Denke daran, Harry, ich vertraue dir.« Er sprach sehr +langsam, und die Worte schienen sich ihm gegen seinen Willen zu +entringen. + +»Was für Unsinn du redest!« sagte Lord Henry lächelnd, nahm Hallward +unter den Arm und führte ihn in das Haus. + + + + +Zweites Kapitel + + +Als sie eintraten, erblickten sie Dorian Gray. Er saß am Klavier, mit +dem Rücken ihnen zu, und blätterte in einem Notenbande mit Schumanns +Waldszenen. »Die mußt du mir leihen, Basil!« rief er aus. »Ich möchte +sie spielen lernen. Sie sind geradezu entzückend.« + +»Das hängt ganz davon ab, wie du mir heute sitzen wirst, Dorian.« + +»Ach, ich habe das Sitzen lange satt, und ich will gar kein lebensgroßes +Bild von mir«, antwortete der Jüngling und schwang sich in dem +Musikstuhl auf eine eigensinnige, launische Knabenart herum. Als er aber +Lord Henry erblickte, stieg für einen Augenblick ein schwaches Rot in +seine Wangen, und er sprang auf. »Ich bitte um Entschuldigung, Basil, +ich wußte nicht, daß jemand bei dir ist.« + +»Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter Freund von Oxford her. Ich +habe ihm gerade erzählt, wie musterhaft du sitzen kannst, und jetzt hast +du alles verdorben.« + +»Mir haben Sie das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, nicht +verdorben, Herr Gray«, sagte Lord Henry, ging auf ihn zu und streckte +ihm die Hand entgegen. »Meine Tante hat oft von Ihnen gesprochen. Sie +sind einer ihrer Lieblinge und, wie ich fürchte, auch ihrer Opfer.« + +»Ich stehe zur Zeit auf Lady Agathas schwarzer Liste«, antwortete Dorian +mit einem komisch reuigen Gesichtsausdruck. »Ich hatte ihr versprochen, +sie letzten Dienstag nach einem Klub in Whitechapel zu begleiten, und +ich habe dann die Abmachung vergessen. Wir sollten da miteinander +vierhändig spielen -- drei Stücke glaube ich. Ich weiß nun nicht, was +sie mir dazu sagen wird. Ich habe Angst, ihr einen Besuch zu machen.« + +»Oh, ich werde Sie mit meiner Tante versöhnen. Sie ist Ihnen äußerst +zugetan. Und ich glaube auch, es schadet nichts, daß Sie nicht dort +waren. Die Zuhörer haben sicher angenommen, es sei vierhändig gespielt +worden. Wenn sich Tante Agatha ans Klavier setzt, macht sie für zwei +Personen reichlich Lärm.« + +»Sie sprechen sehr schlecht von ihr, und mir machen Sie auch gerade kein +Kompliment damit«, antwortete Dorian lachend. + +Lord Henry sah ihn an. Ja, er war wirklich wunderbar schön, mit seinen +feingeschwungenen dunkelroten Lippen, seinen offenen blauen Augen und +seinem gewellten, goldblonden Haar. In seinem Gesicht war ein Ausdruck, +der sofort Vertrauen erweckte. Aller Glanz der Jugend lag darin und +ebenso all die leidenschaftliche Reinheit der Jugend. Man fühlte, daß er +bisher noch nicht von der Welt befleckt war. Kein Wunder, daß ihn Basil +Hallward anbetete. + +»Sie sind viel zu hübsch, um sich mit Wohltätigkeit abzugeben, Herr Gray +-- viel zu hübsch!« Und Lord Henry warf sich auf den Diwan und öffnete +seine Zigarettendose. + +Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt und seine Pinsel +zurechtgemacht. Er sah etwas gequält aus, und als er Lord Henrys letzte +Bemerkung hörte, blickte er zu ihm hin, sann einen Augenblick nach und +sagte dann: »Harry, ich möchte das Bild heute fertig kriegen. Fändest du +es sehr grob von mir, wenn ich dich jetzt bäte, uns allein zu lassen?« + +Lord Henry lächelte und sah Dorian Gray an. »Soll ich gehen, Herr Gray?« +fragte er. + +»Oh, bitte, nein, Lord Henry. Ich sehe, Basil hat wieder einen seiner +schlechten Tage, und ich kann ihn nicht vertragen, wenn er so brummt. +Außerdem möchte ich von Ihnen erfahren, warum ich mich nicht mit +Wohltätigkeit befassen soll?« + +»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Herr Gray. Es ist ein so +langweiliges Thema, daß man schon ernsthaft darüber reden müßte. Aber +jetzt geh ich auf keinen Fall, nachdem Sie mir erlaubt haben, +dazubleiben. Du hast doch nichts im Ernst dagegen, Basil? Du hast mir +oft genug gesagt, daß es dir angenehm sei, wenn deine Modelle mit jemand +plaudern können.« + +Hallward biß sich auf die Lippe. »Wenn es Dorian wünscht, wirst du +natürlich dableiben. Dorians Launen sind Gesetze für jedermann, außer +für ihn selbst.« + +Lord Henry nahm seinen Hut und seine Handschuhe. »Trotz deiner +dringenden Aufforderung, Basil, fürchte ich, gehen zu müssen. Ich habe +mit jemand eine Verabredung im Orleans-Klub. Adieu, Herr Gray! Bitte, +besuchen Sie mich doch mal eines Nachmittags in Curzon Street. Um fünf +Uhr treffen Sie mich fast immer. Schreiben Sie mir, bitte, wann Sie +kommen. Es täte mir sehr leid, wenn Sie mich verfehlten.« + +»Basil,« rief Dorian Gray, »wenn Lord Henry Wotton geht, dann gehe ich +auch. Du bringst ja beim Malen nie die Lippen auseinander, und es ist +furchtbar ermüdend, auf einem Podium zu stehen und sich anzustrengen, +freundlich auszusehen. Bitte ihn, dazubleiben. Ich bestehe darauf.« + +»Bleib, Harry, du machst Dorian damit ein Vergnügen und auch mir«, +sagte Hallward, ohne von seinem Bilde aufzublicken. »Er hat ganz recht, +ich spreche nie ein Wort während der Arbeit und höre ebensowenig zu, und +das muß sehr langweilig für meine unglücklichen Modelle sein. Ich bitte +dich also, bleib.« + +»Was fange ich aber mit meinem Mann im Orleans an?« + +Der Maler lachte. »Ich glaube, damit wird es keine Schwierigkeit haben. +Setz dich nur wieder, Harry. Und jetzt, Dorian, geh auf das Podium und +bewege dich nicht zuviel und achte auch nicht auf das, was Lord Henry +sagt. Er hat einen sehr bösen Einfluß auf alle seine Freunde, nur mich +ausgenommen.« + +Dorian Gray bestieg das Podium mit der Miene eines jungen griechischen +Märtyrers und stieß, zu Lord Henry gewandt, der ihm gleich gut gefallen +hatte, einen kleinen drolligen Seufzer aus. Dieser Mann war so ganz +anders als Basil. Die beiden bildeten einen entzückenden Gegensatz. Und +er hatte ein so schönes Organ. Nach ein paar Augenblicken sagte Dorian +zu ihm: »Haben Sie wirklich einen so bösen Einfluß, Lord Henry? Ist es +so arg, wie Basil sagt?« + +»Es gibt keinen sogenannten guten Einfluß, Herr Gray. Jeder Einfluß ist +unmoralisch -- unmoralisch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus.« + +»Wieso?« + +»Weil jemand beeinflussen soviel ist wie ihm die eigene Seele leihen. Er +denkt dann nicht mehr seine natürlichen Gedanken und brennt nicht mehr +in seinem natürlichen Feuer. Seine Tugenden sind gar nicht seine +Tugenden. Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind nur +ausgeborgte. Er wird ein Echo für die Töne eines anderen, Schauspieler +einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben wurde. Der Sinn des Daseins +ist: Selbstentwicklung. Die eigene Natur voll zum Ausdruck zu bringen -- +diese Aufgabe hat jeder von uns hier zu lösen. Heutzutage hat jeder +Mensch Angst vor sich. Sie haben ihre heiligste Pflicht vergessen, +nämlich die gegen sich selbst. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren +den Hungernden und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen darben +und gehen nackt. Der Mut ist unserem Geschlecht abhanden gekommen. +Vielleicht haben wir ihn nie wirklich besessen. Die Furcht vor der +Gesellschaft als der Grundlage der Sittlichkeit, und die Furcht vor +Gott, als dem Geheimnis der Religion -- das sind die zwei Dinge, die uns +beherrschen. Und doch --« + +»Dorian, dreh den Kopf mal ein wenig mehr nach rechts, sei so gut«, +sagte der Maler, der ganz in sein Werk vertieft war, aber doch gemerkt +hatte, daß in des Jünglings Gesicht ein Ausdruck getreten war, den er +vorher nie darin gesehen hatte. + +»Und doch,« fuhr Lord Henry mit seiner tiefen musikalischen Stimme fort, +während er die Hand in der anmutigen Art bewegte, die er schon +seinerzeit in Eton gehabt hatte, »ich glaube, wenn die Menschen nur ihr +eigenes Leben voll, bis auf den letzten Rest ausleben würden, jedes +Gefühl Gestalt bekommen lassen, jeden Gedanken ausdrücken, jeden Traum +in Dasein umsetzen wollten -- ich glaube, dann käme in die Welt ein +solcher Schwung von neuer Freudigkeit, daß wir alle die Krankheiten des +Mittelalters vergäßen und zum hellenischen Ideal zurückkehrten, ja wir +kämen vielleicht zu etwas Feinerem und Reicherem, als das hellenische +Ideal war. Aber selbst der Tapferste unter uns hat Angst vor sich +selber. Die Selbstverstümmelung der Wilden hat ihr tragisches +Überbleibsel in der Selbstverleugnung, die unser Leben verstümmelt. Wir +büßen für unsere Entsagungen. Jeder Trieb, den wir zu ersticken suchen, +frißt im Innern weiter und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal +und hat sich durch die Sünde befreit, denn Tat ist immer eine Art +Reinigung. Nichts bleibt davon zurück als die Erinnerung an ein +Vergnügen oder die schmerzliche Wollust der Reue. Der einzige Weg, eine +Versuchung zu bestehen, ist, sich ihr hinzugeben. Widerstehen Sie ihr, +und Ihre Seele erkrankt vor Sehnsucht nach der Erfüllung, die sie sich +selber verweigert hat, erkrankt vor dem Verlangen nach dem, was ihre +ungeheuerlichen Gesetze ungeheuerlich und ungesetzmäßig gemacht haben. +Es ist wohl gesagt worden, die großen Ereignisse der Welt gingen im +Gehirn vor sich. Im Gehirn und ganz allein im Gehirn werden auch die +großen Sünden der Welt begangen. Sie, Herr Gray, Sie selbst mit Ihrer +rosenroten Jugend und Ihrer rosenblassen Knabenunschuld, Sie haben schon +Leidenschaften erlebt, die Ihnen Angst einjagten, haben Gedanken gehabt, +die Sie in Schrecken setzten, haben wachend und schlafend Träume gehabt, +deren bloße Erinnerung Ihre Wangen schamrot werden ließ --« + +»Hören Sie auf,« stammelte Dorian Gray, »hören Sie auf, Sie machen mich +ganz wirr. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Antwort +darauf, aber ich kann sie nicht finden. Sagen Sie nichts mehr! Lassen +Sie mich nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, dem nicht +nachzudenken.« + +Etwa zehn Minuten stand er bewegungslos da, mit halboffenen Lippen und +seltsam leuchtenden Augen. Er war sich dumpf bewußt, daß ganz neue +Einflüsse in ihm arbeiteten. Und doch schien es, als kämen sie in +Wirklichkeit aus seinem eigenen Innern. Die paar Worte, die Basils +Freund zu ihm gesagt hatte -- ohne Zweifel zufällig hingeworfene Worte +voll absichtlicher Paradoxie -- hatten eine geheime Saite seiner Seele +berührt, die vordem nie berührt worden war, die er aber nun zittern und +in seltsamer Wildheit schluchzen hörte. + +Musik hatte ihn so ähnlich aufgewühlt. Musik hatte ihn oft in Aufruhr +gebracht. Aber Musik war etwas Unbestimmtes. Sie bringt keine neue Welt +in uns hervor; schafft eher ein neues Chaos in uns. Worte! Bloße Worte! +Wie schrecklich die waren! Wie klar und lebendig und grausam! Man konnte +ihnen nicht entrinnen. Und doch, welch tiefer Zauber steckte in ihnen! +Sie schienen die Kraft zu haben, formlosen Dingen eine greifbare Gestalt +zu geben, und schienen eine Musik in sich zu bergen, so süß wie die der +Geige oder der Laute. Bloße Worte! Gab es denn irgend etwas so +Wirkliches wie Worte? + +Ja; es hatte in seiner Knabenzeit Dinge gegeben, die ihm unbegreiflich +geblieben waren. Jetzt verstand er sie. Plötzlich bekam das Leben für +ihn lodernde Farben. Nun schien es ihm, als sei er mittenhin durch Feuer +gewandelt. Warum hatte er es nie gemerkt? + +Lord Henry beobachtete ihn mit einem feinspürenden Lächeln. Er verstand +sich gut auf jenen psychologischen Moment, in dem man kein Wort sagen +darf. Er fühlte sich sehr stark interessiert. Die jähe Wirkung seiner +Worte machte ihn erstaunen; nun entsann er sich eines Buches, das er mit +sechzehn Jahren gelesen und das ihm viel bis dahin Unbekanntes enthüllt +hatte, und er fragte sich, ob Dorian Gray jetzt wohl eine ähnliche +Erfahrung erlebe. Er hatte nur einen Pfeil ins Blaue geschossen. Hatte +er das Ziel getroffen? Wie anziehend doch dieser Junge war! + +Inzwischen malte Hallward in jenen wundervollen, kühnen Zügen weiter, +die das Zeichen aller wahren Feinheit und Vollkommenheit sind, denn die +kann der Kunst nur aus der Kraft werden. Er merkte die wortlose Stille +gar nicht. + +»Basil, ich habe jetzt genug von dem Stehen!« rief Dorian plötzlich aus. +»Ich muß hinaus und mich im Garten hinsetzen. Die Luft hier ist zum +Ersticken.« + +»Mein Bester, das tut mir wirklich leid. Wenn ich male, kann ich an +nichts anderes denken. Aber du hast nie besser Modell gestanden. Du +warst ganz ruhig. Und ich habe endlich den Ausdruck herausgebracht, den +ich gesucht habe -- die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen. +Ich weiß nicht, was Harry dir erzählt hat, aber sicher hat er es +bewirkt, daß du den prachtvollsten Ausdruck hast. Ich vermute, er hat +dir Komplimente gemacht. Du darfst ihm nur kein einziges Wort glauben.« + +»Er hat mir nicht das kleinste Kompliment gemacht. Vielleicht ist das +der Grund, daß ich wirklich kein Wort von dem glaube, was er gesagt +hat.« + +»Sie wissen selbst, daß Sie jedes Wort davon glauben«, erwiderte Lord +Harry, der ihn mit seinen weichen, träumerischen Augen ansah. »Wir +wollen zusammen in den Garten gehen. Es ist furchtbar heiß hier im +Atelier. Basil, laß uns irgendein Eisgetränk geben, irgendwas mit +Erdbeeren darin.« + +»Gern, Harry. Klingele nur selbst, und wenn Parker kommt, will ich ihm +sagen, was Ihr haben wollt. Ich muß erst den Hintergrund hier noch +fertig machen und komme dann später nach. Halte mir Dorian aber nicht zu +lange fest. Ich war nie in besserer Malstimmung als heute. Dies Porträt +wird mein Meisterwerk. Wie es da steht, ist es schon mein Meisterwerk.« + +Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand dort Dorian Gray, wie er +sein Gesicht hinter den großen, kühlen Blütenbüscheln der +Fliedersträuche versteckte und fieberhaft ihren Duft einsog, als tränke +er Wein. Er trat nahe an ihn heran und legte ihm die Hand auf die +Achsel. »Sie haben ganz recht, so zu tun«, sagte er leise. »Nichts hilft +der Seele besser als die Sinne, sowie den Sinnen nichts besser als die +Seele helfen kann.« + +Der Jüngling schreckte auf und trat einen Schritt zurück. Er war ohne +Hut, und das Blattgewirr hatte seine widerspenstigen Locken aufgewühlt +und ihre goldblonden Strähnen in Unordnung gebracht. In seinen Augen lag +ein Ausdruck von Furcht, wie ihn Menschen haben, die man jäh aus dem +Schlaf reißt. Seine zartgeformten Nasenflügel bebten, und ein geheimer +Nerv zuckte leis an den scharlachroten Lippen, so daß sie beständig +zitterten. + +»Ja,« fuhr Lord Henry fort, »das ist eines der großen Geheimnisse des +Daseins -- die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele +heilen können. Sie sind ein wunderbares Menschenkind! Sie wissen mehr, +als Ihnen bewußt ist, gerade wie Sie weniger wissen, als Ihnen dienlich +ist.« + +Dorian Gray runzelte die Stirn und wendete den Kopf weg. Ein +unwiderstehlicher Reiz zog ihn zu diesem großen, anmutigen jungen Mann +hin, der da neben ihm stand. Sein romantisches, olivenfarbiges Gesicht +und der müde Ausdruck darin fesselten ihn. Es war etwas in dem müden Ton +seiner Stimme, was völlig in Bann schlug. Auch seine Hände, kühl, weiß +und blumenhaft, zogen an. Sie bewegten sich bei seinen Worten, +begleiteten sie wie Musik und schienen ihre eigene Sprache zu reden. +Aber er hatte auch Angst vor ihm und schämte sich dieser Angst. Warum +hatte ein Fremder kommen müssen, um ihn sich selber zu offenbaren? Er +kannte Basil Hallward nun seit Monaten, aber diese Freundschaft hatte +ihn niemals verwandelt. Jetzt war plötzlich jemand in sein Leben +getreten, der ihm des Lebens Mysterium enthüllt zu haben schien. Und +doch, wovor sollte er sich fürchten? Er war kein Schulknabe und kein +kleines Mädchen. Es war töricht, Angst zu haben. + +»Kommen Sie und setzen wir uns in den Schatten«, sagte Lord Henry. +»Parker hat uns was zu trinken gebracht, und wenn Sie noch länger in +solcher Sonnenglut stehenbleiben, werden Sie sich Ihren Teint verderben, +und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich nicht von +der Sonne verbrennen lassen. Es würde Ihnen schlecht stehen.« + +»Was läge weiter daran?« rief Dorian Gray und lachte, als er sich auf +eine Bank am Ende des Gartens setzte. + +»Alles sollte Ihnen daran liegen, Herr Gray.« + +»Wieso?« + +»Weil Sie die wundervollste Jugend haben, und Jugend ist das einzige, +dessen Besitz einen Wert hat.« + +»Ich empfinde das nicht, Lord Henry.« + +»Nein, jetzt empfinden Sie es nicht. Später einmal, wenn Sie alt, +runzlig und häßlich sind, wenn das Denken Furchen in Ihre Stirne +gegraben und die Leidenschaft Ihre Lippen mit ihrem schrecklichen Feuer +verbrannt hat, dann werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt +können Sie hingehen, wo Sie wollen, und Sie berücken die ganze Welt! +Wird das immer so sein?... Sie haben ein wundervoll schönes Gesicht, +Herr Gray. Runzeln Sie nicht die Stirn. Sie haben es. Und Schönheit ist +eine Form des Genies -- steht in Wahrheit noch höher als das Genie, da +sie keinerlei Erklärung bedarf. Sie ist eine der großen Lebenstatsachen, +wie das Sonnenlicht oder der Lenz oder wie in dunkeln Gewässern der +Widerschein der Silbermuschel, die wir Mond nennen. Sie kann nicht +bestritten werden. Sie hat ein göttliches, erhabenes Recht. Wer sie +hat, den macht sie zu einem Prinzen. Sie lächeln? Oh, wenn Sie sie +verloren haben, lächeln Sie nicht mehr... Die Leute sagen manchmal, +Schönheit sei nur etwas Äußerliches. Mag sein. Aber zum mindesten ist +sie nicht so äußerlich wie das Denken. Für mich ist Schönheit aller +Wunder Wunder. Nur die Hohlköpfe urteilen nicht nach dem Äußeren. Das +wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare... +Ja, Herr Gray, die Götter haben es gut mit Ihnen gemeint. Aber was die +Götter schenken, rauben sie bald wieder. Sie haben nur ein paar Jahre, +wo Sie wahrhaftig vollkommen, restlos leben können. Indem Ihre Jugend +verrauscht ist, nimmt sie die Schönheit mit, und dann werden Sie +plötzlich entdecken, daß Ihrer keine Siege mehr warten, oder daß Sie +sich mit jenen traurigen Siegen werden begnügen müssen, die Ihnen die +Erinnerung an die Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen. +Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie näher einem schrecklichen Ziele. +Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und kämpft gegen Ihre Lilien und +Rosen. Sie werden fahl und hohlwangig, und Ihre Augen werden sich +trüben. Sie werden unsäglich leiden... Ach! leben Sie Ihre Jugend, +solange sie da ist. Vergeuden Sie das Gold Ihrer Tage nicht, leihen Sie +Ihr Ohr nicht den Philistern, mühen Sie sich nicht, hoffnungslose +Verhängnisse zu verbessern, geben Sie Ihr Leben nicht den Unwissenden, +Niedrigen, den gemeinen Leuten hin! Das sind die kranken Ziele, die +falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das wunderschöne +Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich nichts verloren sein! Suchen +Sie rastlos nach neuen Sinneseindrücken! Fürchten Sie nichts... Ein +neuer Hedonismus -- der täte unserem Jahrhundert not. Sie könnten sein +sichtbares Symbol werden. Mit Ihrer Persönlichkeit können Sie alles +wagen. Die Welt gehört Ihnen einen Sommer hindurch... Im Augenblick, da +ich Sie sah, merkte ich, daß Sie keine Ahnung davon haben, was Sie +wirklich sind, was Sie wirklich sein könnten. So viel in Ihnen entzückte +mich, daß ich förmlich gezwungen war, Ihnen etwas über Ihre Natur zu +sagen. Ich dachte mir, welche Tragik darin läge, wenn Sie vergebens +lebten. Denn Ihre Jugend währt nur so kurze Zeit -- so kurze Zeit. Die +alltäglichen Wiesenblumen welken, aber sie blühen wieder. Der Goldregen +wird im nächsten Juni genau so gelb sein wie heute. In einem Monat setzt +die Klematis purpurne Sterne an, und Jahr für Jahr umhüllt die grüne +Nacht ihrer Blätter solche Purpursterne. Aber wir Menschen bekommen +unsere Jugend nie wieder. Die Freude, die den Puls des Zwanzigjährigen +peitscht, läßt nach. Unsere Glieder versagen, die Sinne werden seicht. +Wir verkommen und werden greuliche Verpuppungen, werden verfolgt von den +Erinnerungen an die Leidenschaften, vor denen wir zurückgeschreckt sind, +und an die reizenden Versuchungen, denen zu erliegen wir nicht den Mut +hatten. Jugend! Jugend! Es gibt in der Welt nichts weiter als Jugend!« + +Dorian Gray hörte zu, mit aufgerissenen Augen und staunend. Der +Fliederzweig, den er in der Hand hielt, fiel auf den Kies. Eine Biene in +ihrem Pelzkleid schoß her und umsummte ihn einen Augenblick. Dann +krabbelte sie eifrig auf den kleinen Blumensternen herum. Er beobachtete +sie mit dem seltsamen Interesse an gewöhnlichen Dingen, das wir in uns +heranzubilden suchen, wenn wir uns vor entscheidenden Dingen fürchten, +oder wenn uns ein neues Gefühl erschüttert, für das wir noch keine +Formel haben, oder wenn ein schrecklicher Gedanke das Hirn umklammert +und verlangt, daß wir uns ihm ausliefern sollen. Nach einer Weile +schwirrte die Biene weg. Er sah sie in den bunten Trompetentrichter +einer tyrischen Winde kriechen. Die Blume schien zusammenzuzucken und +bewegte sich dann mit Grazie hin und her. + +Plötzlich erschien der Maler unter der Tür des Ateliers und forderte sie +mit kurzen wiederholten Zeichen auf, hereinzukommen. Sie sahen sich +einander an und lächelten. + +»Ich warte!« rief er. »Kommt herein! Das Licht ist ganz prächtig, und +ihr könnt eure Gläser mitbringen.« + +Sie standen auf und schlenderten den Weg zurück. Zwei grünlichweiße +Schmetterlinge flatterten an ihnen vorüber, und in dem Birnbaum an der +Gartenecke begann eine Drossel zu flöten. + +»Es freut Sie, mich kennengelernt zu haben, Herr Gray?« fragte Lord +Henry und blickte ihn an, + +»Ja, jetzt bin ich erfreut darüber. Ich weiß nicht, ob ich's immer sein +werde!« + +»Immer! das ist ein schreckliches Wort. Ich schaudere, wenn ich es höre. +Die Frauen haben es so gern. Sie zerstören sich jedes Abenteuer, indem +sie ihm Ewigkeit verleihen wollen. Außerdem ist es ein sinnloses Wort. +Der einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer Leidenschaft, +die ein Leben lang dauert, ist, daß die Laune ein bißchen länger +dauert.« + +Als sie ins Atelier traten, legte Dorian Gray seine Hand auf Lord Henrys +Arm. »Lassen Sie also unsere Freundschaft eine Laune sein«, sagte er +leise und errötete über seine eigene Kühnheit. Dann bestieg er das +Podium und nahm wieder seine Stellung ein. + +Lord Henry warf sich in einen bequemen Korbsessel und beobachtete ihn. +Das Hin- und Herfahren des Pinsels auf der Leinwand war das einzige, die +Stille unterbrechende Geräusch, nur manchmal hörte man den Schritt +Hallwards, wenn er zurücktrat, um sein Werk aus der Entfernung zu +prüfen. In den schrägen Sonnenstrahlen, die durch die offene Tür +fluteten, tanzte der Staub in goldenen Schuppen. Über allem lagerte der +schwere Duft der Rosen. + +Als etwa eine Viertelstunde vergangen war, hörte Hallward zu malen auf, +betrachtete Dorian lange Zeit, sah dann lange auf das Bildnis, nagte an +dem Stiel eines seiner großen Pinsel und runzelte die Stirn. »Ganz +fertig«, rief er endlich, bückte sich und schrieb in großen grellroten +Lettern seinen Namen in die linke Ecke der Leinwand. + +Lord Henry trat heran und betrachtete das Bild mit Kennerblick. Es war +in der Tat ein wunderbares Kunstwerk und auch wunderbar ähnlich. + +»Lieber Junge,« sagte er, »ich wünsche dir herzlich Glück. Es ist das +beste Porträt unserer ganzen Zeit. Herr Gray, kommen Sie und sehen Sie +selbst!« + +Der Jüngling schrak wie aus einem Traume auf. »Ist es wirklich fertig?« +murmelte er, als er vom Podium herabstieg. + +»Ganz fertig«, antwortete der Maler. »Und du hast heute glänzend Modell +gestanden. Ich bin dir sehr, sehr dankbar.« + +»Das ist nur mein Verdienst«, warf Lord Henry ein. »Nicht wahr, Herr +Gray?« + +Dorian gab keine Antwort, sondern trat, ohne hinzuhören, vor sein Bild +und wandte sich dem Werke zu. Als er es sah, zuckte er zusammen, und +seine Wangen röteten sich einen Augenblick vor Vergnügen. Ein Ausdruck +der Freude blitzte in seinen Augen, als erkenne er sich selbst jetzt zum +ersten Male. Bewegungslos und in Staunen versunken, stand er da und +merkte dumpf, daß Hallward zu ihm sprach, ohne daß er den Sinn der Worte +erfaßte. Das Gefühl seiner eigenen Schönheit kam über ihn wie eine +Offenbarung. Er hatte es nie vorher empfunden. Basil Hallwards +Komplimente hatte er nur für liebenswürdige Übertreibungen der +Freundschaft gehalten. Er hatte sie gehört, über sie gelacht und sie +vergessen. Sein Wesen hatten sie niemals beeinflußt. Dann war Lord Henry +Wotton gekommen mit seinem sonderbaren Hymnus auf die Jugend, seiner +schrecklichen Warnung von ihrer Flüchtigkeit. Das hatte ihn rechtzeitig +aufgerüttelt, und als er jetzt dastand und das Abbild der eigenen +Schönheit betrachtete, durchdrang ihn die volle Wirklichkeit jener +Schilderung. Ja, der Tag mußte kommen, da sein Gesicht verrunzelt und +verwelkt, die Augen trüb und farblos, die Anmut seiner Gestalt geknickt +und entstellt sein würde. Das Scharlachrot der Lippen würde verblassen, +der Goldglanz des Haares sich wegstehlen. Das Leben, das von seiner +Seele gebildet wurde, zerstörte seinen Körper. Er würde häßlich, +abscheuerregend und formlos werden. + +Als er daran dachte, durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz wie ein +Messerstich und ließ die feinsten Nerven seines Ichs erbeben. Seine +Augen verdunkelten sich zu Amethysten, und ein Tränenflor umschleierte +sie. Es war, als hätte sich ihm eine eiskalte Hand aufs Herz gelegt. + +»Gefällt es dir nicht?« rief endlich Hallward, ein wenig gereizt durch +das Schweigen des Jünglings, dessen Grund er nicht begriff. + +»Natürlich gefällt's ihm«, sagte Lord Henry. »Wem würde es nicht +gefallen? Es gehört zu den größten Werken der modernen Kunst. Ich gebe +dir jeden Betrag dafür, den du verlangst. Ich muß es haben.« + +»Es gehört nicht mir, Harry.« + +»Wem denn?« + +»Dorian natürlich«, antwortete der Maler. + +»Da hat er Glück...« + +»Wie traurig!« flüsterte Dorian und hielt die Augen noch immer fest auf +das Bild gerichtet. »Wie traurig! Ich werde alt werden und häßlich und +widerlich. Aber dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über den +heutigen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt sein könnte! +Wenn ich ewig jung bliebe und dafür das Bild altern könnte! Dafür -- +dafür -- gäbe ich alles! Ja, nichts in aller Welt wäre mir dafür +zuviel! Ich gäbe meine Seele dafür!« + +»Dieser Tausch würde dir schwerlich passen, Basil«, rief Lord Henry +lachend. »Das wäre schlimm für dein Bild.« + +»Ich würde mich ernstlich dagegen wehren, Harry«, sagte Hallward. + +Dorian Gray wandte sich zu ihm und sah ihn an. »Ich bin davon überzeugt, +Basil. Die Kunst ist dir mehr als deine Freunde. Ich bedeute für dich +nicht mehr als eine grüne Bronzefigur. Vielleicht kaum so viel, müßte +ich sagen.« + +Der Maler war starr vor Erstaunen. So zu sprechen sah Dorian gar nicht +ähnlich. Was war geschehen? Er schien ganz erregt. Sein Gesicht war +gerötet, und die Wangen brannten. + +»Ja,« fuhr er fort, »ich bin dir weniger als dieser Hermes aus Elfenbein +oder der silberne Faun da. Die wirst du immer liebbehalten. Wie lange +wirst du mich liebhaben? Vermutlich bis die erste Runzel mein Gesicht +entstellt. Ich weiß jetzt, wenn man erst seine Schönheit verliert, hat +man alles verloren. Dein Bild hat mich dies gelehrt. Lord Henry Wotton +hat ganz recht. Jugend ist das einzige, was Wert hat auf der Welt. Sowie +ich entdecke, daß ich alt werde, bringe ich mich um.« + +Hallward wurde bleich und faßte ihn bei der Hand. »Dorian, Dorian!« rief +er, »sage so etwas nicht. Ich habe nie einen Freund gehabt wie dich und +werde nie wieder so einen haben. Du bist doch nicht auf leblose Dinge +eifersüchtig? Du, der schöner ist als irgendeines von ihnen.« + +»Ich bin eifersüchtig auf jedes Ding, dessen Schönheit nicht stirbt. Ich +bin eifersüchtig auf das Bild, das du von mir gemalt hast. Warum darf es +behalten, was ich verlieren muß? Jeder Augenblick, der verfliegt, raubt +mir etwas und schenkt ihm etwas. Oh, wenn es doch umgekehrt wäre! Wenn +sich das Bild verändern und ich immer bleiben könnte, wie ich jetzt bin! +Warum hast du es gemalt? Es wird mich dereinst verhöhnen -- furchtbar +verhöhnen!« Die heißen Tränen traten ihm in die Augen, er zog seine Hand +weg, warf sich auf den Diwan und vergrub sein Gesicht in den Kissen, als +betete er. + +»Das ist dein Werk, Harry«, sagte der Maler bitter. + +Lord Henry zuckte die Achseln. »Es ist der wahre Dorian Gray -- sonst +nichts.« + +»Das ist er nicht.« + +»Wenn er es nicht ist, was habe ich damit zu schaffen?« + +»Du hättest weggehen sollen, als ich dich darum bat«, grollte er. + +»Ich blieb, als du mich darum batest«, war Lord Henrys Erwiderung. + +»Harry, ich kann nicht auf einmal mit meinen beiden besten Freunden +Streit anfangen, aber ihr beide habt schuld, daß ich das beste Stück, +das mir je gelungen ist, hassen muß, und ich werde es vernichten. Ist es +schließlich mehr als Leinwand und Farbe? Ich will es nicht eingreifen +lassen in drei Leben und sie zerstören.« + +Dorian Gray hob seinen goldschimmernden Kopf von dem Kissen und blickte +ihn mit bleichem Gesicht und tränenfeuchten Augen an, als er zu dem +Maltische aus Kiefernholz trat, der unter dem hohen verhängten Fenster +stand. Was wollte Basil beginnen? Seine Finger wühlten zwischen dem Wust +von Blechtuben und trockenen Pinseln herum, als suchten sie etwas. Ja, +sie suchten das lange Schabmesser mit der schmalen Klinge aus +schmiegsamem Stahl. Endlich hatte er es gefunden. Er wollte die Leinwand +zerschlitzen. + +Mit einem erstickten Schluchzen sprang der Jüngling vom Diwan auf, schoß +auf Hallward zu, riß ihm das Messer aus der Hand und schleuderte es in +den äußersten Winkel des Ateliers. »Tu es nicht, Basil, tu es nicht«, +schrie er. »Es wäre Mord.« + +»Ich freue mich, daß dir meine Arbeit endlich doch gefällt, Dorian«, +sagte der Maler kühl, als er sich von seinem Erstaunen erholt hatte. +»Ich hätte es gar nicht geglaubt.« + +»Gefällt? Ich bin verliebt in dies Bild, Basil. Es ist ja ein Teil von +mir selbst. Ich fühle es.« + +»Schön, sobald du trocken bist, sollst du gefirnißt, gerahmt und zu dir +hingeschickt werden. Dann kannst du mit dir anfangen, was dir beliebt.« +Er schritt durch den Raum und klingelte nach Tee. »Du trinkst doch Tee, +Dorian? Du auch, Harry? Oder machst du dir nichts aus so einfachen +Genüssen?« + +»Ich bete einfache Genüsse an«, sagte Lord Henry. »Sie sind die letzte +Zuflucht komplizierter Naturen. Aber für Szenen schwärme ich nicht, +außer auf der Bühne. Was für tolle Burschen seid ihr doch, ihr beide! +Wer war es doch gleich, der den Menschen als ein vernünftiges Tier +definiert hat? Das war eine der voreiligsten Definitionen, die je +aufgestellt wurden. Der Mensch hat eine ganze Menge Eigenschaften, aber +gewiß keine Vernunft. Alles in allem übrigens: Gott sei Dank, obwohl +mir's eigentlich lieber wäre, ihr beiden Wirbelköpfe zanktet euch nicht +um das Bild. Du solltest es lieber mir gegeben haben, Basil. Dieses +törichte Knäblein braucht es eigentlich gar nicht, und ich brauche es +sehr.« + +»Wenn du es einem anderen geben willst als mir, Basil, verzeihe ich es +dir nie«, rief Dorian Gray; »und ich erlaube niemand, mich ein törichtes +Knäblein zu nennen.« + +»Du weißt, Dorian, das Bild gehört dir. Ich hab' es dir geschenkt, noch +ehe es vorhanden war.« + +»Und Sie wissen, Herr Gray, daß Sie ein wenig töricht waren und daß Sie +ernstlich gar nichts dagegen haben können, an Ihre große Jugend erinnert +zu werden.« + +»Heute früh hätte ich sehr viel dagegen gehabt, Lord Henry.« + +»Ah! heute früh. Seitdem haben Sie einiges erlebt.« + +Es klopfte an die Tür, und der Diener trat mit einem besetzten Teebrett +ein und servierte auf einem kleinen japanischen Tisch den Tee. Die +Tassen und Löffel klapperten, und ein georgischer Samowar begann zu +summen. Zwei gewölbte chinesische Porzellanschüsseln wurden von einem +jungen Diener hereingebracht. Dorian Gray ging hin und goß den Tee ein. +Die beiden Männer schlenderten zum Tische und sahen nach, was unter den +Deckeln der Schüsseln war. + +»Wir wollen heute abend ins Theater gehen«, meinte Lord Henry. +»Irgendwo wird sicher was los sein. Ich habe zwar zugesagt, im +White-Klub zu soupieren, aber mich erwartet nur ein alter Freund; ich +kann ihm also ein Telegramm schicken, daß ich nicht wohl sei oder +infolge einer späteren Verabredung nicht kommen könne. Das würde ich für +eine reizende Entschuldigung halten. Sie hat einen förmlich +überraschenden Duft von Aufrichtigkeit.« + +»Es ist so lästig, sich den Frack anzuzerren«, murmelte Hallward. »Und +wenn man ihn anhat, sieht man so gräßlich aus.« + +»Ja,« antwortete Lord Henry träumerisch, »die Kleidung des neunzehnten +Jahrhunderts ist abscheulich. Sie ist so düster, so deprimierend. Die +Sünde ist noch das einzig Farbenfreudige, das im modernen Leben +übriggeblieben ist.« + +»Du solltest wirklich nicht solche Dinge vor Dorian sagen, Harry!« + +»Vor welchem Dorian? Vor dem, der uns den Tee einschenkt, oder dem +anderen auf dem Bilde?« + +»Vor keinem.« + +»Ich ginge gerne mit Ihnen ins Theater, Lord Henry«, sagte der Jüngling. + +»Dann kommen Sie doch. Und du auch, Basil, nicht wahr?« + +»Ich kann nicht, wirklich nicht. Es ist mir lieber so. Ich habe eine +Unmenge zu tun.« + +»Schön also. Dann müssen wir zwei allein gehen, Herr Gray.« + +»Ich freue mich riesig darauf.« + +Der Maler biß sich auf die Lippe und schritt, die Teetasse in der Hand, +zum Bilde. »Ich bleibe hier bei dem wirklichen Dorian«, sagte er +traurig. + +»Ist das der wirkliche?« rief das Original und ging gleichfalls langsam +zu ihm hin. »Bin ich wirklich so?« + +»Ja, genau so bist du.« + +»Wie wundervoll, Basil!« + +»Du siehst wenigstens jetzt so aus. Aber das Bild wird sich nie ändern«, +seufzte Hallward. »Das ist schon etwas.« + +»Was man heute für ein großes Wesen aus der Treue macht!« rief Lord +Henry aus. »Und doch ist sie selbst in der Liebe eine rein +physiologische Frage. Sie hat auch nicht das mindeste mit unserem +eigenen Willen zu tun. Junge Männer wären gerne treu und sind es nicht; +alte würden gerne untreu sein und können es nicht: das ist alles, was +sich darüber sagen läßt.« + +»Geh heute abend nicht ins Theater, Dorian«, bat Hallward. »Bleibe hier +und speise mit mir.« + +»Ich kann nicht, Basil.« + +»Warum?« + +»Weil ich Lord Henry Wotton zugesagt habe, ihn zu begleiten.« + +»Er wird dir darum nicht mehr zugetan sein, wenn du so treu deine +Versprechungen hältst. Er bricht seine immer. Ich bitte dich, nicht zu +gehen.« + +Dorian Gray schüttelte lachend den Kopf. + +»Ich beschwöre dich.« + +Der junge Mann schwankte und blickte zu Lord Henry hinüber, der die +beiden mit einem belustigten Lächeln vom Teetische aus beobachtete. + +»Ich muß mit, Basil«, antwortete er. + +»Schön«, sagte Hallward und ging zum Tische hinüber, wo er seine Tasse +hinstellte. »Es ist ziemlich spät, und da ihr euch noch umziehen müßt, +habt ihr keine Zeit mehr zu verlieren. Adieu, Harry! Adieu, Dorian! Komm +bald wieder. Komm morgen.« + +»Bestimmt.« + +»Aber nicht vergessen!« + +»Nein, natürlich nicht!« rief Dorian. + +»Und... Harry!« + +»Ja, Basil?« + +»Vergiß nicht, was ich dir sagte, als wir am Vormittag im Garten saßen.« + +»Ich habe es vergessen.« + +»Ich vertraue dir.« + +»Ich wünschte, ich könnte mir selbst vertrauen«, sagte Lord Henry +lachend. »Kommen Sie, Herr Gray, mein Wagen steht unten, und ich kann +Sie an Ihrer Wohnung absetzen. Adieu, Basil! Es war ein sehr +unterhaltender Nachmittag.« + +Als sich die Tür hinter ihnen schloß, warf sich der Maler auf den Diwan, +und in sein Gesicht trat ein schmerzlicher Ausdruck. + + + + +Drittes Kapitel + + +Um zwölfeinhalb Uhr am nächsten Tage schlenderte Lord Henry Wotton von +Curzon Street nach Albany hinüber, um einen Besuch zu machen bei seinem +Onkel Lord Fermor, einem heiteren, aber ziemlich rauhen alten +Junggesellen, den die Außenwelt einen Egoisten nannte, weil sie keinen +besonderen Nutzen aus ihm ziehen konnte, der aber in der Gesellschaft +als freigebig verschrien war, weil er die Leute, die ihn amüsierten, +aufs beste fütterte. Sein Vater war britischer Gesandter in Madrid +gewesen, als Isabella noch jung war und man noch nichts von Prim wußte, +hatte sich aber in einem Augenblicke launischen Ärgers aus dem +diplomatischen Dienste zurückgezogen, weil man ihm nicht den +Gesandtenposten in Paris angeboten hatte, zu dem er sich vollauf +berechtigt geglaubt hatte durch seine Geburt, seine Arbeitsunlust, sein +gutes Englisch in seinen Depeschen und durch seine zügellose +Vergnügungssucht. Der Sohn, der des Vaters Privatsekretär gewesen war, +hatte mit seinem Chef zugleich den Abschied genommen, was man damals +ziemlich verrückt fand, und als der Titel einige Monate später auf ihn +überging, hatte er sich ernstlich dem großen aristokratischen Studium +gewidmet, absolut nichts zu tun. Er besaß zwei große Häuser in der +Stadt, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung zu hausen, weil das +weniger Umstände machte, und speiste meistens im Klub. Er beschäftigte +sich ein wenig mit der Verwaltung seiner Kohlenminen in den +Midlandgrafschaften und entschuldigte diese verwerfliche industrielle +Tätigkeit damit, daß er sagte, der einzige Vorteil, Kohlen zu besitzen, +sei der, es einem Gentleman möglich zu machen, in seinem eigenen Kamin +Holz zu brennen. Politisch war er ein Tory, außer wenn die Tories +Regierungspartei waren, denn in solchen Zeiten verlästerte er sie und +schimpfte sie radikales Gesindel. Er war ein Held für seinen +Kammerdiener, der ihn drangsalierte, und ein Schrecken für die meisten +seiner Verwandten, die er drangsalierte. Nur England konnte ihn erzeugt +haben, und er selber sagte immer, daß das Land mehr und mehr auf den +Hund käme. Seine Grundsätze waren altmodisch, aber an seinen Vorurteilen +war etwas dran. + +Als Lord Henry ins Zimmer trat, fand er seinen Onkel in einem flockigen +Jagdrock, eine ziemlich wohlfeile Zigarre im Munde und brummend in den +»Times« lesend. + +»Na, Harry,« sagte der alte Herr, »was bringt dich so früh her? Ich +dachte immer, ihr Dandies steht nie vor zwei Uhr auf und werdet nie vor +fünf Uhr sichtbar.« + +»Reine Familienliebe, auf mein Wort, Onkel Georg; ich brauche etwas von +dir.« + +»Geld vermutlich«, sagte Lord Fermor und machte ein saures Gesicht. »Na +gut, so setz' dich und sag' mir alles. Ihr jungen Leute von heutzutage +bildet euch ein, das Geld wäre alles.« + +»Ja,« brummelte Lord Henry, während er seine Blume im Knopfloch +zurechtrückte, »und wenn sie älter werden, dann wissen sie es. Aber ich +brauche kein Geld. Nur Leute, die ihre Rechnungen zahlen, brauchen +Geld, Onkel Georg, und ich bezahle meine nie. Kredit ist das Kapital +eines zweitältesten Sohnes, und man kann brillant davon leben. Außerdem +kaufe ich immer bei Dartmoors Lieferanten, und daher habe ich nie +Scherereien. Was ich brauche, ist eine Auskunft, keine nützliche +Auskunft natürlich, sondern nur eine wertlose.« + +»Ich kann dir alles sagen, Harry, was je in einem englischen Blaubuch +gestanden hat, obwohl diese Bengels heutzutage einen Haufen Unsinn +zusammensudeln. Als ich noch Diplomat war, lagen die Dinge besser. Aber +ich höre, man stellt jetzt die Leute auf Grund einer Prüfung ein. Was +kann man da noch erwarten? Prüfungen, mein Bester, sind der reine Humbug +von A bis Z. Wenn einer Gentleman ist, weiß er schon genug, und wenn er +kein Gentleman ist, so mag er alles Mögliche wissen, es hilft ihm doch +nichts.« + +»Herr Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu schaffen«, sagte Lord +Henry in seinem schläfrigen Tone. + +»Herr Dorian Gray? Wer ist das?« fragte Lord Fermor, seine buschigen +weißen Augenbrauen zusammenkneifend. + +»Um das zu erfahren, bin ich gerade hergekommen, Onkel Georg. Oder +genauer gesagt, wer es ist, weiß ich. Nämlich der Enkel des verstorbenen +Lord Kelso. Seine Mutter war eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich +möchte, daß du mir etwas über seine Mutter erzählst. Was weißt du von +ihr? Wen hat sie geheiratet? Du hast zu deiner Zeit doch so ziemlich +alle Leute gekannt, also wahrscheinlich auch sie. Ich interessiere mich +gegenwärtig ungemein für Herrn Gray. Ich habe ihn erst gestern +kennengelernt.« + +»Kelsos Enkel!« wiederholte der alte Herr, »Kelsos Enkel! ... natürlich +... ich war mit seiner Mutter sehr intim. Ich glaube, ich war sogar bei +ihrer Taufe. Es war ein ganz außergewöhnlich schönes Mädchen, diese +Margaret Devereux, und hat dann alle jungen Männer toll gemacht, als sie +mit einem jungen Habenichts davonlief, einer absoluten Null, mein +Bester, einem Fähnrich bei der Infanterie oder so was Ähnliches. +Natürlich. Ich erinnere mich jetzt an die ganze Geschichte, als wäre sie +gestern passiert. Der arme Kerl wurde dann ein paar Monate nach der +Hochzeit in einem Duell in Spa getötet. Man erzählte damals eine +häßliche Geschichte darüber. Man sagte, der alte Kelso hätte irgendeinen +Schuft, so einen Abenteurer aus Belgien gemietet, um seinen +Schwiegersohn öffentlich zu beleidigen, hätte ihn dafür bezahlt, mein +Bester, einfach bezahlt, damit er es täte, und dieser Kerl spießte dann +sein Opfer auf wie eine Taube. Die Geschichte wurde natürlich vertuscht, +aber Kelso mußte eine Zeitlang sein Kotelett allein im Klub essen. Ich +hörte, er brachte seine Tochter wieder mit, doch sie sprach nie mehr ein +Wort mit ihm. O jawohl, das war eine böse Sache. Das Mädel starb dann +auch, kaum ein Jahr später. So, sie hat also einen Sohn hinterlassen? +Das hatte ich ganz vergessen. Was für ein Junge ist es denn? Wenn er +seiner Mutter ähnlich sieht, muß es ein hübsches Kerlchen sein.« + +»Er ist sehr hübsch«, stimmte Lord Henry bei. + +»Ich hoffe, er wird in die rechten Hände kommen«, fuhr der alte Mann +fort. »Es muß ein Haufen Geld auf ihn warten, wenn Kelso pflichtgemäß an +ihm handelte. Seine Mutter hatte übrigens auch Geld. Der ganze Selbysche +Besitz fiel ihr durch ihren Großvater zu. Ihr Großvater haßte Kelso, +hielt ihn für einen gemeinen Köter. War es übrigens auch. Er kam mal +nach Madrid, als ich dort war. Na, ich mußte mich des Kerls schämen. Die +Königin pflegte mich nach dem englischen Edelmann zu fragen, der sich +immer mit den Kutschern über die Taxe zankte. Man machte einen ganzen +Roman daraus. Ich wagte einen Monat lang nicht, bei Hof zu erscheinen. +Ich hoffe, er hat seinen Enkel besser behandelt als die +Droschkenkutscher.« + +»Darüber weiß ich nichts«, erwiderte Lord Henry. »Ich vermute aber, der +junge Mann wird einmal wohlhabend werden. Er ist noch nicht volljährig. +Selby gehört ihm, das weiß ich. Er hat es mir gesagt. Und... seine +Mutter war also sehr schön?« + +»Margaret Devereux war eines der entzückendsten Geschöpfe, die ich je +gesehen habe, Harry. Was in aller Welt sie dazu getrieben hat, so zu +handeln, habe ich nie verstehen können. Sie hätte jeden Mann heiraten +können, den sie wollte. Carlington war wahnsinnig verschossen in sie. +Aber sie war romantisch veranlagt. Alle Frauen dieser Familie waren so. +Die Männer waren ein trauriges Gesindel, aber beim Himmel! die Weiber +waren wunderbar! Carlington lag vor ihr auf den Knien. Hat's mir selber +gebeichtet. Sie lachte ihn aus, und es gab damals in London kein Mädel, +das nicht hinter ihm hergewesen wäre. Übrigens, Harry, da wir schon über +Mesalliancen reden: was ist das für ein Unsinn, den mir dein Vater von +Dartmoor erzählt, der eine Amerikanerin heiraten will? Sind englische +Mädels für ihn nicht gut genug?« + +»Es ist jetzt Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel Georg.« + +»Ich verteidige die englischen Frauen gegen die ganze Welt, Harry«, +sagte Lord Fermor und schlug mit der Faust auf den Tisch. + +»Man reißt sich um die Amerikanerinnen.« + +»Sie halten sich nicht, hat man mir gesagt«, brummte der Onkel. + +»Ein langes Verlobtsein erschöpft sie, aber für eine Steeplechase sind +sie brillant. Sie sind Flieger. Ich glaube nicht, daß Dartmoor Chance +hat.« + +»Was ist's für eine Familie?« murrte der alte Herr. »Hat sie überhaupt +eine?« + +Lord Henry schüttelte den Kopf. »Amerikanische Mädchen sind ebenso klug, +ihre Eltern zu verbergen, wie englische Frauen im Verbergen ihrer +Vergangenheit«, antwortete er und stand auf, um wegzugehen. + +»Also vermutlich Schweinefleischhändler.« + +»Das hoffe ich, Onkel Georg, in Dartmoors Interesse. Man hat mir gesagt, +mit Schweinefleischbüchsen zu handeln, soll nächst der Politik der +einträglichste Beruf in Amerika sein.« + +»Ist sie hübsch?« + +»Sie benimmt sich so, als wäre sie es. Das tun die meisten +Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihres magnetischen Reizes.« + +»Warum bleiben diese amerikanischen Weiber nicht in ihrem Lande? Sie +sagen doch immer, es sei das Paradies für Frauen.« + +»Das ist es auch. Und das ist auch der Grund, warum sie wie Eva so gern +daraus weg wollen«, sagte Lord Henry. »Adieu, Onkel Georg! Ich komme zu +spät zum Frühstück, wenn ich noch länger bleibe. Danke sehr für die +Auskunft, die du mir gabst. Ich habe immer das Bedürfnis, von meinen +neuen Freunden alles zu hören und möglichst nichts von meinen alten.« + +»Wo wirst du frühstücken, Harry?« + +»Bei Tante Agatha. Ich habe mich mit Herrn Gray dort angesagt. Es ist +ihr neuestes Protektionskind.« + +»Hm! sag' der Tante Agatha, Harry, sie soll mich mit ihrem +Wohltätigkeitskrempel ungeschoren lassen. Ich habe sie bis hierher! Weiß +Gott, das gute Frauenzimmer meint, ich hätte nichts zu tun als Schecks +für ihre langweiligen Vereinsmeiereien auszuschreiben.« + +»Abgemacht, Onkel Georg, ich werde es ihr bestellen, aber es wird nichts +nutzen. Wohltätigkeitsmegären verlieren alle Menschlichkeit. Das ist ihr +hervorstechendstes Merkmal.« + +Der alte Herr brummte zustimmend und klingelte seinem Diener. Lord Henry +schritt durch die niedrigen Arkaden nach Burlington Street und lenkte +dann seine Schritte in die Richtung nach Berkeley Square. + +Das war also die Geschichte von Dorian Grays Eltern. So roh umrissen sie +ihm auch geschildert worden war, sie hatte ihn doch nach Art eines +seltsamen, geradezu modernen Romans erregt. Eine schöne Frau, die alles +für eine wahnsinnige Leidenschaft einsetzt. Ein paar wilde, wonnige +Wochen, jäh abgeschnitten durch ein abscheuliches, heimtückisches +Verbrechen, Monate stummer Todesverzweiflung, und dann ein Kind unter +Schmerzen geboren. Die Mutter vom Tode weggemäht, der Knabe der +Einsamkeit und der Tyrannei eines alten, lieblosen Mannes ausgeliefert. +Ja, das war ein interessanter Hintergrund. Er gab dem jungen Menschen +Relief, machte ihn noch vollkommener. Hinter allem Köstlichen in der +Welt lauert eine geheime Tragödie, Welten müssen in Schwingung sein, +damit die kleinste Blume erblühen kann... Und wie entzückend war er +gestern abend gewesen, als er ihm mit erschreckten Augen, die Lippen in +scheuem Verlangen geöffnet, im Klub gegenüber gesessen und die roten +Kerzenschirme das erwachende Wunder seines Gesichts in einen noch +rosenfarbenen Ton getaucht hatten. Mit ihm sprechen, das war wie auf +einer auserlesenen Geige spielen. Er gab jedem Druck nach, jeder +zitternden Berührung des Bogens... Es lag doch etwas unerhört +Knechtendes darin, auf jemand Einfluß auszuüben. Keine andere Tätigkeit +kam dem gleich. Seine eigene Seele in eine anmutige Form gießen und sie +darin einen Augenblick lang verweilen lassen: seine eigenen +Gedankenakkorde im Echo zurückbekommen, bereichert durch die Musik der +Leidenschaft und Jugend: sein eigenes Temperament in ein anderes +hineinversenken, als wäre es das allerätherischste Fluidum oder ein +seltener Wohlgeruch: darin lag eine wahre Lust -- vielleicht die +allerbefriedigendste Lust, die uns übriggeblieben ist, in einer so +beschränkten und ordinären Zeit wie die unsere, die so derbfleischlich +in ihren Genüssen und so grobzufassend in ihren Begierden ist... Auch +war er ein wundervoller Typus, dieser junge Mensch, den er durch einen +so wunderbaren Zufall in Basils Atelier kennengelernt hatte, oder konnte +jedenfalls zu einem wunderbaren Typus umgemodelt werden. Anmut war ihm +verliehen und die schneeige Reinheit der Jünglingschaft, und eine +Schönheit, wie man sie bei alten griechischen Marmorbildern findet. +Nichts gab es, was sich nicht aus ihm machen ließe. Man konnte einen +Titanen oder ein Spielzeug aus ihm machen. Welch Jammer, daß solche +Schönheit dahinwelken muß... Und Basil? Wie interessant war doch er für +den Psychologen! Diese neue Art von Kunst, diese neue Weise, das Leben +anzuschauen, die ihm auf das seltsamste durch die sichtbare Gegenwart +eines Menschen erweckt wurde, der von alledem nichts wußte: der stille +Geist, der in einer düsteren Waldlandschaft wohnte und ungesehen ins +offene Feld entwandelte, enthüllte sich plötzlich wie eine Dryade, und +ohne Scheu, weil in der Seele, die sehnsüchtig nach ihm suchte, jene +wundersame Vision wach geworden war, der nur die außerordentlichen Dinge +offenbar werden: die bloßen Formen und Linien der Dinge wurden gleichsam +edler und bekamen eine Art von symbolischer Bedeutung, als wären sie +selbst nur Schatten einer anderen und vollendeteren Form, deren Abbilder +sie zur Wirklichkeit erhoben: wie merkwürdig das alles war! Er erinnerte +sich, daß es in der Geschichte irgend etwas Ähnliches gab. War es nicht +Plato, dieser Künstler in der Welt der Gedanken, der es als erster +untersucht hatte? War es nicht Buonarotti, der es in den farbigen Marmor +seiner Sonettreihe gemeißelt hatte? Aber in unserem Jahrhundert war es +etwas Seltenes... Ja, er wollte versuchen, für Dorian Gray das zu sein, +was der Jüngling, ohne es zu wissen, für den Maler war, der das +prächtige Bildnis geschaffen hatte. Er wollte versuchen, in ihm zu +herrschen -- hatte es in Wahrheit schon zum Teil getan. Er wollte diesen +wunderbaren Geist zu seinem eigenen machen. Es war etwas unwiderstehlich +Magnetisches in diesem Abkömmling von Tod und Liebe. + +Plötzlich blieb er stehen und sah an den Häusern hinauf. Er entdeckte, +daß er bereits an dem Hause seiner Tante vorbeigegangen sei, und ging +stillächelnd zurück. Als er in die etwas düstere Halle eintrat, sagte +ihm der Diener, die Herrschaften seien schon beim Frühstück. Er gab +einem Lakai Hut und Stock und ging in den Speisesaal. + +»Spät wie immer, Harry«, rief seine Tante, ihm zunickend. + +Er erfand eine glaubwürdige Entschuldigung, setzte sich auf den leeren +Platz neben sie und sah sich um, zu sehen, wer noch da war. Dorian +begrüßte ihn schüchtern vom Ende des Tisches her, und seine Wangen +wurden vor geheimer Freude rot. Gegenüber saß die Herzogin von Harley, +eine Dame von bewunderungswürdig guter Laune und ebensolchem Charakter, +die jeder gern hatte und deren Körper in jenen erhabenen +architektonischen Maßen aufgebaut war, der von zeitgenössischen +Geschichtsschreibern bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind, als +Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß Sir Thomas Burdon, ein +radikales Parlamentsmitglied, das im öffentlichen Leben seinem +Parteichef Gefolge leistete und im privaten den besten Küchenchefs, der +nach einer weisen und allgemein verbreiteten Lebensregel mit den Tories +dinierte und mit den Liberalen geistig übereinstimmte. Den Platz an +ihrer Linken nahm Herr Erskine of Treadley ein, ein alter prächtiger und +gebildeter Herr, der sich die schlechte Gewohnheit des Schweigens +angeeignet hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte, schon vor +seinem dreißigsten Lebensjahr alles gesagt hatte, was er überhaupt zu +sagen hatte. Seine Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten +Freundinnen seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den Frauen, aber +so geschmacklos verputzt, daß man bei ihrem Anblick immer an ein +schlechtgebundenes Gebetbuch denken mußte. Zu seinem Glück saß an ihrer +anderen Seite Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in den +besten Jahren, der so kahl war wie der Bericht eines Ministers auf eine +Interpellation im Unterhaus, und mit ihm unterhielt sie sich in jenem +intensiv-ernsten Tone, der, wie Lord Henry einmal selbst geäußert hatte, +der eine unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten Menschen +verfallen, und den keiner von ihnen völlig vermeiden kann. + +»Wir sprechen über den bedauernswerten Dartmoor, Henry«, rief die +Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch zunickend. »Glauben Sie, daß er +wirklich die berückende junge Dame heiratet?« + +»Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich fest vorgenommen, um das Jawort +zu bitten.« + +»Wie schrecklich«, rief Lady Agatha. »Dann sollte sich wirklich jemand +ins Mittel legen.« + +»Ich erfahre aus einer ganz vorzüglichen Quelle, daß ihr Vater ein +Kurzwarengeschäft in Amerika hat«, sagte Sir Thomas Burdon mit einem +überlegenen Blicke. + +»Mein Onkel hat behauptet: Schweinefleischlieferant, Sir Thomas.« + +»Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?« fragte die Herzogin und +erhob staunend ihre großen Hände und dabei jede Silbe betonend. + +»Amerikanische Romane«, antwortete Lord Henry und nahm von den Wachteln. + +Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht. + +»Geben Sie nicht acht auf ihn, meine Liebe,« wisperte ihr Lady Agatha +zu, »er meint nie im Ernst, was er sagt.« + +»Als Amerika entdeckt wurde,« sagte der radikale Abgeordnete und ließ +einige langweilige Tatsachen vom Stapel. Wie alle Menschen, die bestrebt +sind, ein Thema zu erschöpfen, erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin +seufzte und benützte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. -- »Wollte Gott, es +wäre überhaupt nicht entdeckt worden«, rief sie aus. »Unsere Töchter +haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr. Das ist geradezu +empörend!« + +»Vielleicht ist Amerika überhaupt nicht entdeckt worden, wenn man's +recht betrachtet«, sagte Herr Erskine. »Ich würde eher sagen, daß es nur +aufgefunden worden ist.« + +»Oh, ich muß aber gestehen, daß ich einige Exemplare seiner +Bewohnerinnen gesehen habe,« antwortete die Herzogin zerstreut, »ich muß +zugeben, die meisten von ihnen sind ausgesprochen hübsch. Und außerdem +ziehen sie sich gut an. Sie beziehen alle ihre Kleider aus Paris. Ich +wollte, ich könnte mir das auch leisten.« + +»Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie nach Paris«, +gluckste Sir Thomas, der eine große Kiste voll abgelegter Scherze sein +eigen nannte. + +»In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?« +fragte die Herzogin. + +»Sie gehen nach Amerika«, murmelte Lord Henry. + +Sir Thomas runzelte die Stirn. »Ich fürchte, Ihr Neffe hat Vorurteile +gegen dieses große Land«, sagte er zu Lady Agatha. »Ich habe es ganz +bereist im Eisenbahnwagen, die mir die Direktionen zur Verfügung +stellten. Man ist da in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich +versichere Ihnen, es ist eine vorzüglich bildende Reise da drüben.« + +»Aber müssen wir wirklich nach Chicago schwimmen, um unsere Bildung zu +vervollständigen?« fragte Herr Erskine wehmütig. »Ich fühle mich +wirklich zu solcher Reise nicht aufgelegt.« + +Sir Thomas winkte mit der Hand. »Herr Erskine of Treadley besitzt die +Welt auf seinen Bücherregalen. Wir Männer des praktischen Lebens lieben +es, die Dinge zu sehen, nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein +außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig +Vernunftmenschen. Ich glaube, das ist ihr Charaktermerkmal. Ja, Herr +Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft beherrschtes Volk. Ich +versichere Ihnen, es gibt bei den Amerikanern keinerlei Unsinn.« + +»Wie schrecklich!« rief Lord Henry aus. »Ich kann rohe Gewalt vertragen, +aber rohe Vernunft ist mir unerträglich. Ich finde immer, daß ihre +Anwendung unbillig ist. Es heißt den Geist unterjochen.« + +»Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Sir Thomas und wurde etwas rot. + +»Ich verstehe Sie, Lord Henry«, murmelte Herr Erskine lächelnd. + +»Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut...«, nahm der +Baronet wieder das Wort. + +»War das ein Paradoxon?« fragte Herr Erskine. »Ich habe es nicht dafür +gehalten. Vielleicht war es eins. Nun, der Weg zur Wahrheit scheint mit +Paradoxen gepflastert zu sein. Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir +sie auf gespanntem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten +werden, können wir sie beurteilen.« + +»Mein großer Gott!« sagte Lady Agatha, »was für eine Art zu diskutieren +habt ihr Männer. Ich verstehe nie ein einziges Wort von eurem Gerede. +Mit dir, Harry, oh! bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren +lieben Herrn Dorian Gray zu überreden, nicht mehr ins East-End zu gehen? +Ich versichere dir, er wäre dort für uns unschätzbar; sein Spiel würde +die Leute ungemein begeistern.« + +»Mir ist es lieber, wenn er für mich spielt«, rief Lord Henry lächelnd, +sah am Tisch hinunter, wo ihn ein fröhlich antwortender Blick traf. + +»Aber sie sind in Whitechapel so unglücklich«, fuhr Lady Agatha wieder +fort. + +»Ich kann mit allem möglichen Mitgefühl haben,« sagte Lord Henry, die +Achseln zuckend, »außer mit Leiden. Damit kann ich keine Sympathie +haben. Es ist zu häßlich, zu schrecklich, zu niederdrückend. In der heut +modernen Sympathie für die Leiden liegt etwas schrecklich Krankhaftes. +Man sollte mit Farben sympathisieren, mit Schönheit, mit Lebensfreude. +Je weniger man über das Elend des Lebens sagt, desto besser.« + +»Aber das East-End ist ein sehr wichtiges Problem«, bemerkte Sir Thomas +mit ernstem Kopfschütteln. + +»Sicherlich«, antwortete der junge Lord. »Es ist das Problem der +Sklaverei, und wir versuchen es derart zu lösen, daß wir die Sklaven +amüsieren.« + +Der Politiker sah ihn mit einem forschenden Blicke an. »Welche Änderung +schlagen Sie also vor?« + +Lord Henry lachte. »Ich habe gar nicht das Verlangen, in England etwas +zu ändern außer dem Wetter«, entgegnete er. »Ich begnüge mich mit +philosophischer Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch +übermäßigen Verbrauch von Sympathie Bankrott geworden ist, möchte ich +vorschlagen, daß man sich an die Wissenschaft hält, damit diese uns +wieder aufrichtet. Der Vorteil der Gefühle liegt darin, daß sie uns in +die Irre führen, und der Vorteil der Wissenschaft darin, daß sie sich +mit Gefühlen nicht abgibt.« + +»Aber auf uns liegen so ernste Verantwortlichkeiten«, warf Frau +Vandeleur schüchtern ein. + +»Entsetzlich schwere«, stimmte Lady Agatha ein. + +Lord Henry sah zu Herrn Erskine hinüber. »Die Menschheit nimmt sich +selber zu ernst. Das ist die Todsünde der Welt. Wenn die Höhlenmenschen +schon hätten lachen können, hätte die Weltgeschichte andere Wege +eingeschlagen.« + +»Ihre Worte klingen sehr tröstlich«, trillerte die Herzogin. »Ich habe +immer eine Art Schuldgefühl gehabt, wenn ich Ihre liebe Tante besuchte, +denn ich nehme nicht das geringste Interesse an East-End. In Zukunft +werde ich ihr ohne zu erröten ins Gesicht sehen können.« + +»Erröten ist ein vorzügliches Schönheitsmittel«, bemerkte Lord Henry. + +»Nur wenn man jung ist«, antwortete sie. »Wenn eine alte Frau wie ich +errötet, ist es ein sehr schlechtes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich +wünschte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird!« + +Er dachte einen Augenblick nach. »Können Sie sich an irgendeinen großen +Fehler erinnern, den Sie in der Jugend begangen haben?« fragte er dann, +sie fest über den Tisch hin ansehend. + +»An eine ganze Menge, fürchte ich!« rief sie aus. + +»Dann begehen Sie sie wieder«, entgegnete er ernst. »Um seine Jugend +zurückzubekommen, braucht man nur seine Torheiten zu wiederholen.« + +»Eine allerliebste Theorie!« rief sie. »Ich muß sie mal in die Praxis +umsetzen.« + +»Eine gefährliche Theorie«, sagte Sir Thomas, seine dünnen Lippen +zusammenkneifend. Lady Agatha schüttelte den Kopf, aber sie amüsierte +sich doch. Herr Erskine lauschte. + +»Ja,« fuhr Henry fort, »das ist eines der großen Lebensgeheimnisse. +Heutzutage sterben die meisten Leute an einer Art von schleichender +Verständigkeit, und erst, wenn es zu spät ist, kommen sie dahinter, daß +die einzigen Dinge, die man niemals bereut, die Torheiten sind.« + +Nun lachte der ganze Tisch. + +Er spielte jetzt mit diesem Einfall nach Willkür; warf ihn in die Luft +und änderte ihn um: ließ ihn entwischen und haschte ihn wieder auf: ließ +ihn phantastisch glitzern und gab ihm Paradoxe als Flügel. Als er +fortfuhr, rundete sich dieser Ruhm der Narretei in ein philosophisches +System und die Philosophie selbst wurde dabei jung und tanzte, begleitet +von der tollen Musik der Lust, in ihrem von Wein befleckten Gewande und +mit Efeu bekränzten Locken, wie eine Bacchantin über die Hügel des +Lebens und neckte den plumpen Silen, weil er nüchtern blieb. Die +Tatsachen flüchteten vor ihr wie das erschreckte Getier des Waldes. Ihre +weißen Füße stampften in der ungefügen Kelter, an der der weise Omar +sitzt, bis der schäumende Traubensaft in purpurblasigen Wellen an ihren +nackten Gliedern aufspritzte oder in rotem Gischt über die dunkeln, +triefenden, gewölbten Seiten der Kufe herabrann. Es war eine ganz +brillante Improvision. Er empfand, daß die Augen Dorian Grays auf ihn +gerichtet waren, und das Bewußtsein, daß es unter seinen Zuhörern einen +gab, dessen Temperament er zu bezaubern wünschte, gab seinem Witz +Würzigkeit und seiner Phantasie Farbe. Er war geistreich, +phantasievoll, unwiderstehlich. Er begeisterte seine Zuhörer dahin, aus +sich heraus zu gehen, und lachend folgten sie seiner Rattenfängerpfeife. +Dorian Gray verwandte seinen Blick nicht von ihm, sondern saß wie unter +einem Zauberbanne da, während ein Lächeln nach dem andern auf seine +Lippen trat und sich das Staunen in seinen dunklen Augen immer mehr +vertiefte. + +Endlich betrat die Wirklichkeit im Kleide des Alltags das Zimmer, und +zwar in Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin meldete, daß ihr Wagen +warte. Sie rang ihre Hände in geschauspielerter Verzweiflung. »Wie +schade!« rief sie aus. »Ich muß fort. Muß meinen Mann im Klub abholen +und mit ihm zu irgendeiner albernen Sitzung bei Willis fahren, wo er +präsidiert. Wenn ich zu spät komme, ist er sicher ärgerlich, und in dem +Hut, den ich aufhabe, könnte ich eine Szene nicht vertragen. Er ist viel +zu gebrechlich dazu. Ein rauhes Wort und er wäre ruiniert. Nein, liebe +Agatha, ich muß fort. Adieu, Lord Henry! Sie sind ein ganz entzückender +Mensch und fürchterlich unmoralisch. Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich +zu Ihren Ansichten sagen soll. Sie müssen mal bei uns zu Abend essen. +Dienstag? Sind Sie Dienstag frei?« + +»Für Sie würde ich jede andere Verabredung im Stich lassen, Frau +Herzogin«, sagte Lord Henry, sich verbeugend. + +»Ah! Das ist sehr nett und sehr abscheulich von Ihnen«, rief sie; +»vergessen Sie also nicht zu kommen«, und sie rauschte aus dem Zimmer, +von Lady Agatha und den anderen Damen begleitet. + +Als sich Lord Henry wieder gesetzt hatte, kam Herr Erskine zu ihm, zog +seinen Stuhl ganz nahe zu ihm hin und legte die Hand auf seinen Arm. + +»Sie reden wie ein Buch«, sagte er; »warum schreiben Sie keins?« + +»Ich lese Bücher viel zu gerne, als daß ich Lust hätte, eins zu +schreiben, Herr Erskine. Gewiß möchte ich manchmal einen Roman +schreiben, der so entzückend und ebenso unwirklich sein müßte wie ein +persischer Teppich. Aber in England gibt es ja kein literarisches +Publikum außer für Zeitungen, Katechismen und Konversationslexika. Von +allen Völkern des Erdballs haben die Engländer den am wenigsten +entwickelten Sinn für die Schönheit der Literatur.« + +»Ich fürchte, Sie haben recht«, antwortete Herr Erskine. »Ich selbst +habe einstmals literarischen Ehrgeiz gehabt, aber ich habe ihn längst +abgelegt. Und nun, mein lieber junger Freund, wenn Sie mir erlauben +wollen, Sie so zu nennen, darf ich Sie fragen, ob Sie wirklich alles im +Ernst meinten, was Sie uns bei Tisch gesagt haben?« + +»Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe«, antwortete Lord Henry +lächelnd. »Es war wohl sehr toll?« + +»Allerdings, sehr toll! Ich glaube wirklich, daß Sie ein äußerst +gefährlicher Mensch sind, und wenn unserer guten Herzogin irgend etwas +zustößt, so werden wir alle Sie in erster Linie dafür verantwortlich +machen. Aber ich würde mit Ihnen gern einmal länger über das Leben +debattieren. Die Generation, in die ich hineingeboren wurde, war sehr +langweilig. Wenn Sie mal londonmüde sind, kommen Sie doch nach Treadley +und setzen Sie mir da Ihre Philosophie des Genusses auseinander bei +einem ganz köstlichen Burgunder, den zu besitzen ich so glücklich bin.« + +»Das wird mir ein großes Vergnügen sein. Ein Besuch in Treadley ist ein +großer Vorzug. Es hat einen vollkommenen Wirt und eine vollkommene +Bibliothek.« + +»Die mit Ihnen vollständig werden wird«, antwortete der alte Herr mit +einer höflichen Verbeugung. »Und jetzt muß ich Ihrer trefflichen Tante +adieu sagen. Ich muß ins Athenäum. Es ist die Stunde, wo wir dort +schlafen.« + +»Sie alle, Herr Erskine?« + +»Vierzig von uns in vierzig Klubsesseln. Wir üben uns für eine Akademie +anglaise.« + +Lord Henry lachte und stand auf. »Ich gehe in den Park!« rief er aus. + +Als er durch den Türrahmen schritt, berührte ihn Dorian Gray am Arm. +»Erlauben Sie mir, mitzukommen«, flüsterte er. + +»Aber ich dachte, Sie haben Basil Hallward versprochen, ihn zu +besuchen«, wandte Lord Henry ein. + +»Ich möchte lieber mit Ihnen gehen; ja ich fühle, ich muß mit Ihnen +mitkommen. Bitte, erlauben Sie es. Und versprechen Sie mir, die ganze +Zeit zu erzählen? Niemand spricht so entzückend wie Sie.« + +»Ah! Ich habe für heute gerade genug geredet«, sagte Lord Henry und +lächelte. »Alles, was ich jetzt möchte, ist, das Leben zu beschauen. Sie +können mitkommen und mitanschauen, wenn Sie wollen.« + + + + +Viertes Kapitel + + +Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian Gray zurückgelehnt in +einem schwellenden Sessel der kleinen Bibliothek in Lord Henrys Hause in +Mayfair. Es war in seiner Art ein allerliebster Raum, bis hoch hinauf +mit olivenfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen +Deckenfries und mit Stuckverzierungen und mit einem ziegelfarbigen +Filzteppich, der in langen Seidenfransen auslief. Auf einem niedlichen +Tischchen aus Satinholz stand eine Figur von Clodion, und daneben lag +eine Ausgabe der Cent Nouvelles, die für Margarete von Valois von Clovis +Eve eingebunden und mit goldenen Gänseblümchen verziert war, wie sie die +Königin auf ihr Wappenzeichen gewählt hatte. Auf dem Kaminsims standen +ein paar große blaue Porzellanvasen mit Papageientulpen, und durch die +schmalen, bleigerahmten Rautenfelder der Fenster drang das +aprikosenfarbene Licht eines Londoner Sommertages. + +Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er kam grundsätzlich zu +spät, da sein Grundsatz war, Pünktlichkeit stehle einem die Zeit. Daher +sah der junge Mann etwas gelangweilt aus, als er mit lässigen Fingern +die Seiten einer reichillustrierten Ausgabe von Manon Lescaut +durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden hatte. Das +abgemessene gleichförmige Ticktack der Louis-Quatorze-Uhr machte ihn +nervös. Ein- oder zweimal machte er schon Miene, wegzugehen. + +Endlich hörte er draußen einen Schritt und die Tür öffnete sich. »Wie +spät du kommst, Harry!« sagte er leisen Vorwurfs. + +»Zu meinem Bedauern ist es nicht Harry, Herr Gray«, antwortete eine +schrille Stimme. + +Er sah sich rasch um und sprang auf die Füße. + +»Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte --« + +»Sie glaubten, es sei mein Mann. Es ist nur seine Frau. Ich muß mich +schon selbst vorstellen. Ich kenne Sie aus Ihren Photographien ganz gut. +Ich glaube, mein Mann hat ihrer siebzehn.« + +»Nicht siebzehn, Lady Henry.« + +»Schön, also achtzehn. Und dann habe ich Sie gestern abend mit ihm in +der Oper gesehen.« Während sie sprach, lachte sie nervös und beobachtete +ihn mit ihren verschwommenen Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine +absonderliche Frau, deren Kleider immer so aussahen, als wären sie in +einem Wutanfall gezeichnet und während eines Gewitters angezogen worden. +Sie war gewöhnlich in irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft +nie erwidert wurde, hatte sie sich alle ihre Illusionen bewahrt. Sie +machte den Versuch, malerisch zu erscheinen, aber es gelang ihr nur, +unordentlich auszusehen. Sie hieß Viktoria und hatte eine krankhafte +Leidenschaft, in die Kirche zu laufen. + +»Das war im Lohengrin, Lady Henry, nicht wahr?« + +»Ja, es war bei dem entzückenden Lohengrin. Ich liebe Wagners Musik mehr +als die irgendeines anderen. Sie ist so laut, daß man sich die ganze +Zeit unterhalten kann, ohne daß die Nachbarn hören, was man sagt. Das +ist ein dankenswerter Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Herr Gray?« + +Über ihre dünnen Lippen kam wieder das nervöse Stakkatolachen, und ihre +Finger begannen mit einem langen Papiermesser aus Schildkrot zu spielen. + +Dorian schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bedaure, Lady Henry, das ist +nicht meine Meinung. Ich unterhalte mich nie, während man spielt -- +wenigstens nicht, wenn es gute Musik ist. Wenn man schlechte Musik hört, +ist man freilich verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu ertränken.« + +»Ah, das ist eine von Harrys Sentenzen, nicht wahr, Herr Gray? Ich +bekomme Harrys Ansichten immer von seinen Freunden zu hören. Das ist die +einzige Art, wie ich sie überhaupt erfahre. Aber Sie dürfen nicht +glauben, daß ich nicht auch gute Musik liebe. Ich vergöttere sie, aber +ich fürchte mich vor ihr. Sie macht mich zu romantisch. Ich habe +Klavierspieler geradezu angebetet -- manchmal zwei auf einmal, +versichert Harry. Ich weiß nicht, was es für eine Bewandtnis mit ihnen +hat. Vielleicht rührt es daher, daß sie Ausländer sind. Das sind sie +doch alle, nicht wahr? Selbst die in England Geborenen werden nach +einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Es ist sehr gescheit von ihnen und +für die Kunst sehr vorteilhaft. Das macht sie zu Kosmopoliten, nicht +wahr? Sie waren nie auf einer meiner Gesellschaften, Herr Gray. Sie +müssen einmal kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber +ich scheue in der Anschaffung von Ausländern keine Ausgabe. Sie geben +dem Hause ein so pittoreskes Aussehen. Aber da ist Harry. -- Harry, ich +kam her, um dich zu suchen, um dich etwas zu fragen -- ich habe ganz +vergessen, was -- und ich habe Herrn Gray hier getroffen. Wir haben so +entzückend über Musik gesprochen. Unsere Ansichten darüber sind die +gleichen. Nein, ich glaube, unsere Ansichten darüber sind ganz +verschieden. Aber er ist ganz allerliebst gewesen. Ich freue mich so +sehr, ihn einmal gesehen zu haben.« + +»Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend«, sagte Lord Henry, seine +dunkeln geschwungenen Brauen hebend und beide mit vergnügtem Lächeln +ansehend. »Es tut mir so leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich +war in Wardour Street, um mir einen alten Brokat anzusehen, und mußte +stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen die Leute den Preis von +jeder Sache und den Wert von keiner.« + +»Ich muß leider gehen!« rief Lady Henry aus und unterbrach ein +verlegenes Schweigen mit ihrem jähen, grundlosen Lachen. »Ich habe +versprochen, mit der Herzogin auszufahren. Adieu, Herr Gray. Adieu, +Harry. Du speist wohl nicht zu Hause, wie? Ich auch nicht, vielleicht +sehe ich dich bei Lady Thornbury.« + +»Höchstwahrscheinlich, meine Liebe«, sagte Lord Henry und schloß die Tür +hinter ihr, als sie gleich einem Paradiesvogel, der die ganze Nacht dem +Regen ausgesetzt gewesen war, aus dem Zimmer hinausflatterte, einen +feinen Jasmingeruch hinterlassend. Harry zündete sich eine Zigarette an +und warf sich auf das Sofa. »Heirate nie eine Frau mit strohgelbem Haar, +Dorian«, sagte er nach einigen Zügen. + +»Warum nicht, Harry?« + +»Weil sie so sentimental sind.« + +»Aber ich habe sentimentale Menschen gern.« + +»Heirate überhaupt nie, Dorian! Männer heiraten, weil sie müde sind; +Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden enttäuscht.« + +»Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Harry. Dazu bin ich zu +verliebt. Das ist einer deiner Aphorismen. Ich setze ihn in die +Wirklichkeit um, wie alles, was du sagst.« + +»In wen bist du verliebt?« fragte Lord Harry nach einer Pause. + +»In eine Schauspielerin«, sagte Dorian Gray errötend. + +Lord Henry zuckte die Achseln. »Ein recht landläufiger Anfang.« + +»Das würdest du nicht sagen, wenn du sie kenntest.« + +»Wer ist's denn?« + +»Sie heißt Sibyl Vane.« + +»Nie von ihr gehört.« + +»Das hat niemand. Aber später einmal wird man von ihr hören. Sie ist ein +Genie.« + +»Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie wäre. Die Frauen +sind ein dekoratives Geschlecht. Sie haben niemals etwas zu sagen, aber +sie sagen es entzückend. Die Frauen bedeuten den Triumph der Materie +über den Geist, wie die Männer den Triumph des Geistes über die +Sittlichkeit.« + +»Harry, wie kannst du?« + +»Mein lieber Dorian, es ist aber wahr. Ich beschäftige mich gerade mit +der Analyse der Frauen, daher muß ich das wissen. Das Thema ist nicht +so verwickelt, wie ich glaubte. Ich finde, daß es schließlich nur zwei +Arten von Frauen gibt, die einfachen und die geschminkten. Die einfachen +Frauen sind sehr nützlich. Wenn du als ehrbarer Mensch gelten willst, +mußt du nur eine von ihnen zu Tisch führen. Die andern Frauen sind zum +Entzücken. Aber sie begehen einen Fehler. Sie schminken sich, um jung +auszusehen. Unsere Großmütter schminkten sich, um geistreich zu +plaudern. Rouge und Esprit gingen Hand in Hand. Das ist jetzt alles +vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre jünger aussehen kann als ihre +Tochter, ist sie gänzlich zufrieden. Was die Konversation betrifft, so +gibt es in ganz London höchstens fünf Frauen, mit denen sich's zu reden +lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft nicht möglich. +Aber genug, erzähl' mir was von deinem Genie! Wie lange kennst du sie?« + +»Ach, Harry, deine Ansichten erschrecken mich!« + +»Mach' dir darum keine Kopfschmerzen. Wie lange kennst du sie also?« + +»Ungefähr drei Wochen.« + +»Und wo hast du die Entdeckung gemacht?« + +»Ich will dir's erzählen, Harry, aber du mußt nicht häßlich darüber +reden. Übrigens wär's gar nicht dazu gekommen, wenn ich dich nicht +kennengelernt hätte. Du hast mich mit einer wilden Begierde, alles im +Leben kennenzulernen, angefüllt. Noch viele Tage, nachdem ich dich +zuerst gesehen hatte, schien in meinen Adern etwas zu rumoren. Wenn ich +im Park spazierte oder Piccadilly hinunterschlenderte, schaute ich jeden +an, der mir entgegenkam, und wollte mit einer tollen Neugierde +herauskriegen, was für eine Art Leben die Leute alle führten. Einige von +ihnen fesselten mich. Andere erfüllten mich mit Schauder. Es schwamm ein +verführerisches Gift in der Luft. Mich hatte eine Leidenschaft nach +Erlebnissen gepackt... Eines Abends also gegen sieben beschloß ich, +mich auf die Suche nach einem Abenteuer zu begeben. Ich hatte solch +Gefühl, daß unser graues, riesenhaftes London mit seinen vielen +Hunderttausenden schmutzigen Sündern und seinen schillernden Sünden, wie +du dich mal ausdrücktest, irgend etwas für mich in Bereitschaft halten +müsse. Ich erfand mir tausenderlei Dinge. Schon die bloße Gefahr +schenkte mir einen gewissen Genuß. Ich erinnerte mich an das, was du mir +sagtest an dem wunderbaren Abend, als wir das erstemal zusammen +speisten: daß nämlich das Suchen nach Schönheit das eigentliche +Geheimnis des Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich +ging drauflos und wanderte nach dem Osten, wo ich meinen Weg bald in +einem Wirrwarr von rußigen Straßen und schwarzen, graslosen Plätzen +verlor. Gegen halb acht kam ich an einem kleinen, schnurrigen Theater +mit großen, flackernden Gasflammen und grellen Plakaten vorbei. Ein +widerlicher Jude, in dem erstaunlichsten Rock, den ich mein Lebtag +gesehen habe, stand an der Tür und paffte eine stänkrige Zigarre. Er +hatte fettige Peies, und ein riesiger Brillant glitzerte auf seiner +schmutzigen Hemdenbrust. >Eine Loge, Herr Baron?< fragte er mich und +nahm seinen Hut mit grandioser Unterwürfigkeit ab. Er hatte etwas an +sich, Harry, was mich belustigte. Er war das reine Monstrum. Du wirst +mich auslachen, ich weiß schon, aber ich trat wirklich ein und erlegte +ein Zwanzigmarkstück für die Proszeniumsloge. Ich kann mir noch heute +nicht erklären, warum ich das tat; und doch -- wenn ich's nicht getan +hätte -- bester Harry, ich wäre um das größte Ereignis meines Lebens +gekommen. Ja, lach du nur. Es ist häßlich von dir.« + +»Ich lache nicht, Dorian, wenigstens nicht über dich. Aber du solltest +es nicht das größte Ereignis deines Lebens nennen. Sage lieber, das +erste Ereignis deines Lebens. Du wirst immer geliebt werden, und du +wirst in die Liebe immer verliebt sein. Die grande Passion ist das +Vorrecht aller Leute, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige +Nutzen, den die Tagediebe eines Landes bringen. Habe keine Angst! +Himmlische Dinge warten noch deiner. Das ist der bloße Anfang.« + +»Hältst du meine Natur für so oberflächlich?« rief Dorian Gray gekränkt. + +»Nein, ich halte sie für so tief.« + +»Wie meinst du das?« + +»Mein lieber Junge, die Leute, die nur einmal im Leben lieben, das sind +in Wirklichkeit die Oberflächlichen. Was sie Anstand und Treue nennen, +nenne ich entweder die Trägheit der Gewohnheit oder Mangel an +Einbildungskraft. Treue ist im Gefühlsleben dasselbe, was Konsequenz im +Geistesleben ist, nichts als das Zugeständnis von Schwäche. Treue! Ich +muß ihren Begriff später mal analysieren. Freude am Besitz liegt darin. +Welche Menge von Dingen würden wir wegwerfen, wenn wir nicht fürchten +müßten, andere könnten sie auflesen. Aber ich möchte dich nicht +unterbrechen. Erzähle weiter.« + +»Ich saß also in einer schauderhaften kleinen Loge, und ein ordinärer +Vorhang starrte mir gerade ins Gesicht. Ich schaute hinter der Gardine +vor und sah mich im Hause um. Es war ein schäbig-elegantes Ding, +gestopft voll mit Amoretten und Füllhörnern, wie auf einem +Hochzeitskuchen billigster Sorte. Galerie und Stehparterre waren +leidlich voll, aber die zwei Reihen schmieriger Fauteuils vorne waren +ganz leer und auf dem Platze, den sie vermutlich ersten Rang +titulierten, saß kaum ein Mensch. Weiber gingen mit Orangen und +Ingwerbier herum, und eine unglaubliche Masse von Nüssen wurde +verknackt.« + +»Es muß ganz wie in der Glanzzeit des britischen Dramas gewesen sein.« + +»Ganz so, vermute ich, und sehr niederdrückend. Ich begann, zu +überlegen, was um Himmels willen ich da anfangen sollte, als mein Blick +auf den Theaterzettel fiel. Was glaubst du, was sie spielten, Harry?« + +»Ich vermute, der >kleine Kretin< oder >Blödsinnig, aber unschuldig<. +Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube ich. Je länger ich lebe, +Dorian, je stärker fühle ich, daß alles, was für unsere Väter gut genug +war, für uns noch lange nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der +Politik ~les grandpères ont toujours tort~.« + +»Das Stück war gut genug für uns, Harry. Es war >Romeo und Julia<. Ich +muß zugeben, daß mich der Gedanke, Shakespeare in einer so elenden +Spelunke zu sehen, ärgerte. Und doch interessierte es mich irgendwie. +Jedenfalls entschloß ich mich, den ersten Akt abzuwarten. Es spielte da +ein schauderöses Orchester, das ein junger Hebräer dirigierte, der an +einem schnarrenden Klavier saß, mich beinah zum Davonlaufen brachte; +aber schließlich ging doch der Vorhang in die Höhe und das Stück fing +an. Romeo war ein hahnebüchener älterer Herr mit dick gemalten Brauen, +einer versoffenen Tragödenstimme und einer Falstaffgestalt wie eine +Biertonne. Mercutio war fast ebenso arg. Er wurde vom Komiker gespielt, +der Mätzchen eigener Improvisation einstreute und in der +verwandtschaftlichsten Beziehung zur Galerie stand. Sie waren beide +genau so grotesk wie die Szenerie, und die sah aus, als käme sie vom +Jahrmarktsrummel. Aber Julia! Harry, stell dir ein Mädchen vor, kaum +siebzehn Jahre alt, mit einem blumenhaften Gesichtchen, einem schmalen +griechischen Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen, wie veilchenblaue +Brunnen heißer Leidenschaft, mit Lippen wie Rosenblätter. Das +entzückendste Geschöpf, das ich je im Leben gesehen habe. Du sagtest mal +zu mir, Pathos ergreife dich nicht, aber Schönheit, keusche Schönheit an +sich, könnte deine Augen wohl mit Tränen füllen. Ich sage dir, Harry, +ich konnte dieses Mädchen kaum sehen, von dem Tränenflor über meinen +Augen. Und ihre Stimme -- ich habe so eine Stimme nie gehört. Zuerst +sehr leise in tiefen, vollen Molltönen, die langsam und jeder für sich +allein ins Ohr zu träufeln schienen. Dann etwas lauter und erklingend +wie eine Flöte oder eine ferne Hoboe. In der Gartenszene hatte sie jene +zitternde Inbrunst, die man hört, wenn die Nachtigallen singen vor Tag +und Tau. Es gab dann Augenblicke, wo ihre Stimme die verhaltene +Leidenschaftsglut von Geigentönen hatte. Du weißt, wie eine Stimme einen +erschüttern kann. Deine Stimme und die Stimme von Sibyl Vane, die beiden +werde ich nie vergessen. Wenn ich meine Augen schließe, höre ich sie, +und jede von ihnen sagt etwas anderes. Ich weiß nicht, welcher ich +folgen soll. Warum sollte ich sie nicht lieben? Harry, ich liebe sie. +Sie ist alles in meinem Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie +spielen zu sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten Imogen. +Ich habe sie im Düster eines italienischen Grabgewölbes sterben sehen, +wie sie das Gift von den Lippen des Geliebten trinkt. Ich bin ihrer +Wanderung durch die Ardennen gefolgt, wie sie als hübscher Knabe mit +Hose, Wams und einem kleinen Barett verkleidet war. Sie war wahnsinnig +und ist vor einen schuldbewußten König hingetreten und ließ ihn Rauten +tragen und bittere Kräuter kosten. Sie war unschuldig, und die schwarzen +Hände der Eifersucht haben ihren zarten Hals zusammengepreßt. Ich habe +sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht gesehen. Gewöhnliche Frauen +sagen unserer Phantasie nichts. Sie sind in ihre Zeit hineingebannt. +Kein Zauber kann sie umwandeln. Man kennt ihren Geist ebenso schnell wie +ihre Güte. Man kennt sie immer heraus. Es gibt kein Geheimnis in ihnen. +Sie reiten morgens in den Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie +haben ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Modemanieren. Aber eine +Schauspielerin! Wie anders solche Schauspielerin! Harry! Warum hast du +mir nicht gesagt, daß nichts geliebt zu werden verdient als eine +Schauspielerin?« + +»Weil ich so viele von ihnen geliebt habe, Dorian.« + +»Oh, gewiß, gräßliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren und geschminkten +Gesichtern.« + +»Schmähe nicht gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter. Es liegt +zuweilen ein ganz besonderer Reiz darin«, sagte Lord Henry. + +»Ich wollte, ich hätte dir nie etwas von Sibyl Vane gesagt.« + +»Du hättest gar nicht anders können, Dorian. Dein ganzes Leben lang +wirst du mir alles sagen, was du tust.« + +»Ja, Harry, ich glaube, es ist so. Ich bin geradezu gezwungen, dir alles +zu sagen. Du hast eine seltsame Macht über mich. Wenn ich je ein +Verbrechen beginge, käme ich gleich zu dir und beichtete es dir. Du +würdest mich verstehen.« + +»Menschen wie du -- die kühnen Sonnenstrahlen des Lebens -- begehen +keine Verbrechen, Dorian. Aber ich danke dir trotzdem für dein +Kompliment. Und nun sag' mir -- bitte gib mir mal die Streichhölzer +herüber; danke -- wie sind deine wirklichen Beziehungen zu Sibyl Vane?« + +Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und blitzenden Augen auf. +»Harry! Sibyl Vane ist mir heilig.« + +»Nur heilige Dinge sind wert, sie anzurühren, Dorian«, sagte Lord Henry +mit einem merkwürdigen pathetischen Ton in seiner Stimme. »Aber warum +fühlst du dich verletzt? Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören. +Wenn man verliebt ist, fängt man immer damit an, sich selbst zu +betrügen, und hört immer damit auf, andere zu betrügen. Das nennt die +Welt eine Liebesgeschichte. Auf jeden Fall denke ich, du kennst sie?« + +»Natürlich kenne ich sie. Schon am ersten Abend im Theater kam der +gräßliche alte Jude nach der Vorstellung in meine Loge und bot mir an, +mich hinter die Kulissen zu führen und ihr vorzustellen. Ich war wütend +und sagte ihm, daß Julia seit Hunderten von Jahren tot sei und daß ihr +Körper in einem Marmorgrabe zu Verona liege. Nach dem bestürzten +Ausdruck in seinem Gesicht vermute ich, daß er glaubte, ich hätte zuviel +Champagner oder Ähnliches getrunken.« + +»Kein Wunder!« + +»Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung schreibe. Ich sagte +ihm, daß ich nicht mal eine lese. Das schien ihn furchtbar zu +enttäuschen, und er vertraute mir an, alle Theaterkritiker hätten sich +gegen ihn verschworen und jeder einzelne von ihnen wäre käuflich.« + +»Es sollte mich nicht wundern, wenn er ganz recht hätte. Andererseits +aber, nach ihrem Aussehen zu schließen, können sie meistens gar nicht +teuer sein.« + +»Einerlei, sie schienen über seine Mittel zu gehen«, sagte Dorian +lachend. »Inzwischen aber wurden die Lichter im Theater ausgedreht und +ich mußte fort. Er bat mich noch, einige Zigarren zu probieren, die er +mir sehr warm empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend ging ich natürlich +wieder hin. Als er mich sah, machte er eine tiefe Verbeugung und +versicherte mir, ich sei ein edelmütiger Kunstmäzen. Er ist eine höchst +abstoßende Kreatur, obwohl er eine außerordentliche Leidenschaft für +Shakespeare hegt. Er erzählte mir mal mit einem Anflug von Stolz, seine +fünf Bankrotte verdanke er nur dem >Barden<; so nannte er nämlich +hartnäckig Shakespeare. Er schien das für ein Verdienst zu halten.« + +»Es ist ein Verdienst, lieber Dorian -- ein großes Verdienst. Die +meisten Leute werden bankrott, weil sie zuviel in der Prosa des Lebens +angelegt haben. Sich mit Poesie ruiniert zu haben, ist eine ehrenvolle +Auszeichnung. Aber wann hast du Fräulein Sibyl Vane zum erstenmal +gesprochen?« + +»Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt. Ich mußte hinter +die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein paar Blumen zugeworfen, und sie hatte +zu mir hingesehen, wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war +beharrlich. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu nehmen, und +so gab ich nach. Es war sonderbar, daß ich sie nicht kennenlernen +wollte, nicht wahr?« + +»Nein, ich glaube nicht.« + +»Warum, lieber Harry?« + +»Ich erkläre dir das ein andermal. Jetzt möchte ich gern von dem Mädchen +hören.« + +»Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und lieb. Sie ist noch fast wie +ein Kind. Ihre Augen öffneten sich in einem allerliebsten Staunen, als +ich ihr sagte, was ich über ihr Spiel dachte, und sie schien sich ihres +eigenen Könnens gar nicht bewußt zu sein. Ich glaube, wir waren beide +recht nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür der staubigen +Garderobe und hielt theatralische Reden über uns beide, während wir uns +wie Kinder anstarrten. Er bestand darauf, mich >Herr Baron< zu nennen, +so daß ich Sibyl versichern mußte, ich sei nichts der Art. Sie sagte in +ganz schlichter Weise zu mir: >Sie sehen mehr wie ein Prinz aus. Ich +will Sie Prinz Märchenschön nennen<.« + +»Mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht es, Schmeicheleien zu +sagen.« + +»Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur wie eine Figur +in einem Theaterstück. Sie weiß gar nichts vom Leben. Sie wohnt bei +ihrer Mutter, einer verblühten, ältlichen Frau, die am ersten Abend in +einer Art türkisch-rotem Schlafrock die Lady Capulet spielte und den +Eindruck machte, als hätte sie bessere Tage gesehen.« + +»Ich kenne diese Art, auszusehen. Sie stimmt mich unbehaglich«, sagte +Lord Henry mit verhaltener Stimme und betrachtete seine Ringe. + +»Der Jude wollte mir ihre Lebensgeschichte erzählen, aber ich bemerkte, +sie interessiere mich nicht.« + +»Da hattest du recht. Die Tragödien anderer Leute haben immer etwas +unglaublich Gewöhnliches an sich.« + +»Sibyl ist das einzige, um das ich mich kümmere. Was geht's mich an, +woher sie stammt? Von ihrem kleinen Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist +sie ein himmlisches Wesen. Jeden Abend, den ich erlebe, gehe ich hin, um +sie spielen zu sehen, und jeden Abend ist sie entzückender.« + +»Ich vermute darin den Grund, weshalb du jetzt nie mehr mit mir zusammen +ißt. Ich dachte mir gleich, daß dahinter irgendeine merkwürdige +Geschichte stecke. Das ist so, aber es ist nicht ganz, was ich +erwartete.« + +»Lieber Harry, wir sind jeden Tag entweder beim Frühstück oder beim +Abendessen zusammen, und ich bin mehrere Male mit dir in der Oper +gewesen«, sagte Dorian und öffnete verwundert seine blauen Augen. + +»Du kommst immer furchtbar spät.« + +»Ja, ich muß hin und Sibyl spielen sehen, und wenn auch nur einen Akt +lang. Ich hungere nach ihrem Anblick, und wenn ich an die himmlische +Seele denke, die in diesem zierlichen Elfenbeinkörper eingeschlossen +ist, packt mich stille Ehrfurcht.« + +»Kannst du heute abend mit mir essen, Dorian?« + +Er schüttelte den Kopf. »Heute abend ist sie Imogen,« antwortete er, +»und morgen abend Julia.« + +»Wann ist sie Sibyl Vane?« + +»Nie!« + +»Da wünsche ich dir Glück.« + +»Wie schrecklich du bist! Sie verkörpert alle die großen Frauengestalten +der Weltgeschichte in sich. Sie ist mehr als ein Geschöpf. Du lachst, +aber ich sage dir, sie ist ein Genie. Ich liebe sie und ich will's +erreichen, daß sie mich auch liebt. Dir sind alle Geheimnisse des Lebens +bekannt, du mußt mir sagen, wie ich Sibyl Vane so bezaubern kann, daß +sie mich liebt. Ich will Romeo eifersüchtig machen. Ich will, daß die +toten Liebhaber der Welt unser Lachen hören und sich grämen. Ich will, +daß unsere strahlende Leidenschaft ihren Staub wieder beleben und ihre +Asche zu Schmerzen auferwecken soll. O Gott, Harry, wie bete ich sie +an!« Er ging, während er sprach, im Zimmer auf und ab. Rote hektische +Flecken brannten auf seinen Wangen. Er war furchtbar erregt. + +Lord Henry betrachtete ihn mit stillem Wohlbehagen. Wie anders war er +jetzt als jener verlegene, schüchterne Knabe, den er in Basil Hallwards +Atelier angetroffen hatte! Seine Natur hatte sich entwickelt wie eine +Blume und trug Blüten von brennendrotem Scharlach. Aus ihrem geheimen +Versteck war seine Seele hervorgekrochen, und die Wollust war ihr auf +halbem Wege entgegengekommen. + +»Und was hast du nun vor?« sagte Lord Henry schließlich. + +»Ich will, du und Basil sollt mich an einem Abend begleiten und sie +spielen sehen. Ich setze nicht die leiseste Besorgnis in die Wirkung. +Ihr werdet zugeben müssen, daß sie Genie hat. Dann müssen wir sie dem +Juden aus den Händen winden. Sie ist noch drei Jahre -- genau zwei Jahre +und acht Monate -- an ihn gebunden. Natürlich werde ich ihm etwas zahlen +müssen. Wenn das alles in Ordnung ist, suche ich mir ein Theater im +Westend und lasse sie dort erst mal richtig auftreten. Sie wird die Welt +ebenso verrückt machen wie mich.« + +»Das wird kaum gehen, lieber Junge.« + +»Ja, sie wird es; denn in ihr ist nicht nur Kunst, vollendetster +Kunstinstinkt, sondern sie hat auch Persönlichkeit; und du selbst hast +mir oft genug gesagt, daß nur Persönlichkeiten, nicht Prinzipien die +Welt beherrschen.« + +»Schön, wann sollen wir also hingehen?« + +»Laß mich mal nachdenken. Heute ist Dienstag. Wollen wir morgen +festsetzen? Morgen spielt sie die Julia.« + +»Abgemacht! Morgen um acht im Bristol. Ich werde Basil mitbringen.« + +»Bitte, nicht um acht Uhr, Harry. Halbsieben. Wir müssen dort sein, ehe +der Vorhang aufgeht. Du mußt sie im ersten Akt bei der Begegnung mit +Romeo sehen.« + +»Halbsieben Uhr! Was für eine Tageszeit! Das wäre ja gerade so, wie ein +Abendbrot am Nachmittag essen oder einen englischen Roman lesen. Vor +sieben Uhr geht's nicht. Kein Gentleman speist vor sieben. Siehst du +Basil bis dahin? Oder soll ich ihm schreiben?« + +»Der liebe Basil! Ich habe mich eine ganze Woche lang nicht um ihn +gekümmert. Das ist sehr häßlich von mir, denn er hat mir mein Porträt in +einem prachtvollen Rahmen, den er selbst entworfen hat, geschickt, und +obwohl ich ein bißchen eifersüchtig auf das Bild bin, weil es einen +ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich doch zugeben, daß es mich ganz +entzückt. Ich bitte, schreib lieber. Ich möchte ihn nicht allein +wiedersehen. Er sagt mir Dinge, die mich verstimmen. Er gibt mir gute +Lehren.« + +Lord Henry lächelte. »Die Menschen haben eine starke Vorliebe, das +wegzuschenken, was sie selber am nötigsten hätten. Ich nenne das den +Chimborasso Freigebigkeit.« + +»Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir doch ein klein +bißchen Philister zu sein. Seit ich dich kenne, Harry, hab' ich das +entdeckt.« + +»Basil, mein lieber Junge, tränkt seine Werke mit allem, was an ihm +entzückend ist. Die Folge ist, daß ihm fürs Leben nichts übrigbleibt als +seine Vorurteile, seine Grundsätze und sein gesunder Menschenverstand. +Alle Künstler, die ich kennengelernt habe, und die persönlich von +Anziehungskraft sind, waren schlechte Künstler. Gute Künstler leben nur +in ihren Schöpfungen und sind daher im Leben vollständig uninteressant. +Ein großer Dichter, ein wirklich großer Dichter ist das unpoetischste +Geschöpf von der Welt. Aber untergeordnete Dichter bezaubern immer. Je +schlechter ihre Reime sind, desto malerischer ist ihr Aussehen. Die +bloße Tatsache, eine Sammlung mittelmäßiger Sonette veröffentlicht zu +haben, macht solchen Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die +Poesie, die er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Poesie, +die sie nicht zu leben wagen.« + +»Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry«, sagte Dorian Gray, +der inzwischen aus einem großen goldgefaßten Flakon auf dem Tische etwas +Parfüm auf sein Taschentuch gegossen hatte. »Es wird wohl sein, wenn du +es sagst. Jetzt aber muß ich fort. Imogen wartet auf mich. Vergiß nicht, +morgen! Adieu!« + +Als er das Zimmer verlassen hatte, schloß Lord Henry die schweren Lider +und begann nachzudenken. Gewiß hatten ihn wenige Menschen bisher so +interessiert wie Dorian Gray, und doch verursachte ihm die wahnsinnige +Leidenschaft des Jünglings für eine andere Person nicht im entferntesten +Ärger oder Eifersucht. Es freute ihn. Dorian wurde dadurch nur noch +interessanter. Die Methoden der Naturwissenschaft hatten ihn immer +entzückt, aber der gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm +kleinlich und belanglos erschienen, und so hatte er begonnen, sich +selbst zu vivisezieren und hatte damit geendet, andere zu vivisezieren. +Das Menschenleben -- das schien ihm der einzige einer Untersuchung werte +Gegenstand. Verglichen damit war alles andere ohne jegliche Bedeutung. +Freilich, wenn man das Leben in dem seltsamen Schmelztiegel des +Schmerzes und der Lust beobachtete, konnte man keine Glasmaske über dem +Gesicht tragen, konnte auch nicht die Schwefeldämpfe abhalten, die einem +das Gehirn verwirrten und die Phantasie mit monströsen Ausgeburten und +mißratenen Träumen umwirbelten. Es gab so feine Gifte, daß man an ihnen +erkrankt sein mußte, um ihre Eigenheiten zu kennen. Es gab so seltsame +Krankheiten, daß man sie durchgemacht haben mußte, um ihre Art zu +begreifen. Und doch, welchen Lohn empfing man dafür! Wie wunderbar +wandelt sich einem dann die ganze Welt! Die merkwürdig strenge Logik der +Leidenschaft und das buntgefärbte Trieb- und Gefühlsleben des Geistes +anzumerken -- zu beobachten, wo sich die beiden Linien schneiden und wo +sie auseinandergehen, in welchem Punkte sie in Eintracht leben und in +welchem sie sich wieder bekriegen -- das ist ein Genuß! Was liegt an dem +Preise dafür! Man kann nie einen zu hohen Preis für ein Sinnenerlebnis +geben. + +Er war sich bewußt -- und dieser Gedanke brachte einen freudigen Glanz +in seine achatbraunen Augen -- daß sich durch gewisse Worte, die er +gesprochen hatte, musikalische Worte in melodischem Tonfall, Dorian +Grays Seele diesem weißen Mädchen zugewendet und sich in Verehrung vor +ihr gebeugt hatte. In hohem Maße war der Jüngling sein Geschöpf. Er +hatte ihn vor der Zeit reifen lassen. Das war schon was. Die +gewöhnlichen Menschen warten, bis ihnen das Leben seine Geheimnisse +aufschließt, aber den wenigen Auserwählten werden die Mysterien des +Daseins enthüllt, bevor der Schleier weggezogen wird. Manchmal ist das +die Wirkung der Kunst, besonders der Dichtung, die ja unmittelbar die +Leidenschaften und den Intellekt behandelt. Ab und zu nimmt aber eine +komplizierte Persönlichkeit diesen Platz ein und übt das Amt der Kunst +aus, ist eigentlich auf ihre Weise ein richtiges Kunstwerk, denn das +Leben schafft ebenso seine vollendeten Meisterwerke wie die Poesie oder +die Bildhauerkunst oder die Malerei. + +Ja, dieser Jüngling war vor der Zeit reich. Er erntete, während er noch +lenzte. Der Puls und die Leidenschaft der Jugend wohnten in ihm, und er +begann, seiner bewußt zu werden. Es war entzückend, ihn zu beobachten. +Mit seinem schönen Angesicht und seiner schönen Seele war er ein Stück +Leben zum Anstaunen. Es lag nichts daran, wie das alles endete, oder +enden sollte. Er glich einer der graziösen Gestalten auf einem Gobelin +oder in einem Schauspiel, deren Freuden von den unseren weit entfernt zu +sein scheinen, aber deren Schmerzen unseren Schönheitssinn erregen und +deren Wunden wie rote Rosen sind. + +Seele und Leib, Leib und Seele -- wie geheimnisvoll das alles ist! +Animalisches ist in der Seele, und der Leib hat seine Augenblicke +geistiger Veredlung. Die Sinne können sich läutern, und der Intellekt +kann sich vergröbern. Wer kann sagen, wo die fleischlichen Triebe +endigen und die seelischen beginnen? Wie flach sind die willkürlichen +Erklärungen der handwerksmäßigen Psychologen! Und doch, wie schwierig +ist die Entscheidung zwischen den Lehren der einzelnen Schulen. Ist die +Seele ein Schatten, der im Hause der Sünde wohnt? Oder ist der Körper +wirklich in der Seele eingeschlossen, wie es sich Giordano Bruno dachte? +Die Trennung von Geist und Stoff ist ein Geheimnis, und die Vereinigung +von Geist und Stoff ist abermals ein Geheimnis. + +Er dachte darüber nach, ob wir je die Psychologie zu einer so exakten +Wissenschaft machen können, daß uns auch das kleinste Triebrädchen des +Lebens offenbar würde. Wie die Dinge heute liegen, begreifen wir uns +selbst nie und die anderen nur selten. Die Erfahrung hat keinerlei +ethische Bedeutung. Sie ist nur das Firmenschild, das die Menschen ihren +Irrtümern anhängen. Die Moralisten haben sie meist als eine Art Warnung +betrachtet, haben für sie eine gewisse ethische Wirksamkeit in der +Bildung der Charaktere beansprucht, haben sie als Mittel gepriesen, das +uns darüber aufklärt, was wir tun und lassen sollen. Aber in der +Erfahrung liegt keine bewegende Kraft. Sie ist ebensowenig eine tätige +Ursache wie das Gewissen. Alles, was sie in Wirklichkeit lehrt, ist, daß +unsere Zukunft ebenso sein wird wie unsere Vergangenheit, und daß wir +die Sünde, die wir dereinst mit Abscheu und Widerwillen begangen haben, +immer und immer wieder und dann mit Genuß wiederholen werden. + +Er war sich darüber klar, daß die Versuchsmethode die einzige sei, durch +die man zu irgendeiner wissenschaftlichen Erklärung der Leidenschaften +kommen könne; und sicher war ihm Dorian Gray ein bequemes Objekt und +schien reiche und wertvolle Erfolge zu versprechen. Seine jähe +sturmartige Liebe zu Sibyl Vane war eine psychologische Tatsache von +großem Interesse. Kein Zweifel, daß die Neugier dabei stark im Spiele +war, Neugier und Lust an neuen Erlebnissen; doch es war keine einfache, +sondern eher eine recht komplizierte Leidenschaft. Was von dem rein +sinnlichen Triebe des Knabenalters in ihr war, das hatte die Mitarbeit +der Phantasie umgebildet, in irgendwas verwandelt, das dem Jüngling +selbst ganz fern von allem Sinnlichen schien und gerade deshalb um so +gefährlicher war. Alle Leidenschaften, über deren Ursprung wir uns +selbst täuschen, üben die stärkste Herrschaft auf uns aus. Unsere +schwächsten Triebkräfte sind die, über deren Natur wir klar sehen. Es +kommt oft vor, daß wir im Denken mit uns selbst Experimente anstellen +und glauben, sie mit anderen zu versuchen. + +Während Lord Henry noch dasaß und über diese Dinge nachgrübelte, wurde +an die Tür geklopft; ein Diener trat ein und erinnerte ihn, daß es Zeit +sei, sich für das Abendessen umzukleiden. Er erhob sich und blickte auf +die Straße hinab. Der Sonnenuntergang hatte die oberen Fenster der +gegenüberliegenden Häuser in ein feuerrotes Gold getaucht. Die Scheiben +glühten wie erhitzte Metallplatten. Der Himmel drüber glich einer +verwelkten Rose. Es erinnerte ihn an das junge, flammenlodernde Leben +seines Freundes, und er fragte sich, wie das alles enden würde. + +Als er dann gegen halb ein Uhr nachts nach Hause kam, fand er im Vorflur +auf dem Tische ein Telegramm liegen. Er öffnete es und sah, daß es von +Dorian Gray war. Es teilte ihm mit, daß er sich mit Sibyl Vane verlobt +habe. + + + + +Fünftes Kapitel + + +»Mutter, Mutter, ich bin so glücklich!« flüsterte das Mädchen und barg +ihr Gesicht im Schoße der verblühten, müde aussehenden Frau, die mit dem +Rücken gegen das grell eindringende Licht in dem einzigen Armstuhl saß, +den ihr armseliges Wohnzimmer enthielt. »Ich bin so glücklich!« +wiederholte sie, »und du wirst auch glücklich sein.« + +Frau Vane zuckte zusammen und legte ihre dünnen, wismutweißen Hände auf +den Kopf ihrer Tochter. »Glücklich!« echote sie, »ich bin nur glücklich, +Sibyl, wenn ich dich spielen sehe. Du darfst an nichts anderes denken +als an deine Rollen. Herr Isaacs ist sehr gut gegen uns gewesen, und wir +sind ihm Geld schuldig.« + +Das Mädchen sah auf und ließ die Lippen hängen. »Geld, Mutter?« rief +sie, »was liegt an Geld? Liebe ist mehr als Geld!« + +»Herr Isaacs hat uns tausend Mark Vorschuß gegeben, damit wir unsere +Schulden zahlen und für James eine anständige Ausrüstung anschaffen +können. Das darfst du nicht vergessen, Sibyl. Tausend Mark sind ein sehr +großer Betrag. Herr Isaacs benahm sich sehr anständig.« + +»Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art, wie er mit mir +spricht«, sagte das Mädchen, stand auf und trat ans Fenster. + +»Ich wüßte nicht, wie wir ohne ihn vorwärts kämen«, entgegnete die alte +Frau weinerlich. + +Sibyl Vane warf den Kopf in den Nacken und lachte: »Wir brauchen ihn +nicht mehr, Mutter, der Prinz Märchenschön bestimmt von jetzt ab über +unser Leben.« Dann schwieg sie. Eine Blutwelle schoß in ihre Wangen und +tauchte sie in ein dunkles Rot. Der rasche Atem öffnete ihre blühenden +Lippen. Sie zitterten. Ein Südwind heißer Leidenschaft durchbrauste sie +und bewegte die glatten Falten ihrer Gewandung. »Ich liebe ihn«, sagte +sie mit einfachem Ausdruck. + +»Närrisches Kind! närrisches Kind!« waren die papageienhaften Worte, die +ihr als Antwort entgegenflogen. Dabei machte die beschwörende Bewegung +ihrer gekrümmten, mit unechten Ringen gezierten Finger diesen Ausruf +noch komischer. + +Das Mädchen lachte wieder. In ihrer Stimme lag etwas wie der Jubel eines +Vogels im Käfig. Ihre Augen fingen die Lachmelodie auf und wiederholten +sie in ihrem Glanze: dann schlossen sie sich einen Augenblick, als +wollten sie ihr Geheimnis verbergen. Als sie sich wieder öffneten, war +der Schimmer eines Traumes über sie dahingegangen. + +Aus dem abgenutzten Stuhl sprach die Weisheit zu ihr mit dünnen Lippen, +mahnte zur Besinnung und gab Ratschläge aus dem Buch der Feigheit, dem +sein Autor irrtümlich den Titel »Gesunder Menschenverstand« beigelegt +hat. Sie hörte nicht hin. Im Kerker ihrer Leidenschaft fühlte sie sich +frei. Ihr Prinz, der Prinz Märchenschön, war bei ihr. Sie hatte das +Gedächtnis beschworen, ihn herbeizuschaffen. Sie hatte ihre Seele auf +die Suche nach ihm geschickt, und die hatte ihn wieder hergebracht. +Sein Kuß brannte wieder auf ihrem Munde. Ihre Lider brannten wieder von +seinem Atem. + +Dann zog die Weisheit andere Register auf und sprach von Erkundigen und +Nachforschen. Es mochte ja sein, daß dieser junge Mann reich sei. Wenn +dem so wäre, dann müßte man ans Heiraten denken. Um die Ohrmuschel des +Mädchens plätscherten die Wellen weltlicher Schlauheit. Die Pfeile der +Weltklugheit schwirrten an ihr vorüber. Sie sah, wie sich die dünnen +Lippen bewegten, und lächelte. + +Plötzlich fühlte sie das Bedürfnis, zu sprechen. Die wortüberfüllte +Schweigsamkeit verwirrte sie. »Mutter, Mutter,« rief sie, »warum liebt +er mich so innig? Ich weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er +so ist, wie die Liebe selbst sein muß. Aber was findet er an mir? Ich +bin seiner nicht wert. Und doch -- ich weiß nicht, warum -- ich fühle +mich wohl tief unter ihm, aber ich fühle mich nicht gering. Stolz bin +ich, schrecklich stolz. Mutter, hast du meinen Vater so geliebt, wie ich +den Prinzen Märchenschön liebe?« + +Die alte Frau wurde bleich unter dem dicken Puder, womit ihre Wangen +beklebt waren, und ihre verwelkten Lippen zitterten in krampfigem +Schmerz. Sibyl stürzte zu ihr hin, schlang ihr ihre Arme um den Hals und +küßte sie. »Verzeih mir, Mutter! Ich weiß, es schmerzt dich, an unseren +Vater zu denken. Aber es schmerzt dich nur, weil du ihn so lieb gehabt +hast. Sieh nicht so traurig drein. Heute bin ich so glücklich, wie du es +warst vor zwanzig Jahren. Ach, könnte ich für immer so glücklich sein!« + +»Mein Kind, du bist viel zu jung, um an eine Liebschaft zu denken. +Zudem, was weißt du von diesem jungen Mann? Du weißt nicht mal seinen +Namen. Die ganze Sache ist höchst unpassend, und wahrhaftig, gerade +jetzt, wo sich James nach Australien rüstet, und ich an so viele Dinge +zu denken habe, da muß ich sagen, du hättest mehr Überlegung zeigen +sollen. Immerhin, wie ich schon sagte, wenn er reich ist...« + +»Ach Mutter, Mutter, laß mich glücklich sein!« + +Frau Vane blickte sie an und schloß sie plötzlich mit einer der unwahren +theatralischen Gesten in die Arme, wie sie den Schauspielern oft zur +zweiten Natur werden. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein +junger Bursche mit struppigem, braunem Haar kam in die Stube. Er war von +untersetzter Gestalt, und seine Hände und Füße waren groß und bewegten +sich etwas ungelenk. Er war nicht so gut erzogen wie seine Schwester. +Man hätte kaum die nahe Verwandtschaft erraten können, die zwischen +beiden bestand. Frau Vane richtete ihre Augen auf ihn, und ihr Lächeln +verstärkte sich. In ihrem Geiste ließ sie ihren Sohn die Rolle des +Publikums spielen. Sie war überzeugt, daß das Tableau interessant war. + +»Du könntest dir wohl ein paar Küsse für mich aufheben, Sibyl«, sagte +der Bursche mit gutmütigem Knurren. + +»Ach, Jim, du machst dir doch gar nichts aus Küssen!« rief sie. »Du bist +ein greulicher alter Bär!« Und sie hüpfte durchs Zimmer zu ihm hin und +umhalste ihn. + +James Vane sah seiner Schwester zärtlich in das Gesicht. »Ich möchte mit +dir spazieren gehen, Sibyl. Ich glaube kaum, daß ich dies schreckliche +London jemals wiedersehe. Ich mache mir auch wirklich nicht im +geringsten was draus.« + +»Mein Sohn, rede doch nicht so schreckliche Dinge«, grollte Frau Vane, +während sie seufzend ein flitteriges Theaterkostüm zur Hand nahm und es +auszubessern begann. Sie fühlte eine kleine Enttäuschung, daß er sich +der Gruppe nicht angeschlossen hatte. Es hätte die malerische Wirkung +der Szene so hübsch erhöht. + +»Warum nicht, Mutter? Ich meine es im Ernst.« + +»Du kränkst mich, mein Sohn. Ich hoffe, daß du von Australien als ein +gemachter Mann zurückkehrst. Ich vermute, es gibt in den Kolonien +sozusagen keine Gesellschaft, wenigstens nichts, was ich Gesellschaft +nenne; wenn du also dein Glück gemacht hast, mußt du zurückkommen und +dich zur Geltung bringen in London.« + +»Gesellschaft«, brummelte der junge Mann. »Will davon nichts wissen. +Möchte nur soviel Geld verdienen, um dich und Sibyl vom Theater +wegzukriegen. Ich hasse es.« + +»O Jim,« sagte Sibyl lachend, »wie unfreundlich von dir! Aber, willst du +wirklich mit mir spazieren gehen? Das ist nett! Ich fürchtete schon, du +wolltest dich bei deinen Freunden verabschieden, bei Tom Hardy, der dir +diese gräßliche Pfeife geschenkt hat, oder bei Nell Langton, der dich +auslacht, weil du sie rauchst. Es ist sehr hübsch von dir, daß du mir +deinen letzten Nachmittag schenkst. Wohin werden wir gehen? Komm, wir +wollen in den Park.« + +»Dazu bin ich zu schäbig angezogen«, antwortete er mit gerunzelter +Stirn. »Nur Elegants gehen in den Park.« + +»Unsinn, Jim«, flüsterte sie, und streichelte seinen Ärmel. + +Er zauderte einen Augenblick. »Schön denn,« sagte er schließlich, »mach' +aber nicht zu lang mit dem Anziehen.« + +Sie tanzte zur Tür hinaus. Man konnte sie singen hören, während sie die +Treppe hinauflief. Ihre kleinen Füße trippelten oben. + +Er ging zwei oder dreimal durch die Stube, dann wandte er sich zu der +schweigsamen Gestalt im Lehnstuhl. + +»Mutter, sind meine Sachen gepackt?« fragte er. + +»Alles fertig, James«, antwortete sie, ohne von ihrer Arbeit +aufzuschauen. Seit einigen Monaten war es ihr unbehaglich, wenn sie mit +ihrem rauhen, finsteren Sohn allein war. Ihre oberflächliche Natur mit +ihrem unterdrückten Geheimnis wurde beunruhigt, wenn sich ihre Augen +trafen. Sie fragte sich, ob er einen Verdacht habe. Sein Schweigen, da +er sonst keine Bemerkungen machte, wurde ihr unerträglich. Sie fing also +zu jammern an. Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade, wie +sie dadurch angreifen, daß sie unvermutet die Waffen strecken. »Ich +hoffe, James, dein Seefahrerleben wird dich befriedigen. Du darfst nie +vergessen, daß es deine eigene Wahl war. Du hättest in das Bureau eines +Anwalts treten können. Anwälte sind eine sehr geachtete Menschenklasse +und werden auf dem Lande oft in den besten Familien eingeladen.« + +»Ich hasse Bureaus und ich hasse Schreiber«, erwiderte er. »Aber du +hast ganz recht, mein Leben habe ich mir selbst gewählt. Alles, was ich +sage, ist: Wache über Sibyl! Laß ihr kein Unglück zustoßen. Mutter, du +mußt über sie wachen!« + +»James, du hast eine merkwürdige Art, zu sprechen. Natürlich wache ich +über sie.« + +»Ich höre, ein Herr kommt jeden Abend ins Theater und geht hinter die +Kulissen und spricht mit ihr. Ist das wahr? Wie verhält sich's damit?« + +»James, du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst. Wir in unserem +Beruf sind gewöhnt, eine Menge wohltuender Aufmerksamkeiten zu +empfangen. Ich selbst habe zu meiner Zeit viel Blumen bekommen. Damals +verstand man noch etwas vom Spielen. Was Sibyl betrifft, so weiß ich im +Augenblick nicht, ob ihre Neigung ernst ist oder nicht. Aber darüber +besteht kein Zweifel, daß der fragliche junge Mann ein vollendeter +Kavalier ist. Er ist immer ausgesucht höflich zu mir. Auch sieht er aus, +als ob er reich wäre, und die Buketts, die er schickt, sind ganz +allerliebst.« + +»Aber du weißt nicht mal seinen Namen«, warf der junge Mann barsch ein. + +»Nein«, antwortete die Mutter mit gelassener Miene. »Er hat uns seinen +wirklichen Namen noch nicht verraten. Ich finde das sehr romantisch von +ihm. Wahrscheinlich ist er ein Herr von Adel.« + +James Vane biß sich auf die Lippen. »Wache über Sibyl!« schrie er. +»Wache über sie!« + +»Mein Sohn, du verletzt mich ungemein. Sibyl steht unablässig unter +meiner besonderen Obhut. Natürlich, falls dieser Herr vermögend ist, +sehe ich den Grund nicht ein, um einer Verbindung mit ihm auszuweichen. +Ich bin fest davon überzeugt, er gehört zur Aristokratie. Er sieht ganz +so aus, muß ich sagen. Es wird eine brillante Partie für Sibyl werden. +Sie würden ein entzückendes Paar abgeben. Seine Schönheit ist wirklich +ganz bedeutend; sie fällt jedem auf.« + +Der junge Mann brummte etwas in sich hinein und trommelte mit seinen +dicken Fingern gegen die Fensterscheibe. Er hatte sich gerade umgewandt, +um etwas zu sagen, als die Tür aufging und Sibyl hereinflitzte. + +»Was macht ihr beide denn für ernste Gesichter!« rief sie aus. »Was +gibt's denn?« + +»Nichts«, antwortete er. »Man muß auch mal ernst sein. Adieu, Mutter; +ich will um fünf essen. Alles ist gepackt bis auf die Hemden; du +brauchst dich also um nichts mehr zu kümmern.« + +»Adieu, mein Sohn«, antwortete sie mit einer Verbeugung gemachter +hoheitsvoller Würde. + +Sie war äußerst gekränkt durch den Ton, den er ihr gegenüber +angeschlagen hatte, und in seinem Blick lag etwas, das ihr Angst +eingeflößt hatte. + +»Gib mir einen Kuß, Mutter«, sagte das Mädchen. Ihre blütengleichen +Lippen berührten die welken Wangen und wärmten ihre Frostigkeit. + +»Mein Kind! Mein Kind!« rief Frau Vane und schaute zur Decke auf, als +suchte sie in ihrer Einbildung eine Galerie. + +»Komm, Sibyl«, sagte ihr Bruder ungeduldig. Er konnte die Attitüden +seiner Mutter nicht ausstehen. + +Sie traten hinaus in den flimmernden, windbewegten Sonnenschein und +schlenderten die trostlose Euston Road hinab. Die Vorübergehenden +blickten verwundert auf den unfreundlichen, schwerfälligen jungen +Menschen in den groben schlechtsitzenden Kleidern, den ein so +liebliches, fein aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem +Gärtnerburschen, der eine Rose trägt. + +Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den forschenden Blick +eines Fremden bemerkte. Er hatte jene Abneigung gegen das +Angestarrtwerden, die Menschen von Geist erst spät im Leben bekommen und +die den Herdenmenschen nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts von der +Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf ihren lächelnden +Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen, und damit sie um so besser +an ihn denken könnte, sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte nur +von dem Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, von dem Gold, das er sicher +finden würde, von der wunderhübschen Millionenerbin, deren Leben er +verruchten rotblusigen Buschräubern entreißen sollte. Denn er würde +nicht Matrose bleiben oder Verfrachter oder was er jetzt fürs erste +werden sollte. O nein! Solch Matrosendasein war schrecklich. Er solle +nur daran denken, in ein schreckliches Schiff hineingepfercht zu sein, +wenn die brüllenden, katzenbuckelnden Wellen immer eindringen wollen und +ein schwarzer Wind die Masten umblase und die Segel in lange, +klatschnasse Streifen zerreiße. Er sollte in Melbourne das Schiff +verlassen, dem Kapitän höflich Lebewohl sagen und sich sofort in die +Goldfelder begeben. Bevor noch eine Woche um sei, werde er auf einen +großen Klumpen puren Goldes stoßen, auf den größten, der je gefunden +worden sei, und werde ihn zur Küste schaffen in einem großen Wagen, den +sechs berittene Polizisten bewachen sollten. Die Buschklepper überfielen +sie dreimal, würden aber nach einem ungeheuren Gemetzel zurückgeschlagen +werden. Oder nein! Er sollte überhaupt nicht in die Goldfelder wandern. +Das sind schreckliche Örter, wo sich die Leute betrinken und einander in +Kneipen totschössen und eine schreckliche Sprache führten. Er sollte ein +friedsamer Viehzüchter werden, und eines Abends, wenn er heimritte, +begegnete er der schönen Erbin, die gerade von einem Räuber auf einem +Rappen entführt würde, und dann setzt er ihm nach und befreit sie. +Natürlich würde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und sie +heirateten dann und kehrten heim und wohnten in einem großen Palais in +London. Ja, entzückende Dinge warteten auf ihn. Aber er müsse auch sehr +brav sein, nie die Geduld verlieren oder sein Geld vergeuden. Sie sei +nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse schon genügend mehr vom Leben. +Er müsse ihr auch zuverlässig an jedem Posttag schreiben und jeden +Abend, wenn er schlafen gehe, beten. Gott sei sehr gut und werde über +ihn wachen. Auch sie werde für ihn beten, und in ein paar Jahren werde +er reich und glücklich nach Hause kommen. + +Der Bursche hörte ihr brummig zu und gab keine Antwort. Ihm tat das Herz +weh, weil er von der Heimat weg mußte. + +Aber es war nicht das allein, was ihn düster und verstimmt sein ließ. So +unerfahren er war, fühlte er doch sehr die Gefahr, die in Sibyls +Stellung lag. Dieser junge Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte es +nicht ehrlich mit ihr meinen. Es war ein vornehmes Herrchen, und das +trug ihm seinen Haß ein, einen Haß, der aus einem sonderbaren +Rasseinstinkt herrührte, von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte +und der ihn gerade deshalb um so stärker beherrschte. Er kannte auch die +Oberflächlichkeit und Eitelkeit seiner Mutter und sah darin ungeheure +Gefahren für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder fangen damit an, ihre Eltern +zu lieben; wenn sie älter werden, sitzen sie über ihnen zu Gericht, +manchmal vergeben sie ihnen auch. + +Seine Mutter! Es brütete in ihm, sie über etwas zu fragen, was er viele +schweigsame Monate hindurch mit sich herumgeschleppt hatte. Ein +zufälliges Wort, das er im Theater aufgeschnappt hatte, ein +hingeflüstertes Scherzwort, das er eines Abends auffing, als er an der +Bühnentür wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken entfesselt. +Die Erinnerung daran schmerzte ihn wie der Hieb einer Reitpeitsche in +sein Gesicht. Seine Brauen kniffen sich in eine tiefe Furche zusammen, +und in schmerzlichem Krampf biß er sich auf die Lippen. + +»Du hörst auch nicht ein einziges Wort, das ich sage, Jim!« rief Sibyl, +»und ich schmiede die entzückendsten Pläne für deine Zukunft. Sag' doch +mal was!« + +»Was soll ich denn sagen?« + +»Oh, daß du ein braver Bursche sein willst und uns nicht vergessen«, +antwortete sie und lächelte ihn an. + +Er zuckte die Schultern. »Es wäre eher möglich, daß du mich vergißt, als +daß ich dich vergesse, Sibyl.« + +Sie errötete. »Wie meinst du das, Jim?« fragte sie. + +»Du hast einen neuen Freund, wie ich höre. Wer ist es? Warum hast du mir +nicht von ihm erzählt? Er meint es nicht gut mit dir.« + +»Hör' auf, Jim«, rief sie aus. »Du darfst nichts gegen ihn sagen. Ich +liebe ihn.« + +»Was, und du weißt nicht mal seinen Namen?« erwiderte er. »Wer ist es? +Ich habe ein Recht, das zu wissen.« + +»Er heißt der Prinz Märchenschön. Gefällt dir der Name nicht? Oh, du +törichtes Jungchen! du solltest ihn nie vergessen. Wenn du ihn nur ein +einzigesmal sähest, müßtest du ihn für den entzückendsten Menschen auf +Erden halten. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen: wenn du von +Australien zurückkommst. Er wird dir sehr gefallen. Allen Menschen +gefällt er, und ich ... ich liebe ihn. Ich wollte, du könntest heute +abend ins Theater kommen. Er wird kommen, und ich spiele die Julia! Oh, +wie ich sie spielen werde! Denk dir, Jim, lieben und die Julia spielen! +Wissen, daß er dasitzt! Zu seiner Freude spielen! Ich fürchte, ich werde +meine Kollegen erschrecken, erschrecken oder hinreißen. Lieben heißt, +hinauswachsen über sich selbst. Der gräßliche Herr Isaacs wird seinen +Kumpanen am Schenktisch zuschreien, ich sei ein Genie. Er hat mich wie +ein Dogma ausposaunt; heute abend wird er mich als Offenbarung +verkündigen. Ich fühle das. Und all das ist sein Werk, nur sein, des +Prinzen Märchenschön, meines wunderbaren Geliebten, meines Musengottes. +Aber ich bin ein armes Ding neben ihm. Arm. Was liegt daran? Schleicht +Armut in ein Haus, fliegt Liebe durchs Fenster hinaus. Unsere +Sprichwörter müssen umgeändert werden. Sie sind im Winter erdacht +worden, und jetzt ist Sommer, für mich freilich Frühling, ein Tanz von +Blüten unter blauem Himmel.« + +»Er ist ein Herr der feinen Gesellschaft«, sagte der Bursche finster. + +»Ein Prinz!« rief sie mit melodischer Stimme. »Was willst du mehr?« + +»Er wird dich zu seiner Sklavin machen.« + +»Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein!« + +»Ich rate dir, dich vor ihm zu hüten.« + +»Ihn sehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm vertrauen!« + +»Sibyl, deine Liebe macht dich verrückt.« + +Sie lachte und nahm seinen Arm. »Du lieber, alter Jim, du sprichst, als +wärest du hundert Jahre alt. Eines schönen Tages wirst du selbst lieben. +Dann wirst du wissen, was das heißt. Guck mich nicht so brummig an. Du +solltest dich freuen in dem Bewußtsein, daß du mich, obwohl du gehst, +glücklicher zurückläßt, als ich je gewesen bin. Das Leben ist bisher +hart für uns gewesen, furchtbar hart und schwer. Aber jetzt wird's +anders. Du gehst in eine neue Welt, und ich habe eine neue gefunden. -- +Da sind zwei Stühle frei, wir wollen uns setzen und die eleganten Leute +Revue passieren lassen.« + +Sie setzten sich mitten in eine Menge von Zuschauern. Die Tulpenbeete +längs des Weges flammten wie beschwörende Feuerglocken. Ein weißer +Dunst wie eine zitternde Wolke von Veilchenpuder hing in der schwülen +Luft. Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten auf und ab wie +Riesenschmetterlinge. + +Sie brachte ihren Bruder dazu, daß er von sich, seinen Aussichten und +seinen Plänen sprach. Er redete zögernd und mühsam. Sie ließen ihre +Worte langsam aufeinanderfolgen, wie sich Spieler ihre Points ansagen. +Sibyl fühlte sich niedergedrückt. Sie konnte ihre Freude nicht +mitteilen. Ein schwaches Lächeln, das seinen vergrämten Mund umspielte, +war die einzige Antwort, die sie erhielt. Nach einiger Zeit verstummten +sie beide. Plötzlich erblickte sie den Schimmer goldenen Haares und +lachende Lippen, und in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei +Damen vorbei. + +Sie sprang auf. »Da ist er!« rief sie. + +»Wer?« fragte Jim Vane. + +»Der Märchenprinz«, antwortete sie, und spähte dem Wagen nach. + +Er sprang auf und faßte rauh ihren Arm. »Zeig' ihn mir. Welcher ist es? +Zeig' ihn mir, ich muß ihn sehen!« rief er. Aber in diesem Augenblick +fuhr der Viererzug des Herzogs von Verwick dazwischen, und als die +Aussicht wieder frei war, hatte der Wagen schon den Park verlassen. + +»Er ist fort«, murmelte Sibyl traurig. »Ich wünschte, du hättest ihn +gesehen.« + +»Ich wünschte es auch, denn so wahr ein Gott im Himmel ist, wenn er dir +je ein Leides antut, bring' ich ihn um!« + +Sie sah ihn erschreckt an. Er wiederholte seine Worte. Sie +durchschnitten die Luft wie ein Dolch. Die Leute ringsherum fingen an, +auf sie hinzustarren. Eine Dame ganz in der Nähe kicherte. + +»Komm fort, Jim; komm fort«, flüsterte sie. Er ging ihr verbissenen +Mundes nach, als sie die Menge durchschritt. Er war zufrieden, daß er +das gesagt hatte. + +Als sie bei der Achillesstatue war, drehte sie sich nach ihm um. In +ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren Lippen zu einem Lachen wurde. Sie +schüttelte den Kopf über ihn. »Du bist verdreht, Jim, völlig verdreht; +ein ungezogener Bubi, sonst nichts. Wie kannst du so was Häßliches +sagen? Du weißt gar nicht, was du zusammensprichst. Du bist einfach +eifersüchtig und unfreundlich. Ach! ich wollte, daß du dich einmal +verliebst. Liebe macht die Menschen gut, und was du gesagt hast, war +schlecht.« + +»Ich bin erst sechzehn,« antwortete er, »aber ich weiß, was ich zu tun +habe. Mutter kann dir nicht helfen. Sie versteht es nicht, dich zu +beschützen. Ich wünschte jetzt, ich ginge überhaupt nicht nach +Australien. Ich hab' nicht übel Lust, die ganze Sache zu lassen. Ich +tät's, wenn mein Vertrag nicht schon unterschrieben wäre.« + +»Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim. Du bist wie einer von den Helden aus +den albernen Melodramen, in denen Mutter so gern gespielt hat. Ich will +mich mit dir nicht streiten. Ich hab' ihn gesehen, und ihn sehen, ist +vollkommenes Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, daß du einem, +den ich liebe, nie etwas antun wirst, nicht?« + +»Solange du ihn liebst, wohl kaum«, war die finstere Antwort. + +»Ich werde ihn immer lieben!« rief sie. + +»Und er?« + +»Auch immer.« + +»Das ist sein Glück!« + +Sie schrak vor ihm zurück. Dann lachte sie und legte die Hand auf seinen +Arm. Er war doch nur ein Junge. + +Am Marble Arch bestiegen sie einen Omnibus, der sie in die Nähe ihrer +armseligen Wohnung in Euston Road brachte. Es war schon fünf Uhr +vorüber, und Sibyl mußte sich noch, bevor sie auftrat, ein paar +Stündchen niederlegen. Jim bestand darauf, daß sie es täte. Er sagte, er +würde lieber von ihr Abschied nehmen, wenn die Mutter nicht dabei wäre. +Sie würde sicher eine Szene machen, und er verabscheue Szenen aller Art. + +Sie nahmen in Sibyls Zimmer Abschied. Im Herzen des jungen Menschen +brannte Eifersucht und ein grimmer, mörderischer Haß auf den Fremden, +der, wie er meinte, zwischen sie getreten war. Als sich aber ihre Arme +um seinen Hals schlangen, und ihre Finger durch sein Haar fuhren, wurde +er sanfter und küßte sie mit wirklicher Zärtlichkeit. Als er +hinunterging, standen Tränen in seinen Augen. + +Die Mutter wartete unten auf ihn. Als er eintrat, murrte sie über seine +Unpünktlichkeit. Er gab keine Antwort, sondern setzte sich an sein +kärgliches Mahl. Die Fliegen summten um den Tisch und krochen über das +fleckige Tischtuch. Durch das Gerassel der Omnibusse und das Rackern der +Droschken konnte er die einförmige Stimme hören, die ihn um jede Minute +beraubte, die ihm noch übrig blieb. + +Nach einer Weile schob er seinen Teller zurück und stützte den Kopf in +die Hände. Er fühlte, daß er ein Recht habe, es zu wissen. Wenn die +Dinge lagen, wie er vermutete, hätte man es ihm längst sagen sollen. +Gepeinigt von Furcht, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte tröpfelten +ihr mechanisch von den Lippen. Ihre Finger zerknüllten ein zerrissenes +Spitzentaschentuch. Als die Uhr sechs schlug, stand er auf und ging zur +Tür. Dann wandte er sich um und sah sie an. Ihre Blicke begegneten sich. +In den ihren las er ein inbrünstiges Bitten um Mitleid. Das machte ihn +erst recht zornig. + +»Mutter, ich muß dich was fragen«, sagte er. Ihre Augen irrten im Zimmer +umher. Sie gab keine Antwort. »Sag' mir die Wahrheit! Ich hab' ein +Recht, es zu erfahren! Warst du mit meinem Vater verheiratet?« + +Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ein Seufzer der +Erleichterung. Der schreckliche Augenblick, der Augenblick, vor dem sie +Tag und Nacht seit Wochen und Monaten gebangt hatte, war endlich +gekommen, und doch empfand sie keine Furcht. Ja, es war für sie +gewissermaßen eine Enttäuschung. Die grobe Unumwundenheit der Frage +heischte eine unumwundene Antwort. Die Situation war nicht langsam +gesteigert worden. Es war roh. Es erinnerte sie an eine mißlungene +Deklamation. + +»Nein«, antwortete sie, erstaunt über die harte Einfachheit des Lebens. + +»Dann war mein Vater ein Schuft!« schrie der Bursche und ballte die +Faust. + +Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß er nicht frei war. Wir haben +uns sehr lieb gehabt. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er für uns +gesorgt. Sage nichts gegen ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein +Gentleman. Er hatte wirklich hohe Verbindungen.« + +Ein Fluch kam über seine Lippen. »Es bekümmert mich nicht meinetwegen,« +rief er, »aber laß Sibyl nicht... Ist es ein Gentleman oder nicht, der +sie liebt, oder so sagt? Mit hohen Verbindungen, vermute ich.« + +Einen Augenblick lang kam ein schreckliches Gefühl der Demütigung über +die Frau. Ihr Kopf sank herab. Mit zitternden Händen wischte sie sich +die Augen. »Sibyl hat eine Mutter,« flüsterte sie, »ich hatte keine.« + +Der junge Mensch war gerührt. Er ging zu ihr hin, beugte sich über sie +und küßte sie. »Es tut mir leid, wenn ich dich mit der Frage nach meinem +Vater verletzt habe,« sagte er, »aber ich konnte nicht anders. Jetzt muß +ich fort. Lebewohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind zu +beschützen hast, und glaube mir, wenn dieser Mann meiner Schwester ein +Leid zufügt, dann bringe ich schon heraus, wer es ist, spüre ihn auf und +schlage ihn tot wie einen Hund. Das schwöre ich dir!« + +Die wahnwitzige Übertreibung seines Schwurs, die leidenschaftlichen +Handbewegungen, die ihn begleiteten, die tollen, melodramatischen Worte +machten der alten Frau das Leben wieder interessanter. Diese Atmosphäre +war ihr vertraut. Sie atmete wie erlöst, und zum erstenmal seit vielen +Monaten bewunderte sie förmlich ihren Sohn. Sie hätte die Szene gern auf +derselben Gefühlshöhe fortgesetzt, aber er brach sie kurz ab. Koffer +mußten heruntergebracht und Decken beschafft werden. Der Hausknecht des +Mietshauses rannte geschäftig hin und her. Mit dem Kutscher wurde der +Preis abgehandelt. So wurde der Augenblick durch gemeine Einzelheiten +verzettelt. Mit einem erneuten Gefühl der Enttäuschung stand sie am +Fenster und ließ das zerrissene Spitzentaschentuch durch die Luft +wimpeln, als ihr Sohn wegfuhr. Es war ihr zumute, als sei eine große +Gelegenheit verpaßt worden. Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte, +wie öde künftig ihr Leben sein werde, da sie jetzt nur ein einziges Kind +zu behüten habe. Diesen Satz hatte sie sich gemerkt. Er hatte ihr +gefallen. Von seinem Schwur sagte sie nichts. Er war lebendig und +dramatisch deklamiert worden. Sie hatte die Empfindung, daß sie alle +eines Tages darüber lachen würden. + + + + +Sechstes Kapitel + + +»Du hast doch schon die letzte Neuigkeit gehört, Basil?« sagte Lord +Henry am selben Abend, als Hallward in das kleine Separatzimmer im +Bristol trat, wo für drei Personen zum Essen gedeckt war. + +»Nein, Harry«, antwortete der Künstler, während er Hut und Rock dem +dienernden Kellner gab. »Was ist es? Nichts über Politik, hoffe ich. Die +interessiert mich nicht. Im ganzen Unterhause gibts keinen einzigen +Menschen, den man malen möchte; wenn auch einigen von ihnen zur +Aufbesserung etwas Firnis nicht schaden könnte.« + +»Dorian Gray hat sich verlobt«, sagte Lord Henry und beobachtete ihn, +während er sprach. + +Hallward fuhr zurück und runzelte sofort die Stirn. »Dorian verlobt!« +rief er. »Unmöglich!« + +»Es ist wahrhaftig wahr.« + +»Mit wem?« + +»Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin.« + +»Ich kann's nicht glauben. Dorian ist viel zu verständig.« + +»Dorian ist viel zu klug, um nicht von Zeit zu Zeit verrückte Sachen zu +begehen, lieber Basil.« + +»Heiraten ist kaum eine Sache, die man von Zeit zu Zeit tun kann, +Harry.« + +»Außer in Amerika«, erwiderte Lord Henry nachlässig. »Aber ich habe ja +nicht gesagt, daß er verheiratet sei. Ich sagte, er sei verlobt. Das ist +ein großer Unterschied. Ich erinnere mich ganz deutlich, verheiratet zu +sein, aber ich kann mich nicht erinnern, verlobt gewesen zu sein. Ich +glaube fast, daß ich mich nie verlobt habe.« + +»Aber überlege doch Dorians Geburt, seine Stellung, sein Vermögen. Es +wäre sinnlos, wenn er so tief unter seinem Stande heiraten würde.« + +»Wenn du willst, daß er dies Mädchen heiratet, so brauchst du ihm das +nur zu sagen, Basil. Dann tut er's gewiß. Wenn ein Mann etwas auserlesen +Dummes tut, tut er's immer aus den edelsten Beweggründen.« + +»Ich hoffe, es ist ein gutes Mädchen, Harry. Ich möchte Dorian nicht an +irgendein gewöhnliches Wesen gefesselt sehen, das ihn herabzieht und +seinen Geist verdirbt.« + +»Oh, sie ist mehr als gut -- sie ist schön«, sagte Lord Henry und nippte +an einem Glas Wermut mit Pomeranzen. »Dorian sagt, sie ist schön, und in +Dingen dieser Art irrt er nicht häufig. Sein Bild von ihm hat sein +Urteil über die äußere Erscheinung anderer Menschen geschärft. Es hat +unter anderem diesen glänzenden Erfolg gezeigt. Wir sollen sie heute +abend sehen, wenn der Junge seine Abmachung nicht vergißt.« + +»Ist das dein Ernst?« + +»Vollständig, Basil. Es würde schlimm für mich sein, wenn ich je im +Leben ernsthafter sein müßte als jetzt.« + +»Aber billigst du es denn, Harry?« fragte der Maler, der im Zimmer auf +und ab ging und sich auf die Lippen biß. »Du kannst es doch ganz +unmöglich billigen. Es ist eine törichte Verblendung.« + +»Ich billige oder mißbillige nie wieder etwas. Sowas bringt einen in +eine ganz verrückte Stellungnahme zum Leben. Wir sind nicht in die Welt +geschickt worden, um unsere moralischen Vorurteile glänzen zu lassen. +Ich nehme nie Notiz von dem, was gewöhnliche Leute sagen, und ich mische +mich nie in Dinge, die reizende Leute vorhaben. Wenn mich eine +Persönlichkeit fesselt, dann ist jede Ausdrucksform, die sich diese +Persönlichkeit aussucht, für mich erfreulich. Dorian Gray verliebt sich +in ein schönes Mädchen, das die Julia spielt, und will sie heiraten. +Warum nicht? Wenn er Messalina heiraten wollte, würde er nicht weniger +interessant sein. Du weißt, ich bin kein Eheapostel. Der eigentliche +Nachteil der Ehe ist, daß man selbstlos wird. Und selbstlose Menschen +sind farblos. Sie werden unpersönlich. Jedoch gibt es gewisse +Temperamente, die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten ihren +Egoismus und erweitern ihn durch eine Reihe anderer Ichs. Sie sehen sich +gezwungen, mehr als ein einzelnes Leben zu führen. Sie werden feiner +organisiert, und feiner organisiert zu werden, scheint mir der Zweck des +menschlichen Lebens. Überdies hat jede Erfahrung ihren Wert, und was man +auch gegen die Ehe sagen kann, eine Erfahrung ist sie sicher. Ich hoffe, +Dorian Gray wird dies Mädchen heiraten, wird sie sechs Monate hindurch +leidenschaftlich anbeten, und dann wird ihn plötzlich eine andere +anziehen. Es wäre prachtvoll, das zu beobachten.« + +»Du glaubst kein einziges Wort von alledem, Harry; und das weißt du +auch. Wenn Dorian Grays Leben zerstört würde, wäre kein Mensch trauriger +als du. Du bist viel besser, als du vorgibst.« + +Lord Henry lachte. »Der Grund, weshalb wir alle so gut von anderen +denken, ist der, daß wir alle Angst vor uns selber haben. Die Grundlage +des Optimismus ist nichts als Furcht. Wir halten uns für großherzig, +weil wir unserem Nachbar Tugenden zuschreiben, aus denen für uns ein +Nutzen erwachsen könnte. Wir rühmen den Bankier, damit wir unser Konto +überschreiten können, und finden im Buschklepper gute Eigenschaften in +der Hoffnung, daß er unseren Geldbeutel verschonen wird. Ich glaube +jedes Wort, das ich gesprochen habe. Ich habe die größte Verachtung für +den Optimismus. Was das zerstörte Leben betrifft, so ist kein Leben +zerstört, dessen Wachstum nicht gehemmt wird. Wenn man eine +Persönlichkeit verderben will, braucht man sie nur zu verbessern. Die +Ehe allerdings ist eine Narretei, aber es gibt andere und interessantere +Bande zwischen Mann und Frau. Natürlich würde ich dazu eher raten. Sie +haben den Reiz, fashionabel zu sein. Aber da ist Dorian selbst. Er wird +dir mehr sagen, als ich es kann.« + +»Lieber Harry, lieber Basil, ihr müßt mir beide Glück wünschen«, sagte +der Jüngling, während er den Abendmantel mit den atlasgefütterten +Flügeln abwarf und den Freunden die Hand schüttelte. »Ich war niemals so +selig. Natürlich ist alles plötzlich gekommen; alles Entzückende kommt +plötzlich. Und doch scheint es das einzige gewesen zu sein, wonach ich +mein Leben lang auf der Suche war.« Er glühte vor Aufregung und Freude +und sah außerordentlich hübsch aus. + +»Ich hoffe, du wirst immer sehr glücklich sein, Dorian,« sagte Hallward, +»aber ich kann es dir nicht ganz verzeihen, daß du mir deine Verlobung +nicht mitgeteilt hast. Harry hast du es mitgeteilt.« + +»Und ich kann es dir nicht verzeihen, daß du zu spät kommst«, fiel Lord +Henry lächelnd ein und legte seine Hand auf die Schulter des jungen +Mannes. »Komm, wir wollen uns setzen und versuchen, was der neue Chef +hier kann, und dann erzählst du uns, wie alles gekommen ist.« + +»Da ist wirklich nicht viel zu erzählen!« rief Dorian, als sie sich um +den kleinen Tisch gesetzt hatten. »Was geschah, war einfach so. Als ich +dich gestern abend verließ, Harry, zog ich mich an, aß in dem kleinen +italienischen Restaurant in Rupert Street, das ich durch dich +kennengelernt habe, und ging um acht Uhr ins Theater. Sibyl spielte die +Rosalinde. Natürlich war die Dekoration greulich und der Orlando zum +Lachen. Aber Sibyl! Ihr hättet sie sehen sollen. Als sie in ihren +Knabenkleidern auftrat, war sie einfach wunderbar. Sie trug ein +moosgrünes Samtwams mit zimtbraunen Ärmeln, eine kurze, braune, überm +Knie kreuzweise geschnürte Hose, ein reizendes grünes Barett mit einer +Falkenfeder, die von einem funkelnden Stein gehalten wurde, und war in +einen dunkelrot gefütterten Kapuzenmantel gehüllt. Sie war mir nie +schöner vorgekommen. Sie hatte all die zarte Grazie der Tanagrafigur, +die du in deinem Atelier hast, Basil. Das Haar schlang sich um ihr +Gesicht wie dunkles Laub um eine blasse Rose. Und ihr Spiel -- nun, ihr +werdet sie heute abend sehen. Sie ist eben eine geborene Künstlerin. Ich +saß ganz verzaubert in der schmierigen Loge. Ich vergaß, daß ich in +London war und im neunzehnten Jahrhundert lebte. Ich war mit meiner +Geliebten weit fort in einem Wald, den noch kein Menschenauge gesehen +hatte. Nach der Vorstellung ging ich hinter die Bühne und sprach mit +ihr. Als wir nebeneinander saßen, trat plötzlich ein Ausdruck in ihre +Augen, den ich nie vorher gesehen hatte. Meine Lippen fühlten sich zu +ihr hingezogen. Wir küßten uns beide. Ich kann euch nicht beschreiben, +was ich in dem Augenblick gefühlt habe. Mir schien, daß all mein Leben +in einen vollkommenen Moment rosenfarbiger Wonne zusammengepreßt wäre. +Sie zitterte am ganzen Leibe und bebte wie eine weiße Narzisse. Dann +warf sie sich auf die Knie und küßte meine Hände. Ich weiß, ich sollte +euch das alles nicht erzählen, aber ich kann mir nicht helfen. Natürlich +ist unsere Verlobung tiefstes Geheimnis. Sie hat nicht einmal zu ihrer +Mutter davon gesprochen. Ich weiß nicht, was meine Vormünder dazu sagen +werden. Lord Radley wird sicher wütend sein. Ist mir ganz gleich. In +weniger als einem Jahre bin ich volljährig und kann dann machen, was ich +will. Hatte ich nicht recht, Basil, meine Geliebte aus dem Reich der +Dichtung wegzuholen und meine Frau in Shakespeares Stücken zu finden? +Lippen, die Shakespeare reden gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis ins +Ohr geflüstert. Rosalindens Arme lagen um meinen Hals, und ich habe +Julia auf den Mund geküßt.« + +»Ja, Dorian, ich glaube, du tatest recht«, sagte Hallward langsam. + +»Hast du sie heute schon gesehen?« fragte Lord Henry. + +Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Ich verließ sie im Ardennenwald und +werde sie in einem Garten von Verona wiederfinden.« + +Lord Henry schlürfte nachdenklich seinen Champagner. »In welchem +Augenblick hast du von Heirat gesprochen, Dorian? Und was erwiderte sie +darauf? Vielleicht hast du das schon ganz vergessen.« + +»Lieber Harry, ich habe es nicht als Geschäft behandelt und habe ihr +keinen förmlichen Antrag gemacht. Ich sagte ihr, daß ich sie liebe, und +sie sagte, sie verdiene nicht, mein Weib zu sein. Nicht verdienen! Was +ist denn die ganze Welt für mich, wenn ich sie mit ihr vergleiche!« + +»Die Frauen sind wunderbar praktisch,« murmelte Lord Henry -- »viel +praktischer als wir. In Situationen dieser Art vergessen wir oft, etwas +von Heirat zu erwähnen, und sie erinnern uns immer daran.« + +Hallward legte die Hand auf seinen Arm. »Nicht doch, Harry. Du kränkst +Dorian. Er ist nicht wie andere Männer. Er würde nie jemand unglücklich +machen. Seine Natur ist dafür zu edel.« + +Lord Henry blickte über den Tisch. »Dorian fühlt sich nie gekränkt durch +mich«, antwortete er. »Ich habe aus dem besten Grund gefragt, den es +geben kann, aus dem einzigen Grund, der eine Entschuldigung für eine +Frage ist -- einfach aus Neugier. Ich habe eine Theorie, wonach es immer +Frauen sind, die uns einen Antrag machen, und nicht wir den Frauen. +Natürlich ausgenommen die Mittelklassen. Aber die Mittelklassen sind +eben nicht modern.« + +Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. »Du bist ganz +unverbesserlich, Harry; aber ich bin nicht böse. Man kann dir ja gar +nicht böse sein. Wenn du Sibyl Vane siehst, wirst du fühlen, daß der +Mann, der ihr ein Leid antun kann, ein Tier sein muß, ein herzloses +Tier. Ich kann nicht begreifen, wie man es über sich gewinnen kann, ein +Wesen, das man liebt, in Schande zu bringen. Ich liebe Sibyl Vane. Ich +möchte sie auf einen goldenen Sockel stellen und dann sehen, wie die +ganze Welt das Weib anbetet, das mir gehört. Was ist Ehe? Ein +unwiderrufliches Gelübde. Du spottest deshalb darüber. Ach, spotte +nicht! Ein unwiderrufliches Gelübde will ich ablegen. Ihr Vertrauen +macht mich treu, ihr Glaube macht mich gut. Wenn ich bei ihr bin, +verleugne ich alles, was du mich gelehrt hast. Ich werde ein ganz +anderer Mensch als der, den du in mir siehst. Ich bin verwandelt, und +die bloße Berührung von Sibyl Vanes Hand läßt mich alle deine falschen, +bezaubernden, vergifteten, entzückenden Theorien vergessen.« + +»Und die wären?« fragte Lord Henry, während er Salat nahm. + +»Oh, deine Theorien über das Leben, deine Theorien über die Liebe, deine +Theorien über den Genuß. Tatsächlich alle deine Theorien, Harry.« + +»Genuß ist das einzige auf der Welt, das eine Theorie verdient«, +antwortete er mit seiner sanften, musikalischen Stimme. »Aber ich +fürchte, es ist nicht meine eigene Theorie. Sie gehört der Natur, nicht +mir. Genuß ist das Siegel der Natur, das Zeichen ihrer Zustimmung. Wenn +wir glücklich sind, dann sind wir immer gut, aber wenn wir gut sind, +sind wir nicht immer glücklich.« + +»Ah, doch, was verstehst du unter gut?« rief Basil Hallward. + +»Ja,« wiederholte Dorian, indem er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und +über den massigen Strauß rotblutiger Schwertlilien in der Mitte des +Tisches zu Lord Henry blickte, »was verstehst du unter gut, Harry?« + +»Gut sein, heißt mit sich selbst im Einklang sein«, antwortete er, den +dünnen Stengel seines Glases mit blassen, feingespitzten Fingern +umfassend. »Mißklang heißt es, mit anderen übereinstimmen müssen. Das +eigene Leben -- das ist es, worauf es ankommt. Was das Leben unserer +Nachbarn betrifft, nun, wenn man durchaus ein Affe oder ein Puritaner +sein will, dann mag man ihnen ja seine moralischen Ansichten ins Gesicht +schleudern, aber sie gehen einen schließlich gar nichts an. Abgesehen +davon, hat der Individualismus in der Tat die höheren Ziele. Die moderne +Sittlichkeit besteht darin, daß man den Maßstab seiner Zeit anerkennt. +Ich habe die Meinung, daß jeder kultivierte Mensch, der den Maßstab +seiner Zeit anerkennt, damit eines der gröbsten Sittlichkeitsverbrechen +begeht.« + +»Wenn man aber nur für sich selbst lebt, Harry, muß man da nicht einen +furchtbaren Preis dafür zahlen?« fragte der Maler. + +»Ja, heutzutage werden wir in allem überteuert. Ich glaube, die +wirkliche Tragödie der Armut ist die, daß sich die Armen nichts leisten +können als Selbstverleugnung. Schöne Sünden sind wie alle schönen Dinge +ein Vorrecht der begüterten Klassen.« + +»Man muß in anderer Münze zahlen als mit Geld.« + +»In welcher Münze, Basil?« + +»Ich meine mit Gewissensbissen, mit Schmerzen, mit... na eben mit dem +Gefühl der Erniedrigung.« + +Lord Henry zuckte die Achseln. »Mein lieber Junge, die mittelalterliche +Kunst ist etwas Entzückendes, aber mittelalterliche Gefühle sind nicht +mehr Mode. Man kann sie freilich in der Dichtung gebrauchen. Aber die +einzigen Dinge, die in Dichtungen zu verwerten sind, sind solche, um die +man sich in der Wirklichkeit nicht mehr kümmert. Glaube mir, kein +zivilisierter Mensch bereut einen durchlebten Genuß, und kein +unzivilisierter Mensch weiß, was ein Genuß ist.« + +»Ich weiß, was ein Genuß ist!« rief Dorian Gray. »Jemand anbeten.« + +»Das ist jedenfalls besser, als angebetet zu werden«, antwortete Harry, +während er mit einigen Früchten spielte. »Angebetet zu werden, ist +peinlich. Die Weiber behandeln uns genau so wie die Menschheit ihre +Götter. Sie beten uns an und quälen uns unaufhörlich, irgendwas für sie +zu tun.« + +»Ich würde sagen, alles, was sie von uns verlangen, haben sie uns zuerst +geschenkt«, sagte der Jüngling ernst und leise. »Sie erzeugen die Liebe +in uns. Sie haben ein Recht, sie dann zurückzuverlangen.« + +»Das ist ganz richtig, Dorian«, rief Hallward. + +»Ganz richtig ist niemals etwas«, sagte Lord Henry. + +»Das ist es«, unterbrach Dorian. »Du mußt zugeben, Harry, daß nur die +Frauen den Männern das reinste Gold des Lebens schenken.« + +»Vielleicht,« seufzte er, »aber unweigerlich verlangen sie es dann in +Kleingeld umgewechselt zurück. Das ist der Jammer dabei. >Die Frauen,< +hat einmal ein witziger Franzose gesagt, >regen uns an, Meisterwerke zu +schaffen, und verhindern uns immer, sie auszuführen.<« + +»Harry, du bist schrecklich! Ich weiß gar nicht, warum ich dich so gern +habe.« + +»Du wirst mich immer gern haben, Dorian«, antwortete er. »Wollen wir +Kaffee trinken, Kinder? -- Kellner, bringen Sie Kaffee, fine Champagne +und Zigaretten. Nein, lassen Sie die Zigaretten, ich habe selbst bei +mir. Basil, ich kann dir nicht erlauben, Zigarren zu rauchen. Du mußt +eine Zigarette nehmen. Eine Zigarette ist der vollendete Ausdruck eines +vollendeten Genusses. Er ist köstlich und läßt dabei unbefriedigt. Was +will man mehr verlangen? Ja, Dorian, du wirst mich immer lieb haben. Ich +bin für dich der Inbegriff aller Sünden, die du zu begehen nie den Mut +haben wirst.« + +»Was für Unsinn du redest, Harry!« rief der junge Mann, während er seine +Zigarette an dem feuerspeienden Silberdrachen anzündete, den der Kellner +auf den Tisch gestellt hatte. »Wir wollen jetzt ins Theater. Wenn Sibyl +auftritt, werdet ihr ein neues Lebensideal bekommen. Sie wird euch etwas +offenbaren, das ihr noch nicht gekannt habt.« + +»Ich habe alles kennengelernt,« sagte Lord Henry mit einem müden +Ausdruck in den Augen, »aber ich bin immer bereit, mir eine neue Emotion +zu verschaffen. Nur fürchte ich, daß es für mich derlei kaum noch gibt. +Immerhin, dein wunderbares Mädchen wird mich vielleicht erschüttern. Ich +liebe die Schauspielkunst. Sie ist soviel wirklicher als das Leben. Wir +wollen gehen. Dorian, du kannst bei mir einsteigen. Basil, es tut mir +leid, aber in meinem Brougham ist nur Platz für zwei. Du mußt schon in +einer Droschke nachfahren.« + +Sie standen auf, zogen ihre Röcke an und tranken den Kaffee im Stehen. +Der Maler war schweigsam und bedrückt. Ein düsteres Gefühl lastete auf +ihm. Er konnte diese Ehe nicht gutheißen, und sie schien ihm doch besser +zu sein als manches andere, das hätte geschehen können. Nach einigen +Minuten gingen sie gemeinsam die Treppe hinunter. Er fuhr, wie +verabredet, allein, und sah auf die blitzenden Lichter des kleinen +Wagens, der vor ihm dahinrollte. Das seltsame Gefühl eines großen +Verlustes überkam ihn. Er fühlte, daß Dorian Gray nie wieder das für ihn +sein würde, was er ihm früher gewesen war. Das Leben war zwischen sie +getreten... Vor seinen Augen ward es dunkel, und die menschenvollen, +erleuchteten Straßen verschwammen vor seinem Blick. Als seine Droschke +am Theater vorfuhr, schien es ihm, als sei er um viele Jahre älter +geworden. + + + + +Siebentes Kapitel + + +Aus irgendeinem Grunde war das Haus an diesem Abend besonders dicht +gefüllt, und der fette jüdische Direktor, der sie an der Tür empfing, +strahlte von einem Ohr zum anderen in einem öligen, zuckenden Lächeln. +Er begleitete sie zu ihrer Loge mit einer gewissen prahlerischen Demut, +die feisten, juwelenbedeckten Hände hastig bewegend und sich mit der +Stimme beinahe überschlagend. Dorian verabscheute ihn mehr als je. Er +hatte das Gefühl, als sei er gekommen, um Miranda zu besuchen und +Caliban habe ihn empfangen. Dagegen hatte Lord Henry etwas für ihn +übrig. Wenigstens erklärte er, daß er ihm gefiele, bestand darauf, ihm +die Hand zu schütteln und versicherte ihm, er sei stolz darauf, einen +Mann kennenzulernen, der ein bedeutendes Genie entdeckt habe und an +einem Dichter bankerott geworden sei. Hallward unterhielt sich damit, +die Gestalten im Stehparterre zu beobachten. Die Hitze war äußerst +drückend, und der riesige Sonnenkronleuchter flammte wie eine +gigantische Dahlie mit Blättern von gelbem Feuer. Die jungen Leute auf +der Galerie hatten Röcke und Westen ausgezogen und sie über die Brüstung +gehängt. Sie riefen einander quer über das ganze Theater zu und +fütterten die grell gekleideten Mädchen neben ihnen mit Orangen. Ein +paar Weiber unten im Stehparterre lachten. Ihre Stimmen waren +schrecklich schrill und unangenehm. Vom Büfett her hörte man Flaschen +entkorken. + +»Was für ein sonderbarer Platz, um seine Göttin zu finden!« sagte Lord +Henry. + +»Ja«, erwiderte Dorian Gray. »Hier habe ich sie gefunden, und sie ist +göttlicher als alles Lebendige. Wenn sie spielt, wirst du alles +vergessen. Diese gewöhnlichen rohen Leute mit ihren alltäglichen +Gesichtern und brutalen Bewegungen werden ganz verwandelt, sobald sie +auf der Bühne steht. Sie sitzen stumm da und beobachten sie. Sie weinen +und lachen, wenn sie es will. Sie hält sie in Stimmung, wie man es mit +einer Geige tut. Sie veredelt sie, und man spürt, daß sie vom selben +Fleisch und Blut sind wie man selbst.« + +»Vom selben Fleisch und Blut wie man selbst? Oh, ich hoffe nicht!« rief +Lord Henry, der die Leute auf der Galerie mit seinem Opernglas musterte. + +»Höre nicht auf ihn, Dorian!« sagte der Maler. »Ich begreife, was du +meinst, und ich glaube an dies Mädchen. Der Mensch, den du liebst, muß +wunderbar sein, und jedes Mädchen, das die von dir geschilderte Wirkung +erzielt, muß fein und edel sein. Seine Mitmenschen veredeln -- das +verlohnt der Mühe. Wenn dies Mädchen die beseelen kann, die seelenlos +gelebt haben, wenn sie in Menschen, deren Dasein schmutzig und häßlich +war, einen Sinn für Schönheit wecken kann, wenn sie sie aus ihrem +Eigennutze losreißen und ihnen Tränen um Sorgen entlocken kann, die +nicht ihre eigenen sind, dann ist sie deiner Verehrung wert, dann ist +sie der Verehrung der ganzen Welt wert. Solche Heirat ist ganz das +Rechte. Ich dachte zuerst nicht so, aber jetzt gebe ich es zu. Die +Götter haben Sibyl Vane für dich geschaffen. Ohne sie wärst du nur +unvollständig gewesen.« + +»Danke, Basil«, antwortete Dorian Gray und drückte ihm die Hand. »Ich +wußte, daß du mich verstehst. Harry ist ein Zyniker, er erschreckt mich. +Aber da kommt das Orchester. Es ist furchtbar, aber es dauert nur knappe +fünf Minuten. Dann geht der Vorhang auf und du erblickst ein Mädchen, +dem ich mein ganzes Leben schenken will, dem ich alles überantwortet +habe, was gut ist in mir.« + +Eine Viertelstunde später betrat Sibyl Vane unter einem geräuschvollen +Beifallssturm die Bühne. Ja, sie war wirklich entzückend -- eins der +entzückendsten Geschöpfe, dachte Lord Henry, die er je gesehen hatte. Es +lag etwas von einem Reh in ihrer scheuen Grazie und ihren erstaunten +Augen. Ein schwaches Erröten wie der Widerschein einer Rose in einem +silbernen Spiegel trat auf ihre Wangen, als sie das überfüllte und +begeisterte Haus erblickte. Sie trat ein paar Schritte zurück, und ihre +Lippen schienen zu zittern. Basil Hallward sprang auf und begann zu +klatschen. Bewegungslos, und wie in tiefem Traume, saß Dorian Gray da +und sah sie an. Lord Henry starrte unverwandt durch sein Glas und +murmelte: »Entzückend! Entzückend!« + +Die Szene stellte die Halle in Capulets Hause dar, und Romeo war in +seinem Pilgerkleid mit Mercutio und seinen anderen Freunden aufgetreten. +Die Musik präludierte, so gut sie konnte, mit ein paar Akkorden, und der +Tanz fing an. Mitten in dem Gewimmel von ungeschickten, schäbig +gekleideten Schauspielern bewegte sich Sibyl Vane wie ein Geschöpf aus +einer höheren Welt. Ihr Körper schwebte im Tanze wie eine Blume auf dem +Wasser. Die Linien ihres Halses glichen denen einer weißen Lilie. Ihre +Hände schienen aus kühlem Elfenbein zu sein. + +Und doch schien sie von seltsamer Abwesenheit. Sie zeigte kein Zeichen +der Freude, während ihr Auge auf Romeo ruhte. Die wenigen Worte, die sie +zu sprechen hatte -- + + Nein, Pilger, lege nichts der Hand zuschulden + Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß; + Der Heiligen Rechte darf Berührung dulden, + Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuß -- + +mit dem kurzen Dialog, der folgt, sprach sie in einem ganz gekünstelten +Tone. Die Stimme klang wundervoll, aber der Ton ganz verfehlt. Er traf +die Stimmungsfarbe nicht. Er nahm den Versen alles Leben. Er machte die +Leidenschaft unwahr. + +Dorian Gray erbleichte, als er es hörte. Er war verlegen und erschreckt. +Seine beiden Freunde wagten nicht, ihm etwas zu sagen. Sie schien ja +ganz talentlos zu sein. Sie waren furchtbar enttäuscht. + +Aber sie wußten, daß der wahre Prüfstein für jede Julia die Balkonszene +im zweiten Akt sei. Darauf warteten sie. Wenn sie hier versagte, war +nichts an ihr. + +Sie sah reizend aus, als sie im Mondschein auftrat. Das konnte niemand +leugnen. Aber das Theatralische ihres Spiels war unerträglich und wurde +im Verlauf immer ärger. Ihre Gesten waren lächerlich gekünstelt. Sie +übertrieb das Pathos von allem, was sie zu sagen hatte. Die wundervollen +Verse -- + + Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht, + Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen + Um das, was du vorhin mich sagen hörtest -- + +deklamierte sie mit der peinlichen Genauigkeit eines Schulmädchens, das +einen mittelmäßigen Vortragslehrer in der Schule gehabt hat. Als sie +sich über den Balkon lehnte und zu den herrlichen Versen kam -- + + Obwohl ich dein mich freue, + Freu' ich mich nicht des Bundes dieser Nacht: + Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich, + Gleicht allzusehr dem Blitz, der schon vorbei, + Noch eh' man sagen kann: es blitzt. -- Schlaf süß! + Mag warmer Sommerhauch die Liebesknospe + Zur Blume bis zum Wiedersehn entfalten -- + +sprach sie die Worte, als enthielten sie keinerlei Sinn für sie. Es war +nicht Aufregung. Nein, weit entfernt davon, erregt zu sein, schien sie +ganz mit sich zufrieden. Es war einfach schlechte Kunst. Es war ein +richtiger Abfall. + +Selbst das gewöhnliche, ungebildete Publikum auf Stehplatz und Galerie +verlor sein Interesse am Stück. Man wurde unruhig und begann laut zu +sprechen und zu zischen. Der jüdische Direktor, der im Hintergrunde des +ersten Ranges stand, stampfte mit den Füßen und fluchte vor Wut. Einzig +und allein unbewegt war das Mädchen selbst. + +Als der zweite Akt vorüber war, brach ein Sturm von Zischen los, und +Lord Henry stand von seinem Stuhl auf und zog seinen Rock an. »Sie ist +wunderschön, Dorian,« sagte er, »aber sie kann nicht spielen. Wir wollen +gehen.« + +»Ich will das Stück zu Ende sehen«, antwortete der junge Mann mit +harter, bitterer Stimme. »Es tut mir äußerst leid, daß ich dich +veranlaßt habe, einen Abend zu vergeuden, Harry. Ich muß mich bei euch +beiden entschuldigen.« + +»Mein lieber Dorian, ich glaube, Miß Vane war krank«, unterbrach ihn +Hallward. »Wir wollen an einem anderen Abend wiederkommen.« + +»Ich wünschte, sie wäre krank«, erwiderte er. »Aber ich glaube, sie hat +nur kein Gefühl und ist kalt. Sie ist völlig verändert. Gestern abend +war sie eine große Künstlerin. Heute abend ist sie nur eine gewöhnliche, +mittelmäßige Schauspielerin.« + +»Sprich nicht so über jemand, den du liebst, Dorian. Liebe ist etwas +viel Wunderbareres als Kunst.« + +»Es sind beides nur Formen der Nachahmung«, bemerkte Lord Henry. »Aber +wir wollen gehen. Dorian, du darfst nicht länger hier bleiben. Es +schadet der Moral, schlechte Schauspielkunst zu sehen. Ich glaube +übrigens nicht, daß du deine Frau auftreten lassen wirst. Was liegt also +daran, ob sie die Julia wie eine Holzpuppe spielt! Sie ist wirklich +bezaubernd, und wenn sie so wenig vom Leben weiß wie vom Theaterspielen, +wird sie dir eine köstliche Erfahrung sein. Es gibt nur zwei Arten +fesselnder Menschen -- solche, die alles wissen, und solche, die gar +nichts wissen. Großer Gott, mein lieber Junge, mach' kein so tragisches +Gesicht! Das Rezept, jung zu bleiben, besteht einfach darin, nie eine +Erregung haben, die unzuträglich ist. Komm mit Basil und mir in den +Klub! Wir wollen Zigaretten rauchen und auf Sibyl Vanes Schönheit +trinken. Sie ist schön. Was willst du noch mehr?« + +»Geh, Harry!« rief der Jüngling. »Ich will allein sein. Basil, geh! Ach, +könnt ihr nicht sehen, daß mir das Herz bricht?« Heiße Tränen traten ihm +in die Augen. Seine Lippen bebten, er drückte sich in die dunkelste Ecke +der Loge, lehnte sich an die Wand und verbarg sein Gesicht in den +Händen. + +»Komm, Basil«, sagte Lord Henry mit seltsam zärtlicher Stimme; und die +beiden jungen Männer gingen zusammen hinaus. + +Ein paar Augenblicke später flammte die Rampe wieder auf, und der +Vorhang rauschte zum dritten Akt in die Höhe. Dorian Gray ging auf +seinen Platz zurück. Er sah bleich, abwesend, gleichgültig aus. Das +Spiel schleppte sich weiter und schien endlos zu sein. Die Hälfte des +Publikums ging weg, auf schweren Stiefeln trampelnd und lachend. Das +Ganze war ein richtiges Fiasko. Der letzte Akt wurde beinah vor leeren +Bänken gespielt. Der Vorhang fiel unter Zischen und höhnischem Gegrunze. + +Sobald es aus war, stürzte Dorian Gray hinter die Kulissen in die +Garderobe. Das Mädchen stand allein da, mit einem triumphierenden Zuge +im Antlitz. Die Augen leuchteten in einem merkwürdigen Feuer. Eine Art +Glanz umschwebte sie. Ihre halbgeöffneten Lippen lächelten wie ein +Geheimnis, das ihnen allein bewußt war. + +Als er eintrat, blickte sie ihn an und ein Ausdruck unsäglichen Glückes +kam über sie. »Wie schlecht ich heute gespielt habe, Dorian!« rief sie. + +»Schrecklich«, antwortete er und sah sie voll Staunen an -- +»schrecklich. Es war geradezu fürchterlich. Bist du krank? Du hast keine +Ahnung, wie es war. Keine Ahnung, was ich durchgemacht habe.« + +Das Mädchen lächelte. »Dorian«, antwortete sie und zog seinen Namen mit +einem musikalischen Klang in die Länge, als wäre er den roten Blüten +ihres Mundes süßer als Honig -- »Dorian, du hättest begreifen sollen. +Aber jetzt begreifst du, nicht wahr?« + +»Was?« fragte er heftig. + +»Warum ich heute abend so schlecht spielte. Warum ich immer schlecht +spielen werde. Warum ich nie mehr gut spielen werde.« + +Er zuckte die Achseln. »Du bist gewiß krank. Wenn du krank bist, +solltest du nicht spielen. Du machst dich nur lächerlich. Meine Freunde +haben sich gelangweilt. Ich ebenfalls.« + +Sie schien nicht zu hören, was er sagte. Sie war wie verklärt vor +Vergnügen. Eine Ekstase des Glücks beherrschte sie. + +»Dorian, Dorian,« rief sie, »bevor ich dich kannte, war Spielen die +einzige Wirklichkeit in meinem Leben. Nur im Theater lebte ich. Ich +hielt das alles für wahr. An einem Abend war ich Rosalinde und Portia am +andern. Beatrices Glück war mein Glück, und Kordelias Tränen waren die +meinen. Ich glaubte an alles. Dies gewöhnliche Volk, das mit mir +spielte, schien mir göttlich. Die bemalten Kulissen bedeuteten für mich +die Welt. Ich kannte nichts als Schatten, und ich nahm sie für +Wirklichkeit. Da kamst du -- o mein schöner Geliebter -- und befreitest +meine Seele aus der Kerkerhaft. Du hast mich gelehrt, was die wahre +Wirklichkeit ist. Heute habe ich zum erstenmal die ganze Hohlheit +durchschaut, den Betrug, die Albernheit des falschen, verlogenen +Flittertandes, zwischen dem ich bisher gespielt habe. Heute abend wußte +ich zum ersten Male, daß dieser Romeo abscheulich und alt und geschminkt +ist, daß der Mond im Garten Blendwerk, die ganze Szenerie ordinär ist +und daß die Worte, die ich zu sprechen hatte, nicht wahr, nicht meine +Worte sind, nicht, was ich hätte sagen müssen. Du hast mir etwas Höheres +geschenkt, etwas, von dem alle Kunst nur Abglanz ist. Du hast mich +begreifen gelehrt, was Liebe ist. Mein Geliebter! Mein Geliebter! Prinz +Märchenschön! Prinz meines Lebens! Ich kann die Schatten nicht mehr +ertragen. Du bist mir mehr, als mir alle Kunst je sein kann. Was hab' +ich mit den Puppen eines Spiels zu schaffen? Als ich heute abend +auftrat, konnte ich nicht begreifen, wie es gekommen war, daß alles +verschwunden sein sollte. Ich hatte gedacht, ich würde wundervoll sein. +Ich merkte, daß ich durchaus versagte. Plötzlich dämmerte es meiner +Seele, was das alles bedeutete. Es war ein herrliches Wissen. Ich hörte +sie zischen und lächelte. Was konnten die wissen von einer Liebe wie die +unsere? Nimm mich fort, Dorian -- nimm mich mit dir irgendwohin, wo wir +allein sein können. Ich hasse das Theater. Ich konnte vielleicht ein +Gefühl darstellen, das ich nicht spüre, aber ich kann doch nicht eins +spielen, das mich verbrennt wie Feuer. Ach, Dorian, Dorian, begreifst du +jetzt, was das bedeutet? Selbst wenn ich es zustande brächte, wär' es +Entweihung, zu spielen, während ich liebe. Du hast mich sehend gemacht.« + +Er warf sich auf das Sofa und wandte sein Gesicht ab. »Du hast meine +Liebe getötet«, murmelte er. + +Sie sah ihn staunend an und lachte. Er gab keine Antwort. Sie kam hin zu +ihm und strich mit ihren kleinen Fingern durch sein Haar. Sie kniete +nieder und preßte seine Hände an ihre Lippen. Er schob sie weg, und ein +Schauder überlief ihn. + +Dann sprang er auf und schritt zur Tür. »Ja,« rief er, »du hast meine +Liebe getötet. Bisher hast du meine Phantasie gefesselt. Jetzt fesselst +du nicht einmal meine Neugier. Du wirkst einfach nicht. Ich liebte dich, +weil du ein Wunder warst, weil du Genie und Geist hattest, weil du die +Träume großer Dichter verkörpertest und den Schatten der Kunst Gestalt +und Körper verliehest. All das hast du weggeworfen. Jetzt bist du leer +und seicht. Mein Gott. Was für ein Narr war ich, dich zu lieben! Wie +verblendet war ich! Jetzt bist du mir nichts mehr. Ich will dich niemals +wiedersehen. Nie mehr an dich denken. Nie mehr deinen Namen aussprechen. +Du weißt nicht, was du mir einmal warst. Ja, einmal, einmal... Oh, ich +ertrage es nicht, daran zu denken. Ich wünschte, ich hätte dich niemals +gesehen. Du hast die Poesie meines Lebens vernichtet. Wie wenig mußt du +von Liebe wissen, wenn du sagst, sie lähme deine Kunst! Ohne deine Kunst +bist du nichts. Ich hätte dich berühmt gemacht, zu einem Sterne, zu +etwas Herrlichem. Die Welt hätte dich angebetet, und du hättest meinen +Namen getragen. Was bist du jetzt? Eine Schauspielerin dritten Ranges +mit einem hübschen Gesichtchen.« + +Das Mädchen war totenblaß geworden und zitterte. Sie preßte die Hände +zusammen, und die Sprache schien ihr in der Kehle erstickt zu sein. »Du +meinst es doch nicht im Ernst, Dorian?« flüsterte sie. »Du verstellst +dich nur.« + +»Verstellen? Das überlaß ich dir. Du verstehst es ja so gut«, entgegnete +er bitter. + +Sie erhob sich von den Knien und ging mit einem wehen, qualvollen +Antlitz zu ihm hin. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und sah ihm in +die Augen. Er stieß sie zurück. »Berühre mich nicht!« schrie er. + +Ein leises Stöhnen brach aus ihr hervor, und sie warf sich ihm zu Füßen +und lag da wie eine zertretene Blume. »Dorian, Dorian, geh nicht fort +von mir!« rief sie leise. »Ich bin so betrübt, daß ich nicht gut +gespielt habe. Ich dachte nur immer an dich. Aber ich will es wieder +versuchen -- wirklich, ich will es versuchen. Es kam so jäh über mich, +die Liebe zu dir. Ich glaube, ich hätte nie etwas von ihr gewußt, wenn +du mich nicht geküßt hättest -- wenn wir uns nicht geküßt hätten. Küß +mich wieder, Geliebter! Geh nicht von mir! Ich könnte es nicht +überleben. Oh, verlaß mich nicht! Mein Bruder... nein, nichts darüber. +Er meinte es nicht im Ernst. Er scherzte nur... Aber du, oh! Kannst du +mir nie den heutigen Abend verzeihen? Ich werde so fleißig sein und mir +Mühe geben, besser zu werden. Sei nicht grausam gegen mich, weil ich +dich mehr liebe als alles in der Welt. Es ist doch nur ein einziges Mal, +wo ich dir mißfallen habe. Aber du hast ganz recht, Dorian. Ich hätte +mich mehr als Künstlerin zeigen sollen. Es war närrisch von mir; und +doch konnte ich nicht anders. Ach, verlaß mich nicht, verlaß mich +nicht.« Leidenschaftliches Schluchzen erschütterte sie. Sie kauerte sich +nieder wie ein wundes Tier, und Dorian Gray sah mit seinen schönen Augen +zu ihr herab, und seine feingeschnittenen Lippen kräuselten sich in +tiefster Verachtung. Die Gefühlsregungen von Menschen, die man nicht +mehr liebt, haben immer etwas Lächerliches an sich. Sibyl Vane schien +ihm überspannt melodramatisch zu sein. Ihre Tränen und ihr Schluchzen +langweilten ihn nur. + +»Ich gehe«, sagte er schließlich mit seiner klaren, ruhigen Stimme. »Ich +möchte nicht hart sein, aber ich kann dich nicht mehr sehen. Du hast +mich enttäuscht.« + +Sie weinte still weiter und sagte nichts, sondern kroch näher. Ihre +kleinen Hände streckten sich ins Leere hinaus und schienen ihn zu +suchen. Er wandte sich stehenden Fußes herum und verließ das Zimmer. +Wenige Augenblicke später hatte er das Theater hinter sich. + +Wohin er ging, wußte er selber kaum. Er erinnerte sich, durch schwach +beleuchtete Gassen gewandert, an traurigen, in schwarze Schatten +getauchten Türbogen und elend aussehenden Häusern vorbeigekommen zu +sein, Weiber mit heiseren Stimmen und schrillem Lachen hatten hinter ihm +her gerufen. Betrunkene waren fluchend und mit sich selber sprechend, +wie Riesenaffen, an ihm vorbeigetaumelt. Er hatte putzige Kinder auf den +Stufen kauern sehen und Schreien und Schimpfen aus düsteren Höfen +gehört. + +Als der Morgen graute, fand er sich dicht bei Covent Garden. Die +Dunkelheit schwand, die Luft rötete sich in blaßrotem Feuer, und der +Himmel wölbte sich zu einer vollendeten Perle. Mächtige Wagen voll +nickender Lilien rumpelten langsam die gerade, leere Straße hinab. Die +Luft war schwer vom Dufte der Blumen, und die Schönheit schien seinem +Schmerz Linderung zu bringen. Er trat in die Markthalle und sah den +Männern zu, die ihre Wagen ausluden. Ein Fuhrmann in weißem Kittel bot +ihm von seinen Kirschen an. Er dankte ihm, wunderte sich, warum er kein +Geld dafür annehmen wollte, und begann zerstreut davon zu essen. Sie +waren um Mitternacht gepflückt worden, und sie hatten die Kühle des +Mondes in sich. Burschen in langer Reihe schleppten Körbe voll +gestreifter Tulpen und von gelben und roten Rosen herbei, trotteten an +ihm vorbei, als sie sich ihren Weg durch die großen, gelblichgrünen +Gemüsestapel suchten. Unter den grauen, in der Sonne bleichen Säulen der +Vorhalle lungerte ein Trupp von schmuddeligen Mädchen ohne Hüte und +warteten, bis die Versteigerung vorbei war. Andere drängten sich um die +auf- und zugehenden Türen des Kaffeehauses auf der Piazza. Die schweren +Lastgäule glitten auf dem Pflaster aus und stampften über die holperigen +Steine, ihre Glocken und Geschirre schüttelnd. Einige Fuhrmänner lagen +schlafend auf einem Haufen von Säcken. Mit regenbogenfarbenen Hälsen und +rötlichen Füßen trippelten die Tauben mitten darin umher und pickten +sich Körner auf. + +Nach einer Weile rief er sich eine Droschke und fuhr nach Hause. Ein +paar Augenblicke blieb er zögernd auf der Schwelle stehen, blickte über +den schweigenden Platz und auf die Häuser mit den blanken, geschlossenen +Fenstern und den hellen Gardinen. Der Himmel war jetzt ein wirklicher +Opal, und die Dächer der Häuser glitzerten ihm wie Silber entgegen. Von +einem Schornstein gegenüber stieg eine dünne Rauchsäule in die Höhe. Sie +schlängelte sich wie ein violettes Band durch die perlmutterfarbene +Luft. + +In der großen venezianischen Goldlaterne, einer Beute von der Barke +irgendeines Dogen, die von der Decke der großen eichengetäfelten +Vorhalle herabhing, brannten noch drei flackernde Gaslichter: wie dünne +blaue Feuerblüten, von weißen Flammen umsäumt. Er drehte sie aus, warf +Hut und Mantel auf den Tisch und ging durch die Bibliothek zur Tür +seines Schlafzimmers. Das war ein großer, achteckiger Raum zu ebener +Erde, den er in seinem neu erwachten Gefühl für Luxus erst unlängst +einrichten und mit einigen schnurrigen Renaissancegobelins hatte +bespannen lassen, die er in einer nicht mehr gebrauchten Dachkammer in +Selby Royal entdeckt hatte. Als er eben nach der Klinke griff, fiel sein +Blick auf das Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Erstaunt +schrak er zurück. Dann ging er in sein Zimmer und sah nachdenklich und +betroffen aus. Nachdem er die Blume aus seinem Knopfloch genommen hatte, +schien er zu zögern. Schließlich ging er zurück, trat vor das Bild und +musterte es. In dem unbestimmten, gedämpften Licht, das durch die +mattgelblichen Seidenvorhänge drang, schien ihm das Gesicht ein wenig +verändert. Der Ausdruck war anders. Man hätte sagen können, daß ein +grausamer Zug um den Mund läge. Es war wirklich seltsam. + +Er drehte sich um, ging zum Fenster und zog den Vorhang auf. Der helle +Morgen flutete durch das Zimmer und fegte die phantastischen Schatten in +düstere Winkel, wo sie zitternd liegenblieben. Aber der seltsame +Ausdruck, den er im Gesicht des Bildes bemerkt hatte, schien nicht nur +dazubleiben, sondern sich noch verstärkt zu haben. Das heiße, zitternde +Sonnenlicht zeigte ihm den grausamen Zug um den Mund so deutlich, als +sähe er sich in einem Spiegel, nachdem er etwas Furchtbares verübt +hätte. + +Er fuhr zusammen und nahm vom Tisch einen ovalen Spiegel, dessen Fassung +von elfenbeinernen Liebesgöttern gebildet wurde, eines der vielen +Geschenke Lord Henrys, und blickte hastig in die glänzende Tiefe. Keine +Linie solcher Art verunstaltete seine roten Lippen. Was sollte dies +bedeuten? + +Er rieb sich die Augen und trat ganz nahe an das Bild heran, um es +abermals zu mustern. An der Technik der Malerei konnte man gar keine +Spur einer Veränderung bemerken, und doch war kein Zweifel, daß sich der +Ausdruck im ganzen verändert hatte. Es war keine Einbildung von ihm. Die +Sache war schrecklich klar. + +Er warf sich in einen Stuhl und begann zu grübeln. Plötzlich überkam ihn +die Erinnerung an die Worte, die er in Basil Hallwards Atelier an dem +Tage gesagt hatte, wo das Bild fertig geworden war. Ja, er erinnerte +sich ganz deutlich. Er hatte den sinnlosen Wunsch ausgesprochen, daß er +selbst jung bleiben solle, und das Porträt altern: daß seine eigene +Schönheit fleckenlos bleiben, und das Antlitz auf der Leinwand die Last +seiner Leidenschaften und Sünden tragen solle: daß das gemalte Bildnis +von den Linien des Leidens und Denkens durchfurcht werden und er selbst +den feinen Schmelz und alle Lieblichkeit seiner Jugend behalten solle, +deren er sich damals gerade bewußt geworden war. Sein Wunsch war doch +nicht erfüllt worden? Solche Dinge bleiben unmöglich. Nur so etwas zu +denken, schien ungeheuerlich. Und doch, da stand das Bild vor ihm und +hatte den Zug von Grausamkeit um den Mund. + +Grausamkeit! War er grausam gewesen? Das Mädchen hatte schuld, nicht er. +Er hatte von ihr geträumt, als einer großen Künstlerin, hatte ihr seine +Liebe geschenkt, weil er sie für groß gehalten hatte. Dann hatte sie ihn +enttäuscht. Sie war hohl und wertlos gewesen. Und doch überkam ihn ein +Gefühl unendlichen Mitleids, als er daran dachte, wie sie zu seinen +Füßen gelegen und wie ein kleines Kind geschluchzt hatte. Er erinnerte +sich, mit welcher Gefühllosigkeit er sie betrachtet hatte. Warum war er +so geschaffen worden? Warum war ihm eine solche Seele verliehen worden? +Aber auch er hatte gelitten. In den drei schrecklichen Stunden, die das +Stück dauerte, hatte er Jahrhunderte von Schmerzen, Ewigkeiten über +Ewigkeiten von Qualen durchlebt. Sein Leben war gewiß soviel wert als +das ihre, wenn er sie für das ganze Leben verwundet hatte. Sie hatte ihn +für einen Augenblick vernichtet. Außerdem sind die Frauen besser dafür +geeignet, Leiden zu ertragen als Männer. Sie leben von ihren Gefühlen. +Sie denken nur an ihre Gefühle. Wenn sie einen Geliebten haben, so ist +es nur, um jemand zu haben, dem sie Szenen machen können. Lord Henry +hatte ihm das gesagt, und Lord Henry wußte, wie es mit den Frauen +bestellt war. Warum sollte er sich um Sibyl Vane beunruhigen? Sie war +ihm jetzt nichts mehr. + +Aber das Bild? Was sollte er dazu sagen? Es barg das Geheimnis seines +Lebens in sich und erzählte seine Geschichte. Es hatte ihn die Liebe zur +eigenen Schönheit gelehrt. Sollte es ihn lehren, seine eigene Seele zu +verabscheuen? Könnte er es je wieder anblicken? + +Nein; es war nur eine Einbildung, ein Gewebe der verwirrten Sinne. Die +fürchterliche Nacht, die er durchlebte, hatte Gespenster zurückgelassen. +Der winzige scharlachrote Fleck, der die Menschen zum Wahnsinn treibt, +war plötzlich auf seinem Gehirn zum Vorschein gekommen. Das Bild war +nicht anders geworden. Es war Wahnsinn, das anzunehmen. + +Aber es blickte ihn an mit seinem wunderschönen, entstellten Gesicht und +seinem grausamen Lächeln. Sein helles Haar leuchtete im Sonnengold der +Frühe. Seine blauen Augen blickten in seine eigenen. Ein Gefühl +grenzenlosen Mitleids durchdrang ihn, nicht mit sich selbst, nein, mit +dem gemalten Abbild. Schon hatte es sich verändert und würde sich noch +mehr verändern. Sein Gold wird zum Grau erbleichen. Seine roten und +weißen Rosen werden welken. Für jede Sünde, die er begehen würde, wird +ein Fleck hervortreten und seine Schönheit besudeln. Aber er wird nicht +sündigen. Das Bildnis, verwandelt oder unverwandelt, soll für ihn das +sichtbare Wahrzeichen des Gewissens sein. Er wird jeder Versuchung +widerstehen. Er wird Lord Henry nicht wiedersehen -- wenigstens nicht +mehr seinen blendenden, giftigen Theorien lauschen, die in Basil +Hallwards Garten zum erstenmal in ihm die Leidenschaft für unmögliche +Dinge aufgerüttelt hatten. Er wird zu Sibyl Vane zurückeilen, sich +bestreben, sie in ihrer Kunst zu verfeinern, sie heiraten und versuchen, +sie wieder zu lieben. Ja, es war seine Pflicht, das zu tun. Sie mußte ja +mehr gelitten haben als er. Armes Kind! Er war selbstsüchtig und grausam +gegen sie gewesen. Der Zauber, den sie auf ihn ausgeübt hatte, würde +wiederkehren. Sie würden glücklich miteinander werden. Sein Leben mit +ihr würde schon und rein sein. + +Er stand von seinem Stuhl auf und schob einen großen Wandschirm vor das +Bildnis. Er schrak zusammen, als er es anblickte. »Wie schrecklich«, +flüsterte er. Dann schritt er zur Glastür und öffnete sie. Als er in das +Grüne hinaus trat, atmete er tief auf. Die frische Morgenluft schien all +die düsteren Leidenschaften zu verjagen. Er dachte nur noch an Sibyl. +Ein schwacher Glanz seiner Liebe kehrte zurück. Er wiederholte ihren +Namen immer wieder, immer wieder. Die Vögel, die in dem taubeperlten +Garten sangen, schienen den Blumen von ihr zu erzählen. + + + + +Achtes Kapitel + + +Mittag war längst vorüber, als er erwachte. Sein Diener war mehrmals auf +den Fußspitzen in das Zimmer geschlichen, um zu sehen, ob er wach wäre, +und er hatte sich gewundert, weshalb sein junger Herr so lange schlafe. +Schließlich klingelte es, und Viktor trat leise ein mit einer Schale Tee +und einem Stoß Postsachen auf einer schmalen Sevresplatte und zog die +olivengelben Atlasvorhänge mit ihrem blauglänzenden Futter vor den drei +großen Fenstern zurück. + +»Monsieur hat heute morgen gut geschlafen«, sagte er lächelnd. + +»Wieviel Uhr ist es?« fragte Dorian Gray noch verschlafen. + +»Ein Viertel zwei, Monsieur!« + +Wie spät es war! Er setzte sich auf, schlürfte einige Züge Tee und +durchblätterte die Briefe. Einer davon war von Lord Henry und war diesen +Morgen von einem Boten abgegeben worden. Er zögerte einen Augenblick und +legte ihn dann zur Seite. Die anderen öffnete er zerstreut. Sie +enthielten die gewöhnliche Sammlung von Karten, Einladungen zum Essen, +Ausstellungsbilletts, Programmen für Wohltätigkeitskonzerte und +ähnlichen Aufforderungen, wie sie einem jungen Mann der Gesellschaft +während der Saison jeden Morgen ins Haus regnen. Es war auch eine recht +große Rechnung dabei für ein Toiletteservice im Stile Louis des +Fünfzehnten, aus getriebenem Silber, die er noch nicht mutig genug +gewesen war, seinen Vormündern vorzulegen, die außerordentlich +altmodische Herren waren und nicht begreifen konnten, daß man in einer +Zeit lebe, wo die unnötigen Dinge unsere einzige Notwendigkeit sind; und +außerdem war eine Reihe sehr höflich abgefaßter Mitteilungen aus Jermyn +Street da, in denen man sich anbot, ihm in der kürzesten Zeit jeden +Geldbetrag zu dem mäßigsten Zinsfuße vorzustrecken. + +Etwa nach zehn Minuten stand er auf, schlüpfte in einen raffinierten +Schlafrock aus Kaschmirwolle mit Seidenstickereien, und ging in das +onyxgepflasterte Badezimmer. Das kalte Wasser erquickte ihn nach dem +langen Schlaf. Er schien alles vergessen zu haben, was er hinter sich +hatte. Ein- oder zweimal durchzuckte ihn ein undeutliches Gefühl, als +wäre er irgendwie in eine seltsame Tragödie verwickelt gewesen, aber die +Unwirklichkeit eines Traumes webte darüber. + +Sobald er angezogen war, ging er in das Bibliothekszimmer und setzte +sich zu einem leichten französischen Frühstück nieder, das auf einem +kleinen, runden Tische nahe beim offenen Fenster bereit stand. Es war +ein entzückender Tag. Die warme Luft schien mit Wohlgerüchen gewürzt. +Eine Biene flog herein und summte um die Schale aus blauem +Drachenporzellan, die voller schwefelgelber Rosen vor ihm stand. Er +fühlte sich vollkommen glücklich. + +Plötzlich fiel sein Blick auf den Wandschirm, den er vor das Bild +gestellt hatte, und er zuckte zusammen. + +»Ist es zu kalt für den gnädigen Herrn?« fragte der Diener, während er +eine Omelette auf den Tisch stellte. »Soll ich das Fenster schließen?« + +Dorian schüttelte den Kopf. »Mir ist nicht kalt«, antwortete er. + +War es alles wahr? Hatte sich das Bild wirklich verändert? Oder war es +lediglich seine eigene Phantasie gewesen, die ihm einen Zug von +Schlechtigkeit vorgespiegelt hatte, wo nur ein Zug von Freude gewesen +war? Eine gemalte Leinwand konnte sich doch nicht verändern? Das war +doch Tollheit! Das würde er eines Tages Basil als Märchen erzählen. Er +würde darüber lächeln. + +Und doch, wie lebendig war die Erinnerung an die ganze Sache! Zuerst in +dem schwankenden Zwielicht und dann in der hellen Morgenfrühe hatte er +den Zug von Grausamkeit um die geschwungenen Lippen bemerkt. Er +fürchtete sich förmlich davor, daß sein Diener hinausgehen könnte. Er +wußte, er würde, sowie er allein sei, das Bild betrachten müssen. Er +fürchtete sich vor dieser Gewißheit. Als der Diener Kaffee und +Zigaretten gebracht hatte und sich zum Gehen wandte, empfand er den +heftigsten Wunsch, ihn dableiben zu lassen. Als sich hinter ihm die Tür +geschlossen hatte, rief er ihn zurück. Der Mann stand da und wartete auf +seine Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick an. »Ich bin für niemand +zu Hause, Viktor«, sagte er mit einem Seufzer. Der Mann verbeugte sich +und ging hinaus. + +Dann stand er vom Tische auf, zündete sich eine Zigarette an und warf +sich auf eine üppig gepolsterte Ottomane, die gegenüber dem Schirme +stand. Es war ein alter Wandschirm aus vergoldetem spanischen Leder, in +das ein blumiges Louis-Quatorze-Muster getrieben war. Er musterte ihn +forschend und fragte sich, ob der Schirm wohl schon jemals das Geheimnis +eines Menschenlebens verhüllt habe. + +Sollte er ihn überhaupt wegschieben? Warum ihn nicht da stehen lassen? +Was half die Gewißheit? War die Sache wahr, so war es schrecklich. War +sie nicht wahr, wozu sich darüber beunruhigen? Aber wie, wenn durch +Schicksalstücke oder irgendeinen tödlichen Zufall andere Augen als die +seinen dahinter blickten und die fürchterliche Veränderung sähen? Was +wollte er tun, wenn Basil Hallward kam und sein eigenes Bild sehen +wollte? Das würde Basil sicher tun. Nein, die Sache mußte untersucht +werden, und zwar auf der Stelle. Alles war besser als diese schreckliche +Ungewißheit. + +Er stand auf und verschloß beide Türen. Er wollte wenigstens allein +sein, wenn er die Maske seiner Schande betrachtete. Dann schob er den +Schirm zur Seite und sah sich selbst von Angesicht zu Angesicht. Es war +vollständig wahr. Das Bildnis hatte sich verändert. + +Er erinnerte sich später oft und immer mit nicht geringer Verwunderung, +daß er zuerst das Bild mit einem Gefühl von wissenschaftlichem Interesse +geprüft habe. Daß eine solche Veränderung möglich sei, schien ihm nicht +glaublich. Und doch war es Tatsache. Gab es irgendeine geheime +Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen, die auf der Leinwand Form +und Farbe werden, und der Seele, die in ihm lebte? Konnte es sein, daß +sie in Wirklichkeit ausdrückten, was seine Seele dachte? -- daß sie zur +Wahrheit machten, was sie träumte? Oder gab es eine andere schreckliche +Beziehung? Er schauderte zusammen und fühlte sich von Angst gepackt. +Dann ging er zu der Ottomane zurück und lag nun da, das Bildnis in +krankhaftem Schrecken anstierend. + +Eine Wirkung aber, das fühlte er, hatte es gehabt. Es hatte ihm +klargemacht, wie ungerecht, wie grausam er gegen Sibyl Vane gewesen war. +Noch war es nicht zu spät, das wieder gut zu machen. Sie konnte noch +sein Weib werden. Seine unwahre, selbstsüchtige Liebe sollte einer +höheren Kraft den Platz einräumen, sollte sich zu einer edleren +Leidenschaft erhöhen und das Bildnis, das Basil Hallward gemalt hatte, +sollte sein Führer durchs Leben, sollte das für ihn sein, was Heiligkeit +für einige ist, Gewissen für andere und Gottesfurcht für uns alle ist. +Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Medikamente, die das +Sittlichkeitsgefühl in Schlaf lullen konnten. Aber hier war das durch +Sündigkeit hervorgerufene sichtbare Symbol der Erniedrigung. Hier war +das ewig unauslöschliche Zeichen des Verderbens, das Menschen der +eigenen Seele zufügen. + +Es schlug drei und vier, und noch eine halbe Stunde ließ das doppelte +Zeichen erklingen, aber Dorian Gray rührte sich nicht. Er bemühte sich, +die scharlachroten Fäden des Lebens zu entwirren und sie in ein Muster +zu verschlingen; seinen Weg zu finden aus dem blutroten Irrgarten der +Leidenschaft, den er durchwanderte. Er wußte nicht, was er tun, nicht, +was er denken sollte. Endlich trat er an den Tisch und schrieb einen +leidenschaftlichen Brief an das Mädchen, das er geliebt hatte, flehte +sie an, ihm zu verzeihen, und beschuldigte sich des Wahnsinns. Er +bedeckte Seite um Seite mit wilden Worten der Sorge und noch heftigeren +des Schmerzes. Es gibt eine Wollust in Selbstanklagen. Wenn wir uns +selbst tadeln, haben wir das Gefühl, daß uns kein anderer tadeln dürfe. +Die Beichte, nicht der Priester, erteilt uns Absolution. Als Dorian den +Brief beendet hatte, fühlte er, daß ihm vergeben worden sei. + +Plötzlich pochte man an die Tür und er hörte Lord Henrys Stimme draußen. +»Lieber Junge, ich muß dich sehen. Laß mich gleich herein! Ich kann es +nicht zugeben, daß du dich so absperrst!« + +Er gab zuerst keine Antwort, sondern blieb ganz still. Das Klopfen +wiederholte sich und wurde lauter. Ja, es war besser, Lord Henry +einzulassen und ihm zu erklären, daß er ein neues Leben führen wolle, +mit ihm zu streiten, wenn Streit nötig wäre, und sich von ihm zu +trennen, wenn Trennung stattfinden mußte. Er sprang auf, schob den +Wandschirm hastig vor das Bild und schloß die Tür auf. + +»Es tut mir alles so sehr leid, Dorian«, sagte Lord Henry, als er +eintrat. »Aber du mußt nicht zuviel daran denken.« + +»Meinst du an Sibyl Vane?« fragte der Jüngling. + +»Ja, natürlich«, erwiderte Lord Henry, ließ sich in einen Stuhl nieder +und zog seine gelben Handschuhe langsam aus. »Es ist gewiß, einerseits +betrachtet, schrecklich, aber es war doch nicht deine Schuld. Sag' mal, +bist du hinter die Bühne gegangen und hast du sie gesehen, als das Stück +aus war?« + +»Ja.« + +»Ich war davon überzeugt. Hast du ihr eine Szene gemacht?« + +»Ich war brutal, Harry, offen gesagt, brutal. Aber jetzt ist alles +wieder gut. Was geschehen ist, tut mir nicht mehr leid. Es hat mich +gelehrt, mich selbst besser kennenzulernen.« + +»Ach, Dorian, da bin ich sehr froh, daß du es so auffaßt. Ich fürchtete, +dich von Gewissensbissen zermartert zu finden und wie du dir die +hübschen lockigen Haare zerraufst.« + +»Das habe ich alles durchgemacht«, sagte Dorian und schüttelte lächelnd +den Kopf. »Jetzt bin ich vollkommen glücklich. Vor allem weiß ich jetzt, +was es heißt, ein Gewissen zu haben. Es ist nicht das, was du mir gesagt +hast. Es ist das Göttlichste in uns. Spotte nicht darüber, nie mehr, +Harry -- wenigstens nie mehr in meiner Gegenwart. Ich will jetzt gut +sein. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, meine Seele befleckt zu +haben.« + +»Wirklich eine entzückende, künstlerische Grundlage für Moral, Dorian. +Ich gratuliere dir dazu. Aber wie willst du damit anfangen?« + +»Indem ich Sibyl Vane heirate.« + +»Sibyl Vane heiraten?« schrie Lord Henry auf, erhob sich und sah ihn mit +der bestürztesten Verwunderung an. »Aber mein lieber Dorian --« + +»Ja, Harry, ich weiß, was du sagen willst. Irgend etwas Häßliches über +die Ehe. Sag' es nicht. Sag' mir nie wieder solche Dinge. Vor zwei Tagen +habe ich Sibyl gebeten, mich zu heiraten. Ich werde mein Wort nicht +brechen. Sie soll meine Frau werden.« + +»Deine Frau, Dorian... Hast du denn meinen Brief nicht bekommen? Ich +habe dir heute früh geschrieben und schickte die Mitteilung durch meinen +Diener her.« + +»Deinen Brief? Ach ja, ich erinnere mich. Ich hab' ihn noch nicht +gelesen, Harry. Ich fürchtete, daß etwas drin stünde, was mir nicht +gefallen könnte. Du vivisezierst das Leben mit deinen Aphorismen.« + +»Dann weißt du also nichts.« + +»Wovon sprichst du?« + +Lord Henry wanderte durch das Zimmer, setzte sich dann neben Dorian +Gray, nahm seine beiden Hände und hielt sie fest. »Dorian,« sagte er, +»mein Brief -- erschrick nicht -- sollte dir melden, daß Sibyl Vane tot +ist.« + +Ein Schmerzensschrei gellte von den Lippen des Jünglings, und er sprang +auf und riß seine Hände aus Lord Henrys Umklammerung los. »Tot! Sibyl +tot!« Es ist nicht wahr. Es ist eine furchtbare Lüge. Wie wagst du es, +das zu sagen?« + +»Es ist völlig wahr, Dorian«, sagte Lord Henry ernst. »Es steht in allen +Morgenblättern. Ich schrieb dir's gleich und bat, du solltest niemand +empfangen, bis ich käme. Es muß natürlich eine Untersuchung stattfinden, +und du darfst da nicht hineingezogen werden. Dinge dieser Art machen in +Paris einen Mann zum Helden des Tages. Aber in London haben die Leute +zuviel Vorurteile. Hier darf man nie mit einem Skandal debütieren. Man +muß sich das aufheben, um im Alter noch interessant zu sein. Ich nehme +an, man weiß im Theater deinen Namen nicht. In dem Fall ist alles gut. +Hat dich jemand in die Garderobe gehen sehen? Das ist ein wichtiger +Faktor.« + +Ein paar Augenblicke lang antwortete Dorian nicht. Er war vor Entsetzen +gelähmt. Schließlich stammelte er mit erstickter Stimme: »Harry, sagtest +du eine Untersuchung? Was meintest du damit? Hat sich Sibyl --? Oh, +Harry, ich kann's nicht ertragen. Mach's kurz. Sag' mir alles auf +einmal.« + +»Ich zweifle nicht daran, daß es kein Versehen war, Dorian, wenn man es +auch dem Publikum so darstellen muß. Es scheint, sie hat das Theater mit +ihrer Mutter verlassen, gegen halb eins ungefähr, und dann sagte sie +plötzlich, sie habe oben etwas vergessen. Man wartete einige Zeit auf +sie, aber sie kam nicht wieder herunter. Schließlich fanden sie sie tot +auf dem Boden in ihrem Ankleidezimmer. Sie hatte aus Versehen irgend +etwas getrunken, irgend solche gräßliche Sache, die man in den Theatern +braucht. Ich weiß nicht genau, was es war, aber es muß entweder +Blausäure oder Bleiweiß gewesen sein. Ich vermute, Blausäure, denn sie +scheint sofort tot gewesen zu sein.« + +»Harry, Harry, es ist furchtbar!« schrie der Jüngling. + +»Ja; natürlich ist's sehr tragisch, aber du mußt sehen, nicht mit in die +Sache verwickelt zu wenden. Ich habe im >Standard< gelesen, daß sie +siebzehn Jahre alt war. Ich hätte sie noch eher für jünger gehalten. Sie +sah ganz wie ein Kind aus und schien so wenig von der Schauspielerei zu +verstehen. Dorian, du darfst die Sache nicht so an die Nerven gehen +lassen. Du mußt mitkommen und mit mir essen, und nachher wollen wir noch +'n bißchen in die Oper gehen. Die Patti singt, und alle Welt wird da +sein. Du kannst mit in die Loge von meiner Schwester kommen. Sie bringt +ein paar famose Frauen mit.« + +»So habe ich also Sibyl Vane gemordet,« sagte Dorian Gray halb zu sich +selbst -- »sie gemordet, so sicher, als hätte ich ihre zarte Kehle mit +einem Messer durchschnitten. Und doch sind darum die Rosen nicht weniger +entzückend. Die Vögel in meinem Garten singen genau so lustig. Und heute +abend geh' ich mit dir essen und dann in die Oper und nachher vermutlich +irgendwo soupieren. Wie merkwürdig dramatisch das Leben ist. Wenn ich +das alles in einem Buche gelesen hätte, Harry, ich glaube, ich hätte +darüber geweint. Aber jetzt, wo es in Wirklichkeit geschehen ist, wo es +mir selbst geschehen ist, scheint es mir zu wunderbar für Tränen. Da +liegt der erste leidenschaftliche Liebesbrief, den ich in meinem Leben +geschrieben habe. Seltsam, daß mein erster leidenschaftlicher +Liebesbrief an ein totes Mädchen gerichtet ist. Ich möchte wohl wissen, +ob sie noch ein Gefühl haben, diese weißen, verstummten Menschen, die +wir Tote nennen. Sibyl! Kann sie fühlen, oder wissen, oder hören? O +Harry, wie hab' ich sie einmal geliebt! Es scheint mir jetzt vor Jahren +gewesen zu sein. Sie war mir alles. Dann kam dieser schreckliche Abend, +-- war es wirklich erst gestern? wo sie so schlecht spielte und mir fast +das Herz zerriß. Sie hat mir alles erklärt. Es war furchtbar rührend. +Aber es machte nicht den mindesten Eindruck auf mich. Ich hielt sie für +ein oberflächliches Geschöpf. Dann geschah plötzlich etwas, was mir +Furcht einjagte. Ich kann dir nicht sagen, was es war, aber es war +furchtbar. Ich nahm mir vor, zu ihr zurückzukehren. Ich empfand, daß ich +unrecht gehabt habe. Und jetzt ist sie tot. Mein Gott! Mein Gott! Harry, +was soll ich tun? Du kennst die Gefahr nicht, in der ich schwebe und es +gibt nichts, was mich aufrechterhalten könnte. Sie hätte es für mich +getan. Sie hatte kein Recht, sich umzubringen. Es war selbstsüchtig von +ihr.« + +»Mein lieber Dorian,« antwortete Lord Harry, während er eine Zigarette +aus dem Etui nahm und ein goldenes Streichholzbüchschen hervorholte, +»die einzige Art, auf die eine Frau einen Mann bessern kann, besteht +darin, sie langweilt ihn so gründlich, daß er alles Interesse am Leben +verliert. Wenn du dieses Mädchen geheiratet hättest, wärst du verdorben +worden. Natürlich hättest du sie gütig behandelt. Menschen, für die man +nichts übrig hat, kann man immer gütig behandeln. Aber sie hätte bald +herausgefunden, daß du gar nichts für sie übrig hast. Und wenn eine Frau +bei ihrem Mann Gleichgültigkeit wittert, vernachlässigt sie sich +entweder schrecklich, oder sie trägt überelegante Hüte, die der Mann +einer anderen Frau bezahlen muß. Ich will nichts über das soziale +Mißverhältnis sagen, das schauderhaft gewesen wäre; ich hätte +selbstverständlich die Sache nie zugegeben, aber ich versichere dir, die +Sache wäre in jedem Falle ganz verfehlt gewesen.« + +»Vermutlich«, murmelte der junge Mann, während er mit furchtbar blassem +Gesicht im Zimmer auf und ab schritt. »Aber ich glaube, es sei meine +Pflicht. Es ist nicht meine Schuld, daß mich dieses schreckliche +Trauerspiel verhindert hat, das Rechte zu tun. Ich erinnere mich, daß du +einmal gesagt hast, ein sonderbares Verhängnis schwebe über guten +Vorsätzen -- daß man sie nämlich immer zu spät fasse. Bei meinem war es +gewiß der Fall.« + +»Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, Naturgesetze umzustoßen. Ihr +Ursprung ist reine Eitelkeit. Ihr Erfolg ist absolut gleich Null. Sie +geben uns dann und wann etwas jener unfruchtbaren Lustempfindungen, die +auf schwache Menschen einen gewissen Reiz ausüben. Das ist alles, was +man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind bloße Schecks, die man +auf eine Bank ausstellt, bei der man kein Konto hat.« + +»Harry«, rief Dorian Gray, der sich näherte und neben ihn setzte. »Warum +kann ich diese Tragödie nicht so stark empfinden, wie ich müßte? Ich +kann nicht glauben, daß ich herzlos bin. Glaubst du das von mir?« + +»Du hast in den letzten vierzehn Tagen zuviel törichte Streiche +begangen, als daß du einen Anspruch auf diesen Ehrentitel haben +könntest, Dorian«, erwiderte Lord Harry mit seinem stillen, +melancholischen Lächeln. + +Der Jüngling runzelte die Stirn. »Diese Erklärung besagt mir eigentlich +nichts, Harry, aber ich bin dennoch froh, daß du mich nicht für herzlos +hältst. Ich bin es gewiß nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin. Und doch +muß ich zugeben, daß dies Ereignis mich nicht so angreift, wie es +sollte. Es kommt mir wie der wunderbare Szenenschluß eines wunderbaren +Dramas vor. Es hat die schreckliche Schönheit einer griechischen +Tragödie, einer Tragödie, in der ich eine große Rolle gespielt habe, +aber in der ich selbst nicht verwundet worden bin.« + +»Es ist eine interessante Frage,« sagte Lord Harry, dem es ein +ausgesuchtes Vergnügen bereitete, mit dem unbewußten Egoismus des jungen +Mannes zu spielen -- »eine außerordentlich interessante Frage. Ich +meine, die wahre Erklärung ist wohl die. Es kommt oft vor, daß sich die +Wirklichkeits-Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen Form +abspielen, daß sie uns durch ihre rohe Gewalt, ihren absoluten Mangel an +Zusammenhang, durch ihre lächerliche Sinnlosigkeit und ihre +außerordentliche Stillosigkeit verletzen. Sie betrüben uns genau so, wie +es die Gemeinheit tut. Sie geben uns ein Gefühl einer jähen, brutalen +Gewalt, und wir lehnen uns dagegen auf. Manchmal aber kreuzt eine +Tragödie unser Leben, die künstlerische Schönheitselemente in sich +birgt. Wenn diese Schönheitselemente wirklich vorhanden sind, dann +ergreift die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische Wirkung. Wir +entdecken auf einmal, daß wir nicht mehr die Darsteller, sondern die +Zuschauer des Stückes sind. Oder richtiger, wir sind beides. Wir +beobachten uns selbst und werden von dem Wundersamen des Schicksals +erschüttert. Was ist in vorliegendem Falle wirklich geschehen? Jemand +hat sich aus Liebe zu dir umgebracht. Ich wollte, mir wäre je so ein +Erlebnis passiert. Ich wäre den Rest meines Lebens in die Liebe verliebt +gewesen. Die Menschen, die mich angebetet haben -- es waren ihrer nicht +sehr viele, aber doch immerhin einige --, waren immer darauf versessen, +weiterzuleben, noch lange, nachdem ich aufgehört hatte, mich um sie zu +kümmern, oder sie, sich um mich zu kümmern. Sie sind dann dick und +langweilig geworden, und wenn ich ihnen jetzt begegne, schwelgen sie +sofort in Erinnerungen. Dies furchtbare zähe Gedächtnis der Frauen! Was +für 'ne schreckliche Sache das ist! Und was für einen völligen geistigen +Stillstand offenbart es. Man sollte die Farbe des Lebens in sich +aufsaugen, aber sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind +immer gewöhnlich.« + +»Ich muß Mohnblumen in meinen Garten säen«, seufzte Dorian. + +»Das ist nicht notwendig«, erwiderte sein Gefährte. »Das Leben selbst +hat immer Mohnblumen vorrätig. Natürlich, dann und wann halten die Dinge +länger an. Einmal habe ich eine ganze Saison lang nichts als Veilchen +getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen Roman, der nicht +sterben wollte. Schließlich indessen ist er gestorben. Ich kann mich +nicht mehr erinnern, was ihn getötet hat. Ich vermute, es kam durch +ihren Vorschlag, mir die ganze Welt aufzuopfern. Das ist immer ein +schrecklicher Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecknissen der +Ewigkeit. Schon -- würdest du es nun glauben? -- Vorige Woche, bei Lady +Hampshire, saß ich bei Tisch neben der fraglichen Dame, und sie konnte +wiederum nicht anders, als die ganze Sache durchzunehmen, die +Vergangenheit aufzuwühlen und die Zukunft auszumalen. Ich hatte den +ganzen Roman unter einem Asphodelosbeet begraben. Sie scharrte ihn +wieder aus und versicherte mir, daß ich ihr Leben zerstört habe. Ich +fühle mich verpflichtet festzustellen, daß sie trotzdem mit +staunenswertem Appetite aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse empfand. +Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie! Der einzige Reiz der +Vergangenheit liegt eben darin, daß sie vergangen ist. Aber Frauen +wissen nie, wann der Vorhang gefallen ist. Sie wollen immer noch einen +sechsten Akt, und sowie das ganze Interesse an dem Stück erlahmt ist, +schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man ihnen ihren Willen ließe, +erlebte jede Komödie einen tragischen Schluß, und jede Komödie gipfelte +in einer Farce. Sie sind oft entzückende Kunstprodukte, aber sie haben +keinen Sinn für die Kunst. Du bist glücklicher als ich. Ich versichere +dir, Dorian, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt habe, hätte für +mich getan, was Sibyl Vane für dich vollbrachte. Gewöhnliche Frauen +trösten sich immer. Einige von ihnen tun es, indem sie sich in +empfindsame Farben verlieben. Traue niemals einer Frau, die Malven +trägt, wie alt sie auch sein mag, oder einer Frau über fünfunddreißig, +die rosa Bänder liebt. Das bedeutet immer, daß sie eine Geschichte +haben. Andere finden starken Trost darin, plötzlich die Vorzüge ihrer +Männer zu entdecken. Sie reiben einem ihr eheliches Glück unter die +Nase, als wäre das die fesselndste Sünde. Einige wieder tröstet die +Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize einer Liebelei an sich, hat +mir einmal eine Frau versichert und ich kann es wohl verstehen. Übrigens +macht unsereinen nichts so eitel, als wenn einem gesagt wird, man wäre +ein Sünder. Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten. Ja; die Tröstungen +haben wirklich kein Ende, die die Frauen im modernen Leben finden. Die +wichtigste habe ich noch gar nicht erwähnt.« + +»Welche ist das, Harry?« fragte der junge Mann zerstreut. + +»Oh, der alltäglichste Trost. Einer anderen Frau ihren Anbeter nehmen, +wenn man den eigenen verloren hat. In der guten Gesellschaft findet eine +Frau auf solche Weise immer ihr Fahrwasser wieder. Aber wirklich, +Dorian, wie anders muß Sibyl Vane gewesen sein als alle die sonstigen +Frauen, denen man begegnet. Für mich liegt in ihrem Tod etwas ganz +Wunderschönes. Es freut mich, daß ich in einem Jahrhundert lebe, wo +solche Wunder noch geschehen. Sie geben uns neuen Glauben an die +Wirklichkeit der Dinge, mit denen wir sonst spielen, wie Romantik, +Leidenschaft und Liebe.« + +»Ich war furchtbar grausam gegen sie. Du vergißt das.« + +»Ich fürchte, die Frauen schätzen die Grausamkeit, die ganz alltägliche +Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes. Sie haben wundervoll +primitive Instinkte. Wir haben sie emanzipiert, aber sie bleiben +Sklavinnen, die den Blick auf ihre Herren gerichtet halten, trotz +allem. Sie lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin überzeugt, daß du +glänzend aufgetreten bist. Ich habe dich nie wirklich und durchaus +erzürnt gesehen, aber ich kann mir vorstellen, wie entzückend du +ausgesehen haben mußt. Und außerdem sagtest du vorgestern etwas zu mir, +was mir damals nur ein phantastischer Einfall schien, aber jetzt sehe +ich, daß es völlig wahr gewesen ist, und ich halte es für den Schlüssel +zu dem ganzen Ereignis.« + +»Was war das, Harry?« + +»Du hast zu mir gesagt, Sibyl Vane verkörpere dir alle Frauengestalten +der Romantik -- sie sei an einem Abend Desdemona und am anderen Ophelia; +wenn sie als Julia sterbe, erwache sie als Imogen wieder zum Leben.« + +»Sie wird nie wieder zum Leben erwachen«, ächzte der Jüngling und barg +sein Gesicht in den Händen. + +»Nein, sie wird nie wieder zum Leben erwachen. Sie hat ihre letzte Rolle +gespielt. Aber du mußt an diesen einsamen Tod in dem ärmlichen +Garderobenzimmer denken wie an ein seltsam schauriges Fragment aus einer +Tragödie von der Zeit König Jakobs her, wie an eine wunderbare Szene bei +Webster oder Ford oder Cyril Tourneur. Das Mädchen hat nie wirklich +gelebt, also ist sie auch nie wirklich gestorben. Für dich war sie ja +niemals mehr als ein Traum, ein Schattengeist, der durch Shakespeares +Dramen huschte und sie durch ihr Dasein noch reizvoller machte, der Ton +einer Flöte, durch die Shakespeares Musik noch reicher und freudiger +ertönte. Im Augenblick, wo sie das wirkliche Leben berührte, zerstörte +sie es, und es zerstörte sie, und so schied sie dahin. Trauere um +Ophelia, wenn es dir behagt. Streu Asche auf dein Haupt, weil Kordelia +erwürgt wurde. Schrei zum Himmel, weil die Tochter des Brabantio starb. +Aber verschwende deine Tränen nicht um Sibyl Vane. Sie war weniger +wirklich, als jene sind.« + +Es entstand ein Schweigen. Der Abend dämmerte im Zimmer. Geräuschlos auf +silbernen Fußen schlichen die Schatten aus dem Garten herein. Die Farben +verschwanden müde aus allen Dingen. + +Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. »Du hast mich mir selber +klargemacht«, flüsterte er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Alles, +was du gesagt hast, habe ich auch gefühlt, nur hab' ich mich davor +geängstigt, und ich konnte es mir selbst nicht ausdrücken. Wie gut du +mich kennst! Aber wir wollen, von dem was geschehen ist, nie wieder +sprechen. Es war ein wundersames Erlebnis. Das ist alles. Ich möchte +wissen, ob meiner noch etwas so Wunderbares im Leben harrt.« + +»Das Leben hat alles für dich vorrätig, Dorian. Es gibt nichts, was du +mit deiner außerordentlichen Schönheit nicht tun könntest.« + +»Aber stelle dir vor, Harry, wenn ich hager und alt und runzlich würde, +was dann?« + +»Ach dann,« sagte Lord Harry und erhob sich zum Gehen -- »dann, mein +bester Dorian, würdest du um deine Siege kämpfen müssen. Wie es ist, +werden sie dir noch entgegengetragen. Nein, du mußt schön bleiben, wie +du noch bist. Wir leben in einer Zeit, in der zuviel gelesen wird, als +daß sie weise wäre, und in der zuviel gedacht wird, als daß sie schön +wäre. Wir können dich nicht entbehren. Und jetzt tätest du besser, dich +anzuziehen und in den Klub zu fahren. Wir kommen ohnehin schon zu spät.« + +»Ich meine, ich treffe dich lieber in der Oper, Harry. Ich bin zu müde, +um etwas zu essen. Welche Nummer hat die Loge deiner Schwester?« + +»Siebenundzwanzig, glaub' ich, sie liegt im ersten Rang. Du findest +ihren Namen an der Tür. Aber es tut mir leid, daß du nicht mit essen +kommst.« + +»Ich bin nicht aufgelegt dazu,« sagte Dorian zerstreut, »aber ich bin +dir sehr dankbar für alles, was du zu mir gesagt hast. Du bist wirklich +mein bester Freund. Niemand hat mich je richtiger verstanden als du.« + +»Wir stehen erst am Anfang unserer Freundschaft, Dorian«, erwiderte Lord +Harry und schüttelte ihm die Hand. »Adieu! Ich hoffe, dich vor halb zehn +zu sehen. Vergiß nicht: die Patti singt.« + +Als sich die Tür hinter ihm schloß, klingelte Dorian Gray, und nach ein +paar Minuten erschien Viktor mit den Lampen und ließ die Vorhänge herab. +Er wartete ungeduldig, daß der Diener wieder verschwände. Der Mann +schien eine unglaubliche Zeit für alles zu gebrauchen. + +Sobald er wieder draußen war, stürzte Dorian auf den Schirm zu und schob +ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich nicht wieder verändert. Es hatte +die Nachricht von Sibyl Vanes Tod erhalten, bevor er selbst davon gewußt +hatte. Es kannte die Ereignisse des Lebens, sobald sie sich ereigneten. +Dieser Zug böser Grausamkeit, der die feinen Linien des Mundes +verunstaltete, war zweifellos im Augenblick aufgetaucht, als das Mädchen +das Gift genommen hatte. Oder kümmerte sich das Bild nicht um die +Wirkungen einer Tat? Nahm es nur von Vorgängen in der Seele Kenntnis? Er +hätte es gar zu gern gewußt und hoffte, eines Tages solche Wandlung vor +seinen Augen geschehen zu sehen, und er schauderte, während er es +hoffte. + +Die arme Sibyl! Wie sonderbar romantisch alles gewesen war! Sie hatte +oft den Tod auf der Bühne dargestellt. Dann hatte sie der Tod selbst +gepackt und weggeholt. Wie mochte sie die grauenvolle letzte Szene +gespielt haben? Hatte sie ihn im Sterben verflucht? Nein; sie war aus +Liebe zu ihm gestorben, und die Liebe sollte ihm von jetzt ab immer ein +Heiligtum bleiben. Sie hatte alles gebüßt durch das Opfer ihres Lebens. +Er wollte nicht mehr daran denken, was er ihretwegen an jenem +schrecklichen Theaterabend durchgemacht hatte. Wenn er an sie dachte, +sollte es sein wie an eine wundersam tragische Gestalt, die auf die +Weltbühne gestellt worden war, um die höchste Verwirklichung der Liebe +zu künden. Eine wundersam tragische Gestalt? Tränen traten ihm in die +Augen, als er sich ihres kindlichen Aussehens, ihrer fröhlichen, +phantastischen Art, ihrer scheuen, zaghaften Anmut entsann. Er +verscheuchte alles hastig und blickte wieder auf das Porträt. + +Er fühlte, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, zu wählen. Oder war die +Wahl schon getroffen? Ja, das Leben hatte für ihn entschieden -- das +Leben und seine unermeßliche Neugier auf das Leben. Ewige Jugend, +unerschöpfliche Leidenschaft, ausgesuchte, geheimnisvolle Genüsse, wilde +Freuden und noch wildere Sünden -- all das sollte er haben. Das Bildnis +sollte die Last seiner Schmach tragen: das war alles. + +Ein peinliches Gefühl beschlich ihn, als er an die Entweihung dachte, +die dieses schönen Gesichtes auf der Leinwand harrte. Einmal hatte er in +knabenhafter Parodie des Narzissus die gemalten Lippen, die ihn jetzt so +grausam anlächelten, geküßt oder doch zum Schein geküßt. Morgen für +Morgen hatte er vor dem Bild gesessen und seine Schönheit angestaunt; zu +Zeiten kam es ihm vor, als sei er in sein eigenes Bild verliebt. Sollte +es sich nun wandeln mit jeder Laune, der er nachgab? Sollte es ein +ungeheuerliches, widerliches Ding werden, das man im verhängten Winkel +verschließen müsse vor dem Glanz der Sonne, der so oft das lockige +Wunder seines Haares noch goldiger hatte aufleuchten lassen? Wie schade! +Wie schade! + +Einen Augenblick dachte er daran, zu beten, daß die entsetzliche +Beziehung zwischen ihm und dem Bilde aufhören möge. Es hatte sich +verwandelt, da er darum gebeten hatte; es könnte vielleicht, wenn er +darum bäte, auch wieder unverändert bleiben. Und doch, wer, der eine +Ahnung vom Leben hat, würde die Möglichkeit, immer jung zu bleiben, +aufgeben, mochte die Möglichkeit noch so phantastisch und mit noch so +verhängnisreichen Folgen verknüpft sein? Überdies, stand es wirklich in +seiner Macht? War wirklich das Gebet die Ursache der Verwandlung? Konnte +es für die ganze Sache nicht irgendeine merkwürdige wissenschaftliche +Ursache geben? Wenn das Denken eine Wirkung auf einen lebenden +Organismus ausüben konnte, konnte da nicht das Denken auch auf tote +unorganische Dinge Einfluß haben? Ja, konnten nicht ohne Gedanken und +bewußte Wünsche Dinge eingreifen, die ganz außerhalb unserer Person +stehen, im Einklange mit unseren Launen und Leidenschaftsanfällen +erzittern, konnte nicht Atom zu Atom sprechen in geheimer Neigung oder +seltsamer Verwandtschaft? Aber schließlich waren die Ursachen +gleichgültig. Er wollte durch Gebet nie wieder eine schreckliche Macht +versuchen. Wenn das Bildnis sich wandeln wollte, so sollte es sich +wandeln. Das war einmal so. Warum zu tief in ein Geheimnis eindringen? + +Allerdings müßte es ein starker Genuß sein, solchen Vorgang zu +beobachten. Er würde befähigt werden, seinem Geist in geheime +Schlupfwinkel zu folgen. Dies Bild sollte ihm der zauberhafteste Spiegel +werden. Wie es ihm seinen Körper geoffenbart hatte, so sollte es ihm nun +die Seele enthüllen. Und wenn der Winter über das Gemälde hereinbrach, +dann stand er immer noch da, wo der Frühling schwankt, ob er die zum +Sommer führende Schwelle überschreiten soll. Wenn das Blut aus seinem +Antlitz fortschliche und eine kreidebleiche Maske mit stummen Augen +zurückließe, dann bewahrte er immer noch den Glanz des Säuglingsalters. +Keine Blüte seiner Lieblichkeit sollte jemals welken. Kein Pulsschlag +seines Lebens jemals erlahmen. Wie die Götter der Griechen würde er +stark und behend und heiter bleiben. Was lag daran, was aus dem gemalten +Abbild auf der Leinwand wurde? Er selbst war seiner sicher. Darauf kam +alles an. + +Er schob den Schirm wieder auf den alten Platz vor dem Bilde und +lächelte, indem er es tat. Dann ging er in sein Schlafzimmer, wo sein +Diener schon auf ihn wartete. Eine Stunde später war er in der Oper, und +Lord Harry beugte sich über seinen Stuhl. + + + + +Neuntes Kapitel + + +Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat Basil Hallward ins +Zimmer. + +»Ich bin so froh, daß ich dich treffe, Dorian«, sagte er ernsten Tons. +»Ich war gestern abend hier, und man sagte mir, daß du in der Oper +seist. Ich wußte natürlich, daß es ja unmöglich ist. Aber es wäre mir +lieber gewesen, du hättest ein Wörtchen hinterlassen, wo du wirklich +warst. Ich habe eine schreckliche Nacht verbracht, und fürchtete halb, +daß eine Tragödie der anderen folgen würde. Ich meine, du hättest mir +wohl depeschieren können, so wie du die Nachricht erhieltst. Ich hab' es +durch Zufall im letzten Abendblatt des Globe gelesen, das mir im Klub in +die Hände geriet. Ich eilte sofort hierher und war unglücklich, dich +nicht zu Hause anzutreffen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie tief mir +die ganze Sache ins Herz schneidet. Ich weiß, was du leiden mußt. Aber +wo warst du denn? Bist du hingegangen, um die Mutter des Mädchens zu +sehen? Einen Moment dachte ich daran, dir dorthin zu folgen. In der +Zeitung stand die Adresse. Irgendwo in Euston Road, nicht wahr? Aber ich +hatte Angst, zudringlich zu sein in einem Schmerze, wo ich doch nicht +abhelfen konnte. Die arme Frau! In was für einem Zustand muß sie sein! +Und dazu ihr einziges Kind! Was hat sie zu all dem gesagt?« + +»Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?« sagte Dorian Gray, nippte +etwas hellgelben Wein aus einem reizenden bauchigen venezianischen +Glase, das mit Goldperlen inkrustiert war, und sah ganz unwillig aus. +»Ich war in der Oper. Du hättest auch hinkommen sollen. Ich habe dort +Harrys Schwester, Lady Gwendolen, kennengelernt. Wir waren in ihrer +Loge. Sie ist ein bezauberndes Weib; und die Patti hat göttlich +gesungen. Sprich nicht von schrecklichen Dingen! Wenn man über eine +Sache nicht spricht, ist sie nicht geschehen. Nur was man äußert, sagt +Harry, gibt den Dingen ihre Wirklichkeit. Erwähnen möcht' ich aber, daß +sie nicht das einzige Kind der Frau war. Es ist noch ein Sohn da, ein +famoser Junge vermutlich. Aber er ist nicht beim Theater. Matrose oder +so was ähnliches. Und jetzt erzähle mir was von dir, was malst du?« + +»Du warst in der Oper?« sagte Hallward gedehnt, und seine Stimme war +gepreßt vor Schmerz. »Du warst in der Oper, während Sibyl Vane tot in +irgendeiner schmutzigen Stube lag? Du kannst mir von anderen +bezaubernden Weibern erzählen, und daß die Patti göttlich gesungen hat, +noch ehe das Mädchen, das du geliebt hast, die Ruhe des Grabes gefunden +hat, darin sie schlafen soll? Mensch, bedenke doch, welche Schrecknisse +auf den kleinen weißen Körper warten!« + +»Hör' auf, Basil, ich will davon nichts hören!« rief Dorian und sprang +auf. »Du darfst mir über diese Dinge nichts sagen. Was geschehen ist, +ist geschehen, was vergangen ist, ist vergangen.« + +»Nennst du gestern die Vergangenheit?« + +»Was hat die wirklich verstrichene Zeit damit zu tun? Nur seichtes Volk +braucht Jahre, um ein Gefühl zu überwinden. Ein Mensch, der Herr über +sich selbst ist, kann einen Schmerz ebenso leicht überwinden, wie er +einen Genuß entdecken kann. Ich will nicht der Spielball meiner +Empfindungen sein. Ich will sie ausnützen, mich an ihnen freuen und sie +beherrschen.« + +»Dorian, es ist schauderhaft! Irgend etwas hat dich ganz verändert. Du +siehst noch genau so aus wie der wunderhübsche Junge, der Tag für Tag in +mein Atelier kam, um für mein Bild zu sitzen. Aber damals warst du +einfacher, natürlich und herzlich. Du warst das unverdorbenste +Menschenkind auf der ganzen Welt. Ich weiß nicht, was jetzt über dich +gekommen ist. Du sprichst, als hättest du kein Herz, kein Mitleid in +dir. Das ist Harrys Einfluß. Ich sehe es.« + +Der junge Mensch wurde rot, ging ans Fenster, sah ein paar Augenblicke +auf den grün schimmernden, von der Sonne betupften Garten. »Ich schulde +Harry sehr viel, sehr viel, Basil,« sagte er schließlich -- »mehr als +ich dir schulde. Du hast mir nur Eitelkeit beigebracht.« + +»Ich bin bestraft worden dafür, Dorian -- oder werde es eines Tages +sein.« + +»Ich weiß nicht, was du meinst, Basil«, rief Dorian aus und drehte sich +um. »Ich weiß nicht, was du willst. Was willst du?« + +»Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt habe«, sagte der +Künstler traurig. + +»Basil,« erwiderte der Jüngling, trat vor ihn hin und legte ihm die Hand +auf die Schulter, »du bist zu spät gekommen. Als ich gestern hörte, daß +sich Sibyl Vane getötet habe -- --« + +»Sich getötet! Gott im Himmel! ist das ganz sicher?« schrie Hallward und +stierte ihn mit dem Ausdruck äußersten Schreckens an. + +»Mein lieber Basil! Du glaubst doch nicht, daß es nur ein gewöhnlicher +Unglücksfall war? Natürlich hat sie sich selbst getötet.« + +Der ältere Mann vergrub sein Gesicht in den Händen. »Wie schrecklich!« +flüsterte er und ein Schauer durchrann ihn. + +»Nein,« sagte Dorian Gray, »es ist gar nichts Schreckliches daran. Es +ist eine der größten romantischen Tragödien unserer Zeit. In der Regel +führen Schauspieler das alltäglichste Leben. Sie sind gute Ehemänner +oder treue Ehefrauen oder sonst irgendwas Langweiliges. Du verstehst, +was ich meine -- hausbackene Tugend und lauter solche Dinge. Wie anders +war Sibyl! Sie lebte ihre beste Tragödie. Sie war immer eine Heldin. Am +letzten Abend, wo sie spielte -- an dem Abend, wo du sie gesehen hast +--, spielte sie schlecht, weil sie die Liebe als Wirklichkeit erkannt +hatte. Als sie ihre Unwirklichkeit erfuhr, starb sie, wie Julia daran +gestorben wäre. Sie entschwand wieder in das Reich der Kunst. Sie +umschwebt etwas von einer Märtyrerin. Ihr Tod hat all die pathetische +Nutzlosigkeit der Märtyrerschaft, all seine vergeudete Schönheit. Aber +wie gesagt, du brauchst nicht zu glauben, daß ich nicht gelitten hätte. +Wenn du gestern in einem bestimmten Augenblick, etwa um halb sechs oder +um drei Viertel sechs gekommen wärst -- dann hättest du mich in Tränen +aufgelöst gefunden. Selbst Harry, der hier war und mir erst die +Nachricht brachte, hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Ich litt +namenlos. Dann ging es vorüber. Ich kann das Gefühl nicht wiederholen. +Niemand kann das, sentimentale Menschen ausgenommen. Und du bist +furchtbar ungerecht, Basil. Du kommst hierher, um mich zu trösten. Das +ist gut und lieb von dir. Du findest mich getröstet und bist wütend. So +sieht dein Mitgefühl aus! Du erinnerst mich an eine Geschichte, die mir +Harry über einen Philantropen erzählt hat, der sich zwanzig Jahre seines +Lebens damit abquälte, irgendeinen Mißstand aus der Welt zu schaffen +oder ein ungerechtes Gesetz abzuändern -- ich kann mich nicht mehr genau +erinnern. Schließlich gelang es ihm, und nichts konnte größer sein als +seine Enttäuschung. Er hatte nun absolut nichts mehr zu tun, starb +beinah vor Langerweile und wurde ein unversöhnlicher Menschenhasser. Und +außerdem, mein lieber, alter Basil, wenn du mich wirklich trösten +wolltest, so lehre mich lieber vergessen, was geschehen ist, oder lehre +mich's von rein künstlerischer Seite ansehen. War es nicht Gautier, der +gern über die >~consolation des arts~< geschrieben hat? Ich erinnere +mich, daß mir mal in deinem Atelier ein kleines Buch in Pergamentband +in die Hand fiel, und ich darin auf diesen entzückenden Ausdruck stieß. +Nun, ich bin ja nicht wie der junge Mann, von dem du mir einmal in +Marlow erzählt hast, und der zu sagen pflegte, gelber Atlas könne einen +über alles Elend im Leben hinwegtrösten. Ich liebe schöne Dinge, die man +in die Hand nehmen und angreifen kann. Alter Brokat, grünpatinierte +Bronzen, Lackarbeiten, Elfenbeinschnitzereien, eine erlesene +Zimmerkunst, Luxus, Prunk, das sind alles Dinge, die einem viel geben +können. Aber die künstlerische Seelenstimmung, die sie erzeugen oder +mindestens offenbaren, bedeutet mir doch noch mehr. Ein Zuschauer seines +eigenen Lebens sein, wie Harry sagt, das heißt, den Schmerzen des Lebens +entrinnen. Ich weiß, du bist erstaunt, daß ich so zu dir spreche. Du +hast noch nicht bemerkt, wie ich mich entwickelt habe. Ich war ein +Schulknabe, als du mich kennenlerntest. Jetzt bin ich ein Mann. Ich habe +neue Leidenschaften, neue Gedanken, neue Vorstellungen. Ich bin anders, +aber du mußt mich trotzdem nicht weniger lieb haben. Ich bin verändert, +aber du mußt immer mein Freund bleiben. Natürlich habe ich Harry sehr +gern. Aber ich weiß auch, daß du besser bist als er. Du bist nicht +stärker -- dazu ängstigst du dich zu viel vorm Leben -- aber du bist +besser. Und wie glücklich waren wir doch miteinander! Verlaß mich nicht, +Basil, und zanke nicht mit mir. Ich bin, was ich bin. Mehr kann ich dazu +nicht sagen.« + +Der Maler war seltsam bewegt. Der junge Mensch war ihm unsagbar teuer, +und seine Erscheinung war der große Wendepunkt in seiner Kunst gewesen. +Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihm noch weitere Vorwürfe zu +machen. Am Ende war seine Gleichgültigkeit nur eine vorübergehende +Laune. Es steckte ja soviel Gutes, soviel Edles in ihm. + +»Gut, Dorian,« sagte er endlich mit einem wehmütigen Lächeln, »ich will +von heut an nie wieder über diese furchtbare Sache sprechen. Ich hoffe +nur, dein Name wird nicht in Verbindung damit genannt. Die Leichenschau +soll heute nachmittag stattfinden. Bist du vorgeladen?« + +Dorian schüttelte den Kopf, und eine unangenehme Empfindung glitt bei +dem Wort »Leichenschau« über sein Gesicht. In all diesen Dingen lag +etwas so Rohes und Gemeines. »Sie kennen meinen Namen nicht«, antwortete +er. + +»Aber sie wußte ihn doch?« + +»Nur meinen Vornamen, und den hat sie gewiß niemand gesagt. Sie erzählte +mir einmal, daß alle sehr begierig seien, zu erfahren, wer ich sei und +daß sie ihnen beständig sage, ich heiße der Prinz Märchenschön. Das war +hübsch von ihr. Du mußt mir eine Zeichnung von Sibyl machen, Basil. Ich +möchte von ihr gern etwas mehr haben als die Erinnerung an ein paar +Küsse und einige gestammelte pathetische Worte.« + +»Ich will versuchen, etwas zu machen, Dorian, wenn ich dir damit eine +Freude bereite. Aber du mußt zu mir kommen und mir selbst wieder sitzen. +Ich komme ohne dich nicht vom Fleck.« + +»Ich kann dir nie wieder sitzen, Basil. Das ist unmöglich!« rief Dorian +und schrak zurück. + +Der Maler starrte ihn an. »Mein lieber Junge, was für ein Unsinn«, rief +er. »Willst du damit sagen, daß du mein Bild nicht gut findest? Wo ist +es? Warum hast du den Wandschirm vorgestellt? Laß es mich sehen. Es ist +die beste Arbeit, die ich je gemacht habe. Nimm den Schirm weg, Dorian! +Es ist eine Schande, daß dein Bedienter mein Bild so versteckt. Ich +merkte gleich, wie ich eintrat, daß das Zimmer ganz verändert sei.« + +»Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Du glaubst doch nicht etwa, +daß ich ihm irgendeine Anordnung in meinem Zimmer überlasse? Er ordnet +zuweilen meine Blumen -- das ist alles. Nein, ich habe es selbst getan. +Das Licht war zu stark für das Bild.« + +»Zu stark? Gewiß nicht, mein Lieber. Es hat einen untadeligen Platz. Laß +mich's mal sehen!« und Hallward schritt in die Zimmerecke. + +Ein Schrei des Entsetzens entrang sich den Lippen Dorian Grays, und er +stürzte sich zwischen den Maler und den Schirm. »Basil,« sagte er und +sah ganz bleich aus, »du darfst es nicht sehen. Ich will es nicht.« + +»Mein eigenes Bild nicht sehen? Du meinst das doch nicht im Ernst! Warum +soll ich es nicht sehen?« rief Hallward lachend. + +»Wenn du versuchst, es anzusehen, Basil, gebe ich dir mein Ehrenwort, +daß ich, solange ich lebe, nie wieder ein Wort mit dir spreche. Es ist +mein völliger Ernst. Ich gebe keine Erklärung, und du wirst um keine +bitten. Aber denke daran, wenn du diesen Wandschirm anrührst, dann ist +alles aus zwischen uns!« + +Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Dorian Gray ganz verblüfft +an. So hatte er ihn vorher nie gesehen. Der Jüngling war wirklich ganz +bleich vor Zorn. Seine Hände waren zusammengeballt, und die Pupillen +seiner Augen sahen aus wie blaue Feuerräder. Er zitterte am ganzen +Leibe. + +»Dorian!« + +»Sprich nicht!« + +»Aber was ist los? Ich sehe das Bild natürlich nicht an, wenn du es +nicht willst«, sagte der Maler ziemlich kühl, drehte sich um und ging +zum Fenster hinüber. »Aber es scheint mir wahrhaftig ganz verrückt, daß +ich mein eigenes Werk nicht sehen soll, besonders, wo ich es im Herbst +in Paris ausstellen will. Ich werde es wahrscheinlich vorher nochmals +firnissen müssen, werde es also eines Tages doch gewiß sehen, also warum +nicht heute?« + +»Es ausstellen? Du willst es ausstellen?« rief Dorian Gray, den ein +seltsames Angstgefühl überkam. Sollte alle Welt sein Geheimnis erfahren? +Sollte das Volk das Geheimnis seines Lebens begaffen? Das war unmöglich. +Irgend etwas -- er wußte noch nicht was -- mußte sofort geschehen. + +»Ja, ich denke nicht, daß du etwas dagegen haben wirst. Georges Petit +will nächstens meine besten Bilder für eine Sonderausstellung in der Rue +de Sèze sammeln, die in der ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll. +Das Bild wird nur einen Monat lang weg sein. Ich meine, solange könntest +du es leicht entbehren. Du bist ohnehin während dieser Zeit nicht in der +Stadt. Und wenn du es überhaupt hinter einem Schirm versteckt halten +willst, kann dir ja nicht viel daran gelegen sein.« + +Dorian Gray fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Schweißtropfen +standen darauf. Er fühlte, daß er am Rande einer fürchterlichen Gefahr +stehe. »Du hast mir vor einem Monat gesagt, du würdest es nie +ausstellen«, rief er. »Warum hast du dich anders entschlossen? Ihr +Leute, die ihr viel Aufhebens von der Konsequenz macht, habt genau +soviel Launen wie andere. Der einzige Unterschied ist der, daß eure +Launen wenig Sinn haben. Du kannst nicht vergessen haben, daß du mir +feierlichst versichert hast, nichts in der Welt könne dich bewegen, das +Bild auf eine Ausstellung zu bringen. Du sagtest zu Harry ganz +dasselbe.« Er stockte plötzlich, und ein Glanz erwachte in seinen Augen. +Er erinnerte sich, daß ihm Lord Harry einmal halb ernst und halb +scherzend gesagt hatte: Willst du mal eine merkwürdige Viertelstunde +erleben, dann laß dir von Basil sagen, warum er dein Porträt nicht +ausstellen will. Er hat mir den Grund erzählt, und es war für mich eine +Offenbarung. Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis. Er wollte +ihn fragen und auf die Probe stellen. + +»Basil,« sagte er, und trat ganz dicht zu ihm heran und sah ihm fest ins +Gesicht, »jeder von uns hat ein Geheimnis. Sage mir das deine, und ich +laß dich meines wissen. Was für einen Grund hattest du, die Ausstellung +meines Bildes zu verweigern?« + +Der Maler erschauderte, ohne daß er es wollte. »Dorian, wenn ich es dir +sagte, hättest du mich wahrscheinlich weniger lieb und würdest mich +gewiß auslachen. Keines von beiden könnte ich ertragen. Wenn du willst, +daß ich nie mehr dein Bild ansehen soll, dann geb' ich mich zufrieden. +Ich kann dich selbst ja immer ansehen. Wenn du die beste Arbeit, die ich +je gemacht habe, vor der Welt versteckt halten willst, soll es mir recht +sein. Deine Freundschaft ist mir mehr wert als Ruhm und Anerkennung.« + +»Nein, Basil, du mußt es mir sagen. Ich glaube, ich habe ein Recht, es +zu wissen.« Sein Angstgefühl hatte ihn verlassen, und Neugier war an +dessen Stelle getreten. Er war entschlossen, hinter Basil Hallwards +Geheimnis zu kommen. + +»Setzen wir uns, Dorian«, sagte der Maler, der verwirrt aussah. »Setzen +wir uns und beantworte mir eine Frage. Hast du an dem Bild etwas +Merkwürdiges bemerkt? -- etwas, das dir vielleicht anfänglich nicht +aufgefallen ist, was sich dir dann aber plötzlich enthüllte?« + +»Basil!« schrie der Jüngling, umklammerte die Armlehnen seines Stuhles +mit zitternden Händen und starrte ihn mit wilden, verstörten Augen an. + +»Ich sehe, du hast es bemerkt. Sage nichts. Warte, bis du gehört hast, +was ich zu sagen habe. Dorian, von dem Augenblick an, wo ich dich +kennengelernt habe, übte deine Persönlichkeit den außerordentlichsten +Einfluß auf mich aus. Ich war beherrscht von dir, meine Seele, mein +Gehirn, meine ganze Kraft war es. Du wurdest für mich die sichtbare +Verkörperung des unsichtbaren Ideals, dessen Bild uns Künstler wie ein +köstlicher Traum verfolgt. Ich habe dich angebetet. Ich wurde +eifersüchtig auf jeden Menschen, mit dem du sprachst. Ich wollte dich +ganz für mich allein haben. Ich war nur glücklich, wenn ich mit dir +zusammen war. Wenn du fort von mir warst, lebtest du trotzdem in meiner +Kunst weiter... Natürlich ließ ich dich nie etwas davon wissen. Das +wäre unmöglich gewesen. Du hättest es nicht verstanden. Ich selbst hab' +es kaum verstanden. Ich wußte nur, daß ich Auge in Auge die +Vollkommenheit gesehen hatte und daß sich die Welt meinen Augen als ein +Wunder erschlossen hatte -- vielleicht als ein zu mächtiges Wunder, denn +in so wahnsinniger Anbetung liegt eine Gefahr, die Gefahr, daß die +Anbetung aufhört, und die Gefahr, daß sie bleibt... Wochen und Wochen +verstrichen, und ich ging immer mehr und mehr in dir verloren. Dann kam +ein neues Stadium. Ich hatte dich als Paris in strahlender Rüstung +gemalt und als Adonis im Jägergewand mit blitzendem Speer. Mit schweren +Lotusblüten bekränzt hast du auf dem Bug von Hadrians Barke gesessen und +in den grünen, schlammigen Nil geblickt. Du hast dich über das stille +Gewässer einer griechischen Waldlandschaft gelehnt und im stummen +Silberspiegel das Wunder deines eigenen Antlitzes gesehen. Und es war +alles gewesen, wie die Kunst sein soll, unbewußt, ideal und entrückt. +Eines Tages, manchmal denke ich, eines verhängnisvollen Tages, entschloß +ich mich, ein wundervolles Bildnis von dir zu malen, wie du wirklich +bist, nicht im Kostüm toter Zeiten, sondern in deiner eigenen Tracht und +deiner eigenen Zeit. Ob es nun die Realistik der Methode war, oder der +Zauber deiner eigenen Persönlichkeit, der mir so ohne jeden Schleier und +Nebel entgegentrat, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, daß mir bei der +Arbeit jede Schicht Farben mein Geheimnis zu enthüllen schien. Ich +ängstigte mich, andere könnten die Abgötterei, die ich mit dir trieb, +entdecken. Ich fühlte, Dorian, daß ich zuviel gesagt, daß ich zuviel von +mir selber hineingelegt hatte. Damals beschloß ich, das Bild nie +auszustellen. Es kränkte dich ein wenig, aber damals verstandest du eben +nicht, was es für mich bedeutete; Harry, dem ich davon erzählte, lachte +mich aus. Aber das machte mich nicht irrig. Als das Bild fertig war, und +ich allein vor ihm dasaß, fühlte ich, daß ich recht hatte... Schön, ein +paar Tage später, als es mein Atelier verlassen, und ich alsbald den +unerträglichen Zauber seiner Gegenwart überwunden hatte, schien es mir, +daß es verrückt von mir gewesen war, mehr darin zu sehen, als daß du +sehr hübsch seist, und ich wohl malen könne. Selbst jetzt kann ich nicht +umhin, zu fühlen, daß es ein Irrtum sein muß, wenn man glaubt, daß die +Begeisterung, die man beim Schaffen hat, in dem Werke, das man schafft, +leibhaftig zum Ausdruck käme. Die Kunst ist immer abstrakter, als wir +uns einbilden. Form und Farbe erzählen uns von Form und Farbe -- weiter +nichts. Es scheint mir oft, daß die Kunst den Künstler viel mehr +verbirgt als offenbart. Und als ich dann den Antrag aus Paris bekam, +entschloß ich mich, dein Bild zum Hauptstück meiner Ausstellung zu +machen. Es fiel mir nie ein, daß du es nicht zulassen würdest. Ich sehe +jetzt, daß du recht hast. Das Bild darf nicht ausgestellt werden. Du +mußt mir nicht böse sein, Dorian, wegen der Dinge, die ich gesagt habe. +Ich habe früher einmal Harry gesagt, du bist dazu geschaffen, angebetet +zu werden.« + +Dorian Gray atmete tief auf. Seine Wangen bekamen wieder Farbe, und ein +Lächeln umspielte seine Lippen. Die Gefahr war vorbei. Für den +Augenblick war er gerettet. Doch er mußte unendliches Mitleid fühlen mit +dem Maler, der ihm eben diese seltsame Beichte abgelegt hatte, und er +fragte sich, ob er selbst jemals so stark von der Persönlichkeit eines +Freundes beherrscht werden könnte. Lord Henry hatte den Reiz, sehr +gefährlich zu sein. Aber das war alles. Er war zu klug und zu zynisch, +als daß man ihn wirklich lieben könnte. Würde es je einen Menschen +geben, den er merkwürdig abgöttisch anbeten könnte? War das eines von +den Dingen, die ihm das Leben noch aufsparte? + +»Es ist mir wirklich ein reines Rätsel,« sagte Hallward, »daß du das dem +Porträt angesehen haben willst. Hast du es wirklich gesehen?« + +»Ich habe etwas darin gesehen,« antwortete er, »etwas, das mir sehr +sonderbar vorkam.« + +»Und jetzt hast du wohl nichts mehr dawider, es einmal zu betrachten?« + +Dorian schüttelte den Kopf. »Das darfst du von mir nicht verlangen, +Basil. Es ist mir unmöglich, dich vor dem Bilde stehen zu sehen.« + +»Aber doch ein andermal?« + +»Nie!« + +»Schön, vielleicht hast du recht. Und jetzt adieu, Dorian. Du bist der +einzige Mensch in meinem Leben gewesen, der wirklichen Einfluß auf meine +Kunst ausgeübt hat. Was ich je Gutes gemacht habe, danke ich dir. Ach! +Du kannst dir nicht vorstellen, was es mich gekostet hat, dir all das +zu sagen, was ich gesagt habe.« + +»Mein lieber Basil,« sagte Dorian, »was hast du mir denn gesagt? Nichts, +als daß du das Gefühl habest, mich zu sehr zu bewundern. Das ist nicht +einmal ein Kompliment.« + +»Es sollte auch kein Kompliment sein. Es war eine Beichte. Jetzt, da ich +sie abgelegt habe, kommt es mir so vor, als ob ich etwas verloren hätte. +Man sollte seiner Verehrung niemals das Kleid der Worte umhängen.« + +»Deine Beichte hat mich enttäuscht.« + +»Ja, was hast du denn erwartet, Dorian? Du hast doch nicht sonst noch +etwas in dem Bilde gesehen? Es war doch nicht sonst noch etwas anderes +zu sehen?« + +»Nein, es war sonst nichts anderes zu sehen. Warum fragst du? Aber du +solltest nicht von Verehrung sprechen. Das ist Narrheit. Du und ich, wir +sind Freunde, Basil, und müssen es immer bleiben.« + +»Du hast jetzt Harry«, sagte der Maler traurig. + +»Oh, Harry!« rief der junge Mann mit einem fröhlichen Lachen. »Harry +verbringt seine Tage damit, unglaubliche Dinge zu sagen, und seine +Abende, unwahrscheinliche Dinge zu tun. Das ist genau die Art Leben, das +ich führen möchte. Immerhin glaube ich nicht, daß ich je zu Harry ginge, +wenn mich Kummer drückte. Ich würde eher zu dir kommen.« + +»Du willst mir wieder sitzen?« + +»Unmöglich!« + +»Du vernichtest meine künstlerische Existenz, wenn du dich weigerst. +Kein Mensch begegnet zwei Idealen. Wenige finden eines.« + +»Ich kann es dir nicht erklären, Basil, aber ich darf dir nie wieder +sitzen. Es schwebt etwas Verhängnisvolles um das Bildnis eines Menschen. +Es hat ein Leben für sich. Ich werde zu dir kommen und mit dir Tee +trinken, das wird ebenso hübsch sein.« + +»Für dich hübscher, fürchte ich«, sagte Hallward bekümmert vor sich hin. +»Und jetzt adieu. Es tut mir leid, daß du mich nicht noch einmal das +Bild sehen lassen wolltest. Aber dabei ist nichts zu tun. Ich verstehe +sehr gut, was du dabei fühlst.« + +Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte sich Dorian Gray zu. Der +arme Basil! Wie wenig ahnte der doch von dem wahren Grunde! Und wie +seltsam es war, daß er es, statt sein eigenes Geheimnis offenbaren zu +müssen, fast durch einen Zufall erreicht hatte, dem Freunde das seine zu +entreißen. Wie viel erklärte ihm doch diese merkwürdige Beichte! Die +unverständlichen Eifersuchtsanfälle des Malers, seine ungestüme +Verehrung, seine übertriebenen Lobeshymnen, sein sonderbares Verstummen +-- das alles verstand er jetzt, und er tat ihm leid. Einer Freundschaft, +die so stark von Romantik gefärbt war, schien ihm eine gewisse Tragik +inne zu wohnen. + +Er seufzte und drückte auf die Klingel. Das Porträt mußte um jeden Preis +versteckt werden. Er konnte sich nicht ein zweitesmal der Gefahr solcher +Entdeckung aussetzen. Es war wahnsinnig von ihm gewesen, das Ding da +überhaupt nur eine Stunde lang in einem Zimmer zu lassen, zu dem jeder +seiner Freunde Zutritt hatte. + + + + +Zehntes Kapitel + + +Als sein Bedienter eintrat, sah er ihn forschend an und fragte sich, ob +es ihm wohl schon eingefallen sei, hinter den Schirm zu blicken. Der +Mann sah aber ganz harmlos aus und wartete auf seine Befehle. Dorian +zündete sich eine Zigarette an, ging zum Spiegel hinüber und sah hinein. +Er konnte Viktors Gesicht darin genau sehen. Es war eine reglose Maske +der Unterwürfigkeit. Daher war nichts zu fürchten, daher nicht. Doch er +hielt es für das beste, auf der Hut zu sein. + +In sehr leisem Tone trug er ihm auf, die Haushälterin herein zu rufen +und dann zum Einrahmer zu gehen, damit er sofort zwei Gehilfen schicke. +Es schien ihm, daß die Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, in +die Richtung des Schirmes gingen. Oder war das nur Einbildung von ihm? + +Nach einigen Augenblicken trat Frau Leaf in ihrem schwarzseidenen Kleid, +altmodische Zwirnhandschuhe auf den runzligen Händen, in die Bibliothek. +Er verlangte von ihr den Schlüssel zum Schulzimmer. + +»Das alte Schulzimmer, Herr Dorian!« rief sie aus. »Ei, das ist ja +voller Staub. Es muß erst hergerichtet und in Ordnung gebracht werden, +bevor Sie hinein können. Es ist jetzt nicht in einem Zustand, daß Sie es +sehen könnten, gnädiger Herr. Wirklich nicht.« + +»Es braucht nicht hergerichtet zu werden, gute Leaf. Ich will nur den +Schlüssel.« + +»Aber gnädiger Herr, Sie werden sich voller Spinnweben machen, wenn Sie +hineingehen. Ei, es ist ja beinah seit fünf Jahren nicht geöffnet +worden, seit seine Gnaden gestorben sind.« + +Er zuckte zusammen bei der Erwähnung seines Großvaters. Er hatte nur +gehässige Erinnerungen an ihn. »Das macht nichts«, erwiderte er. »Ich +will das Zimmer nur sehen -- das ist alles. Geben Sie mir den +Schlüssel.« + +»Hier ist schon der Schlüssel, gnädiger Herr«, sagte die alte Dame, die +ihren Schlüsselbund mit zitternden, unsicheren Händen durchmustert +hatte. »Hier ist der Schlüssel, ich werde ihn gleich vom Bund haben. +Aber Sie denken doch nicht daran, dort hinaufzuziehen, gnädiger Herr, wo +Sie es hier so gemütlich haben?« + +»Nein, nein!« rief er ungeduldig. »Ich danke, gute Leaf. Ich brauche +sonst nichts.« + +Sie verweilte noch ein paar Augenblicke und wollte über irgendeine +Angelegenheit in der Haushaltung zu quengeln anfangen. Er seufzte und +sagte, sie solle alles so erledigen, wie sie es fürs beste halte. Mit +strahlendem Gesichte verließ sie das Zimmer. + +Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel in die Tasche +und blickte sich im Zimmer um. Sein Auge fiel auf eine große purpurne +Atlasdecke mit schweren Goldstickereien, ein köstliches Stück +venezianischer Arbeit vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein +Großvater in einem Kloster nahe bei Bologna aufgestöbert hatte. Ja, die +paßte trefflich, um das schreckliche Ding damit zu verhüllen. Sie hatte +vielleicht oft als Bahrtuch für Tote gedient. Jetzt sollte sie etwas +verhüllen, das eine eigene Art Verwesung in sich hatte, eine ärgere als +die Verwesung des Todes -- etwas, das Schrecknisse ausbrüten und doch +nie sterben würde. Was Würmer für einen Leichnam sind, das würden seine +Sünden für das gemalte Antlitz auf der Leinwand werden. Sie würden seine +Schönheit zerstören und seine Anmut wegfressen. Sie würden es beflecken +und schänden. Und doch würde das Bild weiterleben. Es würde immer am +Leben bleiben. + +Er schauderte, und einen Augenblick lang tat es ihm leid, daß er Basil +nicht den wahren Grund gesagt habe, warum er das Bild verstecken wolle. +Basil hätte ihm helfen können, sowohl dem Einfluß Lord Henrys zu +widerstehen, als auch den noch viel giftigeren Einflüssen, die aus +seiner eigenen Natur herrührten. Die Liebe, die Basil für ihn hegte -- +denn es war wirklich Liebe --, schloß nichts ein, was nicht edel und +vergeistigt wäre. Es war nicht jene rein physische Bewunderung, die eine +Geburt der Sinne ist und mit der Ermüdung der Sinne hinstirbt. Es war +eine Liebe, wie sie Michelangelo gekannt hatte und Montaigne und +Winkelmann und auch Shakespeare. Ja, Basil hätte ihn retten können. Aber +jetzt war es zu spät. Die Vergangenheit konnte immer vernichtet werden. +Reue, Verleugnung oder Vergessenheit konnten das bewirken. Aber die +Zukunft war unabwendlich. Er hatte Leidenschaften in sich, die ihr +fürchterliches Ausfalltor bei ihm finden wurden, Träume, die ihre +sündigen Schatten zur Wirklichkeit umwandeln würden. + +Er griff nach dem großen Überwurf aus Purpur und Gold, der den Diwan +bedeckte, hob ihn mit beiden Händen auf und ging damit hinter den +Schirm. War das Gesicht auf der Leinwand jetzt häßlicher als vorher? Es +erschien ihm unverändert; und doch, sein Abscheu davor war noch +verstärkt. Goldiges Haar, blaue Augen, rosenrote Lippen -- das war alles +da. Nur der Ausdruck hatte sich verwandelt. Der war erschreckend in +seiner Grausamkeit. Im Vergleich zu den Vorwürfen und der Rüge, die er +in dem Bilde sah, wie nichtssagend waren da Basils Vorhaltungen über +Sibyl Vane gewesen -- nichtssagend und belanglos! Seine eigene Seele sah +ihn an aus der Leinwand und forderte ihn vors Gericht. Ein schmerzlicher +Zug legte sich über sein Gesicht, und er warf die prunkvolle Sofadecke +über das Bild. Während er dies tat, klopfte es an die Tür. Er kam hinter +dem Wandschirm hervor, als sein Bedienter eintrat. + +»Die Leute sind da, Monsieur.« + +Er hatte das Gefühl, daß er den Mann jetzt los werden müsse. Er durfte +nicht wissen, wohin das Bild sollte. Er hatte etwas Listiges an sich und +nachdenkliche, verräterische Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch, +kritzelte ein paar Zeilen hin an Lord Henry, worin er bat, ihm etwas zum +Lesen zu schicken, und worin er ihn daran erinnerte, daß sie sich um +viertel neun heut abend treffen wollten. + +»Warten Sie auf Antwort,« sagte er, indem er ihm den Brief übergab, »und +lassen Sie die Leute herein.« + +Nach zwei bis drei Minuten klopfte es wieder, und Herr Hubbard, der +berühmte Rahmenfabrikant aus South Audley Street, trat mit einem +struwwelig aussehenden Gehilfen herein. Herr Hubbard war ein blühend +aussehender, rotbäckiger, kleiner Mann, dessen Bewunderung für die Kunst +beträchtlich vermindert worden war durch den althergebrachten Geldmangel +bei den meisten Künstlern, die mit ihm zu tun hatten. In der Regel +verließ er seine Werkstatt nie. Er wartete, bis die Leute zu ihm kamen. +Aber bei Dorian Gray machte er immer eine Ausnahme. Es war etwas an +Dorian, was jeden entzückte. Ihn nur zu sehen, das war schon ein +Vergnügen. + +»Was steht zu Ihren Diensten, Herr Gray?« fragte er und rieb seine +fetten, sommersprossigen Hände. »Ich dachte, ich wollte mir selbst die +Ehre geben, herüberzukommen. Ich habe gerade ein Prachtstück von Rahmen +da. Bei einer Auktion ergattert. Alt-Florentiner. Stammt aus Fonthill, +vermute ich. Wundervoll geeignet für einen religiösen Gegenstand, Herr +Gray.« + +»Es tut mir leid, daß Sie sich selbst herbemüht haben, Herr Hubbard. Ich +werde gern mal vorbeikommen und den Rahmen ansehen -- obwohl ich mich +gerade jetzt nicht sehr für religiöse Kunst interessiere -- aber heute +möchte ich nur ein Bild auf den Boden getragen haben. Es ist ziemlich +schwer, deshalb dachte ich mir, daß Sie so gut wären, mir zwei von Ihren +Leuten zu leihen.« + +»Hat gar nichts zu sagen, Herr Gray. Freue mich, wenn ich Ihnen den +kleinsten Dienst leisten kann. Wo ist das Kunstwerk, gnädiger Herr?« + +»Dies da«, antwortete Dorian und schob den Schirm zurück. »Können Sie es +so hinaufbringen, wie es jetzt ist, Decke und Bild zusammen? Ich möchte +nicht, daß es die Treppen hinauf zerschrammt wird.« + +»Das werden wir leicht kriegen«, sagte der muntere Rahmenmacher und +begann mit Hilfe von seinem Gesellen das Bild von den langen +Messingketten loszumachen, an denen es aufgehängt war. »Und wo soll es +jetzt hingebracht werden, Herr Gray?« + +»Ich will Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn Sie so gut sein +wollen, mir nur zu folgen. Oder vielleicht gehen Sie lieber voraus. Es +tut mir leid, aber es ist ganz oben. Wir wollen über die Vordertreppe +gehen, die ist breiter.« + +Er hielt ihnen die Tür auf, und sie gingen in den Vorraum hinaus und +fingen an, hinaufzusteigen. Die ausladenden Verzierungen des Rahmens +hatten das Bild sehr umfangreich gemacht, und hin und wieder legte +Dorian mit Hand an, um ihnen zu helfen, trotz den unterwürfigen +Einwänden des Herrn Hubbard, der die lebhafte Abneigung des wirklichen +Handwerkers gegen jede nützliche Beschäftigung eines vornehmen Herrn +hatte. + +»Da hat man ein ziemliches Gewicht zu schleppen«, pustete der kleine +Mann, als sie den letzten Treppenabsatz erreicht hatten. Und er +trocknete sich die glänzende Stirn. + +»Es tut mir leid, daß es so schwer ist«, murmelte Dorian, während er die +Tür zu dem Zimmer aufschloß, das dieses sonderbare Geheimnis seines +Lebens aufbewahren und seine Seele vor den Blicken der Menschheit +schützen sollte. + +Er hatte die Stube wohl länger als vier Jahre nicht betreten -- in +Wirklichkeit nicht, seitdem sie ihm in seiner Kindheit zuerst als +Spielzimmer, und dann, als er etwas älter war, als Studierzimmer gedient +hatte. Es war ein großer Raum von schönen Verhältnissen, den der +verstorbene Lord Kelso eigens zur Benutzung für seinen kleinen Enkel +angebaut hatte, den er wegen seiner fabelhaften Ähnlichkeit mit seiner +Mutter und auch noch aus anderen Gründen immer gehaßt hatte und +möglichst weit weg von sich haben wollte. Der Raum schien Dorian wenig +verändert. Da war der mächtige italienische Cassone mit den phantastisch +bemalten Füllungen und den abgenutzten goldenen Ornamenten, in dem er +sich als Junge oft versteckt hatte. Da stand der polierte Bücherschrank +aus Satinholz mit seinen Schulbüchern voll Eselsohren. An der Wand +darüber hing noch derselbe zerfaserte flämische Gobelin, auf dem ein +verblichener König und eine Königin in einem Garten Schach spielten, +während ein Trupp von Falkenieren vorbeiritt, die auf ihren +Panzerhandschuhen Vögel mit kappenverhüllten Köpfen trugen. Wie gut er +sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner vereinsamten Kindheit +kam ihm vors Gedächtnis, während er sich umsah. Er entsann sich der +fleckenlosen Reinheit seines Knabenlebens, und es schien ihm furchtbar, +daß gerade hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen werden sollte. Wie +wenig hatte er in diesen längst verrauschten Tagen von alledem geahnt, +was seiner warten sollte! + +Aber kein anderer Ort im ganzen Hause war so sicher vor neugierigen +Augen als dieser. Er hatte den Schlüssel, und jetzt konnte niemand +weiter hinein. Hinter dem purpurnen Bahrtuch konnte nun das gemalte +Gesicht auf der Leinwand tierisch, gedunsen und lasterhaft werden. Was +lag daran? Niemand konnte es sehen. Er selbst wollte es nicht sehen. +Warum sollte er die gräßliche Verwesung seiner Seele verfolgen? Er +behielt seine Jugend -- das mußte genügen. Und übrigens, konnte sein +Wesen trotz allem nicht edler werden? Es war kein Grund vorhanden, daß +die Zukunft so angefüllt von Lastern sein müsse. Die Liebe konnte in +sein Leben treten und ihn läutern und ihn vor den Sünden beschützen, die +ihm schon in Geist und Blut zu gähren schienen -- diese seltsamen, nicht +gemalten Sünden, deren Unbekanntheit ihnen eben den Reiz und die +Verführung lieh. Eines Tages vielleicht verschwand der grausame Zug von +dem empfindlichen Scharlachmund, und dann würde er der Welt Basil +Hallwards Meisterwerk zeigen können. + +Nein, das war unmöglich. Stunde für Stunde und Woche für Woche alterte +das Antlitz auf der Leinwand. Es mochte den Greueln der Sünde +entfliehen, aber die Greuel des Alters mußten es einholen. Die Wangen +müssen hohl oder schlaff werden. Gelbe Krähenfüße müssen sich um die +glanzlosen Augen herumringeln und sie fürchterlich machen. Das Haar +mußte seinen Glanz verlieren, der Mund klaffen oder einfallen, blöde +oder gewöhnlich aussehen, wie eben der Mund alter Leute aussieht. Der +Hals mußte verschrumpfen, die Hände mußten kalt und von blauen Adern +durchzogen werden, der Körper mußte sich krümmen, wie er ihn bei seinem +Großvater gesehen hatte, der so streng gegen ihn gewesen war in der +Knabenzeit. Das Bildnis mußte verborgen bleiben. Da konnte nichts +helfen. + +»Bitte, Herr Hubbard, bringen Sie es herein«, sagte er abgespannt und +wandte sich um. »Es tut mir leid, daß ich Sie so lange aufhielt. Ich +dachte gerade nach über etwas.« + +»Immer angenehm, sich mal verschnaufen zu können, Herr Gray«, antwortete +der Rahmenmacher, der noch immer nach Luft schnappte. »Wo sollen wir es +hinstellen?« + +»Ach, irgendwo. Vielleicht hierher: da wird's gut stehen. Ich will's +nicht aufgehängt haben. Lehnen Sie es nur gegen die Wand. Danke!« + +»Darf man das Kunstwerk mal ansehen?« + +Dorian erschrak. »Es würde Sie nicht interessieren, Herr Hubbard«, sagte +er und sah den Mann fest an. Er fühlte sich imstande, auf ihn +loszustürzen und ihn zu Boden zu werfen, wenn er es wagen sollte, die +schimmernde Hülle zu lüften, die das Geheimnis seines Lebens barg. »Ich +will Sie nicht länger aufhalten. Schönsten Dank, daß Sie so freundlich +waren, herüberzukommen.« + +»Kein Anlaß, kein Anlaß, Herr Gray! Es ist mir immer ein Vergnügen, für +Sie etwas tun zu dürfen.« + +Und Herr Hubbard stapfte die Treppe hinab, sein Gehilfe hinterher, der +noch einmal nach Dorian zurückblickte, mit einem Ausdruck scheuer +Bewunderung in dem unschönen Alltagsgesicht. Er hatte nie einen Menschen +gesehen, der so wunderhübsch war. + +Als das Geräusch ihrer Fußtritte verklungen war, schloß Dorian die Tür +zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Jetzt fühlte er sich +gleichsam gerettet! Nie würde jemand das Schrecknis sehen. Kein Auge als +seines würde mehr seine Schande erblicken. + +Als er wieder in die Bibliothek kam, sah er, daß es gerade fünf Uhr war +und daß der Tee schon bereit stand. Auf einem kleinen Tisch aus dunklem, +wohlriechendem Holz, das reich mit Perlmutter ausgelegt war, einem +Geschenk der Frau seines Vormundes, Lady Radley, einer hübschen Kranken +von Beruf und Gewohnheit, die den vergangenen Winter in Kairo zugebracht +hatte, lag ein Briefchen von Lord Henry und daneben ein Buch in gelbem, +leicht abgenutztem und an den Ecken nicht mehr ganz sauberem Umschlag. +Ein Exemplar der dritten Tagesausgabe der St.-James-Gazette lag auf dem +Teebrett. Offenbar war Viktor zurückgekehrt. Er fragte sich, ob er wohl +die Leute in der Vorhalle getroffen hätte, als sie das Haus verließen, +und ob er sie ausgeforscht hätte, was sie getan hätten. Er würde sicher +das Bild vermissen -- hatte es ohne Zweifel schon vermißt, als er den +Teetisch zurecht machte. Der Schirm war noch nicht an seinen Platz +zurückgestellt worden, und der leere Raum an der Wand war auffallend. +Vielleicht würde er ihn eines Nachts ertappen, wie er hinaufschlich und +die Tür des Bodenzimmers zu sprengen versuchte. Es war schrecklich, +einen Spion im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten gehört, die +ihr ganzes Leben hindurch von den Erpressungen eines Bedienten +ausgesaugt wurden, der mal irgendeinen Brief gelesen oder ein Gespräch +mitangehört oder eine Karte mit einer Adresse gefunden oder unter einem +Kissen eine verwelkte Blume oder einen Fetzen zerknitterter Spitze +entdeckt hatte. + +Er seufzte, goß sich etwas Tee ein und öffnete Lord Henrys Billett. Es +stand nur darin, daß er ihm die Abendzeitung schicke und ein Buch, das +ihn vielleicht interessieren werde, und daß er ihn um Viertel neun im +Klub zu treffen hoffe. Er öffnete langsam die St.-James und durchflog +sie. Ein Strich mit Rotstift auf der fünften Seite fiel ihm auf. Er +machte auf die folgende Notiz aufmerksam: + + »_Leichenschau einer Schauspielerin._ Eine gerichtliche + Untersuchung wurde heute morgen von Herrn Danby, dem + Bezirks-Leichenbeschauer in der Bell Tavern, Hoxton Road, über den + Leichnam von Sibyl Vane, einer jungen Schauspielerin, die seit + kurzem am Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten. Es + wurde auf Tod durch einen Unglücksfall erkannt. Reges Mitgefühl + erweckte die Mutter der Verblichenen, die während ihrer Aussage und + der des ~Dr.~ Birrel, der die Obduktion der Leiche vorgenommen + hatte, ihrem Schmerz erschütternden Ausdruck gab.« + +Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt, lief im Zimmer auf und ab und +warf die Papierfetzen weg. Wie häßlich das alles war! Und was für eine +schreckliche Wirklichkeit die Häßlichkeit allem gab! Er ärgerte sich ein +wenig über Lord Henry, daß er ihm den Bericht geschickt hatte. Und +sicher war es albern von ihm, ihn mit Rotschrift anzustreichen. Viktor +konnte ihn gelesen haben. Der Mann verstand dafür mehr als genug +Englisch. + +Vielleicht hatte er ihn schon gelesen und angefangen, Verdacht zu +schöpfen. Und wenn schon, was lag daran? Was hatte Dorian Gray mit Sibyl +Vanes Tod zu tun? Es war kein Grund zur Furcht. Dorian Gray hatte sie +nicht getötet. + +Sein Auge fiel auf das gelbe Buch, das ihm Lord Henry geschickt hatte. +Er war gespannt, was es sein mochte. Er trat an den kleinen +perlfarbenen, achteckigen Hocker, der ihm immer wie das Werk seltsamer +ägyptischer Bienen vorgekommen war, die ihre Waben in Silber trieben, +nahm den Band zur Hand, warf sich in einen Lehnsessel und begann zu +blättern. Nach einigen Augenblicken kam er nicht mehr davon los. Es war +das merkwürdigste Buch, das er je gelesen hatte. Es schien ihm, als +zögen in erlesenen Prachtgewändern und zum Klange von Flöten die Sünden +der Welt in stummem Reigentanze an ihm vorbei. Dinge, die er bestimmt +geträumt hatte, wurden plötzlich zur Wirklichkeit. Dinge, von denen er +vag geträumt hatte, wurden ihm mählich enthüllt. + +Es war ein Roman ohne rechte Handlung, der sich um einen einzigen +Charakter drehte, eigentlich eine bloße psychologische Studie über einen +gewissen jungen Pariser, der sein Leben mit dem Versuche hinbrachte, im +neunzehnten Jahrhundert alle Leidenschaften und Wandlungen der +Denkungsart in Wirklichkeit umzusetzen, die jedem Jahrhundert, außer +seinem eigenen, angehört hatten, und so die verschiedenartigen +psychischen Zustände, die irgend einmal die Weltseele durchgemacht +hatte, in sich selbst gewissermaßen zu vereinigen, indem er jene +Entsagungen, die die Menschen in ihrer Torheit Tugend genannt haben, +ihrer bloßen Künstlichkeit wegen ebenso heftig liebte wie jene +Empörungen gegen die Natur, die weise Menschen noch immer Sünden nennen. +Der Stil, in dem das Buch geschrieben war, bestand in jener sonderbaren, +reich geschmückten Diktion, die lebendig und dunkel zugleich ist, von +Argotausdrücken und archaistischen Wendungen, von technischen Ausdrücken +und sorgsam gefeilten Umschreibungen strotzt, wie sie die Arbeiten +einiger der feinsten Künstler aus der französischen Symbolistenschule +kennzeichnet. Es waren Metaphern darin, so abenteuerlich an Form wie +Orchideen und auch so fein angehaucht wie deren Farbentöne. Das Leben +der Sinne war mit einer Terminologie mystischer Philosophie beschrieben. +Man wußte manchmal kaum, ob man von den vergeistigten Entzückungen eines +mittelalterlichen Heiligen las oder die krankhaften Beichtbekenntnisse +eines modernen Sünders. Es war ein Buch voll Gift. Ein dicker +Weihrauchnebel schien über den Seiten zu schweben und sein Gehirn zu +betäuben. Schon der melodische Fall der Sätze, die gesuchte Monotonie +ihrer Musik mit der Fülle von komplizierten Refrains und Taktgefügen, +die sich in der raffiniertesten Weise wiederholten, erzeugten im Geist +des Jünglings, als er von Kapitel zu Kapitel weiterlas, eine Art +Träumerei, ja eine förmliche Krankheit des Träumens, so daß er den +sinkenden Tag und die hereinkriechenden Schatten nicht merkte. + +Wolkenlos, von den Strahlen keines einzigen Sternes durchstochen, +glimmerte ein kupfergrüner Himmel durch die Fenster. Er las bei seinem +matten Licht weiter, bis er nicht mehr lesen konnte. Nachdem ihn sein +Diener mehrere Male an die späte Stunde erinnert hatte, stand er auf, +ging ins Nebenzimmer, legte das Buch auf das Florentiner Tischchen, das +immer neben seinem Bett stand, und begann sich zum Diner umzukleiden. + +Es war fast neun Uhr, als er im Klub ankam, wo er Lord Henry allein und +sehr gelangweilt aussehend, im Frühstückszimmer sitzend, antraf. + +»Es tut mir zwar leid, Harry,« rief er, »aber es ist nur deine Schuld. +Das Buch, das du mir geschickt hast, hat mich wirklich so gefesselt, daß +ich gar nicht merkte, wo die Zeit geblieben ist.« + +»Ja, ich dachte mir, daß es dir gefällt«, antwortete der Freund, sich +vom Stuhle erhebend. + +»Ich habe nicht gesagt, daß es mir gefällt, Harry. Ich habe gesagt, es +fesselte mich. Das ist ein großer Unterschied.« + +»Ah, das hast du entdeckt?« sagte Lord Henry. Und sie gingen zusammen in +den Speisesaal. + + + + +Elftes Kapitel + + +Jahre hindurch konnte sich Dorian Gray von dem Einfluß dieses Buches +nicht losmachen. Oder es wäre vielleicht richtiger zu sagen, er +versuchte gar nicht, sich von ihm loszumachen. Er ließ sich aus Paris +nicht weniger als neun Luxusexemplare der ersten Auflage kommen und ließ +sie verschiedenfarbig einbinden, damit sie zu den wechselnden Launen und +veränderlichen Stimmungen seiner Natur paßten, über die er bisweilen +jede Herrschaft verloren zu haben schien. Der Held, der wunderbare junge +Pariser, bei dem das romantische und das wissenschaftliche Temperament +so merkwürdig vermischt waren, wurde für ihn eine Art vorbildlicher +Idealgestalt seiner selbst. Und in der Tat schien ihm das ganze Buch die +Geschichte seines Lebens zu enthalten, aufgeschrieben, bevor er selbst +es gelebt hatte. + +In einer Beziehung aber war er glücklicher als der phantastische +Romanheld. Er kannte nie -- hatte in der Tat auch nie einen Grund dazu +-- das beinahe groteske Grauen vor Spiegeln und polierten Metallflächen +und unbewegten Wassern, das den jungen Pariser so früh im Leben überkam +und das durch den jähen Verfall einer Schönheit verursacht war, die +allem Anschein nach vorher ganz außerordentlich gewesen sein mußte. Mit +einer fast grausamen Lust -- und vielleicht liegt in jeder Lust, wie +gewißlich in jedem Genuß, Grausamkeit -- pflegte er den zweiten Teil des +Buches zu lesen mit dem wirklich tragischen, wenn auch etwas übertrieben +geschilderten Bericht von den Leiden und der Verzweiflung eines +Menschen, der selbst verloren hatte, was er an anderen und an der Welt +am höchsten schätzte. + +Denn die wundervolle Schönheit, die Basil Hallward so gefesselt hatte +und manchen anderen auch, schien ihn nie zu verlassen. Selbst jene, die +die häßlichsten Dinge über ihn gehört hatten -- und von Zeit zu Zeit +schlichen seltsame Gerüchte über seine Lebensweise durch London und +wurden das Gespräch der Klubs -- konnten, wenn sie ihn sahen, nichts +glauben, was ihm hätte zur Unehre gereichen können. Er sah immer aus wie +einer, der sich in der Welt unbefleckt erhalten hatte. Männer, die sich +anstößige Dinge erzählten, verstummten, wenn Dorian Gray ins Zimmer +trat. In der Reinheit seines Antlitzes lag ein Etwas, das sie in +Schranken hielt. Seine bloße Gegenwart schien in ihnen die Erinnerung an +die Unschuld zu erwecken, die sie beschmutzt hatten. Sie staunten, daß +ein so reizender und anmutiger Mensch wie er der Befleckung durch eine +Zeit hatte entgehen können, die zugleich unsauber und sinnlich war. + +Oft, wenn er von einer der geheimnisvollen längeren Abwesenheiten +zurückkehrte, die so merkwürdige Vermutungen bei seinen Freunden +erregten oder bei jenen, die sich dafür hielten, so schlich er hinauf in +die verschlossene Dachstube, öffnete die Tür mit dem Schlüssel, der ihn +nun nie mehr verließ, und stand mit einem Handspiegel vor dem Bildnis, +das Basil Hallward von ihm gemalt hatte, und sah bald auf das +schändliche und gealterte Antlitz auf der Leinwand, bald auf das schöne, +junge Gesicht, das ihn aus der glatten Spiegelfläche anlächelte. Gerade +die Stärke dieses Kontrastes pflegte seine Lustempfindung zu erhöhen. Er +verliebte sich mehr und mehr in seine eigene Schönheit und empfand mehr +und mehr Teilnahme für die Verderbnis seiner eigenen Seele. Er +untersuchte mit peinlicher Sorgsamkeit und manchmal mit ungeheuerlichem +und schrecklichem Wonnegefühl die häßlichen Linien, die die runzlige +Stirn durchfurchten oder sich um den üppigen sinnlichen Mund +schlängelten, und fragte sich manchmal, ob wohl die Merkmale der Sünde +schrecklicher seien oder die Spuren des Alters? Er legte seine weißen +Hände neben die rohen, gedunsenen Hände des Bildes und lächelte. Er +machte sich lustig über den verunstalteten Leib und die welkenden +Glieder. + +Dann gab es in der Tat Augenblicke, nachts, wenn er schlaflos in seinem +mild durchdufteten Zimmer lag oder in der schmuddeligen Stube der +kleinen berüchtigten Kneipe nahe den Docks, die er unter einem +angenommenen Namen und verkleidet zu besuchen pflegte, wo er mit einem +Mitgefühl, das um so beklemmender war, als es einen rein ethischen +Ursprung hatte, an das Elend dachte, das er über seine Seele gebracht +hatte. Aber Augenblicke wie diese waren selten. Jene Neugier auf das +Leben, die Lord Henry zuerst in ihm aufgestört hatte, als sie im Garten +ihres Freundes nebeneinander saßen, schien mit ihrer Befriedigung nur zu +wachsen. Je mehr er wußte, desto mehr wollte er wissen. Er hatte tolle +Hungeranfälle, die immer ungestillter wurden, je mehr er sie nährte. + +Und doch war er nicht gerade liederlich geworden, wenigstens nicht in +seinen Beziehungen zur Gesellschaft. Ein- oder zweimal in jedem Monat +während des Winters und jeden Mittwochabend während der Saison öffnete +er der Welt sein schönes Haus, und immer waren die berühmtesten Musiker +da, um seine Gäste mit ihrer erlesenen Kunst zu begeistern. Seine +kleinen Diners, bei deren Vorbereitung ihm Lord Henry immer half, waren +ebensosehr wegen der sorgsamen Auswahl und Tischordnung der Eingeladenen +berühmt, wie wegen des ausgesuchten Geschmackes, der sich in der +Tafeldekoration mit ihren fein abgetönten, symphonischen Anordnungen +exotischer Pflanzen, gestickter Decken und antiker Gold- und +Silbergeräte aussprach. Tatsächlich gab es eine große Zahl, besonders +von ganz jungen Menschen, die in Dorian Gray die vollkommene +Verkörperung eines Typus sahen oder zu sehen wähnten, von dem sie oft in +den Tagen von Eton oder Oxford geträumt hatten, eines Typus, der etwas +von der wirklichen Bildung des Gelehrten mit der Anmut, Vornehmheit und +den vollendeten Manieren eines Weltmannes vereinigte. Ihnen erschien er +als einer aus jener Menschengruppe, von denen Dante sagt, »sie suchten +sich durch die Anbetung der Schönheit zu vervollkommnen«. Gleich Gautier +war er einer von denen, »für die die sichtbare Welt da war«. + +Und gewiß war für ihn das Leben die erste, die größte Kunst, und alle +übrigen Künste schienen nur die Vorschule dazu. Natürlich übte auch die +Mode, durch die das wirklich Phantastische einen Augenblick lang +Allgemeingut wird, und das Dandytum, das auf seine Weise einen Versuch +bildet, eine absolut moderne Art von Schönheit zu verkörpern, ihren Reiz +auf ihn aus. Seine Art, sich zu kleiden, und die besonderen +Stilabweichungen, die er von Zeit zu Zeit sehen ließ, hatten einen +ausgesprochenen Einfluß auf die jungen Stutzer der Bälle in Mayfair und +der Fenster des Pall-Mall-Klubs, die ihm in allem, was er tat, +nachahmten und jede Exzentrizität aufgriffen, die seine Anmut erhöhte, +aber ihm selbst nur teilweis ernst war. + +Denn er war nur zu leicht bereit, die Stellung anzunehmen, die ihm +unmittelbar nach seiner Volljährigkeit geboten wurde, und er fand in +Wahrheit einen besonderen Genuß in dem Gedanken, er könne für das London +seiner Zeit das werden, was für das Rom des Kaisers Nero der Verfasser +des »Satyrikon« gewesen war, aber er wünschte doch im innersten Herzen +mehr zu werden als ein arbiter elegantiarum, und nicht nur über das +Tragen eines Schmuckstückes oder das Binden einer Krawatte oder die +Haltung eines Spazierstockes befragt zu werden. Er suchte ein neues +Schema für die Lebensführung zu entwerfen, das seine philosophische +Grundlage und seine geordneten Prinzipien haben und in der Vergeistigung +der Sinne seine höchste Vervollkommnung erreichen sollte. + +Die Pflege der Sinne ist oft und mit vielem Recht geschmäht worden, da +die Menschen einen natürlichen, instinktiven Abscheu vor Leidenschaften +und Empfindungen haben, die stärker scheinen als sie selbst und die sie +mit weniger hoch organisierten Formen des Lebendigen gemein zu haben +sich bewußt sind. Doch kam es Dorian Gray so vor, als ob die wahre Natur +der Sinne noch nie verstanden worden sei und als ob sie nur deshalb wild +und tierisch geblieben seien, weil die Welt versuchte, sie durch Hunger +zur Unterwerfung zu bringen oder durch Schmerzen zu töten, statt +bestrebt zu sein, sie zu Bestandteilen einer neuen geistigen Welt zu +machen, in der ein edles Schönheitsbewußtsein die vorherrschende +Triebfeder sein sollte. Wenn er auf den Gang der Menschen durch die +Weltgeschichte zurückblickte, verfolgte ihn ein Gefühl des Verlustes. So +vielem war entsagt worden und zu so geringem Zweck! Es hatte wahnsinnige +freiwillige Entsagungen gegeben, ungeheuerliche Formen von +Selbstquälerei und Selbstverleugnung, deren Ursprung die Furcht war und +deren Ergebnis eine Erniedrigung von unsäglich schrecklicherer Art, als +jene nur eingebildete Erniedrigung, vor der sie sich in ihrer +Unwissenheit flüchten wollten, da die Natur in ihrer wunderbaren Ironie +den Anachoreten hinausjagte, damit er sich in Gesellschaft der Bestien +der Wüste nährte, und dem Einsiedler die Tiere des Feldes zu Gefährten +gab. + +Ja: es mußte, wie Lord Henry prophezeit hatte, ein neuer Hedonismus +kommen, um das Leben zu erneuern und es von jenem strengen, häßlichen +Puritanertum zu erlösen, das in unseren Tagen seine sonderbare +Auferstehung feierte. Gewiß, er würde dem Intellekt gehorsam sein +müssen; aber niemals dürfte er eine Theorie oder ein System anerkennen, +das irgendein leidenschaftliches Erlebnis zum Opfer forderte. Sein +wahres Ziel sollte gerade die Erfahrung selbst sein und nicht die +Früchte der Erfahrung, mochten sie nun so süß oder bitter sein, wie sie +wollten. Von dem Asketentum, das die Sinne tötet, oder von der +gewöhnlichen Ausschweifung, die sie abstumpft, würde er nichts wissen +wollen. Aber er sollte die Menschen lehren, sich für die Momente des +Lebens zu sammeln, da dieses selbst doch nur ein Moment ist. + +Es gibt nur wenige unter uns, die nicht manchmal vor Tagesgrauen erwacht +wären, entweder nach einer jener traumlosen Nächte, die uns den Tod +lieben lassen, oder nach einer jener Nächte voll Schrecken und +wollüstiger Albdrücken, wo durch die Kammern des Gehirns Gespenster +flattern, die schrecklicher sind als die Wirklichkeit selbst und erfüllt +sind von dem lebendigen Dasein, das in allem Grotesken lauert und das +der gotischen Kunst ihre ewig lebendige Kraft gibt, weil gerade diese +Kunst, wie man sagen möchte, die besondere Kunst jener ist, deren Geist +durch die Krankheit von Fieberträumen verwirrt worden ist. Nach und nach +strecken sich bleiche Finger zwischen den Vorhängen durch und scheinen +zu erzittern. In schwarzen, abenteuerlichen Formen kriechen stumme +Schatten in die Ecken des Zimmers und kauern dort nieder. Draußen regen +sich die Vögel im Geblätter, oder man hört den Schritt der Menschen, die +zur Arbeit gehen, oder das Heulen und Schluchzen des Windes, der von den +Bergen kommt und das schweigsame Haus umwandert, als fürchte er, die +Schläfer zu wecken, und müsse dennoch den Schlaf aus seiner purpurnen +Höhle ans Licht rufen. Schleier nach Schleier aus feiner, dunkelfarbener +Gaze heben sich, und allmählich erhalten die Dinge ihre Formen und +Farben zurück, und wir sehen es mit an, wie die Frühdämmerung der Welt +ihre alte Gestalt zurückgibt. Die verschwommenen Spiegel bekommen ihr +Scheinleben zurück. Die lichtlosen Lampen stehen, wo wir sie gelassen +haben, und neben ihnen liegt das halb aufgeschnittene Buch, darin wir +gelesen, oder die verwelkte Blume, die wir auf dem Ball getragen, oder +der Brief, den zu lesen wir uns gefürchtet oder den wir zu oft gelesen +haben. Nichts scheint uns geändert. Aus den unwirklichen Schatten der +Nacht tritt das wirkliche Leben hervor, das wir kannten. Wir haben es da +wieder aufzunehmen, wo wir es unterbrochen haben, und uns beschleicht +das fürchterliche Gefühl der Notwendigkeit, seine Energien weiter +verbrauchen zu müssen in der gleichen ermüdenden Tretmühle stereotyper +Gewohnheiten, oder vielleicht überschleicht uns eine wilde Sehnsucht, +daß sich unsere Augen eines Morgens öffnen möchten für eine Welt, die im +nächtigen Dunkel zu unserer Lust neu erschaffen worden sei, für eine +Welt, in der die Dinge frische Linien und Farben hätten, verändert seien +oder andere Geheimnisse bürgen, für eine Welt, in der die Vergangenheit +nur einen unbedeutenden oder gar keinen Platz hätte oder wenigstens in +keiner bewußten Form von Verpflichtung oder Reue weiterlebte, wo die +Erinnerung selbst an die Freude ihre Bitterkeit enthält und dem +Gedächtnis an den Genuß ein Schmerz beigemischt ist. + +Die Erschaffung solcher Welten schien für Dorian Gray der wahre +Lebensinhalt oder wenigstens sein hauptsächlichster Inhalt zu bedeuten; +und auf seiner Suche nach Sinnenerlebnissen, die zugleich neu und +genußreich sein sollten und jenes Element der Seltsamkeit enthielten, +die für die Romantik so wesentlich ist, eignete er sich oft gewisse +Arten zu denken an, von denen ihm wohl bewußt war, daß sie seinem Wesen +in Wirklichkeit fremd waren, gab sich ihren subtilen Einflüssen hin und +verließ sie dann, wenn er sozusagen ihre Farbe in sich eingesogen und +seine geistige Neugier befriedigt hatte, mit jener eigentümlichen +Gleichgültigkeit, die nicht unvereinbar ist mit einem wirklich glühenden +Temperament, und die in der Tat nach der Meinung gewisser moderner +Psychologen oft eine Bedingung dafür ist. + +Einmal ging ein Gerücht von ihm, er wolle katholisch werden; und gewiß +hatte der katholische Kult eine große Anziehungskraft für ihn. Das +tägliche Meßopfer, das wirklich viel ehrfurchterweckender ist als alle +Opfer der antiken Welt, regte ihn ebensosehr an durch seine prachtvolle +Unbekümmertheit des sinnlichen Augenscheins wie durch die primitive +Einfachheit seiner Elemente und das ewige Pathos der menschlichen +Tragödie, die es zu symbolisieren versuchte. Er liebte es, auf das kalte +Marmorpflaster hinzuknien und den Priester zu beobachten, der in seiner +stimmungsvollen, blumengestickten Stola langsam und mit weißen Händen +den Vorhang vom Tabernakel hinwegzog, oder die laternenförmige +edelsteingeschmückte Monstranz in die Höhe hob, die jene blasse Hostie +enthielt, von der man zuzeiten wirklich denken konnte, es sei der panis +coelestis, das Brot der Engel, oder der, in die Gewänder der +Christuspassion gehüllt, die Hostie in den Kelch tauchte und sich um +seiner Sünden willen die Brust schlug. Die rauchenden Weihrauchkessel, +die die ernsten Knaben in ihren Spitzen- und Scharlachmänteln in der +Luft schwangen und die wie große, goldene Blumen aussahen, übten einen +tiefen Zauber auf ihn aus. Wenn er hinaustrat, pflegte er staunend die +dunkeln Beichtstühle anzublicken und empfand eine Sehnsucht, im düsteren +Schatten eines solchen zu sitzen und den Männern und Frauen zu lauschen, +die durch das abgenutzte Gitter die wahre Geschichte ihres Lebens +flüsterten. + +Aber er verfiel nie dem Irrtum, seine geistige Entwicklung durch die +förmliche Annahme irgendeines Glaubens oder Systems zu hindern oder +irrtümlich ein Haus, in dem man leben konnte, gleichsam für eine +Herberge zu halten, die nur zu kurzem Aufenthalt während einer Nacht +oder nur für ein paar Stunden während einer Nacht taugt, wenn keine +Sterne leuchten und der Mond im Wechsel begriffen ist. Die Mystik mit +ihrer wunderbaren Kraft, uns gewöhnliche Dinge seltsam erscheinen zu +lassen, und jene tiefe Ketzersucht, die sie immer zu begleiten scheint, +reizte ihn eine Saison hindurch; und dann neigte er sich eine andere +Saison hindurch wieder den materialistischen Lehren der Darwinistischen +Bewegung in Deutschland zu und fand einen besonderen Genuß darin, die +Gedanken und Leidenschaften der Menschen bis auf irgendeine perlgroße +Zelle im Gehirn oder auf irgendeinen weißen Nerv im Körper +zurückzuleiten, schwelgte förmlich in der Vorstellung einer absoluten +Abhängigkeit des Geistes von gewissen physischen Bedingungen, mochten +sie krankhaft oder gesund, normal oder pathologisch sein. Aber, wie +schon früher von ihm berichtet wurde, so schien keine Lebenstheorie von +irgendeiner Bedeutung für ihn, im Vergleich mit dem Leben selbst. Er war +sich haarscharf bewußt, in welches Irrsal jede geistige Spekulation +führen mußte, wenn sie von Handlung und Experiment getrennt ist. Er +wußte, daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre geistigen +Geheimnisse offenbaren mußten. + +Und so ergab er sich zeitweilig dem Studium der Wohlgerüche, bemühte +sich um die Geheimnisse ihrer Bereitung, destillierte schwerduftende Öle +und verbrannte wohlriechendes Gummi, das aus dem Orient stammte. Er +erkannte, daß es keine Stimmung des Geistes gab, die nicht ihr +Seitenstück im Leben der Sinne fand, und mühte sich, die wirkliche +Beziehung zwischen beiden zu entdecken, um herauszuklügeln, weshalb der +Weihrauch den Menschen mystisch stimmte, warum die Ambra die +Leidenschaften aufstachele, woher der Veilchenduft die Erinnerung an +gestorbene Romantik erwecke, wieso der Moschus das Gehirn verwirre, und +wodurch der Tschampak die Phantasie beflecke: und so versuchte er +manchmal, eine genaue Psychologie der Wohlgerüche auszuarbeiten und ihre +verschiedenen Wirkungen zu bestimmen, zum Beispiel süßriechender +Wurzeln, duftiger, samentragender Blüten, aromatischer Balsame, dunkler, +starkriechender Hölzer, des Baldrians, der zum Erbrechen reizt, der +Hovenia, die einen toll macht, und der Aloe, die imstande sein soll, die +Schwermut aus der Seele zu verjagen. + +Ein andermal widmete er sich gänzlich der Musik und gab öfter Konzerte +in einem langen, dämmerigen Saal, dessen Wände mit olivengrünem Lack +überzogen waren, und dessen Decke aus einem rot und gold Muster bestand, +wobei tolle Zigeuner kleinen Zithern wilde Musik entlockten oder ernste, +in gelbe Tücher gehüllte Männer aus Tunis die gespannten Saiten seltsam +großer Lauten zupften, während grinsende Neger eintönig auf kupferne +Trommeln schlugen und schlankschmächtige, turbanbedeckte Inder auf +scharlachroten Matten hockten und auf langen Rohr- oder Messingpfeifen +bliesen und damit große Brillenschlangen oder schreckliche Hornvipern +beschworen oder zu beschwören schienen. Die kreischenden Intervalle und +die schrillen Mißtöne barbarischer Musik reizten ihn zuweilen, wenn +Schuberts Lieblichkeit oder Chopins süßes Schmachten und die gewaltigen +Harmonien des großen Beethoven machtvoll in sein Ohr schlugen. Aus allen +Weltteilen sammelte er die merkwürdigsten Instrumente, die sich finden +ließen, entweder in den Gräbern toter Völker oder unter den wenigen +wilden Stämmen, die noch die Berührung mit der westlichen Kultur +überlebt haben, und er liebte es, sie zu befühlen und zu verfügen. Er +besaß das mysteriöse Juruparis der Rio-Negro-Indianer, das die Frauen +nicht ansehen dürfen und selbst die jungen Männer erst dann, wenn sie +vorher gefastet und sich gegeißelt haben, er besaß die irdenen Klappern +der Peruaner, die den schrillen Ton des Vogelschreis wiedergeben, und +Flöten aus Menschenknochen, wie sie Alfonso de Ovalle in Chile gehört +hat, und die wohlklingenden grünen Jaspissteine, die bei Cuzco gefunden +werden und einen Ton von eigentümlicher Süße hervorbringen. Er hatte +bemalte, mit Kieselsteinen gefüllte Kürbisse, die beim Schütteln +rasselten, er hatte die langen Zinken der Mexikaner, in die der Spieler +nicht hineinbläst, sondern durch die er die Luft einatmet, das rauhe +Ture der Amozonenstämme, das die Wachen ertönen lassen, wenn sie den +ganzen Tag auf hohen Bäumen sitzen, und das, wie man sagt, auf eine +Entfernung von drei Seemeilen gehört werden kann, das Teponaztli, das +zwei zitternde Holzzungen hat und auf die man mit Stöcken schlägt, die +mit einer Art elastischen Kautschuks eingesalbt werden, das aus dem +milchigen Saft von Pflanzen gewonnen wird, er hatte die Yotlglocken der +Azteken, die wie Trauben in Büscheln hängen, und eine große +zylinderförmige Trommel, die bespannt ist mit den Häuten großer +Schlangen gleich der, die Bernal Diaz sah, als er mit Cortez in den +mexikanischen Tempel trat, und von deren wehklagendem Tone er uns eine +so lebendige Schilderung hinterlassen hat. Das phantastische Wesen +dieser Instrumente wirkte bezaubernd auf ihn, und er empfand einen +seltsamen Genuß bei dem Gedanken, daß die Kunst wie die Natur ihre +Ungeheuer hat, Dinge von tierischer Form und mit abscheulichen Stimmen. +Aber nach einiger Zeit wurde er ihrer müde und saß dann wieder in seiner +Loge in der Oper, entweder allein oder mit Lord Henry, lauschte +hingerissen dem Tannhäuser und erkannte in dem Vorspiel zu diesem großen +Kunstwerk eine Verkörperung des Trauerspiels seiner eigenen Seele. + +Wieder ein andermal warf er sich auf das Studium der Edelsteine und +erschien auf einem Maskenfest als Anne de Joyeuse, Admiral von +Frankreich, in einem Gewand, das mit fünfhundertsechzig Perlen bestickt +war. Diese Geschmacksrichtung hielt ihn jahrelang gefangen, ja, man kann +sagen, daß sie ihn nie verlassen hat. Er verbrachte oft einen ganzen Tag +damit, die verschiedenen Steine, die er gesammelt hatte, aus ihren +Schachteln zu nehmen und wieder umzuordnen, wie beispielsweise der +olivengrüne Chrysoberyll, der im Lampenlicht rot wird, der Cymophan mit +seinen haarfeinen Silberlinien, der pistazienfarbene Peridot, +rosenfarbige und weingelbe Topase, scharlachfeurige Karfunkelsteine mit +zitternden, vierfach ausstrahlenden Sternen, flammenrote Kaneelsteine, +orangenfarbene und violette Spinelle und Amethyste mit ihren regelmäßig +wechselnden Schichten von Rubin und Saphir. Er liebte das rote Gold des +Sonnensteins und die perlfarbene Weiße des Mondsteins und den +gebrochenen Regenbogen des milchflockigen Opals. Er verschrieb sich aus +Amsterdam drei Smaragde von außerordentlicher Größe und wunderbarem +Farbenreichtum und besaß einen Türkis ~de la vieille roche~, um den ihn +alle Kenner beneideten. + +Er entdeckte auch wunderbare Geschichten über Edelsteine. In Alfons +»~Clericalis disciplina~« wurde eine Schlange erwähnt mit Augen aus +wirklichen Hyazinthsteinen, und in der romantischen Alexandersage hieß +es von dem Eroberer Emathias, er habe im Jordantale Schlangen gefunden +»mit Halsgeschmeiden aus wirklichen Smaragden, die ihnen auf dem Rücken +gewachsen waren«. Im Gehirn des Drachen war nach dem Bericht des +Philostratus ein Edelstein, und »durch das Entgegenhalten goldener +Lettern und eines scharlachroten Gewandes« konnte das Ungeheuer in einen +magischen Schlaf versetzt und getötet werden. Nach der Meinung des +großen Alchimisten Pierre de Boniface sollte der Diamant den Menschen +unsichtbar und der indische Achat ihn beredt machen. Der Karneol +beschwichtigte den Zorn, und der Hyazinth schläferte ein, und der +Amethyst verscheuchte den Weindunst. Der Granat trieb Teufel aus, und +der Hydrophyt beraubte den Mond seiner Farbe. Der Selenit nahm mit dem +Monde zu und ab, und der Meloceus, der die Diebe entdeckte, verlor seine +Kraft nur, wenn man ihn mit dem Blut junger Ziegen betropfte. Leonardus +Camillus hatte einen weißen Stein gesehen, den man aus dem Gehirn einer +frisch getöteten Kröte genommen hatte und der ein sicheres Gegenmittel +gegen Gift war. Der Bezoar, den man im Herzen des arabischen Hirsches +fand, war ein Zauber, der die Pest zu heilen vermochte. In den Nestern +arabischer Vögel kam der Aspilates vor, der nach der Angabe des Demokrit +seinen Träger vor jeder Feuersgefahr beschützte. + +Der König von Seilan ritt bei seiner Krönungsfeier, mit einem großen +Rubin in der Hand, durch seine Stadt. Die Tore zum Palast des Johannes, +des Priesters, waren aus Sarder verfertigt, in den das Horn der +Hornviper verarbeitet war, so daß kein Mensch Gift in das Haus bringen +konnte. Über dem Giebel waren »zwei goldene Äpfel, die zwei +Karfunkelsteine enthielten«, so daß am Tage das Gold glänzen konnte und +die Karfunkelsteine bei Nacht. In Lodges seltsamem Roman »Eine +amerikanische Perle« heißt es, daß man in dem Zimmer der Königin »alle +keuschen Frauen der Welt, wie in Silber getrieben, wahrnehmen konnte, +wenn man durch fleckenfreie Spiegel aus Chrysolithen, Karfunkelsteinen, +Saphiren und grünen Smaragden blickte«. Marco Polo hatte gesehen, wie +die Einwohner von Zipangu den Toten rosenfarbige Perlen in den Mund +steckten. Ein Seeungeheuer war in die Perle verliebt, die ein Taucher +dem König Perozes brachte, und es hatte den Dieb getötet und sieben +Monate lang über den Verlust getrauert. Als die Hunnen den König in den +großen Hinterhalt lockten, warf er die Perle weg -- Prokopius erzählt +die Geschichte -- und sie wurde nie wieder gefunden, obwohl Kaiser +Anastasius dafür fünf Zentner Goldstücke aussetzte. Der König von +Malabar hatte einmal einem Venezianer einen Rosenkranz aus +dreihundertvier Perlen gezeigt, eine Perle für jeden Gott, den er +verehrte. + +Als der Herzog von Valentinois, der Sohn Alexanders des Sechsten, Ludwig +den Zwölften von Frankreich besuchte, war nach Brantôme sein Pferd mit +goldenen Blättern bedeckt, und ein Barett trug eine doppelte Reihe von +Rubinen, die ein mächtiges Licht ausstrahlten. Karl von England ritt in +Steigbügeln, die mit vierhunderteinundzwanzig Diamanten besetzt waren. +Richard der Zweite hatte ein Gewand, das mit Balasrubinen besetzt war, +und auf dreißigtausend Mark geschätzt wurde. Hall beschrieb Heinrich den +Achten auf seinem Wege zur Krönung nach dem Tower folgendermaßen: er +trug ein »Panzerkleid aus erhabenem Gold, die Brust war mit Diamanten +und anderen Edelsteinen bestickt, und um den Hals hing ihm eine mächtige +Kette aus schweren Balasrubinen«. Die Günstlinge Jakobs des Ersten +trugen Ohrringe aus Smaragden, die in Goldfiligran gefaßt waren. Eduard +der Zweite schenkte dem Piers Gaveston eine vollständige Rüstung aus +rotem Golde, die mit Hyazinthsteinen besetzt war, eine Halsberge aus +goldenen Rosen, in die Türkise eingelassen waren, und eine mit Perlen +übersäte Sturmhaube. Heinrich der Zweite trug Handschuhe bis zum +Ellenbogen hinauf, die mit Edelsteinen besetzt waren, und er hatte einen +Falkenierhandschuh, den zwölf Rubinen und zweiundfünfzig große Perlen +zierten. Der Herzogshut Karls des Kühnen, des letzten Burgunder Herzogs +seines Geschlechts, war behängt mit birnenförmigen Perlen und überstreut +mit Saphiren. + +Wie köstlich das Leben einst gewesen war! Wie schwelgerisch in seinem +Pomp und Schmuck! Von dem Reichtum der Toten auch nur zu lesen war schon +wunderbar. + +Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Stickereien zu und den +Gobelins, die in den frostigen Räumen der nördlichen Völker Europas die +Stelle der Freskogemälde vertraten. Als er sich in dieses Gebiet +vertiefte -- und er besaß immer eine außerordentliche Fähigkeit, sich +für den Augenblick von allem absorbieren zu lassen, was er in Angriff +nahm -- wurde er ordentlich traurig bei dem Gedanken an die Vernichtung, +die die Zeit schönen und wundervollen Dingen bereitete. Er wenigstens +war ihr entronnen. Sommer folgte dem Sommer, die gelben Jonquillen +hatten geblüht und waren viele Male verwelkt, und schreckliche Nächte +wiederholten die Geschichte ihrer Schande, aber er blieb unverändert. +Kein Winter entstellte sein Antlitz oder beschädigte seinen +blütengleichen Schmelz. Wie anders war das mit den materiellen Dingen! +Wohin waren die entschwunden? Wo war das große krokusfarbene Gewand, auf +dem die Götter die Giganten bekämpft hatten, das von braunen Mädchen der +Athene zur Freude gestickt worden war? Wo war das große Velarium, das +Nero über das Kolosseum in Rom hatte ausspannen lassen, dieses +gigantische Purpursegel, auf dem der Sternenhimmel abgebildet war, und +Apollo, wie er einen Wagen lenkt, den weiße, von goldenen Zügeln +gebändigte Streitrosse ziehen? Er sehnte sich, die sonderbaren +Tischdecken zu sehen, die für den Sonnenpriester gewebt worden waren, +und in die alle Leckerbissen und Speisen eingewirkt waren, die man für +ein Festmahl nur wünschen konnte, das Sterbekleid des Königs Hilperich +mit seinen dreihundert goldenen Bienen, die phantastischen Gewandungen, +die die Entrüstung des Bischofs von Pontus erregten und auf denen +»Löwen, Panther, Bären, Hunde, Wälder, Felsen, Jäger -- kurz alles +dargestellt war, was ein Maler der Natur ablauschen kann«, und den Rock, +den Karl von Orleans einstmals getragen hatte, auf dessen Ärmel die +Verse eines Gedichtes gestickt waren, das begann: ~Madame, je suis tout +joyeux~, während die Noten hierzu mit Goldfäden eingestickt waren und +jeder Notenkopf, damals noch viereckig, aus vier Perlen gebildet war. Er +las von dem Zimmer, das man im Palast von Reims für den Gebrauch der +Königin Johanna von Burgund hergerichtet hatte, »und das ausgeschmückt +war mit dreizehnhunderteinundzwanzig gestickten Papageien, die das +Wappen des Königs trugen, und mit fünfhunderteinundsechzig +Schmetterlingen, deren Flügel auf dieselbe Weise mit dem Wappen der +Königin geschmückt waren, das Ganze in Gold gearbeitet.« Katharina von +Medici hatte sich ein Trauerbett machen lassen aus schwarzem Samt, +bestickt mit Halbmonden und Sonnen. Seine Vorhänge waren aus Damast, und +auf einem Grunde von Gold und Silber waren Zweige und Girlanden +gestickt, und die Bordüren bestanden aus Fransen mit Perlen, und es +stand in einem Zimmer, das mit einem Silbertuch bespannt war, auf dem +reihenweise die Wahlsprüche der Königin in schwarzem, geschorenem Samt +appliziert waren. Ludwig der Vierzehnte hatte in seinem Gemach +goldgestickte, fünfzehn Fuß hohe Karyatiden. Das Staatsbett Sobieskis, +des Königs von Polen, bestand aus Smyrna-Goldbrokat, und Verse aus dem +Koran waren aus Türkisen hineingestickt. Seine Füße waren aus +vergoldetem Silber, schön getrieben und verschwenderisch mit Medaillons +aus Email und Edelsteinen besetzt. Es war bei der Belagerung von Wien +aus dem türkischen Lager erbeutet worden, und die Fahne Mohammeds war +unter dem flimmerigen Gold seines Baldachins angebracht. + +Und so suchte er ein ganzes Jahr lang die erlesensten Proben zusammen, +die er von Webekunst und Stickereiarbeiten auftreiben konnte, er +verschaffte sich die duftigen Delhi-Musselins, die zart mit goldenen +Palmblättern und mit irisierenden Käferflügeln bestickt waren, die +Gazestoffe aus Dhaka, die man im Orient ihrer Durchsichtigkeit wegen +»gewebte Luft«, »rieselndes Wasser« und »Abendtau« nennt: Tücher aus +Java mit seltsamen Figuren: feine, gelbe chinesische Gardinen: Bücher, +die in lohfarbigen Atlas oder hellblaue Seide gebunden und eingepreßte +heraldinische Lilien, Vögel und Schildereien zeigten +Pointslace-Schleiergewebe aus Ungarn: sizilianische Brokate und steife +spanische Sammete: georgische Arbeiten mit ihren goldenen Münzen, und +japanische Fukusas mit ihren grünen Goldtönen und ihren gefiederten +Vögeln wunderbarster Arbeit. + +Er hatte dann eine besondere Leidenschaft für kirchliche Gewänder wie +für alles, was mit dem religiösen Ritus zusammenhing. In den langen +Kästen aus Zedernholz, die auf der westlichen Galerie seines Hauses +standen, hatte er viele seltene, schöne Proben des wahrhaften Kleides +der Christusbraut angesammelt, die sich in Purpur, in Edelsteine und +feines Linnen kleiden muß, um den bleichen, abgezehrten Leib darin zu +verhüllen, der erschöpft ist von den Leiden, die sie sucht, und +verwundet von selbst zugefügten Schmerzen. Er besaß einen prachtvollen +Chorrock aus karminroter Seide und goldgewirktem Damast, der mit einem +sich wiederholenden Muster von goldenen Granatäpfeln geziert war, die +auf sechsblättrigen, regelmäßigen Blüten saßen, worunter auf jeder Seite +ein in Staubperlen gestickter Tannenzapfen war. Die Goldstickereien +waren in einzelne Felder geteilt, in denen Szenen aus dem Leben der +Jungfrau abgebildet waren und die Krönung der Jungfrau war in der dazu +gehörigen Kappe in farbiger Seide oben eingestickt. Es war italienische +Arbeit aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein anderer Chorrock war aus +grünem Samt, bestickt mit herzförmigen Bündeln von Akanthusblättern, aus +denen langgestielte weiße Blüten hervorsprossen, die zart mit silbernen +Fäden und farbigen Kristallperlen ausgearbeitet waren. Auf der Spange +war der Kopf eines Seraphs in erhabener Goldstickerei ausgeführt. Die +Borten waren fortlaufend auf blumigem Tuch in roter und goldener Seide +eingewebt und mit den Medaillonbildnissen vieler Heiligen und Märtyrer +ausstaffiert, unter denen sich der heilige Sebastian befand. Er hatte +auch Meßgewänder aus bernsteinfarbiger Seide und blauer Seide und +goldenem Brokat und aus gelbem Seidendamast und goldenem Tuch, die +bedeckt waren mit Darstellungen der Passion und der Kreuzigung Christi, +und bestickt mit Löwen, Pfauen und anderen Emblemen, er hatte Dalmatikas +aus weißem Atlas und rosarotem Seidendamast, geziert mit Tulpen, +Delphinen und heraldischen Lilien: Altardecken aus karmoisinrotem Samt +und blauem Linnen, und viele Decken für Meßgeräte, Kelchhüllen und +Schweißtücher. In den mystischen Diensten, zu denen diese Dinge bestimmt +waren, lag etwas, das seine Einbildungskraft anregte. + +Denn diese Schätze und überhaupt alles, was er in seinem wunderbaren +Hause ansammelte, waren für ihn Mittel zum Vergessen, Liebhabereien, +durch die er eine Zeitlang der Angst entrinnen konnte, die ihm oft zu +groß erschien, um sie zu ertragen. An die Wand des verlassenen, +verschlossenen Raumes, worin er einen so großen Teil seiner Knabenzeit +verbracht hatte, hatte er mit seinen eigenen Händen das fürchterliche +Porträt aufgehängt, dessen Züge ihm in ihrer Veränderung die wahrhafte +Erniedrigung seines Lebens zeigten, und darüber hatte er als Vorhang +das Bahrtuch aus Gold und Purpur angebracht. Wochenlang mochte er nicht +dahin gehen, wollte er das gräßliche Gemälde vergessen und gewann dann +wieder sein leichtes Herz zurück, seine wunderbare Fröhlichkeit und +seine Kraft zu leidenschaftlicher Versenkung ins Leben. Dann aber +schlich er plötzlich in einer Nacht aus dem Hause, besuchte schaurige +Orte in der Nähe von Blue Gate Fields und blieb dort Tag um Tag, bis es +ihn wieder wegtrieb. Nach seiner Rückkehr saß er dann wohl vor dem +Bilde, manchmal voll Haß vor ihm und vor sich selbst, ein andermal aber +erfüllt mit dem Stolze auf das eigene Wesen, der den halben Reiz der +Sünde ausmacht, und er lächelte dann mit geheimem Vergnügen das +verunstaltete Abbild an, das die Last zu tragen hatte, die eigentlich +für ihn bestimmt war. + +Nach einigen Jahren konnte er es nicht aushalten, lange von England weg +zu sein, und gab das Landhaus auf, das er gemeinsam mit Lord Henry in +Trouville innegehabt hatte, und ebenso das kleine, von weißer Mauer +umrahmte Haus in Algier, wo sie mehr als einmal den Winter verbracht +hatten. Er konnte es nicht ertragen, von dem Porträt getrennt zu sein, +das jetzt gewissermaßen ein Teil seines Lebens geworden war, und er +fürchtete auch, es könne in seiner Abwesenheit irgend jemand Zutritt +bekommen trotz den sorgfältig gearbeiteten Sicherheitsschlössern, die er +an der Türe hatte anbringen lassen. + +Er war sich vollauf bewußt, daß niemand etwas verraten könne. Allerdings +bewahrte das Bild unter all der Gemeinheit und Häßlichkeit seines +Antlitzes noch eine deutliche Ähnlichkeit mit ihm, aber was konnte das +den Leuten sagen? Er würde jeden auslachen, der es versuchen wollte, ihn +zu schmähen. Er hatte es ja nicht gemalt. Was ging es ihn an, wie +abscheulich und schändlich es aussah? Selbst wenn er jemand die Wahrheit +erzählte, konnte sie einer glauben? + +Und doch hatte er Angst. Wenn er manchmal in seinem großen Hause in +Nottinghamshire war und die eleganten jungen Leute, die meistens seine +Gesellschaft bildeten, bewirtete, und die Leute der Grafschaft durch den +ausschweifenden Luxus und den verschwenderischen Glanz seines Lebens in +Erstaunen setzte, dann verließ er wohl plötzlich seine Gäste und eilte +zurück in die Stadt, um nachzusehen, ob sich niemand an der Türe zu +schaffen gemacht habe und ob das Bild noch da sei. Wie, wenn es jemand +gestohlen hätte? Der bloße Gedanke erfüllte ihn mit kaltem Entsetzen. +Gewiß würde dann die Welt sein Geheimnis erfahren. Vielleicht hatte sie +schon Verdacht geschöpft. + +Denn genau wie er viele fesselte, gab es auch nicht wenige, die ihm +mißtrauten. Er wäre fast schwarz ballotiert worden in einem +Westend-Klub, zu dessen Mitgliedschaft ihn soziale Stellung und Geburt +vollständig berechtigten, und es hieß, daß einmal, als ihn ein Freund in +das Rauchzimmer des Curchill-Klubs mitgebracht hatte, der Herzog von +Berwick und ein anderer Herr in auffallender Weise aufgestanden und +hinausgegangen wären. Sonderbare Geschichten waren über ihn im Umlauf, +als er sein fünfundzwanzigstes Jahr vollendet hatte. Man munkelte, daß +man ihn in einer elenden Kaschemme in einem entlegenen Winkel +Whitechapels mit fremden Matrosen habe zechen sehen, und daß er mit +Dieben und Falschmünzern umgehe und die Geheimnisse ihres Gewerbes +kenne. Seine auffallende Gewohnheit, zu bestimmten Zeiten zu +verschwinden, war bekannt, und wenn er dann wieder in der Gesellschaft +auftauchte, flüsterte man sich in den Ecken Bemerkungen zu oder man ging +an ihm mit einem unzweideutigen Lächeln oder mit kühlen, forschenden +Blicken vorbei, als wäre man entschlossen, sein Geheimnis zu enthüllen. + +Von diesen Unverschämtheiten und versuchten Beleidigungen nahm er +natürlich keine Notiz, und in den Augen der meisten Leute war sein +offenes, freundliches Wesen, sein reizendes Knabenlächeln und die +unendliche Grazie der wundervollen Jugend, die ihn nie zu verlassen +schien, an sich eine genügende Antwort auf die Verleumdungen, denn so +nannte man es, die über ihn im Umlauf waren. Indessen bemerkte man, daß +einige von denen, die früher sehr innig mit ihm verkehrt hatten, ihn +nach einiger Zeit zu meiden anfingen. Frauen, die ihn glühend geliebt +hatten und um seinetwillen allem Tadel der Gesellschaft getrotzt und die +Konvention verachtet hatten, konnte man vor Scham oder Entsetzen +erbleichen sehen, wenn Dorian Gray ins Zimmer trat. + +Doch dieses Skandalgeflüster erhöhte in den Augen vieler nur seinen +seltsamen und gefährlichen Reiz. Auch sein großer Reichtum bot ein +gewisses Unterpfand der Sicherheit. Die Gesellschaft, wenigstens die +zivilisierte Gesellschaft, ist niemals schnell geneigt, etwas Schlechtes +von denen zu glauben, die zugleich reich und interessant sind. Sie +begreift instinktiv, daß Manieren wichtiger sind als Moral, und ihrer +Meinung nach ist die höchste Ehrbarkeit weniger wert als der Besitz +eines guten Küchenchefs. Und schließlich ist es auch ein sehr schwacher +Trost, wenn einem gesagt wird, daß der Mann, bei dem es ein schlechtes +Diner oder einen elenden Wein gegeben hat, in seinem Privatleben +unantastbar dasteht. Selbst die Kardinaltugenden können nicht für kalt +gewordene Entrees entschädigen, bemerkte Lord Henry einmal, als man über +dieses Thema sprach; und für seine Ansicht spricht wahrscheinlich sehr +viel. Denn die Gesetze der guten Gesellschaft sind oder sollten +wenigstens dieselben sein, wie die Regeln der Kunst. Form ist für sie +unbedingt wesentlich. Sie sollte die Würde ebenso wie die Unwirklichkeit +einer Zeremonie haben und sollte den unaufrichtigen Schein eines +romantischen Schauspiels mit dem Witz und der Schönheit verbinden, die +für uns das Entzücken solcher Spiele ausmachen. Ist Unaufrichtigkeit +denn etwas so Furchtbares? Ich glaube nicht. Sie ist nur ein Mittel, +wodurch wir unsere Persönlichkeit vervielfachen können. + +Das war wenigstens die Meinung von Dorian Gray. Er pflegte sich über die +seichte Psychologie derer zu wundern, die sich das Ich eines Menschen +als etwas Einfaches, Beständiges, Verläßliches und Einheitliches +vorstellen. Für ihn war der Mensch ein Wesen mit Myriaden von Leben und +Myriaden von Gefühlen, ein kompliziertes, vielgestaltetes Geschöpf, das +seltsame Erbschaften in seinen Gedanken und Leidenschaften mit sich +herumtrug und dessen Fleisch von den ungeheuerlichen Krankheiten der +Verstorbenen angesteckt war. Er liebte es, die kahle, kalte +Bildergalerie auf seinem Landsitze zu durchschlendern und die +verschiedenen Porträts der Menschen zu betrachten, deren Blut in seinen +Adern floß. Hier war Philipp Herbert, den Francis Osborne in seinen +»Memoiren über die Herrscherzeit der Königin Elisabeth und des Königs +Jakob« als einen beschrieb, »den der Hof seines hübschen Gesichtes wegen +lieb hatte, das ihm aber nicht lange Gesellschaft leistete«. War es das +Leben des jungen Herbert, das er manchmal führte? Hatte sich irgendein +merkwürdiger, gifttragender Keim von Körper zu Körper übertragen, bis er +seinen eigenen erreicht hatte? War es eine dumpfe Erinnerung an diesen +verwelkten Liebreiz gewesen, die damals in Basil Hallwards Atelier so +jäh und fast ohne Grund über ihn hereinbrach, daß er jenes wahnsinnige +Gebet sprechen mußte, das sein Leben so sehr verändert hatte? Hier stand +in goldgesticktem rotem Wams, in einem mit Juwelen geschmückten Überrock +und goldgefaßten Hals- und Ärmelkrausen Sir Anthony Sherard, die Beine +mit silbernen und schwarzen Schienen gepanzert. Was war das Vermächtnis +dieses Mannes gewesen? Hatte ihm der Geliebte der Giovanna von Neapel +ein Erbteil der Sünde und Schande hinterlassen? Waren seine eigenen +Handlungen nur die Träume, die der Tote nicht zu verwirklichen gewagt +hatte? Hier lächelte von einer verblaßten Leinwand Lady Elisabeth +Devereux in ihrer Gazehaube, dem perlenbestickten Brustschmuck und den +roten Schlitzärmeln. Sie hielt in der rechten Hand eine Blume, und die +linke umfaßte einen emaillierten Halsschmuck aus weißen und Damaszener +Rosen. Auf einem Tisch neben ihr lag eine Mandoline und ein Apfel. Auf +ihren kleinen, spitzen Schuhen saßen große, grüne Rosetten. Er kannte +ihr Leben und die seltsamen Geschichten, die man über ihre Liebhaber +erzählte. Hatte er etwas von ihrem Temperament an sich? Diese ovalen +Augen mit den schweren Lidern schienen ihn so sonderbar anzublicken. Wie +stand es um George Willoughby mit seinem gepuderten Haar und seinen +phantastischen Schönheitspflästerchen? Wie böse er aussah! Das Gesicht +war melancholisch und bräunlich, und die sinnlichen Lippen schienen +verächtlich zusammengekniffen. Kostbare Spitzenmanschetten rieselten +über die mageren gelben Hände, die mit Ringen so sehr überladen waren. +Er war im achtzehnten Jahrhundert ein Stutzer gewesen und in seiner +Jugend ein Freund von Lord Ferrars. Wie war es mit dem zweiten Lord +Beckenham, dem Gefährten des Prinzregenten in seinen wildesten Tagen und +einem der Zeugen bei seiner heimlichen Eheschließung mit Frau +Fitzherbert? Wie stolz und hübsch war er mit seinen kastanienbrauen +Locken und der herausfordernden Haltung! Welche Leidenschaften hatte er +ihm vererbt? Die Welt hatte ihn für ehrlos gehalten. Er hatte bei den +Orgien in Carlton House den Vorsitz geführt. Der Stern des +Hosenbandordens strahlte auf seiner Brust. Neben ihm hing das Bild +seiner Gemahlin, einer blassen, dünnlippigen Frau in schwarzem Kleide. +Auch ihr Blut flutete in ihm. Wie merkwürdig schien das alles! Und seine +Mutter mit ihrem Lady Hamilton-Gesicht und ihren feuchten, wie vom Wein +benetzten Lippen -- er wußte, was er von ihr mitbekommen hatte. Von ihr +hatte er seine Schönheit geerbt und seine Leidenschaft für die +Schönheit anderer. Sie lachte ihn an in ihrem losen Bacchantinnenkleide. +In ihrem Haare waren Weinblätter. Über den Becher, den sie hielt, +schäumte der Purpur. Die Fleischfarbe des Gemäldes war verblaßt, aber +die Augen waren noch wunderbar in ihrer Tiefe und ihrem Farbenglanz. Sie +schienen ihm überall hin zu folgen, wo er auch ging. + +Aber man hatte Vorfahren ebensogut in der Literatur wie in dem eigenen +Geschlecht, und viele davon standen einem vielleicht näher in ihrem +Menschentum und in ihrem Temperament und hatten sicher einen Einfluß, +von dem man sich genauere Rechenschaft zu geben vermochte. Es gab +Zeiten, wo Dorian Gray den Eindruck hatte, als wäre die ganze +Weltgeschichte nur ein Bericht seines eigenen Lebens, nicht wie er es +nach Taten und Umständen gelebt hatte, sondern wie es seine Phantasie +für ihn erschaffen hatte, wie es in seinem Gehirn und in seinen +Sinnentrieben war. Er fühlte, daß er sie alle gekannt hatte, diese +merkwürdigen schrecklichen Gestalten, die über die Weltenbühne +geschritten waren und die Sünde so glänzend und das Böse so tief und +fein gemacht hatten. Es wollte ihm scheinen, daß auf irgendeine +geheimnisvolle Weise ihr Leben auch sein eigenes gewesen sei. + +Der Held des wunderbaren Romans, der sein Leben so stark beeinflußt +hatte, war auch von diesem seltsamen Einfall ergriffen gewesen. Im +siebenten Kapitel erzählt er: wie er, bekränzt mit Lorbeer, damit ihn +der Blitz nicht treffe, als Tiberius in einem Garten von Capri gesessen +und die schändlichen Bücher von Elephantis gelesen habe, während Zwerge +und Pfauen um ihn herumstolzierten und der Flötenspieler den +Weihrauchschwinger verspottete: wie er als Caligula mit den +grünbeschürzten Stallknechten in ihren Ställen gezecht und aus einer +elfenbeinernen Krippe ein Mahl genommen habe mit einem Rosse, das ein +edelsteingeschmücktes Stirnband trug, und wie er als Domitian durch +einen Korridor gewandert sei, dessen Wände mit Marmorspiegeln bedeckt +waren, in denen er mit verstörten Augen nach dem Widerschein des Dolches +gesucht habe, der seine Tage enden sollte, erkrankt an der Langeweile, +dem schrecklichen ~Taedium vitae~, das alle befällt, denen das Leben +nichts versagt: und wie er durch einen hellen Smaragd den blutrünstigen +Schlächterszenen im Zirkus zugeschaut habe und dann in einer Karosse aus +Perlen und Purpur, die von silberfarbig gesprenkelten Maultieren gezogen +wurde, durch eine Straße mit Granatbäumen zu einem goldenen Hause +gefahren sei und gehört habe, wie ihm die Menschenmenge zurief: Kaiser +Nero, als er vorbeifuhr, und wie er sich als Heliogabal das Gesicht +geschminkt, mit den Weibern am Spinnrocken gewebt und den Mond aus +Karthago geholt habe, um ihn in mystischer Ehe mit der Sonne zu +vermählen. + +Wieder und wieder las Dorian dieses phantastische Kapitel und die zwei +unmittelbar folgenden, in denen wie auf wunderlichen Gobelins oder +kunstvoll gearbeiteten Emaillen die greulich-schönen Gestalten jener +dargestellt waren, die Laster und Blut und Übersättigung zu Ungeheuern +oder Narren gemacht hatte: Filippo, der Herzog von Mailand, der sein +Weib getötet und ihre Lippen mit scharlachrotem Gift gefärbt hatte, +damit ihr Geliebter von dem Leichnam, wenn er ihn liebkoste, den Tod +saugen möge: der Venezianer Pietro Barbi, bekannt als Paul der Zweite, +der in seiner Eitelkeit den Beinamen Formosus annehmen wollte und dessen +Tiara, die zweihunderttausend Gulden Wert hatte, mit einer furchtbaren +Sünde erkauft worden war: Gian Maria Visconti, der Hunde benutzte, um +auf lebende Menschen Jagd zu machen, und dessen Leichnam nach seiner +Ermordung von einer Dirne, die ihn geliebt hatte, mit Rosen bedeckt +ward: der Borgia auf seinem Schimmel, neben dem der Brudermord hoch zu +Rosse saß, und dessen Mantel mit dem Blute Perottos befleckt war: Pietro +Riario, der junge Kardinalerzbischof von Florenz, das Kind und der +Liebling Sixtus des Sechsten, dessen Schönheit nur von seiner +Lasterhaftigkeit übertroffen wurde, und der Leonora von Aragonien in +einem Zelt aus weißer und karmesinfarbener Seide empfing, das voll +Nymphen und Zentauren war, und der einen Knaben vergoldete, damit er bei +dem Feste als Ganymed oder Hylas aufwarte: Etzelin, dessen Schwermut nur +durch das Schauspiel des Todes geheilt werden konnte und der eine +Leidenschaft für rotes Blut hatte, wie andere Menschen für roten Wein -- +den man den Sohn des Satans hieß und der seinen Vater beim Würfeln +betrogen hatte, als er mit ihm um seine Seele spielte: Giambattista +Cibo, der aus Hohn den Namen Innozentius annahm und in dessen verdumpfte +Adern ein jüdischer Arzt das Blut von drei Jünglingen einpumpte: +Sigismondo Malatesta, der Liebhaber der Isotta und der Herr von Rimini, +der zu Rom im Bilde als ein Feind Gottes und der Menschen verbrannt +wurde, und der Polyssena mit einer Serviette erdrosselte, und der +Ginevra d'Este aus einem Smaragdbecher Gift zu trinken gab und, um eine +schändliche Leidenschaft zu ehren, einen heidnischen Tempel zur Anbetung +für die Christen baute: Karl der Sechste, der für das Weib seines +Bruders so ungestüm erglühte, daß ihm ein Aussätziger den Irrsinn +prophezeite, der über ihn kommen werde, und der, als sein Geist krank +geworden war und sich verwirrt hatte, nur durch sarazenische Spielkarten +besänftigt wurde, auf denen Liebe, Tod und Wahnsinn abgebildet waren: +und in seinem gezierten Kamisol und in seinem edelsteingeschmückten +Barett und den akanthusgleichen Locken Grifonetto Baglioni, der Astorre +bei seiner Braut und Simonetto bei seinem Pagen erschlug, und dessen +Anmut so groß war, daß, als er sterbend auf der gelben Piazza in Perugia +lag, selbst seine Hasser das Schluchzen nicht unterdrücken konnten, und +ihn Atalanta segnete, die ihn verflucht hatte. + +Ein grauenhafter Zauber war in alledem. Er sah sie bei Nacht, und +während des Tages verwirrten sie seine Vorstellungen. Die Renaissance +kannte seltsame Arten, zu vergiften -- zu vergiften durch einen Helm und +eine angezündete Fackel, einen bestickten Handschuh und einen +edelsteinbesetzten Fächer, ein vergoldetes Riechbüchschen und eine +Bernsteinkette. Dorian Gray war durch ein Buch vergiftet worden. Es gab +Augenblicke, in denen er die Sünde einzig als eine Möglichkeit ansah, +seinen Schönheitsbegriff zu verwirklichen. + + + + +Zwölftes Kapitel + + +Es war am neunten November, am Vorabend seines achtunddreißigsten +Geburtstages, wie er sich später oftmals erinnerte. + +Er ging gegen elf Uhr aus Lord Henrys Wohnung, bei dem er gegessen +hatte, nach Hause und war in einen schweren Pelz gehüllt, da die Nacht +kalt und neblig war. An der Ecke von Grosvenor Square und South Audley +Street ging im Nebel ein Mann sehr eilig an ihm vorbei, der den Kragen +seines grauen Ulsters hochgeschlagen hatte. Er trug eine Reisetasche. +Dorian erkannte ihn. Es war Basil Hallward. Ein seltsames Angstgefühl, +über das er sich keine Rechenschaft geben konnte, befiel ihn. Er ließ +nicht merken, daß er ihn erkannt hatte und setzte rasch seinen Weg fort +in der Richtung seines Hauses. + +Aber Hallward hatte ihn gesehen. Dorian hörte, wie er zuerst auf dem +Trottoir stehenblieb und ihm dann nacheilte. In ein paar Augenblicken +lag eine Hand auf seinem Arm. + +»Dorian! Was für ein besonders glücklicher Zufall! Ich habe seit neun +Uhr in deiner Bibliothek auf dich gewartet. Schließlich tat mir dein +ermüdeter Diener leid, und als er mich herunterließ, sagte ich ihm, er +möchte zu Bett gehen. Ich fahre mit dem Mitternachtszug nach Paris, und +ich hatte den dringendsten Wunsch, dich vor meiner Abreise noch zu +sehen. Ich dachte, das mußt du sein, oder mindestens dein Pelz, als du +vorbeigingst. Aber ich war doch nicht ganz sicher. Hast du mich denn +nicht erkannt?« + +»Bei so einem Nebel, lieber Basil? Ich kann nicht einmal Grosvenor +Square erkennen. Ich vermute, mein Haus ist hier irgendwo in der Nähe, +aber ich bin mir nicht ganz sicher. Es tut mir leid, daß du verreist, +denn ich habe dich ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber ich denke, du +kommst doch bald wieder?« + +»Nein; ich bleibe sechs Monate von England fort. Ich will mir in Paris +ein Atelier mieten und mich darin einschließen, bis ein großes Bild +fertig ist, das ich im Kopf habe. Aber ich wollte nicht über mich reden. +Da sind wir an deiner Tür. Laß mich einen Augenblick mit herein. Ich +habe dir was zu sagen.« + +»Es wird mir eine große Freude sein. Aber versäumst du auch deinen Zug +nicht?« sagte Dorian Gray mit müder Stimme, als er die Treppe +hinaufstieg und die Tür mit seinem Drücker öffnete. + +Das Lampenlicht kämpfte mit dem Nebel, und Hallward sah auf die Uhr. +»Ich habe noch eine Menge Zeit«, antwortete er. »Der Zug geht zwölf Uhr +fünfzehn, und es ist eben elf. Offen gesagt, ich war gerade auf dem Weg +in den Klub, um dich zu suchen, als ich dich traf. Mein Gepäck wird +mich, wie du siehst, nicht sehr aufhalten, weil ich die schweren Sachen +vorausgeschickt habe. Hier in der Tasche ist alles, was ich mitnehme, +und nach Victoria Station kann ich bequem in zwanzig Minuten kommen!« + +Dorian sah ihn lächelnd an. »Für einen berühmten Maler eine merkwürdige +Art, zu reisen! Eine Handtasche und ein Ulster! Komm herein, sonst +dringt der Nebel ins Haus! Und bitte, sprich über nichts Ernsthaftes mit +mir. Nichts ist heutzutage ernsthaft. Wenigstens sollte es nichts sein.« + +Hallward schüttelte den Kopf als er eintrat, und folgte Dorian ins +Bibliothekzimmer. Dort brannte in dem offenen Kamin ein helles +Holzfeuer. Die Lampen waren angezündet, und ein offenstehender +holländischer Likörkasten aus Silber stand nebst ein paar +Sodawassersiphons und großen geschliffenen Gläsern auf einem eingelegten +Tischchen. + +»Du siehst, dein Diener hat es mir gemütlich gemacht, Dorian. Er hat mir +alles gegeben, was ich brauchte, sogar deine besten Zigaretten mit +Goldmundstück. Es ist ein recht gastfreundlicher Mensch. Ich mag ihn +viel lieber als den Franzosen, den du vor ihm hattest. Was ist übrigens +aus dem Franzosen geworden?« + +Dorian zuckte die Achseln. »Ich glaube, er hat Lady Radleys +Kammermädchen geheiratet und sie in Paris als englische Schneiderin +etabliert. Ich höre, daß Anglomanie zurzeit drüben sehr Mode ist. +Scheint mir recht töricht von den Franzosen, nicht wahr? Aber -- weißt +du noch? -- er war wirklich kein schlechter Bedienter. Ich mochte ihn +zwar auch nie so recht leiden, aber er gab mir keinen Grund zur Klage. +Man bildet sich oft Dinge ein, die ganz sinnlos sind. Er war mir +wirklich sehr ergeben und schien ganz traurig, als er wegging. Willst du +noch einen Kognak und Soda? Oder lieber Wein mit Selter? Ich nehme immer +Wein mit Selter. Es ist gewiß etwas im Nebenzimmer.« + +»Danke, ich nehme nichts mehr«, sagte der Maler, legte Mütze und +Überrock ab und warf sie auf die Reisetasche, die er in die Zimmerecke +gestellt hatte. »Und jetzt, lieber Freund, möchte ich mit dir mal +ernsthaft sprechen. Du mußt nicht so böse aussehen. Du machst es mir +dadurch nur schwerer.« + +»Was soll das alles?« rief Dorian, offen seine Verdrießlichkeit zeigend +und warf sich auf das Sofa. »Ich hoffe, es handelt sich nicht um mich. +Ich habe heute abend genug von mir. Ich wünschte, ich wäre ein anderer.« + +»Es handelt sich um dich,« antwortete Hallward mit seiner ernsten, +tiefen Stimme, »und ich muß es dir sagen. Ich werde dich kaum ein halbes +Stündchen aufhalten.« + +Dorian seufzte und steckte sich eine Zigarette an. »Ein halb Stündchen«, +flüsterte er. + +»Das ist nicht viel von dir verlangt, Dorian, und ich spreche wirklich +nur zu deinem Besten. Ich halte es für angebracht, daß du endlich die +schrecklichen Dinge erfährst, die über dich in London geredet werden.« + +»Ich will nicht das mindeste davon wissen. Ich habe Tratsch über andere +Leute recht gern, aber Tratsch über mich interessiert mich ganz und gar +nicht. Es hat nicht mal den Reiz der Neuheit.« + +»Es muß dich interessieren, Dorian. Jeder anständige Mensch ist an +seinem guten Ruf interessiert. Du darfst doch nicht die Leute von dir +reden lassen, wie von einem gesunkenen und abscheulich lasterhaften +Menschen. Natürlich hast du deine Stellung, deinen Reichtum und all +dergleichen. Aber Stellung und Reichtum sind nicht alles. Auf mein Wort, +ich glaube von diesen Gerüchten nichts. Wenigstens kann ich ihnen nicht +glauben, wenn ich dich sehe. Die Sünde steht jedem Menschen auf der +Stirn geschrieben. Man kann sie nicht verhehlen. Die Menschen schwatzen +manchmal von geheimen Lastern. So etwas gibt es nicht. Wenn ein +unseliger Mensch ein Laster hat, so zeigt sichs in den Linien seines +Mundes, in seinen herabgesunkenen Augenlidern, selbst in der Form seiner +Hände. Jemand -- ich will seinen Namen nicht nennen, aber du kennst ihn +-- kam voriges Jahr zu mir und wollte sich malen lassen. Ich hatte ihn +nie vorher gesehen und damals nie etwas von ihm gehört, seitdem aber hat +man mir eine Menge von ihm erzählt. Er bot mir einen fabelhaften Preis +an. Ich habe abgelehnt. An der Form seiner Finger war etwas, das mir +ekelhaft war. Jetzt weiß ich, daß ich mit meiner Vermutung über ihn ganz +recht hatte. Sein Leben ist fürchterlich. Aber von dir, Dorian, mit +deinem reinen, leuchtenden, unschuldigen Gesicht und deiner wunderbaren +unberührten Jugend -- ich kann nicht das Häßliche glauben, das man gegen +dich vorbringt. Und doch, ich sehe dich jetzt so selten, und du kommst +gar nicht mehr in mein Atelier, und wenn ich nicht mit dir zusammen bin +und alle die abscheulichen Dinge höre, die sich die Leute über dich +zuflüstern, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Woher kommt es, +Dorian, daß ein Mann wie der Herzog von Berwick aufsteht und das +Klubzimmer verläßt, wenn du eintrittst? Warum wollen so viele Männer in +London nicht zu dir kommen und dich niemals zu sich einladen? Du warst +doch mit Lord Staveley befreundet. Ich traf ihn vorige Woche bei einem +Diner. Dein Name tauchte zufällig im Gespräch in Verbindung mit den +Miniaturen auf, die du der Dudley-Ausstellung hergeliehen hast. Staveley +verzog die Lippen und sagte, es mag ja sein, daß du einen äußerst +künstlerischen Geschmack habest, aber du seist ein Mann, den kein reines +Mädchen kennenlernen solle und mit dem keine anständige Frau im selben +Zimmer sein dürfe. Ich gab ihm zu verstehen, daß ich dein Freund sei, +und fragte ihn, was er damit meine. Er sagte es mir. Er sagte es mir vor +allen Leuten geradeheraus. Es war scheußlich! Warum ist deine +Freundschaft für junge Männer solch ein Unglück? Da war der unselige +Bursch in der Leibgarde, der Selbstmord begangen hat. Du warst sein +bester Freund. Da war Sir Henry Ashton, der England mit einem besudelten +Namen verlassen mußte. Du und er, ihr beide wart unzertrennlich. Wie ist +es mit Adrian Singleton bestellt und seinem furchtbaren Ende? Was war +das mit dem einzigen Sohn Lord Kents und seiner Karriere? Ich traf +seinen Vater gestern in St. James Street. Er schien vor Schande und +Herzleid gebrochen. Was hattest du mit dem jungen Herzog von Perth? Was +für ein Leben führt er jetzt? Welcher Gentleman wollte noch mit ihm +Umgang haben?« + +»Hör auf, Basil, du sprichst von Dingen, von denen du nichts weißt«, +sagte Dorian Gray, der sich auf die Lippen biß und in seine Stimme einen +Ton unsäglicher Verachtung legte. »Du fragst mich, warum Berwick aus dem +Zimmer geht, wenn ich eintrete. Er tut das, weil ich sein Leben durch +und durch kenne, nicht weil er etwas von mir wüßte. Wie könnte er bei +dem Blut, das in seinen Adern rollt, nicht viel auf dem Kerbholz haben? +Du fragst mich nach Henry Ashton und dem jungen Perth. Habe ich dem +einen seine Laster, dem anderen seine Ausschweifungen beigebracht? Wenn +sich Kents schwachköpfiger Sohn sein Weib von der Straße holt, was gehts +mich an? Wenn Adrian Singleton den Namen seines Freundes auf einen +Wechsel schreibt, bin ich sein Hüter? Ich weiß, wie die Leute in England +klatschen. Die Mittelklassen spreizen sich bei ihren endlosen Diners mit +ihren moralischen Vorurteilen und munkeln von etwas, das sie die +Ausschweifungen derer nennen, denen es besser geht, und um sich damit zu +brüsten, daß sie in der feinen Gesellschaft verkehren und intim mit den +Leuten sind, die sie durchhecheln. Bei uns zulande genügt es, daß einer +Vornehmheit und Geist hat, damit sich jede gemeine Zunge an ihm wetzt. +Und was für eine Art Leben führen denn diese Menschen selber, die sich +so auf die Moral hinausspielen? Mein lieber Junge, du vergißt, daß wir +in der Heimat der Heuchelei leben.« + +»Dorian,« rief Hallward, »darum handelt sich's nicht. Wie schlecht es um +England bestellt ist, weiß ich selbst und wie die englische Gesellschaft +verrottet ist. Gerade deshalb wünsche ich, daß du gut bleibst. Du bist +nicht gut geblieben. Man hat ein Recht darauf, einen Menschen nach der +Wirkung zu beurteilen, die er auf seine Freunde ausübt. Deine Freunde +scheinen alles Gefühl für Ehre, für Anstand, für Reinheit zu verlieren. +Du hast sie mit einer wahnsinnigen Genußsucht erfüllt. Sie sind tief +gesunken. Ja: und du hast sie da hinabgeführt, und doch kannst du +lächeln, und du lächelst jetzt noch. Und es gibt noch viel Schlimmeres. +Ich weiß, du und Harry seid unzertrennlich. Schon aus diesem Grunde, +wenn aus keinem anderen, hättest du den Namen seiner Schwester nicht zum +Spott machen dürfen!« + +»Nimm dich in acht, Basil. Du gehst zu weit.« + +»Ich muß sprechen, und du mußt mich hören. Als du Lady Gwendolen +kennenlerntest, hatte sie noch nicht der leiseste Hauch übler Nachrede +berührt. Gibt es jetzt eine einzige anständige Frau in London, die mit +ihr im Park spazieren fahren würde? Ja, nicht einmal ihre Kinder dürfen +bei ihr wohnen. Dann gibt es andere Geschichten -- Geschichten, daß man +dich gesehen hat, wie du in der Dämmerung aus schrecklichen Häusern +herausgeschlichen bist, daß du dich verkleidet in den niederträchtigsten +Kneipen Londons herumtreibst. Ist das wahr? Kann das wahr sein? Als ich +das erstemal so etwas hörte, lachte ich. Jetzt höre ich es mit +Schaudern. Wie steht es mit deinem Landhause und dem Leben, das dort +geführt wird? Dorian, du weißt nicht, was man über dich spricht. Ich +will dir das nicht vorhalten, ich will dir keine Predigt halten. Ich +erinnere mich, daß Harry einmal gesagt hat, jeder Mensch, der sich als +Moralprediger versuchen will, fängt damit an, daß er sagt, er wolle +nicht predigen und dann sein Wort bricht. Ich will dir also eine Predigt +halten. Ich möchte dich ein solches Leben führen sehen, daß die Welt +Achtung vor dir haben soll. Ich will, daß du einen reinen Namen und +einen guten Ruf hast. Ich will, daß du dich von den gräßlichen Menschen +losmachst, mit denen du jetzt fraternisierst. Zucke nicht mit den +Achseln. Sei nicht so gleichgültig. Du hast einen mächtigen Einfluß. Laß +ihn zum Guten und nicht zum Bösen wirken. Man sagt, du verderbest jeden +Menschen, mit dem du intim wirst, und es sei völlig hinreichend, daß du +ein Haus betrittst, damit dir Schande irgendeiner Art auf dem Fuße +folge. Ich weiß nicht, ob dem so ist oder nicht. Wie sollte ich's auch +wissen? Aber man sagte es von dir. Man sagte mir Dinge, die ich +unmöglich länger anzweifeln kann. Lord Gloucester war einer meiner +liebsten Freunde in Oxford. Er hat mir den Brief gezeigt, den ihm seine +Frau geschrieben hat, als sie allein in ihrer Villa in Mentone auf dem +Sterbebette lag. Dein Name war da in die fürchterlichste Beichte +verwickelt, die ich je gelesen habe. Ich sagte ihm, daß es Tollheit +wäre, daß ich dich durch und durch kennte und daß du zu irgend etwas +Derartigem unfähig wärest. Kenne ich dich? Ich frage mich, kenne ich +dich! Bevor ich darauf antworten kann, müßte ich deine Seele sehen.« + +»Meine Seele sehen«, murmelte Dorian Gray, stand vom Sofa auf und wurde +beinah weiß vor Angst. + +»Ja,« antwortete Hallward ernst und ein tiefschmerzlicher Klang zitterte +in seiner Stimme -- »deine Seele sehen. Aber das kann nur Gott.« + +Ein bitter-höhnisches Gelächter brach aus dem Munde des Jüngeren. »Du +sollst sie selbst sehen, noch heute nacht!« rief er aus und nahm eine +Lampe vom Tisch. »Komm: sie ist das Werk deiner eigenen Hand. Warum +solltest du es nicht sehen? Du kannst nachher aller Welt davon erzählen, +wenn du willst. Niemand würde dir glauben. Wenn sie dir glaubten, haben +sie mich deswegen nur um so lieber. Ich kenne unsere Zeit besser als du, +obwohl du darüber so langweilig faseln kannst. Komm, sag' ich dir. Du +hast genug über Verderbnis geschwatzt. Jetzt sollst du sie von Angesicht +zu Angesicht sehen.« + +In jedem Wort, das er sprach, klang der Wahnsinn des Hochmuts. Er +stampfte in seiner knabenhaften, dreisten Art mit dem Fuß auf die +Dielen. Er empfand ein furchtbares Vergnügen bei dem Gedanken, daß ein +anderer jetzt sein Geheimnis teilen solle und daß der Mann, der sein +Bild gemalt hatte, das der Ursprung all seiner Schande war, für den Rest +seines Lebens die Last der gräßlichen Erinnerung an seine Tat mit sich +herumschleppen müsse. + +»Ja,« fuhr er fort und trat näher zu ihm heran und sah ihm fest in die +ernsten Augen, »ich werde dir meine Seele zeigen. Du sollst das Machwerk +sehen, von dem du glaubst, daß es nur Gott sehen kann.« + +Hallward schrak zurück. »Das ist Gotteslästerung, Dorian. Du darfst +nicht solche Dinge sagen. Sie sind schrecklich und unverständig.« + +»Glaubst du?« Er lachte wieder. + +»Ich weiß es. Was ich dir heute abend gesagt habe, hab' ich zu deinem +Besten gesagt. Du weißt, ich war dir immer ein guter Freund.« + +»Werde nur nicht rührselig. Mach' Schluß mit dem, was du noch zu sagen +hast.« + +Ein wehevolles Zucken ging durch das Gesicht des Malers. Er schwieg +einen Augenblick und ein heftiger Mitleidsschmerz überkam ihn. Welches +Recht hatte er schließlich, in Dorian Grays Leben hineinzuspähen? Wenn +er nur den zehnten Teil von dem getan hatte, wovon die Gerüchte gingen, +wie qualvoll mußte er gelitten haben! Dann richtete er sich auf, ging +zum Kamin hinüber und blieb da stehen, versunken in den Anblick der +brennenden Holzscheite, die mit ihrer weißen Asche wie bereift aussahen +und stierte ihre zuckenden Feuerherzen an. + +»Ich warte, Basil«, sagte der junge Mann mit harter, spitzer Stimme. + +Er drehte sich um. »Was ich noch zu sagen habe, ist das«, rief er. »Du +mußt mir eine Antwort geben auf diese fürchterlichen Anklagen, die gegen +dich erhoben werden. Wenn du mir sagst, daß sie von Anfang bis zu Ende +unwahr sind, werde ich dir glauben. Leugne sie ab, Dorian, leugne sie +ab! Kannst du nicht sehen, was ich durchmache? Mein Gott, sage mir +nicht, daß du schlecht und verderbt und schändlich bist!« + +Dorian Gray lächelte. Seine Lippen krausten sich in Verachtung. »Komm +hinauf, Basil«, sagte er ruhig. »Ich führe da ein Tagebuch meines +Lebens, Tag für Tag, und es verläßt niemals das Zimmer, in dem es +geschrieben wird. Ich will es dir zeigen, wenn du mit mir kommst.« + +»Ich komme mit, Dorian, wenn du es haben willst. Ich sehe, daß ich +meinen Zug versäumt habe. Das tut nichts. Ich kann morgen fahren. Aber +verlange nicht von mir, daß ich heute nacht noch etwas lese. Was ich +will, ist eine klare Antwort auf meine Frage.« + +»Die soll dir oben zuteil werden. Ich kann sie dir hier nicht geben. Du +wirst nicht lange zu lesen haben.« + + + + +Dreizehntes Kapitel + + +Er verließ das Zimmer und begann die Treppe hinaufzugehen, Basil +Hallward folgte dicht hinter ihm. Sie gingen leise, wie man es bei Nacht +instinktiv tut. Die Lampe warf phantastische Schatten auf Wand und +Treppe. Im Winde, der sich erhoben hatte, klirrten einige Fenster. + +Als sie den obersten Absatz erreicht hatten, stellte Dorian die Lampe +auf den Boden, nahm den Schlüssel heraus und schloß auf. »Du bestehst +auf einer Antwort, Basil?« fragte er mit gedämpfter Stimme. + +»Ja.« + +»Das freut mich«, antwortete er lächelnd. Dann fügte er ziemlich scharf +hinzu: »Du bist der einzige Mensch in der Welt, der alles über mich +wissen darf. Du hast mehr mit meinem Leben zu schaffen gehabt, als du +dir denkst«, und damit nahm er die Lampe auf, öffnete die Tür und trat +ein. Ein kalter Luftzug strich an ihnen vorbei, und das Licht zuckte +einen Augenblick in einer düstern Orangefarbe auf. Er schauderte. +»Schließe die Tür hinter dir«, flüsterte er, während er die Lampe auf +den Tisch stellte. + +Hallward blickte erstaunt umher. Das Zimmer sah aus, als wär' es seit +langen Jahren nicht bewohnt worden. Ein fadenscheiniger flämischer +Gobelin, ein verhängtes Bild, ein alter italienischer Cassone und ein +fast leerer Bücherschrank -- das war außer einem Stuhl und einem Tisch +alles, was darin zu sein schien. Als Dorian Gray eine halb abgebrannte +Kerze, die auf dem Kamin stand, angezündet hatte, sah der Maler, daß der +ganze Raum mit Staub bedeckt und der Teppich zerfetzt und durchlöchert +war. Eine Maus lief erschreckt hinter die Täfelung. Ein dumpfer +Modergeruch machte sich bemerkbar. -- + +»Du glaubst also, daß Gott allein die Seele sieht, Basil? Zieh den +Vorhang zurück, und du wirst die meine sehen.« + +Die Stimme, die das sprach, klang kalt und grausam. + +»Du bist wahnsinnig, Dorian, oder spielst Komödie«, sagte Hallward und +runzelte die Stirn. + +»Du willst nicht? Dann muß ich es selbst tun«, sagte der junge Mann, und +riß den Vorhang von seiner Stange und schleuderte ihn zu Boden. + +Ein Entsetzensschrei kam von den Lippen des Malers, als er in der +düsteren Beleuchtung das gräßliche Gesicht auf der Leinwand erblickte, +das ihm entgegengrinste. In seinem Ausdruck war etwas, das ihn mit Ekel +und Abscheu erfüllte. Gott im Himmel! Es war Dorian Grays eigenes +Antlitz, das er sah! Das Schreckliche, was es auch sein mochte, hatte +die wundervolle Schönheit noch nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold +in dem gelichteten Haar und etwas Purpur auf dem sinnlichen Mund. Die +stumpfgewordenen Augen hatten noch etwas von ihrem lieblichen Blau +behalten, der edle Schwung der Linien um die feingewölbten Nasenflügel +und den plastischen Hals war noch nicht ganz verschwunden. Ja, es war +Dorian selbst. Aber wer hatte das gemalt? Er glaubte, das Werk seines +eigenen Pinsels zu erkennen, und der Rahmen war von ihm selbst +gezeichnet. Die Vorstellung war ungeheuerlich, und doch fürchtete er +sich. Er nahm die brennende Kerze und hielt sie nahe an das Bild. In der +linken Ecke stand ein Name in langen, hellroten Lettern. + +Es war irgendeine infame Parodie, eine niederträchtige, elende Satire. +Er hatte das niemals gemalt. Und doch, es war sein eigenes Bild. Er +wußte es und ihm war, als ob sich sein Blut in einem Augenblick aus +Feuer in starrendes Eis verwandelt hätte. Sein eigenes Bild! Was sollte +das heißen? Warum hatte es sich verändert? Er drehte sich um und sah +Dorian Gray mit krankhaften Augen an. Sein Mund zuckte, seine trockne +Zunge schien jedes Lautes ganz unfähig zu sein. Er fuhr sich mit der +Hand über die Stirn. Kühle Schweißperlen standen darauf. + +Der junge Mann lehnte gegen den Kamin und beobachtete ihn mit dem +merkwürdigen Ausdruck, den man auf den Gesichtern von Menschen sieht, +die von dem Spiel eines großen Schauspielers hingerissen sind. In seinem +Gesicht war weder wirklicher Schmerz noch wirkliche Freude. Da war nur +die Leidenschaft des Zuschauers und höchstens in den Augen flackerte ein +triumphierendes Leuchten. Er hatte die Blume aus seinem Knopfloch +genommen und roch daran oder tat mindestens so. + +»Was bedeutet das?« rief Hallward endlich. Seine eigene Stimme klang ihm +schrill und fremd in die Ohren. + +»Vor vielen Jahren, als ich noch ein Knabe war,« sagte Dorian Gray, +während er die Blume in seiner Hand zerdrückte, »hast du mich +kennengelernt, hast mir geschmeichelt und mich gelehrt, auf meine +Schönheit eitel zu sein. Eines Tages stelltest du mich einem deiner +Freunde vor, der mir das Wunder der Jugend erklärte, und damals +beendetest du ein Porträt von mir, das mir das Wunder der Schönheit +offenbarte. In einem Augenblick des Wahnsinns, und ich weiß noch jetzt +nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht, sprach ich einen Wunsch aus, +vielleicht würdest du es ein Gebet nennen.« + +»Ich erinnere mich! Oh, wie gut erinnere ich mich! Nein! so etwas ist +unmöglich. Das Zimmer ist feucht. Die Leinwand ist stockig geworden. In +den Farben, die ich verwandte, war irgendein mineralisches Gift +enthalten. Ich sage dir, so etwas ist unmöglich.« + +»Pah, was ist unmöglich?« murmelte der junge Mann, ging zum Fenster und +preßte seine Stirn an die kalte, nebelfeuchte Scheibe. + +»Du sagtest mir, du hättest es zerstört.« + +»Ich habe mich geirrt. Es hat mich zerstört.« + +»Ich kann's nicht glauben, daß es mein Bild ist.« + +»Kannst du dein Ideal nicht darin erkennen?« fragte Dorian bitter. + +»Mein Ideal, wie du es nennst...« + +»Wie du es nanntest.« + +»Es hatte nichts Schlimmes in sich, nichts Schändliches. Du warst für +mich ein Ideal, wie ich ihm nie wieder begegnen werde. Dies ist das +Gesicht eines Fauns.« + +»Es ist das Gesicht meiner Seele.« + +»Jesus, mein! Was für ein Ding habe ich angebetet! Es hat die Augen +eines Teufels.« + +»Jeder von uns hat Himmel und Hölle in sich, Basil«, rief Dorian mit +einer wilden, verzweifelten Gebärde. + +Hallward wandte sich wieder dem Bilde zu und starrte es an. »Mein Gott! +Es ist wahr,« rief er aus, »und das hast du aus deinem Leben gemacht und +danach also mußt du noch schlechter sein, als die es ahnen, die gegen +dich sprechen.« Er hielt das Licht wieder dicht an die Leinwand und +musterte sie scharf. Die Oberfläche schien ganz unzerstört und so, wie +sie aus seiner Hand gekommen war. Von innen also war die Fäulnis und das +Entsetzliche hervorgedrungen. Durch einen sonderbaren inneren +Zeugungsvorgang fraß der Aussatz der Sünde langsam das ganze Bildnis +hinweg. Die Verwesung eines Leichnams in einem feuchten Grabe konnte +nicht so grauenvoll sein. + +Seine Hand zitterte und die Kerze fiel aus dem Leuchter auf den Boden +und lag rauchend da. Er trat mit dem Fuß darauf und erstickte sie. Dann +warf er sich selbst in den wackligen Stuhl vor dem Tische und vergrub +das Gesicht in seinen Händen. + +»Großer Gott, Dorian, was für eine Lehre! Was für eine furchtbare +Lehre!« Es kam keine Antwort, aber er konnte den jungen Mann am Fenster +schluchzen hören. »Bete, Dorian, bete«, sagte er leise. »Was war es +doch, was man uns in der Kindheit hersagen gelehrt hat? >Führe uns nicht +in Versuchung! Vergib uns unsere Sünden! Nimm unsere Missetat von uns!< +Wir wollen das zusammen aufsagen. Das Gebet deines Stolzes ist erhört +werden. Das Gebet deiner Reue wird auch erhört werden. Ich habe dich zu +sehr geliebt. Ich bin dafür bestraft worden. Du hast dich selbst zu +sehr geliebt. Wir haben beide unsere Strafe.« + +Dorian Gray wandte sich langsam um und sah ihn mit tränenschimmernden +Augen an. »Es ist zu spät, Basil«, flüsterte er. + +»Es ist nie zu spät, Dorian. Wir wollen niederknien und versuchen, ob +wir uns nicht an ein Gebet erinnern können. Steht nicht irgendwo ein +Vers: >Und wären deine Sünden wie Scharlach, ich will sie weiß machen +wie Schnee?<« + +»Solche Worte haben für mich keinen Sinn mehr.« + +»Still! Sage nicht so etwas. Du hast genug Böses getan im Leben. Mein +Gott! Siehst du nicht, wie uns das fürchterliche Ding anstiert?« + +Dorian Gray blickte nach dem Bild, und plötzlich überkam ihn ein +unbezwingliches Haßgefühl auf Basil Hallward, als sei er ihm von dem +Bildnis auf der Leinwand eingeflößt, von diesen grinsenden Lippen in +sein Ohr gewispert worden. Die wilde Zornwut eines gehetzten Tieres +kochte in ihm, und er haßte den Mann, der da an dem Tisch saß, mehr als +er in seinem ganzen Leben irgend etwas gehaßt hatte. Er spähte wild um +sich. Auf der Platte der bemalten Truhe, die ihm gegenüberstand, +glitzerte etwas. Sein Blick fiel darauf. Er erkannte, was es war. Ein +Messer war's, das er vor einigen Tagen mit hinaufgenommen hatte, um ein +Stück Schnur zu durchschneiden, und das er wieder mit herunterzunehmen +vergessen hatte. Er ging langsam darauf zu und mußte dabei an Hallward +vorüber. Sobald er hinter ihm stand, ergriff er das Messer und drehte +sich um. Hallward rührte sich in seinem Stuhl, als wollte er soeben +aufstehen. Er stürzte sich auf ihn und bohrte ihm das Messer tief in die +Schlagader hinter dem Ohr, preßte den Kopf des Mannes auf den Tisch +herunter und stieß immer und immer wieder zu. + +Man hörte ein unterdrücktes Röcheln und den fürchterlichen Ton eines +Menschen, der in seinem Blut erstickt. Dreimal schlugen die krampfhaft +ausgestreckten Arme um sich, und die Hände fuhren mit eigentümlich +steifen Fingern durch die Luft. Er stieß noch zweimal zu, aber der Mann +rührte sich nicht mehr. Etwas begann auf den Boden zu tröpfeln. Er +wartete einen Augenblick und drückte den Kopf immer noch nach unten. +Dann warf er das Messer auf den Tisch und horchte. + +Er konnte nichts hören, als das Tropf-Tropf auf den fadenscheinigen +Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis an den Treppenabsatz. Das Haus +war vollständig ruhig. Niemand war wach. Über das Geländer gebeugt, +stand er ein paar Augenblicke da und forschte hinab in den schwarzen +brodelnden Schacht von Dunkelheit. Dann zog er den Schlüssel ab, ging in +das Zimmer zurück und schloß sich darin ein. + +Das Wesen saß noch immer in dem Stuhl und hing mit gebeugtem Kopf und +gekrümmtem Rücken und langen phantastischen Armen über den Tisch. Wäre +nicht der rote, klaffende Riß im Nacken gewesen und die dunkle, +geronnene Lache, die sich nach und nach auf dem Tisch vergrößerte, so +hätte man glauben können, der Mann schlafe nur. + +Wie schnell das alles geschehen war! Er fühlte sich merkwürdig ruhig, +ging zur Balkontür, öffnete sie und trat hinaus. Der Wind hatte die +Nebeltücher auseinandergeblasen, und der Himmel sah aus wie der Schweif +eines ungeheuren Pfaus, der mit Myriaden goldener Augen bestirnt war. Er +blickte hinab und sah, wie der Polizist seine Runde machte und das lange +Streiflicht seiner Laterne über die Türen der schweigsamen Häuser +gleiten ließ. Das rotgelbe Licht einer vorbeitrödelnden Droschke glomm +an der Straßenecke auf und verschwand wieder. Ein Weib in einem +flatternden Kopftuch schob sich langsam am Gitter des Platzes vorbei und +taumelte im Gehen. Dann und wann stand sie still und sah zurück. Auf +einmal begann sie mit heiserer Stimme zu singen. Der Schutzmann +schlenderte über den Damm her und sagte etwas zu ihr. Sie humpelte +lachend weiter. Ein scharfer Luftzug fegte über den Platz. Die +Gasflammen zuckten und wurden blau, und die entlaubten Bäume schüttelten +ihr schwarzes Geäste hin und her, das wie ein Eisengeflecht aussah. Ihn +fröstelte und er trat, das Fenster schließend, wieder zurück. + +Als er bei der Türe war, drehte er den Schlüssel und öffnete sie. Er +blickte den Ermordeten mit keinem Blicke mehr an. Er empfand, daß das +Geheimnis der ganzen Sache darin beruhe, sich die Sachlage nicht zu +vergegenwärtigen. Der Freund, der das verhängnisvolle Bild gemalt hatte, +von dem all sein Elend herrührte, war aus seinem Leben verschwunden. Das +war genug. + +Dann fiel ihm die Lampe ein. Es war eine ziemlich merkwürdige maurische +Arbeit, mattes Silber mit eingelegten Arabesken aus dunkelpoliertem +Stahl und besetzt mit ungeschliffenen Türkisen. Sie mochte vielleicht +von seinem Diener vermißt werden und er könnte danach fragen. Er +zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück und nahm sie vom Tisch. +Dabei mußte er die tote Gestalt sehen. Wie ruhig sie war! Wie furchtbar +weiß die langen Hände aussahen! Es schien eine gräßliche Wachsfigur zu +sein. + +Er schloß die Türe hinter sich und schlich langsam die Treppe hinunter. +Das Holz knarrte und schien wie vor Schmerz aufzustöhnen. Er blieb +einige Male stehen und wartete. Nein, alles war still. Er hörte nur den +Widerhall seiner eigenen Schritte. + +Als er in seinem Bibliothekszimmer war, erblickte er die Tasche und den +Rock in der Ecke. Die mußten irgendwo verborgen werden. Er öffnete einen +Geheimschrank, der in der Holztäfelung war, in dem er seine eigenen +Verkleidungen aufbewahrte, und schob die Sachen hinein. Er konnte sie +später leicht einmal verbrennen. Dann zog er seine Uhr. Es war zwanzig +Minuten vor zwei. + +Er setzte sich und begann nachzudenken. Jahr für Jahr -- fast jeden +Monat -- werden in England Leute gehenkt für so etwas, wie er soeben +getan hatte. Irgendeine wahnwitzige Mordlust hatte in der Luft gelegen. +Irgendein blutroter Stern war der Erde zu nahe gekommen... Und doch, wie +wollte man es ihm beweisen? Basil Hallward hatte das Haus um elf Uhr +verlassen. Niemand hatte ihn noch einmal wiederkommen sehen. Die meisten +Diener waren in Selby Royal. Sein eigener Diener war schlafen +gegangen... Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren, und zwar mit dem +Mitternachtszug, wie es seine Absicht gewesen war. Bei seinen +merkwürdigen Gewohnheiten, sich zurückzuziehen, würden Monate vergehen, +bevor irgendein Verdacht entstehen würde. Monate! Alle Spuren konnten +lange vorher getilgt sein. + +Ein plötzlicher Einfall durchzuckte ihn. Er zog seinen Pelz an, setzte +seinen Hut auf und ging in die Vorhalle hinaus. Dort blieb er stehen, +weil er den langsamen, schweren Tritt des Schutzmanns draußen auf dem +Pflaster hörte und den tanzenden Widerschein seiner Blendlaterne im +Türfenster sah. Er wartete und hielt den Atem an. + +Nach einigen Augenblicken schob er den Riegel zurück und schlüpfte +hinaus, das Tor ganz leise hinter sich schließend. Dann zog er die +Klingel. Nach etwa fünf Minuten erschien sein Diener, halb angezogen und +sehr verschlafen. + +»Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis«, sagte er +eintretend und ging die Stufen hinauf; »aber ich habe meinen +Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?« + +»Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr«, sagte der Mann mit einem +blinzelnden Blick auf die Uhr. + +»Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie müssen mich morgen um +neun Uhr wecken. Ich habe zu tun.« + +»Zu Befehl, gnädiger Herr.« + +»War jemand heute abend hier?« + +»Herr Hallward, gnädiger Herr. Er hat hier bis elf Uhr gewartet und ging +dann, um seinen Zug nicht zu versäumen.« + +»Es tut mir leid, daß ich ihn nicht getroffen habe. Sollen Sie mir etwas +bestellen?« + +»Nein, gnädiger Herr, nur, daß er von Paris schreiben würde, wenn er Sie +im Klub nicht treffen sollte.« + +»Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen um neun zu +wecken.« + +»Nein, gnädiger Herr!« + +Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln durch den Torweg die +Dienertreppe hinab. + +Dorian Gray warf Hut und Stock auf den Tisch und trat ins Bücherzimmer. +Eine Viertelstunde lang ging er auf und ab, biß sich auf die Lippen und +grübelte. Dann nahm er das blaue Adreßbuch von einem Regal und begann zu +blättern. »Alan Campbell, Hertford Street 152, Mayfair.« Ja, das war der +Mann, den er brauchte. + + + + +Vierzehntes Kapitel + + +Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener mit einer Tasse +Schokolade auf einem Servierbrett herein und öffnete die Fensterläden. +Dorian lag auf der rechten Seite, eine Hand unter seiner Wange und +schlief ganz friedlich. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder +Lernen müde geworden ist. + +Der Mann mußte ihn zweimal an der Schulter berühren, bevor er aufwachte, +und als er die Augen öffnete, huschte ein leichtes Lächeln über seine +Lippen, als wäre er von einem entzückenden Traum befangen gewesen. Aber +er hatte gar nicht geträumt. Seine Nacht war weder von Bildern der +Freude noch des Grauens gestört worden. Doch die Jugend lächelt ohne +Grund. Das ist einer ihrer besonderen Reize. + +Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann seine +Schokolade zu schlürfen. Die matte Novembersonne strömte in das Zimmer. +Der Himmel war wolkenlos, eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war +fast wie ein Maimorgen. + +Allmählich schlichen die Vorgänge der vergangenen Nacht auf lautlosen, +blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn und bauten sich dort mit +furchtbarer Deutlichkeit wieder auf. Er erschauerte bei dem Gedächtnis +an alles, was er durchlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte in +ihm derselbe sonderbare Haß auf Basil Hallward zurück, der ihn dazu +getrieben hatte, ihn zu töten, als er im Stuhl saß, er wurde kalt vor +Wut. Der Tote saß noch immer da oben und jetzt dazu im Sonnenlicht. Wie +schrecklich das war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit, +nicht an den Tag. + +Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig würde, wenn er über das brütete, +was er hinter sich hatte. Es gibt Sünden, deren Reiz mehr in der +Erinnerung liegt als in der Begehung, seltsame Siege, die mehr dem Stolz +Genüge tun als der Leidenschaft und die dem Geist ein Lustgefühl geben, +das stärker ist als jede Wonne, die sie Sinnen verschaffen oder jemals +verschaffen können. Aber diesmal war es keine von diesen. Dies war eine, +die man aus dem Geiste verjagen, die man mit einem Opiat vergiften, die +man ersticken mußte, da sie einen sonst selbst ersticken würde. + +Als es halb schlug, fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, stand dann +rasch auf und zog sich beinahe mit noch größerer Sorgfalt an, als +gewöhnlich, indem er die größte Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner +Krawatte und seiner Nadel verwandte und seine Ringe mehr als einmal +wechselte. Er verbrachte auch beim Frühstück längere Zeit, kostete von +den verschiedenen Gerichten, sprach mit seinem Bedienten über neue +Livreen, die er der Dienerschaft in Selby machen lassen wollte, und sah +seine Briefschaften durch. Bei einigen Zuschriften lächelte er. Drei +ödeten ihn an. Einen Brief las er mehrmals durch und zerriß ihn dann mit +einem leichten Ärger in seinen Mienen. »Was für ein gräßliches Ding das +Gedächtnis einer Frau ist«, hatte Lord Henry einmal gesagt. + +Als er seine Schale schwarzen Kaffee getrunken hatte, trocknete er die +Lippen langsam an seiner Serviette ab, gab dem Diener ein Zeichen zu +warten, ging zum Schreibtisch hinüber, setzte sich und schrieb zwei +Briefe. Einen steckte er in die Tasche, den anderen reichte er dem +Diener. + +»Bringen Sie den nach Hertford Street 152, Francis, und wenn Herr +Campbell nicht in der Stadt ist, lassen Sie sich seine Adresse geben.« + +Sobald er allein war, zündete er sich eine Zigarette an und begann auf +einem Blatt Papier Skizzen zu machen, zeichnete zuerst Blumen, dann +Architekturstücke und dann menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er, +daß jedes Gesicht, das er entwarf, eine phantastische Ähnlichkeit mit +Basil Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf, ging +zum Bücherschrank und nahm auf gut Glück einen Band heraus. Er war fest +entschlossen, an das Geschehene nicht eher zu denken, als bis es +unbedingt notwendig war. + +Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf den Titel des +Buches. Es waren Gautiers »~Emaux et Camées~«, Charpentiers Ausgabe auf +japanischem Papier, mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus +zitronengelbem Leder mit einem Blinddruckmuster von goldenem Laubwerk +und Granatäpfeln in Punktmanier. Es war ein Geschenk Adrian Singletons. +Als er darin blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand +Lacenaires, die kalte gelbe Hand »~du supplice encore mal lavée~«, mit +ihren rötlichen Flaumhärchen und ihren »~doigts de faune~«. Er blickte +auf seine eigenen weißen, spitzen Finger, schauderte unwillkürlich +zusammen, las dann weiter, bis er zu den lieblichen Versen auf Venedig +kam. + + ~Sur une gamme chromatique, + Le sein de perles ruisselant, + La Vénus de l'Adriatique + Sort de l'eau son corps rose et blanc. + + Les dômes, sur l'azur des ondes + Suivant la phrase au pur contur, + S'enflent comme des gorges rondes + Que soulève un soupir d'amour. + + L'esquif aborde et me dépose, + Jetant son amarre au pilier, + Devant une façade rose, + Sur le marbre d'un escalier.~ + +Wie entzückend die Verse waren! Wenn man sie las, hatte man die +Empfindung, durch die grünen Wasserstraßen dieser rot- und perlfarbigen +Stadt zu gleiten, in einer schwarzen Gondel mit silbernem Schnabel und +schleppenden Vorhängen. Schon die Zeilen sahen so aus wie die geraden, +türkisblauen Kiellinien, die einem folgten, wenn man nach dem Lido +hinausrudert. Die plötzlichen Farbenblitze erinnerten ihn an den +Schimmer jener Vögel mit opal- und regenbogenfarbenen Hälsen, die um den +schlanken, wabenartig durchlöcherten Kampanile flattern oder mit +prächtiger Anmut durch die düstern, staubigen Arkaden trippeln. +Zurückgelehnt mit halb geschlossenen Augen sagte er immer und immer +wieder zu sich: -- + + ~Devant une façade rose, + Sur le marbre d'un escalier.~ + +Das ganze Venedig war in diesen zwei Versen enthalten. Er dachte an den +Herbst, den er dort verbracht hatte, und eine himmlische Liebelei, die +ihn zu wahnsinnigen, entzückenden Torheiten getrieben hatte. Es gab +Romantik in jedem Erdenwinkel. Aber Venedig hatte noch wie Oxford den +Hintergrund für Romantik bewahrt, und für den wahren Romantiker ist der +Hintergrund alles oder fast alles. Basil war einen Teil der Zeit bei ihm +gewesen und war ganz wild vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme +Basil! Was für eine schreckliche Art, so zu sterben! + +Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen. Er las von +den Schwalben, die aus- und einfliegen in dem kleinen Café zu Smyrna, wo +die Hadjis sitzen und ihre Bernsteinperlen durch die Hand laufen lassen, +und wo die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten Pfeifen +rauchen und ernsthaft miteinander sprechen: er las von dem Obelisk auf +der Place de la Concorde, der in seiner vereinsamten, sonnenlosen +Verbannung granitene Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen, +lotosbedeckten Nil, wo die Sphinxe sind, und rosenrote Ibisse und weiße +Geier mit goldenen Klauen und Krokodile mit kleinen Beryllaugen, die +durch den grünen, dampfenden Schlamm dahinkriechen: er fing an, den +Versen nachzusinnen, die ihre Musik aus Marmor locken, der von Küssen +fleckig geworden ist, und die uns von der sonderbaren Statue erzählen, +die Gautier einer Altstimme vergleicht, von dem »~monstre charmant~«, +das in dem Porphyrsaal des Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel +seinen Händen das Buch. Er wurde nervös, und ein gräßlicher Angstanfall +schüttelte ihn. Was nun tun, wenn Alan Campbell nicht in England war? +Tage könnten möglicherweise verstreichen, bevor er zurückkäme. +Vielleicht weigerte er sich, zu kommen. Was sollte er dann tun? Jeder +Augenblick war von tödlicher Bedeutung. + +Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf Jahren -- sogar fast +unzertrennlich. Dann hatte die Intimität plötzlich ein Ende. Wenn sie +sich jetzt in Gesellschaft trafen, war es nur noch Dorian Gray, der da +lächelte, niemals Alan Campbell. + +Er war ein außerordentlich begabter junger Mann, wenn er auch kein +eigentliches Verhältnis zu den sichtbaren Künsten hatte, und der geringe +Sinn für Poesie, den er besaß, vollständig von Dorian herrührte. Die +geistige Leidenschaft, die ihn beherrschte, erstreckte sich nur auf die +Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil seiner Zeit mit +Arbeiten im Laboratorium verbracht und hatte sein Examen in den +Naturwissenschaften mit vorzüglich bestanden. Noch jetzt war er dem +Studium der Chemie ergeben und hatte ein eigenes Laboratorium, in das er +sich häufig den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum großen Kummer +seiner Mutter, die sich darauf verbissen hatte, daß er für das Parlament +kandidieren sollte, und die eine unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker +sei ein Mensch, der Rezepte anfertige. Indessen war er ein +ausgezeichneter Musiker und spielte Geige und Klavier besser als die +meisten Dilettanten. Die Musik war es denn auch wirklich, die Dorian +Gray und ihn zueinander gebracht hatte -- die Musik und die +unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian ausüben konnte, wenn er +wollte, und auch oft ausübte, ohne es zu wissen. Sie hatten sich bei +Lady Berkshire an dem Abend kennengelernt, als Rubinstein dort spielte, +und man sah sie von da an immer zusammen in der Oper und überall, wo es +gute Musik gab. Achtzehn Monate dauerte diese Freundschaft. Campbell war +regelmäßig entweder in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie +für viele andere war Dorian Gray die Verkörperung alles dessen, was +wunderbar und bezaubernd im Leben ist. Ob zwischen ihnen ein Streit +vorgefallen war oder nicht, wußte kein Mensch. Aber plötzlich bemerkten +die Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich trafen, und +daß Campbell jede Gesellschaft frühzeitig verließ, in der Dorian +anwesend war. Er war auch verändert -- bisweilen merkwürdig +melancholisch, schien kaum noch Musik hören zu können, spielte nie mehr +selbst und gab, wenn man ihn dazu aufforderte, als Entschuldigung an, +daß ihn die Wissenschaft so stark in Anspruch nähme, daß er keine Zeit +mehr zum Üben habe. Und das war auch der Fall. Er schien jeden Tag mehr +Interesse für biologische Studien zu gewinnen, und sein Name erschien +ein- oder zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung mit +gewissen außergewöhnlichen Experimenten. + +Das war der Mann, auf den Dorian Gray wartete. Jede Sekunde blickte er +auf die Uhr. Als Minute um Minute verstrich, wurde er furchtbar +aufgeregt. Schließlich stand er auf und begann im Zimmer hin und her zu +gehen wie irgendeine schöne Bestie im Käfig. Er holte weiten Schrittes, +fast sprunghaft, aus und trat leise auf. Seine Hände waren eigentümlich +kalt. + +Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien ihm mit bleiernen Füßen +zu schleichen, während er von ungeheuren Wirbelwinden zum zackigen Grat +einer schwarzen Kluft oder eines Abgrundes hingefegt wurde. Er wußte, +was dort seiner harrte; er sah es und preßte schaudernd mit feuchten +Händen seine brennenden Lider zusammen, als wolle er sein Gehirn der +Sehkraft berauben und die Augäpfel in ihre Höhlen zurückdrängen. Es war +umsonst. Das Gehirn hatte seine eigene Nahrung, mit der es sich mästete, +und die durch den Schrecken grotesk gemachte Einbildungskraft krümmte +sich vor Schmerz wie ein lebendes Wesen, tanzte wie eine widerwärtige +Marionette in einer Schaubude und grinste durch bewegliche Masken +hindurch. Dann blieb auf einmal die Zeit für ihn stehen. Ja, dieses +blinde, langsamatmende Wesen kroch nicht mehr, und da sie tot war, +stürzten sich gräßliche Gedanken mit Blitzesschnelle über ihn hin und +zerrten eine scheußliche Zukunft aus ihrem Grabe und zeigten sie ihm. Er +starrte darauf hin. Ihre Entsetzlichkeit versteinerte ihn. + +Endlich öffnete sich die Tür, und sein Bedienter trat ein. Er wandte ihm +seine gläsernen Augen zu. + +»Herr Campbell, gnädiger Herr«, sagte der Mann. + +Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen Lippen und die +Farbe kehrte in seine Wangen zurück. + +»Bitten Sie ihn sofort herein, Francis.« Er fühlte, daß er wieder er +selbst war. Der Anfall von Feigheit war überwunden. + +Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen Augenblicken trat Alan +Campbell ein, mit sehr strengem Gesicht und etwas bleich, und seine +blasse Farbe wurde durch das kohlschwarze Haar und die dunkeln Brauen +noch verstärkt. + +»Alan! das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß du gekommen bist.« + +»Ich hatte die Absicht, dein Haus nie wieder zu betreten, Gray. Aber du +schriebst, es handle sich um Leben und Tod.« Seine Stimme war hart und +kalt. Er sprach langsam und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in dem +festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er behielt die +Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes und schien die Bewegung, mit +der ihm die Hand entgegengestreckt worden war, nicht zu bemerken. + +»Ja, es handelt sich um Leben und Tod, und für mehr als einen Menschen, +Alan. Setze dich.« + +Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian setzte sich ihm +gegenüber. Die Augen der beiden Männer trafen sich. In denen Dorians lag +unendliches Mitleid. Er wußte, was er jetzt tun werde, war schrecklich. + +Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens beugte er sich nach vorn und +sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes Wortes auf dem Gesicht des Mannes +ablesend, den er hatte holen lassen: »Alan, in einem verschlossenen +Dachzimmer dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger Mensch +außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann an einem Tisch. Er ist jetzt +seit zehn Stunden tot. Bleib' ruhig sitzen und sieh mich nicht so an. +Wer der Mann ist, warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die dich +nicht kümmern. Was du zu tun hast, ist --« + +»Halt, Gray! Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was du mir gesagt +hast, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an. Ich lehne es entschieden +ab, in dein Leben verwickelt zu werden. Behalte deine fürchterlichen +Geheimnisse für dich! Sie interessieren mich nicht mehr.« + +»Alan, du wirst dafür Interesse haben müssen. Dies eine Geheimnis wird +dich interessieren müssen. Es tut mir furchtbar leid um dich, Alan. +Aber ich kann dir nicht helfen. Du bist der einzige Mensch, der mich zu +retten vermag. Ich bin gezwungen, dich in die Sache hineinzuziehen. Ich +habe keine Wahl. Alan, du bist ein Mann der Naturwissenschaft. Du +verstehst dich auf Chemie und diese Dinge. Du hast Experimente gemacht. +Was du zu tun hast, ist, das Wesen da oben zu vernichten, so zu +vernichten, daß auch nicht eine Spur davon übrigbleibt. Niemand hat +diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet ihn im +Augenblick in Paris. Monatelang wird er nicht vermißt werden. Wenn er +vermißt wird, darf hier keine Spur von ihm gefunden werden. Alan, du +mußt ihn, ihn und alles, was zu ihm gehört, in eine Handvoll Asche +verwandeln, die ich in die Luft streuen kann.« + +»Du bist wahnsinnig, Dorian.« + +»Ah! wie ich darauf gewartet habe, daß du mich wieder Dorian nennst.« + +»Du bist wahnsinnig, sag' ich dir -- wahnsinnig, daß du dir einbildest, +ich wurde auch nur einen Finger rühren, dir zu helfen, wahnsinnig, daß +du mir dieses ungeheuerliche Geständnis ablegst. Ich will damit nichts +zu tun haben, was es auch sei. Glaubst du, ich setze meine Ehre für dich +aufs Spiel? Was geht's mich an, mit welchem Teufelswerk du zu tun hast.« + +»Es war ein Selbstmord, Alan.« + +»Das freut mich, aber wer hat ihn dazu getrieben? Du, vermute ich.« + +»Weigerst du dich noch immer, das für mich zu tun?« + +»Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit zu schaffen +haben. Es liegt mir gar nichts daran, was für eine Schande über dich +kommt. Du verdienst es vollauf. Es würde mir nicht leid tun, wenn ich +dich entehrt, öffentlich entehrt sähe. Wie kannst du es wagen, mich, +gerade mich von allen Menschen in der Welt in diese Scheußlichkeit +hineinbringen zu wollen? Ich hätte geglaubt, du verständest mehr vom +Charakter der Menschen. Dein Freund, Lord Henry Wotton, kann dich nicht +sehr über Psychologie aufgeklärt haben, worüber er dich auch sonst +aufgeklärt hat. Nichts wird mich dazu vermögen, auch nur einen Schritt +zu tun, um dir zu helfen. Du bist an den falschen Mann gekommen. Geh zu +einem deiner Freunde, nicht zu mir.« + +»Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Du weißt nicht, was ich +durch ihn gelitten habe. Mein Leben mag sein, wie es wolle, er hatte +mehr damit zu tun, es zu erschaffen und zu zerstören, als der arme +Harry. Er mag es nicht gewollt haben, die Wirkung ist dieselbe.« + +»Mord! Guter Gott, Dorian, bist du jetzt soweit gekommen? Ich werde dich +nicht anzeigen. Das ist meines Amtes nicht. Im übrigen wird man dich +fassen, auch wenn ich mich nicht in die Sache mische. Niemand begeht ein +Verbrechen, ohne dabei eine Dummheit zu machen. Also ich will nichts +damit zu tun haben.« + +»Du mußt etwas damit zu tun haben. Warte, warte noch einen Augenblick; +hör' mich an. Nur anhören, Alan. Alles, was ich von dir verlange, ist +ein bestimmtes wissenschaftliches Experiment. Du gehst in Spitäler und +Leichenhäuser, und das Schreckliche, was du dort tust, rührt dich +nicht. Wenn du diesen Mann in irgendeinem gräßlichen Seziersaal oder in +einem mißduftenden Laboratorium auf einem rohen Tisch liegen sähest, mit +roten Röhren, die man in ihn hineingebohrt hat, damit daraus das Blut +durchfließen kann, dann würdest du ihn einfach als ein bewundernswertes +Objekt betrachten. Kein Härchen würde sich dir sträuben. Du hättest +nicht die Empfindung, irgend etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil, du +würdest wahrscheinlich glauben, der Menschheit eine Wohltat zu erweisen, +oder die Summe des menschlichen Wissens zu vermehren oder den +intellektuellen Wissensdrang zu befriedigen oder so etwas dergleichen. +Was ich von dir fordere, ist nichts anderes, als was du schon oft getan +hast. Wahrhaftig, es muß viel weniger gräßlich sein, einen Leichnam aus +der Welt zu schaffen, als das, was du gewöhnlich tust. Und bedenke, es +ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn er entdeckt wird, bin ich +verloren; und er muß sicher entdeckt werden, wenn du mir nicht hilfst.« + +»Ich habe keine Lust, dir zu helfen. Du vergißt das. Die ganze Sache ist +mir gleichgültig. Ich habe nichts damit zu tun.« + +»Alan, ich beschwöre dich. Denke an die Lage, in der ich bin. Jetzt +eben, ehe du kamst, war ich fast ohnmächtig vor Schreck. Du kannst eines +Tages selbst einmal die Angst kennenlernen. Nein, denke nicht daran! +Betrachte die Sache vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus. Du +forschst doch sonst nicht danach, woher die toten Wesen kommen, mit +denen du experimentierst. Forsche auch jetzt nicht danach. Ich habe dir +ohnehin zuviel gesagt. Aber ich bitte dich, tu, um was ich dich bat. +Wir waren doch einmal Freunde, Alan.« + +»Sprich nicht von jenen Tagen, Dorian; sie sind tot.« + +»Die Toten verweilen manchmal. Der Mann da oben geht nicht weg. Er sitzt +am Tisch mit vorgebeugtem Kopf und ausgestreckten Armen. Alan! Alan! +wenn du mir nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! man wird mich +hängen! Begreifst du nicht? Man wird mich hängen, für das, was ich getan +habe.« + +»Es hat keinen Sinn, diese Szene weiter auszudehnen. Ich weigere mich +ganz entschieden, etwas damit zu tun zu haben. Es ist Tollheit von dir, +mich darum zu bitten.« + +»Du weigerst dich?« + +»Ja!« + +»Ich beschwöre dich, Alan!« + +»Es ist nutzlos.« + +Derselbe mitleidige Ausdruck kam in Dorian Grays Augen. Dann reckte er +die Hand aus, nahm ein Stück Papier und schrieb etwas darauf. Er las es +zweimal durch, faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den +Tisch. Nachdem er dies getan hatte, stand er auf und trat ans Fenster. + +Campbell sah ihn verwundert an, nahm dann das Papier und öffnete es. Als +er es gelesen hatte, wurde sein Gesicht totenblaß und er sank in seinen +Stuhl zurück. Ein fürchterliches Gefühl der Schwäche überwältigte ihn. +Ihm war, als ob sich sein Herz in einer leeren Höhle zu Tode schlüge. + +Nach zwei oder drei Minuten furchtbaren Schweigens wandte sich Dorian +um, ging zu ihm hin, stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf +die Schulter. + +»Es tut mir so leid um dich, Alan,« flüsterte er, »aber du läßt mir +keine Wahl. Ich habe den Brief schon geschrieben. Hier ist er. Du siehst +die Adresse. Wenn du mir nicht hilfst, muß ich ihn abschicken. Du weißt, +was darauf erfolgt. Aber du wirst mir helfen. Es ist unmöglich, daß du +jetzt noch nein sagst. Ich wollte dir das ersparen. Du mußt mir die +Gerechtigkeit widerfahren lassen, das zuzugeben. Du warst bitter, hart, +beleidigend. Du hast mich behandelt, wie es nie ein Mensch gewagt hat, +mich zu behandeln. Wenigstens kein lebender Mensch. Ich ertrug es alles. +Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren.« + +Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und ein Frösteln überlief +ihn. + +»Ja, jetzt ist die Reihe an mir, Bedingungen zu diktieren, Alan. Du +weißt, was ich verlange. Die Sache ist ganz einfach. Komm, schraube dich +nicht in ein Fieber hinein. Die Sache muß geschehen. Schau ihr ins +Gesicht und vollbringe sie.« + +Ein Stöhnen klang von Campbells Lippen, und er zitterte am ganzen Leibe. +Das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims schien ihm die Zeit in einzelne +Atome eines Todeskampfes zu zerstückeln, von denen das kleinste schon zu +schrecklich war, um es zu ertragen. Er hatte das Gefühl, als ob ein +eiserner Ring um seine Stirn nach und nach festgespannt wurde, als ob +die Schande, mit der man ihn bedrohte, schon über ihn käme. Die Hand auf +seiner Schulter beschwerte ihn wie ein Gewicht von Blei. Sie war +unerträglich. Sie schien ihn zu zerquetschen. + +»Komm, Alan, du mußt dich gleich entscheiden.« + +»Ich kann es nicht tun«, sagte er mechanisch, als könnten die Worte +etwas ändern. + +»Du mußt. Du hast keine Wahl. Zaudere nicht.« + +Er schwankte einen Augenblick. »Ist ein Ofen da oben?« + +»Ja, ein Gasofen mit Asbest.« + +»Dann muß ich nach Hause gehen und einiges aus dem Laboratorium holen.« + +»Nein, Alan, du darfst das Haus nicht verlassen. Schreib' auf ein Blatt +Papier, was du brauchst, und mein Diener nimmt eine Droschke und wird +dir die Sachen bringen.« + +Campbell kritzelte ein paar Zeilen hin, trocknete sie ab und adressierte +ein Kuvert an seinen Assistenten. Dorian nahm das Briefchen und las es +aufmerksam durch. Dann klingelte er und gab es seinem Diener mit dem +Auftrag, so rasch als möglich zurückzukommen und die im Schreiben +bezeichneten Sachen mitzubringen. + +Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös zusammen, stand +vom Stuhl auf und ging zum Kamin hinüber. Er schüttelte sich in einer +Art kalten Fiebers. Fast zwanzig Minuten lang sprach keiner der beiden +Männer. Eine Fliege schwirrte summend durch das Zimmer, und das Ticktack +der Uhr klang wie der Fall eines Hammers. + +Als es eins schlug, drehte sich Campbell um, blickte auf Dorian Gray und +sah, daß seine Augen mit Tränen gefüllt waren. In den reinen, edlen +Zügen dieses traurigen Gesichts lag etwas, was ihn wütend zu machen +schien. »Du bist infam, ganz infam«, rief er mit unterdrückter Stimme. + +»Ruhig, Alan, du hast mir das Leben gerettet«, sagte Dorian. + +»Dein Leben? Gott im Himmel! Was für ein Leben ist das! Du bist von +Verderbnis zu Verderbnis geschritten, und jetzt hast du mit Mord den +Gipfel erreicht. Wenn ich tue, was ich tun werde, was du mich zu tun +zwingst, so denke ich dabei wahrhaftig nicht an dein Leben.« + +»Ach, Alan,« flüsterte Dorian seufzend, »ich wünschte, du hättest den +tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das ich mit dir habe.« Er kehrte +sich während dieser Worte ab und stand da und blickte in den Garten +hinaus. Campbell gab keine Antwort. + +Nach etwa zehn Minuten klopfte es an die Tür, und der Diener trat ein +und brachte einen großen Mahagonikasten mit Chemikalien, eine lange +Rolle Stahl- und Platindraht und zwei absonderlich geformte +Eisenklammern. + +»Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?« fragte er Campbell. + +»Ja«, antwortete Dorian. »Und ich bedaure, Francis, aber ich habe noch +einen Weg für Sie. Wie heißt der Mann in Richmond, der Selby mit +Orchideen versorgt?« + +»Harden, gnädiger Herr.« + +»Richtig -- Harden. Sie müssen gleich nach Richmond fahren, Harden +selbst sprechen und ihm sagen, er solle doppelt soviel Orchideen +schicken, als ich bestellt habe, und möglichst wenig weiße dabei. +Eigentlich will ich überhaupt keine weißen. Es ist ein schöner Tag, +Francis, und Richmond ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht +behelligen.« + +»Nichts zu sagen, gnädiger Herr. Zu welcher Zeit soll ich zurück sein?« + +Dorian sah Campbell an. »Wie lange wird dein Experiment dauern, Alan?« +fragte er mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. Die Gegenwart eines +Dritten im Zimmer schien ihm außerordentlichen Mut einzuflößen. + +Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. »Es wird +ungefähr fünf Stunden beanspruchen«, antwortete er. + +»Dann ist es früh genug, wenn Sie um sieben zurück sind, Francis. Oder +halt: legen Sie meine Sachen zum Umkleiden zurecht, Sie können dann den +Abend für sich verwenden. Ich esse nicht zu Hause, brauche Sie also +nicht.« + +»Ich danke, gnädiger Herr«, sagte der Mann und verließ das Zimmer. + +»Jetzt, Alan, ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer der Kasten +ist! Ich will ihn dir tragen. Nimm du die anderen Sachen.« Er sprach +hastig und in befehlendem Tone. Campbell fühlte sich von ihm beherrscht. +Sie verließen das Zimmer gleichzeitig. + +Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, nahm Dorian den +Schlüssel heraus und schloß auf. Dann blieb er stehen, und ein Ausdruck +von Unruhe zeigte sich in seinem Blick. Er schauderte. »Ich glaube, ich +kann nicht hineingehen, Alan«, flüsterte er. + +»Das ist mir ganz gleich. Ich brauche dich nicht«, sagte Campbell kalt. + +Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Als er dies tat, sah er seinem +Porträt, das im hellen Sonnenlicht hing, grade ins Gesicht. Davor lag +auf den Dielen der herabgerissene Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in +der vergangenen Nacht zum ersten Male in seinem Leben vergessen hatte, +die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen, und wollte eben nach vorn +stürzen, als er schaudernd zurückprallte. + +Was war das für ein widerlicher, roter Fleck, der naß und glänzend an +einer der Hände klebte, als hätte die Leinwand Blut geschwitzt? Wie +schrecklich das war! -- Schrecklicher schien es ihm in diesem Augenblick +als das schweigsame Ding, das, wie er wußte, noch über den Tisch gebeugt +dasaß, das Ding, dessen grotesker, unglückseliger Schatten auf dem +fleckigen Teppich ihm zeigte, daß es sich nicht bewegt hatte, sondern +noch da war, wo er es gelassen hatte. + +Er atmete tief auf, öffnete die Tür etwas weiter und ging mit +halbgeschlossenen Augen und abgewandtem Kopf rasch hinein, entschlossen, +mit keinem einzigen Blick nach dem Toten hinzusehen. Dann bückte er +sich, nahm den gold- und purpurschimmernden Vorhang auf und warf ihn +gerade über das Bild. + +Dann blieb er stehen, voll Angst, sich umzuwenden und seine Augen +richteten sich auf die verschlungenen Muster des Vorhangs. Er hörte +Campbell den schweren Kasten hereinbringen, und die Eisenklammern und +die anderen Geräte, die er sich für seine entsetzliche Arbeit hatte +kommen lassen. Er begann sich zu fragen, ob Campbell und Basil Hallward +einander je begegnet waren und wenn, welche Meinung sie voneinander +gehabt hätten. + +»Lasse mich jetzt allein«, sagte eine rauhe Stimme hinter ihm. + +Er kehrte sich um und lief hinaus, eben noch gerade wahrnehmend, daß der +Tote in seinen Stuhl zurückgelehnt worden war und daß Campbell in ein +schimmerndes, gelbes Gesicht starrte. Als er die Stufen hinabging, hörte +er, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde. + +Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell wieder in die Bibliothek +trat. Er war blaß, aber vollständig ruhig. »Ich habe getan, was du von +mir verlangt hast«, sagte er leise. »Und jetzt adieu. Wir wollen uns nie +wiedersehen.« + +»Du hast mich vorm Untergang gerettet, Alan«, sagte Dorian ganz +schlicht. »Ich kann das nie vergessen.« + +Sobald ihn Campbell verlassen hatte, ging er hinauf. Ein schrecklicher +Geruch von Salpetersäure war im Zimmer. Aber das Ding, das am Tisch +gesessen hatte, war fort. + + + + +Fünfzehntes Kapitel + + +Am selben Abend um halb neun Uhr wurde Dorian Gray in sorgfältigster +Toilette, im Knopfloch einen großen Strauß Parmaveilchen tragend, von +dienernden Lakaien in den Salon Lady Narboroughs geführt. Er hatte +heftiges Kopfweh und furchtbar überreizte Nerven, aber seine Gebärde, +als er sich über die Hand seiner Gastgeberin beugte, war ebenso leicht +und anmutig wie sonst. Vielleicht sieht man nie gelassener aus, als wenn +man eine Rolle zu spielen hat. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an +diesem Abend sah, geglaubt, daß er eine Tragödie hinter sich habe, die +so schrecklich war wie irgendeine Tragödie unserer Zeit. Diese +feingeformten Finger konnten doch nie ein Messer gezückt haben, um eine +Sünde zu begehen, diese lächelnden Lippen nie Gott und Gottes Güte +geschmäht haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens +wundern und einen Augenblick lang spürte er in ganzer Stärke den +grauenvollen Genuß eines Doppeldaseins. + +Es war eine kleine Gesellschaft, die Lady Narborough kurzer Hand +zusammengeladen hatte, und die Gastgeberin war eine sehr gescheite Frau +mit ansehnlichen Überbleibseln einer unleugbar hervorragenden +Häßlichkeit, wie es Lord Henry auszudrücken liebte. Sie hatte sich einem +unserer langweiligsten Botschafter als eine ausgezeichnete Frau +erwiesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie sich's geziemte, in einem +marmornen Mausoleum beigesetzt hatte, das nach ihren eigenen Entwürfen +erbaut worden war, und seitdem sie ihre Töchter an einige reiche, etwas +angejahrte Herren verheiratet hatte, widmete sie sich den Genüssen +französischer Romane, französischer Kochkunst und französischen Geistes, +wenn sie ihn auftreiben konnte. + +Dorian war einer ihrer erklärten Lieblinge, und sie sagte ihm immer, sie +sei äußerst froh darüber, ihn nicht in früheren Jahren kennengelernt zu +haben. »Ich weiß, mein Lieber, ich hätte mich sinnlos in Sie verliebt,« +pflegte sie zu sagen, »und wäre Ihretwillen der größten Tollheiten fähig +gewesen. Es ist ein großes Glück, daß man damals noch gar nicht an Sie +dachte. Zu meiner Zeit waren die Tollheiten eine so seltene Ware, daß +ich nicht einmal eine harmlose Liebelei mit jemand gehabt habe. Indessen +war das nur die Schuld Narboroughs. Er war schrecklich kurzsichtig, und +es ist alles andere als ein Vergnügen, einen Ehemann zu betrügen, der +nie etwas sieht.« + +Ihre Gäste waren an diesem Abend ziemlich langweilig. Die Sache war so, +wie sie Dorian hinter einem ziemlich schäbigen Fächer erklärte, daß eine +ihrer verheirateten Töchter plötzlich zu Besuch gekommen war, und, was +die Sache noch ärgerlicher machte, obendrein ihren Mann mitgebracht +hatte. + +»Ich finde das sehr unliebenswürdig von ihr, mein Lieber«, flüsterte sie +ihm zu. »Natürlich bin ich jeden Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von +Homburg komme, aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal frische +Luft haben, und außerdem rüttle ich sie dann etwas auf. Sie ahnen ja gar +nicht, was die für ein Leben da hinten führen. Es ist das reine, +unverfälschte Landleben. Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun +haben, und gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben. In der +ganzen Gegend da hat es seit der Zeit der Königin Elisabeth keinen +Skandal gegeben, und infolgedessen schlafen sie alle nach dem Essen ein. +Sie sollen aber nicht neben einem von ihnen sitzen. Sie sollen neben mir +sitzen und mich amüsieren.« + +Dorian murmelte ein anmutiges Kompliment und blickte sich im Zimmer um. +Ja, es war wirklich eine öde Gesellschaft. Zwei von den Anwesenden hatte +er vordem nie gesehen, und die anderen waren Ernest Harrowden, eine der +Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man so häufig in Londoner +Klubs begegnet, die keine Feinde haben, die aber keiner ihrer Freunde +leiden kann: dann Lady Ruxton, eine aufgeputzte Dame mit einer +Papageiennase, im Alter von siebenundvierzig Jahren, die sich unablässig +bemühte, sich zu kompromittieren, die aber so lächerlich häßlich war, +daß zu ihrer großen Enttäuschung niemals einer etwas Schlechtes von ihr +glauben wollte: Frau Erlynne, eine zudringliche Nichtigkeit mit einem +entzückenden Lispeln und venezianisch rotem Haar: Lady Alice Chapman, +die Tochter der Wirtin, eine schlechtgekleidete, bedeutungslose Frau mit +einem der charakteristischen englischen Gesichter, an die man sich nie +wieder erinnert, wenn man sie einmal gesehen hat, und ihr Mann, ein +rotbäckiges, weißbärtiges Geschöpf, das, wie so viele seiner Kaste, der +Überzeugung lebte, daß ungewöhnliche Liebenswürdigkeit den vollständigen +Mangel an Gedanken ersetzen könne. + +Es tat ihm beinah leid, daß er gekommen war, bis Lady Narborough einen +Blick auf die große goldene Pendeluhr warf, die sich mit ihren +geschmacklosen Zieraten auf dem malvefarbig behängten Kamin spreizte, +und ausrief: »Wie häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich +schickte heute früh auf gut Glück zu ihm hinüber und er hat fest +zugesagt, mich nicht im Stich zu lassen.« + +Es war ein Trost, daß Harry kommen sollte, und als sich die Tür öffnete +und er seine sanfte musikalische Stimme hörte, die irgendeine läppische +Ausrede bezaubernd hervorbrachte, schwand seine Verdrießlichkeit. + +Aber er konnte bei Tisch dennoch nichts essen. Platte nach Platte wurde, +von ihm unberührt, weggetragen. Lady Narborough schalt ihn unaufhörlich, +weil sie darin »eine Beleidigung sah für den armen Adolphe, der das +ganze Menü eigens für sie erfunden hätte«, und dann und wann blickte +Lord Henry zu ihm herüber und verwunderte sich über sein Schweigen und +sein zerstreutes Wesen. Von Zeit zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit +Champagner. Er trank hastig, und sein Durst schien zu wachsen. + +»Dorian,« sagte Lord Henry endlich, als das Chaudfroid herumgereicht +wurde, »was ist heute abend mit dir los? Du bist ja so verstimmt.« + +»Ich glaube, er ist verliebt,« sagte Lady Narborough, »und er hat Angst, +es mir zu erzählen, aus Furcht, daß ich eifersüchtig würde. Er hat auch +ganz recht. Ich würde es gewiß.« + +»Teure Lady Narborough,« flüsterte Dorian lächelnd, »ich bin seit einer +vollen Woche nicht verliebt gewesen -- genau gesagt, nicht seitdem +Madame de Ferrol aus London weg ist.« + +»Daß ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!« rief die alte Dame. +»Ich kann es wirklich nicht verstehen.« + +»Das kommt einfach daher, weil sie Sie an die Zeit erinnert, wo Sie ein +kleines Mädchen waren, Lady Narborough«, sagte Lord Henry. »Sie ist das +einzige Bindeglied zwischen uns und Ihren kurzen Röckchen.« + +»Sie erinnert mich wirklich nicht an meine kurzen Röckchen, Lord Henry. +Aber ich entsinne mich ihrer sehr gut in Wien vor dreißig Jahren und wie +sie sich damals dekolletierte.« + +»Sie dekolletiert sich noch immer,« antwortete er und nahm eine Olive in +seine langen Finger, »und wenn sie sehr elegant gekleidet ist, sieht sie +aus wie die Luxusausgabe eines schlechten, französischen Romans. Sie ist +wirklich wunderbar und voller Überraschungen. Ihr Talent für +Familienliebe ist außerordentlich. Als ihr dritter Mann starb, wurde ihr +Haar vor Trauer ganz goldblond.« + +»Wie kannst du so etwas sagen, Harry!« rief Dorian. + +»Das ist eine höchst romantische Erklärung«, lachte die Gastgeberin. +»Aber ihr dritter Mann, Lord Henry! Sie wollen doch nicht sagen, daß +Ferrol der vierte ist?« + +»Doch, Lady Narborough.« + +»Ich glaube kein Wort davon.« + +»Gut, dann fragen Sie Herrn Gray, er ist einer ihrer intimsten Freunde.« + +»Ist das wahr, Herr Gray?« + +»Sie versichert es mir, Lady Narborough«, erwiderte Dorian. »Ich fragte +sie, ob sie wie Margarete von Navarra ihre Herzen einbalsamiert habe und +am Gürtel trage. Sie sagte mir, sie täte das nicht, weil keiner von +ihnen überhaupt ein Herz gehabt hätte.« + +»Vier Männer! Auf mein Wort, das ist ~trop de zêle~.« + +»~Trop d'audace~ sagte ich ihr«, entgegnete Dorian. + +»Oh! sie ist mutig genug, alles zu tun, mein Lieber. Und wie ist Ferrol? +Ich kenne ihn nicht.« + +»Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse«, sagte +Lord Henry und schlürfte seinen Wein. + +Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. »Lord Henry, ich bin nicht im +mindesten überrascht, daß die ganze Welt über Ihre Ruchlosigkeit klagt.« + +»Aber welche ganze Welt tut das?« fragte Lord Henry, seine Brauen +hochziehend. »Es kann nur die Nachwelt sein. Denn diese Welt und ich, +wir stehen brillant miteinander.« + +»Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr ruchlos sind!« rief die alte +Dame den Kopf schüttelnd. + +Lord Henry sah einige Augenblicke ernsthaft aus. »Es ist ganz +abscheulich,« sagte er schließlich, »wie die Leute heutzutage herumgehen +und einem hinterm Rücken Dinge nachsagen, die ganz und gar auf Wahrheit +beruhen.« + +»Ist er nicht unverbesserlich?« rief Dorian und beugte sich in seinem +Stuhl vor. + +»Ich hoffe« sagte die Wirtin lachend. »Aber wenn Sie wirklich alle +Madame de Ferrol in dieser lächerlichen Weise anbeten, so muß ich auch +wieder heiraten, um in Mode zu kommen.« + +»Sie werden nie wieder heiraten, Lady Narborough«, unterbrach Lord +Henry. »Sie waren viel zu glücklich. Wenn eine Frau wieder heiratet, so +tut sie es, weil sie ihren ersten Mann verabscheute. Wenn ein Mann +wieder heiratet, so tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen +versuchen ihr Glück, Männer setzen das ihre aufs Spiel.« + +»Narborough war nicht vollkommen!« rief die alte Dame. + +»Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt, meine teure +Lady«, war die Antwort. »Frauen lieben uns um unserer Fehler willen. +Wenn wir ihrer genug haben, vergeben sie uns alles, selbst unseren +Geist. Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zu einem Diner bitten, +nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough, aber es ist völlig wahr.« + +»Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen euch nicht eurer +Fehler halber liebten, wo wäret ihr alle? Nicht ein einziger von euch +würde verheiratet sein. Und ihr wäret eine Sekte unglücklicher +Junggesellen. Das würde aber nicht viel an euch ändern. Heutzutage leben +alle Ehemänner wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner.« + +»~Fin de siècle~«, flüsterte Lord Henry. + +»~Fin du globe~«, entgegnete die Gastgeberin. + +»Ich wollte, es wäre ~fin du globe~«, sagte Dorian mit einem Seufzer. +»Das Leben ist eine große Enttäuschung.« + +»Ah, mein Lieber!« rief Lady Narborough und zog ihre Handschuhe an, +»sagen Sie mir nicht, daß Sie das Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann +das sagt, weiß man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist im +höchsten Grade ruchlos, und ich wünsche manchmal, ich wäre es auch +gewesen; aber Sie sind geschaffen, um gut zu sein -- Sie sehen so gut +aus. Ich muß Ihnen eine hübsche Frau verschaffen. Lord Henry, meinen Sie +nicht, daß Herr Gray heiraten sollte?« + +»Ich sage ihm das immer, Lady Narborough«, erwiderte Lord Henry mit +einer Verbeugung. + +»Schön, so wollen wir uns nach einer guten Partie für ihn umsehen. Ich +werde heute nacht den Adelskalender aufmerksam durchgehen und eine Liste +aller in Frage kommenden jungen Damen aufstellen.« + +»Mit ihrer Altersangabe, Lady Narborough?« fragte Dorian. + +»Natürlich mit ihrem Alter, ein wenig retuschiert. Aber man darf nichts +übereilen. Ich will, daß es genau das wird, was die Morning Post eine +passende Verbindung nennt, und ihr sollt beide glücklich werden.« + +»Was die Menschen doch für einen Unsinn über glückliche Ehen reden!« +rief Lord Henry. »Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich werden, solange +er sie nicht liebt.« + +»Pfui! Was sind Sie für ein Zyniker!« rief die alte Dame, schob ihren +Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu. »Sie müssen bald wiederkommen +und bei mir essen. Sie sind wirklich ein wunderbarer Appetitanreger, +viel besser als das, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen mir +sagen, was für Leute Sie gern treffen würden. Es soll ein entzückendes +Beisammensein werden.« + +»Ich liebe Männer, die eine Zukunft haben, und Frauen, die eine +Vergangenheit haben«, antwortete er. »Oder beabsichtigen Sie, eine +Weibergesellschaft zustande zu bringen?« + +»Ich fürchte fast«, sagte sie lachend, indem sie sich erhob. »Ach, +verzeihen Sie tausendmal, Lady Ruxton,« fuhr sie fort, »ich habe nicht +bemerkt, daß Sie mit Ihrer Zigarette noch nicht fertig waren.« + +»Macht nichts, Lady Narborough. Ich rauche viel zuviel. Ich muß mich +darin in Zukunft einschränken.« + +»Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton«, sagte Lord Henry. »Mäßigung ist +eine unglückliche Sache. Genug ist nicht besser als eine Mahlzeit. Mehr +als genug ist so gut wie ein Festessen.« + +Lady Ruxton sah ihn neugierig an. »Lord Henry, Sie müssen mich eines +Nachmittags besuchen und mir das erklären. Es klingt wie eine +verlockende Theorie«, sagte sie, während sie aus dem Zimmer rauschte. + +»Jetzt bitte, sitzt mir nicht zu lange bei eurer Politik und euerm +Klatsch!« rief Lady Narborough von der Tür aus. »Wenn ihr das tut, +zanken wir sicher mit euch, wenn ihr nach oben kommt.« + +Die Männer lachten, und Herr Chapman stand feierlich vom Ende der Tafel +auf und setzte sich oben hin. Dorian Gray wechselte seinen Platz und +setzte sich neben Lord Henry. Herr Chapman begann mit lauter Stimme über +die parlamentarische Lage zu sprechen. Er heulte laut auf über seine +Widersacher. Das Wort Doktrinär -- ein Wort voller Schrecken für den +britischen Geist -- tauchte von Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen +auf. Eine doppelt ausgesprochene Vorsilbe diente seiner Rede als +Alliteration zum Schmuck. Er hißte den Union Jack auf dem Mast des +Gedankens auf. Die angestammte Dummheit der Rasse -- gesunder englischer +Menschenverstand nannte er sie wohlwollend -- wurde als das +Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt. + +Ein Lächeln kräuselte Lord Henrys Lippen, und er drehte sich um und +blickte zu Dorian hin. + +»Geht dir's jetzt besser, lieber Junge?« fragte er. »Du schienst bei +Tisch gar nicht recht wohl zu sein.« + +»Mir ist ganz wohl. Ich bin müde. Sonst nichts.« + +»Du warst entzückend gestern abend. Die kleine Herzogin hat dich ganz in +ihr Herzchen geschlossen. Sie hat mir erzählt, sie käme nach Selby.« + +»Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen.« + +»Wird Monmouth auch da sein?« + +»Oh, gewiß, Harry!« + +»Er langweilt mich entsetzlich, fast ebenso sehr, wie er sie langweilt. +Sie ist sehr verständig, zu verständig für eine Frau. Es fehlt ihr der +unbeschreibliche Reiz der Schwäche. Die tönernen Füße sind's, die erst +das Gold der Bildsäule wertvoll machen. Ihre Füße sind ganz allerliebst, +aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn du willst. Sie +sind schon im Feuer gewesen, und was das Feuer nicht zerstört, macht es +hart. Sie hat ihre Erfahrungen.« + +»Wie lange ist sie verheiratet?« fragte Dorian. + +»Sie sagt, eine Ewigkeit. Nach dem Adelskalender, glaube ich, sind es +wohl zehn Jahre, aber zehn Jahre mit Monmouth müssen wie eine Ewigkeit +gewesen sein, wenn man die Zeit mitrechnet. Wer kommt sonst noch?« + +»Oh, die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau, unsere Wirtin, Geoffrey +Clouston, die gewöhnliche Aufmachung. Ich habe auch Lord Grotrian +gebeten.« + +»Den habe ich recht gern«, sagte Lord Henry. »Viele Leute können ihn +nicht leiden, aber ich finde ihn reizend. Dafür, daß seine Kleidung +manchmal übertrieben elegant ist, entschädigt er dadurch, daß er immer +übertrieben gebildet ist. Es ist ein ganz moderner Typus.« + +»Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Harry. Es ist möglich, daß er mit +seinem Vater nach Monte Carlo muß.« + +»Ach, was für ein Kreuz die Familiensimpelei ist! Versuch doch, daß er +kommt. Übrigens, Dorian, du bist gestern abend sehr früh weggelaufen. Du +hast uns vor elf Uhr sitzen lassen. Was hast du denn noch vorgehabt? +Bist du gleich nach Hause gegangen?« + +Dorian blickte ihn rasch an und runzelte die Stirn. »Nein, Harry,« sagte +er endlich, »es war schon fast drei, als ich nach Hause kam.« + +»Warst du noch im Klub?« + +»Ja«, antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen. »Nein, das wollte +ich nicht sagen. Ich war nicht im Klub. Ich ging nur so herum. Ich weiß +nicht mehr, was ich getan habe... Wie du einen ins Verhör nimmst, +Harry! Du willst immer wissen, was man getan hat. Ich will immer +vergessen, was ich getan habe. Wenn du aber die genaue Zeit wissen +willst, ich bin um halb drei nach Hause gekommen. Ich hatte meinen +Hausschlüssel vergessen, und mein Diener mußte mich einlassen. Wenn du +vielleicht noch eine Zeugenaussage über mein Alibi wünschst, kannst du +ihn ja fragen.« + +Lord Henry zuckte die Achseln. »Aber, lieber Junge, als ob mir daran +etwas läge? Wir wollen in den Salon hinauf. Keinen Sherry, nein danke, +Herr Chapman. Dir ist etwas zugestoßen, Dorian. Sage mir, was es ist. Du +bist heute abend nicht du selber.« + +»Sei nicht böse, Harry. Ich bin gereizt und übel gelaunt. Ich komme +morgen oder übermorgen zu dir. Bitte, entschuldige mich bei Lady +Narborough. Ich gehe nicht mehr hinauf. Ich gehe nach Hause. Ich muß +nach Hause gehn.« + +»Schön, Dorian. Ich hoffe, dich morgen zum Tee zu sehen. Die Herzogin +kommt.« + +»Ich will versuchen da zu sein, Harry«, sagte er und verließ das Zimmer. +Als er nach Hause fuhr, merkte er, daß das Angstgefühl wiedergekehrt +sei, das er erstickt zu haben glaubte. Lord Henrys zufällige Frage hatte +ihm für einen Moment die Fassung genommen und nervös gemacht und er +brauchte seine Nerven noch. Dinge, die Gefahr bringen konnten, mußten +zerstört werden. Er schauerte zusammen. Der Gedanke, sie auch nur zu +berühren, war ihm furchtbar. + +Und doch mußte es geschehen. Er war sich darüber klar, und als er die +Tür seines Bibliothekzimmers verschlossen hatte, öffnete er den geheimen +Schrank, in den er Basil Hallwards Mantel und Tasche gesteckt hatte. Es +loderte ein mächtiges Feuer. Er legte noch ein Stück Holz nach. Der +Geruch der sengenden Kleider und des schwelenden Leders war entsetzlich. +Er brauchte drei Viertelstunden, um alles zu verbrennen. Als es vorbei +war, fühlte er sich schwach und krank, und nachdem er einige algerische +Räucherkerzchen in einer durchbrochenen Kupferpfanne angezündet hatte, +wusch er sich Hände und Stirn in kaltem, moschusduftendem Essig. + +Plötzlich schrak er zusammen. Seine Augen bekamen einen merkwürdigen +Glanz und er nagte nervös an der Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern +stand ein großer Florentiner Ebenholzschrank mit Elfenbein und +Lapislazuli eingelegt. Er starrte ihn an, als wär er ein Etwas, das +fesseln und ängstigen könne, als schließe er etwas ein, das er +sehnsüchtig begehrte und doch beinahe verabscheute. Sein Atem ging +schneller. Eine wilde Gier überkam ihn. Er zündete eine Zigarette an und +warf sie gleich wieder weg. Seine Augenlider senkten sich, bis die +langen Wimpern fast die Wangen berührten. Aber er sah noch immer nach +dem Schranke hin. Endlich erhob er sich vom Sofa, auf dem er gelegen +hatte, ging zu dem Schrank hinüber, schloß ihn auf und drückte an eine +geheime Feder. Ein dreieckiges Schubfach kam langsam zum Vorschein. +Seine Finger bewegten sich instinktiv danach, griffen hinein und faßten +etwas. Es war ein kleines chinesisches Kästchen aus schwarzem, +goldbetupftem Lack, das sehr sorgfältig gearbeitet war, und dessen +Seiten gekrümmte Wellenlinien zierten, und an dessen seidenen Schnüren +runde Kristalle mit Quasten aus geflochtenen Metallfäden hingen. Er +öffnete das Kästchen. Eine grünlich-glänzende, wachsartige Masse von +seltsam schwerem und durchdringendem Geruch lag darin. + +Er zögerte ein paar Augenblicke mit einem seltsam unbeweglichen Lächeln +auf seinem Antlitz. Dann schauerte er zusammen, obwohl es im Zimmer ganz +außergewöhnlich heiß war, raffte sich auf und sah nach der Uhr. Es +fehlten zwanzig Minuten an zwölf. Er legte das Kästchen zurück, schloß +die Türen des Schrankes und ging in sein Schlafzimmer. + +Als die Mitternacht ihre metallenen Schläge durch die dunkle Luft +schickte, schlich Dorian Gray in ordinärer Kleidung und ein Tuch um den +Hals geschlungen, leise aus dem Hause. In Bond Street traf er eine +Droschke mit einem guten Pferd. Er ließ sie halten und sagte dem +Kutscher mit leiser Stimme eine Adresse. + +Der Mann schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu weit«, brummte er. + +»Da haben Sie ein Goldstück. Sie sollen noch eins kriegen, wenn Sie +rasch fahren.« + +»Schön, Herr!« antwortete der Mann, »wir werden in einer Stunde da +sein«, und nachdem sein Fahrgast eingestiegen war, lenkte er um und fuhr +rasch der Themse zu. + + + + +Sechzehntes Kapitel + + +Ein kalter Regen begann zu fallen und die flackernden Laternen sahen in +dem herabsickernden Nebel geisterhaft aus. Die Schenken wurden eben +geschlossen, und Männer und Frauen drängten sich in schattenhaften +Gruppen vor den Türen. Aus einigen Wirtschaften scholl ein gräßliches +Lachen. In anderen lärmten und grölten Betrunkene. + +In die Droschke zurückgelehnt, den Hut tief in die Stirn gezogen, +blickte Dorian Gray mit gleichgültigen Augen auf das Elend und den +Schmutz der Großstadt, und dann und wann wiederholte er sich die Worte, +die ihm Lord Henry am ersten Tage, wo sie sich kennengelernt hatten, +gesagt hatte: »die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele +zu heilen«. Ja, das war das Geheimnis. Er hatte es oft versucht und +wollte es jetzt wieder versuchen. Es gab Opiumkneipen, wo man +Vergessenheit kaufen konnte, Kneipen des Grauens, wo die Erinnerung an +alte Sünden durch den Wahnsinn neuer ausgelöscht werden kann. + +Der Mond hing tief am Himmel wie eine gelbe Hirnschale. Von Zeit zu Zeit +streckte eine dicke, unförmige Wolke einen langen Arm nach ihm aus und +verbarg ihn. Die Gaslaternen wurden spärlicher und die Straßen enger und +düsterer. Einmal verlor der Kutscher seinen Weg und mußte einige hundert +Meter zurückfahren. Das Roß dampfte, während es in den Pfützen patschte. +Die Seitenfenster des Wagens waren wie mit grauem Flanell ausgeschlagen. + +»Die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele zu heilen --!« +Wie ihm die Worte in den Ohren klangen! Seine Seele war jedenfalls +todkrank. War es denkbar, daß die Sinne sie heilen konnten? Unschuldiges +Blut war vergossen worden. Welche Sühne konnte es dafür geben? Ach! +dafür gab es keine Sühne; aber wenn auch Vergebung unmöglich war, +Vergessen war doch möglich, und er war entschlossen, zu vergessen, die +Sache zu Boden zu treten, sie zu vernichten wie eine Natter, die einen +gebissen hat. Welches Recht hatte denn Basil gehabt, so zu ihm zu +sprechen, wie er es getan hatte? Wer hatte ihn zum Richter über andere +gesetzt? Er hatte Dinge gesagt, die schrecklich waren, entsetzlich, +nicht zu ertragen. + +Weiter und weiter rollte die Droschke, und es schien ihm, als führe sie +mit jedem Schritt langsamer. Er riß das Schiebefenster auf und rief dem +Kutscher hinter ihm zu, schneller zu fahren. Der gräßliche Hunger nach +Opium fing an, in ihm zu nagen. Die Kehle brannte ihm, und seine zarten +Finger spielten nervös miteinander. Er schlug mit dem Spazierstock wie +toll auf den Gaul ein. Der Kutscher lachte und hieb mit der Peitsche zu. +Er lachte auch dazu, und der Mann auf dem Bocke schwieg. + +Der Weg schien endlos zu sein und die Straßen dehnten sich aus wie ein +schwarzes, durcheinander gewirrtes Spinngewebe. Die Eintönigkeit wurde +unerträglich, und als sich der Nebel dichter ballte, empfand er Furcht. + +Dann fuhren sie an einsamen Ziegeleien vorüber. Der Nebel ward hier +durchsichtiger, und er konnte die merkwürdigen, kürbisflaschenartigen +Brennöfen mit ihren orangefarbenen fächerartigen Feuerzungen erkennen. +Ein Köter schlug an, als sie vorbeirasselten, und weit entfernt in der +Dunkelheit schrie eine schlaflose Möwe. Das Pferd stolperte in +irgendeiner Rinne, scheute und verfiel in Galopp. + +Nach einiger Zeit verließen sie den Lehmweg und ratterten wieder über +ein holpriges Straßenpflaster. Die meisten Fenster waren dunkel, aber +dann und wann sah man phantastische Schatten wie Silhouetten hinter +einem erleuchteten Rouleau. Er spähte neugierig darauf hin. Sie bewegten +sich wie riesenhafte Marionetten und gestikulierten wie lebende Wesen. +Eine Art Haß auf sie überkam ihn. Ein dumpfer Zorn kochte in seinem +Herzen. Als sie um eine Ecke bogen, rief ihnen ein Weib aus einer +offenen Tür etwas zu, und zwei Männer rannten ein paar hundert Meter +hinter der Droschke her. Der Kutscher schlug mit seiner Peitsche nach +ihnen. + +Man sagt, die Leidenschaft wirble einem die Gedanken im Kreise umher. +Jedenfalls formten die zerbissenen Lippen Dorian Grays in endloser +Wiederholung die feingesetzten Worte von der Seele und den Sinnen und +formten sie immer wieder, bis er in ihnen sozusagen den vollsten +Ausdruck seiner Stimmung gefunden und durch die Zustimmung des +Verstandes Leidenschaften gerechtfertigt hatte, die auch ohne solche +Rechtfertigung sein Temperament beherrscht hätten. Von Zelle zu Zelle +seines Gehirns kroch der eine Gedanke und die wilde Lebensgier, das +schrecklichste aller menschlichen Hungergelüste, ließ sich jeden +zuckenden Nerv und Muskel gewaltsam emporbäumen. Das Häßliche, das er +einst gehaßt hatte, weil es den Dingen Wirklichkeit verlieh, wurde ihm +jetzt aus demselben Grunde lieb. Das Häßliche war das einzig Wirkliche. +Das rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die ordinäre Gewalttätigkeit +eines liederlichen Lebens, die widerliche Verworfenheit der Diebe und +Verbrecher waren in der intensiven Wirklichkeit ihrer Eindrücke mehr vom +Leben erfüllt, als all die anmutigen Formen der Kunst, die träumerischen +Schatten der Dichtung. Das war es, was er zum Vergessen brauchte. In +drei Tagen würde er frei sein. + +Plötzlich hielt der Mann am Ende einer finstern Straße mit einem Ruck +an. Über die niedrigen Dächer und gezackten Schornsteine der Häuser +hinaus ragten die schwarzen Maste der Schiffe. Weiße Nebelfetzen hingen +wie gespensterhafte Segel über den Werften. + +»Irgendwo hier, nicht wahr, Herr?« ertönte die rauhe Stimme des +Kutschers durch das Schiebefenster. + +Dorian fuhr auf und blickte sich um. »Schon gut«, antwortete er, stieg +rasch aus, gab dem Kutscher Trinkgeld, das er ihm versprochen hatte, und +ging eilig dem Kai zu. Hier und da flimmerte eine Laterne am Heck eines +großen Kauffahrers. Das Licht zitterte und zersplitterte sich in den +Pfützen. Ein rotes Geglitzer kam von einem weit draußen ankernden +Dampfer, der Kohlen verlud. Das schlüpfrige Pflaster sah aus wie ein +regenglänzender Gummimantel. + +Er hastete nach links weiter und blickte sich dann und wann um, ob ihm +niemand folgte. Nach sieben oder acht Minuten erreichte er ein kleines, +elendes Haus, das zwischen zwei große Faktoreien eingequetscht war. In +einem der Giebelfenster brannte eine Lampe. Er blieb stehen und klopfte +wie auf eine verabredete Art an. + +Nach einer kleinen Pause hörte er Schritte im Flur und wie die Türkette +losgemacht wurde. Die Tür öffnete sich vorsichtig, und er trat hinein, +ohne ein Wort zu der kleinen erbärmlichen Gestalt zu sagen, die sich in +den Schatten drückte, als er vorbeischritt. Am Ende des Flurs hing ein +zerlumpter grüner Vorhang, der sich in dem starken Luftzug, den er von +der Straße her mitbrachte, hin und her bauschte. Er schob ihn beiseite +und trat in einen langen, niedrigen Raum, der so aussah, als wäre er +früher ein Tanzlokal dritten Ranges gewesen. Grell flackernde +Gasflammen, die in den fliegenbeschmutzten Spiegeln gegenüber matt und +verzehrt erschienen, brannten rings an den Wänden. Schmierige +Reflektoren aus geripptem Wellblech waren dahinter angebracht und warfen +tanzende Lichtkreise. Der Boden war mit ockerfarbigen Sägespänen +bestreut, die an einzelnen Stellen zu Schmutzklumpen zertreten waren und +auf denen sich von vergossenen Getränken schwarze Ringe abzeichneten. +Ein paar Malaien hockten mit untergeschlagenen Beinen an einem kleinen +Kohlenofen, spielten mit knöchernen Würfeln und zeigten beim Sprechen +ihre weißlichen Zähne. In einem Winkel, den Kopf auf die Hände gestützt, +räkelte sich ein Matrose über den Tisch, und an dem schreiend bemalten +Büfett, das eine ganze Seite des Raumes einnahm, standen zwei +heruntergekommene Weibspersonen und höhnten einen alten Mann, der mit +einem Ausdruck des Ekels die Ärmel seines Rockes bürstete. »Er denkt, er +hat sich Läuse geholt«, lachte die eine, als Dorian vorüberging. Der +Mann sah sie erschreckt an und begann zu jammern. + +Am Ende des Zimmers war eine kleine Treppe, die in eine verdunkelte +Kammer führte. Als Dorian die drei wackligen Stufen hinaufhastete, +schlug ihm der schwere Geruch des Opiums entgegen. Er holte tief Atem, +und seine Nasenflügel zitterten vor Lust. Als er eintrat, blickte ein +junger Mann mit glattgescheiteltem Blondhaar zu ihm auf, der sich über +eine Lampe beugte, an der er eine lange, dünne Pfeife anzündete, und +zögernd nickte. + +»Du hier, Adrian?« flüsterte Dorian. + +»Wo soll ich sonst sein?« antwortete er gleichgültig. »Kein Mensch will +jetzt mehr mit mir sprechen.« + +»Ich dachte, du wärst aus England fort?« + +»Darlington wird nichts gegen mich unternehmen. Mein Bruder hat den +Wechsel schließlich gezahlt. George spricht auch nicht mehr mit mir ... +Ist mir auch einerlei«, fügte er seufzend hinzu. »Solange man noch das +Zeug da hat, braucht man keine Freunde. Ich denke, ich habe zu viele +Freunde gehabt.« + +Dorian zuckte zusammen und sah sich nach den grotesken Gestalten um, die +da in so abenteuerlichen Stellungen auf den zerlumpten Matratzen lagen. +Die verkrümmten Glieder, die offenen Mäuler, die stierenden, glanzlosen +Augen übten eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er kannte die +absonderlichen Paradiese, in denen sie litten, und welche dumpfe Höllen +sie in das Geheimnis neuer Genüsse einweihten. Sie waren besser daran +als er. Ihn hielten seine Gedanken eingekerkert. Die Erinnerung fraß wie +eine fürchterliche Krankheit an seiner Seele. Von Zeit zu Zeit glaubte +er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu sehen. Aber er +fühlte, daß er hier nicht bleiben konnte. Die Anwesenheit Adrian +Singletons störte ihn. Er wollte irgendwo sein, wo ihn niemand kennt. Er +wollte sich selbst entfliehen. + +»Ich gehe in das andere Lokal«, sagte er nach einer Pause. + +»Auf der Werft?« + +»Ja.« + +»Die tolle Katze ist sicher da. Sie wollen sie hier nicht mehr haben.« + +Dorian zuckte die Achseln. »Ich habe die Weiber, die einen lieben, +satt. Weiber, die einen hassen, sind viel interessanter. Übrigens ist +dort der Stoff besser.« + +»Ganz derselbe.« + +»Mir schmeckt er da besser. Komm, wir wollen was trinken. Ich muß was +haben.« + +»Ich brauche nichts«, murmelte der junge Mann. + +»Macht nichts.« + +Adrian Singleton stand schläfrig auf und folgte Dorian ans Büfett. Ein +Mischling in zerrissenem Turban und schäbigem Ulster grinste ihnen einen +widerlichen Gruß zu, als er zwei Gläser und eine Branntweinflasche vor +sie hinstellte. Die Weiber torkelten herbei und begannen zu schwatzen. +Dorian kehrte ihnen den Rücken zu und sagte leise etwas zu Adrian +Singleton. + +Ein Grinsen gleich einem krummen malaischen Dolch verzerrte das Gesicht +des einen Weibes. »Wir sind sehr stolz heute abend«, höhnte sie lachend. + +»Um Gottes willen, rede nicht mit mir!« schrie Dorian und stampfte mit +dem Fuß auf den Boden. »Was willst du? Geld? Da! Aber sprich kein Wort +mehr zu mir!« + +Zwei rote Funken blitzten für einen Augenblick in den wässerigen Augen +des Weibes auf, dann verloschen sie wieder und ließen sie trübe und +gläsern erscheinen. Sie warf den Kopf in den Nacken und raffte mit +gierigen Fingern die Münzen auf dem Schenktisch zusammen. Ihre Gefährtin +beobachtete sie neidisch. + +»Es hat keinen Zweck«, sagte Adrian Singleton seufzend. »Ich will nicht +mehr zurück. Was macht's aus? Ich fühle mich hier ganz wohl.« + +»Du wirst mir doch schreiben, wenn du was brauchst?« fragte Dorian nach +einer Weile. + +»Vielleicht.« + +»Dann gute Nacht!« + +»Gute Nacht!« antwortete der junge Mann, schritt die Stufen hinauf und +wischte sich den trockenen Mund mit dem Taschentuch ab. + +Dorian schritt mit einem qualvollen Zug im Gesicht zur Tür. Als er den +Vorhang beiseitezog, scholl ein gräßliches Lachen von den geschminkten +Lippen des Weibes, das sein Geld genommen hatte. »Da geht er hin, der +Seelenverschacherer!« stieß sie mit einer heiser glucksenden Stimme +hervor. + +»Der Satan hol' dich!« antwortete er, »du sollst mich nicht so nennen!« + +Sie schnippte mit den Fingern. »Was, du willst wohl Prinz Märchenschön +genannt werden, das paßte dir, he?« kreischte sie hinter ihm her. + +Bei diesen Worten sprang der schläfrige Matrose auf und blickte sich +wild um. Das Geräusch der zufallenden Haustür drang an sein Ohr. Er +stürzte hinaus, als ob er ihn verfolgen wollte. + +Dorian Gray eilte rasch durch den herabstäubenden Regen den Kai entlang. +Sein Zusammentreffen mit Adrian Singleton hatte ihn sonderbar bewegt, +und er grübelte darüber nach, ob der Untergang dieses jungen Lebens +wirklich sein Werk war, wie ihm Basil Hallward mit so schändlicher +Beschimpfung schuldgegeben hatte. Er biß sich auf die Lippen, und für +ein paar Augenblicke wurde sein Auge traurig. Aber schließlich, was +ging es ihn an? Das bißchen Leben war zu kurz, als daß man die Sünden +anderer auf seine Schultern laden könnte. Jeder lebte sein eigenes Leben +und zahlte seinen eigenen Preis dafür. Das einzige Unglück war, daß man +für ein einziges Vergehen so oftmals zahlen mußte. Man mußte immer und +immer wieder zahlen. In seinem Handel mit dem Menschen glich das +Schicksal sein Schuldbuch nie aus. + +Die Psychologen sagen uns, daß es Augenblicke gibt, wo die Anreizung zu +Sünden oder zu dem, was die Welt Sünden nennt, eine Natur so beherrscht, +daß jede Faser des Körpers, jede Zelle des Gehirns von fürchterlichen +Kräften gestachelt zu sein scheint. Männer und Frauen verlieren in +solchen Augenblicken die Willensfreiheit. Sie bewegen sich wie Automaten +ihrem schrecklichen Ende zu. Die Wahl ist ihnen geraubt, und das +Gewissen ist entweder tot oder, wenn es noch lebt, so lebt es nur, um +der Empörung ihren Reiz und dem Ungehorsam ihren besonderen Zauber zu +verleihen. Denn alle Sünden sind, wie die Theologen nicht müde werden, +uns vorzuhalten, Sünden des Ungehorsams. Als jener hohe Geist, der +Morgenstern alles Bösen vom Himmel fiel, da fiel er, weil er ein Rebell +war. + +Unempfindlich, nur mit dem einen Gedanken ans Böse erfüllt, mit +verfinstertem Geist, mit einer Seele, die nach Empörung lechzte, hastete +Dorian Gray weiter, und beschleunigte, während er ging, seine Schritte +immer mehr; aber als er in einen dunkeln Torweg einbog, der ihm oft +genug als abgekürzter Weg zu dem berüchtigten Orte gedient hatte, den +er jetzt aufsuchen wollte, fühlte er sich plötzlich von rückwärts +gepackt, und bevor er Zeit hatte, sich zu wehren, wurde er gegen eine +Mauer geschleudert und fühlte seinen Hals von einer brutalen Hand +umklammert. + +Er kämpfte wie wahnsinnig um sein Leben, und mit furchtbarer Anstrengung +glückte es ihm, sich aus den umschnürenden Fingern loszureißen. Einen +Augenblick darauf hörte er das Knacken eines Revolvers und sah den Glanz +eines blanken Laufes gerade gegen seinen Kopf gerichtet und die dunkle +Gestalt eines untersetzten Mannes vor sich. + +»Was wollen Sie?« keuchte er. + +»Sei still«, sagte der Mann. »Wenn du dich rührst, schieß' ich dich +nieder!« + +»Sie sind toll. Was hab' ich Ihnen getan?« + +»Du hast das Leben Sibyl Vanes zugrunde gerichtet!« war die Antwort, +»und Sibyl Vane war meine Schwester. Sie hat sich getötet. Ich weiß es. +Ihr Tod ist deine Schuld. Ich habe geschworen, dich dafür zu töten. +Jahrelang habe ich dich gesucht. Aber ich hatte keinen Anhaltspunkt, +keine Spur. Die zwei Menschen, die dich hätten beschreiben können, waren +tot. Ich wußte nichts von dir als den Kosenamen, den sie dir gab. Heute +nacht habe ich ihn durch Zufall gehört. Mach' deinen Frieden mit Gott, +denn heute nacht mußt du sterben.« + +Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Furcht. »Ich habe sie nie +gekannt«, stammelte er. »Ich habe nie von ihr gehört. Sie sind +verrückt.« + +»Gesteh' lieber deine Sünden ein, denn so wahr ich James Vane heiße, so +gewiß sollst du jetzt sterben.« Es war ein entsetzlicher Augenblick. +Dorian wußte nicht, was er sagen oder tun sollte. »Auf die Knie!« +brüllte der Mann. »Ich geb' dir eine Minute, deinen Frieden zu machen -- +nicht mehr! Ich muß heute nacht an Bord nach Indien, und muß vorher +meine Arbeit getan haben. Eine Minute. Mehr nicht!« + +Dorians Arme sanken herab. Von Todesangst gelähmt, wußte er nicht, was +er beginnen sollte. Plötzlich zuckte eine jähe Hoffnung in seinem Gehirn +auf. »Halt!« schrie er. »Wie lang ist es her, daß Ihre Schwester +gestorben ist? Rasch, sagen Sie!« + +»Achtzehn Jahre«, sagte der Mann. »Warum fragst du? Was machen die +Jahre?« + +»Achtzehn Jahre!« lachte Dorian mit einem triumphierenden Ton in seiner +Stimme. »Achtzehn Jahre! Bringen Sie mich unter die Laterne und sehen +Sie mein Gesicht an!« + +James Vane zögerte einen Augenblick und begriff nicht, was er meinte. +Dann packte er Dorian Gray und schleifte ihn aus dem Torweg heraus. + +So dunkel und flackernd das windverwehte Licht auch war, es genügte +doch, ihm den furchtbaren Irrtum zu zeigen, in den er geraten zu sein +schien. Denn das Antlitz des Mannes, den er töten wollte, wies die ganze +Blütenweichheit der Jugend auf, zeigte all die unbefleckte Reinheit der +Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling von zwanzig Lenzen, kaum +älter, als seine Schwester gewesen war, als sie vor so vielen Jahren +Abschied voneinander genommen hatten. Es war klar, daß dies nicht der +Mann war, der ihr Leben zerstört hatte. + +Er ließ seine Faust von ihm los und taumelte zurück. »Mein Gott, mein +Gott!« rief er aus, »und ich hätte Sie fast ermordet!« + +Dorian Gray schöpfte tief Atem. »Sie waren dicht daran, ein furchtbares +Verbrechen zu begehen, Mann«, sagte er mit einem strengen Blick. »Lassen +Sie sich das eine Warnung sein, eine Rache nicht mit eigener Hand zu +übernehmen.« + +»Verzeihen Sie mir, Herr!« stammelte James Vane. »Ich habe mich täuschen +lassen. Ein zufälliges Wort, das ich in der verfluchten Kneipe hörte, +brachte mich auf die falsche Spur.« + +»Sie sollten lieber nach Hause gehen und Ihre Pistole wegtun, sonst +kommen Sie noch in Ungelegenheiten«, sagte Dorian, drehte sich um und +ging langsam die Straße hinunter. + +James Vane stand voller Entsetzen auf dem Pflaster. Er zitterte von Kopf +bis Fuß. Nach einer kleinen Weile bewegte sich ein schwarzer Schatten, +der längs der regenfeuchten Wand hingeschlichen war, ins Licht hinaus +und glitt mit verstohlenen Schritten an seine Seite. Er spürte eine Hand +auf seinem Arm und drehte sich mit jähem Ruck um. Es war eines der +Weiber, die am Büfett getrunken hatten. + +»Warum hast du ihn nicht umgebracht?« zischte sie und brachte ihr +verlebtes Gesicht ganz dicht an das seine. »Ich wußte, daß du ihm +folgtest, als du aus Dalys Haus fortranntest. Du Narr! Du hättest ihn +totschlagen sollen. Er hat einen Haufen Geld und ist schlechter als +sonst wer.« + +»Er ist nicht der Mann, den ich suche,« antwortete er, »und ich suche +keines Menschen Geld. Ich such' eines Menschen Leben. Der Mann, dessen +Leben ich suche, muß jetzt an die Vierzig sein. Der da war fast noch ein +Knabe. Ich danke Gott, daß nicht sein Blut an meinen Händen klebt.« + +Das Weib stieß ein bitteres Lachen aus. »Fast noch ein Knabe!« höhnte +sie. »Wahrhaftig, Mensch, es ist fast achtzehn Jahre her, seit Prinz +Märchenschön das aus mir gemacht hat, was ich heute bin!« + +»Du lügst!« schrie James Vane. + +Sie hob die Hände gen Himmel. »Bei Gott, ich sage die Wahrheit!« rief +sie. + +»Bei Gott?« + +»Du kannst mich kaltmachen, wenn es nicht so ist. Er ist der +Schlechteste von allen, die herkommen. Sie sagen, er hat dem Teufel +seine Seele für sein hübsches Gesicht verkauft. Es sind fast achtzehn +Jahre, daß ich ihn kennenlernte. Er hat sich seitdem wenig verändert. +Ich um so mehr«, fügte sie mit einem traurigen Blinzeln hinzu. + +»Beschwörst du das?« + +»Ich schwöre es«, klang es wie ein heiseres Echo aus ihrem entstellten +Munde. »Aber verrate mich ihm nicht«, winselte sie; »ich habe Angst vor +ihm. Gib mir 'n paar Groschen zum Nachtquartier.« + +Mit einem Fluch riß er sich von ihr los und stürzte an die Straßenecke; +aber Dorian Gray war verschwunden. Als er zurückblickte, war auch das +Weib schon weg. + + + + +Siebzehntes Kapitel + + +Eine Woche später saß Dorian Gray im Gewächshaus von Selby Royal und +plauderte mit der hübschen Herzogin von Monmouth, die sich mit ihrem +Gatten, einem ermüdet aussehenden Manne von sechzig Jahren, unter seinen +Gästen befand. Es war zur Teezeit, und das sanfte Licht der großen, mit +einem Spitzenschleier verhängten Lampe, die auf dem Tische stand, +erleuchtete das kostbare Porzellan und das getriebene Silberservice, das +neben der Herzogin stand. Ihre weißen Hände machten sich zierlich +zwischen den Tassen zu schaffen, und ihre vollen, roten Lippen lächelten +über etwas, das ihr Dorian zugeflüstert hatte. Lord Henry lag +zurückgelehnt in einem mit Silberseide bezogenen Rohrsessel und sah +beide an. Auf einem pfirsichfarbenen Diwan saß Lady Narborough und tat +so, als ob sie der Beschreibung des Herzogs zuhörte, die den letzten +brasilianischen Käfer betraf, den er seiner Sammlung einverleibt hatte. +Drei junge Leute in gewählter Gesellschaftstoilette boten den Damen +Teekuchen an. Die Gesellschaft bestand aus zwölf Personen, und für den +nächsten Tag wurden noch einige erwartet. + +»Worüber sprecht ihr beide?« fragte Lord Henry, während er gemächlich zu +dem Teetisch ging und seine Tasse niederstellte. »Ich hoffe, Dorian hat +dir von meinem Plan, alles umzutaufen, erzählt, Gladys. Es ist eine +allerliebste Idee.« + +»Aber ich will nicht umgetauft werden, Harry«, erwiderte die Herzogin +und sah ihn mit ihren reizend schönen Augen an. »Ich bin mit meinem +Namen ganz zufrieden und ich denke, Herr Gray kann auch mit seinem +zufrieden sein.« + +»Meine teure Gladys, ich würde um keinen Preis der Welt einen der beiden +Namen umändern wollen. Sie sind beide vollendet. Ich dachte +hauptsächlich an Blumen. Gestern schnitt ich mir eine Orchidee für mein +Knopfloch. Es war eine wundervoll gesprenkelte Blume, so wirkungsvoll +wie die sieben Todsünden. In einem Anfall von Gedankenträgheit fragte +ich einen der Gärtner, wie sie heiße. Er sagte mir, es sei ein schönes +Exemplar der Robinsoniana oder irgendeine derartige gräßliche +Bezeichnung. Es ist eine traurige Wahrheit, aber wir haben die +glückliche Gabe verloren, den Dingen schöne Namen zu geben. Und Namen +sind alles. Ich kämpfe nie gegen Taten an. Mein einziger Kampf richtet +sich gegen die Worte. Das ist der Grund, weshalb ich den vulgären +Realismus in der Literatur verabscheue. Der Mann, der imstande ist, +einen Spaten einen Spaten zu nennen, sollte gezwungen werden, selbst +einen in die Hand zu nehmen. Es ist die einzige Sache, zu der er +tauglich wäre.« + +»Wie sollen wir also dich nennen, Harry?« fragte sie. + +»Sein Name ist Prinz Paradox«, sagte Dorian. + +»Der wird sofort akzeptiert!« rief die Herzogin. + +»Ich will ihn nicht hören«, lachte Lord Henry und ließ sich in ein +Fauteuil fallen. »Vor einem solchen Etikettchen kann man sich nicht +retten. Ich weise den Titel zurück.« + +»Fürstlichkeiten können nicht abdanken«, warnten ihn schöne Lippen. + +»Du willst also, daß ich meinen Thron verteidige?« + +»Ja.« + +»Ich sage die Wahrheiten von morgen.« + +»Ich ziehe die Irrtümer von heute vor«, antwortete sie. + +»Du entwaffnest mich, Gladys!« rief er, entzückt von ihrer übermütigen +Laune. + +»Deines Schildes, Harry, nicht deines Speeres.« + +»Ich kämpfe nie gegen Schönheit«, sagte er mit einer huldigenden +Handbewegung. + +»Das ist dein Fehler, Harry, glaube mir's. Du überschätzest die +Schönheit.« + +»Wie kannst du das sagen? Ich gebe zu, daß ich es für besser halte, +schön zu sein als gut. Aber andererseits ist niemand eher als ich bereit +zuzugeben, daß es besser ist, gut zu sein als häßlich.« + +»Dann also ist Häßlichkeit eine der sieben tödlichen Sünden?« rief die +Herzogin. »Wie steht es nun mit deinem Orchideengleichnis?« + +»Häßlichkeit ist eine von den sieben tödlichen Tugenden, Gladys. Du als +gute Tory darfst sie nicht unterschätzen. Das Bier, die Bibel und die +sieben tödlichen Tugenden haben aus England gemacht, was es heute ist.« + +»Du liebst also dein Vaterland nicht?« fragte sie. + +»Ich lebe darin.« + +»Damit du es besser tadeln kannst.« + +»Sähest du es lieber, daß ich mir das Urteil Europas über unser Land +aneigne?« fragte er. + +»Was sagt man von uns?« + +»Daß Tartüff nach England ausgewandert sei und dort einen Laden +aufgemacht habe.« + +»Ist das von dir, Harry?« + +»Ich schenke es dir.« + +»Ich kann's nicht gebrauchen. Es ist zu wahr.« + +»Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Unsere Landsleute erkennen sich +nie in ihrem Steckbrief wieder.« + +»Du bist so praktisch.« + +»Eher gerissen als praktisch. Wenn sie ihr Kontokorrent abschließen, +dann saldieren sie Dummheit mit Reichtum und Laster mit Heuchelei.« + +»Und doch haben wir große Dinge vollbracht.« + +»Große Dinge sind uns auferlegt worden, Gladys.« + +»Wir haben ihre Last zu tragen vermocht.« + +»Nur bis zur Börse.« + +Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube an unsere Rasse!« rief sie. + +»Sie vertritt den überlebenden Ellbogenstreber.« + +»Sie hat das Zeug zur Entwicklung.« + +»Verfall reizt mich mehr.« + +»Und die Kunst?« fragte sie. + +»Eine Krankheit.« + +»Liebe?« + +»Einbildung.« + +»Religion?« + +»Modesurrogat für den Glauben.« + +»Du bist ein Skeptiker!« + +»Niemals! Skeptizismus ist der Anfang des Glaubens.« + +»Was bist du?« + +»Definieren heißt beschränken.« + +»Reich mir den Ariadnefaden!« + +»Fäden zerreißen. Du wurdest deinen Weg im Labyrinth verlieren.« + +»Du machst mich wirre. Laß uns von einem anderen sprechen.« + +»Unser Wirt ist ein entzückendes Thema. Vor vielen Jahren nannte man ihn +den Prinz Märchenschön.« + +»Ach! Erinnere mich nicht daran!« rief Dorian Gray. + +»Unser Wirt ist recht greulich heute abend«, antwortete die Herzogin und +errötete. »Er denkt wohl, Monmouth habe mich nur aus wissenschaftlichen +Gründen geheiratet, weil ich das beste Musterbeispiel eines modernen +Schmetterlings bin.« + +»Ich hoffe aber, er wird Sie nicht auf Stecknadeln spießen, Frau +Herzogin«, lachte Dorian. + +»Oh! Das besorgt schon meine Kammerjungfer, Herr Gray, wenn sie sich +über mich ärgert.« + +»Und worüber ärgert sie sich, Frau Herzogin?« + +Ȇber die geringsten Dinge, Herr Gray, glauben Sie nur! Gewöhnlich, wenn +ich zehn Minuten vor neun nach Hause komme und ihr sage, daß ich bis +halb neun angezogen sein muß.« + +»Wie unvernünftig von ihr! Sie sollten ihr den Laufpaß geben!« + +»Das wag' ich nicht, Herr Gray. Sie erfindet nämlich meine Hüte. Sie +erinnern sich nicht an den Hut, den ich auf Lady Hilstones Gartenfest +getragen habe? Natürlich nicht, aber es ist hübsch von Ihnen, daß Sie so +tun. Also der war geradezu aus nichts gemacht. Alle guten Hüte werden +aus nichts gemacht.« + +»Wie jeder gute Ruf, Gladys!« unterbrach Lord Henry. »Jede Wirkung, die +man erzielt, schafft uns einen Feind. Man muß eine Mittelmäßigkeit sein, +wenn man eine Beliebtheit sein will.« + +»Nicht unter Frauen«, sagte die Herzogin und schüttelte den Kopf; »und +Frauen regieren die Welt. Ich behaupte steif und fest, wir können +Mittelmäßigkeiten nicht vertragen. Wir Frauen, hat mal jemand gesagt, +lieben mit den Ohren, gerade so, wie ihr Männer mit den Augen liebt, +wenn ihr überhaupt liebt.« + +»Es scheint mir, daß wir überhaupt nie etwas anderes tun«, flüsterte +Dorian. + +»Ach! Herr Gray, dann lieben Sie nie in Wirklichkeit«, antwortete die +Herzogin wie in spöttischer Trauer. + +»Meine liebe Gladys.« rief Lord Henry. »Wie kannst du das sagen? Die +Romantik lebt von Wiederholung, und die Wiederholung verwandelt jeden +Anreiz in Kunst. Übrigens, jedesmal, wenn man liebt, ist es das +erstemal, daß man geliebt hat. Die Verschiedenheit des Objektes +verändert die Einzigkeit der Leidenschaft nicht. Sie macht sie nur +stärker. Wir können im Leben bestenfalls nur ein einziges großes +Erlebnis haben, und das Geheimnis des Lebens besteht darin, dieses +Erlebnis so oft als möglich zu wiederholen.« + +»Selbst wenn es einen verwundet hat, Harry?« fragte die Herzogin nach +einer Pause. + +»Besonders wenn es einen verwundet hat«, entgegnete Lord Henry. + +Die Herzogin wandte sich um und sah Dorian Gray an mit einem seltsamen +Ausdruck in ihren Augen. »Was sagen Sie dazu, Herr Gray?« forschte sie. + +Dorian zögerte einen Augenblick. Dann warf er den Kopf zurück und +lachte. »Ich stimme mit Harry immer überein, Frau Herzogin.« + +»Auch wenn er unrecht hat?« + +»Harry hat nie unrecht, Frau Herzogin.« + +»Und macht Sie seine Philosophie glücklich?« + +»Glück habe ich nie gesucht. Wer braucht Glück? Ich habe Vergnügen +gesucht.« + +»Und gefunden, Herr Gray?« + +»Oft. Zu oft.« + +Die Herzogin seufzte. »Ich suche Frieden,« sagte sie, »und wenn ich +jetzt nicht gehe und mich anziehe, habe ich ihn heut abend nicht.« + +»Lassen Sie mich Ihnen ein paar Orchideen holen, Frau Herzogin!« rief +Dorian, sprang auf und ging ins Gewächshaus hinunter. + +»Du flirtest ganz schändlich mit ihm«, sagte Lord Henry zu seiner +Kusine. »Du solltest dich lieber in acht nehmen. Er kann sehr +faszinieren.« + +»Wenn er es nicht könnte, gäb's keinen Kampf.« + +»Also Griechen kämpfen gegen Griechen?« + +»Ich bin auf seiten der Trojaner. Sie kämpften für ein Weib.« + +»Sie wurden besiegt.« + +»Es gibt ärgere Dinge als Gefangenschaft«, erwiderte sie. + +»Du galoppierst mit verhängtem Zügel.« + +»Das Tempo macht Leben«, war die Antwort. + +»Ich will mir das heut abend in mein Tagebuch schreiben.« + +»Was?« + +»Daß ein gebranntes Kind das Feuer liebt.« + +»Ich bin noch nicht einmal versengt. Meine Flügel sind unberührt.« + +»Du gebrauchst sie zu allem, nur nicht zur Flucht.« + +»Der Mut ist von den Männern zu den Frauen gewandert. Das ist ein neues +Erlebnis für uns.« + +»Du hast eine Rivalin.« + +»Wen?« + +Er lachte. »Lady Narborough«, flüsterte er. »Sie betet ihn an.« + +»Du machst mir Angst. Die Beschwörung des Altertums ist für uns +Romantiker stets gefährlich.« + +»Romantiker! Du hast alle Methoden der Wissenschaft.« + +»Männer haben uns erzogen.« + +»Aber nicht erklärt.« + +»Gib uns eine Definition unseres Geschlechtes«, forderte sie ihn heraus. + +»Sphinxe ohne Geheimnisse.« + +Sie sah ihn lächelnd an. »Wie lange Herr Gray wegbleibt«, sagte sie. +»Wir wollen ihm helfen. Ich habe ihm noch nicht einmal die Farbe meines +Kleides angegeben.« + +»Pah! Du mußt dein Kleid seinen Blumen anpassen, Gladys.« + +»Das wäre eine zu frühe Übergabe.« + +»Die romantische Kunst beginnt mit dem Höhepunkt.« + +»Ich muß mir die Möglichkeit des Rückzuges offen halten.« + +»Wie die Parther?« + +»Sie fanden Schutz in der Wüste. Mir wäre das nicht möglich.« + +»Man läßt den Frauen nicht immer die Wahl«, entgegnete er; aber kaum +hatte er den Satz zu Ende gesprochen, als von dem äußersten Winkel des +Gewächshauses her ein unterdrücktes Stöhnen kam, dem das dumpfe Gerausch +eines schweren Falles folgte. Alles sprang auf. Die Herzogin stand +regungslos da vor Schreck. Mit ängstlichen Augen stürzte Lord Henry +durch die wehenden Fächer der Palmen und fand Dorian Gray in einer +todesähnlichen Ohnmacht am Boden liegend, mit dem Gesicht auf den kühlen +Fliesen. + +Er wurde sofort in den blauen Salon gebracht und auf ein Sofa gelegt. +Nach einer kurzen Weile kam er wieder zu sich und sah sich verstört um. + +»Was ist geschehen?« fragte er. »Ach! jetzt fällt mir's ein. Bin ich +hier sicher, Harry?« Er begann zu zittern. + +»Mein lieber Dorian,« antwortete Lord Henry, »es war ein +Ohnmachtsanfall. Weiter nichts. Du mußt dich wohl übermüdet haben. Komm +lieber nicht zum Diner hinunter. Ich werde dich vertreten.« + +»Nein, ich will herunterkommen«, sagte er und mühte sich, auf den Füßen +zu stehen. »Ich komme lieber herunter! Ich darf nicht allein sein.« + +Er ging in sein Zimmer und zog sich um. Als er bei Tisch saß, war in +seinem Gehaben eine wilde, übermütige Lustigkeit, aber hin und wieder +überlief ihn ein Angstschauer, wenn er sich erinnerte, daß er, gegen die +Fensterscheiben des Gewächshauses gepreßt, das lauernde Gesicht James +Vanes wie ein weißes Tuch erblickt hatte. + + + + +Achtzehntes Kapitel + + +Am nächsten Tage verließ er das Haus nicht und verbrachte den größten +Teil der Zeit in seinem Zimmer, durchrüttelt von einer wilden +Todesfurcht und dem Leben gegenüber doch gleichgültig. Das Bewußtsein, +gejagt, umzingelt, aufgestöbert zu werden, fing an, ihn gänzlich zu +beherrschen. Wenn nur die Vorhänge im Winde rauschten, schrak er +zusammen. Die toten Blätter, die gegen die verbleiten Scheiben gefegt +wurden, schienen ihm seine eigenen vergeudeten Vorsätze und ungestümen +Gewissensbisse zu sein. Wenn er die Augen schloß, sah er wieder das +Gesicht des Matrosen vor sich, wie es durch das feuchtbeschlagene Glas +stierte, und das Entsetzen schien ihm noch einmal seine Hand aufs Herz +zu legen. + +Aber vielleicht war es nur seine Phantasie gewesen, die die Rache aus +der Nacht heraufbeschworen und ihm die gräßliche Gestalt der Strafe +vorgetäuscht hatte. Das wirkliche Leben war ein Chaos, aber es war eine +furchtbare Logik in der Phantasie. Die Phantasie hetzte die +Gewissensbisse hinter den flüchtigen Sohlen der Sünde her. Die Phantasie +ließ jedes Verbrechen seine mißgestaltete Brut in sich tragen. In der +gewöhnlichen Welt der Tatsachen wurden die Schlechten so wenig bestraft +wie die Guten belohnt. Der Erfolg gehörte den Starken, Unglück machte +die Schwachen unterliegen. Das war alles. Zudem, wenn ein Fremder um das +Haus herumgestrolcht wäre, so hätten ihn die Diener oder Wächter +entdeckt. Wären irgendwelche Fußtapfen in den Beeten bemerkt worden, so +hätten es die Gärtner gemeldet. Ja: es war alles bloße Einbildung. Sybil +Vanes Bruder war nicht zurückgekommen, um ihn zu ermorden. Er war mit +seinem Schiff abgesegelt, um in irgendeiner arktischen See zu ertrinken. +Vor dem war er also sicher. Der Mann wußte gar nicht, wer er war und +konnte es nicht wissen. Die Maske der Jugend hatte ihn gerettet. + +Und doch, wenn es eine bloße Ausgeburt der Einbildung gewesen war, wie +schrecklich war doch der Gedanke, daß das Gewissen so fürchterliche +Hirngespinste entstehen lassen und ihnen sichtbare Form und Bewegung +geben konnte! Was für eine Art Leben würde er führen, wenn Tag und Nacht +die Schatten seines Verbrechens aus düsteren Winkeln nach ihm spähten, +ihn von geheimen Stellen aus neckten, ihm ins Ohr flüsterten, wenn er +beim Mahle saß, ihn mit eisigen Fingern weckten, wenn er schlief! Als +dieser Gedanke durch sein Hirn kroch, wurde er blaß vor Schrecken, und +die Luft schien ihm plötzlich kälter geworden zu sein. Oh! in was für +einer wilden Wahnsinnsstunde hatte er seinen Freund umgebracht! Wie +bluterstarrend war nur die Erinnerung an diese Szene! Er sah es alles +wieder. Jede gräßliche Einzelheit kam mit vermehrtem Entsetzen wieder zu +ihm. Aus dem schwarzen Grabverlies der Zeit stieg schrecklich und in +Scharlachrot gehüllt das Bild seiner Sünde empor. Als Lord Henry um +sechs Uhr eintrat, fand er ihn schluchzend, als ob ihm das Herz brechen +wolle. + +Erst am dritten Tage wagte er auszugehen. Es lag etwas in der klaren, +tannenduftenden Luft dieses Wintermorgens, das ihm seine Fröhlichkeit +und seine Lebenslust wiederzugeben schien. Aber nicht nur die physischen +Bedingungen seiner Umgebung hatten diese Wandlung zuwege gebracht. Seine +eigene Natur hatte sich gegen das Übermaß der Angst empört, die ihre +vollendete Ruhe zu stören und zu vernichten versucht hatte. Mit feinen +und subtil organisierten Temperamenten ist es immer so. Ihre heftigen +Leidenschaften können nur Hammer oder Amboß sein. Entweder töten sie den +Menschen oder sterben selbst. Oberflächliche Sorgen, oberflächliche +Liebesempfindungen können weiter leben. Tiefe Liebesempfindungen und +große Sorgen gehen durch ihre eigene Überfülle zugrunde. Überdies hatte +er sich jetzt überzeugt, daß er das Opfer einer erschreckten +Einbildungskraft gewesen war, und sah jetzt auf seine Ängste mit einer +Art Mitleid und nicht geringer Verachtung zurück. + +Nach dem Frühstück ging er mit der Herzogin ein Stündchen im Garten +spazieren und fuhr dann durch den Park, um mit der Jagdgesellschaft +zusammenzutreffen. Der feinperlige Reif lag wie Salz auf dem Rasen. Der +Himmel sah aus wie ein umgestülpter Pokal aus blauem Metall. Ein dünner +Eisgallert umsäumte den seichten, schilfbewachsenen Teich. + +Am Eingang des Tannenwaldes erblickte er Sir Geoffrey Clouston, den +Bruder der Herzogin, der eben zwei verschossene Patronen aus seiner +Flinte stieß. Dorian sprang aus dem Wagen, sagte dem Groom, er solle mit +dem Gespann nach Hause fahren, und ging durch das welke Farnkraut und +das gestrüppige Unterholz auf seinen Gast zu. + +»Gute Jagd gehabt, Geoffrey?« fragte er. + +»Nicht berühmt, Dorian. Die meisten Vögel, glaub' ich, sind auf die +Felder geflüchtet. Vielleicht wird's nachmittag besser sein, wenn wir +auf frisches Revier kommen.« + +Dorian schlenderte neben ihm weiter. Die starke, aromatische Luft, die +braunen und roten Lichter, die den Wald durchflimmerten, das rauhe +Geschrei der Treiber, das von Zeit zu Zeit aufgellte, und der scharfe +Knall der Flinten, der dann folgte, das alles fesselte ihn und erfüllte +ihn mit einem Gefühl entzückender Freiheit. Er war beherrscht von einem +sorglosen Glück, von einer großartigen Gleichgültigkeit der Freude. + +Plötzlich brach aus einem dicken Büschel alten Grases, vielleicht +zwanzig Meter vor ihnen, ein Hase aus, die schwarzgesprenkelten Löffel +steif aufgerichtet und die langen Hinterläufe nach vorn werfend. Er +schnellte auf ein Erlendickicht los. Sir Goeffrey riß das Gewehr an die +Schulter, aber in der anmutigen Bewegung des Tieres lag etwas, das +Dorian Gray seltsam entzückte, und er rief hastig: »Schieß nicht, +Geoffrey. Laß ihn laufen!« + +»Ach, Unsinn, Dorian«, sagte lachend sein Gefährte, und noch ehe der +Hase in das Dickicht setzte, schoß er zu. Man hörte zwei Schreie, den +Schrei eines verwundeten Hasen, der schrecklich ist, und den Schrei +eines sterbenden Menschen, der noch schrecklicher ist. + +»Gott im Himmel, ich habe einen Treiber getroffen!« rief Sir Geoffrey +aus. »Was für 'n Esel der Mann ist, einem direkt vors Gewehr zu laufen! +Hört auf mit Schießen!« rief er mit seiner lautesten Stimme. »Ein Mann +ist getroffen worden!« + +Der Hegemeister kam mit einem Stock in der Hand herbeigelaufen. + +»Wo, Herr? Wo ist er?« rief er. Im selben Augenblick hörte das Schießen +auf der ganzen Linie auf. + +»Hier!« antwortete Sir Geoffrey ärgerlich und rannte auf das Dickicht +zu. »Warum, zum Kuckuck, halten Sie Ihre Leute nicht weiter zurück? Für +heute hab' ich die ganze Jagd im Magen.« + +Dorian sah ihnen nach, wie sie in die Erlenbüsche eindrangen und die +biegsamen Zweige zur Seite bogen. Nach einigen Augenblicken erschienen +sie wieder und zogen einen Körper ans Tageslicht. Er wandte sich +entsetzt ab. Es schien ihm, als folge ihm das Mißgeschick überallhin. Er +hörte, wie Sir Geoffrey fragte, ob der Mann wirklich tot wäre, und +vernahm die bejahende Antwort des Hegemeisters. Es schien ihm, als +wimmele der Wald urplötzlich von Gesichtern. Er hörte das Gelaufe von +unzähligen Füßen und das gedämpfte Flüstern von Stimmen. Ein großer +Fasan mit kupferfarbener Brust rauschte durch die Äste über ihm dahin. + +Nach einigen Augenblicken, die ihm in seiner Fassungslosigkeit wie +endlose, peinvolle Stunden vorkamen, fühlte er eine Hand auf seiner +Schulter. Er zuckte zusammen und wandte sich um. + +»Dorian,« sagte Lord Henry, »ich halt 's für richtiger, die Jagd für +heute beendet sein zu lassen. Es würde nicht gut aussehen, sie +fortzusetzen.« + +»Ich wollte, sie wäre für immer beendet, Harry«, antwortete er bitter. +»Die ganze Geschichte ist gräßlich und grausam ist der Mann...?« Er +konnte den Satz nicht vollenden. + +»Ja leider«, entgegnete Lord Henry. »Er hat die ganze Ladung in die +Brust gekriegt. Er muß augenblicklich gestorben sein. Komm, wir wollen +nach Hause.« + +Sie schritten nebeneinander auf die Allee zu und sprachen etwa fünfzig +Meter weit kein Wort. Dann sah Dorian Lord Henry an und sagte mit einem +tiefen Seufzer: »Das ist ein böses Omen, Harry, ein sehr böses Omen.« + +»Was denn?« fragte Lord Henry. »Oh! diesen Unglücksfall meinst du. +Lieber Junge, daran ist nichts zu ändern. Der Mann hatte ja selber +schuld. Warum lief er in die Schußlinie? Überdies ist es nicht unsere +Sache. Für Geoffrey ist es natürlich nicht gerade angenehm! Es ist +nicht hübsch, Treiber niederzupuffen. Die Leute denken gleich, man wäre +ein Sonntagsjäger. Und das ist Geoffrey nicht; er schießt sogar +brillant. Aber es hat keinen Zweck, über den Unfall weiter zu reden.« + +Dorian schüttelte den Kopf. »Es ist ein böses Omen, Harry. Ich habe das +Gefühl, als müßte einem von uns etwas Schreckliches zustoßen. Mir selbst +vielleicht«, fügte er hinzu und legte mit einer schmerzlichen Bewegung +die Hand über die Augen. + +Der ältere lachte. »Das einzig Schreckliche in der Welt ist Langeweile, +Dorian. Das ist die einzige Sünde, für die es keine Vergebung gibt. Aber +wir werden darunter schwerlich zu leiden haben, wenn die Gesellschaft +bei Tisch nicht etwa noch über die Sache viel Aufhebens macht. Ich muß +den Leuten sagen, daß dieses Thema einfach Tabu ist. Und Omina --so was +wie Omina gibt's nicht. Das Geschick sendet uns keine Herolde. Es ist zu +weise dazu oder zu grausam. Übrigens, was in aller Welt sollte dir +geschehen, Dorian? Du hast alles, was sich ein Mensch hienieden wünschen +kann. Ich wüßte niemand, der nicht freudig mit dir tauschen möchte.« + +»Es gibt keinen, mit dem ich nicht tauschen möchte, Harry. Lach' nicht +darüber. Ich spreche die Wahrheit. Der elende Bauer, der da gestorben +ist, ist besser daran als ich. Ich habe keine Angst vor dem Tode. Das +Sterben ist's, wovor ich mich ängstige. Seine ungeheuren Flügel scheinen +mich rings in der bleiernen Luft zu umschatten. Herr des Himmels, siehst +du nicht, daß da hinter den Bäumen ein Mann auf mich lauert und mich +beobachtet?« + +Lord Henry sah in die Richtung, wohin die behandschuhte Hand zitternd +wies. »Ja,« sagte er lächelnd, »ich sehe da den Gärtner auf dich warten. +Er will dich vermutlich fragen, welche Blumen du heute auf dem Tisch +haben willst. Wie lächerlich nervös du heute bist, lieber Junge! Du mußt +gleich meinen Doktor konsultieren, wenn wir wieder in der Stadt sind.« + +Dorian seufzte erleichtert auf, als er den Gärtner herankommen sah. Der +Mann legte die Hand an den Hut, blickte erst zaudernd auf Lord Henry und +zog dann einen Brief hervor, den er seinem Herrn überreichte. »Ihre +Gnaden hat mir aufgetragen, auf Antwort zu warten«, sagte er halblaut. + +Dorian steckte den Brief in die Tasche. »Sagen Sie Ihrer Gnaden, ich +würde kommen«, sagte er kühl. Der Mann kehrte um und schritt rasch dem +Hause zu. + +»Wie gern doch die Frauen gefährliche Dinge tun!« sagte Lord Henry +lachend. »Das ist eine von ihren Eigenschaften, die ich am meisten +bewundere. Eine Frau ist mit jedem auf der Welt zu flirten bereit, +solange andere Leute dabei Zuschauer sind.« + +»Wie gern du doch gefährliche Dinge sagst, Harry! In diesem Falle bist +du aber ganz auf dem Holzwege. Ich habe die Herzogin sehr gern, aber ich +liebe sie nicht.« + +»Und die Herzogin liebt dich sehr, aber sie hat dich nicht gern, also +paßt ihr beide famos zusammen.« + +»Du machst Klatschereien, Harry, und diesmal ist gar kein Grund zu +Klatschereien vorhanden.« + +»Die Grundlage für jeden Klatsch ist eine unmoralische Verläßlichkeit«, +sagte Lord Henry und zündete sich eine Zigarette an. + +»Du würdest jeden von uns bloßstellen, Harry, um einen Witz zu machen.« + +»Die Welt legt sich aus freien Stücken auf den Opferaltar«, war die +Antwort. + +»Ich wollte, ich könnte lieben!« rief Dorian Gray mit einem +tiefpathetischen Klang in seiner Stimme. »Aber es scheint, ich habe die +Glut der Leidenschaft verloren und die Sehnsucht des Begehrens +vergessen. Ich bin zu sehr in mich selber konzentriert. Meine eigene +Person ist eine Last für mich geworden. Ich möchte entfliehen, weggehen, +vergessen. Es war albern von mir, überhaupt herzukommen. Ich denke, ich +telegraphiere an Harvey, daß er die Jacht instand setzt. Auf einer Jacht +ist man sicher.« + +»Wovor sicher, Dorian? Du hast Unruhe. Warum sagst du mir nicht, was es +ist? Du weißt, daß ich dir helfen könnte.« + +»Ich kann es dir nicht sagen, Harry«, erwiderte er traurig. »Und es mag +wohl alles nur Einbildung sein. Der unglückselige Zwischenfall hat mich +aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich habe eine schreckliche Vorahnung, +daß mir etwas Ähnliches zustößt.« + +»Was für Unsinn!« + +»Ich hoffe, es ist Unsinn, aber ich kann dies Gefühl nicht loswerden. +Ah! da kommt die Herzogin und sieht aus wie Artemis in einem +Tailormade-Kleide. Sie sehen, wir sind zurück, Frau Herzogin.« + +»Ich habe schon alles gehört, Herr Gray«, antwortete sie. »Der arme +Geoffrey ist ganz außer Fassung. Und man sagt, Sie hatten ihn gebeten, +nicht auf den Hasen zu schießen. Wie seltsam!« + +»Ja, es war sehr seltsam. Ich kann nicht mal sagen, warum ich es getan +habe. Eine Eingebung vermute ich. Er sah so niedlich aus, der kleine +Kerl. Aber ich bedaure sehr, daß man Ihnen von dem Manne erzählt hat. Es +ist ein peinliches Thema.« + +»Es ist ein langweiliges Thema«, unterbrach ihn Lord Henry. »Es hat +keinerlei psychologischen Wert. Wenn es Geoffrey noch absichtlich getan +hätte, wie interessant wäre es dann! Ich würde gern jemand kennenlernen, +der einen wirklichen Mord begangen hat.« + +»Wie abscheulich von dir«, schrie die Herzogin auf. »Nicht war, Herr +Gray? Harry, Herrn Gray ist wieder unwohl. Er wird ohnmächtig.« + +Dorian hielt sich gewaltsam aufrecht und lächelte. »Es ist nichts, Frau +Herzogin,« murmelte er, »meine Nerven sind schrecklich in Unordnung. +Nichts weiter. Ich fürchte, ich bin heut morgen zuviel gegangen. Ich +habe gar nicht gehört, was Harry gesagt hat. War es sehr toll? Sie +müssen es mir ein andermal erzählen. Ich halte es fürs beste, mich jetzt +ein bißchen hinzulegen. Sie entschuldigen mich, nicht wahr?« + +Sie hatten die große Treppe erreicht, deren Stufen vom Gewächshaus auf +die Terrasse emporführten. Als sich die Glastür hinter Dorian +geschlossen hatte, wandte sich Lord Henry um und sah die Herzogin mit +seinen schläfrigen Augen an. »Bist du sehr in ihn verliebt?« fragte er. + +Sie gab eine Weile keine Antwort, sondern stand da und blickte auf die +Landschaft. »Ich möchte es selber wissen«, sagte sie endlich. + +Er schüttelte den Kopf. »Wissen, wäre ein Verhängnis. Nur die +Ungewißheit hat für uns Reiz. Ein Nebel macht die Dinge wunderbar.« + +»Man kann darin seinen Weg verlieren.« + +»Alle Wege enden am selben Punkt, meine liebe Gladys.« + +»Wie heißt der?« + +»Enttäuschung.« + +»So war mein Debüt im Leben«, seufzte sie. + +»Sie kam mit einer Krone zu dir.« + +»Ich bin der Erdbeerblätter in unserer Krone müde.« + +»Sie steht dir gut.« + +»Nur in der Öffentlichkeit.« + +»Sie würde dir fehlen«, sagte Lord Henry. + +»Ich werde mich von keinem Blättchen trennen.« + +»Monmouth hat Ohren.« + +»Das Alter ist schwerhörig.« + +»War er nie eifersüchtig?« + +»Ich wollte, er wäre es.« Dabei lachte sie. Ihre Zähne sahen aus wie +weiße Kerne in einer scharlachfarbenen Frucht. Indessen lag oben in +seinem Zimmer Dorian Gray auf einem Sofa, Schrecken in jeder zuckenden +Fiber seines Körpers. Das Leben war für ihn urplötzlich eine so schwere +Last geworden, daß er sie nicht mehr tragen konnte. Der gräßliche Tod +des unglücklichen Treibers, der in dem Dickicht wie ein wildes Tier +niedergeknallt worden war, schien ihm selbst den Tod vorauszusagen. Er +war fast in Ohnmacht gefallen bei dem zynischen Scherz, den Lord Henry +in einer zufälligen Laune gemacht hatte. + +Um fünf Uhr klingelte er seinem Diener und hieß ihn seine Sachen für den +Nachtschnellzug nach London zu packen und den Wagen für halb neun vors +Tor zu bestellen. Er war entschlossen, keine Nacht mehr in Selby Royal +zu schlafen. Es war ein Ort voll böser Vorzeichen. Der Tod ging dort am +hellen Tage um. Das Gras des Waldes war mit Blut befleckt. + +Dann schrieb er ein Billett an Lord Henry, in dem er ihm mitteilte, daß +er in die Stadt fahre, um den Arzt zu konsultieren, und ihn bat, seine +Gäste in seiner Abwesenheit zu unterhalten. Als er die Zeilen in ein +Kuvert legte, klopfte es an die Tür, und sein Diener meldete ihm, daß +ihn der Hegemeister sprechen wolle. Er runzelte die Stirn und biß sich +auf die Lippen. »Lassen Sie ihn eintreten«, murmelte er nach einigem +Zögern. + +Während der Mann eintrat, holte Dorian sein Scheckbuch aus einer +Schublade hervor und legte es vor sich hin. + +»Sie kommen vermutlich wegen des Unglücksfalles von heute morgen, +Thornton«, sagte er und nahm eine Feder auf. + +»Ja, Herr«, antwortete der Hegemeister. + +»War der arme Kerl verheiratet? Hatte er Angehörige zu versorgen?« +fragte Dorian mit einem müden Gesicht. »Wenn sich's so verhält, möchte +ich nicht, daß sie in Not zurückbleiben, und ich will ihnen jede Summe +schicken, die Sie für notwendig halten.« + +»Wir wissen nicht, wer es ist, gnädiger Herr. Deshalb war ich so frei, +herzukommen.« + +»Sie wissen nicht, wer es ist?« sagte Dorian zerstreut. »Wie meinen Sie +das? War es nicht einer von Ihren Leuten?« + +»Nein Herr. Ich hab' ihn mein Lebtag nicht gesehen. Er sieht aus wie ein +Matrose, gnädiger Herr.« + +Die Feder fiel Dorian Gray aus der Hand, und er hatte das Gefühl, als +höre sein Herz plötzlich zu schlagen auf. »Ein Matrose!« schrie er auf. +»Sagten Sie, ein Matrose?« + +»Ja, gnädiger Herr. Er sieht aus wie ein Matrose; auf beiden Armen +tätowiert und überhaupt so in der Art.« + +»Hat man irgend etwas bei ihm gefunden?« fragte Dorian, beugte sich vor +und sah den Mann mit aufgerissenen Augen an. »Irgend etwas, woraus man +seinen Namen erführe?« + +»Nur Geld, gnädiger Herr -- nicht viel, und einen sechsläufigen +Revolver. Nichts von Namen. Der Mann sieht sonst anständig aus, aber +gewöhnlich. Wir halten ihn für eine Art Matrosen.« + +Dorian sprang auf die Füße. Eine furchtbare Hoffnung durchblitzte ihn. +Er klammerte sich wahnsinnig an sie an. »Wo ist der Leichnam?« rief er +aus. »Rasch, ich muß ihn sofort sehen.« + +»Er liegt in einem leeren Stall im Wirtschaftsgebäude, gnädiger Herr. +Die Leute wollen so was nicht in ihren vier Wänden haben. Sie sagen, +eine Leiche bringt Unglück.« + +»Im Wirtschaftsgebäude! Gehen Sie sogleich voraus und warten Sie da auf +mich. Sagen Sie einem der Grooms, er soll mein Pferd herbringen. Nein. +Lieber nicht. Ich will selbst in den Stall kommen. Das geht rascher.« + +Kaum eine Viertelstunde später galoppierte Dorian, so rasch er konnte, +die lange Allee hinunter. Die Bäume schienen in gespenstischer Parade an +ihm vorbeizufliegen und ihm wilde Schatten in den Weg zu schleudern. +Einmal scheute die Stute vor einem weißen Pfahle und warf ihn fast ab. +Er schlug ihr die Gerte um den Hals. Sie durchschnitt die dunkle Luft +wie ein Pfeil. Die Steine stoben unter ihren Hufen. + +Endlich erreichte er das Wirtschaftsgebäude. Zwei Männer lungerten im +Hof herum. Er sprang aus dem Sattel und warf einem die Zügel hin. In dem +letzten Stall flimmerte ein Licht. Irgend etwas schien ihm zu sagen, daß +dort der Leichnam liege, und er ging rasch auf die Tür zu und legte die +Hand auf die Klinke. + +Da hielt er einen Augenblick inne und wurde sich bewußt, daß er vor der +Schwelle einer Entdeckung stehe, die ihm entweder ein neues Leben gab +oder es zerstörte. Dann stieß er die Tür auf und trat ein. + +Auf einem Haufen Säcke im entferntesten Winkel lag der tote Körper eines +Mannes, bekleidet mit einem groben Blusenhemd und blauen Hosen. Ein +unsauberes Taschentuch war ihm übers Gesicht gebreitet worden. Eine +billige Kerze steckte in einer Flasche und flackerte düster. + +Dorian Gray schauerte. Er fühlte, daß er nicht mit eigener Hand das +Taschentuch wegziehen könne, und rief nach einem der Stallknechte. + +»Nehmen Sie das da vom Gesicht weg. Ich will es sehen«, sagte er und +hielt sich an dem Türpfosten fest. + +Als es der Knecht getan hatte, machte er einen Schritt nach vorn. Ein +Freudenschrei kam von seinen Lippen. Der Mann, der im Dickicht +erschossen worden war, war James Vane. + +Er stand einige Minuten da und starrte auf den toten Körper. Als er nach +Hause ritt, waren seine Augen von Tränen umschleiert, denn er wußte +jetzt, daß er gerettet war. + + + + +Neunzehntes Kapitel + + +»Es hat gar keinen Sinn, mir zu erzählen, daß du gut werden willst!« +rief Lord Henry und tauchte seine weißen Finger in eine rote, mit +Rosenwasser gefüllte Kupferschale. »Du bist vollkommen. Bitte ändere +dich nicht.« + +Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Nein, Harry, ich habe zuviel gräßliche +Dinge getan in meinem Leben. Ich will keine mehr tun. Ich habe gestern +mit meinen guten Taten den Anfang gemacht.« + +»Wo warst du gestern?« + +»Auf dem Lande, Harry. Ich war mutterseelenallein in einem kleinen +Gasthof.« + +»Lieber Junge,« sagte Lord Henry lächelnd, »auf dem Lande kann jeder +Mensch gut sein. Dort gibt's keine Versuchungen. Das ist der Grund, +warum Leute, die nicht in der Stadt wohnen, so gänzlich unzivilisiert +sind. Zivilisation ist wahrhaftig nicht leicht zu erreichen. Es gibt nur +zwei Wege, um zu ihr zu kommen. Der eine ist Kultur, der andere +Korruption. Die Landbevölkerung hat keine Gelegenheit zu dieser noch zu +jener, und so bleiben sie so in ihrer Entwicklung stehen.« + +»Kultur und Korruption«, wiederholte Dorian. »Ich habe von beiden etwas +kennengelernt. Es scheint mir jetzt schrecklich, daß man sie immer +beisammen findet. Denn ich habe ein neues Ideal, Harry. Ich will anders +werden. Ich glaube, ich bin schon anders geworden.« + +»Du hast mir noch nicht berichtet, worin deine gute Handlung bestand. +Oder sagtest du nicht, du hättest mehr als eine getan?« fragte der +Freund und schüttete sich eine kleine rote Pyramide Erdbeeren auf seinen +Teller, auf die er aus einem muschelförmigen Sieblöffel weißen Zucker +streute. + +»Ich kann dir's ja erzählen, Harry. Es ist eine Geschichte, die ich +einem anderen nicht erzählen könnte. Ich habe jemand verschont. Es +klingt eitel, aber du verstehst, was ich meine. Sie war sehr schön und +hatte eine wunderbare Ähnlichkeit mit Sibyl Vane. Ich glaube, das war +das erste, was mich bei ihr anzog. Du erinnerst dich doch noch an Sibyl, +nicht? Wie lange das her ist! Also Hetty gehörte natürlich nicht unserem +Stand an. Sie war eine Dorfschöne. Aber ich liebte sie wirklich. Ich +weiß bestimmt, daß ich sie liebte. In dem ganzen wundervollen Maimonat, +den wir jetzt hatten, bin ich zwei-, dreimal in der Woche hingefahren, +um sie zu sehen. Gestern erwartete sie mich in einem kleinen Obstgarten. +Die Apfelblüten schneiten auf ihr Haar herab, und sie lachte. Heute +morgen in aller Herrgottsfrühe sollte sie mit mir kommen. Plötzlich +entschloß ich mich, sie so einer Blume gleich zu lassen, wie ich sie +gefunden hatte.« + +»Ich vermute, die Neuheit der Empfindung muß dir einen förmlichen +Wonneschauer bereitet haben, Dorian«, unterbrach ihn Lord Henry. »Aber +ich kann dir dein Idyll zu Ende erzählen. Du gabst ihr gute Lehren und +brachst ihr das Herz. Das ist der Anfang deiner Besserung.« + +»Harry, du bist schrecklich! Du darfst so häßliche Dinge nicht sagen. +Hettys Herz ist nicht gebrochen. Natürlich weinte sie und dergleichen. +Aber keine Schande ist auf sie gekommen. Sie kann weiterleben wie +Perdita in ihrem Garten bei Pfefferminze und Ringelblumen.« + +»Und einem treulosen Florizel nachweinen«, rief Lord Henry lachend und +lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Teuerster Dorian, du hast manchmal +die sonderbarsten Knabenanwandlungen. Glaubst du, dieses Mädchen wird +sich jemals mit einem ihres eigenen Standes glücklich fühlen? Ich +vermute, sie wird eines schönen Tages einen rohen Fuhrmann oder einen +grinsenden Bauernlümmel heiraten. Schön also, die Tatsache, daß sie dich +kennengelernt und geliebt hat, wird sie dahin bringen, ihren Mann zu +verachten, und sie wird unglücklich werden. Vom moralischen Standpunkte +aus kann ich also nicht finden, daß deine Entsagung sehr wertvoll war. +Selbst als ein Anfang ist sie armselig. Außerdem, woher willst du +wissen, ob Hetty in diesem Augenblick nicht in einem sternbeglänzten +Mühlteich schwimmt, von lieblichen Wasserlilien umkränzt wie Ophelia?« + +»Ich kann es nicht aushalten, Harry! Du spottest über alles und +beschwörst dann die ernsthaftesten Tragödien herauf. Es tut mir jetzt +leid, daß ich es dir erzählt habe. Es kümmert mich auch nicht, was du +sagst. Ich weiß, ich habe recht gehandelt. Arme Hetty! Als ich heute +früh am Gehöft vorbeiritt, sah ich ihr Gesicht weiß wie einen +Jasminzweig am Fenster. Wir wollen nicht länger davon reden, und du +sollst nicht versuchen, mich zu überzeugen, daß die erste gute Handlung, +die ich seit Jahren getan habe, das erste kleine Opfer, das ich jemals +gebracht habe, in Wahrheit eine Art Sünde wäre. Ich will mich jetzt +bessern. Und ich werde mich bessern. Erzähle mir etwas von dir. Was geht +in der Stadt vor? Ich war tagelang nicht im Klub.« + +»Die Leute sprechen noch immer über das Verschwinden des armen Basil.« + +»Ich sollte meinen, daß sie inzwischen davon genug bekommen hätten«, +sagte Dorian, während er sich etwas Wein einschenkte und leicht die +Stirn runzelte. + +»Mein lieber Junge, sie reden ja erst seit sechs Wochen davon, und das +englische Publikum ist wirklich nicht der geistigen Anstrengung +gewachsen, alle drei Monate mehr als ein Gesprächsthema zu haben. +Immerhin haben sie in der letzten Zeit Glück gehabt. Sie hatten meinen +eigenen Ehescheidungsprozeß und Alan Campbells Selbstmord. Jetzt haben +sie das geheimnisvolle Verschwinden eines Künstlers. In Scotland Yard +bleibt man hartnäckig dabei, daß der Mann im grauen Ulster, der in der +Nacht des neunten November mit dem Zwölfuhrzug nach Paris fuhr, der arme +Basil war, und die französische Polizei erklärt, Basil wäre überhaupt +nie in Paris eingetroffen. Vermutlich wird man uns etwa in vierzehn +Tagen auftischen, daß er in San Francisco gesehen worden ist. Es ist +eine schwierige Geschichte, aber von jedem Menschen, der verschwindet, +heißt es, daß er in San Francisco gesehen worden ist. Das muß eine +entzückende Stadt sein, die alle Reize der zukünftigen Welt ihr Eigen +nennt.« + +»Was glaubst du, daß Basil zugestoßen sei?« fragte Dorian, hielt seinen +Burgunder gegen das Licht und wunderte sich, daß er über diese Sache so +ruhig plaudern konnte. + +»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wenn sich Basil ein Vergnügen +daraus macht, Versteck zu spielen, so ist das nicht meine Sache. Wenn er +tot ist, will ich nicht weiter an ihn denken. Der Tod ist das einzige, +was mir Angst macht. Ich hasse ihn.« + +»Warum?« fragte der jüngere müde. + +»Weil,« sagte Lord Henry und führte die vergoldete Netzöffnung eines +Riechbüchschens zur Nase, »weil man heutzutage alles überleben kann, +ausgenommen den Tod. Tod und Philisterei sind die zwei einzigen +Tatsachen des neunzehnten Jahrhunderts, die man nicht wegerklären kann. +Wir wollen den Kaffee im Musikzimmer trinken, Dorian. Du mußt mir Chopin +vorspielen. Der Mann, mit dem meine Frau durchbrannte, spielte Chopin +hinreißend. Die arme Viktoria! Ich habe sie recht gern gehabt. Das Haus +ist ohne sie recht einsam. Natürlich ist das Eheleben nur eine +Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit. Aber schließlich bedauert man den +Verlust selbst seiner schlechtesten Gewohnheiten. Vielleicht bedauert +man die gerade am meisten. Sie sind ein so wesentlicher Teil unserer +Persönlichkeit.« + +Dorian sagte nichts, sondern stand vom Tisch auf, ging in das +Nebenzimmer, setzte sich an das Klavier und ließ seine Finger über das +weiße und schwarze Elfenbein der Tasten gleiten. Als der Kaffee gebracht +wurde, hörte er auf, sah zu Lord Henry hinüber und sagte: »Harry, ist es +dir nie eingefallen, daß Basil ermordet worden sein könnte?« + +Lord Henry gähnte. »Basil war sehr populär und trug immer nur eine +Waterburyuhr. Warum hätte man ihn ermorden sollen? Er war nicht klug +genug, um Feinde zu haben. Freilich hatte er ein wunderbares Genie als +Maler. Aber ein Mensch kann malen wie Velasquez und doch so langweilig +als möglich sein. In Wirklichkeit war Basil ziemlich langweilig. Er +interessierte mich nur ein einziges Mal, und das war damals, als er mir +vor vielen Jahren gestand, daß er dich so ungestüm anbete und daß du das +Leitmotiv seiner Kunst seist.« + +»Ich habe Basil sehr gern gehabt«, sagte Dorian mit einem traurigen +Klang in seiner Stimme. »Aber behauptet denn das Publikum nicht, daß er +ermordet worden ist?« + +»Pah, in einigen Zeitungen steht es. Es scheint mir nicht im geringsten +wahrscheinlich. Ich weiß, es gibt fürchterliche Orte in Paris, aber +Basil war nicht die Art Mensch, sie aufzusuchen. Er war nicht neugierig. +Das war sein Hauptfehler.« + +»Was würdest du dazu sagen, Harry, wenn ich dir versicherte, daß ich +Basil ermordet habe?« fragte der jüngere. Er beobachtete ihn scharf, +nachdem er das gesagt hatte. + +»Lieber Freund, ich würde sagen, daß du einen Charakter posierst, der +dich nicht kleidet. Jedes Verbrechen ist ordinär, gerade wie alles +Ordinäre ein Verbrechen ist. Du hast nicht die Gabe, Dorian, einen Mord +zu begehen. Es sollte mir leid tun, wenn ich dich durch diese Meinung in +deiner Eitelkeit kränkte, aber ich versichere dich, es ist wahr. Das +Verbrechen ist ein ausschließliches Vorrecht der unteren Klassen. Ich +will sie damit durchaus nicht tadeln. Ich vermute einfach, das +Verbrechen ist für sie, was die Kunst für uns ist, einfach ein +Verfahren, um sich außerordentliche Empfindungen zu verschaffen.« + +»Ein Verfahren, sich Empfindungen zu verschaffen? Glaubst du also, daß +ein Mensch, der einmal einen Mord begangen hat, imstande wäre, das +nämliche Verbrechen zu wiederholen? Das rede mir nicht ein.« + +»Oh! Alles wird zu einem Vergnügen, wenn man es zu oft tut!« rief Lord +Henry lachend. »Das ist eines der wichtigsten Geheimnisse des Lebens. +Immerhin bin ich des Glaubens, daß der Mord stets ein Mißgriff ist. Man +sollte nie etwas tun, worüber man sich nicht nach dem Essen unterhalten +kann. Aber wir wollen jetzt den armen Basil lassen. Ich wollte, ich +könnte glauben, daß er ein so romantisches Ende genommen hat, wie du +durchblicken läßt; aber ich kann es nicht. Ich glaube eher, daß er von +einem Omnibus in die Seine gefallen ist und der Kondukteur hat den +Skandal vertuscht. Ja, ich glaube wirklich, so war sein Ende. Ich sehe +ihn jetzt auf dem Rücken liegen unter dem dunkelgrünen Wasser, und die +schweren Lastkähne schwimmen über ihm hin, und lange Tangflechten +verwickeln sich in sein Haar. Weißt du, ich glaube nicht, daß er noch +viel Gutes gemacht hätte. In den letzten zehn Jahren ist seine Malerei +nicht mehr berühmt gewesen.« + +Dorian seufzte und Lord Henry schlenderte durch das Zimmer und +unterhielt sich damit, einem merkwürdigen Papagei aus Java den Kopf zu +krauen, einem großen, graugefiederten Vogel mit rotem Schopf und +Schwanz, der auf einem Bambusstab balancierte. Als ihn seine spitzen +Finger berührten, ließ er die weiße Nickhaut seiner Liderfalten über die +schwarzen Glaskugelaugen fallen und begann sich hin- und herzuwiegen. + +»Ja,« fuhr er fort, während er sich umdrehte, und sein Taschentuch aus +der Tasche nahm, »seine Malerei ist nicht mehr weither gewesen. Es +schien mir so, als hätte sie irgend etwas eingebüßt. Sie hatte ein Ideal +verloren. Als ihr beide aufhörtet, intime Freunde zu sein, hörte er auf, +ein großer Künstler zu sein. Was hat euch auseinander gebracht? Ich +vermute, er langweilte dich. Wenn das der Fall war, dann hat er dir nie +verziehen. Das ist gewöhnlich so bei langweiligen Menschen. Was ist +übrigens aus dem wundervollen Porträt geworden, das er von dir gemacht +hat? Ich kann mich nicht erinnern, es jemals wiedergesehen zu haben, +seit es fertig wurde. Ah! Jetzt besinne ich mich, daß du mir vor Jahren +erzählt hast, du hättest es nach Selby geschickt und es wäre unterwegs +auf irgendeine Weise gestohlen worden oder in Verlust geraten. Hast du +es nie wieder bekommen? Wie schade! Es war faktisch ein Meisterwerk. Ich +entsinne mich, daß ich es kaufen wollte. Ich wünschte, ich hätte es +jetzt. Es stammte aus Basils bester Zeit. Seitdem bestanden alle seine +Arbeiten aus dem eigentümlichen Gemengsel von schlechter Malerei und +guten Absichten, das einen Mann berechtigt, ein britischer Künstler von +Bedeutung genannt zu werden. Hast du deswegen eigentlich gar nicht +annonciert? Das hättest du tun sollen.« + +»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete Dorian. »Ich glaube, ich tat es. +Aber ehrlich gesagt, ich habe das Bild nie gemocht. Es tut mir überhaupt +leid, daß ich dazu gesessen habe. Schon die Erinnerung an das Ding ist +mir greulich. Warum sprichst du davon? Es hat mich immer an ein paar +merkwürdige Zeilen aus einem Theaterstück erinnert -- aus Hamlet, glaube +ich -- wie heißen sie? -- + + >Gleich dem Bildnis eines Grams, + ein Antlitz ohne Herz.< + +Ja, so sah es aus.« + +Lord Henry lachte. »Wenn ein Mensch das Leben künstlerisch behandelt, +ist sein Hirn sein Herz«, antwortete er und ließ sich in einen Armsessel +fallen. + +Dorian Gray schüttelte den Kopf und schlug ein paar sanfte Akkorde auf +dem Klavier an. »Gleich dem Bildnis eines Grams, ein Antlitz ohne Herz«, +wiederholte er, »ein Antlitz ohne Herz.« + +Der ältere Freund saß zurückgelehnt und blickte mit halbgeschlossenen +Augen zu ihm hinüber. Ȇbrigens, Dorian,« sagte er nach einer Pause, +»was hülfe es einem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und -- wie +heißt die Stelle doch? -- seine eigene Seele verlöre?« + +Die Musik brach schrill ab und Dorian Gray schnellte auf und starrte +seinen Freund an. »Warum fragst du mich das, Harry?« + +»Aber bester Junge,« sagte Lord Henry und zog verwundert die Augenbrauen +in die Höhe, »ich habe dich gefragt, weil ich dachte, du könntest mir +eine Antwort geben. Das ist alles. Ich bin letzten Sonntag durch Hyde +Park gegangen, und nahe beim Marble Arch stand eine kleine Ansammlung +schäbig aussehender Menschen, die irgendeinem ordinären Straßenprediger +lauschten. Als ich vorbeiging, hörte ich den Mann diese Frage seinen +Zuhörern entgegenschreien. Es berührte mich ordentlich dramatisch. +London ist sehr reich an seltsamen Wirkungen solcher Art. Ein +regnerischer Sonntag, ein unmanierlicher Christ in einem Regenmantel, +ein Kreis krankhafter, bleicher Gesichter unter dem wellenförmigen Dach +tropfender Regenschirme und ein wunderbarer Satz, von schrillen, +hysterischen Lippen in die Luft geschleudert, das war auf seine Art +wirklich sehr gut, es lag geradezu eine gewisse Suggestion darin. Ich +dachte zuerst daran, dem Propheten zu sagen, daß die Kunst eine Seele +habe, aber nicht der Mensch, aber ich fürchte, er hätte mich doch nicht +verstanden.« + +»Nein, Harry. Die Seele ist eine fürchterliche Gewißheit. Sie kann +gekauft werden und verkauft und umgetauscht. Sie kann vergiftet werden +oder vervollkommnet. In jedem von uns lebt eine Seele. Ich weiß es.« + +»Bist du dessen ganz sicher, Dorian?« + +»Ganz sicher.« + +»Pah! Dann muß es Einbildung sein. Die Dinge, die man für ganz sicher +hält, sind nun und nimmer wahr. Das ist das Verhängnis des Glaubens und +die Weisheit der Romantik. Wie feierlich du tust! Sei nicht so +ernsthaft. Was hast du oder ich mit dem Aberglauben unserer Zeit zu tun? +Nein: wir haben unseren Glauben an die Seele aufgegeben. Spiel' mir was +vor. Spiel' mir ein Nokturno, Dorian, und während du spielst, sage mir +mit leiser Stimme, wie du es möglich gemacht hast, dir deine Jugend zu +erhalten. Du mußt irgendein Geheimmittel haben. Ich bin nur zehn Jahre +älter als du, und bin runzlig und verwelkt und gelb. Du bist in der Tat +wundervoll, Dorian. Du hast nie entzückender ausgesehen als heute abend. +Du rufst mir den Tag ins Gedächtnis zurück, an dem ich dich zum +erstenmal sah. Du warst etwas schnippisch, sehr scheu und ganz und gar +außergewöhnlich. Seitdem hast du dich natürlich verändert, aber nicht im +Aussehen. Ich wünschte, du verrietest mir dein Geheimnis. Um meine +Jugend zurückzubekommen, täte ich alles auf der Welt, außer Gymnastik +treiben, früh aufstehen oder ehrbar sein. Jugend! Nichts kommt ihr +gleich. Es ist absurd, von der Unwissenheit der Jugend zu schwatzen. Die +einzigen Leute, deren Ansichten ich jetzt mit einigem Respekt anhöre, +sind Leute, die viel jünger sind als ich. Die scheinen mir weit voraus +zu sein. Das Leben hat ihnen sein letztes Wunder enthüllt. Was die +älteren betrifft, denen widerspreche ich immer. Ich tue es aus Prinzip. +Wenn du einen um seine Meinung über etwas fragst, das gestern passiert +ist, dann gibt er dir feierlichen Aufschluß über die Meinungen, die Anno +1820 im Schwunge waren, als die Leute hohe Halsbinden trugen, an alles +glaubten und absolut nichts wußten. Wie hübsch das ist, was du da +spielst! Ich möchte wohl wissen, ob es Chopin in Majorca geschrieben +hat, während das Meer seine Villa umklagte und der Salzschaum klatschend +gegen die Fensterscheiben spritzte. Es ist entzückend romantisch. Was +für ein Segen es ist, daß es doch die eine Kunst gibt, die nicht aus +Nachahmung besteht. Hör' nicht auf. Ich brauche Musik heut abend. Es +kommt mir so vor, als ob du der junge Apollo bist und ich Marsyas, der +dir zuhört. Ich habe meine eigenen Sorgen, Dorian, von denen nicht +einmal du etwas weißt. Die Tragödie des Alters beruht nicht darin, daß +man alt ist, sondern daß man jung ist. Ich bin manchmal ganz erschrocken +über meine eigene Aufrichtigkeit. Ach, Dorian, wie glücklich bist du! +Was für ein köstliches Leben hast du gehabt! Du hast tief aus jedem +Quell getrunken! Du hast die Trauben an deinem Gaumen zerdrückt. Nichts +ist dir verborgen geblieben. Und all das ist dir nicht mehr gewesen als +ein Klang von Musik. Es hat dir nichts anhaben können. Du bist noch +heute derselbe.« + +»Ich bin nicht derselbe, Harry.« + +»Ja, du bist derselbe. Ich bin gespannt, wie dein Leben weiter verlaufen +wird. Verdirb es nicht durch Entsagung. Jetzt bist du ein vollkommener +Typus. Mach' dich nicht unvollkommen. Du bist jetzt ganz ohne Tadel. Du +brauchst den Kopf nicht zu schütteln: du weißt, du bist es. Und dann, +Dorian, betrüge dich nicht selbst. Das Leben wird nicht durch Willen +oder Absicht regiert. Das Leben ist eine Angelegenheit der Nerven und +Muskeln und der langsam aufgemauerten Zellen, in denen die Gedanken +hausen und die Leidenschaft ihren Träumen nachhängt. Du redest dir ein, +sicher dazustehen und stark zu sein. Aber ein zufälliger Farbenton in +einem Zimmer oder ein Morgenhimmel, ein besonderer Geruch, den du einmal +geliebt hast und der versteckte Erinnerungen aufweckt, eine Zeile aus +einem vergessenen Gedicht, die dir plötzlich wieder einfällt, ein paar +Tonreihen aus einem Musikstück, das du längst nicht mehr spielst -- ich +sage dir, Dorian, von solchen Dingen hängt unser Leben ab. Browning hat +irgendwo mal darüber geschrieben, aber unsere eigenen Sinne geben uns +ohnehin davon Gewißheit. Es gibt Augenblicke, da durchblitzt mich +plötzlich der Geruch von weißem Flieder, und ich muß wieder den +sonderbarsten Monat meines Daseins durchleben. Ich wollte, ich könnte +mit dir tauschen, Dorian. Die Welt hat über uns beide gezetert, aber sie +hat dich immer bewundert. Sie wird dich immer bewundern. Du bist eben +der Typus dessen, wonach unsere Zeit sucht und was sie fürchtet gefunden +zu haben. Ich bin so froh darüber, daß du nie etwas getan hast, nie eine +Statue gemeißelt oder ein Bild gemalt oder irgend etwas aus dir heraus +produziert hast. Das Leben war deine Kunst. Du hast dich selbst in Musik +gesetzt. Deine Tage sind deine Sonette.« + +Dorian stand vom Klavier auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. +»Ja, das Leben ist himmlisch gewesen,« sagte er vor sich hin, »aber +dieses Leben werde ich nicht fortsetzen, Harry. Und du sollst nicht so +überspannte Dinge zu mir sagen. Du weißt nicht alles von mir. Ich +glaube, wenn du es wüßtest, so würdest selbst du dich von mir abwenden. +Du lachst. Lache nicht!« + +»Warum hast du zu spielen aufgehört, Dorian? Geh wieder ans Klavier und +spiel' mir nochmal das Nokturno. Sieh den großen honigfarbenen Mond, der +in der dunklen Luft hängt. Er wartet, daß du ihn bezauberst, und wenn du +spielst, wird er sich der Erde nähern. Du willst nicht? Dann laß uns in +den Klub gehen. Es war ein reizender Abend, und wir müssen ihn reizend +beenden. Bei White wartet jemand, der darauf brennt, dich kennenzulernen +-- der junge Lord Pool, der älteste Sohn von Bournemouth. Er kopiert +schon deine Krawatten und hat mich bestürmt, ihn dir vorzustellen. Er +ist ganz entzückend und erinnert mich ein bißchen an dich.« + +»Ich hoffe nicht«, sagte Dorian mit einem wehmütigen Blick in den Augen. +»Aber ich bin heute abend müde, Harry. Ich gehe nicht mehr in den Klub. +Es ist fast elf, und ich will früh zu Bett gehen.« + +»Bleibe noch, du hast nie so schön gespielt wie diesen Abend. In deinem +Anschlag lag etwas, es war ganz wundervoll. Es hatte mehr Ausdruck, als +ich jemals bei dir gehört habe.« + +»Das kommt daher, weil ich jetzt gut werden will«, antwortete er +lächelnd. »Ich bin schon ein bißchen anders.« + +»Für mich kannst du kein anderer werden, Dorian«, sagte Lord Henry. »Du +und ich, wir werden immer Freunde sein.« + +»Aber einstmals hast du mich mit einem Buch vergiftet. Ich sollte das +nicht vergeben. Harry, versprich mir, daß du dieses Buch nie wieder +jemand leihen willst. Es stiftet Unheil.« + +»Mein lieber Junge, du fängst wirklich an, Moralpredigten zu halten. Du +wirst bald umherlaufen, wie ein Bekehrter und ein Erweckungsprediger, +und wirst die Menschen vor all den Sünden warnen, deren du müde geworden +bist. Aber dazu bist du viel zu entzückend. Außerdem hat es keinen +Zweck. Du und ich, wir sind, was wir sind, und werden immer sein, was +wir sein werden. Und vergiftet werden durch ein Buch, sowas gibt es +einfach nicht. Kunst hat keinen Einfluß auf die Tat. Sie vernichtet den +Trieb zu handeln. Sie ist auf eine herrliche Art zeugungsunfähig. Die +Bücher, die die Welt unmoralisch nennt, sind Bücher, die der Welt ihre +eigene Schande vorhalten. Sonst nichts. Aber wir wollen nicht über +Literatur streiten. Komm morgen wieder her! Ich reite um elf aus. Wir +können zusammen reiten, und ich nehme dich nachher zum Frühstück zu Lady +Branksome mit. Es ist eine entzückende Frau und sie will dich zu Rate +ziehen über ein paar Gobelins, die sie kaufen möchte. Vergiß nicht zu +kommen. Oder wollen wir bei unserer kleinen Herzogin frühstücken? Sie +sagt, sie sieht dich jetzt gar nicht mehr. Vielleicht hast du genug von +Gladys? Ich dachte mir's, daß es so kommen würde. Ihr gewandtes +Züngelein fällt einem auf die Nerven. Also, jedenfalls bist du um elf +hier.« + +»Muß ich wirklich kommen, Harry?« + +»Unbedingt. Der Park ist jetzt herrlich. Ich glaube nicht, daß es wieder +solchen Flieder gegeben hat seit jenem Jahr, wo ich dich kennenlernte.« + +»Gut. Ich werde also um elf hier sein«, sagte Dorian. »Gute Nacht, +Harry!« Als er an der Tür war, zögerte er einen Augenblick, als hätte er +noch etwas zu sagen. Dann seufzte er und ging. + + + + +Zwanzigstes Kapitel + + +Es war eine wundervolle Nacht, so warm, daß er seinen Mantel über den +Arm hing und nicht einmal das seidene Halstuch umlegte. Als er nach +Hause schlenderte, seine Zigarette rauchend, gingen zwei Herren in +Gesellschaftstoilette an ihm vorbei. Er hörte, wie der eine dem anderen +zuflüsterte: »Das ist Dorian Gray.« Er erinnerte sich, wie +schmeichelhaft es ihm früher gewesen war, wenn man auf ihn zeigte oder +ihn anstarrte oder über ihn sprach. Jetzt war er es müde, seinen eigenen +Namen zu hören. Der halbe Reiz des kleinen Dorfes, wo er kürzlich so oft +gewesen war, bestand darin, daß dort niemand wußte, wer er war. Er +hatte dem Mädchen, das er zur Liebe verlockt hatte, oft gesagt, daß er +arm sei, und sie hatte es geglaubt. Er hatte ihr einmal gesagt, daß er +schlecht sei, und sie hatte ihn ausgelacht und geantwortet, schlechte +Menschen seien immer sehr alt und sehr häßlich. Was für ein Lachen sie +hatte! -- gerade wie der Gesang einer Drossel. Und wie hübsch sie +ausgesehen hatte in ihren Kattunkleidern und großen Hüten! Sie wußte +nichts, aber sie besaß alles, was er verloren hatte. + +Als er nach Hause kam, wartete sein Diener auf ihn. Er schickte ihn zu +Bett und warf sich auf das Sofa in der Bibliothek und begann über +einiges von dem nachzudenken, was ihm Lord Henry gesagt hatte. + +War es wirklich wahr, daß man nie anders werden konnte? Er fühlte eine +wilde Sehnsucht nach der makellosen Reinheit seiner Knabenzeit -- seiner +rosenweißen Knabenzeit, wie Lord Henry einmal gesagt hatte. Er wußte, er +hatte sich besudelt, hatte seinen Geist mit Verderbnis angefüllt und +sein Gewissen mit Entsetzen belastet, er war ein schlimmer Einfluß für +andere gewesen und hatte eine schreckliche Freude daran gehabt; und von +den Menschenleben, die das seine gekreuzt hatten, waren es die reinsten +und verheißungsvollsten gewesen, die er in Schande gestürzt hatte. Aber +war da nichts wieder gut zu machen? Gab es keine Hoffnung mehr für ihn? + +Ah! In was für einem ungeheuerlichen Augenblick von Hochmut und +Leidenschaft hatte er gebetet, es möchte das Bildnis die Last seiner +Tage auf sich nehmen und er sich den ungetrübten Glanz ewiger Jugend +bewahren! Das war an seinem ganzen verfehlten Leben schuld. Es wäre +besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde seines Lebens ihre gewisse und +schnelle Strafe mit sich gebracht hätte. In der Strafe lag Reinigung. +Nicht »Vergib uns unsere Sünden«, sondern »Züchtige uns für unsere +Missetaten« sollte das Gebet des Menschen zu einem allgerechten Gotte +lauten. + +Der mit merkwürdigen Schnitzereien umrahmte Spiegel, den ihm Lord Henry +vor so vielen Jahren geschenkt hatte, stand auf dem Tisch, und die +weißgliedrigen Liebesgötter lachten ringsherum wie ehedem. Er nahm ihn, +wie er es in jener Schreckensnacht getan hatte, als er zum ersten Male +die Veränderung in dem verhängnisvollen Bildnis bemerkt hatte, und +blickte mit verzweifelten, tränenfeuchten Augen auf die glatte Fläche. +Einmal hatte ihm jemand, der ihn abgöttisch geliebt hatte, einen +wahnsinnigen Brief geschrieben, dessen Schluß lautete: »Die Welt ist +anders geworden, weil du aus Elfenbein und Gold geschaffen wurdest. Der +Linienschwung deiner Lippen schreibt die Weltgeschichte um.« Diese Sätze +kamen ihm ins Gedächtnis zurück, und er wiederholte sie immer und immer +wieder. Dann haßte er seine eigene Schönheit und schleuderte den Spiegel +zu Boden und zertrat ihn unter seinem Fuße in silberne Splitter. Seine +Schönheit war es, die ihn zugrunde gerichtet hatte, seine Schönheit und +Jugend, um die er gefleht hatte. Wären diese beiden nicht gewesen, so +hätte er sein Leben wohl fleckenlos erhalten können. Die Schönheit war +für ihn nur eine Maske gewesen, die Jugend nur ein Blendwerk. Was war +Jugend im besten Falle? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit seichter +Stimmungen und kranker Einfälle. Warum hatte er ihre Tracht angelegt? +Die Jugend hatte ihn zugrunde gerichtet. + +Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken. Er mußte an sich +selber und an seine Zukunft denken. James Vane war in einem namenlosen +Grabe auf dem Kirchhof in Selby geborgen. Alan Campbell hatte sich eines +Nachts in seinem Laboratorium erschossen, aber das Geheimnis nicht +verraten, das ihm aufgezwungen worden war. Die Erregung über Basil +Hallwards Verschwinden würde sich bald legen. Sie hatte schon +nachgelassen. Da war er völlig sicher. Es war auch in der Tat nicht der +Tod Basil Hallwards, der sein Gemüt am schwersten belastete. Es war der +lebendige Tod seiner eigenen Seele, der ihm die Ruhe raubte. Basil hatte +das Bildnis gemalt, das sein Leben vernichtet hatte. Er konnte ihm das +nicht vergeben. Das Porträt war an allem schuld. Basil hatte ihm Dinge +gesagt, die unerträglich waren und die er doch geduldig ertragen hatte. +Der Mord war nur der Wahnsinn eines Augenblicks gewesen. Was Alan +Campbell anlangte, so war der Selbstmord seine eigene Tat gewesen. Er +war sein freier Entschluß. Das ging ihn nichts an. + +Ein neues Leben! Das war es, was er wollte. Das war es, worauf er +wartete. Gewiß hatte er es schon begonnen. Ein unschuldiges Wesen hatte +er jedenfalls geschont. Nie wieder wollte er die Unschuld in Versuchung +führen. Er wollte gut sein. + +Als er an Hetty Merton dachte, begann er sich zu fragen, ob sich das +Bild in dem verschlossenen Zimmer oben wohl verändert habe. Es konnte +doch sicher nicht mehr so häßlich sein, wie es gewesen war. Vielleicht +könnte er, wenn sein Leben jetzt rein würde, imstande sein, jedes +Anzeichen niedriger Leidenschaften aus dem Antlitz zu tilgen. Vielleicht +waren die Spuren des Bösen schon verschwunden. Er wollte hinauf und +nachsehen. + +Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich die Treppe hinan. Als er die Tür +aufschloß, huschte ein frohes Lächeln über sein seltsam junges Gesicht +und verweilte einen Augenblick auf seinen Lippen. Ja, er wollte gut +sein, und das gräßliche Ding, das er verborgen hatte, würde dann nicht +länger ein Schrecken für ihn sein. Ihm war, als wäre diese Last schon +jetzt von ihm genommen. + +Er ging ruhig hinein, schloß die Tür nach seiner Gewohnheit hinter sich +ab und zog den Purpurvorhang von dem Bildnis hinweg. Ein Schrei voll +Schmerz und Entrüstung scholl von seinen Lippen. Er konnte keine +Verwandlung bemerken, außer daß ein schlauer Ausdruck in den Augen lag +und um den Mund der gekniffene Zug des Heuchlers. Das Ding war noch +immer abscheulich, womöglich noch abscheulicher als vordem -- und der +scharlachrote Tau, der die Hand befleckte, schien heller zu glänzen und +mehr wie frisch vergossenes Blut auszusehen. Er erzitterte. War es bloße +Eitelkeit gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, einmal etwas Gutes zu +tun? Oder die Begier nach einer neuartigen Empfindung, wie Lord Henry +mit seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte? Oder das Verlangen, +eine Rolle zu spielen, das uns manchmal Dinge begehen läßt, die edler +sind als wir selbst? Oder vielleicht das alles zusammen? Und warum war +der rote Fleck jetzt größer als er vorher war? Er schien sich wie ein +fürchterlicher Aussatz über die runzligen Finger weiter gefressen zu +haben. Es war Blut auf den gemalten Füßen, als wäre es von den Händen +herabgetropft -- Blut selbst auf der Hand, die das Messer nicht geführt +hatte. Bekennen? Bedeutete dies, daß er bekennen sollte? Sich selbst +aufgeben und hingerichtet werden? Er lachte. Er fühlte, daß der Einfall +ungeheuerlich wäre. Überdies selbst wenn er es eingestände, wer würde +ihm glauben? Nirgends gab es eine Spur des Ermordeten. Alles, was zu ihm +gehörte, war zerstört. Er selbst hatte verbrannt, was unten geblieben +war. Die Welt würde einfach sagen, daß er wahnsinnig sei. Sie würden ihn +irgendwo einsperren, wenn er bei seiner Erzählung beharrte... Aber doch +war es seine Pflicht, ein Geständnis abzulegen, öffentlich Schande zu +erleiden und öffentlich Buße zu tun. Es war ein Gott, der den Menschen +zurief, ihre Sünden der Erde so gut wie dem Himmel zu beichten. Nichts, +was er sonst tun konnte, würde ihn reinigen, bis er seine Sünde selber +bekannt hätte. Seine Sünde? Er zuckte die Achseln. Der Tod Basil +Hallwards schien ihm nur unwesentlich. Er dachte an Hetty Merton. Denn +es war ein ungerechter Spiegel. Dieser Spiegel seiner Seele, in den er +hineinblickte. Eitelkeit? Neugier? Heuchelei? War sonst nichts in seinen +Entsagungen gewesen? Es war noch etwas darin gewesen. Er glaubte es +wenigstens. Aber wer konnte das sagen...? Nein. Es war weiter nichts +darin gewesen. Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Aus Heuchelei hatte +er die Maske der Güte getragen. Aus Neugier hatte er es mit der +Verzichtleistung versucht. Er erkannte das jetzt. + +Aber dieser Mord -- sollte er ihn sein ganzes Leben lang verfolgen? +Sollte er immer die Last seiner Vergangenheit tragen müssen? Sollte er +wirklich eingestehen? Niemals. Es gab nur einen einzigen Beweis gegen +ihn. Das Bildnis selbst -- das war ein Beweis. Er wollte es zerstören. +Warum hatte er es solange aufgehoben. Früher einmal war es ihm ein +Vergnügen gewesen, seine Änderung, sein Altern zu beobachten. In der +letzten Zeit hatte er dieses Vergnügen nicht mehr empfunden. Es hatte +ihm schlaflose Nächte bereitet. Wenn er außer dem Hause war, erfüllte +ihn eine Todesangst, daß fremde Augen das Bild erblicken könnten. Es +hatte Schwermut in seine Leidenschaften getröpfelt. Die bloße Erinnerung +daran hatte ihm manchen Augenblick der Freude vergällt. Es hatte bei ihm +die Rolle des Gewissens übernommen. Ja, es war sein Gewissen gewesen. Er +wollte es zerstören. + +Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil Hallward erstochen +hatte. Er hatte es oft gereinigt, bis kein Fleck mehr darauf war. Es war +blank und glitzerte. Wie es den Maler getötet hatte, sollte es des +Malers Werk töten und alles, was es bedeutete. Es sollte die +Vergangenheit töten, und wenn die tot war, würde er frei sein. Es sollte +dieses ungeheuerliche Seelenleben töten, und sobald diese gräßlichen +Warnungen nicht mehr vorhanden waren, würde er Frieden haben. Er +ergriff es und durchbohrte damit das Bildnis. + +Man hörte einen Schrei und einen Fall. Der Schrei war mit seinem +Todesröcheln so schrecklich, daß die Dienerschaft erschreckt aufwachte +und aus ihren Kammern stürzte. Zwei Herren, die auf dem Platze unten +vorbeigingen, blieben stehen und spähten an dem stattlichen Hause empor. +Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen und dann mit ihm +umkehrten. Der Mann zog mehrmals die Klingel, aber es erfolgte keine +Antwort. Bis auf ein Licht in einem der Giebelfenster war das ganze Haus +dunkel. Nach einiger Zeit ging er weg, stellte sich unter einen Torweg +in der Nähe und verhielt sich abwartend. + +»Wem gehört das Haus, Herr Wachtmeister?« fragte der ältere der beiden +Herren. + +»Herrn Dorian Gray«, antwortete der Schutzmann. + +Sie sahen einander an, gingen weiter und lächelten. Einer von ihnen war +Sir Henry Ashtons Onkel. + +Drinnen in den Dienerzimmern sprachen die halbangezogenen Bedienten in +leisem Wispern miteinander. Die alte Frau Leaf weinte und rang die +Hände. Francis war bleich wie der Tod. + +Nach etwa einer Viertelstunde holte er sich den Kutscher und einen der +Lakaien und schlich mit ihnen hinauf. Sie klopften, aber es kam keine +Antwort. Sie riefen. Alles war still. Schließlich, nachdem sie erfolglos +versucht hatten, die Tür zu sprengen, kletterten sie auf das Dach und +ließen sich auf den Balkon herab. Die Glastür gab leicht nach; ihre +Riegel waren alt. + +Als sie eintraten, sahen sie an der Wand ein wunderbares Bild ihres +Herrn hängen, so wie sie ihn zuletzt gesehen hatten, in all dem Glanz +seiner entzückenden Jugend und Schönheit. Auf dem Boden lag ein toter +Mann im Gesellschaftsanzug, mit einem Messer im Herzen. Er war welk, +runzlig und häßlich von Angesicht. Erst als sie die Ringe untersuchten, +erkannten sie, wer es war. + +_Ende_ + + + + +Anmerkungen zur Transkription: + +Die folgende Liste enthält alle geänderten Textstellen, jeweils zuerst +im Original und darunter in der geänderten Fassung. + + Seite 9: wolllt + wollt + Seite 80: Dramas gewesen sein. + Dramas gewesen sein.« + Seite 80: >Romea und Julia< + >Romeo und Julia< + Seite 85: gesprochen? + gesprochen?« + Seite 106: Name nicht. + Name nicht? + Seite 121: Mißklang heißt es, mit + »Mißklang heißt es, mit + Seite 132: Warum ich nie mehr gut spielen werde. + Warum ich nie mehr gut spielen werde.« + Seite 166: Harrys Schwester Lady Gwendolen + Harrys Schwester, Lady Gwendolen + Seite 180: wird ebenso hübsch sein. + wird ebenso hübsch sein.« + Seite 205: gegestorbene + gestorbene + Seite 217: eleganganten + eleganten + Seite 296: Orchideengleichnis? + Orchideengleichnis?« + Seite 308: Er hat die ganze + »Er hat die ganze + Seite 309: wovor ich mich änstige + wovor ich mich ängstige + + + + + +End of Project Gutenberg's Das Bildnis des Dorian Gray, by Oscar Wilde + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44238 *** diff --git a/44238-h/44238-h.htm b/44238-h/44238-h.htm new file mode 100644 index 0000000..bc29d1f --- /dev/null +++ b/44238-h/44238-h.htm @@ -0,0 +1,11751 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" xml:lang="de" lang="de"> + <head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=UTF-8" /> + <meta http-equiv="Content-Style-Type" content="text/css" /> + <title> + The Project Gutenberg eBook of Das Bildnis des Dorian Gray, by Oscar Wilde. + </title> + <style type="text/css"> +<!-- +p { + text-align: justify; + text-indent: 1em; + margin: 0; +} + +p.center, +.transcribers-note p { + text-indent: 0; +} + +h1, +h2 { + text-align: center; + clear: both; + font-weight: normal; + font-size: x-large; + line-height: 1.6; + margin: 6em auto 1.5em auto; +} + +h1 { + margin-bottom: 0.5em; +} + +a:link, +a:visited +{ + text-decoration: none; +} + +hr +{ + width: 25%; + margin: 1.5em 37.5%; +} + +ins +{ + text-decoration: none; + border-bottom: 1px dashed #add8e6; +} + +.title { + text-indent: 0; + margin-top: 2em; + text-align: center; + font-size: x-large; + line-height: 1.5; +} + +.center +{ + text-align: center; +} + +.image-center +{ + text-align: center; + margin: 2em auto; +} + +.antiqua +{ + font-style: italic; +} + +.poem { + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; + margin-left:10%; + margin-right:10%; + text-align: left; + text-indent: 0em; +} + +.postpoem { + text-indent: 0em; +} + +a[title].pagenum +{ + position: absolute; + right: 3%; +} + +a[title].pagenum:after +{ + content: attr(title); 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Das ist ein Fehler.</p> + +<p>Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn findet, hat +Kultur. Er berechtigt zu Hoffnungen.</p> + +<p>Das sind die Auserwählten, für die schöne Dinge lediglich +Schönheit bedeuten.</p> + +<p>Ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt's überhaupt +nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Sonst +nichts.</p> + +<p>Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen +den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht +im Spiegel erblickt.</p> + +<p>Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen +die Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht +im Spiegel nicht sieht.</p> + +<p>Das sittliche Dasein des Menschen liefert dem Künstler +einen Teil des Stoffgebietes, aber die Sittlichkeit der +Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen +Mittels.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_6" title="6"> </a></p> + +<p>Kein Künstler empfindet das Verlangen, etwas zu beweisen. +Selbst Wahrheiten können bewiesen werden.</p> + +<p>Kein Künstler hat ethische Neigungen. Eine ethische +Neigung beim Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit +des Stils.</p> + +<p>Kein Künstler ist an sich krankhaft. Der Künstler kann +alles aussprechen.</p> + +<p>Gedanken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge +einer Kunst.</p> + +<p>Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe einer +Kunst.</p> + +<p>Was die Form betrifft, so ist die Kunst des Musikers +die Urform aller Künste. Was das Gefühl betrifft, so ist +der Beruf des Schauspielers diese Urform.</p> + +<p>Alle Kunst ist gleichzeitig Oberfläche und Symbol.</p> + +<p>Wer unter der Oberfläche schürft, tut es auf eigene +Gefahr.</p> + +<p>Wer das Symbol herausdeutet, tut es auf eigene Gefahr.</p> + +<p>In Wahrheit wird der Betrachter und nicht das Leben +abgespiegelt.</p> + +<p>Meinungsunterschiede über ein Kunstwerk beweisen seine +Neuheit, Vielfältigkeit und Lebenskraft.</p> + +<p>Sind die Kritiker uneinig, so ist der Künstler einig mit +sich selbst.</p> + +<p>Man kann einem Menschen verzeihen, daß er etwas +Nützliches schafft, solang er es nicht bewundert. Die einzige +Entschuldigung für den, der etwas Nutzloses schuf, besteht +darin, daß es äußerst bewundert wird.</p> + +<p>Alle Kunst ist völlig nutzlos.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_7" title="7"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Erstes_Kapitel" id="Erstes_Kapitel"></a>Erstes Kapitel</h2> + + +<p>Das Atelier schwamm in einem starken Rosendufte, und +wenn der leichte Sommerwind die Bäume im Garten +wiegte, so floß durch die offene Tür der schwere Geruch +des Flieders herein oder der zartere Duft des Rotdorns.</p> + +<p>Aus der Ecke seines Diwans mit persischen Satteltaschen, +auf dem Lord Henry Wotton lag und wie gewöhnlich unzählige +Zigaretten rauchte, konnte er gerade noch den +Schimmer der honigsüßen und honigfarbigen Blüten eines +Goldregenstrauches wahrnehmen, dessen zitternde Zweige +nur seufzend die Last einer so flammenden Schönheit zu +tragen schienen, und dann und wann huschten die phantastischen +Schatten vorbeifliegender Vögel über die langen +bastseidenen Vorhänge, die vor das große Fenster +gezogen waren. Das gab einen Augenblick lang eine Art +japanischer Stimmung und ließ den Lord an die bleichen, +nephritgelben Maler der Stadt Tokio denken, die mit +Hilfe einer Kunst, die notwendigerweise erstarrt genannt +werden muß, das Gefühl von Schnelligkeit und Bewegung +hervorzubringen suchen. Das tiefe Gesumme der Bienen, +die ihren zweifelnden Flug durch das hohe, ungemähte +Gras nahmen oder mit eintöniger Zähigkeit um die bestaubten +Goldtrichter des wuchernden Geißblattes kreisten, +ließ die Stille noch drückender scheinen. Das dumpfe Brausen +<a class="pagenum" name="Page_8" title="8"> </a> +Londons murrte dazu wie die Baßtöne einer fernen +Orgel.</p> + +<p>In der Mitte des Gemaches stand auf einer hoch aufgestellten +Staffelei das lebensgroße Bildnis eines außerordentlich +schönen Jünglings, und ihm gegenüber, ein paar +Schritte entfernt, saß sein Schöpfer, der Maler Basil +Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen +Jahren bei der Menge so viel Aufsehen gemacht und zu +so vielen seltsamen Vermutungen Anlaß gegeben hatte.</p> + +<p>Während der Maler die anmutige und liebenswürdige +Gestalt betrachtete, die seine Kunst so prachtvoll wiedergespiegelt +hatte, huschte ein freudiges Lächeln über sein +Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. Plötzlich aber +fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Lider mit +den Fingern zu, als fürchte er, aus einem absonderlichen +Traume zu erwachen, und als suche er ihn im Gehirn +einzuschließen.</p> + +<p>„Es ist dein bestes Werk, Basil, das beste, was du jemals +gemacht hast“, sagte Lord Henry schläfrig-müde. +„Du mußt es nächstes Jahr unbedingt ins Grosvenor +schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich. +Jedesmal, wenn ich hinging, waren entweder so viele +Leute da, daß ich die Bilder nicht sehen konnte, und das +war schlimm, oder so viel Bilder, daß ich die Leute nicht +sehen konnte, und das war noch schlimmer. Das Grosvenor +ist der einzig richtige Platz.“</p> + +<p>„Ich denke überhaupt nicht daran, es auszustellen“, antwortete +der Maler und warf den Kopf in jener merkwürdigen +Art zurück, über die schon oft seine Freunde in Oxford +<a class="pagenum" name="Page_9" title="9"> </a> +gelacht hatten. „Nein, ich will es nirgends ausstellen.“</p> + +<p>Lord Henry hob die Augenbrauen und sah den anderen +erstaunt durch die dünnen blauen Raucharabesken an, die +in so abenteuerlichen Wirbeln von der starken opiumgetränkten +Zigarette aufstiegen. „Nirgends ausstellen? +Ja warum, mein Lieber? Hast du einen Grund dafür? +Was ihr Maler doch für Käuze seid! Ihr tut alles in der +Welt, um euch einen Namen zu machen. Habt ihr ihn +endlich, so <ins title="wolllt">wollt</ins> ihr ihn scheinbar wieder loswerden. Das +ist albern von dir, denn es gibt nur ein leidiges Ding auf +Erden, das peinlicher ist als in aller Leute Munde zu +sein, und das ist: nicht in aller Leute Munde zu sein. Ein +Porträt wie das da höbe dich weit über alle jungen Leute +in England empor und würde die Alten vor Neid platzen +lassen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung +fähig sind.“</p> + +<p>„Ich weiß, du wirst mich auslachen,“ entgegnete er, +„aber ich kann es wahrhaftig nicht ausstellen. Es steckt da +zuviel von mir selbst drin.“</p> + +<p>Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.</p> + +<p>„Ja, ich habe das gewußt; es bleibt aber doch wahr, +ganz sicher.“</p> + +<p>„Zuviel von dir soll darin sein? Auf mein Wort, Basil, +ich hätte nie geahnt, daß du so eitel bist; ich kann wirklich +nicht die blasseste Ähnlichkeit entdecken zwischen dir mit +deinem groben, eckigen Gesicht und deinem kohlschwarzen +Haar und diesem jungen Adonis, der so aussieht, als sei +er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Nein, mein +<a class="pagenum" name="Page_10" title="10"> </a> +lieber Basil, es ist ein Narziß, und du — natürlich hast +du ein geistvolles Gesicht und so weiter. Aber Schönheit, +wirkliche Schönheit hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck +anfängt. Geist ist an sich eine Art Übermaß und zerstört +das Ebenmaß jedes Gesichts. Im Moment, wo man +sich ans Denken begibt, wird man ganz Nase oder ganz +Stirn oder sonst etwas Greuliches. Sieh dir doch mal alle +die Männer an, die in gelehrten Berufen etwas geleistet +haben. Sind sie nicht alle ausgesprochen häßlich? Natürlich +die Männer der Kirche ausgenommen. Aber in der +Kirche denken sie eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig +Jahren noch unveränderlich dasselbe, was ihm als +achtzehnjährigem Bengel beigebracht wurde, und infolgedessen +sieht er immer entzückend aus. Dein geheimnisvoller +junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast, +dessen Bild mich aber tatsächlich bezaubert, denkt niemals. +Davon bin ich felsenfest überzeugt. Es ist irgendein hirnloses +schönes Geschöpf, das wir im Winter immer bei uns +haben sollten, wenn es keine Blumen zum Anschauen gibt, +und im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres +Geistes gebrauchen. Schmeichle dir also nicht, Basil: du +siehst ihm ganz und gar nicht ähnlich.“</p> + +<p>„Du verstehst mich gar nicht, Henry“, antwortete der +Künstler. „Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich. Das weiß +ich selbst. In Wirklichkeit wäre ich sogar traurig, sähe ich +ihm ähnlich. Du brauchst nicht mit den Achseln zu zucken. +Ich sage dir die Wahrheit. Jede körperliche und geistige +Besonderheit umschwebt eine gewisse Tragik; so eine Tragik +etwa, wie sich das Schicksal der Könige auf ihren Irrwegen +<a class="pagenum" name="Page_11" title="11"> </a> +in der Weltgeschichte an die Füße zu heften scheint. +Es ist besser, nicht anders zu sein als die Nebenmenschen. +Die Häßlichen und die Dummen haben das beste Leben +der Welt. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel sorglos +begaffen. Sie wissen zwar nichts von Siegen, aber +dafür bleibt ihnen auch die Bekanntschaft mit den Niederlagen +erspart. Sie leben dahin, wie wir es alle sollten: +ungestört, gleichgültig und ohne Mißbehagen. Sie bringen +anderen kein Unheil und empfangen es auch nicht von +fremder Hand. Dein Stand und dein Reichtum, Harry, +mein Geist, soviel ich davon habe, meine Kunst, soviel +sie wert ist, Dorian Gray für sein schönes Aussehen — +wir müssen alle für die Geschenke der Götter leiden, schrecklich +leiden.“</p> + +<p>„Dorian Gray? Heißt er so?“ fragte Lord Henry und +ging durch das Atelier auf Basil Hallward zu.</p> + +<p>„Ja, so heißt er. Ich wollte dir's eigentlich nicht sagen.“</p> + +<p>„Aber warum nicht?“</p> + +<p>„Oh, ich kann's nicht so erklären. Wenn ich einen Menschen +sehr, sehr lieb habe, verrate ich an niemand seinen +Namen. Das käme mir so vor, als lieferte ich damit einen +Teil von seinem Selbst aus. In mir hat sich allmählich +eine förmliche Liebe zu Geheimnissen entwickelt. Das scheint +noch die einzige Art zu sein, das Leben unserer Zeit mysteriös +und wunderbar zu machen. Die gewöhnlichste Begebenheit +wird reich an Schönheit, wenn man sie verbirgt. +Ich sage auch nie, wohin ich reise, wenn ich mal die Stadt +verlasse. Wenn ich's täte, wäre meine ganze Freude daran +hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie +<a class="pagenum" name="Page_12" title="12"> </a> +bringt doch irgendwie ein bißchen Romantik ins Leben. +Du denkst jetzt gewiß, ich bin furchtbar närrisch?“</p> + +<p>„Nicht im geringsten,“ antwortete Lord Henry, „nicht +im geringsten, mein lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, +daß ich verheiratet bin, und daß der Hauptreiz der Ehe +darin liegt, daß sie beiden Teilen ein Leben der Täuschung +zur Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau +ist, und meine Frau weiß nie, was ich tue und treibe. +Wenn wir beisammen sind — wir sind gelegentlich beisammen, +wenn wir zu einem Diner eingeladen sind oder +zum Herzog aufs Land fahren — so erzählen wir uns +die verrücktesten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht. +Meine Frau versteht das vorzüglich, ohne Frage besser +als ich. Sie verwickelt sich bei den Tatsachen nie in Widersprüche, +und bei mir kommt es beständig vor. Wenn sie +mich aber ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Ich +wünschte manchmal, sie täte es. Aber sie lacht mich nur +aus.“</p> + +<p>„Ich kann die Art nicht leiden, wie du über deine Ehe +sprichst“, sagte Basil Hallward und ging langsam auf die +Tür zu, die in den Garten führte. „Ich glaube, du bist +in Wirklichkeit ein ganz guter Ehemann und schämst dich +nur immer über diese Tugend. Du bist überhaupt ein sonderbarer +Kauz: du sagst nie was Moralisches und tust +nie was Schlechtes. Dein Zynismus ist nichts als Pose.“</p> + +<p>„Natürlichkeit ist immer eine Pose, und zwar die ärgerlichste +Pose, die ich kenne“, rief Lord Henry lachend aus, +und die beiden jungen Männer gingen zusammen in den +Garten und ließen sich auf einer langen Bambusbank nieder, +<a class="pagenum" name="Page_13" title="13"> </a> +die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand. +Das Sonnenlicht flirrte tanzend über die glatten Blätter. +Im Grase zitterten weiße Gänseblümchen.</p> + +<p>Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr: „Ich +fürchte, ich muß gleich fort, Basil,“ brummte er, „aber +bevor ich gehe, mußt du mir noch unbedingt die Frage +beantworten, die ich vorhin an dich gerichtet habe.“</p> + +<p>„Was war das?“ sagte der Maler, die Augen fest zu +Boden gerichtet.</p> + +<p>„Na, du weißt doch.“</p> + +<p>„Sicher nicht, Harry.“</p> + +<p>„Gut, dann will ich's dir nochmals sagen. Du sollst +mir erklären, warum du Dorian Grays Porträt nicht ausstellen +willst. Ich bestehe darauf, den wirklichen Grund +zu wissen.“</p> + +<p>„Ich habe dir den wirklichen Grund schon gesagt.“</p> + +<p>„Nein, das hast du nicht getan. Du hast nur gesagt, +weil zuviel von dir selbst in dem Bilde stecke. Das ist +aber kindisch.“</p> + +<p>„Harry,“ sagte Basil Hallward und sah dem anderen +gerade ins Gesicht, „jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt +ist, ist ein Porträt des Künstlers, nicht des Modells. +Das Modell ist nur der Anlaß, die Gelegenheit. Nicht +dies wird vom Maler enthüllt; nein, der Maler offenbart +auf der farbigen Leinwand eher sich selbst. Ich will also +dies Bild darum nicht ausstellen, weil ich fürchte, ich habe +das Geheimnis meiner eigenen Seele darin aufgedeckt.“</p> + +<p>Lord Henry lachte. „Und worin bestünde das?“ +fragte er.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_14" title="14"> </a></p> +<p>„Ich will es sagen“, antwortete Hallward; aber in sein +Gesicht trat ein Ausdruck von Ratlosigkeit.</p> + +<p>„Ich bin äußerst gespannt, Basil“, fuhr sein Gefährte +mit einem Blick nach ihm fort.</p> + +<p>„Oh, es ist wirklich nicht viel zu berichten, Harry,“ entgegnete +der Maler, „und du verstehst es wohl kaum, wie +ich fürchte. Vielleicht auch glaubst du mir nicht einmal.“</p> + +<p>Lord Henry lächelte und bückte sich dann, um ein rosa +angehauchtes Gänseblümchen aus dem Grase zu pflücken, +das er betrachtete. „Ich werde dich ganz gewiß verstehen,“ +erwiderte er, die Blicke aufmerksam auf die kleine, goldene, +weißgefiederte Blütenscheibe gerichtet, „und was das +Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, +daß es unwahrscheinlich genug ist.“</p> + +<p>Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen, +und die schweren, vielgesternten Traubendolden der Fliederbüsche +bewegten sich in der schwülen Luft. Eine Grille begann +an der Gartenmauer zu zirpen, und wie ein blauer +Faden huschte eine lange, dünne Wasserjungfer auf ihren +braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil +Hallwards Herz pochen zu hören und war neugierig, was +wohl kommen möchte.</p> + +<p>„Die Geschichte ist einfach die“, sagte der Maler nach +einer Weile. „Vor zwei Monaten ging ich mal zu einem +der Massenempfänge bei Lady Brandon. Du weißt, wir +armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft +zeigen, um das Publikum daran zu erinnern, +daß wir keine Wilden sind. Du sagtest mir einmal: in +Frack und weißer Binde kann selbst ein Börsenmensch in +<a class="pagenum" name="Page_15" title="15"> </a> +den Verdacht von Bildung kommen. Nun also, ich war +etwa zehn Minuten da und redete mit korpulenten, aufgeputzten, +vornehmen Witwen und platten Akademikern, +da merkte ich plötzlich, daß mich jemand anblickte. Ich +drehte mich halb um und sah zum ersten Male Dorian +Gray. Ich spürte, wie ich blaß wurde, als sich unsere Blicke +begegneten. Ein seltsames Angstgefühl überkam mich. Ich +wußte, ich stand einem Menschen Aug-in-Auge gegenüber, +dessen bloße Erscheinung so bezaubernd auf mich +wirkte, daß sie, wenn ich sie gewähren ließe, meine ganze +Natur, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst an sich +reißen müßte. Ich bedurfte nie in meinem Leben irgendwelcher +Einwirkung von außen her. Du weißt ja selbst, +Harry, wie unabhängig ich von Haus aus bin. Ich bin +immer mein eigener Herr gewesen; war es wenigstens so +lange, bis ich Dorian Gray traf. Dann — aber ich weiß +nicht, wie ich dir das begreiflich machen soll. Irgend etwas +schien mir im voraus zu sagen, daß ich an einem schrecklichen +Wendepunkt in meinem Leben stand. Ich hatte die +eigentümliche Empfindung, das Schicksal halte für mich +die ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten +Schmerzen in Bereitschaft. Ich bekam Furcht, und ich +wandte mich zum Gehen. Das Gewissen trieb mich nicht +dazu: es war eine Art Feigheit. Ich bilde mir nichts +darauf ein, daß ich diese Flucht versuchte.“</p> + +<p>„In Wirklichkeit sind Gewissen und Feigheit ein und +dasselbe. Gewissen lautet nur die eingetragene Firma. +Weiter gar nichts.“</p> + +<p>„Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube, du wohl +<a class="pagenum" name="Page_16" title="16"> </a> +auch nicht. Einerlei aber, aus welchem Grunde es geschah +— es mag auch Stolz gewesen sein, denn ich war +schon immer sehr stolz — jedenfalls eilte ich der Türe zu. +Natürlich prallte ich dabei mit Lady Brandon zusammen. +‚Sie wollen doch nicht etwa schon davonlaufen, Herr +Hallward?‛ kreischte sie auf. Du kennst ja ihre schrille +Stimme.“</p> + +<p>„Ja, sie ist ein Pfau in allem, bis auf die Schönheit“, +sagte Lord Henry und zerrupfte das Gänseblümchen zwischen +seinen langen nervösen Fingern.</p> + +<p>„Ich konnte ihrer nicht loswerden. Sie zerrte mich zu +den königlichen Hoheiten hin, zu den Leuten mit Orden und +Sternen und zu den ältlichen Damen mit riesenhaften +Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich dabei +ihren besten Freund. Ich hatte sie nur ein einziges Mal +vorher gesehen, aber sie setzte es sich in den Kopf, aus +mir den Löwen des Tages zu machen. Ich glaube, damals +hatte gerade ein Bild von mir großen Erfolg gehabt, +wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz +darüber gebracht, und das ist ja im neunzehnten +Jahrhundert das Eichungsmaß der Unsterblichkeit. Plötzlich +stand ich dem jungen Manne gegenüber, dessen Äußeres +mich vorhin so merkwürdig erschüttert hatte. Wir +standen ganz nahe beieinander und berührten uns beinah. +Unsere Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig +von mir, aber ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. +Vielleicht war es aber doch alles in allem nicht so +leichtsinnig. Es war einfach nicht zu umgehen. Wir hätten +auch ohne Vorstellung miteinander gesprochen. Ich bin +<a class="pagenum" name="Page_17" title="17"> </a> +dessen gewiß. Dorian sagte es mir nachher. Auch er fühlte, +daß unsere Bekanntschaft Schicksalsfügung war.“</p> + +<p>„Und wie hat Lady Brandon den wunderbaren Jüngling +beschrieben?“ fragte sein Gefährte. „Ich weiß, es ist +ihre Manier, von jedem ihrer Gäste eine kleine Skizze zu +geben. Ich erinnere mich, wie sie mich mal einem schrecklichen, +alten Herrn mit puterrotem Gesicht vorstellte, dessen +Brust mit Orden und Bändern beklext war, und mir in +einem tragischen Flüsterton, der für jedermann im Zimmer +hörbar war, die erstaunlichsten Einzelheiten über ihn +ins Ohr zischelte. Ich mußte einfach davonlaufen. Ich entdecke +die Leute gerne von mir selbst aus. Aber Lady +Brandon behandelt ihre Gäste genau so, wie ein Auktionator +seine Waren. Sie erklärt sie einem entweder so +lange, bis nichts mehr davon übrigbleibt, oder sie sagt +alles, gerade mit Ausnahme dessen, was man wissen will.“</p> + +<p>„Die arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie“, +sagte Hallward zerstreut.</p> + +<p>„Mein guter Junge, sie wollte einen Salon gründen +und hat es nur bis zu einem Restaurant gebracht. Wie +soll ich sie da bewundern? Aber sage nun endlich, was sie +über Herrn Dorian Gray erzählt hat?“</p> + +<p>„Oh, so irgend was wie ‚Entzückender junger Mensch — +seine arme Mutter und ich ganz unzertrennlich — vergaß +ganz was er treibt — fürchte fast — gar nichts — ach +ja, spielt Klavier — oder war es die Geige, lieber Herr +Gray?‛ Wir mußten beide lachen und wurden sofort +Freunde.“</p> + +<p>„Lachen ist wohl lange nicht der schlechteste Anfang für +<a class="pagenum" name="Page_18" title="18"> </a> +eine Freundschaft, und gewiß ihr schönstes Ende“, sagte +der junge Lord und pflückte sich noch ein Gänseblümchen.</p> + +<p>Hallward schüttelte den Kopf. „Du hast ja keine Ahnung, +was Freundschaft ist, Harry,“ murmelte er, „und +ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast alle Welt gern; +mit anderen Worten: dir sind alle gleichgültig.“</p> + +<p>„Wie grausam ungerecht von dir!“ rief Lord Henry, +stieß seinen Hut in den Nacken und sah zu den Lämmerwolken +empor, die gleich verwirrten Knäueln glänzendweißer +Seide über das türkisfarbene Gewölbe des Himmels +dahinschifften. „Ja, grausam ungerecht von dir. Ich +unterscheide die Leute sehr scharf. Ich wählte meine +Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten +nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem +guten Verstande. Der Mensch kann nicht vorsichtig genug +sein in der Wahl seiner Feinde. Ich habe keinen einzigen, +der ein Narr ist. Es sind sämtlich Leute von einer gewissen +geistigen Höhe, und daher schätzen sie mich auch alle. Bin +ich sehr eitel? Ich glaube, es ist ein bißchen eitel.“</p> + +<p>„Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung +zählte ich nur unter deine Bekanntschaften.“</p> + +<p>„Mein lieber, alter Basil, du bist weit, weit mehr als +ein Bekannter.“</p> + +<p>„Und weit weniger als ein Freund! Wohl so eine Art +Bruder?“</p> + +<p>„Pah, Bruder! Bleibe mir mit Brüdern vom Halse. +Mein ältester will nicht sterben, und meine jüngeren tun +scheinbar nichts anderes.“</p> + +<p>„Harry!“ rief Basil mit gerunzelter Stirne.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_19" title="19"> </a></p> +<p>„Mein lieber Junge, ich meine es nicht so ernst. Aber +ich kann mir nicht helfen, ich verabscheue meine Verwandten. +Ich vermute, das schreibt sich daher, daß kein +Mensch bei einem anderen seine eigenen Fehler vertragen +kann. Ich verstehe durchaus die Wut der englischen Demokraten +auf die sogenannten Laster der oberen Stände. +Die Massen fühlen, daß Trunkenheit, Dummheit und Unsittlichkeit +zu ihren Vorrechten gehören sollten, und daß +jeder von uns, der sich darin bloßstellt, gewissermaßen auf +ihrem Gebiete wildert. Als damals der Scheidungsprozeß +des armen Southwark spielte, war ihre Entrüstung wirklich +prachtvoll. Und trotzdem lebt meiner Überzeugung +nach nicht der zehnte Teil des Proletariats der Sitte +gemäß.“</p> + +<p>„Ich stimme keinem einzigen deiner Worte bei, und, +was mehr ist, Harry, du selbst glaubst ja auch nicht im +mindesten daran.“</p> + +<p>Lord Henry strich seinen braunen Spitzbart und stieß +mit dem zierlichen Spazierstock aus Ebenholz gegen die +Kappe seines eleganten Lackstiefels. „Wie englisch du bist, +Basil! Du machst heute zum zweitenmal diesen Einwurf. +Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt +— an sich schon immer eine Unüberlegtheit —, so fällt es +ihm nicht im Traum ein, zu erwägen, ob die Idee richtig +oder falsch ist. Das einzige, was ihm von Belang scheint, +ist das, ob der Sprecher selbst daran glaubt. Aber der +Wert einer Idee hat nicht das geringste mit der Aufrichtigkeit +dessen zu schaffen, der sie ausspricht. Aller Wahrscheinlichkeit +nach wird die Idee um so geistreicher sein, je +<a class="pagenum" name="Page_20" title="20"> </a> +unaufrichtiger der Mann ist, weil sie in diesem Fall weder +die Färbung seiner Bedürfnisse noch seiner Wünsche noch +seiner Vorurteile annehmen wird. Indes habe ich nicht +die Absicht, politische, soziale oder metaphysische Diskussionen +mit dir zu führen. Mir sind Menschen lieber als +Grundsätze und grundsatzlose Menschen überhaupt das +Liebste auf Erden. Erzähle mir mehr von Dorian Gray. +Wie oft siehst du ihn?“</p> + +<p>„Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn mal +einen Tag nicht sähe. Er ist für mich einfach ein Bedürfnis.“</p> + +<p>„Wie merkwürdig! Ich glaubte immer, du kümmertest +dich um nichts anderes als um deine Kunst.“</p> + +<p>„Er ist für mich jetzt meine ganze Kunst“, sagte der +Maler ernsthaft. „Manchmal glaube ich, Harry, daß es +nur zwei wichtige Epochen in der Weltgeschichte gibt. Die +erste ist das Auftreten einer neuen Kunsttechnik und die +zweite die Erscheinung einer neuen Persönlichkeit in der +Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer +war, das war das Gesicht des Antinous für die +spätgriechische Bildhauerkunst, und das wird eines Tages +für mich das Gesicht Dorian Grays sein. Worauf es dabei +ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere. Natürlich +hab' ich das alles getan. Aber er ist weit mehr für +mich als ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich +will gewiß nicht behaupten, daß ich unzufrieden mit dem +bin, was ich nach ihm gemacht habe, oder daß seine Schönheit +derart ist, daß sie die Kunst nicht ausdrücken könne. +Es gibt überhaupt nichts, was die Kunst nicht ausdrücken +<a class="pagenum" name="Page_21" title="21"> </a> +kann, und ich weiß: was ich gemacht habe, seitdem ich +Dorian Gray kenne, ist gute Arbeit, ja, die gelungenste +Arbeit meines Lebens. Aber auf irgendeine seltsame Weise +— ich glaube kaum, daß du das verstehen wirst — hat mir +seine Persönlichkeit eine vollständig neue Art der Kunst, +einen durchaus neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge +anders, ich denke darüber anders. Ich kann jetzt das Leben +auf eine Art festhalten, die mir früher nicht gegeben war. +‚Ein Traum von Form in unseren Tagen des Denkens‛: +wer war es, der so sagte? Ich hab's vergessen, aber das +bedeutet Dorian Gray für mich. Die bloße sichtbare +Gegenwart dieses Knaben — denn für mich ist er kaum +mehr als das, wenn er auch schon über die Zwanzig — +seine bloße sichtbare Gegenwart — ach! ich glaube nicht, +daß du einen Begriff davon hast, was sie für mich bedeutet! +Ohne selbst es zu wissen, enthüllt er mir die Linien +einer neuen Schule, einer Schule, in der enthalten ist die +ganze Leidenschaft der Romantik und die ganze Vollkommenheit +des griechischen Geistes. Die Harmonie von +Seele und Leib, wieviel ist das doch! Wir in unserer Verblendung +haben die beiden voneinander gerissen und haben +uns einen Realismus erfunden, der gewöhnlich ist, und +einen Idealismus, der leer ist. Harry! wenn du wissen +könntest, was mir Dorian Gray ist! Erinnerst du dich an +die Landschaft von mir, für die mir Agnew ein so wahnsinniges +Geld angeboten hat und von der ich mich doch +nie trennen wollte? Es ist sicher eins der besten Stücke, +die ich je gemacht habe. Und warum? Weil Dorian Gray +neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein ganz +<a class="pagenum" name="Page_22" title="22"> </a> +feines Fluidum strömte von ihm zu mir, und zum erstenmal +in meinem Leben entdeckte ich in der simpeln Waldlandschaft +das Wunder, nach dem ich immer gesucht und +das ich nie gefunden hatte.“</p> + +<p>„Basil, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte. +Ich muß Dorian Gray kennenlernen.“</p> + +<p>Hallward schnellte von der Bank auf und ging im +Garten hin und her. Nach einer Weile kam er zurück.</p> + +<p>„Harry,“ sagte er, „Dorian Gray ist für mich nichts +als ein künstlerisches Motiv. Vielleicht fändest du gar +nichts in ihm. Ich finde alles in ihm. Er ist in Wirklichkeit +nie mehr in meiner Arbeit lebendig, als wenn kein Schatten +von ihm darin ist. Er ist für mich, wie ich sagte, die Anregung +zu einem Stil. Ich finde ihn in den Schwingungen +gewisser Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit +gewisser Farben. Das ist alles.“</p> + +<p>„Warum aber willst du dann sein Bild nicht ausstellen?“ +fragte Lord Henry.</p> + +<p>„Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck +all dieser ganz merkwürdigen Künstlervergötterung hineingelegt +habe, von der ich natürlich nie zu ihm sprechen +wollte. Er hat von alledem keine Ahnung. Er soll nie +etwas davon ahnen. Aber die Welt könnte es erraten; und +ich will meine Seele ihren seichten, spähenden Augen nicht +entblößen. Mein Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop +bekommen. Es ist zu viel von mir selbst in dem Dinge, +Harry — zu viel von mir selbst.“</p> + +<p>„Dichter nehmen's nicht so genau wie du. Die wissen, +wie einträglich es ist, Leidenschaft zu veröffentlichen. Ein +<a class="pagenum" name="Page_23" title="23"> </a> +gebrochenes Herz bringt es heutzutage zu einer ganzen +Reihe von Auflagen.“</p> + +<p>„Ich finde sie darum eben abscheulich!“ rief Hallward +aus. „Ein Künstler soll Schönes schaffen, aber er soll +nichts von seinem eigenen Leben hineintragen. Wir leben +in einer Zeit, wo die Menschen aus der Kunst eine Art +Autobiographie zu machen wünschen. Wir haben eben den +klaren Begriff für Schönheit verloren. Eines Tages will +ich der Welt zeigen, was sie ist, und deshalb soll die Welt +mein Bild Dorian Grays niemals sehen.“</p> + +<p>„Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will mit +dir nicht streiten. Nur die geistig Entkernten streiten sich +gern. Sag' mir, hat dich Dorian Gray sehr lieb?“</p> + +<p>Der Maler dachte ein paar Augenblicke nach. „Er hat +mich gern“, antwortete er nach einer Weile; „sicher hat er +mich gern. Natürlich schmeichle ich ihm fürchterlich. Ich +finde eine ganz besondere Lust daran, ihm Dinge zu sagen, +die mir später leid tun, wie ich ganz genau weiß. In der +Regel ist er auch reizend zu mir, und wir sitzen dann im +Atelier und schwatzen von tausend Dingen. Dann und +wann ist er allerdings greulich gedankenlos und scheint +große Freude darin zu finden, mir wehe zu tun. Dann, +Harry, habe ich das Gefühl, daß ich jemand meine ganze +Seele überantwortet habe, der sie behandelt wie eine +Blume für das Knopfloch, wie ein kleines Ehrenzeichen, +mit dem man seine Eitelkeit befriedigt, wie einen Zierat +für einen Sommertag.“</p> + +<p>„Sommertage, Basil, pflegen manchmal lange zu währen“, +murmelte Lord Henry. „Vielleicht wirst du seiner +<a class="pagenum" name="Page_24" title="24"> </a> +früher müde, als er deiner. Es ist sehr traurig, daran zu +denken, aber es ist ohne Zweifel wahr, daß das Genie +die Schönheit überlebt. Das erklärt auch die Tatsache, +daß wir uns soviel Mühe geben, uns mit Bildung vollzupfropfen. +In dem wilden Existenzkampfe ums Dasein +wollen wir alle etwas Dauerhaftes haben, und so füllen +wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der +dummen Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten. +Der durch und durch unterrichtete Mann — das ist das +moderne Ideal. Und das Gehirn dieses durch und durch +unterrichteten Mannes hat etwas Fürchterliches. Es gleicht +einem Kuriositätenladen, in dem es lauter Ungeheuerlichkeiten +voll Staub gibt, und wo jeder Gegenstand über +seinen wahren Wert hinaus ausgezeichnet. Immerhin, ich +glaube, du wirst zuerst müde werden. Eines Tages wirst +du deinen jungen Freund anschauen und finden, daß er +etwas verzeichnet ist, oder du wirst an seiner Farbe etwas +auszusetzen haben oder irgend so etwas. Du wirst ihm +dann in deinem Herzen bittere Vorwürfe machen und ganz +ernsthaft überzeugt sein, daß er sich recht schlecht gegen dich +benommen hat. Wenn er dich dann das nächstemal besucht, +wirst du völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Das +wird sehr schade sein, denn es wird dich selbst verändern. +Was du mir da erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, eine +Romanze der Kunst möchte man es nennen, und das +Schlimmste beim Erleben von Gedichten ist nur, daß es +einen so ganz unpoetisch zurückläßt.“</p> + +<p>„Harry, ich bitte, sprich nicht so. Solang' ich lebe, wird +mich die Persönlichkeit Dorian Grays beherrschen. Du +<a class="pagenum" name="Page_25" title="25"> </a> +kannst meine Empfindung nicht nachfühlen. Du wandelst +dich zu oft.“</p> + +<p>„Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich sie +nachempfinden. Die treuen Menschen kennen nur die triviale +Seite der Liebe; die Treulosen allein erfahren die +Tragödien der Liebe.“ Und Lord Henry zündete an einem +zierlichen silbernen Büchschen ein Streichholz an und begann +eine Zigarette zu rauchen, mit jener so selbstbewußten, +zufriedenen Miene, als hätte er den Sinn der +ganzen Welt in einen Satz zusammengefaßt. Man hörte +ein leises Rauschen von zirpenden Sperlingen in den +grünen, wie mit glänzendem Lack überzogenen Efeublättern, +und die blauen Wolkenschatten jagten wie Schwalben +über das Gras. Wie reizend war es doch in dem Garten +und wie entzückend waren die Gefühlsregungen anderer +Leute! — weit entzückender als ihre Gedanken, so schien +es ihm. Des Menschen eigene Seele und die Leidenschaft +seiner Freunde — das sind die fesselnden Dinge des +Lebens. Er stellte sich mit geheimem Vergnügen das langweilige +Frühstück vor, das er durch seinen langen Besuch +bei Basil Hallward versäumt hatte. Wäre er zu seiner +Tante gegangen, hätte er dort sicher Lord Goodbody getroffen, +und das ganze Gespräch hätte sich mit der Armenernährung +und der Notwendigkeit von Musterwohnhäusern +beschäftigt. Menschen jedes Standes hätten die Wichtigkeit +gerade jener Tugenden gepredigt, für die sie in +ihrem eigenen Leben gar keine Verwendung hatten. Der +Reiche hätte von dem Werte der Sparsamkeit geredet, und +der Träge mit wahrhafter Beredsamkeit über die Würde<a class="pagenum" name="Page_26" title="26"> </a> +der Arbeit. Es war reizend, all dem entgangen zu sein. +Als er an seine Tante dachte, schien ihm etwas einzufallen. +Er wandte sich zu Basil und sagte: „Mein lieber Junge, +ich erinnere mich jetzt.“</p> + +<p>„Woran erinnerst du dich, Harry?“</p> + +<p>„Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.“</p> + +<p>„Wo war das?“ fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln.</p> + +<p>„Schau' doch nicht so böse drein, Basil. Es war bei +meiner Tante, Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie sei +einem wunderhübschen jungen Menschen begegnet, der ihr +im East-End helfen wolle, und er heiße Dorian Gray. +Ich muß zugeben, sie hat mir nie etwas darüber gesagt, +daß er so hübsch sei. Frauen haben kein Verständnis für +Schönheit, wenigstens gute Frauen nicht. Sie sagte, daß +er sehr ernst sei und eine edle Seele habe. Ich stellte mir +natürlich sofort ein Wesen mit Brille und wallendem +Haar und gräßlich vielen Sommersprossen vor, das auf +riesigen Füßen umherstapfe. Ich wünsche jetzt, ich hätte +gewußt, daß er dein Freund ist.“</p> + +<p>„Ich bin sehr froh, daß du es nicht gewußt hast, Harry.“</p> + +<p>„Warum?“</p> + +<p>„Ich will nicht, daß du ihn kennenlernst.“</p> + +<p>„Du willst nicht, daß ich ihn kennenlerne?“</p> + +<p>„Nein.“</p> + +<p>„Herr Dorian Gray ist im Atelier“, sagte der Diener, +der in den Garten hinaustrat.</p> + +<p>„Jetzt mußt du mich vorstellen!“ rief Lord Henry +lachend. Der Maler wandte sich zu seinem Diener, der<a class="pagenum" name="Page_27" title="27"> </a> +blinzelnd in der Sonne dastand: „Bitten Sie Herrn +Gray, zu warten, Parker; ich komme in ein paar Minuten.“ +Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus.</p> + +<p>Dann sah der Maler Lord Henry an. „Dorian Gray +ist mein teuerster Freund“, sagte er. „Er hat eine schlichte +und edle Seele. Deine Tante hatte ganz recht mit dem, +was sie über ihn sagte. Verdirb ihn mir nicht. Versuche +nicht, Einfluß auf ihn auszuüben. Dein Einfluß wäre verderblich. +Die Welt ist groß, und es gibt eine Menge köstlicher +Menschen auf ihr. Raube mir nicht den einzigen +Menschen, der meiner Kunst ihren ganzen Zauber verleiht, +den sie hat: mein Leben als Künstler hängt von +ihm ab! Denke daran, Harry, ich vertraue dir.“ Er sprach +sehr langsam, und die Worte schienen sich ihm gegen +seinen Willen zu entringen.</p> + +<p>„Was für Unsinn du redest!“ sagte Lord Henry lächelnd, +nahm Hallward unter den Arm und führte ihn in das +Haus.</p> + +<h2><a name="Zweites_Kapitel" id="Zweites_Kapitel"></a>Zweites Kapitel</h2> + + +<p>Als sie eintraten, erblickten sie Dorian Gray. Er saß +am Klavier, mit dem Rücken ihnen zu, und blätterte in +einem Notenbande mit Schumanns Waldszenen. „Die +mußt du mir leihen, Basil!“ rief er aus. „Ich möchte +sie spielen lernen. Sie sind geradezu entzückend.“</p> + +<p>„Das hängt ganz davon ab, wie du mir heute sitzen +wirst, Dorian.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_28" title="28"> </a></p> + +<p>„Ach, ich habe das Sitzen lange satt, und ich will gar +kein lebensgroßes Bild von mir“, antwortete der Jüngling +und schwang sich in dem Musikstuhl auf eine eigensinnige, +launische Knabenart herum. Als er aber Lord +Henry erblickte, stieg für einen Augenblick ein schwaches +Rot in seine Wangen, und er sprang auf. „Ich bitte um +Entschuldigung, Basil, ich wußte nicht, daß jemand bei +dir ist.“</p> + +<p>„Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter +Freund von Oxford her. Ich habe ihm gerade erzählt, +wie musterhaft du sitzen kannst, und jetzt hast du alles +verdorben.“</p> + +<p>„Mir haben Sie das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft +zu machen, nicht verdorben, Herr Gray“, sagte Lord +Henry, ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. +„Meine Tante hat oft von Ihnen gesprochen. Sie +sind einer ihrer Lieblinge und, wie ich fürchte, auch ihrer +Opfer.“</p> + +<p>„Ich stehe zur Zeit auf Lady Agathas schwarzer +Liste“, antwortete Dorian mit einem komisch reuigen +Gesichtsausdruck. „Ich hatte ihr versprochen, sie letzten +Dienstag nach einem Klub in Whitechapel zu begleiten, +und ich habe dann die Abmachung vergessen. Wir sollten +da miteinander vierhändig spielen — drei Stücke +glaube ich. Ich weiß nun nicht, was sie mir dazu sagen +wird. Ich habe Angst, ihr einen Besuch zu machen.“</p> + +<p>„Oh, ich werde Sie mit meiner Tante versöhnen. Sie +ist Ihnen äußerst zugetan. Und ich glaube auch, es schadet +nichts, daß Sie nicht dort waren. Die Zuhörer<a class="pagenum" name="Page_29" title="29"> </a> +haben sicher angenommen, es sei vierhändig gespielt worden. +Wenn sich Tante Agatha ans Klavier setzt, macht +sie für zwei Personen reichlich Lärm.“</p> + +<p>„Sie sprechen sehr schlecht von ihr, und mir machen Sie +auch gerade kein Kompliment damit“, antwortete Dorian +lachend.</p> + +<p>Lord Henry sah ihn an. Ja, er war wirklich wunderbar +schön, mit seinen feingeschwungenen dunkelroten Lippen, +seinen offenen blauen Augen und seinem gewellten, +goldblonden Haar. In seinem Gesicht war ein Ausdruck, +der sofort Vertrauen erweckte. Aller Glanz der Jugend +lag darin und ebenso all die leidenschaftliche Reinheit +der Jugend. Man fühlte, daß er bisher noch nicht von +der Welt befleckt war. Kein Wunder, daß ihn Basil +Hallward anbetete.</p> + +<p>„Sie sind viel zu hübsch, um sich mit Wohltätigkeit abzugeben, +Herr Gray — viel zu hübsch!“ Und Lord +Henry warf sich auf den Diwan und öffnete seine Zigarettendose.</p> + +<p>Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt +und seine Pinsel zurechtgemacht. Er sah etwas gequält +aus, und als er Lord Henrys letzte Bemerkung +hörte, blickte er zu ihm hin, sann einen Augenblick nach +und sagte dann: „Harry, ich möchte das Bild heute +fertig kriegen. Fändest du es sehr grob von mir, wenn +ich dich jetzt bäte, uns allein zu lassen?“</p> + +<p>Lord Henry lächelte und sah Dorian Gray an. „Soll +ich gehen, Herr Gray?“ fragte er.</p> + +<p>„Oh, bitte, nein, Lord Henry. Ich sehe, Basil hat<a class="pagenum" name="Page_30" title="30"> </a> +wieder einen seiner schlechten Tage, und ich kann ihn +nicht vertragen, wenn er so brummt. Außerdem möchte +ich von Ihnen erfahren, warum ich mich nicht mit Wohltätigkeit +befassen soll?“</p> + +<p>„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Herr +Gray. Es ist ein so langweiliges Thema, daß man schon +ernsthaft darüber reden müßte. Aber jetzt geh ich auf +keinen Fall, nachdem Sie mir erlaubt haben, dazubleiben. +Du hast doch nichts im Ernst dagegen, Basil? Du +hast mir oft genug gesagt, daß es dir angenehm sei, +wenn deine Modelle mit jemand plaudern können.“</p> + +<p>Hallward biß sich auf die Lippe. „Wenn es Dorian +wünscht, wirst du natürlich dableiben. Dorians Launen +sind Gesetze für jedermann, außer für ihn selbst.“</p> + +<p>Lord Henry nahm seinen Hut und seine Handschuhe. +„Trotz deiner dringenden Aufforderung, Basil, fürchte +ich, gehen zu müssen. Ich habe mit jemand eine Verabredung +im Orleans-Klub. Adieu, Herr Gray! Bitte, +besuchen Sie mich doch mal eines Nachmittags in Curzon +Street. Um fünf Uhr treffen Sie mich fast immer. Schreiben +Sie mir, bitte, wann Sie kommen. Es täte mir sehr +leid, wenn Sie mich verfehlten.“</p> + +<p>„Basil,“ rief Dorian Gray, „wenn Lord Henry Wotton +geht, dann gehe ich auch. Du bringst ja beim Malen +nie die Lippen auseinander, und es ist furchtbar ermüdend, +auf einem Podium zu stehen und sich anzustrengen, +freundlich auszusehen. Bitte ihn, dazubleiben. +Ich bestehe darauf.“</p> + +<p>„Bleib, Harry, du machst Dorian damit ein Vergnügen<a class="pagenum" name="Page_31" title="31"> </a> +und auch mir“, sagte Hallward, ohne von seinem +Bilde aufzublicken. „Er hat ganz recht, ich spreche nie +ein Wort während der Arbeit und höre ebensowenig zu, +und das muß sehr langweilig für meine unglücklichen +Modelle sein. Ich bitte dich also, bleib.“</p> + +<p>„Was fange ich aber mit meinem Mann im Orleans +an?“</p> + +<p>Der Maler lachte. „Ich glaube, damit wird es keine +Schwierigkeit haben. Setz dich nur wieder, Harry. Und +jetzt, Dorian, geh auf das Podium und bewege dich +nicht zuviel und achte auch nicht auf das, was Lord Henry +sagt. Er hat einen sehr bösen Einfluß auf alle seine +Freunde, nur mich ausgenommen.“</p> + +<p>Dorian Gray bestieg das Podium mit der Miene eines +jungen griechischen Märtyrers und stieß, zu Lord Henry +gewandt, der ihm gleich gut gefallen hatte, einen kleinen +drolligen Seufzer aus. Dieser Mann war so ganz anders +als Basil. Die beiden bildeten einen entzückenden Gegensatz. +Und er hatte ein so schönes Organ. Nach ein paar +Augenblicken sagte Dorian zu ihm: „Haben Sie wirklich +einen so bösen Einfluß, Lord Henry? Ist es so arg, +wie Basil sagt?“</p> + +<p>„Es gibt keinen sogenannten guten Einfluß, Herr Gray. +Jeder Einfluß ist unmoralisch — unmoralisch vom wissenschaftlichen +Standpunkt aus.“</p> + +<p>„Wieso?“</p> + +<p>„Weil jemand beeinflussen soviel ist wie ihm die eigene +Seele leihen. Er denkt dann nicht mehr seine natürlichen +Gedanken und brennt nicht mehr in seinem natürlichen<a class="pagenum" name="Page_32" title="32"> </a> +Feuer. Seine Tugenden sind gar nicht seine Tugenden. +Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind +nur ausgeborgte. Er wird ein Echo für die Töne eines +anderen, Schauspieler einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben +wurde. Der Sinn des Daseins ist: Selbstentwicklung. +Die eigene Natur voll zum Ausdruck zu bringen +— diese Aufgabe hat jeder von uns hier zu lösen. +Heutzutage hat jeder Mensch Angst vor sich. Sie haben +ihre heiligste Pflicht vergessen, nämlich die gegen sich +selbst. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren den Hungernden +und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen +darben und gehen nackt. Der Mut ist unserem Geschlecht +abhanden gekommen. Vielleicht haben wir ihn nie +wirklich besessen. Die Furcht vor der Gesellschaft als der +Grundlage der Sittlichkeit, und die Furcht vor Gott, als +dem Geheimnis der Religion — das sind die zwei Dinge, +die uns beherrschen. Und doch —“</p> + +<p>„Dorian, dreh den Kopf mal ein wenig mehr nach +rechts, sei so gut“, sagte der Maler, der ganz in sein +Werk vertieft war, aber doch gemerkt hatte, daß in des +Jünglings Gesicht ein Ausdruck getreten war, den er +vorher nie darin gesehen hatte.</p> + +<p>„Und doch,“ fuhr Lord Henry mit seiner tiefen musikalischen +Stimme fort, während er die Hand in der anmutigen +Art bewegte, die er schon seinerzeit in Eton gehabt +hatte, „ich glaube, wenn die Menschen nur ihr +eigenes Leben voll, bis auf den letzten Rest ausleben +würden, jedes Gefühl Gestalt bekommen lassen, jeden +Gedanken ausdrücken, jeden Traum in Dasein umsetzen<a class="pagenum" name="Page_33" title="33"> </a> +wollten — ich glaube, dann käme in die Welt ein solcher +Schwung von neuer Freudigkeit, daß wir alle die Krankheiten +des Mittelalters vergäßen und zum hellenischen +Ideal zurückkehrten, ja wir kämen vielleicht zu etwas +Feinerem und Reicherem, als das hellenische Ideal war. +Aber selbst der Tapferste unter uns hat Angst vor sich selber. +Die Selbstverstümmelung der Wilden hat ihr tragisches +Überbleibsel in der Selbstverleugnung, die unser Leben +verstümmelt. Wir büßen für unsere Entsagungen. Jeder +Trieb, den wir zu ersticken suchen, frißt im Innern weiter +und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal und +hat sich durch die Sünde befreit, denn Tat ist immer eine +Art Reinigung. Nichts bleibt davon zurück als die Erinnerung +an ein Vergnügen oder die schmerzliche Wollust +der Reue. Der einzige Weg, eine Versuchung zu bestehen, +ist, sich ihr hinzugeben. Widerstehen Sie ihr, und Ihre +Seele erkrankt vor Sehnsucht nach der Erfüllung, die +sie sich selber verweigert hat, erkrankt vor dem Verlangen +nach dem, was ihre ungeheuerlichen Gesetze ungeheuerlich +und ungesetzmäßig gemacht haben. Es ist wohl gesagt +worden, die großen Ereignisse der Welt gingen im Gehirn +vor sich. Im Gehirn und ganz allein im Gehirn +werden auch die großen Sünden der Welt begangen. Sie, +Herr Gray, Sie selbst mit Ihrer rosenroten Jugend und +Ihrer rosenblassen Knabenunschuld, Sie haben schon Leidenschaften +erlebt, die Ihnen Angst einjagten, haben Gedanken +gehabt, die Sie in Schrecken setzten, haben wachend +und schlafend Träume gehabt, deren bloße Erinnerung +Ihre Wangen schamrot werden ließ —“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_34" title="34"> </a></p> + +<p>„Hören Sie auf,“ stammelte Dorian Gray, „hören Sie +auf, Sie machen mich ganz wirr. Ich weiß nicht, was ich +sagen soll. Es gibt eine Antwort darauf, aber ich kann +sie nicht finden. Sagen Sie nichts mehr! Lassen Sie mich +nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, dem +nicht nachzudenken.“</p> + +<p>Etwa zehn Minuten stand er bewegungslos da, mit +halboffenen Lippen und seltsam leuchtenden Augen. Er +war sich dumpf bewußt, daß ganz neue Einflüsse in ihm +arbeiteten. Und doch schien es, als kämen sie in Wirklichkeit +aus seinem eigenen Innern. Die paar Worte, die +Basils Freund zu ihm gesagt hatte — ohne Zweifel zufällig +hingeworfene Worte voll absichtlicher Paradoxie — +hatten eine geheime Saite seiner Seele berührt, die vordem +nie berührt worden war, die er aber nun zittern und +in seltsamer Wildheit schluchzen hörte.</p> + +<p>Musik hatte ihn so ähnlich aufgewühlt. Musik hatte ihn +oft in Aufruhr gebracht. Aber Musik war etwas Unbestimmtes. +Sie bringt keine neue Welt in uns hervor; +schafft eher ein neues Chaos in uns. Worte! Bloße +Worte! Wie schrecklich die waren! Wie klar und lebendig +und grausam! Man konnte ihnen nicht entrinnen. Und +doch, welch tiefer Zauber steckte in ihnen! Sie schienen +die Kraft zu haben, formlosen Dingen eine greifbare +Gestalt zu geben, und schienen eine Musik in sich zu bergen, +so süß wie die der Geige oder der Laute. Bloße +Worte! Gab es denn irgend etwas so Wirkliches wie +Worte?</p> + +<p>Ja; es hatte in seiner Knabenzeit Dinge gegeben, die<a class="pagenum" name="Page_35" title="35"> </a> +ihm unbegreiflich geblieben waren. Jetzt verstand er sie. +Plötzlich bekam das Leben für ihn lodernde Farben. Nun +schien es ihm, als sei er mittenhin durch Feuer gewandelt. +Warum hatte er es nie gemerkt?</p> + +<p>Lord Henry beobachtete ihn mit einem feinspürenden +Lächeln. Er verstand sich gut auf jenen psychologischen +Moment, in dem man kein Wort sagen darf. Er fühlte +sich sehr stark interessiert. Die jähe Wirkung seiner Worte +machte ihn erstaunen; nun entsann er sich eines Buches, +das er mit sechzehn Jahren gelesen und das ihm viel bis +dahin Unbekanntes enthüllt hatte, und er fragte sich, ob +Dorian Gray jetzt wohl eine ähnliche Erfahrung erlebe. +Er hatte nur einen Pfeil ins Blaue geschossen. Hatte er +das Ziel getroffen? Wie anziehend doch dieser Junge +war!</p> + +<p>Inzwischen malte Hallward in jenen wundervollen, +kühnen Zügen weiter, die das Zeichen aller wahren Feinheit +und Vollkommenheit sind, denn die kann der Kunst +nur aus der Kraft werden. Er merkte die wortlose Stille +gar nicht.</p> + +<p>„Basil, ich habe jetzt genug von dem Stehen!“ rief +Dorian plötzlich aus. „Ich muß hinaus und mich im +Garten hinsetzen. Die Luft hier ist zum Ersticken.“</p> + +<p>„Mein Bester, das tut mir wirklich leid. Wenn ich male, +kann ich an nichts anderes denken. Aber du hast nie besser +Modell gestanden. Du warst ganz ruhig. Und ich habe +endlich den Ausdruck herausgebracht, den ich gesucht habe +— die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen. +Ich weiß nicht, was Harry dir erzählt hat, aber sicher hat<a class="pagenum" name="Page_36" title="36"> </a> +er es bewirkt, daß du den prachtvollsten Ausdruck hast. Ich +vermute, er hat dir Komplimente gemacht. Du darfst ihm +nur kein einziges Wort glauben.“</p> + +<p>„Er hat mir nicht das kleinste Kompliment gemacht. +Vielleicht ist das der Grund, daß ich wirklich kein Wort +von dem glaube, was er gesagt hat.“</p> + +<p>„Sie wissen selbst, daß Sie jedes Wort davon glauben“, +erwiderte Lord Harry, der ihn mit seinen weichen, träumerischen +Augen ansah. „Wir wollen zusammen in den +Garten gehen. Es ist furchtbar heiß hier im Atelier. Basil, +laß uns irgendein Eisgetränk geben, irgendwas mit Erdbeeren +darin.“</p> + +<p>„Gern, Harry. Klingele nur selbst, und wenn Parker +kommt, will ich ihm sagen, was Ihr haben wollt. Ich +muß erst den Hintergrund hier noch fertig machen und +komme dann später nach. Halte mir Dorian aber nicht +zu lange fest. Ich war nie in besserer Malstimmung als +heute. Dies Porträt wird mein Meisterwerk. Wie es da +steht, ist es schon mein Meisterwerk.“</p> + +<p>Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand dort +Dorian Gray, wie er sein Gesicht hinter den großen, +kühlen Blütenbüscheln der Fliedersträuche versteckte und +fieberhaft ihren Duft einsog, als tränke er Wein. Er trat +nahe an ihn heran und legte ihm die Hand auf die +Achsel. „Sie haben ganz recht, so zu tun“, sagte er leise. +„Nichts hilft der Seele besser als die Sinne, sowie den +Sinnen nichts besser als die Seele helfen kann.“</p> + +<p>Der Jüngling schreckte auf und trat einen Schritt zurück. +Er war ohne Hut, und das Blattgewirr hatte seine widerspenstigen<a class="pagenum" name="Page_37" title="37"> </a> +Locken aufgewühlt und ihre goldblonden Strähnen +in Unordnung gebracht. In seinen Augen lag ein +Ausdruck von Furcht, wie ihn Menschen haben, die man +jäh aus dem Schlaf reißt. Seine zartgeformten Nasenflügel +bebten, und ein geheimer Nerv zuckte leis an den +scharlachroten Lippen, so daß sie beständig zitterten.</p> + +<p>„Ja,“ fuhr Lord Henry fort, „das ist eines der großen +Geheimnisse des Daseins — die Seele durch die Sinne +und die Sinne durch die Seele heilen können. Sie sind ein +wunderbares Menschenkind! Sie wissen mehr, als Ihnen +bewußt ist, gerade wie Sie weniger wissen, als Ihnen +dienlich ist.“</p> + +<p>Dorian Gray runzelte die Stirn und wendete den Kopf +weg. Ein unwiderstehlicher Reiz zog ihn zu diesem großen, +anmutigen jungen Mann hin, der da neben ihm stand. +Sein romantisches, olivenfarbiges Gesicht und der müde +Ausdruck darin fesselten ihn. Es war etwas in dem müden +Ton seiner Stimme, was völlig in Bann schlug. Auch seine +Hände, kühl, weiß und blumenhaft, zogen an. Sie bewegten +sich bei seinen Worten, begleiteten sie wie Musik +und schienen ihre eigene Sprache zu reden. Aber er hatte +auch Angst vor ihm und schämte sich dieser Angst. Warum +hatte ein Fremder kommen müssen, um ihn sich selber zu +offenbaren? Er kannte Basil Hallward nun seit Monaten, +aber diese Freundschaft hatte ihn niemals verwandelt. +Jetzt war plötzlich jemand in sein Leben getreten, der ihm +des Lebens Mysterium enthüllt zu haben schien. Und doch, +wovor sollte er sich fürchten? Er war kein Schulknabe +und kein kleines Mädchen. Es war töricht, Angst zu haben.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_38" title="38"> </a></p> + +<p>„Kommen Sie und setzen wir uns in den Schatten“, +sagte Lord Henry. „Parker hat uns was zu trinken gebracht, +und wenn Sie noch länger in solcher Sonnenglut +stehenbleiben, werden Sie sich Ihren Teint verderben, +und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich +nicht von der Sonne verbrennen lassen. Es würde +Ihnen schlecht stehen.“</p> + +<p>„Was läge weiter daran?“ rief Dorian Gray und +lachte, als er sich auf eine Bank am Ende des Gartens setzte.</p> + +<p>„Alles sollte Ihnen daran liegen, Herr Gray.“</p> + +<p>„Wieso?“</p> + +<p>„Weil Sie die wundervollste Jugend haben, und Jugend +ist das einzige, dessen Besitz einen Wert hat.“</p> + +<p>„Ich empfinde das nicht, Lord Henry.“</p> + +<p>„Nein, jetzt empfinden Sie es nicht. Später einmal, +wenn Sie alt, runzlig und häßlich sind, wenn das Denken +Furchen in Ihre Stirne gegraben und die Leidenschaft +Ihre Lippen mit ihrem schrecklichen Feuer verbrannt hat, +dann werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt +können Sie hingehen, wo Sie wollen, und Sie berücken +die ganze Welt! Wird das immer so sein?... Sie haben +ein wundervoll schönes Gesicht, Herr Gray. Runzeln Sie +nicht die Stirn. Sie haben es. Und Schönheit ist eine Form +des Genies — steht in Wahrheit noch höher als das +Genie, da sie keinerlei Erklärung bedarf. Sie ist eine der +großen Lebenstatsachen, wie das Sonnenlicht oder der +Lenz oder wie in dunkeln Gewässern der Widerschein der +Silbermuschel, die wir Mond nennen. Sie kann nicht bestritten +werden. Sie hat ein göttliches, erhabenes Recht.<a class="pagenum" name="Page_39" title="39"> </a> +Wer sie hat, den macht sie zu einem Prinzen. Sie +lächeln? Oh, wenn Sie sie verloren haben, lächeln Sie +nicht mehr... Die Leute sagen manchmal, Schönheit sei +nur etwas Äußerliches. Mag sein. Aber zum mindesten +ist sie nicht so äußerlich wie das Denken. Für mich ist +Schönheit aller Wunder Wunder. Nur die Hohlköpfe urteilen +nicht nach dem Äußeren. Das wahre Geheimnis der +Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare... Ja, +Herr Gray, die Götter haben es gut mit Ihnen gemeint. +Aber was die Götter schenken, rauben sie bald wieder. +Sie haben nur ein paar Jahre, wo Sie wahrhaftig vollkommen, +restlos leben können. Indem Ihre Jugend verrauscht +ist, nimmt sie die Schönheit mit, und dann werden +Sie plötzlich entdecken, daß Ihrer keine Siege mehr +warten, oder daß Sie sich mit jenen traurigen Siegen +werden begnügen müssen, die Ihnen die Erinnerung an +die Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen. +Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie näher einem +schrecklichen Ziele. Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und +kämpft gegen Ihre Lilien und Rosen. Sie werden fahl und +hohlwangig, und Ihre Augen werden sich trüben. Sie +werden unsäglich leiden... Ach! leben Sie Ihre Jugend, +solange sie da ist. Vergeuden Sie das Gold Ihrer Tage +nicht, leihen Sie Ihr Ohr nicht den Philistern, mühen +Sie sich nicht, hoffnungslose Verhängnisse zu verbessern, +geben Sie Ihr Leben nicht den Unwissenden, Niedrigen, +den gemeinen Leuten hin! Das sind die kranken Ziele, die +falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das +wunderschöne Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich<a class="pagenum" name="Page_40" title="40"> </a> +nichts verloren sein! Suchen Sie rastlos nach neuen +Sinneseindrücken! Fürchten Sie nichts... Ein neuer Hedonismus +— der täte unserem Jahrhundert not. Sie könnten +sein sichtbares Symbol werden. Mit Ihrer Persönlichkeit +können Sie alles wagen. Die Welt gehört Ihnen +einen Sommer hindurch... Im Augenblick, da ich Sie +sah, merkte ich, daß Sie keine Ahnung davon haben, was +Sie wirklich sind, was Sie wirklich sein könnten. So viel +in Ihnen entzückte mich, daß ich förmlich gezwungen war, +Ihnen etwas über Ihre Natur zu sagen. Ich dachte mir, +welche Tragik darin läge, wenn Sie vergebens lebten. +Denn Ihre Jugend währt nur so kurze Zeit — so kurze +Zeit. Die alltäglichen Wiesenblumen welken, aber sie +blühen wieder. Der Goldregen wird im nächsten Juni genau +so gelb sein wie heute. In einem Monat setzt die Klematis +purpurne Sterne an, und Jahr für Jahr umhüllt +die grüne Nacht ihrer Blätter solche Purpursterne. Aber +wir Menschen bekommen unsere Jugend nie wieder. Die +Freude, die den Puls des Zwanzigjährigen peitscht, läßt +nach. Unsere Glieder versagen, die Sinne werden seicht. +Wir verkommen und werden greuliche Verpuppungen, +werden verfolgt von den Erinnerungen an die Leidenschaften, +vor denen wir zurückgeschreckt sind, und an die +reizenden Versuchungen, denen zu erliegen wir nicht den +Mut hatten. Jugend! Jugend! Es gibt in der Welt nichts +weiter als Jugend!“</p> + +<p>Dorian Gray hörte zu, mit aufgerissenen Augen und +staunend. Der Fliederzweig, den er in der Hand hielt, fiel +auf den Kies. Eine Biene in ihrem Pelzkleid schoß her<a class="pagenum" name="Page_41" title="41"> </a> +und umsummte ihn einen Augenblick. Dann krabbelte sie +eifrig auf den kleinen Blumensternen herum. Er beobachtete +sie mit dem seltsamen Interesse an gewöhnlichen Dingen, +das wir in uns heranzubilden suchen, wenn wir uns vor +entscheidenden Dingen fürchten, oder wenn uns ein neues +Gefühl erschüttert, für das wir noch keine Formel haben, +oder wenn ein schrecklicher Gedanke das Hirn umklammert +und verlangt, daß wir uns ihm ausliefern sollen. Nach +einer Weile schwirrte die Biene weg. Er sah sie in den +bunten Trompetentrichter einer tyrischen Winde kriechen. +Die Blume schien zusammenzuzucken und bewegte sich dann +mit Grazie hin und her.</p> + +<p>Plötzlich erschien der Maler unter der Tür des Ateliers +und forderte sie mit kurzen wiederholten Zeichen auf, +hereinzukommen. Sie sahen sich einander an und lächelten.</p> + +<p>„Ich warte!“ rief er. „Kommt herein! Das Licht ist +ganz prächtig, und ihr könnt eure Gläser mitbringen.“</p> + +<p>Sie standen auf und schlenderten den Weg zurück. Zwei +grünlichweiße Schmetterlinge flatterten an ihnen vorüber, +und in dem Birnbaum an der Gartenecke begann eine +Drossel zu flöten.</p> + +<p>„Es freut Sie, mich kennengelernt zu haben, Herr +Gray?“ fragte Lord Henry und blickte ihn an,</p> + +<p>„Ja, jetzt bin ich erfreut darüber. Ich weiß nicht, ob +ich's immer sein werde!“</p> + +<p>„Immer! das ist ein schreckliches Wort. Ich schaudere, +wenn ich es höre. Die Frauen haben es so gern. Sie zerstören +sich jedes Abenteuer, indem sie ihm Ewigkeit verleihen +wollen. Außerdem ist es ein sinnloses Wort. Der<a class="pagenum" name="Page_42" title="42"> </a> +einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer Leidenschaft, +die ein Leben lang dauert, ist, daß die Laune ein +bißchen länger dauert.“</p> + +<p>Als sie ins Atelier traten, legte Dorian Gray seine +Hand auf Lord Henrys Arm. „Lassen Sie also unsere +Freundschaft eine Laune sein“, sagte er leise und errötete +über seine eigene Kühnheit. Dann bestieg er das Podium +und nahm wieder seine Stellung ein.</p> + +<p>Lord Henry warf sich in einen bequemen Korbsessel und +beobachtete ihn. Das Hin- und Herfahren des Pinsels +auf der Leinwand war das einzige, die Stille unterbrechende +Geräusch, nur manchmal hörte man den Schritt +Hallwards, wenn er zurücktrat, um sein Werk aus der +Entfernung zu prüfen. In den schrägen Sonnenstrahlen, +die durch die offene Tür fluteten, tanzte der Staub in +goldenen Schuppen. Über allem lagerte der schwere Duft +der Rosen.</p> + +<p>Als etwa eine Viertelstunde vergangen war, hörte Hallward +zu malen auf, betrachtete Dorian lange Zeit, sah +dann lange auf das Bildnis, nagte an dem Stiel eines +seiner großen Pinsel und runzelte die Stirn. „Ganz fertig“, +rief er endlich, bückte sich und schrieb in großen grellroten +Lettern seinen Namen in die linke Ecke der Leinwand.</p> + +<p>Lord Henry trat heran und betrachtete das Bild mit +Kennerblick. Es war in der Tat ein wunderbares Kunstwerk +und auch wunderbar ähnlich.</p> + +<p>„Lieber Junge,“ sagte er, „ich wünsche dir herzlich +Glück. Es ist das beste Porträt unserer ganzen Zeit. Herr +Gray, kommen Sie und sehen Sie selbst!“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_43" title="43"> </a></p> + +<p>Der Jüngling schrak wie aus einem Traume auf. „Ist +es wirklich fertig?“ murmelte er, als er vom Podium +herabstieg.</p> + +<p>„Ganz fertig“, antwortete der Maler. „Und du hast +heute glänzend Modell gestanden. Ich bin dir sehr, sehr +dankbar.“</p> + +<p>„Das ist nur mein Verdienst“, warf Lord Henry ein. +„Nicht wahr, Herr Gray?“</p> + +<p>Dorian gab keine Antwort, sondern trat, ohne hinzuhören, +vor sein Bild und wandte sich dem Werke zu. Als +er es sah, zuckte er zusammen, und seine Wangen röteten +sich einen Augenblick vor Vergnügen. Ein Ausdruck der +Freude blitzte in seinen Augen, als erkenne er sich selbst +jetzt zum ersten Male. Bewegungslos und in Staunen +versunken, stand er da und merkte dumpf, daß Hallward +zu ihm sprach, ohne daß er den Sinn der Worte erfaßte. +Das Gefühl seiner eigenen Schönheit kam über ihn wie +eine Offenbarung. Er hatte es nie vorher empfunden. +Basil Hallwards Komplimente hatte er nur für liebenswürdige +Übertreibungen der Freundschaft gehalten. Er +hatte sie gehört, über sie gelacht und sie vergessen. Sein +Wesen hatten sie niemals beeinflußt. Dann war Lord +Henry Wotton gekommen mit seinem sonderbaren Hymnus +auf die Jugend, seiner schrecklichen Warnung von +ihrer Flüchtigkeit. Das hatte ihn rechtzeitig aufgerüttelt, +und als er jetzt dastand und das Abbild der eigenen +Schönheit betrachtete, durchdrang ihn die volle Wirklichkeit +jener Schilderung. Ja, der Tag mußte kommen, +da sein Gesicht verrunzelt und verwelkt, die Augen trüb<a class="pagenum" name="Page_44" title="44"> </a> +und farblos, die Anmut seiner Gestalt geknickt und entstellt +sein würde. Das Scharlachrot der Lippen würde +verblassen, der Goldglanz des Haares sich wegstehlen. Das +Leben, das von seiner Seele gebildet wurde, zerstörte +seinen Körper. Er würde häßlich, abscheuerregend und +formlos werden.</p> + +<p>Als er daran dachte, durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz +wie ein Messerstich und ließ die feinsten Nerven seines Ichs +erbeben. Seine Augen verdunkelten sich zu Amethysten, +und ein Tränenflor umschleierte sie. Es war, als hätte +sich ihm eine eiskalte Hand aufs Herz gelegt.</p> + +<p>„Gefällt es dir nicht?“ rief endlich Hallward, ein wenig +gereizt durch das Schweigen des Jünglings, dessen Grund +er nicht begriff.</p> + +<p>„Natürlich gefällt's ihm“, sagte Lord Henry. „Wem +würde es nicht gefallen? Es gehört zu den größten Werken +der modernen Kunst. Ich gebe dir jeden Betrag dafür, +den du verlangst. Ich muß es haben.“</p> + +<p>„Es gehört nicht mir, Harry.“</p> + +<p>„Wem denn?“</p> + +<p>„Dorian natürlich“, antwortete der Maler.</p> + +<p>„Da hat er Glück...“</p> + +<p>„Wie traurig!“ flüsterte Dorian und hielt die Augen +noch immer fest auf das Bild gerichtet. „Wie traurig! +Ich werde alt werden und häßlich und widerlich. Aber +dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über den +heutigen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt +sein könnte! Wenn ich ewig jung bliebe und dafür +das Bild altern könnte! Dafür — dafür — gäbe ich alles!<a class="pagenum" name="Page_45" title="45"> </a> +Ja, nichts in aller Welt wäre mir dafür zuviel! Ich gäbe +meine Seele dafür!“</p> + +<p>„Dieser Tausch würde dir schwerlich passen, Basil“, rief +Lord Henry lachend. „Das wäre schlimm für dein Bild.“</p> + +<p>„Ich würde mich ernstlich dagegen wehren, Harry“, +sagte Hallward.</p> + +<p>Dorian Gray wandte sich zu ihm und sah ihn an. „Ich +bin davon überzeugt, Basil. Die Kunst ist dir mehr als +deine Freunde. Ich bedeute für dich nicht mehr als eine +grüne Bronzefigur. Vielleicht kaum so viel, müßte ich +sagen.“</p> + +<p>Der Maler war starr vor Erstaunen. So zu sprechen +sah Dorian gar nicht ähnlich. Was war geschehen? Er +schien ganz erregt. Sein Gesicht war gerötet, und die +Wangen brannten.</p> + +<p>„Ja,“ fuhr er fort, „ich bin dir weniger als dieser Hermes +aus Elfenbein oder der silberne Faun da. Die wirst +du immer liebbehalten. Wie lange wirst du mich liebhaben? +Vermutlich bis die erste Runzel mein Gesicht entstellt. +Ich weiß jetzt, wenn man erst seine Schönheit verliert, +hat man alles verloren. Dein Bild hat mich dies +gelehrt. Lord Henry Wotton hat ganz recht. Jugend ist +das einzige, was Wert hat auf der Welt. Sowie ich entdecke, +daß ich alt werde, bringe ich mich um.“</p> + +<p>Hallward wurde bleich und faßte ihn bei der Hand. +„Dorian, Dorian!“ rief er, „sage so etwas nicht. Ich habe +nie einen Freund gehabt wie dich und werde nie wieder +so einen haben. Du bist doch nicht auf leblose Dinge eifersüchtig? +Du, der schöner ist als irgendeines von ihnen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_46" title="46"> </a></p> + +<p>„Ich bin eifersüchtig auf jedes Ding, dessen Schönheit +nicht stirbt. Ich bin eifersüchtig auf das Bild, das du von +mir gemalt hast. Warum darf es behalten, was ich verlieren +muß? Jeder Augenblick, der verfliegt, raubt mir +etwas und schenkt ihm etwas. Oh, wenn es doch umgekehrt +wäre! Wenn sich das Bild verändern und ich immer bleiben +könnte, wie ich jetzt bin! Warum hast du es gemalt? +Es wird mich dereinst verhöhnen — furchtbar verhöhnen!“ +Die heißen Tränen traten ihm in die Augen, er zog seine +Hand weg, warf sich auf den Diwan und vergrub sein +Gesicht in den Kissen, als betete er.</p> + +<p>„Das ist dein Werk, Harry“, sagte der Maler bitter.</p> + +<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Es ist der wahre Dorian +Gray — sonst nichts.“</p> + +<p>„Das ist er nicht.“</p> + +<p>„Wenn er es nicht ist, was habe ich damit zu schaffen?“</p> + +<p>„Du hättest weggehen sollen, als ich dich darum bat“, +grollte er.</p> + +<p>„Ich blieb, als du mich darum batest“, war Lord +Henrys Erwiderung.</p> + +<p>„Harry, ich kann nicht auf einmal mit meinen beiden +besten Freunden Streit anfangen, aber ihr beide habt +schuld, daß ich das beste Stück, das mir je gelungen ist, +hassen muß, und ich werde es vernichten. Ist es schließlich +mehr als Leinwand und Farbe? Ich will es nicht eingreifen +lassen in drei Leben und sie zerstören.“</p> + +<p>Dorian Gray hob seinen goldschimmernden Kopf von +dem Kissen und blickte ihn mit bleichem Gesicht und tränenfeuchten +Augen an, als er zu dem Maltische aus Kiefernholz<a class="pagenum" name="Page_47" title="47"> </a> +trat, der unter dem hohen verhängten Fenster stand. +Was wollte Basil beginnen? Seine Finger wühlten zwischen +dem Wust von Blechtuben und trockenen Pinseln +herum, als suchten sie etwas. Ja, sie suchten das lange +Schabmesser mit der schmalen Klinge aus schmiegsamem +Stahl. Endlich hatte er es gefunden. Er wollte die Leinwand +zerschlitzen.</p> + +<p>Mit einem erstickten Schluchzen sprang der Jüngling +vom Diwan auf, schoß auf Hallward zu, riß ihm das +Messer aus der Hand und schleuderte es in den äußersten +Winkel des Ateliers. „Tu es nicht, Basil, tu es nicht“, +schrie er. „Es wäre Mord.“</p> + +<p>„Ich freue mich, daß dir meine Arbeit endlich doch gefällt, +Dorian“, sagte der Maler kühl, als er sich von +seinem Erstaunen erholt hatte. „Ich hätte es gar nicht +geglaubt.“</p> + +<p>„Gefällt? Ich bin verliebt in dies Bild, Basil. Es ist +ja ein Teil von mir selbst. Ich fühle es.“</p> + +<p>„Schön, sobald du trocken bist, sollst du gefirnißt, gerahmt +und zu dir hingeschickt werden. Dann kannst du +mit dir anfangen, was dir beliebt.“ Er schritt durch den +Raum und klingelte nach Tee. „Du trinkst doch Tee, +Dorian? Du auch, Harry? Oder machst du dir nichts aus +so einfachen Genüssen?“</p> + +<p>„Ich bete einfache Genüsse an“, sagte Lord Henry. +„Sie sind die letzte Zuflucht komplizierter Naturen. Aber +für Szenen schwärme ich nicht, außer auf der Bühne. Was +für tolle Burschen seid ihr doch, ihr beide! Wer war es +doch gleich, der den Menschen als ein vernünftiges Tier<a class="pagenum" name="Page_48" title="48"> </a> +definiert hat? Das war eine der voreiligsten Definitionen, +die je aufgestellt wurden. Der Mensch hat eine ganze +Menge Eigenschaften, aber gewiß keine Vernunft. Alles +in allem übrigens: Gott sei Dank, obwohl mir's eigentlich +lieber wäre, ihr beiden Wirbelköpfe zanktet euch nicht +um das Bild. Du solltest es lieber mir gegeben haben, +Basil. Dieses törichte Knäblein braucht es eigentlich gar +nicht, und ich brauche es sehr.“</p> + +<p>„Wenn du es einem anderen geben willst als mir, Basil, +verzeihe ich es dir nie“, rief Dorian Gray; „und ich erlaube +niemand, mich ein törichtes Knäblein zu nennen.“</p> + +<p>„Du weißt, Dorian, das Bild gehört dir. Ich hab' es +dir geschenkt, noch ehe es vorhanden war.“</p> + +<p>„Und Sie wissen, Herr Gray, daß Sie ein wenig töricht +waren und daß Sie ernstlich gar nichts dagegen haben +können, an Ihre große Jugend erinnert zu werden.“</p> + +<p>„Heute früh hätte ich sehr viel dagegen gehabt, Lord +Henry.“</p> + +<p>„Ah! heute früh. Seitdem haben Sie einiges erlebt.“</p> + +<p>Es klopfte an die Tür, und der Diener trat mit einem +besetzten Teebrett ein und servierte auf einem kleinen japanischen +Tisch den Tee. Die Tassen und Löffel klapperten, +und ein georgischer Samowar begann zu summen. Zwei +gewölbte chinesische Porzellanschüsseln wurden von einem +jungen Diener hereingebracht. Dorian Gray ging hin und +goß den Tee ein. Die beiden Männer schlenderten zum +Tische und sahen nach, was unter den Deckeln der Schüsseln +war.</p> + +<p>„Wir wollen heute abend ins Theater gehen“, meinte<a class="pagenum" name="Page_49" title="49"> </a> +Lord Henry. „Irgendwo wird sicher was los sein. Ich +habe zwar zugesagt, im White-Klub zu soupieren, aber +mich erwartet nur ein alter Freund; ich kann ihm also +ein Telegramm schicken, daß ich nicht wohl sei oder infolge +einer späteren Verabredung nicht kommen könne. +Das würde ich für eine reizende Entschuldigung halten. +Sie hat einen förmlich überraschenden Duft von Aufrichtigkeit.“</p> + +<p>„Es ist so lästig, sich den Frack anzuzerren“, murmelte +Hallward. „Und wenn man ihn anhat, sieht man so gräßlich +aus.“</p> + +<p>„Ja,“ antwortete Lord Henry träumerisch, „die Kleidung +des neunzehnten Jahrhunderts ist abscheulich. Sie +ist so düster, so deprimierend. Die Sünde ist noch das +einzig Farbenfreudige, das im modernen Leben übriggeblieben +ist.“</p> + +<p>„Du solltest wirklich nicht solche Dinge vor Dorian +sagen, Harry!“</p> + +<p>„Vor welchem Dorian? Vor dem, der uns den Tee +einschenkt, oder dem anderen auf dem Bilde?“</p> + +<p>„Vor keinem.“</p> + +<p>„Ich ginge gerne mit Ihnen ins Theater, Lord Henry“, +sagte der Jüngling.</p> + +<p>„Dann kommen Sie doch. Und du auch, Basil, nicht +wahr?“</p> + +<p>„Ich kann nicht, wirklich nicht. Es ist mir lieber so. Ich +habe eine Unmenge zu tun.“</p> + +<p>„Schön also. Dann müssen wir zwei allein gehen, Herr +Gray.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_50" title="50"> </a></p> + +<p>„Ich freue mich riesig darauf.“</p> + +<p>Der Maler biß sich auf die Lippe und schritt, die Teetasse +in der Hand, zum Bilde. „Ich bleibe hier bei dem +wirklichen Dorian“, sagte er traurig.</p> + +<p>„Ist das der wirkliche?“ rief das Original und ging +gleichfalls langsam zu ihm hin. „Bin ich wirklich so?“</p> + +<p>„Ja, genau so bist du.“</p> + +<p>„Wie wundervoll, Basil!“</p> + +<p>„Du siehst wenigstens jetzt so aus. Aber das Bild wird +sich nie ändern“, seufzte Hallward. „Das ist schon etwas.“</p> + +<p>„Was man heute für ein großes Wesen aus der Treue +macht!“ rief Lord Henry aus. „Und doch ist sie selbst in +der Liebe eine rein physiologische Frage. Sie hat auch +nicht das mindeste mit unserem eigenen Willen zu tun. +Junge Männer wären gerne treu und sind es nicht; alte +würden gerne untreu sein und können es nicht: das ist +alles, was sich darüber sagen läßt.“</p> + +<p>„Geh heute abend nicht ins Theater, Dorian“, bat +Hallward. „Bleibe hier und speise mit mir.“</p> + +<p>„Ich kann nicht, Basil.“</p> + +<p>„Warum?“</p> + +<p>„Weil ich Lord Henry Wotton zugesagt habe, ihn zu +begleiten.“</p> + +<p>„Er wird dir darum nicht mehr zugetan sein, wenn du +so treu deine Versprechungen hältst. Er bricht seine immer. +Ich bitte dich, nicht zu gehen.“</p> + +<p>Dorian Gray schüttelte lachend den Kopf.</p> + +<p>„Ich beschwöre dich.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_51" title="51"> </a></p> + +<p>Der junge Mann schwankte und blickte zu Lord Henry +hinüber, der die beiden mit einem belustigten Lächeln vom +Teetische aus beobachtete.</p> + +<p>„Ich muß mit, Basil“, antwortete er.</p> + +<p>„Schön“, sagte Hallward und ging zum Tische hinüber, +wo er seine Tasse hinstellte. „Es ist ziemlich spät, und da +ihr euch noch umziehen müßt, habt ihr keine Zeit mehr +zu verlieren. Adieu, Harry! Adieu, Dorian! Komm bald +wieder. Komm morgen.“</p> + +<p>„Bestimmt.“</p> + +<p>„Aber nicht vergessen!“</p> + +<p>„Nein, natürlich nicht!“ rief Dorian.</p> + +<p>„Und... Harry!“</p> + +<p>„Ja, Basil?“</p> + +<p>„Vergiß nicht, was ich dir sagte, als wir am Vormittag +im Garten saßen.“</p> + +<p>„Ich habe es vergessen.“</p> + +<p>„Ich vertraue dir.“</p> + +<p>„Ich wünschte, ich könnte mir selbst vertrauen“, sagte +Lord Henry lachend. „Kommen Sie, Herr Gray, mein +Wagen steht unten, und ich kann Sie an Ihrer Wohnung +absetzen. Adieu, Basil! Es war ein sehr unterhaltender +Nachmittag.“</p> + +<p>Als sich die Tür hinter ihnen schloß, warf sich der Maler +auf den Diwan, und in sein Gesicht trat ein schmerzlicher +Ausdruck.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_52" title="52"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Drittes_Kapitel" id="Drittes_Kapitel"></a>Drittes Kapitel</h2> + + +<p>Um zwölfeinhalb Uhr am nächsten Tage schlenderte +Lord Henry Wotton von Curzon Street nach Albany hinüber, +um einen Besuch zu machen bei seinem Onkel Lord +Fermor, einem heiteren, aber ziemlich rauhen alten Junggesellen, +den die Außenwelt einen Egoisten nannte, weil +sie keinen besonderen Nutzen aus ihm ziehen konnte, der +aber in der Gesellschaft als freigebig verschrien war, weil +er die Leute, die ihn amüsierten, aufs beste fütterte. Sein +Vater war britischer Gesandter in Madrid gewesen, als +Isabella noch jung war und man noch nichts von Prim +wußte, hatte sich aber in einem Augenblicke launischen +Ärgers aus dem diplomatischen Dienste zurückgezogen, +weil man ihm nicht den Gesandtenposten in Paris angeboten +hatte, zu dem er sich vollauf berechtigt geglaubt +hatte durch seine Geburt, seine Arbeitsunlust, sein gutes +Englisch in seinen Depeschen und durch seine zügellose Vergnügungssucht. +Der Sohn, der des Vaters Privatsekretär +gewesen war, hatte mit seinem Chef zugleich den Abschied +genommen, was man damals ziemlich verrückt fand, und +als der Titel einige Monate später auf ihn überging, hatte +er sich ernstlich dem großen aristokratischen Studium gewidmet, +absolut nichts zu tun. Er besaß zwei große Häuser +in der Stadt, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung +zu hausen, weil das weniger Umstände machte, +und speiste meistens im Klub. Er beschäftigte sich ein wenig<a class="pagenum" name="Page_53" title="53"> </a> +mit der Verwaltung seiner Kohlenminen in den Midlandgrafschaften +und entschuldigte diese verwerfliche industrielle +Tätigkeit damit, daß er sagte, der einzige Vorteil, Kohlen +zu besitzen, sei der, es einem Gentleman möglich zu +machen, in seinem eigenen Kamin Holz zu brennen. Politisch +war er ein Tory, außer wenn die Tories Regierungspartei +waren, denn in solchen Zeiten verlästerte er sie +und schimpfte sie radikales Gesindel. Er war ein Held für +seinen Kammerdiener, der ihn drangsalierte, und ein +Schrecken für die meisten seiner Verwandten, die er drangsalierte. +Nur England konnte ihn erzeugt haben, und +er selber sagte immer, daß das Land mehr und mehr +auf den Hund käme. Seine Grundsätze waren altmodisch, +aber an seinen Vorurteilen war etwas dran.</p> + +<p>Als Lord Henry ins Zimmer trat, fand er seinen Onkel +in einem flockigen Jagdrock, eine ziemlich wohlfeile Zigarre +im Munde und brummend in den „Times“ lesend.</p> + +<p>„Na, Harry,“ sagte der alte Herr, „was bringt dich so +früh her? Ich dachte immer, ihr Dandies steht nie vor +zwei Uhr auf und werdet nie vor fünf Uhr sichtbar.“</p> + +<p>„Reine Familienliebe, auf mein Wort, Onkel Georg; +ich brauche etwas von dir.“</p> + +<p>„Geld vermutlich“, sagte Lord Fermor und machte ein +saures Gesicht. „Na gut, so setz' dich und sag' mir alles. +Ihr jungen Leute von heutzutage bildet euch ein, das +Geld wäre alles.“</p> + +<p>„Ja,“ brummelte Lord Henry, während er seine Blume +im Knopfloch zurechtrückte, „und wenn sie älter werden, +dann wissen sie es. Aber ich brauche kein Geld. Nur Leute,<a class="pagenum" name="Page_54" title="54"> </a> +die ihre Rechnungen zahlen, brauchen Geld, Onkel Georg, +und ich bezahle meine nie. Kredit ist das Kapital eines +zweitältesten Sohnes, und man kann brillant davon leben. +Außerdem kaufe ich immer bei Dartmoors Lieferanten, und +daher habe ich nie Scherereien. Was ich brauche, ist eine +Auskunft, keine nützliche Auskunft natürlich, sondern nur +eine wertlose.“</p> + +<p>„Ich kann dir alles sagen, Harry, was je in einem englischen +Blaubuch gestanden hat, obwohl diese Bengels heutzutage +einen Haufen Unsinn zusammensudeln. Als ich noch +Diplomat war, lagen die Dinge besser. Aber ich höre, man +stellt jetzt die Leute auf Grund einer Prüfung ein. Was +kann man da noch erwarten? Prüfungen, mein Bester, +sind der reine Humbug von A bis Z. Wenn einer Gentleman +ist, weiß er schon genug, und wenn er kein Gentleman +ist, so mag er alles Mögliche wissen, es hilft ihm doch +nichts.“</p> + +<p>„Herr Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu +schaffen“, sagte Lord Henry in seinem schläfrigen Tone.</p> + +<p>„Herr Dorian Gray? Wer ist das?“ fragte Lord Fermor, +seine buschigen weißen Augenbrauen zusammenkneifend.</p> + +<p>„Um das zu erfahren, bin ich gerade hergekommen, Onkel +Georg. Oder genauer gesagt, wer es ist, weiß ich. Nämlich +der Enkel des verstorbenen Lord Kelso. Seine Mutter war +eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich möchte, daß +du mir etwas über seine Mutter erzählst. Was weißt du +von ihr? Wen hat sie geheiratet? Du hast zu deiner Zeit +doch so ziemlich alle Leute gekannt, also wahrscheinlich auch<a class="pagenum" name="Page_55" title="55"> </a> +sie. Ich interessiere mich gegenwärtig ungemein für Herrn +Gray. Ich habe ihn erst gestern kennengelernt.“</p> + +<p>„Kelsos Enkel!“ wiederholte der alte Herr, „Kelsos +Enkel! ... natürlich ... ich war mit seiner Mutter sehr +intim. Ich glaube, ich war sogar bei ihrer Taufe. Es war +ein ganz außergewöhnlich schönes Mädchen, diese Margaret +Devereux, und hat dann alle jungen Männer toll +gemacht, als sie mit einem jungen Habenichts davonlief, +einer absoluten Null, mein Bester, einem Fähnrich bei der +Infanterie oder so was Ähnliches. Natürlich. Ich erinnere +mich jetzt an die ganze Geschichte, als wäre sie gestern passiert. +Der arme Kerl wurde dann ein paar Monate nach +der Hochzeit in einem Duell in Spa getötet. Man erzählte +damals eine häßliche Geschichte darüber. Man sagte, +der alte Kelso hätte irgendeinen Schuft, so einen Abenteurer +aus Belgien gemietet, um seinen Schwiegersohn öffentlich +zu beleidigen, hätte ihn dafür bezahlt, mein Bester, einfach +bezahlt, damit er es täte, und dieser Kerl spießte dann sein +Opfer auf wie eine Taube. Die Geschichte wurde natürlich +vertuscht, aber Kelso mußte eine Zeitlang sein Kotelett +allein im Klub essen. Ich hörte, er brachte seine Tochter +wieder mit, doch sie sprach nie mehr ein Wort mit ihm. +O jawohl, das war eine böse Sache. Das Mädel starb +dann auch, kaum ein Jahr später. So, sie hat also einen +Sohn hinterlassen? Das hatte ich ganz vergessen. Was +für ein Junge ist es denn? Wenn er seiner Mutter ähnlich +sieht, muß es ein hübsches Kerlchen sein.“</p> + +<p>„Er ist sehr hübsch“, stimmte Lord Henry bei.</p> + +<p>„Ich hoffe, er wird in die rechten Hände kommen“, fuhr<a class="pagenum" name="Page_56" title="56"> </a> +der alte Mann fort. „Es muß ein Haufen Geld auf ihn +warten, wenn Kelso pflichtgemäß an ihm handelte. Seine +Mutter hatte übrigens auch Geld. Der ganze Selbysche +Besitz fiel ihr durch ihren Großvater zu. Ihr Großvater +haßte Kelso, hielt ihn für einen gemeinen Köter. War es +übrigens auch. Er kam mal nach Madrid, als ich dort war. +Na, ich mußte mich des Kerls schämen. Die Königin +pflegte mich nach dem englischen Edelmann zu fragen, der +sich immer mit den Kutschern über die Taxe zankte. Man +machte einen ganzen Roman daraus. Ich wagte einen +Monat lang nicht, bei Hof zu erscheinen. Ich hoffe, er hat +seinen Enkel besser behandelt als die Droschkenkutscher.“</p> + +<p>„Darüber weiß ich nichts“, erwiderte Lord Henry. „Ich +vermute aber, der junge Mann wird einmal wohlhabend +werden. Er ist noch nicht volljährig. Selby gehört ihm, +das weiß ich. Er hat es mir gesagt. Und... seine Mutter +war also sehr schön?“</p> + +<p>„Margaret Devereux war eines der entzückendsten Geschöpfe, +die ich je gesehen habe, Harry. Was in aller Welt +sie dazu getrieben hat, so zu handeln, habe ich nie verstehen +können. Sie hätte jeden Mann heiraten können, den sie +wollte. Carlington war wahnsinnig verschossen in sie. Aber +sie war romantisch veranlagt. Alle Frauen dieser Familie +waren so. Die Männer waren ein trauriges Gesindel, aber +beim Himmel! die Weiber waren wunderbar! Carlington +lag vor ihr auf den Knien. Hat's mir selber gebeichtet. +Sie lachte ihn aus, und es gab damals in London kein +Mädel, das nicht hinter ihm hergewesen wäre. Übrigens, +Harry, da wir schon über Mesalliancen reden: was ist das<a class="pagenum" name="Page_57" title="57"> </a> +für ein Unsinn, den mir dein Vater von Dartmoor erzählt, +der eine Amerikanerin heiraten will? Sind englische Mädels +für ihn nicht gut genug?“</p> + +<p>„Es ist jetzt Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel +Georg.“</p> + +<p>„Ich verteidige die englischen Frauen gegen die ganze +Welt, Harry“, sagte Lord Fermor und schlug mit der +Faust auf den Tisch.</p> + +<p>„Man reißt sich um die Amerikanerinnen.“</p> + +<p>„Sie halten sich nicht, hat man mir gesagt“, brummte +der Onkel.</p> + +<p>„Ein langes Verlobtsein erschöpft sie, aber für eine +Steeplechase sind sie brillant. Sie sind Flieger. Ich glaube +nicht, daß Dartmoor Chance hat.“</p> + +<p>„Was ist's für eine Familie?“ murrte der alte Herr. +„Hat sie überhaupt eine?“</p> + +<p>Lord Henry schüttelte den Kopf. „Amerikanische Mädchen +sind ebenso klug, ihre Eltern zu verbergen, wie englische +Frauen im Verbergen ihrer Vergangenheit“, antwortete +er und stand auf, um wegzugehen.</p> + +<p>„Also vermutlich Schweinefleischhändler.“</p> + +<p>„Das hoffe ich, Onkel Georg, in Dartmoors Interesse. +Man hat mir gesagt, mit Schweinefleischbüchsen zu handeln, +soll nächst der Politik der einträglichste Beruf in +Amerika sein.“</p> + +<p>„Ist sie hübsch?“</p> + +<p>„Sie benimmt sich so, als wäre sie es. Das tun die +meisten Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihres +magnetischen Reizes.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_58" title="58"> </a></p> + +<p>„Warum bleiben diese amerikanischen Weiber nicht in +ihrem Lande? Sie sagen doch immer, es sei das Paradies +für Frauen.“</p> + +<p>„Das ist es auch. Und das ist auch der Grund, warum +sie wie Eva so gern daraus weg wollen“, sagte Lord +Henry. „Adieu, Onkel Georg! Ich komme zu spät zum +Frühstück, wenn ich noch länger bleibe. Danke sehr für die +Auskunft, die du mir gabst. Ich habe immer das Bedürfnis, +von meinen neuen Freunden alles zu hören und +möglichst nichts von meinen alten.“</p> + +<p>„Wo wirst du frühstücken, Harry?“</p> + +<p>„Bei Tante Agatha. Ich habe mich mit Herrn Gray +dort angesagt. Es ist ihr neuestes Protektionskind.“</p> + +<p>„Hm! sag' der Tante Agatha, Harry, sie soll mich mit +ihrem Wohltätigkeitskrempel ungeschoren lassen. Ich habe +sie bis hierher! Weiß Gott, das gute Frauenzimmer meint, +ich hätte nichts zu tun als Schecks für ihre langweiligen +Vereinsmeiereien auszuschreiben.“</p> + +<p>„Abgemacht, Onkel Georg, ich werde es ihr bestellen, +aber es wird nichts nutzen. Wohltätigkeitsmegären verlieren +alle Menschlichkeit. Das ist ihr hervorstechendstes +Merkmal.“</p> + +<p>Der alte Herr brummte zustimmend und klingelte seinem +Diener. Lord Henry schritt durch die niedrigen Arkaden +nach Burlington Street und lenkte dann seine Schritte in +die Richtung nach Berkeley Square.</p> + +<p>Das war also die Geschichte von Dorian Grays Eltern. +So roh umrissen sie ihm auch geschildert worden war, sie +hatte ihn doch nach Art eines seltsamen, geradezu modernen<a class="pagenum" name="Page_59" title="59"> </a> +Romans erregt. Eine schöne Frau, die alles für +eine wahnsinnige Leidenschaft einsetzt. Ein paar wilde, +wonnige Wochen, jäh abgeschnitten durch ein abscheuliches, +heimtückisches Verbrechen, Monate stummer Todesverzweiflung, +und dann ein Kind unter Schmerzen geboren. Die +Mutter vom Tode weggemäht, der Knabe der Einsamkeit +und der Tyrannei eines alten, lieblosen Mannes ausgeliefert. +Ja, das war ein interessanter Hintergrund. Er +gab dem jungen Menschen Relief, machte ihn noch vollkommener. +Hinter allem Köstlichen in der Welt lauert +eine geheime Tragödie, Welten müssen in Schwingung +sein, damit die kleinste Blume erblühen kann... Und wie +entzückend war er gestern abend gewesen, als er ihm mit +erschreckten Augen, die Lippen in scheuem Verlangen geöffnet, +im Klub gegenüber gesessen und die roten Kerzenschirme +das erwachende Wunder seines Gesichts in einen +noch rosenfarbenen Ton getaucht hatten. Mit ihm +sprechen, das war wie auf einer auserlesenen Geige spielen. +Er gab jedem Druck nach, jeder zitternden Berührung +des Bogens... Es lag doch etwas unerhört Knechtendes +darin, auf jemand Einfluß auszuüben. Keine andere Tätigkeit +kam dem gleich. Seine eigene Seele in eine anmutige +Form gießen und sie darin einen Augenblick lang verweilen +lassen: seine eigenen Gedankenakkorde im Echo +zurückbekommen, bereichert durch die Musik der Leidenschaft +und Jugend: sein eigenes Temperament in ein +anderes hineinversenken, als wäre es das allerätherischste +Fluidum oder ein seltener Wohlgeruch: darin lag eine +wahre Lust — vielleicht die allerbefriedigendste Lust, die<a class="pagenum" name="Page_60" title="60"> </a> +uns übriggeblieben ist, in einer so beschränkten und ordinären +Zeit wie die unsere, die so derbfleischlich in ihren +Genüssen und so grobzufassend in ihren Begierden ist... +Auch war er ein wundervoller Typus, dieser junge Mensch, +den er durch einen so wunderbaren Zufall in Basils Atelier +kennengelernt hatte, oder konnte jedenfalls zu einem +wunderbaren Typus umgemodelt werden. Anmut war ihm +verliehen und die schneeige Reinheit der Jünglingschaft, +und eine Schönheit, wie man sie bei alten griechischen +Marmorbildern findet. Nichts gab es, was sich nicht aus +ihm machen ließe. Man konnte einen Titanen oder ein +Spielzeug aus ihm machen. Welch Jammer, daß solche +Schönheit dahinwelken muß... Und Basil? Wie interessant +war doch er für den Psychologen! Diese neue Art +von Kunst, diese neue Weise, das Leben anzuschauen, die +ihm auf das seltsamste durch die sichtbare Gegenwart +eines Menschen erweckt wurde, der von alledem nichts +wußte: der stille Geist, der in einer düsteren Waldlandschaft +wohnte und ungesehen ins offene Feld entwandelte, +enthüllte sich plötzlich wie eine Dryade, und ohne Scheu, +weil in der Seele, die sehnsüchtig nach ihm suchte, jene +wundersame Vision wach geworden war, der nur die +außerordentlichen Dinge offenbar werden: die bloßen +Formen und Linien der Dinge wurden gleichsam edler +und bekamen eine Art von symbolischer Bedeutung, als +wären sie selbst nur Schatten einer anderen und vollendeteren +Form, deren Abbilder sie zur Wirklichkeit erhoben: +wie merkwürdig das alles war! Er erinnerte sich, +daß es in der Geschichte irgend etwas Ähnliches gab. War<a class="pagenum" name="Page_61" title="61"> </a> +es nicht Plato, dieser Künstler in der Welt der Gedanken, +der es als erster untersucht hatte? War es nicht Buonarotti, +der es in den farbigen Marmor seiner Sonettreihe +gemeißelt hatte? Aber in unserem Jahrhundert war es +etwas Seltenes... Ja, er wollte versuchen, für Dorian +Gray das zu sein, was der Jüngling, ohne es zu wissen, +für den Maler war, der das prächtige Bildnis geschaffen +hatte. Er wollte versuchen, in ihm zu herrschen — hatte +es in Wahrheit schon zum Teil getan. Er wollte diesen +wunderbaren Geist zu seinem eigenen machen. Es war +etwas unwiderstehlich Magnetisches in diesem Abkömmling +von Tod und Liebe.</p> + +<p>Plötzlich blieb er stehen und sah an den Häusern hinauf. +Er entdeckte, daß er bereits an dem Hause seiner Tante +vorbeigegangen sei, und ging stillächelnd zurück. Als er +in die etwas düstere Halle eintrat, sagte ihm der Diener, +die Herrschaften seien schon beim Frühstück. Er gab einem +Lakai Hut und Stock und ging in den Speisesaal.</p> + +<p>„Spät wie immer, Harry“, rief seine Tante, ihm zunickend.</p> + +<p>Er erfand eine glaubwürdige Entschuldigung, setzte sich +auf den leeren Platz neben sie und sah sich um, zu sehen, +wer noch da war. Dorian begrüßte ihn schüchtern vom +Ende des Tisches her, und seine Wangen wurden vor geheimer +Freude rot. Gegenüber saß die Herzogin von +Harley, eine Dame von bewunderungswürdig guter +Laune und ebensolchem Charakter, die jeder gern hatte +und deren Körper in jenen erhabenen architektonischen +Maßen aufgebaut war, der von zeitgenössischen Geschichtsschreibern +bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind,<a class="pagenum" name="Page_62" title="62"> </a> +als Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß +Sir Thomas Burdon, ein radikales Parlamentsmitglied, +das im öffentlichen Leben seinem Parteichef Gefolge leistete +und im privaten den besten Küchenchefs, der nach +einer weisen und allgemein verbreiteten Lebensregel mit +den Tories dinierte und mit den Liberalen geistig übereinstimmte. +Den Platz an ihrer Linken nahm Herr Erskine +of Treadley ein, ein alter prächtiger und gebildeter Herr, +der sich die schlechte Gewohnheit des Schweigens angeeignet +hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte, +schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr alles +gesagt hatte, was er überhaupt zu sagen hatte. Seine +Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen +seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den +Frauen, aber so geschmacklos verputzt, daß man bei ihrem +Anblick immer an ein schlechtgebundenes Gebetbuch denken +mußte. Zu seinem Glück saß an ihrer anderen Seite +Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in den +besten Jahren, der so kahl war wie der Bericht eines +Ministers auf eine Interpellation im Unterhaus, und mit +ihm unterhielt sie sich in jenem intensiv-ernsten Tone, der, +wie Lord Henry einmal selbst geäußert hatte, der eine +unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten +Menschen verfallen, und den keiner von ihnen völlig vermeiden +kann.</p> + +<p>„Wir sprechen über den bedauernswerten Dartmoor, +Henry“, rief die Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch +zunickend. „Glauben Sie, daß er wirklich die berückende +junge Dame heiratet?“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_63" title="63"> </a></p> + +<p>„Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich fest vorgenommen, +um das Jawort zu bitten.“</p> + +<p>„Wie schrecklich“, rief Lady Agatha. „Dann sollte sich +wirklich jemand ins Mittel legen.“</p> + +<p>„Ich erfahre aus einer ganz vorzüglichen Quelle, daß ihr +Vater ein Kurzwarengeschäft in Amerika hat“, sagte Sir +Thomas Burdon mit einem überlegenen Blicke.</p> + +<p>„Mein Onkel hat behauptet: Schweinefleischlieferant, +Sir Thomas.“</p> + +<p>„Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?“ +fragte die Herzogin und erhob staunend ihre großen Hände +und dabei jede Silbe betonend.</p> + +<p>„Amerikanische Romane“, antwortete Lord Henry und +nahm von den Wachteln.</p> + +<p>Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht.</p> + +<p>„Geben Sie nicht acht auf ihn, meine Liebe,“ wisperte +ihr Lady Agatha zu, „er meint nie im Ernst, was er +sagt.“</p> + +<p>„Als Amerika entdeckt wurde,“ sagte der radikale Abgeordnete +und ließ einige langweilige Tatsachen vom Stapel. +Wie alle Menschen, die bestrebt sind, ein Thema zu erschöpfen, +erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin seufzte und +benützte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. — „Wollte Gott, es +wäre überhaupt nicht entdeckt worden“, rief sie aus. „Unsere +Töchter haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr. +Das ist geradezu empörend!“</p> + +<p>„Vielleicht ist Amerika überhaupt nicht entdeckt worden, +wenn man's recht betrachtet“, sagte Herr Erskine. „Ich +würde eher sagen, daß es nur aufgefunden worden ist.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_64" title="64"> </a></p> + +<p>„Oh, ich muß aber gestehen, daß ich einige Exemplare +seiner Bewohnerinnen gesehen habe,“ antwortete die Herzogin +zerstreut, „ich muß zugeben, die meisten von ihnen +sind ausgesprochen hübsch. Und außerdem ziehen sie sich gut +an. Sie beziehen alle ihre Kleider aus Paris. Ich wollte, +ich könnte mir das auch leisten.“</p> + +<p>„Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie +nach Paris“, gluckste Sir Thomas, der eine große Kiste +voll abgelegter Scherze sein eigen nannte.</p> + +<p>„In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, +wenn sie sterben?“ fragte die Herzogin.</p> + +<p>„Sie gehen nach Amerika“, murmelte Lord Henry.</p> + +<p>Sir Thomas runzelte die Stirn. „Ich fürchte, Ihr Neffe +hat Vorurteile gegen dieses große Land“, sagte er zu Lady +Agatha. „Ich habe es ganz bereist im Eisenbahnwagen, +die mir die Direktionen zur Verfügung stellten. Man ist +da in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich versichere +Ihnen, es ist eine vorzüglich bildende Reise da drüben.“</p> + +<p>„Aber müssen wir wirklich nach Chicago schwimmen, um +unsere Bildung zu vervollständigen?“ fragte Herr Erskine +wehmütig. „Ich fühle mich wirklich zu solcher Reise nicht +aufgelegt.“</p> + +<p>Sir Thomas winkte mit der Hand. „Herr Erskine of +Treadley besitzt die Welt auf seinen Bücherregalen. Wir +Männer des praktischen Lebens lieben es, die Dinge zu +sehen, nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein +außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig +Vernunftmenschen. Ich glaube, das ist ihr Charaktermerkmal. +Ja, Herr Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft<a class="pagenum" name="Page_65" title="65"> </a> +beherrschtes Volk. Ich versichere Ihnen, es gibt bei den +Amerikanern keinerlei Unsinn.“</p> + +<p>„Wie schrecklich!“ rief Lord Henry aus. „Ich kann rohe +Gewalt vertragen, aber rohe Vernunft ist mir unerträglich. +Ich finde immer, daß ihre Anwendung unbillig ist. +Es heißt den Geist unterjochen.“</p> + +<p>„Ich verstehe Sie nicht“, erwiderte Sir Thomas und +wurde etwas rot.</p> + +<p>„Ich verstehe Sie, Lord Henry“, murmelte Herr Erskine +lächelnd.</p> + +<p>„Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut...“, +nahm der Baronet wieder das Wort.</p> + +<p>„War das ein Paradoxon?“ fragte Herr Erskine. „Ich +habe es nicht dafür gehalten. Vielleicht war es eins. Nun, +der Weg zur Wahrheit scheint mit Paradoxen gepflastert +zu sein. Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir sie auf +gespanntem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten +Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.“</p> + +<p>„Mein großer Gott!“ sagte Lady Agatha, „was für +eine Art zu diskutieren habt ihr Männer. Ich verstehe +nie ein einziges Wort von eurem Gerede. Mit dir, Harry, +oh! bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren lieben +Herrn Dorian Gray zu überreden, nicht mehr ins East-End +zu gehen? Ich versichere dir, er wäre dort für uns unschätzbar; +sein Spiel würde die Leute ungemein begeistern.“</p> + +<p>„Mir ist es lieber, wenn er für mich spielt“, rief Lord +Henry lächelnd, sah am Tisch hinunter, wo ihn ein fröhlich +antwortender Blick traf.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_66" title="66"> </a></p> + +<p>„Aber sie sind in Whitechapel so unglücklich“, fuhr +Lady Agatha wieder fort.</p> + +<p>„Ich kann mit allem möglichen Mitgefühl haben,“ sagte +Lord Henry, die Achseln zuckend, „außer mit Leiden. Damit +kann ich keine Sympathie haben. Es ist zu häßlich, zu +schrecklich, zu niederdrückend. In der heut modernen Sympathie +für die Leiden liegt etwas schrecklich Krankhaftes. +Man sollte mit Farben sympathisieren, mit Schönheit, mit +Lebensfreude. Je weniger man über das Elend des Lebens +sagt, desto besser.“</p> + +<p>„Aber das East-End ist ein sehr wichtiges Problem“, +bemerkte Sir Thomas mit ernstem Kopfschütteln.</p> + +<p>„Sicherlich“, antwortete der junge Lord. „Es ist das +Problem der Sklaverei, und wir versuchen es derart zu +lösen, daß wir die Sklaven amüsieren.“</p> + +<p>Der Politiker sah ihn mit einem forschenden Blicke an. +„Welche Änderung schlagen Sie also vor?“</p> + +<p>Lord Henry lachte. „Ich habe gar nicht das Verlangen, +in England etwas zu ändern außer dem Wetter“, +entgegnete er. „Ich begnüge mich mit philosophischer +Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch +übermäßigen Verbrauch von Sympathie Bankrott geworden +ist, möchte ich vorschlagen, daß man sich an die +Wissenschaft hält, damit diese uns wieder aufrichtet. Der +Vorteil der Gefühle liegt darin, daß sie uns in die Irre +führen, und der Vorteil der Wissenschaft darin, daß sie +sich mit Gefühlen nicht abgibt.“</p> + +<p>„Aber auf uns liegen so ernste Verantwortlichkeiten“, +warf Frau Vandeleur schüchtern ein.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_67" title="67"> </a></p> + +<p>„Entsetzlich schwere“, stimmte Lady Agatha ein.</p> + +<p>Lord Henry sah zu Herrn Erskine hinüber. „Die Menschheit +nimmt sich selber zu ernst. Das ist die Todsünde +der Welt. Wenn die Höhlenmenschen schon hätten lachen +können, hätte die Weltgeschichte andere Wege eingeschlagen.“</p> + +<p>„Ihre Worte klingen sehr tröstlich“, trillerte die Herzogin. +„Ich habe immer eine Art Schuldgefühl gehabt, wenn +ich Ihre liebe Tante besuchte, denn ich nehme nicht das +geringste Interesse an East-End. In Zukunft werde ich +ihr ohne zu erröten ins Gesicht sehen können.“</p> + +<p>„Erröten ist ein vorzügliches Schönheitsmittel“, bemerkte +Lord Henry.</p> + +<p>„Nur wenn man jung ist“, antwortete sie. „Wenn eine +alte Frau wie ich errötet, ist es ein sehr schlechtes +Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wünschte, Sie könnten mir +sagen, wie man wieder jung wird!“</p> + +<p>Er dachte einen Augenblick nach. „Können Sie sich +an irgendeinen großen Fehler erinnern, den Sie in der +Jugend begangen haben?“ fragte er dann, sie fest über +den Tisch hin ansehend.</p> + +<p>„An eine ganze Menge, fürchte ich!“ rief sie aus.</p> + +<p>„Dann begehen Sie sie wieder“, entgegnete er ernst. +„Um seine Jugend zurückzubekommen, braucht man nur +seine Torheiten zu wiederholen.“</p> + +<p>„Eine allerliebste Theorie!“ rief sie. „Ich muß sie mal +in die Praxis umsetzen.“</p> + +<p>„Eine gefährliche Theorie“, sagte Sir Thomas, seine +dünnen Lippen zusammenkneifend. Lady Agatha schüttelte<a class="pagenum" name="Page_68" title="68"> </a> +den Kopf, aber sie amüsierte sich doch. Herr Erskine +lauschte.</p> + +<p>„Ja,“ fuhr Henry fort, „das ist eines der großen +Lebensgeheimnisse. Heutzutage sterben die meisten Leute +an einer Art von schleichender Verständigkeit, und erst, +wenn es zu spät ist, kommen sie dahinter, daß die einzigen +Dinge, die man niemals bereut, die Torheiten sind.“</p> + +<p>Nun lachte der ganze Tisch.</p> + +<p>Er spielte jetzt mit diesem Einfall nach Willkür; warf +ihn in die Luft und änderte ihn um: ließ ihn entwischen +und haschte ihn wieder auf: ließ ihn phantastisch glitzern +und gab ihm Paradoxe als Flügel. Als er fortfuhr, rundete +sich dieser Ruhm der Narretei in ein philosophisches +System und die Philosophie selbst wurde dabei jung und +tanzte, begleitet von der tollen Musik der Lust, in ihrem +von Wein befleckten Gewande und mit Efeu bekränzten +Locken, wie eine Bacchantin über die Hügel des Lebens +und neckte den plumpen Silen, weil er nüchtern blieb. Die +Tatsachen flüchteten vor ihr wie das erschreckte Getier +des Waldes. Ihre weißen Füße stampften in der ungefügen +Kelter, an der der weise Omar sitzt, bis der schäumende +Traubensaft in purpurblasigen Wellen an ihren nackten +Gliedern aufspritzte oder in rotem Gischt über die dunkeln, +triefenden, gewölbten Seiten der Kufe herabrann. Es war +eine ganz brillante Improvision. Er empfand, daß die +Augen Dorian Grays auf ihn gerichtet waren, und das +Bewußtsein, daß es unter seinen Zuhörern einen gab, +dessen Temperament er zu bezaubern wünschte, gab seinem +Witz Würzigkeit und seiner Phantasie Farbe. Er<a class="pagenum" name="Page_69" title="69"> </a> +war geistreich, phantasievoll, unwiderstehlich. Er begeisterte +seine Zuhörer dahin, aus sich heraus zu gehen, +und lachend folgten sie seiner Rattenfängerpfeife. Dorian +Gray verwandte seinen Blick nicht von ihm, sondern saß +wie unter einem Zauberbanne da, während ein Lächeln +nach dem andern auf seine Lippen trat und sich das Staunen +in seinen dunklen Augen immer mehr vertiefte.</p> + +<p>Endlich betrat die Wirklichkeit im Kleide des Alltags das +Zimmer, und zwar in Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin +meldete, daß ihr Wagen warte. Sie rang ihre Hände +in geschauspielerter Verzweiflung. „Wie schade!“ rief sie +aus. „Ich muß fort. Muß meinen Mann im Klub abholen +und mit ihm zu irgendeiner albernen Sitzung bei Willis +fahren, wo er präsidiert. Wenn ich zu spät komme, ist er +sicher ärgerlich, und in dem Hut, den ich aufhabe, könnte +ich eine Szene nicht vertragen. Er ist viel zu gebrechlich +dazu. Ein rauhes Wort und er wäre ruiniert. Nein, +liebe Agatha, ich muß fort. Adieu, Lord Henry! Sie sind +ein ganz entzückender Mensch und fürchterlich unmoralisch. +Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich zu Ihren Ansichten +sagen soll. Sie müssen mal bei uns zu Abend essen. Dienstag? +Sind Sie Dienstag frei?“</p> + +<p>„Für Sie würde ich jede andere Verabredung im +Stich lassen, Frau Herzogin“, sagte Lord Henry, sich verbeugend.</p> + +<p>„Ah! Das ist sehr nett und sehr abscheulich von Ihnen“, +rief sie; „vergessen Sie also nicht zu kommen“, und sie +rauschte aus dem Zimmer, von Lady Agatha und den +anderen Damen begleitet.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_70" title="70"> </a></p> + +<p>Als sich Lord Henry wieder gesetzt hatte, kam Herr +Erskine zu ihm, zog seinen Stuhl ganz nahe zu ihm hin +und legte die Hand auf seinen Arm.</p> + +<p>„Sie reden wie ein Buch“, sagte er; „warum schreiben +Sie keins?“</p> + +<p>„Ich lese Bücher viel zu gerne, als daß ich Lust hätte, +eins zu schreiben, Herr Erskine. Gewiß möchte ich manchmal +einen Roman schreiben, der so entzückend und ebenso +unwirklich sein müßte wie ein persischer Teppich. Aber +in England gibt es ja kein literarisches Publikum außer +für Zeitungen, Katechismen und Konversationslexika. Von +allen Völkern des Erdballs haben die Engländer den +am wenigsten entwickelten Sinn für die Schönheit der +Literatur.“</p> + +<p>„Ich fürchte, Sie haben recht“, antwortete Herr Erskine. +„Ich selbst habe einstmals literarischen Ehrgeiz gehabt, aber +ich habe ihn längst abgelegt. Und nun, mein lieber junger +Freund, wenn Sie mir erlauben wollen, Sie so zu nennen, +darf ich Sie fragen, ob Sie wirklich alles im Ernst meinten, +was Sie uns bei Tisch gesagt haben?“</p> + +<p>„Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe“, antwortete +Lord Henry lächelnd. „Es war wohl sehr toll?“</p> + +<p>„Allerdings, sehr toll! Ich glaube wirklich, daß Sie ein +äußerst gefährlicher Mensch sind, und wenn unserer guten +Herzogin irgend etwas zustößt, so werden wir alle Sie in +erster Linie dafür verantwortlich machen. Aber ich würde +mit Ihnen gern einmal länger über das Leben debattieren. +Die Generation, in die ich hineingeboren wurde, war sehr +langweilig. Wenn Sie mal londonmüde sind, kommen Sie<a class="pagenum" name="Page_71" title="71"> </a> +doch nach Treadley und setzen Sie mir da Ihre Philosophie +des Genusses auseinander bei einem ganz köstlichen +Burgunder, den zu besitzen ich so glücklich bin.“</p> + +<p>„Das wird mir ein großes Vergnügen sein. Ein Besuch +in Treadley ist ein großer Vorzug. Es hat einen vollkommenen +Wirt und eine vollkommene Bibliothek.“</p> + +<p>„Die mit Ihnen vollständig werden wird“, antwortete +der alte Herr mit einer höflichen Verbeugung. „Und jetzt +muß ich Ihrer trefflichen Tante adieu sagen. Ich muß +ins Athenäum. Es ist die Stunde, wo wir dort schlafen.“</p> + +<p>„Sie alle, Herr Erskine?“</p> + +<p>„Vierzig von uns in vierzig Klubsesseln. Wir üben uns +für eine Akademie anglaise.“</p> + +<p>Lord Henry lachte und stand auf. „Ich gehe in den +Park!“ rief er aus.</p> + +<p>Als er durch den Türrahmen schritt, berührte ihn Dorian +Gray am Arm. „Erlauben Sie mir, mitzukommen“, flüsterte +er.</p> + +<p>„Aber ich dachte, Sie haben Basil Hallward versprochen, +ihn zu besuchen“, wandte Lord Henry ein.</p> + +<p>„Ich möchte lieber mit Ihnen gehen; ja ich fühle, ich +muß mit Ihnen mitkommen. Bitte, erlauben Sie es. Und +versprechen Sie mir, die ganze Zeit zu erzählen? Niemand +spricht so entzückend wie Sie.“</p> + +<p>„Ah! Ich habe für heute gerade genug geredet“, sagte +Lord Henry und lächelte. „Alles, was ich jetzt möchte, ist, +das Leben zu beschauen. Sie können mitkommen und mitanschauen, +wenn Sie wollen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_72" title="72"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Viertes_Kapitel" id="Viertes_Kapitel"></a>Viertes Kapitel</h2> + + +<p>Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian +Gray zurückgelehnt in einem schwellenden Sessel der kleinen +Bibliothek in Lord Henrys Hause in Mayfair. Es war in +seiner Art ein allerliebster Raum, bis hoch hinauf mit +olivenfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen +Deckenfries und mit Stuckverzierungen und mit einem +ziegelfarbigen Filzteppich, der in langen Seidenfransen +auslief. Auf einem niedlichen Tischchen aus Satinholz +stand eine Figur von Clodion, und daneben lag eine Ausgabe +der Cent Nouvelles, die für Margarete von Valois +von Clovis Eve eingebunden und mit goldenen Gänseblümchen +verziert war, wie sie die Königin auf ihr Wappenzeichen +gewählt hatte. Auf dem Kaminsims standen ein +paar große blaue Porzellanvasen mit Papageientulpen, +und durch die schmalen, bleigerahmten Rautenfelder der +Fenster drang das aprikosenfarbene Licht eines Londoner +Sommertages.</p> + +<p>Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er +kam grundsätzlich zu spät, da sein Grundsatz war, Pünktlichkeit +stehle einem die Zeit. Daher sah der junge Mann +etwas gelangweilt aus, als er mit lässigen Fingern die +Seiten einer reichillustrierten Ausgabe von Manon Lescaut +durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden +hatte. Das abgemessene gleichförmige Ticktack der Louis-Quatorze-Uhr +machte ihn nervös. Ein- oder zweimal +machte er schon Miene, wegzugehen.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_73" title="73"> </a></p> + +<p>Endlich hörte er draußen einen Schritt und die Tür +öffnete sich. „Wie spät du kommst, Harry!“ sagte er leisen +Vorwurfs.</p> + +<p>„Zu meinem Bedauern ist es nicht Harry, Herr Gray“, +antwortete eine schrille Stimme.</p> + +<p>Er sah sich rasch um und sprang auf die Füße.</p> + +<p>„Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte —“</p> + +<p>„Sie glaubten, es sei mein Mann. Es ist nur seine +Frau. Ich muß mich schon selbst vorstellen. Ich kenne Sie +aus Ihren Photographien ganz gut. Ich glaube, mein +Mann hat ihrer siebzehn.“</p> + +<p>„Nicht siebzehn, Lady Henry.“</p> + +<p>„Schön, also achtzehn. Und dann habe ich Sie gestern +abend mit ihm in der Oper gesehen.“ Während sie sprach, +lachte sie nervös und beobachtete ihn mit ihren verschwommenen +Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine absonderliche +Frau, deren Kleider immer so aussahen, als wären +sie in einem Wutanfall gezeichnet und während eines +Gewitters angezogen worden. Sie war gewöhnlich in +irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft nie erwidert +wurde, hatte sie sich alle ihre Illusionen bewahrt. +Sie machte den Versuch, malerisch zu erscheinen, aber es +gelang ihr nur, unordentlich auszusehen. Sie hieß Viktoria +und hatte eine krankhafte Leidenschaft, in die Kirche zu +laufen.</p> + +<p>„Das war im Lohengrin, Lady Henry, nicht wahr?“</p> + +<p>„Ja, es war bei dem entzückenden Lohengrin. Ich liebe +Wagners Musik mehr als die irgendeines anderen. Sie ist +so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne<a class="pagenum" name="Page_74" title="74"> </a> +daß die Nachbarn hören, was man sagt. Das ist ein +dankenswerter Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Herr Gray?“</p> + +<p>Über ihre dünnen Lippen kam wieder das nervöse Stakkatolachen, +und ihre Finger begannen mit einem langen +Papiermesser aus Schildkrot zu spielen.</p> + +<p>Dorian schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bedaure, +Lady Henry, das ist nicht meine Meinung. Ich unterhalte +mich nie, während man spielt — wenigstens nicht, wenn es +gute Musik ist. Wenn man schlechte Musik hört, ist man +freilich verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu ertränken.“</p> + +<p>„Ah, das ist eine von Harrys Sentenzen, nicht wahr, +Herr Gray? Ich bekomme Harrys Ansichten immer von +seinen Freunden zu hören. Das ist die einzige Art, wie ich +sie überhaupt erfahre. Aber Sie dürfen nicht glauben, daß +ich nicht auch gute Musik liebe. Ich vergöttere sie, aber ich +fürchte mich vor ihr. Sie macht mich zu romantisch. Ich +habe Klavierspieler geradezu angebetet — manchmal zwei +auf einmal, versichert Harry. Ich weiß nicht, was es für +eine Bewandtnis mit ihnen hat. Vielleicht rührt es daher, +daß sie Ausländer sind. Das sind sie doch alle, nicht +wahr? Selbst die in England Geborenen werden nach +einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Es ist sehr gescheit +von ihnen und für die Kunst sehr vorteilhaft. Das macht +sie zu Kosmopoliten, nicht wahr? Sie waren nie auf einer +meiner Gesellschaften, Herr Gray. Sie müssen einmal +kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber +ich scheue in der Anschaffung von Ausländern keine Ausgabe. +Sie geben dem Hause ein so pittoreskes Aussehen. +Aber da ist Harry. — Harry, ich kam her, um<a class="pagenum" name="Page_75" title="75"> </a> +dich zu suchen, um dich etwas zu fragen — ich habe ganz +vergessen, was — und ich habe Herrn Gray hier getroffen. +Wir haben so entzückend über Musik gesprochen. Unsere +Ansichten darüber sind die gleichen. Nein, ich glaube, unsere +Ansichten darüber sind ganz verschieden. Aber er ist ganz +allerliebst gewesen. Ich freue mich so sehr, ihn einmal gesehen +zu haben.“</p> + +<p>„Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend“, sagte +Lord Henry, seine dunkeln geschwungenen Brauen hebend +und beide mit vergnügtem Lächeln ansehend. „Es tut mir +so leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich war in +Wardour Street, um mir einen alten Brokat anzusehen, +und mußte stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen +die Leute den Preis von jeder Sache und den Wert von +keiner.“</p> + +<p>„Ich muß leider gehen!“ rief Lady Henry aus und +unterbrach ein verlegenes Schweigen mit ihrem jähen, +grundlosen Lachen. „Ich habe versprochen, mit der Herzogin +auszufahren. Adieu, Herr Gray. Adieu, Harry. +Du speist wohl nicht zu Hause, wie? Ich auch nicht, vielleicht +sehe ich dich bei Lady Thornbury.“</p> + +<p>„Höchstwahrscheinlich, meine Liebe“, sagte Lord Henry +und schloß die Tür hinter ihr, als sie gleich einem Paradiesvogel, +der die ganze Nacht dem Regen ausgesetzt gewesen +war, aus dem Zimmer hinausflatterte, einen feinen +Jasmingeruch hinterlassend. Harry zündete sich eine Zigarette +an und warf sich auf das Sofa. „Heirate nie eine +Frau mit strohgelbem Haar, Dorian“, sagte er nach einigen +Zügen.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_76" title="76"> </a></p> + +<p>„Warum nicht, Harry?“</p> + +<p>„Weil sie so sentimental sind.“</p> + +<p>„Aber ich habe sentimentale Menschen gern.“</p> + +<p>„Heirate überhaupt nie, Dorian! Männer heiraten, weil +sie müde sind; Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden +enttäuscht.“</p> + +<p>„Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Harry. Dazu +bin ich zu verliebt. Das ist einer deiner Aphorismen. Ich +setze ihn in die Wirklichkeit um, wie alles, was du sagst.“</p> + +<p>„In wen bist du verliebt?“ fragte Lord Harry nach +einer Pause.</p> + +<p>„In eine Schauspielerin“, sagte Dorian Gray errötend.</p> + +<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Ein recht landläufiger +Anfang.“</p> + +<p>„Das würdest du nicht sagen, wenn du sie kenntest.“</p> + +<p>„Wer ist's denn?“</p> + +<p>„Sie heißt Sibyl Vane.“</p> + +<p>„Nie von ihr gehört.“</p> + +<p>„Das hat niemand. Aber später einmal wird man von +ihr hören. Sie ist ein Genie.“</p> + +<p>„Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie +wäre. Die Frauen sind ein dekoratives Geschlecht. Sie +haben niemals etwas zu sagen, aber sie sagen es entzückend. +Die Frauen bedeuten den Triumph der Materie über den +Geist, wie die Männer den Triumph des Geistes über die +Sittlichkeit.“</p> + +<p>„Harry, wie kannst du?“</p> + +<p>„Mein lieber Dorian, es ist aber wahr. Ich beschäftige +mich gerade mit der Analyse der Frauen, daher muß ich<a class="pagenum" name="Page_77" title="77"> </a> +das wissen. Das Thema ist nicht so verwickelt, wie ich +glaubte. Ich finde, daß es schließlich nur zwei Arten von +Frauen gibt, die einfachen und die geschminkten. Die einfachen +Frauen sind sehr nützlich. Wenn du als ehrbarer +Mensch gelten willst, mußt du nur eine von ihnen zu Tisch +führen. Die andern Frauen sind zum Entzücken. Aber sie +begehen einen Fehler. Sie schminken sich, um jung auszusehen. +Unsere Großmütter schminkten sich, um geistreich +zu plaudern. Rouge und Esprit gingen Hand in Hand. +Das ist jetzt alles vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre +jünger aussehen kann als ihre Tochter, ist sie gänzlich +zufrieden. Was die Konversation betrifft, so gibt es in +ganz London höchstens fünf Frauen, mit denen sich's zu +reden lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft +nicht möglich. Aber genug, erzähl' mir was von +deinem Genie! Wie lange kennst du sie?“</p> + +<p>„Ach, Harry, deine Ansichten erschrecken mich!“</p> + +<p>„Mach' dir darum keine Kopfschmerzen. Wie lange kennst +du sie also?“</p> + +<p>„Ungefähr drei Wochen.“</p> + +<p>„Und wo hast du die Entdeckung gemacht?“</p> + +<p>„Ich will dir's erzählen, Harry, aber du mußt nicht +häßlich darüber reden. Übrigens wär's gar nicht dazu +gekommen, wenn ich dich nicht kennengelernt hätte. Du hast +mich mit einer wilden Begierde, alles im Leben kennenzulernen, +angefüllt. Noch viele Tage, nachdem ich dich +zuerst gesehen hatte, schien in meinen Adern etwas zu rumoren. +Wenn ich im Park spazierte oder Piccadilly +hinunterschlenderte, schaute ich jeden an, der mir entgegenkam,<a class="pagenum" name="Page_78" title="78"> </a> +und wollte mit einer tollen Neugierde herauskriegen, +was für eine Art Leben die Leute alle führten. +Einige von ihnen fesselten mich. Andere erfüllten mich +mit Schauder. Es schwamm ein verführerisches Gift in der +Luft. Mich hatte eine Leidenschaft nach Erlebnissen gepackt... Eines Abends also gegen sieben beschloß ich, mich +auf die Suche nach einem Abenteuer zu begeben. Ich hatte +solch Gefühl, daß unser graues, riesenhaftes London mit +seinen vielen Hunderttausenden schmutzigen Sündern und +seinen schillernden Sünden, wie du dich mal ausdrücktest, +irgend etwas für mich in Bereitschaft halten müsse. Ich +erfand mir tausenderlei Dinge. Schon die bloße Gefahr +schenkte mir einen gewissen Genuß. Ich erinnerte mich an +das, was du mir sagtest an dem wunderbaren Abend, als +wir das erstemal zusammen speisten: daß nämlich das +Suchen nach Schönheit das eigentliche Geheimnis des +Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich +ging drauflos und wanderte nach dem Osten, wo ich +meinen Weg bald in einem Wirrwarr von rußigen Straßen +und schwarzen, graslosen Plätzen verlor. Gegen halb acht +kam ich an einem kleinen, schnurrigen Theater mit großen, +flackernden Gasflammen und grellen Plakaten vorbei. Ein +widerlicher Jude, in dem erstaunlichsten Rock, den ich +mein Lebtag gesehen habe, stand an der Tür und paffte +eine stänkrige Zigarre. Er hatte fettige Peies, und ein +riesiger Brillant glitzerte auf seiner schmutzigen Hemdenbrust. +‚Eine Loge, Herr Baron?‛ fragte er mich und nahm +seinen Hut mit grandioser Unterwürfigkeit ab. Er hatte +etwas an sich, Harry, was mich belustigte. Er war das<a class="pagenum" name="Page_79" title="79"> </a> +reine Monstrum. Du wirst mich auslachen, ich weiß schon, +aber ich trat wirklich ein und erlegte ein Zwanzigmarkstück +für die Proszeniumsloge. Ich kann mir noch heute +nicht erklären, warum ich das tat; und doch — wenn ich's +nicht getan hätte — bester Harry, ich wäre um das größte +Ereignis meines Lebens gekommen. Ja, lach du nur. Es +ist häßlich von dir.“</p> + +<p>„Ich lache nicht, Dorian, wenigstens nicht über dich. +Aber du solltest es nicht das größte Ereignis deines Lebens +nennen. Sage lieber, das erste Ereignis deines Lebens. Du +wirst immer geliebt werden, und du wirst in die Liebe +immer verliebt sein. Die grande Passion ist das Vorrecht +aller Leute, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige +Nutzen, den die Tagediebe eines Landes bringen. Habe +keine Angst! Himmlische Dinge warten noch deiner. Das +ist der bloße Anfang.“</p> + +<p>„Hältst du meine Natur für so oberflächlich?“ rief +Dorian Gray gekränkt.</p> + +<p>„Nein, ich halte sie für so tief.“</p> + +<p>„Wie meinst du das?“</p> + +<p>„Mein lieber Junge, die Leute, die nur einmal im +Leben lieben, das sind in Wirklichkeit die Oberflächlichen. +Was sie Anstand und Treue nennen, nenne ich entweder +die Trägheit der Gewohnheit oder Mangel an Einbildungskraft. +Treue ist im Gefühlsleben dasselbe, was +Konsequenz im Geistesleben ist, nichts als das Zugeständnis +von Schwäche. Treue! Ich muß ihren Begriff später +mal analysieren. Freude am Besitz liegt darin. Welche +Menge von Dingen würden wir wegwerfen, wenn wir nicht<a class="pagenum" name="Page_80" title="80"> </a> +fürchten müßten, andere könnten sie auflesen. Aber ich +möchte dich nicht unterbrechen. Erzähle weiter.“</p> + +<p>„Ich saß also in einer schauderhaften kleinen Loge, und +ein ordinärer Vorhang starrte mir gerade ins Gesicht. Ich +schaute hinter der Gardine vor und sah mich im Hause um. +Es war ein schäbig-elegantes Ding, gestopft voll mit Amoretten +und Füllhörnern, wie auf einem Hochzeitskuchen +billigster Sorte. Galerie und Stehparterre waren leidlich +voll, aber die zwei Reihen schmieriger Fauteuils vorne +waren ganz leer und auf dem Platze, den sie vermutlich +ersten Rang titulierten, saß kaum ein Mensch. Weiber +gingen mit Orangen und Ingwerbier herum, und eine unglaubliche +Masse von Nüssen wurde verknackt.“</p> + +<p>„Es muß ganz wie in der Glanzzeit des britischen +Dramas gewesen <ins title="sein.">sein.“</ins></p> + +<p>„Ganz so, vermute ich, und sehr niederdrückend. Ich +begann, zu überlegen, was um Himmels willen ich da +anfangen sollte, als mein Blick auf den Theaterzettel fiel. +Was glaubst du, was sie spielten, Harry?“</p> + +<p>„Ich vermute, der ‚kleine Kretin‛ oder ‚Blödsinnig, aber +unschuldig‛. Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube +ich. Je länger ich lebe, Dorian, je stärker fühle ich, daß +alles, was für unsere Väter gut genug war, für uns noch +lange nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der Politik +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">les grandpères ont toujours tort</span>.“</p> + +<p>„Das Stück war gut genug für uns, Harry. Es war +‚<ins title="Romea">Romeo</ins> und Julia‛. Ich muß zugeben, daß mich der Gedanke, +Shakespeare in einer so elenden Spelunke zu sehen, +ärgerte. Und doch interessierte es mich irgendwie. Jedenfalls<a class="pagenum" name="Page_81" title="81"> </a> +entschloß ich mich, den ersten Akt abzuwarten. Es +spielte da ein schauderöses Orchester, das ein junger Hebräer +dirigierte, der an einem schnarrenden Klavier saß, +mich beinah zum Davonlaufen brachte; aber schließlich +ging doch der Vorhang in die Höhe und das Stück fing +an. Romeo war ein hahnebüchener älterer Herr mit dick gemalten +Brauen, einer versoffenen Tragödenstimme und +einer Falstaffgestalt wie eine Biertonne. Mercutio war +fast ebenso arg. Er wurde vom Komiker gespielt, der +Mätzchen eigener Improvisation einstreute und in der verwandtschaftlichsten +Beziehung zur Galerie stand. Sie waren +beide genau so grotesk wie die Szenerie, und die sah aus, +als käme sie vom Jahrmarktsrummel. Aber Julia! Harry, +stell dir ein Mädchen vor, kaum siebzehn Jahre alt, mit +einem blumenhaften Gesichtchen, einem schmalen griechischen +Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen, wie +veilchenblaue Brunnen heißer Leidenschaft, mit Lippen +wie Rosenblätter. Das entzückendste Geschöpf, das ich je +im Leben gesehen habe. Du sagtest mal zu mir, Pathos +ergreife dich nicht, aber Schönheit, keusche Schönheit an +sich, könnte deine Augen wohl mit Tränen füllen. Ich +sage dir, Harry, ich konnte dieses Mädchen kaum sehen, +von dem Tränenflor über meinen Augen. Und ihre +Stimme — ich habe so eine Stimme nie gehört. Zuerst sehr +leise in tiefen, vollen Molltönen, die langsam und jeder +für sich allein ins Ohr zu träufeln schienen. Dann etwas +lauter und erklingend wie eine Flöte oder eine ferne +Hoboe. In der Gartenszene hatte sie jene zitternde Inbrunst, +die man hört, wenn die Nachtigallen singen vor<a class="pagenum" name="Page_82" title="82"> </a> +Tag und Tau. Es gab dann Augenblicke, wo ihre Stimme +die verhaltene Leidenschaftsglut von Geigentönen hatte. +Du weißt, wie eine Stimme einen erschüttern kann. Deine +Stimme und die Stimme von Sibyl Vane, die beiden +werde ich nie vergessen. Wenn ich meine Augen schließe, +höre ich sie, und jede von ihnen sagt etwas anderes. Ich +weiß nicht, welcher ich folgen soll. Warum sollte ich sie +nicht lieben? Harry, ich liebe sie. Sie ist alles in meinem +Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie spielen zu +sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten +Imogen. Ich habe sie im Düster eines italienischen Grabgewölbes +sterben sehen, wie sie das Gift von den Lippen +des Geliebten trinkt. Ich bin ihrer Wanderung durch die +Ardennen gefolgt, wie sie als hübscher Knabe mit Hose, +Wams und einem kleinen Barett verkleidet war. Sie war +wahnsinnig und ist vor einen schuldbewußten König hingetreten +und ließ ihn Rauten tragen und bittere Kräuter +kosten. Sie war unschuldig, und die schwarzen Hände der +Eifersucht haben ihren zarten Hals zusammengepreßt. Ich +habe sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht gesehen. +Gewöhnliche Frauen sagen unserer Phantasie nichts. +Sie sind in ihre Zeit hineingebannt. Kein Zauber kann +sie umwandeln. Man kennt ihren Geist ebenso schnell +wie ihre Güte. Man kennt sie immer heraus. Es gibt +kein Geheimnis in ihnen. Sie reiten morgens in den +Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie haben +ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Modemanieren. +Aber eine Schauspielerin! Wie anders solche Schauspielerin! +Harry! Warum hast du mir nicht gesagt,<a class="pagenum" name="Page_83" title="83"> </a> +daß nichts geliebt zu werden verdient als eine Schauspielerin?“</p> + +<p>„Weil ich so viele von ihnen geliebt habe, Dorian.“</p> + +<p>„Oh, gewiß, gräßliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren +und geschminkten Gesichtern.“</p> + +<p>„Schmähe nicht gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter. +Es liegt zuweilen ein ganz besonderer Reiz darin“, +sagte Lord Henry.</p> + +<p>„Ich wollte, ich hätte dir nie etwas von Sibyl Vane +gesagt.“</p> + +<p>„Du hättest gar nicht anders können, Dorian. Dein +ganzes Leben lang wirst du mir alles sagen, was du tust.“</p> + +<p>„Ja, Harry, ich glaube, es ist so. Ich bin geradezu gezwungen, +dir alles zu sagen. Du hast eine seltsame Macht +über mich. Wenn ich je ein Verbrechen beginge, käme ich +gleich zu dir und beichtete es dir. Du würdest mich verstehen.“</p> + +<p>„Menschen wie du — die kühnen Sonnenstrahlen des +Lebens — begehen keine Verbrechen, Dorian. Aber ich +danke dir trotzdem für dein Kompliment. Und nun sag' +mir — bitte gib mir mal die Streichhölzer herüber; danke +— wie sind deine wirklichen Beziehungen zu Sibyl Vane?“</p> + +<p>Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und blitzenden +Augen auf. „Harry! Sibyl Vane ist mir heilig.“</p> + +<p>„Nur heilige Dinge sind wert, sie anzurühren, Dorian“, +sagte Lord Henry mit einem merkwürdigen pathetischen +Ton in seiner Stimme. „Aber warum fühlst du dich verletzt? +Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören. +Wenn man verliebt ist, fängt man immer damit an, sich<a class="pagenum" name="Page_84" title="84"> </a> +selbst zu betrügen, und hört immer damit auf, andere zu +betrügen. Das nennt die Welt eine Liebesgeschichte. Auf +jeden Fall denke ich, du kennst sie?“</p> + +<p>„Natürlich kenne ich sie. Schon am ersten Abend im +Theater kam der gräßliche alte Jude nach der Vorstellung +in meine Loge und bot mir an, mich hinter die Kulissen zu +führen und ihr vorzustellen. Ich war wütend und sagte +ihm, daß Julia seit Hunderten von Jahren tot sei und daß +ihr Körper in einem Marmorgrabe zu Verona liege. Nach +dem bestürzten Ausdruck in seinem Gesicht vermute ich, +daß er glaubte, ich hätte zuviel Champagner oder Ähnliches +getrunken.“</p> + +<p>„Kein Wunder!“</p> + +<p>„Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung +schreibe. Ich sagte ihm, daß ich nicht mal eine lese. Das +schien ihn furchtbar zu enttäuschen, und er vertraute mir +an, alle Theaterkritiker hätten sich gegen ihn verschworen +und jeder einzelne von ihnen wäre käuflich.“</p> + +<p>„Es sollte mich nicht wundern, wenn er ganz recht hätte. +Andererseits aber, nach ihrem Aussehen zu schließen, können +sie meistens gar nicht teuer sein.“</p> + +<p>„Einerlei, sie schienen über seine Mittel zu gehen“, sagte +Dorian lachend. „Inzwischen aber wurden die Lichter im +Theater ausgedreht und ich mußte fort. Er bat mich noch, +einige Zigarren zu probieren, die er mir sehr warm +empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend ging ich natürlich +wieder hin. Als er mich sah, machte er eine tiefe Verbeugung +und versicherte mir, ich sei ein edelmütiger Kunstmäzen. +Er ist eine höchst abstoßende Kreatur, obwohl er<a class="pagenum" name="Page_85" title="85"> </a> +eine außerordentliche Leidenschaft für Shakespeare hegt. +Er erzählte mir mal mit einem Anflug von Stolz, seine +fünf Bankrotte verdanke er nur dem ‚Barden‛; so nannte +er nämlich hartnäckig Shakespeare. Er schien das für ein +Verdienst zu halten.“</p> + +<p>„Es ist ein Verdienst, lieber Dorian — ein großes +Verdienst. Die meisten Leute werden bankrott, weil sie +zuviel in der Prosa des Lebens angelegt haben. Sich mit +Poesie ruiniert zu haben, ist eine ehrenvolle Auszeichnung. +Aber wann hast du Fräulein Sibyl Vane zum erstenmal +<ins title="gesprochen?">gesprochen?“</ins></p> + +<p>„Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt. +Ich mußte hinter die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein +paar Blumen zugeworfen, und sie hatte zu mir hingesehen, +wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war +beharrlich. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu +nehmen, und so gab ich nach. Es war sonderbar, daß ich +sie nicht kennenlernen wollte, nicht wahr?“</p> + +<p>„Nein, ich glaube nicht.“</p> + +<p>„Warum, lieber Harry?“</p> + +<p>„Ich erkläre dir das ein andermal. Jetzt möchte ich +gern von dem Mädchen hören.“</p> + +<p>„Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und lieb. Sie ist +noch fast wie ein Kind. Ihre Augen öffneten sich in einem +allerliebsten Staunen, als ich ihr sagte, was ich über ihr +Spiel dachte, und sie schien sich ihres eigenen Könnens +gar nicht bewußt zu sein. Ich glaube, wir waren beide +recht nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür der +staubigen Garderobe und hielt theatralische Reden über<a class="pagenum" name="Page_86" title="86"> </a> +uns beide, während wir uns wie Kinder anstarrten. Er +bestand darauf, mich ‚Herr Baron‛ zu nennen, so daß ich +Sibyl versichern mußte, ich sei nichts der Art. Sie sagte in +ganz schlichter Weise zu mir: ‚Sie sehen mehr wie ein +Prinz aus. Ich will Sie Prinz Märchenschön nennen‛.“</p> + +<p>„Mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht es, +Schmeicheleien zu sagen.“</p> + +<p>„Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur +wie eine Figur in einem Theaterstück. Sie weiß gar nichts +vom Leben. Sie wohnt bei ihrer Mutter, einer verblühten, +ältlichen Frau, die am ersten Abend in einer Art +türkisch-rotem Schlafrock die Lady Capulet spielte und den +Eindruck machte, als hätte sie bessere Tage gesehen.“</p> + +<p>„Ich kenne diese Art, auszusehen. Sie stimmt mich unbehaglich“, +sagte Lord Henry mit verhaltener Stimme und +betrachtete seine Ringe.</p> + +<p>„Der Jude wollte mir ihre Lebensgeschichte erzählen, +aber ich bemerkte, sie interessiere mich nicht.“</p> + +<p>„Da hattest du recht. Die Tragödien anderer Leute +haben immer etwas unglaublich Gewöhnliches an sich.“</p> + +<p>„Sibyl ist das einzige, um das ich mich kümmere. Was +geht's mich an, woher sie stammt? Von ihrem kleinen +Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist sie ein himmlisches +Wesen. Jeden Abend, den ich erlebe, gehe ich hin, um sie +spielen zu sehen, und jeden Abend ist sie entzückender.“</p> + +<p>„Ich vermute darin den Grund, weshalb du jetzt nie +mehr mit mir zusammen ißt. Ich dachte mir gleich, daß dahinter +irgendeine merkwürdige Geschichte stecke. Das ist so, +aber es ist nicht ganz, was ich erwartete.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_87" title="87"> </a></p> + +<p>„Lieber Harry, wir sind jeden Tag entweder beim Frühstück +oder beim Abendessen zusammen, und ich bin mehrere +Male mit dir in der Oper gewesen“, sagte Dorian und +öffnete verwundert seine blauen Augen.</p> + +<p>„Du kommst immer furchtbar spät.“</p> + +<p>„Ja, ich muß hin und Sibyl spielen sehen, und wenn +auch nur einen Akt lang. Ich hungere nach ihrem Anblick, +und wenn ich an die himmlische Seele denke, die in diesem +zierlichen Elfenbeinkörper eingeschlossen ist, packt mich stille +Ehrfurcht.“</p> + +<p>„Kannst du heute abend mit mir essen, Dorian?“</p> + +<p>Er schüttelte den Kopf. „Heute abend ist sie Imogen,“ +antwortete er, „und morgen abend Julia.“</p> + +<p>„Wann ist sie Sibyl Vane?“</p> + +<p>„Nie!“</p> + +<p>„Da wünsche ich dir Glück.“</p> + +<p>„Wie schrecklich du bist! Sie verkörpert alle die großen +Frauengestalten der Weltgeschichte in sich. Sie ist mehr als +ein Geschöpf. Du lachst, aber ich sage dir, sie ist ein Genie. +Ich liebe sie und ich will's erreichen, daß sie mich auch liebt. +Dir sind alle Geheimnisse des Lebens bekannt, du mußt mir +sagen, wie ich Sibyl Vane so bezaubern kann, daß sie mich +liebt. Ich will Romeo eifersüchtig machen. Ich will, daß die +toten Liebhaber der Welt unser Lachen hören und sich grämen. +Ich will, daß unsere strahlende Leidenschaft ihren Staub +wieder beleben und ihre Asche zu Schmerzen auferwecken +soll. O Gott, Harry, wie bete ich sie an!“ Er ging, während +er sprach, im Zimmer auf und ab. Rote hektische Flecken +brannten auf seinen Wangen. Er war furchtbar erregt.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_88" title="88"> </a></p> + +<p>Lord Henry betrachtete ihn mit stillem Wohlbehagen. +Wie anders war er jetzt als jener verlegene, schüchterne +Knabe, den er in Basil Hallwards Atelier angetroffen +hatte! Seine Natur hatte sich entwickelt wie eine Blume +und trug Blüten von brennendrotem Scharlach. Aus ihrem +geheimen Versteck war seine Seele hervorgekrochen, und +die Wollust war ihr auf halbem Wege entgegengekommen.</p> + +<p>„Und was hast du nun vor?“ sagte Lord Henry schließlich.</p> + +<p>„Ich will, du und Basil sollt mich an einem Abend +begleiten und sie spielen sehen. Ich setze nicht die leiseste +Besorgnis in die Wirkung. Ihr werdet zugeben müssen, +daß sie Genie hat. Dann müssen wir sie dem Juden aus +den Händen winden. Sie ist noch drei Jahre — genau +zwei Jahre und acht Monate — an ihn gebunden. Natürlich +werde ich ihm etwas zahlen müssen. Wenn das alles +in Ordnung ist, suche ich mir ein Theater im Westend und +lasse sie dort erst mal richtig auftreten. Sie wird die Welt +ebenso verrückt machen wie mich.“</p> + +<p>„Das wird kaum gehen, lieber Junge.“</p> + +<p>„Ja, sie wird es; denn in ihr ist nicht nur Kunst, +vollendetster Kunstinstinkt, sondern sie hat auch Persönlichkeit; +und du selbst hast mir oft genug gesagt, daß nur +Persönlichkeiten, nicht Prinzipien die Welt beherrschen.“</p> + +<p>„Schön, wann sollen wir also hingehen?“</p> + +<p>„Laß mich mal nachdenken. Heute ist Dienstag. Wollen +wir morgen festsetzen? Morgen spielt sie die Julia.“</p> + +<p>„Abgemacht! Morgen um acht im Bristol. Ich werde +Basil mitbringen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_89" title="89"> </a></p> + +<p>„Bitte, nicht um acht Uhr, Harry. Halbsieben. Wir +müssen dort sein, ehe der Vorhang aufgeht. Du mußt sie +im ersten Akt bei der Begegnung mit Romeo sehen.“</p> + +<p>„Halbsieben Uhr! Was für eine Tageszeit! Das wäre +ja gerade so, wie ein Abendbrot am Nachmittag essen oder +einen englischen Roman lesen. Vor sieben Uhr geht's nicht. +Kein Gentleman speist vor sieben. Siehst du Basil bis +dahin? Oder soll ich ihm schreiben?“</p> + +<p>„Der liebe Basil! Ich habe mich eine ganze Woche lang +nicht um ihn gekümmert. Das ist sehr häßlich von mir, +denn er hat mir mein Porträt in einem prachtvollen Rahmen, +den er selbst entworfen hat, geschickt, und obwohl +ich ein bißchen eifersüchtig auf das Bild bin, weil es einen +ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich doch zugeben, daß +es mich ganz entzückt. Ich bitte, schreib lieber. Ich möchte +ihn nicht allein wiedersehen. Er sagt mir Dinge, die mich +verstimmen. Er gibt mir gute Lehren.“</p> + +<p>Lord Henry lächelte. „Die Menschen haben eine starke +Vorliebe, das wegzuschenken, was sie selber am nötigsten +hätten. Ich nenne das den Chimborasso Freigebigkeit.“</p> + +<p>„Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir doch +ein klein bißchen Philister zu sein. Seit ich dich kenne, +Harry, hab' ich das entdeckt.“</p> + +<p>„Basil, mein lieber Junge, tränkt seine Werke mit +allem, was an ihm entzückend ist. Die Folge ist, daß ihm +fürs Leben nichts übrigbleibt als seine Vorurteile, seine +Grundsätze und sein gesunder Menschenverstand. Alle Künstler, +die ich kennengelernt habe, und die persönlich von +Anziehungskraft sind, waren schlechte Künstler. Gute Künstler<a class="pagenum" name="Page_90" title="90"> </a> +leben nur in ihren Schöpfungen und sind daher im +Leben vollständig uninteressant. Ein großer Dichter, ein +wirklich großer Dichter ist das unpoetischste Geschöpf von +der Welt. Aber untergeordnete Dichter bezaubern immer. +Je schlechter ihre Reime sind, desto malerischer ist ihr +Aussehen. Die bloße Tatsache, eine Sammlung mittelmäßiger +Sonette veröffentlicht zu haben, macht solchen +Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die Poesie, die +er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Poesie, +die sie nicht zu leben wagen.“</p> + +<p>„Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry“, sagte +Dorian Gray, der inzwischen aus einem großen goldgefaßten +Flakon auf dem Tische etwas Parfüm auf sein +Taschentuch gegossen hatte. „Es wird wohl sein, wenn +du es sagst. Jetzt aber muß ich fort. Imogen wartet auf +mich. Vergiß nicht, morgen! Adieu!“</p> + +<p>Als er das Zimmer verlassen hatte, schloß Lord Henry +die schweren Lider und begann nachzudenken. Gewiß hatten +ihn wenige Menschen bisher so interessiert wie Dorian +Gray, und doch verursachte ihm die wahnsinnige Leidenschaft +des Jünglings für eine andere Person nicht im entferntesten +Ärger oder Eifersucht. Es freute ihn. Dorian +wurde dadurch nur noch interessanter. Die Methoden der +Naturwissenschaft hatten ihn immer entzückt, aber der +gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm kleinlich +und belanglos erschienen, und so hatte er begonnen, +sich selbst zu vivisezieren und hatte damit geendet, andere +zu vivisezieren. Das Menschenleben — das schien ihm +der einzige einer Untersuchung werte Gegenstand. Verglichen<a class="pagenum" name="Page_91" title="91"> </a> +damit war alles andere ohne jegliche Bedeutung. +Freilich, wenn man das Leben in dem seltsamen +Schmelztiegel des Schmerzes und der Lust beobachtete, +konnte man keine Glasmaske über dem Gesicht tragen, +konnte auch nicht die Schwefeldämpfe abhalten, die einem +das Gehirn verwirrten und die Phantasie mit monströsen +Ausgeburten und mißratenen Träumen umwirbelten. Es +gab so feine Gifte, daß man an ihnen erkrankt sein mußte, +um ihre Eigenheiten zu kennen. Es gab so seltsame Krankheiten, +daß man sie durchgemacht haben mußte, um +ihre Art zu begreifen. Und doch, welchen Lohn empfing +man dafür! Wie wunderbar wandelt sich einem dann +die ganze Welt! Die merkwürdig strenge Logik der Leidenschaft +und das buntgefärbte Trieb- und Gefühlsleben +des Geistes anzumerken — zu beobachten, wo sich +die beiden Linien schneiden und wo sie auseinandergehen, +in welchem Punkte sie in Eintracht leben und in welchem +sie sich wieder bekriegen — das ist ein Genuß! Was liegt +an dem Preise dafür! Man kann nie einen zu hohen Preis +für ein Sinnenerlebnis geben.</p> + +<p>Er war sich bewußt — und dieser Gedanke brachte einen +freudigen Glanz in seine achatbraunen Augen — daß sich +durch gewisse Worte, die er gesprochen hatte, musikalische +Worte in melodischem Tonfall, Dorian Grays +Seele diesem weißen Mädchen zugewendet und sich in +Verehrung vor ihr gebeugt hatte. In hohem Maße war +der Jüngling sein Geschöpf. Er hatte ihn vor der Zeit +reifen lassen. Das war schon was. Die gewöhnlichen +Menschen warten, bis ihnen das Leben seine Geheimnisse<a class="pagenum" name="Page_92" title="92"> </a> +aufschließt, aber den wenigen Auserwählten werden die +Mysterien des Daseins enthüllt, bevor der Schleier weggezogen +wird. Manchmal ist das die Wirkung der Kunst, +besonders der Dichtung, die ja unmittelbar die Leidenschaften +und den Intellekt behandelt. Ab und zu nimmt +aber eine komplizierte Persönlichkeit diesen Platz ein und +übt das Amt der Kunst aus, ist eigentlich auf ihre Weise +ein richtiges Kunstwerk, denn das Leben schafft ebenso +seine vollendeten Meisterwerke wie die Poesie oder die +Bildhauerkunst oder die Malerei.</p> + +<p>Ja, dieser Jüngling war vor der Zeit reich. Er erntete, +während er noch lenzte. Der Puls und die Leidenschaft der +Jugend wohnten in ihm, und er begann, seiner bewußt zu +werden. Es war entzückend, ihn zu beobachten. Mit seinem +schönen Angesicht und seiner schönen Seele war er ein +Stück Leben zum Anstaunen. Es lag nichts daran, wie das +alles endete, oder enden sollte. Er glich einer der graziösen +Gestalten auf einem Gobelin oder in einem Schauspiel, +deren Freuden von den unseren weit entfernt zu sein +scheinen, aber deren Schmerzen unseren Schönheitssinn +erregen und deren Wunden wie rote Rosen sind.</p> + +<p>Seele und Leib, Leib und Seele — wie geheimnisvoll +das alles ist! Animalisches ist in der Seele, und der Leib +hat seine Augenblicke geistiger Veredlung. Die Sinne können +sich läutern, und der Intellekt kann sich vergröbern. +Wer kann sagen, wo die fleischlichen Triebe endigen und die +seelischen beginnen? Wie flach sind die willkürlichen Erklärungen +der handwerksmäßigen Psychologen! Und doch, +wie schwierig ist die Entscheidung zwischen den Lehren der<a class="pagenum" name="Page_93" title="93"> </a> +einzelnen Schulen. Ist die Seele ein Schatten, der im +Hause der Sünde wohnt? Oder ist der Körper wirklich +in der Seele eingeschlossen, wie es sich Giordano Bruno +dachte? Die Trennung von Geist und Stoff ist ein Geheimnis, +und die Vereinigung von Geist und Stoff ist +abermals ein Geheimnis.</p> + +<p>Er dachte darüber nach, ob wir je die Psychologie zu +einer so exakten Wissenschaft machen können, daß uns auch +das kleinste Triebrädchen des Lebens offenbar würde. +Wie die Dinge heute liegen, begreifen wir uns selbst nie +und die anderen nur selten. Die Erfahrung hat keinerlei +ethische Bedeutung. Sie ist nur das Firmenschild, das +die Menschen ihren Irrtümern anhängen. Die Moralisten +haben sie meist als eine Art Warnung betrachtet, haben für +sie eine gewisse ethische Wirksamkeit in der Bildung der +Charaktere beansprucht, haben sie als Mittel gepriesen, +das uns darüber aufklärt, was wir tun und lassen +sollen. Aber in der Erfahrung liegt keine bewegende +Kraft. Sie ist ebensowenig eine tätige Ursache wie das +Gewissen. Alles, was sie in Wirklichkeit lehrt, ist, daß +unsere Zukunft ebenso sein wird wie unsere Vergangenheit, +und daß wir die Sünde, die wir dereinst mit Abscheu und +Widerwillen begangen haben, immer und immer wieder +und dann mit Genuß wiederholen werden.</p> + +<p>Er war sich darüber klar, daß die Versuchsmethode die +einzige sei, durch die man zu irgendeiner wissenschaftlichen +Erklärung der Leidenschaften kommen könne; und sicher +war ihm Dorian Gray ein bequemes Objekt und schien +reiche und wertvolle Erfolge zu versprechen. Seine jähe<a class="pagenum" name="Page_94" title="94"> </a> +sturmartige Liebe zu Sibyl Vane war eine psychologische +Tatsache von großem Interesse. Kein Zweifel, daß die +Neugier dabei stark im Spiele war, Neugier und Lust an +neuen Erlebnissen; doch es war keine einfache, sondern eher +eine recht komplizierte Leidenschaft. Was von dem rein +sinnlichen Triebe des Knabenalters in ihr war, das hatte +die Mitarbeit der Phantasie umgebildet, in irgendwas +verwandelt, das dem Jüngling selbst ganz fern von allem +Sinnlichen schien und gerade deshalb um so gefährlicher +war. Alle Leidenschaften, über deren Ursprung wir uns +selbst täuschen, üben die stärkste Herrschaft auf uns aus. +Unsere schwächsten Triebkräfte sind die, über deren Natur +wir klar sehen. Es kommt oft vor, daß wir im Denken +mit uns selbst Experimente anstellen und glauben, sie +mit anderen zu versuchen.</p> + +<p>Während Lord Henry noch dasaß und über diese Dinge +nachgrübelte, wurde an die Tür geklopft; ein Diener trat +ein und erinnerte ihn, daß es Zeit sei, sich für das Abendessen +umzukleiden. Er erhob sich und blickte auf die Straße +hinab. Der Sonnenuntergang hatte die oberen Fenster +der gegenüberliegenden Häuser in ein feuerrotes Gold +getaucht. Die Scheiben glühten wie erhitzte Metallplatten. +Der Himmel drüber glich einer verwelkten Rose. Es erinnerte +ihn an das junge, flammenlodernde Leben seines +Freundes, und er fragte sich, wie das alles enden würde.</p> + +<p>Als er dann gegen halb ein Uhr nachts nach Hause kam, +fand er im Vorflur auf dem Tische ein Telegramm liegen. +Er öffnete es und sah, daß es von Dorian Gray war. Es +teilte ihm mit, daß er sich mit Sibyl Vane verlobt habe.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_95" title="95"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Funftes_Kapitel" id="Funftes_Kapitel"></a>Fünftes Kapitel</h2> + + +<p>„Mutter, Mutter, ich bin so glücklich!“ flüsterte das +Mädchen und barg ihr Gesicht im Schoße der verblühten, +müde aussehenden Frau, die mit dem Rücken +gegen das grell eindringende Licht in dem einzigen Armstuhl +saß, den ihr armseliges Wohnzimmer enthielt. „Ich +bin so glücklich!“ wiederholte sie, „und du wirst auch glücklich +sein.“</p> + +<p>Frau Vane zuckte zusammen und legte ihre dünnen, +wismutweißen Hände auf den Kopf ihrer Tochter. „Glücklich!“ +echote sie, „ich bin nur glücklich, Sibyl, wenn ich dich +spielen sehe. Du darfst an nichts anderes denken als an +deine Rollen. Herr Isaacs ist sehr gut gegen uns gewesen, +und wir sind ihm Geld schuldig.“</p> + +<p>Das Mädchen sah auf und ließ die Lippen hängen. +„Geld, Mutter?“ rief sie, „was liegt an Geld? Liebe ist +mehr als Geld!“</p> + +<p>„Herr Isaacs hat uns tausend Mark Vorschuß gegeben, +damit wir unsere Schulden zahlen und für James eine +anständige Ausrüstung anschaffen können. Das darfst du +nicht vergessen, Sibyl. Tausend Mark sind ein sehr großer +Betrag. Herr Isaacs benahm sich sehr anständig.“</p> + +<p>„Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art, +wie er mit mir spricht“, sagte das Mädchen, stand auf +und trat ans Fenster.</p> + +<p>„Ich wüßte nicht, wie wir ohne ihn vorwärts kämen“, +entgegnete die alte Frau weinerlich.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_96" title="96"> </a></p> + +<p>Sibyl Vane warf den Kopf in den Nacken und lachte: +„Wir brauchen ihn nicht mehr, Mutter, der Prinz Märchenschön +bestimmt von jetzt ab über unser Leben.“ Dann +schwieg sie. Eine Blutwelle schoß in ihre Wangen und +tauchte sie in ein dunkles Rot. Der rasche Atem öffnete +ihre blühenden Lippen. Sie zitterten. Ein Südwind heißer +Leidenschaft durchbrauste sie und bewegte die glatten Falten +ihrer Gewandung. „Ich liebe ihn“, sagte sie mit einfachem +Ausdruck.</p> + +<p>„Närrisches Kind! närrisches Kind!“ waren die papageienhaften +Worte, die ihr als Antwort entgegenflogen. +Dabei machte die beschwörende Bewegung ihrer gekrümmten, +mit unechten Ringen gezierten Finger diesen Ausruf +noch komischer.</p> + +<p>Das Mädchen lachte wieder. In ihrer Stimme lag +etwas wie der Jubel eines Vogels im Käfig. Ihre Augen +fingen die Lachmelodie auf und wiederholten sie in ihrem +Glanze: dann schlossen sie sich einen Augenblick, als wollten +sie ihr Geheimnis verbergen. Als sie sich wieder öffneten, +war der Schimmer eines Traumes über sie dahingegangen.</p> + +<p>Aus dem abgenutzten Stuhl sprach die Weisheit zu ihr +mit dünnen Lippen, mahnte zur Besinnung und gab Ratschläge +aus dem Buch der Feigheit, dem sein Autor irrtümlich +den Titel „Gesunder Menschenverstand“ beigelegt +hat. Sie hörte nicht hin. Im Kerker ihrer Leidenschaft +fühlte sie sich frei. Ihr Prinz, der Prinz Märchenschön, +war bei ihr. Sie hatte das Gedächtnis beschworen, ihn +herbeizuschaffen. Sie hatte ihre Seele auf die Suche nach<a class="pagenum" name="Page_97" title="97"> </a> +ihm geschickt, und die hatte ihn wieder hergebracht. Sein +Kuß brannte wieder auf ihrem Munde. Ihre Lider brannten +wieder von seinem Atem.</p> + +<p>Dann zog die Weisheit andere Register auf und sprach +von Erkundigen und Nachforschen. Es mochte ja sein, daß +dieser junge Mann reich sei. Wenn dem so wäre, dann +müßte man ans Heiraten denken. Um die Ohrmuschel +des Mädchens plätscherten die Wellen weltlicher Schlauheit. +Die Pfeile der Weltklugheit schwirrten an ihr vorüber. +Sie sah, wie sich die dünnen Lippen bewegten, und +lächelte.</p> + +<p>Plötzlich fühlte sie das Bedürfnis, zu sprechen. Die +wortüberfüllte Schweigsamkeit verwirrte sie. „Mutter, +Mutter,“ rief sie, „warum liebt er mich so innig? Ich +weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er so ist, +wie die Liebe selbst sein muß. Aber was findet er an mir? +Ich bin seiner nicht wert. Und doch — ich weiß nicht, +warum — ich fühle mich wohl tief unter ihm, aber ich +fühle mich nicht gering. Stolz bin ich, schrecklich stolz. +Mutter, hast du meinen Vater so geliebt, wie ich den +Prinzen Märchenschön liebe?“</p> + +<p>Die alte Frau wurde bleich unter dem dicken Puder, +womit ihre Wangen beklebt waren, und ihre verwelkten +Lippen zitterten in krampfigem Schmerz. Sibyl stürzte +zu ihr hin, schlang ihr ihre Arme um den Hals und küßte +sie. „Verzeih mir, Mutter! Ich weiß, es schmerzt dich, +an unseren Vater zu denken. Aber es schmerzt dich nur, +weil du ihn so lieb gehabt hast. Sieh nicht so traurig +drein. Heute bin ich so glücklich, wie du es warst vor<a class="pagenum" name="Page_98" title="98"> </a> +zwanzig Jahren. Ach, könnte ich für immer so glücklich +sein!“</p> + +<p>„Mein Kind, du bist viel zu jung, um an eine Liebschaft +zu denken. Zudem, was weißt du von diesem jungen +Mann? Du weißt nicht mal seinen Namen. Die ganze +Sache ist höchst unpassend, und wahrhaftig, gerade jetzt, +wo sich James nach Australien rüstet, und ich an so viele +Dinge zu denken habe, da muß ich sagen, du hättest mehr +Überlegung zeigen sollen. Immerhin, wie ich schon sagte, +wenn er reich ist...“</p> + +<p>„Ach Mutter, Mutter, laß mich glücklich sein!“</p> + +<p>Frau Vane blickte sie an und schloß sie plötzlich mit +einer der unwahren theatralischen Gesten in die Arme, +wie sie den Schauspielern oft zur zweiten Natur werden. +In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein junger +Bursche mit struppigem, braunem Haar kam in die Stube. +Er war von untersetzter Gestalt, und seine Hände und +Füße waren groß und bewegten sich etwas ungelenk. Er +war nicht so gut erzogen wie seine Schwester. Man hätte +kaum die nahe Verwandtschaft erraten können, die zwischen +beiden bestand. Frau Vane richtete ihre Augen auf +ihn, und ihr Lächeln verstärkte sich. In ihrem Geiste ließ +sie ihren Sohn die Rolle des Publikums spielen. Sie war +überzeugt, daß das Tableau interessant war.</p> + +<p>„Du könntest dir wohl ein paar Küsse für mich aufheben, +Sibyl“, sagte der Bursche mit gutmütigem Knurren.</p> + +<p>„Ach, Jim, du machst dir doch gar nichts aus Küssen!“ +rief sie. „Du bist ein greulicher alter Bär!“ Und sie +hüpfte durchs Zimmer zu ihm hin und umhalste ihn.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_99" title="99"> </a></p> + +<p>James Vane sah seiner Schwester zärtlich in das Gesicht. +„Ich möchte mit dir spazieren gehen, Sibyl. Ich +glaube kaum, daß ich dies schreckliche London jemals +wiedersehe. Ich mache mir auch wirklich nicht im geringsten +was draus.“</p> + +<p>„Mein Sohn, rede doch nicht so schreckliche Dinge“, +grollte Frau Vane, während sie seufzend ein flitteriges +Theaterkostüm zur Hand nahm und es auszubessern begann. +Sie fühlte eine kleine Enttäuschung, daß er sich +der Gruppe nicht angeschlossen hatte. Es hätte die malerische +Wirkung der Szene so hübsch erhöht.</p> + +<p>„Warum nicht, Mutter? Ich meine es im Ernst.“</p> + +<p>„Du kränkst mich, mein Sohn. Ich hoffe, daß du von +Australien als ein gemachter Mann zurückkehrst. Ich vermute, +es gibt in den Kolonien sozusagen keine Gesellschaft, +wenigstens nichts, was ich Gesellschaft nenne; wenn du +also dein Glück gemacht hast, mußt du zurückkommen und +dich zur Geltung bringen in London.“</p> + +<p>„Gesellschaft“, brummelte der junge Mann. „Will davon +nichts wissen. Möchte nur soviel Geld verdienen, um +dich und Sibyl vom Theater wegzukriegen. Ich hasse es.“</p> + +<p>„O Jim,“ sagte Sibyl lachend, „wie unfreundlich von +dir! Aber, willst du wirklich mit mir spazieren gehen? Das +ist nett! Ich fürchtete schon, du wolltest dich bei deinen +Freunden verabschieden, bei Tom Hardy, der dir diese +gräßliche Pfeife geschenkt hat, oder bei Nell Langton, der +dich auslacht, weil du sie rauchst. Es ist sehr hübsch von +dir, daß du mir deinen letzten Nachmittag schenkst. Wohin +werden wir gehen? Komm, wir wollen in den Park.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_100" title="100"> </a></p> + +<p>„Dazu bin ich zu schäbig angezogen“, antwortete er +mit gerunzelter Stirn. „Nur Elegants gehen in den Park.“</p> + +<p>„Unsinn, Jim“, flüsterte sie, und streichelte seinen +Ärmel.</p> + +<p>Er zauderte einen Augenblick. „Schön denn,“ sagte er +schließlich, „mach' aber nicht zu lang mit dem Anziehen.“</p> + +<p>Sie tanzte zur Tür hinaus. Man konnte sie singen +hören, während sie die Treppe hinauflief. Ihre kleinen +Füße trippelten oben.</p> + +<p>Er ging zwei oder dreimal durch die Stube, dann +wandte er sich zu der schweigsamen Gestalt im Lehnstuhl.</p> + +<p>„Mutter, sind meine Sachen gepackt?“ fragte er.</p> + +<p>„Alles fertig, James“, antwortete sie, ohne von ihrer +Arbeit aufzuschauen. Seit einigen Monaten war es ihr +unbehaglich, wenn sie mit ihrem rauhen, finsteren Sohn +allein war. Ihre oberflächliche Natur mit ihrem unterdrückten +Geheimnis wurde beunruhigt, wenn sich ihre +Augen trafen. Sie fragte sich, ob er einen Verdacht habe. +Sein Schweigen, da er sonst keine Bemerkungen machte, +wurde ihr unerträglich. Sie fing also zu jammern an. +Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade, wie +sie dadurch angreifen, daß sie unvermutet die Waffen +strecken. „Ich hoffe, James, dein Seefahrerleben wird +dich befriedigen. Du darfst nie vergessen, daß es deine +eigene Wahl war. Du hättest in das Bureau eines Anwalts +treten können. Anwälte sind eine sehr geachtete +Menschenklasse und werden auf dem Lande oft in den +besten Familien eingeladen.“</p> + +<p>„Ich hasse Bureaus und ich hasse Schreiber“, erwiderte<a class="pagenum" name="Page_101" title="101"> </a> +er. „Aber du hast ganz recht, mein Leben habe ich mir +selbst gewählt. Alles, was ich sage, ist: Wache über Sibyl! +Laß ihr kein Unglück zustoßen. Mutter, du mußt über sie +wachen!“</p> + +<p>„James, du hast eine merkwürdige Art, zu sprechen. +Natürlich wache ich über sie.“</p> + +<p>„Ich höre, ein Herr kommt jeden Abend ins Theater +und geht hinter die Kulissen und spricht mit ihr. Ist das +wahr? Wie verhält sich's damit?“</p> + +<p>„James, du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst. +Wir in unserem Beruf sind gewöhnt, eine Menge wohltuender +Aufmerksamkeiten zu empfangen. Ich selbst habe +zu meiner Zeit viel Blumen bekommen. Damals verstand +man noch etwas vom Spielen. Was Sibyl betrifft, so +weiß ich im Augenblick nicht, ob ihre Neigung ernst ist +oder nicht. Aber darüber besteht kein Zweifel, daß der +fragliche junge Mann ein vollendeter Kavalier ist. Er ist +immer ausgesucht höflich zu mir. Auch sieht er aus, als +ob er reich wäre, und die Buketts, die er schickt, sind ganz +allerliebst.“</p> + +<p>„Aber du weißt nicht mal seinen Namen“, warf der +junge Mann barsch ein.</p> + +<p>„Nein“, antwortete die Mutter mit gelassener Miene. +„Er hat uns seinen wirklichen Namen noch nicht verraten. +Ich finde das sehr romantisch von ihm. Wahrscheinlich +ist er ein Herr von Adel.“</p> + +<p>James Vane biß sich auf die Lippen. „Wache über +Sibyl!“ schrie er. „Wache über sie!“</p> + +<p>„Mein Sohn, du verletzt mich ungemein. Sibyl steht<a class="pagenum" name="Page_102" title="102"> </a> +unablässig unter meiner besonderen Obhut. Natürlich, +falls dieser Herr vermögend ist, sehe ich den Grund nicht +ein, um einer Verbindung mit ihm auszuweichen. Ich bin +fest davon überzeugt, er gehört zur Aristokratie. Er sieht +ganz so aus, muß ich sagen. Es wird eine brillante Partie +für Sibyl werden. Sie würden ein entzückendes Paar abgeben. +Seine Schönheit ist wirklich ganz bedeutend; sie +fällt jedem auf.“</p> + +<p>Der junge Mann brummte etwas in sich hinein und +trommelte mit seinen dicken Fingern gegen die Fensterscheibe. +Er hatte sich gerade umgewandt, um etwas zu +sagen, als die Tür aufging und Sibyl hereinflitzte.</p> + +<p>„Was macht ihr beide denn für ernste Gesichter!“ rief +sie aus. „Was gibt's denn?“</p> + +<p>„Nichts“, antwortete er. „Man muß auch mal ernst +sein. Adieu, Mutter; ich will um fünf essen. Alles ist gepackt +bis auf die Hemden; du brauchst dich also um nichts +mehr zu kümmern.“</p> + +<p>„Adieu, mein Sohn“, antwortete sie mit einer Verbeugung +gemachter hoheitsvoller Würde.</p> + +<p>Sie war äußerst gekränkt durch den Ton, den er ihr +gegenüber angeschlagen hatte, und in seinem Blick lag +etwas, das ihr Angst eingeflößt hatte.</p> + +<p>„Gib mir einen Kuß, Mutter“, sagte das Mädchen. +Ihre blütengleichen Lippen berührten die welken Wangen +und wärmten ihre Frostigkeit.</p> + +<p>„Mein Kind! Mein Kind!“ rief Frau Vane und schaute +zur Decke auf, als suchte sie in ihrer Einbildung eine Galerie.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_103" title="103"> </a></p> + +<p>„Komm, Sibyl“, sagte ihr Bruder ungeduldig. Er konnte +die Attitüden seiner Mutter nicht ausstehen.</p> + +<p>Sie traten hinaus in den flimmernden, windbewegten +Sonnenschein und schlenderten die trostlose Euston Road +hinab. Die Vorübergehenden blickten verwundert auf den +unfreundlichen, schwerfälligen jungen Menschen in den groben +schlechtsitzenden Kleidern, den ein so liebliches, fein +aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem Gärtnerburschen, +der eine Rose trägt.</p> + +<p>Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den +forschenden Blick eines Fremden bemerkte. Er hatte jene +Abneigung gegen das Angestarrtwerden, die Menschen +von Geist erst spät im Leben bekommen und die den +Herdenmenschen nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts +von der Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf +ihren lächelnden Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen, +und damit sie um so besser an ihn denken könnte, +sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte nur von dem +Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, von dem Gold, das +er sicher finden würde, von der wunderhübschen Millionenerbin, +deren Leben er verruchten rotblusigen Buschräubern +entreißen sollte. Denn er würde nicht Matrose bleiben +oder Verfrachter oder was er jetzt fürs erste werden sollte. +O nein! Solch Matrosendasein war schrecklich. Er solle nur +daran denken, in ein schreckliches Schiff hineingepfercht zu +sein, wenn die brüllenden, katzenbuckelnden Wellen immer +eindringen wollen und ein schwarzer Wind die Masten +umblase und die Segel in lange, klatschnasse Streifen zerreiße. +Er sollte in Melbourne das Schiff verlassen, dem<a class="pagenum" name="Page_104" title="104"> </a> +Kapitän höflich Lebewohl sagen und sich sofort in die +Goldfelder begeben. Bevor noch eine Woche um sei, werde +er auf einen großen Klumpen puren Goldes stoßen, auf +den größten, der je gefunden worden sei, und werde ihn +zur Küste schaffen in einem großen Wagen, den sechs berittene +Polizisten bewachen sollten. Die Buschklepper überfielen +sie dreimal, würden aber nach einem ungeheuren +Gemetzel zurückgeschlagen werden. Oder nein! Er sollte +überhaupt nicht in die Goldfelder wandern. Das sind +schreckliche Örter, wo sich die Leute betrinken und einander +in Kneipen totschössen und eine schreckliche Sprache führten. +Er sollte ein friedsamer Viehzüchter werden, und eines +Abends, wenn er heimritte, begegnete er der schönen Erbin, +die gerade von einem Räuber auf einem Rappen entführt +würde, und dann setzt er ihm nach und befreit sie. Natürlich +würde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und +sie heirateten dann und kehrten heim und wohnten in +einem großen Palais in London. Ja, entzückende Dinge +warteten auf ihn. Aber er müsse auch sehr brav sein, nie +die Geduld verlieren oder sein Geld vergeuden. Sie sei +nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse schon genügend +mehr vom Leben. Er müsse ihr auch zuverlässig an jedem +Posttag schreiben und jeden Abend, wenn er schlafen gehe, +beten. Gott sei sehr gut und werde über ihn wachen. Auch +sie werde für ihn beten, und in ein paar Jahren werde er +reich und glücklich nach Hause kommen.</p> + +<p>Der Bursche hörte ihr brummig zu und gab keine Antwort. +Ihm tat das Herz weh, weil er von der Heimat +weg mußte.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_105" title="105"> </a></p> + +<p>Aber es war nicht das allein, was ihn düster und verstimmt +sein ließ. So unerfahren er war, fühlte er doch +sehr die Gefahr, die in Sibyls Stellung lag. Dieser junge +Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte es nicht ehrlich +mit ihr meinen. Es war ein vornehmes Herrchen, und das +trug ihm seinen Haß ein, einen Haß, der aus einem sonderbaren +Rasseinstinkt herrührte, von dem er sich keine Rechenschaft +geben konnte und der ihn gerade deshalb um so +stärker beherrschte. Er kannte auch die Oberflächlichkeit +und Eitelkeit seiner Mutter und sah darin ungeheure Gefahren +für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder fangen damit +an, ihre Eltern zu lieben; wenn sie älter werden, sitzen sie +über ihnen zu Gericht, manchmal vergeben sie ihnen auch.</p> + +<p>Seine Mutter! Es brütete in ihm, sie über etwas zu +fragen, was er viele schweigsame Monate hindurch mit +sich herumgeschleppt hatte. Ein zufälliges Wort, das er +im Theater aufgeschnappt hatte, ein hingeflüstertes Scherzwort, +das er eines Abends auffing, als er an der Bühnentür +wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken entfesselt. +Die Erinnerung daran schmerzte ihn wie der Hieb +einer Reitpeitsche in sein Gesicht. Seine Brauen kniffen +sich in eine tiefe Furche zusammen, und in schmerzlichem +Krampf biß er sich auf die Lippen.</p> + +<p>„Du hörst auch nicht ein einziges Wort, das ich sage, +Jim!“ rief Sibyl, „und ich schmiede die entzückendsten +Pläne für deine Zukunft. Sag' doch mal was!“</p> + +<p>„Was soll ich denn sagen?“</p> + +<p>„Oh, daß du ein braver Bursche sein willst und uns nicht +vergessen“, antwortete sie und lächelte ihn an.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_106" title="106"> </a></p> + +<p>Er zuckte die Schultern. „Es wäre eher möglich, daß du +mich vergißt, als daß ich dich vergesse, Sibyl.“</p> + +<p>Sie errötete. „Wie meinst du das, Jim?“ fragte sie.</p> + +<p>„Du hast einen neuen Freund, wie ich höre. Wer ist es? +Warum hast du mir nicht von ihm erzählt? Er meint es +nicht gut mit dir.“</p> + +<p>„Hör' auf, Jim“, rief sie aus. „Du darfst nichts gegen +ihn sagen. Ich liebe ihn.“</p> + +<p>„Was, und du weißt nicht mal seinen Namen?“ erwiderte +er. „Wer ist es? Ich habe ein Recht, das zu wissen.“</p> + +<p>„Er heißt der Prinz Märchenschön. Gefällt dir der +Name <ins title="nicht.">nicht?</ins> Oh, du törichtes Jungchen! du solltest ihn +nie vergessen. Wenn du ihn nur ein einzigesmal sähest, +müßtest du ihn für den entzückendsten Menschen auf Erden +halten. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen: wenn du +von Australien zurückkommst. Er wird dir sehr gefallen. +Allen Menschen gefällt er, und ich ... ich liebe ihn. Ich +wollte, du könntest heute abend ins Theater kommen. Er +wird kommen, und ich spiele die Julia! Oh, wie ich sie +spielen werde! Denk dir, Jim, lieben und die Julia +spielen! Wissen, daß er dasitzt! Zu seiner Freude spielen! +Ich fürchte, ich werde meine Kollegen erschrecken, erschrecken +oder hinreißen. Lieben heißt, hinauswachsen über sich selbst. +Der gräßliche Herr Isaacs wird seinen Kumpanen am +Schenktisch zuschreien, ich sei ein Genie. Er hat mich wie +ein Dogma ausposaunt; heute abend wird er mich als +Offenbarung verkündigen. Ich fühle das. Und all das +ist sein Werk, nur sein, des Prinzen Märchenschön, meines +wunderbaren Geliebten, meines Musengottes. Aber ich bin<a class="pagenum" name="Page_107" title="107"> </a> +ein armes Ding neben ihm. Arm. Was liegt daran? +Schleicht Armut in ein Haus, fliegt Liebe durchs Fenster +hinaus. Unsere Sprichwörter müssen umgeändert werden. +Sie sind im Winter erdacht worden, und jetzt ist Sommer, +für mich freilich Frühling, ein Tanz von Blüten unter +blauem Himmel.“</p> + +<p>„Er ist ein Herr der feinen Gesellschaft“, sagte der +Bursche finster.</p> + +<p>„Ein Prinz!“ rief sie mit melodischer Stimme. „Was +willst du mehr?“</p> + +<p>„Er wird dich zu seiner Sklavin machen.“</p> + +<p>„Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein!“</p> + +<p>„Ich rate dir, dich vor ihm zu hüten.“</p> + +<p>„Ihn sehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm +vertrauen!“</p> + +<p>„Sibyl, deine Liebe macht dich verrückt.“</p> + +<p>Sie lachte und nahm seinen Arm. „Du lieber, alter +Jim, du sprichst, als wärest du hundert Jahre alt. Eines +schönen Tages wirst du selbst lieben. Dann wirst du wissen, +was das heißt. Guck mich nicht so brummig an. Du solltest +dich freuen in dem Bewußtsein, daß du mich, obwohl +du gehst, glücklicher zurückläßt, als ich je gewesen bin. Das +Leben ist bisher hart für uns gewesen, furchtbar hart und +schwer. Aber jetzt wird's anders. Du gehst in eine neue +Welt, und ich habe eine neue gefunden. — Da sind zwei +Stühle frei, wir wollen uns setzen und die eleganten Leute +Revue passieren lassen.“</p> + +<p>Sie setzten sich mitten in eine Menge von Zuschauern. +Die Tulpenbeete längs des Weges flammten wie beschwörende<a class="pagenum" name="Page_108" title="108"> </a> +Feuerglocken. Ein weißer Dunst wie eine zitternde +Wolke von Veilchenpuder hing in der schwülen Luft. +Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten auf und ab wie +Riesenschmetterlinge.</p> + +<p>Sie brachte ihren Bruder dazu, daß er von sich, seinen +Aussichten und seinen Plänen sprach. Er redete zögernd +und mühsam. Sie ließen ihre Worte langsam aufeinanderfolgen, +wie sich Spieler ihre Points ansagen. Sibyl fühlte +sich niedergedrückt. Sie konnte ihre Freude nicht mitteilen. +Ein schwaches Lächeln, das seinen vergrämten Mund umspielte, +war die einzige Antwort, die sie erhielt. Nach +einiger Zeit verstummten sie beide. Plötzlich erblickte sie +den Schimmer goldenen Haares und lachende Lippen, und +in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei +Damen vorbei.</p> + +<p>Sie sprang auf. „Da ist er!“ rief sie.</p> + +<p>„Wer?“ fragte Jim Vane.</p> + +<p>„Der Märchenprinz“, antwortete sie, und spähte dem +Wagen nach.</p> + +<p>Er sprang auf und faßte rauh ihren Arm. „Zeig' ihn +mir. Welcher ist es? Zeig' ihn mir, ich muß ihn sehen!“ +rief er. Aber in diesem Augenblick fuhr der Viererzug des +Herzogs von Verwick dazwischen, und als die Aussicht wieder +frei war, hatte der Wagen schon den Park verlassen.</p> + +<p>„Er ist fort“, murmelte Sibyl traurig. „Ich wünschte, +du hättest ihn gesehen.“</p> + +<p>„Ich wünschte es auch, denn so wahr ein Gott im Himmel +ist, wenn er dir je ein Leides antut, bring' ich ihn um!“</p> + +<p>Sie sah ihn erschreckt an. Er wiederholte seine Worte.<a class="pagenum" name="Page_109" title="109"> </a> +Sie durchschnitten die Luft wie ein Dolch. Die Leute +ringsherum fingen an, auf sie hinzustarren. Eine Dame +ganz in der Nähe kicherte.</p> + +<p>„Komm fort, Jim; komm fort“, flüsterte sie. Er ging +ihr verbissenen Mundes nach, als sie die Menge durchschritt. +Er war zufrieden, daß er das gesagt hatte.</p> + +<p>Als sie bei der Achillesstatue war, drehte sie sich nach +ihm um. In ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren +Lippen zu einem Lachen wurde. Sie schüttelte den Kopf +über ihn. „Du bist verdreht, Jim, völlig verdreht; ein +ungezogener Bubi, sonst nichts. Wie kannst du so was +Häßliches sagen? Du weißt gar nicht, was du zusammensprichst. +Du bist einfach eifersüchtig und unfreundlich. Ach! +ich wollte, daß du dich einmal verliebst. Liebe macht die +Menschen gut, und was du gesagt hast, war schlecht.“</p> + +<p>„Ich bin erst sechzehn,“ antwortete er, „aber ich weiß, +was ich zu tun habe. Mutter kann dir nicht helfen. Sie +versteht es nicht, dich zu beschützen. Ich wünschte jetzt, +ich ginge überhaupt nicht nach Australien. Ich hab' nicht +übel Lust, die ganze Sache zu lassen. Ich tät's, wenn mein +Vertrag nicht schon unterschrieben wäre.“</p> + +<p>„Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim. Du bist wie einer von +den Helden aus den albernen Melodramen, in denen +Mutter so gern gespielt hat. Ich will mich mit dir +nicht streiten. Ich hab' ihn gesehen, und ihn sehen, ist vollkommenes +Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, daß +du einem, den ich liebe, nie etwas antun wirst, nicht?“</p> + +<p>„Solange du ihn liebst, wohl kaum“, war die finstere +Antwort.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_110" title="110"> </a></p> + +<p>„Ich werde ihn immer lieben!“ rief sie.</p> + +<p>„Und er?“</p> + +<p>„Auch immer.“</p> + +<p>„Das ist sein Glück!“</p> + +<p>Sie schrak vor ihm zurück. Dann lachte sie und legte die +Hand auf seinen Arm. Er war doch nur ein Junge.</p> + +<p>Am Marble Arch bestiegen sie einen Omnibus, der sie +in die Nähe ihrer armseligen Wohnung in Euston Road +brachte. Es war schon fünf Uhr vorüber, und Sibyl mußte +sich noch, bevor sie auftrat, ein paar Stündchen niederlegen. +Jim bestand darauf, daß sie es täte. Er sagte, er +würde lieber von ihr Abschied nehmen, wenn die Mutter +nicht dabei wäre. Sie würde sicher eine Szene machen, +und er verabscheue Szenen aller Art.</p> + +<p>Sie nahmen in Sibyls Zimmer Abschied. Im Herzen +des jungen Menschen brannte Eifersucht und ein grimmer, +mörderischer Haß auf den Fremden, der, wie er meinte, +zwischen sie getreten war. Als sich aber ihre Arme um +seinen Hals schlangen, und ihre Finger durch sein Haar +fuhren, wurde er sanfter und küßte sie mit wirklicher Zärtlichkeit. +Als er hinunterging, standen Tränen in seinen Augen.</p> + +<p>Die Mutter wartete unten auf ihn. Als er eintrat, +murrte sie über seine Unpünktlichkeit. Er gab keine Antwort, +sondern setzte sich an sein kärgliches Mahl. Die +Fliegen summten um den Tisch und krochen über das +fleckige Tischtuch. Durch das Gerassel der Omnibusse und +das Rackern der Droschken konnte er die einförmige +Stimme hören, die ihn um jede Minute beraubte, die ihm +noch übrig blieb.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_111" title="111"> </a></p> + +<p>Nach einer Weile schob er seinen Teller zurück und +stützte den Kopf in die Hände. Er fühlte, daß er ein Recht +habe, es zu wissen. Wenn die Dinge lagen, wie er vermutete, +hätte man es ihm längst sagen sollen. Gepeinigt +von Furcht, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte +tröpfelten ihr mechanisch von den Lippen. Ihre Finger +zerknüllten ein zerrissenes Spitzentaschentuch. Als die Uhr +sechs schlug, stand er auf und ging zur Tür. Dann wandte +er sich um und sah sie an. Ihre Blicke begegneten sich. +In den ihren las er ein inbrünstiges Bitten um Mitleid. +Das machte ihn erst recht zornig.</p> + +<p>„Mutter, ich muß dich was fragen“, sagte er. Ihre +Augen irrten im Zimmer umher. Sie gab keine Antwort. +„Sag' mir die Wahrheit! Ich hab' ein Recht, es zu erfahren! +Warst du mit meinem Vater verheiratet?“</p> + +<p>Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ein Seufzer +der Erleichterung. Der schreckliche Augenblick, der Augenblick, +vor dem sie Tag und Nacht seit Wochen und Monaten +gebangt hatte, war endlich gekommen, und doch +empfand sie keine Furcht. Ja, es war für sie gewissermaßen +eine Enttäuschung. Die grobe Unumwundenheit +der Frage heischte eine unumwundene Antwort. Die Situation +war nicht langsam gesteigert worden. Es war roh. +Es erinnerte sie an eine mißlungene Deklamation.</p> + +<p>„Nein“, antwortete sie, erstaunt über die harte Einfachheit +des Lebens.</p> + +<p>„Dann war mein Vater ein Schuft!“ schrie der Bursche +und ballte die Faust.</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf. „Ich wußte, daß er nicht frei<a class="pagenum" name="Page_112" title="112"> </a> +war. Wir haben uns sehr lieb gehabt. Wenn er am Leben +geblieben wäre, hätte er für uns gesorgt. Sage nichts gegen +ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein Gentleman. +Er hatte wirklich hohe Verbindungen.“</p> + +<p>Ein Fluch kam über seine Lippen. „Es bekümmert mich +nicht meinetwegen,“ rief er, „aber laß Sibyl nicht... Ist +es ein Gentleman oder nicht, der sie liebt, oder so sagt? +Mit hohen Verbindungen, vermute ich.“</p> + +<p>Einen Augenblick lang kam ein schreckliches Gefühl der +Demütigung über die Frau. Ihr Kopf sank herab. Mit +zitternden Händen wischte sie sich die Augen. „Sibyl hat +eine Mutter,“ flüsterte sie, „ich hatte keine.“</p> + +<p>Der junge Mensch war gerührt. Er ging zu ihr hin, +beugte sich über sie und küßte sie. „Es tut mir leid, wenn +ich dich mit der Frage nach meinem Vater verletzt habe,“ +sagte er, „aber ich konnte nicht anders. Jetzt muß ich fort. +Lebewohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind +zu beschützen hast, und glaube mir, wenn dieser Mann +meiner Schwester ein Leid zufügt, dann bringe ich schon +heraus, wer es ist, spüre ihn auf und schlage ihn tot wie +einen Hund. Das schwöre ich dir!“</p> + +<p>Die wahnwitzige Übertreibung seines Schwurs, die +leidenschaftlichen Handbewegungen, die ihn begleiteten, +die tollen, melodramatischen Worte machten der alten +Frau das Leben wieder interessanter. Diese Atmosphäre +war ihr vertraut. Sie atmete wie erlöst, und zum erstenmal +seit vielen Monaten bewunderte sie förmlich ihren +Sohn. Sie hätte die Szene gern auf derselben Gefühlshöhe +fortgesetzt, aber er brach sie kurz ab. Koffer mußten<a class="pagenum" name="Page_113" title="113"> </a> +heruntergebracht und Decken beschafft werden. Der Hausknecht +des Mietshauses rannte geschäftig hin und her. +Mit dem Kutscher wurde der Preis abgehandelt. So +wurde der Augenblick durch gemeine Einzelheiten verzettelt. +Mit einem erneuten Gefühl der Enttäuschung stand sie +am Fenster und ließ das zerrissene Spitzentaschentuch durch +die Luft wimpeln, als ihr Sohn wegfuhr. Es war ihr +zumute, als sei eine große Gelegenheit verpaßt worden. +Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte, wie öde künftig +ihr Leben sein werde, da sie jetzt nur ein einziges Kind zu +behüten habe. Diesen Satz hatte sie sich gemerkt. Er hatte +ihr gefallen. Von seinem Schwur sagte sie nichts. Er war +lebendig und dramatisch deklamiert worden. Sie hatte die +Empfindung, daß sie alle eines Tages darüber lachen +würden.</p> + +<h2><a name="Sechstes_Kapitel" id="Sechstes_Kapitel"></a>Sechstes Kapitel</h2> + + +<p>„Du hast doch schon die letzte Neuigkeit gehört, Basil?“ +sagte Lord Henry am selben Abend, als Hallward in das +kleine Separatzimmer im Bristol trat, wo für drei Personen +zum Essen gedeckt war.</p> + +<p>„Nein, Harry“, antwortete der Künstler, während er +Hut und Rock dem dienernden Kellner gab. „Was ist es? +Nichts über Politik, hoffe ich. Die interessiert mich nicht. +Im ganzen Unterhause gibts keinen einzigen Menschen, +den man malen möchte; wenn auch einigen von ihnen +zur Aufbesserung etwas Firnis nicht schaden könnte.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_114" title="114"> </a></p> + +<p>„Dorian Gray hat sich verlobt“, sagte Lord Henry und +beobachtete ihn, während er sprach.</p> + +<p>Hallward fuhr zurück und runzelte sofort die Stirn. +„Dorian verlobt!“ rief er. „Unmöglich!“</p> + +<p>„Es ist wahrhaftig wahr.“</p> + +<p>„Mit wem?“</p> + +<p>„Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin.“</p> + +<p>„Ich kann's nicht glauben. Dorian ist viel zu verständig.“</p> + +<p>„Dorian ist viel zu klug, um nicht von Zeit zu Zeit +verrückte Sachen zu begehen, lieber Basil.“</p> + +<p>„Heiraten ist kaum eine Sache, die man von Zeit zu +Zeit tun kann, Harry.“</p> + +<p>„Außer in Amerika“, erwiderte Lord Henry nachlässig. +„Aber ich habe ja nicht gesagt, daß er verheiratet sei. Ich +sagte, er sei verlobt. Das ist ein großer Unterschied. Ich +erinnere mich ganz deutlich, verheiratet zu sein, aber ich +kann mich nicht erinnern, verlobt gewesen zu sein. Ich +glaube fast, daß ich mich nie verlobt habe.“</p> + +<p>„Aber überlege doch Dorians Geburt, seine Stellung, +sein Vermögen. Es wäre sinnlos, wenn er so tief unter +seinem Stande heiraten würde.“</p> + +<p>„Wenn du willst, daß er dies Mädchen heiratet, so +brauchst du ihm das nur zu sagen, Basil. Dann tut er's +gewiß. Wenn ein Mann etwas auserlesen Dummes tut, +tut er's immer aus den edelsten Beweggründen.“</p> + +<p>„Ich hoffe, es ist ein gutes Mädchen, Harry. Ich möchte +Dorian nicht an irgendein gewöhnliches Wesen gefesselt +sehen, das ihn herabzieht und seinen Geist verdirbt.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_115" title="115"> </a></p> + +<p>„Oh, sie ist mehr als gut — sie ist schön“, sagte Lord +Henry und nippte an einem Glas Wermut mit Pomeranzen. +„Dorian sagt, sie ist schön, und in Dingen dieser +Art irrt er nicht häufig. Sein Bild von ihm hat sein +Urteil über die äußere Erscheinung anderer Menschen geschärft. +Es hat unter anderem diesen glänzenden Erfolg +gezeigt. Wir sollen sie heute abend sehen, wenn der Junge +seine Abmachung nicht vergißt.“</p> + +<p>„Ist das dein Ernst?“</p> + +<p>„Vollständig, Basil. Es würde schlimm für mich sein, +wenn ich je im Leben ernsthafter sein müßte als jetzt.“</p> + +<p>„Aber billigst du es denn, Harry?“ fragte der Maler, +der im Zimmer auf und ab ging und sich auf die Lippen +biß. „Du kannst es doch ganz unmöglich billigen. Es ist +eine törichte Verblendung.“</p> + +<p>„Ich billige oder mißbillige nie wieder etwas. Sowas +bringt einen in eine ganz verrückte Stellungnahme zum +Leben. Wir sind nicht in die Welt geschickt worden, um +unsere moralischen Vorurteile glänzen zu lassen. Ich nehme +nie Notiz von dem, was gewöhnliche Leute sagen, und +ich mische mich nie in Dinge, die reizende Leute vorhaben. +Wenn mich eine Persönlichkeit fesselt, dann ist jede Ausdrucksform, +die sich diese Persönlichkeit aussucht, für +mich erfreulich. Dorian Gray verliebt sich in ein schönes +Mädchen, das die Julia spielt, und will sie heiraten. +Warum nicht? Wenn er Messalina heiraten wollte, würde +er nicht weniger interessant sein. Du weißt, ich bin kein +Eheapostel. Der eigentliche Nachteil der Ehe ist, daß man +selbstlos wird. Und selbstlose Menschen sind farblos. Sie<a class="pagenum" name="Page_116" title="116"> </a> +werden unpersönlich. Jedoch gibt es gewisse Temperamente, +die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten +ihren Egoismus und erweitern ihn durch eine +Reihe anderer Ichs. Sie sehen sich gezwungen, mehr als +ein einzelnes Leben zu führen. Sie werden feiner organisiert, +und feiner organisiert zu werden, scheint mir der +Zweck des menschlichen Lebens. Überdies hat jede Erfahrung +ihren Wert, und was man auch gegen die Ehe +sagen kann, eine Erfahrung ist sie sicher. Ich hoffe, Dorian +Gray wird dies Mädchen heiraten, wird sie sechs Monate +hindurch leidenschaftlich anbeten, und dann wird ihn plötzlich +eine andere anziehen. Es wäre prachtvoll, das zu +beobachten.“</p> + +<p>„Du glaubst kein einziges Wort von alledem, Harry; +und das weißt du auch. Wenn Dorian Grays Leben zerstört +würde, wäre kein Mensch trauriger als du. Du bist +viel besser, als du vorgibst.“</p> + +<p>Lord Henry lachte. „Der Grund, weshalb wir alle so +gut von anderen denken, ist der, daß wir alle Angst +vor uns selber haben. Die Grundlage des Optimismus +ist nichts als Furcht. Wir halten uns für großherzig, weil +wir unserem Nachbar Tugenden zuschreiben, aus denen +für uns ein Nutzen erwachsen könnte. Wir rühmen den +Bankier, damit wir unser Konto überschreiten können, und +finden im Buschklepper gute Eigenschaften in der Hoffnung, +daß er unseren Geldbeutel verschonen wird. Ich +glaube jedes Wort, das ich gesprochen habe. Ich habe die +größte Verachtung für den Optimismus. Was das zerstörte +Leben betrifft, so ist kein Leben zerstört, dessen<a class="pagenum" name="Page_117" title="117"> </a> +Wachstum nicht gehemmt wird. Wenn man eine Persönlichkeit +verderben will, braucht man sie nur zu verbessern. +Die Ehe allerdings ist eine Narretei, aber es gibt +andere und interessantere Bande zwischen Mann und Frau. +Natürlich würde ich dazu eher raten. Sie haben den Reiz, +fashionabel zu sein. Aber da ist Dorian selbst. Er wird +dir mehr sagen, als ich es kann.“</p> + +<p>„Lieber Harry, lieber Basil, ihr müßt mir beide Glück +wünschen“, sagte der Jüngling, während er den Abendmantel +mit den atlasgefütterten Flügeln abwarf und den +Freunden die Hand schüttelte. „Ich war niemals so selig. +Natürlich ist alles plötzlich gekommen; alles Entzückende +kommt plötzlich. Und doch scheint es das einzige gewesen +zu sein, wonach ich mein Leben lang auf der Suche war.“ +Er glühte vor Aufregung und Freude und sah außerordentlich +hübsch aus.</p> + +<p>„Ich hoffe, du wirst immer sehr glücklich sein, Dorian,“ +sagte Hallward, „aber ich kann es dir nicht ganz verzeihen, +daß du mir deine Verlobung nicht mitgeteilt hast. +Harry hast du es mitgeteilt.“</p> + +<p>„Und ich kann es dir nicht verzeihen, daß du zu spät +kommst“, fiel Lord Henry lächelnd ein und legte seine +Hand auf die Schulter des jungen Mannes. „Komm, wir +wollen uns setzen und versuchen, was der neue Chef hier +kann, und dann erzählst du uns, wie alles gekommen ist.“</p> + +<p>„Da ist wirklich nicht viel zu erzählen!“ rief Dorian, als +sie sich um den kleinen Tisch gesetzt hatten. „Was geschah, +war einfach so. Als ich dich gestern abend verließ, Harry, +zog ich mich an, aß in dem kleinen italienischen Restaurant<a class="pagenum" name="Page_118" title="118"> </a> +in Rupert Street, das ich durch dich kennengelernt habe, +und ging um acht Uhr ins Theater. Sibyl spielte die +Rosalinde. Natürlich war die Dekoration greulich und der +Orlando zum Lachen. Aber Sibyl! Ihr hättet sie sehen +sollen. Als sie in ihren Knabenkleidern auftrat, war sie +einfach wunderbar. Sie trug ein moosgrünes Samtwams +mit zimtbraunen Ärmeln, eine kurze, braune, überm Knie +kreuzweise geschnürte Hose, ein reizendes grünes Barett mit +einer Falkenfeder, die von einem funkelnden Stein gehalten +wurde, und war in einen dunkelrot gefütterten +Kapuzenmantel gehüllt. Sie war mir nie schöner vorgekommen. +Sie hatte all die zarte Grazie der Tanagrafigur, +die du in deinem Atelier hast, Basil. Das Haar +schlang sich um ihr Gesicht wie dunkles Laub um eine +blasse Rose. Und ihr Spiel — nun, ihr werdet sie heute +abend sehen. Sie ist eben eine geborene Künstlerin. Ich +saß ganz verzaubert in der schmierigen Loge. Ich vergaß, +daß ich in London war und im neunzehnten Jahrhundert +lebte. Ich war mit meiner Geliebten weit fort in einem +Wald, den noch kein Menschenauge gesehen hatte. Nach +der Vorstellung ging ich hinter die Bühne und sprach mit +ihr. Als wir nebeneinander saßen, trat plötzlich ein Ausdruck +in ihre Augen, den ich nie vorher gesehen hatte. +Meine Lippen fühlten sich zu ihr hingezogen. Wir küßten +uns beide. Ich kann euch nicht beschreiben, was ich in dem +Augenblick gefühlt habe. Mir schien, daß all mein Leben +in einen vollkommenen Moment rosenfarbiger Wonne zusammengepreßt +wäre. Sie zitterte am ganzen Leibe und +bebte wie eine weiße Narzisse. Dann warf sie sich auf die<a class="pagenum" name="Page_119" title="119"> </a> +Knie und küßte meine Hände. Ich weiß, ich sollte euch das +alles nicht erzählen, aber ich kann mir nicht helfen. Natürlich +ist unsere Verlobung tiefstes Geheimnis. Sie hat +nicht einmal zu ihrer Mutter davon gesprochen. Ich weiß +nicht, was meine Vormünder dazu sagen werden. Lord +Radley wird sicher wütend sein. Ist mir ganz gleich. In +weniger als einem Jahre bin ich volljährig und kann dann +machen, was ich will. Hatte ich nicht recht, Basil, meine +Geliebte aus dem Reich der Dichtung wegzuholen und +meine Frau in Shakespeares Stücken zu finden? Lippen, +die Shakespeare reden gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis +ins Ohr geflüstert. Rosalindens Arme lagen um +meinen Hals, und ich habe Julia auf den Mund geküßt.“</p> + +<p>„Ja, Dorian, ich glaube, du tatest recht“, sagte Hallward +langsam.</p> + +<p>„Hast du sie heute schon gesehen?“ fragte Lord Henry.</p> + +<p>Dorian Gray schüttelte den Kopf. „Ich verließ sie im +Ardennenwald und werde sie in einem Garten von Verona +wiederfinden.“</p> + +<p>Lord Henry schlürfte nachdenklich seinen Champagner. +„In welchem Augenblick hast du von Heirat gesprochen, +Dorian? Und was erwiderte sie darauf? Vielleicht hast +du das schon ganz vergessen.“</p> + +<p>„Lieber Harry, ich habe es nicht als Geschäft behandelt +und habe ihr keinen förmlichen Antrag gemacht. Ich sagte +ihr, daß ich sie liebe, und sie sagte, sie verdiene nicht, mein +Weib zu sein. Nicht verdienen! Was ist denn die ganze +Welt für mich, wenn ich sie mit ihr vergleiche!“</p> + +<p>„Die Frauen sind wunderbar praktisch,“ murmelte Lord<a class="pagenum" name="Page_120" title="120"> </a> +Henry — „viel praktischer als wir. In Situationen dieser +Art vergessen wir oft, etwas von Heirat zu erwähnen, und +sie erinnern uns immer daran.“</p> + +<p>Hallward legte die Hand auf seinen Arm. „Nicht doch, +Harry. Du kränkst Dorian. Er ist nicht wie andere +Männer. Er würde nie jemand unglücklich machen. Seine +Natur ist dafür zu edel.“</p> + +<p>Lord Henry blickte über den Tisch. „Dorian fühlt sich +nie gekränkt durch mich“, antwortete er. „Ich habe aus +dem besten Grund gefragt, den es geben kann, aus dem +einzigen Grund, der eine Entschuldigung für eine Frage +ist — einfach aus Neugier. Ich habe eine Theorie, wonach +es immer Frauen sind, die uns einen Antrag machen, und +nicht wir den Frauen. Natürlich ausgenommen die Mittelklassen. +Aber die Mittelklassen sind eben nicht modern.“</p> + +<p>Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. „Du bist +ganz unverbesserlich, Harry; aber ich bin nicht böse. Man +kann dir ja gar nicht böse sein. Wenn du Sibyl Vane +siehst, wirst du fühlen, daß der Mann, der ihr ein Leid +antun kann, ein Tier sein muß, ein herzloses Tier. Ich +kann nicht begreifen, wie man es über sich gewinnen kann, +ein Wesen, das man liebt, in Schande zu bringen. Ich +liebe Sibyl Vane. Ich möchte sie auf einen goldenen +Sockel stellen und dann sehen, wie die ganze Welt das +Weib anbetet, das mir gehört. Was ist Ehe? Ein unwiderrufliches +Gelübde. Du spottest deshalb darüber. Ach, +spotte nicht! Ein unwiderrufliches Gelübde will ich ablegen. +Ihr Vertrauen macht mich treu, ihr Glaube macht +mich gut. Wenn ich bei ihr bin, verleugne ich alles, was<a class="pagenum" name="Page_121" title="121"> </a> +du mich gelehrt hast. Ich werde ein ganz anderer Mensch +als der, den du in mir siehst. Ich bin verwandelt, und die +bloße Berührung von Sibyl Vanes Hand läßt mich alle +deine falschen, bezaubernden, vergifteten, entzückenden +Theorien vergessen.“</p> + +<p>„Und die wären?“ fragte Lord Henry, während er +Salat nahm.</p> + +<p>„Oh, deine Theorien über das Leben, deine Theorien +über die Liebe, deine Theorien über den Genuß. Tatsächlich +alle deine Theorien, Harry.“</p> + +<p>„Genuß ist das einzige auf der Welt, das eine Theorie +verdient“, antwortete er mit seiner sanften, musikalischen +Stimme. „Aber ich fürchte, es ist nicht meine eigene Theorie. +Sie gehört der Natur, nicht mir. Genuß ist das +Siegel der Natur, das Zeichen ihrer Zustimmung. Wenn +wir glücklich sind, dann sind wir immer gut, aber wenn +wir gut sind, sind wir nicht immer glücklich.“</p> + +<p>„Ah, doch, was verstehst du unter gut?“ rief Basil +Hallward.</p> + +<p>„Ja,“ wiederholte Dorian, indem er sich in seinem +Stuhl zurücklehnte und über den massigen Strauß rotblutiger +Schwertlilien in der Mitte des Tisches zu Lord +Henry blickte, „was verstehst du unter gut, Harry?“</p> + +<p>„Gut sein, heißt mit sich selbst im Einklang sein“, antwortete +er, den dünnen Stengel seines Glases mit blassen, +feingespitzten Fingern umfassend. <ins title="Mißklang">„Mißklang</ins> heißt es, mit +anderen übereinstimmen müssen. Das eigene Leben — das +ist es, worauf es ankommt. Was das Leben unserer Nachbarn +betrifft, nun, wenn man durchaus ein Affe oder ein<a class="pagenum" name="Page_122" title="122"> </a> +Puritaner sein will, dann mag man ihnen ja seine moralischen +Ansichten ins Gesicht schleudern, aber sie gehen +einen schließlich gar nichts an. Abgesehen davon, hat der +Individualismus in der Tat die höheren Ziele. Die moderne +Sittlichkeit besteht darin, daß man den Maßstab +seiner Zeit anerkennt. Ich habe die Meinung, daß jeder +kultivierte Mensch, der den Maßstab seiner Zeit anerkennt, +damit eines der gröbsten Sittlichkeitsverbrechen begeht.“</p> + +<p>„Wenn man aber nur für sich selbst lebt, Harry, muß +man da nicht einen furchtbaren Preis dafür zahlen?“ +fragte der Maler.</p> + +<p>„Ja, heutzutage werden wir in allem überteuert. Ich +glaube, die wirkliche Tragödie der Armut ist die, daß sich +die Armen nichts leisten können als Selbstverleugnung. +Schöne Sünden sind wie alle schönen Dinge ein Vorrecht +der begüterten Klassen.“</p> + +<p>„Man muß in anderer Münze zahlen als mit Geld.“</p> + +<p>„In welcher Münze, Basil?“</p> + +<p>„Ich meine mit Gewissensbissen, mit Schmerzen, mit... +na eben mit dem Gefühl der Erniedrigung.“</p> + +<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Mein lieber Junge, die +mittelalterliche Kunst ist etwas Entzückendes, aber mittelalterliche +Gefühle sind nicht mehr Mode. Man kann sie +freilich in der Dichtung gebrauchen. Aber die einzigen +Dinge, die in Dichtungen zu verwerten sind, sind solche, +um die man sich in der Wirklichkeit nicht mehr kümmert. +Glaube mir, kein zivilisierter Mensch bereut einen durchlebten +Genuß, und kein unzivilisierter Mensch weiß, was +ein Genuß ist.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_123" title="123"> </a></p> + +<p>„Ich weiß, was ein Genuß ist!“ rief Dorian Gray. „Jemand +anbeten.“</p> + +<p>„Das ist jedenfalls besser, als angebetet zu werden“, +antwortete Harry, während er mit einigen Früchten spielte. +„Angebetet zu werden, ist peinlich. Die Weiber behandeln +uns genau so wie die Menschheit ihre Götter. Sie beten +uns an und quälen uns unaufhörlich, irgendwas für sie +zu tun.“</p> + +<p>„Ich würde sagen, alles, was sie von uns verlangen, +haben sie uns zuerst geschenkt“, sagte der Jüngling ernst +und leise. „Sie erzeugen die Liebe in uns. Sie haben ein +Recht, sie dann zurückzuverlangen.“</p> + +<p>„Das ist ganz richtig, Dorian“, rief Hallward.</p> + +<p>„Ganz richtig ist niemals etwas“, sagte Lord Henry.</p> + +<p>„Das ist es“, unterbrach Dorian. „Du mußt zugeben, +Harry, daß nur die Frauen den Männern das reinste +Gold des Lebens schenken.“</p> + +<p>„Vielleicht,“ seufzte er, „aber unweigerlich verlangen sie +es dann in Kleingeld umgewechselt zurück. Das ist der +Jammer dabei. ‚Die Frauen,‛ hat einmal ein witziger +Franzose gesagt, ‚regen uns an, Meisterwerke zu schaffen, +und verhindern uns immer, sie auszuführen.‛“</p> + +<p>„Harry, du bist schrecklich! Ich weiß gar nicht, warum +ich dich so gern habe.“</p> + +<p>„Du wirst mich immer gern haben, Dorian“, antwortete +er. „Wollen wir Kaffee trinken, Kinder? — Kellner, bringen +Sie Kaffee, fine Champagne und Zigaretten. Nein, lassen +Sie die Zigaretten, ich habe selbst bei mir. Basil, ich kann +dir nicht erlauben, Zigarren zu rauchen. Du mußt eine<a class="pagenum" name="Page_124" title="124"> </a> +Zigarette nehmen. Eine Zigarette ist der vollendete Ausdruck +eines vollendeten Genusses. Er ist köstlich und läßt +dabei unbefriedigt. Was will man mehr verlangen? Ja, +Dorian, du wirst mich immer lieb haben. Ich bin für dich +der Inbegriff aller Sünden, die du zu begehen nie den +Mut haben wirst.“</p> + +<p>„Was für Unsinn du redest, Harry!“ rief der junge +Mann, während er seine Zigarette an dem feuerspeienden +Silberdrachen anzündete, den der Kellner auf den Tisch +gestellt hatte. „Wir wollen jetzt ins Theater. Wenn Sibyl +auftritt, werdet ihr ein neues Lebensideal bekommen. Sie +wird euch etwas offenbaren, das ihr noch nicht gekannt +habt.“</p> + +<p>„Ich habe alles kennengelernt,“ sagte Lord Henry mit +einem müden Ausdruck in den Augen, „aber ich bin immer +bereit, mir eine neue Emotion zu verschaffen. Nur fürchte +ich, daß es für mich derlei kaum noch gibt. Immerhin, dein +wunderbares Mädchen wird mich vielleicht erschüttern. Ich +liebe die Schauspielkunst. Sie ist soviel wirklicher als das +Leben. Wir wollen gehen. Dorian, du kannst bei mir einsteigen. +Basil, es tut mir leid, aber in meinem Brougham +ist nur Platz für zwei. Du mußt schon in einer Droschke +nachfahren.“</p> + +<p>Sie standen auf, zogen ihre Röcke an und tranken den +Kaffee im Stehen. Der Maler war schweigsam und bedrückt. +Ein düsteres Gefühl lastete auf ihm. Er konnte +diese Ehe nicht gutheißen, und sie schien ihm doch besser +zu sein als manches andere, das hätte geschehen können. +Nach einigen Minuten gingen sie gemeinsam die Treppe<a class="pagenum" name="Page_125" title="125"> </a> +hinunter. Er fuhr, wie verabredet, allein, und sah auf die +blitzenden Lichter des kleinen Wagens, der vor ihm dahinrollte. +Das seltsame Gefühl eines großen Verlustes überkam +ihn. Er fühlte, daß Dorian Gray nie wieder das +für ihn sein würde, was er ihm früher gewesen war. Das +Leben war zwischen sie getreten... Vor seinen Augen ward +es dunkel, und die menschenvollen, erleuchteten Straßen +verschwammen vor seinem Blick. Als seine Droschke am +Theater vorfuhr, schien es ihm, als sei er um viele Jahre +älter geworden.</p> + +<h2><a name="Siebentes_Kapitel" id="Siebentes_Kapitel"></a>Siebentes Kapitel</h2> + + +<p>Aus irgendeinem Grunde war das Haus an diesem +Abend besonders dicht gefüllt, und der fette jüdische Direktor, +der sie an der Tür empfing, strahlte von einem +Ohr zum anderen in einem öligen, zuckenden Lächeln. Er +begleitete sie zu ihrer Loge mit einer gewissen prahlerischen +Demut, die feisten, juwelenbedeckten Hände hastig +bewegend und sich mit der Stimme beinahe überschlagend. +Dorian verabscheute ihn mehr als je. Er hatte das Gefühl, +als sei er gekommen, um Miranda zu besuchen und Caliban +habe ihn empfangen. Dagegen hatte Lord Henry etwas +für ihn übrig. Wenigstens erklärte er, daß er ihm gefiele, +bestand darauf, ihm die Hand zu schütteln und versicherte +ihm, er sei stolz darauf, einen Mann kennenzulernen, +der ein bedeutendes Genie entdeckt habe und an +einem Dichter bankerott geworden sei. Hallward unterhielt<a class="pagenum" name="Page_126" title="126"> </a> +sich damit, die Gestalten im Stehparterre zu beobachten. +Die Hitze war äußerst drückend, und der riesige +Sonnenkronleuchter flammte wie eine gigantische Dahlie +mit Blättern von gelbem Feuer. Die jungen Leute auf +der Galerie hatten Röcke und Westen ausgezogen und sie +über die Brüstung gehängt. Sie riefen einander quer über +das ganze Theater zu und fütterten die grell gekleideten +Mädchen neben ihnen mit Orangen. Ein paar Weiber +unten im Stehparterre lachten. Ihre Stimmen waren +schrecklich schrill und unangenehm. Vom Büfett her hörte +man Flaschen entkorken.</p> + +<p>„Was für ein sonderbarer Platz, um seine Göttin zu +finden!“ sagte Lord Henry.</p> + +<p>„Ja“, erwiderte Dorian Gray. „Hier habe ich sie gefunden, +und sie ist göttlicher als alles Lebendige. Wenn +sie spielt, wirst du alles vergessen. Diese gewöhnlichen rohen +Leute mit ihren alltäglichen Gesichtern und brutalen Bewegungen +werden ganz verwandelt, sobald sie auf der +Bühne steht. Sie sitzen stumm da und beobachten sie. Sie +weinen und lachen, wenn sie es will. Sie hält sie in Stimmung, +wie man es mit einer Geige tut. Sie veredelt sie, +und man spürt, daß sie vom selben Fleisch und Blut sind +wie man selbst.“</p> + +<p>„Vom selben Fleisch und Blut wie man selbst? Oh, ich +hoffe nicht!“ rief Lord Henry, der die Leute auf der +Galerie mit seinem Opernglas musterte.</p> + +<p>„Höre nicht auf ihn, Dorian!“ sagte der Maler. „Ich +begreife, was du meinst, und ich glaube an dies Mädchen. +Der Mensch, den du liebst, muß wunderbar sein, und jedes<a class="pagenum" name="Page_127" title="127"> </a> +Mädchen, das die von dir geschilderte Wirkung erzielt, +muß fein und edel sein. Seine Mitmenschen veredeln — +das verlohnt der Mühe. Wenn dies Mädchen die beseelen +kann, die seelenlos gelebt haben, wenn sie in Menschen, +deren Dasein schmutzig und häßlich war, einen Sinn +für Schönheit wecken kann, wenn sie sie aus ihrem Eigennutze +losreißen und ihnen Tränen um Sorgen entlocken +kann, die nicht ihre eigenen sind, dann ist sie deiner Verehrung +wert, dann ist sie der Verehrung der ganzen Welt +wert. Solche Heirat ist ganz das Rechte. Ich dachte zuerst +nicht so, aber jetzt gebe ich es zu. Die Götter haben +Sibyl Vane für dich geschaffen. Ohne sie wärst du nur +unvollständig gewesen.“</p> + +<p>„Danke, Basil“, antwortete Dorian Gray und drückte +ihm die Hand. „Ich wußte, daß du mich verstehst. Harry +ist ein Zyniker, er erschreckt mich. Aber da kommt das +Orchester. Es ist furchtbar, aber es dauert nur knappe +fünf Minuten. Dann geht der Vorhang auf und du erblickst +ein Mädchen, dem ich mein ganzes Leben schenken +will, dem ich alles überantwortet habe, was gut ist in +mir.“</p> + +<p>Eine Viertelstunde später betrat Sibyl Vane unter +einem geräuschvollen Beifallssturm die Bühne. Ja, sie war +wirklich entzückend — eins der entzückendsten Geschöpfe, +dachte Lord Henry, die er je gesehen hatte. Es lag etwas +von einem Reh in ihrer scheuen Grazie und ihren erstaunten +Augen. Ein schwaches Erröten wie der Widerschein +einer Rose in einem silbernen Spiegel trat auf ihre +Wangen, als sie das überfüllte und begeisterte Haus erblickte.<a class="pagenum" name="Page_128" title="128"> </a> +Sie trat ein paar Schritte zurück, und ihre Lippen +schienen zu zittern. Basil Hallward sprang auf und begann +zu klatschen. Bewegungslos, und wie in tiefem Traume, +saß Dorian Gray da und sah sie an. Lord Henry starrte +unverwandt durch sein Glas und murmelte: „Entzückend! +Entzückend!“</p> + +<p>Die Szene stellte die Halle in Capulets Hause dar, und +Romeo war in seinem Pilgerkleid mit Mercutio und seinen +anderen Freunden aufgetreten. Die Musik präludierte, so +gut sie konnte, mit ein paar Akkorden, und der Tanz +fing an. Mitten in dem Gewimmel von ungeschickten, +schäbig gekleideten Schauspielern bewegte sich Sibyl Vane +wie ein Geschöpf aus einer höheren Welt. Ihr Körper +schwebte im Tanze wie eine Blume auf dem Wasser. Die +Linien ihres Halses glichen denen einer weißen Lilie. Ihre +Hände schienen aus kühlem Elfenbein zu sein.</p> + +<p>Und doch schien sie von seltsamer Abwesenheit. Sie zeigte +kein Zeichen der Freude, während ihr Auge auf Romeo +ruhte. Die wenigen Worte, die sie zu sprechen hatte —</p> + +<p class="poem"> +Nein, Pilger, lege nichts der Hand zuschulden<br /> +Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß;<br /> +Der Heiligen Rechte darf Berührung dulden,<br /> +Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuß —<br /> +</p> + +<p class="postpoem">mit dem kurzen Dialog, der folgt, sprach sie in einem +ganz gekünstelten Tone. Die Stimme klang wundervoll, +aber der Ton ganz verfehlt. Er traf die Stimmungsfarbe +nicht. Er nahm den Versen alles Leben. Er machte die +Leidenschaft unwahr.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_129" title="129"> </a></p> + +<p>Dorian Gray erbleichte, als er es hörte. Er war verlegen +und erschreckt. Seine beiden Freunde wagten nicht, +ihm etwas zu sagen. Sie schien ja ganz talentlos zu sein. +Sie waren furchtbar enttäuscht.</p> + +<p>Aber sie wußten, daß der wahre Prüfstein für jede +Julia die Balkonszene im zweiten Akt sei. Darauf warteten +sie. Wenn sie hier versagte, war nichts an ihr.</p> + +<p>Sie sah reizend aus, als sie im Mondschein auftrat. +Das konnte niemand leugnen. Aber das Theatralische +ihres Spiels war unerträglich und wurde im Verlauf +immer ärger. Ihre Gesten waren lächerlich gekünstelt. +Sie übertrieb das Pathos von allem, was sie zu sagen +hatte. Die wundervollen Verse —</p> + +<p class="poem"> +Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht,<br /> +Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen<br /> +Um das, was du vorhin mich sagen hörtest —<br /> +</p> + +<p class="postpoem">deklamierte sie mit der peinlichen Genauigkeit eines Schulmädchens, +das einen mittelmäßigen Vortragslehrer in der +Schule gehabt hat. Als sie sich über den Balkon lehnte +und zu den herrlichen Versen kam —</p> + +<p class="poem"> +Obwohl ich dein mich freue,<br /> +Freu' ich mich nicht des Bundes dieser Nacht:<br /> +Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich,<br /> +Gleicht allzusehr dem Blitz, der schon vorbei,<br /> +Noch eh' man sagen kann: es blitzt. — Schlaf süß!<br /> +Mag warmer Sommerhauch die Liebesknospe<br /> +Zur Blume bis zum Wiedersehn entfalten —<br /> +</p> + +<p class="postpoem"><a class="pagenum" name="Page_130" title="130"> </a> +sprach sie die Worte, als enthielten sie keinerlei Sinn für +sie. Es war nicht Aufregung. Nein, weit entfernt davon, +erregt zu sein, schien sie ganz mit sich zufrieden. Es war +einfach schlechte Kunst. Es war ein richtiger Abfall.</p> + +<p>Selbst das gewöhnliche, ungebildete Publikum auf +Stehplatz und Galerie verlor sein Interesse am Stück. +Man wurde unruhig und begann laut zu sprechen und zu +zischen. Der jüdische Direktor, der im Hintergrunde des ersten +Ranges stand, stampfte mit den Füßen und fluchte vor +Wut. Einzig und allein unbewegt war das Mädchen selbst.</p> + +<p>Als der zweite Akt vorüber war, brach ein Sturm von +Zischen los, und Lord Henry stand von seinem Stuhl auf +und zog seinen Rock an. „Sie ist wunderschön, Dorian,“ +sagte er, „aber sie kann nicht spielen. Wir wollen gehen.“</p> + +<p>„Ich will das Stück zu Ende sehen“, antwortete der +junge Mann mit harter, bitterer Stimme. „Es tut mir +äußerst leid, daß ich dich veranlaßt habe, einen Abend zu +vergeuden, Harry. Ich muß mich bei euch beiden entschuldigen.“</p> + +<p>„Mein lieber Dorian, ich glaube, Miß Vane war +krank“, unterbrach ihn Hallward. „Wir wollen an einem +anderen Abend wiederkommen.“</p> + +<p>„Ich wünschte, sie wäre krank“, erwiderte er. „Aber ich +glaube, sie hat nur kein Gefühl und ist kalt. Sie ist völlig +verändert. Gestern abend war sie eine große Künstlerin. +Heute abend ist sie nur eine gewöhnliche, mittelmäßige +Schauspielerin.“</p> + +<p>„Sprich nicht so über jemand, den du liebst, Dorian. +Liebe ist etwas viel Wunderbareres als Kunst.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_131" title="131"> </a></p> + +<p>„Es sind beides nur Formen der Nachahmung“, bemerkte +Lord Henry. „Aber wir wollen gehen. Dorian, du +darfst nicht länger hier bleiben. Es schadet der Moral, +schlechte Schauspielkunst zu sehen. Ich glaube übrigens +nicht, daß du deine Frau auftreten lassen wirst. Was liegt +also daran, ob sie die Julia wie eine Holzpuppe spielt! +Sie ist wirklich bezaubernd, und wenn sie so wenig vom +Leben weiß wie vom Theaterspielen, wird sie dir eine +köstliche Erfahrung sein. Es gibt nur zwei Arten fesselnder +Menschen — solche, die alles wissen, und solche, die +gar nichts wissen. Großer Gott, mein lieber Junge, mach' +kein so tragisches Gesicht! Das Rezept, jung zu bleiben, +besteht einfach darin, nie eine Erregung haben, die unzuträglich +ist. Komm mit Basil und mir in den Klub! Wir +wollen Zigaretten rauchen und auf Sibyl Vanes Schönheit +trinken. Sie ist schön. Was willst du noch mehr?“</p> + +<p>„Geh, Harry!“ rief der Jüngling. „Ich will allein sein. +Basil, geh! Ach, könnt ihr nicht sehen, daß mir das Herz +bricht?“ Heiße Tränen traten ihm in die Augen. Seine +Lippen bebten, er drückte sich in die dunkelste Ecke der +Loge, lehnte sich an die Wand und verbarg sein Gesicht in +den Händen.</p> + +<p>„Komm, Basil“, sagte Lord Henry mit seltsam zärtlicher +Stimme; und die beiden jungen Männer gingen zusammen +hinaus.</p> + +<p>Ein paar Augenblicke später flammte die Rampe wieder +auf, und der Vorhang rauschte zum dritten Akt in die +Höhe. Dorian Gray ging auf seinen Platz zurück. Er sah +bleich, abwesend, gleichgültig aus. Das Spiel schleppte sich<a class="pagenum" name="Page_132" title="132"> </a> +weiter und schien endlos zu sein. Die Hälfte des Publikums +ging weg, auf schweren Stiefeln trampelnd und +lachend. Das Ganze war ein richtiges Fiasko. Der letzte +Akt wurde beinah vor leeren Bänken gespielt. Der Vorhang +fiel unter Zischen und höhnischem Gegrunze.</p> + +<p>Sobald es aus war, stürzte Dorian Gray hinter die Kulissen +in die Garderobe. Das Mädchen stand allein da, mit +einem triumphierenden Zuge im Antlitz. Die Augen leuchteten +in einem merkwürdigen Feuer. Eine Art Glanz umschwebte +sie. Ihre halbgeöffneten Lippen lächelten wie ein +Geheimnis, das ihnen allein bewußt war.</p> + +<p>Als er eintrat, blickte sie ihn an und ein Ausdruck unsäglichen +Glückes kam über sie. „Wie schlecht ich heute gespielt +habe, Dorian!“ rief sie.</p> + +<p>„Schrecklich“, antwortete er und sah sie voll Staunen +an — „schrecklich. Es war geradezu fürchterlich. Bist du +krank? Du hast keine Ahnung, wie es war. Keine Ahnung, +was ich durchgemacht habe.“</p> + +<p>Das Mädchen lächelte. „Dorian“, antwortete sie und +zog seinen Namen mit einem musikalischen Klang in die +Länge, als wäre er den roten Blüten ihres Mundes süßer +als Honig — „Dorian, du hättest begreifen sollen. Aber +jetzt begreifst du, nicht wahr?“</p> + +<p>„Was?“ fragte er heftig.</p> + +<p>„Warum ich heute abend so schlecht spielte. Warum ich +immer schlecht spielen werde. Warum ich nie mehr gut +spielen <ins title="werde.">werde.“</ins></p> + +<p>Er zuckte die Achseln. „Du bist gewiß krank. Wenn du +krank bist, solltest du nicht spielen. Du machst dich nur<a class="pagenum" name="Page_133" title="133"> </a> +lächerlich. Meine Freunde haben sich gelangweilt. Ich ebenfalls.“</p> + +<p>Sie schien nicht zu hören, was er sagte. Sie war wie verklärt +vor Vergnügen. Eine Ekstase des Glücks beherrschte sie.</p> + +<p>„Dorian, Dorian,“ rief sie, „bevor ich dich kannte, war +Spielen die einzige Wirklichkeit in meinem Leben. Nur +im Theater lebte ich. Ich hielt das alles für wahr. An +einem Abend war ich Rosalinde und Portia am andern. +Beatrices Glück war mein Glück, und Kordelias Tränen +waren die meinen. Ich glaubte an alles. Dies gewöhnliche +Volk, das mit mir spielte, schien mir göttlich. Die bemalten +Kulissen bedeuteten für mich die Welt. Ich kannte +nichts als Schatten, und ich nahm sie für Wirklichkeit. Da +kamst du — o mein schöner Geliebter — und befreitest +meine Seele aus der Kerkerhaft. Du hast mich gelehrt, +was die wahre Wirklichkeit ist. Heute habe ich zum erstenmal +die ganze Hohlheit durchschaut, den Betrug, die Albernheit +des falschen, verlogenen Flittertandes, zwischen +dem ich bisher gespielt habe. Heute abend wußte ich zum +ersten Male, daß dieser Romeo abscheulich und alt und +geschminkt ist, daß der Mond im Garten Blendwerk, die +ganze Szenerie ordinär ist und daß die Worte, die ich +zu sprechen hatte, nicht wahr, nicht meine Worte sind, +nicht, was ich hätte sagen müssen. Du hast mir etwas +Höheres geschenkt, etwas, von dem alle Kunst nur Abglanz +ist. Du hast mich begreifen gelehrt, was Liebe ist. Mein +Geliebter! Mein Geliebter! Prinz Märchenschön! Prinz +meines Lebens! Ich kann die Schatten nicht mehr ertragen. +Du bist mir mehr, als mir alle Kunst je sein kann. Was<a class="pagenum" name="Page_134" title="134"> </a> +hab' ich mit den Puppen eines Spiels zu schaffen? Als ich +heute abend auftrat, konnte ich nicht begreifen, wie es gekommen +war, daß alles verschwunden sein sollte. Ich hatte +gedacht, ich würde wundervoll sein. Ich merkte, daß ich +durchaus versagte. Plötzlich dämmerte es meiner Seele, +was das alles bedeutete. Es war ein herrliches Wissen. +Ich hörte sie zischen und lächelte. Was konnten die wissen +von einer Liebe wie die unsere? Nimm mich fort, +Dorian — nimm mich mit dir irgendwohin, wo wir allein +sein können. Ich hasse das Theater. Ich konnte vielleicht +ein Gefühl darstellen, das ich nicht spüre, aber ich kann doch +nicht eins spielen, das mich verbrennt wie Feuer. Ach, +Dorian, Dorian, begreifst du jetzt, was das bedeutet? +Selbst wenn ich es zustande brächte, wär' es Entweihung, +zu spielen, während ich liebe. Du hast mich sehend gemacht.“</p> + +<p>Er warf sich auf das Sofa und wandte sein Gesicht +ab. „Du hast meine Liebe getötet“, murmelte er.</p> + +<p>Sie sah ihn staunend an und lachte. Er gab keine Antwort. +Sie kam hin zu ihm und strich mit ihren kleinen +Fingern durch sein Haar. Sie kniete nieder und preßte +seine Hände an ihre Lippen. Er schob sie weg, und ein +Schauder überlief ihn.</p> + +<p>Dann sprang er auf und schritt zur Tür. „Ja,“ rief er, +„du hast meine Liebe getötet. Bisher hast du meine Phantasie +gefesselt. Jetzt fesselst du nicht einmal meine Neugier. +Du wirkst einfach nicht. Ich liebte dich, weil du ein Wunder +warst, weil du Genie und Geist hattest, weil du die +Träume großer Dichter verkörpertest und den Schatten +der Kunst Gestalt und Körper verliehest. All das hast du<a class="pagenum" name="Page_135" title="135"> </a> +weggeworfen. Jetzt bist du leer und seicht. Mein Gott. +Was für ein Narr war ich, dich zu lieben! Wie verblendet +war ich! Jetzt bist du mir nichts mehr. Ich will dich niemals +wiedersehen. Nie mehr an dich denken. Nie mehr deinen +Namen aussprechen. Du weißt nicht, was du mir einmal +warst. Ja, einmal, einmal... Oh, ich ertrage es +nicht, daran zu denken. Ich wünschte, ich hätte dich niemals +gesehen. Du hast die Poesie meines Lebens vernichtet. +Wie wenig mußt du von Liebe wissen, wenn du sagst, sie +lähme deine Kunst! Ohne deine Kunst bist du nichts. Ich +hätte dich berühmt gemacht, zu einem Sterne, zu etwas +Herrlichem. Die Welt hätte dich angebetet, und du hättest +meinen Namen getragen. Was bist du jetzt? Eine Schauspielerin +dritten Ranges mit einem hübschen Gesichtchen.“</p> + +<p>Das Mädchen war totenblaß geworden und zitterte. Sie +preßte die Hände zusammen, und die Sprache schien ihr in +der Kehle erstickt zu sein. „Du meinst es doch nicht im +Ernst, Dorian?“ flüsterte sie. „Du verstellst dich nur.“</p> + +<p>„Verstellen? Das überlaß ich dir. Du verstehst es ja so +gut“, entgegnete er bitter.</p> + +<p>Sie erhob sich von den Knien und ging mit einem wehen, +qualvollen Antlitz zu ihm hin. Sie legte ihm die Hand +auf den Arm und sah ihm in die Augen. Er stieß sie zurück. +„Berühre mich nicht!“ schrie er.</p> + +<p>Ein leises Stöhnen brach aus ihr hervor, und sie warf +sich ihm zu Füßen und lag da wie eine zertretene Blume. +„Dorian, Dorian, geh nicht fort von mir!“ rief sie leise. +„Ich bin so betrübt, daß ich nicht gut gespielt habe. Ich +dachte nur immer an dich. Aber ich will es wieder versuchen<a class="pagenum" name="Page_136" title="136"> </a> +— wirklich, ich will es versuchen. Es kam so jäh über +mich, die Liebe zu dir. Ich glaube, ich hätte nie etwas von +ihr gewußt, wenn du mich nicht geküßt hättest — wenn +wir uns nicht geküßt hätten. Küß mich wieder, Geliebter! +Geh nicht von mir! Ich könnte es nicht überleben. Oh, verlaß +mich nicht! Mein Bruder... nein, nichts darüber. Er +meinte es nicht im Ernst. Er scherzte nur... Aber du, oh! +Kannst du mir nie den heutigen Abend verzeihen? Ich +werde so fleißig sein und mir Mühe geben, besser zu werden. +Sei nicht grausam gegen mich, weil ich dich mehr +liebe als alles in der Welt. Es ist doch nur ein einziges +Mal, wo ich dir mißfallen habe. Aber du hast ganz recht, +Dorian. Ich hätte mich mehr als Künstlerin zeigen sollen. +Es war närrisch von mir; und doch konnte ich nicht anders. +Ach, verlaß mich nicht, verlaß mich nicht.“ Leidenschaftliches +Schluchzen erschütterte sie. Sie kauerte sich nieder wie ein +wundes Tier, und Dorian Gray sah mit seinen schönen +Augen zu ihr herab, und seine feingeschnittenen Lippen +kräuselten sich in tiefster Verachtung. Die Gefühlsregungen +von Menschen, die man nicht mehr liebt, haben immer +etwas Lächerliches an sich. Sibyl Vane schien ihm überspannt +melodramatisch zu sein. Ihre Tränen und ihr +Schluchzen langweilten ihn nur.</p> + +<p>„Ich gehe“, sagte er schließlich mit seiner klaren, ruhigen +Stimme. „Ich möchte nicht hart sein, aber ich kann dich +nicht mehr sehen. Du hast mich enttäuscht.“</p> + +<p>Sie weinte still weiter und sagte nichts, sondern kroch +näher. Ihre kleinen Hände streckten sich ins Leere hinaus +und schienen ihn zu suchen. Er wandte sich stehenden Fußes<a class="pagenum" name="Page_137" title="137"> </a> +herum und verließ das Zimmer. Wenige Augenblicke später +hatte er das Theater hinter sich.</p> + +<p>Wohin er ging, wußte er selber kaum. Er erinnerte sich, +durch schwach beleuchtete Gassen gewandert, an traurigen, +in schwarze Schatten getauchten Türbogen und elend aussehenden +Häusern vorbeigekommen zu sein, Weiber mit +heiseren Stimmen und schrillem Lachen hatten hinter ihm +her gerufen. Betrunkene waren fluchend und mit sich selber +sprechend, wie Riesenaffen, an ihm vorbeigetaumelt. +Er hatte putzige Kinder auf den Stufen kauern sehen und +Schreien und Schimpfen aus düsteren Höfen gehört.</p> + +<p>Als der Morgen graute, fand er sich dicht bei Covent +Garden. Die Dunkelheit schwand, die Luft rötete sich in +blaßrotem Feuer, und der Himmel wölbte sich zu einer +vollendeten Perle. Mächtige Wagen voll nickender Lilien +rumpelten langsam die gerade, leere Straße hinab. Die +Luft war schwer vom Dufte der Blumen, und die Schönheit +schien seinem Schmerz Linderung zu bringen. Er trat +in die Markthalle und sah den Männern zu, die ihre Wagen +ausluden. Ein Fuhrmann in weißem Kittel bot ihm +von seinen Kirschen an. Er dankte ihm, wunderte sich, warum +er kein Geld dafür annehmen wollte, und begann zerstreut +davon zu essen. Sie waren um Mitternacht gepflückt +worden, und sie hatten die Kühle des Mondes in sich. +Burschen in langer Reihe schleppten Körbe voll gestreifter +Tulpen und von gelben und roten Rosen herbei, trotteten +an ihm vorbei, als sie sich ihren Weg durch die großen, +gelblichgrünen Gemüsestapel suchten. Unter den grauen, +in der Sonne bleichen Säulen der Vorhalle lungerte ein<a class="pagenum" name="Page_138" title="138"> </a> +Trupp von schmuddeligen Mädchen ohne Hüte und warteten, +bis die Versteigerung vorbei war. Andere drängten +sich um die auf- und zugehenden Türen des Kaffeehauses +auf der Piazza. Die schweren Lastgäule glitten auf dem +Pflaster aus und stampften über die holperigen Steine, +ihre Glocken und Geschirre schüttelnd. Einige Fuhrmänner +lagen schlafend auf einem Haufen von Säcken. Mit regenbogenfarbenen +Hälsen und rötlichen Füßen trippelten die +Tauben mitten darin umher und pickten sich Körner auf.</p> + +<p>Nach einer Weile rief er sich eine Droschke und fuhr nach +Hause. Ein paar Augenblicke blieb er zögernd auf der +Schwelle stehen, blickte über den schweigenden Platz und +auf die Häuser mit den blanken, geschlossenen Fenstern +und den hellen Gardinen. Der Himmel war jetzt ein wirklicher +Opal, und die Dächer der Häuser glitzerten ihm wie +Silber entgegen. Von einem Schornstein gegenüber stieg +eine dünne Rauchsäule in die Höhe. Sie schlängelte sich wie +ein violettes Band durch die perlmutterfarbene Luft.</p> + +<p>In der großen venezianischen Goldlaterne, einer Beute +von der Barke irgendeines Dogen, die von der Decke der +großen eichengetäfelten Vorhalle herabhing, brannten noch +drei flackernde Gaslichter: wie dünne blaue Feuerblüten, +von weißen Flammen umsäumt. Er drehte sie aus, warf +Hut und Mantel auf den Tisch und ging durch die Bibliothek +zur Tür seines Schlafzimmers. Das war ein großer, +achteckiger Raum zu ebener Erde, den er in seinem neu +erwachten Gefühl für Luxus erst unlängst einrichten und +mit einigen schnurrigen Renaissancegobelins hatte bespannen +lassen, die er in einer nicht mehr gebrauchten<a class="pagenum" name="Page_139" title="139"> </a> +Dachkammer in Selby Royal entdeckt hatte. Als er eben +nach der Klinke griff, fiel sein Blick auf das Bildnis, das +Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Erstaunt schrak +er zurück. Dann ging er in sein Zimmer und sah nachdenklich +und betroffen aus. Nachdem er die Blume aus seinem +Knopfloch genommen hatte, schien er zu zögern. Schließlich +ging er zurück, trat vor das Bild und musterte es. In dem +unbestimmten, gedämpften Licht, das durch die mattgelblichen +Seidenvorhänge drang, schien ihm das Gesicht ein +wenig verändert. Der Ausdruck war anders. Man hätte +sagen können, daß ein grausamer Zug um den Mund läge. +Es war wirklich seltsam.</p> + +<p>Er drehte sich um, ging zum Fenster und zog den Vorhang +auf. Der helle Morgen flutete durch das Zimmer +und fegte die phantastischen Schatten in düstere Winkel, wo +sie zitternd liegenblieben. Aber der seltsame Ausdruck, den +er im Gesicht des Bildes bemerkt hatte, schien nicht nur +dazubleiben, sondern sich noch verstärkt zu haben. Das +heiße, zitternde Sonnenlicht zeigte ihm den grausamen Zug +um den Mund so deutlich, als sähe er sich in einem Spiegel, +nachdem er etwas Furchtbares verübt hätte.</p> + +<p>Er fuhr zusammen und nahm vom Tisch einen ovalen +Spiegel, dessen Fassung von elfenbeinernen Liebesgöttern +gebildet wurde, eines der vielen Geschenke Lord Henrys, +und blickte hastig in die glänzende Tiefe. Keine Linie solcher +Art verunstaltete seine roten Lippen. Was sollte dies +bedeuten?</p> + +<p>Er rieb sich die Augen und trat ganz nahe an das Bild +heran, um es abermals zu mustern. An der Technik der<a class="pagenum" name="Page_140" title="140"> </a> +Malerei konnte man gar keine Spur einer Veränderung bemerken, +und doch war kein Zweifel, daß sich der Ausdruck +im ganzen verändert hatte. Es war keine Einbildung von +ihm. Die Sache war schrecklich klar.</p> + +<p>Er warf sich in einen Stuhl und begann zu grübeln. +Plötzlich überkam ihn die Erinnerung an die Worte, die er +in Basil Hallwards Atelier an dem Tage gesagt hatte, wo +das Bild fertig geworden war. Ja, er erinnerte sich ganz +deutlich. Er hatte den sinnlosen Wunsch ausgesprochen, daß +er selbst jung bleiben solle, und das Porträt altern: daß +seine eigene Schönheit fleckenlos bleiben, und das Antlitz +auf der Leinwand die Last seiner Leidenschaften und Sünden +tragen solle: daß das gemalte Bildnis von den Linien +des Leidens und Denkens durchfurcht werden und er selbst +den feinen Schmelz und alle Lieblichkeit seiner Jugend behalten +solle, deren er sich damals gerade bewußt geworden +war. Sein Wunsch war doch nicht erfüllt worden? Solche +Dinge bleiben unmöglich. Nur so etwas zu denken, schien +ungeheuerlich. Und doch, da stand das Bild vor ihm und +hatte den Zug von Grausamkeit um den Mund.</p> + +<p>Grausamkeit! War er grausam gewesen? Das Mädchen +hatte schuld, nicht er. Er hatte von ihr geträumt, als einer +großen Künstlerin, hatte ihr seine Liebe geschenkt, weil er +sie für groß gehalten hatte. Dann hatte sie ihn enttäuscht. +Sie war hohl und wertlos gewesen. Und doch überkam ihn +ein Gefühl unendlichen Mitleids, als er daran dachte, wie +sie zu seinen Füßen gelegen und wie ein kleines Kind geschluchzt +hatte. Er erinnerte sich, mit welcher Gefühllosigkeit +er sie betrachtet hatte. Warum war er so geschaffen<a class="pagenum" name="Page_141" title="141"> </a> +worden? Warum war ihm eine solche Seele verliehen worden? +Aber auch er hatte gelitten. In den drei schrecklichen +Stunden, die das Stück dauerte, hatte er Jahrhunderte +von Schmerzen, Ewigkeiten über Ewigkeiten von Qualen +durchlebt. Sein Leben war gewiß soviel wert als das ihre, +wenn er sie für das ganze Leben verwundet hatte. Sie +hatte ihn für einen Augenblick vernichtet. Außerdem sind +die Frauen besser dafür geeignet, Leiden zu ertragen als +Männer. Sie leben von ihren Gefühlen. Sie denken nur +an ihre Gefühle. Wenn sie einen Geliebten haben, so ist es +nur, um jemand zu haben, dem sie Szenen machen können. +Lord Henry hatte ihm das gesagt, und Lord Henry wußte, +wie es mit den Frauen bestellt war. Warum sollte er sich +um Sibyl Vane beunruhigen? Sie war ihm jetzt nichts +mehr.</p> + +<p>Aber das Bild? Was sollte er dazu sagen? Es barg +das Geheimnis seines Lebens in sich und erzählte seine +Geschichte. Es hatte ihn die Liebe zur eigenen Schönheit +gelehrt. Sollte es ihn lehren, seine eigene Seele zu verabscheuen? +Könnte er es je wieder anblicken?</p> + +<p>Nein; es war nur eine Einbildung, ein Gewebe der verwirrten +Sinne. Die fürchterliche Nacht, die er durchlebte, +hatte Gespenster zurückgelassen. Der winzige scharlachrote +Fleck, der die Menschen zum Wahnsinn treibt, war plötzlich +auf seinem Gehirn zum Vorschein gekommen. Das +Bild war nicht anders geworden. Es war Wahnsinn, das +anzunehmen.</p> + +<p>Aber es blickte ihn an mit seinem wunderschönen, entstellten +Gesicht und seinem grausamen Lächeln. Sein helles<a class="pagenum" name="Page_142" title="142"> </a> +Haar leuchtete im Sonnengold der Frühe. Seine blauen +Augen blickten in seine eigenen. Ein Gefühl grenzenlosen +Mitleids durchdrang ihn, nicht mit sich selbst, nein, mit +dem gemalten Abbild. Schon hatte es sich verändert und +würde sich noch mehr verändern. Sein Gold wird zum +Grau erbleichen. Seine roten und weißen Rosen werden +welken. Für jede Sünde, die er begehen würde, wird ein +Fleck hervortreten und seine Schönheit besudeln. Aber er +wird nicht sündigen. Das Bildnis, verwandelt oder unverwandelt, +soll für ihn das sichtbare Wahrzeichen des +Gewissens sein. Er wird jeder Versuchung widerstehen. Er +wird Lord Henry nicht wiedersehen — wenigstens nicht +mehr seinen blendenden, giftigen Theorien lauschen, die +in Basil Hallwards Garten zum erstenmal in ihm die Leidenschaft +für unmögliche Dinge aufgerüttelt hatten. Er +wird zu Sibyl Vane zurückeilen, sich bestreben, sie in ihrer +Kunst zu verfeinern, sie heiraten und versuchen, sie wieder +zu lieben. Ja, es war seine Pflicht, das zu tun. Sie mußte +ja mehr gelitten haben als er. Armes Kind! Er war selbstsüchtig +und grausam gegen sie gewesen. Der Zauber, den +sie auf ihn ausgeübt hatte, würde wiederkehren. Sie +würden glücklich miteinander werden. Sein Leben mit ihr +würde schon und rein sein.</p> + +<p>Er stand von seinem Stuhl auf und schob einen großen +Wandschirm vor das Bildnis. Er schrak zusammen, als er +es anblickte. „Wie schrecklich“, flüsterte er. Dann schritt +er zur Glastür und öffnete sie. Als er in das Grüne hinaus +trat, atmete er tief auf. Die frische Morgenluft schien +all die düsteren Leidenschaften zu verjagen. Er dachte nur<a class="pagenum" name="Page_143" title="143"> </a> +noch an Sibyl. Ein schwacher Glanz seiner Liebe kehrte zurück. +Er wiederholte ihren Namen immer wieder, immer +wieder. Die Vögel, die in dem taubeperlten Garten sangen, +schienen den Blumen von ihr zu erzählen.</p> + +<h2><a name="Achtes_Kapitel" id="Achtes_Kapitel"></a>Achtes Kapitel</h2> + + +<p>Mittag war längst vorüber, als er erwachte. Sein +Diener war mehrmals auf den Fußspitzen in das Zimmer +geschlichen, um zu sehen, ob er wach wäre, und er hatte +sich gewundert, weshalb sein junger Herr so lange schlafe. +Schließlich klingelte es, und Viktor trat leise ein mit einer +Schale Tee und einem Stoß Postsachen auf einer schmalen +Sevresplatte und zog die olivengelben Atlasvorhänge +mit ihrem blauglänzenden Futter vor den drei großen +Fenstern zurück.</p> + +<p>„Monsieur hat heute morgen gut geschlafen“, sagte er +lächelnd.</p> + +<p>„Wieviel Uhr ist es?“ fragte Dorian Gray noch verschlafen.</p> + +<p>„Ein Viertel zwei, Monsieur!“</p> + +<p>Wie spät es war! Er setzte sich auf, schlürfte einige Züge +Tee und durchblätterte die Briefe. Einer davon war von +Lord Henry und war diesen Morgen von einem Boten abgegeben +worden. Er zögerte einen Augenblick und legte +ihn dann zur Seite. Die anderen öffnete er zerstreut. Sie +enthielten die gewöhnliche Sammlung von Karten, Einladungen<a class="pagenum" name="Page_144" title="144"> </a> +zum Essen, Ausstellungsbilletts, Programmen +für Wohltätigkeitskonzerte und ähnlichen Aufforderungen, +wie sie einem jungen Mann der Gesellschaft während der +Saison jeden Morgen ins Haus regnen. Es war auch eine +recht große Rechnung dabei für ein Toiletteservice im +Stile Louis des Fünfzehnten, aus getriebenem Silber, die +er noch nicht mutig genug gewesen war, seinen Vormündern +vorzulegen, die außerordentlich altmodische Herren +waren und nicht begreifen konnten, daß man in einer +Zeit lebe, wo die unnötigen Dinge unsere einzige Notwendigkeit +sind; und außerdem war eine Reihe sehr höflich +abgefaßter Mitteilungen aus Jermyn Street da, in +denen man sich anbot, ihm in der kürzesten Zeit jeden +Geldbetrag zu dem mäßigsten Zinsfuße vorzustrecken.</p> + +<p>Etwa nach zehn Minuten stand er auf, schlüpfte in einen +raffinierten Schlafrock aus Kaschmirwolle mit Seidenstickereien, +und ging in das onyxgepflasterte Badezimmer. +Das kalte Wasser erquickte ihn nach dem langen Schlaf. +Er schien alles vergessen zu haben, was er hinter sich hatte. +Ein- oder zweimal durchzuckte ihn ein undeutliches Gefühl, +als wäre er irgendwie in eine seltsame Tragödie verwickelt +gewesen, aber die Unwirklichkeit eines Traumes webte +darüber.</p> + +<p>Sobald er angezogen war, ging er in das Bibliothekszimmer +und setzte sich zu einem leichten französischen Frühstück +nieder, das auf einem kleinen, runden Tische nahe +beim offenen Fenster bereit stand. Es war ein entzückender +Tag. Die warme Luft schien mit Wohlgerüchen gewürzt. +Eine Biene flog herein und summte um die Schale aus<a class="pagenum" name="Page_145" title="145"> </a> +blauem Drachenporzellan, die voller schwefelgelber Rosen +vor ihm stand. Er fühlte sich vollkommen glücklich.</p> + +<p>Plötzlich fiel sein Blick auf den Wandschirm, den er vor +das Bild gestellt hatte, und er zuckte zusammen.</p> + +<p>„Ist es zu kalt für den gnädigen Herrn?“ fragte der +Diener, während er eine Omelette auf den Tisch stellte. +„Soll ich das Fenster schließen?“</p> + +<p>Dorian schüttelte den Kopf. „Mir ist nicht kalt“, antwortete +er.</p> + +<p>War es alles wahr? Hatte sich das Bild wirklich verändert? +Oder war es lediglich seine eigene Phantasie gewesen, +die ihm einen Zug von Schlechtigkeit vorgespiegelt +hatte, wo nur ein Zug von Freude gewesen war? Eine gemalte +Leinwand konnte sich doch nicht verändern? Das +war doch Tollheit! Das würde er eines Tages Basil als +Märchen erzählen. Er würde darüber lächeln.</p> + +<p>Und doch, wie lebendig war die Erinnerung an die +ganze Sache! Zuerst in dem schwankenden Zwielicht und +dann in der hellen Morgenfrühe hatte er den Zug von +Grausamkeit um die geschwungenen Lippen bemerkt. Er +fürchtete sich förmlich davor, daß sein Diener hinausgehen +könnte. Er wußte, er würde, sowie er allein sei, das Bild +betrachten müssen. Er fürchtete sich vor dieser Gewißheit. +Als der Diener Kaffee und Zigaretten gebracht hatte und +sich zum Gehen wandte, empfand er den heftigsten Wunsch, +ihn dableiben zu lassen. Als sich hinter ihm die Tür geschlossen +hatte, rief er ihn zurück. Der Mann stand da und +wartete auf seine Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick +an. „Ich bin für niemand zu Hause, Viktor“, sagte er<a class="pagenum" name="Page_146" title="146"> </a> +mit einem Seufzer. Der Mann verbeugte sich und ging +hinaus.</p> + +<p>Dann stand er vom Tische auf, zündete sich eine Zigarette +an und warf sich auf eine üppig gepolsterte Ottomane, +die gegenüber dem Schirme stand. Es war ein alter +Wandschirm aus vergoldetem spanischen Leder, in das ein +blumiges Louis-Quatorze-Muster getrieben war. Er musterte +ihn forschend und fragte sich, ob der Schirm wohl +schon jemals das Geheimnis eines Menschenlebens verhüllt +habe.</p> + +<p>Sollte er ihn überhaupt wegschieben? Warum ihn nicht +da stehen lassen? Was half die Gewißheit? War die Sache +wahr, so war es schrecklich. War sie nicht wahr, wozu sich +darüber beunruhigen? Aber wie, wenn durch Schicksalstücke +oder irgendeinen tödlichen Zufall andere Augen als die +seinen dahinter blickten und die fürchterliche Veränderung +sähen? Was wollte er tun, wenn Basil Hallward kam und +sein eigenes Bild sehen wollte? Das würde Basil sicher +tun. Nein, die Sache mußte untersucht werden, und zwar +auf der Stelle. Alles war besser als diese schreckliche Ungewißheit.</p> + +<p>Er stand auf und verschloß beide Türen. Er wollte +wenigstens allein sein, wenn er die Maske seiner Schande +betrachtete. Dann schob er den Schirm zur Seite und sah +sich selbst von Angesicht zu Angesicht. Es war vollständig +wahr. Das Bildnis hatte sich verändert.</p> + +<p>Er erinnerte sich später oft und immer mit nicht geringer +Verwunderung, daß er zuerst das Bild mit einem +Gefühl von wissenschaftlichem Interesse geprüft habe. Daß<a class="pagenum" name="Page_147" title="147"> </a> +eine solche Veränderung möglich sei, schien ihm nicht +glaublich. Und doch war es Tatsache. Gab es irgendeine +geheime Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen, +die auf der Leinwand Form und Farbe werden, und der +Seele, die in ihm lebte? Konnte es sein, daß sie in Wirklichkeit +ausdrückten, was seine Seele dachte? — daß sie +zur Wahrheit machten, was sie träumte? Oder gab es +eine andere schreckliche Beziehung? Er schauderte zusammen +und fühlte sich von Angst gepackt. Dann ging er zu +der Ottomane zurück und lag nun da, das Bildnis in +krankhaftem Schrecken anstierend.</p> + +<p>Eine Wirkung aber, das fühlte er, hatte es gehabt. Es +hatte ihm klargemacht, wie ungerecht, wie grausam er +gegen Sibyl Vane gewesen war. Noch war es nicht zu +spät, das wieder gut zu machen. Sie konnte noch sein +Weib werden. Seine unwahre, selbstsüchtige Liebe sollte +einer höheren Kraft den Platz einräumen, sollte sich zu +einer edleren Leidenschaft erhöhen und das Bildnis, das +Basil Hallward gemalt hatte, sollte sein Führer durchs +Leben, sollte das für ihn sein, was Heiligkeit für einige ist, +Gewissen für andere und Gottesfurcht für uns alle ist. +Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Medikamente, die +das Sittlichkeitsgefühl in Schlaf lullen konnten. Aber hier +war das durch Sündigkeit hervorgerufene sichtbare Symbol +der Erniedrigung. Hier war das ewig unauslöschliche +Zeichen des Verderbens, das Menschen der eigenen Seele +zufügen.</p> + +<p>Es schlug drei und vier, und noch eine halbe Stunde +ließ das doppelte Zeichen erklingen, aber Dorian Gray<a class="pagenum" name="Page_148" title="148"> </a> +rührte sich nicht. Er bemühte sich, die scharlachroten Fäden +des Lebens zu entwirren und sie in ein Muster zu +verschlingen; seinen Weg zu finden aus dem blutroten Irrgarten +der Leidenschaft, den er durchwanderte. Er wußte +nicht, was er tun, nicht, was er denken sollte. Endlich trat +er an den Tisch und schrieb einen leidenschaftlichen Brief +an das Mädchen, das er geliebt hatte, flehte sie an, ihm +zu verzeihen, und beschuldigte sich des Wahnsinns. Er +bedeckte Seite um Seite mit wilden Worten der Sorge +und noch heftigeren des Schmerzes. Es gibt eine Wollust +in Selbstanklagen. Wenn wir uns selbst tadeln, haben wir +das Gefühl, daß uns kein anderer tadeln dürfe. Die +Beichte, nicht der Priester, erteilt uns Absolution. Als +Dorian den Brief beendet hatte, fühlte er, daß ihm vergeben +worden sei.</p> + +<p>Plötzlich pochte man an die Tür und er hörte Lord +Henrys Stimme draußen. „Lieber Junge, ich muß dich +sehen. Laß mich gleich herein! Ich kann es nicht zugeben, +daß du dich so absperrst!“</p> + +<p>Er gab zuerst keine Antwort, sondern blieb ganz still. +Das Klopfen wiederholte sich und wurde lauter. Ja, es +war besser, Lord Henry einzulassen und ihm zu erklären, +daß er ein neues Leben führen wolle, mit ihm zu streiten, +wenn Streit nötig wäre, und sich von ihm zu trennen, +wenn Trennung stattfinden mußte. Er sprang auf, schob +den Wandschirm hastig vor das Bild und schloß die +Tür auf.</p> + +<p>„Es tut mir alles so sehr leid, Dorian“, sagte Lord Henry, +als er eintrat. „Aber du mußt nicht zuviel daran denken.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_149" title="149"> </a></p> + +<p>„Meinst du an Sibyl Vane?“ fragte der Jüngling.</p> + +<p>„Ja, natürlich“, erwiderte Lord Henry, ließ sich in +einen Stuhl nieder und zog seine gelben Handschuhe langsam +aus. „Es ist gewiß, einerseits betrachtet, schrecklich, +aber es war doch nicht deine Schuld. Sag' mal, bist du +hinter die Bühne gegangen und hast du sie gesehen, als +das Stück aus war?“</p> + +<p>„Ja.“</p> + +<p>„Ich war davon überzeugt. Hast du ihr eine Szene +gemacht?“</p> + +<p>„Ich war brutal, Harry, offen gesagt, brutal. Aber +jetzt ist alles wieder gut. Was geschehen ist, tut mir nicht +mehr leid. Es hat mich gelehrt, mich selbst besser kennenzulernen.“</p> + +<p>„Ach, Dorian, da bin ich sehr froh, daß du es so auffaßt. +Ich fürchtete, dich von Gewissensbissen zermartert +zu finden und wie du dir die hübschen lockigen Haare zerraufst.“</p> + +<p>„Das habe ich alles durchgemacht“, sagte Dorian und +schüttelte lächelnd den Kopf. „Jetzt bin ich vollkommen +glücklich. Vor allem weiß ich jetzt, was es heißt, ein Gewissen +zu haben. Es ist nicht das, was du mir gesagt hast. +Es ist das Göttlichste in uns. Spotte nicht darüber, nie +mehr, Harry — wenigstens nie mehr in meiner Gegenwart. +Ich will jetzt gut sein. Ich kann den Gedanken nicht +ertragen, meine Seele befleckt zu haben.“</p> + +<p>„Wirklich eine entzückende, künstlerische Grundlage für +Moral, Dorian. Ich gratuliere dir dazu. Aber wie willst +du damit anfangen?“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_150" title="150"> </a></p> + +<p>„Indem ich Sibyl Vane heirate.“</p> + +<p>„Sibyl Vane heiraten?“ schrie Lord Henry auf, erhob +sich und sah ihn mit der bestürztesten Verwunderung an. +„Aber mein lieber Dorian —“</p> + +<p>„Ja, Harry, ich weiß, was du sagen willst. Irgend +etwas Häßliches über die Ehe. Sag' es nicht. Sag' mir +nie wieder solche Dinge. Vor zwei Tagen habe ich Sibyl +gebeten, mich zu heiraten. Ich werde mein Wort nicht +brechen. Sie soll meine Frau werden.“</p> + +<p>„Deine Frau, Dorian... Hast du denn meinen Brief +nicht bekommen? Ich habe dir heute früh geschrieben und +schickte die Mitteilung durch meinen Diener her.“</p> + +<p>„Deinen Brief? Ach ja, ich erinnere mich. Ich hab' +ihn noch nicht gelesen, Harry. Ich fürchtete, daß etwas +drin stünde, was mir nicht gefallen könnte. Du vivisezierst +das Leben mit deinen Aphorismen.“</p> + +<p>„Dann weißt du also nichts.“</p> + +<p>„Wovon sprichst du?“</p> + +<p>Lord Henry wanderte durch das Zimmer, setzte sich +dann neben Dorian Gray, nahm seine beiden Hände und +hielt sie fest. „Dorian,“ sagte er, „mein Brief — erschrick +nicht — sollte dir melden, daß Sibyl Vane tot ist.“</p> + +<p>Ein Schmerzensschrei gellte von den Lippen des Jünglings, +und er sprang auf und riß seine Hände aus Lord +Henrys Umklammerung los. „Tot! Sibyl tot!“ Es ist +nicht wahr. Es ist eine furchtbare Lüge. Wie wagst du +es, das zu sagen?“</p> + +<p>„Es ist völlig wahr, Dorian“, sagte Lord Henry ernst. +„Es steht in allen Morgenblättern. Ich schrieb dir's gleich<a class="pagenum" name="Page_151" title="151"> </a> +und bat, du solltest niemand empfangen, bis ich käme. +Es muß natürlich eine Untersuchung stattfinden, und du +darfst da nicht hineingezogen werden. Dinge dieser Art +machen in Paris einen Mann zum Helden des Tages. +Aber in London haben die Leute zuviel Vorurteile. Hier +darf man nie mit einem Skandal debütieren. Man muß +sich das aufheben, um im Alter noch interessant zu sein. +Ich nehme an, man weiß im Theater deinen Namen +nicht. In dem Fall ist alles gut. Hat dich jemand in die +Garderobe gehen sehen? Das ist ein wichtiger Faktor.“</p> + +<p>Ein paar Augenblicke lang antwortete Dorian nicht. Er +war vor Entsetzen gelähmt. Schließlich stammelte er mit +erstickter Stimme: „Harry, sagtest du eine Untersuchung? +Was meintest du damit? Hat sich Sibyl —? Oh, Harry, +ich kann's nicht ertragen. Mach's kurz. Sag' mir alles +auf einmal.“</p> + +<p>„Ich zweifle nicht daran, daß es kein Versehen war, +Dorian, wenn man es auch dem Publikum so darstellen +muß. Es scheint, sie hat das Theater mit ihrer Mutter +verlassen, gegen halb eins ungefähr, und dann sagte sie +plötzlich, sie habe oben etwas vergessen. Man wartete +einige Zeit auf sie, aber sie kam nicht wieder herunter. +Schließlich fanden sie sie tot auf dem Boden in ihrem +Ankleidezimmer. Sie hatte aus Versehen irgend etwas +getrunken, irgend solche gräßliche Sache, die man in den +Theatern braucht. Ich weiß nicht genau, was es war, +aber es muß entweder Blausäure oder Bleiweiß gewesen +sein. Ich vermute, Blausäure, denn sie scheint sofort tot +gewesen zu sein.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_152" title="152"> </a></p> + +<p>„Harry, Harry, es ist furchtbar!“ schrie der Jüngling.</p> + +<p>„Ja; natürlich ist's sehr tragisch, aber du mußt sehen, +nicht mit in die Sache verwickelt zu wenden. Ich habe im +‚Standard‛ gelesen, daß sie siebzehn Jahre alt war. Ich +hätte sie noch eher für jünger gehalten. Sie sah ganz wie +ein Kind aus und schien so wenig von der Schauspielerei +zu verstehen. Dorian, du darfst die Sache nicht so an die +Nerven gehen lassen. Du mußt mitkommen und mit mir +essen, und nachher wollen wir noch 'n bißchen in die Oper +gehen. Die Patti singt, und alle Welt wird da sein. Du +kannst mit in die Loge von meiner Schwester kommen. +Sie bringt ein paar famose Frauen mit.“</p> + +<p>„So habe ich also Sibyl Vane gemordet,“ sagte Dorian +Gray halb zu sich selbst — „sie gemordet, so sicher, als +hätte ich ihre zarte Kehle mit einem Messer durchschnitten. +Und doch sind darum die Rosen nicht weniger entzückend. +Die Vögel in meinem Garten singen genau so lustig. Und +heute abend geh' ich mit dir essen und dann in die Oper +und nachher vermutlich irgendwo soupieren. Wie merkwürdig +dramatisch das Leben ist. Wenn ich das alles in +einem Buche gelesen hätte, Harry, ich glaube, ich hätte +darüber geweint. Aber jetzt, wo es in Wirklichkeit geschehen +ist, wo es mir selbst geschehen ist, scheint es mir zu wunderbar +für Tränen. Da liegt der erste leidenschaftliche Liebesbrief, +den ich in meinem Leben geschrieben habe. Seltsam, +daß mein erster leidenschaftlicher Liebesbrief an ein totes +Mädchen gerichtet ist. Ich möchte wohl wissen, ob sie noch +ein Gefühl haben, diese weißen, verstummten Menschen, +die wir Tote nennen. Sibyl! Kann sie fühlen, oder wissen,<a class="pagenum" name="Page_153" title="153"> </a> +oder hören? O Harry, wie hab' ich sie einmal geliebt! +Es scheint mir jetzt vor Jahren gewesen zu sein. Sie war +mir alles. Dann kam dieser schreckliche Abend, — war es +wirklich erst gestern? wo sie so schlecht spielte und mir fast +das Herz zerriß. Sie hat mir alles erklärt. Es war furchtbar +rührend. Aber es machte nicht den mindesten Eindruck +auf mich. Ich hielt sie für ein oberflächliches Geschöpf. +Dann geschah plötzlich etwas, was mir Furcht einjagte. Ich +kann dir nicht sagen, was es war, aber es war furchtbar. +Ich nahm mir vor, zu ihr zurückzukehren. Ich empfand, +daß ich unrecht gehabt habe. Und jetzt ist sie tot. Mein +Gott! Mein Gott! Harry, was soll ich tun? Du kennst +die Gefahr nicht, in der ich schwebe und es gibt nichts, +was mich aufrechterhalten könnte. Sie hätte es für mich +getan. Sie hatte kein Recht, sich umzubringen. Es war +selbstsüchtig von ihr.“</p> + +<p>„Mein lieber Dorian,“ antwortete Lord Harry, während +er eine Zigarette aus dem Etui nahm und ein goldenes +Streichholzbüchschen hervorholte, „die einzige Art, +auf die eine Frau einen Mann bessern kann, besteht darin, +sie langweilt ihn so gründlich, daß er alles Interesse am +Leben verliert. Wenn du dieses Mädchen geheiratet +hättest, wärst du verdorben worden. Natürlich hättest +du sie gütig behandelt. Menschen, für die man nichts +übrig hat, kann man immer gütig behandeln. Aber sie +hätte bald herausgefunden, daß du gar nichts für sie übrig +hast. Und wenn eine Frau bei ihrem Mann Gleichgültigkeit +wittert, vernachlässigt sie sich entweder schrecklich, oder +sie trägt überelegante Hüte, die der Mann einer anderen<a class="pagenum" name="Page_154" title="154"> </a> +Frau bezahlen muß. Ich will nichts über das soziale Mißverhältnis +sagen, das schauderhaft gewesen wäre; ich hätte +selbstverständlich die Sache nie zugegeben, aber ich versichere +dir, die Sache wäre in jedem Falle ganz verfehlt +gewesen.“</p> + +<p>„Vermutlich“, murmelte der junge Mann, während er +mit furchtbar blassem Gesicht im Zimmer auf und ab +schritt. „Aber ich glaube, es sei meine Pflicht. Es ist nicht +meine Schuld, daß mich dieses schreckliche Trauerspiel verhindert +hat, das Rechte zu tun. Ich erinnere mich, daß +du einmal gesagt hast, ein sonderbares Verhängnis schwebe +über guten Vorsätzen — daß man sie nämlich immer zu +spät fasse. Bei meinem war es gewiß der Fall.“</p> + +<p>„Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, Naturgesetze umzustoßen. +Ihr Ursprung ist reine Eitelkeit. Ihr Erfolg ist +absolut gleich Null. Sie geben uns dann und wann etwas +jener unfruchtbaren Lustempfindungen, die auf schwache +Menschen einen gewissen Reiz ausüben. Das ist alles, was +man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind bloße +Schecks, die man auf eine Bank ausstellt, bei der man +kein Konto hat.“</p> + +<p>„Harry“, rief Dorian Gray, der sich näherte und +neben ihn setzte. „Warum kann ich diese Tragödie nicht so +stark empfinden, wie ich müßte? Ich kann nicht glauben, +daß ich herzlos bin. Glaubst du das von mir?“</p> + +<p>„Du hast in den letzten vierzehn Tagen zuviel törichte +Streiche begangen, als daß du einen Anspruch auf diesen +Ehrentitel haben könntest, Dorian“, erwiderte Lord Harry +mit seinem stillen, melancholischen Lächeln.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_155" title="155"> </a></p> + +<p>Der Jüngling runzelte die Stirn. „Diese Erklärung besagt +mir eigentlich nichts, Harry, aber ich bin dennoch +froh, daß du mich nicht für herzlos hältst. Ich bin es gewiß +nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin. Und doch muß ich +zugeben, daß dies Ereignis mich nicht so angreift, wie es +sollte. Es kommt mir wie der wunderbare Szenenschluß +eines wunderbaren Dramas vor. Es hat die schreckliche +Schönheit einer griechischen Tragödie, einer Tragödie, in +der ich eine große Rolle gespielt habe, aber in der ich +selbst nicht verwundet worden bin.“</p> + +<p>„Es ist eine interessante Frage,“ sagte Lord Harry, dem +es ein ausgesuchtes Vergnügen bereitete, mit dem unbewußten +Egoismus des jungen Mannes zu spielen — „eine +außerordentlich interessante Frage. Ich meine, die wahre +Erklärung ist wohl die. Es kommt oft vor, daß sich die +Wirklichkeits-Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen +Form abspielen, daß sie uns durch ihre rohe Gewalt, +ihren absoluten Mangel an Zusammenhang, durch +ihre lächerliche Sinnlosigkeit und ihre außerordentliche +Stillosigkeit verletzen. Sie betrüben uns genau so, +wie es die Gemeinheit tut. Sie geben uns ein Gefühl +einer jähen, brutalen Gewalt, und wir lehnen uns +dagegen auf. Manchmal aber kreuzt eine Tragödie unser +Leben, die künstlerische Schönheitselemente in sich birgt. +Wenn diese Schönheitselemente wirklich vorhanden sind, +dann ergreift die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische +Wirkung. Wir entdecken auf einmal, daß wir nicht +mehr die Darsteller, sondern die Zuschauer des Stückes +sind. Oder richtiger, wir sind beides. Wir beobachten uns<a class="pagenum" name="Page_156" title="156"> </a> +selbst und werden von dem Wundersamen des Schicksals +erschüttert. Was ist in vorliegendem Falle wirklich geschehen? +Jemand hat sich aus Liebe zu dir umgebracht. +Ich wollte, mir wäre je so ein Erlebnis passiert. Ich wäre +den Rest meines Lebens in die Liebe verliebt gewesen. Die +Menschen, die mich angebetet haben — es waren ihrer +nicht sehr viele, aber doch immerhin einige —, waren immer +darauf versessen, weiterzuleben, noch lange, nachdem ich +aufgehört hatte, mich um sie zu kümmern, oder sie, sich um +mich zu kümmern. Sie sind dann dick und langweilig geworden, +und wenn ich ihnen jetzt begegne, schwelgen sie +sofort in Erinnerungen. Dies furchtbare zähe Gedächtnis +der Frauen! Was für 'ne schreckliche Sache das ist! Und +was für einen völligen geistigen Stillstand offenbart es. +Man sollte die Farbe des Lebens in sich aufsaugen, aber +sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind +immer gewöhnlich.“</p> + +<p>„Ich muß Mohnblumen in meinen Garten säen“, seufzte +Dorian.</p> + +<p>„Das ist nicht notwendig“, erwiderte sein Gefährte. +„Das Leben selbst hat immer Mohnblumen vorrätig. +Natürlich, dann und wann halten die Dinge länger an. +Einmal habe ich eine ganze Saison lang nichts als Veilchen +getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen +Roman, der nicht sterben wollte. Schließlich indessen ist er +gestorben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ihn +getötet hat. Ich vermute, es kam durch ihren Vorschlag, +mir die ganze Welt aufzuopfern. Das ist immer ein schrecklicher +Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecknissen<a class="pagenum" name="Page_157" title="157"> </a> +der Ewigkeit. Schon — würdest du es nun glauben? — +Vorige Woche, bei Lady Hampshire, saß ich bei Tisch +neben der fraglichen Dame, und sie konnte wiederum nicht +anders, als die ganze Sache durchzunehmen, die Vergangenheit +aufzuwühlen und die Zukunft auszumalen. +Ich hatte den ganzen Roman unter einem Asphodelosbeet +begraben. Sie scharrte ihn wieder aus und versicherte +mir, daß ich ihr Leben zerstört habe. Ich fühle mich +verpflichtet festzustellen, daß sie trotzdem mit staunenswertem +Appetite aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse +empfand. Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie! +Der einzige Reiz der Vergangenheit liegt eben darin, +daß sie vergangen ist. Aber Frauen wissen nie, wann der +Vorhang gefallen ist. Sie wollen immer noch einen sechsten +Akt, und sowie das ganze Interesse an dem Stück erlahmt +ist, schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man ihnen +ihren Willen ließe, erlebte jede Komödie einen tragischen +Schluß, und jede Komödie gipfelte in einer Farce. Sie +sind oft entzückende Kunstprodukte, aber sie haben keinen +Sinn für die Kunst. Du bist glücklicher als ich. Ich versichere +dir, Dorian, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt +habe, hätte für mich getan, was Sibyl Vane für dich vollbrachte. +Gewöhnliche Frauen trösten sich immer. Einige +von ihnen tun es, indem sie sich in empfindsame Farben +verlieben. Traue niemals einer Frau, die Malven trägt, +wie alt sie auch sein mag, oder einer Frau über fünfunddreißig, +die rosa Bänder liebt. Das bedeutet immer, +daß sie eine Geschichte haben. Andere finden starken Trost +darin, plötzlich die Vorzüge ihrer Männer zu entdecken.<a class="pagenum" name="Page_158" title="158"> </a> +Sie reiben einem ihr eheliches Glück unter die Nase, als +wäre das die fesselndste Sünde. Einige wieder tröstet die +Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize einer Liebelei +an sich, hat mir einmal eine Frau versichert und ich kann +es wohl verstehen. Übrigens macht unsereinen nichts so +eitel, als wenn einem gesagt wird, man wäre ein Sünder. +Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten. Ja; die Tröstungen +haben wirklich kein Ende, die die Frauen im +modernen Leben finden. Die wichtigste habe ich noch gar +nicht erwähnt.“</p> + +<p>„Welche ist das, Harry?“ fragte der junge Mann zerstreut.</p> + +<p>„Oh, der alltäglichste Trost. Einer anderen Frau ihren +Anbeter nehmen, wenn man den eigenen verloren hat. +In der guten Gesellschaft findet eine Frau auf solche +Weise immer ihr Fahrwasser wieder. Aber wirklich, Dorian, +wie anders muß Sibyl Vane gewesen sein als alle +die sonstigen Frauen, denen man begegnet. Für mich liegt +in ihrem Tod etwas ganz Wunderschönes. Es freut mich, +daß ich in einem Jahrhundert lebe, wo solche Wunder +noch geschehen. Sie geben uns neuen Glauben an die Wirklichkeit +der Dinge, mit denen wir sonst spielen, wie Romantik, +Leidenschaft und Liebe.“</p> + +<p>„Ich war furchtbar grausam gegen sie. Du vergißt +das.“</p> + +<p>„Ich fürchte, die Frauen schätzen die Grausamkeit, die +ganz alltägliche Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes. +Sie haben wundervoll primitive Instinkte. Wir +haben sie emanzipiert, aber sie bleiben Sklavinnen, die den<a class="pagenum" name="Page_159" title="159"> </a> +Blick auf ihre Herren gerichtet halten, trotz allem. Sie +lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin überzeugt, daß +du glänzend aufgetreten bist. Ich habe dich nie wirklich +und durchaus erzürnt gesehen, aber ich kann mir vorstellen, +wie entzückend du ausgesehen haben mußt. Und +außerdem sagtest du vorgestern etwas zu mir, was mir +damals nur ein phantastischer Einfall schien, aber jetzt sehe +ich, daß es völlig wahr gewesen ist, und ich halte es für +den Schlüssel zu dem ganzen Ereignis.“</p> + +<p>„Was war das, Harry?“</p> + +<p>„Du hast zu mir gesagt, Sibyl Vane verkörpere dir alle +Frauengestalten der Romantik — sie sei an einem Abend +Desdemona und am anderen Ophelia; wenn sie als Julia +sterbe, erwache sie als Imogen wieder zum Leben.“</p> + +<p>„Sie wird nie wieder zum Leben erwachen“, ächzte der +Jüngling und barg sein Gesicht in den Händen.</p> + +<p>„Nein, sie wird nie wieder zum Leben erwachen. Sie +hat ihre letzte Rolle gespielt. Aber du mußt an diesen +einsamen Tod in dem ärmlichen Garderobenzimmer denken +wie an ein seltsam schauriges Fragment aus einer Tragödie +von der Zeit König Jakobs her, wie an eine wunderbare +Szene bei Webster oder Ford oder Cyril Tourneur. Das +Mädchen hat nie wirklich gelebt, also ist sie auch nie wirklich +gestorben. Für dich war sie ja niemals mehr als ein +Traum, ein Schattengeist, der durch Shakespeares Dramen +huschte und sie durch ihr Dasein noch reizvoller machte, +der Ton einer Flöte, durch die Shakespeares Musik noch +reicher und freudiger ertönte. Im Augenblick, wo sie das +wirkliche Leben berührte, zerstörte sie es, und es zerstörte<a class="pagenum" name="Page_160" title="160"> </a> +sie, und so schied sie dahin. Trauere um Ophelia, wenn +es dir behagt. Streu Asche auf dein Haupt, weil Kordelia +erwürgt wurde. Schrei zum Himmel, weil die Tochter des +Brabantio starb. Aber verschwende deine Tränen nicht +um Sibyl Vane. Sie war weniger wirklich, als jene +sind.“</p> + +<p>Es entstand ein Schweigen. Der Abend dämmerte im +Zimmer. Geräuschlos auf silbernen Fußen schlichen die +Schatten aus dem Garten herein. Die Farben verschwanden +müde aus allen Dingen.</p> + +<p>Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. „Du hast mich +mir selber klargemacht“, flüsterte er mit einem Seufzer +der Erleichterung. „Alles, was du gesagt hast, habe ich +auch gefühlt, nur hab' ich mich davor geängstigt, und ich +konnte es mir selbst nicht ausdrücken. Wie gut du mich +kennst! Aber wir wollen, von dem was geschehen ist, +nie wieder sprechen. Es war ein wundersames Erlebnis. +Das ist alles. Ich möchte wissen, ob meiner noch etwas so +Wunderbares im Leben harrt.“</p> + +<p>„Das Leben hat alles für dich vorrätig, Dorian. Es +gibt nichts, was du mit deiner außerordentlichen Schönheit +nicht tun könntest.“</p> + +<p>„Aber stelle dir vor, Harry, wenn ich hager und alt +und runzlich würde, was dann?“</p> + +<p>„Ach dann,“ sagte Lord Harry und erhob sich zum +Gehen — „dann, mein bester Dorian, würdest du um +deine Siege kämpfen müssen. Wie es ist, werden sie dir +noch entgegengetragen. Nein, du mußt schön bleiben, wie +du noch bist. Wir leben in einer Zeit, in der zuviel gelesen<a class="pagenum" name="Page_161" title="161"> </a> +wird, als daß sie weise wäre, und in der zuviel +gedacht wird, als daß sie schön wäre. Wir können dich +nicht entbehren. Und jetzt tätest du besser, dich anzuziehen +und in den Klub zu fahren. Wir kommen ohnehin schon +zu spät.“</p> + +<p>„Ich meine, ich treffe dich lieber in der Oper, Harry. +Ich bin zu müde, um etwas zu essen. Welche Nummer +hat die Loge deiner Schwester?“</p> + +<p>„Siebenundzwanzig, glaub' ich, sie liegt im ersten Rang. +Du findest ihren Namen an der Tür. Aber es tut mir +leid, daß du nicht mit essen kommst.“</p> + +<p>„Ich bin nicht aufgelegt dazu,“ sagte Dorian zerstreut, +„aber ich bin dir sehr dankbar für alles, was du zu mir +gesagt hast. Du bist wirklich mein bester Freund. Niemand +hat mich je richtiger verstanden als du.“</p> + +<p>„Wir stehen erst am Anfang unserer Freundschaft, Dorian“, +erwiderte Lord Harry und schüttelte ihm die Hand. +„Adieu! Ich hoffe, dich vor halb zehn zu sehen. Vergiß +nicht: die Patti singt.“</p> + +<p>Als sich die Tür hinter ihm schloß, klingelte Dorian +Gray, und nach ein paar Minuten erschien Viktor mit den +Lampen und ließ die Vorhänge herab. Er wartete ungeduldig, +daß der Diener wieder verschwände. Der Mann +schien eine unglaubliche Zeit für alles zu gebrauchen.</p> + +<p>Sobald er wieder draußen war, stürzte Dorian auf den +Schirm zu und schob ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich +nicht wieder verändert. Es hatte die Nachricht von Sibyl +Vanes Tod erhalten, bevor er selbst davon gewußt hatte. +Es kannte die Ereignisse des Lebens, sobald sie sich ereigneten.<a class="pagenum" name="Page_162" title="162"> </a> +Dieser Zug böser Grausamkeit, der die feinen Linien +des Mundes verunstaltete, war zweifellos im Augenblick +aufgetaucht, als das Mädchen das Gift genommen hatte. +Oder kümmerte sich das Bild nicht um die Wirkungen +einer Tat? Nahm es nur von Vorgängen in der Seele +Kenntnis? Er hätte es gar zu gern gewußt und hoffte, +eines Tages solche Wandlung vor seinen Augen geschehen +zu sehen, und er schauderte, während er es hoffte.</p> + +<p>Die arme Sibyl! Wie sonderbar romantisch alles gewesen +war! Sie hatte oft den Tod auf der Bühne dargestellt. +Dann hatte sie der Tod selbst gepackt und weggeholt. +Wie mochte sie die grauenvolle letzte Szene gespielt haben? +Hatte sie ihn im Sterben verflucht? Nein; sie war aus +Liebe zu ihm gestorben, und die Liebe sollte ihm von jetzt +ab immer ein Heiligtum bleiben. Sie hatte alles gebüßt +durch das Opfer ihres Lebens. Er wollte nicht mehr +daran denken, was er ihretwegen an jenem schrecklichen +Theaterabend durchgemacht hatte. Wenn er an sie dachte, +sollte es sein wie an eine wundersam tragische Gestalt, die +auf die Weltbühne gestellt worden war, um die höchste +Verwirklichung der Liebe zu künden. Eine wundersam tragische +Gestalt? Tränen traten ihm in die Augen, als er +sich ihres kindlichen Aussehens, ihrer fröhlichen, phantastischen +Art, ihrer scheuen, zaghaften Anmut entsann. Er +verscheuchte alles hastig und blickte wieder auf das Porträt.</p> + +<p>Er fühlte, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, zu +wählen. Oder war die Wahl schon getroffen? Ja, das +Leben hatte für ihn entschieden — das Leben und seine +unermeßliche Neugier auf das Leben. Ewige Jugend,<a class="pagenum" name="Page_163" title="163"> </a> +unerschöpfliche Leidenschaft, ausgesuchte, geheimnisvolle +Genüsse, wilde Freuden und noch wildere Sünden — all +das sollte er haben. Das Bildnis sollte die Last seiner +Schmach tragen: das war alles.</p> + +<p>Ein peinliches Gefühl beschlich ihn, als er an die Entweihung +dachte, die dieses schönen Gesichtes auf der Leinwand +harrte. Einmal hatte er in knabenhafter Parodie +des Narzissus die gemalten Lippen, die ihn jetzt so grausam +anlächelten, geküßt oder doch zum Schein geküßt. +Morgen für Morgen hatte er vor dem Bild gesessen und +seine Schönheit angestaunt; zu Zeiten kam es ihm vor, +als sei er in sein eigenes Bild verliebt. Sollte es sich nun +wandeln mit jeder Laune, der er nachgab? Sollte es +ein ungeheuerliches, widerliches Ding werden, das man im +verhängten Winkel verschließen müsse vor dem Glanz der +Sonne, der so oft das lockige Wunder seines Haares noch +goldiger hatte aufleuchten lassen? Wie schade! Wie schade!</p> + +<p>Einen Augenblick dachte er daran, zu beten, daß die +entsetzliche Beziehung zwischen ihm und dem Bilde aufhören +möge. Es hatte sich verwandelt, da er darum gebeten +hatte; es könnte vielleicht, wenn er darum bäte, +auch wieder unverändert bleiben. Und doch, wer, der eine +Ahnung vom Leben hat, würde die Möglichkeit, immer +jung zu bleiben, aufgeben, mochte die Möglichkeit noch so +phantastisch und mit noch so verhängnisreichen Folgen verknüpft +sein? Überdies, stand es wirklich in seiner Macht? +War wirklich das Gebet die Ursache der Verwandlung? +Konnte es für die ganze Sache nicht irgendeine merkwürdige +wissenschaftliche Ursache geben? Wenn das Denken<a class="pagenum" name="Page_164" title="164"> </a> +eine Wirkung auf einen lebenden Organismus ausüben +konnte, konnte da nicht das Denken auch auf tote unorganische +Dinge Einfluß haben? Ja, konnten nicht ohne +Gedanken und bewußte Wünsche Dinge eingreifen, die +ganz außerhalb unserer Person stehen, im Einklange mit +unseren Launen und Leidenschaftsanfällen erzittern, konnte +nicht Atom zu Atom sprechen in geheimer Neigung oder +seltsamer Verwandtschaft? Aber schließlich waren die Ursachen +gleichgültig. Er wollte durch Gebet nie wieder eine +schreckliche Macht versuchen. Wenn das Bildnis sich wandeln +wollte, so sollte es sich wandeln. Das war einmal +so. Warum zu tief in ein Geheimnis eindringen?</p> + +<p>Allerdings müßte es ein starker Genuß sein, solchen Vorgang +zu beobachten. Er würde befähigt werden, seinem +Geist in geheime Schlupfwinkel zu folgen. Dies Bild sollte +ihm der zauberhafteste Spiegel werden. Wie es ihm seinen +Körper geoffenbart hatte, so sollte es ihm nun die Seele +enthüllen. Und wenn der Winter über das Gemälde +hereinbrach, dann stand er immer noch da, wo der Frühling +schwankt, ob er die zum Sommer führende Schwelle +überschreiten soll. Wenn das Blut aus seinem Antlitz fortschliche +und eine kreidebleiche Maske mit stummen Augen +zurückließe, dann bewahrte er immer noch den Glanz des +Säuglingsalters. Keine Blüte seiner Lieblichkeit sollte +jemals welken. Kein Pulsschlag seines Lebens jemals +erlahmen. Wie die Götter der Griechen würde er stark +und behend und heiter bleiben. Was lag daran, was aus +dem gemalten Abbild auf der Leinwand wurde? Er selbst +war seiner sicher. Darauf kam alles an.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_165" title="165"> </a></p> + +<p>Er schob den Schirm wieder auf den alten Platz vor dem +Bilde und lächelte, indem er es tat. Dann ging er in sein +Schlafzimmer, wo sein Diener schon auf ihn wartete. Eine +Stunde später war er in der Oper, und Lord Harry +beugte sich über seinen Stuhl.</p> + +<h2><a name="Neuntes_Kapitel" id="Neuntes_Kapitel"></a>Neuntes Kapitel</h2> + + +<p>Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat +Basil Hallward ins Zimmer.</p> + +<p>„Ich bin so froh, daß ich dich treffe, Dorian“, sagte er +ernsten Tons. „Ich war gestern abend hier, und man +sagte mir, daß du in der Oper seist. Ich wußte natürlich, +daß es ja unmöglich ist. Aber es wäre mir lieber gewesen, +du hättest ein Wörtchen hinterlassen, wo du wirklich +warst. Ich habe eine schreckliche Nacht verbracht, und fürchtete +halb, daß eine Tragödie der anderen folgen würde. +Ich meine, du hättest mir wohl depeschieren können, so wie +du die Nachricht erhieltst. Ich hab' es durch Zufall im +letzten Abendblatt des Globe gelesen, das mir im Klub +in die Hände geriet. Ich eilte sofort hierher und war unglücklich, +dich nicht zu Hause anzutreffen. Ich kann dir +gar nicht sagen, wie tief mir die ganze Sache ins Herz +schneidet. Ich weiß, was du leiden mußt. Aber wo warst +du denn? Bist du hingegangen, um die Mutter des Mädchens +zu sehen? Einen Moment dachte ich daran, dir dorthin +zu folgen. In der Zeitung stand die Adresse. Irgendwo +in Euston Road, nicht wahr? Aber ich hatte Angst,<a class="pagenum" name="Page_166" title="166"> </a> +zudringlich zu sein in einem Schmerze, wo ich doch nicht abhelfen +konnte. Die arme Frau! In was für einem Zustand +muß sie sein! Und dazu ihr einziges Kind! Was hat sie zu +all dem gesagt?“</p> + +<p>„Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?“ sagte +Dorian Gray, nippte etwas hellgelben Wein aus einem +reizenden bauchigen venezianischen Glase, das mit Goldperlen +inkrustiert war, und sah ganz unwillig aus. „Ich +war in der Oper. Du hättest auch hinkommen sollen. Ich +habe dort Harrys <ins title="Schwester">Schwester,</ins> Lady Gwendolen, kennengelernt. +Wir waren in ihrer Loge. Sie ist ein bezauberndes +Weib; und die Patti hat göttlich gesungen. Sprich nicht +von schrecklichen Dingen! Wenn man über eine Sache +nicht spricht, ist sie nicht geschehen. Nur was man äußert, +sagt Harry, gibt den Dingen ihre Wirklichkeit. Erwähnen +möcht' ich aber, daß sie nicht das einzige Kind der Frau +war. Es ist noch ein Sohn da, ein famoser Junge vermutlich. +Aber er ist nicht beim Theater. Matrose oder so was +ähnliches. Und jetzt erzähle mir was von dir, was malst +du?“</p> + +<p>„Du warst in der Oper?“ sagte Hallward gedehnt, und +seine Stimme war gepreßt vor Schmerz. „Du warst in der +Oper, während Sibyl Vane tot in irgendeiner schmutzigen +Stube lag? Du kannst mir von anderen bezaubernden +Weibern erzählen, und daß die Patti göttlich gesungen +hat, noch ehe das Mädchen, das du geliebt hast, die Ruhe +des Grabes gefunden hat, darin sie schlafen soll? Mensch, +bedenke doch, welche Schrecknisse auf den kleinen weißen +Körper warten!“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_167" title="167"> </a></p> + +<p>„Hör' auf, Basil, ich will davon nichts hören!“ rief +Dorian und sprang auf. „Du darfst mir über diese Dinge +nichts sagen. Was geschehen ist, ist geschehen, was vergangen +ist, ist vergangen.“</p> + +<p>„Nennst du gestern die Vergangenheit?“</p> + +<p>„Was hat die wirklich verstrichene Zeit damit zu tun? +Nur seichtes Volk braucht Jahre, um ein Gefühl zu überwinden. +Ein Mensch, der Herr über sich selbst ist, kann +einen Schmerz ebenso leicht überwinden, wie er einen +Genuß entdecken kann. Ich will nicht der Spielball meiner +Empfindungen sein. Ich will sie ausnützen, mich an ihnen +freuen und sie beherrschen.“</p> + +<p>„Dorian, es ist schauderhaft! Irgend etwas hat dich +ganz verändert. Du siehst noch genau so aus wie der +wunderhübsche Junge, der Tag für Tag in mein Atelier +kam, um für mein Bild zu sitzen. Aber damals warst du +einfacher, natürlich und herzlich. Du warst das unverdorbenste +Menschenkind auf der ganzen Welt. Ich weiß +nicht, was jetzt über dich gekommen ist. Du sprichst, als +hättest du kein Herz, kein Mitleid in dir. Das ist Harrys +Einfluß. Ich sehe es.“</p> + +<p>Der junge Mensch wurde rot, ging ans Fenster, sah ein +paar Augenblicke auf den grün schimmernden, von der +Sonne betupften Garten. „Ich schulde Harry sehr viel, sehr +viel, Basil,“ sagte er schließlich — „mehr als ich dir schulde. +Du hast mir nur Eitelkeit beigebracht.“</p> + +<p>„Ich bin bestraft worden dafür, Dorian — oder werde +es eines Tages sein.“</p> + +<p>„Ich weiß nicht, was du meinst, Basil“, rief Dorian<a class="pagenum" name="Page_168" title="168"> </a> +aus und drehte sich um. „Ich weiß nicht, was du willst. +Was willst du?“</p> + +<p>„Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt +habe“, sagte der Künstler traurig.</p> + +<p>„Basil,“ erwiderte der Jüngling, trat vor ihn hin und +legte ihm die Hand auf die Schulter, „du bist zu spät +gekommen. Als ich gestern hörte, daß sich Sibyl Vane +getötet habe — —“</p> + +<p>„Sich getötet! Gott im Himmel! ist das ganz sicher?“ +schrie Hallward und stierte ihn mit dem Ausdruck äußersten +Schreckens an.</p> + +<p>„Mein lieber Basil! Du glaubst doch nicht, daß es nur +ein gewöhnlicher Unglücksfall war? Natürlich hat sie sich +selbst getötet.“</p> + +<p>Der ältere Mann vergrub sein Gesicht in den Händen. +„Wie schrecklich!“ flüsterte er und ein Schauer durchrann +ihn.</p> + +<p>„Nein,“ sagte Dorian Gray, „es ist gar nichts Schreckliches +daran. Es ist eine der größten romantischen Tragödien +unserer Zeit. In der Regel führen Schauspieler das +alltäglichste Leben. Sie sind gute Ehemänner oder treue +Ehefrauen oder sonst irgendwas Langweiliges. Du verstehst, +was ich meine — hausbackene Tugend und lauter +solche Dinge. Wie anders war Sibyl! Sie lebte ihre beste +Tragödie. Sie war immer eine Heldin. Am letzten Abend, +wo sie spielte — an dem Abend, wo du sie gesehen hast —, +spielte sie schlecht, weil sie die Liebe als Wirklichkeit +erkannt hatte. Als sie ihre Unwirklichkeit erfuhr, starb +sie, wie Julia daran gestorben wäre. Sie entschwand<a class="pagenum" name="Page_169" title="169"> </a> +wieder in das Reich der Kunst. Sie umschwebt etwas von +einer Märtyrerin. Ihr Tod hat all die pathetische Nutzlosigkeit +der Märtyrerschaft, all seine vergeudete Schönheit. +Aber wie gesagt, du brauchst nicht zu glauben, daß +ich nicht gelitten hätte. Wenn du gestern in einem bestimmten +Augenblick, etwa um halb sechs oder um drei Viertel +sechs gekommen wärst — dann hättest du mich in Tränen +aufgelöst gefunden. Selbst Harry, der hier war und mir +erst die Nachricht brachte, hat keine Ahnung, was ich +durchgemacht habe. Ich litt namenlos. Dann ging es vorüber. +Ich kann das Gefühl nicht wiederholen. Niemand +kann das, sentimentale Menschen ausgenommen. Und du +bist furchtbar ungerecht, Basil. Du kommst hierher, um +mich zu trösten. Das ist gut und lieb von dir. Du findest +mich getröstet und bist wütend. So sieht dein Mitgefühl +aus! Du erinnerst mich an eine Geschichte, die mir Harry +über einen Philantropen erzählt hat, der sich zwanzig +Jahre seines Lebens damit abquälte, irgendeinen Mißstand +aus der Welt zu schaffen oder ein ungerechtes Gesetz +abzuändern — ich kann mich nicht mehr genau erinnern. +Schließlich gelang es ihm, und nichts konnte größer sein als +seine Enttäuschung. Er hatte nun absolut nichts mehr zu +tun, starb beinah vor Langerweile und wurde ein unversöhnlicher +Menschenhasser. Und außerdem, mein lieber, alter +Basil, wenn du mich wirklich trösten wolltest, so lehre mich +lieber vergessen, was geschehen ist, oder lehre mich's +von rein künstlerischer Seite ansehen. War es nicht Gautier, +der gern über die ‚<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">consolation des arts</span>‛ geschrieben +hat? Ich erinnere mich, daß mir mal in deinem Atelier<a class="pagenum" name="Page_170" title="170"> </a> +ein kleines Buch in Pergamentband in die Hand fiel, und +ich darin auf diesen entzückenden Ausdruck stieß. Nun, ich +bin ja nicht wie der junge Mann, von dem du mir einmal +in Marlow erzählt hast, und der zu sagen pflegte, gelber +Atlas könne einen über alles Elend im Leben hinwegtrösten. +Ich liebe schöne Dinge, die man in die Hand nehmen +und angreifen kann. Alter Brokat, grünpatinierte +Bronzen, Lackarbeiten, Elfenbeinschnitzereien, eine erlesene +Zimmerkunst, Luxus, Prunk, das sind alles Dinge, die +einem viel geben können. Aber die künstlerische Seelenstimmung, +die sie erzeugen oder mindestens offenbaren, +bedeutet mir doch noch mehr. Ein Zuschauer seines eigenen +Lebens sein, wie Harry sagt, das heißt, den Schmerzen +des Lebens entrinnen. Ich weiß, du bist erstaunt, daß ich +so zu dir spreche. Du hast noch nicht bemerkt, wie ich mich +entwickelt habe. Ich war ein Schulknabe, als du mich +kennenlerntest. Jetzt bin ich ein Mann. Ich habe neue +Leidenschaften, neue Gedanken, neue Vorstellungen. Ich +bin anders, aber du mußt mich trotzdem nicht weniger lieb +haben. Ich bin verändert, aber du mußt immer mein +Freund bleiben. Natürlich habe ich Harry sehr gern. Aber +ich weiß auch, daß du besser bist als er. Du bist nicht +stärker — dazu ängstigst du dich zu viel vorm Leben — +aber du bist besser. Und wie glücklich waren wir doch miteinander! +Verlaß mich nicht, Basil, und zanke nicht mit +mir. Ich bin, was ich bin. Mehr kann ich dazu nicht +sagen.“</p> + +<p>Der Maler war seltsam bewegt. Der junge Mensch war +ihm unsagbar teuer, und seine Erscheinung war der große<a class="pagenum" name="Page_171" title="171"> </a> +Wendepunkt in seiner Kunst gewesen. Er konnte den Gedanken +nicht ertragen, ihm noch weitere Vorwürfe zu +machen. Am Ende war seine Gleichgültigkeit nur eine vorübergehende +Laune. Es steckte ja soviel Gutes, soviel Edles +in ihm.</p> + +<p>„Gut, Dorian,“ sagte er endlich mit einem wehmütigen +Lächeln, „ich will von heut an nie wieder über diese furchtbare +Sache sprechen. Ich hoffe nur, dein Name wird +nicht in Verbindung damit genannt. Die Leichenschau +soll heute nachmittag stattfinden. Bist du vorgeladen?“</p> + +<p>Dorian schüttelte den Kopf, und eine unangenehme +Empfindung glitt bei dem Wort „Leichenschau“ über sein +Gesicht. In all diesen Dingen lag etwas so Rohes und Gemeines. +„Sie kennen meinen Namen nicht“, antwortete er.</p> + +<p>„Aber sie wußte ihn doch?“</p> + +<p>„Nur meinen Vornamen, und den hat sie gewiß niemand +gesagt. Sie erzählte mir einmal, daß alle sehr begierig +seien, zu erfahren, wer ich sei und daß sie ihnen +beständig sage, ich heiße der Prinz Märchenschön. Das war +hübsch von ihr. Du mußt mir eine Zeichnung von Sibyl +machen, Basil. Ich möchte von ihr gern etwas mehr +haben als die Erinnerung an ein paar Küsse und einige +gestammelte pathetische Worte.“</p> + +<p>„Ich will versuchen, etwas zu machen, Dorian, wenn ich +dir damit eine Freude bereite. Aber du mußt zu mir +kommen und mir selbst wieder sitzen. Ich komme ohne dich +nicht vom Fleck.“</p> + +<p>„Ich kann dir nie wieder sitzen, Basil. Das ist unmöglich!“ +rief Dorian und schrak zurück.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_172" title="172"> </a></p> + +<p>Der Maler starrte ihn an. „Mein lieber Junge, was für +ein Unsinn“, rief er. „Willst du damit sagen, daß du mein +Bild nicht gut findest? Wo ist es? Warum hast du den +Wandschirm vorgestellt? Laß es mich sehen. Es ist die +beste Arbeit, die ich je gemacht habe. Nimm den Schirm +weg, Dorian! Es ist eine Schande, daß dein Bedienter +mein Bild so versteckt. Ich merkte gleich, wie ich eintrat, +daß das Zimmer ganz verändert sei.“</p> + +<p>„Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Du +glaubst doch nicht etwa, daß ich ihm irgendeine Anordnung +in meinem Zimmer überlasse? Er ordnet zuweilen +meine Blumen — das ist alles. Nein, ich habe es selbst +getan. Das Licht war zu stark für das Bild.“</p> + +<p>„Zu stark? Gewiß nicht, mein Lieber. Es hat einen untadeligen +Platz. Laß mich's mal sehen!“ und Hallward +schritt in die Zimmerecke.</p> + +<p>Ein Schrei des Entsetzens entrang sich den Lippen +Dorian Grays, und er stürzte sich zwischen den Maler und +den Schirm. „Basil,“ sagte er und sah ganz bleich aus, +„du darfst es nicht sehen. Ich will es nicht.“</p> + +<p>„Mein eigenes Bild nicht sehen? Du meinst das doch +nicht im Ernst! Warum soll ich es nicht sehen?“ rief Hallward +lachend.</p> + +<p>„Wenn du versuchst, es anzusehen, Basil, gebe ich dir +mein Ehrenwort, daß ich, solange ich lebe, nie wieder ein +Wort mit dir spreche. Es ist mein völliger Ernst. Ich gebe +keine Erklärung, und du wirst um keine bitten. Aber denke +daran, wenn du diesen Wandschirm anrührst, dann ist +alles aus zwischen uns!“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_173" title="173"> </a></p> + +<p>Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Dorian +Gray ganz verblüfft an. So hatte er ihn vorher nie gesehen. +Der Jüngling war wirklich ganz bleich vor Zorn. +Seine Hände waren zusammengeballt, und die Pupillen +seiner Augen sahen aus wie blaue Feuerräder. Er zitterte +am ganzen Leibe.</p> + +<p>„Dorian!“</p> + +<p>„Sprich nicht!“</p> + +<p>„Aber was ist los? Ich sehe das Bild natürlich nicht +an, wenn du es nicht willst“, sagte der Maler ziemlich kühl, +drehte sich um und ging zum Fenster hinüber. „Aber es +scheint mir wahrhaftig ganz verrückt, daß ich mein eigenes +Werk nicht sehen soll, besonders, wo ich es im Herbst in +Paris ausstellen will. Ich werde es wahrscheinlich vorher +nochmals firnissen müssen, werde es also eines Tages doch +gewiß sehen, also warum nicht heute?“</p> + +<p>„Es ausstellen? Du willst es ausstellen?“ rief Dorian +Gray, den ein seltsames Angstgefühl überkam. Sollte alle +Welt sein Geheimnis erfahren? Sollte das Volk das Geheimnis +seines Lebens begaffen? Das war unmöglich. +Irgend etwas — er wußte noch nicht was — mußte +sofort geschehen.</p> + +<p>„Ja, ich denke nicht, daß du etwas dagegen haben wirst. +Georges Petit will nächstens meine besten Bilder für eine +Sonderausstellung in der Rue de Sèze sammeln, die in der +ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll. Das Bild wird +nur einen Monat lang weg sein. Ich meine, solange könntest +du es leicht entbehren. Du bist ohnehin während dieser +Zeit nicht in der Stadt. Und wenn du es überhaupt hinter<a class="pagenum" name="Page_174" title="174"> </a> +einem Schirm versteckt halten willst, kann dir ja nicht viel +daran gelegen sein.“</p> + +<p>Dorian Gray fuhr sich mit der Hand über die Stirn. +Schweißtropfen standen darauf. Er fühlte, daß er am +Rande einer fürchterlichen Gefahr stehe. „Du hast mir vor +einem Monat gesagt, du würdest es nie ausstellen“, rief er. +„Warum hast du dich anders entschlossen? Ihr Leute, +die ihr viel Aufhebens von der Konsequenz macht, habt +genau soviel Launen wie andere. Der einzige Unterschied +ist der, daß eure Launen wenig Sinn haben. Du kannst +nicht vergessen haben, daß du mir feierlichst versichert hast, +nichts in der Welt könne dich bewegen, das Bild auf eine +Ausstellung zu bringen. Du sagtest zu Harry ganz dasselbe.“ +Er stockte plötzlich, und ein Glanz erwachte in seinen +Augen. Er erinnerte sich, daß ihm Lord Harry einmal +halb ernst und halb scherzend gesagt hatte: Willst du mal +eine merkwürdige Viertelstunde erleben, dann laß dir von +Basil sagen, warum er dein Porträt nicht ausstellen will. +Er hat mir den Grund erzählt, und es war für mich eine +Offenbarung. Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis. +Er wollte ihn fragen und auf die Probe stellen.</p> + +<p>„Basil,“ sagte er, und trat ganz dicht zu ihm heran +und sah ihm fest ins Gesicht, „jeder von uns hat ein Geheimnis. +Sage mir das deine, und ich laß dich meines +wissen. Was für einen Grund hattest du, die Ausstellung +meines Bildes zu verweigern?“</p> + +<p>Der Maler erschauderte, ohne daß er es wollte. „Dorian, +wenn ich es dir sagte, hättest du mich wahrscheinlich weniger +lieb und würdest mich gewiß auslachen. Keines von beiden<a class="pagenum" name="Page_175" title="175"> </a> +könnte ich ertragen. Wenn du willst, daß ich nie mehr dein +Bild ansehen soll, dann geb' ich mich zufrieden. Ich kann +dich selbst ja immer ansehen. Wenn du die beste Arbeit, +die ich je gemacht habe, vor der Welt versteckt halten willst, +soll es mir recht sein. Deine Freundschaft ist mir mehr +wert als Ruhm und Anerkennung.“</p> + +<p>„Nein, Basil, du mußt es mir sagen. Ich glaube, ich +habe ein Recht, es zu wissen.“ Sein Angstgefühl hatte ihn +verlassen, und Neugier war an dessen Stelle getreten. Er +war entschlossen, hinter Basil Hallwards Geheimnis zu +kommen.</p> + +<p>„Setzen wir uns, Dorian“, sagte der Maler, der verwirrt +aussah. „Setzen wir uns und beantworte mir eine +Frage. Hast du an dem Bild etwas Merkwürdiges bemerkt? +— etwas, das dir vielleicht anfänglich nicht aufgefallen +ist, was sich dir dann aber plötzlich enthüllte?“</p> + +<p>„Basil!“ schrie der Jüngling, umklammerte die Armlehnen +seines Stuhles mit zitternden Händen und starrte +ihn mit wilden, verstörten Augen an.</p> + +<p>„Ich sehe, du hast es bemerkt. Sage nichts. Warte, bis +du gehört hast, was ich zu sagen habe. Dorian, von dem +Augenblick an, wo ich dich kennengelernt habe, übte deine +Persönlichkeit den außerordentlichsten Einfluß auf mich aus. +Ich war beherrscht von dir, meine Seele, mein Gehirn, +meine ganze Kraft war es. Du wurdest für mich die sichtbare +Verkörperung des unsichtbaren Ideals, dessen Bild +uns Künstler wie ein köstlicher Traum verfolgt. Ich habe +dich angebetet. Ich wurde eifersüchtig auf jeden Menschen, +mit dem du sprachst. Ich wollte dich ganz für mich allein<a class="pagenum" name="Page_176" title="176"> </a> +haben. Ich war nur glücklich, wenn ich mit dir zusammen +war. Wenn du fort von mir warst, lebtest du trotzdem +in meiner Kunst weiter... Natürlich ließ ich dich nie etwas +davon wissen. Das wäre unmöglich gewesen. Du hättest +es nicht verstanden. Ich selbst hab' es kaum verstanden. Ich +wußte nur, daß ich Auge in Auge die Vollkommenheit gesehen +hatte und daß sich die Welt meinen Augen als ein +Wunder erschlossen hatte — vielleicht als ein zu mächtiges +Wunder, denn in so wahnsinniger Anbetung liegt eine Gefahr, +die Gefahr, daß die Anbetung aufhört, und die Gefahr, +daß sie bleibt... Wochen und Wochen verstrichen, +und ich ging immer mehr und mehr in dir verloren. Dann +kam ein neues Stadium. Ich hatte dich als Paris in strahlender +Rüstung gemalt und als Adonis im Jägergewand +mit blitzendem Speer. Mit schweren Lotusblüten bekränzt +hast du auf dem Bug von Hadrians Barke gesessen und in +den grünen, schlammigen Nil geblickt. Du hast dich über +das stille Gewässer einer griechischen Waldlandschaft gelehnt +und im stummen Silberspiegel das Wunder deines +eigenen Antlitzes gesehen. Und es war alles gewesen, wie +die Kunst sein soll, unbewußt, ideal und entrückt. Eines +Tages, manchmal denke ich, eines verhängnisvollen Tages, +entschloß ich mich, ein wundervolles Bildnis von dir zu +malen, wie du wirklich bist, nicht im Kostüm toter Zeiten, +sondern in deiner eigenen Tracht und deiner eigenen Zeit. +Ob es nun die Realistik der Methode war, oder der Zauber +deiner eigenen Persönlichkeit, der mir so ohne jeden +Schleier und Nebel entgegentrat, kann ich nicht sagen. Aber +ich weiß, daß mir bei der Arbeit jede Schicht Farben mein<a class="pagenum" name="Page_177" title="177"> </a> +Geheimnis zu enthüllen schien. Ich ängstigte mich, andere +könnten die Abgötterei, die ich mit dir trieb, entdecken. Ich +fühlte, Dorian, daß ich zuviel gesagt, daß ich zuviel von +mir selber hineingelegt hatte. Damals beschloß ich, das +Bild nie auszustellen. Es kränkte dich ein wenig, aber damals +verstandest du eben nicht, was es für mich bedeutete; +Harry, dem ich davon erzählte, lachte mich aus. Aber das +machte mich nicht irrig. Als das Bild fertig war, und ich +allein vor ihm dasaß, fühlte ich, daß ich recht hatte... +Schön, ein paar Tage später, als es mein Atelier verlassen, +und ich alsbald den unerträglichen Zauber seiner +Gegenwart überwunden hatte, schien es mir, daß es verrückt +von mir gewesen war, mehr darin zu sehen, als +daß du sehr hübsch seist, und ich wohl malen könne. Selbst +jetzt kann ich nicht umhin, zu fühlen, daß es ein Irrtum sein +muß, wenn man glaubt, daß die Begeisterung, die man +beim Schaffen hat, in dem Werke, das man schafft, leibhaftig +zum Ausdruck käme. Die Kunst ist immer abstrakter, +als wir uns einbilden. Form und Farbe erzählen uns von +Form und Farbe — weiter nichts. Es scheint mir oft, +daß die Kunst den Künstler viel mehr verbirgt als offenbart. +Und als ich dann den Antrag aus Paris bekam, entschloß +ich mich, dein Bild zum Hauptstück meiner Ausstellung +zu machen. Es fiel mir nie ein, daß du es nicht +zulassen würdest. Ich sehe jetzt, daß du recht hast. Das Bild +darf nicht ausgestellt werden. Du mußt mir nicht böse sein, +Dorian, wegen der Dinge, die ich gesagt habe. Ich habe +früher einmal Harry gesagt, du bist dazu geschaffen, angebetet +zu werden.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_178" title="178"> </a></p> + +<p>Dorian Gray atmete tief auf. Seine Wangen bekamen +wieder Farbe, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Die +Gefahr war vorbei. Für den Augenblick war er gerettet. +Doch er mußte unendliches Mitleid fühlen mit dem Maler, +der ihm eben diese seltsame Beichte abgelegt hatte, und +er fragte sich, ob er selbst jemals so stark von der Persönlichkeit +eines Freundes beherrscht werden könnte. Lord +Henry hatte den Reiz, sehr gefährlich zu sein. Aber das +war alles. Er war zu klug und zu zynisch, als daß man ihn +wirklich lieben könnte. Würde es je einen Menschen geben, +den er merkwürdig abgöttisch anbeten könnte? War das +eines von den Dingen, die ihm das Leben noch aufsparte?</p> + +<p>„Es ist mir wirklich ein reines Rätsel,“ sagte Hallward, +„daß du das dem Porträt angesehen haben willst. Hast +du es wirklich gesehen?“</p> + +<p>„Ich habe etwas darin gesehen,“ antwortete er, „etwas, +das mir sehr sonderbar vorkam.“</p> + +<p>„Und jetzt hast du wohl nichts mehr dawider, es einmal +zu betrachten?“</p> + +<p>Dorian schüttelte den Kopf. „Das darfst du von mir +nicht verlangen, Basil. Es ist mir unmöglich, dich vor dem +Bilde stehen zu sehen.“</p> + +<p>„Aber doch ein andermal?“</p> + +<p>„Nie!“</p> + +<p>„Schön, vielleicht hast du recht. Und jetzt adieu, Dorian. +Du bist der einzige Mensch in meinem Leben gewesen, der +wirklichen Einfluß auf meine Kunst ausgeübt hat. Was ich +je Gutes gemacht habe, danke ich dir. Ach! Du kannst dir<a class="pagenum" name="Page_179" title="179"> </a> +nicht vorstellen, was es mich gekostet hat, dir all das zu +sagen, was ich gesagt habe.“</p> + +<p>„Mein lieber Basil,“ sagte Dorian, „was hast du mir +denn gesagt? Nichts, als daß du das Gefühl habest, mich +zu sehr zu bewundern. Das ist nicht einmal ein Kompliment.“</p> + +<p>„Es sollte auch kein Kompliment sein. Es war eine +Beichte. Jetzt, da ich sie abgelegt habe, kommt es mir so +vor, als ob ich etwas verloren hätte. Man sollte seiner +Verehrung niemals das Kleid der Worte umhängen.“</p> + +<p>„Deine Beichte hat mich enttäuscht.“</p> + +<p>„Ja, was hast du denn erwartet, Dorian? Du hast doch +nicht sonst noch etwas in dem Bilde gesehen? Es war doch +nicht sonst noch etwas anderes zu sehen?“</p> + +<p>„Nein, es war sonst nichts anderes zu sehen. Warum +fragst du? Aber du solltest nicht von Verehrung sprechen. +Das ist Narrheit. Du und ich, wir sind Freunde, +Basil, und müssen es immer bleiben.“</p> + +<p>„Du hast jetzt Harry“, sagte der Maler traurig.</p> + +<p>„Oh, Harry!“ rief der junge Mann mit einem fröhlichen +Lachen. „Harry verbringt seine Tage damit, unglaubliche +Dinge zu sagen, und seine Abende, unwahrscheinliche Dinge +zu tun. Das ist genau die Art Leben, das ich führen möchte. +Immerhin glaube ich nicht, daß ich je zu Harry ginge, wenn +mich Kummer drückte. Ich würde eher zu dir kommen.“</p> + +<p>„Du willst mir wieder sitzen?“</p> + +<p>„Unmöglich!“</p> + +<p>„Du vernichtest meine künstlerische Existenz, wenn du +dich weigerst. Kein Mensch begegnet zwei Idealen. Wenige +finden eines.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_180" title="180"> </a></p> + +<p>„Ich kann es dir nicht erklären, Basil, aber ich darf dir +nie wieder sitzen. Es schwebt etwas Verhängnisvolles um +das Bildnis eines Menschen. Es hat ein Leben für sich. +Ich werde zu dir kommen und mit dir Tee trinken, das +wird ebenso hübsch <ins title="sein.">sein.“</ins></p> + +<p>„Für dich hübscher, fürchte ich“, sagte Hallward bekümmert +vor sich hin. „Und jetzt adieu. Es tut mir leid, +daß du mich nicht noch einmal das Bild sehen lassen +wolltest. Aber dabei ist nichts zu tun. Ich verstehe sehr +gut, was du dabei fühlst.“</p> + +<p>Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte sich Dorian +Gray zu. Der arme Basil! Wie wenig ahnte der doch von +dem wahren Grunde! Und wie seltsam es war, daß er es, +statt sein eigenes Geheimnis offenbaren zu müssen, fast +durch einen Zufall erreicht hatte, dem Freunde das seine +zu entreißen. Wie viel erklärte ihm doch diese merkwürdige +Beichte! Die unverständlichen Eifersuchtsanfälle des Malers, +seine ungestüme Verehrung, seine übertriebenen Lobeshymnen, +sein sonderbares Verstummen — das alles verstand +er jetzt, und er tat ihm leid. Einer Freundschaft, +die so stark von Romantik gefärbt war, schien ihm eine +gewisse Tragik inne zu wohnen.</p> + +<p>Er seufzte und drückte auf die Klingel. Das Porträt +mußte um jeden Preis versteckt werden. Er konnte sich +nicht ein zweitesmal der Gefahr solcher Entdeckung aussetzen. +Es war wahnsinnig von ihm gewesen, das Ding da +überhaupt nur eine Stunde lang in einem Zimmer zu +lassen, zu dem jeder seiner Freunde Zutritt hatte.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_181" title="181"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Zehntes_Kapitel" id="Zehntes_Kapitel"></a>Zehntes Kapitel</h2> + + +<p>Als sein Bedienter eintrat, sah er ihn forschend an und +fragte sich, ob es ihm wohl schon eingefallen sei, hinter +den Schirm zu blicken. Der Mann sah aber ganz harmlos +aus und wartete auf seine Befehle. Dorian zündete sich +eine Zigarette an, ging zum Spiegel hinüber und sah +hinein. Er konnte Viktors Gesicht darin genau sehen. Es +war eine reglose Maske der Unterwürfigkeit. Daher war +nichts zu fürchten, daher nicht. Doch er hielt es für das +beste, auf der Hut zu sein.</p> + +<p>In sehr leisem Tone trug er ihm auf, die Haushälterin +herein zu rufen und dann zum Einrahmer zu gehen, damit +er sofort zwei Gehilfen schicke. Es schien ihm, daß die +Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, in die +Richtung des Schirmes gingen. Oder war das nur Einbildung +von ihm?</p> + +<p>Nach einigen Augenblicken trat Frau Leaf in ihrem +schwarzseidenen Kleid, altmodische Zwirnhandschuhe auf +den runzligen Händen, in die Bibliothek. Er verlangte von +ihr den Schlüssel zum Schulzimmer.</p> + +<p>„Das alte Schulzimmer, Herr Dorian!“ rief sie aus. +„Ei, das ist ja voller Staub. Es muß erst hergerichtet und +in Ordnung gebracht werden, bevor Sie hinein können. +Es ist jetzt nicht in einem Zustand, daß Sie es sehen könnten, +gnädiger Herr. Wirklich nicht.“</p> + +<p>„Es braucht nicht hergerichtet zu werden, gute Leaf. +Ich will nur den Schlüssel.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_182" title="182"> </a></p> + +<p>„Aber gnädiger Herr, Sie werden sich voller Spinnweben +machen, wenn Sie hineingehen. Ei, es ist ja beinah +seit fünf Jahren nicht geöffnet worden, seit seine Gnaden +gestorben sind.“</p> + +<p>Er zuckte zusammen bei der Erwähnung seines Großvaters. +Er hatte nur gehässige Erinnerungen an ihn. „Das +macht nichts“, erwiderte er. „Ich will das Zimmer nur +sehen — das ist alles. Geben Sie mir den Schlüssel.“</p> + +<p>„Hier ist schon der Schlüssel, gnädiger Herr“, sagte die +alte Dame, die ihren Schlüsselbund mit zitternden, unsicheren +Händen durchmustert hatte. „Hier ist der Schlüssel, +ich werde ihn gleich vom Bund haben. Aber Sie denken +doch nicht daran, dort hinaufzuziehen, gnädiger Herr, +wo Sie es hier so gemütlich haben?“</p> + +<p>„Nein, nein!“ rief er ungeduldig. „Ich danke, gute +Leaf. Ich brauche sonst nichts.“</p> + +<p>Sie verweilte noch ein paar Augenblicke und wollte über +irgendeine Angelegenheit in der Haushaltung zu quengeln +anfangen. Er seufzte und sagte, sie solle alles so erledigen, +wie sie es fürs beste halte. Mit strahlendem Gesichte verließ +sie das Zimmer.</p> + +<p>Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel +in die Tasche und blickte sich im Zimmer um. Sein +Auge fiel auf eine große purpurne Atlasdecke mit schweren +Goldstickereien, ein köstliches Stück venezianischer Arbeit +vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein Großvater +in einem Kloster nahe bei Bologna aufgestöbert +hatte. Ja, die paßte trefflich, um das schreckliche Ding +damit zu verhüllen. Sie hatte vielleicht oft als Bahrtuch<a class="pagenum" name="Page_183" title="183"> </a> +für Tote gedient. Jetzt sollte sie etwas verhüllen, das eine +eigene Art Verwesung in sich hatte, eine ärgere als die +Verwesung des Todes — etwas, das Schrecknisse ausbrüten +und doch nie sterben würde. Was Würmer für +einen Leichnam sind, das würden seine Sünden für das +gemalte Antlitz auf der Leinwand werden. Sie würden +seine Schönheit zerstören und seine Anmut wegfressen. +Sie würden es beflecken und schänden. Und doch würde +das Bild weiterleben. Es würde immer am Leben +bleiben.</p> + +<p>Er schauderte, und einen Augenblick lang tat es ihm +leid, daß er Basil nicht den wahren Grund gesagt habe, +warum er das Bild verstecken wolle. Basil hätte ihm helfen +können, sowohl dem Einfluß Lord Henrys zu widerstehen, +als auch den noch viel giftigeren Einflüssen, die aus seiner +eigenen Natur herrührten. Die Liebe, die Basil für ihn +hegte — denn es war wirklich Liebe —, schloß nichts ein, +was nicht edel und vergeistigt wäre. Es war nicht jene +rein physische Bewunderung, die eine Geburt der Sinne +ist und mit der Ermüdung der Sinne hinstirbt. Es war +eine Liebe, wie sie Michelangelo gekannt hatte und Montaigne +und Winkelmann und auch Shakespeare. Ja, Basil +hätte ihn retten können. Aber jetzt war es zu spät. Die +Vergangenheit konnte immer vernichtet werden. Reue, +Verleugnung oder Vergessenheit konnten das bewirken. +Aber die Zukunft war unabwendlich. Er hatte Leidenschaften +in sich, die ihr fürchterliches Ausfalltor bei ihm +finden wurden, Träume, die ihre sündigen Schatten zur +Wirklichkeit umwandeln würden.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_184" title="184"> </a></p> + +<p>Er griff nach dem großen Überwurf aus Purpur und +Gold, der den Diwan bedeckte, hob ihn mit beiden Händen +auf und ging damit hinter den Schirm. War das Gesicht +auf der Leinwand jetzt häßlicher als vorher? Es erschien +ihm unverändert; und doch, sein Abscheu davor +war noch verstärkt. Goldiges Haar, blaue Augen, rosenrote +Lippen — das war alles da. Nur der Ausdruck hatte +sich verwandelt. Der war erschreckend in seiner Grausamkeit. +Im Vergleich zu den Vorwürfen und der Rüge, die +er in dem Bilde sah, wie nichtssagend waren da Basils +Vorhaltungen über Sibyl Vane gewesen — nichtssagend +und belanglos! Seine eigene Seele sah ihn an aus der +Leinwand und forderte ihn vors Gericht. Ein schmerzlicher +Zug legte sich über sein Gesicht, und er warf die prunkvolle +Sofadecke über das Bild. Während er dies tat, klopfte +es an die Tür. Er kam hinter dem Wandschirm hervor, als +sein Bedienter eintrat.</p> + +<p>„Die Leute sind da, Monsieur.“</p> + +<p>Er hatte das Gefühl, daß er den Mann jetzt los werden +müsse. Er durfte nicht wissen, wohin das Bild sollte. Er +hatte etwas Listiges an sich und nachdenkliche, verräterische +Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch, kritzelte ein paar +Zeilen hin an Lord Henry, worin er bat, ihm etwas zum +Lesen zu schicken, und worin er ihn daran erinnerte, daß +sie sich um viertel neun heut abend treffen wollten.</p> + +<p>„Warten Sie auf Antwort,“ sagte er, indem er ihm +den Brief übergab, „und lassen Sie die Leute herein.“</p> + +<p>Nach zwei bis drei Minuten klopfte es wieder, und Herr +Hubbard, der berühmte Rahmenfabrikant aus South<a class="pagenum" name="Page_185" title="185"> </a> +Audley Street, trat mit einem struwwelig aussehenden +Gehilfen herein. Herr Hubbard war ein blühend aussehender, +rotbäckiger, kleiner Mann, dessen Bewunderung für +die Kunst beträchtlich vermindert worden war durch den +althergebrachten Geldmangel bei den meisten Künstlern, +die mit ihm zu tun hatten. In der Regel verließ er seine +Werkstatt nie. Er wartete, bis die Leute zu ihm kamen. +Aber bei Dorian Gray machte er immer eine Ausnahme. +Es war etwas an Dorian, was jeden entzückte. Ihn nur +zu sehen, das war schon ein Vergnügen.</p> + +<p>„Was steht zu Ihren Diensten, Herr Gray?“ fragte er +und rieb seine fetten, sommersprossigen Hände. „Ich +dachte, ich wollte mir selbst die Ehre geben, herüberzukommen. +Ich habe gerade ein Prachtstück von Rahmen da. +Bei einer Auktion ergattert. Alt-Florentiner. Stammt +aus Fonthill, vermute ich. Wundervoll geeignet für einen +religiösen Gegenstand, Herr Gray.“</p> + +<p>„Es tut mir leid, daß Sie sich selbst herbemüht haben, +Herr Hubbard. Ich werde gern mal vorbeikommen und +den Rahmen ansehen — obwohl ich mich gerade jetzt nicht +sehr für religiöse Kunst interessiere — aber heute möchte +ich nur ein Bild auf den Boden getragen haben. Es ist +ziemlich schwer, deshalb dachte ich mir, daß Sie so gut +wären, mir zwei von Ihren Leuten zu leihen.“</p> + +<p>„Hat gar nichts zu sagen, Herr Gray. Freue mich, +wenn ich Ihnen den kleinsten Dienst leisten kann. Wo ist +das Kunstwerk, gnädiger Herr?“</p> + +<p>„Dies da“, antwortete Dorian und schob den Schirm zurück. +„Können Sie es so hinaufbringen, wie es jetzt ist,<a class="pagenum" name="Page_186" title="186"> </a> +Decke und Bild zusammen? Ich möchte nicht, daß es die +Treppen hinauf zerschrammt wird.“</p> + +<p>„Das werden wir leicht kriegen“, sagte der muntere +Rahmenmacher und begann mit Hilfe von seinem Gesellen +das Bild von den langen Messingketten loszumachen, an +denen es aufgehängt war. „Und wo soll es jetzt hingebracht +werden, Herr Gray?“</p> + +<p>„Ich will Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn +Sie so gut sein wollen, mir nur zu folgen. Oder vielleicht +gehen Sie lieber voraus. Es tut mir leid, aber es ist ganz +oben. Wir wollen über die Vordertreppe gehen, die ist +breiter.“</p> + +<p>Er hielt ihnen die Tür auf, und sie gingen in den Vorraum +hinaus und fingen an, hinaufzusteigen. Die ausladenden +Verzierungen des Rahmens hatten das Bild sehr +umfangreich gemacht, und hin und wieder legte Dorian mit +Hand an, um ihnen zu helfen, trotz den unterwürfigen +Einwänden des Herrn Hubbard, der die lebhafte Abneigung +des wirklichen Handwerkers gegen jede nützliche Beschäftigung +eines vornehmen Herrn hatte.</p> + +<p>„Da hat man ein ziemliches Gewicht zu schleppen“, +pustete der kleine Mann, als sie den letzten Treppenabsatz +erreicht hatten. Und er trocknete sich die glänzende Stirn.</p> + +<p>„Es tut mir leid, daß es so schwer ist“, murmelte Dorian, +während er die Tür zu dem Zimmer aufschloß, das +dieses sonderbare Geheimnis seines Lebens aufbewahren +und seine Seele vor den Blicken der Menschheit schützen +sollte.</p> + +<p>Er hatte die Stube wohl länger als vier Jahre nicht<a class="pagenum" name="Page_187" title="187"> </a> +betreten — in Wirklichkeit nicht, seitdem sie ihm in seiner +Kindheit zuerst als Spielzimmer, und dann, als er etwas +älter war, als Studierzimmer gedient hatte. Es war ein +großer Raum von schönen Verhältnissen, den der verstorbene +Lord Kelso eigens zur Benutzung für seinen +kleinen Enkel angebaut hatte, den er wegen seiner fabelhaften +Ähnlichkeit mit seiner Mutter und auch noch aus +anderen Gründen immer gehaßt hatte und möglichst +weit weg von sich haben wollte. Der Raum schien Dorian +wenig verändert. Da war der mächtige italienische Cassone +mit den phantastisch bemalten Füllungen und den abgenutzten +goldenen Ornamenten, in dem er sich als Junge +oft versteckt hatte. Da stand der polierte Bücherschrank +aus Satinholz mit seinen Schulbüchern voll Eselsohren. +An der Wand darüber hing noch derselbe zerfaserte flämische +Gobelin, auf dem ein verblichener König und eine +Königin in einem Garten Schach spielten, während ein +Trupp von Falkenieren vorbeiritt, die auf ihren Panzerhandschuhen +Vögel mit kappenverhüllten Köpfen trugen. +Wie gut er sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner +vereinsamten Kindheit kam ihm vors Gedächtnis, während +er sich umsah. Er entsann sich der fleckenlosen Reinheit +seines Knabenlebens, und es schien ihm furchtbar, +daß gerade hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen +werden sollte. Wie wenig hatte er in diesen längst verrauschten +Tagen von alledem geahnt, was seiner warten +sollte!</p> + +<p>Aber kein anderer Ort im ganzen Hause war so sicher +vor neugierigen Augen als dieser. Er hatte den Schlüssel,<a class="pagenum" name="Page_188" title="188"> </a> +und jetzt konnte niemand weiter hinein. Hinter dem purpurnen +Bahrtuch konnte nun das gemalte Gesicht auf der +Leinwand tierisch, gedunsen und lasterhaft werden. Was +lag daran? Niemand konnte es sehen. Er selbst wollte es +nicht sehen. Warum sollte er die gräßliche Verwesung +seiner Seele verfolgen? Er behielt seine Jugend — das +mußte genügen. Und übrigens, konnte sein Wesen trotz +allem nicht edler werden? Es war kein Grund vorhanden, +daß die Zukunft so angefüllt von Lastern sein müsse. Die +Liebe konnte in sein Leben treten und ihn läutern und +ihn vor den Sünden beschützen, die ihm schon in Geist +und Blut zu gähren schienen — diese seltsamen, nicht +gemalten Sünden, deren Unbekanntheit ihnen eben den +Reiz und die Verführung lieh. Eines Tages vielleicht +verschwand der grausame Zug von dem empfindlichen +Scharlachmund, und dann würde er der Welt Basil +Hallwards Meisterwerk zeigen können.</p> + +<p>Nein, das war unmöglich. Stunde für Stunde und +Woche für Woche alterte das Antlitz auf der Leinwand. +Es mochte den Greueln der Sünde entfliehen, aber die +Greuel des Alters mußten es einholen. Die Wangen +müssen hohl oder schlaff werden. Gelbe Krähenfüße müssen +sich um die glanzlosen Augen herumringeln und sie fürchterlich +machen. Das Haar mußte seinen Glanz verlieren, +der Mund klaffen oder einfallen, blöde oder gewöhnlich +aussehen, wie eben der Mund alter Leute aussieht. Der +Hals mußte verschrumpfen, die Hände mußten kalt und von +blauen Adern durchzogen werden, der Körper mußte sich +krümmen, wie er ihn bei seinem Großvater gesehen hatte,<a class="pagenum" name="Page_189" title="189"> </a> +der so streng gegen ihn gewesen war in der Knabenzeit. +Das Bildnis mußte verborgen bleiben. Da konnte nichts +helfen.</p> + +<p>„Bitte, Herr Hubbard, bringen Sie es herein“, sagte +er abgespannt und wandte sich um. „Es tut mir leid, daß +ich Sie so lange aufhielt. Ich dachte gerade nach über +etwas.“</p> + +<p>„Immer angenehm, sich mal verschnaufen zu können, +Herr Gray“, antwortete der Rahmenmacher, der noch +immer nach Luft schnappte. „Wo sollen wir es hinstellen?“</p> + +<p>„Ach, irgendwo. Vielleicht hierher: da wird's gut +stehen. Ich will's nicht aufgehängt haben. Lehnen Sie es +nur gegen die Wand. Danke!“</p> + +<p>„Darf man das Kunstwerk mal ansehen?“</p> + +<p>Dorian erschrak. „Es würde Sie nicht interessieren, Herr +Hubbard“, sagte er und sah den Mann fest an. Er fühlte +sich imstande, auf ihn loszustürzen und ihn zu Boden zu +werfen, wenn er es wagen sollte, die schimmernde Hülle +zu lüften, die das Geheimnis seines Lebens barg. „Ich will +Sie nicht länger aufhalten. Schönsten Dank, daß Sie so +freundlich waren, herüberzukommen.“</p> + +<p>„Kein Anlaß, kein Anlaß, Herr Gray! Es ist mir +immer ein Vergnügen, für Sie etwas tun zu dürfen.“</p> + +<p>Und Herr Hubbard stapfte die Treppe hinab, sein +Gehilfe hinterher, der noch einmal nach Dorian zurückblickte, +mit einem Ausdruck scheuer Bewunderung in dem unschönen +Alltagsgesicht. Er hatte nie einen Menschen gesehen, +der so wunderhübsch war.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_190" title="190"> </a></p> + +<p>Als das Geräusch ihrer Fußtritte verklungen war, +schloß Dorian die Tür zu und steckte den Schlüssel in die +Tasche. Jetzt fühlte er sich gleichsam gerettet! Nie würde +jemand das Schrecknis sehen. Kein Auge als seines würde +mehr seine Schande erblicken.</p> + +<p>Als er wieder in die Bibliothek kam, sah er, daß es +gerade fünf Uhr war und daß der Tee schon bereit stand. +Auf einem kleinen Tisch aus dunklem, wohlriechendem +Holz, das reich mit Perlmutter ausgelegt war, einem +Geschenk der Frau seines Vormundes, Lady Radley, einer +hübschen Kranken von Beruf und Gewohnheit, die den vergangenen +Winter in Kairo zugebracht hatte, lag ein +Briefchen von Lord Henry und daneben ein Buch in +gelbem, leicht abgenutztem und an den Ecken nicht mehr +ganz sauberem Umschlag. Ein Exemplar der dritten Tagesausgabe +der St.-James-Gazette lag auf dem Teebrett. +Offenbar war Viktor zurückgekehrt. Er fragte sich, ob +er wohl die Leute in der Vorhalle getroffen hätte, als +sie das Haus verließen, und ob er sie ausgeforscht hätte, +was sie getan hätten. Er würde sicher das Bild vermissen +— hatte es ohne Zweifel schon vermißt, als er den Teetisch +zurecht machte. Der Schirm war noch nicht an seinen +Platz zurückgestellt worden, und der leere Raum an der +Wand war auffallend. Vielleicht würde er ihn eines Nachts +ertappen, wie er hinaufschlich und die Tür des Bodenzimmers +zu sprengen versuchte. Es war schrecklich, einen +Spion im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten +gehört, die ihr ganzes Leben hindurch von den Erpressungen +eines Bedienten ausgesaugt wurden, der mal irgendeinen<a class="pagenum" name="Page_191" title="191"> </a> +Brief gelesen oder ein Gespräch mitangehört oder +eine Karte mit einer Adresse gefunden oder unter einem +Kissen eine verwelkte Blume oder einen Fetzen zerknitterter +Spitze entdeckt hatte.</p> + +<p>Er seufzte, goß sich etwas Tee ein und öffnete Lord +Henrys Billett. Es stand nur darin, daß er ihm die +Abendzeitung schicke und ein Buch, das ihn vielleicht +interessieren werde, und daß er ihn um Viertel neun im +Klub zu treffen hoffe. Er öffnete langsam die St.-James +und durchflog sie. Ein Strich mit Rotstift auf der fünften +Seite fiel ihm auf. Er machte auf die folgende Notiz +aufmerksam:</p> + +<blockquote> + +<p>„<em class="gesperrt">Leichenschau einer Schauspielerin.</em> Eine +gerichtliche Untersuchung wurde heute morgen von Herrn +Danby, dem Bezirks-Leichenbeschauer in der Bell Tavern, +Hoxton Road, über den Leichnam von Sibyl +Vane, einer jungen Schauspielerin, die seit kurzem am +Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten. +Es wurde auf Tod durch einen Unglücksfall erkannt. +Reges Mitgefühl erweckte die Mutter der Verblichenen, +die während ihrer Aussage und der des <span class="antiqua">Dr.</span> Birrel, +der die Obduktion der Leiche vorgenommen hatte, ihrem +Schmerz erschütternden Ausdruck gab.“</p></blockquote> + +<p>Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt, lief im Zimmer +auf und ab und warf die Papierfetzen weg. Wie +häßlich das alles war! Und was für eine schreckliche +Wirklichkeit die Häßlichkeit allem gab! Er ärgerte sich +ein wenig über Lord Henry, daß er ihm den Bericht geschickt +hatte. Und sicher war es albern von ihm, ihn mit<a class="pagenum" name="Page_192" title="192"> </a> +Rotschrift anzustreichen. Viktor konnte ihn gelesen haben. +Der Mann verstand dafür mehr als genug Englisch.</p> + +<p>Vielleicht hatte er ihn schon gelesen und angefangen, +Verdacht zu schöpfen. Und wenn schon, was lag daran? +Was hatte Dorian Gray mit Sibyl Vanes Tod zu tun? +Es war kein Grund zur Furcht. Dorian Gray hatte sie +nicht getötet.</p> + +<p>Sein Auge fiel auf das gelbe Buch, das ihm Lord +Henry geschickt hatte. Er war gespannt, was es sein mochte. +Er trat an den kleinen perlfarbenen, achteckigen Hocker, +der ihm immer wie das Werk seltsamer ägyptischer Bienen +vorgekommen war, die ihre Waben in Silber trieben, +nahm den Band zur Hand, warf sich in einen Lehnsessel +und begann zu blättern. Nach einigen Augenblicken kam +er nicht mehr davon los. Es war das merkwürdigste Buch, +das er je gelesen hatte. Es schien ihm, als zögen in erlesenen +Prachtgewändern und zum Klange von Flöten +die Sünden der Welt in stummem Reigentanze an ihm +vorbei. Dinge, die er bestimmt geträumt hatte, wurden +plötzlich zur Wirklichkeit. Dinge, von denen er vag geträumt +hatte, wurden ihm mählich enthüllt.</p> + +<p>Es war ein Roman ohne rechte Handlung, der sich um +einen einzigen Charakter drehte, eigentlich eine bloße +psychologische Studie über einen gewissen jungen Pariser, +der sein Leben mit dem Versuche hinbrachte, im neunzehnten +Jahrhundert alle Leidenschaften und Wandlungen +der Denkungsart in Wirklichkeit umzusetzen, die jedem +Jahrhundert, außer seinem eigenen, angehört hatten, +und so die verschiedenartigen psychischen Zustände, die<a class="pagenum" name="Page_193" title="193"> </a> +irgend einmal die Weltseele durchgemacht hatte, in sich +selbst gewissermaßen zu vereinigen, indem er jene Entsagungen, +die die Menschen in ihrer Torheit Tugend genannt +haben, ihrer bloßen Künstlichkeit wegen ebenso +heftig liebte wie jene Empörungen gegen die Natur, die +weise Menschen noch immer Sünden nennen. Der Stil, in +dem das Buch geschrieben war, bestand in jener sonderbaren, +reich geschmückten Diktion, die lebendig und dunkel +zugleich ist, von Argotausdrücken und archaistischen Wendungen, +von technischen Ausdrücken und sorgsam gefeilten +Umschreibungen strotzt, wie sie die Arbeiten einiger der +feinsten Künstler aus der französischen Symbolistenschule +kennzeichnet. Es waren Metaphern darin, so abenteuerlich +an Form wie Orchideen und auch so fein angehaucht +wie deren Farbentöne. Das Leben der Sinne war mit +einer Terminologie mystischer Philosophie beschrieben. Man +wußte manchmal kaum, ob man von den vergeistigten +Entzückungen eines mittelalterlichen Heiligen las oder die +krankhaften Beichtbekenntnisse eines modernen Sünders. +Es war ein Buch voll Gift. Ein dicker Weihrauchnebel +schien über den Seiten zu schweben und sein Gehirn zu +betäuben. Schon der melodische Fall der Sätze, die gesuchte +Monotonie ihrer Musik mit der Fülle von komplizierten +Refrains und Taktgefügen, die sich in der raffiniertesten +Weise wiederholten, erzeugten im Geist des +Jünglings, als er von Kapitel zu Kapitel weiterlas, eine +Art Träumerei, ja eine förmliche Krankheit des Träumens, +so daß er den sinkenden Tag und die hereinkriechenden +Schatten nicht merkte.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_194" title="194"> </a></p> + +<p>Wolkenlos, von den Strahlen keines einzigen Sternes +durchstochen, glimmerte ein kupfergrüner Himmel durch die +Fenster. Er las bei seinem matten Licht weiter, bis er +nicht mehr lesen konnte. Nachdem ihn sein Diener mehrere +Male an die späte Stunde erinnert hatte, stand er auf, +ging ins Nebenzimmer, legte das Buch auf das Florentiner +Tischchen, das immer neben seinem Bett stand, und begann +sich zum Diner umzukleiden.</p> + +<p>Es war fast neun Uhr, als er im Klub ankam, wo er +Lord Henry allein und sehr gelangweilt aussehend, im +Frühstückszimmer sitzend, antraf.</p> + +<p>„Es tut mir zwar leid, Harry,“ rief er, „aber es ist +nur deine Schuld. Das Buch, das du mir geschickt hast, +hat mich wirklich so gefesselt, daß ich gar nicht merkte, +wo die Zeit geblieben ist.“</p> + +<p>„Ja, ich dachte mir, daß es dir gefällt“, antwortete +der Freund, sich vom Stuhle erhebend.</p> + +<p>„Ich habe nicht gesagt, daß es mir gefällt, Harry. Ich +habe gesagt, es fesselte mich. Das ist ein großer Unterschied.“</p> + +<p>„Ah, das hast du entdeckt?“ sagte Lord Henry. Und +sie gingen zusammen in den Speisesaal.</p> + +<h2><a name="Elftes_Kapitel" id="Elftes_Kapitel"></a>Elftes Kapitel</h2> + + +<p>Jahre hindurch konnte sich Dorian Gray von dem Einfluß +dieses Buches nicht losmachen. Oder es wäre vielleicht +richtiger zu sagen, er versuchte gar nicht, sich von<a class="pagenum" name="Page_195" title="195"> </a> +ihm loszumachen. Er ließ sich aus Paris nicht weniger +als neun Luxusexemplare der ersten Auflage kommen und +ließ sie verschiedenfarbig einbinden, damit sie zu den +wechselnden Launen und veränderlichen Stimmungen seiner +Natur paßten, über die er bisweilen jede Herrschaft verloren +zu haben schien. Der Held, der wunderbare junge +Pariser, bei dem das romantische und das wissenschaftliche +Temperament so merkwürdig vermischt waren, wurde +für ihn eine Art vorbildlicher Idealgestalt seiner selbst. +Und in der Tat schien ihm das ganze Buch die Geschichte +seines Lebens zu enthalten, aufgeschrieben, bevor er selbst +es gelebt hatte.</p> + +<p>In einer Beziehung aber war er glücklicher als der +phantastische Romanheld. Er kannte nie — hatte in der +Tat auch nie einen Grund dazu — das beinahe groteske +Grauen vor Spiegeln und polierten Metallflächen und +unbewegten Wassern, das den jungen Pariser so früh im +Leben überkam und das durch den jähen Verfall einer +Schönheit verursacht war, die allem Anschein nach vorher +ganz außerordentlich gewesen sein mußte. Mit einer fast +grausamen Lust — und vielleicht liegt in jeder Lust, +wie gewißlich in jedem Genuß, Grausamkeit — pflegte er +den zweiten Teil des Buches zu lesen mit dem wirklich +tragischen, wenn auch etwas übertrieben geschilderten Bericht +von den Leiden und der Verzweiflung eines Menschen, +der selbst verloren hatte, was er an anderen und an der +Welt am höchsten schätzte.</p> + +<p>Denn die wundervolle Schönheit, die Basil Hallward +so gefesselt hatte und manchen anderen auch, schien ihn nie<a class="pagenum" name="Page_196" title="196"> </a> +zu verlassen. Selbst jene, die die häßlichsten Dinge über +ihn gehört hatten — und von Zeit zu Zeit schlichen seltsame +Gerüchte über seine Lebensweise durch London und +wurden das Gespräch der Klubs — konnten, wenn sie ihn +sahen, nichts glauben, was ihm hätte zur Unehre gereichen +können. Er sah immer aus wie einer, der sich in +der Welt unbefleckt erhalten hatte. Männer, die sich anstößige +Dinge erzählten, verstummten, wenn Dorian Gray +ins Zimmer trat. In der Reinheit seines Antlitzes lag ein +Etwas, das sie in Schranken hielt. Seine bloße Gegenwart +schien in ihnen die Erinnerung an die Unschuld zu erwecken, +die sie beschmutzt hatten. Sie staunten, daß ein +so reizender und anmutiger Mensch wie er der Befleckung +durch eine Zeit hatte entgehen können, die zugleich unsauber +und sinnlich war.</p> + +<p>Oft, wenn er von einer der geheimnisvollen längeren +Abwesenheiten zurückkehrte, die so merkwürdige Vermutungen +bei seinen Freunden erregten oder bei jenen, die sich +dafür hielten, so schlich er hinauf in die verschlossene Dachstube, +öffnete die Tür mit dem Schlüssel, der ihn nun nie +mehr verließ, und stand mit einem Handspiegel vor dem +Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte, +und sah bald auf das schändliche und gealterte Antlitz auf +der Leinwand, bald auf das schöne, junge Gesicht, das ihn +aus der glatten Spiegelfläche anlächelte. Gerade die Stärke +dieses Kontrastes pflegte seine Lustempfindung zu erhöhen. +Er verliebte sich mehr und mehr in seine eigene Schönheit +und empfand mehr und mehr Teilnahme für die Verderbnis +seiner eigenen Seele. Er untersuchte mit peinlicher<a class="pagenum" name="Page_197" title="197"> </a> +Sorgsamkeit und manchmal mit ungeheuerlichem +und schrecklichem Wonnegefühl die häßlichen Linien, die +die runzlige Stirn durchfurchten oder sich um den üppigen +sinnlichen Mund schlängelten, und fragte sich manchmal, +ob wohl die Merkmale der Sünde schrecklicher seien oder +die Spuren des Alters? Er legte seine weißen Hände +neben die rohen, gedunsenen Hände des Bildes und lächelte. +Er machte sich lustig über den verunstalteten Leib und die +welkenden Glieder.</p> + +<p>Dann gab es in der Tat Augenblicke, nachts, wenn er +schlaflos in seinem mild durchdufteten Zimmer lag oder in +der schmuddeligen Stube der kleinen berüchtigten Kneipe +nahe den Docks, die er unter einem angenommenen Namen +und verkleidet zu besuchen pflegte, wo er mit einem +Mitgefühl, das um so beklemmender war, als es einen +rein ethischen Ursprung hatte, an das Elend dachte, das +er über seine Seele gebracht hatte. Aber Augenblicke wie +diese waren selten. Jene Neugier auf das Leben, die Lord +Henry zuerst in ihm aufgestört hatte, als sie im Garten +ihres Freundes nebeneinander saßen, schien mit ihrer Befriedigung +nur zu wachsen. Je mehr er wußte, desto mehr +wollte er wissen. Er hatte tolle Hungeranfälle, die immer +ungestillter wurden, je mehr er sie nährte.</p> + +<p>Und doch war er nicht gerade liederlich geworden, wenigstens +nicht in seinen Beziehungen zur Gesellschaft. Ein- +oder zweimal in jedem Monat während des Winters und +jeden Mittwochabend während der Saison öffnete er der +Welt sein schönes Haus, und immer waren die berühmtesten +Musiker da, um seine Gäste mit ihrer erlesenen Kunst<a class="pagenum" name="Page_198" title="198"> </a> +zu begeistern. Seine kleinen Diners, bei deren Vorbereitung +ihm Lord Henry immer half, waren ebensosehr wegen der +sorgsamen Auswahl und Tischordnung der Eingeladenen +berühmt, wie wegen des ausgesuchten Geschmackes, der +sich in der Tafeldekoration mit ihren fein abgetönten, symphonischen +Anordnungen exotischer Pflanzen, gestickter +Decken und antiker Gold- und Silbergeräte aussprach. +Tatsächlich gab es eine große Zahl, besonders von ganz +jungen Menschen, die in Dorian Gray die vollkommene +Verkörperung eines Typus sahen oder zu sehen wähnten, +von dem sie oft in den Tagen von Eton oder Oxford geträumt +hatten, eines Typus, der etwas von der wirklichen +Bildung des Gelehrten mit der Anmut, Vornehmheit und +den vollendeten Manieren eines Weltmannes vereinigte. +Ihnen erschien er als einer aus jener Menschengruppe, von +denen Dante sagt, „sie suchten sich durch die Anbetung +der Schönheit zu vervollkommnen“. Gleich Gautier war +er einer von denen, „für die die sichtbare Welt da war“.</p> + +<p>Und gewiß war für ihn das Leben die erste, die größte +Kunst, und alle übrigen Künste schienen nur die Vorschule +dazu. Natürlich übte auch die Mode, durch die das +wirklich Phantastische einen Augenblick lang Allgemeingut +wird, und das Dandytum, das auf seine Weise einen +Versuch bildet, eine absolut moderne Art von Schönheit +zu verkörpern, ihren Reiz auf ihn aus. Seine Art, sich zu +kleiden, und die besonderen Stilabweichungen, die er von +Zeit zu Zeit sehen ließ, hatten einen ausgesprochenen Einfluß +auf die jungen Stutzer der Bälle in Mayfair und +der Fenster des Pall-Mall-Klubs, die ihm in allem, was<a class="pagenum" name="Page_199" title="199"> </a> +er tat, nachahmten und jede Exzentrizität aufgriffen, die +seine Anmut erhöhte, aber ihm selbst nur teilweis ernst +war.</p> + +<p>Denn er war nur zu leicht bereit, die Stellung anzunehmen, +die ihm unmittelbar nach seiner Volljährigkeit +geboten wurde, und er fand in Wahrheit einen besonderen +Genuß in dem Gedanken, er könne für das London seiner +Zeit das werden, was für das Rom des Kaisers Nero +der Verfasser des „Satyrikon“ gewesen war, aber er +wünschte doch im innersten Herzen mehr zu werden als ein +arbiter elegantiarum, und nicht nur über das Tragen +eines Schmuckstückes oder das Binden einer Krawatte oder +die Haltung eines Spazierstockes befragt zu werden. Er +suchte ein neues Schema für die Lebensführung zu entwerfen, +das seine philosophische Grundlage und seine geordneten +Prinzipien haben und in der Vergeistigung der +Sinne seine höchste Vervollkommnung erreichen sollte.</p> + +<p>Die Pflege der Sinne ist oft und mit vielem Recht geschmäht +worden, da die Menschen einen natürlichen, instinktiven +Abscheu vor Leidenschaften und Empfindungen +haben, die stärker scheinen als sie selbst und die sie mit +weniger hoch organisierten Formen des Lebendigen gemein +zu haben sich bewußt sind. Doch kam es Dorian Gray so +vor, als ob die wahre Natur der Sinne noch nie verstanden +worden sei und als ob sie nur deshalb wild und tierisch +geblieben seien, weil die Welt versuchte, sie durch Hunger +zur Unterwerfung zu bringen oder durch Schmerzen zu +töten, statt bestrebt zu sein, sie zu Bestandteilen einer +neuen geistigen Welt zu machen, in der ein edles Schönheitsbewußtsein<a class="pagenum" name="Page_200" title="200"> </a> +die vorherrschende Triebfeder sein sollte. +Wenn er auf den Gang der Menschen durch die Weltgeschichte +zurückblickte, verfolgte ihn ein Gefühl des Verlustes. +So vielem war entsagt worden und zu so geringem +Zweck! Es hatte wahnsinnige freiwillige Entsagungen +gegeben, ungeheuerliche Formen von Selbstquälerei und +Selbstverleugnung, deren Ursprung die Furcht war und +deren Ergebnis eine Erniedrigung von unsäglich schrecklicherer +Art, als jene nur eingebildete Erniedrigung, vor +der sie sich in ihrer Unwissenheit flüchten wollten, da die +Natur in ihrer wunderbaren Ironie den Anachoreten +hinausjagte, damit er sich in Gesellschaft der Bestien der +Wüste nährte, und dem Einsiedler die Tiere des Feldes +zu Gefährten gab.</p> + +<p>Ja: es mußte, wie Lord Henry prophezeit hatte, ein +neuer Hedonismus kommen, um das Leben zu erneuern +und es von jenem strengen, häßlichen Puritanertum zu erlösen, +das in unseren Tagen seine sonderbare Auferstehung +feierte. Gewiß, er würde dem Intellekt gehorsam sein +müssen; aber niemals dürfte er eine Theorie oder ein +System anerkennen, das irgendein leidenschaftliches Erlebnis +zum Opfer forderte. Sein wahres Ziel sollte gerade +die Erfahrung selbst sein und nicht die Früchte der Erfahrung, +mochten sie nun so süß oder bitter sein, wie sie +wollten. Von dem Asketentum, das die Sinne tötet, oder +von der gewöhnlichen Ausschweifung, die sie abstumpft, +würde er nichts wissen wollen. Aber er sollte die Menschen +lehren, sich für die Momente des Lebens zu sammeln, +da dieses selbst doch nur ein Moment ist.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_201" title="201"> </a></p> + +<p>Es gibt nur wenige unter uns, die nicht manchmal vor +Tagesgrauen erwacht wären, entweder nach einer jener +traumlosen Nächte, die uns den Tod lieben lassen, oder +nach einer jener Nächte voll Schrecken und wollüstiger Albdrücken, +wo durch die Kammern des Gehirns Gespenster +flattern, die schrecklicher sind als die Wirklichkeit selbst +und erfüllt sind von dem lebendigen Dasein, das in allem +Grotesken lauert und das der gotischen Kunst ihre ewig +lebendige Kraft gibt, weil gerade diese Kunst, wie man +sagen möchte, die besondere Kunst jener ist, deren Geist +durch die Krankheit von Fieberträumen verwirrt worden +ist. Nach und nach strecken sich bleiche Finger zwischen den +Vorhängen durch und scheinen zu erzittern. In schwarzen, +abenteuerlichen Formen kriechen stumme Schatten in die +Ecken des Zimmers und kauern dort nieder. Draußen regen +sich die Vögel im Geblätter, oder man hört den Schritt +der Menschen, die zur Arbeit gehen, oder das Heulen und +Schluchzen des Windes, der von den Bergen kommt und +das schweigsame Haus umwandert, als fürchte er, die +Schläfer zu wecken, und müsse dennoch den Schlaf aus +seiner purpurnen Höhle ans Licht rufen. Schleier nach +Schleier aus feiner, dunkelfarbener Gaze heben sich, und +allmählich erhalten die Dinge ihre Formen und Farben +zurück, und wir sehen es mit an, wie die Frühdämmerung +der Welt ihre alte Gestalt zurückgibt. Die verschwommenen +Spiegel bekommen ihr Scheinleben zurück. Die lichtlosen +Lampen stehen, wo wir sie gelassen haben, und neben ihnen +liegt das halb aufgeschnittene Buch, darin wir gelesen, oder +die verwelkte Blume, die wir auf dem Ball getragen, oder<a class="pagenum" name="Page_202" title="202"> </a> +der Brief, den zu lesen wir uns gefürchtet oder den wir +zu oft gelesen haben. Nichts scheint uns geändert. Aus +den unwirklichen Schatten der Nacht tritt das wirkliche +Leben hervor, das wir kannten. Wir haben es da wieder +aufzunehmen, wo wir es unterbrochen haben, und uns +beschleicht das fürchterliche Gefühl der Notwendigkeit, seine +Energien weiter verbrauchen zu müssen in der gleichen ermüdenden +Tretmühle stereotyper Gewohnheiten, oder vielleicht +überschleicht uns eine wilde Sehnsucht, daß sich +unsere Augen eines Morgens öffnen möchten für eine +Welt, die im nächtigen Dunkel zu unserer Lust neu +erschaffen worden sei, für eine Welt, in der die Dinge +frische Linien und Farben hätten, verändert seien oder +andere Geheimnisse bürgen, für eine Welt, in der die Vergangenheit +nur einen unbedeutenden oder gar keinen +Platz hätte oder wenigstens in keiner bewußten Form +von Verpflichtung oder Reue weiterlebte, wo die Erinnerung +selbst an die Freude ihre Bitterkeit enthält +und dem Gedächtnis an den Genuß ein Schmerz beigemischt +ist.</p> + +<p>Die Erschaffung solcher Welten schien für Dorian Gray +der wahre Lebensinhalt oder wenigstens sein hauptsächlichster +Inhalt zu bedeuten; und auf seiner Suche +nach Sinnenerlebnissen, die zugleich neu und genußreich +sein sollten und jenes Element der Seltsamkeit +enthielten, die für die Romantik so wesentlich ist, eignete +er sich oft gewisse Arten zu denken an, von denen ihm +wohl bewußt war, daß sie seinem Wesen in Wirklichkeit +fremd waren, gab sich ihren subtilen Einflüssen<a class="pagenum" name="Page_203" title="203"> </a> +hin und verließ sie dann, wenn er sozusagen ihre Farbe +in sich eingesogen und seine geistige Neugier befriedigt +hatte, mit jener eigentümlichen Gleichgültigkeit, +die nicht unvereinbar ist mit einem wirklich glühenden +Temperament, und die in der Tat nach der Meinung +gewisser moderner Psychologen oft eine Bedingung dafür +ist.</p> + +<p>Einmal ging ein Gerücht von ihm, er wolle katholisch +werden; und gewiß hatte der katholische Kult eine große +Anziehungskraft für ihn. Das tägliche Meßopfer, das +wirklich viel ehrfurchterweckender ist als alle Opfer der +antiken Welt, regte ihn ebensosehr an durch seine prachtvolle +Unbekümmertheit des sinnlichen Augenscheins wie +durch die primitive Einfachheit seiner Elemente und das +ewige Pathos der menschlichen Tragödie, die es zu symbolisieren +versuchte. Er liebte es, auf das kalte Marmorpflaster +hinzuknien und den Priester zu beobachten, der +in seiner stimmungsvollen, blumengestickten Stola langsam +und mit weißen Händen den Vorhang vom Tabernakel +hinwegzog, oder die laternenförmige edelsteingeschmückte +Monstranz in die Höhe hob, die jene blasse Hostie enthielt, +von der man zuzeiten wirklich denken konnte, es sei der +panis coelestis, das Brot der Engel, oder der, in die Gewänder +der Christuspassion gehüllt, die Hostie in den +Kelch tauchte und sich um seiner Sünden willen die Brust +schlug. Die rauchenden Weihrauchkessel, die die ernsten +Knaben in ihren Spitzen- und Scharlachmänteln in der +Luft schwangen und die wie große, goldene Blumen aussahen, +übten einen tiefen Zauber auf ihn aus. Wenn er<a class="pagenum" name="Page_204" title="204"> </a> +hinaustrat, pflegte er staunend die dunkeln Beichtstühle +anzublicken und empfand eine Sehnsucht, im düsteren +Schatten eines solchen zu sitzen und den Männern und +Frauen zu lauschen, die durch das abgenutzte Gitter die +wahre Geschichte ihres Lebens flüsterten.</p> + +<p>Aber er verfiel nie dem Irrtum, seine geistige Entwicklung +durch die förmliche Annahme irgendeines Glaubens +oder Systems zu hindern oder irrtümlich ein Haus, in dem +man leben konnte, gleichsam für eine Herberge zu halten, +die nur zu kurzem Aufenthalt während einer Nacht oder +nur für ein paar Stunden während einer Nacht taugt, +wenn keine Sterne leuchten und der Mond im Wechsel +begriffen ist. Die Mystik mit ihrer wunderbaren Kraft, +uns gewöhnliche Dinge seltsam erscheinen zu lassen, und +jene tiefe Ketzersucht, die sie immer zu begleiten scheint, +reizte ihn eine Saison hindurch; und dann neigte er sich +eine andere Saison hindurch wieder den materialistischen +Lehren der Darwinistischen Bewegung in Deutschland zu +und fand einen besonderen Genuß darin, die Gedanken und +Leidenschaften der Menschen bis auf irgendeine perlgroße +Zelle im Gehirn oder auf irgendeinen weißen Nerv im +Körper zurückzuleiten, schwelgte förmlich in der Vorstellung +einer absoluten Abhängigkeit des Geistes von gewissen +physischen Bedingungen, mochten sie krankhaft oder gesund, +normal oder pathologisch sein. Aber, wie schon früher +von ihm berichtet wurde, so schien keine Lebenstheorie +von irgendeiner Bedeutung für ihn, im Vergleich mit dem +Leben selbst. Er war sich haarscharf bewußt, in welches +Irrsal jede geistige Spekulation führen mußte, wenn sie<a class="pagenum" name="Page_205" title="205"> </a> +von Handlung und Experiment getrennt ist. Er wußte, +daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre geistigen +Geheimnisse offenbaren mußten.</p> + +<p>Und so ergab er sich zeitweilig dem Studium der +Wohlgerüche, bemühte sich um die Geheimnisse ihrer Bereitung, +destillierte schwerduftende Öle und verbrannte +wohlriechendes Gummi, das aus dem Orient stammte. Er +erkannte, daß es keine Stimmung des Geistes gab, die nicht +ihr Seitenstück im Leben der Sinne fand, und mühte sich, +die wirkliche Beziehung zwischen beiden zu entdecken, um +herauszuklügeln, weshalb der Weihrauch den Menschen +mystisch stimmte, warum die Ambra die Leidenschaften aufstachele, +woher der Veilchenduft die Erinnerung an <ins title="gegestorbene">gestorbene</ins> +Romantik erwecke, wieso der Moschus das +Gehirn verwirre, und wodurch der Tschampak die Phantasie +beflecke: und so versuchte er manchmal, eine genaue +Psychologie der Wohlgerüche auszuarbeiten und ihre verschiedenen +Wirkungen zu bestimmen, zum Beispiel süßriechender +Wurzeln, duftiger, samentragender Blüten, aromatischer +Balsame, dunkler, starkriechender Hölzer, des +Baldrians, der zum Erbrechen reizt, der Hovenia, die einen +toll macht, und der Aloe, die imstande sein soll, die Schwermut +aus der Seele zu verjagen.</p> + +<p>Ein andermal widmete er sich gänzlich der Musik und +gab öfter Konzerte in einem langen, dämmerigen Saal, +dessen Wände mit olivengrünem Lack überzogen waren, +und dessen Decke aus einem rot und gold Muster bestand, +wobei tolle Zigeuner kleinen Zithern wilde Musik entlockten +oder ernste, in gelbe Tücher gehüllte Männer aus<a class="pagenum" name="Page_206" title="206"> </a> +Tunis die gespannten Saiten seltsam großer Lauten zupften, +während grinsende Neger eintönig auf kupferne Trommeln +schlugen und schlankschmächtige, turbanbedeckte Inder +auf scharlachroten Matten hockten und auf langen Rohr- +oder Messingpfeifen bliesen und damit große Brillenschlangen +oder schreckliche Hornvipern beschworen oder zu +beschwören schienen. Die kreischenden Intervalle und die +schrillen Mißtöne barbarischer Musik reizten ihn zuweilen, +wenn Schuberts Lieblichkeit oder Chopins süßes Schmachten +und die gewaltigen Harmonien des großen Beethoven +machtvoll in sein Ohr schlugen. Aus allen Weltteilen +sammelte er die merkwürdigsten Instrumente, die sich +finden ließen, entweder in den Gräbern toter Völker oder +unter den wenigen wilden Stämmen, die noch die Berührung +mit der westlichen Kultur überlebt haben, und +er liebte es, sie zu befühlen und zu verfügen. Er besaß das +mysteriöse Juruparis der Rio-Negro-Indianer, das die +Frauen nicht ansehen dürfen und selbst die jungen Männer +erst dann, wenn sie vorher gefastet und sich gegeißelt haben, +er besaß die irdenen Klappern der Peruaner, die den +schrillen Ton des Vogelschreis wiedergeben, und Flöten +aus Menschenknochen, wie sie Alfonso de Ovalle in Chile +gehört hat, und die wohlklingenden grünen Jaspissteine, +die bei Cuzco gefunden werden und einen Ton von eigentümlicher +Süße hervorbringen. Er hatte bemalte, mit +Kieselsteinen gefüllte Kürbisse, die beim Schütteln rasselten, +er hatte die langen Zinken der Mexikaner, in die der +Spieler nicht hineinbläst, sondern durch die er die Luft +einatmet, das rauhe Ture der Amozonenstämme, das die<a class="pagenum" name="Page_207" title="207"> </a> +Wachen ertönen lassen, wenn sie den ganzen Tag auf hohen +Bäumen sitzen, und das, wie man sagt, auf eine Entfernung +von drei Seemeilen gehört werden kann, das Teponaztli, +das zwei zitternde Holzzungen hat und auf die +man mit Stöcken schlägt, die mit einer Art elastischen Kautschuks +eingesalbt werden, das aus dem milchigen Saft +von Pflanzen gewonnen wird, er hatte die Yotlglocken +der Azteken, die wie Trauben in Büscheln hängen, und +eine große zylinderförmige Trommel, die bespannt ist mit +den Häuten großer Schlangen gleich der, die Bernal Diaz +sah, als er mit Cortez in den mexikanischen Tempel trat, +und von deren wehklagendem Tone er uns eine so lebendige +Schilderung hinterlassen hat. Das phantastische Wesen +dieser Instrumente wirkte bezaubernd auf ihn, und er empfand +einen seltsamen Genuß bei dem Gedanken, daß die +Kunst wie die Natur ihre Ungeheuer hat, Dinge von tierischer +Form und mit abscheulichen Stimmen. Aber nach +einiger Zeit wurde er ihrer müde und saß dann wieder in +seiner Loge in der Oper, entweder allein oder mit Lord +Henry, lauschte hingerissen dem Tannhäuser und erkannte +in dem Vorspiel zu diesem großen Kunstwerk eine Verkörperung +des Trauerspiels seiner eigenen Seele.</p> + +<p>Wieder ein andermal warf er sich auf das Studium der +Edelsteine und erschien auf einem Maskenfest als Anne de +Joyeuse, Admiral von Frankreich, in einem Gewand, das +mit fünfhundertsechzig Perlen bestickt war. Diese Geschmacksrichtung +hielt ihn jahrelang gefangen, ja, man kann +sagen, daß sie ihn nie verlassen hat. Er verbrachte oft +einen ganzen Tag damit, die verschiedenen Steine, die er<a class="pagenum" name="Page_208" title="208"> </a> +gesammelt hatte, aus ihren Schachteln zu nehmen und +wieder umzuordnen, wie beispielsweise der olivengrüne +Chrysoberyll, der im Lampenlicht rot wird, der Cymophan +mit seinen haarfeinen Silberlinien, der pistazienfarbene +Peridot, rosenfarbige und weingelbe Topase, scharlachfeurige +Karfunkelsteine mit zitternden, vierfach ausstrahlenden +Sternen, flammenrote Kaneelsteine, orangenfarbene +und violette Spinelle und Amethyste mit ihren +regelmäßig wechselnden Schichten von Rubin und Saphir. +Er liebte das rote Gold des Sonnensteins und die perlfarbene +Weiße des Mondsteins und den gebrochenen +Regenbogen des milchflockigen Opals. Er verschrieb sich +aus Amsterdam drei Smaragde von außerordentlicher +Größe und wunderbarem Farbenreichtum und besaß einen +Türkis <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">de la vieille roche</span>, um den ihn alle Kenner beneideten.</p> + +<p>Er entdeckte auch wunderbare Geschichten über Edelsteine. +In Alfons „<span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Clericalis disciplina</span>“ wurde eine +Schlange erwähnt mit Augen aus wirklichen Hyazinthsteinen, +und in der romantischen Alexandersage hieß es +von dem Eroberer Emathias, er habe im Jordantale +Schlangen gefunden „mit Halsgeschmeiden aus wirklichen +Smaragden, die ihnen auf dem Rücken gewachsen waren“. +Im Gehirn des Drachen war nach dem Bericht des Philostratus +ein Edelstein, und „durch das Entgegenhalten +goldener Lettern und eines scharlachroten Gewandes“ +konnte das Ungeheuer in einen magischen Schlaf versetzt +und getötet werden. Nach der Meinung des großen Alchimisten +Pierre de Boniface sollte der Diamant den Menschen<a class="pagenum" name="Page_209" title="209"> </a> +unsichtbar und der indische Achat ihn beredt machen. +Der Karneol beschwichtigte den Zorn, und der Hyazinth +schläferte ein, und der Amethyst verscheuchte den Weindunst. +Der Granat trieb Teufel aus, und der Hydrophyt +beraubte den Mond seiner Farbe. Der Selenit nahm mit +dem Monde zu und ab, und der Meloceus, der die Diebe +entdeckte, verlor seine Kraft nur, wenn man ihn mit dem +Blut junger Ziegen betropfte. Leonardus Camillus hatte +einen weißen Stein gesehen, den man aus dem Gehirn +einer frisch getöteten Kröte genommen hatte und der ein +sicheres Gegenmittel gegen Gift war. Der Bezoar, den +man im Herzen des arabischen Hirsches fand, war ein +Zauber, der die Pest zu heilen vermochte. In den Nestern +arabischer Vögel kam der Aspilates vor, der nach der +Angabe des Demokrit seinen Träger vor jeder Feuersgefahr +beschützte.</p> + +<p>Der König von Seilan ritt bei seiner Krönungsfeier, +mit einem großen Rubin in der Hand, durch seine Stadt. +Die Tore zum Palast des Johannes, des Priesters, waren +aus Sarder verfertigt, in den das Horn der Hornviper +verarbeitet war, so daß kein Mensch Gift in das Haus +bringen konnte. Über dem Giebel waren „zwei goldene +Äpfel, die zwei Karfunkelsteine enthielten“, so daß am +Tage das Gold glänzen konnte und die Karfunkelsteine bei +Nacht. In Lodges seltsamem Roman „Eine amerikanische +Perle“ heißt es, daß man in dem Zimmer der Königin +„alle keuschen Frauen der Welt, wie in Silber getrieben, +wahrnehmen konnte, wenn man durch fleckenfreie Spiegel +aus Chrysolithen, Karfunkelsteinen, Saphiren und grünen<a class="pagenum" name="Page_210" title="210"> </a> +Smaragden blickte“. Marco Polo hatte gesehen, wie die +Einwohner von Zipangu den Toten rosenfarbige Perlen +in den Mund steckten. Ein Seeungeheuer war in die Perle +verliebt, die ein Taucher dem König Perozes brachte, und +es hatte den Dieb getötet und sieben Monate lang über +den Verlust getrauert. Als die Hunnen den König in den +großen Hinterhalt lockten, warf er die Perle weg — Prokopius +erzählt die Geschichte — und sie wurde nie wieder +gefunden, obwohl Kaiser Anastasius dafür fünf Zentner +Goldstücke aussetzte. Der König von Malabar hatte einmal +einem Venezianer einen Rosenkranz aus dreihundertvier +Perlen gezeigt, eine Perle für jeden Gott, den er verehrte.</p> + +<p>Als der Herzog von Valentinois, der Sohn Alexanders +des Sechsten, Ludwig den Zwölften von Frankreich besuchte, +war nach Brantôme sein Pferd mit goldenen Blättern +bedeckt, und ein Barett trug eine doppelte Reihe von +Rubinen, die ein mächtiges Licht ausstrahlten. Karl von +England ritt in Steigbügeln, die mit vierhunderteinundzwanzig +Diamanten besetzt waren. Richard der Zweite hatte +ein Gewand, das mit Balasrubinen besetzt war, und auf +dreißigtausend Mark geschätzt wurde. Hall beschrieb Heinrich +den Achten auf seinem Wege zur Krönung nach dem +Tower folgendermaßen: er trug ein „Panzerkleid aus +erhabenem Gold, die Brust war mit Diamanten und +anderen Edelsteinen bestickt, und um den Hals hing ihm +eine mächtige Kette aus schweren Balasrubinen“. Die +Günstlinge Jakobs des Ersten trugen Ohrringe aus Smaragden, +die in Goldfiligran gefaßt waren. Eduard der<a class="pagenum" name="Page_211" title="211"> </a> +Zweite schenkte dem Piers Gaveston eine vollständige +Rüstung aus rotem Golde, die mit Hyazinthsteinen besetzt +war, eine Halsberge aus goldenen Rosen, in die Türkise +eingelassen waren, und eine mit Perlen übersäte Sturmhaube. +Heinrich der Zweite trug Handschuhe bis zum +Ellenbogen hinauf, die mit Edelsteinen besetzt waren, und er +hatte einen Falkenierhandschuh, den zwölf Rubinen und +zweiundfünfzig große Perlen zierten. Der Herzogshut +Karls des Kühnen, des letzten Burgunder Herzogs seines +Geschlechts, war behängt mit birnenförmigen Perlen und +überstreut mit Saphiren.</p> + +<p>Wie köstlich das Leben einst gewesen war! Wie schwelgerisch +in seinem Pomp und Schmuck! Von dem Reichtum +der Toten auch nur zu lesen war schon wunderbar.</p> + +<p>Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den +Stickereien zu und den Gobelins, die in den frostigen +Räumen der nördlichen Völker Europas die Stelle der +Freskogemälde vertraten. Als er sich in dieses Gebiet +vertiefte — und er besaß immer eine außerordentliche +Fähigkeit, sich für den Augenblick von allem absorbieren zu +lassen, was er in Angriff nahm — wurde er ordentlich +traurig bei dem Gedanken an die Vernichtung, die die +Zeit schönen und wundervollen Dingen bereitete. Er +wenigstens war ihr entronnen. Sommer folgte dem Sommer, +die gelben Jonquillen hatten geblüht und waren +viele Male verwelkt, und schreckliche Nächte wiederholten +die Geschichte ihrer Schande, aber er blieb unverändert. +Kein Winter entstellte sein Antlitz oder beschädigte seinen +blütengleichen Schmelz. Wie anders war das mit den<a class="pagenum" name="Page_212" title="212"> </a> +materiellen Dingen! Wohin waren die entschwunden? +Wo war das große krokusfarbene Gewand, auf dem die +Götter die Giganten bekämpft hatten, das von braunen +Mädchen der Athene zur Freude gestickt worden war? Wo +war das große Velarium, das Nero über das Kolosseum +in Rom hatte ausspannen lassen, dieses gigantische Purpursegel, +auf dem der Sternenhimmel abgebildet war, und +Apollo, wie er einen Wagen lenkt, den weiße, von goldenen +Zügeln gebändigte Streitrosse ziehen? Er sehnte sich, die +sonderbaren Tischdecken zu sehen, die für den Sonnenpriester +gewebt worden waren, und in die alle Leckerbissen +und Speisen eingewirkt waren, die man für ein Festmahl +nur wünschen konnte, das Sterbekleid des Königs Hilperich +mit seinen dreihundert goldenen Bienen, die phantastischen +Gewandungen, die die Entrüstung des Bischofs +von Pontus erregten und auf denen „Löwen, Panther, +Bären, Hunde, Wälder, Felsen, Jäger — kurz alles dargestellt +war, was ein Maler der Natur ablauschen kann“, +und den Rock, den Karl von Orleans einstmals getragen +hatte, auf dessen Ärmel die Verse eines Gedichtes gestickt +waren, das begann: <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Madame, je suis tout joyeux</span>, während +die Noten hierzu mit Goldfäden eingestickt waren +und jeder Notenkopf, damals noch viereckig, aus vier Perlen +gebildet war. Er las von dem Zimmer, das man im +Palast von Reims für den Gebrauch der Königin Johanna +von Burgund hergerichtet hatte, „und das ausgeschmückt +war mit dreizehnhunderteinundzwanzig gestickten Papageien, +die das Wappen des Königs trugen, und mit fünfhunderteinundsechzig +Schmetterlingen, deren Flügel auf<a class="pagenum" name="Page_213" title="213"> </a> +dieselbe Weise mit dem Wappen der Königin geschmückt +waren, das Ganze in Gold gearbeitet.“ Katharina von +Medici hatte sich ein Trauerbett machen lassen aus schwarzem +Samt, bestickt mit Halbmonden und Sonnen. Seine +Vorhänge waren aus Damast, und auf einem Grunde +von Gold und Silber waren Zweige und Girlanden gestickt, +und die Bordüren bestanden aus Fransen mit Perlen, +und es stand in einem Zimmer, das mit einem Silbertuch +bespannt war, auf dem reihenweise die Wahlsprüche der +Königin in schwarzem, geschorenem Samt appliziert waren. +Ludwig der Vierzehnte hatte in seinem Gemach goldgestickte, +fünfzehn Fuß hohe Karyatiden. Das Staatsbett +Sobieskis, des Königs von Polen, bestand aus Smyrna-Goldbrokat, +und Verse aus dem Koran waren aus Türkisen +hineingestickt. Seine Füße waren aus vergoldetem +Silber, schön getrieben und verschwenderisch mit Medaillons +aus Email und Edelsteinen besetzt. Es war bei +der Belagerung von Wien aus dem türkischen Lager erbeutet +worden, und die Fahne Mohammeds war unter +dem flimmerigen Gold seines Baldachins angebracht.</p> + +<p>Und so suchte er ein ganzes Jahr lang die erlesensten +Proben zusammen, die er von Webekunst und Stickereiarbeiten +auftreiben konnte, er verschaffte sich die duftigen +Delhi-Musselins, die zart mit goldenen Palmblättern +und mit irisierenden Käferflügeln bestickt waren, die Gazestoffe +aus Dhaka, die man im Orient ihrer Durchsichtigkeit +wegen „gewebte Luft“, „rieselndes Wasser“ und „Abendtau“ +nennt: Tücher aus Java mit seltsamen Figuren: +feine, gelbe chinesische Gardinen: Bücher, die in lohfarbigen<a class="pagenum" name="Page_214" title="214"> </a> +Atlas oder hellblaue Seide gebunden und eingepreßte +heraldinische Lilien, Vögel und Schildereien zeigten Pointslace-Schleiergewebe +aus Ungarn: sizilianische Brokate +und steife spanische Sammete: georgische Arbeiten mit +ihren goldenen Münzen, und japanische Fukusas mit +ihren grünen Goldtönen und ihren gefiederten Vögeln +wunderbarster Arbeit.</p> + +<p>Er hatte dann eine besondere Leidenschaft für kirchliche +Gewänder wie für alles, was mit dem religiösen Ritus +zusammenhing. In den langen Kästen aus Zedernholz, +die auf der westlichen Galerie seines Hauses standen, hatte +er viele seltene, schöne Proben des wahrhaften Kleides +der Christusbraut angesammelt, die sich in Purpur, in +Edelsteine und feines Linnen kleiden muß, um den bleichen, +abgezehrten Leib darin zu verhüllen, der erschöpft ist von +den Leiden, die sie sucht, und verwundet von selbst zugefügten +Schmerzen. Er besaß einen prachtvollen Chorrock +aus karminroter Seide und goldgewirktem Damast, +der mit einem sich wiederholenden Muster von goldenen +Granatäpfeln geziert war, die auf sechsblättrigen, regelmäßigen +Blüten saßen, worunter auf jeder Seite ein in +Staubperlen gestickter Tannenzapfen war. Die Goldstickereien +waren in einzelne Felder geteilt, in denen Szenen +aus dem Leben der Jungfrau abgebildet waren und die +Krönung der Jungfrau war in der dazu gehörigen Kappe +in farbiger Seide oben eingestickt. Es war italienische +Arbeit aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein anderer +Chorrock war aus grünem Samt, bestickt mit herzförmigen +Bündeln von Akanthusblättern, aus denen langgestielte<a class="pagenum" name="Page_215" title="215"> </a> +weiße Blüten hervorsprossen, die zart mit silbernen Fäden +und farbigen Kristallperlen ausgearbeitet waren. Auf der +Spange war der Kopf eines Seraphs in erhabener +Goldstickerei ausgeführt. Die Borten waren fortlaufend +auf blumigem Tuch in roter und goldener Seide eingewebt +und mit den Medaillonbildnissen vieler Heiligen und Märtyrer +ausstaffiert, unter denen sich der heilige Sebastian +befand. Er hatte auch Meßgewänder aus bernsteinfarbiger +Seide und blauer Seide und goldenem Brokat und +aus gelbem Seidendamast und goldenem Tuch, die bedeckt +waren mit Darstellungen der Passion und der Kreuzigung +Christi, und bestickt mit Löwen, Pfauen und anderen Emblemen, +er hatte Dalmatikas aus weißem Atlas und +rosarotem Seidendamast, geziert mit Tulpen, Delphinen +und heraldischen Lilien: Altardecken aus karmoisinrotem +Samt und blauem Linnen, und viele Decken für Meßgeräte, +Kelchhüllen und Schweißtücher. In den mystischen +Diensten, zu denen diese Dinge bestimmt waren, lag +etwas, das seine Einbildungskraft anregte.</p> + +<p>Denn diese Schätze und überhaupt alles, was er in +seinem wunderbaren Hause ansammelte, waren für ihn +Mittel zum Vergessen, Liebhabereien, durch die er eine +Zeitlang der Angst entrinnen konnte, die ihm oft zu groß +erschien, um sie zu ertragen. An die Wand des verlassenen, +verschlossenen Raumes, worin er einen so großen Teil seiner +Knabenzeit verbracht hatte, hatte er mit seinen eigenen +Händen das fürchterliche Porträt aufgehängt, dessen Züge +ihm in ihrer Veränderung die wahrhafte Erniedrigung +seines Lebens zeigten, und darüber hatte er als Vorhang<a class="pagenum" name="Page_216" title="216"> </a> +das Bahrtuch aus Gold und Purpur angebracht. Wochenlang +mochte er nicht dahin gehen, wollte er das gräßliche +Gemälde vergessen und gewann dann wieder sein leichtes +Herz zurück, seine wunderbare Fröhlichkeit und seine +Kraft zu leidenschaftlicher Versenkung ins Leben. Dann +aber schlich er plötzlich in einer Nacht aus dem Hause, +besuchte schaurige Orte in der Nähe von Blue Gate Fields +und blieb dort Tag um Tag, bis es ihn wieder wegtrieb. +Nach seiner Rückkehr saß er dann wohl vor dem Bilde, +manchmal voll Haß vor ihm und vor sich selbst, ein +andermal aber erfüllt mit dem Stolze auf das eigene +Wesen, der den halben Reiz der Sünde ausmacht, und +er lächelte dann mit geheimem Vergnügen das verunstaltete +Abbild an, das die Last zu tragen hatte, die eigentlich +für ihn bestimmt war.</p> + +<p>Nach einigen Jahren konnte er es nicht aushalten, lange +von England weg zu sein, und gab das Landhaus auf, +das er gemeinsam mit Lord Henry in Trouville innegehabt +hatte, und ebenso das kleine, von weißer Mauer umrahmte +Haus in Algier, wo sie mehr als einmal den +Winter verbracht hatten. Er konnte es nicht ertragen, von +dem Porträt getrennt zu sein, das jetzt gewissermaßen +ein Teil seines Lebens geworden war, und er fürchtete +auch, es könne in seiner Abwesenheit irgend jemand Zutritt +bekommen trotz den sorgfältig gearbeiteten Sicherheitsschlössern, +die er an der Türe hatte anbringen lassen.</p> + +<p>Er war sich vollauf bewußt, daß niemand etwas verraten +könne. Allerdings bewahrte das Bild unter all der +Gemeinheit und Häßlichkeit seines Antlitzes noch eine deutliche<a class="pagenum" name="Page_217" title="217"> </a> +Ähnlichkeit mit ihm, aber was konnte das den Leuten +sagen? Er würde jeden auslachen, der es versuchen wollte, ihn +zu schmähen. Er hatte es ja nicht gemalt. Was ging es ihn +an, wie abscheulich und schändlich es aussah? Selbst wenn +er jemand die Wahrheit erzählte, konnte sie einer glauben?</p> + +<p>Und doch hatte er Angst. Wenn er manchmal in seinem +großen Hause in Nottinghamshire war und die <ins title="eleganganten">eleganten</ins> +jungen Leute, die meistens seine Gesellschaft bildeten, +bewirtete, und die Leute der Grafschaft durch den +ausschweifenden Luxus und den verschwenderischen Glanz +seines Lebens in Erstaunen setzte, dann verließ er wohl +plötzlich seine Gäste und eilte zurück in die Stadt, um nachzusehen, +ob sich niemand an der Türe zu schaffen gemacht +habe und ob das Bild noch da sei. Wie, wenn es jemand +gestohlen hätte? Der bloße Gedanke erfüllte ihn mit kaltem +Entsetzen. Gewiß würde dann die Welt sein Geheimnis +erfahren. Vielleicht hatte sie schon Verdacht geschöpft.</p> + +<p>Denn genau wie er viele fesselte, gab es auch nicht wenige, +die ihm mißtrauten. Er wäre fast schwarz ballotiert +worden in einem Westend-Klub, zu dessen Mitgliedschaft +ihn soziale Stellung und Geburt vollständig berechtigten, +und es hieß, daß einmal, als ihn ein Freund in das +Rauchzimmer des Curchill-Klubs mitgebracht hatte, der +Herzog von Berwick und ein anderer Herr in auffallender +Weise aufgestanden und hinausgegangen wären. Sonderbare +Geschichten waren über ihn im Umlauf, als er sein +fünfundzwanzigstes Jahr vollendet hatte. Man munkelte, +daß man ihn in einer elenden Kaschemme in einem entlegenen +Winkel Whitechapels mit fremden Matrosen habe<a class="pagenum" name="Page_218" title="218"> </a> +zechen sehen, und daß er mit Dieben und Falschmünzern +umgehe und die Geheimnisse ihres Gewerbes kenne. Seine +auffallende Gewohnheit, zu bestimmten Zeiten zu verschwinden, +war bekannt, und wenn er dann wieder in der +Gesellschaft auftauchte, flüsterte man sich in den Ecken Bemerkungen +zu oder man ging an ihm mit einem unzweideutigen +Lächeln oder mit kühlen, forschenden Blicken vorbei, +als wäre man entschlossen, sein Geheimnis zu enthüllen.</p> + +<p>Von diesen Unverschämtheiten und versuchten Beleidigungen +nahm er natürlich keine Notiz, und in den Augen +der meisten Leute war sein offenes, freundliches Wesen, +sein reizendes Knabenlächeln und die unendliche Grazie +der wundervollen Jugend, die ihn nie zu verlassen schien, +an sich eine genügende Antwort auf die Verleumdungen, +denn so nannte man es, die über ihn im Umlauf waren. +Indessen bemerkte man, daß einige von denen, die früher +sehr innig mit ihm verkehrt hatten, ihn nach einiger Zeit +zu meiden anfingen. Frauen, die ihn glühend geliebt +hatten und um seinetwillen allem Tadel der Gesellschaft +getrotzt und die Konvention verachtet hatten, konnte man +vor Scham oder Entsetzen erbleichen sehen, wenn Dorian +Gray ins Zimmer trat.</p> + +<p>Doch dieses Skandalgeflüster erhöhte in den Augen vieler +nur seinen seltsamen und gefährlichen Reiz. Auch sein +großer Reichtum bot ein gewisses Unterpfand der Sicherheit. +Die Gesellschaft, wenigstens die zivilisierte Gesellschaft, +ist niemals schnell geneigt, etwas Schlechtes von +denen zu glauben, die zugleich reich und interessant sind. +Sie begreift instinktiv, daß Manieren wichtiger sind als<a class="pagenum" name="Page_219" title="219"> </a> +Moral, und ihrer Meinung nach ist die höchste Ehrbarkeit +weniger wert als der Besitz eines guten Küchenchefs. Und +schließlich ist es auch ein sehr schwacher Trost, wenn einem +gesagt wird, daß der Mann, bei dem es ein schlechtes +Diner oder einen elenden Wein gegeben hat, in seinem +Privatleben unantastbar dasteht. Selbst die Kardinaltugenden +können nicht für kalt gewordene Entrees entschädigen, +bemerkte Lord Henry einmal, als man über +dieses Thema sprach; und für seine Ansicht spricht wahrscheinlich +sehr viel. Denn die Gesetze der guten Gesellschaft +sind oder sollten wenigstens dieselben sein, wie die Regeln +der Kunst. Form ist für sie unbedingt wesentlich. Sie +sollte die Würde ebenso wie die Unwirklichkeit einer +Zeremonie haben und sollte den unaufrichtigen Schein +eines romantischen Schauspiels mit dem Witz und der +Schönheit verbinden, die für uns das Entzücken solcher +Spiele ausmachen. Ist Unaufrichtigkeit denn etwas so +Furchtbares? Ich glaube nicht. Sie ist nur ein Mittel, +wodurch wir unsere Persönlichkeit vervielfachen können.</p> + +<p>Das war wenigstens die Meinung von Dorian Gray. Er +pflegte sich über die seichte Psychologie derer zu wundern, +die sich das Ich eines Menschen als etwas Einfaches, +Beständiges, Verläßliches und Einheitliches vorstellen. Für +ihn war der Mensch ein Wesen mit Myriaden von Leben +und Myriaden von Gefühlen, ein kompliziertes, vielgestaltetes +Geschöpf, das seltsame Erbschaften in seinen Gedanken +und Leidenschaften mit sich herumtrug und dessen +Fleisch von den ungeheuerlichen Krankheiten der Verstorbenen +angesteckt war. Er liebte es, die kahle, kalte<a class="pagenum" name="Page_220" title="220"> </a> +Bildergalerie auf seinem Landsitze zu durchschlendern +und die verschiedenen Porträts der Menschen zu betrachten, +deren Blut in seinen Adern floß. Hier war Philipp +Herbert, den Francis Osborne in seinen „Memoiren +über die Herrscherzeit der Königin Elisabeth und des +Königs Jakob“ als einen beschrieb, „den der Hof seines +hübschen Gesichtes wegen lieb hatte, das ihm aber nicht +lange Gesellschaft leistete“. War es das Leben des jungen +Herbert, das er manchmal führte? Hatte sich irgendein +merkwürdiger, gifttragender Keim von Körper zu Körper +übertragen, bis er seinen eigenen erreicht hatte? War es +eine dumpfe Erinnerung an diesen verwelkten Liebreiz +gewesen, die damals in Basil Hallwards Atelier so jäh +und fast ohne Grund über ihn hereinbrach, daß er jenes +wahnsinnige Gebet sprechen mußte, das sein Leben so sehr +verändert hatte? Hier stand in goldgesticktem rotem +Wams, in einem mit Juwelen geschmückten Überrock +und goldgefaßten Hals- und Ärmelkrausen Sir Anthony +Sherard, die Beine mit silbernen und schwarzen Schienen +gepanzert. Was war das Vermächtnis dieses Mannes +gewesen? Hatte ihm der Geliebte der Giovanna von +Neapel ein Erbteil der Sünde und Schande hinterlassen? +Waren seine eigenen Handlungen nur die Träume, die der +Tote nicht zu verwirklichen gewagt hatte? Hier lächelte +von einer verblaßten Leinwand Lady Elisabeth Devereux +in ihrer Gazehaube, dem perlenbestickten Brustschmuck und +den roten Schlitzärmeln. Sie hielt in der rechten Hand +eine Blume, und die linke umfaßte einen emaillierten +Halsschmuck aus weißen und Damaszener Rosen. Auf<a class="pagenum" name="Page_221" title="221"> </a> +einem Tisch neben ihr lag eine Mandoline und ein Apfel. +Auf ihren kleinen, spitzen Schuhen saßen große, grüne Rosetten. +Er kannte ihr Leben und die seltsamen Geschichten, +die man über ihre Liebhaber erzählte. Hatte er etwas von +ihrem Temperament an sich? Diese ovalen Augen mit den +schweren Lidern schienen ihn so sonderbar anzublicken. +Wie stand es um George Willoughby mit seinem gepuderten +Haar und seinen phantastischen Schönheitspflästerchen? +Wie böse er aussah! Das Gesicht war melancholisch +und bräunlich, und die sinnlichen Lippen schienen verächtlich +zusammengekniffen. Kostbare Spitzenmanschetten rieselten +über die mageren gelben Hände, die mit Ringen so +sehr überladen waren. Er war im achtzehnten Jahrhundert +ein Stutzer gewesen und in seiner Jugend ein Freund von +Lord Ferrars. Wie war es mit dem zweiten Lord Beckenham, +dem Gefährten des Prinzregenten in seinen wildesten +Tagen und einem der Zeugen bei seiner heimlichen Eheschließung +mit Frau Fitzherbert? Wie stolz und hübsch +war er mit seinen kastanienbrauen Locken und der herausfordernden +Haltung! Welche Leidenschaften hatte er ihm +vererbt? Die Welt hatte ihn für ehrlos gehalten. Er hatte +bei den Orgien in Carlton House den Vorsitz geführt. Der +Stern des Hosenbandordens strahlte auf seiner Brust. +Neben ihm hing das Bild seiner Gemahlin, einer blassen, +dünnlippigen Frau in schwarzem Kleide. Auch ihr Blut +flutete in ihm. Wie merkwürdig schien das alles! Und seine +Mutter mit ihrem Lady Hamilton-Gesicht und ihren feuchten, +wie vom Wein benetzten Lippen — er wußte, was er +von ihr mitbekommen hatte. Von ihr hatte er seine Schönheit<a class="pagenum" name="Page_222" title="222"> </a> +geerbt und seine Leidenschaft für die Schönheit anderer. +Sie lachte ihn an in ihrem losen Bacchantinnenkleide. In +ihrem Haare waren Weinblätter. Über den Becher, den +sie hielt, schäumte der Purpur. Die Fleischfarbe des Gemäldes +war verblaßt, aber die Augen waren noch wunderbar +in ihrer Tiefe und ihrem Farbenglanz. Sie schienen +ihm überall hin zu folgen, wo er auch ging.</p> + +<p>Aber man hatte Vorfahren ebensogut in der Literatur +wie in dem eigenen Geschlecht, und viele davon standen +einem vielleicht näher in ihrem Menschentum und in ihrem +Temperament und hatten sicher einen Einfluß, von dem +man sich genauere Rechenschaft zu geben vermochte. Es gab +Zeiten, wo Dorian Gray den Eindruck hatte, als wäre +die ganze Weltgeschichte nur ein Bericht seines eigenen +Lebens, nicht wie er es nach Taten und Umständen gelebt +hatte, sondern wie es seine Phantasie für ihn erschaffen +hatte, wie es in seinem Gehirn und in seinen Sinnentrieben +war. Er fühlte, daß er sie alle gekannt hatte, diese merkwürdigen +schrecklichen Gestalten, die über die Weltenbühne +geschritten waren und die Sünde so glänzend und +das Böse so tief und fein gemacht hatten. Es wollte ihm +scheinen, daß auf irgendeine geheimnisvolle Weise ihr +Leben auch sein eigenes gewesen sei.</p> + +<p>Der Held des wunderbaren Romans, der sein Leben so +stark beeinflußt hatte, war auch von diesem seltsamen +Einfall ergriffen gewesen. Im siebenten Kapitel erzählt +er: wie er, bekränzt mit Lorbeer, damit ihn der Blitz +nicht treffe, als Tiberius in einem Garten von Capri gesessen +und die schändlichen Bücher von Elephantis gelesen<a class="pagenum" name="Page_223" title="223"> </a> +habe, während Zwerge und Pfauen um ihn herumstolzierten +und der Flötenspieler den Weihrauchschwinger verspottete: +wie er als Caligula mit den grünbeschürzten +Stallknechten in ihren Ställen gezecht und aus einer elfenbeinernen +Krippe ein Mahl genommen habe mit einem +Rosse, das ein edelsteingeschmücktes Stirnband trug, und +wie er als Domitian durch einen Korridor gewandert sei, +dessen Wände mit Marmorspiegeln bedeckt waren, in denen +er mit verstörten Augen nach dem Widerschein des Dolches +gesucht habe, der seine Tage enden sollte, erkrankt an der +Langeweile, dem schrecklichen <span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Taedium vitae</span>, das alle +befällt, denen das Leben nichts versagt: und wie er durch +einen hellen Smaragd den blutrünstigen Schlächterszenen +im Zirkus zugeschaut habe und dann in einer Karosse aus +Perlen und Purpur, die von silberfarbig gesprenkelten +Maultieren gezogen wurde, durch eine Straße mit Granatbäumen +zu einem goldenen Hause gefahren sei und gehört +habe, wie ihm die Menschenmenge zurief: Kaiser Nero, +als er vorbeifuhr, und wie er sich als Heliogabal das Gesicht +geschminkt, mit den Weibern am Spinnrocken gewebt +und den Mond aus Karthago geholt habe, um ihn in +mystischer Ehe mit der Sonne zu vermählen.</p> + +<p>Wieder und wieder las Dorian dieses phantastische Kapitel +und die zwei unmittelbar folgenden, in denen wie auf +wunderlichen Gobelins oder kunstvoll gearbeiteten Emaillen +die greulich-schönen Gestalten jener dargestellt waren, die +Laster und Blut und Übersättigung zu Ungeheuern oder +Narren gemacht hatte: Filippo, der Herzog von Mailand, +der sein Weib getötet und ihre Lippen mit scharlachrotem<a class="pagenum" name="Page_224" title="224"> </a> +Gift gefärbt hatte, damit ihr Geliebter von dem Leichnam, +wenn er ihn liebkoste, den Tod saugen möge: der +Venezianer Pietro Barbi, bekannt als Paul der Zweite, +der in seiner Eitelkeit den Beinamen Formosus annehmen +wollte und dessen Tiara, die zweihunderttausend Gulden +Wert hatte, mit einer furchtbaren Sünde erkauft worden +war: Gian Maria Visconti, der Hunde benutzte, um auf +lebende Menschen Jagd zu machen, und dessen Leichnam +nach seiner Ermordung von einer Dirne, die ihn geliebt +hatte, mit Rosen bedeckt ward: der Borgia auf seinem +Schimmel, neben dem der Brudermord hoch zu Rosse saß, +und dessen Mantel mit dem Blute Perottos befleckt war: +Pietro Riario, der junge Kardinalerzbischof von Florenz, +das Kind und der Liebling Sixtus des Sechsten, dessen +Schönheit nur von seiner Lasterhaftigkeit übertroffen +wurde, und der Leonora von Aragonien in einem Zelt aus +weißer und karmesinfarbener Seide empfing, das voll +Nymphen und Zentauren war, und der einen Knaben vergoldete, +damit er bei dem Feste als Ganymed oder Hylas +aufwarte: Etzelin, dessen Schwermut nur durch das Schauspiel +des Todes geheilt werden konnte und der eine Leidenschaft +für rotes Blut hatte, wie andere Menschen für roten +Wein — den man den Sohn des Satans hieß und der +seinen Vater beim Würfeln betrogen hatte, als er mit +ihm um seine Seele spielte: Giambattista Cibo, der aus +Hohn den Namen Innozentius annahm und in dessen +verdumpfte Adern ein jüdischer Arzt das Blut von drei +Jünglingen einpumpte: Sigismondo Malatesta, der Liebhaber +der Isotta und der Herr von Rimini, der zu Rom<a class="pagenum" name="Page_225" title="225"> </a> +im Bilde als ein Feind Gottes und der Menschen verbrannt +wurde, und der Polyssena mit einer Serviette erdrosselte, +und der Ginevra d'Este aus einem Smaragdbecher +Gift zu trinken gab und, um eine schändliche Leidenschaft +zu ehren, einen heidnischen Tempel zur Anbetung +für die Christen baute: Karl der Sechste, der für das Weib +seines Bruders so ungestüm erglühte, daß ihm ein Aussätziger +den Irrsinn prophezeite, der über ihn kommen +werde, und der, als sein Geist krank geworden war und +sich verwirrt hatte, nur durch sarazenische Spielkarten besänftigt +wurde, auf denen Liebe, Tod und Wahnsinn abgebildet +waren: und in seinem gezierten Kamisol und in +seinem edelsteingeschmückten Barett und den akanthusgleichen +Locken Grifonetto Baglioni, der Astorre bei seiner +Braut und Simonetto bei seinem Pagen erschlug, und +dessen Anmut so groß war, daß, als er sterbend auf der +gelben Piazza in Perugia lag, selbst seine Hasser das +Schluchzen nicht unterdrücken konnten, und ihn Atalanta +segnete, die ihn verflucht hatte.</p> + +<p>Ein grauenhafter Zauber war in alledem. Er sah sie +bei Nacht, und während des Tages verwirrten sie seine +Vorstellungen. Die Renaissance kannte seltsame Arten, zu +vergiften — zu vergiften durch einen Helm und eine angezündete +Fackel, einen bestickten Handschuh und einen +edelsteinbesetzten Fächer, ein vergoldetes Riechbüchschen +und eine Bernsteinkette. Dorian Gray war durch ein Buch +vergiftet worden. Es gab Augenblicke, in denen er die +Sünde einzig als eine Möglichkeit ansah, seinen Schönheitsbegriff +zu verwirklichen.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_226" title="226"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Zwolftes_Kapitel" id="Zwolftes_Kapitel"></a>Zwölftes Kapitel</h2> + + +<p>Es war am neunten November, am Vorabend seines +achtunddreißigsten Geburtstages, wie er sich später oftmals +erinnerte.</p> + +<p>Er ging gegen elf Uhr aus Lord Henrys Wohnung, +bei dem er gegessen hatte, nach Hause und war in einen +schweren Pelz gehüllt, da die Nacht kalt und neblig war. +An der Ecke von Grosvenor Square und South Audley +Street ging im Nebel ein Mann sehr eilig an ihm vorbei, +der den Kragen seines grauen Ulsters hochgeschlagen hatte. +Er trug eine Reisetasche. Dorian erkannte ihn. Es war +Basil Hallward. Ein seltsames Angstgefühl, über das er +sich keine Rechenschaft geben konnte, befiel ihn. Er ließ +nicht merken, daß er ihn erkannt hatte und setzte rasch +seinen Weg fort in der Richtung seines Hauses.</p> + +<p>Aber Hallward hatte ihn gesehen. Dorian hörte, wie er +zuerst auf dem Trottoir stehenblieb und ihm dann nacheilte. +In ein paar Augenblicken lag eine Hand auf seinem +Arm.</p> + +<p>„Dorian! Was für ein besonders glücklicher Zufall! Ich +habe seit neun Uhr in deiner Bibliothek auf dich gewartet. +Schließlich tat mir dein ermüdeter Diener leid, und +als er mich herunterließ, sagte ich ihm, er möchte zu Bett +gehen. Ich fahre mit dem Mitternachtszug nach Paris, +und ich hatte den dringendsten Wunsch, dich vor meiner +Abreise noch zu sehen. Ich dachte, das mußt du sein, +oder mindestens dein Pelz, als du vorbeigingst. Aber ich<a class="pagenum" name="Page_227" title="227"> </a> +war doch nicht ganz sicher. Hast du mich denn nicht erkannt?“</p> + +<p>„Bei so einem Nebel, lieber Basil? Ich kann nicht einmal +Grosvenor Square erkennen. Ich vermute, mein Haus +ist hier irgendwo in der Nähe, aber ich bin mir nicht ganz +sicher. Es tut mir leid, daß du verreist, denn ich habe dich +ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber ich denke, du kommst +doch bald wieder?“</p> + +<p>„Nein; ich bleibe sechs Monate von England fort. Ich +will mir in Paris ein Atelier mieten und mich darin einschließen, +bis ein großes Bild fertig ist, das ich im Kopf +habe. Aber ich wollte nicht über mich reden. Da sind wir +an deiner Tür. Laß mich einen Augenblick mit herein. Ich +habe dir was zu sagen.“</p> + +<p>„Es wird mir eine große Freude sein. Aber versäumst +du auch deinen Zug nicht?“ sagte Dorian Gray mit müder +Stimme, als er die Treppe hinaufstieg und die Tür mit +seinem Drücker öffnete.</p> + +<p>Das Lampenlicht kämpfte mit dem Nebel, und Hallward +sah auf die Uhr. „Ich habe noch eine Menge Zeit“, +antwortete er. „Der Zug geht zwölf Uhr fünfzehn, und +es ist eben elf. Offen gesagt, ich war gerade auf dem Weg +in den Klub, um dich zu suchen, als ich dich traf. Mein +Gepäck wird mich, wie du siehst, nicht sehr aufhalten, weil +ich die schweren Sachen vorausgeschickt habe. Hier in der +Tasche ist alles, was ich mitnehme, und nach Victoria +Station kann ich bequem in zwanzig Minuten kommen!“</p> + +<p>Dorian sah ihn lächelnd an. „Für einen berühmten Maler +eine merkwürdige Art, zu reisen! Eine Handtasche und<a class="pagenum" name="Page_228" title="228"> </a> +ein Ulster! Komm herein, sonst dringt der Nebel ins Haus! +Und bitte, sprich über nichts Ernsthaftes mit mir. Nichts +ist heutzutage ernsthaft. Wenigstens sollte es nichts sein.“</p> + +<p>Hallward schüttelte den Kopf als er eintrat, und folgte +Dorian ins Bibliothekzimmer. Dort brannte in dem offenen +Kamin ein helles Holzfeuer. Die Lampen waren angezündet, +und ein offenstehender holländischer Likörkasten aus +Silber stand nebst ein paar Sodawassersiphons und großen +geschliffenen Gläsern auf einem eingelegten Tischchen.</p> + +<p>„Du siehst, dein Diener hat es mir gemütlich gemacht, +Dorian. Er hat mir alles gegeben, was ich brauchte, sogar +deine besten Zigaretten mit Goldmundstück. Es ist ein recht +gastfreundlicher Mensch. Ich mag ihn viel lieber als den +Franzosen, den du vor ihm hattest. Was ist übrigens aus +dem Franzosen geworden?“</p> + +<p>Dorian zuckte die Achseln. „Ich glaube, er hat Lady +Radleys Kammermädchen geheiratet und sie in Paris als +englische Schneiderin etabliert. Ich höre, daß Anglomanie +zurzeit drüben sehr Mode ist. Scheint mir recht töricht von +den Franzosen, nicht wahr? Aber — weißt du noch? — er +war wirklich kein schlechter Bedienter. Ich mochte ihn +zwar auch nie so recht leiden, aber er gab mir keinen +Grund zur Klage. Man bildet sich oft Dinge ein, die ganz +sinnlos sind. Er war mir wirklich sehr ergeben und schien +ganz traurig, als er wegging. Willst du noch einen Kognak +und Soda? Oder lieber Wein mit Selter? Ich +nehme immer Wein mit Selter. Es ist gewiß etwas im +Nebenzimmer.“</p> + +<p>„Danke, ich nehme nichts mehr“, sagte der Maler, legte<a class="pagenum" name="Page_229" title="229"> </a> +Mütze und Überrock ab und warf sie auf die Reisetasche, +die er in die Zimmerecke gestellt hatte. „Und jetzt, lieber +Freund, möchte ich mit dir mal ernsthaft sprechen. Du +mußt nicht so böse aussehen. Du machst es mir dadurch +nur schwerer.“</p> + +<p>„Was soll das alles?“ rief Dorian, offen seine Verdrießlichkeit +zeigend und warf sich auf das Sofa. „Ich +hoffe, es handelt sich nicht um mich. Ich habe heute abend +genug von mir. Ich wünschte, ich wäre ein anderer.“</p> + +<p>„Es handelt sich um dich,“ antwortete Hallward mit +seiner ernsten, tiefen Stimme, „und ich muß es dir sagen. +Ich werde dich kaum ein halbes Stündchen aufhalten.“</p> + +<p>Dorian seufzte und steckte sich eine Zigarette an. „Ein +halb Stündchen“, flüsterte er.</p> + +<p>„Das ist nicht viel von dir verlangt, Dorian, und ich +spreche wirklich nur zu deinem Besten. Ich halte es für +angebracht, daß du endlich die schrecklichen Dinge erfährst, +die über dich in London geredet werden.“</p> + +<p>„Ich will nicht das mindeste davon wissen. Ich habe +Tratsch über andere Leute recht gern, aber Tratsch über +mich interessiert mich ganz und gar nicht. Es hat nicht mal +den Reiz der Neuheit.“</p> + +<p>„Es muß dich interessieren, Dorian. Jeder anständige +Mensch ist an seinem guten Ruf interessiert. Du darfst doch +nicht die Leute von dir reden lassen, wie von einem gesunkenen +und abscheulich lasterhaften Menschen. Natürlich +hast du deine Stellung, deinen Reichtum und all dergleichen. +Aber Stellung und Reichtum sind nicht alles. Auf +mein Wort, ich glaube von diesen Gerüchten nichts. Wenigstens<a class="pagenum" name="Page_230" title="230"> </a> +kann ich ihnen nicht glauben, wenn ich dich sehe. Die +Sünde steht jedem Menschen auf der Stirn geschrieben. +Man kann sie nicht verhehlen. Die Menschen schwatzen +manchmal von geheimen Lastern. So etwas gibt es nicht. +Wenn ein unseliger Mensch ein Laster hat, so zeigt sichs +in den Linien seines Mundes, in seinen herabgesunkenen +Augenlidern, selbst in der Form seiner Hände. Jemand +— ich will seinen Namen nicht nennen, aber du kennst ihn +— kam voriges Jahr zu mir und wollte sich malen lassen. +Ich hatte ihn nie vorher gesehen und damals nie etwas +von ihm gehört, seitdem aber hat man mir eine Menge +von ihm erzählt. Er bot mir einen fabelhaften Preis an. +Ich habe abgelehnt. An der Form seiner Finger war +etwas, das mir ekelhaft war. Jetzt weiß ich, daß ich mit +meiner Vermutung über ihn ganz recht hatte. Sein Leben +ist fürchterlich. Aber von dir, Dorian, mit deinem reinen, +leuchtenden, unschuldigen Gesicht und deiner wunderbaren +unberührten Jugend — ich kann nicht das Häßliche glauben, +das man gegen dich vorbringt. Und doch, ich sehe +dich jetzt so selten, und du kommst gar nicht mehr in mein +Atelier, und wenn ich nicht mit dir zusammen bin und alle +die abscheulichen Dinge höre, die sich die Leute über dich +zuflüstern, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Woher +kommt es, Dorian, daß ein Mann wie der Herzog von +Berwick aufsteht und das Klubzimmer verläßt, wenn du +eintrittst? Warum wollen so viele Männer in London nicht +zu dir kommen und dich niemals zu sich einladen? Du +warst doch mit Lord Staveley befreundet. Ich traf ihn +vorige Woche bei einem Diner. Dein Name tauchte zufällig<a class="pagenum" name="Page_231" title="231"> </a> +im Gespräch in Verbindung mit den Miniaturen +auf, die du der Dudley-Ausstellung hergeliehen hast. Staveley +verzog die Lippen und sagte, es mag ja sein, daß +du einen äußerst künstlerischen Geschmack habest, aber +du seist ein Mann, den kein reines Mädchen kennenlernen +solle und mit dem keine anständige Frau im selben Zimmer +sein dürfe. Ich gab ihm zu verstehen, daß ich dein Freund +sei, und fragte ihn, was er damit meine. Er sagte es mir. +Er sagte es mir vor allen Leuten geradeheraus. Es war +scheußlich! Warum ist deine Freundschaft für junge Männer +solch ein Unglück? Da war der unselige Bursch in +der Leibgarde, der Selbstmord begangen hat. Du warst +sein bester Freund. Da war Sir Henry Ashton, der England +mit einem besudelten Namen verlassen mußte. Du +und er, ihr beide wart unzertrennlich. Wie ist es mit +Adrian Singleton bestellt und seinem furchtbaren Ende? +Was war das mit dem einzigen Sohn Lord Kents und +seiner Karriere? Ich traf seinen Vater gestern in St. James +Street. Er schien vor Schande und Herzleid gebrochen. +Was hattest du mit dem jungen Herzog von Perth? Was +für ein Leben führt er jetzt? Welcher Gentleman wollte +noch mit ihm Umgang haben?“</p> + +<p>„Hör auf, Basil, du sprichst von Dingen, von denen du +nichts weißt“, sagte Dorian Gray, der sich auf die Lippen +biß und in seine Stimme einen Ton unsäglicher Verachtung +legte. „Du fragst mich, warum Berwick aus dem +Zimmer geht, wenn ich eintrete. Er tut das, weil ich sein +Leben durch und durch kenne, nicht weil er etwas von mir +wüßte. Wie könnte er bei dem Blut, das in seinen Adern<a class="pagenum" name="Page_232" title="232"> </a> +rollt, nicht viel auf dem Kerbholz haben? Du fragst +mich nach Henry Ashton und dem jungen Perth. Habe +ich dem einen seine Laster, dem anderen seine Ausschweifungen +beigebracht? Wenn sich Kents schwachköpfiger Sohn +sein Weib von der Straße holt, was gehts mich an? Wenn +Adrian Singleton den Namen seines Freundes auf einen +Wechsel schreibt, bin ich sein Hüter? Ich weiß, wie die +Leute in England klatschen. Die Mittelklassen spreizen sich +bei ihren endlosen Diners mit ihren moralischen Vorurteilen +und munkeln von etwas, das sie die Ausschweifungen +derer nennen, denen es besser geht, und um sich damit zu +brüsten, daß sie in der feinen Gesellschaft verkehren und +intim mit den Leuten sind, die sie durchhecheln. Bei uns +zulande genügt es, daß einer Vornehmheit und Geist hat, +damit sich jede gemeine Zunge an ihm wetzt. Und was +für eine Art Leben führen denn diese Menschen selber, die +sich so auf die Moral hinausspielen? Mein lieber Junge, +du vergißt, daß wir in der Heimat der Heuchelei leben.“</p> + +<p>„Dorian,“ rief Hallward, „darum handelt sich's nicht. +Wie schlecht es um England bestellt ist, weiß ich selbst +und wie die englische Gesellschaft verrottet ist. Gerade +deshalb wünsche ich, daß du gut bleibst. Du bist nicht +gut geblieben. Man hat ein Recht darauf, einen Menschen +nach der Wirkung zu beurteilen, die er auf seine Freunde +ausübt. Deine Freunde scheinen alles Gefühl für Ehre, +für Anstand, für Reinheit zu verlieren. Du hast sie mit +einer wahnsinnigen Genußsucht erfüllt. Sie sind tief gesunken. +Ja: und du hast sie da hinabgeführt, und doch +kannst du lächeln, und du lächelst jetzt noch. Und es gibt<a class="pagenum" name="Page_233" title="233"> </a> +noch viel Schlimmeres. Ich weiß, du und Harry seid unzertrennlich. +Schon aus diesem Grunde, wenn aus keinem +anderen, hättest du den Namen seiner Schwester nicht +zum Spott machen dürfen!“</p> + +<p>„Nimm dich in acht, Basil. Du gehst zu weit.“</p> + +<p>„Ich muß sprechen, und du mußt mich hören. Als du +Lady Gwendolen kennenlerntest, hatte sie noch nicht der +leiseste Hauch übler Nachrede berührt. Gibt es jetzt eine +einzige anständige Frau in London, die mit ihr im Park +spazieren fahren würde? Ja, nicht einmal ihre Kinder +dürfen bei ihr wohnen. Dann gibt es andere Geschichten +— Geschichten, daß man dich gesehen hat, wie du in der +Dämmerung aus schrecklichen Häusern herausgeschlichen +bist, daß du dich verkleidet in den niederträchtigsten Kneipen +Londons herumtreibst. Ist das wahr? Kann das +wahr sein? Als ich das erstemal so etwas hörte, lachte +ich. Jetzt höre ich es mit Schaudern. Wie steht es mit +deinem Landhause und dem Leben, das dort geführt wird? +Dorian, du weißt nicht, was man über dich spricht. Ich +will dir das nicht vorhalten, ich will dir keine Predigt +halten. Ich erinnere mich, daß Harry einmal gesagt hat, +jeder Mensch, der sich als Moralprediger versuchen will, +fängt damit an, daß er sagt, er wolle nicht predigen und +dann sein Wort bricht. Ich will dir also eine Predigt +halten. Ich möchte dich ein solches Leben führen sehen, +daß die Welt Achtung vor dir haben soll. Ich will, +daß du einen reinen Namen und einen guten Ruf hast. +Ich will, daß du dich von den gräßlichen Menschen losmachst, +mit denen du jetzt fraternisierst. Zucke nicht mit<a class="pagenum" name="Page_234" title="234"> </a> +den Achseln. Sei nicht so gleichgültig. Du hast einen mächtigen +Einfluß. Laß ihn zum Guten und nicht zum Bösen +wirken. Man sagt, du verderbest jeden Menschen, mit dem +du intim wirst, und es sei völlig hinreichend, daß du ein +Haus betrittst, damit dir Schande irgendeiner Art auf +dem Fuße folge. Ich weiß nicht, ob dem so ist oder nicht. +Wie sollte ich's auch wissen? Aber man sagte es von dir. +Man sagte mir Dinge, die ich unmöglich länger anzweifeln +kann. Lord Gloucester war einer meiner liebsten +Freunde in Oxford. Er hat mir den Brief gezeigt, den ihm +seine Frau geschrieben hat, als sie allein in ihrer Villa in +Mentone auf dem Sterbebette lag. Dein Name war da in +die fürchterlichste Beichte verwickelt, die ich je gelesen habe. +Ich sagte ihm, daß es Tollheit wäre, daß ich dich durch +und durch kennte und daß du zu irgend etwas Derartigem +unfähig wärest. Kenne ich dich? Ich frage mich, kenne +ich dich! Bevor ich darauf antworten kann, müßte ich +deine Seele sehen.“</p> + +<p>„Meine Seele sehen“, murmelte Dorian Gray, stand +vom Sofa auf und wurde beinah weiß vor Angst.</p> + +<p>„Ja,“ antwortete Hallward ernst und ein tiefschmerzlicher +Klang zitterte in seiner Stimme — „deine Seele +sehen. Aber das kann nur Gott.“</p> + +<p>Ein bitter-höhnisches Gelächter brach aus dem Munde +des Jüngeren. „Du sollst sie selbst sehen, noch heute nacht!“ +rief er aus und nahm eine Lampe vom Tisch. „Komm: +sie ist das Werk deiner eigenen Hand. Warum solltest +du es nicht sehen? Du kannst nachher aller Welt davon +erzählen, wenn du willst. Niemand würde dir glauben.<a class="pagenum" name="Page_235" title="235"> </a> +Wenn sie dir glaubten, haben sie mich deswegen nur um +so lieber. Ich kenne unsere Zeit besser als du, obwohl du +darüber so langweilig faseln kannst. Komm, sag' ich dir. +Du hast genug über Verderbnis geschwatzt. Jetzt sollst du +sie von Angesicht zu Angesicht sehen.“</p> + +<p>In jedem Wort, das er sprach, klang der Wahnsinn +des Hochmuts. Er stampfte in seiner knabenhaften, dreisten +Art mit dem Fuß auf die Dielen. Er empfand ein furchtbares +Vergnügen bei dem Gedanken, daß ein anderer jetzt +sein Geheimnis teilen solle und daß der Mann, der sein +Bild gemalt hatte, das der Ursprung all seiner Schande +war, für den Rest seines Lebens die Last der gräßlichen +Erinnerung an seine Tat mit sich herumschleppen müsse.</p> + +<p>„Ja,“ fuhr er fort und trat näher zu ihm heran und +sah ihm fest in die ernsten Augen, „ich werde dir meine +Seele zeigen. Du sollst das Machwerk sehen, von dem du +glaubst, daß es nur Gott sehen kann.“</p> + +<p>Hallward schrak zurück. „Das ist Gotteslästerung, Dorian. +Du darfst nicht solche Dinge sagen. Sie sind schrecklich +und unverständig.“</p> + +<p>„Glaubst du?“ Er lachte wieder.</p> + +<p>„Ich weiß es. Was ich dir heute abend gesagt habe, +hab' ich zu deinem Besten gesagt. Du weißt, ich war dir +immer ein guter Freund.“</p> + +<p>„Werde nur nicht rührselig. Mach' Schluß mit dem, +was du noch zu sagen hast.“</p> + +<p>Ein wehevolles Zucken ging durch das Gesicht des Malers. +Er schwieg einen Augenblick und ein heftiger Mitleidsschmerz +überkam ihn. Welches Recht hatte er schließlich,<a class="pagenum" name="Page_236" title="236"> </a> +in Dorian Grays Leben hineinzuspähen? Wenn er +nur den zehnten Teil von dem getan hatte, wovon die +Gerüchte gingen, wie qualvoll mußte er gelitten haben! +Dann richtete er sich auf, ging zum Kamin hinüber und +blieb da stehen, versunken in den Anblick der brennenden +Holzscheite, die mit ihrer weißen Asche wie bereift aussahen +und stierte ihre zuckenden Feuerherzen an.</p> + +<p>„Ich warte, Basil“, sagte der junge Mann mit harter, +spitzer Stimme.</p> + +<p>Er drehte sich um. „Was ich noch zu sagen habe, ist +das“, rief er. „Du mußt mir eine Antwort geben auf diese +fürchterlichen Anklagen, die gegen dich erhoben werden. +Wenn du mir sagst, daß sie von Anfang bis zu Ende +unwahr sind, werde ich dir glauben. Leugne sie ab, Dorian, +leugne sie ab! Kannst du nicht sehen, was ich durchmache? +Mein Gott, sage mir nicht, daß du schlecht und +verderbt und schändlich bist!“</p> + +<p>Dorian Gray lächelte. Seine Lippen krausten sich in +Verachtung. „Komm hinauf, Basil“, sagte er ruhig. „Ich +führe da ein Tagebuch meines Lebens, Tag für Tag, und +es verläßt niemals das Zimmer, in dem es geschrieben +wird. Ich will es dir zeigen, wenn du mit mir kommst.“</p> + +<p>„Ich komme mit, Dorian, wenn du es haben willst. +Ich sehe, daß ich meinen Zug versäumt habe. Das tut +nichts. Ich kann morgen fahren. Aber verlange nicht von +mir, daß ich heute nacht noch etwas lese. Was ich will, +ist eine klare Antwort auf meine Frage.“</p> + +<p>„Die soll dir oben zuteil werden. Ich kann sie dir hier +nicht geben. Du wirst nicht lange zu lesen haben.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_237" title="237"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Dreizehntes_Kapitel" id="Dreizehntes_Kapitel"></a>Dreizehntes Kapitel</h2> + + +<p>Er verließ das Zimmer und begann die Treppe hinaufzugehen, +Basil Hallward folgte dicht hinter ihm. Sie +gingen leise, wie man es bei Nacht instinktiv tut. Die +Lampe warf phantastische Schatten auf Wand und +Treppe. Im Winde, der sich erhoben hatte, klirrten einige +Fenster.</p> + +<p>Als sie den obersten Absatz erreicht hatten, stellte Dorian +die Lampe auf den Boden, nahm den Schlüssel heraus +und schloß auf. „Du bestehst auf einer Antwort, Basil?“ +fragte er mit gedämpfter Stimme.</p> + +<p>„Ja.“</p> + +<p>„Das freut mich“, antwortete er lächelnd. Dann fügte +er ziemlich scharf hinzu: „Du bist der einzige Mensch in +der Welt, der alles über mich wissen darf. Du hast mehr +mit meinem Leben zu schaffen gehabt, als du dir denkst“, +und damit nahm er die Lampe auf, öffnete die Tür und +trat ein. Ein kalter Luftzug strich an ihnen vorbei, und +das Licht zuckte einen Augenblick in einer düstern Orangefarbe +auf. Er schauderte. „Schließe die Tür hinter dir“, +flüsterte er, während er die Lampe auf den Tisch stellte.</p> + +<p>Hallward blickte erstaunt umher. Das Zimmer sah aus, +als wär' es seit langen Jahren nicht bewohnt worden. Ein +fadenscheiniger flämischer Gobelin, ein verhängtes Bild, ein +alter italienischer Cassone und ein fast leerer Bücherschrank +— das war außer einem Stuhl und einem Tisch alles, +was darin zu sein schien. Als Dorian Gray eine halb<a class="pagenum" name="Page_238" title="238"> </a> +abgebrannte Kerze, die auf dem Kamin stand, angezündet +hatte, sah der Maler, daß der ganze Raum mit Staub +bedeckt und der Teppich zerfetzt und durchlöchert war. +Eine Maus lief erschreckt hinter die Täfelung. Ein dumpfer +Modergeruch machte sich bemerkbar. —</p> + +<p>„Du glaubst also, daß Gott allein die Seele sieht, Basil? +Zieh den Vorhang zurück, und du wirst die meine +sehen.“</p> + +<p>Die Stimme, die das sprach, klang kalt und grausam.</p> + +<p>„Du bist wahnsinnig, Dorian, oder spielst Komödie“, +sagte Hallward und runzelte die Stirn.</p> + +<p>„Du willst nicht? Dann muß ich es selbst tun“, sagte +der junge Mann, und riß den Vorhang von seiner Stange +und schleuderte ihn zu Boden.</p> + +<p>Ein Entsetzensschrei kam von den Lippen des Malers, +als er in der düsteren Beleuchtung das gräßliche Gesicht +auf der Leinwand erblickte, das ihm entgegengrinste. In +seinem Ausdruck war etwas, das ihn mit Ekel und Abscheu +erfüllte. Gott im Himmel! Es war Dorian Grays +eigenes Antlitz, das er sah! Das Schreckliche, was es +auch sein mochte, hatte die wundervolle Schönheit noch +nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold in dem gelichteten +Haar und etwas Purpur auf dem sinnlichen Mund. +Die stumpfgewordenen Augen hatten noch etwas von +ihrem lieblichen Blau behalten, der edle Schwung der +Linien um die feingewölbten Nasenflügel und den plastischen +Hals war noch nicht ganz verschwunden. Ja, es war +Dorian selbst. Aber wer hatte das gemalt? Er glaubte, +das Werk seines eigenen Pinsels zu erkennen, und der<a class="pagenum" name="Page_239" title="239"> </a> +Rahmen war von ihm selbst gezeichnet. Die Vorstellung +war ungeheuerlich, und doch fürchtete er sich. Er nahm die +brennende Kerze und hielt sie nahe an das Bild. In der +linken Ecke stand ein Name in langen, hellroten Lettern.</p> + +<p>Es war irgendeine infame Parodie, eine niederträchtige, +elende Satire. Er hatte das niemals gemalt. Und doch, es +war sein eigenes Bild. Er wußte es und ihm war, als ob +sich sein Blut in einem Augenblick aus Feuer in starrendes +Eis verwandelt hätte. Sein eigenes Bild! Was sollte das +heißen? Warum hatte es sich verändert? Er drehte sich um +und sah Dorian Gray mit krankhaften Augen an. Sein +Mund zuckte, seine trockne Zunge schien jedes Lautes ganz +unfähig zu sein. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. +Kühle Schweißperlen standen darauf.</p> + +<p>Der junge Mann lehnte gegen den Kamin und beobachtete +ihn mit dem merkwürdigen Ausdruck, den man auf +den Gesichtern von Menschen sieht, die von dem Spiel +eines großen Schauspielers hingerissen sind. In seinem Gesicht +war weder wirklicher Schmerz noch wirkliche Freude. +Da war nur die Leidenschaft des Zuschauers und höchstens +in den Augen flackerte ein triumphierendes Leuchten. Er +hatte die Blume aus seinem Knopfloch genommen und +roch daran oder tat mindestens so.</p> + +<p>„Was bedeutet das?“ rief Hallward endlich. Seine +eigene Stimme klang ihm schrill und fremd in die Ohren.</p> + +<p>„Vor vielen Jahren, als ich noch ein Knabe war,“ sagte +Dorian Gray, während er die Blume in seiner Hand zerdrückte, +„hast du mich kennengelernt, hast mir geschmeichelt +und mich gelehrt, auf meine Schönheit eitel zu sein. Eines<a class="pagenum" name="Page_240" title="240"> </a> +Tages stelltest du mich einem deiner Freunde vor, der mir +das Wunder der Jugend erklärte, und damals beendetest +du ein Porträt von mir, das mir das Wunder der Schönheit +offenbarte. In einem Augenblick des Wahnsinns, und +ich weiß noch jetzt nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht, +sprach ich einen Wunsch aus, vielleicht würdest du es ein +Gebet nennen.“</p> + +<p>„Ich erinnere mich! Oh, wie gut erinnere ich mich! +Nein! so etwas ist unmöglich. Das Zimmer ist feucht. +Die Leinwand ist stockig geworden. In den Farben, die ich +verwandte, war irgendein mineralisches Gift enthalten. +Ich sage dir, so etwas ist unmöglich.“</p> + +<p>„Pah, was ist unmöglich?“ murmelte der junge Mann, +ging zum Fenster und preßte seine Stirn an die kalte, +nebelfeuchte Scheibe.</p> + +<p>„Du sagtest mir, du hättest es zerstört.“</p> + +<p>„Ich habe mich geirrt. Es hat mich zerstört.“</p> + +<p>„Ich kann's nicht glauben, daß es mein Bild ist.“</p> + +<p>„Kannst du dein Ideal nicht darin erkennen?“ fragte +Dorian bitter.</p> + +<p>„Mein Ideal, wie du es nennst...“</p> + +<p>„Wie du es nanntest.“</p> + +<p>„Es hatte nichts Schlimmes in sich, nichts Schändliches. +Du warst für mich ein Ideal, wie ich ihm nie wieder begegnen +werde. Dies ist das Gesicht eines Fauns.“</p> + +<p>„Es ist das Gesicht meiner Seele.“</p> + +<p>„Jesus, mein! Was für ein Ding habe ich angebetet! +Es hat die Augen eines Teufels.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_241" title="241"> </a></p> + +<p>„Jeder von uns hat Himmel und Hölle in sich, Basil“, +rief Dorian mit einer wilden, verzweifelten Gebärde.</p> + +<p>Hallward wandte sich wieder dem Bilde zu und starrte +es an. „Mein Gott! Es ist wahr,“ rief er aus, „und das +hast du aus deinem Leben gemacht und danach also mußt +du noch schlechter sein, als die es ahnen, die gegen dich +sprechen.“ Er hielt das Licht wieder dicht an die Leinwand +und musterte sie scharf. Die Oberfläche schien ganz unzerstört +und so, wie sie aus seiner Hand gekommen war. +Von innen also war die Fäulnis und das Entsetzliche hervorgedrungen. +Durch einen sonderbaren inneren Zeugungsvorgang +fraß der Aussatz der Sünde langsam das ganze +Bildnis hinweg. Die Verwesung eines Leichnams in einem +feuchten Grabe konnte nicht so grauenvoll sein.</p> + +<p>Seine Hand zitterte und die Kerze fiel aus dem Leuchter +auf den Boden und lag rauchend da. Er trat mit dem +Fuß darauf und erstickte sie. Dann warf er sich selbst in +den wackligen Stuhl vor dem Tische und vergrub das Gesicht +in seinen Händen.</p> + +<p>„Großer Gott, Dorian, was für eine Lehre! Was für +eine furchtbare Lehre!“ Es kam keine Antwort, aber er +konnte den jungen Mann am Fenster schluchzen hören. +„Bete, Dorian, bete“, sagte er leise. „Was war es doch, +was man uns in der Kindheit hersagen gelehrt hat? ‚Führe +uns nicht in Versuchung! Vergib uns unsere Sünden! +Nimm unsere Missetat von uns!‛ Wir wollen das zusammen +aufsagen. Das Gebet deines Stolzes ist erhört +werden. Das Gebet deiner Reue wird auch erhört werden. +Ich habe dich zu sehr geliebt. Ich bin dafür bestraft worden.<a class="pagenum" name="Page_242" title="242"> </a> +Du hast dich selbst zu sehr geliebt. Wir haben beide +unsere Strafe.“</p> + +<p>Dorian Gray wandte sich langsam um und sah ihn mit +tränenschimmernden Augen an. „Es ist zu spät, Basil“, +flüsterte er.</p> + +<p>„Es ist nie zu spät, Dorian. Wir wollen niederknien und +versuchen, ob wir uns nicht an ein Gebet erinnern können. +Steht nicht irgendwo ein Vers: ‚Und wären deine Sünden +wie Scharlach, ich will sie weiß machen wie Schnee?‛“</p> + +<p>„Solche Worte haben für mich keinen Sinn mehr.“</p> + +<p>„Still! Sage nicht so etwas. Du hast genug Böses getan +im Leben. Mein Gott! Siehst du nicht, wie uns das fürchterliche +Ding anstiert?“</p> + +<p>Dorian Gray blickte nach dem Bild, und plötzlich überkam +ihn ein unbezwingliches Haßgefühl auf Basil Hallward, +als sei er ihm von dem Bildnis auf der Leinwand +eingeflößt, von diesen grinsenden Lippen in sein Ohr gewispert +worden. Die wilde Zornwut eines gehetzten Tieres +kochte in ihm, und er haßte den Mann, der da an dem +Tisch saß, mehr als er in seinem ganzen Leben irgend +etwas gehaßt hatte. Er spähte wild um sich. Auf der +Platte der bemalten Truhe, die ihm gegenüberstand, glitzerte +etwas. Sein Blick fiel darauf. Er erkannte, was es +war. Ein Messer war's, das er vor einigen Tagen mit +hinaufgenommen hatte, um ein Stück Schnur zu durchschneiden, +und das er wieder mit herunterzunehmen vergessen +hatte. Er ging langsam darauf zu und mußte dabei +an Hallward vorüber. Sobald er hinter ihm stand, ergriff +er das Messer und drehte sich um. Hallward rührte sich<a class="pagenum" name="Page_243" title="243"> </a> +in seinem Stuhl, als wollte er soeben aufstehen. Er stürzte +sich auf ihn und bohrte ihm das Messer tief in die Schlagader +hinter dem Ohr, preßte den Kopf des Mannes auf +den Tisch herunter und stieß immer und immer wieder zu.</p> + +<p>Man hörte ein unterdrücktes Röcheln und den fürchterlichen +Ton eines Menschen, der in seinem Blut erstickt. +Dreimal schlugen die krampfhaft ausgestreckten Arme um +sich, und die Hände fuhren mit eigentümlich steifen Fingern +durch die Luft. Er stieß noch zweimal zu, aber der Mann +rührte sich nicht mehr. Etwas begann auf den Boden zu +tröpfeln. Er wartete einen Augenblick und drückte den Kopf +immer noch nach unten. Dann warf er das Messer auf den +Tisch und horchte.</p> + +<p>Er konnte nichts hören, als das Tropf-Tropf auf den +fadenscheinigen Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis +an den Treppenabsatz. Das Haus war vollständig ruhig. +Niemand war wach. Über das Geländer gebeugt, stand er +ein paar Augenblicke da und forschte hinab in den schwarzen +brodelnden Schacht von Dunkelheit. Dann zog er den +Schlüssel ab, ging in das Zimmer zurück und schloß sich +darin ein.</p> + +<p>Das Wesen saß noch immer in dem Stuhl und hing mit +gebeugtem Kopf und gekrümmtem Rücken und langen phantastischen +Armen über den Tisch. Wäre nicht der rote, +klaffende Riß im Nacken gewesen und die dunkle, geronnene +Lache, die sich nach und nach auf dem Tisch vergrößerte, +so hätte man glauben können, der Mann schlafe nur.</p> + +<p>Wie schnell das alles geschehen war! Er fühlte sich +merkwürdig ruhig, ging zur Balkontür, öffnete sie und<a class="pagenum" name="Page_244" title="244"> </a> +trat hinaus. Der Wind hatte die Nebeltücher auseinandergeblasen, +und der Himmel sah aus wie der Schweif eines +ungeheuren Pfaus, der mit Myriaden goldener Augen +bestirnt war. Er blickte hinab und sah, wie der Polizist +seine Runde machte und das lange Streiflicht seiner Laterne +über die Türen der schweigsamen Häuser gleiten ließ. +Das rotgelbe Licht einer vorbeitrödelnden Droschke glomm +an der Straßenecke auf und verschwand wieder. Ein Weib +in einem flatternden Kopftuch schob sich langsam am Gitter +des Platzes vorbei und taumelte im Gehen. Dann und +wann stand sie still und sah zurück. Auf einmal begann sie +mit heiserer Stimme zu singen. Der Schutzmann schlenderte +über den Damm her und sagte etwas zu ihr. Sie humpelte +lachend weiter. Ein scharfer Luftzug fegte über den Platz. +Die Gasflammen zuckten und wurden blau, und die entlaubten +Bäume schüttelten ihr schwarzes Geäste hin und +her, das wie ein Eisengeflecht aussah. Ihn fröstelte und +er trat, das Fenster schließend, wieder zurück.</p> + +<p>Als er bei der Türe war, drehte er den Schlüssel und +öffnete sie. Er blickte den Ermordeten mit keinem Blicke +mehr an. Er empfand, daß das Geheimnis der ganzen +Sache darin beruhe, sich die Sachlage nicht zu vergegenwärtigen. +Der Freund, der das verhängnisvolle Bild gemalt +hatte, von dem all sein Elend herrührte, war aus +seinem Leben verschwunden. Das war genug.</p> + +<p>Dann fiel ihm die Lampe ein. Es war eine ziemlich +merkwürdige maurische Arbeit, mattes Silber mit eingelegten +Arabesken aus dunkelpoliertem Stahl und besetzt +mit ungeschliffenen Türkisen. Sie mochte vielleicht von<a class="pagenum" name="Page_245" title="245"> </a> +seinem Diener vermißt werden und er könnte danach fragen. +Er zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück und +nahm sie vom Tisch. Dabei mußte er die tote Gestalt +sehen. Wie ruhig sie war! Wie furchtbar weiß die langen +Hände aussahen! Es schien eine gräßliche Wachsfigur zu +sein.</p> + +<p>Er schloß die Türe hinter sich und schlich langsam die +Treppe hinunter. Das Holz knarrte und schien wie vor +Schmerz aufzustöhnen. Er blieb einige Male stehen und +wartete. Nein, alles war still. Er hörte nur den Widerhall +seiner eigenen Schritte.</p> + +<p>Als er in seinem Bibliothekszimmer war, erblickte er die +Tasche und den Rock in der Ecke. Die mußten irgendwo +verborgen werden. Er öffnete einen Geheimschrank, der in +der Holztäfelung war, in dem er seine eigenen Verkleidungen +aufbewahrte, und schob die Sachen hinein. Er +konnte sie später leicht einmal verbrennen. Dann zog er +seine Uhr. Es war zwanzig Minuten vor zwei.</p> + +<p>Er setzte sich und begann nachzudenken. Jahr für Jahr +— fast jeden Monat — werden in England Leute gehenkt +für so etwas, wie er soeben getan hatte. Irgendeine wahnwitzige +Mordlust hatte in der Luft gelegen. Irgendein +blutroter Stern war der Erde zu nahe gekommen... Und +doch, wie wollte man es ihm beweisen? Basil Hallward +hatte das Haus um elf Uhr verlassen. Niemand hatte ihn +noch einmal wiederkommen sehen. Die meisten Diener +waren in Selby Royal. Sein eigener Diener war schlafen +gegangen... Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren, +und zwar mit dem Mitternachtszug, wie es seine Absicht<a class="pagenum" name="Page_246" title="246"> </a> +gewesen war. Bei seinen merkwürdigen Gewohnheiten, sich +zurückzuziehen, würden Monate vergehen, bevor irgendein +Verdacht entstehen würde. Monate! Alle Spuren konnten +lange vorher getilgt sein.</p> + +<p>Ein plötzlicher Einfall durchzuckte ihn. Er zog seinen +Pelz an, setzte seinen Hut auf und ging in die Vorhalle +hinaus. Dort blieb er stehen, weil er den langsamen, +schweren Tritt des Schutzmanns draußen auf dem Pflaster +hörte und den tanzenden Widerschein seiner Blendlaterne +im Türfenster sah. Er wartete und hielt den +Atem an.</p> + +<p>Nach einigen Augenblicken schob er den Riegel zurück +und schlüpfte hinaus, das Tor ganz leise hinter sich schließend. +Dann zog er die Klingel. Nach etwa fünf Minuten +erschien sein Diener, halb angezogen und sehr verschlafen.</p> + +<p>„Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis“, +sagte er eintretend und ging die Stufen hinauf; „aber ich +habe meinen Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?“</p> + +<p>„Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr“, sagte der +Mann mit einem blinzelnden Blick auf die Uhr.</p> + +<p>„Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie +müssen mich morgen um neun Uhr wecken. Ich habe zu +tun.“</p> + +<p>„Zu Befehl, gnädiger Herr.“</p> + +<p>„War jemand heute abend hier?“</p> + +<p>„Herr Hallward, gnädiger Herr. Er hat hier bis elf +Uhr gewartet und ging dann, um seinen Zug nicht zu versäumen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_247" title="247"> </a></p> + +<p>„Es tut mir leid, daß ich ihn nicht getroffen habe. +Sollen Sie mir etwas bestellen?“</p> + +<p>„Nein, gnädiger Herr, nur, daß er von Paris schreiben +würde, wenn er Sie im Klub nicht treffen sollte.“</p> + +<p>„Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen +um neun zu wecken.“</p> + +<p>„Nein, gnädiger Herr!“</p> + +<p>Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln durch den Torweg +die Dienertreppe hinab.</p> + +<p>Dorian Gray warf Hut und Stock auf den Tisch und +trat ins Bücherzimmer. Eine Viertelstunde lang ging er +auf und ab, biß sich auf die Lippen und grübelte. Dann +nahm er das blaue Adreßbuch von einem Regal und begann +zu blättern. „Alan Campbell, Hertford Street 152, +Mayfair.“ Ja, das war der Mann, den er brauchte.</p> + +<h2><a name="Vierzehntes_Kapitel" id="Vierzehntes_Kapitel"></a>Vierzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener +mit einer Tasse Schokolade auf einem Servierbrett herein +und öffnete die Fensterläden. Dorian lag auf der rechten +Seite, eine Hand unter seiner Wange und schlief ganz +friedlich. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder +Lernen müde geworden ist.</p> + +<p>Der Mann mußte ihn zweimal an der Schulter berühren, +bevor er aufwachte, und als er die Augen öffnete, +huschte ein leichtes Lächeln über seine Lippen, als wäre +er von einem entzückenden Traum befangen gewesen. Aber<a class="pagenum" name="Page_248" title="248"> </a> +er hatte gar nicht geträumt. Seine Nacht war weder +von Bildern der Freude noch des Grauens gestört worden. +Doch die Jugend lächelt ohne Grund. Das ist einer ihrer +besonderen Reize.</p> + +<p>Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann +seine Schokolade zu schlürfen. Die matte Novembersonne +strömte in das Zimmer. Der Himmel war wolkenlos, +eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war fast wie ein +Maimorgen.</p> + +<p>Allmählich schlichen die Vorgänge der vergangenen +Nacht auf lautlosen, blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn +und bauten sich dort mit furchtbarer Deutlichkeit wieder +auf. Er erschauerte bei dem Gedächtnis an alles, was er +durchlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte in ihm +derselbe sonderbare Haß auf Basil Hallward zurück, der +ihn dazu getrieben hatte, ihn zu töten, als er im Stuhl +saß, er wurde kalt vor Wut. Der Tote saß noch immer da +oben und jetzt dazu im Sonnenlicht. Wie schrecklich das +war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit, +nicht an den Tag.</p> + +<p>Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig würde, wenn +er über das brütete, was er hinter sich hatte. Es gibt +Sünden, deren Reiz mehr in der Erinnerung liegt als in +der Begehung, seltsame Siege, die mehr dem Stolz Genüge +tun als der Leidenschaft und die dem Geist ein +Lustgefühl geben, das stärker ist als jede Wonne, die sie +Sinnen verschaffen oder jemals verschaffen können. Aber +diesmal war es keine von diesen. Dies war eine, die man +aus dem Geiste verjagen, die man mit einem Opiat vergiften,<a class="pagenum" name="Page_249" title="249"> </a> +die man ersticken mußte, da sie einen sonst selbst +ersticken würde.</p> + +<p>Als es halb schlug, fuhr er sich mit der Hand über die +Stirn, stand dann rasch auf und zog sich beinahe mit noch +größerer Sorgfalt an, als gewöhnlich, indem er die größte +Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner Krawatte und seiner +Nadel verwandte und seine Ringe mehr als einmal wechselte. +Er verbrachte auch beim Frühstück längere Zeit, +kostete von den verschiedenen Gerichten, sprach mit seinem +Bedienten über neue Livreen, die er der Dienerschaft in +Selby machen lassen wollte, und sah seine Briefschaften +durch. Bei einigen Zuschriften lächelte er. Drei ödeten +ihn an. Einen Brief las er mehrmals durch und zerriß ihn +dann mit einem leichten Ärger in seinen Mienen. „Was für +ein gräßliches Ding das Gedächtnis einer Frau ist“, +hatte Lord Henry einmal gesagt.</p> + +<p>Als er seine Schale schwarzen Kaffee getrunken hatte, +trocknete er die Lippen langsam an seiner Serviette ab, +gab dem Diener ein Zeichen zu warten, ging zum Schreibtisch +hinüber, setzte sich und schrieb zwei Briefe. Einen +steckte er in die Tasche, den anderen reichte er dem +Diener.</p> + +<p>„Bringen Sie den nach Hertford Street 152, Francis, +und wenn Herr Campbell nicht in der Stadt ist, lassen Sie +sich seine Adresse geben.“</p> + +<p>Sobald er allein war, zündete er sich eine Zigarette an +und begann auf einem Blatt Papier Skizzen zu machen, +zeichnete zuerst Blumen, dann Architekturstücke und dann +menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er, daß jedes Gesicht,<a class="pagenum" name="Page_250" title="250"> </a> +das er entwarf, eine phantastische Ähnlichkeit mit Basil +Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf, +ging zum Bücherschrank und nahm auf gut Glück einen +Band heraus. Er war fest entschlossen, an das Geschehene +nicht eher zu denken, als bis es unbedingt notwendig +war.</p> + +<p>Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf +den Titel des Buches. Es waren Gautiers „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Emaux et +Camées</span>“, Charpentiers Ausgabe auf japanischem Papier, +mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus +zitronengelbem Leder mit einem Blinddruckmuster von +goldenem Laubwerk und Granatäpfeln in Punktmanier. +Es war ein Geschenk Adrian Singletons. Als er darin +blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand +Lacenaires, die kalte gelbe Hand „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">du supplice encore +mal lavée</span>“, mit ihren rötlichen Flaumhärchen und ihren +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">doigts de faune</span>“. Er blickte auf seine eigenen weißen, +spitzen Finger, schauderte unwillkürlich zusammen, las +dann weiter, bis er zu den lieblichen Versen auf Venedig +kam.</p> + +<p class="poem"><span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr"> +Sur une gamme chromatique,</span><br /> +<span style="margin-left: 1em;">Le sein de perles ruisselant,</span><br /> +La Vénus de l'Adriatique<br /> +<span style="margin-left: 1em;">Sort de l'eau son corps rose et blanc.</span></p> + +<p class="poem" style="margin-top: 0;"><span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr"> +Les dômes, sur l'azur des ondes<br /> +<span style="margin-left: 1em;">Suivant la phrase au pur contur,</span><br /> +S'enflent comme des gorges rondes<br /> +<span style="margin-left: 1em;">Que soulève un soupir d'amour.</span></span><a class="pagenum" name="Page_251" title="251"> </a></p> + + +<p class="poem" style="margin-top: 0;"><span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr"> +L'esquif aborde et me dépose,<br /> +<span style="margin-left: 1em;">Jetant son amarre au pilier,</span><br /> +Devant une façade rose,<br /> +<span style="margin-left: 1em;">Sur le marbre d'un escalier.</span></span><br /> +</p> + +<p>Wie entzückend die Verse waren! Wenn man sie las, +hatte man die Empfindung, durch die grünen Wasserstraßen +dieser rot- und perlfarbigen Stadt zu gleiten, in +einer schwarzen Gondel mit silbernem Schnabel und schleppenden +Vorhängen. Schon die Zeilen sahen so aus wie die +geraden, türkisblauen Kiellinien, die einem folgten, wenn +man nach dem Lido hinausrudert. Die plötzlichen Farbenblitze +erinnerten ihn an den Schimmer jener Vögel mit +opal- und regenbogenfarbenen Hälsen, die um den schlanken, +wabenartig durchlöcherten Kampanile flattern oder +mit prächtiger Anmut durch die düstern, staubigen Arkaden +trippeln. Zurückgelehnt mit halb geschlossenen Augen +sagte er immer und immer wieder zu sich: —</p> + +<p class="poem"> +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Devant une façade rose,<br /> +<span style="margin-left: 1em;">Sur le marbre d'un escalier.</span></span> +</p> + +<p class="postpoem">Das ganze Venedig war in diesen zwei Versen enthalten. +Er dachte an den Herbst, den er dort verbracht hatte, und +eine himmlische Liebelei, die ihn zu wahnsinnigen, entzückenden +Torheiten getrieben hatte. Es gab Romantik in +jedem Erdenwinkel. Aber Venedig hatte noch wie Oxford +den Hintergrund für Romantik bewahrt, und für den wahren +Romantiker ist der Hintergrund alles oder fast alles. +Basil war einen Teil der Zeit bei ihm gewesen und war<a class="pagenum" name="Page_252" title="252"> </a> +ganz wild vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme +Basil! Was für eine schreckliche Art, so zu sterben!</p> + +<p>Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen. +Er las von den Schwalben, die aus- und einfliegen +in dem kleinen Café zu Smyrna, wo die Hadjis sitzen und +ihre Bernsteinperlen durch die Hand laufen lassen, und wo +die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten +Pfeifen rauchen und ernsthaft miteinander sprechen: er las +von dem Obelisk auf der Place de la Concorde, der in +seiner vereinsamten, sonnenlosen Verbannung granitene +Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen, lotosbedeckten +Nil, wo die Sphinxe sind, und rosenrote Ibisse +und weiße Geier mit goldenen Klauen und Krokodile mit +kleinen Beryllaugen, die durch den grünen, dampfenden +Schlamm dahinkriechen: er fing an, den Versen nachzusinnen, +die ihre Musik aus Marmor locken, der von Küssen +fleckig geworden ist, und die uns von der sonderbaren +Statue erzählen, die Gautier einer Altstimme vergleicht, von +dem „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">monstre charmant</span>“, das in dem Porphyrsaal des +Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel seinen Händen +das Buch. Er wurde nervös, und ein gräßlicher Angstanfall +schüttelte ihn. Was nun tun, wenn Alan Campbell nicht +in England war? Tage könnten möglicherweise verstreichen, +bevor er zurückkäme. Vielleicht weigerte er sich, zu kommen. +Was sollte er dann tun? Jeder Augenblick war von tödlicher +Bedeutung.</p> + +<p>Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf +Jahren — sogar fast unzertrennlich. Dann hatte die +Intimität plötzlich ein Ende. Wenn sie sich jetzt in Gesellschaft<a class="pagenum" name="Page_253" title="253"> </a> +trafen, war es nur noch Dorian Gray, der da +lächelte, niemals Alan Campbell.</p> + +<p>Er war ein außerordentlich begabter junger Mann, +wenn er auch kein eigentliches Verhältnis zu den sichtbaren +Künsten hatte, und der geringe Sinn für Poesie, den er +besaß, vollständig von Dorian herrührte. Die geistige +Leidenschaft, die ihn beherrschte, erstreckte sich nur auf die +Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil +seiner Zeit mit Arbeiten im Laboratorium verbracht und +hatte sein Examen in den Naturwissenschaften mit vorzüglich +bestanden. Noch jetzt war er dem Studium der Chemie +ergeben und hatte ein eigenes Laboratorium, in das er +sich häufig den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum +großen Kummer seiner Mutter, die sich darauf verbissen +hatte, daß er für das Parlament kandidieren sollte, und die +eine unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker sei ein Mensch, +der Rezepte anfertige. Indessen war er ein ausgezeichneter +Musiker und spielte Geige und Klavier besser als die +meisten Dilettanten. Die Musik war es denn auch wirklich, +die Dorian Gray und ihn zueinander gebracht hatte — die +Musik und die unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian +ausüben konnte, wenn er wollte, und auch oft ausübte, +ohne es zu wissen. Sie hatten sich bei Lady Berkshire an +dem Abend kennengelernt, als Rubinstein dort spielte, und +man sah sie von da an immer zusammen in der Oper und +überall, wo es gute Musik gab. Achtzehn Monate dauerte +diese Freundschaft. Campbell war regelmäßig entweder +in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie +für viele andere war Dorian Gray die Verkörperung<a class="pagenum" name="Page_254" title="254"> </a> +alles dessen, was wunderbar und bezaubernd im Leben +ist. Ob zwischen ihnen ein Streit vorgefallen war oder +nicht, wußte kein Mensch. Aber plötzlich bemerkten die +Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich +trafen, und daß Campbell jede Gesellschaft frühzeitig +verließ, in der Dorian anwesend war. Er war auch verändert +— bisweilen merkwürdig melancholisch, schien kaum +noch Musik hören zu können, spielte nie mehr selbst und +gab, wenn man ihn dazu aufforderte, als Entschuldigung +an, daß ihn die Wissenschaft so stark in Anspruch nähme, +daß er keine Zeit mehr zum Üben habe. Und das war auch +der Fall. Er schien jeden Tag mehr Interesse für biologische +Studien zu gewinnen, und sein Name erschien ein- oder +zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung +mit gewissen außergewöhnlichen Experimenten.</p> + +<p>Das war der Mann, auf den Dorian Gray wartete. +Jede Sekunde blickte er auf die Uhr. Als Minute um +Minute verstrich, wurde er furchtbar aufgeregt. Schließlich +stand er auf und begann im Zimmer hin und her +zu gehen wie irgendeine schöne Bestie im Käfig. Er holte +weiten Schrittes, fast sprunghaft, aus und trat leise auf. +Seine Hände waren eigentümlich kalt.</p> + +<p>Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien ihm +mit bleiernen Füßen zu schleichen, während er von ungeheuren +Wirbelwinden zum zackigen Grat einer schwarzen +Kluft oder eines Abgrundes hingefegt wurde. Er wußte, +was dort seiner harrte; er sah es und preßte schaudernd +mit feuchten Händen seine brennenden Lider zusammen, +als wolle er sein Gehirn der Sehkraft berauben und die<a class="pagenum" name="Page_255" title="255"> </a> +Augäpfel in ihre Höhlen zurückdrängen. Es war umsonst. +Das Gehirn hatte seine eigene Nahrung, mit der es sich +mästete, und die durch den Schrecken grotesk gemachte Einbildungskraft +krümmte sich vor Schmerz wie ein lebendes +Wesen, tanzte wie eine widerwärtige Marionette in einer +Schaubude und grinste durch bewegliche Masken hindurch. +Dann blieb auf einmal die Zeit für ihn stehen. Ja, dieses +blinde, langsamatmende Wesen kroch nicht mehr, und da +sie tot war, stürzten sich gräßliche Gedanken mit Blitzesschnelle +über ihn hin und zerrten eine scheußliche Zukunft +aus ihrem Grabe und zeigten sie ihm. Er starrte darauf hin. +Ihre Entsetzlichkeit versteinerte ihn.</p> + +<p>Endlich öffnete sich die Tür, und sein Bedienter trat ein. +Er wandte ihm seine gläsernen Augen zu.</p> + +<p>„Herr Campbell, gnädiger Herr“, sagte der Mann.</p> + +<p>Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen +Lippen und die Farbe kehrte in seine Wangen zurück.</p> + +<p>„Bitten Sie ihn sofort herein, Francis.“ Er fühlte, +daß er wieder er selbst war. Der Anfall von Feigheit war +überwunden.</p> + +<p>Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen +Augenblicken trat Alan Campbell ein, mit sehr strengem +Gesicht und etwas bleich, und seine blasse Farbe wurde +durch das kohlschwarze Haar und die dunkeln Brauen noch +verstärkt.</p> + +<p>„Alan! das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß +du gekommen bist.“</p> + +<p>„Ich hatte die Absicht, dein Haus nie wieder zu betreten, +Gray. Aber du schriebst, es handle sich um Leben und<a class="pagenum" name="Page_256" title="256"> </a> +Tod.“ Seine Stimme war hart und kalt. Er sprach langsam +und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in dem +festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er +behielt die Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes +und schien die Bewegung, mit der ihm die Hand entgegengestreckt +worden war, nicht zu bemerken.</p> + +<p>„Ja, es handelt sich um Leben und Tod, und für mehr +als einen Menschen, Alan. Setze dich.“</p> + +<p>Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian +setzte sich ihm gegenüber. Die Augen der beiden Männer +trafen sich. In denen Dorians lag unendliches Mitleid. +Er wußte, was er jetzt tun werde, war schrecklich.</p> + +<p>Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens beugte er +sich nach vorn und sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes +Wortes auf dem Gesicht des Mannes ablesend, den er +hatte holen lassen: „Alan, in einem verschlossenen Dachzimmer +dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger +Mensch außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann +an einem Tisch. Er ist jetzt seit zehn Stunden tot. Bleib' +ruhig sitzen und sieh mich nicht so an. Wer der Mann ist, +warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die dich nicht +kümmern. Was du zu tun hast, ist —“</p> + +<p>„Halt, Gray! Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was +du mir gesagt hast, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an. +Ich lehne es entschieden ab, in dein Leben verwickelt zu +werden. Behalte deine fürchterlichen Geheimnisse für dich! +Sie interessieren mich nicht mehr.“</p> + +<p>„Alan, du wirst dafür Interesse haben müssen. Dies +eine Geheimnis wird dich interessieren müssen. Es tut mir<a class="pagenum" name="Page_257" title="257"> </a> +furchtbar leid um dich, Alan. Aber ich kann dir nicht +helfen. Du bist der einzige Mensch, der mich zu retten vermag. +Ich bin gezwungen, dich in die Sache hineinzuziehen. +Ich habe keine Wahl. Alan, du bist ein Mann der Naturwissenschaft. +Du verstehst dich auf Chemie und diese Dinge. +Du hast Experimente gemacht. Was du zu tun hast, ist, +das Wesen da oben zu vernichten, so zu vernichten, daß +auch nicht eine Spur davon übrigbleibt. Niemand hat +diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet +ihn im Augenblick in Paris. Monatelang wird er +nicht vermißt werden. Wenn er vermißt wird, darf hier +keine Spur von ihm gefunden werden. Alan, du mußt ihn, +ihn und alles, was zu ihm gehört, in eine Handvoll Asche +verwandeln, die ich in die Luft streuen kann.“</p> + +<p>„Du bist wahnsinnig, Dorian.“</p> + +<p>„Ah! wie ich darauf gewartet habe, daß du mich +wieder Dorian nennst.“</p> + +<p>„Du bist wahnsinnig, sag' ich dir — wahnsinnig, daß +du dir einbildest, ich wurde auch nur einen Finger rühren, +dir zu helfen, wahnsinnig, daß du mir dieses ungeheuerliche +Geständnis ablegst. Ich will damit nichts zu tun +haben, was es auch sei. Glaubst du, ich setze meine Ehre +für dich aufs Spiel? Was geht's mich an, mit welchem +Teufelswerk du zu tun hast.“</p> + +<p>„Es war ein Selbstmord, Alan.“</p> + +<p>„Das freut mich, aber wer hat ihn dazu getrieben? Du, +vermute ich.“</p> + +<p>„Weigerst du dich noch immer, das für mich zu tun?“</p> + +<p>„Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit<a class="pagenum" name="Page_258" title="258"> </a> +zu schaffen haben. Es liegt mir gar nichts daran, was +für eine Schande über dich kommt. Du verdienst es vollauf. +Es würde mir nicht leid tun, wenn ich dich entehrt, +öffentlich entehrt sähe. Wie kannst du es wagen, mich, +gerade mich von allen Menschen in der Welt in diese +Scheußlichkeit hineinbringen zu wollen? Ich hätte geglaubt, +du verständest mehr vom Charakter der Menschen. +Dein Freund, Lord Henry Wotton, kann dich nicht sehr +über Psychologie aufgeklärt haben, worüber er dich auch +sonst aufgeklärt hat. Nichts wird mich dazu vermögen, +auch nur einen Schritt zu tun, um dir zu helfen. Du bist +an den falschen Mann gekommen. Geh zu einem deiner +Freunde, nicht zu mir.“</p> + +<p>„Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Du +weißt nicht, was ich durch ihn gelitten habe. Mein Leben +mag sein, wie es wolle, er hatte mehr damit zu tun, es zu +erschaffen und zu zerstören, als der arme Harry. Er mag +es nicht gewollt haben, die Wirkung ist dieselbe.“</p> + +<p>„Mord! Guter Gott, Dorian, bist du jetzt soweit gekommen? +Ich werde dich nicht anzeigen. Das ist meines +Amtes nicht. Im übrigen wird man dich fassen, auch wenn +ich mich nicht in die Sache mische. Niemand begeht ein +Verbrechen, ohne dabei eine Dummheit zu machen. Also +ich will nichts damit zu tun haben.“</p> + +<p>„Du mußt etwas damit zu tun haben. Warte, warte +noch einen Augenblick; hör' mich an. Nur anhören, Alan. +Alles, was ich von dir verlange, ist ein bestimmtes wissenschaftliches +Experiment. Du gehst in Spitäler und Leichenhäuser, +und das Schreckliche, was du dort tust, rührt dich<a class="pagenum" name="Page_259" title="259"> </a> +nicht. Wenn du diesen Mann in irgendeinem gräßlichen +Seziersaal oder in einem mißduftenden Laboratorium auf +einem rohen Tisch liegen sähest, mit roten Röhren, die +man in ihn hineingebohrt hat, damit daraus das Blut +durchfließen kann, dann würdest du ihn einfach als ein +bewundernswertes Objekt betrachten. Kein Härchen würde +sich dir sträuben. Du hättest nicht die Empfindung, irgend +etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil, du würdest wahrscheinlich +glauben, der Menschheit eine Wohltat zu erweisen, +oder die Summe des menschlichen Wissens zu vermehren +oder den intellektuellen Wissensdrang zu befriedigen +oder so etwas dergleichen. Was ich von dir fordere, +ist nichts anderes, als was du schon oft getan hast. Wahrhaftig, +es muß viel weniger gräßlich sein, einen Leichnam +aus der Welt zu schaffen, als das, was du gewöhnlich tust. +Und bedenke, es ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn +er entdeckt wird, bin ich verloren; und er muß sicher entdeckt +werden, wenn du mir nicht hilfst.“</p> + +<p>„Ich habe keine Lust, dir zu helfen. Du vergißt das. +Die ganze Sache ist mir gleichgültig. Ich habe nichts damit +zu tun.“</p> + +<p>„Alan, ich beschwöre dich. Denke an die Lage, in der ich +bin. Jetzt eben, ehe du kamst, war ich fast ohnmächtig vor +Schreck. Du kannst eines Tages selbst einmal die Angst +kennenlernen. Nein, denke nicht daran! Betrachte die +Sache vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus. Du +forschst doch sonst nicht danach, woher die toten Wesen +kommen, mit denen du experimentierst. Forsche auch jetzt +nicht danach. Ich habe dir ohnehin zuviel gesagt. Aber<a class="pagenum" name="Page_260" title="260"> </a> +ich bitte dich, tu, um was ich dich bat. Wir waren doch einmal +Freunde, Alan.“</p> + +<p>„Sprich nicht von jenen Tagen, Dorian; sie sind tot.“</p> + +<p>„Die Toten verweilen manchmal. Der Mann da oben +geht nicht weg. Er sitzt am Tisch mit vorgebeugtem Kopf +und ausgestreckten Armen. Alan! Alan! wenn du mir +nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! man wird +mich hängen! Begreifst du nicht? Man wird mich hängen, +für das, was ich getan habe.“</p> + +<p>„Es hat keinen Sinn, diese Szene weiter auszudehnen. +Ich weigere mich ganz entschieden, etwas damit zu tun +zu haben. Es ist Tollheit von dir, mich darum zu +bitten.“</p> + +<p>„Du weigerst dich?“</p> + +<p>„Ja!“</p> + +<p>„Ich beschwöre dich, Alan!“</p> + +<p>„Es ist nutzlos.“</p> + +<p>Derselbe mitleidige Ausdruck kam in Dorian Grays +Augen. Dann reckte er die Hand aus, nahm ein Stück +Papier und schrieb etwas darauf. Er las es zweimal durch, +faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den Tisch. +Nachdem er dies getan hatte, stand er auf und trat ans +Fenster.</p> + +<p>Campbell sah ihn verwundert an, nahm dann das Papier +und öffnete es. Als er es gelesen hatte, wurde sein +Gesicht totenblaß und er sank in seinen Stuhl zurück. Ein +fürchterliches Gefühl der Schwäche überwältigte ihn. Ihm +war, als ob sich sein Herz in einer leeren Höhle zu Tode +schlüge.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_261" title="261"> </a></p> + +<p>Nach zwei oder drei Minuten furchtbaren Schweigens +wandte sich Dorian um, ging zu ihm hin, stellte sich hinter +ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.</p> + +<p>„Es tut mir so leid um dich, Alan,“ flüsterte er, „aber +du läßt mir keine Wahl. Ich habe den Brief schon geschrieben. +Hier ist er. Du siehst die Adresse. Wenn du mir +nicht hilfst, muß ich ihn abschicken. Du weißt, was darauf +erfolgt. Aber du wirst mir helfen. Es ist unmöglich, daß +du jetzt noch nein sagst. Ich wollte dir das ersparen. Du +mußt mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, das zuzugeben. +Du warst bitter, hart, beleidigend. Du hast mich +behandelt, wie es nie ein Mensch gewagt hat, mich zu behandeln. +Wenigstens kein lebender Mensch. Ich ertrug es +alles. Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren.“</p> + +<p>Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und ein +Frösteln überlief ihn.</p> + +<p>„Ja, jetzt ist die Reihe an mir, Bedingungen zu diktieren, +Alan. Du weißt, was ich verlange. Die Sache ist +ganz einfach. Komm, schraube dich nicht in ein Fieber +hinein. Die Sache muß geschehen. Schau ihr ins Gesicht +und vollbringe sie.“</p> + +<p>Ein Stöhnen klang von Campbells Lippen, und er +zitterte am ganzen Leibe. Das Ticken der Uhr auf dem +Kaminsims schien ihm die Zeit in einzelne Atome eines +Todeskampfes zu zerstückeln, von denen das kleinste schon +zu schrecklich war, um es zu ertragen. Er hatte das Gefühl, +als ob ein eiserner Ring um seine Stirn nach und +nach festgespannt wurde, als ob die Schande, mit der man +ihn bedrohte, schon über ihn käme. Die Hand auf seiner<a class="pagenum" name="Page_262" title="262"> </a> +Schulter beschwerte ihn wie ein Gewicht von Blei. Sie war +unerträglich. Sie schien ihn zu zerquetschen.</p> + +<p>„Komm, Alan, du mußt dich gleich entscheiden.“</p> + +<p>„Ich kann es nicht tun“, sagte er mechanisch, als könnten +die Worte etwas ändern.</p> + +<p>„Du mußt. Du hast keine Wahl. Zaudere nicht.“</p> + +<p>Er schwankte einen Augenblick. „Ist ein Ofen da oben?“</p> + +<p>„Ja, ein Gasofen mit Asbest.“</p> + +<p>„Dann muß ich nach Hause gehen und einiges aus dem +Laboratorium holen.“</p> + +<p>„Nein, Alan, du darfst das Haus nicht verlassen. +Schreib' auf ein Blatt Papier, was du brauchst, und mein +Diener nimmt eine Droschke und wird dir die Sachen +bringen.“</p> + +<p>Campbell kritzelte ein paar Zeilen hin, trocknete sie ab +und adressierte ein Kuvert an seinen Assistenten. Dorian +nahm das Briefchen und las es aufmerksam durch. Dann +klingelte er und gab es seinem Diener mit dem Auftrag, so +rasch als möglich zurückzukommen und die im Schreiben +bezeichneten Sachen mitzubringen.</p> + +<p>Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös +zusammen, stand vom Stuhl auf und ging zum Kamin +hinüber. Er schüttelte sich in einer Art kalten Fiebers. Fast +zwanzig Minuten lang sprach keiner der beiden Männer. +Eine Fliege schwirrte summend durch das Zimmer, und das +Ticktack der Uhr klang wie der Fall eines Hammers.</p> + +<p>Als es eins schlug, drehte sich Campbell um, blickte auf +Dorian Gray und sah, daß seine Augen mit Tränen gefüllt +waren. In den reinen, edlen Zügen dieses traurigen Gesichts<a class="pagenum" name="Page_263" title="263"> </a> +lag etwas, was ihn wütend zu machen schien. +„Du bist infam, ganz infam“, rief er mit unterdrückter +Stimme.</p> + +<p>„Ruhig, Alan, du hast mir das Leben gerettet“, sagte +Dorian.</p> + +<p>„Dein Leben? Gott im Himmel! Was für ein Leben +ist das! Du bist von Verderbnis zu Verderbnis geschritten, +und jetzt hast du mit Mord den Gipfel erreicht. Wenn ich +tue, was ich tun werde, was du mich zu tun zwingst, so +denke ich dabei wahrhaftig nicht an dein Leben.“</p> + +<p>„Ach, Alan,“ flüsterte Dorian seufzend, „ich wünschte, +du hättest den tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das +ich mit dir habe.“ Er kehrte sich während dieser Worte ab +und stand da und blickte in den Garten hinaus. Campbell +gab keine Antwort.</p> + +<p>Nach etwa zehn Minuten klopfte es an die Tür, und +der Diener trat ein und brachte einen großen Mahagonikasten +mit Chemikalien, eine lange Rolle Stahl- und +Platindraht und zwei absonderlich geformte Eisenklammern.</p> + +<p>„Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?“ fragte +er Campbell.</p> + +<p>„Ja“, antwortete Dorian. „Und ich bedaure, Francis, +aber ich habe noch einen Weg für Sie. Wie heißt der +Mann in Richmond, der Selby mit Orchideen versorgt?“</p> + +<p>„Harden, gnädiger Herr.“</p> + +<p>„Richtig — Harden. Sie müssen gleich nach Richmond +fahren, Harden selbst sprechen und ihm sagen, er solle doppelt +soviel Orchideen schicken, als ich bestellt habe, und +möglichst wenig weiße dabei. Eigentlich will ich überhaupt<a class="pagenum" name="Page_264" title="264"> </a> +keine weißen. Es ist ein schöner Tag, Francis, und Richmond +ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht +behelligen.“</p> + +<p>„Nichts zu sagen, gnädiger Herr. Zu welcher Zeit soll +ich zurück sein?“</p> + +<p>Dorian sah Campbell an. „Wie lange wird dein Experiment +dauern, Alan?“ fragte er mit ruhiger, gleichgültiger +Stimme. Die Gegenwart eines Dritten im Zimmer +schien ihm außerordentlichen Mut einzuflößen.</p> + +<p>Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. +„Es wird ungefähr fünf Stunden beanspruchen“, antwortete +er.</p> + +<p>„Dann ist es früh genug, wenn Sie um sieben zurück +sind, Francis. Oder halt: legen Sie meine Sachen zum +Umkleiden zurecht, Sie können dann den Abend für sich +verwenden. Ich esse nicht zu Hause, brauche Sie also +nicht.“</p> + +<p>„Ich danke, gnädiger Herr“, sagte der Mann und verließ +das Zimmer.</p> + +<p>„Jetzt, Alan, ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer +der Kasten ist! Ich will ihn dir tragen. Nimm du die anderen +Sachen.“ Er sprach hastig und in befehlendem Tone. +Campbell fühlte sich von ihm beherrscht. Sie verließen +das Zimmer gleichzeitig.</p> + +<p>Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, nahm +Dorian den Schlüssel heraus und schloß auf. Dann blieb +er stehen, und ein Ausdruck von Unruhe zeigte sich in +seinem Blick. Er schauderte. „Ich glaube, ich kann nicht +hineingehen, Alan“, flüsterte er.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_265" title="265"> </a></p> + +<p>„Das ist mir ganz gleich. Ich brauche dich nicht“, sagte +Campbell kalt.</p> + +<p>Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Als er dies tat, sah +er seinem Porträt, das im hellen Sonnenlicht hing, grade +ins Gesicht. Davor lag auf den Dielen der herabgerissene +Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in der vergangenen +Nacht zum ersten Male in seinem Leben vergessen hatte, +die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen, und wollte +eben nach vorn stürzen, als er schaudernd zurückprallte.</p> + +<p>Was war das für ein widerlicher, roter Fleck, der naß +und glänzend an einer der Hände klebte, als hätte die +Leinwand Blut geschwitzt? Wie schrecklich das war! — +Schrecklicher schien es ihm in diesem Augenblick als das +schweigsame Ding, das, wie er wußte, noch über den Tisch +gebeugt dasaß, das Ding, dessen grotesker, unglückseliger +Schatten auf dem fleckigen Teppich ihm zeigte, daß es sich +nicht bewegt hatte, sondern noch da war, wo er es gelassen +hatte.</p> + +<p>Er atmete tief auf, öffnete die Tür etwas weiter und +ging mit halbgeschlossenen Augen und abgewandtem Kopf +rasch hinein, entschlossen, mit keinem einzigen Blick nach +dem Toten hinzusehen. Dann bückte er sich, nahm den gold- +und purpurschimmernden Vorhang auf und warf ihn +gerade über das Bild.</p> + +<p>Dann blieb er stehen, voll Angst, sich umzuwenden und +seine Augen richteten sich auf die verschlungenen Muster +des Vorhangs. Er hörte Campbell den schweren Kasten +hereinbringen, und die Eisenklammern und die anderen +Geräte, die er sich für seine entsetzliche Arbeit hatte kommen<a class="pagenum" name="Page_266" title="266"> </a> +lassen. Er begann sich zu fragen, ob Campbell und Basil +Hallward einander je begegnet waren und wenn, welche +Meinung sie voneinander gehabt hätten.</p> + +<p>„Lasse mich jetzt allein“, sagte eine rauhe Stimme +hinter ihm.</p> + +<p>Er kehrte sich um und lief hinaus, eben noch gerade wahrnehmend, +daß der Tote in seinen Stuhl zurückgelehnt worden +war und daß Campbell in ein schimmerndes, gelbes +Gesicht starrte. Als er die Stufen hinabging, hörte er, +wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde.</p> + +<p>Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell wieder +in die Bibliothek trat. Er war blaß, aber vollständig +ruhig. „Ich habe getan, was du von mir verlangt hast“, +sagte er leise. „Und jetzt adieu. Wir wollen uns nie wiedersehen.“</p> + +<p>„Du hast mich vorm Untergang gerettet, Alan“, sagte +Dorian ganz schlicht. „Ich kann das nie vergessen.“</p> + +<p>Sobald ihn Campbell verlassen hatte, ging er hinauf. +Ein schrecklicher Geruch von Salpetersäure war im Zimmer. +Aber das Ding, das am Tisch gesessen hatte, war fort.</p> + +<h2><a name="Funfzehntes_Kapitel" id="Funfzehntes_Kapitel"></a>Fünfzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Am selben Abend um halb neun Uhr wurde Dorian +Gray in sorgfältigster Toilette, im Knopfloch einen großen +Strauß Parmaveilchen tragend, von dienernden Lakaien +in den Salon Lady Narboroughs geführt. Er hatte heftiges<a class="pagenum" name="Page_267" title="267"> </a> +Kopfweh und furchtbar überreizte Nerven, aber seine +Gebärde, als er sich über die Hand seiner Gastgeberin +beugte, war ebenso leicht und anmutig wie sonst. Vielleicht +sieht man nie gelassener aus, als wenn man eine Rolle +zu spielen hat. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an +diesem Abend sah, geglaubt, daß er eine Tragödie hinter +sich habe, die so schrecklich war wie irgendeine Tragödie +unserer Zeit. Diese feingeformten Finger konnten doch nie +ein Messer gezückt haben, um eine Sünde zu begehen, diese +lächelnden Lippen nie Gott und Gottes Güte geschmäht +haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens +wundern und einen Augenblick lang spürte er in ganzer +Stärke den grauenvollen Genuß eines Doppeldaseins.</p> + +<p>Es war eine kleine Gesellschaft, die Lady Narborough +kurzer Hand zusammengeladen hatte, und die Gastgeberin +war eine sehr gescheite Frau mit ansehnlichen Überbleibseln +einer unleugbar hervorragenden Häßlichkeit, wie es +Lord Henry auszudrücken liebte. Sie hatte sich einem unserer +langweiligsten Botschafter als eine ausgezeichnete +Frau erwiesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie sich's +geziemte, in einem marmornen Mausoleum beigesetzt hatte, +das nach ihren eigenen Entwürfen erbaut worden war, +und seitdem sie ihre Töchter an einige reiche, etwas angejahrte +Herren verheiratet hatte, widmete sie sich den +Genüssen französischer Romane, französischer Kochkunst und +französischen Geistes, wenn sie ihn auftreiben konnte.</p> + +<p>Dorian war einer ihrer erklärten Lieblinge, und sie sagte +ihm immer, sie sei äußerst froh darüber, ihn nicht in früheren +Jahren kennengelernt zu haben. „Ich weiß, mein<a class="pagenum" name="Page_268" title="268"> </a> +Lieber, ich hätte mich sinnlos in Sie verliebt,“ pflegte sie +zu sagen, „und wäre Ihretwillen der größten Tollheiten +fähig gewesen. Es ist ein großes Glück, daß man damals +noch gar nicht an Sie dachte. Zu meiner Zeit waren die +Tollheiten eine so seltene Ware, daß ich nicht einmal eine +harmlose Liebelei mit jemand gehabt habe. Indessen war +das nur die Schuld Narboroughs. Er war schrecklich kurzsichtig, +und es ist alles andere als ein Vergnügen, einen +Ehemann zu betrügen, der nie etwas sieht.“</p> + +<p>Ihre Gäste waren an diesem Abend ziemlich langweilig. +Die Sache war so, wie sie Dorian hinter einem ziemlich +schäbigen Fächer erklärte, daß eine ihrer verheirateten Töchter +plötzlich zu Besuch gekommen war, und, was die Sache +noch ärgerlicher machte, obendrein ihren Mann mitgebracht +hatte.</p> + +<p>„Ich finde das sehr unliebenswürdig von ihr, mein +Lieber“, flüsterte sie ihm zu. „Natürlich bin ich jeden +Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von Homburg +komme, aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal +frische Luft haben, und außerdem rüttle ich sie dann etwas +auf. Sie ahnen ja gar nicht, was die für ein Leben da +hinten führen. Es ist das reine, unverfälschte Landleben. +Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun haben, und +gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben. +In der ganzen Gegend da hat es seit der Zeit der Königin +Elisabeth keinen Skandal gegeben, und infolgedessen schlafen +sie alle nach dem Essen ein. Sie sollen aber nicht neben +einem von ihnen sitzen. Sie sollen neben mir sitzen und +mich amüsieren.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_269" title="269"> </a></p> + +<p>Dorian murmelte ein anmutiges Kompliment und blickte +sich im Zimmer um. Ja, es war wirklich eine öde Gesellschaft. +Zwei von den Anwesenden hatte er vordem nie +gesehen, und die anderen waren Ernest Harrowden, eine +der Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man so +häufig in Londoner Klubs begegnet, die keine Feinde +haben, die aber keiner ihrer Freunde leiden kann: dann +Lady Ruxton, eine aufgeputzte Dame mit einer Papageiennase, +im Alter von siebenundvierzig Jahren, die sich unablässig +bemühte, sich zu kompromittieren, die aber so lächerlich +häßlich war, daß zu ihrer großen Enttäuschung niemals +einer etwas Schlechtes von ihr glauben wollte: Frau +Erlynne, eine zudringliche Nichtigkeit mit einem entzückenden +Lispeln und venezianisch rotem Haar: Lady Alice +Chapman, die Tochter der Wirtin, eine schlechtgekleidete, +bedeutungslose Frau mit einem der charakteristischen englischen +Gesichter, an die man sich nie wieder erinnert, wenn +man sie einmal gesehen hat, und ihr Mann, ein rotbäckiges, +weißbärtiges Geschöpf, das, wie so viele seiner Kaste, der +Überzeugung lebte, daß ungewöhnliche Liebenswürdigkeit +den vollständigen Mangel an Gedanken ersetzen könne.</p> + +<p>Es tat ihm beinah leid, daß er gekommen war, bis Lady +Narborough einen Blick auf die große goldene Pendeluhr +warf, die sich mit ihren geschmacklosen Zieraten auf dem +malvefarbig behängten Kamin spreizte, und ausrief: „Wie +häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich +schickte heute früh auf gut Glück zu ihm hinüber und er hat +fest zugesagt, mich nicht im Stich zu lassen.“</p> + +<p>Es war ein Trost, daß Harry kommen sollte, und als<a class="pagenum" name="Page_270" title="270"> </a> +sich die Tür öffnete und er seine sanfte musikalische +Stimme hörte, die irgendeine läppische Ausrede bezaubernd +hervorbrachte, schwand seine Verdrießlichkeit.</p> + +<p>Aber er konnte bei Tisch dennoch nichts essen. Platte +nach Platte wurde, von ihm unberührt, weggetragen. Lady +Narborough schalt ihn unaufhörlich, weil sie darin „eine +Beleidigung sah für den armen Adolphe, der das ganze +Menü eigens für sie erfunden hätte“, und dann und wann +blickte Lord Henry zu ihm herüber und verwunderte sich +über sein Schweigen und sein zerstreutes Wesen. Von Zeit +zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit Champagner. Er +trank hastig, und sein Durst schien zu wachsen.</p> + +<p>„Dorian,“ sagte Lord Henry endlich, als das Chaudfroid +herumgereicht wurde, „was ist heute abend mit dir +los? Du bist ja so verstimmt.“</p> + +<p>„Ich glaube, er ist verliebt,“ sagte Lady Narborough, +„und er hat Angst, es mir zu erzählen, aus Furcht, daß ich +eifersüchtig würde. Er hat auch ganz recht. Ich würde es +gewiß.“</p> + +<p>„Teure Lady Narborough,“ flüsterte Dorian lächelnd, +„ich bin seit einer vollen Woche nicht verliebt gewesen — +genau gesagt, nicht seitdem Madame de Ferrol aus London +weg ist.“</p> + +<p>„Daß ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!“ +rief die alte Dame. „Ich kann es wirklich nicht verstehen.“</p> + +<p>„Das kommt einfach daher, weil sie Sie an die Zeit +erinnert, wo Sie ein kleines Mädchen waren, Lady Narborough“, +sagte Lord Henry. „Sie ist das einzige Bindeglied +zwischen uns und Ihren kurzen Röckchen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_271" title="271"> </a></p> + +<p>„Sie erinnert mich wirklich nicht an meine kurzen Röckchen, +Lord Henry. Aber ich entsinne mich ihrer sehr gut +in Wien vor dreißig Jahren und wie sie sich damals +dekolletierte.“</p> + +<p>„Sie dekolletiert sich noch immer,“ antwortete er und +nahm eine Olive in seine langen Finger, „und wenn sie +sehr elegant gekleidet ist, sieht sie aus wie die Luxusausgabe +eines schlechten, französischen Romans. Sie ist wirklich +wunderbar und voller Überraschungen. Ihr Talent +für Familienliebe ist außerordentlich. Als ihr dritter Mann +starb, wurde ihr Haar vor Trauer ganz goldblond.“</p> + +<p>„Wie kannst du so etwas sagen, Harry!“ rief Dorian.</p> + +<p>„Das ist eine höchst romantische Erklärung“, lachte die +Gastgeberin. „Aber ihr dritter Mann, Lord Henry! Sie +wollen doch nicht sagen, daß Ferrol der vierte ist?“</p> + +<p>„Doch, Lady Narborough.“</p> + +<p>„Ich glaube kein Wort davon.“</p> + +<p>„Gut, dann fragen Sie Herrn Gray, er ist einer ihrer +intimsten Freunde.“</p> + +<p>„Ist das wahr, Herr Gray?“</p> + +<p>„Sie versichert es mir, Lady Narborough“, erwiderte +Dorian. „Ich fragte sie, ob sie wie Margarete von Navarra +ihre Herzen einbalsamiert habe und am Gürtel +trage. Sie sagte mir, sie täte das nicht, weil keiner von +ihnen überhaupt ein Herz gehabt hätte.“</p> + +<p>„Vier Männer! Auf mein Wort, das ist <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">trop de zêle</span>.“</p> + +<p>„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Trop d'audace</span> sagte ich ihr“, entgegnete Dorian.</p> + +<p>„Oh! sie ist mutig genug, alles zu tun, mein Lieber. +Und wie ist Ferrol? Ich kenne ihn nicht.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_272" title="272"> </a></p> + +<p>„Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse“, +sagte Lord Henry und schlürfte seinen Wein.</p> + +<p>Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. „Lord +Henry, ich bin nicht im mindesten überrascht, daß die ganze +Welt über Ihre Ruchlosigkeit klagt.“</p> + +<p>„Aber welche ganze Welt tut das?“ fragte Lord Henry, +seine Brauen hochziehend. „Es kann nur die Nachwelt +sein. Denn diese Welt und ich, wir stehen brillant miteinander.“</p> + +<p>„Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr ruchlos +sind!“ rief die alte Dame den Kopf schüttelnd.</p> + +<p>Lord Henry sah einige Augenblicke ernsthaft aus. „Es +ist ganz abscheulich,“ sagte er schließlich, „wie die Leute +heutzutage herumgehen und einem hinterm Rücken Dinge +nachsagen, die ganz und gar auf Wahrheit beruhen.“</p> + +<p>„Ist er nicht unverbesserlich?“ rief Dorian und beugte +sich in seinem Stuhl vor.</p> + +<p>„Ich hoffe“ sagte die Wirtin lachend. „Aber wenn Sie +wirklich alle Madame de Ferrol in dieser lächerlichen +Weise anbeten, so muß ich auch wieder heiraten, um in +Mode zu kommen.“</p> + +<p>„Sie werden nie wieder heiraten, Lady Narborough“, +unterbrach Lord Henry. „Sie waren viel zu glücklich. Wenn +eine Frau wieder heiratet, so tut sie es, weil sie ihren ersten +Mann verabscheute. Wenn ein Mann wieder heiratet, so +tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen versuchen +ihr Glück, Männer setzen das ihre aufs Spiel.“</p> + +<p>„Narborough war nicht vollkommen!“ rief die alte +Dame.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_273" title="273"> </a></p> + +<p>„Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt, +meine teure Lady“, war die Antwort. „Frauen +lieben uns um unserer Fehler willen. Wenn wir ihrer genug +haben, vergeben sie uns alles, selbst unseren Geist. +Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zu einem Diner +bitten, nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough, +aber es ist völlig wahr.“</p> + +<p>„Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen +euch nicht eurer Fehler halber liebten, wo wäret ihr alle? +Nicht ein einziger von euch würde verheiratet sein. Und ihr +wäret eine Sekte unglücklicher Junggesellen. Das würde +aber nicht viel an euch ändern. Heutzutage leben alle Ehemänner +wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner.“</p> + +<p>„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Fin de siècle</span>“, flüsterte Lord Henry.</p> + +<p>„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Fin du globe</span>“, entgegnete die Gastgeberin.</p> + +<p>„Ich wollte, es wäre <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">fin du globe</span>“, sagte Dorian mit +einem Seufzer. „Das Leben ist eine große Enttäuschung.“</p> + +<p>„Ah, mein Lieber!“ rief Lady Narborough und zog +ihre Handschuhe an, „sagen Sie mir nicht, daß Sie das +Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann das sagt, weiß +man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist im +höchsten Grade ruchlos, und ich wünsche manchmal, ich wäre +es auch gewesen; aber Sie sind geschaffen, um gut zu +sein — Sie sehen so gut aus. Ich muß Ihnen eine hübsche +Frau verschaffen. Lord Henry, meinen Sie nicht, daß Herr +Gray heiraten sollte?“</p> + +<p>„Ich sage ihm das immer, Lady Narborough“, erwiderte +Lord Henry mit einer Verbeugung.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_274" title="274"> </a></p> + +<p>„Schön, so wollen wir uns nach einer guten Partie für +ihn umsehen. Ich werde heute nacht den Adelskalender +aufmerksam durchgehen und eine Liste aller in Frage +kommenden jungen Damen aufstellen.“</p> + +<p>„Mit ihrer Altersangabe, Lady Narborough?“ fragte +Dorian.</p> + +<p>„Natürlich mit ihrem Alter, ein wenig retuschiert. Aber +man darf nichts übereilen. Ich will, daß es genau das +wird, was die Morning Post eine passende Verbindung +nennt, und ihr sollt beide glücklich werden.“</p> + +<p>„Was die Menschen doch für einen Unsinn über +glückliche Ehen reden!“ rief Lord Henry. „Ein Mann +kann mit jeder Frau glücklich werden, solange er sie nicht +liebt.“</p> + +<p>„Pfui! Was sind Sie für ein Zyniker!“ rief die alte +Dame, schob ihren Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu. +„Sie müssen bald wiederkommen und bei mir essen. Sie +sind wirklich ein wunderbarer Appetitanreger, viel besser +als das, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen +mir sagen, was für Leute Sie gern treffen würden. Es +soll ein entzückendes Beisammensein werden.“</p> + +<p>„Ich liebe Männer, die eine Zukunft haben, und +Frauen, die eine Vergangenheit haben“, antwortete er. +„Oder beabsichtigen Sie, eine Weibergesellschaft zustande +zu bringen?“</p> + +<p>„Ich fürchte fast“, sagte sie lachend, indem sie sich erhob. +„Ach, verzeihen Sie tausendmal, Lady Ruxton,“ fuhr +sie fort, „ich habe nicht bemerkt, daß Sie mit Ihrer Zigarette +noch nicht fertig waren.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_275" title="275"> </a></p> + +<p>„Macht nichts, Lady Narborough. Ich rauche viel zuviel. +Ich muß mich darin in Zukunft einschränken.“</p> + +<p>„Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton“, sagte Lord +Henry. „Mäßigung ist eine unglückliche Sache. Genug ist +nicht besser als eine Mahlzeit. Mehr als genug ist so gut +wie ein Festessen.“</p> + +<p>Lady Ruxton sah ihn neugierig an. „Lord Henry, Sie +müssen mich eines Nachmittags besuchen und mir das erklären. +Es klingt wie eine verlockende Theorie“, sagte sie, +während sie aus dem Zimmer rauschte.</p> + +<p>„Jetzt bitte, sitzt mir nicht zu lange bei eurer Politik +und euerm Klatsch!“ rief Lady Narborough von der Tür +aus. „Wenn ihr das tut, zanken wir sicher mit euch, wenn +ihr nach oben kommt.“</p> + +<p>Die Männer lachten, und Herr Chapman stand feierlich +vom Ende der Tafel auf und setzte sich oben hin. Dorian +Gray wechselte seinen Platz und setzte sich neben Lord +Henry. Herr Chapman begann mit lauter Stimme über +die parlamentarische Lage zu sprechen. Er heulte laut auf +über seine Widersacher. Das Wort Doktrinär — ein Wort +voller Schrecken für den britischen Geist — tauchte von +Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen auf. Eine doppelt ausgesprochene +Vorsilbe diente seiner Rede als Alliteration zum +Schmuck. Er hißte den Union Jack auf dem Mast des Gedankens +auf. Die angestammte Dummheit der Rasse — gesunder +englischer Menschenverstand nannte er sie wohlwollend +— wurde als das Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt.</p> + +<p>Ein Lächeln kräuselte Lord Henrys Lippen, und er drehte +sich um und blickte zu Dorian hin.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_276" title="276"> </a></p> + +<p>„Geht dir's jetzt besser, lieber Junge?“ fragte er. „Du +schienst bei Tisch gar nicht recht wohl zu sein.“</p> + +<p>„Mir ist ganz wohl. Ich bin müde. Sonst nichts.“</p> + +<p>„Du warst entzückend gestern abend. Die kleine Herzogin +hat dich ganz in ihr Herzchen geschlossen. Sie hat mir +erzählt, sie käme nach Selby.“</p> + +<p>„Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen.“</p> + +<p>„Wird Monmouth auch da sein?“</p> + +<p>„Oh, gewiß, Harry!“</p> + +<p>„Er langweilt mich entsetzlich, fast ebenso sehr, wie er sie +langweilt. Sie ist sehr verständig, zu verständig für eine +Frau. Es fehlt ihr der unbeschreibliche Reiz der Schwäche. +Die tönernen Füße sind's, die erst das Gold der Bildsäule +wertvoll machen. Ihre Füße sind ganz allerliebst, +aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn +du willst. Sie sind schon im Feuer gewesen, und was das +Feuer nicht zerstört, macht es hart. Sie hat ihre Erfahrungen.“</p> + +<p>„Wie lange ist sie verheiratet?“ fragte Dorian.</p> + +<p>„Sie sagt, eine Ewigkeit. Nach dem Adelskalender, +glaube ich, sind es wohl zehn Jahre, aber zehn Jahre mit +Monmouth müssen wie eine Ewigkeit gewesen sein, wenn +man die Zeit mitrechnet. Wer kommt sonst noch?“</p> + +<p>„Oh, die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau, +unsere Wirtin, Geoffrey Clouston, die gewöhnliche Aufmachung. +Ich habe auch Lord Grotrian gebeten.“</p> + +<p>„Den habe ich recht gern“, sagte Lord Henry. „Viele +Leute können ihn nicht leiden, aber ich finde ihn reizend. +Dafür, daß seine Kleidung manchmal übertrieben elegant<a class="pagenum" name="Page_277" title="277"> </a> +ist, entschädigt er dadurch, daß er immer übertrieben gebildet +ist. Es ist ein ganz moderner Typus.“</p> + +<p>„Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Harry. Es ist +möglich, daß er mit seinem Vater nach Monte Carlo muß.“</p> + +<p>„Ach, was für ein Kreuz die Familiensimpelei ist! Versuch +doch, daß er kommt. Übrigens, Dorian, du bist gestern +abend sehr früh weggelaufen. Du hast uns vor elf Uhr +sitzen lassen. Was hast du denn noch vorgehabt? Bist du +gleich nach Hause gegangen?“</p> + +<p>Dorian blickte ihn rasch an und runzelte die Stirn. +„Nein, Harry,“ sagte er endlich, „es war schon fast drei, +als ich nach Hause kam.“</p> + +<p>„Warst du noch im Klub?“</p> + +<p>„Ja“, antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen. +„Nein, das wollte ich nicht sagen. Ich war nicht im Klub. +Ich ging nur so herum. Ich weiß nicht mehr, was ich getan +habe... Wie du einen ins Verhör nimmst, Harry! +Du willst immer wissen, was man getan hat. Ich will +immer vergessen, was ich getan habe. Wenn du aber +die genaue Zeit wissen willst, ich bin um halb drei nach +Hause gekommen. Ich hatte meinen Hausschlüssel vergessen, +und mein Diener mußte mich einlassen. Wenn du +vielleicht noch eine Zeugenaussage über mein Alibi +wünschst, kannst du ihn ja fragen.“</p> + +<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Aber, lieber Junge, +als ob mir daran etwas läge? Wir wollen in den Salon +hinauf. Keinen Sherry, nein danke, Herr Chapman. Dir +ist etwas zugestoßen, Dorian. Sage mir, was es ist. Du +bist heute abend nicht du selber.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_278" title="278"> </a></p> + +<p>„Sei nicht böse, Harry. Ich bin gereizt und übel gelaunt. +Ich komme morgen oder übermorgen zu dir. Bitte, +entschuldige mich bei Lady Narborough. Ich gehe nicht +mehr hinauf. Ich gehe nach Hause. Ich muß nach Hause +gehn.“</p> + +<p>„Schön, Dorian. Ich hoffe, dich morgen zum Tee zu +sehen. Die Herzogin kommt.“</p> + +<p>„Ich will versuchen da zu sein, Harry“, sagte er und +verließ das Zimmer. Als er nach Hause fuhr, merkte er, +daß das Angstgefühl wiedergekehrt sei, das er erstickt zu +haben glaubte. Lord Henrys zufällige Frage hatte ihm für +einen Moment die Fassung genommen und nervös gemacht +und er brauchte seine Nerven noch. Dinge, die Gefahr +bringen konnten, mußten zerstört werden. Er schauerte +zusammen. Der Gedanke, sie auch nur zu berühren, war +ihm furchtbar.</p> + +<p>Und doch mußte es geschehen. Er war sich darüber klar, +und als er die Tür seines Bibliothekzimmers verschlossen +hatte, öffnete er den geheimen Schrank, in den er Basil +Hallwards Mantel und Tasche gesteckt hatte. Es loderte +ein mächtiges Feuer. Er legte noch ein Stück Holz nach. +Der Geruch der sengenden Kleider und des schwelenden +Leders war entsetzlich. Er brauchte drei Viertelstunden, +um alles zu verbrennen. Als es vorbei war, fühlte er sich +schwach und krank, und nachdem er einige algerische Räucherkerzchen +in einer durchbrochenen Kupferpfanne angezündet +hatte, wusch er sich Hände und Stirn in kaltem, +moschusduftendem Essig.</p> + +<p>Plötzlich schrak er zusammen. Seine Augen bekamen<a class="pagenum" name="Page_279" title="279"> </a> +einen merkwürdigen Glanz und er nagte nervös an der +Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern stand ein großer Florentiner +Ebenholzschrank mit Elfenbein und Lapislazuli +eingelegt. Er starrte ihn an, als wär er ein Etwas, das +fesseln und ängstigen könne, als schließe er etwas ein, das +er sehnsüchtig begehrte und doch beinahe verabscheute. Sein +Atem ging schneller. Eine wilde Gier überkam ihn. Er zündete +eine Zigarette an und warf sie gleich wieder weg. +Seine Augenlider senkten sich, bis die langen Wimpern fast +die Wangen berührten. Aber er sah noch immer nach dem +Schranke hin. Endlich erhob er sich vom Sofa, auf dem er +gelegen hatte, ging zu dem Schrank hinüber, schloß ihn auf +und drückte an eine geheime Feder. Ein dreieckiges Schubfach +kam langsam zum Vorschein. Seine Finger bewegten +sich instinktiv danach, griffen hinein und faßten etwas. +Es war ein kleines chinesisches Kästchen aus schwarzem, +goldbetupftem Lack, das sehr sorgfältig gearbeitet war, +und dessen Seiten gekrümmte Wellenlinien zierten, und +an dessen seidenen Schnüren runde Kristalle mit Quasten +aus geflochtenen Metallfäden hingen. Er öffnete das Kästchen. +Eine grünlich-glänzende, wachsartige Masse von seltsam +schwerem und durchdringendem Geruch lag darin.</p> + +<p>Er zögerte ein paar Augenblicke mit einem seltsam unbeweglichen +Lächeln auf seinem Antlitz. Dann schauerte er +zusammen, obwohl es im Zimmer ganz außergewöhnlich +heiß war, raffte sich auf und sah nach der Uhr. Es fehlten +zwanzig Minuten an zwölf. Er legte das Kästchen zurück, +schloß die Türen des Schrankes und ging in sein Schlafzimmer.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_280" title="280"> </a></p> + +<p>Als die Mitternacht ihre metallenen Schläge durch die +dunkle Luft schickte, schlich Dorian Gray in ordinärer +Kleidung und ein Tuch um den Hals geschlungen, leise +aus dem Hause. In Bond Street traf er eine Droschke +mit einem guten Pferd. Er ließ sie halten und sagte dem +Kutscher mit leiser Stimme eine Adresse.</p> + +<p>Der Mann schüttelte den Kopf. „Das ist mir zu weit“, +brummte er.</p> + +<p>„Da haben Sie ein Goldstück. Sie sollen noch eins kriegen, +wenn Sie rasch fahren.“</p> + +<p>„Schön, Herr!“ antwortete der Mann, „wir werden in +einer Stunde da sein“, und nachdem sein Fahrgast eingestiegen +war, lenkte er um und fuhr rasch der Themse zu.</p> + + +<h2><a name="Sechzehntes_Kapitel" id="Sechzehntes_Kapitel"></a>Sechzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Ein kalter Regen begann zu fallen und die flackernden +Laternen sahen in dem herabsickernden Nebel geisterhaft +aus. Die Schenken wurden eben geschlossen, und Männer +und Frauen drängten sich in schattenhaften Gruppen vor +den Türen. Aus einigen Wirtschaften scholl ein gräßliches +Lachen. In anderen lärmten und grölten Betrunkene.</p> + +<p>In die Droschke zurückgelehnt, den Hut tief in die Stirn +gezogen, blickte Dorian Gray mit gleichgültigen Augen +auf das Elend und den Schmutz der Großstadt, und dann +und wann wiederholte er sich die Worte, die ihm Lord +Henry am ersten Tage, wo sie sich kennengelernt hatten,<a class="pagenum" name="Page_281" title="281"> </a> +gesagt hatte: „die Seele durch die Sinne und die Sinne +durch die Seele zu heilen“. Ja, das war das Geheimnis. +Er hatte es oft versucht und wollte es jetzt wieder versuchen. +Es gab Opiumkneipen, wo man Vergessenheit +kaufen konnte, Kneipen des Grauens, wo die Erinnerung +an alte Sünden durch den Wahnsinn neuer ausgelöscht +werden kann.</p> + +<p>Der Mond hing tief am Himmel wie eine gelbe Hirnschale. +Von Zeit zu Zeit streckte eine dicke, unförmige +Wolke einen langen Arm nach ihm aus und verbarg ihn. +Die Gaslaternen wurden spärlicher und die Straßen enger +und düsterer. Einmal verlor der Kutscher seinen Weg und +mußte einige hundert Meter zurückfahren. Das Roß +dampfte, während es in den Pfützen patschte. Die Seitenfenster +des Wagens waren wie mit grauem Flanell ausgeschlagen.</p> + +<p>„Die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die +Seele zu heilen —!“ Wie ihm die Worte in den Ohren +klangen! Seine Seele war jedenfalls todkrank. War es +denkbar, daß die Sinne sie heilen konnten? Unschuldiges +Blut war vergossen worden. Welche Sühne konnte es dafür +geben? Ach! dafür gab es keine Sühne; aber wenn auch +Vergebung unmöglich war, Vergessen war doch möglich, +und er war entschlossen, zu vergessen, die Sache zu Boden +zu treten, sie zu vernichten wie eine Natter, die einen gebissen +hat. Welches Recht hatte denn Basil gehabt, so zu +ihm zu sprechen, wie er es getan hatte? Wer hatte ihn +zum Richter über andere gesetzt? Er hatte Dinge gesagt, +die schrecklich waren, entsetzlich, nicht zu ertragen.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_282" title="282"> </a></p> + +<p>Weiter und weiter rollte die Droschke, und es schien ihm, +als führe sie mit jedem Schritt langsamer. Er riß das +Schiebefenster auf und rief dem Kutscher hinter ihm zu, +schneller zu fahren. Der gräßliche Hunger nach Opium +fing an, in ihm zu nagen. Die Kehle brannte ihm, und +seine zarten Finger spielten nervös miteinander. Er schlug +mit dem Spazierstock wie toll auf den Gaul ein. Der +Kutscher lachte und hieb mit der Peitsche zu. Er lachte +auch dazu, und der Mann auf dem Bocke schwieg.</p> + +<p>Der Weg schien endlos zu sein und die Straßen dehnten +sich aus wie ein schwarzes, durcheinander gewirrtes Spinngewebe. +Die Eintönigkeit wurde unerträglich, und als sich +der Nebel dichter ballte, empfand er Furcht.</p> + +<p>Dann fuhren sie an einsamen Ziegeleien vorüber. Der +Nebel ward hier durchsichtiger, und er konnte die merkwürdigen, +kürbisflaschenartigen Brennöfen mit ihren orangefarbenen +fächerartigen Feuerzungen erkennen. Ein Köter +schlug an, als sie vorbeirasselten, und weit entfernt in der +Dunkelheit schrie eine schlaflose Möwe. Das Pferd stolperte +in irgendeiner Rinne, scheute und verfiel in Galopp.</p> + +<p>Nach einiger Zeit verließen sie den Lehmweg und ratterten +wieder über ein holpriges Straßenpflaster. Die meisten +Fenster waren dunkel, aber dann und wann sah man phantastische +Schatten wie Silhouetten hinter einem erleuchteten +Rouleau. Er spähte neugierig darauf hin. Sie bewegten +sich wie riesenhafte Marionetten und gestikulierten wie +lebende Wesen. Eine Art Haß auf sie überkam ihn. Ein +dumpfer Zorn kochte in seinem Herzen. Als sie um eine<a class="pagenum" name="Page_283" title="283"> </a> +Ecke bogen, rief ihnen ein Weib aus einer offenen Tür +etwas zu, und zwei Männer rannten ein paar hundert +Meter hinter der Droschke her. Der Kutscher schlug mit +seiner Peitsche nach ihnen.</p> + +<p>Man sagt, die Leidenschaft wirble einem die Gedanken +im Kreise umher. Jedenfalls formten die zerbissenen Lippen +Dorian Grays in endloser Wiederholung die feingesetzten +Worte von der Seele und den Sinnen und formten +sie immer wieder, bis er in ihnen sozusagen den vollsten +Ausdruck seiner Stimmung gefunden und durch die Zustimmung +des Verstandes Leidenschaften gerechtfertigt hatte, +die auch ohne solche Rechtfertigung sein Temperament beherrscht +hätten. Von Zelle zu Zelle seines Gehirns kroch +der eine Gedanke und die wilde Lebensgier, das schrecklichste +aller menschlichen Hungergelüste, ließ sich jeden +zuckenden Nerv und Muskel gewaltsam emporbäumen. +Das Häßliche, das er einst gehaßt hatte, weil es den +Dingen Wirklichkeit verlieh, wurde ihm jetzt aus demselben +Grunde lieb. Das Häßliche war das einzig Wirkliche. Das +rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die ordinäre Gewalttätigkeit +eines liederlichen Lebens, die widerliche Verworfenheit +der Diebe und Verbrecher waren in der intensiven +Wirklichkeit ihrer Eindrücke mehr vom Leben erfüllt, +als all die anmutigen Formen der Kunst, die träumerischen +Schatten der Dichtung. Das war es, was er zum +Vergessen brauchte. In drei Tagen würde er frei sein.</p> + +<p>Plötzlich hielt der Mann am Ende einer finstern Straße +mit einem Ruck an. Über die niedrigen Dächer und gezackten +Schornsteine der Häuser hinaus ragten die schwarzen<a class="pagenum" name="Page_284" title="284"> </a> +Maste der Schiffe. Weiße Nebelfetzen hingen wie gespensterhafte +Segel über den Werften.</p> + +<p>„Irgendwo hier, nicht wahr, Herr?“ ertönte die rauhe +Stimme des Kutschers durch das Schiebefenster.</p> + +<p>Dorian fuhr auf und blickte sich um. „Schon gut“, antwortete +er, stieg rasch aus, gab dem Kutscher Trinkgeld, +das er ihm versprochen hatte, und ging eilig dem Kai zu. +Hier und da flimmerte eine Laterne am Heck eines großen +Kauffahrers. Das Licht zitterte und zersplitterte sich in den +Pfützen. Ein rotes Geglitzer kam von einem weit draußen +ankernden Dampfer, der Kohlen verlud. Das schlüpfrige +Pflaster sah aus wie ein regenglänzender Gummimantel.</p> + +<p>Er hastete nach links weiter und blickte sich dann und +wann um, ob ihm niemand folgte. Nach sieben oder acht +Minuten erreichte er ein kleines, elendes Haus, das zwischen +zwei große Faktoreien eingequetscht war. In einem +der Giebelfenster brannte eine Lampe. Er blieb stehen und +klopfte wie auf eine verabredete Art an.</p> + +<p>Nach einer kleinen Pause hörte er Schritte im Flur und +wie die Türkette losgemacht wurde. Die Tür öffnete sich +vorsichtig, und er trat hinein, ohne ein Wort zu der kleinen +erbärmlichen Gestalt zu sagen, die sich in den Schatten +drückte, als er vorbeischritt. Am Ende des Flurs hing ein +zerlumpter grüner Vorhang, der sich in dem starken Luftzug, +den er von der Straße her mitbrachte, hin und her +bauschte. Er schob ihn beiseite und trat in einen langen, +niedrigen Raum, der so aussah, als wäre er früher ein +Tanzlokal dritten Ranges gewesen. Grell flackernde Gasflammen, +die in den fliegenbeschmutzten Spiegeln gegenüber<a class="pagenum" name="Page_285" title="285"> </a> +matt und verzehrt erschienen, brannten rings an den +Wänden. Schmierige Reflektoren aus geripptem Wellblech +waren dahinter angebracht und warfen tanzende Lichtkreise. +Der Boden war mit ockerfarbigen Sägespänen bestreut, die +an einzelnen Stellen zu Schmutzklumpen zertreten waren +und auf denen sich von vergossenen Getränken schwarze +Ringe abzeichneten. Ein paar Malaien hockten mit untergeschlagenen +Beinen an einem kleinen Kohlenofen, spielten +mit knöchernen Würfeln und zeigten beim Sprechen ihre +weißlichen Zähne. In einem Winkel, den Kopf auf die +Hände gestützt, räkelte sich ein Matrose über den Tisch, und +an dem schreiend bemalten Büfett, das eine ganze Seite +des Raumes einnahm, standen zwei heruntergekommene +Weibspersonen und höhnten einen alten Mann, der mit +einem Ausdruck des Ekels die Ärmel seines Rockes bürstete. +„Er denkt, er hat sich Läuse geholt“, lachte die eine, als +Dorian vorüberging. Der Mann sah sie erschreckt an und +begann zu jammern.</p> + +<p>Am Ende des Zimmers war eine kleine Treppe, die in +eine verdunkelte Kammer führte. Als Dorian die drei +wackligen Stufen hinaufhastete, schlug ihm der schwere +Geruch des Opiums entgegen. Er holte tief Atem, und +seine Nasenflügel zitterten vor Lust. Als er eintrat, blickte +ein junger Mann mit glattgescheiteltem Blondhaar zu ihm +auf, der sich über eine Lampe beugte, an der er eine lange, +dünne Pfeife anzündete, und zögernd nickte.</p> + +<p>„Du hier, Adrian?“ flüsterte Dorian.</p> + +<p>„Wo soll ich sonst sein?“ antwortete er gleichgültig. +„Kein Mensch will jetzt mehr mit mir sprechen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_286" title="286"> </a></p> + +<p>„Ich dachte, du wärst aus England fort?“</p> + +<p>„Darlington wird nichts gegen mich unternehmen. Mein +Bruder hat den Wechsel schließlich gezahlt. George spricht +auch nicht mehr mit mir ... Ist mir auch einerlei“, fügte +er seufzend hinzu. „Solange man noch das Zeug da hat, +braucht man keine Freunde. Ich denke, ich habe zu viele +Freunde gehabt.“</p> + +<p>Dorian zuckte zusammen und sah sich nach den grotesken +Gestalten um, die da in so abenteuerlichen Stellungen auf +den zerlumpten Matratzen lagen. Die verkrümmten Glieder, +die offenen Mäuler, die stierenden, glanzlosen Augen +übten eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er kannte +die absonderlichen Paradiese, in denen sie litten, und +welche dumpfe Höllen sie in das Geheimnis neuer Genüsse +einweihten. Sie waren besser daran als er. Ihn hielten +seine Gedanken eingekerkert. Die Erinnerung fraß wie eine +fürchterliche Krankheit an seiner Seele. Von Zeit zu Zeit +glaubte er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu +sehen. Aber er fühlte, daß er hier nicht bleiben konnte. +Die Anwesenheit Adrian Singletons störte ihn. Er wollte +irgendwo sein, wo ihn niemand kennt. Er wollte sich selbst +entfliehen.</p> + +<p>„Ich gehe in das andere Lokal“, sagte er nach einer +Pause.</p> + +<p>„Auf der Werft?“</p> + +<p>„Ja.“</p> + +<p>„Die tolle Katze ist sicher da. Sie wollen sie hier nicht +mehr haben.“</p> + +<p>Dorian zuckte die Achseln. „Ich habe die Weiber, die<a class="pagenum" name="Page_287" title="287"> </a> +einen lieben, satt. Weiber, die einen hassen, sind viel +interessanter. Übrigens ist dort der Stoff besser.“</p> + +<p>„Ganz derselbe.“</p> + +<p>„Mir schmeckt er da besser. Komm, wir wollen was +trinken. Ich muß was haben.“</p> + +<p>„Ich brauche nichts“, murmelte der junge Mann.</p> + +<p>„Macht nichts.“</p> + +<p>Adrian Singleton stand schläfrig auf und folgte Dorian +ans Büfett. Ein Mischling in zerrissenem Turban und +schäbigem Ulster grinste ihnen einen widerlichen Gruß zu, +als er zwei Gläser und eine Branntweinflasche vor sie hinstellte. +Die Weiber torkelten herbei und begannen zu +schwatzen. Dorian kehrte ihnen den Rücken zu und sagte +leise etwas zu Adrian Singleton.</p> + +<p>Ein Grinsen gleich einem krummen malaischen Dolch verzerrte +das Gesicht des einen Weibes. „Wir sind sehr stolz +heute abend“, höhnte sie lachend.</p> + +<p>„Um Gottes willen, rede nicht mit mir!“ schrie Dorian +und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. „Was willst +du? Geld? Da! Aber sprich kein Wort mehr zu mir!“</p> + +<p>Zwei rote Funken blitzten für einen Augenblick in den +wässerigen Augen des Weibes auf, dann verloschen sie +wieder und ließen sie trübe und gläsern erscheinen. Sie +warf den Kopf in den Nacken und raffte mit gierigen +Fingern die Münzen auf dem Schenktisch zusammen. Ihre +Gefährtin beobachtete sie neidisch.</p> + +<p>„Es hat keinen Zweck“, sagte Adrian Singleton seufzend. +„Ich will nicht mehr zurück. Was macht's aus? Ich +fühle mich hier ganz wohl.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_288" title="288"> </a></p> + +<p>„Du wirst mir doch schreiben, wenn du was brauchst?“ +fragte Dorian nach einer Weile.</p> + +<p>„Vielleicht.“</p> + +<p>„Dann gute Nacht!“</p> + +<p>„Gute Nacht!“ antwortete der junge Mann, schritt die +Stufen hinauf und wischte sich den trockenen Mund mit +dem Taschentuch ab.</p> + +<p>Dorian schritt mit einem qualvollen Zug im Gesicht zur +Tür. Als er den Vorhang beiseitezog, scholl ein gräßliches +Lachen von den geschminkten Lippen des Weibes, +das sein Geld genommen hatte. „Da geht er hin, der +Seelenverschacherer!“ stieß sie mit einer heiser glucksenden +Stimme hervor.</p> + +<p>„Der Satan hol' dich!“ antwortete er, „du sollst mich +nicht so nennen!“</p> + +<p>Sie schnippte mit den Fingern. „Was, du willst wohl +Prinz Märchenschön genannt werden, das paßte dir, he?“ +kreischte sie hinter ihm her.</p> + +<p>Bei diesen Worten sprang der schläfrige Matrose auf +und blickte sich wild um. Das Geräusch der zufallenden +Haustür drang an sein Ohr. Er stürzte hinaus, als ob er +ihn verfolgen wollte.</p> + +<p>Dorian Gray eilte rasch durch den herabstäubenden +Regen den Kai entlang. Sein Zusammentreffen mit +Adrian Singleton hatte ihn sonderbar bewegt, und er +grübelte darüber nach, ob der Untergang dieses jungen +Lebens wirklich sein Werk war, wie ihm Basil Hallward +mit so schändlicher Beschimpfung schuldgegeben hatte. Er +biß sich auf die Lippen, und für ein paar Augenblicke<a class="pagenum" name="Page_289" title="289"> </a> +wurde sein Auge traurig. Aber schließlich, was ging es ihn +an? Das bißchen Leben war zu kurz, als daß man die +Sünden anderer auf seine Schultern laden könnte. Jeder +lebte sein eigenes Leben und zahlte seinen eigenen Preis +dafür. Das einzige Unglück war, daß man für ein einziges +Vergehen so oftmals zahlen mußte. Man mußte immer +und immer wieder zahlen. In seinem Handel mit dem +Menschen glich das Schicksal sein Schuldbuch nie aus.</p> + +<p>Die Psychologen sagen uns, daß es Augenblicke gibt, +wo die Anreizung zu Sünden oder zu dem, was die Welt +Sünden nennt, eine Natur so beherrscht, daß jede Faser +des Körpers, jede Zelle des Gehirns von fürchterlichen +Kräften gestachelt zu sein scheint. Männer und Frauen +verlieren in solchen Augenblicken die Willensfreiheit. Sie +bewegen sich wie Automaten ihrem schrecklichen Ende zu. +Die Wahl ist ihnen geraubt, und das Gewissen ist entweder +tot oder, wenn es noch lebt, so lebt es nur, um der Empörung +ihren Reiz und dem Ungehorsam ihren besonderen +Zauber zu verleihen. Denn alle Sünden sind, wie die Theologen +nicht müde werden, uns vorzuhalten, Sünden des +Ungehorsams. Als jener hohe Geist, der Morgenstern +alles Bösen vom Himmel fiel, da fiel er, weil er ein +Rebell war.</p> + +<p>Unempfindlich, nur mit dem einen Gedanken ans Böse +erfüllt, mit verfinstertem Geist, mit einer Seele, die nach +Empörung lechzte, hastete Dorian Gray weiter, und beschleunigte, +während er ging, seine Schritte immer mehr; +aber als er in einen dunkeln Torweg einbog, der ihm oft +genug als abgekürzter Weg zu dem berüchtigten Orte gedient<a class="pagenum" name="Page_290" title="290"> </a> +hatte, den er jetzt aufsuchen wollte, fühlte er sich plötzlich +von rückwärts gepackt, und bevor er Zeit hatte, sich +zu wehren, wurde er gegen eine Mauer geschleudert und +fühlte seinen Hals von einer brutalen Hand umklammert.</p> + +<p>Er kämpfte wie wahnsinnig um sein Leben, und mit +furchtbarer Anstrengung glückte es ihm, sich aus den umschnürenden +Fingern loszureißen. Einen Augenblick darauf +hörte er das Knacken eines Revolvers und sah den Glanz +eines blanken Laufes gerade gegen seinen Kopf gerichtet +und die dunkle Gestalt eines untersetzten Mannes vor +sich.</p> + +<p>„Was wollen Sie?“ keuchte er.</p> + +<p>„Sei still“, sagte der Mann. „Wenn du dich rührst, +schieß' ich dich nieder!“</p> + +<p>„Sie sind toll. Was hab' ich Ihnen getan?“</p> + +<p>„Du hast das Leben Sibyl Vanes zugrunde gerichtet!“ +war die Antwort, „und Sibyl Vane war meine Schwester. +Sie hat sich getötet. Ich weiß es. Ihr Tod ist deine +Schuld. Ich habe geschworen, dich dafür zu töten. Jahrelang +habe ich dich gesucht. Aber ich hatte keinen Anhaltspunkt, +keine Spur. Die zwei Menschen, die dich hätten beschreiben +können, waren tot. Ich wußte nichts von dir als den +Kosenamen, den sie dir gab. Heute nacht habe ich ihn durch +Zufall gehört. Mach' deinen Frieden mit Gott, denn heute +nacht mußt du sterben.“</p> + +<p>Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Furcht. „Ich +habe sie nie gekannt“, stammelte er. „Ich habe nie von ihr +gehört. Sie sind verrückt.“</p> + +<p>„Gesteh' lieber deine Sünden ein, denn so wahr ich<a class="pagenum" name="Page_291" title="291"> </a> +James Vane heiße, so gewiß sollst du jetzt sterben.“ Es +war ein entsetzlicher Augenblick. Dorian wußte nicht, was +er sagen oder tun sollte. „Auf die Knie!“ brüllte der +Mann. „Ich geb' dir eine Minute, deinen Frieden zu +machen — nicht mehr! Ich muß heute nacht an Bord +nach Indien, und muß vorher meine Arbeit getan haben. +Eine Minute. Mehr nicht!“</p> + +<p>Dorians Arme sanken herab. Von Todesangst gelähmt, +wußte er nicht, was er beginnen sollte. Plötzlich zuckte eine +jähe Hoffnung in seinem Gehirn auf. „Halt!“ schrie er. +„Wie lang ist es her, daß Ihre Schwester gestorben ist? +Rasch, sagen Sie!“</p> + +<p>„Achtzehn Jahre“, sagte der Mann. „Warum fragst +du? Was machen die Jahre?“</p> + +<p>„Achtzehn Jahre!“ lachte Dorian mit einem triumphierenden +Ton in seiner Stimme. „Achtzehn Jahre! +Bringen Sie mich unter die Laterne und sehen Sie mein +Gesicht an!“</p> + +<p>James Vane zögerte einen Augenblick und begriff nicht, +was er meinte. Dann packte er Dorian Gray und schleifte +ihn aus dem Torweg heraus.</p> + +<p>So dunkel und flackernd das windverwehte Licht auch +war, es genügte doch, ihm den furchtbaren Irrtum zu +zeigen, in den er geraten zu sein schien. Denn das Antlitz +des Mannes, den er töten wollte, wies die ganze Blütenweichheit +der Jugend auf, zeigte all die unbefleckte Reinheit +der Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling +von zwanzig Lenzen, kaum älter, als seine Schwester gewesen +war, als sie vor so vielen Jahren Abschied voneinander<a class="pagenum" name="Page_292" title="292"> </a> +genommen hatten. Es war klar, daß dies nicht der +Mann war, der ihr Leben zerstört hatte.</p> + +<p>Er ließ seine Faust von ihm los und taumelte zurück. +„Mein Gott, mein Gott!“ rief er aus, „und ich hätte Sie +fast ermordet!“</p> + +<p>Dorian Gray schöpfte tief Atem. „Sie waren dicht +daran, ein furchtbares Verbrechen zu begehen, Mann“, +sagte er mit einem strengen Blick. „Lassen Sie sich das eine +Warnung sein, eine Rache nicht mit eigener Hand zu übernehmen.“</p> + +<p>„Verzeihen Sie mir, Herr!“ stammelte James Vane. +„Ich habe mich täuschen lassen. Ein zufälliges Wort, das +ich in der verfluchten Kneipe hörte, brachte mich auf die +falsche Spur.“</p> + +<p>„Sie sollten lieber nach Hause gehen und Ihre Pistole +wegtun, sonst kommen Sie noch in Ungelegenheiten“, +sagte Dorian, drehte sich um und ging langsam die Straße +hinunter.</p> + +<p>James Vane stand voller Entsetzen auf dem Pflaster. Er +zitterte von Kopf bis Fuß. Nach einer kleinen Weile bewegte +sich ein schwarzer Schatten, der längs der regenfeuchten +Wand hingeschlichen war, ins Licht hinaus und +glitt mit verstohlenen Schritten an seine Seite. Er spürte +eine Hand auf seinem Arm und drehte sich mit jähem Ruck +um. Es war eines der Weiber, die am Büfett getrunken +hatten.</p> + +<p>„Warum hast du ihn nicht umgebracht?“ zischte sie und +brachte ihr verlebtes Gesicht ganz dicht an das seine. „Ich +wußte, daß du ihm folgtest, als du aus Dalys Haus fortranntest.<a class="pagenum" name="Page_293" title="293"> </a> +Du Narr! Du hättest ihn totschlagen sollen. Er +hat einen Haufen Geld und ist schlechter als sonst wer.“</p> + +<p>„Er ist nicht der Mann, den ich suche,“ antwortete er, +„und ich suche keines Menschen Geld. Ich such' eines Menschen +Leben. Der Mann, dessen Leben ich suche, muß jetzt +an die Vierzig sein. Der da war fast noch ein Knabe. Ich +danke Gott, daß nicht sein Blut an meinen Händen klebt.“</p> + +<p>Das Weib stieß ein bitteres Lachen aus. „Fast noch ein +Knabe!“ höhnte sie. „Wahrhaftig, Mensch, es ist fast +achtzehn Jahre her, seit Prinz Märchenschön das aus mir +gemacht hat, was ich heute bin!“</p> + +<p>„Du lügst!“ schrie James Vane.</p> + +<p>Sie hob die Hände gen Himmel. „Bei Gott, ich sage die +Wahrheit!“ rief sie.</p> + +<p>„Bei Gott?“</p> + +<p>„Du kannst mich kaltmachen, wenn es nicht so ist. Er ist +der Schlechteste von allen, die herkommen. Sie sagen, er +hat dem Teufel seine Seele für sein hübsches Gesicht verkauft. +Es sind fast achtzehn Jahre, daß ich ihn kennenlernte. +Er hat sich seitdem wenig verändert. Ich um so +mehr“, fügte sie mit einem traurigen Blinzeln hinzu.</p> + +<p>„Beschwörst du das?“</p> + +<p>„Ich schwöre es“, klang es wie ein heiseres Echo aus +ihrem entstellten Munde. „Aber verrate mich ihm nicht“, +winselte sie; „ich habe Angst vor ihm. Gib mir 'n paar +Groschen zum Nachtquartier.“</p> + +<p>Mit einem Fluch riß er sich von ihr los und stürzte an +die Straßenecke; aber Dorian Gray war verschwunden. +Als er zurückblickte, war auch das Weib schon weg.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_294" title="294"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Siebzehntes_Kapitel" id="Siebzehntes_Kapitel"></a>Siebzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Eine Woche später saß Dorian Gray im Gewächshaus +von Selby Royal und plauderte mit der hübschen Herzogin +von Monmouth, die sich mit ihrem Gatten, einem ermüdet +aussehenden Manne von sechzig Jahren, unter seinen +Gästen befand. Es war zur Teezeit, und das sanfte Licht +der großen, mit einem Spitzenschleier verhängten Lampe, +die auf dem Tische stand, erleuchtete das kostbare Porzellan +und das getriebene Silberservice, das neben der +Herzogin stand. Ihre weißen Hände machten sich zierlich +zwischen den Tassen zu schaffen, und ihre vollen, roten +Lippen lächelten über etwas, das ihr Dorian zugeflüstert +hatte. Lord Henry lag zurückgelehnt in einem mit Silberseide +bezogenen Rohrsessel und sah beide an. Auf einem +pfirsichfarbenen Diwan saß Lady Narborough und tat so, +als ob sie der Beschreibung des Herzogs zuhörte, die den +letzten brasilianischen Käfer betraf, den er seiner Sammlung +einverleibt hatte. Drei junge Leute in gewählter Gesellschaftstoilette +boten den Damen Teekuchen an. Die Gesellschaft +bestand aus zwölf Personen, und für den nächsten +Tag wurden noch einige erwartet.</p> + +<p>„Worüber sprecht ihr beide?“ fragte Lord Henry, +während er gemächlich zu dem Teetisch ging und seine Tasse +niederstellte. „Ich hoffe, Dorian hat dir von meinem +Plan, alles umzutaufen, erzählt, Gladys. Es ist eine allerliebste +Idee.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_295" title="295"> </a></p> + +<p>„Aber ich will nicht umgetauft werden, Harry“, erwiderte +die Herzogin und sah ihn mit ihren reizend schönen +Augen an. „Ich bin mit meinem Namen ganz zufrieden +und ich denke, Herr Gray kann auch mit seinem zufrieden +sein.“</p> + +<p>„Meine teure Gladys, ich würde um keinen Preis der +Welt einen der beiden Namen umändern wollen. Sie sind +beide vollendet. Ich dachte hauptsächlich an Blumen. +Gestern schnitt ich mir eine Orchidee für mein Knopfloch. Es +war eine wundervoll gesprenkelte Blume, so wirkungsvoll +wie die sieben Todsünden. In einem Anfall von Gedankenträgheit +fragte ich einen der Gärtner, wie sie heiße. Er sagte +mir, es sei ein schönes Exemplar der Robinsoniana oder +irgendeine derartige gräßliche Bezeichnung. Es ist eine +traurige Wahrheit, aber wir haben die glückliche Gabe +verloren, den Dingen schöne Namen zu geben. Und +Namen sind alles. Ich kämpfe nie gegen Taten an. Mein +einziger Kampf richtet sich gegen die Worte. Das ist der +Grund, weshalb ich den vulgären Realismus in der +Literatur verabscheue. Der Mann, der imstande ist, +einen Spaten einen Spaten zu nennen, sollte gezwungen +werden, selbst einen in die Hand zu nehmen. Es ist die +einzige Sache, zu der er tauglich wäre.“</p> + +<p>„Wie sollen wir also dich nennen, Harry?“ fragte sie.</p> + +<p>„Sein Name ist Prinz Paradox“, sagte Dorian.</p> + +<p>„Der wird sofort akzeptiert!“ rief die Herzogin.</p> + +<p>„Ich will ihn nicht hören“, lachte Lord Henry und ließ +sich in ein Fauteuil fallen. „Vor einem solchen Etikettchen +kann man sich nicht retten. Ich weise den Titel zurück.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_296" title="296"> </a></p> + +<p>„Fürstlichkeiten können nicht abdanken“, warnten ihn +schöne Lippen.</p> + +<p>„Du willst also, daß ich meinen Thron verteidige?“</p> + +<p>„Ja.“</p> + +<p>„Ich sage die Wahrheiten von morgen.“</p> + +<p>„Ich ziehe die Irrtümer von heute vor“, antwortete +sie.</p> + +<p>„Du entwaffnest mich, Gladys!“ rief er, entzückt von +ihrer übermütigen Laune.</p> + +<p>„Deines Schildes, Harry, nicht deines Speeres.“</p> + +<p>„Ich kämpfe nie gegen Schönheit“, sagte er mit einer +huldigenden Handbewegung.</p> + +<p>„Das ist dein Fehler, Harry, glaube mir's. Du überschätzest +die Schönheit.“</p> + +<p>„Wie kannst du das sagen? Ich gebe zu, daß ich es für +besser halte, schön zu sein als gut. Aber andererseits ist +niemand eher als ich bereit zuzugeben, daß es besser ist, +gut zu sein als häßlich.“</p> + +<p>„Dann also ist Häßlichkeit eine der sieben tödlichen Sünden?“ +rief die Herzogin. „Wie steht es nun mit deinem +<ins title="Orchideengleichnis?">Orchideengleichnis?“</ins></p> + +<p>„Häßlichkeit ist eine von den sieben tödlichen Tugenden, +Gladys. Du als gute Tory darfst sie nicht unterschätzen. +Das Bier, die Bibel und die sieben tödlichen Tugenden +haben aus England gemacht, was es heute ist.“</p> + +<p>„Du liebst also dein Vaterland nicht?“ fragte sie.</p> + +<p>„Ich lebe darin.“</p> + +<p>„Damit du es besser tadeln kannst.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_297" title="297"> </a></p> + +<p>„Sähest du es lieber, daß ich mir das Urteil Europas +über unser Land aneigne?“ fragte er.</p> + +<p>„Was sagt man von uns?“</p> + +<p>„Daß Tartüff nach England ausgewandert sei und dort +einen Laden aufgemacht habe.“</p> + +<p>„Ist das von dir, Harry?“</p> + +<p>„Ich schenke es dir.“</p> + +<p>„Ich kann's nicht gebrauchen. Es ist zu wahr.“</p> + +<p>„Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Unsere Landsleute +erkennen sich nie in ihrem Steckbrief wieder.“</p> + +<p>„Du bist so praktisch.“</p> + +<p>„Eher gerissen als praktisch. Wenn sie ihr Kontokorrent +abschließen, dann saldieren sie Dummheit mit Reichtum +und Laster mit Heuchelei.“</p> + +<p>„Und doch haben wir große Dinge vollbracht.“</p> + +<p>„Große Dinge sind uns auferlegt worden, Gladys.“</p> + +<p>„Wir haben ihre Last zu tragen vermocht.“</p> + +<p>„Nur bis zur Börse.“</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube an unsere Rasse!“ +rief sie.</p> + +<p>„Sie vertritt den überlebenden Ellbogenstreber.“</p> + +<p>„Sie hat das Zeug zur Entwicklung.“</p> + +<p>„Verfall reizt mich mehr.“</p> + +<p>„Und die Kunst?“ fragte sie.</p> + +<p>„Eine Krankheit.“</p> + +<p>„Liebe?“</p> + +<p>„Einbildung.“</p> + +<p>„Religion?“</p> + +<p>„Modesurrogat für den Glauben.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_298" title="298"> </a></p> + +<p>„Du bist ein Skeptiker!“</p> + +<p>„Niemals! Skeptizismus ist der Anfang des Glaubens.“</p> + +<p>„Was bist du?“</p> + +<p>„Definieren heißt beschränken.“</p> + +<p>„Reich mir den Ariadnefaden!“</p> + +<p>„Fäden zerreißen. Du wurdest deinen Weg im Labyrinth +verlieren.“</p> + +<p>„Du machst mich wirre. Laß uns von einem anderen +sprechen.“</p> + +<p>„Unser Wirt ist ein entzückendes Thema. Vor vielen +Jahren nannte man ihn den Prinz Märchenschön.“</p> + +<p>„Ach! Erinnere mich nicht daran!“ rief Dorian Gray.</p> + +<p>„Unser Wirt ist recht greulich heute abend“, antwortete +die Herzogin und errötete. „Er denkt wohl, Monmouth +habe mich nur aus wissenschaftlichen Gründen geheiratet, +weil ich das beste Musterbeispiel eines modernen Schmetterlings +bin.“</p> + +<p>„Ich hoffe aber, er wird Sie nicht auf Stecknadeln +spießen, Frau Herzogin“, lachte Dorian.</p> + +<p>„Oh! Das besorgt schon meine Kammerjungfer, Herr +Gray, wenn sie sich über mich ärgert.“</p> + +<p>„Und worüber ärgert sie sich, Frau Herzogin?“</p> + +<p>„Über die geringsten Dinge, Herr Gray, glauben Sie +nur! Gewöhnlich, wenn ich zehn Minuten vor neun nach +Hause komme und ihr sage, daß ich bis halb neun angezogen +sein muß.“</p> + +<p>„Wie unvernünftig von ihr! Sie sollten ihr den Laufpaß +geben!“</p> + +<p>„Das wag' ich nicht, Herr Gray. Sie erfindet nämlich<a class="pagenum" name="Page_299" title="299"> </a> +meine Hüte. Sie erinnern sich nicht an den Hut, den ich +auf Lady Hilstones Gartenfest getragen habe? Natürlich +nicht, aber es ist hübsch von Ihnen, daß Sie so tun. Also +der war geradezu aus nichts gemacht. Alle guten Hüte +werden aus nichts gemacht.“</p> + +<p>„Wie jeder gute Ruf, Gladys!“ unterbrach Lord Henry. +„Jede Wirkung, die man erzielt, schafft uns einen +Feind. Man muß eine Mittelmäßigkeit sein, wenn man +eine Beliebtheit sein will.“</p> + +<p>„Nicht unter Frauen“, sagte die Herzogin und schüttelte +den Kopf; „und Frauen regieren die Welt. Ich behaupte +steif und fest, wir können Mittelmäßigkeiten nicht vertragen. +Wir Frauen, hat mal jemand gesagt, lieben mit +den Ohren, gerade so, wie ihr Männer mit den Augen +liebt, wenn ihr überhaupt liebt.“</p> + +<p>„Es scheint mir, daß wir überhaupt nie etwas anderes +tun“, flüsterte Dorian.</p> + +<p>„Ach! Herr Gray, dann lieben Sie nie in Wirklichkeit“, +antwortete die Herzogin wie in spöttischer Trauer.</p> + +<p>„Meine liebe Gladys.“ rief Lord Henry. „Wie kannst +du das sagen? Die Romantik lebt von Wiederholung, +und die Wiederholung verwandelt jeden Anreiz in Kunst. +Übrigens, jedesmal, wenn man liebt, ist es das erstemal, +daß man geliebt hat. Die Verschiedenheit des Objektes +verändert die Einzigkeit der Leidenschaft nicht. Sie macht +sie nur stärker. Wir können im Leben bestenfalls nur ein +einziges großes Erlebnis haben, und das Geheimnis des +Lebens besteht darin, dieses Erlebnis so oft als möglich zu +wiederholen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_300" title="300"> </a></p> + +<p>„Selbst wenn es einen verwundet hat, Harry?“ fragte +die Herzogin nach einer Pause.</p> + +<p>„Besonders wenn es einen verwundet hat“, entgegnete +Lord Henry.</p> + +<p>Die Herzogin wandte sich um und sah Dorian Gray an +mit einem seltsamen Ausdruck in ihren Augen. „Was sagen +Sie dazu, Herr Gray?“ forschte sie.</p> + +<p>Dorian zögerte einen Augenblick. Dann warf er den +Kopf zurück und lachte. „Ich stimme mit Harry immer +überein, Frau Herzogin.“</p> + +<p>„Auch wenn er unrecht hat?“</p> + +<p>„Harry hat nie unrecht, Frau Herzogin.“</p> + +<p>„Und macht Sie seine Philosophie glücklich?“</p> + +<p>„Glück habe ich nie gesucht. Wer braucht Glück? Ich +habe Vergnügen gesucht.“</p> + +<p>„Und gefunden, Herr Gray?“</p> + +<p>„Oft. Zu oft.“</p> + +<p>Die Herzogin seufzte. „Ich suche Frieden,“ sagte sie, +„und wenn ich jetzt nicht gehe und mich anziehe, habe ich +ihn heut abend nicht.“</p> + +<p>„Lassen Sie mich Ihnen ein paar Orchideen holen, +Frau Herzogin!“ rief Dorian, sprang auf und ging ins +Gewächshaus hinunter.</p> + +<p>„Du flirtest ganz schändlich mit ihm“, sagte Lord Henry +zu seiner Kusine. „Du solltest dich lieber in acht nehmen. +Er kann sehr faszinieren.“</p> + +<p>„Wenn er es nicht könnte, gäb's keinen Kampf.“</p> + +<p>„Also Griechen kämpfen gegen Griechen?“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_301" title="301"> </a></p> + +<p>„Ich bin auf seiten der Trojaner. Sie kämpften für ein +Weib.“</p> + +<p>„Sie wurden besiegt.“</p> + +<p>„Es gibt ärgere Dinge als Gefangenschaft“, erwiderte +sie.</p> + +<p>„Du galoppierst mit verhängtem Zügel.“</p> + +<p>„Das Tempo macht Leben“, war die Antwort.</p> + +<p>„Ich will mir das heut abend in mein Tagebuch schreiben.“</p> + +<p>„Was?“</p> + +<p>„Daß ein gebranntes Kind das Feuer liebt.“</p> + +<p>„Ich bin noch nicht einmal versengt. Meine Flügel +sind unberührt.“</p> + +<p>„Du gebrauchst sie zu allem, nur nicht zur Flucht.“</p> + +<p>„Der Mut ist von den Männern zu den Frauen gewandert. +Das ist ein neues Erlebnis für uns.“</p> + +<p>„Du hast eine Rivalin.“</p> + +<p>„Wen?“</p> + +<p>Er lachte. „Lady Narborough“, flüsterte er. „Sie betet +ihn an.“</p> + +<p>„Du machst mir Angst. Die Beschwörung des Altertums +ist für uns Romantiker stets gefährlich.“</p> + +<p>„Romantiker! Du hast alle Methoden der Wissenschaft.“</p> + +<p>„Männer haben uns erzogen.“</p> + +<p>„Aber nicht erklärt.“</p> + +<p>„Gib uns eine Definition unseres Geschlechtes“, forderte +sie ihn heraus.</p> + +<p>„Sphinxe ohne Geheimnisse.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_302" title="302"> </a></p> + +<p>Sie sah ihn lächelnd an. „Wie lange Herr Gray wegbleibt“, +sagte sie. „Wir wollen ihm helfen. Ich habe ihm +noch nicht einmal die Farbe meines Kleides angegeben.“</p> + +<p>„Pah! Du mußt dein Kleid seinen Blumen anpassen, +Gladys.“</p> + +<p>„Das wäre eine zu frühe Übergabe.“</p> + +<p>„Die romantische Kunst beginnt mit dem Höhepunkt.“</p> + +<p>„Ich muß mir die Möglichkeit des Rückzuges offen +halten.“</p> + +<p>„Wie die Parther?“</p> + +<p>„Sie fanden Schutz in der Wüste. Mir wäre das nicht +möglich.“</p> + +<p>„Man läßt den Frauen nicht immer die Wahl“, entgegnete +er; aber kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, +als von dem äußersten Winkel des Gewächshauses +her ein unterdrücktes Stöhnen kam, dem das dumpfe Gerausch +eines schweren Falles folgte. Alles sprang auf. +Die Herzogin stand regungslos da vor Schreck. Mit ängstlichen +Augen stürzte Lord Henry durch die wehenden +Fächer der Palmen und fand Dorian Gray in einer +todesähnlichen Ohnmacht am Boden liegend, mit dem Gesicht +auf den kühlen Fliesen.</p> + +<p>Er wurde sofort in den blauen Salon gebracht und auf +ein Sofa gelegt. Nach einer kurzen Weile kam er wieder +zu sich und sah sich verstört um.</p> + +<p>„Was ist geschehen?“ fragte er. „Ach! jetzt fällt mir's +ein. Bin ich hier sicher, Harry?“ Er begann zu zittern.</p> + +<p>„Mein lieber Dorian,“ antwortete Lord Henry, „es war +ein Ohnmachtsanfall. Weiter nichts. Du mußt dich wohl<a class="pagenum" name="Page_303" title="303"> </a> +übermüdet haben. Komm lieber nicht zum Diner hinunter. +Ich werde dich vertreten.“</p> + +<p>„Nein, ich will herunterkommen“, sagte er und mühte +sich, auf den Füßen zu stehen. „Ich komme lieber herunter! +Ich darf nicht allein sein.“</p> + +<p>Er ging in sein Zimmer und zog sich um. Als er bei +Tisch saß, war in seinem Gehaben eine wilde, übermütige +Lustigkeit, aber hin und wieder überlief ihn ein Angstschauer, +wenn er sich erinnerte, daß er, gegen die Fensterscheiben +des Gewächshauses gepreßt, das lauernde Gesicht +James Vanes wie ein weißes Tuch erblickt hatte.</p> + +<h2><a name="Achtzehntes_Kapitel" id="Achtzehntes_Kapitel"></a>Achtzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Am nächsten Tage verließ er das Haus nicht und verbrachte +den größten Teil der Zeit in seinem Zimmer, +durchrüttelt von einer wilden Todesfurcht und dem Leben +gegenüber doch gleichgültig. Das Bewußtsein, gejagt, umzingelt, +aufgestöbert zu werden, fing an, ihn gänzlich zu +beherrschen. Wenn nur die Vorhänge im Winde rauschten, +schrak er zusammen. Die toten Blätter, die gegen die verbleiten +Scheiben gefegt wurden, schienen ihm seine eigenen +vergeudeten Vorsätze und ungestümen Gewissensbisse zu +sein. Wenn er die Augen schloß, sah er wieder das Gesicht +des Matrosen vor sich, wie es durch das feuchtbeschlagene +Glas stierte, und das Entsetzen schien ihm noch einmal seine +Hand aufs Herz zu legen.</p> + +<p>Aber vielleicht war es nur seine Phantasie gewesen, die<a class="pagenum" name="Page_304" title="304"> </a> +die Rache aus der Nacht heraufbeschworen und ihm die +gräßliche Gestalt der Strafe vorgetäuscht hatte. Das wirkliche +Leben war ein Chaos, aber es war eine furchtbare +Logik in der Phantasie. Die Phantasie hetzte die Gewissensbisse +hinter den flüchtigen Sohlen der Sünde her. +Die Phantasie ließ jedes Verbrechen seine mißgestaltete +Brut in sich tragen. In der gewöhnlichen Welt der Tatsachen +wurden die Schlechten so wenig bestraft wie die +Guten belohnt. Der Erfolg gehörte den Starken, Unglück +machte die Schwachen unterliegen. Das war alles. Zudem, +wenn ein Fremder um das Haus herumgestrolcht +wäre, so hätten ihn die Diener oder Wächter entdeckt. +Wären irgendwelche Fußtapfen in den Beeten bemerkt +worden, so hätten es die Gärtner gemeldet. Ja: es war +alles bloße Einbildung. Sybil Vanes Bruder war nicht +zurückgekommen, um ihn zu ermorden. Er war mit seinem +Schiff abgesegelt, um in irgendeiner arktischen See zu ertrinken. +Vor dem war er also sicher. Der Mann wußte +gar nicht, wer er war und konnte es nicht wissen. Die +Maske der Jugend hatte ihn gerettet.</p> + +<p>Und doch, wenn es eine bloße Ausgeburt der Einbildung +gewesen war, wie schrecklich war doch der Gedanke, +daß das Gewissen so fürchterliche Hirngespinste entstehen +lassen und ihnen sichtbare Form und Bewegung geben +konnte! Was für eine Art Leben würde er führen, wenn +Tag und Nacht die Schatten seines Verbrechens aus düsteren +Winkeln nach ihm spähten, ihn von geheimen Stellen +aus neckten, ihm ins Ohr flüsterten, wenn er beim Mahle +saß, ihn mit eisigen Fingern weckten, wenn er schlief! Als<a class="pagenum" name="Page_305" title="305"> </a> +dieser Gedanke durch sein Hirn kroch, wurde er blaß vor +Schrecken, und die Luft schien ihm plötzlich kälter geworden +zu sein. Oh! in was für einer wilden Wahnsinnsstunde +hatte er seinen Freund umgebracht! Wie bluterstarrend +war nur die Erinnerung an diese Szene! Er sah es alles +wieder. Jede gräßliche Einzelheit kam mit vermehrtem +Entsetzen wieder zu ihm. Aus dem schwarzen Grabverlies +der Zeit stieg schrecklich und in Scharlachrot gehüllt das +Bild seiner Sünde empor. Als Lord Henry um sechs Uhr +eintrat, fand er ihn schluchzend, als ob ihm das Herz +brechen wolle.</p> + +<p>Erst am dritten Tage wagte er auszugehen. Es lag +etwas in der klaren, tannenduftenden Luft dieses Wintermorgens, +das ihm seine Fröhlichkeit und seine Lebenslust +wiederzugeben schien. Aber nicht nur die physischen Bedingungen +seiner Umgebung hatten diese Wandlung zuwege +gebracht. Seine eigene Natur hatte sich gegen das Übermaß +der Angst empört, die ihre vollendete Ruhe zu stören +und zu vernichten versucht hatte. Mit feinen und subtil +organisierten Temperamenten ist es immer so. Ihre heftigen +Leidenschaften können nur Hammer oder Amboß +sein. Entweder töten sie den Menschen oder sterben selbst. +Oberflächliche Sorgen, oberflächliche Liebesempfindungen +können weiter leben. Tiefe Liebesempfindungen und große +Sorgen gehen durch ihre eigene Überfülle zugrunde. Überdies +hatte er sich jetzt überzeugt, daß er das Opfer einer +erschreckten Einbildungskraft gewesen war, und sah jetzt auf +seine Ängste mit einer Art Mitleid und nicht geringer Verachtung +zurück.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_306" title="306"> </a></p> + +<p>Nach dem Frühstück ging er mit der Herzogin ein +Stündchen im Garten spazieren und fuhr dann durch den +Park, um mit der Jagdgesellschaft zusammenzutreffen. +Der feinperlige Reif lag wie Salz auf dem Rasen. Der +Himmel sah aus wie ein umgestülpter Pokal aus blauem +Metall. Ein dünner Eisgallert umsäumte den seichten, +schilfbewachsenen Teich.</p> + +<p>Am Eingang des Tannenwaldes erblickte er Sir Geoffrey +Clouston, den Bruder der Herzogin, der eben zwei +verschossene Patronen aus seiner Flinte stieß. Dorian +sprang aus dem Wagen, sagte dem Groom, er solle mit +dem Gespann nach Hause fahren, und ging durch das welke +Farnkraut und das gestrüppige Unterholz auf seinen +Gast zu.</p> + +<p>„Gute Jagd gehabt, Geoffrey?“ fragte er.</p> + +<p>„Nicht berühmt, Dorian. Die meisten Vögel, glaub' ich, +sind auf die Felder geflüchtet. Vielleicht wird's nachmittag +besser sein, wenn wir auf frisches Revier kommen.“</p> + +<p>Dorian schlenderte neben ihm weiter. Die starke, aromatische +Luft, die braunen und roten Lichter, die den Wald +durchflimmerten, das rauhe Geschrei der Treiber, das von +Zeit zu Zeit aufgellte, und der scharfe Knall der Flinten, +der dann folgte, das alles fesselte ihn und erfüllte ihn mit +einem Gefühl entzückender Freiheit. Er war beherrscht von +einem sorglosen Glück, von einer großartigen Gleichgültigkeit +der Freude.</p> + +<p>Plötzlich brach aus einem dicken Büschel alten Grases, +vielleicht zwanzig Meter vor ihnen, ein Hase aus, die +schwarzgesprenkelten Löffel steif aufgerichtet und die langen<a class="pagenum" name="Page_307" title="307"> </a> +Hinterläufe nach vorn werfend. Er schnellte auf ein +Erlendickicht los. Sir Goeffrey riß das Gewehr an die +Schulter, aber in der anmutigen Bewegung des Tieres +lag etwas, das Dorian Gray seltsam entzückte, und er +rief hastig: „Schieß nicht, Geoffrey. Laß ihn laufen!“</p> + +<p>„Ach, Unsinn, Dorian“, sagte lachend sein Gefährte, +und noch ehe der Hase in das Dickicht setzte, schoß er zu. +Man hörte zwei Schreie, den Schrei eines verwundeten +Hasen, der schrecklich ist, und den Schrei eines sterbenden +Menschen, der noch schrecklicher ist.</p> + +<p>„Gott im Himmel, ich habe einen Treiber getroffen!“ +rief Sir Geoffrey aus. „Was für 'n Esel der Mann ist, +einem direkt vors Gewehr zu laufen! Hört auf mit Schießen!“ +rief er mit seiner lautesten Stimme. „Ein Mann ist +getroffen worden!“</p> + +<p>Der Hegemeister kam mit einem Stock in der Hand herbeigelaufen.</p> + +<p>„Wo, Herr? Wo ist er?“ rief er. Im selben Augenblick +hörte das Schießen auf der ganzen Linie auf.</p> + +<p>„Hier!“ antwortete Sir Geoffrey ärgerlich und rannte +auf das Dickicht zu. „Warum, zum Kuckuck, halten Sie +Ihre Leute nicht weiter zurück? Für heute hab' ich die +ganze Jagd im Magen.“</p> + +<p>Dorian sah ihnen nach, wie sie in die Erlenbüsche eindrangen +und die biegsamen Zweige zur Seite bogen. Nach +einigen Augenblicken erschienen sie wieder und zogen einen +Körper ans Tageslicht. Er wandte sich entsetzt ab. Es schien +ihm, als folge ihm das Mißgeschick überallhin. Er hörte, +wie Sir Geoffrey fragte, ob der Mann wirklich tot wäre,<a class="pagenum" name="Page_308" title="308"> </a> +und vernahm die bejahende Antwort des Hegemeisters. +Es schien ihm, als wimmele der Wald urplötzlich von Gesichtern. +Er hörte das Gelaufe von unzähligen Füßen +und das gedämpfte Flüstern von Stimmen. Ein großer +Fasan mit kupferfarbener Brust rauschte durch die Äste +über ihm dahin.</p> + +<p>Nach einigen Augenblicken, die ihm in seiner Fassungslosigkeit +wie endlose, peinvolle Stunden vorkamen, fühlte +er eine Hand auf seiner Schulter. Er zuckte zusammen +und wandte sich um.</p> + +<p>„Dorian,“ sagte Lord Henry, „ich halt 's für richtiger, +die Jagd für heute beendet sein zu lassen. Es würde nicht +gut aussehen, sie fortzusetzen.“</p> + +<p>„Ich wollte, sie wäre für immer beendet, Harry“, antwortete +er bitter. „Die ganze Geschichte ist gräßlich und +grausam ist der Mann...?“ Er konnte den Satz nicht +vollenden.</p> + +<p>„Ja leider“, entgegnete Lord Henry. <ins title="Er">„Er</ins> hat die ganze +Ladung in die Brust gekriegt. Er muß augenblicklich gestorben +sein. Komm, wir wollen nach Hause.“</p> + +<p>Sie schritten nebeneinander auf die Allee zu und sprachen +etwa fünfzig Meter weit kein Wort. Dann sah Dorian +Lord Henry an und sagte mit einem tiefen Seufzer: „Das +ist ein böses Omen, Harry, ein sehr böses Omen.“</p> + +<p>„Was denn?“ fragte Lord Henry. „Oh! diesen Unglücksfall +meinst du. Lieber Junge, daran ist nichts zu +ändern. Der Mann hatte ja selber schuld. Warum lief +er in die Schußlinie? Überdies ist es nicht unsere Sache. +Für Geoffrey ist es natürlich nicht gerade angenehm! Es<a class="pagenum" name="Page_309" title="309"> </a> +ist nicht hübsch, Treiber niederzupuffen. Die Leute denken +gleich, man wäre ein Sonntagsjäger. Und das ist Geoffrey +nicht; er schießt sogar brillant. Aber es hat keinen +Zweck, über den Unfall weiter zu reden.“</p> + +<p>Dorian schüttelte den Kopf. „Es ist ein böses Omen, +Harry. Ich habe das Gefühl, als müßte einem von uns +etwas Schreckliches zustoßen. Mir selbst vielleicht“, fügte +er hinzu und legte mit einer schmerzlichen Bewegung die +Hand über die Augen.</p> + +<p>Der ältere lachte. „Das einzig Schreckliche in der Welt +ist Langeweile, Dorian. Das ist die einzige Sünde, für die +es keine Vergebung gibt. Aber wir werden darunter +schwerlich zu leiden haben, wenn die Gesellschaft bei Tisch +nicht etwa noch über die Sache viel Aufhebens macht. +Ich muß den Leuten sagen, daß dieses Thema einfach +Tabu ist. Und Omina —so was wie Omina gibt's nicht. +Das Geschick sendet uns keine Herolde. Es ist zu weise +dazu oder zu grausam. Übrigens, was in aller Welt sollte +dir geschehen, Dorian? Du hast alles, was sich ein Mensch +hienieden wünschen kann. Ich wüßte niemand, der nicht +freudig mit dir tauschen möchte.“</p> + +<p>„Es gibt keinen, mit dem ich nicht tauschen möchte, +Harry. Lach' nicht darüber. Ich spreche die Wahrheit. +Der elende Bauer, der da gestorben ist, ist besser daran +als ich. Ich habe keine Angst vor dem Tode. Das Sterben +ist's, wovor ich mich <ins title="änstige">ängstige</ins>. Seine ungeheuren Flügel +scheinen mich rings in der bleiernen Luft zu umschatten. +Herr des Himmels, siehst du nicht, daß da hinter den Bäumen +ein Mann auf mich lauert und mich beobachtet?“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_310" title="310"> </a></p> + +<p>Lord Henry sah in die Richtung, wohin die behandschuhte +Hand zitternd wies. „Ja,“ sagte er lächelnd, „ich +sehe da den Gärtner auf dich warten. Er will dich vermutlich +fragen, welche Blumen du heute auf dem Tisch +haben willst. Wie lächerlich nervös du heute bist, lieber +Junge! Du mußt gleich meinen Doktor konsultieren, wenn +wir wieder in der Stadt sind.“</p> + +<p>Dorian seufzte erleichtert auf, als er den Gärtner herankommen +sah. Der Mann legte die Hand an den Hut, +blickte erst zaudernd auf Lord Henry und zog dann einen +Brief hervor, den er seinem Herrn überreichte. „Ihre Gnaden +hat mir aufgetragen, auf Antwort zu warten“, sagte +er halblaut.</p> + +<p>Dorian steckte den Brief in die Tasche. „Sagen Sie +Ihrer Gnaden, ich würde kommen“, sagte er kühl. Der +Mann kehrte um und schritt rasch dem Hause zu.</p> + +<p>„Wie gern doch die Frauen gefährliche Dinge tun!“ +sagte Lord Henry lachend. „Das ist eine von ihren Eigenschaften, +die ich am meisten bewundere. Eine Frau ist +mit jedem auf der Welt zu flirten bereit, solange andere +Leute dabei Zuschauer sind.“</p> + +<p>„Wie gern du doch gefährliche Dinge sagst, Harry! +In diesem Falle bist du aber ganz auf dem Holzwege. Ich +habe die Herzogin sehr gern, aber ich liebe sie nicht.“</p> + +<p>„Und die Herzogin liebt dich sehr, aber sie hat dich nicht +gern, also paßt ihr beide famos zusammen.“</p> + +<p>„Du machst Klatschereien, Harry, und diesmal ist gar +kein Grund zu Klatschereien vorhanden.“</p> + +<p>„Die Grundlage für jeden Klatsch ist eine unmoralische<a class="pagenum" name="Page_311" title="311"> </a> +Verläßlichkeit“, sagte Lord Henry und zündete sich eine +Zigarette an.</p> + +<p>„Du würdest jeden von uns bloßstellen, Harry, um einen +Witz zu machen.“</p> + +<p>„Die Welt legt sich aus freien Stücken auf den Opferaltar“, +war die Antwort.</p> + +<p>„Ich wollte, ich könnte lieben!“ rief Dorian Gray mit +einem tiefpathetischen Klang in seiner Stimme. „Aber es +scheint, ich habe die Glut der Leidenschaft verloren und +die Sehnsucht des Begehrens vergessen. Ich bin zu sehr in +mich selber konzentriert. Meine eigene Person ist eine Last +für mich geworden. Ich möchte entfliehen, weggehen, vergessen. +Es war albern von mir, überhaupt herzukommen. +Ich denke, ich telegraphiere an Harvey, daß er die Jacht +instand setzt. Auf einer Jacht ist man sicher.“</p> + +<p>„Wovor sicher, Dorian? Du hast Unruhe. Warum sagst +du mir nicht, was es ist? Du weißt, daß ich dir helfen +könnte.“</p> + +<p>„Ich kann es dir nicht sagen, Harry“, erwiderte er traurig. +„Und es mag wohl alles nur Einbildung sein. Der +unglückselige Zwischenfall hat mich aus dem Gleichgewicht +gebracht. Ich habe eine schreckliche Vorahnung, daß mir +etwas Ähnliches zustößt.“</p> + +<p>„Was für Unsinn!“</p> + +<p>„Ich hoffe, es ist Unsinn, aber ich kann dies Gefühl +nicht loswerden. Ah! da kommt die Herzogin und sieht aus +wie Artemis in einem Tailormade-Kleide. Sie sehen, wir +sind zurück, Frau Herzogin.“</p> + +<p>„Ich habe schon alles gehört, Herr Gray“, antwortete<a class="pagenum" name="Page_312" title="312"> </a> +sie. „Der arme Geoffrey ist ganz außer Fassung. Und +man sagt, Sie hatten ihn gebeten, nicht auf den Hasen zu +schießen. Wie seltsam!“</p> + +<p>„Ja, es war sehr seltsam. Ich kann nicht mal sagen, +warum ich es getan habe. Eine Eingebung vermute ich. +Er sah so niedlich aus, der kleine Kerl. Aber ich bedaure +sehr, daß man Ihnen von dem Manne erzählt hat. +Es ist ein peinliches Thema.“</p> + +<p>„Es ist ein langweiliges Thema“, unterbrach ihn Lord +Henry. „Es hat keinerlei psychologischen Wert. Wenn es +Geoffrey noch absichtlich getan hätte, wie interessant wäre +es dann! Ich würde gern jemand kennenlernen, der einen +wirklichen Mord begangen hat.“</p> + +<p>„Wie abscheulich von dir“, schrie die Herzogin auf. +„Nicht war, Herr Gray? Harry, Herrn Gray ist wieder +unwohl. Er wird ohnmächtig.“</p> + +<p>Dorian hielt sich gewaltsam aufrecht und lächelte. „Es +ist nichts, Frau Herzogin,“ murmelte er, „meine Nerven +sind schrecklich in Unordnung. Nichts weiter. Ich fürchte, +ich bin heut morgen zuviel gegangen. Ich habe gar nicht +gehört, was Harry gesagt hat. War es sehr toll? Sie +müssen es mir ein andermal erzählen. Ich halte es fürs +beste, mich jetzt ein bißchen hinzulegen. Sie entschuldigen +mich, nicht wahr?“</p> + +<p>Sie hatten die große Treppe erreicht, deren Stufen vom +Gewächshaus auf die Terrasse emporführten. Als sich die +Glastür hinter Dorian geschlossen hatte, wandte sich Lord +Henry um und sah die Herzogin mit seinen schläfrigen +Augen an. „Bist du sehr in ihn verliebt?“ fragte er.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_313" title="313"> </a></p> + +<p>Sie gab eine Weile keine Antwort, sondern stand da +und blickte auf die Landschaft. „Ich möchte es selber +wissen“, sagte sie endlich.</p> + +<p>Er schüttelte den Kopf. „Wissen, wäre ein Verhängnis. +Nur die Ungewißheit hat für uns Reiz. Ein Nebel macht +die Dinge wunderbar.“</p> + +<p>„Man kann darin seinen Weg verlieren.“</p> + +<p>„Alle Wege enden am selben Punkt, meine liebe Gladys.“</p> + +<p>„Wie heißt der?“</p> + +<p>„Enttäuschung.“</p> + +<p>„So war mein Debüt im Leben“, seufzte sie.</p> + +<p>„Sie kam mit einer Krone zu dir.“</p> + +<p>„Ich bin der Erdbeerblätter in unserer Krone müde.“</p> + +<p>„Sie steht dir gut.“</p> + +<p>„Nur in der Öffentlichkeit.“</p> + +<p>„Sie würde dir fehlen“, sagte Lord Henry.</p> + +<p>„Ich werde mich von keinem Blättchen trennen.“</p> + +<p>„Monmouth hat Ohren.“</p> + +<p>„Das Alter ist schwerhörig.“</p> + +<p>„War er nie eifersüchtig?“</p> + +<p>„Ich wollte, er wäre es.“ Dabei lachte sie. Ihre Zähne +sahen aus wie weiße Kerne in einer scharlachfarbenen +Frucht. Indessen lag oben in seinem Zimmer Dorian Gray +auf einem Sofa, Schrecken in jeder zuckenden Fiber seines +Körpers. Das Leben war für ihn urplötzlich eine so +schwere Last geworden, daß er sie nicht mehr tragen konnte. +Der gräßliche Tod des unglücklichen Treibers, der in dem +Dickicht wie ein wildes Tier niedergeknallt worden war, +schien ihm selbst den Tod vorauszusagen. Er war fast in<a class="pagenum" name="Page_314" title="314"> </a> +Ohnmacht gefallen bei dem zynischen Scherz, den Lord +Henry in einer zufälligen Laune gemacht hatte.</p> + +<p>Um fünf Uhr klingelte er seinem Diener und hieß ihn +seine Sachen für den Nachtschnellzug nach London zu +packen und den Wagen für halb neun vors Tor zu bestellen. +Er war entschlossen, keine Nacht mehr in Selby +Royal zu schlafen. Es war ein Ort voll böser Vorzeichen. +Der Tod ging dort am hellen Tage um. Das Gras des +Waldes war mit Blut befleckt.</p> + +<p>Dann schrieb er ein Billett an Lord Henry, in dem er +ihm mitteilte, daß er in die Stadt fahre, um den Arzt zu +konsultieren, und ihn bat, seine Gäste in seiner Abwesenheit +zu unterhalten. Als er die Zeilen in ein Kuvert legte, +klopfte es an die Tür, und sein Diener meldete ihm, daß +ihn der Hegemeister sprechen wolle. Er runzelte die Stirn +und biß sich auf die Lippen. „Lassen Sie ihn eintreten“, +murmelte er nach einigem Zögern.</p> + +<p>Während der Mann eintrat, holte Dorian sein Scheckbuch +aus einer Schublade hervor und legte es vor sich +hin.</p> + +<p>„Sie kommen vermutlich wegen des Unglücksfalles von +heute morgen, Thornton“, sagte er und nahm eine Feder +auf.</p> + +<p>„Ja, Herr“, antwortete der Hegemeister.</p> + +<p>„War der arme Kerl verheiratet? Hatte er Angehörige +zu versorgen?“ fragte Dorian mit einem müden Gesicht. +„Wenn sich's so verhält, möchte ich nicht, daß sie in Not +zurückbleiben, und ich will ihnen jede Summe schicken, die +Sie für notwendig halten.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_315" title="315"> </a></p> + +<p>„Wir wissen nicht, wer es ist, gnädiger Herr. Deshalb +war ich so frei, herzukommen.“</p> + +<p>„Sie wissen nicht, wer es ist?“ sagte Dorian zerstreut. +„Wie meinen Sie das? War es nicht einer von Ihren +Leuten?“</p> + +<p>„Nein Herr. Ich hab' ihn mein Lebtag nicht gesehen. +Er sieht aus wie ein Matrose, gnädiger Herr.“</p> + +<p>Die Feder fiel Dorian Gray aus der Hand, und er +hatte das Gefühl, als höre sein Herz plötzlich zu schlagen +auf. „Ein Matrose!“ schrie er auf. „Sagten Sie, ein +Matrose?“</p> + +<p>„Ja, gnädiger Herr. Er sieht aus wie ein Matrose; +auf beiden Armen tätowiert und überhaupt so in der Art.“</p> + +<p>„Hat man irgend etwas bei ihm gefunden?“ fragte +Dorian, beugte sich vor und sah den Mann mit aufgerissenen +Augen an. „Irgend etwas, woraus man seinen Namen +erführe?“</p> + +<p>„Nur Geld, gnädiger Herr — nicht viel, und einen +sechsläufigen Revolver. Nichts von Namen. Der Mann +sieht sonst anständig aus, aber gewöhnlich. Wir halten ihn +für eine Art Matrosen.“</p> + +<p>Dorian sprang auf die Füße. Eine furchtbare Hoffnung +durchblitzte ihn. Er klammerte sich wahnsinnig an sie an. +„Wo ist der Leichnam?“ rief er aus. „Rasch, ich muß +ihn sofort sehen.“</p> + +<p>„Er liegt in einem leeren Stall im Wirtschaftsgebäude, +gnädiger Herr. Die Leute wollen so was nicht in ihren +vier Wänden haben. Sie sagen, eine Leiche bringt Unglück.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_316" title="316"> </a></p> + +<p>„Im Wirtschaftsgebäude! Gehen Sie sogleich voraus +und warten Sie da auf mich. Sagen Sie einem der +Grooms, er soll mein Pferd herbringen. Nein. Lieber +nicht. Ich will selbst in den Stall kommen. Das geht +rascher.“</p> + +<p>Kaum eine Viertelstunde später galoppierte Dorian, +so rasch er konnte, die lange Allee hinunter. Die Bäume +schienen in gespenstischer Parade an ihm vorbeizufliegen +und ihm wilde Schatten in den Weg zu schleudern. Einmal +scheute die Stute vor einem weißen Pfahle und warf ihn +fast ab. Er schlug ihr die Gerte um den Hals. Sie durchschnitt +die dunkle Luft wie ein Pfeil. Die Steine stoben +unter ihren Hufen.</p> + +<p>Endlich erreichte er das Wirtschaftsgebäude. Zwei Männer +lungerten im Hof herum. Er sprang aus dem Sattel +und warf einem die Zügel hin. In dem letzten Stall +flimmerte ein Licht. Irgend etwas schien ihm zu sagen, +daß dort der Leichnam liege, und er ging rasch auf die +Tür zu und legte die Hand auf die Klinke.</p> + +<p>Da hielt er einen Augenblick inne und wurde sich bewußt, +daß er vor der Schwelle einer Entdeckung stehe, +die ihm entweder ein neues Leben gab oder es zerstörte. +Dann stieß er die Tür auf und trat ein.</p> + +<p>Auf einem Haufen Säcke im entferntesten Winkel lag +der tote Körper eines Mannes, bekleidet mit einem groben +Blusenhemd und blauen Hosen. Ein unsauberes Taschentuch +war ihm übers Gesicht gebreitet worden. Eine billige +Kerze steckte in einer Flasche und flackerte düster.</p> + +<p>Dorian Gray schauerte. Er fühlte, daß er nicht mit<a class="pagenum" name="Page_317" title="317"> </a> +eigener Hand das Taschentuch wegziehen könne, und rief +nach einem der Stallknechte.</p> + +<p>„Nehmen Sie das da vom Gesicht weg. Ich will es +sehen“, sagte er und hielt sich an dem Türpfosten fest.</p> + +<p>Als es der Knecht getan hatte, machte er einen Schritt +nach vorn. Ein Freudenschrei kam von seinen Lippen. +Der Mann, der im Dickicht erschossen worden war, war +James Vane.</p> + +<p>Er stand einige Minuten da und starrte auf den toten +Körper. Als er nach Hause ritt, waren seine Augen von +Tränen umschleiert, denn er wußte jetzt, daß er gerettet +war.</p> + +<h2><a name="Neunzehntes_Kapitel" id="Neunzehntes_Kapitel"></a>Neunzehntes Kapitel</h2> + + +<p>„Es hat gar keinen Sinn, mir zu erzählen, daß du gut +werden willst!“ rief Lord Henry und tauchte seine weißen +Finger in eine rote, mit Rosenwasser gefüllte Kupferschale. +„Du bist vollkommen. Bitte ändere dich nicht.“</p> + +<p>Dorian Gray schüttelte den Kopf. „Nein, Harry, ich +habe zuviel gräßliche Dinge getan in meinem Leben. +Ich will keine mehr tun. Ich habe gestern mit meinen +guten Taten den Anfang gemacht.“</p> + +<p>„Wo warst du gestern?“</p> + +<p>„Auf dem Lande, Harry. Ich war mutterseelenallein +in einem kleinen Gasthof.“</p> + +<p>„Lieber Junge,“ sagte Lord Henry lächelnd, „auf dem +Lande kann jeder Mensch gut sein. Dort gibt's keine Versuchungen.<a class="pagenum" name="Page_318" title="318"> </a> +Das ist der Grund, warum Leute, die nicht +in der Stadt wohnen, so gänzlich unzivilisiert sind. Zivilisation +ist wahrhaftig nicht leicht zu erreichen. Es gibt nur +zwei Wege, um zu ihr zu kommen. Der eine ist Kultur, der +andere Korruption. Die Landbevölkerung hat keine Gelegenheit +zu dieser noch zu jener, und so bleiben sie so in +ihrer Entwicklung stehen.“</p> + +<p>„Kultur und Korruption“, wiederholte Dorian. „Ich +habe von beiden etwas kennengelernt. Es scheint mir jetzt +schrecklich, daß man sie immer beisammen findet. Denn +ich habe ein neues Ideal, Harry. Ich will anders werden. +Ich glaube, ich bin schon anders geworden.“</p> + +<p>„Du hast mir noch nicht berichtet, worin deine gute +Handlung bestand. Oder sagtest du nicht, du hättest mehr +als eine getan?“ fragte der Freund und schüttete sich eine +kleine rote Pyramide Erdbeeren auf seinen Teller, auf +die er aus einem muschelförmigen Sieblöffel weißen Zucker +streute.</p> + +<p>„Ich kann dir's ja erzählen, Harry. Es ist eine Geschichte, +die ich einem anderen nicht erzählen könnte. Ich +habe jemand verschont. Es klingt eitel, aber du verstehst, +was ich meine. Sie war sehr schön und hatte eine wunderbare +Ähnlichkeit mit Sibyl Vane. Ich glaube, das war das +erste, was mich bei ihr anzog. Du erinnerst dich doch noch an +Sibyl, nicht? Wie lange das her ist! Also Hetty gehörte +natürlich nicht unserem Stand an. Sie war eine Dorfschöne. +Aber ich liebte sie wirklich. Ich weiß bestimmt, +daß ich sie liebte. In dem ganzen wundervollen Maimonat, +den wir jetzt hatten, bin ich zwei-, dreimal in der Woche<a class="pagenum" name="Page_319" title="319"> </a> +hingefahren, um sie zu sehen. Gestern erwartete sie mich +in einem kleinen Obstgarten. Die Apfelblüten schneiten +auf ihr Haar herab, und sie lachte. Heute morgen in aller +Herrgottsfrühe sollte sie mit mir kommen. Plötzlich entschloß +ich mich, sie so einer Blume gleich zu lassen, wie ich +sie gefunden hatte.“</p> + +<p>„Ich vermute, die Neuheit der Empfindung muß dir +einen förmlichen Wonneschauer bereitet haben, Dorian“, +unterbrach ihn Lord Henry. „Aber ich kann dir dein +Idyll zu Ende erzählen. Du gabst ihr gute Lehren und +brachst ihr das Herz. Das ist der Anfang deiner Besserung.“</p> + +<p>„Harry, du bist schrecklich! Du darfst so häßliche Dinge +nicht sagen. Hettys Herz ist nicht gebrochen. Natürlich +weinte sie und dergleichen. Aber keine Schande ist auf sie +gekommen. Sie kann weiterleben wie Perdita in ihrem +Garten bei Pfefferminze und Ringelblumen.“</p> + +<p>„Und einem treulosen Florizel nachweinen“, rief Lord +Henry lachend und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. +„Teuerster Dorian, du hast manchmal die sonderbarsten +Knabenanwandlungen. Glaubst du, dieses Mädchen wird +sich jemals mit einem ihres eigenen Standes glücklich +fühlen? Ich vermute, sie wird eines schönen Tages +einen rohen Fuhrmann oder einen grinsenden Bauernlümmel +heiraten. Schön also, die Tatsache, daß sie dich +kennengelernt und geliebt hat, wird sie dahin bringen, +ihren Mann zu verachten, und sie wird unglücklich werden. +Vom moralischen Standpunkte aus kann ich also nicht +finden, daß deine Entsagung sehr wertvoll war. Selbst<a class="pagenum" name="Page_320" title="320"> </a> +als ein Anfang ist sie armselig. Außerdem, woher +willst du wissen, ob Hetty in diesem Augenblick nicht in +einem sternbeglänzten Mühlteich schwimmt, von lieblichen +Wasserlilien umkränzt wie Ophelia?“</p> + +<p>„Ich kann es nicht aushalten, Harry! Du spottest über +alles und beschwörst dann die ernsthaftesten Tragödien +herauf. Es tut mir jetzt leid, daß ich es dir erzählt habe. +Es kümmert mich auch nicht, was du sagst. Ich weiß, ich +habe recht gehandelt. Arme Hetty! Als ich heute früh am +Gehöft vorbeiritt, sah ich ihr Gesicht weiß wie einen +Jasminzweig am Fenster. Wir wollen nicht länger davon +reden, und du sollst nicht versuchen, mich zu überzeugen, +daß die erste gute Handlung, die ich seit Jahren getan +habe, das erste kleine Opfer, das ich jemals gebracht +habe, in Wahrheit eine Art Sünde wäre. Ich will mich +jetzt bessern. Und ich werde mich bessern. Erzähle mir etwas +von dir. Was geht in der Stadt vor? Ich war tagelang +nicht im Klub.“</p> + +<p>„Die Leute sprechen noch immer über das Verschwinden +des armen Basil.“</p> + +<p>„Ich sollte meinen, daß sie inzwischen davon genug +bekommen hätten“, sagte Dorian, während er sich etwas +Wein einschenkte und leicht die Stirn runzelte.</p> + +<p>„Mein lieber Junge, sie reden ja erst seit sechs Wochen +davon, und das englische Publikum ist wirklich nicht der +geistigen Anstrengung gewachsen, alle drei Monate mehr +als ein Gesprächsthema zu haben. Immerhin haben sie +in der letzten Zeit Glück gehabt. Sie hatten meinen eigenen +Ehescheidungsprozeß und Alan Campbells Selbstmord.<a class="pagenum" name="Page_321" title="321"> </a> +Jetzt haben sie das geheimnisvolle Verschwinden eines +Künstlers. In Scotland Yard bleibt man hartnäckig dabei, +daß der Mann im grauen Ulster, der in der Nacht des +neunten November mit dem Zwölfuhrzug nach Paris fuhr, +der arme Basil war, und die französische Polizei erklärt, +Basil wäre überhaupt nie in Paris eingetroffen. Vermutlich +wird man uns etwa in vierzehn Tagen auftischen, daß +er in San Francisco gesehen worden ist. Es ist eine +schwierige Geschichte, aber von jedem Menschen, der verschwindet, +heißt es, daß er in San Francisco gesehen +worden ist. Das muß eine entzückende Stadt sein, die alle +Reize der zukünftigen Welt ihr Eigen nennt.“</p> + +<p>„Was glaubst du, daß Basil zugestoßen sei?“ fragte +Dorian, hielt seinen Burgunder gegen das Licht und +wunderte sich, daß er über diese Sache so ruhig plaudern +konnte.</p> + +<p>„Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wenn sich Basil +ein Vergnügen daraus macht, Versteck zu spielen, so ist +das nicht meine Sache. Wenn er tot ist, will ich nicht +weiter an ihn denken. Der Tod ist das einzige, was mir +Angst macht. Ich hasse ihn.“</p> + +<p>„Warum?“ fragte der jüngere müde.</p> + +<p>„Weil,“ sagte Lord Henry und führte die vergoldete +Netzöffnung eines Riechbüchschens zur Nase, „weil man +heutzutage alles überleben kann, ausgenommen den Tod. +Tod und Philisterei sind die zwei einzigen Tatsachen des +neunzehnten Jahrhunderts, die man nicht wegerklären +kann. Wir wollen den Kaffee im Musikzimmer trinken, +Dorian. Du mußt mir Chopin vorspielen. Der Mann, mit<a class="pagenum" name="Page_322" title="322"> </a> +dem meine Frau durchbrannte, spielte Chopin hinreißend. +Die arme Viktoria! Ich habe sie recht gern gehabt. Das +Haus ist ohne sie recht einsam. Natürlich ist das Eheleben +nur eine Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit. Aber +schließlich bedauert man den Verlust selbst seiner schlechtesten +Gewohnheiten. Vielleicht bedauert man die gerade +am meisten. Sie sind ein so wesentlicher Teil unserer Persönlichkeit.“</p> + +<p>Dorian sagte nichts, sondern stand vom Tisch auf, +ging in das Nebenzimmer, setzte sich an das Klavier und +ließ seine Finger über das weiße und schwarze Elfenbein +der Tasten gleiten. Als der Kaffee gebracht wurde, hörte +er auf, sah zu Lord Henry hinüber und sagte: „Harry, +ist es dir nie eingefallen, daß Basil ermordet worden sein +könnte?“</p> + +<p>Lord Henry gähnte. „Basil war sehr populär und trug +immer nur eine Waterburyuhr. Warum hätte man ihn ermorden +sollen? Er war nicht klug genug, um Feinde zu +haben. Freilich hatte er ein wunderbares Genie als Maler. +Aber ein Mensch kann malen wie Velasquez und doch so +langweilig als möglich sein. In Wirklichkeit war Basil +ziemlich langweilig. Er interessierte mich nur ein einziges +Mal, und das war damals, als er mir vor vielen Jahren +gestand, daß er dich so ungestüm anbete und daß du das +Leitmotiv seiner Kunst seist.“</p> + +<p>„Ich habe Basil sehr gern gehabt“, sagte Dorian mit +einem traurigen Klang in seiner Stimme. „Aber behauptet +denn das Publikum nicht, daß er ermordet worden +ist?“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_323" title="323"> </a></p> + +<p>„Pah, in einigen Zeitungen steht es. Es scheint mir nicht +im geringsten wahrscheinlich. Ich weiß, es gibt fürchterliche +Orte in Paris, aber Basil war nicht die Art +Mensch, sie aufzusuchen. Er war nicht neugierig. Das war +sein Hauptfehler.“</p> + +<p>„Was würdest du dazu sagen, Harry, wenn ich dir versicherte, +daß ich Basil ermordet habe?“ fragte der jüngere. +Er beobachtete ihn scharf, nachdem er das gesagt hatte.</p> + +<p>„Lieber Freund, ich würde sagen, daß du einen Charakter +posierst, der dich nicht kleidet. Jedes Verbrechen ist +ordinär, gerade wie alles Ordinäre ein Verbrechen ist. +Du hast nicht die Gabe, Dorian, einen Mord zu begehen. +Es sollte mir leid tun, wenn ich dich durch diese Meinung +in deiner Eitelkeit kränkte, aber ich versichere dich, es ist +wahr. Das Verbrechen ist ein ausschließliches Vorrecht der +unteren Klassen. Ich will sie damit durchaus nicht tadeln. +Ich vermute einfach, das Verbrechen ist für sie, was die +Kunst für uns ist, einfach ein Verfahren, um sich außerordentliche +Empfindungen zu verschaffen.“</p> + +<p>„Ein Verfahren, sich Empfindungen zu verschaffen? +Glaubst du also, daß ein Mensch, der einmal einen Mord +begangen hat, imstande wäre, das nämliche Verbrechen +zu wiederholen? Das rede mir nicht ein.“</p> + +<p>„Oh! Alles wird zu einem Vergnügen, wenn man es +zu oft tut!“ rief Lord Henry lachend. „Das ist eines der +wichtigsten Geheimnisse des Lebens. Immerhin bin ich +des Glaubens, daß der Mord stets ein Mißgriff ist. Man +sollte nie etwas tun, worüber man sich nicht nach dem Essen +unterhalten kann. Aber wir wollen jetzt den armen Basil<a class="pagenum" name="Page_324" title="324"> </a> +lassen. Ich wollte, ich könnte glauben, daß er ein so romantisches +Ende genommen hat, wie du durchblicken läßt; aber +ich kann es nicht. Ich glaube eher, daß er von einem Omnibus +in die Seine gefallen ist und der Kondukteur hat +den Skandal vertuscht. Ja, ich glaube wirklich, so war sein +Ende. Ich sehe ihn jetzt auf dem Rücken liegen unter dem +dunkelgrünen Wasser, und die schweren Lastkähne schwimmen +über ihm hin, und lange Tangflechten verwickeln sich +in sein Haar. Weißt du, ich glaube nicht, daß er noch viel +Gutes gemacht hätte. In den letzten zehn Jahren ist seine +Malerei nicht mehr berühmt gewesen.“</p> + +<p>Dorian seufzte und Lord Henry schlenderte durch das +Zimmer und unterhielt sich damit, einem merkwürdigen +Papagei aus Java den Kopf zu krauen, einem großen, +graugefiederten Vogel mit rotem Schopf und Schwanz, +der auf einem Bambusstab balancierte. Als ihn seine +spitzen Finger berührten, ließ er die weiße Nickhaut seiner +Liderfalten über die schwarzen Glaskugelaugen fallen und +begann sich hin- und herzuwiegen.</p> + +<p>„Ja,“ fuhr er fort, während er sich umdrehte, und sein +Taschentuch aus der Tasche nahm, „seine Malerei ist nicht +mehr weither gewesen. Es schien mir so, als hätte sie +irgend etwas eingebüßt. Sie hatte ein Ideal verloren. +Als ihr beide aufhörtet, intime Freunde zu sein, hörte er +auf, ein großer Künstler zu sein. Was hat euch auseinander +gebracht? Ich vermute, er langweilte dich. Wenn das der +Fall war, dann hat er dir nie verziehen. Das ist gewöhnlich +so bei langweiligen Menschen. Was ist übrigens aus dem +wundervollen Porträt geworden, das er von dir gemacht<a class="pagenum" name="Page_325" title="325"> </a> +hat? Ich kann mich nicht erinnern, es jemals wiedergesehen +zu haben, seit es fertig wurde. Ah! Jetzt besinne ich mich, +daß du mir vor Jahren erzählt hast, du hättest es nach +Selby geschickt und es wäre unterwegs auf irgendeine +Weise gestohlen worden oder in Verlust geraten. Hast du +es nie wieder bekommen? Wie schade! Es war faktisch +ein Meisterwerk. Ich entsinne mich, daß ich es kaufen +wollte. Ich wünschte, ich hätte es jetzt. Es stammte aus +Basils bester Zeit. Seitdem bestanden alle seine Arbeiten +aus dem eigentümlichen Gemengsel von schlechter Malerei +und guten Absichten, das einen Mann berechtigt, ein britischer +Künstler von Bedeutung genannt zu werden. Hast +du deswegen eigentlich gar nicht annonciert? Das hättest +du tun sollen.“</p> + +<p>„Ich weiß es nicht mehr“, antwortete Dorian. „Ich +glaube, ich tat es. Aber ehrlich gesagt, ich habe das Bild +nie gemocht. Es tut mir überhaupt leid, daß ich dazu gesessen +habe. Schon die Erinnerung an das Ding ist mir +greulich. Warum sprichst du davon? Es hat mich immer +an ein paar merkwürdige Zeilen aus einem Theaterstück +erinnert — aus Hamlet, glaube ich — wie heißen +sie? —</p> + +<p class="poem"> +‚Gleich dem Bildnis eines Grams,<br /> +ein Antlitz ohne Herz.‛<br /> +</p> + +<p>Ja, so sah es aus.“</p> + +<p>Lord Henry lachte. „Wenn ein Mensch das Leben +künstlerisch behandelt, ist sein Hirn sein Herz“, antwortete +er und ließ sich in einen Armsessel fallen.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_326" title="326"> </a></p> + +<p>Dorian Gray schüttelte den Kopf und schlug ein paar +sanfte Akkorde auf dem Klavier an. „Gleich dem Bildnis +eines Grams, ein Antlitz ohne Herz“, wiederholte er, „ein +Antlitz ohne Herz.“</p> + +<p>Der ältere Freund saß zurückgelehnt und blickte mit halbgeschlossenen +Augen zu ihm hinüber. „Übrigens, Dorian,“ +sagte er nach einer Pause, „was hülfe es einem Menschen, +so er die ganze Welt gewönne und — wie heißt die Stelle +doch? — seine eigene Seele verlöre?“</p> + +<p>Die Musik brach schrill ab und Dorian Gray schnellte +auf und starrte seinen Freund an. „Warum fragst du mich +das, Harry?“</p> + +<p>„Aber bester Junge,“ sagte Lord Henry und zog verwundert +die Augenbrauen in die Höhe, „ich habe dich +gefragt, weil ich dachte, du könntest mir eine Antwort +geben. Das ist alles. Ich bin letzten Sonntag durch Hyde +Park gegangen, und nahe beim Marble Arch stand eine +kleine Ansammlung schäbig aussehender Menschen, die +irgendeinem ordinären Straßenprediger lauschten. Als ich +vorbeiging, hörte ich den Mann diese Frage seinen Zuhörern +entgegenschreien. Es berührte mich ordentlich dramatisch. +London ist sehr reich an seltsamen Wirkungen +solcher Art. Ein regnerischer Sonntag, ein unmanierlicher +Christ in einem Regenmantel, ein Kreis krankhafter, bleicher +Gesichter unter dem wellenförmigen Dach tropfender Regenschirme +und ein wunderbarer Satz, von schrillen, hysterischen +Lippen in die Luft geschleudert, das war auf seine +Art wirklich sehr gut, es lag geradezu eine gewisse Suggestion +darin. Ich dachte zuerst daran, dem Propheten zu<a class="pagenum" name="Page_327" title="327"> </a> +sagen, daß die Kunst eine Seele habe, aber nicht der +Mensch, aber ich fürchte, er hätte mich doch nicht verstanden.“</p> + +<p>„Nein, Harry. Die Seele ist eine fürchterliche Gewißheit. +Sie kann gekauft werden und verkauft und umgetauscht. +Sie kann vergiftet werden oder vervollkommnet. +In jedem von uns lebt eine Seele. Ich weiß es.“</p> + +<p>„Bist du dessen ganz sicher, Dorian?“</p> + +<p>„Ganz sicher.“</p> + +<p>„Pah! Dann muß es Einbildung sein. Die Dinge, die +man für ganz sicher hält, sind nun und nimmer wahr. Das +ist das Verhängnis des Glaubens und die Weisheit der +Romantik. Wie feierlich du tust! Sei nicht so ernsthaft. +Was hast du oder ich mit dem Aberglauben unserer Zeit +zu tun? Nein: wir haben unseren Glauben an die Seele +aufgegeben. Spiel' mir was vor. Spiel' mir ein Nokturno, +Dorian, und während du spielst, sage mir mit leiser Stimme, +wie du es möglich gemacht hast, dir deine Jugend zu erhalten. +Du mußt irgendein Geheimmittel haben. Ich bin +nur zehn Jahre älter als du, und bin runzlig und verwelkt +und gelb. Du bist in der Tat wundervoll, Dorian. Du hast +nie entzückender ausgesehen als heute abend. Du rufst mir +den Tag ins Gedächtnis zurück, an dem ich dich zum +erstenmal sah. Du warst etwas schnippisch, sehr scheu und +ganz und gar außergewöhnlich. Seitdem hast du dich natürlich +verändert, aber nicht im Aussehen. Ich wünschte, du +verrietest mir dein Geheimnis. Um meine Jugend zurückzubekommen, +täte ich alles auf der Welt, außer Gymnastik +treiben, früh aufstehen oder ehrbar sein. Jugend! Nichts<a class="pagenum" name="Page_328" title="328"> </a> +kommt ihr gleich. Es ist absurd, von der Unwissenheit der +Jugend zu schwatzen. Die einzigen Leute, deren Ansichten +ich jetzt mit einigem Respekt anhöre, sind Leute, die viel +jünger sind als ich. Die scheinen mir weit voraus zu sein. +Das Leben hat ihnen sein letztes Wunder enthüllt. Was +die älteren betrifft, denen widerspreche ich immer. Ich tue +es aus Prinzip. Wenn du einen um seine Meinung über +etwas fragst, das gestern passiert ist, dann gibt er dir feierlichen +Aufschluß über die Meinungen, die Anno 1820 im +Schwunge waren, als die Leute hohe Halsbinden trugen, +an alles glaubten und absolut nichts wußten. Wie hübsch +das ist, was du da spielst! Ich möchte wohl wissen, ob es +Chopin in Majorca geschrieben hat, während das Meer +seine Villa umklagte und der Salzschaum klatschend gegen +die Fensterscheiben spritzte. Es ist entzückend romantisch. +Was für ein Segen es ist, daß es doch die eine Kunst +gibt, die nicht aus Nachahmung besteht. Hör' nicht auf. Ich +brauche Musik heut abend. Es kommt mir so vor, als ob +du der junge Apollo bist und ich Marsyas, der dir zuhört. +Ich habe meine eigenen Sorgen, Dorian, von denen nicht +einmal du etwas weißt. Die Tragödie des Alters beruht +nicht darin, daß man alt ist, sondern daß man jung ist. +Ich bin manchmal ganz erschrocken über meine eigene Aufrichtigkeit. +Ach, Dorian, wie glücklich bist du! Was für +ein köstliches Leben hast du gehabt! Du hast tief aus jedem +Quell getrunken! Du hast die Trauben an deinem Gaumen +zerdrückt. Nichts ist dir verborgen geblieben. Und all das +ist dir nicht mehr gewesen als ein Klang von Musik. Es hat +dir nichts anhaben können. Du bist noch heute derselbe.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_329" title="329"> </a></p> + +<p>„Ich bin nicht derselbe, Harry.“</p> + +<p>„Ja, du bist derselbe. Ich bin gespannt, wie dein +Leben weiter verlaufen wird. Verdirb es nicht durch Entsagung. +Jetzt bist du ein vollkommener Typus. Mach' dich +nicht unvollkommen. Du bist jetzt ganz ohne Tadel. Du +brauchst den Kopf nicht zu schütteln: du weißt, du bist +es. Und dann, Dorian, betrüge dich nicht selbst. Das Leben +wird nicht durch Willen oder Absicht regiert. Das Leben +ist eine Angelegenheit der Nerven und Muskeln und der +langsam aufgemauerten Zellen, in denen die Gedanken +hausen und die Leidenschaft ihren Träumen nachhängt. +Du redest dir ein, sicher dazustehen und stark zu sein. Aber +ein zufälliger Farbenton in einem Zimmer oder ein Morgenhimmel, +ein besonderer Geruch, den du einmal geliebt +hast und der versteckte Erinnerungen aufweckt, eine Zeile +aus einem vergessenen Gedicht, die dir plötzlich wieder einfällt, +ein paar Tonreihen aus einem Musikstück, das du +längst nicht mehr spielst — ich sage dir, Dorian, von solchen +Dingen hängt unser Leben ab. Browning hat irgendwo +mal darüber geschrieben, aber unsere eigenen Sinne geben +uns ohnehin davon Gewißheit. Es gibt Augenblicke, da +durchblitzt mich plötzlich der Geruch von weißem Flieder, +und ich muß wieder den sonderbarsten Monat meines Daseins +durchleben. Ich wollte, ich könnte mit dir tauschen, +Dorian. Die Welt hat über uns beide gezetert, aber sie +hat dich immer bewundert. Sie wird dich immer bewundern. +Du bist eben der Typus dessen, wonach unsere Zeit +sucht und was sie fürchtet gefunden zu haben. Ich bin so +froh darüber, daß du nie etwas getan hast, nie eine Statue<a class="pagenum" name="Page_330" title="330"> </a> +gemeißelt oder ein Bild gemalt oder irgend etwas aus +dir heraus produziert hast. Das Leben war deine Kunst. +Du hast dich selbst in Musik gesetzt. Deine Tage sind deine +Sonette.“</p> + +<p>Dorian stand vom Klavier auf und fuhr sich mit der +Hand durchs Haar. „Ja, das Leben ist himmlisch gewesen,“ +sagte er vor sich hin, „aber dieses Leben werde ich nicht +fortsetzen, Harry. Und du sollst nicht so überspannte Dinge +zu mir sagen. Du weißt nicht alles von mir. Ich glaube, +wenn du es wüßtest, so würdest selbst du dich von mir abwenden. +Du lachst. Lache nicht!“</p> + +<p>„Warum hast du zu spielen aufgehört, Dorian? Geh +wieder ans Klavier und spiel' mir nochmal das Nokturno. +Sieh den großen honigfarbenen Mond, der in der dunklen +Luft hängt. Er wartet, daß du ihn bezauberst, und wenn +du spielst, wird er sich der Erde nähern. Du willst nicht? +Dann laß uns in den Klub gehen. Es war ein reizender +Abend, und wir müssen ihn reizend beenden. Bei White +wartet jemand, der darauf brennt, dich kennenzulernen — +der junge Lord Pool, der älteste Sohn von Bournemouth. +Er kopiert schon deine Krawatten und hat mich bestürmt, +ihn dir vorzustellen. Er ist ganz entzückend und erinnert +mich ein bißchen an dich.“</p> + +<p>„Ich hoffe nicht“, sagte Dorian mit einem wehmütigen +Blick in den Augen. „Aber ich bin heute abend müde, +Harry. Ich gehe nicht mehr in den Klub. Es ist fast elf, +und ich will früh zu Bett gehen.“</p> + +<p>„Bleibe noch, du hast nie so schön gespielt wie diesen +Abend. In deinem Anschlag lag etwas, es war ganz wundervoll.<a class="pagenum" name="Page_331" title="331"> </a> +Es hatte mehr Ausdruck, als ich jemals bei dir +gehört habe.“</p> + +<p>„Das kommt daher, weil ich jetzt gut werden will“, antwortete +er lächelnd. „Ich bin schon ein bißchen anders.“</p> + +<p>„Für mich kannst du kein anderer werden, Dorian“, +sagte Lord Henry. „Du und ich, wir werden immer +Freunde sein.“</p> + +<p>„Aber einstmals hast du mich mit einem Buch vergiftet. +Ich sollte das nicht vergeben. Harry, versprich mir, daß +du dieses Buch nie wieder jemand leihen willst. Es stiftet +Unheil.“</p> + +<p>„Mein lieber Junge, du fängst wirklich an, Moralpredigten +zu halten. Du wirst bald umherlaufen, wie ein +Bekehrter und ein Erweckungsprediger, und wirst die Menschen +vor all den Sünden warnen, deren du müde geworden +bist. Aber dazu bist du viel zu entzückend. Außerdem +hat es keinen Zweck. Du und ich, wir sind, was wir sind, +und werden immer sein, was wir sein werden. Und vergiftet +werden durch ein Buch, sowas gibt es einfach nicht. +Kunst hat keinen Einfluß auf die Tat. Sie vernichtet den +Trieb zu handeln. Sie ist auf eine herrliche Art zeugungsunfähig. +Die Bücher, die die Welt unmoralisch nennt, +sind Bücher, die der Welt ihre eigene Schande vorhalten. +Sonst nichts. Aber wir wollen nicht über Literatur streiten. +Komm morgen wieder her! Ich reite um elf aus. Wir +können zusammen reiten, und ich nehme dich nachher zum +Frühstück zu Lady Branksome mit. Es ist eine entzückende +Frau und sie will dich zu Rate ziehen über ein paar Gobelins, +die sie kaufen möchte. Vergiß nicht zu kommen. Oder<a class="pagenum" name="Page_332" title="332"> </a> +wollen wir bei unserer kleinen Herzogin frühstücken? Sie +sagt, sie sieht dich jetzt gar nicht mehr. Vielleicht hast du +genug von Gladys? Ich dachte mir's, daß es so kommen +würde. Ihr gewandtes Züngelein fällt einem auf die +Nerven. Also, jedenfalls bist du um elf hier.“</p> + +<p>„Muß ich wirklich kommen, Harry?“</p> + +<p>„Unbedingt. Der Park ist jetzt herrlich. Ich glaube nicht, +daß es wieder solchen Flieder gegeben hat seit jenem Jahr, +wo ich dich kennenlernte.“</p> + +<p>„Gut. Ich werde also um elf hier sein“, sagte Dorian. +„Gute Nacht, Harry!“ Als er an der Tür war, zögerte er +einen Augenblick, als hätte er noch etwas zu sagen. Dann +seufzte er und ging.</p> + +<h2><a name="Zwanzigstes_Kapitel" id="Zwanzigstes_Kapitel"></a>Zwanzigstes Kapitel</h2> + + +<p>Es war eine wundervolle Nacht, so warm, daß er seinen +Mantel über den Arm hing und nicht einmal das seidene +Halstuch umlegte. Als er nach Hause schlenderte, seine Zigarette +rauchend, gingen zwei Herren in Gesellschaftstoilette +an ihm vorbei. Er hörte, wie der eine dem anderen +zuflüsterte: „Das ist Dorian Gray.“ Er erinnerte sich, +wie schmeichelhaft es ihm früher gewesen war, wenn man +auf ihn zeigte oder ihn anstarrte oder über ihn sprach. Jetzt +war er es müde, seinen eigenen Namen zu hören. Der +halbe Reiz des kleinen Dorfes, wo er kürzlich so oft gewesen<a class="pagenum" name="Page_333" title="333"> </a> +war, bestand darin, daß dort niemand wußte, wer +er war. Er hatte dem Mädchen, das er zur Liebe verlockt +hatte, oft gesagt, daß er arm sei, und sie hatte es geglaubt. +Er hatte ihr einmal gesagt, daß er schlecht sei, und sie hatte +ihn ausgelacht und geantwortet, schlechte Menschen seien +immer sehr alt und sehr häßlich. Was für ein Lachen sie +hatte! — gerade wie der Gesang einer Drossel. Und wie +hübsch sie ausgesehen hatte in ihren Kattunkleidern und +großen Hüten! Sie wußte nichts, aber sie besaß alles, +was er verloren hatte.</p> + +<p>Als er nach Hause kam, wartete sein Diener auf ihn. +Er schickte ihn zu Bett und warf sich auf das Sofa in der +Bibliothek und begann über einiges von dem nachzudenken, +was ihm Lord Henry gesagt hatte.</p> + +<p>War es wirklich wahr, daß man nie anders werden +konnte? Er fühlte eine wilde Sehnsucht nach der makellosen +Reinheit seiner Knabenzeit — seiner rosenweißen +Knabenzeit, wie Lord Henry einmal gesagt hatte. Er +wußte, er hatte sich besudelt, hatte seinen Geist mit Verderbnis +angefüllt und sein Gewissen mit Entsetzen belastet, +er war ein schlimmer Einfluß für andere gewesen und hatte +eine schreckliche Freude daran gehabt; und von den Menschenleben, +die das seine gekreuzt hatten, waren es die +reinsten und verheißungsvollsten gewesen, die er in Schande +gestürzt hatte. Aber war da nichts wieder gut zu machen? +Gab es keine Hoffnung mehr für ihn?</p> + +<p>Ah! In was für einem ungeheuerlichen Augenblick von +Hochmut und Leidenschaft hatte er gebetet, es möchte das +Bildnis die Last seiner Tage auf sich nehmen und er sich<a class="pagenum" name="Page_334" title="334"> </a> +den ungetrübten Glanz ewiger Jugend bewahren! Das +war an seinem ganzen verfehlten Leben schuld. Es wäre +besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde seines Lebens ihre +gewisse und schnelle Strafe mit sich gebracht hätte. In +der Strafe lag Reinigung. Nicht „Vergib uns unsere +Sünden“, sondern „Züchtige uns für unsere Missetaten“ +sollte das Gebet des Menschen zu einem allgerechten +Gotte lauten.</p> + +<p>Der mit merkwürdigen Schnitzereien umrahmte Spiegel, +den ihm Lord Henry vor so vielen Jahren geschenkt hatte, +stand auf dem Tisch, und die weißgliedrigen Liebesgötter +lachten ringsherum wie ehedem. Er nahm ihn, wie er es +in jener Schreckensnacht getan hatte, als er zum ersten +Male die Veränderung in dem verhängnisvollen Bildnis +bemerkt hatte, und blickte mit verzweifelten, tränenfeuchten +Augen auf die glatte Fläche. Einmal hatte ihm jemand, +der ihn abgöttisch geliebt hatte, einen wahnsinnigen Brief +geschrieben, dessen Schluß lautete: „Die Welt ist anders +geworden, weil du aus Elfenbein und Gold geschaffen +wurdest. Der Linienschwung deiner Lippen schreibt die +Weltgeschichte um.“ Diese Sätze kamen ihm ins Gedächtnis +zurück, und er wiederholte sie immer und immer wieder. +Dann haßte er seine eigene Schönheit und schleuderte den +Spiegel zu Boden und zertrat ihn unter seinem Fuße in +silberne Splitter. Seine Schönheit war es, die ihn zugrunde +gerichtet hatte, seine Schönheit und Jugend, um +die er gefleht hatte. Wären diese beiden nicht gewesen, so +hätte er sein Leben wohl fleckenlos erhalten können. Die +Schönheit war für ihn nur eine Maske gewesen, die Jugend<a class="pagenum" name="Page_335" title="335"> </a> +nur ein Blendwerk. Was war Jugend im besten +Falle? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit seichter Stimmungen +und kranker Einfälle. Warum hatte er ihre Tracht +angelegt? Die Jugend hatte ihn zugrunde gerichtet.</p> + +<p>Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken. +Er mußte an sich selber und an seine Zukunft denken. +James Vane war in einem namenlosen Grabe auf dem +Kirchhof in Selby geborgen. Alan Campbell hatte sich +eines Nachts in seinem Laboratorium erschossen, aber das +Geheimnis nicht verraten, das ihm aufgezwungen worden +war. Die Erregung über Basil Hallwards Verschwinden +würde sich bald legen. Sie hatte schon nachgelassen. Da +war er völlig sicher. Es war auch in der Tat nicht der +Tod Basil Hallwards, der sein Gemüt am schwersten belastete. +Es war der lebendige Tod seiner eigenen Seele, +der ihm die Ruhe raubte. Basil hatte das Bildnis gemalt, +das sein Leben vernichtet hatte. Er konnte ihm das nicht +vergeben. Das Porträt war an allem schuld. Basil hatte +ihm Dinge gesagt, die unerträglich waren und die er doch +geduldig ertragen hatte. Der Mord war nur der Wahnsinn +eines Augenblicks gewesen. Was Alan Campbell +anlangte, so war der Selbstmord seine eigene Tat gewesen. +Er war sein freier Entschluß. Das ging ihn +nichts an.</p> + +<p>Ein neues Leben! Das war es, was er wollte. Das war +es, worauf er wartete. Gewiß hatte er es schon begonnen. +Ein unschuldiges Wesen hatte er jedenfalls geschont. Nie +wieder wollte er die Unschuld in Versuchung führen. Er +wollte gut sein.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_336" title="336"> </a></p> + +<p>Als er an Hetty Merton dachte, begann er sich zu fragen, +ob sich das Bild in dem verschlossenen Zimmer oben +wohl verändert habe. Es konnte doch sicher nicht mehr +so häßlich sein, wie es gewesen war. Vielleicht könnte er, +wenn sein Leben jetzt rein würde, imstande sein, jedes Anzeichen +niedriger Leidenschaften aus dem Antlitz zu tilgen. +Vielleicht waren die Spuren des Bösen schon verschwunden. +Er wollte hinauf und nachsehen.</p> + +<p>Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich die Treppe +hinan. Als er die Tür aufschloß, huschte ein frohes Lächeln +über sein seltsam junges Gesicht und verweilte einen +Augenblick auf seinen Lippen. Ja, er wollte gut sein, und +das gräßliche Ding, das er verborgen hatte, würde dann +nicht länger ein Schrecken für ihn sein. Ihm war, als +wäre diese Last schon jetzt von ihm genommen.</p> + +<p>Er ging ruhig hinein, schloß die Tür nach seiner Gewohnheit +hinter sich ab und zog den Purpurvorhang von +dem Bildnis hinweg. Ein Schrei voll Schmerz und Entrüstung +scholl von seinen Lippen. Er konnte keine Verwandlung +bemerken, außer daß ein schlauer Ausdruck in +den Augen lag und um den Mund der gekniffene Zug des +Heuchlers. Das Ding war noch immer abscheulich, womöglich +noch abscheulicher als vordem — und der scharlachrote +Tau, der die Hand befleckte, schien heller zu glänzen +und mehr wie frisch vergossenes Blut auszusehen. Er +erzitterte. War es bloße Eitelkeit gewesen, die ihn dazu +getrieben hatte, einmal etwas Gutes zu tun? Oder die +Begier nach einer neuartigen Empfindung, wie Lord +Henry mit seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte?<a class="pagenum" name="Page_337" title="337"> </a> +Oder das Verlangen, eine Rolle zu spielen, das uns +manchmal Dinge begehen läßt, die edler sind als wir +selbst? Oder vielleicht das alles zusammen? Und warum +war der rote Fleck jetzt größer als er vorher war? Er +schien sich wie ein fürchterlicher Aussatz über die runzligen +Finger weiter gefressen zu haben. Es war Blut auf den +gemalten Füßen, als wäre es von den Händen herabgetropft +— Blut selbst auf der Hand, die das Messer nicht +geführt hatte. Bekennen? Bedeutete dies, daß er bekennen +sollte? Sich selbst aufgeben und hingerichtet werden? +Er lachte. Er fühlte, daß der Einfall ungeheuerlich wäre. +Überdies selbst wenn er es eingestände, wer würde ihm +glauben? Nirgends gab es eine Spur des Ermordeten. +Alles, was zu ihm gehörte, war zerstört. Er selbst hatte +verbrannt, was unten geblieben war. Die Welt würde einfach +sagen, daß er wahnsinnig sei. Sie würden ihn irgendwo +einsperren, wenn er bei seiner Erzählung beharrte... +Aber doch war es seine Pflicht, ein Geständnis abzulegen, +öffentlich Schande zu erleiden und öffentlich Buße zu tun. +Es war ein Gott, der den Menschen zurief, ihre Sünden +der Erde so gut wie dem Himmel zu beichten. Nichts, was +er sonst tun konnte, würde ihn reinigen, bis er seine Sünde +selber bekannt hätte. Seine Sünde? Er zuckte die Achseln. +Der Tod Basil Hallwards schien ihm nur unwesentlich. +Er dachte an Hetty Merton. Denn es war ein ungerechter +Spiegel. Dieser Spiegel seiner Seele, in den er hineinblickte. +Eitelkeit? Neugier? Heuchelei? War sonst nichts in +seinen Entsagungen gewesen? Es war noch etwas darin +gewesen. Er glaubte es wenigstens. Aber wer konnte das<a class="pagenum" name="Page_338" title="338"> </a> +sagen...? Nein. Es war weiter nichts darin gewesen. +Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Aus Heuchelei hatte +er die Maske der Güte getragen. Aus Neugier hatte +er es mit der Verzichtleistung versucht. Er erkannte das +jetzt.</p> + +<p>Aber dieser Mord — sollte er ihn sein ganzes Leben +lang verfolgen? Sollte er immer die Last seiner Vergangenheit +tragen müssen? Sollte er wirklich eingestehen? +Niemals. Es gab nur einen einzigen Beweis gegen ihn. +Das Bildnis selbst — das war ein Beweis. Er wollte es +zerstören. Warum hatte er es solange aufgehoben. Früher +einmal war es ihm ein Vergnügen gewesen, seine Änderung, +sein Altern zu beobachten. In der letzten Zeit hatte +er dieses Vergnügen nicht mehr empfunden. Es hatte ihm +schlaflose Nächte bereitet. Wenn er außer dem Hause war, +erfüllte ihn eine Todesangst, daß fremde Augen das Bild +erblicken könnten. Es hatte Schwermut in seine Leidenschaften +getröpfelt. Die bloße Erinnerung daran hatte ihm +manchen Augenblick der Freude vergällt. Es hatte bei +ihm die Rolle des Gewissens übernommen. Ja, es war +sein Gewissen gewesen. Er wollte es zerstören.</p> + +<p>Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil +Hallward erstochen hatte. Er hatte es oft gereinigt, bis +kein Fleck mehr darauf war. Es war blank und glitzerte. +Wie es den Maler getötet hatte, sollte es des Malers +Werk töten und alles, was es bedeutete. Es sollte die +Vergangenheit töten, und wenn die tot war, würde er +frei sein. Es sollte dieses ungeheuerliche Seelenleben töten, +und sobald diese gräßlichen Warnungen nicht mehr vorhanden<a class="pagenum" name="Page_339" title="339"> </a> +waren, würde er Frieden haben. Er ergriff es +und durchbohrte damit das Bildnis.</p> + +<p>Man hörte einen Schrei und einen Fall. Der Schrei +war mit seinem Todesröcheln so schrecklich, daß die Dienerschaft +erschreckt aufwachte und aus ihren Kammern stürzte. +Zwei Herren, die auf dem Platze unten vorbeigingen, blieben +stehen und spähten an dem stattlichen Hause empor. +Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen und +dann mit ihm umkehrten. Der Mann zog mehrmals die +Klingel, aber es erfolgte keine Antwort. Bis auf ein Licht +in einem der Giebelfenster war das ganze Haus dunkel. +Nach einiger Zeit ging er weg, stellte sich unter einen Torweg +in der Nähe und verhielt sich abwartend.</p> + +<p>„Wem gehört das Haus, Herr Wachtmeister?“ fragte +der ältere der beiden Herren.</p> + +<p>„Herrn Dorian Gray“, antwortete der Schutzmann.</p> + +<p>Sie sahen einander an, gingen weiter und lächelten. +Einer von ihnen war Sir Henry Ashtons Onkel.</p> + +<p>Drinnen in den Dienerzimmern sprachen die halbangezogenen +Bedienten in leisem Wispern miteinander. +Die alte Frau Leaf weinte und rang die Hände. Francis +war bleich wie der Tod.</p> + +<p>Nach etwa einer Viertelstunde holte er sich den Kutscher +und einen der Lakaien und schlich mit ihnen hinauf. Sie +klopften, aber es kam keine Antwort. Sie riefen. Alles +war still. Schließlich, nachdem sie erfolglos versucht hatten, +die Tür zu sprengen, kletterten sie auf das Dach und +ließen sich auf den Balkon herab. Die Glastür gab leicht +nach; ihre Riegel waren alt.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_340" title="340"> </a></p> + +<p>Als sie eintraten, sahen sie an der Wand ein wunderbares +Bild ihres Herrn hängen, so wie sie ihn zuletzt +gesehen hatten, in all dem Glanz seiner entzückenden Jugend +und Schönheit. Auf dem Boden lag ein toter Mann +im Gesellschaftsanzug, mit einem Messer im Herzen. Er +war welk, runzlig und häßlich von Angesicht. Erst als sie +die Ringe untersuchten, erkannten sie, wer es war.</p> + +<p class="center" style="margin-top:2em;"><em class="gesperrt">Ende</em></p> + + +<div class="transcribers-note"> +<p class="center"><a name="tn-bottom"><b>Anmerkungen zur Transkription:</b></a></p> + +<p>Die folgende Liste enthält alle geänderten Textstellen, +jeweils zuerst im Original und darunter in der geänderten Fassung.</p> + +<ul id="corrections"> +<li><a href="#Page_9">Seite 9</a>:<br /> +Habt ihr ihn endlich, so <span class="correction">wolllt</span> ihr ihn scheinbar<br /> +Habt ihr ihn endlich, so <span class="correction">wollt</span> ihr ihn scheinbar +</li> +<li><a href="#Page_80">Seite 80</a>:<br /> +Dramas gewesen sein.<br /> +Dramas gewesen sein.<span class="correction">“</span> +</li> +<li><a href="#Page_80">Seite 80</a>:<br /> +Es war ‚<span class="correction">Romea</span> und Julia‛.<br /> +Es war ‚<span class="correction">Romeo</span> und Julia‛. +</li> +<li><a href="#Page_85">Seite 85</a>:<br /> +zum erstenmal gesprochen?<br /> +zum erstenmal gesprochen?<span class="correction">“</span> +</li> +<li><a href="#Page_106">Seite 106</a>:<br /> +Gefällt dir der Name nicht<span class="correction">.</span><br /> +Gefällt dir der Name nicht<span class="correction">?</span> +</li> +<li><a href="#Page_121">Seite 121</a>:<br /> +Mißklang heißt es, mit<br /> +<span class="correction">„</span>Mißklang heißt es, mit +</li> +<li><a href="#Page_132">Seite 132</a>:<br /> +Warum ich nie mehr gut spielen werde.<br /> +Warum ich nie mehr gut spielen werde.<span class="correction">“</span> +</li> +<li><a href="#Page_166">Seite 166</a>:<br /> +Harrys Schwester Lady Gwendolen, kennengelernt.<br /> +Harrys Schwester<span class="correction">,</span> Lady Gwendolen, kennengelernt. +</li> +<li><a href="#Page_180">Seite 180</a>:<br /> +wird ebenso hübsch sein.<br /> +wird ebenso hübsch sein.<span class="correction">“</span> +</li> +<li><a href="#Page_205">Seite 205</a>:<br /> +die Erinnerung an <span class="correction">gegestorbene</span> Romantik<br /> +die Erinnerung an <span class="correction">gestorbene</span> Romantik +</li> +<li><a href="#Page_217">Seite 217</a>:<br /> +und die <span class="correction">eleganganten</span> jungen Leute,<br /> +und die <span class="correction">eleganten</span> jungen Leute, +</li> +<li><a href="#Page_296">Seite 296</a>:<br /> +mit deinem Orchideengleichnis?<br /> +mit deinem Orchideengleichnis?<span class="correction">“</span> +</li> +<li><a href="#Page_308">Seite 308</a>:<br /> +Er hat die ganze<br /> +<span class="correction">„</span>Er hat die ganze +</li> +<li><a href="#Page_309">Seite 309</a>:<br /> +wovor ich mich <span class="correction">änstige</span><br /> +wovor ich mich <span class="correction">ängstige</span> +</li> +</ul> +</div> + +<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44238 ***</div> +</body> +</html> diff --git a/44238-h/images/cover.jpg b/44238-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..689ae73 --- /dev/null +++ b/44238-h/images/cover.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Das Bildnis des Dorian Gray + +Author: Oscar Wilde + +Translator: Richard Zoozmann + +Release Date: November 20, 2013 [EBook #44238] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY *** + + + + +Produced by Norbert H. Langkau, Marc-Andre Seekamp and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + + + + + + + + +Das Bildnis des Dorian Gray + + + Oscar Wilde + + Das Bildnis des Dorian Gray + + Ins Deutsche übertragen von + Richard Zoozmann + + Berlin ~W~ 50 + + Schreitersche Verlagsbuchhandlung + + Alle Rechte vorbehalten + + Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig + + + + +Vorbekenntnis + + +Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge. + +Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen, ist die Aufgabe der +Kunst. + +Ein Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in eine andere +Form oder in einen anderen Stoff zu übertragen vermag. + +Die höchste wie die niederste Form der Kritik ist eine Art +Autobiographie. + +Wer in schönen Dingen einen häßlichen Sinn findet, ist verderbt, ohne +anmutig zu sein. Das ist ein Fehler. + +Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn findet, hat Kultur. Er +berechtigt zu Hoffnungen. + +Das sind die Auserwählten, für die schöne Dinge lediglich Schönheit +bedeuten. + +Ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt's überhaupt nicht. Bücher +sind gut oder schlecht geschrieben. Sonst nichts. + +Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die +Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel erblickt. + +Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die +Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel nicht sieht. + +Das sittliche Dasein des Menschen liefert dem Künstler einen Teil des +Stoffgebietes, aber die Sittlichkeit der Kunst besteht im vollkommenen +Gebrauch eines unvollkommenen Mittels. + +Kein Künstler empfindet das Verlangen, etwas zu beweisen. Selbst +Wahrheiten können bewiesen werden. + +Kein Künstler hat ethische Neigungen. Eine ethische Neigung beim +Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils. + +Kein Künstler ist an sich krankhaft. Der Künstler kann alles +aussprechen. + +Gedanken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst. + +Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe einer Kunst. + +Was die Form betrifft, so ist die Kunst des Musikers die Urform aller +Künste. Was das Gefühl betrifft, so ist der Beruf des Schauspielers +diese Urform. + +Alle Kunst ist gleichzeitig Oberfläche und Symbol. + +Wer unter der Oberfläche schürft, tut es auf eigene Gefahr. + +Wer das Symbol herausdeutet, tut es auf eigene Gefahr. + +In Wahrheit wird der Betrachter und nicht das Leben abgespiegelt. + +Meinungsunterschiede über ein Kunstwerk beweisen seine Neuheit, +Vielfältigkeit und Lebenskraft. + +Sind die Kritiker uneinig, so ist der Künstler einig mit sich selbst. + +Man kann einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches schafft, +solang er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung für den, der +etwas Nutzloses schuf, besteht darin, daß es äußerst bewundert wird. + +Alle Kunst ist völlig nutzlos. + + + + +Erstes Kapitel + + +Das Atelier schwamm in einem starken Rosendufte, und wenn der leichte +Sommerwind die Bäume im Garten wiegte, so floß durch die offene Tür der +schwere Geruch des Flieders herein oder der zartere Duft des Rotdorns. + +Aus der Ecke seines Diwans mit persischen Satteltaschen, auf dem Lord +Henry Wotton lag und wie gewöhnlich unzählige Zigaretten rauchte, konnte +er gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbigen Blüten +eines Goldregenstrauches wahrnehmen, dessen zitternde Zweige nur +seufzend die Last einer so flammenden Schönheit zu tragen schienen, und +dann und wann huschten die phantastischen Schatten vorbeifliegender +Vögel über die langen bastseidenen Vorhänge, die vor das große Fenster +gezogen waren. Das gab einen Augenblick lang eine Art japanischer +Stimmung und ließ den Lord an die bleichen, nephritgelben Maler der +Stadt Tokio denken, die mit Hilfe einer Kunst, die notwendigerweise +erstarrt genannt werden muß, das Gefühl von Schnelligkeit und Bewegung +hervorzubringen suchen. Das tiefe Gesumme der Bienen, die ihren +zweifelnden Flug durch das hohe, ungemähte Gras nahmen oder mit +eintöniger Zähigkeit um die bestaubten Goldtrichter des wuchernden +Geißblattes kreisten, ließ die Stille noch drückender scheinen. Das +dumpfe Brausen Londons murrte dazu wie die Baßtöne einer fernen Orgel. + +In der Mitte des Gemaches stand auf einer hoch aufgestellten Staffelei +das lebensgroße Bildnis eines außerordentlich schönen Jünglings, und ihm +gegenüber, ein paar Schritte entfernt, saß sein Schöpfer, der Maler +Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren bei +der Menge so viel Aufsehen gemacht und zu so vielen seltsamen +Vermutungen Anlaß gegeben hatte. + +Während der Maler die anmutige und liebenswürdige Gestalt betrachtete, +die seine Kunst so prachtvoll wiedergespiegelt hatte, huschte ein +freudiges Lächeln über sein Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. +Plötzlich aber fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Lider mit +den Fingern zu, als fürchte er, aus einem absonderlichen Traume zu +erwachen, und als suche er ihn im Gehirn einzuschließen. + +»Es ist dein bestes Werk, Basil, das beste, was du jemals gemacht hast«, +sagte Lord Henry schläfrig-müde. »Du mußt es nächstes Jahr unbedingt ins +Grosvenor schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich. +Jedesmal, wenn ich hinging, waren entweder so viele Leute da, daß ich +die Bilder nicht sehen konnte, und das war schlimm, oder so viel Bilder, +daß ich die Leute nicht sehen konnte, und das war noch schlimmer. Das +Grosvenor ist der einzig richtige Platz.« + +»Ich denke überhaupt nicht daran, es auszustellen«, antwortete der Maler +und warf den Kopf in jener merkwürdigen Art zurück, über die schon oft +seine Freunde in Oxford gelacht hatten. »Nein, ich will es nirgends +ausstellen.« + +Lord Henry hob die Augenbrauen und sah den anderen erstaunt durch die +dünnen blauen Raucharabesken an, die in so abenteuerlichen Wirbeln von +der starken opiumgetränkten Zigarette aufstiegen. »Nirgends ausstellen? +Ja warum, mein Lieber? Hast du einen Grund dafür? Was ihr Maler doch für +Käuze seid! Ihr tut alles in der Welt, um euch einen Namen zu machen. +Habt ihr ihn endlich, so wollt ihr ihn scheinbar wieder loswerden. Das +ist albern von dir, denn es gibt nur ein leidiges Ding auf Erden, das +peinlicher ist als in aller Leute Munde zu sein, und das ist: nicht in +aller Leute Munde zu sein. Ein Porträt wie das da höbe dich weit über +alle jungen Leute in England empor und würde die Alten vor Neid platzen +lassen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung fähig sind.« + +»Ich weiß, du wirst mich auslachen,« entgegnete er, »aber ich kann es +wahrhaftig nicht ausstellen. Es steckt da zuviel von mir selbst drin.« + +Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte. + +»Ja, ich habe das gewußt; es bleibt aber doch wahr, ganz sicher.« + +»Zuviel von dir soll darin sein? Auf mein Wort, Basil, ich hätte nie +geahnt, daß du so eitel bist; ich kann wirklich nicht die blasseste +Ähnlichkeit entdecken zwischen dir mit deinem groben, eckigen Gesicht +und deinem kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis, der so aussieht, +als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Nein, mein +lieber Basil, es ist ein Narziß, und du -- natürlich hast du ein +geistvolles Gesicht und so weiter. Aber Schönheit, wirkliche Schönheit +hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck anfängt. Geist ist an sich eine +Art Übermaß und zerstört das Ebenmaß jedes Gesichts. Im Moment, wo man +sich ans Denken begibt, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder sonst +etwas Greuliches. Sieh dir doch mal alle die Männer an, die in gelehrten +Berufen etwas geleistet haben. Sind sie nicht alle ausgesprochen +häßlich? Natürlich die Männer der Kirche ausgenommen. Aber in der Kirche +denken sie eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig Jahren noch +unveränderlich dasselbe, was ihm als achtzehnjährigem Bengel beigebracht +wurde, und infolgedessen sieht er immer entzückend aus. Dein +geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast, +dessen Bild mich aber tatsächlich bezaubert, denkt niemals. Davon bin +ich felsenfest überzeugt. Es ist irgendein hirnloses schönes Geschöpf, +das wir im Winter immer bei uns haben sollten, wenn es keine Blumen zum +Anschauen gibt, und im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres +Geistes gebrauchen. Schmeichle dir also nicht, Basil: du siehst ihm ganz +und gar nicht ähnlich.« + +»Du verstehst mich gar nicht, Henry«, antwortete der Künstler. +»Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich. Das weiß ich selbst. In +Wirklichkeit wäre ich sogar traurig, sähe ich ihm ähnlich. Du brauchst +nicht mit den Achseln zu zucken. Ich sage dir die Wahrheit. Jede +körperliche und geistige Besonderheit umschwebt eine gewisse Tragik; so +eine Tragik etwa, wie sich das Schicksal der Könige auf ihren Irrwegen +in der Weltgeschichte an die Füße zu heften scheint. Es ist besser, +nicht anders zu sein als die Nebenmenschen. Die Häßlichen und die Dummen +haben das beste Leben der Welt. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel +sorglos begaffen. Sie wissen zwar nichts von Siegen, aber dafür bleibt +ihnen auch die Bekanntschaft mit den Niederlagen erspart. Sie leben +dahin, wie wir es alle sollten: ungestört, gleichgültig und ohne +Mißbehagen. Sie bringen anderen kein Unheil und empfangen es auch nicht +von fremder Hand. Dein Stand und dein Reichtum, Harry, mein Geist, +soviel ich davon habe, meine Kunst, soviel sie wert ist, Dorian Gray für +sein schönes Aussehen -- wir müssen alle für die Geschenke der Götter +leiden, schrecklich leiden.« + +»Dorian Gray? Heißt er so?« fragte Lord Henry und ging durch das Atelier +auf Basil Hallward zu. + +»Ja, so heißt er. Ich wollte dir's eigentlich nicht sagen.« + +»Aber warum nicht?« + +»Oh, ich kann's nicht so erklären. Wenn ich einen Menschen sehr, sehr +lieb habe, verrate ich an niemand seinen Namen. Das käme mir so vor, als +lieferte ich damit einen Teil von seinem Selbst aus. In mir hat sich +allmählich eine förmliche Liebe zu Geheimnissen entwickelt. Das scheint +noch die einzige Art zu sein, das Leben unserer Zeit mysteriös und +wunderbar zu machen. Die gewöhnlichste Begebenheit wird reich an +Schönheit, wenn man sie verbirgt. Ich sage auch nie, wohin ich reise, +wenn ich mal die Stadt verlasse. Wenn ich's täte, wäre meine ganze +Freude daran hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie bringt +doch irgendwie ein bißchen Romantik ins Leben. Du denkst jetzt gewiß, +ich bin furchtbar närrisch?« + +»Nicht im geringsten,« antwortete Lord Henry, »nicht im geringsten, mein +lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, daß ich verheiratet bin, und daß +der Hauptreiz der Ehe darin liegt, daß sie beiden Teilen ein Leben der +Täuschung zur Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau ist, und +meine Frau weiß nie, was ich tue und treibe. Wenn wir beisammen sind -- +wir sind gelegentlich beisammen, wenn wir zu einem Diner eingeladen sind +oder zum Herzog aufs Land fahren -- so erzählen wir uns die +verrücktesten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht. Meine Frau +versteht das vorzüglich, ohne Frage besser als ich. Sie verwickelt sich +bei den Tatsachen nie in Widersprüche, und bei mir kommt es beständig +vor. Wenn sie mich aber ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Ich +wünschte manchmal, sie täte es. Aber sie lacht mich nur aus.« + +»Ich kann die Art nicht leiden, wie du über deine Ehe sprichst«, sagte +Basil Hallward und ging langsam auf die Tür zu, die in den Garten +führte. »Ich glaube, du bist in Wirklichkeit ein ganz guter Ehemann und +schämst dich nur immer über diese Tugend. Du bist überhaupt ein +sonderbarer Kauz: du sagst nie was Moralisches und tust nie was +Schlechtes. Dein Zynismus ist nichts als Pose.« + +»Natürlichkeit ist immer eine Pose, und zwar die ärgerlichste Pose, die +ich kenne«, rief Lord Henry lachend aus, und die beiden jungen Männer +gingen zusammen in den Garten und ließen sich auf einer langen +Bambusbank nieder, die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand. +Das Sonnenlicht flirrte tanzend über die glatten Blätter. Im Grase +zitterten weiße Gänseblümchen. + +Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr: »Ich fürchte, ich muß gleich +fort, Basil,« brummte er, »aber bevor ich gehe, mußt du mir noch +unbedingt die Frage beantworten, die ich vorhin an dich gerichtet habe.« + +»Was war das?« sagte der Maler, die Augen fest zu Boden gerichtet. + +»Na, du weißt doch.« + +»Sicher nicht, Harry.« + +»Gut, dann will ich's dir nochmals sagen. Du sollst mir erklären, warum +du Dorian Grays Porträt nicht ausstellen willst. Ich bestehe darauf, den +wirklichen Grund zu wissen.« + +»Ich habe dir den wirklichen Grund schon gesagt.« + +»Nein, das hast du nicht getan. Du hast nur gesagt, weil zuviel von dir +selbst in dem Bilde stecke. Das ist aber kindisch.« + +»Harry,« sagte Basil Hallward und sah dem anderen gerade ins Gesicht, +»jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt ist, ist ein Porträt des +Künstlers, nicht des Modells. Das Modell ist nur der Anlaß, die +Gelegenheit. Nicht dies wird vom Maler enthüllt; nein, der Maler +offenbart auf der farbigen Leinwand eher sich selbst. Ich will also dies +Bild darum nicht ausstellen, weil ich fürchte, ich habe das Geheimnis +meiner eigenen Seele darin aufgedeckt.« + +Lord Henry lachte. »Und worin bestünde das?« fragte er. + +»Ich will es sagen«, antwortete Hallward; aber in sein Gesicht trat ein +Ausdruck von Ratlosigkeit. + +»Ich bin äußerst gespannt, Basil«, fuhr sein Gefährte mit einem Blick +nach ihm fort. + +»Oh, es ist wirklich nicht viel zu berichten, Harry,« entgegnete der +Maler, »und du verstehst es wohl kaum, wie ich fürchte. Vielleicht auch +glaubst du mir nicht einmal.« + +Lord Henry lächelte und bückte sich dann, um ein rosa angehauchtes +Gänseblümchen aus dem Grase zu pflücken, das er betrachtete. »Ich werde +dich ganz gewiß verstehen,« erwiderte er, die Blicke aufmerksam auf die +kleine, goldene, weißgefiederte Blütenscheibe gerichtet, »und was das +Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, daß es +unwahrscheinlich genug ist.« + +Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen, und die schweren, +vielgesternten Traubendolden der Fliederbüsche bewegten sich in der +schwülen Luft. Eine Grille begann an der Gartenmauer zu zirpen, und wie +ein blauer Faden huschte eine lange, dünne Wasserjungfer auf ihren +braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil Hallwards Herz +pochen zu hören und war neugierig, was wohl kommen möchte. + +»Die Geschichte ist einfach die«, sagte der Maler nach einer Weile. »Vor +zwei Monaten ging ich mal zu einem der Massenempfänge bei Lady Brandon. +Du weißt, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der +Gesellschaft zeigen, um das Publikum daran zu erinnern, daß wir keine +Wilden sind. Du sagtest mir einmal: in Frack und weißer Binde kann +selbst ein Börsenmensch in den Verdacht von Bildung kommen. Nun also, +ich war etwa zehn Minuten da und redete mit korpulenten, aufgeputzten, +vornehmen Witwen und platten Akademikern, da merkte ich plötzlich, daß +mich jemand anblickte. Ich drehte mich halb um und sah zum ersten Male +Dorian Gray. Ich spürte, wie ich blaß wurde, als sich unsere Blicke +begegneten. Ein seltsames Angstgefühl überkam mich. Ich wußte, ich stand +einem Menschen Aug-in-Auge gegenüber, dessen bloße Erscheinung so +bezaubernd auf mich wirkte, daß sie, wenn ich sie gewähren ließe, meine +ganze Natur, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst an sich reißen +müßte. Ich bedurfte nie in meinem Leben irgendwelcher Einwirkung von +außen her. Du weißt ja selbst, Harry, wie unabhängig ich von Haus aus +bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen; war es wenigstens so +lange, bis ich Dorian Gray traf. Dann -- aber ich weiß nicht, wie ich +dir das begreiflich machen soll. Irgend etwas schien mir im voraus zu +sagen, daß ich an einem schrecklichen Wendepunkt in meinem Leben stand. +Ich hatte die eigentümliche Empfindung, das Schicksal halte für mich die +ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten Schmerzen in +Bereitschaft. Ich bekam Furcht, und ich wandte mich zum Gehen. Das +Gewissen trieb mich nicht dazu: es war eine Art Feigheit. Ich bilde mir +nichts darauf ein, daß ich diese Flucht versuchte.« + +»In Wirklichkeit sind Gewissen und Feigheit ein und dasselbe. Gewissen +lautet nur die eingetragene Firma. Weiter gar nichts.« + +»Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube, du wohl auch nicht. +Einerlei aber, aus welchem Grunde es geschah -- es mag auch Stolz +gewesen sein, denn ich war schon immer sehr stolz -- jedenfalls eilte +ich der Türe zu. Natürlich prallte ich dabei mit Lady Brandon zusammen. +>Sie wollen doch nicht etwa schon davonlaufen, Herr Hallward?< kreischte +sie auf. Du kennst ja ihre schrille Stimme.« + +»Ja, sie ist ein Pfau in allem, bis auf die Schönheit«, sagte Lord Henry +und zerrupfte das Gänseblümchen zwischen seinen langen nervösen Fingern. + +»Ich konnte ihrer nicht loswerden. Sie zerrte mich zu den königlichen +Hoheiten hin, zu den Leuten mit Orden und Sternen und zu den ältlichen +Damen mit riesenhaften Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich +dabei ihren besten Freund. Ich hatte sie nur ein einziges Mal vorher +gesehen, aber sie setzte es sich in den Kopf, aus mir den Löwen des +Tages zu machen. Ich glaube, damals hatte gerade ein Bild von mir großen +Erfolg gehabt, wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz +darüber gebracht, und das ist ja im neunzehnten Jahrhundert das +Eichungsmaß der Unsterblichkeit. Plötzlich stand ich dem jungen Manne +gegenüber, dessen Äußeres mich vorhin so merkwürdig erschüttert hatte. +Wir standen ganz nahe beieinander und berührten uns beinah. Unsere +Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig von mir, aber ich bat +Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Vielleicht war es aber doch alles +in allem nicht so leichtsinnig. Es war einfach nicht zu umgehen. Wir +hätten auch ohne Vorstellung miteinander gesprochen. Ich bin dessen +gewiß. Dorian sagte es mir nachher. Auch er fühlte, daß unsere +Bekanntschaft Schicksalsfügung war.« + +»Und wie hat Lady Brandon den wunderbaren Jüngling beschrieben?« fragte +sein Gefährte. »Ich weiß, es ist ihre Manier, von jedem ihrer Gäste eine +kleine Skizze zu geben. Ich erinnere mich, wie sie mich mal einem +schrecklichen, alten Herrn mit puterrotem Gesicht vorstellte, dessen +Brust mit Orden und Bändern beklext war, und mir in einem tragischen +Flüsterton, der für jedermann im Zimmer hörbar war, die erstaunlichsten +Einzelheiten über ihn ins Ohr zischelte. Ich mußte einfach davonlaufen. +Ich entdecke die Leute gerne von mir selbst aus. Aber Lady Brandon +behandelt ihre Gäste genau so, wie ein Auktionator seine Waren. Sie +erklärt sie einem entweder so lange, bis nichts mehr davon übrigbleibt, +oder sie sagt alles, gerade mit Ausnahme dessen, was man wissen will.« + +»Die arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie«, sagte Hallward +zerstreut. + +»Mein guter Junge, sie wollte einen Salon gründen und hat es nur bis zu +einem Restaurant gebracht. Wie soll ich sie da bewundern? Aber sage nun +endlich, was sie über Herrn Dorian Gray erzählt hat?« + +»Oh, so irgend was wie >Entzückender junger Mensch -- seine arme Mutter +und ich ganz unzertrennlich -- vergaß ganz was er treibt -- fürchte fast +-- gar nichts -- ach ja, spielt Klavier -- oder war es die Geige, lieber +Herr Gray?< Wir mußten beide lachen und wurden sofort Freunde.« + +»Lachen ist wohl lange nicht der schlechteste Anfang für eine +Freundschaft, und gewiß ihr schönstes Ende«, sagte der junge Lord und +pflückte sich noch ein Gänseblümchen. + +Hallward schüttelte den Kopf. »Du hast ja keine Ahnung, was Freundschaft +ist, Harry,« murmelte er, »und ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast +alle Welt gern; mit anderen Worten: dir sind alle gleichgültig.« + +»Wie grausam ungerecht von dir!« rief Lord Henry, stieß seinen Hut in +den Nacken und sah zu den Lämmerwolken empor, die gleich verwirrten +Knäueln glänzendweißer Seide über das türkisfarbene Gewölbe des Himmels +dahinschifften. »Ja, grausam ungerecht von dir. Ich unterscheide die +Leute sehr scharf. Ich wählte meine Freunde nach ihrem guten Aussehen, +meine Bekannten nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem +guten Verstande. Der Mensch kann nicht vorsichtig genug sein in der Wahl +seiner Feinde. Ich habe keinen einzigen, der ein Narr ist. Es sind +sämtlich Leute von einer gewissen geistigen Höhe, und daher schätzen sie +mich auch alle. Bin ich sehr eitel? Ich glaube, es ist ein bißchen +eitel.« + +»Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung zählte ich nur +unter deine Bekanntschaften.« + +»Mein lieber, alter Basil, du bist weit, weit mehr als ein Bekannter.« + +»Und weit weniger als ein Freund! Wohl so eine Art Bruder?« + +»Pah, Bruder! Bleibe mir mit Brüdern vom Halse. Mein ältester will nicht +sterben, und meine jüngeren tun scheinbar nichts anderes.« + +»Harry!« rief Basil mit gerunzelter Stirne. + +»Mein lieber Junge, ich meine es nicht so ernst. Aber ich kann mir nicht +helfen, ich verabscheue meine Verwandten. Ich vermute, das schreibt sich +daher, daß kein Mensch bei einem anderen seine eigenen Fehler vertragen +kann. Ich verstehe durchaus die Wut der englischen Demokraten auf die +sogenannten Laster der oberen Stände. Die Massen fühlen, daß +Trunkenheit, Dummheit und Unsittlichkeit zu ihren Vorrechten gehören +sollten, und daß jeder von uns, der sich darin bloßstellt, gewissermaßen +auf ihrem Gebiete wildert. Als damals der Scheidungsprozeß des armen +Southwark spielte, war ihre Entrüstung wirklich prachtvoll. Und trotzdem +lebt meiner Überzeugung nach nicht der zehnte Teil des Proletariats der +Sitte gemäß.« + +»Ich stimme keinem einzigen deiner Worte bei, und, was mehr ist, Harry, +du selbst glaubst ja auch nicht im mindesten daran.« + +Lord Henry strich seinen braunen Spitzbart und stieß mit dem zierlichen +Spazierstock aus Ebenholz gegen die Kappe seines eleganten Lackstiefels. +»Wie englisch du bist, Basil! Du machst heute zum zweitenmal diesen +Einwurf. Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt -- an +sich schon immer eine Unüberlegtheit --, so fällt es ihm nicht im Traum +ein, zu erwägen, ob die Idee richtig oder falsch ist. Das einzige, was +ihm von Belang scheint, ist das, ob der Sprecher selbst daran glaubt. +Aber der Wert einer Idee hat nicht das geringste mit der Aufrichtigkeit +dessen zu schaffen, der sie ausspricht. Aller Wahrscheinlichkeit nach +wird die Idee um so geistreicher sein, je unaufrichtiger der Mann ist, +weil sie in diesem Fall weder die Färbung seiner Bedürfnisse noch seiner +Wünsche noch seiner Vorurteile annehmen wird. Indes habe ich nicht die +Absicht, politische, soziale oder metaphysische Diskussionen mit dir zu +führen. Mir sind Menschen lieber als Grundsätze und grundsatzlose +Menschen überhaupt das Liebste auf Erden. Erzähle mir mehr von Dorian +Gray. Wie oft siehst du ihn?« + +»Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn mal einen Tag nicht sähe. +Er ist für mich einfach ein Bedürfnis.« + +»Wie merkwürdig! Ich glaubte immer, du kümmertest dich um nichts anderes +als um deine Kunst.« + +»Er ist für mich jetzt meine ganze Kunst«, sagte der Maler ernsthaft. +»Manchmal glaube ich, Harry, daß es nur zwei wichtige Epochen in der +Weltgeschichte gibt. Die erste ist das Auftreten einer neuen +Kunsttechnik und die zweite die Erscheinung einer neuen Persönlichkeit +in der Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war, +das war das Gesicht des Antinous für die spätgriechische Bildhauerkunst, +und das wird eines Tages für mich das Gesicht Dorian Grays sein. Worauf +es dabei ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere. +Natürlich hab' ich das alles getan. Aber er ist weit mehr für mich als +ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich will gewiß nicht +behaupten, daß ich unzufrieden mit dem bin, was ich nach ihm gemacht +habe, oder daß seine Schönheit derart ist, daß sie die Kunst nicht +ausdrücken könne. Es gibt überhaupt nichts, was die Kunst nicht +ausdrücken kann, und ich weiß: was ich gemacht habe, seitdem ich Dorian +Gray kenne, ist gute Arbeit, ja, die gelungenste Arbeit meines Lebens. +Aber auf irgendeine seltsame Weise -- ich glaube kaum, daß du das +verstehen wirst -- hat mir seine Persönlichkeit eine vollständig neue +Art der Kunst, einen durchaus neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge +anders, ich denke darüber anders. Ich kann jetzt das Leben auf eine Art +festhalten, die mir früher nicht gegeben war. >Ein Traum von Form in +unseren Tagen des Denkens<: wer war es, der so sagte? Ich hab's +vergessen, aber das bedeutet Dorian Gray für mich. Die bloße sichtbare +Gegenwart dieses Knaben -- denn für mich ist er kaum mehr als das, wenn +er auch schon über die Zwanzig -- seine bloße sichtbare Gegenwart -- +ach! ich glaube nicht, daß du einen Begriff davon hast, was sie für mich +bedeutet! Ohne selbst es zu wissen, enthüllt er mir die Linien einer +neuen Schule, einer Schule, in der enthalten ist die ganze Leidenschaft +der Romantik und die ganze Vollkommenheit des griechischen Geistes. Die +Harmonie von Seele und Leib, wieviel ist das doch! Wir in unserer +Verblendung haben die beiden voneinander gerissen und haben uns einen +Realismus erfunden, der gewöhnlich ist, und einen Idealismus, der leer +ist. Harry! wenn du wissen könntest, was mir Dorian Gray ist! Erinnerst +du dich an die Landschaft von mir, für die mir Agnew ein so wahnsinniges +Geld angeboten hat und von der ich mich doch nie trennen wollte? Es ist +sicher eins der besten Stücke, die ich je gemacht habe. Und warum? Weil +Dorian Gray neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein ganz feines +Fluidum strömte von ihm zu mir, und zum erstenmal in meinem Leben +entdeckte ich in der simpeln Waldlandschaft das Wunder, nach dem ich +immer gesucht und das ich nie gefunden hatte.« + +»Basil, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte. Ich muß Dorian +Gray kennenlernen.« + +Hallward schnellte von der Bank auf und ging im Garten hin und her. Nach +einer Weile kam er zurück. + +»Harry,« sagte er, »Dorian Gray ist für mich nichts als ein +künstlerisches Motiv. Vielleicht fändest du gar nichts in ihm. Ich finde +alles in ihm. Er ist in Wirklichkeit nie mehr in meiner Arbeit lebendig, +als wenn kein Schatten von ihm darin ist. Er ist für mich, wie ich +sagte, die Anregung zu einem Stil. Ich finde ihn in den Schwingungen +gewisser Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit gewisser +Farben. Das ist alles.« + +»Warum aber willst du dann sein Bild nicht ausstellen?« fragte Lord +Henry. + +»Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck all dieser ganz +merkwürdigen Künstlervergötterung hineingelegt habe, von der ich +natürlich nie zu ihm sprechen wollte. Er hat von alledem keine Ahnung. +Er soll nie etwas davon ahnen. Aber die Welt könnte es erraten; und ich +will meine Seele ihren seichten, spähenden Augen nicht entblößen. Mein +Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop bekommen. Es ist zu viel von mir +selbst in dem Dinge, Harry -- zu viel von mir selbst.« + +»Dichter nehmen's nicht so genau wie du. Die wissen, wie einträglich es +ist, Leidenschaft zu veröffentlichen. Ein gebrochenes Herz bringt es +heutzutage zu einer ganzen Reihe von Auflagen.« + +»Ich finde sie darum eben abscheulich!« rief Hallward aus. »Ein Künstler +soll Schönes schaffen, aber er soll nichts von seinem eigenen Leben +hineintragen. Wir leben in einer Zeit, wo die Menschen aus der Kunst +eine Art Autobiographie zu machen wünschen. Wir haben eben den klaren +Begriff für Schönheit verloren. Eines Tages will ich der Welt zeigen, +was sie ist, und deshalb soll die Welt mein Bild Dorian Grays niemals +sehen.« + +»Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will mit dir nicht +streiten. Nur die geistig Entkernten streiten sich gern. Sag' mir, hat +dich Dorian Gray sehr lieb?« + +Der Maler dachte ein paar Augenblicke nach. »Er hat mich gern«, +antwortete er nach einer Weile; »sicher hat er mich gern. Natürlich +schmeichle ich ihm fürchterlich. Ich finde eine ganz besondere Lust +daran, ihm Dinge zu sagen, die mir später leid tun, wie ich ganz genau +weiß. In der Regel ist er auch reizend zu mir, und wir sitzen dann im +Atelier und schwatzen von tausend Dingen. Dann und wann ist er +allerdings greulich gedankenlos und scheint große Freude darin zu +finden, mir wehe zu tun. Dann, Harry, habe ich das Gefühl, daß ich +jemand meine ganze Seele überantwortet habe, der sie behandelt wie eine +Blume für das Knopfloch, wie ein kleines Ehrenzeichen, mit dem man seine +Eitelkeit befriedigt, wie einen Zierat für einen Sommertag.« + +»Sommertage, Basil, pflegen manchmal lange zu währen«, murmelte Lord +Henry. »Vielleicht wirst du seiner früher müde, als er deiner. Es ist +sehr traurig, daran zu denken, aber es ist ohne Zweifel wahr, daß das +Genie die Schönheit überlebt. Das erklärt auch die Tatsache, daß wir uns +soviel Mühe geben, uns mit Bildung vollzupfropfen. In dem wilden +Existenzkampfe ums Dasein wollen wir alle etwas Dauerhaftes haben, und +so füllen wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der dummen +Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten. Der durch und durch +unterrichtete Mann -- das ist das moderne Ideal. Und das Gehirn dieses +durch und durch unterrichteten Mannes hat etwas Fürchterliches. Es +gleicht einem Kuriositätenladen, in dem es lauter Ungeheuerlichkeiten +voll Staub gibt, und wo jeder Gegenstand über seinen wahren Wert hinaus +ausgezeichnet. Immerhin, ich glaube, du wirst zuerst müde werden. Eines +Tages wirst du deinen jungen Freund anschauen und finden, daß er etwas +verzeichnet ist, oder du wirst an seiner Farbe etwas auszusetzen haben +oder irgend so etwas. Du wirst ihm dann in deinem Herzen bittere +Vorwürfe machen und ganz ernsthaft überzeugt sein, daß er sich recht +schlecht gegen dich benommen hat. Wenn er dich dann das nächstemal +besucht, wirst du völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Das wird +sehr schade sein, denn es wird dich selbst verändern. Was du mir da +erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, eine Romanze der Kunst möchte man +es nennen, und das Schlimmste beim Erleben von Gedichten ist nur, daß es +einen so ganz unpoetisch zurückläßt.« + +»Harry, ich bitte, sprich nicht so. Solang' ich lebe, wird mich die +Persönlichkeit Dorian Grays beherrschen. Du kannst meine Empfindung +nicht nachfühlen. Du wandelst dich zu oft.« + +»Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich sie nachempfinden. Die +treuen Menschen kennen nur die triviale Seite der Liebe; die Treulosen +allein erfahren die Tragödien der Liebe.« Und Lord Henry zündete an +einem zierlichen silbernen Büchschen ein Streichholz an und begann eine +Zigarette zu rauchen, mit jener so selbstbewußten, zufriedenen Miene, +als hätte er den Sinn der ganzen Welt in einen Satz zusammengefaßt. Man +hörte ein leises Rauschen von zirpenden Sperlingen in den grünen, wie +mit glänzendem Lack überzogenen Efeublättern, und die blauen +Wolkenschatten jagten wie Schwalben über das Gras. Wie reizend war es +doch in dem Garten und wie entzückend waren die Gefühlsregungen anderer +Leute! -- weit entzückender als ihre Gedanken, so schien es ihm. Des +Menschen eigene Seele und die Leidenschaft seiner Freunde -- das sind +die fesselnden Dinge des Lebens. Er stellte sich mit geheimem Vergnügen +das langweilige Frühstück vor, das er durch seinen langen Besuch bei +Basil Hallward versäumt hatte. Wäre er zu seiner Tante gegangen, hätte +er dort sicher Lord Goodbody getroffen, und das ganze Gespräch hätte +sich mit der Armenernährung und der Notwendigkeit von Musterwohnhäusern +beschäftigt. Menschen jedes Standes hätten die Wichtigkeit gerade jener +Tugenden gepredigt, für die sie in ihrem eigenen Leben gar keine +Verwendung hatten. Der Reiche hätte von dem Werte der Sparsamkeit +geredet, und der Träge mit wahrhafter Beredsamkeit über die Würde der +Arbeit. Es war reizend, all dem entgangen zu sein. Als er an seine Tante +dachte, schien ihm etwas einzufallen. Er wandte sich zu Basil und sagte: +»Mein lieber Junge, ich erinnere mich jetzt.« + +»Woran erinnerst du dich, Harry?« + +»Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.« + +»Wo war das?« fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln. + +»Schau' doch nicht so böse drein, Basil. Es war bei meiner Tante, Lady +Agatha. Sie erzählte mir, sie sei einem wunderhübschen jungen Menschen +begegnet, der ihr im East-End helfen wolle, und er heiße Dorian Gray. +Ich muß zugeben, sie hat mir nie etwas darüber gesagt, daß er so hübsch +sei. Frauen haben kein Verständnis für Schönheit, wenigstens gute Frauen +nicht. Sie sagte, daß er sehr ernst sei und eine edle Seele habe. Ich +stellte mir natürlich sofort ein Wesen mit Brille und wallendem Haar und +gräßlich vielen Sommersprossen vor, das auf riesigen Füßen umherstapfe. +Ich wünsche jetzt, ich hätte gewußt, daß er dein Freund ist.« + +»Ich bin sehr froh, daß du es nicht gewußt hast, Harry.« + +»Warum?« + +»Ich will nicht, daß du ihn kennenlernst.« + +»Du willst nicht, daß ich ihn kennenlerne?« + +»Nein.« + +»Herr Dorian Gray ist im Atelier«, sagte der Diener, der in den Garten +hinaustrat. + +»Jetzt mußt du mich vorstellen!« rief Lord Henry lachend. Der Maler +wandte sich zu seinem Diener, der blinzelnd in der Sonne dastand: +»Bitten Sie Herrn Gray, zu warten, Parker; ich komme in ein paar +Minuten.« Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus. + +Dann sah der Maler Lord Henry an. »Dorian Gray ist mein teuerster +Freund«, sagte er. »Er hat eine schlichte und edle Seele. Deine Tante +hatte ganz recht mit dem, was sie über ihn sagte. Verdirb ihn mir nicht. +Versuche nicht, Einfluß auf ihn auszuüben. Dein Einfluß wäre +verderblich. Die Welt ist groß, und es gibt eine Menge köstlicher +Menschen auf ihr. Raube mir nicht den einzigen Menschen, der meiner +Kunst ihren ganzen Zauber verleiht, den sie hat: mein Leben als Künstler +hängt von ihm ab! Denke daran, Harry, ich vertraue dir.« Er sprach sehr +langsam, und die Worte schienen sich ihm gegen seinen Willen zu +entringen. + +»Was für Unsinn du redest!« sagte Lord Henry lächelnd, nahm Hallward +unter den Arm und führte ihn in das Haus. + + + + +Zweites Kapitel + + +Als sie eintraten, erblickten sie Dorian Gray. Er saß am Klavier, mit +dem Rücken ihnen zu, und blätterte in einem Notenbande mit Schumanns +Waldszenen. »Die mußt du mir leihen, Basil!« rief er aus. »Ich möchte +sie spielen lernen. Sie sind geradezu entzückend.« + +»Das hängt ganz davon ab, wie du mir heute sitzen wirst, Dorian.« + +»Ach, ich habe das Sitzen lange satt, und ich will gar kein lebensgroßes +Bild von mir«, antwortete der Jüngling und schwang sich in dem +Musikstuhl auf eine eigensinnige, launische Knabenart herum. Als er aber +Lord Henry erblickte, stieg für einen Augenblick ein schwaches Rot in +seine Wangen, und er sprang auf. »Ich bitte um Entschuldigung, Basil, +ich wußte nicht, daß jemand bei dir ist.« + +»Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter Freund von Oxford her. Ich +habe ihm gerade erzählt, wie musterhaft du sitzen kannst, und jetzt hast +du alles verdorben.« + +»Mir haben Sie das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, nicht +verdorben, Herr Gray«, sagte Lord Henry, ging auf ihn zu und streckte +ihm die Hand entgegen. »Meine Tante hat oft von Ihnen gesprochen. Sie +sind einer ihrer Lieblinge und, wie ich fürchte, auch ihrer Opfer.« + +»Ich stehe zur Zeit auf Lady Agathas schwarzer Liste«, antwortete Dorian +mit einem komisch reuigen Gesichtsausdruck. »Ich hatte ihr versprochen, +sie letzten Dienstag nach einem Klub in Whitechapel zu begleiten, und +ich habe dann die Abmachung vergessen. Wir sollten da miteinander +vierhändig spielen -- drei Stücke glaube ich. Ich weiß nun nicht, was +sie mir dazu sagen wird. Ich habe Angst, ihr einen Besuch zu machen.« + +»Oh, ich werde Sie mit meiner Tante versöhnen. Sie ist Ihnen äußerst +zugetan. Und ich glaube auch, es schadet nichts, daß Sie nicht dort +waren. Die Zuhörer haben sicher angenommen, es sei vierhändig gespielt +worden. Wenn sich Tante Agatha ans Klavier setzt, macht sie für zwei +Personen reichlich Lärm.« + +»Sie sprechen sehr schlecht von ihr, und mir machen Sie auch gerade kein +Kompliment damit«, antwortete Dorian lachend. + +Lord Henry sah ihn an. Ja, er war wirklich wunderbar schön, mit seinen +feingeschwungenen dunkelroten Lippen, seinen offenen blauen Augen und +seinem gewellten, goldblonden Haar. In seinem Gesicht war ein Ausdruck, +der sofort Vertrauen erweckte. Aller Glanz der Jugend lag darin und +ebenso all die leidenschaftliche Reinheit der Jugend. Man fühlte, daß er +bisher noch nicht von der Welt befleckt war. Kein Wunder, daß ihn Basil +Hallward anbetete. + +»Sie sind viel zu hübsch, um sich mit Wohltätigkeit abzugeben, Herr Gray +-- viel zu hübsch!« Und Lord Henry warf sich auf den Diwan und öffnete +seine Zigarettendose. + +Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt und seine Pinsel +zurechtgemacht. Er sah etwas gequält aus, und als er Lord Henrys letzte +Bemerkung hörte, blickte er zu ihm hin, sann einen Augenblick nach und +sagte dann: »Harry, ich möchte das Bild heute fertig kriegen. Fändest du +es sehr grob von mir, wenn ich dich jetzt bäte, uns allein zu lassen?« + +Lord Henry lächelte und sah Dorian Gray an. »Soll ich gehen, Herr Gray?« +fragte er. + +»Oh, bitte, nein, Lord Henry. Ich sehe, Basil hat wieder einen seiner +schlechten Tage, und ich kann ihn nicht vertragen, wenn er so brummt. +Außerdem möchte ich von Ihnen erfahren, warum ich mich nicht mit +Wohltätigkeit befassen soll?« + +»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Herr Gray. Es ist ein so +langweiliges Thema, daß man schon ernsthaft darüber reden müßte. Aber +jetzt geh ich auf keinen Fall, nachdem Sie mir erlaubt haben, +dazubleiben. Du hast doch nichts im Ernst dagegen, Basil? Du hast mir +oft genug gesagt, daß es dir angenehm sei, wenn deine Modelle mit jemand +plaudern können.« + +Hallward biß sich auf die Lippe. »Wenn es Dorian wünscht, wirst du +natürlich dableiben. Dorians Launen sind Gesetze für jedermann, außer +für ihn selbst.« + +Lord Henry nahm seinen Hut und seine Handschuhe. »Trotz deiner +dringenden Aufforderung, Basil, fürchte ich, gehen zu müssen. Ich habe +mit jemand eine Verabredung im Orleans-Klub. Adieu, Herr Gray! Bitte, +besuchen Sie mich doch mal eines Nachmittags in Curzon Street. Um fünf +Uhr treffen Sie mich fast immer. Schreiben Sie mir, bitte, wann Sie +kommen. Es täte mir sehr leid, wenn Sie mich verfehlten.« + +»Basil,« rief Dorian Gray, »wenn Lord Henry Wotton geht, dann gehe ich +auch. Du bringst ja beim Malen nie die Lippen auseinander, und es ist +furchtbar ermüdend, auf einem Podium zu stehen und sich anzustrengen, +freundlich auszusehen. Bitte ihn, dazubleiben. Ich bestehe darauf.« + +»Bleib, Harry, du machst Dorian damit ein Vergnügen und auch mir«, +sagte Hallward, ohne von seinem Bilde aufzublicken. »Er hat ganz recht, +ich spreche nie ein Wort während der Arbeit und höre ebensowenig zu, und +das muß sehr langweilig für meine unglücklichen Modelle sein. Ich bitte +dich also, bleib.« + +»Was fange ich aber mit meinem Mann im Orleans an?« + +Der Maler lachte. »Ich glaube, damit wird es keine Schwierigkeit haben. +Setz dich nur wieder, Harry. Und jetzt, Dorian, geh auf das Podium und +bewege dich nicht zuviel und achte auch nicht auf das, was Lord Henry +sagt. Er hat einen sehr bösen Einfluß auf alle seine Freunde, nur mich +ausgenommen.« + +Dorian Gray bestieg das Podium mit der Miene eines jungen griechischen +Märtyrers und stieß, zu Lord Henry gewandt, der ihm gleich gut gefallen +hatte, einen kleinen drolligen Seufzer aus. Dieser Mann war so ganz +anders als Basil. Die beiden bildeten einen entzückenden Gegensatz. Und +er hatte ein so schönes Organ. Nach ein paar Augenblicken sagte Dorian +zu ihm: »Haben Sie wirklich einen so bösen Einfluß, Lord Henry? Ist es +so arg, wie Basil sagt?« + +»Es gibt keinen sogenannten guten Einfluß, Herr Gray. Jeder Einfluß ist +unmoralisch -- unmoralisch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus.« + +»Wieso?« + +»Weil jemand beeinflussen soviel ist wie ihm die eigene Seele leihen. Er +denkt dann nicht mehr seine natürlichen Gedanken und brennt nicht mehr +in seinem natürlichen Feuer. Seine Tugenden sind gar nicht seine +Tugenden. Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind nur +ausgeborgte. Er wird ein Echo für die Töne eines anderen, Schauspieler +einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben wurde. Der Sinn des Daseins +ist: Selbstentwicklung. Die eigene Natur voll zum Ausdruck zu bringen -- +diese Aufgabe hat jeder von uns hier zu lösen. Heutzutage hat jeder +Mensch Angst vor sich. Sie haben ihre heiligste Pflicht vergessen, +nämlich die gegen sich selbst. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren +den Hungernden und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen darben +und gehen nackt. Der Mut ist unserem Geschlecht abhanden gekommen. +Vielleicht haben wir ihn nie wirklich besessen. Die Furcht vor der +Gesellschaft als der Grundlage der Sittlichkeit, und die Furcht vor +Gott, als dem Geheimnis der Religion -- das sind die zwei Dinge, die uns +beherrschen. Und doch --« + +»Dorian, dreh den Kopf mal ein wenig mehr nach rechts, sei so gut«, +sagte der Maler, der ganz in sein Werk vertieft war, aber doch gemerkt +hatte, daß in des Jünglings Gesicht ein Ausdruck getreten war, den er +vorher nie darin gesehen hatte. + +»Und doch,« fuhr Lord Henry mit seiner tiefen musikalischen Stimme fort, +während er die Hand in der anmutigen Art bewegte, die er schon +seinerzeit in Eton gehabt hatte, »ich glaube, wenn die Menschen nur ihr +eigenes Leben voll, bis auf den letzten Rest ausleben würden, jedes +Gefühl Gestalt bekommen lassen, jeden Gedanken ausdrücken, jeden Traum +in Dasein umsetzen wollten -- ich glaube, dann käme in die Welt ein +solcher Schwung von neuer Freudigkeit, daß wir alle die Krankheiten des +Mittelalters vergäßen und zum hellenischen Ideal zurückkehrten, ja wir +kämen vielleicht zu etwas Feinerem und Reicherem, als das hellenische +Ideal war. Aber selbst der Tapferste unter uns hat Angst vor sich +selber. Die Selbstverstümmelung der Wilden hat ihr tragisches +Überbleibsel in der Selbstverleugnung, die unser Leben verstümmelt. Wir +büßen für unsere Entsagungen. Jeder Trieb, den wir zu ersticken suchen, +frißt im Innern weiter und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal +und hat sich durch die Sünde befreit, denn Tat ist immer eine Art +Reinigung. Nichts bleibt davon zurück als die Erinnerung an ein +Vergnügen oder die schmerzliche Wollust der Reue. Der einzige Weg, eine +Versuchung zu bestehen, ist, sich ihr hinzugeben. Widerstehen Sie ihr, +und Ihre Seele erkrankt vor Sehnsucht nach der Erfüllung, die sie sich +selber verweigert hat, erkrankt vor dem Verlangen nach dem, was ihre +ungeheuerlichen Gesetze ungeheuerlich und ungesetzmäßig gemacht haben. +Es ist wohl gesagt worden, die großen Ereignisse der Welt gingen im +Gehirn vor sich. Im Gehirn und ganz allein im Gehirn werden auch die +großen Sünden der Welt begangen. Sie, Herr Gray, Sie selbst mit Ihrer +rosenroten Jugend und Ihrer rosenblassen Knabenunschuld, Sie haben schon +Leidenschaften erlebt, die Ihnen Angst einjagten, haben Gedanken gehabt, +die Sie in Schrecken setzten, haben wachend und schlafend Träume gehabt, +deren bloße Erinnerung Ihre Wangen schamrot werden ließ --« + +»Hören Sie auf,« stammelte Dorian Gray, »hören Sie auf, Sie machen mich +ganz wirr. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Antwort +darauf, aber ich kann sie nicht finden. Sagen Sie nichts mehr! Lassen +Sie mich nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, dem nicht +nachzudenken.« + +Etwa zehn Minuten stand er bewegungslos da, mit halboffenen Lippen und +seltsam leuchtenden Augen. Er war sich dumpf bewußt, daß ganz neue +Einflüsse in ihm arbeiteten. Und doch schien es, als kämen sie in +Wirklichkeit aus seinem eigenen Innern. Die paar Worte, die Basils +Freund zu ihm gesagt hatte -- ohne Zweifel zufällig hingeworfene Worte +voll absichtlicher Paradoxie -- hatten eine geheime Saite seiner Seele +berührt, die vordem nie berührt worden war, die er aber nun zittern und +in seltsamer Wildheit schluchzen hörte. + +Musik hatte ihn so ähnlich aufgewühlt. Musik hatte ihn oft in Aufruhr +gebracht. Aber Musik war etwas Unbestimmtes. Sie bringt keine neue Welt +in uns hervor; schafft eher ein neues Chaos in uns. Worte! Bloße Worte! +Wie schrecklich die waren! Wie klar und lebendig und grausam! Man konnte +ihnen nicht entrinnen. Und doch, welch tiefer Zauber steckte in ihnen! +Sie schienen die Kraft zu haben, formlosen Dingen eine greifbare Gestalt +zu geben, und schienen eine Musik in sich zu bergen, so süß wie die der +Geige oder der Laute. Bloße Worte! Gab es denn irgend etwas so +Wirkliches wie Worte? + +Ja; es hatte in seiner Knabenzeit Dinge gegeben, die ihm unbegreiflich +geblieben waren. Jetzt verstand er sie. Plötzlich bekam das Leben für +ihn lodernde Farben. Nun schien es ihm, als sei er mittenhin durch Feuer +gewandelt. Warum hatte er es nie gemerkt? + +Lord Henry beobachtete ihn mit einem feinspürenden Lächeln. Er verstand +sich gut auf jenen psychologischen Moment, in dem man kein Wort sagen +darf. Er fühlte sich sehr stark interessiert. Die jähe Wirkung seiner +Worte machte ihn erstaunen; nun entsann er sich eines Buches, das er mit +sechzehn Jahren gelesen und das ihm viel bis dahin Unbekanntes enthüllt +hatte, und er fragte sich, ob Dorian Gray jetzt wohl eine ähnliche +Erfahrung erlebe. Er hatte nur einen Pfeil ins Blaue geschossen. Hatte +er das Ziel getroffen? Wie anziehend doch dieser Junge war! + +Inzwischen malte Hallward in jenen wundervollen, kühnen Zügen weiter, +die das Zeichen aller wahren Feinheit und Vollkommenheit sind, denn die +kann der Kunst nur aus der Kraft werden. Er merkte die wortlose Stille +gar nicht. + +»Basil, ich habe jetzt genug von dem Stehen!« rief Dorian plötzlich aus. +»Ich muß hinaus und mich im Garten hinsetzen. Die Luft hier ist zum +Ersticken.« + +»Mein Bester, das tut mir wirklich leid. Wenn ich male, kann ich an +nichts anderes denken. Aber du hast nie besser Modell gestanden. Du +warst ganz ruhig. Und ich habe endlich den Ausdruck herausgebracht, den +ich gesucht habe -- die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen. +Ich weiß nicht, was Harry dir erzählt hat, aber sicher hat er es +bewirkt, daß du den prachtvollsten Ausdruck hast. Ich vermute, er hat +dir Komplimente gemacht. Du darfst ihm nur kein einziges Wort glauben.« + +»Er hat mir nicht das kleinste Kompliment gemacht. Vielleicht ist das +der Grund, daß ich wirklich kein Wort von dem glaube, was er gesagt +hat.« + +»Sie wissen selbst, daß Sie jedes Wort davon glauben«, erwiderte Lord +Harry, der ihn mit seinen weichen, träumerischen Augen ansah. »Wir +wollen zusammen in den Garten gehen. Es ist furchtbar heiß hier im +Atelier. Basil, laß uns irgendein Eisgetränk geben, irgendwas mit +Erdbeeren darin.« + +»Gern, Harry. Klingele nur selbst, und wenn Parker kommt, will ich ihm +sagen, was Ihr haben wollt. Ich muß erst den Hintergrund hier noch +fertig machen und komme dann später nach. Halte mir Dorian aber nicht zu +lange fest. Ich war nie in besserer Malstimmung als heute. Dies Porträt +wird mein Meisterwerk. Wie es da steht, ist es schon mein Meisterwerk.« + +Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand dort Dorian Gray, wie er +sein Gesicht hinter den großen, kühlen Blütenbüscheln der +Fliedersträuche versteckte und fieberhaft ihren Duft einsog, als tränke +er Wein. Er trat nahe an ihn heran und legte ihm die Hand auf die +Achsel. »Sie haben ganz recht, so zu tun«, sagte er leise. »Nichts hilft +der Seele besser als die Sinne, sowie den Sinnen nichts besser als die +Seele helfen kann.« + +Der Jüngling schreckte auf und trat einen Schritt zurück. Er war ohne +Hut, und das Blattgewirr hatte seine widerspenstigen Locken aufgewühlt +und ihre goldblonden Strähnen in Unordnung gebracht. In seinen Augen lag +ein Ausdruck von Furcht, wie ihn Menschen haben, die man jäh aus dem +Schlaf reißt. Seine zartgeformten Nasenflügel bebten, und ein geheimer +Nerv zuckte leis an den scharlachroten Lippen, so daß sie beständig +zitterten. + +»Ja,« fuhr Lord Henry fort, »das ist eines der großen Geheimnisse des +Daseins -- die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele +heilen können. Sie sind ein wunderbares Menschenkind! Sie wissen mehr, +als Ihnen bewußt ist, gerade wie Sie weniger wissen, als Ihnen dienlich +ist.« + +Dorian Gray runzelte die Stirn und wendete den Kopf weg. Ein +unwiderstehlicher Reiz zog ihn zu diesem großen, anmutigen jungen Mann +hin, der da neben ihm stand. Sein romantisches, olivenfarbiges Gesicht +und der müde Ausdruck darin fesselten ihn. Es war etwas in dem müden Ton +seiner Stimme, was völlig in Bann schlug. Auch seine Hände, kühl, weiß +und blumenhaft, zogen an. Sie bewegten sich bei seinen Worten, +begleiteten sie wie Musik und schienen ihre eigene Sprache zu reden. +Aber er hatte auch Angst vor ihm und schämte sich dieser Angst. Warum +hatte ein Fremder kommen müssen, um ihn sich selber zu offenbaren? Er +kannte Basil Hallward nun seit Monaten, aber diese Freundschaft hatte +ihn niemals verwandelt. Jetzt war plötzlich jemand in sein Leben +getreten, der ihm des Lebens Mysterium enthüllt zu haben schien. Und +doch, wovor sollte er sich fürchten? Er war kein Schulknabe und kein +kleines Mädchen. Es war töricht, Angst zu haben. + +»Kommen Sie und setzen wir uns in den Schatten«, sagte Lord Henry. +»Parker hat uns was zu trinken gebracht, und wenn Sie noch länger in +solcher Sonnenglut stehenbleiben, werden Sie sich Ihren Teint verderben, +und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich nicht von +der Sonne verbrennen lassen. Es würde Ihnen schlecht stehen.« + +»Was läge weiter daran?« rief Dorian Gray und lachte, als er sich auf +eine Bank am Ende des Gartens setzte. + +»Alles sollte Ihnen daran liegen, Herr Gray.« + +»Wieso?« + +»Weil Sie die wundervollste Jugend haben, und Jugend ist das einzige, +dessen Besitz einen Wert hat.« + +»Ich empfinde das nicht, Lord Henry.« + +»Nein, jetzt empfinden Sie es nicht. Später einmal, wenn Sie alt, +runzlig und häßlich sind, wenn das Denken Furchen in Ihre Stirne +gegraben und die Leidenschaft Ihre Lippen mit ihrem schrecklichen Feuer +verbrannt hat, dann werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt +können Sie hingehen, wo Sie wollen, und Sie berücken die ganze Welt! +Wird das immer so sein?... Sie haben ein wundervoll schönes Gesicht, +Herr Gray. Runzeln Sie nicht die Stirn. Sie haben es. Und Schönheit ist +eine Form des Genies -- steht in Wahrheit noch höher als das Genie, da +sie keinerlei Erklärung bedarf. Sie ist eine der großen Lebenstatsachen, +wie das Sonnenlicht oder der Lenz oder wie in dunkeln Gewässern der +Widerschein der Silbermuschel, die wir Mond nennen. Sie kann nicht +bestritten werden. Sie hat ein göttliches, erhabenes Recht. Wer sie +hat, den macht sie zu einem Prinzen. Sie lächeln? Oh, wenn Sie sie +verloren haben, lächeln Sie nicht mehr... Die Leute sagen manchmal, +Schönheit sei nur etwas Äußerliches. Mag sein. Aber zum mindesten ist +sie nicht so äußerlich wie das Denken. Für mich ist Schönheit aller +Wunder Wunder. Nur die Hohlköpfe urteilen nicht nach dem Äußeren. Das +wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare... +Ja, Herr Gray, die Götter haben es gut mit Ihnen gemeint. Aber was die +Götter schenken, rauben sie bald wieder. Sie haben nur ein paar Jahre, +wo Sie wahrhaftig vollkommen, restlos leben können. Indem Ihre Jugend +verrauscht ist, nimmt sie die Schönheit mit, und dann werden Sie +plötzlich entdecken, daß Ihrer keine Siege mehr warten, oder daß Sie +sich mit jenen traurigen Siegen werden begnügen müssen, die Ihnen die +Erinnerung an die Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen. +Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie näher einem schrecklichen Ziele. +Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und kämpft gegen Ihre Lilien und +Rosen. Sie werden fahl und hohlwangig, und Ihre Augen werden sich +trüben. Sie werden unsäglich leiden... Ach! leben Sie Ihre Jugend, +solange sie da ist. Vergeuden Sie das Gold Ihrer Tage nicht, leihen Sie +Ihr Ohr nicht den Philistern, mühen Sie sich nicht, hoffnungslose +Verhängnisse zu verbessern, geben Sie Ihr Leben nicht den Unwissenden, +Niedrigen, den gemeinen Leuten hin! Das sind die kranken Ziele, die +falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das wunderschöne +Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich nichts verloren sein! Suchen +Sie rastlos nach neuen Sinneseindrücken! Fürchten Sie nichts... Ein +neuer Hedonismus -- der täte unserem Jahrhundert not. Sie könnten sein +sichtbares Symbol werden. Mit Ihrer Persönlichkeit können Sie alles +wagen. Die Welt gehört Ihnen einen Sommer hindurch... Im Augenblick, da +ich Sie sah, merkte ich, daß Sie keine Ahnung davon haben, was Sie +wirklich sind, was Sie wirklich sein könnten. So viel in Ihnen entzückte +mich, daß ich förmlich gezwungen war, Ihnen etwas über Ihre Natur zu +sagen. Ich dachte mir, welche Tragik darin läge, wenn Sie vergebens +lebten. Denn Ihre Jugend währt nur so kurze Zeit -- so kurze Zeit. Die +alltäglichen Wiesenblumen welken, aber sie blühen wieder. Der Goldregen +wird im nächsten Juni genau so gelb sein wie heute. In einem Monat setzt +die Klematis purpurne Sterne an, und Jahr für Jahr umhüllt die grüne +Nacht ihrer Blätter solche Purpursterne. Aber wir Menschen bekommen +unsere Jugend nie wieder. Die Freude, die den Puls des Zwanzigjährigen +peitscht, läßt nach. Unsere Glieder versagen, die Sinne werden seicht. +Wir verkommen und werden greuliche Verpuppungen, werden verfolgt von den +Erinnerungen an die Leidenschaften, vor denen wir zurückgeschreckt sind, +und an die reizenden Versuchungen, denen zu erliegen wir nicht den Mut +hatten. Jugend! Jugend! Es gibt in der Welt nichts weiter als Jugend!« + +Dorian Gray hörte zu, mit aufgerissenen Augen und staunend. Der +Fliederzweig, den er in der Hand hielt, fiel auf den Kies. Eine Biene in +ihrem Pelzkleid schoß her und umsummte ihn einen Augenblick. Dann +krabbelte sie eifrig auf den kleinen Blumensternen herum. Er beobachtete +sie mit dem seltsamen Interesse an gewöhnlichen Dingen, das wir in uns +heranzubilden suchen, wenn wir uns vor entscheidenden Dingen fürchten, +oder wenn uns ein neues Gefühl erschüttert, für das wir noch keine +Formel haben, oder wenn ein schrecklicher Gedanke das Hirn umklammert +und verlangt, daß wir uns ihm ausliefern sollen. Nach einer Weile +schwirrte die Biene weg. Er sah sie in den bunten Trompetentrichter +einer tyrischen Winde kriechen. Die Blume schien zusammenzuzucken und +bewegte sich dann mit Grazie hin und her. + +Plötzlich erschien der Maler unter der Tür des Ateliers und forderte sie +mit kurzen wiederholten Zeichen auf, hereinzukommen. Sie sahen sich +einander an und lächelten. + +»Ich warte!« rief er. »Kommt herein! Das Licht ist ganz prächtig, und +ihr könnt eure Gläser mitbringen.« + +Sie standen auf und schlenderten den Weg zurück. Zwei grünlichweiße +Schmetterlinge flatterten an ihnen vorüber, und in dem Birnbaum an der +Gartenecke begann eine Drossel zu flöten. + +»Es freut Sie, mich kennengelernt zu haben, Herr Gray?« fragte Lord +Henry und blickte ihn an, + +»Ja, jetzt bin ich erfreut darüber. Ich weiß nicht, ob ich's immer sein +werde!« + +»Immer! das ist ein schreckliches Wort. Ich schaudere, wenn ich es höre. +Die Frauen haben es so gern. Sie zerstören sich jedes Abenteuer, indem +sie ihm Ewigkeit verleihen wollen. Außerdem ist es ein sinnloses Wort. +Der einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer Leidenschaft, +die ein Leben lang dauert, ist, daß die Laune ein bißchen länger +dauert.« + +Als sie ins Atelier traten, legte Dorian Gray seine Hand auf Lord Henrys +Arm. »Lassen Sie also unsere Freundschaft eine Laune sein«, sagte er +leise und errötete über seine eigene Kühnheit. Dann bestieg er das +Podium und nahm wieder seine Stellung ein. + +Lord Henry warf sich in einen bequemen Korbsessel und beobachtete ihn. +Das Hin- und Herfahren des Pinsels auf der Leinwand war das einzige, die +Stille unterbrechende Geräusch, nur manchmal hörte man den Schritt +Hallwards, wenn er zurücktrat, um sein Werk aus der Entfernung zu +prüfen. In den schrägen Sonnenstrahlen, die durch die offene Tür +fluteten, tanzte der Staub in goldenen Schuppen. Über allem lagerte der +schwere Duft der Rosen. + +Als etwa eine Viertelstunde vergangen war, hörte Hallward zu malen auf, +betrachtete Dorian lange Zeit, sah dann lange auf das Bildnis, nagte an +dem Stiel eines seiner großen Pinsel und runzelte die Stirn. »Ganz +fertig«, rief er endlich, bückte sich und schrieb in großen grellroten +Lettern seinen Namen in die linke Ecke der Leinwand. + +Lord Henry trat heran und betrachtete das Bild mit Kennerblick. Es war +in der Tat ein wunderbares Kunstwerk und auch wunderbar ähnlich. + +»Lieber Junge,« sagte er, »ich wünsche dir herzlich Glück. Es ist das +beste Porträt unserer ganzen Zeit. Herr Gray, kommen Sie und sehen Sie +selbst!« + +Der Jüngling schrak wie aus einem Traume auf. »Ist es wirklich fertig?« +murmelte er, als er vom Podium herabstieg. + +»Ganz fertig«, antwortete der Maler. »Und du hast heute glänzend Modell +gestanden. Ich bin dir sehr, sehr dankbar.« + +»Das ist nur mein Verdienst«, warf Lord Henry ein. »Nicht wahr, Herr +Gray?« + +Dorian gab keine Antwort, sondern trat, ohne hinzuhören, vor sein Bild +und wandte sich dem Werke zu. Als er es sah, zuckte er zusammen, und +seine Wangen röteten sich einen Augenblick vor Vergnügen. Ein Ausdruck +der Freude blitzte in seinen Augen, als erkenne er sich selbst jetzt zum +ersten Male. Bewegungslos und in Staunen versunken, stand er da und +merkte dumpf, daß Hallward zu ihm sprach, ohne daß er den Sinn der Worte +erfaßte. Das Gefühl seiner eigenen Schönheit kam über ihn wie eine +Offenbarung. Er hatte es nie vorher empfunden. Basil Hallwards +Komplimente hatte er nur für liebenswürdige Übertreibungen der +Freundschaft gehalten. Er hatte sie gehört, über sie gelacht und sie +vergessen. Sein Wesen hatten sie niemals beeinflußt. Dann war Lord Henry +Wotton gekommen mit seinem sonderbaren Hymnus auf die Jugend, seiner +schrecklichen Warnung von ihrer Flüchtigkeit. Das hatte ihn rechtzeitig +aufgerüttelt, und als er jetzt dastand und das Abbild der eigenen +Schönheit betrachtete, durchdrang ihn die volle Wirklichkeit jener +Schilderung. Ja, der Tag mußte kommen, da sein Gesicht verrunzelt und +verwelkt, die Augen trüb und farblos, die Anmut seiner Gestalt geknickt +und entstellt sein würde. Das Scharlachrot der Lippen würde verblassen, +der Goldglanz des Haares sich wegstehlen. Das Leben, das von seiner +Seele gebildet wurde, zerstörte seinen Körper. Er würde häßlich, +abscheuerregend und formlos werden. + +Als er daran dachte, durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz wie ein +Messerstich und ließ die feinsten Nerven seines Ichs erbeben. Seine +Augen verdunkelten sich zu Amethysten, und ein Tränenflor umschleierte +sie. Es war, als hätte sich ihm eine eiskalte Hand aufs Herz gelegt. + +»Gefällt es dir nicht?« rief endlich Hallward, ein wenig gereizt durch +das Schweigen des Jünglings, dessen Grund er nicht begriff. + +»Natürlich gefällt's ihm«, sagte Lord Henry. »Wem würde es nicht +gefallen? Es gehört zu den größten Werken der modernen Kunst. Ich gebe +dir jeden Betrag dafür, den du verlangst. Ich muß es haben.« + +»Es gehört nicht mir, Harry.« + +»Wem denn?« + +»Dorian natürlich«, antwortete der Maler. + +»Da hat er Glück...« + +»Wie traurig!« flüsterte Dorian und hielt die Augen noch immer fest auf +das Bild gerichtet. »Wie traurig! Ich werde alt werden und häßlich und +widerlich. Aber dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über den +heutigen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt sein könnte! +Wenn ich ewig jung bliebe und dafür das Bild altern könnte! Dafür -- +dafür -- gäbe ich alles! Ja, nichts in aller Welt wäre mir dafür +zuviel! Ich gäbe meine Seele dafür!« + +»Dieser Tausch würde dir schwerlich passen, Basil«, rief Lord Henry +lachend. »Das wäre schlimm für dein Bild.« + +»Ich würde mich ernstlich dagegen wehren, Harry«, sagte Hallward. + +Dorian Gray wandte sich zu ihm und sah ihn an. »Ich bin davon überzeugt, +Basil. Die Kunst ist dir mehr als deine Freunde. Ich bedeute für dich +nicht mehr als eine grüne Bronzefigur. Vielleicht kaum so viel, müßte +ich sagen.« + +Der Maler war starr vor Erstaunen. So zu sprechen sah Dorian gar nicht +ähnlich. Was war geschehen? Er schien ganz erregt. Sein Gesicht war +gerötet, und die Wangen brannten. + +»Ja,« fuhr er fort, »ich bin dir weniger als dieser Hermes aus Elfenbein +oder der silberne Faun da. Die wirst du immer liebbehalten. Wie lange +wirst du mich liebhaben? Vermutlich bis die erste Runzel mein Gesicht +entstellt. Ich weiß jetzt, wenn man erst seine Schönheit verliert, hat +man alles verloren. Dein Bild hat mich dies gelehrt. Lord Henry Wotton +hat ganz recht. Jugend ist das einzige, was Wert hat auf der Welt. Sowie +ich entdecke, daß ich alt werde, bringe ich mich um.« + +Hallward wurde bleich und faßte ihn bei der Hand. »Dorian, Dorian!« rief +er, »sage so etwas nicht. Ich habe nie einen Freund gehabt wie dich und +werde nie wieder so einen haben. Du bist doch nicht auf leblose Dinge +eifersüchtig? Du, der schöner ist als irgendeines von ihnen.« + +»Ich bin eifersüchtig auf jedes Ding, dessen Schönheit nicht stirbt. Ich +bin eifersüchtig auf das Bild, das du von mir gemalt hast. Warum darf es +behalten, was ich verlieren muß? Jeder Augenblick, der verfliegt, raubt +mir etwas und schenkt ihm etwas. Oh, wenn es doch umgekehrt wäre! Wenn +sich das Bild verändern und ich immer bleiben könnte, wie ich jetzt bin! +Warum hast du es gemalt? Es wird mich dereinst verhöhnen -- furchtbar +verhöhnen!« Die heißen Tränen traten ihm in die Augen, er zog seine Hand +weg, warf sich auf den Diwan und vergrub sein Gesicht in den Kissen, als +betete er. + +»Das ist dein Werk, Harry«, sagte der Maler bitter. + +Lord Henry zuckte die Achseln. »Es ist der wahre Dorian Gray -- sonst +nichts.« + +»Das ist er nicht.« + +»Wenn er es nicht ist, was habe ich damit zu schaffen?« + +»Du hättest weggehen sollen, als ich dich darum bat«, grollte er. + +»Ich blieb, als du mich darum batest«, war Lord Henrys Erwiderung. + +»Harry, ich kann nicht auf einmal mit meinen beiden besten Freunden +Streit anfangen, aber ihr beide habt schuld, daß ich das beste Stück, +das mir je gelungen ist, hassen muß, und ich werde es vernichten. Ist es +schließlich mehr als Leinwand und Farbe? Ich will es nicht eingreifen +lassen in drei Leben und sie zerstören.« + +Dorian Gray hob seinen goldschimmernden Kopf von dem Kissen und blickte +ihn mit bleichem Gesicht und tränenfeuchten Augen an, als er zu dem +Maltische aus Kiefernholz trat, der unter dem hohen verhängten Fenster +stand. Was wollte Basil beginnen? Seine Finger wühlten zwischen dem Wust +von Blechtuben und trockenen Pinseln herum, als suchten sie etwas. Ja, +sie suchten das lange Schabmesser mit der schmalen Klinge aus +schmiegsamem Stahl. Endlich hatte er es gefunden. Er wollte die Leinwand +zerschlitzen. + +Mit einem erstickten Schluchzen sprang der Jüngling vom Diwan auf, schoß +auf Hallward zu, riß ihm das Messer aus der Hand und schleuderte es in +den äußersten Winkel des Ateliers. »Tu es nicht, Basil, tu es nicht«, +schrie er. »Es wäre Mord.« + +»Ich freue mich, daß dir meine Arbeit endlich doch gefällt, Dorian«, +sagte der Maler kühl, als er sich von seinem Erstaunen erholt hatte. +»Ich hätte es gar nicht geglaubt.« + +»Gefällt? Ich bin verliebt in dies Bild, Basil. Es ist ja ein Teil von +mir selbst. Ich fühle es.« + +»Schön, sobald du trocken bist, sollst du gefirnißt, gerahmt und zu dir +hingeschickt werden. Dann kannst du mit dir anfangen, was dir beliebt.« +Er schritt durch den Raum und klingelte nach Tee. »Du trinkst doch Tee, +Dorian? Du auch, Harry? Oder machst du dir nichts aus so einfachen +Genüssen?« + +»Ich bete einfache Genüsse an«, sagte Lord Henry. »Sie sind die letzte +Zuflucht komplizierter Naturen. Aber für Szenen schwärme ich nicht, +außer auf der Bühne. Was für tolle Burschen seid ihr doch, ihr beide! +Wer war es doch gleich, der den Menschen als ein vernünftiges Tier +definiert hat? Das war eine der voreiligsten Definitionen, die je +aufgestellt wurden. Der Mensch hat eine ganze Menge Eigenschaften, aber +gewiß keine Vernunft. Alles in allem übrigens: Gott sei Dank, obwohl +mir's eigentlich lieber wäre, ihr beiden Wirbelköpfe zanktet euch nicht +um das Bild. Du solltest es lieber mir gegeben haben, Basil. Dieses +törichte Knäblein braucht es eigentlich gar nicht, und ich brauche es +sehr.« + +»Wenn du es einem anderen geben willst als mir, Basil, verzeihe ich es +dir nie«, rief Dorian Gray; »und ich erlaube niemand, mich ein törichtes +Knäblein zu nennen.« + +»Du weißt, Dorian, das Bild gehört dir. Ich hab' es dir geschenkt, noch +ehe es vorhanden war.« + +»Und Sie wissen, Herr Gray, daß Sie ein wenig töricht waren und daß Sie +ernstlich gar nichts dagegen haben können, an Ihre große Jugend erinnert +zu werden.« + +»Heute früh hätte ich sehr viel dagegen gehabt, Lord Henry.« + +»Ah! heute früh. Seitdem haben Sie einiges erlebt.« + +Es klopfte an die Tür, und der Diener trat mit einem besetzten Teebrett +ein und servierte auf einem kleinen japanischen Tisch den Tee. Die +Tassen und Löffel klapperten, und ein georgischer Samowar begann zu +summen. Zwei gewölbte chinesische Porzellanschüsseln wurden von einem +jungen Diener hereingebracht. Dorian Gray ging hin und goß den Tee ein. +Die beiden Männer schlenderten zum Tische und sahen nach, was unter den +Deckeln der Schüsseln war. + +»Wir wollen heute abend ins Theater gehen«, meinte Lord Henry. +»Irgendwo wird sicher was los sein. Ich habe zwar zugesagt, im +White-Klub zu soupieren, aber mich erwartet nur ein alter Freund; ich +kann ihm also ein Telegramm schicken, daß ich nicht wohl sei oder +infolge einer späteren Verabredung nicht kommen könne. Das würde ich für +eine reizende Entschuldigung halten. Sie hat einen förmlich +überraschenden Duft von Aufrichtigkeit.« + +»Es ist so lästig, sich den Frack anzuzerren«, murmelte Hallward. »Und +wenn man ihn anhat, sieht man so gräßlich aus.« + +»Ja,« antwortete Lord Henry träumerisch, »die Kleidung des neunzehnten +Jahrhunderts ist abscheulich. Sie ist so düster, so deprimierend. Die +Sünde ist noch das einzig Farbenfreudige, das im modernen Leben +übriggeblieben ist.« + +»Du solltest wirklich nicht solche Dinge vor Dorian sagen, Harry!« + +»Vor welchem Dorian? Vor dem, der uns den Tee einschenkt, oder dem +anderen auf dem Bilde?« + +»Vor keinem.« + +»Ich ginge gerne mit Ihnen ins Theater, Lord Henry«, sagte der Jüngling. + +»Dann kommen Sie doch. Und du auch, Basil, nicht wahr?« + +»Ich kann nicht, wirklich nicht. Es ist mir lieber so. Ich habe eine +Unmenge zu tun.« + +»Schön also. Dann müssen wir zwei allein gehen, Herr Gray.« + +»Ich freue mich riesig darauf.« + +Der Maler biß sich auf die Lippe und schritt, die Teetasse in der Hand, +zum Bilde. »Ich bleibe hier bei dem wirklichen Dorian«, sagte er +traurig. + +»Ist das der wirkliche?« rief das Original und ging gleichfalls langsam +zu ihm hin. »Bin ich wirklich so?« + +»Ja, genau so bist du.« + +»Wie wundervoll, Basil!« + +»Du siehst wenigstens jetzt so aus. Aber das Bild wird sich nie ändern«, +seufzte Hallward. »Das ist schon etwas.« + +»Was man heute für ein großes Wesen aus der Treue macht!« rief Lord +Henry aus. »Und doch ist sie selbst in der Liebe eine rein +physiologische Frage. Sie hat auch nicht das mindeste mit unserem +eigenen Willen zu tun. Junge Männer wären gerne treu und sind es nicht; +alte würden gerne untreu sein und können es nicht: das ist alles, was +sich darüber sagen läßt.« + +»Geh heute abend nicht ins Theater, Dorian«, bat Hallward. »Bleibe hier +und speise mit mir.« + +»Ich kann nicht, Basil.« + +»Warum?« + +»Weil ich Lord Henry Wotton zugesagt habe, ihn zu begleiten.« + +»Er wird dir darum nicht mehr zugetan sein, wenn du so treu deine +Versprechungen hältst. Er bricht seine immer. Ich bitte dich, nicht zu +gehen.« + +Dorian Gray schüttelte lachend den Kopf. + +»Ich beschwöre dich.« + +Der junge Mann schwankte und blickte zu Lord Henry hinüber, der die +beiden mit einem belustigten Lächeln vom Teetische aus beobachtete. + +»Ich muß mit, Basil«, antwortete er. + +»Schön«, sagte Hallward und ging zum Tische hinüber, wo er seine Tasse +hinstellte. »Es ist ziemlich spät, und da ihr euch noch umziehen müßt, +habt ihr keine Zeit mehr zu verlieren. Adieu, Harry! Adieu, Dorian! Komm +bald wieder. Komm morgen.« + +»Bestimmt.« + +»Aber nicht vergessen!« + +»Nein, natürlich nicht!« rief Dorian. + +»Und... Harry!« + +»Ja, Basil?« + +»Vergiß nicht, was ich dir sagte, als wir am Vormittag im Garten saßen.« + +»Ich habe es vergessen.« + +»Ich vertraue dir.« + +»Ich wünschte, ich könnte mir selbst vertrauen«, sagte Lord Henry +lachend. »Kommen Sie, Herr Gray, mein Wagen steht unten, und ich kann +Sie an Ihrer Wohnung absetzen. Adieu, Basil! Es war ein sehr +unterhaltender Nachmittag.« + +Als sich die Tür hinter ihnen schloß, warf sich der Maler auf den Diwan, +und in sein Gesicht trat ein schmerzlicher Ausdruck. + + + + +Drittes Kapitel + + +Um zwölfeinhalb Uhr am nächsten Tage schlenderte Lord Henry Wotton von +Curzon Street nach Albany hinüber, um einen Besuch zu machen bei seinem +Onkel Lord Fermor, einem heiteren, aber ziemlich rauhen alten +Junggesellen, den die Außenwelt einen Egoisten nannte, weil sie keinen +besonderen Nutzen aus ihm ziehen konnte, der aber in der Gesellschaft +als freigebig verschrien war, weil er die Leute, die ihn amüsierten, +aufs beste fütterte. Sein Vater war britischer Gesandter in Madrid +gewesen, als Isabella noch jung war und man noch nichts von Prim wußte, +hatte sich aber in einem Augenblicke launischen Ärgers aus dem +diplomatischen Dienste zurückgezogen, weil man ihm nicht den +Gesandtenposten in Paris angeboten hatte, zu dem er sich vollauf +berechtigt geglaubt hatte durch seine Geburt, seine Arbeitsunlust, sein +gutes Englisch in seinen Depeschen und durch seine zügellose +Vergnügungssucht. Der Sohn, der des Vaters Privatsekretär gewesen war, +hatte mit seinem Chef zugleich den Abschied genommen, was man damals +ziemlich verrückt fand, und als der Titel einige Monate später auf ihn +überging, hatte er sich ernstlich dem großen aristokratischen Studium +gewidmet, absolut nichts zu tun. Er besaß zwei große Häuser in der +Stadt, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung zu hausen, weil das +weniger Umstände machte, und speiste meistens im Klub. Er beschäftigte +sich ein wenig mit der Verwaltung seiner Kohlenminen in den +Midlandgrafschaften und entschuldigte diese verwerfliche industrielle +Tätigkeit damit, daß er sagte, der einzige Vorteil, Kohlen zu besitzen, +sei der, es einem Gentleman möglich zu machen, in seinem eigenen Kamin +Holz zu brennen. Politisch war er ein Tory, außer wenn die Tories +Regierungspartei waren, denn in solchen Zeiten verlästerte er sie und +schimpfte sie radikales Gesindel. Er war ein Held für seinen +Kammerdiener, der ihn drangsalierte, und ein Schrecken für die meisten +seiner Verwandten, die er drangsalierte. Nur England konnte ihn erzeugt +haben, und er selber sagte immer, daß das Land mehr und mehr auf den +Hund käme. Seine Grundsätze waren altmodisch, aber an seinen Vorurteilen +war etwas dran. + +Als Lord Henry ins Zimmer trat, fand er seinen Onkel in einem flockigen +Jagdrock, eine ziemlich wohlfeile Zigarre im Munde und brummend in den +»Times« lesend. + +»Na, Harry,« sagte der alte Herr, »was bringt dich so früh her? Ich +dachte immer, ihr Dandies steht nie vor zwei Uhr auf und werdet nie vor +fünf Uhr sichtbar.« + +»Reine Familienliebe, auf mein Wort, Onkel Georg; ich brauche etwas von +dir.« + +»Geld vermutlich«, sagte Lord Fermor und machte ein saures Gesicht. »Na +gut, so setz' dich und sag' mir alles. Ihr jungen Leute von heutzutage +bildet euch ein, das Geld wäre alles.« + +»Ja,« brummelte Lord Henry, während er seine Blume im Knopfloch +zurechtrückte, »und wenn sie älter werden, dann wissen sie es. Aber ich +brauche kein Geld. Nur Leute, die ihre Rechnungen zahlen, brauchen +Geld, Onkel Georg, und ich bezahle meine nie. Kredit ist das Kapital +eines zweitältesten Sohnes, und man kann brillant davon leben. Außerdem +kaufe ich immer bei Dartmoors Lieferanten, und daher habe ich nie +Scherereien. Was ich brauche, ist eine Auskunft, keine nützliche +Auskunft natürlich, sondern nur eine wertlose.« + +»Ich kann dir alles sagen, Harry, was je in einem englischen Blaubuch +gestanden hat, obwohl diese Bengels heutzutage einen Haufen Unsinn +zusammensudeln. Als ich noch Diplomat war, lagen die Dinge besser. Aber +ich höre, man stellt jetzt die Leute auf Grund einer Prüfung ein. Was +kann man da noch erwarten? Prüfungen, mein Bester, sind der reine Humbug +von A bis Z. Wenn einer Gentleman ist, weiß er schon genug, und wenn er +kein Gentleman ist, so mag er alles Mögliche wissen, es hilft ihm doch +nichts.« + +»Herr Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu schaffen«, sagte Lord +Henry in seinem schläfrigen Tone. + +»Herr Dorian Gray? Wer ist das?« fragte Lord Fermor, seine buschigen +weißen Augenbrauen zusammenkneifend. + +»Um das zu erfahren, bin ich gerade hergekommen, Onkel Georg. Oder +genauer gesagt, wer es ist, weiß ich. Nämlich der Enkel des verstorbenen +Lord Kelso. Seine Mutter war eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich +möchte, daß du mir etwas über seine Mutter erzählst. Was weißt du von +ihr? Wen hat sie geheiratet? Du hast zu deiner Zeit doch so ziemlich +alle Leute gekannt, also wahrscheinlich auch sie. Ich interessiere mich +gegenwärtig ungemein für Herrn Gray. Ich habe ihn erst gestern +kennengelernt.« + +»Kelsos Enkel!« wiederholte der alte Herr, »Kelsos Enkel! ... natürlich +... ich war mit seiner Mutter sehr intim. Ich glaube, ich war sogar bei +ihrer Taufe. Es war ein ganz außergewöhnlich schönes Mädchen, diese +Margaret Devereux, und hat dann alle jungen Männer toll gemacht, als sie +mit einem jungen Habenichts davonlief, einer absoluten Null, mein +Bester, einem Fähnrich bei der Infanterie oder so was Ähnliches. +Natürlich. Ich erinnere mich jetzt an die ganze Geschichte, als wäre sie +gestern passiert. Der arme Kerl wurde dann ein paar Monate nach der +Hochzeit in einem Duell in Spa getötet. Man erzählte damals eine +häßliche Geschichte darüber. Man sagte, der alte Kelso hätte irgendeinen +Schuft, so einen Abenteurer aus Belgien gemietet, um seinen +Schwiegersohn öffentlich zu beleidigen, hätte ihn dafür bezahlt, mein +Bester, einfach bezahlt, damit er es täte, und dieser Kerl spießte dann +sein Opfer auf wie eine Taube. Die Geschichte wurde natürlich vertuscht, +aber Kelso mußte eine Zeitlang sein Kotelett allein im Klub essen. Ich +hörte, er brachte seine Tochter wieder mit, doch sie sprach nie mehr ein +Wort mit ihm. O jawohl, das war eine böse Sache. Das Mädel starb dann +auch, kaum ein Jahr später. So, sie hat also einen Sohn hinterlassen? +Das hatte ich ganz vergessen. Was für ein Junge ist es denn? Wenn er +seiner Mutter ähnlich sieht, muß es ein hübsches Kerlchen sein.« + +»Er ist sehr hübsch«, stimmte Lord Henry bei. + +»Ich hoffe, er wird in die rechten Hände kommen«, fuhr der alte Mann +fort. »Es muß ein Haufen Geld auf ihn warten, wenn Kelso pflichtgemäß an +ihm handelte. Seine Mutter hatte übrigens auch Geld. Der ganze Selbysche +Besitz fiel ihr durch ihren Großvater zu. Ihr Großvater haßte Kelso, +hielt ihn für einen gemeinen Köter. War es übrigens auch. Er kam mal +nach Madrid, als ich dort war. Na, ich mußte mich des Kerls schämen. Die +Königin pflegte mich nach dem englischen Edelmann zu fragen, der sich +immer mit den Kutschern über die Taxe zankte. Man machte einen ganzen +Roman daraus. Ich wagte einen Monat lang nicht, bei Hof zu erscheinen. +Ich hoffe, er hat seinen Enkel besser behandelt als die +Droschkenkutscher.« + +»Darüber weiß ich nichts«, erwiderte Lord Henry. »Ich vermute aber, der +junge Mann wird einmal wohlhabend werden. Er ist noch nicht volljährig. +Selby gehört ihm, das weiß ich. Er hat es mir gesagt. Und... seine +Mutter war also sehr schön?« + +»Margaret Devereux war eines der entzückendsten Geschöpfe, die ich je +gesehen habe, Harry. Was in aller Welt sie dazu getrieben hat, so zu +handeln, habe ich nie verstehen können. Sie hätte jeden Mann heiraten +können, den sie wollte. Carlington war wahnsinnig verschossen in sie. +Aber sie war romantisch veranlagt. Alle Frauen dieser Familie waren so. +Die Männer waren ein trauriges Gesindel, aber beim Himmel! die Weiber +waren wunderbar! Carlington lag vor ihr auf den Knien. Hat's mir selber +gebeichtet. Sie lachte ihn aus, und es gab damals in London kein Mädel, +das nicht hinter ihm hergewesen wäre. Übrigens, Harry, da wir schon über +Mesalliancen reden: was ist das für ein Unsinn, den mir dein Vater von +Dartmoor erzählt, der eine Amerikanerin heiraten will? Sind englische +Mädels für ihn nicht gut genug?« + +»Es ist jetzt Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel Georg.« + +»Ich verteidige die englischen Frauen gegen die ganze Welt, Harry«, +sagte Lord Fermor und schlug mit der Faust auf den Tisch. + +»Man reißt sich um die Amerikanerinnen.« + +»Sie halten sich nicht, hat man mir gesagt«, brummte der Onkel. + +»Ein langes Verlobtsein erschöpft sie, aber für eine Steeplechase sind +sie brillant. Sie sind Flieger. Ich glaube nicht, daß Dartmoor Chance +hat.« + +»Was ist's für eine Familie?« murrte der alte Herr. »Hat sie überhaupt +eine?« + +Lord Henry schüttelte den Kopf. »Amerikanische Mädchen sind ebenso klug, +ihre Eltern zu verbergen, wie englische Frauen im Verbergen ihrer +Vergangenheit«, antwortete er und stand auf, um wegzugehen. + +»Also vermutlich Schweinefleischhändler.« + +»Das hoffe ich, Onkel Georg, in Dartmoors Interesse. Man hat mir gesagt, +mit Schweinefleischbüchsen zu handeln, soll nächst der Politik der +einträglichste Beruf in Amerika sein.« + +»Ist sie hübsch?« + +»Sie benimmt sich so, als wäre sie es. Das tun die meisten +Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihres magnetischen Reizes.« + +»Warum bleiben diese amerikanischen Weiber nicht in ihrem Lande? Sie +sagen doch immer, es sei das Paradies für Frauen.« + +»Das ist es auch. Und das ist auch der Grund, warum sie wie Eva so gern +daraus weg wollen«, sagte Lord Henry. »Adieu, Onkel Georg! Ich komme zu +spät zum Frühstück, wenn ich noch länger bleibe. Danke sehr für die +Auskunft, die du mir gabst. Ich habe immer das Bedürfnis, von meinen +neuen Freunden alles zu hören und möglichst nichts von meinen alten.« + +»Wo wirst du frühstücken, Harry?« + +»Bei Tante Agatha. Ich habe mich mit Herrn Gray dort angesagt. Es ist +ihr neuestes Protektionskind.« + +»Hm! sag' der Tante Agatha, Harry, sie soll mich mit ihrem +Wohltätigkeitskrempel ungeschoren lassen. Ich habe sie bis hierher! Weiß +Gott, das gute Frauenzimmer meint, ich hätte nichts zu tun als Schecks +für ihre langweiligen Vereinsmeiereien auszuschreiben.« + +»Abgemacht, Onkel Georg, ich werde es ihr bestellen, aber es wird nichts +nutzen. Wohltätigkeitsmegären verlieren alle Menschlichkeit. Das ist ihr +hervorstechendstes Merkmal.« + +Der alte Herr brummte zustimmend und klingelte seinem Diener. Lord Henry +schritt durch die niedrigen Arkaden nach Burlington Street und lenkte +dann seine Schritte in die Richtung nach Berkeley Square. + +Das war also die Geschichte von Dorian Grays Eltern. So roh umrissen sie +ihm auch geschildert worden war, sie hatte ihn doch nach Art eines +seltsamen, geradezu modernen Romans erregt. Eine schöne Frau, die alles +für eine wahnsinnige Leidenschaft einsetzt. Ein paar wilde, wonnige +Wochen, jäh abgeschnitten durch ein abscheuliches, heimtückisches +Verbrechen, Monate stummer Todesverzweiflung, und dann ein Kind unter +Schmerzen geboren. Die Mutter vom Tode weggemäht, der Knabe der +Einsamkeit und der Tyrannei eines alten, lieblosen Mannes ausgeliefert. +Ja, das war ein interessanter Hintergrund. Er gab dem jungen Menschen +Relief, machte ihn noch vollkommener. Hinter allem Köstlichen in der +Welt lauert eine geheime Tragödie, Welten müssen in Schwingung sein, +damit die kleinste Blume erblühen kann... Und wie entzückend war er +gestern abend gewesen, als er ihm mit erschreckten Augen, die Lippen in +scheuem Verlangen geöffnet, im Klub gegenüber gesessen und die roten +Kerzenschirme das erwachende Wunder seines Gesichts in einen noch +rosenfarbenen Ton getaucht hatten. Mit ihm sprechen, das war wie auf +einer auserlesenen Geige spielen. Er gab jedem Druck nach, jeder +zitternden Berührung des Bogens... Es lag doch etwas unerhört +Knechtendes darin, auf jemand Einfluß auszuüben. Keine andere Tätigkeit +kam dem gleich. Seine eigene Seele in eine anmutige Form gießen und sie +darin einen Augenblick lang verweilen lassen: seine eigenen +Gedankenakkorde im Echo zurückbekommen, bereichert durch die Musik der +Leidenschaft und Jugend: sein eigenes Temperament in ein anderes +hineinversenken, als wäre es das allerätherischste Fluidum oder ein +seltener Wohlgeruch: darin lag eine wahre Lust -- vielleicht die +allerbefriedigendste Lust, die uns übriggeblieben ist, in einer so +beschränkten und ordinären Zeit wie die unsere, die so derbfleischlich +in ihren Genüssen und so grobzufassend in ihren Begierden ist... Auch +war er ein wundervoller Typus, dieser junge Mensch, den er durch einen +so wunderbaren Zufall in Basils Atelier kennengelernt hatte, oder konnte +jedenfalls zu einem wunderbaren Typus umgemodelt werden. Anmut war ihm +verliehen und die schneeige Reinheit der Jünglingschaft, und eine +Schönheit, wie man sie bei alten griechischen Marmorbildern findet. +Nichts gab es, was sich nicht aus ihm machen ließe. Man konnte einen +Titanen oder ein Spielzeug aus ihm machen. Welch Jammer, daß solche +Schönheit dahinwelken muß... Und Basil? Wie interessant war doch er für +den Psychologen! Diese neue Art von Kunst, diese neue Weise, das Leben +anzuschauen, die ihm auf das seltsamste durch die sichtbare Gegenwart +eines Menschen erweckt wurde, der von alledem nichts wußte: der stille +Geist, der in einer düsteren Waldlandschaft wohnte und ungesehen ins +offene Feld entwandelte, enthüllte sich plötzlich wie eine Dryade, und +ohne Scheu, weil in der Seele, die sehnsüchtig nach ihm suchte, jene +wundersame Vision wach geworden war, der nur die außerordentlichen Dinge +offenbar werden: die bloßen Formen und Linien der Dinge wurden gleichsam +edler und bekamen eine Art von symbolischer Bedeutung, als wären sie +selbst nur Schatten einer anderen und vollendeteren Form, deren Abbilder +sie zur Wirklichkeit erhoben: wie merkwürdig das alles war! Er erinnerte +sich, daß es in der Geschichte irgend etwas Ähnliches gab. War es nicht +Plato, dieser Künstler in der Welt der Gedanken, der es als erster +untersucht hatte? War es nicht Buonarotti, der es in den farbigen Marmor +seiner Sonettreihe gemeißelt hatte? Aber in unserem Jahrhundert war es +etwas Seltenes... Ja, er wollte versuchen, für Dorian Gray das zu sein, +was der Jüngling, ohne es zu wissen, für den Maler war, der das +prächtige Bildnis geschaffen hatte. Er wollte versuchen, in ihm zu +herrschen -- hatte es in Wahrheit schon zum Teil getan. Er wollte diesen +wunderbaren Geist zu seinem eigenen machen. Es war etwas unwiderstehlich +Magnetisches in diesem Abkömmling von Tod und Liebe. + +Plötzlich blieb er stehen und sah an den Häusern hinauf. Er entdeckte, +daß er bereits an dem Hause seiner Tante vorbeigegangen sei, und ging +stillächelnd zurück. Als er in die etwas düstere Halle eintrat, sagte +ihm der Diener, die Herrschaften seien schon beim Frühstück. Er gab +einem Lakai Hut und Stock und ging in den Speisesaal. + +»Spät wie immer, Harry«, rief seine Tante, ihm zunickend. + +Er erfand eine glaubwürdige Entschuldigung, setzte sich auf den leeren +Platz neben sie und sah sich um, zu sehen, wer noch da war. Dorian +begrüßte ihn schüchtern vom Ende des Tisches her, und seine Wangen +wurden vor geheimer Freude rot. Gegenüber saß die Herzogin von Harley, +eine Dame von bewunderungswürdig guter Laune und ebensolchem Charakter, +die jeder gern hatte und deren Körper in jenen erhabenen +architektonischen Maßen aufgebaut war, der von zeitgenössischen +Geschichtsschreibern bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind, als +Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß Sir Thomas Burdon, ein +radikales Parlamentsmitglied, das im öffentlichen Leben seinem +Parteichef Gefolge leistete und im privaten den besten Küchenchefs, der +nach einer weisen und allgemein verbreiteten Lebensregel mit den Tories +dinierte und mit den Liberalen geistig übereinstimmte. Den Platz an +ihrer Linken nahm Herr Erskine of Treadley ein, ein alter prächtiger und +gebildeter Herr, der sich die schlechte Gewohnheit des Schweigens +angeeignet hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte, schon vor +seinem dreißigsten Lebensjahr alles gesagt hatte, was er überhaupt zu +sagen hatte. Seine Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten +Freundinnen seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den Frauen, aber +so geschmacklos verputzt, daß man bei ihrem Anblick immer an ein +schlechtgebundenes Gebetbuch denken mußte. Zu seinem Glück saß an ihrer +anderen Seite Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in den +besten Jahren, der so kahl war wie der Bericht eines Ministers auf eine +Interpellation im Unterhaus, und mit ihm unterhielt sie sich in jenem +intensiv-ernsten Tone, der, wie Lord Henry einmal selbst geäußert hatte, +der eine unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten Menschen +verfallen, und den keiner von ihnen völlig vermeiden kann. + +»Wir sprechen über den bedauernswerten Dartmoor, Henry«, rief die +Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch zunickend. »Glauben Sie, daß er +wirklich die berückende junge Dame heiratet?« + +»Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich fest vorgenommen, um das Jawort +zu bitten.« + +»Wie schrecklich«, rief Lady Agatha. »Dann sollte sich wirklich jemand +ins Mittel legen.« + +»Ich erfahre aus einer ganz vorzüglichen Quelle, daß ihr Vater ein +Kurzwarengeschäft in Amerika hat«, sagte Sir Thomas Burdon mit einem +überlegenen Blicke. + +»Mein Onkel hat behauptet: Schweinefleischlieferant, Sir Thomas.« + +»Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?« fragte die Herzogin und +erhob staunend ihre großen Hände und dabei jede Silbe betonend. + +»Amerikanische Romane«, antwortete Lord Henry und nahm von den Wachteln. + +Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht. + +»Geben Sie nicht acht auf ihn, meine Liebe,« wisperte ihr Lady Agatha +zu, »er meint nie im Ernst, was er sagt.« + +»Als Amerika entdeckt wurde,« sagte der radikale Abgeordnete und ließ +einige langweilige Tatsachen vom Stapel. Wie alle Menschen, die bestrebt +sind, ein Thema zu erschöpfen, erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin +seufzte und benützte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. -- »Wollte Gott, es +wäre überhaupt nicht entdeckt worden«, rief sie aus. »Unsere Töchter +haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr. Das ist geradezu +empörend!« + +»Vielleicht ist Amerika überhaupt nicht entdeckt worden, wenn man's +recht betrachtet«, sagte Herr Erskine. »Ich würde eher sagen, daß es nur +aufgefunden worden ist.« + +»Oh, ich muß aber gestehen, daß ich einige Exemplare seiner +Bewohnerinnen gesehen habe,« antwortete die Herzogin zerstreut, »ich muß +zugeben, die meisten von ihnen sind ausgesprochen hübsch. Und außerdem +ziehen sie sich gut an. Sie beziehen alle ihre Kleider aus Paris. Ich +wollte, ich könnte mir das auch leisten.« + +»Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie nach Paris«, +gluckste Sir Thomas, der eine große Kiste voll abgelegter Scherze sein +eigen nannte. + +»In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?« +fragte die Herzogin. + +»Sie gehen nach Amerika«, murmelte Lord Henry. + +Sir Thomas runzelte die Stirn. »Ich fürchte, Ihr Neffe hat Vorurteile +gegen dieses große Land«, sagte er zu Lady Agatha. »Ich habe es ganz +bereist im Eisenbahnwagen, die mir die Direktionen zur Verfügung +stellten. Man ist da in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich +versichere Ihnen, es ist eine vorzüglich bildende Reise da drüben.« + +»Aber müssen wir wirklich nach Chicago schwimmen, um unsere Bildung zu +vervollständigen?« fragte Herr Erskine wehmütig. »Ich fühle mich +wirklich zu solcher Reise nicht aufgelegt.« + +Sir Thomas winkte mit der Hand. »Herr Erskine of Treadley besitzt die +Welt auf seinen Bücherregalen. Wir Männer des praktischen Lebens lieben +es, die Dinge zu sehen, nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein +außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig +Vernunftmenschen. Ich glaube, das ist ihr Charaktermerkmal. Ja, Herr +Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft beherrschtes Volk. Ich +versichere Ihnen, es gibt bei den Amerikanern keinerlei Unsinn.« + +»Wie schrecklich!« rief Lord Henry aus. »Ich kann rohe Gewalt vertragen, +aber rohe Vernunft ist mir unerträglich. Ich finde immer, daß ihre +Anwendung unbillig ist. Es heißt den Geist unterjochen.« + +»Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Sir Thomas und wurde etwas rot. + +»Ich verstehe Sie, Lord Henry«, murmelte Herr Erskine lächelnd. + +»Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut...«, nahm der +Baronet wieder das Wort. + +»War das ein Paradoxon?« fragte Herr Erskine. »Ich habe es nicht dafür +gehalten. Vielleicht war es eins. Nun, der Weg zur Wahrheit scheint mit +Paradoxen gepflastert zu sein. Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir +sie auf gespanntem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten +werden, können wir sie beurteilen.« + +»Mein großer Gott!« sagte Lady Agatha, »was für eine Art zu diskutieren +habt ihr Männer. Ich verstehe nie ein einziges Wort von eurem Gerede. +Mit dir, Harry, oh! bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren +lieben Herrn Dorian Gray zu überreden, nicht mehr ins East-End zu gehen? +Ich versichere dir, er wäre dort für uns unschätzbar; sein Spiel würde +die Leute ungemein begeistern.« + +»Mir ist es lieber, wenn er für mich spielt«, rief Lord Henry lächelnd, +sah am Tisch hinunter, wo ihn ein fröhlich antwortender Blick traf. + +»Aber sie sind in Whitechapel so unglücklich«, fuhr Lady Agatha wieder +fort. + +»Ich kann mit allem möglichen Mitgefühl haben,« sagte Lord Henry, die +Achseln zuckend, »außer mit Leiden. Damit kann ich keine Sympathie +haben. Es ist zu häßlich, zu schrecklich, zu niederdrückend. In der heut +modernen Sympathie für die Leiden liegt etwas schrecklich Krankhaftes. +Man sollte mit Farben sympathisieren, mit Schönheit, mit Lebensfreude. +Je weniger man über das Elend des Lebens sagt, desto besser.« + +»Aber das East-End ist ein sehr wichtiges Problem«, bemerkte Sir Thomas +mit ernstem Kopfschütteln. + +»Sicherlich«, antwortete der junge Lord. »Es ist das Problem der +Sklaverei, und wir versuchen es derart zu lösen, daß wir die Sklaven +amüsieren.« + +Der Politiker sah ihn mit einem forschenden Blicke an. »Welche Änderung +schlagen Sie also vor?« + +Lord Henry lachte. »Ich habe gar nicht das Verlangen, in England etwas +zu ändern außer dem Wetter«, entgegnete er. »Ich begnüge mich mit +philosophischer Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch +übermäßigen Verbrauch von Sympathie Bankrott geworden ist, möchte ich +vorschlagen, daß man sich an die Wissenschaft hält, damit diese uns +wieder aufrichtet. Der Vorteil der Gefühle liegt darin, daß sie uns in +die Irre führen, und der Vorteil der Wissenschaft darin, daß sie sich +mit Gefühlen nicht abgibt.« + +»Aber auf uns liegen so ernste Verantwortlichkeiten«, warf Frau +Vandeleur schüchtern ein. + +»Entsetzlich schwere«, stimmte Lady Agatha ein. + +Lord Henry sah zu Herrn Erskine hinüber. »Die Menschheit nimmt sich +selber zu ernst. Das ist die Todsünde der Welt. Wenn die Höhlenmenschen +schon hätten lachen können, hätte die Weltgeschichte andere Wege +eingeschlagen.« + +»Ihre Worte klingen sehr tröstlich«, trillerte die Herzogin. »Ich habe +immer eine Art Schuldgefühl gehabt, wenn ich Ihre liebe Tante besuchte, +denn ich nehme nicht das geringste Interesse an East-End. In Zukunft +werde ich ihr ohne zu erröten ins Gesicht sehen können.« + +»Erröten ist ein vorzügliches Schönheitsmittel«, bemerkte Lord Henry. + +»Nur wenn man jung ist«, antwortete sie. »Wenn eine alte Frau wie ich +errötet, ist es ein sehr schlechtes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich +wünschte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird!« + +Er dachte einen Augenblick nach. »Können Sie sich an irgendeinen großen +Fehler erinnern, den Sie in der Jugend begangen haben?« fragte er dann, +sie fest über den Tisch hin ansehend. + +»An eine ganze Menge, fürchte ich!« rief sie aus. + +»Dann begehen Sie sie wieder«, entgegnete er ernst. »Um seine Jugend +zurückzubekommen, braucht man nur seine Torheiten zu wiederholen.« + +»Eine allerliebste Theorie!« rief sie. »Ich muß sie mal in die Praxis +umsetzen.« + +»Eine gefährliche Theorie«, sagte Sir Thomas, seine dünnen Lippen +zusammenkneifend. Lady Agatha schüttelte den Kopf, aber sie amüsierte +sich doch. Herr Erskine lauschte. + +»Ja,« fuhr Henry fort, »das ist eines der großen Lebensgeheimnisse. +Heutzutage sterben die meisten Leute an einer Art von schleichender +Verständigkeit, und erst, wenn es zu spät ist, kommen sie dahinter, daß +die einzigen Dinge, die man niemals bereut, die Torheiten sind.« + +Nun lachte der ganze Tisch. + +Er spielte jetzt mit diesem Einfall nach Willkür; warf ihn in die Luft +und änderte ihn um: ließ ihn entwischen und haschte ihn wieder auf: ließ +ihn phantastisch glitzern und gab ihm Paradoxe als Flügel. Als er +fortfuhr, rundete sich dieser Ruhm der Narretei in ein philosophisches +System und die Philosophie selbst wurde dabei jung und tanzte, begleitet +von der tollen Musik der Lust, in ihrem von Wein befleckten Gewande und +mit Efeu bekränzten Locken, wie eine Bacchantin über die Hügel des +Lebens und neckte den plumpen Silen, weil er nüchtern blieb. Die +Tatsachen flüchteten vor ihr wie das erschreckte Getier des Waldes. Ihre +weißen Füße stampften in der ungefügen Kelter, an der der weise Omar +sitzt, bis der schäumende Traubensaft in purpurblasigen Wellen an ihren +nackten Gliedern aufspritzte oder in rotem Gischt über die dunkeln, +triefenden, gewölbten Seiten der Kufe herabrann. Es war eine ganz +brillante Improvision. Er empfand, daß die Augen Dorian Grays auf ihn +gerichtet waren, und das Bewußtsein, daß es unter seinen Zuhörern einen +gab, dessen Temperament er zu bezaubern wünschte, gab seinem Witz +Würzigkeit und seiner Phantasie Farbe. Er war geistreich, +phantasievoll, unwiderstehlich. Er begeisterte seine Zuhörer dahin, aus +sich heraus zu gehen, und lachend folgten sie seiner Rattenfängerpfeife. +Dorian Gray verwandte seinen Blick nicht von ihm, sondern saß wie unter +einem Zauberbanne da, während ein Lächeln nach dem andern auf seine +Lippen trat und sich das Staunen in seinen dunklen Augen immer mehr +vertiefte. + +Endlich betrat die Wirklichkeit im Kleide des Alltags das Zimmer, und +zwar in Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin meldete, daß ihr Wagen +warte. Sie rang ihre Hände in geschauspielerter Verzweiflung. »Wie +schade!« rief sie aus. »Ich muß fort. Muß meinen Mann im Klub abholen +und mit ihm zu irgendeiner albernen Sitzung bei Willis fahren, wo er +präsidiert. Wenn ich zu spät komme, ist er sicher ärgerlich, und in dem +Hut, den ich aufhabe, könnte ich eine Szene nicht vertragen. Er ist viel +zu gebrechlich dazu. Ein rauhes Wort und er wäre ruiniert. Nein, liebe +Agatha, ich muß fort. Adieu, Lord Henry! Sie sind ein ganz entzückender +Mensch und fürchterlich unmoralisch. Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich +zu Ihren Ansichten sagen soll. Sie müssen mal bei uns zu Abend essen. +Dienstag? Sind Sie Dienstag frei?« + +»Für Sie würde ich jede andere Verabredung im Stich lassen, Frau +Herzogin«, sagte Lord Henry, sich verbeugend. + +»Ah! Das ist sehr nett und sehr abscheulich von Ihnen«, rief sie; +»vergessen Sie also nicht zu kommen«, und sie rauschte aus dem Zimmer, +von Lady Agatha und den anderen Damen begleitet. + +Als sich Lord Henry wieder gesetzt hatte, kam Herr Erskine zu ihm, zog +seinen Stuhl ganz nahe zu ihm hin und legte die Hand auf seinen Arm. + +»Sie reden wie ein Buch«, sagte er; »warum schreiben Sie keins?« + +»Ich lese Bücher viel zu gerne, als daß ich Lust hätte, eins zu +schreiben, Herr Erskine. Gewiß möchte ich manchmal einen Roman +schreiben, der so entzückend und ebenso unwirklich sein müßte wie ein +persischer Teppich. Aber in England gibt es ja kein literarisches +Publikum außer für Zeitungen, Katechismen und Konversationslexika. Von +allen Völkern des Erdballs haben die Engländer den am wenigsten +entwickelten Sinn für die Schönheit der Literatur.« + +»Ich fürchte, Sie haben recht«, antwortete Herr Erskine. »Ich selbst +habe einstmals literarischen Ehrgeiz gehabt, aber ich habe ihn längst +abgelegt. Und nun, mein lieber junger Freund, wenn Sie mir erlauben +wollen, Sie so zu nennen, darf ich Sie fragen, ob Sie wirklich alles im +Ernst meinten, was Sie uns bei Tisch gesagt haben?« + +»Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe«, antwortete Lord Henry +lächelnd. »Es war wohl sehr toll?« + +»Allerdings, sehr toll! Ich glaube wirklich, daß Sie ein äußerst +gefährlicher Mensch sind, und wenn unserer guten Herzogin irgend etwas +zustößt, so werden wir alle Sie in erster Linie dafür verantwortlich +machen. Aber ich würde mit Ihnen gern einmal länger über das Leben +debattieren. Die Generation, in die ich hineingeboren wurde, war sehr +langweilig. Wenn Sie mal londonmüde sind, kommen Sie doch nach Treadley +und setzen Sie mir da Ihre Philosophie des Genusses auseinander bei +einem ganz köstlichen Burgunder, den zu besitzen ich so glücklich bin.« + +»Das wird mir ein großes Vergnügen sein. Ein Besuch in Treadley ist ein +großer Vorzug. Es hat einen vollkommenen Wirt und eine vollkommene +Bibliothek.« + +»Die mit Ihnen vollständig werden wird«, antwortete der alte Herr mit +einer höflichen Verbeugung. »Und jetzt muß ich Ihrer trefflichen Tante +adieu sagen. Ich muß ins Athenäum. Es ist die Stunde, wo wir dort +schlafen.« + +»Sie alle, Herr Erskine?« + +»Vierzig von uns in vierzig Klubsesseln. Wir üben uns für eine Akademie +anglaise.« + +Lord Henry lachte und stand auf. »Ich gehe in den Park!« rief er aus. + +Als er durch den Türrahmen schritt, berührte ihn Dorian Gray am Arm. +»Erlauben Sie mir, mitzukommen«, flüsterte er. + +»Aber ich dachte, Sie haben Basil Hallward versprochen, ihn zu +besuchen«, wandte Lord Henry ein. + +»Ich möchte lieber mit Ihnen gehen; ja ich fühle, ich muß mit Ihnen +mitkommen. Bitte, erlauben Sie es. Und versprechen Sie mir, die ganze +Zeit zu erzählen? Niemand spricht so entzückend wie Sie.« + +»Ah! Ich habe für heute gerade genug geredet«, sagte Lord Henry und +lächelte. »Alles, was ich jetzt möchte, ist, das Leben zu beschauen. Sie +können mitkommen und mitanschauen, wenn Sie wollen.« + + + + +Viertes Kapitel + + +Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian Gray zurückgelehnt in +einem schwellenden Sessel der kleinen Bibliothek in Lord Henrys Hause in +Mayfair. Es war in seiner Art ein allerliebster Raum, bis hoch hinauf +mit olivenfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen +Deckenfries und mit Stuckverzierungen und mit einem ziegelfarbigen +Filzteppich, der in langen Seidenfransen auslief. Auf einem niedlichen +Tischchen aus Satinholz stand eine Figur von Clodion, und daneben lag +eine Ausgabe der Cent Nouvelles, die für Margarete von Valois von Clovis +Eve eingebunden und mit goldenen Gänseblümchen verziert war, wie sie die +Königin auf ihr Wappenzeichen gewählt hatte. Auf dem Kaminsims standen +ein paar große blaue Porzellanvasen mit Papageientulpen, und durch die +schmalen, bleigerahmten Rautenfelder der Fenster drang das +aprikosenfarbene Licht eines Londoner Sommertages. + +Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er kam grundsätzlich zu +spät, da sein Grundsatz war, Pünktlichkeit stehle einem die Zeit. Daher +sah der junge Mann etwas gelangweilt aus, als er mit lässigen Fingern +die Seiten einer reichillustrierten Ausgabe von Manon Lescaut +durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden hatte. Das +abgemessene gleichförmige Ticktack der Louis-Quatorze-Uhr machte ihn +nervös. Ein- oder zweimal machte er schon Miene, wegzugehen. + +Endlich hörte er draußen einen Schritt und die Tür öffnete sich. »Wie +spät du kommst, Harry!« sagte er leisen Vorwurfs. + +»Zu meinem Bedauern ist es nicht Harry, Herr Gray«, antwortete eine +schrille Stimme. + +Er sah sich rasch um und sprang auf die Füße. + +»Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte --« + +»Sie glaubten, es sei mein Mann. Es ist nur seine Frau. Ich muß mich +schon selbst vorstellen. Ich kenne Sie aus Ihren Photographien ganz gut. +Ich glaube, mein Mann hat ihrer siebzehn.« + +»Nicht siebzehn, Lady Henry.« + +»Schön, also achtzehn. Und dann habe ich Sie gestern abend mit ihm in +der Oper gesehen.« Während sie sprach, lachte sie nervös und beobachtete +ihn mit ihren verschwommenen Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine +absonderliche Frau, deren Kleider immer so aussahen, als wären sie in +einem Wutanfall gezeichnet und während eines Gewitters angezogen worden. +Sie war gewöhnlich in irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft +nie erwidert wurde, hatte sie sich alle ihre Illusionen bewahrt. Sie +machte den Versuch, malerisch zu erscheinen, aber es gelang ihr nur, +unordentlich auszusehen. Sie hieß Viktoria und hatte eine krankhafte +Leidenschaft, in die Kirche zu laufen. + +»Das war im Lohengrin, Lady Henry, nicht wahr?« + +»Ja, es war bei dem entzückenden Lohengrin. Ich liebe Wagners Musik mehr +als die irgendeines anderen. Sie ist so laut, daß man sich die ganze +Zeit unterhalten kann, ohne daß die Nachbarn hören, was man sagt. Das +ist ein dankenswerter Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Herr Gray?« + +Über ihre dünnen Lippen kam wieder das nervöse Stakkatolachen, und ihre +Finger begannen mit einem langen Papiermesser aus Schildkrot zu spielen. + +Dorian schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bedaure, Lady Henry, das ist +nicht meine Meinung. Ich unterhalte mich nie, während man spielt -- +wenigstens nicht, wenn es gute Musik ist. Wenn man schlechte Musik hört, +ist man freilich verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu ertränken.« + +»Ah, das ist eine von Harrys Sentenzen, nicht wahr, Herr Gray? Ich +bekomme Harrys Ansichten immer von seinen Freunden zu hören. Das ist die +einzige Art, wie ich sie überhaupt erfahre. Aber Sie dürfen nicht +glauben, daß ich nicht auch gute Musik liebe. Ich vergöttere sie, aber +ich fürchte mich vor ihr. Sie macht mich zu romantisch. Ich habe +Klavierspieler geradezu angebetet -- manchmal zwei auf einmal, +versichert Harry. Ich weiß nicht, was es für eine Bewandtnis mit ihnen +hat. Vielleicht rührt es daher, daß sie Ausländer sind. Das sind sie +doch alle, nicht wahr? Selbst die in England Geborenen werden nach +einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Es ist sehr gescheit von ihnen und +für die Kunst sehr vorteilhaft. Das macht sie zu Kosmopoliten, nicht +wahr? Sie waren nie auf einer meiner Gesellschaften, Herr Gray. Sie +müssen einmal kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber +ich scheue in der Anschaffung von Ausländern keine Ausgabe. Sie geben +dem Hause ein so pittoreskes Aussehen. Aber da ist Harry. -- Harry, ich +kam her, um dich zu suchen, um dich etwas zu fragen -- ich habe ganz +vergessen, was -- und ich habe Herrn Gray hier getroffen. Wir haben so +entzückend über Musik gesprochen. Unsere Ansichten darüber sind die +gleichen. Nein, ich glaube, unsere Ansichten darüber sind ganz +verschieden. Aber er ist ganz allerliebst gewesen. Ich freue mich so +sehr, ihn einmal gesehen zu haben.« + +»Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend«, sagte Lord Henry, seine +dunkeln geschwungenen Brauen hebend und beide mit vergnügtem Lächeln +ansehend. »Es tut mir so leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich +war in Wardour Street, um mir einen alten Brokat anzusehen, und mußte +stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen die Leute den Preis von +jeder Sache und den Wert von keiner.« + +»Ich muß leider gehen!« rief Lady Henry aus und unterbrach ein +verlegenes Schweigen mit ihrem jähen, grundlosen Lachen. »Ich habe +versprochen, mit der Herzogin auszufahren. Adieu, Herr Gray. Adieu, +Harry. Du speist wohl nicht zu Hause, wie? Ich auch nicht, vielleicht +sehe ich dich bei Lady Thornbury.« + +»Höchstwahrscheinlich, meine Liebe«, sagte Lord Henry und schloß die Tür +hinter ihr, als sie gleich einem Paradiesvogel, der die ganze Nacht dem +Regen ausgesetzt gewesen war, aus dem Zimmer hinausflatterte, einen +feinen Jasmingeruch hinterlassend. Harry zündete sich eine Zigarette an +und warf sich auf das Sofa. »Heirate nie eine Frau mit strohgelbem Haar, +Dorian«, sagte er nach einigen Zügen. + +»Warum nicht, Harry?« + +»Weil sie so sentimental sind.« + +»Aber ich habe sentimentale Menschen gern.« + +»Heirate überhaupt nie, Dorian! Männer heiraten, weil sie müde sind; +Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden enttäuscht.« + +»Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Harry. Dazu bin ich zu +verliebt. Das ist einer deiner Aphorismen. Ich setze ihn in die +Wirklichkeit um, wie alles, was du sagst.« + +»In wen bist du verliebt?« fragte Lord Harry nach einer Pause. + +»In eine Schauspielerin«, sagte Dorian Gray errötend. + +Lord Henry zuckte die Achseln. »Ein recht landläufiger Anfang.« + +»Das würdest du nicht sagen, wenn du sie kenntest.« + +»Wer ist's denn?« + +»Sie heißt Sibyl Vane.« + +»Nie von ihr gehört.« + +»Das hat niemand. Aber später einmal wird man von ihr hören. Sie ist ein +Genie.« + +»Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie wäre. Die Frauen +sind ein dekoratives Geschlecht. Sie haben niemals etwas zu sagen, aber +sie sagen es entzückend. Die Frauen bedeuten den Triumph der Materie +über den Geist, wie die Männer den Triumph des Geistes über die +Sittlichkeit.« + +»Harry, wie kannst du?« + +»Mein lieber Dorian, es ist aber wahr. Ich beschäftige mich gerade mit +der Analyse der Frauen, daher muß ich das wissen. Das Thema ist nicht +so verwickelt, wie ich glaubte. Ich finde, daß es schließlich nur zwei +Arten von Frauen gibt, die einfachen und die geschminkten. Die einfachen +Frauen sind sehr nützlich. Wenn du als ehrbarer Mensch gelten willst, +mußt du nur eine von ihnen zu Tisch führen. Die andern Frauen sind zum +Entzücken. Aber sie begehen einen Fehler. Sie schminken sich, um jung +auszusehen. Unsere Großmütter schminkten sich, um geistreich zu +plaudern. Rouge und Esprit gingen Hand in Hand. Das ist jetzt alles +vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre jünger aussehen kann als ihre +Tochter, ist sie gänzlich zufrieden. Was die Konversation betrifft, so +gibt es in ganz London höchstens fünf Frauen, mit denen sich's zu reden +lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft nicht möglich. +Aber genug, erzähl' mir was von deinem Genie! Wie lange kennst du sie?« + +»Ach, Harry, deine Ansichten erschrecken mich!« + +»Mach' dir darum keine Kopfschmerzen. Wie lange kennst du sie also?« + +»Ungefähr drei Wochen.« + +»Und wo hast du die Entdeckung gemacht?« + +»Ich will dir's erzählen, Harry, aber du mußt nicht häßlich darüber +reden. Übrigens wär's gar nicht dazu gekommen, wenn ich dich nicht +kennengelernt hätte. Du hast mich mit einer wilden Begierde, alles im +Leben kennenzulernen, angefüllt. Noch viele Tage, nachdem ich dich +zuerst gesehen hatte, schien in meinen Adern etwas zu rumoren. Wenn ich +im Park spazierte oder Piccadilly hinunterschlenderte, schaute ich jeden +an, der mir entgegenkam, und wollte mit einer tollen Neugierde +herauskriegen, was für eine Art Leben die Leute alle führten. Einige von +ihnen fesselten mich. Andere erfüllten mich mit Schauder. Es schwamm ein +verführerisches Gift in der Luft. Mich hatte eine Leidenschaft nach +Erlebnissen gepackt... Eines Abends also gegen sieben beschloß ich, +mich auf die Suche nach einem Abenteuer zu begeben. Ich hatte solch +Gefühl, daß unser graues, riesenhaftes London mit seinen vielen +Hunderttausenden schmutzigen Sündern und seinen schillernden Sünden, wie +du dich mal ausdrücktest, irgend etwas für mich in Bereitschaft halten +müsse. Ich erfand mir tausenderlei Dinge. Schon die bloße Gefahr +schenkte mir einen gewissen Genuß. Ich erinnerte mich an das, was du mir +sagtest an dem wunderbaren Abend, als wir das erstemal zusammen +speisten: daß nämlich das Suchen nach Schönheit das eigentliche +Geheimnis des Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich +ging drauflos und wanderte nach dem Osten, wo ich meinen Weg bald in +einem Wirrwarr von rußigen Straßen und schwarzen, graslosen Plätzen +verlor. Gegen halb acht kam ich an einem kleinen, schnurrigen Theater +mit großen, flackernden Gasflammen und grellen Plakaten vorbei. Ein +widerlicher Jude, in dem erstaunlichsten Rock, den ich mein Lebtag +gesehen habe, stand an der Tür und paffte eine stänkrige Zigarre. Er +hatte fettige Peies, und ein riesiger Brillant glitzerte auf seiner +schmutzigen Hemdenbrust. >Eine Loge, Herr Baron?< fragte er mich und +nahm seinen Hut mit grandioser Unterwürfigkeit ab. Er hatte etwas an +sich, Harry, was mich belustigte. Er war das reine Monstrum. Du wirst +mich auslachen, ich weiß schon, aber ich trat wirklich ein und erlegte +ein Zwanzigmarkstück für die Proszeniumsloge. Ich kann mir noch heute +nicht erklären, warum ich das tat; und doch -- wenn ich's nicht getan +hätte -- bester Harry, ich wäre um das größte Ereignis meines Lebens +gekommen. Ja, lach du nur. Es ist häßlich von dir.« + +»Ich lache nicht, Dorian, wenigstens nicht über dich. Aber du solltest +es nicht das größte Ereignis deines Lebens nennen. Sage lieber, das +erste Ereignis deines Lebens. Du wirst immer geliebt werden, und du +wirst in die Liebe immer verliebt sein. Die grande Passion ist das +Vorrecht aller Leute, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige +Nutzen, den die Tagediebe eines Landes bringen. Habe keine Angst! +Himmlische Dinge warten noch deiner. Das ist der bloße Anfang.« + +»Hältst du meine Natur für so oberflächlich?« rief Dorian Gray gekränkt. + +»Nein, ich halte sie für so tief.« + +»Wie meinst du das?« + +»Mein lieber Junge, die Leute, die nur einmal im Leben lieben, das sind +in Wirklichkeit die Oberflächlichen. Was sie Anstand und Treue nennen, +nenne ich entweder die Trägheit der Gewohnheit oder Mangel an +Einbildungskraft. Treue ist im Gefühlsleben dasselbe, was Konsequenz im +Geistesleben ist, nichts als das Zugeständnis von Schwäche. Treue! Ich +muß ihren Begriff später mal analysieren. Freude am Besitz liegt darin. +Welche Menge von Dingen würden wir wegwerfen, wenn wir nicht fürchten +müßten, andere könnten sie auflesen. Aber ich möchte dich nicht +unterbrechen. Erzähle weiter.« + +»Ich saß also in einer schauderhaften kleinen Loge, und ein ordinärer +Vorhang starrte mir gerade ins Gesicht. Ich schaute hinter der Gardine +vor und sah mich im Hause um. Es war ein schäbig-elegantes Ding, +gestopft voll mit Amoretten und Füllhörnern, wie auf einem +Hochzeitskuchen billigster Sorte. Galerie und Stehparterre waren +leidlich voll, aber die zwei Reihen schmieriger Fauteuils vorne waren +ganz leer und auf dem Platze, den sie vermutlich ersten Rang +titulierten, saß kaum ein Mensch. Weiber gingen mit Orangen und +Ingwerbier herum, und eine unglaubliche Masse von Nüssen wurde +verknackt.« + +»Es muß ganz wie in der Glanzzeit des britischen Dramas gewesen sein.« + +»Ganz so, vermute ich, und sehr niederdrückend. Ich begann, zu +überlegen, was um Himmels willen ich da anfangen sollte, als mein Blick +auf den Theaterzettel fiel. Was glaubst du, was sie spielten, Harry?« + +»Ich vermute, der >kleine Kretin< oder >Blödsinnig, aber unschuldig<. +Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube ich. Je länger ich lebe, +Dorian, je stärker fühle ich, daß alles, was für unsere Väter gut genug +war, für uns noch lange nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der +Politik ~les grandpères ont toujours tort~.« + +»Das Stück war gut genug für uns, Harry. Es war >Romeo und Julia<. Ich +muß zugeben, daß mich der Gedanke, Shakespeare in einer so elenden +Spelunke zu sehen, ärgerte. Und doch interessierte es mich irgendwie. +Jedenfalls entschloß ich mich, den ersten Akt abzuwarten. Es spielte da +ein schauderöses Orchester, das ein junger Hebräer dirigierte, der an +einem schnarrenden Klavier saß, mich beinah zum Davonlaufen brachte; +aber schließlich ging doch der Vorhang in die Höhe und das Stück fing +an. Romeo war ein hahnebüchener älterer Herr mit dick gemalten Brauen, +einer versoffenen Tragödenstimme und einer Falstaffgestalt wie eine +Biertonne. Mercutio war fast ebenso arg. Er wurde vom Komiker gespielt, +der Mätzchen eigener Improvisation einstreute und in der +verwandtschaftlichsten Beziehung zur Galerie stand. Sie waren beide +genau so grotesk wie die Szenerie, und die sah aus, als käme sie vom +Jahrmarktsrummel. Aber Julia! Harry, stell dir ein Mädchen vor, kaum +siebzehn Jahre alt, mit einem blumenhaften Gesichtchen, einem schmalen +griechischen Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen, wie veilchenblaue +Brunnen heißer Leidenschaft, mit Lippen wie Rosenblätter. Das +entzückendste Geschöpf, das ich je im Leben gesehen habe. Du sagtest mal +zu mir, Pathos ergreife dich nicht, aber Schönheit, keusche Schönheit an +sich, könnte deine Augen wohl mit Tränen füllen. Ich sage dir, Harry, +ich konnte dieses Mädchen kaum sehen, von dem Tränenflor über meinen +Augen. Und ihre Stimme -- ich habe so eine Stimme nie gehört. Zuerst +sehr leise in tiefen, vollen Molltönen, die langsam und jeder für sich +allein ins Ohr zu träufeln schienen. Dann etwas lauter und erklingend +wie eine Flöte oder eine ferne Hoboe. In der Gartenszene hatte sie jene +zitternde Inbrunst, die man hört, wenn die Nachtigallen singen vor Tag +und Tau. Es gab dann Augenblicke, wo ihre Stimme die verhaltene +Leidenschaftsglut von Geigentönen hatte. Du weißt, wie eine Stimme einen +erschüttern kann. Deine Stimme und die Stimme von Sibyl Vane, die beiden +werde ich nie vergessen. Wenn ich meine Augen schließe, höre ich sie, +und jede von ihnen sagt etwas anderes. Ich weiß nicht, welcher ich +folgen soll. Warum sollte ich sie nicht lieben? Harry, ich liebe sie. +Sie ist alles in meinem Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie +spielen zu sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten Imogen. +Ich habe sie im Düster eines italienischen Grabgewölbes sterben sehen, +wie sie das Gift von den Lippen des Geliebten trinkt. Ich bin ihrer +Wanderung durch die Ardennen gefolgt, wie sie als hübscher Knabe mit +Hose, Wams und einem kleinen Barett verkleidet war. Sie war wahnsinnig +und ist vor einen schuldbewußten König hingetreten und ließ ihn Rauten +tragen und bittere Kräuter kosten. Sie war unschuldig, und die schwarzen +Hände der Eifersucht haben ihren zarten Hals zusammengepreßt. Ich habe +sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht gesehen. Gewöhnliche Frauen +sagen unserer Phantasie nichts. Sie sind in ihre Zeit hineingebannt. +Kein Zauber kann sie umwandeln. Man kennt ihren Geist ebenso schnell wie +ihre Güte. Man kennt sie immer heraus. Es gibt kein Geheimnis in ihnen. +Sie reiten morgens in den Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie +haben ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Modemanieren. Aber eine +Schauspielerin! Wie anders solche Schauspielerin! Harry! Warum hast du +mir nicht gesagt, daß nichts geliebt zu werden verdient als eine +Schauspielerin?« + +»Weil ich so viele von ihnen geliebt habe, Dorian.« + +»Oh, gewiß, gräßliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren und geschminkten +Gesichtern.« + +»Schmähe nicht gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter. Es liegt +zuweilen ein ganz besonderer Reiz darin«, sagte Lord Henry. + +»Ich wollte, ich hätte dir nie etwas von Sibyl Vane gesagt.« + +»Du hättest gar nicht anders können, Dorian. Dein ganzes Leben lang +wirst du mir alles sagen, was du tust.« + +»Ja, Harry, ich glaube, es ist so. Ich bin geradezu gezwungen, dir alles +zu sagen. Du hast eine seltsame Macht über mich. Wenn ich je ein +Verbrechen beginge, käme ich gleich zu dir und beichtete es dir. Du +würdest mich verstehen.« + +»Menschen wie du -- die kühnen Sonnenstrahlen des Lebens -- begehen +keine Verbrechen, Dorian. Aber ich danke dir trotzdem für dein +Kompliment. Und nun sag' mir -- bitte gib mir mal die Streichhölzer +herüber; danke -- wie sind deine wirklichen Beziehungen zu Sibyl Vane?« + +Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und blitzenden Augen auf. +»Harry! Sibyl Vane ist mir heilig.« + +»Nur heilige Dinge sind wert, sie anzurühren, Dorian«, sagte Lord Henry +mit einem merkwürdigen pathetischen Ton in seiner Stimme. »Aber warum +fühlst du dich verletzt? Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören. +Wenn man verliebt ist, fängt man immer damit an, sich selbst zu +betrügen, und hört immer damit auf, andere zu betrügen. Das nennt die +Welt eine Liebesgeschichte. Auf jeden Fall denke ich, du kennst sie?« + +»Natürlich kenne ich sie. Schon am ersten Abend im Theater kam der +gräßliche alte Jude nach der Vorstellung in meine Loge und bot mir an, +mich hinter die Kulissen zu führen und ihr vorzustellen. Ich war wütend +und sagte ihm, daß Julia seit Hunderten von Jahren tot sei und daß ihr +Körper in einem Marmorgrabe zu Verona liege. Nach dem bestürzten +Ausdruck in seinem Gesicht vermute ich, daß er glaubte, ich hätte zuviel +Champagner oder Ähnliches getrunken.« + +»Kein Wunder!« + +»Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung schreibe. Ich sagte +ihm, daß ich nicht mal eine lese. Das schien ihn furchtbar zu +enttäuschen, und er vertraute mir an, alle Theaterkritiker hätten sich +gegen ihn verschworen und jeder einzelne von ihnen wäre käuflich.« + +»Es sollte mich nicht wundern, wenn er ganz recht hätte. Andererseits +aber, nach ihrem Aussehen zu schließen, können sie meistens gar nicht +teuer sein.« + +»Einerlei, sie schienen über seine Mittel zu gehen«, sagte Dorian +lachend. »Inzwischen aber wurden die Lichter im Theater ausgedreht und +ich mußte fort. Er bat mich noch, einige Zigarren zu probieren, die er +mir sehr warm empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend ging ich natürlich +wieder hin. Als er mich sah, machte er eine tiefe Verbeugung und +versicherte mir, ich sei ein edelmütiger Kunstmäzen. Er ist eine höchst +abstoßende Kreatur, obwohl er eine außerordentliche Leidenschaft für +Shakespeare hegt. Er erzählte mir mal mit einem Anflug von Stolz, seine +fünf Bankrotte verdanke er nur dem >Barden<; so nannte er nämlich +hartnäckig Shakespeare. Er schien das für ein Verdienst zu halten.« + +»Es ist ein Verdienst, lieber Dorian -- ein großes Verdienst. Die +meisten Leute werden bankrott, weil sie zuviel in der Prosa des Lebens +angelegt haben. Sich mit Poesie ruiniert zu haben, ist eine ehrenvolle +Auszeichnung. Aber wann hast du Fräulein Sibyl Vane zum erstenmal +gesprochen?« + +»Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt. Ich mußte hinter +die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein paar Blumen zugeworfen, und sie hatte +zu mir hingesehen, wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war +beharrlich. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu nehmen, und +so gab ich nach. Es war sonderbar, daß ich sie nicht kennenlernen +wollte, nicht wahr?« + +»Nein, ich glaube nicht.« + +»Warum, lieber Harry?« + +»Ich erkläre dir das ein andermal. Jetzt möchte ich gern von dem Mädchen +hören.« + +»Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und lieb. Sie ist noch fast wie +ein Kind. Ihre Augen öffneten sich in einem allerliebsten Staunen, als +ich ihr sagte, was ich über ihr Spiel dachte, und sie schien sich ihres +eigenen Könnens gar nicht bewußt zu sein. Ich glaube, wir waren beide +recht nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür der staubigen +Garderobe und hielt theatralische Reden über uns beide, während wir uns +wie Kinder anstarrten. Er bestand darauf, mich >Herr Baron< zu nennen, +so daß ich Sibyl versichern mußte, ich sei nichts der Art. Sie sagte in +ganz schlichter Weise zu mir: >Sie sehen mehr wie ein Prinz aus. Ich +will Sie Prinz Märchenschön nennen<.« + +»Mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht es, Schmeicheleien zu +sagen.« + +»Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur wie eine Figur +in einem Theaterstück. Sie weiß gar nichts vom Leben. Sie wohnt bei +ihrer Mutter, einer verblühten, ältlichen Frau, die am ersten Abend in +einer Art türkisch-rotem Schlafrock die Lady Capulet spielte und den +Eindruck machte, als hätte sie bessere Tage gesehen.« + +»Ich kenne diese Art, auszusehen. Sie stimmt mich unbehaglich«, sagte +Lord Henry mit verhaltener Stimme und betrachtete seine Ringe. + +»Der Jude wollte mir ihre Lebensgeschichte erzählen, aber ich bemerkte, +sie interessiere mich nicht.« + +»Da hattest du recht. Die Tragödien anderer Leute haben immer etwas +unglaublich Gewöhnliches an sich.« + +»Sibyl ist das einzige, um das ich mich kümmere. Was geht's mich an, +woher sie stammt? Von ihrem kleinen Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist +sie ein himmlisches Wesen. Jeden Abend, den ich erlebe, gehe ich hin, um +sie spielen zu sehen, und jeden Abend ist sie entzückender.« + +»Ich vermute darin den Grund, weshalb du jetzt nie mehr mit mir zusammen +ißt. Ich dachte mir gleich, daß dahinter irgendeine merkwürdige +Geschichte stecke. Das ist so, aber es ist nicht ganz, was ich +erwartete.« + +»Lieber Harry, wir sind jeden Tag entweder beim Frühstück oder beim +Abendessen zusammen, und ich bin mehrere Male mit dir in der Oper +gewesen«, sagte Dorian und öffnete verwundert seine blauen Augen. + +»Du kommst immer furchtbar spät.« + +»Ja, ich muß hin und Sibyl spielen sehen, und wenn auch nur einen Akt +lang. Ich hungere nach ihrem Anblick, und wenn ich an die himmlische +Seele denke, die in diesem zierlichen Elfenbeinkörper eingeschlossen +ist, packt mich stille Ehrfurcht.« + +»Kannst du heute abend mit mir essen, Dorian?« + +Er schüttelte den Kopf. »Heute abend ist sie Imogen,« antwortete er, +»und morgen abend Julia.« + +»Wann ist sie Sibyl Vane?« + +»Nie!« + +»Da wünsche ich dir Glück.« + +»Wie schrecklich du bist! Sie verkörpert alle die großen Frauengestalten +der Weltgeschichte in sich. Sie ist mehr als ein Geschöpf. Du lachst, +aber ich sage dir, sie ist ein Genie. Ich liebe sie und ich will's +erreichen, daß sie mich auch liebt. Dir sind alle Geheimnisse des Lebens +bekannt, du mußt mir sagen, wie ich Sibyl Vane so bezaubern kann, daß +sie mich liebt. Ich will Romeo eifersüchtig machen. Ich will, daß die +toten Liebhaber der Welt unser Lachen hören und sich grämen. Ich will, +daß unsere strahlende Leidenschaft ihren Staub wieder beleben und ihre +Asche zu Schmerzen auferwecken soll. O Gott, Harry, wie bete ich sie +an!« Er ging, während er sprach, im Zimmer auf und ab. Rote hektische +Flecken brannten auf seinen Wangen. Er war furchtbar erregt. + +Lord Henry betrachtete ihn mit stillem Wohlbehagen. Wie anders war er +jetzt als jener verlegene, schüchterne Knabe, den er in Basil Hallwards +Atelier angetroffen hatte! Seine Natur hatte sich entwickelt wie eine +Blume und trug Blüten von brennendrotem Scharlach. Aus ihrem geheimen +Versteck war seine Seele hervorgekrochen, und die Wollust war ihr auf +halbem Wege entgegengekommen. + +»Und was hast du nun vor?« sagte Lord Henry schließlich. + +»Ich will, du und Basil sollt mich an einem Abend begleiten und sie +spielen sehen. Ich setze nicht die leiseste Besorgnis in die Wirkung. +Ihr werdet zugeben müssen, daß sie Genie hat. Dann müssen wir sie dem +Juden aus den Händen winden. Sie ist noch drei Jahre -- genau zwei Jahre +und acht Monate -- an ihn gebunden. Natürlich werde ich ihm etwas zahlen +müssen. Wenn das alles in Ordnung ist, suche ich mir ein Theater im +Westend und lasse sie dort erst mal richtig auftreten. Sie wird die Welt +ebenso verrückt machen wie mich.« + +»Das wird kaum gehen, lieber Junge.« + +»Ja, sie wird es; denn in ihr ist nicht nur Kunst, vollendetster +Kunstinstinkt, sondern sie hat auch Persönlichkeit; und du selbst hast +mir oft genug gesagt, daß nur Persönlichkeiten, nicht Prinzipien die +Welt beherrschen.« + +»Schön, wann sollen wir also hingehen?« + +»Laß mich mal nachdenken. Heute ist Dienstag. Wollen wir morgen +festsetzen? Morgen spielt sie die Julia.« + +»Abgemacht! Morgen um acht im Bristol. Ich werde Basil mitbringen.« + +»Bitte, nicht um acht Uhr, Harry. Halbsieben. Wir müssen dort sein, ehe +der Vorhang aufgeht. Du mußt sie im ersten Akt bei der Begegnung mit +Romeo sehen.« + +»Halbsieben Uhr! Was für eine Tageszeit! Das wäre ja gerade so, wie ein +Abendbrot am Nachmittag essen oder einen englischen Roman lesen. Vor +sieben Uhr geht's nicht. Kein Gentleman speist vor sieben. Siehst du +Basil bis dahin? Oder soll ich ihm schreiben?« + +»Der liebe Basil! Ich habe mich eine ganze Woche lang nicht um ihn +gekümmert. Das ist sehr häßlich von mir, denn er hat mir mein Porträt in +einem prachtvollen Rahmen, den er selbst entworfen hat, geschickt, und +obwohl ich ein bißchen eifersüchtig auf das Bild bin, weil es einen +ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich doch zugeben, daß es mich ganz +entzückt. Ich bitte, schreib lieber. Ich möchte ihn nicht allein +wiedersehen. Er sagt mir Dinge, die mich verstimmen. Er gibt mir gute +Lehren.« + +Lord Henry lächelte. »Die Menschen haben eine starke Vorliebe, das +wegzuschenken, was sie selber am nötigsten hätten. Ich nenne das den +Chimborasso Freigebigkeit.« + +»Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir doch ein klein +bißchen Philister zu sein. Seit ich dich kenne, Harry, hab' ich das +entdeckt.« + +»Basil, mein lieber Junge, tränkt seine Werke mit allem, was an ihm +entzückend ist. Die Folge ist, daß ihm fürs Leben nichts übrigbleibt als +seine Vorurteile, seine Grundsätze und sein gesunder Menschenverstand. +Alle Künstler, die ich kennengelernt habe, und die persönlich von +Anziehungskraft sind, waren schlechte Künstler. Gute Künstler leben nur +in ihren Schöpfungen und sind daher im Leben vollständig uninteressant. +Ein großer Dichter, ein wirklich großer Dichter ist das unpoetischste +Geschöpf von der Welt. Aber untergeordnete Dichter bezaubern immer. Je +schlechter ihre Reime sind, desto malerischer ist ihr Aussehen. Die +bloße Tatsache, eine Sammlung mittelmäßiger Sonette veröffentlicht zu +haben, macht solchen Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die +Poesie, die er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Poesie, +die sie nicht zu leben wagen.« + +»Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry«, sagte Dorian Gray, +der inzwischen aus einem großen goldgefaßten Flakon auf dem Tische etwas +Parfüm auf sein Taschentuch gegossen hatte. »Es wird wohl sein, wenn du +es sagst. Jetzt aber muß ich fort. Imogen wartet auf mich. Vergiß nicht, +morgen! Adieu!« + +Als er das Zimmer verlassen hatte, schloß Lord Henry die schweren Lider +und begann nachzudenken. Gewiß hatten ihn wenige Menschen bisher so +interessiert wie Dorian Gray, und doch verursachte ihm die wahnsinnige +Leidenschaft des Jünglings für eine andere Person nicht im entferntesten +Ärger oder Eifersucht. Es freute ihn. Dorian wurde dadurch nur noch +interessanter. Die Methoden der Naturwissenschaft hatten ihn immer +entzückt, aber der gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm +kleinlich und belanglos erschienen, und so hatte er begonnen, sich +selbst zu vivisezieren und hatte damit geendet, andere zu vivisezieren. +Das Menschenleben -- das schien ihm der einzige einer Untersuchung werte +Gegenstand. Verglichen damit war alles andere ohne jegliche Bedeutung. +Freilich, wenn man das Leben in dem seltsamen Schmelztiegel des +Schmerzes und der Lust beobachtete, konnte man keine Glasmaske über dem +Gesicht tragen, konnte auch nicht die Schwefeldämpfe abhalten, die einem +das Gehirn verwirrten und die Phantasie mit monströsen Ausgeburten und +mißratenen Träumen umwirbelten. Es gab so feine Gifte, daß man an ihnen +erkrankt sein mußte, um ihre Eigenheiten zu kennen. Es gab so seltsame +Krankheiten, daß man sie durchgemacht haben mußte, um ihre Art zu +begreifen. Und doch, welchen Lohn empfing man dafür! Wie wunderbar +wandelt sich einem dann die ganze Welt! Die merkwürdig strenge Logik der +Leidenschaft und das buntgefärbte Trieb- und Gefühlsleben des Geistes +anzumerken -- zu beobachten, wo sich die beiden Linien schneiden und wo +sie auseinandergehen, in welchem Punkte sie in Eintracht leben und in +welchem sie sich wieder bekriegen -- das ist ein Genuß! Was liegt an dem +Preise dafür! Man kann nie einen zu hohen Preis für ein Sinnenerlebnis +geben. + +Er war sich bewußt -- und dieser Gedanke brachte einen freudigen Glanz +in seine achatbraunen Augen -- daß sich durch gewisse Worte, die er +gesprochen hatte, musikalische Worte in melodischem Tonfall, Dorian +Grays Seele diesem weißen Mädchen zugewendet und sich in Verehrung vor +ihr gebeugt hatte. In hohem Maße war der Jüngling sein Geschöpf. Er +hatte ihn vor der Zeit reifen lassen. Das war schon was. Die +gewöhnlichen Menschen warten, bis ihnen das Leben seine Geheimnisse +aufschließt, aber den wenigen Auserwählten werden die Mysterien des +Daseins enthüllt, bevor der Schleier weggezogen wird. Manchmal ist das +die Wirkung der Kunst, besonders der Dichtung, die ja unmittelbar die +Leidenschaften und den Intellekt behandelt. Ab und zu nimmt aber eine +komplizierte Persönlichkeit diesen Platz ein und übt das Amt der Kunst +aus, ist eigentlich auf ihre Weise ein richtiges Kunstwerk, denn das +Leben schafft ebenso seine vollendeten Meisterwerke wie die Poesie oder +die Bildhauerkunst oder die Malerei. + +Ja, dieser Jüngling war vor der Zeit reich. Er erntete, während er noch +lenzte. Der Puls und die Leidenschaft der Jugend wohnten in ihm, und er +begann, seiner bewußt zu werden. Es war entzückend, ihn zu beobachten. +Mit seinem schönen Angesicht und seiner schönen Seele war er ein Stück +Leben zum Anstaunen. Es lag nichts daran, wie das alles endete, oder +enden sollte. Er glich einer der graziösen Gestalten auf einem Gobelin +oder in einem Schauspiel, deren Freuden von den unseren weit entfernt zu +sein scheinen, aber deren Schmerzen unseren Schönheitssinn erregen und +deren Wunden wie rote Rosen sind. + +Seele und Leib, Leib und Seele -- wie geheimnisvoll das alles ist! +Animalisches ist in der Seele, und der Leib hat seine Augenblicke +geistiger Veredlung. Die Sinne können sich läutern, und der Intellekt +kann sich vergröbern. Wer kann sagen, wo die fleischlichen Triebe +endigen und die seelischen beginnen? Wie flach sind die willkürlichen +Erklärungen der handwerksmäßigen Psychologen! Und doch, wie schwierig +ist die Entscheidung zwischen den Lehren der einzelnen Schulen. Ist die +Seele ein Schatten, der im Hause der Sünde wohnt? Oder ist der Körper +wirklich in der Seele eingeschlossen, wie es sich Giordano Bruno dachte? +Die Trennung von Geist und Stoff ist ein Geheimnis, und die Vereinigung +von Geist und Stoff ist abermals ein Geheimnis. + +Er dachte darüber nach, ob wir je die Psychologie zu einer so exakten +Wissenschaft machen können, daß uns auch das kleinste Triebrädchen des +Lebens offenbar würde. Wie die Dinge heute liegen, begreifen wir uns +selbst nie und die anderen nur selten. Die Erfahrung hat keinerlei +ethische Bedeutung. Sie ist nur das Firmenschild, das die Menschen ihren +Irrtümern anhängen. Die Moralisten haben sie meist als eine Art Warnung +betrachtet, haben für sie eine gewisse ethische Wirksamkeit in der +Bildung der Charaktere beansprucht, haben sie als Mittel gepriesen, das +uns darüber aufklärt, was wir tun und lassen sollen. Aber in der +Erfahrung liegt keine bewegende Kraft. Sie ist ebensowenig eine tätige +Ursache wie das Gewissen. Alles, was sie in Wirklichkeit lehrt, ist, daß +unsere Zukunft ebenso sein wird wie unsere Vergangenheit, und daß wir +die Sünde, die wir dereinst mit Abscheu und Widerwillen begangen haben, +immer und immer wieder und dann mit Genuß wiederholen werden. + +Er war sich darüber klar, daß die Versuchsmethode die einzige sei, durch +die man zu irgendeiner wissenschaftlichen Erklärung der Leidenschaften +kommen könne; und sicher war ihm Dorian Gray ein bequemes Objekt und +schien reiche und wertvolle Erfolge zu versprechen. Seine jähe +sturmartige Liebe zu Sibyl Vane war eine psychologische Tatsache von +großem Interesse. Kein Zweifel, daß die Neugier dabei stark im Spiele +war, Neugier und Lust an neuen Erlebnissen; doch es war keine einfache, +sondern eher eine recht komplizierte Leidenschaft. Was von dem rein +sinnlichen Triebe des Knabenalters in ihr war, das hatte die Mitarbeit +der Phantasie umgebildet, in irgendwas verwandelt, das dem Jüngling +selbst ganz fern von allem Sinnlichen schien und gerade deshalb um so +gefährlicher war. Alle Leidenschaften, über deren Ursprung wir uns +selbst täuschen, üben die stärkste Herrschaft auf uns aus. Unsere +schwächsten Triebkräfte sind die, über deren Natur wir klar sehen. Es +kommt oft vor, daß wir im Denken mit uns selbst Experimente anstellen +und glauben, sie mit anderen zu versuchen. + +Während Lord Henry noch dasaß und über diese Dinge nachgrübelte, wurde +an die Tür geklopft; ein Diener trat ein und erinnerte ihn, daß es Zeit +sei, sich für das Abendessen umzukleiden. Er erhob sich und blickte auf +die Straße hinab. Der Sonnenuntergang hatte die oberen Fenster der +gegenüberliegenden Häuser in ein feuerrotes Gold getaucht. Die Scheiben +glühten wie erhitzte Metallplatten. Der Himmel drüber glich einer +verwelkten Rose. Es erinnerte ihn an das junge, flammenlodernde Leben +seines Freundes, und er fragte sich, wie das alles enden würde. + +Als er dann gegen halb ein Uhr nachts nach Hause kam, fand er im Vorflur +auf dem Tische ein Telegramm liegen. Er öffnete es und sah, daß es von +Dorian Gray war. Es teilte ihm mit, daß er sich mit Sibyl Vane verlobt +habe. + + + + +Fünftes Kapitel + + +»Mutter, Mutter, ich bin so glücklich!« flüsterte das Mädchen und barg +ihr Gesicht im Schoße der verblühten, müde aussehenden Frau, die mit dem +Rücken gegen das grell eindringende Licht in dem einzigen Armstuhl saß, +den ihr armseliges Wohnzimmer enthielt. »Ich bin so glücklich!« +wiederholte sie, »und du wirst auch glücklich sein.« + +Frau Vane zuckte zusammen und legte ihre dünnen, wismutweißen Hände auf +den Kopf ihrer Tochter. »Glücklich!« echote sie, »ich bin nur glücklich, +Sibyl, wenn ich dich spielen sehe. Du darfst an nichts anderes denken +als an deine Rollen. Herr Isaacs ist sehr gut gegen uns gewesen, und wir +sind ihm Geld schuldig.« + +Das Mädchen sah auf und ließ die Lippen hängen. »Geld, Mutter?« rief +sie, »was liegt an Geld? Liebe ist mehr als Geld!« + +»Herr Isaacs hat uns tausend Mark Vorschuß gegeben, damit wir unsere +Schulden zahlen und für James eine anständige Ausrüstung anschaffen +können. Das darfst du nicht vergessen, Sibyl. Tausend Mark sind ein sehr +großer Betrag. Herr Isaacs benahm sich sehr anständig.« + +»Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art, wie er mit mir +spricht«, sagte das Mädchen, stand auf und trat ans Fenster. + +»Ich wüßte nicht, wie wir ohne ihn vorwärts kämen«, entgegnete die alte +Frau weinerlich. + +Sibyl Vane warf den Kopf in den Nacken und lachte: »Wir brauchen ihn +nicht mehr, Mutter, der Prinz Märchenschön bestimmt von jetzt ab über +unser Leben.« Dann schwieg sie. Eine Blutwelle schoß in ihre Wangen und +tauchte sie in ein dunkles Rot. Der rasche Atem öffnete ihre blühenden +Lippen. Sie zitterten. Ein Südwind heißer Leidenschaft durchbrauste sie +und bewegte die glatten Falten ihrer Gewandung. »Ich liebe ihn«, sagte +sie mit einfachem Ausdruck. + +»Närrisches Kind! närrisches Kind!« waren die papageienhaften Worte, die +ihr als Antwort entgegenflogen. Dabei machte die beschwörende Bewegung +ihrer gekrümmten, mit unechten Ringen gezierten Finger diesen Ausruf +noch komischer. + +Das Mädchen lachte wieder. In ihrer Stimme lag etwas wie der Jubel eines +Vogels im Käfig. Ihre Augen fingen die Lachmelodie auf und wiederholten +sie in ihrem Glanze: dann schlossen sie sich einen Augenblick, als +wollten sie ihr Geheimnis verbergen. Als sie sich wieder öffneten, war +der Schimmer eines Traumes über sie dahingegangen. + +Aus dem abgenutzten Stuhl sprach die Weisheit zu ihr mit dünnen Lippen, +mahnte zur Besinnung und gab Ratschläge aus dem Buch der Feigheit, dem +sein Autor irrtümlich den Titel »Gesunder Menschenverstand« beigelegt +hat. Sie hörte nicht hin. Im Kerker ihrer Leidenschaft fühlte sie sich +frei. Ihr Prinz, der Prinz Märchenschön, war bei ihr. Sie hatte das +Gedächtnis beschworen, ihn herbeizuschaffen. Sie hatte ihre Seele auf +die Suche nach ihm geschickt, und die hatte ihn wieder hergebracht. +Sein Kuß brannte wieder auf ihrem Munde. Ihre Lider brannten wieder von +seinem Atem. + +Dann zog die Weisheit andere Register auf und sprach von Erkundigen und +Nachforschen. Es mochte ja sein, daß dieser junge Mann reich sei. Wenn +dem so wäre, dann müßte man ans Heiraten denken. Um die Ohrmuschel des +Mädchens plätscherten die Wellen weltlicher Schlauheit. Die Pfeile der +Weltklugheit schwirrten an ihr vorüber. Sie sah, wie sich die dünnen +Lippen bewegten, und lächelte. + +Plötzlich fühlte sie das Bedürfnis, zu sprechen. Die wortüberfüllte +Schweigsamkeit verwirrte sie. »Mutter, Mutter,« rief sie, »warum liebt +er mich so innig? Ich weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er +so ist, wie die Liebe selbst sein muß. Aber was findet er an mir? Ich +bin seiner nicht wert. Und doch -- ich weiß nicht, warum -- ich fühle +mich wohl tief unter ihm, aber ich fühle mich nicht gering. Stolz bin +ich, schrecklich stolz. Mutter, hast du meinen Vater so geliebt, wie ich +den Prinzen Märchenschön liebe?« + +Die alte Frau wurde bleich unter dem dicken Puder, womit ihre Wangen +beklebt waren, und ihre verwelkten Lippen zitterten in krampfigem +Schmerz. Sibyl stürzte zu ihr hin, schlang ihr ihre Arme um den Hals und +küßte sie. »Verzeih mir, Mutter! Ich weiß, es schmerzt dich, an unseren +Vater zu denken. Aber es schmerzt dich nur, weil du ihn so lieb gehabt +hast. Sieh nicht so traurig drein. Heute bin ich so glücklich, wie du es +warst vor zwanzig Jahren. Ach, könnte ich für immer so glücklich sein!« + +»Mein Kind, du bist viel zu jung, um an eine Liebschaft zu denken. +Zudem, was weißt du von diesem jungen Mann? Du weißt nicht mal seinen +Namen. Die ganze Sache ist höchst unpassend, und wahrhaftig, gerade +jetzt, wo sich James nach Australien rüstet, und ich an so viele Dinge +zu denken habe, da muß ich sagen, du hättest mehr Überlegung zeigen +sollen. Immerhin, wie ich schon sagte, wenn er reich ist...« + +»Ach Mutter, Mutter, laß mich glücklich sein!« + +Frau Vane blickte sie an und schloß sie plötzlich mit einer der unwahren +theatralischen Gesten in die Arme, wie sie den Schauspielern oft zur +zweiten Natur werden. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein +junger Bursche mit struppigem, braunem Haar kam in die Stube. Er war von +untersetzter Gestalt, und seine Hände und Füße waren groß und bewegten +sich etwas ungelenk. Er war nicht so gut erzogen wie seine Schwester. +Man hätte kaum die nahe Verwandtschaft erraten können, die zwischen +beiden bestand. Frau Vane richtete ihre Augen auf ihn, und ihr Lächeln +verstärkte sich. In ihrem Geiste ließ sie ihren Sohn die Rolle des +Publikums spielen. Sie war überzeugt, daß das Tableau interessant war. + +»Du könntest dir wohl ein paar Küsse für mich aufheben, Sibyl«, sagte +der Bursche mit gutmütigem Knurren. + +»Ach, Jim, du machst dir doch gar nichts aus Küssen!« rief sie. »Du bist +ein greulicher alter Bär!« Und sie hüpfte durchs Zimmer zu ihm hin und +umhalste ihn. + +James Vane sah seiner Schwester zärtlich in das Gesicht. »Ich möchte mit +dir spazieren gehen, Sibyl. Ich glaube kaum, daß ich dies schreckliche +London jemals wiedersehe. Ich mache mir auch wirklich nicht im +geringsten was draus.« + +»Mein Sohn, rede doch nicht so schreckliche Dinge«, grollte Frau Vane, +während sie seufzend ein flitteriges Theaterkostüm zur Hand nahm und es +auszubessern begann. Sie fühlte eine kleine Enttäuschung, daß er sich +der Gruppe nicht angeschlossen hatte. Es hätte die malerische Wirkung +der Szene so hübsch erhöht. + +»Warum nicht, Mutter? Ich meine es im Ernst.« + +»Du kränkst mich, mein Sohn. Ich hoffe, daß du von Australien als ein +gemachter Mann zurückkehrst. Ich vermute, es gibt in den Kolonien +sozusagen keine Gesellschaft, wenigstens nichts, was ich Gesellschaft +nenne; wenn du also dein Glück gemacht hast, mußt du zurückkommen und +dich zur Geltung bringen in London.« + +»Gesellschaft«, brummelte der junge Mann. »Will davon nichts wissen. +Möchte nur soviel Geld verdienen, um dich und Sibyl vom Theater +wegzukriegen. Ich hasse es.« + +»O Jim,« sagte Sibyl lachend, »wie unfreundlich von dir! Aber, willst du +wirklich mit mir spazieren gehen? Das ist nett! Ich fürchtete schon, du +wolltest dich bei deinen Freunden verabschieden, bei Tom Hardy, der dir +diese gräßliche Pfeife geschenkt hat, oder bei Nell Langton, der dich +auslacht, weil du sie rauchst. Es ist sehr hübsch von dir, daß du mir +deinen letzten Nachmittag schenkst. Wohin werden wir gehen? Komm, wir +wollen in den Park.« + +»Dazu bin ich zu schäbig angezogen«, antwortete er mit gerunzelter +Stirn. »Nur Elegants gehen in den Park.« + +»Unsinn, Jim«, flüsterte sie, und streichelte seinen Ärmel. + +Er zauderte einen Augenblick. »Schön denn,« sagte er schließlich, »mach' +aber nicht zu lang mit dem Anziehen.« + +Sie tanzte zur Tür hinaus. Man konnte sie singen hören, während sie die +Treppe hinauflief. Ihre kleinen Füße trippelten oben. + +Er ging zwei oder dreimal durch die Stube, dann wandte er sich zu der +schweigsamen Gestalt im Lehnstuhl. + +»Mutter, sind meine Sachen gepackt?« fragte er. + +»Alles fertig, James«, antwortete sie, ohne von ihrer Arbeit +aufzuschauen. Seit einigen Monaten war es ihr unbehaglich, wenn sie mit +ihrem rauhen, finsteren Sohn allein war. Ihre oberflächliche Natur mit +ihrem unterdrückten Geheimnis wurde beunruhigt, wenn sich ihre Augen +trafen. Sie fragte sich, ob er einen Verdacht habe. Sein Schweigen, da +er sonst keine Bemerkungen machte, wurde ihr unerträglich. Sie fing also +zu jammern an. Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade, wie +sie dadurch angreifen, daß sie unvermutet die Waffen strecken. »Ich +hoffe, James, dein Seefahrerleben wird dich befriedigen. Du darfst nie +vergessen, daß es deine eigene Wahl war. Du hättest in das Bureau eines +Anwalts treten können. Anwälte sind eine sehr geachtete Menschenklasse +und werden auf dem Lande oft in den besten Familien eingeladen.« + +»Ich hasse Bureaus und ich hasse Schreiber«, erwiderte er. »Aber du +hast ganz recht, mein Leben habe ich mir selbst gewählt. Alles, was ich +sage, ist: Wache über Sibyl! Laß ihr kein Unglück zustoßen. Mutter, du +mußt über sie wachen!« + +»James, du hast eine merkwürdige Art, zu sprechen. Natürlich wache ich +über sie.« + +»Ich höre, ein Herr kommt jeden Abend ins Theater und geht hinter die +Kulissen und spricht mit ihr. Ist das wahr? Wie verhält sich's damit?« + +»James, du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst. Wir in unserem +Beruf sind gewöhnt, eine Menge wohltuender Aufmerksamkeiten zu +empfangen. Ich selbst habe zu meiner Zeit viel Blumen bekommen. Damals +verstand man noch etwas vom Spielen. Was Sibyl betrifft, so weiß ich im +Augenblick nicht, ob ihre Neigung ernst ist oder nicht. Aber darüber +besteht kein Zweifel, daß der fragliche junge Mann ein vollendeter +Kavalier ist. Er ist immer ausgesucht höflich zu mir. Auch sieht er aus, +als ob er reich wäre, und die Buketts, die er schickt, sind ganz +allerliebst.« + +»Aber du weißt nicht mal seinen Namen«, warf der junge Mann barsch ein. + +»Nein«, antwortete die Mutter mit gelassener Miene. »Er hat uns seinen +wirklichen Namen noch nicht verraten. Ich finde das sehr romantisch von +ihm. Wahrscheinlich ist er ein Herr von Adel.« + +James Vane biß sich auf die Lippen. »Wache über Sibyl!« schrie er. +»Wache über sie!« + +»Mein Sohn, du verletzt mich ungemein. Sibyl steht unablässig unter +meiner besonderen Obhut. Natürlich, falls dieser Herr vermögend ist, +sehe ich den Grund nicht ein, um einer Verbindung mit ihm auszuweichen. +Ich bin fest davon überzeugt, er gehört zur Aristokratie. Er sieht ganz +so aus, muß ich sagen. Es wird eine brillante Partie für Sibyl werden. +Sie würden ein entzückendes Paar abgeben. Seine Schönheit ist wirklich +ganz bedeutend; sie fällt jedem auf.« + +Der junge Mann brummte etwas in sich hinein und trommelte mit seinen +dicken Fingern gegen die Fensterscheibe. Er hatte sich gerade umgewandt, +um etwas zu sagen, als die Tür aufging und Sibyl hereinflitzte. + +»Was macht ihr beide denn für ernste Gesichter!« rief sie aus. »Was +gibt's denn?« + +»Nichts«, antwortete er. »Man muß auch mal ernst sein. Adieu, Mutter; +ich will um fünf essen. Alles ist gepackt bis auf die Hemden; du +brauchst dich also um nichts mehr zu kümmern.« + +»Adieu, mein Sohn«, antwortete sie mit einer Verbeugung gemachter +hoheitsvoller Würde. + +Sie war äußerst gekränkt durch den Ton, den er ihr gegenüber +angeschlagen hatte, und in seinem Blick lag etwas, das ihr Angst +eingeflößt hatte. + +»Gib mir einen Kuß, Mutter«, sagte das Mädchen. Ihre blütengleichen +Lippen berührten die welken Wangen und wärmten ihre Frostigkeit. + +»Mein Kind! Mein Kind!« rief Frau Vane und schaute zur Decke auf, als +suchte sie in ihrer Einbildung eine Galerie. + +»Komm, Sibyl«, sagte ihr Bruder ungeduldig. Er konnte die Attitüden +seiner Mutter nicht ausstehen. + +Sie traten hinaus in den flimmernden, windbewegten Sonnenschein und +schlenderten die trostlose Euston Road hinab. Die Vorübergehenden +blickten verwundert auf den unfreundlichen, schwerfälligen jungen +Menschen in den groben schlechtsitzenden Kleidern, den ein so +liebliches, fein aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem +Gärtnerburschen, der eine Rose trägt. + +Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den forschenden Blick +eines Fremden bemerkte. Er hatte jene Abneigung gegen das +Angestarrtwerden, die Menschen von Geist erst spät im Leben bekommen und +die den Herdenmenschen nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts von der +Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf ihren lächelnden +Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen, und damit sie um so besser +an ihn denken könnte, sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte nur +von dem Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, von dem Gold, das er sicher +finden würde, von der wunderhübschen Millionenerbin, deren Leben er +verruchten rotblusigen Buschräubern entreißen sollte. Denn er würde +nicht Matrose bleiben oder Verfrachter oder was er jetzt fürs erste +werden sollte. O nein! Solch Matrosendasein war schrecklich. Er solle +nur daran denken, in ein schreckliches Schiff hineingepfercht zu sein, +wenn die brüllenden, katzenbuckelnden Wellen immer eindringen wollen und +ein schwarzer Wind die Masten umblase und die Segel in lange, +klatschnasse Streifen zerreiße. Er sollte in Melbourne das Schiff +verlassen, dem Kapitän höflich Lebewohl sagen und sich sofort in die +Goldfelder begeben. Bevor noch eine Woche um sei, werde er auf einen +großen Klumpen puren Goldes stoßen, auf den größten, der je gefunden +worden sei, und werde ihn zur Küste schaffen in einem großen Wagen, den +sechs berittene Polizisten bewachen sollten. Die Buschklepper überfielen +sie dreimal, würden aber nach einem ungeheuren Gemetzel zurückgeschlagen +werden. Oder nein! Er sollte überhaupt nicht in die Goldfelder wandern. +Das sind schreckliche Örter, wo sich die Leute betrinken und einander in +Kneipen totschössen und eine schreckliche Sprache führten. Er sollte ein +friedsamer Viehzüchter werden, und eines Abends, wenn er heimritte, +begegnete er der schönen Erbin, die gerade von einem Räuber auf einem +Rappen entführt würde, und dann setzt er ihm nach und befreit sie. +Natürlich würde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und sie +heirateten dann und kehrten heim und wohnten in einem großen Palais in +London. Ja, entzückende Dinge warteten auf ihn. Aber er müsse auch sehr +brav sein, nie die Geduld verlieren oder sein Geld vergeuden. Sie sei +nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse schon genügend mehr vom Leben. +Er müsse ihr auch zuverlässig an jedem Posttag schreiben und jeden +Abend, wenn er schlafen gehe, beten. Gott sei sehr gut und werde über +ihn wachen. Auch sie werde für ihn beten, und in ein paar Jahren werde +er reich und glücklich nach Hause kommen. + +Der Bursche hörte ihr brummig zu und gab keine Antwort. Ihm tat das Herz +weh, weil er von der Heimat weg mußte. + +Aber es war nicht das allein, was ihn düster und verstimmt sein ließ. So +unerfahren er war, fühlte er doch sehr die Gefahr, die in Sibyls +Stellung lag. Dieser junge Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte es +nicht ehrlich mit ihr meinen. Es war ein vornehmes Herrchen, und das +trug ihm seinen Haß ein, einen Haß, der aus einem sonderbaren +Rasseinstinkt herrührte, von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte +und der ihn gerade deshalb um so stärker beherrschte. Er kannte auch die +Oberflächlichkeit und Eitelkeit seiner Mutter und sah darin ungeheure +Gefahren für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder fangen damit an, ihre Eltern +zu lieben; wenn sie älter werden, sitzen sie über ihnen zu Gericht, +manchmal vergeben sie ihnen auch. + +Seine Mutter! Es brütete in ihm, sie über etwas zu fragen, was er viele +schweigsame Monate hindurch mit sich herumgeschleppt hatte. Ein +zufälliges Wort, das er im Theater aufgeschnappt hatte, ein +hingeflüstertes Scherzwort, das er eines Abends auffing, als er an der +Bühnentür wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken entfesselt. +Die Erinnerung daran schmerzte ihn wie der Hieb einer Reitpeitsche in +sein Gesicht. Seine Brauen kniffen sich in eine tiefe Furche zusammen, +und in schmerzlichem Krampf biß er sich auf die Lippen. + +»Du hörst auch nicht ein einziges Wort, das ich sage, Jim!« rief Sibyl, +»und ich schmiede die entzückendsten Pläne für deine Zukunft. Sag' doch +mal was!« + +»Was soll ich denn sagen?« + +»Oh, daß du ein braver Bursche sein willst und uns nicht vergessen«, +antwortete sie und lächelte ihn an. + +Er zuckte die Schultern. »Es wäre eher möglich, daß du mich vergißt, als +daß ich dich vergesse, Sibyl.« + +Sie errötete. »Wie meinst du das, Jim?« fragte sie. + +»Du hast einen neuen Freund, wie ich höre. Wer ist es? Warum hast du mir +nicht von ihm erzählt? Er meint es nicht gut mit dir.« + +»Hör' auf, Jim«, rief sie aus. »Du darfst nichts gegen ihn sagen. Ich +liebe ihn.« + +»Was, und du weißt nicht mal seinen Namen?« erwiderte er. »Wer ist es? +Ich habe ein Recht, das zu wissen.« + +»Er heißt der Prinz Märchenschön. Gefällt dir der Name nicht? Oh, du +törichtes Jungchen! du solltest ihn nie vergessen. Wenn du ihn nur ein +einzigesmal sähest, müßtest du ihn für den entzückendsten Menschen auf +Erden halten. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen: wenn du von +Australien zurückkommst. Er wird dir sehr gefallen. Allen Menschen +gefällt er, und ich ... ich liebe ihn. Ich wollte, du könntest heute +abend ins Theater kommen. Er wird kommen, und ich spiele die Julia! Oh, +wie ich sie spielen werde! Denk dir, Jim, lieben und die Julia spielen! +Wissen, daß er dasitzt! Zu seiner Freude spielen! Ich fürchte, ich werde +meine Kollegen erschrecken, erschrecken oder hinreißen. Lieben heißt, +hinauswachsen über sich selbst. Der gräßliche Herr Isaacs wird seinen +Kumpanen am Schenktisch zuschreien, ich sei ein Genie. Er hat mich wie +ein Dogma ausposaunt; heute abend wird er mich als Offenbarung +verkündigen. Ich fühle das. Und all das ist sein Werk, nur sein, des +Prinzen Märchenschön, meines wunderbaren Geliebten, meines Musengottes. +Aber ich bin ein armes Ding neben ihm. Arm. Was liegt daran? Schleicht +Armut in ein Haus, fliegt Liebe durchs Fenster hinaus. Unsere +Sprichwörter müssen umgeändert werden. Sie sind im Winter erdacht +worden, und jetzt ist Sommer, für mich freilich Frühling, ein Tanz von +Blüten unter blauem Himmel.« + +»Er ist ein Herr der feinen Gesellschaft«, sagte der Bursche finster. + +»Ein Prinz!« rief sie mit melodischer Stimme. »Was willst du mehr?« + +»Er wird dich zu seiner Sklavin machen.« + +»Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein!« + +»Ich rate dir, dich vor ihm zu hüten.« + +»Ihn sehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm vertrauen!« + +»Sibyl, deine Liebe macht dich verrückt.« + +Sie lachte und nahm seinen Arm. »Du lieber, alter Jim, du sprichst, als +wärest du hundert Jahre alt. Eines schönen Tages wirst du selbst lieben. +Dann wirst du wissen, was das heißt. Guck mich nicht so brummig an. Du +solltest dich freuen in dem Bewußtsein, daß du mich, obwohl du gehst, +glücklicher zurückläßt, als ich je gewesen bin. Das Leben ist bisher +hart für uns gewesen, furchtbar hart und schwer. Aber jetzt wird's +anders. Du gehst in eine neue Welt, und ich habe eine neue gefunden. -- +Da sind zwei Stühle frei, wir wollen uns setzen und die eleganten Leute +Revue passieren lassen.« + +Sie setzten sich mitten in eine Menge von Zuschauern. Die Tulpenbeete +längs des Weges flammten wie beschwörende Feuerglocken. Ein weißer +Dunst wie eine zitternde Wolke von Veilchenpuder hing in der schwülen +Luft. Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten auf und ab wie +Riesenschmetterlinge. + +Sie brachte ihren Bruder dazu, daß er von sich, seinen Aussichten und +seinen Plänen sprach. Er redete zögernd und mühsam. Sie ließen ihre +Worte langsam aufeinanderfolgen, wie sich Spieler ihre Points ansagen. +Sibyl fühlte sich niedergedrückt. Sie konnte ihre Freude nicht +mitteilen. Ein schwaches Lächeln, das seinen vergrämten Mund umspielte, +war die einzige Antwort, die sie erhielt. Nach einiger Zeit verstummten +sie beide. Plötzlich erblickte sie den Schimmer goldenen Haares und +lachende Lippen, und in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei +Damen vorbei. + +Sie sprang auf. »Da ist er!« rief sie. + +»Wer?« fragte Jim Vane. + +»Der Märchenprinz«, antwortete sie, und spähte dem Wagen nach. + +Er sprang auf und faßte rauh ihren Arm. »Zeig' ihn mir. Welcher ist es? +Zeig' ihn mir, ich muß ihn sehen!« rief er. Aber in diesem Augenblick +fuhr der Viererzug des Herzogs von Verwick dazwischen, und als die +Aussicht wieder frei war, hatte der Wagen schon den Park verlassen. + +»Er ist fort«, murmelte Sibyl traurig. »Ich wünschte, du hättest ihn +gesehen.« + +»Ich wünschte es auch, denn so wahr ein Gott im Himmel ist, wenn er dir +je ein Leides antut, bring' ich ihn um!« + +Sie sah ihn erschreckt an. Er wiederholte seine Worte. Sie +durchschnitten die Luft wie ein Dolch. Die Leute ringsherum fingen an, +auf sie hinzustarren. Eine Dame ganz in der Nähe kicherte. + +»Komm fort, Jim; komm fort«, flüsterte sie. Er ging ihr verbissenen +Mundes nach, als sie die Menge durchschritt. Er war zufrieden, daß er +das gesagt hatte. + +Als sie bei der Achillesstatue war, drehte sie sich nach ihm um. In +ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren Lippen zu einem Lachen wurde. Sie +schüttelte den Kopf über ihn. »Du bist verdreht, Jim, völlig verdreht; +ein ungezogener Bubi, sonst nichts. Wie kannst du so was Häßliches +sagen? Du weißt gar nicht, was du zusammensprichst. Du bist einfach +eifersüchtig und unfreundlich. Ach! ich wollte, daß du dich einmal +verliebst. Liebe macht die Menschen gut, und was du gesagt hast, war +schlecht.« + +»Ich bin erst sechzehn,« antwortete er, »aber ich weiß, was ich zu tun +habe. Mutter kann dir nicht helfen. Sie versteht es nicht, dich zu +beschützen. Ich wünschte jetzt, ich ginge überhaupt nicht nach +Australien. Ich hab' nicht übel Lust, die ganze Sache zu lassen. Ich +tät's, wenn mein Vertrag nicht schon unterschrieben wäre.« + +»Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim. Du bist wie einer von den Helden aus +den albernen Melodramen, in denen Mutter so gern gespielt hat. Ich will +mich mit dir nicht streiten. Ich hab' ihn gesehen, und ihn sehen, ist +vollkommenes Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, daß du einem, +den ich liebe, nie etwas antun wirst, nicht?« + +»Solange du ihn liebst, wohl kaum«, war die finstere Antwort. + +»Ich werde ihn immer lieben!« rief sie. + +»Und er?« + +»Auch immer.« + +»Das ist sein Glück!« + +Sie schrak vor ihm zurück. Dann lachte sie und legte die Hand auf seinen +Arm. Er war doch nur ein Junge. + +Am Marble Arch bestiegen sie einen Omnibus, der sie in die Nähe ihrer +armseligen Wohnung in Euston Road brachte. Es war schon fünf Uhr +vorüber, und Sibyl mußte sich noch, bevor sie auftrat, ein paar +Stündchen niederlegen. Jim bestand darauf, daß sie es täte. Er sagte, er +würde lieber von ihr Abschied nehmen, wenn die Mutter nicht dabei wäre. +Sie würde sicher eine Szene machen, und er verabscheue Szenen aller Art. + +Sie nahmen in Sibyls Zimmer Abschied. Im Herzen des jungen Menschen +brannte Eifersucht und ein grimmer, mörderischer Haß auf den Fremden, +der, wie er meinte, zwischen sie getreten war. Als sich aber ihre Arme +um seinen Hals schlangen, und ihre Finger durch sein Haar fuhren, wurde +er sanfter und küßte sie mit wirklicher Zärtlichkeit. Als er +hinunterging, standen Tränen in seinen Augen. + +Die Mutter wartete unten auf ihn. Als er eintrat, murrte sie über seine +Unpünktlichkeit. Er gab keine Antwort, sondern setzte sich an sein +kärgliches Mahl. Die Fliegen summten um den Tisch und krochen über das +fleckige Tischtuch. Durch das Gerassel der Omnibusse und das Rackern der +Droschken konnte er die einförmige Stimme hören, die ihn um jede Minute +beraubte, die ihm noch übrig blieb. + +Nach einer Weile schob er seinen Teller zurück und stützte den Kopf in +die Hände. Er fühlte, daß er ein Recht habe, es zu wissen. Wenn die +Dinge lagen, wie er vermutete, hätte man es ihm längst sagen sollen. +Gepeinigt von Furcht, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte tröpfelten +ihr mechanisch von den Lippen. Ihre Finger zerknüllten ein zerrissenes +Spitzentaschentuch. Als die Uhr sechs schlug, stand er auf und ging zur +Tür. Dann wandte er sich um und sah sie an. Ihre Blicke begegneten sich. +In den ihren las er ein inbrünstiges Bitten um Mitleid. Das machte ihn +erst recht zornig. + +»Mutter, ich muß dich was fragen«, sagte er. Ihre Augen irrten im Zimmer +umher. Sie gab keine Antwort. »Sag' mir die Wahrheit! Ich hab' ein +Recht, es zu erfahren! Warst du mit meinem Vater verheiratet?« + +Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ein Seufzer der +Erleichterung. Der schreckliche Augenblick, der Augenblick, vor dem sie +Tag und Nacht seit Wochen und Monaten gebangt hatte, war endlich +gekommen, und doch empfand sie keine Furcht. Ja, es war für sie +gewissermaßen eine Enttäuschung. Die grobe Unumwundenheit der Frage +heischte eine unumwundene Antwort. Die Situation war nicht langsam +gesteigert worden. Es war roh. Es erinnerte sie an eine mißlungene +Deklamation. + +»Nein«, antwortete sie, erstaunt über die harte Einfachheit des Lebens. + +»Dann war mein Vater ein Schuft!« schrie der Bursche und ballte die +Faust. + +Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß er nicht frei war. Wir haben +uns sehr lieb gehabt. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er für uns +gesorgt. Sage nichts gegen ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein +Gentleman. Er hatte wirklich hohe Verbindungen.« + +Ein Fluch kam über seine Lippen. »Es bekümmert mich nicht meinetwegen,« +rief er, »aber laß Sibyl nicht... Ist es ein Gentleman oder nicht, der +sie liebt, oder so sagt? Mit hohen Verbindungen, vermute ich.« + +Einen Augenblick lang kam ein schreckliches Gefühl der Demütigung über +die Frau. Ihr Kopf sank herab. Mit zitternden Händen wischte sie sich +die Augen. »Sibyl hat eine Mutter,« flüsterte sie, »ich hatte keine.« + +Der junge Mensch war gerührt. Er ging zu ihr hin, beugte sich über sie +und küßte sie. »Es tut mir leid, wenn ich dich mit der Frage nach meinem +Vater verletzt habe,« sagte er, »aber ich konnte nicht anders. Jetzt muß +ich fort. Lebewohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind zu +beschützen hast, und glaube mir, wenn dieser Mann meiner Schwester ein +Leid zufügt, dann bringe ich schon heraus, wer es ist, spüre ihn auf und +schlage ihn tot wie einen Hund. Das schwöre ich dir!« + +Die wahnwitzige Übertreibung seines Schwurs, die leidenschaftlichen +Handbewegungen, die ihn begleiteten, die tollen, melodramatischen Worte +machten der alten Frau das Leben wieder interessanter. Diese Atmosphäre +war ihr vertraut. Sie atmete wie erlöst, und zum erstenmal seit vielen +Monaten bewunderte sie förmlich ihren Sohn. Sie hätte die Szene gern auf +derselben Gefühlshöhe fortgesetzt, aber er brach sie kurz ab. Koffer +mußten heruntergebracht und Decken beschafft werden. Der Hausknecht des +Mietshauses rannte geschäftig hin und her. Mit dem Kutscher wurde der +Preis abgehandelt. So wurde der Augenblick durch gemeine Einzelheiten +verzettelt. Mit einem erneuten Gefühl der Enttäuschung stand sie am +Fenster und ließ das zerrissene Spitzentaschentuch durch die Luft +wimpeln, als ihr Sohn wegfuhr. Es war ihr zumute, als sei eine große +Gelegenheit verpaßt worden. Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte, +wie öde künftig ihr Leben sein werde, da sie jetzt nur ein einziges Kind +zu behüten habe. Diesen Satz hatte sie sich gemerkt. Er hatte ihr +gefallen. Von seinem Schwur sagte sie nichts. Er war lebendig und +dramatisch deklamiert worden. Sie hatte die Empfindung, daß sie alle +eines Tages darüber lachen würden. + + + + +Sechstes Kapitel + + +»Du hast doch schon die letzte Neuigkeit gehört, Basil?« sagte Lord +Henry am selben Abend, als Hallward in das kleine Separatzimmer im +Bristol trat, wo für drei Personen zum Essen gedeckt war. + +»Nein, Harry«, antwortete der Künstler, während er Hut und Rock dem +dienernden Kellner gab. »Was ist es? Nichts über Politik, hoffe ich. Die +interessiert mich nicht. Im ganzen Unterhause gibts keinen einzigen +Menschen, den man malen möchte; wenn auch einigen von ihnen zur +Aufbesserung etwas Firnis nicht schaden könnte.« + +»Dorian Gray hat sich verlobt«, sagte Lord Henry und beobachtete ihn, +während er sprach. + +Hallward fuhr zurück und runzelte sofort die Stirn. »Dorian verlobt!« +rief er. »Unmöglich!« + +»Es ist wahrhaftig wahr.« + +»Mit wem?« + +»Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin.« + +»Ich kann's nicht glauben. Dorian ist viel zu verständig.« + +»Dorian ist viel zu klug, um nicht von Zeit zu Zeit verrückte Sachen zu +begehen, lieber Basil.« + +»Heiraten ist kaum eine Sache, die man von Zeit zu Zeit tun kann, +Harry.« + +»Außer in Amerika«, erwiderte Lord Henry nachlässig. »Aber ich habe ja +nicht gesagt, daß er verheiratet sei. Ich sagte, er sei verlobt. Das ist +ein großer Unterschied. Ich erinnere mich ganz deutlich, verheiratet zu +sein, aber ich kann mich nicht erinnern, verlobt gewesen zu sein. Ich +glaube fast, daß ich mich nie verlobt habe.« + +»Aber überlege doch Dorians Geburt, seine Stellung, sein Vermögen. Es +wäre sinnlos, wenn er so tief unter seinem Stande heiraten würde.« + +»Wenn du willst, daß er dies Mädchen heiratet, so brauchst du ihm das +nur zu sagen, Basil. Dann tut er's gewiß. Wenn ein Mann etwas auserlesen +Dummes tut, tut er's immer aus den edelsten Beweggründen.« + +»Ich hoffe, es ist ein gutes Mädchen, Harry. Ich möchte Dorian nicht an +irgendein gewöhnliches Wesen gefesselt sehen, das ihn herabzieht und +seinen Geist verdirbt.« + +»Oh, sie ist mehr als gut -- sie ist schön«, sagte Lord Henry und nippte +an einem Glas Wermut mit Pomeranzen. »Dorian sagt, sie ist schön, und in +Dingen dieser Art irrt er nicht häufig. Sein Bild von ihm hat sein +Urteil über die äußere Erscheinung anderer Menschen geschärft. Es hat +unter anderem diesen glänzenden Erfolg gezeigt. Wir sollen sie heute +abend sehen, wenn der Junge seine Abmachung nicht vergißt.« + +»Ist das dein Ernst?« + +»Vollständig, Basil. Es würde schlimm für mich sein, wenn ich je im +Leben ernsthafter sein müßte als jetzt.« + +»Aber billigst du es denn, Harry?« fragte der Maler, der im Zimmer auf +und ab ging und sich auf die Lippen biß. »Du kannst es doch ganz +unmöglich billigen. Es ist eine törichte Verblendung.« + +»Ich billige oder mißbillige nie wieder etwas. Sowas bringt einen in +eine ganz verrückte Stellungnahme zum Leben. Wir sind nicht in die Welt +geschickt worden, um unsere moralischen Vorurteile glänzen zu lassen. +Ich nehme nie Notiz von dem, was gewöhnliche Leute sagen, und ich mische +mich nie in Dinge, die reizende Leute vorhaben. Wenn mich eine +Persönlichkeit fesselt, dann ist jede Ausdrucksform, die sich diese +Persönlichkeit aussucht, für mich erfreulich. Dorian Gray verliebt sich +in ein schönes Mädchen, das die Julia spielt, und will sie heiraten. +Warum nicht? Wenn er Messalina heiraten wollte, würde er nicht weniger +interessant sein. Du weißt, ich bin kein Eheapostel. Der eigentliche +Nachteil der Ehe ist, daß man selbstlos wird. Und selbstlose Menschen +sind farblos. Sie werden unpersönlich. Jedoch gibt es gewisse +Temperamente, die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten ihren +Egoismus und erweitern ihn durch eine Reihe anderer Ichs. Sie sehen sich +gezwungen, mehr als ein einzelnes Leben zu führen. Sie werden feiner +organisiert, und feiner organisiert zu werden, scheint mir der Zweck des +menschlichen Lebens. Überdies hat jede Erfahrung ihren Wert, und was man +auch gegen die Ehe sagen kann, eine Erfahrung ist sie sicher. Ich hoffe, +Dorian Gray wird dies Mädchen heiraten, wird sie sechs Monate hindurch +leidenschaftlich anbeten, und dann wird ihn plötzlich eine andere +anziehen. Es wäre prachtvoll, das zu beobachten.« + +»Du glaubst kein einziges Wort von alledem, Harry; und das weißt du +auch. Wenn Dorian Grays Leben zerstört würde, wäre kein Mensch trauriger +als du. Du bist viel besser, als du vorgibst.« + +Lord Henry lachte. »Der Grund, weshalb wir alle so gut von anderen +denken, ist der, daß wir alle Angst vor uns selber haben. Die Grundlage +des Optimismus ist nichts als Furcht. Wir halten uns für großherzig, +weil wir unserem Nachbar Tugenden zuschreiben, aus denen für uns ein +Nutzen erwachsen könnte. Wir rühmen den Bankier, damit wir unser Konto +überschreiten können, und finden im Buschklepper gute Eigenschaften in +der Hoffnung, daß er unseren Geldbeutel verschonen wird. Ich glaube +jedes Wort, das ich gesprochen habe. Ich habe die größte Verachtung für +den Optimismus. Was das zerstörte Leben betrifft, so ist kein Leben +zerstört, dessen Wachstum nicht gehemmt wird. Wenn man eine +Persönlichkeit verderben will, braucht man sie nur zu verbessern. Die +Ehe allerdings ist eine Narretei, aber es gibt andere und interessantere +Bande zwischen Mann und Frau. Natürlich würde ich dazu eher raten. Sie +haben den Reiz, fashionabel zu sein. Aber da ist Dorian selbst. Er wird +dir mehr sagen, als ich es kann.« + +»Lieber Harry, lieber Basil, ihr müßt mir beide Glück wünschen«, sagte +der Jüngling, während er den Abendmantel mit den atlasgefütterten +Flügeln abwarf und den Freunden die Hand schüttelte. »Ich war niemals so +selig. Natürlich ist alles plötzlich gekommen; alles Entzückende kommt +plötzlich. Und doch scheint es das einzige gewesen zu sein, wonach ich +mein Leben lang auf der Suche war.« Er glühte vor Aufregung und Freude +und sah außerordentlich hübsch aus. + +»Ich hoffe, du wirst immer sehr glücklich sein, Dorian,« sagte Hallward, +»aber ich kann es dir nicht ganz verzeihen, daß du mir deine Verlobung +nicht mitgeteilt hast. Harry hast du es mitgeteilt.« + +»Und ich kann es dir nicht verzeihen, daß du zu spät kommst«, fiel Lord +Henry lächelnd ein und legte seine Hand auf die Schulter des jungen +Mannes. »Komm, wir wollen uns setzen und versuchen, was der neue Chef +hier kann, und dann erzählst du uns, wie alles gekommen ist.« + +»Da ist wirklich nicht viel zu erzählen!« rief Dorian, als sie sich um +den kleinen Tisch gesetzt hatten. »Was geschah, war einfach so. Als ich +dich gestern abend verließ, Harry, zog ich mich an, aß in dem kleinen +italienischen Restaurant in Rupert Street, das ich durch dich +kennengelernt habe, und ging um acht Uhr ins Theater. Sibyl spielte die +Rosalinde. Natürlich war die Dekoration greulich und der Orlando zum +Lachen. Aber Sibyl! Ihr hättet sie sehen sollen. Als sie in ihren +Knabenkleidern auftrat, war sie einfach wunderbar. Sie trug ein +moosgrünes Samtwams mit zimtbraunen Ärmeln, eine kurze, braune, überm +Knie kreuzweise geschnürte Hose, ein reizendes grünes Barett mit einer +Falkenfeder, die von einem funkelnden Stein gehalten wurde, und war in +einen dunkelrot gefütterten Kapuzenmantel gehüllt. Sie war mir nie +schöner vorgekommen. Sie hatte all die zarte Grazie der Tanagrafigur, +die du in deinem Atelier hast, Basil. Das Haar schlang sich um ihr +Gesicht wie dunkles Laub um eine blasse Rose. Und ihr Spiel -- nun, ihr +werdet sie heute abend sehen. Sie ist eben eine geborene Künstlerin. Ich +saß ganz verzaubert in der schmierigen Loge. Ich vergaß, daß ich in +London war und im neunzehnten Jahrhundert lebte. Ich war mit meiner +Geliebten weit fort in einem Wald, den noch kein Menschenauge gesehen +hatte. Nach der Vorstellung ging ich hinter die Bühne und sprach mit +ihr. Als wir nebeneinander saßen, trat plötzlich ein Ausdruck in ihre +Augen, den ich nie vorher gesehen hatte. Meine Lippen fühlten sich zu +ihr hingezogen. Wir küßten uns beide. Ich kann euch nicht beschreiben, +was ich in dem Augenblick gefühlt habe. Mir schien, daß all mein Leben +in einen vollkommenen Moment rosenfarbiger Wonne zusammengepreßt wäre. +Sie zitterte am ganzen Leibe und bebte wie eine weiße Narzisse. Dann +warf sie sich auf die Knie und küßte meine Hände. Ich weiß, ich sollte +euch das alles nicht erzählen, aber ich kann mir nicht helfen. Natürlich +ist unsere Verlobung tiefstes Geheimnis. Sie hat nicht einmal zu ihrer +Mutter davon gesprochen. Ich weiß nicht, was meine Vormünder dazu sagen +werden. Lord Radley wird sicher wütend sein. Ist mir ganz gleich. In +weniger als einem Jahre bin ich volljährig und kann dann machen, was ich +will. Hatte ich nicht recht, Basil, meine Geliebte aus dem Reich der +Dichtung wegzuholen und meine Frau in Shakespeares Stücken zu finden? +Lippen, die Shakespeare reden gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis ins +Ohr geflüstert. Rosalindens Arme lagen um meinen Hals, und ich habe +Julia auf den Mund geküßt.« + +»Ja, Dorian, ich glaube, du tatest recht«, sagte Hallward langsam. + +»Hast du sie heute schon gesehen?« fragte Lord Henry. + +Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Ich verließ sie im Ardennenwald und +werde sie in einem Garten von Verona wiederfinden.« + +Lord Henry schlürfte nachdenklich seinen Champagner. »In welchem +Augenblick hast du von Heirat gesprochen, Dorian? Und was erwiderte sie +darauf? Vielleicht hast du das schon ganz vergessen.« + +»Lieber Harry, ich habe es nicht als Geschäft behandelt und habe ihr +keinen förmlichen Antrag gemacht. Ich sagte ihr, daß ich sie liebe, und +sie sagte, sie verdiene nicht, mein Weib zu sein. Nicht verdienen! Was +ist denn die ganze Welt für mich, wenn ich sie mit ihr vergleiche!« + +»Die Frauen sind wunderbar praktisch,« murmelte Lord Henry -- »viel +praktischer als wir. In Situationen dieser Art vergessen wir oft, etwas +von Heirat zu erwähnen, und sie erinnern uns immer daran.« + +Hallward legte die Hand auf seinen Arm. »Nicht doch, Harry. Du kränkst +Dorian. Er ist nicht wie andere Männer. Er würde nie jemand unglücklich +machen. Seine Natur ist dafür zu edel.« + +Lord Henry blickte über den Tisch. »Dorian fühlt sich nie gekränkt durch +mich«, antwortete er. »Ich habe aus dem besten Grund gefragt, den es +geben kann, aus dem einzigen Grund, der eine Entschuldigung für eine +Frage ist -- einfach aus Neugier. Ich habe eine Theorie, wonach es immer +Frauen sind, die uns einen Antrag machen, und nicht wir den Frauen. +Natürlich ausgenommen die Mittelklassen. Aber die Mittelklassen sind +eben nicht modern.« + +Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. »Du bist ganz +unverbesserlich, Harry; aber ich bin nicht böse. Man kann dir ja gar +nicht böse sein. Wenn du Sibyl Vane siehst, wirst du fühlen, daß der +Mann, der ihr ein Leid antun kann, ein Tier sein muß, ein herzloses +Tier. Ich kann nicht begreifen, wie man es über sich gewinnen kann, ein +Wesen, das man liebt, in Schande zu bringen. Ich liebe Sibyl Vane. Ich +möchte sie auf einen goldenen Sockel stellen und dann sehen, wie die +ganze Welt das Weib anbetet, das mir gehört. Was ist Ehe? Ein +unwiderrufliches Gelübde. Du spottest deshalb darüber. Ach, spotte +nicht! Ein unwiderrufliches Gelübde will ich ablegen. Ihr Vertrauen +macht mich treu, ihr Glaube macht mich gut. Wenn ich bei ihr bin, +verleugne ich alles, was du mich gelehrt hast. Ich werde ein ganz +anderer Mensch als der, den du in mir siehst. Ich bin verwandelt, und +die bloße Berührung von Sibyl Vanes Hand läßt mich alle deine falschen, +bezaubernden, vergifteten, entzückenden Theorien vergessen.« + +»Und die wären?« fragte Lord Henry, während er Salat nahm. + +»Oh, deine Theorien über das Leben, deine Theorien über die Liebe, deine +Theorien über den Genuß. Tatsächlich alle deine Theorien, Harry.« + +»Genuß ist das einzige auf der Welt, das eine Theorie verdient«, +antwortete er mit seiner sanften, musikalischen Stimme. »Aber ich +fürchte, es ist nicht meine eigene Theorie. Sie gehört der Natur, nicht +mir. Genuß ist das Siegel der Natur, das Zeichen ihrer Zustimmung. Wenn +wir glücklich sind, dann sind wir immer gut, aber wenn wir gut sind, +sind wir nicht immer glücklich.« + +»Ah, doch, was verstehst du unter gut?« rief Basil Hallward. + +»Ja,« wiederholte Dorian, indem er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und +über den massigen Strauß rotblutiger Schwertlilien in der Mitte des +Tisches zu Lord Henry blickte, »was verstehst du unter gut, Harry?« + +»Gut sein, heißt mit sich selbst im Einklang sein«, antwortete er, den +dünnen Stengel seines Glases mit blassen, feingespitzten Fingern +umfassend. »Mißklang heißt es, mit anderen übereinstimmen müssen. Das +eigene Leben -- das ist es, worauf es ankommt. Was das Leben unserer +Nachbarn betrifft, nun, wenn man durchaus ein Affe oder ein Puritaner +sein will, dann mag man ihnen ja seine moralischen Ansichten ins Gesicht +schleudern, aber sie gehen einen schließlich gar nichts an. Abgesehen +davon, hat der Individualismus in der Tat die höheren Ziele. Die moderne +Sittlichkeit besteht darin, daß man den Maßstab seiner Zeit anerkennt. +Ich habe die Meinung, daß jeder kultivierte Mensch, der den Maßstab +seiner Zeit anerkennt, damit eines der gröbsten Sittlichkeitsverbrechen +begeht.« + +»Wenn man aber nur für sich selbst lebt, Harry, muß man da nicht einen +furchtbaren Preis dafür zahlen?« fragte der Maler. + +»Ja, heutzutage werden wir in allem überteuert. Ich glaube, die +wirkliche Tragödie der Armut ist die, daß sich die Armen nichts leisten +können als Selbstverleugnung. Schöne Sünden sind wie alle schönen Dinge +ein Vorrecht der begüterten Klassen.« + +»Man muß in anderer Münze zahlen als mit Geld.« + +»In welcher Münze, Basil?« + +»Ich meine mit Gewissensbissen, mit Schmerzen, mit... na eben mit dem +Gefühl der Erniedrigung.« + +Lord Henry zuckte die Achseln. »Mein lieber Junge, die mittelalterliche +Kunst ist etwas Entzückendes, aber mittelalterliche Gefühle sind nicht +mehr Mode. Man kann sie freilich in der Dichtung gebrauchen. Aber die +einzigen Dinge, die in Dichtungen zu verwerten sind, sind solche, um die +man sich in der Wirklichkeit nicht mehr kümmert. Glaube mir, kein +zivilisierter Mensch bereut einen durchlebten Genuß, und kein +unzivilisierter Mensch weiß, was ein Genuß ist.« + +»Ich weiß, was ein Genuß ist!« rief Dorian Gray. »Jemand anbeten.« + +»Das ist jedenfalls besser, als angebetet zu werden«, antwortete Harry, +während er mit einigen Früchten spielte. »Angebetet zu werden, ist +peinlich. Die Weiber behandeln uns genau so wie die Menschheit ihre +Götter. Sie beten uns an und quälen uns unaufhörlich, irgendwas für sie +zu tun.« + +»Ich würde sagen, alles, was sie von uns verlangen, haben sie uns zuerst +geschenkt«, sagte der Jüngling ernst und leise. »Sie erzeugen die Liebe +in uns. Sie haben ein Recht, sie dann zurückzuverlangen.« + +»Das ist ganz richtig, Dorian«, rief Hallward. + +»Ganz richtig ist niemals etwas«, sagte Lord Henry. + +»Das ist es«, unterbrach Dorian. »Du mußt zugeben, Harry, daß nur die +Frauen den Männern das reinste Gold des Lebens schenken.« + +»Vielleicht,« seufzte er, »aber unweigerlich verlangen sie es dann in +Kleingeld umgewechselt zurück. Das ist der Jammer dabei. >Die Frauen,< +hat einmal ein witziger Franzose gesagt, >regen uns an, Meisterwerke zu +schaffen, und verhindern uns immer, sie auszuführen.<« + +»Harry, du bist schrecklich! Ich weiß gar nicht, warum ich dich so gern +habe.« + +»Du wirst mich immer gern haben, Dorian«, antwortete er. »Wollen wir +Kaffee trinken, Kinder? -- Kellner, bringen Sie Kaffee, fine Champagne +und Zigaretten. Nein, lassen Sie die Zigaretten, ich habe selbst bei +mir. Basil, ich kann dir nicht erlauben, Zigarren zu rauchen. Du mußt +eine Zigarette nehmen. Eine Zigarette ist der vollendete Ausdruck eines +vollendeten Genusses. Er ist köstlich und läßt dabei unbefriedigt. Was +will man mehr verlangen? Ja, Dorian, du wirst mich immer lieb haben. Ich +bin für dich der Inbegriff aller Sünden, die du zu begehen nie den Mut +haben wirst.« + +»Was für Unsinn du redest, Harry!« rief der junge Mann, während er seine +Zigarette an dem feuerspeienden Silberdrachen anzündete, den der Kellner +auf den Tisch gestellt hatte. »Wir wollen jetzt ins Theater. Wenn Sibyl +auftritt, werdet ihr ein neues Lebensideal bekommen. Sie wird euch etwas +offenbaren, das ihr noch nicht gekannt habt.« + +»Ich habe alles kennengelernt,« sagte Lord Henry mit einem müden +Ausdruck in den Augen, »aber ich bin immer bereit, mir eine neue Emotion +zu verschaffen. Nur fürchte ich, daß es für mich derlei kaum noch gibt. +Immerhin, dein wunderbares Mädchen wird mich vielleicht erschüttern. Ich +liebe die Schauspielkunst. Sie ist soviel wirklicher als das Leben. Wir +wollen gehen. Dorian, du kannst bei mir einsteigen. Basil, es tut mir +leid, aber in meinem Brougham ist nur Platz für zwei. Du mußt schon in +einer Droschke nachfahren.« + +Sie standen auf, zogen ihre Röcke an und tranken den Kaffee im Stehen. +Der Maler war schweigsam und bedrückt. Ein düsteres Gefühl lastete auf +ihm. Er konnte diese Ehe nicht gutheißen, und sie schien ihm doch besser +zu sein als manches andere, das hätte geschehen können. Nach einigen +Minuten gingen sie gemeinsam die Treppe hinunter. Er fuhr, wie +verabredet, allein, und sah auf die blitzenden Lichter des kleinen +Wagens, der vor ihm dahinrollte. Das seltsame Gefühl eines großen +Verlustes überkam ihn. Er fühlte, daß Dorian Gray nie wieder das für ihn +sein würde, was er ihm früher gewesen war. Das Leben war zwischen sie +getreten... Vor seinen Augen ward es dunkel, und die menschenvollen, +erleuchteten Straßen verschwammen vor seinem Blick. Als seine Droschke +am Theater vorfuhr, schien es ihm, als sei er um viele Jahre älter +geworden. + + + + +Siebentes Kapitel + + +Aus irgendeinem Grunde war das Haus an diesem Abend besonders dicht +gefüllt, und der fette jüdische Direktor, der sie an der Tür empfing, +strahlte von einem Ohr zum anderen in einem öligen, zuckenden Lächeln. +Er begleitete sie zu ihrer Loge mit einer gewissen prahlerischen Demut, +die feisten, juwelenbedeckten Hände hastig bewegend und sich mit der +Stimme beinahe überschlagend. Dorian verabscheute ihn mehr als je. Er +hatte das Gefühl, als sei er gekommen, um Miranda zu besuchen und +Caliban habe ihn empfangen. Dagegen hatte Lord Henry etwas für ihn +übrig. Wenigstens erklärte er, daß er ihm gefiele, bestand darauf, ihm +die Hand zu schütteln und versicherte ihm, er sei stolz darauf, einen +Mann kennenzulernen, der ein bedeutendes Genie entdeckt habe und an +einem Dichter bankerott geworden sei. Hallward unterhielt sich damit, +die Gestalten im Stehparterre zu beobachten. Die Hitze war äußerst +drückend, und der riesige Sonnenkronleuchter flammte wie eine +gigantische Dahlie mit Blättern von gelbem Feuer. Die jungen Leute auf +der Galerie hatten Röcke und Westen ausgezogen und sie über die Brüstung +gehängt. Sie riefen einander quer über das ganze Theater zu und +fütterten die grell gekleideten Mädchen neben ihnen mit Orangen. Ein +paar Weiber unten im Stehparterre lachten. Ihre Stimmen waren +schrecklich schrill und unangenehm. Vom Büfett her hörte man Flaschen +entkorken. + +»Was für ein sonderbarer Platz, um seine Göttin zu finden!« sagte Lord +Henry. + +»Ja«, erwiderte Dorian Gray. »Hier habe ich sie gefunden, und sie ist +göttlicher als alles Lebendige. Wenn sie spielt, wirst du alles +vergessen. Diese gewöhnlichen rohen Leute mit ihren alltäglichen +Gesichtern und brutalen Bewegungen werden ganz verwandelt, sobald sie +auf der Bühne steht. Sie sitzen stumm da und beobachten sie. Sie weinen +und lachen, wenn sie es will. Sie hält sie in Stimmung, wie man es mit +einer Geige tut. Sie veredelt sie, und man spürt, daß sie vom selben +Fleisch und Blut sind wie man selbst.« + +»Vom selben Fleisch und Blut wie man selbst? Oh, ich hoffe nicht!« rief +Lord Henry, der die Leute auf der Galerie mit seinem Opernglas musterte. + +»Höre nicht auf ihn, Dorian!« sagte der Maler. »Ich begreife, was du +meinst, und ich glaube an dies Mädchen. Der Mensch, den du liebst, muß +wunderbar sein, und jedes Mädchen, das die von dir geschilderte Wirkung +erzielt, muß fein und edel sein. Seine Mitmenschen veredeln -- das +verlohnt der Mühe. Wenn dies Mädchen die beseelen kann, die seelenlos +gelebt haben, wenn sie in Menschen, deren Dasein schmutzig und häßlich +war, einen Sinn für Schönheit wecken kann, wenn sie sie aus ihrem +Eigennutze losreißen und ihnen Tränen um Sorgen entlocken kann, die +nicht ihre eigenen sind, dann ist sie deiner Verehrung wert, dann ist +sie der Verehrung der ganzen Welt wert. Solche Heirat ist ganz das +Rechte. Ich dachte zuerst nicht so, aber jetzt gebe ich es zu. Die +Götter haben Sibyl Vane für dich geschaffen. Ohne sie wärst du nur +unvollständig gewesen.« + +»Danke, Basil«, antwortete Dorian Gray und drückte ihm die Hand. »Ich +wußte, daß du mich verstehst. Harry ist ein Zyniker, er erschreckt mich. +Aber da kommt das Orchester. Es ist furchtbar, aber es dauert nur knappe +fünf Minuten. Dann geht der Vorhang auf und du erblickst ein Mädchen, +dem ich mein ganzes Leben schenken will, dem ich alles überantwortet +habe, was gut ist in mir.« + +Eine Viertelstunde später betrat Sibyl Vane unter einem geräuschvollen +Beifallssturm die Bühne. Ja, sie war wirklich entzückend -- eins der +entzückendsten Geschöpfe, dachte Lord Henry, die er je gesehen hatte. Es +lag etwas von einem Reh in ihrer scheuen Grazie und ihren erstaunten +Augen. Ein schwaches Erröten wie der Widerschein einer Rose in einem +silbernen Spiegel trat auf ihre Wangen, als sie das überfüllte und +begeisterte Haus erblickte. Sie trat ein paar Schritte zurück, und ihre +Lippen schienen zu zittern. Basil Hallward sprang auf und begann zu +klatschen. Bewegungslos, und wie in tiefem Traume, saß Dorian Gray da +und sah sie an. Lord Henry starrte unverwandt durch sein Glas und +murmelte: »Entzückend! Entzückend!« + +Die Szene stellte die Halle in Capulets Hause dar, und Romeo war in +seinem Pilgerkleid mit Mercutio und seinen anderen Freunden aufgetreten. +Die Musik präludierte, so gut sie konnte, mit ein paar Akkorden, und der +Tanz fing an. Mitten in dem Gewimmel von ungeschickten, schäbig +gekleideten Schauspielern bewegte sich Sibyl Vane wie ein Geschöpf aus +einer höheren Welt. Ihr Körper schwebte im Tanze wie eine Blume auf dem +Wasser. Die Linien ihres Halses glichen denen einer weißen Lilie. Ihre +Hände schienen aus kühlem Elfenbein zu sein. + +Und doch schien sie von seltsamer Abwesenheit. Sie zeigte kein Zeichen +der Freude, während ihr Auge auf Romeo ruhte. Die wenigen Worte, die sie +zu sprechen hatte -- + + Nein, Pilger, lege nichts der Hand zuschulden + Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß; + Der Heiligen Rechte darf Berührung dulden, + Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuß -- + +mit dem kurzen Dialog, der folgt, sprach sie in einem ganz gekünstelten +Tone. Die Stimme klang wundervoll, aber der Ton ganz verfehlt. Er traf +die Stimmungsfarbe nicht. Er nahm den Versen alles Leben. Er machte die +Leidenschaft unwahr. + +Dorian Gray erbleichte, als er es hörte. Er war verlegen und erschreckt. +Seine beiden Freunde wagten nicht, ihm etwas zu sagen. Sie schien ja +ganz talentlos zu sein. Sie waren furchtbar enttäuscht. + +Aber sie wußten, daß der wahre Prüfstein für jede Julia die Balkonszene +im zweiten Akt sei. Darauf warteten sie. Wenn sie hier versagte, war +nichts an ihr. + +Sie sah reizend aus, als sie im Mondschein auftrat. Das konnte niemand +leugnen. Aber das Theatralische ihres Spiels war unerträglich und wurde +im Verlauf immer ärger. Ihre Gesten waren lächerlich gekünstelt. Sie +übertrieb das Pathos von allem, was sie zu sagen hatte. Die wundervollen +Verse -- + + Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht, + Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen + Um das, was du vorhin mich sagen hörtest -- + +deklamierte sie mit der peinlichen Genauigkeit eines Schulmädchens, das +einen mittelmäßigen Vortragslehrer in der Schule gehabt hat. Als sie +sich über den Balkon lehnte und zu den herrlichen Versen kam -- + + Obwohl ich dein mich freue, + Freu' ich mich nicht des Bundes dieser Nacht: + Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich, + Gleicht allzusehr dem Blitz, der schon vorbei, + Noch eh' man sagen kann: es blitzt. -- Schlaf süß! + Mag warmer Sommerhauch die Liebesknospe + Zur Blume bis zum Wiedersehn entfalten -- + +sprach sie die Worte, als enthielten sie keinerlei Sinn für sie. Es war +nicht Aufregung. Nein, weit entfernt davon, erregt zu sein, schien sie +ganz mit sich zufrieden. Es war einfach schlechte Kunst. Es war ein +richtiger Abfall. + +Selbst das gewöhnliche, ungebildete Publikum auf Stehplatz und Galerie +verlor sein Interesse am Stück. Man wurde unruhig und begann laut zu +sprechen und zu zischen. Der jüdische Direktor, der im Hintergrunde des +ersten Ranges stand, stampfte mit den Füßen und fluchte vor Wut. Einzig +und allein unbewegt war das Mädchen selbst. + +Als der zweite Akt vorüber war, brach ein Sturm von Zischen los, und +Lord Henry stand von seinem Stuhl auf und zog seinen Rock an. »Sie ist +wunderschön, Dorian,« sagte er, »aber sie kann nicht spielen. Wir wollen +gehen.« + +»Ich will das Stück zu Ende sehen«, antwortete der junge Mann mit +harter, bitterer Stimme. »Es tut mir äußerst leid, daß ich dich +veranlaßt habe, einen Abend zu vergeuden, Harry. Ich muß mich bei euch +beiden entschuldigen.« + +»Mein lieber Dorian, ich glaube, Miß Vane war krank«, unterbrach ihn +Hallward. »Wir wollen an einem anderen Abend wiederkommen.« + +»Ich wünschte, sie wäre krank«, erwiderte er. »Aber ich glaube, sie hat +nur kein Gefühl und ist kalt. Sie ist völlig verändert. Gestern abend +war sie eine große Künstlerin. Heute abend ist sie nur eine gewöhnliche, +mittelmäßige Schauspielerin.« + +»Sprich nicht so über jemand, den du liebst, Dorian. Liebe ist etwas +viel Wunderbareres als Kunst.« + +»Es sind beides nur Formen der Nachahmung«, bemerkte Lord Henry. »Aber +wir wollen gehen. Dorian, du darfst nicht länger hier bleiben. Es +schadet der Moral, schlechte Schauspielkunst zu sehen. Ich glaube +übrigens nicht, daß du deine Frau auftreten lassen wirst. Was liegt also +daran, ob sie die Julia wie eine Holzpuppe spielt! Sie ist wirklich +bezaubernd, und wenn sie so wenig vom Leben weiß wie vom Theaterspielen, +wird sie dir eine köstliche Erfahrung sein. Es gibt nur zwei Arten +fesselnder Menschen -- solche, die alles wissen, und solche, die gar +nichts wissen. Großer Gott, mein lieber Junge, mach' kein so tragisches +Gesicht! Das Rezept, jung zu bleiben, besteht einfach darin, nie eine +Erregung haben, die unzuträglich ist. Komm mit Basil und mir in den +Klub! Wir wollen Zigaretten rauchen und auf Sibyl Vanes Schönheit +trinken. Sie ist schön. Was willst du noch mehr?« + +»Geh, Harry!« rief der Jüngling. »Ich will allein sein. Basil, geh! Ach, +könnt ihr nicht sehen, daß mir das Herz bricht?« Heiße Tränen traten ihm +in die Augen. Seine Lippen bebten, er drückte sich in die dunkelste Ecke +der Loge, lehnte sich an die Wand und verbarg sein Gesicht in den +Händen. + +»Komm, Basil«, sagte Lord Henry mit seltsam zärtlicher Stimme; und die +beiden jungen Männer gingen zusammen hinaus. + +Ein paar Augenblicke später flammte die Rampe wieder auf, und der +Vorhang rauschte zum dritten Akt in die Höhe. Dorian Gray ging auf +seinen Platz zurück. Er sah bleich, abwesend, gleichgültig aus. Das +Spiel schleppte sich weiter und schien endlos zu sein. Die Hälfte des +Publikums ging weg, auf schweren Stiefeln trampelnd und lachend. Das +Ganze war ein richtiges Fiasko. Der letzte Akt wurde beinah vor leeren +Bänken gespielt. Der Vorhang fiel unter Zischen und höhnischem Gegrunze. + +Sobald es aus war, stürzte Dorian Gray hinter die Kulissen in die +Garderobe. Das Mädchen stand allein da, mit einem triumphierenden Zuge +im Antlitz. Die Augen leuchteten in einem merkwürdigen Feuer. Eine Art +Glanz umschwebte sie. Ihre halbgeöffneten Lippen lächelten wie ein +Geheimnis, das ihnen allein bewußt war. + +Als er eintrat, blickte sie ihn an und ein Ausdruck unsäglichen Glückes +kam über sie. »Wie schlecht ich heute gespielt habe, Dorian!« rief sie. + +»Schrecklich«, antwortete er und sah sie voll Staunen an -- +»schrecklich. Es war geradezu fürchterlich. Bist du krank? Du hast keine +Ahnung, wie es war. Keine Ahnung, was ich durchgemacht habe.« + +Das Mädchen lächelte. »Dorian«, antwortete sie und zog seinen Namen mit +einem musikalischen Klang in die Länge, als wäre er den roten Blüten +ihres Mundes süßer als Honig -- »Dorian, du hättest begreifen sollen. +Aber jetzt begreifst du, nicht wahr?« + +»Was?« fragte er heftig. + +»Warum ich heute abend so schlecht spielte. Warum ich immer schlecht +spielen werde. Warum ich nie mehr gut spielen werde.« + +Er zuckte die Achseln. »Du bist gewiß krank. Wenn du krank bist, +solltest du nicht spielen. Du machst dich nur lächerlich. Meine Freunde +haben sich gelangweilt. Ich ebenfalls.« + +Sie schien nicht zu hören, was er sagte. Sie war wie verklärt vor +Vergnügen. Eine Ekstase des Glücks beherrschte sie. + +»Dorian, Dorian,« rief sie, »bevor ich dich kannte, war Spielen die +einzige Wirklichkeit in meinem Leben. Nur im Theater lebte ich. Ich +hielt das alles für wahr. An einem Abend war ich Rosalinde und Portia am +andern. Beatrices Glück war mein Glück, und Kordelias Tränen waren die +meinen. Ich glaubte an alles. Dies gewöhnliche Volk, das mit mir +spielte, schien mir göttlich. Die bemalten Kulissen bedeuteten für mich +die Welt. Ich kannte nichts als Schatten, und ich nahm sie für +Wirklichkeit. Da kamst du -- o mein schöner Geliebter -- und befreitest +meine Seele aus der Kerkerhaft. Du hast mich gelehrt, was die wahre +Wirklichkeit ist. Heute habe ich zum erstenmal die ganze Hohlheit +durchschaut, den Betrug, die Albernheit des falschen, verlogenen +Flittertandes, zwischen dem ich bisher gespielt habe. Heute abend wußte +ich zum ersten Male, daß dieser Romeo abscheulich und alt und geschminkt +ist, daß der Mond im Garten Blendwerk, die ganze Szenerie ordinär ist +und daß die Worte, die ich zu sprechen hatte, nicht wahr, nicht meine +Worte sind, nicht, was ich hätte sagen müssen. Du hast mir etwas Höheres +geschenkt, etwas, von dem alle Kunst nur Abglanz ist. Du hast mich +begreifen gelehrt, was Liebe ist. Mein Geliebter! Mein Geliebter! Prinz +Märchenschön! Prinz meines Lebens! Ich kann die Schatten nicht mehr +ertragen. Du bist mir mehr, als mir alle Kunst je sein kann. Was hab' +ich mit den Puppen eines Spiels zu schaffen? Als ich heute abend +auftrat, konnte ich nicht begreifen, wie es gekommen war, daß alles +verschwunden sein sollte. Ich hatte gedacht, ich würde wundervoll sein. +Ich merkte, daß ich durchaus versagte. Plötzlich dämmerte es meiner +Seele, was das alles bedeutete. Es war ein herrliches Wissen. Ich hörte +sie zischen und lächelte. Was konnten die wissen von einer Liebe wie die +unsere? Nimm mich fort, Dorian -- nimm mich mit dir irgendwohin, wo wir +allein sein können. Ich hasse das Theater. Ich konnte vielleicht ein +Gefühl darstellen, das ich nicht spüre, aber ich kann doch nicht eins +spielen, das mich verbrennt wie Feuer. Ach, Dorian, Dorian, begreifst du +jetzt, was das bedeutet? Selbst wenn ich es zustande brächte, wär' es +Entweihung, zu spielen, während ich liebe. Du hast mich sehend gemacht.« + +Er warf sich auf das Sofa und wandte sein Gesicht ab. »Du hast meine +Liebe getötet«, murmelte er. + +Sie sah ihn staunend an und lachte. Er gab keine Antwort. Sie kam hin zu +ihm und strich mit ihren kleinen Fingern durch sein Haar. Sie kniete +nieder und preßte seine Hände an ihre Lippen. Er schob sie weg, und ein +Schauder überlief ihn. + +Dann sprang er auf und schritt zur Tür. »Ja,« rief er, »du hast meine +Liebe getötet. Bisher hast du meine Phantasie gefesselt. Jetzt fesselst +du nicht einmal meine Neugier. Du wirkst einfach nicht. Ich liebte dich, +weil du ein Wunder warst, weil du Genie und Geist hattest, weil du die +Träume großer Dichter verkörpertest und den Schatten der Kunst Gestalt +und Körper verliehest. All das hast du weggeworfen. Jetzt bist du leer +und seicht. Mein Gott. Was für ein Narr war ich, dich zu lieben! Wie +verblendet war ich! Jetzt bist du mir nichts mehr. Ich will dich niemals +wiedersehen. Nie mehr an dich denken. Nie mehr deinen Namen aussprechen. +Du weißt nicht, was du mir einmal warst. Ja, einmal, einmal... Oh, ich +ertrage es nicht, daran zu denken. Ich wünschte, ich hätte dich niemals +gesehen. Du hast die Poesie meines Lebens vernichtet. Wie wenig mußt du +von Liebe wissen, wenn du sagst, sie lähme deine Kunst! Ohne deine Kunst +bist du nichts. Ich hätte dich berühmt gemacht, zu einem Sterne, zu +etwas Herrlichem. Die Welt hätte dich angebetet, und du hättest meinen +Namen getragen. Was bist du jetzt? Eine Schauspielerin dritten Ranges +mit einem hübschen Gesichtchen.« + +Das Mädchen war totenblaß geworden und zitterte. Sie preßte die Hände +zusammen, und die Sprache schien ihr in der Kehle erstickt zu sein. »Du +meinst es doch nicht im Ernst, Dorian?« flüsterte sie. »Du verstellst +dich nur.« + +»Verstellen? Das überlaß ich dir. Du verstehst es ja so gut«, entgegnete +er bitter. + +Sie erhob sich von den Knien und ging mit einem wehen, qualvollen +Antlitz zu ihm hin. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und sah ihm in +die Augen. Er stieß sie zurück. »Berühre mich nicht!« schrie er. + +Ein leises Stöhnen brach aus ihr hervor, und sie warf sich ihm zu Füßen +und lag da wie eine zertretene Blume. »Dorian, Dorian, geh nicht fort +von mir!« rief sie leise. »Ich bin so betrübt, daß ich nicht gut +gespielt habe. Ich dachte nur immer an dich. Aber ich will es wieder +versuchen -- wirklich, ich will es versuchen. Es kam so jäh über mich, +die Liebe zu dir. Ich glaube, ich hätte nie etwas von ihr gewußt, wenn +du mich nicht geküßt hättest -- wenn wir uns nicht geküßt hätten. Küß +mich wieder, Geliebter! Geh nicht von mir! Ich könnte es nicht +überleben. Oh, verlaß mich nicht! Mein Bruder... nein, nichts darüber. +Er meinte es nicht im Ernst. Er scherzte nur... Aber du, oh! Kannst du +mir nie den heutigen Abend verzeihen? Ich werde so fleißig sein und mir +Mühe geben, besser zu werden. Sei nicht grausam gegen mich, weil ich +dich mehr liebe als alles in der Welt. Es ist doch nur ein einziges Mal, +wo ich dir mißfallen habe. Aber du hast ganz recht, Dorian. Ich hätte +mich mehr als Künstlerin zeigen sollen. Es war närrisch von mir; und +doch konnte ich nicht anders. Ach, verlaß mich nicht, verlaß mich +nicht.« Leidenschaftliches Schluchzen erschütterte sie. Sie kauerte sich +nieder wie ein wundes Tier, und Dorian Gray sah mit seinen schönen Augen +zu ihr herab, und seine feingeschnittenen Lippen kräuselten sich in +tiefster Verachtung. Die Gefühlsregungen von Menschen, die man nicht +mehr liebt, haben immer etwas Lächerliches an sich. Sibyl Vane schien +ihm überspannt melodramatisch zu sein. Ihre Tränen und ihr Schluchzen +langweilten ihn nur. + +»Ich gehe«, sagte er schließlich mit seiner klaren, ruhigen Stimme. »Ich +möchte nicht hart sein, aber ich kann dich nicht mehr sehen. Du hast +mich enttäuscht.« + +Sie weinte still weiter und sagte nichts, sondern kroch näher. Ihre +kleinen Hände streckten sich ins Leere hinaus und schienen ihn zu +suchen. Er wandte sich stehenden Fußes herum und verließ das Zimmer. +Wenige Augenblicke später hatte er das Theater hinter sich. + +Wohin er ging, wußte er selber kaum. Er erinnerte sich, durch schwach +beleuchtete Gassen gewandert, an traurigen, in schwarze Schatten +getauchten Türbogen und elend aussehenden Häusern vorbeigekommen zu +sein, Weiber mit heiseren Stimmen und schrillem Lachen hatten hinter ihm +her gerufen. Betrunkene waren fluchend und mit sich selber sprechend, +wie Riesenaffen, an ihm vorbeigetaumelt. Er hatte putzige Kinder auf den +Stufen kauern sehen und Schreien und Schimpfen aus düsteren Höfen +gehört. + +Als der Morgen graute, fand er sich dicht bei Covent Garden. Die +Dunkelheit schwand, die Luft rötete sich in blaßrotem Feuer, und der +Himmel wölbte sich zu einer vollendeten Perle. Mächtige Wagen voll +nickender Lilien rumpelten langsam die gerade, leere Straße hinab. Die +Luft war schwer vom Dufte der Blumen, und die Schönheit schien seinem +Schmerz Linderung zu bringen. Er trat in die Markthalle und sah den +Männern zu, die ihre Wagen ausluden. Ein Fuhrmann in weißem Kittel bot +ihm von seinen Kirschen an. Er dankte ihm, wunderte sich, warum er kein +Geld dafür annehmen wollte, und begann zerstreut davon zu essen. Sie +waren um Mitternacht gepflückt worden, und sie hatten die Kühle des +Mondes in sich. Burschen in langer Reihe schleppten Körbe voll +gestreifter Tulpen und von gelben und roten Rosen herbei, trotteten an +ihm vorbei, als sie sich ihren Weg durch die großen, gelblichgrünen +Gemüsestapel suchten. Unter den grauen, in der Sonne bleichen Säulen der +Vorhalle lungerte ein Trupp von schmuddeligen Mädchen ohne Hüte und +warteten, bis die Versteigerung vorbei war. Andere drängten sich um die +auf- und zugehenden Türen des Kaffeehauses auf der Piazza. Die schweren +Lastgäule glitten auf dem Pflaster aus und stampften über die holperigen +Steine, ihre Glocken und Geschirre schüttelnd. Einige Fuhrmänner lagen +schlafend auf einem Haufen von Säcken. Mit regenbogenfarbenen Hälsen und +rötlichen Füßen trippelten die Tauben mitten darin umher und pickten +sich Körner auf. + +Nach einer Weile rief er sich eine Droschke und fuhr nach Hause. Ein +paar Augenblicke blieb er zögernd auf der Schwelle stehen, blickte über +den schweigenden Platz und auf die Häuser mit den blanken, geschlossenen +Fenstern und den hellen Gardinen. Der Himmel war jetzt ein wirklicher +Opal, und die Dächer der Häuser glitzerten ihm wie Silber entgegen. Von +einem Schornstein gegenüber stieg eine dünne Rauchsäule in die Höhe. Sie +schlängelte sich wie ein violettes Band durch die perlmutterfarbene +Luft. + +In der großen venezianischen Goldlaterne, einer Beute von der Barke +irgendeines Dogen, die von der Decke der großen eichengetäfelten +Vorhalle herabhing, brannten noch drei flackernde Gaslichter: wie dünne +blaue Feuerblüten, von weißen Flammen umsäumt. Er drehte sie aus, warf +Hut und Mantel auf den Tisch und ging durch die Bibliothek zur Tür +seines Schlafzimmers. Das war ein großer, achteckiger Raum zu ebener +Erde, den er in seinem neu erwachten Gefühl für Luxus erst unlängst +einrichten und mit einigen schnurrigen Renaissancegobelins hatte +bespannen lassen, die er in einer nicht mehr gebrauchten Dachkammer in +Selby Royal entdeckt hatte. Als er eben nach der Klinke griff, fiel sein +Blick auf das Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Erstaunt +schrak er zurück. Dann ging er in sein Zimmer und sah nachdenklich und +betroffen aus. Nachdem er die Blume aus seinem Knopfloch genommen hatte, +schien er zu zögern. Schließlich ging er zurück, trat vor das Bild und +musterte es. In dem unbestimmten, gedämpften Licht, das durch die +mattgelblichen Seidenvorhänge drang, schien ihm das Gesicht ein wenig +verändert. Der Ausdruck war anders. Man hätte sagen können, daß ein +grausamer Zug um den Mund läge. Es war wirklich seltsam. + +Er drehte sich um, ging zum Fenster und zog den Vorhang auf. Der helle +Morgen flutete durch das Zimmer und fegte die phantastischen Schatten in +düstere Winkel, wo sie zitternd liegenblieben. Aber der seltsame +Ausdruck, den er im Gesicht des Bildes bemerkt hatte, schien nicht nur +dazubleiben, sondern sich noch verstärkt zu haben. Das heiße, zitternde +Sonnenlicht zeigte ihm den grausamen Zug um den Mund so deutlich, als +sähe er sich in einem Spiegel, nachdem er etwas Furchtbares verübt +hätte. + +Er fuhr zusammen und nahm vom Tisch einen ovalen Spiegel, dessen Fassung +von elfenbeinernen Liebesgöttern gebildet wurde, eines der vielen +Geschenke Lord Henrys, und blickte hastig in die glänzende Tiefe. Keine +Linie solcher Art verunstaltete seine roten Lippen. Was sollte dies +bedeuten? + +Er rieb sich die Augen und trat ganz nahe an das Bild heran, um es +abermals zu mustern. An der Technik der Malerei konnte man gar keine +Spur einer Veränderung bemerken, und doch war kein Zweifel, daß sich der +Ausdruck im ganzen verändert hatte. Es war keine Einbildung von ihm. Die +Sache war schrecklich klar. + +Er warf sich in einen Stuhl und begann zu grübeln. Plötzlich überkam ihn +die Erinnerung an die Worte, die er in Basil Hallwards Atelier an dem +Tage gesagt hatte, wo das Bild fertig geworden war. Ja, er erinnerte +sich ganz deutlich. Er hatte den sinnlosen Wunsch ausgesprochen, daß er +selbst jung bleiben solle, und das Porträt altern: daß seine eigene +Schönheit fleckenlos bleiben, und das Antlitz auf der Leinwand die Last +seiner Leidenschaften und Sünden tragen solle: daß das gemalte Bildnis +von den Linien des Leidens und Denkens durchfurcht werden und er selbst +den feinen Schmelz und alle Lieblichkeit seiner Jugend behalten solle, +deren er sich damals gerade bewußt geworden war. Sein Wunsch war doch +nicht erfüllt worden? Solche Dinge bleiben unmöglich. Nur so etwas zu +denken, schien ungeheuerlich. Und doch, da stand das Bild vor ihm und +hatte den Zug von Grausamkeit um den Mund. + +Grausamkeit! War er grausam gewesen? Das Mädchen hatte schuld, nicht er. +Er hatte von ihr geträumt, als einer großen Künstlerin, hatte ihr seine +Liebe geschenkt, weil er sie für groß gehalten hatte. Dann hatte sie ihn +enttäuscht. Sie war hohl und wertlos gewesen. Und doch überkam ihn ein +Gefühl unendlichen Mitleids, als er daran dachte, wie sie zu seinen +Füßen gelegen und wie ein kleines Kind geschluchzt hatte. Er erinnerte +sich, mit welcher Gefühllosigkeit er sie betrachtet hatte. Warum war er +so geschaffen worden? Warum war ihm eine solche Seele verliehen worden? +Aber auch er hatte gelitten. In den drei schrecklichen Stunden, die das +Stück dauerte, hatte er Jahrhunderte von Schmerzen, Ewigkeiten über +Ewigkeiten von Qualen durchlebt. Sein Leben war gewiß soviel wert als +das ihre, wenn er sie für das ganze Leben verwundet hatte. Sie hatte ihn +für einen Augenblick vernichtet. Außerdem sind die Frauen besser dafür +geeignet, Leiden zu ertragen als Männer. Sie leben von ihren Gefühlen. +Sie denken nur an ihre Gefühle. Wenn sie einen Geliebten haben, so ist +es nur, um jemand zu haben, dem sie Szenen machen können. Lord Henry +hatte ihm das gesagt, und Lord Henry wußte, wie es mit den Frauen +bestellt war. Warum sollte er sich um Sibyl Vane beunruhigen? Sie war +ihm jetzt nichts mehr. + +Aber das Bild? Was sollte er dazu sagen? Es barg das Geheimnis seines +Lebens in sich und erzählte seine Geschichte. Es hatte ihn die Liebe zur +eigenen Schönheit gelehrt. Sollte es ihn lehren, seine eigene Seele zu +verabscheuen? Könnte er es je wieder anblicken? + +Nein; es war nur eine Einbildung, ein Gewebe der verwirrten Sinne. Die +fürchterliche Nacht, die er durchlebte, hatte Gespenster zurückgelassen. +Der winzige scharlachrote Fleck, der die Menschen zum Wahnsinn treibt, +war plötzlich auf seinem Gehirn zum Vorschein gekommen. Das Bild war +nicht anders geworden. Es war Wahnsinn, das anzunehmen. + +Aber es blickte ihn an mit seinem wunderschönen, entstellten Gesicht und +seinem grausamen Lächeln. Sein helles Haar leuchtete im Sonnengold der +Frühe. Seine blauen Augen blickten in seine eigenen. Ein Gefühl +grenzenlosen Mitleids durchdrang ihn, nicht mit sich selbst, nein, mit +dem gemalten Abbild. Schon hatte es sich verändert und würde sich noch +mehr verändern. Sein Gold wird zum Grau erbleichen. Seine roten und +weißen Rosen werden welken. Für jede Sünde, die er begehen würde, wird +ein Fleck hervortreten und seine Schönheit besudeln. Aber er wird nicht +sündigen. Das Bildnis, verwandelt oder unverwandelt, soll für ihn das +sichtbare Wahrzeichen des Gewissens sein. Er wird jeder Versuchung +widerstehen. Er wird Lord Henry nicht wiedersehen -- wenigstens nicht +mehr seinen blendenden, giftigen Theorien lauschen, die in Basil +Hallwards Garten zum erstenmal in ihm die Leidenschaft für unmögliche +Dinge aufgerüttelt hatten. Er wird zu Sibyl Vane zurückeilen, sich +bestreben, sie in ihrer Kunst zu verfeinern, sie heiraten und versuchen, +sie wieder zu lieben. Ja, es war seine Pflicht, das zu tun. Sie mußte ja +mehr gelitten haben als er. Armes Kind! Er war selbstsüchtig und grausam +gegen sie gewesen. Der Zauber, den sie auf ihn ausgeübt hatte, würde +wiederkehren. Sie würden glücklich miteinander werden. Sein Leben mit +ihr würde schon und rein sein. + +Er stand von seinem Stuhl auf und schob einen großen Wandschirm vor das +Bildnis. Er schrak zusammen, als er es anblickte. »Wie schrecklich«, +flüsterte er. Dann schritt er zur Glastür und öffnete sie. Als er in das +Grüne hinaus trat, atmete er tief auf. Die frische Morgenluft schien all +die düsteren Leidenschaften zu verjagen. Er dachte nur noch an Sibyl. +Ein schwacher Glanz seiner Liebe kehrte zurück. Er wiederholte ihren +Namen immer wieder, immer wieder. Die Vögel, die in dem taubeperlten +Garten sangen, schienen den Blumen von ihr zu erzählen. + + + + +Achtes Kapitel + + +Mittag war längst vorüber, als er erwachte. Sein Diener war mehrmals auf +den Fußspitzen in das Zimmer geschlichen, um zu sehen, ob er wach wäre, +und er hatte sich gewundert, weshalb sein junger Herr so lange schlafe. +Schließlich klingelte es, und Viktor trat leise ein mit einer Schale Tee +und einem Stoß Postsachen auf einer schmalen Sevresplatte und zog die +olivengelben Atlasvorhänge mit ihrem blauglänzenden Futter vor den drei +großen Fenstern zurück. + +»Monsieur hat heute morgen gut geschlafen«, sagte er lächelnd. + +»Wieviel Uhr ist es?« fragte Dorian Gray noch verschlafen. + +»Ein Viertel zwei, Monsieur!« + +Wie spät es war! Er setzte sich auf, schlürfte einige Züge Tee und +durchblätterte die Briefe. Einer davon war von Lord Henry und war diesen +Morgen von einem Boten abgegeben worden. Er zögerte einen Augenblick und +legte ihn dann zur Seite. Die anderen öffnete er zerstreut. Sie +enthielten die gewöhnliche Sammlung von Karten, Einladungen zum Essen, +Ausstellungsbilletts, Programmen für Wohltätigkeitskonzerte und +ähnlichen Aufforderungen, wie sie einem jungen Mann der Gesellschaft +während der Saison jeden Morgen ins Haus regnen. Es war auch eine recht +große Rechnung dabei für ein Toiletteservice im Stile Louis des +Fünfzehnten, aus getriebenem Silber, die er noch nicht mutig genug +gewesen war, seinen Vormündern vorzulegen, die außerordentlich +altmodische Herren waren und nicht begreifen konnten, daß man in einer +Zeit lebe, wo die unnötigen Dinge unsere einzige Notwendigkeit sind; und +außerdem war eine Reihe sehr höflich abgefaßter Mitteilungen aus Jermyn +Street da, in denen man sich anbot, ihm in der kürzesten Zeit jeden +Geldbetrag zu dem mäßigsten Zinsfuße vorzustrecken. + +Etwa nach zehn Minuten stand er auf, schlüpfte in einen raffinierten +Schlafrock aus Kaschmirwolle mit Seidenstickereien, und ging in das +onyxgepflasterte Badezimmer. Das kalte Wasser erquickte ihn nach dem +langen Schlaf. Er schien alles vergessen zu haben, was er hinter sich +hatte. Ein- oder zweimal durchzuckte ihn ein undeutliches Gefühl, als +wäre er irgendwie in eine seltsame Tragödie verwickelt gewesen, aber die +Unwirklichkeit eines Traumes webte darüber. + +Sobald er angezogen war, ging er in das Bibliothekszimmer und setzte +sich zu einem leichten französischen Frühstück nieder, das auf einem +kleinen, runden Tische nahe beim offenen Fenster bereit stand. Es war +ein entzückender Tag. Die warme Luft schien mit Wohlgerüchen gewürzt. +Eine Biene flog herein und summte um die Schale aus blauem +Drachenporzellan, die voller schwefelgelber Rosen vor ihm stand. Er +fühlte sich vollkommen glücklich. + +Plötzlich fiel sein Blick auf den Wandschirm, den er vor das Bild +gestellt hatte, und er zuckte zusammen. + +»Ist es zu kalt für den gnädigen Herrn?« fragte der Diener, während er +eine Omelette auf den Tisch stellte. »Soll ich das Fenster schließen?« + +Dorian schüttelte den Kopf. »Mir ist nicht kalt«, antwortete er. + +War es alles wahr? Hatte sich das Bild wirklich verändert? Oder war es +lediglich seine eigene Phantasie gewesen, die ihm einen Zug von +Schlechtigkeit vorgespiegelt hatte, wo nur ein Zug von Freude gewesen +war? Eine gemalte Leinwand konnte sich doch nicht verändern? Das war +doch Tollheit! Das würde er eines Tages Basil als Märchen erzählen. Er +würde darüber lächeln. + +Und doch, wie lebendig war die Erinnerung an die ganze Sache! Zuerst in +dem schwankenden Zwielicht und dann in der hellen Morgenfrühe hatte er +den Zug von Grausamkeit um die geschwungenen Lippen bemerkt. Er +fürchtete sich förmlich davor, daß sein Diener hinausgehen könnte. Er +wußte, er würde, sowie er allein sei, das Bild betrachten müssen. Er +fürchtete sich vor dieser Gewißheit. Als der Diener Kaffee und +Zigaretten gebracht hatte und sich zum Gehen wandte, empfand er den +heftigsten Wunsch, ihn dableiben zu lassen. Als sich hinter ihm die Tür +geschlossen hatte, rief er ihn zurück. Der Mann stand da und wartete auf +seine Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick an. »Ich bin für niemand +zu Hause, Viktor«, sagte er mit einem Seufzer. Der Mann verbeugte sich +und ging hinaus. + +Dann stand er vom Tische auf, zündete sich eine Zigarette an und warf +sich auf eine üppig gepolsterte Ottomane, die gegenüber dem Schirme +stand. Es war ein alter Wandschirm aus vergoldetem spanischen Leder, in +das ein blumiges Louis-Quatorze-Muster getrieben war. Er musterte ihn +forschend und fragte sich, ob der Schirm wohl schon jemals das Geheimnis +eines Menschenlebens verhüllt habe. + +Sollte er ihn überhaupt wegschieben? Warum ihn nicht da stehen lassen? +Was half die Gewißheit? War die Sache wahr, so war es schrecklich. War +sie nicht wahr, wozu sich darüber beunruhigen? Aber wie, wenn durch +Schicksalstücke oder irgendeinen tödlichen Zufall andere Augen als die +seinen dahinter blickten und die fürchterliche Veränderung sähen? Was +wollte er tun, wenn Basil Hallward kam und sein eigenes Bild sehen +wollte? Das würde Basil sicher tun. Nein, die Sache mußte untersucht +werden, und zwar auf der Stelle. Alles war besser als diese schreckliche +Ungewißheit. + +Er stand auf und verschloß beide Türen. Er wollte wenigstens allein +sein, wenn er die Maske seiner Schande betrachtete. Dann schob er den +Schirm zur Seite und sah sich selbst von Angesicht zu Angesicht. Es war +vollständig wahr. Das Bildnis hatte sich verändert. + +Er erinnerte sich später oft und immer mit nicht geringer Verwunderung, +daß er zuerst das Bild mit einem Gefühl von wissenschaftlichem Interesse +geprüft habe. Daß eine solche Veränderung möglich sei, schien ihm nicht +glaublich. Und doch war es Tatsache. Gab es irgendeine geheime +Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen, die auf der Leinwand Form +und Farbe werden, und der Seele, die in ihm lebte? Konnte es sein, daß +sie in Wirklichkeit ausdrückten, was seine Seele dachte? -- daß sie zur +Wahrheit machten, was sie träumte? Oder gab es eine andere schreckliche +Beziehung? Er schauderte zusammen und fühlte sich von Angst gepackt. +Dann ging er zu der Ottomane zurück und lag nun da, das Bildnis in +krankhaftem Schrecken anstierend. + +Eine Wirkung aber, das fühlte er, hatte es gehabt. Es hatte ihm +klargemacht, wie ungerecht, wie grausam er gegen Sibyl Vane gewesen war. +Noch war es nicht zu spät, das wieder gut zu machen. Sie konnte noch +sein Weib werden. Seine unwahre, selbstsüchtige Liebe sollte einer +höheren Kraft den Platz einräumen, sollte sich zu einer edleren +Leidenschaft erhöhen und das Bildnis, das Basil Hallward gemalt hatte, +sollte sein Führer durchs Leben, sollte das für ihn sein, was Heiligkeit +für einige ist, Gewissen für andere und Gottesfurcht für uns alle ist. +Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Medikamente, die das +Sittlichkeitsgefühl in Schlaf lullen konnten. Aber hier war das durch +Sündigkeit hervorgerufene sichtbare Symbol der Erniedrigung. Hier war +das ewig unauslöschliche Zeichen des Verderbens, das Menschen der +eigenen Seele zufügen. + +Es schlug drei und vier, und noch eine halbe Stunde ließ das doppelte +Zeichen erklingen, aber Dorian Gray rührte sich nicht. Er bemühte sich, +die scharlachroten Fäden des Lebens zu entwirren und sie in ein Muster +zu verschlingen; seinen Weg zu finden aus dem blutroten Irrgarten der +Leidenschaft, den er durchwanderte. Er wußte nicht, was er tun, nicht, +was er denken sollte. Endlich trat er an den Tisch und schrieb einen +leidenschaftlichen Brief an das Mädchen, das er geliebt hatte, flehte +sie an, ihm zu verzeihen, und beschuldigte sich des Wahnsinns. Er +bedeckte Seite um Seite mit wilden Worten der Sorge und noch heftigeren +des Schmerzes. Es gibt eine Wollust in Selbstanklagen. Wenn wir uns +selbst tadeln, haben wir das Gefühl, daß uns kein anderer tadeln dürfe. +Die Beichte, nicht der Priester, erteilt uns Absolution. Als Dorian den +Brief beendet hatte, fühlte er, daß ihm vergeben worden sei. + +Plötzlich pochte man an die Tür und er hörte Lord Henrys Stimme draußen. +»Lieber Junge, ich muß dich sehen. Laß mich gleich herein! Ich kann es +nicht zugeben, daß du dich so absperrst!« + +Er gab zuerst keine Antwort, sondern blieb ganz still. Das Klopfen +wiederholte sich und wurde lauter. Ja, es war besser, Lord Henry +einzulassen und ihm zu erklären, daß er ein neues Leben führen wolle, +mit ihm zu streiten, wenn Streit nötig wäre, und sich von ihm zu +trennen, wenn Trennung stattfinden mußte. Er sprang auf, schob den +Wandschirm hastig vor das Bild und schloß die Tür auf. + +»Es tut mir alles so sehr leid, Dorian«, sagte Lord Henry, als er +eintrat. »Aber du mußt nicht zuviel daran denken.« + +»Meinst du an Sibyl Vane?« fragte der Jüngling. + +»Ja, natürlich«, erwiderte Lord Henry, ließ sich in einen Stuhl nieder +und zog seine gelben Handschuhe langsam aus. »Es ist gewiß, einerseits +betrachtet, schrecklich, aber es war doch nicht deine Schuld. Sag' mal, +bist du hinter die Bühne gegangen und hast du sie gesehen, als das Stück +aus war?« + +»Ja.« + +»Ich war davon überzeugt. Hast du ihr eine Szene gemacht?« + +»Ich war brutal, Harry, offen gesagt, brutal. Aber jetzt ist alles +wieder gut. Was geschehen ist, tut mir nicht mehr leid. Es hat mich +gelehrt, mich selbst besser kennenzulernen.« + +»Ach, Dorian, da bin ich sehr froh, daß du es so auffaßt. Ich fürchtete, +dich von Gewissensbissen zermartert zu finden und wie du dir die +hübschen lockigen Haare zerraufst.« + +»Das habe ich alles durchgemacht«, sagte Dorian und schüttelte lächelnd +den Kopf. »Jetzt bin ich vollkommen glücklich. Vor allem weiß ich jetzt, +was es heißt, ein Gewissen zu haben. Es ist nicht das, was du mir gesagt +hast. Es ist das Göttlichste in uns. Spotte nicht darüber, nie mehr, +Harry -- wenigstens nie mehr in meiner Gegenwart. Ich will jetzt gut +sein. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, meine Seele befleckt zu +haben.« + +»Wirklich eine entzückende, künstlerische Grundlage für Moral, Dorian. +Ich gratuliere dir dazu. Aber wie willst du damit anfangen?« + +»Indem ich Sibyl Vane heirate.« + +»Sibyl Vane heiraten?« schrie Lord Henry auf, erhob sich und sah ihn mit +der bestürztesten Verwunderung an. »Aber mein lieber Dorian --« + +»Ja, Harry, ich weiß, was du sagen willst. Irgend etwas Häßliches über +die Ehe. Sag' es nicht. Sag' mir nie wieder solche Dinge. Vor zwei Tagen +habe ich Sibyl gebeten, mich zu heiraten. Ich werde mein Wort nicht +brechen. Sie soll meine Frau werden.« + +»Deine Frau, Dorian... Hast du denn meinen Brief nicht bekommen? Ich +habe dir heute früh geschrieben und schickte die Mitteilung durch meinen +Diener her.« + +»Deinen Brief? Ach ja, ich erinnere mich. Ich hab' ihn noch nicht +gelesen, Harry. Ich fürchtete, daß etwas drin stünde, was mir nicht +gefallen könnte. Du vivisezierst das Leben mit deinen Aphorismen.« + +»Dann weißt du also nichts.« + +»Wovon sprichst du?« + +Lord Henry wanderte durch das Zimmer, setzte sich dann neben Dorian +Gray, nahm seine beiden Hände und hielt sie fest. »Dorian,« sagte er, +»mein Brief -- erschrick nicht -- sollte dir melden, daß Sibyl Vane tot +ist.« + +Ein Schmerzensschrei gellte von den Lippen des Jünglings, und er sprang +auf und riß seine Hände aus Lord Henrys Umklammerung los. »Tot! Sibyl +tot!« Es ist nicht wahr. Es ist eine furchtbare Lüge. Wie wagst du es, +das zu sagen?« + +»Es ist völlig wahr, Dorian«, sagte Lord Henry ernst. »Es steht in allen +Morgenblättern. Ich schrieb dir's gleich und bat, du solltest niemand +empfangen, bis ich käme. Es muß natürlich eine Untersuchung stattfinden, +und du darfst da nicht hineingezogen werden. Dinge dieser Art machen in +Paris einen Mann zum Helden des Tages. Aber in London haben die Leute +zuviel Vorurteile. Hier darf man nie mit einem Skandal debütieren. Man +muß sich das aufheben, um im Alter noch interessant zu sein. Ich nehme +an, man weiß im Theater deinen Namen nicht. In dem Fall ist alles gut. +Hat dich jemand in die Garderobe gehen sehen? Das ist ein wichtiger +Faktor.« + +Ein paar Augenblicke lang antwortete Dorian nicht. Er war vor Entsetzen +gelähmt. Schließlich stammelte er mit erstickter Stimme: »Harry, sagtest +du eine Untersuchung? Was meintest du damit? Hat sich Sibyl --? Oh, +Harry, ich kann's nicht ertragen. Mach's kurz. Sag' mir alles auf +einmal.« + +»Ich zweifle nicht daran, daß es kein Versehen war, Dorian, wenn man es +auch dem Publikum so darstellen muß. Es scheint, sie hat das Theater mit +ihrer Mutter verlassen, gegen halb eins ungefähr, und dann sagte sie +plötzlich, sie habe oben etwas vergessen. Man wartete einige Zeit auf +sie, aber sie kam nicht wieder herunter. Schließlich fanden sie sie tot +auf dem Boden in ihrem Ankleidezimmer. Sie hatte aus Versehen irgend +etwas getrunken, irgend solche gräßliche Sache, die man in den Theatern +braucht. Ich weiß nicht genau, was es war, aber es muß entweder +Blausäure oder Bleiweiß gewesen sein. Ich vermute, Blausäure, denn sie +scheint sofort tot gewesen zu sein.« + +»Harry, Harry, es ist furchtbar!« schrie der Jüngling. + +»Ja; natürlich ist's sehr tragisch, aber du mußt sehen, nicht mit in die +Sache verwickelt zu wenden. Ich habe im >Standard< gelesen, daß sie +siebzehn Jahre alt war. Ich hätte sie noch eher für jünger gehalten. Sie +sah ganz wie ein Kind aus und schien so wenig von der Schauspielerei zu +verstehen. Dorian, du darfst die Sache nicht so an die Nerven gehen +lassen. Du mußt mitkommen und mit mir essen, und nachher wollen wir noch +'n bißchen in die Oper gehen. Die Patti singt, und alle Welt wird da +sein. Du kannst mit in die Loge von meiner Schwester kommen. Sie bringt +ein paar famose Frauen mit.« + +»So habe ich also Sibyl Vane gemordet,« sagte Dorian Gray halb zu sich +selbst -- »sie gemordet, so sicher, als hätte ich ihre zarte Kehle mit +einem Messer durchschnitten. Und doch sind darum die Rosen nicht weniger +entzückend. Die Vögel in meinem Garten singen genau so lustig. Und heute +abend geh' ich mit dir essen und dann in die Oper und nachher vermutlich +irgendwo soupieren. Wie merkwürdig dramatisch das Leben ist. Wenn ich +das alles in einem Buche gelesen hätte, Harry, ich glaube, ich hätte +darüber geweint. Aber jetzt, wo es in Wirklichkeit geschehen ist, wo es +mir selbst geschehen ist, scheint es mir zu wunderbar für Tränen. Da +liegt der erste leidenschaftliche Liebesbrief, den ich in meinem Leben +geschrieben habe. Seltsam, daß mein erster leidenschaftlicher +Liebesbrief an ein totes Mädchen gerichtet ist. Ich möchte wohl wissen, +ob sie noch ein Gefühl haben, diese weißen, verstummten Menschen, die +wir Tote nennen. Sibyl! Kann sie fühlen, oder wissen, oder hören? O +Harry, wie hab' ich sie einmal geliebt! Es scheint mir jetzt vor Jahren +gewesen zu sein. Sie war mir alles. Dann kam dieser schreckliche Abend, +-- war es wirklich erst gestern? wo sie so schlecht spielte und mir fast +das Herz zerriß. Sie hat mir alles erklärt. Es war furchtbar rührend. +Aber es machte nicht den mindesten Eindruck auf mich. Ich hielt sie für +ein oberflächliches Geschöpf. Dann geschah plötzlich etwas, was mir +Furcht einjagte. Ich kann dir nicht sagen, was es war, aber es war +furchtbar. Ich nahm mir vor, zu ihr zurückzukehren. Ich empfand, daß ich +unrecht gehabt habe. Und jetzt ist sie tot. Mein Gott! Mein Gott! Harry, +was soll ich tun? Du kennst die Gefahr nicht, in der ich schwebe und es +gibt nichts, was mich aufrechterhalten könnte. Sie hätte es für mich +getan. Sie hatte kein Recht, sich umzubringen. Es war selbstsüchtig von +ihr.« + +»Mein lieber Dorian,« antwortete Lord Harry, während er eine Zigarette +aus dem Etui nahm und ein goldenes Streichholzbüchschen hervorholte, +»die einzige Art, auf die eine Frau einen Mann bessern kann, besteht +darin, sie langweilt ihn so gründlich, daß er alles Interesse am Leben +verliert. Wenn du dieses Mädchen geheiratet hättest, wärst du verdorben +worden. Natürlich hättest du sie gütig behandelt. Menschen, für die man +nichts übrig hat, kann man immer gütig behandeln. Aber sie hätte bald +herausgefunden, daß du gar nichts für sie übrig hast. Und wenn eine Frau +bei ihrem Mann Gleichgültigkeit wittert, vernachlässigt sie sich +entweder schrecklich, oder sie trägt überelegante Hüte, die der Mann +einer anderen Frau bezahlen muß. Ich will nichts über das soziale +Mißverhältnis sagen, das schauderhaft gewesen wäre; ich hätte +selbstverständlich die Sache nie zugegeben, aber ich versichere dir, die +Sache wäre in jedem Falle ganz verfehlt gewesen.« + +»Vermutlich«, murmelte der junge Mann, während er mit furchtbar blassem +Gesicht im Zimmer auf und ab schritt. »Aber ich glaube, es sei meine +Pflicht. Es ist nicht meine Schuld, daß mich dieses schreckliche +Trauerspiel verhindert hat, das Rechte zu tun. Ich erinnere mich, daß du +einmal gesagt hast, ein sonderbares Verhängnis schwebe über guten +Vorsätzen -- daß man sie nämlich immer zu spät fasse. Bei meinem war es +gewiß der Fall.« + +»Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, Naturgesetze umzustoßen. Ihr +Ursprung ist reine Eitelkeit. Ihr Erfolg ist absolut gleich Null. Sie +geben uns dann und wann etwas jener unfruchtbaren Lustempfindungen, die +auf schwache Menschen einen gewissen Reiz ausüben. Das ist alles, was +man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind bloße Schecks, die man +auf eine Bank ausstellt, bei der man kein Konto hat.« + +»Harry«, rief Dorian Gray, der sich näherte und neben ihn setzte. »Warum +kann ich diese Tragödie nicht so stark empfinden, wie ich müßte? Ich +kann nicht glauben, daß ich herzlos bin. Glaubst du das von mir?« + +»Du hast in den letzten vierzehn Tagen zuviel törichte Streiche +begangen, als daß du einen Anspruch auf diesen Ehrentitel haben +könntest, Dorian«, erwiderte Lord Harry mit seinem stillen, +melancholischen Lächeln. + +Der Jüngling runzelte die Stirn. »Diese Erklärung besagt mir eigentlich +nichts, Harry, aber ich bin dennoch froh, daß du mich nicht für herzlos +hältst. Ich bin es gewiß nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin. Und doch +muß ich zugeben, daß dies Ereignis mich nicht so angreift, wie es +sollte. Es kommt mir wie der wunderbare Szenenschluß eines wunderbaren +Dramas vor. Es hat die schreckliche Schönheit einer griechischen +Tragödie, einer Tragödie, in der ich eine große Rolle gespielt habe, +aber in der ich selbst nicht verwundet worden bin.« + +»Es ist eine interessante Frage,« sagte Lord Harry, dem es ein +ausgesuchtes Vergnügen bereitete, mit dem unbewußten Egoismus des jungen +Mannes zu spielen -- »eine außerordentlich interessante Frage. Ich +meine, die wahre Erklärung ist wohl die. Es kommt oft vor, daß sich die +Wirklichkeits-Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen Form +abspielen, daß sie uns durch ihre rohe Gewalt, ihren absoluten Mangel an +Zusammenhang, durch ihre lächerliche Sinnlosigkeit und ihre +außerordentliche Stillosigkeit verletzen. Sie betrüben uns genau so, wie +es die Gemeinheit tut. Sie geben uns ein Gefühl einer jähen, brutalen +Gewalt, und wir lehnen uns dagegen auf. Manchmal aber kreuzt eine +Tragödie unser Leben, die künstlerische Schönheitselemente in sich +birgt. Wenn diese Schönheitselemente wirklich vorhanden sind, dann +ergreift die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische Wirkung. Wir +entdecken auf einmal, daß wir nicht mehr die Darsteller, sondern die +Zuschauer des Stückes sind. Oder richtiger, wir sind beides. Wir +beobachten uns selbst und werden von dem Wundersamen des Schicksals +erschüttert. Was ist in vorliegendem Falle wirklich geschehen? Jemand +hat sich aus Liebe zu dir umgebracht. Ich wollte, mir wäre je so ein +Erlebnis passiert. Ich wäre den Rest meines Lebens in die Liebe verliebt +gewesen. Die Menschen, die mich angebetet haben -- es waren ihrer nicht +sehr viele, aber doch immerhin einige --, waren immer darauf versessen, +weiterzuleben, noch lange, nachdem ich aufgehört hatte, mich um sie zu +kümmern, oder sie, sich um mich zu kümmern. Sie sind dann dick und +langweilig geworden, und wenn ich ihnen jetzt begegne, schwelgen sie +sofort in Erinnerungen. Dies furchtbare zähe Gedächtnis der Frauen! Was +für 'ne schreckliche Sache das ist! Und was für einen völligen geistigen +Stillstand offenbart es. Man sollte die Farbe des Lebens in sich +aufsaugen, aber sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind +immer gewöhnlich.« + +»Ich muß Mohnblumen in meinen Garten säen«, seufzte Dorian. + +»Das ist nicht notwendig«, erwiderte sein Gefährte. »Das Leben selbst +hat immer Mohnblumen vorrätig. Natürlich, dann und wann halten die Dinge +länger an. Einmal habe ich eine ganze Saison lang nichts als Veilchen +getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen Roman, der nicht +sterben wollte. Schließlich indessen ist er gestorben. Ich kann mich +nicht mehr erinnern, was ihn getötet hat. Ich vermute, es kam durch +ihren Vorschlag, mir die ganze Welt aufzuopfern. Das ist immer ein +schrecklicher Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecknissen der +Ewigkeit. Schon -- würdest du es nun glauben? -- Vorige Woche, bei Lady +Hampshire, saß ich bei Tisch neben der fraglichen Dame, und sie konnte +wiederum nicht anders, als die ganze Sache durchzunehmen, die +Vergangenheit aufzuwühlen und die Zukunft auszumalen. Ich hatte den +ganzen Roman unter einem Asphodelosbeet begraben. Sie scharrte ihn +wieder aus und versicherte mir, daß ich ihr Leben zerstört habe. Ich +fühle mich verpflichtet festzustellen, daß sie trotzdem mit +staunenswertem Appetite aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse empfand. +Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie! Der einzige Reiz der +Vergangenheit liegt eben darin, daß sie vergangen ist. Aber Frauen +wissen nie, wann der Vorhang gefallen ist. Sie wollen immer noch einen +sechsten Akt, und sowie das ganze Interesse an dem Stück erlahmt ist, +schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man ihnen ihren Willen ließe, +erlebte jede Komödie einen tragischen Schluß, und jede Komödie gipfelte +in einer Farce. Sie sind oft entzückende Kunstprodukte, aber sie haben +keinen Sinn für die Kunst. Du bist glücklicher als ich. Ich versichere +dir, Dorian, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt habe, hätte für +mich getan, was Sibyl Vane für dich vollbrachte. Gewöhnliche Frauen +trösten sich immer. Einige von ihnen tun es, indem sie sich in +empfindsame Farben verlieben. Traue niemals einer Frau, die Malven +trägt, wie alt sie auch sein mag, oder einer Frau über fünfunddreißig, +die rosa Bänder liebt. Das bedeutet immer, daß sie eine Geschichte +haben. Andere finden starken Trost darin, plötzlich die Vorzüge ihrer +Männer zu entdecken. Sie reiben einem ihr eheliches Glück unter die +Nase, als wäre das die fesselndste Sünde. Einige wieder tröstet die +Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize einer Liebelei an sich, hat +mir einmal eine Frau versichert und ich kann es wohl verstehen. Übrigens +macht unsereinen nichts so eitel, als wenn einem gesagt wird, man wäre +ein Sünder. Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten. Ja; die Tröstungen +haben wirklich kein Ende, die die Frauen im modernen Leben finden. Die +wichtigste habe ich noch gar nicht erwähnt.« + +»Welche ist das, Harry?« fragte der junge Mann zerstreut. + +»Oh, der alltäglichste Trost. Einer anderen Frau ihren Anbeter nehmen, +wenn man den eigenen verloren hat. In der guten Gesellschaft findet eine +Frau auf solche Weise immer ihr Fahrwasser wieder. Aber wirklich, +Dorian, wie anders muß Sibyl Vane gewesen sein als alle die sonstigen +Frauen, denen man begegnet. Für mich liegt in ihrem Tod etwas ganz +Wunderschönes. Es freut mich, daß ich in einem Jahrhundert lebe, wo +solche Wunder noch geschehen. Sie geben uns neuen Glauben an die +Wirklichkeit der Dinge, mit denen wir sonst spielen, wie Romantik, +Leidenschaft und Liebe.« + +»Ich war furchtbar grausam gegen sie. Du vergißt das.« + +»Ich fürchte, die Frauen schätzen die Grausamkeit, die ganz alltägliche +Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes. Sie haben wundervoll +primitive Instinkte. Wir haben sie emanzipiert, aber sie bleiben +Sklavinnen, die den Blick auf ihre Herren gerichtet halten, trotz +allem. Sie lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin überzeugt, daß du +glänzend aufgetreten bist. Ich habe dich nie wirklich und durchaus +erzürnt gesehen, aber ich kann mir vorstellen, wie entzückend du +ausgesehen haben mußt. Und außerdem sagtest du vorgestern etwas zu mir, +was mir damals nur ein phantastischer Einfall schien, aber jetzt sehe +ich, daß es völlig wahr gewesen ist, und ich halte es für den Schlüssel +zu dem ganzen Ereignis.« + +»Was war das, Harry?« + +»Du hast zu mir gesagt, Sibyl Vane verkörpere dir alle Frauengestalten +der Romantik -- sie sei an einem Abend Desdemona und am anderen Ophelia; +wenn sie als Julia sterbe, erwache sie als Imogen wieder zum Leben.« + +»Sie wird nie wieder zum Leben erwachen«, ächzte der Jüngling und barg +sein Gesicht in den Händen. + +»Nein, sie wird nie wieder zum Leben erwachen. Sie hat ihre letzte Rolle +gespielt. Aber du mußt an diesen einsamen Tod in dem ärmlichen +Garderobenzimmer denken wie an ein seltsam schauriges Fragment aus einer +Tragödie von der Zeit König Jakobs her, wie an eine wunderbare Szene bei +Webster oder Ford oder Cyril Tourneur. Das Mädchen hat nie wirklich +gelebt, also ist sie auch nie wirklich gestorben. Für dich war sie ja +niemals mehr als ein Traum, ein Schattengeist, der durch Shakespeares +Dramen huschte und sie durch ihr Dasein noch reizvoller machte, der Ton +einer Flöte, durch die Shakespeares Musik noch reicher und freudiger +ertönte. Im Augenblick, wo sie das wirkliche Leben berührte, zerstörte +sie es, und es zerstörte sie, und so schied sie dahin. Trauere um +Ophelia, wenn es dir behagt. Streu Asche auf dein Haupt, weil Kordelia +erwürgt wurde. Schrei zum Himmel, weil die Tochter des Brabantio starb. +Aber verschwende deine Tränen nicht um Sibyl Vane. Sie war weniger +wirklich, als jene sind.« + +Es entstand ein Schweigen. Der Abend dämmerte im Zimmer. Geräuschlos auf +silbernen Fußen schlichen die Schatten aus dem Garten herein. Die Farben +verschwanden müde aus allen Dingen. + +Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. »Du hast mich mir selber +klargemacht«, flüsterte er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Alles, +was du gesagt hast, habe ich auch gefühlt, nur hab' ich mich davor +geängstigt, und ich konnte es mir selbst nicht ausdrücken. Wie gut du +mich kennst! Aber wir wollen, von dem was geschehen ist, nie wieder +sprechen. Es war ein wundersames Erlebnis. Das ist alles. Ich möchte +wissen, ob meiner noch etwas so Wunderbares im Leben harrt.« + +»Das Leben hat alles für dich vorrätig, Dorian. Es gibt nichts, was du +mit deiner außerordentlichen Schönheit nicht tun könntest.« + +»Aber stelle dir vor, Harry, wenn ich hager und alt und runzlich würde, +was dann?« + +»Ach dann,« sagte Lord Harry und erhob sich zum Gehen -- »dann, mein +bester Dorian, würdest du um deine Siege kämpfen müssen. Wie es ist, +werden sie dir noch entgegengetragen. Nein, du mußt schön bleiben, wie +du noch bist. Wir leben in einer Zeit, in der zuviel gelesen wird, als +daß sie weise wäre, und in der zuviel gedacht wird, als daß sie schön +wäre. Wir können dich nicht entbehren. Und jetzt tätest du besser, dich +anzuziehen und in den Klub zu fahren. Wir kommen ohnehin schon zu spät.« + +»Ich meine, ich treffe dich lieber in der Oper, Harry. Ich bin zu müde, +um etwas zu essen. Welche Nummer hat die Loge deiner Schwester?« + +»Siebenundzwanzig, glaub' ich, sie liegt im ersten Rang. Du findest +ihren Namen an der Tür. Aber es tut mir leid, daß du nicht mit essen +kommst.« + +»Ich bin nicht aufgelegt dazu,« sagte Dorian zerstreut, »aber ich bin +dir sehr dankbar für alles, was du zu mir gesagt hast. Du bist wirklich +mein bester Freund. Niemand hat mich je richtiger verstanden als du.« + +»Wir stehen erst am Anfang unserer Freundschaft, Dorian«, erwiderte Lord +Harry und schüttelte ihm die Hand. »Adieu! Ich hoffe, dich vor halb zehn +zu sehen. Vergiß nicht: die Patti singt.« + +Als sich die Tür hinter ihm schloß, klingelte Dorian Gray, und nach ein +paar Minuten erschien Viktor mit den Lampen und ließ die Vorhänge herab. +Er wartete ungeduldig, daß der Diener wieder verschwände. Der Mann +schien eine unglaubliche Zeit für alles zu gebrauchen. + +Sobald er wieder draußen war, stürzte Dorian auf den Schirm zu und schob +ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich nicht wieder verändert. Es hatte +die Nachricht von Sibyl Vanes Tod erhalten, bevor er selbst davon gewußt +hatte. Es kannte die Ereignisse des Lebens, sobald sie sich ereigneten. +Dieser Zug böser Grausamkeit, der die feinen Linien des Mundes +verunstaltete, war zweifellos im Augenblick aufgetaucht, als das Mädchen +das Gift genommen hatte. Oder kümmerte sich das Bild nicht um die +Wirkungen einer Tat? Nahm es nur von Vorgängen in der Seele Kenntnis? Er +hätte es gar zu gern gewußt und hoffte, eines Tages solche Wandlung vor +seinen Augen geschehen zu sehen, und er schauderte, während er es +hoffte. + +Die arme Sibyl! Wie sonderbar romantisch alles gewesen war! Sie hatte +oft den Tod auf der Bühne dargestellt. Dann hatte sie der Tod selbst +gepackt und weggeholt. Wie mochte sie die grauenvolle letzte Szene +gespielt haben? Hatte sie ihn im Sterben verflucht? Nein; sie war aus +Liebe zu ihm gestorben, und die Liebe sollte ihm von jetzt ab immer ein +Heiligtum bleiben. Sie hatte alles gebüßt durch das Opfer ihres Lebens. +Er wollte nicht mehr daran denken, was er ihretwegen an jenem +schrecklichen Theaterabend durchgemacht hatte. Wenn er an sie dachte, +sollte es sein wie an eine wundersam tragische Gestalt, die auf die +Weltbühne gestellt worden war, um die höchste Verwirklichung der Liebe +zu künden. Eine wundersam tragische Gestalt? Tränen traten ihm in die +Augen, als er sich ihres kindlichen Aussehens, ihrer fröhlichen, +phantastischen Art, ihrer scheuen, zaghaften Anmut entsann. Er +verscheuchte alles hastig und blickte wieder auf das Porträt. + +Er fühlte, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, zu wählen. Oder war die +Wahl schon getroffen? Ja, das Leben hatte für ihn entschieden -- das +Leben und seine unermeßliche Neugier auf das Leben. Ewige Jugend, +unerschöpfliche Leidenschaft, ausgesuchte, geheimnisvolle Genüsse, wilde +Freuden und noch wildere Sünden -- all das sollte er haben. Das Bildnis +sollte die Last seiner Schmach tragen: das war alles. + +Ein peinliches Gefühl beschlich ihn, als er an die Entweihung dachte, +die dieses schönen Gesichtes auf der Leinwand harrte. Einmal hatte er in +knabenhafter Parodie des Narzissus die gemalten Lippen, die ihn jetzt so +grausam anlächelten, geküßt oder doch zum Schein geküßt. Morgen für +Morgen hatte er vor dem Bild gesessen und seine Schönheit angestaunt; zu +Zeiten kam es ihm vor, als sei er in sein eigenes Bild verliebt. Sollte +es sich nun wandeln mit jeder Laune, der er nachgab? Sollte es ein +ungeheuerliches, widerliches Ding werden, das man im verhängten Winkel +verschließen müsse vor dem Glanz der Sonne, der so oft das lockige +Wunder seines Haares noch goldiger hatte aufleuchten lassen? Wie schade! +Wie schade! + +Einen Augenblick dachte er daran, zu beten, daß die entsetzliche +Beziehung zwischen ihm und dem Bilde aufhören möge. Es hatte sich +verwandelt, da er darum gebeten hatte; es könnte vielleicht, wenn er +darum bäte, auch wieder unverändert bleiben. Und doch, wer, der eine +Ahnung vom Leben hat, würde die Möglichkeit, immer jung zu bleiben, +aufgeben, mochte die Möglichkeit noch so phantastisch und mit noch so +verhängnisreichen Folgen verknüpft sein? Überdies, stand es wirklich in +seiner Macht? War wirklich das Gebet die Ursache der Verwandlung? Konnte +es für die ganze Sache nicht irgendeine merkwürdige wissenschaftliche +Ursache geben? Wenn das Denken eine Wirkung auf einen lebenden +Organismus ausüben konnte, konnte da nicht das Denken auch auf tote +unorganische Dinge Einfluß haben? Ja, konnten nicht ohne Gedanken und +bewußte Wünsche Dinge eingreifen, die ganz außerhalb unserer Person +stehen, im Einklange mit unseren Launen und Leidenschaftsanfällen +erzittern, konnte nicht Atom zu Atom sprechen in geheimer Neigung oder +seltsamer Verwandtschaft? Aber schließlich waren die Ursachen +gleichgültig. Er wollte durch Gebet nie wieder eine schreckliche Macht +versuchen. Wenn das Bildnis sich wandeln wollte, so sollte es sich +wandeln. Das war einmal so. Warum zu tief in ein Geheimnis eindringen? + +Allerdings müßte es ein starker Genuß sein, solchen Vorgang zu +beobachten. Er würde befähigt werden, seinem Geist in geheime +Schlupfwinkel zu folgen. Dies Bild sollte ihm der zauberhafteste Spiegel +werden. Wie es ihm seinen Körper geoffenbart hatte, so sollte es ihm nun +die Seele enthüllen. Und wenn der Winter über das Gemälde hereinbrach, +dann stand er immer noch da, wo der Frühling schwankt, ob er die zum +Sommer führende Schwelle überschreiten soll. Wenn das Blut aus seinem +Antlitz fortschliche und eine kreidebleiche Maske mit stummen Augen +zurückließe, dann bewahrte er immer noch den Glanz des Säuglingsalters. +Keine Blüte seiner Lieblichkeit sollte jemals welken. Kein Pulsschlag +seines Lebens jemals erlahmen. Wie die Götter der Griechen würde er +stark und behend und heiter bleiben. Was lag daran, was aus dem gemalten +Abbild auf der Leinwand wurde? Er selbst war seiner sicher. Darauf kam +alles an. + +Er schob den Schirm wieder auf den alten Platz vor dem Bilde und +lächelte, indem er es tat. Dann ging er in sein Schlafzimmer, wo sein +Diener schon auf ihn wartete. Eine Stunde später war er in der Oper, und +Lord Harry beugte sich über seinen Stuhl. + + + + +Neuntes Kapitel + + +Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat Basil Hallward ins +Zimmer. + +»Ich bin so froh, daß ich dich treffe, Dorian«, sagte er ernsten Tons. +»Ich war gestern abend hier, und man sagte mir, daß du in der Oper +seist. Ich wußte natürlich, daß es ja unmöglich ist. Aber es wäre mir +lieber gewesen, du hättest ein Wörtchen hinterlassen, wo du wirklich +warst. Ich habe eine schreckliche Nacht verbracht, und fürchtete halb, +daß eine Tragödie der anderen folgen würde. Ich meine, du hättest mir +wohl depeschieren können, so wie du die Nachricht erhieltst. Ich hab' es +durch Zufall im letzten Abendblatt des Globe gelesen, das mir im Klub in +die Hände geriet. Ich eilte sofort hierher und war unglücklich, dich +nicht zu Hause anzutreffen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie tief mir +die ganze Sache ins Herz schneidet. Ich weiß, was du leiden mußt. Aber +wo warst du denn? Bist du hingegangen, um die Mutter des Mädchens zu +sehen? Einen Moment dachte ich daran, dir dorthin zu folgen. In der +Zeitung stand die Adresse. Irgendwo in Euston Road, nicht wahr? Aber ich +hatte Angst, zudringlich zu sein in einem Schmerze, wo ich doch nicht +abhelfen konnte. Die arme Frau! In was für einem Zustand muß sie sein! +Und dazu ihr einziges Kind! Was hat sie zu all dem gesagt?« + +»Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?« sagte Dorian Gray, nippte +etwas hellgelben Wein aus einem reizenden bauchigen venezianischen +Glase, das mit Goldperlen inkrustiert war, und sah ganz unwillig aus. +»Ich war in der Oper. Du hättest auch hinkommen sollen. Ich habe dort +Harrys Schwester, Lady Gwendolen, kennengelernt. Wir waren in ihrer +Loge. Sie ist ein bezauberndes Weib; und die Patti hat göttlich +gesungen. Sprich nicht von schrecklichen Dingen! Wenn man über eine +Sache nicht spricht, ist sie nicht geschehen. Nur was man äußert, sagt +Harry, gibt den Dingen ihre Wirklichkeit. Erwähnen möcht' ich aber, daß +sie nicht das einzige Kind der Frau war. Es ist noch ein Sohn da, ein +famoser Junge vermutlich. Aber er ist nicht beim Theater. Matrose oder +so was ähnliches. Und jetzt erzähle mir was von dir, was malst du?« + +»Du warst in der Oper?« sagte Hallward gedehnt, und seine Stimme war +gepreßt vor Schmerz. »Du warst in der Oper, während Sibyl Vane tot in +irgendeiner schmutzigen Stube lag? Du kannst mir von anderen +bezaubernden Weibern erzählen, und daß die Patti göttlich gesungen hat, +noch ehe das Mädchen, das du geliebt hast, die Ruhe des Grabes gefunden +hat, darin sie schlafen soll? Mensch, bedenke doch, welche Schrecknisse +auf den kleinen weißen Körper warten!« + +»Hör' auf, Basil, ich will davon nichts hören!« rief Dorian und sprang +auf. »Du darfst mir über diese Dinge nichts sagen. Was geschehen ist, +ist geschehen, was vergangen ist, ist vergangen.« + +»Nennst du gestern die Vergangenheit?« + +»Was hat die wirklich verstrichene Zeit damit zu tun? Nur seichtes Volk +braucht Jahre, um ein Gefühl zu überwinden. Ein Mensch, der Herr über +sich selbst ist, kann einen Schmerz ebenso leicht überwinden, wie er +einen Genuß entdecken kann. Ich will nicht der Spielball meiner +Empfindungen sein. Ich will sie ausnützen, mich an ihnen freuen und sie +beherrschen.« + +»Dorian, es ist schauderhaft! Irgend etwas hat dich ganz verändert. Du +siehst noch genau so aus wie der wunderhübsche Junge, der Tag für Tag in +mein Atelier kam, um für mein Bild zu sitzen. Aber damals warst du +einfacher, natürlich und herzlich. Du warst das unverdorbenste +Menschenkind auf der ganzen Welt. Ich weiß nicht, was jetzt über dich +gekommen ist. Du sprichst, als hättest du kein Herz, kein Mitleid in +dir. Das ist Harrys Einfluß. Ich sehe es.« + +Der junge Mensch wurde rot, ging ans Fenster, sah ein paar Augenblicke +auf den grün schimmernden, von der Sonne betupften Garten. »Ich schulde +Harry sehr viel, sehr viel, Basil,« sagte er schließlich -- »mehr als +ich dir schulde. Du hast mir nur Eitelkeit beigebracht.« + +»Ich bin bestraft worden dafür, Dorian -- oder werde es eines Tages +sein.« + +»Ich weiß nicht, was du meinst, Basil«, rief Dorian aus und drehte sich +um. »Ich weiß nicht, was du willst. Was willst du?« + +»Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt habe«, sagte der +Künstler traurig. + +»Basil,« erwiderte der Jüngling, trat vor ihn hin und legte ihm die Hand +auf die Schulter, »du bist zu spät gekommen. Als ich gestern hörte, daß +sich Sibyl Vane getötet habe -- --« + +»Sich getötet! Gott im Himmel! ist das ganz sicher?« schrie Hallward und +stierte ihn mit dem Ausdruck äußersten Schreckens an. + +»Mein lieber Basil! Du glaubst doch nicht, daß es nur ein gewöhnlicher +Unglücksfall war? Natürlich hat sie sich selbst getötet.« + +Der ältere Mann vergrub sein Gesicht in den Händen. »Wie schrecklich!« +flüsterte er und ein Schauer durchrann ihn. + +»Nein,« sagte Dorian Gray, »es ist gar nichts Schreckliches daran. Es +ist eine der größten romantischen Tragödien unserer Zeit. In der Regel +führen Schauspieler das alltäglichste Leben. Sie sind gute Ehemänner +oder treue Ehefrauen oder sonst irgendwas Langweiliges. Du verstehst, +was ich meine -- hausbackene Tugend und lauter solche Dinge. Wie anders +war Sibyl! Sie lebte ihre beste Tragödie. Sie war immer eine Heldin. Am +letzten Abend, wo sie spielte -- an dem Abend, wo du sie gesehen hast +--, spielte sie schlecht, weil sie die Liebe als Wirklichkeit erkannt +hatte. Als sie ihre Unwirklichkeit erfuhr, starb sie, wie Julia daran +gestorben wäre. Sie entschwand wieder in das Reich der Kunst. Sie +umschwebt etwas von einer Märtyrerin. Ihr Tod hat all die pathetische +Nutzlosigkeit der Märtyrerschaft, all seine vergeudete Schönheit. Aber +wie gesagt, du brauchst nicht zu glauben, daß ich nicht gelitten hätte. +Wenn du gestern in einem bestimmten Augenblick, etwa um halb sechs oder +um drei Viertel sechs gekommen wärst -- dann hättest du mich in Tränen +aufgelöst gefunden. Selbst Harry, der hier war und mir erst die +Nachricht brachte, hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Ich litt +namenlos. Dann ging es vorüber. Ich kann das Gefühl nicht wiederholen. +Niemand kann das, sentimentale Menschen ausgenommen. Und du bist +furchtbar ungerecht, Basil. Du kommst hierher, um mich zu trösten. Das +ist gut und lieb von dir. Du findest mich getröstet und bist wütend. So +sieht dein Mitgefühl aus! Du erinnerst mich an eine Geschichte, die mir +Harry über einen Philantropen erzählt hat, der sich zwanzig Jahre seines +Lebens damit abquälte, irgendeinen Mißstand aus der Welt zu schaffen +oder ein ungerechtes Gesetz abzuändern -- ich kann mich nicht mehr genau +erinnern. Schließlich gelang es ihm, und nichts konnte größer sein als +seine Enttäuschung. Er hatte nun absolut nichts mehr zu tun, starb +beinah vor Langerweile und wurde ein unversöhnlicher Menschenhasser. Und +außerdem, mein lieber, alter Basil, wenn du mich wirklich trösten +wolltest, so lehre mich lieber vergessen, was geschehen ist, oder lehre +mich's von rein künstlerischer Seite ansehen. War es nicht Gautier, der +gern über die >~consolation des arts~< geschrieben hat? Ich erinnere +mich, daß mir mal in deinem Atelier ein kleines Buch in Pergamentband +in die Hand fiel, und ich darin auf diesen entzückenden Ausdruck stieß. +Nun, ich bin ja nicht wie der junge Mann, von dem du mir einmal in +Marlow erzählt hast, und der zu sagen pflegte, gelber Atlas könne einen +über alles Elend im Leben hinwegtrösten. Ich liebe schöne Dinge, die man +in die Hand nehmen und angreifen kann. Alter Brokat, grünpatinierte +Bronzen, Lackarbeiten, Elfenbeinschnitzereien, eine erlesene +Zimmerkunst, Luxus, Prunk, das sind alles Dinge, die einem viel geben +können. Aber die künstlerische Seelenstimmung, die sie erzeugen oder +mindestens offenbaren, bedeutet mir doch noch mehr. Ein Zuschauer seines +eigenen Lebens sein, wie Harry sagt, das heißt, den Schmerzen des Lebens +entrinnen. Ich weiß, du bist erstaunt, daß ich so zu dir spreche. Du +hast noch nicht bemerkt, wie ich mich entwickelt habe. Ich war ein +Schulknabe, als du mich kennenlerntest. Jetzt bin ich ein Mann. Ich habe +neue Leidenschaften, neue Gedanken, neue Vorstellungen. Ich bin anders, +aber du mußt mich trotzdem nicht weniger lieb haben. Ich bin verändert, +aber du mußt immer mein Freund bleiben. Natürlich habe ich Harry sehr +gern. Aber ich weiß auch, daß du besser bist als er. Du bist nicht +stärker -- dazu ängstigst du dich zu viel vorm Leben -- aber du bist +besser. Und wie glücklich waren wir doch miteinander! Verlaß mich nicht, +Basil, und zanke nicht mit mir. Ich bin, was ich bin. Mehr kann ich dazu +nicht sagen.« + +Der Maler war seltsam bewegt. Der junge Mensch war ihm unsagbar teuer, +und seine Erscheinung war der große Wendepunkt in seiner Kunst gewesen. +Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihm noch weitere Vorwürfe zu +machen. Am Ende war seine Gleichgültigkeit nur eine vorübergehende +Laune. Es steckte ja soviel Gutes, soviel Edles in ihm. + +»Gut, Dorian,« sagte er endlich mit einem wehmütigen Lächeln, »ich will +von heut an nie wieder über diese furchtbare Sache sprechen. Ich hoffe +nur, dein Name wird nicht in Verbindung damit genannt. Die Leichenschau +soll heute nachmittag stattfinden. Bist du vorgeladen?« + +Dorian schüttelte den Kopf, und eine unangenehme Empfindung glitt bei +dem Wort »Leichenschau« über sein Gesicht. In all diesen Dingen lag +etwas so Rohes und Gemeines. »Sie kennen meinen Namen nicht«, antwortete +er. + +»Aber sie wußte ihn doch?« + +»Nur meinen Vornamen, und den hat sie gewiß niemand gesagt. Sie erzählte +mir einmal, daß alle sehr begierig seien, zu erfahren, wer ich sei und +daß sie ihnen beständig sage, ich heiße der Prinz Märchenschön. Das war +hübsch von ihr. Du mußt mir eine Zeichnung von Sibyl machen, Basil. Ich +möchte von ihr gern etwas mehr haben als die Erinnerung an ein paar +Küsse und einige gestammelte pathetische Worte.« + +»Ich will versuchen, etwas zu machen, Dorian, wenn ich dir damit eine +Freude bereite. Aber du mußt zu mir kommen und mir selbst wieder sitzen. +Ich komme ohne dich nicht vom Fleck.« + +»Ich kann dir nie wieder sitzen, Basil. Das ist unmöglich!« rief Dorian +und schrak zurück. + +Der Maler starrte ihn an. »Mein lieber Junge, was für ein Unsinn«, rief +er. »Willst du damit sagen, daß du mein Bild nicht gut findest? Wo ist +es? Warum hast du den Wandschirm vorgestellt? Laß es mich sehen. Es ist +die beste Arbeit, die ich je gemacht habe. Nimm den Schirm weg, Dorian! +Es ist eine Schande, daß dein Bedienter mein Bild so versteckt. Ich +merkte gleich, wie ich eintrat, daß das Zimmer ganz verändert sei.« + +»Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Du glaubst doch nicht etwa, +daß ich ihm irgendeine Anordnung in meinem Zimmer überlasse? Er ordnet +zuweilen meine Blumen -- das ist alles. Nein, ich habe es selbst getan. +Das Licht war zu stark für das Bild.« + +»Zu stark? Gewiß nicht, mein Lieber. Es hat einen untadeligen Platz. Laß +mich's mal sehen!« und Hallward schritt in die Zimmerecke. + +Ein Schrei des Entsetzens entrang sich den Lippen Dorian Grays, und er +stürzte sich zwischen den Maler und den Schirm. »Basil,« sagte er und +sah ganz bleich aus, »du darfst es nicht sehen. Ich will es nicht.« + +»Mein eigenes Bild nicht sehen? Du meinst das doch nicht im Ernst! Warum +soll ich es nicht sehen?« rief Hallward lachend. + +»Wenn du versuchst, es anzusehen, Basil, gebe ich dir mein Ehrenwort, +daß ich, solange ich lebe, nie wieder ein Wort mit dir spreche. Es ist +mein völliger Ernst. Ich gebe keine Erklärung, und du wirst um keine +bitten. Aber denke daran, wenn du diesen Wandschirm anrührst, dann ist +alles aus zwischen uns!« + +Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Dorian Gray ganz verblüfft +an. So hatte er ihn vorher nie gesehen. Der Jüngling war wirklich ganz +bleich vor Zorn. Seine Hände waren zusammengeballt, und die Pupillen +seiner Augen sahen aus wie blaue Feuerräder. Er zitterte am ganzen +Leibe. + +»Dorian!« + +»Sprich nicht!« + +»Aber was ist los? Ich sehe das Bild natürlich nicht an, wenn du es +nicht willst«, sagte der Maler ziemlich kühl, drehte sich um und ging +zum Fenster hinüber. »Aber es scheint mir wahrhaftig ganz verrückt, daß +ich mein eigenes Werk nicht sehen soll, besonders, wo ich es im Herbst +in Paris ausstellen will. Ich werde es wahrscheinlich vorher nochmals +firnissen müssen, werde es also eines Tages doch gewiß sehen, also warum +nicht heute?« + +»Es ausstellen? Du willst es ausstellen?« rief Dorian Gray, den ein +seltsames Angstgefühl überkam. Sollte alle Welt sein Geheimnis erfahren? +Sollte das Volk das Geheimnis seines Lebens begaffen? Das war unmöglich. +Irgend etwas -- er wußte noch nicht was -- mußte sofort geschehen. + +»Ja, ich denke nicht, daß du etwas dagegen haben wirst. Georges Petit +will nächstens meine besten Bilder für eine Sonderausstellung in der Rue +de Sèze sammeln, die in der ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll. +Das Bild wird nur einen Monat lang weg sein. Ich meine, solange könntest +du es leicht entbehren. Du bist ohnehin während dieser Zeit nicht in der +Stadt. Und wenn du es überhaupt hinter einem Schirm versteckt halten +willst, kann dir ja nicht viel daran gelegen sein.« + +Dorian Gray fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Schweißtropfen +standen darauf. Er fühlte, daß er am Rande einer fürchterlichen Gefahr +stehe. »Du hast mir vor einem Monat gesagt, du würdest es nie +ausstellen«, rief er. »Warum hast du dich anders entschlossen? Ihr +Leute, die ihr viel Aufhebens von der Konsequenz macht, habt genau +soviel Launen wie andere. Der einzige Unterschied ist der, daß eure +Launen wenig Sinn haben. Du kannst nicht vergessen haben, daß du mir +feierlichst versichert hast, nichts in der Welt könne dich bewegen, das +Bild auf eine Ausstellung zu bringen. Du sagtest zu Harry ganz +dasselbe.« Er stockte plötzlich, und ein Glanz erwachte in seinen Augen. +Er erinnerte sich, daß ihm Lord Harry einmal halb ernst und halb +scherzend gesagt hatte: Willst du mal eine merkwürdige Viertelstunde +erleben, dann laß dir von Basil sagen, warum er dein Porträt nicht +ausstellen will. Er hat mir den Grund erzählt, und es war für mich eine +Offenbarung. Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis. Er wollte +ihn fragen und auf die Probe stellen. + +»Basil,« sagte er, und trat ganz dicht zu ihm heran und sah ihm fest ins +Gesicht, »jeder von uns hat ein Geheimnis. Sage mir das deine, und ich +laß dich meines wissen. Was für einen Grund hattest du, die Ausstellung +meines Bildes zu verweigern?« + +Der Maler erschauderte, ohne daß er es wollte. »Dorian, wenn ich es dir +sagte, hättest du mich wahrscheinlich weniger lieb und würdest mich +gewiß auslachen. Keines von beiden könnte ich ertragen. Wenn du willst, +daß ich nie mehr dein Bild ansehen soll, dann geb' ich mich zufrieden. +Ich kann dich selbst ja immer ansehen. Wenn du die beste Arbeit, die ich +je gemacht habe, vor der Welt versteckt halten willst, soll es mir recht +sein. Deine Freundschaft ist mir mehr wert als Ruhm und Anerkennung.« + +»Nein, Basil, du mußt es mir sagen. Ich glaube, ich habe ein Recht, es +zu wissen.« Sein Angstgefühl hatte ihn verlassen, und Neugier war an +dessen Stelle getreten. Er war entschlossen, hinter Basil Hallwards +Geheimnis zu kommen. + +»Setzen wir uns, Dorian«, sagte der Maler, der verwirrt aussah. »Setzen +wir uns und beantworte mir eine Frage. Hast du an dem Bild etwas +Merkwürdiges bemerkt? -- etwas, das dir vielleicht anfänglich nicht +aufgefallen ist, was sich dir dann aber plötzlich enthüllte?« + +»Basil!« schrie der Jüngling, umklammerte die Armlehnen seines Stuhles +mit zitternden Händen und starrte ihn mit wilden, verstörten Augen an. + +»Ich sehe, du hast es bemerkt. Sage nichts. Warte, bis du gehört hast, +was ich zu sagen habe. Dorian, von dem Augenblick an, wo ich dich +kennengelernt habe, übte deine Persönlichkeit den außerordentlichsten +Einfluß auf mich aus. Ich war beherrscht von dir, meine Seele, mein +Gehirn, meine ganze Kraft war es. Du wurdest für mich die sichtbare +Verkörperung des unsichtbaren Ideals, dessen Bild uns Künstler wie ein +köstlicher Traum verfolgt. Ich habe dich angebetet. Ich wurde +eifersüchtig auf jeden Menschen, mit dem du sprachst. Ich wollte dich +ganz für mich allein haben. Ich war nur glücklich, wenn ich mit dir +zusammen war. Wenn du fort von mir warst, lebtest du trotzdem in meiner +Kunst weiter... Natürlich ließ ich dich nie etwas davon wissen. Das +wäre unmöglich gewesen. Du hättest es nicht verstanden. Ich selbst hab' +es kaum verstanden. Ich wußte nur, daß ich Auge in Auge die +Vollkommenheit gesehen hatte und daß sich die Welt meinen Augen als ein +Wunder erschlossen hatte -- vielleicht als ein zu mächtiges Wunder, denn +in so wahnsinniger Anbetung liegt eine Gefahr, die Gefahr, daß die +Anbetung aufhört, und die Gefahr, daß sie bleibt... Wochen und Wochen +verstrichen, und ich ging immer mehr und mehr in dir verloren. Dann kam +ein neues Stadium. Ich hatte dich als Paris in strahlender Rüstung +gemalt und als Adonis im Jägergewand mit blitzendem Speer. Mit schweren +Lotusblüten bekränzt hast du auf dem Bug von Hadrians Barke gesessen und +in den grünen, schlammigen Nil geblickt. Du hast dich über das stille +Gewässer einer griechischen Waldlandschaft gelehnt und im stummen +Silberspiegel das Wunder deines eigenen Antlitzes gesehen. Und es war +alles gewesen, wie die Kunst sein soll, unbewußt, ideal und entrückt. +Eines Tages, manchmal denke ich, eines verhängnisvollen Tages, entschloß +ich mich, ein wundervolles Bildnis von dir zu malen, wie du wirklich +bist, nicht im Kostüm toter Zeiten, sondern in deiner eigenen Tracht und +deiner eigenen Zeit. Ob es nun die Realistik der Methode war, oder der +Zauber deiner eigenen Persönlichkeit, der mir so ohne jeden Schleier und +Nebel entgegentrat, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, daß mir bei der +Arbeit jede Schicht Farben mein Geheimnis zu enthüllen schien. Ich +ängstigte mich, andere könnten die Abgötterei, die ich mit dir trieb, +entdecken. Ich fühlte, Dorian, daß ich zuviel gesagt, daß ich zuviel von +mir selber hineingelegt hatte. Damals beschloß ich, das Bild nie +auszustellen. Es kränkte dich ein wenig, aber damals verstandest du eben +nicht, was es für mich bedeutete; Harry, dem ich davon erzählte, lachte +mich aus. Aber das machte mich nicht irrig. Als das Bild fertig war, und +ich allein vor ihm dasaß, fühlte ich, daß ich recht hatte... Schön, ein +paar Tage später, als es mein Atelier verlassen, und ich alsbald den +unerträglichen Zauber seiner Gegenwart überwunden hatte, schien es mir, +daß es verrückt von mir gewesen war, mehr darin zu sehen, als daß du +sehr hübsch seist, und ich wohl malen könne. Selbst jetzt kann ich nicht +umhin, zu fühlen, daß es ein Irrtum sein muß, wenn man glaubt, daß die +Begeisterung, die man beim Schaffen hat, in dem Werke, das man schafft, +leibhaftig zum Ausdruck käme. Die Kunst ist immer abstrakter, als wir +uns einbilden. Form und Farbe erzählen uns von Form und Farbe -- weiter +nichts. Es scheint mir oft, daß die Kunst den Künstler viel mehr +verbirgt als offenbart. Und als ich dann den Antrag aus Paris bekam, +entschloß ich mich, dein Bild zum Hauptstück meiner Ausstellung zu +machen. Es fiel mir nie ein, daß du es nicht zulassen würdest. Ich sehe +jetzt, daß du recht hast. Das Bild darf nicht ausgestellt werden. Du +mußt mir nicht böse sein, Dorian, wegen der Dinge, die ich gesagt habe. +Ich habe früher einmal Harry gesagt, du bist dazu geschaffen, angebetet +zu werden.« + +Dorian Gray atmete tief auf. Seine Wangen bekamen wieder Farbe, und ein +Lächeln umspielte seine Lippen. Die Gefahr war vorbei. Für den +Augenblick war er gerettet. Doch er mußte unendliches Mitleid fühlen mit +dem Maler, der ihm eben diese seltsame Beichte abgelegt hatte, und er +fragte sich, ob er selbst jemals so stark von der Persönlichkeit eines +Freundes beherrscht werden könnte. Lord Henry hatte den Reiz, sehr +gefährlich zu sein. Aber das war alles. Er war zu klug und zu zynisch, +als daß man ihn wirklich lieben könnte. Würde es je einen Menschen +geben, den er merkwürdig abgöttisch anbeten könnte? War das eines von +den Dingen, die ihm das Leben noch aufsparte? + +»Es ist mir wirklich ein reines Rätsel,« sagte Hallward, »daß du das dem +Porträt angesehen haben willst. Hast du es wirklich gesehen?« + +»Ich habe etwas darin gesehen,« antwortete er, »etwas, das mir sehr +sonderbar vorkam.« + +»Und jetzt hast du wohl nichts mehr dawider, es einmal zu betrachten?« + +Dorian schüttelte den Kopf. »Das darfst du von mir nicht verlangen, +Basil. Es ist mir unmöglich, dich vor dem Bilde stehen zu sehen.« + +»Aber doch ein andermal?« + +»Nie!« + +»Schön, vielleicht hast du recht. Und jetzt adieu, Dorian. Du bist der +einzige Mensch in meinem Leben gewesen, der wirklichen Einfluß auf meine +Kunst ausgeübt hat. Was ich je Gutes gemacht habe, danke ich dir. Ach! +Du kannst dir nicht vorstellen, was es mich gekostet hat, dir all das +zu sagen, was ich gesagt habe.« + +»Mein lieber Basil,« sagte Dorian, »was hast du mir denn gesagt? Nichts, +als daß du das Gefühl habest, mich zu sehr zu bewundern. Das ist nicht +einmal ein Kompliment.« + +»Es sollte auch kein Kompliment sein. Es war eine Beichte. Jetzt, da ich +sie abgelegt habe, kommt es mir so vor, als ob ich etwas verloren hätte. +Man sollte seiner Verehrung niemals das Kleid der Worte umhängen.« + +»Deine Beichte hat mich enttäuscht.« + +»Ja, was hast du denn erwartet, Dorian? Du hast doch nicht sonst noch +etwas in dem Bilde gesehen? Es war doch nicht sonst noch etwas anderes +zu sehen?« + +»Nein, es war sonst nichts anderes zu sehen. Warum fragst du? Aber du +solltest nicht von Verehrung sprechen. Das ist Narrheit. Du und ich, wir +sind Freunde, Basil, und müssen es immer bleiben.« + +»Du hast jetzt Harry«, sagte der Maler traurig. + +»Oh, Harry!« rief der junge Mann mit einem fröhlichen Lachen. »Harry +verbringt seine Tage damit, unglaubliche Dinge zu sagen, und seine +Abende, unwahrscheinliche Dinge zu tun. Das ist genau die Art Leben, das +ich führen möchte. Immerhin glaube ich nicht, daß ich je zu Harry ginge, +wenn mich Kummer drückte. Ich würde eher zu dir kommen.« + +»Du willst mir wieder sitzen?« + +»Unmöglich!« + +»Du vernichtest meine künstlerische Existenz, wenn du dich weigerst. +Kein Mensch begegnet zwei Idealen. Wenige finden eines.« + +»Ich kann es dir nicht erklären, Basil, aber ich darf dir nie wieder +sitzen. Es schwebt etwas Verhängnisvolles um das Bildnis eines Menschen. +Es hat ein Leben für sich. Ich werde zu dir kommen und mit dir Tee +trinken, das wird ebenso hübsch sein.« + +»Für dich hübscher, fürchte ich«, sagte Hallward bekümmert vor sich hin. +»Und jetzt adieu. Es tut mir leid, daß du mich nicht noch einmal das +Bild sehen lassen wolltest. Aber dabei ist nichts zu tun. Ich verstehe +sehr gut, was du dabei fühlst.« + +Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte sich Dorian Gray zu. Der +arme Basil! Wie wenig ahnte der doch von dem wahren Grunde! Und wie +seltsam es war, daß er es, statt sein eigenes Geheimnis offenbaren zu +müssen, fast durch einen Zufall erreicht hatte, dem Freunde das seine zu +entreißen. Wie viel erklärte ihm doch diese merkwürdige Beichte! Die +unverständlichen Eifersuchtsanfälle des Malers, seine ungestüme +Verehrung, seine übertriebenen Lobeshymnen, sein sonderbares Verstummen +-- das alles verstand er jetzt, und er tat ihm leid. Einer Freundschaft, +die so stark von Romantik gefärbt war, schien ihm eine gewisse Tragik +inne zu wohnen. + +Er seufzte und drückte auf die Klingel. Das Porträt mußte um jeden Preis +versteckt werden. Er konnte sich nicht ein zweitesmal der Gefahr solcher +Entdeckung aussetzen. Es war wahnsinnig von ihm gewesen, das Ding da +überhaupt nur eine Stunde lang in einem Zimmer zu lassen, zu dem jeder +seiner Freunde Zutritt hatte. + + + + +Zehntes Kapitel + + +Als sein Bedienter eintrat, sah er ihn forschend an und fragte sich, ob +es ihm wohl schon eingefallen sei, hinter den Schirm zu blicken. Der +Mann sah aber ganz harmlos aus und wartete auf seine Befehle. Dorian +zündete sich eine Zigarette an, ging zum Spiegel hinüber und sah hinein. +Er konnte Viktors Gesicht darin genau sehen. Es war eine reglose Maske +der Unterwürfigkeit. Daher war nichts zu fürchten, daher nicht. Doch er +hielt es für das beste, auf der Hut zu sein. + +In sehr leisem Tone trug er ihm auf, die Haushälterin herein zu rufen +und dann zum Einrahmer zu gehen, damit er sofort zwei Gehilfen schicke. +Es schien ihm, daß die Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, in +die Richtung des Schirmes gingen. Oder war das nur Einbildung von ihm? + +Nach einigen Augenblicken trat Frau Leaf in ihrem schwarzseidenen Kleid, +altmodische Zwirnhandschuhe auf den runzligen Händen, in die Bibliothek. +Er verlangte von ihr den Schlüssel zum Schulzimmer. + +»Das alte Schulzimmer, Herr Dorian!« rief sie aus. »Ei, das ist ja +voller Staub. Es muß erst hergerichtet und in Ordnung gebracht werden, +bevor Sie hinein können. Es ist jetzt nicht in einem Zustand, daß Sie es +sehen könnten, gnädiger Herr. Wirklich nicht.« + +»Es braucht nicht hergerichtet zu werden, gute Leaf. Ich will nur den +Schlüssel.« + +»Aber gnädiger Herr, Sie werden sich voller Spinnweben machen, wenn Sie +hineingehen. Ei, es ist ja beinah seit fünf Jahren nicht geöffnet +worden, seit seine Gnaden gestorben sind.« + +Er zuckte zusammen bei der Erwähnung seines Großvaters. Er hatte nur +gehässige Erinnerungen an ihn. »Das macht nichts«, erwiderte er. »Ich +will das Zimmer nur sehen -- das ist alles. Geben Sie mir den +Schlüssel.« + +»Hier ist schon der Schlüssel, gnädiger Herr«, sagte die alte Dame, die +ihren Schlüsselbund mit zitternden, unsicheren Händen durchmustert +hatte. »Hier ist der Schlüssel, ich werde ihn gleich vom Bund haben. +Aber Sie denken doch nicht daran, dort hinaufzuziehen, gnädiger Herr, wo +Sie es hier so gemütlich haben?« + +»Nein, nein!« rief er ungeduldig. »Ich danke, gute Leaf. Ich brauche +sonst nichts.« + +Sie verweilte noch ein paar Augenblicke und wollte über irgendeine +Angelegenheit in der Haushaltung zu quengeln anfangen. Er seufzte und +sagte, sie solle alles so erledigen, wie sie es fürs beste halte. Mit +strahlendem Gesichte verließ sie das Zimmer. + +Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel in die Tasche +und blickte sich im Zimmer um. Sein Auge fiel auf eine große purpurne +Atlasdecke mit schweren Goldstickereien, ein köstliches Stück +venezianischer Arbeit vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein +Großvater in einem Kloster nahe bei Bologna aufgestöbert hatte. Ja, die +paßte trefflich, um das schreckliche Ding damit zu verhüllen. Sie hatte +vielleicht oft als Bahrtuch für Tote gedient. Jetzt sollte sie etwas +verhüllen, das eine eigene Art Verwesung in sich hatte, eine ärgere als +die Verwesung des Todes -- etwas, das Schrecknisse ausbrüten und doch +nie sterben würde. Was Würmer für einen Leichnam sind, das würden seine +Sünden für das gemalte Antlitz auf der Leinwand werden. Sie würden seine +Schönheit zerstören und seine Anmut wegfressen. Sie würden es beflecken +und schänden. Und doch würde das Bild weiterleben. Es würde immer am +Leben bleiben. + +Er schauderte, und einen Augenblick lang tat es ihm leid, daß er Basil +nicht den wahren Grund gesagt habe, warum er das Bild verstecken wolle. +Basil hätte ihm helfen können, sowohl dem Einfluß Lord Henrys zu +widerstehen, als auch den noch viel giftigeren Einflüssen, die aus +seiner eigenen Natur herrührten. Die Liebe, die Basil für ihn hegte -- +denn es war wirklich Liebe --, schloß nichts ein, was nicht edel und +vergeistigt wäre. Es war nicht jene rein physische Bewunderung, die eine +Geburt der Sinne ist und mit der Ermüdung der Sinne hinstirbt. Es war +eine Liebe, wie sie Michelangelo gekannt hatte und Montaigne und +Winkelmann und auch Shakespeare. Ja, Basil hätte ihn retten können. Aber +jetzt war es zu spät. Die Vergangenheit konnte immer vernichtet werden. +Reue, Verleugnung oder Vergessenheit konnten das bewirken. Aber die +Zukunft war unabwendlich. Er hatte Leidenschaften in sich, die ihr +fürchterliches Ausfalltor bei ihm finden wurden, Träume, die ihre +sündigen Schatten zur Wirklichkeit umwandeln würden. + +Er griff nach dem großen Überwurf aus Purpur und Gold, der den Diwan +bedeckte, hob ihn mit beiden Händen auf und ging damit hinter den +Schirm. War das Gesicht auf der Leinwand jetzt häßlicher als vorher? Es +erschien ihm unverändert; und doch, sein Abscheu davor war noch +verstärkt. Goldiges Haar, blaue Augen, rosenrote Lippen -- das war alles +da. Nur der Ausdruck hatte sich verwandelt. Der war erschreckend in +seiner Grausamkeit. Im Vergleich zu den Vorwürfen und der Rüge, die er +in dem Bilde sah, wie nichtssagend waren da Basils Vorhaltungen über +Sibyl Vane gewesen -- nichtssagend und belanglos! Seine eigene Seele sah +ihn an aus der Leinwand und forderte ihn vors Gericht. Ein schmerzlicher +Zug legte sich über sein Gesicht, und er warf die prunkvolle Sofadecke +über das Bild. Während er dies tat, klopfte es an die Tür. Er kam hinter +dem Wandschirm hervor, als sein Bedienter eintrat. + +»Die Leute sind da, Monsieur.« + +Er hatte das Gefühl, daß er den Mann jetzt los werden müsse. Er durfte +nicht wissen, wohin das Bild sollte. Er hatte etwas Listiges an sich und +nachdenkliche, verräterische Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch, +kritzelte ein paar Zeilen hin an Lord Henry, worin er bat, ihm etwas zum +Lesen zu schicken, und worin er ihn daran erinnerte, daß sie sich um +viertel neun heut abend treffen wollten. + +»Warten Sie auf Antwort,« sagte er, indem er ihm den Brief übergab, »und +lassen Sie die Leute herein.« + +Nach zwei bis drei Minuten klopfte es wieder, und Herr Hubbard, der +berühmte Rahmenfabrikant aus South Audley Street, trat mit einem +struwwelig aussehenden Gehilfen herein. Herr Hubbard war ein blühend +aussehender, rotbäckiger, kleiner Mann, dessen Bewunderung für die Kunst +beträchtlich vermindert worden war durch den althergebrachten Geldmangel +bei den meisten Künstlern, die mit ihm zu tun hatten. In der Regel +verließ er seine Werkstatt nie. Er wartete, bis die Leute zu ihm kamen. +Aber bei Dorian Gray machte er immer eine Ausnahme. Es war etwas an +Dorian, was jeden entzückte. Ihn nur zu sehen, das war schon ein +Vergnügen. + +»Was steht zu Ihren Diensten, Herr Gray?« fragte er und rieb seine +fetten, sommersprossigen Hände. »Ich dachte, ich wollte mir selbst die +Ehre geben, herüberzukommen. Ich habe gerade ein Prachtstück von Rahmen +da. Bei einer Auktion ergattert. Alt-Florentiner. Stammt aus Fonthill, +vermute ich. Wundervoll geeignet für einen religiösen Gegenstand, Herr +Gray.« + +»Es tut mir leid, daß Sie sich selbst herbemüht haben, Herr Hubbard. Ich +werde gern mal vorbeikommen und den Rahmen ansehen -- obwohl ich mich +gerade jetzt nicht sehr für religiöse Kunst interessiere -- aber heute +möchte ich nur ein Bild auf den Boden getragen haben. Es ist ziemlich +schwer, deshalb dachte ich mir, daß Sie so gut wären, mir zwei von Ihren +Leuten zu leihen.« + +»Hat gar nichts zu sagen, Herr Gray. Freue mich, wenn ich Ihnen den +kleinsten Dienst leisten kann. Wo ist das Kunstwerk, gnädiger Herr?« + +»Dies da«, antwortete Dorian und schob den Schirm zurück. »Können Sie es +so hinaufbringen, wie es jetzt ist, Decke und Bild zusammen? Ich möchte +nicht, daß es die Treppen hinauf zerschrammt wird.« + +»Das werden wir leicht kriegen«, sagte der muntere Rahmenmacher und +begann mit Hilfe von seinem Gesellen das Bild von den langen +Messingketten loszumachen, an denen es aufgehängt war. »Und wo soll es +jetzt hingebracht werden, Herr Gray?« + +»Ich will Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn Sie so gut sein +wollen, mir nur zu folgen. Oder vielleicht gehen Sie lieber voraus. Es +tut mir leid, aber es ist ganz oben. Wir wollen über die Vordertreppe +gehen, die ist breiter.« + +Er hielt ihnen die Tür auf, und sie gingen in den Vorraum hinaus und +fingen an, hinaufzusteigen. Die ausladenden Verzierungen des Rahmens +hatten das Bild sehr umfangreich gemacht, und hin und wieder legte +Dorian mit Hand an, um ihnen zu helfen, trotz den unterwürfigen +Einwänden des Herrn Hubbard, der die lebhafte Abneigung des wirklichen +Handwerkers gegen jede nützliche Beschäftigung eines vornehmen Herrn +hatte. + +»Da hat man ein ziemliches Gewicht zu schleppen«, pustete der kleine +Mann, als sie den letzten Treppenabsatz erreicht hatten. Und er +trocknete sich die glänzende Stirn. + +»Es tut mir leid, daß es so schwer ist«, murmelte Dorian, während er die +Tür zu dem Zimmer aufschloß, das dieses sonderbare Geheimnis seines +Lebens aufbewahren und seine Seele vor den Blicken der Menschheit +schützen sollte. + +Er hatte die Stube wohl länger als vier Jahre nicht betreten -- in +Wirklichkeit nicht, seitdem sie ihm in seiner Kindheit zuerst als +Spielzimmer, und dann, als er etwas älter war, als Studierzimmer gedient +hatte. Es war ein großer Raum von schönen Verhältnissen, den der +verstorbene Lord Kelso eigens zur Benutzung für seinen kleinen Enkel +angebaut hatte, den er wegen seiner fabelhaften Ähnlichkeit mit seiner +Mutter und auch noch aus anderen Gründen immer gehaßt hatte und +möglichst weit weg von sich haben wollte. Der Raum schien Dorian wenig +verändert. Da war der mächtige italienische Cassone mit den phantastisch +bemalten Füllungen und den abgenutzten goldenen Ornamenten, in dem er +sich als Junge oft versteckt hatte. Da stand der polierte Bücherschrank +aus Satinholz mit seinen Schulbüchern voll Eselsohren. An der Wand +darüber hing noch derselbe zerfaserte flämische Gobelin, auf dem ein +verblichener König und eine Königin in einem Garten Schach spielten, +während ein Trupp von Falkenieren vorbeiritt, die auf ihren +Panzerhandschuhen Vögel mit kappenverhüllten Köpfen trugen. Wie gut er +sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner vereinsamten Kindheit +kam ihm vors Gedächtnis, während er sich umsah. Er entsann sich der +fleckenlosen Reinheit seines Knabenlebens, und es schien ihm furchtbar, +daß gerade hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen werden sollte. Wie +wenig hatte er in diesen längst verrauschten Tagen von alledem geahnt, +was seiner warten sollte! + +Aber kein anderer Ort im ganzen Hause war so sicher vor neugierigen +Augen als dieser. Er hatte den Schlüssel, und jetzt konnte niemand +weiter hinein. Hinter dem purpurnen Bahrtuch konnte nun das gemalte +Gesicht auf der Leinwand tierisch, gedunsen und lasterhaft werden. Was +lag daran? Niemand konnte es sehen. Er selbst wollte es nicht sehen. +Warum sollte er die gräßliche Verwesung seiner Seele verfolgen? Er +behielt seine Jugend -- das mußte genügen. Und übrigens, konnte sein +Wesen trotz allem nicht edler werden? Es war kein Grund vorhanden, daß +die Zukunft so angefüllt von Lastern sein müsse. Die Liebe konnte in +sein Leben treten und ihn läutern und ihn vor den Sünden beschützen, die +ihm schon in Geist und Blut zu gähren schienen -- diese seltsamen, nicht +gemalten Sünden, deren Unbekanntheit ihnen eben den Reiz und die +Verführung lieh. Eines Tages vielleicht verschwand der grausame Zug von +dem empfindlichen Scharlachmund, und dann würde er der Welt Basil +Hallwards Meisterwerk zeigen können. + +Nein, das war unmöglich. Stunde für Stunde und Woche für Woche alterte +das Antlitz auf der Leinwand. Es mochte den Greueln der Sünde +entfliehen, aber die Greuel des Alters mußten es einholen. Die Wangen +müssen hohl oder schlaff werden. Gelbe Krähenfüße müssen sich um die +glanzlosen Augen herumringeln und sie fürchterlich machen. Das Haar +mußte seinen Glanz verlieren, der Mund klaffen oder einfallen, blöde +oder gewöhnlich aussehen, wie eben der Mund alter Leute aussieht. Der +Hals mußte verschrumpfen, die Hände mußten kalt und von blauen Adern +durchzogen werden, der Körper mußte sich krümmen, wie er ihn bei seinem +Großvater gesehen hatte, der so streng gegen ihn gewesen war in der +Knabenzeit. Das Bildnis mußte verborgen bleiben. Da konnte nichts +helfen. + +»Bitte, Herr Hubbard, bringen Sie es herein«, sagte er abgespannt und +wandte sich um. »Es tut mir leid, daß ich Sie so lange aufhielt. Ich +dachte gerade nach über etwas.« + +»Immer angenehm, sich mal verschnaufen zu können, Herr Gray«, antwortete +der Rahmenmacher, der noch immer nach Luft schnappte. »Wo sollen wir es +hinstellen?« + +»Ach, irgendwo. Vielleicht hierher: da wird's gut stehen. Ich will's +nicht aufgehängt haben. Lehnen Sie es nur gegen die Wand. Danke!« + +»Darf man das Kunstwerk mal ansehen?« + +Dorian erschrak. »Es würde Sie nicht interessieren, Herr Hubbard«, sagte +er und sah den Mann fest an. Er fühlte sich imstande, auf ihn +loszustürzen und ihn zu Boden zu werfen, wenn er es wagen sollte, die +schimmernde Hülle zu lüften, die das Geheimnis seines Lebens barg. »Ich +will Sie nicht länger aufhalten. Schönsten Dank, daß Sie so freundlich +waren, herüberzukommen.« + +»Kein Anlaß, kein Anlaß, Herr Gray! Es ist mir immer ein Vergnügen, für +Sie etwas tun zu dürfen.« + +Und Herr Hubbard stapfte die Treppe hinab, sein Gehilfe hinterher, der +noch einmal nach Dorian zurückblickte, mit einem Ausdruck scheuer +Bewunderung in dem unschönen Alltagsgesicht. Er hatte nie einen Menschen +gesehen, der so wunderhübsch war. + +Als das Geräusch ihrer Fußtritte verklungen war, schloß Dorian die Tür +zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Jetzt fühlte er sich +gleichsam gerettet! Nie würde jemand das Schrecknis sehen. Kein Auge als +seines würde mehr seine Schande erblicken. + +Als er wieder in die Bibliothek kam, sah er, daß es gerade fünf Uhr war +und daß der Tee schon bereit stand. Auf einem kleinen Tisch aus dunklem, +wohlriechendem Holz, das reich mit Perlmutter ausgelegt war, einem +Geschenk der Frau seines Vormundes, Lady Radley, einer hübschen Kranken +von Beruf und Gewohnheit, die den vergangenen Winter in Kairo zugebracht +hatte, lag ein Briefchen von Lord Henry und daneben ein Buch in gelbem, +leicht abgenutztem und an den Ecken nicht mehr ganz sauberem Umschlag. +Ein Exemplar der dritten Tagesausgabe der St.-James-Gazette lag auf dem +Teebrett. Offenbar war Viktor zurückgekehrt. Er fragte sich, ob er wohl +die Leute in der Vorhalle getroffen hätte, als sie das Haus verließen, +und ob er sie ausgeforscht hätte, was sie getan hätten. Er würde sicher +das Bild vermissen -- hatte es ohne Zweifel schon vermißt, als er den +Teetisch zurecht machte. Der Schirm war noch nicht an seinen Platz +zurückgestellt worden, und der leere Raum an der Wand war auffallend. +Vielleicht würde er ihn eines Nachts ertappen, wie er hinaufschlich und +die Tür des Bodenzimmers zu sprengen versuchte. Es war schrecklich, +einen Spion im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten gehört, die +ihr ganzes Leben hindurch von den Erpressungen eines Bedienten +ausgesaugt wurden, der mal irgendeinen Brief gelesen oder ein Gespräch +mitangehört oder eine Karte mit einer Adresse gefunden oder unter einem +Kissen eine verwelkte Blume oder einen Fetzen zerknitterter Spitze +entdeckt hatte. + +Er seufzte, goß sich etwas Tee ein und öffnete Lord Henrys Billett. Es +stand nur darin, daß er ihm die Abendzeitung schicke und ein Buch, das +ihn vielleicht interessieren werde, und daß er ihn um Viertel neun im +Klub zu treffen hoffe. Er öffnete langsam die St.-James und durchflog +sie. Ein Strich mit Rotstift auf der fünften Seite fiel ihm auf. Er +machte auf die folgende Notiz aufmerksam: + + »_Leichenschau einer Schauspielerin._ Eine gerichtliche + Untersuchung wurde heute morgen von Herrn Danby, dem + Bezirks-Leichenbeschauer in der Bell Tavern, Hoxton Road, über den + Leichnam von Sibyl Vane, einer jungen Schauspielerin, die seit + kurzem am Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten. Es + wurde auf Tod durch einen Unglücksfall erkannt. Reges Mitgefühl + erweckte die Mutter der Verblichenen, die während ihrer Aussage und + der des ~Dr.~ Birrel, der die Obduktion der Leiche vorgenommen + hatte, ihrem Schmerz erschütternden Ausdruck gab.« + +Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt, lief im Zimmer auf und ab und +warf die Papierfetzen weg. Wie häßlich das alles war! Und was für eine +schreckliche Wirklichkeit die Häßlichkeit allem gab! Er ärgerte sich ein +wenig über Lord Henry, daß er ihm den Bericht geschickt hatte. Und +sicher war es albern von ihm, ihn mit Rotschrift anzustreichen. Viktor +konnte ihn gelesen haben. Der Mann verstand dafür mehr als genug +Englisch. + +Vielleicht hatte er ihn schon gelesen und angefangen, Verdacht zu +schöpfen. Und wenn schon, was lag daran? Was hatte Dorian Gray mit Sibyl +Vanes Tod zu tun? Es war kein Grund zur Furcht. Dorian Gray hatte sie +nicht getötet. + +Sein Auge fiel auf das gelbe Buch, das ihm Lord Henry geschickt hatte. +Er war gespannt, was es sein mochte. Er trat an den kleinen +perlfarbenen, achteckigen Hocker, der ihm immer wie das Werk seltsamer +ägyptischer Bienen vorgekommen war, die ihre Waben in Silber trieben, +nahm den Band zur Hand, warf sich in einen Lehnsessel und begann zu +blättern. Nach einigen Augenblicken kam er nicht mehr davon los. Es war +das merkwürdigste Buch, das er je gelesen hatte. Es schien ihm, als +zögen in erlesenen Prachtgewändern und zum Klange von Flöten die Sünden +der Welt in stummem Reigentanze an ihm vorbei. Dinge, die er bestimmt +geträumt hatte, wurden plötzlich zur Wirklichkeit. Dinge, von denen er +vag geträumt hatte, wurden ihm mählich enthüllt. + +Es war ein Roman ohne rechte Handlung, der sich um einen einzigen +Charakter drehte, eigentlich eine bloße psychologische Studie über einen +gewissen jungen Pariser, der sein Leben mit dem Versuche hinbrachte, im +neunzehnten Jahrhundert alle Leidenschaften und Wandlungen der +Denkungsart in Wirklichkeit umzusetzen, die jedem Jahrhundert, außer +seinem eigenen, angehört hatten, und so die verschiedenartigen +psychischen Zustände, die irgend einmal die Weltseele durchgemacht +hatte, in sich selbst gewissermaßen zu vereinigen, indem er jene +Entsagungen, die die Menschen in ihrer Torheit Tugend genannt haben, +ihrer bloßen Künstlichkeit wegen ebenso heftig liebte wie jene +Empörungen gegen die Natur, die weise Menschen noch immer Sünden nennen. +Der Stil, in dem das Buch geschrieben war, bestand in jener sonderbaren, +reich geschmückten Diktion, die lebendig und dunkel zugleich ist, von +Argotausdrücken und archaistischen Wendungen, von technischen Ausdrücken +und sorgsam gefeilten Umschreibungen strotzt, wie sie die Arbeiten +einiger der feinsten Künstler aus der französischen Symbolistenschule +kennzeichnet. Es waren Metaphern darin, so abenteuerlich an Form wie +Orchideen und auch so fein angehaucht wie deren Farbentöne. Das Leben +der Sinne war mit einer Terminologie mystischer Philosophie beschrieben. +Man wußte manchmal kaum, ob man von den vergeistigten Entzückungen eines +mittelalterlichen Heiligen las oder die krankhaften Beichtbekenntnisse +eines modernen Sünders. Es war ein Buch voll Gift. Ein dicker +Weihrauchnebel schien über den Seiten zu schweben und sein Gehirn zu +betäuben. Schon der melodische Fall der Sätze, die gesuchte Monotonie +ihrer Musik mit der Fülle von komplizierten Refrains und Taktgefügen, +die sich in der raffiniertesten Weise wiederholten, erzeugten im Geist +des Jünglings, als er von Kapitel zu Kapitel weiterlas, eine Art +Träumerei, ja eine förmliche Krankheit des Träumens, so daß er den +sinkenden Tag und die hereinkriechenden Schatten nicht merkte. + +Wolkenlos, von den Strahlen keines einzigen Sternes durchstochen, +glimmerte ein kupfergrüner Himmel durch die Fenster. Er las bei seinem +matten Licht weiter, bis er nicht mehr lesen konnte. Nachdem ihn sein +Diener mehrere Male an die späte Stunde erinnert hatte, stand er auf, +ging ins Nebenzimmer, legte das Buch auf das Florentiner Tischchen, das +immer neben seinem Bett stand, und begann sich zum Diner umzukleiden. + +Es war fast neun Uhr, als er im Klub ankam, wo er Lord Henry allein und +sehr gelangweilt aussehend, im Frühstückszimmer sitzend, antraf. + +»Es tut mir zwar leid, Harry,« rief er, »aber es ist nur deine Schuld. +Das Buch, das du mir geschickt hast, hat mich wirklich so gefesselt, daß +ich gar nicht merkte, wo die Zeit geblieben ist.« + +»Ja, ich dachte mir, daß es dir gefällt«, antwortete der Freund, sich +vom Stuhle erhebend. + +»Ich habe nicht gesagt, daß es mir gefällt, Harry. Ich habe gesagt, es +fesselte mich. Das ist ein großer Unterschied.« + +»Ah, das hast du entdeckt?« sagte Lord Henry. Und sie gingen zusammen in +den Speisesaal. + + + + +Elftes Kapitel + + +Jahre hindurch konnte sich Dorian Gray von dem Einfluß dieses Buches +nicht losmachen. Oder es wäre vielleicht richtiger zu sagen, er +versuchte gar nicht, sich von ihm loszumachen. Er ließ sich aus Paris +nicht weniger als neun Luxusexemplare der ersten Auflage kommen und ließ +sie verschiedenfarbig einbinden, damit sie zu den wechselnden Launen und +veränderlichen Stimmungen seiner Natur paßten, über die er bisweilen +jede Herrschaft verloren zu haben schien. Der Held, der wunderbare junge +Pariser, bei dem das romantische und das wissenschaftliche Temperament +so merkwürdig vermischt waren, wurde für ihn eine Art vorbildlicher +Idealgestalt seiner selbst. Und in der Tat schien ihm das ganze Buch die +Geschichte seines Lebens zu enthalten, aufgeschrieben, bevor er selbst +es gelebt hatte. + +In einer Beziehung aber war er glücklicher als der phantastische +Romanheld. Er kannte nie -- hatte in der Tat auch nie einen Grund dazu +-- das beinahe groteske Grauen vor Spiegeln und polierten Metallflächen +und unbewegten Wassern, das den jungen Pariser so früh im Leben überkam +und das durch den jähen Verfall einer Schönheit verursacht war, die +allem Anschein nach vorher ganz außerordentlich gewesen sein mußte. Mit +einer fast grausamen Lust -- und vielleicht liegt in jeder Lust, wie +gewißlich in jedem Genuß, Grausamkeit -- pflegte er den zweiten Teil des +Buches zu lesen mit dem wirklich tragischen, wenn auch etwas übertrieben +geschilderten Bericht von den Leiden und der Verzweiflung eines +Menschen, der selbst verloren hatte, was er an anderen und an der Welt +am höchsten schätzte. + +Denn die wundervolle Schönheit, die Basil Hallward so gefesselt hatte +und manchen anderen auch, schien ihn nie zu verlassen. Selbst jene, die +die häßlichsten Dinge über ihn gehört hatten -- und von Zeit zu Zeit +schlichen seltsame Gerüchte über seine Lebensweise durch London und +wurden das Gespräch der Klubs -- konnten, wenn sie ihn sahen, nichts +glauben, was ihm hätte zur Unehre gereichen können. Er sah immer aus wie +einer, der sich in der Welt unbefleckt erhalten hatte. Männer, die sich +anstößige Dinge erzählten, verstummten, wenn Dorian Gray ins Zimmer +trat. In der Reinheit seines Antlitzes lag ein Etwas, das sie in +Schranken hielt. Seine bloße Gegenwart schien in ihnen die Erinnerung an +die Unschuld zu erwecken, die sie beschmutzt hatten. Sie staunten, daß +ein so reizender und anmutiger Mensch wie er der Befleckung durch eine +Zeit hatte entgehen können, die zugleich unsauber und sinnlich war. + +Oft, wenn er von einer der geheimnisvollen längeren Abwesenheiten +zurückkehrte, die so merkwürdige Vermutungen bei seinen Freunden +erregten oder bei jenen, die sich dafür hielten, so schlich er hinauf in +die verschlossene Dachstube, öffnete die Tür mit dem Schlüssel, der ihn +nun nie mehr verließ, und stand mit einem Handspiegel vor dem Bildnis, +das Basil Hallward von ihm gemalt hatte, und sah bald auf das +schändliche und gealterte Antlitz auf der Leinwand, bald auf das schöne, +junge Gesicht, das ihn aus der glatten Spiegelfläche anlächelte. Gerade +die Stärke dieses Kontrastes pflegte seine Lustempfindung zu erhöhen. Er +verliebte sich mehr und mehr in seine eigene Schönheit und empfand mehr +und mehr Teilnahme für die Verderbnis seiner eigenen Seele. Er +untersuchte mit peinlicher Sorgsamkeit und manchmal mit ungeheuerlichem +und schrecklichem Wonnegefühl die häßlichen Linien, die die runzlige +Stirn durchfurchten oder sich um den üppigen sinnlichen Mund +schlängelten, und fragte sich manchmal, ob wohl die Merkmale der Sünde +schrecklicher seien oder die Spuren des Alters? Er legte seine weißen +Hände neben die rohen, gedunsenen Hände des Bildes und lächelte. Er +machte sich lustig über den verunstalteten Leib und die welkenden +Glieder. + +Dann gab es in der Tat Augenblicke, nachts, wenn er schlaflos in seinem +mild durchdufteten Zimmer lag oder in der schmuddeligen Stube der +kleinen berüchtigten Kneipe nahe den Docks, die er unter einem +angenommenen Namen und verkleidet zu besuchen pflegte, wo er mit einem +Mitgefühl, das um so beklemmender war, als es einen rein ethischen +Ursprung hatte, an das Elend dachte, das er über seine Seele gebracht +hatte. Aber Augenblicke wie diese waren selten. Jene Neugier auf das +Leben, die Lord Henry zuerst in ihm aufgestört hatte, als sie im Garten +ihres Freundes nebeneinander saßen, schien mit ihrer Befriedigung nur zu +wachsen. Je mehr er wußte, desto mehr wollte er wissen. Er hatte tolle +Hungeranfälle, die immer ungestillter wurden, je mehr er sie nährte. + +Und doch war er nicht gerade liederlich geworden, wenigstens nicht in +seinen Beziehungen zur Gesellschaft. Ein- oder zweimal in jedem Monat +während des Winters und jeden Mittwochabend während der Saison öffnete +er der Welt sein schönes Haus, und immer waren die berühmtesten Musiker +da, um seine Gäste mit ihrer erlesenen Kunst zu begeistern. Seine +kleinen Diners, bei deren Vorbereitung ihm Lord Henry immer half, waren +ebensosehr wegen der sorgsamen Auswahl und Tischordnung der Eingeladenen +berühmt, wie wegen des ausgesuchten Geschmackes, der sich in der +Tafeldekoration mit ihren fein abgetönten, symphonischen Anordnungen +exotischer Pflanzen, gestickter Decken und antiker Gold- und +Silbergeräte aussprach. Tatsächlich gab es eine große Zahl, besonders +von ganz jungen Menschen, die in Dorian Gray die vollkommene +Verkörperung eines Typus sahen oder zu sehen wähnten, von dem sie oft in +den Tagen von Eton oder Oxford geträumt hatten, eines Typus, der etwas +von der wirklichen Bildung des Gelehrten mit der Anmut, Vornehmheit und +den vollendeten Manieren eines Weltmannes vereinigte. Ihnen erschien er +als einer aus jener Menschengruppe, von denen Dante sagt, »sie suchten +sich durch die Anbetung der Schönheit zu vervollkommnen«. Gleich Gautier +war er einer von denen, »für die die sichtbare Welt da war«. + +Und gewiß war für ihn das Leben die erste, die größte Kunst, und alle +übrigen Künste schienen nur die Vorschule dazu. Natürlich übte auch die +Mode, durch die das wirklich Phantastische einen Augenblick lang +Allgemeingut wird, und das Dandytum, das auf seine Weise einen Versuch +bildet, eine absolut moderne Art von Schönheit zu verkörpern, ihren Reiz +auf ihn aus. Seine Art, sich zu kleiden, und die besonderen +Stilabweichungen, die er von Zeit zu Zeit sehen ließ, hatten einen +ausgesprochenen Einfluß auf die jungen Stutzer der Bälle in Mayfair und +der Fenster des Pall-Mall-Klubs, die ihm in allem, was er tat, +nachahmten und jede Exzentrizität aufgriffen, die seine Anmut erhöhte, +aber ihm selbst nur teilweis ernst war. + +Denn er war nur zu leicht bereit, die Stellung anzunehmen, die ihm +unmittelbar nach seiner Volljährigkeit geboten wurde, und er fand in +Wahrheit einen besonderen Genuß in dem Gedanken, er könne für das London +seiner Zeit das werden, was für das Rom des Kaisers Nero der Verfasser +des »Satyrikon« gewesen war, aber er wünschte doch im innersten Herzen +mehr zu werden als ein arbiter elegantiarum, und nicht nur über das +Tragen eines Schmuckstückes oder das Binden einer Krawatte oder die +Haltung eines Spazierstockes befragt zu werden. Er suchte ein neues +Schema für die Lebensführung zu entwerfen, das seine philosophische +Grundlage und seine geordneten Prinzipien haben und in der Vergeistigung +der Sinne seine höchste Vervollkommnung erreichen sollte. + +Die Pflege der Sinne ist oft und mit vielem Recht geschmäht worden, da +die Menschen einen natürlichen, instinktiven Abscheu vor Leidenschaften +und Empfindungen haben, die stärker scheinen als sie selbst und die sie +mit weniger hoch organisierten Formen des Lebendigen gemein zu haben +sich bewußt sind. Doch kam es Dorian Gray so vor, als ob die wahre Natur +der Sinne noch nie verstanden worden sei und als ob sie nur deshalb wild +und tierisch geblieben seien, weil die Welt versuchte, sie durch Hunger +zur Unterwerfung zu bringen oder durch Schmerzen zu töten, statt +bestrebt zu sein, sie zu Bestandteilen einer neuen geistigen Welt zu +machen, in der ein edles Schönheitsbewußtsein die vorherrschende +Triebfeder sein sollte. Wenn er auf den Gang der Menschen durch die +Weltgeschichte zurückblickte, verfolgte ihn ein Gefühl des Verlustes. So +vielem war entsagt worden und zu so geringem Zweck! Es hatte wahnsinnige +freiwillige Entsagungen gegeben, ungeheuerliche Formen von +Selbstquälerei und Selbstverleugnung, deren Ursprung die Furcht war und +deren Ergebnis eine Erniedrigung von unsäglich schrecklicherer Art, als +jene nur eingebildete Erniedrigung, vor der sie sich in ihrer +Unwissenheit flüchten wollten, da die Natur in ihrer wunderbaren Ironie +den Anachoreten hinausjagte, damit er sich in Gesellschaft der Bestien +der Wüste nährte, und dem Einsiedler die Tiere des Feldes zu Gefährten +gab. + +Ja: es mußte, wie Lord Henry prophezeit hatte, ein neuer Hedonismus +kommen, um das Leben zu erneuern und es von jenem strengen, häßlichen +Puritanertum zu erlösen, das in unseren Tagen seine sonderbare +Auferstehung feierte. Gewiß, er würde dem Intellekt gehorsam sein +müssen; aber niemals dürfte er eine Theorie oder ein System anerkennen, +das irgendein leidenschaftliches Erlebnis zum Opfer forderte. Sein +wahres Ziel sollte gerade die Erfahrung selbst sein und nicht die +Früchte der Erfahrung, mochten sie nun so süß oder bitter sein, wie sie +wollten. Von dem Asketentum, das die Sinne tötet, oder von der +gewöhnlichen Ausschweifung, die sie abstumpft, würde er nichts wissen +wollen. Aber er sollte die Menschen lehren, sich für die Momente des +Lebens zu sammeln, da dieses selbst doch nur ein Moment ist. + +Es gibt nur wenige unter uns, die nicht manchmal vor Tagesgrauen erwacht +wären, entweder nach einer jener traumlosen Nächte, die uns den Tod +lieben lassen, oder nach einer jener Nächte voll Schrecken und +wollüstiger Albdrücken, wo durch die Kammern des Gehirns Gespenster +flattern, die schrecklicher sind als die Wirklichkeit selbst und erfüllt +sind von dem lebendigen Dasein, das in allem Grotesken lauert und das +der gotischen Kunst ihre ewig lebendige Kraft gibt, weil gerade diese +Kunst, wie man sagen möchte, die besondere Kunst jener ist, deren Geist +durch die Krankheit von Fieberträumen verwirrt worden ist. Nach und nach +strecken sich bleiche Finger zwischen den Vorhängen durch und scheinen +zu erzittern. In schwarzen, abenteuerlichen Formen kriechen stumme +Schatten in die Ecken des Zimmers und kauern dort nieder. Draußen regen +sich die Vögel im Geblätter, oder man hört den Schritt der Menschen, die +zur Arbeit gehen, oder das Heulen und Schluchzen des Windes, der von den +Bergen kommt und das schweigsame Haus umwandert, als fürchte er, die +Schläfer zu wecken, und müsse dennoch den Schlaf aus seiner purpurnen +Höhle ans Licht rufen. Schleier nach Schleier aus feiner, dunkelfarbener +Gaze heben sich, und allmählich erhalten die Dinge ihre Formen und +Farben zurück, und wir sehen es mit an, wie die Frühdämmerung der Welt +ihre alte Gestalt zurückgibt. Die verschwommenen Spiegel bekommen ihr +Scheinleben zurück. Die lichtlosen Lampen stehen, wo wir sie gelassen +haben, und neben ihnen liegt das halb aufgeschnittene Buch, darin wir +gelesen, oder die verwelkte Blume, die wir auf dem Ball getragen, oder +der Brief, den zu lesen wir uns gefürchtet oder den wir zu oft gelesen +haben. Nichts scheint uns geändert. Aus den unwirklichen Schatten der +Nacht tritt das wirkliche Leben hervor, das wir kannten. Wir haben es da +wieder aufzunehmen, wo wir es unterbrochen haben, und uns beschleicht +das fürchterliche Gefühl der Notwendigkeit, seine Energien weiter +verbrauchen zu müssen in der gleichen ermüdenden Tretmühle stereotyper +Gewohnheiten, oder vielleicht überschleicht uns eine wilde Sehnsucht, +daß sich unsere Augen eines Morgens öffnen möchten für eine Welt, die im +nächtigen Dunkel zu unserer Lust neu erschaffen worden sei, für eine +Welt, in der die Dinge frische Linien und Farben hätten, verändert seien +oder andere Geheimnisse bürgen, für eine Welt, in der die Vergangenheit +nur einen unbedeutenden oder gar keinen Platz hätte oder wenigstens in +keiner bewußten Form von Verpflichtung oder Reue weiterlebte, wo die +Erinnerung selbst an die Freude ihre Bitterkeit enthält und dem +Gedächtnis an den Genuß ein Schmerz beigemischt ist. + +Die Erschaffung solcher Welten schien für Dorian Gray der wahre +Lebensinhalt oder wenigstens sein hauptsächlichster Inhalt zu bedeuten; +und auf seiner Suche nach Sinnenerlebnissen, die zugleich neu und +genußreich sein sollten und jenes Element der Seltsamkeit enthielten, +die für die Romantik so wesentlich ist, eignete er sich oft gewisse +Arten zu denken an, von denen ihm wohl bewußt war, daß sie seinem Wesen +in Wirklichkeit fremd waren, gab sich ihren subtilen Einflüssen hin und +verließ sie dann, wenn er sozusagen ihre Farbe in sich eingesogen und +seine geistige Neugier befriedigt hatte, mit jener eigentümlichen +Gleichgültigkeit, die nicht unvereinbar ist mit einem wirklich glühenden +Temperament, und die in der Tat nach der Meinung gewisser moderner +Psychologen oft eine Bedingung dafür ist. + +Einmal ging ein Gerücht von ihm, er wolle katholisch werden; und gewiß +hatte der katholische Kult eine große Anziehungskraft für ihn. Das +tägliche Meßopfer, das wirklich viel ehrfurchterweckender ist als alle +Opfer der antiken Welt, regte ihn ebensosehr an durch seine prachtvolle +Unbekümmertheit des sinnlichen Augenscheins wie durch die primitive +Einfachheit seiner Elemente und das ewige Pathos der menschlichen +Tragödie, die es zu symbolisieren versuchte. Er liebte es, auf das kalte +Marmorpflaster hinzuknien und den Priester zu beobachten, der in seiner +stimmungsvollen, blumengestickten Stola langsam und mit weißen Händen +den Vorhang vom Tabernakel hinwegzog, oder die laternenförmige +edelsteingeschmückte Monstranz in die Höhe hob, die jene blasse Hostie +enthielt, von der man zuzeiten wirklich denken konnte, es sei der panis +coelestis, das Brot der Engel, oder der, in die Gewänder der +Christuspassion gehüllt, die Hostie in den Kelch tauchte und sich um +seiner Sünden willen die Brust schlug. Die rauchenden Weihrauchkessel, +die die ernsten Knaben in ihren Spitzen- und Scharlachmänteln in der +Luft schwangen und die wie große, goldene Blumen aussahen, übten einen +tiefen Zauber auf ihn aus. Wenn er hinaustrat, pflegte er staunend die +dunkeln Beichtstühle anzublicken und empfand eine Sehnsucht, im düsteren +Schatten eines solchen zu sitzen und den Männern und Frauen zu lauschen, +die durch das abgenutzte Gitter die wahre Geschichte ihres Lebens +flüsterten. + +Aber er verfiel nie dem Irrtum, seine geistige Entwicklung durch die +förmliche Annahme irgendeines Glaubens oder Systems zu hindern oder +irrtümlich ein Haus, in dem man leben konnte, gleichsam für eine +Herberge zu halten, die nur zu kurzem Aufenthalt während einer Nacht +oder nur für ein paar Stunden während einer Nacht taugt, wenn keine +Sterne leuchten und der Mond im Wechsel begriffen ist. Die Mystik mit +ihrer wunderbaren Kraft, uns gewöhnliche Dinge seltsam erscheinen zu +lassen, und jene tiefe Ketzersucht, die sie immer zu begleiten scheint, +reizte ihn eine Saison hindurch; und dann neigte er sich eine andere +Saison hindurch wieder den materialistischen Lehren der Darwinistischen +Bewegung in Deutschland zu und fand einen besonderen Genuß darin, die +Gedanken und Leidenschaften der Menschen bis auf irgendeine perlgroße +Zelle im Gehirn oder auf irgendeinen weißen Nerv im Körper +zurückzuleiten, schwelgte förmlich in der Vorstellung einer absoluten +Abhängigkeit des Geistes von gewissen physischen Bedingungen, mochten +sie krankhaft oder gesund, normal oder pathologisch sein. Aber, wie +schon früher von ihm berichtet wurde, so schien keine Lebenstheorie von +irgendeiner Bedeutung für ihn, im Vergleich mit dem Leben selbst. Er war +sich haarscharf bewußt, in welches Irrsal jede geistige Spekulation +führen mußte, wenn sie von Handlung und Experiment getrennt ist. Er +wußte, daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre geistigen +Geheimnisse offenbaren mußten. + +Und so ergab er sich zeitweilig dem Studium der Wohlgerüche, bemühte +sich um die Geheimnisse ihrer Bereitung, destillierte schwerduftende Öle +und verbrannte wohlriechendes Gummi, das aus dem Orient stammte. Er +erkannte, daß es keine Stimmung des Geistes gab, die nicht ihr +Seitenstück im Leben der Sinne fand, und mühte sich, die wirkliche +Beziehung zwischen beiden zu entdecken, um herauszuklügeln, weshalb der +Weihrauch den Menschen mystisch stimmte, warum die Ambra die +Leidenschaften aufstachele, woher der Veilchenduft die Erinnerung an +gestorbene Romantik erwecke, wieso der Moschus das Gehirn verwirre, und +wodurch der Tschampak die Phantasie beflecke: und so versuchte er +manchmal, eine genaue Psychologie der Wohlgerüche auszuarbeiten und ihre +verschiedenen Wirkungen zu bestimmen, zum Beispiel süßriechender +Wurzeln, duftiger, samentragender Blüten, aromatischer Balsame, dunkler, +starkriechender Hölzer, des Baldrians, der zum Erbrechen reizt, der +Hovenia, die einen toll macht, und der Aloe, die imstande sein soll, die +Schwermut aus der Seele zu verjagen. + +Ein andermal widmete er sich gänzlich der Musik und gab öfter Konzerte +in einem langen, dämmerigen Saal, dessen Wände mit olivengrünem Lack +überzogen waren, und dessen Decke aus einem rot und gold Muster bestand, +wobei tolle Zigeuner kleinen Zithern wilde Musik entlockten oder ernste, +in gelbe Tücher gehüllte Männer aus Tunis die gespannten Saiten seltsam +großer Lauten zupften, während grinsende Neger eintönig auf kupferne +Trommeln schlugen und schlankschmächtige, turbanbedeckte Inder auf +scharlachroten Matten hockten und auf langen Rohr- oder Messingpfeifen +bliesen und damit große Brillenschlangen oder schreckliche Hornvipern +beschworen oder zu beschwören schienen. Die kreischenden Intervalle und +die schrillen Mißtöne barbarischer Musik reizten ihn zuweilen, wenn +Schuberts Lieblichkeit oder Chopins süßes Schmachten und die gewaltigen +Harmonien des großen Beethoven machtvoll in sein Ohr schlugen. Aus allen +Weltteilen sammelte er die merkwürdigsten Instrumente, die sich finden +ließen, entweder in den Gräbern toter Völker oder unter den wenigen +wilden Stämmen, die noch die Berührung mit der westlichen Kultur +überlebt haben, und er liebte es, sie zu befühlen und zu verfügen. Er +besaß das mysteriöse Juruparis der Rio-Negro-Indianer, das die Frauen +nicht ansehen dürfen und selbst die jungen Männer erst dann, wenn sie +vorher gefastet und sich gegeißelt haben, er besaß die irdenen Klappern +der Peruaner, die den schrillen Ton des Vogelschreis wiedergeben, und +Flöten aus Menschenknochen, wie sie Alfonso de Ovalle in Chile gehört +hat, und die wohlklingenden grünen Jaspissteine, die bei Cuzco gefunden +werden und einen Ton von eigentümlicher Süße hervorbringen. Er hatte +bemalte, mit Kieselsteinen gefüllte Kürbisse, die beim Schütteln +rasselten, er hatte die langen Zinken der Mexikaner, in die der Spieler +nicht hineinbläst, sondern durch die er die Luft einatmet, das rauhe +Ture der Amozonenstämme, das die Wachen ertönen lassen, wenn sie den +ganzen Tag auf hohen Bäumen sitzen, und das, wie man sagt, auf eine +Entfernung von drei Seemeilen gehört werden kann, das Teponaztli, das +zwei zitternde Holzzungen hat und auf die man mit Stöcken schlägt, die +mit einer Art elastischen Kautschuks eingesalbt werden, das aus dem +milchigen Saft von Pflanzen gewonnen wird, er hatte die Yotlglocken der +Azteken, die wie Trauben in Büscheln hängen, und eine große +zylinderförmige Trommel, die bespannt ist mit den Häuten großer +Schlangen gleich der, die Bernal Diaz sah, als er mit Cortez in den +mexikanischen Tempel trat, und von deren wehklagendem Tone er uns eine +so lebendige Schilderung hinterlassen hat. Das phantastische Wesen +dieser Instrumente wirkte bezaubernd auf ihn, und er empfand einen +seltsamen Genuß bei dem Gedanken, daß die Kunst wie die Natur ihre +Ungeheuer hat, Dinge von tierischer Form und mit abscheulichen Stimmen. +Aber nach einiger Zeit wurde er ihrer müde und saß dann wieder in seiner +Loge in der Oper, entweder allein oder mit Lord Henry, lauschte +hingerissen dem Tannhäuser und erkannte in dem Vorspiel zu diesem großen +Kunstwerk eine Verkörperung des Trauerspiels seiner eigenen Seele. + +Wieder ein andermal warf er sich auf das Studium der Edelsteine und +erschien auf einem Maskenfest als Anne de Joyeuse, Admiral von +Frankreich, in einem Gewand, das mit fünfhundertsechzig Perlen bestickt +war. Diese Geschmacksrichtung hielt ihn jahrelang gefangen, ja, man kann +sagen, daß sie ihn nie verlassen hat. Er verbrachte oft einen ganzen Tag +damit, die verschiedenen Steine, die er gesammelt hatte, aus ihren +Schachteln zu nehmen und wieder umzuordnen, wie beispielsweise der +olivengrüne Chrysoberyll, der im Lampenlicht rot wird, der Cymophan mit +seinen haarfeinen Silberlinien, der pistazienfarbene Peridot, +rosenfarbige und weingelbe Topase, scharlachfeurige Karfunkelsteine mit +zitternden, vierfach ausstrahlenden Sternen, flammenrote Kaneelsteine, +orangenfarbene und violette Spinelle und Amethyste mit ihren regelmäßig +wechselnden Schichten von Rubin und Saphir. Er liebte das rote Gold des +Sonnensteins und die perlfarbene Weiße des Mondsteins und den +gebrochenen Regenbogen des milchflockigen Opals. Er verschrieb sich aus +Amsterdam drei Smaragde von außerordentlicher Größe und wunderbarem +Farbenreichtum und besaß einen Türkis ~de la vieille roche~, um den ihn +alle Kenner beneideten. + +Er entdeckte auch wunderbare Geschichten über Edelsteine. In Alfons +»~Clericalis disciplina~« wurde eine Schlange erwähnt mit Augen aus +wirklichen Hyazinthsteinen, und in der romantischen Alexandersage hieß +es von dem Eroberer Emathias, er habe im Jordantale Schlangen gefunden +»mit Halsgeschmeiden aus wirklichen Smaragden, die ihnen auf dem Rücken +gewachsen waren«. Im Gehirn des Drachen war nach dem Bericht des +Philostratus ein Edelstein, und »durch das Entgegenhalten goldener +Lettern und eines scharlachroten Gewandes« konnte das Ungeheuer in einen +magischen Schlaf versetzt und getötet werden. Nach der Meinung des +großen Alchimisten Pierre de Boniface sollte der Diamant den Menschen +unsichtbar und der indische Achat ihn beredt machen. Der Karneol +beschwichtigte den Zorn, und der Hyazinth schläferte ein, und der +Amethyst verscheuchte den Weindunst. Der Granat trieb Teufel aus, und +der Hydrophyt beraubte den Mond seiner Farbe. Der Selenit nahm mit dem +Monde zu und ab, und der Meloceus, der die Diebe entdeckte, verlor seine +Kraft nur, wenn man ihn mit dem Blut junger Ziegen betropfte. Leonardus +Camillus hatte einen weißen Stein gesehen, den man aus dem Gehirn einer +frisch getöteten Kröte genommen hatte und der ein sicheres Gegenmittel +gegen Gift war. Der Bezoar, den man im Herzen des arabischen Hirsches +fand, war ein Zauber, der die Pest zu heilen vermochte. In den Nestern +arabischer Vögel kam der Aspilates vor, der nach der Angabe des Demokrit +seinen Träger vor jeder Feuersgefahr beschützte. + +Der König von Seilan ritt bei seiner Krönungsfeier, mit einem großen +Rubin in der Hand, durch seine Stadt. Die Tore zum Palast des Johannes, +des Priesters, waren aus Sarder verfertigt, in den das Horn der +Hornviper verarbeitet war, so daß kein Mensch Gift in das Haus bringen +konnte. Über dem Giebel waren »zwei goldene Äpfel, die zwei +Karfunkelsteine enthielten«, so daß am Tage das Gold glänzen konnte und +die Karfunkelsteine bei Nacht. In Lodges seltsamem Roman »Eine +amerikanische Perle« heißt es, daß man in dem Zimmer der Königin »alle +keuschen Frauen der Welt, wie in Silber getrieben, wahrnehmen konnte, +wenn man durch fleckenfreie Spiegel aus Chrysolithen, Karfunkelsteinen, +Saphiren und grünen Smaragden blickte«. Marco Polo hatte gesehen, wie +die Einwohner von Zipangu den Toten rosenfarbige Perlen in den Mund +steckten. Ein Seeungeheuer war in die Perle verliebt, die ein Taucher +dem König Perozes brachte, und es hatte den Dieb getötet und sieben +Monate lang über den Verlust getrauert. Als die Hunnen den König in den +großen Hinterhalt lockten, warf er die Perle weg -- Prokopius erzählt +die Geschichte -- und sie wurde nie wieder gefunden, obwohl Kaiser +Anastasius dafür fünf Zentner Goldstücke aussetzte. Der König von +Malabar hatte einmal einem Venezianer einen Rosenkranz aus +dreihundertvier Perlen gezeigt, eine Perle für jeden Gott, den er +verehrte. + +Als der Herzog von Valentinois, der Sohn Alexanders des Sechsten, Ludwig +den Zwölften von Frankreich besuchte, war nach Brantôme sein Pferd mit +goldenen Blättern bedeckt, und ein Barett trug eine doppelte Reihe von +Rubinen, die ein mächtiges Licht ausstrahlten. Karl von England ritt in +Steigbügeln, die mit vierhunderteinundzwanzig Diamanten besetzt waren. +Richard der Zweite hatte ein Gewand, das mit Balasrubinen besetzt war, +und auf dreißigtausend Mark geschätzt wurde. Hall beschrieb Heinrich den +Achten auf seinem Wege zur Krönung nach dem Tower folgendermaßen: er +trug ein »Panzerkleid aus erhabenem Gold, die Brust war mit Diamanten +und anderen Edelsteinen bestickt, und um den Hals hing ihm eine mächtige +Kette aus schweren Balasrubinen«. Die Günstlinge Jakobs des Ersten +trugen Ohrringe aus Smaragden, die in Goldfiligran gefaßt waren. Eduard +der Zweite schenkte dem Piers Gaveston eine vollständige Rüstung aus +rotem Golde, die mit Hyazinthsteinen besetzt war, eine Halsberge aus +goldenen Rosen, in die Türkise eingelassen waren, und eine mit Perlen +übersäte Sturmhaube. Heinrich der Zweite trug Handschuhe bis zum +Ellenbogen hinauf, die mit Edelsteinen besetzt waren, und er hatte einen +Falkenierhandschuh, den zwölf Rubinen und zweiundfünfzig große Perlen +zierten. Der Herzogshut Karls des Kühnen, des letzten Burgunder Herzogs +seines Geschlechts, war behängt mit birnenförmigen Perlen und überstreut +mit Saphiren. + +Wie köstlich das Leben einst gewesen war! Wie schwelgerisch in seinem +Pomp und Schmuck! Von dem Reichtum der Toten auch nur zu lesen war schon +wunderbar. + +Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Stickereien zu und den +Gobelins, die in den frostigen Räumen der nördlichen Völker Europas die +Stelle der Freskogemälde vertraten. Als er sich in dieses Gebiet +vertiefte -- und er besaß immer eine außerordentliche Fähigkeit, sich +für den Augenblick von allem absorbieren zu lassen, was er in Angriff +nahm -- wurde er ordentlich traurig bei dem Gedanken an die Vernichtung, +die die Zeit schönen und wundervollen Dingen bereitete. Er wenigstens +war ihr entronnen. Sommer folgte dem Sommer, die gelben Jonquillen +hatten geblüht und waren viele Male verwelkt, und schreckliche Nächte +wiederholten die Geschichte ihrer Schande, aber er blieb unverändert. +Kein Winter entstellte sein Antlitz oder beschädigte seinen +blütengleichen Schmelz. Wie anders war das mit den materiellen Dingen! +Wohin waren die entschwunden? Wo war das große krokusfarbene Gewand, auf +dem die Götter die Giganten bekämpft hatten, das von braunen Mädchen der +Athene zur Freude gestickt worden war? Wo war das große Velarium, das +Nero über das Kolosseum in Rom hatte ausspannen lassen, dieses +gigantische Purpursegel, auf dem der Sternenhimmel abgebildet war, und +Apollo, wie er einen Wagen lenkt, den weiße, von goldenen Zügeln +gebändigte Streitrosse ziehen? Er sehnte sich, die sonderbaren +Tischdecken zu sehen, die für den Sonnenpriester gewebt worden waren, +und in die alle Leckerbissen und Speisen eingewirkt waren, die man für +ein Festmahl nur wünschen konnte, das Sterbekleid des Königs Hilperich +mit seinen dreihundert goldenen Bienen, die phantastischen Gewandungen, +die die Entrüstung des Bischofs von Pontus erregten und auf denen +»Löwen, Panther, Bären, Hunde, Wälder, Felsen, Jäger -- kurz alles +dargestellt war, was ein Maler der Natur ablauschen kann«, und den Rock, +den Karl von Orleans einstmals getragen hatte, auf dessen Ärmel die +Verse eines Gedichtes gestickt waren, das begann: ~Madame, je suis tout +joyeux~, während die Noten hierzu mit Goldfäden eingestickt waren und +jeder Notenkopf, damals noch viereckig, aus vier Perlen gebildet war. Er +las von dem Zimmer, das man im Palast von Reims für den Gebrauch der +Königin Johanna von Burgund hergerichtet hatte, »und das ausgeschmückt +war mit dreizehnhunderteinundzwanzig gestickten Papageien, die das +Wappen des Königs trugen, und mit fünfhunderteinundsechzig +Schmetterlingen, deren Flügel auf dieselbe Weise mit dem Wappen der +Königin geschmückt waren, das Ganze in Gold gearbeitet.« Katharina von +Medici hatte sich ein Trauerbett machen lassen aus schwarzem Samt, +bestickt mit Halbmonden und Sonnen. Seine Vorhänge waren aus Damast, und +auf einem Grunde von Gold und Silber waren Zweige und Girlanden +gestickt, und die Bordüren bestanden aus Fransen mit Perlen, und es +stand in einem Zimmer, das mit einem Silbertuch bespannt war, auf dem +reihenweise die Wahlsprüche der Königin in schwarzem, geschorenem Samt +appliziert waren. Ludwig der Vierzehnte hatte in seinem Gemach +goldgestickte, fünfzehn Fuß hohe Karyatiden. Das Staatsbett Sobieskis, +des Königs von Polen, bestand aus Smyrna-Goldbrokat, und Verse aus dem +Koran waren aus Türkisen hineingestickt. Seine Füße waren aus +vergoldetem Silber, schön getrieben und verschwenderisch mit Medaillons +aus Email und Edelsteinen besetzt. Es war bei der Belagerung von Wien +aus dem türkischen Lager erbeutet worden, und die Fahne Mohammeds war +unter dem flimmerigen Gold seines Baldachins angebracht. + +Und so suchte er ein ganzes Jahr lang die erlesensten Proben zusammen, +die er von Webekunst und Stickereiarbeiten auftreiben konnte, er +verschaffte sich die duftigen Delhi-Musselins, die zart mit goldenen +Palmblättern und mit irisierenden Käferflügeln bestickt waren, die +Gazestoffe aus Dhaka, die man im Orient ihrer Durchsichtigkeit wegen +»gewebte Luft«, »rieselndes Wasser« und »Abendtau« nennt: Tücher aus +Java mit seltsamen Figuren: feine, gelbe chinesische Gardinen: Bücher, +die in lohfarbigen Atlas oder hellblaue Seide gebunden und eingepreßte +heraldinische Lilien, Vögel und Schildereien zeigten +Pointslace-Schleiergewebe aus Ungarn: sizilianische Brokate und steife +spanische Sammete: georgische Arbeiten mit ihren goldenen Münzen, und +japanische Fukusas mit ihren grünen Goldtönen und ihren gefiederten +Vögeln wunderbarster Arbeit. + +Er hatte dann eine besondere Leidenschaft für kirchliche Gewänder wie +für alles, was mit dem religiösen Ritus zusammenhing. In den langen +Kästen aus Zedernholz, die auf der westlichen Galerie seines Hauses +standen, hatte er viele seltene, schöne Proben des wahrhaften Kleides +der Christusbraut angesammelt, die sich in Purpur, in Edelsteine und +feines Linnen kleiden muß, um den bleichen, abgezehrten Leib darin zu +verhüllen, der erschöpft ist von den Leiden, die sie sucht, und +verwundet von selbst zugefügten Schmerzen. Er besaß einen prachtvollen +Chorrock aus karminroter Seide und goldgewirktem Damast, der mit einem +sich wiederholenden Muster von goldenen Granatäpfeln geziert war, die +auf sechsblättrigen, regelmäßigen Blüten saßen, worunter auf jeder Seite +ein in Staubperlen gestickter Tannenzapfen war. Die Goldstickereien +waren in einzelne Felder geteilt, in denen Szenen aus dem Leben der +Jungfrau abgebildet waren und die Krönung der Jungfrau war in der dazu +gehörigen Kappe in farbiger Seide oben eingestickt. Es war italienische +Arbeit aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein anderer Chorrock war aus +grünem Samt, bestickt mit herzförmigen Bündeln von Akanthusblättern, aus +denen langgestielte weiße Blüten hervorsprossen, die zart mit silbernen +Fäden und farbigen Kristallperlen ausgearbeitet waren. Auf der Spange +war der Kopf eines Seraphs in erhabener Goldstickerei ausgeführt. Die +Borten waren fortlaufend auf blumigem Tuch in roter und goldener Seide +eingewebt und mit den Medaillonbildnissen vieler Heiligen und Märtyrer +ausstaffiert, unter denen sich der heilige Sebastian befand. Er hatte +auch Meßgewänder aus bernsteinfarbiger Seide und blauer Seide und +goldenem Brokat und aus gelbem Seidendamast und goldenem Tuch, die +bedeckt waren mit Darstellungen der Passion und der Kreuzigung Christi, +und bestickt mit Löwen, Pfauen und anderen Emblemen, er hatte Dalmatikas +aus weißem Atlas und rosarotem Seidendamast, geziert mit Tulpen, +Delphinen und heraldischen Lilien: Altardecken aus karmoisinrotem Samt +und blauem Linnen, und viele Decken für Meßgeräte, Kelchhüllen und +Schweißtücher. In den mystischen Diensten, zu denen diese Dinge bestimmt +waren, lag etwas, das seine Einbildungskraft anregte. + +Denn diese Schätze und überhaupt alles, was er in seinem wunderbaren +Hause ansammelte, waren für ihn Mittel zum Vergessen, Liebhabereien, +durch die er eine Zeitlang der Angst entrinnen konnte, die ihm oft zu +groß erschien, um sie zu ertragen. An die Wand des verlassenen, +verschlossenen Raumes, worin er einen so großen Teil seiner Knabenzeit +verbracht hatte, hatte er mit seinen eigenen Händen das fürchterliche +Porträt aufgehängt, dessen Züge ihm in ihrer Veränderung die wahrhafte +Erniedrigung seines Lebens zeigten, und darüber hatte er als Vorhang +das Bahrtuch aus Gold und Purpur angebracht. Wochenlang mochte er nicht +dahin gehen, wollte er das gräßliche Gemälde vergessen und gewann dann +wieder sein leichtes Herz zurück, seine wunderbare Fröhlichkeit und +seine Kraft zu leidenschaftlicher Versenkung ins Leben. Dann aber +schlich er plötzlich in einer Nacht aus dem Hause, besuchte schaurige +Orte in der Nähe von Blue Gate Fields und blieb dort Tag um Tag, bis es +ihn wieder wegtrieb. Nach seiner Rückkehr saß er dann wohl vor dem +Bilde, manchmal voll Haß vor ihm und vor sich selbst, ein andermal aber +erfüllt mit dem Stolze auf das eigene Wesen, der den halben Reiz der +Sünde ausmacht, und er lächelte dann mit geheimem Vergnügen das +verunstaltete Abbild an, das die Last zu tragen hatte, die eigentlich +für ihn bestimmt war. + +Nach einigen Jahren konnte er es nicht aushalten, lange von England weg +zu sein, und gab das Landhaus auf, das er gemeinsam mit Lord Henry in +Trouville innegehabt hatte, und ebenso das kleine, von weißer Mauer +umrahmte Haus in Algier, wo sie mehr als einmal den Winter verbracht +hatten. Er konnte es nicht ertragen, von dem Porträt getrennt zu sein, +das jetzt gewissermaßen ein Teil seines Lebens geworden war, und er +fürchtete auch, es könne in seiner Abwesenheit irgend jemand Zutritt +bekommen trotz den sorgfältig gearbeiteten Sicherheitsschlössern, die er +an der Türe hatte anbringen lassen. + +Er war sich vollauf bewußt, daß niemand etwas verraten könne. Allerdings +bewahrte das Bild unter all der Gemeinheit und Häßlichkeit seines +Antlitzes noch eine deutliche Ähnlichkeit mit ihm, aber was konnte das +den Leuten sagen? Er würde jeden auslachen, der es versuchen wollte, ihn +zu schmähen. Er hatte es ja nicht gemalt. Was ging es ihn an, wie +abscheulich und schändlich es aussah? Selbst wenn er jemand die Wahrheit +erzählte, konnte sie einer glauben? + +Und doch hatte er Angst. Wenn er manchmal in seinem großen Hause in +Nottinghamshire war und die eleganten jungen Leute, die meistens seine +Gesellschaft bildeten, bewirtete, und die Leute der Grafschaft durch den +ausschweifenden Luxus und den verschwenderischen Glanz seines Lebens in +Erstaunen setzte, dann verließ er wohl plötzlich seine Gäste und eilte +zurück in die Stadt, um nachzusehen, ob sich niemand an der Türe zu +schaffen gemacht habe und ob das Bild noch da sei. Wie, wenn es jemand +gestohlen hätte? Der bloße Gedanke erfüllte ihn mit kaltem Entsetzen. +Gewiß würde dann die Welt sein Geheimnis erfahren. Vielleicht hatte sie +schon Verdacht geschöpft. + +Denn genau wie er viele fesselte, gab es auch nicht wenige, die ihm +mißtrauten. Er wäre fast schwarz ballotiert worden in einem +Westend-Klub, zu dessen Mitgliedschaft ihn soziale Stellung und Geburt +vollständig berechtigten, und es hieß, daß einmal, als ihn ein Freund in +das Rauchzimmer des Curchill-Klubs mitgebracht hatte, der Herzog von +Berwick und ein anderer Herr in auffallender Weise aufgestanden und +hinausgegangen wären. Sonderbare Geschichten waren über ihn im Umlauf, +als er sein fünfundzwanzigstes Jahr vollendet hatte. Man munkelte, daß +man ihn in einer elenden Kaschemme in einem entlegenen Winkel +Whitechapels mit fremden Matrosen habe zechen sehen, und daß er mit +Dieben und Falschmünzern umgehe und die Geheimnisse ihres Gewerbes +kenne. Seine auffallende Gewohnheit, zu bestimmten Zeiten zu +verschwinden, war bekannt, und wenn er dann wieder in der Gesellschaft +auftauchte, flüsterte man sich in den Ecken Bemerkungen zu oder man ging +an ihm mit einem unzweideutigen Lächeln oder mit kühlen, forschenden +Blicken vorbei, als wäre man entschlossen, sein Geheimnis zu enthüllen. + +Von diesen Unverschämtheiten und versuchten Beleidigungen nahm er +natürlich keine Notiz, und in den Augen der meisten Leute war sein +offenes, freundliches Wesen, sein reizendes Knabenlächeln und die +unendliche Grazie der wundervollen Jugend, die ihn nie zu verlassen +schien, an sich eine genügende Antwort auf die Verleumdungen, denn so +nannte man es, die über ihn im Umlauf waren. Indessen bemerkte man, daß +einige von denen, die früher sehr innig mit ihm verkehrt hatten, ihn +nach einiger Zeit zu meiden anfingen. Frauen, die ihn glühend geliebt +hatten und um seinetwillen allem Tadel der Gesellschaft getrotzt und die +Konvention verachtet hatten, konnte man vor Scham oder Entsetzen +erbleichen sehen, wenn Dorian Gray ins Zimmer trat. + +Doch dieses Skandalgeflüster erhöhte in den Augen vieler nur seinen +seltsamen und gefährlichen Reiz. Auch sein großer Reichtum bot ein +gewisses Unterpfand der Sicherheit. Die Gesellschaft, wenigstens die +zivilisierte Gesellschaft, ist niemals schnell geneigt, etwas Schlechtes +von denen zu glauben, die zugleich reich und interessant sind. Sie +begreift instinktiv, daß Manieren wichtiger sind als Moral, und ihrer +Meinung nach ist die höchste Ehrbarkeit weniger wert als der Besitz +eines guten Küchenchefs. Und schließlich ist es auch ein sehr schwacher +Trost, wenn einem gesagt wird, daß der Mann, bei dem es ein schlechtes +Diner oder einen elenden Wein gegeben hat, in seinem Privatleben +unantastbar dasteht. Selbst die Kardinaltugenden können nicht für kalt +gewordene Entrees entschädigen, bemerkte Lord Henry einmal, als man über +dieses Thema sprach; und für seine Ansicht spricht wahrscheinlich sehr +viel. Denn die Gesetze der guten Gesellschaft sind oder sollten +wenigstens dieselben sein, wie die Regeln der Kunst. Form ist für sie +unbedingt wesentlich. Sie sollte die Würde ebenso wie die Unwirklichkeit +einer Zeremonie haben und sollte den unaufrichtigen Schein eines +romantischen Schauspiels mit dem Witz und der Schönheit verbinden, die +für uns das Entzücken solcher Spiele ausmachen. Ist Unaufrichtigkeit +denn etwas so Furchtbares? Ich glaube nicht. Sie ist nur ein Mittel, +wodurch wir unsere Persönlichkeit vervielfachen können. + +Das war wenigstens die Meinung von Dorian Gray. Er pflegte sich über die +seichte Psychologie derer zu wundern, die sich das Ich eines Menschen +als etwas Einfaches, Beständiges, Verläßliches und Einheitliches +vorstellen. Für ihn war der Mensch ein Wesen mit Myriaden von Leben und +Myriaden von Gefühlen, ein kompliziertes, vielgestaltetes Geschöpf, das +seltsame Erbschaften in seinen Gedanken und Leidenschaften mit sich +herumtrug und dessen Fleisch von den ungeheuerlichen Krankheiten der +Verstorbenen angesteckt war. Er liebte es, die kahle, kalte +Bildergalerie auf seinem Landsitze zu durchschlendern und die +verschiedenen Porträts der Menschen zu betrachten, deren Blut in seinen +Adern floß. Hier war Philipp Herbert, den Francis Osborne in seinen +»Memoiren über die Herrscherzeit der Königin Elisabeth und des Königs +Jakob« als einen beschrieb, »den der Hof seines hübschen Gesichtes wegen +lieb hatte, das ihm aber nicht lange Gesellschaft leistete«. War es das +Leben des jungen Herbert, das er manchmal führte? Hatte sich irgendein +merkwürdiger, gifttragender Keim von Körper zu Körper übertragen, bis er +seinen eigenen erreicht hatte? War es eine dumpfe Erinnerung an diesen +verwelkten Liebreiz gewesen, die damals in Basil Hallwards Atelier so +jäh und fast ohne Grund über ihn hereinbrach, daß er jenes wahnsinnige +Gebet sprechen mußte, das sein Leben so sehr verändert hatte? Hier stand +in goldgesticktem rotem Wams, in einem mit Juwelen geschmückten Überrock +und goldgefaßten Hals- und Ärmelkrausen Sir Anthony Sherard, die Beine +mit silbernen und schwarzen Schienen gepanzert. Was war das Vermächtnis +dieses Mannes gewesen? Hatte ihm der Geliebte der Giovanna von Neapel +ein Erbteil der Sünde und Schande hinterlassen? Waren seine eigenen +Handlungen nur die Träume, die der Tote nicht zu verwirklichen gewagt +hatte? Hier lächelte von einer verblaßten Leinwand Lady Elisabeth +Devereux in ihrer Gazehaube, dem perlenbestickten Brustschmuck und den +roten Schlitzärmeln. Sie hielt in der rechten Hand eine Blume, und die +linke umfaßte einen emaillierten Halsschmuck aus weißen und Damaszener +Rosen. Auf einem Tisch neben ihr lag eine Mandoline und ein Apfel. Auf +ihren kleinen, spitzen Schuhen saßen große, grüne Rosetten. Er kannte +ihr Leben und die seltsamen Geschichten, die man über ihre Liebhaber +erzählte. Hatte er etwas von ihrem Temperament an sich? Diese ovalen +Augen mit den schweren Lidern schienen ihn so sonderbar anzublicken. Wie +stand es um George Willoughby mit seinem gepuderten Haar und seinen +phantastischen Schönheitspflästerchen? Wie böse er aussah! Das Gesicht +war melancholisch und bräunlich, und die sinnlichen Lippen schienen +verächtlich zusammengekniffen. Kostbare Spitzenmanschetten rieselten +über die mageren gelben Hände, die mit Ringen so sehr überladen waren. +Er war im achtzehnten Jahrhundert ein Stutzer gewesen und in seiner +Jugend ein Freund von Lord Ferrars. Wie war es mit dem zweiten Lord +Beckenham, dem Gefährten des Prinzregenten in seinen wildesten Tagen und +einem der Zeugen bei seiner heimlichen Eheschließung mit Frau +Fitzherbert? Wie stolz und hübsch war er mit seinen kastanienbrauen +Locken und der herausfordernden Haltung! Welche Leidenschaften hatte er +ihm vererbt? Die Welt hatte ihn für ehrlos gehalten. Er hatte bei den +Orgien in Carlton House den Vorsitz geführt. Der Stern des +Hosenbandordens strahlte auf seiner Brust. Neben ihm hing das Bild +seiner Gemahlin, einer blassen, dünnlippigen Frau in schwarzem Kleide. +Auch ihr Blut flutete in ihm. Wie merkwürdig schien das alles! Und seine +Mutter mit ihrem Lady Hamilton-Gesicht und ihren feuchten, wie vom Wein +benetzten Lippen -- er wußte, was er von ihr mitbekommen hatte. Von ihr +hatte er seine Schönheit geerbt und seine Leidenschaft für die +Schönheit anderer. Sie lachte ihn an in ihrem losen Bacchantinnenkleide. +In ihrem Haare waren Weinblätter. Über den Becher, den sie hielt, +schäumte der Purpur. Die Fleischfarbe des Gemäldes war verblaßt, aber +die Augen waren noch wunderbar in ihrer Tiefe und ihrem Farbenglanz. Sie +schienen ihm überall hin zu folgen, wo er auch ging. + +Aber man hatte Vorfahren ebensogut in der Literatur wie in dem eigenen +Geschlecht, und viele davon standen einem vielleicht näher in ihrem +Menschentum und in ihrem Temperament und hatten sicher einen Einfluß, +von dem man sich genauere Rechenschaft zu geben vermochte. Es gab +Zeiten, wo Dorian Gray den Eindruck hatte, als wäre die ganze +Weltgeschichte nur ein Bericht seines eigenen Lebens, nicht wie er es +nach Taten und Umständen gelebt hatte, sondern wie es seine Phantasie +für ihn erschaffen hatte, wie es in seinem Gehirn und in seinen +Sinnentrieben war. Er fühlte, daß er sie alle gekannt hatte, diese +merkwürdigen schrecklichen Gestalten, die über die Weltenbühne +geschritten waren und die Sünde so glänzend und das Böse so tief und +fein gemacht hatten. Es wollte ihm scheinen, daß auf irgendeine +geheimnisvolle Weise ihr Leben auch sein eigenes gewesen sei. + +Der Held des wunderbaren Romans, der sein Leben so stark beeinflußt +hatte, war auch von diesem seltsamen Einfall ergriffen gewesen. Im +siebenten Kapitel erzählt er: wie er, bekränzt mit Lorbeer, damit ihn +der Blitz nicht treffe, als Tiberius in einem Garten von Capri gesessen +und die schändlichen Bücher von Elephantis gelesen habe, während Zwerge +und Pfauen um ihn herumstolzierten und der Flötenspieler den +Weihrauchschwinger verspottete: wie er als Caligula mit den +grünbeschürzten Stallknechten in ihren Ställen gezecht und aus einer +elfenbeinernen Krippe ein Mahl genommen habe mit einem Rosse, das ein +edelsteingeschmücktes Stirnband trug, und wie er als Domitian durch +einen Korridor gewandert sei, dessen Wände mit Marmorspiegeln bedeckt +waren, in denen er mit verstörten Augen nach dem Widerschein des Dolches +gesucht habe, der seine Tage enden sollte, erkrankt an der Langeweile, +dem schrecklichen ~Taedium vitae~, das alle befällt, denen das Leben +nichts versagt: und wie er durch einen hellen Smaragd den blutrünstigen +Schlächterszenen im Zirkus zugeschaut habe und dann in einer Karosse aus +Perlen und Purpur, die von silberfarbig gesprenkelten Maultieren gezogen +wurde, durch eine Straße mit Granatbäumen zu einem goldenen Hause +gefahren sei und gehört habe, wie ihm die Menschenmenge zurief: Kaiser +Nero, als er vorbeifuhr, und wie er sich als Heliogabal das Gesicht +geschminkt, mit den Weibern am Spinnrocken gewebt und den Mond aus +Karthago geholt habe, um ihn in mystischer Ehe mit der Sonne zu +vermählen. + +Wieder und wieder las Dorian dieses phantastische Kapitel und die zwei +unmittelbar folgenden, in denen wie auf wunderlichen Gobelins oder +kunstvoll gearbeiteten Emaillen die greulich-schönen Gestalten jener +dargestellt waren, die Laster und Blut und Übersättigung zu Ungeheuern +oder Narren gemacht hatte: Filippo, der Herzog von Mailand, der sein +Weib getötet und ihre Lippen mit scharlachrotem Gift gefärbt hatte, +damit ihr Geliebter von dem Leichnam, wenn er ihn liebkoste, den Tod +saugen möge: der Venezianer Pietro Barbi, bekannt als Paul der Zweite, +der in seiner Eitelkeit den Beinamen Formosus annehmen wollte und dessen +Tiara, die zweihunderttausend Gulden Wert hatte, mit einer furchtbaren +Sünde erkauft worden war: Gian Maria Visconti, der Hunde benutzte, um +auf lebende Menschen Jagd zu machen, und dessen Leichnam nach seiner +Ermordung von einer Dirne, die ihn geliebt hatte, mit Rosen bedeckt +ward: der Borgia auf seinem Schimmel, neben dem der Brudermord hoch zu +Rosse saß, und dessen Mantel mit dem Blute Perottos befleckt war: Pietro +Riario, der junge Kardinalerzbischof von Florenz, das Kind und der +Liebling Sixtus des Sechsten, dessen Schönheit nur von seiner +Lasterhaftigkeit übertroffen wurde, und der Leonora von Aragonien in +einem Zelt aus weißer und karmesinfarbener Seide empfing, das voll +Nymphen und Zentauren war, und der einen Knaben vergoldete, damit er bei +dem Feste als Ganymed oder Hylas aufwarte: Etzelin, dessen Schwermut nur +durch das Schauspiel des Todes geheilt werden konnte und der eine +Leidenschaft für rotes Blut hatte, wie andere Menschen für roten Wein -- +den man den Sohn des Satans hieß und der seinen Vater beim Würfeln +betrogen hatte, als er mit ihm um seine Seele spielte: Giambattista +Cibo, der aus Hohn den Namen Innozentius annahm und in dessen verdumpfte +Adern ein jüdischer Arzt das Blut von drei Jünglingen einpumpte: +Sigismondo Malatesta, der Liebhaber der Isotta und der Herr von Rimini, +der zu Rom im Bilde als ein Feind Gottes und der Menschen verbrannt +wurde, und der Polyssena mit einer Serviette erdrosselte, und der +Ginevra d'Este aus einem Smaragdbecher Gift zu trinken gab und, um eine +schändliche Leidenschaft zu ehren, einen heidnischen Tempel zur Anbetung +für die Christen baute: Karl der Sechste, der für das Weib seines +Bruders so ungestüm erglühte, daß ihm ein Aussätziger den Irrsinn +prophezeite, der über ihn kommen werde, und der, als sein Geist krank +geworden war und sich verwirrt hatte, nur durch sarazenische Spielkarten +besänftigt wurde, auf denen Liebe, Tod und Wahnsinn abgebildet waren: +und in seinem gezierten Kamisol und in seinem edelsteingeschmückten +Barett und den akanthusgleichen Locken Grifonetto Baglioni, der Astorre +bei seiner Braut und Simonetto bei seinem Pagen erschlug, und dessen +Anmut so groß war, daß, als er sterbend auf der gelben Piazza in Perugia +lag, selbst seine Hasser das Schluchzen nicht unterdrücken konnten, und +ihn Atalanta segnete, die ihn verflucht hatte. + +Ein grauenhafter Zauber war in alledem. Er sah sie bei Nacht, und +während des Tages verwirrten sie seine Vorstellungen. Die Renaissance +kannte seltsame Arten, zu vergiften -- zu vergiften durch einen Helm und +eine angezündete Fackel, einen bestickten Handschuh und einen +edelsteinbesetzten Fächer, ein vergoldetes Riechbüchschen und eine +Bernsteinkette. Dorian Gray war durch ein Buch vergiftet worden. Es gab +Augenblicke, in denen er die Sünde einzig als eine Möglichkeit ansah, +seinen Schönheitsbegriff zu verwirklichen. + + + + +Zwölftes Kapitel + + +Es war am neunten November, am Vorabend seines achtunddreißigsten +Geburtstages, wie er sich später oftmals erinnerte. + +Er ging gegen elf Uhr aus Lord Henrys Wohnung, bei dem er gegessen +hatte, nach Hause und war in einen schweren Pelz gehüllt, da die Nacht +kalt und neblig war. An der Ecke von Grosvenor Square und South Audley +Street ging im Nebel ein Mann sehr eilig an ihm vorbei, der den Kragen +seines grauen Ulsters hochgeschlagen hatte. Er trug eine Reisetasche. +Dorian erkannte ihn. Es war Basil Hallward. Ein seltsames Angstgefühl, +über das er sich keine Rechenschaft geben konnte, befiel ihn. Er ließ +nicht merken, daß er ihn erkannt hatte und setzte rasch seinen Weg fort +in der Richtung seines Hauses. + +Aber Hallward hatte ihn gesehen. Dorian hörte, wie er zuerst auf dem +Trottoir stehenblieb und ihm dann nacheilte. In ein paar Augenblicken +lag eine Hand auf seinem Arm. + +»Dorian! Was für ein besonders glücklicher Zufall! Ich habe seit neun +Uhr in deiner Bibliothek auf dich gewartet. Schließlich tat mir dein +ermüdeter Diener leid, und als er mich herunterließ, sagte ich ihm, er +möchte zu Bett gehen. Ich fahre mit dem Mitternachtszug nach Paris, und +ich hatte den dringendsten Wunsch, dich vor meiner Abreise noch zu +sehen. Ich dachte, das mußt du sein, oder mindestens dein Pelz, als du +vorbeigingst. Aber ich war doch nicht ganz sicher. Hast du mich denn +nicht erkannt?« + +»Bei so einem Nebel, lieber Basil? Ich kann nicht einmal Grosvenor +Square erkennen. Ich vermute, mein Haus ist hier irgendwo in der Nähe, +aber ich bin mir nicht ganz sicher. Es tut mir leid, daß du verreist, +denn ich habe dich ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber ich denke, du +kommst doch bald wieder?« + +»Nein; ich bleibe sechs Monate von England fort. Ich will mir in Paris +ein Atelier mieten und mich darin einschließen, bis ein großes Bild +fertig ist, das ich im Kopf habe. Aber ich wollte nicht über mich reden. +Da sind wir an deiner Tür. Laß mich einen Augenblick mit herein. Ich +habe dir was zu sagen.« + +»Es wird mir eine große Freude sein. Aber versäumst du auch deinen Zug +nicht?« sagte Dorian Gray mit müder Stimme, als er die Treppe +hinaufstieg und die Tür mit seinem Drücker öffnete. + +Das Lampenlicht kämpfte mit dem Nebel, und Hallward sah auf die Uhr. +»Ich habe noch eine Menge Zeit«, antwortete er. »Der Zug geht zwölf Uhr +fünfzehn, und es ist eben elf. Offen gesagt, ich war gerade auf dem Weg +in den Klub, um dich zu suchen, als ich dich traf. Mein Gepäck wird +mich, wie du siehst, nicht sehr aufhalten, weil ich die schweren Sachen +vorausgeschickt habe. Hier in der Tasche ist alles, was ich mitnehme, +und nach Victoria Station kann ich bequem in zwanzig Minuten kommen!« + +Dorian sah ihn lächelnd an. »Für einen berühmten Maler eine merkwürdige +Art, zu reisen! Eine Handtasche und ein Ulster! Komm herein, sonst +dringt der Nebel ins Haus! Und bitte, sprich über nichts Ernsthaftes mit +mir. Nichts ist heutzutage ernsthaft. Wenigstens sollte es nichts sein.« + +Hallward schüttelte den Kopf als er eintrat, und folgte Dorian ins +Bibliothekzimmer. Dort brannte in dem offenen Kamin ein helles +Holzfeuer. Die Lampen waren angezündet, und ein offenstehender +holländischer Likörkasten aus Silber stand nebst ein paar +Sodawassersiphons und großen geschliffenen Gläsern auf einem eingelegten +Tischchen. + +»Du siehst, dein Diener hat es mir gemütlich gemacht, Dorian. Er hat mir +alles gegeben, was ich brauchte, sogar deine besten Zigaretten mit +Goldmundstück. Es ist ein recht gastfreundlicher Mensch. Ich mag ihn +viel lieber als den Franzosen, den du vor ihm hattest. Was ist übrigens +aus dem Franzosen geworden?« + +Dorian zuckte die Achseln. »Ich glaube, er hat Lady Radleys +Kammermädchen geheiratet und sie in Paris als englische Schneiderin +etabliert. Ich höre, daß Anglomanie zurzeit drüben sehr Mode ist. +Scheint mir recht töricht von den Franzosen, nicht wahr? Aber -- weißt +du noch? -- er war wirklich kein schlechter Bedienter. Ich mochte ihn +zwar auch nie so recht leiden, aber er gab mir keinen Grund zur Klage. +Man bildet sich oft Dinge ein, die ganz sinnlos sind. Er war mir +wirklich sehr ergeben und schien ganz traurig, als er wegging. Willst du +noch einen Kognak und Soda? Oder lieber Wein mit Selter? Ich nehme immer +Wein mit Selter. Es ist gewiß etwas im Nebenzimmer.« + +»Danke, ich nehme nichts mehr«, sagte der Maler, legte Mütze und +Überrock ab und warf sie auf die Reisetasche, die er in die Zimmerecke +gestellt hatte. »Und jetzt, lieber Freund, möchte ich mit dir mal +ernsthaft sprechen. Du mußt nicht so böse aussehen. Du machst es mir +dadurch nur schwerer.« + +»Was soll das alles?« rief Dorian, offen seine Verdrießlichkeit zeigend +und warf sich auf das Sofa. »Ich hoffe, es handelt sich nicht um mich. +Ich habe heute abend genug von mir. Ich wünschte, ich wäre ein anderer.« + +»Es handelt sich um dich,« antwortete Hallward mit seiner ernsten, +tiefen Stimme, »und ich muß es dir sagen. Ich werde dich kaum ein halbes +Stündchen aufhalten.« + +Dorian seufzte und steckte sich eine Zigarette an. »Ein halb Stündchen«, +flüsterte er. + +»Das ist nicht viel von dir verlangt, Dorian, und ich spreche wirklich +nur zu deinem Besten. Ich halte es für angebracht, daß du endlich die +schrecklichen Dinge erfährst, die über dich in London geredet werden.« + +»Ich will nicht das mindeste davon wissen. Ich habe Tratsch über andere +Leute recht gern, aber Tratsch über mich interessiert mich ganz und gar +nicht. Es hat nicht mal den Reiz der Neuheit.« + +»Es muß dich interessieren, Dorian. Jeder anständige Mensch ist an +seinem guten Ruf interessiert. Du darfst doch nicht die Leute von dir +reden lassen, wie von einem gesunkenen und abscheulich lasterhaften +Menschen. Natürlich hast du deine Stellung, deinen Reichtum und all +dergleichen. Aber Stellung und Reichtum sind nicht alles. Auf mein Wort, +ich glaube von diesen Gerüchten nichts. Wenigstens kann ich ihnen nicht +glauben, wenn ich dich sehe. Die Sünde steht jedem Menschen auf der +Stirn geschrieben. Man kann sie nicht verhehlen. Die Menschen schwatzen +manchmal von geheimen Lastern. So etwas gibt es nicht. Wenn ein +unseliger Mensch ein Laster hat, so zeigt sichs in den Linien seines +Mundes, in seinen herabgesunkenen Augenlidern, selbst in der Form seiner +Hände. Jemand -- ich will seinen Namen nicht nennen, aber du kennst ihn +-- kam voriges Jahr zu mir und wollte sich malen lassen. Ich hatte ihn +nie vorher gesehen und damals nie etwas von ihm gehört, seitdem aber hat +man mir eine Menge von ihm erzählt. Er bot mir einen fabelhaften Preis +an. Ich habe abgelehnt. An der Form seiner Finger war etwas, das mir +ekelhaft war. Jetzt weiß ich, daß ich mit meiner Vermutung über ihn ganz +recht hatte. Sein Leben ist fürchterlich. Aber von dir, Dorian, mit +deinem reinen, leuchtenden, unschuldigen Gesicht und deiner wunderbaren +unberührten Jugend -- ich kann nicht das Häßliche glauben, das man gegen +dich vorbringt. Und doch, ich sehe dich jetzt so selten, und du kommst +gar nicht mehr in mein Atelier, und wenn ich nicht mit dir zusammen bin +und alle die abscheulichen Dinge höre, die sich die Leute über dich +zuflüstern, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Woher kommt es, +Dorian, daß ein Mann wie der Herzog von Berwick aufsteht und das +Klubzimmer verläßt, wenn du eintrittst? Warum wollen so viele Männer in +London nicht zu dir kommen und dich niemals zu sich einladen? Du warst +doch mit Lord Staveley befreundet. Ich traf ihn vorige Woche bei einem +Diner. Dein Name tauchte zufällig im Gespräch in Verbindung mit den +Miniaturen auf, die du der Dudley-Ausstellung hergeliehen hast. Staveley +verzog die Lippen und sagte, es mag ja sein, daß du einen äußerst +künstlerischen Geschmack habest, aber du seist ein Mann, den kein reines +Mädchen kennenlernen solle und mit dem keine anständige Frau im selben +Zimmer sein dürfe. Ich gab ihm zu verstehen, daß ich dein Freund sei, +und fragte ihn, was er damit meine. Er sagte es mir. Er sagte es mir vor +allen Leuten geradeheraus. Es war scheußlich! Warum ist deine +Freundschaft für junge Männer solch ein Unglück? Da war der unselige +Bursch in der Leibgarde, der Selbstmord begangen hat. Du warst sein +bester Freund. Da war Sir Henry Ashton, der England mit einem besudelten +Namen verlassen mußte. Du und er, ihr beide wart unzertrennlich. Wie ist +es mit Adrian Singleton bestellt und seinem furchtbaren Ende? Was war +das mit dem einzigen Sohn Lord Kents und seiner Karriere? Ich traf +seinen Vater gestern in St. James Street. Er schien vor Schande und +Herzleid gebrochen. Was hattest du mit dem jungen Herzog von Perth? Was +für ein Leben führt er jetzt? Welcher Gentleman wollte noch mit ihm +Umgang haben?« + +»Hör auf, Basil, du sprichst von Dingen, von denen du nichts weißt«, +sagte Dorian Gray, der sich auf die Lippen biß und in seine Stimme einen +Ton unsäglicher Verachtung legte. »Du fragst mich, warum Berwick aus dem +Zimmer geht, wenn ich eintrete. Er tut das, weil ich sein Leben durch +und durch kenne, nicht weil er etwas von mir wüßte. Wie könnte er bei +dem Blut, das in seinen Adern rollt, nicht viel auf dem Kerbholz haben? +Du fragst mich nach Henry Ashton und dem jungen Perth. Habe ich dem +einen seine Laster, dem anderen seine Ausschweifungen beigebracht? Wenn +sich Kents schwachköpfiger Sohn sein Weib von der Straße holt, was gehts +mich an? Wenn Adrian Singleton den Namen seines Freundes auf einen +Wechsel schreibt, bin ich sein Hüter? Ich weiß, wie die Leute in England +klatschen. Die Mittelklassen spreizen sich bei ihren endlosen Diners mit +ihren moralischen Vorurteilen und munkeln von etwas, das sie die +Ausschweifungen derer nennen, denen es besser geht, und um sich damit zu +brüsten, daß sie in der feinen Gesellschaft verkehren und intim mit den +Leuten sind, die sie durchhecheln. Bei uns zulande genügt es, daß einer +Vornehmheit und Geist hat, damit sich jede gemeine Zunge an ihm wetzt. +Und was für eine Art Leben führen denn diese Menschen selber, die sich +so auf die Moral hinausspielen? Mein lieber Junge, du vergißt, daß wir +in der Heimat der Heuchelei leben.« + +»Dorian,« rief Hallward, »darum handelt sich's nicht. Wie schlecht es um +England bestellt ist, weiß ich selbst und wie die englische Gesellschaft +verrottet ist. Gerade deshalb wünsche ich, daß du gut bleibst. Du bist +nicht gut geblieben. Man hat ein Recht darauf, einen Menschen nach der +Wirkung zu beurteilen, die er auf seine Freunde ausübt. Deine Freunde +scheinen alles Gefühl für Ehre, für Anstand, für Reinheit zu verlieren. +Du hast sie mit einer wahnsinnigen Genußsucht erfüllt. Sie sind tief +gesunken. Ja: und du hast sie da hinabgeführt, und doch kannst du +lächeln, und du lächelst jetzt noch. Und es gibt noch viel Schlimmeres. +Ich weiß, du und Harry seid unzertrennlich. Schon aus diesem Grunde, +wenn aus keinem anderen, hättest du den Namen seiner Schwester nicht zum +Spott machen dürfen!« + +»Nimm dich in acht, Basil. Du gehst zu weit.« + +»Ich muß sprechen, und du mußt mich hören. Als du Lady Gwendolen +kennenlerntest, hatte sie noch nicht der leiseste Hauch übler Nachrede +berührt. Gibt es jetzt eine einzige anständige Frau in London, die mit +ihr im Park spazieren fahren würde? Ja, nicht einmal ihre Kinder dürfen +bei ihr wohnen. Dann gibt es andere Geschichten -- Geschichten, daß man +dich gesehen hat, wie du in der Dämmerung aus schrecklichen Häusern +herausgeschlichen bist, daß du dich verkleidet in den niederträchtigsten +Kneipen Londons herumtreibst. Ist das wahr? Kann das wahr sein? Als ich +das erstemal so etwas hörte, lachte ich. Jetzt höre ich es mit +Schaudern. Wie steht es mit deinem Landhause und dem Leben, das dort +geführt wird? Dorian, du weißt nicht, was man über dich spricht. Ich +will dir das nicht vorhalten, ich will dir keine Predigt halten. Ich +erinnere mich, daß Harry einmal gesagt hat, jeder Mensch, der sich als +Moralprediger versuchen will, fängt damit an, daß er sagt, er wolle +nicht predigen und dann sein Wort bricht. Ich will dir also eine Predigt +halten. Ich möchte dich ein solches Leben führen sehen, daß die Welt +Achtung vor dir haben soll. Ich will, daß du einen reinen Namen und +einen guten Ruf hast. Ich will, daß du dich von den gräßlichen Menschen +losmachst, mit denen du jetzt fraternisierst. Zucke nicht mit den +Achseln. Sei nicht so gleichgültig. Du hast einen mächtigen Einfluß. Laß +ihn zum Guten und nicht zum Bösen wirken. Man sagt, du verderbest jeden +Menschen, mit dem du intim wirst, und es sei völlig hinreichend, daß du +ein Haus betrittst, damit dir Schande irgendeiner Art auf dem Fuße +folge. Ich weiß nicht, ob dem so ist oder nicht. Wie sollte ich's auch +wissen? Aber man sagte es von dir. Man sagte mir Dinge, die ich +unmöglich länger anzweifeln kann. Lord Gloucester war einer meiner +liebsten Freunde in Oxford. Er hat mir den Brief gezeigt, den ihm seine +Frau geschrieben hat, als sie allein in ihrer Villa in Mentone auf dem +Sterbebette lag. Dein Name war da in die fürchterlichste Beichte +verwickelt, die ich je gelesen habe. Ich sagte ihm, daß es Tollheit +wäre, daß ich dich durch und durch kennte und daß du zu irgend etwas +Derartigem unfähig wärest. Kenne ich dich? Ich frage mich, kenne ich +dich! Bevor ich darauf antworten kann, müßte ich deine Seele sehen.« + +»Meine Seele sehen«, murmelte Dorian Gray, stand vom Sofa auf und wurde +beinah weiß vor Angst. + +»Ja,« antwortete Hallward ernst und ein tiefschmerzlicher Klang zitterte +in seiner Stimme -- »deine Seele sehen. Aber das kann nur Gott.« + +Ein bitter-höhnisches Gelächter brach aus dem Munde des Jüngeren. »Du +sollst sie selbst sehen, noch heute nacht!« rief er aus und nahm eine +Lampe vom Tisch. »Komm: sie ist das Werk deiner eigenen Hand. Warum +solltest du es nicht sehen? Du kannst nachher aller Welt davon erzählen, +wenn du willst. Niemand würde dir glauben. Wenn sie dir glaubten, haben +sie mich deswegen nur um so lieber. Ich kenne unsere Zeit besser als du, +obwohl du darüber so langweilig faseln kannst. Komm, sag' ich dir. Du +hast genug über Verderbnis geschwatzt. Jetzt sollst du sie von Angesicht +zu Angesicht sehen.« + +In jedem Wort, das er sprach, klang der Wahnsinn des Hochmuts. Er +stampfte in seiner knabenhaften, dreisten Art mit dem Fuß auf die +Dielen. Er empfand ein furchtbares Vergnügen bei dem Gedanken, daß ein +anderer jetzt sein Geheimnis teilen solle und daß der Mann, der sein +Bild gemalt hatte, das der Ursprung all seiner Schande war, für den Rest +seines Lebens die Last der gräßlichen Erinnerung an seine Tat mit sich +herumschleppen müsse. + +»Ja,« fuhr er fort und trat näher zu ihm heran und sah ihm fest in die +ernsten Augen, »ich werde dir meine Seele zeigen. Du sollst das Machwerk +sehen, von dem du glaubst, daß es nur Gott sehen kann.« + +Hallward schrak zurück. »Das ist Gotteslästerung, Dorian. Du darfst +nicht solche Dinge sagen. Sie sind schrecklich und unverständig.« + +»Glaubst du?« Er lachte wieder. + +»Ich weiß es. Was ich dir heute abend gesagt habe, hab' ich zu deinem +Besten gesagt. Du weißt, ich war dir immer ein guter Freund.« + +»Werde nur nicht rührselig. Mach' Schluß mit dem, was du noch zu sagen +hast.« + +Ein wehevolles Zucken ging durch das Gesicht des Malers. Er schwieg +einen Augenblick und ein heftiger Mitleidsschmerz überkam ihn. Welches +Recht hatte er schließlich, in Dorian Grays Leben hineinzuspähen? Wenn +er nur den zehnten Teil von dem getan hatte, wovon die Gerüchte gingen, +wie qualvoll mußte er gelitten haben! Dann richtete er sich auf, ging +zum Kamin hinüber und blieb da stehen, versunken in den Anblick der +brennenden Holzscheite, die mit ihrer weißen Asche wie bereift aussahen +und stierte ihre zuckenden Feuerherzen an. + +»Ich warte, Basil«, sagte der junge Mann mit harter, spitzer Stimme. + +Er drehte sich um. »Was ich noch zu sagen habe, ist das«, rief er. »Du +mußt mir eine Antwort geben auf diese fürchterlichen Anklagen, die gegen +dich erhoben werden. Wenn du mir sagst, daß sie von Anfang bis zu Ende +unwahr sind, werde ich dir glauben. Leugne sie ab, Dorian, leugne sie +ab! Kannst du nicht sehen, was ich durchmache? Mein Gott, sage mir +nicht, daß du schlecht und verderbt und schändlich bist!« + +Dorian Gray lächelte. Seine Lippen krausten sich in Verachtung. »Komm +hinauf, Basil«, sagte er ruhig. »Ich führe da ein Tagebuch meines +Lebens, Tag für Tag, und es verläßt niemals das Zimmer, in dem es +geschrieben wird. Ich will es dir zeigen, wenn du mit mir kommst.« + +»Ich komme mit, Dorian, wenn du es haben willst. Ich sehe, daß ich +meinen Zug versäumt habe. Das tut nichts. Ich kann morgen fahren. Aber +verlange nicht von mir, daß ich heute nacht noch etwas lese. Was ich +will, ist eine klare Antwort auf meine Frage.« + +»Die soll dir oben zuteil werden. Ich kann sie dir hier nicht geben. Du +wirst nicht lange zu lesen haben.« + + + + +Dreizehntes Kapitel + + +Er verließ das Zimmer und begann die Treppe hinaufzugehen, Basil +Hallward folgte dicht hinter ihm. Sie gingen leise, wie man es bei Nacht +instinktiv tut. Die Lampe warf phantastische Schatten auf Wand und +Treppe. Im Winde, der sich erhoben hatte, klirrten einige Fenster. + +Als sie den obersten Absatz erreicht hatten, stellte Dorian die Lampe +auf den Boden, nahm den Schlüssel heraus und schloß auf. »Du bestehst +auf einer Antwort, Basil?« fragte er mit gedämpfter Stimme. + +»Ja.« + +»Das freut mich«, antwortete er lächelnd. Dann fügte er ziemlich scharf +hinzu: »Du bist der einzige Mensch in der Welt, der alles über mich +wissen darf. Du hast mehr mit meinem Leben zu schaffen gehabt, als du +dir denkst«, und damit nahm er die Lampe auf, öffnete die Tür und trat +ein. Ein kalter Luftzug strich an ihnen vorbei, und das Licht zuckte +einen Augenblick in einer düstern Orangefarbe auf. Er schauderte. +»Schließe die Tür hinter dir«, flüsterte er, während er die Lampe auf +den Tisch stellte. + +Hallward blickte erstaunt umher. Das Zimmer sah aus, als wär' es seit +langen Jahren nicht bewohnt worden. Ein fadenscheiniger flämischer +Gobelin, ein verhängtes Bild, ein alter italienischer Cassone und ein +fast leerer Bücherschrank -- das war außer einem Stuhl und einem Tisch +alles, was darin zu sein schien. Als Dorian Gray eine halb abgebrannte +Kerze, die auf dem Kamin stand, angezündet hatte, sah der Maler, daß der +ganze Raum mit Staub bedeckt und der Teppich zerfetzt und durchlöchert +war. Eine Maus lief erschreckt hinter die Täfelung. Ein dumpfer +Modergeruch machte sich bemerkbar. -- + +»Du glaubst also, daß Gott allein die Seele sieht, Basil? Zieh den +Vorhang zurück, und du wirst die meine sehen.« + +Die Stimme, die das sprach, klang kalt und grausam. + +»Du bist wahnsinnig, Dorian, oder spielst Komödie«, sagte Hallward und +runzelte die Stirn. + +»Du willst nicht? Dann muß ich es selbst tun«, sagte der junge Mann, und +riß den Vorhang von seiner Stange und schleuderte ihn zu Boden. + +Ein Entsetzensschrei kam von den Lippen des Malers, als er in der +düsteren Beleuchtung das gräßliche Gesicht auf der Leinwand erblickte, +das ihm entgegengrinste. In seinem Ausdruck war etwas, das ihn mit Ekel +und Abscheu erfüllte. Gott im Himmel! Es war Dorian Grays eigenes +Antlitz, das er sah! Das Schreckliche, was es auch sein mochte, hatte +die wundervolle Schönheit noch nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold +in dem gelichteten Haar und etwas Purpur auf dem sinnlichen Mund. Die +stumpfgewordenen Augen hatten noch etwas von ihrem lieblichen Blau +behalten, der edle Schwung der Linien um die feingewölbten Nasenflügel +und den plastischen Hals war noch nicht ganz verschwunden. Ja, es war +Dorian selbst. Aber wer hatte das gemalt? Er glaubte, das Werk seines +eigenen Pinsels zu erkennen, und der Rahmen war von ihm selbst +gezeichnet. Die Vorstellung war ungeheuerlich, und doch fürchtete er +sich. Er nahm die brennende Kerze und hielt sie nahe an das Bild. In der +linken Ecke stand ein Name in langen, hellroten Lettern. + +Es war irgendeine infame Parodie, eine niederträchtige, elende Satire. +Er hatte das niemals gemalt. Und doch, es war sein eigenes Bild. Er +wußte es und ihm war, als ob sich sein Blut in einem Augenblick aus +Feuer in starrendes Eis verwandelt hätte. Sein eigenes Bild! Was sollte +das heißen? Warum hatte es sich verändert? Er drehte sich um und sah +Dorian Gray mit krankhaften Augen an. Sein Mund zuckte, seine trockne +Zunge schien jedes Lautes ganz unfähig zu sein. Er fuhr sich mit der +Hand über die Stirn. Kühle Schweißperlen standen darauf. + +Der junge Mann lehnte gegen den Kamin und beobachtete ihn mit dem +merkwürdigen Ausdruck, den man auf den Gesichtern von Menschen sieht, +die von dem Spiel eines großen Schauspielers hingerissen sind. In seinem +Gesicht war weder wirklicher Schmerz noch wirkliche Freude. Da war nur +die Leidenschaft des Zuschauers und höchstens in den Augen flackerte ein +triumphierendes Leuchten. Er hatte die Blume aus seinem Knopfloch +genommen und roch daran oder tat mindestens so. + +»Was bedeutet das?« rief Hallward endlich. Seine eigene Stimme klang ihm +schrill und fremd in die Ohren. + +»Vor vielen Jahren, als ich noch ein Knabe war,« sagte Dorian Gray, +während er die Blume in seiner Hand zerdrückte, »hast du mich +kennengelernt, hast mir geschmeichelt und mich gelehrt, auf meine +Schönheit eitel zu sein. Eines Tages stelltest du mich einem deiner +Freunde vor, der mir das Wunder der Jugend erklärte, und damals +beendetest du ein Porträt von mir, das mir das Wunder der Schönheit +offenbarte. In einem Augenblick des Wahnsinns, und ich weiß noch jetzt +nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht, sprach ich einen Wunsch aus, +vielleicht würdest du es ein Gebet nennen.« + +»Ich erinnere mich! Oh, wie gut erinnere ich mich! Nein! so etwas ist +unmöglich. Das Zimmer ist feucht. Die Leinwand ist stockig geworden. In +den Farben, die ich verwandte, war irgendein mineralisches Gift +enthalten. Ich sage dir, so etwas ist unmöglich.« + +»Pah, was ist unmöglich?« murmelte der junge Mann, ging zum Fenster und +preßte seine Stirn an die kalte, nebelfeuchte Scheibe. + +»Du sagtest mir, du hättest es zerstört.« + +»Ich habe mich geirrt. Es hat mich zerstört.« + +»Ich kann's nicht glauben, daß es mein Bild ist.« + +»Kannst du dein Ideal nicht darin erkennen?« fragte Dorian bitter. + +»Mein Ideal, wie du es nennst...« + +»Wie du es nanntest.« + +»Es hatte nichts Schlimmes in sich, nichts Schändliches. Du warst für +mich ein Ideal, wie ich ihm nie wieder begegnen werde. Dies ist das +Gesicht eines Fauns.« + +»Es ist das Gesicht meiner Seele.« + +»Jesus, mein! Was für ein Ding habe ich angebetet! Es hat die Augen +eines Teufels.« + +»Jeder von uns hat Himmel und Hölle in sich, Basil«, rief Dorian mit +einer wilden, verzweifelten Gebärde. + +Hallward wandte sich wieder dem Bilde zu und starrte es an. »Mein Gott! +Es ist wahr,« rief er aus, »und das hast du aus deinem Leben gemacht und +danach also mußt du noch schlechter sein, als die es ahnen, die gegen +dich sprechen.« Er hielt das Licht wieder dicht an die Leinwand und +musterte sie scharf. Die Oberfläche schien ganz unzerstört und so, wie +sie aus seiner Hand gekommen war. Von innen also war die Fäulnis und das +Entsetzliche hervorgedrungen. Durch einen sonderbaren inneren +Zeugungsvorgang fraß der Aussatz der Sünde langsam das ganze Bildnis +hinweg. Die Verwesung eines Leichnams in einem feuchten Grabe konnte +nicht so grauenvoll sein. + +Seine Hand zitterte und die Kerze fiel aus dem Leuchter auf den Boden +und lag rauchend da. Er trat mit dem Fuß darauf und erstickte sie. Dann +warf er sich selbst in den wackligen Stuhl vor dem Tische und vergrub +das Gesicht in seinen Händen. + +»Großer Gott, Dorian, was für eine Lehre! Was für eine furchtbare +Lehre!« Es kam keine Antwort, aber er konnte den jungen Mann am Fenster +schluchzen hören. »Bete, Dorian, bete«, sagte er leise. »Was war es +doch, was man uns in der Kindheit hersagen gelehrt hat? >Führe uns nicht +in Versuchung! Vergib uns unsere Sünden! Nimm unsere Missetat von uns!< +Wir wollen das zusammen aufsagen. Das Gebet deines Stolzes ist erhört +werden. Das Gebet deiner Reue wird auch erhört werden. Ich habe dich zu +sehr geliebt. Ich bin dafür bestraft worden. Du hast dich selbst zu +sehr geliebt. Wir haben beide unsere Strafe.« + +Dorian Gray wandte sich langsam um und sah ihn mit tränenschimmernden +Augen an. »Es ist zu spät, Basil«, flüsterte er. + +»Es ist nie zu spät, Dorian. Wir wollen niederknien und versuchen, ob +wir uns nicht an ein Gebet erinnern können. Steht nicht irgendwo ein +Vers: >Und wären deine Sünden wie Scharlach, ich will sie weiß machen +wie Schnee?<« + +»Solche Worte haben für mich keinen Sinn mehr.« + +»Still! Sage nicht so etwas. Du hast genug Böses getan im Leben. Mein +Gott! Siehst du nicht, wie uns das fürchterliche Ding anstiert?« + +Dorian Gray blickte nach dem Bild, und plötzlich überkam ihn ein +unbezwingliches Haßgefühl auf Basil Hallward, als sei er ihm von dem +Bildnis auf der Leinwand eingeflößt, von diesen grinsenden Lippen in +sein Ohr gewispert worden. Die wilde Zornwut eines gehetzten Tieres +kochte in ihm, und er haßte den Mann, der da an dem Tisch saß, mehr als +er in seinem ganzen Leben irgend etwas gehaßt hatte. Er spähte wild um +sich. Auf der Platte der bemalten Truhe, die ihm gegenüberstand, +glitzerte etwas. Sein Blick fiel darauf. Er erkannte, was es war. Ein +Messer war's, das er vor einigen Tagen mit hinaufgenommen hatte, um ein +Stück Schnur zu durchschneiden, und das er wieder mit herunterzunehmen +vergessen hatte. Er ging langsam darauf zu und mußte dabei an Hallward +vorüber. Sobald er hinter ihm stand, ergriff er das Messer und drehte +sich um. Hallward rührte sich in seinem Stuhl, als wollte er soeben +aufstehen. Er stürzte sich auf ihn und bohrte ihm das Messer tief in die +Schlagader hinter dem Ohr, preßte den Kopf des Mannes auf den Tisch +herunter und stieß immer und immer wieder zu. + +Man hörte ein unterdrücktes Röcheln und den fürchterlichen Ton eines +Menschen, der in seinem Blut erstickt. Dreimal schlugen die krampfhaft +ausgestreckten Arme um sich, und die Hände fuhren mit eigentümlich +steifen Fingern durch die Luft. Er stieß noch zweimal zu, aber der Mann +rührte sich nicht mehr. Etwas begann auf den Boden zu tröpfeln. Er +wartete einen Augenblick und drückte den Kopf immer noch nach unten. +Dann warf er das Messer auf den Tisch und horchte. + +Er konnte nichts hören, als das Tropf-Tropf auf den fadenscheinigen +Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis an den Treppenabsatz. Das Haus +war vollständig ruhig. Niemand war wach. Über das Geländer gebeugt, +stand er ein paar Augenblicke da und forschte hinab in den schwarzen +brodelnden Schacht von Dunkelheit. Dann zog er den Schlüssel ab, ging in +das Zimmer zurück und schloß sich darin ein. + +Das Wesen saß noch immer in dem Stuhl und hing mit gebeugtem Kopf und +gekrümmtem Rücken und langen phantastischen Armen über den Tisch. Wäre +nicht der rote, klaffende Riß im Nacken gewesen und die dunkle, +geronnene Lache, die sich nach und nach auf dem Tisch vergrößerte, so +hätte man glauben können, der Mann schlafe nur. + +Wie schnell das alles geschehen war! Er fühlte sich merkwürdig ruhig, +ging zur Balkontür, öffnete sie und trat hinaus. Der Wind hatte die +Nebeltücher auseinandergeblasen, und der Himmel sah aus wie der Schweif +eines ungeheuren Pfaus, der mit Myriaden goldener Augen bestirnt war. Er +blickte hinab und sah, wie der Polizist seine Runde machte und das lange +Streiflicht seiner Laterne über die Türen der schweigsamen Häuser +gleiten ließ. Das rotgelbe Licht einer vorbeitrödelnden Droschke glomm +an der Straßenecke auf und verschwand wieder. Ein Weib in einem +flatternden Kopftuch schob sich langsam am Gitter des Platzes vorbei und +taumelte im Gehen. Dann und wann stand sie still und sah zurück. Auf +einmal begann sie mit heiserer Stimme zu singen. Der Schutzmann +schlenderte über den Damm her und sagte etwas zu ihr. Sie humpelte +lachend weiter. Ein scharfer Luftzug fegte über den Platz. Die +Gasflammen zuckten und wurden blau, und die entlaubten Bäume schüttelten +ihr schwarzes Geäste hin und her, das wie ein Eisengeflecht aussah. Ihn +fröstelte und er trat, das Fenster schließend, wieder zurück. + +Als er bei der Türe war, drehte er den Schlüssel und öffnete sie. Er +blickte den Ermordeten mit keinem Blicke mehr an. Er empfand, daß das +Geheimnis der ganzen Sache darin beruhe, sich die Sachlage nicht zu +vergegenwärtigen. Der Freund, der das verhängnisvolle Bild gemalt hatte, +von dem all sein Elend herrührte, war aus seinem Leben verschwunden. Das +war genug. + +Dann fiel ihm die Lampe ein. Es war eine ziemlich merkwürdige maurische +Arbeit, mattes Silber mit eingelegten Arabesken aus dunkelpoliertem +Stahl und besetzt mit ungeschliffenen Türkisen. Sie mochte vielleicht +von seinem Diener vermißt werden und er könnte danach fragen. Er +zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück und nahm sie vom Tisch. +Dabei mußte er die tote Gestalt sehen. Wie ruhig sie war! Wie furchtbar +weiß die langen Hände aussahen! Es schien eine gräßliche Wachsfigur zu +sein. + +Er schloß die Türe hinter sich und schlich langsam die Treppe hinunter. +Das Holz knarrte und schien wie vor Schmerz aufzustöhnen. Er blieb +einige Male stehen und wartete. Nein, alles war still. Er hörte nur den +Widerhall seiner eigenen Schritte. + +Als er in seinem Bibliothekszimmer war, erblickte er die Tasche und den +Rock in der Ecke. Die mußten irgendwo verborgen werden. Er öffnete einen +Geheimschrank, der in der Holztäfelung war, in dem er seine eigenen +Verkleidungen aufbewahrte, und schob die Sachen hinein. Er konnte sie +später leicht einmal verbrennen. Dann zog er seine Uhr. Es war zwanzig +Minuten vor zwei. + +Er setzte sich und begann nachzudenken. Jahr für Jahr -- fast jeden +Monat -- werden in England Leute gehenkt für so etwas, wie er soeben +getan hatte. Irgendeine wahnwitzige Mordlust hatte in der Luft gelegen. +Irgendein blutroter Stern war der Erde zu nahe gekommen... Und doch, wie +wollte man es ihm beweisen? Basil Hallward hatte das Haus um elf Uhr +verlassen. Niemand hatte ihn noch einmal wiederkommen sehen. Die meisten +Diener waren in Selby Royal. Sein eigener Diener war schlafen +gegangen... Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren, und zwar mit dem +Mitternachtszug, wie es seine Absicht gewesen war. Bei seinen +merkwürdigen Gewohnheiten, sich zurückzuziehen, würden Monate vergehen, +bevor irgendein Verdacht entstehen würde. Monate! Alle Spuren konnten +lange vorher getilgt sein. + +Ein plötzlicher Einfall durchzuckte ihn. Er zog seinen Pelz an, setzte +seinen Hut auf und ging in die Vorhalle hinaus. Dort blieb er stehen, +weil er den langsamen, schweren Tritt des Schutzmanns draußen auf dem +Pflaster hörte und den tanzenden Widerschein seiner Blendlaterne im +Türfenster sah. Er wartete und hielt den Atem an. + +Nach einigen Augenblicken schob er den Riegel zurück und schlüpfte +hinaus, das Tor ganz leise hinter sich schließend. Dann zog er die +Klingel. Nach etwa fünf Minuten erschien sein Diener, halb angezogen und +sehr verschlafen. + +»Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis«, sagte er +eintretend und ging die Stufen hinauf; »aber ich habe meinen +Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?« + +»Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr«, sagte der Mann mit einem +blinzelnden Blick auf die Uhr. + +»Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie müssen mich morgen um +neun Uhr wecken. Ich habe zu tun.« + +»Zu Befehl, gnädiger Herr.« + +»War jemand heute abend hier?« + +»Herr Hallward, gnädiger Herr. Er hat hier bis elf Uhr gewartet und ging +dann, um seinen Zug nicht zu versäumen.« + +»Es tut mir leid, daß ich ihn nicht getroffen habe. Sollen Sie mir etwas +bestellen?« + +»Nein, gnädiger Herr, nur, daß er von Paris schreiben würde, wenn er Sie +im Klub nicht treffen sollte.« + +»Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen um neun zu +wecken.« + +»Nein, gnädiger Herr!« + +Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln durch den Torweg die +Dienertreppe hinab. + +Dorian Gray warf Hut und Stock auf den Tisch und trat ins Bücherzimmer. +Eine Viertelstunde lang ging er auf und ab, biß sich auf die Lippen und +grübelte. Dann nahm er das blaue Adreßbuch von einem Regal und begann zu +blättern. »Alan Campbell, Hertford Street 152, Mayfair.« Ja, das war der +Mann, den er brauchte. + + + + +Vierzehntes Kapitel + + +Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener mit einer Tasse +Schokolade auf einem Servierbrett herein und öffnete die Fensterläden. +Dorian lag auf der rechten Seite, eine Hand unter seiner Wange und +schlief ganz friedlich. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder +Lernen müde geworden ist. + +Der Mann mußte ihn zweimal an der Schulter berühren, bevor er aufwachte, +und als er die Augen öffnete, huschte ein leichtes Lächeln über seine +Lippen, als wäre er von einem entzückenden Traum befangen gewesen. Aber +er hatte gar nicht geträumt. Seine Nacht war weder von Bildern der +Freude noch des Grauens gestört worden. Doch die Jugend lächelt ohne +Grund. Das ist einer ihrer besonderen Reize. + +Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann seine +Schokolade zu schlürfen. Die matte Novembersonne strömte in das Zimmer. +Der Himmel war wolkenlos, eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war +fast wie ein Maimorgen. + +Allmählich schlichen die Vorgänge der vergangenen Nacht auf lautlosen, +blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn und bauten sich dort mit +furchtbarer Deutlichkeit wieder auf. Er erschauerte bei dem Gedächtnis +an alles, was er durchlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte in +ihm derselbe sonderbare Haß auf Basil Hallward zurück, der ihn dazu +getrieben hatte, ihn zu töten, als er im Stuhl saß, er wurde kalt vor +Wut. Der Tote saß noch immer da oben und jetzt dazu im Sonnenlicht. Wie +schrecklich das war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit, +nicht an den Tag. + +Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig würde, wenn er über das brütete, +was er hinter sich hatte. Es gibt Sünden, deren Reiz mehr in der +Erinnerung liegt als in der Begehung, seltsame Siege, die mehr dem Stolz +Genüge tun als der Leidenschaft und die dem Geist ein Lustgefühl geben, +das stärker ist als jede Wonne, die sie Sinnen verschaffen oder jemals +verschaffen können. Aber diesmal war es keine von diesen. Dies war eine, +die man aus dem Geiste verjagen, die man mit einem Opiat vergiften, die +man ersticken mußte, da sie einen sonst selbst ersticken würde. + +Als es halb schlug, fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, stand dann +rasch auf und zog sich beinahe mit noch größerer Sorgfalt an, als +gewöhnlich, indem er die größte Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner +Krawatte und seiner Nadel verwandte und seine Ringe mehr als einmal +wechselte. Er verbrachte auch beim Frühstück längere Zeit, kostete von +den verschiedenen Gerichten, sprach mit seinem Bedienten über neue +Livreen, die er der Dienerschaft in Selby machen lassen wollte, und sah +seine Briefschaften durch. Bei einigen Zuschriften lächelte er. Drei +ödeten ihn an. Einen Brief las er mehrmals durch und zerriß ihn dann mit +einem leichten Ärger in seinen Mienen. »Was für ein gräßliches Ding das +Gedächtnis einer Frau ist«, hatte Lord Henry einmal gesagt. + +Als er seine Schale schwarzen Kaffee getrunken hatte, trocknete er die +Lippen langsam an seiner Serviette ab, gab dem Diener ein Zeichen zu +warten, ging zum Schreibtisch hinüber, setzte sich und schrieb zwei +Briefe. Einen steckte er in die Tasche, den anderen reichte er dem +Diener. + +»Bringen Sie den nach Hertford Street 152, Francis, und wenn Herr +Campbell nicht in der Stadt ist, lassen Sie sich seine Adresse geben.« + +Sobald er allein war, zündete er sich eine Zigarette an und begann auf +einem Blatt Papier Skizzen zu machen, zeichnete zuerst Blumen, dann +Architekturstücke und dann menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er, +daß jedes Gesicht, das er entwarf, eine phantastische Ähnlichkeit mit +Basil Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf, ging +zum Bücherschrank und nahm auf gut Glück einen Band heraus. Er war fest +entschlossen, an das Geschehene nicht eher zu denken, als bis es +unbedingt notwendig war. + +Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf den Titel des +Buches. Es waren Gautiers »~Emaux et Camées~«, Charpentiers Ausgabe auf +japanischem Papier, mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus +zitronengelbem Leder mit einem Blinddruckmuster von goldenem Laubwerk +und Granatäpfeln in Punktmanier. Es war ein Geschenk Adrian Singletons. +Als er darin blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand +Lacenaires, die kalte gelbe Hand »~du supplice encore mal lavée~«, mit +ihren rötlichen Flaumhärchen und ihren »~doigts de faune~«. Er blickte +auf seine eigenen weißen, spitzen Finger, schauderte unwillkürlich +zusammen, las dann weiter, bis er zu den lieblichen Versen auf Venedig +kam. + + ~Sur une gamme chromatique, + Le sein de perles ruisselant, + La Vénus de l'Adriatique + Sort de l'eau son corps rose et blanc. + + Les dômes, sur l'azur des ondes + Suivant la phrase au pur contur, + S'enflent comme des gorges rondes + Que soulève un soupir d'amour. + + L'esquif aborde et me dépose, + Jetant son amarre au pilier, + Devant une façade rose, + Sur le marbre d'un escalier.~ + +Wie entzückend die Verse waren! Wenn man sie las, hatte man die +Empfindung, durch die grünen Wasserstraßen dieser rot- und perlfarbigen +Stadt zu gleiten, in einer schwarzen Gondel mit silbernem Schnabel und +schleppenden Vorhängen. Schon die Zeilen sahen so aus wie die geraden, +türkisblauen Kiellinien, die einem folgten, wenn man nach dem Lido +hinausrudert. Die plötzlichen Farbenblitze erinnerten ihn an den +Schimmer jener Vögel mit opal- und regenbogenfarbenen Hälsen, die um den +schlanken, wabenartig durchlöcherten Kampanile flattern oder mit +prächtiger Anmut durch die düstern, staubigen Arkaden trippeln. +Zurückgelehnt mit halb geschlossenen Augen sagte er immer und immer +wieder zu sich: -- + + ~Devant une façade rose, + Sur le marbre d'un escalier.~ + +Das ganze Venedig war in diesen zwei Versen enthalten. Er dachte an den +Herbst, den er dort verbracht hatte, und eine himmlische Liebelei, die +ihn zu wahnsinnigen, entzückenden Torheiten getrieben hatte. Es gab +Romantik in jedem Erdenwinkel. Aber Venedig hatte noch wie Oxford den +Hintergrund für Romantik bewahrt, und für den wahren Romantiker ist der +Hintergrund alles oder fast alles. Basil war einen Teil der Zeit bei ihm +gewesen und war ganz wild vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme +Basil! Was für eine schreckliche Art, so zu sterben! + +Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen. Er las von +den Schwalben, die aus- und einfliegen in dem kleinen Café zu Smyrna, wo +die Hadjis sitzen und ihre Bernsteinperlen durch die Hand laufen lassen, +und wo die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten Pfeifen +rauchen und ernsthaft miteinander sprechen: er las von dem Obelisk auf +der Place de la Concorde, der in seiner vereinsamten, sonnenlosen +Verbannung granitene Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen, +lotosbedeckten Nil, wo die Sphinxe sind, und rosenrote Ibisse und weiße +Geier mit goldenen Klauen und Krokodile mit kleinen Beryllaugen, die +durch den grünen, dampfenden Schlamm dahinkriechen: er fing an, den +Versen nachzusinnen, die ihre Musik aus Marmor locken, der von Küssen +fleckig geworden ist, und die uns von der sonderbaren Statue erzählen, +die Gautier einer Altstimme vergleicht, von dem »~monstre charmant~«, +das in dem Porphyrsaal des Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel +seinen Händen das Buch. Er wurde nervös, und ein gräßlicher Angstanfall +schüttelte ihn. Was nun tun, wenn Alan Campbell nicht in England war? +Tage könnten möglicherweise verstreichen, bevor er zurückkäme. +Vielleicht weigerte er sich, zu kommen. Was sollte er dann tun? Jeder +Augenblick war von tödlicher Bedeutung. + +Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf Jahren -- sogar fast +unzertrennlich. Dann hatte die Intimität plötzlich ein Ende. Wenn sie +sich jetzt in Gesellschaft trafen, war es nur noch Dorian Gray, der da +lächelte, niemals Alan Campbell. + +Er war ein außerordentlich begabter junger Mann, wenn er auch kein +eigentliches Verhältnis zu den sichtbaren Künsten hatte, und der geringe +Sinn für Poesie, den er besaß, vollständig von Dorian herrührte. Die +geistige Leidenschaft, die ihn beherrschte, erstreckte sich nur auf die +Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil seiner Zeit mit +Arbeiten im Laboratorium verbracht und hatte sein Examen in den +Naturwissenschaften mit vorzüglich bestanden. Noch jetzt war er dem +Studium der Chemie ergeben und hatte ein eigenes Laboratorium, in das er +sich häufig den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum großen Kummer +seiner Mutter, die sich darauf verbissen hatte, daß er für das Parlament +kandidieren sollte, und die eine unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker +sei ein Mensch, der Rezepte anfertige. Indessen war er ein +ausgezeichneter Musiker und spielte Geige und Klavier besser als die +meisten Dilettanten. Die Musik war es denn auch wirklich, die Dorian +Gray und ihn zueinander gebracht hatte -- die Musik und die +unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian ausüben konnte, wenn er +wollte, und auch oft ausübte, ohne es zu wissen. Sie hatten sich bei +Lady Berkshire an dem Abend kennengelernt, als Rubinstein dort spielte, +und man sah sie von da an immer zusammen in der Oper und überall, wo es +gute Musik gab. Achtzehn Monate dauerte diese Freundschaft. Campbell war +regelmäßig entweder in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie +für viele andere war Dorian Gray die Verkörperung alles dessen, was +wunderbar und bezaubernd im Leben ist. Ob zwischen ihnen ein Streit +vorgefallen war oder nicht, wußte kein Mensch. Aber plötzlich bemerkten +die Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich trafen, und +daß Campbell jede Gesellschaft frühzeitig verließ, in der Dorian +anwesend war. Er war auch verändert -- bisweilen merkwürdig +melancholisch, schien kaum noch Musik hören zu können, spielte nie mehr +selbst und gab, wenn man ihn dazu aufforderte, als Entschuldigung an, +daß ihn die Wissenschaft so stark in Anspruch nähme, daß er keine Zeit +mehr zum Üben habe. Und das war auch der Fall. Er schien jeden Tag mehr +Interesse für biologische Studien zu gewinnen, und sein Name erschien +ein- oder zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung mit +gewissen außergewöhnlichen Experimenten. + +Das war der Mann, auf den Dorian Gray wartete. Jede Sekunde blickte er +auf die Uhr. Als Minute um Minute verstrich, wurde er furchtbar +aufgeregt. Schließlich stand er auf und begann im Zimmer hin und her zu +gehen wie irgendeine schöne Bestie im Käfig. Er holte weiten Schrittes, +fast sprunghaft, aus und trat leise auf. Seine Hände waren eigentümlich +kalt. + +Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien ihm mit bleiernen Füßen +zu schleichen, während er von ungeheuren Wirbelwinden zum zackigen Grat +einer schwarzen Kluft oder eines Abgrundes hingefegt wurde. Er wußte, +was dort seiner harrte; er sah es und preßte schaudernd mit feuchten +Händen seine brennenden Lider zusammen, als wolle er sein Gehirn der +Sehkraft berauben und die Augäpfel in ihre Höhlen zurückdrängen. Es war +umsonst. Das Gehirn hatte seine eigene Nahrung, mit der es sich mästete, +und die durch den Schrecken grotesk gemachte Einbildungskraft krümmte +sich vor Schmerz wie ein lebendes Wesen, tanzte wie eine widerwärtige +Marionette in einer Schaubude und grinste durch bewegliche Masken +hindurch. Dann blieb auf einmal die Zeit für ihn stehen. Ja, dieses +blinde, langsamatmende Wesen kroch nicht mehr, und da sie tot war, +stürzten sich gräßliche Gedanken mit Blitzesschnelle über ihn hin und +zerrten eine scheußliche Zukunft aus ihrem Grabe und zeigten sie ihm. Er +starrte darauf hin. Ihre Entsetzlichkeit versteinerte ihn. + +Endlich öffnete sich die Tür, und sein Bedienter trat ein. Er wandte ihm +seine gläsernen Augen zu. + +»Herr Campbell, gnädiger Herr«, sagte der Mann. + +Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen Lippen und die +Farbe kehrte in seine Wangen zurück. + +»Bitten Sie ihn sofort herein, Francis.« Er fühlte, daß er wieder er +selbst war. Der Anfall von Feigheit war überwunden. + +Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen Augenblicken trat Alan +Campbell ein, mit sehr strengem Gesicht und etwas bleich, und seine +blasse Farbe wurde durch das kohlschwarze Haar und die dunkeln Brauen +noch verstärkt. + +»Alan! das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß du gekommen bist.« + +»Ich hatte die Absicht, dein Haus nie wieder zu betreten, Gray. Aber du +schriebst, es handle sich um Leben und Tod.« Seine Stimme war hart und +kalt. Er sprach langsam und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in dem +festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er behielt die +Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes und schien die Bewegung, mit +der ihm die Hand entgegengestreckt worden war, nicht zu bemerken. + +»Ja, es handelt sich um Leben und Tod, und für mehr als einen Menschen, +Alan. Setze dich.« + +Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian setzte sich ihm +gegenüber. Die Augen der beiden Männer trafen sich. In denen Dorians lag +unendliches Mitleid. Er wußte, was er jetzt tun werde, war schrecklich. + +Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens beugte er sich nach vorn und +sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes Wortes auf dem Gesicht des Mannes +ablesend, den er hatte holen lassen: »Alan, in einem verschlossenen +Dachzimmer dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger Mensch +außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann an einem Tisch. Er ist jetzt +seit zehn Stunden tot. Bleib' ruhig sitzen und sieh mich nicht so an. +Wer der Mann ist, warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die dich +nicht kümmern. Was du zu tun hast, ist --« + +»Halt, Gray! Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was du mir gesagt +hast, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an. Ich lehne es entschieden +ab, in dein Leben verwickelt zu werden. Behalte deine fürchterlichen +Geheimnisse für dich! Sie interessieren mich nicht mehr.« + +»Alan, du wirst dafür Interesse haben müssen. Dies eine Geheimnis wird +dich interessieren müssen. Es tut mir furchtbar leid um dich, Alan. +Aber ich kann dir nicht helfen. Du bist der einzige Mensch, der mich zu +retten vermag. Ich bin gezwungen, dich in die Sache hineinzuziehen. Ich +habe keine Wahl. Alan, du bist ein Mann der Naturwissenschaft. Du +verstehst dich auf Chemie und diese Dinge. Du hast Experimente gemacht. +Was du zu tun hast, ist, das Wesen da oben zu vernichten, so zu +vernichten, daß auch nicht eine Spur davon übrigbleibt. Niemand hat +diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet ihn im +Augenblick in Paris. Monatelang wird er nicht vermißt werden. Wenn er +vermißt wird, darf hier keine Spur von ihm gefunden werden. Alan, du +mußt ihn, ihn und alles, was zu ihm gehört, in eine Handvoll Asche +verwandeln, die ich in die Luft streuen kann.« + +»Du bist wahnsinnig, Dorian.« + +»Ah! wie ich darauf gewartet habe, daß du mich wieder Dorian nennst.« + +»Du bist wahnsinnig, sag' ich dir -- wahnsinnig, daß du dir einbildest, +ich wurde auch nur einen Finger rühren, dir zu helfen, wahnsinnig, daß +du mir dieses ungeheuerliche Geständnis ablegst. Ich will damit nichts +zu tun haben, was es auch sei. Glaubst du, ich setze meine Ehre für dich +aufs Spiel? Was geht's mich an, mit welchem Teufelswerk du zu tun hast.« + +»Es war ein Selbstmord, Alan.« + +»Das freut mich, aber wer hat ihn dazu getrieben? Du, vermute ich.« + +»Weigerst du dich noch immer, das für mich zu tun?« + +»Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit zu schaffen +haben. Es liegt mir gar nichts daran, was für eine Schande über dich +kommt. Du verdienst es vollauf. Es würde mir nicht leid tun, wenn ich +dich entehrt, öffentlich entehrt sähe. Wie kannst du es wagen, mich, +gerade mich von allen Menschen in der Welt in diese Scheußlichkeit +hineinbringen zu wollen? Ich hätte geglaubt, du verständest mehr vom +Charakter der Menschen. Dein Freund, Lord Henry Wotton, kann dich nicht +sehr über Psychologie aufgeklärt haben, worüber er dich auch sonst +aufgeklärt hat. Nichts wird mich dazu vermögen, auch nur einen Schritt +zu tun, um dir zu helfen. Du bist an den falschen Mann gekommen. Geh zu +einem deiner Freunde, nicht zu mir.« + +»Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Du weißt nicht, was ich +durch ihn gelitten habe. Mein Leben mag sein, wie es wolle, er hatte +mehr damit zu tun, es zu erschaffen und zu zerstören, als der arme +Harry. Er mag es nicht gewollt haben, die Wirkung ist dieselbe.« + +»Mord! Guter Gott, Dorian, bist du jetzt soweit gekommen? Ich werde dich +nicht anzeigen. Das ist meines Amtes nicht. Im übrigen wird man dich +fassen, auch wenn ich mich nicht in die Sache mische. Niemand begeht ein +Verbrechen, ohne dabei eine Dummheit zu machen. Also ich will nichts +damit zu tun haben.« + +»Du mußt etwas damit zu tun haben. Warte, warte noch einen Augenblick; +hör' mich an. Nur anhören, Alan. Alles, was ich von dir verlange, ist +ein bestimmtes wissenschaftliches Experiment. Du gehst in Spitäler und +Leichenhäuser, und das Schreckliche, was du dort tust, rührt dich +nicht. Wenn du diesen Mann in irgendeinem gräßlichen Seziersaal oder in +einem mißduftenden Laboratorium auf einem rohen Tisch liegen sähest, mit +roten Röhren, die man in ihn hineingebohrt hat, damit daraus das Blut +durchfließen kann, dann würdest du ihn einfach als ein bewundernswertes +Objekt betrachten. Kein Härchen würde sich dir sträuben. Du hättest +nicht die Empfindung, irgend etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil, du +würdest wahrscheinlich glauben, der Menschheit eine Wohltat zu erweisen, +oder die Summe des menschlichen Wissens zu vermehren oder den +intellektuellen Wissensdrang zu befriedigen oder so etwas dergleichen. +Was ich von dir fordere, ist nichts anderes, als was du schon oft getan +hast. Wahrhaftig, es muß viel weniger gräßlich sein, einen Leichnam aus +der Welt zu schaffen, als das, was du gewöhnlich tust. Und bedenke, es +ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn er entdeckt wird, bin ich +verloren; und er muß sicher entdeckt werden, wenn du mir nicht hilfst.« + +»Ich habe keine Lust, dir zu helfen. Du vergißt das. Die ganze Sache ist +mir gleichgültig. Ich habe nichts damit zu tun.« + +»Alan, ich beschwöre dich. Denke an die Lage, in der ich bin. Jetzt +eben, ehe du kamst, war ich fast ohnmächtig vor Schreck. Du kannst eines +Tages selbst einmal die Angst kennenlernen. Nein, denke nicht daran! +Betrachte die Sache vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus. Du +forschst doch sonst nicht danach, woher die toten Wesen kommen, mit +denen du experimentierst. Forsche auch jetzt nicht danach. Ich habe dir +ohnehin zuviel gesagt. Aber ich bitte dich, tu, um was ich dich bat. +Wir waren doch einmal Freunde, Alan.« + +»Sprich nicht von jenen Tagen, Dorian; sie sind tot.« + +»Die Toten verweilen manchmal. Der Mann da oben geht nicht weg. Er sitzt +am Tisch mit vorgebeugtem Kopf und ausgestreckten Armen. Alan! Alan! +wenn du mir nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! man wird mich +hängen! Begreifst du nicht? Man wird mich hängen, für das, was ich getan +habe.« + +»Es hat keinen Sinn, diese Szene weiter auszudehnen. Ich weigere mich +ganz entschieden, etwas damit zu tun zu haben. Es ist Tollheit von dir, +mich darum zu bitten.« + +»Du weigerst dich?« + +»Ja!« + +»Ich beschwöre dich, Alan!« + +»Es ist nutzlos.« + +Derselbe mitleidige Ausdruck kam in Dorian Grays Augen. Dann reckte er +die Hand aus, nahm ein Stück Papier und schrieb etwas darauf. Er las es +zweimal durch, faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den +Tisch. Nachdem er dies getan hatte, stand er auf und trat ans Fenster. + +Campbell sah ihn verwundert an, nahm dann das Papier und öffnete es. Als +er es gelesen hatte, wurde sein Gesicht totenblaß und er sank in seinen +Stuhl zurück. Ein fürchterliches Gefühl der Schwäche überwältigte ihn. +Ihm war, als ob sich sein Herz in einer leeren Höhle zu Tode schlüge. + +Nach zwei oder drei Minuten furchtbaren Schweigens wandte sich Dorian +um, ging zu ihm hin, stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf +die Schulter. + +»Es tut mir so leid um dich, Alan,« flüsterte er, »aber du läßt mir +keine Wahl. Ich habe den Brief schon geschrieben. Hier ist er. Du siehst +die Adresse. Wenn du mir nicht hilfst, muß ich ihn abschicken. Du weißt, +was darauf erfolgt. Aber du wirst mir helfen. Es ist unmöglich, daß du +jetzt noch nein sagst. Ich wollte dir das ersparen. Du mußt mir die +Gerechtigkeit widerfahren lassen, das zuzugeben. Du warst bitter, hart, +beleidigend. Du hast mich behandelt, wie es nie ein Mensch gewagt hat, +mich zu behandeln. Wenigstens kein lebender Mensch. Ich ertrug es alles. +Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren.« + +Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und ein Frösteln überlief +ihn. + +»Ja, jetzt ist die Reihe an mir, Bedingungen zu diktieren, Alan. Du +weißt, was ich verlange. Die Sache ist ganz einfach. Komm, schraube dich +nicht in ein Fieber hinein. Die Sache muß geschehen. Schau ihr ins +Gesicht und vollbringe sie.« + +Ein Stöhnen klang von Campbells Lippen, und er zitterte am ganzen Leibe. +Das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims schien ihm die Zeit in einzelne +Atome eines Todeskampfes zu zerstückeln, von denen das kleinste schon zu +schrecklich war, um es zu ertragen. Er hatte das Gefühl, als ob ein +eiserner Ring um seine Stirn nach und nach festgespannt wurde, als ob +die Schande, mit der man ihn bedrohte, schon über ihn käme. Die Hand auf +seiner Schulter beschwerte ihn wie ein Gewicht von Blei. Sie war +unerträglich. Sie schien ihn zu zerquetschen. + +»Komm, Alan, du mußt dich gleich entscheiden.« + +»Ich kann es nicht tun«, sagte er mechanisch, als könnten die Worte +etwas ändern. + +»Du mußt. Du hast keine Wahl. Zaudere nicht.« + +Er schwankte einen Augenblick. »Ist ein Ofen da oben?« + +»Ja, ein Gasofen mit Asbest.« + +»Dann muß ich nach Hause gehen und einiges aus dem Laboratorium holen.« + +»Nein, Alan, du darfst das Haus nicht verlassen. Schreib' auf ein Blatt +Papier, was du brauchst, und mein Diener nimmt eine Droschke und wird +dir die Sachen bringen.« + +Campbell kritzelte ein paar Zeilen hin, trocknete sie ab und adressierte +ein Kuvert an seinen Assistenten. Dorian nahm das Briefchen und las es +aufmerksam durch. Dann klingelte er und gab es seinem Diener mit dem +Auftrag, so rasch als möglich zurückzukommen und die im Schreiben +bezeichneten Sachen mitzubringen. + +Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös zusammen, stand +vom Stuhl auf und ging zum Kamin hinüber. Er schüttelte sich in einer +Art kalten Fiebers. Fast zwanzig Minuten lang sprach keiner der beiden +Männer. Eine Fliege schwirrte summend durch das Zimmer, und das Ticktack +der Uhr klang wie der Fall eines Hammers. + +Als es eins schlug, drehte sich Campbell um, blickte auf Dorian Gray und +sah, daß seine Augen mit Tränen gefüllt waren. In den reinen, edlen +Zügen dieses traurigen Gesichts lag etwas, was ihn wütend zu machen +schien. »Du bist infam, ganz infam«, rief er mit unterdrückter Stimme. + +»Ruhig, Alan, du hast mir das Leben gerettet«, sagte Dorian. + +»Dein Leben? Gott im Himmel! Was für ein Leben ist das! Du bist von +Verderbnis zu Verderbnis geschritten, und jetzt hast du mit Mord den +Gipfel erreicht. Wenn ich tue, was ich tun werde, was du mich zu tun +zwingst, so denke ich dabei wahrhaftig nicht an dein Leben.« + +»Ach, Alan,« flüsterte Dorian seufzend, »ich wünschte, du hättest den +tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das ich mit dir habe.« Er kehrte +sich während dieser Worte ab und stand da und blickte in den Garten +hinaus. Campbell gab keine Antwort. + +Nach etwa zehn Minuten klopfte es an die Tür, und der Diener trat ein +und brachte einen großen Mahagonikasten mit Chemikalien, eine lange +Rolle Stahl- und Platindraht und zwei absonderlich geformte +Eisenklammern. + +»Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?« fragte er Campbell. + +»Ja«, antwortete Dorian. »Und ich bedaure, Francis, aber ich habe noch +einen Weg für Sie. Wie heißt der Mann in Richmond, der Selby mit +Orchideen versorgt?« + +»Harden, gnädiger Herr.« + +»Richtig -- Harden. Sie müssen gleich nach Richmond fahren, Harden +selbst sprechen und ihm sagen, er solle doppelt soviel Orchideen +schicken, als ich bestellt habe, und möglichst wenig weiße dabei. +Eigentlich will ich überhaupt keine weißen. Es ist ein schöner Tag, +Francis, und Richmond ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht +behelligen.« + +»Nichts zu sagen, gnädiger Herr. Zu welcher Zeit soll ich zurück sein?« + +Dorian sah Campbell an. »Wie lange wird dein Experiment dauern, Alan?« +fragte er mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. Die Gegenwart eines +Dritten im Zimmer schien ihm außerordentlichen Mut einzuflößen. + +Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. »Es wird +ungefähr fünf Stunden beanspruchen«, antwortete er. + +»Dann ist es früh genug, wenn Sie um sieben zurück sind, Francis. Oder +halt: legen Sie meine Sachen zum Umkleiden zurecht, Sie können dann den +Abend für sich verwenden. Ich esse nicht zu Hause, brauche Sie also +nicht.« + +»Ich danke, gnädiger Herr«, sagte der Mann und verließ das Zimmer. + +»Jetzt, Alan, ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer der Kasten +ist! Ich will ihn dir tragen. Nimm du die anderen Sachen.« Er sprach +hastig und in befehlendem Tone. Campbell fühlte sich von ihm beherrscht. +Sie verließen das Zimmer gleichzeitig. + +Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, nahm Dorian den +Schlüssel heraus und schloß auf. Dann blieb er stehen, und ein Ausdruck +von Unruhe zeigte sich in seinem Blick. Er schauderte. »Ich glaube, ich +kann nicht hineingehen, Alan«, flüsterte er. + +»Das ist mir ganz gleich. Ich brauche dich nicht«, sagte Campbell kalt. + +Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Als er dies tat, sah er seinem +Porträt, das im hellen Sonnenlicht hing, grade ins Gesicht. Davor lag +auf den Dielen der herabgerissene Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in +der vergangenen Nacht zum ersten Male in seinem Leben vergessen hatte, +die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen, und wollte eben nach vorn +stürzen, als er schaudernd zurückprallte. + +Was war das für ein widerlicher, roter Fleck, der naß und glänzend an +einer der Hände klebte, als hätte die Leinwand Blut geschwitzt? Wie +schrecklich das war! -- Schrecklicher schien es ihm in diesem Augenblick +als das schweigsame Ding, das, wie er wußte, noch über den Tisch gebeugt +dasaß, das Ding, dessen grotesker, unglückseliger Schatten auf dem +fleckigen Teppich ihm zeigte, daß es sich nicht bewegt hatte, sondern +noch da war, wo er es gelassen hatte. + +Er atmete tief auf, öffnete die Tür etwas weiter und ging mit +halbgeschlossenen Augen und abgewandtem Kopf rasch hinein, entschlossen, +mit keinem einzigen Blick nach dem Toten hinzusehen. Dann bückte er +sich, nahm den gold- und purpurschimmernden Vorhang auf und warf ihn +gerade über das Bild. + +Dann blieb er stehen, voll Angst, sich umzuwenden und seine Augen +richteten sich auf die verschlungenen Muster des Vorhangs. Er hörte +Campbell den schweren Kasten hereinbringen, und die Eisenklammern und +die anderen Geräte, die er sich für seine entsetzliche Arbeit hatte +kommen lassen. Er begann sich zu fragen, ob Campbell und Basil Hallward +einander je begegnet waren und wenn, welche Meinung sie voneinander +gehabt hätten. + +»Lasse mich jetzt allein«, sagte eine rauhe Stimme hinter ihm. + +Er kehrte sich um und lief hinaus, eben noch gerade wahrnehmend, daß der +Tote in seinen Stuhl zurückgelehnt worden war und daß Campbell in ein +schimmerndes, gelbes Gesicht starrte. Als er die Stufen hinabging, hörte +er, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde. + +Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell wieder in die Bibliothek +trat. Er war blaß, aber vollständig ruhig. »Ich habe getan, was du von +mir verlangt hast«, sagte er leise. »Und jetzt adieu. Wir wollen uns nie +wiedersehen.« + +»Du hast mich vorm Untergang gerettet, Alan«, sagte Dorian ganz +schlicht. »Ich kann das nie vergessen.« + +Sobald ihn Campbell verlassen hatte, ging er hinauf. Ein schrecklicher +Geruch von Salpetersäure war im Zimmer. Aber das Ding, das am Tisch +gesessen hatte, war fort. + + + + +Fünfzehntes Kapitel + + +Am selben Abend um halb neun Uhr wurde Dorian Gray in sorgfältigster +Toilette, im Knopfloch einen großen Strauß Parmaveilchen tragend, von +dienernden Lakaien in den Salon Lady Narboroughs geführt. Er hatte +heftiges Kopfweh und furchtbar überreizte Nerven, aber seine Gebärde, +als er sich über die Hand seiner Gastgeberin beugte, war ebenso leicht +und anmutig wie sonst. Vielleicht sieht man nie gelassener aus, als wenn +man eine Rolle zu spielen hat. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an +diesem Abend sah, geglaubt, daß er eine Tragödie hinter sich habe, die +so schrecklich war wie irgendeine Tragödie unserer Zeit. Diese +feingeformten Finger konnten doch nie ein Messer gezückt haben, um eine +Sünde zu begehen, diese lächelnden Lippen nie Gott und Gottes Güte +geschmäht haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens +wundern und einen Augenblick lang spürte er in ganzer Stärke den +grauenvollen Genuß eines Doppeldaseins. + +Es war eine kleine Gesellschaft, die Lady Narborough kurzer Hand +zusammengeladen hatte, und die Gastgeberin war eine sehr gescheite Frau +mit ansehnlichen Überbleibseln einer unleugbar hervorragenden +Häßlichkeit, wie es Lord Henry auszudrücken liebte. Sie hatte sich einem +unserer langweiligsten Botschafter als eine ausgezeichnete Frau +erwiesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie sich's geziemte, in einem +marmornen Mausoleum beigesetzt hatte, das nach ihren eigenen Entwürfen +erbaut worden war, und seitdem sie ihre Töchter an einige reiche, etwas +angejahrte Herren verheiratet hatte, widmete sie sich den Genüssen +französischer Romane, französischer Kochkunst und französischen Geistes, +wenn sie ihn auftreiben konnte. + +Dorian war einer ihrer erklärten Lieblinge, und sie sagte ihm immer, sie +sei äußerst froh darüber, ihn nicht in früheren Jahren kennengelernt zu +haben. »Ich weiß, mein Lieber, ich hätte mich sinnlos in Sie verliebt,« +pflegte sie zu sagen, »und wäre Ihretwillen der größten Tollheiten fähig +gewesen. Es ist ein großes Glück, daß man damals noch gar nicht an Sie +dachte. Zu meiner Zeit waren die Tollheiten eine so seltene Ware, daß +ich nicht einmal eine harmlose Liebelei mit jemand gehabt habe. Indessen +war das nur die Schuld Narboroughs. Er war schrecklich kurzsichtig, und +es ist alles andere als ein Vergnügen, einen Ehemann zu betrügen, der +nie etwas sieht.« + +Ihre Gäste waren an diesem Abend ziemlich langweilig. Die Sache war so, +wie sie Dorian hinter einem ziemlich schäbigen Fächer erklärte, daß eine +ihrer verheirateten Töchter plötzlich zu Besuch gekommen war, und, was +die Sache noch ärgerlicher machte, obendrein ihren Mann mitgebracht +hatte. + +»Ich finde das sehr unliebenswürdig von ihr, mein Lieber«, flüsterte sie +ihm zu. »Natürlich bin ich jeden Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von +Homburg komme, aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal frische +Luft haben, und außerdem rüttle ich sie dann etwas auf. Sie ahnen ja gar +nicht, was die für ein Leben da hinten führen. Es ist das reine, +unverfälschte Landleben. Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun +haben, und gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben. In der +ganzen Gegend da hat es seit der Zeit der Königin Elisabeth keinen +Skandal gegeben, und infolgedessen schlafen sie alle nach dem Essen ein. +Sie sollen aber nicht neben einem von ihnen sitzen. Sie sollen neben mir +sitzen und mich amüsieren.« + +Dorian murmelte ein anmutiges Kompliment und blickte sich im Zimmer um. +Ja, es war wirklich eine öde Gesellschaft. Zwei von den Anwesenden hatte +er vordem nie gesehen, und die anderen waren Ernest Harrowden, eine der +Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man so häufig in Londoner +Klubs begegnet, die keine Feinde haben, die aber keiner ihrer Freunde +leiden kann: dann Lady Ruxton, eine aufgeputzte Dame mit einer +Papageiennase, im Alter von siebenundvierzig Jahren, die sich unablässig +bemühte, sich zu kompromittieren, die aber so lächerlich häßlich war, +daß zu ihrer großen Enttäuschung niemals einer etwas Schlechtes von ihr +glauben wollte: Frau Erlynne, eine zudringliche Nichtigkeit mit einem +entzückenden Lispeln und venezianisch rotem Haar: Lady Alice Chapman, +die Tochter der Wirtin, eine schlechtgekleidete, bedeutungslose Frau mit +einem der charakteristischen englischen Gesichter, an die man sich nie +wieder erinnert, wenn man sie einmal gesehen hat, und ihr Mann, ein +rotbäckiges, weißbärtiges Geschöpf, das, wie so viele seiner Kaste, der +Überzeugung lebte, daß ungewöhnliche Liebenswürdigkeit den vollständigen +Mangel an Gedanken ersetzen könne. + +Es tat ihm beinah leid, daß er gekommen war, bis Lady Narborough einen +Blick auf die große goldene Pendeluhr warf, die sich mit ihren +geschmacklosen Zieraten auf dem malvefarbig behängten Kamin spreizte, +und ausrief: »Wie häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich +schickte heute früh auf gut Glück zu ihm hinüber und er hat fest +zugesagt, mich nicht im Stich zu lassen.« + +Es war ein Trost, daß Harry kommen sollte, und als sich die Tür öffnete +und er seine sanfte musikalische Stimme hörte, die irgendeine läppische +Ausrede bezaubernd hervorbrachte, schwand seine Verdrießlichkeit. + +Aber er konnte bei Tisch dennoch nichts essen. Platte nach Platte wurde, +von ihm unberührt, weggetragen. Lady Narborough schalt ihn unaufhörlich, +weil sie darin »eine Beleidigung sah für den armen Adolphe, der das +ganze Menü eigens für sie erfunden hätte«, und dann und wann blickte +Lord Henry zu ihm herüber und verwunderte sich über sein Schweigen und +sein zerstreutes Wesen. Von Zeit zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit +Champagner. Er trank hastig, und sein Durst schien zu wachsen. + +»Dorian,« sagte Lord Henry endlich, als das Chaudfroid herumgereicht +wurde, »was ist heute abend mit dir los? Du bist ja so verstimmt.« + +»Ich glaube, er ist verliebt,« sagte Lady Narborough, »und er hat Angst, +es mir zu erzählen, aus Furcht, daß ich eifersüchtig würde. Er hat auch +ganz recht. Ich würde es gewiß.« + +»Teure Lady Narborough,« flüsterte Dorian lächelnd, »ich bin seit einer +vollen Woche nicht verliebt gewesen -- genau gesagt, nicht seitdem +Madame de Ferrol aus London weg ist.« + +»Daß ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!« rief die alte Dame. +»Ich kann es wirklich nicht verstehen.« + +»Das kommt einfach daher, weil sie Sie an die Zeit erinnert, wo Sie ein +kleines Mädchen waren, Lady Narborough«, sagte Lord Henry. »Sie ist das +einzige Bindeglied zwischen uns und Ihren kurzen Röckchen.« + +»Sie erinnert mich wirklich nicht an meine kurzen Röckchen, Lord Henry. +Aber ich entsinne mich ihrer sehr gut in Wien vor dreißig Jahren und wie +sie sich damals dekolletierte.« + +»Sie dekolletiert sich noch immer,« antwortete er und nahm eine Olive in +seine langen Finger, »und wenn sie sehr elegant gekleidet ist, sieht sie +aus wie die Luxusausgabe eines schlechten, französischen Romans. Sie ist +wirklich wunderbar und voller Überraschungen. Ihr Talent für +Familienliebe ist außerordentlich. Als ihr dritter Mann starb, wurde ihr +Haar vor Trauer ganz goldblond.« + +»Wie kannst du so etwas sagen, Harry!« rief Dorian. + +»Das ist eine höchst romantische Erklärung«, lachte die Gastgeberin. +»Aber ihr dritter Mann, Lord Henry! Sie wollen doch nicht sagen, daß +Ferrol der vierte ist?« + +»Doch, Lady Narborough.« + +»Ich glaube kein Wort davon.« + +»Gut, dann fragen Sie Herrn Gray, er ist einer ihrer intimsten Freunde.« + +»Ist das wahr, Herr Gray?« + +»Sie versichert es mir, Lady Narborough«, erwiderte Dorian. »Ich fragte +sie, ob sie wie Margarete von Navarra ihre Herzen einbalsamiert habe und +am Gürtel trage. Sie sagte mir, sie täte das nicht, weil keiner von +ihnen überhaupt ein Herz gehabt hätte.« + +»Vier Männer! Auf mein Wort, das ist ~trop de zêle~.« + +»~Trop d'audace~ sagte ich ihr«, entgegnete Dorian. + +»Oh! sie ist mutig genug, alles zu tun, mein Lieber. Und wie ist Ferrol? +Ich kenne ihn nicht.« + +»Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse«, sagte +Lord Henry und schlürfte seinen Wein. + +Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. »Lord Henry, ich bin nicht im +mindesten überrascht, daß die ganze Welt über Ihre Ruchlosigkeit klagt.« + +»Aber welche ganze Welt tut das?« fragte Lord Henry, seine Brauen +hochziehend. »Es kann nur die Nachwelt sein. Denn diese Welt und ich, +wir stehen brillant miteinander.« + +»Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr ruchlos sind!« rief die alte +Dame den Kopf schüttelnd. + +Lord Henry sah einige Augenblicke ernsthaft aus. »Es ist ganz +abscheulich,« sagte er schließlich, »wie die Leute heutzutage herumgehen +und einem hinterm Rücken Dinge nachsagen, die ganz und gar auf Wahrheit +beruhen.« + +»Ist er nicht unverbesserlich?« rief Dorian und beugte sich in seinem +Stuhl vor. + +»Ich hoffe« sagte die Wirtin lachend. »Aber wenn Sie wirklich alle +Madame de Ferrol in dieser lächerlichen Weise anbeten, so muß ich auch +wieder heiraten, um in Mode zu kommen.« + +»Sie werden nie wieder heiraten, Lady Narborough«, unterbrach Lord +Henry. »Sie waren viel zu glücklich. Wenn eine Frau wieder heiratet, so +tut sie es, weil sie ihren ersten Mann verabscheute. Wenn ein Mann +wieder heiratet, so tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen +versuchen ihr Glück, Männer setzen das ihre aufs Spiel.« + +»Narborough war nicht vollkommen!« rief die alte Dame. + +»Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt, meine teure +Lady«, war die Antwort. »Frauen lieben uns um unserer Fehler willen. +Wenn wir ihrer genug haben, vergeben sie uns alles, selbst unseren +Geist. Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zu einem Diner bitten, +nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough, aber es ist völlig wahr.« + +»Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen euch nicht eurer +Fehler halber liebten, wo wäret ihr alle? Nicht ein einziger von euch +würde verheiratet sein. Und ihr wäret eine Sekte unglücklicher +Junggesellen. Das würde aber nicht viel an euch ändern. Heutzutage leben +alle Ehemänner wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner.« + +»~Fin de siècle~«, flüsterte Lord Henry. + +»~Fin du globe~«, entgegnete die Gastgeberin. + +»Ich wollte, es wäre ~fin du globe~«, sagte Dorian mit einem Seufzer. +»Das Leben ist eine große Enttäuschung.« + +»Ah, mein Lieber!« rief Lady Narborough und zog ihre Handschuhe an, +»sagen Sie mir nicht, daß Sie das Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann +das sagt, weiß man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist im +höchsten Grade ruchlos, und ich wünsche manchmal, ich wäre es auch +gewesen; aber Sie sind geschaffen, um gut zu sein -- Sie sehen so gut +aus. Ich muß Ihnen eine hübsche Frau verschaffen. Lord Henry, meinen Sie +nicht, daß Herr Gray heiraten sollte?« + +»Ich sage ihm das immer, Lady Narborough«, erwiderte Lord Henry mit +einer Verbeugung. + +»Schön, so wollen wir uns nach einer guten Partie für ihn umsehen. Ich +werde heute nacht den Adelskalender aufmerksam durchgehen und eine Liste +aller in Frage kommenden jungen Damen aufstellen.« + +»Mit ihrer Altersangabe, Lady Narborough?« fragte Dorian. + +»Natürlich mit ihrem Alter, ein wenig retuschiert. Aber man darf nichts +übereilen. Ich will, daß es genau das wird, was die Morning Post eine +passende Verbindung nennt, und ihr sollt beide glücklich werden.« + +»Was die Menschen doch für einen Unsinn über glückliche Ehen reden!« +rief Lord Henry. »Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich werden, solange +er sie nicht liebt.« + +»Pfui! Was sind Sie für ein Zyniker!« rief die alte Dame, schob ihren +Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu. »Sie müssen bald wiederkommen +und bei mir essen. Sie sind wirklich ein wunderbarer Appetitanreger, +viel besser als das, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen mir +sagen, was für Leute Sie gern treffen würden. Es soll ein entzückendes +Beisammensein werden.« + +»Ich liebe Männer, die eine Zukunft haben, und Frauen, die eine +Vergangenheit haben«, antwortete er. »Oder beabsichtigen Sie, eine +Weibergesellschaft zustande zu bringen?« + +»Ich fürchte fast«, sagte sie lachend, indem sie sich erhob. »Ach, +verzeihen Sie tausendmal, Lady Ruxton,« fuhr sie fort, »ich habe nicht +bemerkt, daß Sie mit Ihrer Zigarette noch nicht fertig waren.« + +»Macht nichts, Lady Narborough. Ich rauche viel zuviel. Ich muß mich +darin in Zukunft einschränken.« + +»Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton«, sagte Lord Henry. »Mäßigung ist +eine unglückliche Sache. Genug ist nicht besser als eine Mahlzeit. Mehr +als genug ist so gut wie ein Festessen.« + +Lady Ruxton sah ihn neugierig an. »Lord Henry, Sie müssen mich eines +Nachmittags besuchen und mir das erklären. Es klingt wie eine +verlockende Theorie«, sagte sie, während sie aus dem Zimmer rauschte. + +»Jetzt bitte, sitzt mir nicht zu lange bei eurer Politik und euerm +Klatsch!« rief Lady Narborough von der Tür aus. »Wenn ihr das tut, +zanken wir sicher mit euch, wenn ihr nach oben kommt.« + +Die Männer lachten, und Herr Chapman stand feierlich vom Ende der Tafel +auf und setzte sich oben hin. Dorian Gray wechselte seinen Platz und +setzte sich neben Lord Henry. Herr Chapman begann mit lauter Stimme über +die parlamentarische Lage zu sprechen. Er heulte laut auf über seine +Widersacher. Das Wort Doktrinär -- ein Wort voller Schrecken für den +britischen Geist -- tauchte von Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen +auf. Eine doppelt ausgesprochene Vorsilbe diente seiner Rede als +Alliteration zum Schmuck. Er hißte den Union Jack auf dem Mast des +Gedankens auf. Die angestammte Dummheit der Rasse -- gesunder englischer +Menschenverstand nannte er sie wohlwollend -- wurde als das +Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt. + +Ein Lächeln kräuselte Lord Henrys Lippen, und er drehte sich um und +blickte zu Dorian hin. + +»Geht dir's jetzt besser, lieber Junge?« fragte er. »Du schienst bei +Tisch gar nicht recht wohl zu sein.« + +»Mir ist ganz wohl. Ich bin müde. Sonst nichts.« + +»Du warst entzückend gestern abend. Die kleine Herzogin hat dich ganz in +ihr Herzchen geschlossen. Sie hat mir erzählt, sie käme nach Selby.« + +»Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen.« + +»Wird Monmouth auch da sein?« + +»Oh, gewiß, Harry!« + +»Er langweilt mich entsetzlich, fast ebenso sehr, wie er sie langweilt. +Sie ist sehr verständig, zu verständig für eine Frau. Es fehlt ihr der +unbeschreibliche Reiz der Schwäche. Die tönernen Füße sind's, die erst +das Gold der Bildsäule wertvoll machen. Ihre Füße sind ganz allerliebst, +aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn du willst. Sie +sind schon im Feuer gewesen, und was das Feuer nicht zerstört, macht es +hart. Sie hat ihre Erfahrungen.« + +»Wie lange ist sie verheiratet?« fragte Dorian. + +»Sie sagt, eine Ewigkeit. Nach dem Adelskalender, glaube ich, sind es +wohl zehn Jahre, aber zehn Jahre mit Monmouth müssen wie eine Ewigkeit +gewesen sein, wenn man die Zeit mitrechnet. Wer kommt sonst noch?« + +»Oh, die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau, unsere Wirtin, Geoffrey +Clouston, die gewöhnliche Aufmachung. Ich habe auch Lord Grotrian +gebeten.« + +»Den habe ich recht gern«, sagte Lord Henry. »Viele Leute können ihn +nicht leiden, aber ich finde ihn reizend. Dafür, daß seine Kleidung +manchmal übertrieben elegant ist, entschädigt er dadurch, daß er immer +übertrieben gebildet ist. Es ist ein ganz moderner Typus.« + +»Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Harry. Es ist möglich, daß er mit +seinem Vater nach Monte Carlo muß.« + +»Ach, was für ein Kreuz die Familiensimpelei ist! Versuch doch, daß er +kommt. Übrigens, Dorian, du bist gestern abend sehr früh weggelaufen. Du +hast uns vor elf Uhr sitzen lassen. Was hast du denn noch vorgehabt? +Bist du gleich nach Hause gegangen?« + +Dorian blickte ihn rasch an und runzelte die Stirn. »Nein, Harry,« sagte +er endlich, »es war schon fast drei, als ich nach Hause kam.« + +»Warst du noch im Klub?« + +»Ja«, antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen. »Nein, das wollte +ich nicht sagen. Ich war nicht im Klub. Ich ging nur so herum. Ich weiß +nicht mehr, was ich getan habe... Wie du einen ins Verhör nimmst, +Harry! Du willst immer wissen, was man getan hat. Ich will immer +vergessen, was ich getan habe. Wenn du aber die genaue Zeit wissen +willst, ich bin um halb drei nach Hause gekommen. Ich hatte meinen +Hausschlüssel vergessen, und mein Diener mußte mich einlassen. Wenn du +vielleicht noch eine Zeugenaussage über mein Alibi wünschst, kannst du +ihn ja fragen.« + +Lord Henry zuckte die Achseln. »Aber, lieber Junge, als ob mir daran +etwas läge? Wir wollen in den Salon hinauf. Keinen Sherry, nein danke, +Herr Chapman. Dir ist etwas zugestoßen, Dorian. Sage mir, was es ist. Du +bist heute abend nicht du selber.« + +»Sei nicht böse, Harry. Ich bin gereizt und übel gelaunt. Ich komme +morgen oder übermorgen zu dir. Bitte, entschuldige mich bei Lady +Narborough. Ich gehe nicht mehr hinauf. Ich gehe nach Hause. Ich muß +nach Hause gehn.« + +»Schön, Dorian. Ich hoffe, dich morgen zum Tee zu sehen. Die Herzogin +kommt.« + +»Ich will versuchen da zu sein, Harry«, sagte er und verließ das Zimmer. +Als er nach Hause fuhr, merkte er, daß das Angstgefühl wiedergekehrt +sei, das er erstickt zu haben glaubte. Lord Henrys zufällige Frage hatte +ihm für einen Moment die Fassung genommen und nervös gemacht und er +brauchte seine Nerven noch. Dinge, die Gefahr bringen konnten, mußten +zerstört werden. Er schauerte zusammen. Der Gedanke, sie auch nur zu +berühren, war ihm furchtbar. + +Und doch mußte es geschehen. Er war sich darüber klar, und als er die +Tür seines Bibliothekzimmers verschlossen hatte, öffnete er den geheimen +Schrank, in den er Basil Hallwards Mantel und Tasche gesteckt hatte. Es +loderte ein mächtiges Feuer. Er legte noch ein Stück Holz nach. Der +Geruch der sengenden Kleider und des schwelenden Leders war entsetzlich. +Er brauchte drei Viertelstunden, um alles zu verbrennen. Als es vorbei +war, fühlte er sich schwach und krank, und nachdem er einige algerische +Räucherkerzchen in einer durchbrochenen Kupferpfanne angezündet hatte, +wusch er sich Hände und Stirn in kaltem, moschusduftendem Essig. + +Plötzlich schrak er zusammen. Seine Augen bekamen einen merkwürdigen +Glanz und er nagte nervös an der Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern +stand ein großer Florentiner Ebenholzschrank mit Elfenbein und +Lapislazuli eingelegt. Er starrte ihn an, als wär er ein Etwas, das +fesseln und ängstigen könne, als schließe er etwas ein, das er +sehnsüchtig begehrte und doch beinahe verabscheute. Sein Atem ging +schneller. Eine wilde Gier überkam ihn. Er zündete eine Zigarette an und +warf sie gleich wieder weg. Seine Augenlider senkten sich, bis die +langen Wimpern fast die Wangen berührten. Aber er sah noch immer nach +dem Schranke hin. Endlich erhob er sich vom Sofa, auf dem er gelegen +hatte, ging zu dem Schrank hinüber, schloß ihn auf und drückte an eine +geheime Feder. Ein dreieckiges Schubfach kam langsam zum Vorschein. +Seine Finger bewegten sich instinktiv danach, griffen hinein und faßten +etwas. Es war ein kleines chinesisches Kästchen aus schwarzem, +goldbetupftem Lack, das sehr sorgfältig gearbeitet war, und dessen +Seiten gekrümmte Wellenlinien zierten, und an dessen seidenen Schnüren +runde Kristalle mit Quasten aus geflochtenen Metallfäden hingen. Er +öffnete das Kästchen. Eine grünlich-glänzende, wachsartige Masse von +seltsam schwerem und durchdringendem Geruch lag darin. + +Er zögerte ein paar Augenblicke mit einem seltsam unbeweglichen Lächeln +auf seinem Antlitz. Dann schauerte er zusammen, obwohl es im Zimmer ganz +außergewöhnlich heiß war, raffte sich auf und sah nach der Uhr. Es +fehlten zwanzig Minuten an zwölf. Er legte das Kästchen zurück, schloß +die Türen des Schrankes und ging in sein Schlafzimmer. + +Als die Mitternacht ihre metallenen Schläge durch die dunkle Luft +schickte, schlich Dorian Gray in ordinärer Kleidung und ein Tuch um den +Hals geschlungen, leise aus dem Hause. In Bond Street traf er eine +Droschke mit einem guten Pferd. Er ließ sie halten und sagte dem +Kutscher mit leiser Stimme eine Adresse. + +Der Mann schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu weit«, brummte er. + +»Da haben Sie ein Goldstück. Sie sollen noch eins kriegen, wenn Sie +rasch fahren.« + +»Schön, Herr!« antwortete der Mann, »wir werden in einer Stunde da +sein«, und nachdem sein Fahrgast eingestiegen war, lenkte er um und fuhr +rasch der Themse zu. + + + + +Sechzehntes Kapitel + + +Ein kalter Regen begann zu fallen und die flackernden Laternen sahen in +dem herabsickernden Nebel geisterhaft aus. Die Schenken wurden eben +geschlossen, und Männer und Frauen drängten sich in schattenhaften +Gruppen vor den Türen. Aus einigen Wirtschaften scholl ein gräßliches +Lachen. In anderen lärmten und grölten Betrunkene. + +In die Droschke zurückgelehnt, den Hut tief in die Stirn gezogen, +blickte Dorian Gray mit gleichgültigen Augen auf das Elend und den +Schmutz der Großstadt, und dann und wann wiederholte er sich die Worte, +die ihm Lord Henry am ersten Tage, wo sie sich kennengelernt hatten, +gesagt hatte: »die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele +zu heilen«. Ja, das war das Geheimnis. Er hatte es oft versucht und +wollte es jetzt wieder versuchen. Es gab Opiumkneipen, wo man +Vergessenheit kaufen konnte, Kneipen des Grauens, wo die Erinnerung an +alte Sünden durch den Wahnsinn neuer ausgelöscht werden kann. + +Der Mond hing tief am Himmel wie eine gelbe Hirnschale. Von Zeit zu Zeit +streckte eine dicke, unförmige Wolke einen langen Arm nach ihm aus und +verbarg ihn. Die Gaslaternen wurden spärlicher und die Straßen enger und +düsterer. Einmal verlor der Kutscher seinen Weg und mußte einige hundert +Meter zurückfahren. Das Roß dampfte, während es in den Pfützen patschte. +Die Seitenfenster des Wagens waren wie mit grauem Flanell ausgeschlagen. + +»Die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele zu heilen --!« +Wie ihm die Worte in den Ohren klangen! Seine Seele war jedenfalls +todkrank. War es denkbar, daß die Sinne sie heilen konnten? Unschuldiges +Blut war vergossen worden. Welche Sühne konnte es dafür geben? Ach! +dafür gab es keine Sühne; aber wenn auch Vergebung unmöglich war, +Vergessen war doch möglich, und er war entschlossen, zu vergessen, die +Sache zu Boden zu treten, sie zu vernichten wie eine Natter, die einen +gebissen hat. Welches Recht hatte denn Basil gehabt, so zu ihm zu +sprechen, wie er es getan hatte? Wer hatte ihn zum Richter über andere +gesetzt? Er hatte Dinge gesagt, die schrecklich waren, entsetzlich, +nicht zu ertragen. + +Weiter und weiter rollte die Droschke, und es schien ihm, als führe sie +mit jedem Schritt langsamer. Er riß das Schiebefenster auf und rief dem +Kutscher hinter ihm zu, schneller zu fahren. Der gräßliche Hunger nach +Opium fing an, in ihm zu nagen. Die Kehle brannte ihm, und seine zarten +Finger spielten nervös miteinander. Er schlug mit dem Spazierstock wie +toll auf den Gaul ein. Der Kutscher lachte und hieb mit der Peitsche zu. +Er lachte auch dazu, und der Mann auf dem Bocke schwieg. + +Der Weg schien endlos zu sein und die Straßen dehnten sich aus wie ein +schwarzes, durcheinander gewirrtes Spinngewebe. Die Eintönigkeit wurde +unerträglich, und als sich der Nebel dichter ballte, empfand er Furcht. + +Dann fuhren sie an einsamen Ziegeleien vorüber. Der Nebel ward hier +durchsichtiger, und er konnte die merkwürdigen, kürbisflaschenartigen +Brennöfen mit ihren orangefarbenen fächerartigen Feuerzungen erkennen. +Ein Köter schlug an, als sie vorbeirasselten, und weit entfernt in der +Dunkelheit schrie eine schlaflose Möwe. Das Pferd stolperte in +irgendeiner Rinne, scheute und verfiel in Galopp. + +Nach einiger Zeit verließen sie den Lehmweg und ratterten wieder über +ein holpriges Straßenpflaster. Die meisten Fenster waren dunkel, aber +dann und wann sah man phantastische Schatten wie Silhouetten hinter +einem erleuchteten Rouleau. Er spähte neugierig darauf hin. Sie bewegten +sich wie riesenhafte Marionetten und gestikulierten wie lebende Wesen. +Eine Art Haß auf sie überkam ihn. Ein dumpfer Zorn kochte in seinem +Herzen. Als sie um eine Ecke bogen, rief ihnen ein Weib aus einer +offenen Tür etwas zu, und zwei Männer rannten ein paar hundert Meter +hinter der Droschke her. Der Kutscher schlug mit seiner Peitsche nach +ihnen. + +Man sagt, die Leidenschaft wirble einem die Gedanken im Kreise umher. +Jedenfalls formten die zerbissenen Lippen Dorian Grays in endloser +Wiederholung die feingesetzten Worte von der Seele und den Sinnen und +formten sie immer wieder, bis er in ihnen sozusagen den vollsten +Ausdruck seiner Stimmung gefunden und durch die Zustimmung des +Verstandes Leidenschaften gerechtfertigt hatte, die auch ohne solche +Rechtfertigung sein Temperament beherrscht hätten. Von Zelle zu Zelle +seines Gehirns kroch der eine Gedanke und die wilde Lebensgier, das +schrecklichste aller menschlichen Hungergelüste, ließ sich jeden +zuckenden Nerv und Muskel gewaltsam emporbäumen. Das Häßliche, das er +einst gehaßt hatte, weil es den Dingen Wirklichkeit verlieh, wurde ihm +jetzt aus demselben Grunde lieb. Das Häßliche war das einzig Wirkliche. +Das rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die ordinäre Gewalttätigkeit +eines liederlichen Lebens, die widerliche Verworfenheit der Diebe und +Verbrecher waren in der intensiven Wirklichkeit ihrer Eindrücke mehr vom +Leben erfüllt, als all die anmutigen Formen der Kunst, die träumerischen +Schatten der Dichtung. Das war es, was er zum Vergessen brauchte. In +drei Tagen würde er frei sein. + +Plötzlich hielt der Mann am Ende einer finstern Straße mit einem Ruck +an. Über die niedrigen Dächer und gezackten Schornsteine der Häuser +hinaus ragten die schwarzen Maste der Schiffe. Weiße Nebelfetzen hingen +wie gespensterhafte Segel über den Werften. + +»Irgendwo hier, nicht wahr, Herr?« ertönte die rauhe Stimme des +Kutschers durch das Schiebefenster. + +Dorian fuhr auf und blickte sich um. »Schon gut«, antwortete er, stieg +rasch aus, gab dem Kutscher Trinkgeld, das er ihm versprochen hatte, und +ging eilig dem Kai zu. Hier und da flimmerte eine Laterne am Heck eines +großen Kauffahrers. Das Licht zitterte und zersplitterte sich in den +Pfützen. Ein rotes Geglitzer kam von einem weit draußen ankernden +Dampfer, der Kohlen verlud. Das schlüpfrige Pflaster sah aus wie ein +regenglänzender Gummimantel. + +Er hastete nach links weiter und blickte sich dann und wann um, ob ihm +niemand folgte. Nach sieben oder acht Minuten erreichte er ein kleines, +elendes Haus, das zwischen zwei große Faktoreien eingequetscht war. In +einem der Giebelfenster brannte eine Lampe. Er blieb stehen und klopfte +wie auf eine verabredete Art an. + +Nach einer kleinen Pause hörte er Schritte im Flur und wie die Türkette +losgemacht wurde. Die Tür öffnete sich vorsichtig, und er trat hinein, +ohne ein Wort zu der kleinen erbärmlichen Gestalt zu sagen, die sich in +den Schatten drückte, als er vorbeischritt. Am Ende des Flurs hing ein +zerlumpter grüner Vorhang, der sich in dem starken Luftzug, den er von +der Straße her mitbrachte, hin und her bauschte. Er schob ihn beiseite +und trat in einen langen, niedrigen Raum, der so aussah, als wäre er +früher ein Tanzlokal dritten Ranges gewesen. Grell flackernde +Gasflammen, die in den fliegenbeschmutzten Spiegeln gegenüber matt und +verzehrt erschienen, brannten rings an den Wänden. Schmierige +Reflektoren aus geripptem Wellblech waren dahinter angebracht und warfen +tanzende Lichtkreise. Der Boden war mit ockerfarbigen Sägespänen +bestreut, die an einzelnen Stellen zu Schmutzklumpen zertreten waren und +auf denen sich von vergossenen Getränken schwarze Ringe abzeichneten. +Ein paar Malaien hockten mit untergeschlagenen Beinen an einem kleinen +Kohlenofen, spielten mit knöchernen Würfeln und zeigten beim Sprechen +ihre weißlichen Zähne. In einem Winkel, den Kopf auf die Hände gestützt, +räkelte sich ein Matrose über den Tisch, und an dem schreiend bemalten +Büfett, das eine ganze Seite des Raumes einnahm, standen zwei +heruntergekommene Weibspersonen und höhnten einen alten Mann, der mit +einem Ausdruck des Ekels die Ärmel seines Rockes bürstete. »Er denkt, er +hat sich Läuse geholt«, lachte die eine, als Dorian vorüberging. Der +Mann sah sie erschreckt an und begann zu jammern. + +Am Ende des Zimmers war eine kleine Treppe, die in eine verdunkelte +Kammer führte. Als Dorian die drei wackligen Stufen hinaufhastete, +schlug ihm der schwere Geruch des Opiums entgegen. Er holte tief Atem, +und seine Nasenflügel zitterten vor Lust. Als er eintrat, blickte ein +junger Mann mit glattgescheiteltem Blondhaar zu ihm auf, der sich über +eine Lampe beugte, an der er eine lange, dünne Pfeife anzündete, und +zögernd nickte. + +»Du hier, Adrian?« flüsterte Dorian. + +»Wo soll ich sonst sein?« antwortete er gleichgültig. »Kein Mensch will +jetzt mehr mit mir sprechen.« + +»Ich dachte, du wärst aus England fort?« + +»Darlington wird nichts gegen mich unternehmen. Mein Bruder hat den +Wechsel schließlich gezahlt. George spricht auch nicht mehr mit mir ... +Ist mir auch einerlei«, fügte er seufzend hinzu. »Solange man noch das +Zeug da hat, braucht man keine Freunde. Ich denke, ich habe zu viele +Freunde gehabt.« + +Dorian zuckte zusammen und sah sich nach den grotesken Gestalten um, die +da in so abenteuerlichen Stellungen auf den zerlumpten Matratzen lagen. +Die verkrümmten Glieder, die offenen Mäuler, die stierenden, glanzlosen +Augen übten eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er kannte die +absonderlichen Paradiese, in denen sie litten, und welche dumpfe Höllen +sie in das Geheimnis neuer Genüsse einweihten. Sie waren besser daran +als er. Ihn hielten seine Gedanken eingekerkert. Die Erinnerung fraß wie +eine fürchterliche Krankheit an seiner Seele. Von Zeit zu Zeit glaubte +er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu sehen. Aber er +fühlte, daß er hier nicht bleiben konnte. Die Anwesenheit Adrian +Singletons störte ihn. Er wollte irgendwo sein, wo ihn niemand kennt. Er +wollte sich selbst entfliehen. + +»Ich gehe in das andere Lokal«, sagte er nach einer Pause. + +»Auf der Werft?« + +»Ja.« + +»Die tolle Katze ist sicher da. Sie wollen sie hier nicht mehr haben.« + +Dorian zuckte die Achseln. »Ich habe die Weiber, die einen lieben, +satt. Weiber, die einen hassen, sind viel interessanter. Übrigens ist +dort der Stoff besser.« + +»Ganz derselbe.« + +»Mir schmeckt er da besser. Komm, wir wollen was trinken. Ich muß was +haben.« + +»Ich brauche nichts«, murmelte der junge Mann. + +»Macht nichts.« + +Adrian Singleton stand schläfrig auf und folgte Dorian ans Büfett. Ein +Mischling in zerrissenem Turban und schäbigem Ulster grinste ihnen einen +widerlichen Gruß zu, als er zwei Gläser und eine Branntweinflasche vor +sie hinstellte. Die Weiber torkelten herbei und begannen zu schwatzen. +Dorian kehrte ihnen den Rücken zu und sagte leise etwas zu Adrian +Singleton. + +Ein Grinsen gleich einem krummen malaischen Dolch verzerrte das Gesicht +des einen Weibes. »Wir sind sehr stolz heute abend«, höhnte sie lachend. + +»Um Gottes willen, rede nicht mit mir!« schrie Dorian und stampfte mit +dem Fuß auf den Boden. »Was willst du? Geld? Da! Aber sprich kein Wort +mehr zu mir!« + +Zwei rote Funken blitzten für einen Augenblick in den wässerigen Augen +des Weibes auf, dann verloschen sie wieder und ließen sie trübe und +gläsern erscheinen. Sie warf den Kopf in den Nacken und raffte mit +gierigen Fingern die Münzen auf dem Schenktisch zusammen. Ihre Gefährtin +beobachtete sie neidisch. + +»Es hat keinen Zweck«, sagte Adrian Singleton seufzend. »Ich will nicht +mehr zurück. Was macht's aus? Ich fühle mich hier ganz wohl.« + +»Du wirst mir doch schreiben, wenn du was brauchst?« fragte Dorian nach +einer Weile. + +»Vielleicht.« + +»Dann gute Nacht!« + +»Gute Nacht!« antwortete der junge Mann, schritt die Stufen hinauf und +wischte sich den trockenen Mund mit dem Taschentuch ab. + +Dorian schritt mit einem qualvollen Zug im Gesicht zur Tür. Als er den +Vorhang beiseitezog, scholl ein gräßliches Lachen von den geschminkten +Lippen des Weibes, das sein Geld genommen hatte. »Da geht er hin, der +Seelenverschacherer!« stieß sie mit einer heiser glucksenden Stimme +hervor. + +»Der Satan hol' dich!« antwortete er, »du sollst mich nicht so nennen!« + +Sie schnippte mit den Fingern. »Was, du willst wohl Prinz Märchenschön +genannt werden, das paßte dir, he?« kreischte sie hinter ihm her. + +Bei diesen Worten sprang der schläfrige Matrose auf und blickte sich +wild um. Das Geräusch der zufallenden Haustür drang an sein Ohr. Er +stürzte hinaus, als ob er ihn verfolgen wollte. + +Dorian Gray eilte rasch durch den herabstäubenden Regen den Kai entlang. +Sein Zusammentreffen mit Adrian Singleton hatte ihn sonderbar bewegt, +und er grübelte darüber nach, ob der Untergang dieses jungen Lebens +wirklich sein Werk war, wie ihm Basil Hallward mit so schändlicher +Beschimpfung schuldgegeben hatte. Er biß sich auf die Lippen, und für +ein paar Augenblicke wurde sein Auge traurig. Aber schließlich, was +ging es ihn an? Das bißchen Leben war zu kurz, als daß man die Sünden +anderer auf seine Schultern laden könnte. Jeder lebte sein eigenes Leben +und zahlte seinen eigenen Preis dafür. Das einzige Unglück war, daß man +für ein einziges Vergehen so oftmals zahlen mußte. Man mußte immer und +immer wieder zahlen. In seinem Handel mit dem Menschen glich das +Schicksal sein Schuldbuch nie aus. + +Die Psychologen sagen uns, daß es Augenblicke gibt, wo die Anreizung zu +Sünden oder zu dem, was die Welt Sünden nennt, eine Natur so beherrscht, +daß jede Faser des Körpers, jede Zelle des Gehirns von fürchterlichen +Kräften gestachelt zu sein scheint. Männer und Frauen verlieren in +solchen Augenblicken die Willensfreiheit. Sie bewegen sich wie Automaten +ihrem schrecklichen Ende zu. Die Wahl ist ihnen geraubt, und das +Gewissen ist entweder tot oder, wenn es noch lebt, so lebt es nur, um +der Empörung ihren Reiz und dem Ungehorsam ihren besonderen Zauber zu +verleihen. Denn alle Sünden sind, wie die Theologen nicht müde werden, +uns vorzuhalten, Sünden des Ungehorsams. Als jener hohe Geist, der +Morgenstern alles Bösen vom Himmel fiel, da fiel er, weil er ein Rebell +war. + +Unempfindlich, nur mit dem einen Gedanken ans Böse erfüllt, mit +verfinstertem Geist, mit einer Seele, die nach Empörung lechzte, hastete +Dorian Gray weiter, und beschleunigte, während er ging, seine Schritte +immer mehr; aber als er in einen dunkeln Torweg einbog, der ihm oft +genug als abgekürzter Weg zu dem berüchtigten Orte gedient hatte, den +er jetzt aufsuchen wollte, fühlte er sich plötzlich von rückwärts +gepackt, und bevor er Zeit hatte, sich zu wehren, wurde er gegen eine +Mauer geschleudert und fühlte seinen Hals von einer brutalen Hand +umklammert. + +Er kämpfte wie wahnsinnig um sein Leben, und mit furchtbarer Anstrengung +glückte es ihm, sich aus den umschnürenden Fingern loszureißen. Einen +Augenblick darauf hörte er das Knacken eines Revolvers und sah den Glanz +eines blanken Laufes gerade gegen seinen Kopf gerichtet und die dunkle +Gestalt eines untersetzten Mannes vor sich. + +»Was wollen Sie?« keuchte er. + +»Sei still«, sagte der Mann. »Wenn du dich rührst, schieß' ich dich +nieder!« + +»Sie sind toll. Was hab' ich Ihnen getan?« + +»Du hast das Leben Sibyl Vanes zugrunde gerichtet!« war die Antwort, +»und Sibyl Vane war meine Schwester. Sie hat sich getötet. Ich weiß es. +Ihr Tod ist deine Schuld. Ich habe geschworen, dich dafür zu töten. +Jahrelang habe ich dich gesucht. Aber ich hatte keinen Anhaltspunkt, +keine Spur. Die zwei Menschen, die dich hätten beschreiben können, waren +tot. Ich wußte nichts von dir als den Kosenamen, den sie dir gab. Heute +nacht habe ich ihn durch Zufall gehört. Mach' deinen Frieden mit Gott, +denn heute nacht mußt du sterben.« + +Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Furcht. »Ich habe sie nie +gekannt«, stammelte er. »Ich habe nie von ihr gehört. Sie sind +verrückt.« + +»Gesteh' lieber deine Sünden ein, denn so wahr ich James Vane heiße, so +gewiß sollst du jetzt sterben.« Es war ein entsetzlicher Augenblick. +Dorian wußte nicht, was er sagen oder tun sollte. »Auf die Knie!« +brüllte der Mann. »Ich geb' dir eine Minute, deinen Frieden zu machen -- +nicht mehr! Ich muß heute nacht an Bord nach Indien, und muß vorher +meine Arbeit getan haben. Eine Minute. Mehr nicht!« + +Dorians Arme sanken herab. Von Todesangst gelähmt, wußte er nicht, was +er beginnen sollte. Plötzlich zuckte eine jähe Hoffnung in seinem Gehirn +auf. »Halt!« schrie er. »Wie lang ist es her, daß Ihre Schwester +gestorben ist? Rasch, sagen Sie!« + +»Achtzehn Jahre«, sagte der Mann. »Warum fragst du? Was machen die +Jahre?« + +»Achtzehn Jahre!« lachte Dorian mit einem triumphierenden Ton in seiner +Stimme. »Achtzehn Jahre! Bringen Sie mich unter die Laterne und sehen +Sie mein Gesicht an!« + +James Vane zögerte einen Augenblick und begriff nicht, was er meinte. +Dann packte er Dorian Gray und schleifte ihn aus dem Torweg heraus. + +So dunkel und flackernd das windverwehte Licht auch war, es genügte +doch, ihm den furchtbaren Irrtum zu zeigen, in den er geraten zu sein +schien. Denn das Antlitz des Mannes, den er töten wollte, wies die ganze +Blütenweichheit der Jugend auf, zeigte all die unbefleckte Reinheit der +Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling von zwanzig Lenzen, kaum +älter, als seine Schwester gewesen war, als sie vor so vielen Jahren +Abschied voneinander genommen hatten. Es war klar, daß dies nicht der +Mann war, der ihr Leben zerstört hatte. + +Er ließ seine Faust von ihm los und taumelte zurück. »Mein Gott, mein +Gott!« rief er aus, »und ich hätte Sie fast ermordet!« + +Dorian Gray schöpfte tief Atem. »Sie waren dicht daran, ein furchtbares +Verbrechen zu begehen, Mann«, sagte er mit einem strengen Blick. »Lassen +Sie sich das eine Warnung sein, eine Rache nicht mit eigener Hand zu +übernehmen.« + +»Verzeihen Sie mir, Herr!« stammelte James Vane. »Ich habe mich täuschen +lassen. Ein zufälliges Wort, das ich in der verfluchten Kneipe hörte, +brachte mich auf die falsche Spur.« + +»Sie sollten lieber nach Hause gehen und Ihre Pistole wegtun, sonst +kommen Sie noch in Ungelegenheiten«, sagte Dorian, drehte sich um und +ging langsam die Straße hinunter. + +James Vane stand voller Entsetzen auf dem Pflaster. Er zitterte von Kopf +bis Fuß. Nach einer kleinen Weile bewegte sich ein schwarzer Schatten, +der längs der regenfeuchten Wand hingeschlichen war, ins Licht hinaus +und glitt mit verstohlenen Schritten an seine Seite. Er spürte eine Hand +auf seinem Arm und drehte sich mit jähem Ruck um. Es war eines der +Weiber, die am Büfett getrunken hatten. + +»Warum hast du ihn nicht umgebracht?« zischte sie und brachte ihr +verlebtes Gesicht ganz dicht an das seine. »Ich wußte, daß du ihm +folgtest, als du aus Dalys Haus fortranntest. Du Narr! Du hättest ihn +totschlagen sollen. Er hat einen Haufen Geld und ist schlechter als +sonst wer.« + +»Er ist nicht der Mann, den ich suche,« antwortete er, »und ich suche +keines Menschen Geld. Ich such' eines Menschen Leben. Der Mann, dessen +Leben ich suche, muß jetzt an die Vierzig sein. Der da war fast noch ein +Knabe. Ich danke Gott, daß nicht sein Blut an meinen Händen klebt.« + +Das Weib stieß ein bitteres Lachen aus. »Fast noch ein Knabe!« höhnte +sie. »Wahrhaftig, Mensch, es ist fast achtzehn Jahre her, seit Prinz +Märchenschön das aus mir gemacht hat, was ich heute bin!« + +»Du lügst!« schrie James Vane. + +Sie hob die Hände gen Himmel. »Bei Gott, ich sage die Wahrheit!« rief +sie. + +»Bei Gott?« + +»Du kannst mich kaltmachen, wenn es nicht so ist. Er ist der +Schlechteste von allen, die herkommen. Sie sagen, er hat dem Teufel +seine Seele für sein hübsches Gesicht verkauft. Es sind fast achtzehn +Jahre, daß ich ihn kennenlernte. Er hat sich seitdem wenig verändert. +Ich um so mehr«, fügte sie mit einem traurigen Blinzeln hinzu. + +»Beschwörst du das?« + +»Ich schwöre es«, klang es wie ein heiseres Echo aus ihrem entstellten +Munde. »Aber verrate mich ihm nicht«, winselte sie; »ich habe Angst vor +ihm. Gib mir 'n paar Groschen zum Nachtquartier.« + +Mit einem Fluch riß er sich von ihr los und stürzte an die Straßenecke; +aber Dorian Gray war verschwunden. Als er zurückblickte, war auch das +Weib schon weg. + + + + +Siebzehntes Kapitel + + +Eine Woche später saß Dorian Gray im Gewächshaus von Selby Royal und +plauderte mit der hübschen Herzogin von Monmouth, die sich mit ihrem +Gatten, einem ermüdet aussehenden Manne von sechzig Jahren, unter seinen +Gästen befand. Es war zur Teezeit, und das sanfte Licht der großen, mit +einem Spitzenschleier verhängten Lampe, die auf dem Tische stand, +erleuchtete das kostbare Porzellan und das getriebene Silberservice, das +neben der Herzogin stand. Ihre weißen Hände machten sich zierlich +zwischen den Tassen zu schaffen, und ihre vollen, roten Lippen lächelten +über etwas, das ihr Dorian zugeflüstert hatte. Lord Henry lag +zurückgelehnt in einem mit Silberseide bezogenen Rohrsessel und sah +beide an. Auf einem pfirsichfarbenen Diwan saß Lady Narborough und tat +so, als ob sie der Beschreibung des Herzogs zuhörte, die den letzten +brasilianischen Käfer betraf, den er seiner Sammlung einverleibt hatte. +Drei junge Leute in gewählter Gesellschaftstoilette boten den Damen +Teekuchen an. Die Gesellschaft bestand aus zwölf Personen, und für den +nächsten Tag wurden noch einige erwartet. + +»Worüber sprecht ihr beide?« fragte Lord Henry, während er gemächlich zu +dem Teetisch ging und seine Tasse niederstellte. »Ich hoffe, Dorian hat +dir von meinem Plan, alles umzutaufen, erzählt, Gladys. Es ist eine +allerliebste Idee.« + +»Aber ich will nicht umgetauft werden, Harry«, erwiderte die Herzogin +und sah ihn mit ihren reizend schönen Augen an. »Ich bin mit meinem +Namen ganz zufrieden und ich denke, Herr Gray kann auch mit seinem +zufrieden sein.« + +»Meine teure Gladys, ich würde um keinen Preis der Welt einen der beiden +Namen umändern wollen. Sie sind beide vollendet. Ich dachte +hauptsächlich an Blumen. Gestern schnitt ich mir eine Orchidee für mein +Knopfloch. Es war eine wundervoll gesprenkelte Blume, so wirkungsvoll +wie die sieben Todsünden. In einem Anfall von Gedankenträgheit fragte +ich einen der Gärtner, wie sie heiße. Er sagte mir, es sei ein schönes +Exemplar der Robinsoniana oder irgendeine derartige gräßliche +Bezeichnung. Es ist eine traurige Wahrheit, aber wir haben die +glückliche Gabe verloren, den Dingen schöne Namen zu geben. Und Namen +sind alles. Ich kämpfe nie gegen Taten an. Mein einziger Kampf richtet +sich gegen die Worte. Das ist der Grund, weshalb ich den vulgären +Realismus in der Literatur verabscheue. Der Mann, der imstande ist, +einen Spaten einen Spaten zu nennen, sollte gezwungen werden, selbst +einen in die Hand zu nehmen. Es ist die einzige Sache, zu der er +tauglich wäre.« + +»Wie sollen wir also dich nennen, Harry?« fragte sie. + +»Sein Name ist Prinz Paradox«, sagte Dorian. + +»Der wird sofort akzeptiert!« rief die Herzogin. + +»Ich will ihn nicht hören«, lachte Lord Henry und ließ sich in ein +Fauteuil fallen. »Vor einem solchen Etikettchen kann man sich nicht +retten. Ich weise den Titel zurück.« + +»Fürstlichkeiten können nicht abdanken«, warnten ihn schöne Lippen. + +»Du willst also, daß ich meinen Thron verteidige?« + +»Ja.« + +»Ich sage die Wahrheiten von morgen.« + +»Ich ziehe die Irrtümer von heute vor«, antwortete sie. + +»Du entwaffnest mich, Gladys!« rief er, entzückt von ihrer übermütigen +Laune. + +»Deines Schildes, Harry, nicht deines Speeres.« + +»Ich kämpfe nie gegen Schönheit«, sagte er mit einer huldigenden +Handbewegung. + +»Das ist dein Fehler, Harry, glaube mir's. Du überschätzest die +Schönheit.« + +»Wie kannst du das sagen? Ich gebe zu, daß ich es für besser halte, +schön zu sein als gut. Aber andererseits ist niemand eher als ich bereit +zuzugeben, daß es besser ist, gut zu sein als häßlich.« + +»Dann also ist Häßlichkeit eine der sieben tödlichen Sünden?« rief die +Herzogin. »Wie steht es nun mit deinem Orchideengleichnis?« + +»Häßlichkeit ist eine von den sieben tödlichen Tugenden, Gladys. Du als +gute Tory darfst sie nicht unterschätzen. Das Bier, die Bibel und die +sieben tödlichen Tugenden haben aus England gemacht, was es heute ist.« + +»Du liebst also dein Vaterland nicht?« fragte sie. + +»Ich lebe darin.« + +»Damit du es besser tadeln kannst.« + +»Sähest du es lieber, daß ich mir das Urteil Europas über unser Land +aneigne?« fragte er. + +»Was sagt man von uns?« + +»Daß Tartüff nach England ausgewandert sei und dort einen Laden +aufgemacht habe.« + +»Ist das von dir, Harry?« + +»Ich schenke es dir.« + +»Ich kann's nicht gebrauchen. Es ist zu wahr.« + +»Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Unsere Landsleute erkennen sich +nie in ihrem Steckbrief wieder.« + +»Du bist so praktisch.« + +»Eher gerissen als praktisch. Wenn sie ihr Kontokorrent abschließen, +dann saldieren sie Dummheit mit Reichtum und Laster mit Heuchelei.« + +»Und doch haben wir große Dinge vollbracht.« + +»Große Dinge sind uns auferlegt worden, Gladys.« + +»Wir haben ihre Last zu tragen vermocht.« + +»Nur bis zur Börse.« + +Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube an unsere Rasse!« rief sie. + +»Sie vertritt den überlebenden Ellbogenstreber.« + +»Sie hat das Zeug zur Entwicklung.« + +»Verfall reizt mich mehr.« + +»Und die Kunst?« fragte sie. + +»Eine Krankheit.« + +»Liebe?« + +»Einbildung.« + +»Religion?« + +»Modesurrogat für den Glauben.« + +»Du bist ein Skeptiker!« + +»Niemals! Skeptizismus ist der Anfang des Glaubens.« + +»Was bist du?« + +»Definieren heißt beschränken.« + +»Reich mir den Ariadnefaden!« + +»Fäden zerreißen. Du wurdest deinen Weg im Labyrinth verlieren.« + +»Du machst mich wirre. Laß uns von einem anderen sprechen.« + +»Unser Wirt ist ein entzückendes Thema. Vor vielen Jahren nannte man ihn +den Prinz Märchenschön.« + +»Ach! Erinnere mich nicht daran!« rief Dorian Gray. + +»Unser Wirt ist recht greulich heute abend«, antwortete die Herzogin und +errötete. »Er denkt wohl, Monmouth habe mich nur aus wissenschaftlichen +Gründen geheiratet, weil ich das beste Musterbeispiel eines modernen +Schmetterlings bin.« + +»Ich hoffe aber, er wird Sie nicht auf Stecknadeln spießen, Frau +Herzogin«, lachte Dorian. + +»Oh! Das besorgt schon meine Kammerjungfer, Herr Gray, wenn sie sich +über mich ärgert.« + +»Und worüber ärgert sie sich, Frau Herzogin?« + +»Über die geringsten Dinge, Herr Gray, glauben Sie nur! Gewöhnlich, wenn +ich zehn Minuten vor neun nach Hause komme und ihr sage, daß ich bis +halb neun angezogen sein muß.« + +»Wie unvernünftig von ihr! Sie sollten ihr den Laufpaß geben!« + +»Das wag' ich nicht, Herr Gray. Sie erfindet nämlich meine Hüte. Sie +erinnern sich nicht an den Hut, den ich auf Lady Hilstones Gartenfest +getragen habe? Natürlich nicht, aber es ist hübsch von Ihnen, daß Sie so +tun. Also der war geradezu aus nichts gemacht. Alle guten Hüte werden +aus nichts gemacht.« + +»Wie jeder gute Ruf, Gladys!« unterbrach Lord Henry. »Jede Wirkung, die +man erzielt, schafft uns einen Feind. Man muß eine Mittelmäßigkeit sein, +wenn man eine Beliebtheit sein will.« + +»Nicht unter Frauen«, sagte die Herzogin und schüttelte den Kopf; »und +Frauen regieren die Welt. Ich behaupte steif und fest, wir können +Mittelmäßigkeiten nicht vertragen. Wir Frauen, hat mal jemand gesagt, +lieben mit den Ohren, gerade so, wie ihr Männer mit den Augen liebt, +wenn ihr überhaupt liebt.« + +»Es scheint mir, daß wir überhaupt nie etwas anderes tun«, flüsterte +Dorian. + +»Ach! Herr Gray, dann lieben Sie nie in Wirklichkeit«, antwortete die +Herzogin wie in spöttischer Trauer. + +»Meine liebe Gladys.« rief Lord Henry. »Wie kannst du das sagen? Die +Romantik lebt von Wiederholung, und die Wiederholung verwandelt jeden +Anreiz in Kunst. Übrigens, jedesmal, wenn man liebt, ist es das +erstemal, daß man geliebt hat. Die Verschiedenheit des Objektes +verändert die Einzigkeit der Leidenschaft nicht. Sie macht sie nur +stärker. Wir können im Leben bestenfalls nur ein einziges großes +Erlebnis haben, und das Geheimnis des Lebens besteht darin, dieses +Erlebnis so oft als möglich zu wiederholen.« + +»Selbst wenn es einen verwundet hat, Harry?« fragte die Herzogin nach +einer Pause. + +»Besonders wenn es einen verwundet hat«, entgegnete Lord Henry. + +Die Herzogin wandte sich um und sah Dorian Gray an mit einem seltsamen +Ausdruck in ihren Augen. »Was sagen Sie dazu, Herr Gray?« forschte sie. + +Dorian zögerte einen Augenblick. Dann warf er den Kopf zurück und +lachte. »Ich stimme mit Harry immer überein, Frau Herzogin.« + +»Auch wenn er unrecht hat?« + +»Harry hat nie unrecht, Frau Herzogin.« + +»Und macht Sie seine Philosophie glücklich?« + +»Glück habe ich nie gesucht. Wer braucht Glück? Ich habe Vergnügen +gesucht.« + +»Und gefunden, Herr Gray?« + +»Oft. Zu oft.« + +Die Herzogin seufzte. »Ich suche Frieden,« sagte sie, »und wenn ich +jetzt nicht gehe und mich anziehe, habe ich ihn heut abend nicht.« + +»Lassen Sie mich Ihnen ein paar Orchideen holen, Frau Herzogin!« rief +Dorian, sprang auf und ging ins Gewächshaus hinunter. + +»Du flirtest ganz schändlich mit ihm«, sagte Lord Henry zu seiner +Kusine. »Du solltest dich lieber in acht nehmen. Er kann sehr +faszinieren.« + +»Wenn er es nicht könnte, gäb's keinen Kampf.« + +»Also Griechen kämpfen gegen Griechen?« + +»Ich bin auf seiten der Trojaner. Sie kämpften für ein Weib.« + +»Sie wurden besiegt.« + +»Es gibt ärgere Dinge als Gefangenschaft«, erwiderte sie. + +»Du galoppierst mit verhängtem Zügel.« + +»Das Tempo macht Leben«, war die Antwort. + +»Ich will mir das heut abend in mein Tagebuch schreiben.« + +»Was?« + +»Daß ein gebranntes Kind das Feuer liebt.« + +»Ich bin noch nicht einmal versengt. Meine Flügel sind unberührt.« + +»Du gebrauchst sie zu allem, nur nicht zur Flucht.« + +»Der Mut ist von den Männern zu den Frauen gewandert. Das ist ein neues +Erlebnis für uns.« + +»Du hast eine Rivalin.« + +»Wen?« + +Er lachte. »Lady Narborough«, flüsterte er. »Sie betet ihn an.« + +»Du machst mir Angst. Die Beschwörung des Altertums ist für uns +Romantiker stets gefährlich.« + +»Romantiker! Du hast alle Methoden der Wissenschaft.« + +»Männer haben uns erzogen.« + +»Aber nicht erklärt.« + +»Gib uns eine Definition unseres Geschlechtes«, forderte sie ihn heraus. + +»Sphinxe ohne Geheimnisse.« + +Sie sah ihn lächelnd an. »Wie lange Herr Gray wegbleibt«, sagte sie. +»Wir wollen ihm helfen. Ich habe ihm noch nicht einmal die Farbe meines +Kleides angegeben.« + +»Pah! Du mußt dein Kleid seinen Blumen anpassen, Gladys.« + +»Das wäre eine zu frühe Übergabe.« + +»Die romantische Kunst beginnt mit dem Höhepunkt.« + +»Ich muß mir die Möglichkeit des Rückzuges offen halten.« + +»Wie die Parther?« + +»Sie fanden Schutz in der Wüste. Mir wäre das nicht möglich.« + +»Man läßt den Frauen nicht immer die Wahl«, entgegnete er; aber kaum +hatte er den Satz zu Ende gesprochen, als von dem äußersten Winkel des +Gewächshauses her ein unterdrücktes Stöhnen kam, dem das dumpfe Gerausch +eines schweren Falles folgte. Alles sprang auf. Die Herzogin stand +regungslos da vor Schreck. Mit ängstlichen Augen stürzte Lord Henry +durch die wehenden Fächer der Palmen und fand Dorian Gray in einer +todesähnlichen Ohnmacht am Boden liegend, mit dem Gesicht auf den kühlen +Fliesen. + +Er wurde sofort in den blauen Salon gebracht und auf ein Sofa gelegt. +Nach einer kurzen Weile kam er wieder zu sich und sah sich verstört um. + +»Was ist geschehen?« fragte er. »Ach! jetzt fällt mir's ein. Bin ich +hier sicher, Harry?« Er begann zu zittern. + +»Mein lieber Dorian,« antwortete Lord Henry, »es war ein +Ohnmachtsanfall. Weiter nichts. Du mußt dich wohl übermüdet haben. Komm +lieber nicht zum Diner hinunter. Ich werde dich vertreten.« + +»Nein, ich will herunterkommen«, sagte er und mühte sich, auf den Füßen +zu stehen. »Ich komme lieber herunter! Ich darf nicht allein sein.« + +Er ging in sein Zimmer und zog sich um. Als er bei Tisch saß, war in +seinem Gehaben eine wilde, übermütige Lustigkeit, aber hin und wieder +überlief ihn ein Angstschauer, wenn er sich erinnerte, daß er, gegen die +Fensterscheiben des Gewächshauses gepreßt, das lauernde Gesicht James +Vanes wie ein weißes Tuch erblickt hatte. + + + + +Achtzehntes Kapitel + + +Am nächsten Tage verließ er das Haus nicht und verbrachte den größten +Teil der Zeit in seinem Zimmer, durchrüttelt von einer wilden +Todesfurcht und dem Leben gegenüber doch gleichgültig. Das Bewußtsein, +gejagt, umzingelt, aufgestöbert zu werden, fing an, ihn gänzlich zu +beherrschen. Wenn nur die Vorhänge im Winde rauschten, schrak er +zusammen. Die toten Blätter, die gegen die verbleiten Scheiben gefegt +wurden, schienen ihm seine eigenen vergeudeten Vorsätze und ungestümen +Gewissensbisse zu sein. Wenn er die Augen schloß, sah er wieder das +Gesicht des Matrosen vor sich, wie es durch das feuchtbeschlagene Glas +stierte, und das Entsetzen schien ihm noch einmal seine Hand aufs Herz +zu legen. + +Aber vielleicht war es nur seine Phantasie gewesen, die die Rache aus +der Nacht heraufbeschworen und ihm die gräßliche Gestalt der Strafe +vorgetäuscht hatte. Das wirkliche Leben war ein Chaos, aber es war eine +furchtbare Logik in der Phantasie. Die Phantasie hetzte die +Gewissensbisse hinter den flüchtigen Sohlen der Sünde her. Die Phantasie +ließ jedes Verbrechen seine mißgestaltete Brut in sich tragen. In der +gewöhnlichen Welt der Tatsachen wurden die Schlechten so wenig bestraft +wie die Guten belohnt. Der Erfolg gehörte den Starken, Unglück machte +die Schwachen unterliegen. Das war alles. Zudem, wenn ein Fremder um das +Haus herumgestrolcht wäre, so hätten ihn die Diener oder Wächter +entdeckt. Wären irgendwelche Fußtapfen in den Beeten bemerkt worden, so +hätten es die Gärtner gemeldet. Ja: es war alles bloße Einbildung. Sybil +Vanes Bruder war nicht zurückgekommen, um ihn zu ermorden. Er war mit +seinem Schiff abgesegelt, um in irgendeiner arktischen See zu ertrinken. +Vor dem war er also sicher. Der Mann wußte gar nicht, wer er war und +konnte es nicht wissen. Die Maske der Jugend hatte ihn gerettet. + +Und doch, wenn es eine bloße Ausgeburt der Einbildung gewesen war, wie +schrecklich war doch der Gedanke, daß das Gewissen so fürchterliche +Hirngespinste entstehen lassen und ihnen sichtbare Form und Bewegung +geben konnte! Was für eine Art Leben würde er führen, wenn Tag und Nacht +die Schatten seines Verbrechens aus düsteren Winkeln nach ihm spähten, +ihn von geheimen Stellen aus neckten, ihm ins Ohr flüsterten, wenn er +beim Mahle saß, ihn mit eisigen Fingern weckten, wenn er schlief! Als +dieser Gedanke durch sein Hirn kroch, wurde er blaß vor Schrecken, und +die Luft schien ihm plötzlich kälter geworden zu sein. Oh! in was für +einer wilden Wahnsinnsstunde hatte er seinen Freund umgebracht! Wie +bluterstarrend war nur die Erinnerung an diese Szene! Er sah es alles +wieder. Jede gräßliche Einzelheit kam mit vermehrtem Entsetzen wieder zu +ihm. Aus dem schwarzen Grabverlies der Zeit stieg schrecklich und in +Scharlachrot gehüllt das Bild seiner Sünde empor. Als Lord Henry um +sechs Uhr eintrat, fand er ihn schluchzend, als ob ihm das Herz brechen +wolle. + +Erst am dritten Tage wagte er auszugehen. Es lag etwas in der klaren, +tannenduftenden Luft dieses Wintermorgens, das ihm seine Fröhlichkeit +und seine Lebenslust wiederzugeben schien. Aber nicht nur die physischen +Bedingungen seiner Umgebung hatten diese Wandlung zuwege gebracht. Seine +eigene Natur hatte sich gegen das Übermaß der Angst empört, die ihre +vollendete Ruhe zu stören und zu vernichten versucht hatte. Mit feinen +und subtil organisierten Temperamenten ist es immer so. Ihre heftigen +Leidenschaften können nur Hammer oder Amboß sein. Entweder töten sie den +Menschen oder sterben selbst. Oberflächliche Sorgen, oberflächliche +Liebesempfindungen können weiter leben. Tiefe Liebesempfindungen und +große Sorgen gehen durch ihre eigene Überfülle zugrunde. Überdies hatte +er sich jetzt überzeugt, daß er das Opfer einer erschreckten +Einbildungskraft gewesen war, und sah jetzt auf seine Ängste mit einer +Art Mitleid und nicht geringer Verachtung zurück. + +Nach dem Frühstück ging er mit der Herzogin ein Stündchen im Garten +spazieren und fuhr dann durch den Park, um mit der Jagdgesellschaft +zusammenzutreffen. Der feinperlige Reif lag wie Salz auf dem Rasen. Der +Himmel sah aus wie ein umgestülpter Pokal aus blauem Metall. Ein dünner +Eisgallert umsäumte den seichten, schilfbewachsenen Teich. + +Am Eingang des Tannenwaldes erblickte er Sir Geoffrey Clouston, den +Bruder der Herzogin, der eben zwei verschossene Patronen aus seiner +Flinte stieß. Dorian sprang aus dem Wagen, sagte dem Groom, er solle mit +dem Gespann nach Hause fahren, und ging durch das welke Farnkraut und +das gestrüppige Unterholz auf seinen Gast zu. + +»Gute Jagd gehabt, Geoffrey?« fragte er. + +»Nicht berühmt, Dorian. Die meisten Vögel, glaub' ich, sind auf die +Felder geflüchtet. Vielleicht wird's nachmittag besser sein, wenn wir +auf frisches Revier kommen.« + +Dorian schlenderte neben ihm weiter. Die starke, aromatische Luft, die +braunen und roten Lichter, die den Wald durchflimmerten, das rauhe +Geschrei der Treiber, das von Zeit zu Zeit aufgellte, und der scharfe +Knall der Flinten, der dann folgte, das alles fesselte ihn und erfüllte +ihn mit einem Gefühl entzückender Freiheit. Er war beherrscht von einem +sorglosen Glück, von einer großartigen Gleichgültigkeit der Freude. + +Plötzlich brach aus einem dicken Büschel alten Grases, vielleicht +zwanzig Meter vor ihnen, ein Hase aus, die schwarzgesprenkelten Löffel +steif aufgerichtet und die langen Hinterläufe nach vorn werfend. Er +schnellte auf ein Erlendickicht los. Sir Goeffrey riß das Gewehr an die +Schulter, aber in der anmutigen Bewegung des Tieres lag etwas, das +Dorian Gray seltsam entzückte, und er rief hastig: »Schieß nicht, +Geoffrey. Laß ihn laufen!« + +»Ach, Unsinn, Dorian«, sagte lachend sein Gefährte, und noch ehe der +Hase in das Dickicht setzte, schoß er zu. Man hörte zwei Schreie, den +Schrei eines verwundeten Hasen, der schrecklich ist, und den Schrei +eines sterbenden Menschen, der noch schrecklicher ist. + +»Gott im Himmel, ich habe einen Treiber getroffen!« rief Sir Geoffrey +aus. »Was für 'n Esel der Mann ist, einem direkt vors Gewehr zu laufen! +Hört auf mit Schießen!« rief er mit seiner lautesten Stimme. »Ein Mann +ist getroffen worden!« + +Der Hegemeister kam mit einem Stock in der Hand herbeigelaufen. + +»Wo, Herr? Wo ist er?« rief er. Im selben Augenblick hörte das Schießen +auf der ganzen Linie auf. + +»Hier!« antwortete Sir Geoffrey ärgerlich und rannte auf das Dickicht +zu. »Warum, zum Kuckuck, halten Sie Ihre Leute nicht weiter zurück? Für +heute hab' ich die ganze Jagd im Magen.« + +Dorian sah ihnen nach, wie sie in die Erlenbüsche eindrangen und die +biegsamen Zweige zur Seite bogen. Nach einigen Augenblicken erschienen +sie wieder und zogen einen Körper ans Tageslicht. Er wandte sich +entsetzt ab. Es schien ihm, als folge ihm das Mißgeschick überallhin. Er +hörte, wie Sir Geoffrey fragte, ob der Mann wirklich tot wäre, und +vernahm die bejahende Antwort des Hegemeisters. Es schien ihm, als +wimmele der Wald urplötzlich von Gesichtern. Er hörte das Gelaufe von +unzähligen Füßen und das gedämpfte Flüstern von Stimmen. Ein großer +Fasan mit kupferfarbener Brust rauschte durch die Äste über ihm dahin. + +Nach einigen Augenblicken, die ihm in seiner Fassungslosigkeit wie +endlose, peinvolle Stunden vorkamen, fühlte er eine Hand auf seiner +Schulter. Er zuckte zusammen und wandte sich um. + +»Dorian,« sagte Lord Henry, »ich halt 's für richtiger, die Jagd für +heute beendet sein zu lassen. Es würde nicht gut aussehen, sie +fortzusetzen.« + +»Ich wollte, sie wäre für immer beendet, Harry«, antwortete er bitter. +»Die ganze Geschichte ist gräßlich und grausam ist der Mann...?« Er +konnte den Satz nicht vollenden. + +»Ja leider«, entgegnete Lord Henry. »Er hat die ganze Ladung in die +Brust gekriegt. Er muß augenblicklich gestorben sein. Komm, wir wollen +nach Hause.« + +Sie schritten nebeneinander auf die Allee zu und sprachen etwa fünfzig +Meter weit kein Wort. Dann sah Dorian Lord Henry an und sagte mit einem +tiefen Seufzer: »Das ist ein böses Omen, Harry, ein sehr böses Omen.« + +»Was denn?« fragte Lord Henry. »Oh! diesen Unglücksfall meinst du. +Lieber Junge, daran ist nichts zu ändern. Der Mann hatte ja selber +schuld. Warum lief er in die Schußlinie? Überdies ist es nicht unsere +Sache. Für Geoffrey ist es natürlich nicht gerade angenehm! Es ist +nicht hübsch, Treiber niederzupuffen. Die Leute denken gleich, man wäre +ein Sonntagsjäger. Und das ist Geoffrey nicht; er schießt sogar +brillant. Aber es hat keinen Zweck, über den Unfall weiter zu reden.« + +Dorian schüttelte den Kopf. »Es ist ein böses Omen, Harry. Ich habe das +Gefühl, als müßte einem von uns etwas Schreckliches zustoßen. Mir selbst +vielleicht«, fügte er hinzu und legte mit einer schmerzlichen Bewegung +die Hand über die Augen. + +Der ältere lachte. »Das einzig Schreckliche in der Welt ist Langeweile, +Dorian. Das ist die einzige Sünde, für die es keine Vergebung gibt. Aber +wir werden darunter schwerlich zu leiden haben, wenn die Gesellschaft +bei Tisch nicht etwa noch über die Sache viel Aufhebens macht. Ich muß +den Leuten sagen, daß dieses Thema einfach Tabu ist. Und Omina --so was +wie Omina gibt's nicht. Das Geschick sendet uns keine Herolde. Es ist zu +weise dazu oder zu grausam. Übrigens, was in aller Welt sollte dir +geschehen, Dorian? Du hast alles, was sich ein Mensch hienieden wünschen +kann. Ich wüßte niemand, der nicht freudig mit dir tauschen möchte.« + +»Es gibt keinen, mit dem ich nicht tauschen möchte, Harry. Lach' nicht +darüber. Ich spreche die Wahrheit. Der elende Bauer, der da gestorben +ist, ist besser daran als ich. Ich habe keine Angst vor dem Tode. Das +Sterben ist's, wovor ich mich ängstige. Seine ungeheuren Flügel scheinen +mich rings in der bleiernen Luft zu umschatten. Herr des Himmels, siehst +du nicht, daß da hinter den Bäumen ein Mann auf mich lauert und mich +beobachtet?« + +Lord Henry sah in die Richtung, wohin die behandschuhte Hand zitternd +wies. »Ja,« sagte er lächelnd, »ich sehe da den Gärtner auf dich warten. +Er will dich vermutlich fragen, welche Blumen du heute auf dem Tisch +haben willst. Wie lächerlich nervös du heute bist, lieber Junge! Du mußt +gleich meinen Doktor konsultieren, wenn wir wieder in der Stadt sind.« + +Dorian seufzte erleichtert auf, als er den Gärtner herankommen sah. Der +Mann legte die Hand an den Hut, blickte erst zaudernd auf Lord Henry und +zog dann einen Brief hervor, den er seinem Herrn überreichte. »Ihre +Gnaden hat mir aufgetragen, auf Antwort zu warten«, sagte er halblaut. + +Dorian steckte den Brief in die Tasche. »Sagen Sie Ihrer Gnaden, ich +würde kommen«, sagte er kühl. Der Mann kehrte um und schritt rasch dem +Hause zu. + +»Wie gern doch die Frauen gefährliche Dinge tun!« sagte Lord Henry +lachend. »Das ist eine von ihren Eigenschaften, die ich am meisten +bewundere. Eine Frau ist mit jedem auf der Welt zu flirten bereit, +solange andere Leute dabei Zuschauer sind.« + +»Wie gern du doch gefährliche Dinge sagst, Harry! In diesem Falle bist +du aber ganz auf dem Holzwege. Ich habe die Herzogin sehr gern, aber ich +liebe sie nicht.« + +»Und die Herzogin liebt dich sehr, aber sie hat dich nicht gern, also +paßt ihr beide famos zusammen.« + +»Du machst Klatschereien, Harry, und diesmal ist gar kein Grund zu +Klatschereien vorhanden.« + +»Die Grundlage für jeden Klatsch ist eine unmoralische Verläßlichkeit«, +sagte Lord Henry und zündete sich eine Zigarette an. + +»Du würdest jeden von uns bloßstellen, Harry, um einen Witz zu machen.« + +»Die Welt legt sich aus freien Stücken auf den Opferaltar«, war die +Antwort. + +»Ich wollte, ich könnte lieben!« rief Dorian Gray mit einem +tiefpathetischen Klang in seiner Stimme. »Aber es scheint, ich habe die +Glut der Leidenschaft verloren und die Sehnsucht des Begehrens +vergessen. Ich bin zu sehr in mich selber konzentriert. Meine eigene +Person ist eine Last für mich geworden. Ich möchte entfliehen, weggehen, +vergessen. Es war albern von mir, überhaupt herzukommen. Ich denke, ich +telegraphiere an Harvey, daß er die Jacht instand setzt. Auf einer Jacht +ist man sicher.« + +»Wovor sicher, Dorian? Du hast Unruhe. Warum sagst du mir nicht, was es +ist? Du weißt, daß ich dir helfen könnte.« + +»Ich kann es dir nicht sagen, Harry«, erwiderte er traurig. »Und es mag +wohl alles nur Einbildung sein. Der unglückselige Zwischenfall hat mich +aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich habe eine schreckliche Vorahnung, +daß mir etwas Ähnliches zustößt.« + +»Was für Unsinn!« + +»Ich hoffe, es ist Unsinn, aber ich kann dies Gefühl nicht loswerden. +Ah! da kommt die Herzogin und sieht aus wie Artemis in einem +Tailormade-Kleide. Sie sehen, wir sind zurück, Frau Herzogin.« + +»Ich habe schon alles gehört, Herr Gray«, antwortete sie. »Der arme +Geoffrey ist ganz außer Fassung. Und man sagt, Sie hatten ihn gebeten, +nicht auf den Hasen zu schießen. Wie seltsam!« + +»Ja, es war sehr seltsam. Ich kann nicht mal sagen, warum ich es getan +habe. Eine Eingebung vermute ich. Er sah so niedlich aus, der kleine +Kerl. Aber ich bedaure sehr, daß man Ihnen von dem Manne erzählt hat. Es +ist ein peinliches Thema.« + +»Es ist ein langweiliges Thema«, unterbrach ihn Lord Henry. »Es hat +keinerlei psychologischen Wert. Wenn es Geoffrey noch absichtlich getan +hätte, wie interessant wäre es dann! Ich würde gern jemand kennenlernen, +der einen wirklichen Mord begangen hat.« + +»Wie abscheulich von dir«, schrie die Herzogin auf. »Nicht war, Herr +Gray? Harry, Herrn Gray ist wieder unwohl. Er wird ohnmächtig.« + +Dorian hielt sich gewaltsam aufrecht und lächelte. »Es ist nichts, Frau +Herzogin,« murmelte er, »meine Nerven sind schrecklich in Unordnung. +Nichts weiter. Ich fürchte, ich bin heut morgen zuviel gegangen. Ich +habe gar nicht gehört, was Harry gesagt hat. War es sehr toll? Sie +müssen es mir ein andermal erzählen. Ich halte es fürs beste, mich jetzt +ein bißchen hinzulegen. Sie entschuldigen mich, nicht wahr?« + +Sie hatten die große Treppe erreicht, deren Stufen vom Gewächshaus auf +die Terrasse emporführten. Als sich die Glastür hinter Dorian +geschlossen hatte, wandte sich Lord Henry um und sah die Herzogin mit +seinen schläfrigen Augen an. »Bist du sehr in ihn verliebt?« fragte er. + +Sie gab eine Weile keine Antwort, sondern stand da und blickte auf die +Landschaft. »Ich möchte es selber wissen«, sagte sie endlich. + +Er schüttelte den Kopf. »Wissen, wäre ein Verhängnis. Nur die +Ungewißheit hat für uns Reiz. Ein Nebel macht die Dinge wunderbar.« + +»Man kann darin seinen Weg verlieren.« + +»Alle Wege enden am selben Punkt, meine liebe Gladys.« + +»Wie heißt der?« + +»Enttäuschung.« + +»So war mein Debüt im Leben«, seufzte sie. + +»Sie kam mit einer Krone zu dir.« + +»Ich bin der Erdbeerblätter in unserer Krone müde.« + +»Sie steht dir gut.« + +»Nur in der Öffentlichkeit.« + +»Sie würde dir fehlen«, sagte Lord Henry. + +»Ich werde mich von keinem Blättchen trennen.« + +»Monmouth hat Ohren.« + +»Das Alter ist schwerhörig.« + +»War er nie eifersüchtig?« + +»Ich wollte, er wäre es.« Dabei lachte sie. Ihre Zähne sahen aus wie +weiße Kerne in einer scharlachfarbenen Frucht. Indessen lag oben in +seinem Zimmer Dorian Gray auf einem Sofa, Schrecken in jeder zuckenden +Fiber seines Körpers. Das Leben war für ihn urplötzlich eine so schwere +Last geworden, daß er sie nicht mehr tragen konnte. Der gräßliche Tod +des unglücklichen Treibers, der in dem Dickicht wie ein wildes Tier +niedergeknallt worden war, schien ihm selbst den Tod vorauszusagen. Er +war fast in Ohnmacht gefallen bei dem zynischen Scherz, den Lord Henry +in einer zufälligen Laune gemacht hatte. + +Um fünf Uhr klingelte er seinem Diener und hieß ihn seine Sachen für den +Nachtschnellzug nach London zu packen und den Wagen für halb neun vors +Tor zu bestellen. Er war entschlossen, keine Nacht mehr in Selby Royal +zu schlafen. Es war ein Ort voll böser Vorzeichen. Der Tod ging dort am +hellen Tage um. Das Gras des Waldes war mit Blut befleckt. + +Dann schrieb er ein Billett an Lord Henry, in dem er ihm mitteilte, daß +er in die Stadt fahre, um den Arzt zu konsultieren, und ihn bat, seine +Gäste in seiner Abwesenheit zu unterhalten. Als er die Zeilen in ein +Kuvert legte, klopfte es an die Tür, und sein Diener meldete ihm, daß +ihn der Hegemeister sprechen wolle. Er runzelte die Stirn und biß sich +auf die Lippen. »Lassen Sie ihn eintreten«, murmelte er nach einigem +Zögern. + +Während der Mann eintrat, holte Dorian sein Scheckbuch aus einer +Schublade hervor und legte es vor sich hin. + +»Sie kommen vermutlich wegen des Unglücksfalles von heute morgen, +Thornton«, sagte er und nahm eine Feder auf. + +»Ja, Herr«, antwortete der Hegemeister. + +»War der arme Kerl verheiratet? Hatte er Angehörige zu versorgen?« +fragte Dorian mit einem müden Gesicht. »Wenn sich's so verhält, möchte +ich nicht, daß sie in Not zurückbleiben, und ich will ihnen jede Summe +schicken, die Sie für notwendig halten.« + +»Wir wissen nicht, wer es ist, gnädiger Herr. Deshalb war ich so frei, +herzukommen.« + +»Sie wissen nicht, wer es ist?« sagte Dorian zerstreut. »Wie meinen Sie +das? War es nicht einer von Ihren Leuten?« + +»Nein Herr. Ich hab' ihn mein Lebtag nicht gesehen. Er sieht aus wie ein +Matrose, gnädiger Herr.« + +Die Feder fiel Dorian Gray aus der Hand, und er hatte das Gefühl, als +höre sein Herz plötzlich zu schlagen auf. »Ein Matrose!« schrie er auf. +»Sagten Sie, ein Matrose?« + +»Ja, gnädiger Herr. Er sieht aus wie ein Matrose; auf beiden Armen +tätowiert und überhaupt so in der Art.« + +»Hat man irgend etwas bei ihm gefunden?« fragte Dorian, beugte sich vor +und sah den Mann mit aufgerissenen Augen an. »Irgend etwas, woraus man +seinen Namen erführe?« + +»Nur Geld, gnädiger Herr -- nicht viel, und einen sechsläufigen +Revolver. Nichts von Namen. Der Mann sieht sonst anständig aus, aber +gewöhnlich. Wir halten ihn für eine Art Matrosen.« + +Dorian sprang auf die Füße. Eine furchtbare Hoffnung durchblitzte ihn. +Er klammerte sich wahnsinnig an sie an. »Wo ist der Leichnam?« rief er +aus. »Rasch, ich muß ihn sofort sehen.« + +»Er liegt in einem leeren Stall im Wirtschaftsgebäude, gnädiger Herr. +Die Leute wollen so was nicht in ihren vier Wänden haben. Sie sagen, +eine Leiche bringt Unglück.« + +»Im Wirtschaftsgebäude! Gehen Sie sogleich voraus und warten Sie da auf +mich. Sagen Sie einem der Grooms, er soll mein Pferd herbringen. Nein. +Lieber nicht. Ich will selbst in den Stall kommen. Das geht rascher.« + +Kaum eine Viertelstunde später galoppierte Dorian, so rasch er konnte, +die lange Allee hinunter. Die Bäume schienen in gespenstischer Parade an +ihm vorbeizufliegen und ihm wilde Schatten in den Weg zu schleudern. +Einmal scheute die Stute vor einem weißen Pfahle und warf ihn fast ab. +Er schlug ihr die Gerte um den Hals. Sie durchschnitt die dunkle Luft +wie ein Pfeil. Die Steine stoben unter ihren Hufen. + +Endlich erreichte er das Wirtschaftsgebäude. Zwei Männer lungerten im +Hof herum. Er sprang aus dem Sattel und warf einem die Zügel hin. In dem +letzten Stall flimmerte ein Licht. Irgend etwas schien ihm zu sagen, daß +dort der Leichnam liege, und er ging rasch auf die Tür zu und legte die +Hand auf die Klinke. + +Da hielt er einen Augenblick inne und wurde sich bewußt, daß er vor der +Schwelle einer Entdeckung stehe, die ihm entweder ein neues Leben gab +oder es zerstörte. Dann stieß er die Tür auf und trat ein. + +Auf einem Haufen Säcke im entferntesten Winkel lag der tote Körper eines +Mannes, bekleidet mit einem groben Blusenhemd und blauen Hosen. Ein +unsauberes Taschentuch war ihm übers Gesicht gebreitet worden. Eine +billige Kerze steckte in einer Flasche und flackerte düster. + +Dorian Gray schauerte. Er fühlte, daß er nicht mit eigener Hand das +Taschentuch wegziehen könne, und rief nach einem der Stallknechte. + +»Nehmen Sie das da vom Gesicht weg. Ich will es sehen«, sagte er und +hielt sich an dem Türpfosten fest. + +Als es der Knecht getan hatte, machte er einen Schritt nach vorn. Ein +Freudenschrei kam von seinen Lippen. Der Mann, der im Dickicht +erschossen worden war, war James Vane. + +Er stand einige Minuten da und starrte auf den toten Körper. Als er nach +Hause ritt, waren seine Augen von Tränen umschleiert, denn er wußte +jetzt, daß er gerettet war. + + + + +Neunzehntes Kapitel + + +»Es hat gar keinen Sinn, mir zu erzählen, daß du gut werden willst!« +rief Lord Henry und tauchte seine weißen Finger in eine rote, mit +Rosenwasser gefüllte Kupferschale. »Du bist vollkommen. Bitte ändere +dich nicht.« + +Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Nein, Harry, ich habe zuviel gräßliche +Dinge getan in meinem Leben. Ich will keine mehr tun. Ich habe gestern +mit meinen guten Taten den Anfang gemacht.« + +»Wo warst du gestern?« + +»Auf dem Lande, Harry. Ich war mutterseelenallein in einem kleinen +Gasthof.« + +»Lieber Junge,« sagte Lord Henry lächelnd, »auf dem Lande kann jeder +Mensch gut sein. Dort gibt's keine Versuchungen. Das ist der Grund, +warum Leute, die nicht in der Stadt wohnen, so gänzlich unzivilisiert +sind. Zivilisation ist wahrhaftig nicht leicht zu erreichen. Es gibt nur +zwei Wege, um zu ihr zu kommen. Der eine ist Kultur, der andere +Korruption. Die Landbevölkerung hat keine Gelegenheit zu dieser noch zu +jener, und so bleiben sie so in ihrer Entwicklung stehen.« + +»Kultur und Korruption«, wiederholte Dorian. »Ich habe von beiden etwas +kennengelernt. Es scheint mir jetzt schrecklich, daß man sie immer +beisammen findet. Denn ich habe ein neues Ideal, Harry. Ich will anders +werden. Ich glaube, ich bin schon anders geworden.« + +»Du hast mir noch nicht berichtet, worin deine gute Handlung bestand. +Oder sagtest du nicht, du hättest mehr als eine getan?« fragte der +Freund und schüttete sich eine kleine rote Pyramide Erdbeeren auf seinen +Teller, auf die er aus einem muschelförmigen Sieblöffel weißen Zucker +streute. + +»Ich kann dir's ja erzählen, Harry. Es ist eine Geschichte, die ich +einem anderen nicht erzählen könnte. Ich habe jemand verschont. Es +klingt eitel, aber du verstehst, was ich meine. Sie war sehr schön und +hatte eine wunderbare Ähnlichkeit mit Sibyl Vane. Ich glaube, das war +das erste, was mich bei ihr anzog. Du erinnerst dich doch noch an Sibyl, +nicht? Wie lange das her ist! Also Hetty gehörte natürlich nicht unserem +Stand an. Sie war eine Dorfschöne. Aber ich liebte sie wirklich. Ich +weiß bestimmt, daß ich sie liebte. In dem ganzen wundervollen Maimonat, +den wir jetzt hatten, bin ich zwei-, dreimal in der Woche hingefahren, +um sie zu sehen. Gestern erwartete sie mich in einem kleinen Obstgarten. +Die Apfelblüten schneiten auf ihr Haar herab, und sie lachte. Heute +morgen in aller Herrgottsfrühe sollte sie mit mir kommen. Plötzlich +entschloß ich mich, sie so einer Blume gleich zu lassen, wie ich sie +gefunden hatte.« + +»Ich vermute, die Neuheit der Empfindung muß dir einen förmlichen +Wonneschauer bereitet haben, Dorian«, unterbrach ihn Lord Henry. »Aber +ich kann dir dein Idyll zu Ende erzählen. Du gabst ihr gute Lehren und +brachst ihr das Herz. Das ist der Anfang deiner Besserung.« + +»Harry, du bist schrecklich! Du darfst so häßliche Dinge nicht sagen. +Hettys Herz ist nicht gebrochen. Natürlich weinte sie und dergleichen. +Aber keine Schande ist auf sie gekommen. Sie kann weiterleben wie +Perdita in ihrem Garten bei Pfefferminze und Ringelblumen.« + +»Und einem treulosen Florizel nachweinen«, rief Lord Henry lachend und +lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Teuerster Dorian, du hast manchmal +die sonderbarsten Knabenanwandlungen. Glaubst du, dieses Mädchen wird +sich jemals mit einem ihres eigenen Standes glücklich fühlen? Ich +vermute, sie wird eines schönen Tages einen rohen Fuhrmann oder einen +grinsenden Bauernlümmel heiraten. Schön also, die Tatsache, daß sie dich +kennengelernt und geliebt hat, wird sie dahin bringen, ihren Mann zu +verachten, und sie wird unglücklich werden. Vom moralischen Standpunkte +aus kann ich also nicht finden, daß deine Entsagung sehr wertvoll war. +Selbst als ein Anfang ist sie armselig. Außerdem, woher willst du +wissen, ob Hetty in diesem Augenblick nicht in einem sternbeglänzten +Mühlteich schwimmt, von lieblichen Wasserlilien umkränzt wie Ophelia?« + +»Ich kann es nicht aushalten, Harry! Du spottest über alles und +beschwörst dann die ernsthaftesten Tragödien herauf. Es tut mir jetzt +leid, daß ich es dir erzählt habe. Es kümmert mich auch nicht, was du +sagst. Ich weiß, ich habe recht gehandelt. Arme Hetty! Als ich heute +früh am Gehöft vorbeiritt, sah ich ihr Gesicht weiß wie einen +Jasminzweig am Fenster. Wir wollen nicht länger davon reden, und du +sollst nicht versuchen, mich zu überzeugen, daß die erste gute Handlung, +die ich seit Jahren getan habe, das erste kleine Opfer, das ich jemals +gebracht habe, in Wahrheit eine Art Sünde wäre. Ich will mich jetzt +bessern. Und ich werde mich bessern. Erzähle mir etwas von dir. Was geht +in der Stadt vor? Ich war tagelang nicht im Klub.« + +»Die Leute sprechen noch immer über das Verschwinden des armen Basil.« + +»Ich sollte meinen, daß sie inzwischen davon genug bekommen hätten«, +sagte Dorian, während er sich etwas Wein einschenkte und leicht die +Stirn runzelte. + +»Mein lieber Junge, sie reden ja erst seit sechs Wochen davon, und das +englische Publikum ist wirklich nicht der geistigen Anstrengung +gewachsen, alle drei Monate mehr als ein Gesprächsthema zu haben. +Immerhin haben sie in der letzten Zeit Glück gehabt. Sie hatten meinen +eigenen Ehescheidungsprozeß und Alan Campbells Selbstmord. Jetzt haben +sie das geheimnisvolle Verschwinden eines Künstlers. In Scotland Yard +bleibt man hartnäckig dabei, daß der Mann im grauen Ulster, der in der +Nacht des neunten November mit dem Zwölfuhrzug nach Paris fuhr, der arme +Basil war, und die französische Polizei erklärt, Basil wäre überhaupt +nie in Paris eingetroffen. Vermutlich wird man uns etwa in vierzehn +Tagen auftischen, daß er in San Francisco gesehen worden ist. Es ist +eine schwierige Geschichte, aber von jedem Menschen, der verschwindet, +heißt es, daß er in San Francisco gesehen worden ist. Das muß eine +entzückende Stadt sein, die alle Reize der zukünftigen Welt ihr Eigen +nennt.« + +»Was glaubst du, daß Basil zugestoßen sei?« fragte Dorian, hielt seinen +Burgunder gegen das Licht und wunderte sich, daß er über diese Sache so +ruhig plaudern konnte. + +»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wenn sich Basil ein Vergnügen +daraus macht, Versteck zu spielen, so ist das nicht meine Sache. Wenn er +tot ist, will ich nicht weiter an ihn denken. Der Tod ist das einzige, +was mir Angst macht. Ich hasse ihn.« + +»Warum?« fragte der jüngere müde. + +»Weil,« sagte Lord Henry und führte die vergoldete Netzöffnung eines +Riechbüchschens zur Nase, »weil man heutzutage alles überleben kann, +ausgenommen den Tod. Tod und Philisterei sind die zwei einzigen +Tatsachen des neunzehnten Jahrhunderts, die man nicht wegerklären kann. +Wir wollen den Kaffee im Musikzimmer trinken, Dorian. Du mußt mir Chopin +vorspielen. Der Mann, mit dem meine Frau durchbrannte, spielte Chopin +hinreißend. Die arme Viktoria! Ich habe sie recht gern gehabt. Das Haus +ist ohne sie recht einsam. Natürlich ist das Eheleben nur eine +Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit. Aber schließlich bedauert man den +Verlust selbst seiner schlechtesten Gewohnheiten. Vielleicht bedauert +man die gerade am meisten. Sie sind ein so wesentlicher Teil unserer +Persönlichkeit.« + +Dorian sagte nichts, sondern stand vom Tisch auf, ging in das +Nebenzimmer, setzte sich an das Klavier und ließ seine Finger über das +weiße und schwarze Elfenbein der Tasten gleiten. Als der Kaffee gebracht +wurde, hörte er auf, sah zu Lord Henry hinüber und sagte: »Harry, ist es +dir nie eingefallen, daß Basil ermordet worden sein könnte?« + +Lord Henry gähnte. »Basil war sehr populär und trug immer nur eine +Waterburyuhr. Warum hätte man ihn ermorden sollen? Er war nicht klug +genug, um Feinde zu haben. Freilich hatte er ein wunderbares Genie als +Maler. Aber ein Mensch kann malen wie Velasquez und doch so langweilig +als möglich sein. In Wirklichkeit war Basil ziemlich langweilig. Er +interessierte mich nur ein einziges Mal, und das war damals, als er mir +vor vielen Jahren gestand, daß er dich so ungestüm anbete und daß du das +Leitmotiv seiner Kunst seist.« + +»Ich habe Basil sehr gern gehabt«, sagte Dorian mit einem traurigen +Klang in seiner Stimme. »Aber behauptet denn das Publikum nicht, daß er +ermordet worden ist?« + +»Pah, in einigen Zeitungen steht es. Es scheint mir nicht im geringsten +wahrscheinlich. Ich weiß, es gibt fürchterliche Orte in Paris, aber +Basil war nicht die Art Mensch, sie aufzusuchen. Er war nicht neugierig. +Das war sein Hauptfehler.« + +»Was würdest du dazu sagen, Harry, wenn ich dir versicherte, daß ich +Basil ermordet habe?« fragte der jüngere. Er beobachtete ihn scharf, +nachdem er das gesagt hatte. + +»Lieber Freund, ich würde sagen, daß du einen Charakter posierst, der +dich nicht kleidet. Jedes Verbrechen ist ordinär, gerade wie alles +Ordinäre ein Verbrechen ist. Du hast nicht die Gabe, Dorian, einen Mord +zu begehen. Es sollte mir leid tun, wenn ich dich durch diese Meinung in +deiner Eitelkeit kränkte, aber ich versichere dich, es ist wahr. Das +Verbrechen ist ein ausschließliches Vorrecht der unteren Klassen. Ich +will sie damit durchaus nicht tadeln. Ich vermute einfach, das +Verbrechen ist für sie, was die Kunst für uns ist, einfach ein +Verfahren, um sich außerordentliche Empfindungen zu verschaffen.« + +»Ein Verfahren, sich Empfindungen zu verschaffen? Glaubst du also, daß +ein Mensch, der einmal einen Mord begangen hat, imstande wäre, das +nämliche Verbrechen zu wiederholen? Das rede mir nicht ein.« + +»Oh! Alles wird zu einem Vergnügen, wenn man es zu oft tut!« rief Lord +Henry lachend. »Das ist eines der wichtigsten Geheimnisse des Lebens. +Immerhin bin ich des Glaubens, daß der Mord stets ein Mißgriff ist. Man +sollte nie etwas tun, worüber man sich nicht nach dem Essen unterhalten +kann. Aber wir wollen jetzt den armen Basil lassen. Ich wollte, ich +könnte glauben, daß er ein so romantisches Ende genommen hat, wie du +durchblicken läßt; aber ich kann es nicht. Ich glaube eher, daß er von +einem Omnibus in die Seine gefallen ist und der Kondukteur hat den +Skandal vertuscht. Ja, ich glaube wirklich, so war sein Ende. Ich sehe +ihn jetzt auf dem Rücken liegen unter dem dunkelgrünen Wasser, und die +schweren Lastkähne schwimmen über ihm hin, und lange Tangflechten +verwickeln sich in sein Haar. Weißt du, ich glaube nicht, daß er noch +viel Gutes gemacht hätte. In den letzten zehn Jahren ist seine Malerei +nicht mehr berühmt gewesen.« + +Dorian seufzte und Lord Henry schlenderte durch das Zimmer und +unterhielt sich damit, einem merkwürdigen Papagei aus Java den Kopf zu +krauen, einem großen, graugefiederten Vogel mit rotem Schopf und +Schwanz, der auf einem Bambusstab balancierte. Als ihn seine spitzen +Finger berührten, ließ er die weiße Nickhaut seiner Liderfalten über die +schwarzen Glaskugelaugen fallen und begann sich hin- und herzuwiegen. + +»Ja,« fuhr er fort, während er sich umdrehte, und sein Taschentuch aus +der Tasche nahm, »seine Malerei ist nicht mehr weither gewesen. Es +schien mir so, als hätte sie irgend etwas eingebüßt. Sie hatte ein Ideal +verloren. Als ihr beide aufhörtet, intime Freunde zu sein, hörte er auf, +ein großer Künstler zu sein. Was hat euch auseinander gebracht? Ich +vermute, er langweilte dich. Wenn das der Fall war, dann hat er dir nie +verziehen. Das ist gewöhnlich so bei langweiligen Menschen. Was ist +übrigens aus dem wundervollen Porträt geworden, das er von dir gemacht +hat? Ich kann mich nicht erinnern, es jemals wiedergesehen zu haben, +seit es fertig wurde. Ah! Jetzt besinne ich mich, daß du mir vor Jahren +erzählt hast, du hättest es nach Selby geschickt und es wäre unterwegs +auf irgendeine Weise gestohlen worden oder in Verlust geraten. Hast du +es nie wieder bekommen? Wie schade! Es war faktisch ein Meisterwerk. Ich +entsinne mich, daß ich es kaufen wollte. Ich wünschte, ich hätte es +jetzt. Es stammte aus Basils bester Zeit. Seitdem bestanden alle seine +Arbeiten aus dem eigentümlichen Gemengsel von schlechter Malerei und +guten Absichten, das einen Mann berechtigt, ein britischer Künstler von +Bedeutung genannt zu werden. Hast du deswegen eigentlich gar nicht +annonciert? Das hättest du tun sollen.« + +»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete Dorian. »Ich glaube, ich tat es. +Aber ehrlich gesagt, ich habe das Bild nie gemocht. Es tut mir überhaupt +leid, daß ich dazu gesessen habe. Schon die Erinnerung an das Ding ist +mir greulich. Warum sprichst du davon? Es hat mich immer an ein paar +merkwürdige Zeilen aus einem Theaterstück erinnert -- aus Hamlet, glaube +ich -- wie heißen sie? -- + + >Gleich dem Bildnis eines Grams, + ein Antlitz ohne Herz.< + +Ja, so sah es aus.« + +Lord Henry lachte. »Wenn ein Mensch das Leben künstlerisch behandelt, +ist sein Hirn sein Herz«, antwortete er und ließ sich in einen Armsessel +fallen. + +Dorian Gray schüttelte den Kopf und schlug ein paar sanfte Akkorde auf +dem Klavier an. »Gleich dem Bildnis eines Grams, ein Antlitz ohne Herz«, +wiederholte er, »ein Antlitz ohne Herz.« + +Der ältere Freund saß zurückgelehnt und blickte mit halbgeschlossenen +Augen zu ihm hinüber. »Übrigens, Dorian,« sagte er nach einer Pause, +»was hülfe es einem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und -- wie +heißt die Stelle doch? -- seine eigene Seele verlöre?« + +Die Musik brach schrill ab und Dorian Gray schnellte auf und starrte +seinen Freund an. »Warum fragst du mich das, Harry?« + +»Aber bester Junge,« sagte Lord Henry und zog verwundert die Augenbrauen +in die Höhe, »ich habe dich gefragt, weil ich dachte, du könntest mir +eine Antwort geben. Das ist alles. Ich bin letzten Sonntag durch Hyde +Park gegangen, und nahe beim Marble Arch stand eine kleine Ansammlung +schäbig aussehender Menschen, die irgendeinem ordinären Straßenprediger +lauschten. Als ich vorbeiging, hörte ich den Mann diese Frage seinen +Zuhörern entgegenschreien. Es berührte mich ordentlich dramatisch. +London ist sehr reich an seltsamen Wirkungen solcher Art. Ein +regnerischer Sonntag, ein unmanierlicher Christ in einem Regenmantel, +ein Kreis krankhafter, bleicher Gesichter unter dem wellenförmigen Dach +tropfender Regenschirme und ein wunderbarer Satz, von schrillen, +hysterischen Lippen in die Luft geschleudert, das war auf seine Art +wirklich sehr gut, es lag geradezu eine gewisse Suggestion darin. Ich +dachte zuerst daran, dem Propheten zu sagen, daß die Kunst eine Seele +habe, aber nicht der Mensch, aber ich fürchte, er hätte mich doch nicht +verstanden.« + +»Nein, Harry. Die Seele ist eine fürchterliche Gewißheit. Sie kann +gekauft werden und verkauft und umgetauscht. Sie kann vergiftet werden +oder vervollkommnet. In jedem von uns lebt eine Seele. Ich weiß es.« + +»Bist du dessen ganz sicher, Dorian?« + +»Ganz sicher.« + +»Pah! Dann muß es Einbildung sein. Die Dinge, die man für ganz sicher +hält, sind nun und nimmer wahr. Das ist das Verhängnis des Glaubens und +die Weisheit der Romantik. Wie feierlich du tust! Sei nicht so +ernsthaft. Was hast du oder ich mit dem Aberglauben unserer Zeit zu tun? +Nein: wir haben unseren Glauben an die Seele aufgegeben. Spiel' mir was +vor. Spiel' mir ein Nokturno, Dorian, und während du spielst, sage mir +mit leiser Stimme, wie du es möglich gemacht hast, dir deine Jugend zu +erhalten. Du mußt irgendein Geheimmittel haben. Ich bin nur zehn Jahre +älter als du, und bin runzlig und verwelkt und gelb. Du bist in der Tat +wundervoll, Dorian. Du hast nie entzückender ausgesehen als heute abend. +Du rufst mir den Tag ins Gedächtnis zurück, an dem ich dich zum +erstenmal sah. Du warst etwas schnippisch, sehr scheu und ganz und gar +außergewöhnlich. Seitdem hast du dich natürlich verändert, aber nicht im +Aussehen. Ich wünschte, du verrietest mir dein Geheimnis. Um meine +Jugend zurückzubekommen, täte ich alles auf der Welt, außer Gymnastik +treiben, früh aufstehen oder ehrbar sein. Jugend! Nichts kommt ihr +gleich. Es ist absurd, von der Unwissenheit der Jugend zu schwatzen. Die +einzigen Leute, deren Ansichten ich jetzt mit einigem Respekt anhöre, +sind Leute, die viel jünger sind als ich. Die scheinen mir weit voraus +zu sein. Das Leben hat ihnen sein letztes Wunder enthüllt. Was die +älteren betrifft, denen widerspreche ich immer. Ich tue es aus Prinzip. +Wenn du einen um seine Meinung über etwas fragst, das gestern passiert +ist, dann gibt er dir feierlichen Aufschluß über die Meinungen, die Anno +1820 im Schwunge waren, als die Leute hohe Halsbinden trugen, an alles +glaubten und absolut nichts wußten. Wie hübsch das ist, was du da +spielst! Ich möchte wohl wissen, ob es Chopin in Majorca geschrieben +hat, während das Meer seine Villa umklagte und der Salzschaum klatschend +gegen die Fensterscheiben spritzte. Es ist entzückend romantisch. Was +für ein Segen es ist, daß es doch die eine Kunst gibt, die nicht aus +Nachahmung besteht. Hör' nicht auf. Ich brauche Musik heut abend. Es +kommt mir so vor, als ob du der junge Apollo bist und ich Marsyas, der +dir zuhört. Ich habe meine eigenen Sorgen, Dorian, von denen nicht +einmal du etwas weißt. Die Tragödie des Alters beruht nicht darin, daß +man alt ist, sondern daß man jung ist. Ich bin manchmal ganz erschrocken +über meine eigene Aufrichtigkeit. Ach, Dorian, wie glücklich bist du! +Was für ein köstliches Leben hast du gehabt! Du hast tief aus jedem +Quell getrunken! Du hast die Trauben an deinem Gaumen zerdrückt. Nichts +ist dir verborgen geblieben. Und all das ist dir nicht mehr gewesen als +ein Klang von Musik. Es hat dir nichts anhaben können. Du bist noch +heute derselbe.« + +»Ich bin nicht derselbe, Harry.« + +»Ja, du bist derselbe. Ich bin gespannt, wie dein Leben weiter verlaufen +wird. Verdirb es nicht durch Entsagung. Jetzt bist du ein vollkommener +Typus. Mach' dich nicht unvollkommen. Du bist jetzt ganz ohne Tadel. Du +brauchst den Kopf nicht zu schütteln: du weißt, du bist es. Und dann, +Dorian, betrüge dich nicht selbst. Das Leben wird nicht durch Willen +oder Absicht regiert. Das Leben ist eine Angelegenheit der Nerven und +Muskeln und der langsam aufgemauerten Zellen, in denen die Gedanken +hausen und die Leidenschaft ihren Träumen nachhängt. Du redest dir ein, +sicher dazustehen und stark zu sein. Aber ein zufälliger Farbenton in +einem Zimmer oder ein Morgenhimmel, ein besonderer Geruch, den du einmal +geliebt hast und der versteckte Erinnerungen aufweckt, eine Zeile aus +einem vergessenen Gedicht, die dir plötzlich wieder einfällt, ein paar +Tonreihen aus einem Musikstück, das du längst nicht mehr spielst -- ich +sage dir, Dorian, von solchen Dingen hängt unser Leben ab. Browning hat +irgendwo mal darüber geschrieben, aber unsere eigenen Sinne geben uns +ohnehin davon Gewißheit. Es gibt Augenblicke, da durchblitzt mich +plötzlich der Geruch von weißem Flieder, und ich muß wieder den +sonderbarsten Monat meines Daseins durchleben. Ich wollte, ich könnte +mit dir tauschen, Dorian. Die Welt hat über uns beide gezetert, aber sie +hat dich immer bewundert. Sie wird dich immer bewundern. Du bist eben +der Typus dessen, wonach unsere Zeit sucht und was sie fürchtet gefunden +zu haben. Ich bin so froh darüber, daß du nie etwas getan hast, nie eine +Statue gemeißelt oder ein Bild gemalt oder irgend etwas aus dir heraus +produziert hast. Das Leben war deine Kunst. Du hast dich selbst in Musik +gesetzt. Deine Tage sind deine Sonette.« + +Dorian stand vom Klavier auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. +»Ja, das Leben ist himmlisch gewesen,« sagte er vor sich hin, »aber +dieses Leben werde ich nicht fortsetzen, Harry. Und du sollst nicht so +überspannte Dinge zu mir sagen. Du weißt nicht alles von mir. Ich +glaube, wenn du es wüßtest, so würdest selbst du dich von mir abwenden. +Du lachst. Lache nicht!« + +»Warum hast du zu spielen aufgehört, Dorian? Geh wieder ans Klavier und +spiel' mir nochmal das Nokturno. Sieh den großen honigfarbenen Mond, der +in der dunklen Luft hängt. Er wartet, daß du ihn bezauberst, und wenn du +spielst, wird er sich der Erde nähern. Du willst nicht? Dann laß uns in +den Klub gehen. Es war ein reizender Abend, und wir müssen ihn reizend +beenden. Bei White wartet jemand, der darauf brennt, dich kennenzulernen +-- der junge Lord Pool, der älteste Sohn von Bournemouth. Er kopiert +schon deine Krawatten und hat mich bestürmt, ihn dir vorzustellen. Er +ist ganz entzückend und erinnert mich ein bißchen an dich.« + +»Ich hoffe nicht«, sagte Dorian mit einem wehmütigen Blick in den Augen. +»Aber ich bin heute abend müde, Harry. Ich gehe nicht mehr in den Klub. +Es ist fast elf, und ich will früh zu Bett gehen.« + +»Bleibe noch, du hast nie so schön gespielt wie diesen Abend. In deinem +Anschlag lag etwas, es war ganz wundervoll. Es hatte mehr Ausdruck, als +ich jemals bei dir gehört habe.« + +»Das kommt daher, weil ich jetzt gut werden will«, antwortete er +lächelnd. »Ich bin schon ein bißchen anders.« + +»Für mich kannst du kein anderer werden, Dorian«, sagte Lord Henry. »Du +und ich, wir werden immer Freunde sein.« + +»Aber einstmals hast du mich mit einem Buch vergiftet. Ich sollte das +nicht vergeben. Harry, versprich mir, daß du dieses Buch nie wieder +jemand leihen willst. Es stiftet Unheil.« + +»Mein lieber Junge, du fängst wirklich an, Moralpredigten zu halten. Du +wirst bald umherlaufen, wie ein Bekehrter und ein Erweckungsprediger, +und wirst die Menschen vor all den Sünden warnen, deren du müde geworden +bist. Aber dazu bist du viel zu entzückend. Außerdem hat es keinen +Zweck. Du und ich, wir sind, was wir sind, und werden immer sein, was +wir sein werden. Und vergiftet werden durch ein Buch, sowas gibt es +einfach nicht. Kunst hat keinen Einfluß auf die Tat. Sie vernichtet den +Trieb zu handeln. Sie ist auf eine herrliche Art zeugungsunfähig. Die +Bücher, die die Welt unmoralisch nennt, sind Bücher, die der Welt ihre +eigene Schande vorhalten. Sonst nichts. Aber wir wollen nicht über +Literatur streiten. Komm morgen wieder her! Ich reite um elf aus. Wir +können zusammen reiten, und ich nehme dich nachher zum Frühstück zu Lady +Branksome mit. Es ist eine entzückende Frau und sie will dich zu Rate +ziehen über ein paar Gobelins, die sie kaufen möchte. Vergiß nicht zu +kommen. Oder wollen wir bei unserer kleinen Herzogin frühstücken? Sie +sagt, sie sieht dich jetzt gar nicht mehr. Vielleicht hast du genug von +Gladys? Ich dachte mir's, daß es so kommen würde. Ihr gewandtes +Züngelein fällt einem auf die Nerven. Also, jedenfalls bist du um elf +hier.« + +»Muß ich wirklich kommen, Harry?« + +»Unbedingt. Der Park ist jetzt herrlich. Ich glaube nicht, daß es wieder +solchen Flieder gegeben hat seit jenem Jahr, wo ich dich kennenlernte.« + +»Gut. Ich werde also um elf hier sein«, sagte Dorian. »Gute Nacht, +Harry!« Als er an der Tür war, zögerte er einen Augenblick, als hätte er +noch etwas zu sagen. Dann seufzte er und ging. + + + + +Zwanzigstes Kapitel + + +Es war eine wundervolle Nacht, so warm, daß er seinen Mantel über den +Arm hing und nicht einmal das seidene Halstuch umlegte. Als er nach +Hause schlenderte, seine Zigarette rauchend, gingen zwei Herren in +Gesellschaftstoilette an ihm vorbei. Er hörte, wie der eine dem anderen +zuflüsterte: »Das ist Dorian Gray.« Er erinnerte sich, wie +schmeichelhaft es ihm früher gewesen war, wenn man auf ihn zeigte oder +ihn anstarrte oder über ihn sprach. Jetzt war er es müde, seinen eigenen +Namen zu hören. Der halbe Reiz des kleinen Dorfes, wo er kürzlich so oft +gewesen war, bestand darin, daß dort niemand wußte, wer er war. Er +hatte dem Mädchen, das er zur Liebe verlockt hatte, oft gesagt, daß er +arm sei, und sie hatte es geglaubt. Er hatte ihr einmal gesagt, daß er +schlecht sei, und sie hatte ihn ausgelacht und geantwortet, schlechte +Menschen seien immer sehr alt und sehr häßlich. Was für ein Lachen sie +hatte! -- gerade wie der Gesang einer Drossel. Und wie hübsch sie +ausgesehen hatte in ihren Kattunkleidern und großen Hüten! Sie wußte +nichts, aber sie besaß alles, was er verloren hatte. + +Als er nach Hause kam, wartete sein Diener auf ihn. Er schickte ihn zu +Bett und warf sich auf das Sofa in der Bibliothek und begann über +einiges von dem nachzudenken, was ihm Lord Henry gesagt hatte. + +War es wirklich wahr, daß man nie anders werden konnte? Er fühlte eine +wilde Sehnsucht nach der makellosen Reinheit seiner Knabenzeit -- seiner +rosenweißen Knabenzeit, wie Lord Henry einmal gesagt hatte. Er wußte, er +hatte sich besudelt, hatte seinen Geist mit Verderbnis angefüllt und +sein Gewissen mit Entsetzen belastet, er war ein schlimmer Einfluß für +andere gewesen und hatte eine schreckliche Freude daran gehabt; und von +den Menschenleben, die das seine gekreuzt hatten, waren es die reinsten +und verheißungsvollsten gewesen, die er in Schande gestürzt hatte. Aber +war da nichts wieder gut zu machen? Gab es keine Hoffnung mehr für ihn? + +Ah! In was für einem ungeheuerlichen Augenblick von Hochmut und +Leidenschaft hatte er gebetet, es möchte das Bildnis die Last seiner +Tage auf sich nehmen und er sich den ungetrübten Glanz ewiger Jugend +bewahren! Das war an seinem ganzen verfehlten Leben schuld. Es wäre +besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde seines Lebens ihre gewisse und +schnelle Strafe mit sich gebracht hätte. In der Strafe lag Reinigung. +Nicht »Vergib uns unsere Sünden«, sondern »Züchtige uns für unsere +Missetaten« sollte das Gebet des Menschen zu einem allgerechten Gotte +lauten. + +Der mit merkwürdigen Schnitzereien umrahmte Spiegel, den ihm Lord Henry +vor so vielen Jahren geschenkt hatte, stand auf dem Tisch, und die +weißgliedrigen Liebesgötter lachten ringsherum wie ehedem. Er nahm ihn, +wie er es in jener Schreckensnacht getan hatte, als er zum ersten Male +die Veränderung in dem verhängnisvollen Bildnis bemerkt hatte, und +blickte mit verzweifelten, tränenfeuchten Augen auf die glatte Fläche. +Einmal hatte ihm jemand, der ihn abgöttisch geliebt hatte, einen +wahnsinnigen Brief geschrieben, dessen Schluß lautete: »Die Welt ist +anders geworden, weil du aus Elfenbein und Gold geschaffen wurdest. Der +Linienschwung deiner Lippen schreibt die Weltgeschichte um.« Diese Sätze +kamen ihm ins Gedächtnis zurück, und er wiederholte sie immer und immer +wieder. Dann haßte er seine eigene Schönheit und schleuderte den Spiegel +zu Boden und zertrat ihn unter seinem Fuße in silberne Splitter. Seine +Schönheit war es, die ihn zugrunde gerichtet hatte, seine Schönheit und +Jugend, um die er gefleht hatte. Wären diese beiden nicht gewesen, so +hätte er sein Leben wohl fleckenlos erhalten können. Die Schönheit war +für ihn nur eine Maske gewesen, die Jugend nur ein Blendwerk. Was war +Jugend im besten Falle? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit seichter +Stimmungen und kranker Einfälle. Warum hatte er ihre Tracht angelegt? +Die Jugend hatte ihn zugrunde gerichtet. + +Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken. Er mußte an sich +selber und an seine Zukunft denken. James Vane war in einem namenlosen +Grabe auf dem Kirchhof in Selby geborgen. Alan Campbell hatte sich eines +Nachts in seinem Laboratorium erschossen, aber das Geheimnis nicht +verraten, das ihm aufgezwungen worden war. Die Erregung über Basil +Hallwards Verschwinden würde sich bald legen. Sie hatte schon +nachgelassen. Da war er völlig sicher. Es war auch in der Tat nicht der +Tod Basil Hallwards, der sein Gemüt am schwersten belastete. Es war der +lebendige Tod seiner eigenen Seele, der ihm die Ruhe raubte. Basil hatte +das Bildnis gemalt, das sein Leben vernichtet hatte. Er konnte ihm das +nicht vergeben. Das Porträt war an allem schuld. Basil hatte ihm Dinge +gesagt, die unerträglich waren und die er doch geduldig ertragen hatte. +Der Mord war nur der Wahnsinn eines Augenblicks gewesen. Was Alan +Campbell anlangte, so war der Selbstmord seine eigene Tat gewesen. Er +war sein freier Entschluß. Das ging ihn nichts an. + +Ein neues Leben! Das war es, was er wollte. Das war es, worauf er +wartete. Gewiß hatte er es schon begonnen. Ein unschuldiges Wesen hatte +er jedenfalls geschont. Nie wieder wollte er die Unschuld in Versuchung +führen. Er wollte gut sein. + +Als er an Hetty Merton dachte, begann er sich zu fragen, ob sich das +Bild in dem verschlossenen Zimmer oben wohl verändert habe. Es konnte +doch sicher nicht mehr so häßlich sein, wie es gewesen war. Vielleicht +könnte er, wenn sein Leben jetzt rein würde, imstande sein, jedes +Anzeichen niedriger Leidenschaften aus dem Antlitz zu tilgen. Vielleicht +waren die Spuren des Bösen schon verschwunden. Er wollte hinauf und +nachsehen. + +Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich die Treppe hinan. Als er die Tür +aufschloß, huschte ein frohes Lächeln über sein seltsam junges Gesicht +und verweilte einen Augenblick auf seinen Lippen. Ja, er wollte gut +sein, und das gräßliche Ding, das er verborgen hatte, würde dann nicht +länger ein Schrecken für ihn sein. Ihm war, als wäre diese Last schon +jetzt von ihm genommen. + +Er ging ruhig hinein, schloß die Tür nach seiner Gewohnheit hinter sich +ab und zog den Purpurvorhang von dem Bildnis hinweg. Ein Schrei voll +Schmerz und Entrüstung scholl von seinen Lippen. Er konnte keine +Verwandlung bemerken, außer daß ein schlauer Ausdruck in den Augen lag +und um den Mund der gekniffene Zug des Heuchlers. Das Ding war noch +immer abscheulich, womöglich noch abscheulicher als vordem -- und der +scharlachrote Tau, der die Hand befleckte, schien heller zu glänzen und +mehr wie frisch vergossenes Blut auszusehen. Er erzitterte. War es bloße +Eitelkeit gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, einmal etwas Gutes zu +tun? Oder die Begier nach einer neuartigen Empfindung, wie Lord Henry +mit seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte? Oder das Verlangen, +eine Rolle zu spielen, das uns manchmal Dinge begehen läßt, die edler +sind als wir selbst? Oder vielleicht das alles zusammen? Und warum war +der rote Fleck jetzt größer als er vorher war? Er schien sich wie ein +fürchterlicher Aussatz über die runzligen Finger weiter gefressen zu +haben. Es war Blut auf den gemalten Füßen, als wäre es von den Händen +herabgetropft -- Blut selbst auf der Hand, die das Messer nicht geführt +hatte. Bekennen? Bedeutete dies, daß er bekennen sollte? Sich selbst +aufgeben und hingerichtet werden? Er lachte. Er fühlte, daß der Einfall +ungeheuerlich wäre. Überdies selbst wenn er es eingestände, wer würde +ihm glauben? Nirgends gab es eine Spur des Ermordeten. Alles, was zu ihm +gehörte, war zerstört. Er selbst hatte verbrannt, was unten geblieben +war. Die Welt würde einfach sagen, daß er wahnsinnig sei. Sie würden ihn +irgendwo einsperren, wenn er bei seiner Erzählung beharrte... Aber doch +war es seine Pflicht, ein Geständnis abzulegen, öffentlich Schande zu +erleiden und öffentlich Buße zu tun. Es war ein Gott, der den Menschen +zurief, ihre Sünden der Erde so gut wie dem Himmel zu beichten. Nichts, +was er sonst tun konnte, würde ihn reinigen, bis er seine Sünde selber +bekannt hätte. Seine Sünde? Er zuckte die Achseln. Der Tod Basil +Hallwards schien ihm nur unwesentlich. Er dachte an Hetty Merton. Denn +es war ein ungerechter Spiegel. Dieser Spiegel seiner Seele, in den er +hineinblickte. Eitelkeit? Neugier? Heuchelei? War sonst nichts in seinen +Entsagungen gewesen? Es war noch etwas darin gewesen. Er glaubte es +wenigstens. Aber wer konnte das sagen...? Nein. Es war weiter nichts +darin gewesen. Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Aus Heuchelei hatte +er die Maske der Güte getragen. Aus Neugier hatte er es mit der +Verzichtleistung versucht. Er erkannte das jetzt. + +Aber dieser Mord -- sollte er ihn sein ganzes Leben lang verfolgen? +Sollte er immer die Last seiner Vergangenheit tragen müssen? Sollte er +wirklich eingestehen? Niemals. Es gab nur einen einzigen Beweis gegen +ihn. Das Bildnis selbst -- das war ein Beweis. Er wollte es zerstören. +Warum hatte er es solange aufgehoben. Früher einmal war es ihm ein +Vergnügen gewesen, seine Änderung, sein Altern zu beobachten. In der +letzten Zeit hatte er dieses Vergnügen nicht mehr empfunden. Es hatte +ihm schlaflose Nächte bereitet. Wenn er außer dem Hause war, erfüllte +ihn eine Todesangst, daß fremde Augen das Bild erblicken könnten. Es +hatte Schwermut in seine Leidenschaften getröpfelt. Die bloße Erinnerung +daran hatte ihm manchen Augenblick der Freude vergällt. Es hatte bei ihm +die Rolle des Gewissens übernommen. Ja, es war sein Gewissen gewesen. Er +wollte es zerstören. + +Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil Hallward erstochen +hatte. Er hatte es oft gereinigt, bis kein Fleck mehr darauf war. Es war +blank und glitzerte. Wie es den Maler getötet hatte, sollte es des +Malers Werk töten und alles, was es bedeutete. Es sollte die +Vergangenheit töten, und wenn die tot war, würde er frei sein. Es sollte +dieses ungeheuerliche Seelenleben töten, und sobald diese gräßlichen +Warnungen nicht mehr vorhanden waren, würde er Frieden haben. Er +ergriff es und durchbohrte damit das Bildnis. + +Man hörte einen Schrei und einen Fall. Der Schrei war mit seinem +Todesröcheln so schrecklich, daß die Dienerschaft erschreckt aufwachte +und aus ihren Kammern stürzte. Zwei Herren, die auf dem Platze unten +vorbeigingen, blieben stehen und spähten an dem stattlichen Hause empor. +Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen und dann mit ihm +umkehrten. Der Mann zog mehrmals die Klingel, aber es erfolgte keine +Antwort. Bis auf ein Licht in einem der Giebelfenster war das ganze Haus +dunkel. Nach einiger Zeit ging er weg, stellte sich unter einen Torweg +in der Nähe und verhielt sich abwartend. + +»Wem gehört das Haus, Herr Wachtmeister?« fragte der ältere der beiden +Herren. + +»Herrn Dorian Gray«, antwortete der Schutzmann. + +Sie sahen einander an, gingen weiter und lächelten. Einer von ihnen war +Sir Henry Ashtons Onkel. + +Drinnen in den Dienerzimmern sprachen die halbangezogenen Bedienten in +leisem Wispern miteinander. Die alte Frau Leaf weinte und rang die +Hände. Francis war bleich wie der Tod. + +Nach etwa einer Viertelstunde holte er sich den Kutscher und einen der +Lakaien und schlich mit ihnen hinauf. Sie klopften, aber es kam keine +Antwort. Sie riefen. Alles war still. Schließlich, nachdem sie erfolglos +versucht hatten, die Tür zu sprengen, kletterten sie auf das Dach und +ließen sich auf den Balkon herab. Die Glastür gab leicht nach; ihre +Riegel waren alt. + +Als sie eintraten, sahen sie an der Wand ein wunderbares Bild ihres +Herrn hängen, so wie sie ihn zuletzt gesehen hatten, in all dem Glanz +seiner entzückenden Jugend und Schönheit. Auf dem Boden lag ein toter +Mann im Gesellschaftsanzug, mit einem Messer im Herzen. Er war welk, +runzlig und häßlich von Angesicht. Erst als sie die Ringe untersuchten, +erkannten sie, wer es war. + +_Ende_ + + + + +Anmerkungen zur Transkription: + +Die folgende Liste enthält alle geänderten Textstellen, jeweils zuerst +im Original und darunter in der geänderten Fassung. + + Seite 9: wolllt + wollt + Seite 80: Dramas gewesen sein. + Dramas gewesen sein.« + Seite 80: >Romea und Julia< + >Romeo und Julia< + Seite 85: gesprochen? + gesprochen?« + Seite 106: Name nicht. + Name nicht? + Seite 121: Mißklang heißt es, mit + »Mißklang heißt es, mit + Seite 132: Warum ich nie mehr gut spielen werde. + Warum ich nie mehr gut spielen werde.« + Seite 166: Harrys Schwester Lady Gwendolen + Harrys Schwester, Lady Gwendolen + Seite 180: wird ebenso hübsch sein. + wird ebenso hübsch sein.« + Seite 205: gegestorbene + gestorbene + Seite 217: eleganganten + eleganten + Seite 296: Orchideengleichnis? + Orchideengleichnis?« + Seite 308: Er hat die ganze + »Er hat die ganze + Seite 309: wovor ich mich änstige + wovor ich mich ängstige + + + + + +End of Project Gutenberg's Das Bildnis des Dorian Gray, by Oscar Wilde + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY *** + +***** This file should be named 44238-8.txt or 44238-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/4/4/2/3/44238/ + +Produced by Norbert H. 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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Das Bildnis des Dorian Gray + +Author: Oscar Wilde + +Translator: Richard Zoozmann + +Release Date: November 27, 2013 [EBook #44238] + +Language: German + +Character set encoding: UTF-8 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY *** + + + + +Produced by Norbert H. Langkau, Marc-Andre Seekamp and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + + + + + +</pre> + + +<p><a class="pagenum" name="Page_1" title="1"> </a></p> + +<div class="image-center"> + <img src="images/cover.jpg" width="519" height="692" alt="Buchumschlag" id="coverpage" /> +</div> + +<p><a class="pagenum" name="Page_2" title="2"> </a><br /><a class="pagenum" name="Page_3" title="3"> </a></p> +<h1>Das Bildnis des Dorian Gray</h1> + +<p class="title">Oscar Wilde<br /> +~~~~~~~~~~~~~<br /> +Das<br /> +Bildnis des Dorian Gray</p> + +<p class="center"> +<small>Ins Deutsche übertragen von<br /> +Richard Zoozmann</small> +</p> +<p class="center" style="margin-top: 6em;">Berlin <span class="antiqua">W</span> 50<br /> +~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~<br /> +Schreitersche Verlagsbuchhandlung<br /> +</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_4" title="4"> </a></p> + +<hr /> + +<p class="center">Alle Rechte vorbehalten</p> +<p class="center" style="margin-top: 2em;">Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig</p> + +<hr /> + +<p><a class="pagenum" name="Page_5" title="5"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Vorbekenntnis" id="Vorbekenntnis"></a>Vorbekenntnis</h2> + + +<p>Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.</p> + +<p>Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen, ist +die Aufgabe der Kunst.</p> + +<p>Ein Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen +in eine andere Form oder in einen anderen Stoff zu übertragen +vermag.</p> + +<p>Die höchste wie die niederste Form der Kritik ist eine +Art Autobiographie.</p> + +<p>Wer in schönen Dingen einen häßlichen Sinn findet, ist +verderbt, ohne anmutig zu sein. Das ist ein Fehler.</p> + +<p>Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn findet, hat +Kultur. Er berechtigt zu Hoffnungen.</p> + +<p>Das sind die Auserwählten, für die schöne Dinge lediglich +Schönheit bedeuten.</p> + +<p>Ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt's überhaupt +nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Sonst +nichts.</p> + +<p>Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen +den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht +im Spiegel erblickt.</p> + +<p>Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen +die Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht +im Spiegel nicht sieht.</p> + +<p>Das sittliche Dasein des Menschen liefert dem Künstler +einen Teil des Stoffgebietes, aber die Sittlichkeit der +Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen +Mittels.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_6" title="6"> </a></p> + +<p>Kein Künstler empfindet das Verlangen, etwas zu beweisen. +Selbst Wahrheiten können bewiesen werden.</p> + +<p>Kein Künstler hat ethische Neigungen. Eine ethische +Neigung beim Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit +des Stils.</p> + +<p>Kein Künstler ist an sich krankhaft. Der Künstler kann +alles aussprechen.</p> + +<p>Gedanken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge +einer Kunst.</p> + +<p>Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe einer +Kunst.</p> + +<p>Was die Form betrifft, so ist die Kunst des Musikers +die Urform aller Künste. Was das Gefühl betrifft, so ist +der Beruf des Schauspielers diese Urform.</p> + +<p>Alle Kunst ist gleichzeitig Oberfläche und Symbol.</p> + +<p>Wer unter der Oberfläche schürft, tut es auf eigene +Gefahr.</p> + +<p>Wer das Symbol herausdeutet, tut es auf eigene Gefahr.</p> + +<p>In Wahrheit wird der Betrachter und nicht das Leben +abgespiegelt.</p> + +<p>Meinungsunterschiede über ein Kunstwerk beweisen seine +Neuheit, Vielfältigkeit und Lebenskraft.</p> + +<p>Sind die Kritiker uneinig, so ist der Künstler einig mit +sich selbst.</p> + +<p>Man kann einem Menschen verzeihen, daß er etwas +Nützliches schafft, solang er es nicht bewundert. Die einzige +Entschuldigung für den, der etwas Nutzloses schuf, besteht +darin, daß es äußerst bewundert wird.</p> + +<p>Alle Kunst ist völlig nutzlos.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_7" title="7"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Erstes_Kapitel" id="Erstes_Kapitel"></a>Erstes Kapitel</h2> + + +<p>Das Atelier schwamm in einem starken Rosendufte, und +wenn der leichte Sommerwind die Bäume im Garten +wiegte, so floß durch die offene Tür der schwere Geruch +des Flieders herein oder der zartere Duft des Rotdorns.</p> + +<p>Aus der Ecke seines Diwans mit persischen Satteltaschen, +auf dem Lord Henry Wotton lag und wie gewöhnlich unzählige +Zigaretten rauchte, konnte er gerade noch den +Schimmer der honigsüßen und honigfarbigen Blüten eines +Goldregenstrauches wahrnehmen, dessen zitternde Zweige +nur seufzend die Last einer so flammenden Schönheit zu +tragen schienen, und dann und wann huschten die phantastischen +Schatten vorbeifliegender Vögel über die langen +bastseidenen Vorhänge, die vor das große Fenster +gezogen waren. Das gab einen Augenblick lang eine Art +japanischer Stimmung und ließ den Lord an die bleichen, +nephritgelben Maler der Stadt Tokio denken, die mit +Hilfe einer Kunst, die notwendigerweise erstarrt genannt +werden muß, das Gefühl von Schnelligkeit und Bewegung +hervorzubringen suchen. Das tiefe Gesumme der Bienen, +die ihren zweifelnden Flug durch das hohe, ungemähte +Gras nahmen oder mit eintöniger Zähigkeit um die bestaubten +Goldtrichter des wuchernden Geißblattes kreisten, +ließ die Stille noch drückender scheinen. Das dumpfe Brausen +<a class="pagenum" name="Page_8" title="8"> </a> +Londons murrte dazu wie die Baßtöne einer fernen +Orgel.</p> + +<p>In der Mitte des Gemaches stand auf einer hoch aufgestellten +Staffelei das lebensgroße Bildnis eines außerordentlich +schönen Jünglings, und ihm gegenüber, ein paar +Schritte entfernt, saß sein Schöpfer, der Maler Basil +Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen +Jahren bei der Menge so viel Aufsehen gemacht und zu +so vielen seltsamen Vermutungen Anlaß gegeben hatte.</p> + +<p>Während der Maler die anmutige und liebenswürdige +Gestalt betrachtete, die seine Kunst so prachtvoll wiedergespiegelt +hatte, huschte ein freudiges Lächeln über sein +Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. Plötzlich aber +fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Lider mit +den Fingern zu, als fürchte er, aus einem absonderlichen +Traume zu erwachen, und als suche er ihn im Gehirn +einzuschließen.</p> + +<p>„Es ist dein bestes Werk, Basil, das beste, was du jemals +gemacht hast“, sagte Lord Henry schläfrig-müde. +„Du mußt es nächstes Jahr unbedingt ins Grosvenor +schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich. +Jedesmal, wenn ich hinging, waren entweder so viele +Leute da, daß ich die Bilder nicht sehen konnte, und das +war schlimm, oder so viel Bilder, daß ich die Leute nicht +sehen konnte, und das war noch schlimmer. Das Grosvenor +ist der einzig richtige Platz.“</p> + +<p>„Ich denke überhaupt nicht daran, es auszustellen“, antwortete +der Maler und warf den Kopf in jener merkwürdigen +Art zurück, über die schon oft seine Freunde in Oxford +<a class="pagenum" name="Page_9" title="9"> </a> +gelacht hatten. „Nein, ich will es nirgends ausstellen.“</p> + +<p>Lord Henry hob die Augenbrauen und sah den anderen +erstaunt durch die dünnen blauen Raucharabesken an, die +in so abenteuerlichen Wirbeln von der starken opiumgetränkten +Zigarette aufstiegen. „Nirgends ausstellen? +Ja warum, mein Lieber? Hast du einen Grund dafür? +Was ihr Maler doch für Käuze seid! Ihr tut alles in der +Welt, um euch einen Namen zu machen. Habt ihr ihn +endlich, so <ins title="wolllt">wollt</ins> ihr ihn scheinbar wieder loswerden. Das +ist albern von dir, denn es gibt nur ein leidiges Ding auf +Erden, das peinlicher ist als in aller Leute Munde zu +sein, und das ist: nicht in aller Leute Munde zu sein. Ein +Porträt wie das da höbe dich weit über alle jungen Leute +in England empor und würde die Alten vor Neid platzen +lassen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung +fähig sind.“</p> + +<p>„Ich weiß, du wirst mich auslachen,“ entgegnete er, +„aber ich kann es wahrhaftig nicht ausstellen. Es steckt da +zuviel von mir selbst drin.“</p> + +<p>Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte.</p> + +<p>„Ja, ich habe das gewußt; es bleibt aber doch wahr, +ganz sicher.“</p> + +<p>„Zuviel von dir soll darin sein? Auf mein Wort, Basil, +ich hätte nie geahnt, daß du so eitel bist; ich kann wirklich +nicht die blasseste Ähnlichkeit entdecken zwischen dir mit +deinem groben, eckigen Gesicht und deinem kohlschwarzen +Haar und diesem jungen Adonis, der so aussieht, als sei +er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Nein, mein +<a class="pagenum" name="Page_10" title="10"> </a> +lieber Basil, es ist ein Narziß, und du — natürlich hast +du ein geistvolles Gesicht und so weiter. Aber Schönheit, +wirkliche Schönheit hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck +anfängt. Geist ist an sich eine Art Übermaß und zerstört +das Ebenmaß jedes Gesichts. Im Moment, wo man +sich ans Denken begibt, wird man ganz Nase oder ganz +Stirn oder sonst etwas Greuliches. Sieh dir doch mal alle +die Männer an, die in gelehrten Berufen etwas geleistet +haben. Sind sie nicht alle ausgesprochen häßlich? Natürlich +die Männer der Kirche ausgenommen. Aber in der +Kirche denken sie eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig +Jahren noch unveränderlich dasselbe, was ihm als +achtzehnjährigem Bengel beigebracht wurde, und infolgedessen +sieht er immer entzückend aus. Dein geheimnisvoller +junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast, +dessen Bild mich aber tatsächlich bezaubert, denkt niemals. +Davon bin ich felsenfest überzeugt. Es ist irgendein hirnloses +schönes Geschöpf, das wir im Winter immer bei uns +haben sollten, wenn es keine Blumen zum Anschauen gibt, +und im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres +Geistes gebrauchen. Schmeichle dir also nicht, Basil: du +siehst ihm ganz und gar nicht ähnlich.“</p> + +<p>„Du verstehst mich gar nicht, Henry“, antwortete der +Künstler. „Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich. Das weiß +ich selbst. In Wirklichkeit wäre ich sogar traurig, sähe ich +ihm ähnlich. Du brauchst nicht mit den Achseln zu zucken. +Ich sage dir die Wahrheit. Jede körperliche und geistige +Besonderheit umschwebt eine gewisse Tragik; so eine Tragik +etwa, wie sich das Schicksal der Könige auf ihren Irrwegen +<a class="pagenum" name="Page_11" title="11"> </a> +in der Weltgeschichte an die Füße zu heften scheint. +Es ist besser, nicht anders zu sein als die Nebenmenschen. +Die Häßlichen und die Dummen haben das beste Leben +der Welt. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel sorglos +begaffen. Sie wissen zwar nichts von Siegen, aber +dafür bleibt ihnen auch die Bekanntschaft mit den Niederlagen +erspart. Sie leben dahin, wie wir es alle sollten: +ungestört, gleichgültig und ohne Mißbehagen. Sie bringen +anderen kein Unheil und empfangen es auch nicht von +fremder Hand. Dein Stand und dein Reichtum, Harry, +mein Geist, soviel ich davon habe, meine Kunst, soviel +sie wert ist, Dorian Gray für sein schönes Aussehen — +wir müssen alle für die Geschenke der Götter leiden, schrecklich +leiden.“</p> + +<p>„Dorian Gray? Heißt er so?“ fragte Lord Henry und +ging durch das Atelier auf Basil Hallward zu.</p> + +<p>„Ja, so heißt er. Ich wollte dir's eigentlich nicht sagen.“</p> + +<p>„Aber warum nicht?“</p> + +<p>„Oh, ich kann's nicht so erklären. Wenn ich einen Menschen +sehr, sehr lieb habe, verrate ich an niemand seinen +Namen. Das käme mir so vor, als lieferte ich damit einen +Teil von seinem Selbst aus. In mir hat sich allmählich +eine förmliche Liebe zu Geheimnissen entwickelt. Das scheint +noch die einzige Art zu sein, das Leben unserer Zeit mysteriös +und wunderbar zu machen. Die gewöhnlichste Begebenheit +wird reich an Schönheit, wenn man sie verbirgt. +Ich sage auch nie, wohin ich reise, wenn ich mal die Stadt +verlasse. Wenn ich's täte, wäre meine ganze Freude daran +hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie +<a class="pagenum" name="Page_12" title="12"> </a> +bringt doch irgendwie ein bißchen Romantik ins Leben. +Du denkst jetzt gewiß, ich bin furchtbar närrisch?“</p> + +<p>„Nicht im geringsten,“ antwortete Lord Henry, „nicht +im geringsten, mein lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, +daß ich verheiratet bin, und daß der Hauptreiz der Ehe +darin liegt, daß sie beiden Teilen ein Leben der Täuschung +zur Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau +ist, und meine Frau weiß nie, was ich tue und treibe. +Wenn wir beisammen sind — wir sind gelegentlich beisammen, +wenn wir zu einem Diner eingeladen sind oder +zum Herzog aufs Land fahren — so erzählen wir uns +die verrücktesten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht. +Meine Frau versteht das vorzüglich, ohne Frage besser +als ich. Sie verwickelt sich bei den Tatsachen nie in Widersprüche, +und bei mir kommt es beständig vor. Wenn sie +mich aber ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Ich +wünschte manchmal, sie täte es. Aber sie lacht mich nur +aus.“</p> + +<p>„Ich kann die Art nicht leiden, wie du über deine Ehe +sprichst“, sagte Basil Hallward und ging langsam auf die +Tür zu, die in den Garten führte. „Ich glaube, du bist +in Wirklichkeit ein ganz guter Ehemann und schämst dich +nur immer über diese Tugend. Du bist überhaupt ein sonderbarer +Kauz: du sagst nie was Moralisches und tust +nie was Schlechtes. Dein Zynismus ist nichts als Pose.“</p> + +<p>„Natürlichkeit ist immer eine Pose, und zwar die ärgerlichste +Pose, die ich kenne“, rief Lord Henry lachend aus, +und die beiden jungen Männer gingen zusammen in den +Garten und ließen sich auf einer langen Bambusbank nieder, +<a class="pagenum" name="Page_13" title="13"> </a> +die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand. +Das Sonnenlicht flirrte tanzend über die glatten Blätter. +Im Grase zitterten weiße Gänseblümchen.</p> + +<p>Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr: „Ich +fürchte, ich muß gleich fort, Basil,“ brummte er, „aber +bevor ich gehe, mußt du mir noch unbedingt die Frage +beantworten, die ich vorhin an dich gerichtet habe.“</p> + +<p>„Was war das?“ sagte der Maler, die Augen fest zu +Boden gerichtet.</p> + +<p>„Na, du weißt doch.“</p> + +<p>„Sicher nicht, Harry.“</p> + +<p>„Gut, dann will ich's dir nochmals sagen. Du sollst +mir erklären, warum du Dorian Grays Porträt nicht ausstellen +willst. Ich bestehe darauf, den wirklichen Grund +zu wissen.“</p> + +<p>„Ich habe dir den wirklichen Grund schon gesagt.“</p> + +<p>„Nein, das hast du nicht getan. Du hast nur gesagt, +weil zuviel von dir selbst in dem Bilde stecke. Das ist +aber kindisch.“</p> + +<p>„Harry,“ sagte Basil Hallward und sah dem anderen +gerade ins Gesicht, „jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt +ist, ist ein Porträt des Künstlers, nicht des Modells. +Das Modell ist nur der Anlaß, die Gelegenheit. Nicht +dies wird vom Maler enthüllt; nein, der Maler offenbart +auf der farbigen Leinwand eher sich selbst. Ich will also +dies Bild darum nicht ausstellen, weil ich fürchte, ich habe +das Geheimnis meiner eigenen Seele darin aufgedeckt.“</p> + +<p>Lord Henry lachte. „Und worin bestünde das?“ +fragte er.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_14" title="14"> </a></p> +<p>„Ich will es sagen“, antwortete Hallward; aber in sein +Gesicht trat ein Ausdruck von Ratlosigkeit.</p> + +<p>„Ich bin äußerst gespannt, Basil“, fuhr sein Gefährte +mit einem Blick nach ihm fort.</p> + +<p>„Oh, es ist wirklich nicht viel zu berichten, Harry,“ entgegnete +der Maler, „und du verstehst es wohl kaum, wie +ich fürchte. Vielleicht auch glaubst du mir nicht einmal.“</p> + +<p>Lord Henry lächelte und bückte sich dann, um ein rosa +angehauchtes Gänseblümchen aus dem Grase zu pflücken, +das er betrachtete. „Ich werde dich ganz gewiß verstehen,“ +erwiderte er, die Blicke aufmerksam auf die kleine, goldene, +weißgefiederte Blütenscheibe gerichtet, „und was das +Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, +daß es unwahrscheinlich genug ist.“</p> + +<p>Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen, +und die schweren, vielgesternten Traubendolden der Fliederbüsche +bewegten sich in der schwülen Luft. Eine Grille begann +an der Gartenmauer zu zirpen, und wie ein blauer +Faden huschte eine lange, dünne Wasserjungfer auf ihren +braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil +Hallwards Herz pochen zu hören und war neugierig, was +wohl kommen möchte.</p> + +<p>„Die Geschichte ist einfach die“, sagte der Maler nach +einer Weile. „Vor zwei Monaten ging ich mal zu einem +der Massenempfänge bei Lady Brandon. Du weißt, wir +armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft +zeigen, um das Publikum daran zu erinnern, +daß wir keine Wilden sind. Du sagtest mir einmal: in +Frack und weißer Binde kann selbst ein Börsenmensch in +<a class="pagenum" name="Page_15" title="15"> </a> +den Verdacht von Bildung kommen. Nun also, ich war +etwa zehn Minuten da und redete mit korpulenten, aufgeputzten, +vornehmen Witwen und platten Akademikern, +da merkte ich plötzlich, daß mich jemand anblickte. Ich +drehte mich halb um und sah zum ersten Male Dorian +Gray. Ich spürte, wie ich blaß wurde, als sich unsere Blicke +begegneten. Ein seltsames Angstgefühl überkam mich. Ich +wußte, ich stand einem Menschen Aug-in-Auge gegenüber, +dessen bloße Erscheinung so bezaubernd auf mich +wirkte, daß sie, wenn ich sie gewähren ließe, meine ganze +Natur, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst an sich +reißen müßte. Ich bedurfte nie in meinem Leben irgendwelcher +Einwirkung von außen her. Du weißt ja selbst, +Harry, wie unabhängig ich von Haus aus bin. Ich bin +immer mein eigener Herr gewesen; war es wenigstens so +lange, bis ich Dorian Gray traf. Dann — aber ich weiß +nicht, wie ich dir das begreiflich machen soll. Irgend etwas +schien mir im voraus zu sagen, daß ich an einem schrecklichen +Wendepunkt in meinem Leben stand. Ich hatte die +eigentümliche Empfindung, das Schicksal halte für mich +die ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten +Schmerzen in Bereitschaft. Ich bekam Furcht, und ich +wandte mich zum Gehen. Das Gewissen trieb mich nicht +dazu: es war eine Art Feigheit. Ich bilde mir nichts +darauf ein, daß ich diese Flucht versuchte.“</p> + +<p>„In Wirklichkeit sind Gewissen und Feigheit ein und +dasselbe. Gewissen lautet nur die eingetragene Firma. +Weiter gar nichts.“</p> + +<p>„Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube, du wohl +<a class="pagenum" name="Page_16" title="16"> </a> +auch nicht. Einerlei aber, aus welchem Grunde es geschah +— es mag auch Stolz gewesen sein, denn ich war +schon immer sehr stolz — jedenfalls eilte ich der Türe zu. +Natürlich prallte ich dabei mit Lady Brandon zusammen. +‚Sie wollen doch nicht etwa schon davonlaufen, Herr +Hallward?‛ kreischte sie auf. Du kennst ja ihre schrille +Stimme.“</p> + +<p>„Ja, sie ist ein Pfau in allem, bis auf die Schönheit“, +sagte Lord Henry und zerrupfte das Gänseblümchen zwischen +seinen langen nervösen Fingern.</p> + +<p>„Ich konnte ihrer nicht loswerden. Sie zerrte mich zu +den königlichen Hoheiten hin, zu den Leuten mit Orden und +Sternen und zu den ältlichen Damen mit riesenhaften +Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich dabei +ihren besten Freund. Ich hatte sie nur ein einziges Mal +vorher gesehen, aber sie setzte es sich in den Kopf, aus +mir den Löwen des Tages zu machen. Ich glaube, damals +hatte gerade ein Bild von mir großen Erfolg gehabt, +wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz +darüber gebracht, und das ist ja im neunzehnten +Jahrhundert das Eichungsmaß der Unsterblichkeit. Plötzlich +stand ich dem jungen Manne gegenüber, dessen Äußeres +mich vorhin so merkwürdig erschüttert hatte. Wir +standen ganz nahe beieinander und berührten uns beinah. +Unsere Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig +von mir, aber ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. +Vielleicht war es aber doch alles in allem nicht so +leichtsinnig. Es war einfach nicht zu umgehen. Wir hätten +auch ohne Vorstellung miteinander gesprochen. Ich bin +<a class="pagenum" name="Page_17" title="17"> </a> +dessen gewiß. Dorian sagte es mir nachher. Auch er fühlte, +daß unsere Bekanntschaft Schicksalsfügung war.“</p> + +<p>„Und wie hat Lady Brandon den wunderbaren Jüngling +beschrieben?“ fragte sein Gefährte. „Ich weiß, es ist +ihre Manier, von jedem ihrer Gäste eine kleine Skizze zu +geben. Ich erinnere mich, wie sie mich mal einem schrecklichen, +alten Herrn mit puterrotem Gesicht vorstellte, dessen +Brust mit Orden und Bändern beklext war, und mir in +einem tragischen Flüsterton, der für jedermann im Zimmer +hörbar war, die erstaunlichsten Einzelheiten über ihn +ins Ohr zischelte. Ich mußte einfach davonlaufen. Ich entdecke +die Leute gerne von mir selbst aus. Aber Lady +Brandon behandelt ihre Gäste genau so, wie ein Auktionator +seine Waren. Sie erklärt sie einem entweder so +lange, bis nichts mehr davon übrigbleibt, oder sie sagt +alles, gerade mit Ausnahme dessen, was man wissen will.“</p> + +<p>„Die arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie“, +sagte Hallward zerstreut.</p> + +<p>„Mein guter Junge, sie wollte einen Salon gründen +und hat es nur bis zu einem Restaurant gebracht. Wie +soll ich sie da bewundern? Aber sage nun endlich, was sie +über Herrn Dorian Gray erzählt hat?“</p> + +<p>„Oh, so irgend was wie ‚Entzückender junger Mensch — +seine arme Mutter und ich ganz unzertrennlich — vergaß +ganz was er treibt — fürchte fast — gar nichts — ach +ja, spielt Klavier — oder war es die Geige, lieber Herr +Gray?‛ Wir mußten beide lachen und wurden sofort +Freunde.“</p> + +<p>„Lachen ist wohl lange nicht der schlechteste Anfang für +<a class="pagenum" name="Page_18" title="18"> </a> +eine Freundschaft, und gewiß ihr schönstes Ende“, sagte +der junge Lord und pflückte sich noch ein Gänseblümchen.</p> + +<p>Hallward schüttelte den Kopf. „Du hast ja keine Ahnung, +was Freundschaft ist, Harry,“ murmelte er, „und +ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast alle Welt gern; +mit anderen Worten: dir sind alle gleichgültig.“</p> + +<p>„Wie grausam ungerecht von dir!“ rief Lord Henry, +stieß seinen Hut in den Nacken und sah zu den Lämmerwolken +empor, die gleich verwirrten Knäueln glänzendweißer +Seide über das türkisfarbene Gewölbe des Himmels +dahinschifften. „Ja, grausam ungerecht von dir. Ich +unterscheide die Leute sehr scharf. Ich wählte meine +Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten +nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem +guten Verstande. Der Mensch kann nicht vorsichtig genug +sein in der Wahl seiner Feinde. Ich habe keinen einzigen, +der ein Narr ist. Es sind sämtlich Leute von einer gewissen +geistigen Höhe, und daher schätzen sie mich auch alle. Bin +ich sehr eitel? Ich glaube, es ist ein bißchen eitel.“</p> + +<p>„Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung +zählte ich nur unter deine Bekanntschaften.“</p> + +<p>„Mein lieber, alter Basil, du bist weit, weit mehr als +ein Bekannter.“</p> + +<p>„Und weit weniger als ein Freund! Wohl so eine Art +Bruder?“</p> + +<p>„Pah, Bruder! Bleibe mir mit Brüdern vom Halse. +Mein ältester will nicht sterben, und meine jüngeren tun +scheinbar nichts anderes.“</p> + +<p>„Harry!“ rief Basil mit gerunzelter Stirne.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_19" title="19"> </a></p> +<p>„Mein lieber Junge, ich meine es nicht so ernst. Aber +ich kann mir nicht helfen, ich verabscheue meine Verwandten. +Ich vermute, das schreibt sich daher, daß kein +Mensch bei einem anderen seine eigenen Fehler vertragen +kann. Ich verstehe durchaus die Wut der englischen Demokraten +auf die sogenannten Laster der oberen Stände. +Die Massen fühlen, daß Trunkenheit, Dummheit und Unsittlichkeit +zu ihren Vorrechten gehören sollten, und daß +jeder von uns, der sich darin bloßstellt, gewissermaßen auf +ihrem Gebiete wildert. Als damals der Scheidungsprozeß +des armen Southwark spielte, war ihre Entrüstung wirklich +prachtvoll. Und trotzdem lebt meiner Überzeugung +nach nicht der zehnte Teil des Proletariats der Sitte +gemäß.“</p> + +<p>„Ich stimme keinem einzigen deiner Worte bei, und, +was mehr ist, Harry, du selbst glaubst ja auch nicht im +mindesten daran.“</p> + +<p>Lord Henry strich seinen braunen Spitzbart und stieß +mit dem zierlichen Spazierstock aus Ebenholz gegen die +Kappe seines eleganten Lackstiefels. „Wie englisch du bist, +Basil! Du machst heute zum zweitenmal diesen Einwurf. +Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt +— an sich schon immer eine Unüberlegtheit —, so fällt es +ihm nicht im Traum ein, zu erwägen, ob die Idee richtig +oder falsch ist. Das einzige, was ihm von Belang scheint, +ist das, ob der Sprecher selbst daran glaubt. Aber der +Wert einer Idee hat nicht das geringste mit der Aufrichtigkeit +dessen zu schaffen, der sie ausspricht. Aller Wahrscheinlichkeit +nach wird die Idee um so geistreicher sein, je +<a class="pagenum" name="Page_20" title="20"> </a> +unaufrichtiger der Mann ist, weil sie in diesem Fall weder +die Färbung seiner Bedürfnisse noch seiner Wünsche noch +seiner Vorurteile annehmen wird. Indes habe ich nicht +die Absicht, politische, soziale oder metaphysische Diskussionen +mit dir zu führen. Mir sind Menschen lieber als +Grundsätze und grundsatzlose Menschen überhaupt das +Liebste auf Erden. Erzähle mir mehr von Dorian Gray. +Wie oft siehst du ihn?“</p> + +<p>„Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn mal +einen Tag nicht sähe. Er ist für mich einfach ein Bedürfnis.“</p> + +<p>„Wie merkwürdig! Ich glaubte immer, du kümmertest +dich um nichts anderes als um deine Kunst.“</p> + +<p>„Er ist für mich jetzt meine ganze Kunst“, sagte der +Maler ernsthaft. „Manchmal glaube ich, Harry, daß es +nur zwei wichtige Epochen in der Weltgeschichte gibt. Die +erste ist das Auftreten einer neuen Kunsttechnik und die +zweite die Erscheinung einer neuen Persönlichkeit in der +Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer +war, das war das Gesicht des Antinous für die +spätgriechische Bildhauerkunst, und das wird eines Tages +für mich das Gesicht Dorian Grays sein. Worauf es dabei +ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere. Natürlich +hab' ich das alles getan. Aber er ist weit mehr für +mich als ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich +will gewiß nicht behaupten, daß ich unzufrieden mit dem +bin, was ich nach ihm gemacht habe, oder daß seine Schönheit +derart ist, daß sie die Kunst nicht ausdrücken könne. +Es gibt überhaupt nichts, was die Kunst nicht ausdrücken +<a class="pagenum" name="Page_21" title="21"> </a> +kann, und ich weiß: was ich gemacht habe, seitdem ich +Dorian Gray kenne, ist gute Arbeit, ja, die gelungenste +Arbeit meines Lebens. Aber auf irgendeine seltsame Weise +— ich glaube kaum, daß du das verstehen wirst — hat mir +seine Persönlichkeit eine vollständig neue Art der Kunst, +einen durchaus neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge +anders, ich denke darüber anders. Ich kann jetzt das Leben +auf eine Art festhalten, die mir früher nicht gegeben war. +‚Ein Traum von Form in unseren Tagen des Denkens‛: +wer war es, der so sagte? Ich hab's vergessen, aber das +bedeutet Dorian Gray für mich. Die bloße sichtbare +Gegenwart dieses Knaben — denn für mich ist er kaum +mehr als das, wenn er auch schon über die Zwanzig — +seine bloße sichtbare Gegenwart — ach! ich glaube nicht, +daß du einen Begriff davon hast, was sie für mich bedeutet! +Ohne selbst es zu wissen, enthüllt er mir die Linien +einer neuen Schule, einer Schule, in der enthalten ist die +ganze Leidenschaft der Romantik und die ganze Vollkommenheit +des griechischen Geistes. Die Harmonie von +Seele und Leib, wieviel ist das doch! Wir in unserer Verblendung +haben die beiden voneinander gerissen und haben +uns einen Realismus erfunden, der gewöhnlich ist, und +einen Idealismus, der leer ist. Harry! wenn du wissen +könntest, was mir Dorian Gray ist! Erinnerst du dich an +die Landschaft von mir, für die mir Agnew ein so wahnsinniges +Geld angeboten hat und von der ich mich doch +nie trennen wollte? Es ist sicher eins der besten Stücke, +die ich je gemacht habe. Und warum? Weil Dorian Gray +neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein ganz +<a class="pagenum" name="Page_22" title="22"> </a> +feines Fluidum strömte von ihm zu mir, und zum erstenmal +in meinem Leben entdeckte ich in der simpeln Waldlandschaft +das Wunder, nach dem ich immer gesucht und +das ich nie gefunden hatte.“</p> + +<p>„Basil, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte. +Ich muß Dorian Gray kennenlernen.“</p> + +<p>Hallward schnellte von der Bank auf und ging im +Garten hin und her. Nach einer Weile kam er zurück.</p> + +<p>„Harry,“ sagte er, „Dorian Gray ist für mich nichts +als ein künstlerisches Motiv. Vielleicht fändest du gar +nichts in ihm. Ich finde alles in ihm. Er ist in Wirklichkeit +nie mehr in meiner Arbeit lebendig, als wenn kein Schatten +von ihm darin ist. Er ist für mich, wie ich sagte, die Anregung +zu einem Stil. Ich finde ihn in den Schwingungen +gewisser Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit +gewisser Farben. Das ist alles.“</p> + +<p>„Warum aber willst du dann sein Bild nicht ausstellen?“ +fragte Lord Henry.</p> + +<p>„Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck +all dieser ganz merkwürdigen Künstlervergötterung hineingelegt +habe, von der ich natürlich nie zu ihm sprechen +wollte. Er hat von alledem keine Ahnung. Er soll nie +etwas davon ahnen. Aber die Welt könnte es erraten; und +ich will meine Seele ihren seichten, spähenden Augen nicht +entblößen. Mein Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop +bekommen. Es ist zu viel von mir selbst in dem Dinge, +Harry — zu viel von mir selbst.“</p> + +<p>„Dichter nehmen's nicht so genau wie du. Die wissen, +wie einträglich es ist, Leidenschaft zu veröffentlichen. Ein +<a class="pagenum" name="Page_23" title="23"> </a> +gebrochenes Herz bringt es heutzutage zu einer ganzen +Reihe von Auflagen.“</p> + +<p>„Ich finde sie darum eben abscheulich!“ rief Hallward +aus. „Ein Künstler soll Schönes schaffen, aber er soll +nichts von seinem eigenen Leben hineintragen. Wir leben +in einer Zeit, wo die Menschen aus der Kunst eine Art +Autobiographie zu machen wünschen. Wir haben eben den +klaren Begriff für Schönheit verloren. Eines Tages will +ich der Welt zeigen, was sie ist, und deshalb soll die Welt +mein Bild Dorian Grays niemals sehen.“</p> + +<p>„Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will mit +dir nicht streiten. Nur die geistig Entkernten streiten sich +gern. Sag' mir, hat dich Dorian Gray sehr lieb?“</p> + +<p>Der Maler dachte ein paar Augenblicke nach. „Er hat +mich gern“, antwortete er nach einer Weile; „sicher hat er +mich gern. Natürlich schmeichle ich ihm fürchterlich. Ich +finde eine ganz besondere Lust daran, ihm Dinge zu sagen, +die mir später leid tun, wie ich ganz genau weiß. In der +Regel ist er auch reizend zu mir, und wir sitzen dann im +Atelier und schwatzen von tausend Dingen. Dann und +wann ist er allerdings greulich gedankenlos und scheint +große Freude darin zu finden, mir wehe zu tun. Dann, +Harry, habe ich das Gefühl, daß ich jemand meine ganze +Seele überantwortet habe, der sie behandelt wie eine +Blume für das Knopfloch, wie ein kleines Ehrenzeichen, +mit dem man seine Eitelkeit befriedigt, wie einen Zierat +für einen Sommertag.“</p> + +<p>„Sommertage, Basil, pflegen manchmal lange zu währen“, +murmelte Lord Henry. „Vielleicht wirst du seiner +<a class="pagenum" name="Page_24" title="24"> </a> +früher müde, als er deiner. Es ist sehr traurig, daran zu +denken, aber es ist ohne Zweifel wahr, daß das Genie +die Schönheit überlebt. Das erklärt auch die Tatsache, +daß wir uns soviel Mühe geben, uns mit Bildung vollzupfropfen. +In dem wilden Existenzkampfe ums Dasein +wollen wir alle etwas Dauerhaftes haben, und so füllen +wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der +dummen Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten. +Der durch und durch unterrichtete Mann — das ist das +moderne Ideal. Und das Gehirn dieses durch und durch +unterrichteten Mannes hat etwas Fürchterliches. Es gleicht +einem Kuriositätenladen, in dem es lauter Ungeheuerlichkeiten +voll Staub gibt, und wo jeder Gegenstand über +seinen wahren Wert hinaus ausgezeichnet. Immerhin, ich +glaube, du wirst zuerst müde werden. Eines Tages wirst +du deinen jungen Freund anschauen und finden, daß er +etwas verzeichnet ist, oder du wirst an seiner Farbe etwas +auszusetzen haben oder irgend so etwas. Du wirst ihm +dann in deinem Herzen bittere Vorwürfe machen und ganz +ernsthaft überzeugt sein, daß er sich recht schlecht gegen dich +benommen hat. Wenn er dich dann das nächstemal besucht, +wirst du völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Das +wird sehr schade sein, denn es wird dich selbst verändern. +Was du mir da erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, eine +Romanze der Kunst möchte man es nennen, und das +Schlimmste beim Erleben von Gedichten ist nur, daß es +einen so ganz unpoetisch zurückläßt.“</p> + +<p>„Harry, ich bitte, sprich nicht so. Solang' ich lebe, wird +mich die Persönlichkeit Dorian Grays beherrschen. Du +<a class="pagenum" name="Page_25" title="25"> </a> +kannst meine Empfindung nicht nachfühlen. Du wandelst +dich zu oft.“</p> + +<p>„Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich sie +nachempfinden. Die treuen Menschen kennen nur die triviale +Seite der Liebe; die Treulosen allein erfahren die +Tragödien der Liebe.“ Und Lord Henry zündete an einem +zierlichen silbernen Büchschen ein Streichholz an und begann +eine Zigarette zu rauchen, mit jener so selbstbewußten, +zufriedenen Miene, als hätte er den Sinn der +ganzen Welt in einen Satz zusammengefaßt. Man hörte +ein leises Rauschen von zirpenden Sperlingen in den +grünen, wie mit glänzendem Lack überzogenen Efeublättern, +und die blauen Wolkenschatten jagten wie Schwalben +über das Gras. Wie reizend war es doch in dem Garten +und wie entzückend waren die Gefühlsregungen anderer +Leute! — weit entzückender als ihre Gedanken, so schien +es ihm. Des Menschen eigene Seele und die Leidenschaft +seiner Freunde — das sind die fesselnden Dinge des +Lebens. Er stellte sich mit geheimem Vergnügen das langweilige +Frühstück vor, das er durch seinen langen Besuch +bei Basil Hallward versäumt hatte. Wäre er zu seiner +Tante gegangen, hätte er dort sicher Lord Goodbody getroffen, +und das ganze Gespräch hätte sich mit der Armenernährung +und der Notwendigkeit von Musterwohnhäusern +beschäftigt. Menschen jedes Standes hätten die Wichtigkeit +gerade jener Tugenden gepredigt, für die sie in +ihrem eigenen Leben gar keine Verwendung hatten. Der +Reiche hätte von dem Werte der Sparsamkeit geredet, und +der Träge mit wahrhafter Beredsamkeit über die Würde<a class="pagenum" name="Page_26" title="26"> </a> +der Arbeit. Es war reizend, all dem entgangen zu sein. +Als er an seine Tante dachte, schien ihm etwas einzufallen. +Er wandte sich zu Basil und sagte: „Mein lieber Junge, +ich erinnere mich jetzt.“</p> + +<p>„Woran erinnerst du dich, Harry?“</p> + +<p>„Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.“</p> + +<p>„Wo war das?“ fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln.</p> + +<p>„Schau' doch nicht so böse drein, Basil. Es war bei +meiner Tante, Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie sei +einem wunderhübschen jungen Menschen begegnet, der ihr +im East-End helfen wolle, und er heiße Dorian Gray. +Ich muß zugeben, sie hat mir nie etwas darüber gesagt, +daß er so hübsch sei. Frauen haben kein Verständnis für +Schönheit, wenigstens gute Frauen nicht. Sie sagte, daß +er sehr ernst sei und eine edle Seele habe. Ich stellte mir +natürlich sofort ein Wesen mit Brille und wallendem +Haar und gräßlich vielen Sommersprossen vor, das auf +riesigen Füßen umherstapfe. Ich wünsche jetzt, ich hätte +gewußt, daß er dein Freund ist.“</p> + +<p>„Ich bin sehr froh, daß du es nicht gewußt hast, Harry.“</p> + +<p>„Warum?“</p> + +<p>„Ich will nicht, daß du ihn kennenlernst.“</p> + +<p>„Du willst nicht, daß ich ihn kennenlerne?“</p> + +<p>„Nein.“</p> + +<p>„Herr Dorian Gray ist im Atelier“, sagte der Diener, +der in den Garten hinaustrat.</p> + +<p>„Jetzt mußt du mich vorstellen!“ rief Lord Henry +lachend. Der Maler wandte sich zu seinem Diener, der<a class="pagenum" name="Page_27" title="27"> </a> +blinzelnd in der Sonne dastand: „Bitten Sie Herrn +Gray, zu warten, Parker; ich komme in ein paar Minuten.“ +Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus.</p> + +<p>Dann sah der Maler Lord Henry an. „Dorian Gray +ist mein teuerster Freund“, sagte er. „Er hat eine schlichte +und edle Seele. Deine Tante hatte ganz recht mit dem, +was sie über ihn sagte. Verdirb ihn mir nicht. Versuche +nicht, Einfluß auf ihn auszuüben. Dein Einfluß wäre verderblich. +Die Welt ist groß, und es gibt eine Menge köstlicher +Menschen auf ihr. Raube mir nicht den einzigen +Menschen, der meiner Kunst ihren ganzen Zauber verleiht, +den sie hat: mein Leben als Künstler hängt von +ihm ab! Denke daran, Harry, ich vertraue dir.“ Er sprach +sehr langsam, und die Worte schienen sich ihm gegen +seinen Willen zu entringen.</p> + +<p>„Was für Unsinn du redest!“ sagte Lord Henry lächelnd, +nahm Hallward unter den Arm und führte ihn in das +Haus.</p> + +<h2><a name="Zweites_Kapitel" id="Zweites_Kapitel"></a>Zweites Kapitel</h2> + + +<p>Als sie eintraten, erblickten sie Dorian Gray. Er saß +am Klavier, mit dem Rücken ihnen zu, und blätterte in +einem Notenbande mit Schumanns Waldszenen. „Die +mußt du mir leihen, Basil!“ rief er aus. „Ich möchte +sie spielen lernen. Sie sind geradezu entzückend.“</p> + +<p>„Das hängt ganz davon ab, wie du mir heute sitzen +wirst, Dorian.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_28" title="28"> </a></p> + +<p>„Ach, ich habe das Sitzen lange satt, und ich will gar +kein lebensgroßes Bild von mir“, antwortete der Jüngling +und schwang sich in dem Musikstuhl auf eine eigensinnige, +launische Knabenart herum. Als er aber Lord +Henry erblickte, stieg für einen Augenblick ein schwaches +Rot in seine Wangen, und er sprang auf. „Ich bitte um +Entschuldigung, Basil, ich wußte nicht, daß jemand bei +dir ist.“</p> + +<p>„Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter +Freund von Oxford her. Ich habe ihm gerade erzählt, +wie musterhaft du sitzen kannst, und jetzt hast du alles +verdorben.“</p> + +<p>„Mir haben Sie das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft +zu machen, nicht verdorben, Herr Gray“, sagte Lord +Henry, ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. +„Meine Tante hat oft von Ihnen gesprochen. Sie +sind einer ihrer Lieblinge und, wie ich fürchte, auch ihrer +Opfer.“</p> + +<p>„Ich stehe zur Zeit auf Lady Agathas schwarzer +Liste“, antwortete Dorian mit einem komisch reuigen +Gesichtsausdruck. „Ich hatte ihr versprochen, sie letzten +Dienstag nach einem Klub in Whitechapel zu begleiten, +und ich habe dann die Abmachung vergessen. Wir sollten +da miteinander vierhändig spielen — drei Stücke +glaube ich. Ich weiß nun nicht, was sie mir dazu sagen +wird. Ich habe Angst, ihr einen Besuch zu machen.“</p> + +<p>„Oh, ich werde Sie mit meiner Tante versöhnen. Sie +ist Ihnen äußerst zugetan. Und ich glaube auch, es schadet +nichts, daß Sie nicht dort waren. Die Zuhörer<a class="pagenum" name="Page_29" title="29"> </a> +haben sicher angenommen, es sei vierhändig gespielt worden. +Wenn sich Tante Agatha ans Klavier setzt, macht +sie für zwei Personen reichlich Lärm.“</p> + +<p>„Sie sprechen sehr schlecht von ihr, und mir machen Sie +auch gerade kein Kompliment damit“, antwortete Dorian +lachend.</p> + +<p>Lord Henry sah ihn an. Ja, er war wirklich wunderbar +schön, mit seinen feingeschwungenen dunkelroten Lippen, +seinen offenen blauen Augen und seinem gewellten, +goldblonden Haar. In seinem Gesicht war ein Ausdruck, +der sofort Vertrauen erweckte. Aller Glanz der Jugend +lag darin und ebenso all die leidenschaftliche Reinheit +der Jugend. Man fühlte, daß er bisher noch nicht von +der Welt befleckt war. Kein Wunder, daß ihn Basil +Hallward anbetete.</p> + +<p>„Sie sind viel zu hübsch, um sich mit Wohltätigkeit abzugeben, +Herr Gray — viel zu hübsch!“ Und Lord +Henry warf sich auf den Diwan und öffnete seine Zigarettendose.</p> + +<p>Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt +und seine Pinsel zurechtgemacht. Er sah etwas gequält +aus, und als er Lord Henrys letzte Bemerkung +hörte, blickte er zu ihm hin, sann einen Augenblick nach +und sagte dann: „Harry, ich möchte das Bild heute +fertig kriegen. Fändest du es sehr grob von mir, wenn +ich dich jetzt bäte, uns allein zu lassen?“</p> + +<p>Lord Henry lächelte und sah Dorian Gray an. „Soll +ich gehen, Herr Gray?“ fragte er.</p> + +<p>„Oh, bitte, nein, Lord Henry. Ich sehe, Basil hat<a class="pagenum" name="Page_30" title="30"> </a> +wieder einen seiner schlechten Tage, und ich kann ihn +nicht vertragen, wenn er so brummt. Außerdem möchte +ich von Ihnen erfahren, warum ich mich nicht mit Wohltätigkeit +befassen soll?“</p> + +<p>„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Herr +Gray. Es ist ein so langweiliges Thema, daß man schon +ernsthaft darüber reden müßte. Aber jetzt geh ich auf +keinen Fall, nachdem Sie mir erlaubt haben, dazubleiben. +Du hast doch nichts im Ernst dagegen, Basil? Du +hast mir oft genug gesagt, daß es dir angenehm sei, +wenn deine Modelle mit jemand plaudern können.“</p> + +<p>Hallward biß sich auf die Lippe. „Wenn es Dorian +wünscht, wirst du natürlich dableiben. Dorians Launen +sind Gesetze für jedermann, außer für ihn selbst.“</p> + +<p>Lord Henry nahm seinen Hut und seine Handschuhe. +„Trotz deiner dringenden Aufforderung, Basil, fürchte +ich, gehen zu müssen. Ich habe mit jemand eine Verabredung +im Orleans-Klub. Adieu, Herr Gray! Bitte, +besuchen Sie mich doch mal eines Nachmittags in Curzon +Street. Um fünf Uhr treffen Sie mich fast immer. Schreiben +Sie mir, bitte, wann Sie kommen. Es täte mir sehr +leid, wenn Sie mich verfehlten.“</p> + +<p>„Basil,“ rief Dorian Gray, „wenn Lord Henry Wotton +geht, dann gehe ich auch. Du bringst ja beim Malen +nie die Lippen auseinander, und es ist furchtbar ermüdend, +auf einem Podium zu stehen und sich anzustrengen, +freundlich auszusehen. Bitte ihn, dazubleiben. +Ich bestehe darauf.“</p> + +<p>„Bleib, Harry, du machst Dorian damit ein Vergnügen<a class="pagenum" name="Page_31" title="31"> </a> +und auch mir“, sagte Hallward, ohne von seinem +Bilde aufzublicken. „Er hat ganz recht, ich spreche nie +ein Wort während der Arbeit und höre ebensowenig zu, +und das muß sehr langweilig für meine unglücklichen +Modelle sein. Ich bitte dich also, bleib.“</p> + +<p>„Was fange ich aber mit meinem Mann im Orleans +an?“</p> + +<p>Der Maler lachte. „Ich glaube, damit wird es keine +Schwierigkeit haben. Setz dich nur wieder, Harry. Und +jetzt, Dorian, geh auf das Podium und bewege dich +nicht zuviel und achte auch nicht auf das, was Lord Henry +sagt. Er hat einen sehr bösen Einfluß auf alle seine +Freunde, nur mich ausgenommen.“</p> + +<p>Dorian Gray bestieg das Podium mit der Miene eines +jungen griechischen Märtyrers und stieß, zu Lord Henry +gewandt, der ihm gleich gut gefallen hatte, einen kleinen +drolligen Seufzer aus. Dieser Mann war so ganz anders +als Basil. Die beiden bildeten einen entzückenden Gegensatz. +Und er hatte ein so schönes Organ. Nach ein paar +Augenblicken sagte Dorian zu ihm: „Haben Sie wirklich +einen so bösen Einfluß, Lord Henry? Ist es so arg, +wie Basil sagt?“</p> + +<p>„Es gibt keinen sogenannten guten Einfluß, Herr Gray. +Jeder Einfluß ist unmoralisch — unmoralisch vom wissenschaftlichen +Standpunkt aus.“</p> + +<p>„Wieso?“</p> + +<p>„Weil jemand beeinflussen soviel ist wie ihm die eigene +Seele leihen. Er denkt dann nicht mehr seine natürlichen +Gedanken und brennt nicht mehr in seinem natürlichen<a class="pagenum" name="Page_32" title="32"> </a> +Feuer. Seine Tugenden sind gar nicht seine Tugenden. +Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind +nur ausgeborgte. Er wird ein Echo für die Töne eines +anderen, Schauspieler einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben +wurde. Der Sinn des Daseins ist: Selbstentwicklung. +Die eigene Natur voll zum Ausdruck zu bringen +— diese Aufgabe hat jeder von uns hier zu lösen. +Heutzutage hat jeder Mensch Angst vor sich. Sie haben +ihre heiligste Pflicht vergessen, nämlich die gegen sich +selbst. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren den Hungernden +und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen +darben und gehen nackt. Der Mut ist unserem Geschlecht +abhanden gekommen. Vielleicht haben wir ihn nie +wirklich besessen. Die Furcht vor der Gesellschaft als der +Grundlage der Sittlichkeit, und die Furcht vor Gott, als +dem Geheimnis der Religion — das sind die zwei Dinge, +die uns beherrschen. Und doch —“</p> + +<p>„Dorian, dreh den Kopf mal ein wenig mehr nach +rechts, sei so gut“, sagte der Maler, der ganz in sein +Werk vertieft war, aber doch gemerkt hatte, daß in des +Jünglings Gesicht ein Ausdruck getreten war, den er +vorher nie darin gesehen hatte.</p> + +<p>„Und doch,“ fuhr Lord Henry mit seiner tiefen musikalischen +Stimme fort, während er die Hand in der anmutigen +Art bewegte, die er schon seinerzeit in Eton gehabt +hatte, „ich glaube, wenn die Menschen nur ihr +eigenes Leben voll, bis auf den letzten Rest ausleben +würden, jedes Gefühl Gestalt bekommen lassen, jeden +Gedanken ausdrücken, jeden Traum in Dasein umsetzen<a class="pagenum" name="Page_33" title="33"> </a> +wollten — ich glaube, dann käme in die Welt ein solcher +Schwung von neuer Freudigkeit, daß wir alle die Krankheiten +des Mittelalters vergäßen und zum hellenischen +Ideal zurückkehrten, ja wir kämen vielleicht zu etwas +Feinerem und Reicherem, als das hellenische Ideal war. +Aber selbst der Tapferste unter uns hat Angst vor sich selber. +Die Selbstverstümmelung der Wilden hat ihr tragisches +Überbleibsel in der Selbstverleugnung, die unser Leben +verstümmelt. Wir büßen für unsere Entsagungen. Jeder +Trieb, den wir zu ersticken suchen, frißt im Innern weiter +und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal und +hat sich durch die Sünde befreit, denn Tat ist immer eine +Art Reinigung. Nichts bleibt davon zurück als die Erinnerung +an ein Vergnügen oder die schmerzliche Wollust +der Reue. Der einzige Weg, eine Versuchung zu bestehen, +ist, sich ihr hinzugeben. Widerstehen Sie ihr, und Ihre +Seele erkrankt vor Sehnsucht nach der Erfüllung, die +sie sich selber verweigert hat, erkrankt vor dem Verlangen +nach dem, was ihre ungeheuerlichen Gesetze ungeheuerlich +und ungesetzmäßig gemacht haben. Es ist wohl gesagt +worden, die großen Ereignisse der Welt gingen im Gehirn +vor sich. Im Gehirn und ganz allein im Gehirn +werden auch die großen Sünden der Welt begangen. Sie, +Herr Gray, Sie selbst mit Ihrer rosenroten Jugend und +Ihrer rosenblassen Knabenunschuld, Sie haben schon Leidenschaften +erlebt, die Ihnen Angst einjagten, haben Gedanken +gehabt, die Sie in Schrecken setzten, haben wachend +und schlafend Träume gehabt, deren bloße Erinnerung +Ihre Wangen schamrot werden ließ —“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_34" title="34"> </a></p> + +<p>„Hören Sie auf,“ stammelte Dorian Gray, „hören Sie +auf, Sie machen mich ganz wirr. Ich weiß nicht, was ich +sagen soll. Es gibt eine Antwort darauf, aber ich kann +sie nicht finden. Sagen Sie nichts mehr! Lassen Sie mich +nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, dem +nicht nachzudenken.“</p> + +<p>Etwa zehn Minuten stand er bewegungslos da, mit +halboffenen Lippen und seltsam leuchtenden Augen. Er +war sich dumpf bewußt, daß ganz neue Einflüsse in ihm +arbeiteten. Und doch schien es, als kämen sie in Wirklichkeit +aus seinem eigenen Innern. Die paar Worte, die +Basils Freund zu ihm gesagt hatte — ohne Zweifel zufällig +hingeworfene Worte voll absichtlicher Paradoxie — +hatten eine geheime Saite seiner Seele berührt, die vordem +nie berührt worden war, die er aber nun zittern und +in seltsamer Wildheit schluchzen hörte.</p> + +<p>Musik hatte ihn so ähnlich aufgewühlt. Musik hatte ihn +oft in Aufruhr gebracht. Aber Musik war etwas Unbestimmtes. +Sie bringt keine neue Welt in uns hervor; +schafft eher ein neues Chaos in uns. Worte! Bloße +Worte! Wie schrecklich die waren! Wie klar und lebendig +und grausam! Man konnte ihnen nicht entrinnen. Und +doch, welch tiefer Zauber steckte in ihnen! Sie schienen +die Kraft zu haben, formlosen Dingen eine greifbare +Gestalt zu geben, und schienen eine Musik in sich zu bergen, +so süß wie die der Geige oder der Laute. Bloße +Worte! Gab es denn irgend etwas so Wirkliches wie +Worte?</p> + +<p>Ja; es hatte in seiner Knabenzeit Dinge gegeben, die<a class="pagenum" name="Page_35" title="35"> </a> +ihm unbegreiflich geblieben waren. Jetzt verstand er sie. +Plötzlich bekam das Leben für ihn lodernde Farben. Nun +schien es ihm, als sei er mittenhin durch Feuer gewandelt. +Warum hatte er es nie gemerkt?</p> + +<p>Lord Henry beobachtete ihn mit einem feinspürenden +Lächeln. Er verstand sich gut auf jenen psychologischen +Moment, in dem man kein Wort sagen darf. Er fühlte +sich sehr stark interessiert. Die jähe Wirkung seiner Worte +machte ihn erstaunen; nun entsann er sich eines Buches, +das er mit sechzehn Jahren gelesen und das ihm viel bis +dahin Unbekanntes enthüllt hatte, und er fragte sich, ob +Dorian Gray jetzt wohl eine ähnliche Erfahrung erlebe. +Er hatte nur einen Pfeil ins Blaue geschossen. Hatte er +das Ziel getroffen? Wie anziehend doch dieser Junge +war!</p> + +<p>Inzwischen malte Hallward in jenen wundervollen, +kühnen Zügen weiter, die das Zeichen aller wahren Feinheit +und Vollkommenheit sind, denn die kann der Kunst +nur aus der Kraft werden. Er merkte die wortlose Stille +gar nicht.</p> + +<p>„Basil, ich habe jetzt genug von dem Stehen!“ rief +Dorian plötzlich aus. „Ich muß hinaus und mich im +Garten hinsetzen. Die Luft hier ist zum Ersticken.“</p> + +<p>„Mein Bester, das tut mir wirklich leid. Wenn ich male, +kann ich an nichts anderes denken. Aber du hast nie besser +Modell gestanden. Du warst ganz ruhig. Und ich habe +endlich den Ausdruck herausgebracht, den ich gesucht habe +— die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen. +Ich weiß nicht, was Harry dir erzählt hat, aber sicher hat<a class="pagenum" name="Page_36" title="36"> </a> +er es bewirkt, daß du den prachtvollsten Ausdruck hast. Ich +vermute, er hat dir Komplimente gemacht. Du darfst ihm +nur kein einziges Wort glauben.“</p> + +<p>„Er hat mir nicht das kleinste Kompliment gemacht. +Vielleicht ist das der Grund, daß ich wirklich kein Wort +von dem glaube, was er gesagt hat.“</p> + +<p>„Sie wissen selbst, daß Sie jedes Wort davon glauben“, +erwiderte Lord Harry, der ihn mit seinen weichen, träumerischen +Augen ansah. „Wir wollen zusammen in den +Garten gehen. Es ist furchtbar heiß hier im Atelier. Basil, +laß uns irgendein Eisgetränk geben, irgendwas mit Erdbeeren +darin.“</p> + +<p>„Gern, Harry. Klingele nur selbst, und wenn Parker +kommt, will ich ihm sagen, was Ihr haben wollt. Ich +muß erst den Hintergrund hier noch fertig machen und +komme dann später nach. Halte mir Dorian aber nicht +zu lange fest. Ich war nie in besserer Malstimmung als +heute. Dies Porträt wird mein Meisterwerk. Wie es da +steht, ist es schon mein Meisterwerk.“</p> + +<p>Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand dort +Dorian Gray, wie er sein Gesicht hinter den großen, +kühlen Blütenbüscheln der Fliedersträuche versteckte und +fieberhaft ihren Duft einsog, als tränke er Wein. Er trat +nahe an ihn heran und legte ihm die Hand auf die +Achsel. „Sie haben ganz recht, so zu tun“, sagte er leise. +„Nichts hilft der Seele besser als die Sinne, sowie den +Sinnen nichts besser als die Seele helfen kann.“</p> + +<p>Der Jüngling schreckte auf und trat einen Schritt zurück. +Er war ohne Hut, und das Blattgewirr hatte seine widerspenstigen<a class="pagenum" name="Page_37" title="37"> </a> +Locken aufgewühlt und ihre goldblonden Strähnen +in Unordnung gebracht. In seinen Augen lag ein +Ausdruck von Furcht, wie ihn Menschen haben, die man +jäh aus dem Schlaf reißt. Seine zartgeformten Nasenflügel +bebten, und ein geheimer Nerv zuckte leis an den +scharlachroten Lippen, so daß sie beständig zitterten.</p> + +<p>„Ja,“ fuhr Lord Henry fort, „das ist eines der großen +Geheimnisse des Daseins — die Seele durch die Sinne +und die Sinne durch die Seele heilen können. Sie sind ein +wunderbares Menschenkind! Sie wissen mehr, als Ihnen +bewußt ist, gerade wie Sie weniger wissen, als Ihnen +dienlich ist.“</p> + +<p>Dorian Gray runzelte die Stirn und wendete den Kopf +weg. Ein unwiderstehlicher Reiz zog ihn zu diesem großen, +anmutigen jungen Mann hin, der da neben ihm stand. +Sein romantisches, olivenfarbiges Gesicht und der müde +Ausdruck darin fesselten ihn. Es war etwas in dem müden +Ton seiner Stimme, was völlig in Bann schlug. Auch seine +Hände, kühl, weiß und blumenhaft, zogen an. Sie bewegten +sich bei seinen Worten, begleiteten sie wie Musik +und schienen ihre eigene Sprache zu reden. Aber er hatte +auch Angst vor ihm und schämte sich dieser Angst. Warum +hatte ein Fremder kommen müssen, um ihn sich selber zu +offenbaren? Er kannte Basil Hallward nun seit Monaten, +aber diese Freundschaft hatte ihn niemals verwandelt. +Jetzt war plötzlich jemand in sein Leben getreten, der ihm +des Lebens Mysterium enthüllt zu haben schien. Und doch, +wovor sollte er sich fürchten? Er war kein Schulknabe +und kein kleines Mädchen. Es war töricht, Angst zu haben.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_38" title="38"> </a></p> + +<p>„Kommen Sie und setzen wir uns in den Schatten“, +sagte Lord Henry. „Parker hat uns was zu trinken gebracht, +und wenn Sie noch länger in solcher Sonnenglut +stehenbleiben, werden Sie sich Ihren Teint verderben, +und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich +nicht von der Sonne verbrennen lassen. Es würde +Ihnen schlecht stehen.“</p> + +<p>„Was läge weiter daran?“ rief Dorian Gray und +lachte, als er sich auf eine Bank am Ende des Gartens setzte.</p> + +<p>„Alles sollte Ihnen daran liegen, Herr Gray.“</p> + +<p>„Wieso?“</p> + +<p>„Weil Sie die wundervollste Jugend haben, und Jugend +ist das einzige, dessen Besitz einen Wert hat.“</p> + +<p>„Ich empfinde das nicht, Lord Henry.“</p> + +<p>„Nein, jetzt empfinden Sie es nicht. Später einmal, +wenn Sie alt, runzlig und häßlich sind, wenn das Denken +Furchen in Ihre Stirne gegraben und die Leidenschaft +Ihre Lippen mit ihrem schrecklichen Feuer verbrannt hat, +dann werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt +können Sie hingehen, wo Sie wollen, und Sie berücken +die ganze Welt! Wird das immer so sein?... Sie haben +ein wundervoll schönes Gesicht, Herr Gray. Runzeln Sie +nicht die Stirn. Sie haben es. Und Schönheit ist eine Form +des Genies — steht in Wahrheit noch höher als das +Genie, da sie keinerlei Erklärung bedarf. Sie ist eine der +großen Lebenstatsachen, wie das Sonnenlicht oder der +Lenz oder wie in dunkeln Gewässern der Widerschein der +Silbermuschel, die wir Mond nennen. Sie kann nicht bestritten +werden. Sie hat ein göttliches, erhabenes Recht.<a class="pagenum" name="Page_39" title="39"> </a> +Wer sie hat, den macht sie zu einem Prinzen. Sie +lächeln? Oh, wenn Sie sie verloren haben, lächeln Sie +nicht mehr... Die Leute sagen manchmal, Schönheit sei +nur etwas Äußerliches. Mag sein. Aber zum mindesten +ist sie nicht so äußerlich wie das Denken. Für mich ist +Schönheit aller Wunder Wunder. Nur die Hohlköpfe urteilen +nicht nach dem Äußeren. Das wahre Geheimnis der +Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare... Ja, +Herr Gray, die Götter haben es gut mit Ihnen gemeint. +Aber was die Götter schenken, rauben sie bald wieder. +Sie haben nur ein paar Jahre, wo Sie wahrhaftig vollkommen, +restlos leben können. Indem Ihre Jugend verrauscht +ist, nimmt sie die Schönheit mit, und dann werden +Sie plötzlich entdecken, daß Ihrer keine Siege mehr +warten, oder daß Sie sich mit jenen traurigen Siegen +werden begnügen müssen, die Ihnen die Erinnerung an +die Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen. +Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie näher einem +schrecklichen Ziele. Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und +kämpft gegen Ihre Lilien und Rosen. Sie werden fahl und +hohlwangig, und Ihre Augen werden sich trüben. Sie +werden unsäglich leiden... Ach! leben Sie Ihre Jugend, +solange sie da ist. Vergeuden Sie das Gold Ihrer Tage +nicht, leihen Sie Ihr Ohr nicht den Philistern, mühen +Sie sich nicht, hoffnungslose Verhängnisse zu verbessern, +geben Sie Ihr Leben nicht den Unwissenden, Niedrigen, +den gemeinen Leuten hin! Das sind die kranken Ziele, die +falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das +wunderschöne Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich<a class="pagenum" name="Page_40" title="40"> </a> +nichts verloren sein! Suchen Sie rastlos nach neuen +Sinneseindrücken! Fürchten Sie nichts... Ein neuer Hedonismus +— der täte unserem Jahrhundert not. Sie könnten +sein sichtbares Symbol werden. Mit Ihrer Persönlichkeit +können Sie alles wagen. Die Welt gehört Ihnen +einen Sommer hindurch... Im Augenblick, da ich Sie +sah, merkte ich, daß Sie keine Ahnung davon haben, was +Sie wirklich sind, was Sie wirklich sein könnten. So viel +in Ihnen entzückte mich, daß ich förmlich gezwungen war, +Ihnen etwas über Ihre Natur zu sagen. Ich dachte mir, +welche Tragik darin läge, wenn Sie vergebens lebten. +Denn Ihre Jugend währt nur so kurze Zeit — so kurze +Zeit. Die alltäglichen Wiesenblumen welken, aber sie +blühen wieder. Der Goldregen wird im nächsten Juni genau +so gelb sein wie heute. In einem Monat setzt die Klematis +purpurne Sterne an, und Jahr für Jahr umhüllt +die grüne Nacht ihrer Blätter solche Purpursterne. Aber +wir Menschen bekommen unsere Jugend nie wieder. Die +Freude, die den Puls des Zwanzigjährigen peitscht, läßt +nach. Unsere Glieder versagen, die Sinne werden seicht. +Wir verkommen und werden greuliche Verpuppungen, +werden verfolgt von den Erinnerungen an die Leidenschaften, +vor denen wir zurückgeschreckt sind, und an die +reizenden Versuchungen, denen zu erliegen wir nicht den +Mut hatten. Jugend! Jugend! Es gibt in der Welt nichts +weiter als Jugend!“</p> + +<p>Dorian Gray hörte zu, mit aufgerissenen Augen und +staunend. Der Fliederzweig, den er in der Hand hielt, fiel +auf den Kies. Eine Biene in ihrem Pelzkleid schoß her<a class="pagenum" name="Page_41" title="41"> </a> +und umsummte ihn einen Augenblick. Dann krabbelte sie +eifrig auf den kleinen Blumensternen herum. Er beobachtete +sie mit dem seltsamen Interesse an gewöhnlichen Dingen, +das wir in uns heranzubilden suchen, wenn wir uns vor +entscheidenden Dingen fürchten, oder wenn uns ein neues +Gefühl erschüttert, für das wir noch keine Formel haben, +oder wenn ein schrecklicher Gedanke das Hirn umklammert +und verlangt, daß wir uns ihm ausliefern sollen. Nach +einer Weile schwirrte die Biene weg. Er sah sie in den +bunten Trompetentrichter einer tyrischen Winde kriechen. +Die Blume schien zusammenzuzucken und bewegte sich dann +mit Grazie hin und her.</p> + +<p>Plötzlich erschien der Maler unter der Tür des Ateliers +und forderte sie mit kurzen wiederholten Zeichen auf, +hereinzukommen. Sie sahen sich einander an und lächelten.</p> + +<p>„Ich warte!“ rief er. „Kommt herein! Das Licht ist +ganz prächtig, und ihr könnt eure Gläser mitbringen.“</p> + +<p>Sie standen auf und schlenderten den Weg zurück. Zwei +grünlichweiße Schmetterlinge flatterten an ihnen vorüber, +und in dem Birnbaum an der Gartenecke begann eine +Drossel zu flöten.</p> + +<p>„Es freut Sie, mich kennengelernt zu haben, Herr +Gray?“ fragte Lord Henry und blickte ihn an,</p> + +<p>„Ja, jetzt bin ich erfreut darüber. Ich weiß nicht, ob +ich's immer sein werde!“</p> + +<p>„Immer! das ist ein schreckliches Wort. Ich schaudere, +wenn ich es höre. Die Frauen haben es so gern. Sie zerstören +sich jedes Abenteuer, indem sie ihm Ewigkeit verleihen +wollen. Außerdem ist es ein sinnloses Wort. Der<a class="pagenum" name="Page_42" title="42"> </a> +einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer Leidenschaft, +die ein Leben lang dauert, ist, daß die Laune ein +bißchen länger dauert.“</p> + +<p>Als sie ins Atelier traten, legte Dorian Gray seine +Hand auf Lord Henrys Arm. „Lassen Sie also unsere +Freundschaft eine Laune sein“, sagte er leise und errötete +über seine eigene Kühnheit. Dann bestieg er das Podium +und nahm wieder seine Stellung ein.</p> + +<p>Lord Henry warf sich in einen bequemen Korbsessel und +beobachtete ihn. Das Hin- und Herfahren des Pinsels +auf der Leinwand war das einzige, die Stille unterbrechende +Geräusch, nur manchmal hörte man den Schritt +Hallwards, wenn er zurücktrat, um sein Werk aus der +Entfernung zu prüfen. In den schrägen Sonnenstrahlen, +die durch die offene Tür fluteten, tanzte der Staub in +goldenen Schuppen. Über allem lagerte der schwere Duft +der Rosen.</p> + +<p>Als etwa eine Viertelstunde vergangen war, hörte Hallward +zu malen auf, betrachtete Dorian lange Zeit, sah +dann lange auf das Bildnis, nagte an dem Stiel eines +seiner großen Pinsel und runzelte die Stirn. „Ganz fertig“, +rief er endlich, bückte sich und schrieb in großen grellroten +Lettern seinen Namen in die linke Ecke der Leinwand.</p> + +<p>Lord Henry trat heran und betrachtete das Bild mit +Kennerblick. Es war in der Tat ein wunderbares Kunstwerk +und auch wunderbar ähnlich.</p> + +<p>„Lieber Junge,“ sagte er, „ich wünsche dir herzlich +Glück. Es ist das beste Porträt unserer ganzen Zeit. Herr +Gray, kommen Sie und sehen Sie selbst!“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_43" title="43"> </a></p> + +<p>Der Jüngling schrak wie aus einem Traume auf. „Ist +es wirklich fertig?“ murmelte er, als er vom Podium +herabstieg.</p> + +<p>„Ganz fertig“, antwortete der Maler. „Und du hast +heute glänzend Modell gestanden. Ich bin dir sehr, sehr +dankbar.“</p> + +<p>„Das ist nur mein Verdienst“, warf Lord Henry ein. +„Nicht wahr, Herr Gray?“</p> + +<p>Dorian gab keine Antwort, sondern trat, ohne hinzuhören, +vor sein Bild und wandte sich dem Werke zu. Als +er es sah, zuckte er zusammen, und seine Wangen röteten +sich einen Augenblick vor Vergnügen. Ein Ausdruck der +Freude blitzte in seinen Augen, als erkenne er sich selbst +jetzt zum ersten Male. Bewegungslos und in Staunen +versunken, stand er da und merkte dumpf, daß Hallward +zu ihm sprach, ohne daß er den Sinn der Worte erfaßte. +Das Gefühl seiner eigenen Schönheit kam über ihn wie +eine Offenbarung. Er hatte es nie vorher empfunden. +Basil Hallwards Komplimente hatte er nur für liebenswürdige +Übertreibungen der Freundschaft gehalten. Er +hatte sie gehört, über sie gelacht und sie vergessen. Sein +Wesen hatten sie niemals beeinflußt. Dann war Lord +Henry Wotton gekommen mit seinem sonderbaren Hymnus +auf die Jugend, seiner schrecklichen Warnung von +ihrer Flüchtigkeit. Das hatte ihn rechtzeitig aufgerüttelt, +und als er jetzt dastand und das Abbild der eigenen +Schönheit betrachtete, durchdrang ihn die volle Wirklichkeit +jener Schilderung. Ja, der Tag mußte kommen, +da sein Gesicht verrunzelt und verwelkt, die Augen trüb<a class="pagenum" name="Page_44" title="44"> </a> +und farblos, die Anmut seiner Gestalt geknickt und entstellt +sein würde. Das Scharlachrot der Lippen würde +verblassen, der Goldglanz des Haares sich wegstehlen. Das +Leben, das von seiner Seele gebildet wurde, zerstörte +seinen Körper. Er würde häßlich, abscheuerregend und +formlos werden.</p> + +<p>Als er daran dachte, durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz +wie ein Messerstich und ließ die feinsten Nerven seines Ichs +erbeben. Seine Augen verdunkelten sich zu Amethysten, +und ein Tränenflor umschleierte sie. Es war, als hätte +sich ihm eine eiskalte Hand aufs Herz gelegt.</p> + +<p>„Gefällt es dir nicht?“ rief endlich Hallward, ein wenig +gereizt durch das Schweigen des Jünglings, dessen Grund +er nicht begriff.</p> + +<p>„Natürlich gefällt's ihm“, sagte Lord Henry. „Wem +würde es nicht gefallen? Es gehört zu den größten Werken +der modernen Kunst. Ich gebe dir jeden Betrag dafür, +den du verlangst. Ich muß es haben.“</p> + +<p>„Es gehört nicht mir, Harry.“</p> + +<p>„Wem denn?“</p> + +<p>„Dorian natürlich“, antwortete der Maler.</p> + +<p>„Da hat er Glück...“</p> + +<p>„Wie traurig!“ flüsterte Dorian und hielt die Augen +noch immer fest auf das Bild gerichtet. „Wie traurig! +Ich werde alt werden und häßlich und widerlich. Aber +dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über den +heutigen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt +sein könnte! Wenn ich ewig jung bliebe und dafür +das Bild altern könnte! Dafür — dafür — gäbe ich alles!<a class="pagenum" name="Page_45" title="45"> </a> +Ja, nichts in aller Welt wäre mir dafür zuviel! Ich gäbe +meine Seele dafür!“</p> + +<p>„Dieser Tausch würde dir schwerlich passen, Basil“, rief +Lord Henry lachend. „Das wäre schlimm für dein Bild.“</p> + +<p>„Ich würde mich ernstlich dagegen wehren, Harry“, +sagte Hallward.</p> + +<p>Dorian Gray wandte sich zu ihm und sah ihn an. „Ich +bin davon überzeugt, Basil. Die Kunst ist dir mehr als +deine Freunde. Ich bedeute für dich nicht mehr als eine +grüne Bronzefigur. Vielleicht kaum so viel, müßte ich +sagen.“</p> + +<p>Der Maler war starr vor Erstaunen. So zu sprechen +sah Dorian gar nicht ähnlich. Was war geschehen? Er +schien ganz erregt. Sein Gesicht war gerötet, und die +Wangen brannten.</p> + +<p>„Ja,“ fuhr er fort, „ich bin dir weniger als dieser Hermes +aus Elfenbein oder der silberne Faun da. Die wirst +du immer liebbehalten. Wie lange wirst du mich liebhaben? +Vermutlich bis die erste Runzel mein Gesicht entstellt. +Ich weiß jetzt, wenn man erst seine Schönheit verliert, +hat man alles verloren. Dein Bild hat mich dies +gelehrt. Lord Henry Wotton hat ganz recht. Jugend ist +das einzige, was Wert hat auf der Welt. Sowie ich entdecke, +daß ich alt werde, bringe ich mich um.“</p> + +<p>Hallward wurde bleich und faßte ihn bei der Hand. +„Dorian, Dorian!“ rief er, „sage so etwas nicht. Ich habe +nie einen Freund gehabt wie dich und werde nie wieder +so einen haben. Du bist doch nicht auf leblose Dinge eifersüchtig? +Du, der schöner ist als irgendeines von ihnen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_46" title="46"> </a></p> + +<p>„Ich bin eifersüchtig auf jedes Ding, dessen Schönheit +nicht stirbt. Ich bin eifersüchtig auf das Bild, das du von +mir gemalt hast. Warum darf es behalten, was ich verlieren +muß? Jeder Augenblick, der verfliegt, raubt mir +etwas und schenkt ihm etwas. Oh, wenn es doch umgekehrt +wäre! Wenn sich das Bild verändern und ich immer bleiben +könnte, wie ich jetzt bin! Warum hast du es gemalt? +Es wird mich dereinst verhöhnen — furchtbar verhöhnen!“ +Die heißen Tränen traten ihm in die Augen, er zog seine +Hand weg, warf sich auf den Diwan und vergrub sein +Gesicht in den Kissen, als betete er.</p> + +<p>„Das ist dein Werk, Harry“, sagte der Maler bitter.</p> + +<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Es ist der wahre Dorian +Gray — sonst nichts.“</p> + +<p>„Das ist er nicht.“</p> + +<p>„Wenn er es nicht ist, was habe ich damit zu schaffen?“</p> + +<p>„Du hättest weggehen sollen, als ich dich darum bat“, +grollte er.</p> + +<p>„Ich blieb, als du mich darum batest“, war Lord +Henrys Erwiderung.</p> + +<p>„Harry, ich kann nicht auf einmal mit meinen beiden +besten Freunden Streit anfangen, aber ihr beide habt +schuld, daß ich das beste Stück, das mir je gelungen ist, +hassen muß, und ich werde es vernichten. Ist es schließlich +mehr als Leinwand und Farbe? Ich will es nicht eingreifen +lassen in drei Leben und sie zerstören.“</p> + +<p>Dorian Gray hob seinen goldschimmernden Kopf von +dem Kissen und blickte ihn mit bleichem Gesicht und tränenfeuchten +Augen an, als er zu dem Maltische aus Kiefernholz<a class="pagenum" name="Page_47" title="47"> </a> +trat, der unter dem hohen verhängten Fenster stand. +Was wollte Basil beginnen? Seine Finger wühlten zwischen +dem Wust von Blechtuben und trockenen Pinseln +herum, als suchten sie etwas. Ja, sie suchten das lange +Schabmesser mit der schmalen Klinge aus schmiegsamem +Stahl. Endlich hatte er es gefunden. Er wollte die Leinwand +zerschlitzen.</p> + +<p>Mit einem erstickten Schluchzen sprang der Jüngling +vom Diwan auf, schoß auf Hallward zu, riß ihm das +Messer aus der Hand und schleuderte es in den äußersten +Winkel des Ateliers. „Tu es nicht, Basil, tu es nicht“, +schrie er. „Es wäre Mord.“</p> + +<p>„Ich freue mich, daß dir meine Arbeit endlich doch gefällt, +Dorian“, sagte der Maler kühl, als er sich von +seinem Erstaunen erholt hatte. „Ich hätte es gar nicht +geglaubt.“</p> + +<p>„Gefällt? Ich bin verliebt in dies Bild, Basil. Es ist +ja ein Teil von mir selbst. Ich fühle es.“</p> + +<p>„Schön, sobald du trocken bist, sollst du gefirnißt, gerahmt +und zu dir hingeschickt werden. Dann kannst du +mit dir anfangen, was dir beliebt.“ Er schritt durch den +Raum und klingelte nach Tee. „Du trinkst doch Tee, +Dorian? Du auch, Harry? Oder machst du dir nichts aus +so einfachen Genüssen?“</p> + +<p>„Ich bete einfache Genüsse an“, sagte Lord Henry. +„Sie sind die letzte Zuflucht komplizierter Naturen. Aber +für Szenen schwärme ich nicht, außer auf der Bühne. Was +für tolle Burschen seid ihr doch, ihr beide! Wer war es +doch gleich, der den Menschen als ein vernünftiges Tier<a class="pagenum" name="Page_48" title="48"> </a> +definiert hat? Das war eine der voreiligsten Definitionen, +die je aufgestellt wurden. Der Mensch hat eine ganze +Menge Eigenschaften, aber gewiß keine Vernunft. Alles +in allem übrigens: Gott sei Dank, obwohl mir's eigentlich +lieber wäre, ihr beiden Wirbelköpfe zanktet euch nicht +um das Bild. Du solltest es lieber mir gegeben haben, +Basil. Dieses törichte Knäblein braucht es eigentlich gar +nicht, und ich brauche es sehr.“</p> + +<p>„Wenn du es einem anderen geben willst als mir, Basil, +verzeihe ich es dir nie“, rief Dorian Gray; „und ich erlaube +niemand, mich ein törichtes Knäblein zu nennen.“</p> + +<p>„Du weißt, Dorian, das Bild gehört dir. Ich hab' es +dir geschenkt, noch ehe es vorhanden war.“</p> + +<p>„Und Sie wissen, Herr Gray, daß Sie ein wenig töricht +waren und daß Sie ernstlich gar nichts dagegen haben +können, an Ihre große Jugend erinnert zu werden.“</p> + +<p>„Heute früh hätte ich sehr viel dagegen gehabt, Lord +Henry.“</p> + +<p>„Ah! heute früh. Seitdem haben Sie einiges erlebt.“</p> + +<p>Es klopfte an die Tür, und der Diener trat mit einem +besetzten Teebrett ein und servierte auf einem kleinen japanischen +Tisch den Tee. Die Tassen und Löffel klapperten, +und ein georgischer Samowar begann zu summen. Zwei +gewölbte chinesische Porzellanschüsseln wurden von einem +jungen Diener hereingebracht. Dorian Gray ging hin und +goß den Tee ein. Die beiden Männer schlenderten zum +Tische und sahen nach, was unter den Deckeln der Schüsseln +war.</p> + +<p>„Wir wollen heute abend ins Theater gehen“, meinte<a class="pagenum" name="Page_49" title="49"> </a> +Lord Henry. „Irgendwo wird sicher was los sein. Ich +habe zwar zugesagt, im White-Klub zu soupieren, aber +mich erwartet nur ein alter Freund; ich kann ihm also +ein Telegramm schicken, daß ich nicht wohl sei oder infolge +einer späteren Verabredung nicht kommen könne. +Das würde ich für eine reizende Entschuldigung halten. +Sie hat einen förmlich überraschenden Duft von Aufrichtigkeit.“</p> + +<p>„Es ist so lästig, sich den Frack anzuzerren“, murmelte +Hallward. „Und wenn man ihn anhat, sieht man so gräßlich +aus.“</p> + +<p>„Ja,“ antwortete Lord Henry träumerisch, „die Kleidung +des neunzehnten Jahrhunderts ist abscheulich. Sie +ist so düster, so deprimierend. Die Sünde ist noch das +einzig Farbenfreudige, das im modernen Leben übriggeblieben +ist.“</p> + +<p>„Du solltest wirklich nicht solche Dinge vor Dorian +sagen, Harry!“</p> + +<p>„Vor welchem Dorian? Vor dem, der uns den Tee +einschenkt, oder dem anderen auf dem Bilde?“</p> + +<p>„Vor keinem.“</p> + +<p>„Ich ginge gerne mit Ihnen ins Theater, Lord Henry“, +sagte der Jüngling.</p> + +<p>„Dann kommen Sie doch. Und du auch, Basil, nicht +wahr?“</p> + +<p>„Ich kann nicht, wirklich nicht. Es ist mir lieber so. Ich +habe eine Unmenge zu tun.“</p> + +<p>„Schön also. Dann müssen wir zwei allein gehen, Herr +Gray.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_50" title="50"> </a></p> + +<p>„Ich freue mich riesig darauf.“</p> + +<p>Der Maler biß sich auf die Lippe und schritt, die Teetasse +in der Hand, zum Bilde. „Ich bleibe hier bei dem +wirklichen Dorian“, sagte er traurig.</p> + +<p>„Ist das der wirkliche?“ rief das Original und ging +gleichfalls langsam zu ihm hin. „Bin ich wirklich so?“</p> + +<p>„Ja, genau so bist du.“</p> + +<p>„Wie wundervoll, Basil!“</p> + +<p>„Du siehst wenigstens jetzt so aus. Aber das Bild wird +sich nie ändern“, seufzte Hallward. „Das ist schon etwas.“</p> + +<p>„Was man heute für ein großes Wesen aus der Treue +macht!“ rief Lord Henry aus. „Und doch ist sie selbst in +der Liebe eine rein physiologische Frage. Sie hat auch +nicht das mindeste mit unserem eigenen Willen zu tun. +Junge Männer wären gerne treu und sind es nicht; alte +würden gerne untreu sein und können es nicht: das ist +alles, was sich darüber sagen läßt.“</p> + +<p>„Geh heute abend nicht ins Theater, Dorian“, bat +Hallward. „Bleibe hier und speise mit mir.“</p> + +<p>„Ich kann nicht, Basil.“</p> + +<p>„Warum?“</p> + +<p>„Weil ich Lord Henry Wotton zugesagt habe, ihn zu +begleiten.“</p> + +<p>„Er wird dir darum nicht mehr zugetan sein, wenn du +so treu deine Versprechungen hältst. Er bricht seine immer. +Ich bitte dich, nicht zu gehen.“</p> + +<p>Dorian Gray schüttelte lachend den Kopf.</p> + +<p>„Ich beschwöre dich.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_51" title="51"> </a></p> + +<p>Der junge Mann schwankte und blickte zu Lord Henry +hinüber, der die beiden mit einem belustigten Lächeln vom +Teetische aus beobachtete.</p> + +<p>„Ich muß mit, Basil“, antwortete er.</p> + +<p>„Schön“, sagte Hallward und ging zum Tische hinüber, +wo er seine Tasse hinstellte. „Es ist ziemlich spät, und da +ihr euch noch umziehen müßt, habt ihr keine Zeit mehr +zu verlieren. Adieu, Harry! Adieu, Dorian! Komm bald +wieder. Komm morgen.“</p> + +<p>„Bestimmt.“</p> + +<p>„Aber nicht vergessen!“</p> + +<p>„Nein, natürlich nicht!“ rief Dorian.</p> + +<p>„Und... Harry!“</p> + +<p>„Ja, Basil?“</p> + +<p>„Vergiß nicht, was ich dir sagte, als wir am Vormittag +im Garten saßen.“</p> + +<p>„Ich habe es vergessen.“</p> + +<p>„Ich vertraue dir.“</p> + +<p>„Ich wünschte, ich könnte mir selbst vertrauen“, sagte +Lord Henry lachend. „Kommen Sie, Herr Gray, mein +Wagen steht unten, und ich kann Sie an Ihrer Wohnung +absetzen. Adieu, Basil! Es war ein sehr unterhaltender +Nachmittag.“</p> + +<p>Als sich die Tür hinter ihnen schloß, warf sich der Maler +auf den Diwan, und in sein Gesicht trat ein schmerzlicher +Ausdruck.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_52" title="52"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Drittes_Kapitel" id="Drittes_Kapitel"></a>Drittes Kapitel</h2> + + +<p>Um zwölfeinhalb Uhr am nächsten Tage schlenderte +Lord Henry Wotton von Curzon Street nach Albany hinüber, +um einen Besuch zu machen bei seinem Onkel Lord +Fermor, einem heiteren, aber ziemlich rauhen alten Junggesellen, +den die Außenwelt einen Egoisten nannte, weil +sie keinen besonderen Nutzen aus ihm ziehen konnte, der +aber in der Gesellschaft als freigebig verschrien war, weil +er die Leute, die ihn amüsierten, aufs beste fütterte. Sein +Vater war britischer Gesandter in Madrid gewesen, als +Isabella noch jung war und man noch nichts von Prim +wußte, hatte sich aber in einem Augenblicke launischen +Ärgers aus dem diplomatischen Dienste zurückgezogen, +weil man ihm nicht den Gesandtenposten in Paris angeboten +hatte, zu dem er sich vollauf berechtigt geglaubt +hatte durch seine Geburt, seine Arbeitsunlust, sein gutes +Englisch in seinen Depeschen und durch seine zügellose Vergnügungssucht. +Der Sohn, der des Vaters Privatsekretär +gewesen war, hatte mit seinem Chef zugleich den Abschied +genommen, was man damals ziemlich verrückt fand, und +als der Titel einige Monate später auf ihn überging, hatte +er sich ernstlich dem großen aristokratischen Studium gewidmet, +absolut nichts zu tun. Er besaß zwei große Häuser +in der Stadt, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung +zu hausen, weil das weniger Umstände machte, +und speiste meistens im Klub. Er beschäftigte sich ein wenig<a class="pagenum" name="Page_53" title="53"> </a> +mit der Verwaltung seiner Kohlenminen in den Midlandgrafschaften +und entschuldigte diese verwerfliche industrielle +Tätigkeit damit, daß er sagte, der einzige Vorteil, Kohlen +zu besitzen, sei der, es einem Gentleman möglich zu +machen, in seinem eigenen Kamin Holz zu brennen. Politisch +war er ein Tory, außer wenn die Tories Regierungspartei +waren, denn in solchen Zeiten verlästerte er sie +und schimpfte sie radikales Gesindel. Er war ein Held für +seinen Kammerdiener, der ihn drangsalierte, und ein +Schrecken für die meisten seiner Verwandten, die er drangsalierte. +Nur England konnte ihn erzeugt haben, und +er selber sagte immer, daß das Land mehr und mehr +auf den Hund käme. Seine Grundsätze waren altmodisch, +aber an seinen Vorurteilen war etwas dran.</p> + +<p>Als Lord Henry ins Zimmer trat, fand er seinen Onkel +in einem flockigen Jagdrock, eine ziemlich wohlfeile Zigarre +im Munde und brummend in den „Times“ lesend.</p> + +<p>„Na, Harry,“ sagte der alte Herr, „was bringt dich so +früh her? Ich dachte immer, ihr Dandies steht nie vor +zwei Uhr auf und werdet nie vor fünf Uhr sichtbar.“</p> + +<p>„Reine Familienliebe, auf mein Wort, Onkel Georg; +ich brauche etwas von dir.“</p> + +<p>„Geld vermutlich“, sagte Lord Fermor und machte ein +saures Gesicht. „Na gut, so setz' dich und sag' mir alles. +Ihr jungen Leute von heutzutage bildet euch ein, das +Geld wäre alles.“</p> + +<p>„Ja,“ brummelte Lord Henry, während er seine Blume +im Knopfloch zurechtrückte, „und wenn sie älter werden, +dann wissen sie es. Aber ich brauche kein Geld. Nur Leute,<a class="pagenum" name="Page_54" title="54"> </a> +die ihre Rechnungen zahlen, brauchen Geld, Onkel Georg, +und ich bezahle meine nie. Kredit ist das Kapital eines +zweitältesten Sohnes, und man kann brillant davon leben. +Außerdem kaufe ich immer bei Dartmoors Lieferanten, und +daher habe ich nie Scherereien. Was ich brauche, ist eine +Auskunft, keine nützliche Auskunft natürlich, sondern nur +eine wertlose.“</p> + +<p>„Ich kann dir alles sagen, Harry, was je in einem englischen +Blaubuch gestanden hat, obwohl diese Bengels heutzutage +einen Haufen Unsinn zusammensudeln. Als ich noch +Diplomat war, lagen die Dinge besser. Aber ich höre, man +stellt jetzt die Leute auf Grund einer Prüfung ein. Was +kann man da noch erwarten? Prüfungen, mein Bester, +sind der reine Humbug von A bis Z. Wenn einer Gentleman +ist, weiß er schon genug, und wenn er kein Gentleman +ist, so mag er alles Mögliche wissen, es hilft ihm doch +nichts.“</p> + +<p>„Herr Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu +schaffen“, sagte Lord Henry in seinem schläfrigen Tone.</p> + +<p>„Herr Dorian Gray? Wer ist das?“ fragte Lord Fermor, +seine buschigen weißen Augenbrauen zusammenkneifend.</p> + +<p>„Um das zu erfahren, bin ich gerade hergekommen, Onkel +Georg. Oder genauer gesagt, wer es ist, weiß ich. Nämlich +der Enkel des verstorbenen Lord Kelso. Seine Mutter war +eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich möchte, daß +du mir etwas über seine Mutter erzählst. Was weißt du +von ihr? Wen hat sie geheiratet? Du hast zu deiner Zeit +doch so ziemlich alle Leute gekannt, also wahrscheinlich auch<a class="pagenum" name="Page_55" title="55"> </a> +sie. Ich interessiere mich gegenwärtig ungemein für Herrn +Gray. Ich habe ihn erst gestern kennengelernt.“</p> + +<p>„Kelsos Enkel!“ wiederholte der alte Herr, „Kelsos +Enkel! ... natürlich ... ich war mit seiner Mutter sehr +intim. Ich glaube, ich war sogar bei ihrer Taufe. Es war +ein ganz außergewöhnlich schönes Mädchen, diese Margaret +Devereux, und hat dann alle jungen Männer toll +gemacht, als sie mit einem jungen Habenichts davonlief, +einer absoluten Null, mein Bester, einem Fähnrich bei der +Infanterie oder so was Ähnliches. Natürlich. Ich erinnere +mich jetzt an die ganze Geschichte, als wäre sie gestern passiert. +Der arme Kerl wurde dann ein paar Monate nach +der Hochzeit in einem Duell in Spa getötet. Man erzählte +damals eine häßliche Geschichte darüber. Man sagte, +der alte Kelso hätte irgendeinen Schuft, so einen Abenteurer +aus Belgien gemietet, um seinen Schwiegersohn öffentlich +zu beleidigen, hätte ihn dafür bezahlt, mein Bester, einfach +bezahlt, damit er es täte, und dieser Kerl spießte dann sein +Opfer auf wie eine Taube. Die Geschichte wurde natürlich +vertuscht, aber Kelso mußte eine Zeitlang sein Kotelett +allein im Klub essen. Ich hörte, er brachte seine Tochter +wieder mit, doch sie sprach nie mehr ein Wort mit ihm. +O jawohl, das war eine böse Sache. Das Mädel starb +dann auch, kaum ein Jahr später. So, sie hat also einen +Sohn hinterlassen? Das hatte ich ganz vergessen. Was +für ein Junge ist es denn? Wenn er seiner Mutter ähnlich +sieht, muß es ein hübsches Kerlchen sein.“</p> + +<p>„Er ist sehr hübsch“, stimmte Lord Henry bei.</p> + +<p>„Ich hoffe, er wird in die rechten Hände kommen“, fuhr<a class="pagenum" name="Page_56" title="56"> </a> +der alte Mann fort. „Es muß ein Haufen Geld auf ihn +warten, wenn Kelso pflichtgemäß an ihm handelte. Seine +Mutter hatte übrigens auch Geld. Der ganze Selbysche +Besitz fiel ihr durch ihren Großvater zu. Ihr Großvater +haßte Kelso, hielt ihn für einen gemeinen Köter. War es +übrigens auch. Er kam mal nach Madrid, als ich dort war. +Na, ich mußte mich des Kerls schämen. Die Königin +pflegte mich nach dem englischen Edelmann zu fragen, der +sich immer mit den Kutschern über die Taxe zankte. Man +machte einen ganzen Roman daraus. Ich wagte einen +Monat lang nicht, bei Hof zu erscheinen. Ich hoffe, er hat +seinen Enkel besser behandelt als die Droschkenkutscher.“</p> + +<p>„Darüber weiß ich nichts“, erwiderte Lord Henry. „Ich +vermute aber, der junge Mann wird einmal wohlhabend +werden. Er ist noch nicht volljährig. Selby gehört ihm, +das weiß ich. Er hat es mir gesagt. Und... seine Mutter +war also sehr schön?“</p> + +<p>„Margaret Devereux war eines der entzückendsten Geschöpfe, +die ich je gesehen habe, Harry. Was in aller Welt +sie dazu getrieben hat, so zu handeln, habe ich nie verstehen +können. Sie hätte jeden Mann heiraten können, den sie +wollte. Carlington war wahnsinnig verschossen in sie. Aber +sie war romantisch veranlagt. Alle Frauen dieser Familie +waren so. Die Männer waren ein trauriges Gesindel, aber +beim Himmel! die Weiber waren wunderbar! Carlington +lag vor ihr auf den Knien. Hat's mir selber gebeichtet. +Sie lachte ihn aus, und es gab damals in London kein +Mädel, das nicht hinter ihm hergewesen wäre. Übrigens, +Harry, da wir schon über Mesalliancen reden: was ist das<a class="pagenum" name="Page_57" title="57"> </a> +für ein Unsinn, den mir dein Vater von Dartmoor erzählt, +der eine Amerikanerin heiraten will? Sind englische Mädels +für ihn nicht gut genug?“</p> + +<p>„Es ist jetzt Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel +Georg.“</p> + +<p>„Ich verteidige die englischen Frauen gegen die ganze +Welt, Harry“, sagte Lord Fermor und schlug mit der +Faust auf den Tisch.</p> + +<p>„Man reißt sich um die Amerikanerinnen.“</p> + +<p>„Sie halten sich nicht, hat man mir gesagt“, brummte +der Onkel.</p> + +<p>„Ein langes Verlobtsein erschöpft sie, aber für eine +Steeplechase sind sie brillant. Sie sind Flieger. Ich glaube +nicht, daß Dartmoor Chance hat.“</p> + +<p>„Was ist's für eine Familie?“ murrte der alte Herr. +„Hat sie überhaupt eine?“</p> + +<p>Lord Henry schüttelte den Kopf. „Amerikanische Mädchen +sind ebenso klug, ihre Eltern zu verbergen, wie englische +Frauen im Verbergen ihrer Vergangenheit“, antwortete +er und stand auf, um wegzugehen.</p> + +<p>„Also vermutlich Schweinefleischhändler.“</p> + +<p>„Das hoffe ich, Onkel Georg, in Dartmoors Interesse. +Man hat mir gesagt, mit Schweinefleischbüchsen zu handeln, +soll nächst der Politik der einträglichste Beruf in +Amerika sein.“</p> + +<p>„Ist sie hübsch?“</p> + +<p>„Sie benimmt sich so, als wäre sie es. Das tun die +meisten Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihres +magnetischen Reizes.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_58" title="58"> </a></p> + +<p>„Warum bleiben diese amerikanischen Weiber nicht in +ihrem Lande? Sie sagen doch immer, es sei das Paradies +für Frauen.“</p> + +<p>„Das ist es auch. Und das ist auch der Grund, warum +sie wie Eva so gern daraus weg wollen“, sagte Lord +Henry. „Adieu, Onkel Georg! Ich komme zu spät zum +Frühstück, wenn ich noch länger bleibe. Danke sehr für die +Auskunft, die du mir gabst. Ich habe immer das Bedürfnis, +von meinen neuen Freunden alles zu hören und +möglichst nichts von meinen alten.“</p> + +<p>„Wo wirst du frühstücken, Harry?“</p> + +<p>„Bei Tante Agatha. Ich habe mich mit Herrn Gray +dort angesagt. Es ist ihr neuestes Protektionskind.“</p> + +<p>„Hm! sag' der Tante Agatha, Harry, sie soll mich mit +ihrem Wohltätigkeitskrempel ungeschoren lassen. Ich habe +sie bis hierher! Weiß Gott, das gute Frauenzimmer meint, +ich hätte nichts zu tun als Schecks für ihre langweiligen +Vereinsmeiereien auszuschreiben.“</p> + +<p>„Abgemacht, Onkel Georg, ich werde es ihr bestellen, +aber es wird nichts nutzen. Wohltätigkeitsmegären verlieren +alle Menschlichkeit. Das ist ihr hervorstechendstes +Merkmal.“</p> + +<p>Der alte Herr brummte zustimmend und klingelte seinem +Diener. Lord Henry schritt durch die niedrigen Arkaden +nach Burlington Street und lenkte dann seine Schritte in +die Richtung nach Berkeley Square.</p> + +<p>Das war also die Geschichte von Dorian Grays Eltern. +So roh umrissen sie ihm auch geschildert worden war, sie +hatte ihn doch nach Art eines seltsamen, geradezu modernen<a class="pagenum" name="Page_59" title="59"> </a> +Romans erregt. Eine schöne Frau, die alles für +eine wahnsinnige Leidenschaft einsetzt. Ein paar wilde, +wonnige Wochen, jäh abgeschnitten durch ein abscheuliches, +heimtückisches Verbrechen, Monate stummer Todesverzweiflung, +und dann ein Kind unter Schmerzen geboren. Die +Mutter vom Tode weggemäht, der Knabe der Einsamkeit +und der Tyrannei eines alten, lieblosen Mannes ausgeliefert. +Ja, das war ein interessanter Hintergrund. Er +gab dem jungen Menschen Relief, machte ihn noch vollkommener. +Hinter allem Köstlichen in der Welt lauert +eine geheime Tragödie, Welten müssen in Schwingung +sein, damit die kleinste Blume erblühen kann... Und wie +entzückend war er gestern abend gewesen, als er ihm mit +erschreckten Augen, die Lippen in scheuem Verlangen geöffnet, +im Klub gegenüber gesessen und die roten Kerzenschirme +das erwachende Wunder seines Gesichts in einen +noch rosenfarbenen Ton getaucht hatten. Mit ihm +sprechen, das war wie auf einer auserlesenen Geige spielen. +Er gab jedem Druck nach, jeder zitternden Berührung +des Bogens... Es lag doch etwas unerhört Knechtendes +darin, auf jemand Einfluß auszuüben. Keine andere Tätigkeit +kam dem gleich. Seine eigene Seele in eine anmutige +Form gießen und sie darin einen Augenblick lang verweilen +lassen: seine eigenen Gedankenakkorde im Echo +zurückbekommen, bereichert durch die Musik der Leidenschaft +und Jugend: sein eigenes Temperament in ein +anderes hineinversenken, als wäre es das allerätherischste +Fluidum oder ein seltener Wohlgeruch: darin lag eine +wahre Lust — vielleicht die allerbefriedigendste Lust, die<a class="pagenum" name="Page_60" title="60"> </a> +uns übriggeblieben ist, in einer so beschränkten und ordinären +Zeit wie die unsere, die so derbfleischlich in ihren +Genüssen und so grobzufassend in ihren Begierden ist... +Auch war er ein wundervoller Typus, dieser junge Mensch, +den er durch einen so wunderbaren Zufall in Basils Atelier +kennengelernt hatte, oder konnte jedenfalls zu einem +wunderbaren Typus umgemodelt werden. Anmut war ihm +verliehen und die schneeige Reinheit der Jünglingschaft, +und eine Schönheit, wie man sie bei alten griechischen +Marmorbildern findet. Nichts gab es, was sich nicht aus +ihm machen ließe. Man konnte einen Titanen oder ein +Spielzeug aus ihm machen. Welch Jammer, daß solche +Schönheit dahinwelken muß... Und Basil? Wie interessant +war doch er für den Psychologen! Diese neue Art +von Kunst, diese neue Weise, das Leben anzuschauen, die +ihm auf das seltsamste durch die sichtbare Gegenwart +eines Menschen erweckt wurde, der von alledem nichts +wußte: der stille Geist, der in einer düsteren Waldlandschaft +wohnte und ungesehen ins offene Feld entwandelte, +enthüllte sich plötzlich wie eine Dryade, und ohne Scheu, +weil in der Seele, die sehnsüchtig nach ihm suchte, jene +wundersame Vision wach geworden war, der nur die +außerordentlichen Dinge offenbar werden: die bloßen +Formen und Linien der Dinge wurden gleichsam edler +und bekamen eine Art von symbolischer Bedeutung, als +wären sie selbst nur Schatten einer anderen und vollendeteren +Form, deren Abbilder sie zur Wirklichkeit erhoben: +wie merkwürdig das alles war! Er erinnerte sich, +daß es in der Geschichte irgend etwas Ähnliches gab. War<a class="pagenum" name="Page_61" title="61"> </a> +es nicht Plato, dieser Künstler in der Welt der Gedanken, +der es als erster untersucht hatte? War es nicht Buonarotti, +der es in den farbigen Marmor seiner Sonettreihe +gemeißelt hatte? Aber in unserem Jahrhundert war es +etwas Seltenes... Ja, er wollte versuchen, für Dorian +Gray das zu sein, was der Jüngling, ohne es zu wissen, +für den Maler war, der das prächtige Bildnis geschaffen +hatte. Er wollte versuchen, in ihm zu herrschen — hatte +es in Wahrheit schon zum Teil getan. Er wollte diesen +wunderbaren Geist zu seinem eigenen machen. Es war +etwas unwiderstehlich Magnetisches in diesem Abkömmling +von Tod und Liebe.</p> + +<p>Plötzlich blieb er stehen und sah an den Häusern hinauf. +Er entdeckte, daß er bereits an dem Hause seiner Tante +vorbeigegangen sei, und ging stillächelnd zurück. Als er +in die etwas düstere Halle eintrat, sagte ihm der Diener, +die Herrschaften seien schon beim Frühstück. Er gab einem +Lakai Hut und Stock und ging in den Speisesaal.</p> + +<p>„Spät wie immer, Harry“, rief seine Tante, ihm zunickend.</p> + +<p>Er erfand eine glaubwürdige Entschuldigung, setzte sich +auf den leeren Platz neben sie und sah sich um, zu sehen, +wer noch da war. Dorian begrüßte ihn schüchtern vom +Ende des Tisches her, und seine Wangen wurden vor geheimer +Freude rot. Gegenüber saß die Herzogin von +Harley, eine Dame von bewunderungswürdig guter +Laune und ebensolchem Charakter, die jeder gern hatte +und deren Körper in jenen erhabenen architektonischen +Maßen aufgebaut war, der von zeitgenössischen Geschichtsschreibern +bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind,<a class="pagenum" name="Page_62" title="62"> </a> +als Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß +Sir Thomas Burdon, ein radikales Parlamentsmitglied, +das im öffentlichen Leben seinem Parteichef Gefolge leistete +und im privaten den besten Küchenchefs, der nach +einer weisen und allgemein verbreiteten Lebensregel mit +den Tories dinierte und mit den Liberalen geistig übereinstimmte. +Den Platz an ihrer Linken nahm Herr Erskine +of Treadley ein, ein alter prächtiger und gebildeter Herr, +der sich die schlechte Gewohnheit des Schweigens angeeignet +hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte, +schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr alles +gesagt hatte, was er überhaupt zu sagen hatte. Seine +Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen +seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den +Frauen, aber so geschmacklos verputzt, daß man bei ihrem +Anblick immer an ein schlechtgebundenes Gebetbuch denken +mußte. Zu seinem Glück saß an ihrer anderen Seite +Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in den +besten Jahren, der so kahl war wie der Bericht eines +Ministers auf eine Interpellation im Unterhaus, und mit +ihm unterhielt sie sich in jenem intensiv-ernsten Tone, der, +wie Lord Henry einmal selbst geäußert hatte, der eine +unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten +Menschen verfallen, und den keiner von ihnen völlig vermeiden +kann.</p> + +<p>„Wir sprechen über den bedauernswerten Dartmoor, +Henry“, rief die Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch +zunickend. „Glauben Sie, daß er wirklich die berückende +junge Dame heiratet?“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_63" title="63"> </a></p> + +<p>„Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich fest vorgenommen, +um das Jawort zu bitten.“</p> + +<p>„Wie schrecklich“, rief Lady Agatha. „Dann sollte sich +wirklich jemand ins Mittel legen.“</p> + +<p>„Ich erfahre aus einer ganz vorzüglichen Quelle, daß ihr +Vater ein Kurzwarengeschäft in Amerika hat“, sagte Sir +Thomas Burdon mit einem überlegenen Blicke.</p> + +<p>„Mein Onkel hat behauptet: Schweinefleischlieferant, +Sir Thomas.“</p> + +<p>„Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?“ +fragte die Herzogin und erhob staunend ihre großen Hände +und dabei jede Silbe betonend.</p> + +<p>„Amerikanische Romane“, antwortete Lord Henry und +nahm von den Wachteln.</p> + +<p>Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht.</p> + +<p>„Geben Sie nicht acht auf ihn, meine Liebe,“ wisperte +ihr Lady Agatha zu, „er meint nie im Ernst, was er +sagt.“</p> + +<p>„Als Amerika entdeckt wurde,“ sagte der radikale Abgeordnete +und ließ einige langweilige Tatsachen vom Stapel. +Wie alle Menschen, die bestrebt sind, ein Thema zu erschöpfen, +erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin seufzte und +benützte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. — „Wollte Gott, es +wäre überhaupt nicht entdeckt worden“, rief sie aus. „Unsere +Töchter haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr. +Das ist geradezu empörend!“</p> + +<p>„Vielleicht ist Amerika überhaupt nicht entdeckt worden, +wenn man's recht betrachtet“, sagte Herr Erskine. „Ich +würde eher sagen, daß es nur aufgefunden worden ist.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_64" title="64"> </a></p> + +<p>„Oh, ich muß aber gestehen, daß ich einige Exemplare +seiner Bewohnerinnen gesehen habe,“ antwortete die Herzogin +zerstreut, „ich muß zugeben, die meisten von ihnen +sind ausgesprochen hübsch. Und außerdem ziehen sie sich gut +an. Sie beziehen alle ihre Kleider aus Paris. Ich wollte, +ich könnte mir das auch leisten.“</p> + +<p>„Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie +nach Paris“, gluckste Sir Thomas, der eine große Kiste +voll abgelegter Scherze sein eigen nannte.</p> + +<p>„In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, +wenn sie sterben?“ fragte die Herzogin.</p> + +<p>„Sie gehen nach Amerika“, murmelte Lord Henry.</p> + +<p>Sir Thomas runzelte die Stirn. „Ich fürchte, Ihr Neffe +hat Vorurteile gegen dieses große Land“, sagte er zu Lady +Agatha. „Ich habe es ganz bereist im Eisenbahnwagen, +die mir die Direktionen zur Verfügung stellten. Man ist +da in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich versichere +Ihnen, es ist eine vorzüglich bildende Reise da drüben.“</p> + +<p>„Aber müssen wir wirklich nach Chicago schwimmen, um +unsere Bildung zu vervollständigen?“ fragte Herr Erskine +wehmütig. „Ich fühle mich wirklich zu solcher Reise nicht +aufgelegt.“</p> + +<p>Sir Thomas winkte mit der Hand. „Herr Erskine of +Treadley besitzt die Welt auf seinen Bücherregalen. Wir +Männer des praktischen Lebens lieben es, die Dinge zu +sehen, nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein +außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig +Vernunftmenschen. Ich glaube, das ist ihr Charaktermerkmal. +Ja, Herr Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft<a class="pagenum" name="Page_65" title="65"> </a> +beherrschtes Volk. Ich versichere Ihnen, es gibt bei den +Amerikanern keinerlei Unsinn.“</p> + +<p>„Wie schrecklich!“ rief Lord Henry aus. „Ich kann rohe +Gewalt vertragen, aber rohe Vernunft ist mir unerträglich. +Ich finde immer, daß ihre Anwendung unbillig ist. +Es heißt den Geist unterjochen.“</p> + +<p>„Ich verstehe Sie nicht“, erwiderte Sir Thomas und +wurde etwas rot.</p> + +<p>„Ich verstehe Sie, Lord Henry“, murmelte Herr Erskine +lächelnd.</p> + +<p>„Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut...“, +nahm der Baronet wieder das Wort.</p> + +<p>„War das ein Paradoxon?“ fragte Herr Erskine. „Ich +habe es nicht dafür gehalten. Vielleicht war es eins. Nun, +der Weg zur Wahrheit scheint mit Paradoxen gepflastert +zu sein. Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir sie auf +gespanntem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten +Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.“</p> + +<p>„Mein großer Gott!“ sagte Lady Agatha, „was für +eine Art zu diskutieren habt ihr Männer. Ich verstehe +nie ein einziges Wort von eurem Gerede. Mit dir, Harry, +oh! bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren lieben +Herrn Dorian Gray zu überreden, nicht mehr ins East-End +zu gehen? Ich versichere dir, er wäre dort für uns unschätzbar; +sein Spiel würde die Leute ungemein begeistern.“</p> + +<p>„Mir ist es lieber, wenn er für mich spielt“, rief Lord +Henry lächelnd, sah am Tisch hinunter, wo ihn ein fröhlich +antwortender Blick traf.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_66" title="66"> </a></p> + +<p>„Aber sie sind in Whitechapel so unglücklich“, fuhr +Lady Agatha wieder fort.</p> + +<p>„Ich kann mit allem möglichen Mitgefühl haben,“ sagte +Lord Henry, die Achseln zuckend, „außer mit Leiden. Damit +kann ich keine Sympathie haben. Es ist zu häßlich, zu +schrecklich, zu niederdrückend. In der heut modernen Sympathie +für die Leiden liegt etwas schrecklich Krankhaftes. +Man sollte mit Farben sympathisieren, mit Schönheit, mit +Lebensfreude. Je weniger man über das Elend des Lebens +sagt, desto besser.“</p> + +<p>„Aber das East-End ist ein sehr wichtiges Problem“, +bemerkte Sir Thomas mit ernstem Kopfschütteln.</p> + +<p>„Sicherlich“, antwortete der junge Lord. „Es ist das +Problem der Sklaverei, und wir versuchen es derart zu +lösen, daß wir die Sklaven amüsieren.“</p> + +<p>Der Politiker sah ihn mit einem forschenden Blicke an. +„Welche Änderung schlagen Sie also vor?“</p> + +<p>Lord Henry lachte. „Ich habe gar nicht das Verlangen, +in England etwas zu ändern außer dem Wetter“, +entgegnete er. „Ich begnüge mich mit philosophischer +Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch +übermäßigen Verbrauch von Sympathie Bankrott geworden +ist, möchte ich vorschlagen, daß man sich an die +Wissenschaft hält, damit diese uns wieder aufrichtet. Der +Vorteil der Gefühle liegt darin, daß sie uns in die Irre +führen, und der Vorteil der Wissenschaft darin, daß sie +sich mit Gefühlen nicht abgibt.“</p> + +<p>„Aber auf uns liegen so ernste Verantwortlichkeiten“, +warf Frau Vandeleur schüchtern ein.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_67" title="67"> </a></p> + +<p>„Entsetzlich schwere“, stimmte Lady Agatha ein.</p> + +<p>Lord Henry sah zu Herrn Erskine hinüber. „Die Menschheit +nimmt sich selber zu ernst. Das ist die Todsünde +der Welt. Wenn die Höhlenmenschen schon hätten lachen +können, hätte die Weltgeschichte andere Wege eingeschlagen.“</p> + +<p>„Ihre Worte klingen sehr tröstlich“, trillerte die Herzogin. +„Ich habe immer eine Art Schuldgefühl gehabt, wenn +ich Ihre liebe Tante besuchte, denn ich nehme nicht das +geringste Interesse an East-End. In Zukunft werde ich +ihr ohne zu erröten ins Gesicht sehen können.“</p> + +<p>„Erröten ist ein vorzügliches Schönheitsmittel“, bemerkte +Lord Henry.</p> + +<p>„Nur wenn man jung ist“, antwortete sie. „Wenn eine +alte Frau wie ich errötet, ist es ein sehr schlechtes +Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wünschte, Sie könnten mir +sagen, wie man wieder jung wird!“</p> + +<p>Er dachte einen Augenblick nach. „Können Sie sich +an irgendeinen großen Fehler erinnern, den Sie in der +Jugend begangen haben?“ fragte er dann, sie fest über +den Tisch hin ansehend.</p> + +<p>„An eine ganze Menge, fürchte ich!“ rief sie aus.</p> + +<p>„Dann begehen Sie sie wieder“, entgegnete er ernst. +„Um seine Jugend zurückzubekommen, braucht man nur +seine Torheiten zu wiederholen.“</p> + +<p>„Eine allerliebste Theorie!“ rief sie. „Ich muß sie mal +in die Praxis umsetzen.“</p> + +<p>„Eine gefährliche Theorie“, sagte Sir Thomas, seine +dünnen Lippen zusammenkneifend. Lady Agatha schüttelte<a class="pagenum" name="Page_68" title="68"> </a> +den Kopf, aber sie amüsierte sich doch. Herr Erskine +lauschte.</p> + +<p>„Ja,“ fuhr Henry fort, „das ist eines der großen +Lebensgeheimnisse. Heutzutage sterben die meisten Leute +an einer Art von schleichender Verständigkeit, und erst, +wenn es zu spät ist, kommen sie dahinter, daß die einzigen +Dinge, die man niemals bereut, die Torheiten sind.“</p> + +<p>Nun lachte der ganze Tisch.</p> + +<p>Er spielte jetzt mit diesem Einfall nach Willkür; warf +ihn in die Luft und änderte ihn um: ließ ihn entwischen +und haschte ihn wieder auf: ließ ihn phantastisch glitzern +und gab ihm Paradoxe als Flügel. Als er fortfuhr, rundete +sich dieser Ruhm der Narretei in ein philosophisches +System und die Philosophie selbst wurde dabei jung und +tanzte, begleitet von der tollen Musik der Lust, in ihrem +von Wein befleckten Gewande und mit Efeu bekränzten +Locken, wie eine Bacchantin über die Hügel des Lebens +und neckte den plumpen Silen, weil er nüchtern blieb. Die +Tatsachen flüchteten vor ihr wie das erschreckte Getier +des Waldes. Ihre weißen Füße stampften in der ungefügen +Kelter, an der der weise Omar sitzt, bis der schäumende +Traubensaft in purpurblasigen Wellen an ihren nackten +Gliedern aufspritzte oder in rotem Gischt über die dunkeln, +triefenden, gewölbten Seiten der Kufe herabrann. Es war +eine ganz brillante Improvision. Er empfand, daß die +Augen Dorian Grays auf ihn gerichtet waren, und das +Bewußtsein, daß es unter seinen Zuhörern einen gab, +dessen Temperament er zu bezaubern wünschte, gab seinem +Witz Würzigkeit und seiner Phantasie Farbe. Er<a class="pagenum" name="Page_69" title="69"> </a> +war geistreich, phantasievoll, unwiderstehlich. Er begeisterte +seine Zuhörer dahin, aus sich heraus zu gehen, +und lachend folgten sie seiner Rattenfängerpfeife. Dorian +Gray verwandte seinen Blick nicht von ihm, sondern saß +wie unter einem Zauberbanne da, während ein Lächeln +nach dem andern auf seine Lippen trat und sich das Staunen +in seinen dunklen Augen immer mehr vertiefte.</p> + +<p>Endlich betrat die Wirklichkeit im Kleide des Alltags das +Zimmer, und zwar in Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin +meldete, daß ihr Wagen warte. Sie rang ihre Hände +in geschauspielerter Verzweiflung. „Wie schade!“ rief sie +aus. „Ich muß fort. Muß meinen Mann im Klub abholen +und mit ihm zu irgendeiner albernen Sitzung bei Willis +fahren, wo er präsidiert. Wenn ich zu spät komme, ist er +sicher ärgerlich, und in dem Hut, den ich aufhabe, könnte +ich eine Szene nicht vertragen. Er ist viel zu gebrechlich +dazu. Ein rauhes Wort und er wäre ruiniert. Nein, +liebe Agatha, ich muß fort. Adieu, Lord Henry! Sie sind +ein ganz entzückender Mensch und fürchterlich unmoralisch. +Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich zu Ihren Ansichten +sagen soll. Sie müssen mal bei uns zu Abend essen. Dienstag? +Sind Sie Dienstag frei?“</p> + +<p>„Für Sie würde ich jede andere Verabredung im +Stich lassen, Frau Herzogin“, sagte Lord Henry, sich verbeugend.</p> + +<p>„Ah! Das ist sehr nett und sehr abscheulich von Ihnen“, +rief sie; „vergessen Sie also nicht zu kommen“, und sie +rauschte aus dem Zimmer, von Lady Agatha und den +anderen Damen begleitet.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_70" title="70"> </a></p> + +<p>Als sich Lord Henry wieder gesetzt hatte, kam Herr +Erskine zu ihm, zog seinen Stuhl ganz nahe zu ihm hin +und legte die Hand auf seinen Arm.</p> + +<p>„Sie reden wie ein Buch“, sagte er; „warum schreiben +Sie keins?“</p> + +<p>„Ich lese Bücher viel zu gerne, als daß ich Lust hätte, +eins zu schreiben, Herr Erskine. Gewiß möchte ich manchmal +einen Roman schreiben, der so entzückend und ebenso +unwirklich sein müßte wie ein persischer Teppich. Aber +in England gibt es ja kein literarisches Publikum außer +für Zeitungen, Katechismen und Konversationslexika. Von +allen Völkern des Erdballs haben die Engländer den +am wenigsten entwickelten Sinn für die Schönheit der +Literatur.“</p> + +<p>„Ich fürchte, Sie haben recht“, antwortete Herr Erskine. +„Ich selbst habe einstmals literarischen Ehrgeiz gehabt, aber +ich habe ihn längst abgelegt. Und nun, mein lieber junger +Freund, wenn Sie mir erlauben wollen, Sie so zu nennen, +darf ich Sie fragen, ob Sie wirklich alles im Ernst meinten, +was Sie uns bei Tisch gesagt haben?“</p> + +<p>„Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe“, antwortete +Lord Henry lächelnd. „Es war wohl sehr toll?“</p> + +<p>„Allerdings, sehr toll! Ich glaube wirklich, daß Sie ein +äußerst gefährlicher Mensch sind, und wenn unserer guten +Herzogin irgend etwas zustößt, so werden wir alle Sie in +erster Linie dafür verantwortlich machen. Aber ich würde +mit Ihnen gern einmal länger über das Leben debattieren. +Die Generation, in die ich hineingeboren wurde, war sehr +langweilig. Wenn Sie mal londonmüde sind, kommen Sie<a class="pagenum" name="Page_71" title="71"> </a> +doch nach Treadley und setzen Sie mir da Ihre Philosophie +des Genusses auseinander bei einem ganz köstlichen +Burgunder, den zu besitzen ich so glücklich bin.“</p> + +<p>„Das wird mir ein großes Vergnügen sein. Ein Besuch +in Treadley ist ein großer Vorzug. Es hat einen vollkommenen +Wirt und eine vollkommene Bibliothek.“</p> + +<p>„Die mit Ihnen vollständig werden wird“, antwortete +der alte Herr mit einer höflichen Verbeugung. „Und jetzt +muß ich Ihrer trefflichen Tante adieu sagen. Ich muß +ins Athenäum. Es ist die Stunde, wo wir dort schlafen.“</p> + +<p>„Sie alle, Herr Erskine?“</p> + +<p>„Vierzig von uns in vierzig Klubsesseln. Wir üben uns +für eine Akademie anglaise.“</p> + +<p>Lord Henry lachte und stand auf. „Ich gehe in den +Park!“ rief er aus.</p> + +<p>Als er durch den Türrahmen schritt, berührte ihn Dorian +Gray am Arm. „Erlauben Sie mir, mitzukommen“, flüsterte +er.</p> + +<p>„Aber ich dachte, Sie haben Basil Hallward versprochen, +ihn zu besuchen“, wandte Lord Henry ein.</p> + +<p>„Ich möchte lieber mit Ihnen gehen; ja ich fühle, ich +muß mit Ihnen mitkommen. Bitte, erlauben Sie es. Und +versprechen Sie mir, die ganze Zeit zu erzählen? Niemand +spricht so entzückend wie Sie.“</p> + +<p>„Ah! Ich habe für heute gerade genug geredet“, sagte +Lord Henry und lächelte. „Alles, was ich jetzt möchte, ist, +das Leben zu beschauen. Sie können mitkommen und mitanschauen, +wenn Sie wollen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_72" title="72"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Viertes_Kapitel" id="Viertes_Kapitel"></a>Viertes Kapitel</h2> + + +<p>Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian +Gray zurückgelehnt in einem schwellenden Sessel der kleinen +Bibliothek in Lord Henrys Hause in Mayfair. Es war in +seiner Art ein allerliebster Raum, bis hoch hinauf mit +olivenfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen +Deckenfries und mit Stuckverzierungen und mit einem +ziegelfarbigen Filzteppich, der in langen Seidenfransen +auslief. Auf einem niedlichen Tischchen aus Satinholz +stand eine Figur von Clodion, und daneben lag eine Ausgabe +der Cent Nouvelles, die für Margarete von Valois +von Clovis Eve eingebunden und mit goldenen Gänseblümchen +verziert war, wie sie die Königin auf ihr Wappenzeichen +gewählt hatte. Auf dem Kaminsims standen ein +paar große blaue Porzellanvasen mit Papageientulpen, +und durch die schmalen, bleigerahmten Rautenfelder der +Fenster drang das aprikosenfarbene Licht eines Londoner +Sommertages.</p> + +<p>Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er +kam grundsätzlich zu spät, da sein Grundsatz war, Pünktlichkeit +stehle einem die Zeit. Daher sah der junge Mann +etwas gelangweilt aus, als er mit lässigen Fingern die +Seiten einer reichillustrierten Ausgabe von Manon Lescaut +durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden +hatte. Das abgemessene gleichförmige Ticktack der Louis-Quatorze-Uhr +machte ihn nervös. Ein- oder zweimal +machte er schon Miene, wegzugehen.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_73" title="73"> </a></p> + +<p>Endlich hörte er draußen einen Schritt und die Tür +öffnete sich. „Wie spät du kommst, Harry!“ sagte er leisen +Vorwurfs.</p> + +<p>„Zu meinem Bedauern ist es nicht Harry, Herr Gray“, +antwortete eine schrille Stimme.</p> + +<p>Er sah sich rasch um und sprang auf die Füße.</p> + +<p>„Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte —“</p> + +<p>„Sie glaubten, es sei mein Mann. Es ist nur seine +Frau. Ich muß mich schon selbst vorstellen. Ich kenne Sie +aus Ihren Photographien ganz gut. Ich glaube, mein +Mann hat ihrer siebzehn.“</p> + +<p>„Nicht siebzehn, Lady Henry.“</p> + +<p>„Schön, also achtzehn. Und dann habe ich Sie gestern +abend mit ihm in der Oper gesehen.“ Während sie sprach, +lachte sie nervös und beobachtete ihn mit ihren verschwommenen +Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine absonderliche +Frau, deren Kleider immer so aussahen, als wären +sie in einem Wutanfall gezeichnet und während eines +Gewitters angezogen worden. Sie war gewöhnlich in +irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft nie erwidert +wurde, hatte sie sich alle ihre Illusionen bewahrt. +Sie machte den Versuch, malerisch zu erscheinen, aber es +gelang ihr nur, unordentlich auszusehen. Sie hieß Viktoria +und hatte eine krankhafte Leidenschaft, in die Kirche zu +laufen.</p> + +<p>„Das war im Lohengrin, Lady Henry, nicht wahr?“</p> + +<p>„Ja, es war bei dem entzückenden Lohengrin. Ich liebe +Wagners Musik mehr als die irgendeines anderen. Sie ist +so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne<a class="pagenum" name="Page_74" title="74"> </a> +daß die Nachbarn hören, was man sagt. Das ist ein +dankenswerter Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Herr Gray?“</p> + +<p>Über ihre dünnen Lippen kam wieder das nervöse Stakkatolachen, +und ihre Finger begannen mit einem langen +Papiermesser aus Schildkrot zu spielen.</p> + +<p>Dorian schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bedaure, +Lady Henry, das ist nicht meine Meinung. Ich unterhalte +mich nie, während man spielt — wenigstens nicht, wenn es +gute Musik ist. Wenn man schlechte Musik hört, ist man +freilich verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu ertränken.“</p> + +<p>„Ah, das ist eine von Harrys Sentenzen, nicht wahr, +Herr Gray? Ich bekomme Harrys Ansichten immer von +seinen Freunden zu hören. Das ist die einzige Art, wie ich +sie überhaupt erfahre. Aber Sie dürfen nicht glauben, daß +ich nicht auch gute Musik liebe. Ich vergöttere sie, aber ich +fürchte mich vor ihr. Sie macht mich zu romantisch. Ich +habe Klavierspieler geradezu angebetet — manchmal zwei +auf einmal, versichert Harry. Ich weiß nicht, was es für +eine Bewandtnis mit ihnen hat. Vielleicht rührt es daher, +daß sie Ausländer sind. Das sind sie doch alle, nicht +wahr? Selbst die in England Geborenen werden nach +einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Es ist sehr gescheit +von ihnen und für die Kunst sehr vorteilhaft. Das macht +sie zu Kosmopoliten, nicht wahr? Sie waren nie auf einer +meiner Gesellschaften, Herr Gray. Sie müssen einmal +kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber +ich scheue in der Anschaffung von Ausländern keine Ausgabe. +Sie geben dem Hause ein so pittoreskes Aussehen. +Aber da ist Harry. — Harry, ich kam her, um<a class="pagenum" name="Page_75" title="75"> </a> +dich zu suchen, um dich etwas zu fragen — ich habe ganz +vergessen, was — und ich habe Herrn Gray hier getroffen. +Wir haben so entzückend über Musik gesprochen. Unsere +Ansichten darüber sind die gleichen. Nein, ich glaube, unsere +Ansichten darüber sind ganz verschieden. Aber er ist ganz +allerliebst gewesen. Ich freue mich so sehr, ihn einmal gesehen +zu haben.“</p> + +<p>„Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend“, sagte +Lord Henry, seine dunkeln geschwungenen Brauen hebend +und beide mit vergnügtem Lächeln ansehend. „Es tut mir +so leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich war in +Wardour Street, um mir einen alten Brokat anzusehen, +und mußte stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen +die Leute den Preis von jeder Sache und den Wert von +keiner.“</p> + +<p>„Ich muß leider gehen!“ rief Lady Henry aus und +unterbrach ein verlegenes Schweigen mit ihrem jähen, +grundlosen Lachen. „Ich habe versprochen, mit der Herzogin +auszufahren. Adieu, Herr Gray. Adieu, Harry. +Du speist wohl nicht zu Hause, wie? Ich auch nicht, vielleicht +sehe ich dich bei Lady Thornbury.“</p> + +<p>„Höchstwahrscheinlich, meine Liebe“, sagte Lord Henry +und schloß die Tür hinter ihr, als sie gleich einem Paradiesvogel, +der die ganze Nacht dem Regen ausgesetzt gewesen +war, aus dem Zimmer hinausflatterte, einen feinen +Jasmingeruch hinterlassend. Harry zündete sich eine Zigarette +an und warf sich auf das Sofa. „Heirate nie eine +Frau mit strohgelbem Haar, Dorian“, sagte er nach einigen +Zügen.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_76" title="76"> </a></p> + +<p>„Warum nicht, Harry?“</p> + +<p>„Weil sie so sentimental sind.“</p> + +<p>„Aber ich habe sentimentale Menschen gern.“</p> + +<p>„Heirate überhaupt nie, Dorian! Männer heiraten, weil +sie müde sind; Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden +enttäuscht.“</p> + +<p>„Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Harry. Dazu +bin ich zu verliebt. Das ist einer deiner Aphorismen. Ich +setze ihn in die Wirklichkeit um, wie alles, was du sagst.“</p> + +<p>„In wen bist du verliebt?“ fragte Lord Harry nach +einer Pause.</p> + +<p>„In eine Schauspielerin“, sagte Dorian Gray errötend.</p> + +<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Ein recht landläufiger +Anfang.“</p> + +<p>„Das würdest du nicht sagen, wenn du sie kenntest.“</p> + +<p>„Wer ist's denn?“</p> + +<p>„Sie heißt Sibyl Vane.“</p> + +<p>„Nie von ihr gehört.“</p> + +<p>„Das hat niemand. Aber später einmal wird man von +ihr hören. Sie ist ein Genie.“</p> + +<p>„Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie +wäre. Die Frauen sind ein dekoratives Geschlecht. Sie +haben niemals etwas zu sagen, aber sie sagen es entzückend. +Die Frauen bedeuten den Triumph der Materie über den +Geist, wie die Männer den Triumph des Geistes über die +Sittlichkeit.“</p> + +<p>„Harry, wie kannst du?“</p> + +<p>„Mein lieber Dorian, es ist aber wahr. Ich beschäftige +mich gerade mit der Analyse der Frauen, daher muß ich<a class="pagenum" name="Page_77" title="77"> </a> +das wissen. Das Thema ist nicht so verwickelt, wie ich +glaubte. Ich finde, daß es schließlich nur zwei Arten von +Frauen gibt, die einfachen und die geschminkten. Die einfachen +Frauen sind sehr nützlich. Wenn du als ehrbarer +Mensch gelten willst, mußt du nur eine von ihnen zu Tisch +führen. Die andern Frauen sind zum Entzücken. Aber sie +begehen einen Fehler. Sie schminken sich, um jung auszusehen. +Unsere Großmütter schminkten sich, um geistreich +zu plaudern. Rouge und Esprit gingen Hand in Hand. +Das ist jetzt alles vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre +jünger aussehen kann als ihre Tochter, ist sie gänzlich +zufrieden. Was die Konversation betrifft, so gibt es in +ganz London höchstens fünf Frauen, mit denen sich's zu +reden lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft +nicht möglich. Aber genug, erzähl' mir was von +deinem Genie! Wie lange kennst du sie?“</p> + +<p>„Ach, Harry, deine Ansichten erschrecken mich!“</p> + +<p>„Mach' dir darum keine Kopfschmerzen. Wie lange kennst +du sie also?“</p> + +<p>„Ungefähr drei Wochen.“</p> + +<p>„Und wo hast du die Entdeckung gemacht?“</p> + +<p>„Ich will dir's erzählen, Harry, aber du mußt nicht +häßlich darüber reden. Übrigens wär's gar nicht dazu +gekommen, wenn ich dich nicht kennengelernt hätte. Du hast +mich mit einer wilden Begierde, alles im Leben kennenzulernen, +angefüllt. Noch viele Tage, nachdem ich dich +zuerst gesehen hatte, schien in meinen Adern etwas zu rumoren. +Wenn ich im Park spazierte oder Piccadilly +hinunterschlenderte, schaute ich jeden an, der mir entgegenkam,<a class="pagenum" name="Page_78" title="78"> </a> +und wollte mit einer tollen Neugierde herauskriegen, +was für eine Art Leben die Leute alle führten. +Einige von ihnen fesselten mich. Andere erfüllten mich +mit Schauder. Es schwamm ein verführerisches Gift in der +Luft. Mich hatte eine Leidenschaft nach Erlebnissen gepackt... Eines Abends also gegen sieben beschloß ich, mich +auf die Suche nach einem Abenteuer zu begeben. Ich hatte +solch Gefühl, daß unser graues, riesenhaftes London mit +seinen vielen Hunderttausenden schmutzigen Sündern und +seinen schillernden Sünden, wie du dich mal ausdrücktest, +irgend etwas für mich in Bereitschaft halten müsse. Ich +erfand mir tausenderlei Dinge. Schon die bloße Gefahr +schenkte mir einen gewissen Genuß. Ich erinnerte mich an +das, was du mir sagtest an dem wunderbaren Abend, als +wir das erstemal zusammen speisten: daß nämlich das +Suchen nach Schönheit das eigentliche Geheimnis des +Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich +ging drauflos und wanderte nach dem Osten, wo ich +meinen Weg bald in einem Wirrwarr von rußigen Straßen +und schwarzen, graslosen Plätzen verlor. Gegen halb acht +kam ich an einem kleinen, schnurrigen Theater mit großen, +flackernden Gasflammen und grellen Plakaten vorbei. Ein +widerlicher Jude, in dem erstaunlichsten Rock, den ich +mein Lebtag gesehen habe, stand an der Tür und paffte +eine stänkrige Zigarre. Er hatte fettige Peies, und ein +riesiger Brillant glitzerte auf seiner schmutzigen Hemdenbrust. +‚Eine Loge, Herr Baron?‛ fragte er mich und nahm +seinen Hut mit grandioser Unterwürfigkeit ab. Er hatte +etwas an sich, Harry, was mich belustigte. Er war das<a class="pagenum" name="Page_79" title="79"> </a> +reine Monstrum. Du wirst mich auslachen, ich weiß schon, +aber ich trat wirklich ein und erlegte ein Zwanzigmarkstück +für die Proszeniumsloge. Ich kann mir noch heute +nicht erklären, warum ich das tat; und doch — wenn ich's +nicht getan hätte — bester Harry, ich wäre um das größte +Ereignis meines Lebens gekommen. Ja, lach du nur. Es +ist häßlich von dir.“</p> + +<p>„Ich lache nicht, Dorian, wenigstens nicht über dich. +Aber du solltest es nicht das größte Ereignis deines Lebens +nennen. Sage lieber, das erste Ereignis deines Lebens. Du +wirst immer geliebt werden, und du wirst in die Liebe +immer verliebt sein. Die grande Passion ist das Vorrecht +aller Leute, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige +Nutzen, den die Tagediebe eines Landes bringen. Habe +keine Angst! Himmlische Dinge warten noch deiner. Das +ist der bloße Anfang.“</p> + +<p>„Hältst du meine Natur für so oberflächlich?“ rief +Dorian Gray gekränkt.</p> + +<p>„Nein, ich halte sie für so tief.“</p> + +<p>„Wie meinst du das?“</p> + +<p>„Mein lieber Junge, die Leute, die nur einmal im +Leben lieben, das sind in Wirklichkeit die Oberflächlichen. +Was sie Anstand und Treue nennen, nenne ich entweder +die Trägheit der Gewohnheit oder Mangel an Einbildungskraft. +Treue ist im Gefühlsleben dasselbe, was +Konsequenz im Geistesleben ist, nichts als das Zugeständnis +von Schwäche. Treue! Ich muß ihren Begriff später +mal analysieren. Freude am Besitz liegt darin. Welche +Menge von Dingen würden wir wegwerfen, wenn wir nicht<a class="pagenum" name="Page_80" title="80"> </a> +fürchten müßten, andere könnten sie auflesen. Aber ich +möchte dich nicht unterbrechen. Erzähle weiter.“</p> + +<p>„Ich saß also in einer schauderhaften kleinen Loge, und +ein ordinärer Vorhang starrte mir gerade ins Gesicht. Ich +schaute hinter der Gardine vor und sah mich im Hause um. +Es war ein schäbig-elegantes Ding, gestopft voll mit Amoretten +und Füllhörnern, wie auf einem Hochzeitskuchen +billigster Sorte. Galerie und Stehparterre waren leidlich +voll, aber die zwei Reihen schmieriger Fauteuils vorne +waren ganz leer und auf dem Platze, den sie vermutlich +ersten Rang titulierten, saß kaum ein Mensch. Weiber +gingen mit Orangen und Ingwerbier herum, und eine unglaubliche +Masse von Nüssen wurde verknackt.“</p> + +<p>„Es muß ganz wie in der Glanzzeit des britischen +Dramas gewesen <ins title="sein.">sein.“</ins></p> + +<p>„Ganz so, vermute ich, und sehr niederdrückend. Ich +begann, zu überlegen, was um Himmels willen ich da +anfangen sollte, als mein Blick auf den Theaterzettel fiel. +Was glaubst du, was sie spielten, Harry?“</p> + +<p>„Ich vermute, der ‚kleine Kretin‛ oder ‚Blödsinnig, aber +unschuldig‛. Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube +ich. Je länger ich lebe, Dorian, je stärker fühle ich, daß +alles, was für unsere Väter gut genug war, für uns noch +lange nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der Politik +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">les grandpères ont toujours tort</span>.“</p> + +<p>„Das Stück war gut genug für uns, Harry. Es war +‚<ins title="Romea">Romeo</ins> und Julia‛. Ich muß zugeben, daß mich der Gedanke, +Shakespeare in einer so elenden Spelunke zu sehen, +ärgerte. Und doch interessierte es mich irgendwie. Jedenfalls<a class="pagenum" name="Page_81" title="81"> </a> +entschloß ich mich, den ersten Akt abzuwarten. Es +spielte da ein schauderöses Orchester, das ein junger Hebräer +dirigierte, der an einem schnarrenden Klavier saß, +mich beinah zum Davonlaufen brachte; aber schließlich +ging doch der Vorhang in die Höhe und das Stück fing +an. Romeo war ein hahnebüchener älterer Herr mit dick gemalten +Brauen, einer versoffenen Tragödenstimme und +einer Falstaffgestalt wie eine Biertonne. Mercutio war +fast ebenso arg. Er wurde vom Komiker gespielt, der +Mätzchen eigener Improvisation einstreute und in der verwandtschaftlichsten +Beziehung zur Galerie stand. Sie waren +beide genau so grotesk wie die Szenerie, und die sah aus, +als käme sie vom Jahrmarktsrummel. Aber Julia! Harry, +stell dir ein Mädchen vor, kaum siebzehn Jahre alt, mit +einem blumenhaften Gesichtchen, einem schmalen griechischen +Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen, wie +veilchenblaue Brunnen heißer Leidenschaft, mit Lippen +wie Rosenblätter. Das entzückendste Geschöpf, das ich je +im Leben gesehen habe. Du sagtest mal zu mir, Pathos +ergreife dich nicht, aber Schönheit, keusche Schönheit an +sich, könnte deine Augen wohl mit Tränen füllen. Ich +sage dir, Harry, ich konnte dieses Mädchen kaum sehen, +von dem Tränenflor über meinen Augen. Und ihre +Stimme — ich habe so eine Stimme nie gehört. Zuerst sehr +leise in tiefen, vollen Molltönen, die langsam und jeder +für sich allein ins Ohr zu träufeln schienen. Dann etwas +lauter und erklingend wie eine Flöte oder eine ferne +Hoboe. In der Gartenszene hatte sie jene zitternde Inbrunst, +die man hört, wenn die Nachtigallen singen vor<a class="pagenum" name="Page_82" title="82"> </a> +Tag und Tau. Es gab dann Augenblicke, wo ihre Stimme +die verhaltene Leidenschaftsglut von Geigentönen hatte. +Du weißt, wie eine Stimme einen erschüttern kann. Deine +Stimme und die Stimme von Sibyl Vane, die beiden +werde ich nie vergessen. Wenn ich meine Augen schließe, +höre ich sie, und jede von ihnen sagt etwas anderes. Ich +weiß nicht, welcher ich folgen soll. Warum sollte ich sie +nicht lieben? Harry, ich liebe sie. Sie ist alles in meinem +Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie spielen zu +sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten +Imogen. Ich habe sie im Düster eines italienischen Grabgewölbes +sterben sehen, wie sie das Gift von den Lippen +des Geliebten trinkt. Ich bin ihrer Wanderung durch die +Ardennen gefolgt, wie sie als hübscher Knabe mit Hose, +Wams und einem kleinen Barett verkleidet war. Sie war +wahnsinnig und ist vor einen schuldbewußten König hingetreten +und ließ ihn Rauten tragen und bittere Kräuter +kosten. Sie war unschuldig, und die schwarzen Hände der +Eifersucht haben ihren zarten Hals zusammengepreßt. Ich +habe sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht gesehen. +Gewöhnliche Frauen sagen unserer Phantasie nichts. +Sie sind in ihre Zeit hineingebannt. Kein Zauber kann +sie umwandeln. Man kennt ihren Geist ebenso schnell +wie ihre Güte. Man kennt sie immer heraus. Es gibt +kein Geheimnis in ihnen. Sie reiten morgens in den +Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie haben +ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Modemanieren. +Aber eine Schauspielerin! Wie anders solche Schauspielerin! +Harry! Warum hast du mir nicht gesagt,<a class="pagenum" name="Page_83" title="83"> </a> +daß nichts geliebt zu werden verdient als eine Schauspielerin?“</p> + +<p>„Weil ich so viele von ihnen geliebt habe, Dorian.“</p> + +<p>„Oh, gewiß, gräßliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren +und geschminkten Gesichtern.“</p> + +<p>„Schmähe nicht gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter. +Es liegt zuweilen ein ganz besonderer Reiz darin“, +sagte Lord Henry.</p> + +<p>„Ich wollte, ich hätte dir nie etwas von Sibyl Vane +gesagt.“</p> + +<p>„Du hättest gar nicht anders können, Dorian. Dein +ganzes Leben lang wirst du mir alles sagen, was du tust.“</p> + +<p>„Ja, Harry, ich glaube, es ist so. Ich bin geradezu gezwungen, +dir alles zu sagen. Du hast eine seltsame Macht +über mich. Wenn ich je ein Verbrechen beginge, käme ich +gleich zu dir und beichtete es dir. Du würdest mich verstehen.“</p> + +<p>„Menschen wie du — die kühnen Sonnenstrahlen des +Lebens — begehen keine Verbrechen, Dorian. Aber ich +danke dir trotzdem für dein Kompliment. Und nun sag' +mir — bitte gib mir mal die Streichhölzer herüber; danke +— wie sind deine wirklichen Beziehungen zu Sibyl Vane?“</p> + +<p>Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und blitzenden +Augen auf. „Harry! Sibyl Vane ist mir heilig.“</p> + +<p>„Nur heilige Dinge sind wert, sie anzurühren, Dorian“, +sagte Lord Henry mit einem merkwürdigen pathetischen +Ton in seiner Stimme. „Aber warum fühlst du dich verletzt? +Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören. +Wenn man verliebt ist, fängt man immer damit an, sich<a class="pagenum" name="Page_84" title="84"> </a> +selbst zu betrügen, und hört immer damit auf, andere zu +betrügen. Das nennt die Welt eine Liebesgeschichte. Auf +jeden Fall denke ich, du kennst sie?“</p> + +<p>„Natürlich kenne ich sie. Schon am ersten Abend im +Theater kam der gräßliche alte Jude nach der Vorstellung +in meine Loge und bot mir an, mich hinter die Kulissen zu +führen und ihr vorzustellen. Ich war wütend und sagte +ihm, daß Julia seit Hunderten von Jahren tot sei und daß +ihr Körper in einem Marmorgrabe zu Verona liege. Nach +dem bestürzten Ausdruck in seinem Gesicht vermute ich, +daß er glaubte, ich hätte zuviel Champagner oder Ähnliches +getrunken.“</p> + +<p>„Kein Wunder!“</p> + +<p>„Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung +schreibe. Ich sagte ihm, daß ich nicht mal eine lese. Das +schien ihn furchtbar zu enttäuschen, und er vertraute mir +an, alle Theaterkritiker hätten sich gegen ihn verschworen +und jeder einzelne von ihnen wäre käuflich.“</p> + +<p>„Es sollte mich nicht wundern, wenn er ganz recht hätte. +Andererseits aber, nach ihrem Aussehen zu schließen, können +sie meistens gar nicht teuer sein.“</p> + +<p>„Einerlei, sie schienen über seine Mittel zu gehen“, sagte +Dorian lachend. „Inzwischen aber wurden die Lichter im +Theater ausgedreht und ich mußte fort. Er bat mich noch, +einige Zigarren zu probieren, die er mir sehr warm +empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend ging ich natürlich +wieder hin. Als er mich sah, machte er eine tiefe Verbeugung +und versicherte mir, ich sei ein edelmütiger Kunstmäzen. +Er ist eine höchst abstoßende Kreatur, obwohl er<a class="pagenum" name="Page_85" title="85"> </a> +eine außerordentliche Leidenschaft für Shakespeare hegt. +Er erzählte mir mal mit einem Anflug von Stolz, seine +fünf Bankrotte verdanke er nur dem ‚Barden‛; so nannte +er nämlich hartnäckig Shakespeare. Er schien das für ein +Verdienst zu halten.“</p> + +<p>„Es ist ein Verdienst, lieber Dorian — ein großes +Verdienst. Die meisten Leute werden bankrott, weil sie +zuviel in der Prosa des Lebens angelegt haben. Sich mit +Poesie ruiniert zu haben, ist eine ehrenvolle Auszeichnung. +Aber wann hast du Fräulein Sibyl Vane zum erstenmal +<ins title="gesprochen?">gesprochen?“</ins></p> + +<p>„Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt. +Ich mußte hinter die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein +paar Blumen zugeworfen, und sie hatte zu mir hingesehen, +wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war +beharrlich. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu +nehmen, und so gab ich nach. Es war sonderbar, daß ich +sie nicht kennenlernen wollte, nicht wahr?“</p> + +<p>„Nein, ich glaube nicht.“</p> + +<p>„Warum, lieber Harry?“</p> + +<p>„Ich erkläre dir das ein andermal. Jetzt möchte ich +gern von dem Mädchen hören.“</p> + +<p>„Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und lieb. Sie ist +noch fast wie ein Kind. Ihre Augen öffneten sich in einem +allerliebsten Staunen, als ich ihr sagte, was ich über ihr +Spiel dachte, und sie schien sich ihres eigenen Könnens +gar nicht bewußt zu sein. Ich glaube, wir waren beide +recht nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür der +staubigen Garderobe und hielt theatralische Reden über<a class="pagenum" name="Page_86" title="86"> </a> +uns beide, während wir uns wie Kinder anstarrten. Er +bestand darauf, mich ‚Herr Baron‛ zu nennen, so daß ich +Sibyl versichern mußte, ich sei nichts der Art. Sie sagte in +ganz schlichter Weise zu mir: ‚Sie sehen mehr wie ein +Prinz aus. Ich will Sie Prinz Märchenschön nennen‛.“</p> + +<p>„Mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht es, +Schmeicheleien zu sagen.“</p> + +<p>„Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur +wie eine Figur in einem Theaterstück. Sie weiß gar nichts +vom Leben. Sie wohnt bei ihrer Mutter, einer verblühten, +ältlichen Frau, die am ersten Abend in einer Art +türkisch-rotem Schlafrock die Lady Capulet spielte und den +Eindruck machte, als hätte sie bessere Tage gesehen.“</p> + +<p>„Ich kenne diese Art, auszusehen. Sie stimmt mich unbehaglich“, +sagte Lord Henry mit verhaltener Stimme und +betrachtete seine Ringe.</p> + +<p>„Der Jude wollte mir ihre Lebensgeschichte erzählen, +aber ich bemerkte, sie interessiere mich nicht.“</p> + +<p>„Da hattest du recht. Die Tragödien anderer Leute +haben immer etwas unglaublich Gewöhnliches an sich.“</p> + +<p>„Sibyl ist das einzige, um das ich mich kümmere. Was +geht's mich an, woher sie stammt? Von ihrem kleinen +Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist sie ein himmlisches +Wesen. Jeden Abend, den ich erlebe, gehe ich hin, um sie +spielen zu sehen, und jeden Abend ist sie entzückender.“</p> + +<p>„Ich vermute darin den Grund, weshalb du jetzt nie +mehr mit mir zusammen ißt. Ich dachte mir gleich, daß dahinter +irgendeine merkwürdige Geschichte stecke. Das ist so, +aber es ist nicht ganz, was ich erwartete.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_87" title="87"> </a></p> + +<p>„Lieber Harry, wir sind jeden Tag entweder beim Frühstück +oder beim Abendessen zusammen, und ich bin mehrere +Male mit dir in der Oper gewesen“, sagte Dorian und +öffnete verwundert seine blauen Augen.</p> + +<p>„Du kommst immer furchtbar spät.“</p> + +<p>„Ja, ich muß hin und Sibyl spielen sehen, und wenn +auch nur einen Akt lang. Ich hungere nach ihrem Anblick, +und wenn ich an die himmlische Seele denke, die in diesem +zierlichen Elfenbeinkörper eingeschlossen ist, packt mich stille +Ehrfurcht.“</p> + +<p>„Kannst du heute abend mit mir essen, Dorian?“</p> + +<p>Er schüttelte den Kopf. „Heute abend ist sie Imogen,“ +antwortete er, „und morgen abend Julia.“</p> + +<p>„Wann ist sie Sibyl Vane?“</p> + +<p>„Nie!“</p> + +<p>„Da wünsche ich dir Glück.“</p> + +<p>„Wie schrecklich du bist! Sie verkörpert alle die großen +Frauengestalten der Weltgeschichte in sich. Sie ist mehr als +ein Geschöpf. Du lachst, aber ich sage dir, sie ist ein Genie. +Ich liebe sie und ich will's erreichen, daß sie mich auch liebt. +Dir sind alle Geheimnisse des Lebens bekannt, du mußt mir +sagen, wie ich Sibyl Vane so bezaubern kann, daß sie mich +liebt. Ich will Romeo eifersüchtig machen. Ich will, daß die +toten Liebhaber der Welt unser Lachen hören und sich grämen. +Ich will, daß unsere strahlende Leidenschaft ihren Staub +wieder beleben und ihre Asche zu Schmerzen auferwecken +soll. O Gott, Harry, wie bete ich sie an!“ Er ging, während +er sprach, im Zimmer auf und ab. Rote hektische Flecken +brannten auf seinen Wangen. Er war furchtbar erregt.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_88" title="88"> </a></p> + +<p>Lord Henry betrachtete ihn mit stillem Wohlbehagen. +Wie anders war er jetzt als jener verlegene, schüchterne +Knabe, den er in Basil Hallwards Atelier angetroffen +hatte! Seine Natur hatte sich entwickelt wie eine Blume +und trug Blüten von brennendrotem Scharlach. Aus ihrem +geheimen Versteck war seine Seele hervorgekrochen, und +die Wollust war ihr auf halbem Wege entgegengekommen.</p> + +<p>„Und was hast du nun vor?“ sagte Lord Henry schließlich.</p> + +<p>„Ich will, du und Basil sollt mich an einem Abend +begleiten und sie spielen sehen. Ich setze nicht die leiseste +Besorgnis in die Wirkung. Ihr werdet zugeben müssen, +daß sie Genie hat. Dann müssen wir sie dem Juden aus +den Händen winden. Sie ist noch drei Jahre — genau +zwei Jahre und acht Monate — an ihn gebunden. Natürlich +werde ich ihm etwas zahlen müssen. Wenn das alles +in Ordnung ist, suche ich mir ein Theater im Westend und +lasse sie dort erst mal richtig auftreten. Sie wird die Welt +ebenso verrückt machen wie mich.“</p> + +<p>„Das wird kaum gehen, lieber Junge.“</p> + +<p>„Ja, sie wird es; denn in ihr ist nicht nur Kunst, +vollendetster Kunstinstinkt, sondern sie hat auch Persönlichkeit; +und du selbst hast mir oft genug gesagt, daß nur +Persönlichkeiten, nicht Prinzipien die Welt beherrschen.“</p> + +<p>„Schön, wann sollen wir also hingehen?“</p> + +<p>„Laß mich mal nachdenken. Heute ist Dienstag. Wollen +wir morgen festsetzen? Morgen spielt sie die Julia.“</p> + +<p>„Abgemacht! Morgen um acht im Bristol. Ich werde +Basil mitbringen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_89" title="89"> </a></p> + +<p>„Bitte, nicht um acht Uhr, Harry. Halbsieben. Wir +müssen dort sein, ehe der Vorhang aufgeht. Du mußt sie +im ersten Akt bei der Begegnung mit Romeo sehen.“</p> + +<p>„Halbsieben Uhr! Was für eine Tageszeit! Das wäre +ja gerade so, wie ein Abendbrot am Nachmittag essen oder +einen englischen Roman lesen. Vor sieben Uhr geht's nicht. +Kein Gentleman speist vor sieben. Siehst du Basil bis +dahin? Oder soll ich ihm schreiben?“</p> + +<p>„Der liebe Basil! Ich habe mich eine ganze Woche lang +nicht um ihn gekümmert. Das ist sehr häßlich von mir, +denn er hat mir mein Porträt in einem prachtvollen Rahmen, +den er selbst entworfen hat, geschickt, und obwohl +ich ein bißchen eifersüchtig auf das Bild bin, weil es einen +ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich doch zugeben, daß +es mich ganz entzückt. Ich bitte, schreib lieber. Ich möchte +ihn nicht allein wiedersehen. Er sagt mir Dinge, die mich +verstimmen. Er gibt mir gute Lehren.“</p> + +<p>Lord Henry lächelte. „Die Menschen haben eine starke +Vorliebe, das wegzuschenken, was sie selber am nötigsten +hätten. Ich nenne das den Chimborasso Freigebigkeit.“</p> + +<p>„Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir doch +ein klein bißchen Philister zu sein. Seit ich dich kenne, +Harry, hab' ich das entdeckt.“</p> + +<p>„Basil, mein lieber Junge, tränkt seine Werke mit +allem, was an ihm entzückend ist. Die Folge ist, daß ihm +fürs Leben nichts übrigbleibt als seine Vorurteile, seine +Grundsätze und sein gesunder Menschenverstand. Alle Künstler, +die ich kennengelernt habe, und die persönlich von +Anziehungskraft sind, waren schlechte Künstler. Gute Künstler<a class="pagenum" name="Page_90" title="90"> </a> +leben nur in ihren Schöpfungen und sind daher im +Leben vollständig uninteressant. Ein großer Dichter, ein +wirklich großer Dichter ist das unpoetischste Geschöpf von +der Welt. Aber untergeordnete Dichter bezaubern immer. +Je schlechter ihre Reime sind, desto malerischer ist ihr +Aussehen. Die bloße Tatsache, eine Sammlung mittelmäßiger +Sonette veröffentlicht zu haben, macht solchen +Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die Poesie, die +er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Poesie, +die sie nicht zu leben wagen.“</p> + +<p>„Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry“, sagte +Dorian Gray, der inzwischen aus einem großen goldgefaßten +Flakon auf dem Tische etwas Parfüm auf sein +Taschentuch gegossen hatte. „Es wird wohl sein, wenn +du es sagst. Jetzt aber muß ich fort. Imogen wartet auf +mich. Vergiß nicht, morgen! Adieu!“</p> + +<p>Als er das Zimmer verlassen hatte, schloß Lord Henry +die schweren Lider und begann nachzudenken. Gewiß hatten +ihn wenige Menschen bisher so interessiert wie Dorian +Gray, und doch verursachte ihm die wahnsinnige Leidenschaft +des Jünglings für eine andere Person nicht im entferntesten +Ärger oder Eifersucht. Es freute ihn. Dorian +wurde dadurch nur noch interessanter. Die Methoden der +Naturwissenschaft hatten ihn immer entzückt, aber der +gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm kleinlich +und belanglos erschienen, und so hatte er begonnen, +sich selbst zu vivisezieren und hatte damit geendet, andere +zu vivisezieren. Das Menschenleben — das schien ihm +der einzige einer Untersuchung werte Gegenstand. Verglichen<a class="pagenum" name="Page_91" title="91"> </a> +damit war alles andere ohne jegliche Bedeutung. +Freilich, wenn man das Leben in dem seltsamen +Schmelztiegel des Schmerzes und der Lust beobachtete, +konnte man keine Glasmaske über dem Gesicht tragen, +konnte auch nicht die Schwefeldämpfe abhalten, die einem +das Gehirn verwirrten und die Phantasie mit monströsen +Ausgeburten und mißratenen Träumen umwirbelten. Es +gab so feine Gifte, daß man an ihnen erkrankt sein mußte, +um ihre Eigenheiten zu kennen. Es gab so seltsame Krankheiten, +daß man sie durchgemacht haben mußte, um +ihre Art zu begreifen. Und doch, welchen Lohn empfing +man dafür! Wie wunderbar wandelt sich einem dann +die ganze Welt! Die merkwürdig strenge Logik der Leidenschaft +und das buntgefärbte Trieb- und Gefühlsleben +des Geistes anzumerken — zu beobachten, wo sich +die beiden Linien schneiden und wo sie auseinandergehen, +in welchem Punkte sie in Eintracht leben und in welchem +sie sich wieder bekriegen — das ist ein Genuß! Was liegt +an dem Preise dafür! Man kann nie einen zu hohen Preis +für ein Sinnenerlebnis geben.</p> + +<p>Er war sich bewußt — und dieser Gedanke brachte einen +freudigen Glanz in seine achatbraunen Augen — daß sich +durch gewisse Worte, die er gesprochen hatte, musikalische +Worte in melodischem Tonfall, Dorian Grays +Seele diesem weißen Mädchen zugewendet und sich in +Verehrung vor ihr gebeugt hatte. In hohem Maße war +der Jüngling sein Geschöpf. Er hatte ihn vor der Zeit +reifen lassen. Das war schon was. Die gewöhnlichen +Menschen warten, bis ihnen das Leben seine Geheimnisse<a class="pagenum" name="Page_92" title="92"> </a> +aufschließt, aber den wenigen Auserwählten werden die +Mysterien des Daseins enthüllt, bevor der Schleier weggezogen +wird. Manchmal ist das die Wirkung der Kunst, +besonders der Dichtung, die ja unmittelbar die Leidenschaften +und den Intellekt behandelt. Ab und zu nimmt +aber eine komplizierte Persönlichkeit diesen Platz ein und +übt das Amt der Kunst aus, ist eigentlich auf ihre Weise +ein richtiges Kunstwerk, denn das Leben schafft ebenso +seine vollendeten Meisterwerke wie die Poesie oder die +Bildhauerkunst oder die Malerei.</p> + +<p>Ja, dieser Jüngling war vor der Zeit reich. Er erntete, +während er noch lenzte. Der Puls und die Leidenschaft der +Jugend wohnten in ihm, und er begann, seiner bewußt zu +werden. Es war entzückend, ihn zu beobachten. Mit seinem +schönen Angesicht und seiner schönen Seele war er ein +Stück Leben zum Anstaunen. Es lag nichts daran, wie das +alles endete, oder enden sollte. Er glich einer der graziösen +Gestalten auf einem Gobelin oder in einem Schauspiel, +deren Freuden von den unseren weit entfernt zu sein +scheinen, aber deren Schmerzen unseren Schönheitssinn +erregen und deren Wunden wie rote Rosen sind.</p> + +<p>Seele und Leib, Leib und Seele — wie geheimnisvoll +das alles ist! Animalisches ist in der Seele, und der Leib +hat seine Augenblicke geistiger Veredlung. Die Sinne können +sich läutern, und der Intellekt kann sich vergröbern. +Wer kann sagen, wo die fleischlichen Triebe endigen und die +seelischen beginnen? Wie flach sind die willkürlichen Erklärungen +der handwerksmäßigen Psychologen! Und doch, +wie schwierig ist die Entscheidung zwischen den Lehren der<a class="pagenum" name="Page_93" title="93"> </a> +einzelnen Schulen. Ist die Seele ein Schatten, der im +Hause der Sünde wohnt? Oder ist der Körper wirklich +in der Seele eingeschlossen, wie es sich Giordano Bruno +dachte? Die Trennung von Geist und Stoff ist ein Geheimnis, +und die Vereinigung von Geist und Stoff ist +abermals ein Geheimnis.</p> + +<p>Er dachte darüber nach, ob wir je die Psychologie zu +einer so exakten Wissenschaft machen können, daß uns auch +das kleinste Triebrädchen des Lebens offenbar würde. +Wie die Dinge heute liegen, begreifen wir uns selbst nie +und die anderen nur selten. Die Erfahrung hat keinerlei +ethische Bedeutung. Sie ist nur das Firmenschild, das +die Menschen ihren Irrtümern anhängen. Die Moralisten +haben sie meist als eine Art Warnung betrachtet, haben für +sie eine gewisse ethische Wirksamkeit in der Bildung der +Charaktere beansprucht, haben sie als Mittel gepriesen, +das uns darüber aufklärt, was wir tun und lassen +sollen. Aber in der Erfahrung liegt keine bewegende +Kraft. Sie ist ebensowenig eine tätige Ursache wie das +Gewissen. Alles, was sie in Wirklichkeit lehrt, ist, daß +unsere Zukunft ebenso sein wird wie unsere Vergangenheit, +und daß wir die Sünde, die wir dereinst mit Abscheu und +Widerwillen begangen haben, immer und immer wieder +und dann mit Genuß wiederholen werden.</p> + +<p>Er war sich darüber klar, daß die Versuchsmethode die +einzige sei, durch die man zu irgendeiner wissenschaftlichen +Erklärung der Leidenschaften kommen könne; und sicher +war ihm Dorian Gray ein bequemes Objekt und schien +reiche und wertvolle Erfolge zu versprechen. Seine jähe<a class="pagenum" name="Page_94" title="94"> </a> +sturmartige Liebe zu Sibyl Vane war eine psychologische +Tatsache von großem Interesse. Kein Zweifel, daß die +Neugier dabei stark im Spiele war, Neugier und Lust an +neuen Erlebnissen; doch es war keine einfache, sondern eher +eine recht komplizierte Leidenschaft. Was von dem rein +sinnlichen Triebe des Knabenalters in ihr war, das hatte +die Mitarbeit der Phantasie umgebildet, in irgendwas +verwandelt, das dem Jüngling selbst ganz fern von allem +Sinnlichen schien und gerade deshalb um so gefährlicher +war. Alle Leidenschaften, über deren Ursprung wir uns +selbst täuschen, üben die stärkste Herrschaft auf uns aus. +Unsere schwächsten Triebkräfte sind die, über deren Natur +wir klar sehen. Es kommt oft vor, daß wir im Denken +mit uns selbst Experimente anstellen und glauben, sie +mit anderen zu versuchen.</p> + +<p>Während Lord Henry noch dasaß und über diese Dinge +nachgrübelte, wurde an die Tür geklopft; ein Diener trat +ein und erinnerte ihn, daß es Zeit sei, sich für das Abendessen +umzukleiden. Er erhob sich und blickte auf die Straße +hinab. Der Sonnenuntergang hatte die oberen Fenster +der gegenüberliegenden Häuser in ein feuerrotes Gold +getaucht. Die Scheiben glühten wie erhitzte Metallplatten. +Der Himmel drüber glich einer verwelkten Rose. Es erinnerte +ihn an das junge, flammenlodernde Leben seines +Freundes, und er fragte sich, wie das alles enden würde.</p> + +<p>Als er dann gegen halb ein Uhr nachts nach Hause kam, +fand er im Vorflur auf dem Tische ein Telegramm liegen. +Er öffnete es und sah, daß es von Dorian Gray war. Es +teilte ihm mit, daß er sich mit Sibyl Vane verlobt habe.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_95" title="95"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Funftes_Kapitel" id="Funftes_Kapitel"></a>Fünftes Kapitel</h2> + + +<p>„Mutter, Mutter, ich bin so glücklich!“ flüsterte das +Mädchen und barg ihr Gesicht im Schoße der verblühten, +müde aussehenden Frau, die mit dem Rücken +gegen das grell eindringende Licht in dem einzigen Armstuhl +saß, den ihr armseliges Wohnzimmer enthielt. „Ich +bin so glücklich!“ wiederholte sie, „und du wirst auch glücklich +sein.“</p> + +<p>Frau Vane zuckte zusammen und legte ihre dünnen, +wismutweißen Hände auf den Kopf ihrer Tochter. „Glücklich!“ +echote sie, „ich bin nur glücklich, Sibyl, wenn ich dich +spielen sehe. Du darfst an nichts anderes denken als an +deine Rollen. Herr Isaacs ist sehr gut gegen uns gewesen, +und wir sind ihm Geld schuldig.“</p> + +<p>Das Mädchen sah auf und ließ die Lippen hängen. +„Geld, Mutter?“ rief sie, „was liegt an Geld? Liebe ist +mehr als Geld!“</p> + +<p>„Herr Isaacs hat uns tausend Mark Vorschuß gegeben, +damit wir unsere Schulden zahlen und für James eine +anständige Ausrüstung anschaffen können. Das darfst du +nicht vergessen, Sibyl. Tausend Mark sind ein sehr großer +Betrag. Herr Isaacs benahm sich sehr anständig.“</p> + +<p>„Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art, +wie er mit mir spricht“, sagte das Mädchen, stand auf +und trat ans Fenster.</p> + +<p>„Ich wüßte nicht, wie wir ohne ihn vorwärts kämen“, +entgegnete die alte Frau weinerlich.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_96" title="96"> </a></p> + +<p>Sibyl Vane warf den Kopf in den Nacken und lachte: +„Wir brauchen ihn nicht mehr, Mutter, der Prinz Märchenschön +bestimmt von jetzt ab über unser Leben.“ Dann +schwieg sie. Eine Blutwelle schoß in ihre Wangen und +tauchte sie in ein dunkles Rot. Der rasche Atem öffnete +ihre blühenden Lippen. Sie zitterten. Ein Südwind heißer +Leidenschaft durchbrauste sie und bewegte die glatten Falten +ihrer Gewandung. „Ich liebe ihn“, sagte sie mit einfachem +Ausdruck.</p> + +<p>„Närrisches Kind! närrisches Kind!“ waren die papageienhaften +Worte, die ihr als Antwort entgegenflogen. +Dabei machte die beschwörende Bewegung ihrer gekrümmten, +mit unechten Ringen gezierten Finger diesen Ausruf +noch komischer.</p> + +<p>Das Mädchen lachte wieder. In ihrer Stimme lag +etwas wie der Jubel eines Vogels im Käfig. Ihre Augen +fingen die Lachmelodie auf und wiederholten sie in ihrem +Glanze: dann schlossen sie sich einen Augenblick, als wollten +sie ihr Geheimnis verbergen. Als sie sich wieder öffneten, +war der Schimmer eines Traumes über sie dahingegangen.</p> + +<p>Aus dem abgenutzten Stuhl sprach die Weisheit zu ihr +mit dünnen Lippen, mahnte zur Besinnung und gab Ratschläge +aus dem Buch der Feigheit, dem sein Autor irrtümlich +den Titel „Gesunder Menschenverstand“ beigelegt +hat. Sie hörte nicht hin. Im Kerker ihrer Leidenschaft +fühlte sie sich frei. Ihr Prinz, der Prinz Märchenschön, +war bei ihr. Sie hatte das Gedächtnis beschworen, ihn +herbeizuschaffen. Sie hatte ihre Seele auf die Suche nach<a class="pagenum" name="Page_97" title="97"> </a> +ihm geschickt, und die hatte ihn wieder hergebracht. Sein +Kuß brannte wieder auf ihrem Munde. Ihre Lider brannten +wieder von seinem Atem.</p> + +<p>Dann zog die Weisheit andere Register auf und sprach +von Erkundigen und Nachforschen. Es mochte ja sein, daß +dieser junge Mann reich sei. Wenn dem so wäre, dann +müßte man ans Heiraten denken. Um die Ohrmuschel +des Mädchens plätscherten die Wellen weltlicher Schlauheit. +Die Pfeile der Weltklugheit schwirrten an ihr vorüber. +Sie sah, wie sich die dünnen Lippen bewegten, und +lächelte.</p> + +<p>Plötzlich fühlte sie das Bedürfnis, zu sprechen. Die +wortüberfüllte Schweigsamkeit verwirrte sie. „Mutter, +Mutter,“ rief sie, „warum liebt er mich so innig? Ich +weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er so ist, +wie die Liebe selbst sein muß. Aber was findet er an mir? +Ich bin seiner nicht wert. Und doch — ich weiß nicht, +warum — ich fühle mich wohl tief unter ihm, aber ich +fühle mich nicht gering. Stolz bin ich, schrecklich stolz. +Mutter, hast du meinen Vater so geliebt, wie ich den +Prinzen Märchenschön liebe?“</p> + +<p>Die alte Frau wurde bleich unter dem dicken Puder, +womit ihre Wangen beklebt waren, und ihre verwelkten +Lippen zitterten in krampfigem Schmerz. Sibyl stürzte +zu ihr hin, schlang ihr ihre Arme um den Hals und küßte +sie. „Verzeih mir, Mutter! Ich weiß, es schmerzt dich, +an unseren Vater zu denken. Aber es schmerzt dich nur, +weil du ihn so lieb gehabt hast. Sieh nicht so traurig +drein. Heute bin ich so glücklich, wie du es warst vor<a class="pagenum" name="Page_98" title="98"> </a> +zwanzig Jahren. Ach, könnte ich für immer so glücklich +sein!“</p> + +<p>„Mein Kind, du bist viel zu jung, um an eine Liebschaft +zu denken. Zudem, was weißt du von diesem jungen +Mann? Du weißt nicht mal seinen Namen. Die ganze +Sache ist höchst unpassend, und wahrhaftig, gerade jetzt, +wo sich James nach Australien rüstet, und ich an so viele +Dinge zu denken habe, da muß ich sagen, du hättest mehr +Überlegung zeigen sollen. Immerhin, wie ich schon sagte, +wenn er reich ist...“</p> + +<p>„Ach Mutter, Mutter, laß mich glücklich sein!“</p> + +<p>Frau Vane blickte sie an und schloß sie plötzlich mit +einer der unwahren theatralischen Gesten in die Arme, +wie sie den Schauspielern oft zur zweiten Natur werden. +In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein junger +Bursche mit struppigem, braunem Haar kam in die Stube. +Er war von untersetzter Gestalt, und seine Hände und +Füße waren groß und bewegten sich etwas ungelenk. Er +war nicht so gut erzogen wie seine Schwester. Man hätte +kaum die nahe Verwandtschaft erraten können, die zwischen +beiden bestand. Frau Vane richtete ihre Augen auf +ihn, und ihr Lächeln verstärkte sich. In ihrem Geiste ließ +sie ihren Sohn die Rolle des Publikums spielen. Sie war +überzeugt, daß das Tableau interessant war.</p> + +<p>„Du könntest dir wohl ein paar Küsse für mich aufheben, +Sibyl“, sagte der Bursche mit gutmütigem Knurren.</p> + +<p>„Ach, Jim, du machst dir doch gar nichts aus Küssen!“ +rief sie. „Du bist ein greulicher alter Bär!“ Und sie +hüpfte durchs Zimmer zu ihm hin und umhalste ihn.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_99" title="99"> </a></p> + +<p>James Vane sah seiner Schwester zärtlich in das Gesicht. +„Ich möchte mit dir spazieren gehen, Sibyl. Ich +glaube kaum, daß ich dies schreckliche London jemals +wiedersehe. Ich mache mir auch wirklich nicht im geringsten +was draus.“</p> + +<p>„Mein Sohn, rede doch nicht so schreckliche Dinge“, +grollte Frau Vane, während sie seufzend ein flitteriges +Theaterkostüm zur Hand nahm und es auszubessern begann. +Sie fühlte eine kleine Enttäuschung, daß er sich +der Gruppe nicht angeschlossen hatte. Es hätte die malerische +Wirkung der Szene so hübsch erhöht.</p> + +<p>„Warum nicht, Mutter? Ich meine es im Ernst.“</p> + +<p>„Du kränkst mich, mein Sohn. Ich hoffe, daß du von +Australien als ein gemachter Mann zurückkehrst. Ich vermute, +es gibt in den Kolonien sozusagen keine Gesellschaft, +wenigstens nichts, was ich Gesellschaft nenne; wenn du +also dein Glück gemacht hast, mußt du zurückkommen und +dich zur Geltung bringen in London.“</p> + +<p>„Gesellschaft“, brummelte der junge Mann. „Will davon +nichts wissen. Möchte nur soviel Geld verdienen, um +dich und Sibyl vom Theater wegzukriegen. Ich hasse es.“</p> + +<p>„O Jim,“ sagte Sibyl lachend, „wie unfreundlich von +dir! Aber, willst du wirklich mit mir spazieren gehen? Das +ist nett! Ich fürchtete schon, du wolltest dich bei deinen +Freunden verabschieden, bei Tom Hardy, der dir diese +gräßliche Pfeife geschenkt hat, oder bei Nell Langton, der +dich auslacht, weil du sie rauchst. Es ist sehr hübsch von +dir, daß du mir deinen letzten Nachmittag schenkst. Wohin +werden wir gehen? Komm, wir wollen in den Park.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_100" title="100"> </a></p> + +<p>„Dazu bin ich zu schäbig angezogen“, antwortete er +mit gerunzelter Stirn. „Nur Elegants gehen in den Park.“</p> + +<p>„Unsinn, Jim“, flüsterte sie, und streichelte seinen +Ärmel.</p> + +<p>Er zauderte einen Augenblick. „Schön denn,“ sagte er +schließlich, „mach' aber nicht zu lang mit dem Anziehen.“</p> + +<p>Sie tanzte zur Tür hinaus. Man konnte sie singen +hören, während sie die Treppe hinauflief. Ihre kleinen +Füße trippelten oben.</p> + +<p>Er ging zwei oder dreimal durch die Stube, dann +wandte er sich zu der schweigsamen Gestalt im Lehnstuhl.</p> + +<p>„Mutter, sind meine Sachen gepackt?“ fragte er.</p> + +<p>„Alles fertig, James“, antwortete sie, ohne von ihrer +Arbeit aufzuschauen. Seit einigen Monaten war es ihr +unbehaglich, wenn sie mit ihrem rauhen, finsteren Sohn +allein war. Ihre oberflächliche Natur mit ihrem unterdrückten +Geheimnis wurde beunruhigt, wenn sich ihre +Augen trafen. Sie fragte sich, ob er einen Verdacht habe. +Sein Schweigen, da er sonst keine Bemerkungen machte, +wurde ihr unerträglich. Sie fing also zu jammern an. +Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade, wie +sie dadurch angreifen, daß sie unvermutet die Waffen +strecken. „Ich hoffe, James, dein Seefahrerleben wird +dich befriedigen. Du darfst nie vergessen, daß es deine +eigene Wahl war. Du hättest in das Bureau eines Anwalts +treten können. Anwälte sind eine sehr geachtete +Menschenklasse und werden auf dem Lande oft in den +besten Familien eingeladen.“</p> + +<p>„Ich hasse Bureaus und ich hasse Schreiber“, erwiderte<a class="pagenum" name="Page_101" title="101"> </a> +er. „Aber du hast ganz recht, mein Leben habe ich mir +selbst gewählt. Alles, was ich sage, ist: Wache über Sibyl! +Laß ihr kein Unglück zustoßen. Mutter, du mußt über sie +wachen!“</p> + +<p>„James, du hast eine merkwürdige Art, zu sprechen. +Natürlich wache ich über sie.“</p> + +<p>„Ich höre, ein Herr kommt jeden Abend ins Theater +und geht hinter die Kulissen und spricht mit ihr. Ist das +wahr? Wie verhält sich's damit?“</p> + +<p>„James, du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst. +Wir in unserem Beruf sind gewöhnt, eine Menge wohltuender +Aufmerksamkeiten zu empfangen. Ich selbst habe +zu meiner Zeit viel Blumen bekommen. Damals verstand +man noch etwas vom Spielen. Was Sibyl betrifft, so +weiß ich im Augenblick nicht, ob ihre Neigung ernst ist +oder nicht. Aber darüber besteht kein Zweifel, daß der +fragliche junge Mann ein vollendeter Kavalier ist. Er ist +immer ausgesucht höflich zu mir. Auch sieht er aus, als +ob er reich wäre, und die Buketts, die er schickt, sind ganz +allerliebst.“</p> + +<p>„Aber du weißt nicht mal seinen Namen“, warf der +junge Mann barsch ein.</p> + +<p>„Nein“, antwortete die Mutter mit gelassener Miene. +„Er hat uns seinen wirklichen Namen noch nicht verraten. +Ich finde das sehr romantisch von ihm. Wahrscheinlich +ist er ein Herr von Adel.“</p> + +<p>James Vane biß sich auf die Lippen. „Wache über +Sibyl!“ schrie er. „Wache über sie!“</p> + +<p>„Mein Sohn, du verletzt mich ungemein. Sibyl steht<a class="pagenum" name="Page_102" title="102"> </a> +unablässig unter meiner besonderen Obhut. Natürlich, +falls dieser Herr vermögend ist, sehe ich den Grund nicht +ein, um einer Verbindung mit ihm auszuweichen. Ich bin +fest davon überzeugt, er gehört zur Aristokratie. Er sieht +ganz so aus, muß ich sagen. Es wird eine brillante Partie +für Sibyl werden. Sie würden ein entzückendes Paar abgeben. +Seine Schönheit ist wirklich ganz bedeutend; sie +fällt jedem auf.“</p> + +<p>Der junge Mann brummte etwas in sich hinein und +trommelte mit seinen dicken Fingern gegen die Fensterscheibe. +Er hatte sich gerade umgewandt, um etwas zu +sagen, als die Tür aufging und Sibyl hereinflitzte.</p> + +<p>„Was macht ihr beide denn für ernste Gesichter!“ rief +sie aus. „Was gibt's denn?“</p> + +<p>„Nichts“, antwortete er. „Man muß auch mal ernst +sein. Adieu, Mutter; ich will um fünf essen. Alles ist gepackt +bis auf die Hemden; du brauchst dich also um nichts +mehr zu kümmern.“</p> + +<p>„Adieu, mein Sohn“, antwortete sie mit einer Verbeugung +gemachter hoheitsvoller Würde.</p> + +<p>Sie war äußerst gekränkt durch den Ton, den er ihr +gegenüber angeschlagen hatte, und in seinem Blick lag +etwas, das ihr Angst eingeflößt hatte.</p> + +<p>„Gib mir einen Kuß, Mutter“, sagte das Mädchen. +Ihre blütengleichen Lippen berührten die welken Wangen +und wärmten ihre Frostigkeit.</p> + +<p>„Mein Kind! Mein Kind!“ rief Frau Vane und schaute +zur Decke auf, als suchte sie in ihrer Einbildung eine Galerie.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_103" title="103"> </a></p> + +<p>„Komm, Sibyl“, sagte ihr Bruder ungeduldig. Er konnte +die Attitüden seiner Mutter nicht ausstehen.</p> + +<p>Sie traten hinaus in den flimmernden, windbewegten +Sonnenschein und schlenderten die trostlose Euston Road +hinab. Die Vorübergehenden blickten verwundert auf den +unfreundlichen, schwerfälligen jungen Menschen in den groben +schlechtsitzenden Kleidern, den ein so liebliches, fein +aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem Gärtnerburschen, +der eine Rose trägt.</p> + +<p>Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den +forschenden Blick eines Fremden bemerkte. Er hatte jene +Abneigung gegen das Angestarrtwerden, die Menschen +von Geist erst spät im Leben bekommen und die den +Herdenmenschen nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts +von der Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf +ihren lächelnden Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen, +und damit sie um so besser an ihn denken könnte, +sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte nur von dem +Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, von dem Gold, das +er sicher finden würde, von der wunderhübschen Millionenerbin, +deren Leben er verruchten rotblusigen Buschräubern +entreißen sollte. Denn er würde nicht Matrose bleiben +oder Verfrachter oder was er jetzt fürs erste werden sollte. +O nein! Solch Matrosendasein war schrecklich. Er solle nur +daran denken, in ein schreckliches Schiff hineingepfercht zu +sein, wenn die brüllenden, katzenbuckelnden Wellen immer +eindringen wollen und ein schwarzer Wind die Masten +umblase und die Segel in lange, klatschnasse Streifen zerreiße. +Er sollte in Melbourne das Schiff verlassen, dem<a class="pagenum" name="Page_104" title="104"> </a> +Kapitän höflich Lebewohl sagen und sich sofort in die +Goldfelder begeben. Bevor noch eine Woche um sei, werde +er auf einen großen Klumpen puren Goldes stoßen, auf +den größten, der je gefunden worden sei, und werde ihn +zur Küste schaffen in einem großen Wagen, den sechs berittene +Polizisten bewachen sollten. Die Buschklepper überfielen +sie dreimal, würden aber nach einem ungeheuren +Gemetzel zurückgeschlagen werden. Oder nein! Er sollte +überhaupt nicht in die Goldfelder wandern. Das sind +schreckliche Örter, wo sich die Leute betrinken und einander +in Kneipen totschössen und eine schreckliche Sprache führten. +Er sollte ein friedsamer Viehzüchter werden, und eines +Abends, wenn er heimritte, begegnete er der schönen Erbin, +die gerade von einem Räuber auf einem Rappen entführt +würde, und dann setzt er ihm nach und befreit sie. Natürlich +würde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und +sie heirateten dann und kehrten heim und wohnten in +einem großen Palais in London. Ja, entzückende Dinge +warteten auf ihn. Aber er müsse auch sehr brav sein, nie +die Geduld verlieren oder sein Geld vergeuden. Sie sei +nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse schon genügend +mehr vom Leben. Er müsse ihr auch zuverlässig an jedem +Posttag schreiben und jeden Abend, wenn er schlafen gehe, +beten. Gott sei sehr gut und werde über ihn wachen. Auch +sie werde für ihn beten, und in ein paar Jahren werde er +reich und glücklich nach Hause kommen.</p> + +<p>Der Bursche hörte ihr brummig zu und gab keine Antwort. +Ihm tat das Herz weh, weil er von der Heimat +weg mußte.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_105" title="105"> </a></p> + +<p>Aber es war nicht das allein, was ihn düster und verstimmt +sein ließ. So unerfahren er war, fühlte er doch +sehr die Gefahr, die in Sibyls Stellung lag. Dieser junge +Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte es nicht ehrlich +mit ihr meinen. Es war ein vornehmes Herrchen, und das +trug ihm seinen Haß ein, einen Haß, der aus einem sonderbaren +Rasseinstinkt herrührte, von dem er sich keine Rechenschaft +geben konnte und der ihn gerade deshalb um so +stärker beherrschte. Er kannte auch die Oberflächlichkeit +und Eitelkeit seiner Mutter und sah darin ungeheure Gefahren +für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder fangen damit +an, ihre Eltern zu lieben; wenn sie älter werden, sitzen sie +über ihnen zu Gericht, manchmal vergeben sie ihnen auch.</p> + +<p>Seine Mutter! Es brütete in ihm, sie über etwas zu +fragen, was er viele schweigsame Monate hindurch mit +sich herumgeschleppt hatte. Ein zufälliges Wort, das er +im Theater aufgeschnappt hatte, ein hingeflüstertes Scherzwort, +das er eines Abends auffing, als er an der Bühnentür +wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken entfesselt. +Die Erinnerung daran schmerzte ihn wie der Hieb +einer Reitpeitsche in sein Gesicht. Seine Brauen kniffen +sich in eine tiefe Furche zusammen, und in schmerzlichem +Krampf biß er sich auf die Lippen.</p> + +<p>„Du hörst auch nicht ein einziges Wort, das ich sage, +Jim!“ rief Sibyl, „und ich schmiede die entzückendsten +Pläne für deine Zukunft. Sag' doch mal was!“</p> + +<p>„Was soll ich denn sagen?“</p> + +<p>„Oh, daß du ein braver Bursche sein willst und uns nicht +vergessen“, antwortete sie und lächelte ihn an.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_106" title="106"> </a></p> + +<p>Er zuckte die Schultern. „Es wäre eher möglich, daß du +mich vergißt, als daß ich dich vergesse, Sibyl.“</p> + +<p>Sie errötete. „Wie meinst du das, Jim?“ fragte sie.</p> + +<p>„Du hast einen neuen Freund, wie ich höre. Wer ist es? +Warum hast du mir nicht von ihm erzählt? Er meint es +nicht gut mit dir.“</p> + +<p>„Hör' auf, Jim“, rief sie aus. „Du darfst nichts gegen +ihn sagen. Ich liebe ihn.“</p> + +<p>„Was, und du weißt nicht mal seinen Namen?“ erwiderte +er. „Wer ist es? Ich habe ein Recht, das zu wissen.“</p> + +<p>„Er heißt der Prinz Märchenschön. Gefällt dir der +Name <ins title="nicht.">nicht?</ins> Oh, du törichtes Jungchen! du solltest ihn +nie vergessen. Wenn du ihn nur ein einzigesmal sähest, +müßtest du ihn für den entzückendsten Menschen auf Erden +halten. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen: wenn du +von Australien zurückkommst. Er wird dir sehr gefallen. +Allen Menschen gefällt er, und ich ... ich liebe ihn. Ich +wollte, du könntest heute abend ins Theater kommen. Er +wird kommen, und ich spiele die Julia! Oh, wie ich sie +spielen werde! Denk dir, Jim, lieben und die Julia +spielen! Wissen, daß er dasitzt! Zu seiner Freude spielen! +Ich fürchte, ich werde meine Kollegen erschrecken, erschrecken +oder hinreißen. Lieben heißt, hinauswachsen über sich selbst. +Der gräßliche Herr Isaacs wird seinen Kumpanen am +Schenktisch zuschreien, ich sei ein Genie. Er hat mich wie +ein Dogma ausposaunt; heute abend wird er mich als +Offenbarung verkündigen. Ich fühle das. Und all das +ist sein Werk, nur sein, des Prinzen Märchenschön, meines +wunderbaren Geliebten, meines Musengottes. Aber ich bin<a class="pagenum" name="Page_107" title="107"> </a> +ein armes Ding neben ihm. Arm. Was liegt daran? +Schleicht Armut in ein Haus, fliegt Liebe durchs Fenster +hinaus. Unsere Sprichwörter müssen umgeändert werden. +Sie sind im Winter erdacht worden, und jetzt ist Sommer, +für mich freilich Frühling, ein Tanz von Blüten unter +blauem Himmel.“</p> + +<p>„Er ist ein Herr der feinen Gesellschaft“, sagte der +Bursche finster.</p> + +<p>„Ein Prinz!“ rief sie mit melodischer Stimme. „Was +willst du mehr?“</p> + +<p>„Er wird dich zu seiner Sklavin machen.“</p> + +<p>„Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein!“</p> + +<p>„Ich rate dir, dich vor ihm zu hüten.“</p> + +<p>„Ihn sehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm +vertrauen!“</p> + +<p>„Sibyl, deine Liebe macht dich verrückt.“</p> + +<p>Sie lachte und nahm seinen Arm. „Du lieber, alter +Jim, du sprichst, als wärest du hundert Jahre alt. Eines +schönen Tages wirst du selbst lieben. Dann wirst du wissen, +was das heißt. Guck mich nicht so brummig an. Du solltest +dich freuen in dem Bewußtsein, daß du mich, obwohl +du gehst, glücklicher zurückläßt, als ich je gewesen bin. Das +Leben ist bisher hart für uns gewesen, furchtbar hart und +schwer. Aber jetzt wird's anders. Du gehst in eine neue +Welt, und ich habe eine neue gefunden. — Da sind zwei +Stühle frei, wir wollen uns setzen und die eleganten Leute +Revue passieren lassen.“</p> + +<p>Sie setzten sich mitten in eine Menge von Zuschauern. +Die Tulpenbeete längs des Weges flammten wie beschwörende<a class="pagenum" name="Page_108" title="108"> </a> +Feuerglocken. Ein weißer Dunst wie eine zitternde +Wolke von Veilchenpuder hing in der schwülen Luft. +Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten auf und ab wie +Riesenschmetterlinge.</p> + +<p>Sie brachte ihren Bruder dazu, daß er von sich, seinen +Aussichten und seinen Plänen sprach. Er redete zögernd +und mühsam. Sie ließen ihre Worte langsam aufeinanderfolgen, +wie sich Spieler ihre Points ansagen. Sibyl fühlte +sich niedergedrückt. Sie konnte ihre Freude nicht mitteilen. +Ein schwaches Lächeln, das seinen vergrämten Mund umspielte, +war die einzige Antwort, die sie erhielt. Nach +einiger Zeit verstummten sie beide. Plötzlich erblickte sie +den Schimmer goldenen Haares und lachende Lippen, und +in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei +Damen vorbei.</p> + +<p>Sie sprang auf. „Da ist er!“ rief sie.</p> + +<p>„Wer?“ fragte Jim Vane.</p> + +<p>„Der Märchenprinz“, antwortete sie, und spähte dem +Wagen nach.</p> + +<p>Er sprang auf und faßte rauh ihren Arm. „Zeig' ihn +mir. Welcher ist es? Zeig' ihn mir, ich muß ihn sehen!“ +rief er. Aber in diesem Augenblick fuhr der Viererzug des +Herzogs von Verwick dazwischen, und als die Aussicht wieder +frei war, hatte der Wagen schon den Park verlassen.</p> + +<p>„Er ist fort“, murmelte Sibyl traurig. „Ich wünschte, +du hättest ihn gesehen.“</p> + +<p>„Ich wünschte es auch, denn so wahr ein Gott im Himmel +ist, wenn er dir je ein Leides antut, bring' ich ihn um!“</p> + +<p>Sie sah ihn erschreckt an. Er wiederholte seine Worte.<a class="pagenum" name="Page_109" title="109"> </a> +Sie durchschnitten die Luft wie ein Dolch. Die Leute +ringsherum fingen an, auf sie hinzustarren. Eine Dame +ganz in der Nähe kicherte.</p> + +<p>„Komm fort, Jim; komm fort“, flüsterte sie. Er ging +ihr verbissenen Mundes nach, als sie die Menge durchschritt. +Er war zufrieden, daß er das gesagt hatte.</p> + +<p>Als sie bei der Achillesstatue war, drehte sie sich nach +ihm um. In ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren +Lippen zu einem Lachen wurde. Sie schüttelte den Kopf +über ihn. „Du bist verdreht, Jim, völlig verdreht; ein +ungezogener Bubi, sonst nichts. Wie kannst du so was +Häßliches sagen? Du weißt gar nicht, was du zusammensprichst. +Du bist einfach eifersüchtig und unfreundlich. Ach! +ich wollte, daß du dich einmal verliebst. Liebe macht die +Menschen gut, und was du gesagt hast, war schlecht.“</p> + +<p>„Ich bin erst sechzehn,“ antwortete er, „aber ich weiß, +was ich zu tun habe. Mutter kann dir nicht helfen. Sie +versteht es nicht, dich zu beschützen. Ich wünschte jetzt, +ich ginge überhaupt nicht nach Australien. Ich hab' nicht +übel Lust, die ganze Sache zu lassen. Ich tät's, wenn mein +Vertrag nicht schon unterschrieben wäre.“</p> + +<p>„Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim. Du bist wie einer von +den Helden aus den albernen Melodramen, in denen +Mutter so gern gespielt hat. Ich will mich mit dir +nicht streiten. Ich hab' ihn gesehen, und ihn sehen, ist vollkommenes +Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, daß +du einem, den ich liebe, nie etwas antun wirst, nicht?“</p> + +<p>„Solange du ihn liebst, wohl kaum“, war die finstere +Antwort.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_110" title="110"> </a></p> + +<p>„Ich werde ihn immer lieben!“ rief sie.</p> + +<p>„Und er?“</p> + +<p>„Auch immer.“</p> + +<p>„Das ist sein Glück!“</p> + +<p>Sie schrak vor ihm zurück. Dann lachte sie und legte die +Hand auf seinen Arm. Er war doch nur ein Junge.</p> + +<p>Am Marble Arch bestiegen sie einen Omnibus, der sie +in die Nähe ihrer armseligen Wohnung in Euston Road +brachte. Es war schon fünf Uhr vorüber, und Sibyl mußte +sich noch, bevor sie auftrat, ein paar Stündchen niederlegen. +Jim bestand darauf, daß sie es täte. Er sagte, er +würde lieber von ihr Abschied nehmen, wenn die Mutter +nicht dabei wäre. Sie würde sicher eine Szene machen, +und er verabscheue Szenen aller Art.</p> + +<p>Sie nahmen in Sibyls Zimmer Abschied. Im Herzen +des jungen Menschen brannte Eifersucht und ein grimmer, +mörderischer Haß auf den Fremden, der, wie er meinte, +zwischen sie getreten war. Als sich aber ihre Arme um +seinen Hals schlangen, und ihre Finger durch sein Haar +fuhren, wurde er sanfter und küßte sie mit wirklicher Zärtlichkeit. +Als er hinunterging, standen Tränen in seinen Augen.</p> + +<p>Die Mutter wartete unten auf ihn. Als er eintrat, +murrte sie über seine Unpünktlichkeit. Er gab keine Antwort, +sondern setzte sich an sein kärgliches Mahl. Die +Fliegen summten um den Tisch und krochen über das +fleckige Tischtuch. Durch das Gerassel der Omnibusse und +das Rackern der Droschken konnte er die einförmige +Stimme hören, die ihn um jede Minute beraubte, die ihm +noch übrig blieb.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_111" title="111"> </a></p> + +<p>Nach einer Weile schob er seinen Teller zurück und +stützte den Kopf in die Hände. Er fühlte, daß er ein Recht +habe, es zu wissen. Wenn die Dinge lagen, wie er vermutete, +hätte man es ihm längst sagen sollen. Gepeinigt +von Furcht, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte +tröpfelten ihr mechanisch von den Lippen. Ihre Finger +zerknüllten ein zerrissenes Spitzentaschentuch. Als die Uhr +sechs schlug, stand er auf und ging zur Tür. Dann wandte +er sich um und sah sie an. Ihre Blicke begegneten sich. +In den ihren las er ein inbrünstiges Bitten um Mitleid. +Das machte ihn erst recht zornig.</p> + +<p>„Mutter, ich muß dich was fragen“, sagte er. Ihre +Augen irrten im Zimmer umher. Sie gab keine Antwort. +„Sag' mir die Wahrheit! Ich hab' ein Recht, es zu erfahren! +Warst du mit meinem Vater verheiratet?“</p> + +<p>Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ein Seufzer +der Erleichterung. Der schreckliche Augenblick, der Augenblick, +vor dem sie Tag und Nacht seit Wochen und Monaten +gebangt hatte, war endlich gekommen, und doch +empfand sie keine Furcht. Ja, es war für sie gewissermaßen +eine Enttäuschung. Die grobe Unumwundenheit +der Frage heischte eine unumwundene Antwort. Die Situation +war nicht langsam gesteigert worden. Es war roh. +Es erinnerte sie an eine mißlungene Deklamation.</p> + +<p>„Nein“, antwortete sie, erstaunt über die harte Einfachheit +des Lebens.</p> + +<p>„Dann war mein Vater ein Schuft!“ schrie der Bursche +und ballte die Faust.</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf. „Ich wußte, daß er nicht frei<a class="pagenum" name="Page_112" title="112"> </a> +war. Wir haben uns sehr lieb gehabt. Wenn er am Leben +geblieben wäre, hätte er für uns gesorgt. Sage nichts gegen +ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein Gentleman. +Er hatte wirklich hohe Verbindungen.“</p> + +<p>Ein Fluch kam über seine Lippen. „Es bekümmert mich +nicht meinetwegen,“ rief er, „aber laß Sibyl nicht... Ist +es ein Gentleman oder nicht, der sie liebt, oder so sagt? +Mit hohen Verbindungen, vermute ich.“</p> + +<p>Einen Augenblick lang kam ein schreckliches Gefühl der +Demütigung über die Frau. Ihr Kopf sank herab. Mit +zitternden Händen wischte sie sich die Augen. „Sibyl hat +eine Mutter,“ flüsterte sie, „ich hatte keine.“</p> + +<p>Der junge Mensch war gerührt. Er ging zu ihr hin, +beugte sich über sie und küßte sie. „Es tut mir leid, wenn +ich dich mit der Frage nach meinem Vater verletzt habe,“ +sagte er, „aber ich konnte nicht anders. Jetzt muß ich fort. +Lebewohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind +zu beschützen hast, und glaube mir, wenn dieser Mann +meiner Schwester ein Leid zufügt, dann bringe ich schon +heraus, wer es ist, spüre ihn auf und schlage ihn tot wie +einen Hund. Das schwöre ich dir!“</p> + +<p>Die wahnwitzige Übertreibung seines Schwurs, die +leidenschaftlichen Handbewegungen, die ihn begleiteten, +die tollen, melodramatischen Worte machten der alten +Frau das Leben wieder interessanter. Diese Atmosphäre +war ihr vertraut. Sie atmete wie erlöst, und zum erstenmal +seit vielen Monaten bewunderte sie förmlich ihren +Sohn. Sie hätte die Szene gern auf derselben Gefühlshöhe +fortgesetzt, aber er brach sie kurz ab. Koffer mußten<a class="pagenum" name="Page_113" title="113"> </a> +heruntergebracht und Decken beschafft werden. Der Hausknecht +des Mietshauses rannte geschäftig hin und her. +Mit dem Kutscher wurde der Preis abgehandelt. So +wurde der Augenblick durch gemeine Einzelheiten verzettelt. +Mit einem erneuten Gefühl der Enttäuschung stand sie +am Fenster und ließ das zerrissene Spitzentaschentuch durch +die Luft wimpeln, als ihr Sohn wegfuhr. Es war ihr +zumute, als sei eine große Gelegenheit verpaßt worden. +Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte, wie öde künftig +ihr Leben sein werde, da sie jetzt nur ein einziges Kind zu +behüten habe. Diesen Satz hatte sie sich gemerkt. Er hatte +ihr gefallen. Von seinem Schwur sagte sie nichts. Er war +lebendig und dramatisch deklamiert worden. Sie hatte die +Empfindung, daß sie alle eines Tages darüber lachen +würden.</p> + +<h2><a name="Sechstes_Kapitel" id="Sechstes_Kapitel"></a>Sechstes Kapitel</h2> + + +<p>„Du hast doch schon die letzte Neuigkeit gehört, Basil?“ +sagte Lord Henry am selben Abend, als Hallward in das +kleine Separatzimmer im Bristol trat, wo für drei Personen +zum Essen gedeckt war.</p> + +<p>„Nein, Harry“, antwortete der Künstler, während er +Hut und Rock dem dienernden Kellner gab. „Was ist es? +Nichts über Politik, hoffe ich. Die interessiert mich nicht. +Im ganzen Unterhause gibts keinen einzigen Menschen, +den man malen möchte; wenn auch einigen von ihnen +zur Aufbesserung etwas Firnis nicht schaden könnte.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_114" title="114"> </a></p> + +<p>„Dorian Gray hat sich verlobt“, sagte Lord Henry und +beobachtete ihn, während er sprach.</p> + +<p>Hallward fuhr zurück und runzelte sofort die Stirn. +„Dorian verlobt!“ rief er. „Unmöglich!“</p> + +<p>„Es ist wahrhaftig wahr.“</p> + +<p>„Mit wem?“</p> + +<p>„Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin.“</p> + +<p>„Ich kann's nicht glauben. Dorian ist viel zu verständig.“</p> + +<p>„Dorian ist viel zu klug, um nicht von Zeit zu Zeit +verrückte Sachen zu begehen, lieber Basil.“</p> + +<p>„Heiraten ist kaum eine Sache, die man von Zeit zu +Zeit tun kann, Harry.“</p> + +<p>„Außer in Amerika“, erwiderte Lord Henry nachlässig. +„Aber ich habe ja nicht gesagt, daß er verheiratet sei. Ich +sagte, er sei verlobt. Das ist ein großer Unterschied. Ich +erinnere mich ganz deutlich, verheiratet zu sein, aber ich +kann mich nicht erinnern, verlobt gewesen zu sein. Ich +glaube fast, daß ich mich nie verlobt habe.“</p> + +<p>„Aber überlege doch Dorians Geburt, seine Stellung, +sein Vermögen. Es wäre sinnlos, wenn er so tief unter +seinem Stande heiraten würde.“</p> + +<p>„Wenn du willst, daß er dies Mädchen heiratet, so +brauchst du ihm das nur zu sagen, Basil. Dann tut er's +gewiß. Wenn ein Mann etwas auserlesen Dummes tut, +tut er's immer aus den edelsten Beweggründen.“</p> + +<p>„Ich hoffe, es ist ein gutes Mädchen, Harry. Ich möchte +Dorian nicht an irgendein gewöhnliches Wesen gefesselt +sehen, das ihn herabzieht und seinen Geist verdirbt.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_115" title="115"> </a></p> + +<p>„Oh, sie ist mehr als gut — sie ist schön“, sagte Lord +Henry und nippte an einem Glas Wermut mit Pomeranzen. +„Dorian sagt, sie ist schön, und in Dingen dieser +Art irrt er nicht häufig. Sein Bild von ihm hat sein +Urteil über die äußere Erscheinung anderer Menschen geschärft. +Es hat unter anderem diesen glänzenden Erfolg +gezeigt. Wir sollen sie heute abend sehen, wenn der Junge +seine Abmachung nicht vergißt.“</p> + +<p>„Ist das dein Ernst?“</p> + +<p>„Vollständig, Basil. Es würde schlimm für mich sein, +wenn ich je im Leben ernsthafter sein müßte als jetzt.“</p> + +<p>„Aber billigst du es denn, Harry?“ fragte der Maler, +der im Zimmer auf und ab ging und sich auf die Lippen +biß. „Du kannst es doch ganz unmöglich billigen. Es ist +eine törichte Verblendung.“</p> + +<p>„Ich billige oder mißbillige nie wieder etwas. Sowas +bringt einen in eine ganz verrückte Stellungnahme zum +Leben. Wir sind nicht in die Welt geschickt worden, um +unsere moralischen Vorurteile glänzen zu lassen. Ich nehme +nie Notiz von dem, was gewöhnliche Leute sagen, und +ich mische mich nie in Dinge, die reizende Leute vorhaben. +Wenn mich eine Persönlichkeit fesselt, dann ist jede Ausdrucksform, +die sich diese Persönlichkeit aussucht, für +mich erfreulich. Dorian Gray verliebt sich in ein schönes +Mädchen, das die Julia spielt, und will sie heiraten. +Warum nicht? Wenn er Messalina heiraten wollte, würde +er nicht weniger interessant sein. Du weißt, ich bin kein +Eheapostel. Der eigentliche Nachteil der Ehe ist, daß man +selbstlos wird. Und selbstlose Menschen sind farblos. Sie<a class="pagenum" name="Page_116" title="116"> </a> +werden unpersönlich. Jedoch gibt es gewisse Temperamente, +die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten +ihren Egoismus und erweitern ihn durch eine +Reihe anderer Ichs. Sie sehen sich gezwungen, mehr als +ein einzelnes Leben zu führen. Sie werden feiner organisiert, +und feiner organisiert zu werden, scheint mir der +Zweck des menschlichen Lebens. Überdies hat jede Erfahrung +ihren Wert, und was man auch gegen die Ehe +sagen kann, eine Erfahrung ist sie sicher. Ich hoffe, Dorian +Gray wird dies Mädchen heiraten, wird sie sechs Monate +hindurch leidenschaftlich anbeten, und dann wird ihn plötzlich +eine andere anziehen. Es wäre prachtvoll, das zu +beobachten.“</p> + +<p>„Du glaubst kein einziges Wort von alledem, Harry; +und das weißt du auch. Wenn Dorian Grays Leben zerstört +würde, wäre kein Mensch trauriger als du. Du bist +viel besser, als du vorgibst.“</p> + +<p>Lord Henry lachte. „Der Grund, weshalb wir alle so +gut von anderen denken, ist der, daß wir alle Angst +vor uns selber haben. Die Grundlage des Optimismus +ist nichts als Furcht. Wir halten uns für großherzig, weil +wir unserem Nachbar Tugenden zuschreiben, aus denen +für uns ein Nutzen erwachsen könnte. Wir rühmen den +Bankier, damit wir unser Konto überschreiten können, und +finden im Buschklepper gute Eigenschaften in der Hoffnung, +daß er unseren Geldbeutel verschonen wird. Ich +glaube jedes Wort, das ich gesprochen habe. Ich habe die +größte Verachtung für den Optimismus. Was das zerstörte +Leben betrifft, so ist kein Leben zerstört, dessen<a class="pagenum" name="Page_117" title="117"> </a> +Wachstum nicht gehemmt wird. Wenn man eine Persönlichkeit +verderben will, braucht man sie nur zu verbessern. +Die Ehe allerdings ist eine Narretei, aber es gibt +andere und interessantere Bande zwischen Mann und Frau. +Natürlich würde ich dazu eher raten. Sie haben den Reiz, +fashionabel zu sein. Aber da ist Dorian selbst. Er wird +dir mehr sagen, als ich es kann.“</p> + +<p>„Lieber Harry, lieber Basil, ihr müßt mir beide Glück +wünschen“, sagte der Jüngling, während er den Abendmantel +mit den atlasgefütterten Flügeln abwarf und den +Freunden die Hand schüttelte. „Ich war niemals so selig. +Natürlich ist alles plötzlich gekommen; alles Entzückende +kommt plötzlich. Und doch scheint es das einzige gewesen +zu sein, wonach ich mein Leben lang auf der Suche war.“ +Er glühte vor Aufregung und Freude und sah außerordentlich +hübsch aus.</p> + +<p>„Ich hoffe, du wirst immer sehr glücklich sein, Dorian,“ +sagte Hallward, „aber ich kann es dir nicht ganz verzeihen, +daß du mir deine Verlobung nicht mitgeteilt hast. +Harry hast du es mitgeteilt.“</p> + +<p>„Und ich kann es dir nicht verzeihen, daß du zu spät +kommst“, fiel Lord Henry lächelnd ein und legte seine +Hand auf die Schulter des jungen Mannes. „Komm, wir +wollen uns setzen und versuchen, was der neue Chef hier +kann, und dann erzählst du uns, wie alles gekommen ist.“</p> + +<p>„Da ist wirklich nicht viel zu erzählen!“ rief Dorian, als +sie sich um den kleinen Tisch gesetzt hatten. „Was geschah, +war einfach so. Als ich dich gestern abend verließ, Harry, +zog ich mich an, aß in dem kleinen italienischen Restaurant<a class="pagenum" name="Page_118" title="118"> </a> +in Rupert Street, das ich durch dich kennengelernt habe, +und ging um acht Uhr ins Theater. Sibyl spielte die +Rosalinde. Natürlich war die Dekoration greulich und der +Orlando zum Lachen. Aber Sibyl! Ihr hättet sie sehen +sollen. Als sie in ihren Knabenkleidern auftrat, war sie +einfach wunderbar. Sie trug ein moosgrünes Samtwams +mit zimtbraunen Ärmeln, eine kurze, braune, überm Knie +kreuzweise geschnürte Hose, ein reizendes grünes Barett mit +einer Falkenfeder, die von einem funkelnden Stein gehalten +wurde, und war in einen dunkelrot gefütterten +Kapuzenmantel gehüllt. Sie war mir nie schöner vorgekommen. +Sie hatte all die zarte Grazie der Tanagrafigur, +die du in deinem Atelier hast, Basil. Das Haar +schlang sich um ihr Gesicht wie dunkles Laub um eine +blasse Rose. Und ihr Spiel — nun, ihr werdet sie heute +abend sehen. Sie ist eben eine geborene Künstlerin. Ich +saß ganz verzaubert in der schmierigen Loge. Ich vergaß, +daß ich in London war und im neunzehnten Jahrhundert +lebte. Ich war mit meiner Geliebten weit fort in einem +Wald, den noch kein Menschenauge gesehen hatte. Nach +der Vorstellung ging ich hinter die Bühne und sprach mit +ihr. Als wir nebeneinander saßen, trat plötzlich ein Ausdruck +in ihre Augen, den ich nie vorher gesehen hatte. +Meine Lippen fühlten sich zu ihr hingezogen. Wir küßten +uns beide. Ich kann euch nicht beschreiben, was ich in dem +Augenblick gefühlt habe. Mir schien, daß all mein Leben +in einen vollkommenen Moment rosenfarbiger Wonne zusammengepreßt +wäre. Sie zitterte am ganzen Leibe und +bebte wie eine weiße Narzisse. Dann warf sie sich auf die<a class="pagenum" name="Page_119" title="119"> </a> +Knie und küßte meine Hände. Ich weiß, ich sollte euch das +alles nicht erzählen, aber ich kann mir nicht helfen. Natürlich +ist unsere Verlobung tiefstes Geheimnis. Sie hat +nicht einmal zu ihrer Mutter davon gesprochen. Ich weiß +nicht, was meine Vormünder dazu sagen werden. Lord +Radley wird sicher wütend sein. Ist mir ganz gleich. In +weniger als einem Jahre bin ich volljährig und kann dann +machen, was ich will. Hatte ich nicht recht, Basil, meine +Geliebte aus dem Reich der Dichtung wegzuholen und +meine Frau in Shakespeares Stücken zu finden? Lippen, +die Shakespeare reden gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis +ins Ohr geflüstert. Rosalindens Arme lagen um +meinen Hals, und ich habe Julia auf den Mund geküßt.“</p> + +<p>„Ja, Dorian, ich glaube, du tatest recht“, sagte Hallward +langsam.</p> + +<p>„Hast du sie heute schon gesehen?“ fragte Lord Henry.</p> + +<p>Dorian Gray schüttelte den Kopf. „Ich verließ sie im +Ardennenwald und werde sie in einem Garten von Verona +wiederfinden.“</p> + +<p>Lord Henry schlürfte nachdenklich seinen Champagner. +„In welchem Augenblick hast du von Heirat gesprochen, +Dorian? Und was erwiderte sie darauf? Vielleicht hast +du das schon ganz vergessen.“</p> + +<p>„Lieber Harry, ich habe es nicht als Geschäft behandelt +und habe ihr keinen förmlichen Antrag gemacht. Ich sagte +ihr, daß ich sie liebe, und sie sagte, sie verdiene nicht, mein +Weib zu sein. Nicht verdienen! Was ist denn die ganze +Welt für mich, wenn ich sie mit ihr vergleiche!“</p> + +<p>„Die Frauen sind wunderbar praktisch,“ murmelte Lord<a class="pagenum" name="Page_120" title="120"> </a> +Henry — „viel praktischer als wir. In Situationen dieser +Art vergessen wir oft, etwas von Heirat zu erwähnen, und +sie erinnern uns immer daran.“</p> + +<p>Hallward legte die Hand auf seinen Arm. „Nicht doch, +Harry. Du kränkst Dorian. Er ist nicht wie andere +Männer. Er würde nie jemand unglücklich machen. Seine +Natur ist dafür zu edel.“</p> + +<p>Lord Henry blickte über den Tisch. „Dorian fühlt sich +nie gekränkt durch mich“, antwortete er. „Ich habe aus +dem besten Grund gefragt, den es geben kann, aus dem +einzigen Grund, der eine Entschuldigung für eine Frage +ist — einfach aus Neugier. Ich habe eine Theorie, wonach +es immer Frauen sind, die uns einen Antrag machen, und +nicht wir den Frauen. Natürlich ausgenommen die Mittelklassen. +Aber die Mittelklassen sind eben nicht modern.“</p> + +<p>Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. „Du bist +ganz unverbesserlich, Harry; aber ich bin nicht böse. Man +kann dir ja gar nicht böse sein. Wenn du Sibyl Vane +siehst, wirst du fühlen, daß der Mann, der ihr ein Leid +antun kann, ein Tier sein muß, ein herzloses Tier. Ich +kann nicht begreifen, wie man es über sich gewinnen kann, +ein Wesen, das man liebt, in Schande zu bringen. Ich +liebe Sibyl Vane. Ich möchte sie auf einen goldenen +Sockel stellen und dann sehen, wie die ganze Welt das +Weib anbetet, das mir gehört. Was ist Ehe? Ein unwiderrufliches +Gelübde. Du spottest deshalb darüber. Ach, +spotte nicht! Ein unwiderrufliches Gelübde will ich ablegen. +Ihr Vertrauen macht mich treu, ihr Glaube macht +mich gut. Wenn ich bei ihr bin, verleugne ich alles, was<a class="pagenum" name="Page_121" title="121"> </a> +du mich gelehrt hast. Ich werde ein ganz anderer Mensch +als der, den du in mir siehst. Ich bin verwandelt, und die +bloße Berührung von Sibyl Vanes Hand läßt mich alle +deine falschen, bezaubernden, vergifteten, entzückenden +Theorien vergessen.“</p> + +<p>„Und die wären?“ fragte Lord Henry, während er +Salat nahm.</p> + +<p>„Oh, deine Theorien über das Leben, deine Theorien +über die Liebe, deine Theorien über den Genuß. Tatsächlich +alle deine Theorien, Harry.“</p> + +<p>„Genuß ist das einzige auf der Welt, das eine Theorie +verdient“, antwortete er mit seiner sanften, musikalischen +Stimme. „Aber ich fürchte, es ist nicht meine eigene Theorie. +Sie gehört der Natur, nicht mir. Genuß ist das +Siegel der Natur, das Zeichen ihrer Zustimmung. Wenn +wir glücklich sind, dann sind wir immer gut, aber wenn +wir gut sind, sind wir nicht immer glücklich.“</p> + +<p>„Ah, doch, was verstehst du unter gut?“ rief Basil +Hallward.</p> + +<p>„Ja,“ wiederholte Dorian, indem er sich in seinem +Stuhl zurücklehnte und über den massigen Strauß rotblutiger +Schwertlilien in der Mitte des Tisches zu Lord +Henry blickte, „was verstehst du unter gut, Harry?“</p> + +<p>„Gut sein, heißt mit sich selbst im Einklang sein“, antwortete +er, den dünnen Stengel seines Glases mit blassen, +feingespitzten Fingern umfassend. <ins title="Mißklang">„Mißklang</ins> heißt es, mit +anderen übereinstimmen müssen. Das eigene Leben — das +ist es, worauf es ankommt. Was das Leben unserer Nachbarn +betrifft, nun, wenn man durchaus ein Affe oder ein<a class="pagenum" name="Page_122" title="122"> </a> +Puritaner sein will, dann mag man ihnen ja seine moralischen +Ansichten ins Gesicht schleudern, aber sie gehen +einen schließlich gar nichts an. Abgesehen davon, hat der +Individualismus in der Tat die höheren Ziele. Die moderne +Sittlichkeit besteht darin, daß man den Maßstab +seiner Zeit anerkennt. Ich habe die Meinung, daß jeder +kultivierte Mensch, der den Maßstab seiner Zeit anerkennt, +damit eines der gröbsten Sittlichkeitsverbrechen begeht.“</p> + +<p>„Wenn man aber nur für sich selbst lebt, Harry, muß +man da nicht einen furchtbaren Preis dafür zahlen?“ +fragte der Maler.</p> + +<p>„Ja, heutzutage werden wir in allem überteuert. Ich +glaube, die wirkliche Tragödie der Armut ist die, daß sich +die Armen nichts leisten können als Selbstverleugnung. +Schöne Sünden sind wie alle schönen Dinge ein Vorrecht +der begüterten Klassen.“</p> + +<p>„Man muß in anderer Münze zahlen als mit Geld.“</p> + +<p>„In welcher Münze, Basil?“</p> + +<p>„Ich meine mit Gewissensbissen, mit Schmerzen, mit... +na eben mit dem Gefühl der Erniedrigung.“</p> + +<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Mein lieber Junge, die +mittelalterliche Kunst ist etwas Entzückendes, aber mittelalterliche +Gefühle sind nicht mehr Mode. Man kann sie +freilich in der Dichtung gebrauchen. Aber die einzigen +Dinge, die in Dichtungen zu verwerten sind, sind solche, +um die man sich in der Wirklichkeit nicht mehr kümmert. +Glaube mir, kein zivilisierter Mensch bereut einen durchlebten +Genuß, und kein unzivilisierter Mensch weiß, was +ein Genuß ist.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_123" title="123"> </a></p> + +<p>„Ich weiß, was ein Genuß ist!“ rief Dorian Gray. „Jemand +anbeten.“</p> + +<p>„Das ist jedenfalls besser, als angebetet zu werden“, +antwortete Harry, während er mit einigen Früchten spielte. +„Angebetet zu werden, ist peinlich. Die Weiber behandeln +uns genau so wie die Menschheit ihre Götter. Sie beten +uns an und quälen uns unaufhörlich, irgendwas für sie +zu tun.“</p> + +<p>„Ich würde sagen, alles, was sie von uns verlangen, +haben sie uns zuerst geschenkt“, sagte der Jüngling ernst +und leise. „Sie erzeugen die Liebe in uns. Sie haben ein +Recht, sie dann zurückzuverlangen.“</p> + +<p>„Das ist ganz richtig, Dorian“, rief Hallward.</p> + +<p>„Ganz richtig ist niemals etwas“, sagte Lord Henry.</p> + +<p>„Das ist es“, unterbrach Dorian. „Du mußt zugeben, +Harry, daß nur die Frauen den Männern das reinste +Gold des Lebens schenken.“</p> + +<p>„Vielleicht,“ seufzte er, „aber unweigerlich verlangen sie +es dann in Kleingeld umgewechselt zurück. Das ist der +Jammer dabei. ‚Die Frauen,‛ hat einmal ein witziger +Franzose gesagt, ‚regen uns an, Meisterwerke zu schaffen, +und verhindern uns immer, sie auszuführen.‛“</p> + +<p>„Harry, du bist schrecklich! Ich weiß gar nicht, warum +ich dich so gern habe.“</p> + +<p>„Du wirst mich immer gern haben, Dorian“, antwortete +er. „Wollen wir Kaffee trinken, Kinder? — Kellner, bringen +Sie Kaffee, fine Champagne und Zigaretten. Nein, lassen +Sie die Zigaretten, ich habe selbst bei mir. Basil, ich kann +dir nicht erlauben, Zigarren zu rauchen. Du mußt eine<a class="pagenum" name="Page_124" title="124"> </a> +Zigarette nehmen. Eine Zigarette ist der vollendete Ausdruck +eines vollendeten Genusses. Er ist köstlich und läßt +dabei unbefriedigt. Was will man mehr verlangen? Ja, +Dorian, du wirst mich immer lieb haben. Ich bin für dich +der Inbegriff aller Sünden, die du zu begehen nie den +Mut haben wirst.“</p> + +<p>„Was für Unsinn du redest, Harry!“ rief der junge +Mann, während er seine Zigarette an dem feuerspeienden +Silberdrachen anzündete, den der Kellner auf den Tisch +gestellt hatte. „Wir wollen jetzt ins Theater. Wenn Sibyl +auftritt, werdet ihr ein neues Lebensideal bekommen. Sie +wird euch etwas offenbaren, das ihr noch nicht gekannt +habt.“</p> + +<p>„Ich habe alles kennengelernt,“ sagte Lord Henry mit +einem müden Ausdruck in den Augen, „aber ich bin immer +bereit, mir eine neue Emotion zu verschaffen. Nur fürchte +ich, daß es für mich derlei kaum noch gibt. Immerhin, dein +wunderbares Mädchen wird mich vielleicht erschüttern. Ich +liebe die Schauspielkunst. Sie ist soviel wirklicher als das +Leben. Wir wollen gehen. Dorian, du kannst bei mir einsteigen. +Basil, es tut mir leid, aber in meinem Brougham +ist nur Platz für zwei. Du mußt schon in einer Droschke +nachfahren.“</p> + +<p>Sie standen auf, zogen ihre Röcke an und tranken den +Kaffee im Stehen. Der Maler war schweigsam und bedrückt. +Ein düsteres Gefühl lastete auf ihm. Er konnte +diese Ehe nicht gutheißen, und sie schien ihm doch besser +zu sein als manches andere, das hätte geschehen können. +Nach einigen Minuten gingen sie gemeinsam die Treppe<a class="pagenum" name="Page_125" title="125"> </a> +hinunter. Er fuhr, wie verabredet, allein, und sah auf die +blitzenden Lichter des kleinen Wagens, der vor ihm dahinrollte. +Das seltsame Gefühl eines großen Verlustes überkam +ihn. Er fühlte, daß Dorian Gray nie wieder das +für ihn sein würde, was er ihm früher gewesen war. Das +Leben war zwischen sie getreten... Vor seinen Augen ward +es dunkel, und die menschenvollen, erleuchteten Straßen +verschwammen vor seinem Blick. Als seine Droschke am +Theater vorfuhr, schien es ihm, als sei er um viele Jahre +älter geworden.</p> + +<h2><a name="Siebentes_Kapitel" id="Siebentes_Kapitel"></a>Siebentes Kapitel</h2> + + +<p>Aus irgendeinem Grunde war das Haus an diesem +Abend besonders dicht gefüllt, und der fette jüdische Direktor, +der sie an der Tür empfing, strahlte von einem +Ohr zum anderen in einem öligen, zuckenden Lächeln. Er +begleitete sie zu ihrer Loge mit einer gewissen prahlerischen +Demut, die feisten, juwelenbedeckten Hände hastig +bewegend und sich mit der Stimme beinahe überschlagend. +Dorian verabscheute ihn mehr als je. Er hatte das Gefühl, +als sei er gekommen, um Miranda zu besuchen und Caliban +habe ihn empfangen. Dagegen hatte Lord Henry etwas +für ihn übrig. Wenigstens erklärte er, daß er ihm gefiele, +bestand darauf, ihm die Hand zu schütteln und versicherte +ihm, er sei stolz darauf, einen Mann kennenzulernen, +der ein bedeutendes Genie entdeckt habe und an +einem Dichter bankerott geworden sei. Hallward unterhielt<a class="pagenum" name="Page_126" title="126"> </a> +sich damit, die Gestalten im Stehparterre zu beobachten. +Die Hitze war äußerst drückend, und der riesige +Sonnenkronleuchter flammte wie eine gigantische Dahlie +mit Blättern von gelbem Feuer. Die jungen Leute auf +der Galerie hatten Röcke und Westen ausgezogen und sie +über die Brüstung gehängt. Sie riefen einander quer über +das ganze Theater zu und fütterten die grell gekleideten +Mädchen neben ihnen mit Orangen. Ein paar Weiber +unten im Stehparterre lachten. Ihre Stimmen waren +schrecklich schrill und unangenehm. Vom Büfett her hörte +man Flaschen entkorken.</p> + +<p>„Was für ein sonderbarer Platz, um seine Göttin zu +finden!“ sagte Lord Henry.</p> + +<p>„Ja“, erwiderte Dorian Gray. „Hier habe ich sie gefunden, +und sie ist göttlicher als alles Lebendige. Wenn +sie spielt, wirst du alles vergessen. Diese gewöhnlichen rohen +Leute mit ihren alltäglichen Gesichtern und brutalen Bewegungen +werden ganz verwandelt, sobald sie auf der +Bühne steht. Sie sitzen stumm da und beobachten sie. Sie +weinen und lachen, wenn sie es will. Sie hält sie in Stimmung, +wie man es mit einer Geige tut. Sie veredelt sie, +und man spürt, daß sie vom selben Fleisch und Blut sind +wie man selbst.“</p> + +<p>„Vom selben Fleisch und Blut wie man selbst? Oh, ich +hoffe nicht!“ rief Lord Henry, der die Leute auf der +Galerie mit seinem Opernglas musterte.</p> + +<p>„Höre nicht auf ihn, Dorian!“ sagte der Maler. „Ich +begreife, was du meinst, und ich glaube an dies Mädchen. +Der Mensch, den du liebst, muß wunderbar sein, und jedes<a class="pagenum" name="Page_127" title="127"> </a> +Mädchen, das die von dir geschilderte Wirkung erzielt, +muß fein und edel sein. Seine Mitmenschen veredeln — +das verlohnt der Mühe. Wenn dies Mädchen die beseelen +kann, die seelenlos gelebt haben, wenn sie in Menschen, +deren Dasein schmutzig und häßlich war, einen Sinn +für Schönheit wecken kann, wenn sie sie aus ihrem Eigennutze +losreißen und ihnen Tränen um Sorgen entlocken +kann, die nicht ihre eigenen sind, dann ist sie deiner Verehrung +wert, dann ist sie der Verehrung der ganzen Welt +wert. Solche Heirat ist ganz das Rechte. Ich dachte zuerst +nicht so, aber jetzt gebe ich es zu. Die Götter haben +Sibyl Vane für dich geschaffen. Ohne sie wärst du nur +unvollständig gewesen.“</p> + +<p>„Danke, Basil“, antwortete Dorian Gray und drückte +ihm die Hand. „Ich wußte, daß du mich verstehst. Harry +ist ein Zyniker, er erschreckt mich. Aber da kommt das +Orchester. Es ist furchtbar, aber es dauert nur knappe +fünf Minuten. Dann geht der Vorhang auf und du erblickst +ein Mädchen, dem ich mein ganzes Leben schenken +will, dem ich alles überantwortet habe, was gut ist in +mir.“</p> + +<p>Eine Viertelstunde später betrat Sibyl Vane unter +einem geräuschvollen Beifallssturm die Bühne. Ja, sie war +wirklich entzückend — eins der entzückendsten Geschöpfe, +dachte Lord Henry, die er je gesehen hatte. Es lag etwas +von einem Reh in ihrer scheuen Grazie und ihren erstaunten +Augen. Ein schwaches Erröten wie der Widerschein +einer Rose in einem silbernen Spiegel trat auf ihre +Wangen, als sie das überfüllte und begeisterte Haus erblickte.<a class="pagenum" name="Page_128" title="128"> </a> +Sie trat ein paar Schritte zurück, und ihre Lippen +schienen zu zittern. Basil Hallward sprang auf und begann +zu klatschen. Bewegungslos, und wie in tiefem Traume, +saß Dorian Gray da und sah sie an. Lord Henry starrte +unverwandt durch sein Glas und murmelte: „Entzückend! +Entzückend!“</p> + +<p>Die Szene stellte die Halle in Capulets Hause dar, und +Romeo war in seinem Pilgerkleid mit Mercutio und seinen +anderen Freunden aufgetreten. Die Musik präludierte, so +gut sie konnte, mit ein paar Akkorden, und der Tanz +fing an. Mitten in dem Gewimmel von ungeschickten, +schäbig gekleideten Schauspielern bewegte sich Sibyl Vane +wie ein Geschöpf aus einer höheren Welt. Ihr Körper +schwebte im Tanze wie eine Blume auf dem Wasser. Die +Linien ihres Halses glichen denen einer weißen Lilie. Ihre +Hände schienen aus kühlem Elfenbein zu sein.</p> + +<p>Und doch schien sie von seltsamer Abwesenheit. Sie zeigte +kein Zeichen der Freude, während ihr Auge auf Romeo +ruhte. Die wenigen Worte, die sie zu sprechen hatte —</p> + +<p class="poem"> +Nein, Pilger, lege nichts der Hand zuschulden<br /> +Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß;<br /> +Der Heiligen Rechte darf Berührung dulden,<br /> +Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuß —<br /> +</p> + +<p class="postpoem">mit dem kurzen Dialog, der folgt, sprach sie in einem +ganz gekünstelten Tone. Die Stimme klang wundervoll, +aber der Ton ganz verfehlt. Er traf die Stimmungsfarbe +nicht. Er nahm den Versen alles Leben. Er machte die +Leidenschaft unwahr.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_129" title="129"> </a></p> + +<p>Dorian Gray erbleichte, als er es hörte. Er war verlegen +und erschreckt. Seine beiden Freunde wagten nicht, +ihm etwas zu sagen. Sie schien ja ganz talentlos zu sein. +Sie waren furchtbar enttäuscht.</p> + +<p>Aber sie wußten, daß der wahre Prüfstein für jede +Julia die Balkonszene im zweiten Akt sei. Darauf warteten +sie. Wenn sie hier versagte, war nichts an ihr.</p> + +<p>Sie sah reizend aus, als sie im Mondschein auftrat. +Das konnte niemand leugnen. Aber das Theatralische +ihres Spiels war unerträglich und wurde im Verlauf +immer ärger. Ihre Gesten waren lächerlich gekünstelt. +Sie übertrieb das Pathos von allem, was sie zu sagen +hatte. Die wundervollen Verse —</p> + +<p class="poem"> +Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht,<br /> +Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen<br /> +Um das, was du vorhin mich sagen hörtest —<br /> +</p> + +<p class="postpoem">deklamierte sie mit der peinlichen Genauigkeit eines Schulmädchens, +das einen mittelmäßigen Vortragslehrer in der +Schule gehabt hat. Als sie sich über den Balkon lehnte +und zu den herrlichen Versen kam —</p> + +<p class="poem"> +Obwohl ich dein mich freue,<br /> +Freu' ich mich nicht des Bundes dieser Nacht:<br /> +Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich,<br /> +Gleicht allzusehr dem Blitz, der schon vorbei,<br /> +Noch eh' man sagen kann: es blitzt. — Schlaf süß!<br /> +Mag warmer Sommerhauch die Liebesknospe<br /> +Zur Blume bis zum Wiedersehn entfalten —<br /> +</p> + +<p class="postpoem"><a class="pagenum" name="Page_130" title="130"> </a> +sprach sie die Worte, als enthielten sie keinerlei Sinn für +sie. Es war nicht Aufregung. Nein, weit entfernt davon, +erregt zu sein, schien sie ganz mit sich zufrieden. Es war +einfach schlechte Kunst. Es war ein richtiger Abfall.</p> + +<p>Selbst das gewöhnliche, ungebildete Publikum auf +Stehplatz und Galerie verlor sein Interesse am Stück. +Man wurde unruhig und begann laut zu sprechen und zu +zischen. Der jüdische Direktor, der im Hintergrunde des ersten +Ranges stand, stampfte mit den Füßen und fluchte vor +Wut. Einzig und allein unbewegt war das Mädchen selbst.</p> + +<p>Als der zweite Akt vorüber war, brach ein Sturm von +Zischen los, und Lord Henry stand von seinem Stuhl auf +und zog seinen Rock an. „Sie ist wunderschön, Dorian,“ +sagte er, „aber sie kann nicht spielen. Wir wollen gehen.“</p> + +<p>„Ich will das Stück zu Ende sehen“, antwortete der +junge Mann mit harter, bitterer Stimme. „Es tut mir +äußerst leid, daß ich dich veranlaßt habe, einen Abend zu +vergeuden, Harry. Ich muß mich bei euch beiden entschuldigen.“</p> + +<p>„Mein lieber Dorian, ich glaube, Miß Vane war +krank“, unterbrach ihn Hallward. „Wir wollen an einem +anderen Abend wiederkommen.“</p> + +<p>„Ich wünschte, sie wäre krank“, erwiderte er. „Aber ich +glaube, sie hat nur kein Gefühl und ist kalt. Sie ist völlig +verändert. Gestern abend war sie eine große Künstlerin. +Heute abend ist sie nur eine gewöhnliche, mittelmäßige +Schauspielerin.“</p> + +<p>„Sprich nicht so über jemand, den du liebst, Dorian. +Liebe ist etwas viel Wunderbareres als Kunst.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_131" title="131"> </a></p> + +<p>„Es sind beides nur Formen der Nachahmung“, bemerkte +Lord Henry. „Aber wir wollen gehen. Dorian, du +darfst nicht länger hier bleiben. Es schadet der Moral, +schlechte Schauspielkunst zu sehen. Ich glaube übrigens +nicht, daß du deine Frau auftreten lassen wirst. Was liegt +also daran, ob sie die Julia wie eine Holzpuppe spielt! +Sie ist wirklich bezaubernd, und wenn sie so wenig vom +Leben weiß wie vom Theaterspielen, wird sie dir eine +köstliche Erfahrung sein. Es gibt nur zwei Arten fesselnder +Menschen — solche, die alles wissen, und solche, die +gar nichts wissen. Großer Gott, mein lieber Junge, mach' +kein so tragisches Gesicht! Das Rezept, jung zu bleiben, +besteht einfach darin, nie eine Erregung haben, die unzuträglich +ist. Komm mit Basil und mir in den Klub! Wir +wollen Zigaretten rauchen und auf Sibyl Vanes Schönheit +trinken. Sie ist schön. Was willst du noch mehr?“</p> + +<p>„Geh, Harry!“ rief der Jüngling. „Ich will allein sein. +Basil, geh! Ach, könnt ihr nicht sehen, daß mir das Herz +bricht?“ Heiße Tränen traten ihm in die Augen. Seine +Lippen bebten, er drückte sich in die dunkelste Ecke der +Loge, lehnte sich an die Wand und verbarg sein Gesicht in +den Händen.</p> + +<p>„Komm, Basil“, sagte Lord Henry mit seltsam zärtlicher +Stimme; und die beiden jungen Männer gingen zusammen +hinaus.</p> + +<p>Ein paar Augenblicke später flammte die Rampe wieder +auf, und der Vorhang rauschte zum dritten Akt in die +Höhe. Dorian Gray ging auf seinen Platz zurück. Er sah +bleich, abwesend, gleichgültig aus. Das Spiel schleppte sich<a class="pagenum" name="Page_132" title="132"> </a> +weiter und schien endlos zu sein. Die Hälfte des Publikums +ging weg, auf schweren Stiefeln trampelnd und +lachend. Das Ganze war ein richtiges Fiasko. Der letzte +Akt wurde beinah vor leeren Bänken gespielt. Der Vorhang +fiel unter Zischen und höhnischem Gegrunze.</p> + +<p>Sobald es aus war, stürzte Dorian Gray hinter die Kulissen +in die Garderobe. Das Mädchen stand allein da, mit +einem triumphierenden Zuge im Antlitz. Die Augen leuchteten +in einem merkwürdigen Feuer. Eine Art Glanz umschwebte +sie. Ihre halbgeöffneten Lippen lächelten wie ein +Geheimnis, das ihnen allein bewußt war.</p> + +<p>Als er eintrat, blickte sie ihn an und ein Ausdruck unsäglichen +Glückes kam über sie. „Wie schlecht ich heute gespielt +habe, Dorian!“ rief sie.</p> + +<p>„Schrecklich“, antwortete er und sah sie voll Staunen +an — „schrecklich. Es war geradezu fürchterlich. Bist du +krank? Du hast keine Ahnung, wie es war. Keine Ahnung, +was ich durchgemacht habe.“</p> + +<p>Das Mädchen lächelte. „Dorian“, antwortete sie und +zog seinen Namen mit einem musikalischen Klang in die +Länge, als wäre er den roten Blüten ihres Mundes süßer +als Honig — „Dorian, du hättest begreifen sollen. Aber +jetzt begreifst du, nicht wahr?“</p> + +<p>„Was?“ fragte er heftig.</p> + +<p>„Warum ich heute abend so schlecht spielte. Warum ich +immer schlecht spielen werde. Warum ich nie mehr gut +spielen <ins title="werde.">werde.“</ins></p> + +<p>Er zuckte die Achseln. „Du bist gewiß krank. Wenn du +krank bist, solltest du nicht spielen. Du machst dich nur<a class="pagenum" name="Page_133" title="133"> </a> +lächerlich. Meine Freunde haben sich gelangweilt. Ich ebenfalls.“</p> + +<p>Sie schien nicht zu hören, was er sagte. Sie war wie verklärt +vor Vergnügen. Eine Ekstase des Glücks beherrschte sie.</p> + +<p>„Dorian, Dorian,“ rief sie, „bevor ich dich kannte, war +Spielen die einzige Wirklichkeit in meinem Leben. Nur +im Theater lebte ich. Ich hielt das alles für wahr. An +einem Abend war ich Rosalinde und Portia am andern. +Beatrices Glück war mein Glück, und Kordelias Tränen +waren die meinen. Ich glaubte an alles. Dies gewöhnliche +Volk, das mit mir spielte, schien mir göttlich. Die bemalten +Kulissen bedeuteten für mich die Welt. Ich kannte +nichts als Schatten, und ich nahm sie für Wirklichkeit. Da +kamst du — o mein schöner Geliebter — und befreitest +meine Seele aus der Kerkerhaft. Du hast mich gelehrt, +was die wahre Wirklichkeit ist. Heute habe ich zum erstenmal +die ganze Hohlheit durchschaut, den Betrug, die Albernheit +des falschen, verlogenen Flittertandes, zwischen +dem ich bisher gespielt habe. Heute abend wußte ich zum +ersten Male, daß dieser Romeo abscheulich und alt und +geschminkt ist, daß der Mond im Garten Blendwerk, die +ganze Szenerie ordinär ist und daß die Worte, die ich +zu sprechen hatte, nicht wahr, nicht meine Worte sind, +nicht, was ich hätte sagen müssen. Du hast mir etwas +Höheres geschenkt, etwas, von dem alle Kunst nur Abglanz +ist. Du hast mich begreifen gelehrt, was Liebe ist. Mein +Geliebter! Mein Geliebter! Prinz Märchenschön! Prinz +meines Lebens! Ich kann die Schatten nicht mehr ertragen. +Du bist mir mehr, als mir alle Kunst je sein kann. Was<a class="pagenum" name="Page_134" title="134"> </a> +hab' ich mit den Puppen eines Spiels zu schaffen? Als ich +heute abend auftrat, konnte ich nicht begreifen, wie es gekommen +war, daß alles verschwunden sein sollte. Ich hatte +gedacht, ich würde wundervoll sein. Ich merkte, daß ich +durchaus versagte. Plötzlich dämmerte es meiner Seele, +was das alles bedeutete. Es war ein herrliches Wissen. +Ich hörte sie zischen und lächelte. Was konnten die wissen +von einer Liebe wie die unsere? Nimm mich fort, +Dorian — nimm mich mit dir irgendwohin, wo wir allein +sein können. Ich hasse das Theater. Ich konnte vielleicht +ein Gefühl darstellen, das ich nicht spüre, aber ich kann doch +nicht eins spielen, das mich verbrennt wie Feuer. Ach, +Dorian, Dorian, begreifst du jetzt, was das bedeutet? +Selbst wenn ich es zustande brächte, wär' es Entweihung, +zu spielen, während ich liebe. Du hast mich sehend gemacht.“</p> + +<p>Er warf sich auf das Sofa und wandte sein Gesicht +ab. „Du hast meine Liebe getötet“, murmelte er.</p> + +<p>Sie sah ihn staunend an und lachte. Er gab keine Antwort. +Sie kam hin zu ihm und strich mit ihren kleinen +Fingern durch sein Haar. Sie kniete nieder und preßte +seine Hände an ihre Lippen. Er schob sie weg, und ein +Schauder überlief ihn.</p> + +<p>Dann sprang er auf und schritt zur Tür. „Ja,“ rief er, +„du hast meine Liebe getötet. Bisher hast du meine Phantasie +gefesselt. Jetzt fesselst du nicht einmal meine Neugier. +Du wirkst einfach nicht. Ich liebte dich, weil du ein Wunder +warst, weil du Genie und Geist hattest, weil du die +Träume großer Dichter verkörpertest und den Schatten +der Kunst Gestalt und Körper verliehest. All das hast du<a class="pagenum" name="Page_135" title="135"> </a> +weggeworfen. Jetzt bist du leer und seicht. Mein Gott. +Was für ein Narr war ich, dich zu lieben! Wie verblendet +war ich! Jetzt bist du mir nichts mehr. Ich will dich niemals +wiedersehen. Nie mehr an dich denken. Nie mehr deinen +Namen aussprechen. Du weißt nicht, was du mir einmal +warst. Ja, einmal, einmal... Oh, ich ertrage es +nicht, daran zu denken. Ich wünschte, ich hätte dich niemals +gesehen. Du hast die Poesie meines Lebens vernichtet. +Wie wenig mußt du von Liebe wissen, wenn du sagst, sie +lähme deine Kunst! Ohne deine Kunst bist du nichts. Ich +hätte dich berühmt gemacht, zu einem Sterne, zu etwas +Herrlichem. Die Welt hätte dich angebetet, und du hättest +meinen Namen getragen. Was bist du jetzt? Eine Schauspielerin +dritten Ranges mit einem hübschen Gesichtchen.“</p> + +<p>Das Mädchen war totenblaß geworden und zitterte. Sie +preßte die Hände zusammen, und die Sprache schien ihr in +der Kehle erstickt zu sein. „Du meinst es doch nicht im +Ernst, Dorian?“ flüsterte sie. „Du verstellst dich nur.“</p> + +<p>„Verstellen? Das überlaß ich dir. Du verstehst es ja so +gut“, entgegnete er bitter.</p> + +<p>Sie erhob sich von den Knien und ging mit einem wehen, +qualvollen Antlitz zu ihm hin. Sie legte ihm die Hand +auf den Arm und sah ihm in die Augen. Er stieß sie zurück. +„Berühre mich nicht!“ schrie er.</p> + +<p>Ein leises Stöhnen brach aus ihr hervor, und sie warf +sich ihm zu Füßen und lag da wie eine zertretene Blume. +„Dorian, Dorian, geh nicht fort von mir!“ rief sie leise. +„Ich bin so betrübt, daß ich nicht gut gespielt habe. Ich +dachte nur immer an dich. Aber ich will es wieder versuchen<a class="pagenum" name="Page_136" title="136"> </a> +— wirklich, ich will es versuchen. Es kam so jäh über +mich, die Liebe zu dir. Ich glaube, ich hätte nie etwas von +ihr gewußt, wenn du mich nicht geküßt hättest — wenn +wir uns nicht geküßt hätten. Küß mich wieder, Geliebter! +Geh nicht von mir! Ich könnte es nicht überleben. Oh, verlaß +mich nicht! Mein Bruder... nein, nichts darüber. Er +meinte es nicht im Ernst. Er scherzte nur... Aber du, oh! +Kannst du mir nie den heutigen Abend verzeihen? Ich +werde so fleißig sein und mir Mühe geben, besser zu werden. +Sei nicht grausam gegen mich, weil ich dich mehr +liebe als alles in der Welt. Es ist doch nur ein einziges +Mal, wo ich dir mißfallen habe. Aber du hast ganz recht, +Dorian. Ich hätte mich mehr als Künstlerin zeigen sollen. +Es war närrisch von mir; und doch konnte ich nicht anders. +Ach, verlaß mich nicht, verlaß mich nicht.“ Leidenschaftliches +Schluchzen erschütterte sie. Sie kauerte sich nieder wie ein +wundes Tier, und Dorian Gray sah mit seinen schönen +Augen zu ihr herab, und seine feingeschnittenen Lippen +kräuselten sich in tiefster Verachtung. Die Gefühlsregungen +von Menschen, die man nicht mehr liebt, haben immer +etwas Lächerliches an sich. Sibyl Vane schien ihm überspannt +melodramatisch zu sein. Ihre Tränen und ihr +Schluchzen langweilten ihn nur.</p> + +<p>„Ich gehe“, sagte er schließlich mit seiner klaren, ruhigen +Stimme. „Ich möchte nicht hart sein, aber ich kann dich +nicht mehr sehen. Du hast mich enttäuscht.“</p> + +<p>Sie weinte still weiter und sagte nichts, sondern kroch +näher. Ihre kleinen Hände streckten sich ins Leere hinaus +und schienen ihn zu suchen. Er wandte sich stehenden Fußes<a class="pagenum" name="Page_137" title="137"> </a> +herum und verließ das Zimmer. Wenige Augenblicke später +hatte er das Theater hinter sich.</p> + +<p>Wohin er ging, wußte er selber kaum. Er erinnerte sich, +durch schwach beleuchtete Gassen gewandert, an traurigen, +in schwarze Schatten getauchten Türbogen und elend aussehenden +Häusern vorbeigekommen zu sein, Weiber mit +heiseren Stimmen und schrillem Lachen hatten hinter ihm +her gerufen. Betrunkene waren fluchend und mit sich selber +sprechend, wie Riesenaffen, an ihm vorbeigetaumelt. +Er hatte putzige Kinder auf den Stufen kauern sehen und +Schreien und Schimpfen aus düsteren Höfen gehört.</p> + +<p>Als der Morgen graute, fand er sich dicht bei Covent +Garden. Die Dunkelheit schwand, die Luft rötete sich in +blaßrotem Feuer, und der Himmel wölbte sich zu einer +vollendeten Perle. Mächtige Wagen voll nickender Lilien +rumpelten langsam die gerade, leere Straße hinab. Die +Luft war schwer vom Dufte der Blumen, und die Schönheit +schien seinem Schmerz Linderung zu bringen. Er trat +in die Markthalle und sah den Männern zu, die ihre Wagen +ausluden. Ein Fuhrmann in weißem Kittel bot ihm +von seinen Kirschen an. Er dankte ihm, wunderte sich, warum +er kein Geld dafür annehmen wollte, und begann zerstreut +davon zu essen. Sie waren um Mitternacht gepflückt +worden, und sie hatten die Kühle des Mondes in sich. +Burschen in langer Reihe schleppten Körbe voll gestreifter +Tulpen und von gelben und roten Rosen herbei, trotteten +an ihm vorbei, als sie sich ihren Weg durch die großen, +gelblichgrünen Gemüsestapel suchten. Unter den grauen, +in der Sonne bleichen Säulen der Vorhalle lungerte ein<a class="pagenum" name="Page_138" title="138"> </a> +Trupp von schmuddeligen Mädchen ohne Hüte und warteten, +bis die Versteigerung vorbei war. Andere drängten +sich um die auf- und zugehenden Türen des Kaffeehauses +auf der Piazza. Die schweren Lastgäule glitten auf dem +Pflaster aus und stampften über die holperigen Steine, +ihre Glocken und Geschirre schüttelnd. Einige Fuhrmänner +lagen schlafend auf einem Haufen von Säcken. Mit regenbogenfarbenen +Hälsen und rötlichen Füßen trippelten die +Tauben mitten darin umher und pickten sich Körner auf.</p> + +<p>Nach einer Weile rief er sich eine Droschke und fuhr nach +Hause. Ein paar Augenblicke blieb er zögernd auf der +Schwelle stehen, blickte über den schweigenden Platz und +auf die Häuser mit den blanken, geschlossenen Fenstern +und den hellen Gardinen. Der Himmel war jetzt ein wirklicher +Opal, und die Dächer der Häuser glitzerten ihm wie +Silber entgegen. Von einem Schornstein gegenüber stieg +eine dünne Rauchsäule in die Höhe. Sie schlängelte sich wie +ein violettes Band durch die perlmutterfarbene Luft.</p> + +<p>In der großen venezianischen Goldlaterne, einer Beute +von der Barke irgendeines Dogen, die von der Decke der +großen eichengetäfelten Vorhalle herabhing, brannten noch +drei flackernde Gaslichter: wie dünne blaue Feuerblüten, +von weißen Flammen umsäumt. Er drehte sie aus, warf +Hut und Mantel auf den Tisch und ging durch die Bibliothek +zur Tür seines Schlafzimmers. Das war ein großer, +achteckiger Raum zu ebener Erde, den er in seinem neu +erwachten Gefühl für Luxus erst unlängst einrichten und +mit einigen schnurrigen Renaissancegobelins hatte bespannen +lassen, die er in einer nicht mehr gebrauchten<a class="pagenum" name="Page_139" title="139"> </a> +Dachkammer in Selby Royal entdeckt hatte. Als er eben +nach der Klinke griff, fiel sein Blick auf das Bildnis, das +Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Erstaunt schrak +er zurück. Dann ging er in sein Zimmer und sah nachdenklich +und betroffen aus. Nachdem er die Blume aus seinem +Knopfloch genommen hatte, schien er zu zögern. Schließlich +ging er zurück, trat vor das Bild und musterte es. In dem +unbestimmten, gedämpften Licht, das durch die mattgelblichen +Seidenvorhänge drang, schien ihm das Gesicht ein +wenig verändert. Der Ausdruck war anders. Man hätte +sagen können, daß ein grausamer Zug um den Mund läge. +Es war wirklich seltsam.</p> + +<p>Er drehte sich um, ging zum Fenster und zog den Vorhang +auf. Der helle Morgen flutete durch das Zimmer +und fegte die phantastischen Schatten in düstere Winkel, wo +sie zitternd liegenblieben. Aber der seltsame Ausdruck, den +er im Gesicht des Bildes bemerkt hatte, schien nicht nur +dazubleiben, sondern sich noch verstärkt zu haben. Das +heiße, zitternde Sonnenlicht zeigte ihm den grausamen Zug +um den Mund so deutlich, als sähe er sich in einem Spiegel, +nachdem er etwas Furchtbares verübt hätte.</p> + +<p>Er fuhr zusammen und nahm vom Tisch einen ovalen +Spiegel, dessen Fassung von elfenbeinernen Liebesgöttern +gebildet wurde, eines der vielen Geschenke Lord Henrys, +und blickte hastig in die glänzende Tiefe. Keine Linie solcher +Art verunstaltete seine roten Lippen. Was sollte dies +bedeuten?</p> + +<p>Er rieb sich die Augen und trat ganz nahe an das Bild +heran, um es abermals zu mustern. An der Technik der<a class="pagenum" name="Page_140" title="140"> </a> +Malerei konnte man gar keine Spur einer Veränderung bemerken, +und doch war kein Zweifel, daß sich der Ausdruck +im ganzen verändert hatte. Es war keine Einbildung von +ihm. Die Sache war schrecklich klar.</p> + +<p>Er warf sich in einen Stuhl und begann zu grübeln. +Plötzlich überkam ihn die Erinnerung an die Worte, die er +in Basil Hallwards Atelier an dem Tage gesagt hatte, wo +das Bild fertig geworden war. Ja, er erinnerte sich ganz +deutlich. Er hatte den sinnlosen Wunsch ausgesprochen, daß +er selbst jung bleiben solle, und das Porträt altern: daß +seine eigene Schönheit fleckenlos bleiben, und das Antlitz +auf der Leinwand die Last seiner Leidenschaften und Sünden +tragen solle: daß das gemalte Bildnis von den Linien +des Leidens und Denkens durchfurcht werden und er selbst +den feinen Schmelz und alle Lieblichkeit seiner Jugend behalten +solle, deren er sich damals gerade bewußt geworden +war. Sein Wunsch war doch nicht erfüllt worden? Solche +Dinge bleiben unmöglich. Nur so etwas zu denken, schien +ungeheuerlich. Und doch, da stand das Bild vor ihm und +hatte den Zug von Grausamkeit um den Mund.</p> + +<p>Grausamkeit! War er grausam gewesen? Das Mädchen +hatte schuld, nicht er. Er hatte von ihr geträumt, als einer +großen Künstlerin, hatte ihr seine Liebe geschenkt, weil er +sie für groß gehalten hatte. Dann hatte sie ihn enttäuscht. +Sie war hohl und wertlos gewesen. Und doch überkam ihn +ein Gefühl unendlichen Mitleids, als er daran dachte, wie +sie zu seinen Füßen gelegen und wie ein kleines Kind geschluchzt +hatte. Er erinnerte sich, mit welcher Gefühllosigkeit +er sie betrachtet hatte. Warum war er so geschaffen<a class="pagenum" name="Page_141" title="141"> </a> +worden? Warum war ihm eine solche Seele verliehen worden? +Aber auch er hatte gelitten. In den drei schrecklichen +Stunden, die das Stück dauerte, hatte er Jahrhunderte +von Schmerzen, Ewigkeiten über Ewigkeiten von Qualen +durchlebt. Sein Leben war gewiß soviel wert als das ihre, +wenn er sie für das ganze Leben verwundet hatte. Sie +hatte ihn für einen Augenblick vernichtet. Außerdem sind +die Frauen besser dafür geeignet, Leiden zu ertragen als +Männer. Sie leben von ihren Gefühlen. Sie denken nur +an ihre Gefühle. Wenn sie einen Geliebten haben, so ist es +nur, um jemand zu haben, dem sie Szenen machen können. +Lord Henry hatte ihm das gesagt, und Lord Henry wußte, +wie es mit den Frauen bestellt war. Warum sollte er sich +um Sibyl Vane beunruhigen? Sie war ihm jetzt nichts +mehr.</p> + +<p>Aber das Bild? Was sollte er dazu sagen? Es barg +das Geheimnis seines Lebens in sich und erzählte seine +Geschichte. Es hatte ihn die Liebe zur eigenen Schönheit +gelehrt. Sollte es ihn lehren, seine eigene Seele zu verabscheuen? +Könnte er es je wieder anblicken?</p> + +<p>Nein; es war nur eine Einbildung, ein Gewebe der verwirrten +Sinne. Die fürchterliche Nacht, die er durchlebte, +hatte Gespenster zurückgelassen. Der winzige scharlachrote +Fleck, der die Menschen zum Wahnsinn treibt, war plötzlich +auf seinem Gehirn zum Vorschein gekommen. Das +Bild war nicht anders geworden. Es war Wahnsinn, das +anzunehmen.</p> + +<p>Aber es blickte ihn an mit seinem wunderschönen, entstellten +Gesicht und seinem grausamen Lächeln. Sein helles<a class="pagenum" name="Page_142" title="142"> </a> +Haar leuchtete im Sonnengold der Frühe. Seine blauen +Augen blickten in seine eigenen. Ein Gefühl grenzenlosen +Mitleids durchdrang ihn, nicht mit sich selbst, nein, mit +dem gemalten Abbild. Schon hatte es sich verändert und +würde sich noch mehr verändern. Sein Gold wird zum +Grau erbleichen. Seine roten und weißen Rosen werden +welken. Für jede Sünde, die er begehen würde, wird ein +Fleck hervortreten und seine Schönheit besudeln. Aber er +wird nicht sündigen. Das Bildnis, verwandelt oder unverwandelt, +soll für ihn das sichtbare Wahrzeichen des +Gewissens sein. Er wird jeder Versuchung widerstehen. Er +wird Lord Henry nicht wiedersehen — wenigstens nicht +mehr seinen blendenden, giftigen Theorien lauschen, die +in Basil Hallwards Garten zum erstenmal in ihm die Leidenschaft +für unmögliche Dinge aufgerüttelt hatten. Er +wird zu Sibyl Vane zurückeilen, sich bestreben, sie in ihrer +Kunst zu verfeinern, sie heiraten und versuchen, sie wieder +zu lieben. Ja, es war seine Pflicht, das zu tun. Sie mußte +ja mehr gelitten haben als er. Armes Kind! Er war selbstsüchtig +und grausam gegen sie gewesen. Der Zauber, den +sie auf ihn ausgeübt hatte, würde wiederkehren. Sie +würden glücklich miteinander werden. Sein Leben mit ihr +würde schon und rein sein.</p> + +<p>Er stand von seinem Stuhl auf und schob einen großen +Wandschirm vor das Bildnis. Er schrak zusammen, als er +es anblickte. „Wie schrecklich“, flüsterte er. Dann schritt +er zur Glastür und öffnete sie. Als er in das Grüne hinaus +trat, atmete er tief auf. Die frische Morgenluft schien +all die düsteren Leidenschaften zu verjagen. Er dachte nur<a class="pagenum" name="Page_143" title="143"> </a> +noch an Sibyl. Ein schwacher Glanz seiner Liebe kehrte zurück. +Er wiederholte ihren Namen immer wieder, immer +wieder. Die Vögel, die in dem taubeperlten Garten sangen, +schienen den Blumen von ihr zu erzählen.</p> + +<h2><a name="Achtes_Kapitel" id="Achtes_Kapitel"></a>Achtes Kapitel</h2> + + +<p>Mittag war längst vorüber, als er erwachte. Sein +Diener war mehrmals auf den Fußspitzen in das Zimmer +geschlichen, um zu sehen, ob er wach wäre, und er hatte +sich gewundert, weshalb sein junger Herr so lange schlafe. +Schließlich klingelte es, und Viktor trat leise ein mit einer +Schale Tee und einem Stoß Postsachen auf einer schmalen +Sevresplatte und zog die olivengelben Atlasvorhänge +mit ihrem blauglänzenden Futter vor den drei großen +Fenstern zurück.</p> + +<p>„Monsieur hat heute morgen gut geschlafen“, sagte er +lächelnd.</p> + +<p>„Wieviel Uhr ist es?“ fragte Dorian Gray noch verschlafen.</p> + +<p>„Ein Viertel zwei, Monsieur!“</p> + +<p>Wie spät es war! Er setzte sich auf, schlürfte einige Züge +Tee und durchblätterte die Briefe. Einer davon war von +Lord Henry und war diesen Morgen von einem Boten abgegeben +worden. Er zögerte einen Augenblick und legte +ihn dann zur Seite. Die anderen öffnete er zerstreut. Sie +enthielten die gewöhnliche Sammlung von Karten, Einladungen<a class="pagenum" name="Page_144" title="144"> </a> +zum Essen, Ausstellungsbilletts, Programmen +für Wohltätigkeitskonzerte und ähnlichen Aufforderungen, +wie sie einem jungen Mann der Gesellschaft während der +Saison jeden Morgen ins Haus regnen. Es war auch eine +recht große Rechnung dabei für ein Toiletteservice im +Stile Louis des Fünfzehnten, aus getriebenem Silber, die +er noch nicht mutig genug gewesen war, seinen Vormündern +vorzulegen, die außerordentlich altmodische Herren +waren und nicht begreifen konnten, daß man in einer +Zeit lebe, wo die unnötigen Dinge unsere einzige Notwendigkeit +sind; und außerdem war eine Reihe sehr höflich +abgefaßter Mitteilungen aus Jermyn Street da, in +denen man sich anbot, ihm in der kürzesten Zeit jeden +Geldbetrag zu dem mäßigsten Zinsfuße vorzustrecken.</p> + +<p>Etwa nach zehn Minuten stand er auf, schlüpfte in einen +raffinierten Schlafrock aus Kaschmirwolle mit Seidenstickereien, +und ging in das onyxgepflasterte Badezimmer. +Das kalte Wasser erquickte ihn nach dem langen Schlaf. +Er schien alles vergessen zu haben, was er hinter sich hatte. +Ein- oder zweimal durchzuckte ihn ein undeutliches Gefühl, +als wäre er irgendwie in eine seltsame Tragödie verwickelt +gewesen, aber die Unwirklichkeit eines Traumes webte +darüber.</p> + +<p>Sobald er angezogen war, ging er in das Bibliothekszimmer +und setzte sich zu einem leichten französischen Frühstück +nieder, das auf einem kleinen, runden Tische nahe +beim offenen Fenster bereit stand. Es war ein entzückender +Tag. Die warme Luft schien mit Wohlgerüchen gewürzt. +Eine Biene flog herein und summte um die Schale aus<a class="pagenum" name="Page_145" title="145"> </a> +blauem Drachenporzellan, die voller schwefelgelber Rosen +vor ihm stand. Er fühlte sich vollkommen glücklich.</p> + +<p>Plötzlich fiel sein Blick auf den Wandschirm, den er vor +das Bild gestellt hatte, und er zuckte zusammen.</p> + +<p>„Ist es zu kalt für den gnädigen Herrn?“ fragte der +Diener, während er eine Omelette auf den Tisch stellte. +„Soll ich das Fenster schließen?“</p> + +<p>Dorian schüttelte den Kopf. „Mir ist nicht kalt“, antwortete +er.</p> + +<p>War es alles wahr? Hatte sich das Bild wirklich verändert? +Oder war es lediglich seine eigene Phantasie gewesen, +die ihm einen Zug von Schlechtigkeit vorgespiegelt +hatte, wo nur ein Zug von Freude gewesen war? Eine gemalte +Leinwand konnte sich doch nicht verändern? Das +war doch Tollheit! Das würde er eines Tages Basil als +Märchen erzählen. Er würde darüber lächeln.</p> + +<p>Und doch, wie lebendig war die Erinnerung an die +ganze Sache! Zuerst in dem schwankenden Zwielicht und +dann in der hellen Morgenfrühe hatte er den Zug von +Grausamkeit um die geschwungenen Lippen bemerkt. Er +fürchtete sich förmlich davor, daß sein Diener hinausgehen +könnte. Er wußte, er würde, sowie er allein sei, das Bild +betrachten müssen. Er fürchtete sich vor dieser Gewißheit. +Als der Diener Kaffee und Zigaretten gebracht hatte und +sich zum Gehen wandte, empfand er den heftigsten Wunsch, +ihn dableiben zu lassen. Als sich hinter ihm die Tür geschlossen +hatte, rief er ihn zurück. Der Mann stand da und +wartete auf seine Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick +an. „Ich bin für niemand zu Hause, Viktor“, sagte er<a class="pagenum" name="Page_146" title="146"> </a> +mit einem Seufzer. Der Mann verbeugte sich und ging +hinaus.</p> + +<p>Dann stand er vom Tische auf, zündete sich eine Zigarette +an und warf sich auf eine üppig gepolsterte Ottomane, +die gegenüber dem Schirme stand. Es war ein alter +Wandschirm aus vergoldetem spanischen Leder, in das ein +blumiges Louis-Quatorze-Muster getrieben war. Er musterte +ihn forschend und fragte sich, ob der Schirm wohl +schon jemals das Geheimnis eines Menschenlebens verhüllt +habe.</p> + +<p>Sollte er ihn überhaupt wegschieben? Warum ihn nicht +da stehen lassen? Was half die Gewißheit? War die Sache +wahr, so war es schrecklich. War sie nicht wahr, wozu sich +darüber beunruhigen? Aber wie, wenn durch Schicksalstücke +oder irgendeinen tödlichen Zufall andere Augen als die +seinen dahinter blickten und die fürchterliche Veränderung +sähen? Was wollte er tun, wenn Basil Hallward kam und +sein eigenes Bild sehen wollte? Das würde Basil sicher +tun. Nein, die Sache mußte untersucht werden, und zwar +auf der Stelle. Alles war besser als diese schreckliche Ungewißheit.</p> + +<p>Er stand auf und verschloß beide Türen. Er wollte +wenigstens allein sein, wenn er die Maske seiner Schande +betrachtete. Dann schob er den Schirm zur Seite und sah +sich selbst von Angesicht zu Angesicht. Es war vollständig +wahr. Das Bildnis hatte sich verändert.</p> + +<p>Er erinnerte sich später oft und immer mit nicht geringer +Verwunderung, daß er zuerst das Bild mit einem +Gefühl von wissenschaftlichem Interesse geprüft habe. Daß<a class="pagenum" name="Page_147" title="147"> </a> +eine solche Veränderung möglich sei, schien ihm nicht +glaublich. Und doch war es Tatsache. Gab es irgendeine +geheime Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen, +die auf der Leinwand Form und Farbe werden, und der +Seele, die in ihm lebte? Konnte es sein, daß sie in Wirklichkeit +ausdrückten, was seine Seele dachte? — daß sie +zur Wahrheit machten, was sie träumte? Oder gab es +eine andere schreckliche Beziehung? Er schauderte zusammen +und fühlte sich von Angst gepackt. Dann ging er zu +der Ottomane zurück und lag nun da, das Bildnis in +krankhaftem Schrecken anstierend.</p> + +<p>Eine Wirkung aber, das fühlte er, hatte es gehabt. Es +hatte ihm klargemacht, wie ungerecht, wie grausam er +gegen Sibyl Vane gewesen war. Noch war es nicht zu +spät, das wieder gut zu machen. Sie konnte noch sein +Weib werden. Seine unwahre, selbstsüchtige Liebe sollte +einer höheren Kraft den Platz einräumen, sollte sich zu +einer edleren Leidenschaft erhöhen und das Bildnis, das +Basil Hallward gemalt hatte, sollte sein Führer durchs +Leben, sollte das für ihn sein, was Heiligkeit für einige ist, +Gewissen für andere und Gottesfurcht für uns alle ist. +Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Medikamente, die +das Sittlichkeitsgefühl in Schlaf lullen konnten. Aber hier +war das durch Sündigkeit hervorgerufene sichtbare Symbol +der Erniedrigung. Hier war das ewig unauslöschliche +Zeichen des Verderbens, das Menschen der eigenen Seele +zufügen.</p> + +<p>Es schlug drei und vier, und noch eine halbe Stunde +ließ das doppelte Zeichen erklingen, aber Dorian Gray<a class="pagenum" name="Page_148" title="148"> </a> +rührte sich nicht. Er bemühte sich, die scharlachroten Fäden +des Lebens zu entwirren und sie in ein Muster zu +verschlingen; seinen Weg zu finden aus dem blutroten Irrgarten +der Leidenschaft, den er durchwanderte. Er wußte +nicht, was er tun, nicht, was er denken sollte. Endlich trat +er an den Tisch und schrieb einen leidenschaftlichen Brief +an das Mädchen, das er geliebt hatte, flehte sie an, ihm +zu verzeihen, und beschuldigte sich des Wahnsinns. Er +bedeckte Seite um Seite mit wilden Worten der Sorge +und noch heftigeren des Schmerzes. Es gibt eine Wollust +in Selbstanklagen. Wenn wir uns selbst tadeln, haben wir +das Gefühl, daß uns kein anderer tadeln dürfe. Die +Beichte, nicht der Priester, erteilt uns Absolution. Als +Dorian den Brief beendet hatte, fühlte er, daß ihm vergeben +worden sei.</p> + +<p>Plötzlich pochte man an die Tür und er hörte Lord +Henrys Stimme draußen. „Lieber Junge, ich muß dich +sehen. Laß mich gleich herein! Ich kann es nicht zugeben, +daß du dich so absperrst!“</p> + +<p>Er gab zuerst keine Antwort, sondern blieb ganz still. +Das Klopfen wiederholte sich und wurde lauter. Ja, es +war besser, Lord Henry einzulassen und ihm zu erklären, +daß er ein neues Leben führen wolle, mit ihm zu streiten, +wenn Streit nötig wäre, und sich von ihm zu trennen, +wenn Trennung stattfinden mußte. Er sprang auf, schob +den Wandschirm hastig vor das Bild und schloß die +Tür auf.</p> + +<p>„Es tut mir alles so sehr leid, Dorian“, sagte Lord Henry, +als er eintrat. „Aber du mußt nicht zuviel daran denken.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_149" title="149"> </a></p> + +<p>„Meinst du an Sibyl Vane?“ fragte der Jüngling.</p> + +<p>„Ja, natürlich“, erwiderte Lord Henry, ließ sich in +einen Stuhl nieder und zog seine gelben Handschuhe langsam +aus. „Es ist gewiß, einerseits betrachtet, schrecklich, +aber es war doch nicht deine Schuld. Sag' mal, bist du +hinter die Bühne gegangen und hast du sie gesehen, als +das Stück aus war?“</p> + +<p>„Ja.“</p> + +<p>„Ich war davon überzeugt. Hast du ihr eine Szene +gemacht?“</p> + +<p>„Ich war brutal, Harry, offen gesagt, brutal. Aber +jetzt ist alles wieder gut. Was geschehen ist, tut mir nicht +mehr leid. Es hat mich gelehrt, mich selbst besser kennenzulernen.“</p> + +<p>„Ach, Dorian, da bin ich sehr froh, daß du es so auffaßt. +Ich fürchtete, dich von Gewissensbissen zermartert +zu finden und wie du dir die hübschen lockigen Haare zerraufst.“</p> + +<p>„Das habe ich alles durchgemacht“, sagte Dorian und +schüttelte lächelnd den Kopf. „Jetzt bin ich vollkommen +glücklich. Vor allem weiß ich jetzt, was es heißt, ein Gewissen +zu haben. Es ist nicht das, was du mir gesagt hast. +Es ist das Göttlichste in uns. Spotte nicht darüber, nie +mehr, Harry — wenigstens nie mehr in meiner Gegenwart. +Ich will jetzt gut sein. Ich kann den Gedanken nicht +ertragen, meine Seele befleckt zu haben.“</p> + +<p>„Wirklich eine entzückende, künstlerische Grundlage für +Moral, Dorian. Ich gratuliere dir dazu. Aber wie willst +du damit anfangen?“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_150" title="150"> </a></p> + +<p>„Indem ich Sibyl Vane heirate.“</p> + +<p>„Sibyl Vane heiraten?“ schrie Lord Henry auf, erhob +sich und sah ihn mit der bestürztesten Verwunderung an. +„Aber mein lieber Dorian —“</p> + +<p>„Ja, Harry, ich weiß, was du sagen willst. Irgend +etwas Häßliches über die Ehe. Sag' es nicht. Sag' mir +nie wieder solche Dinge. Vor zwei Tagen habe ich Sibyl +gebeten, mich zu heiraten. Ich werde mein Wort nicht +brechen. Sie soll meine Frau werden.“</p> + +<p>„Deine Frau, Dorian... Hast du denn meinen Brief +nicht bekommen? Ich habe dir heute früh geschrieben und +schickte die Mitteilung durch meinen Diener her.“</p> + +<p>„Deinen Brief? Ach ja, ich erinnere mich. Ich hab' +ihn noch nicht gelesen, Harry. Ich fürchtete, daß etwas +drin stünde, was mir nicht gefallen könnte. Du vivisezierst +das Leben mit deinen Aphorismen.“</p> + +<p>„Dann weißt du also nichts.“</p> + +<p>„Wovon sprichst du?“</p> + +<p>Lord Henry wanderte durch das Zimmer, setzte sich +dann neben Dorian Gray, nahm seine beiden Hände und +hielt sie fest. „Dorian,“ sagte er, „mein Brief — erschrick +nicht — sollte dir melden, daß Sibyl Vane tot ist.“</p> + +<p>Ein Schmerzensschrei gellte von den Lippen des Jünglings, +und er sprang auf und riß seine Hände aus Lord +Henrys Umklammerung los. „Tot! Sibyl tot!“ Es ist +nicht wahr. Es ist eine furchtbare Lüge. Wie wagst du +es, das zu sagen?“</p> + +<p>„Es ist völlig wahr, Dorian“, sagte Lord Henry ernst. +„Es steht in allen Morgenblättern. Ich schrieb dir's gleich<a class="pagenum" name="Page_151" title="151"> </a> +und bat, du solltest niemand empfangen, bis ich käme. +Es muß natürlich eine Untersuchung stattfinden, und du +darfst da nicht hineingezogen werden. Dinge dieser Art +machen in Paris einen Mann zum Helden des Tages. +Aber in London haben die Leute zuviel Vorurteile. Hier +darf man nie mit einem Skandal debütieren. Man muß +sich das aufheben, um im Alter noch interessant zu sein. +Ich nehme an, man weiß im Theater deinen Namen +nicht. In dem Fall ist alles gut. Hat dich jemand in die +Garderobe gehen sehen? Das ist ein wichtiger Faktor.“</p> + +<p>Ein paar Augenblicke lang antwortete Dorian nicht. Er +war vor Entsetzen gelähmt. Schließlich stammelte er mit +erstickter Stimme: „Harry, sagtest du eine Untersuchung? +Was meintest du damit? Hat sich Sibyl —? Oh, Harry, +ich kann's nicht ertragen. Mach's kurz. Sag' mir alles +auf einmal.“</p> + +<p>„Ich zweifle nicht daran, daß es kein Versehen war, +Dorian, wenn man es auch dem Publikum so darstellen +muß. Es scheint, sie hat das Theater mit ihrer Mutter +verlassen, gegen halb eins ungefähr, und dann sagte sie +plötzlich, sie habe oben etwas vergessen. Man wartete +einige Zeit auf sie, aber sie kam nicht wieder herunter. +Schließlich fanden sie sie tot auf dem Boden in ihrem +Ankleidezimmer. Sie hatte aus Versehen irgend etwas +getrunken, irgend solche gräßliche Sache, die man in den +Theatern braucht. Ich weiß nicht genau, was es war, +aber es muß entweder Blausäure oder Bleiweiß gewesen +sein. Ich vermute, Blausäure, denn sie scheint sofort tot +gewesen zu sein.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_152" title="152"> </a></p> + +<p>„Harry, Harry, es ist furchtbar!“ schrie der Jüngling.</p> + +<p>„Ja; natürlich ist's sehr tragisch, aber du mußt sehen, +nicht mit in die Sache verwickelt zu wenden. Ich habe im +‚Standard‛ gelesen, daß sie siebzehn Jahre alt war. Ich +hätte sie noch eher für jünger gehalten. Sie sah ganz wie +ein Kind aus und schien so wenig von der Schauspielerei +zu verstehen. Dorian, du darfst die Sache nicht so an die +Nerven gehen lassen. Du mußt mitkommen und mit mir +essen, und nachher wollen wir noch 'n bißchen in die Oper +gehen. Die Patti singt, und alle Welt wird da sein. Du +kannst mit in die Loge von meiner Schwester kommen. +Sie bringt ein paar famose Frauen mit.“</p> + +<p>„So habe ich also Sibyl Vane gemordet,“ sagte Dorian +Gray halb zu sich selbst — „sie gemordet, so sicher, als +hätte ich ihre zarte Kehle mit einem Messer durchschnitten. +Und doch sind darum die Rosen nicht weniger entzückend. +Die Vögel in meinem Garten singen genau so lustig. Und +heute abend geh' ich mit dir essen und dann in die Oper +und nachher vermutlich irgendwo soupieren. Wie merkwürdig +dramatisch das Leben ist. Wenn ich das alles in +einem Buche gelesen hätte, Harry, ich glaube, ich hätte +darüber geweint. Aber jetzt, wo es in Wirklichkeit geschehen +ist, wo es mir selbst geschehen ist, scheint es mir zu wunderbar +für Tränen. Da liegt der erste leidenschaftliche Liebesbrief, +den ich in meinem Leben geschrieben habe. Seltsam, +daß mein erster leidenschaftlicher Liebesbrief an ein totes +Mädchen gerichtet ist. Ich möchte wohl wissen, ob sie noch +ein Gefühl haben, diese weißen, verstummten Menschen, +die wir Tote nennen. Sibyl! Kann sie fühlen, oder wissen,<a class="pagenum" name="Page_153" title="153"> </a> +oder hören? O Harry, wie hab' ich sie einmal geliebt! +Es scheint mir jetzt vor Jahren gewesen zu sein. Sie war +mir alles. Dann kam dieser schreckliche Abend, — war es +wirklich erst gestern? wo sie so schlecht spielte und mir fast +das Herz zerriß. Sie hat mir alles erklärt. Es war furchtbar +rührend. Aber es machte nicht den mindesten Eindruck +auf mich. Ich hielt sie für ein oberflächliches Geschöpf. +Dann geschah plötzlich etwas, was mir Furcht einjagte. Ich +kann dir nicht sagen, was es war, aber es war furchtbar. +Ich nahm mir vor, zu ihr zurückzukehren. Ich empfand, +daß ich unrecht gehabt habe. Und jetzt ist sie tot. Mein +Gott! Mein Gott! Harry, was soll ich tun? Du kennst +die Gefahr nicht, in der ich schwebe und es gibt nichts, +was mich aufrechterhalten könnte. Sie hätte es für mich +getan. Sie hatte kein Recht, sich umzubringen. Es war +selbstsüchtig von ihr.“</p> + +<p>„Mein lieber Dorian,“ antwortete Lord Harry, während +er eine Zigarette aus dem Etui nahm und ein goldenes +Streichholzbüchschen hervorholte, „die einzige Art, +auf die eine Frau einen Mann bessern kann, besteht darin, +sie langweilt ihn so gründlich, daß er alles Interesse am +Leben verliert. Wenn du dieses Mädchen geheiratet +hättest, wärst du verdorben worden. Natürlich hättest +du sie gütig behandelt. Menschen, für die man nichts +übrig hat, kann man immer gütig behandeln. Aber sie +hätte bald herausgefunden, daß du gar nichts für sie übrig +hast. Und wenn eine Frau bei ihrem Mann Gleichgültigkeit +wittert, vernachlässigt sie sich entweder schrecklich, oder +sie trägt überelegante Hüte, die der Mann einer anderen<a class="pagenum" name="Page_154" title="154"> </a> +Frau bezahlen muß. Ich will nichts über das soziale Mißverhältnis +sagen, das schauderhaft gewesen wäre; ich hätte +selbstverständlich die Sache nie zugegeben, aber ich versichere +dir, die Sache wäre in jedem Falle ganz verfehlt +gewesen.“</p> + +<p>„Vermutlich“, murmelte der junge Mann, während er +mit furchtbar blassem Gesicht im Zimmer auf und ab +schritt. „Aber ich glaube, es sei meine Pflicht. Es ist nicht +meine Schuld, daß mich dieses schreckliche Trauerspiel verhindert +hat, das Rechte zu tun. Ich erinnere mich, daß +du einmal gesagt hast, ein sonderbares Verhängnis schwebe +über guten Vorsätzen — daß man sie nämlich immer zu +spät fasse. Bei meinem war es gewiß der Fall.“</p> + +<p>„Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, Naturgesetze umzustoßen. +Ihr Ursprung ist reine Eitelkeit. Ihr Erfolg ist +absolut gleich Null. Sie geben uns dann und wann etwas +jener unfruchtbaren Lustempfindungen, die auf schwache +Menschen einen gewissen Reiz ausüben. Das ist alles, was +man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind bloße +Schecks, die man auf eine Bank ausstellt, bei der man +kein Konto hat.“</p> + +<p>„Harry“, rief Dorian Gray, der sich näherte und +neben ihn setzte. „Warum kann ich diese Tragödie nicht so +stark empfinden, wie ich müßte? Ich kann nicht glauben, +daß ich herzlos bin. Glaubst du das von mir?“</p> + +<p>„Du hast in den letzten vierzehn Tagen zuviel törichte +Streiche begangen, als daß du einen Anspruch auf diesen +Ehrentitel haben könntest, Dorian“, erwiderte Lord Harry +mit seinem stillen, melancholischen Lächeln.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_155" title="155"> </a></p> + +<p>Der Jüngling runzelte die Stirn. „Diese Erklärung besagt +mir eigentlich nichts, Harry, aber ich bin dennoch +froh, daß du mich nicht für herzlos hältst. Ich bin es gewiß +nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin. Und doch muß ich +zugeben, daß dies Ereignis mich nicht so angreift, wie es +sollte. Es kommt mir wie der wunderbare Szenenschluß +eines wunderbaren Dramas vor. Es hat die schreckliche +Schönheit einer griechischen Tragödie, einer Tragödie, in +der ich eine große Rolle gespielt habe, aber in der ich +selbst nicht verwundet worden bin.“</p> + +<p>„Es ist eine interessante Frage,“ sagte Lord Harry, dem +es ein ausgesuchtes Vergnügen bereitete, mit dem unbewußten +Egoismus des jungen Mannes zu spielen — „eine +außerordentlich interessante Frage. Ich meine, die wahre +Erklärung ist wohl die. Es kommt oft vor, daß sich die +Wirklichkeits-Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen +Form abspielen, daß sie uns durch ihre rohe Gewalt, +ihren absoluten Mangel an Zusammenhang, durch +ihre lächerliche Sinnlosigkeit und ihre außerordentliche +Stillosigkeit verletzen. Sie betrüben uns genau so, +wie es die Gemeinheit tut. Sie geben uns ein Gefühl +einer jähen, brutalen Gewalt, und wir lehnen uns +dagegen auf. Manchmal aber kreuzt eine Tragödie unser +Leben, die künstlerische Schönheitselemente in sich birgt. +Wenn diese Schönheitselemente wirklich vorhanden sind, +dann ergreift die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische +Wirkung. Wir entdecken auf einmal, daß wir nicht +mehr die Darsteller, sondern die Zuschauer des Stückes +sind. Oder richtiger, wir sind beides. Wir beobachten uns<a class="pagenum" name="Page_156" title="156"> </a> +selbst und werden von dem Wundersamen des Schicksals +erschüttert. Was ist in vorliegendem Falle wirklich geschehen? +Jemand hat sich aus Liebe zu dir umgebracht. +Ich wollte, mir wäre je so ein Erlebnis passiert. Ich wäre +den Rest meines Lebens in die Liebe verliebt gewesen. Die +Menschen, die mich angebetet haben — es waren ihrer +nicht sehr viele, aber doch immerhin einige —, waren immer +darauf versessen, weiterzuleben, noch lange, nachdem ich +aufgehört hatte, mich um sie zu kümmern, oder sie, sich um +mich zu kümmern. Sie sind dann dick und langweilig geworden, +und wenn ich ihnen jetzt begegne, schwelgen sie +sofort in Erinnerungen. Dies furchtbare zähe Gedächtnis +der Frauen! Was für 'ne schreckliche Sache das ist! Und +was für einen völligen geistigen Stillstand offenbart es. +Man sollte die Farbe des Lebens in sich aufsaugen, aber +sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind +immer gewöhnlich.“</p> + +<p>„Ich muß Mohnblumen in meinen Garten säen“, seufzte +Dorian.</p> + +<p>„Das ist nicht notwendig“, erwiderte sein Gefährte. +„Das Leben selbst hat immer Mohnblumen vorrätig. +Natürlich, dann und wann halten die Dinge länger an. +Einmal habe ich eine ganze Saison lang nichts als Veilchen +getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen +Roman, der nicht sterben wollte. Schließlich indessen ist er +gestorben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ihn +getötet hat. Ich vermute, es kam durch ihren Vorschlag, +mir die ganze Welt aufzuopfern. Das ist immer ein schrecklicher +Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecknissen<a class="pagenum" name="Page_157" title="157"> </a> +der Ewigkeit. Schon — würdest du es nun glauben? — +Vorige Woche, bei Lady Hampshire, saß ich bei Tisch +neben der fraglichen Dame, und sie konnte wiederum nicht +anders, als die ganze Sache durchzunehmen, die Vergangenheit +aufzuwühlen und die Zukunft auszumalen. +Ich hatte den ganzen Roman unter einem Asphodelosbeet +begraben. Sie scharrte ihn wieder aus und versicherte +mir, daß ich ihr Leben zerstört habe. Ich fühle mich +verpflichtet festzustellen, daß sie trotzdem mit staunenswertem +Appetite aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse +empfand. Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie! +Der einzige Reiz der Vergangenheit liegt eben darin, +daß sie vergangen ist. Aber Frauen wissen nie, wann der +Vorhang gefallen ist. Sie wollen immer noch einen sechsten +Akt, und sowie das ganze Interesse an dem Stück erlahmt +ist, schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man ihnen +ihren Willen ließe, erlebte jede Komödie einen tragischen +Schluß, und jede Komödie gipfelte in einer Farce. Sie +sind oft entzückende Kunstprodukte, aber sie haben keinen +Sinn für die Kunst. Du bist glücklicher als ich. Ich versichere +dir, Dorian, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt +habe, hätte für mich getan, was Sibyl Vane für dich vollbrachte. +Gewöhnliche Frauen trösten sich immer. Einige +von ihnen tun es, indem sie sich in empfindsame Farben +verlieben. Traue niemals einer Frau, die Malven trägt, +wie alt sie auch sein mag, oder einer Frau über fünfunddreißig, +die rosa Bänder liebt. Das bedeutet immer, +daß sie eine Geschichte haben. Andere finden starken Trost +darin, plötzlich die Vorzüge ihrer Männer zu entdecken.<a class="pagenum" name="Page_158" title="158"> </a> +Sie reiben einem ihr eheliches Glück unter die Nase, als +wäre das die fesselndste Sünde. Einige wieder tröstet die +Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize einer Liebelei +an sich, hat mir einmal eine Frau versichert und ich kann +es wohl verstehen. Übrigens macht unsereinen nichts so +eitel, als wenn einem gesagt wird, man wäre ein Sünder. +Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten. Ja; die Tröstungen +haben wirklich kein Ende, die die Frauen im +modernen Leben finden. Die wichtigste habe ich noch gar +nicht erwähnt.“</p> + +<p>„Welche ist das, Harry?“ fragte der junge Mann zerstreut.</p> + +<p>„Oh, der alltäglichste Trost. Einer anderen Frau ihren +Anbeter nehmen, wenn man den eigenen verloren hat. +In der guten Gesellschaft findet eine Frau auf solche +Weise immer ihr Fahrwasser wieder. Aber wirklich, Dorian, +wie anders muß Sibyl Vane gewesen sein als alle +die sonstigen Frauen, denen man begegnet. Für mich liegt +in ihrem Tod etwas ganz Wunderschönes. Es freut mich, +daß ich in einem Jahrhundert lebe, wo solche Wunder +noch geschehen. Sie geben uns neuen Glauben an die Wirklichkeit +der Dinge, mit denen wir sonst spielen, wie Romantik, +Leidenschaft und Liebe.“</p> + +<p>„Ich war furchtbar grausam gegen sie. Du vergißt +das.“</p> + +<p>„Ich fürchte, die Frauen schätzen die Grausamkeit, die +ganz alltägliche Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes. +Sie haben wundervoll primitive Instinkte. Wir +haben sie emanzipiert, aber sie bleiben Sklavinnen, die den<a class="pagenum" name="Page_159" title="159"> </a> +Blick auf ihre Herren gerichtet halten, trotz allem. Sie +lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin überzeugt, daß +du glänzend aufgetreten bist. Ich habe dich nie wirklich +und durchaus erzürnt gesehen, aber ich kann mir vorstellen, +wie entzückend du ausgesehen haben mußt. Und +außerdem sagtest du vorgestern etwas zu mir, was mir +damals nur ein phantastischer Einfall schien, aber jetzt sehe +ich, daß es völlig wahr gewesen ist, und ich halte es für +den Schlüssel zu dem ganzen Ereignis.“</p> + +<p>„Was war das, Harry?“</p> + +<p>„Du hast zu mir gesagt, Sibyl Vane verkörpere dir alle +Frauengestalten der Romantik — sie sei an einem Abend +Desdemona und am anderen Ophelia; wenn sie als Julia +sterbe, erwache sie als Imogen wieder zum Leben.“</p> + +<p>„Sie wird nie wieder zum Leben erwachen“, ächzte der +Jüngling und barg sein Gesicht in den Händen.</p> + +<p>„Nein, sie wird nie wieder zum Leben erwachen. Sie +hat ihre letzte Rolle gespielt. Aber du mußt an diesen +einsamen Tod in dem ärmlichen Garderobenzimmer denken +wie an ein seltsam schauriges Fragment aus einer Tragödie +von der Zeit König Jakobs her, wie an eine wunderbare +Szene bei Webster oder Ford oder Cyril Tourneur. Das +Mädchen hat nie wirklich gelebt, also ist sie auch nie wirklich +gestorben. Für dich war sie ja niemals mehr als ein +Traum, ein Schattengeist, der durch Shakespeares Dramen +huschte und sie durch ihr Dasein noch reizvoller machte, +der Ton einer Flöte, durch die Shakespeares Musik noch +reicher und freudiger ertönte. Im Augenblick, wo sie das +wirkliche Leben berührte, zerstörte sie es, und es zerstörte<a class="pagenum" name="Page_160" title="160"> </a> +sie, und so schied sie dahin. Trauere um Ophelia, wenn +es dir behagt. Streu Asche auf dein Haupt, weil Kordelia +erwürgt wurde. Schrei zum Himmel, weil die Tochter des +Brabantio starb. Aber verschwende deine Tränen nicht +um Sibyl Vane. Sie war weniger wirklich, als jene +sind.“</p> + +<p>Es entstand ein Schweigen. Der Abend dämmerte im +Zimmer. Geräuschlos auf silbernen Fußen schlichen die +Schatten aus dem Garten herein. Die Farben verschwanden +müde aus allen Dingen.</p> + +<p>Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. „Du hast mich +mir selber klargemacht“, flüsterte er mit einem Seufzer +der Erleichterung. „Alles, was du gesagt hast, habe ich +auch gefühlt, nur hab' ich mich davor geängstigt, und ich +konnte es mir selbst nicht ausdrücken. Wie gut du mich +kennst! Aber wir wollen, von dem was geschehen ist, +nie wieder sprechen. Es war ein wundersames Erlebnis. +Das ist alles. Ich möchte wissen, ob meiner noch etwas so +Wunderbares im Leben harrt.“</p> + +<p>„Das Leben hat alles für dich vorrätig, Dorian. Es +gibt nichts, was du mit deiner außerordentlichen Schönheit +nicht tun könntest.“</p> + +<p>„Aber stelle dir vor, Harry, wenn ich hager und alt +und runzlich würde, was dann?“</p> + +<p>„Ach dann,“ sagte Lord Harry und erhob sich zum +Gehen — „dann, mein bester Dorian, würdest du um +deine Siege kämpfen müssen. Wie es ist, werden sie dir +noch entgegengetragen. Nein, du mußt schön bleiben, wie +du noch bist. Wir leben in einer Zeit, in der zuviel gelesen<a class="pagenum" name="Page_161" title="161"> </a> +wird, als daß sie weise wäre, und in der zuviel +gedacht wird, als daß sie schön wäre. Wir können dich +nicht entbehren. Und jetzt tätest du besser, dich anzuziehen +und in den Klub zu fahren. Wir kommen ohnehin schon +zu spät.“</p> + +<p>„Ich meine, ich treffe dich lieber in der Oper, Harry. +Ich bin zu müde, um etwas zu essen. Welche Nummer +hat die Loge deiner Schwester?“</p> + +<p>„Siebenundzwanzig, glaub' ich, sie liegt im ersten Rang. +Du findest ihren Namen an der Tür. Aber es tut mir +leid, daß du nicht mit essen kommst.“</p> + +<p>„Ich bin nicht aufgelegt dazu,“ sagte Dorian zerstreut, +„aber ich bin dir sehr dankbar für alles, was du zu mir +gesagt hast. Du bist wirklich mein bester Freund. Niemand +hat mich je richtiger verstanden als du.“</p> + +<p>„Wir stehen erst am Anfang unserer Freundschaft, Dorian“, +erwiderte Lord Harry und schüttelte ihm die Hand. +„Adieu! Ich hoffe, dich vor halb zehn zu sehen. Vergiß +nicht: die Patti singt.“</p> + +<p>Als sich die Tür hinter ihm schloß, klingelte Dorian +Gray, und nach ein paar Minuten erschien Viktor mit den +Lampen und ließ die Vorhänge herab. Er wartete ungeduldig, +daß der Diener wieder verschwände. Der Mann +schien eine unglaubliche Zeit für alles zu gebrauchen.</p> + +<p>Sobald er wieder draußen war, stürzte Dorian auf den +Schirm zu und schob ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich +nicht wieder verändert. Es hatte die Nachricht von Sibyl +Vanes Tod erhalten, bevor er selbst davon gewußt hatte. +Es kannte die Ereignisse des Lebens, sobald sie sich ereigneten.<a class="pagenum" name="Page_162" title="162"> </a> +Dieser Zug böser Grausamkeit, der die feinen Linien +des Mundes verunstaltete, war zweifellos im Augenblick +aufgetaucht, als das Mädchen das Gift genommen hatte. +Oder kümmerte sich das Bild nicht um die Wirkungen +einer Tat? Nahm es nur von Vorgängen in der Seele +Kenntnis? Er hätte es gar zu gern gewußt und hoffte, +eines Tages solche Wandlung vor seinen Augen geschehen +zu sehen, und er schauderte, während er es hoffte.</p> + +<p>Die arme Sibyl! Wie sonderbar romantisch alles gewesen +war! Sie hatte oft den Tod auf der Bühne dargestellt. +Dann hatte sie der Tod selbst gepackt und weggeholt. +Wie mochte sie die grauenvolle letzte Szene gespielt haben? +Hatte sie ihn im Sterben verflucht? Nein; sie war aus +Liebe zu ihm gestorben, und die Liebe sollte ihm von jetzt +ab immer ein Heiligtum bleiben. Sie hatte alles gebüßt +durch das Opfer ihres Lebens. Er wollte nicht mehr +daran denken, was er ihretwegen an jenem schrecklichen +Theaterabend durchgemacht hatte. Wenn er an sie dachte, +sollte es sein wie an eine wundersam tragische Gestalt, die +auf die Weltbühne gestellt worden war, um die höchste +Verwirklichung der Liebe zu künden. Eine wundersam tragische +Gestalt? Tränen traten ihm in die Augen, als er +sich ihres kindlichen Aussehens, ihrer fröhlichen, phantastischen +Art, ihrer scheuen, zaghaften Anmut entsann. Er +verscheuchte alles hastig und blickte wieder auf das Porträt.</p> + +<p>Er fühlte, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, zu +wählen. Oder war die Wahl schon getroffen? Ja, das +Leben hatte für ihn entschieden — das Leben und seine +unermeßliche Neugier auf das Leben. Ewige Jugend,<a class="pagenum" name="Page_163" title="163"> </a> +unerschöpfliche Leidenschaft, ausgesuchte, geheimnisvolle +Genüsse, wilde Freuden und noch wildere Sünden — all +das sollte er haben. Das Bildnis sollte die Last seiner +Schmach tragen: das war alles.</p> + +<p>Ein peinliches Gefühl beschlich ihn, als er an die Entweihung +dachte, die dieses schönen Gesichtes auf der Leinwand +harrte. Einmal hatte er in knabenhafter Parodie +des Narzissus die gemalten Lippen, die ihn jetzt so grausam +anlächelten, geküßt oder doch zum Schein geküßt. +Morgen für Morgen hatte er vor dem Bild gesessen und +seine Schönheit angestaunt; zu Zeiten kam es ihm vor, +als sei er in sein eigenes Bild verliebt. Sollte es sich nun +wandeln mit jeder Laune, der er nachgab? Sollte es +ein ungeheuerliches, widerliches Ding werden, das man im +verhängten Winkel verschließen müsse vor dem Glanz der +Sonne, der so oft das lockige Wunder seines Haares noch +goldiger hatte aufleuchten lassen? Wie schade! Wie schade!</p> + +<p>Einen Augenblick dachte er daran, zu beten, daß die +entsetzliche Beziehung zwischen ihm und dem Bilde aufhören +möge. Es hatte sich verwandelt, da er darum gebeten +hatte; es könnte vielleicht, wenn er darum bäte, +auch wieder unverändert bleiben. Und doch, wer, der eine +Ahnung vom Leben hat, würde die Möglichkeit, immer +jung zu bleiben, aufgeben, mochte die Möglichkeit noch so +phantastisch und mit noch so verhängnisreichen Folgen verknüpft +sein? Überdies, stand es wirklich in seiner Macht? +War wirklich das Gebet die Ursache der Verwandlung? +Konnte es für die ganze Sache nicht irgendeine merkwürdige +wissenschaftliche Ursache geben? Wenn das Denken<a class="pagenum" name="Page_164" title="164"> </a> +eine Wirkung auf einen lebenden Organismus ausüben +konnte, konnte da nicht das Denken auch auf tote unorganische +Dinge Einfluß haben? Ja, konnten nicht ohne +Gedanken und bewußte Wünsche Dinge eingreifen, die +ganz außerhalb unserer Person stehen, im Einklange mit +unseren Launen und Leidenschaftsanfällen erzittern, konnte +nicht Atom zu Atom sprechen in geheimer Neigung oder +seltsamer Verwandtschaft? Aber schließlich waren die Ursachen +gleichgültig. Er wollte durch Gebet nie wieder eine +schreckliche Macht versuchen. Wenn das Bildnis sich wandeln +wollte, so sollte es sich wandeln. Das war einmal +so. Warum zu tief in ein Geheimnis eindringen?</p> + +<p>Allerdings müßte es ein starker Genuß sein, solchen Vorgang +zu beobachten. Er würde befähigt werden, seinem +Geist in geheime Schlupfwinkel zu folgen. Dies Bild sollte +ihm der zauberhafteste Spiegel werden. Wie es ihm seinen +Körper geoffenbart hatte, so sollte es ihm nun die Seele +enthüllen. Und wenn der Winter über das Gemälde +hereinbrach, dann stand er immer noch da, wo der Frühling +schwankt, ob er die zum Sommer führende Schwelle +überschreiten soll. Wenn das Blut aus seinem Antlitz fortschliche +und eine kreidebleiche Maske mit stummen Augen +zurückließe, dann bewahrte er immer noch den Glanz des +Säuglingsalters. Keine Blüte seiner Lieblichkeit sollte +jemals welken. Kein Pulsschlag seines Lebens jemals +erlahmen. Wie die Götter der Griechen würde er stark +und behend und heiter bleiben. Was lag daran, was aus +dem gemalten Abbild auf der Leinwand wurde? Er selbst +war seiner sicher. Darauf kam alles an.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_165" title="165"> </a></p> + +<p>Er schob den Schirm wieder auf den alten Platz vor dem +Bilde und lächelte, indem er es tat. Dann ging er in sein +Schlafzimmer, wo sein Diener schon auf ihn wartete. Eine +Stunde später war er in der Oper, und Lord Harry +beugte sich über seinen Stuhl.</p> + +<h2><a name="Neuntes_Kapitel" id="Neuntes_Kapitel"></a>Neuntes Kapitel</h2> + + +<p>Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat +Basil Hallward ins Zimmer.</p> + +<p>„Ich bin so froh, daß ich dich treffe, Dorian“, sagte er +ernsten Tons. „Ich war gestern abend hier, und man +sagte mir, daß du in der Oper seist. Ich wußte natürlich, +daß es ja unmöglich ist. Aber es wäre mir lieber gewesen, +du hättest ein Wörtchen hinterlassen, wo du wirklich +warst. Ich habe eine schreckliche Nacht verbracht, und fürchtete +halb, daß eine Tragödie der anderen folgen würde. +Ich meine, du hättest mir wohl depeschieren können, so wie +du die Nachricht erhieltst. Ich hab' es durch Zufall im +letzten Abendblatt des Globe gelesen, das mir im Klub +in die Hände geriet. Ich eilte sofort hierher und war unglücklich, +dich nicht zu Hause anzutreffen. Ich kann dir +gar nicht sagen, wie tief mir die ganze Sache ins Herz +schneidet. Ich weiß, was du leiden mußt. Aber wo warst +du denn? Bist du hingegangen, um die Mutter des Mädchens +zu sehen? Einen Moment dachte ich daran, dir dorthin +zu folgen. In der Zeitung stand die Adresse. Irgendwo +in Euston Road, nicht wahr? Aber ich hatte Angst,<a class="pagenum" name="Page_166" title="166"> </a> +zudringlich zu sein in einem Schmerze, wo ich doch nicht abhelfen +konnte. Die arme Frau! In was für einem Zustand +muß sie sein! Und dazu ihr einziges Kind! Was hat sie zu +all dem gesagt?“</p> + +<p>„Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?“ sagte +Dorian Gray, nippte etwas hellgelben Wein aus einem +reizenden bauchigen venezianischen Glase, das mit Goldperlen +inkrustiert war, und sah ganz unwillig aus. „Ich +war in der Oper. Du hättest auch hinkommen sollen. Ich +habe dort Harrys <ins title="Schwester">Schwester,</ins> Lady Gwendolen, kennengelernt. +Wir waren in ihrer Loge. Sie ist ein bezauberndes +Weib; und die Patti hat göttlich gesungen. Sprich nicht +von schrecklichen Dingen! Wenn man über eine Sache +nicht spricht, ist sie nicht geschehen. Nur was man äußert, +sagt Harry, gibt den Dingen ihre Wirklichkeit. Erwähnen +möcht' ich aber, daß sie nicht das einzige Kind der Frau +war. Es ist noch ein Sohn da, ein famoser Junge vermutlich. +Aber er ist nicht beim Theater. Matrose oder so was +ähnliches. Und jetzt erzähle mir was von dir, was malst +du?“</p> + +<p>„Du warst in der Oper?“ sagte Hallward gedehnt, und +seine Stimme war gepreßt vor Schmerz. „Du warst in der +Oper, während Sibyl Vane tot in irgendeiner schmutzigen +Stube lag? Du kannst mir von anderen bezaubernden +Weibern erzählen, und daß die Patti göttlich gesungen +hat, noch ehe das Mädchen, das du geliebt hast, die Ruhe +des Grabes gefunden hat, darin sie schlafen soll? Mensch, +bedenke doch, welche Schrecknisse auf den kleinen weißen +Körper warten!“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_167" title="167"> </a></p> + +<p>„Hör' auf, Basil, ich will davon nichts hören!“ rief +Dorian und sprang auf. „Du darfst mir über diese Dinge +nichts sagen. Was geschehen ist, ist geschehen, was vergangen +ist, ist vergangen.“</p> + +<p>„Nennst du gestern die Vergangenheit?“</p> + +<p>„Was hat die wirklich verstrichene Zeit damit zu tun? +Nur seichtes Volk braucht Jahre, um ein Gefühl zu überwinden. +Ein Mensch, der Herr über sich selbst ist, kann +einen Schmerz ebenso leicht überwinden, wie er einen +Genuß entdecken kann. Ich will nicht der Spielball meiner +Empfindungen sein. Ich will sie ausnützen, mich an ihnen +freuen und sie beherrschen.“</p> + +<p>„Dorian, es ist schauderhaft! Irgend etwas hat dich +ganz verändert. Du siehst noch genau so aus wie der +wunderhübsche Junge, der Tag für Tag in mein Atelier +kam, um für mein Bild zu sitzen. Aber damals warst du +einfacher, natürlich und herzlich. Du warst das unverdorbenste +Menschenkind auf der ganzen Welt. Ich weiß +nicht, was jetzt über dich gekommen ist. Du sprichst, als +hättest du kein Herz, kein Mitleid in dir. Das ist Harrys +Einfluß. Ich sehe es.“</p> + +<p>Der junge Mensch wurde rot, ging ans Fenster, sah ein +paar Augenblicke auf den grün schimmernden, von der +Sonne betupften Garten. „Ich schulde Harry sehr viel, sehr +viel, Basil,“ sagte er schließlich — „mehr als ich dir schulde. +Du hast mir nur Eitelkeit beigebracht.“</p> + +<p>„Ich bin bestraft worden dafür, Dorian — oder werde +es eines Tages sein.“</p> + +<p>„Ich weiß nicht, was du meinst, Basil“, rief Dorian<a class="pagenum" name="Page_168" title="168"> </a> +aus und drehte sich um. „Ich weiß nicht, was du willst. +Was willst du?“</p> + +<p>„Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt +habe“, sagte der Künstler traurig.</p> + +<p>„Basil,“ erwiderte der Jüngling, trat vor ihn hin und +legte ihm die Hand auf die Schulter, „du bist zu spät +gekommen. Als ich gestern hörte, daß sich Sibyl Vane +getötet habe — —“</p> + +<p>„Sich getötet! Gott im Himmel! ist das ganz sicher?“ +schrie Hallward und stierte ihn mit dem Ausdruck äußersten +Schreckens an.</p> + +<p>„Mein lieber Basil! Du glaubst doch nicht, daß es nur +ein gewöhnlicher Unglücksfall war? Natürlich hat sie sich +selbst getötet.“</p> + +<p>Der ältere Mann vergrub sein Gesicht in den Händen. +„Wie schrecklich!“ flüsterte er und ein Schauer durchrann +ihn.</p> + +<p>„Nein,“ sagte Dorian Gray, „es ist gar nichts Schreckliches +daran. Es ist eine der größten romantischen Tragödien +unserer Zeit. In der Regel führen Schauspieler das +alltäglichste Leben. Sie sind gute Ehemänner oder treue +Ehefrauen oder sonst irgendwas Langweiliges. Du verstehst, +was ich meine — hausbackene Tugend und lauter +solche Dinge. Wie anders war Sibyl! Sie lebte ihre beste +Tragödie. Sie war immer eine Heldin. Am letzten Abend, +wo sie spielte — an dem Abend, wo du sie gesehen hast —, +spielte sie schlecht, weil sie die Liebe als Wirklichkeit +erkannt hatte. Als sie ihre Unwirklichkeit erfuhr, starb +sie, wie Julia daran gestorben wäre. Sie entschwand<a class="pagenum" name="Page_169" title="169"> </a> +wieder in das Reich der Kunst. Sie umschwebt etwas von +einer Märtyrerin. Ihr Tod hat all die pathetische Nutzlosigkeit +der Märtyrerschaft, all seine vergeudete Schönheit. +Aber wie gesagt, du brauchst nicht zu glauben, daß +ich nicht gelitten hätte. Wenn du gestern in einem bestimmten +Augenblick, etwa um halb sechs oder um drei Viertel +sechs gekommen wärst — dann hättest du mich in Tränen +aufgelöst gefunden. Selbst Harry, der hier war und mir +erst die Nachricht brachte, hat keine Ahnung, was ich +durchgemacht habe. Ich litt namenlos. Dann ging es vorüber. +Ich kann das Gefühl nicht wiederholen. Niemand +kann das, sentimentale Menschen ausgenommen. Und du +bist furchtbar ungerecht, Basil. Du kommst hierher, um +mich zu trösten. Das ist gut und lieb von dir. Du findest +mich getröstet und bist wütend. So sieht dein Mitgefühl +aus! Du erinnerst mich an eine Geschichte, die mir Harry +über einen Philantropen erzählt hat, der sich zwanzig +Jahre seines Lebens damit abquälte, irgendeinen Mißstand +aus der Welt zu schaffen oder ein ungerechtes Gesetz +abzuändern — ich kann mich nicht mehr genau erinnern. +Schließlich gelang es ihm, und nichts konnte größer sein als +seine Enttäuschung. Er hatte nun absolut nichts mehr zu +tun, starb beinah vor Langerweile und wurde ein unversöhnlicher +Menschenhasser. Und außerdem, mein lieber, alter +Basil, wenn du mich wirklich trösten wolltest, so lehre mich +lieber vergessen, was geschehen ist, oder lehre mich's +von rein künstlerischer Seite ansehen. War es nicht Gautier, +der gern über die ‚<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">consolation des arts</span>‛ geschrieben +hat? Ich erinnere mich, daß mir mal in deinem Atelier<a class="pagenum" name="Page_170" title="170"> </a> +ein kleines Buch in Pergamentband in die Hand fiel, und +ich darin auf diesen entzückenden Ausdruck stieß. Nun, ich +bin ja nicht wie der junge Mann, von dem du mir einmal +in Marlow erzählt hast, und der zu sagen pflegte, gelber +Atlas könne einen über alles Elend im Leben hinwegtrösten. +Ich liebe schöne Dinge, die man in die Hand nehmen +und angreifen kann. Alter Brokat, grünpatinierte +Bronzen, Lackarbeiten, Elfenbeinschnitzereien, eine erlesene +Zimmerkunst, Luxus, Prunk, das sind alles Dinge, die +einem viel geben können. Aber die künstlerische Seelenstimmung, +die sie erzeugen oder mindestens offenbaren, +bedeutet mir doch noch mehr. Ein Zuschauer seines eigenen +Lebens sein, wie Harry sagt, das heißt, den Schmerzen +des Lebens entrinnen. Ich weiß, du bist erstaunt, daß ich +so zu dir spreche. Du hast noch nicht bemerkt, wie ich mich +entwickelt habe. Ich war ein Schulknabe, als du mich +kennenlerntest. Jetzt bin ich ein Mann. Ich habe neue +Leidenschaften, neue Gedanken, neue Vorstellungen. Ich +bin anders, aber du mußt mich trotzdem nicht weniger lieb +haben. Ich bin verändert, aber du mußt immer mein +Freund bleiben. Natürlich habe ich Harry sehr gern. Aber +ich weiß auch, daß du besser bist als er. Du bist nicht +stärker — dazu ängstigst du dich zu viel vorm Leben — +aber du bist besser. Und wie glücklich waren wir doch miteinander! +Verlaß mich nicht, Basil, und zanke nicht mit +mir. Ich bin, was ich bin. Mehr kann ich dazu nicht +sagen.“</p> + +<p>Der Maler war seltsam bewegt. Der junge Mensch war +ihm unsagbar teuer, und seine Erscheinung war der große<a class="pagenum" name="Page_171" title="171"> </a> +Wendepunkt in seiner Kunst gewesen. Er konnte den Gedanken +nicht ertragen, ihm noch weitere Vorwürfe zu +machen. Am Ende war seine Gleichgültigkeit nur eine vorübergehende +Laune. Es steckte ja soviel Gutes, soviel Edles +in ihm.</p> + +<p>„Gut, Dorian,“ sagte er endlich mit einem wehmütigen +Lächeln, „ich will von heut an nie wieder über diese furchtbare +Sache sprechen. Ich hoffe nur, dein Name wird +nicht in Verbindung damit genannt. Die Leichenschau +soll heute nachmittag stattfinden. Bist du vorgeladen?“</p> + +<p>Dorian schüttelte den Kopf, und eine unangenehme +Empfindung glitt bei dem Wort „Leichenschau“ über sein +Gesicht. In all diesen Dingen lag etwas so Rohes und Gemeines. +„Sie kennen meinen Namen nicht“, antwortete er.</p> + +<p>„Aber sie wußte ihn doch?“</p> + +<p>„Nur meinen Vornamen, und den hat sie gewiß niemand +gesagt. Sie erzählte mir einmal, daß alle sehr begierig +seien, zu erfahren, wer ich sei und daß sie ihnen +beständig sage, ich heiße der Prinz Märchenschön. Das war +hübsch von ihr. Du mußt mir eine Zeichnung von Sibyl +machen, Basil. Ich möchte von ihr gern etwas mehr +haben als die Erinnerung an ein paar Küsse und einige +gestammelte pathetische Worte.“</p> + +<p>„Ich will versuchen, etwas zu machen, Dorian, wenn ich +dir damit eine Freude bereite. Aber du mußt zu mir +kommen und mir selbst wieder sitzen. Ich komme ohne dich +nicht vom Fleck.“</p> + +<p>„Ich kann dir nie wieder sitzen, Basil. Das ist unmöglich!“ +rief Dorian und schrak zurück.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_172" title="172"> </a></p> + +<p>Der Maler starrte ihn an. „Mein lieber Junge, was für +ein Unsinn“, rief er. „Willst du damit sagen, daß du mein +Bild nicht gut findest? Wo ist es? Warum hast du den +Wandschirm vorgestellt? Laß es mich sehen. Es ist die +beste Arbeit, die ich je gemacht habe. Nimm den Schirm +weg, Dorian! Es ist eine Schande, daß dein Bedienter +mein Bild so versteckt. Ich merkte gleich, wie ich eintrat, +daß das Zimmer ganz verändert sei.“</p> + +<p>„Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Du +glaubst doch nicht etwa, daß ich ihm irgendeine Anordnung +in meinem Zimmer überlasse? Er ordnet zuweilen +meine Blumen — das ist alles. Nein, ich habe es selbst +getan. Das Licht war zu stark für das Bild.“</p> + +<p>„Zu stark? Gewiß nicht, mein Lieber. Es hat einen untadeligen +Platz. Laß mich's mal sehen!“ und Hallward +schritt in die Zimmerecke.</p> + +<p>Ein Schrei des Entsetzens entrang sich den Lippen +Dorian Grays, und er stürzte sich zwischen den Maler und +den Schirm. „Basil,“ sagte er und sah ganz bleich aus, +„du darfst es nicht sehen. Ich will es nicht.“</p> + +<p>„Mein eigenes Bild nicht sehen? Du meinst das doch +nicht im Ernst! Warum soll ich es nicht sehen?“ rief Hallward +lachend.</p> + +<p>„Wenn du versuchst, es anzusehen, Basil, gebe ich dir +mein Ehrenwort, daß ich, solange ich lebe, nie wieder ein +Wort mit dir spreche. Es ist mein völliger Ernst. Ich gebe +keine Erklärung, und du wirst um keine bitten. Aber denke +daran, wenn du diesen Wandschirm anrührst, dann ist +alles aus zwischen uns!“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_173" title="173"> </a></p> + +<p>Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Dorian +Gray ganz verblüfft an. So hatte er ihn vorher nie gesehen. +Der Jüngling war wirklich ganz bleich vor Zorn. +Seine Hände waren zusammengeballt, und die Pupillen +seiner Augen sahen aus wie blaue Feuerräder. Er zitterte +am ganzen Leibe.</p> + +<p>„Dorian!“</p> + +<p>„Sprich nicht!“</p> + +<p>„Aber was ist los? Ich sehe das Bild natürlich nicht +an, wenn du es nicht willst“, sagte der Maler ziemlich kühl, +drehte sich um und ging zum Fenster hinüber. „Aber es +scheint mir wahrhaftig ganz verrückt, daß ich mein eigenes +Werk nicht sehen soll, besonders, wo ich es im Herbst in +Paris ausstellen will. Ich werde es wahrscheinlich vorher +nochmals firnissen müssen, werde es also eines Tages doch +gewiß sehen, also warum nicht heute?“</p> + +<p>„Es ausstellen? Du willst es ausstellen?“ rief Dorian +Gray, den ein seltsames Angstgefühl überkam. Sollte alle +Welt sein Geheimnis erfahren? Sollte das Volk das Geheimnis +seines Lebens begaffen? Das war unmöglich. +Irgend etwas — er wußte noch nicht was — mußte +sofort geschehen.</p> + +<p>„Ja, ich denke nicht, daß du etwas dagegen haben wirst. +Georges Petit will nächstens meine besten Bilder für eine +Sonderausstellung in der Rue de Sèze sammeln, die in der +ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll. Das Bild wird +nur einen Monat lang weg sein. Ich meine, solange könntest +du es leicht entbehren. Du bist ohnehin während dieser +Zeit nicht in der Stadt. Und wenn du es überhaupt hinter<a class="pagenum" name="Page_174" title="174"> </a> +einem Schirm versteckt halten willst, kann dir ja nicht viel +daran gelegen sein.“</p> + +<p>Dorian Gray fuhr sich mit der Hand über die Stirn. +Schweißtropfen standen darauf. Er fühlte, daß er am +Rande einer fürchterlichen Gefahr stehe. „Du hast mir vor +einem Monat gesagt, du würdest es nie ausstellen“, rief er. +„Warum hast du dich anders entschlossen? Ihr Leute, +die ihr viel Aufhebens von der Konsequenz macht, habt +genau soviel Launen wie andere. Der einzige Unterschied +ist der, daß eure Launen wenig Sinn haben. Du kannst +nicht vergessen haben, daß du mir feierlichst versichert hast, +nichts in der Welt könne dich bewegen, das Bild auf eine +Ausstellung zu bringen. Du sagtest zu Harry ganz dasselbe.“ +Er stockte plötzlich, und ein Glanz erwachte in seinen +Augen. Er erinnerte sich, daß ihm Lord Harry einmal +halb ernst und halb scherzend gesagt hatte: Willst du mal +eine merkwürdige Viertelstunde erleben, dann laß dir von +Basil sagen, warum er dein Porträt nicht ausstellen will. +Er hat mir den Grund erzählt, und es war für mich eine +Offenbarung. Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis. +Er wollte ihn fragen und auf die Probe stellen.</p> + +<p>„Basil,“ sagte er, und trat ganz dicht zu ihm heran +und sah ihm fest ins Gesicht, „jeder von uns hat ein Geheimnis. +Sage mir das deine, und ich laß dich meines +wissen. Was für einen Grund hattest du, die Ausstellung +meines Bildes zu verweigern?“</p> + +<p>Der Maler erschauderte, ohne daß er es wollte. „Dorian, +wenn ich es dir sagte, hättest du mich wahrscheinlich weniger +lieb und würdest mich gewiß auslachen. Keines von beiden<a class="pagenum" name="Page_175" title="175"> </a> +könnte ich ertragen. Wenn du willst, daß ich nie mehr dein +Bild ansehen soll, dann geb' ich mich zufrieden. Ich kann +dich selbst ja immer ansehen. Wenn du die beste Arbeit, +die ich je gemacht habe, vor der Welt versteckt halten willst, +soll es mir recht sein. Deine Freundschaft ist mir mehr +wert als Ruhm und Anerkennung.“</p> + +<p>„Nein, Basil, du mußt es mir sagen. Ich glaube, ich +habe ein Recht, es zu wissen.“ Sein Angstgefühl hatte ihn +verlassen, und Neugier war an dessen Stelle getreten. Er +war entschlossen, hinter Basil Hallwards Geheimnis zu +kommen.</p> + +<p>„Setzen wir uns, Dorian“, sagte der Maler, der verwirrt +aussah. „Setzen wir uns und beantworte mir eine +Frage. Hast du an dem Bild etwas Merkwürdiges bemerkt? +— etwas, das dir vielleicht anfänglich nicht aufgefallen +ist, was sich dir dann aber plötzlich enthüllte?“</p> + +<p>„Basil!“ schrie der Jüngling, umklammerte die Armlehnen +seines Stuhles mit zitternden Händen und starrte +ihn mit wilden, verstörten Augen an.</p> + +<p>„Ich sehe, du hast es bemerkt. Sage nichts. Warte, bis +du gehört hast, was ich zu sagen habe. Dorian, von dem +Augenblick an, wo ich dich kennengelernt habe, übte deine +Persönlichkeit den außerordentlichsten Einfluß auf mich aus. +Ich war beherrscht von dir, meine Seele, mein Gehirn, +meine ganze Kraft war es. Du wurdest für mich die sichtbare +Verkörperung des unsichtbaren Ideals, dessen Bild +uns Künstler wie ein köstlicher Traum verfolgt. Ich habe +dich angebetet. Ich wurde eifersüchtig auf jeden Menschen, +mit dem du sprachst. Ich wollte dich ganz für mich allein<a class="pagenum" name="Page_176" title="176"> </a> +haben. Ich war nur glücklich, wenn ich mit dir zusammen +war. Wenn du fort von mir warst, lebtest du trotzdem +in meiner Kunst weiter... Natürlich ließ ich dich nie etwas +davon wissen. Das wäre unmöglich gewesen. Du hättest +es nicht verstanden. Ich selbst hab' es kaum verstanden. Ich +wußte nur, daß ich Auge in Auge die Vollkommenheit gesehen +hatte und daß sich die Welt meinen Augen als ein +Wunder erschlossen hatte — vielleicht als ein zu mächtiges +Wunder, denn in so wahnsinniger Anbetung liegt eine Gefahr, +die Gefahr, daß die Anbetung aufhört, und die Gefahr, +daß sie bleibt... Wochen und Wochen verstrichen, +und ich ging immer mehr und mehr in dir verloren. Dann +kam ein neues Stadium. Ich hatte dich als Paris in strahlender +Rüstung gemalt und als Adonis im Jägergewand +mit blitzendem Speer. Mit schweren Lotusblüten bekränzt +hast du auf dem Bug von Hadrians Barke gesessen und in +den grünen, schlammigen Nil geblickt. Du hast dich über +das stille Gewässer einer griechischen Waldlandschaft gelehnt +und im stummen Silberspiegel das Wunder deines +eigenen Antlitzes gesehen. Und es war alles gewesen, wie +die Kunst sein soll, unbewußt, ideal und entrückt. Eines +Tages, manchmal denke ich, eines verhängnisvollen Tages, +entschloß ich mich, ein wundervolles Bildnis von dir zu +malen, wie du wirklich bist, nicht im Kostüm toter Zeiten, +sondern in deiner eigenen Tracht und deiner eigenen Zeit. +Ob es nun die Realistik der Methode war, oder der Zauber +deiner eigenen Persönlichkeit, der mir so ohne jeden +Schleier und Nebel entgegentrat, kann ich nicht sagen. Aber +ich weiß, daß mir bei der Arbeit jede Schicht Farben mein<a class="pagenum" name="Page_177" title="177"> </a> +Geheimnis zu enthüllen schien. Ich ängstigte mich, andere +könnten die Abgötterei, die ich mit dir trieb, entdecken. Ich +fühlte, Dorian, daß ich zuviel gesagt, daß ich zuviel von +mir selber hineingelegt hatte. Damals beschloß ich, das +Bild nie auszustellen. Es kränkte dich ein wenig, aber damals +verstandest du eben nicht, was es für mich bedeutete; +Harry, dem ich davon erzählte, lachte mich aus. Aber das +machte mich nicht irrig. Als das Bild fertig war, und ich +allein vor ihm dasaß, fühlte ich, daß ich recht hatte... +Schön, ein paar Tage später, als es mein Atelier verlassen, +und ich alsbald den unerträglichen Zauber seiner +Gegenwart überwunden hatte, schien es mir, daß es verrückt +von mir gewesen war, mehr darin zu sehen, als +daß du sehr hübsch seist, und ich wohl malen könne. Selbst +jetzt kann ich nicht umhin, zu fühlen, daß es ein Irrtum sein +muß, wenn man glaubt, daß die Begeisterung, die man +beim Schaffen hat, in dem Werke, das man schafft, leibhaftig +zum Ausdruck käme. Die Kunst ist immer abstrakter, +als wir uns einbilden. Form und Farbe erzählen uns von +Form und Farbe — weiter nichts. Es scheint mir oft, +daß die Kunst den Künstler viel mehr verbirgt als offenbart. +Und als ich dann den Antrag aus Paris bekam, entschloß +ich mich, dein Bild zum Hauptstück meiner Ausstellung +zu machen. Es fiel mir nie ein, daß du es nicht +zulassen würdest. Ich sehe jetzt, daß du recht hast. Das Bild +darf nicht ausgestellt werden. Du mußt mir nicht böse sein, +Dorian, wegen der Dinge, die ich gesagt habe. Ich habe +früher einmal Harry gesagt, du bist dazu geschaffen, angebetet +zu werden.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_178" title="178"> </a></p> + +<p>Dorian Gray atmete tief auf. Seine Wangen bekamen +wieder Farbe, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Die +Gefahr war vorbei. Für den Augenblick war er gerettet. +Doch er mußte unendliches Mitleid fühlen mit dem Maler, +der ihm eben diese seltsame Beichte abgelegt hatte, und +er fragte sich, ob er selbst jemals so stark von der Persönlichkeit +eines Freundes beherrscht werden könnte. Lord +Henry hatte den Reiz, sehr gefährlich zu sein. Aber das +war alles. Er war zu klug und zu zynisch, als daß man ihn +wirklich lieben könnte. Würde es je einen Menschen geben, +den er merkwürdig abgöttisch anbeten könnte? War das +eines von den Dingen, die ihm das Leben noch aufsparte?</p> + +<p>„Es ist mir wirklich ein reines Rätsel,“ sagte Hallward, +„daß du das dem Porträt angesehen haben willst. Hast +du es wirklich gesehen?“</p> + +<p>„Ich habe etwas darin gesehen,“ antwortete er, „etwas, +das mir sehr sonderbar vorkam.“</p> + +<p>„Und jetzt hast du wohl nichts mehr dawider, es einmal +zu betrachten?“</p> + +<p>Dorian schüttelte den Kopf. „Das darfst du von mir +nicht verlangen, Basil. Es ist mir unmöglich, dich vor dem +Bilde stehen zu sehen.“</p> + +<p>„Aber doch ein andermal?“</p> + +<p>„Nie!“</p> + +<p>„Schön, vielleicht hast du recht. Und jetzt adieu, Dorian. +Du bist der einzige Mensch in meinem Leben gewesen, der +wirklichen Einfluß auf meine Kunst ausgeübt hat. Was ich +je Gutes gemacht habe, danke ich dir. Ach! Du kannst dir<a class="pagenum" name="Page_179" title="179"> </a> +nicht vorstellen, was es mich gekostet hat, dir all das zu +sagen, was ich gesagt habe.“</p> + +<p>„Mein lieber Basil,“ sagte Dorian, „was hast du mir +denn gesagt? Nichts, als daß du das Gefühl habest, mich +zu sehr zu bewundern. Das ist nicht einmal ein Kompliment.“</p> + +<p>„Es sollte auch kein Kompliment sein. Es war eine +Beichte. Jetzt, da ich sie abgelegt habe, kommt es mir so +vor, als ob ich etwas verloren hätte. Man sollte seiner +Verehrung niemals das Kleid der Worte umhängen.“</p> + +<p>„Deine Beichte hat mich enttäuscht.“</p> + +<p>„Ja, was hast du denn erwartet, Dorian? Du hast doch +nicht sonst noch etwas in dem Bilde gesehen? Es war doch +nicht sonst noch etwas anderes zu sehen?“</p> + +<p>„Nein, es war sonst nichts anderes zu sehen. Warum +fragst du? Aber du solltest nicht von Verehrung sprechen. +Das ist Narrheit. Du und ich, wir sind Freunde, +Basil, und müssen es immer bleiben.“</p> + +<p>„Du hast jetzt Harry“, sagte der Maler traurig.</p> + +<p>„Oh, Harry!“ rief der junge Mann mit einem fröhlichen +Lachen. „Harry verbringt seine Tage damit, unglaubliche +Dinge zu sagen, und seine Abende, unwahrscheinliche Dinge +zu tun. Das ist genau die Art Leben, das ich führen möchte. +Immerhin glaube ich nicht, daß ich je zu Harry ginge, wenn +mich Kummer drückte. Ich würde eher zu dir kommen.“</p> + +<p>„Du willst mir wieder sitzen?“</p> + +<p>„Unmöglich!“</p> + +<p>„Du vernichtest meine künstlerische Existenz, wenn du +dich weigerst. Kein Mensch begegnet zwei Idealen. Wenige +finden eines.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_180" title="180"> </a></p> + +<p>„Ich kann es dir nicht erklären, Basil, aber ich darf dir +nie wieder sitzen. Es schwebt etwas Verhängnisvolles um +das Bildnis eines Menschen. Es hat ein Leben für sich. +Ich werde zu dir kommen und mit dir Tee trinken, das +wird ebenso hübsch <ins title="sein.">sein.“</ins></p> + +<p>„Für dich hübscher, fürchte ich“, sagte Hallward bekümmert +vor sich hin. „Und jetzt adieu. Es tut mir leid, +daß du mich nicht noch einmal das Bild sehen lassen +wolltest. Aber dabei ist nichts zu tun. Ich verstehe sehr +gut, was du dabei fühlst.“</p> + +<p>Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte sich Dorian +Gray zu. Der arme Basil! Wie wenig ahnte der doch von +dem wahren Grunde! Und wie seltsam es war, daß er es, +statt sein eigenes Geheimnis offenbaren zu müssen, fast +durch einen Zufall erreicht hatte, dem Freunde das seine +zu entreißen. Wie viel erklärte ihm doch diese merkwürdige +Beichte! Die unverständlichen Eifersuchtsanfälle des Malers, +seine ungestüme Verehrung, seine übertriebenen Lobeshymnen, +sein sonderbares Verstummen — das alles verstand +er jetzt, und er tat ihm leid. Einer Freundschaft, +die so stark von Romantik gefärbt war, schien ihm eine +gewisse Tragik inne zu wohnen.</p> + +<p>Er seufzte und drückte auf die Klingel. Das Porträt +mußte um jeden Preis versteckt werden. Er konnte sich +nicht ein zweitesmal der Gefahr solcher Entdeckung aussetzen. +Es war wahnsinnig von ihm gewesen, das Ding da +überhaupt nur eine Stunde lang in einem Zimmer zu +lassen, zu dem jeder seiner Freunde Zutritt hatte.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_181" title="181"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Zehntes_Kapitel" id="Zehntes_Kapitel"></a>Zehntes Kapitel</h2> + + +<p>Als sein Bedienter eintrat, sah er ihn forschend an und +fragte sich, ob es ihm wohl schon eingefallen sei, hinter +den Schirm zu blicken. Der Mann sah aber ganz harmlos +aus und wartete auf seine Befehle. Dorian zündete sich +eine Zigarette an, ging zum Spiegel hinüber und sah +hinein. Er konnte Viktors Gesicht darin genau sehen. Es +war eine reglose Maske der Unterwürfigkeit. Daher war +nichts zu fürchten, daher nicht. Doch er hielt es für das +beste, auf der Hut zu sein.</p> + +<p>In sehr leisem Tone trug er ihm auf, die Haushälterin +herein zu rufen und dann zum Einrahmer zu gehen, damit +er sofort zwei Gehilfen schicke. Es schien ihm, daß die +Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, in die +Richtung des Schirmes gingen. Oder war das nur Einbildung +von ihm?</p> + +<p>Nach einigen Augenblicken trat Frau Leaf in ihrem +schwarzseidenen Kleid, altmodische Zwirnhandschuhe auf +den runzligen Händen, in die Bibliothek. Er verlangte von +ihr den Schlüssel zum Schulzimmer.</p> + +<p>„Das alte Schulzimmer, Herr Dorian!“ rief sie aus. +„Ei, das ist ja voller Staub. Es muß erst hergerichtet und +in Ordnung gebracht werden, bevor Sie hinein können. +Es ist jetzt nicht in einem Zustand, daß Sie es sehen könnten, +gnädiger Herr. Wirklich nicht.“</p> + +<p>„Es braucht nicht hergerichtet zu werden, gute Leaf. +Ich will nur den Schlüssel.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_182" title="182"> </a></p> + +<p>„Aber gnädiger Herr, Sie werden sich voller Spinnweben +machen, wenn Sie hineingehen. Ei, es ist ja beinah +seit fünf Jahren nicht geöffnet worden, seit seine Gnaden +gestorben sind.“</p> + +<p>Er zuckte zusammen bei der Erwähnung seines Großvaters. +Er hatte nur gehässige Erinnerungen an ihn. „Das +macht nichts“, erwiderte er. „Ich will das Zimmer nur +sehen — das ist alles. Geben Sie mir den Schlüssel.“</p> + +<p>„Hier ist schon der Schlüssel, gnädiger Herr“, sagte die +alte Dame, die ihren Schlüsselbund mit zitternden, unsicheren +Händen durchmustert hatte. „Hier ist der Schlüssel, +ich werde ihn gleich vom Bund haben. Aber Sie denken +doch nicht daran, dort hinaufzuziehen, gnädiger Herr, +wo Sie es hier so gemütlich haben?“</p> + +<p>„Nein, nein!“ rief er ungeduldig. „Ich danke, gute +Leaf. Ich brauche sonst nichts.“</p> + +<p>Sie verweilte noch ein paar Augenblicke und wollte über +irgendeine Angelegenheit in der Haushaltung zu quengeln +anfangen. Er seufzte und sagte, sie solle alles so erledigen, +wie sie es fürs beste halte. Mit strahlendem Gesichte verließ +sie das Zimmer.</p> + +<p>Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel +in die Tasche und blickte sich im Zimmer um. Sein +Auge fiel auf eine große purpurne Atlasdecke mit schweren +Goldstickereien, ein köstliches Stück venezianischer Arbeit +vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein Großvater +in einem Kloster nahe bei Bologna aufgestöbert +hatte. Ja, die paßte trefflich, um das schreckliche Ding +damit zu verhüllen. Sie hatte vielleicht oft als Bahrtuch<a class="pagenum" name="Page_183" title="183"> </a> +für Tote gedient. Jetzt sollte sie etwas verhüllen, das eine +eigene Art Verwesung in sich hatte, eine ärgere als die +Verwesung des Todes — etwas, das Schrecknisse ausbrüten +und doch nie sterben würde. Was Würmer für +einen Leichnam sind, das würden seine Sünden für das +gemalte Antlitz auf der Leinwand werden. Sie würden +seine Schönheit zerstören und seine Anmut wegfressen. +Sie würden es beflecken und schänden. Und doch würde +das Bild weiterleben. Es würde immer am Leben +bleiben.</p> + +<p>Er schauderte, und einen Augenblick lang tat es ihm +leid, daß er Basil nicht den wahren Grund gesagt habe, +warum er das Bild verstecken wolle. Basil hätte ihm helfen +können, sowohl dem Einfluß Lord Henrys zu widerstehen, +als auch den noch viel giftigeren Einflüssen, die aus seiner +eigenen Natur herrührten. Die Liebe, die Basil für ihn +hegte — denn es war wirklich Liebe —, schloß nichts ein, +was nicht edel und vergeistigt wäre. Es war nicht jene +rein physische Bewunderung, die eine Geburt der Sinne +ist und mit der Ermüdung der Sinne hinstirbt. Es war +eine Liebe, wie sie Michelangelo gekannt hatte und Montaigne +und Winkelmann und auch Shakespeare. Ja, Basil +hätte ihn retten können. Aber jetzt war es zu spät. Die +Vergangenheit konnte immer vernichtet werden. Reue, +Verleugnung oder Vergessenheit konnten das bewirken. +Aber die Zukunft war unabwendlich. Er hatte Leidenschaften +in sich, die ihr fürchterliches Ausfalltor bei ihm +finden wurden, Träume, die ihre sündigen Schatten zur +Wirklichkeit umwandeln würden.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_184" title="184"> </a></p> + +<p>Er griff nach dem großen Überwurf aus Purpur und +Gold, der den Diwan bedeckte, hob ihn mit beiden Händen +auf und ging damit hinter den Schirm. War das Gesicht +auf der Leinwand jetzt häßlicher als vorher? Es erschien +ihm unverändert; und doch, sein Abscheu davor +war noch verstärkt. Goldiges Haar, blaue Augen, rosenrote +Lippen — das war alles da. Nur der Ausdruck hatte +sich verwandelt. Der war erschreckend in seiner Grausamkeit. +Im Vergleich zu den Vorwürfen und der Rüge, die +er in dem Bilde sah, wie nichtssagend waren da Basils +Vorhaltungen über Sibyl Vane gewesen — nichtssagend +und belanglos! Seine eigene Seele sah ihn an aus der +Leinwand und forderte ihn vors Gericht. Ein schmerzlicher +Zug legte sich über sein Gesicht, und er warf die prunkvolle +Sofadecke über das Bild. Während er dies tat, klopfte +es an die Tür. Er kam hinter dem Wandschirm hervor, als +sein Bedienter eintrat.</p> + +<p>„Die Leute sind da, Monsieur.“</p> + +<p>Er hatte das Gefühl, daß er den Mann jetzt los werden +müsse. Er durfte nicht wissen, wohin das Bild sollte. Er +hatte etwas Listiges an sich und nachdenkliche, verräterische +Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch, kritzelte ein paar +Zeilen hin an Lord Henry, worin er bat, ihm etwas zum +Lesen zu schicken, und worin er ihn daran erinnerte, daß +sie sich um viertel neun heut abend treffen wollten.</p> + +<p>„Warten Sie auf Antwort,“ sagte er, indem er ihm +den Brief übergab, „und lassen Sie die Leute herein.“</p> + +<p>Nach zwei bis drei Minuten klopfte es wieder, und Herr +Hubbard, der berühmte Rahmenfabrikant aus South<a class="pagenum" name="Page_185" title="185"> </a> +Audley Street, trat mit einem struwwelig aussehenden +Gehilfen herein. Herr Hubbard war ein blühend aussehender, +rotbäckiger, kleiner Mann, dessen Bewunderung für +die Kunst beträchtlich vermindert worden war durch den +althergebrachten Geldmangel bei den meisten Künstlern, +die mit ihm zu tun hatten. In der Regel verließ er seine +Werkstatt nie. Er wartete, bis die Leute zu ihm kamen. +Aber bei Dorian Gray machte er immer eine Ausnahme. +Es war etwas an Dorian, was jeden entzückte. Ihn nur +zu sehen, das war schon ein Vergnügen.</p> + +<p>„Was steht zu Ihren Diensten, Herr Gray?“ fragte er +und rieb seine fetten, sommersprossigen Hände. „Ich +dachte, ich wollte mir selbst die Ehre geben, herüberzukommen. +Ich habe gerade ein Prachtstück von Rahmen da. +Bei einer Auktion ergattert. Alt-Florentiner. Stammt +aus Fonthill, vermute ich. Wundervoll geeignet für einen +religiösen Gegenstand, Herr Gray.“</p> + +<p>„Es tut mir leid, daß Sie sich selbst herbemüht haben, +Herr Hubbard. Ich werde gern mal vorbeikommen und +den Rahmen ansehen — obwohl ich mich gerade jetzt nicht +sehr für religiöse Kunst interessiere — aber heute möchte +ich nur ein Bild auf den Boden getragen haben. Es ist +ziemlich schwer, deshalb dachte ich mir, daß Sie so gut +wären, mir zwei von Ihren Leuten zu leihen.“</p> + +<p>„Hat gar nichts zu sagen, Herr Gray. Freue mich, +wenn ich Ihnen den kleinsten Dienst leisten kann. Wo ist +das Kunstwerk, gnädiger Herr?“</p> + +<p>„Dies da“, antwortete Dorian und schob den Schirm zurück. +„Können Sie es so hinaufbringen, wie es jetzt ist,<a class="pagenum" name="Page_186" title="186"> </a> +Decke und Bild zusammen? Ich möchte nicht, daß es die +Treppen hinauf zerschrammt wird.“</p> + +<p>„Das werden wir leicht kriegen“, sagte der muntere +Rahmenmacher und begann mit Hilfe von seinem Gesellen +das Bild von den langen Messingketten loszumachen, an +denen es aufgehängt war. „Und wo soll es jetzt hingebracht +werden, Herr Gray?“</p> + +<p>„Ich will Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn +Sie so gut sein wollen, mir nur zu folgen. Oder vielleicht +gehen Sie lieber voraus. Es tut mir leid, aber es ist ganz +oben. Wir wollen über die Vordertreppe gehen, die ist +breiter.“</p> + +<p>Er hielt ihnen die Tür auf, und sie gingen in den Vorraum +hinaus und fingen an, hinaufzusteigen. Die ausladenden +Verzierungen des Rahmens hatten das Bild sehr +umfangreich gemacht, und hin und wieder legte Dorian mit +Hand an, um ihnen zu helfen, trotz den unterwürfigen +Einwänden des Herrn Hubbard, der die lebhafte Abneigung +des wirklichen Handwerkers gegen jede nützliche Beschäftigung +eines vornehmen Herrn hatte.</p> + +<p>„Da hat man ein ziemliches Gewicht zu schleppen“, +pustete der kleine Mann, als sie den letzten Treppenabsatz +erreicht hatten. Und er trocknete sich die glänzende Stirn.</p> + +<p>„Es tut mir leid, daß es so schwer ist“, murmelte Dorian, +während er die Tür zu dem Zimmer aufschloß, das +dieses sonderbare Geheimnis seines Lebens aufbewahren +und seine Seele vor den Blicken der Menschheit schützen +sollte.</p> + +<p>Er hatte die Stube wohl länger als vier Jahre nicht<a class="pagenum" name="Page_187" title="187"> </a> +betreten — in Wirklichkeit nicht, seitdem sie ihm in seiner +Kindheit zuerst als Spielzimmer, und dann, als er etwas +älter war, als Studierzimmer gedient hatte. Es war ein +großer Raum von schönen Verhältnissen, den der verstorbene +Lord Kelso eigens zur Benutzung für seinen +kleinen Enkel angebaut hatte, den er wegen seiner fabelhaften +Ähnlichkeit mit seiner Mutter und auch noch aus +anderen Gründen immer gehaßt hatte und möglichst +weit weg von sich haben wollte. Der Raum schien Dorian +wenig verändert. Da war der mächtige italienische Cassone +mit den phantastisch bemalten Füllungen und den abgenutzten +goldenen Ornamenten, in dem er sich als Junge +oft versteckt hatte. Da stand der polierte Bücherschrank +aus Satinholz mit seinen Schulbüchern voll Eselsohren. +An der Wand darüber hing noch derselbe zerfaserte flämische +Gobelin, auf dem ein verblichener König und eine +Königin in einem Garten Schach spielten, während ein +Trupp von Falkenieren vorbeiritt, die auf ihren Panzerhandschuhen +Vögel mit kappenverhüllten Köpfen trugen. +Wie gut er sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner +vereinsamten Kindheit kam ihm vors Gedächtnis, während +er sich umsah. Er entsann sich der fleckenlosen Reinheit +seines Knabenlebens, und es schien ihm furchtbar, +daß gerade hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen +werden sollte. Wie wenig hatte er in diesen längst verrauschten +Tagen von alledem geahnt, was seiner warten +sollte!</p> + +<p>Aber kein anderer Ort im ganzen Hause war so sicher +vor neugierigen Augen als dieser. Er hatte den Schlüssel,<a class="pagenum" name="Page_188" title="188"> </a> +und jetzt konnte niemand weiter hinein. Hinter dem purpurnen +Bahrtuch konnte nun das gemalte Gesicht auf der +Leinwand tierisch, gedunsen und lasterhaft werden. Was +lag daran? Niemand konnte es sehen. Er selbst wollte es +nicht sehen. Warum sollte er die gräßliche Verwesung +seiner Seele verfolgen? Er behielt seine Jugend — das +mußte genügen. Und übrigens, konnte sein Wesen trotz +allem nicht edler werden? Es war kein Grund vorhanden, +daß die Zukunft so angefüllt von Lastern sein müsse. Die +Liebe konnte in sein Leben treten und ihn läutern und +ihn vor den Sünden beschützen, die ihm schon in Geist +und Blut zu gähren schienen — diese seltsamen, nicht +gemalten Sünden, deren Unbekanntheit ihnen eben den +Reiz und die Verführung lieh. Eines Tages vielleicht +verschwand der grausame Zug von dem empfindlichen +Scharlachmund, und dann würde er der Welt Basil +Hallwards Meisterwerk zeigen können.</p> + +<p>Nein, das war unmöglich. Stunde für Stunde und +Woche für Woche alterte das Antlitz auf der Leinwand. +Es mochte den Greueln der Sünde entfliehen, aber die +Greuel des Alters mußten es einholen. Die Wangen +müssen hohl oder schlaff werden. Gelbe Krähenfüße müssen +sich um die glanzlosen Augen herumringeln und sie fürchterlich +machen. Das Haar mußte seinen Glanz verlieren, +der Mund klaffen oder einfallen, blöde oder gewöhnlich +aussehen, wie eben der Mund alter Leute aussieht. Der +Hals mußte verschrumpfen, die Hände mußten kalt und von +blauen Adern durchzogen werden, der Körper mußte sich +krümmen, wie er ihn bei seinem Großvater gesehen hatte,<a class="pagenum" name="Page_189" title="189"> </a> +der so streng gegen ihn gewesen war in der Knabenzeit. +Das Bildnis mußte verborgen bleiben. Da konnte nichts +helfen.</p> + +<p>„Bitte, Herr Hubbard, bringen Sie es herein“, sagte +er abgespannt und wandte sich um. „Es tut mir leid, daß +ich Sie so lange aufhielt. Ich dachte gerade nach über +etwas.“</p> + +<p>„Immer angenehm, sich mal verschnaufen zu können, +Herr Gray“, antwortete der Rahmenmacher, der noch +immer nach Luft schnappte. „Wo sollen wir es hinstellen?“</p> + +<p>„Ach, irgendwo. Vielleicht hierher: da wird's gut +stehen. Ich will's nicht aufgehängt haben. Lehnen Sie es +nur gegen die Wand. Danke!“</p> + +<p>„Darf man das Kunstwerk mal ansehen?“</p> + +<p>Dorian erschrak. „Es würde Sie nicht interessieren, Herr +Hubbard“, sagte er und sah den Mann fest an. Er fühlte +sich imstande, auf ihn loszustürzen und ihn zu Boden zu +werfen, wenn er es wagen sollte, die schimmernde Hülle +zu lüften, die das Geheimnis seines Lebens barg. „Ich will +Sie nicht länger aufhalten. Schönsten Dank, daß Sie so +freundlich waren, herüberzukommen.“</p> + +<p>„Kein Anlaß, kein Anlaß, Herr Gray! Es ist mir +immer ein Vergnügen, für Sie etwas tun zu dürfen.“</p> + +<p>Und Herr Hubbard stapfte die Treppe hinab, sein +Gehilfe hinterher, der noch einmal nach Dorian zurückblickte, +mit einem Ausdruck scheuer Bewunderung in dem unschönen +Alltagsgesicht. Er hatte nie einen Menschen gesehen, +der so wunderhübsch war.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_190" title="190"> </a></p> + +<p>Als das Geräusch ihrer Fußtritte verklungen war, +schloß Dorian die Tür zu und steckte den Schlüssel in die +Tasche. Jetzt fühlte er sich gleichsam gerettet! Nie würde +jemand das Schrecknis sehen. Kein Auge als seines würde +mehr seine Schande erblicken.</p> + +<p>Als er wieder in die Bibliothek kam, sah er, daß es +gerade fünf Uhr war und daß der Tee schon bereit stand. +Auf einem kleinen Tisch aus dunklem, wohlriechendem +Holz, das reich mit Perlmutter ausgelegt war, einem +Geschenk der Frau seines Vormundes, Lady Radley, einer +hübschen Kranken von Beruf und Gewohnheit, die den vergangenen +Winter in Kairo zugebracht hatte, lag ein +Briefchen von Lord Henry und daneben ein Buch in +gelbem, leicht abgenutztem und an den Ecken nicht mehr +ganz sauberem Umschlag. Ein Exemplar der dritten Tagesausgabe +der St.-James-Gazette lag auf dem Teebrett. +Offenbar war Viktor zurückgekehrt. Er fragte sich, ob +er wohl die Leute in der Vorhalle getroffen hätte, als +sie das Haus verließen, und ob er sie ausgeforscht hätte, +was sie getan hätten. Er würde sicher das Bild vermissen +— hatte es ohne Zweifel schon vermißt, als er den Teetisch +zurecht machte. Der Schirm war noch nicht an seinen +Platz zurückgestellt worden, und der leere Raum an der +Wand war auffallend. Vielleicht würde er ihn eines Nachts +ertappen, wie er hinaufschlich und die Tür des Bodenzimmers +zu sprengen versuchte. Es war schrecklich, einen +Spion im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten +gehört, die ihr ganzes Leben hindurch von den Erpressungen +eines Bedienten ausgesaugt wurden, der mal irgendeinen<a class="pagenum" name="Page_191" title="191"> </a> +Brief gelesen oder ein Gespräch mitangehört oder +eine Karte mit einer Adresse gefunden oder unter einem +Kissen eine verwelkte Blume oder einen Fetzen zerknitterter +Spitze entdeckt hatte.</p> + +<p>Er seufzte, goß sich etwas Tee ein und öffnete Lord +Henrys Billett. Es stand nur darin, daß er ihm die +Abendzeitung schicke und ein Buch, das ihn vielleicht +interessieren werde, und daß er ihn um Viertel neun im +Klub zu treffen hoffe. Er öffnete langsam die St.-James +und durchflog sie. Ein Strich mit Rotstift auf der fünften +Seite fiel ihm auf. Er machte auf die folgende Notiz +aufmerksam:</p> + +<blockquote> + +<p>„<em class="gesperrt">Leichenschau einer Schauspielerin.</em> Eine +gerichtliche Untersuchung wurde heute morgen von Herrn +Danby, dem Bezirks-Leichenbeschauer in der Bell Tavern, +Hoxton Road, über den Leichnam von Sibyl +Vane, einer jungen Schauspielerin, die seit kurzem am +Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten. +Es wurde auf Tod durch einen Unglücksfall erkannt. +Reges Mitgefühl erweckte die Mutter der Verblichenen, +die während ihrer Aussage und der des <span class="antiqua">Dr.</span> Birrel, +der die Obduktion der Leiche vorgenommen hatte, ihrem +Schmerz erschütternden Ausdruck gab.“</p></blockquote> + +<p>Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt, lief im Zimmer +auf und ab und warf die Papierfetzen weg. Wie +häßlich das alles war! Und was für eine schreckliche +Wirklichkeit die Häßlichkeit allem gab! Er ärgerte sich +ein wenig über Lord Henry, daß er ihm den Bericht geschickt +hatte. Und sicher war es albern von ihm, ihn mit<a class="pagenum" name="Page_192" title="192"> </a> +Rotschrift anzustreichen. Viktor konnte ihn gelesen haben. +Der Mann verstand dafür mehr als genug Englisch.</p> + +<p>Vielleicht hatte er ihn schon gelesen und angefangen, +Verdacht zu schöpfen. Und wenn schon, was lag daran? +Was hatte Dorian Gray mit Sibyl Vanes Tod zu tun? +Es war kein Grund zur Furcht. Dorian Gray hatte sie +nicht getötet.</p> + +<p>Sein Auge fiel auf das gelbe Buch, das ihm Lord +Henry geschickt hatte. Er war gespannt, was es sein mochte. +Er trat an den kleinen perlfarbenen, achteckigen Hocker, +der ihm immer wie das Werk seltsamer ägyptischer Bienen +vorgekommen war, die ihre Waben in Silber trieben, +nahm den Band zur Hand, warf sich in einen Lehnsessel +und begann zu blättern. Nach einigen Augenblicken kam +er nicht mehr davon los. Es war das merkwürdigste Buch, +das er je gelesen hatte. Es schien ihm, als zögen in erlesenen +Prachtgewändern und zum Klange von Flöten +die Sünden der Welt in stummem Reigentanze an ihm +vorbei. Dinge, die er bestimmt geträumt hatte, wurden +plötzlich zur Wirklichkeit. Dinge, von denen er vag geträumt +hatte, wurden ihm mählich enthüllt.</p> + +<p>Es war ein Roman ohne rechte Handlung, der sich um +einen einzigen Charakter drehte, eigentlich eine bloße +psychologische Studie über einen gewissen jungen Pariser, +der sein Leben mit dem Versuche hinbrachte, im neunzehnten +Jahrhundert alle Leidenschaften und Wandlungen +der Denkungsart in Wirklichkeit umzusetzen, die jedem +Jahrhundert, außer seinem eigenen, angehört hatten, +und so die verschiedenartigen psychischen Zustände, die<a class="pagenum" name="Page_193" title="193"> </a> +irgend einmal die Weltseele durchgemacht hatte, in sich +selbst gewissermaßen zu vereinigen, indem er jene Entsagungen, +die die Menschen in ihrer Torheit Tugend genannt +haben, ihrer bloßen Künstlichkeit wegen ebenso +heftig liebte wie jene Empörungen gegen die Natur, die +weise Menschen noch immer Sünden nennen. Der Stil, in +dem das Buch geschrieben war, bestand in jener sonderbaren, +reich geschmückten Diktion, die lebendig und dunkel +zugleich ist, von Argotausdrücken und archaistischen Wendungen, +von technischen Ausdrücken und sorgsam gefeilten +Umschreibungen strotzt, wie sie die Arbeiten einiger der +feinsten Künstler aus der französischen Symbolistenschule +kennzeichnet. Es waren Metaphern darin, so abenteuerlich +an Form wie Orchideen und auch so fein angehaucht +wie deren Farbentöne. Das Leben der Sinne war mit +einer Terminologie mystischer Philosophie beschrieben. Man +wußte manchmal kaum, ob man von den vergeistigten +Entzückungen eines mittelalterlichen Heiligen las oder die +krankhaften Beichtbekenntnisse eines modernen Sünders. +Es war ein Buch voll Gift. Ein dicker Weihrauchnebel +schien über den Seiten zu schweben und sein Gehirn zu +betäuben. Schon der melodische Fall der Sätze, die gesuchte +Monotonie ihrer Musik mit der Fülle von komplizierten +Refrains und Taktgefügen, die sich in der raffiniertesten +Weise wiederholten, erzeugten im Geist des +Jünglings, als er von Kapitel zu Kapitel weiterlas, eine +Art Träumerei, ja eine förmliche Krankheit des Träumens, +so daß er den sinkenden Tag und die hereinkriechenden +Schatten nicht merkte.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_194" title="194"> </a></p> + +<p>Wolkenlos, von den Strahlen keines einzigen Sternes +durchstochen, glimmerte ein kupfergrüner Himmel durch die +Fenster. Er las bei seinem matten Licht weiter, bis er +nicht mehr lesen konnte. Nachdem ihn sein Diener mehrere +Male an die späte Stunde erinnert hatte, stand er auf, +ging ins Nebenzimmer, legte das Buch auf das Florentiner +Tischchen, das immer neben seinem Bett stand, und begann +sich zum Diner umzukleiden.</p> + +<p>Es war fast neun Uhr, als er im Klub ankam, wo er +Lord Henry allein und sehr gelangweilt aussehend, im +Frühstückszimmer sitzend, antraf.</p> + +<p>„Es tut mir zwar leid, Harry,“ rief er, „aber es ist +nur deine Schuld. Das Buch, das du mir geschickt hast, +hat mich wirklich so gefesselt, daß ich gar nicht merkte, +wo die Zeit geblieben ist.“</p> + +<p>„Ja, ich dachte mir, daß es dir gefällt“, antwortete +der Freund, sich vom Stuhle erhebend.</p> + +<p>„Ich habe nicht gesagt, daß es mir gefällt, Harry. Ich +habe gesagt, es fesselte mich. Das ist ein großer Unterschied.“</p> + +<p>„Ah, das hast du entdeckt?“ sagte Lord Henry. Und +sie gingen zusammen in den Speisesaal.</p> + +<h2><a name="Elftes_Kapitel" id="Elftes_Kapitel"></a>Elftes Kapitel</h2> + + +<p>Jahre hindurch konnte sich Dorian Gray von dem Einfluß +dieses Buches nicht losmachen. Oder es wäre vielleicht +richtiger zu sagen, er versuchte gar nicht, sich von<a class="pagenum" name="Page_195" title="195"> </a> +ihm loszumachen. Er ließ sich aus Paris nicht weniger +als neun Luxusexemplare der ersten Auflage kommen und +ließ sie verschiedenfarbig einbinden, damit sie zu den +wechselnden Launen und veränderlichen Stimmungen seiner +Natur paßten, über die er bisweilen jede Herrschaft verloren +zu haben schien. Der Held, der wunderbare junge +Pariser, bei dem das romantische und das wissenschaftliche +Temperament so merkwürdig vermischt waren, wurde +für ihn eine Art vorbildlicher Idealgestalt seiner selbst. +Und in der Tat schien ihm das ganze Buch die Geschichte +seines Lebens zu enthalten, aufgeschrieben, bevor er selbst +es gelebt hatte.</p> + +<p>In einer Beziehung aber war er glücklicher als der +phantastische Romanheld. Er kannte nie — hatte in der +Tat auch nie einen Grund dazu — das beinahe groteske +Grauen vor Spiegeln und polierten Metallflächen und +unbewegten Wassern, das den jungen Pariser so früh im +Leben überkam und das durch den jähen Verfall einer +Schönheit verursacht war, die allem Anschein nach vorher +ganz außerordentlich gewesen sein mußte. Mit einer fast +grausamen Lust — und vielleicht liegt in jeder Lust, +wie gewißlich in jedem Genuß, Grausamkeit — pflegte er +den zweiten Teil des Buches zu lesen mit dem wirklich +tragischen, wenn auch etwas übertrieben geschilderten Bericht +von den Leiden und der Verzweiflung eines Menschen, +der selbst verloren hatte, was er an anderen und an der +Welt am höchsten schätzte.</p> + +<p>Denn die wundervolle Schönheit, die Basil Hallward +so gefesselt hatte und manchen anderen auch, schien ihn nie<a class="pagenum" name="Page_196" title="196"> </a> +zu verlassen. Selbst jene, die die häßlichsten Dinge über +ihn gehört hatten — und von Zeit zu Zeit schlichen seltsame +Gerüchte über seine Lebensweise durch London und +wurden das Gespräch der Klubs — konnten, wenn sie ihn +sahen, nichts glauben, was ihm hätte zur Unehre gereichen +können. Er sah immer aus wie einer, der sich in +der Welt unbefleckt erhalten hatte. Männer, die sich anstößige +Dinge erzählten, verstummten, wenn Dorian Gray +ins Zimmer trat. In der Reinheit seines Antlitzes lag ein +Etwas, das sie in Schranken hielt. Seine bloße Gegenwart +schien in ihnen die Erinnerung an die Unschuld zu erwecken, +die sie beschmutzt hatten. Sie staunten, daß ein +so reizender und anmutiger Mensch wie er der Befleckung +durch eine Zeit hatte entgehen können, die zugleich unsauber +und sinnlich war.</p> + +<p>Oft, wenn er von einer der geheimnisvollen längeren +Abwesenheiten zurückkehrte, die so merkwürdige Vermutungen +bei seinen Freunden erregten oder bei jenen, die sich +dafür hielten, so schlich er hinauf in die verschlossene Dachstube, +öffnete die Tür mit dem Schlüssel, der ihn nun nie +mehr verließ, und stand mit einem Handspiegel vor dem +Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte, +und sah bald auf das schändliche und gealterte Antlitz auf +der Leinwand, bald auf das schöne, junge Gesicht, das ihn +aus der glatten Spiegelfläche anlächelte. Gerade die Stärke +dieses Kontrastes pflegte seine Lustempfindung zu erhöhen. +Er verliebte sich mehr und mehr in seine eigene Schönheit +und empfand mehr und mehr Teilnahme für die Verderbnis +seiner eigenen Seele. Er untersuchte mit peinlicher<a class="pagenum" name="Page_197" title="197"> </a> +Sorgsamkeit und manchmal mit ungeheuerlichem +und schrecklichem Wonnegefühl die häßlichen Linien, die +die runzlige Stirn durchfurchten oder sich um den üppigen +sinnlichen Mund schlängelten, und fragte sich manchmal, +ob wohl die Merkmale der Sünde schrecklicher seien oder +die Spuren des Alters? Er legte seine weißen Hände +neben die rohen, gedunsenen Hände des Bildes und lächelte. +Er machte sich lustig über den verunstalteten Leib und die +welkenden Glieder.</p> + +<p>Dann gab es in der Tat Augenblicke, nachts, wenn er +schlaflos in seinem mild durchdufteten Zimmer lag oder in +der schmuddeligen Stube der kleinen berüchtigten Kneipe +nahe den Docks, die er unter einem angenommenen Namen +und verkleidet zu besuchen pflegte, wo er mit einem +Mitgefühl, das um so beklemmender war, als es einen +rein ethischen Ursprung hatte, an das Elend dachte, das +er über seine Seele gebracht hatte. Aber Augenblicke wie +diese waren selten. Jene Neugier auf das Leben, die Lord +Henry zuerst in ihm aufgestört hatte, als sie im Garten +ihres Freundes nebeneinander saßen, schien mit ihrer Befriedigung +nur zu wachsen. Je mehr er wußte, desto mehr +wollte er wissen. Er hatte tolle Hungeranfälle, die immer +ungestillter wurden, je mehr er sie nährte.</p> + +<p>Und doch war er nicht gerade liederlich geworden, wenigstens +nicht in seinen Beziehungen zur Gesellschaft. Ein- +oder zweimal in jedem Monat während des Winters und +jeden Mittwochabend während der Saison öffnete er der +Welt sein schönes Haus, und immer waren die berühmtesten +Musiker da, um seine Gäste mit ihrer erlesenen Kunst<a class="pagenum" name="Page_198" title="198"> </a> +zu begeistern. Seine kleinen Diners, bei deren Vorbereitung +ihm Lord Henry immer half, waren ebensosehr wegen der +sorgsamen Auswahl und Tischordnung der Eingeladenen +berühmt, wie wegen des ausgesuchten Geschmackes, der +sich in der Tafeldekoration mit ihren fein abgetönten, symphonischen +Anordnungen exotischer Pflanzen, gestickter +Decken und antiker Gold- und Silbergeräte aussprach. +Tatsächlich gab es eine große Zahl, besonders von ganz +jungen Menschen, die in Dorian Gray die vollkommene +Verkörperung eines Typus sahen oder zu sehen wähnten, +von dem sie oft in den Tagen von Eton oder Oxford geträumt +hatten, eines Typus, der etwas von der wirklichen +Bildung des Gelehrten mit der Anmut, Vornehmheit und +den vollendeten Manieren eines Weltmannes vereinigte. +Ihnen erschien er als einer aus jener Menschengruppe, von +denen Dante sagt, „sie suchten sich durch die Anbetung +der Schönheit zu vervollkommnen“. Gleich Gautier war +er einer von denen, „für die die sichtbare Welt da war“.</p> + +<p>Und gewiß war für ihn das Leben die erste, die größte +Kunst, und alle übrigen Künste schienen nur die Vorschule +dazu. Natürlich übte auch die Mode, durch die das +wirklich Phantastische einen Augenblick lang Allgemeingut +wird, und das Dandytum, das auf seine Weise einen +Versuch bildet, eine absolut moderne Art von Schönheit +zu verkörpern, ihren Reiz auf ihn aus. Seine Art, sich zu +kleiden, und die besonderen Stilabweichungen, die er von +Zeit zu Zeit sehen ließ, hatten einen ausgesprochenen Einfluß +auf die jungen Stutzer der Bälle in Mayfair und +der Fenster des Pall-Mall-Klubs, die ihm in allem, was<a class="pagenum" name="Page_199" title="199"> </a> +er tat, nachahmten und jede Exzentrizität aufgriffen, die +seine Anmut erhöhte, aber ihm selbst nur teilweis ernst +war.</p> + +<p>Denn er war nur zu leicht bereit, die Stellung anzunehmen, +die ihm unmittelbar nach seiner Volljährigkeit +geboten wurde, und er fand in Wahrheit einen besonderen +Genuß in dem Gedanken, er könne für das London seiner +Zeit das werden, was für das Rom des Kaisers Nero +der Verfasser des „Satyrikon“ gewesen war, aber er +wünschte doch im innersten Herzen mehr zu werden als ein +arbiter elegantiarum, und nicht nur über das Tragen +eines Schmuckstückes oder das Binden einer Krawatte oder +die Haltung eines Spazierstockes befragt zu werden. Er +suchte ein neues Schema für die Lebensführung zu entwerfen, +das seine philosophische Grundlage und seine geordneten +Prinzipien haben und in der Vergeistigung der +Sinne seine höchste Vervollkommnung erreichen sollte.</p> + +<p>Die Pflege der Sinne ist oft und mit vielem Recht geschmäht +worden, da die Menschen einen natürlichen, instinktiven +Abscheu vor Leidenschaften und Empfindungen +haben, die stärker scheinen als sie selbst und die sie mit +weniger hoch organisierten Formen des Lebendigen gemein +zu haben sich bewußt sind. Doch kam es Dorian Gray so +vor, als ob die wahre Natur der Sinne noch nie verstanden +worden sei und als ob sie nur deshalb wild und tierisch +geblieben seien, weil die Welt versuchte, sie durch Hunger +zur Unterwerfung zu bringen oder durch Schmerzen zu +töten, statt bestrebt zu sein, sie zu Bestandteilen einer +neuen geistigen Welt zu machen, in der ein edles Schönheitsbewußtsein<a class="pagenum" name="Page_200" title="200"> </a> +die vorherrschende Triebfeder sein sollte. +Wenn er auf den Gang der Menschen durch die Weltgeschichte +zurückblickte, verfolgte ihn ein Gefühl des Verlustes. +So vielem war entsagt worden und zu so geringem +Zweck! Es hatte wahnsinnige freiwillige Entsagungen +gegeben, ungeheuerliche Formen von Selbstquälerei und +Selbstverleugnung, deren Ursprung die Furcht war und +deren Ergebnis eine Erniedrigung von unsäglich schrecklicherer +Art, als jene nur eingebildete Erniedrigung, vor +der sie sich in ihrer Unwissenheit flüchten wollten, da die +Natur in ihrer wunderbaren Ironie den Anachoreten +hinausjagte, damit er sich in Gesellschaft der Bestien der +Wüste nährte, und dem Einsiedler die Tiere des Feldes +zu Gefährten gab.</p> + +<p>Ja: es mußte, wie Lord Henry prophezeit hatte, ein +neuer Hedonismus kommen, um das Leben zu erneuern +und es von jenem strengen, häßlichen Puritanertum zu erlösen, +das in unseren Tagen seine sonderbare Auferstehung +feierte. Gewiß, er würde dem Intellekt gehorsam sein +müssen; aber niemals dürfte er eine Theorie oder ein +System anerkennen, das irgendein leidenschaftliches Erlebnis +zum Opfer forderte. Sein wahres Ziel sollte gerade +die Erfahrung selbst sein und nicht die Früchte der Erfahrung, +mochten sie nun so süß oder bitter sein, wie sie +wollten. Von dem Asketentum, das die Sinne tötet, oder +von der gewöhnlichen Ausschweifung, die sie abstumpft, +würde er nichts wissen wollen. Aber er sollte die Menschen +lehren, sich für die Momente des Lebens zu sammeln, +da dieses selbst doch nur ein Moment ist.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_201" title="201"> </a></p> + +<p>Es gibt nur wenige unter uns, die nicht manchmal vor +Tagesgrauen erwacht wären, entweder nach einer jener +traumlosen Nächte, die uns den Tod lieben lassen, oder +nach einer jener Nächte voll Schrecken und wollüstiger Albdrücken, +wo durch die Kammern des Gehirns Gespenster +flattern, die schrecklicher sind als die Wirklichkeit selbst +und erfüllt sind von dem lebendigen Dasein, das in allem +Grotesken lauert und das der gotischen Kunst ihre ewig +lebendige Kraft gibt, weil gerade diese Kunst, wie man +sagen möchte, die besondere Kunst jener ist, deren Geist +durch die Krankheit von Fieberträumen verwirrt worden +ist. Nach und nach strecken sich bleiche Finger zwischen den +Vorhängen durch und scheinen zu erzittern. In schwarzen, +abenteuerlichen Formen kriechen stumme Schatten in die +Ecken des Zimmers und kauern dort nieder. Draußen regen +sich die Vögel im Geblätter, oder man hört den Schritt +der Menschen, die zur Arbeit gehen, oder das Heulen und +Schluchzen des Windes, der von den Bergen kommt und +das schweigsame Haus umwandert, als fürchte er, die +Schläfer zu wecken, und müsse dennoch den Schlaf aus +seiner purpurnen Höhle ans Licht rufen. Schleier nach +Schleier aus feiner, dunkelfarbener Gaze heben sich, und +allmählich erhalten die Dinge ihre Formen und Farben +zurück, und wir sehen es mit an, wie die Frühdämmerung +der Welt ihre alte Gestalt zurückgibt. Die verschwommenen +Spiegel bekommen ihr Scheinleben zurück. Die lichtlosen +Lampen stehen, wo wir sie gelassen haben, und neben ihnen +liegt das halb aufgeschnittene Buch, darin wir gelesen, oder +die verwelkte Blume, die wir auf dem Ball getragen, oder<a class="pagenum" name="Page_202" title="202"> </a> +der Brief, den zu lesen wir uns gefürchtet oder den wir +zu oft gelesen haben. Nichts scheint uns geändert. Aus +den unwirklichen Schatten der Nacht tritt das wirkliche +Leben hervor, das wir kannten. Wir haben es da wieder +aufzunehmen, wo wir es unterbrochen haben, und uns +beschleicht das fürchterliche Gefühl der Notwendigkeit, seine +Energien weiter verbrauchen zu müssen in der gleichen ermüdenden +Tretmühle stereotyper Gewohnheiten, oder vielleicht +überschleicht uns eine wilde Sehnsucht, daß sich +unsere Augen eines Morgens öffnen möchten für eine +Welt, die im nächtigen Dunkel zu unserer Lust neu +erschaffen worden sei, für eine Welt, in der die Dinge +frische Linien und Farben hätten, verändert seien oder +andere Geheimnisse bürgen, für eine Welt, in der die Vergangenheit +nur einen unbedeutenden oder gar keinen +Platz hätte oder wenigstens in keiner bewußten Form +von Verpflichtung oder Reue weiterlebte, wo die Erinnerung +selbst an die Freude ihre Bitterkeit enthält +und dem Gedächtnis an den Genuß ein Schmerz beigemischt +ist.</p> + +<p>Die Erschaffung solcher Welten schien für Dorian Gray +der wahre Lebensinhalt oder wenigstens sein hauptsächlichster +Inhalt zu bedeuten; und auf seiner Suche +nach Sinnenerlebnissen, die zugleich neu und genußreich +sein sollten und jenes Element der Seltsamkeit +enthielten, die für die Romantik so wesentlich ist, eignete +er sich oft gewisse Arten zu denken an, von denen ihm +wohl bewußt war, daß sie seinem Wesen in Wirklichkeit +fremd waren, gab sich ihren subtilen Einflüssen<a class="pagenum" name="Page_203" title="203"> </a> +hin und verließ sie dann, wenn er sozusagen ihre Farbe +in sich eingesogen und seine geistige Neugier befriedigt +hatte, mit jener eigentümlichen Gleichgültigkeit, +die nicht unvereinbar ist mit einem wirklich glühenden +Temperament, und die in der Tat nach der Meinung +gewisser moderner Psychologen oft eine Bedingung dafür +ist.</p> + +<p>Einmal ging ein Gerücht von ihm, er wolle katholisch +werden; und gewiß hatte der katholische Kult eine große +Anziehungskraft für ihn. Das tägliche Meßopfer, das +wirklich viel ehrfurchterweckender ist als alle Opfer der +antiken Welt, regte ihn ebensosehr an durch seine prachtvolle +Unbekümmertheit des sinnlichen Augenscheins wie +durch die primitive Einfachheit seiner Elemente und das +ewige Pathos der menschlichen Tragödie, die es zu symbolisieren +versuchte. Er liebte es, auf das kalte Marmorpflaster +hinzuknien und den Priester zu beobachten, der +in seiner stimmungsvollen, blumengestickten Stola langsam +und mit weißen Händen den Vorhang vom Tabernakel +hinwegzog, oder die laternenförmige edelsteingeschmückte +Monstranz in die Höhe hob, die jene blasse Hostie enthielt, +von der man zuzeiten wirklich denken konnte, es sei der +panis coelestis, das Brot der Engel, oder der, in die Gewänder +der Christuspassion gehüllt, die Hostie in den +Kelch tauchte und sich um seiner Sünden willen die Brust +schlug. Die rauchenden Weihrauchkessel, die die ernsten +Knaben in ihren Spitzen- und Scharlachmänteln in der +Luft schwangen und die wie große, goldene Blumen aussahen, +übten einen tiefen Zauber auf ihn aus. Wenn er<a class="pagenum" name="Page_204" title="204"> </a> +hinaustrat, pflegte er staunend die dunkeln Beichtstühle +anzublicken und empfand eine Sehnsucht, im düsteren +Schatten eines solchen zu sitzen und den Männern und +Frauen zu lauschen, die durch das abgenutzte Gitter die +wahre Geschichte ihres Lebens flüsterten.</p> + +<p>Aber er verfiel nie dem Irrtum, seine geistige Entwicklung +durch die förmliche Annahme irgendeines Glaubens +oder Systems zu hindern oder irrtümlich ein Haus, in dem +man leben konnte, gleichsam für eine Herberge zu halten, +die nur zu kurzem Aufenthalt während einer Nacht oder +nur für ein paar Stunden während einer Nacht taugt, +wenn keine Sterne leuchten und der Mond im Wechsel +begriffen ist. Die Mystik mit ihrer wunderbaren Kraft, +uns gewöhnliche Dinge seltsam erscheinen zu lassen, und +jene tiefe Ketzersucht, die sie immer zu begleiten scheint, +reizte ihn eine Saison hindurch; und dann neigte er sich +eine andere Saison hindurch wieder den materialistischen +Lehren der Darwinistischen Bewegung in Deutschland zu +und fand einen besonderen Genuß darin, die Gedanken und +Leidenschaften der Menschen bis auf irgendeine perlgroße +Zelle im Gehirn oder auf irgendeinen weißen Nerv im +Körper zurückzuleiten, schwelgte förmlich in der Vorstellung +einer absoluten Abhängigkeit des Geistes von gewissen +physischen Bedingungen, mochten sie krankhaft oder gesund, +normal oder pathologisch sein. Aber, wie schon früher +von ihm berichtet wurde, so schien keine Lebenstheorie +von irgendeiner Bedeutung für ihn, im Vergleich mit dem +Leben selbst. Er war sich haarscharf bewußt, in welches +Irrsal jede geistige Spekulation führen mußte, wenn sie<a class="pagenum" name="Page_205" title="205"> </a> +von Handlung und Experiment getrennt ist. Er wußte, +daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre geistigen +Geheimnisse offenbaren mußten.</p> + +<p>Und so ergab er sich zeitweilig dem Studium der +Wohlgerüche, bemühte sich um die Geheimnisse ihrer Bereitung, +destillierte schwerduftende Öle und verbrannte +wohlriechendes Gummi, das aus dem Orient stammte. Er +erkannte, daß es keine Stimmung des Geistes gab, die nicht +ihr Seitenstück im Leben der Sinne fand, und mühte sich, +die wirkliche Beziehung zwischen beiden zu entdecken, um +herauszuklügeln, weshalb der Weihrauch den Menschen +mystisch stimmte, warum die Ambra die Leidenschaften aufstachele, +woher der Veilchenduft die Erinnerung an <ins title="gegestorbene">gestorbene</ins> +Romantik erwecke, wieso der Moschus das +Gehirn verwirre, und wodurch der Tschampak die Phantasie +beflecke: und so versuchte er manchmal, eine genaue +Psychologie der Wohlgerüche auszuarbeiten und ihre verschiedenen +Wirkungen zu bestimmen, zum Beispiel süßriechender +Wurzeln, duftiger, samentragender Blüten, aromatischer +Balsame, dunkler, starkriechender Hölzer, des +Baldrians, der zum Erbrechen reizt, der Hovenia, die einen +toll macht, und der Aloe, die imstande sein soll, die Schwermut +aus der Seele zu verjagen.</p> + +<p>Ein andermal widmete er sich gänzlich der Musik und +gab öfter Konzerte in einem langen, dämmerigen Saal, +dessen Wände mit olivengrünem Lack überzogen waren, +und dessen Decke aus einem rot und gold Muster bestand, +wobei tolle Zigeuner kleinen Zithern wilde Musik entlockten +oder ernste, in gelbe Tücher gehüllte Männer aus<a class="pagenum" name="Page_206" title="206"> </a> +Tunis die gespannten Saiten seltsam großer Lauten zupften, +während grinsende Neger eintönig auf kupferne Trommeln +schlugen und schlankschmächtige, turbanbedeckte Inder +auf scharlachroten Matten hockten und auf langen Rohr- +oder Messingpfeifen bliesen und damit große Brillenschlangen +oder schreckliche Hornvipern beschworen oder zu +beschwören schienen. Die kreischenden Intervalle und die +schrillen Mißtöne barbarischer Musik reizten ihn zuweilen, +wenn Schuberts Lieblichkeit oder Chopins süßes Schmachten +und die gewaltigen Harmonien des großen Beethoven +machtvoll in sein Ohr schlugen. Aus allen Weltteilen +sammelte er die merkwürdigsten Instrumente, die sich +finden ließen, entweder in den Gräbern toter Völker oder +unter den wenigen wilden Stämmen, die noch die Berührung +mit der westlichen Kultur überlebt haben, und +er liebte es, sie zu befühlen und zu verfügen. Er besaß das +mysteriöse Juruparis der Rio-Negro-Indianer, das die +Frauen nicht ansehen dürfen und selbst die jungen Männer +erst dann, wenn sie vorher gefastet und sich gegeißelt haben, +er besaß die irdenen Klappern der Peruaner, die den +schrillen Ton des Vogelschreis wiedergeben, und Flöten +aus Menschenknochen, wie sie Alfonso de Ovalle in Chile +gehört hat, und die wohlklingenden grünen Jaspissteine, +die bei Cuzco gefunden werden und einen Ton von eigentümlicher +Süße hervorbringen. Er hatte bemalte, mit +Kieselsteinen gefüllte Kürbisse, die beim Schütteln rasselten, +er hatte die langen Zinken der Mexikaner, in die der +Spieler nicht hineinbläst, sondern durch die er die Luft +einatmet, das rauhe Ture der Amozonenstämme, das die<a class="pagenum" name="Page_207" title="207"> </a> +Wachen ertönen lassen, wenn sie den ganzen Tag auf hohen +Bäumen sitzen, und das, wie man sagt, auf eine Entfernung +von drei Seemeilen gehört werden kann, das Teponaztli, +das zwei zitternde Holzzungen hat und auf die +man mit Stöcken schlägt, die mit einer Art elastischen Kautschuks +eingesalbt werden, das aus dem milchigen Saft +von Pflanzen gewonnen wird, er hatte die Yotlglocken +der Azteken, die wie Trauben in Büscheln hängen, und +eine große zylinderförmige Trommel, die bespannt ist mit +den Häuten großer Schlangen gleich der, die Bernal Diaz +sah, als er mit Cortez in den mexikanischen Tempel trat, +und von deren wehklagendem Tone er uns eine so lebendige +Schilderung hinterlassen hat. Das phantastische Wesen +dieser Instrumente wirkte bezaubernd auf ihn, und er empfand +einen seltsamen Genuß bei dem Gedanken, daß die +Kunst wie die Natur ihre Ungeheuer hat, Dinge von tierischer +Form und mit abscheulichen Stimmen. Aber nach +einiger Zeit wurde er ihrer müde und saß dann wieder in +seiner Loge in der Oper, entweder allein oder mit Lord +Henry, lauschte hingerissen dem Tannhäuser und erkannte +in dem Vorspiel zu diesem großen Kunstwerk eine Verkörperung +des Trauerspiels seiner eigenen Seele.</p> + +<p>Wieder ein andermal warf er sich auf das Studium der +Edelsteine und erschien auf einem Maskenfest als Anne de +Joyeuse, Admiral von Frankreich, in einem Gewand, das +mit fünfhundertsechzig Perlen bestickt war. Diese Geschmacksrichtung +hielt ihn jahrelang gefangen, ja, man kann +sagen, daß sie ihn nie verlassen hat. Er verbrachte oft +einen ganzen Tag damit, die verschiedenen Steine, die er<a class="pagenum" name="Page_208" title="208"> </a> +gesammelt hatte, aus ihren Schachteln zu nehmen und +wieder umzuordnen, wie beispielsweise der olivengrüne +Chrysoberyll, der im Lampenlicht rot wird, der Cymophan +mit seinen haarfeinen Silberlinien, der pistazienfarbene +Peridot, rosenfarbige und weingelbe Topase, scharlachfeurige +Karfunkelsteine mit zitternden, vierfach ausstrahlenden +Sternen, flammenrote Kaneelsteine, orangenfarbene +und violette Spinelle und Amethyste mit ihren +regelmäßig wechselnden Schichten von Rubin und Saphir. +Er liebte das rote Gold des Sonnensteins und die perlfarbene +Weiße des Mondsteins und den gebrochenen +Regenbogen des milchflockigen Opals. Er verschrieb sich +aus Amsterdam drei Smaragde von außerordentlicher +Größe und wunderbarem Farbenreichtum und besaß einen +Türkis <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">de la vieille roche</span>, um den ihn alle Kenner beneideten.</p> + +<p>Er entdeckte auch wunderbare Geschichten über Edelsteine. +In Alfons „<span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Clericalis disciplina</span>“ wurde eine +Schlange erwähnt mit Augen aus wirklichen Hyazinthsteinen, +und in der romantischen Alexandersage hieß es +von dem Eroberer Emathias, er habe im Jordantale +Schlangen gefunden „mit Halsgeschmeiden aus wirklichen +Smaragden, die ihnen auf dem Rücken gewachsen waren“. +Im Gehirn des Drachen war nach dem Bericht des Philostratus +ein Edelstein, und „durch das Entgegenhalten +goldener Lettern und eines scharlachroten Gewandes“ +konnte das Ungeheuer in einen magischen Schlaf versetzt +und getötet werden. Nach der Meinung des großen Alchimisten +Pierre de Boniface sollte der Diamant den Menschen<a class="pagenum" name="Page_209" title="209"> </a> +unsichtbar und der indische Achat ihn beredt machen. +Der Karneol beschwichtigte den Zorn, und der Hyazinth +schläferte ein, und der Amethyst verscheuchte den Weindunst. +Der Granat trieb Teufel aus, und der Hydrophyt +beraubte den Mond seiner Farbe. Der Selenit nahm mit +dem Monde zu und ab, und der Meloceus, der die Diebe +entdeckte, verlor seine Kraft nur, wenn man ihn mit dem +Blut junger Ziegen betropfte. Leonardus Camillus hatte +einen weißen Stein gesehen, den man aus dem Gehirn +einer frisch getöteten Kröte genommen hatte und der ein +sicheres Gegenmittel gegen Gift war. Der Bezoar, den +man im Herzen des arabischen Hirsches fand, war ein +Zauber, der die Pest zu heilen vermochte. In den Nestern +arabischer Vögel kam der Aspilates vor, der nach der +Angabe des Demokrit seinen Träger vor jeder Feuersgefahr +beschützte.</p> + +<p>Der König von Seilan ritt bei seiner Krönungsfeier, +mit einem großen Rubin in der Hand, durch seine Stadt. +Die Tore zum Palast des Johannes, des Priesters, waren +aus Sarder verfertigt, in den das Horn der Hornviper +verarbeitet war, so daß kein Mensch Gift in das Haus +bringen konnte. Über dem Giebel waren „zwei goldene +Äpfel, die zwei Karfunkelsteine enthielten“, so daß am +Tage das Gold glänzen konnte und die Karfunkelsteine bei +Nacht. In Lodges seltsamem Roman „Eine amerikanische +Perle“ heißt es, daß man in dem Zimmer der Königin +„alle keuschen Frauen der Welt, wie in Silber getrieben, +wahrnehmen konnte, wenn man durch fleckenfreie Spiegel +aus Chrysolithen, Karfunkelsteinen, Saphiren und grünen<a class="pagenum" name="Page_210" title="210"> </a> +Smaragden blickte“. Marco Polo hatte gesehen, wie die +Einwohner von Zipangu den Toten rosenfarbige Perlen +in den Mund steckten. Ein Seeungeheuer war in die Perle +verliebt, die ein Taucher dem König Perozes brachte, und +es hatte den Dieb getötet und sieben Monate lang über +den Verlust getrauert. Als die Hunnen den König in den +großen Hinterhalt lockten, warf er die Perle weg — Prokopius +erzählt die Geschichte — und sie wurde nie wieder +gefunden, obwohl Kaiser Anastasius dafür fünf Zentner +Goldstücke aussetzte. Der König von Malabar hatte einmal +einem Venezianer einen Rosenkranz aus dreihundertvier +Perlen gezeigt, eine Perle für jeden Gott, den er verehrte.</p> + +<p>Als der Herzog von Valentinois, der Sohn Alexanders +des Sechsten, Ludwig den Zwölften von Frankreich besuchte, +war nach Brantôme sein Pferd mit goldenen Blättern +bedeckt, und ein Barett trug eine doppelte Reihe von +Rubinen, die ein mächtiges Licht ausstrahlten. Karl von +England ritt in Steigbügeln, die mit vierhunderteinundzwanzig +Diamanten besetzt waren. Richard der Zweite hatte +ein Gewand, das mit Balasrubinen besetzt war, und auf +dreißigtausend Mark geschätzt wurde. Hall beschrieb Heinrich +den Achten auf seinem Wege zur Krönung nach dem +Tower folgendermaßen: er trug ein „Panzerkleid aus +erhabenem Gold, die Brust war mit Diamanten und +anderen Edelsteinen bestickt, und um den Hals hing ihm +eine mächtige Kette aus schweren Balasrubinen“. Die +Günstlinge Jakobs des Ersten trugen Ohrringe aus Smaragden, +die in Goldfiligran gefaßt waren. Eduard der<a class="pagenum" name="Page_211" title="211"> </a> +Zweite schenkte dem Piers Gaveston eine vollständige +Rüstung aus rotem Golde, die mit Hyazinthsteinen besetzt +war, eine Halsberge aus goldenen Rosen, in die Türkise +eingelassen waren, und eine mit Perlen übersäte Sturmhaube. +Heinrich der Zweite trug Handschuhe bis zum +Ellenbogen hinauf, die mit Edelsteinen besetzt waren, und er +hatte einen Falkenierhandschuh, den zwölf Rubinen und +zweiundfünfzig große Perlen zierten. Der Herzogshut +Karls des Kühnen, des letzten Burgunder Herzogs seines +Geschlechts, war behängt mit birnenförmigen Perlen und +überstreut mit Saphiren.</p> + +<p>Wie köstlich das Leben einst gewesen war! Wie schwelgerisch +in seinem Pomp und Schmuck! Von dem Reichtum +der Toten auch nur zu lesen war schon wunderbar.</p> + +<p>Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den +Stickereien zu und den Gobelins, die in den frostigen +Räumen der nördlichen Völker Europas die Stelle der +Freskogemälde vertraten. Als er sich in dieses Gebiet +vertiefte — und er besaß immer eine außerordentliche +Fähigkeit, sich für den Augenblick von allem absorbieren zu +lassen, was er in Angriff nahm — wurde er ordentlich +traurig bei dem Gedanken an die Vernichtung, die die +Zeit schönen und wundervollen Dingen bereitete. Er +wenigstens war ihr entronnen. Sommer folgte dem Sommer, +die gelben Jonquillen hatten geblüht und waren +viele Male verwelkt, und schreckliche Nächte wiederholten +die Geschichte ihrer Schande, aber er blieb unverändert. +Kein Winter entstellte sein Antlitz oder beschädigte seinen +blütengleichen Schmelz. Wie anders war das mit den<a class="pagenum" name="Page_212" title="212"> </a> +materiellen Dingen! Wohin waren die entschwunden? +Wo war das große krokusfarbene Gewand, auf dem die +Götter die Giganten bekämpft hatten, das von braunen +Mädchen der Athene zur Freude gestickt worden war? Wo +war das große Velarium, das Nero über das Kolosseum +in Rom hatte ausspannen lassen, dieses gigantische Purpursegel, +auf dem der Sternenhimmel abgebildet war, und +Apollo, wie er einen Wagen lenkt, den weiße, von goldenen +Zügeln gebändigte Streitrosse ziehen? Er sehnte sich, die +sonderbaren Tischdecken zu sehen, die für den Sonnenpriester +gewebt worden waren, und in die alle Leckerbissen +und Speisen eingewirkt waren, die man für ein Festmahl +nur wünschen konnte, das Sterbekleid des Königs Hilperich +mit seinen dreihundert goldenen Bienen, die phantastischen +Gewandungen, die die Entrüstung des Bischofs +von Pontus erregten und auf denen „Löwen, Panther, +Bären, Hunde, Wälder, Felsen, Jäger — kurz alles dargestellt +war, was ein Maler der Natur ablauschen kann“, +und den Rock, den Karl von Orleans einstmals getragen +hatte, auf dessen Ärmel die Verse eines Gedichtes gestickt +waren, das begann: <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Madame, je suis tout joyeux</span>, während +die Noten hierzu mit Goldfäden eingestickt waren +und jeder Notenkopf, damals noch viereckig, aus vier Perlen +gebildet war. Er las von dem Zimmer, das man im +Palast von Reims für den Gebrauch der Königin Johanna +von Burgund hergerichtet hatte, „und das ausgeschmückt +war mit dreizehnhunderteinundzwanzig gestickten Papageien, +die das Wappen des Königs trugen, und mit fünfhunderteinundsechzig +Schmetterlingen, deren Flügel auf<a class="pagenum" name="Page_213" title="213"> </a> +dieselbe Weise mit dem Wappen der Königin geschmückt +waren, das Ganze in Gold gearbeitet.“ Katharina von +Medici hatte sich ein Trauerbett machen lassen aus schwarzem +Samt, bestickt mit Halbmonden und Sonnen. Seine +Vorhänge waren aus Damast, und auf einem Grunde +von Gold und Silber waren Zweige und Girlanden gestickt, +und die Bordüren bestanden aus Fransen mit Perlen, +und es stand in einem Zimmer, das mit einem Silbertuch +bespannt war, auf dem reihenweise die Wahlsprüche der +Königin in schwarzem, geschorenem Samt appliziert waren. +Ludwig der Vierzehnte hatte in seinem Gemach goldgestickte, +fünfzehn Fuß hohe Karyatiden. Das Staatsbett +Sobieskis, des Königs von Polen, bestand aus Smyrna-Goldbrokat, +und Verse aus dem Koran waren aus Türkisen +hineingestickt. Seine Füße waren aus vergoldetem +Silber, schön getrieben und verschwenderisch mit Medaillons +aus Email und Edelsteinen besetzt. Es war bei +der Belagerung von Wien aus dem türkischen Lager erbeutet +worden, und die Fahne Mohammeds war unter +dem flimmerigen Gold seines Baldachins angebracht.</p> + +<p>Und so suchte er ein ganzes Jahr lang die erlesensten +Proben zusammen, die er von Webekunst und Stickereiarbeiten +auftreiben konnte, er verschaffte sich die duftigen +Delhi-Musselins, die zart mit goldenen Palmblättern +und mit irisierenden Käferflügeln bestickt waren, die Gazestoffe +aus Dhaka, die man im Orient ihrer Durchsichtigkeit +wegen „gewebte Luft“, „rieselndes Wasser“ und „Abendtau“ +nennt: Tücher aus Java mit seltsamen Figuren: +feine, gelbe chinesische Gardinen: Bücher, die in lohfarbigen<a class="pagenum" name="Page_214" title="214"> </a> +Atlas oder hellblaue Seide gebunden und eingepreßte +heraldinische Lilien, Vögel und Schildereien zeigten Pointslace-Schleiergewebe +aus Ungarn: sizilianische Brokate +und steife spanische Sammete: georgische Arbeiten mit +ihren goldenen Münzen, und japanische Fukusas mit +ihren grünen Goldtönen und ihren gefiederten Vögeln +wunderbarster Arbeit.</p> + +<p>Er hatte dann eine besondere Leidenschaft für kirchliche +Gewänder wie für alles, was mit dem religiösen Ritus +zusammenhing. In den langen Kästen aus Zedernholz, +die auf der westlichen Galerie seines Hauses standen, hatte +er viele seltene, schöne Proben des wahrhaften Kleides +der Christusbraut angesammelt, die sich in Purpur, in +Edelsteine und feines Linnen kleiden muß, um den bleichen, +abgezehrten Leib darin zu verhüllen, der erschöpft ist von +den Leiden, die sie sucht, und verwundet von selbst zugefügten +Schmerzen. Er besaß einen prachtvollen Chorrock +aus karminroter Seide und goldgewirktem Damast, +der mit einem sich wiederholenden Muster von goldenen +Granatäpfeln geziert war, die auf sechsblättrigen, regelmäßigen +Blüten saßen, worunter auf jeder Seite ein in +Staubperlen gestickter Tannenzapfen war. Die Goldstickereien +waren in einzelne Felder geteilt, in denen Szenen +aus dem Leben der Jungfrau abgebildet waren und die +Krönung der Jungfrau war in der dazu gehörigen Kappe +in farbiger Seide oben eingestickt. Es war italienische +Arbeit aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein anderer +Chorrock war aus grünem Samt, bestickt mit herzförmigen +Bündeln von Akanthusblättern, aus denen langgestielte<a class="pagenum" name="Page_215" title="215"> </a> +weiße Blüten hervorsprossen, die zart mit silbernen Fäden +und farbigen Kristallperlen ausgearbeitet waren. Auf der +Spange war der Kopf eines Seraphs in erhabener +Goldstickerei ausgeführt. Die Borten waren fortlaufend +auf blumigem Tuch in roter und goldener Seide eingewebt +und mit den Medaillonbildnissen vieler Heiligen und Märtyrer +ausstaffiert, unter denen sich der heilige Sebastian +befand. Er hatte auch Meßgewänder aus bernsteinfarbiger +Seide und blauer Seide und goldenem Brokat und +aus gelbem Seidendamast und goldenem Tuch, die bedeckt +waren mit Darstellungen der Passion und der Kreuzigung +Christi, und bestickt mit Löwen, Pfauen und anderen Emblemen, +er hatte Dalmatikas aus weißem Atlas und +rosarotem Seidendamast, geziert mit Tulpen, Delphinen +und heraldischen Lilien: Altardecken aus karmoisinrotem +Samt und blauem Linnen, und viele Decken für Meßgeräte, +Kelchhüllen und Schweißtücher. In den mystischen +Diensten, zu denen diese Dinge bestimmt waren, lag +etwas, das seine Einbildungskraft anregte.</p> + +<p>Denn diese Schätze und überhaupt alles, was er in +seinem wunderbaren Hause ansammelte, waren für ihn +Mittel zum Vergessen, Liebhabereien, durch die er eine +Zeitlang der Angst entrinnen konnte, die ihm oft zu groß +erschien, um sie zu ertragen. An die Wand des verlassenen, +verschlossenen Raumes, worin er einen so großen Teil seiner +Knabenzeit verbracht hatte, hatte er mit seinen eigenen +Händen das fürchterliche Porträt aufgehängt, dessen Züge +ihm in ihrer Veränderung die wahrhafte Erniedrigung +seines Lebens zeigten, und darüber hatte er als Vorhang<a class="pagenum" name="Page_216" title="216"> </a> +das Bahrtuch aus Gold und Purpur angebracht. Wochenlang +mochte er nicht dahin gehen, wollte er das gräßliche +Gemälde vergessen und gewann dann wieder sein leichtes +Herz zurück, seine wunderbare Fröhlichkeit und seine +Kraft zu leidenschaftlicher Versenkung ins Leben. Dann +aber schlich er plötzlich in einer Nacht aus dem Hause, +besuchte schaurige Orte in der Nähe von Blue Gate Fields +und blieb dort Tag um Tag, bis es ihn wieder wegtrieb. +Nach seiner Rückkehr saß er dann wohl vor dem Bilde, +manchmal voll Haß vor ihm und vor sich selbst, ein +andermal aber erfüllt mit dem Stolze auf das eigene +Wesen, der den halben Reiz der Sünde ausmacht, und +er lächelte dann mit geheimem Vergnügen das verunstaltete +Abbild an, das die Last zu tragen hatte, die eigentlich +für ihn bestimmt war.</p> + +<p>Nach einigen Jahren konnte er es nicht aushalten, lange +von England weg zu sein, und gab das Landhaus auf, +das er gemeinsam mit Lord Henry in Trouville innegehabt +hatte, und ebenso das kleine, von weißer Mauer umrahmte +Haus in Algier, wo sie mehr als einmal den +Winter verbracht hatten. Er konnte es nicht ertragen, von +dem Porträt getrennt zu sein, das jetzt gewissermaßen +ein Teil seines Lebens geworden war, und er fürchtete +auch, es könne in seiner Abwesenheit irgend jemand Zutritt +bekommen trotz den sorgfältig gearbeiteten Sicherheitsschlössern, +die er an der Türe hatte anbringen lassen.</p> + +<p>Er war sich vollauf bewußt, daß niemand etwas verraten +könne. Allerdings bewahrte das Bild unter all der +Gemeinheit und Häßlichkeit seines Antlitzes noch eine deutliche<a class="pagenum" name="Page_217" title="217"> </a> +Ähnlichkeit mit ihm, aber was konnte das den Leuten +sagen? Er würde jeden auslachen, der es versuchen wollte, ihn +zu schmähen. Er hatte es ja nicht gemalt. Was ging es ihn +an, wie abscheulich und schändlich es aussah? Selbst wenn +er jemand die Wahrheit erzählte, konnte sie einer glauben?</p> + +<p>Und doch hatte er Angst. Wenn er manchmal in seinem +großen Hause in Nottinghamshire war und die <ins title="eleganganten">eleganten</ins> +jungen Leute, die meistens seine Gesellschaft bildeten, +bewirtete, und die Leute der Grafschaft durch den +ausschweifenden Luxus und den verschwenderischen Glanz +seines Lebens in Erstaunen setzte, dann verließ er wohl +plötzlich seine Gäste und eilte zurück in die Stadt, um nachzusehen, +ob sich niemand an der Türe zu schaffen gemacht +habe und ob das Bild noch da sei. Wie, wenn es jemand +gestohlen hätte? Der bloße Gedanke erfüllte ihn mit kaltem +Entsetzen. Gewiß würde dann die Welt sein Geheimnis +erfahren. Vielleicht hatte sie schon Verdacht geschöpft.</p> + +<p>Denn genau wie er viele fesselte, gab es auch nicht wenige, +die ihm mißtrauten. Er wäre fast schwarz ballotiert +worden in einem Westend-Klub, zu dessen Mitgliedschaft +ihn soziale Stellung und Geburt vollständig berechtigten, +und es hieß, daß einmal, als ihn ein Freund in das +Rauchzimmer des Curchill-Klubs mitgebracht hatte, der +Herzog von Berwick und ein anderer Herr in auffallender +Weise aufgestanden und hinausgegangen wären. Sonderbare +Geschichten waren über ihn im Umlauf, als er sein +fünfundzwanzigstes Jahr vollendet hatte. Man munkelte, +daß man ihn in einer elenden Kaschemme in einem entlegenen +Winkel Whitechapels mit fremden Matrosen habe<a class="pagenum" name="Page_218" title="218"> </a> +zechen sehen, und daß er mit Dieben und Falschmünzern +umgehe und die Geheimnisse ihres Gewerbes kenne. Seine +auffallende Gewohnheit, zu bestimmten Zeiten zu verschwinden, +war bekannt, und wenn er dann wieder in der +Gesellschaft auftauchte, flüsterte man sich in den Ecken Bemerkungen +zu oder man ging an ihm mit einem unzweideutigen +Lächeln oder mit kühlen, forschenden Blicken vorbei, +als wäre man entschlossen, sein Geheimnis zu enthüllen.</p> + +<p>Von diesen Unverschämtheiten und versuchten Beleidigungen +nahm er natürlich keine Notiz, und in den Augen +der meisten Leute war sein offenes, freundliches Wesen, +sein reizendes Knabenlächeln und die unendliche Grazie +der wundervollen Jugend, die ihn nie zu verlassen schien, +an sich eine genügende Antwort auf die Verleumdungen, +denn so nannte man es, die über ihn im Umlauf waren. +Indessen bemerkte man, daß einige von denen, die früher +sehr innig mit ihm verkehrt hatten, ihn nach einiger Zeit +zu meiden anfingen. Frauen, die ihn glühend geliebt +hatten und um seinetwillen allem Tadel der Gesellschaft +getrotzt und die Konvention verachtet hatten, konnte man +vor Scham oder Entsetzen erbleichen sehen, wenn Dorian +Gray ins Zimmer trat.</p> + +<p>Doch dieses Skandalgeflüster erhöhte in den Augen vieler +nur seinen seltsamen und gefährlichen Reiz. Auch sein +großer Reichtum bot ein gewisses Unterpfand der Sicherheit. +Die Gesellschaft, wenigstens die zivilisierte Gesellschaft, +ist niemals schnell geneigt, etwas Schlechtes von +denen zu glauben, die zugleich reich und interessant sind. +Sie begreift instinktiv, daß Manieren wichtiger sind als<a class="pagenum" name="Page_219" title="219"> </a> +Moral, und ihrer Meinung nach ist die höchste Ehrbarkeit +weniger wert als der Besitz eines guten Küchenchefs. Und +schließlich ist es auch ein sehr schwacher Trost, wenn einem +gesagt wird, daß der Mann, bei dem es ein schlechtes +Diner oder einen elenden Wein gegeben hat, in seinem +Privatleben unantastbar dasteht. Selbst die Kardinaltugenden +können nicht für kalt gewordene Entrees entschädigen, +bemerkte Lord Henry einmal, als man über +dieses Thema sprach; und für seine Ansicht spricht wahrscheinlich +sehr viel. Denn die Gesetze der guten Gesellschaft +sind oder sollten wenigstens dieselben sein, wie die Regeln +der Kunst. Form ist für sie unbedingt wesentlich. Sie +sollte die Würde ebenso wie die Unwirklichkeit einer +Zeremonie haben und sollte den unaufrichtigen Schein +eines romantischen Schauspiels mit dem Witz und der +Schönheit verbinden, die für uns das Entzücken solcher +Spiele ausmachen. Ist Unaufrichtigkeit denn etwas so +Furchtbares? Ich glaube nicht. Sie ist nur ein Mittel, +wodurch wir unsere Persönlichkeit vervielfachen können.</p> + +<p>Das war wenigstens die Meinung von Dorian Gray. Er +pflegte sich über die seichte Psychologie derer zu wundern, +die sich das Ich eines Menschen als etwas Einfaches, +Beständiges, Verläßliches und Einheitliches vorstellen. Für +ihn war der Mensch ein Wesen mit Myriaden von Leben +und Myriaden von Gefühlen, ein kompliziertes, vielgestaltetes +Geschöpf, das seltsame Erbschaften in seinen Gedanken +und Leidenschaften mit sich herumtrug und dessen +Fleisch von den ungeheuerlichen Krankheiten der Verstorbenen +angesteckt war. Er liebte es, die kahle, kalte<a class="pagenum" name="Page_220" title="220"> </a> +Bildergalerie auf seinem Landsitze zu durchschlendern +und die verschiedenen Porträts der Menschen zu betrachten, +deren Blut in seinen Adern floß. Hier war Philipp +Herbert, den Francis Osborne in seinen „Memoiren +über die Herrscherzeit der Königin Elisabeth und des +Königs Jakob“ als einen beschrieb, „den der Hof seines +hübschen Gesichtes wegen lieb hatte, das ihm aber nicht +lange Gesellschaft leistete“. War es das Leben des jungen +Herbert, das er manchmal führte? Hatte sich irgendein +merkwürdiger, gifttragender Keim von Körper zu Körper +übertragen, bis er seinen eigenen erreicht hatte? War es +eine dumpfe Erinnerung an diesen verwelkten Liebreiz +gewesen, die damals in Basil Hallwards Atelier so jäh +und fast ohne Grund über ihn hereinbrach, daß er jenes +wahnsinnige Gebet sprechen mußte, das sein Leben so sehr +verändert hatte? Hier stand in goldgesticktem rotem +Wams, in einem mit Juwelen geschmückten Überrock +und goldgefaßten Hals- und Ärmelkrausen Sir Anthony +Sherard, die Beine mit silbernen und schwarzen Schienen +gepanzert. Was war das Vermächtnis dieses Mannes +gewesen? Hatte ihm der Geliebte der Giovanna von +Neapel ein Erbteil der Sünde und Schande hinterlassen? +Waren seine eigenen Handlungen nur die Träume, die der +Tote nicht zu verwirklichen gewagt hatte? Hier lächelte +von einer verblaßten Leinwand Lady Elisabeth Devereux +in ihrer Gazehaube, dem perlenbestickten Brustschmuck und +den roten Schlitzärmeln. Sie hielt in der rechten Hand +eine Blume, und die linke umfaßte einen emaillierten +Halsschmuck aus weißen und Damaszener Rosen. Auf<a class="pagenum" name="Page_221" title="221"> </a> +einem Tisch neben ihr lag eine Mandoline und ein Apfel. +Auf ihren kleinen, spitzen Schuhen saßen große, grüne Rosetten. +Er kannte ihr Leben und die seltsamen Geschichten, +die man über ihre Liebhaber erzählte. Hatte er etwas von +ihrem Temperament an sich? Diese ovalen Augen mit den +schweren Lidern schienen ihn so sonderbar anzublicken. +Wie stand es um George Willoughby mit seinem gepuderten +Haar und seinen phantastischen Schönheitspflästerchen? +Wie böse er aussah! Das Gesicht war melancholisch +und bräunlich, und die sinnlichen Lippen schienen verächtlich +zusammengekniffen. Kostbare Spitzenmanschetten rieselten +über die mageren gelben Hände, die mit Ringen so +sehr überladen waren. Er war im achtzehnten Jahrhundert +ein Stutzer gewesen und in seiner Jugend ein Freund von +Lord Ferrars. Wie war es mit dem zweiten Lord Beckenham, +dem Gefährten des Prinzregenten in seinen wildesten +Tagen und einem der Zeugen bei seiner heimlichen Eheschließung +mit Frau Fitzherbert? Wie stolz und hübsch +war er mit seinen kastanienbrauen Locken und der herausfordernden +Haltung! Welche Leidenschaften hatte er ihm +vererbt? Die Welt hatte ihn für ehrlos gehalten. Er hatte +bei den Orgien in Carlton House den Vorsitz geführt. Der +Stern des Hosenbandordens strahlte auf seiner Brust. +Neben ihm hing das Bild seiner Gemahlin, einer blassen, +dünnlippigen Frau in schwarzem Kleide. Auch ihr Blut +flutete in ihm. Wie merkwürdig schien das alles! Und seine +Mutter mit ihrem Lady Hamilton-Gesicht und ihren feuchten, +wie vom Wein benetzten Lippen — er wußte, was er +von ihr mitbekommen hatte. Von ihr hatte er seine Schönheit<a class="pagenum" name="Page_222" title="222"> </a> +geerbt und seine Leidenschaft für die Schönheit anderer. +Sie lachte ihn an in ihrem losen Bacchantinnenkleide. In +ihrem Haare waren Weinblätter. Über den Becher, den +sie hielt, schäumte der Purpur. Die Fleischfarbe des Gemäldes +war verblaßt, aber die Augen waren noch wunderbar +in ihrer Tiefe und ihrem Farbenglanz. Sie schienen +ihm überall hin zu folgen, wo er auch ging.</p> + +<p>Aber man hatte Vorfahren ebensogut in der Literatur +wie in dem eigenen Geschlecht, und viele davon standen +einem vielleicht näher in ihrem Menschentum und in ihrem +Temperament und hatten sicher einen Einfluß, von dem +man sich genauere Rechenschaft zu geben vermochte. Es gab +Zeiten, wo Dorian Gray den Eindruck hatte, als wäre +die ganze Weltgeschichte nur ein Bericht seines eigenen +Lebens, nicht wie er es nach Taten und Umständen gelebt +hatte, sondern wie es seine Phantasie für ihn erschaffen +hatte, wie es in seinem Gehirn und in seinen Sinnentrieben +war. Er fühlte, daß er sie alle gekannt hatte, diese merkwürdigen +schrecklichen Gestalten, die über die Weltenbühne +geschritten waren und die Sünde so glänzend und +das Böse so tief und fein gemacht hatten. Es wollte ihm +scheinen, daß auf irgendeine geheimnisvolle Weise ihr +Leben auch sein eigenes gewesen sei.</p> + +<p>Der Held des wunderbaren Romans, der sein Leben so +stark beeinflußt hatte, war auch von diesem seltsamen +Einfall ergriffen gewesen. Im siebenten Kapitel erzählt +er: wie er, bekränzt mit Lorbeer, damit ihn der Blitz +nicht treffe, als Tiberius in einem Garten von Capri gesessen +und die schändlichen Bücher von Elephantis gelesen<a class="pagenum" name="Page_223" title="223"> </a> +habe, während Zwerge und Pfauen um ihn herumstolzierten +und der Flötenspieler den Weihrauchschwinger verspottete: +wie er als Caligula mit den grünbeschürzten +Stallknechten in ihren Ställen gezecht und aus einer elfenbeinernen +Krippe ein Mahl genommen habe mit einem +Rosse, das ein edelsteingeschmücktes Stirnband trug, und +wie er als Domitian durch einen Korridor gewandert sei, +dessen Wände mit Marmorspiegeln bedeckt waren, in denen +er mit verstörten Augen nach dem Widerschein des Dolches +gesucht habe, der seine Tage enden sollte, erkrankt an der +Langeweile, dem schrecklichen <span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">Taedium vitae</span>, das alle +befällt, denen das Leben nichts versagt: und wie er durch +einen hellen Smaragd den blutrünstigen Schlächterszenen +im Zirkus zugeschaut habe und dann in einer Karosse aus +Perlen und Purpur, die von silberfarbig gesprenkelten +Maultieren gezogen wurde, durch eine Straße mit Granatbäumen +zu einem goldenen Hause gefahren sei und gehört +habe, wie ihm die Menschenmenge zurief: Kaiser Nero, +als er vorbeifuhr, und wie er sich als Heliogabal das Gesicht +geschminkt, mit den Weibern am Spinnrocken gewebt +und den Mond aus Karthago geholt habe, um ihn in +mystischer Ehe mit der Sonne zu vermählen.</p> + +<p>Wieder und wieder las Dorian dieses phantastische Kapitel +und die zwei unmittelbar folgenden, in denen wie auf +wunderlichen Gobelins oder kunstvoll gearbeiteten Emaillen +die greulich-schönen Gestalten jener dargestellt waren, die +Laster und Blut und Übersättigung zu Ungeheuern oder +Narren gemacht hatte: Filippo, der Herzog von Mailand, +der sein Weib getötet und ihre Lippen mit scharlachrotem<a class="pagenum" name="Page_224" title="224"> </a> +Gift gefärbt hatte, damit ihr Geliebter von dem Leichnam, +wenn er ihn liebkoste, den Tod saugen möge: der +Venezianer Pietro Barbi, bekannt als Paul der Zweite, +der in seiner Eitelkeit den Beinamen Formosus annehmen +wollte und dessen Tiara, die zweihunderttausend Gulden +Wert hatte, mit einer furchtbaren Sünde erkauft worden +war: Gian Maria Visconti, der Hunde benutzte, um auf +lebende Menschen Jagd zu machen, und dessen Leichnam +nach seiner Ermordung von einer Dirne, die ihn geliebt +hatte, mit Rosen bedeckt ward: der Borgia auf seinem +Schimmel, neben dem der Brudermord hoch zu Rosse saß, +und dessen Mantel mit dem Blute Perottos befleckt war: +Pietro Riario, der junge Kardinalerzbischof von Florenz, +das Kind und der Liebling Sixtus des Sechsten, dessen +Schönheit nur von seiner Lasterhaftigkeit übertroffen +wurde, und der Leonora von Aragonien in einem Zelt aus +weißer und karmesinfarbener Seide empfing, das voll +Nymphen und Zentauren war, und der einen Knaben vergoldete, +damit er bei dem Feste als Ganymed oder Hylas +aufwarte: Etzelin, dessen Schwermut nur durch das Schauspiel +des Todes geheilt werden konnte und der eine Leidenschaft +für rotes Blut hatte, wie andere Menschen für roten +Wein — den man den Sohn des Satans hieß und der +seinen Vater beim Würfeln betrogen hatte, als er mit +ihm um seine Seele spielte: Giambattista Cibo, der aus +Hohn den Namen Innozentius annahm und in dessen +verdumpfte Adern ein jüdischer Arzt das Blut von drei +Jünglingen einpumpte: Sigismondo Malatesta, der Liebhaber +der Isotta und der Herr von Rimini, der zu Rom<a class="pagenum" name="Page_225" title="225"> </a> +im Bilde als ein Feind Gottes und der Menschen verbrannt +wurde, und der Polyssena mit einer Serviette erdrosselte, +und der Ginevra d'Este aus einem Smaragdbecher +Gift zu trinken gab und, um eine schändliche Leidenschaft +zu ehren, einen heidnischen Tempel zur Anbetung +für die Christen baute: Karl der Sechste, der für das Weib +seines Bruders so ungestüm erglühte, daß ihm ein Aussätziger +den Irrsinn prophezeite, der über ihn kommen +werde, und der, als sein Geist krank geworden war und +sich verwirrt hatte, nur durch sarazenische Spielkarten besänftigt +wurde, auf denen Liebe, Tod und Wahnsinn abgebildet +waren: und in seinem gezierten Kamisol und in +seinem edelsteingeschmückten Barett und den akanthusgleichen +Locken Grifonetto Baglioni, der Astorre bei seiner +Braut und Simonetto bei seinem Pagen erschlug, und +dessen Anmut so groß war, daß, als er sterbend auf der +gelben Piazza in Perugia lag, selbst seine Hasser das +Schluchzen nicht unterdrücken konnten, und ihn Atalanta +segnete, die ihn verflucht hatte.</p> + +<p>Ein grauenhafter Zauber war in alledem. Er sah sie +bei Nacht, und während des Tages verwirrten sie seine +Vorstellungen. Die Renaissance kannte seltsame Arten, zu +vergiften — zu vergiften durch einen Helm und eine angezündete +Fackel, einen bestickten Handschuh und einen +edelsteinbesetzten Fächer, ein vergoldetes Riechbüchschen +und eine Bernsteinkette. Dorian Gray war durch ein Buch +vergiftet worden. Es gab Augenblicke, in denen er die +Sünde einzig als eine Möglichkeit ansah, seinen Schönheitsbegriff +zu verwirklichen.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_226" title="226"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Zwolftes_Kapitel" id="Zwolftes_Kapitel"></a>Zwölftes Kapitel</h2> + + +<p>Es war am neunten November, am Vorabend seines +achtunddreißigsten Geburtstages, wie er sich später oftmals +erinnerte.</p> + +<p>Er ging gegen elf Uhr aus Lord Henrys Wohnung, +bei dem er gegessen hatte, nach Hause und war in einen +schweren Pelz gehüllt, da die Nacht kalt und neblig war. +An der Ecke von Grosvenor Square und South Audley +Street ging im Nebel ein Mann sehr eilig an ihm vorbei, +der den Kragen seines grauen Ulsters hochgeschlagen hatte. +Er trug eine Reisetasche. Dorian erkannte ihn. Es war +Basil Hallward. Ein seltsames Angstgefühl, über das er +sich keine Rechenschaft geben konnte, befiel ihn. Er ließ +nicht merken, daß er ihn erkannt hatte und setzte rasch +seinen Weg fort in der Richtung seines Hauses.</p> + +<p>Aber Hallward hatte ihn gesehen. Dorian hörte, wie er +zuerst auf dem Trottoir stehenblieb und ihm dann nacheilte. +In ein paar Augenblicken lag eine Hand auf seinem +Arm.</p> + +<p>„Dorian! Was für ein besonders glücklicher Zufall! Ich +habe seit neun Uhr in deiner Bibliothek auf dich gewartet. +Schließlich tat mir dein ermüdeter Diener leid, und +als er mich herunterließ, sagte ich ihm, er möchte zu Bett +gehen. Ich fahre mit dem Mitternachtszug nach Paris, +und ich hatte den dringendsten Wunsch, dich vor meiner +Abreise noch zu sehen. Ich dachte, das mußt du sein, +oder mindestens dein Pelz, als du vorbeigingst. Aber ich<a class="pagenum" name="Page_227" title="227"> </a> +war doch nicht ganz sicher. Hast du mich denn nicht erkannt?“</p> + +<p>„Bei so einem Nebel, lieber Basil? Ich kann nicht einmal +Grosvenor Square erkennen. Ich vermute, mein Haus +ist hier irgendwo in der Nähe, aber ich bin mir nicht ganz +sicher. Es tut mir leid, daß du verreist, denn ich habe dich +ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber ich denke, du kommst +doch bald wieder?“</p> + +<p>„Nein; ich bleibe sechs Monate von England fort. Ich +will mir in Paris ein Atelier mieten und mich darin einschließen, +bis ein großes Bild fertig ist, das ich im Kopf +habe. Aber ich wollte nicht über mich reden. Da sind wir +an deiner Tür. Laß mich einen Augenblick mit herein. Ich +habe dir was zu sagen.“</p> + +<p>„Es wird mir eine große Freude sein. Aber versäumst +du auch deinen Zug nicht?“ sagte Dorian Gray mit müder +Stimme, als er die Treppe hinaufstieg und die Tür mit +seinem Drücker öffnete.</p> + +<p>Das Lampenlicht kämpfte mit dem Nebel, und Hallward +sah auf die Uhr. „Ich habe noch eine Menge Zeit“, +antwortete er. „Der Zug geht zwölf Uhr fünfzehn, und +es ist eben elf. Offen gesagt, ich war gerade auf dem Weg +in den Klub, um dich zu suchen, als ich dich traf. Mein +Gepäck wird mich, wie du siehst, nicht sehr aufhalten, weil +ich die schweren Sachen vorausgeschickt habe. Hier in der +Tasche ist alles, was ich mitnehme, und nach Victoria +Station kann ich bequem in zwanzig Minuten kommen!“</p> + +<p>Dorian sah ihn lächelnd an. „Für einen berühmten Maler +eine merkwürdige Art, zu reisen! Eine Handtasche und<a class="pagenum" name="Page_228" title="228"> </a> +ein Ulster! Komm herein, sonst dringt der Nebel ins Haus! +Und bitte, sprich über nichts Ernsthaftes mit mir. Nichts +ist heutzutage ernsthaft. Wenigstens sollte es nichts sein.“</p> + +<p>Hallward schüttelte den Kopf als er eintrat, und folgte +Dorian ins Bibliothekzimmer. Dort brannte in dem offenen +Kamin ein helles Holzfeuer. Die Lampen waren angezündet, +und ein offenstehender holländischer Likörkasten aus +Silber stand nebst ein paar Sodawassersiphons und großen +geschliffenen Gläsern auf einem eingelegten Tischchen.</p> + +<p>„Du siehst, dein Diener hat es mir gemütlich gemacht, +Dorian. Er hat mir alles gegeben, was ich brauchte, sogar +deine besten Zigaretten mit Goldmundstück. Es ist ein recht +gastfreundlicher Mensch. Ich mag ihn viel lieber als den +Franzosen, den du vor ihm hattest. Was ist übrigens aus +dem Franzosen geworden?“</p> + +<p>Dorian zuckte die Achseln. „Ich glaube, er hat Lady +Radleys Kammermädchen geheiratet und sie in Paris als +englische Schneiderin etabliert. Ich höre, daß Anglomanie +zurzeit drüben sehr Mode ist. Scheint mir recht töricht von +den Franzosen, nicht wahr? Aber — weißt du noch? — er +war wirklich kein schlechter Bedienter. Ich mochte ihn +zwar auch nie so recht leiden, aber er gab mir keinen +Grund zur Klage. Man bildet sich oft Dinge ein, die ganz +sinnlos sind. Er war mir wirklich sehr ergeben und schien +ganz traurig, als er wegging. Willst du noch einen Kognak +und Soda? Oder lieber Wein mit Selter? Ich +nehme immer Wein mit Selter. Es ist gewiß etwas im +Nebenzimmer.“</p> + +<p>„Danke, ich nehme nichts mehr“, sagte der Maler, legte<a class="pagenum" name="Page_229" title="229"> </a> +Mütze und Überrock ab und warf sie auf die Reisetasche, +die er in die Zimmerecke gestellt hatte. „Und jetzt, lieber +Freund, möchte ich mit dir mal ernsthaft sprechen. Du +mußt nicht so böse aussehen. Du machst es mir dadurch +nur schwerer.“</p> + +<p>„Was soll das alles?“ rief Dorian, offen seine Verdrießlichkeit +zeigend und warf sich auf das Sofa. „Ich +hoffe, es handelt sich nicht um mich. Ich habe heute abend +genug von mir. Ich wünschte, ich wäre ein anderer.“</p> + +<p>„Es handelt sich um dich,“ antwortete Hallward mit +seiner ernsten, tiefen Stimme, „und ich muß es dir sagen. +Ich werde dich kaum ein halbes Stündchen aufhalten.“</p> + +<p>Dorian seufzte und steckte sich eine Zigarette an. „Ein +halb Stündchen“, flüsterte er.</p> + +<p>„Das ist nicht viel von dir verlangt, Dorian, und ich +spreche wirklich nur zu deinem Besten. Ich halte es für +angebracht, daß du endlich die schrecklichen Dinge erfährst, +die über dich in London geredet werden.“</p> + +<p>„Ich will nicht das mindeste davon wissen. Ich habe +Tratsch über andere Leute recht gern, aber Tratsch über +mich interessiert mich ganz und gar nicht. Es hat nicht mal +den Reiz der Neuheit.“</p> + +<p>„Es muß dich interessieren, Dorian. Jeder anständige +Mensch ist an seinem guten Ruf interessiert. Du darfst doch +nicht die Leute von dir reden lassen, wie von einem gesunkenen +und abscheulich lasterhaften Menschen. Natürlich +hast du deine Stellung, deinen Reichtum und all dergleichen. +Aber Stellung und Reichtum sind nicht alles. Auf +mein Wort, ich glaube von diesen Gerüchten nichts. Wenigstens<a class="pagenum" name="Page_230" title="230"> </a> +kann ich ihnen nicht glauben, wenn ich dich sehe. Die +Sünde steht jedem Menschen auf der Stirn geschrieben. +Man kann sie nicht verhehlen. Die Menschen schwatzen +manchmal von geheimen Lastern. So etwas gibt es nicht. +Wenn ein unseliger Mensch ein Laster hat, so zeigt sichs +in den Linien seines Mundes, in seinen herabgesunkenen +Augenlidern, selbst in der Form seiner Hände. Jemand +— ich will seinen Namen nicht nennen, aber du kennst ihn +— kam voriges Jahr zu mir und wollte sich malen lassen. +Ich hatte ihn nie vorher gesehen und damals nie etwas +von ihm gehört, seitdem aber hat man mir eine Menge +von ihm erzählt. Er bot mir einen fabelhaften Preis an. +Ich habe abgelehnt. An der Form seiner Finger war +etwas, das mir ekelhaft war. Jetzt weiß ich, daß ich mit +meiner Vermutung über ihn ganz recht hatte. Sein Leben +ist fürchterlich. Aber von dir, Dorian, mit deinem reinen, +leuchtenden, unschuldigen Gesicht und deiner wunderbaren +unberührten Jugend — ich kann nicht das Häßliche glauben, +das man gegen dich vorbringt. Und doch, ich sehe +dich jetzt so selten, und du kommst gar nicht mehr in mein +Atelier, und wenn ich nicht mit dir zusammen bin und alle +die abscheulichen Dinge höre, die sich die Leute über dich +zuflüstern, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Woher +kommt es, Dorian, daß ein Mann wie der Herzog von +Berwick aufsteht und das Klubzimmer verläßt, wenn du +eintrittst? Warum wollen so viele Männer in London nicht +zu dir kommen und dich niemals zu sich einladen? Du +warst doch mit Lord Staveley befreundet. Ich traf ihn +vorige Woche bei einem Diner. Dein Name tauchte zufällig<a class="pagenum" name="Page_231" title="231"> </a> +im Gespräch in Verbindung mit den Miniaturen +auf, die du der Dudley-Ausstellung hergeliehen hast. Staveley +verzog die Lippen und sagte, es mag ja sein, daß +du einen äußerst künstlerischen Geschmack habest, aber +du seist ein Mann, den kein reines Mädchen kennenlernen +solle und mit dem keine anständige Frau im selben Zimmer +sein dürfe. Ich gab ihm zu verstehen, daß ich dein Freund +sei, und fragte ihn, was er damit meine. Er sagte es mir. +Er sagte es mir vor allen Leuten geradeheraus. Es war +scheußlich! Warum ist deine Freundschaft für junge Männer +solch ein Unglück? Da war der unselige Bursch in +der Leibgarde, der Selbstmord begangen hat. Du warst +sein bester Freund. Da war Sir Henry Ashton, der England +mit einem besudelten Namen verlassen mußte. Du +und er, ihr beide wart unzertrennlich. Wie ist es mit +Adrian Singleton bestellt und seinem furchtbaren Ende? +Was war das mit dem einzigen Sohn Lord Kents und +seiner Karriere? Ich traf seinen Vater gestern in St. James +Street. Er schien vor Schande und Herzleid gebrochen. +Was hattest du mit dem jungen Herzog von Perth? Was +für ein Leben führt er jetzt? Welcher Gentleman wollte +noch mit ihm Umgang haben?“</p> + +<p>„Hör auf, Basil, du sprichst von Dingen, von denen du +nichts weißt“, sagte Dorian Gray, der sich auf die Lippen +biß und in seine Stimme einen Ton unsäglicher Verachtung +legte. „Du fragst mich, warum Berwick aus dem +Zimmer geht, wenn ich eintrete. Er tut das, weil ich sein +Leben durch und durch kenne, nicht weil er etwas von mir +wüßte. Wie könnte er bei dem Blut, das in seinen Adern<a class="pagenum" name="Page_232" title="232"> </a> +rollt, nicht viel auf dem Kerbholz haben? Du fragst +mich nach Henry Ashton und dem jungen Perth. Habe +ich dem einen seine Laster, dem anderen seine Ausschweifungen +beigebracht? Wenn sich Kents schwachköpfiger Sohn +sein Weib von der Straße holt, was gehts mich an? Wenn +Adrian Singleton den Namen seines Freundes auf einen +Wechsel schreibt, bin ich sein Hüter? Ich weiß, wie die +Leute in England klatschen. Die Mittelklassen spreizen sich +bei ihren endlosen Diners mit ihren moralischen Vorurteilen +und munkeln von etwas, das sie die Ausschweifungen +derer nennen, denen es besser geht, und um sich damit zu +brüsten, daß sie in der feinen Gesellschaft verkehren und +intim mit den Leuten sind, die sie durchhecheln. Bei uns +zulande genügt es, daß einer Vornehmheit und Geist hat, +damit sich jede gemeine Zunge an ihm wetzt. Und was +für eine Art Leben führen denn diese Menschen selber, die +sich so auf die Moral hinausspielen? Mein lieber Junge, +du vergißt, daß wir in der Heimat der Heuchelei leben.“</p> + +<p>„Dorian,“ rief Hallward, „darum handelt sich's nicht. +Wie schlecht es um England bestellt ist, weiß ich selbst +und wie die englische Gesellschaft verrottet ist. Gerade +deshalb wünsche ich, daß du gut bleibst. Du bist nicht +gut geblieben. Man hat ein Recht darauf, einen Menschen +nach der Wirkung zu beurteilen, die er auf seine Freunde +ausübt. Deine Freunde scheinen alles Gefühl für Ehre, +für Anstand, für Reinheit zu verlieren. Du hast sie mit +einer wahnsinnigen Genußsucht erfüllt. Sie sind tief gesunken. +Ja: und du hast sie da hinabgeführt, und doch +kannst du lächeln, und du lächelst jetzt noch. Und es gibt<a class="pagenum" name="Page_233" title="233"> </a> +noch viel Schlimmeres. Ich weiß, du und Harry seid unzertrennlich. +Schon aus diesem Grunde, wenn aus keinem +anderen, hättest du den Namen seiner Schwester nicht +zum Spott machen dürfen!“</p> + +<p>„Nimm dich in acht, Basil. Du gehst zu weit.“</p> + +<p>„Ich muß sprechen, und du mußt mich hören. Als du +Lady Gwendolen kennenlerntest, hatte sie noch nicht der +leiseste Hauch übler Nachrede berührt. Gibt es jetzt eine +einzige anständige Frau in London, die mit ihr im Park +spazieren fahren würde? Ja, nicht einmal ihre Kinder +dürfen bei ihr wohnen. Dann gibt es andere Geschichten +— Geschichten, daß man dich gesehen hat, wie du in der +Dämmerung aus schrecklichen Häusern herausgeschlichen +bist, daß du dich verkleidet in den niederträchtigsten Kneipen +Londons herumtreibst. Ist das wahr? Kann das +wahr sein? Als ich das erstemal so etwas hörte, lachte +ich. Jetzt höre ich es mit Schaudern. Wie steht es mit +deinem Landhause und dem Leben, das dort geführt wird? +Dorian, du weißt nicht, was man über dich spricht. Ich +will dir das nicht vorhalten, ich will dir keine Predigt +halten. Ich erinnere mich, daß Harry einmal gesagt hat, +jeder Mensch, der sich als Moralprediger versuchen will, +fängt damit an, daß er sagt, er wolle nicht predigen und +dann sein Wort bricht. Ich will dir also eine Predigt +halten. Ich möchte dich ein solches Leben führen sehen, +daß die Welt Achtung vor dir haben soll. Ich will, +daß du einen reinen Namen und einen guten Ruf hast. +Ich will, daß du dich von den gräßlichen Menschen losmachst, +mit denen du jetzt fraternisierst. Zucke nicht mit<a class="pagenum" name="Page_234" title="234"> </a> +den Achseln. Sei nicht so gleichgültig. Du hast einen mächtigen +Einfluß. Laß ihn zum Guten und nicht zum Bösen +wirken. Man sagt, du verderbest jeden Menschen, mit dem +du intim wirst, und es sei völlig hinreichend, daß du ein +Haus betrittst, damit dir Schande irgendeiner Art auf +dem Fuße folge. Ich weiß nicht, ob dem so ist oder nicht. +Wie sollte ich's auch wissen? Aber man sagte es von dir. +Man sagte mir Dinge, die ich unmöglich länger anzweifeln +kann. Lord Gloucester war einer meiner liebsten +Freunde in Oxford. Er hat mir den Brief gezeigt, den ihm +seine Frau geschrieben hat, als sie allein in ihrer Villa in +Mentone auf dem Sterbebette lag. Dein Name war da in +die fürchterlichste Beichte verwickelt, die ich je gelesen habe. +Ich sagte ihm, daß es Tollheit wäre, daß ich dich durch +und durch kennte und daß du zu irgend etwas Derartigem +unfähig wärest. Kenne ich dich? Ich frage mich, kenne +ich dich! Bevor ich darauf antworten kann, müßte ich +deine Seele sehen.“</p> + +<p>„Meine Seele sehen“, murmelte Dorian Gray, stand +vom Sofa auf und wurde beinah weiß vor Angst.</p> + +<p>„Ja,“ antwortete Hallward ernst und ein tiefschmerzlicher +Klang zitterte in seiner Stimme — „deine Seele +sehen. Aber das kann nur Gott.“</p> + +<p>Ein bitter-höhnisches Gelächter brach aus dem Munde +des Jüngeren. „Du sollst sie selbst sehen, noch heute nacht!“ +rief er aus und nahm eine Lampe vom Tisch. „Komm: +sie ist das Werk deiner eigenen Hand. Warum solltest +du es nicht sehen? Du kannst nachher aller Welt davon +erzählen, wenn du willst. Niemand würde dir glauben.<a class="pagenum" name="Page_235" title="235"> </a> +Wenn sie dir glaubten, haben sie mich deswegen nur um +so lieber. Ich kenne unsere Zeit besser als du, obwohl du +darüber so langweilig faseln kannst. Komm, sag' ich dir. +Du hast genug über Verderbnis geschwatzt. Jetzt sollst du +sie von Angesicht zu Angesicht sehen.“</p> + +<p>In jedem Wort, das er sprach, klang der Wahnsinn +des Hochmuts. Er stampfte in seiner knabenhaften, dreisten +Art mit dem Fuß auf die Dielen. Er empfand ein furchtbares +Vergnügen bei dem Gedanken, daß ein anderer jetzt +sein Geheimnis teilen solle und daß der Mann, der sein +Bild gemalt hatte, das der Ursprung all seiner Schande +war, für den Rest seines Lebens die Last der gräßlichen +Erinnerung an seine Tat mit sich herumschleppen müsse.</p> + +<p>„Ja,“ fuhr er fort und trat näher zu ihm heran und +sah ihm fest in die ernsten Augen, „ich werde dir meine +Seele zeigen. Du sollst das Machwerk sehen, von dem du +glaubst, daß es nur Gott sehen kann.“</p> + +<p>Hallward schrak zurück. „Das ist Gotteslästerung, Dorian. +Du darfst nicht solche Dinge sagen. Sie sind schrecklich +und unverständig.“</p> + +<p>„Glaubst du?“ Er lachte wieder.</p> + +<p>„Ich weiß es. Was ich dir heute abend gesagt habe, +hab' ich zu deinem Besten gesagt. Du weißt, ich war dir +immer ein guter Freund.“</p> + +<p>„Werde nur nicht rührselig. Mach' Schluß mit dem, +was du noch zu sagen hast.“</p> + +<p>Ein wehevolles Zucken ging durch das Gesicht des Malers. +Er schwieg einen Augenblick und ein heftiger Mitleidsschmerz +überkam ihn. Welches Recht hatte er schließlich,<a class="pagenum" name="Page_236" title="236"> </a> +in Dorian Grays Leben hineinzuspähen? Wenn er +nur den zehnten Teil von dem getan hatte, wovon die +Gerüchte gingen, wie qualvoll mußte er gelitten haben! +Dann richtete er sich auf, ging zum Kamin hinüber und +blieb da stehen, versunken in den Anblick der brennenden +Holzscheite, die mit ihrer weißen Asche wie bereift aussahen +und stierte ihre zuckenden Feuerherzen an.</p> + +<p>„Ich warte, Basil“, sagte der junge Mann mit harter, +spitzer Stimme.</p> + +<p>Er drehte sich um. „Was ich noch zu sagen habe, ist +das“, rief er. „Du mußt mir eine Antwort geben auf diese +fürchterlichen Anklagen, die gegen dich erhoben werden. +Wenn du mir sagst, daß sie von Anfang bis zu Ende +unwahr sind, werde ich dir glauben. Leugne sie ab, Dorian, +leugne sie ab! Kannst du nicht sehen, was ich durchmache? +Mein Gott, sage mir nicht, daß du schlecht und +verderbt und schändlich bist!“</p> + +<p>Dorian Gray lächelte. Seine Lippen krausten sich in +Verachtung. „Komm hinauf, Basil“, sagte er ruhig. „Ich +führe da ein Tagebuch meines Lebens, Tag für Tag, und +es verläßt niemals das Zimmer, in dem es geschrieben +wird. Ich will es dir zeigen, wenn du mit mir kommst.“</p> + +<p>„Ich komme mit, Dorian, wenn du es haben willst. +Ich sehe, daß ich meinen Zug versäumt habe. Das tut +nichts. Ich kann morgen fahren. Aber verlange nicht von +mir, daß ich heute nacht noch etwas lese. Was ich will, +ist eine klare Antwort auf meine Frage.“</p> + +<p>„Die soll dir oben zuteil werden. Ich kann sie dir hier +nicht geben. Du wirst nicht lange zu lesen haben.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_237" title="237"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Dreizehntes_Kapitel" id="Dreizehntes_Kapitel"></a>Dreizehntes Kapitel</h2> + + +<p>Er verließ das Zimmer und begann die Treppe hinaufzugehen, +Basil Hallward folgte dicht hinter ihm. Sie +gingen leise, wie man es bei Nacht instinktiv tut. Die +Lampe warf phantastische Schatten auf Wand und +Treppe. Im Winde, der sich erhoben hatte, klirrten einige +Fenster.</p> + +<p>Als sie den obersten Absatz erreicht hatten, stellte Dorian +die Lampe auf den Boden, nahm den Schlüssel heraus +und schloß auf. „Du bestehst auf einer Antwort, Basil?“ +fragte er mit gedämpfter Stimme.</p> + +<p>„Ja.“</p> + +<p>„Das freut mich“, antwortete er lächelnd. Dann fügte +er ziemlich scharf hinzu: „Du bist der einzige Mensch in +der Welt, der alles über mich wissen darf. Du hast mehr +mit meinem Leben zu schaffen gehabt, als du dir denkst“, +und damit nahm er die Lampe auf, öffnete die Tür und +trat ein. Ein kalter Luftzug strich an ihnen vorbei, und +das Licht zuckte einen Augenblick in einer düstern Orangefarbe +auf. Er schauderte. „Schließe die Tür hinter dir“, +flüsterte er, während er die Lampe auf den Tisch stellte.</p> + +<p>Hallward blickte erstaunt umher. Das Zimmer sah aus, +als wär' es seit langen Jahren nicht bewohnt worden. Ein +fadenscheiniger flämischer Gobelin, ein verhängtes Bild, ein +alter italienischer Cassone und ein fast leerer Bücherschrank +— das war außer einem Stuhl und einem Tisch alles, +was darin zu sein schien. Als Dorian Gray eine halb<a class="pagenum" name="Page_238" title="238"> </a> +abgebrannte Kerze, die auf dem Kamin stand, angezündet +hatte, sah der Maler, daß der ganze Raum mit Staub +bedeckt und der Teppich zerfetzt und durchlöchert war. +Eine Maus lief erschreckt hinter die Täfelung. Ein dumpfer +Modergeruch machte sich bemerkbar. —</p> + +<p>„Du glaubst also, daß Gott allein die Seele sieht, Basil? +Zieh den Vorhang zurück, und du wirst die meine +sehen.“</p> + +<p>Die Stimme, die das sprach, klang kalt und grausam.</p> + +<p>„Du bist wahnsinnig, Dorian, oder spielst Komödie“, +sagte Hallward und runzelte die Stirn.</p> + +<p>„Du willst nicht? Dann muß ich es selbst tun“, sagte +der junge Mann, und riß den Vorhang von seiner Stange +und schleuderte ihn zu Boden.</p> + +<p>Ein Entsetzensschrei kam von den Lippen des Malers, +als er in der düsteren Beleuchtung das gräßliche Gesicht +auf der Leinwand erblickte, das ihm entgegengrinste. In +seinem Ausdruck war etwas, das ihn mit Ekel und Abscheu +erfüllte. Gott im Himmel! Es war Dorian Grays +eigenes Antlitz, das er sah! Das Schreckliche, was es +auch sein mochte, hatte die wundervolle Schönheit noch +nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold in dem gelichteten +Haar und etwas Purpur auf dem sinnlichen Mund. +Die stumpfgewordenen Augen hatten noch etwas von +ihrem lieblichen Blau behalten, der edle Schwung der +Linien um die feingewölbten Nasenflügel und den plastischen +Hals war noch nicht ganz verschwunden. Ja, es war +Dorian selbst. Aber wer hatte das gemalt? Er glaubte, +das Werk seines eigenen Pinsels zu erkennen, und der<a class="pagenum" name="Page_239" title="239"> </a> +Rahmen war von ihm selbst gezeichnet. Die Vorstellung +war ungeheuerlich, und doch fürchtete er sich. Er nahm die +brennende Kerze und hielt sie nahe an das Bild. In der +linken Ecke stand ein Name in langen, hellroten Lettern.</p> + +<p>Es war irgendeine infame Parodie, eine niederträchtige, +elende Satire. Er hatte das niemals gemalt. Und doch, es +war sein eigenes Bild. Er wußte es und ihm war, als ob +sich sein Blut in einem Augenblick aus Feuer in starrendes +Eis verwandelt hätte. Sein eigenes Bild! Was sollte das +heißen? Warum hatte es sich verändert? Er drehte sich um +und sah Dorian Gray mit krankhaften Augen an. Sein +Mund zuckte, seine trockne Zunge schien jedes Lautes ganz +unfähig zu sein. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. +Kühle Schweißperlen standen darauf.</p> + +<p>Der junge Mann lehnte gegen den Kamin und beobachtete +ihn mit dem merkwürdigen Ausdruck, den man auf +den Gesichtern von Menschen sieht, die von dem Spiel +eines großen Schauspielers hingerissen sind. In seinem Gesicht +war weder wirklicher Schmerz noch wirkliche Freude. +Da war nur die Leidenschaft des Zuschauers und höchstens +in den Augen flackerte ein triumphierendes Leuchten. Er +hatte die Blume aus seinem Knopfloch genommen und +roch daran oder tat mindestens so.</p> + +<p>„Was bedeutet das?“ rief Hallward endlich. Seine +eigene Stimme klang ihm schrill und fremd in die Ohren.</p> + +<p>„Vor vielen Jahren, als ich noch ein Knabe war,“ sagte +Dorian Gray, während er die Blume in seiner Hand zerdrückte, +„hast du mich kennengelernt, hast mir geschmeichelt +und mich gelehrt, auf meine Schönheit eitel zu sein. Eines<a class="pagenum" name="Page_240" title="240"> </a> +Tages stelltest du mich einem deiner Freunde vor, der mir +das Wunder der Jugend erklärte, und damals beendetest +du ein Porträt von mir, das mir das Wunder der Schönheit +offenbarte. In einem Augenblick des Wahnsinns, und +ich weiß noch jetzt nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht, +sprach ich einen Wunsch aus, vielleicht würdest du es ein +Gebet nennen.“</p> + +<p>„Ich erinnere mich! Oh, wie gut erinnere ich mich! +Nein! so etwas ist unmöglich. Das Zimmer ist feucht. +Die Leinwand ist stockig geworden. In den Farben, die ich +verwandte, war irgendein mineralisches Gift enthalten. +Ich sage dir, so etwas ist unmöglich.“</p> + +<p>„Pah, was ist unmöglich?“ murmelte der junge Mann, +ging zum Fenster und preßte seine Stirn an die kalte, +nebelfeuchte Scheibe.</p> + +<p>„Du sagtest mir, du hättest es zerstört.“</p> + +<p>„Ich habe mich geirrt. Es hat mich zerstört.“</p> + +<p>„Ich kann's nicht glauben, daß es mein Bild ist.“</p> + +<p>„Kannst du dein Ideal nicht darin erkennen?“ fragte +Dorian bitter.</p> + +<p>„Mein Ideal, wie du es nennst...“</p> + +<p>„Wie du es nanntest.“</p> + +<p>„Es hatte nichts Schlimmes in sich, nichts Schändliches. +Du warst für mich ein Ideal, wie ich ihm nie wieder begegnen +werde. Dies ist das Gesicht eines Fauns.“</p> + +<p>„Es ist das Gesicht meiner Seele.“</p> + +<p>„Jesus, mein! Was für ein Ding habe ich angebetet! +Es hat die Augen eines Teufels.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_241" title="241"> </a></p> + +<p>„Jeder von uns hat Himmel und Hölle in sich, Basil“, +rief Dorian mit einer wilden, verzweifelten Gebärde.</p> + +<p>Hallward wandte sich wieder dem Bilde zu und starrte +es an. „Mein Gott! Es ist wahr,“ rief er aus, „und das +hast du aus deinem Leben gemacht und danach also mußt +du noch schlechter sein, als die es ahnen, die gegen dich +sprechen.“ Er hielt das Licht wieder dicht an die Leinwand +und musterte sie scharf. Die Oberfläche schien ganz unzerstört +und so, wie sie aus seiner Hand gekommen war. +Von innen also war die Fäulnis und das Entsetzliche hervorgedrungen. +Durch einen sonderbaren inneren Zeugungsvorgang +fraß der Aussatz der Sünde langsam das ganze +Bildnis hinweg. Die Verwesung eines Leichnams in einem +feuchten Grabe konnte nicht so grauenvoll sein.</p> + +<p>Seine Hand zitterte und die Kerze fiel aus dem Leuchter +auf den Boden und lag rauchend da. Er trat mit dem +Fuß darauf und erstickte sie. Dann warf er sich selbst in +den wackligen Stuhl vor dem Tische und vergrub das Gesicht +in seinen Händen.</p> + +<p>„Großer Gott, Dorian, was für eine Lehre! Was für +eine furchtbare Lehre!“ Es kam keine Antwort, aber er +konnte den jungen Mann am Fenster schluchzen hören. +„Bete, Dorian, bete“, sagte er leise. „Was war es doch, +was man uns in der Kindheit hersagen gelehrt hat? ‚Führe +uns nicht in Versuchung! Vergib uns unsere Sünden! +Nimm unsere Missetat von uns!‛ Wir wollen das zusammen +aufsagen. Das Gebet deines Stolzes ist erhört +werden. Das Gebet deiner Reue wird auch erhört werden. +Ich habe dich zu sehr geliebt. Ich bin dafür bestraft worden.<a class="pagenum" name="Page_242" title="242"> </a> +Du hast dich selbst zu sehr geliebt. Wir haben beide +unsere Strafe.“</p> + +<p>Dorian Gray wandte sich langsam um und sah ihn mit +tränenschimmernden Augen an. „Es ist zu spät, Basil“, +flüsterte er.</p> + +<p>„Es ist nie zu spät, Dorian. Wir wollen niederknien und +versuchen, ob wir uns nicht an ein Gebet erinnern können. +Steht nicht irgendwo ein Vers: ‚Und wären deine Sünden +wie Scharlach, ich will sie weiß machen wie Schnee?‛“</p> + +<p>„Solche Worte haben für mich keinen Sinn mehr.“</p> + +<p>„Still! Sage nicht so etwas. Du hast genug Böses getan +im Leben. Mein Gott! Siehst du nicht, wie uns das fürchterliche +Ding anstiert?“</p> + +<p>Dorian Gray blickte nach dem Bild, und plötzlich überkam +ihn ein unbezwingliches Haßgefühl auf Basil Hallward, +als sei er ihm von dem Bildnis auf der Leinwand +eingeflößt, von diesen grinsenden Lippen in sein Ohr gewispert +worden. Die wilde Zornwut eines gehetzten Tieres +kochte in ihm, und er haßte den Mann, der da an dem +Tisch saß, mehr als er in seinem ganzen Leben irgend +etwas gehaßt hatte. Er spähte wild um sich. Auf der +Platte der bemalten Truhe, die ihm gegenüberstand, glitzerte +etwas. Sein Blick fiel darauf. Er erkannte, was es +war. Ein Messer war's, das er vor einigen Tagen mit +hinaufgenommen hatte, um ein Stück Schnur zu durchschneiden, +und das er wieder mit herunterzunehmen vergessen +hatte. Er ging langsam darauf zu und mußte dabei +an Hallward vorüber. Sobald er hinter ihm stand, ergriff +er das Messer und drehte sich um. Hallward rührte sich<a class="pagenum" name="Page_243" title="243"> </a> +in seinem Stuhl, als wollte er soeben aufstehen. Er stürzte +sich auf ihn und bohrte ihm das Messer tief in die Schlagader +hinter dem Ohr, preßte den Kopf des Mannes auf +den Tisch herunter und stieß immer und immer wieder zu.</p> + +<p>Man hörte ein unterdrücktes Röcheln und den fürchterlichen +Ton eines Menschen, der in seinem Blut erstickt. +Dreimal schlugen die krampfhaft ausgestreckten Arme um +sich, und die Hände fuhren mit eigentümlich steifen Fingern +durch die Luft. Er stieß noch zweimal zu, aber der Mann +rührte sich nicht mehr. Etwas begann auf den Boden zu +tröpfeln. Er wartete einen Augenblick und drückte den Kopf +immer noch nach unten. Dann warf er das Messer auf den +Tisch und horchte.</p> + +<p>Er konnte nichts hören, als das Tropf-Tropf auf den +fadenscheinigen Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis +an den Treppenabsatz. Das Haus war vollständig ruhig. +Niemand war wach. Über das Geländer gebeugt, stand er +ein paar Augenblicke da und forschte hinab in den schwarzen +brodelnden Schacht von Dunkelheit. Dann zog er den +Schlüssel ab, ging in das Zimmer zurück und schloß sich +darin ein.</p> + +<p>Das Wesen saß noch immer in dem Stuhl und hing mit +gebeugtem Kopf und gekrümmtem Rücken und langen phantastischen +Armen über den Tisch. Wäre nicht der rote, +klaffende Riß im Nacken gewesen und die dunkle, geronnene +Lache, die sich nach und nach auf dem Tisch vergrößerte, +so hätte man glauben können, der Mann schlafe nur.</p> + +<p>Wie schnell das alles geschehen war! Er fühlte sich +merkwürdig ruhig, ging zur Balkontür, öffnete sie und<a class="pagenum" name="Page_244" title="244"> </a> +trat hinaus. Der Wind hatte die Nebeltücher auseinandergeblasen, +und der Himmel sah aus wie der Schweif eines +ungeheuren Pfaus, der mit Myriaden goldener Augen +bestirnt war. Er blickte hinab und sah, wie der Polizist +seine Runde machte und das lange Streiflicht seiner Laterne +über die Türen der schweigsamen Häuser gleiten ließ. +Das rotgelbe Licht einer vorbeitrödelnden Droschke glomm +an der Straßenecke auf und verschwand wieder. Ein Weib +in einem flatternden Kopftuch schob sich langsam am Gitter +des Platzes vorbei und taumelte im Gehen. Dann und +wann stand sie still und sah zurück. Auf einmal begann sie +mit heiserer Stimme zu singen. Der Schutzmann schlenderte +über den Damm her und sagte etwas zu ihr. Sie humpelte +lachend weiter. Ein scharfer Luftzug fegte über den Platz. +Die Gasflammen zuckten und wurden blau, und die entlaubten +Bäume schüttelten ihr schwarzes Geäste hin und +her, das wie ein Eisengeflecht aussah. Ihn fröstelte und +er trat, das Fenster schließend, wieder zurück.</p> + +<p>Als er bei der Türe war, drehte er den Schlüssel und +öffnete sie. Er blickte den Ermordeten mit keinem Blicke +mehr an. Er empfand, daß das Geheimnis der ganzen +Sache darin beruhe, sich die Sachlage nicht zu vergegenwärtigen. +Der Freund, der das verhängnisvolle Bild gemalt +hatte, von dem all sein Elend herrührte, war aus +seinem Leben verschwunden. Das war genug.</p> + +<p>Dann fiel ihm die Lampe ein. Es war eine ziemlich +merkwürdige maurische Arbeit, mattes Silber mit eingelegten +Arabesken aus dunkelpoliertem Stahl und besetzt +mit ungeschliffenen Türkisen. Sie mochte vielleicht von<a class="pagenum" name="Page_245" title="245"> </a> +seinem Diener vermißt werden und er könnte danach fragen. +Er zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück und +nahm sie vom Tisch. Dabei mußte er die tote Gestalt +sehen. Wie ruhig sie war! Wie furchtbar weiß die langen +Hände aussahen! Es schien eine gräßliche Wachsfigur zu +sein.</p> + +<p>Er schloß die Türe hinter sich und schlich langsam die +Treppe hinunter. Das Holz knarrte und schien wie vor +Schmerz aufzustöhnen. Er blieb einige Male stehen und +wartete. Nein, alles war still. Er hörte nur den Widerhall +seiner eigenen Schritte.</p> + +<p>Als er in seinem Bibliothekszimmer war, erblickte er die +Tasche und den Rock in der Ecke. Die mußten irgendwo +verborgen werden. Er öffnete einen Geheimschrank, der in +der Holztäfelung war, in dem er seine eigenen Verkleidungen +aufbewahrte, und schob die Sachen hinein. Er +konnte sie später leicht einmal verbrennen. Dann zog er +seine Uhr. Es war zwanzig Minuten vor zwei.</p> + +<p>Er setzte sich und begann nachzudenken. Jahr für Jahr +— fast jeden Monat — werden in England Leute gehenkt +für so etwas, wie er soeben getan hatte. Irgendeine wahnwitzige +Mordlust hatte in der Luft gelegen. Irgendein +blutroter Stern war der Erde zu nahe gekommen... Und +doch, wie wollte man es ihm beweisen? Basil Hallward +hatte das Haus um elf Uhr verlassen. Niemand hatte ihn +noch einmal wiederkommen sehen. Die meisten Diener +waren in Selby Royal. Sein eigener Diener war schlafen +gegangen... Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren, +und zwar mit dem Mitternachtszug, wie es seine Absicht<a class="pagenum" name="Page_246" title="246"> </a> +gewesen war. Bei seinen merkwürdigen Gewohnheiten, sich +zurückzuziehen, würden Monate vergehen, bevor irgendein +Verdacht entstehen würde. Monate! Alle Spuren konnten +lange vorher getilgt sein.</p> + +<p>Ein plötzlicher Einfall durchzuckte ihn. Er zog seinen +Pelz an, setzte seinen Hut auf und ging in die Vorhalle +hinaus. Dort blieb er stehen, weil er den langsamen, +schweren Tritt des Schutzmanns draußen auf dem Pflaster +hörte und den tanzenden Widerschein seiner Blendlaterne +im Türfenster sah. Er wartete und hielt den +Atem an.</p> + +<p>Nach einigen Augenblicken schob er den Riegel zurück +und schlüpfte hinaus, das Tor ganz leise hinter sich schließend. +Dann zog er die Klingel. Nach etwa fünf Minuten +erschien sein Diener, halb angezogen und sehr verschlafen.</p> + +<p>„Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis“, +sagte er eintretend und ging die Stufen hinauf; „aber ich +habe meinen Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?“</p> + +<p>„Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr“, sagte der +Mann mit einem blinzelnden Blick auf die Uhr.</p> + +<p>„Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie +müssen mich morgen um neun Uhr wecken. Ich habe zu +tun.“</p> + +<p>„Zu Befehl, gnädiger Herr.“</p> + +<p>„War jemand heute abend hier?“</p> + +<p>„Herr Hallward, gnädiger Herr. Er hat hier bis elf +Uhr gewartet und ging dann, um seinen Zug nicht zu versäumen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_247" title="247"> </a></p> + +<p>„Es tut mir leid, daß ich ihn nicht getroffen habe. +Sollen Sie mir etwas bestellen?“</p> + +<p>„Nein, gnädiger Herr, nur, daß er von Paris schreiben +würde, wenn er Sie im Klub nicht treffen sollte.“</p> + +<p>„Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen +um neun zu wecken.“</p> + +<p>„Nein, gnädiger Herr!“</p> + +<p>Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln durch den Torweg +die Dienertreppe hinab.</p> + +<p>Dorian Gray warf Hut und Stock auf den Tisch und +trat ins Bücherzimmer. Eine Viertelstunde lang ging er +auf und ab, biß sich auf die Lippen und grübelte. Dann +nahm er das blaue Adreßbuch von einem Regal und begann +zu blättern. „Alan Campbell, Hertford Street 152, +Mayfair.“ Ja, das war der Mann, den er brauchte.</p> + +<h2><a name="Vierzehntes_Kapitel" id="Vierzehntes_Kapitel"></a>Vierzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener +mit einer Tasse Schokolade auf einem Servierbrett herein +und öffnete die Fensterläden. Dorian lag auf der rechten +Seite, eine Hand unter seiner Wange und schlief ganz +friedlich. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder +Lernen müde geworden ist.</p> + +<p>Der Mann mußte ihn zweimal an der Schulter berühren, +bevor er aufwachte, und als er die Augen öffnete, +huschte ein leichtes Lächeln über seine Lippen, als wäre +er von einem entzückenden Traum befangen gewesen. Aber<a class="pagenum" name="Page_248" title="248"> </a> +er hatte gar nicht geträumt. Seine Nacht war weder +von Bildern der Freude noch des Grauens gestört worden. +Doch die Jugend lächelt ohne Grund. Das ist einer ihrer +besonderen Reize.</p> + +<p>Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann +seine Schokolade zu schlürfen. Die matte Novembersonne +strömte in das Zimmer. Der Himmel war wolkenlos, +eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war fast wie ein +Maimorgen.</p> + +<p>Allmählich schlichen die Vorgänge der vergangenen +Nacht auf lautlosen, blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn +und bauten sich dort mit furchtbarer Deutlichkeit wieder +auf. Er erschauerte bei dem Gedächtnis an alles, was er +durchlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte in ihm +derselbe sonderbare Haß auf Basil Hallward zurück, der +ihn dazu getrieben hatte, ihn zu töten, als er im Stuhl +saß, er wurde kalt vor Wut. Der Tote saß noch immer da +oben und jetzt dazu im Sonnenlicht. Wie schrecklich das +war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit, +nicht an den Tag.</p> + +<p>Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig würde, wenn +er über das brütete, was er hinter sich hatte. Es gibt +Sünden, deren Reiz mehr in der Erinnerung liegt als in +der Begehung, seltsame Siege, die mehr dem Stolz Genüge +tun als der Leidenschaft und die dem Geist ein +Lustgefühl geben, das stärker ist als jede Wonne, die sie +Sinnen verschaffen oder jemals verschaffen können. Aber +diesmal war es keine von diesen. Dies war eine, die man +aus dem Geiste verjagen, die man mit einem Opiat vergiften,<a class="pagenum" name="Page_249" title="249"> </a> +die man ersticken mußte, da sie einen sonst selbst +ersticken würde.</p> + +<p>Als es halb schlug, fuhr er sich mit der Hand über die +Stirn, stand dann rasch auf und zog sich beinahe mit noch +größerer Sorgfalt an, als gewöhnlich, indem er die größte +Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner Krawatte und seiner +Nadel verwandte und seine Ringe mehr als einmal wechselte. +Er verbrachte auch beim Frühstück längere Zeit, +kostete von den verschiedenen Gerichten, sprach mit seinem +Bedienten über neue Livreen, die er der Dienerschaft in +Selby machen lassen wollte, und sah seine Briefschaften +durch. Bei einigen Zuschriften lächelte er. Drei ödeten +ihn an. Einen Brief las er mehrmals durch und zerriß ihn +dann mit einem leichten Ärger in seinen Mienen. „Was für +ein gräßliches Ding das Gedächtnis einer Frau ist“, +hatte Lord Henry einmal gesagt.</p> + +<p>Als er seine Schale schwarzen Kaffee getrunken hatte, +trocknete er die Lippen langsam an seiner Serviette ab, +gab dem Diener ein Zeichen zu warten, ging zum Schreibtisch +hinüber, setzte sich und schrieb zwei Briefe. Einen +steckte er in die Tasche, den anderen reichte er dem +Diener.</p> + +<p>„Bringen Sie den nach Hertford Street 152, Francis, +und wenn Herr Campbell nicht in der Stadt ist, lassen Sie +sich seine Adresse geben.“</p> + +<p>Sobald er allein war, zündete er sich eine Zigarette an +und begann auf einem Blatt Papier Skizzen zu machen, +zeichnete zuerst Blumen, dann Architekturstücke und dann +menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er, daß jedes Gesicht,<a class="pagenum" name="Page_250" title="250"> </a> +das er entwarf, eine phantastische Ähnlichkeit mit Basil +Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf, +ging zum Bücherschrank und nahm auf gut Glück einen +Band heraus. Er war fest entschlossen, an das Geschehene +nicht eher zu denken, als bis es unbedingt notwendig +war.</p> + +<p>Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf +den Titel des Buches. Es waren Gautiers „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Emaux et +Camées</span>“, Charpentiers Ausgabe auf japanischem Papier, +mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus +zitronengelbem Leder mit einem Blinddruckmuster von +goldenem Laubwerk und Granatäpfeln in Punktmanier. +Es war ein Geschenk Adrian Singletons. Als er darin +blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand +Lacenaires, die kalte gelbe Hand „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">du supplice encore +mal lavée</span>“, mit ihren rötlichen Flaumhärchen und ihren +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">doigts de faune</span>“. Er blickte auf seine eigenen weißen, +spitzen Finger, schauderte unwillkürlich zusammen, las +dann weiter, bis er zu den lieblichen Versen auf Venedig +kam.</p> + +<p class="poem"><span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr"> +Sur une gamme chromatique,</span><br /> +<span style="margin-left: 1em;">Le sein de perles ruisselant,</span><br /> +La Vénus de l'Adriatique<br /> +<span style="margin-left: 1em;">Sort de l'eau son corps rose et blanc.</span></p> + +<p class="poem" style="margin-top: 0;"><span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr"> +Les dômes, sur l'azur des ondes<br /> +<span style="margin-left: 1em;">Suivant la phrase au pur contur,</span><br /> +S'enflent comme des gorges rondes<br /> +<span style="margin-left: 1em;">Que soulève un soupir d'amour.</span></span><a class="pagenum" name="Page_251" title="251"> </a></p> + + +<p class="poem" style="margin-top: 0;"><span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr"> +L'esquif aborde et me dépose,<br /> +<span style="margin-left: 1em;">Jetant son amarre au pilier,</span><br /> +Devant une façade rose,<br /> +<span style="margin-left: 1em;">Sur le marbre d'un escalier.</span></span><br /> +</p> + +<p>Wie entzückend die Verse waren! Wenn man sie las, +hatte man die Empfindung, durch die grünen Wasserstraßen +dieser rot- und perlfarbigen Stadt zu gleiten, in +einer schwarzen Gondel mit silbernem Schnabel und schleppenden +Vorhängen. Schon die Zeilen sahen so aus wie die +geraden, türkisblauen Kiellinien, die einem folgten, wenn +man nach dem Lido hinausrudert. Die plötzlichen Farbenblitze +erinnerten ihn an den Schimmer jener Vögel mit +opal- und regenbogenfarbenen Hälsen, die um den schlanken, +wabenartig durchlöcherten Kampanile flattern oder +mit prächtiger Anmut durch die düstern, staubigen Arkaden +trippeln. Zurückgelehnt mit halb geschlossenen Augen +sagte er immer und immer wieder zu sich: —</p> + +<p class="poem"> +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Devant une façade rose,<br /> +<span style="margin-left: 1em;">Sur le marbre d'un escalier.</span></span> +</p> + +<p class="postpoem">Das ganze Venedig war in diesen zwei Versen enthalten. +Er dachte an den Herbst, den er dort verbracht hatte, und +eine himmlische Liebelei, die ihn zu wahnsinnigen, entzückenden +Torheiten getrieben hatte. Es gab Romantik in +jedem Erdenwinkel. Aber Venedig hatte noch wie Oxford +den Hintergrund für Romantik bewahrt, und für den wahren +Romantiker ist der Hintergrund alles oder fast alles. +Basil war einen Teil der Zeit bei ihm gewesen und war<a class="pagenum" name="Page_252" title="252"> </a> +ganz wild vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme +Basil! Was für eine schreckliche Art, so zu sterben!</p> + +<p>Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen. +Er las von den Schwalben, die aus- und einfliegen +in dem kleinen Café zu Smyrna, wo die Hadjis sitzen und +ihre Bernsteinperlen durch die Hand laufen lassen, und wo +die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten +Pfeifen rauchen und ernsthaft miteinander sprechen: er las +von dem Obelisk auf der Place de la Concorde, der in +seiner vereinsamten, sonnenlosen Verbannung granitene +Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen, lotosbedeckten +Nil, wo die Sphinxe sind, und rosenrote Ibisse +und weiße Geier mit goldenen Klauen und Krokodile mit +kleinen Beryllaugen, die durch den grünen, dampfenden +Schlamm dahinkriechen: er fing an, den Versen nachzusinnen, +die ihre Musik aus Marmor locken, der von Küssen +fleckig geworden ist, und die uns von der sonderbaren +Statue erzählen, die Gautier einer Altstimme vergleicht, von +dem „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">monstre charmant</span>“, das in dem Porphyrsaal des +Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel seinen Händen +das Buch. Er wurde nervös, und ein gräßlicher Angstanfall +schüttelte ihn. Was nun tun, wenn Alan Campbell nicht +in England war? Tage könnten möglicherweise verstreichen, +bevor er zurückkäme. Vielleicht weigerte er sich, zu kommen. +Was sollte er dann tun? Jeder Augenblick war von tödlicher +Bedeutung.</p> + +<p>Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf +Jahren — sogar fast unzertrennlich. Dann hatte die +Intimität plötzlich ein Ende. Wenn sie sich jetzt in Gesellschaft<a class="pagenum" name="Page_253" title="253"> </a> +trafen, war es nur noch Dorian Gray, der da +lächelte, niemals Alan Campbell.</p> + +<p>Er war ein außerordentlich begabter junger Mann, +wenn er auch kein eigentliches Verhältnis zu den sichtbaren +Künsten hatte, und der geringe Sinn für Poesie, den er +besaß, vollständig von Dorian herrührte. Die geistige +Leidenschaft, die ihn beherrschte, erstreckte sich nur auf die +Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil +seiner Zeit mit Arbeiten im Laboratorium verbracht und +hatte sein Examen in den Naturwissenschaften mit vorzüglich +bestanden. Noch jetzt war er dem Studium der Chemie +ergeben und hatte ein eigenes Laboratorium, in das er +sich häufig den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum +großen Kummer seiner Mutter, die sich darauf verbissen +hatte, daß er für das Parlament kandidieren sollte, und die +eine unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker sei ein Mensch, +der Rezepte anfertige. Indessen war er ein ausgezeichneter +Musiker und spielte Geige und Klavier besser als die +meisten Dilettanten. Die Musik war es denn auch wirklich, +die Dorian Gray und ihn zueinander gebracht hatte — die +Musik und die unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian +ausüben konnte, wenn er wollte, und auch oft ausübte, +ohne es zu wissen. Sie hatten sich bei Lady Berkshire an +dem Abend kennengelernt, als Rubinstein dort spielte, und +man sah sie von da an immer zusammen in der Oper und +überall, wo es gute Musik gab. Achtzehn Monate dauerte +diese Freundschaft. Campbell war regelmäßig entweder +in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie +für viele andere war Dorian Gray die Verkörperung<a class="pagenum" name="Page_254" title="254"> </a> +alles dessen, was wunderbar und bezaubernd im Leben +ist. Ob zwischen ihnen ein Streit vorgefallen war oder +nicht, wußte kein Mensch. Aber plötzlich bemerkten die +Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich +trafen, und daß Campbell jede Gesellschaft frühzeitig +verließ, in der Dorian anwesend war. Er war auch verändert +— bisweilen merkwürdig melancholisch, schien kaum +noch Musik hören zu können, spielte nie mehr selbst und +gab, wenn man ihn dazu aufforderte, als Entschuldigung +an, daß ihn die Wissenschaft so stark in Anspruch nähme, +daß er keine Zeit mehr zum Üben habe. Und das war auch +der Fall. Er schien jeden Tag mehr Interesse für biologische +Studien zu gewinnen, und sein Name erschien ein- oder +zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung +mit gewissen außergewöhnlichen Experimenten.</p> + +<p>Das war der Mann, auf den Dorian Gray wartete. +Jede Sekunde blickte er auf die Uhr. Als Minute um +Minute verstrich, wurde er furchtbar aufgeregt. Schließlich +stand er auf und begann im Zimmer hin und her +zu gehen wie irgendeine schöne Bestie im Käfig. Er holte +weiten Schrittes, fast sprunghaft, aus und trat leise auf. +Seine Hände waren eigentümlich kalt.</p> + +<p>Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien ihm +mit bleiernen Füßen zu schleichen, während er von ungeheuren +Wirbelwinden zum zackigen Grat einer schwarzen +Kluft oder eines Abgrundes hingefegt wurde. Er wußte, +was dort seiner harrte; er sah es und preßte schaudernd +mit feuchten Händen seine brennenden Lider zusammen, +als wolle er sein Gehirn der Sehkraft berauben und die<a class="pagenum" name="Page_255" title="255"> </a> +Augäpfel in ihre Höhlen zurückdrängen. Es war umsonst. +Das Gehirn hatte seine eigene Nahrung, mit der es sich +mästete, und die durch den Schrecken grotesk gemachte Einbildungskraft +krümmte sich vor Schmerz wie ein lebendes +Wesen, tanzte wie eine widerwärtige Marionette in einer +Schaubude und grinste durch bewegliche Masken hindurch. +Dann blieb auf einmal die Zeit für ihn stehen. Ja, dieses +blinde, langsamatmende Wesen kroch nicht mehr, und da +sie tot war, stürzten sich gräßliche Gedanken mit Blitzesschnelle +über ihn hin und zerrten eine scheußliche Zukunft +aus ihrem Grabe und zeigten sie ihm. Er starrte darauf hin. +Ihre Entsetzlichkeit versteinerte ihn.</p> + +<p>Endlich öffnete sich die Tür, und sein Bedienter trat ein. +Er wandte ihm seine gläsernen Augen zu.</p> + +<p>„Herr Campbell, gnädiger Herr“, sagte der Mann.</p> + +<p>Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen +Lippen und die Farbe kehrte in seine Wangen zurück.</p> + +<p>„Bitten Sie ihn sofort herein, Francis.“ Er fühlte, +daß er wieder er selbst war. Der Anfall von Feigheit war +überwunden.</p> + +<p>Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen +Augenblicken trat Alan Campbell ein, mit sehr strengem +Gesicht und etwas bleich, und seine blasse Farbe wurde +durch das kohlschwarze Haar und die dunkeln Brauen noch +verstärkt.</p> + +<p>„Alan! das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß +du gekommen bist.“</p> + +<p>„Ich hatte die Absicht, dein Haus nie wieder zu betreten, +Gray. Aber du schriebst, es handle sich um Leben und<a class="pagenum" name="Page_256" title="256"> </a> +Tod.“ Seine Stimme war hart und kalt. Er sprach langsam +und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in dem +festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er +behielt die Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes +und schien die Bewegung, mit der ihm die Hand entgegengestreckt +worden war, nicht zu bemerken.</p> + +<p>„Ja, es handelt sich um Leben und Tod, und für mehr +als einen Menschen, Alan. Setze dich.“</p> + +<p>Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian +setzte sich ihm gegenüber. Die Augen der beiden Männer +trafen sich. In denen Dorians lag unendliches Mitleid. +Er wußte, was er jetzt tun werde, war schrecklich.</p> + +<p>Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens beugte er +sich nach vorn und sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes +Wortes auf dem Gesicht des Mannes ablesend, den er +hatte holen lassen: „Alan, in einem verschlossenen Dachzimmer +dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger +Mensch außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann +an einem Tisch. Er ist jetzt seit zehn Stunden tot. Bleib' +ruhig sitzen und sieh mich nicht so an. Wer der Mann ist, +warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die dich nicht +kümmern. Was du zu tun hast, ist —“</p> + +<p>„Halt, Gray! Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was +du mir gesagt hast, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an. +Ich lehne es entschieden ab, in dein Leben verwickelt zu +werden. Behalte deine fürchterlichen Geheimnisse für dich! +Sie interessieren mich nicht mehr.“</p> + +<p>„Alan, du wirst dafür Interesse haben müssen. Dies +eine Geheimnis wird dich interessieren müssen. Es tut mir<a class="pagenum" name="Page_257" title="257"> </a> +furchtbar leid um dich, Alan. Aber ich kann dir nicht +helfen. Du bist der einzige Mensch, der mich zu retten vermag. +Ich bin gezwungen, dich in die Sache hineinzuziehen. +Ich habe keine Wahl. Alan, du bist ein Mann der Naturwissenschaft. +Du verstehst dich auf Chemie und diese Dinge. +Du hast Experimente gemacht. Was du zu tun hast, ist, +das Wesen da oben zu vernichten, so zu vernichten, daß +auch nicht eine Spur davon übrigbleibt. Niemand hat +diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet +ihn im Augenblick in Paris. Monatelang wird er +nicht vermißt werden. Wenn er vermißt wird, darf hier +keine Spur von ihm gefunden werden. Alan, du mußt ihn, +ihn und alles, was zu ihm gehört, in eine Handvoll Asche +verwandeln, die ich in die Luft streuen kann.“</p> + +<p>„Du bist wahnsinnig, Dorian.“</p> + +<p>„Ah! wie ich darauf gewartet habe, daß du mich +wieder Dorian nennst.“</p> + +<p>„Du bist wahnsinnig, sag' ich dir — wahnsinnig, daß +du dir einbildest, ich wurde auch nur einen Finger rühren, +dir zu helfen, wahnsinnig, daß du mir dieses ungeheuerliche +Geständnis ablegst. Ich will damit nichts zu tun +haben, was es auch sei. Glaubst du, ich setze meine Ehre +für dich aufs Spiel? Was geht's mich an, mit welchem +Teufelswerk du zu tun hast.“</p> + +<p>„Es war ein Selbstmord, Alan.“</p> + +<p>„Das freut mich, aber wer hat ihn dazu getrieben? Du, +vermute ich.“</p> + +<p>„Weigerst du dich noch immer, das für mich zu tun?“</p> + +<p>„Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit<a class="pagenum" name="Page_258" title="258"> </a> +zu schaffen haben. Es liegt mir gar nichts daran, was +für eine Schande über dich kommt. Du verdienst es vollauf. +Es würde mir nicht leid tun, wenn ich dich entehrt, +öffentlich entehrt sähe. Wie kannst du es wagen, mich, +gerade mich von allen Menschen in der Welt in diese +Scheußlichkeit hineinbringen zu wollen? Ich hätte geglaubt, +du verständest mehr vom Charakter der Menschen. +Dein Freund, Lord Henry Wotton, kann dich nicht sehr +über Psychologie aufgeklärt haben, worüber er dich auch +sonst aufgeklärt hat. Nichts wird mich dazu vermögen, +auch nur einen Schritt zu tun, um dir zu helfen. Du bist +an den falschen Mann gekommen. Geh zu einem deiner +Freunde, nicht zu mir.“</p> + +<p>„Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Du +weißt nicht, was ich durch ihn gelitten habe. Mein Leben +mag sein, wie es wolle, er hatte mehr damit zu tun, es zu +erschaffen und zu zerstören, als der arme Harry. Er mag +es nicht gewollt haben, die Wirkung ist dieselbe.“</p> + +<p>„Mord! Guter Gott, Dorian, bist du jetzt soweit gekommen? +Ich werde dich nicht anzeigen. Das ist meines +Amtes nicht. Im übrigen wird man dich fassen, auch wenn +ich mich nicht in die Sache mische. Niemand begeht ein +Verbrechen, ohne dabei eine Dummheit zu machen. Also +ich will nichts damit zu tun haben.“</p> + +<p>„Du mußt etwas damit zu tun haben. Warte, warte +noch einen Augenblick; hör' mich an. Nur anhören, Alan. +Alles, was ich von dir verlange, ist ein bestimmtes wissenschaftliches +Experiment. Du gehst in Spitäler und Leichenhäuser, +und das Schreckliche, was du dort tust, rührt dich<a class="pagenum" name="Page_259" title="259"> </a> +nicht. Wenn du diesen Mann in irgendeinem gräßlichen +Seziersaal oder in einem mißduftenden Laboratorium auf +einem rohen Tisch liegen sähest, mit roten Röhren, die +man in ihn hineingebohrt hat, damit daraus das Blut +durchfließen kann, dann würdest du ihn einfach als ein +bewundernswertes Objekt betrachten. Kein Härchen würde +sich dir sträuben. Du hättest nicht die Empfindung, irgend +etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil, du würdest wahrscheinlich +glauben, der Menschheit eine Wohltat zu erweisen, +oder die Summe des menschlichen Wissens zu vermehren +oder den intellektuellen Wissensdrang zu befriedigen +oder so etwas dergleichen. Was ich von dir fordere, +ist nichts anderes, als was du schon oft getan hast. Wahrhaftig, +es muß viel weniger gräßlich sein, einen Leichnam +aus der Welt zu schaffen, als das, was du gewöhnlich tust. +Und bedenke, es ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn +er entdeckt wird, bin ich verloren; und er muß sicher entdeckt +werden, wenn du mir nicht hilfst.“</p> + +<p>„Ich habe keine Lust, dir zu helfen. Du vergißt das. +Die ganze Sache ist mir gleichgültig. Ich habe nichts damit +zu tun.“</p> + +<p>„Alan, ich beschwöre dich. Denke an die Lage, in der ich +bin. Jetzt eben, ehe du kamst, war ich fast ohnmächtig vor +Schreck. Du kannst eines Tages selbst einmal die Angst +kennenlernen. Nein, denke nicht daran! Betrachte die +Sache vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus. Du +forschst doch sonst nicht danach, woher die toten Wesen +kommen, mit denen du experimentierst. Forsche auch jetzt +nicht danach. Ich habe dir ohnehin zuviel gesagt. Aber<a class="pagenum" name="Page_260" title="260"> </a> +ich bitte dich, tu, um was ich dich bat. Wir waren doch einmal +Freunde, Alan.“</p> + +<p>„Sprich nicht von jenen Tagen, Dorian; sie sind tot.“</p> + +<p>„Die Toten verweilen manchmal. Der Mann da oben +geht nicht weg. Er sitzt am Tisch mit vorgebeugtem Kopf +und ausgestreckten Armen. Alan! Alan! wenn du mir +nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! man wird +mich hängen! Begreifst du nicht? Man wird mich hängen, +für das, was ich getan habe.“</p> + +<p>„Es hat keinen Sinn, diese Szene weiter auszudehnen. +Ich weigere mich ganz entschieden, etwas damit zu tun +zu haben. Es ist Tollheit von dir, mich darum zu +bitten.“</p> + +<p>„Du weigerst dich?“</p> + +<p>„Ja!“</p> + +<p>„Ich beschwöre dich, Alan!“</p> + +<p>„Es ist nutzlos.“</p> + +<p>Derselbe mitleidige Ausdruck kam in Dorian Grays +Augen. Dann reckte er die Hand aus, nahm ein Stück +Papier und schrieb etwas darauf. Er las es zweimal durch, +faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den Tisch. +Nachdem er dies getan hatte, stand er auf und trat ans +Fenster.</p> + +<p>Campbell sah ihn verwundert an, nahm dann das Papier +und öffnete es. Als er es gelesen hatte, wurde sein +Gesicht totenblaß und er sank in seinen Stuhl zurück. Ein +fürchterliches Gefühl der Schwäche überwältigte ihn. Ihm +war, als ob sich sein Herz in einer leeren Höhle zu Tode +schlüge.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_261" title="261"> </a></p> + +<p>Nach zwei oder drei Minuten furchtbaren Schweigens +wandte sich Dorian um, ging zu ihm hin, stellte sich hinter +ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.</p> + +<p>„Es tut mir so leid um dich, Alan,“ flüsterte er, „aber +du läßt mir keine Wahl. Ich habe den Brief schon geschrieben. +Hier ist er. Du siehst die Adresse. Wenn du mir +nicht hilfst, muß ich ihn abschicken. Du weißt, was darauf +erfolgt. Aber du wirst mir helfen. Es ist unmöglich, daß +du jetzt noch nein sagst. Ich wollte dir das ersparen. Du +mußt mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, das zuzugeben. +Du warst bitter, hart, beleidigend. Du hast mich +behandelt, wie es nie ein Mensch gewagt hat, mich zu behandeln. +Wenigstens kein lebender Mensch. Ich ertrug es +alles. Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren.“</p> + +<p>Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und ein +Frösteln überlief ihn.</p> + +<p>„Ja, jetzt ist die Reihe an mir, Bedingungen zu diktieren, +Alan. Du weißt, was ich verlange. Die Sache ist +ganz einfach. Komm, schraube dich nicht in ein Fieber +hinein. Die Sache muß geschehen. Schau ihr ins Gesicht +und vollbringe sie.“</p> + +<p>Ein Stöhnen klang von Campbells Lippen, und er +zitterte am ganzen Leibe. Das Ticken der Uhr auf dem +Kaminsims schien ihm die Zeit in einzelne Atome eines +Todeskampfes zu zerstückeln, von denen das kleinste schon +zu schrecklich war, um es zu ertragen. Er hatte das Gefühl, +als ob ein eiserner Ring um seine Stirn nach und +nach festgespannt wurde, als ob die Schande, mit der man +ihn bedrohte, schon über ihn käme. Die Hand auf seiner<a class="pagenum" name="Page_262" title="262"> </a> +Schulter beschwerte ihn wie ein Gewicht von Blei. Sie war +unerträglich. Sie schien ihn zu zerquetschen.</p> + +<p>„Komm, Alan, du mußt dich gleich entscheiden.“</p> + +<p>„Ich kann es nicht tun“, sagte er mechanisch, als könnten +die Worte etwas ändern.</p> + +<p>„Du mußt. Du hast keine Wahl. Zaudere nicht.“</p> + +<p>Er schwankte einen Augenblick. „Ist ein Ofen da oben?“</p> + +<p>„Ja, ein Gasofen mit Asbest.“</p> + +<p>„Dann muß ich nach Hause gehen und einiges aus dem +Laboratorium holen.“</p> + +<p>„Nein, Alan, du darfst das Haus nicht verlassen. +Schreib' auf ein Blatt Papier, was du brauchst, und mein +Diener nimmt eine Droschke und wird dir die Sachen +bringen.“</p> + +<p>Campbell kritzelte ein paar Zeilen hin, trocknete sie ab +und adressierte ein Kuvert an seinen Assistenten. Dorian +nahm das Briefchen und las es aufmerksam durch. Dann +klingelte er und gab es seinem Diener mit dem Auftrag, so +rasch als möglich zurückzukommen und die im Schreiben +bezeichneten Sachen mitzubringen.</p> + +<p>Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös +zusammen, stand vom Stuhl auf und ging zum Kamin +hinüber. Er schüttelte sich in einer Art kalten Fiebers. Fast +zwanzig Minuten lang sprach keiner der beiden Männer. +Eine Fliege schwirrte summend durch das Zimmer, und das +Ticktack der Uhr klang wie der Fall eines Hammers.</p> + +<p>Als es eins schlug, drehte sich Campbell um, blickte auf +Dorian Gray und sah, daß seine Augen mit Tränen gefüllt +waren. In den reinen, edlen Zügen dieses traurigen Gesichts<a class="pagenum" name="Page_263" title="263"> </a> +lag etwas, was ihn wütend zu machen schien. +„Du bist infam, ganz infam“, rief er mit unterdrückter +Stimme.</p> + +<p>„Ruhig, Alan, du hast mir das Leben gerettet“, sagte +Dorian.</p> + +<p>„Dein Leben? Gott im Himmel! Was für ein Leben +ist das! Du bist von Verderbnis zu Verderbnis geschritten, +und jetzt hast du mit Mord den Gipfel erreicht. Wenn ich +tue, was ich tun werde, was du mich zu tun zwingst, so +denke ich dabei wahrhaftig nicht an dein Leben.“</p> + +<p>„Ach, Alan,“ flüsterte Dorian seufzend, „ich wünschte, +du hättest den tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das +ich mit dir habe.“ Er kehrte sich während dieser Worte ab +und stand da und blickte in den Garten hinaus. Campbell +gab keine Antwort.</p> + +<p>Nach etwa zehn Minuten klopfte es an die Tür, und +der Diener trat ein und brachte einen großen Mahagonikasten +mit Chemikalien, eine lange Rolle Stahl- und +Platindraht und zwei absonderlich geformte Eisenklammern.</p> + +<p>„Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?“ fragte +er Campbell.</p> + +<p>„Ja“, antwortete Dorian. „Und ich bedaure, Francis, +aber ich habe noch einen Weg für Sie. Wie heißt der +Mann in Richmond, der Selby mit Orchideen versorgt?“</p> + +<p>„Harden, gnädiger Herr.“</p> + +<p>„Richtig — Harden. Sie müssen gleich nach Richmond +fahren, Harden selbst sprechen und ihm sagen, er solle doppelt +soviel Orchideen schicken, als ich bestellt habe, und +möglichst wenig weiße dabei. Eigentlich will ich überhaupt<a class="pagenum" name="Page_264" title="264"> </a> +keine weißen. Es ist ein schöner Tag, Francis, und Richmond +ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht +behelligen.“</p> + +<p>„Nichts zu sagen, gnädiger Herr. Zu welcher Zeit soll +ich zurück sein?“</p> + +<p>Dorian sah Campbell an. „Wie lange wird dein Experiment +dauern, Alan?“ fragte er mit ruhiger, gleichgültiger +Stimme. Die Gegenwart eines Dritten im Zimmer +schien ihm außerordentlichen Mut einzuflößen.</p> + +<p>Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. +„Es wird ungefähr fünf Stunden beanspruchen“, antwortete +er.</p> + +<p>„Dann ist es früh genug, wenn Sie um sieben zurück +sind, Francis. Oder halt: legen Sie meine Sachen zum +Umkleiden zurecht, Sie können dann den Abend für sich +verwenden. Ich esse nicht zu Hause, brauche Sie also +nicht.“</p> + +<p>„Ich danke, gnädiger Herr“, sagte der Mann und verließ +das Zimmer.</p> + +<p>„Jetzt, Alan, ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer +der Kasten ist! Ich will ihn dir tragen. Nimm du die anderen +Sachen.“ Er sprach hastig und in befehlendem Tone. +Campbell fühlte sich von ihm beherrscht. Sie verließen +das Zimmer gleichzeitig.</p> + +<p>Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, nahm +Dorian den Schlüssel heraus und schloß auf. Dann blieb +er stehen, und ein Ausdruck von Unruhe zeigte sich in +seinem Blick. Er schauderte. „Ich glaube, ich kann nicht +hineingehen, Alan“, flüsterte er.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_265" title="265"> </a></p> + +<p>„Das ist mir ganz gleich. Ich brauche dich nicht“, sagte +Campbell kalt.</p> + +<p>Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Als er dies tat, sah +er seinem Porträt, das im hellen Sonnenlicht hing, grade +ins Gesicht. Davor lag auf den Dielen der herabgerissene +Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in der vergangenen +Nacht zum ersten Male in seinem Leben vergessen hatte, +die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen, und wollte +eben nach vorn stürzen, als er schaudernd zurückprallte.</p> + +<p>Was war das für ein widerlicher, roter Fleck, der naß +und glänzend an einer der Hände klebte, als hätte die +Leinwand Blut geschwitzt? Wie schrecklich das war! — +Schrecklicher schien es ihm in diesem Augenblick als das +schweigsame Ding, das, wie er wußte, noch über den Tisch +gebeugt dasaß, das Ding, dessen grotesker, unglückseliger +Schatten auf dem fleckigen Teppich ihm zeigte, daß es sich +nicht bewegt hatte, sondern noch da war, wo er es gelassen +hatte.</p> + +<p>Er atmete tief auf, öffnete die Tür etwas weiter und +ging mit halbgeschlossenen Augen und abgewandtem Kopf +rasch hinein, entschlossen, mit keinem einzigen Blick nach +dem Toten hinzusehen. Dann bückte er sich, nahm den gold- +und purpurschimmernden Vorhang auf und warf ihn +gerade über das Bild.</p> + +<p>Dann blieb er stehen, voll Angst, sich umzuwenden und +seine Augen richteten sich auf die verschlungenen Muster +des Vorhangs. Er hörte Campbell den schweren Kasten +hereinbringen, und die Eisenklammern und die anderen +Geräte, die er sich für seine entsetzliche Arbeit hatte kommen<a class="pagenum" name="Page_266" title="266"> </a> +lassen. Er begann sich zu fragen, ob Campbell und Basil +Hallward einander je begegnet waren und wenn, welche +Meinung sie voneinander gehabt hätten.</p> + +<p>„Lasse mich jetzt allein“, sagte eine rauhe Stimme +hinter ihm.</p> + +<p>Er kehrte sich um und lief hinaus, eben noch gerade wahrnehmend, +daß der Tote in seinen Stuhl zurückgelehnt worden +war und daß Campbell in ein schimmerndes, gelbes +Gesicht starrte. Als er die Stufen hinabging, hörte er, +wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde.</p> + +<p>Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell wieder +in die Bibliothek trat. Er war blaß, aber vollständig +ruhig. „Ich habe getan, was du von mir verlangt hast“, +sagte er leise. „Und jetzt adieu. Wir wollen uns nie wiedersehen.“</p> + +<p>„Du hast mich vorm Untergang gerettet, Alan“, sagte +Dorian ganz schlicht. „Ich kann das nie vergessen.“</p> + +<p>Sobald ihn Campbell verlassen hatte, ging er hinauf. +Ein schrecklicher Geruch von Salpetersäure war im Zimmer. +Aber das Ding, das am Tisch gesessen hatte, war fort.</p> + +<h2><a name="Funfzehntes_Kapitel" id="Funfzehntes_Kapitel"></a>Fünfzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Am selben Abend um halb neun Uhr wurde Dorian +Gray in sorgfältigster Toilette, im Knopfloch einen großen +Strauß Parmaveilchen tragend, von dienernden Lakaien +in den Salon Lady Narboroughs geführt. Er hatte heftiges<a class="pagenum" name="Page_267" title="267"> </a> +Kopfweh und furchtbar überreizte Nerven, aber seine +Gebärde, als er sich über die Hand seiner Gastgeberin +beugte, war ebenso leicht und anmutig wie sonst. Vielleicht +sieht man nie gelassener aus, als wenn man eine Rolle +zu spielen hat. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an +diesem Abend sah, geglaubt, daß er eine Tragödie hinter +sich habe, die so schrecklich war wie irgendeine Tragödie +unserer Zeit. Diese feingeformten Finger konnten doch nie +ein Messer gezückt haben, um eine Sünde zu begehen, diese +lächelnden Lippen nie Gott und Gottes Güte geschmäht +haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens +wundern und einen Augenblick lang spürte er in ganzer +Stärke den grauenvollen Genuß eines Doppeldaseins.</p> + +<p>Es war eine kleine Gesellschaft, die Lady Narborough +kurzer Hand zusammengeladen hatte, und die Gastgeberin +war eine sehr gescheite Frau mit ansehnlichen Überbleibseln +einer unleugbar hervorragenden Häßlichkeit, wie es +Lord Henry auszudrücken liebte. Sie hatte sich einem unserer +langweiligsten Botschafter als eine ausgezeichnete +Frau erwiesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie sich's +geziemte, in einem marmornen Mausoleum beigesetzt hatte, +das nach ihren eigenen Entwürfen erbaut worden war, +und seitdem sie ihre Töchter an einige reiche, etwas angejahrte +Herren verheiratet hatte, widmete sie sich den +Genüssen französischer Romane, französischer Kochkunst und +französischen Geistes, wenn sie ihn auftreiben konnte.</p> + +<p>Dorian war einer ihrer erklärten Lieblinge, und sie sagte +ihm immer, sie sei äußerst froh darüber, ihn nicht in früheren +Jahren kennengelernt zu haben. „Ich weiß, mein<a class="pagenum" name="Page_268" title="268"> </a> +Lieber, ich hätte mich sinnlos in Sie verliebt,“ pflegte sie +zu sagen, „und wäre Ihretwillen der größten Tollheiten +fähig gewesen. Es ist ein großes Glück, daß man damals +noch gar nicht an Sie dachte. Zu meiner Zeit waren die +Tollheiten eine so seltene Ware, daß ich nicht einmal eine +harmlose Liebelei mit jemand gehabt habe. Indessen war +das nur die Schuld Narboroughs. Er war schrecklich kurzsichtig, +und es ist alles andere als ein Vergnügen, einen +Ehemann zu betrügen, der nie etwas sieht.“</p> + +<p>Ihre Gäste waren an diesem Abend ziemlich langweilig. +Die Sache war so, wie sie Dorian hinter einem ziemlich +schäbigen Fächer erklärte, daß eine ihrer verheirateten Töchter +plötzlich zu Besuch gekommen war, und, was die Sache +noch ärgerlicher machte, obendrein ihren Mann mitgebracht +hatte.</p> + +<p>„Ich finde das sehr unliebenswürdig von ihr, mein +Lieber“, flüsterte sie ihm zu. „Natürlich bin ich jeden +Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von Homburg +komme, aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal +frische Luft haben, und außerdem rüttle ich sie dann etwas +auf. Sie ahnen ja gar nicht, was die für ein Leben da +hinten führen. Es ist das reine, unverfälschte Landleben. +Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun haben, und +gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben. +In der ganzen Gegend da hat es seit der Zeit der Königin +Elisabeth keinen Skandal gegeben, und infolgedessen schlafen +sie alle nach dem Essen ein. Sie sollen aber nicht neben +einem von ihnen sitzen. Sie sollen neben mir sitzen und +mich amüsieren.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_269" title="269"> </a></p> + +<p>Dorian murmelte ein anmutiges Kompliment und blickte +sich im Zimmer um. Ja, es war wirklich eine öde Gesellschaft. +Zwei von den Anwesenden hatte er vordem nie +gesehen, und die anderen waren Ernest Harrowden, eine +der Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man so +häufig in Londoner Klubs begegnet, die keine Feinde +haben, die aber keiner ihrer Freunde leiden kann: dann +Lady Ruxton, eine aufgeputzte Dame mit einer Papageiennase, +im Alter von siebenundvierzig Jahren, die sich unablässig +bemühte, sich zu kompromittieren, die aber so lächerlich +häßlich war, daß zu ihrer großen Enttäuschung niemals +einer etwas Schlechtes von ihr glauben wollte: Frau +Erlynne, eine zudringliche Nichtigkeit mit einem entzückenden +Lispeln und venezianisch rotem Haar: Lady Alice +Chapman, die Tochter der Wirtin, eine schlechtgekleidete, +bedeutungslose Frau mit einem der charakteristischen englischen +Gesichter, an die man sich nie wieder erinnert, wenn +man sie einmal gesehen hat, und ihr Mann, ein rotbäckiges, +weißbärtiges Geschöpf, das, wie so viele seiner Kaste, der +Überzeugung lebte, daß ungewöhnliche Liebenswürdigkeit +den vollständigen Mangel an Gedanken ersetzen könne.</p> + +<p>Es tat ihm beinah leid, daß er gekommen war, bis Lady +Narborough einen Blick auf die große goldene Pendeluhr +warf, die sich mit ihren geschmacklosen Zieraten auf dem +malvefarbig behängten Kamin spreizte, und ausrief: „Wie +häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich +schickte heute früh auf gut Glück zu ihm hinüber und er hat +fest zugesagt, mich nicht im Stich zu lassen.“</p> + +<p>Es war ein Trost, daß Harry kommen sollte, und als<a class="pagenum" name="Page_270" title="270"> </a> +sich die Tür öffnete und er seine sanfte musikalische +Stimme hörte, die irgendeine läppische Ausrede bezaubernd +hervorbrachte, schwand seine Verdrießlichkeit.</p> + +<p>Aber er konnte bei Tisch dennoch nichts essen. Platte +nach Platte wurde, von ihm unberührt, weggetragen. Lady +Narborough schalt ihn unaufhörlich, weil sie darin „eine +Beleidigung sah für den armen Adolphe, der das ganze +Menü eigens für sie erfunden hätte“, und dann und wann +blickte Lord Henry zu ihm herüber und verwunderte sich +über sein Schweigen und sein zerstreutes Wesen. Von Zeit +zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit Champagner. Er +trank hastig, und sein Durst schien zu wachsen.</p> + +<p>„Dorian,“ sagte Lord Henry endlich, als das Chaudfroid +herumgereicht wurde, „was ist heute abend mit dir +los? Du bist ja so verstimmt.“</p> + +<p>„Ich glaube, er ist verliebt,“ sagte Lady Narborough, +„und er hat Angst, es mir zu erzählen, aus Furcht, daß ich +eifersüchtig würde. Er hat auch ganz recht. Ich würde es +gewiß.“</p> + +<p>„Teure Lady Narborough,“ flüsterte Dorian lächelnd, +„ich bin seit einer vollen Woche nicht verliebt gewesen — +genau gesagt, nicht seitdem Madame de Ferrol aus London +weg ist.“</p> + +<p>„Daß ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!“ +rief die alte Dame. „Ich kann es wirklich nicht verstehen.“</p> + +<p>„Das kommt einfach daher, weil sie Sie an die Zeit +erinnert, wo Sie ein kleines Mädchen waren, Lady Narborough“, +sagte Lord Henry. „Sie ist das einzige Bindeglied +zwischen uns und Ihren kurzen Röckchen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_271" title="271"> </a></p> + +<p>„Sie erinnert mich wirklich nicht an meine kurzen Röckchen, +Lord Henry. Aber ich entsinne mich ihrer sehr gut +in Wien vor dreißig Jahren und wie sie sich damals +dekolletierte.“</p> + +<p>„Sie dekolletiert sich noch immer,“ antwortete er und +nahm eine Olive in seine langen Finger, „und wenn sie +sehr elegant gekleidet ist, sieht sie aus wie die Luxusausgabe +eines schlechten, französischen Romans. Sie ist wirklich +wunderbar und voller Überraschungen. Ihr Talent +für Familienliebe ist außerordentlich. Als ihr dritter Mann +starb, wurde ihr Haar vor Trauer ganz goldblond.“</p> + +<p>„Wie kannst du so etwas sagen, Harry!“ rief Dorian.</p> + +<p>„Das ist eine höchst romantische Erklärung“, lachte die +Gastgeberin. „Aber ihr dritter Mann, Lord Henry! Sie +wollen doch nicht sagen, daß Ferrol der vierte ist?“</p> + +<p>„Doch, Lady Narborough.“</p> + +<p>„Ich glaube kein Wort davon.“</p> + +<p>„Gut, dann fragen Sie Herrn Gray, er ist einer ihrer +intimsten Freunde.“</p> + +<p>„Ist das wahr, Herr Gray?“</p> + +<p>„Sie versichert es mir, Lady Narborough“, erwiderte +Dorian. „Ich fragte sie, ob sie wie Margarete von Navarra +ihre Herzen einbalsamiert habe und am Gürtel +trage. Sie sagte mir, sie täte das nicht, weil keiner von +ihnen überhaupt ein Herz gehabt hätte.“</p> + +<p>„Vier Männer! Auf mein Wort, das ist <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">trop de zêle</span>.“</p> + +<p>„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Trop d'audace</span> sagte ich ihr“, entgegnete Dorian.</p> + +<p>„Oh! sie ist mutig genug, alles zu tun, mein Lieber. +Und wie ist Ferrol? Ich kenne ihn nicht.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_272" title="272"> </a></p> + +<p>„Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse“, +sagte Lord Henry und schlürfte seinen Wein.</p> + +<p>Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. „Lord +Henry, ich bin nicht im mindesten überrascht, daß die ganze +Welt über Ihre Ruchlosigkeit klagt.“</p> + +<p>„Aber welche ganze Welt tut das?“ fragte Lord Henry, +seine Brauen hochziehend. „Es kann nur die Nachwelt +sein. Denn diese Welt und ich, wir stehen brillant miteinander.“</p> + +<p>„Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr ruchlos +sind!“ rief die alte Dame den Kopf schüttelnd.</p> + +<p>Lord Henry sah einige Augenblicke ernsthaft aus. „Es +ist ganz abscheulich,“ sagte er schließlich, „wie die Leute +heutzutage herumgehen und einem hinterm Rücken Dinge +nachsagen, die ganz und gar auf Wahrheit beruhen.“</p> + +<p>„Ist er nicht unverbesserlich?“ rief Dorian und beugte +sich in seinem Stuhl vor.</p> + +<p>„Ich hoffe“ sagte die Wirtin lachend. „Aber wenn Sie +wirklich alle Madame de Ferrol in dieser lächerlichen +Weise anbeten, so muß ich auch wieder heiraten, um in +Mode zu kommen.“</p> + +<p>„Sie werden nie wieder heiraten, Lady Narborough“, +unterbrach Lord Henry. „Sie waren viel zu glücklich. Wenn +eine Frau wieder heiratet, so tut sie es, weil sie ihren ersten +Mann verabscheute. Wenn ein Mann wieder heiratet, so +tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen versuchen +ihr Glück, Männer setzen das ihre aufs Spiel.“</p> + +<p>„Narborough war nicht vollkommen!“ rief die alte +Dame.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_273" title="273"> </a></p> + +<p>„Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt, +meine teure Lady“, war die Antwort. „Frauen +lieben uns um unserer Fehler willen. Wenn wir ihrer genug +haben, vergeben sie uns alles, selbst unseren Geist. +Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zu einem Diner +bitten, nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough, +aber es ist völlig wahr.“</p> + +<p>„Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen +euch nicht eurer Fehler halber liebten, wo wäret ihr alle? +Nicht ein einziger von euch würde verheiratet sein. Und ihr +wäret eine Sekte unglücklicher Junggesellen. Das würde +aber nicht viel an euch ändern. Heutzutage leben alle Ehemänner +wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner.“</p> + +<p>„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Fin de siècle</span>“, flüsterte Lord Henry.</p> + +<p>„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Fin du globe</span>“, entgegnete die Gastgeberin.</p> + +<p>„Ich wollte, es wäre <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">fin du globe</span>“, sagte Dorian mit +einem Seufzer. „Das Leben ist eine große Enttäuschung.“</p> + +<p>„Ah, mein Lieber!“ rief Lady Narborough und zog +ihre Handschuhe an, „sagen Sie mir nicht, daß Sie das +Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann das sagt, weiß +man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist im +höchsten Grade ruchlos, und ich wünsche manchmal, ich wäre +es auch gewesen; aber Sie sind geschaffen, um gut zu +sein — Sie sehen so gut aus. Ich muß Ihnen eine hübsche +Frau verschaffen. Lord Henry, meinen Sie nicht, daß Herr +Gray heiraten sollte?“</p> + +<p>„Ich sage ihm das immer, Lady Narborough“, erwiderte +Lord Henry mit einer Verbeugung.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_274" title="274"> </a></p> + +<p>„Schön, so wollen wir uns nach einer guten Partie für +ihn umsehen. Ich werde heute nacht den Adelskalender +aufmerksam durchgehen und eine Liste aller in Frage +kommenden jungen Damen aufstellen.“</p> + +<p>„Mit ihrer Altersangabe, Lady Narborough?“ fragte +Dorian.</p> + +<p>„Natürlich mit ihrem Alter, ein wenig retuschiert. Aber +man darf nichts übereilen. Ich will, daß es genau das +wird, was die Morning Post eine passende Verbindung +nennt, und ihr sollt beide glücklich werden.“</p> + +<p>„Was die Menschen doch für einen Unsinn über +glückliche Ehen reden!“ rief Lord Henry. „Ein Mann +kann mit jeder Frau glücklich werden, solange er sie nicht +liebt.“</p> + +<p>„Pfui! Was sind Sie für ein Zyniker!“ rief die alte +Dame, schob ihren Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu. +„Sie müssen bald wiederkommen und bei mir essen. Sie +sind wirklich ein wunderbarer Appetitanreger, viel besser +als das, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen +mir sagen, was für Leute Sie gern treffen würden. Es +soll ein entzückendes Beisammensein werden.“</p> + +<p>„Ich liebe Männer, die eine Zukunft haben, und +Frauen, die eine Vergangenheit haben“, antwortete er. +„Oder beabsichtigen Sie, eine Weibergesellschaft zustande +zu bringen?“</p> + +<p>„Ich fürchte fast“, sagte sie lachend, indem sie sich erhob. +„Ach, verzeihen Sie tausendmal, Lady Ruxton,“ fuhr +sie fort, „ich habe nicht bemerkt, daß Sie mit Ihrer Zigarette +noch nicht fertig waren.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_275" title="275"> </a></p> + +<p>„Macht nichts, Lady Narborough. Ich rauche viel zuviel. +Ich muß mich darin in Zukunft einschränken.“</p> + +<p>„Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton“, sagte Lord +Henry. „Mäßigung ist eine unglückliche Sache. Genug ist +nicht besser als eine Mahlzeit. Mehr als genug ist so gut +wie ein Festessen.“</p> + +<p>Lady Ruxton sah ihn neugierig an. „Lord Henry, Sie +müssen mich eines Nachmittags besuchen und mir das erklären. +Es klingt wie eine verlockende Theorie“, sagte sie, +während sie aus dem Zimmer rauschte.</p> + +<p>„Jetzt bitte, sitzt mir nicht zu lange bei eurer Politik +und euerm Klatsch!“ rief Lady Narborough von der Tür +aus. „Wenn ihr das tut, zanken wir sicher mit euch, wenn +ihr nach oben kommt.“</p> + +<p>Die Männer lachten, und Herr Chapman stand feierlich +vom Ende der Tafel auf und setzte sich oben hin. Dorian +Gray wechselte seinen Platz und setzte sich neben Lord +Henry. Herr Chapman begann mit lauter Stimme über +die parlamentarische Lage zu sprechen. Er heulte laut auf +über seine Widersacher. Das Wort Doktrinär — ein Wort +voller Schrecken für den britischen Geist — tauchte von +Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen auf. Eine doppelt ausgesprochene +Vorsilbe diente seiner Rede als Alliteration zum +Schmuck. Er hißte den Union Jack auf dem Mast des Gedankens +auf. Die angestammte Dummheit der Rasse — gesunder +englischer Menschenverstand nannte er sie wohlwollend +— wurde als das Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt.</p> + +<p>Ein Lächeln kräuselte Lord Henrys Lippen, und er drehte +sich um und blickte zu Dorian hin.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_276" title="276"> </a></p> + +<p>„Geht dir's jetzt besser, lieber Junge?“ fragte er. „Du +schienst bei Tisch gar nicht recht wohl zu sein.“</p> + +<p>„Mir ist ganz wohl. Ich bin müde. Sonst nichts.“</p> + +<p>„Du warst entzückend gestern abend. Die kleine Herzogin +hat dich ganz in ihr Herzchen geschlossen. Sie hat mir +erzählt, sie käme nach Selby.“</p> + +<p>„Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen.“</p> + +<p>„Wird Monmouth auch da sein?“</p> + +<p>„Oh, gewiß, Harry!“</p> + +<p>„Er langweilt mich entsetzlich, fast ebenso sehr, wie er sie +langweilt. Sie ist sehr verständig, zu verständig für eine +Frau. Es fehlt ihr der unbeschreibliche Reiz der Schwäche. +Die tönernen Füße sind's, die erst das Gold der Bildsäule +wertvoll machen. Ihre Füße sind ganz allerliebst, +aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn +du willst. Sie sind schon im Feuer gewesen, und was das +Feuer nicht zerstört, macht es hart. Sie hat ihre Erfahrungen.“</p> + +<p>„Wie lange ist sie verheiratet?“ fragte Dorian.</p> + +<p>„Sie sagt, eine Ewigkeit. Nach dem Adelskalender, +glaube ich, sind es wohl zehn Jahre, aber zehn Jahre mit +Monmouth müssen wie eine Ewigkeit gewesen sein, wenn +man die Zeit mitrechnet. Wer kommt sonst noch?“</p> + +<p>„Oh, die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau, +unsere Wirtin, Geoffrey Clouston, die gewöhnliche Aufmachung. +Ich habe auch Lord Grotrian gebeten.“</p> + +<p>„Den habe ich recht gern“, sagte Lord Henry. „Viele +Leute können ihn nicht leiden, aber ich finde ihn reizend. +Dafür, daß seine Kleidung manchmal übertrieben elegant<a class="pagenum" name="Page_277" title="277"> </a> +ist, entschädigt er dadurch, daß er immer übertrieben gebildet +ist. Es ist ein ganz moderner Typus.“</p> + +<p>„Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Harry. Es ist +möglich, daß er mit seinem Vater nach Monte Carlo muß.“</p> + +<p>„Ach, was für ein Kreuz die Familiensimpelei ist! Versuch +doch, daß er kommt. Übrigens, Dorian, du bist gestern +abend sehr früh weggelaufen. Du hast uns vor elf Uhr +sitzen lassen. Was hast du denn noch vorgehabt? Bist du +gleich nach Hause gegangen?“</p> + +<p>Dorian blickte ihn rasch an und runzelte die Stirn. +„Nein, Harry,“ sagte er endlich, „es war schon fast drei, +als ich nach Hause kam.“</p> + +<p>„Warst du noch im Klub?“</p> + +<p>„Ja“, antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen. +„Nein, das wollte ich nicht sagen. Ich war nicht im Klub. +Ich ging nur so herum. Ich weiß nicht mehr, was ich getan +habe... Wie du einen ins Verhör nimmst, Harry! +Du willst immer wissen, was man getan hat. Ich will +immer vergessen, was ich getan habe. Wenn du aber +die genaue Zeit wissen willst, ich bin um halb drei nach +Hause gekommen. Ich hatte meinen Hausschlüssel vergessen, +und mein Diener mußte mich einlassen. Wenn du +vielleicht noch eine Zeugenaussage über mein Alibi +wünschst, kannst du ihn ja fragen.“</p> + +<p>Lord Henry zuckte die Achseln. „Aber, lieber Junge, +als ob mir daran etwas läge? Wir wollen in den Salon +hinauf. Keinen Sherry, nein danke, Herr Chapman. Dir +ist etwas zugestoßen, Dorian. Sage mir, was es ist. Du +bist heute abend nicht du selber.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_278" title="278"> </a></p> + +<p>„Sei nicht böse, Harry. Ich bin gereizt und übel gelaunt. +Ich komme morgen oder übermorgen zu dir. Bitte, +entschuldige mich bei Lady Narborough. Ich gehe nicht +mehr hinauf. Ich gehe nach Hause. Ich muß nach Hause +gehn.“</p> + +<p>„Schön, Dorian. Ich hoffe, dich morgen zum Tee zu +sehen. Die Herzogin kommt.“</p> + +<p>„Ich will versuchen da zu sein, Harry“, sagte er und +verließ das Zimmer. Als er nach Hause fuhr, merkte er, +daß das Angstgefühl wiedergekehrt sei, das er erstickt zu +haben glaubte. Lord Henrys zufällige Frage hatte ihm für +einen Moment die Fassung genommen und nervös gemacht +und er brauchte seine Nerven noch. Dinge, die Gefahr +bringen konnten, mußten zerstört werden. Er schauerte +zusammen. Der Gedanke, sie auch nur zu berühren, war +ihm furchtbar.</p> + +<p>Und doch mußte es geschehen. Er war sich darüber klar, +und als er die Tür seines Bibliothekzimmers verschlossen +hatte, öffnete er den geheimen Schrank, in den er Basil +Hallwards Mantel und Tasche gesteckt hatte. Es loderte +ein mächtiges Feuer. Er legte noch ein Stück Holz nach. +Der Geruch der sengenden Kleider und des schwelenden +Leders war entsetzlich. Er brauchte drei Viertelstunden, +um alles zu verbrennen. Als es vorbei war, fühlte er sich +schwach und krank, und nachdem er einige algerische Räucherkerzchen +in einer durchbrochenen Kupferpfanne angezündet +hatte, wusch er sich Hände und Stirn in kaltem, +moschusduftendem Essig.</p> + +<p>Plötzlich schrak er zusammen. Seine Augen bekamen<a class="pagenum" name="Page_279" title="279"> </a> +einen merkwürdigen Glanz und er nagte nervös an der +Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern stand ein großer Florentiner +Ebenholzschrank mit Elfenbein und Lapislazuli +eingelegt. Er starrte ihn an, als wär er ein Etwas, das +fesseln und ängstigen könne, als schließe er etwas ein, das +er sehnsüchtig begehrte und doch beinahe verabscheute. Sein +Atem ging schneller. Eine wilde Gier überkam ihn. Er zündete +eine Zigarette an und warf sie gleich wieder weg. +Seine Augenlider senkten sich, bis die langen Wimpern fast +die Wangen berührten. Aber er sah noch immer nach dem +Schranke hin. Endlich erhob er sich vom Sofa, auf dem er +gelegen hatte, ging zu dem Schrank hinüber, schloß ihn auf +und drückte an eine geheime Feder. Ein dreieckiges Schubfach +kam langsam zum Vorschein. Seine Finger bewegten +sich instinktiv danach, griffen hinein und faßten etwas. +Es war ein kleines chinesisches Kästchen aus schwarzem, +goldbetupftem Lack, das sehr sorgfältig gearbeitet war, +und dessen Seiten gekrümmte Wellenlinien zierten, und +an dessen seidenen Schnüren runde Kristalle mit Quasten +aus geflochtenen Metallfäden hingen. Er öffnete das Kästchen. +Eine grünlich-glänzende, wachsartige Masse von seltsam +schwerem und durchdringendem Geruch lag darin.</p> + +<p>Er zögerte ein paar Augenblicke mit einem seltsam unbeweglichen +Lächeln auf seinem Antlitz. Dann schauerte er +zusammen, obwohl es im Zimmer ganz außergewöhnlich +heiß war, raffte sich auf und sah nach der Uhr. Es fehlten +zwanzig Minuten an zwölf. Er legte das Kästchen zurück, +schloß die Türen des Schrankes und ging in sein Schlafzimmer.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_280" title="280"> </a></p> + +<p>Als die Mitternacht ihre metallenen Schläge durch die +dunkle Luft schickte, schlich Dorian Gray in ordinärer +Kleidung und ein Tuch um den Hals geschlungen, leise +aus dem Hause. In Bond Street traf er eine Droschke +mit einem guten Pferd. Er ließ sie halten und sagte dem +Kutscher mit leiser Stimme eine Adresse.</p> + +<p>Der Mann schüttelte den Kopf. „Das ist mir zu weit“, +brummte er.</p> + +<p>„Da haben Sie ein Goldstück. Sie sollen noch eins kriegen, +wenn Sie rasch fahren.“</p> + +<p>„Schön, Herr!“ antwortete der Mann, „wir werden in +einer Stunde da sein“, und nachdem sein Fahrgast eingestiegen +war, lenkte er um und fuhr rasch der Themse zu.</p> + + +<h2><a name="Sechzehntes_Kapitel" id="Sechzehntes_Kapitel"></a>Sechzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Ein kalter Regen begann zu fallen und die flackernden +Laternen sahen in dem herabsickernden Nebel geisterhaft +aus. Die Schenken wurden eben geschlossen, und Männer +und Frauen drängten sich in schattenhaften Gruppen vor +den Türen. Aus einigen Wirtschaften scholl ein gräßliches +Lachen. In anderen lärmten und grölten Betrunkene.</p> + +<p>In die Droschke zurückgelehnt, den Hut tief in die Stirn +gezogen, blickte Dorian Gray mit gleichgültigen Augen +auf das Elend und den Schmutz der Großstadt, und dann +und wann wiederholte er sich die Worte, die ihm Lord +Henry am ersten Tage, wo sie sich kennengelernt hatten,<a class="pagenum" name="Page_281" title="281"> </a> +gesagt hatte: „die Seele durch die Sinne und die Sinne +durch die Seele zu heilen“. Ja, das war das Geheimnis. +Er hatte es oft versucht und wollte es jetzt wieder versuchen. +Es gab Opiumkneipen, wo man Vergessenheit +kaufen konnte, Kneipen des Grauens, wo die Erinnerung +an alte Sünden durch den Wahnsinn neuer ausgelöscht +werden kann.</p> + +<p>Der Mond hing tief am Himmel wie eine gelbe Hirnschale. +Von Zeit zu Zeit streckte eine dicke, unförmige +Wolke einen langen Arm nach ihm aus und verbarg ihn. +Die Gaslaternen wurden spärlicher und die Straßen enger +und düsterer. Einmal verlor der Kutscher seinen Weg und +mußte einige hundert Meter zurückfahren. Das Roß +dampfte, während es in den Pfützen patschte. Die Seitenfenster +des Wagens waren wie mit grauem Flanell ausgeschlagen.</p> + +<p>„Die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die +Seele zu heilen —!“ Wie ihm die Worte in den Ohren +klangen! Seine Seele war jedenfalls todkrank. War es +denkbar, daß die Sinne sie heilen konnten? Unschuldiges +Blut war vergossen worden. Welche Sühne konnte es dafür +geben? Ach! dafür gab es keine Sühne; aber wenn auch +Vergebung unmöglich war, Vergessen war doch möglich, +und er war entschlossen, zu vergessen, die Sache zu Boden +zu treten, sie zu vernichten wie eine Natter, die einen gebissen +hat. Welches Recht hatte denn Basil gehabt, so zu +ihm zu sprechen, wie er es getan hatte? Wer hatte ihn +zum Richter über andere gesetzt? Er hatte Dinge gesagt, +die schrecklich waren, entsetzlich, nicht zu ertragen.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_282" title="282"> </a></p> + +<p>Weiter und weiter rollte die Droschke, und es schien ihm, +als führe sie mit jedem Schritt langsamer. Er riß das +Schiebefenster auf und rief dem Kutscher hinter ihm zu, +schneller zu fahren. Der gräßliche Hunger nach Opium +fing an, in ihm zu nagen. Die Kehle brannte ihm, und +seine zarten Finger spielten nervös miteinander. Er schlug +mit dem Spazierstock wie toll auf den Gaul ein. Der +Kutscher lachte und hieb mit der Peitsche zu. Er lachte +auch dazu, und der Mann auf dem Bocke schwieg.</p> + +<p>Der Weg schien endlos zu sein und die Straßen dehnten +sich aus wie ein schwarzes, durcheinander gewirrtes Spinngewebe. +Die Eintönigkeit wurde unerträglich, und als sich +der Nebel dichter ballte, empfand er Furcht.</p> + +<p>Dann fuhren sie an einsamen Ziegeleien vorüber. Der +Nebel ward hier durchsichtiger, und er konnte die merkwürdigen, +kürbisflaschenartigen Brennöfen mit ihren orangefarbenen +fächerartigen Feuerzungen erkennen. Ein Köter +schlug an, als sie vorbeirasselten, und weit entfernt in der +Dunkelheit schrie eine schlaflose Möwe. Das Pferd stolperte +in irgendeiner Rinne, scheute und verfiel in Galopp.</p> + +<p>Nach einiger Zeit verließen sie den Lehmweg und ratterten +wieder über ein holpriges Straßenpflaster. Die meisten +Fenster waren dunkel, aber dann und wann sah man phantastische +Schatten wie Silhouetten hinter einem erleuchteten +Rouleau. Er spähte neugierig darauf hin. Sie bewegten +sich wie riesenhafte Marionetten und gestikulierten wie +lebende Wesen. Eine Art Haß auf sie überkam ihn. Ein +dumpfer Zorn kochte in seinem Herzen. Als sie um eine<a class="pagenum" name="Page_283" title="283"> </a> +Ecke bogen, rief ihnen ein Weib aus einer offenen Tür +etwas zu, und zwei Männer rannten ein paar hundert +Meter hinter der Droschke her. Der Kutscher schlug mit +seiner Peitsche nach ihnen.</p> + +<p>Man sagt, die Leidenschaft wirble einem die Gedanken +im Kreise umher. Jedenfalls formten die zerbissenen Lippen +Dorian Grays in endloser Wiederholung die feingesetzten +Worte von der Seele und den Sinnen und formten +sie immer wieder, bis er in ihnen sozusagen den vollsten +Ausdruck seiner Stimmung gefunden und durch die Zustimmung +des Verstandes Leidenschaften gerechtfertigt hatte, +die auch ohne solche Rechtfertigung sein Temperament beherrscht +hätten. Von Zelle zu Zelle seines Gehirns kroch +der eine Gedanke und die wilde Lebensgier, das schrecklichste +aller menschlichen Hungergelüste, ließ sich jeden +zuckenden Nerv und Muskel gewaltsam emporbäumen. +Das Häßliche, das er einst gehaßt hatte, weil es den +Dingen Wirklichkeit verlieh, wurde ihm jetzt aus demselben +Grunde lieb. Das Häßliche war das einzig Wirkliche. Das +rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die ordinäre Gewalttätigkeit +eines liederlichen Lebens, die widerliche Verworfenheit +der Diebe und Verbrecher waren in der intensiven +Wirklichkeit ihrer Eindrücke mehr vom Leben erfüllt, +als all die anmutigen Formen der Kunst, die träumerischen +Schatten der Dichtung. Das war es, was er zum +Vergessen brauchte. In drei Tagen würde er frei sein.</p> + +<p>Plötzlich hielt der Mann am Ende einer finstern Straße +mit einem Ruck an. Über die niedrigen Dächer und gezackten +Schornsteine der Häuser hinaus ragten die schwarzen<a class="pagenum" name="Page_284" title="284"> </a> +Maste der Schiffe. Weiße Nebelfetzen hingen wie gespensterhafte +Segel über den Werften.</p> + +<p>„Irgendwo hier, nicht wahr, Herr?“ ertönte die rauhe +Stimme des Kutschers durch das Schiebefenster.</p> + +<p>Dorian fuhr auf und blickte sich um. „Schon gut“, antwortete +er, stieg rasch aus, gab dem Kutscher Trinkgeld, +das er ihm versprochen hatte, und ging eilig dem Kai zu. +Hier und da flimmerte eine Laterne am Heck eines großen +Kauffahrers. Das Licht zitterte und zersplitterte sich in den +Pfützen. Ein rotes Geglitzer kam von einem weit draußen +ankernden Dampfer, der Kohlen verlud. Das schlüpfrige +Pflaster sah aus wie ein regenglänzender Gummimantel.</p> + +<p>Er hastete nach links weiter und blickte sich dann und +wann um, ob ihm niemand folgte. Nach sieben oder acht +Minuten erreichte er ein kleines, elendes Haus, das zwischen +zwei große Faktoreien eingequetscht war. In einem +der Giebelfenster brannte eine Lampe. Er blieb stehen und +klopfte wie auf eine verabredete Art an.</p> + +<p>Nach einer kleinen Pause hörte er Schritte im Flur und +wie die Türkette losgemacht wurde. Die Tür öffnete sich +vorsichtig, und er trat hinein, ohne ein Wort zu der kleinen +erbärmlichen Gestalt zu sagen, die sich in den Schatten +drückte, als er vorbeischritt. Am Ende des Flurs hing ein +zerlumpter grüner Vorhang, der sich in dem starken Luftzug, +den er von der Straße her mitbrachte, hin und her +bauschte. Er schob ihn beiseite und trat in einen langen, +niedrigen Raum, der so aussah, als wäre er früher ein +Tanzlokal dritten Ranges gewesen. Grell flackernde Gasflammen, +die in den fliegenbeschmutzten Spiegeln gegenüber<a class="pagenum" name="Page_285" title="285"> </a> +matt und verzehrt erschienen, brannten rings an den +Wänden. Schmierige Reflektoren aus geripptem Wellblech +waren dahinter angebracht und warfen tanzende Lichtkreise. +Der Boden war mit ockerfarbigen Sägespänen bestreut, die +an einzelnen Stellen zu Schmutzklumpen zertreten waren +und auf denen sich von vergossenen Getränken schwarze +Ringe abzeichneten. Ein paar Malaien hockten mit untergeschlagenen +Beinen an einem kleinen Kohlenofen, spielten +mit knöchernen Würfeln und zeigten beim Sprechen ihre +weißlichen Zähne. In einem Winkel, den Kopf auf die +Hände gestützt, räkelte sich ein Matrose über den Tisch, und +an dem schreiend bemalten Büfett, das eine ganze Seite +des Raumes einnahm, standen zwei heruntergekommene +Weibspersonen und höhnten einen alten Mann, der mit +einem Ausdruck des Ekels die Ärmel seines Rockes bürstete. +„Er denkt, er hat sich Läuse geholt“, lachte die eine, als +Dorian vorüberging. Der Mann sah sie erschreckt an und +begann zu jammern.</p> + +<p>Am Ende des Zimmers war eine kleine Treppe, die in +eine verdunkelte Kammer führte. Als Dorian die drei +wackligen Stufen hinaufhastete, schlug ihm der schwere +Geruch des Opiums entgegen. Er holte tief Atem, und +seine Nasenflügel zitterten vor Lust. Als er eintrat, blickte +ein junger Mann mit glattgescheiteltem Blondhaar zu ihm +auf, der sich über eine Lampe beugte, an der er eine lange, +dünne Pfeife anzündete, und zögernd nickte.</p> + +<p>„Du hier, Adrian?“ flüsterte Dorian.</p> + +<p>„Wo soll ich sonst sein?“ antwortete er gleichgültig. +„Kein Mensch will jetzt mehr mit mir sprechen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_286" title="286"> </a></p> + +<p>„Ich dachte, du wärst aus England fort?“</p> + +<p>„Darlington wird nichts gegen mich unternehmen. Mein +Bruder hat den Wechsel schließlich gezahlt. George spricht +auch nicht mehr mit mir ... Ist mir auch einerlei“, fügte +er seufzend hinzu. „Solange man noch das Zeug da hat, +braucht man keine Freunde. Ich denke, ich habe zu viele +Freunde gehabt.“</p> + +<p>Dorian zuckte zusammen und sah sich nach den grotesken +Gestalten um, die da in so abenteuerlichen Stellungen auf +den zerlumpten Matratzen lagen. Die verkrümmten Glieder, +die offenen Mäuler, die stierenden, glanzlosen Augen +übten eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er kannte +die absonderlichen Paradiese, in denen sie litten, und +welche dumpfe Höllen sie in das Geheimnis neuer Genüsse +einweihten. Sie waren besser daran als er. Ihn hielten +seine Gedanken eingekerkert. Die Erinnerung fraß wie eine +fürchterliche Krankheit an seiner Seele. Von Zeit zu Zeit +glaubte er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu +sehen. Aber er fühlte, daß er hier nicht bleiben konnte. +Die Anwesenheit Adrian Singletons störte ihn. Er wollte +irgendwo sein, wo ihn niemand kennt. Er wollte sich selbst +entfliehen.</p> + +<p>„Ich gehe in das andere Lokal“, sagte er nach einer +Pause.</p> + +<p>„Auf der Werft?“</p> + +<p>„Ja.“</p> + +<p>„Die tolle Katze ist sicher da. Sie wollen sie hier nicht +mehr haben.“</p> + +<p>Dorian zuckte die Achseln. „Ich habe die Weiber, die<a class="pagenum" name="Page_287" title="287"> </a> +einen lieben, satt. Weiber, die einen hassen, sind viel +interessanter. Übrigens ist dort der Stoff besser.“</p> + +<p>„Ganz derselbe.“</p> + +<p>„Mir schmeckt er da besser. Komm, wir wollen was +trinken. Ich muß was haben.“</p> + +<p>„Ich brauche nichts“, murmelte der junge Mann.</p> + +<p>„Macht nichts.“</p> + +<p>Adrian Singleton stand schläfrig auf und folgte Dorian +ans Büfett. Ein Mischling in zerrissenem Turban und +schäbigem Ulster grinste ihnen einen widerlichen Gruß zu, +als er zwei Gläser und eine Branntweinflasche vor sie hinstellte. +Die Weiber torkelten herbei und begannen zu +schwatzen. Dorian kehrte ihnen den Rücken zu und sagte +leise etwas zu Adrian Singleton.</p> + +<p>Ein Grinsen gleich einem krummen malaischen Dolch verzerrte +das Gesicht des einen Weibes. „Wir sind sehr stolz +heute abend“, höhnte sie lachend.</p> + +<p>„Um Gottes willen, rede nicht mit mir!“ schrie Dorian +und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. „Was willst +du? Geld? Da! Aber sprich kein Wort mehr zu mir!“</p> + +<p>Zwei rote Funken blitzten für einen Augenblick in den +wässerigen Augen des Weibes auf, dann verloschen sie +wieder und ließen sie trübe und gläsern erscheinen. Sie +warf den Kopf in den Nacken und raffte mit gierigen +Fingern die Münzen auf dem Schenktisch zusammen. Ihre +Gefährtin beobachtete sie neidisch.</p> + +<p>„Es hat keinen Zweck“, sagte Adrian Singleton seufzend. +„Ich will nicht mehr zurück. Was macht's aus? Ich +fühle mich hier ganz wohl.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_288" title="288"> </a></p> + +<p>„Du wirst mir doch schreiben, wenn du was brauchst?“ +fragte Dorian nach einer Weile.</p> + +<p>„Vielleicht.“</p> + +<p>„Dann gute Nacht!“</p> + +<p>„Gute Nacht!“ antwortete der junge Mann, schritt die +Stufen hinauf und wischte sich den trockenen Mund mit +dem Taschentuch ab.</p> + +<p>Dorian schritt mit einem qualvollen Zug im Gesicht zur +Tür. Als er den Vorhang beiseitezog, scholl ein gräßliches +Lachen von den geschminkten Lippen des Weibes, +das sein Geld genommen hatte. „Da geht er hin, der +Seelenverschacherer!“ stieß sie mit einer heiser glucksenden +Stimme hervor.</p> + +<p>„Der Satan hol' dich!“ antwortete er, „du sollst mich +nicht so nennen!“</p> + +<p>Sie schnippte mit den Fingern. „Was, du willst wohl +Prinz Märchenschön genannt werden, das paßte dir, he?“ +kreischte sie hinter ihm her.</p> + +<p>Bei diesen Worten sprang der schläfrige Matrose auf +und blickte sich wild um. Das Geräusch der zufallenden +Haustür drang an sein Ohr. Er stürzte hinaus, als ob er +ihn verfolgen wollte.</p> + +<p>Dorian Gray eilte rasch durch den herabstäubenden +Regen den Kai entlang. Sein Zusammentreffen mit +Adrian Singleton hatte ihn sonderbar bewegt, und er +grübelte darüber nach, ob der Untergang dieses jungen +Lebens wirklich sein Werk war, wie ihm Basil Hallward +mit so schändlicher Beschimpfung schuldgegeben hatte. Er +biß sich auf die Lippen, und für ein paar Augenblicke<a class="pagenum" name="Page_289" title="289"> </a> +wurde sein Auge traurig. Aber schließlich, was ging es ihn +an? Das bißchen Leben war zu kurz, als daß man die +Sünden anderer auf seine Schultern laden könnte. Jeder +lebte sein eigenes Leben und zahlte seinen eigenen Preis +dafür. Das einzige Unglück war, daß man für ein einziges +Vergehen so oftmals zahlen mußte. Man mußte immer +und immer wieder zahlen. In seinem Handel mit dem +Menschen glich das Schicksal sein Schuldbuch nie aus.</p> + +<p>Die Psychologen sagen uns, daß es Augenblicke gibt, +wo die Anreizung zu Sünden oder zu dem, was die Welt +Sünden nennt, eine Natur so beherrscht, daß jede Faser +des Körpers, jede Zelle des Gehirns von fürchterlichen +Kräften gestachelt zu sein scheint. Männer und Frauen +verlieren in solchen Augenblicken die Willensfreiheit. Sie +bewegen sich wie Automaten ihrem schrecklichen Ende zu. +Die Wahl ist ihnen geraubt, und das Gewissen ist entweder +tot oder, wenn es noch lebt, so lebt es nur, um der Empörung +ihren Reiz und dem Ungehorsam ihren besonderen +Zauber zu verleihen. Denn alle Sünden sind, wie die Theologen +nicht müde werden, uns vorzuhalten, Sünden des +Ungehorsams. Als jener hohe Geist, der Morgenstern +alles Bösen vom Himmel fiel, da fiel er, weil er ein +Rebell war.</p> + +<p>Unempfindlich, nur mit dem einen Gedanken ans Böse +erfüllt, mit verfinstertem Geist, mit einer Seele, die nach +Empörung lechzte, hastete Dorian Gray weiter, und beschleunigte, +während er ging, seine Schritte immer mehr; +aber als er in einen dunkeln Torweg einbog, der ihm oft +genug als abgekürzter Weg zu dem berüchtigten Orte gedient<a class="pagenum" name="Page_290" title="290"> </a> +hatte, den er jetzt aufsuchen wollte, fühlte er sich plötzlich +von rückwärts gepackt, und bevor er Zeit hatte, sich +zu wehren, wurde er gegen eine Mauer geschleudert und +fühlte seinen Hals von einer brutalen Hand umklammert.</p> + +<p>Er kämpfte wie wahnsinnig um sein Leben, und mit +furchtbarer Anstrengung glückte es ihm, sich aus den umschnürenden +Fingern loszureißen. Einen Augenblick darauf +hörte er das Knacken eines Revolvers und sah den Glanz +eines blanken Laufes gerade gegen seinen Kopf gerichtet +und die dunkle Gestalt eines untersetzten Mannes vor +sich.</p> + +<p>„Was wollen Sie?“ keuchte er.</p> + +<p>„Sei still“, sagte der Mann. „Wenn du dich rührst, +schieß' ich dich nieder!“</p> + +<p>„Sie sind toll. Was hab' ich Ihnen getan?“</p> + +<p>„Du hast das Leben Sibyl Vanes zugrunde gerichtet!“ +war die Antwort, „und Sibyl Vane war meine Schwester. +Sie hat sich getötet. Ich weiß es. Ihr Tod ist deine +Schuld. Ich habe geschworen, dich dafür zu töten. Jahrelang +habe ich dich gesucht. Aber ich hatte keinen Anhaltspunkt, +keine Spur. Die zwei Menschen, die dich hätten beschreiben +können, waren tot. Ich wußte nichts von dir als den +Kosenamen, den sie dir gab. Heute nacht habe ich ihn durch +Zufall gehört. Mach' deinen Frieden mit Gott, denn heute +nacht mußt du sterben.“</p> + +<p>Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Furcht. „Ich +habe sie nie gekannt“, stammelte er. „Ich habe nie von ihr +gehört. Sie sind verrückt.“</p> + +<p>„Gesteh' lieber deine Sünden ein, denn so wahr ich<a class="pagenum" name="Page_291" title="291"> </a> +James Vane heiße, so gewiß sollst du jetzt sterben.“ Es +war ein entsetzlicher Augenblick. Dorian wußte nicht, was +er sagen oder tun sollte. „Auf die Knie!“ brüllte der +Mann. „Ich geb' dir eine Minute, deinen Frieden zu +machen — nicht mehr! Ich muß heute nacht an Bord +nach Indien, und muß vorher meine Arbeit getan haben. +Eine Minute. Mehr nicht!“</p> + +<p>Dorians Arme sanken herab. Von Todesangst gelähmt, +wußte er nicht, was er beginnen sollte. Plötzlich zuckte eine +jähe Hoffnung in seinem Gehirn auf. „Halt!“ schrie er. +„Wie lang ist es her, daß Ihre Schwester gestorben ist? +Rasch, sagen Sie!“</p> + +<p>„Achtzehn Jahre“, sagte der Mann. „Warum fragst +du? Was machen die Jahre?“</p> + +<p>„Achtzehn Jahre!“ lachte Dorian mit einem triumphierenden +Ton in seiner Stimme. „Achtzehn Jahre! +Bringen Sie mich unter die Laterne und sehen Sie mein +Gesicht an!“</p> + +<p>James Vane zögerte einen Augenblick und begriff nicht, +was er meinte. Dann packte er Dorian Gray und schleifte +ihn aus dem Torweg heraus.</p> + +<p>So dunkel und flackernd das windverwehte Licht auch +war, es genügte doch, ihm den furchtbaren Irrtum zu +zeigen, in den er geraten zu sein schien. Denn das Antlitz +des Mannes, den er töten wollte, wies die ganze Blütenweichheit +der Jugend auf, zeigte all die unbefleckte Reinheit +der Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling +von zwanzig Lenzen, kaum älter, als seine Schwester gewesen +war, als sie vor so vielen Jahren Abschied voneinander<a class="pagenum" name="Page_292" title="292"> </a> +genommen hatten. Es war klar, daß dies nicht der +Mann war, der ihr Leben zerstört hatte.</p> + +<p>Er ließ seine Faust von ihm los und taumelte zurück. +„Mein Gott, mein Gott!“ rief er aus, „und ich hätte Sie +fast ermordet!“</p> + +<p>Dorian Gray schöpfte tief Atem. „Sie waren dicht +daran, ein furchtbares Verbrechen zu begehen, Mann“, +sagte er mit einem strengen Blick. „Lassen Sie sich das eine +Warnung sein, eine Rache nicht mit eigener Hand zu übernehmen.“</p> + +<p>„Verzeihen Sie mir, Herr!“ stammelte James Vane. +„Ich habe mich täuschen lassen. Ein zufälliges Wort, das +ich in der verfluchten Kneipe hörte, brachte mich auf die +falsche Spur.“</p> + +<p>„Sie sollten lieber nach Hause gehen und Ihre Pistole +wegtun, sonst kommen Sie noch in Ungelegenheiten“, +sagte Dorian, drehte sich um und ging langsam die Straße +hinunter.</p> + +<p>James Vane stand voller Entsetzen auf dem Pflaster. Er +zitterte von Kopf bis Fuß. Nach einer kleinen Weile bewegte +sich ein schwarzer Schatten, der längs der regenfeuchten +Wand hingeschlichen war, ins Licht hinaus und +glitt mit verstohlenen Schritten an seine Seite. Er spürte +eine Hand auf seinem Arm und drehte sich mit jähem Ruck +um. Es war eines der Weiber, die am Büfett getrunken +hatten.</p> + +<p>„Warum hast du ihn nicht umgebracht?“ zischte sie und +brachte ihr verlebtes Gesicht ganz dicht an das seine. „Ich +wußte, daß du ihm folgtest, als du aus Dalys Haus fortranntest.<a class="pagenum" name="Page_293" title="293"> </a> +Du Narr! Du hättest ihn totschlagen sollen. Er +hat einen Haufen Geld und ist schlechter als sonst wer.“</p> + +<p>„Er ist nicht der Mann, den ich suche,“ antwortete er, +„und ich suche keines Menschen Geld. Ich such' eines Menschen +Leben. Der Mann, dessen Leben ich suche, muß jetzt +an die Vierzig sein. Der da war fast noch ein Knabe. Ich +danke Gott, daß nicht sein Blut an meinen Händen klebt.“</p> + +<p>Das Weib stieß ein bitteres Lachen aus. „Fast noch ein +Knabe!“ höhnte sie. „Wahrhaftig, Mensch, es ist fast +achtzehn Jahre her, seit Prinz Märchenschön das aus mir +gemacht hat, was ich heute bin!“</p> + +<p>„Du lügst!“ schrie James Vane.</p> + +<p>Sie hob die Hände gen Himmel. „Bei Gott, ich sage die +Wahrheit!“ rief sie.</p> + +<p>„Bei Gott?“</p> + +<p>„Du kannst mich kaltmachen, wenn es nicht so ist. Er ist +der Schlechteste von allen, die herkommen. Sie sagen, er +hat dem Teufel seine Seele für sein hübsches Gesicht verkauft. +Es sind fast achtzehn Jahre, daß ich ihn kennenlernte. +Er hat sich seitdem wenig verändert. Ich um so +mehr“, fügte sie mit einem traurigen Blinzeln hinzu.</p> + +<p>„Beschwörst du das?“</p> + +<p>„Ich schwöre es“, klang es wie ein heiseres Echo aus +ihrem entstellten Munde. „Aber verrate mich ihm nicht“, +winselte sie; „ich habe Angst vor ihm. Gib mir 'n paar +Groschen zum Nachtquartier.“</p> + +<p>Mit einem Fluch riß er sich von ihr los und stürzte an +die Straßenecke; aber Dorian Gray war verschwunden. +Als er zurückblickte, war auch das Weib schon weg.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_294" title="294"> </a></p> + + + + +<h2><a name="Siebzehntes_Kapitel" id="Siebzehntes_Kapitel"></a>Siebzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Eine Woche später saß Dorian Gray im Gewächshaus +von Selby Royal und plauderte mit der hübschen Herzogin +von Monmouth, die sich mit ihrem Gatten, einem ermüdet +aussehenden Manne von sechzig Jahren, unter seinen +Gästen befand. Es war zur Teezeit, und das sanfte Licht +der großen, mit einem Spitzenschleier verhängten Lampe, +die auf dem Tische stand, erleuchtete das kostbare Porzellan +und das getriebene Silberservice, das neben der +Herzogin stand. Ihre weißen Hände machten sich zierlich +zwischen den Tassen zu schaffen, und ihre vollen, roten +Lippen lächelten über etwas, das ihr Dorian zugeflüstert +hatte. Lord Henry lag zurückgelehnt in einem mit Silberseide +bezogenen Rohrsessel und sah beide an. Auf einem +pfirsichfarbenen Diwan saß Lady Narborough und tat so, +als ob sie der Beschreibung des Herzogs zuhörte, die den +letzten brasilianischen Käfer betraf, den er seiner Sammlung +einverleibt hatte. Drei junge Leute in gewählter Gesellschaftstoilette +boten den Damen Teekuchen an. Die Gesellschaft +bestand aus zwölf Personen, und für den nächsten +Tag wurden noch einige erwartet.</p> + +<p>„Worüber sprecht ihr beide?“ fragte Lord Henry, +während er gemächlich zu dem Teetisch ging und seine Tasse +niederstellte. „Ich hoffe, Dorian hat dir von meinem +Plan, alles umzutaufen, erzählt, Gladys. Es ist eine allerliebste +Idee.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_295" title="295"> </a></p> + +<p>„Aber ich will nicht umgetauft werden, Harry“, erwiderte +die Herzogin und sah ihn mit ihren reizend schönen +Augen an. „Ich bin mit meinem Namen ganz zufrieden +und ich denke, Herr Gray kann auch mit seinem zufrieden +sein.“</p> + +<p>„Meine teure Gladys, ich würde um keinen Preis der +Welt einen der beiden Namen umändern wollen. Sie sind +beide vollendet. Ich dachte hauptsächlich an Blumen. +Gestern schnitt ich mir eine Orchidee für mein Knopfloch. Es +war eine wundervoll gesprenkelte Blume, so wirkungsvoll +wie die sieben Todsünden. In einem Anfall von Gedankenträgheit +fragte ich einen der Gärtner, wie sie heiße. Er sagte +mir, es sei ein schönes Exemplar der Robinsoniana oder +irgendeine derartige gräßliche Bezeichnung. Es ist eine +traurige Wahrheit, aber wir haben die glückliche Gabe +verloren, den Dingen schöne Namen zu geben. Und +Namen sind alles. Ich kämpfe nie gegen Taten an. Mein +einziger Kampf richtet sich gegen die Worte. Das ist der +Grund, weshalb ich den vulgären Realismus in der +Literatur verabscheue. Der Mann, der imstande ist, +einen Spaten einen Spaten zu nennen, sollte gezwungen +werden, selbst einen in die Hand zu nehmen. Es ist die +einzige Sache, zu der er tauglich wäre.“</p> + +<p>„Wie sollen wir also dich nennen, Harry?“ fragte sie.</p> + +<p>„Sein Name ist Prinz Paradox“, sagte Dorian.</p> + +<p>„Der wird sofort akzeptiert!“ rief die Herzogin.</p> + +<p>„Ich will ihn nicht hören“, lachte Lord Henry und ließ +sich in ein Fauteuil fallen. „Vor einem solchen Etikettchen +kann man sich nicht retten. Ich weise den Titel zurück.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_296" title="296"> </a></p> + +<p>„Fürstlichkeiten können nicht abdanken“, warnten ihn +schöne Lippen.</p> + +<p>„Du willst also, daß ich meinen Thron verteidige?“</p> + +<p>„Ja.“</p> + +<p>„Ich sage die Wahrheiten von morgen.“</p> + +<p>„Ich ziehe die Irrtümer von heute vor“, antwortete +sie.</p> + +<p>„Du entwaffnest mich, Gladys!“ rief er, entzückt von +ihrer übermütigen Laune.</p> + +<p>„Deines Schildes, Harry, nicht deines Speeres.“</p> + +<p>„Ich kämpfe nie gegen Schönheit“, sagte er mit einer +huldigenden Handbewegung.</p> + +<p>„Das ist dein Fehler, Harry, glaube mir's. Du überschätzest +die Schönheit.“</p> + +<p>„Wie kannst du das sagen? Ich gebe zu, daß ich es für +besser halte, schön zu sein als gut. Aber andererseits ist +niemand eher als ich bereit zuzugeben, daß es besser ist, +gut zu sein als häßlich.“</p> + +<p>„Dann also ist Häßlichkeit eine der sieben tödlichen Sünden?“ +rief die Herzogin. „Wie steht es nun mit deinem +<ins title="Orchideengleichnis?">Orchideengleichnis?“</ins></p> + +<p>„Häßlichkeit ist eine von den sieben tödlichen Tugenden, +Gladys. Du als gute Tory darfst sie nicht unterschätzen. +Das Bier, die Bibel und die sieben tödlichen Tugenden +haben aus England gemacht, was es heute ist.“</p> + +<p>„Du liebst also dein Vaterland nicht?“ fragte sie.</p> + +<p>„Ich lebe darin.“</p> + +<p>„Damit du es besser tadeln kannst.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_297" title="297"> </a></p> + +<p>„Sähest du es lieber, daß ich mir das Urteil Europas +über unser Land aneigne?“ fragte er.</p> + +<p>„Was sagt man von uns?“</p> + +<p>„Daß Tartüff nach England ausgewandert sei und dort +einen Laden aufgemacht habe.“</p> + +<p>„Ist das von dir, Harry?“</p> + +<p>„Ich schenke es dir.“</p> + +<p>„Ich kann's nicht gebrauchen. Es ist zu wahr.“</p> + +<p>„Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Unsere Landsleute +erkennen sich nie in ihrem Steckbrief wieder.“</p> + +<p>„Du bist so praktisch.“</p> + +<p>„Eher gerissen als praktisch. Wenn sie ihr Kontokorrent +abschließen, dann saldieren sie Dummheit mit Reichtum +und Laster mit Heuchelei.“</p> + +<p>„Und doch haben wir große Dinge vollbracht.“</p> + +<p>„Große Dinge sind uns auferlegt worden, Gladys.“</p> + +<p>„Wir haben ihre Last zu tragen vermocht.“</p> + +<p>„Nur bis zur Börse.“</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube an unsere Rasse!“ +rief sie.</p> + +<p>„Sie vertritt den überlebenden Ellbogenstreber.“</p> + +<p>„Sie hat das Zeug zur Entwicklung.“</p> + +<p>„Verfall reizt mich mehr.“</p> + +<p>„Und die Kunst?“ fragte sie.</p> + +<p>„Eine Krankheit.“</p> + +<p>„Liebe?“</p> + +<p>„Einbildung.“</p> + +<p>„Religion?“</p> + +<p>„Modesurrogat für den Glauben.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_298" title="298"> </a></p> + +<p>„Du bist ein Skeptiker!“</p> + +<p>„Niemals! Skeptizismus ist der Anfang des Glaubens.“</p> + +<p>„Was bist du?“</p> + +<p>„Definieren heißt beschränken.“</p> + +<p>„Reich mir den Ariadnefaden!“</p> + +<p>„Fäden zerreißen. Du wurdest deinen Weg im Labyrinth +verlieren.“</p> + +<p>„Du machst mich wirre. Laß uns von einem anderen +sprechen.“</p> + +<p>„Unser Wirt ist ein entzückendes Thema. Vor vielen +Jahren nannte man ihn den Prinz Märchenschön.“</p> + +<p>„Ach! Erinnere mich nicht daran!“ rief Dorian Gray.</p> + +<p>„Unser Wirt ist recht greulich heute abend“, antwortete +die Herzogin und errötete. „Er denkt wohl, Monmouth +habe mich nur aus wissenschaftlichen Gründen geheiratet, +weil ich das beste Musterbeispiel eines modernen Schmetterlings +bin.“</p> + +<p>„Ich hoffe aber, er wird Sie nicht auf Stecknadeln +spießen, Frau Herzogin“, lachte Dorian.</p> + +<p>„Oh! Das besorgt schon meine Kammerjungfer, Herr +Gray, wenn sie sich über mich ärgert.“</p> + +<p>„Und worüber ärgert sie sich, Frau Herzogin?“</p> + +<p>„Über die geringsten Dinge, Herr Gray, glauben Sie +nur! Gewöhnlich, wenn ich zehn Minuten vor neun nach +Hause komme und ihr sage, daß ich bis halb neun angezogen +sein muß.“</p> + +<p>„Wie unvernünftig von ihr! Sie sollten ihr den Laufpaß +geben!“</p> + +<p>„Das wag' ich nicht, Herr Gray. Sie erfindet nämlich<a class="pagenum" name="Page_299" title="299"> </a> +meine Hüte. Sie erinnern sich nicht an den Hut, den ich +auf Lady Hilstones Gartenfest getragen habe? Natürlich +nicht, aber es ist hübsch von Ihnen, daß Sie so tun. Also +der war geradezu aus nichts gemacht. Alle guten Hüte +werden aus nichts gemacht.“</p> + +<p>„Wie jeder gute Ruf, Gladys!“ unterbrach Lord Henry. +„Jede Wirkung, die man erzielt, schafft uns einen +Feind. Man muß eine Mittelmäßigkeit sein, wenn man +eine Beliebtheit sein will.“</p> + +<p>„Nicht unter Frauen“, sagte die Herzogin und schüttelte +den Kopf; „und Frauen regieren die Welt. Ich behaupte +steif und fest, wir können Mittelmäßigkeiten nicht vertragen. +Wir Frauen, hat mal jemand gesagt, lieben mit +den Ohren, gerade so, wie ihr Männer mit den Augen +liebt, wenn ihr überhaupt liebt.“</p> + +<p>„Es scheint mir, daß wir überhaupt nie etwas anderes +tun“, flüsterte Dorian.</p> + +<p>„Ach! Herr Gray, dann lieben Sie nie in Wirklichkeit“, +antwortete die Herzogin wie in spöttischer Trauer.</p> + +<p>„Meine liebe Gladys.“ rief Lord Henry. „Wie kannst +du das sagen? Die Romantik lebt von Wiederholung, +und die Wiederholung verwandelt jeden Anreiz in Kunst. +Übrigens, jedesmal, wenn man liebt, ist es das erstemal, +daß man geliebt hat. Die Verschiedenheit des Objektes +verändert die Einzigkeit der Leidenschaft nicht. Sie macht +sie nur stärker. Wir können im Leben bestenfalls nur ein +einziges großes Erlebnis haben, und das Geheimnis des +Lebens besteht darin, dieses Erlebnis so oft als möglich zu +wiederholen.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_300" title="300"> </a></p> + +<p>„Selbst wenn es einen verwundet hat, Harry?“ fragte +die Herzogin nach einer Pause.</p> + +<p>„Besonders wenn es einen verwundet hat“, entgegnete +Lord Henry.</p> + +<p>Die Herzogin wandte sich um und sah Dorian Gray an +mit einem seltsamen Ausdruck in ihren Augen. „Was sagen +Sie dazu, Herr Gray?“ forschte sie.</p> + +<p>Dorian zögerte einen Augenblick. Dann warf er den +Kopf zurück und lachte. „Ich stimme mit Harry immer +überein, Frau Herzogin.“</p> + +<p>„Auch wenn er unrecht hat?“</p> + +<p>„Harry hat nie unrecht, Frau Herzogin.“</p> + +<p>„Und macht Sie seine Philosophie glücklich?“</p> + +<p>„Glück habe ich nie gesucht. Wer braucht Glück? Ich +habe Vergnügen gesucht.“</p> + +<p>„Und gefunden, Herr Gray?“</p> + +<p>„Oft. Zu oft.“</p> + +<p>Die Herzogin seufzte. „Ich suche Frieden,“ sagte sie, +„und wenn ich jetzt nicht gehe und mich anziehe, habe ich +ihn heut abend nicht.“</p> + +<p>„Lassen Sie mich Ihnen ein paar Orchideen holen, +Frau Herzogin!“ rief Dorian, sprang auf und ging ins +Gewächshaus hinunter.</p> + +<p>„Du flirtest ganz schändlich mit ihm“, sagte Lord Henry +zu seiner Kusine. „Du solltest dich lieber in acht nehmen. +Er kann sehr faszinieren.“</p> + +<p>„Wenn er es nicht könnte, gäb's keinen Kampf.“</p> + +<p>„Also Griechen kämpfen gegen Griechen?“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_301" title="301"> </a></p> + +<p>„Ich bin auf seiten der Trojaner. Sie kämpften für ein +Weib.“</p> + +<p>„Sie wurden besiegt.“</p> + +<p>„Es gibt ärgere Dinge als Gefangenschaft“, erwiderte +sie.</p> + +<p>„Du galoppierst mit verhängtem Zügel.“</p> + +<p>„Das Tempo macht Leben“, war die Antwort.</p> + +<p>„Ich will mir das heut abend in mein Tagebuch schreiben.“</p> + +<p>„Was?“</p> + +<p>„Daß ein gebranntes Kind das Feuer liebt.“</p> + +<p>„Ich bin noch nicht einmal versengt. Meine Flügel +sind unberührt.“</p> + +<p>„Du gebrauchst sie zu allem, nur nicht zur Flucht.“</p> + +<p>„Der Mut ist von den Männern zu den Frauen gewandert. +Das ist ein neues Erlebnis für uns.“</p> + +<p>„Du hast eine Rivalin.“</p> + +<p>„Wen?“</p> + +<p>Er lachte. „Lady Narborough“, flüsterte er. „Sie betet +ihn an.“</p> + +<p>„Du machst mir Angst. Die Beschwörung des Altertums +ist für uns Romantiker stets gefährlich.“</p> + +<p>„Romantiker! Du hast alle Methoden der Wissenschaft.“</p> + +<p>„Männer haben uns erzogen.“</p> + +<p>„Aber nicht erklärt.“</p> + +<p>„Gib uns eine Definition unseres Geschlechtes“, forderte +sie ihn heraus.</p> + +<p>„Sphinxe ohne Geheimnisse.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_302" title="302"> </a></p> + +<p>Sie sah ihn lächelnd an. „Wie lange Herr Gray wegbleibt“, +sagte sie. „Wir wollen ihm helfen. Ich habe ihm +noch nicht einmal die Farbe meines Kleides angegeben.“</p> + +<p>„Pah! Du mußt dein Kleid seinen Blumen anpassen, +Gladys.“</p> + +<p>„Das wäre eine zu frühe Übergabe.“</p> + +<p>„Die romantische Kunst beginnt mit dem Höhepunkt.“</p> + +<p>„Ich muß mir die Möglichkeit des Rückzuges offen +halten.“</p> + +<p>„Wie die Parther?“</p> + +<p>„Sie fanden Schutz in der Wüste. Mir wäre das nicht +möglich.“</p> + +<p>„Man läßt den Frauen nicht immer die Wahl“, entgegnete +er; aber kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, +als von dem äußersten Winkel des Gewächshauses +her ein unterdrücktes Stöhnen kam, dem das dumpfe Gerausch +eines schweren Falles folgte. Alles sprang auf. +Die Herzogin stand regungslos da vor Schreck. Mit ängstlichen +Augen stürzte Lord Henry durch die wehenden +Fächer der Palmen und fand Dorian Gray in einer +todesähnlichen Ohnmacht am Boden liegend, mit dem Gesicht +auf den kühlen Fliesen.</p> + +<p>Er wurde sofort in den blauen Salon gebracht und auf +ein Sofa gelegt. Nach einer kurzen Weile kam er wieder +zu sich und sah sich verstört um.</p> + +<p>„Was ist geschehen?“ fragte er. „Ach! jetzt fällt mir's +ein. Bin ich hier sicher, Harry?“ Er begann zu zittern.</p> + +<p>„Mein lieber Dorian,“ antwortete Lord Henry, „es war +ein Ohnmachtsanfall. Weiter nichts. Du mußt dich wohl<a class="pagenum" name="Page_303" title="303"> </a> +übermüdet haben. Komm lieber nicht zum Diner hinunter. +Ich werde dich vertreten.“</p> + +<p>„Nein, ich will herunterkommen“, sagte er und mühte +sich, auf den Füßen zu stehen. „Ich komme lieber herunter! +Ich darf nicht allein sein.“</p> + +<p>Er ging in sein Zimmer und zog sich um. Als er bei +Tisch saß, war in seinem Gehaben eine wilde, übermütige +Lustigkeit, aber hin und wieder überlief ihn ein Angstschauer, +wenn er sich erinnerte, daß er, gegen die Fensterscheiben +des Gewächshauses gepreßt, das lauernde Gesicht +James Vanes wie ein weißes Tuch erblickt hatte.</p> + +<h2><a name="Achtzehntes_Kapitel" id="Achtzehntes_Kapitel"></a>Achtzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Am nächsten Tage verließ er das Haus nicht und verbrachte +den größten Teil der Zeit in seinem Zimmer, +durchrüttelt von einer wilden Todesfurcht und dem Leben +gegenüber doch gleichgültig. Das Bewußtsein, gejagt, umzingelt, +aufgestöbert zu werden, fing an, ihn gänzlich zu +beherrschen. Wenn nur die Vorhänge im Winde rauschten, +schrak er zusammen. Die toten Blätter, die gegen die verbleiten +Scheiben gefegt wurden, schienen ihm seine eigenen +vergeudeten Vorsätze und ungestümen Gewissensbisse zu +sein. Wenn er die Augen schloß, sah er wieder das Gesicht +des Matrosen vor sich, wie es durch das feuchtbeschlagene +Glas stierte, und das Entsetzen schien ihm noch einmal seine +Hand aufs Herz zu legen.</p> + +<p>Aber vielleicht war es nur seine Phantasie gewesen, die<a class="pagenum" name="Page_304" title="304"> </a> +die Rache aus der Nacht heraufbeschworen und ihm die +gräßliche Gestalt der Strafe vorgetäuscht hatte. Das wirkliche +Leben war ein Chaos, aber es war eine furchtbare +Logik in der Phantasie. Die Phantasie hetzte die Gewissensbisse +hinter den flüchtigen Sohlen der Sünde her. +Die Phantasie ließ jedes Verbrechen seine mißgestaltete +Brut in sich tragen. In der gewöhnlichen Welt der Tatsachen +wurden die Schlechten so wenig bestraft wie die +Guten belohnt. Der Erfolg gehörte den Starken, Unglück +machte die Schwachen unterliegen. Das war alles. Zudem, +wenn ein Fremder um das Haus herumgestrolcht +wäre, so hätten ihn die Diener oder Wächter entdeckt. +Wären irgendwelche Fußtapfen in den Beeten bemerkt +worden, so hätten es die Gärtner gemeldet. Ja: es war +alles bloße Einbildung. Sybil Vanes Bruder war nicht +zurückgekommen, um ihn zu ermorden. Er war mit seinem +Schiff abgesegelt, um in irgendeiner arktischen See zu ertrinken. +Vor dem war er also sicher. Der Mann wußte +gar nicht, wer er war und konnte es nicht wissen. Die +Maske der Jugend hatte ihn gerettet.</p> + +<p>Und doch, wenn es eine bloße Ausgeburt der Einbildung +gewesen war, wie schrecklich war doch der Gedanke, +daß das Gewissen so fürchterliche Hirngespinste entstehen +lassen und ihnen sichtbare Form und Bewegung geben +konnte! Was für eine Art Leben würde er führen, wenn +Tag und Nacht die Schatten seines Verbrechens aus düsteren +Winkeln nach ihm spähten, ihn von geheimen Stellen +aus neckten, ihm ins Ohr flüsterten, wenn er beim Mahle +saß, ihn mit eisigen Fingern weckten, wenn er schlief! Als<a class="pagenum" name="Page_305" title="305"> </a> +dieser Gedanke durch sein Hirn kroch, wurde er blaß vor +Schrecken, und die Luft schien ihm plötzlich kälter geworden +zu sein. Oh! in was für einer wilden Wahnsinnsstunde +hatte er seinen Freund umgebracht! Wie bluterstarrend +war nur die Erinnerung an diese Szene! Er sah es alles +wieder. Jede gräßliche Einzelheit kam mit vermehrtem +Entsetzen wieder zu ihm. Aus dem schwarzen Grabverlies +der Zeit stieg schrecklich und in Scharlachrot gehüllt das +Bild seiner Sünde empor. Als Lord Henry um sechs Uhr +eintrat, fand er ihn schluchzend, als ob ihm das Herz +brechen wolle.</p> + +<p>Erst am dritten Tage wagte er auszugehen. Es lag +etwas in der klaren, tannenduftenden Luft dieses Wintermorgens, +das ihm seine Fröhlichkeit und seine Lebenslust +wiederzugeben schien. Aber nicht nur die physischen Bedingungen +seiner Umgebung hatten diese Wandlung zuwege +gebracht. Seine eigene Natur hatte sich gegen das Übermaß +der Angst empört, die ihre vollendete Ruhe zu stören +und zu vernichten versucht hatte. Mit feinen und subtil +organisierten Temperamenten ist es immer so. Ihre heftigen +Leidenschaften können nur Hammer oder Amboß +sein. Entweder töten sie den Menschen oder sterben selbst. +Oberflächliche Sorgen, oberflächliche Liebesempfindungen +können weiter leben. Tiefe Liebesempfindungen und große +Sorgen gehen durch ihre eigene Überfülle zugrunde. Überdies +hatte er sich jetzt überzeugt, daß er das Opfer einer +erschreckten Einbildungskraft gewesen war, und sah jetzt auf +seine Ängste mit einer Art Mitleid und nicht geringer Verachtung +zurück.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_306" title="306"> </a></p> + +<p>Nach dem Frühstück ging er mit der Herzogin ein +Stündchen im Garten spazieren und fuhr dann durch den +Park, um mit der Jagdgesellschaft zusammenzutreffen. +Der feinperlige Reif lag wie Salz auf dem Rasen. Der +Himmel sah aus wie ein umgestülpter Pokal aus blauem +Metall. Ein dünner Eisgallert umsäumte den seichten, +schilfbewachsenen Teich.</p> + +<p>Am Eingang des Tannenwaldes erblickte er Sir Geoffrey +Clouston, den Bruder der Herzogin, der eben zwei +verschossene Patronen aus seiner Flinte stieß. Dorian +sprang aus dem Wagen, sagte dem Groom, er solle mit +dem Gespann nach Hause fahren, und ging durch das welke +Farnkraut und das gestrüppige Unterholz auf seinen +Gast zu.</p> + +<p>„Gute Jagd gehabt, Geoffrey?“ fragte er.</p> + +<p>„Nicht berühmt, Dorian. Die meisten Vögel, glaub' ich, +sind auf die Felder geflüchtet. Vielleicht wird's nachmittag +besser sein, wenn wir auf frisches Revier kommen.“</p> + +<p>Dorian schlenderte neben ihm weiter. Die starke, aromatische +Luft, die braunen und roten Lichter, die den Wald +durchflimmerten, das rauhe Geschrei der Treiber, das von +Zeit zu Zeit aufgellte, und der scharfe Knall der Flinten, +der dann folgte, das alles fesselte ihn und erfüllte ihn mit +einem Gefühl entzückender Freiheit. Er war beherrscht von +einem sorglosen Glück, von einer großartigen Gleichgültigkeit +der Freude.</p> + +<p>Plötzlich brach aus einem dicken Büschel alten Grases, +vielleicht zwanzig Meter vor ihnen, ein Hase aus, die +schwarzgesprenkelten Löffel steif aufgerichtet und die langen<a class="pagenum" name="Page_307" title="307"> </a> +Hinterläufe nach vorn werfend. Er schnellte auf ein +Erlendickicht los. Sir Goeffrey riß das Gewehr an die +Schulter, aber in der anmutigen Bewegung des Tieres +lag etwas, das Dorian Gray seltsam entzückte, und er +rief hastig: „Schieß nicht, Geoffrey. Laß ihn laufen!“</p> + +<p>„Ach, Unsinn, Dorian“, sagte lachend sein Gefährte, +und noch ehe der Hase in das Dickicht setzte, schoß er zu. +Man hörte zwei Schreie, den Schrei eines verwundeten +Hasen, der schrecklich ist, und den Schrei eines sterbenden +Menschen, der noch schrecklicher ist.</p> + +<p>„Gott im Himmel, ich habe einen Treiber getroffen!“ +rief Sir Geoffrey aus. „Was für 'n Esel der Mann ist, +einem direkt vors Gewehr zu laufen! Hört auf mit Schießen!“ +rief er mit seiner lautesten Stimme. „Ein Mann ist +getroffen worden!“</p> + +<p>Der Hegemeister kam mit einem Stock in der Hand herbeigelaufen.</p> + +<p>„Wo, Herr? Wo ist er?“ rief er. Im selben Augenblick +hörte das Schießen auf der ganzen Linie auf.</p> + +<p>„Hier!“ antwortete Sir Geoffrey ärgerlich und rannte +auf das Dickicht zu. „Warum, zum Kuckuck, halten Sie +Ihre Leute nicht weiter zurück? Für heute hab' ich die +ganze Jagd im Magen.“</p> + +<p>Dorian sah ihnen nach, wie sie in die Erlenbüsche eindrangen +und die biegsamen Zweige zur Seite bogen. Nach +einigen Augenblicken erschienen sie wieder und zogen einen +Körper ans Tageslicht. Er wandte sich entsetzt ab. Es schien +ihm, als folge ihm das Mißgeschick überallhin. Er hörte, +wie Sir Geoffrey fragte, ob der Mann wirklich tot wäre,<a class="pagenum" name="Page_308" title="308"> </a> +und vernahm die bejahende Antwort des Hegemeisters. +Es schien ihm, als wimmele der Wald urplötzlich von Gesichtern. +Er hörte das Gelaufe von unzähligen Füßen +und das gedämpfte Flüstern von Stimmen. Ein großer +Fasan mit kupferfarbener Brust rauschte durch die Äste +über ihm dahin.</p> + +<p>Nach einigen Augenblicken, die ihm in seiner Fassungslosigkeit +wie endlose, peinvolle Stunden vorkamen, fühlte +er eine Hand auf seiner Schulter. Er zuckte zusammen +und wandte sich um.</p> + +<p>„Dorian,“ sagte Lord Henry, „ich halt 's für richtiger, +die Jagd für heute beendet sein zu lassen. Es würde nicht +gut aussehen, sie fortzusetzen.“</p> + +<p>„Ich wollte, sie wäre für immer beendet, Harry“, antwortete +er bitter. „Die ganze Geschichte ist gräßlich und +grausam ist der Mann...?“ Er konnte den Satz nicht +vollenden.</p> + +<p>„Ja leider“, entgegnete Lord Henry. <ins title="Er">„Er</ins> hat die ganze +Ladung in die Brust gekriegt. Er muß augenblicklich gestorben +sein. Komm, wir wollen nach Hause.“</p> + +<p>Sie schritten nebeneinander auf die Allee zu und sprachen +etwa fünfzig Meter weit kein Wort. Dann sah Dorian +Lord Henry an und sagte mit einem tiefen Seufzer: „Das +ist ein böses Omen, Harry, ein sehr böses Omen.“</p> + +<p>„Was denn?“ fragte Lord Henry. „Oh! diesen Unglücksfall +meinst du. Lieber Junge, daran ist nichts zu +ändern. Der Mann hatte ja selber schuld. Warum lief +er in die Schußlinie? Überdies ist es nicht unsere Sache. +Für Geoffrey ist es natürlich nicht gerade angenehm! Es<a class="pagenum" name="Page_309" title="309"> </a> +ist nicht hübsch, Treiber niederzupuffen. Die Leute denken +gleich, man wäre ein Sonntagsjäger. Und das ist Geoffrey +nicht; er schießt sogar brillant. Aber es hat keinen +Zweck, über den Unfall weiter zu reden.“</p> + +<p>Dorian schüttelte den Kopf. „Es ist ein böses Omen, +Harry. Ich habe das Gefühl, als müßte einem von uns +etwas Schreckliches zustoßen. Mir selbst vielleicht“, fügte +er hinzu und legte mit einer schmerzlichen Bewegung die +Hand über die Augen.</p> + +<p>Der ältere lachte. „Das einzig Schreckliche in der Welt +ist Langeweile, Dorian. Das ist die einzige Sünde, für die +es keine Vergebung gibt. Aber wir werden darunter +schwerlich zu leiden haben, wenn die Gesellschaft bei Tisch +nicht etwa noch über die Sache viel Aufhebens macht. +Ich muß den Leuten sagen, daß dieses Thema einfach +Tabu ist. Und Omina —so was wie Omina gibt's nicht. +Das Geschick sendet uns keine Herolde. Es ist zu weise +dazu oder zu grausam. Übrigens, was in aller Welt sollte +dir geschehen, Dorian? Du hast alles, was sich ein Mensch +hienieden wünschen kann. Ich wüßte niemand, der nicht +freudig mit dir tauschen möchte.“</p> + +<p>„Es gibt keinen, mit dem ich nicht tauschen möchte, +Harry. Lach' nicht darüber. Ich spreche die Wahrheit. +Der elende Bauer, der da gestorben ist, ist besser daran +als ich. Ich habe keine Angst vor dem Tode. Das Sterben +ist's, wovor ich mich <ins title="änstige">ängstige</ins>. Seine ungeheuren Flügel +scheinen mich rings in der bleiernen Luft zu umschatten. +Herr des Himmels, siehst du nicht, daß da hinter den Bäumen +ein Mann auf mich lauert und mich beobachtet?“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_310" title="310"> </a></p> + +<p>Lord Henry sah in die Richtung, wohin die behandschuhte +Hand zitternd wies. „Ja,“ sagte er lächelnd, „ich +sehe da den Gärtner auf dich warten. Er will dich vermutlich +fragen, welche Blumen du heute auf dem Tisch +haben willst. Wie lächerlich nervös du heute bist, lieber +Junge! Du mußt gleich meinen Doktor konsultieren, wenn +wir wieder in der Stadt sind.“</p> + +<p>Dorian seufzte erleichtert auf, als er den Gärtner herankommen +sah. Der Mann legte die Hand an den Hut, +blickte erst zaudernd auf Lord Henry und zog dann einen +Brief hervor, den er seinem Herrn überreichte. „Ihre Gnaden +hat mir aufgetragen, auf Antwort zu warten“, sagte +er halblaut.</p> + +<p>Dorian steckte den Brief in die Tasche. „Sagen Sie +Ihrer Gnaden, ich würde kommen“, sagte er kühl. Der +Mann kehrte um und schritt rasch dem Hause zu.</p> + +<p>„Wie gern doch die Frauen gefährliche Dinge tun!“ +sagte Lord Henry lachend. „Das ist eine von ihren Eigenschaften, +die ich am meisten bewundere. Eine Frau ist +mit jedem auf der Welt zu flirten bereit, solange andere +Leute dabei Zuschauer sind.“</p> + +<p>„Wie gern du doch gefährliche Dinge sagst, Harry! +In diesem Falle bist du aber ganz auf dem Holzwege. Ich +habe die Herzogin sehr gern, aber ich liebe sie nicht.“</p> + +<p>„Und die Herzogin liebt dich sehr, aber sie hat dich nicht +gern, also paßt ihr beide famos zusammen.“</p> + +<p>„Du machst Klatschereien, Harry, und diesmal ist gar +kein Grund zu Klatschereien vorhanden.“</p> + +<p>„Die Grundlage für jeden Klatsch ist eine unmoralische<a class="pagenum" name="Page_311" title="311"> </a> +Verläßlichkeit“, sagte Lord Henry und zündete sich eine +Zigarette an.</p> + +<p>„Du würdest jeden von uns bloßstellen, Harry, um einen +Witz zu machen.“</p> + +<p>„Die Welt legt sich aus freien Stücken auf den Opferaltar“, +war die Antwort.</p> + +<p>„Ich wollte, ich könnte lieben!“ rief Dorian Gray mit +einem tiefpathetischen Klang in seiner Stimme. „Aber es +scheint, ich habe die Glut der Leidenschaft verloren und +die Sehnsucht des Begehrens vergessen. Ich bin zu sehr in +mich selber konzentriert. Meine eigene Person ist eine Last +für mich geworden. Ich möchte entfliehen, weggehen, vergessen. +Es war albern von mir, überhaupt herzukommen. +Ich denke, ich telegraphiere an Harvey, daß er die Jacht +instand setzt. Auf einer Jacht ist man sicher.“</p> + +<p>„Wovor sicher, Dorian? Du hast Unruhe. Warum sagst +du mir nicht, was es ist? Du weißt, daß ich dir helfen +könnte.“</p> + +<p>„Ich kann es dir nicht sagen, Harry“, erwiderte er traurig. +„Und es mag wohl alles nur Einbildung sein. Der +unglückselige Zwischenfall hat mich aus dem Gleichgewicht +gebracht. Ich habe eine schreckliche Vorahnung, daß mir +etwas Ähnliches zustößt.“</p> + +<p>„Was für Unsinn!“</p> + +<p>„Ich hoffe, es ist Unsinn, aber ich kann dies Gefühl +nicht loswerden. Ah! da kommt die Herzogin und sieht aus +wie Artemis in einem Tailormade-Kleide. Sie sehen, wir +sind zurück, Frau Herzogin.“</p> + +<p>„Ich habe schon alles gehört, Herr Gray“, antwortete<a class="pagenum" name="Page_312" title="312"> </a> +sie. „Der arme Geoffrey ist ganz außer Fassung. Und +man sagt, Sie hatten ihn gebeten, nicht auf den Hasen zu +schießen. Wie seltsam!“</p> + +<p>„Ja, es war sehr seltsam. Ich kann nicht mal sagen, +warum ich es getan habe. Eine Eingebung vermute ich. +Er sah so niedlich aus, der kleine Kerl. Aber ich bedaure +sehr, daß man Ihnen von dem Manne erzählt hat. +Es ist ein peinliches Thema.“</p> + +<p>„Es ist ein langweiliges Thema“, unterbrach ihn Lord +Henry. „Es hat keinerlei psychologischen Wert. Wenn es +Geoffrey noch absichtlich getan hätte, wie interessant wäre +es dann! Ich würde gern jemand kennenlernen, der einen +wirklichen Mord begangen hat.“</p> + +<p>„Wie abscheulich von dir“, schrie die Herzogin auf. +„Nicht war, Herr Gray? Harry, Herrn Gray ist wieder +unwohl. Er wird ohnmächtig.“</p> + +<p>Dorian hielt sich gewaltsam aufrecht und lächelte. „Es +ist nichts, Frau Herzogin,“ murmelte er, „meine Nerven +sind schrecklich in Unordnung. Nichts weiter. Ich fürchte, +ich bin heut morgen zuviel gegangen. Ich habe gar nicht +gehört, was Harry gesagt hat. War es sehr toll? Sie +müssen es mir ein andermal erzählen. Ich halte es fürs +beste, mich jetzt ein bißchen hinzulegen. Sie entschuldigen +mich, nicht wahr?“</p> + +<p>Sie hatten die große Treppe erreicht, deren Stufen vom +Gewächshaus auf die Terrasse emporführten. Als sich die +Glastür hinter Dorian geschlossen hatte, wandte sich Lord +Henry um und sah die Herzogin mit seinen schläfrigen +Augen an. „Bist du sehr in ihn verliebt?“ fragte er.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_313" title="313"> </a></p> + +<p>Sie gab eine Weile keine Antwort, sondern stand da +und blickte auf die Landschaft. „Ich möchte es selber +wissen“, sagte sie endlich.</p> + +<p>Er schüttelte den Kopf. „Wissen, wäre ein Verhängnis. +Nur die Ungewißheit hat für uns Reiz. Ein Nebel macht +die Dinge wunderbar.“</p> + +<p>„Man kann darin seinen Weg verlieren.“</p> + +<p>„Alle Wege enden am selben Punkt, meine liebe Gladys.“</p> + +<p>„Wie heißt der?“</p> + +<p>„Enttäuschung.“</p> + +<p>„So war mein Debüt im Leben“, seufzte sie.</p> + +<p>„Sie kam mit einer Krone zu dir.“</p> + +<p>„Ich bin der Erdbeerblätter in unserer Krone müde.“</p> + +<p>„Sie steht dir gut.“</p> + +<p>„Nur in der Öffentlichkeit.“</p> + +<p>„Sie würde dir fehlen“, sagte Lord Henry.</p> + +<p>„Ich werde mich von keinem Blättchen trennen.“</p> + +<p>„Monmouth hat Ohren.“</p> + +<p>„Das Alter ist schwerhörig.“</p> + +<p>„War er nie eifersüchtig?“</p> + +<p>„Ich wollte, er wäre es.“ Dabei lachte sie. Ihre Zähne +sahen aus wie weiße Kerne in einer scharlachfarbenen +Frucht. Indessen lag oben in seinem Zimmer Dorian Gray +auf einem Sofa, Schrecken in jeder zuckenden Fiber seines +Körpers. Das Leben war für ihn urplötzlich eine so +schwere Last geworden, daß er sie nicht mehr tragen konnte. +Der gräßliche Tod des unglücklichen Treibers, der in dem +Dickicht wie ein wildes Tier niedergeknallt worden war, +schien ihm selbst den Tod vorauszusagen. Er war fast in<a class="pagenum" name="Page_314" title="314"> </a> +Ohnmacht gefallen bei dem zynischen Scherz, den Lord +Henry in einer zufälligen Laune gemacht hatte.</p> + +<p>Um fünf Uhr klingelte er seinem Diener und hieß ihn +seine Sachen für den Nachtschnellzug nach London zu +packen und den Wagen für halb neun vors Tor zu bestellen. +Er war entschlossen, keine Nacht mehr in Selby +Royal zu schlafen. Es war ein Ort voll böser Vorzeichen. +Der Tod ging dort am hellen Tage um. Das Gras des +Waldes war mit Blut befleckt.</p> + +<p>Dann schrieb er ein Billett an Lord Henry, in dem er +ihm mitteilte, daß er in die Stadt fahre, um den Arzt zu +konsultieren, und ihn bat, seine Gäste in seiner Abwesenheit +zu unterhalten. Als er die Zeilen in ein Kuvert legte, +klopfte es an die Tür, und sein Diener meldete ihm, daß +ihn der Hegemeister sprechen wolle. Er runzelte die Stirn +und biß sich auf die Lippen. „Lassen Sie ihn eintreten“, +murmelte er nach einigem Zögern.</p> + +<p>Während der Mann eintrat, holte Dorian sein Scheckbuch +aus einer Schublade hervor und legte es vor sich +hin.</p> + +<p>„Sie kommen vermutlich wegen des Unglücksfalles von +heute morgen, Thornton“, sagte er und nahm eine Feder +auf.</p> + +<p>„Ja, Herr“, antwortete der Hegemeister.</p> + +<p>„War der arme Kerl verheiratet? Hatte er Angehörige +zu versorgen?“ fragte Dorian mit einem müden Gesicht. +„Wenn sich's so verhält, möchte ich nicht, daß sie in Not +zurückbleiben, und ich will ihnen jede Summe schicken, die +Sie für notwendig halten.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_315" title="315"> </a></p> + +<p>„Wir wissen nicht, wer es ist, gnädiger Herr. Deshalb +war ich so frei, herzukommen.“</p> + +<p>„Sie wissen nicht, wer es ist?“ sagte Dorian zerstreut. +„Wie meinen Sie das? War es nicht einer von Ihren +Leuten?“</p> + +<p>„Nein Herr. Ich hab' ihn mein Lebtag nicht gesehen. +Er sieht aus wie ein Matrose, gnädiger Herr.“</p> + +<p>Die Feder fiel Dorian Gray aus der Hand, und er +hatte das Gefühl, als höre sein Herz plötzlich zu schlagen +auf. „Ein Matrose!“ schrie er auf. „Sagten Sie, ein +Matrose?“</p> + +<p>„Ja, gnädiger Herr. Er sieht aus wie ein Matrose; +auf beiden Armen tätowiert und überhaupt so in der Art.“</p> + +<p>„Hat man irgend etwas bei ihm gefunden?“ fragte +Dorian, beugte sich vor und sah den Mann mit aufgerissenen +Augen an. „Irgend etwas, woraus man seinen Namen +erführe?“</p> + +<p>„Nur Geld, gnädiger Herr — nicht viel, und einen +sechsläufigen Revolver. Nichts von Namen. Der Mann +sieht sonst anständig aus, aber gewöhnlich. Wir halten ihn +für eine Art Matrosen.“</p> + +<p>Dorian sprang auf die Füße. Eine furchtbare Hoffnung +durchblitzte ihn. Er klammerte sich wahnsinnig an sie an. +„Wo ist der Leichnam?“ rief er aus. „Rasch, ich muß +ihn sofort sehen.“</p> + +<p>„Er liegt in einem leeren Stall im Wirtschaftsgebäude, +gnädiger Herr. Die Leute wollen so was nicht in ihren +vier Wänden haben. Sie sagen, eine Leiche bringt Unglück.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_316" title="316"> </a></p> + +<p>„Im Wirtschaftsgebäude! Gehen Sie sogleich voraus +und warten Sie da auf mich. Sagen Sie einem der +Grooms, er soll mein Pferd herbringen. Nein. Lieber +nicht. Ich will selbst in den Stall kommen. Das geht +rascher.“</p> + +<p>Kaum eine Viertelstunde später galoppierte Dorian, +so rasch er konnte, die lange Allee hinunter. Die Bäume +schienen in gespenstischer Parade an ihm vorbeizufliegen +und ihm wilde Schatten in den Weg zu schleudern. Einmal +scheute die Stute vor einem weißen Pfahle und warf ihn +fast ab. Er schlug ihr die Gerte um den Hals. Sie durchschnitt +die dunkle Luft wie ein Pfeil. Die Steine stoben +unter ihren Hufen.</p> + +<p>Endlich erreichte er das Wirtschaftsgebäude. Zwei Männer +lungerten im Hof herum. Er sprang aus dem Sattel +und warf einem die Zügel hin. In dem letzten Stall +flimmerte ein Licht. Irgend etwas schien ihm zu sagen, +daß dort der Leichnam liege, und er ging rasch auf die +Tür zu und legte die Hand auf die Klinke.</p> + +<p>Da hielt er einen Augenblick inne und wurde sich bewußt, +daß er vor der Schwelle einer Entdeckung stehe, +die ihm entweder ein neues Leben gab oder es zerstörte. +Dann stieß er die Tür auf und trat ein.</p> + +<p>Auf einem Haufen Säcke im entferntesten Winkel lag +der tote Körper eines Mannes, bekleidet mit einem groben +Blusenhemd und blauen Hosen. Ein unsauberes Taschentuch +war ihm übers Gesicht gebreitet worden. Eine billige +Kerze steckte in einer Flasche und flackerte düster.</p> + +<p>Dorian Gray schauerte. Er fühlte, daß er nicht mit<a class="pagenum" name="Page_317" title="317"> </a> +eigener Hand das Taschentuch wegziehen könne, und rief +nach einem der Stallknechte.</p> + +<p>„Nehmen Sie das da vom Gesicht weg. Ich will es +sehen“, sagte er und hielt sich an dem Türpfosten fest.</p> + +<p>Als es der Knecht getan hatte, machte er einen Schritt +nach vorn. Ein Freudenschrei kam von seinen Lippen. +Der Mann, der im Dickicht erschossen worden war, war +James Vane.</p> + +<p>Er stand einige Minuten da und starrte auf den toten +Körper. Als er nach Hause ritt, waren seine Augen von +Tränen umschleiert, denn er wußte jetzt, daß er gerettet +war.</p> + +<h2><a name="Neunzehntes_Kapitel" id="Neunzehntes_Kapitel"></a>Neunzehntes Kapitel</h2> + + +<p>„Es hat gar keinen Sinn, mir zu erzählen, daß du gut +werden willst!“ rief Lord Henry und tauchte seine weißen +Finger in eine rote, mit Rosenwasser gefüllte Kupferschale. +„Du bist vollkommen. Bitte ändere dich nicht.“</p> + +<p>Dorian Gray schüttelte den Kopf. „Nein, Harry, ich +habe zuviel gräßliche Dinge getan in meinem Leben. +Ich will keine mehr tun. Ich habe gestern mit meinen +guten Taten den Anfang gemacht.“</p> + +<p>„Wo warst du gestern?“</p> + +<p>„Auf dem Lande, Harry. Ich war mutterseelenallein +in einem kleinen Gasthof.“</p> + +<p>„Lieber Junge,“ sagte Lord Henry lächelnd, „auf dem +Lande kann jeder Mensch gut sein. Dort gibt's keine Versuchungen.<a class="pagenum" name="Page_318" title="318"> </a> +Das ist der Grund, warum Leute, die nicht +in der Stadt wohnen, so gänzlich unzivilisiert sind. Zivilisation +ist wahrhaftig nicht leicht zu erreichen. Es gibt nur +zwei Wege, um zu ihr zu kommen. Der eine ist Kultur, der +andere Korruption. Die Landbevölkerung hat keine Gelegenheit +zu dieser noch zu jener, und so bleiben sie so in +ihrer Entwicklung stehen.“</p> + +<p>„Kultur und Korruption“, wiederholte Dorian. „Ich +habe von beiden etwas kennengelernt. Es scheint mir jetzt +schrecklich, daß man sie immer beisammen findet. Denn +ich habe ein neues Ideal, Harry. Ich will anders werden. +Ich glaube, ich bin schon anders geworden.“</p> + +<p>„Du hast mir noch nicht berichtet, worin deine gute +Handlung bestand. Oder sagtest du nicht, du hättest mehr +als eine getan?“ fragte der Freund und schüttete sich eine +kleine rote Pyramide Erdbeeren auf seinen Teller, auf +die er aus einem muschelförmigen Sieblöffel weißen Zucker +streute.</p> + +<p>„Ich kann dir's ja erzählen, Harry. Es ist eine Geschichte, +die ich einem anderen nicht erzählen könnte. Ich +habe jemand verschont. Es klingt eitel, aber du verstehst, +was ich meine. Sie war sehr schön und hatte eine wunderbare +Ähnlichkeit mit Sibyl Vane. Ich glaube, das war das +erste, was mich bei ihr anzog. Du erinnerst dich doch noch an +Sibyl, nicht? Wie lange das her ist! Also Hetty gehörte +natürlich nicht unserem Stand an. Sie war eine Dorfschöne. +Aber ich liebte sie wirklich. Ich weiß bestimmt, +daß ich sie liebte. In dem ganzen wundervollen Maimonat, +den wir jetzt hatten, bin ich zwei-, dreimal in der Woche<a class="pagenum" name="Page_319" title="319"> </a> +hingefahren, um sie zu sehen. Gestern erwartete sie mich +in einem kleinen Obstgarten. Die Apfelblüten schneiten +auf ihr Haar herab, und sie lachte. Heute morgen in aller +Herrgottsfrühe sollte sie mit mir kommen. Plötzlich entschloß +ich mich, sie so einer Blume gleich zu lassen, wie ich +sie gefunden hatte.“</p> + +<p>„Ich vermute, die Neuheit der Empfindung muß dir +einen förmlichen Wonneschauer bereitet haben, Dorian“, +unterbrach ihn Lord Henry. „Aber ich kann dir dein +Idyll zu Ende erzählen. Du gabst ihr gute Lehren und +brachst ihr das Herz. Das ist der Anfang deiner Besserung.“</p> + +<p>„Harry, du bist schrecklich! Du darfst so häßliche Dinge +nicht sagen. Hettys Herz ist nicht gebrochen. Natürlich +weinte sie und dergleichen. Aber keine Schande ist auf sie +gekommen. Sie kann weiterleben wie Perdita in ihrem +Garten bei Pfefferminze und Ringelblumen.“</p> + +<p>„Und einem treulosen Florizel nachweinen“, rief Lord +Henry lachend und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. +„Teuerster Dorian, du hast manchmal die sonderbarsten +Knabenanwandlungen. Glaubst du, dieses Mädchen wird +sich jemals mit einem ihres eigenen Standes glücklich +fühlen? Ich vermute, sie wird eines schönen Tages +einen rohen Fuhrmann oder einen grinsenden Bauernlümmel +heiraten. Schön also, die Tatsache, daß sie dich +kennengelernt und geliebt hat, wird sie dahin bringen, +ihren Mann zu verachten, und sie wird unglücklich werden. +Vom moralischen Standpunkte aus kann ich also nicht +finden, daß deine Entsagung sehr wertvoll war. Selbst<a class="pagenum" name="Page_320" title="320"> </a> +als ein Anfang ist sie armselig. Außerdem, woher +willst du wissen, ob Hetty in diesem Augenblick nicht in +einem sternbeglänzten Mühlteich schwimmt, von lieblichen +Wasserlilien umkränzt wie Ophelia?“</p> + +<p>„Ich kann es nicht aushalten, Harry! Du spottest über +alles und beschwörst dann die ernsthaftesten Tragödien +herauf. Es tut mir jetzt leid, daß ich es dir erzählt habe. +Es kümmert mich auch nicht, was du sagst. Ich weiß, ich +habe recht gehandelt. Arme Hetty! Als ich heute früh am +Gehöft vorbeiritt, sah ich ihr Gesicht weiß wie einen +Jasminzweig am Fenster. Wir wollen nicht länger davon +reden, und du sollst nicht versuchen, mich zu überzeugen, +daß die erste gute Handlung, die ich seit Jahren getan +habe, das erste kleine Opfer, das ich jemals gebracht +habe, in Wahrheit eine Art Sünde wäre. Ich will mich +jetzt bessern. Und ich werde mich bessern. Erzähle mir etwas +von dir. Was geht in der Stadt vor? Ich war tagelang +nicht im Klub.“</p> + +<p>„Die Leute sprechen noch immer über das Verschwinden +des armen Basil.“</p> + +<p>„Ich sollte meinen, daß sie inzwischen davon genug +bekommen hätten“, sagte Dorian, während er sich etwas +Wein einschenkte und leicht die Stirn runzelte.</p> + +<p>„Mein lieber Junge, sie reden ja erst seit sechs Wochen +davon, und das englische Publikum ist wirklich nicht der +geistigen Anstrengung gewachsen, alle drei Monate mehr +als ein Gesprächsthema zu haben. Immerhin haben sie +in der letzten Zeit Glück gehabt. Sie hatten meinen eigenen +Ehescheidungsprozeß und Alan Campbells Selbstmord.<a class="pagenum" name="Page_321" title="321"> </a> +Jetzt haben sie das geheimnisvolle Verschwinden eines +Künstlers. In Scotland Yard bleibt man hartnäckig dabei, +daß der Mann im grauen Ulster, der in der Nacht des +neunten November mit dem Zwölfuhrzug nach Paris fuhr, +der arme Basil war, und die französische Polizei erklärt, +Basil wäre überhaupt nie in Paris eingetroffen. Vermutlich +wird man uns etwa in vierzehn Tagen auftischen, daß +er in San Francisco gesehen worden ist. Es ist eine +schwierige Geschichte, aber von jedem Menschen, der verschwindet, +heißt es, daß er in San Francisco gesehen +worden ist. Das muß eine entzückende Stadt sein, die alle +Reize der zukünftigen Welt ihr Eigen nennt.“</p> + +<p>„Was glaubst du, daß Basil zugestoßen sei?“ fragte +Dorian, hielt seinen Burgunder gegen das Licht und +wunderte sich, daß er über diese Sache so ruhig plaudern +konnte.</p> + +<p>„Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wenn sich Basil +ein Vergnügen daraus macht, Versteck zu spielen, so ist +das nicht meine Sache. Wenn er tot ist, will ich nicht +weiter an ihn denken. Der Tod ist das einzige, was mir +Angst macht. Ich hasse ihn.“</p> + +<p>„Warum?“ fragte der jüngere müde.</p> + +<p>„Weil,“ sagte Lord Henry und führte die vergoldete +Netzöffnung eines Riechbüchschens zur Nase, „weil man +heutzutage alles überleben kann, ausgenommen den Tod. +Tod und Philisterei sind die zwei einzigen Tatsachen des +neunzehnten Jahrhunderts, die man nicht wegerklären +kann. Wir wollen den Kaffee im Musikzimmer trinken, +Dorian. Du mußt mir Chopin vorspielen. Der Mann, mit<a class="pagenum" name="Page_322" title="322"> </a> +dem meine Frau durchbrannte, spielte Chopin hinreißend. +Die arme Viktoria! Ich habe sie recht gern gehabt. Das +Haus ist ohne sie recht einsam. Natürlich ist das Eheleben +nur eine Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit. Aber +schließlich bedauert man den Verlust selbst seiner schlechtesten +Gewohnheiten. Vielleicht bedauert man die gerade +am meisten. Sie sind ein so wesentlicher Teil unserer Persönlichkeit.“</p> + +<p>Dorian sagte nichts, sondern stand vom Tisch auf, +ging in das Nebenzimmer, setzte sich an das Klavier und +ließ seine Finger über das weiße und schwarze Elfenbein +der Tasten gleiten. Als der Kaffee gebracht wurde, hörte +er auf, sah zu Lord Henry hinüber und sagte: „Harry, +ist es dir nie eingefallen, daß Basil ermordet worden sein +könnte?“</p> + +<p>Lord Henry gähnte. „Basil war sehr populär und trug +immer nur eine Waterburyuhr. Warum hätte man ihn ermorden +sollen? Er war nicht klug genug, um Feinde zu +haben. Freilich hatte er ein wunderbares Genie als Maler. +Aber ein Mensch kann malen wie Velasquez und doch so +langweilig als möglich sein. In Wirklichkeit war Basil +ziemlich langweilig. Er interessierte mich nur ein einziges +Mal, und das war damals, als er mir vor vielen Jahren +gestand, daß er dich so ungestüm anbete und daß du das +Leitmotiv seiner Kunst seist.“</p> + +<p>„Ich habe Basil sehr gern gehabt“, sagte Dorian mit +einem traurigen Klang in seiner Stimme. „Aber behauptet +denn das Publikum nicht, daß er ermordet worden +ist?“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_323" title="323"> </a></p> + +<p>„Pah, in einigen Zeitungen steht es. Es scheint mir nicht +im geringsten wahrscheinlich. Ich weiß, es gibt fürchterliche +Orte in Paris, aber Basil war nicht die Art +Mensch, sie aufzusuchen. Er war nicht neugierig. Das war +sein Hauptfehler.“</p> + +<p>„Was würdest du dazu sagen, Harry, wenn ich dir versicherte, +daß ich Basil ermordet habe?“ fragte der jüngere. +Er beobachtete ihn scharf, nachdem er das gesagt hatte.</p> + +<p>„Lieber Freund, ich würde sagen, daß du einen Charakter +posierst, der dich nicht kleidet. Jedes Verbrechen ist +ordinär, gerade wie alles Ordinäre ein Verbrechen ist. +Du hast nicht die Gabe, Dorian, einen Mord zu begehen. +Es sollte mir leid tun, wenn ich dich durch diese Meinung +in deiner Eitelkeit kränkte, aber ich versichere dich, es ist +wahr. Das Verbrechen ist ein ausschließliches Vorrecht der +unteren Klassen. Ich will sie damit durchaus nicht tadeln. +Ich vermute einfach, das Verbrechen ist für sie, was die +Kunst für uns ist, einfach ein Verfahren, um sich außerordentliche +Empfindungen zu verschaffen.“</p> + +<p>„Ein Verfahren, sich Empfindungen zu verschaffen? +Glaubst du also, daß ein Mensch, der einmal einen Mord +begangen hat, imstande wäre, das nämliche Verbrechen +zu wiederholen? Das rede mir nicht ein.“</p> + +<p>„Oh! Alles wird zu einem Vergnügen, wenn man es +zu oft tut!“ rief Lord Henry lachend. „Das ist eines der +wichtigsten Geheimnisse des Lebens. Immerhin bin ich +des Glaubens, daß der Mord stets ein Mißgriff ist. Man +sollte nie etwas tun, worüber man sich nicht nach dem Essen +unterhalten kann. Aber wir wollen jetzt den armen Basil<a class="pagenum" name="Page_324" title="324"> </a> +lassen. Ich wollte, ich könnte glauben, daß er ein so romantisches +Ende genommen hat, wie du durchblicken läßt; aber +ich kann es nicht. Ich glaube eher, daß er von einem Omnibus +in die Seine gefallen ist und der Kondukteur hat +den Skandal vertuscht. Ja, ich glaube wirklich, so war sein +Ende. Ich sehe ihn jetzt auf dem Rücken liegen unter dem +dunkelgrünen Wasser, und die schweren Lastkähne schwimmen +über ihm hin, und lange Tangflechten verwickeln sich +in sein Haar. Weißt du, ich glaube nicht, daß er noch viel +Gutes gemacht hätte. In den letzten zehn Jahren ist seine +Malerei nicht mehr berühmt gewesen.“</p> + +<p>Dorian seufzte und Lord Henry schlenderte durch das +Zimmer und unterhielt sich damit, einem merkwürdigen +Papagei aus Java den Kopf zu krauen, einem großen, +graugefiederten Vogel mit rotem Schopf und Schwanz, +der auf einem Bambusstab balancierte. Als ihn seine +spitzen Finger berührten, ließ er die weiße Nickhaut seiner +Liderfalten über die schwarzen Glaskugelaugen fallen und +begann sich hin- und herzuwiegen.</p> + +<p>„Ja,“ fuhr er fort, während er sich umdrehte, und sein +Taschentuch aus der Tasche nahm, „seine Malerei ist nicht +mehr weither gewesen. Es schien mir so, als hätte sie +irgend etwas eingebüßt. Sie hatte ein Ideal verloren. +Als ihr beide aufhörtet, intime Freunde zu sein, hörte er +auf, ein großer Künstler zu sein. Was hat euch auseinander +gebracht? Ich vermute, er langweilte dich. Wenn das der +Fall war, dann hat er dir nie verziehen. Das ist gewöhnlich +so bei langweiligen Menschen. Was ist übrigens aus dem +wundervollen Porträt geworden, das er von dir gemacht<a class="pagenum" name="Page_325" title="325"> </a> +hat? Ich kann mich nicht erinnern, es jemals wiedergesehen +zu haben, seit es fertig wurde. Ah! Jetzt besinne ich mich, +daß du mir vor Jahren erzählt hast, du hättest es nach +Selby geschickt und es wäre unterwegs auf irgendeine +Weise gestohlen worden oder in Verlust geraten. Hast du +es nie wieder bekommen? Wie schade! Es war faktisch +ein Meisterwerk. Ich entsinne mich, daß ich es kaufen +wollte. Ich wünschte, ich hätte es jetzt. Es stammte aus +Basils bester Zeit. Seitdem bestanden alle seine Arbeiten +aus dem eigentümlichen Gemengsel von schlechter Malerei +und guten Absichten, das einen Mann berechtigt, ein britischer +Künstler von Bedeutung genannt zu werden. Hast +du deswegen eigentlich gar nicht annonciert? Das hättest +du tun sollen.“</p> + +<p>„Ich weiß es nicht mehr“, antwortete Dorian. „Ich +glaube, ich tat es. Aber ehrlich gesagt, ich habe das Bild +nie gemocht. Es tut mir überhaupt leid, daß ich dazu gesessen +habe. Schon die Erinnerung an das Ding ist mir +greulich. Warum sprichst du davon? Es hat mich immer +an ein paar merkwürdige Zeilen aus einem Theaterstück +erinnert — aus Hamlet, glaube ich — wie heißen +sie? —</p> + +<p class="poem"> +‚Gleich dem Bildnis eines Grams,<br /> +ein Antlitz ohne Herz.‛<br /> +</p> + +<p>Ja, so sah es aus.“</p> + +<p>Lord Henry lachte. „Wenn ein Mensch das Leben +künstlerisch behandelt, ist sein Hirn sein Herz“, antwortete +er und ließ sich in einen Armsessel fallen.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_326" title="326"> </a></p> + +<p>Dorian Gray schüttelte den Kopf und schlug ein paar +sanfte Akkorde auf dem Klavier an. „Gleich dem Bildnis +eines Grams, ein Antlitz ohne Herz“, wiederholte er, „ein +Antlitz ohne Herz.“</p> + +<p>Der ältere Freund saß zurückgelehnt und blickte mit halbgeschlossenen +Augen zu ihm hinüber. „Übrigens, Dorian,“ +sagte er nach einer Pause, „was hülfe es einem Menschen, +so er die ganze Welt gewönne und — wie heißt die Stelle +doch? — seine eigene Seele verlöre?“</p> + +<p>Die Musik brach schrill ab und Dorian Gray schnellte +auf und starrte seinen Freund an. „Warum fragst du mich +das, Harry?“</p> + +<p>„Aber bester Junge,“ sagte Lord Henry und zog verwundert +die Augenbrauen in die Höhe, „ich habe dich +gefragt, weil ich dachte, du könntest mir eine Antwort +geben. Das ist alles. Ich bin letzten Sonntag durch Hyde +Park gegangen, und nahe beim Marble Arch stand eine +kleine Ansammlung schäbig aussehender Menschen, die +irgendeinem ordinären Straßenprediger lauschten. Als ich +vorbeiging, hörte ich den Mann diese Frage seinen Zuhörern +entgegenschreien. Es berührte mich ordentlich dramatisch. +London ist sehr reich an seltsamen Wirkungen +solcher Art. Ein regnerischer Sonntag, ein unmanierlicher +Christ in einem Regenmantel, ein Kreis krankhafter, bleicher +Gesichter unter dem wellenförmigen Dach tropfender Regenschirme +und ein wunderbarer Satz, von schrillen, hysterischen +Lippen in die Luft geschleudert, das war auf seine +Art wirklich sehr gut, es lag geradezu eine gewisse Suggestion +darin. Ich dachte zuerst daran, dem Propheten zu<a class="pagenum" name="Page_327" title="327"> </a> +sagen, daß die Kunst eine Seele habe, aber nicht der +Mensch, aber ich fürchte, er hätte mich doch nicht verstanden.“</p> + +<p>„Nein, Harry. Die Seele ist eine fürchterliche Gewißheit. +Sie kann gekauft werden und verkauft und umgetauscht. +Sie kann vergiftet werden oder vervollkommnet. +In jedem von uns lebt eine Seele. Ich weiß es.“</p> + +<p>„Bist du dessen ganz sicher, Dorian?“</p> + +<p>„Ganz sicher.“</p> + +<p>„Pah! Dann muß es Einbildung sein. Die Dinge, die +man für ganz sicher hält, sind nun und nimmer wahr. Das +ist das Verhängnis des Glaubens und die Weisheit der +Romantik. Wie feierlich du tust! Sei nicht so ernsthaft. +Was hast du oder ich mit dem Aberglauben unserer Zeit +zu tun? Nein: wir haben unseren Glauben an die Seele +aufgegeben. Spiel' mir was vor. Spiel' mir ein Nokturno, +Dorian, und während du spielst, sage mir mit leiser Stimme, +wie du es möglich gemacht hast, dir deine Jugend zu erhalten. +Du mußt irgendein Geheimmittel haben. Ich bin +nur zehn Jahre älter als du, und bin runzlig und verwelkt +und gelb. Du bist in der Tat wundervoll, Dorian. Du hast +nie entzückender ausgesehen als heute abend. Du rufst mir +den Tag ins Gedächtnis zurück, an dem ich dich zum +erstenmal sah. Du warst etwas schnippisch, sehr scheu und +ganz und gar außergewöhnlich. Seitdem hast du dich natürlich +verändert, aber nicht im Aussehen. Ich wünschte, du +verrietest mir dein Geheimnis. Um meine Jugend zurückzubekommen, +täte ich alles auf der Welt, außer Gymnastik +treiben, früh aufstehen oder ehrbar sein. Jugend! Nichts<a class="pagenum" name="Page_328" title="328"> </a> +kommt ihr gleich. Es ist absurd, von der Unwissenheit der +Jugend zu schwatzen. Die einzigen Leute, deren Ansichten +ich jetzt mit einigem Respekt anhöre, sind Leute, die viel +jünger sind als ich. Die scheinen mir weit voraus zu sein. +Das Leben hat ihnen sein letztes Wunder enthüllt. Was +die älteren betrifft, denen widerspreche ich immer. Ich tue +es aus Prinzip. Wenn du einen um seine Meinung über +etwas fragst, das gestern passiert ist, dann gibt er dir feierlichen +Aufschluß über die Meinungen, die Anno 1820 im +Schwunge waren, als die Leute hohe Halsbinden trugen, +an alles glaubten und absolut nichts wußten. Wie hübsch +das ist, was du da spielst! Ich möchte wohl wissen, ob es +Chopin in Majorca geschrieben hat, während das Meer +seine Villa umklagte und der Salzschaum klatschend gegen +die Fensterscheiben spritzte. Es ist entzückend romantisch. +Was für ein Segen es ist, daß es doch die eine Kunst +gibt, die nicht aus Nachahmung besteht. Hör' nicht auf. Ich +brauche Musik heut abend. Es kommt mir so vor, als ob +du der junge Apollo bist und ich Marsyas, der dir zuhört. +Ich habe meine eigenen Sorgen, Dorian, von denen nicht +einmal du etwas weißt. Die Tragödie des Alters beruht +nicht darin, daß man alt ist, sondern daß man jung ist. +Ich bin manchmal ganz erschrocken über meine eigene Aufrichtigkeit. +Ach, Dorian, wie glücklich bist du! Was für +ein köstliches Leben hast du gehabt! Du hast tief aus jedem +Quell getrunken! Du hast die Trauben an deinem Gaumen +zerdrückt. Nichts ist dir verborgen geblieben. Und all das +ist dir nicht mehr gewesen als ein Klang von Musik. Es hat +dir nichts anhaben können. Du bist noch heute derselbe.“</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_329" title="329"> </a></p> + +<p>„Ich bin nicht derselbe, Harry.“</p> + +<p>„Ja, du bist derselbe. Ich bin gespannt, wie dein +Leben weiter verlaufen wird. Verdirb es nicht durch Entsagung. +Jetzt bist du ein vollkommener Typus. Mach' dich +nicht unvollkommen. Du bist jetzt ganz ohne Tadel. Du +brauchst den Kopf nicht zu schütteln: du weißt, du bist +es. Und dann, Dorian, betrüge dich nicht selbst. Das Leben +wird nicht durch Willen oder Absicht regiert. Das Leben +ist eine Angelegenheit der Nerven und Muskeln und der +langsam aufgemauerten Zellen, in denen die Gedanken +hausen und die Leidenschaft ihren Träumen nachhängt. +Du redest dir ein, sicher dazustehen und stark zu sein. Aber +ein zufälliger Farbenton in einem Zimmer oder ein Morgenhimmel, +ein besonderer Geruch, den du einmal geliebt +hast und der versteckte Erinnerungen aufweckt, eine Zeile +aus einem vergessenen Gedicht, die dir plötzlich wieder einfällt, +ein paar Tonreihen aus einem Musikstück, das du +längst nicht mehr spielst — ich sage dir, Dorian, von solchen +Dingen hängt unser Leben ab. Browning hat irgendwo +mal darüber geschrieben, aber unsere eigenen Sinne geben +uns ohnehin davon Gewißheit. Es gibt Augenblicke, da +durchblitzt mich plötzlich der Geruch von weißem Flieder, +und ich muß wieder den sonderbarsten Monat meines Daseins +durchleben. Ich wollte, ich könnte mit dir tauschen, +Dorian. Die Welt hat über uns beide gezetert, aber sie +hat dich immer bewundert. Sie wird dich immer bewundern. +Du bist eben der Typus dessen, wonach unsere Zeit +sucht und was sie fürchtet gefunden zu haben. Ich bin so +froh darüber, daß du nie etwas getan hast, nie eine Statue<a class="pagenum" name="Page_330" title="330"> </a> +gemeißelt oder ein Bild gemalt oder irgend etwas aus +dir heraus produziert hast. Das Leben war deine Kunst. +Du hast dich selbst in Musik gesetzt. Deine Tage sind deine +Sonette.“</p> + +<p>Dorian stand vom Klavier auf und fuhr sich mit der +Hand durchs Haar. „Ja, das Leben ist himmlisch gewesen,“ +sagte er vor sich hin, „aber dieses Leben werde ich nicht +fortsetzen, Harry. Und du sollst nicht so überspannte Dinge +zu mir sagen. Du weißt nicht alles von mir. Ich glaube, +wenn du es wüßtest, so würdest selbst du dich von mir abwenden. +Du lachst. Lache nicht!“</p> + +<p>„Warum hast du zu spielen aufgehört, Dorian? Geh +wieder ans Klavier und spiel' mir nochmal das Nokturno. +Sieh den großen honigfarbenen Mond, der in der dunklen +Luft hängt. Er wartet, daß du ihn bezauberst, und wenn +du spielst, wird er sich der Erde nähern. Du willst nicht? +Dann laß uns in den Klub gehen. Es war ein reizender +Abend, und wir müssen ihn reizend beenden. Bei White +wartet jemand, der darauf brennt, dich kennenzulernen — +der junge Lord Pool, der älteste Sohn von Bournemouth. +Er kopiert schon deine Krawatten und hat mich bestürmt, +ihn dir vorzustellen. Er ist ganz entzückend und erinnert +mich ein bißchen an dich.“</p> + +<p>„Ich hoffe nicht“, sagte Dorian mit einem wehmütigen +Blick in den Augen. „Aber ich bin heute abend müde, +Harry. Ich gehe nicht mehr in den Klub. Es ist fast elf, +und ich will früh zu Bett gehen.“</p> + +<p>„Bleibe noch, du hast nie so schön gespielt wie diesen +Abend. In deinem Anschlag lag etwas, es war ganz wundervoll.<a class="pagenum" name="Page_331" title="331"> </a> +Es hatte mehr Ausdruck, als ich jemals bei dir +gehört habe.“</p> + +<p>„Das kommt daher, weil ich jetzt gut werden will“, antwortete +er lächelnd. „Ich bin schon ein bißchen anders.“</p> + +<p>„Für mich kannst du kein anderer werden, Dorian“, +sagte Lord Henry. „Du und ich, wir werden immer +Freunde sein.“</p> + +<p>„Aber einstmals hast du mich mit einem Buch vergiftet. +Ich sollte das nicht vergeben. Harry, versprich mir, daß +du dieses Buch nie wieder jemand leihen willst. Es stiftet +Unheil.“</p> + +<p>„Mein lieber Junge, du fängst wirklich an, Moralpredigten +zu halten. Du wirst bald umherlaufen, wie ein +Bekehrter und ein Erweckungsprediger, und wirst die Menschen +vor all den Sünden warnen, deren du müde geworden +bist. Aber dazu bist du viel zu entzückend. Außerdem +hat es keinen Zweck. Du und ich, wir sind, was wir sind, +und werden immer sein, was wir sein werden. Und vergiftet +werden durch ein Buch, sowas gibt es einfach nicht. +Kunst hat keinen Einfluß auf die Tat. Sie vernichtet den +Trieb zu handeln. Sie ist auf eine herrliche Art zeugungsunfähig. +Die Bücher, die die Welt unmoralisch nennt, +sind Bücher, die der Welt ihre eigene Schande vorhalten. +Sonst nichts. Aber wir wollen nicht über Literatur streiten. +Komm morgen wieder her! Ich reite um elf aus. Wir +können zusammen reiten, und ich nehme dich nachher zum +Frühstück zu Lady Branksome mit. Es ist eine entzückende +Frau und sie will dich zu Rate ziehen über ein paar Gobelins, +die sie kaufen möchte. Vergiß nicht zu kommen. Oder<a class="pagenum" name="Page_332" title="332"> </a> +wollen wir bei unserer kleinen Herzogin frühstücken? Sie +sagt, sie sieht dich jetzt gar nicht mehr. Vielleicht hast du +genug von Gladys? Ich dachte mir's, daß es so kommen +würde. Ihr gewandtes Züngelein fällt einem auf die +Nerven. Also, jedenfalls bist du um elf hier.“</p> + +<p>„Muß ich wirklich kommen, Harry?“</p> + +<p>„Unbedingt. Der Park ist jetzt herrlich. Ich glaube nicht, +daß es wieder solchen Flieder gegeben hat seit jenem Jahr, +wo ich dich kennenlernte.“</p> + +<p>„Gut. Ich werde also um elf hier sein“, sagte Dorian. +„Gute Nacht, Harry!“ Als er an der Tür war, zögerte er +einen Augenblick, als hätte er noch etwas zu sagen. Dann +seufzte er und ging.</p> + +<h2><a name="Zwanzigstes_Kapitel" id="Zwanzigstes_Kapitel"></a>Zwanzigstes Kapitel</h2> + + +<p>Es war eine wundervolle Nacht, so warm, daß er seinen +Mantel über den Arm hing und nicht einmal das seidene +Halstuch umlegte. Als er nach Hause schlenderte, seine Zigarette +rauchend, gingen zwei Herren in Gesellschaftstoilette +an ihm vorbei. Er hörte, wie der eine dem anderen +zuflüsterte: „Das ist Dorian Gray.“ Er erinnerte sich, +wie schmeichelhaft es ihm früher gewesen war, wenn man +auf ihn zeigte oder ihn anstarrte oder über ihn sprach. Jetzt +war er es müde, seinen eigenen Namen zu hören. Der +halbe Reiz des kleinen Dorfes, wo er kürzlich so oft gewesen<a class="pagenum" name="Page_333" title="333"> </a> +war, bestand darin, daß dort niemand wußte, wer +er war. Er hatte dem Mädchen, das er zur Liebe verlockt +hatte, oft gesagt, daß er arm sei, und sie hatte es geglaubt. +Er hatte ihr einmal gesagt, daß er schlecht sei, und sie hatte +ihn ausgelacht und geantwortet, schlechte Menschen seien +immer sehr alt und sehr häßlich. Was für ein Lachen sie +hatte! — gerade wie der Gesang einer Drossel. Und wie +hübsch sie ausgesehen hatte in ihren Kattunkleidern und +großen Hüten! Sie wußte nichts, aber sie besaß alles, +was er verloren hatte.</p> + +<p>Als er nach Hause kam, wartete sein Diener auf ihn. +Er schickte ihn zu Bett und warf sich auf das Sofa in der +Bibliothek und begann über einiges von dem nachzudenken, +was ihm Lord Henry gesagt hatte.</p> + +<p>War es wirklich wahr, daß man nie anders werden +konnte? Er fühlte eine wilde Sehnsucht nach der makellosen +Reinheit seiner Knabenzeit — seiner rosenweißen +Knabenzeit, wie Lord Henry einmal gesagt hatte. Er +wußte, er hatte sich besudelt, hatte seinen Geist mit Verderbnis +angefüllt und sein Gewissen mit Entsetzen belastet, +er war ein schlimmer Einfluß für andere gewesen und hatte +eine schreckliche Freude daran gehabt; und von den Menschenleben, +die das seine gekreuzt hatten, waren es die +reinsten und verheißungsvollsten gewesen, die er in Schande +gestürzt hatte. Aber war da nichts wieder gut zu machen? +Gab es keine Hoffnung mehr für ihn?</p> + +<p>Ah! In was für einem ungeheuerlichen Augenblick von +Hochmut und Leidenschaft hatte er gebetet, es möchte das +Bildnis die Last seiner Tage auf sich nehmen und er sich<a class="pagenum" name="Page_334" title="334"> </a> +den ungetrübten Glanz ewiger Jugend bewahren! Das +war an seinem ganzen verfehlten Leben schuld. Es wäre +besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde seines Lebens ihre +gewisse und schnelle Strafe mit sich gebracht hätte. In +der Strafe lag Reinigung. Nicht „Vergib uns unsere +Sünden“, sondern „Züchtige uns für unsere Missetaten“ +sollte das Gebet des Menschen zu einem allgerechten +Gotte lauten.</p> + +<p>Der mit merkwürdigen Schnitzereien umrahmte Spiegel, +den ihm Lord Henry vor so vielen Jahren geschenkt hatte, +stand auf dem Tisch, und die weißgliedrigen Liebesgötter +lachten ringsherum wie ehedem. Er nahm ihn, wie er es +in jener Schreckensnacht getan hatte, als er zum ersten +Male die Veränderung in dem verhängnisvollen Bildnis +bemerkt hatte, und blickte mit verzweifelten, tränenfeuchten +Augen auf die glatte Fläche. Einmal hatte ihm jemand, +der ihn abgöttisch geliebt hatte, einen wahnsinnigen Brief +geschrieben, dessen Schluß lautete: „Die Welt ist anders +geworden, weil du aus Elfenbein und Gold geschaffen +wurdest. Der Linienschwung deiner Lippen schreibt die +Weltgeschichte um.“ Diese Sätze kamen ihm ins Gedächtnis +zurück, und er wiederholte sie immer und immer wieder. +Dann haßte er seine eigene Schönheit und schleuderte den +Spiegel zu Boden und zertrat ihn unter seinem Fuße in +silberne Splitter. Seine Schönheit war es, die ihn zugrunde +gerichtet hatte, seine Schönheit und Jugend, um +die er gefleht hatte. Wären diese beiden nicht gewesen, so +hätte er sein Leben wohl fleckenlos erhalten können. Die +Schönheit war für ihn nur eine Maske gewesen, die Jugend<a class="pagenum" name="Page_335" title="335"> </a> +nur ein Blendwerk. Was war Jugend im besten +Falle? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit seichter Stimmungen +und kranker Einfälle. Warum hatte er ihre Tracht +angelegt? Die Jugend hatte ihn zugrunde gerichtet.</p> + +<p>Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken. +Er mußte an sich selber und an seine Zukunft denken. +James Vane war in einem namenlosen Grabe auf dem +Kirchhof in Selby geborgen. Alan Campbell hatte sich +eines Nachts in seinem Laboratorium erschossen, aber das +Geheimnis nicht verraten, das ihm aufgezwungen worden +war. Die Erregung über Basil Hallwards Verschwinden +würde sich bald legen. Sie hatte schon nachgelassen. Da +war er völlig sicher. Es war auch in der Tat nicht der +Tod Basil Hallwards, der sein Gemüt am schwersten belastete. +Es war der lebendige Tod seiner eigenen Seele, +der ihm die Ruhe raubte. Basil hatte das Bildnis gemalt, +das sein Leben vernichtet hatte. Er konnte ihm das nicht +vergeben. Das Porträt war an allem schuld. Basil hatte +ihm Dinge gesagt, die unerträglich waren und die er doch +geduldig ertragen hatte. Der Mord war nur der Wahnsinn +eines Augenblicks gewesen. Was Alan Campbell +anlangte, so war der Selbstmord seine eigene Tat gewesen. +Er war sein freier Entschluß. Das ging ihn +nichts an.</p> + +<p>Ein neues Leben! Das war es, was er wollte. Das war +es, worauf er wartete. Gewiß hatte er es schon begonnen. +Ein unschuldiges Wesen hatte er jedenfalls geschont. Nie +wieder wollte er die Unschuld in Versuchung führen. Er +wollte gut sein.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_336" title="336"> </a></p> + +<p>Als er an Hetty Merton dachte, begann er sich zu fragen, +ob sich das Bild in dem verschlossenen Zimmer oben +wohl verändert habe. Es konnte doch sicher nicht mehr +so häßlich sein, wie es gewesen war. Vielleicht könnte er, +wenn sein Leben jetzt rein würde, imstande sein, jedes Anzeichen +niedriger Leidenschaften aus dem Antlitz zu tilgen. +Vielleicht waren die Spuren des Bösen schon verschwunden. +Er wollte hinauf und nachsehen.</p> + +<p>Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich die Treppe +hinan. Als er die Tür aufschloß, huschte ein frohes Lächeln +über sein seltsam junges Gesicht und verweilte einen +Augenblick auf seinen Lippen. Ja, er wollte gut sein, und +das gräßliche Ding, das er verborgen hatte, würde dann +nicht länger ein Schrecken für ihn sein. Ihm war, als +wäre diese Last schon jetzt von ihm genommen.</p> + +<p>Er ging ruhig hinein, schloß die Tür nach seiner Gewohnheit +hinter sich ab und zog den Purpurvorhang von +dem Bildnis hinweg. Ein Schrei voll Schmerz und Entrüstung +scholl von seinen Lippen. Er konnte keine Verwandlung +bemerken, außer daß ein schlauer Ausdruck in +den Augen lag und um den Mund der gekniffene Zug des +Heuchlers. Das Ding war noch immer abscheulich, womöglich +noch abscheulicher als vordem — und der scharlachrote +Tau, der die Hand befleckte, schien heller zu glänzen +und mehr wie frisch vergossenes Blut auszusehen. Er +erzitterte. War es bloße Eitelkeit gewesen, die ihn dazu +getrieben hatte, einmal etwas Gutes zu tun? Oder die +Begier nach einer neuartigen Empfindung, wie Lord +Henry mit seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte?<a class="pagenum" name="Page_337" title="337"> </a> +Oder das Verlangen, eine Rolle zu spielen, das uns +manchmal Dinge begehen läßt, die edler sind als wir +selbst? Oder vielleicht das alles zusammen? Und warum +war der rote Fleck jetzt größer als er vorher war? Er +schien sich wie ein fürchterlicher Aussatz über die runzligen +Finger weiter gefressen zu haben. Es war Blut auf den +gemalten Füßen, als wäre es von den Händen herabgetropft +— Blut selbst auf der Hand, die das Messer nicht +geführt hatte. Bekennen? Bedeutete dies, daß er bekennen +sollte? Sich selbst aufgeben und hingerichtet werden? +Er lachte. Er fühlte, daß der Einfall ungeheuerlich wäre. +Überdies selbst wenn er es eingestände, wer würde ihm +glauben? Nirgends gab es eine Spur des Ermordeten. +Alles, was zu ihm gehörte, war zerstört. Er selbst hatte +verbrannt, was unten geblieben war. Die Welt würde einfach +sagen, daß er wahnsinnig sei. Sie würden ihn irgendwo +einsperren, wenn er bei seiner Erzählung beharrte... +Aber doch war es seine Pflicht, ein Geständnis abzulegen, +öffentlich Schande zu erleiden und öffentlich Buße zu tun. +Es war ein Gott, der den Menschen zurief, ihre Sünden +der Erde so gut wie dem Himmel zu beichten. Nichts, was +er sonst tun konnte, würde ihn reinigen, bis er seine Sünde +selber bekannt hätte. Seine Sünde? Er zuckte die Achseln. +Der Tod Basil Hallwards schien ihm nur unwesentlich. +Er dachte an Hetty Merton. Denn es war ein ungerechter +Spiegel. Dieser Spiegel seiner Seele, in den er hineinblickte. +Eitelkeit? Neugier? Heuchelei? War sonst nichts in +seinen Entsagungen gewesen? Es war noch etwas darin +gewesen. Er glaubte es wenigstens. Aber wer konnte das<a class="pagenum" name="Page_338" title="338"> </a> +sagen...? Nein. Es war weiter nichts darin gewesen. +Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Aus Heuchelei hatte +er die Maske der Güte getragen. Aus Neugier hatte +er es mit der Verzichtleistung versucht. Er erkannte das +jetzt.</p> + +<p>Aber dieser Mord — sollte er ihn sein ganzes Leben +lang verfolgen? Sollte er immer die Last seiner Vergangenheit +tragen müssen? Sollte er wirklich eingestehen? +Niemals. Es gab nur einen einzigen Beweis gegen ihn. +Das Bildnis selbst — das war ein Beweis. Er wollte es +zerstören. Warum hatte er es solange aufgehoben. Früher +einmal war es ihm ein Vergnügen gewesen, seine Änderung, +sein Altern zu beobachten. In der letzten Zeit hatte +er dieses Vergnügen nicht mehr empfunden. Es hatte ihm +schlaflose Nächte bereitet. Wenn er außer dem Hause war, +erfüllte ihn eine Todesangst, daß fremde Augen das Bild +erblicken könnten. Es hatte Schwermut in seine Leidenschaften +getröpfelt. Die bloße Erinnerung daran hatte ihm +manchen Augenblick der Freude vergällt. Es hatte bei +ihm die Rolle des Gewissens übernommen. Ja, es war +sein Gewissen gewesen. Er wollte es zerstören.</p> + +<p>Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil +Hallward erstochen hatte. Er hatte es oft gereinigt, bis +kein Fleck mehr darauf war. Es war blank und glitzerte. +Wie es den Maler getötet hatte, sollte es des Malers +Werk töten und alles, was es bedeutete. Es sollte die +Vergangenheit töten, und wenn die tot war, würde er +frei sein. Es sollte dieses ungeheuerliche Seelenleben töten, +und sobald diese gräßlichen Warnungen nicht mehr vorhanden<a class="pagenum" name="Page_339" title="339"> </a> +waren, würde er Frieden haben. Er ergriff es +und durchbohrte damit das Bildnis.</p> + +<p>Man hörte einen Schrei und einen Fall. Der Schrei +war mit seinem Todesröcheln so schrecklich, daß die Dienerschaft +erschreckt aufwachte und aus ihren Kammern stürzte. +Zwei Herren, die auf dem Platze unten vorbeigingen, blieben +stehen und spähten an dem stattlichen Hause empor. +Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen und +dann mit ihm umkehrten. Der Mann zog mehrmals die +Klingel, aber es erfolgte keine Antwort. Bis auf ein Licht +in einem der Giebelfenster war das ganze Haus dunkel. +Nach einiger Zeit ging er weg, stellte sich unter einen Torweg +in der Nähe und verhielt sich abwartend.</p> + +<p>„Wem gehört das Haus, Herr Wachtmeister?“ fragte +der ältere der beiden Herren.</p> + +<p>„Herrn Dorian Gray“, antwortete der Schutzmann.</p> + +<p>Sie sahen einander an, gingen weiter und lächelten. +Einer von ihnen war Sir Henry Ashtons Onkel.</p> + +<p>Drinnen in den Dienerzimmern sprachen die halbangezogenen +Bedienten in leisem Wispern miteinander. +Die alte Frau Leaf weinte und rang die Hände. Francis +war bleich wie der Tod.</p> + +<p>Nach etwa einer Viertelstunde holte er sich den Kutscher +und einen der Lakaien und schlich mit ihnen hinauf. Sie +klopften, aber es kam keine Antwort. Sie riefen. Alles +war still. Schließlich, nachdem sie erfolglos versucht hatten, +die Tür zu sprengen, kletterten sie auf das Dach und +ließen sich auf den Balkon herab. Die Glastür gab leicht +nach; ihre Riegel waren alt.</p> + +<p><a class="pagenum" name="Page_340" title="340"> </a></p> + +<p>Als sie eintraten, sahen sie an der Wand ein wunderbares +Bild ihres Herrn hängen, so wie sie ihn zuletzt +gesehen hatten, in all dem Glanz seiner entzückenden Jugend +und Schönheit. Auf dem Boden lag ein toter Mann +im Gesellschaftsanzug, mit einem Messer im Herzen. Er +war welk, runzlig und häßlich von Angesicht. Erst als sie +die Ringe untersuchten, erkannten sie, wer es war.</p> + +<p class="center" style="margin-top:2em;"><em class="gesperrt">Ende</em></p> + + +<div class="transcribers-note"> +<p class="center"><a name="tn-bottom"><b>Anmerkungen zur Transkription:</b></a></p> + +<p>Die folgende Liste enthält alle geänderten Textstellen, +jeweils zuerst im Original und darunter in der geänderten Fassung.</p> + +<ul id="corrections"> +<li><a href="#Page_9">Seite 9</a>:<br /> +Habt ihr ihn endlich, so <span class="correction">wolllt</span> ihr ihn scheinbar<br /> +Habt ihr ihn endlich, so <span class="correction">wollt</span> ihr ihn scheinbar +</li> +<li><a href="#Page_80">Seite 80</a>:<br /> +Dramas gewesen sein.<br /> +Dramas gewesen sein.<span class="correction">“</span> +</li> +<li><a href="#Page_80">Seite 80</a>:<br /> +Es war ‚<span class="correction">Romea</span> und Julia‛.<br /> +Es war ‚<span class="correction">Romeo</span> und Julia‛. +</li> +<li><a href="#Page_85">Seite 85</a>:<br /> +zum erstenmal gesprochen?<br /> +zum erstenmal gesprochen?<span class="correction">“</span> +</li> +<li><a href="#Page_106">Seite 106</a>:<br /> +Gefällt dir der Name nicht<span class="correction">.</span><br /> +Gefällt dir der Name nicht<span class="correction">?</span> +</li> +<li><a href="#Page_121">Seite 121</a>:<br /> +Mißklang heißt es, mit<br /> +<span class="correction">„</span>Mißklang heißt es, mit +</li> +<li><a href="#Page_132">Seite 132</a>:<br /> +Warum ich nie mehr gut spielen werde.<br /> +Warum ich nie mehr gut spielen werde.<span class="correction">“</span> +</li> +<li><a href="#Page_166">Seite 166</a>:<br /> +Harrys Schwester Lady Gwendolen, kennengelernt.<br /> +Harrys Schwester<span class="correction">,</span> Lady Gwendolen, kennengelernt. +</li> +<li><a href="#Page_180">Seite 180</a>:<br /> +wird ebenso hübsch sein.<br /> +wird ebenso hübsch sein.<span class="correction">“</span> +</li> +<li><a href="#Page_205">Seite 205</a>:<br /> +die Erinnerung an <span class="correction">gegestorbene</span> Romantik<br /> +die Erinnerung an <span class="correction">gestorbene</span> Romantik +</li> +<li><a href="#Page_217">Seite 217</a>:<br /> +und die <span class="correction">eleganganten</span> jungen Leute,<br /> +und die <span class="correction">eleganten</span> jungen Leute, +</li> +<li><a href="#Page_296">Seite 296</a>:<br /> +mit deinem Orchideengleichnis?<br /> +mit deinem Orchideengleichnis?<span class="correction">“</span> +</li> +<li><a href="#Page_308">Seite 308</a>:<br /> +Er hat die ganze<br /> +<span class="correction">„</span>Er hat die ganze +</li> +<li><a href="#Page_309">Seite 309</a>:<br /> +wovor ich mich <span class="correction">änstige</span><br /> +wovor ich mich <span class="correction">ängstige</span> +</li> +</ul> +</div> + + + +<pre> + + + + + +End of Project Gutenberg's Das Bildnis des Dorian Gray, by Oscar Wilde + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY *** + +***** This file should be named 44238-h.htm or 44238-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/4/4/2/3/44238/ + +Produced by Norbert H. Langkau, Marc-Andre Seekamp and the +Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. Special rules, +set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to +copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to +protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project +Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you +charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you +do not charge anything for copies of this eBook, complying with the +rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose +such as creation of derivative works, reports, performances and +research. They may be modified and printed and given away--you may do +practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is +subject to the trademark license, especially commercial +redistribution. + + + +*** START: FULL LICENSE *** + +THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE +PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK + +To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free +distribution of electronic works, by using or distributing this work +(or any other work associated in any way with the phrase "Project +Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project +Gutenberg-tm License available with this file or online at + www.gutenberg.org/license. + + +Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm +electronic works + +1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm +electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to +and accept all the terms of this license and intellectual property +(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all +the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy +all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. +If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project +Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the +terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or +entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. + +1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be +used on or associated in any way with an electronic work by people who +agree to be bound by the terms of this agreement. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation information page at www.gutenberg.org + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at 809 +North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email +contact links and up to date contact information can be found at the +Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact + +For additional contact information: + Dr. Gregory B. Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + +Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation + +Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide +spread public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. Compliance requirements are not uniform and it takes a +considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up +with these requirements. We do not solicit donations in locations +where we have not received written confirmation of compliance. 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm +concept of a library of electronic works that could be freely shared +with anyone. For forty years, he produced and distributed Project +Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. + +Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. +unless a copyright notice is included. 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